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OMNIBUS. ARTIBU!
BOOK
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A RCHI V
FÜR
SOZIALE GESETZGEBUNG UNI) STATISTIK.
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ARCHIV
' FÜR
SOZIALE GESETZGEBUNG
UND STATISTIK.
ZEITSCHRIFT
ZUR ERFORSCHUNG DER GESELLSCHAFTLICHEN
ZUSTÄNDE ALLER LÄNDER
IN VERBINDUNG MIT
EINER REIHE NAMHAFTER FACHMÄNNER DES
IN- UND AUSLANDES
HERAUSGEGEBEN VON
Dr. HEINRICH BRAUN.
SIEBZEHNTER BAND.
BERLIN.
CARL HEYMANNS VERLAG.
1902.
BRUXELLES: i.ihkaiiuk kübopärnne c. mu^oabdt. — BUDAPEST: krrdisahd
PKK! PER. — CHRISTIANIA: H. ASCHKHOUO & CO. — HAAG: LIBRAIRIB BRLINFANTK
PRftRRs. — KOPENHAGEN: akdr. fked. höst h sön. — LONDON: david hott. —
NEW- YORK: oüstav e. stecuert. — PARIS: h.lk soudikr. — ST. PETERSBURG :
K. L. RICKER. — ROM: LOK8CUKR & CO. — STOCKHOLM : SAMSON Sr WALLIS. —
WIEN : UAN28C1IK K. K. HOKVKRLAOS- UND UNIVKRS1TÄTSRUCHHASDLÜSO. — ZÜRICH :
HKTKR & ZELLER.
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Ä.S9 ZI
Nachdruck und Uebercetzung Vorbehalten..
Verlags-Archiv 35*4.
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INHALT DES SIEBZEHNTEN BANDES.
ABHANDLUNGEN.
Seite
Bernstein, Eduard, M. d. R., in Berlin, Einige Reformversuchc
itn Lohnsystera 309
Bunzel, Dr. Julius, in Graz, Die Lage der ungarischen Land-
arbeiter 341
Cohen, Dr. Arthur, in München, Der Entwurf von Bestimmungen
über die Beschäftigung der Gastwirtsgehilfen in Deutschland . 93
Flesch, Stadtrat Dr. Karl, in Frankfurt a. M., Das preufsischc
Fürsorge-Erziehungsgesetz vom 2. Juli 1900. Vom Standpunkt
der Armenpflege und der Sozialpolitik 2 t
Heine, Wolfgang, M. d. R., in Berlin, Koalitionsrecht und
Erpressung 589
Heifs, Dr. Clemens, in Berlin, Die deutsche Strikestatistik . 150
Macrosty, Henry W., B. A. in London , Die Trusts in
Amerika 281
F 1 o e t z , Dr. Alfred, in Berlin-Schlachtensee, Sozialpolitik und
Rassenhygiene in ihrem prinzipiellen Verhältnis 393
Schüler, Dr. F., eidgenössischem Fabrikinspektor a. ü. in Mollis,
Weibliche Fabrikinspektoren in der Schweiz 384
Schulz, M. von, Vorsitzendem des Gewerbegerichts in Berlin,
Arbeiter- und Konsumentenschutz im Bäckergewerbe ... 51
Sombart, Prof. Dr. Werner, in Breslau, Der Stil des modernen
Wirtschaftslebens 1
Waentig, Prof. Dr. Heinrich, in Münster, Der Stahlarbeiter-
strike vom Sommer 1901 und seine Lehren. Ein Beitrag zum
Verständnis des amerikanischen Kapitalismus 549
GESETZGEBUNG.
Deutsches Reich. Das Baupfandgesetz. Von Htinrich Freist,
in Berlin 169
Wortlaut der Entwürfe eines Reichsgesetzes, betreffend die
Sicherung der Bauforderungen 184
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VI
Inhalt.
Seite
Die Novelle /.um Gcwerbegerichtsgesetz und der prcufsische
Ministerialerlafs vom 2,y Dezember igoi. Von Dr. Karl
Flesch „ Stadtrat in Frankfurt a. M 4 2 1
Die neue Seemannsordnung und ihre Nebengesetze von H.
Xfitlbrnhuhr in Berlin .
Wortlaut des Gesetzes, betreffend eine Seeraannsordnting vom
2. Juni 1902
Wortlaut des Gesetzes, betreffend die Verpflichtung der Kauf-
fahrtcischifl'e zur Mitnahme heimzuschaffender Seeleute vom
2. Juni 1902
Wortlaut des Gesetzes, betreffend die Stellenvermittelung für
Schiftsleute vom 2. Juni 1902 664
Wortlaut des Gesetzes, betreffend Abänderung seerechtlicher Vor-
schriften des Handelsgesetzbuchs vom 2. Juni 1902 . . . 666
Dänemark. Das neue Fabrikgesetz vom u. April 1901. Von
Adolf Jemen, Sekretär des statistischen Amtes in Kopenhagen 209
Grofsbritannien. Die englische Fabrikgesetzgebung in den
laliren 1878 — iqoi. Von Henry IV. Macrosty , 11. A. in
London 670
Italien. Das neue Gesetz, betreffend die National- Versorgungs-
kasse für die Invalidität und das Alter der Arbeiter. F.inge-
leitet von Prof, Carlo F. Ferraris, in Padua 195
Wortlaut des Gesetzes, betreffend die National- Versorgungskassc
für die Invalidität und das Alter der Arbeiter 199
Schwei z. Der Gesetzentwurf betreffend Arheiterinnensrhutz im
Kanton Bern. Von Dr. Emil Hof mann , Nationalrat in
Frauen l eid 6S6
Wortlaut des Gesetzentwurfs betreffend Arbeiteiinnenschutz im
Kanton Bern 697
Vereinigte Staaten von Amerika. Die amerikanische Ar-
beitergesetzgebung des Jahres iqoi. Von Dr. jur. Charles
Henry Huberich, Dozent der Rechte an der Universität von
T evas 426
MISZELLEN.
Braun, Dr. Adolf, in Nürnberg, Ausdehnung der Statistik aber
die Krankenversicherung im Deutschen Reiche 21 7
Cahn, Dr. Ernst, in Bayreuth, Ein Arbeiterwohnungsvieitel in
einer süddeutschen Provinzstadt (Bayreuth) 440
Hofmann, Dr. Emil, Nationalrat in Frauenfeld, Der Vollzug
des schweizerischen Fabrikgesetzes 48g
M i s c h 1 e r , Prof. Dr. Ernst, in Graz, Die österreichische Ge-
werbeinspektion im Jahre 1900 . . . 478
619
633
662
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Inhalt.
VI
Seite
Pringsheim, Dr. Otto, in Breslau. Die Aussichten der elek-
trischen Landwirtschaft . s , , , , „ . . . . , . 7'S
Varlcz, Dr. Louis, Arbeitskorrespondent in Gent, Die Kom-
munalversicherung gegen Arbeitslosigkeit in Gent . . . . 238
Winter, Dr, Fritz, in Wien, Die Lage der studentischen Haus-
lehrer an den Wiener Hochschulen 702
LITTERATUR.
E d e 1 h e i m , Dr, John, Beiträge zur Geschichte der Sozialpäda-
gogik mit besonderer Berücksichtigung des französischen Re-
volutionszeitalters. Besprochen von Prof. Dr. Paul Natarp, in
Marburg i. H 541
Flesch, Dr. jttr. Karl, Zur Kritik des Arbeitsvertrags. Seine
volkswirtschaftliche Funktion und sein positives Recht. Sozial-
rechtliche Erörterungen. Besprochen von Dr, Clemens Heiß,
in Berlin 7.84
Lot mar, Philipp, Der Arbeitsvertrag. Nach dem Privatrecht
des Deutschen Reiches. Erster Band. Besprochen von Prof.
Dr. Max U'ebrr, in Heidelberg 72%
Norden holz, Dr. jur. A., Allgemeine Theorie der gesellschaft-
lichen Produktion. Besprochen von Dr. Otto Pringsheim , in
Breslau 279
Neue Litteratur von und über Gewerkschaften. Besprochen von
Dr. Adolf Braun, in Nürnberg 248
Sinzheimer, Dr. Ludwig, Der Londoner Grafschaftsrat. Erster
Band. Besprochen von Eduard Bernstein, M. d. R., in Berlin 271
Zur Litteratur über die Wohnungsfrage. Besprochen von Dr. //
Lindemann, in Stuttgart-Degerloch 508
v. Zw'iedineck-Sii den hörst, Dr. Otto, Lohnpolitik und
Lohntheorie mit besonderer Berücksichtigung des Minimal-
lohnes. — Der Ar beiter schütz bei Vergebung
öffentlicher Arbeiten und Lieferungen. Bericht
des k. k. arbcilsstat ist ischen Amtes über die auf diesem Gebiete
in den europäischen und überseeischen Industriestaaten unter-
nommenen Versuche und bestehende Vorschriften. — K 1 i c n ,
Dr. Ernst, Minimallohn und Arbeiterbeamtentum. 1. Bd. 2. H.
der Abhandlungen des staatswissenschafllichen Seminars zu
Jena, herausgegeben von Prof. Dr. Pierstorff. Besprochen von
Dr. Clemens Heifs, . "4 1
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Verzeichnis derjenigen Autoren, die zum XVII. Bande Beiträge
lieferten.
Bernstein, E., in Berlin, 271, 30g.
Braun, A, in Nürnberg, 2 1 7, 248.
Bunzel, J., in Graz, 341.
Cahn, F.., in Bayreuth, 440.
Cohen, A., in München, 93.
Ferraris, C. F., in Padua, 195.
Flesch, K.., in Frankfurt a. M., 21,421.
Frcesc, H., in Berlin, 169.
Heine, W., in Berlin, 5.89.
Heifs, C„ in Berlin, 150, 734, 741.
Hofniann, E., in Frauenfeld, 4S9, 686.
Huberich, Ch. H., in Austin, 426.
Jensen, A., in Kopenhagen, 209.
Lindeinann, H., Stuttgart-Degerloch,
So«.
Macrostv, 1 1. \Y., in London, 281, 670.
Mischler, E., in Graz, 478.
Molkenbuhr, H., in Hamburg, 619.
Natorp, P., in Marburg i. H., 541.
I'loetz, A., in Berlin-Schlachtensee,
393-
Pringshcim, O., in Breslau, 279, 715.
Schüler, F., in Mollis (Schweiz), 3S4.
Schulz, M. von, in Berlin, 51.
Sorabart, W., in Breslau, 1.
Varlez, L., in Gent, 238.
Wacntig, H., in Münster, 549.
Weber, M., in Heidelberg, 723.
Winter, F., in Wien, 702.
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Der Stil des modernen Wirtschaftslebens.
Von
WERNER SOMBART.
„Früher war man dreihundert Jahre lang ein
Schlofsherr oder ein Leineweber; jetzt kann jeder
Leineweber eine* Tages Schlofsherr sein.*'
(Theodor Fontane.)
Wir werden uns die Eigenart des Verlaufs moderner Wirtschaft
am besten klar machen, wenn wir unser Augenmerk auf die aller
kapitalistischen Wirtschaft offenbar innewohnende Tendenz zur Ent-
faltung von Widersprüchen, von Konflikten lenken. Widersprüche
meine ich, in diesem Sinne Antinomien, — NB. methodisch ganz
harmloser Natur, ohne allen „dialektischen" Tiefsinn gedacht -<*
zwischen der Zwecksetzung der kapitalistischen Wirtschaftssubjekte
und den Erfolgen ihrer auf die Erfüllung jener Zwecke gerichteten
Thätigkeit. Diese Erfolge nämlich stellen in entscheidenden Fällen
das Gegenteil dessen dar, was man erreichen wollte: vom Stand-
punkte kapitalistischer Wertung aus betrachtet, wirkt also hier die
Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft.
Das gilt gleich von der elementarsten Thatsache kapitalistischer
Wirtschaftsführung. Wir wissen, dafs diese auf Erzielung möglichst
hohen Gewinns durch möglichst niedrigen Einkauf und möglichst
vorteilhaften Verkauf von Werten gerichtet ist. Nun bringt es aber
alsobald die Konkurrenz mit sich, dafs eine Gegentendenz sich
jenem Streben cntgegenstellt : um den Mitbewerber zu überbieten,
müssen die Preise beim Aufkauf möglichst hoch, um ihn zu unter-
bieten, beim Verkauf möglichst niedrig bemessen werden. Es ent-
steht somit das Problem , trotz wachsend unvorteilhafter Preis-
gestaltung Gewinn zu erzielen. Der Versuch einer Lösung dieses
Archiv für soz. Gesetzgebung u. Statistik. XVII. 1
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2
Werner Somhart,
Problems treibt in einen neuen Konflikt hinein, schafft, wenn wir
wollen, abermals eine Antinomie.
Offenbar mufs jetzt alles Sinnen und Trachten des kapitalisti-
schen Unternehmers (den wir uns in Zukunft in dubio immer als
Produzenten gewerblicher Erzeugnisse denken wollen) auf best-
mögliche Anpassung an den Bedarf gerichtet sein: d. h. auf Ver-
billigung und Verbesserung der angebotenen Waren. In dieser
Nötigung aber findet das mächtige Streben unserer Unternehmer,
auf unausgesetzte Vervollkommnung der Verfahrungsweisen , auf
Steigerung der Produktivkräfte zu sinnen, seine Erklärung. Nun
kennt man den Erfolg dieses Strebens: die unerhörte Steigerung
des Produktionserfolges, somit die Vermehrung des feilgebotenen
Warenquantums , somit die Tendenz zur Ucbcrfüllung der Märkte,
somit eine notorische Verschlechterung der Absatzbedingungen, auf
deren Verbesserung man ausgegangen war.
Eine Hauptstärke der kapitalistischen Unternehmung, in der ihre
Eigenart am deutlichsten hervortritt, ist, wie wir ebenfalls wissen,
ihre ausgeprägt kalkulatorische Schärfe: genaue Preisberechnung ist
die Basis ihres Wirkens. Wiederum ergiebt sich, dafs dieses Be-
mühen zu Konsequenzen führt, die das Gegenteil dessen darstellen,
was in der Absicht des Wirtschaftssubjektes lag. Dem extremen sub-
jektiven Rationalismus entspricht die absolute objektive Irrationalität
der Preisbildung, die durch die Auf- und Abwärtsbewegung der
Konjunktur, sowie durch den unausgesetzten Wechsel der Preishöhe
jeder Uebersehbarkcit und Vorausbestimmbarkeit verlustig geht.
Daher als Gegenpol der Kalkulation notwendig die Spekulation sich
herausbildet, die nicht blofs die Schätzung des späteren Bedarfs,
sondern auch die Schätzung der späteren Produktionsbedingungen,
bezw. der Veränderungen in der Produktion umfafst, welche sich
in dem Zeitraum zwischen Produktion und Kosumtion ergeben.
Die Unbercchenbarkeit der zukünftigen Preisgestaltung und damit
das Spekulative [der Wirtschaftsführung wächst also in dem Mafsc,
als die Länge des Zeitraums zunimmt, der zwischen Produktions-
anfang und Konsumtion der Güter verstreicht, und gleichzeitig die
Veränderungen in den Produktionsbedingungen während jenes Zeit-
raums häufiger werden. Nun besteht aber die Tendenz, dafs diese
beiden Fälle sich immer regelmäfsigcr einstellen. Und diese Ten-
denz erwächst abermals mit Notwendigkeit aus Zweckreihen, die
auf das Gegenteil des erzielten Erfolges ausgerichtet sind.
Die häufige Veränderung der Produktionsbedingungen ist, wie
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Der Stil des modernen Wirtschaftslebens.
3
leicht ersichtlich, die unmittelbare Wirkung des wissenschaftlichen
Verfahrens im Dienste kapitalistischer Interessen. Erst dieses revo-
lutioniert täglich die Güter-Herstellungs- und Transportmethoden,
schafft täglich neue Güterqualitäten, die die alten Güterarten ver-
drängen, und senkt durch neue Erfindungen von heute auf morgen
tlie Produktionskosten einer Ware auf ein noch kurz vorher uner-
hörtes Niveau. Freilich schafft erst das kapitalistische Interesse die
Motive dieser unausgesetzten Revolutionicrung, für die das wissen-
schaftliche Verfahren nur die Mittel liefert. Der Kapitalismus er-
zeugt also selbst wieder mit Hilfe höchster Rationalisierung der
Technik das für ihn schlechthin Irrationelle: die Unberechenbarkeit,
die Unstetigkeit und, damit verknüpft, die unausgesetzte Entwertung
der produzierten Waren und der Produktionsmittel. Denn in dem
Mafsc, wie durch neue Verfahrungsweisen die Preise gesenkt werden
oder eine neue Anordnung der sachlichen Produktionsfaktoren sich
als notwendig erweist, verlieren die unter den früheren Bedingungen
hergestellten Produkte oder zur Arbeit bestimmten Produktions- •
mittel naturgemäl's an Wert. Sofern in einer Sphäre der Güter-
produktion eine stetige Tendenz zur Preissenkung vorherrscht (und
das trifft für die Mehrzahl der gewerblichen Erzeugnisse zu), kann
man dann wohl die Wertverminderung der Vorprodukte eine „ge-
setzmäfsige" nennen.1)
Und es bedarf keiner weiteren Begründung, dafs dieses „Ge-
setz“ eine um so gröfsere Bedeutung für das Wirtschaftsleben ge-
winnt, je länger die Produktionszeit der Güter währt. Besteht nun
in der That eine Tendenz in der Gegenwart, diese zu verlängern,
beobachten wir nicht vielmehr eine unausgesetzte und zwar rapid
sich vollziehende Abkürzung der Güter-Produktions- und Transport-
zeiten ?
Mit dieser Fragestellung sind wir an die Erörterung eines
Problems herangerückt, das zu den interessantesten unserer Wissen-
schaft gehört. Beobachten wir doch in der Litteratur, die sich mit
ihm beschäftigt , das seltsame Phänomen , dafs zwei der schärfsten
Denker, die die Nationalökonomie der Gegenwart aufzuweisen hat,
sich in diametral entgegengesetztem Sinne zu dem scheinbar so ein-
fachen Gegenstände geäufsert haben. Während der eine behauptet5),
dafs unser Wirtschaftsleben von der Tendenz beherrscht werde, die
*) O. Wittel sh öfer, Untersuchungen über das Kapital (1890), 49.
*) Lcxis in Schmollers Jahrbuch XIX, 332 tT.
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4
Werner Sombart
wirtschaftlichen Prozesse abzukürzen, verficht der andere die Mei-
nung *), dafs gerade in einer zunehmenden Verlängerung des Pro-
duktionsweges die charakteristische Eigentümlichkeit der kapitalisti-
schen Produktionsweise beruhe.
Es kann nun für mich keinem Zweifel unterliegen, dafs, was
eigentlich bei zwei so hervorragenden Gelehrten selbstverständlich
ist, beide recht haben. Sie sehen nur dieselbe Sache von zwei
verschiedenen Seiten an, also dafs sic jedem von ihnen in völlig
anderer Gestalt erscheint. In der hier bevorzugten Betrachtung
handelt es sich aber im Grunde um gar nichts anderes als um eine,
ich möchte hinzufügen die bemerkenswerteste, jener Antinomien, die
aus der Entfaltung der kapitalistischen Triebkräfte sich ergeben.
Was zunächst wohl nicht bestritten werden kann, ist dieses,
dafs der Wunsch nach Abkürzung der Produktionsprozesse aus dem
Gewinnstreben jedes kapitalistischen Unternehmers mit Notwendig-
keit erzeugt wird. Und nicht nur der Produktionsprozesse im
einzelnen, sondern des gesamten wirtschaftlichen Prozesses schlecht-
hin. Ja, es dürfte die Behauptung kaum auf Widerspruch stofsen,
dafs in dieser (subjektiven) Tendenz zur Abkürzung der Produk-
tions- und Zirkulationzeit der Waren — sobald wir deren Lebens-
lauf von dem Zeitpunkt an in Betracht ziehen, da sie in die Ver-
fügungsgewalt eines Wirtschaftssubjektes eintreten — mit anderen
Worten in dem Bestreben jedes Händlers, seine Waren möglichst
rasch zu verkaufen, jedes Produzenten, seine Güter in einer mög-
lichst kurzen Frist herzustellen, das moderne Wirtschaftsleben den
prägnantsten Ausdruck seiner Eigenart findet. Wie sollte es denn
auch anders sein, da doch dieses Bestreben in dem zentralsten kapi-
talistischen Interesse seine Begündung findet, in dem Interesse
nämlich an raschem Kapitalumschlag.
Bei gegebenem Gcsamtkapital und gegebenen Produktions-
bedingungen entscheidet die Häufigkeit des Kapitalumschlags über
die Höhe der Produktionskosten und des Profits: je häufiger der
Kapitalumschlag, desto niedriger können jene bei gleichen Profit-
raten gestellt werden, desto leichter ist eine Unterbietung im Kon-
kurrenzkämpfe also möglich , während umgekehrt bei gegebenen
Produktionskosten die Höhe der Profitrate bestimmt wird durch
J) E. von Böhm-Bawcrk, Positive Theorie des Kapitals (1889) und aus-
führlicher und polemisch gegen Lcxis in der Schrift: Einige strittige Fragen der
Kapitalsthcoric (1900), 8 ff.
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Der Stil des modernen Wirtschaftslebens.
5
die Häufigkeit des Kapitalumschlags. Dieses Verhältnis des Kapital-
umschlags zu Produktionskosten und Profitrate macht es verständ-
lich, weshalb die moderne kapitalistische Entwicklung gerade in der
Beschleunigung des Kapitalumschlags die gelungenste I.ösung des
Konfliktes gefunden hat, der aus der behaupteten Antinomie für
das einzelne Wirtschaftsubjekt folgt.
Nun bedeutet aber Beschleunigung des Kapitalumschlags sowohl
Abkürzung der Zeitdauer, während welcher sich das Produkt in
der Produktionsphäre befindet — der Produktionszeit — als der-
jenigen Zeitdauer, während deren es sich in der Znkulationssphäre
aufhält — der Umlaufszeit. Für das Handelskapital kommt es er-
sichtlich nur auf eine Abkürzung der letzteren, für das Produktions-
kapital auf die Abkürzung beider Zeiträume an. Für das umlaufende
Kapital ist es ohne weiteres klar, dafs die Abkürzung der Pro-
duktions- -j- Umlaufszeit bezw. nur der letzteren, die das einzelne
Produkt zu durchlaufen hat, den Rückstrom des Kapitals beschleunigt.
Es gilt der Satz aber ebenso auch für das fixe Kapital. Der Rück-
strom dieses Kapitalteils an seinen Ausgangspunkt wird dadurch
eigenartig gestaltet, dass der Wert der Produktionsmittel, in denen
er investiert ist, nur in längeren Perioden stückweise in den Pro-
duktenwert übergeht und somit ebenfalls auch nur stückweise in
längeren Perioden sich für den kapitalistischen Unternehmer repro-
duziert. Dessen Interesse ist es nun selbstverständlich, dafs auch
das fixe Kapital — seinen Umfang einmal als gegeben angenommen —
möglichst rasch umschlage, das heifst: sein Wert möglichst bald
in der Geldform zu dem kapitalistischen Unternehmer zurückkehre:
die Amortisations- oder Abschreibeperioden thunlichst abgekürzt
werden. Dieses Ziel ist nun aber offenbar — bei sonst gleichen
Bedingungen — um so eher zu erreichen, je gröfser die Menge der
mit einem gegebenen Betrage fixen Kapitals in einer bestimmten
Periode hergestellten Güter ist. Diese aber hängt abermals — die
(meist unveränderlichen) übrigen Produktionsbedingungen als ge-
geben angenommen — von der Länge der Umlaufszeiten des um-
laufenden Kapitales oder, was dasselbe ist, von der Kürze der
Produktions- und Umlaufszeit des einzelnen Produkts ab.
Also auch hier mündet das Interesse des kapitalistischen Unter-
nehmers in das Interesse einer Abkürzung der Produktions- und
Umlaufszeiten der Güter ein. Um nun eine solche herbeizuführen,
erspäht er als wirksamstes Mittel die entsprechende Ausgestaltung
der Produktions- und Transporttechnik.
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6
Werner Sombart,
In einem früheren Band dieses Archivs habe ich einen Ueber-
blick der technischen Evolution in objektiver Betrachtung zu geben
versucht. *) Hier möchte ich zur Vervollständigung noch hinzufügen,
dafs die Entwicklung der modernen Technik in unmittelbarer Be-
ziehung auf die Interessen des Kapitals und diese in wirksamster
Weise auf die Beschleunigung der Produktion und des Transports
gerichtete allein richtig zu verstehen sind. Lassen sich die Fort-
schritte der Technik überhaupt, wie ich es versucht habe, objektiv
am besten unter dem Gesichtspunkt einer Entwicklung zur Freiheit
gruppieren, so wird man diejenigen Leistungen, die die Technik in
kapitalistischer Zeit aufzuweisen hat, ganz gewifs am mühelosesten
unter dem Gesichtspunkt der Tcmpobeschleunigung anordnen
können. Denn mag es sich um die Vervollkommnung der Maschinerie,
um die Plinsteilung neuer Naturkräftc, um den Verzicht auf den
Organisierungsprozefs der Natur handeln: überall ist die Wirkung
eine Beschleunigung des Produktions- oder Transporttempos gewesen.
Für diese Eigenart der Entwicklung liegen aber, wie wir sehen,
die Motive in den kapitalistischen Interessen deutlich zu Tage.
Wobei noch dieser Umstand Berücksichtigung verdient, dafs jede
Errungenschaft der Technik, auf welchem Gebiete es auch sei, die
eine solche Tempobeschleunigung herbeifuhrt, gleichsam aus sich
heraus das Bedürfnis gleicher technischer Vollkommenheit in allen
anderen Sphären des Wirtschaftslebens erzeugt. Jedermann weifs,
mit welcher zwingenden Notwendigkeit beispielsweise die Erfindung
des Kraftwebstuhls aus der Erfindung der Spinnmaschine folgte,
mit welcher zwingenden Notwendigkeit die Erfindungen des aus-
gehenden 18. Jahrhunderts in der Produktionssphäre auf die Er-
findung der Eisenbahn und diese wieder auf die Erfindung der
elektrischen Telegraphie hindrängte. „Hindrängte“ nicht im Sinne
einer ctwelchen mystischen „immanenten Teleologie“, sondern in
dem Verstände einer handgreiflichen Interessenverknüpfung der
kapitalistischen Wirtschaftssubjekte.
Aber die vervollkommnete Technik läfst sich für die wirt-
schaftlichen Bedürfnisse erst verwerten, wenn die ihr adäquaten
Organisationen für Gütcrerzeugung und Verkehr ge-
schaffen sind. So bemerken wir denn, wie deren Ausbildung parallel
der technischen Evolution, also gleichfalls auf Tempobeschleunigung
•) Vgl. meine Abhandlung: Die gewerbliche Arbeit und ihre Organisation im
14. Hand dieses Archivs S. 17 ff.
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Der Stil des modernen Wirtschaftslebens.
7
gerichtet, sich in der modernen Zeit vollzogen hat: die Allgcgen-
wärtigkeit der Post, ebenso wie die vermehrte Zahl ihrer Dienst*
Verrichtungen — sechs- oder zehnmaliges Abtragen der Postsachen
im Laufe eines Tages, die Einrichtung von letter boxes — , die
stundenweb abgelassenen Eisenbahnzüge, der Minutenverkehr der
Strafsenbahnen, die regelmäfeigen Dampferverbindungen, die sechsmal
täglich erscheinende Zeitung sind Beispiele entsprechender Ver-
kehrsorganisationen.
Die Umgestaltung der Grofs handelsformen (von der Re-
volutionierung des Detailhandels sei hier abgesehen), wie wir sie
in unserer Zeit beobachten, lassen sich aus gleichen Tendenzen er-
klären: Uebergang vom Loco- zum Lieferungshandel, Ausbildung
des Blankovcrkaufs, Ersatz des individuellen durch das generelle
Lieferungsgeschäft, Entwicklung des Terminhandels: alle diese Neue-
rungen, durch die Kauf- und Verkauftermin angenähert werden
sollen, laufen in ihrer Wirkung auf denselben Effekt, wie die Ver-
vollkommnung der Börsenorganisation: eine Beschleunigung des
Handels, also eine Abkürzung der Umlaufszeit der Waren, somit
aber auch der Umschlagszeit des Handelskapitals hinaus. Hierher
dürfen wir aber wohl auch viele neue Formen des Krcditver-
kchrs rechnen. Freilich der Kredit als solcher bewirkt eher das
Gegenteil: eine Verlängerung der Umschlagsperioden. Aber in dem
Mafse, wie er sich zu einem wohlgefügten Systeme ausbildet, ent-
wickelt er Formen, die sehr wohl ebenfalls eine Tempobeschleunigung
des Waren- (bezw. Geld-) Umlaufs zur Folge haben. Ich denke
natürlich in erster Reihe an die grofsartige Entwicklung, die das
Diskonto- und Lombardgeschäft in unserer Zeit erfahren haben. *)
In der Produktions Sphäre aber gilt es, eine solche Be-
triebsorganisation zu schaffen, dafs die rascheste Verarbeitung der
Rohstoffe gewährleistet wird. Das kann unter bestimmten Um-
ständen die hausindustriclle Betriebsform sein (Saisonarbeit!), unter
anderen Verhältnissen der vollkommenste Fabrikbetrieb (Maschinen-
•) Beim alten Büsch lesen wir noch: „Es ist noch nicht gar lange, da ein
Kaufmann cs als seinem Kredit schädlich ansah, wenn er einen Wechsel diskon-
tieren licfs.“ Nun habe sich die Sitte zwar eingebürgert, weil die Handlung überall
so lebhaft geworden sei, „dafs auch der solide Kaufmann (!) für jeden Tag es als
Verlust ansicht, wenn sein Geld müfsig steht“. Immerhin aber: „der Kaufmann
läfst cs nicht gern zu jedermanns Wissenschaft kommen, dafs er seine Wechsel zum
Diskont weggegeben habe“. Joh. Georg Lt Uschs Sämmtlichc Schriften Über
die Handlung I (1824), 79.
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8
Werner Somit art,
System !). Immer aber ist dabei das Hauptaugenmerk auf eine
zweckentsprechende Gestaltung des Arbeitsvertrages zu richten :
vor allem gehört hierher die Entwicklung des Stücklohnsystems,
das in eminentem Mafse den Anforderungen der Tempobeschleunigung
im Produktionsprozesse gerecht wird.
Ein Blick in die Praxis genügt, um zu erkennen, dafs alle die
genannten Mittel zur Tempobeschleunigung des Wirtschaftslebens
aber auch thatsächlich ihren Zweck erreicht haben. Auf jedem
Gebiete der gewerblichen Güterproduktion sind die Produktions-
zeiten während des letzten Jahrhunderts ganz wesentlich abgekürzt.
Bekannte Beispiele dafür liefern die Eisen- und Lederindustrie: die
Verarbeitung des Roheisens zu Schweifseisen bezw. Stahl dauert
beim Herrifrischen etwa 3 Wochen,
„ Puddeln „ 2 Tag,
„ Bessemerprozefs „ 20 Minuten.
Die Zubereitung der Häute zu Leder beansprucht
bei der Grubengerberei alten Stils I — I Jahre,
„ „ neueren Bottichgerberei 4 — 6 Wochen,
„ „ elektrischen Gerberei 4 Tage.
Das mögen Fälle extremer Verkürzung der Produktionszeit
sein. Dafs sie aber nicht etwa vereinzelt sind, weifs jeder, der die
Fortschritte der modernen Industrie verfolgt. Neuerdings hat nun
die allgemein beobachtete Thatsache auch eine umfassende, exakte,
ziflfermälsige Bestätigung erfahren durch die grofsartige Enquete
des Arbeitsamts der Vereinigten Staaten über Hand- und Maschinen-
arbeit. ') Hier ist in nicht weniger als 672 Fällen genau festgestellt
worden, welche Zeitdauer die Herstellung eines gegebenen Pro-
duktenquantums vor, bezw. nach Einführung der Maschinentechnik
(auf die besonders berücksichtigt ist) beansprucht hat, bezw. bean-
sprucht. Das Ergebnis ist das erwartete : überall hat eine beträcht-
liche Abkürzung der Produktionszeit stattgefunden, in einzelnen
Fällen auf den hundertsten, ja den tausendsten Teil der früheren
Zeitdauer. Eine vollständige Mitteilung der Ergebnisse im einzelnen
ist aus naheliegenden Gründen ausgeschlossen : füllt doch allein die
summarische Mitteilung der Ergebnisse jener Untersuchung 55 Seiten
(a. a. O. Vol. I. S. 24 — 79). Die Anführung einzelner Beispiele
') Thirleenth Annual Report of the Commissioner of Labour. 189S. Rand
and Maschine Labour. Vol. 1. Introduction and Analysis. 189g. Voll. II. General
Tablc. 1899.
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Der Stil des modernen Wirtschaftslebens.
9
hat aber keinen Sinn. So mufs der Interessent auf das Selbst-
studium jener höchst eigenartigen und wertvollen Publikation ver-
wiesen werden.
Noch augenfälliger hat sich die Entwicklung auf dem Gebiete
des Transports vollzogen. Man rechnet im allgemeinen, dafs
durch Georg Stephensons Lokomotive die vorher erreichte
Maximal-Fahrgeschwindigkeit um das 5 fache stieg, durch Roberts
verbesserte Maschine nochmals verdoppelt wurde. Das sind jedoch
nur Annäherungs- und Durchschnittswerte. Korrektere Vorstellungen
von der Steigerung der Geschwindigkeit, die durch die Einführung
der Eisenbahnen erzielt worden ist, gewinnen wir, wenn wir be-
stimmte Angaben mit einander vergleichen. So dauerte die Stückgut-
beförderung von Magdeburg bis Hamburg ') :
1590 = 6 Tage,
1690 = 3—4 „
1890 = 9 Stunden (Postzug).
Von Friedrichshafen am Bodensee lieferte man kurz vor Ein-
führung der Eisenbahnen — im Jahre 1841 — unter besonders
günstigen Bedingungen „Eilgut" nach Mannheim und Mainz in
6 Tagen, nach Hamburg in 16 Tagen, nach Leipzig in 10 Tagen,
nach Mailand in 10 Tagen, nach Genua in 1 5 Tagen, nach Livorno
in 24 Tagen5). Vor Eröffnung der Eisenbahnen betrug auf dem
Wasserwege zwischen Berlin und Hamburg die Lieferungszeit
10 Tage bis 3 — 4 Wochen, heute im Höchstfälle 4 Tage, wird aber
in der Regel nicht voll beansprucht *).
Die französische Diligence fuhr 1839 8—10 Kilometer, der
Schnellzug fährt heute 65 Kilometer pro Stunde. Die Schnellpost
Halle-Frankfurt a. M. brauchte in den letzten Jahren vor Er-
öffnung der Eisenbahnen für die 343 Kilometer lange Strecke
35 Stunden einzchliefslich aller Aufenhalte 4), der D-Zug legt die-
*) Nach F. C. Huber, Die geschichtliche Entwicklung des modernen Ver-
kehrs. 1893. S. 222. Ueber die Postsendungs- und Befbrderungsdauer in den An-
fängen der modernen Post unterrichtet durch Beibringung eines reichen Thatsnchen-
matcrials jetzt A. Schulte, Geschichte des mittelalterlichen Handels und Verkehrs,
1900, I, 386 f., 507. lieber die Länge der Kurrierreisen und die Wcchselterminc
im 14. und 15. Jahrhundert Pegolotti und lizzano bei Pagnini, Deila, decima 3,
198 f. ; 4, 100 f.
•) Huber, S. 122.
*) Berlin und seine Eisenbahnen etc. 2 (1896), 142.
4) Berlin und seine Eisenbahnen etc. 2, 5.
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IO
Werner Somburt,
selbe Entfernung (1901) in 6 1/3 Stunde zurück. Die Reise von
Berlin nach Paris beanspruchte über Frankfurt a. M. in der
letzten Postzeit schnellstens 88 a/4 Stunden, über Köln — mit Be-
nutzung von Eisenbahnteilstrecken, aber schlechtem Anschlüsse —
100 Stunden'), heute (über Strafsburg) 17 Stunden 13 Minuten.
Die raschesten Diligencen gab es in England; sie fuhren 15 bis
16 Kilometer2).
Die Seefahrten haben sich in folgender Weise verkürzt. Es
brauchten zur Reise von Europa nach Amerika:
Chr. Columbus (Bahama-Inseln) 70 Tage,
Franklin (von New- York) 42 „
die „Sanannah“ (l. Dampfschiff 1819)*) .... 26 „
„Kaiser Wilhelm der Grofse" (Nordd. Lloyd 1 897) 5 „ 1 5 St.
„Deutschland“ (Hamb. - Amerik. - Paketfahrt - A. - G.
1900) S -
Vasco de Gama legte den Weg von Lissabon nach Calicut in
314 Tagen zurück. Aber im ganzen 16. Jahrhundert dauerte die
Hin- und Herreise zwischen Portugal und Ostindien noch regel-
mäfsig 1 8 Monate 4). Die Zeit, die die holländischen Schiffe im
17. und 18. Jahrhundert zwischen Europa und Indien zubrachten,
betrug selten nur 5 — 6 Monate, meist 7 Monate, zuweilen 10 — 15
Monate. „Die Fahrten dauerten übermäfsig lange, weil die Schiffer
aus Unwissenheit und Nachlässigkeit so oft Umwege machten, die
günstigen Winde und Zeitpunkte versäumten und ihre Instruktionen
übertraten 5).“
Der erste Dampfer (im Jahre 1825) war noch 120 Tage
zwischen Falmouth und Calcutta unterwegs. Jetzt sind die Fahr-
zeiten folgende: London — Bombay („Caledonia" 1898) Hinreise:
12 Tage ioa/4 Stunden, Rückreise: 12 Tage 2 Stunden; London —
Hongkong („Australia" und „Oriental“) 24 Tage. Die „Himalaya“
fahrt die Strecke London — Westaustralien in 23 Tagen 1 1 Stunden,
die „Victoria“ bringt uns von England nach Melbourne in 34 Tagen
20 Stunden.
*) Berlin und seine Eisenbahnen elc. 2, 6.
*) E. Sax, Die Verkehrsmittel 2 (1879), 6. Vgl. auch E. Engel, Zeitalter
des Dampfes. 2. Aull. 18S1.
*) Geistbcck, Weltverkehr. 1889. S. 357.
4) Saatfeld, Gcsch. des portugiesischen Kolonialwcsens (1810), 139.
Ä) Saalfeld, Geschichte des holländischen Kolonialwesens in Ostindien
(1812), 217.
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Der Stil des modernen Wirtschaftslebens. 1 j
Was Telegraph und Telephon zur Beschleunigung des
wirtschaftlichen Gesamtprozesses beigetragen , liegt zu deutlich zu
Tage, um besonderer Hervorkchrung zu bedürfen.
Es mag jedoch an einigen Beispielen noch verdeutlicht werden,
in welcher Weise jene technischen Errungenschaften in Verbindung
mit den entsprechenden Organisationsformen nun thatsächlich eine
Verkürz ungderUmschlagspcriodcn herbeiführen. Zunächst
im überseeischen Importgeschäft. Vor 50 Jahren war jede
Nachricht, die aus den U. S. A. nach Europa gelangte, mindestens I Monat
alt ; ebenso lange dauerte cs, um einen Auftrag nach drüben gelangen
zu lassen. Dann kam der Transport der gekauften Ware von langer
und unbestimmter Dauer. Erst nach ihrer Ankunft konnte der
Importeur über sie disponieren und auf einen Käufer hoffen. Erst
wenn dieser gefunden war und bezahlt hatte, hatte der Kaufmann
sein Kapital von neuem disponibel. Heute findet der Hamburger
oder Bremer Importeur morgens, wenn er aufs Komtor kommt,
Depeschen aus New- York oder Bombay vor, worin Anstellungen
von Petroleum, Schmalz, Baumwolle etc. für einen ganz bestimmten
Preis gemacht werden. Der Kaufmann kalkuliert den acceptablen
Verkaufspreis; sucht für diesen Käufer, findet sic vielleicht schon
an der Börse, acceptiert noch von der Börse aus telegraphisch die
Offerte des New-Yorker oder Bombayer Hauses und betrachtet damit
im wesentlichen das Geschäft als erledigt '). Besonders deutlich ist
die Beschleunigung der Handelsgeschäfte und damit des Kapital-
umschlages in der Entwicklung des amerikanischen Getreide-
handels zu verfolgen '■*). Sobald der städtische Elevatorbesitzer
in New- York abends die telegraphische Uebersicht von den Tages-
einkäufen der Landelevatoren erhält, telegraphiert er seine Verkaufs-
Offerten mit kurzer Annahmefrist in alle Richtungen der Welt hinaus.
In der Nacht kommt die Antwort zurück. Morgens findet der
Elevatorbesitzer die Antwort vor, welche den Verkauf von so und
so viel Busheis Getreide meldet. Dieser Verkauf wird stets unter
Cif-Bedingungen abgeschlossen. Die Verschiffung selbst wird baldigst
zu den ersten annehmbaren Bedingungen angenommen, so dals bis-
*) Vgl. Th. Barth, Wandlungen im Welthandel. 1882. S. 8, IO.
*) Vgl. H. Schuhmacher, Der ‘Getreidehandcl in den Vcr. Staaten von
Amerika etc. Jahrbücher für N.-Ock. III. F. Bd. X. S. 825. Für die ältere Form
des Gctrcidehandels im 19. Jahrhundert vgl. C. J. Fuchs, Der englische Getreide-
handel und seine Organisation; a. a. O. N. F. Bd. XX.
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Werner Somb.irt,
weilen das bereits vor Ankunft in der Stadt wieder verkaufte Ge-
treide nur zum Zweck der Gradierung und genauen Wägung den
Elevator passiert. Zugleich mit der Verschiffung und gleichzeitigen
Konnossementsausstellung wird in der Höhe des Kaufpreises auf den
Käufer ein Wechsel gezogen und ohne Schwierigkeit mit 90 — 95 Proz.
sogleich honoriert und beim lokalen Bankier diskontiert: womit der
Kaufpreis des betreffenden, in der Getreidelieferung engagierten
Kapitalteils vollendet, sein Umschlag vielleicht binnen 2 — 3 Tagen
vollzogen ist.
Wie aber Verkehrs- und Produktionstechnik, Handels- und
Betriebsorganisation in einander greifen und zur Abkürzung des
Kapitalumschlags beitragen, dafür bietet ein Schulbeispiel die
Baumwollspinnerei dar. An ihr hat bekanntlich Karl Marx
im zweiten Bande des Kapitals seine geniale Theorie der Kapital-
zirkulation vornehmlich illustriert. Und es ist nun reizvoll, zu be-
obachten, wie sich seit der Abfassung jenes zweiten Bandes, also
seit etwa einem Menschenalter die Bedingungen des Kapitalumschlags
von Grund aus geändert haben. Marx rechnet noch mit 6 — 8 wöchent-
lichen Baumwolltransporten, ebenso langen Rcmittierungszeiten, mit
eigengehandeltcn Rohstoffen , grofsen I tigern , wochcnlangen Pro-
duktionszeiten u. s. w. und gelangt auf diese Weise zu aufser-
ordentlich langen Umschlagsperioden, die heute völlig antiquiert sind.
Heute ist das Prinzip dieses : der englische Spinner kauft den Rohstoff
in kleineren Quantitäten von 8 zu 8 Tagen in Liverpool gegen bar
oder kurzes Ziel. Also so gut wie gar keine Baumwolle wird auf
Lager gehalten. Die gekaufte Baumwolle verweilt in der Fabrik
nur wenige Tage. Zwei bis dreimal wöchentlich verkauft er das
Garn an der Börse von Manchester, deren Organisation selbst ihm
erst die Möglichkeit seiner kurzfristigen Produktion verschafft ’).
Augenfällig ist nun die Thatsache , dafs sich die Länge des
Lebenslaufs einer Ware in ihrem naturalen Zustande keineswegs
notwendig deckt mit der Länge der Umschlagsperioden der Einzel-
kapitalien. Letztere können somit auch eine Abkürzung erfahren,
ohne dals jener in seiner Dauer altericrt wird, wie auch unsere
Beispiele schon ersichtlich machen. Beim reinen Differenzgeschäft
beobachten wir sogar eine völlige l.oslösung des Kapitalumschlags
von dem Schicksale der Ware selbst. Aber als Regel darf doch
gelten, dafs auch die Abkürzung der (objektiven) Zirkulationszcit,
*) Vgl. G. von Schulzc-Gacvcrnitz, Der Grofsbetrieb (1892), lol ff.
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Der Stil des modernen Wirtschaftslebens.
1 3
sowie der Produktionszeit der Ware aus dem Streben nach Be-
schleunigung des Kapitalumschlages sich ergiebt, somit also eine
Tempobeschleunigung des wirtschaftlichen Prozesses auch in naturaler
Betrachtungsweise (d. h. ohne Rücksichtnahme auf die dabei ent-
stehenden Rechtsverhältnisse) die Folge ist.
Kann diese Thatsache jemand leugnen? Kaum. Sicherlich
aber nicht Böhm-Bawerk. Und doch bleibt dieser nach wie vor
bei seiner Behauptung stehen: es werde das Wirtschaftsleben (in-
sonderheit das der Gegenwart) von der Tendenz zur Verlängerung
des Produktionsweges beherrscht. Und hat er damit etwa nicht
recht? Ist es nicht der längere Weg, den die maschinelle Herstellung
von Leinengarn zurücklegt, als der, auf dem die spinnende Bäuerin
zum Ziel gelangt: beide Mal angenommen, dafs die Produktion der
Ware selbst samt derjenigen ihrer Produktionsmittel gerade jetzt
im Augenblicke anfange. Gilt nicht dasselbe für jede Produktion
auf hoher technischer Basis unter Anwendung grofser Maschinen-
systeme in mächtigen Fabrikgebäuden, wo ein gewaltiger Apparat
von Produktionsmitteln in Bewegung gesetzt wird, im Vergleich
zu der technisch weniger vollendeten Herstellungsweise? Selbst
wenn man zögern möchte, eine Allgemeinheit dieser Tendenz an-
zuerkennen : so viel ist doch sicher , dafs in der überwiegenden
Mehrzahl der Fälle sich ihre Wirksamkeit beobachten läfst. Wir
können als Regel annehmen, dafs die vollkommenere Verfahrungs-
weise einer mächtigeren Zusammenfassung produktiver Kräfte, ge-
nauer: einer stärkeren Verwendung von Produktionsmitteln bedarf
als die weniger vollkommene. Da diese aber — die Produktion
als Ganzes genommen — vor Beginn des eigentlichen Produktions-
prozesses immer erst herzustellen sind, so dauert es natürlich alle-
mal länger, ehe die erste Menge Produkt mittelst des vollkommeneren
Verfahrens gewonnen wird.
Im praktischen Wirtschaftsleben tritt nun freilich dieser Sach-
verhalt niemals unmittelbar als solcher in die Erscheinung: braucht
ja doch kaum eine längere Spanne Zeit zu vergehen, bis der
Fabrikant seine Schuhfabrik, als bis der Schuster seine Werkstatt
eingerichtet hat. Beide kaufen alles, was sie zur Produktion be-
dürfen, fertig auf dem Markte. Und wenn sie nun ihre Thätigkeit
beide an demselben Tage beginnen, so haben am Abend dieses
Tages in der grofsen P'abrik hundert Arbeiter too Paar Schuhe
fix und fertig gestellt, während auf dem Arbeitstisch des Schusters
ein Paar in halbfertigem Zustande liegt.
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14
Werner Sorabart,
Gleichwohl macht sich auch in der Praxis jene Verlängerungs-
tendenz (wie wir der Einfachheit halber fürderhin sagen wollen),
wenn auch auf Umwegen, bemerkbar. Und zwar darin, dafs sie
auf eine Verlängerung der Umschlagsperioden des
Kapitals hinwirkt. Jeder Ersatz der Handarbeit durch Maschinen-
arbeit bedeutet eine Vermehrung des fixen Kapitals im Verhältnis
zum Gesamtkapital, retardiert also den Rückstrom des Kapitals zu
seinem Besitzer, dieweil ja die Wesenheit des fixen Kapitals darin
beruht, dafs es seinen Wert in einer längeren Produktionszeit als
das umlaufende dem Produkte zusetzt, also auch reproduziert.
Werden aber gröfsere Betriebsstätten, stärkere Maschinen, schnellere
Schiffe gebaut, so bedeutet auch dieses wiederum leicht eine Ver-
längerung der Umschlagsperioden des Kapitals, wenn nämlich die
neuen Produktionsmittel so viel mächtiger in ihren Ausmafsen sind,
dafs sie auch eine längere Amortisationsperiode erheischen.
Und nun wird es auch ersichtlich, weshalb ich den Streit
Lcxis-Böhm unter dem Gesichtspunkt der Antinomie zu betrachten
den Leser aufforderte. Die Beschleunigung des wirtschaftlichen
Prozesses leiteten wir aus dem Bedürfnis des Kapitals nach Ab-
kürzung seiner Umschlagsperioden ab. Die Wegverlängerungs-
tendenz dagegen lösten wir auf in eine Tendenz gerade zur Ver-
längerung der Umschlagsperioden. Beide Tendenzen also wirken
einander entgegen. Aber was das Entscheidende ist: ihr Gegen-
einanderwirken ist ein notwendiges, ein „gesetzliches" deshalb, weil
die eine die andere aus sich erzeugt. In dem Sinnen auf Be-
schleunigung des Umschlags seines Kapitals wird, wie wir feststellen
konnten, der Unternehmer darauf geführt, den technischen Prozefs
der Gütererzeugung und des Gütertransports vor allem abzukürzen.
Nun ergiebt sich aber, dafe diese Abkürzung den Ersatz des um-
laufenden durch fixes Kapital (Uebergang zur Maschinenarbeit u. dgl.)
den Ersatz von Produktionsmitteln mit kurzen Reproduktions-
perioden durch solche mit langen Reproduktionsperioden meist er-
forderlich macht (Eisen oder Stahl statt Holz, massive statt Fach-
werksgebäude u. dgl.). Denn nur die solcherart verstärkten
Produktionsmittel vermögen die Verfahrungswcisen zu tragen, aus
deren Anwendung die Beschleunigung des technischen Prozesses
folgen soll. Das Streben des Unternehmers nach Ab-
kürzung erzeugt also zunächst die Tendenz zur Ver-
längerung der Umschlagsperioden seines Kapitals.
Ist nun aber einmal die Betriebsanlage auf der verbreiterten Basis
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Der Stil des modernen Wirtschaftslebens.
15
ins Leben gerufen, so wird nun alles Bemühen des Unternehmers
auf höchstmögliche Schnelligkeit des Prozesses gerichtet sein, um
das in der Anlage investierte Kapital möglichst rasch zu repro-
duzieren, bezw. zu amortisieren. So erzeugt die Verlän-
gerungstendenz wiederum die Abkürzungstendenz und
so fort in dulce infinitum. Und es gewinnt fast den Anschein,
als ob diese unausgesetzte, erzwungene Entwicklung dieser beiden
Gegentendenzen die Bcwegungsformel sei, in der sich das moderne
kapitalistische Wirtschaftsleben abspielen müsse. Jedenfalls ist
ihre Wirksamkeit für die Ausbildung des Gesamtcharakters unserer
Wirtschaftsepoche von geradezu entscheidender Bedeutung.
Denn machen wir uns klar, dafs in der Wirksamkeit jener
beiden Tendenzen die Entfaltung einer Erscheinung eingeschlossen
ist, die wir getrost als das Centralphänomen der wirtschaft-
lichen Entwicklung schlechthin bezeichnen können. Ich meine
natürlich das zunehmende Ueberwiegen der sachlichen über die
persönlichen Produktionsfaktoren im wirtschaftlichen Prozefs; die
sich immer mehr ausdehnende Herrschaft der vorgethanen über
die lebendige Arbeit, der Vergangenheit über die Gegenwart. Denn
darauf läuft doch am letzten Ende die immer wiederkehrende Er-
setzung des umlaufenden durch das fixe Kapital ebenso wie die
Verdichtung des letzteren hinaus, dafs die einzelne Arbeitskraft
mit einem immer gröfseren Apparat von Produktionsmitteln aus-
gestattet wird, um einen Zuwachs an Leistungsfähigkeit zu er-
fahren. In kapitalistischer Betrachtung bedeutet diese Wandlung
aber nichts anderes als eine Verschiebung des Verhältnisses zwischen
Real- und Personalkapital zu Gunsten des ersten, was bekanntlich
Marx schon in ausführlicher Darstellung entwickelt hat (r wächst
rascher als v).
Für die Beziehungen zwischen kapitalistischen und vor-
kapitalistischen Wirtschaftsformen aber birgt diese Tendenz noch
den tieferen Sinn, dafs, weil die erfolgreiche Wirtschaftsführung
im wachsenden Mafse der Zuhilfenahme sachlicher Produktions-
faktoren bedarf, solche aber in der Mehrzahl der Fälle nur kollek-
tiven Arbeitern • — also auf beträchtlich erweiterter Stufenleiter —
möglich ist, die Verfügung über ein entsprechendes Sachvermögen
immer mehr zur Bedingung selbständiger Produktion wird. Wollte
man ein allgemeines Gesetz für das Zurückweichen des Handwerks
vor der kapitalistischen Produktionsweise aufstcllcn, so könnte es
kein anderes sein als dieses: dafs in dem Mafse, wie im Wirtschaft -
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Werner Sombart,
liehen Prozefs die lebendige Arbeit im Verhältnis zu den sachlichen
Produktionsfaktoren an Bedeutung verliert, das auf dem Grunde
persönlicher Arbeitsleistung aufgebaute Handwerk der auf der Vor-
herrschaft der Produktionsmittel basierten kapitalistischen Organi-
sation weichen mufs.
Ein solches „Gesetz“ ist nun aber in dieser Allgemeinheit ein
blutleeres Schemen. Es wäre deshalb eine armselige Theorie der
gewerblichen Entwicklung, wollte sie sich mit seiner Formulierung
begnügen. Anderen Untersuchungen ') mufs ich Vorbehalten, die
reiche Mannigfaltigkeit der kausalen Verknüpfungen, aus denen sich
der Umgestaltungsprozefs des modernen Wirtschaftslebens zusammen-
setzt, vor dem geistigen Auge des Lesers auszubreiten.
Ihre rechte Würdigung erfahren die hier blofsgclegten Prinzipien
der wirtschaftlichen Entwicklung erst, wenn wir sie in ihrer Wirkung
auf den gesamten Zuschnitt der modernen Kultur, auf
den „Stil des Lebens" verfolgen. Das im einzelnen zu thun, mufs
auch späteren Studien überlassen bleiben. Hier soll nur in den
Grundzügen jener Zusammenhang skizziert werden, soweit es nötig
ist für das Verständnis des Verlaufs desjenigen Abschnitts gewerb-
lichen Lebens, den wir zunächst verfolgen.
Was der moderne Kapitalismus, sei es unmittelbar durch Be-
einflussung der mit ihm in Berührung kommenden Personen, sei es
durch Vermittlung von Zwischengliedern, die er selbst erst erzeugt
und unter denen die Errungenschaften der Technik die vornehmste
Stelle einnehmen, an neuen N’uanzicrungsn in das Kulturleben
hineinträgt, läfst sich in einigen Schlagworten vielleicht, wie folgt,
zusammenfassen.
Er wirkt vor allem das, was man eine Ueberwindung der
Materie nennen kann, offensichtlich durch den technischen Fort-
schritt, für den er die Triebkräfte erzeugt. Seltsamer Weise hat
aber, wie jedermann weifs, diese Ueberwindung der Materie erst ein-
mal zu einem Siege des Materiellen geführt. Es ist oft und mit
Recht unserer Zeit vorgehalten worden, dafs sie eine vorwiegend
sachliche Kultur — auf Kosten der Persönlichkeit — entwickelt
habe. Wir werden nach dem, was wir früher erfahren haben,
diese Tendenz der Kulturentwicklung durchaus begreiflich finden,
weil wir sic als unmittelbaren Ausflufs der wirtschaftlichen Ent-
wicklung aufzufassen vermögen. Diese, sahen wir, drängt die per-
1 ) Vgl. mein demnächst erscheinendes Werk : Der moderne Kapitalismus, Bd. II.
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Der Stil des modernen Wirtschaftslebens.
1 7
sönliche Arbeitskraft immer mehr zurück, läfst die vorgethane
Arbeit (in den Produktionsmitteln) eine immer entscheidendere
Rolle spielen, versachlicht also gleichsam den gesamten wirtschaft-
lichen Prozefs. Was Wunder, wenn die im Bereiche des Wirt-
schaftslebens gewonnenen Anschauungen über dessen Grenzen hinaus
ihre Herrschaft auszudehnen versuchen und allerorts eine Neigung
erzeugen, die sachlichen Kulturfaktoren zu überwerten. Die Re-
aktionsbewegung, wie sie vor allem an den Namen F r i e d r i c h
Nietzsche sich anknüpft, ist im Grunde doch auch nur eine Be-
stätigung für die Existenz und Mächtigkeit jener Tendenzen. Auf
der andern Seite hat die Ueberwindung der Materie doch unstreitig
einen Zug ins Grofsartige, ins Massige, aber auch ins Mächtige in
unsere Zeit hineingetragen. Ich möchte glauben, dafs gerade auch
der Schwung eines Friedrich Nietzsche, die „P'ahrt“, die sein
Geistesleben hatte, nicht denkbar wären ohne die naturwissenschaft-
lichen und technischen Errungenschaften der Zeit. Zumal wenn
wir diese auf die andern Gebiete ihrer Wirksamkeit verfolgen.
Da ist es die Ueberwindung des Raumes, die sich als
zweite grofse Leistung uns darstellt. Wie sie die Welt gleichsam
ausgeweitet, die Idee der Unendlichkeit erst recht zu einem Besitztum
unserer Seele gemacht hat, so hat sie die Raumverhältnisse auf der
Erde in unserer Vorstellung verkleinert. Und indem sie die In-
differenz gegenüber den Entfernungen erzeugte, verhalf sie der
Gleichgültigkeit gegenüber dem Unterschiede der Oertlichkeiten und
ihres Zubehörs zum Leben. Sie hat in eminentem Mal'sc nivellierend
auf Lebensgewohnheiten, Leistungen, Geschmack gewirkt. Man hat
geradezu dem Gedanken Ausdruck gegeben : es werde mit Dichtung
und Kunst überhaupt bald zu Ende gehen, wenn es nicht gelinge,
„die Verkehrsmittel in ihren zersetzenden Folgen“ zu dämmen. In
der That: jede dichterische oder künstlerische Produktion ist heute
binnen wenigen Tagen oder Wochen Gemeingut der gesamten „ge-
bildeten Welt“. Das Publikum steht unter unausgesetzter Beein-
flussung durch die Leistungen der ganzen Erde, die Künstler selbst
kommen vor lauter „Anregungen" von aufsen her, die ihnen die
Eisenbahn in Form von Ausstellungsbildern, oder die Kunstzeit-
schriften zutragen, oder die sie selbst auf Reisen empfangen, kaum
noch zur Sammlung, Vertiefung und Entwicklung ihrer Eigenart ').
*) Das ist mit Bezug auf den Entwicklungsgang Hans Ungcrs hübsch dar-
gclegt von Hans W. Singer in der Deutschen Kunst und Dekoration. Januar
1900. S* 179 ff.
Archiv Tür sox. Gesetzgebung a. Statistik. XVII. 2
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Werner Sombart,
Wiederum sind die Reaktionsströmungen , wie sie unsere Zeit in
der Betonung des Wertes einer „Heimatkunst“ erzeugt hat, nur
Bestätigungen für das Walten der gekennzeichneten Grundtendenz.
Aber noch viel mehr unserer Epoche zu eigen gehört die U e b er-
windun g der Zeit. Es scheint mir in der That nicht un-
berechtigt zu sein, wenn man gerade das letzte Jahrhundert „in
erster Linie als Aera der Siege über die Zeit" bezeichnet
hat. „Wir dringen an der Hand der Wissenschaft auf dem Boden
der geologischen, paläontologischen, historischen und archäologischen
Entdeckungen immer mehr und mehr in das Innere der Vergangen-
heit ein, wir verwandeln in Zukunft und verewigen die Gegenwart
mit Hilfe der Photographie, des Phonographen, der Kinematographie
und anderer wunderbarer Entdeckungen, wir sagen die mögliche
Zukunft der Welten voraus, vermöge der physikalischen Lehre von
den Energien , wir heben auf und modifizieren thatsächlich die
Mafsc der Zeit, und dadurch des Raumes vermöge der Eisenbahnen,
Telegraphen, Telephone — der Raum ist von der Wissenschaft
teilweise schon zur Zeit der Renaissance vermöge ihrer Entdeckungen,
so auch während der folgenden Jahrhunderte überwunden worden.
Die Zeit aber unterwirft und überwältigt der Mensch immer mehr
und mehr vermöge seiner neuen Entdeckungen und Erfindungen in
unserem Jahrhundert *).“
Diese objektive Beherrschung der Zeit hat nun aber zu einer
völligen Neugestaltung des individuellen Zeitbewufstseins
geführt, an der die Einwirkung der kapitalistischen Interessen noch
unmittelbarer, handgreiflicher zu Tage tritt.
Es ist hier vor allem die gesteigerte Wertung der Zeit
hervorzuheben, die sowohl in der fortschreitenden Exaktheit ihrer
Messung, als in der wachsenden Bedeutung sich ausdrückt, die wir
auch den kleinsten Zeitabschnitten beilegen. Der Sekundenzeiger
an den billigsten Taschenuhren, die dem Durchciler der Grofsstadt
auf Schritt und Tritt begegnenden Grofs- und „Normaluhren s), die
Nicolas von Grot, Der Begriff der Seele und der psychischen Knergic
in der Psychologie im Archiv für systematische Phlilosophie. Band IV (1898).
S. 262. Sehr viel hübsche Gedanken zu unserem Thema enthält auch der Vortrag
von Prof. M. Lazarus über „Zeit und Weile“ (in den „Idealen Fragen“ [i878j
S. 159 — 232), nur fehlt seinen Ausführungen leider — wie so oft bei „Philosophen“ —
die Pointe: nämlich der Hinweis auf die historische Relativität der Zeitwertung.
•) In Spanien ist an keinem Bahnhof eine Uhr. „Das Zeitgefühl scheint etwas.
Fremdes in Spanien.“ R. Mut her, Studien und Kritiken 1 (1900), 341.
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Der Stil des modernen Wirtschaftslebens.
'9
Fünfminutenaudienzen bei Beamten, Aerzten, Rechtsanwälten, die
Gesangs- oder Klavier, stunden" von 15 Minuten bei grofsen
Meistern, die Fünftelsekundenmessung beim Fahrradsport, die
Exaktheit unseres Bahnverkehrs, die summarischen Verfahren im
Gerichtswesen und in der Verwaltung, die Postkarte, der Telegramm-
stil, das gesamte Bewegungstempo in der Grofsstadt im Vergleich
zur Kleinstadt, alle diese Erscheinungen sind der Ausdruck jener
gesteigerten Wertung der Zeit.
Mit dieser Iland in Hand geht nun aber das wachsende Be-
dürfnis einer immer zahlreicheren Menschengruppe nach be-
schleunigter Lebensführung, will sagen: nach einer stärkeren
Konzentrierung der Eindrücke sowohl, als der Gefühls- und Willens-
äußerungen, somit nach einer vermehrten Ausgabe von Energie
in einem bestimmten Zeitraum. Dafs diese immer mehr um sich
greifende Grundstimmung unserer Epoche unmittelbar aus dem
Stile unseres Wirtschaftslebens herauswächst, ergeben unsere früheren
Ausführungen.
Der ganze wirtschaftliche Prozefs, weil er auf Beschleunigung
hindrängt, beruht ja auf nichts anderem, als auf einer stetig zu-
nehmenden Intensivierung und Kondensierung der wirtschaftlichen
Vorgänge im Interesse vermehrten Geldgcwinncns. Und diese Vor-
gänge greifen natürlich zunächst in alle Sphären des sozialen Lebens
hinüber, in denen auch der Erwerbstrieb rege geworden ist, also
dafs immer mehr Menschen aus diesem rein materiellen Grunde
ihre Lebens- d. h. Geschäftsführung zu beschleunigen, d. h. zu ver-
dichten sich angelegen sein lassen. Von jenen Centren gesteigerter
Lebensintensität geht dann der Anstoss aus, der immer weitere
Kreise aus ihrer beschaulichen Ruhe aufstört. Schließlich wird das
gesamte Kulturleben von dem Fieber ergriffen, cs beginnt das
Hasten und Drängen auf allen Gebieten, das nun recht eigentlich
die Signatur der Zeit geworden ist.
Häufung der Eindrücke und dadurch bewirkte vermehrte Aus-
schaltung von Lebensenergic ist unser tiefstes und nachhaltigstes
Bedürfnis geworden: Zola und Ibsen vergleiche man mit Walter
Scott und J. H. Voss, Liszt und Richard Straufs mit Haydn und
Mozart um zu ermessen, welchen ungeheuren Grad von Intcnsivi-
sierung und somit Tempobeschleunigung unsere Zeit erreicht hat.
Es scheint nun aber ein psychologisches Gesetz zu sein, dafs
die Beschleunigung des Lebenstempos mit Notwendigkeit eine
raschere Uebersättigung, Ueberspannung, Uebermüdung erzeugt und
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Werner Sombart, Der Stil des modernen Wirtschaftslebens.
damit das Bedürfnis — wenn nicht schon nach Ruhe, wie es in
allen Dekadenzerscheinungen zu Tage tritt, so doch — nach Ab-
wechslung der Reizungsqualitäten. Es entsteht so jene Freude am
Neuen um seiner selbst willen, jene „Neuerungssucht“, die dem
Kapital die psychologische Unterlage bietet, um darauf wiederum
sein System des unausgesetzten Formwcchscls der Gebrauchsgüter
aufzubauen, das es, wie wir in anderem Zusammenhänge noch ge-
nauer verstehen lernen werden, um seiner Selbsterhaltung willen in
der Mode ausgestaltct hat. In dieser löst sich also aus dem
Zentrum der kapitalistischen Interessen abermals eine Tendenz zu
fortwährender Neugestaltung unserer Umwelt los, die sich zwar
zunächst nur auf die materielle Güterwelt erstreckt, dann aber natür-
lich auch sehr bald auf die Gebiete der idealen Interessen hinüber-
greift: unsere Philosophiesysteme, unsere Kunststile und Litteratur-
richtungen wechseln jetzt beinahe ebenso häufig wie unsere
Kravatten- und Hutmoden.
Alles dieses tritt nun aber zurück gegenüber der revolutionären
Wirkung, die die kapitalistische Wirtschaft unausgesetzt auf die
sozialen Schichtungs Verhältnisse ausübt. Es ist eine
jedermann vertraute Erscheinung, dafs diese täglich in neuer Ge-
staltung sich unserm Auge darbieten, sei es, weil neue soziale
Klassen entstehen, alte verschwinden, sei es, weil die Zusammen-
setzung jeder sozialen Gruppe selbst ebenfalls einem fortwährenden
Wandel unterliegt. Das war es, was Theodor Fontane mit ge-
wohnter Prägnanz ausdrücktc, als er die Worte schrieb, die diesem
Kapitel als Motto vorangestellt sind. Wer ihren Sinn begriffen hat,
besitzt dann die Schlüssel des Verständnisses für die innerste Eigen-
art unserer Zeit und wird auch mit geschärftem Auge den Umgestal-
tungsprozefs auf den einzelnen Gebieten des sozialen Lebens ver-
folgen können.
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Das preufsische Fürsorge-Erziehungsgesetz
vom 2. Juli 1900.
Vom Standpunkt der Armenpflege und der
Sozialpolitik.
Von
Dr. k. flesch,
Stadtrat in Frankfurt a. M.
Es sind in neuerer Zeit wenige Gesetze erlassen worden, die
sich einer so allgemein günstigen Aufnahme zu erfreuen gehabt
haben, wie das am I. April 19OI in Kraft getretene preufsische
Gesetz über die Fürsorge- Erziehung Minderjähriger
vom 2. Juli 1900. Es hat diese ungeteilte Sympathie zu (Linken
nicht nur dem idealen Motiv, der Billigung des Zwecks, den es er-
reichen will; sondern auch dem ganz nüchternen und realen Moment,
dafs es die Kosten, welche seine Durchführung erfordert, in erster
Linie den stärkern Schultern, dem Staat und den Kommunalverbänden
auflegt. Ein Gesetz, welches eine nützliche, ja notwendige Erwei-
terung der öffentlichen Leistungen bewirkt, ohne die Privaten über-
haupt heranzuziehen, ohne die Gemeinden mehr als bisher zu be-
lasten; ein Gesetz, das die bereits bestehende Beitragspflicht des
Staates vergröfsert, ohne dem Staat wesentlich gröfseren Einfluls
auf die zu beordnende Angelegenheit zu geben ; ein Gesetz, das ins-
besondere den kleinen Gemeinden und Gutsbezirken eine Vermin-
derung der unerfreulichsten Ausgaben, — nämlich derer für Armen-
pflege — und zugleich eine Besserung der Armenlursorgc in sichere
Aussicht stellt, — kann es Wunder nehmen, dafs ein solches Gesetz in
den gesetzgebenden Körperschaften, den Provinziallandtagen und
noch mehr in den Magistraten und Bürgermeistereien freudig bewill-
kommnet ward? Auch wird in derThat jede Besprechung des Ge-
setzes beginnen müssen mit der vollsten Billigung des Zwecks des
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K. F 1 e s c h ,
Gesetzes und mit der Anerkennung, dafs sich der Gesetzgeber bei
der Durchführung seines legislatorischen Gedanken von fiskalischen
und bureaukratischen Neigungen im wesentlichen frei zu halten ver-
standen hat. Das Gesetz bedeutet einen wirklichen Fortschritt,
dessen Tragweite vielleicht da und dort überschätzt worden ist,
aber keineswegs gering geschätzt werden darf. Eis bleibt noch
genug des Erfreulichen, auch wenn, wie wir sehen werden, das
Gesetz juristisch sich fast durchaus auf den bereits betretenen Wegen
hält, vom Standpunkt der Armenpflege manche Dunkelheiten und
Unklarheiten in sich birgt, und das Gebiet der eigentlichen Sozial-
politik kaum berührt. Im übrigen versteht sich von selbst, dafs
diese wie wir glauben, durchaus objektive Beurteilung um einige
Grade wärnter werden, oder aber sich dem Gefrierpunkt um etwas
annähern mufs, je nach dem politischen Standpunkt, von dem der
Beurteiler ausgeht. Das kann kaum anders sein bei einem Gesetz,
dafs so, wie dieses, die wichtigsten Tagesfragen — oder Schlag-
worte — direkt oder indirekt berührt, (die Verrohung der Jugend;
die Liederlichkeit, Genufssucht; Irreligiosität der Massen; — die
überlange Arbeitszeit, die Hungerlöhne, die kein Familienleben auf-
kommen lassen u. s. w.), und das zugleich einer Gattung von Be-
amten, — auch die Richter sind ja Beamte ! — eine so weitgehende
Macht einräumt, wie sie in diesem Gesetz den Vormundschafts-
richtern gegeben ist.
Indessen ist die Aufgabe dieses Aufsatzes und dieser Zeit-
schrift die Klarlegung dessen, was im neuen Gesetze ist. Die
Ergänzung durch die Darlegung dessen, was in dasselbe herein-
getragen werden kann, — und was Jeder, je nach seinem
Standpunk, hereinzutragen versuchen wird, mufs der politischen
Uebcrzeugung der einzelnen Leser Vorbehalten bleiben.
I. Juristisch stellt sich das Gesetz dar als eine Erweiterung
des früheren, von ihm aufgehobenen sogenannten Zwangserziehungs-
gesetzes vom 13. März 1878.
Dieses bezog sich auf Kinder, die nach Vollendung des 6. und
vor Vollendung des 12. Jahres eine strafbare Handlung be-
gangen hatten; die Zwangserziehung endete mit dem 16., in Aus-
nahmefällen mit dem 18. Lebensjahr des Kindes.
Das Fürsorgegesetz bezieht sich auf alle Minderjährigen
unter 1 8 Jahren; diese können durch Beschlufs des Vormundschafts-
richters der Fürsorgeerziehung, — die regelmäßig erst mit der
Minderjährigkeit endet (§ 13) — unterworfen werden;
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Das prcufsischc Fiirsorge-Erzichunpsgesctz vom 2. Juli 1900.
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1. wenn es zur Verhütung der sittlichen Verwahrlosung
erforderlich ist (§ l Abs. I u. 2)
a) in Rücksicht auf die Eltern des Kindes: (weil der Vater
sein Recht der Sorge für das Kind mifsbraucht, das Kind
vernachlässigt, oder sich eines ehrlosen oder unsittlichen
Verhaltens schuldig macht).
b) in Rücksicht auf eine Handlung des Kindes und die
Verhältnisse, in denen cs lebt: (weil die Beschaffenheit einer
vom Kind begangenen strafbaren Handlung oder die Per-
sönlichkeit der Eltern oder Erzieher oder die sonstigen Ver-
hältnisse die Verhütung der weiteren sittlichen Verwahr-
losung erfordern).
2. wenn cs zur Verhütung des völligen sittlichen Ver-
derbens des Minderjährigen notwendig ist (§ 1 Abs. 3)
weil die erziehliche Einwirkung der Eltern oder der Schule
hierzu unzulänglich ist.
Der Richter mufs also, um zum Beschlufs der Fürsorge-Er-
ziehung zu gelangen, stets zugleich objektiv feststellen, ob
gewisse thatsächliche Momente vorliegen und subjektiv schätzen,
beurteilen, ob im gegebenen Fall die Mafsregel „erforderlich“
bczw. „notwendig ist“.
Das subjektive Moment, die Ansicht des Richters, seine persön-
liche Auffassung von den Umständen und Verhältnissen, aus welchen
heraus der Fürsorgeerziehungsfall an ihn herantritt, spielen also für
die Durchführung des Gesetzes eine besonders wichtige Rolle. Im
übrigen aber enthalten die Anwendungsfalle eigentlich nichts, was
über den Inhalt des geltenden Rechts, nämlich des bürgerlichen
Gesetzbuches |§ 1666, § 1838) wesentlich hinausginge. Neu ist nur
die, nicht juristische sondern administrative oder finanzielle An-
ordnung, welche gewissen Verwaltungsorganen — den kommunalstän-
dischen Verbänden die Durchführung der betreffenden Anordnungen
des Vormundschaftsrichters auflegt, und ihnen die Aufbringung der
erforderlichen Mittel erleichtert, indem es den Staatszuschufs, — der
nach dem Zwangserziehungsgesetz nur die Hälfte betrug, nun-
mehr auf zwei Drittel erweitert (§ 15).
Juristisch neu ist dagegen die Strafbestimmung des § 21, welche
mit Gefängnis bis zu 2 Jahren und mit Geldstrafen bis zu 1000 M.
oder mit einer dieser Strafen den bedroht, der einen Minderjährigen
dein eingeleiteten Verfahren oder der angeordneten Fürsorge-
erziehung entzieht, oder ihn verleitet, sich dem Verfahren oder der
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K. Flesch,
Fürsorgeerziehung zu entziehen. Bisher fehlte es an einer solchen
Vorschrift gänzlich. Die grofse Unbestimmtheit der nunmehr er-
lassenen Strafandrohung kann kaum getadelt werden; sie soll ebenso
gut gegenüber dem blofsen Unbedacht, dem mangelnden Verständnis
von Verwandten und guten Freunden des Kindes zur Anwendung
kommen, als gegenüber der raffinierten Bosheit und der völligen
Verderbtheit, die z. B. ein sittlich gefährdetes junges Mädchen der
Fürsorgeerziehung entreifsen will, um es einem Leben der Lieder-
lichkeit aufs Neue zuzuführen oder zu erhalten.
Juristisch neu ist wohl auch der § 5, der dem Vormundschafts-
gericht das Recht giebt, bei Gefahr im Verzug die vorläufige Unter-
bringung des Minderjälirigen anzuordnen. Immerhin läfst sich
streiten, ob dem Vormundschaftsrichter eine solche Befugnis zum
Krlafs einstweiliger Verfügungen nicht auch schon ohne die aus-
drückliche Vorschrift des § 5 zugestanden hätte. Wichtig und in
hohem Grad wertvoll sind aber jedenfalls die ausführlichen Vorschriften,
welche die Durchführung der vormundschaftsrichterlichen Anordnung
und die Tragung der aus ihr entstandenen Kosten betreffen. Indem
nunmehr aufser Zweifel steht, dafs die Polizeibehörde die vom Vor-
mundschaftsgericht für notwendig erachtete Mafsregel auszuführen
hat (durch Unterbringung des Mündels in einer Anstalt oder einer
Familie) und dafs sie in allen Fällen die hieraus entstehenden Kosten
vorzuschiefsen hat, ist die an sich nur formale Befugnis des Vor-
mundschaftsrichters — mag sie schon früher bestanden haben oder
ihm neu verliehen sein — erst zu einer wirklichen und für die
ganze Stellung des Vormundschaftrichters bedeutsamen Macht-
erweiterung geworden.
II. Weniger einfach als die Aenderungen am bisherigen posi-
tiven Recht sind die Einwirkungen darzustellcn, welche das Gesetz
auf die Armenpflege ausübt.
1. Zwar finanziell und administrativ oder instanzenmäfsig ist das
Erforderliche bald gesagt, mindestens insoweit, als die öffent-
liche Armenpflege in Betracht kommt.
Die Kosten der Fürsorgeerziehung gehen, wie bereits bemerkt,
zu */'g zu Lasten des Staats, zu '/s zu Lasten des kommunalstän-
dischen Verbandes ; die der Zwangserziehung teilten sich zwischen
Staat und kommunalständischen Verband halb und halb. Die Orts-
armenverbände, d. h. die Gemeinden hatten früher wie jetzt nur die
relativ geringen Kosten der Ueberführung des Zöglings in die An-
stalt, seiner ersten Ausstattung und der Rückreise oder des Begräb-
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Das preulsischc FUrsorgc-Erzichungsgesctz vom 2. Juli 1900.
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nisses zu tragen (§ 15 des Ges.) Zwangserziehung konnte aber
nach den engen Voraussetzungen des Gesetzes nur selten Platz
greifen; die Fürsorgeerziehung ist fast überall auf dem weiten Ge-
biet der Kinderpflege — mit Ausnahme lediglich der reinen Waisen-
pflege — anwendbar, wird also namentlich vielfach auf Kinder an-
gewandt werden , die selbst oder deren Eltern sonst öffentliche
Unterstützung beansprucht hätten oder thatsächlich bisher erhalten
haben. Das neue Gesetz kann hiernach Erleichterung der Ge-
meinden auf einem der wichtigsten und kostspieligsten Teile
der Armenpflege bedeuten; Ueberwälzung der den regelmälsigen
Trägern der Armenlast , den Gemeinden ersparten Kosten zu-
nächst auf den übergeordneten Kommunalverband, d. h. die Pro-
vinz oder — ausnahmsweise z. B. in Hessen.- Nassau — den Re-
gierungsbezirk, und sodann auf den Staat. Freilich ist hierbei zu
beachten, dal's die Ueberwälzung keine so vollständige und allge-
meine ist, wie es den Anschein hat. Die Mittel des Kommunal-
verbandes werden im wesentlichen von den Gemeinden mit be-
sonderer Heranziehung der steuerkräftigen grofsen Gemeinden, der
Städte aufgebracht, so dal's der charakteristische Zug der Ent-
lastung des flachen Landes zum Nachteil der grofsen Städte aller-
dings auch in diesem Gesetze wahrgenommen werden kann.
2. Andererseits nimmt das Gesetz aber den Gemeinden nicht
nur Ausgaben ab, sondern auch Aufgaben.
Die Fürsorgeerziehung tritt ein, wie wir gesehen haben, aus-
schliefslich auf Beschlufs des Vormundschaftsgerichtes (§ 4), und
ihre Durchführung liegt ebenso ausschlicfslich dem Kommunal-
verband ob (§ 9), der insbesondere auch für die Errichtung der
zur Unterbringung der Zöglinge erforderten Erziehung- und Besserungs-
anstalten zu sorgen hat, insoweit es an solchen fehlt (§ 14); der für
die in Familien untergebrachten Zöglinge F'ürsorge zu bestellen hat
(§ n); über Anträge auf frühere Aufhebung der Fürsorgeerziehung
beschlielst (§ 13) u. s. w. Seine Selbständigkeit wird nirgends durch
ein konkurrierendes Recht der Gemeinde gehemmt, die bisher
als Ortsarmenverband die Versorgung der in Armenpflege ge-
nommenen Kinder so gut wie allein in der Hand hatte; sondern
lediglich durch sehr ausgedehnte Aufsichtsbefugnisse des Staats.
So sind z. B. die Reglements der von den Kommunalverbänden
errichteten Anstalten bezüglich aller Bestimmungen über Aufnahme,
Behandlung, Unterricht und Entlassung der Zöglinge der Genehmi-
gung der beiden beteiligten Ministerien (des Innern und des
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K. Flescli,
Unterrichts) Vorbehalten (§ 17). Es ist nicht zu viel gesagt, wenn
hiernach erklärt wird, dafs das Gesetz eine gewisse Tendenz hat,
den Schwerpunkt der Kinderfürsorge aus der Gemeinde weg zu
verlegen; über die Frage, ob ein nicht verwaistes Kind aus der
Familie weggenommen werden soll, ob eine Anstalt zur Kinder-
fiirsorge errichtet oder subventioniert werden soll, welchen Inhalt
das Reglement für diese Anstalt haben soll u. s. w. entscheiden
künftig sehr oft, wenn nicht in der Mehrzahl der Fälle nicht
mehr die städtischen Behörden, sondern, je nach der Art des
Falles, die Vormundschaftsrichter, die Landesdirektoren und die
Minister. Vom Standpunkt derjenigen gröfseren Armenverwaltungen
aus, die mit Mühe und Kosten besondere Organisationen für die
Kinderpflege geschaffen haben (Waisendepots, Kinderherbergen, Pflege-
kolonien in auswärtigen Orten u. s. w.), enthält das Gesetz also
geradezu eine Minderung der bisherigen Selbstverwal-
tung. Allerdings, wie hinzugefügt werden mag, nur vom Stand-
punkt dieser relativ wenigen gröfseren Armenverwaltungen. In der
Mehrzahl der Gemeinden, insbesondere in den kleinen Landorten
konnte von einer derartigen Ausgestaltung der Kinderpflege ja keine
Rede sein ; man brachte Kinder nur unter, wenn man mufste, d. h.
wenn sie vollverwaist oder vollverwaisten gleich zu achten waren;
und man begnügte sich im übrigen damit, den Eltern der Kinder
bare Unterstützung zu geben, also diejenige Art Armenpflege, welche
zwar der Verwahrlosung der Kinder nicht eatgegenarbeitete, dafür
aber jederzeit eingestellt oder unterbrochen werden konnte. Für
diese alle — also für die überwiegende Mehrzahl der Gemeinden
und wohl auch der Bevölkerung — kann hiernach von einer Ein-
schränkung der Selbstverwaltung nicht gesprochen werden; für sie
tritt durch das neue Gesetz nur um so deutlicher die alte Wahrheit
hervor, dals die Ueberlassung der öffentlichen Armenpflege an allzu
kleine, lokale Verbände fehlerhaft ist.
3. Wichtiger freilich als die Frage nach den Instanzen und Or-
ganen, denen die Durchführung des neuen Gesetzes obliegt, ist die
nach der materiellen Bedeutung, die es für die Armenpflege hat.
Hier tritt uns zunächst entgegen ein Punkt, der mit dem eben
besprochenen unmittelbar zusammenhängt, da er sich gleichfalls nur
auf die öffentliche Armenpflege bezieht.
Jede Unterstützung, die von den Organen der öffentlichen
Armenpflege gewährt wird, hat insbesondere zwei Wirkungen, deren
eine speziell mit dem Unterstützungswohnsitzgesetz, die andere mit
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Das prcufsische Fürsorgc-F.rziehungsgcsetz vom 2. Juli 1900.
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den, für Ausübung öffentlicher Rechte gültigen Vorschriften zu-
sammenhängt; und deren eine hauptsächlich die Gemeinde angeht,
in welcher der Unterstützte wohnt oder gewohnt hat, während die
andere ausschließlich den Unterstützten selbst, oder falls dieser —
als Kind, Ehefrau, Stiefkind u. s. w. — wirtschaftlich unselb-
ständig ist, den Vorstand der Familie angeht, zu der er gehört:
Die eine Wirkung ist, dal's von der Zeit, die zwischen dem
Beginn oder Ende der Unterstützung und dem Anzug des Unter-
stützten an einen bestimmten Ort liegt, vielfach abhängt, ob dieser
Ort oder ein anderer (ein früherer Wohnort) der Unter-
stützungswohnsitz ist, d. h. die mit der Unterstützung ver-
knüpften Kosten zu zahlen hat;1) oder ob diese Last keinem ein-
zelnen Ort, sondern einem Kommunalverband (Landarmenverband)
obliegt ? s) Die andere Wirkung ist, dafs mit dem Genüsse öffent-
licher Unterstützung eine Einschränkung der öffentlichen Rechte
des Unterstützten, insbesondere seines aktiven und passiven Wahl-
rechts unmittelbar verknüpft ist.
Auch die Unterbringung eines Kindes hat, wenn sie im Wege
der öffentlichen Armenpflege erfolgt, diese beiden Wirkungen.
So lange sie dauert, behält das Familienhaupt, dessen F'amilie das
untergebrachte Kind angehört, den Unterstützungswohnsitz, den er
zur Zeit der Unterbringung des Kindes hatte; oder, richtiger ausge-
drückt: so lange sie dauert, kann der Ort oder Kommunalverband,
der bei Beginn der Unterbringung die Kosten der öffentlichen Unter-
stützung zu tragen hatte, von dieser Last nicht frei werden, —
auch nicht, wenn die Familie den Wohnort wechselt, oder wenn
das Familienhaupt stirbt; und nicht einmal für die Familienglieder,
die es neu in der Familie aufzunehmen für gut findet: Ein Witwer,
dessen Kind von ihm in Stich gelassen und deshalb im Wege der
öffentlichen Armenpflege untergebracht ward, belastet, falls er sich
*) Die Redensart: X hat den Unterstützungswohnsitz in A ist streng genommen,
ungenau. X hat in A nicht mehr Unterstützungsanspruch als in B, C oder D; son-
dern es hat lediglich Ort A die Pflicht, den Orten B, C, D u. s. w. nach Mafsgabe
der bestehenden Vorschriften Alles zu ersetzen, was diese für Unterstützung des X
aufwandten. X selbst ist für die Leistungen jedes dieser Orte glcichmäfsig nur Ob-
jekt, zufälliger Gegenstand einer vcrwaltungsrcchtlichcn Belastung dieser Orte. —
*} Ueber den Zusammenhang zwischen Armenpflege und Wahlrecht, vgl. die sehr
interessante, auf einen von mir gestellten Antrag hin seitens des Vereins für Armen-
pflege eingeleitete Foquetc: (Referate der Herren Aschrott , Flcsch und Bertram
Heft 26, Verhandlungen auf der sechzehnten Versammlung 1896 zu Strafsburg, Heft 28).
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K. Fl es cli,
wieder verheiratet, den Ort, der s. Z. unvorsichtig genug war, das
Kind durch Unterbringung in einer Erziehungsanstalt der Verwahr-
losung zu entreifsen, dauernd mit der Fürsorge auch für die ehelichen
oder unehelichen Kinder, welche die zweite Frau in die Ehe bringt,
oder die er selbst mit ihr erhält. Kein Wunder, dafs insbesondere
kleinere Orte sich lieber mit ihrer Armenunterstützungspflicht ab-
finden, — indem sie Trunkenbolde und Müfsiggänger , die ihre
Kinder hungern lassen, mit barem Geld unterstützen, und sie viel-
leicht zugleich durch Versagung der Wohnung zum Abzug nötigen,
als dafs sic dieser Pflicht in sachgemäfser Weise, d. h. durch Unter-
bringung der Kinder, welche ihr, selbst verwahrloster Vater nicht
erziehen kann oder will, genügen. Und gerade wegen dieser
leicht erklärlichen Abneigung der Armenverbände gegen diese Form
der Armenunterstützung wird die andere, oben erwähnte Wirkung;
die während der ganzen Unterbringung des Kindes dauernde Be-
schränkung der politischen Rechte des Vaters weniger beachtet !
Die Fürsorgeerziehung ist aber, ebenso wie die Zwangserziehung,
formal betrachtet, kein Akt deröffentlichen Armenpflege;
sie hat also jene beiden Wirkungen nicht. Der Mann, dessen Kind
während seines Aufenthaltes in A. in Fürsorgeerziehung genommen
ist, steht dort nicht in öffentlicher Unterstützung, und ist nicht in
seinem Wahlrecht beschränkt.
Daraus folgt einmal, dafs die Abnahme des Kindes den Vater nicht
hindert, den Unterstützungswohnsitz an einem anderen Ort, B, C, D,
zu erwerben, wenn erdorthin verzieht; und weiter, dafs jemand, dessen
Kinder in Fürsorgeerziehung genommen worden, besser daran ist,
als jemand, der Armenpflege erhält. Die Gemeinde, in welcher der
Vater Wohnsitz nimmt, hat also kein Interesse, der Fürsorgeerziehung
zu widersprechen, bezw. sie hat es höchstens dann, wenn die Familie
erst angezogen ist, den Unterstützungswohnsitz noch nicht erworben
hat. Denn während die Aufnahme des Kindes eines Neuangezogenen
in eine Erziehungsanstalt den Erwerb des Unterstützungswohnsitzes
hinderte, wenn sic im Wege der öffentlichen Armenpflege
erfolgte, erleichtert sie ihn, wenn sie durch Fürsorgeerziehung
geschieht: Die Familie hat einen Esser weniger, hat es also leichter,
sich die Subsistenzmittel dureh die bekannten 2 Jahre ohne Hülfe
der öffentlichen Armenpflege zu verschaffen.
Vom Standpunkt der Gemeinde aus haben sich die Verhält-
nisse also gewissermaßen gedreht :
Die Unterbringung von Kindern, die, bzw. deren Vater, Stief-
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Das preufsischc Fürsorge-Erzichungsgcsclz vom 2. Juli 1900.
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vater, uneheliche Mutter u. s. w. den IT nterstützungs Wohnsitz
hatten, belastete die Gemeinde schwer; möglicherweise, — weil
sich durch sie der l'nterstützungswolinsitz der ganzen Familie kon-
servierte, — lang über die Beendigung der Erziehung hinaus; dagegen
war die Unterbringung neu an gezogener Kinder das beste
Mittel, um die Eltern am Erwerb des Unterstützungswohnsitzes in der
Gemeinde zu hindern: also schlechte Armenpflege für ortsangchörige
Kinder; bereitwillige Unterbringung ortsfremder Kinder. Dagegen
ist jetzt möglichst zahlreiche Herbeiführung der Fürsorgeerziehung
für unterstützungswohnsitzberechtigte Kinder das beste Mittel zur
Verringerung der eigenen Armenlast; und sie liegt zugleich — was
namentlich die kleineren Gemeinden bei der Stellung von Anträgen
auf Fürsorgeerziehung geltend zu machen nicht unterlassen werden,
mehr im Interesse der Kinder, als die schwer zu kontrollierende
offene Armenunterstützung der Eltern. Die Väter der Kinder anderer-
seits haben möglicherweise ein Interesse daran, c’ie Unterbringung
der Kinder im Wege der öffentlichen Armenpflege zu hindern : so-
gar die Aufnahme eines Kindes in ein Hospital zwecks Vornahme
einer Operation beraubt den Vater der politischen Rechte! Aber
sie haben gar keines, oder höchstens ein ethisches oder gemüt-
liches, sich der Fürsorgeerziehung oder früher der Zwangserziehung
zu widersetzen. Erwägt man nun, dafs Kinder, deren Filtern ein
herumzichendes Leben führen, im Zweifel leichter der Fürsorge-
erziehung bedürfen werden, als solche, die wenigstens an einem
Ort ansässig sind und daher feste Wohnung und regelmäfsigen
Schulunterricht haben; und erwägt man weiter, dafs Eltern, deren
Kinder zur Fürsorgeerziehung gebracht werden müssen, wenigstens
vielfach ihrer Erziehungspflicht nicht genügt haben werden, so findet
man allerdings, dafs die Wohlthaten des neuen Gesetzes einer
Kategorie von Kindern besonders schwer zu teil werden , die
seiner besonders bedürftig sind , nämlich denen der Wohnsitz-
losen, z. B. der herumziehenden Landarbeiter; und dafs sie sich
andererseits in ganz besonderem Mafse ausgiefsen über die Filtern,
die ihre wichtigste Pflicht, der Erziehung nicht genügen, und die
nun zum Dank für diese Pflichtvergessenheit von der Fürsorge für
die Kinder und von den Nachteilen der öffentlichen Armenpflege
zugleich befreit werden:
4. Es wäre falsch diese Komplikationen, die sich durch die künst-
lichen Bestimmungen des Unterstützungswohnsitzgesetzes über die
sogenannte armenrechtliche Familieneinheit und den abgeleiteten
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K. F 1 c s c h ,
Unterstützungswohnsitz ergeben, zu übersehen; aber es wäre noch
weniger richtig, in ihnen die wesentliche Bedeutung des neuen
Gesetzes zu erblicken. Für die Erziehung der heranwachsenden
Generation ist es zweifellos von äufserster Wichtigkeit, dafs nunmehr
die Gemeinden in der Mehrzahl der Fälle, — bei ortsangehörigen
Kindern — deren Unterbringung in geordnete Verhältnisse nicht
mehr scheuen, ja dafs sie der Fürsorgeerziehung den Vorzug vor der
offenen Armenpflege geben werden, und nunmehr für die ganze
Kategorie der bereits erwerbsfähigen (über 15 Jahre alten) Kinder,
welche der öffentlichen Armenpflege entwachsen sind, die Möglichkeit
der öffentlichen Fürsorge überhaupt erstmals eröffnet ist, dieser Vor-
teil überwiegt jedenfalls den freilich gleichfalls unleugbaren Nach -
teil, dafs die Verwahrlosung des Kindes, wenn sic zur Fürsorge-
erziehung führt, nunmehr für die Eltern die Prämie der Befreiung
von allen unangenehmen Folgen der öffentlichen Armenpflege ent-
hält. ') Ueberdics «aber ist die öffentliche Armenpflege selbst nur
ein Teil der Armenfürsorge. Wer also die Einwirkung des Gesetzes
«auf die Armenfürsorge im ganzen, — als Summe der Leistungen
der öffentlichen, kirchlichen, vereinsmäfsigen und nichtvereinsmäfsigen
Wohlthätigkeit — erkennen will, d,arf sich nicht mit der Feststellung
begnügen, dafs der Anteil der öffentlichen Armenfürsorge an
der Kinderpflege verringert wird.
3. Bei dieser Betrachtung kommt nun zunächst ein Moment
zur Erwägung:
*) Unterbringung eines an sich erwerbsfähigen Menschen, die veranlagst wird,
um ihn /u erziehen, ist keine Armenunterstützung im Sinne U.W.G.
Das Bundesamt, das von je her auf diesem Standpunkt stand, hat ihn noch
neuerdings aufs entschiedenste aufrecht erhalten, und zwar in einem Urteil vom
18. Mai 1901 in Sachen des O.A.V. Frankfurt a. M., den L.A.V. Wiesbaden, wo cs
aussprach , dafs die Lehrbcihülfet die der Landarmenverband für einen arbeits-
fähigen, aber verwahrlosten fünfzehnjährigen Burschen zahlte, als Armenunter-
stützung nicht zu betrachten sei.
Die öffentliche Armenunterstützung unterscheidet sich also von der Fürsorge-
erziehung in doppelter Beziehung : sie endet mit der beginnenden Krwcrbsfahigkeit.
ohne Rücksicht darauf, ob das der Erziehung gesteckte Ziel erreicht ist; und sie
kann, ganz nach Willkür und Laune der Eltern eines unterstützten Kindes auch
schon früher unterbrochen werden. Die Ermahnung der ministeriellen Auführungs-
bestimmungen vom 18. Dezember 1900: dafs Fürsorgeerziehung nur in Aussicht zu
nehmen sei, wenn nicht durch Armenpflege dem Fortgang der Verwahrlosung ge-
steuert werden könne, dürfte also recht wenig praktischen Wert haben.
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Das preufsisclie Fürsorge-Erziehungsgesetz vom 2. Juli 1900.
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Alle Armenpflege, die öffentliche wie die private tritt nur ein,
wenn sie erbeten wird. Beneficia non obtruduntur; Armenpflege
wird niemandem geleistet, der sie ablehnt.
Dieser Satz erscheint selbstverständlich, solange es sich um
Unterstützung eines erwachsenen, eigener Entschlicfsungen fähigen
Menschen handelt; er wird aber sofort bedenklich, so wie man als
Objekt der Unterstützung ein Kind denkt. Wenn die Unterbrin-
gung eines verwahrlosten Kindes in einer Pflegcstelle, und die Dauer
seines Verbleibs dort von der Zustimmung oder dem Nichtwider-
spruch der Eltern abhängt, so giebt man denjenigen, welche die
Verwahrlosung verschulden, die Macht, denen in den Arm zu fallen,
welche ihr wehren wollen. Es ist ohne weiteres ersichtlich, dafs
sich hieraus schwere Unzuträglichkeiten entwickeln müssen: Auf
die elterlichen Rechte kann nicht verzichtet werden. Verträge mit
den Eltern oder Versprechungen derselben, kraft deren sie sich
verpflichten, die Kinder in der Erziehungsanstalt zu belassen, sind
also ungültig. Liederliche und pflichtvergessene Eltern übergeben
daher ihre Kinder mit Vergnügen der Armenpflege, solange diese
erwerbsfähig sind; aber man holt sic ohne Dank und nach Willkür
zurück, sowie sie fähig zum Erwerb oder zur Hausarbeit werden.
Ob das Kind schon die nötige sittliche Widerstandskraft erlangt
hat ?, ob die bisherigen Pfleger des Kindes, die Vorstände der betei-
ligten Vereine, die Vertrauensmänner der Armenverwaltungen u. s. w.
damit einverstanden sind?, kümmert nicht. Die öffentliche Armen-
pflege hatte bisher gegen diese Eigenmacht wenigstens einige, wenn
auch ganz ungenügende Mittel (Entziehung der sonstigen Unter-
stützung, Rückgabe auch der anderen in Armenpflege genommenen
Kinder u.s. w.) ; die private Kinderfürsorge der Pestalozzivereine, Vin-
zenzvereine, Elisabethenvereine u. s. w. war sogar vollständig schutz-
los, mithin jeden Augenblick der Gefahr ausgesetzt, dafs die ganze
einem Kind zuge wandte Arbeit durch die Böswilligkeit, den Eigen-
nutz oder den Leichtsinn der Eltern vernichtet ward.
Diesen Uebelstand nun, der für die gesamte Kinderfürsorge
eine wahre crux war, und jede kräftige Entwicklung dieses Teils
der Armenpflege hemmte, hat das Fürsorgegesetz gründlich und
vollständig beseitigt. Die in Fürsorgeerziehung genommenen Kinder
sind bis zur Volljährigkeit der Verfügung der Eltern entzogen
(§ 13); diese setzen sich sogar, wie bereits angeführt, schwerer
Strafen aus, wenn sie die Kinder der Fürsorgeerziehung zu ent-
ziehen versuchen (§ 2l). Nur darf nicht vergessen werden, dafs
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K. Flesch
dieser kräftige Schutz nicht zugewandt wird den Kindern,
welche von der öffentlichen oder privaten Armenpflege unterge-
bracht sind; sondern lediglich den in Fürsorgeerziehung
genommenen. Vermehrt ist nicht die Macht der Armenämter,
Vercinsvorstände u. s. w., sondern es ist neu geschaffen eine staat-
liche Instanz, deren Entschliefsung den Willen der Eltern mit den
stärksten staatlichen Machtmitteln durch polizeiliche Anordnung und
Strafverhängung zu brechen in der I.age ist. Die öffentliche
Armenpflege wird kaum Grund haben, hiermit unzufrieden zu
sein. Sie übergiebt einfach die Kinder, deren Verpflegung ihr
bisher zur Last fiel, soweit möglich , der Fürsorgeerziehung.
Lasten erwachsen ihr hieraus nicht, vielfach sogar im Gegen-
teil pekuniäre Erleichterung; und wer die Erziehungsarbeit leitet,
ob sie selbst, oder eine andere Behörde? kann gleichgültig
sein , wenn nur das Ziel der Erziehung jetzt besser gesichert
ist, als früher. Wohl aber läfst sich denken, dal's die private
Kinderfürsorge angesichts des neuen Gesetzes geradezu um ihre
Zukunft besorgt wird; es könnte scheinen, als ob sie weniger not-
wendig, wenn nicht gar überflüssig geworden wäre, nachdem der
Staat selbst einen so grofsen Teil der bisher von ihr versehenen
Arbeit wahrzunehmen begonnen hat. Immerhin mag darauf auf-
merksam gemacht werden, dafs das Gesetz, so weit seine Maschen
auch gespannt sind, doch noch nicht alle Fälle erfal'st, in denen
das Verbleiben eines Kindes in seiner Familie ungeeignet ist
(körperlich oder geistig besonders schwach veranlagte Kinder ;
kränkliche oder moralisch schwache, völlig verarmte Eltern u. s. w.) ;
und dafs überdies die Kommunalverbände, schon aus pekuniären
Gründen die bereits bestehenden Anstalten nicht entbehren und
schon wegen der Neuheit der Aufgabe die Erfahrungen der vor-
handenen Vereine nicht entbehren könnten, selbst wenn das Gesetz
ihnen die Errichtung eigener Anstalten nicht mit der Beschränkung
übertrüge, „soweit es an Gelegenheit fehlt", vorhandene zu
benutzen (j; 14).
III. Die bisherigen Erörterungen, die sich streng an den positiven
Inhalt des neuen Gesetzes und des vorhandenen Armen- und Fa-
milienrechtes hielten, scheinen zu ergeben, dafs, wie die öffentliche,
so auch die private Armenpflege durch das Fürsorgegesetz in ihren
Aufgaben eingeschränkt wird.
Wer auf die Form das Hauptgewicht , legt, und wer, — mit
vollem Recht, — in der öffentlichen Armenpflege oder in der
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Das prcufsische Kttrsorgc-Krziehungsgcsctz vom 2. Juli 1900.
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Privat wohlthätigkeit und Almosen die schlechtesten Formen der
staatlichen Hilfeleistung erblickt, mag hierin gerade den wesent-
lichsten und prinzipiellen Fortschritt finden, den das neue Gesetz
herbeifuhrt. Kine genauere Betrachtung läfst indes bei diesem Re-
sultat nicht stehen bleiben. Das P’ürsorgegesetz hat der Armen-
pflege nichts genommen ; sondern es hat im Gegenteil ihr ein bisher
vom Staat last unbeachtet gelassenes Gebiet hinzugefügt : die Hilfe-
leistung an Kinder, die zwar nicht der Nahrung und Kleidung, oder
des Obdaches, wohl aber der Erziehung entbehren.
Unsere Rechts- und Gesellschaftsordnung hat zwei grol'sc In-
stitutionen ausgebildet, durch welche auch dem Unbemittelten
die Möglichkeit gegeben werden soll, alle Bedürfnisse, die mate-
riellen wie die ideellen zu befriedigen. Pis sind dies der Arbeits-
vertrag und die Familie; der erstere das einzige Mittel, das
heutzutage dem Erwachsenen gegeben ist, um sich, auch wenn er
kein Privatvermügen besitzt, den physischen Unterhalt und die
Möglichkeit der Anteilnahme an allen höheren Kulturgütern und
am öffentlichen I.eben zu schaffen; die andere, die Familie, die
grofse Schutzorganisation, innerhalb deren die noch nicht Arbeits-
fähigen, die Kinder, Nahrung, Pflege und Erziehung finden sollen.
Wo die Aufforderung zum Abschlufs von Arbeitsverträgen nicht
zum Ziel führt (es ist keine Arbeit vorhanden; oder der Arbeits-
ertrag ist zu gering; oder der rechtzeitige Abschlufs des Vertrages
wird unterlassen), — oder wo die Familie nicht begründet werden
kann oder nicht funktioniert (Pihelosigkeit der 1 .andarbeiter in
Bayern, Steiermark u. s. w. infolge der Ehe- und Niederlassungs-
gesetze; Liederlichkeit des Ehemannes; Arbeitszwang der Ehefrau
wegen des ungenügenden Erwerbs des Ehemannes) ist für die vom
Arbeitsvertrag im Stich gelassenen , oder von ihm sich aus-
schliefscndcn Erwachsenen und für die von der F'amilienfiir-
sorge ausgeschlossenen Kinder keine Möglichkeit der ge-
ordneten Existenz im Staat und Gesellschaft, insoweit nicht
die Wohlthätigkeit oder die Armenpflege sie vor dem Schlimmsten
bewahren will.
Erfüllten nun der Arbeitsvertrag und die Familie ihre Funk-
tionen ?
Die allgemeine Annahme ist, dals das regelmäfsig der Fall sei,
vorausgesetzt nur, dafs die beteiligten Personen, die Arbeiter und
die F'amilienvorstände ihre Pflicht thun; und vorausgesetzt weiter,
dafs das Recht alle Staatsbürger gleich, insbesondere die Unbemittelten
Archiv für tot. Gesetzgebung) u. Statistik. XVII. 3
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K. F 1 c s c h ,
und Armen nicht ungünstiger behandelt, als die mit Vermögen aus-
gestatteten Staatsbürger. „Jeder für sich ; und gleiches Recht für alle 1“
Die Armenpflege erscheint hiernach als ein nur ausnahmsweise
zulässiges, und noch seltener notwendiges Hilfsmittel, dessen Vor-
handensein und dessen Anwendung daher denn auch in vielen
Staaten ruhig der Privatinitiative der wohlthätigen Anstalten u. s. w.
überlassen wird (so z. B. in Frankreich, in Holland in manchen,
Staaten der Union). Demgegenüber steht dann die andere Auffassung,
dafs eben die regelmäfsige und fortdauernde Zunahme der Armen-
pflege der beste Beweis dafür sei, dafs Arbeitsvertrag und Familie,
jedenfalls in ihrer zeitigen, rechtlichen Gestaltung und Ausstattung
— nach Ansicht der Marxistischen Schule der Sozialdemokratie,
sogar überhaupt und prinzipiell — ungenügend seien, um die be-
rechtigten Anforderungen der Unvermögenden zu befriedigen. Wenig-
stens so lange als die Getetzgebung die Mängel nicht beseitigt
hat, welche jene Institutionen an den völligen Leistungen ihrer Auf-
gabe hindern, müsse also die Armenpflege eintreten. Die Armen-
pflege erscheint bei dieser Auffassung als unvermeidliche, wenn auch
schlechte Aushilfe; als das Supplement, die Ergänzung, die überall
zum Vorschein kommt, wo im Spiel der staatlichen oder gesell-
schaftlichen Einrichtungen Lücken und Mängel anerkannt werden, und
wo, bezw. so lange als bessere Hilfe — durch die Machtmittel des
Staates (Gesetzgebung und Verwaltung) oder durch Stärkung der
ideellen Faktoren im Menschen (Hebung des Pflichtgefühls durch
Unterricht oder durch Religion oder durch Furcht vor Strafe) noch
nicht gefunden ist.
Welche dieser Auffassungen nun auch richtig sein mag, sicher ist,
dafs die deutsche Gesetzgebung in den letzten Jahren sich wenigstens
des Arbeitsvertrags vielfach angenommen hat, und zwar gerade in dem
Sinn, dafs Hilfe geschaffen werden sollte für diejenigen Unvermögenden,
die zum Abschlufs eines Arbeitsvertrags zeitweise nicht oder dauernd
nicht mehr in der Lage sind (Kranken-, Unfalls-, Altersversicherung). •
Es scheint also anerkannt zu sein, dafs der Arbeitsvertrag bisher
nicht ausreicht, — auch nicht bei voller Rechtsgleichheit zwischen Ar-
beitgeber und Arbeiter, und bei durchschnittlicher Tüchtigkeit, Spar-
samkeit u. s. w. der Arbeiter, — um diesen den Unterhalt zu sichern
auch während der Pausen, die unvermeidlicher Weise ab und zu in
der Arbeitsfähigkeit eines jeden eintreten ; und es scheint anerkannt,
dafs gesetzliche Hilfe durch Lohnregulierung, d. h. Zufügung des
erforderten Betrags zum Einkommen des Arbeiters geschaffen werden
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Das prcufsische Fürsorgc-Erzichungsgcsetz vom 2. Juli 1900.
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mufs, damit dieser nicht auf Armenunterstützung angewiesen sei,
um die Zeit der Krankheit, die Periode des Alters u. s. w. zu über-
stehen. Der Arbeitsvertrag ist also zwecks Eindämmung der
Armenpflege durch grofse gesetzliche Organisationen verstärkt
worden ; dagegen ist zur Kräftigung der Familie als Schutz-
organisation der Unerwachsenen fast nichts geschehen. ') Das ehe-
liche Güterrecht, die Regelung der Unterhaltspflicht, das Vormund-
schaftsrecht haben alle vielmehr die vermögensrechtlichen Ansprüche
der Unerwachsenen als ihren Anspruch auf Erziehung, Heranbildung
pflegliche Fürsorge im Auge. Die Bestimmungen über den Schul-
zwang, über die Beschränkung der Kinderarbeit oder über die Mög-
lichkeit der Einführung der obligatorischen Fortbildungsschule sehen
völlig davon ab, ob die Familie, der das Kind während der Schul-
zeit entrissen oder der es nach den zugelassenen Arbeitsstunden
überlassen wird, zur Leistung der Erziehungsarbeit imstande ist.
Es gilt vielmehr, ganz wie früher für den Arbeitsvertrag so jetzt
noch für die Familie, gewissermassen als Axiom, dafs sie zur Er-
füllung ihrer Aufgabe als Schutz und Stütze der heranwachsenden
Generation jederzeit bereit und befähigt sei, solange nur gewisse aufser-
halb des Bereichs des Staats und des Rechts liegende Kräfte religiöser
oder ethischer Art in ihr walten. Uebersehen wird hierbei nur, dafs die
Familie zu ihrem Bestand aufser dem Wirken jener ideellen Kräfte
auch noch materieller Unterlagen bedarf, deren Vorhandensein durch
das positive Recht allerdings erleichtert und gesichert werden kann.
Die Familie bedarf I. der räumlichen Unterlage, der Wohnung;
2. einer angemessenen Ausstattung dieses Raumes und eines ge-
wissen Vorrats wirtschaftlicher Güter für jedes Familienmitglied,
des Ha uss t a nd s;2) 3. der fortwährenden, ununterbrochenen Zufuhr
*) Genannt werden könnte allenfalls § 137 Abs. 4 der Gewerbeordnung, nach
welchem Arbeiterinnen über 16 Jahren, die ein Hauswesen zu besorgen haben, die
Mittagspause, wenn sie weniger als I *'1 Stunden betragt, um ijt Stunde verlängert
• werden mufs.
*) Das Wort „Hausstand" wird hier in dem Sinn gebraucht, den cs im
§ 811 der Civilprozefsordnung vom 17. Mai 189S erstmals erhalten hat. Unsere
Civilprozcfsordnung steht aber auch jetzt, nachdem sie in der gedachten Bestimmung
erstmals den „Hausstand“ ihren Schutz verliehen hat, weit hinter dem Recht der
Union zurück, das mit gutem Grund den householder having a family nach jeder
Richtung in seinen besonderen Schutz nimmt. Ich darf wohl auf meine Aus-
führungen im Conradschcn Handwörterbuch, s. v. Zwangsvollstreckung und in den
Schriften des Vereins für Armenpflege Heft 6 p. 127 (Wohnungsnot vom Standpunkt
der Armenpflege) hinweisen, die auf diese Dinge zuerst aufmerksam machten.
3*
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ß(5 K. F 1 c s c h ,
der für die Erhaltung des Mobiliars und die Ernährung der Familien-
glicder notwendigen äufseren Mittel; des Einkommens des
Familien Vorstandes; und endlich 4. der fortwährenden und unaus-
gesetzten Pflege jenes Mobiliarbestandes und der Fürsorge für die
einzelnen Familienmitglieder ; der häuslichen Arbeit, der Haus-
pflege. Wo eins dieser vier Dinge — Wohnung, Hausstand, Ein-
kommen, Hauspflege — auch nur zeitweise fehlt, kann die Familie
ihre wichtigste Funktion, die Kinderfiirsorge, unmöglich erfüllen.
Und da unser Recht — das öffentliche wie das private — und unsere
Verwaltung sich um die Geeignetheit der Wohnung für die Auf-
gaben der Familie fast nicht kümmert, im gesamten Hausstand
auch jetzt noch in erster Linie Sicherungsobjekte für die Gläubiger
des Familienvorstandes sieht, bezüglich des Einkommens zwischen
dem Familienvorstand und dem Alleinstehenden überhaupt nicht
unterscheidet, und die häusliche Arbeit, die Hauspflege, der
Beachtung fast völlig unwert hält, so kann es nicht Wunder nehmen,
wenn die Kindererziehung der unbemittelten Bevölkerung fortwäh-
rend Not leidet und fremde Hilfe, der I’rivatwohlthätigkeit, der Er-
zichungsvereine, der kirchlichen Anstalten, der öffentlichen Armenpflege
in stets steigendem Mafse zur „Steuerung der Verwahrlosung" in An-
spruch genommen werden mufs. Heilung oder wenigstens Linderung
könnte und sollte gebracht werden durch Ausbildung von Vorschriften,
welche dem Unvermögenden die Beschaffung einer geeigneten Wohnung
erleichtern (Wohnungsgesetzgebung) '), ihm den Besitz des erforder-
lichen Mobiliars sichern (die amerikanischen exemption laws), welche
ferner die Nichterfüllung der Pflichten als Familienvorstand streng
bestrafen, °) endlich durch alle Mafsnahmcn, welche den regelmäl’sigen
J) lieber die auffallende Analogie, die zwischen der Wohnungsschutzgesctz-
gebung in der Arbeiterschutzgesetzgebung besteht, vgl. das Gutachten über das
Wohnungsrecht von Dr. Zirnsdorfer und mir in der neuesten Publikation des Ver-
eins für Sozialpolitik. Die Analogie ist eine Folge nicht nur des Satzes, dafs die
Wohn frage Lohn frage ist, sondern der, bereits vom römischen Rechterkannten
Zusammengehörigkeit der locatio conductio rei und operarum.
*) Die Vorschriften des Strafgesetzbuches §361, Nr. 5, io, welche die Vernach-
lässigung der Pllichten als Familienvorstand einfach als Ueberlrctung bestrafen, sind ein
wahrer Hohn auf die Bedeutung der Familie. Wann aber mit der Behandlung des
Delikts als Bagatellsache und mit der Bagatellstrafe von 6 Wochen Haft dann das
Recht des Richters verbunden wird, die Bagatellstrafe nach Willkür und nach dem
augenblicklichen Eindruck des Falles durch Uebcrwcisung an die Polizeibehörde zu
verstärken, so lieifst das zum Hohn noch den groben, sinnfälligen Mangel an Logik
hinzufügen. Vgl. die Ausführungen von Jastrow und mir in den Schriften des
Vereins für Armenpflege Heft 40, Seite 50 ff.
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Das prcufsischc Fürsorge 'Erzieh ungsgcsete vom 2. Juli 1900.
37
Zuflufs eines genügenden Arbeitslohnes sichern; die Regelung
des Arbeitsvertrages und das Gedeihen der Familie
stehen in natürlichem Zusammenhang- So 'lange aber
nicht durch derartige Vorschriften die Organisation der Familie so-
weit gestärkt ist, als dies eben durch Gesetze u. s. w. geschehen
kann, müssen die Folgen der ungenügenden Organisation wenigstens
im einzelnen Fall ausgeglichen werden. Diese Ausgleichung im einzelnen
Fall nun ward bisher mitunter vollzogen von der öffentlichen Armen-
pflege, nämlich dann, wenn nicht nur die Erziehung, sondern auch
die physische Existenz des Kindes durch dessen Verbleiben in der
Familie gefährdet war; und aufserdem gelegentlich, nach Wahl und
Willkür von der privaten Armenpflege, wenn deren Aufmerksam-
keit zufällig auf den Fall gelenkt war. Sie wird künftig auf Grund des
Fürsorgegesetzes von staatlichen Organen vollzogen werden können,
überall, wo die Gefahr vorhanden ist, dafs die Familie nach den
thatsächlichen Umständen die Verwahrlosung eines Minderjährigen
nicht verhindern kann; und die staatlichen Organe (Landrat und
Gemeindevorstand) müssen von Amts wegen die Prüfung der Not-
wendigkeit der Fürsorgeerziehung herbeiführen : sie sind zur Stellung
des Antrags verpflichtet (§4 des Gesetzes), ebenso wie sie zur
Armenunterstützung verpflichtet sind, wenn deren Voraussetzungen
vorliegen. Hiermit sind aber die wesentlichen Kennzeichen
aller staatlichen Armenpflege gegeben, nämlich 1. Ein-
greifen von staatlichen Organen und staatlichen Mitteln zur Be-
seitigung von Notständen im Leben einzelner Personen;
2. Beschränkung der Unterstützung auf die F’älle der Unfähig-
keit nächstverpflichteten Privaten; 3. Pflicht der staatlichen Or-
gane zur Hilfeleistung in allen Fällen des Notstandes und zur
Aufbringung der Mittel nach Mafsgabe der Zahl dieser
F'älle. Dieser sachlichen Zusammengehörigkeit gegenüber ist es
gleichgültig, dafs die Mittel zur Fürsorgeerziehung nicht wie die der
Armenpflege von den einzelnen Gemeinden aufgebracht werden, so
dafs jenes umständliche Abrechnungsverfahren zwischen den Ge-
meinden unterbleiben kann, das den verwaltungsrechtlichen Kern
des Unterstützungswohnsitzes bildet; und dafs ferner als Objekt
der Unterstützung hier nicht das Familienoberhaupt, sondern der
von Verwahrlosung bedrohte Minderjährige erscheint, dessen Zu-
stimmung zum Eintritt und Dauer der staatlichen Unterstützung
natürlich ebensowenig erfordert ist, wie etwa die eines Geistes-
kranken zum Eintritt oder Beendigung der Anstaltspflege.
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3»
K. Fl esc h,
Indem wir hiernach die Fürsorgeerziehung als Teil der Armen-
pflege — das Wort im volkswirtschaftlichen Sinn, nicht in dem des
Gesetzes gehommen — auffassen, scheiden wir sie natürlich von
der Sozialpolitik. Aufgabe der letzteren ist nicht die Unterstützung
des Einzelnen, sondern die Verminderung des Klassengegensatzes,
der durch den Widerspruch zwischen der thatsächlichen Ungleich-
heit der Machtverteilung, „des Vermögens“ und der formal im
Staat bestehenden Rechtsgleichheit aller Staatsbürger geschaffen
worden ist.
IV. Wenn aber eine Reform auch nicht zum Gebiet der Sozial-
politik gehört, so kann sie doch bei dem engen Zusammenhang
zwischen allen Gebieten des öffentlichen Lebens ihre Wirkungen
dorthin erstrecken. Namentlich mufs jede Reform in der Armen-
pflege, die wirklich eine Verbesserung und nicht etwa nur eine
Vermehrung der Unterstützungsgelder darstellt, auch auf dem
sozialpolitischen Kampfesfeld fühlbar werden, sowohl in der Art,
dafs sie durch Verringerung des Elends in einzelnen Fällen vielfache
Schärfen und Härten mildern wird, als noch mehr dadurch, dafs
sie Umfang und Grund einzelner sozialer Beschwerden und dadurch
die Abhilfmittel besser erkennen läfst.
Dafs das Fürsorgeerziehungsgesetz Wirkungen der erstcren Art
sogar in hervorragendem Mafse haben mufs, dafs es namentlich
vielfach präventiv wirken, Minderjährige vor dem Schicksal ihrer
Eitern bewahren wird, bedarf keiner Darlegung. Dafs es aber auch
bedeutsame Wirkungen der anderen Art haben mufs oder kann,
mag schliefslich wenigstens an einigen Beispielen dargelcgt werden.
I. Einen hierher gehörigen Punkt haben wir freilich bereits er-
wähnt: Auch die Zwangserziehung brachte für den Vater des
Zwangszöglings nicht die Nachteile der öffentlichen Armenpflege,
Aber die Zwangserziehnng trat relativ nur selten ein. Soll dagegen
diese Privilegiierung nunmehr allen Familienvorständen zu teil
werden, deren Kinder durch Fürsorgeerziehung unterstützt werden
müssen, so wird sich die Aufmerksamkeit notwendig darauf lenken,
dafs die Befreiung aller solcher Familienvorstände, auch derjenigen
Väter, welche die Unterbringung der Kinder selbst verschuldet,
vielleicht herbeigeführt haben, ebenso schablonenhaft und ungerecht
ist, wie die Rcchtsininderung aller in öffentlicher Armenpflege
stehender Personen, auch derjenigen, die lediglich durch unglück-
liche Zufalle oder lediglich infolge des Prinzips der Familieneinheit
unterstützt werden ; — und ebenso unlogisch, wie die Beschränkung
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Das prcufsischc Fürsorge-Erzichungsgesetz vom 2. Juli 1900.
39
dieser Rechtsminderung auf die Pfleglinge der Armenverbände, unter
Freilassung aller Gewohnheitsbettler und aller gewerbsmäfsigen
Kostgänger der milden Stiftungen und Vereine.
Es wäre möglich, dals das Fürsorgegesetz, indem es diese Un-
gleichheiten zur Kenntnis weiterer Kreise bringt, den Anlafs giebt,
dals die Frage der Einwirkung der Armenunterstützung auf das
Wahlrecht nunmehr revidiert wird, und zwar in der Art, dafs
künftig die Entziehung der öffentlichen Rechte nicht mehr eintritt
bei jeder Verabreichung öffentlicher Unterstützung, und nicht mehr
eintritt nur bei öffentlicher Unterstützung, sondern überall dann,
aber auch nur dann, wenn jemand nach Ausspruch des Richters
oder der zuständigen Verwaltungsbehörde seine öffentlichen Pflich-
ten zur Sclbstfürsorge oder als Familienvorstand so schwer und
derart dauernd aul'ser Acht gelassen hat, dafs infolge seines
Verschuldens die öffentliche oder private Armenpflege und
Fürsorge für ihn oder zum Schutz seiner Angehörigen eintreten
mufste.
2. Ein weiterer hierher gehöriger Punkt betrifft die mit der Durch-
führung des Gesetzes betrauten richterlichen und Verwaltungs-
organe.
Es giebt wohl keine behördliche Entscheidung — mit Aus-
nahme vielleicht des Scheidungsurteils — die schärfer in das Fa-
milienleben eingreift, als der Beschluls, durch welchen der Vor-
mundschaftsrichter die Fürsorgeerziehung anordnet (§ 3 des Gesetzes),
also ein Kind jedem Einflul's der nächsten Angehörigen dauernd
entzieht. ’)
Dafs ein solcher Beschluls nicht dem Ermessen einer Verwal-
tungsbehörde überlassen, sondern mit allen Garantien der Rechts-
sprechung umgeben wird, ist nur zu billigen ; ebenso auch, dafs das
Gesetz die grölste Sorgfalt darauf verwendet, dafs er nur nach aus-
giebigster Untersuchung des Falles erfolge. Es müssen — nach
§ 4 — vorher gehört werden die Eltern, der Vormund, der Lehrer
des Kindes, ferner der Gemeindevorstand, der zuständige Geistliche
und der Landrat; und letzterer, der Gemeinde Vorstand, der zustän-
dige Kommunalverband und der gesetzliche Vertreter des Minder-
jährigen haben Beschwerderecht mit aufschiebender Wirkung. Aber
*) Von der Ausnahmsbefugnis des § io: widerrufliche Anordnung der Unter-
bringung in der eigenen Familie des Zöglings wird voraussichtlich nur selten Ge-
brauch gemacht werden.
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40
K. Flesch ,
die erstinstanzliche, d. h. die in neun Zehnteln der Fälle endgiltige
Entscheidung erfolgt doch durch den Richter allein; und es ist all-
gemein bekannt, dals die Lebensverhältnisse der ärmeren Klassen
eben nicht das Feld sind, das unsern Richtern nach ihrem Lebens-
gang und ihren Lebensbeziehungen besonders bekannt zu sein pflegt.
Für die Arbeitsverträge der Unbemittelten sind besondere Gerichte,
— die Gewerbegerichte — eingeführt ; für das Familienrecht können
analoge Einrichtungen der Natur der Sache nach kaum getroffen
werden. Namentlich ist der Gemeindewaisenrat (vgl. B.G.B. 1849 ff.)
wenigstens zur Zeit wohl nirgends im Stande, im gleichen Sinn zu
wirken. Er ist Hilfsorgan des Yormundschaftsrichters, ohne irgend
welches Recht der Mitwirkung bei dessen Entscheidungen; und er
hat Kenntnis von den Verhältnissen wohl nur dann, wenn er mit
der Armenverwaltung organisch verbunden ist (Artikel 77 des
preußischen Ausführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch vom
20. Sept. 1899). Immerhin aber wird das Fürsorgeerziehungsgesetz
dafür sorgen, dafs künftig die Vormundschaftsrichter ihre Hauptauf-
gabe nicht mehr in der Ueberwachung der Vermögensverwaltung
der begüterten Mündel, und im Studium der hiermit zusammen-
hängenden Rechtsfragen finden, sondern dafs sie auch allmählich
und durch die Handhabung des Gesetzes selbst die Verhältnisse,
Anschauungen und Lebensweise der Unbemittelten genauer kennen
lernen. Der Mangel an gegenseitigem Verständnis zwischen Richter
und Rechtssuchenden, der für den Arbeitsvertrag der Lohnarbeiter
nunmehr wenigstens innerhalb des Geltungsbereichs der Gewerbe-
gerichte und bis zu einem gewissen Grad für den der Kaufleute,
durch die Handelskam mem der Landgerichte behoben ist, wird so
für den Amtsbereich des Vormundschaftsrichters immerhin abge-
schwächt und eingeschränkt werden.
3. Die Ausführung' der Fürsorgeerziehung liegt den
Kommunalverbänden, also Verwaltungsbehörden ob (§ 9). Sie zerfallt
in die Bestimmung der Art der Unterbringung, und die Auswahl der
Anstalten oder Familien, und sodann in die Durchführung der Er-
ziehung selbst. Je weniger bureaukratisch und je ausschliefslicher
nach rein pädagogischen Motiven hierbei verfahren wird, um so
besser. Die Kommunal- und Provinziallandtage, welche das Selbst-
verwaltungselement in der Verwaltung der Kommunalverbände
repräsentieren, werden dafür zu sorgen haben, dafs ihre Exe-
kutivorganc, die Landesdirektoren, Landesräte, Provinzialaus-
schüsse u. s. w. von der Durchführung des Gesetzes alle fremden
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Das prcufsischc Fürsorge- Erziehungsgesetz vom 2. Juli 1900.
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Gesichtspunkte fernhalten. Die gute Erziehung und die für das
Wohl des Kindes zweckdienlichste Berufsausbildung haben das Ziel
zu sein, dem sich alle anderen, — wirtschaftliche, politische, konfes-
sionelle, nationale Rücksichten unterordnen müssen. Ob die Provin-
zialvertretungen — der Hauptsache nach Landräte, Bürgermeister der
Landorte, die gewohnt sind, der Initiative der höheren staatlichen
Behörden zu folgen, Rittergutsbesitzer, die mit den Vertretern der
Regierung schon sozial in den engsten Beziehungen stehen, mit
gänzlichem Ausschlufs von Vertretern der unbemittelten Stände —
dieser Aufgabe überall gewachsen sein werden, mul’s s:ch noch
zeigen.
Wenn aber das Gesetz hier einen wunden Punkt in der Ent-
wicklung unserer inneren Verwaltung, also ein Moment mehr poli-
tischer Art vors Auge führt, so berührt es andererseits auch einen
der wichtigsten sozialen Gegensätze, den zwischen Stadt und Land.
Es ist ersichtlich, dafs die Unterbringung der Kinder in kleinen
Städten und auf dem flachen Land mehr Aussicht auf Erfolg der
Erziehung bietet, als ihre Belassung oder gar ihre Verbringung
nach grofsen Städten. Die kommunalen Armenämter und die Er-
ziehungsvereine, sowohl in Deutschland, als in England, Amerika
u. s. w. suchen daher die ihrer Obhut anhcimgcfallcnen Kinder
mit Vorliebe in Familien unterzubringen, die auf Dörfern oder in
kleineren Orten, thunlichst weit von der Stadt entfernt, unterzubringen.
Den Kindern soll das Bewufstsein der Zugehörigkeit zur Grofsstadt
verloren gehen, in der sie entweder keine Freunde oder nur solche
Beziehungen haben, die ihnen schädlich oder verderblich werden
könnten. Hierbei ist man indes, unter Herrschaft des Unter-
stützungswohnsitzgesetzes wenigstens, vielfach beschränkt, sowohl
durch die künstlichen Vorschriften dieses Gesetzes selbst, als auch
durch die Vorschriften über Schulbaulast u. s. w., welche den
kleineren Orten die dauernde Anwesenheit unvermögender Kinder
unerwünscht erscheinen lassen ; vor allem aber durch den Mangel
an Beziehungen zwischen den Armenämtern der Grofsstadt und
den Landorten, der das Auffinden geeigneter Pflegeorte oft er-
schwert, oder von blofsen Zufälligkeiten abhängig macht. Das
Fürsorgeerziehungsgesetz hat, insoweit als es die Kinderpflege von
den Ortsarmen verbänden auf die Kommu naiverbände übertrug,
diese Schwierigkeiten beseitigt, und dadurch auch die Arbeit der
eigentlichen Armenpflege, insbesondere der Waisenpflege erleichtert.
Eis wird künftig in höherem Mafse als bisher möglich sein, Kinder,
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K. Fl cscli ,
deren Eltern in der Grofsstadt Schiffbruch erlitten, wieder auf das
Land zurückzubringen. Man hat hieran schon grofse Erwartungen
und schroffe Verurteilungen geknüpft; das eine von seiten derer,
die auf diese Art der sogenannten Entvölkerung des flachen Landes
oder richtiger der Leutenot der ländlichen Grundbesitzer abhelfen
wollten; das andere von seiten derer, welche die Landflucht der
Kleinbauern und Tagelöhner einzig und allein auf die schlechten
Arbeitsbedingungen, und diese einzig und allein auf den bösen
Willen, den Eigennutz der Grofsgrundbesitzer zurückführen möchten.
Es bedarf kaum der Erwähnung, dafs sowohl die Hoffnungen als
die Angriffe unbegründet sind. Mafsrcgcln der Armenfursorge, —
und mehr als eine solche ist ja auch das Fürsorgegesetz nicht, —
können einzelne Personen erleichtern, die durch Strömungen der
Volkswirtschaft in unglückliche Verhältnisse gerieten ; aber sie
reichen nie aus, um solche Strömungen zu dämmen ; und speziell
das Anwachsen der Städte hat so starke, so tiefgehende und so
weitverzweigte Ursachen, dafs die wenigen Fälle der rückläufigen
Bewegung kaum zu bemerken sein werden, welche etwa durch das
Fürsorgegesetz oder die Armenpflege eingclcitet werden könnten.
Andererseits kann man aber auch sehr wohl anerkennen, dafs
die Arbeitsverhältnisse der Landarbeiter vielfach schlechter beordnet
sind, als die der gewerblichen Arbeiter, ohne sich deshalb gegen
die sinnfällige Thatsachc verschliefsen zu müssen, dafs die Unter-
bringung auf dem Land vermögenslosen und familienlosen Kindern
bessere Chancen gewährt, sowohl bezüglich der Wahrscheinlichkeit
in der Pflegefamilie engen Anschlufs und Ersatz für die fehlenden
Angehörigen zu finden, als auch, bezüglich der Aussichten auf das
spätere Fortkommen. Sind also nur die Schulverhältnisse am Pflege-
ort genügend, und ist für die Ueberwachung der Kinder auch in
den gefährlichen Jahren nach der Schule (15 — 19 Jahre) genügend
gesorgt, so kann allein darin, dafs nach erlangter Grofsjährigkeit
der Pflegling genötigt ist, den Weg in die Grofsstadt sich aufs
neue zu suchen, unmöglich ein Nachteil für ihn erblickt werden. *)
') Die weiteren Kragen; ob es überhaupt im Interesse der Besserung der
Arbeitervcrhällnissc liegt, wenn die Arbeitgeber auf dem Lund thatsächlich mehr und
mehr zur Heranziehung ausländischer Arbeiter sich vcranlafsl sehen; oder wenn jede
Rtlckvcrsctzung der in die Stadt verzogenen und dort überzähligen Bevölkerung auf
das Land systematisch bekämpft wird , liegt ausserhalb des Kähmens dieser Arbeit.
Ebenso die Untersuchung, ob die Gründe des Andrangs in die Städte wirklich so
allgemein die Mangelhaftigkeit der von den Arbeitgebern auf dem Land gebotenen
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Das preufsischc Fäirsorge-Frziehungsgesetz vom 2. Juli 1900.
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4. Die Ueberwachung der Fürsorgezöglinge ist, wenn
sie in einer Anstalt untergebracht sind, natürlich in erster Linie Sache
des Anstaltsvorstandes ; aufserdem ist aber für jeden in einer Familie
untergebrachten Zögling zur ständigen Kontrolle Uebcrwachung
seiner Erziehung und Pflegling vom Kommunalverband ein soge-
nannter Fürsorger zu bestellen (§ n des Gesetzes). Hierdurch
wird weder — selbstverständlich — das vom Kommunalverhand
auszuübende Aufsichtsrecht, noch auch die Befugnisse des etwaigen
Vormunds beseitigt. Das Gesetz ändert am bestehenden Vormund-
schaftsrecht nur in einem Nebenpunkt, indem es nämlich bestimmt,
dafs, nicht nur, wie bisher — § 78 Abs. I des Ausführungsgesetzes
zum B.G.B. — der Vorstand einer unter Verwaltung des Staats
oder einer Gemeinde stehenden Anstalt Vormundschaftsrecht über
die Anstaltspfleglinge hat, sondern dafs auch auf Antrag des
Kommunalverbandes die Vorstände einer unter staatlicher
Aufsicht stehenden Erziehungsanstalt zum Vormund ernannt
werden können. Regel bleibt hiernach der Fortbestand des Rechts
des Vormunds: und diese Vielheit der Uebcrwachung — Vormund
und Fürsorger, Vormund und Anstaltsvorstand — könnte bedenk-
lich erscheinen; sie schadet indessen voraussichtlich nichts, und
zwar einfach um deswillen, weil die Vormünder unvermögender
Kinder in der Regel doch nichts für die Mündel thun. Die Ein-
setzung der „Fürsorger" neben den Vormündern ist gewissermafsen
ein Anerkenntnis dieser Thatsache, und es wäre nur zu wünschen,
dals dieses Anerkenntnis dazu führte, die Vormundschaft über die
vermögenslosen Kinder, auch wenn sie nicht der Fürsorgeerziehung
Arbeitsbedingungen sind: und nicht vielmehr die, vom Zuthun der städtischen Ar-
beitgeber ganz unabhängige, aber auch von den ländlichen Arbeitgebern ganz un-
verschuldete, im Lauf der Jahrhunderte bewirkte Anhäufung fast aller Wohl-
fahrtseinrichtungen (Stiftungen, Krankenhäuser , Biidungsanstaltcn) und fast aller
Gelegenheiten nicht nur zur Liederlichkeit sondern auch zu anregender, kulturell
fördernder Unterhaltung in den grofsen Städten. — F.inen sehr interessanten,
meines Erachtens des Studiums und der Nachahmung werten Versuch, die Zu-
kunft der aufs Land verbrachten, dort in guten PHegestcllen erzogenen und
sorgfältig überwachten Kinder durch Ansammlung eines kleinen Kapitals für sie zu
sichern , macht der evangelische Verein für Waiscnpflegc zu Witkowo in Posen.
Wenn die Mittel hierzu durch Privatwohlthütigkcit oder in sonstiger Webe gesichert
werden können, sind die Kinder jedenfalls nach Beendigung der Unterbringung weit
besser daran als diejenigen, die ohne jede llülfsmittcl in einer Grofsstadt sich selbst
überlassen sind.
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K. Fitseh,
unterstellt sind, anders zu gestalten. Freilich wäre das kaum anders
möglich, als dafs mit dem System der unentgeltlichen „ehrenamt-
lichen“ Arbeit im Vormundschaftswesen bis zu einem gewissen
Grad gebrochen würde. Die Ueberwachung alleinstehender jugend-
licher Personen kann, wenn sie ihren Zweck erreichen soll, nicht
dem guten Willen irgend eines Mannes — oder einer Frau — an-
vertraut werden, die an dem Mündel keinerlei Interesse hat, sondern
muüs dem Beauftragten zur Amtspflicht, zum Beruf gemacht werden.
Was für die in staatlich verwalteten oder staatlich beaufsichtigten
Anstalten untergebrachten Kinder recht ist (Vormundschaft der
Anstaltsvorstände , also in der Regel berufsmäfsig vorgebil-
deter und verpflichteter Personen), mul's für die aufserhalb
einer solchen Anstalt lebenden billig sein; und wenn sogar die
unter Aufsicht des Kommunalverbandes stehenden Fürsorge-
zöglinge eines vom Kommunalverband ernannten Fürsorgers —
neben dem Vormund — nicht entbehren sollen, der mit der
Pflegestelle sich in fortlaufender Verbindung hält '), so sollte man
annehmen, dafs für die nicht in staatliche Fürsorge genommenen
Minderjährigen eine ähnliche Institution noch weniger entbehrt
werden könne. Die Frage der Krsetzung der ehrenamtlichen Vor-
münder für alleinstehende, unbemittelte Minderjährige durch berufs-
beamtliche oder der Krsetzung des ehrenamtlichen Gemeindewaisen-
rats als Aufsichtsorgan für die Vormünder durch eine berufsbeamt-
liche Beaufsichtigung der alleinstehenden Minderjährigen (z. B. der
aufserhalb des Wohnorts ihrer Familie in Arbeit stehenden Lehrlinge,
Dienstboten u. s. w.) wird durch das Fürsorgegesetz immer näher-
gerückt. Wenn der preufsische Städtetag auf seiner Tagung zu Berlin,
am 29. Januar 1901 sich dahin ausgesprochen hat, dafs die obliga-
torische Fortbildungsschule die wirksamste Einrichtung zum besten
der schulentlassenen Jugend sei, so ist hieran sicher etwas Richtiges.
Aber die Fortbildungsschule giebt keinen Anhalt für die schulfreie
Zeit und für die aufserhalb des Berufs belegenen Lebensverhältnisse;
Vorbild für die „Fürsorger“ waren offenbar die von den städtischen Armen-
verwaltungen für jede Pflegestation bestellten „Vertrauensmänner,“ welche den Ver-
kehr zwischen den Pflegccltcm und dem Amt vermittelten. Iiine gute Beschreibung
ihrer Thätigkcit enthält V’II der ministeriellen AustÜlirungsbcstimmungen zu dem
Gesetz, vom 18. Dezember 1900. Ob freilich sich das Amt des Fürsorgers als
reines F.hrenarat durchführen läfst, wie diese Ausführung>bcstimmnngen glauben,
scheint mir zweifelhatt. Die Armenvcrwaltungcn zahlen den Vertrauensmännern
meist eine, nach der Zahl der ihnen überwiesenen Kinder abgemessene Vergütung.
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Das prcufsischc Fürsorge- Erziehungsgesetz vom 2. Juli 1900.
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der Lehrer vermag den „Fürsorger“ nicht, oder doch nur bezüglicli
einer beschränkten Anzahl junger Leute, und nur dann zu ersetzen,
wenn er mit der Fürsorge für diese berufsmäfsig beauftragt, und
entsprechend honoriert wird. Ist man aber darüber klar, dafs die
Minderjährigen aus vermögenden Ständen neben dem vormund-
schaftlichen Schutz noch der Fürsorge ihrer Verwandten und Freunde
bedürfen, und dafs weijer der vormundschaftliche Schutz noch diese
persönliche Fürsorge mit der Schulentlassung enden dürfen, so wird
man in einer solchen Ausdehnung des organisierten Schutzes der
unvermögenden Minderjährigen nicht etwa eine lästige Ueber-
wachung. sondern eine Art Ausgleich für einen Teil dessen zu er-
blicken, was der durch Yermögensbesitz gestärkte Familienverband
seinen Angehörigen leistet, und was die Kinder der Aermcren bisher
entbehren müssen.
Jedenfalls wären eine derartige Organisation der jetzigen, den
Verhältnissen der Unbemittelten schlecht angepafsten Vormundschaft
samt Gemeindewaisenrats in Verbindung mit der allmählichen
Schaffung der obei. (bei III) erwähnten Gesetze, welche die mate-
riellen Grundlagen des Familienlebens stärken und mit der Be-
gründung der erforderlichen Anstalten zu Gunsten der alleiustehen-
den schulentlassenen Jugend die besten Vorbeugemittel gegen die
sozialen Schäden, deren Folgen sowohl das frühere Zwangser-
ziehungsgesetz, als auch die Arbeit der öffentlichen und privaten
Armenpflege und jetzt das Fürsorgeerzichungsgesetz eben doch nur
im Einzelfall, nicht den Ursachen und Quellen nach zu bekämpfen
vermögen.
Wir lassen nunmehr den Wortlaut des Gesetzes folgen:
Gesetz über die Fürsorgeerziehung Minderjähriger. Vom 3. Juli 1900.
Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden König von Preufseo etc. verordnen mit
Zustimmung beider Häuser des Landtags für den Umfang der Monarchie, was folgt:
§ I. Ein Minderjähriger, welcher das achtzehnte Lebensjahr noch nicht
vollendet hat, kann der Fürsorgeerziehung überwiesen werden:
1. wenn die Voraussetzungen des § 1666 oder des § 1838 des Bürgerlichen
Gseelzbuchs vorliegen und die Fürsorgeerziehung erforderlich ist, um die
Verwahrlosung des Minderjährigen zu verhüten ;
2. wenn der Minderjährige eine strafbare Handlung begangen hat, wegen
der er in Anbetracht seines jugendlichen Alters strafrechtlich nicht verfolgt
werden kann, und die Fürsorgeerziehung mit Rücksicht auf die Beschaffen-
heit der Handlung, die Persönlichkeit der Eltern oder sonstigen Erzieher
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Aß
Das preul&ischc Fürsorgc-F.rzichungsgesetz vom 2. Juli 1900.
und die übrigen Lcbcnsverhältnisse zur Verhütung weiterer sittlicher Ver-
wahrlosung des Minderjährigen erforderlich ist;
3. wenn die Fürsorgeerziehung aufser diesen Fallen wegen Unzulänglichkeit
der erziehlichen Einwirkung der Eltern oder sonstigen Erzieher oder der
Schule zur Verhütung des völligen sittlichen Verderbens des Minder-
jährigen notwendig ist
§ 2. Die Fürsorgeerziehung erfolgt unter öffentlicher Aufsicht und auf öffent-
liche Kosten in einer geeigneten Familie oder in einer Erziehungs- oder Besserungs-
anstalt.
§ 3. Die Unterbringung zur Fürsorgeerziehung erfolgt, nachdem das Vormund-
schaftsgericht durch Beschlufs das Vorhandensein der Voraussetzungen des § 1 unter
Bezeichnung der ftir erwiesen erachteten Thatsachen festgestellt und die Unterbringung
angeordnet hat.
§ 4. Das Vormundschaftsgericht beschließt von Amtswegen oder auf Antrag.
Zur Stellung des Antrags sind berechtigt und verpflichtet:
der Landrat, in den Hohenzollernschcn Landen der Oberamtmann, in
Städten mit mehr als 10000 Einw'ohncrn sowie in den nach § 28 der
Kreisordnung ftir die Provinz Hannover vom 6. Mai 1884 (Gesctz-Samral.
S. 181) denselben gleichgestellten Städten auch der Gemeindevorstand,
in Stadtkreisen der Gemeindevorstand und der Vorsteher der Königlichen
Polizeibehörde.
Vor der Beschlufsfassung soll das Vormundschaftsgericht, soweit dies ohne er-
hebliche Schwierigkeit geschehen kann, die Eltern, den gesetzlichen Vertreter des
Minderjährigen und in allen Fällen den Gemeindevorstand, den zuständigen Geist-
lichen und den Leiter oder Lehrer der Schule, welche der Minderjährige besucht,
hören, auch hat, wenn die Beschlufsfassung nicht auf Antrag erfolgt, das Vormund-
schaftsgericht zuvor dem Landrat (Obcramtmannc, Gemeindevorstandc, Vorsteher der
Königlichen Polizeibehörde) unter Mitteilung der Akten Gelegenheit zu einer Acufsc-
rung zu geben.
Der Beschlufs ist dem gesetzlichen Vertreter des Minderjährigen, diesem selbst,
wenn er das vierzehnte Lebensjahr vollendet hat, dem Landrat (Oberamtmanne,
Gemeindevorstandc, Vorsteher der Königlichen Polizeibehörde) und dem verpflichteten
Kommunalverbandc (§ 14) zuzustellen.
Gegen den Beschlufs steht den im Abs. 3 Genannten die sofortige Beschwerde
zu, dem gesetzlichen Vertreter des Minderjährigen oder diesem selbst jedoch nur
dann, wenn der Beschlufs auf Unterbringung zur Fürsorgeerziehung lautet. Die Be-
schwerde hat aufschiebende Wirkung.
§ 5. Bei Gefahr im Verzüge kann das Vormundschaftsgericht eine vorläufige
Unterbringung des Minderjährigen anordnen. Die Polizeibehörde des Aufenthaltsorts
hat in diesem Falle für die Unterbringung des Minderjährigen in einer Anstalt oder
in einer geeigneten Familie zu sorgen.
Die durch die vorläufige Unterbringung erwachsenden Kosten fallen, sofern
die Ucbcrweisung zur Fürsorgeerziehung demnächst endgültig angeordnet wird, dem
verpflichteten Kommunalverbandc (§ 14), anderenfalls demjenigen zur Last, welcher
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Das preußische Fürsorgc-Erzichungsgesetz vom 2. Juli 1900.
47
die Kosten der örtlichen Polizeiverwaltung zu tragen hat. Die Polizeibehörde hat
in allen Fällen die durch die vorläufige Unterbringung entstehenden Kosten vor-
zuschicfscn.
Streitigkeiten über die Angemessenheit der dem Erstattongspflichtigen in Rech-
nung gestellten Vorschüsse der Polizeibehörde entscheidet der Bezirksausschuß» im
lieschlufsverfahren. Der Beschluß des Bezirksausschusses ist endgültig.
§ 6. Hat die im § 4 angeordnete Anhörung der Eltern oder des gesetzlichen
Vertreters nicht stattfinden können, so sind dieselben berechtigt, die Wiederaufnahme
des Verfahrens zu verlangen.
§ 7- Soweit nicht in diesem Gesetz ein Anderes bestimmt ist, finden auf das
gerichtliche Verfahren die allgemeinen Vorschriften über die durch Landesgesetz den
ordentlichen Gerichten übertragenen Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit
Anwendung.
§ 8. Die gerichtlichen Verhandlungen sind gebühren- und stcmpelfrci; die
baren Auslagen fallen der Staatskasse zur Last. Ist nach dem Ermessen des Vor-
mundschaftsgerichts die Vernehmung der nach § 4 Abs. 2 zu hörenden Personen
erforderlich gewesen, so haben sie Anspruch auf Erstattung der notwendigen baren
Auslagen aus der Staatskasse; dies gilt jedoch nicht fiir die Eltern des Minder-
jährigen.
Verträge über die Unterbringung von Zöglingen sind stcmpelfrci.
§ 9. Die Ausführung der Fürsorgeerziehung liegt dem verpflichteten Kom-
munalverband ob (§ 14); er entscheidet darüber, in welcher Weise der Zögling
untergebracht werden soll. Im Falle der Anstaltserziehung ist der Zögling, soweit
möglich, in einer Anstalt seines Bekenntnisses unterzubringen. Im Falle der Fa-
milienerziehung mufs der Zögling mindestens bis zum Aufhören der Schulpflicht in
einer Familie seines Bekenntnisses unlcrgebracht werden.
Der Kommunal verband hat dem Vormundschaftsgcrichtc von der Unterbringung
und von der Entlassung des Zöglinges Mitteilung zu machen.
Die Ueberführung des Zöglinges liegt der Polizeibehörde des Aufenthalts-
orts ob.
§ 10. Die Zöglinge dürfen nicht in Arbeitshäusern und nicht in Landarmen-
häusern, in Anstalten, welche für Kranke, Gebrechliche, Idioten, Taubstumme oder
Blinde bestimmt sind, nur so lange untergebracht werden, als cs ihr körperlicher
oder geistiger Zustand erfordert
In Ausführung einer eingeleiteten Fürsorgeerziehung kann die Erziehung in der
eigenen Familie des Zöglinges unter Aufsicht des Kommunalverbandes widerruflich
angeordnet werden.
§ 11. Für jeden in einer Familie untergcbrachten Zögling ist zur Uebcr-
wachung seiner Erziehung und Pflege von dem Kommunal verband ein Fürsorger zu
bestellen. Hierzu können auch Frauen bestellt werden.
§ 12. Auf Antrag des verpflichteten Kommunal Verbundes kann, unbeschadet
der Vorschriften des Artikel 78 § 1 des AusfUhrungsgcsetzcs zum Bürgerlichen Ge-
sclzbuchc, der Vorstand einer unter staatlicher Aufsicht stehenden Erziehungsanstalt
vor den nach § 1776 des Bürgerlichen Gesetzbuchs als Vormünder berufenen Per-
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Das prcufsische Fürsorgc-Frziehungsgcsctz vom 2. Juli 1900.
soncn zum Vormunde der auf Grund der §§ 3 ff. in der Anstalt untergebrachten
Zöglinge bestellt werden.
Das gleiche gilt für Zöglinge, die unter der Aufsicht des Vorstandes der An-
stalt in einer von ihm flusgcwühlten Familie erzogen werden; liegt die Beaufsichtigung
der Zöglinge einem von dem verpflichteten Kommunal verbände bestellten Beamten
ob, so kann dieser auf Antrag des Kommunalverbandes statt des Vorstandes der
Anstalt zum Vormunde bestellt werden.
Neben dem nach th*n Vorschriften der Abs. I, 2 bestellten Vormund ist ein
Gegenvormund nicht zu bestellen. Dem Vormunde stehen die nach § 1852 des
Bürgerlichen Gesetzbuchs zulässigen Befreiungen zu.
§ 13. Die Fürsorgeerziehung endigt mit der Minderjährigkeit.
Die frühere Aufhebung der Fürsorgeerziehung erfolgt durch Beschlufs des
Kommunalverbandes von Amtswegen oder auf Antrag der Eltern oder des gesetz-
lichen Vertreters des Minderjährigen, wenn der Zweck der Fürsorgeerziehung erreicht
oder die Erreichung des Zweckes anderweit sichergestellt ist. Die Aufhebung kann
unter Vorbehalt des Widerrufs beschlossen werden.
Gegen den ablehnenden Beschlufs des Kommunalverbandes kann der Antrag-
steller binnen einer Frist von zwei Wochen vom Tage der Zustellung ab dir Ent-
scheidung des Vormundschaftsgerichts an rufen. Gegen den Beschlufs des Vcrmund-
schnft-sgcrichts findet die Beschwerde statt. Die Beschwerde des Kommunalver-
bandes hat aufschiebende Wirkung.
Ein abgewiesener Antrag darf vor dem Ablaufe von sechs Monaten nicht
erneuert werden.
§ 14. Die Provinzialverbände, in der Provinz Hessen-Nassau die Bezirks-
verbände der Regierungsbezirke Wiesbaden und Cassel, des Lauenburgische Landes-
kommunalverband, der La ndeskommuna] verband der Hohcnzollcrnschcn Lande sowie
der Stadtkreis Berlin sind verpflichtet, die Unterbringung der durch Beschlufs des
Vorraundschaftsgerichls zur Fürsorgeerziehung überwiesenen Minderjährigen in einer
den Vorschriften dieses Gesetzes entsprechenden Weise zu bewirken. Sie haben ftir
die Errichtung von Erziehung»- und Besserungsanstalten zu sorgen, soweit cs an
Gelegenheit fehlt, die Zöglinge in geeigneten Familien sowie in öffentlichen, kirch-
lichen oder privaten Anstalten unterzubringen, auch soweit nötig für ein ange-
messenes Unterkommen bei der Beendigung der Fürsorgeerziehung zu sorgen.
Zur Unterbringung verpflichtet ist derjenige Kommunalvcrband, in dessen Ge-
biete der Ort liegt, als dessen Vormundschaftsgericht das Gericht Beschlufs ge-
fafst hat.
§ 15. Die Kosten, welche durch die Ucberführung des Zöglinges in eine
Familie oder Anstalt, durch die dabei nötige reglemcntsmäfsigc erste Ausstattung,
durch die Beerdigung des während der Fürsorgeerziehung verstorbenen und durch
die Rückreise des aus der Fürsorgeerziehung entlassenen Zöglinges entstehen, fallen
dem Ortsarmenverband, in welchem er seinen Unterstützungswohnsitz bat, zur Last.
Ist ein solcher Ortsarmenverband nicht vorhanden, so fallen diese Kosten dem ver-
pflichteten Konimunalvcrhnndc (§ 14 Abs. 2) zur Last. Die übrigen Kosten des
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Das preufsischc Fürsorge- Erzichungsgcsetz vom 2. Juli 1900.
49
Unterhalts und der Erziehung sowie der Fürsorge für entlassene Zöglinge tragen in
allen Fällen die Kommunal verbände.
Die Kommunalverbände erhalten zu den nach Abs. I von ihnen zu tragenden
Kosten aus der Staatskasse einen Zuschufs in Höhe von zwei Dritteln dieser Kosten.
Der Betrag des Zuschusses wird jährlich auf Liquidation der im Vorjahr aufge-
wendeten Kosten oder im Einverständnisse mit den einzelnen Kommunalverbänden
periodisch als Bauschsumme von dem Minister des Innern festgesetzt.
§ 16. Die Kommunalverbände sind berechtigt, die Erstattung der während
der Fürsorgeerziehung entstandenen Kosten des Unterhalts eines Zöglings von diesem
selbst oder von dem auf Grund des Bürgerlichen Hechtes zu seinem Unterhalte
Verpflichteten zu fordern. Dieselbe Berechtigung steht den Ortsarmenverbänden
hinsichtlich der ihnen nach § 15 Abs. I zur Last fallenden Kosten zu.
Für die Erstattungsforderung der Kommunalverbände sind Tarife zu Grunde
zu legen, welche von dem Minister des Innern nach Anhörung der Kommunal-
verbände festgesetzt werden. Die Kosten der allgemeinen Verwaltung der Fürsorge-
erziehung, des Baues und der Unterhaltung der von den Kommunal verbänden er-
richteten Anstalten bleiben hierbei aufser Ansatz.
Wird gegen den Erstattungsanspruch Widerspruch erhoben, so beschliefst
darüber auf Antrag des Kommunalvcrbandes oder ( >rtsarmenverbandes der Bezirks-
ausschuß
Der Bcschlufs ist vorbehaltlich des ordentlichen Rechtswegs endgültig.
Zwei Drittel der durch die Kommunalvcrbändc von den Erstattungspflichtigen
eingezogenen Beträge sind auf den Beitrag des Staates (§ 15 Abs. 2) anzurcchnen.
§ 17. Die Kommunalvcrbändc haben für die Ausführung der Fürsorge-
erziehung und für die Verwaltung der von ihnen errichteten Erziehungs- und Besse-
rungsanstalten Reglements zu erlassen.
Die Reglements bedürfen der Genehmigung der Minister des Innern und der
geistlichen , Unterrichts- und Mcdizinalangclcgcnhcitcn in betreff derjenigen Be-
stimmungen, welche sich auf die Aufnahme, die Behandlung, den Unterricht und
<lie Entlassung der Zöglinge beziehen.
Hinsichtlich der Privatanstalten hchält es bei den bestehenden Vorschriften
sein Bewenden.
§ 18. Die gesetzlichen Bestimmungen über die religiöse Erziehung der Kinder
finden auch auf die FUrsorgcerziehnng Anwendung.
§ 19. Wenn schulpflichtige Zöglinge der öffentlichen Volksschule ohne sitt-
liche Gefährdung der übrigen die Schule besuchenden Kinder nicht zugewiesen
werden können, so hat der Kommunal verband dafür zu sorgen, dafs diesen Zög-
lingen während des schulpflichtigen Alters der erforderliche Schulunterricht ander-
weitig zu teil wird. Im Streitfälle entscheidet der Oberpräsident.
§ 20. Die zuständigen staatlichen Aufsichtsbehörden der Kommunalverbändc
und in höherer Instanz der Minister des Innern haben die Oberaufsicht über die
zur Unterbringung von Zöglingen getroffenen Veranstaltungen zu führen ; sic sind
befugt, zu diesem Zwecke Revisionen vorzunehmen.
Archiv für so*. Gesetzgebung u. Statistik. XVII. 4
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Das preufsischc Fürsorgc-Erziehungsgesetz vorn 2. Juli 1900.
§ 21. Wer, abgesehen von den Fällen der §§ 120, 235 des Strafgesetzbuchs,
einen Minderjährigen, bezüglich dessen das gerichtliche Verfahren auf Unterbringung
zur Fürsorgeerziehung eingeleitet oder die Unterbringung zur Fürsorgeerziehung an-
geordnet ist, dem Verfahren oder der angeordneten Fürsorgeerziehung entzieht, oder
ihn verleitet, sich dem Verfahren oder der Fürsorgeerziehung zu entziehen, oder wer
ihm hierzu vorsätzlich behilflich ist, wird mit Gefängnis bis zu zwei Jahren und
mit Geldstrafe bis zu Eintausend Mark oder mit einer dieser Strafen bestraft.
Der Versuch ist strafbar.
§ 22. Der Minister des Innern ist mit der Ausführung dieses Gesetzes be-
auftragt.
§ 23. Dieses Gesetz tritt mit dem 1. April 1901 in Kraft.
Mit dem gleichen Zeitpunkte wird das Gesetz vom 13. März 1878, betreffend
die Unterbringung verwahrloster Kinder, aufgehoben.
Kommunalvcrbändc, welche zur Zeit des Inkrafttretens dieses Gesetzes über
geeignete Anstalten nicht in ausreichendem Mafsc verfügen, sollen bis zum I. April
1903 bei der Unterbringung der Zöglinge den im § io Abs. I dieses Gesetzes aus-
gesprochenen Beschränkungen nicht unterliegen.
Urkundlich unter Unserer Höchsteigenhändigen Unterschrift und beigedrucktem
Königlichen Insiegel.
Gegeben Wilhelmshaven, den 2. Juli 1900.
(L. S.) Wilhelm.
Fürst zu Hohenlohe, v. Miqucl. v. Thielen. Frhr. v. Hammerstein.
Schönstedt. Brefcld. v. Gofsler. Gr. v. Posadowsky. Gr. v. Bttlow»
Studt. Frhr. v. Rh ein haben.
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Arbeiter- und Konsumentenschutz im Bäckergewerbe.
Von
M. v. SCHULZ,
Vorsitzendem des Gewerbcgcriehts zu Kerlin,
Seit Jahren schon war die Reichsregierung in der Litteratur, in
zahlreichen dem Bundesrat von Bäckergesellen zugegangenen Peti-
tionen, durch Strikes und auch durch amtliche Berichte auf die
übermäfsigen Ansprüche hingewiesen worden , welche im Bäcker-
gewerbe an die Arbeitskraft der Arbeitnehmer vielfach gestellt
würden. Als daher bei Beratung der Arbeiterschutznovelle der Reichs-
tag 1891 beschlofs, dafs durch § I20e Abs. 3 dieser Novelle der
Bundesrat ermächtigt werden sollte, für solche Gewerbe, in denen
durch übergrofse Dauer der täglichen Arbeitszeit die Gesundheit
der Arbeiter gefährdet wird, Dauer, Beginn und Ende der zulässigen
täglichen Arbeitszeit und der zu gewährenden Pausen vorzuschreiben,
erklärte bei dieser Gelegenheit der preufsische Handelsminister —
ohne Widerspruch zu finden — , dafs die Bäcker bei einem Vor-
gehen des Bundesrates auf Grund des § I20e mit zuerst in-
betracht kommen würden.1) Diesen Worten folgte bald die That.
Bereits im Juni 1892 ordnete der Reichskanzler eine Untersuchung
an, ob für die im Bäckergewerbe beschäftigten Personen die obrig-
keitliche Regelung der Arbeitszeit notwendig und ohne Gefährdung
der Existenzfähigkeit der einzelnen Betriebe durchführbar sei. Die
Reichskommission für Arbeiterstatistik — eine halb aus Regierungs-
vertretern , halb aus Parlamentariern zusammengesetzte Reichs-
behörde — wurde beauftragt, bei dieser Untersuchung sich zu be-
teiligen und deren Resultate zu begutachten. Auf Vorschlag der
Kommission sind an ungefähr 10 Prozent aller Bäcker- und Kon-
l) Reichstag vom 22. April 1896, S. 1850 (R)-
4*
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M. v. Schulz,
ditorenbetriebe Fragebogen zur Beantwortung versendet worden,
um die übliche Dauer der Arbeitszeit festzustellen. Das Ergebnis
ist von dem Kaiserlichen Statistischen Amt bearbeitet und ver-
öffentlicht worden.1)
Hiernach vernahmen behufs Aufklärung über zweifelhafte Punkte
und über die etwaige Durchführbarkeit einer Verkürzung der Arbeits-
zeit die Landesbehörden protokollarisch 550 Arbeitgeber und Arbeit-
nehmer, welche Fragebogen ausgefüllt hatten. Es sind ferner Ver-
treter der Bäckerinnungen und anderer Vereinigungen der Bäcker-
meister, auf der anderen Seite auch die Vertreter von Organisationen
der Bäckergesellen gutachtlich gehört worden. Aufserdem wurden
von Krankenkassen ziffernmäfsige Angaben über die Krankheits-
und Sterblichkeitsverhältnisse erbeten. Dieses Material ist ebenfalls
statistisch bearbeitet,4) und mit einem Gutachten des Kaiserlichen
Gesundheitsamts versehen der Kommission wieder vorgelegt. Nach-
dem diese ihrerseits noch 40 Auskunftspersonen des Bäcker- und
Konditorenge werbcs über die einschlägigen Verhältnisse eingehend
befragt hatte,8) erstattete sie im Sommer 1894 dem Reichskanzler
das gewünschte Gutachten unter Beifügung eines Entwurfes von
„Bestimmungen betr. die Beschäftigung von Gehilfen und Lehr-
lingen in Bäckereien und Konditoreien“.4) Die Kommission bezeich-
nete die Arbeitsdauer im Bäcker- und Konditorengewerbe als eine
höchst gesundheitsschädliche. Sie regte deswegen eine Maximal-
arbeitszeit von 12 Stunden täglich an für alle Personen, die mit
der Bereitung von Bäcker- und Konditorwaren beschäftigt werden.
Dieser Maximalarbeitstag, welcher durch eine zusammenhängende
Pause von einer Stunde unterbrochen werden darf, sollte für Lehr-
linge im ersten und zweiten Jahre um zwei bezw. eine Stunde
gekürzt werden.8)
*) Drucksache der Kommission für Arbeiterstatistik Nr. I : Erhebung über die
Arbeitszeit in Backereien und Konditoreien, veranstaltet im September 1892.
*) Drucksache Nr. 3; Erhebungen über die Arbeitszeit in Bäckereien und
Konditoreien, II. Teil.
*) Drucksache Nr. 4: Protokoll über die Verhandlungen vom 14. Februar
bis 20. Februar 1894 und die Vernehmung von Auskunftspersonen über die Arbeitszeit
in Bäckereien und Konditoreien.
4) Drucksache Nr. 6: Bericht über die Erhebungen betreffend die Arbeitszeit in
Bäckereien und Konditoreien.
®) Oldenberg, Der Maximalarbeitstag im Bäcker- und Konditorengewerbe.
Leipzig* Verlag von Dunkcr & iiumblot 1894, S. 2 ff.
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Arbeiter- und Konsumentenscliutz im Bäckergcwcrbc.
53
Die Kommission empfahl endlich besondere Vorschriften über
die Sonntagsruhe in Bäckereien und Konditoreien.1)
*) Bereits die im Jahre 1892 in Kraft getretene Ordnung der Sonntagsruhe
im Backwarenverkauf hatte die Bäckermeister gereizt (Oldenberg a. a. O., S. 4, 5
und 199). Als aber die Bestimmungen der §§ 105 a bis 105 f und 105 h der Novelle
vom 1. Juni 1891, soweit sie sich auf die Sonntagsruhe in der Industrie und im
Handwerk beziehen, zum I. April 1895 in Kraft gesetzt wurde (Kaiserl. Verordnung
vom 4. Februar 1895 — R.G.B1. S. 11) und die sämtlichen Bundesregierungen auf
Grund des § 105 c a. a. O. die Sonntagsarbeit in den Bäckereien und Konditoreien
nach den Vorschlägen der Kommission für Arbeiterstatistik festsetzte, brachte dieses
das Blut der Bäckermeister derart in Wallung, dafs ein Bäckermeister nicht einmal
vor Frivolitäten zurückscheute. So meinte derselbe auf dem Bäckcrmeistcrkongrcfs
in Breslau inbezug auf die Sonntagsarbeit: „Wenn die Seligkeit der Gesellen nur
davon abhängc, dafs sic Frühgottesdienst und Messe besuchen, so hätte wohl der
Hades nicht Raum für alle die Gelehrten und Doktoren, die bei Lebzeiten versäumt
haben, sich bei geistlosen Predigern eine Schlafstelle zu mieten.“ Redner legte dann
dar, dafs in Berlin 1896 140 Bäckereibetriebe „pleite gegangen“ seien und zwar
zum g rö fs t e n Teil infolge der Sonntagsruhe für die Bäcker ; aber weder ein Hitze
noch ein Stöcker kann uns beibringen, dafs wir Sonntags das Brot nicht aus den
Ofen ziehen dürfen. Der Staat macht Sonntags Geschäfte, die Fiscnbahn verkauft
Sonntags eine Million Fahrkarten... und seihst der Pastor macht Sonn-
tags Geschäfte, wenn er tauft und traut! (Reichstag vom 1 3. Januar 1897,
S. 4006 (A) (B). Ucber die häufigsten Ursachen der Bankerotte der Bäcker
(Wirtschaft mit fremdem Kapital etc.) Oldenberg a. a. O., S. 125.
Die Bestimmungen über die Sonntagsruhe im Bäckereibetrieb sollen nach
gerichtlichen Entscheidungen aut ein Grofsuntcrnehmcn (Restaurationsbetrieb) nicht
anwendbar sein (F. A. Günthers Bäcker- und Konditorzeitung vom 23. Oktober 1900,
Nr. 85). Die Direktion der Aschingerschen Schankbetriebe zu Berlin stellt nämlich in
einer eigenen Bäckerei das Brot für ihre 32 „Bierqucllcn“ her. Auf Beschwerde der
hiesigen beiden Bäckerinnungen hat das Polizeipräsidium die Aktiengesellschaft
Aschinger wegen wiederholter Verstöfsc gegen die Vorschriften über die Sonntagsruhe
in Bäckereien (begangen durch Sonntagsarbeit in ihrem Bäckercibctriebc) mit einem
Strafmandate bedacht. Die Direktion der Gesellschaft beantragte gerichtliche Ent-
scheidung und wurde sowohl vom Schöffengerichte, wie von der Strafkammer des
Landgerichtes freigesprochen mit der Begründung, dafs die Aschingersclu* Bäckerei
nur ein Bestandteil des Gastwirtsbetriebes der Gesellschaft bilde und demnach nicht
in der Sonntagsarbeit beschränkt werden könne (Deutsche Warte vom 23. Mai 1901).
Die beiden Entscheidungen sind allerdings nicht zutreffend. Die Innungsmeister und
das Polizeipräsidium sind im Recht. Der Betrieb einer Bäckerei gehört begrifflich
nicht zum Schankbetrieb, weil er nicht unmittelbar die Zwecke desselben verfolgt.
Der „Nebenbetrieb“ der Bäckerei kann an sich als selbständiger Betrieb bestellen
und von dem „Hauptbetrieb“ des Bierausschankes getrennt werden, ohne dafs dieser
letztere dadurch seine wirtschaftlichen und rechtlichen Charakter verliert.
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54
M. v. Schulz,
Nach längerer Pause erging auf den unter dem 16. Dezember [895
von Preufscn beim Bundesrat gestellten Antrag und nachdem der
Bundesrat den von Preufscn vorgelegten Vorschriften unter un-
wesentlichen Abänderungen zugestimmt hatte, die Bekanntmachung
des Reichskanzlers vom 4. März 1896 betreffend den Betrieb von
Bäckereien und Konditoreien. Mehrfach weicht die Verordnung
des Bundesrats von den Vorschlägen der Kommission für Arbeiter-
statistik ab. Hauptsächlich sind folgende Unterschiede bemerkens-
wert: Die Kommission hatte einen Maximalarbeitstag für die Arbeiter
sämtlicher Bäckereien und Konditoreien beantragt. Dagegen
finden die entsprechenden Bestimmungen des Bundesrats keine An-
wendung auf solche Konditoreien, in denen nur Konditorwaren,
also keine Backwaren gefertigt werden. Ferner sind die
Bäckereien und diejenigen Konditoreien, welche neben den ihrem
Gewerbe eigentümlichen Waren auch „Backwaren“ hersteilen, den
Beschränkungen der Hundesratsverordnung nicht unterworfen, sobald
sie ihre Arbeiter ausschließlich am Tage zwischen 5 1 Uhr
morgens und 8 1 Uhr abends beschäftigen. Die Vorschriften über
den Maximalarbeitstag haben somit nur für Bäckereien und gemischte
Betriebe der Konditoreien, in denen Gehilfen oder Lehrlinge nachts
thätig sind, Gültigkeit.')
Ueber die Kinschränkung der Bäckerarbeit auf 12 bis 16
Stunden liels sich der Staatsminister v. Berlepsch folgendermalsen
im Reichstage2) aus: „Wie liegt denn die Sache? 24 Stunden hat
Während des Druckes dieses Aufsatzes bringen die Zeitungen die Nachricht,
dafs das Kammergericht auf die Revision der Staatsanwaltschaft das Urteil der
Strafkammer aufgehoben und die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen
habe. Die Bestimmungen über die Sonntagsruhe hätten von der Aktiengesellschaft
beobachtet werden müssen. Das Revisionsgericht hat ferner ausgeführt, dafs ein Be-
trieb nur dann ein Nebenbetrieb sei, wenn er organisch mit dem Hauptbetriebe
verbunden und diese Verbindung zugleich eine übliche wäre. Keine der beiden
Voraussetzungen sei hier gegeben. Denn die Bäckerei wird in besonderen Räumen
aufserhalb jeden räumlichen Zusammenhanges mit den Schankstätten der Gesellschaft
betrieben. Bäckereien sind ferner als Nebenbetriebe des Schankgewerbes nicht üblich.
’) Wenn derartige Betriebe aufserdem Gehilfen und Lehrlinge halten, welche
nur am Tage zu arbeiten haben, so besteht natürlich für d i ese Arbeiter und
ihre Prinzipale die Bundesratsverordnung ebensowenig als wenn die betreffenden
Arbeitgeber Personen nachts überhaupt nicht beschäftigten.
Am Schlüsse unseres Artikels werden wir übrigens die Be-
kanntmachung des Reichskanzlers vom 4. März 1896 folgen lassen.
f) Reichstag vom 22 April 1896, S. 1860 (B) (C).
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Arbeiter- und Konsumentenschutz im Bäckergewerbe.
55
der Tag. Von diesen 24 Stunden sind in den Bestimmungen des
Bundesrats für jeden Gehilfen 8 Stunden der Ruhe zugesprochen.
Es bleiben also 16 Stunden übrig. Von diesen 16 Stunden können
-1 31/* Stunden zu regelmäfsigen Betriebsarbeiten verwendet werden,
sobald während der Arbeitsschicht eine Stunde Pause gewährt
w'ird — was, soviel ich weifs, überwiegend der Fall ist.
Dreizehn Stunden kann nämlich alsdann die Arbeitsschicht
dauern und eine halbe Stunde ist für die Herstellung des Vorteiges
vorgesehen. Daneben sind gelegentliche Uebcrarbciten unbeschränkt
zulässig. Aufserdem kann an 40 Tagen im Jahre Ueberarbeit statt-
finden."
Abgesehen von den 8 Stunden absoluter Ruhe kann also die
Arbeitszeit unter Umständen 16 Stunden währen. Der Redner warf
die Frage auf, ob hier nicht zu wenig anstatt zu viel gefordert sei.
Mit Recht wohl zweifelte Herr v. Berlepsch daran, dafs in dieser
Arbeitszeit von 1 3 a Stunden für Herstellung der Ware selbst und
2’/j Stunden zur Verrichtung gelegentlicher Nebenarbeiten die
Bäckereien nicht mit ihren Arbeiten fertig werden könnten. Der
Regierungsvertreter hob auch noch hervor, dafs besondere Ver-
günstigungen denjenigen Betrieben eingeräumt worden seien, die
Sonntags gar nicht arbeiten. In solchen Fällen ist zugelassen,
dafs die Meister die an den beiden vorhergehenden Wochentagen
endigenden Schichten um 2 Stunden verlängern, also 1 5 */9 statt
13’ ä Stunden verwenden dürfen.
Einst teilten alle Parteien die Ansicht des Ministers, dafs die
Arbeitgeber mit der ihnen überlassenen Arbeitszeit ganz gut aus-
kommen würden. Die grol'se Mphrzahl der führenden Zeitungen
einschlielslich der konservativen hatte sich mit der Bundesratsver-
ordnung einverstanden erklärt.’)
Um so überraschender war der plötzliche Umschwung, hervor-
gerufen durch die rege Agitation der Bäckermeister. Die Interpellation
der Abgeordneten Freiherr v. Manteuffel und Genossen betr. die
Bestimmungen des Bundesrats über den Betrieb von Bäckereien und
Konditoreien 2) cröffncte im Reichstage den Reigen. Die Bundes-
ratsverordnung sollte stürzen. „Die protestierenden Parteien, aufser
dem Freisinn, erklärten die Verordnung für rechtswidrig, weil die
’) Reichstag vom 22. April 1896. S. 1850 (C) und Preußische Jahrbücher,
Bd. 85, S. 388.
*) Reichstag vom 22. April 1896, S. 1843 ff.
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56
M. v. Schulz,
gesundheitsschädliche lange Arbeitsdauer nicht nachgewiesen sei;
ausnahmslos aber für inopportun, im Hinblick auf den Kleinbetrieb
und die zu besorgende Unzufriedenheit. Konservative und andere
Redner fürchteten den Abfall von Bäckergesellen zur Sozialdemo-
kratie Die freisinnige Volkspartei, mit den zunftfeindlichen
Konkordiabäckerinnungen wahlverwandt, meinte, die Landwirte
würden künstlich zur Gründung grofser genossenschaftlicher Land-
brotbäckereien angereizt werden, und bei aller Sympathie für Ge-
nossenschaften sei das unerwünscht ; in Belgien gebe es sogar riesige
sozialdemokratische und katholische Genossenschaftsbäckcreien." ’)
Die Reichsregierung hielt den Abgeordneten vor Augen, dafs
in 50 Proz. aller Bäckereibetriebe über 12 Stunden bis 14, 16, gar
bis 18 Stunden und zwar zur Nachtzeit gearbeitet werde, ohne
irgend einen Ruhetag im ganzen Jahre in überheizten Räumen und
in schlechter Luft. Wann wolle man , äuiserte der Regierungs-
vertreter, von dem § i2oe Gebrauch machen, es sei denn in diesem
Falle. Wenn die Abgeordneten ihre Meinung wechselten, so gebe
dies für die Regierung absolut keinen Anlafs, ihrerseits dasselbe zu
thun. Diese deutliche Absage hinderte jedoch die Konservativen
nicht, am 15. und 16. Juni 1896 im preufsischen Abgeordneten-
hausc den Protestlern des Reichstages Heeresfolge zu leisten und
die preufsische Regierung zu ersuchen, Sorge zu tragen, dafs die
Bäckerschutzverordnung nicht erst in Kraft trete. Regierungsseitig
wurden die Antragsteller belehrt, dafs ihrem Anträge nicht statt-
gegeben werden würde. Sic könnten wohl auch kaum erwarten,
dafs die preufsische Regierung gewillt sei, ihren Einflufs aufzubieten,
zur Aufhebung einer Anordnung, die auf Preufsens Antrag, wie
den Antragstellern ja bekannt sei, soeben erging. Der Handels-
minister nannte die Motive der konservativen Opposition mit dem
wahren Namen: Sie fürchtete die von den Bäckermeistern gedrohte
Entziehung der politischen Kundschaft.2)
Die angefeindete Bundesratsverordnung trat, wie bestimmt, am
1. Juli 1896 in Kraft.
Nachdem der Beistand des Reichstages und Landtages nichts
*) Preufsische Jahrbücher, Bd. 85, S. 388.
3j Soziale Praxis vom 25. Juni 1896, Sp. I054. Es mag hier mitgctcilt
werden, dafs der Abgeordnete Pastor Schall in der fraglichen Sitzung des Ab-
geordnetenhauses die Backstube auf dem Lande als Lieblingsau (enthalt der Krauen
im Winter pries.
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Arbeiter- und Konsumentenschutz im Bärkorgowerbe.
57
gefruchtet, versuchten cs die Bäckermeister auf eigene Faust, gegen
den Maximalarbeitstag Front 7.u machen. Fs geschah dies zunächst
auf der Jahresversammlung des Verbandes „Germania“ vom 17. bis
19. August 1896. Etwa 350 Vertreter deutscher Bäckerinnungen
fafsten folgende Resolution:1)
„1. dafs die Verordnung des Bundesrats nur in den Betrieben
vollkommen durchführbar ist, in welchen in zwei Schichten
gearbeitet werden kann ;
2. dafs die Verordnung zu unzähligen unerquicklichen Streitig-
keiten zwischen Meister und Gesellen Veranlassung giebt,
zu solchen auch bereits geführt hat und dies noch in weit
stärkerem Malsc thun wird, wenn erst die zuständigen Be-
hörden energischer über die Befolgung der einzelnen Be-
stimmungen der Verordnung wachen werden;
3. dafs durch die Verordnung die Autorität der Meister in den
eigenen Werkstätten, ihr FinHufs auf die Leistungen der
Gesellen und hiermit die Möglichkeit nutzbringender Fort-
führung ihrer Betriebe vernichtet und in natürlicher Folge
davon tausende von Gesellen der Arbeitsgelegenheit beraubt
werden :
4. dals endlich die Verordnung bei strenger Durchführung am
wenigsten diejenigen wenigen Betriebe betrifft, welche zunächst
die Veranlassung zu derselben gegeben haben , weil sie
Schichtwechsel einrichten können, dagegen die Kleinbetriebe,
weil dieselben durch die Bestimmungen aufser stand gesetzt
werden, alle Anforderungen ihrer Kundschaft zu befriedigen,
konkurrenzunfähig macht.“
Der Inhalt dieses Beschlusses enthält im wesentlichen alles
dasjenige, was die Helfer der Bäckermeister schon im Reichstage
und im Abgeordnetenhause vorgebracht hatten und was bereits von
der Kommission für Arbeiterstatistik auf seine Richtigkeit hin unter-
sucht worden war. Nicht genug mit diesem Proteste haben die
Bäckermeister mehrfach die Rechtsgültigkeit der Bundesratsverord-
nung gegen polizeiliche Strafverfügungen bei den Gerichten angc-
fochten — überall mit demselben Mifserfolg.2)
*) Soziale Praxis vom 25. Juni 1896, Sp. 1054 un«l 1055. I>azu Reichstag
vom 13. Januar 1897, S. 40031!. und Oldenberg a. a. O., S. 128 t’f.
*) Soziale Praxis vom 14. Oktober 1897, Sp. 42, und Preulsisclic Jahrbücher,
Bd. 85, S. 391 a. E.
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M. v. Schulz,
58
Im Laufe der Jahre erging nun Protest auf Protest seitens der
Bäckermeister, ohne dafs sie imstande gewesen wären, irgend welche
neue Momente für die Aufhebung der Bundesratsverordnung ins
Feld zu führen. Auch im Reichstage kehrten die Verhandlungen
über den Maximalarbeitstag wieder; doch brachten sie bis jetzt kein
greifbares Ergebnis. Man will deswegen gern, wenn der Maximal-
arbeitstag fallt, die Schranken der Minimalruhezeit sich auferlegen
lassen. Die Freunde tler Bäckermeister im Reichstage und die
Wortführer auf den Innungsverbandstagen legten sich von jetzt an
für diese Aendcrung des Arbeiterschutzes ein. So verlangten die
rheinischen Bäckermeister in ihrer Versammlung zu Krefeld am
20. Juni 1898 entweder eine Wochen - Maximalarbeitszeit von 72
Stunden oder eine Minimalruhezeit.1) Der Zentralverbandstag der
deutschen Bäckerinnungen zu Berlin forderte gleichfalls unter Ver-
werfung des Maximalarbeitstages eine Minimalruhezeit von 8 Stunden.*)
Der 12. Zentralverbandstag des Bäckerinnungsverbandes „Germania"
ferner, welcher am 15. und 16. August 1899 in Magdeburg tagte,
wiederholte, dafs der Bundesrat an Stelle des jetzigen Maximal-
arbeitstages eine Ruhezeit von 8 oder 10 Stunden pro Tag ver-
ordnen solle.3) In der Sitzung des Reichstages vom 12. Januar 1901
verkündete auch der Abgeordnete Oertel, dafs die Bäckermeister
mit einer Ersetzung des Maximalarbeitstages durch eine Mindest-
ruhezeit von 10 Stunden einverstanden seien.
Es wird sich bald zeigen, ob der Bundesrat seine Verordnung
zurückziehen und den Maximalarbeitstag durch die Minimalruhezeit
ersetzen wird. Wenn dies geschieht, so hätten die Meister, obwohl
die Verhältnisse kaum andere geworden sind, wie zur Zeit des
Erlasses vom 4. März 1896, durch ihr beharrliches Drängen4) für
sich einen teilweisen Erfolg errungen. Wir kommen auf die zu
erwartende neue Verordnung unten nochmals zurück. Zunächst
1 1 Soziale Praxis vom 30. Juni 1S98, Sp. 1030.
*) Soziale Praxis vom 2. Dezember 1898, Sp. 225.
*) Soziale Praxis vom 24. August 1899, Sp. 1240.
4) F.in ähnliches Schauspiel wie bei den Bäckermeistern erleben wir zur Zeit
bezüglich der in Aussicht genommenen Bundesratsverordnung zum Schutze der
Kellner etc. Der Eingriff des Bundesrats zur Regelung der Ruhezeit der in Gast-
und Schankwirtschaften beschäftigten Personen soll ganz so wie die Bäckcrcivcr-
ordnung — die Arbeitgeber dos Gastwirtsgewerbes „in der empfindlichsten Weise
belästigen und schädigen“ („der Gastwirtsgehilfe. Organ zur Wahrung und Förderung
der Interessen der Angestellten im Gastwirtsgewerbe Deutschlands Nr. 34 und Nr. 35).
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Arbeiter- und Konsumentenschutz im Häckergewerbe.
59
möchten wir hervorheben , dafs ursprünglich viele Meister ohne
weiteres die Ausführbarkeit und Nützlichkeit der Bundesratsverord-
nung cingestanden.') Zu der eingetretenen auffallenden Schwen-
kung gab der Abgeordnete Hitze im Reichstage die Lösung. Er
bemerkte: Ich kenne eine ganze Reihe von Innungen und Bäcker-
meistern, die anfangs der Verordnung als solcher zustimmten und
erst durch die Berliner Bäckermeister u. s. w. zur absoluten Ab-
lehnung gekommen sind.®)
Eine grofsc Rolle bei der heutigen Ablehnung des Maximal-
arbeitstages durch die Bäckermeister spielt die stets wiederkehrendc
Behauptung, dafs durch die Beschränkung der Arbeitszeit die Klein-
betriebe zu Grunde gehen, während die Grofsbetriebe sich cinrichten
könnten. Die Beschwerdeführer kümmern sich nicht um den ihnen
erbrachten Nachweis, dafs durch den Maximalarbeitstag die grofsen
Bäckereien am meisten betroffen werden, die kleinen am wenigsten,
weil sie schon den zwölfstündigen Arbeitstag haben.8) Wenn die
Bäckermeister ferner einwenden, dafs durch den Maximalarbeitstag
ihnen erheblicher Schaden zugefügt werde, so läfst sich schlecht
damit zusammenreimen, was etwa ein Jahr nach Einführung der
Verordnung die Bäckergesellen in einer Petition an den Reichs-
kanzler diesem bekundeten: „War der Kaufpreis früher für eine
Bäckerei, in der bis zu 3 Mann arbeiteten, 1500 — 3000 Mk., so ist
es jetzt nichts Ungewöhnliches, dafs für derartige Bäckereien bis zu
6000 Mk. gezahlt werden." 4) Ganz abgesehen davon, dafs die
Bäckermeister von den hergebrachten Gewohnheiten ®) nicht lassen
möchten, wird auch ein wichtiger Grund, weshalb sie immer und
immer wieder gegen den Maximalarbeitstag sich sträuben, der sein,
dafs es ihnen unangenehm ist, „unter Polizeiaufsicht“ zu stehen.
') Soziale Praxis, VIII. Jahrgang. Sp. 568 und Oldcnherg a. a. O., S. 144.
*) Soziale Praxis, VIII. Jahrgang, Sp. 941, ferner die „Grenzboten“ 58. Jahr-
gang 3. Vierteljahr, S. 47.
V Drucksache: Verhandlungen Nr. 6, Bericht über die Erhebungen betreffend die
Arbeitszeit in Bäckereien und Konditoreien. Die Bäckerei ist in Deutschland ganz
überwiegend Kleinbetrieb. Siehe darüber Oldenberg a. a. O., S. 9.
*) Siebe übrigens Oldenberg a. a. O., S. 143 a. A.
6) Oldenberg a. a. O., S. 150. Die Arbeitgeber waren ferner während der
Verhandlungen der Kommission für Arbeilerstatistik nicht davon abzubringen : eine
Beschränkung der Arbeitszeit ist nicht möglich, weil sic eine Beschränkung
de s B c t ri e bes u n d da m i t ei ne B esc h r än kun g dcsGewinncs bedeutet.
(Oldenberg a. a. O., S. 128).
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6o
M. v. Schulz,
Eine dies bestätigende Episode erzählte der Abgeordnete Molkenbuhr
im Reichstage: „Als einmal die Bäckermeister in der Kommission
so recht mit Emphase gegen den Maximalarbeitstag gewettert
hatten , ging ich mit einem der Bäckermeister nach Hause und
sagte: es ist seltsam, dafs die Bäckermeister weniger vom Geschäft
zu verstehen scheinen, als die Gesellen; die Gesellen wissen immer
Aushilfsmittel, die Meister nicht. Ja, sagte er, wir wissen's auch,
das geht auch ganz gut, aber wir wollen den Gewerbe-
inspektor nicht in der Backstube habe n.“ Der Abgeord-
nete meinte, dafs vielleicht manches in der Backstube vorgehe, was
die Meister lieber den Aufsichtsbeamten verbergen.1) Diesen Punkt
werden wir unten noch eingehender zu erörtern haben.
Man hat auch eingeworfen, dal's die Bundesratsverordnung zu
komplizierte Bestimmungen enthalte. Sie sei undurchführbar. Ein
einfacher Handwerksmeister könne sich in dieselbe nicht hinein-
finden. So schlimm ist cs aber damit nicht bestellt. Als unmittel-
bar vor Einführung der Bäckereiverordnung und unmittelbar nachher
in der Presse lebhafte Beschwerden der Interessenten über die Ver-
ordnung laut wurden, hat die Reichsregierung unter dem 23. Sep-
tember 1896 ein Rundschreiben an die verbündeten Regierungen
gerichtet, in welchem gebeten wurde, die Wirksamkeit der Ver-
ordnung zu beobachten und über etwaige Mifsständc zu berichten.
Der Regicrungsvcrtreter teilte im Reichstage s) mit, dals nach ein-
zelnen Regierungen , welche schon Auskunft erteilt hätten , die
Bäckermeister hier und da sich beklagen und dafs cs den Anschein
gewinne, als ob das Verhältnis zwischen Gesellen und Meister sich
nicht verbessert habe. Indessen sei diese Wahrnehmung
nicht überall im Reiche gemacht worden. Derart standen
die Verhältnisse kurz nach Einführung der Verordnung. Hören wir
die späteren Berichte der Gewerbeinspektoren, so ist „das Ergebnis
der amtlichen Ermittelungen ein dicker Strich durch die von den
Wortführern der Bäckermeister entworfenen Schrcckbilder“, wie
Ohlenberg !l) in seinem Aufsatze: „Die Bäckereiverordnung in der
Praxis“ schreibt. Der Schriftsteller führt unter anderem an, dafs
der Obermeister in einer Stadt des Ostens dem Gewerbeinspektor
versicherte, die Verordnung sei für die Entwicklung und Schaffens-
*) Reichstag vom 22. April 1896, S. 1S63 (D).
f) Reichstag vom 13. Januar 1897, S. 41*02 (I)).
a] Soziale Praxis vom 1. Juni 1899, Sp. 937.
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Arbeiter- und Knnsumentcnsehulr im Bäckergewerbe. 0 1
freudigkeit des Bäckereipersonals segensreich und dazu angetlian,
mit der Zeit ein besseres Einvernehmen zwischen Meister und
Gesellen herbeizuführen.
Neuerdings wird auch über die Bäckereiverordnung im Bericht
der Gewerbeaufsicht Baden mitgeteilt, dafs die Vorschriften
vom 4. März 1896 als vollständig durchgeführt gelten
können und dafs die festgestellten Uebertretungen sich in den
normalen Grenzen halten. Auch die Arbeiterschaft erkenne die
genügende Durchführung dieser Bestimmungen an. Ebenso stülst
im Dresdener Bezirk die Bäckereiverordnung nicht mehr auf grol'sen
Widerstand. Von den 1872 Bäckereien und Konditoreien, die
revidiert wurden, verstiefsen 78, also etwa 4 Proz. gegen die Vor-
schriften. Eine der Polizeibehörden im Dresdener Bezirk bezeugt
ferner: „Es hat sich aufs neue gezeigt, dals sich die Vorschriften
der Verordnung mehr und mehr eingclebt und zu gröfseren
unliebsamen oder unzufriedenen Aussprachen aus den beteiligten
Kreisen nicht Anlafs gegeben haben“.
In dem Jahresberichte der württembergischen Fabrikinspektion
sagt der Inspektor für den ersten Bezirk: „Die achtstündige Minimal-
ruhe im Bäckergewerbe glaubt die Mehrzahl der Meister nicht ein-
halten zu können, während einzelne z u g e b e n , d a l’s in
ihrem Betrieb die Minimalruhe einzuhalten keine
Schwierigkeit mache; es müssen eben Meister und Gesellen
harmonieren, auch müsse die Einrichtung und auch die Ge-
hilfenzahl dem Umfang des Geschäftes entsprechen.
Letztere Bedingung ist ohne weiteres einleuchtend, erfordert aber
gröfsere Mittel, die nicht jedem zur Verfügung stehen."
Jedweder wird der Ansicht sein, dafs ein Meister, der die
Mittel zu einer geordneten Geschäftsführung nicht hat, den Bäckerei-
betrieb unterlassen mufs, zumal wenn er die Aufrechterhaltung
desselben nur durch das Opfer der Gesundheit seiner Gesellen
erkaufen kann.
Der Abgeordnete Bebel ist nicht einmal mit dem bestehenden
Zustande zufrieden. Er drückte sich in dieser Hinsicht bei der
Reichstagsdebatte am 13. Januar 1897 drastisch folgendermalsen
aus: „Seinem Pferde, seinem Ochsen, seinem Esel wird er (nämlich
der Bäckermeister) nicht blofs acht Stunden gönnen, seine Tiere
wird er nicht sechzehn Stunden anspannen; er würde sich sagen:
dann ruinierst du dein Pferd, deinen Ochsen, deinen Esel und das
kostet Geld, aber der Geselle kostet kein Geld.“
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62
M. v. Schulz,
Wenn auch die Bäckermeister nicht so bösartig veranlagt sind,
wie der Abgeordnete anzunehmen scheint, so dürfte die von den
Meistern behauptete und gegen die Verordnung vom 4. März 1896
angeblich sprechende Undurchführbarkeit der ununterbrochenen acht-
stündigen Ruhe freilich oft auf Sparsamkeitsrücksichten zurück-
zuführen sein. Der Gewerbeinspektor für den dritten württem-
bergischen Bezirk bemerkt hierzu: „Diese (die Undurchführbarkeit
der achtstündigen Ruhe) wird von einem anderen Bäckermeister
rundweg bestritten, der die Nichteinhaltung dieser Bestimmung
darauf zurückführt, dafs ein erheblicher Teil der Bäckermeister aus
Sparsamkeitsgründen von ihrer althergebrachten Arbeitsmethode
nicht ablassen wolle. Anstatt die im Preis höher stehende Prefs-
hefe zu verwenden, durch welche die Zeit des Vorteigmachens um
2 — 3 Stunden hinausgeschoben werden könne, würde die billigere
Bierhefe verwendet. Dies habe die Unterbrechung der achtstündigen
Ruhezeit zur Folge, wenn nicht gerade der Meister selbst das Vor-
teigmachen besorge. Dieses von einem erfahrenen Bäckermeister
geäufserte Urteil, an dessen Richtigkeit zu zweifeln die Gewerbe-
inspektion keinen Grund hat , weist auf eine bedauerliche Kurz-
sichtigkeit in jenen Kreisen hin, deren Folgen sich durch das Fern-
bleiben der tüchtigen Bäckergehilfen, die eine strikte Durchführung
der gesetzlichen Bestimmungen verlangen, schon bemerkbar machen
werden.“
Der Gewerbeinspektor erklärte, dafs im allgemeinen die
befragten Bäckermeister sich dahin geäufsert haben,
dafs man mit tüchtigen Bäckergehilfen den zwölf-
ständigen Maximalarbeitstag ein halten könne.
Auch Oldenberg hält endlich „die Möglichkeit und Zweck-
mäfsigkeit einer Abkürzung der Arbeitszeit für wahrscheinlich".')
Trotz alledem wird Zeitungsnachrichten zufolge im Bundesrat er-
wogen, ob es nicht vorteilhaft wäre, den Maximalarbcitstag fallen
zu lassen und die Minimalruhezeit einzuliihren. Die F. A. Günther-
schc Bäcker- und Konditorzeitung *) berichtet aus der „Kölnischen
Zeitung" über den Entwurf einer neuen Verordnung: „Der Entwurf
unterscheidet sich von den bestehenden Vorschriften hauptsächlich
dadurch, dafs nicht die Dauer der Arbeitsschichten,
*) Oldenberg a. a. O., S. 150.
*) Nr. 79 vom 2. Oktober 1900. Ferner Soziale Praxis vom 28. Februar 1901,
Sp. 529 fr. und vom I. Juni 1899, Sp. 945 ; endlich Reichstag den 12. Januar d. J., S. 644.
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Arbeiter- und Konsumentensebutz im Bäckergewerbe.
63
sondern die Dauer der Pausen zwischen den Arbeits-
schichten festgesetzt wird. Die Ruhezeit soll für jeden
Gesellen mindestens 10 Stunden betragen , die nur innerhalb der
letzten beiden Stunden und nur für höchstens eine halbe Stunde
behufs Herstellung des Vorteiges unterbrochen werden darf. Werden
den Gehilfen nicht während der Arbeitsschicht mindestens zwei
halbstündige Pausen oder eine einstündige Pause gewährt, so mul's
die Ruhezeit mindestens elf Stunden betragen, ln der Woche
müssen mindestens sieben Ruhezeiten gewährt werden, während die
Arbeitsschicht einschliefslich der Pausen nicht länger als 1 5 Stunden
dauern darf. Für Lehrlinge unter 16 Jahren ist eine Ruhezeit von
12 oder 13 Stunden vorgeschrieben, die Arbeitsschicht darf höchstens
13 Stunden dauern. An 20 Tagen im Jahre kann die Ortspolizei-
behörde Ausnahmen zulassen. Wird den Gehilfen und Lehrlingen
für den Sonntag eine mindestens 24 ständige, spätestens am Sonn-
abend Abend um 10 Uhr beginnende Ruhezeit gewährt, so darf
die vorhergehende Ruhezeit bei den Gehilfen bis auf vier, bei den
Lehrlingen unter 16 Jahren auf 6 Stunden verkürzt werden. Sofern
die für den Sonntag zu gewährende Ruhezeit am Sonnabend späte-
stens um 6 Uhr abends beginnt und mindestens 30 Stunden dauert,
darf die Herstellung des Sonntagsbedarfs an Backwaren unmittelbar
an die vorhergehende Arbeitsschicht angeschlossen werden. Dabei
darf jedoch aber die Gesamtdaucr der Beschäftigung einschliefslich
der Pausen für die Gehilfen 17 Stunden, für die Lehrlinge unter
16 Jahren 15 Stunden nicht überschreiten.“
Man vermutet, dafs den Bäckermeistern durch die neue Ver-
ordnung ein Entgegenkommen gezeigt werden solle, als eine Art
von Kompensation dafür, dafs sie sich die noch unten zu erwäh-
nenden notwendigen Mafsregeln der Hygiene zukünftig gefallen
lassen müssen. Eis blieb nicht aus, dafs gegen die beabsichtigte
Veränderung des Arbeiterschutzes in Bäckereien die Gehilfen sich
erhoben. Versammlungen der Berliner Bäckereiarbeiter am 12. März
und 7. Mai 19011} und die achte Generalversammlung des Ver-
bandes der Bäcker und Berufsgenossen Deutschlands in Mainz am
II. April 1901*) traten für die Beibehaltung des Maximalarbeits-
tages ein.
Wir wollen nunmehr, bevor wir zu den sanitären Zuständen
*) „Vorwärts“ vom 13. März und 8. Mai 1901.
f) „Vorwärts“ vom It. April 1901, Hauptblatt S. 3.
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64
M. v. Schulz,
im Bäckergewerbe übergehen, einen Ueberblick geben über die
Wege zum Arbeiterschutz, welche dem Bundesrat offen standen, als
er 1896 sich für den Maximalarbeitstag entschied. Er hatte noch
drei Wege :
Der Bundesrat konnte die Minimalruhezeit wählen, welche jetzt
in Erage kommt und seinerzeit von der Minderheit der Reichs-
kommission für Arbeiterstatistik befürwortet war. Man hielt im
Reichstage die Einführung dieser Ruhezeit nicht für angebracht,
„weil sie den Anreiz bieten könnte, die dann freigelassene Zeit aufs
äufserste auszunützen und weil hier der gute Wille des Gesetz-
gebers vielleicht das Gegenteil dessen erreichen könnte, was er
erstrebt".1) Der Abgeordnete Richter war dagegen für die Minimal-
ruhezeit, durch welche man, wie er bemerkte, wohl fast sämtliche
Vorteile der Bestimmungen der Bäckereiverordnung erreicht haben
würde, ohne die Nachteile und ohne die so überaus komplizierte
und ganz unausführbare Kontrolle.4)
Auf dem zweiten Wege käme der Bundesrat zur „Maximal-
arbeitswoche“. ■1) Habe man die Maximalarbeitswoche, so wurde
Januar 1897 im Reichstage ausgeführt, dann fallen alle jene von den
Meistern erhobenen Bedenken inbezug auf technische Schwierig-
keiten hinweg; gleichwohl erreiche man den Schutz des Bäckerei-
arbeiters und vermeide eine allzu grofse Einengung der Bäcker-
meister und eine Beschleunigung des in der Entwicklung begriffenen
Grofsbetriebes. Oldenbcrg ist indels ein Gegner der Maximalarbeits-
wochc, weil die schon jetzt schwierige Kontrolle durch Schaffung der
Maximalarbcitswochc vollends auf Denunziation basiert sein würde.
Bekanntlich wird dem augenblicklich bestehenden Maximalarbeits-
tagc und den über denselben gegebenen Vorschriften vorgeworfen,
die Gesellen zur Denunziation zu verleiten.
Wir kommen endlich zu dem Mittel: durch Verbot der Nacht-
arbeit4) die Arbeiter zu schützen. Hier ist hervorzuheben, dafs bei
der Reichstagsdebatte am 22. April : 896 über den Maximalarbeitstag
der Abgeordnete Hitze an die Bäckermeister die Aufforderung rich-
') Reichstag vom 13. Januar 1897, S. 4011.
•) Reichstag vom 22. April 1896, S. 1877.
■v) ln England haben die Gesellen die Maximalarbeitswoche empfohlen (Olden-
burg a. a. O., S. 138).
•| l'eber die Nachtarbeit im Bäckergewerbe und die Bemühungen sie zu be-
seitigen, siehe Oldenbcrg, Maximalarbeitstag S. 160 ff. Siehe hierzu F. A. Gün-
thers Bäcker- um! Konditorzcitung Nr. 44. vom I. Juni 1900.
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Arbeiter- und Konsumentenschutz im Bäckergewerbe.
65
tete, unter sich zu vereinbaren, die Nachtarbeit abzu-
schaffen. Wenn die Bäcker sich in diesem Sinne einigten, dann
sei für sie auch die ganze ihnen so unangenehme Verordnung be-
seitigt, da diese, wenn blofs Tagesschicht sei, nicht zutreffe. In
jüngster Zeit ist wiederum der Abschaffung der Nachtarbeit das
Wort geredet worden.1) Thatsächlich besteht die Nachtarbeit in
Deutschland noch nicht lange und allgemein. „Unsere Grofsväter
sind alle noch ohne frisches Frühstücksgebäck aufgewachsen.“ *) Der
Abgeordnete Hitze bemerkte im Reichstage, dafs die Nachtarbeit
gar kein Bedürfnis sei, das technisch erforderlich wäre. Es gebe
Gegenden , z. B. am Rhein , in Westfalen , in denen die Sonntags-
arbeit in Bäckereien unbekannt sei. Das Publikum habe sich daran
gewöhnt und gebe sich zufrieden mit den Brötchen, die am Vor-
abend gebacken seien und so könnte die Nachtarbeit sehr wohl
beseitigt werden.3) Auch Oldenberg weist darauf hin, dafs die vor-
wiegend grofestädtische Nachtarbeit nur des Weifsbrotes wegen da
sei, das zum Frühstück frisch und pünktlich geliefert werden solle.
Mit einem etwas anderen Gebäck ginge es auch anders.4)
Neuerdings machte sich deshalb eine Bewegung unter den
Berliner Bäckermeistern selbst bemerkbar für Abschaffung der
Nachtarbeit. Man plante die Absendung einer Eingabe an die
Behörden mit der Forderung, dafs die Arbeiten in den Bäckereien
vor 4 Uhr morgens nicht in Angriff genommen werden dürften.
Eis könnte dann, so heifst es in der Begründung, um 7 Uhr früh
die erste frische Backware an das Publikum geliefert werden. Die
Markthallen, Militärkantinen, Bahnhöfe und Gasthöfe müfsten sich
zum Teil abends vorher mit Back wäre versorgen,, ebenso diejenigen
*) Der „ Arbeitsmarkt“ vom l. Juli 1901, Sp. 337 ft.
*) Der „Arbeitsmarkt“ vom I. Juli 1901, Sp. 341.
3) Reichstag vom 22. April 1896, S. 1854 (D).
Die Bäckergesellen in Holland haben die Nachtarbeit zu beseitigen versucht,
doch ohne Erfolg. Die Bewegung fand über die Arbeiterkreise hinaus Unterstützung.
So hatte sich zu ihrer Förderung in Amsterdam ein aus vielen der angesehensten
Damen zusammengesetztes Frauenkomitee gebildet. Die von den Gesellen unter-
nommene Bewegung scheiterte zumeist infolge der mangelnden Organisation. Unter
dem Druck der Konkurrenz mulstc sogar die Bäckerei des grofsen Konsumvereins
„Eigen Hulp“ die Nachtarbeit von neuem cinführen (Soziale Praxis VII. Jahrgang,
Sp. 94 und 4411. „Das I Lochgeneigte Publikum wünscht überall zum FriihstückskatTee
frisch gebackene Semmeln zu bekommen.“ (Soziale Praxis X. Jahrgang, Sp. J&O).
4) Soziale Praxis V. Jahrgang, Sp. 77, und Oldenberg, Maximalarbcitstag, S. 46.
Aichiv für soz. Gesetzgebung u. Statistik. XVII. 5
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M. v. Schulz
Kreise der Bevölkerung, die aufsergewöhnlich früh Kaffeegebäck
wünschen.
Die Befürworter der Aufhebung der Nachtarbeit fanden jedoch
nicht genügende Unterstützung. Fis entwickelte sich infolgedessen
eine Agitation unter den Bäckermeistern, welche dahin ging: Mit
der Beschäftigung der Gesellen solle um i Uhr morgens begönnert
werden, während bisher regelmäfsig die Arbeit in den Bäckereien
bereits um 9 Uhr abends anfing. Die Meister waren sich jedoch
darüber klar, dafs diese Einschränkung der Nachtarbeit gesetzlich
fcstgelegt werden müsse, um hierdurch der unlauteren Konkurrenz
zu begegnen.1) Fis ist leider nicht gelungen die leitenden Personen
der Bäckermeisterverbände für die Absendung einer Petition im
Sinne der erwähnten Fiinschränkung der Nachtarbeit zu gewinnen.
Im Juli d. J. hatten die Innungsmeister der „Concordia" Verbandstag
in Krossen. Die Frage der Nachtarbeit stand zwar auf der Tages-
ordnung, wurde aber abgesetzt, nachdem der Obermeister Gemeinhard
es für verfrüht bezeichnete, über die Abschaffung der Nachtarbeit
zu verhandeln. Im Interesse des Friedens unter den Bäckermeistern
sei eine weitere Agitation nicht ratsam.5) Die Berliner Bäcker-
gesellen scheinen augenblicklich an die Möglichkeit der Beseitigung
der Nachtarbeit ebenfalls nicht zu glauben. In ihrer Versammlung
im Juli d. J. nahmen sie eine Resolution an, dafs ihre nächste
Forderung, die Abschaffung des Kost- und Logiswesens sei ; dann
erst können sie an ihre vornehmste Forderung — Aufhebung der
Nachtarbeit — denken/1)
J) „Vorwärts“, Beilage vom 4. Juni 1901, Nr. 127, und „Berliner Neuesten
Nachrichten“ vom 28. Juni 1901. No. 297.
*) „Vorwärts“ vom 17. Juli 1901. Die hiesige Bäckerinnung „Germania“
erklärte sich mit den Beschlüssen der Bäckermeister auf dem Verbandstage in Krossen
einverstanden.
Es sei hier erwähnt, dafs in einer Petition der österreichischen Bäckergesellen
an den Reichsrat die Notwendigkeit der Nachtarbeit nicht anerkannt wird. Dennoch
wollen aber die Gesellen in diesem Punkte «len Wünschen des Publikums Rechnung
tragen. Als Aequivalent fordern sie Verkürzung der Arbeitszeit („Vorwärts“ vom
15. Mai 1901).
*) Die Gerechtigkeit verlangt es, hier einem Irrtum der Bäckergesellen ent-
gegenzutreten: Vor dem Berliner Einigungsamt ist «len Gesellen von ihren Meistern
versprochen worden, an den drei h«»hen Festen ihnen je eine Nacht freizugeben.
Die Arbeiter behaupten, dafs nur ein verschwindender Teil der Bäckermeister diese
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Arbeiter* und Konsumcntenschutz im Bäckcrge werbe.
67
Während der Verhandlung der Berliner Bäckermeister mit ihren
Gesellen vor dem Einigungsamt am 7. Juli v. durch welche die
zwischen diesen Gewerbetreibenden bestehenden Differenzen auf
gütlichem Wege gelöst wurden , vertraten die Gesellen auch die
Forderung auf Abschaffung des Kost- und Logiswesens.*) Es wurde
Neuerung eingefilhrt habe. Die Führer der Meisterschaft hätten aber bis heute
noch nicht einen Finger gerührt, den genannten Vergleiehsbestiinmungen
Geltung zu verschaffen. („Vorwärts“ vom 25. Mai d. J.). Diese Ausführungen ent-
sprechen nicht den Thatsachen. Der Zentralvcrband der Deutschen Bäckerinnungeii
„Germania“ hat vielmehr an den Bundesrat unter dem 21. September 1900 eine
Hingabe behufs Durchführung der „Freinacht“ gerichtet (Soziale Praxis X Jahrgang,
Sp. 10 und F. A. Günthers Bäcker- und Konditorzeitung vom 25. September 1900,
Nr. 77). Der Bundesrat wurde von dem Zentralverband ersucht, eine Verordnung
dahin zu erlassen , dafs die höheren Verwaltungsbehörden ermächtigt werden , in
einzelnen Gemeinden die Arbeit in den Bäckerei- und Konditorcibetrioben vom
ersten Feiertag früh 8 Uhr bis zum zweiten Feiertag abends 8 Uhr an den drei
Ilauptfesten : Ostern, Pfingsten und Weihnachten, zu verbieten, wenn zwei Drittel
der beteiligten Gewerbetreibenden dies beantragen. Die Meister begründeten ihr
Gesuch damit, dafs cs aussichtslos sei, „durch freie Vereinbarung die Bäckermeister
zu veranlassen, in der Nacht vom ersten zum zweiten Feiertag nicht arbeiten zu
lassen ; den Gesellen abwechselnd je an einem F'eicrtage eine Krcinacht zu gewähren,
scheitere daran, dafs Aushilfe-Gesellen an diesen Tagen überhaupt nicht zu haben
sind“. (Siehe hierzu F. A. Günthers Bäcker- und Kunditorzcitung vom 5. Oktober
1900, Nr. 80: Fürsorge der Germania und vom 26. Oktober 1900, Nr. 861. Da
über den Erfolg der Fangabe nichts bekannt wurde, wurde Nachfrage im RcichsanU
des Innern gehalten. Diese ergab, dafs der Bundesrat auf das Gesuch nicht ein-
gehen kann, weil die Gewerbeordnung keine Handhabe dazu bietet (F. A. Günthers
Bäcker- und Konditorzeitung vom II. Dezember 1900, Nr. 99 I. Beilage). Jedenfalls
ist hiernach der Vorstand des Verbandes ehrlich bestrebt gewesen , die gemachten
Zusagen zu erfüllen. Der Konkurrenz der Meister gegenüber scheint der Vorstand
machtlos zu sein. Er kann sein Versprechen nicht halten.
Eine Fürsprache der Beseitigung der Nachtarhbeit ist übrigens in beachtens-
werter Weise der Gcwerbcaufsichtsbeamtc für Unter-F.lsafs. Er sagt: „Die grolsc
Mehrzahl der Bäckermeister und ihrer Frauen in Stadt und Land und erst recht die
grofse Mehrzahl der Bäckergesellen werden es mit Freuden brgrüfsen, wenn der
Bundesrat die Nachtarbeit in den Bäckereien untersagen wollte ; Meister wie Gesellen
sind der Ansicht, dafs erst dadurch für das Gewerbe menschenwürdige Zustände ge-
schaffen werden würden u. s. w. (Vorwärts vom 22. September 1901).
*) Soziale Praxis vom 21. Juni 1909, Sp. 984 fr.
*) Siehe hierüber die Notizen im VIII. Jahrgange der Sozialen Praxis, Sp. J47,
172, 254, 283, 368, 482, 565, 590 und 645.
Die Bäckergesellen Hamburgs strikten 1898, um hauptsächlich die Beseitigung
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M. v. Schulz,
damals von den Arbeitnehmern behauptet, dafs das jetzige Kost- *)
und Logiswesen die Gesellen für die Zeit der Arbeitslosigkeit *) in
die sogenannten Bäckerpennen *) triebe und dafs in den Arbeits-
dcs Kost- und Logiswesens durchzusetzen (Soziale Praxis vom 30. Juni 1898,
Sp. 1025).
In Leipzig und in München traten anfangs 1899 die Bäckergesellen ebenfalls
mit der Forderung nach Abschaffung von Kost und Logis hervor (Soziale Praxis,
VIII. Jahrgang, Sp. 590!. Nachträglich verzichteten die Gesellen in München auf
die Beseitigung des Wohnzwangcs. Dennoch kam es dort zum Ausstand (a. a. O.,
Sp. 850), welcher zu Gunsten der Arbeitnehmer endete (a. a. O., Sp. 956). Juni 1900
entstanden die Bäckcrstrikcs in Leipzig und in Frankfurt a./M. , durch welche in
erster Linie die Aufhebung des bisherigen Kost- und Logiswesens erkämpft werden
sollte (Soziale Praxis, IX. Jahrgang, Sp. 923). Vergl. dazu bezüglich der Schlaf-
stätten der Berliner Bäcker Lehwcfs: das Bäckergewerbc in Berlin in den
„Schriften des Vereins für Sozialpolitik LXVIII“. Untersuchungen Uber die Lage
des Handwerks in Deutschland Bd. VII, S. 160: „Räume, in denen am Tage ein
oder mehrere Gesellen schlafen, während zur Nachtzeit in denselben Belten die
Mädchen liegen, Räume, in denen nicht selten auch Backroatcrial, wie Mehl, Hefe,
Zucker u. s. w. aufbewahrt wird, sind noch nicht in dem Mafsc anstöfsig,
dafs sic nicht von einem Innungsmeister, der zugleich Stadtverordneter ist, in der
Stadtverordnetenversammlung (Bäcker- und Konditorzeitung Stuttgart XXI 1886)
zur Sprache gebracht werden könnten. Man kann sich danach ohne Detailschil-
derungen ein Bild von den „Wohnräumen“ machen, deren Zustand einer Beschreibung
fast nicht fähig ist."
') Die im übrigen von den Gesellen fast durchweg bemängelte Beköstigung
durch den Meister hat hier für uns kein Interesse. Nur sollte cs nicht gestattet
sein die Arbeitsräume als Spciselokalc für die darin Arbeitenden zu benutzen (Sozialc
Praxis VII. Jahrgang, Sp. 1290). Bezüglich des Kostwesens lese man die Zeitschrift
„der Bäcker". Berlin vom 27. Januar 1897, S. 3, Sp. 2 a. E. und Sp. 4. Man wird
dort von dem guten Verhältnis zwischen Meister und Gesellen, welches angeblich
durch die stark befehdete Bundcsralsverordnung vom 4. März 1896 zerstört wird
wenig merken. Siehe sonst „Beitrag zur Lage der Bäckereiarbeiter Berlins“. Verlag
von F". Schneider, S. 13, 14, 2t, 23 und 24.
*) Ucber Arbeitslosigkeit und „Lehrlingszüchtung" im Bäckergewerbc siche
Oldcnberg in der Sozialen Praxis VII. Jahrgang, Sp. 1099fr., VIII. Jahrgang
Sp. 25 — 30 und „Maximalarbeitstag“ S. 59, 51, io2, 103 und 16S. Dagegen der
„Arbeitsmarkt“ vom 15. Juli 1901 Sp. 356 und Soziale Praxis vom 1. Juni 1899
Sp. 140 a. E.
’l Nach den polizcilichcrscits angestcUtcn Ermittelungen existieren in Berlin
vielleicht noch mehr als 40 sogenannte Bäckerpcnnen. Sic werden zum gröfsten
Teil von früheren Bäckern — alten Bäckergesellen, die nicht mehr arbeiten — unter-
halten. Hier liegen nicht selten 6, 8 und mehr Männer in einem Kaum. Die
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Arbeiter- und Konsumentenschutz im Häckergewerbe.
69
und Schlafräumen vieler Bäckereien häufig eine grofse Unsauberkeit
sich zeigte. Wenn auch zweifelsohne in Berlin zahlreiche Bäckereien
vorhanden sein werden, in denen die von den Bäckergesellen
behaupteten Schmutzereien nicht zu finden sind, ') so bestätigen
dennoch die Erhebungen der Bäckergesellen vom Jahre 1 900, -) von
welchen vor dem Einigungsamt und bei den Beratungen des Ge-
Bäckerpennen sind uralt und durch die merkwürdigen Verhältnisse im Bäckergewerbe
hervorgerufen; in früheren Jahren soll die Wirtschaft in ihnen teilweise noch ärger
gewesen sein als heute.
Die bestehenden Ucbclständc sind auf folgende Gcschäftscigcntümlichkciten
zurückzuführcn :
1. dafs die Gesellen gröfstcnteils im Hause des Meisters
wohnen.
2. dafs auf die 14 tägige gesetzliche Kündigungsfrist von beiden Seiten beim
Abschlufs des Arbeitsvertrages verzichtet wird und eine tägliche Kündigung bis
vormittags 10 Uhr üblich ist.
Ein aus der Arbeit gehender Bäckergeselle sucht sich absichtlich keine Schlaf-
stelle, weil er dort nicht nach Belieben ein- und ausziehen kann, sondern geht in
eine ,, Bäckerpenne“, hier ist er stets gern gesehen. Das mitgebrachte Geld ist bald
verspielt und vertrunken. Alsdann borgt der Pennenwirt Kost und Logis, bis der
Geselle wieder arbeitet und zahlungsfähig ist. Um abzuhelfen, hat die Bäckerinnung
„Concordia“ gesunde Schlafräume mit 145 Betten für arbeitslose Bäckergesellen in
ihrem Innungshause geschaffen. Ebenso unterhält die Bäckerinnung „Germania“ eine
Herberge mit 22 Betten. Es wird uns berichtet, dafs diese Herbergen, in denen
man für wenig Geld wohnen kann, rcgelmäfsig nur von Bäckergesellen in Anspruch
genommen werden, die erst von aufscrhalb nach hier zugereifst sind.
Sobald sic hier erst in Arbeit waren , werden sie von ihren Nebengesellcn den
sogenannten Pennen zugeführt. Die Bäckerinnung „Concordia“ giebt infolgedessen
auch anderen Handwerksgesellen in ihrem Innungshause Logis.
Darauf erwidern die Gesellen, dafs sie einmal den Hang haben unter sich
allein zu sein. Was die Herberge der „Concordia“ anlangc, so würden ferner die
Bäcker, wenn sie dort Unterkunft suchten, nicht etwa bevorzugt. Man nehme in der
Herberge unterschiedslos Handwerksburschen aller Art auf. Endlich sei das in der
Herberge der „Concordia“ verkehrende Publikum keineswegs ein gutes.
') Der Abgeordnete Dr. Oertcl äufserte in der Reichstagssitzung vom 12. Januar
d. J. nach dieser Richtung hin folgendes: Ich kenne Bäckercibctriebc in Kellern
hier in Berlin und anderwärts, die sanitär geradezu musterhaft sind.
Ich würde mich selber darin gern aufhalten, wenn ich nicht anderweitig beschäftigt wäre.
*) Beitrag zur Lage der Bäckcrciarbeitcr Berlins. Ergebnis statistischer Er-
hebungen, veröffentlicht von der Lohnkommission der Bäcker Berlins. Berlin 1900,
Verlag: F. Schneider und Oldenberg a. a. O., S. Soff.
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70
M. v. Schulz,
Werbegerichtsausschusses ') die Rede war, — so mangelhaft sie sein
mögen — bezüglich eines wenn auch noch so kleinen Teils der
Berliner Bäckereien nicht blofs alles das, was Bebel in seiner be-
kannten Broschüre über die Verhältnisse in Berliner Bäckereien ver-
öffentlicht hat, sie bringen sogar Beispiele, bei deren Kenntnisnahme
man von heftiger Uebelkeit befallen werden kann. Nach den Mit-
teilungen ä) der Bäckergesellen ist „die Beschaffenheit der Arbeits-
räume heute in den meisten Betrieben noch dieselbe wie früher:
äufserst gedrückte Atmosphäre, Raummangel und verpestete Luft .
Die „Semmeltücher“ sollen häufig unreinlich sein. „\\ enn dann
noch Fälle Vorkommen, dafs man sich die Füfse in den Backeimern
wäscht, dann mufs dieses für die Konsumenten äufserst appetit-
anregend sein." Spucknäpfc sind nach Angabe nirgends aufgestellt;
man spuckt eben auf den Fufsboden. In den Backräumen und unter den
Beuten kriecht und läuft Ungeziefer, wie Schwaben, Mäuse, Ameisen,
ja sogar Ratten herum. So das Bild einer Reihe von Bäckereien.
Die Schlafräume der Gesellen sind ferner „elende Gelasse (beengt,
schmutzig, mitunter voll Ungeziefer), in welchen die Arbeiter zu-
sammengepfercht nach gethaner Arbeit Erholung und Ruhe suchen
sollen“. Viele dieser Schlafgemächer liegen, wie die Backstuben,
im Keller und entbehren hin und wieder des allernotwendigsten
Komforts. Sie werden überdies nur selten und dann noch ungenügend
gereinigt. Die Bettwäsche läfst ebenfalls zu wünschen übrig. Oft
wird nicht einmal, wenn neues Personal antritt, an einen Wechsel
der Bettwäsche gedacht.*) Es ist dieses Verfahren um so bedauer-
1) Soziale Praxis vom 22. November I QOO, Sp. 185 ff* und 18. April 19m, Sp. 74°*
Iler Ausschuß gab auf Krsuchen des hiesigen Polizeipräsidenten ein Gutachten zum
tVohnungswcscn im hiesigen Bäckergewerbe ab. Zu dem Gutachten sei angeführt,
dafs z. B. nach der Behauptung der Gesellen manchmal die Mehlstube und die
Backräumc zur Schlafstube dienen. Siehe noch Soziale Praxis vom 4. Februar 1897,
Sp- 462: Berliner Bäckcrenqucte im Oktober 1896.
*) Geber einen ähnlichen Bericht der österreichischen Gewerbeinspektion be-
ztiglicli der sanitären Zustände in den Bäckereien Niederösterreichs, vergl. Soziale
Praxis IX. Jahrgang, Sp. 1274 a. E. Bezüglich der Mifsstände im Prager Bäckcr-
Rewerbe: Soziale Praxis Nr. (3 vom 19. Dezember 1898, Sp. 337. Siehe ferner
"’eyl, Handbuch der Hygiene, Berlin VIII. Bd. 3. Lieferung: Hygiene der Müller,
Bäcker und Konditoren, bearbeitet von Dr. Zadcck, S. 578 ff.
Vergl- Zadeck a. a. 0„ S. 580 und S. 581.
Aus einzelnen bei den Arbeitern übel a n g cs ch riebe n en Bäckereien
‘'den tt-ir folgendes mit: Die eine Bäckerei liegt im Zentrum von Berlin. „Das
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Arbeiter- und Konsumentenschutz im Bäckergewerbe.
7>
licher als, wie wir noch näher ausführen werden, zahlreiche arbei*
tende Bäckergesellen mit ansteckenden Krankheiten behaftet sind.
Wenn derartiges in Berlin, wo die Bäckermeister der Kon-
trolle der Polizei, der Innungen und dcrGewerkschaft
der Arbeiter unterliegen, Vorkommen kann, wie wird es in
der Provinz aussehen ? *)
Solche Mil’sstände, deren Vorhandensein durch die Beisitzer des
Einigungsamtes und durch die meisten Mitglieder des Ausschusses
des Gewerbegerichts aus eigener Erfahrung bestätigt wurde, sind
von den Gegnern des Bäckerarbeiterschutzes durch einfaches Be-
streiten nicht aus der Welt zu schaffen. Mit der Bemerkung, dals
Klosct befindet sich dort unmittelbar über dem Mehlboden. Dasselbe war schon
4 — 5 mal verstopft und überschwemmte mit der Jauche den ganzen Roggcnmehl-
kasten. Das daselbst vorhandene Mehl wurde ruhig zum Backen verwendet.“ Von
einer anderen Bäckerei heifst es: „Die Schlafräume, welche ebenfalls im Keller
liegen, strotzen von Ungeziefer aller Art (Flöhe, Läuse, Wanzen). Die Wände der-
selben sehen aus wie verräucherte Strafscnmauern“. In einer dritten Bäckerei wird
„das Mehl nicht gesiebt und so kam es vor, dafs der Kot der Katze im Teig
zu finden war“. Eine Bäckerei endlich kennt überhaupt nicht eine Klosctanlage ;
die Gesellen verrichten ihre Notdurft in den Winkeln auf den Hof oder in den
Backräumen. Es soll mit dieser Blumenlese genug sein. Die „Köln. Volks-
zeitung“ bemerkt hierzu: „Bei den ekelhaften Geschichten, die durch die bisherigen
Erhebungen zu Tage gefordert und teilweise gerichtlich festgestellt worden sind,
möchte man fast die Frage aufwerfen, ob nicht im neuen Rcichsscuchen-
gesetz bezüglich der Nahrungsmittel - Industrie etwaige Vorschriften inbezug auf
Sauberkeit zu erlassen wären (Soziale Praxis IX. Jahrgang, Sp. 923). Das „Berliner
Tageblatt“ vom 3. Juni 1900 und der „Vorwärts“ vom 30. Mai 1900 brachten
Auszüge aus der Schrift der Bäckergesellen über ihre Lage. Vcrgl. hierzu die
Zeitung „Der Bäcker“ vom 27. Januar 1897, S. I ff,
*) Einen markanten Fall aus der Provinz erzählt Oldenberg in dem III.,
IV. Jahrgang der Sozialen Praxis, Sp. 987: „Vor einigen Monaten wurde der
Bäckermeister D. in I. zu 300 Mark Strafe und in die Prozefskosten verurteilt; er
hatte in seiner Backstube einen grofsenTrog, in dem er abwechselnd
den Brotteig cinrührte, die Kinder badete, und der zugleich zur
Reinigung der schmutzigen Wäsche dient c.“ Der Magen mufs hier
aufständig werden wie bei der Durchsicht der durch die Presse verbreiteten Würz-
burger und Mannheimer Gerichtsverhandlungen über unsaubere Bäckereien.
Oldenberg sagt im VIII. Jahrgang der Sozialen Praxis, Sp. 943 mit Bezug auf
die Würzburger und Mannheimer Bäckereien: „Der Raum verbietet, auf das un-
ästhetische Thema einzugehen, das Hautdechtcn, Nachttöpfc und Fäkalien auf der
Bühne erscheinen läfst.“ Ucbcr Einzelheiten siehe den Leitartikel in der „Deutschen
Bäckerzeitung“ (Hamburg, den 6. Mai 1899).
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72
M. v. Schulz,
die Berichte Bebels und der Berliner Bäckergesellen „unbewiesene“
und „mafslose" sind, erreicht man nichts gegenüber den Fest-
stellungen der Gerichte, der Reichskommission für Arbeiterstatistik *)
und der Aeufserung des Vertreters der Reichsregierung im Reichs-
tage. Der Staatsminister Graf von Posadowsky-Wehner erklärte
nämlich im Reichstage : *) „Es sind schwere Uebelstände — darüber
ist gar kein Zweifel — bei dem Bäckereibetriebe hervorgetreten
und auch durch gerichtliche Erkenntnisse festgestellt und
es liegt im dringendsten hygienischen Interesse, diesen
Uebelständen entgegenzutreten." Vor dem Einigungsamt bestritten
gleichwohl die Meister, dafs die von den Gesellen mitgeteilten
„Schweinereien" Vorkommen. Wenn Unreinlichkeiten hier und da
beständen, so trügen die Gesellen und nicht die Meister die Schuld-
Die Arbeitgeber lehnten wegen der Eigenart ihrer Betriebe die
Beseitigung des zeitigen Kost- und Logiswesens vor dem Einigungs-
amt ab. Durch ihre eventuelle Nachgiebigkeit würden böse Folgen
sowohl für sie wie für die Gesellen eintreten.3) Des ungeachtet
willigten sie in den von ihnen mit ihren Arbeitern geschlossenen
Vergleich ein, dafs bei Betrieben mit drei bis vier Gesellen der
Werkmeister (i. Geselle), bei Betrieben mit fünf und mehr Gesellen
der Werkmeister und die Kneter im Hause des Meisters nicht mehr
zu wohnen brauchen und dafür einen Lohnzuschlag empfangen.
Ferner verpflichteten sich die Parteien gemeinschaftlich noch zu
ermitteln, ob bezw. inwieweit es angebracht sei, für die übrigen
Gesellen das Kost- und Logiswesen beizubehalten und auf Grund
der Feststellungen Beschlufs zu fassen. Es ist hier anzuführen, dafs
das Einigungsamt die Abschaffung von Kost und Logis beim Meister
für berechtigt und notwendig hielt. Man war aber der Ansicht,
*) Die Reichskommission giebl in dem Bericht über die Erhebungen betreffend
die Arbeitszeit der Bäckereien und Konditoreien dem Wunsche Ausdruck, dafs die
Bundesregierungen den Arbeite- und Schlafräumen der Bäckereien und Konditoreien
eine erhöhte Aufmerksamkeit zuwenden mögen. Aus der mündlichen Vernehmung
der Auskunftspersonen und aus persönlicher Erfahrung einzelner Mit-
glieder hat die Kommission den Eindruck gewonnen, als ob die Arbeitsräume
und die Schlafstätten der Bäcker- und Konditorgehilfen sich vielfach in einem Zu-
stande befänden, welcher die Gesundheit schädigen mufs. (Siehe Drucksachen der
Kommission für Arbeiterstatistik, Verhandlungen Nr. 6, S. 23 und 24, Berlin Carl
Heymann’s Verlag 1894).
*) Reichstag — 25. Sitzung Montag den 14. Januar 1901, S. 673 (C).
*) Siehe das Nähere Soziale Praxis vom 21. Juni 1900, Sp. 984 fr.
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Arbeiter- und Konsumentenschutz im Bäckcrgcwerbc.
73
dafs diese Forderungen tief in die wirtschaftlichen Ver-
hältnisse der Meister einschneiden und daher nur
nach und nach durchführbar seien. Eine ähnliche Vor-
sicht hält der bereits genannte Vertreter der Reichsregierung für
geboten , soweit bei einer neuen Bäckereiverordnung die äufsere
Ausgestaltung der Bäckereiwerkstätten inbetracht kommt.
Ob die Meister und Gesellen Schritte unternommen haben, die
Zweckmäfsigkeit oder Unzweckmäfsigkeit des heutigen Kost- und
Logiswesens zu ermitteln und ob dabei insbesondere Unsauberkeiten
der Schlaf- und Backräume entdeckt worden sind, haben wir bisher
nicht erfahren.
Da die Meister die von den Gesellen erhobenen Beschwerden
als hinfällig zurückwiesen und infolge des Vergleiches der Parteien
für das Einigungsamt es sich erübrigte, die Anschuldigungen auf
ihre Richtigkeit hin zu untersuchen, beantragten 30 Beisitzer des
Gewerbegerichts beim Ausschufs dieser Behörde, den Polizeiprä-
sidenten zu veranlassen, Nachforschungen anzustellen, ob die vor
dem Einigungsamt im Juni 1900 und bei der Verhandlung im
„Ausschufs für Gutachten und Anträge“ November v. J. besprochenen
Unsauberkeiten in den Bäckereien Berlins bestehen.1) Die Beisitzer
begründeten ihren Antrag unter anderem folgcndermafsen : „ . . . ist
es doch im Interesse der Allgemeinheit, wie auch im
Interesse der reinlichen Meister und Gehilfen durchaus
erforderlich, den schmierigen Meistern und Gesellen auf die
Finger zu sehen. Die Semmeltücher müssen überall rein sein. Die
Backeimer dürfen nicht zum Fufswaschen benutzt werden. Die An-
gewohnheit der Gehilfen, während der Arbeitspausen auf den Tischen,
auf welchen Backwaren gearbeitet werden, zu schlafen, ist abzu-
schaflen.*) Gesellen , welche die Krätze haben oder an Syphilis
erkrankt sind, dürfen während der Krankheitsdauer Arbeiten in der
Backstube nicht verrichten. Es mufs für genügende Waschvorrich-
tung und genügende Anzahl von Handtüchern Sorge getragen
werden. Ferner ist eine Bestimmung dahingehend zu erlassen, dals
die Gesellen während der Arbeitszeit mit einem reinen Taschentuch
versehen sein müssen.“ 8)
*) Siehe Anmerkung.
*) Siehe auch Drucksachen der Kommission für Arbeiterstatistik, Verhandlungen
Nr. 4, Protokoll über die Verhandlungen der Kommission Air Arbeiterstatistik vom
14. bis 20. Februar 1894, S. 31 und S. 77.
*) Siehe die zitierten Drucksachen der Kommission für Arbeiterstatistik S. 77.
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74
M. v. Schulz,
Der Ausschuß beschlofs nach längerer Verhandlung dem Anträge
der Beisitzer zu entsprechen. Es verdient hervorgehoben zu werden,
dals während der Debatte ein Arbeitnehmerbeisitzer eine Enquete
des Polizeipräsidiums schon aus dem Grunde für erforderlich erachtete,
weil den Bäckergesellen und ihrem Material nicht
Glauben geschenkt Werden würde. Man war aufserdem
der Meinung, dafs die Behörde noch ganz andere Dinge, wie die
Gesellen, zu Tage fördern werde.1)
Wie erwähnt, wälzten die Meister in der Einigungsamtsver-
handlung die Verantwortung an den geschilderten Unzuträglich-
keiten im Bäckergewerbe auf die Gesellen ab. Gewifs mufs zuge-
standen werden, dafs den Bäckereiarbeitern der Sinn für Reinlichkeit
oft fehlt. Hieran trägt aber die lange Arbeitsdauer in erster
Linie die Schuld. Oldenberg weist darauf hin, dafs dieser letztere
Zusammenhang wiederholt in der Oeffentlichkeit mit Nachdruck
betont worden ist und zwar von Bäckermeistern und Gesellen.2)
Leider, fährt der Schriftsteller fort, sind nach Ausweis der amtlichen
Statistik die Lehrlinge, denen wohl vorzugsweise die Reinigungs-
arbeit obliegt, in Deutschland mit Arbeit am meisten über-
lastet. Dies hindert freilich die Bäckermeister nicht, sich anhaltend
gegen die Bundesratsverordnung vom 4. März 1896 und den Maximal-
arbeitstag aufzulehnen.
Eigentlich sollten die Bäckermeister einer Aenderung der Bundes-
ratsverordnung ebenso abhold sein, wie ihre Gesellen, da ermüdete
Arbeiter Verständnis für die notwendige Sauberkeit nicht be-
sitzen. Die Meister hätten umsomehr alle Ursache, es beim alten
Diese Verhältnisse werden für die Leipziger Bäckereien bestritten (J. A. Günthers
Bäcker- und Konditorzeitung Nr. 41 von 1900).
J) in der Versammlung der Berliner Bäckereiarbeiter vom 7. Mai d. J. gegen
die „Verschlechterung der Bäckereiverordnung“ berief sich ein Redner aut einen
Polizeibeamten, welcher erzählt habe: „Was in der Broschüre der LohnkommUsion
und in der Besprechung derselben im „Vorwärts" über unsaubere Verhältnisse in
den Backstuben gesagt worden ist, das ist ja sehr krafs; aber wir haben bei der
amtlichen Kontrolle der Bäckereien noch viel schlimmere Zustände gefunden,
als sie in jener Broschüre dargestellt sind.“ („Vorwärts" vom 8. Mai 1901, 2,*.Bci-
lage S. 2, Sp. 3.
*) Soziale Praxis Ilt./lV. Jahrgang, Sp. 989, X. Jahrgang, Sp. 533 und Pro-
tokoll über die Verhandlungen der Kommission für Arbeiterstatistik vom 14. bis
20. Februar 1894. Drucksachen der Kommission für Arbeiterstatistik, Verhandlungen
Nr. 4 S. 77, Sp. I.
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Arbeiter- und Konsumcntenschutz im Bäckergewerbe.
75
bleiben zu lassen, als unter ihren Arbeitern die Krätze und die
Geschlechtskrankheiten verbreitet sind und durch Arbeit abge-
stumpfte ') Gesellen diesen Krankheiten gegenüber nicht die nötigen
Kräfte besitzen.5) Zur näheren Ermittlung des Gesundheitszustandes
der hiesigen Bäckergesellen wurden infolge des Antrages der 30 Bei-
sitzer des Gewerbegerichts an 109 Spezialärzte für Hautkrankheiten,
an 120 Aerzte des Gewerkskrankenvereins und an die öffentlichen
Krankenhäuser Fragebogen vom Gewerbegericht geschickt. Es
sollten die letzten 2 Jahre inbetracht gezogen werden. Die Fragen
lauteten wie folgt:
1. Wieviel Bäckergesellen sind in der genannten Frist behandelt
a) an der Krätze (Bäckerkrätze)?
b) an Geschlechtskrankheiten?
2. Wenn bekannt, wieviel der Arbeiter blieben trotz der Krank-
heiten in Arbeit?
3. a) Klagen die Bäcker, dafs sie die Krankheiten sich aus den
unsauberen Logis, welche ihnen von den Meistern ange-
wiesen sind, holen ?
b) Ist Ansteckungsgefahr infolge unsauberer Betten vor-
handen ?
4. Sind die Bäckergesellen, welche in Kellern und in schlecht
ventilierten Räumen arbeiten, weniger widerstandsfähig gegen
genannte Krankkeiten ? *)
’) Za deck a. a. O., S. 592 bemerkt: „Der 16-, 1 8-, 20-stündigc Aufenthalt im
geschlossenen und überhitzten Raume, dessen Luft mit Dunst, Schweifs, Kohlensäure
und anderen, von der Gärung, Feuerung, Beleuchtung, Atmung und Perspiration her-
rührenden, mehr oder weniger giftigen Produkten überladen ist; das Hasten infolge
des unrrgelmäfsigcn Betriebes, der Mangel an Bewegung im Freien , an Sauerstoff
ünd Sonnenlicht; der unzureichende und gestörte Schlaf bei Tage, in schlechter
Luft, auf schmutzigem Lager, der Mangel an Ruhetagen im ganzen Jahr, die ganze
soziale Ausnahmestellung, alles das macht aus dem Bäcker jenen bleichen, saft- und
kraftlosen, übernächtig und unzufrieden dreinschauenden Gesellen, der mit jedem
Jahr, das er länger unter diesen Arbeitsbedingungen verbleibt, an geistiger und
körperlicher Elastizität cinbüfst.“
*) Siche hierzu Gutachten des Kaiserlichen Gesundheitsamtes über den Einflufs
der Beschäftigung der Bäckergesellen und Lehrlinge auf die Gesundheit, S. 47 der
Drucksachen der Kommission für Arbeiterstatistik, Erhebungen Nr. 3, 2. Teil. Berlin,
Heymanns Verlag, 1894.
*) In Berlin sind rund 2100 Bäckereien vorhanden, in welchen jährlich zu-
sammen vielleicht 5000 Bäckergesellen beschäftigt werden.
Im übrigen siche über die Erkrankungen der Bäcker Zadecka. a. O., S. 581 ff.
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7 6
M. v. Schulz,
Aus den Krankenhäusern und von den Gewerksärzten gingen
vollzählig Antworten ein. Von den Spezialärzten gaben aber nur
32 Auskunft; hiervon hatten 16 Aerzte Bäckergesellen überhaupt
nicht behandelt. Das Resultat war nachstehendes:
Es befanden sich während der letzten 2 Jahre in den Kranken-
häusern und bei den besagten Aerzten in Behandlung
339 Bäckergesellen an Bäckerkrätze und eigentlicher Krätze1)
und ferner
1394 Bäckergesellen an Geschlechtskrankheiten, zusammen
1733 Bäckergesellen.
Die Frage 3 a ist meist verneint, dagegen sind die Fragen 3 b
und 4 fast durchweg bejaht.
325 an Krätze und Geschlechtskrankheit Erkrankte
blieben trotz Ermahnung in Arbeit.
Nach der Sozialen Praxis *) ist ein grofser Prozentsatz sämt-
licher Bäckereiarbeiter an Tuberkulose, Syphilis, Krätze, Flechten
u. s. w. krank und arbeitet dennoch mit halbnacktem
Körper am Backtroge. Die weite Verbreitung der Geschlechts-
krankheiten wird bestätigt in dem Handbuche der Hygiene von
Dr. VVeyl Teil II.*) Es heifst dort: „In der Leipziger Ortskranken-
kasse der Bäcker und Konditoren machten ansteckende und Ge-
schlechtskrankheiten 1892 8,80 Proz. aller Erkrankungen (gegenüber
1,50 Proz. bei den übrigen Arbeitern) aus, in der Berliner Orts-
krankenkasse der Bäcker Geschlechtskrankheiten 1892
und 1893: 8 und 8,5 Proz. aller Erkrankungen, in der
Wiener Innungskasse der Bäcker kamen auf venerische Erkrankungen
1890 — 93: 5,2 Proz. u. s. w." „Die Zahl der Venerischen
wird indessen durch diese Ziffern, welche nur die
zur Arbeitsunfähigkeit führenden Krankheiten ent-
halten, nicht annähernd erschöpft, weil die überaus
grofse Mehrzahl solcher Kranken weiter arbeitet."
*) Der Nürnberger Magistrat bat eine amtliche Warnung und Belehrung pub-
liziert, welche hauptsächlich gegen die Krätze der Bäckergesellen gerichtet
wurde. „Wer wissentlich an Krätze leidet und mit Verheimlichung dieses l'mstandes
»ich als Gewerbegehilfe «der Lehrling verdingt, wird bestraft.“ (Soziale Praxis,.
Ul.. IV. Jahrgang, Sp. 676.
f) III. /IV. Jahrgang, Sp. 987.
*) a. a. O., S. 587 fC Siehe hierzu Hirschberg: Die soziale Lage der ar-
beitenden Klassen in Berlin“, Berlin 1897, S. 63 und 78 und das Gutachten des
Kaiserlichen Gesundheitsamtes a. a. O., S. 46.
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Arbeiter- und KonsumcntcnschuU im Bäckcrgcwcrbc.
77
„Das Verbleiben solcher an ansteckenden Ge-
schlechts- und Hautkrankheiten (Krätze!), an Ver-
letzungen, eiternden Wunden und Tuberkulose lei-
denden Bäcker und Konditoren bei der Arbeit ist im
Interesse der Arbeiter ebenso wie der Konsumenten
in gleicher Weise zu verurteile n.“
Bei Gelegenheit der Besprechung des Maximalarbeitstages im
Bäckergewerbe führte im Reichstage *) der Abgeordnete Bebel auf
Grund einer Krankenstatistik des Verbandes der Bäckereiarbeitcr
aus dem Jahre 1895 ferner folgendes aus: „In dem erwähnten Ver-
bände waren 853 Erkrankungen in einem Jahre vorgekommen;
darunter waren allein 182 Zellgewebsentzündungen an den Fingern,
Händen, Armen, Füfsen und Beinen, d. h. also an Gliedern, die zur
Arbeit gebraucht werden. Sind diese Glieder verletzt, so
wird der Arbeiter nicht eher zum Arzt gehen, bis er
mufs. Sie können sich ungefähr ausmalen, was das für Wirkungen
inbezug auf die Teigbereitung hat. Weiter waren von den 853
Kranken 100 an Lungenleiden erkrankt gewesen, die also ihren
Aus wurf in der Werkstätte ablagerten. Weiter gab es
56 an Hautausschlag (Krätze) Erkrankte, 28, die an Geschwüren
litten, und 14 Geschlechtskranke.*) Ich meine, diese Thatsachen,
die ich durch eine Fülle ähnlicher und teilweise noch schlimmerer
Thatsachen ergänzen könnte, und zwar durch solche, die zum Teil
durch Gerichtsverhandlungen in der letzten Zeit festgestellt worden
sind , mögen Ihnen den Beweis liefern , dafe auf diesem Gebiete
nicht nur etwas geschehen mufs, cs nicht blofs bei dem bleiben
kann, was bisher geschehen ist, sondern dafs weit mehr geschehen
mufs.“ *)
Wie unverantwortlich übrigens einzelne Bäckergesellen bei Er
krankungen sich verhalten, darüber ein Beispiel : Unlängst erzählte
uns ein Arzt, dafs ein von ihm behandelter Geselle es fertig bekam,
’) Reichtag — 151. Sitzung, Mittwoch den 13. Januar 1897, S. 4007 (A).
*) Auch der Bericht der Krankenkasse der Wiener Bäcker tu r 1898 wirft
ein grelles Licht auf die sanitären Zustände im Bäckergewerbe. Die Zahl der
syphilitischen und der Hautkrankheiten hat sich erhöht. Hierzu bemerkt das Fach-
organ „Zeitgeist: „Nach wie vor ist die Arbeitszeit eine Ubcrmäfsig
ausgedehnte und dadurch die Vorbereitung für Erkrankungen
gegeben.“ (Soziale Praxis, VIII. Jahrgang, Sp. 981).
*) Der Abgeordnete v. Kardorff hielt in derselben Sitzung die Angaben Bebels
für Ucbertreibungen.
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M. v. Schulz,
7»
zu arbeiten, obwohl er ein syphilitisches Geschwür am Daumen
der rechten Hand hatte und es ihm streng untersagt war, Arbeiten
zu verrichten.
Sogar vor denjenigen Bäckern, welche das Krankenhaus auf'
gesucht haben, ist der Konsument nicht gesichert. Behrendt1)
äufsert sich dahin: „Jeder Arzt, der mit den Verhältnissen eines
Krankenhauses vertraut ist, weifs, wie aufserordentlich schwer es ist,
Personen, die auf eigene Meldung Aufnahme fanden, bis zu ihrer
vollständigen Heilung im Krankenhausc zurück zu halten. Kaum
dafs die Initialsklerose oder die ulcerierte Papeln überhäutet sind,
suchen sie häufig ihre Entlassung nach, um wieder ihrer Be-
schäftigung nachzugehen, und dabei handelt es sich meisten-
teils um Personen, die entweder als Arbeiter in Fabriken oder
Geschäften thätig sind, um Kaufleute, Handwerker, Dienstboten,
kurz um Personen, welche darauf angewiesen sind, in Ausübung
ihres Berufes, wie in grofsen Werkstätten, mit anderen Personen in
nahe Berührung zu kommen, ja welche zum Teil aufserdem noch,
wie beispielsweise Bäcker, Fleischer, Konditoren, mit der Zu-
bereitung von Nahrungs- und Genufsmitteln für weite
Kreise beschäftigt werden.“
Wenn wir alles das, was von uns dargelcgt worden ist, über-
blicken, müssen wir einräumen, dafs auch für uns in Deutschland
die Ausführungen von Marx im ersten Band des „Kapitals“ zu den
Ergebnissen der Untersuchung englischer Bäckereien zutreffen. Marx
erzählt zunächst von der BrotverfäLschung, namentlich in London,
welche durch das Komitee des Unterhauses „über die Verfälschung
von Nahrungsmitteln“ (1855—56) enthüllt wurde. „Jedenfalls hatte
das Komitee die Augen des Publikums auf sein „tägliches Brot“ und
damit auf die Bäckerei gelenkt. Gleichzeitig erscholl in öffentlichen
Meetings und Petitionen an das Parlament der Schrei der Londoner
Bäckergesellen über Ueberarbeitung u. s. w. Der Schrei wurde so
dringend, dafs Herr H. S. Tremmenheere zum königlichen
Untersuchungskommissar bestellt wurde. Sein Bericht samt Zeugen-
aussagen regte das Publikum auf, nicht sein Herz, sondern seinen
Mägen. Der bibelfeste Engländer wufste zwar, dafs der Mensch,
wenn nicht durch Gnadenwahl Kapitalist oder Landlord oder
Sinekurist, dazu berufen ist, sein Brot im Schweifse seines Angesichts
>) Behrendt, Syphilis, Prostitution und öffentliche Gesundheitspflege — Ex-
trait des Cnmptcs-rcndus du XII t nngres International de Medecine.
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Arbeiter- und Konsumentenschutz im Bäckergewcrbc.
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zu essen, aber er wufste nicht, clals er in seinem Brote täglich ein
gewisses Quantum Menschenschweifs ') essen mufs , getränkt mit
Eiterbeulenauslecrung, Spinnweben, schwarzen Käferleichnamen
u. s. w. *) Bei dieser Sachlage kann es für den Konsumenten kaum
ein Trost sein, dafs die schädlichen Krankheitskeime, welche der
Teig der künftigen Backwaren in sich aufnehmen mufs, durch die
Backhitze getötet werden. Denn der Vorgang des Backens läfst
immerhin noch Reste der ungehörigen Beimischungen in der Back-
ware zurück 8) und befreit auch nicht vor dem Widerwillen gegen
die unreinen Produkte. Selbst wenn man aber auf alle diese Um-
stände nicht Gewicht legen wollte, wird man des ungeachtet in-
betracht ziehen müssen, dafs jedenfalls die fertige Ware beim Fort-
schaflen aus der Backstube von erkrankten Gesellen berührt werden
wird und hierbei Krankheitsstoffe auf das Backwerk übertragen
werden können.
Wie ist es nun möglich, dafs Zustände so schlimmer Art unter
den Arbeitern in den Bäckereien Vorkommen? Die Antwort ist
folgende4): „ln erster Linie ist dafür die Thatsache haftbar zu
machen, dals die Bäckergesellen infolge der Arbeitsbedingungen
meist unverheiratet6) bleiben. Als adjuvans kommt hinzu der
Alkoholmifsbrauch infolge der schweren und langen körperlichen
Arbeit in überhitzter, eine beständige Schweifsabsonderung bewir-
kender Luft, deren hohe Temperatur ebenfalls den Geschlechts-
trieb steigert.*) Der Alkoholmifsbrauch aber steigert nicht nur
den Geschlcchtstricb , sondern er depraviert ihn auch, macht ihn
immer weniger wählerisch. Dazu kommt die infolge der Nacht-
arbeit (und des dadurch notwendigen Schlafes während der Tages-
l) Za deck a. a. Ü. , S. 586.
*) Marx, Kapital, Kd. I, S. 235 und Bebel, Zur Lage der Arbeiter in den
Bäckereien. Stuttgart 1890. S. 16.
*) ,, Selbst in den bestverwaltcten und reinlichsten Bäckereien“ sagt ein Londoner
Sanilälsinspcktor. „bedeutet das Kneten mit den Händen ein gewisses Mafs organi-
scher Verunreinigung und es kann kein Zweifel sein, dafs diese Unreinlichkcitsquellc
dem Grade nach alle anderen bei weitem übertritTt“ (Oldcnbcrg a. a. O. , S. 69).
G Reichstag — 151. Sitzung — Mittwoch den 13. Januar 1897, S. 4006 und
Za deck, a. a. O. S. 586 und 587.
®) Hirschberg a. a. O. , S. 65. Durch Beseitigung des Kost- und
Logis wesens, welches das Heiraten der Gesellen nicht zu läfst,
■würde bald Besserung erreicht werden.
Siehe Ol den borg a. a. O. , S. 116 Antn. I und S. 117.
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So
M. v. Schulz,
zeit) erzwungene Enthaltsamkeit von den gewöhnlichen Genüssen
des Lebens, die naturgemäfs eine Reaktion erzeugt und dazu ver-
leitet, sich in den seltenen freien Stunden schadlos zu halten und in
ihnen gewissermalsen die Genüsse oder wenigstens die eingebildeten
Genüsse zu konzentrieren."
Aufser den Geschlechtskrankheiten finden wir ferner bei den
Bäckern eine relativ hohe Morbiditätsziffer infolge von Erkran-
kungen der Atmungsorgane (Tuberkulose) und an rheu-
matischen und äufseren (Haut-) Erkrankungen. ')
Somit ist es eine der wichtigsten Aufgaben der Gewerbe- und
Gesundheitspolizei für die Abstellung der geoffenbarten Mifsstände
Sorge zu tragen.*)
In verschiedenen Städten und Staaten Deutschlands hat man
dicserhalb Verordnungen erlassen.*) Zunächst erging 1895 in Nürn-
berg eine Sauberkeitsordnung, welche hauptsächlich mit der Krätze
sich befafste.4) Der Nürnberger Magistrat veröffentlicht aufserdem
regelmäfsig die Namen der Bäckermeister von Nürnberg und Um-
gegend, welche krätzkranke Gesellen beschäftigen.*) Hiernach kam
Hamburg mit umfassenden Vorschriften über gesunde und saubere
Ausstattung der Backräume. °) In der Hamburger Verordnung fehlen
jedoch Uebcrgangsbestimmungen, die auch den alten Betrieben die
Verpflichtung auferlegen, die geforderten Aenderungen innerhalb
eines gewissen Zeitraumes einzuführen. 1898 folgte Lübeck 7), ferner
>} Siehe auch Za deck a. a. O., S. 593 ff., insbesondere S. 597; Hirsch-
berg a. a. O. , S. 64 und 78. Nach dem Gutachten des Kaiserlichen Gesundheits-
amtes a. a. O., S. 46 leiden die Bäcker „im allgemeinen nicht so häufig an Krank-
heiten der Atmungswerkzeuge wie andere Staubarbeiter“.
*) Zadcck a. a. O., S. 604.
*) Es mag hier erwähnt werden, dafs in New- York (Staat) 1895 ein Bäcker-
Schutzgesetz in Kraft getreten ist, welches eine Reihe von Sauberkeitsvorschriften
enthält. Diese Vorschriften sind 1896 noch vermehrt worden (Soz. Praxis Nr. 52
vom 24. September 1896, Sp. 1363)*
4) Soziale Praxis Nr. 39 vom 24. Juni 1895.
a) Soziale Praxis, V. Jahrgang, Sp. 338 und die Grenzboten, 58. Jahrgang,
3. Vierteljahr 1899, S. 46.
•) Soziale Praxis Nr. 4 t vom 14. Juli 1898, Sp. 10S1 und Jahrgang VII,
Sp. 308, ferner „Der Bäcker“, Offizielles Organ der Bäcker und Berufsgenossen
Deutschlands Nr. II, Berlin im Dezember 1897, S. 2.
*) Deutsche Bäckerzeitung, Hamburg den 12. November 1898.
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Arbeiter- und Konsumentenschutz im Bäckerge werbe. $1
Dresden mit einer bedeutend milderen Verordnung ') wie Hamburg.
In Strafsburg traf man 1898 gleichfalls Mafsnahmen für die Reinlich-
keit und Gesundheit in Bäckereibetrieben.®) Es wurde eine Polizei-
verordnung fiir Unterelsafs *) nach dem Muster der Hamburger
Verordnung erlassen. Ferner bekam die Stadt Weimar eine ähn-
liche Verordnung am 2. Mai 1899. 4) Alsdann erschien eine für
das Bäcker- und Konditorgewerbe in Baden gültige Verordnung des
Badischen Ministeriums vom 29. Juli 1900 mit einer Reihe von
Bestimmungen für die Arbeiter und die Nahrungsmittelhygiene. 5)
Nunmehr ist man dabei, fiir ganz Deutschland eine Bäckerei-
verordnung zu schaffen. Der Entwurf") dieser Verordnung hat
nachstehenden Inhalt:
L
§ I. Der Fufsbodcn der Arbeitsräumc darf nicht tiefer als einen halben Meter
unter dem ihm umgebenden Erdboden liegen.
§ 2. Die Arbeitsräume müssen mindestens drei Meter hoch und mit Fenstern
versehen sein, welche nach Zahl und Gröfse genügen, um für alle Teile der Räume
Licht und Luft in ausreichendem Mafsc zu gewähren. Die Fenster müssen so ein-
gerichtet sein, dafs sie zum Zwecke der Lüftung ausreichend geöffnet werden können.
§ 3. Die Räume müssen mit einem dichten und festen Fufsbodcn versehen
sein, der eine leichte Beseitigung des Staubes auf feuchtem Wege gestattet. Die
Wände und Decken müssen, soweit sie nicht mit einer glatten, abwaschbaren Be-
kleidung oder mit einem Oelfarbcnanstrich versehen sind, halbjährlich mindestens
einmal mit Kalk frisch angestrichen werden. Der Oelfarbcnanstrich muls mindestens
alle fünf Jahre erneuert werden.
§ 4. Die Arbeitsräume dürfen nicht in unmittelbarer Verbindung mit den Be-
dürfnisanstalten stehen. Die letzteren müssen so gelegen sein, dafs sie von den Ar-
*) Soziale Praxis, VII. Jahrgang, Sp. 469 und „Der Bäcker“, Nr. 2, Berlin im
Februar 1898.
*) Soziale Praxis, VIII. Jahrgaug, Sp. 96.
*) Soziale Praxis, VIII. Jahrgang, Sp. 1084 und „Deutsche Bäckerzeitung“ vom
12. November 1898.
4) Deutsche Bäckerzeitung, Hamburg, den 24. Juni 1899.
B) Soziale Praxis, Nr. 44 vom 2. August 1900, Sp. 1128 und Oldcnbcrg,
■ebendort Nr. 35 vom I. Juni 1895, Sp. 943 und F. A. Günthers Bäcker- und
Konditorzeilung Nr. 6t vom 31. Juli 1900.
•) Abgedruckt in der Deutschen Bäckerzcitung, Hamburg den 3. November
1900. Siche hierzu Soziale Praxis vom 12. Juli 1900, Nr. 41 Sp. 1056. Nach
F. A. Günthers Bäcker- und Konditorzeitung Nr. 90 vom 9. November 1900 soll
cs sich lediglich um einen Entwurf für Preufscn handeln. Zweifelhaft • Soziale Praxis
vom 28. Februar 1901, Sp. 532.
Archiv für %oz. Gesel/tfehung 11. Statistik. XVII. 6
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M. v. Schulz,
heitern ohne Gefahr für Gesundheit, Sitte und Anstand erreicht werden können. —
Die Abzugsrohre der Ausgüsse und Klosetts dürfen nicht durch die Arbeitsräume
geführt werden.
§ 5. In Bäckereien, in welchen regclmäfsig mehr als zwei Gehilfen und Lehr-
linge beschäftigt werden, müssen für das Backhaus und die Backstube getrennte
Räume vorhanden sein.
§ 6. Die Zahl der in jedem Arbcilsraumc beschäftigten Personen mufs so be-
messen sein, dafs auf jede wenigstens fünfzehn Kubikmeter Luftraum entfallen.1) —
In Fällen weitergehenden außerordentlichen Bedarfs und an den Vorabenden der
Sonn- und Festtage ist eine dichtere Belegung der Arbeitsräume gestattet, jedoch
mit der Jlafsgabc, dafs wenigstens zehn Kubikmeter Luftraum auf die Person ent-
fallen müssen.
§ 7. Die Temperatur in den Arbeitsräumen darf 35 Grad Celsius nicht über-
steigen. In jedem Arbeitsraum, mit Ausnahme der Mchlkammer, ist ein Thermometer
anzubringen.
§ 8. Den Arbeitern mufs Gelegenheit gegeben werden, sich umzukleiden und
zu waschen. Die hierfür bestimmten Räumlichkeiten müssen für die Zahl der be-
schäftigten Arbeiter genügend grofs, von den Arbeitsräumen zugfrei zu erreichen
sowie während der kalten Jahreszeit geheizt sein, ln diesen Räumlichkeiten sind
ausreichende Wascheinrichtungen anzubringen und mit Seife auszuslatten, für jeden
Arbeiter ist mindestens wöchentlich ein reines Handtuch zu liefern. — Soweit nicht
genügende Wascheinrichtungen mit fliefsendem Wasser vorhanden sind, mufs für
höchstens je fünf Arbeiter eine Waschgeicgcnhcit eingerichtet werden. Es mufs
ferner dafür gesorgt werden, dafs bei der Wascheinrichtung stets reines Wasser in
ausreichender Menge vorhanden ist, und dafs das gebrauchte Wasser an Ort und
Stelle ausgegossen werden kamt. — Die Bctricbsuntemchmcr haben darauf zu halten,
dafs die Arbeiter sich vor dem Zurichten und Teigmachen Hände und Arme mit
reinem Wasser gründlich reinigen,
g 9. In den Arbeitsräumen müssen ausreichende Sitzgelegenheiten ftir die Ar-
beiter vorhanden sein.
g 10. In den Arbeitsräumen sind mit Wasser gefüllte und täglich zu reinigende
Spucknäpfe, und zwar in jedem Arbeitsraum mindestens einer, aufzuslcllen. Das
Ausspucken auf den Fufsbodcn ist von den Arbeitgebern zu untersagen.
g II. Die Arbeitsräume dürfen zu anderen, mit dem ordnungsgemäfsen Be-
triebe nicht zu vereinbarenden Zwecken, insbesondere als Wasch-, Schlaf- oder
Wohnräume nicht benutzt werden.
§ iz. Die Arbeitsräume sind dauernd in reinlichem Zustande zu erhalten und
täglich mindestens einmal gründlich zu lüften. — Die Fufsbodcn müssen täglich, die
Arbeitsräume wöchentlich einmal gereinigt werden; die abwaschbaren Wand-
bckleidungcn sowie der Oclfarbenanslrich sind halbjährlich mindestens einmal ab-
zuwaschen. Die im Betriebe verwendeten Geräte, Gefiifsc, Tücher u. dergl. dürlen
■) Zadcek a. a. O., S. 609.
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Arbeiter- und Konsuraentenschutz im Bäckergewerbe.
83
nicht zu anderen als zu Betriebszwecken benutzt und müssen in reinlichem Zustande
erhalten werden.
§ 13. Die Arbeiter müssen während der Arbeit mindestens mit Beinkleid und
Brusttuch bekleidet sein.
§ 14. Arbeiter, welche mit ansteckenden oder ekelerregenden Krankheiten be-
haltet sind, dürfen nicht beschäftigt werden.
II.
§ 15. In jedem Arbeitsraum ist ein von der Ortspolizeibchörde zur Bestätigung
der Richtigkeit seines Inhaltes Unterzeichneter Aushang anzubringen, aus dein er-
sichtlich ist.
a. die Länge, Breite und Höhe des Raumes,
b. der Inhalt des Luftraumes in Kubikmetern,
c. die Zahl der Personen, die nach § 6 in den Arbeitsräumen beschäftigt
w’erden darf.
III.
§ 16. Die Schlafräume *} der Gehilfen und Lehrlinge dürfen nicht in solcher
Nahe zum Backofen liegen , dafs in ihnen eine übermafsige Hitze herrscht. Auch
dürfen sie nicht in unmittelbarer Verbindung mit den Bedürfnisanstalten stehen. —
Soweit die Schlafräume über Aborten liegen, müssen sie von diesen durch eine luft-
undurchlässige Decke getrennt sein. Die Schlafräume müssen für jede darin unter-
gebrachte Person mindestens zehn Kubikmeter Luftraum und vier Kubikmeter Boden-
fläche darbieten und mit mindestens einem öflfnungsfähigen Fenster versehen sein.
Die öffnungsfähige Fensterfläche mufs auf je dreifsig Kubikmeter Luftranm minde-
stens ein Quadratmeter betragen. — Für jede in den' Schlafräumen untergebrachte
Person mufs ein besonderes Bett vorhanden sein. Die Betten dürfen während der
Zeit der Benutzung nicht übereinander stehen und nicht von verschiedenen Personen
*) Sollte cs zu einer allmählichen Beseitigung des Kost- und Logiswesens aus
Anlafs von Bestimmungen des Bundesrats über die vom Meister den Gesellen zu
gewährenden Quartiere kommen, so glauben wir nicht, dals dann, wie die Bäcker-
meister befürchten, lediglich die „Bäckerpcnnc“ Vorteile haben werde. Die Führer
der Arbeiter stellen wenigstens dies in Abrede. Wenn man sieht, mit welcher
Energie — Jahre hindurch -- die Abschaffung des Kost- und Logiswesens von der
< Organisation der Gesellen angestrebt wird und wenn man bedenkt, dafs sie zweifellos
aus dieser Abschaffung auch eine Stärkung ihrer Organisation erhoffen, so kann die
Grfahr der Bäckerpenne nicht so grols sein. Die Bäckergeselle» müssen ihre Fach-
gennssen kennen und wissen, dafs ihre Organisation mit Kollegen, welche in Bücker-
pennen versumpft sind, nichts zu beginnen vermag. Hier im 1’ebrigen Obacht zu
geben, wird man getrost den interessierten Arbeitern überlassen können. Siehe
hierzu: ,,Ein Notschrei der Bäckereiarbeiter Deutschlands“, Hamburg. Verlag von
O. Altmann 1898, ferner „Beitrag zur Lage der Bäckereiarbeiter Berlins“, Berliu
1900, Verlag von F. Schneider, endlich „Die F.ntwicklung des Verbandes der Bäcker“,
Hamburg 1900, Verlag von O. Altmann.
6*
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M. v. Schulz,
Schichtweise benutzt werden. Die Bettwäsche mufs mindestens alle vier Wochen
und bei jedem Wechsel der das Belt benutzenden Person erneuert werden. Für
je zwei in solchen Schlafräumen untergebrachte Personen mufs mindestens ein
Waschgeschirr und für jede Person mindestens ein Handtuch vorhanden sein, das
mindestens wöchentlich zu erneuern ist.
IV.
Gegenüber den bei dem Erlasse dieser Bekanntmachung bereits bestehenden
Anlagen können während der ersten zehn Jahre nach Erlafs dieser Bekanntmachung
auf Grund der Bestimmungen unter I § I, § 2, § 4 Absatz I. § 5, § 8 Abs. l u. 2,
so lange nicht eine Erweiterung oder ein Umbau cintritt, nur Anforderungen gestellt
werden, welche zur Beseitigung erheblicher, das Leben, die Gesundheit oder die
Sittlichkeit der Arbeiter gefährdenden Mifsständc erforderlich, oder ohne unver-
hältnismäfsigc Aufwendungen ausführbar erscheinen.
Gegen die Verfügung der zuständigen Polizeibehörde steht dem Unternehmer
binnen zwei Wochen die Beschwerde an die höhere Verwaltungsbehörde zu. Gegen
die Entscheidung der höheren Verwaltungsbehörde ist binnen vier Wochen die Be-
schwerde an die I-andcs-Zentralbehörde zulässig; diese entscheidet cndgiltig.
Die Bestimmungen des Entwurfes lehnen sich eng an die
Nürnberger Verordnung und an die in anderen Städten und Bundes-
staaten erlassenen Verordnungen an. Durch die Verordnung will
man in Deutschland der von uns in diesem Aufsatze genannten
Uebel inbezug auf Gröfse, Ucht, Beschaffenheit und Reinhaltung
der Arbeits- und Schlafräumc der Gesellen und Lehrlinge Herr
werden. Wie in den anderen Verordnungen wird auch in dem
Entwürfe vorgeschrieben, dafs Arbeiter, welche mit ansteckenden
oder ekelhaften Krankheiten behaftet sind, nicht Arbeiten verrichten
dürfen.
Der Abgeordnete Oertel erklärte in seiner erwähnten Reichs-
tagsrede, dafs die Bäckermeister eine längere Ucbergangszeit zur
Erfüllung der zukünftigen Verordnung erbitten. Die Arbeiter be-
furchten ein Nachgeben der Regierung.
Mag man nun den Arbeitgebern in manchen Punkten sich will-
fährig zeigen oder nicht, soviel darf erhofft werden, dafs die Ver-
ordnung ein sofortiges Eingreifen der Behörde beim Vorhandensein
ungesunder Schlafräume der Gesellen statuiert, und dafs sonst
nicht zu lange Fristen zur Abstellung der Mängel gewährt
werden. Der Meister, welcher Gesellen nur schädliche Schlafstätten
zu bieten 'hat, ist anzuhalten, denselben nachzulassen, sich außerhalb
der Bäckerei eine Schlafstube zu suchen. Mit dem Schutz der
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Arbeiter- und Konsumentcnschulz im Bäckergewerbe.
leiblichen und geistigen Gesundheit der Arbeiter schützt man gleich-
zeitig das Interesse der konsumierenden Gesamtbevülkerung. ')
Wir würden noch dazu raten, den Entwurf zu ergänzen. Es
wäre nämlich an der Zeit, die Bäckermeister anzuweisen, die über die
Stral'se zu transportierende Ware vor Strafsenschmutz zu schützen 4)
und ihre Kundschaft zu hindern, die Backware beim Einkauf zu
betasten. *)
Erfreulich ist, dafs nach der Rede des Abgeordneten Oertel im
Reichstage die Bäckermeister selbst gegen vorhandene Unreinlich-
keiten und Mifsstände verordnungsmäfsige Bestimmungen verlangen.
Nur meint der Abgeordnete zu dem fraglichen Entwurf: „Wenn
die Bäcker fordern, dafs das Nichtwaschen der Gesellen strafbar
gemacht werde, so haben sie recht. Wie will man einen Bäcker-
meister verantwortlich machen dafür, dafs seine Gesellen sich nicht
waschen? Er kann es nicht anders machen, als sich hinstellen,
Seife nehmen und einen Herrn nach dem andern selbst reinigen.“ 4)
So arg ist es denn doch noch nicht. Hören wir einen Bericht
Reinhardts “) über die Konsumbäckerei in Breslau : „Nicht nur dafs
im Arbeitssaal der Konsumbäckerei die gröfste Sauberkeit herrscht,
auch am eigenen Körper hat sich der Bäcker derselben zu be-
*) Bei der kommunalen Vermittlung im Bäckerstreik von Lyon wurde unter
anderem folgendes vereinbart : Eine spezielle hygienische Kommission, die der Bürger-
meister für jeden Stadtbezirk ernennt, hat die von den Meistern den Arbeitern an-
gewiesenen Wohnräume zu inspizieren und kann unter Ausschluß jeglicher Berufung
den Arbeitgeber anhaltcn, dem Gehilfen entweder eine gesunde Wohnung anzu-
weisen oder aber 50 Centimes pro Tag Entschädigung zu zahlen. (Soziale Praxis,
VI. Jahrgang 1896,1897 Sp. 203.
*) Siehe Gutachten des Landessanitätsrates von Oesterreichisch Schlesien
(Soziale Praxis, VII. Jahrgang, Sp. 1290).
*) Zeitungsnachrichten zufolge wünschen die Berliner Bäckermeister eine der-
artige obrigkeitliche Anordnung.
4) Reichstag — 24. Sitzung, Sonnabend den 12. Januar 1901, S. 645. Siehe
ferner dort die Kritik über einzelne Paragraphen der Verordnung. Die Verordnung
soll auf den fabrikmäfsigen Grofsbetrieb zugeschnitten sein, während sie den kleinen
und mittleren Betrieb mindestens in einzelnen Bestimmungen absolut unberücksichtigt
lasse. Sollte man nicht Erkundigung über die von anderen Staaten mit derartigen
Verordnungen gesammelten Erfahrungen eingezogen haben? Die Kritik, dafs die
geplante Verordnung, welche sich den bereits erprobten Verordnungen eng an-
schliefst, „allzusehr nach dem grünen Tisch rieche*4, scheint uns eine unberechtigte
zu sein.
n) Schriften des Vereins für Sozialpolitik, 7. Bd. 1IL Teil 1896 S. 125.
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M. v. Schulz,
fleifeigcn. Bevor er an die Arbeit geht, mute er sich in einen
geräumigen, in der kalten Jahreszeit geheizten, Saal begeben und
sich daselbst einer gründlichen Reinigung unterziehen, vor allem die
Hände tüchtig waschen. Zu diesem Zweck sind an der einen
Längsseite des Saales 20 Waschbecken mit je einem Hahn für
warmes und kaltes Wasser angebracht, aufserdem gehört zu jedem
Seife, Holzwolle zum Reiben und ein Handtuch. Erst nachdem der
Bäcker sich gründlich gereinigt und seine weifee Fabrikkleidung ’),
die sehr oft gewaschen wird, angezogen hat, darf er an die Arbeit
gehen , während welcher das Rauchen verboten ist. Ueber die
Innehaltung der Reinlichkeitsvorschriften wachen die beiden Back-
meister sehr scharf und jeder, der sich denselben nicht fügt, wird
ohne weiteres entlassen." Reinhardt fügt hinzu : ..Derartige vom
hygienischen Standpunkte so anerkennenswerte Einrichtungen fehlen
in den meisten Kleinbetrieben, obwohl sich hierin auch mit
kleinen Mitteln schon viel erreichen liefs e." *)
Mit Recht legt deswegen der Entwurf den Bäckermeistern die
Pflicht auf, den Arbeitern Gelegenheit zu geben, sich umzukleiden
und zu waschen. Auch nur bei einigem Entgegenkommen wird
der kleine Meister ausreichende Wascheinrichtungen in seinem Be-
triebe ebenfalls anbringen können.
Anders ist es bei Krankheiten der Gesellen. Nicht selten
wird cs sich ereignen, dafe dem Meister die Krankheit des Gesellen
verborgen bleibt. Selbst mit bester Absicht ist der Meister dann
') Vgl. dazu den Artilcl der Sozialen Praxis, VII. Jahrgang, Sp. 1290: ,,Die
Arbeiter sollen die Bäckereiarbeiten in einem eigens dazu bestimmten weifsen, stets
reinlichen, waschbaren Anzug verrichten, welcher nach Beendigung der Arbeit jedes-
mal abzulegcn und mit dem gewöhnlichen Haus- oder Strafsenanzug zu vertauschen
ist. Wie die sonst benutzten Arbeilsanzilge beschaffen sind, finden wir in Günthers
Bäcker- und Kondilorzeitung vom 21. April 1894 beschrieben (siehe auch OId.cn-
berg in der Sozialen Praxis, III. IV. Jahrg. Sp. 988}. 4889 kamen unter den Mann-
heimer Bäckern öfters Flechten vor. „Das liegt aber nicht,“ so bemerkt dir
Günthersche Zeitung, „an der Arbeitszeit, sondern an den Uber alles Mafs
schmutzigen Arbeitsanzügen, die allein stehen bleiben, so steil
sind sie mit Schmutz gefüllt. Dafs sich darin Bakterien entwickeln, ist nicht
zu verwundern, und wir halten es für eine Aufgabe der Gesundheits-
polizei, hier energisch Wandel zu schaffen.“
*) Lesenswert ist auch der Artikel, der „Breslauer Morgenzeitimg“ (Nr. 33 vom
20. Januar d. J. über die Konsumbäckerei, welche übrigens zur Zeit 62 Bäcker
beschäftigt.
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Arbeiter- und Konsumenten schütz im Bäckergewerbe.
»7
nicht in der Lage, seinen Gesellen vron der Arbeit auszuschliefsen.
•Es stehen in Frage erkrankte und in der Genesung befindliche
Gesellen. Diese will Behrend ') auf administrativem Wege verhindern,
Gebäck zuzubereiten. Er schreibt: „Inbezug auf die Arbeiter in
Fabriken und Werkstätten ist die Polizei berechtigt, den Nachweis
guter hygienischer Verhältnisse zu verlangen ; sie thut dies bereits
in umfangreicher Weise, insofern es die Einrichtung der Fabrik und
die Art des Betriebes betrifft, und könnte es auch inbezug auf die
einzelnen Personen fordern. In dieser Beziehung miifste jeder Arbeit-
geber verpflichtet sein, bei Einstellung von Arbeitern den Nachweis
sich erbringen zu lassen , dafs dieselben nicht an einer an-
steckenden Krankheit, namentlich nicht an Syphilis
leiden und dieser Nachweis miifste in bestimmten zeitlichen Zwischen-
räumen erneuert werden*); diejenigen Personen aber, welche wegen
einer Geschlechtskrankheit in ärztlicher Behandlung standen, sollten,
bevor sie zu ihrer Arbeitsstelle zugelasscn werden, die Beibringung
eines ärzlichen Zeugnisses, das, in Deutschland wenigstens, unter
Mitwirkung der Krankenkassen und ohne Kosten für den Einzelnen
zu beschaffen wäre, zur Pflicht gemacht werden.“ Gleicher Natur
sind die Vorschläge, welche bei einem Referat11) überdas Gutachten
des Landessanitätsrates von Oesterreichisch-Schlesien die Bäckerei-
betriebe betreffend gemacht wurden : „Es sollte jede in eine
Bäckerei als Arbeiter eintretende Person vor ihrem Arbeitsantritt
von dem hierzu bestimmten Arzte auf ihren Gesundheitszustand
untersucht und erst nach erfolgter Bestätigung ihrer Zulässigkeit
durch den Arzt zur Arbeit aufgenommen werden. Ferner mülste
jeder Betriebsleiter einer Bäckerei verpflichtet werden, einen jeden
unter seinen Arbeitern auftretenden Krankheitsfall sofort bei der
Gemeinde anzumelden. Die sanitären Organe der Gemeinde wie
auch die Bezirksärzte wären zu verpflichten, die Bäckereien periodi-
schen Revisionen zu unterziehen und hierbei sowohl auf die
sanitären Verhältnisse der Bauanlage, des Betriebes und der inneren
Einrichtung ihr Augenmerk zu richten, als auch den Gesundheits-
zustand des darin beschäftigten Personals zu prüfen und bei wahr-
*) Syphilis, Prostitution und öffentliche Gesundheitspflege. Extrait des Comptcs-
rendus du XII. Congres International de Medecine.
*) Reichstag vom 13. Januar 1897, S. 4007 (A/B).
a) Soziale Praxis, VII. Jahrgang, Sp. 1290.
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M. v. Schulz
genommenen Unzuträglichkeiten Anzeige zu erstatten." *) Diese
hygienischen Vorschläge sind so wichtige, dafe sie bei der end-
gültigen Festsetzung der Backstubenordnung geprüft und eventuell
berücksichtigt werden sollten.
Was zum Schlufs nochmals die Backräume als solche anlangt *),
so klärt uns über die Beschaffenheit derselben am besten die Protest-
eingabe auf, welche die Kommission der vereinigten Berliner Haus-
besitzer und Bäckermeister an die Staatsministerien aller deutschen
Bundesstaaten, an den Reichskanzler, sowie an den Bundesrat un-
längst abgesandt hat Ganz abgesehen davon, dafs in dieser Ein-
gabe die projektierten Bestimmungen über die Hygiene in Bäckereien
als vielfach zu weit gehend und unzeckmäfsig bezeichnet werden,
wird besonders gegen den Absatz IV des Entwurfes Einspruch
erhoben, der alle den Bestimmungen nicht entsprechende Arbeits-
räume nach Ablauf von io Jahren aufser Gebrauch setzen will. Die
Bittsteller erklären : „Die weitaus überwiegende Anzahl der Bäckerei-
arbeitsräume befindet sich in Kellergeschossen und entspricht nicht
den vorgesehenen Bestimmungen. In Berlin sind allein, bei etwa
1700 Bäckereiinhabern, 90 Proz. aller Backstuben von solcher Be-
schaffenheit, dafs sie nach 10 Jahren für Bäckereibetriebe geschlossen
werden müssten." „Der Hauseigentümer, der für die Ueberlassung
der Benutzung der bisherigen Bäckereiräume einen verhältnismälsig
hohen, wenn auch nur angemessenen Mietszins von in gröfseren
Städten meist mehreren 1000 Mk. jährlich erzielte, würde in Zukunft
diese Räume nur als Kellcrverschläge oder Lagerräume
anderweitig vermieten können und mit einemmal für alle Zukunft
hinaus nur einen Mietspreis von vielleicht hundert oder einigen
hundert Mark erhalten." 8) Aus diesen offenbar wahrheitsgetreuen
*) Auf der 14. Hauptversammlung des preufsischen Medizinalbeamten Vereins
1897 wurde die Frage, inwieweit eine Teilnahme der Mcdizinalbcaratcn bei Hand-
habe der Gewerbchygienc erforderlich sei, beraten. Beide Referenten forderten,
dafs der Medizinalbeamte auch auf die hygienischen Mifsstände im Kleingewerbe
seine Aufmerksamkeit wende unter besonderer Berücksichtigung der Lehrlings- und
Gesellcnvcrhaltnisse, der gesundheitsschädlichen Betriebe und der Nahrungsmittel-
industrie (Soziale Praxis, VII. Jahrgang, Sp. 15). (Siehe ferner Hirschberg
a. a. O., S. 65.
*) F. A. Günthers Bäcker- und Konditorzeitung vom 2. und 5. Oktober, vom
13. und 23. November und vom 4. Dezember 1900, Kretschmar, Die Arbeits-
und Wohn räume in Berliner Bäckereien 1893 und Oldenberg a. a. O., S. 85 u. 91,
*) Kntnommen aus dem „Vorwärts“ vom 2. und ll. Juli 1901.
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Arbeiter- und Konsumentcnschutz im Mac kerge werbe.
89
Schilderungen der eigentlich nur zu Kellerverschlägcn geeigneten
Backstuben erhellt, dafs das Vorgehen der Gesetzgebung durchaus
gerechtfertigt ist. Unser tägliches Brot mufs in diesen Nahrungs-
mitteln angemessenen Werkstätten hergestellt werden. Geldverluste
und Beeinträchtigungen einzelner Personen dürfen, da das öffentliche
Interesse ’) gründliche Vorkehrungen gegen unreinliche und un-
geeignete Bäckereibetriebe erheischt , kaum in Betracht gezogen
werden.
Sollte man aber den Bäckermeistern entgegenkommen und die
Ausführung der neuen Mafsregeln denjenigen Bäckereien, welche
diese Gebote nicht erfüllen können, erlassen, so darf, wie Jastrow *)
auch zur Einführung des Maximalarbeitstages bemerkt hat , das
Privileg der alten Bäckereien keineswegs anders als persönlich
gefafst werden. Es mufs spätestens mit dem Tode des Inhabers
erlöschen.
Von manchen Seiten wird warnend behauptet, dafs die Back-
stubenordnung eine Prämiierung der grofsen Betriebe darstelle und
die kleineren Betriebe unmöglich mache. Unleugbar beginnt in den
Hauptstädten auch für das Bäckerhandwerk der Grofsbetrieb sich
zu entwickeln. *) Es wird den Bäckermeistern daher einst so gehen,
wie heute den Schank- und Gastwirten, die unter den umfang-
reichen Großbetrieben in ihrem Gewerbe leiden.
Wenn wir auch keinen Anlafs haben, zu wünschen, dafs der
Entwicklungsprozefs zum Bäckereigrofsbetriebe beschleunigt werdei
so hat es doch für den Konsumenten etwas Anheimelndes, wenn er
hört, wie appetitlich es schon jetzt in den Brotfabriken u. s. w.
hergeht. 4)
') Sociale Praxis, X. Jahrgang, Sp. 533.
*) Sociale Praxis, V. Jahrgang, S. 821.
*) Ol den borg a. a. O., S. 9.
*) Olbenbcrg a. a. O., S. 89 und Sociale Praxis vom 16. September 1895,
S. 989-
Aus Amerika kommt die Nachricht, dafs die kürzlich in Xewyork begründete
„National Bread Company" beabsichtige, durch ein System von grofsartigen Brod-
fabriken den Brodkonsum in allen gröfseren Städten des Landes zu befriedigen.
Das soll geschehen, indem man zu dem landesüblichen Preise von 5 Cents für einen
kleinen Laib Brod ein bedeutend besseres, reinlicheres und gesünderes
Brod, als bisher die Konsumenten zu essen bekommen, zu liefern verspricht Es
wird in den Fabriken eine neue Teigknetmaschine cur Anweridung kommen. (Ber-
liner Tageblatt Nr. 404 vom 11. August 1901, 1. Beiblatt.)
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go
M. v. Schulz,
Wir möchten jedoch bezweifeln, dafs die bald erscheinenden
hygienischen Vorschriften des Bundesrates den Grofsbetrieb so fördern
werden, wie man besorgt. Der unreinliche Bäckermeister wird
zwar verschwinden. Von der unwürdigen Konkurrenz befreit, wird
dann der saubere und unternehmungslustige Bäckermeister um so
besser in der Lage sein, den Kampf mit dem Grol'sbetriebe auf-
zunehmen ’) und sich seine Kundschaft zu erhalten.
Der Wortlaut der erörterten Bekanntmachung ist der folgende:
Bekanntmachung des Reichskanzlers, betreffend den Betrieb von Bäckereien
und Konditoreien vom 4. März 1896.
Auf Grund des § 120 c der Gewerbeordnung hat der Bundesrat nachstehende
Vorschriften ül»er den Betrieb von Bäckereien und Konditoreien erlassen :
1. Der Betrieb von Bäckereien und solchen Konditoreien, in denen neben den
Konditorwaren auch Bäckerwaren hergestellt werden, unterliegt, sofern in
diesen Bäckereien und Konditoreien zur Nachtzeit zwischen 8 1 Uhr abends
und 5 1 ? Uhr morgens Gehilfen oder Lehrlinge beschäftigt werden, folgenden
Beschränkungen :
I. Die Arbeitsschicht jedes Gehilfen darf die Dauer von zwölf Stunden oder,
falls die Arbeit durch eine Pause von mindestens einer Stunde unterbrochen
wird, cinscbliefslich dieser Pause die Dauer von dreizehn Stunden nicht
überschreiten. Die Zahl der Arbeitsschichten darf für jeden Gehilfen
wöchentlich nicht mehr als sieben betragen.
Aufserhalb der zulässigen Arbeitsschichten dürfen die Gehilfen nur zu
gelegentlichen Dienstleistungen und höchstens eine halbe Stunde lang bei
der Herstellung des Vorteiges (Hefestück. Sauerteigs), im übrigen aber
nicht bei der Herstellung von Waren verwendet werden. Erstreckt sich
die Arbeitsschicht thatsächlich über eine kürzere als die im Absatz 1 be-
zeiebnete Dauer, so dürfen die Gehilfen während des an der zulässigen
Dauer der Arbeitsschicht fehlenden Zeitraumes auch mit anderen als ge-
legentlichen Dienstleistungen beschäftigt werden.
Zwischen je zwei Arbeitsschichten mufs den Gehilfen eine ununter-
brochene Kühe von mindestens acht Stunden gewährt werden.
2. Auf die Beschäftigung von I^chrlingen finden die vorstehenden Bestimmungen
mit der Mafsgabc Anwendung, dafs die zulässige Dauer der Arbeitsschicht
im ersten Lehrjahre zwei Stunden, im zweiten Lehrjahre eine Stunde
*) Leider ist ein jüngst gemachter Versuch von Berliner Bäckermeistern, eine
Genossenschaitsbäckerci zu gründen, mittels welcher der Konkurrenz der sogenannten
■Groüsbäcker entgegengetreten werden sollte, als mifslungcn anzusehen. Eine Umfrage
hat ergeben, dafs nur ein kleiner Teil der Bäckermeister dem Projekte Interesse
entgegenbrachte und sich beteiligen wollte. Der Plan mufstc deswegen aufgegeben
werden. (Staatsbürger-Zeitung vom 16. August 1901.)
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Bekanntmachung des Reichskanzlers, betr. den Betrieb von Bäckereien etc. qj
weniger beträgt, als die für die Beschäftigung von Gehilfen zulässige
Dauer der Arbeitsschichl , und dafs die nach Ziffer I Absatz 3 zu ge-
währende ununterbrochene Ruhezeit sich um eben diese Zeiträume ver-
längert.
3. Uebcr die unter den Ziffern 1 und 2 festgesetzte Dauer dürfen Gehilfen
und Lehrlinge beschäftigt werden :
a) an denjenigen Tagen, an welchen zur Befriedigung eines bei Festen
oder sonstigen besonderen Gelegenheiten hervortretenden Bedürfnisses
die untere Verwaltungsbehörde t'ebcrarbeit für zulässig erklärt hat;
b) aufserdem an jährlich zwanzig der Bestimmung des Arbeitgebers über-
lassenen Tagen. Hierbei kommt jeder Tag in Anrechnung, an dem
auch nur ein Gehilfe oder Lehrling über die unter den Ziffern 1 und 2
festgesetzte Dauer beschäftigt worden ist. %
Auch an solchen Tagen, mit Ausnahme des Tages vor dem Weihnacht*-,
( >ster- und Pfingstfest, mufs zwischen den Arbcitssrhichtcn den Gehilfen
eine ununterbrochene Ruhe von mindestens acht Stunden, den Lehr-
lingen eine solche von mindestens zehn Stunden im ersten Lehrjahre,
mindestens neun Stunden im zweiten I*chrjahrc gewährt werden.
Die untere Verwaltungsbehörde darf die Ueberarbeit (a) für höchstens
zwanzig Tage im Jahre gestatten.
4. Der Arbeitgeber hat datür zu sorgen, dafs an einer in die Augen fallenden
Stelle der Betriebsstätte ausgehängt ist:
a) eine mit dem polizeilichen Stempel versehene Kalendertafel , auf der
jeder Tag, an dem Ueberarbeit auf Grund der Bestimmung unter
Ziffer 3b stattgefunden hat, noch am Tage der Ueberarbeit mittels
Durchlochung oder Durchstreichung mit Tinte kenntlich zu machen ist;
b) eine Tafel, welche in deutlicher Schrift den Wortlaut dieser Be-
stimmungen 1 1 bis V) wiedergiebu
5. An Sonn- und Festtagen darf die Beschäftigung von Gehilfen und Lehr-
lingen auf Grund des § 105 c der Gewerbeordnung und der in den
$§ 105 b und 105 f a. a. O. vorgesehenen Ausnahmebewilligungen nur
insoweit erfolgen, als dies mit den Bestimmungen unter den Ziffern 1 bis 3
vereinbar ist.
In Betrieben, in denen den Gehilfen und Lehrlingen für den Sonntag
eine mindestens vierundzwanzigstündige, spätestens am Sonnabend Abend
um zehn Uhr beginnende Ruhezeit gewährt wird, dürfen die an den zw
vorhergehenden Werktagen endigenden Schichten um je zwei Stunden
Über die unter den Ziffern I und 2 bestimmte Dauer hinaus verlängert
werden. Jedoch mufs auch dann zwischen je zwei Arbeitsschichten den
Gehilfen eine ununterbrochene Ruhezeit von mindestens acht Stunden, den
Lehrlingen eine solche von mindestens zehn Stunden im ersten Lehrjahre,
mindestens neun Stunden im zweiten Lehrjahre gelassen werden.
II. Als Gehilfen und Lehrlinge im Sinne der Bestimmungen unter I gelten solche
Personen , welche unmittelbar bei der Herstellung von Waren beschäftigt
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g2 Bekanntmachung des Reichskanzlers, betr. den Betrieb von Bäckereien etc.
werden. Dabei gelten Personen unter sechzehn Jahren, welche die Ausbildung
zum Gehilfen nicht erreicht haben, auch dann als Lehrlinge, wenn ein Lehr-
vertrag nicht abgeschlossen ist.
Die Bestimmungen über die Beschäftigung von Gehilfen finden auch auf
gewerbliche Arbeiter Anwendung , welche in Bäckereien und Konditoreien
lediglich mit der Bedienung von Hilfsvorrichtungen (Kraftmaschinen, Be-
leuchtungsanlagen und dergleichen) beschäftigt werden.
III. Die Bestimmungen unter I finden keine Anwendung auf Gehilfen und Lehrlinge,
die zur Nachtzeit überhaupt nicht oder doch nur mit der Herstellung oder
Herrichtung leicht verderblicher Waren, die unmittelbar vor dem Gcnufs
hcrgestcllt oder hergerichtet werden müssen (Fis, Cremes und dergleichen),
beschäftigt werden.
ft IV. Die Bestimmungen unter I finden ferner keine Anwendung:
1. auf Betriebe, in denen regelmäfsig nicht mehr als dreimal wöchentlich
gebacken wird ;
2. auf Betriebe, in denen eine Beschäftigung von Gehilfen oder Lehrlingen
zur Nachtzeit lediglich in einzelnen Fällen zur Befriedigung eines bei
Festen oder sonstigen besonderen Gelegenheiten hervortretenden Bedürfnisses
mit Genehmigung der unteren Verwaltungsbehörde stattfindet.
Diese Genehmigung darf die untere Verwaltungsbehörde für höchstens
zwanzig Nächte erteilen.
V. Die vorstehenden Bestimmungen treten am l. Juli 1896 in Kraft Während
der Zeit vom 1. Juli bis 31. Dezember 1896 darf Ucberarb eit auf Grund der
Bestimmung unter I Ziffer 3 a für höchstens zehn Tage und Nachtarbeit auf
Grund der Bestimmung unter IV Ziffer 2 für höchstens zehn Nächte gestattet
werden, sowie Ueberarbeit auf Grund der Bestimmung unter 1 Ziffer 3 b an
höchstens zehn Tagen stattfinden.
Berlin, den 4. März 1896.
Der Stellvertreter des Reichskanzlers,
von Bötticher.
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Der Entwurf von Bestimmungen über die
Beschäftigung der Gastwirtsgehilfen.
Von
Dr. ARTHUR COHEN
, in München.
L
Eine Spätfrucht des sozialpolitischen Aufschwungs von 1890
ist reif geworden! Seiner Herkunft nach einer Phase der Gesetz-
gebung angehörend, die in manchen Beziehungen schon als über-
wunden gelten darf, in seiner embryonalen Entwicklung mehrfach
durch äufsere Einflüsse gehemmt, trägt der dem Bundesrat vorliegende
in der Ueberschrift dieses Aufsatzes erwähnte Entwurf schon gleich
bei seiner Geburt hippokratische Züge.
Die „fragwürdige Gestalt" des Entwurfes kommt einer dringenden
Einladung gleich, sich mit seiner Entstehung näher zu be-
schäftigen.
Die Bestimmungen der Gewerbeordnungsnovelle vom I.juni 1891
über die Sonntagsruhe beziehen sich auf das Gast- und Schank-
wirtschaftsgewerbe nicht (§ 105 i). Man ist aber im Reichstag bei der
Beratung der Novelle einig darüber gewesen, dafs den Angestellten
in diesem Gewerbe ein Schutz gewährt werden müsse, namentlich
auch in der Richtung der Sonntagsruhe: die Verhältnisse im Gast-
und Schankwirtschaftsgewerbe seien aber ganz eigenartige, sie
erheischten eine besondere Regelung und müfsten jedenfalls vorher
untersucht werden. In diesem Sinne sprach sich auch der Re-
gierungsvertreter , der Organisator des „neuen Kurses“ , Herr
von Berlepsch, aus.1)
') Vgl. meine Abhandlung „Die Lohn- und Arbeitsverhältnisse der Münchener
Kellnerinnen“ in diesem „Archiv“ Band V (1892) S. looff.
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94
Arthur Cohen,
Die Vornahme der Erhebung wurde der iin Jahre 1892 ein-
gesetzten Reichskommission für Arbeiterstatistik über-
tragen. Dieselbe beschäftigte sich zum ersten Male am 30. Juni
1893 mit dem Gegenstände.1) Es wurde zunächst die Aussendung
.von Fragebogen beschlossen. Die Fragebogen enthielten Fragen
über Arbeitszeit (auch über die Arbeitspausen, freie Tage, Ausgehe-
zeiten), Dienstzeit, Stellenvermittlung (auch über Vermittlungs-
gebühren), Löhne (auch über die Lohnabzüge und Naturallöhnung),
wurden an 10 Proz. der Gehilfenbetricbe im deutschen Reiche ver-
teilt und zur Hälfte von den Arbeitgebern, zur anderen Hälfte von
den Arbeitern beantwortet. Dieser erste I eil der Erhebung bezog
sich nur auf die Arbeitsverhältnisse der Kellner, Kellnerinnen
und Kellnerlehrling e.*) Es wurde zwar im Schofse der Kom-
mission angeregt, die Befragung auch auf die anderen im Wirt-
schaftsgewerbe beschäftigten Personen, oder wenigstens auf das
Küchenpersonal, oder wenigstens auf die Köche auszudehnen, die
betreffenden Anträge wurden aber abgelehnt. Eine Ausdehnung
auf das ganze Personal mache die Erhebung zu umfangreich und
schwerfällig; ein grofser Teil des Wirtschaftspersonals sei zum Ge-
sinde zu rechnen und falle daher überhaupt nicht unter die Ge-
werbeordnung; die Arbeitsverhältnisse der Köche könne man später
immer noch feststellen. Ja sogar der schüchtern aufgetretene Ver-
such. die Einbeziehung der Lohnkellner (Aushilfskellner) in die
Befragung zu veranlassen (Antrag Morgenstern), wurde aus fonnal-
juristischen Gründen, weil die Lohnkellner selbständige Gewerbe-
treibende seien (!), abgelehnt.
Der zweite Teil der Erhebung bestand in der Einholung' von
Gutachten von den Arbeitgeber- und Arbeiterver-
einigungen und vom Reichsgesundheitsamte. ' ) Zu diesem
Zwecke wurden an die Organisationen der Wirte und der Kellner
und an die Krankenkassen Fragebogen hinausgegeben. Die
Organisationen wurden befragt über die etwaigen nachteiligen Folgen
der üblichen Arbeitszeit, über ihre Wünsche und Ansichten in Be-
i) Druck*, der Komm. f. ArheilerstatistiU. Verhandlungen III 4, 19, 39. 1
r, Die Ergebnisse wurden vom kiis. Statistischen Amte in tabellarischer Form
verarbeitet, mit Einleitung versehen und erörtert ^Drucksachen etc. hrhtbungen Nr. 6.
Erhebung Uber die Arbeits- und (ichaltsvtrhältnissc der Kellner
und Kellnerinnen. Berlin, Carl lleymanns Verlag, 1894. — leb zitiere: „Er-
hchungon Teil I“).
3) Beschlossen in der Sitzung vom 9. November 1S94 (Verb. VII 3).
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Der Entwurf von Bestimmungen über die Beschäftigung von Gastwirtsgehilfen.
Ziehung auf die gesetzliche Regelung der Arbeitszeit und auf die
Sonntagsruhe, über die Nachteile des Trinkgelderwesens und der
gewerbsmälsigen Stellenvermittlung, über die Verwendung der Straf-
gelder. In diesem Stadium der Erhebungen wurden auch die Ar-
beitsverhältnisse der Köche hereingezogen. Es wurden nämlich
auch an die Köchevereinigungen Fragebogen gerichtet; darin wurde
auch nach der täglichen Arbeitszeit der Köche, Köchinnen, Mamsells
(Küchenbeschliefserinnen) und Kochlehrlinge gefragt. Die Kranken-
kassen wurden veranlagt, bestimmte Fragen über die Morbidität
und Mortalität der Kellner und Köche zu beantworten.
Die Ergebnisse wurden im Jahre 1895 veröffentlicht.1) Nun-
folgte eine lange Pause. Schon bald nach der Errichtung der
Kommission für Arbeiterstatistik war eine wirtschaftliche Depression
eingetreten und, als Folge, eine Art Gesetzesmüdigkeit. Dann kam
die ,.Aera Stumm", der Widerstand gegen die Fortführung der
Sozialreform, der Stillstand derselben. Auch in der Thätigkeit der
Kommission für Arbeiterstatistik machte sich die Wendung fühlbar.
In der Presse verlautete sogar, man wolle die Kommission einschlafen
lassen, nur die bereits angeschnittenen Beratungsgegenstände sollte
sie langsam zu Ende führen. In der That wurde der Kommission
lange Zeit kein neuer Beratungs-gegenstand mehr zugewiesen, und
vom 20. November 1894 bis zum 10. Dezember 1895 fand überhaupt
keine Sitzung statt.
In ihrer Sitzung vom 28. Juni 1898 kam die Kommission für
Arbeiterstatistik auf die Arbeitsverhältnisse im Gast- und Schank-
wirtschaftsgewerbe zurück, sic beschlofs Auskunftspersonen
zu vernehmen.5) Die Vernehmung fand am 17. November 1898
und an den folgenden Tagen statt.3) Es wurden 61 Personen ver-
nommen, nämlich 6 Hoteliers, 10 Restaurateure, 3 Cafebesitzer,
1 Saalbesitzer, 1 Cafegeschäftsführer, 8 Hotelkellner, 1 1 Restaurant*
*) Erhebungen Xr. 9: Erhebung etc. wir oben. Zweiter Teil. Merlin,
Carl Heymanns Vertag. — l>ir Antworten der Kerub. Vereinigungen sind vom kais.
Statistischen Amte zusammcngestellt, die Antworten der Krankenkassen in das Gut-
achten des Reichsgesund heil. amtes hineingearbcilct.
*) Vrrh. XV 9.
:il Drucks, etc. Verhandlungen Xr. 16: Protokolle über die Verhandlungen
der Kommission für Arbeiterstatistik vom 17., 18, 19. und 21. November 1S98 und
die Vernehmung von Auskunft. s personen üher dir Verhältnisse der
in Gast- und Sc h a n k w i r ts c h a ft c n beschäftigten Personen. Kcrlin,
Carl Ilcymanns Verlag, 1899.
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96
Arthur Cohen,
kellner, 4 Cafekellner, 2 Saalkellner, 2 Cafebuffetdamen, 6 Restaurant-
kellnerinnen, 3 Hotelköche, 2 Restaurantköche, 1 Hotelköchin, I
Restaurantköchin. Die Auskünfte bezogen sich besonders auf die
Einteilung der Arbeit innerhalb der Betriebe, sowie darauf, welche
gesetzlichen Malsregeln die Auskunftspersonen für wünschenswert
und durchführbar hielten.
Damit war die Erhebung beendigt, der Referent Reichstags-
abgeordneter Molkenbuhr und der Korreferent, der bayerische Be-
vollmächtigte zum Bundesrat Herrmann, erstatteten ihre Berichte.
Die Kommission hielt am 14. Dezember 1899 ihre Schlufsberatung
ab ') und kam dabei zu den am Schlüsse des Aufsatzes abgedruckten
Vorschlägen. Der Sch 1 u fs be rieh t der Kommission an den
Reichskanzler wurde vom Korreferenten *) ausgearbeitet und in der
Kommissionssitzung vom 13. Juni 1900 festgestellt®)
Hierauf fanden zwischen den beteiligten Reichsämtern und
prcufsischen Ressorts Beratungen statt, und als Ergebnis derselben
veröffentlichten die Blätter anfangs April 1901 den am Schlüsse
dieses Aufsatzes abgedruckten „Entwurf von Bestimmungen
über die Beschäftigung von Gehilfen und Lehrlingen
in Gast- und in Schankwirtschaften". —
YVas waren nun die Ergebnisse der Enquete? Wir be-
schränken uns auf die Arbeitszeit, weil auch der uns beschäf-
tigende Entwurf nur sie zu regeln bestimmt ist. —
Die regelmäfsige tägliche Arbeitszeit4) beträgt nach der
Statistik (Erhebungen I. Teil, Tab. 2 b) in 2,7 Proz. der befragten Betriebe
12 Stunden oder weniger, in 12,7 Proz. mehr als 12 bis 14 Stunden, in
in 53,3 Proz. mehr als 14 bis 16 Stunden, in 31,3 Proz. mehr als 16
Stunden. In 37.6 Proz. der befragten Betriebe fanden an gewissen
*) Vcrh. Nr. 17. Die Berichte der Referenten sind als Anlagen des Protokolls
veröffentlicht.
*) Der Referent Molkenbuhr hatte darauf verachtet, wahrscheinlich weil er
mit seinen weitergehenden Vorschlägen in der Kommission nicht durchgedrungen
war (M. gehört der sozialdemokratischen Partei an).
*) Drucks, etc. Verhandlungen Nr. 18: Protokolle etc. und Bericht über
die Erhebungen betr. die Verhältnisse der in Gast- und Schank-
wirtschaften beschäftigten Personen. Berlin, Carl Heymanns Verlag, 1900.
Am Schlüsse des Berichtes findet sich eine Zusammenstellung der Vorschläge der
Kommission ffir Arbeiterstatistik.
4) mit Kinschlufs der unten /u erwähnenden Arbeitspausen (vgl. Erheb. Teil I
S. [04).
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Der Kniwurf von Bestimmungen Uber die Beschäftigung der Gastwirtsgehilfen.
Tagen der Woche oder zu gewissen Zeiten des Jahres wesentliche
U eberschreitun gen der regelinäfsigen Arbeitszeit
statt, und zwar in 29,5 Proz. an 60 Tagen und weniger, in 5,3 Proz.
an 60 bis 120 Tagen, in 2,3 Proz. an mehr als 120 Tagen; ein Aus-
gleich der Ueberschreitungen ergiebt sich bei 65,1 Proz. der be-
treffenden Betriebe dadurch, dafs am Tage nachher eine längere
Ruhezeit gewährt wird, ln 61,1 Proz. der Betriebe wird die täg-
liche Arbeitszeit regelmäfsig durch Arbeitspausen1) unterbrochen,
und zwar in 29,2 Proz. der Betriebe durch Arbeitspausen von ,/e
bis I Stunde und in 31, 9 Proz. durch Pausen von längerer Dauer.
Wenn in einem Betriebe die Arbeitszeit der Beschäftigten ver-
schieden lang war, so hat das Statistische Amt bei der Auszählung
nur die Angabe mit der längsten Arbeitszeit berücksichtigt. *) Analog
bei den Ueberschreitungen. Da aus diesem Grunde die Betriebs-
tabellen ein zu ungünstiges Bild ergeben könnten, so müssen wir
die Berufstabellen herzuzichcn.
Es haben eine regelmäfsige tägliche Arbeitszeit 3) von 4)
12 Stunden u.
12 — 14
14 — 16
16 — 18
mehr als
weniger
Stunden
Stunden
Stunden 1
18 Stunden
Oberkellner . . 2,7 Proz.
7,6 Proz.
46.0 Proz.
40,6 Proz.
2,5 Proz.
Kellner . . . 4,3 „
79
49,2 „
36,0 „
2,6 „
Kellnerinnen . 5,0 „
»9.3 „
51.8 ..
23,4 ..
0,5
Kcllncrlehrlingc 2,3 „
12,8 „
60,5 „
23,6 >.
0,8 „
Die regelmäfsige
tägliche
Arbeitszeit
erscheint also
bei der
Ausscheidung nach Berufskategorieen in Ansehung der erwachsenen
männlichen Arbeiter ungünstiger, in Ansehung der weiblichen Per-
sonen und der Lehrlinge günstiger als bei der Zählung der Betriebe.
In 19,9 Proz. der Betriebe wird dem Personal von Zeit zu Zeit
ein Ruhetag gewährt (mindestens 24 Stunden) und zwar: in
6,5 Proz. 12 mal im Jahre und weniger, in 7,4 Proz. 13 bis 24 mal
und in 6 Proz. häufiger. Regelmäfsige Ausgehezeiten (unter
24 Stunden) werden in 54,3 Proz. der Betriebe gewährt, nämlich
in 45,3 Proz. 12 bis 48 mal im Jahre, in 5,4 Proz. 49 bis 96 mal und
in 3,6 Proz. mehr als 96 mal.
Beim Küchen personal ist eine löstündige Arbeitszeit (mit
Einschlufs der Arbeitspausen) gebräuchlich.
*) gewöhnlich mit Dienstbereitschaft.
*) Erheb. Teil II S. 13.
a) ebenfalls mit Einschlufs der Arbeitspausen.
4) Bericht etc. S. 9.
-Archiv für so t. Gesetzgebung u. Statistik. XVII. 7
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98
Arthur Cohen,
Aus diesen Ziffern schliefst das Gesundheitsamt mit Recht ')
auf Mangel an Erholung und Erfrischung durch ge-
nügenden Schlaf. Von den Berufskrankheiten der
Kellner (Kellnerinnen) * ) wollen wir nur die Störungen im Blut-
kreislauf der unteren Gliedmafsen erwähnen, welche sich durch
das anhaltende Stehen entwickeln und Krampfadern, Krampfader-
entzündung und -Blutungen zur Folge haben. Ueberhaupt arbeiten
die Kellner unter hygienisch ungünstigen Umständen, in
Lokalen, deren Luft durch Tabaksqualm, Verbrennungsgase und
Ausdünstungen verunreinigt ist. Es ist daher kein Wunder, dass
die Lungenschwindsucht unter den Kellnern sehr stark verbreitet ist.
Von 1000 Sterbcfällen nachstehender Altersgruppen entfielen
in Preufsen in den Jahren 1884 bis 1893 auf Tuberkulose:
15—20
20 — 25
25—30
30—40 40 50
50-60
60 — 70
70 — 80
über
bei (männlich.)
Jahre
Jahre
Jahre
Jahre
Jahre
Jahre
Jahre
Jahre
80 J.
Kellnern . .
bei der männl.
Bevölkerung
401
621
6 33
588
438
348
217
überhaupt
37o
459
467
411
329
263
'7*
56
10
*) Erhebungen Teil II S. 57 /8.
*) Bei der Sterblichkeitsstatistik der Gastwirtsgehülfen mufs man sich
hüten, das Durchschnittsalter der gestorbenen Kellner mit dem Durch-
schnittsalter der erwachsenen männlichen Bevölkerung überhaupt (oder den Prozent-
satz der in einem bestimmten Alter gestorbenen Kellner mit dem Prozentsatz der in
dem betreffenden Alter gestorbenen erwachsenen Männer) zu vergleichen. Denn der
Tod ist nicht die einzige Möglichkeit, aus dem Berufe auszuscheiden, und gerade die
Gastwirtsgehülfen gehen häufig zu einem anderen Berufe oder zu einer anderen Be-
rufsstellung über. Oder m. a. W. : Der Altersaufbau der Kellner ist sehr ver-
schieden von dem Altersaufbau der erwachsenen männlichen Bevölkerung. (Ebenso,
ja noch mehr, beim weiblichen Geschlecht, bei den Kellnerinnen.) Da es verhält-
nismäfsig sehr viele jugendliche Kellner gibt, so müssen die sterbenden Kellner
(d. b. die als Kellner Sterbenden) natürlich auch verhältnismäfsig jung sein.
Vgl. Mayr, Statistik, Bd. II S. 295 ff. Selbst das Reichsgesundheitsamt hat diesem
Umstand nicht genügend Rechnung getragen (s. die Bemerkung Erheb. Teil II S. 73
unten, S. 74: „Immerhin bleibt von Bedeutung“). Uebcr die bekannte, methodisch
einwandfreiere, aber (wegen zu weiter Altersrahmen) auch nicht unbedenkliche,
englische Statistik von Oglc (Wirts- und Hotelpersonal die grölste Sterblichkeit,
nämlich 397 gegenüber der Grundzahl 100 bei den Geistlichen) s. ebenfalls Mayr
S. 298. Das Neueste über die Mortalität in den verschiedenen Berufen in Eng-
land ist der Report of the General Registrar of Births, Dcats and Mariages von 1897.
3) Fircks in der Zeilsclir. des kgl. preufs. statistischen Bureaus 1897 S. 90 u. 84.
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Der Entwurf von Bestimmungen Uber die Beschäftigung der Gastwirtsgehilfen. gg
Die ungünstigen Gesundheitsverhälltnisse der Kellnerschaft sind,
wie.das Gesundheitsamt feststellte1), zum Teil auf die gegenwärtig
übliche übermässige Dauer der täglichen Arbeitszeit zurückzuführen.
Die Reichskommission kam daher zu dem Ergebnisse, dass die
tägliche Arbeitszeit der Kellner durch ihre über-
mäfsige Dauer deren Gesundheit gefährde, dass also die
Voraussetzung und das Bedürfnis zur Anwendung
von § I20e Abs. III der Gewerbeordnung2) gegeben sei.
Das Gleiche gilt von den Köchen.*)
n.
Die Klagen der Gastwirtsgehilfen über die lange Arbeitszeit
und über ihre schädlichen Wirkungen auf die Gesundheit sind also
berechtigt. Man darf aber nicht bei der Konstatierung der un-
günstigen Arbeitsbedingungen stehen bleiben, sondern man muss
auch deren Ursachen zu erforschen suchen. Zum Teil ist die
ungünstige Lage des Gewerbes Schuld an der Verwahr-
losung der Arbeitsverhältnisse.
Die Betriebsformen im „Beherbergungs- und Krquickungs-
gewerbe“ haben von 1882 auf 1895 folgende Entwicklung durch-
gemacht. 4)
Haupt-
betriebe
Allcin-
betriebe
Gehilfen-
betriebe
Gehilfenbetriebe mit
bis 5
6—10
11-50
mehr als 50
beschäftigten Personen
1882
169844
88231
81 613
75 760
4 167
1 667
•9
1895
234 437
58 230
176 207
162 435
9 75*
3 925
96
Aus der Abnahme der Alleinbctriebe und Zunahme der Ge-
hilfenbetriebe (in allen Grössenklassen) schliesst Molkenbuhr, dafs
>) Erheb. Teil II S. 79.
*) § 120 c Abs. III lautet: „Durch Bcschlufs des Bundesrats können für solche
Gewerbe, in welchen durch übermäfsige Dauer der täglichen Arbeitszeit die Gesund-
heit der Arbeiter gefährdet wird, Dauer, Beginn und Ende der zulässigen täglichen
Arbeitszeit und der zu gewährenden Pausen vorgeschrieben und die zur Durch-
führung dieser Vorschriften erforderlichen Anordnungen erlassen werden“.
*) Verb. XVIII n.
4) Vierteljahrs!», zur Stat. des Deutschen Reichs, Jahrg. 1898 Ergänzungsheft I
S* 5 und 1 1.
7*
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IOO
Arthur Cohen,
das Gewerbe im Aufsteigen begriffen sei.1) In Wirklichkeit haben
die Zahlen nur morphologische Bedeutung, sie zeigen, dafs die
mittleren und gröfseren Betriebe in der Zunahme, die Zwergbetriebe
(Alleinbetriebe) in der Abnahme begriffen sind, über die mate-
rielle Lage der Unternehmer ist damit noch nichts gesagt. Auf
das Reich sich erstreckende Untersuchungen fehlen, die Reichser-
hebung hatte ja nur die Lage der Angestellten zum Gegen-
stände. Lokale Untersuchungen haben dargethan, dafs die Wirte
sich häufig in drückender Abhängigke it von den kapitalistisch
arbeitenden Brauereien befinden, ln München9) liefern die
Brauereien nicht nur das Bier, sondern sie schiefsen vielfach den
Anwesenskaufschillung vor, sie geben Baukapitalien auf Hypothek
oder verpachten Wirtschaften, nachdem sie sie gekauft oder gepachtet
haben; dafür verlangen sie vom Wirt den Abschlufs langjähriger (drei-
bis zwölfjähriger) Bierliefcrungsverträge. Im Volksmunde werden die
Münchener Wirte schon als „Geschäftsführer der Brauereien" bezeich-
net, die Gebundenheit der Wirte an die Brauereien findet nur in der
Konkurrenz der Brauereien untereinander durch Abjagen der Wirte
(„Wirtshatz“) ihre Schranke. Die günstigsten Konkurrenzbedingungen
haben die Brauereien mit dem gröfsten Kapital, denn nicht
die Brauerei mit dem billigsten Bier erringt den Sieg, sondern die
Brauerei, die das gröfste Darlehen giebt.
Ich weife nicht, ob diese oder derartige Zustände auch sonst
im deutschen Reich bestehen. Aber es ist notorisch, dafs auch
die Gasthofbesitzer vielfach überschuldet sind. Nur tritt hier an die
Stelle der Brauerei die Bank, der Baukapitalist, der Wcinhändler.
Die ungünstigen Vermögens- und Geschäftsverhältnisse zwingen
viele Unternehmer dazu, ihre Betriebskosten auf das geringstmögliche
Mafs einzuschränken , und dieses führt zu den harten Arbeits-
bedingungen, zur Ausnützung der Arbeitskraft des Personals, zur
Verringerung der Löhne unter Berufung auf die Trinkgelder. In
München ist es bereits zu Zuständen gekommen, welche der Pro-
stitution der Heimarbeiterinnen in der Konfektionsbranche wenig
nachgeben: wie die Kellnerinnen auf das Trinkgeld, so werden die
Schänkkellner (Zapfer, Buffetier) auf den durch schlechtes Ein-
>) Verb. XVII 62.
*) Struvc, die Entwicklung des bayerischen Braugewerbes im 19. Jahrhundert.
(Sehmollcr Forsch. XII 1) 1893 S. 252 ff. Vgl. Trefz, Das Wirtsgewerbe in München
(Münch. Volksw. Stud. 33. Stück) 1899 S. 55 ff.
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Der Entwurf von Bestimmungen Uber die Beschäftigung der Gastwirtsgehilfen, joi
Schänken zu erzielenden besonderen Schanknutzen angewiesen.1) a)
Vor kurzem hat in München eine Schänkkellnerversammlung statt-
gefunden mit dem Programm : „Die Schankkellner dürfen sich nicht
mehr zum Werkzeug eines unlauteren Geschäftsgebahrens her-
geben !"
Allerdings ist die prekäre Lage der Unternehmer
kein Grund, den Angestellten den gesetzlichen Schutz
zu verweigern, auf den sie sonst Anspruch hätten
Denn die Rücksichtnahme auf eine Klasse hat immer ihre Grenze
in den berechtigten Interessen der darunter Leidenden. Die U n -
fähigkeit der Gewerbetreibenden, die Lage ihrer
Arbeiter aus sich selbst heraus bestmöglichst zu ge-
stalten, mufs für die Gesetzgebung sogar ein Motiv mehr
bilden, in die Arbeitsverhältnisse zwangsweise einzugreifen.
Was das Hotelgewerbe betrifft, so ist die Besserung der
Arbeitsbedingungen durch die Beteiligten auch wegen der Inter-
nationalität dieses Gewerbes und der Fluktuation der Arbeiterschaft
schwierig : das moderne Hotel ist nicht deutsch, französisch u. s. w.,
sondern „europäisch“. Das hindert aber nicht die Einführung des
Arbeiterschutzes durch Gesetz, denn trotz der Internationalität
Jcr Betriebsweise ist die internationale Konkurrenz im
Hotelgewerbe beschränkt. Ein Geschäftsreisender, der in Berlin
seine Kunden hat, ein Kranker, dem die Heilquellen Baden-Badens
verordnet sind, mufs es ruhig hinnehmen, wenn die Zimmerpreise
in den deutschen Hotels wegen des gesetzlichen Arbeiterschutzes
erhöht werden (was aber nicht zu befürchten ist).
Von der anderen Hauptkategorie der Arbeitgeber, den eigent-
lichen Wirten, sind aus anderen Gründen keine Fortschritte in
der Arbeitsorganisation zu erwarten. Wo ist die Zeit hingekommen,
da die Wirte als Hauptstützen des liberalen Fortschritts galten, wo
sie neben dem Müller, Apotheker und „Kaufmann“ die einzigen
„aufgeklärten“ Elemente auf dem Lande waren ? Freilich : Etwas
verbissen Reaktionäres hatten die Wirte immer an sich, cs stammte
aus der Zeit der Gutsherrschaft und Polizeiwillkür. Durch die
technische und wirtschaftliche Entwicklung im Nahrungsmittel-
gewerbe sind die Wirte immer mehr in die Defensive gegen die
l) Trcfz S. 216, 93.
9) Nach „Gastwirtsgchülfe“ 1901 Nr. 19 hat der Milsbrauch, schlecht einzu-
schankcn, auch in Berlin um sich gegriffen.
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Arthur Cohen,
Gewerbefreiheit gedrängt worden, ') und die aufrichtigen Freunde
der Gewerbefreiheit sind jetzt unter den Wirten stark in der Minder-
heit. Der in Deutschland am weitesten verbreitete Verband, der
„Bund deutscher Gastwirte“ (Sitz Leipzig, früher Darmstadt) ist in
zünftlcrischcr Richtung thätig: er will Berücksichtigung der Be-
dürfnisfrage bei der Konzessionserteilung im ganzen Reich, Ein-
reihung des Flaschenbierhandols unter die konzessionspflichtigen
Gewerbe u. s. w. ä) Dafs die Regelung der Arbeitsbedingungen
durch die Obrigkeit das Korrelat des Konzessionssystems bildet,
daran denken die Freunde der staatlichen Intervention nicht. Sie
wollen vom Staat eine Ausnahmebehandlung, sie sperren sich
aber gegen die Gleichstellung ihrer Gehilfen mit den übrigen
gewerblichen Arbeitern in Beziehung auf den Arbeiterschutz.
Der Staat hat die Wirte auch immer mit einem gewissen
Respekt behandelt, denn bei ihrer räumlichen Verbreitung über das
ganze Land hin üben sie thatsächlich einen grofsen Einflufs nament-
lich auf die politische Gesinnung der Landbevölkerung. Man kann
daher, auch ohne an den Alkoholteufel zu denken, von der
deutschen „Kauponokratie"3) sprechen. Wenigstens sticht die
I^anginut , die man gegenüber den anarchischen Zuständen im
Wirtschaftsgewerbe zeigte und noch beweist, merkwürdig al*
von der Raschheit, mit der die Regierung mitten in der Reaktion
ihre „Pflicht thun zu müssen“ erklärte, als der Arbeiterstreik im
Berliner Konfektionsgewerbe ausbrach (1896).
Pän anderes Hindernis, die Regelung der Arbeitsbedingungen
der Selbsthilfe der Beteiligten zu überlassen, ist der Mangel an
Organisationsfähigkeit im Gewerbe. Auf die Ver-
schiedenheit zwischen dem Hotelgewerbe und dem
eigentlichen Wirtsgewerbe haben wir schon hingewiesen.
In sozialer Beziehung verhält sich der Hotelier zum Schankwirt
etwa wie der Kleinindustrielle zum Handwerker. Das städtische
Hotel hat eine geordnete Buchführung, cs wird nach kaufmännischen
Grundsätzen verwaltet. In das Wirtsgewerbe dringen mehr „unge-
lernte" Elemente ein wie in das Hotelgewerbe; es ist vielfach die
Zuflucht bankerotter Existenzen. Einen ähnlichen Gegensatz
’) Siehe bes. Trcfz S. 124 ff., 134 ff.
*) Der „Deutsche Gastwirtsverband“, der in Berlin und Hamburg die meisten
Anhänger besitzt, ist Gegner dieser gewerbcrcchtliclien Beschränkungen.
*) Bode, Wirtshausreform S. 107.
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Der Entwurf von Bestimmungen über die Beschäftigung der Gastwirtsgehilfen, jqj
finden wir bei den Angestellten. Der Restaurantkellner weifs,
dafe ihm am Abend seiner Laufbahn wahrscheinlich das Los des
Lohnkellners bcschieden ist. Der Hotclkellner dünkt sich besser
als der Restaurantkellner, er fühlt sich dem Kavalier nahe, er
will höher hinaus und hinauf: nämlich zum Hotelbesitzer.
{Eine Mittelstellung nimmt der mit den Bedürfnissen der litte-
rarischen Boheme vertraute Cafekellner ein.) Die Verlotterung
der Arbeitsbedingungen erträgt sich leichter, wenn man weife,
dafe man später selbst aus ihr Kapital schlagen kann. Die Kellner
erkennen die Kellnerinnen nicht als Kollegen an, die „besseren
Kellner" wollen nicht neben den Lohnkellnern Platz nehmen '), ja
selbst innerhalb der Kellnerinnenklasse herrscht Xeid, Eifersucht und
Mifstraucn, ein Gegensatz zwischen Jungen und Alten, Hübschen
lind Häfelichen, Cafe- und Brauhauskellnerinnen. *) Die Organisations-
fähigsten sind noch die Lohnkellner und Aushilfskellnerinnen, denn
bei ihnen kommt zu den Mängeln der Arbeitsbedingungen die Un-
regelmäfsigkcit der Arbeitsgelegenheit und der Schrecken einer
unsicheren Zukunft. Auch haben sie am meisten Zeit zum Ueber-
denken ihrer Lage, zum Besuche von Versammlungen.
So kommt es, dafe selbst in Arbeiterkreisen wenig Vertrauen
in die Organisationsfähigkeit der Gastwirtsgehilfen besteht.
Den drei erwähnten Klassen Hotel-, Restaurant-, Lohnkellner ent-
sprechen die drei bedeutendsten V e r b ä n d e : Verband deutscher Gast-
hofgehilfen (Zweig des „Genfer Verbandes“), Deutscher Kellnerbund
{Union Ganymed), Verband deutscher Gastwirtsgehilfen (Organe : „Ver-
band“ in Basel, „Hotelrevue“ in Leipzig, „Gastwirtsgehilfe" in Berlin).8)
Sie bekämpfen einander, in den letzten Jahren ist es aber in manchen
Städten zur Bildung von gemeinschaftlichen E'achkommissionen ge-
kommen. Auf dem Boden der modernen Arbeiterbewegung steht
nur der Gastwirtsgehülfenverband, bei den anderen Organisationen
liegt der Schwerpunkt in der Stellenvermittlung, Unterstützung, in
Einrichtungen zum gegenseitigen Anschlufe im Ausland. Die Arbeit-
geber verhalten sich zu den Gehülfenorganisationen nicht unfreund-
lich, soweit sich diese auf die eigentlichen Standesfragen, d. h. auf
*) Acufserung eines „Genfers“ auf einer Kellncrversammlung in Stuttgart vom
5. September 1900 (Gastwirtsgehülfc Nr. 41).
*) „Gegensatz zwischen Mantillc und Schürze“ (Frkf. Ztg.).
*) !m ganzen dürften etwa 10 Proz. der männlichen Gastwirtsgehülfen organi-
siert sein, vgl. Protokoll des Gastwirtsgehilfenkongresses S. 106 und 10S.
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Arthur Cohen,
die eben bezeichnten Aufgaben beschränken. Denn sie sehen
dabei in den Gehülfen ihre künftigen Kollegen. Und in der Thatr
wie kann man von den Prinzipalen Besserung der Arbeitsbedingungen
„fordern", wenn man auf ihren Zuspruch bei der Stellenvermittlung
angewiesen ist ? Die Kellnervereine haben durch die Errichtung
von Arbeitsnachweisen ihrer Wirksamkeit Fesseln angelegt, ohne
auf dem Gebiet der Stellenvermittlung prinzipielle Erfolge erzielt
zu haben. (In den letzten Jahren hat der Kellnerbund, angeregt
durch die öffentliche Diskussion über gesetzlichen Kellnerschutz
und angespornt durch die Konkurrenz des Gastwirtsgehilfenverbandes,
gelegentlich scharfe Akkorde in der Frage der Regelung der Arbeits-
verhältnisse angeschlagen.)
III.
Das Problem des Arbeiterschutzes im Wirtschafts-
gewerbe besteht darin, die Arbeits Verfassung von der
Betriebsverfassung, die Arbeitszeit von derBetriebs-
zeit loszulösen, unabhängig zu machen. Die Betriebszeit
hängt von äufseren Umständen ab, von den Bedürfnissen der Kon-
sumenten (des Publikums), den Verkchrsgewohnheiten , Verkehrs-
gelegenheiten, von der Jahreszeit und Witterung. Sic ist also als
etwas gegebenes zu betrachten ; eine Beschränkung der Betriebszeit
durch Gesetz und Verwaltung mag vom polizeilichen Standpunkt
empfehlenswert erscheinen (Polizeistunde), eine durchgreifende Be-
schränkung der Betriebszeit nach Art des gesetzlichen Laden-
schlusses aber dürfte bei den Lebensgewohnheiten in Deutschland
kaum ausführbar, vielleicht vom wirtschaftlichen Standpunkte gar
nicht wünschenswert sein.
Was bekämpft werden mufs, das ist die Ein-
richtung, dafs das Personal so lange beschäftigt
wird, als der Betrieb dauert, das Lokal dem Besuche
geöffnet ist. Sie stammt aus der Zeit, wo das ganze Gastwirt-
schaftspersonal zum häuslichen Gesinde gehörte. Der „Bursche“
des 18. Jahrhunderts war, wenn im Gasthause beschäftigt, zugleich
Diener und Aufwärter. Wie die häusliche Dienerschaft
stets dienstbereit sein mufs, so der moderne Kell-
ner, solange das Lokal geöffnet ist, arbeitsbereit.
Die Arbeitsbereitschaft ist aber nach modernen Begriffen der Ar-
beit zuzurechnen. Nur wer noch in der patriarchalischen Auf-
fassung befangen ist, kann die Zeit der Arbeitsbcrcitschaft als
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Der Entwurf von Bestimmungen Über <lic Beschäftigung der Gastwirtsgehilfen. 105
Ruhepause betrachten. Sowohl bei der häuslichen Arbeit
I Amerika), als auch beim Kellnerberuf geht die Ent-
wicklung entschieden in der Richtung einer festen
Begrenzung der Arbeitszeit. In den sogenannten Wiener
Cafes, der modernsten Kategorie von Wirtschaftsbetrieben, wird zur
Zufriedenheit der Beteiligten mit Schichtwechsel gearbeitet. Auch
sonst kennt man in vielen Grolsbetrieben Schichtwechsel, aber er
ist so irrationell eingerichtet und die Schichten sind solange be-
messen, dafs eine gesetzliche Regelung doch nicht entbehrt werden
kann. —
Bei der gesetzlichen Regelung der Arbeitszeit im Wirtschafts-
gewerbe hat man die Sonntagsruhe oder den Ersatz derselben,
die Arbeitszeit der weiblichen und jugendlichen Arbeiter
und auch die tägliche Arbeitszeit der erwachsenen männ-
lichen Arbeiter ins Auge zu fassen. Letzteres recht-
fertigt sich aus dem Umstand, dafs eine gesundheits-
schädliche Ausdehnung der Arbeitszeit konstatiert
worden ist. Es handelt sich also um den sogenannten
hygienischen Maximalarbeitstag (§ i20e der Gewerbe-
ordnung). Die Arbeitszeit soll beschränkt werden nicht etwa im
Interesse der betreffenden Arbeiterklasse (dieses hat sie selbst zu
wahren), sondern im Interesse der Gesundheit des Volkes, von dem
sie ein Teil ist. Der hygienische Maximalarbcitstag kann in
Deutschland vom Bundesrat durch Verordnung eingeführt
werden, aber natürlich immer nur gewerbeweise. Zu untersuchen,
bei welchen Gewerben die tägliche Arbeitszeit durch übermäfsige
Dauer die Gesundheit der Arbeiter gefährde — das eben ist bis
jetzt die Hauptaufgabe der Reichskommission für Arbeiterstatistik
gewesen. Sie begutachtete beim Bäckergewerbe einen Maxi-
malarbeitstag von 12 Stunden. Welche Aufregung die be-
treffende Verordnung des Bundesrats bei den interessierten Arbeit-
gebern hervorgerufen hat, ist bekannt. Beim Handelsgewerbe
Beschränkung der Betriebs zeit (Ladenschlufsstundc). Auch
dieser Vorschlag wurde in Arbeitgeberkreisen mit Murren aufge-
nommen; man ging so weit, zu behaupten, die Kommission für
Arbeiterstatistik habe gar nicht das Recht, Vorschläge zur gesetz-
lichen Regelung zu machen. Mit der Agitation gegen die Verord-
nung über das Bäckergewerbe begann die oben erwähnte Re-
aktion in der Sozialpolitik, die Diskussion über die Ladenschlufs-
stunde traf sic auf ihrem Höhepunkte. Es ist daher psychologisch
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Arthur Cohen,
begreiflich, dafs die Kommission beim nächsten Gewerbe, der
Müllerei, zu einem harmloseren Mittel griff: der Mindest-
ruhezeit.
Die Mindestruhezeit hat denselben Zweck wie das Verbot
der Nachtarbeit. Sie soll dem Arbeiter einen ununterbrochenen
Schlaf von gewisser Zeitdauer sichern. Sic tritt an die Stelle des
Verbotes der Nachtarbeit, wo dieses Verbot wegen der Unregel-
mäfsigkeit des Betriebes undurchführbar erscheint. Wie man beim
Ersatz für die mangelnde Sonntagsruhe die Idee der Wochen-
ruhe von ihrer formalen Umkleidung , der Sonntagsheiligung,
loslöst, so die Erholung durch Schlaf von der Nachtruhe : man
schreibt vor, dafs dem Arbeiter täglich eine ununterbrochene
Ruhezeit von gewisser Länge zu gewähren ist, man überläfst es
aber der Vereinbarung der Beteiligten (praktisch dem Arbeitgeber),
zu bestimmen, in welchen Teil des Tages die Ruhezeit zu ver-
legen sei.
Die Sicherung einer genügenden Erholung durch
zusammenhängenden Schlaf ist eines der ältesten Inventar-
stücke des Arbeiterschutzes. Das Verbot der Nachtarbeit hat im
System des Arbeiterschutzes die Stellung einer Ergänzung des
Maximalarbeitstages. Man will verhindern, dafs der Arbeitgeber die
Arbeitsstunden auf den vollen Tag so verteilt, dafs der Arbeiter
eines ununterbrochenen Schlafes von gewisser Iünge entbehren
mufs. Daher wird beim Schutze der jugendlichen und weiblichen
Arbeiter Maximalarbeitstag und Verbot der Nachtarbeit in einem
Atem genannt. In der That liegt im blofsen Verbot der Nacht-
arbeit, in der blofsen Mindestruhezeit eine Halbheit: Man be-
gnügt sich, dem Arbeiter Gewähr zu leisten für seine Erholung
durch Schlaf. Aber cs giebt noch andere tägliche Funktionen als
Arbeit und Schlaf. Es ist z. B. für die Gesundheit sehr wichtig,
dafs man bei der Hauptmahlzeit von der Arbeit ausgespannt ist,
und bei fortschreitender Kultur wird eine tägliche Körperpflege als
Wohlthat und Bedürfnis empfunden. Daher das Verlangen der
Gastwirtsgehilfen, dafs aufser der Mindestruhezeit tägliche Ar-
beitspausen gesetzlich eingeluhrt werden sollen.
Mindestruhezeit und Arbeitspausen: eine gesetzliche Rege-
lung der Erholungszeit als Gegenstück zum Maxi-
malarbeitstag. Man begegnet den Gefahren einer übermäfsigen
täglichen Arbeitszeit dadurch, dafs man für die Erholung des Ar-
beiters sorgt.
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Der Entwurf von Bestimmungen über die Beschäftigung der Gastwirtsgehilfen, 107
Der dem Bundesrat vorliegende Entwurf will eine tägliche
Mindestruhezeit von acht Stunden einführen. Von der goldenen
Regel: „8 Stunden Arbeit, 8 Stunden Erholung, 8 Stunden
Schlaf!" wird also nur das letzte Drittel acceptiert. Man will vom
achtstündigen Normalarbeitstag nichts wissen, sondern hält die
achtstündige Normalschlafnacht für genügend. Bei
Städten von mehr als 20000 Einwohnern soll die
Mindestruhezeit freilich neun Stunden betragen. Aber dadurch
ist das Prinzip der achtstündigen Normalschlafnacht nicht be-
seitigt, sondern gerade sanktioniert: Die Regierung will, dafs dem
Arbeiter auch Zeit gewährt werden soll, den \V e g zu seiner Schlaf-
stelle und von liier zur Arbeitsstätte zurückzulegen, der in grolsen
Städten oft ein beträchtlicher ist. Dafs auch die Verwaltungsbe-
hörden das Recht haben sollen, die achtstündige Mindestruhezeit
zu einer neunstündigen auszudehnen, ist — das kann man heute
schon mit Sicherheit behaupten — praktisch bedeutungslos. Das
sieht schön aus und thut keinem Menschen weh.
Aber auch dieses Schlafminimum darf an 6o Tagen im Jahre
verweigert werden. Dadurch wird die Mindestruhezeit beinahe zu
einer Mafsregel, die sich selbst aufhebt, ihrer selbst spottet. Aus
der achtstündigen Mindestruhezcit ergiebt sich ein sechzehnstündige
Arbeitszeit mit Einschlufs der Arbeitsbereitschaft. Diese tägliche
Arbeitszeit darf also an 6o Tagen im Jahre überschritten
werden. Zwar mufs auf jede derartige Ueberschreitung die volle
Schlafzeit von 8 — 9 Stunden gewährt werden, ') und der Regie-
rungsentwurf enthält aufserdem die versöhnende Bestimmung, dafs
die Schlafzeit unter allen Umständen wöchentlich mindestens 56
(8 mal 7) bezw. 63 (9 mal 7) Stunden betragen mufs. Aber diese
Bestimmung kann nur bei einer strengen Kontrolle durchgeführt
werden. Wie steht es nun mit dieser?
Die gegenwärtige Periode der Entwicklung des Arbeiterschutzes
in Deutschland charakterisiert sich dadurch, dafs der Arbeiter-
schutz von den Fabriken auf die anderen Arten
von Gewerbebetrieben ausgedehnt wird. Dabei sucht
man die Besonderheiten einer jeden Gewerbeart zu berücksichtigen.
Die Organisation der Gewerbeaufsicht aber ist dieselbe geblieben.
Die Beamten sind zwar etwas vermehrt, und auch sonst sind Ver-
*) Der Korreferent hatte 80 l’eberschreitungstage mit mindestens 6-stündiger
Ruhezeit beantragt.
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Besserungen im Aufsichtsdienste getroffen worden. Aber im ganzen
ist die Entwicklung der Gewerbeaufsicht hinter der
Entwicklung des Arbeiterschutzes zurückgeblieben.
Eine jede neue Auszweigung des Arbeiterschutzes hätte die Frage
nach sich ziehen müssen, ob die bestehende Gewerbcaufsicht der
Erweiterung ihrer Aufgabe gewachsen, oder wie sonst für die
Durchführung der neuen Bestimmungen zu sorgen sei. Unsere
Gewerbeinspektion ist aus dem Fabrikarbeiterschutz hervorgegangen,
die Fabrikaufsicht bildet noch immer ihre prinzipiell wichtigste
Aufgabe, und es ist daher psychologisch klar, dal's sie auch jetzt
noch das Sinnen und Trachten eines richtigen Gewerbeaufsiclrts-
beamten fast vollständig ausfüllt. Die Kontrolle über die Ausfüh-
rung der neuen Bestimmungen bleibt daher praktisch den Orts-
polizeibehörden überlassen. Diesen Zustand braucht man heutzutage
nicht mein zu qualifizieren; er ist durch die ganze bisherige Ge-
schichte des Arbeiterschutzes in allen Ländern gerichtet. Es ist zu
befürchten, dafs der Schutz der Bäcker, Müller, i leimarbeiter, Hand-
lungsgehilfen, Werkstättenarbeiter, Kellner, wenn nicht für genü-
gende Aufsicht gesorgt wird,1) ebenso auf dern Papier
bleibt, wie dieses durch Jahrzehnte das- Schicksal
des Fabrikarbeiterschutzes gewesen ist. Die kantonalen
Wirtschafts- und Arbeiterinnenschutzgesetze der Schwei z haben der
Kommission für Arbeiterstatistik bei ihren Arbeiten über den Schutz
der Gastwirtsgehilfen zum Material und vielfach zum Vorbild ge-
dient. Besonders enthalten fast sämtliche die Mindestruhezeit,
meistens von 8 Stunden. Die Regierung kann sich also zur Be-
gründung ihres Entwurfes auf die arbeiterfreundliche Schweiz be-
rufen. Die Hauptfrage ist aber doch: Hat sich die Mindest-
ruhezeit bewährt, als ausführbar erwiesen? „Der
Vollzug der kantonalen Arbeiterinnenschutzgesetze", schreibt Hof-
mann, der aus amtlichem Materialien schöpft,*) „läfst naturge-
mäfs viel zu wünschen übrig. Das Widerstreben der betroffenen
Arbeitgeber wider derartige Eingriffe der Staatsgewalt verbindet
sich häufig mit der Indolenz und ökonomischen Gedrücktheit eines
Teiles der Arbeiterschaft, sowie mit der Gleichgültigkeit lokaler
*) F.s ist nicht nötig, dafs die Kontrolorgane die höhere technische Vorbildung
der Fabrikinspektoren besitzen, aber es müssen unabhängige, unparteiische, energische
und zuverlässige Leute sein.
*) Jahrbücher für Nationalökonomie Fd. 19 S. 234.
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Der Entwurf von Bestimmungen über die Beschäftigung der Gastwirtsgehilfen. J09
Aufsichtsbehörden und milder Gerichtspraxis. Sozusagen ausnahms-
los sind diese kantonalen Arbeiterschutzgesetze Sorgenkinder der
Landesväter. . . ." Was besonders die Kellnerinnen, Buffetdamen etc.
betrifft, so „dürften bei diesen die aus St. Gallen gemeldeten Ver-
hältnisse ziemlich typisch sein. Wollten sich die dortigen Auf-
sichtsorgane hinsichtlich des Freinachmittags und der Nachtruhe
erkundigen, gaben diese meist ausweichende Antworten, vermutlich
nur in der Befürchtung, bei Bekanntgabe der Thatsachcn ihre Stel-
lung zu verlieren“. ') „Leider scheinen die mit der Ueberwachung
des Vollzugs des eidgenössischen Fabrikgesetzes betrauten Amts-
stellen der Kantone St. Gallen und Zürich durch Arbeitsüberhäufung
verhindert zu sein, sich dem kantonalen Arbeiterinnenschutze in ge-
nügendem Mafse zu widmen.“ Es ist also eine Ergänzung des
kantonalen Aufsichtspersonals höchst notwendig. „Erst wenn dies
geschehen, ist eine der wichtigsten Vorbedingungen zu befriedi-
gender Gestaltung der Ausführung der kantonalen Arbeiterinnen-
schutzgesetze gegeben.“ *) Auch i c h habe als Schweizer Sommer-
gast auf gelegentliche Anfragen diesen Eindruck gewonnen. Eine
Kellnerin in einem besuchten Lokal der Stadt Glarus wufste über-
haupt nichts von ihrer täglichen Ruhezeit und wöchentlichen Frei-
zeit (1895). Ein Wirt im Toggenburgischen (St. Gallen) erklärte
lachend , um diese Dinge bekümmere man sich im „Ländle“
(Toggenburg) nicht (1898). Eine Wirtsfrau aus St. Gallen gab die
Auskunft (1896): In der Stadt St. Gallen werde der Kellnerschutz
berücksichtigt, weil hier die organisierten Arbeiter dafür sorgten,
auf dem Lande aber kenne man die Bestimmungen kaum, oder
man denke nicht daran, sie einzuhalten.
Worin bestehen nun die Kontroll Vorschriften des deut-
schen Entwurfes? Der Arbeitgeber hat ein Verzeichnis der
geschützten Personen zu führen. Am Schlüsse jeder Woche ist in
einer besonderen Rubrik einzutragen, wieviel Uebcrschreitungen der
täglichen Ruhezeit bei jeder einzelnen Person vorgekommen sind.3)
Das ist alles. Der Arbeitgeber braucht also nicht anzugeben , wie
') S. 240.
*) S. 243 und 244.
*) Frage: Wie ists, wenn ein Gehülfe im I-aufe des Jahres den Arbeitgeber
wechselt? Nach welchem Grundsätze verteilen sich die 60 zulässigen Geber-
schreitungen auf die beiden Arbeitgeber ? Vgl. Wochenschrift des Internat. Vereins
der Gaslhofbcsitzcr 1901 Nr. 24 S. 4 oben.
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I IO
Arthur Cohen,
lange die Ueberschreitung gedauert hat, wann die Ruhezeit nach-
geholt worden ist, die Zeiten der Ruhe brauchen überhaupt nicht
konstatiert zu werden. Was der Aufsichtsbeamte mit einem so ge-
führten Verzeichnisse anfangen soll, weifs ich nicht. Von der Auf-
sicht ist in dem Entwürfe überhaupt nicht die Rede. Die 3 400
Gewerbeaufsichtsbeamten in Deutschland sollen also die Bagatelle
von 176000 Betrieben im Jahre mehr revidieren als bisher. Oder
will man, dafs die Bürgermeister und Schutzleute die Ausführung
in die Hand nehmen ? Hat man noch nicht genug an der Un-
gleichartigkeit der Behandlung und an der Polizeiwillkür, die in Be-
ziehung auf die Polizeistunde, auf die Erlaubnis zur Abhaltung von
Tanzmusik u. s. w. herrscht ?
Wir rekapitulieren: Der Entwurf enthält eine Mindest-
schlafzeit mit Ausnahmen, die den 6. Teil des Jahres betragen,
komplizierte Kompensationen zur Abschwächung ihrer schutzfeind-
lichen Wirkung und mit durchaus ungenügender Kontrolle über die
Durchführung der Mafsregeln, der Ausnahmen und Kompensationen.
Dabei war man sich in der Kommission in allen Stadien der Unter-
suchung darüber klar, wie schwierig die Durchführung einer bestimmten
täglichen Arbeitszeit oder Ruhezeit sich gestalten wird. In der That
kann man leicht voraussehen, dafs gesetzliche Vorschriften darüber
nicht nur auf die schon erwähnten sachlichen Hindernisse (wirt-
schaftliche Schwäche der Unternehmer), sondern auch auf den sub-
jektiven Widerstand der Beteiligten , auf Bequemlichkeit , Gleich-
gültigkeit, Engherzigkeit und Trotz der Arbeitgeber, auf Leichtsinn,
Aengstlichkeit, Unverstand der Arbeiter stofsen wird.
Was für eine Schlufsfolgerung wäre daraus zu ziehen
gewesen ? Da der erste Teil des Programmes — die Regelung der
täglichen Arbeitszeit — so problematische Bedeutung be-
sitzt, so ist dem zweiten Teil — Ersatz der Sonntagsruhe
— ein um so gröfsercs Augenmerk zu widmen, so darf dieser
mit um so kühnerem Griffe gehandhabt werden.1) Aber was sehen
wir ! Die Kommission schlägt eine wöchentliche Ruhezeit
von 6 Stunden vor,4) die sich nur in Gemeinden von mehr
!) Vgl. meine Artikelserie in der „Sozialen Praxis“ VIII. Jahrg. Nr. 29, 40,
41 (1899), namentlich Nr. 40.
2) Zu gewähren zwischen 1 2 Uhr Mittags und 9 Uhr Abends. Es dürfte aber
unbedenklich und aus Betriebsrücksichten zu empfehlen sein, einen weiteren Spiel-
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Der Entwurf von Bestimmungen über die Beschäftigung der Gastwirtsgehilfen, j j j
als 10000 Einwohnern alle drei Wochen in einen ganzen
Ruhetag verwandeln soll. Der Entwurf geht darin weiter:
Auch die Gastwirtsgehilfen in Gemeinden von weniger als ioooo
Einwohnern sollen vom vollen Ruhetag nicht ganz ausgeschlossen
sein ; sie sollen alle drei Wochen darauf Anspruch haben , ebenso
die Gehilfen in Gemeinden von io — 20000 Einwohnern; die Gast-
wirtsgehilfen in Gemeinden von mehr als 20 000 Einwohnern
aber alle zwei Wochen. *)
Warum die Arbeiter in Grofsstädten vor ihren Kollegen in
kleinen Orten begünstigt werden sollen , ist dem Verfasser dieses
Aufsatzes unerfindlich; man ist doch sonst dem „Proletariat der
Grofsstädte“ nicht so freundlich gesinnt. Aber halt! da fällt mir
ein , dafs der Urheber des Vorschlags, Korreferent Herrmann , die
Differenziierung der Wochenruhe nach Ortsgröfsenklassen damit be-
gründet, dafs in den kleineren Städten und auf dem Lande
der Dienst nicht ständig anspannend und eine Aus-
hilfsperson kaum zu beschaffen sei.*) Nun ist es von
vornherein auffallend, dafs weder die von Herrmann vorgeschlagene
noch die in der Kommission gewählte Begrenzung (8000 bezw.
10000 Einwohner) der Ortsgröfsenklasseneinteilung der Kellner-
statistik entspricht. Ich meine: wenn man schon einmal Jahre lang
Erhebungen vornimmt, so ist es eine Forderung der Vernunft, dafs
man ihre Ergebnisse , wenn sich die Gelegenheit giebt , berück-
sichtigt.
raum zu bestimmen, etwa, wie die Arbeitgebervereinigungen wollen, von 8 oder 9 L'lir
morgens bis 9 Uhr abends.
*) Die Ruhetage und die Dauer der Ruhezeit sind in das oben erwähnte Ver-
zeichnis der geschützten Personen einzutragen.
*) Verh. XVII 15, 75.
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I I 2
Arthur Cohen,
Auf \oo Betriebe kommen Betriebe,1) in denen
an gewissen
von Zeit zu Zeit ein
die
Arbeitszeit
3) dauert
tagen oder
voller
Ruhetag ge-
e
r7*
Zeilen des
Jahres
Ausgehe-
= ~
Ue her schrei-
Betrieben der
N
-r
vO
tuugen der
wahrt
7
7
regcl-
werden
Personal das
1
1
u
ma folgen
0
0
et
Arbeitszeit
Ersatzmannes
auferlegen
inGrofsstädtcn
( 1 00 oexi und
mehr Ein-
36
12,9
29,6 36,2
'7.7
304
62,4
23.6
20,3
wolmer)
in
23.8
20,6
364
56,2
io,8
(20 000
49
10.3
40,4
17.3
bis 100000 E.)
in
8.5
43.9
47.8
18.8
(3000—20000
3°
237
21,5
42.O
8,7
Einwohner)
in
1
1
26.9
41.6
(2000— 3000
37
10.5
>7.3
47.5
22.7
7.o
Einwohner)
in kleinen
5>,S
6,1
(weniger als
7.'
5.4
35.7
47.3
4.5
29,5
2000 Einw.)
1 1
Reichsdurch-
schnitt
39
10.4
25.5
40,6
19,6
37.6
54.3
19.9
12,7
Wenn wir die Arbeitszeit bis zu 14 Stunden als (verhältnis-
mäl'sig) günstig, von 14 bis zu 16 Stunden als mäl'sig und die Arbeits-
zeit von mehr als 16 Stunden als ungünstig bezeichnen, und nur
die beiden Extreme ins Auge fassen, so gewinnen wir nachstehende
Reihenfolge :
günstig ungünstig
(irofsstüdtc . . .
Mittelstädte . . .
Kleinstädte . . .
Landstädte . . •
Kleine Ortschaften
Kcichsdurclischnitt
>) Erhebungen Teil I S. 32/3.
*) Nach Abzug der Pausen.
4
s
3
zwischen
3 u- 4
3
2
4
5
zwischen
2 u. 3
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Der Kn t wurf von Hestimmungen Uber die Beschäftigung der Gastwirtsgehilfen, jjj
Es crgiebt sich also, dafs in den Kleinstädten die Arbeits-
zeit am ungünstigsten für die Angestellten ist, dann kommen
die Mittelstädte. Am günstigsten ist die Arbeitszeit in den
kleinen Ortschaften, dann kommen die Grofsstädte und Landstädte
(in den Grofsstädten sind die Extreme schärfer vertreten als in den
Landstädten). Die Neigung zu Ueberschreitungen der regel-
mäfsigen Arbeitszeit wächst mit der Kleinheit der Orte, die Sitte,
regclmäfsige Ausgeh ezeiten zu gewähren, mit der Gröfse der
Orte. Ferner kann man sagen : Je günstiger in der Ortsgröfsen-
klasse die regelmäl'sige tägliche Arbeitszeit, desto liberaler sind die
Arbeitgeber der betreffenden Ortsgröfsenklasse in Beziehung auf
die Gewährung voller Ruhetage (oder desto eher sind sie dazu
in der Lage), nur treten hier die Mittelstädte noch hinter den Klein-
städten zurück. Was die Verpflichtung betrifft, einen Ersatz-
mann zu stellen, so haben wie eine Kurve, die mit der Gröfse der
Orte sehr scharf ansteigt.
Wir sehen , dafs nicht die geringste Veranlassung
besteht, die Wirtschaftsbetriebe im deutschen Reich
nach der Einwohnerzahl der Gemeinden, in welchen
sie sich befinden, zu halbieren, die Arbeitgeber der
einen Hälfte, die Arbeiter der anderen Hälfte zu be-
günstigen, oder den Strich gerade bei der Einwohnerzahl 20 000,
10000 oder 8000 zu machen. Es findet sich in den Erhebungen
absolut kein Anhaltspunkt für diese Grenze. Wenn man einen
Unterschied machen will, so gebe man den Kellnern der Kleinstädte
häufigere Gelegenheit zur wöchentlichen Erholung, weil sie die
längste tägliche Arbeitszeit haben. Aber die Kellner an kleineren
Orten hinter den Kellnern der gröfseren Städte und der Grofsstädte
zurückzusetzen , dürfte um so weniger zu billigen sein , als gerade
jene unter häufiger Ueberarbeit und dem Mangel an Ausgehezeiten
zu leiden haben. Ferner dürfte aus dem Umstand, dafs verhältnis-
mälsig viele Arbeitgeber auf dem I.ande ihren Angestellten von Zeit
zu Zeit einen vollen Ruhetag gewähren , ohne ihnen die Verpflich-
tung aufzuerlegcn , einen Ersatzmann zu stellen — aus diesem
Umstand , sage ich , dürfte hervorgehen , dafs die Wirte auf dem
Lande auf eine Aushilfe keinen grofsen Wert legen, weil sie im
Notfall selbst zugreifen können. Es ist also auch der zweite vom
Korreferenten für seinen Antrag vorgebrachte Grund hinfällig.
Die Abstufung sozialpolitischer Mafsregeln nach Ortsgrüfsen-
klassen oder Betriebsformen scheint eine Lieblingsidee der offiziellen
Archiv für soz. Gesetzgebung u. Statistik. XVII. 8
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114
Arthur Cohen,
Sozialpolitiker werden beziehungsweise bleiben zu wollen. Diese
hat man beim Mühlengewerbe, jene beim Handelsgewerbc gewählt.
Es scheint dabei die alte Vorstellung nicht ohne Einflufs gewesen
zu sein, dafs der Schutz der Arbeiter in den Kleinbetrieben und
auf dem Lande weniger notwendig sei als in den kapitalistisch organi-
sierten Grofsbetrieben der Städte. Der Staat dürfe sich nicht zum
Totengräber des Kleinbetriebes hergeben. Die städtischen Grofs-
betriebe dagegen brauche man nicht so zart anzufassen.
Die Gewerbeordnungsnovclle von 1891 hat sich durch eine
gewisse Universalität der Einführung der Sonntagsruhe ausgezeichnet
fdie vielen Ausnahmen sind erst beim Vollzug dazu gekommen);
nur das Verkchrsge werbe und das Wirtschaftsgewerbe hat man aus
guten Gründen — Notwendigkeit einer besonderen Regelung —
draufsen gelassen. In der Zwischenzeit haben sich die Meinungen
dahin geklärt, dafs die „besondere Regelung" in der Verschaffung
eines Ersatzruhctag.es für den Sonntag bestehen müsse; daneben
könne bestimmt werden, dafs dem Personal turnusweise Gelegenheit
zum Besuche des Gottesdienstes gegeben werden müsse. Man
trennt also die Arbeit s ruhe von der religiösen Erbau-
ung, meines Erachtens mit Recht. Mit der Idee der feiertäglichen
Arbeitsruhe verträgt sich aber weder die Abzwackung eines Tages-
teiles, noch die verschiedene Behandlung nach Ortsgrölsenklassen.
Die G e rech t i gkeit verlangt, dafs die Gastwirtsgehilfen wie die
anderen gewerblichen Arbeiter vom Gesetzgeber ihren vollen
Wochenruhetag gesichert erhalten, wenn keine besonderen , in der
Eigenartigkeit des Gewerbes liegenden Gründe dagegen sprechen. Als
einen solchen Grund nun bezeichnet man die eigentümliche Ent-
lohnungsart: das Trinkgeldsystem. Man sagt, der Gastwirts-
gehilfe lege selbst Wert darauf, in den Tagesstunden, wo das Ge-
schäft flott gehe (also meistens mittags und abends) mitzuthun, um
die Trinkgelder nicht cinzubüfsen. Das mag im einzelnen Fall richtig
sein. Wenn man einen Kaufmann auffordert, seinen I-aden um
sieben oder acht Uhr zu schliefsen , da er genug gearbeitet habe
und Erholung bedürfe , so wird er cs für einen schlechten Scherz
halten; dies braucht ihn aber nicht zu hindern, eine Petition zu
unterschreiben um Einführung einer früheren Ladenschlufsstunde. Ich
behaupte nicht, dafs dieses Beispiel auch auf den Gastwirtsgehilfen
zutrifft, ich habe es nur angeführt, um klar zu machen, was ich meine.
Es besteht eben ein Gegensatz zwischen wo hlthätigem
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Der Entwurf von Bestimmungen über die Beschäftigung der Gastwirtsgehilfen, j i 5
Zwang und antisoz ialem kurzsichtigem Egoismus1)
Die erwähnte Argumentation steht auf demselben Niveau, wie die
oben zurückgewiesene, dafs der Arbeiterschutz in der ungünstigen
wirtschaftlichen I-age der Unternehmer ihre Grenze finden müsse.
Sie erinnert daran, dafs manche Arbeitgeber auf den Wunsch ihrer
Arbeiter, dafs die Arbeitszeit gekürzt werden möge, zur Antwort
geben : „Seid froh, dafs das Geschäft geht, dafs die Arbeitszeit nicht
reduziert werden mufs !" *)
*) Der „Verein Münchener Kellnerinnen“ erklärt in seiner Petition an den
Reichstag, dafs, wie in den beiden vorbereitenden Kellnerinncnversammlungcn aus-
drücklich und unter allseitiger Zustimmung konstatiert worden sei, die Kellnerinnen
gerne einen ganzen Tagesverdienst an Trinkgeldern auf sich nähmen, wenn sie sich
damit die Möglichkeit erkauften, sich einmal vollständig auszuruhen und ihre per-
sönlichen Angelegenheiten zu ordnen.
*) Dafs die Einführung eines Wochenruhetages und überhaupt die gesetzliche
Beschränkung der Arbeitszeit die auf den einzelnen Kellner treffenden Trinkgelder
vermindert — wenigstens vorübergehend — ist möglich, meinetwegen wahrschein-
lich, aber durchaus nicht gewifs. Es ist nämlich auch möglich, dafs durch
bessere Einteilung der Arbeit, überhaupt durch Betriebs Verbesserungen —
wie viele solche liefsen sich noch anbringen ! — oder durch Erhöhung der
Leistungsfähigkeit des einzelnen Arbeiters infolge des gesetzlichen Schutzes
es gelingt, mit dem bisherigen Personal auszukommen. Wenn dies nicht cintrifft,
sondern das Personal vermehrt oder Aushülfspcrsonal hcrangezogen werden mufs, so
können zunächst beide Teile, der Arbeitgeber und seine alten Arbeiter, pekuniären
Nachteil erleiden, jener durch Erhöhung des Gesamtbetrages der Natural-
löhnung und der (geringfügigen) Baarl ohne, diese durch verminderte Ge-
legenheit, Trinkgelder einzunehmen. Den Vorteil haben die arbeitslosen
und die Lohnkellner, indirekt aber die Wirtsgehülfenklassc überhaupt, durch Ver-
minderung der Anzahl der Arbeitslosen und Besserung der Stellung
im Lohnkampf infolge Sinkens des Angebotes von Arbeit. Auf diesen Vorteil
ist aber kein grofses Gewicht zu legen, weil erfahrungsgemäls das Arbeitsreservoir
nach seiner Entleerung sich bald wieder füllt. Der Trinkgcldcntgang beim einzelnen
Kellner kann mit der Zeit dazu führen, dass die Gäste gröfscre Trinkgelder
geben oder zu einer Erhöhung der Baarlöhne. Letzteres ist das Normale,
Wünschenswerte. Denn die Löhne sind beim Wirtsgewerbe im Hinblick auf die
„vielen Trinkgelder“ so sehr gesunken. Verringert sich das auf den einzelnen
treffende Quantum an Trinkgeldern, so müfsten nach dem Satze: „wenn die Ursache
aufhört, hört auch die Wirkung auP‘ die Löhne wieder steigen. Wenn wir dieses
annehmen, so hätte also zuletzt der Arbeitgeber die Kosten des Arbeiterschutzes zu
tragen. Doch nicht ganz zuletzt: er kann sie nämlich auf seine Lieferanten
♦.der auf das Publikum abwälzen. Oder m. a. W. : Er kann die Preise der
Zimmer, der Speisen und Getränke erhöhen ; er kann aber auch den Brauer nötigen,
8*
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Arthur Cohen,
1 16
Ein Wochenruhe von 6 Stunden (Entwurf) oder die Freigabe
eines Nachmittags und Abends in der Woche (z. B. von 2 Uhr
nachmittags bis zum anderen Morgen), welcher viele das Wort reden,
genügt nicht. Ein Teil der Freizeit mufs dazu benützt werden,
den versäumten Schlaf nachzuholen, „tüchtig auszuschlafen," wie man
sagt. Der Zweck der Sonntagsruhe wird aber nur dann erreicht,
wenn man den Leuten Gelegenheit giebt, nicht nur zur Erheiterung
und Geselligkeit, sondern auch zur Selbstbesinnung, zum
Nachdenken über ihre Lage, damit sie Selbsth ilfe zu-
stande bringen. Sie müssen aus der Mischung von Stumpfsinn und
Blasiertheit aufgerüttelt werden, woran man den Kellner erkennt —
es mufs aufhören: dieses widerliche Hin- und Herpendeln zwischen
Arbeitslast und Sinnentaumel, zwischen Stumpfsinn und Genufssucht,
das der ganzen Klasse einen Makel aufdrückt!
IV.
Wie stellen sich nun die Beteiligten zu dem Ent-
w u r f ?
Am 14. Dezember 1899 hatte die Kommission für Arbeiter-
statistik ihre Beschlüsse gefafst. Der erste Verband, der sich
darauf äufserte, war meines Wissens der „Internationale Verein
der Gasthofsbesitzer“ (sog. „Kölner Verein"). Derselbe richtete
am 28. Dezember eine Eingabe an das Reichsamt des Innern, worin
er erklärt, dafs eine ununterbrochene 8stündige Ruhezeit nur mit
Hilfe eines vermehrten Personals durchgeführt werden könne, und
diese Vermehrung für viele Betriebe eine schwere, ja unerträgliche
Last bedeuten würde. Die tägliche Ruhezeit sei auf 7 Stunden fest-
zusetzen, und in jeder Woche solle ein freier Nachmittag obliga-
torisch sein. Auf der Berliner Generalversammlung am 6. Dezember
1900 änderte der Verein der Gasthofbesitzer seine Taktik. Der
das Bier, den Weinhändler, den Wein billiger zu liefern, die Pachtzinsen können cr-
mäfsigt, die harten Darlehcnsbedingungcn gemildert werden. Aber da verlieren wir
uns in schöne Träume. U überhaupt kann ich nicht wissen, welche dieser möglichen
Wirkungen thatsächlich einlreten. Ich bin kein Hellseher. Aber da im Kampfe
der Interessen viel mit den „voraussichtlichen Wirkungen“ des geplanten Arbeiter-
schutzes gearbeitet wird, wobei jeder etwas anderes „Voraussicht“, so wollte ich
mich der Aufgabe nicht entziehen, wenigstens die möglichen Wirkungen zu er-
örtern. Nur so viel läfst sich sagen: Welche dieser Wirkungen eintret en
mögen, keine ist geeignet, von der Einführung des Arbeiter*
Schutzes im (iast- und Schankwirtschaftsgewerbe abzuschrcckcn.
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Der Entwurf von Bestimmungen über die Beschäftigung der Gastwirtsgehilfen. \{j
Referent Hoyer führte aus: Die vielen Mifsstände, die von den
Arbeitnehmern angeführt werden, finden sich wenig oder gar nicht
im eigentlichen Hotelbetrieb, sondern zumeist in Restaurants sowie
Gast- und Schankwirtschaften. ’) Hei der gesetzlichen Regelung
seien daher die Hotels von den Gast- und Schankwirtschaften zu
trennen. Für die Hotelangestellten genüge eine 7 ständige Ruhezeit.
Wenn eine solche Trennung nicht möglich sei, so wolle der Verein
ein Opfer bringen und dem Vorschlag der 8 ständigen Ruhezeit bei-
treten. Eine Diskussion fand nicht statt. *) Die Wirte nahmen
auf dem Heidelberger Bundestag vom 14. August 1900 Stellung zu-
den Vorschlägen der Kommission.11) Der Referent erklärte diese
als zu weitgehend und meinte, sie seien „offenbar unter dem Ein-
flufs der Beschlüsse des letzten Kellnerkongresses in Berlin" zu
stände gekommen l dabei fand dieser Kongrefs erst drei Monate
später statt!). Er empfahl, auf Milderung der Vorschläge zu dringen.
Zwei andere Redner warnten vor einem solchen Schritt. Man solle
doch die im allgemeinen für die Arbeitgeber günstig gehaltenen
Bestimmungen nicht ohne weiteres bemängeln und sich dadurch
der Gefahr aussetzen, dal's man mit dem Gastwirlsgewerbe so ver-
fahre, wie seiner Zeit mit dem Bäckergewerbe. —
Diese Stimmung war bei -den Arbeitgebern die vorherrschende.
Man war froh, dafs es nicht schlimmer gekommen war, und man
beschäftigte sich mit der Frage der Regelung der Arbeitsverhält-
nisse nicht mehr als vorher.
Im Gegensatz dazu war die Agitation der Gastwirts-
gehilfen von Anfang an im wesentlichen einheitlich, zielbewufst
und energisch. Vom 6. bis zum 9. März 1900 fand in Berlin ein
Fachkongrefs der deutschen Gastwirtsgehilfen statt, 4)
auf welchem der Gastwirtsgehilfenverband und der Kellnerbund,
nicht aber der Genfer Verband (Hauptverwaltung), offiziell ver-
treten waren. Die auf diesem Kongrefs gefafsten Beschlüsse sind
in der Reichstagssitzung vom 4. Mai 1901 Gegenstand der Be-
*) Vgl. dagegen den Bericht der Reichskommission S. 9: „Nach der Art der
Betriebe geordnet, beträgt in 43,4 Proz. der Gasthofe, in 25,8 der Schank- und
Speisewirtschaften, in 21,5 Proz. der Saalwirtschaften und in 25,7 Proz. der Cafes
die tägliche Arbeitszeit mehr als 16 Stunden.“
2) Wochenschrift des internationalen Vereins der Gasthofbesitzer 1900 Nr. 50.
*) Vgl. Bayerische Gastwirtszcitung 1900 Nr. 35.
*) Protokoll der Verhandlungen etc. Berlin 1900.
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1 18
Arthur Cohen,
ratung gewesen.1) Es wird gefordert: Maximalarbeitszeit von 12
Stunden, welche auf höchstens 15 Stunden zu verteilen ist; Wochen-
ruhetag von 36 Stunden, welcher alle 4 Wochen auf einen Sonntag-
zu fallen hat; Maximalarbeitszeit von 10 Stunden und Ausschlufs
der Nachtarbeit für Personen unter 16 Jahren (Forderung betr.
die weiblichen Arbeiter s. u.); Einführung von besonderen Aufsichts-
organen. Auch die Kellnerinnen rührten sich : Am 9. März
1 900 wurde in München ein Kellneririnenverein gegründet 2) ;
seine petitionsweise formulierten I* orderungen lauten: Mindestruhe-
zeit von 10 Stunden mit höchstens 30 Ausnahmen im Jahre; wöchent-
licher Ruhetag von 24 Stunden, Inspektion. Ende März 1900 fanden
in Berlin Kellnerinnenversammlungen statt, in denen ebenfalls zehn-
stündige Ruhezeit verlangt wurde. Dieser Anlauf zu einer „Kellne-
rinnenbewegung" ging von Frauen aus und hängt mit der Frauen-
bewegung zusammen: Der Bayerische Frauentag von 1899 hatte,
nach Referaten von Dr. med. Brendel und dem Verfasser, eine
Maximalarbeitszeit von 14 Stunden und aufserdem eine Mindest-
ruhezeit von 8 Stunden, bei Jugendlichen (bis zu 20 Jahren) von
10 Stunden gefordert.
Der erschienene Entwurf fand auf keiner Seite ein rechtes
Gefallen. Der „Gastwirtsgehilfe" schrieb3): Die achtstündige Ruhe-
zeit sei so viel wie der löstündige .Vormalarbeitstag, sanktioniert
von der Gesetzgebung. Die „Hotelrevue"4) nannte den Entwurf
das kärgliche Ergebnis einer 8jährigen sozialpolitischen Thätigkeit.
Viel bemerkt wurde, dafs auch die nationalliberale Vationalzeitung ■' )
den geplanten Schutz „unzulänglich" fand. In Berlin wurde von
der dortigen Fachkommission der Gastwirtsgehilfen eine Protest-
Versammlung abgehalten ; andere Städte folgten, überall wurde
die Berliner Resolution angenommen. Es traf sich, dafs der deutsche
Kellnerbund eben in Kassel seine Jahresversammlung abhielt8) ; auch
da wurde der Entwurf abgelehnt (24. April), aber ohne dafs man
sich für die Forderungen des Berliner Gehilfenkongresses von 1900
besonders erwärmt hätte.
*) IO. I.cgislaturpcr. II. Sess. S. 2557 ff. und Beilage 228.
*) Von ihm handelt ein Aufsatz (von Arbeitersekretär Timm in München) im
„Gastwirtsgchülfen“ 1900 Nr. 41 und 43.
*) 1901 Nr. 14-
4) 1901 Nr. 14.
») 1901 Nr. 213.
a) Der Bericht ist Von der Hauptverwaltung im Druck herausgegeben worden.
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Der Entwurf von Bestimmungen über die Beschäftigung der Gastwirtsgehilfen. I I (y
Aber auch auf der anderen Seite, bei den Arbeitgebern,
entstand eine Agitation gegen den Entwurf. Man hatte sich soeben
notdürftig mit der achtstündigen Mindestruhezeit der Kommission
für Arbeiterstatistik abgefunden und erklärt, dafs sie zwar pekunäre
„Opfer“ erfordere, alter die Fortführung des Gewerbes nicht un-
möglich mache — und nun kam das Gefürchtete dennoch : die
neunstündige Mindestruhezeit. Dafs sie sich nur auf die Städte
mit mehr als 20000 Einwohnern bezieht und auch hier nur mit
Rücksicht auf den Gang nach Hause und zum Geschäfte eingeführt
werden soll, verschlug nichts, der Kampf gegen sie wurde zum
Feldgeschrei. Dies geht aus einer Eingabe hervor, die von
vier Arbeitgebervereinigungen *) an den Bundesrat gerichtet worden
ist, und die wir hier analysieren, weil sie einen famosen Beitrag
zur Klassenpsychologic bildet. Es heifst darin : Durch die ge-
plante Verordnung würde der Betrieb des Gewerbes aufs äufserste
erschwert und vielfach dem Einzelnen unmöglich gemacht. Schon
mit der 8 stündigen Ruhezeit würde der überwiegende Teil der
Wirte sich nur mit grofsen Opfern abfinden können. Trotz-
dem seien die Wirte bereit , sie hinzunehmen , die neun-
stündige Ruhezeit in Orten mit mehr als 20000 Einwohnern
sowie auf Grund Polizeiverordnung aber sei eine unmögliche
Anforderung, zumal was die kleineren Betriebe anlange. Im Hotel-
betrieb lasse sich mit Aushilfspersonen nicht wirtschaften, der Zwangs-
ruhetag alle zwei bis drei Wochen sei undurchführbar. Die Führung
des Verzeichnisses der beschäftigten Personen sei eine unerfüllbare
Aufgabe, wenn der Unternehmer nicht eine besondere Person dazu
anstelle (!). Den Wirten wäre es selbst lieber, wenn die Arbeitszeit
in ihren Betrieben „nach der Schablone" geregelt werden könnte.
Aber die armen Gehilfen! Ihnen würde durch die Heranziehung
von Aushilfen das Trinkgeld geschmälert, und den Ruhetagszwang
würden sie erst recht nur als Last und Nachteil empfinden, der liege
nur im Interesse der arbeitslosen Kellner. (Merkwürdig, wie
besorgt die Arbeitgeber manchmal für das Wohl ihrer Arbeiter sind!
Sie sträuben sich gar nicht im eigenen Interesse gegen das Geschenk,
nein, sic fürchten nur für das Einkommen ihrer Angestellten, und
sie glauben, ihr Personal gegen das „Lumpenproletariat" in Schutz
'} Bund Deutscher Gastwirte (Sitz Leipzig, 26000 Mitglieder); Gastwirtsvcr-
Band (Sit* Berlin,- 27000 Mitglieder); Verein der Hotelbesitzer in Berlin; Berliner
Gastwirteinnung.
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20
Arthur Cohen,
nehmen zu müssen.) Wenn es irgendwie der Betrieb zulasse, werde
jeder einsichtige Wirt auch schon in seinem eigenen Interesse dem
Verlangen seiner Angestellten nach einem „gelegentlich freien Tage“
entsprechen. (Aber die Verordnung soll eben gegen die nicht
einsichtsvollen Wirte gerichtet sein und die Ruhe von der „Gelegen-
heit“ frei machen !) Man solle es also dem verständigen Ermessen
und dem guten Willen der beiderseitig Beteiligten — Arbeitgeber
und Arbeitnehmer — ■ überlassen, sich über die Ruhezeit und ihre
Dauer angemessen zu einigen. (Die Einigung mit den Arbeitern
über die Arbeitszeit liegt doch sonst nicht im Programm der Arbeit-
geber! Zur Herbeiführung einer angemessenen Einigung haben die
Arbeitgeber lange genug Zeit gehabt). Schliefsiich wird in der Ein-
gabe noch die Behauptung aufgestellt, dafs die grofse Morbidität
der Kellner nicht im „vermeintlichen Mangel an Arbeitspausen“,
sondern in der Neigung zu Ausschweifungen und diese wieder im
reichlichen Verdienst an Trinkgeldern ihre Ursache habe.
Technisch weit geschickter ist die Petition des „Inter-
nationalen Vereins der Gasthofsbesitzer“ zum Entwurf.1)
Durch die im Entwürfe vorgesehenen Bestimmungen lege man eine
Last auf die Schultern der Gasthofsbesitzer, welche sie aufser Stande
seien , zu tragen. Die neunstündige Minimalruhezeit in
Orten von mehr als 20000 Einwohnern würde ihre Existenzfähigkeit
in Erage stellen. Sie sei in gröfseren Restaurants, welche über ein hin-
reichendes Personal verfügten, um Schichtarbeit einrichten zu können,
wohl durchführbar, wenn auch nicht ohne erhebliche Kosten und
Störungen im Betriebe. Sie sei auch in kleineren Restaurants noch
durchführbar, weil das Personal in solchen Betrieben gleichartig sei
und sich deshalb in den stilleren Geschäftsstunden gegenseitig ver-
treten könne. Im Hotelbetrieb dagegen sei das Personal in ganz ver-
schiedenartigen Stellungen thätig, als Oberkellner, Zimmerkellner,
Saalkellner u. s. w., es unterscheide sich nach Kenntnissen und Vor-
bildung, so dafs eine gegenseitige Vertretung ausgeschlossen sei.
Der Zimmerkellner könne nicht den Oberkellner vertreten [aber der
Hotelier!), und diesem wiederum werde man eine Vertretung des
Saal- oder Zimmerkellners nicht zumuten dürfen [!]. Die neun-
stündige Ruhezeit in Gasthöfen sei aber auch übertrieben, weil hier
die Angestellten fast ausnahmslos im Hause wohnen, eine Berechnung
*) Wochenschrift des Internationalen etc. 1901 Nr. 24, vgl« auch das Referat
des Vereinssyndikus auf dem Stockholmer Kongrcfs, ebenda.
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Der Entwurf von Bestimmungen über die Beschädigung der Gastwirtsgehilfen. j 2 I
der Wegzeit also unnötig sei. Auch der Wochenruhetag sei
unausführbar, wegen der Unmöglichkeit gegenseitiger Vertretung,
weil Aushülfspersonal fiir Hotels schwer zu beschaffen sei, und in
Hotels mit Aushülfspersonal nicht gearbeitet werden könne. Die
einzelnen Petitionspunkte entsprechen im wesentlichen der
Stellung, die der Verein der Gasthofsbesitzer vor dem Erscheinen
des Entwurfs auf seinem Berliner Kongrefs eingenommen hatte (s. o.).
So die Arbeitgeber.
Im übrigen richtet sich die Kritik, die dem Entwürfe zu teil
geworden ist, hauptsächlich gegen die enge Begrenzung des Kreises
der zu schützenden Personen und dagegen, dafs der Verordnungsweg
offen gelassen wird.
Der Nachteil einer Bundesrats Verordnung bestünde
darin, dafs wegen der beschränkten gewerberechtlichen Zuständig-
keit des Bundesrates der Schutzrahmen ein sehr enger werden müfste.
Der Entwurf will nur die tägliche Arbeitszeit und die wöchentliche
Ruhezeit regeln und ein Mindestalter der Kellnerinnen festsetzen.
Aber es fragt sich, ob der Bundesrat zu letzterem berechtigt ist ') ;
ja sogar die Befugnis des Bundesrates zur Einführung von wöchent-
lich zu berechnenden Ruhepausen erscheint mir zweifelhaft, weil
der in Betracht kommende § I20e Abs. 3 nur von der täglichen
Arbeitszeit spricht. Andererseits findet sich in dem „Entwürfe"
kein hygienischer Arbeiterschutz, obwohl dieser zur Zuständigkeit
des Bundesrates gehört. Ich bin der Meinung, dafs der Bundesrat
durch § 120a Abs. t der Gewerbeordnung berechtigt ist, das Sitz-
verbot im Wirtschaftsgewerbe für ungültig zu erklären und die Be-
schaffung von Sitzgelegenheit vorzuschreiben, weil sich herausgestellt
hat, dafs langdauerndes Stehen gesundheitliche Gefahren mit sich
bringt. Jedenfalls kann die Frage, die nun schon ein Jahrzehnt lang
auf der Tagesordnung steht, nur bei einer gesetzlichen Regelung
befriedigend gelöst werden. Beim Erlafs einer Bundesratsver-
ordnung wäre es z. B. unmöglich, die Arbeitgeber zu zwingen, den
Arbeitern auf Verlangen Zeit zum Besuche des Gottesdienstes zu
geben, Bestimmungen über Arbeitsordnungen, Straf- und Bruchgelder
zu erlassen *), befriedigende Kontrolleinrichtungen zu schaffen. Es
*) Auch der Korreferent hat dieses Bedenken (Verh. XVII 15).
*) Welche Unklarheit über die Arbeitsbedingungen unter den Be-
teiligten vielfach herrscht, dürfte daraus hervorgehen , dafs die beim (Jexvrrbe-
gerichte München gegen Wirte anhängig gemachten Klagen gegen 30 Proz. aller
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Arthur Cohen,
ist also nicht gleichgültig, ob die Regelung' im Wege der
Verordnung oder der Gesetzgebung stattfindet, wie der Abgeordnete
Hitze im Reichstag gemeint hat. Es ist schon wegen des wohl-
thätigen Eindruckes nicht gleichgültig, den eine gründliche Behand-
lung der Sache im Reichstag auf Arbeitgeber, Arbeiter und Publikum
machen könnte. Eis mufs den Wirten einmal zu Geinüte geführt
werden, dafs das „rühr mich nicht an!" aufgehört hat, den Wirts-
gehilfen, dafs sie gegen die Uebermacht der Arbeitgeber und den Kon-
kurrenzdruck in den eigenen Reihen nicht schutzlos sind. Es wäre
also derselbe Weg zu beschreiten, wie seiner Zeit beim Handels-
gewerbe. Die Entwicklung geht über den Fabrik-
arbeiterschutz und den hygienischen Maximalarbeits-
tag unaufhaltsam vorwärts zu einer besonderen
schutzrechtlichen Gestaltung des Arbeitsverhäl t-
nisses bei den übrigen schütz bedürftigen Arbeiter-
kategorien.
Elinig waren die Stimmen über den Entwurf (mit Ausnahme der
Arbeitgeber und eines Teils der konservativen Presse) in der Ver-
werfung der vorgesehenen Geltungsgrenze, und in keinem
Punkte wurde eine so scharfe Kritik geübt. Nach dem Entwurf soll
dieser nämlich Anwendung finden auf Kellner, Köche und das
Buffetpcrsonal Die Kritiker wollen, dafs das ganze in Gast-
und Schankvvirtschaften beschäftigte gewerbliche Personal *) unter
den Schutz gestellt wird. Molkenbuhr wollte als Referent der
Kommission für Arbeiterstatistik seine Vorschläge auf alle Personen
bezogen wissen, welche mit Arbeiten im Gast- und Schankwirt-
Klagen (1894 32 Proz., 1899 29 Proz.) ausmachen, obwohl im Wirtsgewerbe in
München nur ein Zwölftel aller gewerblich thätigen Personen beschäftigt sind.
*) mit Einschlufs der Personen, die mit dem „Fertigmachen kalter Speisen“ be-
schäftigt sind.
*) Die Gröfsc und Zusammensetzung der Arbeiterschaft im Be-
herbergungs- und Erquickungsgewerbe ist aus nachstehender Tabelle zu ersehen
(Berufsstatistik 1895): [c 1 = Familienangehörige, die im Betriebe ihres Haushaltungs-
vorstands thatig. aber nicht eigentliche Gewerbsgchülfen sind, c2 Oberkellner, Kellner,
Kellnerinnen, auch Lehrlinge, C3 andere Hülfspcrsoncn (Hausdiener, Hausknechte,
Kutscher),.
C I
C 2
c3
Summe
n». 5749
52370
42737
100856
w. 50634
37I2I
125924
213679
Summe 56383
89491
168661
314535
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Der Entwurf von Bestimmungen über die Beschäftigung der Gastwirtsgehilfen. 123
Schaftsgewerbe beschäftigt sind, oiine Rücksicht auf die Form des
Dienst- oder Arbeitsvertrages, also auch auf das „Gesinde".')
Dieser weitgehende Antrag wurde aber schon von der Kommission
abgelehnt, weil die Erhebungen sich nur auf Kellner und Köche be-
zogen hätten. Die Kommission stellte sich im wesentlichen auf den
Standpunkt, den dann später der Entwurf eingenommen hat. Nur
fehlt in ihren Vorschlägen die Berücksichtigung des Buffet-
personals. Die Aufnahme desselben unter die Geschützten durch
den Entwurf stellt sich als eine wesentliche Verbesserung der
Kommissionsvorschläge dar, die von den Kritikern zu wenig be-
achtet worden ist. Wenn man aber der Kommission aus ihrer
Selbstbeschränkung einen Vorwurf macht, so geht man darin zu
weit. Sie ist doch eine Enquetekommission und kann daher nur
Vorschläge machen in Beziehung auf Verhältnisse, die sie erforscht
hat. Man hat die Arbeitsverhältnisse im Wirtschaftsgewerbe fest-
stcllcn lassen, um eine solide Grundlage ihrer schutzrechtlichen Re-
gelung zu bekommen. Die Logik erfordert, dafs diese sich auf die
Arbeiterkategorieen beschränkt, deren Arbeitsverhältnisse so bekannt
geworden sind. Wenn man alle Kategorieen schützen wollte, so
hätte man die Erhebung danach einrichten müssen. Natürlich hindert
nichts, eine Zusatzerhebung zu veranstalten und dann Zusatzbestim-
mungen zu erlassen. Von der Menge und Verschiedenheit der Ar-
beiterkategorieen in grofsen Etablissements macht sich der Unein-
geweihte schwer eine Vorstellung. In den Verzeichnissen des Ar-
beitsamtes München werden nur für die weiblichen Angestellten
im Wirtschaftsgewerbe folgende Rubriken geführt: Buffetmädchen,
Schankkellnerin, Kellnerin, Kassicrin, Wassermädchen, Garderobiere:
Köchin, Küchenbeschliefscrin, Küchenmädchen, Herdmädchen, Kochen-
lernerin; Hausmädchen, Zimmermädchen. Ein Teil des Wirtschafts-
personals ist seinen Verrichtungen nach mehr dem Verkehrsgewerbe
zuzurechnen als dem Wirtschaftsgewerbe, z. B. die Hoteldiencr und
Hotelkutscher; diese müssen mit dem Bahn- und Trägerpersonal
Hand in Hand arbeiten, die Einteilung der Arbeit ist bei ihnen noch
mehr von den Verkehrseinrichtungen und Verkehrsbedürfnissen ab-
hängig wie beim übrigen Wirtschaftspersonal.
V.
Eine besondere Betrachtung erfordert der Schutzderjugend-
lichen Personen. Die Vorschläge der Kommission für Arbeiter -
>) Vcrh. XVII 68.
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124
Arthur Cohen,
Statistik sind gerade in dieser Beziehung sehr dürftig. Jugendliche
Personen unter 16 Jahren sollen von io Uhr abends bis 6 Uhr morgens
nicht beschäftigt werden dürfen. Das ist alles. Es soll also bei ihnen
keine ausgedehntere Mindestruhezeit zur Anwendung kommen wie
bei den Erwachsenen. Dies erscheint um so merkwürdiger, als die
Kommission selbst in ihrem Bericht (S. io) das Gutachten des
Reichsgesundheitsamtes citiert, dafs es angezeigt sei, in Gast- und
Schankwirtschaften zumal für die noch in der körperlichen Ent-
wicklung stehenden Lehrlinge eine Kürzung der Arbeitszeit ein-
treten zu lassen , und dafs die Mindestruhezeit bei jugendlichen
Personen wenigstens io Stunden — ohne Einrechnung des
Weges nach und von der Arbeitsstätte — betragen solle. Der
Entwurf begünstigt die Jugendlichen (unter 16 Jahren) mehr als
die Kommission: Es soll nicht nur die Nachtarbeit (io— 6 Uhr)
bei ihnen ausgeschlossen sein, sondern ihre tägliche Ruhezeit soll
mindestens neun Stunden betragen, ohne Rücksicht auf die Gröfse
des Ortes und Polizeiverordnungen. Die wöchentliche Ruhe
wird bei den Jugendlichen ebenso knapp zugemessen wie bei den
Erwachsenen. ')
Auch wenn man die Beschränkung der effektiven Ar-
beitszeit im Wirtschaftsgewerbe verwirft, wird man bei den jugend-
lichen Personen eine Ausnahme machen müssen. Man wird doch nicht
behaupten können oder wollen, dafs die wirtschaftliche Existenz der
Unternehmer im Gewerbe davon abhängig sei, dafs sie ihre Lehrlinge
15 bis 16 Stunden lang arbeiten lassen können, dafs also das ganze
Gewerbe auf die Ausbeutung der Lehrlinge gegründet sei. Nach
der Berufszählung von 1895 gab es am Zählungstage im Reich
52370 männliche Kellner, wovon 6606 unter 16 Jahre alt waren.
Eine an sich nicht durchführbare Mafsregel kann durchführbar sein,
wenn sie auf den achten Teil des Personals beschränkt wird. Aber
W'enn bei irgend einem Teilproblcm der sozialen Frage, so müssen
beim Schutz der jugendlichen Arbeiter die wirtschaftlichen Interessen
der Unternehmer hinter den Forderungen der Volkshygiene zurück-
treten. Der Fachkongrefs der Gastwirtsgehilfen wünscht eine Be-
schränkung der Arbeitszeit jugendlicher Personen auf 10 Stunden;
ich halte diese Forderung nicht für unbescheiden. Die gegen-
wärtige Arbeitszeit haben wir oben festgestellt. Danach haben
nur 15,1 Proz. der Lehrlinge eine Arbeitszeit von 14 Stunden und
*) Die „Grund/ügc der gesetzlichen Regelung der gewerblichen Kinderarbeit
außerhalb der Fabriken“ sind erst beim Druck bekannt geworden.
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Der Entwurf von Bestimmungen Uber die Beschäftigung der Gastwirtsgehilfen. 125
weniger, 60,5 Proz. eine Arbeitszeit von 14 — 16 und 24,4 Proz. eine
Arbeitszeit von mehr als 16 Sfunden. Bei 34,9 Proz. der Lehrlinge
finden an gewissen Tagen der Woche oder zu gewissen Zeiten des
Jahres Ueberschreitungen der regelmäfsigen Arbeitszeit statt. Von
diesen Zahlen kann man wirklich sagen, dafs sic beredt sind! Soll
sich der Schutz nur auf die bejammernswerten Burschen mit mehr
als 16 stündiger Arbeitszeit beziehen, soll er nicht auch die grofse
Masse der Lehrlinge umfassen, die zwar nicht in die allerletzte
Elendsrubrik gehören, aber immerhin eine erschreckend lange Arbeits-
zeit haben und dadurch dafs sie die kompakte Majorität (beinahe - „)
bilden, das Augenmerk des Gesetzgebers besonders auf sich lenken?
Der Schutz der jugendlichen Arbeiter ist bei der
Regelung der Arbeits Verhältnisse im Gastwirts-
gewerbe die Hauptsache, und man müfste lieber auf die
Mindestruhezeit der Erwachsenen verzichten, als dafs man von den
wesentlichen Bestandteilen des Schutzes der Jugendlichen etwas
preisgäbe. Man mufs nämlich bedenken, dafs viele Lehrlinge
ganz auf den Schutz des Staates angewiesen sind. Sie selbst sind
zu schwach, sich zu helfen, ihren Eltern fehlt häufig die Einsicht,
manchmal das Pflichtgefühl, sehr oft die wirtschaftliche Möglichkeit,
in das Arbeitsverhältnis ihrer Kinder zu deren Bestem einzugreifen,
sie haben nur den einen Gedanken : dafs ihre Kinder möglichst
bald und möglichst viel „verdienen". Auch die Vormünder kümmern
sich gewöhnlich wenig um die Arbeitsbedingungen der Betriebe,
wohin sie ihre Mündel zur Lehre schicken, das bürgerliche Gesetz-
buch ermächtigt sie sogar ausdrücklich, sich dieser Pflicht zu ent-
schlagen (§ 1 1 3). Wie der Staat die Fürsorge für die Erhaltung
des Vermögens der Kinder, und zwar auch gegen den Willen
des Vaters, übernommen hat, so sollte er auch das wirtschaftliche
Gut der Arbeitskraft, das gerade für die wirtschaftlich
Schwachen so grofse Bedeutung besitzt, schon von ihrer frühen
Jugend an vor der Gefahr der Verschleuderung durch Arbeitgeber,
Eltern' und Vormünder bewahren.
VI.
Eine bevorzugte Stellung in der Schutzpolitik geniefst auch
das weibliche Geschlecht. Als das schwächere und bei der
Entwicklung der künftigen Generation vorzüglich beteiligte Ge-
schlecht verdient es besonders den staatlichen Schutz im Arbeits-
verhältnis, und der Arbeiterschutz ist ja vom Schutze der jugend-
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I2Ö
Arthur Ctahcn
liehen und weiblichen Arbeiter ausgegangen. Sehen wir zu, wie
der Entwurf diesem Programmpunkte Rechnung trägt! Der Ent-
wurf bestimmt, dafs weibliche Personen unter 18 Jahren
nicht zur Bedienung der Gäste verwendet werden
dürfen, aul'ser wenn sie zur Familie des Arbeitgebers gehören.
Es ist also eine Altersklasse von einer Beschäftigungsart ausge-
schlossen. Die Bestimmung beruht auf einem Vorschlag der Kom-
mission, nur wollte diese die gelegentliche Bedienung der Gäste
erlaubt wissen.
Das ist alles. Weibliche Personen unter 18 Jahren, die nicht zur
Bedienung der Gäste verwendet werden, z. B. Küchenmädchen, werden
also gerade so behandelt, wie das männliche Personal, also i m
Alter von 16 — 18 Jahren wie erwachsene männliche
Arbeiter. Bis zu ihrem 18. Lebensjahre werden die jungen
Mädchen vom Kellnerinnenberufe ferne gehalten, dann werden sie
ohne einen Uebergang, wie er bei den männlichen Arbeitern infolge
des Schutzes der Jugendlichen besteht, in ihren beruflichen Existenz-
kampf gleich fest hineingeschoben. Anders, wenn sie zur Familie des
Arbeitgebers gehören. Familienmitglieder dürfen schon im zarten
Kindesalter zur Bedienung der Gäste herangezogen werden, bis zum
16. Lebensjahre bis io L'hr abends; von diesem Alter an geniefsen
auch sie keinen gröfseren Schutz als ihre erwachsenen männlichen
Berufsgenossen. Ich glaube nicht, dafs es in der Absicht der Ver-
fasser des Entwurfes gelegen ist, die Poesie des „Wirtstöchterleins“
zu bewahren, ich glaube, dafs sie von ganz anderen Vorstellungen
geleitet worden sind. Man macht wieder einmal respektvoll vor
dem „Heiligtum der Familie" Halt. Schutz der Familie geht vor
Arbeiterschutz, das Familieninteresse vor der Sittlichkeit.
Denn um diese letztere handelt es sich bei de r B e -
Stimmung, nicht um Fernhaltung von ungünstigen
Arbeitsbedingungen. Die Kommission hat zwar ihren Vor-
schlag auch mit dem Interesse der Gesundheit begründet1)
Dieser Begründung widerspricht aber der Umstand, dafs die Kom-
mission bei den männlichen Kellnern unter 16 Jahren keine höhere
Mindestruhezeit vorgeschlagen hat als bei den Erwachsenen (s. o.).
Sind die gesundheitlichen Gefahren der Bedienung der Gäste bei
den Geschlechtern so verschieden grofs, dafs man die weiblichen
Jugendlichen zwischen 16 und 18 Jahren ganz ausschliefsen
>) Verb. XVIII io.
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Der Entwurf von Bestimmungen über die Beschäftigung der Gastwirtsgehilfen. \2J
mufs, die männlichen Jugendlichen bis zu 16 Jahren aber
kaum besser zu behandeln braucht als die erwachsenen männlichen
Arbeiter ?
Wie steht es nun um die Gefährdung der Sittlichkeit der
Kellnerinnen, um die Gefährdung der allgemeinen Sittlich-
keit durch die Kellnerinnen?
Es ist wahr: Der Kcllnerinnenberuf bringt mehr, als dies die
meisten anderen weiblichen Berufe thun, seine Dienerinnen in sitt-
liche Versuchung, in die Gefahr eines zu frühzeitigen, eines unge-
regelten Geschlechtsverkehrs, überhaupt einer Vcrstumpfung des
weiblichen Schamgefühls. Und wenn es auch übertrieben ist, das
Wirtshausleben als eine „Atmosphäre der Leichtfertigkeit, Trunken-
heit und Gemeinheit“ zu bezeichnen '), so wird doch durch den
beständigen dienstlichen Verkehr mit den Angehörigen des anderen
Geschlechtes, durch die unwillkürliche, wenn auch passive Anteil-
nahme an oft lascivcn Gesprächen die Sinnlichkeit rasch und intensiv
erregt. Der Wirtshausbesuch ist eben vorzugsweise Lebensgewohn-
heit der Männer. Diese erkaufen sich um ein paar Münzen das
Recht, sich einige Stunden im Lokale aufzuhalten, und damit die
Möglichkeit, zu der Kellnerin in persönliche Beziehungen zu treten,
welche die verschiedensten Formen annehmen und alle Stadien
durchlaufen können , vom harmlosen teilnehmenden Gespräch bis
zum sporadischen geschlechtlichen Verkehr und zum „Liebesver-
hältnis“ (welches dann freilich mitunter auch zur Ehe führt).
Im übrigen mufs man zwischen der soliden und der un-
soliden Kellnerinnenbedienung unterscheiden. Wir ge-
brauchen die Ausdrücke solid, unsolid, nicht gerne, weil sie unklar
und durch das Neuzünftlcrtum (der „solide Handel“ u. s. w.) in
Mifskredit gekommen sind. Aber es wird sich gleich zeigen, was
wir darunter verstehen.
Der Typus des Wirtshauses mit „unsolider“ Damenbedienung
ist die sogenannte A n i m i e r k n e i p e. So schwer cs ist , eine
Schuldefinition der Animierkneipen zu geben, so stellen sie doch
einen ganz bestimmten Typus dar, sowohl was das Kellnerinncn-
material, als auch was ihre Zweckbestimmung und das Treiben in
ihnen betrifft. „Sie heben sich von denjenigen Lokalen, in welchen
die Bedienung der Gäste durch anständige weibliche Personen
stattfindet ... so bestimmt ab, daCs die Ortspolizeibehörden sich
l) Petition badischer Sittlichkcitsvcrcinc, s. u.
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128
Arthur Co heu,
selten im Zweifel darüber befinden werden, ob das Lokal zu den
in geschlechtlicher Beziehung verdächtigen oder nicht verdächtigen
gehört“.1) Betriebstechnisch als das wesentliche erscheint mir, dafs
die Kellnerinnen nicht nur zur Bedienung, sondern auch zum
Amüsement der Gäste gehalten werden. Sie sind dein Wirte gegen-
über verpflichtet, den Gast nicht nur zu bedienen, sondern auch
ihn zu unterhalten, sich auf Wunsch zu ihm zu setzen, mit ihm zu
trinken, sich Scherze und Zärtlichkeiten gefallen zu lassen u. s. w.
Daher befinden sich in solchen Lokalen meistens mehr Kellnerinnen,
als zur Bedienung der Gäste nötig wäre. Dadurch, dass der Wirt
sein Lokal als Animierkneipe einrichtet, erklärt er sich dem Be-
sucher gegenüber bereit, ihm zu gestatten, dass er sich mit den
Kellnerinnen amüsiert. Voraussetzung ist dabei, dass der Gast einen
gewissen A u f w a n d macht, namentlich für geistige Getränke. Wie
grol's der Aufwand sein muss, richtet sich nach der Gewohnheit,
nach örtlichen Verhältnissen, den konkreten Umständen, dem dis-
kretionären Ermessen von Wirt und Kellnerin. Je gröfser der
Aufwand, desto gröfser das Amüsement, das darin gipfelt, dafs
hinter verschwiegenen Vorhängen etc. allerlei Unkeuschheiten
getrieben werden.-) Der Wirt macht sich durch den grölseren
Konsum bezahlt und interessiert die Kellnerin am Gelingen seiner
Spekulation durch Tantiemen, die ihr Aequivalent für ihre Halb-
prostitution bilden. Die Kellnerin trinkt mit und animiert
zum Trinken, der Gast „zieht die Konsequenzen“, das Mädchen
animiert noch mehr, und der Kreislauf befriedigt Wirt, Kellnerin
und Publikum.
Pis ist schwer, über diese Zustände zu urteilen, ohne in die
’) Schmollen Jahrbuch 1890 S. 524.
*) Die Begehung wirklicher L’ nsi Ul ich keilen (Beischlaf und Beischlafs-
ähnliche Handlungen! in den Animierkneipen durfte vergleichsweise selten sein, weil
sie den Wirt in die Gelahr des Verlustes der Konzession bringt. (§ 33 der Gew.O. :
„Wer Gastwirtschaft, Schankwirtschaft oder Kleinhandel mit Branntwein oder Spiritus
betreiben will, bedarf dazu der Erlaubnis. Diese Erlaubnis ist nur dann zu ver-
sagen: l. wenn gegen den Nachsuchenden Thaisachen vorliegen, welche die An-
nahme rechtfertigen, dafs er das Gewerbe zur Förderung der Völlerei, des ver-
botenen Spiels, der Hehlerei oder der U n s i 1 1 1 i c h k c i t mifsbrauchen werde
Die Behörden sind darin sehr strenge: Die Konzession wird gleich beim ersten
Falle entzogen, ohne Rücksicht darauf, ob der Wirt von der Begehung der unsitt-
lichen Handlung Kenntnis gehabt hat; er hätte eben Obacht geben sollen (Sclimollcrs
Jahrbuch, ebenda 1.
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Der Entwurf von Bestimmungen über die Beschäftigung der Gastwirtsgehilfen. 129
Gefahr der Uebertreibung und einseitiger Auffassung zu verfallen
oder einen allzuweiten Spaziergang in unübersehbare Gebiete (Pro-
stitution, Pauperismus) zu machen. Bildungsstätten sind diese
Animierkneipen sicherlich nicht. Aber man kann sich auf den
Standpunkt stellen : Wenn die Prostitution in allen ihren übrigen
Formen und Nuancen blüht, wenn Bordelle geduldet werden, so ist
es unlogisch und inkonsequent , die Animierkneipen unmöglich
machen zu wollen.
Geber die Verbreitung der Animierkneipen und der übrigen
Wirtshäuser mit dem Zwecke, den Gästen zu ermöglichen , sich
mit den Kellnerinnen in der soeben beschriebenen Weise zu amü-
sieren, lassen sich keine genauen Angaben machen. Die Kommission
für Arbeiterstatistik hat diese Dinge unberücksichtigt gelassen,
Kellnerinnen von Animierkneipen — man darf wohl sagen : leider —
nicht vernommen. Soviel wird man sagen können: Es handelt sich
hier um eine spezifisch norddeutsche Erscheinung. In Norddeutsch-
land kommt diese Art Wirtshäuser in den Grofs- und Mittelstädten
vor, bis herab zu Städten von 8 — ioooo Einwohnern. Sie lenken
hier die öffentliche Aufmerksamkeit in einem Grade auf sich, dafs
die Lokale mit harmloser Mädchenbedienung daneben verschwinden.
Auch in Mittel- und Westdeutschland machen sie sich in den
gröfseren Städten bemerkbar. In Bayern sind sie eine seltene Er-
scheinung.
Die Kellnerin der Animierkneipe mag das bedauernswürdigste
Geschöpf der Welt sein, das Ergebnis unglücklicher Veranlagung
und elender sozialer Zustände, man thut ihr aber kein Unrecht,
wenn man sagt: sie gehört der Prostitution zu und kommt auch
meistens von ihr her. Die Animierkneipe kann für sie keine sitt-
liche Gefahr mehr bilden, wohl aber bildet sie selbst ein stehendes
Kapitel in dem Katalog der Gefühls- und Geschmacksroheiten des
„Bildungsphilisters,“ die unserer Kultur noch immer das Gepräge
des Barbarischen geben.
Ganz anders der Typus der „Münchener Kellnerin“!1)
Diese tritt gewöhnlich mit 16 bis 17 Jahren in das Geschäft ein,
wie jede Arbeiterin. Wenn sie frühzeitig „fallt", so teilt sie darin
nur das Los fast aller Mädchen, die selbst ihr Brot verdienen und
*) Bei Würdigung des Nachfolgenden beachte man, dafs cs in München nach
der Statistik von 1895 2766 Kellnerinnen und nur 930 Kellner (zum gröfsten Teil
Hotel kcllner und Kellner 1 e h r 1 i n g c) gibt.
Archiv für so«. Gesetzgebung u. Statistik. XVII. 9
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'3°
Arthur Cohen,
daraus das Recht ableiten, ihre eigene Vorschungzu spielen. Wenn
sie den Klippen ihres Berufes nicht gewachsen ist, wenn sie körper-
lich und psychisch verkommt, so ist sie allein es, die darunter
leidet. Die „arme, verführte männliche Jugend“, die man so gerne
gegen die Kellnerinnen ausspielt, darf keinesfalls auf ihr Konto ge-
schrieben werden.
Nun wird als Zeichen, dafs die Mädchenbedienung einen un-
lauteren Zweck hat, auch der häufige Wechsel der Kellne-
rinnen, sowie der Umstand angesehen, dafs nur junge und
hübsche Mädchen engagiert werden. Und es wird be-
hauptet, dafs diese Merkmale auch bei Lokalen mit „solider Mädchen-
bedienung" zutreffen. Aber auch «hierbei laufen Uebertreibungen
und schiefe Vorstellungen unter.
Dafs die Kellnerinnen häufig ihre Stellen wechseln, ist richtig.
Aber auch bei den Kellnern ist dies der Fall, und gerade in der
Statistik der Dienstzeiten tritt der Unterschied zwischen solider und
unsolider Mädchenbedienung deutlich hervor.
Bei der Erhebung der Kommission für Arbeiterstatistik *) von
1893 befanden sich 37 Proz. der Kellner und 57 Proz. der Kell-
nerinnen erst drei Monate oder noch kürzere Zeit in Stellung.
In Berlin 67 Proz. der Kellnerinnen, in Bayern r. R. dagegen nur
47 Proz., in München nur 43 Proz., also nicht viel mehr (relativ),
als Kellner im Reich.
Der anstrengende Dienst in den heifsen, schlecht ventilierten,
raucherfullten Lokalen läfst den Stellenwechsel wegen der gewöhn-
lich damit verbundenen Freizeit in einem rosigen und dem Be-
urteilenden in einem milden Lichte erscheinen. Dazu kommen die
häufigen Streitigkeiten zwischen Arbeitgeber und Arbeiter, sowie
das pekuniäre Interesse der Stellenvermittler an der Lebhaftigkeit
des Arbeitsmarktes — alles Umstände, welche auf Abkürzung der
Dienstzeit hinwirken. Dafs die weiblichen Arbeiter ihre Stelle
häufiger wechseln als die männlichen, ist eine Erfahrung, die man
auch in anderen Berufen machen kann.
Dafs der häufige Wechsel der Kellnerinnen in dem Wunsche
der Wirte seinen Grund hat, den Gästen immer „frische Ware“,
wie man sich geschmackvoll ausdrückt, zu bieten, ist eine Behaup-
tung, die sich in dieser Allgemeinheit nicht aufrecht erhalten läfst.
In den Animierkneipen mag eine Dienstzeit von 14 Tagen bis
') Tabelle XII der Erhebungen Teil I.
I
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Der Entwurf von Bestimmungen über die Beschäftigung der Gastwirtsgehilfen. |^j
I Monat das gewöhnliche sein. Dem Müncheuer Bierphilister, einem
ausgesprochenen Gewohnheitsmenschen, macht es sicherlich kein
Vergnügen, ein „neues Gesicht" zu sehen und es würde ihm gewifs
den Aufenthalt am Stammtisch verleiden, wenn er alle paar Wochen
eine Neueintretende an seine kleinen Wünsche und Bedürfnisse ge-
wöhnen müfste.
Was nun die Behauptung betrifft, dal's nur hübsche undjunge
Kellnerinnen angestellt werden, so ist sie bei einem Teil der Lokale
in München richtig, wenn man sic negativ fafst: dafs keine häfs-
lichen und alten Kellnerinnen angestellt werden. Die Besitzer der
Ca fe- Res t au ra n ts in München sehen in den letzten Jahren mehr
und mehr auf ein „angenehmes Aeufsere“ der zu engagierenden Kellnerin ;
aber das ist nicht so zu verstehen, dafs man durch die Anwesenheit
von Beautes auf die Frequenz des Lokals einzuwirken beabsichtigt,
sondern was man will, ist: eine repräsentable Erscheinung. Dafs
möglichst junge Kellnerinnen engagiert werden, ist ebenfalls
eine Uebertreibung ; das Wahre an der Sache ist nur, dafs man
nicht gerne über ein gewisses Alter (etwa Ende der Zwanziger)
hinausgeht. Innerhalb dieser Grenzen erhalten die Tüchtigeren und
Geübteren den Vorzug (oder die von den Verdingerinnen Prote-
gierten, d. h. die Zahlungsfähigsten). Wer darin eine Unsittlichkeit
erblickt, wenn man eine hübsche Kellnerin lieber sieht als eine
häfsliche, und wenn man sich mit dem bedienenden Mädchen in
ein Gespräch einläfst, das dem leichtlebigen süddeutschen Volkstum
entsprechend ein paar harmlos leichtfertige Bemerkungen enthält,
dem ist freilich nicht zu helfen, dem werden die Münchener und die
norddeutschen Kellnerinnen immer wesenseins sein. Nicht ohne
Einflufs auf die Ansprüche an das Aeufsere der Kellnerinnen ist
übrigens der Fremdenverkehr gewesen, überhaupt das Eindringen
fremder, namentlich norddeutscher Filemente in die Be-
völkerung. Anders als in den Cafe-Restaurants sieht das Kellnerinnen-
material in den Brauhäusern und in den Wirtshäusern der
Arbeiterviertel aus. Hier kann man die ältesten und abscheu-
lichsten F'raucnzimmcr finden, an denen auch der wütendste Sitt-
lichkeitsfanatiker nichts auszusetzen hätte. Dies ist ein Zeichen,
dafs der Einheimische von der Kellnerin nichts will, als dafs er gut
bedient wird. Die paar gemütlichen Witze, die er mit ihr macht,
haben nur accidentielle Bedeutung.
Vom Sittlichkeitsstandpunkte ist also dieKellne-
rinnenfragc in Süddeutschland eine ganz andere, als
9*
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132
Arthur Cohen
in Norddeutschland. Es giebt zwar noch immer Leute, welche
das verneinen. So behauptet der Generalsekretär der deutschen
Sittlichkeitsvereine, Henning, in einer von diesen herausgegebenen
„Denkschrift über das Kellnerinnenwesen" ') S. 7 : „Endlich sind die
vielgerühmten süddeutschen Verhältnisse in bezug auf weibliche
Bedienung keineswegs besser zu nennen als in Norddeutschland, nur
einige Nebenumstände und die „Gewohnheit" lassen sie besser er-
scheinen als sie sind." Und worauf gründet sich dieses Ver-
dammungsurteil? Auf eine Enquete über das Kellnerinnenwesen,
welche die „Konferenz der deutschen Sittlichkeitsvereine" im Jahre
1894, mit Hilfe meist geistlicher Mitarbeiter, veranstaltet hatte, und
welche besonders zum Zwecke gehabt hat, die Unterschiede zwischen
Nord- und Süddeutschland festzustellen, namentlich in der Richtung,
ob die weibliche Bedienung in Süddeutschland den guten Rut ver-
diene, den sie bei Vielen habe. Es liefen aber aus ganz Deutsch-
land nur 27 Antworten ein, und darunter befinden sich nur sechs
aus Süddeutschland, aus Bayern r. R. keine! Aus diesem, wie in
der „Denkschrift" selbst zugestanden wird (S. 2), „durchaus ungenügen-
den" Material leitet deren Verfasser die Berechtigung ab (S. 7), das
Kellnerinnenwesen als „eine Vorstufe zur gewerbsmäfsigen Unzucht,
im Grunde genommen diese selbst" zu bezeichnen *), und damit
tausenden von emsigen, schwer arbeitenden Frauen einen Makel
aufzudrücken. Ist das wahrhaftig, ist es sittlich ?
So verschieden aber das sittliche Niveau der süddeutschen und
der norddeutschen Kellnerinnen im allgemeinen ist, so ist es anderer-
seits ein Irrtum3), wenn man meint, dafs auch die Arbeits-
bedingungen der süddeutschen Kellnerinnen4) gün-
stigere seien als die ihrer norddeutschen Kolleginnen,
*) Kommissionsverlag Wallmann, Leipzig. 20 S.
') Die kleinen Städte und das „Wirtstöchterlcin“ werden dabei natürlich wieder
ausgenommen. „Die vagierende Prostitution und weibliche Bedienung gehören zu-
sammen. Wir denken zwar nicht an das ehrsame (!) Wirtstöchterlcin, welches uns
in den Gasthäusern, in Dörfern und Städten die Erfrischungen reicht (!), sondern
an diejenigen Frauenzimmer (!), welche den Kellncrinnendienst \!) als ihren Beruf (!)
ergreifen“ (C itat aus „Denkschrift“ etc. S. 14).
3) Vgl. meine Abhandlung „Die Lohn- und Arbeitsverhältnisse der Münchener
Kellnerinnen“ in diesem „Archiv“ 5. Bd. 1892 namentlich S. 103 fr.
4) Leber die Arbeitsbedingungen der Münchener Kellnerinnen und über ihre
wirtschaftliche und soziale Lage vgl. jetzt auch Trefz, Das Wirtsgew. in München,
1899, S. 178 ft.
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Der Entwurf von Bestimmungen Uber die Beschäftigung der Gastwirtsgehilfen. 133
ja, dafs dieselben besonders rosig seien. Die Reichserhebung hat
diese Illusion, welche namentlich in denjenigen süddeutschen Kreisen
weit verbreitet war, die von der Annahme ausgehen, dals im Süden
alles besser sei wie int Norden, endgültig zerstört. *)
Die Arbeitszeit*) der Kellnerinnen beträgt:
12
Stunden
und
weniger
mehr als
12 bis 14
14 bis 16 j 16 bis 18
18
Stunden
im nordöstlichen Deutschland
im nordwestlichen Deutschi,
in Mitteldeutschland . . .
in Süddeutschland ....
bei 8,7 "0
>8.4 ..
.. > .5 ..
„ > ,8 „
bei 40,7 °/0
„ 28,9 „
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bei 41,6% bei 8,3%
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bei 0,7 °/0
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„ >.3 ..
„ 0,4
Rcichsdurchschnitt ....
„ 5.° .1
„ >9,3 ..
„ 51.8 ., .. 23,4 „
.. °.5 ..
Die Arbeitszeit bewegt sich also in Mittel- und in Süddeutsch-
land über dem Reichsdurchschnitt, im Norden £)eutschlands unter
demselben. Wenn sich dieses Ergebnis auch nicht zu Gunsten
der norddeutschen Verhältnisse verwerten lässt, weil es zum Teil
davon herrührt, dass in den Animierkneipen die „Arbeit“ sehr spät
am Tage beginnt, so zeigt es doch die Grundlosigkeit opti-
mistischer Vorstellungen in Beziehung auf die Arbeitszeit der
Kellnerinnen in Süddeutschland: 1/a der Kellnerinnen ist hier
mehr als 16 Stunden im Tage beschäftigt. —
Die Vorschläge zur Beseitigung der sittlichen
Mifsstände im Kellnerinnenwesen, die bis jetzt gemacht
worden sind, bewegen sich zum Teil auf dem Gebiete der Ge-
werbepolizei.
So hat der schon zitierte Anonymus (Verwaltungsrichter) in
*) Vgl. auch Münchener Medizinische Wochenschrift 1901 S. 37 1 : „Das Material
der Münchener Orlskrankenkassc für das Beherbcrgungs- und Erquickungsgewerbe
ist ganz anders geartet wir bei den übrigen Kassen : Vorzüglich weibliches Personal,
seit früher Jugend angestrengt, Fehlen der Nachtruhe und nötigen Erholung, be-
ständiger Aufenthalt in schlecht ventilierten Räumen, unverständiger Lebenswandel,
Unterernährung u. s. w. Auf diese Umstände, in welchen die Ursache des hohen
Krankenstandes in erster Linie zu suchen ist, haben die Aerzte wiederholt hinge-
wiesen.“
*} mit Einschlufs der Arbeitspausen.
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134
Arthur Cohen
Schmollers Jahrbuch ') vorgeschlagen, den Behörden die Befugnis zu
geben, die Erteilung der Schankkonzession „von der Bedingung abhängig
zu machen, dafs zur Bedienung der Gäste keine Personen weiblichen
Geschlechts oder nur gewisse von den Behörden zu bezeichnende
Personen weiblichen Geschlechts verwendet werden". Gegenwärtig
ist das infolge §41 der Gewerbeordnung 5) unmöglich. Die Polizei-
behörde kann z. B. bei Erteilung der Konzession nicht zur Be-
dingung machen, dafs keine bisherige Prostituierte als Kellnerin an-
gestellt wird. Diesen Rechtszustand hat offenbar auch der Verein
gegen den Mifsbrauch geistiger Getränke im Auge, wenn er eine
gesetzliche Bestimmung .will des Inhalts*): „In Gast- und Schank-
wirtschaften sind als Kellnerinnen nur Mädchen oder Frauen zu-
zulassen und zu beschäftigen, welche . . . durch eine Bescheinigung
der zuständigen Behörde nachgewiesen haben, dafs gegen sie in
sittlicher Beziehung Bedenken nicht vorliegen . . . Die Landes-
polizeibehörden . . . können . . für bestimmte Wirtschaften auf Wider-
ruf und für besondere Zeiten und Gelegenheiten Ausnahmen zu-
lasscn.“ Aber schon die Fassung des Vorschlags zeigt dem Leser,
wie schwierig es ist, das Personal der Animierkneipen und der-
artiger Lokale zu säubern, ohne die wirtschaftliche Existenz und-
den guten Ruf von tausenden weiblicher Arbeiter den Polizei-
behörden auf Gnade und Ungnade zu überliefern. Gegen dieses
Bedenken hält auch der Vorschlag des Autors des Aufsatzes in
Schmollers Jahrbuch nicht stand. Soll man zulassen, dafs die Poli-
zeibehörden das Vorleben einer jeden Kellnerin untersuchen, oder
auf welche andere Weise sollen sie die Aufgabe erfüllen, die ihnen
eine derartige gesetzliche Bestimmung auferlegen würde?
Der Verein gegen den Mifsbrauch geistiger Ge-
tränke verlangt auch, dafs die Kellnerinnen „während der Beschäfti-
gung sicheines untadeligen Rufes erfreuen“ (!) ; widrigenfalls soll dein
Wirt die Konzession entzogen werden können. Wenn das nur ein
ungeschickter Ausdruck ist für den Gedanken, dafs den Wirt nicht
nur die Förderung wirklicher Unsittlichkeiten, sondern auch die Förde-
rung blofser Unkeuschheiten den Verlust der Konzession kosten
soll, so ist darauf zu entgegnen, dafs das Gebiet der Unkeuschheiten
') Die Konzcssionicrung des Schankbetriebes in Preufsen, 1890, S. 522 ff.
7) Satz 2 : „In der Wahl des Arbeit*- und Hülfspersonals finden keine anderen
Beschränkungen statt als die durch das gegenwärtige Gesetz fcstgcstellten.“
*) Protokoll der 15. Jahrcsvcrs. in Heidelberg 1898 S. 44 ff.
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Der Entwurf von Bestimmungen über die Beschäftigung der Gastwistsgehilfen. \^z
kein so fest abgegrenztes ist, dafs dieser Begriff oder verwandte Be-
griffe polizeirechtlich verwertet werden könnten. Andere Vor-
schläge desselben Vereins gehen dahin: es soll verboten sein,
Frauenspersonen, welche noch nicht 18 Jahre alt sind, als Kell-
nerinnen zu beschäftigen ; ferner, die Kellnerinnen nach 1 1 Uhr
Abends zur Bedienung der Gäste zu verwenden, oder ihnen auch
nur den Aufenthalt im I.okal zu gestatten.
Ebenso forderten einige badische Sittlichkeitsvereine (Verein
der Freundinnen junger Mädchen u. s. w.) in einer Eingabe an den
badischen Landtag1): i. dafs kein Mädchen unter 21 Jahren sich
dem Kellneijinnenberufe solle widmen dürfen ; 2. dafs die Arbeits-
zeit der Kellnerinnen nicht länger als bis io höchstens n Uhr
nachts solle ausgedehnt werden dürfen. — ln der allgemeinen Kon-
ferenz der deutschen Sittlichkeitsvereine vom 14. Februar 1900
wurde beschlossen , diese Forderungen durch eine Petition an die
Reichsbehörden zu unterstützen. Die Petition ist auch abgegangen.*)
Im Vergleich zu diesen weitgehenden lediglich durch die Be-
sorgnis um das sittliche Heil der Kellnerinnen im besonderen und
des Publikums im allgemeinen eingegebenen Wünschen nehmen
sich die eigentlich sozialpolitischen Vorschläge der
genannten Körperschaften sehr bescheiden aus. Der Verein gegen
den Mifsbrauch geistiger Getränke will gesetzliche Sicherung
einer ununterbrochenen 7stündigen Nachtruhe der Kellnerinnen;
die badischen Vereine wollen eine ununterbrochene 8 ständige
Schlafzeit der Kellnerinnen, einen freien Nachmittag in der Woche
und Freigebung des Sonntag Vormittag bis 1 1 Uhr. Das weitere
Verlangen der badischen Vereine, dafs jeder Wirt bestraft werden
soll, der eine Kellnerin ohne bestimmten Lohn anstellt, ist nur pla-
tonischer Natur.
Sehr bezeichnend für den Geist, der die Leute beseelt, die so
leichtherzig mit den Erwersbedingungen einer ganzen Bevölkerungs-
klasse umspringen, ist der übliche Hinweis auf den Dienstboten-
mangel, den die bösen Kellnerinnen mitverschulden. So heilst es
in der erwähnten Petition der badischen Vereine: „Wenn Mädchen
in einem Alter von 16 Jahren und darunter, wie das häufig der
Fall ist, in Wirtschaften eintreten, dann gewöhnen sie sich so sehr
an das freie ungebundene Leben, dafs sie fast nie mehr in einen
l) Verh. der Ständevers. 1895/96. Beilagenheft 4 zu den Prot, der 2. K. S. 1 73 fl.
*) Verhandl. XV1Ü 2.
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136
Arthur Cohen,
Privatdienst einzutreten wünschen, auch selten mehr zu einem
solchen verlangt werden oder noch zu gebrauchen sind".1) Und
der Münchener Landesvorstand des Vereins der Freundinnen junger
Mädchen will, in einer Petition an den Reichstag, gar: dafs Mäd-
chen unter 20 Jahren die Ausübung des Kellncrinnenberufes nicht
gestattet werden soll, wenn sie nicht ein Zeugnis über
mehrjährige (!) Hausarbeit vorlegen können.
Während hier Sozialpolitik getrieben wird im Dienste
einer gewissen Weltanschauung — und achl wie dilettan-
tisch — , werden beinahe dieselben Forderungen von einer ganz
anderen Seite geltend gemacht, nicht von Verfechtern eines Ideals,
sondern von Vertretern eines ganz bestimmten materiellen Inter-
esses, eines Klasseninteresses. Die vom Kellnerkongresse in
Berlin (1900) beschlossene Petition enthält nämlich die Forderung:
„Weibliche Personen unter 18 Jahren sollen nicht zur Bedienung
der Gäste zugelassen werden; im übrigen soll das weibliche Per-
sonal von abends 10 Uhr bis morgens 6 Uhr in die Wirtschafts-
räume, die dem Verkehr der Gäste dienen, keinen Zutritt haben."*)
Die männlichen Kellner sind nämlich in der Kellnerinnen-
frage in zwei Lager gespalten. Die meisten Kellner (es sind mehr
die unorganisierten) folgen hierin ihrem Klasseninstinkt: sie sehen
in der Mädchenbedienung nur den unlauteren Wettbewerb, sie em-
pfinden einen tiefgründigen Hafs gegen die armen Geschöpfe, die
ihnen einen grofsen Platz an der Futterkrippe wegnehmen und das
soziale Ansehen des Berufs so tief herabdrücken, einen Hafs, wie
ihn nur ein in den gedrücktesten Verhältnissen lebender Familien-
vater gegen seine Konkurrenten empfinden kann. Das Verbot der
Bedienung von Gästen durch weibliche Personen bei Nacht gilt
ihnen nur als Mittel zum Zweck: der Beseitigung dieser unlauteren
Konkurrenz. Die intelligenteren Kellner aber denken in
dieser heiklen Sache modern und vernünftig. Sie betrachten die
Kellnerinnen als Kollegen , die es noch schlimmer haben, wie
sie selbst, sie verkennen nicht den ursächlichen Zusammenhang
zwischen gedrückter wirtschaftlicher Lage und tiefem sittlichem
Niveau. Die Beschlüsse des Kongresses zur Kellnerinnenfrage
J) Die Petition selbst liegt mir nicht vor. Ich citicrc nach dem Berichte der
Petitionskommission.
*) Diese Fassung wurde gewählt, um zu verhindern, dafs die Kellnerinnen
nach Beendigung der Tagesarheit (scheinbar) als Gäste dableiben.
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Der Entwurf von Bestimmungen über die Beschäftigung der Gastwirtsgehilfen. 137
beruhten auf einem Kompromifs zwischen den beiden Rich-
tungen. Dafs nämlich die Forderung des Ausschlusses der Nacht-
arbeit von Kellnerinnen nicht, wie man meinen könnte, den
Schutz der Kellnerinnen vor Ausbeutung ihrer Arbeitskraft, son-
dern den Schutz der männlichen Kellner vor der Konkurrenz
der Kellnerinnen zum Zwecke hat, geht daraus hervor, dafs der
Kongrefs keine besonderen Wünsche in Beziehung auf den Schutz
des übrigen weiblichen Wirtschaftspersonals hat. Auch er will zu-
geben, dafs Mädchen im Alter von 16 bis zu 18 Jahren, soweit sie
nicht zur Bedienung der Gäste verwendet werden, in Beziehung auf
die Arbeitszeit keinen Vorsprung haben sollen vor den erwachsenen
männlichen Gastwirtsgehilfen. Es geht auch aus der Begründung
hervor, welche dem Kompromifsantrag auch von solchen Rednern
zu teil geworden ist, die zur vernünftigen Minorität gehören. *)
Dafs der Ausschlufs der Kellnerinnen von der Bedienung der Gäste
nach 10 Uhr abends die Kellnerinnenbedienung, wie wir unten
zeigen werden, unmöglich machen würde, mufste man auf dem
Kongresse wissen: Wer das Mittel will, mufs auch den Zweck
wollen. *)
Wie eine ironische Antwort auf diesen Beschlufs des Ge-
hilfenkongresses klingt ein Beschlufs des Bundes deutscher Gastwirte
(Heidelberg 1900): Gemeinsam mit dem Bunde der Landwirte
und dem deutschen Gastwirtsverband beim Reichstag um das Ver-
bot der Fabrikarbeit und der Beschäftigung in kaufmännischen,
besonders Warenhausbetrieben für Mädchen unter 17 Jahren zu
petitionieren. Wenn die Kellner die weibliche Arbeit bekämpfen,
um das Angebot von Arbeit einzuschränken , so wünschen die
*) Z. B. Prot. S. 94: „Das Verbot der Beschäftigung der Kellnerinnen nach io Uhr
Abends wird von grofser Wirksamkeit sein; denn in kleineren Wirtschaften kann
wohl der Wirt selbst von io bis 12 Uhr Nachts die Gäste bedienen, nicht aber in
den grofsen Lokalen ; da müfste er eben männliche Geholfen einstelle n“.
*) ln einer Münchener Kellncrinncnvcrsammlung wurde ein Flugblatt mit
folgendem Inhalt verteilt: „Kolleginnen! Unsere männlichen Kollegen, die Gast-
wirtsgehülfcn, haben die Forderung aufgestellt, dafs Kellnerinnen nach io Uhr
Abends nicht beschäftigt werden dürfen. Sie berufen sich auf die niedere so-
ziale Stellung der Kellnerin und behaupten, die Kellnerinnen seien nur dazu
da, die Gäste zu animieren. Kolleginnen! so mag es in Norddcutschland sein,
in München ist es nicht so! Wir stehen auf gleicher Stufe mit unseren männlichen
Kollegen. Unsere Arbeit ist gerade so ehrenhaft. Und wir dürfen uns nicht ver-
drängen lassen“ u. s. w.
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13»
Arthur Cohen,
Wirte umgekehrt eine künstliche Steigerung des Angebotes weib-
licher Arbeitskräfte in ihrem Gewerbe: Sozialpolitik der Er-
langung billiger Arbeitskräfte — ein würdiges Gegenstück
zur Sozialpolitik aus Brotneid 1 J) —
Was die Vorschläge betrifft, die Ausübung des Kellnerinnen-
berufes von Erreichung eines gewissen Lebensalters abhängig zu
machen, so werden wir später mehr darüber hören. Jetzt wollen
wir uns nur mit der anderen vorgeschlagencn MaCsregel beschäf*
tigen, die Kellnerinnen von der Bedienung zur Nacht-
zeit auszuschliefsen. Es wird hierfür von den Freunden der
Sittlichkeit vorgebracht: In später Abendstunde steige die sittliche
Gefahr für die Mädchen, da die Gäste durch das lange Trinken
nicht mehr genügend Herr ihrer selbst, die Mädchen erschöpft und
weniger widerstandsfähig seien. •) Dies mag mitunter der Fall sein,
aber mit demselben Rechte kann man umgekehrt fragen: Glaubt
man, dafs die jungen Männer, die die Cafes der Mädchenbedienung
wegen aufsuchen, als Lämmer das Lokal betreten und erst im
Laufe der Stunden, also etwa um 1 1 Uhr den Höhepunkt ihrer
Frivolität erreichen, die Bestie in ihnen zum Ausbruch kommt?
Glaubt man, dafs die jungen Mädchen am späten Abend, wenn sie
vor Müdigkeit fast umsinken, eher dazu geneigt sind, sich Zärtlich-
keiten gefallen zu lassen, als etwa beim Frühschoppen, wo sie noch
munter sind ? Es ist also eine Halbheit, wenn man die Kellnerinnen-
bedienung aus Gründen der Sittlichkeit bekämpft, sich nur gegen
die Abendbedienung der Mädchen zu wenden. Andererseits liegt
die Gefahr nahe, dafs der Ausschlufs der Mädchen von der Nacht-
arbeit ihren Ausschlufs aus dem Gewerbe überhaupt zur Folge hat.
Das Verbot der Nachtarbeit ist zwar die herkömmliche Mafsregel
zum Schutze der weiblichen Arbeiter, aber beim Gast- und Schank-
wirtschaftsgcwerbe ist diese Mafsregel aus demselben Grunde unan-
nehmbar, der überhaupt, wie wir gesehen haben, zur Festsetzung
einer Mindestruhezeit in diesem Gewerbe hindrängt : U n r e g e 1 -
mäfsigkeit des Betriebs. Oder ist es vielleicht gerade der
Ausschlufs des weiblichen Geschlechtes vom Kellnerinnenberufe,
was man in letzter Linie will und durch eine derartige Mafsregel
zu erreichen hofft ? Durch welche Erfahrungsthatsachen will man
*) Die Wirte wollen also nicht nur ein Monopol auf ihre Erwcrbsgclcgenheitcn,
sondern auch auf ihre Arbeitskräfte.
*) Badische Petition a. a. O. S. 173.
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Der Entwurf von Bestimmungen Uber die Beschäftigung der Gastwirtsgehilfen. j jg
ein so radikales Vorgehen rechtfertigen? Mit dem Unwesen der
Animierkneipen? Wir haben gesehen, dafs diese nur ein lokales
Uebel sind. Es ist ja ganz natürlich , dafs die Zustände im
politisch-sozialen Zentrum und in dessen Umgebung die öffentliche
Kritik in besonderem Mafse herausfordern. Aber die hier gemachten
Beobachtungen zu verallgemeinern und zur Beseitigung der Vorge-
fundenen Mifsstände einen Apparat zu empfehlen, dessen Wirkung
räumlich weit über den Sitz des Uebels hinausgreifen würde,1) ist
eine zwar häufig geübte, aber darum nicht minder zu mifs-
bi lügende Praxis. Die Sozialpolitik der Sittlichkeitsfanatiker
wird dadurch nicht besser , dafs sic metropolitancr Kurz-
sichtigkeit entspringt. —
Ungünstige Arbeitsbedingungen üben auf das weibliche Ge-
schlecht einen stärkeren Druck als auf das männliche. Es ist daher
der Wunsch ganz berechtigt, die Schutzmafsregeln bei jenem
etwas kräftigerzu be m essen, als bei diesem. Der gröfsere Schutz
wird die weiblichen Arbeiter um so leistungsfähiger machen und, weit
entfernt die Konkurrenzfähigkeit des weiblichen Geschlechtes gegen-
über dem männlichen herabzusetzen, dieselbe durch gesteigerte Lei-
stungener höhen"). NurdarfderSchutznichtdarinbestehen,
dafs man das weib liehe Geschlecht von dem betreffen-
den Arbeitserwerb ganz ausschliefst. Sei es direkt, durch
das Verbot der Mädchenbedienung, sei es durch das Verbot der
Nachtarbeit trotz der Erkenntnis, dafs Nachtarbeit im Wirschafts-
gewerbe unentbehrlich ist. Wohl aber kann man gewisse besonders
jugendliche Altersklassen ausschliel’sen und das Jugcndschutzalter
bei den Geschlechtern differenziell behandeln, d. h. beim weiblichen
Geschlecht höher ansetzen als beim männlichen. Aber auch hierbei
darf man nicht mit Sittlichkeitsprogrammen kokettieren, weil man
sonst leicht in die Gefahr kommt, einem Phantom zu liebe
das Erwerbsleben meistern zu wollen und dabei gerade
die dringendsten Forderungen der Sozialpolitik zu übersehen. Die
Sittlichkeit darf man bei der Sozialpolitik sozusagen nur als Neben-
*) Der Abgeordnete Letocha brachte in der Kommission für Arbeiterstatistik
vor, dafs er bei der Einbringung seines Antrages (siche unten) ganz besonders
die in Berlin und Umgebung herrschenden Zustände im Auge gehabt habe, die,
er aus seiner richterlichen Thätigkcit näher kennen gelernt habe und als ganz
schrecklich bezeichnen müsse (Verhandl. XVII S. 16).
*) Vgl. Hel. Simon in der ,,Soz. Pr.“ Jahrgang X Nr. 33.
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140
Arthur Cohen,
produkt erstreben. Sie gleicht dem Glück, das dem Glücksjäger
entschlüpft, wenn er es zu fassen glaubt, das aber ungerufen
kommt, wenn man sich seiner würdig macht und gläubig harrt.
Bessert die Arbeitsbedingungen, und die Sittlichkeit wird von selbst
kommen !
Der Beschäftigung als Kellnerin eine Grenze zu ziehen in der
Art, dafs besonders jugendliche Altersklassen davon
ausgeschlossen sein sollen1) — das ist eine Mafsregel, die
sich sozusagen von selbst aufdrängt. Ks ist in der That ein Un-
ding, junge Mädchen gleich von der Volksschule weg in Wirtshaus-
lokale zu schicken.*) Aber die Grenze erst beim 18. Lebensjahre
(Antrag der Kommission für Arbeiterstatistik) oder gar erst beim
,) Zur Würdigung aller nach Altersklassen differenzierten Schutzmafsrcgeln be-
darf es der Kenntnis der Altersgliederung der geschützten Hevölkerungsklassc.
Man vgl. daher bei den nachfolgenden Ausführungen folgende nach einigen be-
sonders wichtigen Altersstufen aufgebaute
Tabelle.
Nach der ßerufsstatistik von 1895 hatten ein Alter von
im Deutschen Reich
in Bayern
Gastwirts-
gehilfinnen
(C XXII c 2 w
und c 3 w)
Kellnerinnen
(C XXII c 2 w)
Gastwirts-
gehilfinnen
(C XXII c 2 w
und c 3 w)
Kellnerinnen
(C XXII c 2 w)
absolut j relativ 1 absolut
relativ
absolut
relativ
absolut | relativ
bis zu 16 Jahren
16—18 „
18— io „
20-30
über 30 ,,
»°943
22 768
28 889
75 76i
24684
6,7
»4,0 |
»7.7
46,5 !
»S,» 1
1 53»
3 534
5289
»9 345
7422
4,«
9,6
»4,2
52,1
20,0
1 053
2529
3670
»3 449
6467
3,9
9,3
»3,5
49,5
23,8
543
» »3»
1 648
6489
3 3'6
4.1
8,6
12,6
49,4
25,3
Summe . . .
163 045
100,0
1
37 »»»
100,0
27 168
100,0 1 13 127
100,0
*) Ueber die Folgen der Verwendung fcicrtagsschulpflichtiger Mädchen
zur Bedienung der Gäste hat die Münchener Schulbehörde bemerkenswerte
Beobachtungen gemacht. U. a. wird festgestelll, dafs in einem Nachtcafe feiertags-
schulpflichtige Mädchen während der Karncvalzcit regclmäfsig täglich 19 bis 20
Stunden beschäftigt werden. Es müsse etwas geschehen, um die Mädchen vor der-
artigen Ucbcranstrcngungen zu schützen und vor einer Gefahr, die nicht blofs auf
den Körper wirke, sondern das ganze Seelenleben eines solchen Mädchens zu Grunde
zu richten drohe (Münchener Gemeindezeitung 1900 Nr. 26, Sitzungsberichte).
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Der Entwurf von Bestimmungen über die Beschäftigung der Gastwirtsgehilfen.
21. (Antrag der Sittlichkeitsvereine) zu ziehen, geht zu weit. Es
genügt, wenn die Mädchen im Alter von 16 bis zu 18 Jahren einen
ihrem jugendlichen Alter entsprechend erweiterten Schutz geniefsen,
sie völlig vom Kellnerinnenberuf fernzuhalten, ist weder nötig noch
ratsam (siehe unten).
Es ist ja schwierig, sich für eine bestimmte Grenze zu ent-
scheiden. Das Leben bewegt sich in Übergängen. Was unmittel-
bar diesseits der Grenze zweckmäfeig erscheint, kann nicht unmittel-
bar jenseits derselben plötzlich als verwerflich angesehen werden.
Soviel ist sicher: Erwachsenen weiblichen Personen den Zugang
zum Kellnerinnenberufe zu versperren, ist eine Ungerechtigkeit und
eine unvernünftige Hemmung der Erwerbsthätigkeit. Das würde
aber geschehen, wenn man, wie die Sittlichkeitsvereine wollen, als
Altersgrenze das 21. Lebensjahr bestimmen würde. Der General-
sekretär der Sittlichkeitsvereine setzt zwar riesige Hoffnungen auf
eine derartige Mafsregel. Er meint,1) dafs sie „nicht nur der Un-
zucht im Kellnerinnengewcrbe Einhalt thun, sondern der Prostitution
überhaupt nahezu (!) den Todesstofs versetzen (!)“ würde. Es ist
unnötig, bei einer solchen Begründung länger zu verweilen. Der
Zweck der Altersgrenze kann nur der sein, Mädchen, welche noch
nicht genügend entwickelt, noch nicht reif und widerstandsfähig ge-
nug sind, von einem Berufe fernzuhalten, der nicht nur gesund-
heitlich aufserordentliche Anforderungen stellt, sondern bei dem auch
Unverstand und schlechtes Beispiel so leicht verderblich wirken
können. Ob jenes mit 16, 17 oder 18 Jahren der Fall ist, diese
Frage müfste eigentlich für jedes einzelne Individuum besonders be-
antwortet werden. Aber wirtschaftliche Gründe mahnen, die
Altersgrenze nicht zu hoch anzusetzen und lieber die nächsten
darüber liegenden Altersklassen mit einem erhöhten Schutze zu um-
geben. Es dürfte also genügen, die Vollendung des sechzehnten
Lebensjahres als Voraussetzung der Beschäftigung als Kellnerin *) zu
bestimmen. So auch die Anträge des Münchener Kellnerinnenvereins
und der Münchener Handels- und Gewerbekammer !), die man in dieser
Angelegenheit wohl als sachkundige Körperschaften betrachten
kann. Damit würde schon ein grofser Fortschritt erzielt, der ärger-
*) Denkschrift S. 19.
2) Die Beschäftigung von Mädchen unter 16 Jahren in der Küche als Koch-
lehrlinge oder Küchenmädchen unterliegt keinen Bedenken.
a) Bayer. Handels*. 1901 Nr. 20.
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142
Arthur Cohen,
lichste Mlisstand würde aus der Welt geschafft, und die Mädchen,
die sich dazu anschicken, den Kellnerinnenberuf zu ergreifen, hätten
Zeit, sich zuerst einige hauswirtschaftliche Kenntnisse anzueignen,
die ihnen besonders bei einem späteren Wiederaustritt aus dem Berufe
dienlich sein können.
Was die Gastwirtsgehilfinnen im Alter von 16 bis
zu 18 Jahren betrifft, so wären sie als jugendliche Personen
zu behandeln. Das helfet, es hätten auf sie dieselben Schutzmafs-
regeln Anwendung zu finden , wie nach dem Entwürfe auf die
männlichen Personen bis zu 16 Jahren. Es wäre ihnen also eine
neunstündige Ruhezeit zu gewähren, und ihre Beschäfti-
gung bei Nacht, von io bis 6 Uhr, wäre zu verbieten.1}
Sic genössen also einen gröfeeren Schutz als die männlichen Gast-
wirtsgehilfen gleichen Alters. Dieser besondere Schutz dürfte sich
aber nicht, wie der Korreferent will, auf die Kellnerinnen be-
schränken, sondern er müfste alle Gastwirtsgehilfinnen (also
auch die Küchenmädchen) umfassen. Also nicht Verbot der Bedienung
der (iäste oder des Aufenthalts im Gastlokal zur Nachtzeit, sondern
Nachtruhe! Diesen jungen Dingern fehlt die Nachtruhe2), nicht
die „Sittlichkeit"
Die Reichstagsabgeordneten Hitze (Zentrum), Letocha (Zentrum)
und Jakobskötter (konservativ) haben in der Kommission für
Arbeiterstatistik als Mitglieder dieser Kommission den Antrag ge-
stellt3), zu bestimmen, dafe weibliche Personen im Alter von 18
bis zu 21 Jahren nur in der Zeit von 6 Uhr morgens bis 1 1 Uhr
abends zur Bedienung der Gäste verwendet werden dürfen.
(Sie gehen dabei von der Annahme aus, dafe der Beschlufe der
') Auch die Petition des Münchener Kcllncrinnenvercins enthält die Forderung:
„zu verbieten, dafs Mädchen von 16 bis 18 Jahren zwischen io Uhr Abends und
6 Uhr Morgens beschäftigt werden.“
Hei der Vernehmung von Auskunftspersonen erzählte eine Münchener „Buffet-
dame“ i Vcrh. XVI 92 3) vom Dienst der Wassermädchen *) im prüften Cafe Münchens:
„Die Wassermädchen kommen in der Früh um 6 Uhr und gehen Nachts zwischen
12 und */4 1 Uhr. Die Mädchen sind sehr schwach und sehen sehr schlecht aus, sic
schlafen sehr wenig.“
*) Die Wassermädchen (Biermädchen), meistens bis zu i8 Jahren alt,
sind die Gehülfinnen der eigentlichen Kellnerinnen, der Kassiererinnen; diese
werden so genannt, weil sie allein (nicht ihre Gehülfinnen) das Recht haben, von
«lern Gaste das Geld einzukassicren.
3i Verband?. XVII 16.
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Der Entwurf von Bestimmungen über die Beschäftigung der Gastwirtsgehilfen. 143
Kommission, Mädchen unter 18 Jahren von der Beschäftigung als
Kellnerin überhaupt auszuschliefsen, Gesetz wird.) Aber Personen
im Alter von 1 8 bis zu 2 1 Jahren dürften doch kaum mehr als
jugendliche Personen anzusehen sein ! Der Antrag ist aber auch
schon deshalb fehlerhaft, weil er eine Vergünstigung — oder ist es
eine Benachteiligung? — der Kellnerinnen im Alter von 18 bis zu
21 Jahren gegenüber den übrigen Gastwirtsgehilfinnen des gleichen
Alters bedeuten würde. Die Beschränkung des Antrags auf eine
bestimmte Beschäftigungsart, als Kellnerin, ruft wieder den Verdacht
hervor, dafs es sich dabei nicht um Arbeiterschutz handelt, sondern
dafs unter der Maske der Sozialpolitik wieder etwas Sittlichkeit
eingeschwärzt werden soll. Darauf deutet auch die Begründung
hin, welche die Antragsteller dem Antrag haben zu teil werden
lassen.1) Da müssen wir nun wieder sagen: Die Fernhaltung der
Kellnerinnen von der Nachtarbeit bildet kein Palladium gegen sitt-
liche Gefahren, wohl aber kann sie zu einem Ergebnisse fuhren,
das die Antragsteller selbst nicht wollen : dafs den so „Geschützten“
die Ausübung ihres Berufes unmöglich gemacht wird. Die Kellne-
rinnen im Alter von 18 bis 21 Jahren machen aber ein volles
Fünftel aller Kellnerinnen im Reiche aus. Bei den Mädchen im
Alter von 16 bis 18 Jahren kann eine solche Bcfurchtuug deshalb
nicht aufkommen, weil dieselben meistens nur Hilfsarbeit verrichten,
z..B. als Wasser- oder Biermädchen, deren Arbeit nicht so unent-
behrlich ist, dafs man nicht in den Nachtstunden darauf verzichten
könnte. Die Altersklasse 18 bis 21 Jahre dagegen besteht wohl
mit geringen Ausnahmen aus Vollkellnerinnen.
Praktisch die wichtigste Frage des Arbeiterinnenschutzes im
Gastwirtsgewerbe ist jedenfalls gegenwärtig die, ob die Alters-
grenze von 18 oder von löjahren gewählt werden soll.
Der offizielle Vorschlag (18 Jahre) bezieht sich auf den 7. Teil aller
Kellnerinnen, während die Altersgrenze von 16 Jahren nur den
24. Teil ausschliefsen würde. Die Wahl der Altersgrenze von
18 Jahren stellt also eine sehr einschneidende Mafsregel dar. Seine
Tragweite dürfte aber über seine ziflermäfsige Bedeutung noch
hinausgehen. Viele von den jungen Mädchen, welche gegenwärtig
gleich beim Eintritt in das Erwerbsleben den Kellncriunenberuf er-
greifen, würden nämlich voraussichtlich, wenn ihnen der Weg dazu
versperrt sein würde, nach der Ueberschreitung der Altersgrenze
') ebenda, vgl. auch oben S. 47 Anm. 1.
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144
Arthur Cohen,
von 18 Jahren dem Kellnerinnenberufe sich nicht mehr zuwenden
wollen, sondern in dem einmal ergriffenen Berufe verharren.
Aber: „wäre das ein Unglück?" so höre ich fragen.
Ist doch die gewerbliche Lohnarbeit des Weibes immer nur als
notwendiges Uebel anzusehen, und gehört doch deren Einschränkung
zum sozialpolitischen Programm der Zukunft, die Verhinderung der
Fabrikarbeit verheirateter Frauen sogar zu den aktuellen Forderungen !
Soll man also nicht schon jetzt damit anfangen, eine Erwerbssparte
nach der anderen — „weiberrcin“ zu machen ? Nun gar, wo es sich
um eine Arbeit handelt, deren Gesundheitsschädlichkeit feststeht,
und die überhanpt wenig Verlockendes, dagegen viel Abstofscndes
an sich hat?
Der Ausschlufs der Altersklasse 16 bis j8 vom Kellnerinnen-
berufe deutet vermehrte Konkurrenz bei den andern weib-
lichen Berufen, namentlich bei den Handlungsgehilfinnen und
Heimarbeiterinnen. Vermehrte Konkurrenz aber bedeutet
geringeren Lohn, überhaupt ungünstigere Arbeitsbeding-
ungen. Nun hat man gerade in der letzten Zeit Schritte unter-
nommen, die Arbeitsverhältnisse der Verkäuferinnen und Heim-
arbeiterinnen zu verbessern. Es liegt gevvifs im sozialpolitischen
Interesse, die gewerbliche Berufsarbeit der Frauen nicht ganz der
Triebkraft ihrer Entwicklung zu überlassen. Aber mit der Be-
schränkung der weiblichen Arbeit in einzelnen Gewerben muLs
man sehr vorsichtig sein, weil man dadurch leicht die Lage der
Arbeiter — und zwar nicht nur der weiblichen sondern auch der
männlichen — in den Komplementärgewerben verschlechtert. So
schlimm die Arbeitsverhältnisse der Kellnerinnen sind — solange
die Lage der Heimarbeiterinnen, Handlungsgehilfinnen u. s. w.
nicht eine wesentlich bessere ist, ’} hat man keinen Grund, hemmend
in die Berufswahl einzugreifen und dem Heer der Verkäuferinnen
und Heimarbeiterinnen neue Bataillone anzugliedern. Der Ausschlufs
der Altersklasse 16 — 18 vom Kellnerinnenberufe würde nur die Folge
haben, dafs sich nur solche Mädchen dem Kellnerinnenberufe widmen
würden, die in anderen Berufen bereits Schiffbruch erlitten haben.1)
* *
*
*) Die „Allg. Zig.“ meint sogar: „Auf alle Fälle sind die Kellnerinnen weit
besser daran, wie die Mehrzahl unserer Ladnerinnen, die bei meist ganz bescheidener
Bezahlung auch oft eine zehn- bis zwölfstündige Arbeitszeit haben.“ (io. März 1900,
aus Anlafs der Gründung des Kcllnerinncnvcrcins.)
*) Die oben erwähnte Petition der Wirte enthält die beachtenswerte Anregung,
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Der Entwurf von Bestimmungen über die Beschäftigung der Gastwirtsgehilfen. 145
Wenn wir die Kommissionsvorschläge und den Entwurf mit-
einander vergleichen (siehe unten), so finden wir, dafs die Moll-
akkorde, die die Kommission angeschlagen hat, von einer ent-
schiedeneren Tonart abgclöst worden sind. Die Folgen haben
wir schon konstatiert: Während es der Kommission gelungen
ist, die Arbeitgeber zufrieden zu stellen, erklären sich dieselben
kategorisch gegen den Entwurf. Die Fortschrittsfreudigkeit der
Regierung hat dadurch einen argen Stofs erlitten, denn sie würde
es natürlich gerne vermeiden, gegen den offenen Protest der Arbeit-
geber weiter in der Sache vorzugehen. Dazu kommt, dafs, so viel ich
weifs, aufser der preufsischen Regierung bis jetzt (Ende September)
noch kein Bundesstaat sich offiziell zur Sache geäufsert hat, also
namentlich die süddeutschen Regierungen sich die Hände noch nicht
gebunden haben. Ich glanbe deshalb nicht, dafs es zu einer
Bundesratsverordnung kommen wird, denn die Regierungen werden
das Odium einer „Bäckereiverordnung" nicht von neuem auf sich
laden wollen. Ich halte diesen Standpunkt für berechtigt: der
Reichstag ist der Platz, wo Interessenkämpfe zum Austrag zu
bringen sind. Ob der Reichstag den von der Regierung einge-
schlagenen Weg weiter verfolgt und die Bestimmungen des Ent-
wurfes ausbaut, erscheint fraglich. Es ist möglich, dafs statt einer
Verbesserung eine Verwässerung des Entwurfes vorgenommen wird,
oder dafe von gewissen Parteien als Preis für ihre Arbeiterfreund-
lichkeit Konzessionen an den Sittlichkeitsstandpunkt verlangt werden.
Es ist ferner möglich, dafs praktisch wichtige Bestandteile des
Arbeiterschutzes geopfert werden zu Gunsten der Papierexistenz
einer undurchführbaren Mafsregel. Die Regelung der täglichen
Arbeitszeit ohne Fürsorge für eine entsprechende Aufsicht wird
z. B. immer einen Scheinerfolg bilden. Sie hat nur dann einen
Wert, wenn sie nicht nur das Schlafbedürfnis, sondern auch den
Weg ins Geschäft und nach Hause, ferner den Zeitaufwand auf
Reinigung und Bekleidung berücksichtigt, wenig Ausnahmen enthält
und mit einer sorgfältigen Aufsicht verbunden wird. Wir würden
es daher beklagen, wenn der Reichstag z. B. die neunstündige
Ruhezeit acceptieren, durch diese Leistung aber sich der Aufgabe
die Bestimmung des Mindcstaltcrs der Kellnerinnen den einzelnen Staaten zu
überlassen. Auf diese Weise könne die Verschiedenheit des Kellnerinnen Wesens
in den verschiedenen Teilen des Reiches berücksichtigt werden. (Das Reich könnte
und müfste ra. E. dennoch ein Mindestalter von 16 Jahren fcstsctzen ; darüber hinaus-
zugehen, wäre Sache der einzelnen Staaten.)
Archiv für *01. Geset/yebung u. Statistik. XVII. IO
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146
Arthur Cohen,
ledig dünken würde, den Wochenruhetag und den Schutz der Jugend-
lichen konsequent durchzufuhren. Die Wochenruhe steht schon'
deshalb auf einer höheren Rangstufe sozialpolitischer Wertung, weil
sie in ganz anderem Mafse als die tägliche Ruhe zur sozialen
Hebung der Arbeiterklasse beiträgt. Die tägliche Ruhe kommt
möglicherweise sogar von selbst, wenn man den Gastwirtsgehülfen
den vollen Wochenruhetag durch Gesetz sichert. Man helfe den
Arbeitern, um sie für den sozialen Kampf zu stärken!
Nachstehend
die der
Vorschläge *) der Reichskommission für Entwurf von Bestimmungen über die
Arbeiterstati8tik zur Regelung der Be- Beschäftigung von Gehilfen und Lehr-
schäftigung des Personals in den Gast- lingen in Gast- und in Schankwirt-
und Schankwirtschaften. *) schäften.
1. In den Gast- und Schank- I. In Gast- und in Schank-
wirtschaften ist den Hilfspersonen wirtschaften ist jedem Gehilfen
innerhalb je 24 Stunden eine un- und Lehrling über 16 Jahre inner-
unterbrochene Ruhezeit von min- halb der auf den Beginn seiner
destens 8 Stunden zu gewähren. Arbeit folgenden vierundewanzig
Stunden eine ununterbrochene
Ruhezeit von mindestens acht
! Stunden zu gewähren.
Für Gehilfen und Lehrlinge
unter 16 Jahren sowie in Ge-
meinden, welche nach der jeweilig
letzten Volkszählung mehr als
20000 Einwohner haben, mufs
*) Aufser diesen Vorschlägen äufserte die Kommission folgende Wünsche:
Es möge gelegentlich einer Revision der einschlägigen Bestimmungen der Gewerbe-
ordnung darauf Bedacht genommen werden, dafs zum mindesten an jedem zweiten
Sonntag dem Personal für die Zeit von wenigstens zwei Stunden Gelegenheit
zum Besuche des Gottesdienstes des betreffenden Bekenntnisses zu geben
sei. Ferner: Falls die Vorschriften der §§ 33 und 53 der Gewerbeordnung zur Be-
seitigung der Gefahren und Schäden, welche die sogenannten Animierkneipen
für die dort verkehrenden Gäste wie für die bedienenden Kellnerinnen mit sich
bringen, nicht ausreichen sollten, wünscht die Kommission, dafs auf eine Ergänzung
derselben Bedacht genommen werde.
*) Um ihre Vergleichung mit den Bestimmungen des „Entwurfes“ zu erleichtern,
habe ich sic nach diesen geordnet und entsprechend redigiert.
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Der Entwurf von Bestimmungen über die Beschäftigung der Gastwirtsgehilfen.
2. An höchstens 60 Tagen im
Jahre darf eine Ueberschreitung
der durch die achtstündige Ruhe-
zeit bedingten täglichen Arbeits-
zeit stattfinden ; jedoch mufs nach
beendigter Thätigkeit eine min-
destens achtstündige ununter-
brocheneRuhezeitgewährt werden.
3. In den Gast- und Schank-
wirtschaften ist den Hilfspersonen
aufser der Ruhezeit zu I. in jeder
Woche in der Zeit zwischen 12
Uhr mittags und 9 Uhr abends
eine solche von mindestens 6
Stunden zu gewähren.
In Gemeinden von mehr als
10000 Einwohnern ist den Hilfs-
personen alle 3 Wochen statt der
auf die betreffende Woche ent-
fallenden sechsstündigen Ruhezeit
ein ganzer Tag frei zu geben.
die Ruhezeit mindestens neun
Stunden betragen. Für kleinere
Ortschaften kann diese längere
Ruhezeit für Gehilfen und Lehr-
linge über 16 Jahre durch Polizei-
verordnungen der zum Erlafs
solcher Verordnungen berechtigten
Behörden vorgeschrieben werden.
Die Zahl der Ruhezeiten darf
! für die Woche nicht weniger als
sieben betragen.
2. Bis zu sechzigmal im Jahre
darf die aus den Bestimmungen
unter Ziffer 1 Absatz 1 , 2 sich
ergebende Höchstdauer der Ar-
beitszeit für den einzelnen Gehilfen
und Lehrling überschritten werden ;
jedoch muls in allen Fällen nach
dem Abschlüsse der Arbeit eine
Ruhezeit von der in Ziffer 1 Ab-
satz 1, 2 vorgeschriebenen Dauer
gewährt werden. Auch behält es
bei der Bestimmung der Ziffer i
Absatz 3 sein Bewenden.
3. An Stelle der nach Ziffer 1
Absatz 1, 2 zu gewährenden un-
unterbrochenen acht- oder neun-
stündigen Ruhezeit ist den Ge-
hilfen und Lehrlingen alle drei
Wochen mindestens einmal eine
ununterbrochene Ruhezeit von
mindestens 24 Stunden zu ge-
währen. In Gemeinden, welche
nach der jeweilig letzten Volks-
zählung mehr als 20000 Einwohner
haben, ist diese Ruhezeit min-
destens alle 2 Wochen zu ge-
währen.
In denjenigen Wochen, in
welchen hiernach eine ununter-
10*
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148
Arthur Cohen,
4. In jedem Gast- und Schank-
wirtschaftsbetrieb ist ein Verzeich-
nis zu fuhren, in welches spätestens
nach Ablauf jeder Woche einzu-
tragen ist, an welchem Tage bezw.
Nachmittag einer jeden Hilfsperson
die für die Woche vorgeschriebene
Ruhezeit gewährt wurde.
In jedem Gast- und Schank-
wirtschaftsbetrieb ist ein Verzeich-
nis zu führen, in welches jede
Ueberschreitung der durch die
achtstündige Ruhezeit bedingten
täglichen Arbeitszeit spätestens ain
ersten Tage, nachdem sie statt-
gefunden hat, einzutragen ist.
Die Verzeichnisse sind auf
Verlangen der Ortspolizeibehörde
vorzulegen.
5. Jugendliche Personen unter
16 Jahren dürfen in der Zeit von
brochene vierundzwanzigstündige
Ruhezeit nicht gewährt zu werden
braucht, ist aufcer der in Ziffer I,
Abs. 1, 2 festgesetzten ununter-
brochenen acht- oder neunstündi-
gen Ruhezeit mindestens einmal
eine weitere ununterbrochene
Ruhezeit von mindestens 6 Stunden
zu gewähren, welche in der Zeit
zwischen 1 2 Uhr mittags und 9 Uhr
abends liegen mufs.
4. Die Arbeitgeber sind ver-
; pflichtet, für jedes Kalenderjahr
ein Verzeichnis anzulegen, welches
j die Namen der einzelnen Gehilfen
; und Lehrlinge enthalten mufs. In
j das Verzeichnis ist bei Ablauf jeder
Woche neben den Namen der
einzelnen Gehilfen und Lehrlinge
einzutragen, wie oft innerhalb dieser
Woche für jeden einzelnen Ge-
hilfen und Lehrling von der in
Ziffer 2 gewährten Befugnis Ge-
brauch gemacht worden ist. Zu-
gleich sind diejenigen Tage, an
welchen eine Ruhezeit gemäl's
Ziffer 3 gewährt worden ist, und
die Dauer dieser Ruhezeit einzu-
tragen. Fällt das Ende des Ka-
lenderjahres nicht mit dem Ablauf
der Woche zusammen, so sind die
Eintragungen für die in die Woche
fallenden Teile beider Kalender-
jahre getrennt vorzunehmen.
Die Verzeichnisse sind auf Er-
fordern den zuständigen Behörden
und Beamten jederzeit zur Einsicht
vorzulegen.
5. Gehilfen und Lehrlinge
i unter 16 Jahren dürfen in der Zeit
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Der Entwurf von Bestimmungen über die Beschäftigung der Gaslwirtsgehüfen.
io Uhr abends bis 6 Uhr morgens 1
nicht beschäftigt werden.
6. Weibliche Personen unter
18 Jahren, welche nicht zu den
Familienangehörigen des Wirtes
gehören, dürfen nicht zur ständigen
Bedienung der Gäste verwendet
werden.
7. Als Hilfspersonen im Sinne
dieser Bestimmungen gelten solche
Personen, welche als Kellner,
Oberkellner, Kellnerlehrlinge, als
Köche, Kochlehrlinge, Köchinnen
oder Mamsells beschäftigt werden ;
Köchinnen und Mamsells jedoch
nur dann, wenn sie nach der
Gröfse und Einrichtung des Be-
triebs als gewerbliche Gehilfinnen
anzusehen sind.
von ioUhr abends bis 6Uhr morgens
nicht beschäftigt werden.
6. Gehilfen und Lehrlinge
weiblichen Geschlechts unter 18
Jahren, welche nicht zur Familie
des Arbeitgebers gehören, dürfen
nicht zur Bedienung der Gäste
verwendet werden.
7. Als Gehilfen und Lehrlinge
im Sinne dieser Bestimmungen
gelten solche Personen männlichen
und weiblichen Geschlechts, wel-
che im Betriebe der Gast- und der
Schankwirtschaften als Oberkell-
ner, Kellner oder Kellnerlehrlinge,
als Köche oder Kochlehrlinge, am
Büffet oder mit dem Fertigmachen
kalter Speisen beschäftigt werden.
8. Die vorstehenden Bestim-
mungen treten am I. Oktober
1901 in Kraft.
Bis zum 31. Dezember 1901
ist Ueberarbeit (Ziffer 2) höchstens
lunfzehnmal zulässig.
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Die deutsche Strikestatistik.
Von
Dr. CLEMENS HEISS,
in Berlin
Die erste Publikation einer fortlaufenden Statistik des
Deutschen Reiches über Strikes und Aussperrungen erfolgte
auf Grund der Bestimmungen des Bundesrats vom io. Juni 1898 in
den „Vierteljahrsheften zur Statistik des Deutschen Reichs" Jahrg.
1898, IV. H., S. 185 fr. Nach diesen Bestimmungen findet die Er-
hebung des Urmaterials für das ganze Reichsgebiet statt. Die nach
einem einheitlichen Formular über jede gemeinsame Arbeitsein-
stellung mehrerer gewerblicher Arbeiter (Strike) und über jede
gemeinsame Aussperrung mehrerer gewerblicher Arbeiter (Aus-
sperrung) auszufüllende Nach Weisung enthält 14 Punkte. Diese
betreffen glcichmäfsig Ort, Gewerbeart, Anzahl der Betriebe, Ge-
samtzahl der in ihnen beschäftigten Arbeiter (darunter Personen
unter 21 Jahren), Beginn und Ende des Strikes (resp. der Aus-
sperrung), Höchstzahl der Strikenden (darunter Minderjährige), Zahl
der Kontraktbrüchigen (darunter Minderjährige), Höchstzahl der
indirekt vom Strike erfafsten Arbeiter, Gründe des Strikes und
Forderungen der Ausständigen, Ergebnisse des Strikes, Einwirkung
und Unterstützung von Berufsvereinigungen und dritten Personen,
Vergleichsverhandlungen (unmittelbar zwischen den Parteien, vor
dem Gewerbegericht, durch Vermittlung %ron Berufsvereinigungen
oder dritten Personen), polizeilichen Schutz Arbeitswilliger und
sonstige polizeiliche Mafsnahmen, Bemerkungen (auch darüber, ob
die Staatsanwaltschaft in Anspruch genommen worden ist, sowie
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Die deutsche Strikestatistik.
.151
über nachweisbare Verluste an Arbeitslohn während des Strikes).
Die Ausfüllung der Nachweisungen liegt den Ortspolizeibehörden
ob, soweit nicht durch die Landeszentralbehörden andere Stellen
damit beauftragt werden. ') Die Nachweisung für einen Strike oder
eine Aussperrung ist sogleich nach deren Beendigung auszufüllen
und alsbald auf dem Dienstwege der höheren Verwaltungsbehörde
zu übersenden. Diese wird die Prüfung, und soweit erforderlich
die Vervollständigung des Inhalts der Nach Weisungen veranlassen,
hierbei diejenigen Nachweisungen bezeichnen, die sich nach ihrer
Kenntnis der Verhältnisse auf denselben Strike oder dieselbe
Aussperrung beziehen , und binnen zwei Wochen nach dem
Schlüsse jedes Vierteljahres die in dessen Laufe ihr einge-
reichten Nachweisungen oder eine Fehlanzeige an das Kaiserliche
Statistische Amt senden. Gelegentlich der Einsendung wird die
höhere Verwaltungsbehörde zugleich über diejenigen zu ihrer
Kenntnis gekommenen Strikes und Aussperrungen Aufschlufs geben,
welche im Laufe des Vierteljahres ausgebrochen, aber, weil noch
nicht beendet, in die Nach Weisungen noch nicht aufgenommen
sind. Die Landesregierungen werden die höheren Verwaltungs-
behörden anweisen, Rückfragen des Kaiserlichen Statistischen Amtes
unmittelbar zu erledigen. Letzteres hat für jedes Vierteljahr eine
summarische Ucbersicht über die Strikes und Aussperrungen und
für jedes Jahr eine ausführliche Statistik derselben sobald als thun-
lich zu veröffentlichen.
Dies sind, von ganz unwesentlichen Bestimmungen, wie z. B.
über den Formularbezug , abgesehen , die Bestimmungen , nach
denen die erstmals in der „Statistik des Deutschen Reiches“,
(Neue Folge, Band 1 34 s) vorliegende deutsche Strikestatistik be-
arbeitet worden ist. Die Strikestatistik für das Jahr 1900 ist ent-
halten in der „Statistik des Deutschen Reiches“, Neue Folge,
Band 141.*) In der Einleitung zu dieser Publikation wird noch be-
merkt, dafs nach einer generellen Anordnung, deren Wortlaut aber
leider nicht mitgeteilt wird, bei der Nachprüfung der Nachweisungen
durch die höheren Verwaltungsbehörden „die Gewerbeaufsichts-
*) Eine solche" Verfügung ist uns nicht bekannt geworden.
2) Strikes und Aussperrungen im Jahre 1899. Bearbeitet im Kaiserlichen Sta-
tistischen Amt Berlin 1900. Verlag von Putlkammer und Mühlbrecht, Buchhandlung
für Staats- und Rechtswissenschaft.
*) Ebenda. 1901.
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!52
Clemens Heifs,
beamten in thunlichst weitem Umfange beteiligt werden sollen“.
Weiter heifst es: „Da die Behörde, welcher die Aufstellung der
Nachweisung obliegt, bei Sammlung der in dieselben aufzunehmenden
Angaben im wesentlichen auf Erkundigungen ihrer untergeordneten
Organe bei den Beteiligten angewiesen sein wird, so bestimmt eine
besondere Vorschrift, daß bei diesen die Interessen der Arbeit-
geber und Arbeitnehmer gemeinsam berührenden Fragen beide
Teile gleichmäfsig berücksichtigt werden sollen, damit ein möglichst
objektives Bild des Sachverhältnisses erlangt werde." Weiter heifst
es in dem amtlichen Bericht — und es kommt hierbei eine, wenn
auch unbewufste Kritik des amtlichen Erhebüngsverfahrens zum
Ausdruck — wörtlich : „Da die Möglichkeit nicht von der Hand
zu weisen ist, dafs die Polizeibehörden — mit Rücksicht auf ihre
gewöhnlichen Obliegenheiten (!) — hauptsächlich und in erster
Linie immer *) von denjenigen Arbeitskonflikten Kenntnis erlangen
werden, bei denen es zu Kontraktbruch, zu Ausschreitungen u. s. w.
kommt, während ihrer Aufmerksamkeit vielfach solche Ausstände,
namentlich kleineren Umfangs, entgehen können, bei welchen ihre
Hilfe nicht in Anspruch genommen wird, so wird, um einer zu be-
fürchtenden Unvollständigkeit der Erhebungen vorzubeugen, seitens
des Kaiserlichen Statistischen Amtes eine grofse Anzahl von
Zeitungen (gegenwärtig 44, 1900 45), die sich vornehmlich oder
ausschließlich mit der Behandlung der Arbeiterfrage beschäftigen,
*) Die Häufung der Worte : „Hauptsächlich und in erster Linie immer“ ist
bezeichnend. An anderer Stelle (Statistik des Deutschen Reiches, X. F. Bd. 134
S. V) wird sie noch bekräftigt. Es heifst hier nach einer ausführlichen Erörterung
des Begriffs des Strikcs : „ln der oben aufgestclltcn Begriffsbestimmung sind alle
Erfordernisse hervorgehoben, bei deren Vorhandensein ein Arbeitskonflikt im Sinne
dieser Statistik als Strikc gelten soll. Um jedoch vielfach zu Tage getretenen
irrigen Auffassungen für die Zukunft endgültig vorzubeugen, sei an dieser Stelle
noch ausdrücklich darauf hingewiesen, dafs Kontraktbruch, Ausschreitungen der
Arbeiter, Schädigung des Unternehmers u. s. w. zwar Begleiterscheinungen eines
jeden Strikes sein können, dafs sie aber mit dem Wesen des Strikes an sich nicht
das Geringste zu thun haben und dafs daher das Vorlicgcn eines Strikefallcs nicht
aus dem Grunde verneint werden darf, weil die Arbeiter rechtzeitig gekündigt
hatten, die Bewegung in aller Ruhe und ohne dafs sie überhaupt der Ocffentlich-
keit bekannt wurde, verlief, der Unternehmer sofort andere Arbeiter an Stelle der
Strikcnden einzustellen vermochte, vielleicht auch dem Unternehmer eine zeitweilige
Herabsetzung des Arbeiterbestandes oder sogar ein zeitweiliger Stillstand des Be-
triebes im Hinblick auf die Geschäftslage gar nicht unerwünscht war u. s. w.“
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Die deutsehe Strikestatistik.
153
einer regelmäfsigen eingehenden Durchsicht bezüglich der in ihnen
über den Ausbruch und die Beendigung von Arbeitskonflikten ent-
haltenen Nachrichten unterzogen ‘). An der Hand dieses bereits
im Laufe des Vierteljahres selbst im Statistischen Amt gesammelten
Materials werden die nach Ablauf des Quartals seitens der höheren
Verwaltungsbehörden übersandten Nachweisungen, Fehlanzeigen und
Mitteilungen über begonnene, aber noch nicht beendete Strikes auf
ihre Vollständigkeit hin geprüft und, sofern durch Zeitungsnotizen
zur Kenntnis des Amtes gelangte Strikes u. s. w. in den amtlichen
Nachweisungen keine Berücksichtigung gefunden haben, sofort die
erforderlichen Rückfragen in die Wege geleitet. In Verfolg der-
selben sind zahlreiche Arbeitskonflikte, die zunächst der Ortspolizei-
behörde, sowie der höheren Verwaltungsbehörde unbekannt ge-
blieben waren, nachträglich zur amtlichen Nachweisung gebracht
worden; vielfach stellte sich allerdings auch bei den eingeleiteten
Ermittlungen heraus, dafs es sich im Gegensatz zu den Zeitungs-
nachrichten nicht um wirkliche Strikes oder Aussperrungen, sondern
z. B. um über einzelne Unternehmungen verhängte Sperren ge-
handelt hatte, oder dafs cs vor der angekündigten Arbeitseinstellung
zur Einigung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern gekommen
war, oder dafs die Arbeiter noch im letzten Augenblick von der
angedrohten Niederlegung der Arbeit Abstand genommen hatten."
Difficile est satiram non scribere über diese Erhebungsmethode.
Also die Ortspolizeibehörden und die ihnen Vorgesetzten höheren
Verwaltungsbehörden, denen ihre Amtspflicht eine regelmäfsige
Berichterstattung über die Strikebewegung auferlegt, wissen nicht
einmal das, was jedermann in der Zeitung lesen kann, sie müssen
von Berlin aus auf die in ihrem Bezirke vorgekommenen
Strikes aufmerksam gemacht werden! Und dann sollen diese Be-
hörden, „die hauptsächlich und in erster Linie immer
von denjenigen Arbeitskonflikten Kenntnis erlangen werden, bei
denen es zu Kontraktbruch, zu Ausschreitungen
u.s. w. kommt", beide Teile gleichmäfsig berück-
sichtigen, damit ein möglichst objektives Bild des Sachver-
hältnisses erlangt werde ! Eine naivere Zumutung ist uns — wir
müssen es offen gestehen — noch selten zu Gesicht gekommen.
Also diejenigen niederen Polizeiorgane — denn sie werden mit der
') Möchte doch das Kauert. Statistische Amt ähnlich wie das Österreich. Arbeits-
statistische Amt seine Lesefrilchte als Anhang zur Strikestatistik publizieren !
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«54
Clemens Heils,
Ausfüllung der Fragebogen betraut — , die jahraus jahrein von der
Vorgesetzten Behörde dazu angehalten werden, in jedem Strike ein
Vergehen, um nicht zu sagen ein Verbrechen zu erblicken, die bei
jedem Strike die Interessen der angesehenen Unternehmer gegen-
über den armen Teufeln von Arbeitern auf das einseitigste zu ver-
treten haben, sollen unter gleichmäfsigcr Berücksichtigung beider
Teile ein objektives Urteil über die Gründe des Strikes und die
Forderungen der Strikenden abgeben. Das ist denn doch etwas
zu viel verlangt. ’)
Verstärkt wird nun die Befangenheit dieser niederen Polizei-
organe gegenüber den Strikenden durch die Fragen nach dem
Kontraktbruch und dem Einschreiten der Staatsanwaltschaft. Für
den Schutzmann ein Grund weiter, die Strikenden für Beschuldigte
anzusehen. Wenn nun hier die niederen Polizeiorgane in ihrem
Berichte selber das Urteil über die Gründe des Strikes abzugeben
haben, werden sie nicht nach dem Grundsatz in dubio pro reo,
sondern nach jenem anderen Grundsatz aus der Zeit der Herrschaft
der peinlichen Frage verfahren : „Der Beschuldigte leugnet, also ist
er schuldig!“ Fis wird also auf dem vorgeschriebenen Wege, sei
es, dafs der Polizeibeamte die Strikenden hört und ihre von der
Ansicht der Unternehmer abweichende Meinung über die Gründe
des Strikes (Regelfall!) nicht glaubt, sei es, dafs er es überhaupt
nicht für der Mühe wert hält, sie zu fragen, wenn ihm die Aus-
kunft des Unternehmers zur Ausfüllung der Formulare genügt, in
') Dafs wir nicht zuviel behaupten, wenn wir sagen, dafs die Polizeibehörden
bei Strikes die Interessen der Unternehmer auf das Einseitigste vertreten, dafür
wollen wir, trotzdem dies beinahe eine gemeinplätzliche Erfahrungstatsache ge-
worden ist, nur zwei Beispiele anführen. Trotzdem wir seit geraumer Zeit die
Rechtsprechung darüber verfolgen, ist uns nicht ein Kall bekannt geworden, in
dem Unternehmer wegen Verletzung des § 153 der R.G.O. besü-aft worden wären.
I)afs hierwegen gegen Unternehmer überhaupt Anklage erhoben wird, gehört zu
den gröfsten Seltenheiten. Und doch sind die Fälle, in denen sich Unternehmer
gegen § 153 R.G.O. vergehen, gar nicht so selten. Einen anderen Fall, der selbst
die Vorurteilslosigkeit der Gerichte in bedenklichstem Lichte erscheinen läfst, hindert
uns nur das Strafgesetzbuch kritisch zu würdigen. Wir erwähnen deshalb die nackte
Thatsache, dafs das Oberlandesgericht Naumburg den Satz einer sozialdemokratischen
Zeitung „Zuzug ist fernzuhalten!“ für groben Unfug erklärt und nachdem das zu-
ständige Landgericht bei seiner Freisprechung verharrt war, da dem Oberlandes-
gericht über Thatsachcn kein Urteil zustehe, weiter erkannt hatte, dafs dieses Urteil
eine Rcchtsauslegung enthalte und die Sache einem anderen Landgericht zuwies.
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Die deutsche Strikrstatistik.
155
der weitaus überwiegenden Mehrzahl der Fälle die Anschauung der
Unternehmer über die Gründe des Strikes in der amtlichen Statistik
zum Ausdruck kommen.
Wenn man mit der gleichmäfsigen Berücksichtigung beider
Teile wirklich Ernst machen will, so mufs man von den Ortspolizei-
behörden zum mindesten verlangen, dafs sie für jeden Strikefall,
womöglich auf Grund protokollarischer Vernehmung, die Gründe
und Forderungen berichten, wie sie ihnen von den Vertretern der
beiden Parteien selber mitgeteilt worden sind. Das ist das Mindeste,
was man von einer objektiven amtlichen Berichterstattung verlangen
kann. Denn solange die Ortspolizeibehörden, ohne spezielle Nach-
weisung der Ansichten der am Strike beteiligten Parteien, nur ihre
eigene Meinung über die Gründe des Strikes zu berichten haben,
kann man unmöglich eine objektive Berichterstattung erwarten.
Im vorliegenden Falle mufs es ganz unumwunden gesagt werden,
dafs die Polizeibehörden das Vertrauen in ihre Objektivität ver-
scherzt haben. Es mufs daher, wenn man ihrer Mitwirkung nicht
entbehren zu können glaubt, für Kontrollmafsregeln gesorgt werden.
Dafs man ihrer Mitwirkung entraten kann, zeigt das Beispiel fcing-
lands. Ja, werden die Vertreter der Regierung sagen, wir haben
aber die englischen Einrichtungen : die Berufsvertretungen, das Ar-
beitsamt u. s. w. nicht. Ganz richtig, ihr habt kein Arbeitsamt,
keine Arbeiterkammern — aus dem einfachen Grunde, weil ihr sie
nicht haben wollt.
Dafs die Fragen nach dem Kontraktbruch und dem Einschreiten
der Staatsanwaltschaft einen ganz unverhältnismäfsigen Raum in
dem Frageformular einnimmt, würde neben der prinzipiellen Un-
zuverlässigkeit der mit der Erhebung betrauten Behörden eigentlich
erst in zweiter Linie in Betracht kommen, wenn dieser Umstand
eben nicht geeignet wäre, diese Unzuverlässigkeit noch ganz erheb-
lich zu steigern. Hier müssen wir auf die Veranlassung der Strike-
statistik noch kurz zurückgreifen. Es ist ja urbi et orbi bekannt,
dafs die deutsche Strikestatistik nicht etwa dem Bedürfnis, über
diese bedeutsamen Vorgänge des wirtschaftlichen F.ebens zuver-
lässigen Aufschlufs zu erhalten, ihre Entstehung verdankt, sondern
dafs sie in Scene gesetzt wurde, um Material herbeizuschleppen für
die Arbeitswilligenvorlagc, die bestimmt war, das Koalitionsrecht
der Arbeiter zu erdrosseln. Daher interessierte man sich in den
ersten vorläufigen Veröffentlichungen vor allem für die Zahl der
Kontraktbrüchigen. Dieses Interesse war so sehr im Vordergrund,
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156
Clemens Heifs,
dafs man sich nicht einmal um die Erfolge des Strikes kümmerte.
Nachdem die Zuchthausvorlage durchgefallen war, werden die
Zahlen der Kontraktbrüchigen „als minder wichtig" in die summa-
rischen Uebersichten nicht mehr aufgenommen , dafür aber Mit-
teilungen über den Erfolg der Strikes, über die Zahlen der infolge
des Strikes zum Feiern gezwungenen Arbeiter und, sofern der
Strike sich nicht auf alle Betriebszweige des Unternehmens er-
streckt hatte, auch über die Ziffern der in den ausschliefslich vom
Strike ergriffenen Beschäftigungsarten thätigen Personen gebracht. *)
Wir mufsten bei der Erhebungsmethode und den damit zu-
sammenhängenden Veränderungen in der Publikation der Ergebnisse
etwas länger verweilen, um dem Leser die Unterlagen zu einem
Werturteil über die amtliche deutsche Strikestatistik zu bieten. s)
Dafs das Nachweisungsformular auch den bescheidensten An-
sprüchen nicht zu genügen vermag, zeigt eine Vergleichung mit
dem österreichischen Zahlblatt.8) Hinsichtlich der Bearbeitung des
*) Vgl. Vierteljahrsheftc zur Statistik des Deutschen Reiches 1900 II. H.
S. 194/205, III. II. S. 53,72 und Statistik des Deutschen Reiches X. F. Bd. 134 S. II.
*) Die deutsche Strikestatistik, die erstmals anläfslieh einer beabsichtigten Ver-
schärfung des § 153 der Gewcrbordnung zum Nachteil der Arbeiterorganisationen im
Jahre 1889 aufgenommen worden ist und die nunmehr auch den kriminalpolitischen
Standpunkt allzu sehr betont, vermag selbst dem Informationsbcdilrfnis der Unter-
nehmer nicht zu genügen. Die vorwiegend den Untemehmerstand punkt vertretende
„Kölnische Zeitung“ schreibt u. a. in ihrer Nr. 1776 vom 14. Dezember 1898:
„Die von dem Bundesrat bestimmte, etaras bureaukratische Methode der Ma-
terialsammlung giebt uns deshalb zu mannigfachen Bedenken Anlass, und wir können
uns nicht der Befürchtung verschliefsen, dafs auf diesem Wege niemals eine allen,
auch den höchsten Anforderungen entsprechende, von jeder Tendenz nach irgend
welcher Richtung freie Statistik der Arbeitseinstellungen geschaffen wird. Es
gehört keineswegs viel Phantasie dazu, um sich die praktischen Erfolge einer poli-
zeilichen Erkundigung nach den Ursachen und Ergebnissen der Ausstände oder gar
nach den während derselben gezahlten Unterstützungen klar zu machen.“
Die „Kölnische Zeitung“ ist überzeugt, dafs die vorgeschricbene Methode der
Strikcerhebungen „bei Vertretern der Wissenschaft kaum Anklang finden wird. Man
mufs eben mit aller Bestimmtheit an dem Gedanken festhalten, dafs eine Reichs-
Ausstandsstatistik nicht allein den Zwecken einzelner Verwaltungszweige dienen kann,
sondern vielmehr ihre vornehmste Aufgabe in der aus den Ergebnissen zu ge-
winnenden Bereicherung der Kenntnis unserer wirtschaftlichen und sozialen Zustände
zu erblicken hat, woraus sich dann wiederum für die Praxis die wichtigsten Schlüsse
über die Machtverhältnissc innerhalb der Produktion ergeben werden.“ —
*) Vgl. die Arbeitseinstellungen und Aussperrungen im Gewerbebetriebe in
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Die deutsche Strikcstatistik.
157
so gewonnenen Rohmaterials durch das Kaiserl. Statistische Amt
können wir C. I^egien zustimmen, der in Nr. 48 des „Korrespondenz-
blatts der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands"
vom 3. Dezember 1900 schreibt:
„Das Statistische Amt ist, das geht aus allen Teilen
hervor, bemüht gewesen, das Material ohne Tendenz in
objektivster Weise zu bearbeiten. Zu wünschen wäre, dals
die Tendenz auch aus der Fragestellung schwindet und die
Mängel in der Berichterstattung beseitigt werden. Dann
erst wird die amtliche Strikcstatistik vollen Wert erhalten
und als ein verdienstliches Werk angesehen werden können.“
Mit dem von der amtlichen Statistik aufgestellten Begriffs-
bestimmung des Strikes und der ganz analogen, der Aussperrung,
können wir uns einverstanden erklären. Sie lautet:
„Im Sinne der hier bearbeiteten Statistik gilt als Strike
jede gemeinsame Arbeitseinstellung mehrerer gewerblicher
Arbeiter, die zum Zwecke der Durchsetzung bestimmter
Forderungen beim Arbeitgeber erfolgt ist.“1)
Auch damit sind wir einverstanden, dafs die Sympathie- oder
„Mitstrikes", trotzdem bei ihnen diese BegrifTsmerkmale nicht immer
zuzutreffen brauchen, durchweg als Strikes mitgezählt werden. Da-
gegen halten wir es nicht für richtig, dafs die anläßlich der Mai-
feier verhängten Aussperrungen nicht als solche gezählt wurden.
Der Schaden ist übrigens nicht grofs, da diese Aussperrungen be-
sonders nachgewiesen worden sind. Da die Statistik sich auf die
Strikes „gewerblicher" Arbeiter beschränkt, so bleiben von der Auf-
nahme solche Konflikte ausgeschlossen, welche sich auf dem Boden
der Land- und Forstwirtschaft, einschliefslich Weinbau und Jagd,
in den Grenzen der wissenschaftlichen und höheren künstlerischen
Krwerbsthätigkeit, sowie der litterarischen Thätigkeit oder endlich
auf dem Gebiete der Frwerbsthätigkeit im zivilen und militärischen
Staats- und Kommunaldienst und im Kirchendienst zutragen sollten.1)
Sollte die Nichtberücksichtigung der landwirtschaftlichen Strikes nur
Oesterreich während des Jahres 1895, hcrausgegeben vom statistischen Departement
im k. k. Handelsministerium, Wien 1897, Alfred Holder, S. 8 f., und Protokoll der
zweiten Sitzung des Arbeitsbeirats am 14. u. 15. November 1898 S. 155 ff. und
S. 171 ff.
*) Statistik des Deutschen Reiches. N. F. Bd. 134 S. V und wörtlich so N. F.
Bd. 14 1 S. 5.*
*) A. a. O. S. V.
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158
Clemens Heils,
auf ihrem seltenen Vorkommen oder auf zarter Rücksichtnahme
auf die Agrarier beruhen? Der Ausschlufs der übrigen Kategorieen
kann bei ihrem seltenen Vorkommen wohl kaum ins Gewicht
fallen, wiewohl ebendeshalb kein vernünftiger Grund für eine Sonder-
behandlung einzuschcn sein dürfte.
Ueber die Strikes stellt die amtliche Statistik 4 Tabellen auf,
wozu noch eine fünfte über die Aussperrungen kommt. Tabelle I :
„Die einzelnen Strikefalle des Jahres 1899 nach ihrer örtlichen und
zeitlichen Verteilung“ (S. I — 71 bezw. 2—105 des Tabellenwerkes),
giebt eine nach der Zeitfolge des Beginnes geordnete Aufzählung
der innerhalb der einzelnen Bundesstaaten, für l’reufsen auch der
innerhalb der einzelnen Regierungsbezirke, im Laufe des Jahres 1899 in
der Schwebe befindlich gewesenen Strikefalle unter Hervorhebung des
Ortes, an welchem, und der Gewerbeart, in welcher die Strike-
bewegung zum Ausbruch gekommen ist. Tabelle 2 bringt die
„Zusammenfassung der Strikefalle des Jahres 1899 nach Staaten
und Landesteilen“ und weist nur die Gesamtzahl der Strikefalle
ohne Eingehen auf die Gewerbegruppen nach. Während in den
Tabellen I und 2 die geographische Darstellung der Ausstands-
bewegung den Ausgangspunkt für die Anordnung des Stoffes bildet,
ist die Aufstellung der Tabellen 3 und 4 unter dem Gesichtspunkt
erfolgt, nachzuweisen, in welchem Umfange die einzelnen Gewerbe-
arten und Gewerbegruppen durch die Strikebewegung in Mitleiden-
schaft gezogen worden sind. Tabelle 3: „Die einzelnen Strikefalle
des Jahres 1899 nach der Verteilung der Strikenden auf die
Gewerbcarten" (S. 78 — 153 bezw. S. 118 — 221 des Tabellcnwerkes)
soll zeigen, welchen Gewerbearten die Strikenden in den einzelnen
Strikefallen angchörten. bis ist jeder einzelne Strike mit Angabe
des Ortes nachgewiesen. Mafsgebend für die Einteilung sind die
durch die Berufs- und Gewerbezählung eingeführten Gewerbegruppen
und -arten. Tabelle 4 bringt für das Reich als Ganzes eine
„Zusammenfassung der Strikefalle des Jahres 1899 bezw. 1900 nach
Gewerbegruppen und Gewerbearten“ (S. 156 — 169 bezw. 222 — 257
des Tabellenwerkes). In Tabelle 5 (S. 170 — 171 bezw. 258 — 261)
sind die wenigen Aussperrungen einzeln nachgewiesen.
Da das Tabellen werk im Jahre 1900 ganz wesentliche Ver-
besserungen erfahren hat, so wollen wir seinen Hauptinhalt an der
Hand der Tabelle 4, die für die Beurteilung der Strikes als Massen-
erscheinungen am wichtigsten ist, zunächst nach Mafsgabe der
Publikation für 1899 darstellcn, um hieran die aus dem begleitenden
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Die deutsche Strikcstatistik.
•59
Text des statistischen Amtes selbst unmittelbar abzuleitende Kritik
zu schliefsen und alsdann die im Jahre igoo vorgenommenen Ver-
besserungen für sich darstellen. Denn nur so hoffen wir Klarheit
in die in der Darstellung des Kaiserl. Statistischen Amtes recht
komplizierte Materie zu bringen. Das Statistische Amt hat nämlich
den Text zur Krklärung der Tabellen wörtlich wieder abgedruckt
und die Abänderungen an der betreffenden Stelle eingefügt, ohne
eine eingehende Darstellung davon zu geben, inwieweit die neue
Statistik vom Vorjahre abweicht.
Tabelle 4 weist zunächst die Zahl der begonnenen Strikes ins-
gesamt und besonders für die einzelnen Quartale nach. Alle
weiteren Nachweisungen beziehen sich auf die im Jahre 1899 be-
endigten Strikes, deren Gesamtzahl, Gesamtdaucr nach Arbeitstagen
in Spalte 3 und 4 nachgewiesen werden. Die Spalten 5 — 8 weisen
die Zahl der betroffenen Betriebe nach und zwar solche, in denen
der Strike den Gesamtbetrieb erfafste, und solche, in denen sich der
Strike auf einzelne Betriebszweige beschränkte, wobei je diejenigen,
die zu völligem Stillstand kamen, besonders aufgeführt werden. Die
bei Ausbruch des Strikes beschäftigten Arbeiter, je besonders nach-
gewiesen nach ihrer Gesamtzahl und der Zahl derjenigen unter
21 Jahren, enthalten die Spalten 9 — 12, wobei die in den nicht vom
Strike ergriffenen Betriebszweigen beschäftigten Arbeiter hervor-
gehoben werden. Mit der Höchstzahl der während der Dauer des
Strikes gleichzeitig strikenden Personen befassen sich die Spalten
13 — 18. Es wird hier die Gesamtzahl und besonders die Zahl der
unter 21 jährigen und die Zahl der zur sofortigen Arbeitsniederlegung
berechtigten und der kontraktbrüchigen Arbeiter, je wieder unter Her-
vorhebung derjenigen unter 21 Jahren nachgewiesen. In Spalte 19 folgt
die Höchstzahl der am Strike nicht beteiligten, aber infolge des-
selben gezwungen feiernden Arbeiter. Spalte 20 29 ist überschrieben
„die Forderungen der Strikenden betrafen ... mal: den Arbeits-
lohn und zwar Aufrechterhaltung, Erhöhung des bisherigen Arbeits-
lohnes; Sonstiges; die Arbeitszeit und zwar Verkürzung der
bisherigen Arbeitszeit , Abschaffung der Ueberstunden ; Sonstiges ;
andere Gegenstände und zwar Aenderung der Löhnungsweise,
Entfernung von Vorgesetzten, VViederanstellung entlassener Arbeiter ;
Sonstiges. Spalte 30 weisen die Strikefalle mit vollem, 31 diejenigen
mit teilweisem und 32 diejenigen mit keinem Erfolg nach. In
Spalte 33-37 werden die Strikefalle erfafst, die beendigt wurden
durch Verhandlungen unmittelbar zwischen den Parteien, vor dem
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i6o
Clemens Heils,
Gewerbegericht, unter Vermittlung von Berufsvereinigungen oder
dritten Personen, auf Antrag der Arbeitnehmer, der Arbeitgeber.
Endlich wird in Spalte 38 und 39 die Zahl der Strikefälle registriert,
bei denen dritte Personen oder Berufsvereinigungen auf den Aus-
bruch des Strikcs hingewirkt oder (und) denselben unterstützt haben
und zwar überhaupt oder insbesondere mit Geldbeträgen.
Die Einteilung der Köpfe der übrigen Tabellen ist im grossen
und ganzen die gleiche, weshalb wir nicht weiter auf sie eingehen.
Wer solchem Tabcllcnungetüm grofse Uebersichtlichkeit nachrühmen
will, mufs schon sehr bescheiden sein. Man sieht, das grofse Format
der amtlichen Statistik, das (ur die Kombinierung verschiedener
Gesichtspunkte seine grofsen Vorteile hat, hat auch seine Nachteile,
wenn es zur Aneinanderreihung nicht zusammengehöriger Dinge
mifsbraucht wird. Man mache doch aus dem ungefügen Klotz
3 Tabellen, von denen Tabelle I die Spalten I — 19, Tabelle 2 die-
jenigen von 20 — 29 und Tabelle 3 diejenigen von 30 — 32 nach-
zuweisen hätten. Die Spalten 15 — 18 und 33 — 39 könnten dann
noch in einer Xebentabclle behandelt werden.
Die Spalten 20 — 29 können natürlich in keiner Weise befriedigen.
Es genügt nicht darzulegen, wie oft die einzelnen Forderungen
erhoben wurden , sondern es mufs jeden weiterforschenden Leser
interessieren, von wie viel Arbeitern die einzelnen Forderungen
erhoben wurden. Hier läfst uns die amtliche Statistik im Stich.
Dann kommt ferner noch das fatale Wort „Sonstiges“ innerhalb
dieser 10 Spalten nicht weniger als dreimal vor. Das ist ein
offenbares Mifsverhältnis. Doch die amtliche Statistik giebt uns
wenigstens darüber Aufschlufs, was sie unter „Sonstiges" versteht.
S. IX heifst es : „Insbesondere haben in Spalte 22 Berücksichtigung
gefunden die Forderungen, welche betrafen : Gewährung besonderer
Bezahlung bezw. Erhöhung der bereits eingeführten Bezahlung für
Ucberstunden, Nacht- und Sonntagsarbeit, sowie für Aufsenarbeit,
Entschädigung für die Fahrt zur Arbeitsstelle, sowie für die durch
das Warten auf Arbeit verloren gehende Zeit, Gewährung von Ab-
schlagszahlungen u. s. w.,1) in Spalte 25 die Forderungen, welche
sich bezogen auf: Einführung von Arbeitspausen, Verlängerung der
bestehenden Frühstücks-, Mittags- oder Vesperpause, früheren Arbeits-
schlufs am Sonnabend und am Abend vor Festtagen, bestimmte
Regelung der Arbeitszeit, Nichteinführung von Ucberstunden, Nacht*
') liier würde also erst noch ein „Sonstiges“ zu folgen haben!
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Die deutsche Strikestatistik.
161
arbeit und Sonntagsarbeit u. dergl. ') Von den „anderen Gegen-
ständen“, auf welche sich die Forderungen der Strikenden gerichtet
haben, werden die auf Aenderung der bisherigen Löhnungsweise
(Ersetzung der Accordarbeit durch Lohnarbeit oder umgekehrt der
Lohnarbeit durch Accordarbeit ', *) die auf Entfernung von Vor-
gesetzten und die auf Wiederanstellung entlassener Arbeiter hin-
zielenden besonders behandelt. Die hierher gehörige Sammel-
spalte 29 umfafst alle Bestrebungen, die in den Vorderspalten nicht
unterzubringen waren, als z. B. die Wünsche auf: bessere Behandlung,
Zurücknahme von Beschimpfungen, Vornahme gesundheitlicher Ver-
besserungen , Reinigung der Arbeitsräume, bessere Heizung und
Lüftung der Arbeitsstätte, Beschaffung von Waschgelegenheit, von
ordnungsmäfsigen Aborten, Abschaffung von Kost und Logis beim
Meister, unentgeltliche Lieferung von Arbeitsmaterialien, Anstellung
besonderer Arbeiter für gewisse Nebenarbeiten, Freigabe der nicht
gesetzlichen Feiertage, Anerkennung eines Arbeiterausschusses, einer
Lohnkommission, des Gesellenarbeitsnachweises, des freien Koalitions-
rechtes der Arbeiter, Einführung eines für Arbeitgeber und Arbeit-
nehmer gemeinsamen Arbeitsnachweises, Aushängung der Arbeits-
ordnung, Einführung von Lohntarifen, von Lohnbüchern, Verteilung
von Accordzetteln vor Ausgabe der Accordarbeit, Erlaubnis zum
Verlassen der Arbeitsstätten während der Pausen, freie Verfügung
hinsichtlich der Festsetzung der Frühstücks- und Vesperpausen,
Erlafs oder Ermäfsigung von Strafgeldern, nachträgliche Lohn-
auszahlung für die am 2. Mai von der Arbeit Ausgeschlossenen
u. dergl. mehr. Insonderheit umfafst die Spalte 29 auch die Forde-
rungen, welche sich richteten auf: Freigabe des t. Mai, Nicht-
anfertigung von Strikearbeit, Entlassung von Mitarbeitern (insbeson-
dere Arbeitswilliger),*) Nichtannahme gewisser Arbeiter, Nicht-
maferegelung von Arbeitern, Aenderung der Arbeitsordnung, schrift-
liche Bestätigung getroffene!, Vereinbarungen, Einführung von
Kündigungsfristen oder Ausschlufs derselben , Beibehaltung der
bisherigen Löhnungsweise (wenn der Arbeitnehmer [soll wohl heifsen
Arbeitgeber] seinerseits die Lohnarbeit durch Accordarbeit oder
') A. a. O. S. IX.
*) Gerade die beiden Spezialfalle würden interessieren, werden aber leider
von der amtlichen Statistik nicht gesondert nachgewiesen.
a) Warum das Kind nicht mit dem sprachgebrauchlichen Namen „Strikc-
brechcr“ nennen?!
Archiv für sox. Gesetzgebung u. Statistik. XVII. 1 1
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162
Clemens Heifs,
umgekehrt die Accordarbeit durch Lohnarbeit ersetzen will), Lohn-
auszahlung bis zum Schlufs der Arbeitszeit.“
Es sind dies alles so ungemein interessante Einzelheiten, dafs
jeder gewissenhafte Sozialpolitiker zum mindesten einmalige Aus-
zählung aller Strikes nach diesen Gesichtspunkten und zwar nach
der Zahl der Fälle und derjenigen der die Forderungen erhebenden
Arbeiter verlangen mufs. Bei den häufiger vorkommenden Forde-
rungen ist natürlich auch besondere Auszählung nach Gewerbearten
zu verlangen.
Die Veröffentlichungen für das Jahr 1900 haben demgegenüber
nun in folgenden wichtigen Punkten eine Erweiterung erfahren.
Hinsichtlich der von den Strikenden aufgestellten Forderungen
wird speziell bei den auf den Arbeitslohn sich beziehenden unter-
schieden, ob es sich um die Aufrechterhaltung des bisherigen
Lohnes (Sp. 20), um Erhöhung desselben, einschliefelich der Fest-
setzung eines Minimallohncs (Sp. 21), um Bezahlung bezw. höhere
Bezahlung für Ueberstunden, für Nachtarbeit, Arbeit an Sonn- und
Feiertagen (Sp. 22) und um besondere Bezahlung von Nebenarbeiten,
Aufsenarbeit, der Fahrt zur Arbeitsstelle, der durch Warten auf
Arbeit versäumten Zeit (Sp. 23) handelt. Auch die auf die Arbeits-
zeit bezüglichen Forderungen sind spezieller gegliedert worden.
Es haben eine besondere Behandlung gefunden diejenigen Forde-
rungen, welche sich richten auf Aufrechterhaltung oder Verkürzung
der bisherigen Arbeitszeit im ganzen (Sp. 25, 26), auf Abschaffung
oder Beschränkung der Ueberstunden, der Nachtarbeit, der Arbeit
an Sonn- und Feiertagen (Sp. 25). Auf Verkürzung der Arbeits-
zeit an Samstagen, an Vorabenden von hohen Festtagen, auf Ein-
führung oder Verlängerung von Arbeits- (Frühstücks-, Mittags-,
Vesper-)Pausen (Sp. 28), auf Nichteinführung von Ueberstunden, von
Arbeit an Sonn- und Feiertagen (Sp. 29) und auf bestimmte Rege-
lung der Arbeitszeit, wo solche noch nicht stattgehabt hat (Sp. 30).
Die Spalte 24 der neuen Publikation, die „Sonstiges“ behandelt, ist
hiernach nunmehr belastet mit Forderungen, welche betrafen : Ge-
währung von Abschlagszahlungen bezw. häufigerer oder höherer
Abschlagszahlungen, Gleichstellung des Lohnes für männliche und
weibliche Arbeiter, Auszahlung des Lohnes am Freitag, Erhöhung
des Kostgeldes u. s. w., Spalte 31 enthält die Forderungen, welche
sich bezogen auf: Gewährung arbeitsfreier Tage, gleicher Arbeits-
zeit für verschiedene Kategorieen von Arbeitern, Verschiebung der
Arbeitszeit und dergleichen. Von den „anderen Gegenständen", auf
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Die deutsche Strikestatistik.
163
welche sicli die Forderungen der Strikcnden gerichtet hatten
(Sp. 32 —43), werden die auf Aenderung der bisherigen Löhnungsweise
(Ersetzung der Accordarbeit durch Lohnarbeit oder umgekehrt der
Lohnarbeit durch Accordarbeit Sp. 32), auf Beibehaltung der bis-
herigen Löhnungsweise (Sp. 33), auf Wiederanstellung entlassener
Arbeiter (Sp. 34), auf Entlassung bezw. Nichteinstellung von Ar-
beitern (Sp. 35 ), auf Entlassung von Vorgesetzten (Sp. 36), auf Frei-
gabe des 1. Mai (Sp. 37), auf Vornahme gesundheitlicher Verbesse-
rungen, bessere Reinigung, Heizung und Lüftung der Werkstätten,
Verglasung der Neubauten, Beschaffung von Waschgclegcnheit, Be-
schaffung ordnungsmäfsiger Aborte (Sp. 38), auf Nichtanfertigung
von „Strikearbeit" (Sp. 39), auf bessere Behandlung, Zurücknahme
von Beschimpfungen (Sp. 40), auf Anerkennung eines 'Arbeiter-
ausschusses, der Lohnkommission, des Gesellen-Arbeitsnachweises,
des freien Koalitionsrechtes, des Rechtes, einer Organisation ange-
hören zu dürfen (Sp. 41), und endlich auf Aushängung bezw. Ab-
änderung der Arbeitsordnung, Einführung bezw. Abänderung von
Lohntarifen, Lohnbüchern, Verteilung von Accordzetteln vor Aus-
gabe der Accordarbeiten u. s. w. hinzielenden besonders behandelt
Die hierher gehörige Sammelspalte 43 umfafst alle Bestrebungen,
die in den Vorspalten nicht unterzubringen waren, als z. B. die
W'ünschc auf: Abschaffung von Kost und Logis beim Meister, un-
entgeltliche Lieferung von Arbeitsmaterialien, Anstellung besonderer
Arbeiter für gewisse Nebenarbeiten, Freigabe der nicht gesetzlichen
Feiertage, Erlaubnis zum Verlassen der Arbeitsstätte während der
Pausen, freie Verfügung hinsichtlich der Feststellung der Frühstücks-
und Vesperpausen, Erlafs oder Ermäfsigung von Strafgeldern, nach-
trägliche Lohnauszahlung für die am 2. Mai von der Arbeit Aus-
geschlossenen u. dcrgl. mehr. Insonderheit enthält die Spalte 43
auch die Forderungen, welche sich richten auf: Nichtmafsregelung
von Arbeitern, schriftliche Bestätigung getroffener Vereinbarungen,
Einführung von Kündigungsfristen oder Ausschlufs derselben, die
Lohnauszahlung bis zum Schlufs der Arbeitszeit, Abschaffung der
Heimarbeit.
Der Erfolg der Strikenden wird in den Spalten 44 — 46 zur
Darstellung gebracht, während sich Angaben über die Art und
Weise, in welcher der Ausstand seine Erledigung gefunden, in den
Spalten 47 — 51 finden. Insbesondere giebt Spalte 48 über die Fälle
Auskunft, in denen das Gewerbegericht als Einigungsamt thätig
war. Die beiden letzten Spalten der Tabelle befassen sich endlich
11*
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iC>4
Clemens Heifs,
mit der Frage, ob dritte Personen oder Berufsvereinigungen auf den
Ausbruch des Strikes hingewirkt oder denselben, insbesondere aucli
mit Geldbeträgen, unterstützt haben.
Die Spalten i — 19 der alten und neuen Publikation und ebenso
die Spalten 30 — 39 der alten und 44 — 53 der neuen Publikation
sind hiernach gleich geblieben, während die auf die Forderungen
der Strikcnden bezüglichen Spalten eine ganz wesentliche Ver-
besserung erfahren haben. *) Indessen können leider auch diese
Verbesserungen noch nicht voll befriedigen, da immer noch die Zahl
der die betreffenden Forderungen stellenden Arbeiter zu vermissen
ist. Und es ist doch viel wichtiger zu wissen, wie viele Arbeiter
eine bestimmte Forderung erhoben , als nur darüber belehrt zu
werden, wie oft die Forderung gestellt wurde.
Dagegen hat die Nachweisung dcrErfolge derStrikenden,
die in der ersten Publikation noch unbefriedigender war als die
Forderungen, leider auch in der neuen Publikation keinerlei Aende-
rung erfahren.
Sic ist geradezu beschämend ärmlich. In wie viel Fällen voller,
teilweiser oder kein Frfolg erreicht wurde, das ist alles! Nicht
einmal, wie vielen Arbeitern dieser dreifach gegliederte Erfolg zu
gute kam, interessierte unsere amtliche Statistik. Auch hier müssen
wir nach dem Muster der österreichischen Statistik eine Kombinierung
des Erfolges der Strikendcn mit ihren Forderungen verlangen. Wir
werden dann sicher die letzten sein, die sich darüber beklagen,
wenn die Tabelle statt 3 Spalten beide Seiten des schönen amtlichen
Formates beansprucht !
Was nun die Ergebnisse im allgemeinen anlangt, so betrug die
Gesamtzahl der im Berichtsjahre 1900 (bezw. 1899) vorgekommenen
Strike 1462 (1336), von denen 48 (14) bereits vor dem I. Januar 1900
(1899) ausgebrochen waren, und von denen 29 (48) am Schlüsse
des Jahres 1900 (1899) noch nicht zur Erledigung gelangt waren.
An der Gesamtzahl der begonnenen Ausstände war Preufsen mit
64,57 Proz. (62,50 Proz.), Sachsen mit 8,00 Proz. (11,15 Proz.),
Bayern mit 6,77 Proz. (7,64 Proz.), Hamburg mit 5,68 Proz. (4,64 Proz.)
und Hessen mit 1,57 Proz. (2,10 Proz.) beteiligt; jeder der übrigen
Bundesstaaten hatte, insofern er überhaupt von der Ausstandsbewe-
*) Das Tabcllcnungettim ist natürlich mit seinen 54 Spalten noch unübcrsicht*
lieber geworden. Eine Zerlegung in 3 oder 4 Tabellen wird geradezu zur Pflicht
eines guten Geschmackes.
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Die deutsche Strikestatistik.
65
gung in Mitleidenschaft gezogen war, in beiden Jahren weniger als
2 Proz. sämtlicher Strikes aufzuweisen. Unter den preufsischen Provinzen
steht an erster Stelle Berlin mit 18,69 Proz. (27,19 Proz.) aller
innerhalb Preufsens begonnenen Strikes, es folgen Brandenburg mit
18, ti Proz. (20,24 Proz.), Rheinland mit 13,88 Proz. (14,97 Proz.)
und Sachsen 11,68 Proz. (8,74 Proz.), auf jede der nichtgenannten
Provinzen entfallen weniger als 10 Proz., nur Hohenzollern ist über-
haupt von Strikes verschont geblieben. Mehr als 1 sämtlicher
Ausstände (nämlich 34,68 bezw. 35,78 Proz.) galten dem Baugewerbe,
an zweiter Stelle kam die Industrie der Holz- und Schnitzstoffe
mit 1347 Proz. (12,20 Proz.) inbetracht. An dritter Stelle steht
im Jahre 1899 die Metallverarbeitung mit 10,93 Proz. (1900 an
vierter mit 6,50 Proz.), im Jahre 1900 die Industrie der Steine und
Erden mit 6,91 Proz. (1899 8,46 Proz.). Alle übrigen Gewerbe-
gruppen weisen in beiden Jahren geringere Prozentsätze auf.
Die Einzelnachweisungen beziehen sich nur auf die innerhalb
des Berichtsjahres beendigten Strikes. Wir geben folgende Auf-
stellung, um einen Ueberblick der Strikebewegung in den Jahren
1899 und 1900 zu bieten.
(Siehe die Tabelle auf S. 1 66.)
Wir müssen es uns versagen, auf die Verteilung der Strikes auf
die einzelnen Landesteile und die preufsischen Provinzen hier näher
einzugehen. In den einleitenden Erläuterungen werden die Strikes
noch weiter für das ganze Reich unterschieden, ob es sich um
Angriffs- oder Abwehr-, Einzel- oder Gruppcnstrikes handelte. Für
die beiden letzteren werden die vollständigen und die unvollständigen
besonders nachgewiesen. Ferner werden die Strikes mit Intervention
von Berufsvereinigungen und ohne solche im Jahre 1899 nach
Einzel- und Gruppcnstrikes besonders nachgewiesen, im Jahre 1900
ist diese Nachweisung noch nach Angriffs- oder Abwehrstrikes
gegliedert. Ferner sind die Strikes nach ihrer Dauer (1, 1 — 5,
6—10, II — 20, 21 — 30, 31 — 50, 51 — 100, 101 und mehr Tage),
nach der Zahl der betroffenen Betriebe (l, 2—5, 6 — 10, 11 — 20,
21 — 30, 31—40, 41 — 50, 51 und mehr), nach der Zahl der Arbeiter,
die die Arbeit eingestellt haben (2 — 5, 6 — 10, 11 — 20, 21 — 30,
31 — 50, 51 — 100, 101 — 200, 201 — 500, 501 und mehr Arbeiter) in
Gruppen gegliedert und es werden hierbei in der Veröffentlichung
für das Jahr 1900 durchweg die Angriffs- und Abwehrstrikes unter-
schieden, was im Vorjahre nicht der Fall ist. Hinsichtlich des
Erfolges enthält die Tabelle für 1899 die Nachweisung, ob die
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i66
Clemens Heifs ,
Zahl der be-
Höchst-
Zahl
troffenen
Zahl
zahl der
während
der
Betriebe
der
der Dauer
Gewerbegruppen
Jahr
been-
davon
kamen
beschiif-
des
Strikcs
deten
über-
zu vül-
tigten
gleich-
Strikcs
haupt
ligem
Still-
Personen
zeitig
Strikcn-
stand
den
L Kunst* und Handclsgärtncrei
1 iqoo
\ 1 899
1
I
1
1
—
27
5
2Q
4
III. Bergbau, Hütten- u. Salinen-
1 iqoo
52
i°3
6
41 921
14Z55
wesen, Torfgräberei
11899
35
52
L3
10 221
111027
IV. Industrie der Steine u. Erden
f I QoO
22
122
Z2
u 886
5525
US99
los
251
10218
5919
V. Metallverarbeitung . . .
1 1900
42
522
2h
IO OhQ
3245
VS90
140
690
115
4S522
9609
VI. Industrie der Maschinen, In-
/1900
66
200
25
25 251
7325
strumentc und Apparate
11S99
45
ll6
14
14 428
3 73t>
VII. Chemische Industrie . . .
J ! OCX)
s
8
5
2855
552
1 1 899
4
4
—
±55
121
VIII. Industrie der forstw. Neben-
produkte, Leuchtstoffe, Fette,
Ocle
1 1 900
1 1 899
8
4
S
s
I
1
1 £121
446
5 91
104
IX. Textilindustrie
1 1900
1 1899
71
104
158
169
22
22
18 716
2h ÖQ2
6928
1 1 088
X. Papierindustrie
1 IOOO
1 lS<>9
2Q
9
22
12
3
5
5218
1 ns
3362
224
XI. Lederindustrie
1 1900
1 1S99
44
32
225
91
43
18
5766
3445
2 462
1 489
XII. Industrie der Holz- und
1 IQOO
107
2 2t2
1 048
44 121
21 252
Schnitzstoffe
1 IS99
1.S4
1 228
514
21 7J_9
S541
XIII. Industrie der Nahrungs- u.
( IQOO
71
310
22
7 227
3 »'4
Gcnufsmittcl
1 I 899
53
5£I
LI
1 25Ü
3040
XIV. Beklcidungs- u. Rcinigungs-
/ 1 QOO
n
252
2QO
62 552
7584
gewerbe
1 IS99
64
671
?nr>
0 22\
4 946
XV. Baugewerbe
/ 1 900
11899
496
42J
2869
3 ‘29
l ȟ
985
71 24i
25 555
33 274
52554
XVI. Polygraphische Gewerbe
1 1900
IIS99
i_6
12
ih
18
L
1 6o8
1 490
291
4.U
' XVII. Künstlerische Gewerbe . .
1 IQOO
1 1899
5
z
6
2
1
2
381
I 005
127
Z8
XVIII. Ilandelsgewcrbe ....
| I9OO
1 1S99
41
ih
147
88
64
14 028
1 752
3016
1355
XX. Verkehrsgewerbe ....
i iquo
\ 1899
58
31
245
85
52
44
14 933
4 552
9 ll5
1 861
XXI. Beherbergungs- und Er-
| IOOO
—
—
—
—
—
(juickungsgewcrbc
1 1S99
3
2
IQO
25
Gesamtsumme
S 1900
' 433
2142
2 733
29S 810
1 22 803
(1899
1 28S
7 121 1 890
256 858
22 552
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Die deutsche StrikcsUtistik.
167
Strikes a) vollen, b) keinen, ci teilweisen Erfolg hatten und für die
Strikes mit teilweisem Erfolg endlich noch die weitere Gliederung:
I. vollen oder teilweisen Erfolg inbezug auf Erhöhung des Arbeits-
lohnes, 2. vollen oder teilweisen Erfolg inbezug auf Verkürzung
der Arbeitszeit und 3. vollen oder teilweisen Erfolg inbezug auf
Erhöhung des Arbeitslohnes und Verkürzung der Arbeitszeit. Für
1900 sind auch hierbei Angriffs- und Abwehrstrikes unterschieden.
Die Gliederung hinsichtlich des teilweisen Erfolges geht auch hier
weiter. Sie umfafst folgende 5 Punkte: r. vollen Erfolg inbezug
auf Erhöhung des Arbeitslohnes, 2. teilweisen Erfolg inbezug auf
Erhöhung des Arbeitslohnes, 3. vollen Erfolg inbezug auf Erhöhung
des Arbeitslohnes und vollen oder teilweisen Erfolg inbezug auf
Verkürzung der Arbeitszeit, 4. teilweisen Erfolg inbezug auf Er-
höhung des Arbeitslohnes und vollen oder teilweisen Erfolg in-
bezug auf Verkürzung der Arbeitszeit, 5. vollen oder teilweisen
Erfolg inbezug auf Verkürzung der Arbeitszeit. Da die Tabelle
den gleichen Kopf hat, wie die oben geschilderte Tabelle 4, erfahren
wir hier wenigstens für das ganze Reich und die Gesamtsumme
der Strikenden, wievielen der Erfolg der Strikes zugute ge-
kommen ist.
Doch wir wollen auch hier nicht auf Einzelheiten näher
eingehen und nur noch kurz ein Zeugnis des amtlichen Quellen-
werkes zu Gunsten der Arbeiterorganisationen registrieren. S. 64*
N. F. Bd. 141 der Statistik des Deutschen Reiches heifst es wörtlich:
„Die Bedeutung und Wirksamkeit der Arbeiterorga-
nisationen dürfte sich darin zeigen, dafs von den Strikes
mit Intervention von Berufsvereinigungen nur 42,3 Proz.
ohne jeden Erfolg und 41,7 Proz. mit teil weisem Erfolg
endeten, während sich die entsprechenden Ziffern bei den
Ausständen ohne Intervention solcher Vereinigungen auf
50,5 bezw. 25,4 Proz. stellen. Hinsichtlich der Fälle mit
vollem Erfolg ist allerdings zu bemerken, dafs die ohne
Intervention von Berufsvereinigungen durchgefiihrten Strikes
24,1 Proz., diejenigen hingegen, bei welchen Berufsvereini-
gungen intervenierten , nur 16,0 Proz. solcher Fälle auf-
weisen."
Die Frage nach dem Kontraktbruch und dem Einschreiten der
Polizei bezw. der Staatsanwaltschaft tritt erheblich zurück und macht
sich glücklicherweise nicht mehr so aufdringlich geltend, wie in
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i68
Clemens Heifs, Die deutsche Strikestatislik.
den ersten Quartalspublikationen. Sie wird in diesen sogar über-
haupt nicht mehr behandelt.
Wenn wir auch zahlreiche Ausstellungen sowohl hinsichtlich
der Erhebung als der Bearbeitung des statistischen Materials zu
machen hatten , so zeigt doch die zeitig erschienene Statistik
für 1900 gegenüber dem Vorjahr einen ganz erheblichen Fort-
schritt. Die Hoffnung ist also vorhanden, dafs mit der Zeit eine
weitergehende wissenschaftliche Bearbeitung des Materials zustande
kommt. Betreff der Art der Erhebung können wir allerdings
nur von der Einführung von Arbeiterkammern und eines Reichs-
arbeitsamtes, die wohl früher oder später kommen mufe, eine
gründliche Reform erwarten.
1
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GESETZGEBUNG.
DEUTSCHES REICH.
Das Baupfandgesetz.
Von
HEINRICH FREESE,
in Berlin.
Auf Beschlufs des Königlich Preufsischen Staatsministeriums
sind zwei neue Entwürfe eines Reichsgesetzes zur Sicherung der
Hauforderungen veröffentlicht worden. Schon im Jahre 1895 hatte
der frühere Justizminister von Schelling fünf verschiedene Ent-
würfe, die allerdings nur die Bedeutung von Skizzen haben sollten,
der Justizkommission des preufsischen Abgeordnetenhauses vorge-
legt. Der Kommissar des Justizministers Oberlandesgerichts- Präsident
E i c h h o 1 1 z gab dabei zu, dafs wenn man den Hauhandwerkern
wirklich helfen wolle, nichts übrig bleiben werde, als Abhilfe auf
dem Gebiete des dinglichen Rechtes zu suchen. Er fand aber, dafs
die Mängel aller fünf Entwürfe so erheblich seien, dafs er allen die
Ausführbarkeit entschieden absprach.
Im Jahre 1897 hat dann Herr Justizminister Dr. Schönstedt
zwei weitere Entwürfe veröffentlicht, ein Reichsgesetz zur Sicherung
der Rauforderungen und ein preufsisches Ausführungsgesetz. An
diese Entwürfe hat sich eine ziemlich umfangreiche Litteratur ge-
knüpft. Zumeist in Form von Broschüren und kurzen Aufsätzen, an
der begreiflicherweise die Vertreter der Rechtswissenschaft den
grölsten Anteil gehabt haben. In den letzten beiden Jahren sind
auch zwei gröfsere Werke über diese Frage erschienen. Von diesen
hat uns das eine, das bekannte Buch von Dr. Georg Solmsscn
(früher Salomonsohn) die langersehnte Auskunft über die vielfach
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70
Gesetzgebung: Deutsches Reich.
angezogene amerikanische Schutzgesetzgebung verschafft. ') Das
andere, dessen Verfasser ich selbst bin, versuchte die erste zu-
sammenhängende historische und kritische Darstellung der ganzen
Angelegenheit für deutsche Verhältnisse zu geben.
Man durfte nach diesen Vorgängen annehmen, dafs die ver-
bündeten Regierungen oder der preufsische Justizminister, in dessen
Hände sie die weitere Förderung dieser wichtigen Angelegenheit
gelegt haben, nunmehr mit einer endgültigen Vorlage an die gesetz-
gebenden Körperschaften herantreten würde. Im Reichstage ist
dieser Erwartung wiederholt Ausdruck gegeben worden, zuletzt am
iS. März 1901. Es sind jetzt beinahe vier Jahre seit der Veröffent-
lichung der letzten Gesetzentwürfe verflossen. Zehn Jahre sind ver-
strichen seitdem der damalige Staatssekretär des Reichs-Justizamts
Dr. Bosse der von mir geführten Deputation Berliner Bauhand-
werker bei Uebergabe der vom Bunde für Bodenbesitzreform aus-
gearbeiteten Petition die Hoffnung aussprach, dafs sich bis zur Ein-
führung des Bürgerlichen Gesetzbuch noch Mittel und Wege
finden liefsen, den Forderungen der Bauhandwerker in irgend einer
Form zu entsprechen.
Deshalb mufste es in den beteiligten gewerblichen Kreisen eine
wenig angenehme Ueberraschung hervorrufen , als sich aus den
kürzlich erfolgten Veröffentlichungen ergab, dafs wir nicht eine Vor-
lage vor uns haben, die demnächst im Reichstage zur Verhandlung
kommen wird. Es sind wieder nur Entwürfe, die in gleicher Weise
wie der Entwurf vom Jahre 1897 auf Beschlufs des Staatsministe-
riums zu allgemeiner Kenntnis gebracht werden. Nur sind aus dem
einen Entwürfe eines Rcichsgesetzes in der aus Vertretern der be-
teiligten preufsischen Ministerien und der Reichsämter der Justiz und
des Innern zur weiteren Beratung eingesetzten Kommission zwei ge-
worden. Die Kommission hat sich nicht einigen können und es sind
zwei Entwürfe mit verschiedenem Inhalt und mit sich widersprechen-
den Begründungen veröffentlicht worden. Giebt es ein stärkeres
Zeichen vollendeter Hilflosigkeit und ist es verwunderlich, wenn ich
als beteiligter Gewerbetreibender in meiner ersten Ueberraschung
ausrief: „Die Medizinmänner wissen noch immer keine Hilfe“?
Die Haltung des Herrn Justizministers Dr. Schönstedt und des
') Der gesetzliche Schutz der Baugläubiger in den Vereinigten Staaten. Berlin 1900.
Vgl. auch Dr. Paul Voigt, F.in neuer Beitrag zur Frage des Bauhandwerker-
schutzes, in diesem Archiv, XVI, 204 ff.
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Heinrich Freese, Das Baupfandgesetz. \y\
prcufsischen Staatsministeriums ist mir auch heute noch nicht ganz
verständlich. Die Kommission, die die Minister eingesetzt haben,
kann wohl geteilter Meinung gewesen sein. Die eine Hälfte kann
dem Entwurf A, die andere dem Entwurf B den Vorzug geben.
Der Herr Justizminister und die Staatsregierung können aber kaum
zu gleicher Zeit zwei Meinungen über dieselbe Sache haben und
sie können nur den Entwurf A oder B vertreten. Was würde
man von einem Arzte sagen, der dem Kranken gleichzeitig zwei
Rezepte verschreibt und sie der Oeffentlichkeit zur gefälligen Aus-
wahl übergeben wollte. Bis die Oeffentlichkeit darüber einig ge-
worden ist kann der Kranke längst tot sein. Ich kann deshalb
mein Bedauern über diese Entschliefsung nicht unterdrücken und
werde dabei zu lebhaft an die oft gehörte Behauptung erinnert,
dafs unserer Zeit der Beruf zur Gesetzgebung abgehe.
Die Ursache dieses negativen Ergebnisses der langjährigen Be-
ratungen wird wohl in letzter Linie in der Zusammensetzung der
Kommission zu suchen sein. Eine schöpferische Hand scheint dabei
gefehlt zu haben, und der Stand der Baugewerbetreibenden ist an-
scheinend ganz unvertreten geblieben. Jedenfalls darf es den Herrn
Justizminister nicht befremden, dafs die Aufnahme dieser beiden
Entwürfe in den gewerblichen Kreisen im ganzen nicht so günstig
sein wird, wie er es wünschen wird und wie es seine guten Ab-
sichten zweifellos verdienen. Weniger wäre auch in diesem Falle
mehr gewesen.
Wenn ich diese Bemerkungen über meine grundsätzliche Stel-
lung zu beiden Entwürfen vorausschicke, so soll damit nicht gesagt
sein, dafs ich mich der Pflicht entziehen will, beide Entwürfe in
ihren Einzelheiten sachlich zu prüfen. Ich werde vielmehr auch
dieser unerfreulichen Haltung der Staatsregierung gegenüber die
Stellung beibehalten, die ich schon bei den Verhandlungen mit dem
späteren Minister Dr. Bosse und in meiner Kritik der Entwürfe
von 1897 angenommen habe. Ich werde auch ferner jeden ernsten
Versuch unterstützen, die Mifsstände im Bauwesen zu beseitigen
und nach besten Kräften dazu beitragen, dieses dunkle Grenzgebiet
des Real- und des Personalkredits aufzuhellen und neu abzugrenzen.
Wir werden sehen, dafs das erste herbe Urteil über die beiden Ent-
würfe sich bei näherer Untersuchung ihrer Einzelheiten wesentlich
günstiger gestalten wird.
Die Forderung der Bauhandwerker ging bekanntlich dahin, bei
Neubauten ein Vorrecht vor allen eingetragenen Hypotheken, seien
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172
Gesetzgebung: Deutsches Reich.
sie als Restkaufgeld oder für Baugelder eingetragen oder sonstigen
Ursprungs, zu erhalten. Diese Forderung ging davon aus, dafs es
die Arbeit der Handwerker ist, durch die die Spekulationswerte der
Baustellen ihre Deckung erhalten. Der Baustellenhändler sollte ver-
hindert werden, sich aus den Leistungen der Bauhandwerker be-
zahlt zu machen. Der Geldgeber sollte genötigt werden, sich um
die Verwendung der Baugelder zu kümmern. Nur die bezahlten
Handwerkerlieferungen sollten in das Pfandrecht der eingetragenen
Hypotheken fallen, die unbezahlten nicht. In der vorbehaltlos er-
folgenden Ueberlassung der Leistungen der Handwerker an die
Hypothekengläubiger erblickten sie die letzte Ursache ihrer un-
sicheren läge.
Der Reichsgesetzentwurf vom Jahre 1897 kam diesen An-
sprüchen entgegen. Er bestimmte, dafs in durch landesherrliche
Verordnung ausgewählten Gemeinden oder Teilen von Gemeinden
vor Erteilung der Baucrlaubnis ein Bau vermerk einzutragen sei.
Der Bauvermerk sollte die Höhe des Baustellenwertes enthalten.
Diese Vorschrift wurde beschränkt auf Grundstücke , die in den
letzten fünf Kalenderjahren unbebaut gewesen waren. Die Bau-
gläubiger sollten ihre Bauforderungen binnen 6 Monaten nach der
Gebrauchabnahme des Gebäudes bei dem Grundbuche anmelden.
Als Baugläubiger sollten nur die Unternehmer des Bauwerks und
auf Dienstvertrag angestcllte Personen gelten, sofern die Verträge
von dem Eigentümer der Baustelle oder für dessen Rechnung ge-
schlossen wären. Die Eintragung der Bauforderungen sollte durch
einstweilige Verfügung erfolgen. Wenn die vereinbarten Vergütungen
die üblichen und mehr als den fünften Teil überstiegen, so sollte
jeder Beteiligte Einspruch erheben können. Die Bauforderungen
sollten unter sich gleichen Rang haben und bei der Zwangsver-
steigerung den voreingetragenen Hypotheken vorgehen, soweit sie
den Bauwert übersteigen. Baugeldzahlungen, die zum Zweck der
Tilgung von Bauforderungen geleistet werden, sollten den Bau-
forderungen vorgehen. Zwangsversteigerungen sollten erst zwei
Wochen nach Ablauf der Eintragungsfrist stattfinden. Auf die den
Baugeldcrn gewährten Rechte sollte erst nach Beginn der Anmelde-
frist oder nach Anordnung der Zwangsversteigerung verzichtet
werden. Das preufsische Ausführungsgesetz bestimmte in der Haupt-
sache, dafs die Feststellung der Baustellenwerte durch Bauschöffen-
ämter erfolgen sollte. F'ür deren Zusammensetzung und Wirksam-
keit wurden nähere Anweisungen gegeben.
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Heinrich Frees e, Das Baupfandgesetz.
1 73
Lieber die Vorzüge und Fehler dieser Entwürfe habe ich mich
ausführlich in meinem Buche: Das Pfandrecht der Bauhandwerlcer
ausgesprochen. r) Ich habe verlangt 1. dafs das Gesetz nur für ganze
Gemeinden, nicht auch für Teile von Gemeinden gelten solle, 2. den
Einschlufs aller Abrifsbauten, d. h. solcher, die an Stelle von abge-
rissenen Häusern errichtet wurden. Ebenso auch gröfserer Repa-
raturen. 3. Ein volles Vorrecht für die Arbeiter. 4. Die Berück-
sichtigung auch solcher Baugläubiger, die nicht direkt mit dem
Eigentümer kontrahieren. 5. Die Trennung von Baustelle und Ge-
bäude in der Zwangsversteigerung und verhältnismäfsige Verteilung
des Erlöses auf die Gläubiger der Baustelle und des Gebäudes.
6. Sicherung des Baugeldes nach den in den Vereinigten Staaten
von Nordamerika bewährten Vorschriften. Insbesondere keine
Vorschriften, die den Baugeldgeber nötigen, die Baurechnungen selbst
zu prüfen und zu zahlen.
In den jetzt veröffentlichen Gesetzentwürfen ist von einer Aus-
dehnung des Gesetzes auf Teile von Gemeinden Abstand ge-
nommen (tj 1). Auch das Verlangen, dafs die Baustelle seit fünf
Jahren unbebaut sein müsse, hat man fallen lassen. Es soll nur zur
Zeit der Erteilung der Bauerlaubnis unbebaut sein (§ 2).
Der Bau vermerk ist wie in dem früheren Entwürfe vor Erteilung
der Baucrlaubnis einzutragen. Die Bauerlaubnis darf nur erteilt
werden, wenn die dem Bauvermerk vorangehenden Belastungen den
Baustellenwert nicht übersteigen. Sonst ist durch Hinterlegung
von Geld oder Wertpapieren in dieser Höhe Sicherheit zu leisten
(§ 4). Die kaufmännischen Lieferanten sind von dem Schutz-
gesetz ausgeschlossen (§ 6). Dagegen sind die Architekten, sowie
die Fuhrleute etc. nach dem Wortlaut mit eingeschlossen. Der
Bauherr hat die Namen aller Baugläubiger, den Betrag ihrer Ver-
gütung und die Zahlungsfristen oder die Verträge selbst in Ur-
sshrift oder Abschrift mit allen Nachrtägen zum Grundbuche einzu-
reichen. Unterläfst er das, so ist er jedem Beteiligten zum Schaden-
ersatz verpflichtet (§ 7). Die den Baugläubigern gewährten Ver-
gütungen dürfen die üblichen nicht übersteigen (§9). Die Schutz-
frist der Baugläubiger ist auf drei Monate herabgesetzt. Sie be-
ginnt mit der Veröffentlichung der Gebrauchabnahme oder der
Löschung der Bauerlaubnis (§ 12). Die Anmeldung der Bau-
forderungen erfolgt durch einstweilige Verfügung (§ 13).
*) Leipzig 1901, Friedrich Fhnil Perthes.
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Gesetzgebung : Deutsches Reich.
Die Anmeldung einer Bauforderung gilt als zurückgenomnien, wenn
der Bauherr dafür Sicherheit bestellt (§ 14). Bis zur Löschung
des Bauvermerks ist die Einsicht des Grundbuches jedem gestattet
(§ 16). Die Bauforderungen haben unter sich gleichen Rang
(§ 19). Der Baugelder vertrag ist zum Grundbuche cinzu-
reichen (§ 20). Der Baugeldgeber erhält ein Vorrecht für alle
zum Zwecke der Tilgung einer Bauforderung geleisteten Zahlungen.
Ebenso für Zahlungen, die er in Höhe einer vom Eigentümer ge-
tilgten Bauforderung an diesen leistet (§ 21). Auf Antrag des Bau-
geldgebers ist zur Vermittelung der von ihm geleisteten Zahlungen
ein Treuhänder zu bestellen |§ 22). Findet die Zwangsver-
steigerung oder Zwangsverwaltung schon vor der Gebrauchabnahme
und der Eintragung der Bauhypothek statt, so erlangen die Bau-
gläubiger Befriedigung auf Grund des Bauvermerks (§ 23). Die
Zwangsversteigerung darf nicht früher als zwei Wochen
nach dem Ablauf der Eintragungsfrist für die Baugläubiger statt-
finden (§ 25). Für das Verteilungsverfahren sind die Amtsgerichte
zuständig (§ 29). Die Obliegenheiten der Baupolizei und des Treu-
händers können auch einer Behörde übertragen werden (§ 37).
Die Werkmeister-Hypothek nach § 648 des Bürgerlichen Gesetz-
buches wird den Baugläubigern, die von ihren weiter gehenden
Rechten keinen Gebrauch gemacht haben, Vorbehalten.
Der zweite Entwurf, der zum Unterschiede von dem ersten,
der die Bezeichnung A trägt, mit B bezeichnet ist, enthält eine
Reihe von Abweichungen gegen den ersten Entwurf, die im Texte
durch Fettdruck hervorgehoben sind. Er unterscheidet sich zunächst
dadurch, dafs die kaufmännischen Lieferanten in das Schutzgesetz
mit eingezogen worden sind (§ 6). Als Baugläubiger gelten auch
solche, welche zur Herstellung des Bauwerkes zu verwendende
Sachen geliefert haben. Ferner sind aufser den Unternehmern, die
ihre Werk-, Dienst- oder Lieferungs- Verträge mit dem Eigentümer
der Baustelle oder für dessen Rechnung geschlossen haben (un-
mittelbare Bauforderungen l auch solche in das Schutzgesetz mit
eingezogen, denen die Herstellung des Bauwerkes oder eines ein-
zelnen Teiles eines Bauwerkes weiter übertragen wurde (mittelbare
Bauforderungen). Als Nachmänner gelten nur solche, die Werk-
verträge abgeschlossen haben. Die kaufmännischen Lieferanten, wie
auch die auf Dienstverträge beschäftigten Personen bleiben ausge-
schlossen (§ 6 a). Mittelbare Bauforderungen dürfen den Betrag
nicht überschreiten, aus welchem dem unmittelbaren Vormanne eine
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Heinrich Free sc, Das Baupfandgesetz.
75
Bauforderung erwachsen ist ; mehrere Bauforderungen desselben
Vormannes sind soweit erforderlich verhältnismäfsig herabzusetzen
(§ 6 b). Zahlungen an einen Vormann sind für die Bauforderungen
seiner Nachmänner malsgebend (§ 6 c). Die Anzeigen von Nach-
männern sind durch Gerichtsvollzieher zuzustellen (§ 6d). Das
weitere wird in den §§ 7 a — c und 13 — 18 näher geregelt. Der
fünfte Teil der Baugelder darf nur ausgezahlt werden, wenn binnen
einer Frist von zwei Wochen seit dem Beginn der Anmeldungsfrist
für Bauforderungen kein Baugläubiger Widerspruch erhoben hat.
Wird Widerspruch erhoben, so ist der Betrag zu hinterlegen (§ 21).
Das ist der wesentliche Inhalt der Bestimmungen.
Wie stellen wir uns zu diesen beiden Entwürfen? Zunächst
ist anzuerkennen, dafs wieder eine Arbeit vorliegt, die vom Stand-
punkte der Rechtswissenschaft aus wahrscheinlich dasselbe Lob
finden wird, wie die Entwürfe vom Jahre 1897. Es ist augen-
scheinlich, dafs sich die Verfasser grol'se Mühe gegeben haben, die
schwierigen Rechtsverhältnisse gegenseitig zu ordnen und dabei
alle Möglichkeiten zu berücksichtigen, die sich aus den vorhandenen
komplizierten Verhältnissen für die Rechtsprechung ergeben werden.
Eine Reihe von tabellarischen Uebersichten, wie sich die Abrech-
nung zwischen den verschiedenen Parteien stellen wird, sind zur
weiteren Erläuterung in die Begründung eingeschaltet.
Für mich besteht kein Zweifel, dafs dem Entwürfe B der Vor-
zug zu geben ist. Es ist in diesem Entwürfe der Versuch gemacht
worden, auch diejenigen Bauhandwerker in die Schutzbestimmung
einzuschliefsen, die nicht direkt mit dem Bauherrn kontrahiert haben.
Ich habe vorgeschlagcn, diese Unternehmer, die nicht in unmittel-
barer Vertragbeziehung zum Bauherrn stehen „Dritt unter-
nehm er" zu nennen, nach Analogie der Bezeichnung Drittschuldner
anstelle der im Gesetzentwurf angewandten Bezeichnung Nach-
männer oder des in den Motiven sogar gebrauchten unschönen
Ausdrucks Unterunternehmer. Die Forderung, dafs diese Personen
in den Kreis der Baugläubiger aufgenommen werden, hat schon der
Abgeordnete Schumacher im Jahre 1893 in der Justizkommission
des preufsischen Abgeordnetenhauses erhoben, später ist sie von
vielen Seiten, besonders auch vom deutschen Juristentage unter-
stützt worden. Dadurch, dafs diesen Drittuntcrnehmern gesetzlich
die Möglichkeit gegeben wird, in die Rechte ihrer Vormänner auch
gegen deren Willen einzutreten, wird in wirksamer Weise einer
Umgehung des Schutzgesetzes vorgebeugt. Schon im Entwürfe A
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Gesetzgebung : Deutsches Reich.
ist ini 6 Umgehungsversuchen ein kleiner Riegel vorgeschoben,
da auch solche Personen als Eigentümer gelten, die den Bau mit
Zustimmung des Eigentümers als Bauherr ausführen. Trotzdem
liegt die Möglichkeit zu nahe, alle Baugläubiger dadurch von dem
im § 6 verlangten direkten Vertragschlufs mit dem Eigentümer
und damit von den Wohlthaten des Gesetzes auszuschliefsen, dafs
die ganze Bauausführung einer Zwischenperson übertragen wird.
Der Bauschwindler X. ist der Eigentümer der Baustelle und der
Bauschwindler Y. führt den Bau aus. An diesen haben sich die
Bauhandwerker zu wenden, wenn sie Arbeit haben wollen. Dieser
grofsen Gefahr können wir nur ausweichen, wenn wir den Dritt-
unternehmern das Recht geben, unter Ueberspringen des vorge-
schobenen Strohmannes ihre Forderungen geltend zu machen.
Als Verbesserungen der jetzt vorliegenden Entwürfe, gegenüber
dem vom Jahre 1897, mufs ich folgende anerkennen: 1. Die Aus-
dehnung des Gesetzes nur auf ganze Gemeinden, nicht auch auf
Teile von Gemeinden. 2. Das Fallenlassen des Anspruchs, dafs die
Baustelle in den letzten fünf Jahren unbebaut sein sollte. 3. Die
Herabsetzung der Anmeldefrist für Bauforderungen auf drei Monate.
4. Die Beschränkung der Bauforderungen auf die üblichen Ver-
gütungen. 5. Die Möglichkeit, unberechtigten Anmeldungen durch
Sicherstellung auszuweichen. 6. Die vorgeschriebene Einreichung
der Baugeldverträge zu den Grundbuchakten. 7. Die Verweisung
des Verteilungsverfahrens an das zuständige Amtsgericht. 8. Die
Beibehaltung der Werkmeister-Hypothek des § 648 des Bürgerlichen
Gesetzbuches für alle Baugläubiger, die ihr Baupfandrecht nicht be-
nutzt haben. Zu diesen Vorzügen tritt im Entwurf B. noch der
Hinschlufs der Drittunternchmcr. Aufserdem die wichtige Vor-
schrift, die der amerikanischen Gesetzgebung entnommen ist und
auf deren Anwendbarkeit ich in meinem Buche schon hingewiesen
hatte, die Verpflichtung des Baugeldgebers, den fünften Teil der
Baugelder erst zwei Wochen nach der Gebrauchabnahme auszu-
zahlen.
Diese zehn P'orderungen sind mit alleiniger Ausnahme der
unter 7. aufgeführten sämtlich in meinem vorerwähnten Buche
Seite 189 und als Ergebnisse meiner Untersuchungen aufgestcllt
und näher begründet worden. Da die Verfasser der Entwürfe weder
von meinem Buche, noch ich von ihren Entwürfen Kenntnis hatten,
so liegt in dieser erfreulichen Uebereinstimmung bei der sonstigen
grofsen Verschiedenheit unseres Standpunktes für mich eine starke
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Heinrich F re esc, Das Baupfandgesetz.
77
Gewähr für die Richtigkeit unserer Schlussfolgerungen. Andere
nicht minder wichtige Forderungen, die ich als Grundbedingungen
für ein wirksames Raupfandgesetz aufgestellt habe, sind aber unbe-
rücksichtigt geblieben. Trntzdem unterliegt es für mich keinem
Zweifel, dafs die Entwürfe in ihrer jetzt vorliegenden Gestalt grofse
Verbesserungen gegenüber den Entwürfen von 1897 aufweisen.
Die hauptsächlichen Kehler der Entwürfe sehe ich in folgenden
Funkten : Vor allem in der dem Bauherrn auferlegten Pflicht, sämt-
liche I.ieferungsverträge und deren Nachträge oder doch die jedem
Unternehmer zu zahlenden Vergütungen mit den Zahlungsfristen
bei dem Grundbuchrichter einzurcichcn. Wird von einem Unter-
nehmer ein Teil des Bauwerkes an andere Unternehmer weiter
übertragen, so gelten dieselben Vorschriften. Ein unmögliches Ver-
langen. Kein Bauher kann diesen Ansprüchen in vollem Umfange
nachkommen, weil sich beständig während der Ausführung Ab-
weichungen von den Kostenanschlägen und Lieferungsverträgen als
notwendig erweisen. Wohin diese Bestimmungen führen, zeigt deutlich
der im Entwurf B. § 7 1> erhobene Anspruch, jede nachträgliche Be-
stellung an einen Unternehmer oder von diesem an einen Drittunter-
nehmer durch Anschlag rechtzeitig auf dem Bau bekannt zu geben.
Das könnte nett werden ! Der solide Bauherr, und solche giebt es Gott
Lob noch in grofser Zahl, wird dadurch einfach unter Polizeiaufsicht
gestellt und das sogar dann, wenn er überhaupt keine Baugelder
aufnehmen will, sondern aus eigenen Mitteln baut. Da aufserdem
der Einblick ins Grundbuch jedem freistehen soll, was ich durch-
aus billige, so werden damit alle Verträge der öffentlichen Kontrolle
überantwortet. Ich glaube nicht, dafs diese Bestimmungen durch-
führbar sind und wenn sie durchführbar sind, dafs sie gerechtfertigt
sind. Den Anspruch, dafs der Baugeldvcrtrag einzurcichen ist, habe
ich selbst vertreten. Der Baugläubiger mufs Kenntnis dieses Ver-
trages besitzen. Ebenso halte ich es für notwendig, dafs bei Ueber-
gabe der ganzen Bauausführung an einen Hauptunternehmer dieser
Bauvertrag zum Grundbuche eingcreicht wird. Durch den Bau-
geldvcrtrag werden die Lieferungen der Baugläubiger im voraus
dem Pfandrechte eines Dritten unterworfen und bei l'ebergabe der
Bauausführung an einen Hauptunternehmer werden die Rechte aller
Baugläubiger durch diesen Vertrag ihrem Umfange nach begrenzt.
Es ist daher billig, dafs dem Baugläubiger Gelegenheit gegeben
wird, in diese Verträge Einblick zu nehmen. Was darüber hinaus
geht, ist aber vom Uebel und ich halte diese Bestimmungen des
Archiv für soz. Gesetzgebung u. Statistik. XVII. 12
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178 Gesetzgebung : Deutsches Reich.
§ 7 für unannehmbar. Ein wenig sonderbar nimmt sich dabei noch
die Bestimmung aus, dafs der Eigentümer, wenn er die Einreichung
der Verträge unterläfst, dem Baugläubiger zum Ersatz des daraus
entstehenden Schadens verpflichtet ist Diese Bestimmung ist nur
eine Fufsangel für den soliden Unternehmer. Von dem unsoliden.
Unternehmer, der in doloser Absicht die Einreichung unterlassen,
wird und die Baugläubiger um ihre Forderungen betrügt, ist natür-
lich auch kein Schadenersatz zu erlangen.
Sehr bedauerlich ist der Ausschlufs aller an Stelle von abge-
rissenen Gebäuden errichteten Neubauten. Ich habe in meinem
Buche ausführlich auf das Unthunliche dieses Ausschlusses hinge-
wiesen ') und ich kann an dieser Stelle nur auf das dort Gesagte
verweisen. Der Ausschlufs dieser Neubauten von der Wohlthat des
Gesetzes läfst sich weder rechtlich noch wirtschaftlich rechtfertigen.
Gebäude, die infolge von Brandschaden wiederherzustellen sind, sind
ebenfalls ausgeschlossen worden (§ 2), obgleich gerade hierbei die
Anwendung des Treuhandsystems nahe gelegen hätte. Ueber die
wichtige Frage, ob Wechsel, die der Bauherr dem Baugläubiger
gegeben hat, als Hindernis für die Anmeldung einer Bauforderung
anzusehen sind, eine Frage, die in der amerikanischen Gesetzgebung
beantwortet worden ist, läfst sich die Begründung der Entwürfe
nicht aus. Unzwcckmäfsig erscheint mir auch, dafs Bauforderungen,
die angemeldet sind, die aber vom Bauherrn getilgt sind, in eine
dem Eigentümer zufallende Grundschuld verwandelt werden. Da
die Lieferanten unter Umständen von dem Schutzgesetz ausge-
schlossen werden und diese sich in diesem Falle durch Sicher-
heits-Hypotheken, hinter dem Baugeld und den Bauforderungen
decken werden, so sehe ich nicht ein, warum getilgte Bauforderungen
nicht im Grundbuche gelöscht werden sollen, so dafs die dahinter
stehenden Lieferanten entsprechend vorrücken. Die übrigen Bau-
gläubiger bedürfen dieser freigewordenen Stelle nicht mehr, da sie
schon in voller Höhe gedeckt sind. Ferner ist gegen § 23 ein-
zuwenden, dafs dort keine Frist vorgesehen ist, binnen welcher
die Anmeldung der Bauforderungen erfolgen mufs. Ich glaube, es
wird zweckmälsig sein, auch in dem dort behandelten halle, d. h.
wenn die Zwangsversteigerung vor Vollendung des Baues und Be-
ginn der Eintragungsfrist erfolgt, die dreimonatliche Frist beizube-
halten.
*) a. a. O. S. 97.
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Heinrich Frcest, Das Baupfandgesetz.
Auf die Einbeziehung oder den Ausschluss der kaufmännischen
Lieferanten lege ich keinen entscheidenden Wert. Die Billigkeits-
griinde dafür, sie mit zu berücksichtigen weil sie ebenfalls zur Her-
stellung des Baues beitragen, halten den Gegengründen die Wage.
Sie sind nicht wie der Bauhandwerker genötigt, vorzuleisten und
sind in der Regel wirtschaftlich stark genug, sich erforderlichenfalls
anderweit Sicherheit zu erzwingen. Sache der Gesetzgebung ist es
nur, dafür zu sorgen, dafs dies nicht wie bisher auf Kosten der
Handwerker geschieht. Auch haben die kaufmännischen Lieferanten
durchweg erklärt, keiner gesetzlichen Sicherung zu bedürfen und
ich halte es nicht für zweckmäfsig, ihnen einen Schutz aufzudrängen,
den sie nicht verlangt haben. Aufserdem können sie sich indirekt
die Vorteile des Gesetzes sichern, wenn sie ihre Lieferungen, Holz,
Eisen , Steine nicht direkt zum Bau liefern, sondern an die be-
teiligten Baugewerkmeister. Diese geniefsen den Schutz des Ge-
setzes und damit auch indirekt ihre Lieferanten. . Bei der grofsen
Geschäftskundigkeit dieser Lieferanten kann man im voraus an-
nehmen, dafs sie, wenn das Gesetz eingeführt wird, ohne Ausnahme
diesen Weg der Lieferung wählen werden. Damit ist die Sicher-
heitsfrage für sie gelöst.
Den Hauptfehler beider Entwürfe sehe ich in der Abgrenzung
der Rechte der Baugläubiger gegenüber dem Baustellcnverkäufer.
Das Restkaufgeld des Baustellenverkäufers soll, soweit dessen Hypo-
thek innerhalb des Wertes der Baustelle bleibt, bei der Zwangs-
versteigerung in voller Höhe bevorzugt bleiben. Eine kleine Be-
schränkung dieses Vorzugsrechts hat das Gesetz dadurch vorge-
nommen, dafs auch die zweijährigen Zinsen für die auf der Bau-
stelle ruhenden Hypotheken innerhalb des Baustellenwertes bleiben
sollen. Die Baustelle darf also nur mit 90 — 92 Proz. ihres Wertes
belastet sein. Ich halte trotzdem diese Abgrenzung für unannehm-
bar. Wenn der Neubau auf dem Wege der Zwangsvollstreckung
versteigert wird, so erzielt weder das Gebäude, noch die Baustelle
den Preis, der im freien Verkehr bei einem Verkauf gezahlt würde.
Es ist also ein Unrecht, das man den Baugläubigern und den kauf-
männischen Lieferanten zufügt, wenn man den ganzen Ausfall bei
Zwangsversteigerung ausschliefslich ihnen auferlegt. Der Baustellen-
verkäufer, der durch den hohen Preis für seine Baustelle zumeist an
dem schlimmen Ausgang des Unternehmens die Schuld trägt, wird
dagegen in voller Höhe gedeckt. Nachdem durch Dr. Solmssens
Untersuchungen festgestellt worden ist, dafs in den Vereinigten Staaten
12*
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i8o
Gesetzgebung : Deutsches Reich.
von Nordamerika , wenigstens in den jüngeren Baupfandgesetzen,
die Auseinandersetzung dahin erfolgt, dal's in der Zwangsversteige-
rung Baustelle und Gebäude jedes für sich abgeschätzt werden und
der Erlös der Versteigerung verhältnistnäfsig auf die Gläubiger der
Baustelle und die Gläubiger des Gebäudes (Baugeld und Bauforde-
rungen) verteilt wird, sehe ich keinen Grund mehr ein, weshalb in
unserer Gesetzgebung auf ältere und rechtlich nicht zu begründende
Vorschläge zurückgegriffen werden soll.
Die Ursache der anderweiten Entscheidung, die die Verfasser
der Entwürfe getroffen haben, ist ausschliefslich in Gründen der
juristischen Doctrin zu suchen. Man will von dem Grundsätze
superficies solo cedit, der die letzte Ursache der schlimmen Zu-
stände im Baugewerbe ist, nicht abgehen. Dieses Prinzip soll auch
fernerhin nicht durchbrochen werden, wenigstens nicht zu Gunsten
der Handwerker. Lieber verletzt man die Ansprüche der Billigkeit
als ein wohl gehütetes Prinzip. Trotzdem Dernburg, der treff-
liche Verteidiger der Rechte der Handwerker, schon vor langer Zeit
darauf hingewiesen hat, dafs die Gesetzgebung nicht dazu da sei,
Prinzipien durchzuführen, sondern vorhandene Milsstände zu be-
seitigen. Dabei verfahren die Verfasser nicht einmal konsequent.
Die Einräumung einer bevorzugten Rangstellung an die Bau-
hypothek vor früher eingetragenen Hypotheken wird auf Seite 12
der Begründung (amtliche Ausgabe) als anstölsig bezeichnet. Der
Baugelderhypothek wird aber " auf Seite 14 eine bevorzugte Rang-
stellung dennoch zugesprochen. Man sieht, die Verletzung der
Grundbuchprinzipien erregt nur Anstofs, wenn sie zu Gunsten der
Bauhandwerker nicht wenn sie zu Gunsten der Kapitalisten er-
folgen soll.
Wenn die Gesetzentwürfe daran festgehalten haben, die Ab-
schätzung der Baustelle schon vor der Bauerlaubnis zu verlangen,
während ich vorgeschlagen hatte ’), sic nur im Falle der Zwangsver-
steigerung vorzunehmen, so können die Bauhandwerker sich dieser
Entscheidung fügen. Dem soliden Bauherrn wird dadurch eine
Formalität auferlegt, die ich ihm gern erspart und ausschliefslich
dem Bauschwindler Vorbehalten hätte. Für den Handwerker ist
aber die vor Beginn des Baues erfolgende Abschätzung vorteilhafter,
weil anzunehmen ist, dafs der Wert des Grundstückes durch die
*) a. a. O. S. 206.
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Heinrich Freese, Das Baupfanclgcscu. l8l
Bebauung nicht fallen sondern steigen wird. Die vorher erfolgende
Abschätzung wird also niedriger ausfallen.
Um die Stellung der auf der Baustelle haftenden Hypotheken
nicht zu erschüttern und doch ein Uebergreifen der Baustellen-
Hypothek auf das in der Entstehung begriffene Gebäude zum Nach-
teil der Baugläubiger zu verhindern, hat man den von Herrn Pro-
fessor Brunner gemachten Vorschlag angenommen. Danach hat
der Bauherr, wenn die vor dem Bauvermerk eingetragenen Hypo-
theken den Baustellenwert überschreiten, für diesen Mehrbetrag
Sicherheit in Geld oder in Wertpapieren zu hinterlegcn. Dieser
Vorschlag ist für die Baugläubiger nicht unannehmbar, weil hinter-
legte Gelder oder Wertpapiere dem Gläubiger mehr Sicherheit
bieten, als die beste Stelle im Grundbuchc. Hätte es aber nicht
noch näher gelegen, für das Gebäude während des Bestehens des
Bauvermerkes ein eigenes Grundbuchblatt anzulegen, wie dies im
Bürgerlichen Gesetzbuche vorgeschrieben ist, wenn ein Bau auf
Grund des Erbbaurechtes aufgeführt wird ? Oder hätte man nicht
auf andere Weise Baustelle und Gebäude während des Bestehens
des Bauvermerkes trennen können ? Dadurch hätte man gleichzeitig
ermöglichen können, dafs bei der Versteigerung beide Kategorieen
von Gläubigern, die Beleiher der Baustelle und die Baugläubiger
gleichmäfsig berücksichtigt werden.
Nicht geringer sind die Bedenken, die ich gegen die in dem
Entwürfe vorgesehene Regelung der Baugeldfrage habe. Der Vor-
schag, den ich schon in meiner früheren Arbeit gemacht habe, dem
Baugeldgeber auch Zahlungen als Erstattung von Bauforderungen
zu ermöglichen, die der Bauherr vorher getilgt hat, ist allerdings
im § 21 angenommen worden. Ich habe aber schon in meinem
Buche darauf hingewiesen, dafs diese Erleichterung nicht ausreichend
ist. Nach dem Wortlaut des 5; 21 sollen den Bauforderungen nur
solche Zahlungen Vorgehen, die von dem Baugeldgcber „zum
Zwecke der Tilgung einer Bauforderung oder in Höhe einer von
dem Eigentümer getilgten Bauforderung an diesen geleistet ge-
worden sind". In beiden Fällen ist der Baugeldgeber, wenn er
sicher gehen will, genötigt, jede Bauforderung im einzelnen zu
prüfen. ') Ich fürchte, dafs kein Baugeldgeber hierzu bereit sein
wird.
Die Verfasser der Entwürfe haben das selbst eingesehen und
*) Kntwurf S. 40 der amtlichen Ausgabe.
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182
Gesetzgebung : Deutsches Reich.
haben deshalb im § 22 dem Baugeldgeber gestattet, einen Treu-
händer bestellen zu lassen. Das ist allerdings ein Ausweg. Ob
nach den Erfahrungen, die wir auf anderen Gebieten des Hypo-
thekenverkehrs mit Treuhändern gemacht haben, dieser Weg noch
zu empfehlen ist, mufs ich anheimstellen. Auch in den Vereinigten
Staaten von Nordamerika sind die Erfahrungen, die man damit ge-
macht hat, nicht die besten, ln dem Buche von Dr. Solmssen
wird dies ausdrücklich hervorgehoben. *) Ich will es wünschen, dafs
wir in Deutschland bessere Erfahrungen machen.
Im § 37 hat man schon als letztes Mittel die Uebertragung
dieser Verrichtungen, sowie die der Baupolizei einer Behörde Vor-
behalten. Das hat besonders Justizrat Dr. Reuling befürwortet.
Ich habe schon in meinem Buche (Seite 189) meine Bedenken gegen
eine so weit gehende obrigkeitliche Einmischung ausgesprochen
und habe der Meinung Ausdruck gegeben, dafs man dann auch noch
einen Schritt weitergehen und das ganze Bauwesen verstaatlichen
könne. Wenn man schon die amerikanische Gesetzgebung als Vor-
bild benutzen will, so sollte man meines Erachtens das wählen,
was sich bewährt hat und nicht das, was sich nicht bewährt hat.
Warum beschränkt man sich nicht darauf, zu verlangen, dafs
erstens der Baugeldvertrag zu den Grundbuchakten einzureichen ist.
Zweitens habe ich in meinem Buche s) verlangt, dafs der Baugeld-
geber die Beträge für alle bei ihm durch einstweilige Verfügung an-
gemcldeten Bauforderungen zurück zu halten hat. Das hat auch der
Justizminister v. Schell ing in seinem Entwürfe®) empfohlen, ent-
spricht dem amerikanischen Rechte und es ist sehr bedauerlich, dafs
man diesen Vorschlag nicht in Erwägung gezogen hat. Schliefslich
soll der Baugeldgeber noch, wie dies im Entwurf B schon vorgesehen
ist, ein Fünftel des Baugeldes nicht früher als zwei Wochen nach
der Gebrauchabnahme zahlen. Diese drei Mafsregeln haben sich in
den Vereinigten Staaten als ausreichend erwiesen und es erscheint
mir weder als zweckmäfsig noch ratsam, darüber hinaus zu gehen.
Die zuletzt genannte Bestimmung, die ich auch in meinem
Buche befürwortet habe, ist mehrfach beanstandet worden. Sie
sichert aber den letzten am Bau beteiligten Handwerkern wenigstens
einen Teil ihrer Forderungen und in der Zurückhaltung dieses Teiles
*) a. a. O. S. 66.
*) a. a. O. S. 197, 198-
*) Entwurf S. 155.
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Heinrich Frcesc, Das Baupfandgesetz.
183
■der Baugelder bis zwei Wochen nach der Gebrauchabnahme ist
keine Benachteiligung des Bauherrn oder der Baugläubiger zu er-
blicken.
Sehr zweckmäfsig ist es, dafs man durch § 16 bis zur Löschung
des Bauvermerkes jedem die Einsicht in das Grundbuch gestattet
hat. Das ist von mehreren Seiten gewünscht worden, und ich habe
diesen Anspruch ebenfalls erhoben. Dagegen ist cs bedauerlich,
dafs man nicht den weiteren Vorschlag angenommen hat, den der
Schutzverein Berliner Bauinteressen und der Oberlandesgerichtsrat
Magens befürwortet haben, mit der Zwangsversteigerung eines
unter dem Baupfand stehenden Gebäuden stets ein Konkurs-
verfahren zu verbinden und die Kosten aus dem Erlös der
Liegenschaften zu decken. Die übrigen Mafsregeln, die im Bau-
pfandgesetz' getroffen werden, richten sich vornehmlich gegen die
kapitalistischen Beleihen Diese Vorschrift würde sich ausschliefslich
gegen die Person des Bauschwindlers richten. Der Baulöwe han-
tiert mit Tausenden, aber einen Konkurs giebt es nicht. Einfach
weil aufser den Baulichkeiten fast nie eine Masse vorhanden ist und
weil diese ausschliefslich den Ilypothekengläubigern Vorbehalten
bleibt. Nur wenn mit der Zwangsversteigerung ein partielles Kon-
kursverfahren verbunden wird, kann der Bauunternehmer angehalten
werden, nachzuweisen, aus welchen Ursachen der Zusammenbruch
erfolgt ist, und dafs er ordnungsgemäfs Bücher geführt hat. Ohne
ein Konkursverfahren ist gerade diese letzte Vorschrift, auf die von
Gegnern des Baupfandgesetzes stets hingewiesen wird, gegen-
standslos.
Sehr wünschenswert wäre es, wenn man die Stellung des Ar-
beiters verbessern könnte. Es ist nicht gerecht, ihn mit seiner
Lohnforderung auf die Bauhypothek zu verweisen. Seiner wirtschaft-
lich noch schwächeren Lage entspricht nur ein volles Vorrecht.
Aufserdem erscheint es unbillig, ihn als Drittgläubiger ganz auszu-
schliefsen. Die dafür auf S. 60 der Begründung angeführten Gründe
sind wenig einleuchtend. Im übrigen mufs ich auch in dieser Hin-
sicht auf das darüber in meinem Buche Seite 110, 201 und 212
gesagte hinweisen.
Soll ich mein Urteil über die beiden Entwürfe zusammenfassen,
so glaube ich erwiesen zu haben, dafs sie zweifellos gegenüber dem
Entwürfe von 1897 wesentliche Vorzüge aufweisen. Es gilt das be-
sonders von dem Entwurf B, den meines Erachtens der Herr
Justizminister allein hätte veröffentlichen sollen. Im ganzen ist im
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184
Gesetzgebung : Deutsches Reich.
Gesetze der Baustellenhandel zu günstig und der Baugeldgebcr zu
ungünstig behandelt worden. Die Entwürfe dürfen aber als eine
annehmbare Grundlage für die Gesetzgebung angesehen werden.
Im Folgenden geben wir ihren Wortlaut wieder:
Entwürfe eines Reichsgesetzes, betreffend die Sicherung der
Bauforderungen.
Bearbeitet von einer Kommission, bestehend aus Vertretern der
beteiligten preufsisclicn Ministerien und der Rcichsämtcr der
Justiz und des Innern und zu Folge eines Beschlusses des
preufsisclicn St aa t s m in is t cri u m s im September 1901
veröffentlicht.
Die von dem Entwurf A abweichenden und ergänzenden Be-
stimmungen sind in Kursivschrift gesetzt.
Erster Abschnitt.
Sicherung der Bauforderungen.
g l. Durch landesherrliche Verordnung kann angeordnet werden,
dafs lür einzelne Gemeinden im Kalle der Errichtung eines Neubaues eine
Sicherung der Baufordenmgen nach den Vorschriften dieses Gesetzes statttindet.
Die Sicherung erfolgt durch Eintragung einer Hypothek (Ba u h y po t h ek) und, so-
weit die der Bauhypothek vorgehenden Belastungen den Baustellcnwcrt übersteigen,
durch Hinterlegung von Geld oder Wertpapieren.
gl. Neubau im Sinne dieses Gesetzes ist jedes zu Wohn- oder gewerb-
lichen Zwecken bestimmte Gebäude, das aul einer Baustelle errichtet wird, welche
zur Zeit der Erteilung der Bauerlaubnis unbebaut oder nur mit Gebäuden unter-
geordneter Art besetzt ist.
Ist für ein versichertes Gebäude die Versicherungssumme nach den Ver-
sichcrungsbedingungen nur zur Wiederherstellung zu zahlen, so finden auf den
Wiederaufbau die Vorschriften dieses Gesetzes keine Anwendung.
g 3. Zur Sicherung des Ranges der Bauhypothek ist vor dem Beginne des
Baues der Vermerk, dafs das Grundstück bebaut werden soll (Bauvermerk), in
das Grundbuch einzutragen.
4. Die Rauerlaubnis darf von der BaupolizcibchÖrde nur erteilt werden,
wenn der Bauvermerk eingetragen ist und entweder die dem Bauvermerke vorgehen-
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Entwürfe eines Reicl sgesotzes, betr. die Sicherung der Hauforderungen. |S^
den Belastungen den Baustcllcnwcrt nicht übersteigen oder gemäfs £ 1 durch Hinter-
legung Sicherheit geleistet ist.
Bei der Feststellung der Belastungen kommen nur in Ansatz:
1. Hypotheken und Grundschulden mit ihrem Kapitalbetrag und zweijährigen
Zinsen ;*
2. Rentenschulden und solche Reallasten, welche die Leistung von Geld-
renten zum Gegenstände haben, mit ihrer Ablösungssumme ;
3. nicht ablösbare Geldrenten mit ihrem nach § 9 der Zivilprozefsordnung
zu berechnenden Werte;
4. öffentliche Lasten, die nicht in wiederkehrenden Leistungen bestehen, ins-
besondere die Verpflichtung zur Leistung von Beiträgen für die Kosten
der Herstellung einer Strafse, mit dem von der Baupolizeibehörde zu
schätzenden Betrage dieser Lasten.
Rechte, die durch Eintragung einer Vormerkung oder eines Widerspruchs
gesichert sind, stehen eingetragenen Rechten gleich.
Zu einer Kangünderung, durch die dem Bauvermerke der Vorrang vor
anderen Rechten c ingeräumt wird, genügt an Stelle der Einigung des zurücktretenden
und des vertretenden Berechtigten die Erklärung des zurücktretcnden Berechtigten
gegenüber dem Grundbuchamte.]
§ 5. Leber die Eintragung des Bau vermerk es hat das Grundbuchamt von
Amtswegen eine Bescheinigung zu erteilen; in dieser Bescheinigung ist der Ge-
samtbetrag der im § 4 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 bezeichneten Belastungen anzugeben, so-
weit sic dem Bauvermerke vergehen.
Der Baustelienwert ist durch eine Bescheinigung der zuständigen Behörde
nachzuweisen.
Die Grundsätze für die Bemessung des Baustellenwcrts und das Feststellungs-
Verfahren werden, sofern sie nicht landesgesetzlich geregelt sind, durch landesherr-
liche Verordnung bestimmt. Das Gleiche gilt von den für das Feststellungsverfahren
und die Eintragung des Bauvermerkes sowie der Bauhypothek zu erhebenden G c -
b ü h r e n.
Zweiter Abschnitt.
Baugläubiger.
§ 6. Als Baugläubiger gelten die an der Herstellung des Bauwerkes oder
eines einzelnen Teiles des Bauwerkes auf Grund eines Werk- oder Dienst-
vertrags Beteiligten [Zusatz in Enticurf B: sowie diejenigen, welche zur
Herstellung des Bauwerks zu verwendende Sachen geliefert haben ] wegen
ihrer Ansprüche auf die in Geld vereinbarte Vergütung, sotern die Werk- oder
Dienstverträge [Entwurf B: Werk Dienst oder Lieferungscer trüge] von dem
Eigentümer der Baustelle oder für dessen Rechnung geschlossen worden sind (Hau-
Forderungen [Entwurf B : unmittelbare Bauforderungen]). Dem Eigentümer der
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Gesetzgebung : Deutsches Reich.
Baustelle steht gleich, wer den Bau mit Zustimmung des Eigentümers als Bauherr
ausführt Durch eine nachträgliche Veräufscrung der Baustelle werden die Rechte
der Baugläubiger nicht berührt
Zusätze im Entwurf B: ffff Hu — 6d.
ff Ga. lut dir einem Unternehmer übertragene Herstellung des Bauwerkes
oder eines einzelnen Teiles des Bautcerkes an andere Unternehmer (Xach-
tnänner) weiter übertragen worden, so gelten auch die Xochmänner wegen der
ihnen ans dem Werkverträge gegen ihre Vormänner zustehenden Ansprüche als
Bangläubiger ( mittelbare Bauforderungen).
ff Hb. Mittelbare Bauforderungen dürfen den Betrag nicht überschreiten,
für welchen dein unmittelbaren Vormann eine Bauforderung enrarhsen ist:
mehrere Bauforderungen von Xaehmännern desselben Vormanns sind soweit er-
forderlich eerhiHtnismäfsig herabzusetzen. Ist die Banforderung eines Xach-
manns nach Satz 1 herabzusetzen, so ist der herabgesetzte Betrag für den Um-
fang der Bauforderungen seiner Xachmänner mafsgebend.
ff 6c. Sind vor der Eintragung der Bauhg/sdhek Zahlungen an einen
Vormann auf dessen Banforderung geleistet, so ist der verbleibende Best der
Bauforderung des Vormanns für den Umfang der Bauforderungen seiner Xach-
rniinner mafsgebend.
ff Hd. Hat ein Xachmann seine Banforderung dem Schuldner eines Vor-
manns angezeigt, so tritt die angezeigte Forderung bis zur Höhe der an den
Vormann nach der Anzeige geleisteten Zahlungen an die Stelle der Bauforde-
rung des Vormann*. Sind mehrere gegen denselben Vormann bestehende Bau-
forderungen, deren Summe die an den Vormann geleistete Zahlung übersteigt,
angezeigt, so findet eine rerhältnismäfsige Herabsetzung der jedem Xaehmanne
zufallenden Beträge der Bauforderungen des Vorman ns statt. Bestehen mehrere
angezeigte Bauforderungen gegen verschiedene Vormänner, so schliefst der frühere
Xachmann den sjsiteren aus, soweit die ( on ihnen angezeigten Beträge sich
decken.
Die Anzeige ist durch Gerichtsvollzieher zuzustellen: sie verliert ihre
Kraft, wenn nicht binnen drei Wochen eine schriftliche Anerkennung der Bau-
forderung durch den Vormann oder eine die Aufrechterhaltung der Anzeige
anordnende einstweilige Verfügung zugestcllt wird. Auf die Erlassung der
einstweiligen Verfügung finden die Vorschriften des ff lä entsprechende An-
wendung.
§ 7. Der Eigentümer hat sor dem Beginne des Baues dem Grundbuch-
amt eine Erklärung einzureichen, aus welcher ersichtlich sind:
1. die Personen der nach § 6 als Baugläubiger anzusehenden Unternehmer
des Bauwerkes oder einzelner Teile des Bauwerkes;
2. der Betrag der jedem Unternehmer zu zahlenden Vergütung :
3. die Fristen, in denen die Vergütung zu zahlen ist
Werden die Verträge mit den Unternehmern abgeändert oder erst später ge-
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Entwürfe eines Reichsgesetzes, betr. die Sicherung der Bauforderungen. 187
schlossen, so hat der Eigentümer unverzüglich dem Grundbuchamt eine Erklärung
einzurcichen, welche die im Abs. I vorgesehenen Angaben enthält oder berichtet.
Die Erklärungen sind von «lern Eigentümer zu unterzeichnen.
Ist ein schriftlicher Vertrag geschlossen, so kann statt der Erklärung der Ver-
trag in Urschrift oder in einer von dem Eigentümer Unterzeichneten Abschrift cin-
gereicht werden. Die Einsicht der Erklärungen und Verträge ist Jedem gestattet.
Erfüllt der Eigentümer die ihm nach Abs. i bis 4 obliegenden Verpflichtungen
nicht, so ist er jedem Beteiligten zum Ersätze des daraus entstehenden Schadens
verpflichtet.
Die sich auf den Eigentümer beziehenden Vorschriften der Abs. I bis 5 rinden
auf diejenigen Unternehmer entsprechende Anwendung, welche die Herstellung des
Bauwerkes oder einzelner Teile des Bauwerkes an andere Unternehmer weiter über-
tragen.
Zusätze in Entwurf B: 7a — 7c.
§ 7 a. Soweit ein Fachmann nach § 7 Schadensersatz gegen den Eigen-
tümer beanspruchen kann, gilt seine Bauforderung als unmittelbare Bauforde-
rung; die Vorschriften der ff ff 6 b, 6c finden keine Anwendung.
Soweit ein Fachmann nach ff 7 Schadensersatz gegen einen Enternehmer
beanspruchen kann, gilt der Unternehmer als unmittelbarer Vormann.
ff 7b. Wird an einen Vormann eine Zahlung auf Grund eines Vertrags
geleistet , der nicht nach ff 7 angezeigt worden ist, oder war die Zahlung nach
Maßgabe der abgegebenen Erklärungen noch nicht fällig und kannte in diesem
Falle der Zahlende die Absicht des Empfängers , seine Fachmänner zu benach-
teiligen, so treten die Bauforderungen der Fachmänner bis zur Höhe der
Zahlung an die Stelle der Bauforderung des Vormanns. Die Vorschriften des
ff 6d Abs. I Satz 2, 3 finden entsprechende Anwendung.
Ist eine Erklärung nicht vor dem Beginne des Baues eingereicht , so ist
sie nur zu berücksichtigen, wenn sie mindestens eine Woche vor der Zahlung
durch Anschlag auf dem Baue bekannt gemacht ist.
ff 7c. Jeder Unternehmer haftet dein Besteller dafür , daß von den Fach-
männern des Unternehmers Bauforderungen nur bis zur Bähe des von dem
Besteller an den Unternehmer oder dessen Rechtsnachfolger geschuldeten Be-
trags geltend gemacht werden.
§ 8. Dem Baugläubiger steht eine Bauforderung nur insoweit zu, als
seine Leistungen in den Bau verwendet worden sind. Ist diese Verwendung nicht
vollständig erfolgt, so ist die vereinbarte Vergütung in dem Verhältnisse herab-
zusetzen, in welchem bei dem Abschlüsse des Vertrags der Wert der vereinbarten
Leistung zu dem Werte der in den Bau verwendeten Leistung gestanden haben würde.
§ 9. Ucbersteigt die vereinbarte Vergütung die übliche Vergütung
offenbar in erheblichem Mafsc, so kann jeder Beteiligte verlangen, dafs bei der Be-
rechnung der Ansprüche aus der Bauhypothek an Stelle des vereinbarten Preises
der übliche Preis zu Grunde gelegt wird.
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Gesetzgebung: Deutsches Reich.
Dritter Abschnitt.
Bauvermerk. Bauhypothek.
§ io. Die Eintragung des Bau Vermerkes erfolgt auf Antrag des Eigen-
tümers. Bildet die Baustelle nur einen Teil eines Grundstücks, so ist sic von dem
Grundstück abzuschrciben und als selbständiges Grundstück cmzutragen.
Der Eigentümer kann bei der Baupolizeibehörde beantragen, dafs sic die Ein-
tragung des Bauvermerkes veranlasse. In diesem Falle erfolgt die Eintragung auf
Ersuchen der Baupolizeibehörde; das Ersuchen soll erst gestellt werden, wenn die
Baupolizeibchörde die Erteilung der Bauerlaubnis für wahrscheinlich erachtet.
§ II. Der Bauvermerk wird gelöscht, wenn dem Grundbuchamt eine Be-
scheinigung der Baupolizeibehörde vorgelegt wird, dass vor dem Beginne des Baues
die Bauerlaubnis erloschen oder von dem Baue Abstand genommen ist.
§ 12. Die Baugläubiger können ihre Bauforderungen bei dem Grund-
buchamte binnen einer Frist von drei Monaten anmelden, nachdem die Bau-
polizeibehörde in dem für ihre Bekanntmachungen bestimmten Blatte veröffentlicht
hat, dafs baupolizeiliche Bedenken, das Gebäude in Gebrauch zu nehmen, nicht be-
stehen, oder dafs die Baucrlaubnis nach dem Beginne des Baues erloschen ist. Die
Frist beginnt mit dem Tage, an welchem das die Veröffentlichung enthaltende Blatt
ausgegeben wird. Die Veröffentlichung soll spätestens einen Monat nach der Ge-
brauchsabnahme oder nach dem Erlöschen der Bauerlaubnis erfolgen. Von der er-
folgten Veröffentlichung hat die Baupolizeibchörde dem Grundbuchanit unverzüglich
Mitteilung zu machen.
§ 13. Die Anmeldung einer Bauforderung ist nur wirksam, wenn bis zum
Abläufe der Anmeldungsfrist die schriftliche Zustimmung des Eigentümers
zur Anmeldung oder eine gegen den Eigentümer ergangene, die Anmeldung zu-
lassende einstweilige Verfügung zu den Akten des Grundbuchamts eingcreicht
wird. [Zusatz in Entwurf B: Bei mittelbaren Bau fordern ngen müssen der
unmittelbare Vormann und die weiteren Vor man 71 er in der Zustimniungs-
erklär ung oder in der einstweiligen Verfügung angegeben sein. Das Grundbuch-
amt hat, sobald eine Anmeldung wirksam geworden ist, dem Anmcldendcn eine
Bescheinigung über die Anmeldung zu erteilen.
Zur Erlassung der einstweiligen Verfügung sind glaubhaft zu machen :
1. der von dem Anmcldendcn abgeschlossene Vertrag;
2. die Verwendung seiner Leistungen in den Bau und bei teilweiser Ver-
wendung der nach g 8 zu berechnende Betrag der Bauforderung;
3. wenn der Vertrag nicht mit dem Eigentümer abgeschlossen ist, die Vor-
aussetzungen, unter denen nach § 6 der Vertrag einem mit dem Eigen-
tümer geschlossenen Vertrage gleich steht.
Entwurf B lautet in # IS von Abs. 2 Sr. S ab:
S. bei Bauf Order ungen eines Xaehmanns die Angemessenheit der verein-
barten 1 'ergiitung ;
4. bei unmittelbaren Bau forder ungen und , iccnn ein anderer als der
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Entwürfe eines Reichsgesetzes, betr. die Sicherung der Bauforderungen. 189
Vertragsgegner als unmittelbarer Yormann bezeichnet wird, dir in
den §# (i, 6d, 7a oder 7b bestimmten Voraussetzungen;
5. bei mittelbaren Bauforderungen die Heihenfolge der Yorntänner, so-
fern sieh diese nicht aus den nach § 7 erstatteten Anzeigen ergiebt.
Wird Widerspruch gegen die einstweilige Verfügung erhoben, so ist die
Verfügung auch aufzuheben, soweit das Xichtbestchen der Bauforderung in Ge-
nuifshe.it der Vorschriften der Ob, 6c glaubhaft gemacht wird.
§ 14. Liegen bei dem Ablaufe der Anmcldungsfrist wirksame A n meid ungen
nicht vor, so wird der Bauvermerk von Amtswegen gelöscht.
Die Zurücknahme einer Anmeldung bedarf der für Eintragungs-
bewilligungen in der Grundbuchordnung vorgeschriebenen Form.
Der Zurücknahme einer Anmeldung steht es gleich, wenn dem Grundbuch-
ainte nachgewiesen wird, dafs für die angemeldetc Forderung Sicherheit ge-
leistet ist.
Die Sicherheit ist durch Hinterlegung von Geld oder Wertpapieren zu be-
wirken.
Das Grundbuchamt hat auf Antrag dem Anmeldenden eine Frist zu bestimmen,
binnen welcher dieser dem Grundbuchamtc die Einwilligung in die Rückgabe
der Sicherheit zu erkliiren oder die Erhebung der Klage wegen seiner An-
sprüche nachzuweisen hat. Nach dem Ablaufe der Frist hat das Grundbuchamt auf
Antrag die Rückgabe der Sicherheit anzuordnen, wenn nicht inzwischen die Er-
hebung der Klage nachgewiesen ist. Auf das Verfahren finden die Vorschriften
des Gesetzes über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit entsprechende
Anwendung ; gegen den Bcschlufs, durch welchen der Antrag auf Bestimmung einer
F'rist abgelehnt wird, steht dem Antragsteller, gegen die Entscheidung über die
Rückgabe der Sicherheit beiden Teilen die sofortige Beschwerde zu.
$ 15. Liegen bei dem Ablaufe der Frist wirksame Anmeldungen vor, so wird
von Amtswegen unter Löschung des Bauvermerkes eine als Bauhypothek zu be-
zeichnende Hypothek mit dem Range des Bauvermerkes eingetragen. Mit der
Eintragung entsteht die Hypothek. Die Baubypothck gilt als Sicherungshypothek,
auch wenn sie im Grundbuch nicht als solche bezeichnet ist.
Der Gesamtbetrag der Bauhypothek wird durch die Summe der wirksam
angemeldctcn Bauforderungen bestimmt. Zinsen der Bauforderungen werden nicht
berücksichtigt.
Entwurf B hat statt des vorstehenden Absatzes folgende zwei Absätze:
Bei der Bestimmung des Betrags der Bauhypothek sind zu berück-
sichtigen :
1. die Anmeldungen der unmittelbaren Bau fordern tu/en :
2. die Anmeldungen der unmittelbaren Bauforderungen, soweit sie nicht
in Anmeldungen der Vormänncr Deckung finden.
Zinsen der Bau f orderungen werden nicht berücksichtigt.
Bei der Eintragung der Bauhypothek sind aufser ihrem Gesamtbeträge die den
einzelnen Baugliiubigem zustehenden Teilbeträge anzugeben.
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Gesetzgebung : Deutsches Reich.
Wird gcmäfs § I durch Hinterlegung Sicherheit geleistet, so vermindert sich
der Betrag der Bauhypothek um den Betrag der Sicherheit unter vcrhältnismäfsigcr
Herabsetzung der den einzelnen Baugläubigem zustehenden Teilbeträge.
Zusatz in Entwurf B: § loa.
Für mittelbare Bauforderungen ist, soweit diese in Anmeldungen
der Vormänner Deckung finden, zugleich mit der Bauhgjxtfhek ein Pfand -
recht einzutragen. Das Pfandrecht entsteht mit der Eintragung und geht
anderweit begründeten dinglichen Hechten im Bange vor.
Das Pfandrecht besteht an der Bauforderung des unmittelbaren Vormanns.
Hat der unmittelbare Vormann seine Bauforderung nicht oder nicht in einem
zur Deckung der Bauforderung des Nachmanns ausreichenden Betrag ange-
meldet, so besteht das Pfandrecht in Höhe des nicht gedeckten Betrags an der
Bauforderung des nächsten anmeldenden Vormanns und soweit erforderlich
weiterer Vormänner. Die Bauforderungen mehrerer Nachmänner desselben Yor-
manns haben unter sich gleichen Bang.
Ergiebt sich, dass die von einem Vormann angcmeldete Bauforderung zur
Zeit dir Eintragung der Bauhgpothek nicht bestand, so haben die Xachmänner
dieselben Hechte, welche sie haben würden, wenn die Anmeldung des Vornuinns
nicht erfolgt wäre.
§ 16. Bis zur Löschung des Bauvermerkcs ist die Einsicht des Grund-
buchs und der im § 1 1 der Grundbuchordnung bczeichneten Urkunden sowie der
Mitteilungen der Baupolizeibehörde Jedem gestattet.
§ 17. Beruht die Wirksamkeit einer Anmeldung auf einer einstweiligen
Verfügung und wird diese nach der Eintragung der Bauhypothek durch rechts
kräftige Entscheidung aufgehoben, so erwirbt der Eigentümer des Grundstücks
den dem Anmeldendcn zustehenden Teilbetrag der Bauhypothek. Zusatz in Ent-
wurf B die Vorschrift des $ Iba Abs. 3 wird hierdurch nicht berührt.
§ 18. Leistet der Eigentümer für eine angcmeldete Bauforderung Sicher-
heit, so erwirbt er den dem Annieldcnden zustrhenden Teilbetrag der Bauhypothek
Zusatz in Entwurf B: oder das dem Au meldenden zustehende Pfandrecht .
Die Vorschriften des § 14 Abs. 4, 5 finden entsprechende Anwendung.
§ 19. Mehrere bei der Eintragung der Bauhypothek berücksichtigte Bau-
forderungen haben unter sich gleichen Rang.
Verwandelt sich ein Teil der Bauhypothek in eine dem Eigentümer
des Grundstücks zufallcnde Grundschuld, so kann diese zum Nachteile der den Bau-
gläubigern verbleibenden Bauhypothck nicht geltend gemacht werden.
Die Vorschrift des Abs. 2 findet entsprechende Anwendung, wenn ein Teil der
Bauhypothek in eine gewöhnliche Hypothek, eine Grundschuld oder Rentcnschuld
umgewandelt oder wenn an die Stelle einer Bauforderung, für welche die Bau-
hypothek besteht, eine andere Forderung gesetzt W’ird.
§ 20. Der Rang der Bauhypothek gegenüber anderen Rechten be-
stimmt sich nach der Eintragung des Bauvermerkes. Ist jedoch nach dem Bauver-
merk eine Hypothek zu Gunsten eines Gläubigers eingetragen, welcher die Gcwäh-
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Entwürfe eines Rcicbsgcsctzes, bctr. die Sicherung der Bauforderungen. \(j\
rung von Baugeldern übernommen hat, so gelten für diese Hypothek, falls sie bei
der Eintragung als Baugelderhypothek bezeichnet ist, die Vorschriften der §§21,22.
Das Grundbuchamt soll eine Baugcldcrhypotheknur eintragen, wenn
der Baugcldervertrag zu den Akten des Grundbuchamtes eingereicht ist.
§ 21. Die Baugel de rliy pothek geht der Ba u h yp o th e k im Range um
den Betrag derjenigen Zahlungen vor, welche in Anrechnung auf die Baugelder von
dem Baugeldgeber zum Zwecke der Tilgung einer Bauforderung an den Baugläubiger
oder in Höhe einer von dem Eigentümer getilgten Bauforderung an diesen geleistet
worden sind. I)cr Vorrang ist ausgeschlossen, soweit dem Baugeldgeber zur Zeit
der Zahlung bekannt war, dafs die Bauforderung nicht bestehe; der Kenntnis steht
eine auf grober Fahrlässigkeit beruhende Unkenntnis gleich.
Zusatz in Entwurf B: ff 21. .16». 2, 3.
ln Ansehung des fünften Teiles der Baugelder finden die Vorschriften des
Abs. 1 keine Anwendung, wenn binnen einer Frist von zwei Wochen seit dem
Beginne der Anmeldungsfrist ein Baugläubiger Widerspruch gegen die .-lii*-
zahlung erhoben hat. Wird Widerspruch erhoben, so ist der Baugeldgeber be-
rechtigt, den fünften Teil des Baugeldes mit der Wirkung zu hinterlegen, dafs
die Baugelderhypothek in Höhe des hinterlegten Betrags der Bauhypothek im
Range vorgeht. Auf den hinterlegten Betrag finden die Vorschriften des vierten
Abschnitts entsprechende Anwendung.
Der Widerspruch gegen die Auszahlung ist dem Baugeldgeber durch einen
Gerichtsvollzieher zuzustellen. Der Widerspruch verliert seine Wirkung, wenn
nicht dem Baugeldgeber t nur dem Ablaufe der Anmeldungsfrist die im ff 13
Abs. 1 Satz 3 bezeichnet e Bescheinigung des Grundbuchamts vorgelegt wird .
Wird der Widerspruch , zurückgenommen, so gilt er als nicht erfolgt.
§ 22. Auf Antrag des Baugeldgebcrs ist zur Vermittelung der von ihm zu
leistenden Zahlungen ein Treuhänder zu bestellen. In diesem Kalle begründen
alle nach Mafsgabc der Anweisungen des Treuhänders geleisteten Zahlungen den
V'orrang vor der Bauhypothek, sofern der Baugeldgeber durch Anschlag auf dein
Baue bekannt gemacht hat, dafs er durch Vermittelung des Treuhänders Zahlung
leisten werde. Der Treuhänder darf die Anweisung zur Zahlung nur erteilen, soweit
der Baugeldgeber nach Mafsgabc des § 21 zur Zahlung mit Wirkung gegen die
Baugläubiger berechtigt ist.
Entwurf B schiebt hier folgenden Absatz ein: Dem Treuhänder ist der
Widerspruch gegen die Auszahlung des fünften Teiles der Baugelder zuzustellen
und die Bescheinigung des Grundbuchamts vorzulegen.
Soweit die Leistung von Zahlungen durch Vermittelung des Treuhänders von
diesem [Entwurf B sagt statt „von diesem oder die nach ff 21 Abs. 2 er-
folgte Hinterlegung von dem Treuhänder j in öffentlich beglaubigter Form be-
scheinigt wird, hat das Grundbuchamt den Vorrang der Baugelderhypothek vor der
Bauhypothek in das Grundbuch einzutragen.
Auf den Treuhänder finden die für einen Pfleger geltenden Vorschriften des
Bürgerlichen Gesetzbuchs, mit Ausnahme des § 1 7^5» entsprechende Anwendung*
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Gesetzgebung: Deutsches Reich.
Der Treuhänder kann für die Führung seines Amtes eine angemessene Ver-
gütung verlangen. Vor der Festsetzung der Vergütung soll der Baugeldgeber soweit
thunlich gehört werden.
Durch Anordnung der Landesjustizverwaltung können die dem VormundschafU-
gerichl in Ansehung der Treuhänder obliegenden Verrichtungen für mehrere Amts-
gerichtsbezirke einem Amtsgericht übertragen werden.
§ 23. Ist im Falle der Zwangsversteigerung oder der Z w a n g s v c r w a I -
tung zur Zeit der Eintragung des Vollstreckungsvcrmerkes die Eintragung der Bau-
liypothck noch nicht erfolgt, so können die Baugläubiger auf Grund des Bauver-
merkes Befriedigung aus dem Grundstücke verlangen; die Vorschriften der §§15
/.matz in Entwurf II: loa . 18 bis 22 linden entsprechende Anwendung.
§ 24. Das Grundbuchamt hat im Falle des § 23 nach der Eintragung des
Vollstreckungsvermerkes dem Vollstreckungsgericht eine beglaubigte Abschrift der
wirksamen Anmeldungen zu erteilen. Baugläubiger, für die nach der Mitteilung des
Grundbuchamts zur Zeit der Eintragung des Vollstreckungsvcrmerkes eine wirksame
Anmeldung vorlag, stehen für das Vollstreckungsverfahren Gläubigem, die zu dieser
Zeit im Grundbuch eingetragen waren, gleich.
Liegt später eine wirksame Anmeldung vor, so hat das Grundbuchamt sic dem
Vollstreckungsgerichte nachträglich mitzuleilen; die Mitteilung ersetzt die Anmeldung
und Glaubhaftmachung der Forderung im Vollstreckungsverfahren.
§ 25. Hatte zur Zeit der Eintragung des Vollstreckungsvcrmerkes die An-
meldungsfrist bereits begonnen, so darf der Versteigerungstermin nicht auf einen
früheren Zeitpunkt als zwei Wochen nach dem Abläufe der Frist bestimmt werden.
Ist diese Vorschrift verletzt, so ist der Zuschlag zu versagen.
Beginnt die Anmeldungsfrist im Laufe des Vollstrcckungsverlahrcns, so kann
jeder an dem Verfahren Beteiligte die Aufhebung des Termins und die Bestimmung
eines anderen Termins verlangen, wenn der Terrain auf einen früheren als den nach
Abs. 1 zulässigen Zeitpunkt bestimmt ist. Im Falle der Verletzung dieser Vorschrift
ist der Zuschlag zu versagen, es sei denn, dafs das Recht des Beteiligten durch
den Zuschlag nicht beeinträchtigt wird oder der Beteiligte das Verfahren genehmigt.
Die Genehmigung ist durch eine öffentlich beglaubigte Urkunde nachzuweisen.
§ 26. Soweit durch ein Urteil der Widerspruch eines Baugläubigers gegen
die Aufnahme der Forderung eines anderen Baugläubigers in den Verteilungsplan
rechtskräftig als begründet anerkannt ist, wirkt das Urteil für alle Baugläubiger.
I »er widersprechende Baugläubiger kann Erstattung seiner Prozefskosten aus dem
bei der Verteilung auf die Baugläubiger entfallenden Betrag insoweit verlangen, ab
infolge des \\ iderspruchs der Anteil des Prozefsgegncrs an diesem Betrage vermindert
ist. [Zusatz in Entwurf JE Ist der Prozefngegner ein Xachmann , so kann di e
Erstattung nur denjenigen ßaugtä ubigern gegenüber verlangt werden , denen der
Wegfall den XachmannB zum Vorteile gereicht. |
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Entwürfe eines Kcichsgcsetzes, bctr. die Sicherung der Hauforderungen.
Vr i c r t e r A b s c h n i 1 1.
Sicherheitsleistung.
§ 27. Eine geniäfs § I durch Hinterlegung bestellte Sicherheit haftet
den Haugläubigem in der gleichen Weise, wie ihnen kraft der Hauhypothek das
Grundstück haftet.
§ 28. Wird der Hauvermerk nach $} 1 1 oder § 14 gelöscht, so hat das
Grundbuchanit auf Antrag die Rückgabe der Sicherheit anzuordnen. Das
Gleiche gilt, wenn dem Grundbuchamte nach dem Ablaufe der Anmeldungsfrist die
Zustimmung aller Haugläubiger, für welche wirksame Anmeldungen vorliegen, in der
für Eintragungsbewilligungen durch die Grundbuchordnung vorgeschriebenen Form
nachgewiesen wird ; die Zustimmung eines Haugläubigers kann dadurch ersetzt
werden, dafs zu seinen Gunsten Sicherheit geleistet wird. Auf die Sicherheitsleistung
finden die Vorschriften des g 14 Abs. 4, 5 Anwendung.
£ 29. Nach dem Ablaufe der Anmeldungslrist kann der Eigentümer sowie
jeder Haugläubiger, welchem die Sicherheit haftet, die Einleitung eines Vertei-
lungsverfahrens beantragen.
Für das Verteilungsverfahren ist das Amtsgericht zuständig, in dessen Bezirke
das Grundstück belegen ist.
Gegen den Heschlufs, durch welchen der Antrag auf Einleitung des Verteilungs-
verfahrens zurückgewiesen wird, steht dem Antragsteller die Beschwerde zu.
Der Bcschlufs, durch welchen der Antrag eines Haugläubigers zugclassen wird,
ist auch dem Eigentümer zuzustcllcn ; dem Eigentümer steht gegen den Heschluls
die sofortige Beschwerde zu.
Auf die Beschwerde finden die Vorschriften der Civilprozcfsordnung ent-
sprechende Anwendung.
§ 36. Wird der Antrag zugelassen, so hat das Gericht gleichzeitig das Grund-
buchamt um Erteilung einer beglaubigten Abschrift der wirksamen Anmeldungen zu
ersuchen.
Sind Wertpapiere hinterlegt, so hat das Gericht die Veräufserung der Papiere
nach Mafsgabc der Vorschriften über die Zwangsvollstreckung anzuordnen ; der Erlös
ist zu hinterlegen. Ist das Verfahren auf Antrag eines Haugläubigers eingeleitet
worden, so darf die Veräufserung erst angeordnet werden, wenn der Bcschlufs,
durch welchen der Antrag zugelassen w'ird, rechtskräftig geworden ist.
§ 31. Das Gericht hat nach dem Eingänge der beglaubigten Abschrift der
wirksamen Anmeldungen, im Falle des § 30 Abs. 2 jedoch nicht vor der Hinter-
legung des Erlöses einen Termin zur Verteilung zu bestimmen.
Die Terminsbestimmung ist dem Eigentümer sowie jedem Baugläubiger, für
welchen eine wirksame Anmeldung vorliegt, zuzustellen ; sie soll an die Gerichtstafel
angeheftet werden.
$ 32. Auf das Verteilungsverfahren linden die Vorschriften des § 106, des
£ 107 Abs. 1 Satz 1, des § in, des § 113 Abs. 1, des § 114 Abs. I, der §§ 115,
117, 119, 120, 124, 126, des § 127 Abs. 2, 3 und der 135, J37 bis 142 des
Gesetzes über die Zwangsversteigerung und die Zwangsverwaltung entsprechende An-
Archiv für <oi. üf«t»gehung u. Stn*i*tik. XVII. 13
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194
Gesetzgebung : Deutsches Reich.
Wendung. Ansprüche, für die nach der Mitteilung des Grundbuchamts eine wirk-
same Anmeldung vorliegt, gelten ira Sinne des § 124 Abs. I als Ansprüche, die zur
Zeit der Fintragung des Versteigerungsvermerkes aus dem Grundbuch ersichtlich waren.
§ 33. Sind ein Verteilungsverfahren in Ansehung der Sicherheit und ein Ver-
teilungsverfahren über den Erlös des mit der Bauhypothek belasteten Grundstücks
gleichzeitig anhängig, so hat das Gericht beide Verfahren zu verbinden. Die Ver-
bindung findet nicht mehr statt, sobald in einem der Verfahren der Vcrteilungstermin
abgehaltcn ist.
§ 34. Im Falle des § 23 erstreckt sich das Verteilungsverfahren über den
Erlös des Grundstücks zugleich auf die gemäfs § I durch Hinterlegung geleistete
Sicherheit. Die Vorschriften des § 30 Abs. 2 finden entsprechende Anwendung.
Fünfter Abschnitt.
Schlufsbestimmungen.
§ 35. Soll das Gebäude von] einem Erbbauberechtigten errichtet werden, so
ist der Bauvermerk auf dem Grundbuchblatte des Erbbaurechts cinzutragen. Der
Wert des Erbbaurechts tritt an die Stelle des Baustellenwerts.
Bei der Feststellung der Belastungen sind sowohl die auf dem Erbbaurecht
als die auf dem Grundstücke haftenden, dem Erbbaurechte vorgehenden Belastungen
zu berücksichtigen.
Die sich auf den Eigentümer beziehenden Vorschriften dieses Gesetzes finden
auf den Erbbauberechtigten Anwendung.
§ 36. Auf die durch dieses Gesetz den Baugläubigern gewährten Rechte
kann erst nach dem Beginne der Anmeldungsfrist oder nach der Anordnung der
Zwangsversteigerung oder der Zwangsverwaltung verzichtet werden.
§ 37. Durch Landesgesetz können die nach diesem Gesetze der Bau Polizei-
behörde obliegenden Verrichtungen einer anderen Behörde, die nach § 22
einem Treuhänder obliegenden Verrichtungen einer Behörde übertragen werden.
§ 38. Auf Grundstücke des Fiskus und solche Grundstücke, welche einem
dem öffentlichen Verkehre dienenden Bahnunternehmen gewidmet sind, sowie
auf Grundstücke, die nach landesherrlicher Verordnung ein Grundbuch blatt
nur auf Antrag erhalten, finden die Vorschriften dieses Gesetzes keine An-
wendung.
Das Gleiche gilt von den Grundstücken eines Landesherrn und den
Grundstücken, welche zum Hausgut oder Familiengut einer landesherrlichen Fa-
milie, der Fürstlichen Familie Hohenzollern oder der Familie des vormaligen
Hannoverschen Königshauses, des vormaligen Kurhessischen und des vormaligen
Nassauischcn Fürstenhauses gehören.
§ 39- Wird die im $$ 1 vorgesehene landesherrliche Verordnung
zurückgenommen, so finden die Vorschriften dieses Gesetzes nur noch in An-
sehung der Grundstücke Anwendung, bei denen ein Bauvermerk oder eine Bau-
hypothek bereits eingetragen ist.
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ITALIEN.
Das neue Gesetz, betreffend die
National -Versorgungskasse für die Invalidität und
das Alter der Arbeiter.
Eingelcitct von
Prof. CARLO F. FERRARIS
in Padua.
Durch das Gesetz vom 17. Juli 1898 wurde in Italien eine
National -Versorgungskasse für die Invalidität und das Alter der
Arbeiter geschaffen.
Die Erfahrung der ersten Jahre hat die Notwendigkeit einiger
Veränderungen und neuer Vorschriften gezeitigt. Durch das Gesetz
vom 7. Juli 1901 wurden sie dekretiert. Zugleich wurde die
Regierung ermächtigt, das neue und das frühere Gesetz in einem
einheitlichen Texte zu vereinigen , und so ist das jetzt geltende
Gesetz vom 28. Juli 1901, Nr. 387, zustande gekommen.
Dieses Gesetz hat die innere Einrichtung der National -Ver-
sorgungskasse in ihren Hauptzügen unverändert gelassen; es ist
daher unnötig, eine vollständige Darstellung derselben zu geben,
und ich verweise auf meine Abhandlung über das Gesetz von
1898 in diesem Archiv, Band XIII, S. 651 ff.
Im folgenden werde ich nur die neuen Bestimmungen kurz
andeuten und erläutern.
1. Das Gesetz hat zuerst die Eingänge, welche aus dem früheren
kirchlichen Vermögen (dem sogenannten Kultusfonds) und aus der
Verjährung der aufser Kurs gesetzten und nicht zur Einlösung
gelangten staatlichen Kassenscheine zu I und 2 Lire und der alten
Noten der Zettelbanken in die Nationalkasse flielsen sollen, besser
geregelt, und die Grundsätze für die Anlegung der der Kasse
‘3*
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Gesetzgebung : Italien.
gehörenden Kapitalien und der Zinszahlungen aus den für Rechnung
der Nationalkasse in der Zentraldepositen- und Anleihenkasse hinter-
legten Kapitalien festgestellt. Das Gesetz hat weiterhin einige Ein-
künfte der Nationalkasse von der sehr lästigen Mobiliar-Einkommen-
steuer, und die von der Kasse gewährten Leibrenten und die den
Erben Versicherter bezahlten Summen von dieser Steuer wie von
der Erbschaftssteuer befreit.
2. Dem Versicherten wurde erlaubt, zwei oder mehrere Jahres-
beiträge, deren Minimalbetrag 6 Lire ist, auf einmal, resp. im I-aufe
eines Jahres zu bezahlen. Demgemäfs kann er, wenn er in den
folgenden Jahren aufser stände ist, den Betrag zu zahlen, die Vor-
teile der Kasse für so viele Jahre geniefsen, als sein geleisteter
Beitrag den jährlichen Minimalbeitrag von 6 Lire darstellt. Wenn
er z. B. in einem Jahre 24 Lire bezahlt hat, so kann er fiir vier
Jahre die jedem Versicherten zugesicherte Anteilquote erhalten,
auch wenn er in den drei folgenden Jahren keinen Beitrag ge-
leistet hat.
3. Um auf die Altersrente Anspruch zu erhalten, soll der Ver-
sicherte mindestens 25 Jahre der Kasse angehört haben. Doch
erfährt diese allgemeine Regel folgende Modalitäten und Ausnahmen :
a) Die Männer, welche jene Bedingung erfüllt und das 60. Alters-
jahr erreicht haben, können den Schlufs der Rechnung und die
Liquidation der Rente fordern, oder beide bis zum 65. Altersjahre,
aber nicht weiter, verschieben.
b) Die Frauen, welche jene Bedingung erfüllt und das 55- Alters-
jahr erreicht haben, können den Schlufs der Rechnung und die
Liquidation der Rente fordern, oder beide bis zum 60. Altersjahr,
aber nicht weiter, verschieben.
c) Arbeiter, welche schon in vorgerücktem Alter stehen, können
mit Verkürzung der Normalperiode von 25 Jahren der Kasse bei-
treten, sie sollen jedoch mindestens IO Jahre der Kasse angehören.
Die Verkürzung kann beliebig 2 bis 15 Jahre umfassen, aber es
sollen dann eben so viele Jahresbeiträge (von mindestens 6 Lire
jeder), mit den Zinseszinsen bezahlt werden, als die Zahl der Jahre
ist, für welche die Verkürzung verlangt wurde. Die Erlaubnis, mit
einer solchen verkürzten Periode sich einzuschreiben, erlischt am
31 Dezember 1903. Um die Bezahlung der Beiträge zu erleichtern,
nimmt die Kasse Ratenzahlungen bis zum 31. Dezember 1903 an.
Auch bereits Versicherten, welche in vorgerücktem Alter stehen,
hat die Verwaltung der Kasse gestattet, die Verkürzung der Normal-
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Carlo F. Ferraris, Das neue Gesetz, betr. d. National- Versorgungskasse etc. j gy
periode unter den oben beschriebenen Bedingungen zu erlangen.
Das Gesetz ermächtigt aufserdem die Kasse, diesen mit verkürzter
Periode Versicherten nicht nur die ordentlichen Anteilquoten, welche
sie jedes Jahr aus ihren Einkünften in gleicher Summe in der indivi-
duellen Rechnung und auf dem Inskriptionsbuch der Versicherten
für diese gutschreibt , sondern auch spezielle Anteilquoten ebenso
zu verrechnen. Die Kasse hat zu diesem Zweck schon einen Fonds
von 600000 Lire bestimmt.
4. Die Hilfskassen und die anderen gleichartigen Arbeiter-
Vorsorgevereine haben bis jetzt sehr wTenig von der Erlaubnis
Gebrauch gemacht, ihre Mitglieder bei der Kasse zu versichern.
Ein Hindernis bestand in der Thatsache, dafs solche Vereine, ins-
besondere jene, welche die juristische Persönlichkeit nicht erlangt
haben oder nicht erlangen können, nicht ausschlifeslich von Per-
sonen, welche nach Art. 8 des Gesetzes der Nationalkasse beitreten
können, gebildet sind. Um dieses Hindernis zu beseitigen und jene
Vereine zur Einschreibung ihrer Mitglieder anzuspornen, hat das
Gesetz bestimmt, dafs alle Mitglieder der Nationalkasse beitreten
können, nur mit diesem Unterschiede dafs diejenigen, welche nicht
die vom Art. 8 vorgesehene Eigenschaft besitzen, keine Anteil-
quote von der Kasse empfangen ; diejenigen dagegen, die solche
Eigenschaft besitzen, nicht nur die ordentlichen jährlichen Anteil-
quoten erhalten, sondern auch, w’enn sie das 50. Altersjahr zurück-
gelcgt haben, auch spezielle Anteilquoten empfangen können; alle
solche Anteilquoten werden natürlich, wie oben schon bemerkt,
nicht ausbezahlt, sondern auf dem Inskriptionsbuch und in der indivi-
duellen Rechnung des Versicherten gutgeschrieben.
5. Die Lage der Versicherten, welche aufhören, Arbeiter zu
sein, d. h. die im Art. 8 des Gesetzes vorgesehene Anwartschaft,
der Kasse beitreten zu können, verlieren, wrar früher nicht geregelt.
Das Gesetz bestimmt jetzt, dafs sie in jenem Falle die Beiträge
weiter leisten können, obgleich sie nicht mehr die Anteilquoten
erhalten : Es wird ihnen im Verhältnis ihrer Einzahlungen zur gesetz-
mäfsigen Zeit die Rente gewährt. Wenn der Versicherte wieder
Arbeiter wird, ist ihm gestattet, die eventuell während der Unter-
brechung nicht geleisteten Beiträge, mit den entsprechenden Zinsen,
zu bezahlen.
6. Alle Mitglieder des Verwaltungsrates der Kasse (sie sind
gegenwärtig zwölf) werden durch königliches Dekret ernannt. Früher
bezeichnete das Gesetz unter den zur Ernennung besonders em-
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ig8
Gesetzgebung: Italien.
pfohlcnen Personen nur die Vertreter der Sparkassen und der
anderen juristischen Personen, die zu Gunsten der Kasse Beiträge
leisten; das neue Gesetz hat auch die Vertreter der mit juristischer
Persönlichkeit versehenen HüHskassen und kooperativen Produktiv-
Gesellschaften von Arbeitern, welche ihre Mitglieder bei der Na-
tionalkasse versichert haben, cinbezogen.
7. Eine besondere Erklärung verlangt der letzte Artikel des
Gesetzes. Er verbietet die Benennung „Nationalkasse" jenen Unter-
nehmungen, Gesellschaften oder Anstalten, denen sie nicht durch
das Gesetz erteilt wurde. Es sind Kassen in Italien entstanden,
welche, obgleich sie auf falscher Grundlage beruhen, doch mit
jener trügerischen Bezeichnung eine ziemliche Klientel auch unter
den Arbeitern gefunden haben. Um eine gefährliche Konkurrenz
für die Nationalkasse zu verhindern, hat das Gesetz jene Vorschrift
angenommen.
Wir lassen nunmehr den Wortlaut des Gesetzes folgen:
Viktor Emmanuel III« von Gottes Gnaden und durch Volkes Willen König
von Italien.
Auf Grund des Art. 15 des Gesetzes vom 7. Juli 1901, Nr. 322, welcher unserer
Regierung die Ermächtigung giebt, in einem einheitlichen Texte die Bestimmungen
desselben Gesetzes und jene des Gesetzes vom 17- Juli 1898, Nr. 350, zu vereinigen;
Nach Anhörung des Staalsrates ;
Auf Vorschlag des Präsidenten des Ministerrates, unseres Ministers Staatssekretärs
ad interim für Ackerbau, Gewerbe und Handel;
Nach Anhörung des M inist errates ;
Haben Wir verordnet und verordnen:
Einziger Artikel.
Es wird der beiliegende einheitliche Text des Gesetzes, betr. die National*
Versorgungskasse für die Invalidität und das Alter der Arbeiter, welchen auf unserem
Befehl der vorschlagcnde Minister unterschrieben hat, bestätigt.
Wir verordnen, dafs das vorliegende Dekret, mit dem Staalsinsiegel versehen,
in die amtliche Sammlung der Gesetze und Dekrete des Königreichs Italien auf-
genommen werde und verfügen, dafs jedermann, dem es angcht, es befolge und zur
Befolgung bringe.
Gegeben Rom, den 28. Juli 19OJ.
Viktor Emmanuel
G. Zanardelli.
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Gesetz, betr. die Xational-Versorgungskasse für die Invalidität u. das Alter etc.
*99
Gesetz, einheitlicher Text (vom 28. Juli 1901, Nr. 387), die National-
Versorgungskasse für die Invalidität und das Alter der Arbeiter betreffend.
(Cassa nazionalc di Previdcnza per la invalidita e per la vccchiaia degli Operai).
Art I. Line nationale Versorgungskasse für die Invalidität und das Alter
der Arbeiter wird errichtet Sie ist eine autonome, als juristische Person aner-
kannte Anstalt, mit dem Zcntralsitz in Rom und regionalen, provinzialen, kommu-
nalen Sukkursalen, nach den Bestimmungen, welche das organische, mit königlichem
Dekret nach Anhörung des Beirates fUr Hilfs- und Sparanstalten und des Staats-
rates zu erlassende Statut enthalten wird.
Als autonome Anstalt wird die Kasse eine eigene, von der staatlichen voll-
ständig getrennte Vertretung und Verwaltung haben , und der Staat wird keine
weitere Verantwortlichkeit und keine weitere als die in den folgenden Artikeln, den
Beitrag und die Aufsicht betreffenden, vorausgcschcncn Lasten auf sich nehmen.
Art. 2. Die erste Dotation der nationalen Versorgungskasse besteht in einem
auf folgender Weise gebildeten Vermögen von zehn Millionen Lire:
a) in der Anweisung von fünf Millionen Lire aus der Summe der Banknoten,
welche das aufgehobene Zettelbankkonsortium ausgegeben hatte und nach
den Vorschriften des Gesetzes vom 7. April 1881, Nr. 133, über die Auf-
hebung des Zwangskurses jetzt verjährt sind ;
b) in der Anweisung von fünf Millionen Lire aus der Summe der am 31. De-
zember 1896 verfügbaren Nettogewinne der Postsparkasse.
Art. 3. Die Dotation der Nationalkasse wird später durch Anweisung folgen-
der Beiträge zu ihrem Vermögen erhöht werden:
a) der Hälfte des Wertes der Banknoten, welche auf Grund des Art. 3 des
durch königliches Dekret vom 9. Oktober 1900, Nr. 373, bestätigten ein-
heitlichen Textes des Gesetzes über die Zeltclbanken und die Banknoten-
ausgabe, verjährt sein werden ;
b) der Einlagen auf Grund der Postsparkassenbücher, welche auf Grund des
Artikel 10 des Gesetzes vom 27. Mai 1875, Nr. 2779, zu Gunsten der
Zcntxaldcpositcn- und Anleihenkasse verjährt sein werden ;
c) des Kapitalbetrages der Depositen bei der Zcntraldcpositen- und Anleihen-
kasse, welche auf Grund des Art 14 des Gesetzes vom 17. Mai 1863,
Nr. 1270, verjährt sein werden;
d) des zehnten Teils des Nettoeinkommens des zu kirchlichen Zwecken vom
Staate verwalteten Vermögens, welcher zu Gunsten des Staates vom Ar-
tikel 35 des Gesetzes vom 7. Juli 1866, Nr. 3036, angewiesen wurde;
c) der Beiträge , Vermächtnisse und Schenkungen , welche von juristischen
Personen oder von Privaten herrühren und mit keiner besonderen, indi-
viduellen oder kollektiven, Bestimmung zu Gunsten einer Gruppe von
Versicherten gebunden sein werden;
f) einer Quote der jährlichen ordentlichen, in den folgenden Art. 6 und 7
vorgesehenen Eingänge der Kasse.
Zur teilweisen Erfüllung der Bestimmung sub d), wird die Verwaltung
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20C
Gesetzgebung: Italien.
des früheren kirchlichen .Vermögens (Kultusfonds, Fond«. per il culto), in
fünf Finanzjahren mit Beginn von 1901 — 1902, die Summe von 29^0000
Lire der National - Versorgungskasse abgeben, welche Summe in jenes
Zehntel des Nettoeinkommens , welches aus jenem Vermögen auf Grund
des 'Art. 35 des Gesetzes vom 7. Juli 1866, Nr. 3036, dem Staate zu be-
zahlen ist. berechnet wird.
Art. 4. Der Betrag der Kassenscheine, welche auf Grund des Gesetzes vom
|6. Februar 1899, Nr. 45, den Legalkurs am 31. Dezember 1901 verlieren und zur
Einlösung im Jahre 1902 nicht vorgclegt sein werden, wird im Januar 1903 als
freiwilliges und zinstragendes Deposit der Zcntraldepositcn- und Anleihenkasse ab-
gegeben, und mit dieser Summe werden die Kassenscheine an dem für ihre Ver-
jährung bestimmten Termin eingclöst.
Die Zinsen aus diesem Deposit werden zu Gunsten der National-Vcrsorgungs-
kasse für die Invalidität und das Alter der Arbeiter auf dieselbe Weise angewiesen,
wie cs für die verjährten Kassenscheine vom Art. 3 des obengenannten Gesetzes
bestimmt wird.
Art. 5. Die Zettel banken, im Verhältnis zur Normalgrenze ihres Notenumlaufes
am l. Januar 1901, welche vom Art. 7 des mit königlichem Dekret vom 9. Oktober 1900,
Nr. 373, bestätigten einheitlichen Textes des Gesetzes über die Zettelbankcn bestimmt
wird, werden, ohne Vermehrung der respektiven Schuld, der Zentraldcpositen- und
Anleihenkasse, binnen 15 Tagen nach dem Datum des vorliegenden Gesetzes, die
Summe von 8 Millionen Lire bezahlen , welche Summe der ihrer Noten , die den
Legalkurs nicht mehr haben und voraussichtlich verloren gegangen sind, entspricht.
Die Zentraldcpositen- und Anleihenkasse wird diese 8 Millionen Lire in Staats-
rente, 5% brutto, anlcgen : die betreffenden Inhaberpapiere sollen umgewandelt
werden, zur Hälfte auf den Namen der National-Versorgungskasse für die Invalidität
und das Alter der Arbeiter, zur Hälfte auf den Namen der drei Zettelbanken ira
Verhältnis zur respektiv bezahlten Summe. Auf diesen Rententiteln soll mit be-
sonderer Bemerkung erkenntlich gemacht werden, dafs sie als Bürgschaft zu Gunsten
der Besitzer der Banknoten, bis zur Verjährung dieser, dienen werden.
Sobald die Verjährung der alten cinzuziehendcn Banknoten eintritt, wird die
obengenannte Rente in ihrem Werte geschätzt, und, auf Grund des festgestellten
wirklichen Betrages der verjährten Banknoten, die Hälfte dieses Betrages der National-
Versorgungskasse angewiesen und die andere Hälfte den Zettelbanken, im Verhältnis
zu ihrer Forderung, zurückgegeben.
In der Anweisung der zur National-Versorgungskasse gehörenden Summe soll
man, zu ihrem Nachteil oder Vorteil, den LTnterschied berechnen, welcher zwischen
dem geschätzten Werte oder dem Verkaufspreise der Rente und ihrem Ankaufspreise
sich ergeben wird.
Art. 6. Die jährlichen ordentlichen Eingänge der Nationalkassc sind die
folgenden :
a) das Drittel der jährlichen Nettogewinne der Postsparkasse nach Mafsgabc
des Art. 15 des Gesetzes vom 27. Mai 1875, Nr. 2779, für jedes der
zwei Jahre 1897 und 1898, und fünf Zehntel derselben jährlichen Netto-
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Gesetz, betr. die National- Versorgungskasse für die Invalidität u. das Alter etc. 20 1
gewinne seit dem I. Januar 1899 an: aufserdem, wenn der Gesamtbetrag
der Spareinlagen in der Postsparkasse 500 Millionen Lire erreichen wird,
so wird die Nationalkasse sieben Zehntel der Nettogewinne , welche aus
der die genannte 500 Millionen Lire übersteigenden Summe der Depositen
gezogen sein wird, erhalten ;
b) der vierte Teil der jährlichen Nettogewinne der Verwaltung der gericht-
lichen Depositen, auf Grund des Art. 8 des Gesetzes vom 29. Juni 1882,
Nr. 835, für jedes der zwei Jahre 1897 und 1898, und die Hälfte der-
selben Nettogewinne seit dem 1. Januar 1899 an ;
c) der Betrag der Erbschaften, welche in Ermangelung einer erbberechtigten
Person dem Staate nach den Vorschriften der Art. 742 und 758 des
Bürgerlichen Gesetzbuches angewiesen sind;
d) die jährlichen Zinsen des nach den Bestimmungen der vorhergehenden
Art. 2 und 3 gebildeten Vermögens der Kasse ;
e) jeder eventueller Eingang der. Kasse.
Art. 7. In den ersten zehn Jahren, welche dem Jahre der Einrichtung der
Nationalkassc folgen werden, soll ein Teil der im vorigen Artikel 6 bezeichnetcn
jährlichen Eingänge, nach Abzug der Verwaltungskosten, herausgenommen und zur
Vermehrung des Vermögens der Kasse angewiesen werden. Die Herausziehung soll
in dem Jahr für Jahr vom Vcrwaltungsratc bestimmten Mals, in solcher Weise doch,
dafs am Ende des zehnten Jahres das Vermögen einen Betrag von mindestens sechzehn
Millionen erreicht, slattfinden.
Art 8. Der Nationalkassc können die italienischen Bürger beider Geschlechter,
welche mit Handarbeiten beschäftigt sind oder Dienste gegen Stücklohn oder Tag-
lohn verrichten, beitreten.
Die verheirateten Frauen können ohne Erlaubnis des Ehegatten, und die
Minderjährigen ohne Autorisation seitens des die elterliche Gewalt oder die Vor-
mundschaft Ausübenden, sich cinschreiben.
Für jeden Versicherten soll man der Kasse, entweder unmittelbar durch den
Versicherten selbst oder durch andere Personen, doch auf seine Rechnung, einen
jährlichen Beitrag bezahlen ; dieser kann hundert Lire nicht übersteigen und in
kleineren Raten, als 50 Centimes, nicht ausbezahlt werden.
Der Beitrag soll doch jährlich mindestens sechs Lire erreichen, wenn der
Versicherte an den im folgenden Artikel vorgesehenen Anteilquoten (quotc di
concorso) tcilnehmcn will.
Wenn der vom Versicherten oder von anderen auf seine Rechnung bezahlte
Beitrag einem der Zahl der seit der Einschreibung vergangenen Jahre entsprechenden
Multiplum von 6 Lire erreicht, so wird der Versicherte die im folgenden Artikel
vorgesehenen Anteilquoten erhalten, auch wenn er im Jahre keinen Beitrag bezahlt hat.
Wer die Aufnahme in die Kasse verlangt, soll erklären entweder ob er seine
jftbrüchen Beiträge ganz auf Grund des Prinzips der Gegenseitigkeit bezahlen will
oder ob er vorzieht, während der Anhäufungsperiode die Beiträge mit dem Vorbehalt
zu hinterlegcn, dafs dieselben, im Todesfälle vor der im Art. 12 vorgesehenen
Liquidation, den im Art. 14 bezeichneten Personen ausbezahlt werden.
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Gesetzgebung: Italien.
Art. 9. Der Teil der im Art. 6 bezeichneten jährlichen Ncttocingänge der
Kasse, welcher dem Vermögen nach den Bestimmungen der Art. 7 nicht angewiesen
sein wird, wird in jedem Jahre verfügbar sein, um Anteilquoten (quotc di concorso)
jenen Versicherten, welche die im drittletzten und vorletzten Paragraphen des Art. 8
vorgesehenen Bedingungen erfüllen, zu gestatten.
Die Anteilquote soll für jede der dazu berechtigten Versicherten gleich sein;
ihre Modalitäten und Grenzen wird das im Art. l vorgesehene Statut bestimmen.
In keinem Falle jedoch wird die jährliche Anteilquote in den ersten fünf Jahren
des Bestehens der Kasse für jeden Versicherten zwölf Lire übersteigen.
Der aus der obengenannten verfügbaren Summe nach der Verteilung unter
den Versicherten sich ergebende Uebcrschufs soll zu vier Zehnteln dem in Art 13
vorgesehenen Invaliditätsfonds und zu einem Zehntel der im Art. 20 vorgesehenen
aufserordentlichcn Reserve zugewiesen werden: die übrigen fünf Zehntel sollen zur
Vermehrung der im folgenden Jahre verfügbaren Summe bestimmt werden.
Art. IO. Von der Verteilung der im vorigen Artikel vorgesehenen verfügbaren
Summen sind jene Arbeiter ausgeschlossen, zu Gunsten deren, im Zustande von
Alter oder von nicht von einem Arbeitsunfall herrührender Invalidität, jährliche
Renten, entweder vom Staate, von den Provinzen, von den Gemeinden, oder auch,
besonderen gesetzlichen Vorschriften gemäfs, von anderen öffentlichen Verwaltungen
oder von privaten Unternehmungen bewilligt werden.
Art. II. Die Bildung der Kapitalien zu Gunsten der Versicherten, sei es
jener, die ihre Beiträge ganz für die Anhäufung auf Gegenseitigkeit, sei es jener,
die die Beiträge mit dem Vorbehalt, dafs dieselben im Todesfälle während der
Anhäufungsperiode den im Art. 14 erwähnten Personen zurückerstattet werden,
hinterlegt haben, findet mit dem System der individuellen Rechnungen statt, je nach
den Vorschriften dieses Gesetzes und jener des Statutes und des besonderen tech-
nischen Reglements der Kasse, welche auf Vorschlag des Ministers für Ackerbau,
Gewerbe und Handel nach Anhörung des Beirates für Hilfs- und Sparanstalten
und des Staatsrates mit königlichem Dekret bestätigt sein werden.
Für jeden Versicherten öfTnet die Kasse eine einzige Rechnung, worin be-
zeichnet werden:
I. im Falle der Anhäufung der Beiträge ganz auf Gegenseitigkeit:
a) die jährlichen vom Versicherten selbst oder von anderen zu seinen Gunsten
ausbezahlten Beiträge:
b) die durch den Tod der Versicherten verfügbar gewordenen Beiträge nach
den Bestimmungen des Art. 16;
c) die jährlichen Anteilquoten, welche nach den Bestimmungen des Art. 9
dem Versicherten gutzuschrciben sind ;
d) die schon anderen Versicherten zuerkannten und durch ihren Tod verfüg-
bar gewordenen Anteilquoten nach den Bestimmungen des Art. 15;
e) jede andere Summe, die eventuell zu Gunsten des Versicherten oder einer
Klasse oder Kategorie von Arbeitern, zu welcher er angchört, hinterlegt
wurde ;
H die Zinseszinscn der vorerwähnten Fingängc, welche doch für die folgen-
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Gesetz, betr. die National- Versorgungskasse für die Invalidität u. das Alter etc. 20 ^
den drei Gruppen, Ziffer aj mit Ziffer b), Ziffer c) mit Ziffer d), und
Ziffer e) abgesondert berechnet sein sollen.
II. im Falle der Anhäufung der Beiträge mit Vorbehalt der Zurückerstattung
an die Erben , werden in der Rechnung die in den Ziffern a), c), d), e), f) vor-
gesehenen Eingänge und die fällig gewordenen Zinsen auf die Beiträge des ge-
storbenen Versicherten eingetragen.
Dem Besitzer der individuellen Rechnung giebt die Kasse ein lnskriptionsbuch,
worin alle Posten der Rechnung au fgesch rieben werden.
Art. 12. Der Schlufs und die Liquidation der individuellen Rechnung werden
nach wenigstens 25 Jahren seit dem Tage der Zahlung der ersten Beitragsquote
gemacht, vorausgesetzt, dafs der Versicherte das 60. Altersjahr zurückgelegt hat.
Dem Versicherten ist erlaubt, den Schlufs und die Iiquidation der Rechnung bis
zum 65. Altersjahr, aber nicht weiter, zu verschieben.
Für die Frauen können, auf ihren Antrag, der Schlufs und die Liquidation
der Rechnung, wenn sie das 55. Altersjahr zurückgelegt haben, stattfinden, voraus-
gesetzt, dafs mindestens 25 Jahre seit dem Tage der Zahlung der ersten Beitragsquote
verflossen sind. Das Vorrecht, einen solchen Antrag zu stellen, erlischt mit der
Zurücklcgung des 60. Altersjahres; mit dessen Eintritt wird die im ersten Teil des
Artikels fcstgcstellte Regel angewandt.
Der Schlufs und die Liquidation der Rechnung erfolgt in jedem Altersjahre,
wenn die Invalidität des Versicherten vorschriflsmäfsig anerkannt wird, vorausgesetzt,
dass mindestens 5 Jahre seit dem Tage der Zahlung der ersten Beitragsquote ver-
flossen sind.
In transitorischer Weise und bis zum 31. Dezember 1903 werden Inskriptionen
mit der Bedingung angenommen, dafs der Schlufs und die Liquidation der Rechnung
nach Bcilragsperiodcn von weniger als 25 Jahren, aber nicht als 10 Jahren stattlinde;
doch sollen in diesem Falle die Versicherten, mit den Zinseszinsen, die jährlichen
Beitragsquotrn, welche fehlen, um die Normalperiodc von 25 Jahren zu erreichen,
bezahlen.
Den Arbeitern, welche die Eintragung mit verkürzter Periode erlangt haben,
kann der Verwaltungsrat der Nationalkasse, aufser der ordentlichen Anteilquoten,
auch besondere Anteilquoten anweisen.
Die Liquidation der Rechnung wird in der Regel mit der Umwandlung des
aus allen in dar Rechnung vcrzcichneten Summen gebildeten Kapitals in eine gleich
zu erstattende Leibrente zu Gunsten des Versicherten gemacht.
Das vom ersten Paragraphen des vorigen Artikels vorgesehene technische
Reglement der Kasse wird die besonderen Fälle bestimmen, in denen die Liquidation
entweder mit der sofortigen Zahlung eines Kapitals, oder mit der Zahlung eines
Kapitals und einer Leibrente, oder mit der Zahlung einer sofortigen Leibrente zu
Gunsten des Versicherten und der Reservierung eines nach dem Tode desselben
seinen gesetzlichen oder testamentarischen Erben zu zahlenden Kapitals gemacht
sein wird.
Art. 13. Im Falle einer vorschriflsmäfsig fcstgcstelltcn Invalidität wird die
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Gesetzgebung : Italien.
aus der Liquidation der Rechnung des Versicherten sich ergebende Leibrente durch
einen Spezialfonds vermehrt Dieser Fonds wird gebildet:
a) aus den Summen, welche der geseUmäfsig zur Vorsorge der Arbeitsun-
fähigen Verpflichtete bezahlen wird :
b) aus den Quoten, die aus der in den Art. 9 und 15 vorgesehenen jähr-
lichen Verteilung sich ereignen werden ;
c) aus den Schenkungen, den Vermächtnissen und allen anderen Eingängen,
welche zu Gunsten der Invaliden angewiesen sein werden ;
d) aus den jährlichen Zinsen desselben Fonds.
Art. 14. Wenn während der Anhäufungsperiode der Tod eines Arbeiters,
welcher mit dem im letzten Paragraphen des Art. 8 vorausgesehenen Vorbehalt
eingeschrieben war, sich ereignet, werden die vom Versicherten bezahlten Beiträge
und die an der Ziffer e) des Art. 1 1 bestimmten Summen, ohne die Zinseszinsen, dem
überlebenden Ehegatten, den minderjährigen Söhnen, den unverheirateten Töchtern
und den Aszendenten ausschliefslich bezahlt; dieselben sollen in einer dreijährigen
Periode, um das Recht nicht zu verlieren, die Bezahlung verlangen.
Die Verteilung unter den obengenannten Personen wird in folgender Weise
staUfinden : drei Fünftel sollen den minderjährigen Söhnen und den unverheirateten
Töchtern, zwei Fünftel dem Ehegatten angewiesen werden. Wenn der einge-
schriebene Arbeiter keine Nachkommenschaft, aber Aszendenten, hinterläfst, soll die
Quote des Ehegatten drei Fünftel betragen. Wenn jemand der Berechtigten fehlt,
so wächst seine Quote den übrigen zu.
Im technischen Reglement sollen die Normen für die rcgcliiiäfsige Mitteilung
des Todes der Versicherten bestimmt werden.
Art. 15. Die an den Ziffern c) und d) des Art. II bezeichnten Summen,
welche durch den Tod der Versicherten verfügbar geworden sind, werden am Ende
jedes Jahres mit den gehörigen Zinseszinsen so verteilt: ein Fünftel dem im Art. 13
vorgesehenen Invaliditätsfonds; ein Fünftel der in Art. 20 vorgesehenen aufscrordent-
lichen Risikoreserve : die übrigen drei Fünftel zu Gunsten aller Versicherten, welche
im Jahre einen Beitrag von mindestens sechs Lire bezahlt haben.
Das technische Reglement wird die Normen für die Verteilung, unter den
nach Altersjahren unterschiedenen Versicherten, der im vorigen Paragraphen be-
zeichnten Summen bestimmen.
Die jedem Versicherten angewiesene Quote wird in seiner individuellen Rech-
nung mit der ihm gebührenden Anteilquote der im Art. 9 vorgesehenen Summen
registriert.
Art. 16. Die an den Ziffern a) und bj des Art. 11 vorgesehenen Summen, mit
den gehörigen Zinsen, welche durch den Tod der mit ganz auf Gegenseitigkeit
verbundenen Beiträgen Versicherten verfügbar geworden sind, sollen unter jenen,
welche in gleicher Weise ihre Beiträge ganz auf Gegenseitigkeit verbunden haben,
verteilt werden. Die jedem der obenbezeichnten Versicherten gebührende Quote
soll in seiner individuellen Rechnung registriert und seinen jährlichen Beiträgen hin-
zugefügt werden.
Die Zinseszinsen der an den Ziffern a) und c) des Art II vorgesehenen
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Gesetz, bctr. die NatiooiI'Versdrgungskassc für die Invalidität u. das Alter etc. 205
Summen und, im Falle dafs die im Art. 14 bezeichneten Personen fehlen, die
Summen selbst, welche durch den Tod der mit dem Vorbehalt der Zurfickerstattung
der Beiträge Versicherten verfügbar geworden sind, soll unter jenen, welche denselben
Vorbehalt gemacht haben , verteilt werden. Die jedem der obengenannten Ver-
sicherten gebührende Quote soll in der individuellen Rechnung registriert, doch von
den jährlichen Beiträgen getrennt gehalten werden.
Die Verteilung der im ersten und zweiten Paragraphen dieses Artikels be-
zeichneten Summen und Zinseszinsen wird jährlich nach den Bestimmungen des
zweiten Paragraphen des Art. 15 stattfinden.
Art. 17. Der Versicherte, welcher die im Art. 8 des Gesetzes vorgesehene
Eigenschaften verliert, kann die Bezahlung der Beiträge fortsetzen, aber nicht mehr,
•es sei denn, dafs er eventuell wieder jene Eigenschaften erwirbt, die Wohlthat der
Anteilquoten der Kasse geniefsen. Die Liquidation der ihm gebührenden Leibrente
wird zur vorschriftsmäfsigen Zeit nach den Bestimmungen des Art. 12 stattfinden.
Wenn der Versicherte die im Art. 8 vorgesehenen Eigenschaften wieder er-
wirbt, wird er das Vorrecht haben, die der Periode der Unterbrechung entsprechenden,
um die entsprechenden Zinsen vermehrten, Einzahlungen im Ganzen oder zum Teil
zu leisten.
Art. 18. Der Nationalkasse können für die Umwandlung in Leibrenten die
Entschädigungen , welche den durch Arbeitsunfall erwerbsunfähig gewordenen
Arbeitern zu leisten sind, und die Summen, welche juristischen oder Privatpersonen
zu Gunsten der durch Alter oder Krankheit erwerbsunfähig gewordenen Arbeiter
spenden, eingczaldt werden.
Art. 19. Die Arbeiterhilfskassen und die gleichartigen Vorsorgevereine der
Arbeiter, welche Alters- und lnvaliditätssubsidicn bewilligen, können die zu diesem
Zwecke gesammelten Summen und nach und nach die dazu bestimmten Beiträge
der Mitglieder in der Kassl* einzahlen.
Den auf Grund dieses Artikels bei der Kasse versicherten Mitgliedern, welche
die im ersten Teil des Art. . 8 vorgesehenen Eigenschaften besitzen, werden die im
Art. 9 vorgesehenen Anteilquoten erhalten : und, wenn sie das 50. Altersjahr zurück-
gelegt haben, können ihnen auch spezielle Quoten angewiesen werden.
Die Natiönalkasse kann dir Verwaltung der speziellen Anstalten , welche die
im Art. 10 erwähnten Verwaltungen oder Unternehmungen zu Alters- und Invalidität«-
Vorsorge ihrer Arbeiter gründen werden, übernehmen.
Die Bedingungen und Normen dieser Aufgaben der Kasse sollen in den ein-
zelnen Fällen vom Verwaltungsrat derselben bestimmt und von der Regierung nach
Anhörung des Staatsrates bestätigt werden.
Art. 20. Die Kapitalien, aus welchen die von der Natiönalkasse liquidierten
Leibrenten bestehen, bilden einen besonderen Fonds mit der Bezeichnung „Leib-
renten-Fonds“.
Das vom Art. 1 1 vorgesehene Reglement wird die Perioden, welche nicht fünf
Jahre übersteigen sollen, bestimmen, am Fnde deren die technischen Bilanzen des
genannten Fonds fcstgcstellt sein sollen, sowie die Regeln für die Bildung derselben.
Als Bürgschaft für den Leibrentenfonds soll eine aufserordentliche Risiko-
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20
Gesetzgebung : Italien.
reserve mit den in den Art 9 und 15 bezeichnten Summen, mit den anderen be-
sonderen vom Reglement vorzusch reibenden Anweisungen, mit den aus den tech-
nischen Bilanzen des Fonds resultierenden Nettoaktiven und mit den Zinsen der
Kapitalien des Fonds gebildet werden.
Die aufaerordentliche Risikoreserve ist dazu bestimmt, das zufällige Defizit
des Leibrentenfonds im Verhältnis zu den in der technischen Bilanz berechneten
mathematischen Reserven zu decken.
Das Reglement wird die obere Grenze, welche die aufscrordentiichc Reserve
erreichen soll, festsetzen und zugleich die zu ergreifenden besonderen Malsregeln
fiir den Fall, dals die Reserve zur Deckung des sich ereignenden Defizits im Leib-
rentenfonds ungenügend erscheint, bestimmen.
Art. 2l. Die Kapitalien der einzelnen Fonds der Nationalkassc sollen, nach
den im Reglement festzustellendcn Normen und Grenzen, in folgender Weise ange-
legt werden:
a) in vom italienischen Staate ausgegebenen oder verbürgten Wertpapieren ;
b) in Eisenbahnobligationcn, welche nach Mafsgabc der vom Staate zu
leistenden Annuitäten ausgegeben wrerdcn ;
c) durch die Zentraldepositen- und Anleihenkassc nach den Vorschriften der
Nr. 2 des Art. 12 des Gesetzes vom 14. Juli 1898, Nr. 335;
d) in verzinslichen Depositen bei der Zcntraldeposilcn- und Anleihenkassc.
Alle die unbeweglichen und die von den obengenannten verschiedenen beweg-
lichen Güter, welche in Besitz der Kasse gelangen werden, sollen binnen fünf Jahren
verkauft und in nach der vorgeschriebenen Weise anzulcgcndes Geld uragewandelt
werden.
Diese fünfjährige Periode kann auf Vorschlag des Ministers für Ackerbau
Gewerbe und Handel, nach Anhörung des Staatsrates, mit königlichem Dekret ver-
längert werden.
Die Nationalkassc soll keine unbeweglichen Güter, auch nicht als Sitz für
seine Aemter. erwerben.
Art. 22. Die den individuellen Rechnungen im Verhältnis zu den verzeich-
nten Summen anzuweisenden jährlichen Zinsen sollen dem durchschnittlichen Pro-
zentsatz des Ertrages, welche die Nationalkassc aus ihren Kapitalien im Jahre er-
halten hat, entsprechen.
Die den individuellen Rechnungen zugewiesenen Zinsen und die denselben
Rechnungen zugewiesenen Quoten, welche aus der Verteilung der in den Art. 9, 1 5
und 16 vorgesehenen Summen herrühren, unterliegen der Mobiliar- Einkommen-
steuer nicht.
Art. 23. Die von der Kasse gestatteten Leibrenten, wie jede andere Forde-
rung der Versicherten, können nur für den Teil, welcher die jährlichen 400 Lire
Übersteigt, enteignet, gepfändet und auf Dritte übertragen werden ; sic können durch
Vollmacht nur im Falle cinkassiert werden , dals eine durch ärztliche Erklärung
bestätigte Krankheit des Versicherten oder ein durch Erklärung des Bürgermeisters
seiner Wohnungsgemeinde bestätigtes Hindernis vorhanden ist
Im Falle des Verlustes der den Versicherten von der Nationalkassc cin-
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Gesetz, betr. die National-Yersorgungskasse tür die Invalidität u. das Alter etc. 20J
gehändigten Bücher werden Duplikate mit den Normen, welche für die Bücher der
Postsparkassen gelten, ausgegeben.
Art. 24. Die von der Nationalkasse gestatteten Leibrenten und die Summen,
welche den in den Art. 12 und 14 bezeichnten Erben der Versicherten zu zahlen
sind, unterliegen der Mobiliar- Einkommensteuer und Erbschaftssteuer nicht.
Art. 25. Die Operationen für die Einschreibung bei der Nationalkasse, die
Elinforderung der Beiträge und die Bezahlung der Leibrenten sowie jeder anderen
Summe sollen, ohne Entgelt seitens der Nationalkasse, durch die Postämter und die
Postsparkassen besorgt werden.
Der Briefwechsel der Kasse mit den öffentlichen Aemtern und den Versicherten
wird unfrankiert stattfinden.
Art. 26. Die National kasse geniefst dieselben fiskalischen Befreiungen, welche
den Postsparkassen und den ordentlichen Sparkassen gestattet sind oder sein werden.
Die Verwandlung der Kapitalien in Leibrenten und jede andere die Lebensversiche-
rung betreffende Operation der Nationalkasse unterliegt den Abgaben über die Ver-
sicherungsgeschäfte und die Leibrentenverträge nicht.
Von den Register- und Stempelabgaben sowie von jeder anderen Gebühr oder
Ausgabe bleiben die Uehertragungen der Titel der Staatsschuld, in denen die Kapi-
talien der Kasse angelegt sind, die Register, Bestätigungen (certificatil, Erklärungen,
und jede andere Urkunde, welche zur Ausführung dieses Gesetzes der Kasse oder
den Privaten nötig sein werden, frei.
Von jeder Register , Stempel-, Hypotheken- und toter Hand-Abgabe bleiben
auch die Schenkungen und Vermächtnisse zu Gunsten der Kasse frei.
Die jährlichen Zinsen aus den Fonds der Nationalkasse, mit Ausnahme jener,
welche aus den vom Staate ausgegebenen oder verbürgten Wertpapieren herrühren,
unterliegen der Mobiliar-Einkommensteuer nicht.
Art. 27. Die autonome Verwaltung der National kasse wird von einem
Kate, deren Mitglieder alle mit königlichem Dekret ernannt werden, geführt. In
der Zahl der Mitglieder, welche nach den Statuten der Kasse den Vcrwaltungsrat
bilden, können auch Vertreter der Sparkassen oder anderen juristischen Personen,
die zu Gunsten der Nationalkasse Beitrage leisten , sowie die Vertreter der mit
juristischer Persönlichkeit versehenen Hilfskassen und kooperativen Produktions-
Gesellschaften von Arbeitern, die ihre Mitglieder bei der Nationalkasse versichert
haben, berufen werden. Im Vcrwaltungsrate werden auch Vertreter der bei der
Kasse versicherten Arbeiter berufen; ihre Zahl soll dem vierten Teil der Mitglieder
desselben entsprechen.
Rcchlmäfsiges Mitglied des Verwaltungsrates soll auch ein Vertreter für jedes
der drei Ministerien, für Ackerbau, Gewerbe und Handel, des Staatsschatzes und
fiir die Post und die Telegraphen sein.
Art. 28. Der Verwaltungsrat der Nationalkassc soll:
a) das organische Statut der Kasse vorbereiten ;
b'j die Normen für die Einrichtung der Sukkursalen der Kasse, ihre Auf-
gaben, die Grenzen ihrer Thätigkeit, die Verwaltung der ihnen anver-
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208
Gesetzgebung : Italien.
trauten Summen, ihre Verwaltungsreglements und ihre Verhältnisse zum
Hauptsitzc bestimmen ;
c) das technische Reglement der Nationalkasse und die Tarife für die Liqui-
dation der Leibrenten verfassen.
Das Statut und das technische Reglement der Nationalkasse, die Reglements
der Sukkursalen, die Tarife der Leibrenten, die statistischen Tabellen und der Zins-
satz, die zur Berechnung der Tarife dienen werden, sollen, nach Anhörung des Bei-
rates für Hilfs- und Sparanstallen und des Staatsrates, auf Vorschlag des Ministers
für Ackerbau, Gewerbe und Handel im Einverständnis mit den Ministern des Staats-
schatzes und für die Post und die Telegraphen, mit königlichem Dekret bestätigt
werden.
Mit demselben Verfahren sollen die Veränderungen des Statutes und des Regle-
ments, sowie jene des Zinssatzes, der statistischen Tabellen und der daraus her-
rührenden Tarife für die Liquidation der Leibrenten, bestätigt werden.
Art. 29. Die Nationalkasse kann mit königlichem Dekret ermächtigt werden,
einige Zweige der Versicherung zu betreiben.
Die verfügbaren Nettogewinne aus der Verwaltung dieser Zweige der Ver-
sicherung sollen zur Vermehrung der im Art. 6 vorgesehenen jährlichen Eingänge
der Kasse bestimmt werden.
Art. 30. Die Nationalkasse steht unter der Aufsicht des Ministeriums für
Ackerbau, Gewerbe und Handel, und soll demselben die jährlichen Generalbilanzen
und die speziellen der Sukkursalen, die technischen Bilanzen und alle die geforderten
Angaben und Erkundigungen mittcilen.
Die technischen Bilanzen sollen auch dem Ministerium des Staatsschatzes zu-
gesandt werden.
Art. 31. Die Bewahrung der Wertpapiere und den Kassadienst besorgt un-
entgeltlich die Zentraldcpositen- und Anlcihenkasse.
Auf den Teil der Nettogewinne der Postsparkasse und der Verwaltung der
gerichtlichen Depositen, welcher der Nationalkasse angewiesen ist, solange die ent-
sprechende Summe noch nicht gesetzmäfsig angelegt ist, wird die Zentraldcpositcn-
und Anlcihenkasse den Normalzins bezahlen; die Verpflichtung beginnt mit dem
ersten Januar des darauffolgenden Jahres, auf das die Nettogewinne sich beziehen.
Art. 32. Die Benennung „Nationalkasse“ kann von keiner Unternehmung,
Gesellschaft oder Anstalt geführt oder beibehalten bleiben, welcher sic nicht durch
Gesetz erteilt wurde.
Gesehen, auf Befehl Seiner Majestät,
Der Präsident des Ministerrates,
Minister ad interim für Ackerbau, Gewerbe und Handel.
G. Zanardelli.
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DÄNEMARK.
Das neue Fabrikgesetz vom n. April 1901.
Von
ADOLPH JENSEN,
Sekretär des statistischen Amtes, in Kopenhagen.
Der erste zarte Keim der dänischen Arbeiterschutzgesetzgebung
wurde vor über hundert Jahren gelegt, indem eine Verordnung vom
21. März 1800 den Handwerksmeistern vorschrieb, ihre Lehrlinge
auf solche Weise zu behandeln, „wie es guten Hausvätern ziemt,
und sie nicht zu strengerer .Arbeit anzuwenden, als ihre Kräfte
erlauben."
Diese kleine armselige Vorschrift enthielt alles, was sich in
der dänischen Gesetzgebung von Arbeiterschutz vorfand, bis das
Gesetz vom 23. Mai 1873 die Ordnung einführtc, welche bis jetzt
gegolten hat. In drei Vierteln eines Jahrhunderts hatte also auf
diesem Gebiete in der dänischen Gesetzgebung Stillstand geherrscht,
während schon ein grol'ser Teil der übrigen europäischen Länder
bedeutende Schritte vorwärts auf der Bahn des Arbeiterschutzes
gemacht hatte. Das Gesetz von 1873 stellte uns allerdings völlig
auf die Höhe mit den Forderungen, die damals für berechtigt an-
gesehen werden mufsten, aber die dänische Industrie hat sich in
den seitdem verflossenen 28 Jahren so bedeutend entwickelt, dal’s
eine Revision des Fabrikgesetzes eine dringende Notwendigkeit ge-
worden war.
Obgleich man dies allgemein anerkannte, wurde doch die
jetzt durchgeführte Reform lange verzögert infolge des politischen
Stillstandes, welcher viele Jahre in Dänemark herrschte, und das
neue Gesetz selbst zeigt an entscheidenden Stellen das Gepräge
eines Kompromisses. Trotzdem bezeichnet es einen bedeutenden
Fortschritt. In den folgenden Betrachtungen wird das näher
Archiv für so*. Gesetzgebung u. Statistik. XVII. 14
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210
Gesetzgebung : Dänemark.
nachgewiesen werden; wir übergehen alles von geringer Be-
deutung und konzentrieren die Aufmerksamkeit auf folgende drei
Hauptpunkte: i. den Umfang des Gesetzes, 2. die Bestimmungen
der Arbeitszeit für Kinder und jugendliche Arbeiter und 3. die
Organisation der Aufsicht.
Hinsichtlich des erstgenannten Punktes mufs hervorgehoben
werden, dafs das neue Gesetz auf einem ganz anderen Prinzip als
das ältere ruht. Das Gesetz von 1873 umfafste nur solche Fabriken
und fabrikmäfsig betriebene Werkstätten, in denen Personen unter
1 8 Jahren beschäftigt wurden. Es war also kein allgemeines
Fabrikgesetz, es war nur ein Gesetz zum Schutz minderjähriger
Arbeiter, wie schon sein Titel: „Gesetz betr. die Arbeit von
Kindern und jugendlichen Arbeitern in Fabriken etc." zeigt. Den
Schutz der erwachsenen Arbeiter kennt man in der dänischen
Gesetzgebung erst seit 1889, wo ein Gesetz zur Verhütung von
Unfällen beim Gebrauch von Maschinen erlassen wurde. Die allge-
meinen Verordnungen hygienischer Natur, welche das Gesetz von
1873 enthielt, kamen selbstverständlich auch erwachsenen Arbeitern
zugute, aber nur als ein indirektes Ergebnis des durch das Gesetz
erzielten Schutzes der minderjährigen Arbeiter. Im Gegensatz hier-
zu setzt das Gesetz von 1901 fest, dafs der Schutz ohne Rücksicht
auf das Alter, prinzipiell für alle Arbeiter gelten müsse, die unter
denselben äufseren Bedingungen beschäftigt werden; und in Ueber-
einstimmung mit diesem Prinzip bezeichnet das Gesetz sich selbst
als ein Gesetz über „Arbeit in Fabriken und diesen gleichgestellten
Betrieben". Das ist die erste, grofse und bedeutungsvolle Aenderung.
Während man in dieser Hinsicht bis zur äufsersten Grenze ge-
gangen ist, ist es bedeutend schwieriger gewesen, die nächstliegende
Frage zu lösen, nämlich die, welche Betriebe dem gesetzlichen
Schutz und der Aufsicht unterstellt werden sollen. Geht man die
ganze Skala der Betriebsformen durch : Die Fabrik , die fabrik-
mäfsig betriebene Werkstatt, den grofsen Handwerksbetrieb, den
kleinen Handwerksbetrieb, die hausindustrielle Werkstatt, den Familien-
betrieb, so ist es aufserordentlich schwierig die rechte Grenzlinie
zu wählen. Das Gesetz von 1873 umfafste unter seinem Schutz
Fabriken und fabrikmäfsig betriebene Werkstätten und überlicls im
übrigen durch sein Schweigen der Administration, im einzelnen zu
entscheiden, welche Betriebe diesen Bezeichnungen entsprachen. In
der Praxis wurden zweifelhafte Fälle lange Zeit auf die Weise er-
ledigt, dals das Kennzeichen eines fabrikmäfsig betriebenen Unter-
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Adolph Jenscn, Das neue Fabrikgesetz vom II. April 1901.
211
nehmens darin gesucht wurde, ob es mechanische Triebkraft an-
wendete oder nicht; später aber kam man dahin, auch der Arbeiter-
anzahl Bedeutung bei dieser Entscheidung zuzuschreiben. Ich denke,
dafs man bei der Erwägung, wo die Grenze in dem neuen Gesetz
zu setzen sei, besonders von folgenden drei Rücksichten geleitet
worden ist; erstens dem Wunsche, den Schutz so weit wie möglich
auszudehnen, weil ein grofser Teil der Vorschriften des Gesetzes
ebenso gut in den kleinen, ja in den allerkleinsten Betrieben von
nöten ist wie in den grofsen Fabriken. Zweitens: vom Hinblick
auf das praktisch Erreichbare, da es ja nicht genügend ist, Gesetz-
bestimmungen zu geben, es mul's auch für gesicherte Durchführung
gesorgt werden. Endlich von dem Bedenken, dafs der Uebergang vom
alten zum neuen so gelinde wie möglich sich vollziehe.- Die beiden
letzten Gesichtspunkte sind die entscheidenden geworden. Man hat,
aufser den Fabriken und fabrikmälsig betriebenen Werkstätten, einen
wesentlichen Teil der gröfseren Handwerksbetriebe einbezogen.
Diese Ausdehnung des Gesetzes ist sicher wohl begründet,
wenn man die starke Entwicklung in Betracht zieht, welche
die dänische Industrie im Laufe der letzten zwanzig Jahre durch-
gemacht hat. Der fabrikmäfsige Betrieb hat durch die starke Be-
nutzung der Kraftmaschinen und in den letzteren Jahren durch die
Entwicklung der Kraftüberführungstechnik sich so ausgedehnt, dafs
der jetzt gezogene Umfang des Gesetzes keineswegs für zu grofs
angesehen werden kann. Viel eher könnte man geltend machen,
dafs man in gewissen Punkten allzu zögernd vorgegangen ist. Ich
denke hier nicht daran, dafe jetzt wie vorher die Arbeiter des
Ackerbaus, der Forstwirtschaft, der Fischerei und die Seeleute
aufserhalb des Schutzes stehen; denn ganz abgesehen davon, dafs
eine derartige Ausdehnung des Gesetzes grofsen praktischen
Schwierigkeiten begegnen würde, dürfte es wenig zweckmäfsig sein,
solche Neuerungen in einem Gesetz über Arbeit in industriellen
Betrieben aufzunehmen. Mit grösserem Recht könnte man dem
Gesetz den Vorwurf machen, dafs es nicht die Industrieen trifft,
welche aufserhalb gedeckter Räume arbeiten, namentlich also das
Baugewerbe. Auch ist es wenig rationell, dafs Molkereien aus-
drücklich von den Bestimmungen des Gesetzes ausgeschlossen sind.
Der Molkereibetrieb geht in Dänemark vollständig fabrikmäfsig
vor sich, gröfstenteils in selbständigen, vom Ackerbau getrennten
Anlagen, und so grofs ist die relative Bedeutung der Butter-
fabriken, dafs sie über ein Drittel sämtlicher industriellen Be-
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212
Gesetzgebung: Dänemark.
triebe mit mechanischer Kraft (excl. Wind und Wasser) aus-
machen. Ueber 1400 durch Dampf getriebene Molkereien von
den Bestimmungen des Fabrikgesetzes auszuschliefsen, läfst sich
kaum begründen. — Es kommt mir endlich auch vor, dafs man
sehr gut einräumen kann, dafs der kleine Handwerksbetrieb aufser-
halb des geschützten Gebietes verbleibt, und doch gleichzeitig
fordert, dafs der Schutz nach der Hausindustrie hin ausgedehnt
werden möge; dieselbe ist doch viel näher mit der Fabrik als mit
dem Handwerksbetrieb verwandt. Die hausindustriellen Arbeiter
gehören gröfstenteils der Grofsindustrie an, der Betriebsform, der
man vor allem die Fesseln des Arbeiterschutzes auferlegt hat. Das
neue dänische Gesetz berührt überhaupt nicht die Hausindustrie,
aber gerade dadurch, dafs es den Fabriken die Fesseln fester anlegt,
wird es künftighin dazu beitragen, die Frage über die Stellung der
Gesetzgebung zur hausindustriellen Arbeit zuzuspitzen. Das strenge
Fabrikgesetz kann in vielen Fächern decentralisierend wirken, es
kann zur Folge haben, dafs die grofsc Arbeitsstelle sich in viele
kleine häusliche Werkstätten auflöst, welche von den Einschrän-
kungen des Gesetzes befreit sind.
Indessen — die Ausdehnung des Gesetzes ist von aufser-
ordentlichcr Bedeutung; die Anzahl der Betriebe unter Inspektion
wird von ca. 3000 auf über 7000 steigen, die Zahl der beschützten
Arbeiter von ca. 65000 auf ca. 115 000.
Hinsichtlich der Arbeit von Kindern in Fabriken wurde durch
das Gesetz von 1873 das Alter von zehn Jahren als Minimalgrenze
festgestellt. Während dies für die damalige Zeit eine ganz ange-
messene Bestimmung war, hat die Entwicklung seitdem so grofsc
Fortschritte gemacht, dafs Dänemark, was diesen Punkt anbelangt,
sehr weit zurück war; nur Italien hatte eine ebenso niedrige Alters-
grenze. Die Regierung schlug alsdann vor ein Minimalalter von
14 Jahren festzustcllen, d. i. der Zeitpunkt, wo das Kind seine
Schulpflicht erfüllt hat. Die Regierung wünschte also, in lieber -
einstimmung mit dem in der Berliner Konferenz von 1890 festge-
stellten Prinzip, mit dem herrschenden h al f-t i mer-System zu
brechen, das bei uns allgemein für nicht befriedigend angesehen
wird. Der Vorschlag, das Minimalalter von 10 auf 14 Jahre zu
erhöhen, erwies sich als z u radikal, um durchgeführt werden zu
können. Es drehte sich darum, ca. 4000 Kinder von der Ar-
beit in Fabriken auszuschliefsen,, die hauptsächlich in der Cigarren-
und Tabaksindustrie, in Glaswerken, Tuchfabriken und Ziegeleien
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Adolph lensen, Das neue Kabrikgesetz vom II. April 1901. 213
beschäftigt waren. Es ist wohl überflüssig zu bemerken, dafs
von seiten der betreffenden Industrien heftig gegen den Regierungs-
vorschlag protestiert wurde, indem man sich darauf berief, dafs die
Abschaffung der Kinderarbeit lähmend auf die Exportfähigkeit
wirken würde. Es war namentlich die Tabakindustrie, welche das
Notsignal gab. Aufserordentlich schwierig ist es, zu entscheiden,
inwiefern die Furcht der Fabrikanten begründet war. ')
Es wurde im § 9 festgesetzt, dafs Kinder unter 12 Jahren
nicht zur Arbeit in Betrieben verwendet werden dürfen, die der
Inspektion unterstellt sind, und das half-timer -System wird also
für das Alter von 12 — 14 Jahren beibehalten. Von einem gewissen
Gesichtspunkt aus gesehen, war dieses Resultat vielleicht ganz gut.
Die Einführung des Prinzips, dafs die Schulpflicht erfüllt werden
müsse, ehe cs dem Kinde erlaubt wird, sein eigentliches Arbeits-
leben anzufangen, würde in Dänemark eine so starke Veränderung
der geltenden Gesetzgebung mit sich geführt haben, dafs es leicht
verhängnisvolle Folgen hätte haben können. Die Erfahrungen
anderer Länder zeigen, dafs selbst, wo die Begrenzung der Kinder-
arbeit stufenweise vor sich gegangen ist, doch dadurch dafs die
Fesseln fester angelegt wurden, schlimme Folgen eingetroffen sind;
die Kinder sind oft in Betriebe, welche keiner Inspektion unter-
stellt sind, gedrängt worden. Es darf nicht vergessen werden, dafs
das Kind, welches in einer Fabrik arbeitet, doch die Schutz-
bestimmungen des Gesetzes genielst (die Arbeitszeit, die Ruhe-
pausen, die YVerkstattshygieine betreffend etc.), wird es aber in die
Hausindustrie getrieben, so ist es vollständig aufserhalb von aller
Kontrolle. Das Minimalalter von 14 Jahren ist unzweifelhaft das
Ziel, welches in Dänemark erstrebt werden muls, viel spricht aber
dafür, dafs es gut gewesen, dafs man dieses Ziel nicht auf einmal
erreichte.
F'ür jugendliche Arbeiter von 14 — 18 Jahren, die keine Schule
mehr zu besuchen haben, hat das neue Gesetz keine Veränderung
herbeigeführt, was die Dauer der effektiven Arbeitszeit anlangt;
doch ist eine recht wichtige Aenderung der Vorschriften über Ruhe-
’) Ein gröfserer Industriebetreibender im Texlilfach erklärte mir gegenüber,
dafs seine Fabrik es vielmehr als eine ökonomische Frlcichterung fühlen würde,
wenn die Kinderarbeit verboten würde, da die Fabrik im Grunde genommen die-
Kinder nur aus Gnade und Barmherzigkeit zur Arbeit engagierte um den F.ltcrn,
die in derselben Fabrik arbeiteten, eine kleine ökonomische Stütze zu gewähren.
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Gesetzgebung: Dänemark.
pausen eingeführt Während das ältere Gesetz anordnete, dafs der
zwölfstündige Brutto-Arbeitstag von einer Ruhepause von mindestens
2 Stunden unterbrochen werden sollte, wovon I */', Stunden vor
3 Uhr, ging der Vorschlag der Regierung darauf aus, dafs nach je
4 Stunden Arbeit V* Stunde Ruhepause folgen solle. Durch diese
Ordnung wollte man erreichen, dafs, mit Beibehaltung derselben
effektiven Arbeitszeit von io Stunden, sich keine Hindernisse in den
Weg legten für eine Einschränkung der Brutto-Arbeitszeit bis zu
1 1 Stunden. Bei Aufstellung dieser Regel hatte man offenbar die
bestimmte Voraussetzung vor Augen gehabt, dafs die effektive
arbeitszeit die Maximumsgrenze des Gesetzes erreichte, nämlich
io Stunden, und in diesem Falle würde die Regel selbstverständ-
lich gut sein, weil sie, wie gesagt, ein Herunterbringen der Brutto-
Arbeitszeit bis auf 1 1 Stunden ermöglichen würde. Wo aber be-
reits nur 1 1 oder io’/t Stunden brutto und nur 9 Stunden netto
gearbeitet wurde, würde kaum etwas gewonnen sein ; die ältere
Ordnung würde man hier vorziehen. In Rücksicht hierauf wurde
im endgültigen Gesetz die Aenderung eingeführt, dafs nach je
4 '/, Stunden (anstatt nach je 4 Stunden) Arbeit eine Ruhepause
von mindestens '/* Stunde folgen solle. Dieselbe Regel über
Ruhepausen gilt übrigens für Kinder zwischen 12 und 14 Jahren,
deren zusammengefafste Brutto-Arbeitszeit nicht 6 Stunden über-
steigen darf.
Ein besonderes Interesse knüpft sich an die durch das Gesetz
von 1901 vollzogene Reorganisation der Inspektionsbehörden. Die
Leitung ist einem vom König ernannten Direktor unterstellt, unter
ihm ressortieren zwei Sekretäre, von denen der eine sozialökono-
misch, der andere technisch ausgebildet sein soll. Die Anzahl der
Inspektoren ist nicht im Gesetz festgestellt; zur Zeit sind 20 an-
gestellt, aber wahrscheinlich mufs diese Zahl sehr bald erhöht
werden. Es verdient Anerkennung, dafs das Gesetz den Forderungen
der Zeit entgegengekommen ist durch die Bestimmung, dafs Frauen
Arbeitsinspektoren sein können, und die Administration hat bereits
einen weiblichen Inspektor angestellt. An der Seite des Direktors
und dessen Personal stellt das Gesetz indessen eine andere Insti-
tution, den sogenannten „Arbeitsrat“. Das Eigentümliche bei diesem
Arbeitsrat ist, dafs das Ernennungsrecht von 6 unter den 8 Mit-
gliedern des Rates in die Hände der Zentralvereine der Arbeitgeber
und Arbeiter gelegt ist. Der Impuls zur Bildung dieser aufser-
ordentlich demokratischen Institution ist dem Gesetz über das Recht
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Adolph Jensen, Das neue FabrikgcseU vom 11. April 1901. 215
zu Zeugenvernehmungen für gewerbliche Schiedsgerichte ') ent-
nommen, welches den fachlichen Centralvereinen eine ähnliche halb-
offizielle Stellung verleiht. Obgleich der Arbeitsrat selbstverständ-
lich nichts mit der Inspektion selbst zu thun hat, wird derselbe
doch einen bedeutenden Einflufs ausüben können hinsichtlich der
Art und Weise, wie der Arbeiterschutz durchgeführt wird. Dem
Rate soll teils Bericht erstattet werden, teils sollen Erklärungen
von demselben eingeholt werden in mehreren wichtigen Fällen
namentlich hinsichtlich der Entscheidung, ob ein Betrieb der
Inspektion unterstellt sein soll. Ferner ist dem Rat das Recht
zur Initiative gegeben in allen Sachen die Fabrikgesetzgebung
betreffend , so dafs die Möglichkeit vorhanden ist , dafs der
Arbeitsrat sich zu einem sozialpolitischen Organ von weitreichender
Bedeutung entwickeln kann. In diesem Zusammenhang kann be-
merkt werden, dafs der Minister des Innern dem internationalen
Arbeitsamt in Basel mitgetcilt hat, dafs die Frage der Errichtung
einer dänischen Sektion der internationalen Vereinigung für gesetz-
lichen Arbeiterschutz durch den zu aktivierenden Arbeitsrat beraten
werden solle.
Was besonders dem Gesetz das Gepräge eines Kompromisses
verleiht, ist, dafs erwachsene weibliche Arbeiter nicht unter die
Regeln über Maximal-Arbeitszeit und Ruhepausen eingezogen sind.
Der Regierungsvorschlag stellte in dieser Hinsicht die erwachsenen
weiblichen Arbeiter gleich mit den jugendlichen Arbeitern zwischen
14 und 18 Jahren, das will sagen, es wurde ein Maximal-Arbeitstag
von 10 Stunden netto und die obengenannten Regeln über Ruhe-
pausen vorgeschlagen; ferner sollte Nachtarbeit und Sonntagsarbeit
den weiblichen Arbeitern verboten werden. Obgleich als ein Mangel
des Gesetzes hervorgehoben werden mufs, dafs diese wenig weit-
gehenden Vorschläge nicht durchgeführt wurden, spielt es doch
vermutlich in der Praxis keine gröfsere Rolle. In den Betrieben,
welche im Jahre 1899 der Fabrikinspektion unterstellt waren,
arbeiteten im ganzen 12616 weibliche Arbeiter über 18 Jahren;
die Verteilung nach der täglichen Arbeitszeit war folgende:
91/* Stunden oder darunter . . . 4162
io Stunden 6440
io1,, 1 75°
*) Vgl. den Band 15 dieser Zeitschrift, S. 677 ff.
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216
Gesetzgebung : Dänemark.
1 1 Stunden . 182
Ueber 1 1 Stunden ...... 46
Unbestimmte Arbeitszeit .... 36
Wenn das Gesetz einen zehnstündigen Maximal-Arbeitstag fest-
gestellt hätte, würde es also wesentlich nur seinen Stempel auf das
gedrückt haben, was bereits in Dänemark als normale Praxis ange-
sehen werden niufs. Hieraus folgt, das keine Gefahr vorhanden war,
die genannte Begrenzung der Arbeitszeit der weiblichen Arbeiter
könne schädlich gewirkt haben, indem sie die weiblichen Arbeiter
in gröfserem Umfange in unregulierte Betriebe hinüber jage. Man
benutzte auch nicht dieses Argument um den Vorschag zu be-
kämpfen; der Widerstand nahm formell seinen Ausgangspunkt von
der Doktrin, dal's das Gesetz nicht in die Kontraktfreiheit mündiger
Menschen eingreifen, und dafs namentlich kein Unterschied zwischen
der Stellung des Mannes und der Frau im Arbeitsverhältnis gemacht
werden dürfe ; in der Praxis aber war es doch wbhl die Rücksicht-
nahme auf die Interessen eines kleinen, aber kräftig repräsentierten
Kreises von Arbeitgebern, welche in dieser Hinsicht den Ausschlag
gaben.
Die einzige Sonderbestimmung für weibliche Arbeiter ist die
Anordnung der vierwöchentlichen Kindbettferien. Diese neue Be-
stimmung, welche man in fast allen neueren Fabrikgesetzen wieder-
findet, hat in Dänemark eine besonders humane Fassung erlangt
durch die Nebenbestimmung, dafs die Unterstützung, welche während
der Kindbettferien geleistet wird, nicht als Armenhilfe betrachtet
werden solle und daher auch nicht die gewöhnlichen gesetzlichen
Wirkungen derselben erhalte.
Das dänische Fabrikgesetz von 1901 bezeichnet ohne Zweifel
einen bedeutenden Fortschritt hinsichtlich des bisher bestehenden
Zustandes, aber völlig auf der Höhe mit den Forderungen der Zeit
ist das Gesetz nicht, und es wird es noch weniger sein, wenn, wie
im Sc h 1 u fs pa ragra p h angeordnet, erst im Jahre 19 IO Vorschläge zur
Revision seiner Bestimmungen gemacht werden sollen.
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J
MISZELLEN.
Ausdehnung der Statistik über die Kranken-
versicherung im Deutschen Reiche.
Von
DR. ADOLF BRAUN
in Stuttgart.
Man könnte das statistische und speziell das sozialstatistische Ur-
material nicht unfruchtbar in zwei Gruppen teilen, in das ohne Rücksicht
auf etwaige künftige statistische Verarbeitung gewonnene und in das
lediglich zum Zwecke der statistischen Verwertung beschaffte. An das
letztere denkt der Sozialstatistiker in erster Linie; rechnet man auch zu
diesem die Erhebungen der Reichskonimission der Arbeiterstatistik, Fest-
stellungen etwa der Art wie die der Gewerbeaufsichtsbeamten über die
Fabrikarbeit verheirateter Frauen und ähnliche, so bleibt doch die
Menge dieses Materials weit zurück hinter dem . was man zur Auf-
hellung unserer sozialen Verhältnisse für erforderlich erachten tnufs.
Illusionen über sozialstatistische Erhellungen, die die ganze Arbeiterklasse
erfassen, dürfte man beute bei Sachkennern kaum noch antreffen. Statt
fruchtlos Erhebungen dieser Art zu fordern, wird cs vielleicht nützlicher
sein, darauf hinzuweisen, dafs so manches Unnaterial vorhanden ist, das
Verwaltungszweckcn dient, oder infolge der Thätigkeit der Verwaltung
entstanden ist, nicht besonders erhoben werden mufs, ohne jede
weitere Belästigung der Bevölkerung vorliegt, blofs der Bearbeitung
harrt und uns Aufschlüsse über die Lebensverhältnisse der arbeitenden
Klasse gewähren kann, die von hoher Bedeutung nicht nur Air die Sta-
tistik, sondern auch für ein späteres Eingreifen der Gesetzgebung und
für die Aufklärung der Bevölkerung werden könnte. Rohmaterial dieser Art
findet sich in jedem Fabrikcomptoir, in jeder Krankenkasse, in jedem
Bureau der Berufsgenossenschaften und der Invaliditätsanstalten. Manches
Material, z. B. das in den verschiedenen Zweigen der Arbeiterversicherung
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218
Miszellen.
angehäufte, erfährt eine Verwertung, aber eine völlig ungenügende, ledig-
lich dem engsten Verwaltungszweck äufserlicher Kontrolle genügende;
ein tieferes Kindringen fehlt, obgleich jeder Statistiker, der weifs, was
aus dem Materiale geschafft werden könnte, nur aufs lebhafteste be-
dauert, dafs diese Schätze in Registraturen verstauben und vermodern
und keiner anderen Zukunft entgegensehen als der Papierstampfe. Es
wäre eine dankenswerte Aufgabe, festzustellen, welches statistische Ur-
material dieser Art im Reiche existiert, welchen Wert seine Verarbeitung
hätte, wobei selbstverständlich nüchtern zu prüfen wäre, ob die Kosten
der Verarbeitung im Verhältnisse stehen würden mit den zu gewärtigen-
den Ergebnissen.
Betrachten wir dieses Problem auf dem Gebiete der reichsgesetz-
lichen Krankenversicherung.
Der Personenkreis des Krankenversicherungsgesetzes ist kein eng
umschriebener, gewisse Personenkreise können auf ihren Antrag, andere
auf Antrag des Unternehmers von der Beitragspflicht enthoben werden,
andererseits ist eine Ausdehnung des Versicherungszwanges möglich durch
Verfügung des Reichskanzlers, durch Beschlufs des Bundesrates, durch
Anordnung einer Zentralbehörde, durch statutarische Bestimmungen einer
Gemeinde oder eines Kommunalverbandes. ') In der Praxis hindern
aber diese Bestimmungen eine statistische Betrachtung nicht. Die be-
rufliche Zusammensetzung des gegen Krankheit versicherten Teiles der
Bevölkerung wird sich trotz dieser Bestimmungen nicht erheblich mehr
ändern als die Berufsgruppierung in der Gesamtbevölkerung. Dieser
Personenkreis umfafst nicht einen so grofsen Bruchteil der Bevölkerung
wie die beiden anderen grofsen Zwangsversicherungen, *) aber noch immer
einen aufserordentlich grofsen und in seiner Zusammensetzung ziemlich
gleichmäfsigen ; ist auch die Zugehörigkeit der Krankenkassen noch nicht
einmal berufstatistisch gruppiert worden, was de lege ferenda sehr wichtig
wäre, so genügt doch für unsere Zwecke vollkommen die Feststellung,
dafs fast die gesamten in Industrie, Handwerk, Baugewerbe, Verkehrs-
’) K ranke nversichcrungsgcsctx i. d. Fassung vom Io. April 1892 §§ 1, 2, 2a,
ab, 3, 3a, 3h.
*) Fs waren versichert im Jahre 1898 hei einer berechneten Gcsamtlrevölkerung
von 54283000 Seelen gegen Krankheit 9325722 Personen
„ l'nfall 16746000 „
„Invalidität und Alter 12 659000 „
Die neuen Geselle über die Unfall- u. Invalidenversicherung haben den Kreis auf
Grund derselben versicherungspttichtigen Personen noch ausgedehnt. Bei der ersten
Zahl sind die in den Knappscliaftskassen ihrer Krankenversicherungspflieht genügenden
Personen mitgezählt. Ohne diese, die in die Statistik der Krankenversicherung nicht
einbezogen werden, betrug 1898 die durchschnittliche Mitgliederzahl 8502645.
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Adolf Braun, Ausdehnung der Statistik über die Krankenversicherung. 2 IQ
wesen (mit Ausnahme der Seeschiffahrt) als Arbeiter thätigen Personen
auf Grund des Krankenversicherungsgesetzes versichert sind und dafs die
befreiten Personen diesen gegenüber an Zahl nicht ins Gewicht fallen. Die
landwirtschaftlichen Arbeiter Preussens und Bayerns und von 12 anderen
Bundesstaaten stehen noch immer aufserhalb dieser Versicherung. Eine be-
rufsstatistische Verarbeitung des Materials der Krankenversicherung, die eine
Voraussetzung jeder weiteren Verwertung des Materials ist, wird freilich auch
für die kleineren Berufsgruppen bis in die kleinsten hinein wertvolle Er-
gebnisse zeitigen. Würde schon eine l>e rufsstatistische Durchleuchtung
der in der »Statistik der Krankenversicherung« veröffentlichten Mate-
rialien bedeutungsvolle Ergebnisse zeitigen, so kann dies doch keineswegs
allein genügen, ist doch die Statistik der Krankenversicherung ein Muster-
stück von Verwaltungsstatistik in dem Sinne, dafs sie kaum mehr fest-
stellt, als eben dem engsten Zwecke der Aufsicht über die Krankenkassen
und der Materialsammlung für erforderlich werdende Novellen zu dem
Gesetze entspricht.
Dieser Statistik liegen zu Gntnde die »Vorschriften über die Art
und Form der Rechnungsführung« '), dann die »Nachweisung betreffend
die Krankenversicherung etc.«, a) einige sehr eingehende Fragebogen,
welche auf dem Beschlufs des Bundesrates vom 3. November 1892 —
§ 6S4 der Protokolle — beruhen. a) Ein Eingehen auf diese Grundlagen
der Krankenversicherung erübrigt sich, da den Lesern dieser Zeit-
schrift dieselben zugänglich, sie auch regelmäfsig in diesem Archive
besprochen worden sind und für unseren Zweck die Feststellung ge-
nügt, dafs nicht viel mehr, jedenfalls in sozialstatistischer Beziehung
nicht, aus denselben festgestellt werden kann als die acht Tabellen
bieten, die eben diese Statistik enthält. Nun wollen wir keineswegs diese
Tabellen missen, wir können aber in ihnen nur den äufseren Aufbau
einer Krankenstatistik sehen, es ist eben im strengsten Sinne des Wortes
eine Statistik der Krankenversicherung und nicht der Erkrankungen
der Arbeiter. Alle Tabellen haben die Kassenarten zur Grundlage, das
Individuum, ja die berufsmäfsig aufgebaute Krankenkasse verschwindet
in der Statistik der Krankenversicherung völlig. Selbst die Versicherungs-
verhältnisse sind nicht insgesamt für die Provinzen und Bundesstaaten
feststellbar, weil mangels jedes Zurückgehens auf die Person des Ver-
sicherten die versicherten Personen als ansässig am Sitze der Kasse an-
genommen werden, was nicht für alle Kassen, vor allem nicht für die
eingeschriebenen Hilfskassen gilt. Die Kasse, als statistische Einheit ge-
’) Abgedruckt als Anlage B auf S. 6 f. der Statistik der Krankenversicherung
im Jahre 1894 (Berlin 1897! Statistik des Deutschen Reiches N. F Band 84.
*) a. a. O. S. II IT.
’) a. a. O. S. I.
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220
Miszellen.
nommen, garantiert somit nicht einmal für die einfachsten Zusammen-
stellungen der Krankenkassenstatistik richtige Resultate, erst das Zurück-
gehen auf das versicherungspflichtige Individuum schafft uns den theo-
retischen (Hauben an die Richtigkeit des statistischen Ergebnisses. Doch
selbst den Fall gesetzt, dafs das Ergebnis der Statistik der Krankenver-
sicherung allen Anforderungen der Theorie und der Praxis genügen
würde, so bliebe ihr Wert für den Praktiker der Arbeiterversicherung
ein begrenzter, den Sozialstatistiker liefse sie fast völlig im Stiche. Bei
aller Freude an jedem Zahlenmeer , von dem ich mich frei weifs,
was nützt es der Sozialstatistik, wenn sie für preufsische Provinzen, für
Bayern rechts und links des Rheins und für die Bundesstaaten festge-
•-tellt erhält Zahl und Ausdehnung der Krankenkassen, Karenzzeit, Mit-
gliederzahl, Erkrankungsfallc, Krankheitstage, Sterbefälle, Einnahmen und
Ausgaben, Aktiva und Passiva, finanzielle Lage der Kassen, statuten-
tnässige Dauer der Unterstützungen, Prozentverhältnis der Beiträge und
des Krankengeldes zum Lohne u. s. w. Fäne Reihe weiterer F'ragen der
Krankenkassenstatistik sind in der Einleitung zur Statistik der Kranken-
versicherung für 1884') behandelt, so die monatliche Mitgliederzahl der
Ortskrankenkassen, um deren systematische Verwertung ftir die Beur-
teilung der Fluktuationen auf dem Arbeitsmarkte sich die Zeitschrift „Der
Arbeitsmarkt“ seit längerer Zeit bemüht, und die dort, wo es sich um
nach Mitgliedern beruflich geschiedene Orlskrankenkassen handelt, ganz
interessante Resultate zeitigt, wenn nicht neben diesen Kassen grofse
Betriebskrankenkassen, starke Innungskrankenkassen und eine beachtens-
werte Zugehörigkeit der Arbeiter dieses Berufes zu freien Hilfskassen
vorhanden ist. Wir ftihren dies hier nur näher aus, um zu zeigen, wie
trügerisch jede statistische Verwertung des Materials werden kann, wenn
sie auf der Verarbeitung der Ergebnisse einzelner Kassen und nicht auf
der systematischen Verarbeitung der Individualangaben beruht. Weiter
finden wir in der Statistik für 1884 die organisierten Kassen nach
Gröfsenklassen, die durchschnittliche statutenmäfsige Unterstützungsdauer
der Mitglieder der Ortskrankenkassen, die Ortskrankenkassen nach Mit-
gliederzahl und Karenztagen und das Prozentverhältnis des Kranken-
geldes zum Lohne bei den Mitgliedern der Ortskrankenkassen dargestellt.
Die Angaben des letzterwähnten Abschnittes könnten etwas mehr sozial-
statistisches Interesse beanspruchen, wenn das Verhältnis zum wirklichen
Lohne, dessen Feststellung ja auf Grund des i; 49 111 und IV Kranken-
versicherungsgesetzes den Krankenkassen obliegt, berechnet würde und
nicht zum 'l'agelohnc beim Eintritte in die Ortskrankenkasse ; werden
doch die Veränderungen des Lohnes nur zum geringsten Teile zur
Kenntnis der Kassen gebracht und ist doch bei den Akkordarbeitern der
') win tr., xxiv, LViiir., Lxvtr., i.xm, i.xxxii, i.xxxtvtr.
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Adolf Braun, Ausdehnung der Statistik über die Krankenversicherung. 221
angegebene Lohn meist weit entfernt von dem thatsächlich verdienten.
Aber selbst wenn diesen Einwendungen wenig Wert beizumessen wäre,
so beziehen sich diese Berechnungen doch nur auf weniger als ein Fünftel
der in Ortskranlcenkassen und auf ein Elftel bis ein Zwölftel aller ver-
sicherten Personen 1 598 932 Mitglieder Ortskrankenkassen spezieller Be-
rufe gegenüber 3 109 100 in Ortskrankenkassen und 6939412 überhaupt
am 31. Dezember 1894 gegen Krankheit versicherte Personen). Ähn-
liche Einwendungen sind bei der Berechnttng des Prozentverhältnisses
der Beiträge zum Lohn bei den Ortskrankenkassen zu machen. Seit
1884 hat die Statistik der Krankenversicherung eher Rückschritte als
Fortschritte in der Bearbeitung des gleichgebliebenen Materials gemacht.
Sobald man die Zahlen der Statistik der Krankenversicherung zur
Aufstellung der sozialen Verhältnisse heranziehen will, lassen sie im Stiche.
Welchen Nutzen hätte diese Statistik bei der letzten grbfseren sozialstatisti-
schen Erhebung bieten können! Aber hören wir Urteile von Männern, die
diese Erhebung geleitet haben. Anläfslich der Untersuchung der Gewerbe-
inspektoren über die Beschäftigung verheirateter Frauen in Fabriken äufserte
sich der Regierungs- und Medizinalrat für den Regierungsbezirk Pots-
dam l) u. a. auch über die Krankenkassenstatistik, die er mit Recht unter
Zuziehung der Kassenärzte aufgestellt wissen will: „Die vorliegenden
Statistiken können zum gröfsten Teile als einwandsfrei nicht erachtet
werden, da die Dauer tler Zugehörigkeit zum Betriebe dabei zu wenig
berücksichtigt ist“. „Um zunächst diejenigen Betriebe kennen zu lernen,
die .... als gesundheitsschädlich zu erachten sind ist eine sorg-
fältige Statistik erstes Erfordernis. Ohne Zwang, ohne staatliche Autori-
sation sind hier verwettbare Unterlagen nicht zu beschaffen. Jeder
Krankenkasse wäre zu diesem Zwecke die Führung statistischer Register
für jedes Kassenmitglied vorzuschreiben, die etwa folgende Rubriken zu
enthalten hätten :
1. Name — Geburtsjahr — Geschlecht — Art der Arbeit —
Dauer der Zugehörigkeit zum Berufe — vorangegangene Be-
schäftigung.
2. Tägliche Arbeitszeit (Ueberstundenarbeit).
3. Gegenwärtiger Lohn (früherer).
4. Gesundheitlicher Zustand der Mitglieder — Konstitution —
Lebensführung (Alkoholismus), vorangegangene Krankheiten —
Krankheiten im Berufe — Krankheitstage •— erwerbsunfähig oder
nicht — Ausgang der Krankheit.
5. Hinsichtlich der Berufskrankheiten im engeren Sinne müssten bei
den verheirateten weiblichen Arbeitern aufserdem noch die Unter-
*) Jahresberichte der trewcrbc-AufsichlsheanUen und Bergbehörden für das
Jahr 1899 J. Itand S. 52 1.
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222
Miszellen.
fragen hinsichtlich Schwangerschaft, Laktation, Gesundheitszustand
(wieviel gestorben — und in welchem Alter) gestellt werden.*'
Beachtet mufs auch die Forderung einheitlicher Normen bei Be-
zeichnung der Krankheitsformen werden. Der genannte Medizinalbeamte
schlägt 22 Hauptgruppen vor. Ks erschiene uns als Aufgabe des Reichs*
gesundheitsamtes, nach vorausgegangenen Erhebungen ein Schema defi-
nitiv auszuarbeiten, das vorläufig schon durch das Reichsamt des Innern
allen Aerzten und Kassenverwaltungen amtlich zugänglich und empfohlen
werden könnte, vorbehaltlich späteren gesetzlichen Zwanges, damit würde
die Erprobung des Schemas in der Praxis ermöglicht und der eventuellen
späteren gesetzlichen Vorschrift gut vorgearlieitet werden.
Anlässlich der erwähnten Enquete stellt auch der Gewerberat für
den Regierungsbezirk Oppeln fest’): „dafs in den Listen der Fabrik-
krankenkassen zumeist die Art der Erkrankung nicht angegeben ist“ und
der Gewerberat für den Inspektionsbezirk Chemnitz *) hält es für nötig,
dafs von allen Krankenkassen und in allen Fabriken Nachweise geführt
werden, aus welchen sich die Art der Erkrankung genau ersehen läfst
und deren Einsichtnahme auch den zuständigen Bezirksärzten oder anderen
dazu bestimmten Aerzten zu gestatten wäre.
Das Bedürfnis einer Statistik der gegen Krankheit Versicherten und
nicht blofs der Kasseneinrichtungen auch für die nicht zu engen Zwecke
der Verwaltung ist durch die angeführten Gutachten erwiesen. Das Streben
der Aufsichtsbeamten, genaue zahlenmäfsige Nachweisung bei der Beant-
wortung der ihnen gestellten Fragen zu verwenden, war begreiflich, aber
weder die vom Kaiserlichen statistischen Amte publizierte Statistik konnte
herangezogen werden, noch eigneten sich hierzu die weitergehenden
Erhebungen einzelner Krankenkassen — von Ausnahmefällen abgesehen.
Erwägt man nun, dafs zur Durchführung der 120 c, d und vor
allem des $ 120 e der Gewerbeordnung eine genaue Kenntnis der gesund-
heitsstorenden Berufseinwirkungen erforderlich wäre, so mufs man eigent-
lich auch bei Beschränkung der amtlichen Statistik auf die reinen Ver-
waltungszwecke recht erstaunt sein , dafs man im Reichsamt des Innern
noch nicht die Notwendighcit eingesehen hat, eine genaue nach Berufen,
Geschlecht und Alter geordnete Krankenstatistik zu schaffen. Aber auch
für die Verwaltungszweckc jeder gut geleiteten Kasse genügt der Ein-
blick in ihre Verhältnisse nicht, den sie sich aus der Ausfüllung des
vom Bundesrate vorgegebenen Formulars verschaffen kann, dies hat viele
Kassen veranlafst, selbständig statistisch ihr Material zu verwerten, wieder
— von Ausnahmefällen abgesehen — mit Beschränkung auf das mo-
mentan ins Auge springende Verwaltungsbedürfnis, so zur Kontrolle der
’) a. a. O. I S. 210.
') a. a. O. II S. 659.
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Adolf Braun, Ausdehnung der Statistik über die Krankenversicherung. 223
Aerzte, der grüfseren Willfährigkeit derselben den Wünschen der Mit-
glieder gegenüber, zur Feststellung von Simulanten, zum Vergleiche der
Apothekerrechnungen u. dgl. Dabei fiel ja hier und da auch etwas für
denjenigen ab, dessen Interesse weiter reicht. Es kann gar nicht be-
stritten werden, dafs das Bedürfnis statistischer Feststellungen sich immer
häufiger für die Kassen Verwaltungen ergab und dafs quantitativ gar nicht
Unbeträchtliches geleistet wurde. Al>er selbst die Sammlung all’ dieser
in Verwaltungsberichten verstreuten Materialien würde nicht befriedigen,
wäre doch für den Statistiker der erste und letzte Eindruck, dafs die
Zahlen nicht vergleichbar sind, dafs die Aufnahmemethoden gar sehr von
einander abweichen, dafs mit dem Material meist sehr dilettantenhaft
verfahren wurde. All' diese Leistungen sind durchaus freiwillig, ohne vor-
geschriebenes Schema, i. d. R. ohne jede Beratung mit Fachmännern unter-
nommen. Lediglich einer momentan notwendigen Feststellung zu Liebe
wird plötzlich statistisch losgearbeitet ; dabei handelt es sich meist um
eine weitere Ueberlastung ohnedies nicht glänzend bezahlter Beamter.
Was aus all’ diesen Voraussetzungen zur Vermehrung unseres Wissens
über die Morbidität und ihre Beziehung zu den sozialen Ursachen heraus
springt, läfst sich ziemlich leicht erraten. Dabei soll ja keineswegs be-
stritten werden, dafs einzelne Kassen gutes, ja vorzügliches geleistet
haben oder wenigstens die Grundlagen hierzu beschafften. Bei aller
Anerkennung des Geleisteten rnufs dies den Wunsch hervorrufen, dafs
die guten Leistungen nicht vereinzelt bleiben, dafs ihr Wert für die
betreffende Kasse und für die Allgemeinheit gesteigert werde durch
die Herbeiführung einer Vergleichbarkeit der Ergebnisse. Bei den Mo-
menten, mit denen eine Verwaltung der Kasse zu rechnen hat, wird
das hier Wünschenswerte ohne bindende Anordnung nicht erzielt werden
können. Heute herrscht das laisser faire, laisser passer auf dem Gebiete
der Krankenstatistik ; wir sind ja der Zeit entwachsen, wo man gegen
das Prinzip der unbeschränkten Konkurrenz zu Felde zu ziehen hat,
niemals hat man es aber auf dem Gebiete der Statistik billigen können
und doch halten wir es gerade hier noch zu bekämpfen.
Sicherlich sind in den letzten Jahren manche Fortschritte auf. dem
Gebiete der Krankenkassenstatistik auch in technischer Beziehung zu ver-
zeichnen. zUs ich anfangs der qoer Jahre den Rendanten und ninfs-
gebende Vorstandsmitglieder einer der gröfsten Berliner Ortskrankenkasseu
für die Anlegung von Zählkarten für jedes einzelne Mitglied zu inter-
essieren suchte und ihnen neben dein statistischen den verwaltungstech-
nischen Wert dieser Systems auseinanderzusetzen suchte, stiefs ich auf gar
kein Verständnis. Heute hat schon eine Reihe von Krankenkassen dieses
meines Erachtens für eine Verwertung ihres Materials allein verwendbare
System in Anwendung gebracht. „So hat man z. B. in Stuttgart, Dresden,
Leipzig, Barmen und Frankfurt a. M. das Krankenkartensystem eingeführt,
was sich nach Angabe der betreffenden Verwaltungen nach jeder Richtung
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Miszellen.
hin vorteilhaft bewahrt hat. Auf diesen Karten wird alles vermerkt, was in
Bezug der Mitgliedschaft, der Krankenanmeldung, der Dauer der Krank-
heit, des konsultierten Arztes u. s. w. notwendig erscheint.
Diese Krankenkarten bleiben in den Händen der Verwaltung und
werden alphabetisch geordnet in Fächer gestellt. Sobald ein Mitglied etwas
wünscht, wird diese Karte hervorgezogen und inan findet auf ihr alles
verzeichnet, was man über das Mitglied zu wissen seit Jahren für notwendig
hält. Ks dürfte sich empfehlen, dieses Kartensystem auch in unserer
Verwaltung einzuführen.“ ') Dafs dieses System trotz seiner Vorteile noch
nicht allgemein durchgeführt wurde , liegt daran , dafs seine Einführung
Mehrarbeiten, bei grösseren Kassen die Anstellung ständiger Beamter (in
Strafsburg i. Eis. bei ca. 1 7 000 Mitglieder drei besonders sich diesen
Aufgaben widmende Angestellte) erfordert. s) Die Zahl der Kranken-
Personalkarten ist wegen der häufigen An- und Abmeldungen bedeutend
grösser als die der Mitglieder, so in Bannen*) bei einer Jahresdurch-
schnittsziffer von 23405 und bei einer höchsten Mitgliederzahl von
242X2 Versicherten ca. 60000 Zählkarten. Es konnte von mir nicht
festgestellt werden, wo in Deutschland das System der Zählkarte zuerst
bei einer Krankenkasseneinrichtung eingeführt wurde, es scheint dies
bei der allgemeinen Ortskrankenkasse in Frankfurt a. M. gewesen zu sein,
die meines Wissens dieses System am meisten ausgebaut hat. Mir
liegen gleichzeitig in Verwendung stehende 7 Kartenformulare dieser
Kasse vor, ein Beweis dafür, dafs das Kartensystem sich ausgezeichnet
zu Verwaltungszwecken eignet, dafs es aufserordentlich viel Zeitersparnis,
raschere Uebersicht, bessere Kontrolle und schnellere Abfertigung zur
Folge hat. Auf Grund jeder dieser Zählkarten liefsen sich statistische
Feststellungen machen, womit nicht gesagt sein soll, dafs dies geschehen
soll. Da aber dieses ausgebildete Kartensystem für die Verwaltungen
anderer Kassen vorbildlich war und einen Einblick in die Kassenver-
waltung gewährt, dürfte es vielen willkommen sein, diese Formulare
kennen zu lernen. Die Karten sind zumeist aus sehr guten, meist hell-
grauen Kartons verfertigt, sie unterscheiden sich zwar ziemlich auffallend
durch den Druck , leider ist aber eine Unterscheidung durch Farben
unterlassen worden.
Karte 1 ist eine Registerkarte für die Unternehmer . sie hat wenig
Interesse für uns. Ihr Text lautet :
,i Bericht über die Informationsreise (erg. ües Vorstandes der Orlskrunken-
kasse Strafst >urg i. Eis.) vom II. Juli his 26. Juli 1898 S. 1 1 ff. Rcchcnschafls-
brriehl der gemeinsamen f Irtskrankenkasse Strafsburg i. Eis. f. d. Jahr 1898 S. 21.
* Rechenschaftsberichte etc. für 1899 S. 18, für 1900 S. 6, 24. 25.
1j Gcscheüs- bericht der allgemeinen Ortskrankenkasse zu Rarmen auf das Jahr
1899 X. 2 f.
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Adolf Braun, Ausdehnung der Statistik über die Krankenversicherung. 225
Stadtbezirk Hebeliste Nr
a) Zuname :
b) Vorname:
c) Geschäftsbetrieb:
d) Wohnung: (3 Zeilen)
Berufsgenossenschaft: (2 Zeilen)
Bemerkungen :
Die Rückseite der Karte ist frei. Sie ist 17X11 cm grols.
Von viel höherem Interesse ftir den Sozialstatistiker sind die folgen-
den Formulare, so vor allem Formular 2 u. 3.
Karte 2 ist 26% X 2 t */ä cm grofs und hat folgenden Text auf der
Vorderseite :
(Siche die Karte auf S. 316.)
Für die Kassenverwaltung hat diese Karte aufserordentlich hohen
Vorteil. Die bezogenen Unterstützungen können sofort übersehen werden,
es sind keine Registerbände nachzuschlagen , nicht ebensoviele Seiten
wie Untersützungsfalle oft in mehreren Büchern aufzuschlagen, Notizen
hcrauszuziehen u. s. w. Ein Handgriff schafft das ganze Material , eine
halbe Minute informiert über alles, was das Verwaltungsorgan über , das
Mitglied zu erfahren sucht: „Die bezogenen Unterstützungen (Kranken-
geld, Hospitalpflege, Heilmittel, Anfang und Ende der Erwerbsunfähigkeit,
Name des behandelnden Arztes und der Diagnose). Unter Bemerkungen
werden die Strafen, in welche die Mitglieder bei Zuwiderhandeln gegen
die Krankenvorschriften verfallen, eingetragen. Auf Grund dieser Auf-
zeichnungen sind wir in der Lage, das Verhalten des Mitgliedes der Kasse
gegenüber sofort beurteilen zu können.'1 ’)
Welch grofsen Wert dieses Formular als statistisches Urmaterial hat,
ist nicht weiter auseinanderzusetzen, lehrt das doch das Formular selbst.
Eine leichte Unterscheidbarkeit der weiblichen und männlichen Mitglieder
durch Wahl von verschieden gefärbten Kartons liefse sich ohne Kosten
erreichen und damit die Verarbeitung des Materials etwas erleichtern. -)
Karte 3 ist nur auf einer Seite liedruckt, sie dient als „Kranken-
karte" und ist 26 cm breit und 20 ' cm hoch. Sie hat folgenden
Vordruck :
(Siebe die Karte auf S. 227.)
’) Freundliche briefliche Mitteilung des langjährigen Vorsitzenden der Kasse,
Herrn E. Graf vom 15. Mai 1901.
*) Dieser Forderung entspricht das dem gleichen Zwecke dienende Formular
der allgemeinen Ortskrankenkasse Strafsburg i. Fils., so auch das Dresdener.
Archiv für tor. Gfneugebtinj; u. Statistik. XVII. 15
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2 6 Zeilen Raum für ebensoviele Eintragungen dann
Bemerkungen
drei durchgehende Zeilen Raum.
Mitglied-Nr.
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Sterbe fall : Datum Sterbegeld : Mk.
228
Miszellen.
Diese Karte enthält Angaben, die zum Teile schon durch Karte 2
feststellbar sind, sie dient in der Hauptsache zur Kontrolle der in Frank-
furt a. M. eingeführten freien Arztwahl. Neben diesem Zwecke dient sie
zu statistischen Zwecken
a) für Krankheitsarten — Dauer — Tage — Morbidität —
Mortalität etc., Erwerbsfähigkeit bez. Erwerbsunfähigkeit der
Kranken. ’)
b) flir die Feststellung der durch die einzelnen Aerzte der Kasse
verursachten Krankheitskosten, dann die Krankheitsdauer. *)
Zur Kontrolle der Feststellungen des unter 3 b angeführten dienen
die Karten 5, 6 und 7. Dieselben sind 14 cm breit und 23 cm hoch.
Die Karte Nr. 5 hat folgenden Vordruck:
Nr
Dr.
t-’
£
'■J
■
■1
■
Monat
Su rama
c
3
RezeptJ Pr"‘
M. | rr.
Rezepte
Preis
M. ! Pf.
M.
Pf.
i'
1
Formular Nr. 6 lautet :
Nr.
Dr.
Droguerie
Heilmittel
Milch
Bäder
Apotheken
I
R
1
1
!
*) Siehe die Verwertung dieses Materials in den Geschäftsberichten der all-
gemeinen Ortskrankenkasse zu Frankfurt a. M., so Ihr das Jahr 1898 Tabelle O auf
S. 24—28, wo fiir Jt Berufe die Zahl der nach Geschlecht getrennten Erkrankten,
die nach 13 und 26 Wochen ausgesteuerten männlichen und weiblichen Mitglieder,
19 Krankheitsgruppen uud für die erwerbsfähigen und erwerbsunfähigen Fälle die
Krankheitstage und die Hospitalfällc angegeben sind.
*) Das Material findet sich verarbeitet in den folgenden zwei Publikationen
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Adolf Braun, Ausdehnung der Statistik Uber die Krankenversicherung.
Formular 7 lautet auf der Vorderseite:
Aufsenbezirk.
Dr. med.
in
bei der Kasse thätig seit 190..
ausgetreten am 190..
Praxis für folgende Ortschaften. (Raum für 3o Eintragungen.)
Die Rückseite hat folgenden Vordruck:
J-3
0 'i Ü
&F 5
t &
Die zur
Berechnung
kommende
Mitgliedzahl :
1 Bezahltes
j Mono-
rar
M. | Pf.
Gc-
1 meldete
1 Krank-
heitsfälle
Datum der
Zahlung :
Bemerkungen
1
f, 2
•*> * ul
106t
•
(Wiederholt für 3 weitere Jahre.)
Endlich ist noch eine Karte (4) vorzuführen sie ist 22 cm breit
20 cm hoch. Auf der Vorderseite findet sich das folgende:
(Siche die Karte auf S. 230.)
Auf der Rückseite steht für die Jahre 1902 und 1903 der gleiche
Tabellenkopf.
Zur statistischen Verwertung eignet sich diese Karte nicht, fehlt doch,
was auch für die Zwecke der Verwaltung wünschenswert wäre, Ge-
schlecht, Beruf und Alter der versicherten Personen und die Art der
Erkrankung.
der allgemeinen Ortskrankenkassc Frankfurt a. M. : Tabellarische Uebcrsichten be-
treffend Erkrankungsfälle, Dauer der Erwerbsunfähigkeit und entstandene Kosten aus
dem Jahre 1896. Bearbeitet durch die Statistische Abteilung Frankfurt a. M. Ok-
tober 1897. 15 unnumerierte Seiten 8 °. Dasselbe für das Jahr 1897 Frankfurt a. M.
Oktober 1898. |6 unnumerierte Seiten Kl. 4“
Oigitizcd by Google
230
Miszellen.
Familienkasse.
Buch -Nr.
Familienname : Vornamen : Geboren:
Wohnung: (a Zeilen Raum)
Wer ist versichert: Vater, Mutter, Ehefrau, Kinder?
1901
Sieben Zeilen Raum
Bemerkungen
dann 6 Zeilen Raum.
Empfehlenswert ist da das Formular der Ortskrankenkasse Dresden,
das folgenden Wortlaut hat:
Ortskrankenkasse Dresden. Karte Nr.
Krankenkarte für Angehörige:
des Mitglieds geh. am l8 Nr.
Wohnung:
Vor- und Rückseite dieser 23 cm breiten und 1 7 cm hohen Karte
tragen den gleichen Kopf und haben 34 Zeilen Raum zu Eintragungen.
Auszusetzen an der Karte ist das Fehlen des Zunamens, der bei vor-
ehelichen Kindern und anderen nicht den gleichen Namen wie das
Familienoberhaupt führenden Familienangehörigen nötig wäre und eine
Frage nach der Stellung des Erkrankten zum Versicherten (Sohn, Tochter
u. s. w.), sowie nach dem Berufe (Heimarbeiter, Schüler u. s. w.).
Von der Verwaltung der Allgemeinen Ortskrankenkasse zu Frank-
furt a. M. erbat ich über dieses System ein Gutachten, dem ich das
folgende entnehme:
„Das eingeführte Kartensystem, welches als Ersatz für diverse
Bücher eingeführt wurde, bewährt sich vorzüglich. Doch raufs
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Adolf II raun, Ausdehnung der Statistik über die Krankenversicherung. 23 1
dabei beachtet werden, dafs nur ständige Leute mit diesen
Karten arbeiten, weil sonst das Abstellen und Auffinden der
zu gebrauchenden Karte zu viel Zeit rauben würde.“ *)
„Eis lassen sich auf Grund des auf den Karten verzeichneten
Materials alle möglichen Erfahrungen feststellen“.
Es heifst dann nach diesem den Wert des Systems für die Kassen-
verwaltungen feststellenden Urteile weiter in bezug auf die social-
statistische Bedeutung der Materials und auf die geringe Hoffnung, die
man auf die Verwerthung desselben durch die Kassen selbst auf-
bauen darf:
„Eine grofse Kasse wäre eigentlich am berufensten und zum
Teil auch wohl verpflichtet, derartig fortgesetzte Erhebungen
mit den nötigen Verarbeitungen machen zu lassen. Nur er-
fordern diese Arbeiten einen ungeheuren Aufwand von Arbeits-
kraft und damit auch eine grofse Ausgabe für Verwaltungs-
kosten."
„Der in den Jahren 1897 und 1898 unternommene Anlauf für
derartige Arbeiten wurde aus den oben angeführten Gründen
bald wieder aufgegeben, weil man auch anderseits einen Zweifel
in den Wert dieser Arbeiten setzte. Hoffentlich gelingt es wieder
eine andere Anschauung herbeizuführen, damit derartige Arbeiten
wieder aufgenornmen werden können.“
Der Zweifel an dem Wert dieser Arbeiten, der wohl nicht bei
meinem Gewährsmanne, wohl aber bei seinen Kollegen im Vorstande
der von ihm geleiteten Kasse bestehen, ist umso eigentümlicher, als wir
gerade dem Materiale der Ortskrankenkassen zu Frankfurt a. M. das
Neueste und Beste über die Morbiditätsstatistik im Deutschen Reiche
verdanken. *) Der Verfasser dieser Arbeiten , auf die näher einzugehen
') Mir liegen noch Formulare ähnlicher Art <lcr Allgemeinen Ortskranken-
kasse in Bannen, der Gemeinsamen Ortskrankenkasse Strafshurg i. Fis. und der
Ortskrankenkasse Dresden vor. Nach späteren Mitteilungen des Herrn Graf in dem
gleichen Schreiben sind auch in Mainz und Bockenhcim ähnliche Karten eingefiihrt
worden.
*) Bleicher, Dr. H., Frankfurter Krankheitstafcln. Untersuchungen Uber Kr-
krankungsgefahr und Erkrankungshäufigkeit nach Alter, Geschlecht, Civilstand und
Beruf. Auf Grund des Materiales der Ortskrankenkasse zu Frankfurt a. M.
Mit 5 graphischen Tafeln. Bearbeitet von dem Direktor des Stilistischen Amtes
(Beiträge zur Statistik der Stadt Frankfurt a. M. Neue Folge. Im Aufträge des
Magistrats herausgegeben durch das Statistische Amt. Viertes Heft) 56 und I.XXXl
S. 4°. Frankfurt a. M. 1900 und zur Statistik der Krankenkassen (Beiträge zur
Statisük der Stadt Frankfurt a. M. Neue Folge. (Im Aufträge des Magistrats heraus-
gegeben durch das Statistische Amt, F.rgänzungsblatt Nr. 2) 35 S. 4 °.
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232
Miszellen.
aufserhalb des Planes dieser Studie liegt, hat sich auch mit der theo-
retischen Seite der Krankenstatistik befafst , in einem Referate zur
VIII. Konferenz der Städtestatistiker (Lübeck April 1893).’) Leider hat
der Direktor des Frankfurter statistischen Amtes die Gelegenheit nicht
benutzt, auf der Städtestatistiker-Konferenz für die Einheitlichkeit der
Formulare zu wirken. Wir meinen, dass gerade Aufgaben dieser Art in
den Bereich der Konferenzen der beamteten Statistiker gehören. Er
begnügte sich, die aufserordentliche Verschiedenheit des Materials fest-
zustellen und zu konstatieren, dafs „von einem einheitlichen Arbeitsplan
. . . . könne .... überhaupt keine Rede sein .... Die Methode der
Verarbeitung, wie schon die Art der Gewinnung des Materiales wird fast
in jeder Stadt eine andere sein müssen. *) Damit ist resigniert auf die
Vergleichbarkeit des Materials und auf die Gewinnung der „grossen
Zahl“ Verzicht geleistet. Fis mufs aber erwogen werden, dafs eine
eindringliche Verarbeitung des Materials auch einer grossen Kasse dieses
so zersplittert, dafs die Beleuchtung der Resultate nicht mehr angängig
ist, da der „Zufall" nicht mehr mit Sicherheit eliminierbar ist. Wir sind
in der Lage, Herrn Direktor Bleicher dafür selbst als Autorität ins Feld
führen zu können. In seiner Bearbeitung der Frankfurter Ortskranken-
kassenstatistik heifst es s) :
Auch für manche andere Berufe, für welche in den ausführ-
licheren Tabellen Rechnungsmaterial niedergelegt ist, wären charak-
teristische Daten anzugeben, sie sind aber unsicherer, wie die hier her-
vorgehobenen, weil das Beobachtungsmaterial für dieselben noch weniger
umfassend war.“ Wir können uns dagegen doch nur helfen, indem wir
die Materialien möglichst vieler, womöglich aller Kassen bearbeiten lassen,
so zu Vergleichsgelegenheiten und zu Massenerscheinungen für die meisten
Berufsarten gelangen. Hiervon wären wir nicht so weit entfernt, wenn
die städtischen statistischen Bureaus auf die Ortskrankenkassen Ver-
waltungen entweder direkt oder durch die zuständigen Referenten der
Magistrate auf die Vorstände der Ortskrankenkassen eingewirkt hätten,
damit das Zählkartensystem eingeführt werde und damit es überall in
gleicher Weise eingeführt werde. Leider geschah nichts in dieser Hin-
sicht und auch auf den Kongressen der verschiedenen Kassenarten, die
fast alljährlich stattfinden, ist dieser Frage zu wenig Aufmerksamkeit
geschenkt worden. Dies ist begreiflich, weil die Kassenverwaltungen das
Kartensystem vornehmlich zur Vereinfachung der Verwaltung einfuhren,
*) Bleicher. Dr., In welcher Richtung liifst sich das Material der Kranken-
kassen statistisch verwerten. 8 S. Folio autographiert „als Manuskript gedruckt.“
*) a. a. O. S. 3.
*) Frankfurter Krankheitstafeln etc. S. 37, s. auch ebendort S. 45 vorletzten
Absatz.
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Adolf Braun, Ausdehnung der Statistik über die Krankenversicherung. 233
cs somit nur ihren speziellen Zwecken entsprechend einrichten , kein
weiteres Interesse an einer späteren statistischen Verwertung des Materials
und damit an dem gleichen Wortlaute desselben haben. Meine Umfrage
und die mir vorliegenden Formulare beweisen es, dafs ein Einheitlichkeit,
wie sie im Interesse der Sozialstatistik zu wünschen wäre, nicht vor-
handen ist. Die wenigsten Kassen besitzen überhaupt Formulare, die
als Zählkarten mit Erfolg verwertbar wären. Aber auch darüber dürfte
keine Meinungsverschiedenheit herrschen , dafs es ebensosehr Kraftver-
schwendung, wie Fehlen jeder Garantie sachgemäfser Verarbeitung, wie
Unmöglichkeit der Information bedeuten würde, wenn jede Kasse ihr
Material selbständig verarbeiten und die Ergebnisse gesondert publizieren
würde. Man betrachte doch die ungeheuerliche Zersplitterung unseres
■Krankenkassenwesens, wobei wir natürlich nur die im Auge haben,
welche den Anforderungen des ^75 des Krankenversicherungsgesetzes
entsprechen. 1898 betrug die durchschnittliche Mitgliederzahl dieser
Kassen 396,3, die der einzelnen (8177) Gemeindeversicherung 172,4,
der (4568) Ortskrankenkassen 892,9, der (7040 Betriebskrankenkassen
324,0, der (74I Baukrankenkassen 244,6, der (601) Innungskrankenkassen
264,8, der (1415) Eingeschriebenen Hilfskassen 541,3 und der (255)
Landesrecht liehen Hilfskassen 225,4 ’). Im ganzen besafsen wir 1898
22 130 Kasseneinrichtungen *). Als eines der Ziele der geplanten Reform
der Krankenversicherung ist die Schaffung grofser Kassen, die Zusammen-
legung der Ortskrankenkassen, die Ueberführung der Gemeindeversicherung,
soweit sie nicht als lediglich subsidiäre Einrichtung erhalten werden soll,
in die zentralisierten Ortskrankenkassen ins Auge gefafst, dies wird die
Verwaltung der Kassen vereinfachen, verbilligen und verbessern und auch
für andere Methoden der Verwaltung als die heute üblichen Raum
schaffen, es werden dann auch bessere Aussichten für die Sammlung des
statistisch verarbeilbaren Materials gegeben sein.
Anläfslich der Reform der Krankenversicherung wird man auch
gesetzliche Bestimmungen über die Verwertung des Materials im Interesse
einer Morbiditätsstatistik grofsen Stiles für die deutsche Arbeiterklasse
ins Auge zu fassen haben. Ob man mit dieser Aufgabe das Reichs-
gesundheitsamt betraut, das ja schon jetzt für die gröfseren Städte die
Totenscheine bearbeitet, oder das Statistische Amt des Deutschen
Reiches oder das so oft in Aussicht gestellte arbeitsstatistische Amt des
Reiches, wird dann besonders zu erwägen sein , man wird sich auch
darüber die Entscheidung Vorbehalten können , ob es nicht am Platze
ist, die Fortsetzung der bisherigen Statistik der Krankenversicherung der
*) Statistik der Krankenversicherung im Jahre 1898. Bearbeitet ira Kaiserlichen
Statistischen Amt. Statisük des Deutschen Reiches X. F. Band 127 (Berlin 1900) S. 7*.
*) a. a. O. S. 6»
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Miszellen.
statistischen Zentralstelle zu überlassen, dagegen die Verarbeitung des
Individualkartenmaterials dem Reichsgesundheitsamte. Jedenfalls wird es
sich empfehlen , den einzelnen Kassenverwaltungen die Möglichkeit zu
schaffen, im Interesse ihrer Verwaltung Ergänzungsfragen zu stellen und
gegen Erstattung der aufgelaufenen Kosten die gesonderte Verarbeitung
ihres Materials fordern zu dürfen.
Diese Vorschläge müssen mit dem Einwande rechnen, dafs die jähr-
liche Wiederholung einer Verarbeitung der ca. 9 Millionen Zahlkarten
aufserordentliche Kosten verursachen würde. Wenn ich auch meine,
dafs vieles dagegen spricht, diesem Einwande zu grofse Bedeutung Itci-
zuraessen, so könnte man sich ja auch mit einer Verarbeitung der Zähl-
karten eines Jahres in fünfjährigen Zwischenräumen begnügen. Ein
anderer Einwand ist der, dafs man bei der Fluktuation unserer Arbeiter-
bevölkerung von Ort zu Ort, und innerhalb eines Ortes von Ortskasse
zu Betriebskasse, Innungskasse etc. das Individuum und seine statistisch
zu erfassenden Angaben nicht w'erde erhalten können, da das Individuum
mehrfach angeführt sein wird, andererseits für Hunderttausende Arbeiter
keine sich auf ein ganzes Jahr beziehende Zählkarte vorhanden sein wird.
Dem kann aber leicht durch Beachtung des folgenden Vorschlages ge-
steuert werden. Bei der Anmeldung des Versicherten wäre mitzuteilen,
wo und wann er zuletzt versichert war; die einzelnen Kassen hätten so-
dann auf Grund dieser Angaben die Karten auszutauschen; bekanntlich
findet auch zwischen den Invaliditätsversicherungsanstalten ein Karten-
austausch statt und die Krankenkassen haben sich auch jetzt schon gegen-
seitig Mitteilungen zu machen und mit Invaliditätsversicherungsanstalten
und Berufsgenossenschaften ununterbrochen Korrespondenz zu pflegen.
Dieser Kartenaustausch wäre sogar statistisch von besonderem Werte.
Bleicher hat den Nachweis erbracht, wie verschieden die Morbidität der
Vollmitglieder und der Nichtvollmitglieder, d. h. der durch ein ganzes
Jahr der Kasse angehörenden Versicherten und der fluktuierenden Ar-
beiterbevölkerung ist. ’) Der Kartenaustausch könnte zu einer Scheidung
dieser Mitglieder für die Verarbeitung des Materials führen, indem für
alle am Januar der Kasse Angehörenden eine Karte etwa blau für
das männliche und rot für das weibliche Mitglied angelegt würde, auf
der Karte ist auch der Tag des Eintrittes zu vermerken. Für die im
Laufe des Jahres eintretenden, bisher noch nicht Versicherten wären etwa
violette Karten für die männlichen, gelbe für die weiblichen anzulegen,
die Karten der ausscheidenden Mitglieder werden versandt und bei der
*) Frankfurter Krankheitstafeln S. 5, II, 15, 24, 38 — 44, Vif., XVI IT. etc. und
derselbe ,,In welcher Richtung läfst sich etc.“ S. 8, S. auch Geschäfts-Bericht der
Allgemeinen Ortskrankenkasse zu Barmen für das Rechnungsjahr 1900 S. 2 u. 3
(unnumeriert) : Bei 23454 Mitgliedern waren 65000 Personalkarten erforderlich.
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Adolf Braun, Ausdehnung der Statistik über die Krankenversicherung.
neuen Kasse auf neue Formulare übertragen, auf graue für die männ-
lichen und grüne für die weiblichen, so erhalten wir sofort geschieden
Vollmitglieder, die das ganze Jahr der gleichen Kasse angehören, und
zwei Kategorien von Nichtvollmitgliedern, die neuversicherten und die
fluktuierende Arbeiterbevölkerung. Dafs wir damit vielleicht auch ein
Mittel gefunden haben, die Arbeitslosigkeit im Laufe der verschiedenen
Monate und für die gelernten Berufe wie für die Gesamtheit der Ar-
beiter zu messen, wenn auch nicht mit absoluter Genauigkeit, sei nur
nebenbei erwähnt, ebenso dafs wir dann versuchen können, die Rück-
wirkung der Arbeitslosigkeit auf die Morbidität, im Laufe der Jahre auch
auf die Mortalität zu untersuchen.
So wie sich in der ganzen medizinischen Wissenschaft und in der
sich so erfreulich entwickelnden Hygiene die Prophylaxis immer mehr in
den Vordergrund stellt, so wird auch von weitsichtigen Kassenverwal-
tungen immer deutlicher eingesehen, dafs man den Mitgliedern wie den
Kassen mehr mit der Prophylaxis wie mit der Therapie helfen könnte.
Um aber diese erst keimenden Ideen und Pläne erstarken und reifen zu
lassen, bedarf es einer viel genaueren Kenntnis der Erkrankungsursachen
und Erkrankungsgefahren unserer Arbeiter in jedem Berufe, in jeder
Lebensbedingung. Deshalb müssen die Krankenkassen das Material be-
sitzen, das zu dieser Erkenntnis nötig ist, auch dies ist praktisch und
nicht „theoretisch" oder „wissenschaftlich“, auch dies wäre „Verwaltungs-
statistik“. Schon sehen wir die Krankenkassen, wenn auch nur zaghaft,
auf das Gebiet der Wohnungsfrage hinübergreifen. So wird von ihnen
„auf die Schaffung von Verbesserungen in gesundheitlicher Beziehung,
Ixrsung der Schwierigkeiten in der Wohnungsfrage" u. dergl. mehr hin-
gewiesen '). In einem anderen Berichte ä) heifst es : „Bei dieser Ge-
legenheit müssen wir auch der Wohnungsverhältnisse der unteren Klassen
der Bevölkerung, die sich in der Hauptsache ja mit den Mitgliedern der
Ortskrankenkasse deckt, mit einigen Worten gedenken. Dafs in Strafs-
burg ein Wohnungselend ohnegleichen besteht, ist nicht allein durch
unsere Krankenkassenkontrolleure, sondern auch durch die Untersuchungen
der Wohnungskommission festgestellt worden Die Folgen hat
natürlich in hohem Mafse auch die Ortskrankenkassc zu tragen. Eine
Bevölkerungsklasse, die in solchen „Wohnungen“ hausen mufs, wo nach
den Untersuchungen der Wohnungskommission Erwachsene und Kinder
in der Regel auf die Hälfte des Mindestluftraumes angewiesen sind, ist
natürlich der Erkrankung in weit stärkerem Mafse ausgesetzt als die Be-
*) Geschäftsbericht der Allgemeinen Ortskrankenkassc zu Barmen für das
Rechnungsjahr 1900 S. 5 (unnumeriert).
*} Rechenschaftsbericht der Gemeinsamen Ortskrankenkassc Strafsburg i. Eis.
für das Jahr 1898 (Strafsburg 1899) S. ao u. 21.
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Miszellen.
sitzer geräumiger, heller und luftiger Wohnungen. Es leuchtet ein, dafs
dadurch auch die Dauer der Krankheiten wesentlich verlängert werden
mufs. Gegen eine Ueberfuhrung ins Spital aber sträuben sich viele
Kranke auch deswegen, weil dann ihrer Familie der gröfste Teil des
Krankengeldes entgeht In je besseren Wohnungen der Arbeiter
wohnt, um so weniger ist er der Gefahr der Erkrankung ausgesetzt, um
so weniger wird die Ortskrankenkasse belastet.“ Wie verheerend die
Tuberkulose unter unseren Arbeitern wütet, wie sehr die Tuberkulose-
bekämpfung, abgesehen von den ideellen Seiten dieser Aufgabe, finanziell
für unsere Krankenkassen eine Frage ersten Ranges ist, braucht hier nicht
auseinandergesetzt zu werden; es sei nur hingewiesen auf die hohe Be-
deutung der Wohnungsfursorge für die Tuberkulosebekämpfung *). Die
Beziehungen zwischen Krankenkassen und Wohnungsfürsorge sind heute
schon ein Gegenstand öffentlicher Diskussion *). Von welch ungeheuerer
Bedeutung zur Aufklärung über die engen Beziehungen zwischen Mor-
bidität und Mortalität und dem Wohnungselende könnte da eine Statistik
der Krankenkassen werden.
Die Wohnungsfrage und die Krankheitshäufigkeit sind sicherlich
keine reinen Lohnfragen, aber dafs sie in hohem Mafse durch die Lohn-
höhe beeinflufst sind, ist nicht weiter auseinanderzusetzen. Deshalb er-
scheint es uns der Erwägung wert, ob lohnstatistische Erhebungen nicht
an die Krankenstatistik anzuknüpfen sind; schon das in Kraft stehende
Krankenversicherungsgesetz gewährt den Ortskrankenkassen die erforder-
lichen Handhaben hierzu in dem $ 49 Abs. 3. Rein theoretisch liefse
sich unzweifelhaft für die Personen, welche zu den Angaben ihrer Löhne
und der Aenderungen derselben verpflichtet sind, eine Lohnstatistik aus-
arbeiten. Freilich wird kein Praktiker daran glauben, dafs auch die best
verwaltete Ortskrankenkasse im Deutschen Reiche auf Grund der ihr
gemachten Angaben das Material zu einer richtigen Lohnstatistik beizu-
stellen imstande wäre. Heute wird von der wohl überwiegenden Zahl der
deutschen Industriearbeiter im Akkordlöhne gearbeitet, fast überall gilt
für diese ein fiktiver Stunden- oder Tagelohn, der blofs dann zum wirk-
lichen wird, wenn eine Akkordfestsetzung nicht möglich ist Dieser
fiktive Lohn wird in der Regel den Krankenkassen bei der Anmeldung
der Versicherten angegeben, die Thatsache der Verbreitung der Akkord-
*) S. ti . Thesen zum Vortrage von Lanüral Dr. Heydweiller-Lüdcnscheid zu
dem dieses Tlu-ma behandelnden Vortrage auf der Generalversammlung des Zentral-
komitees zur Krrichtung von Heilstätten für Lungenkranke am 23. März 1901 und
Pannwitz, Dr., Generalsekretär des Zentralkomitees, Der Stand der Tuberkulose-
bekämpfung im Frühjahre 1901 etc. Berlin 190t S. 86 (unnumeriert).
J) Flöte. Stadtdirektor, Die Wohnungsnot und die Krankenkassen. Soziale
Praxis, Jahrg. 190001, Sp. 873 IT.
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Adolf Braun, Ausdehnung der Statistik über die Krankenversicherung. 237
arbeit hat auch zur Folge, dafs die wenigsten Arbeiter auch nur mehrere
Wochen im Jahre den gleichen Verdienst haben. Nun weifs ja jeder,
dafs der Wechsel im Föhne fast niemals zur Kenntnis der Kassenver-
verwaltungen kommt. Nach einer Sammlung, Verarbeitung oder gar Ver-
öffentlichung der von unseren Kassenverwaltungen wohl behüteten l.ohn-
angaben kann es selbstverständlich niemand besonders gelüsten. Durch
Vorschläge nach einer schärferen Fassung des $ 48 Krankenversicherungs-
gesetz und Empfehlung von Strafbestimmungen zu einer Lohnstatistik
gelangen zu wollen, scheint mir auch nicht der richtige Weg. Es ist
nicht die Aufgabe der Krankenkassen, Lohnstatistik zu treil>en, man kann
aber wohl von ihnen fordern, dafs sie Beziehungen von Lohnhöhe und
Lohnschwankungen zur Morbidität und Mortalität aufstellen. Hierzu sind
nicht die allerfeinsten Messungen nötig, da braucht man sich nicht in
die Streitfrage nach der besten Methode der Lohnerhebung einzulassen.
Es würde genügen, die Kassen zur Sammlung der Lohnabgaben etwa in
folgender Welse zu verhalten:. Bei der Anmeldung ist die vorläufige Lohn-
angabe zu machen, ■) diese ist nach einer zu bestimmenden Zahl von
Wochen durch eine andere Lohnangabe zu ersetzen, die als durchschnitt-
licher Wochenverdienst seit Antritt des Arbeitsverhältnisses zu betrachten
ist. Zweimal im Jahre, wobei die Zeitpunkte mit Rücksicht auf die
Fluktuationen in dem betreffenden Berufe festzusetzen wären , sollen die
faktischen Lohnangaben für alle Versichnten wiederholt werden. Dieses
Material wäre auf die Zählkarten zu übertragen und die Gruppierung
nach Lohnklassen hätte entsprechend einer generellen Anordnung zu er-
folgen. Dieses System würde für die Zwecke der Kassen Verwaltung und
Krankenstatistik genügen; abgesehen von den zahlreichen anderen
Kontrollmitteln der Kassen, böte ja die Zusammensetzung des Vor-
standes zu zwei Dritteln aus Arbeitern genügende Möglichkeit, dafs diese
sich vor unrichtiger Darstellung der Arbeiterverhältnisse sichern.
Die Krankenkassen könnten sich selbst nützen und einer brauch-
baren und nicht zum mindesten ihnen vorteilhaften Krankenstatistik die
Wege ebnen, wenn sie das Kartensystem ausbilden wollten und wenn
sie in ihren Organen und auf ihren Kongressen eine Einheitlichkeit des
Kartensystems erstreben wollten. Seitens der oberen und obersten auf-
sichtsführenden Behörden könnten das System und die Benützung von
Karten nach besonderen Vorlagen empfohlen werden. So erfreulich all'
dies wäre, das wichtigste bleibt, dafs bei den Beratungen über das neue
Krankenversicherungsgesetz die Statistik nicht als Aschenbrödel im Winkel
stehen bleibt.
*) Jetzt ist diese Lohnangabc die wirkliche, nun kann aber von kaum weniger
als von 70 Proz. der Versicherten bis zum Tag der Anmeldung eine Lohnfeststellung
nicht gemacht werden und wo dies auch der Kall, entspricht der Lohn in der ersten
Woche selten dem in spaterer Zeit des Arbeitsverhältnisses thatsachlich bezogenen.
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Die Kommunalversicherung gegen Arbeitslosigkeit
in Gent-
Von
Dr. LOUIS VARLF.Z,
Arbeilskorrespondent in Gent.
Die Frage der Versicherung gegen Arbeitslosigkeit mufs fortgesetzt
jeden beschäftigen , der überhaupt an die Zukunft denkt. Wir glauben
daher, im nachstehenden die Aufmerksamkeit auf einen interessanten
Versuch zur Lösung dieser Frage lenken zu müssen, welcher in der Stadt
Gent unternommen wird.
Während Basel, St. Gallen und Zürich die Lösung des Problems in
Zwangskassen suchen, Bern und Köln freie Kassen eingerichtet haben,
Adler und seine Anhänger für die Zwangsversicherung, Schanz für obli-
gatorische Sparkassen eintreten , verwarf die in Gent geschaffene Ge-
meindekommission zur Prüfung der Mittel und Wege einer Lösung der
Arbeitslosenfrage sowohl die Zwangsversicherung als die Errichtung be-
sonderer Kassen und befürwortete ein neues System, das wir in den
folgenden Zeilen kurz skizzieren werden.
Zuvor noch einige Worte über seine Geschichte.
Einzelne Mitglieder des Gemeinderats Gents, Sozialisten tmd Nicht-
sozialisten, hatten bereits vielfach auf die Notwendigkeit hingewiesen,
Mafsnahmen zum Besten der Arbeitslosen zu ergreifen, bis endlich der
Gemcinderat einstimmig beschlofs, eine Sonderkommission zur Unter-
suchung der Frage einzusetzen. Die Kommission bestand zur Hälfte aus
Unternehmern, zur Hälfte aus Arbeitern und Angestellten, welche in
gleicher Anzahl den drei Parteien des Genter Gemeinderates, der
liberalen, der katholischen und antisozialistischen, der sozialistischen und
radikalen entnommen wurden. Der zweiundzwanzig Mitglieder starken
Kommission wurden einige Professoren und Nationalökonomen beige-
geben. Zum Sekretär und Berichterstatter wurde Varlcz, Arbeits-
korrespondent in Gent, ernannt. Die Kommission billigte einstimmig
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Louis Var lei, Die Kommunal Versicherung gegen Arbeitslosigkeit in Gent. 239
die vom Berichterstatter befürworteten allgemeinen Grundzüge und be-
schlofs einen Reglementsentwurf nachstehenden Inhaltes:
Der Gemeinderat von Gent ernennt einen Attsschufs zur Verwaltung
und Verwendung einer ihm von der Gemeindeverwaltung in drei jähr-
lichen Raten z.ur Verfügung gestellten Summe im Betrage von 60000 Frcs.
Diese 60000 Frcs. sind bestimmt, den Betrag der von den eine
Arbeitslosenversicherung einrichtenden Vereinen bewilligten Geldunter-
stützungen zu verdoppeln oder zum mindesten zu erhöhen. Aufserdem
wird eine besondere Sparkasse gegen die Arbeitslosigkeit begründet ; auch
hier werden die den Sparern geleisteten Rückzahlungen im Falle der Arbeits-
losigkeit wie dort erhöht. Arbeitslosen-Unterstützungen und Rückzahlungen
dürfen keinesfalls 1 Frc. pro Tag und 5o Frcs. pro Jahr und Empfänger
übersteigen. Sind die Fonds erschöpft, so stellt der Ausschufs seine Thätig-
keit ein ; beschliefst der Gemeinderat, die Versuche fortzusetzen, dann
hat er ein neues Reglement aufzustellen. Die Sonderkommission geht
vor allem von dem Grundsätze aus, dafs von der Schaffung einer be-
sonderen Versicherungskasse abzusehen sei. Sie wurde hierbei bestimmt
durch die hohen Unkosten allgemeiner Natur, die allzu verschiedenen
Risiken, die Wahrscheinlichkeit, ja fast Gewifsheit, nur schlechte Risiken
zu haben, durch den Mifserfolg der früheren Versuche, namentlich aber
durch die Unmöglichkeit, eine kommunale Kasse auf dem Prinzip der
Gegenseitigkeit zu schaffen. Ausserdem fürchtete sie, den bereits or-
ganisierten Vereinen ungerechtfertigte Konkurrenz zu bereiten.
Fenier hat sie auch den Grundsatz der Zwangsversicherung ver-
worfen. Abgesehen von wesentlichen juristischen Schwierigkeiten wurde
geltend gemacht , dafs der Gegenstand noch zu neu , zu verwickelt sei,
dafs es deshalb nicht angehe, die Leute zur Versicherung gegen ihren
Willen zu nötigen. ,
Die Kommission glaubte, die gesamte Einrichtung der Versicherung
am besten den Fachvereinen überlassen zu sollen, welche in der Stadt
Gent bereits 15000 bis 20000 Arbeiter und Angestellte umfassen und
Allen Erhöhungen der Unterstützungen in Aussicht zu stellen, welche
bereits durch die Zugehörigkeit zu diesen Vereinen auf solche ein An-
recht haben. Dem Arbeiter und Angestellten, welcher in seinem Verein
eine Arbeitslosenunterstützung von t Fr. täglich erhält, wird der soeben
geschaffene Spezialfonds eine gleiche Entschädigung gewähren, so weit
die ihm zur Verfügung stehenden Mittel dies zulassen, andernfalls eine
Erhöhung von 75, 50 °/„ oder auch weniger. Der Betrag dieser Er-
höhung wird je nach dem Kassenbestandc bemessen werden.
Die Vorzüge dieses Systems treten besonders in einer Stadt wie
Gent hervor, wo die Anzahl der Fachvereine und ihrer Mitglieder be-
deutend ist und wo fast alle bereits eine Versicherung gegen Arbeits-
losigkeit eingerichtet haben. Die Fachvereine dieser Stadt umfassen
bereits 19 212 Mitglieder, von welchen 2436 kaufmännische Angestellte
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240
Miszellen.
sind, 406 Arbeiter der Buchindustrie, 9936 Arbeiter und Arbeiterinnen
der Textilindustrieen, 532 Arbeiter des Baugewerbes, 1058 Arbeiter der
Holzindustrie, 2114 der Metallindustrieeu, 268 Zigarrenarbeiter und Ar-
beiter der Nahrungsmittelgewerbe, 320 Arbeiter der Bekleidungsindustrie.
1576 Dockarbeiter und Transportarbeiter, 566 Mitglieder verschiedener
Industrieen.
Diese Fachvereinsangehörigen werden die erste Teilnehmergruppe
des Kommunalfonds bilden, und es wird voraussichtlich diese Beihilfe
den Erfolg haben, die Anzahl der Fachvereinsmitglieder und somit die
Beteiligten der kommunalen Versicherung beträchtlich zu steigern. Die
Zahl der Fachvereinsmitglieder, ca. 20 000, ist eine ganz bedeutende,
wenn man berücksichtigt, dafs die industrielle Bevölkerung der Stadt sich
nur auf 42580 Unternehmer und Arbeiter beläuft, bezw. auf 36500
Arbeiter mit Einschlufs der Auslader und der Heimarbeiter der Be-
kleidungsindustrie. Allerdings wohnt eine Anzahl Fachvereinsmitglieder
in den Vorstädten, deren industrielle Bevölkerung einige tausend Arbeiter
umfafst.
Die Vorteile dieses Systems sind mannigfach. Fast sämtliche Unkosten
allgemeiner Natur, die in den kommunalen Kassen so bedeutend sind,
werden erspart und den Fachvereinen überlassen, für die sie von ge-
ringem Belang sind, da die Uebenvachung der erhöhten Pension nicht
kostspieliger ist, als die Zahlung einer solchen von geringerem Betrage.
Man hat alsdann von vornherein einen enormen Bestand von Mitgliedern,
welche der Elite der Arbeiterklasse angehören und vom Nutzen der
Versicherung bereits überzeugt sind. Die gesamte Organisation beruht
auf striktem Gegenseitigkeitsprinzip, wodurch allein Unterschleifen ent-
gegengetreten wird. Sie ist eine ausschliefslich berufliche, d. h. auf
offenkundig gleichen Risikogruppen aufgebaut. Endlich wird die Ver-
sicherung gegen Arbeitslosigkeit von Anfang an eine zahlreiche und
überzeugungsvolle Propaganda für sich haben, die entschlossen ist, den
Fachvereinen möglichst viele Mitglieder zuzuführen.
Die Genfer Kommission, welche gröfstcnteils aus Bürgern, grofsen-
teils aus Unternehmern bestand, hat dadurch, dafs sie sich in der Be-
kämpfung der Arl>citslosigkeit direkt an die Organisation einer sozialen
Kategorie, an die Arbeitervereine selbst wandte, ein hohes Mafs von
Initiative und Unerschrockenheit an den Tag gelegt. Von 19212 Fach-
vereinlern gehören an: 10899 den sozialistischen Fachvereinen, 3621
den katholischen, 1572 den liberalen, 3120 endlich den parteilosen.
Diese letzteren sind fast sämtlich entweder Vereine kaufmännischer An-
gestellten oder doch eher Fachhilfskassen, als eigentliche Fachvereine.
Aus den Verhandlungen der Kommission ist hervorzulielten, dafs
vor allem ein Punkt zu lebhaften Debatten führte : die Organisation der
Kontrolle über die Verwendung der den Vereinen überwiesenen Gelder.
Es wurden zweierlei Wege vorgeschlagen. Der Berichterstatter empfahl
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Louis Varlez, Die Kommunal Versicherung gegen Arbeitslosigkeit in Gent. 24 1
die den Vereinen zu gewährende Beihilfe gegen ein vom Sekretär des
Vereins aufztistellendcs detailliertes Verzeichnis der Verwendung der
Gelder zu zahlen, vou einer namentlichen Angabe der die Arbeitslosen-
unterstützung empfangenden Personen aber abzusehen. Für eine nament-
liche Kontrole der Unterstützten war er nur dann , wenn Unterschleife
vermutet würden oder zur Anzeige kämen, für welchen Fall ein Kon-
trolleur einzusetzen wäre, der sich eidlich zu verpflichten hätte, alle ihm
gelegentlich seiner Kontrolle bekannt werdenden Angaben persönlicher
Natur geheim zu halten. Der Berichterstatter wollte hiermit verhindern,
dafs die Namen der jedem Verein angehörenden Mitglieder bekannt
würden, da andernfalls Verdächtigungen und der Abfall von Mitgliedern
hervorgerufen würden. Kr hielt dafür, dafs die Kontrolle innerhalb der
Vereine selbst zur Verhinderung von Unterschleifen genüge. Verschiedene
Kommissionsmitglieder dagegen verlangten energisch die namentliche
Bezeichnung der Unterstützten als einziges Mittel einer wirksamen Kon-
trolle der Gelder.
Nach laugen Verhandlungen wurde endlich ein gemischtes System
vorgeschlagen, dem man allseitig zustimmte. Hiernach wäre die Kon-
trolle von Anfang an durch einen Kontrolleur auszuülren, der berechtigt
sein solle, dem Präsidenten und dem Sekretär des Ausschusses alle not-
wendigen persönlichen Angaben zu machen. Alle drei Genannten
hätten sich eidlich zu verpflichten, die hierdurch erlangte Kenntnis ge-
heim zu halten. Der Gemeinderat hat nach Prüfung des Vorschlages
der Sonderkommission die Kontrollvorschriftcn noch etwas verschärft,
indem er anordnete, dafs sämtliche Kommissionsmitglieder berechtigt
sein sollten, sich über die persönlichen Feststellungen des Kontrolleurs
aus den Büchern der Fachvereine unterrichten zu lassen, allerdings nur
unter eidlicher Zusicherung der Geheimhaltung.
Möge man über das Wohlwollen der Kommissionsmitgliedcr gegen-
über den Fachvereinen denken wie man will, — jedenfalls hätte der
gemachte Vorschlag nicht die Zustimmung aller anwesenden Unternehmer
gefunden, wenn sämtliche Arbeiter, welche etwa Anspruch erheben wollten
auf die kommunalen Zuschüsse zur Versicherung gegen Arbeitslosigkeit,
gezwungen w'erdcn sollten , den Fachvercinen beizutreten und somit
thätigen Anteil an dem sozialen Kampfe für eine Aenderung der wirt-
schaftlichen Verhältnisse zu nehmen. Diese einmütige Zustimmung konnte
nur durch die Organisation der Unterstützung auch für Xichtfach-
vereinler erreicht werden. Alter wie diese bewerkstelligen, ohne eine
besondere Versicherungskasse zu schaffen ? Es wurde in dieser Hinsicht
folgende Regelung vorgeschlagen , deren Einzelheiten die Verwaltungs-
kommission des Fonds in seiner Sitzung vom 3. Juni 1901 nunmehr
endgültig festgesetzt hat. Arbeiter oder Arbeiterinnen, welche keinem
am Fonds beteiligten Fachverein angehören, können sich bei der vom
Staate garantierten allgemeinen Spar- uud Versorgungskasse ein Spar-
Archiv für *or. CiescEzgeliung n. SlaliUiV. XVII. IÖ
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242
Miszellen.
kassenbuch ausstellen und dieses in ein besonderes Register eintrager»
lassen. Der Inhaber dieses Sparkassenbuches bleibt im Besitze desselben
und kann beliebig Spareinlagen oder Rentengelder darauf einzahlen.
Im Falle der Arbeitslosigkeit erhält der Sparer jedoch nach Er-
füllung von Formalitäten , wie sie bei den Fachvereinen zwecks Er-
langung von Arbeitslosenunterstützungen gefordert werden (Bescheinigung
der Arbeitslosigkeit und täglicher Eintrag in ein besonderes Register),,
und welche bei der Arbeitsbörse erfüllt werden können, eine Erhöhung
der Sparrente in dem gleichen Verhältnis, wie die Arbeitslosenunter-
stützungen der Fachvereine. Die Erhöhung wird in keinem Falle den
Satz von einem Franc für jeden vorschriftsmäfsig im Register einge-
tragenen arbeitslosen Tag übersteigen, und wird denselben Schwankungen
unterliegen, wie die den Fachvereinsmitgliedern gezahlte Erhöhung der
Arbeitslosenunterstützungen. Zur Verhinderung von Betrügereien sind
verschiedene Maßnahmen vorgesehen (wie die Bedingung des Wohn-
sitzes, Dauer der Einlage, Kontrolle der Arbeitslosigkeit u. s. w.). Die
jährlichen Erhöhungen werden keinesfalls 50 Frcs. pro Mitglied über-
steigen.
Nach der Ansicht des Berichterstatters müfste der notwendige Zu-
schufs zur Organisation dieser Kasse 20000 Frcs. jährlich betragen. Auch
die Kommission befürwortete diese Ziffer, wollte jedoch die endgültige
Entscheidung hierüber dem Gemeinderat Gents überlassen.
Auf iq 000 Fachvereinsmitglieder und auf eine mehr oder minder
beträchtliche Anzahl von Sparern berechnet, würde dies eine Unter-
stützung von 1 Frc. pro Mitglied und Jahr ergeben. In Basel hatte der
Rat einen — darauf in der Volksabstimmung verworfenen — Jahres-
zuschufs von 30000 Frcs. bewilligt; im Kanton St. Gallen kann der
Zusclntfs 2 Frcs. für jeden Versicherten erreichen; in Bern wurden für
612 Mitglieder 7000 Frcs., gleich 11 Frcs. für jeden Versicherten, ge-
zahlt ; in Zürich wurde vorgeschlagen, im ersten Jahre 70 000 Frcs. und
in den folgenden Jahren 30- — 70000 Frcs. zuzuschiefsen ; in Köln, wo
man 1900 nur 536 Mitglieder zusammenbrachte, belief sich der städtische
Zusclmfs auf 25000 Mark, aufserdem trugen die Ehrenmitglieder
13320 Mark bei.
Wie man sieht, weist das Genter Projekt eine ziemlich niedrige Zu-
schufsziffer auf. Wir glauben, dafs in einem gewöhnlichen Jahre der
Zuschufs von 20000 Frcs. kaum zur Erhöhung der Arbeitslosenunter-
stützungen um 100 u/„ hinreichen wird.1) Da nicht alle diese Unter-
') für das Jahr 1809 haben wir Erhellungen angestellt über die Wirksamkeit
der Versicherung gegen Arbeitslosigkeit in den Genter Kachvereincn ; die Erhebungen
erstreckten sich auf 41 der gröfsten Arbeit er- Kachvercioc mit damals 16563 Mit-
gliedern. Zwei dieser Vereine mit 78 Mitgliedern verweigerten Auskunft; 7 mit
1845 Mitgliedern hatten weder irgendwelche Versicherung gegen Arbeitslosigkeit oder
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Louis Varlcz, Die Kommunal Versicherung gegen Arbeitslosigkeit in Gent.
Stützungen dem Kommunalfonds zur I.ast fielen (nämlich als Unter-
stützungen an Nicht-Genter, Unterstützungen von mehr als i Frc.
Unterstützungen nach dem 50. Tage der Arbeitslosigkeit), so glauben wir
nicht, dafs die den Fachvereinsmitgliedern zu leistenden Zuschüsse
im ersten Jahre 20 000 Frcs. übersteigen würden. Es blieben somit noch
die Sparer, welche die unbekannte und dem Problem bedrohliche Gröfse
bilden. Die städtischen Zuschüsse werden eine dreifache Wirkung haben.
Zuvörderst werden sie die üble Lage der von Arbeitslosigkeit betroffenen
Fachvereinler mildern, indem sie die ihnen geleisteten Unterstützungen
erhöhen, indem sie ferner durch die gesteigert Wirksamkeit ihrer Spar-
einlagen oder ihrer Versicherung eine weitere Anzahl von Arbeitern ver-
anlassen, zu sparen oder sich zu versichern, und endlich indem sie
namentlich die Versicherung gegen Arbeitslosigkeit in verschiedenen
Gewerben erleichtern, so z. B. in den Saisonindustrieen, wo die Schwere
des Arbeitslosigkeitsrisikos die Organisation der Versicherung durch die
Interessenten allein fast unmöglich macht. Sodann steht zu erwarten,
dafs viele Fachvereine den Betrag ihrer Unterstützungen erhöhen werden,
So haben bereits mehrere der bedeutendsten beschlossen, ihre 'l'hätig-
keit der Arbeitslosenversicherung in erhöhtem Mafse zuzuwenden. Einige
haben geradezu eine Versicherungskasse gegen Arbeitslosigkeit einge-
richtet, zahlreiche andere haben den Betrag ihrer Arbeitslosenunter-
stützungen erhöht, andere wieder beschäftigen sich eifrig mit der Frage,
in der Absicht Zuschüsse aus den Fonds zu erhalten. Wir haben seit
fünf Jahren, Monat für Monat das Verhältnis der Arbeitslosen in fast
sämtlichen Genter Fachvereinen verfolgt , und -wir haben gefunden,
dafs in diesem Zeiträume sich der Durchschnitt der Arbeitslosen auf
ungefähr 25 pro 1000 Fachvereinsmitglicder beläuft. Dieser Durch-
schnitt sinkt auf 9 bei den kaufmännischen Angestellten, auf 22 in den
in Gent besonders stark vertretenen Textil- und Metallindustrieen, be-
trägt 25 in der Holz- und Buchdruckindustrie, und steigt andererseits
auf 75 in den Nahrungsmittelgewerben, auf 85 in den diversen In-
dustricen, auf 122 im Baugewerbe, auf 144 in der Bekleidungsindustrie
und auf 500 bei den Dockarbeitern. Jeder Fachverein wird nun die
Versicherung den fachlichen Bedürfnissen anpassen. Es ist daher sehr
Stillstand der Fabrikbetriebe eingerichtet, noch Reisegelder bewilligt; 6 mit 1 47°
Mitgliedern hatten wohl in sehr unvollkommener Weise die eine oder andere dieser
Unterstützungen organisiert, haben uns aber den Betrag der hierfür aufgewandten,
jedenfalls sehr geringen Summe nicht mitgeteilt; 26 endlich der gröfsten Fach-
vereine mit 13 170 Mitgliedern hatten 26438 Frcs. auf diese Versicherung verwendet
Im Jahre 1901 hatte der Betrag der für die Arbeitslosenversicherung bestimmten
Summe beträchtlich zugenommen: in den ersten 6 Monaten des Jahres, vor dem
Inkrafttreten der vorstehend mitgcteilten Anordnungen, hatten allein die fünf gröfsten
sozialistischen Fachvereine 15845 Frcs. bewilligt.
16*
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-44
Miszellen.
wahrscheinlich, dafs von Jahr zu Jahr die für die Versicherung gegen
die Arbeitslosigkeit auszusetzenden Summen infolge jener Zuschüsse
steigen werden und eine Verringerung ihres auf die Mitglieder ent-
fallenden Prozentsatzes eintritt.
Wenn im ersten Jahre die Gewerkschaften zu dem Zwecke 20 000 Frcs.
aussetzen, so wird die Erhöhung mit einem Zuschufs von 10000 Frcs. für
die Unterstützungen 50 11 „ betragen können ; gestattet die Entwicklung der
Versicherung und der Sparkasse im zweiten Jahre 30000 Frcs. zur Ver-
teilung zu bringen, so werden die 10000 Frcs. dann nur eine Erhöhung
von 33",, zulassen. Mit 40000 Frcs. sinkt der Prozentsatz der Ver-
teilung für die Mitglieder auf 25",,, wenn nicht die Kommune sich
entschliefsen sollte, ihren Zuschufs zu erhöhen, was der Bürgermeister
für den Fall in Aussicht zu stellen glaubte, dafs der Fonds befriedigende
Resultate zeitigen würde. Auch können Zuschüsse von anderer Seite
geleistet werden.
Es ist selbstverständlich, dafs die Kasse mit Unterstützungen bei
Ausständen und Aussperrungen nichts zu thun hat, ebensowenig mit der
Versicherung gegen Alter, Krankheit und Unfall.
Man steht hier auf völlig neuem Boden. Die Erfahrung hat
gezeigt, dafs annehmbar erscheinende Vorschläge oft an schweren
Mängeln litten. Um nun zu vermeiden, dafs nicht die Routine die hier
getroffene Einrichtung auch dann aufrecht erhalte, wenn sie sich als
schlecht oder unwirksam erweisen sollte, ist in den Statuten vorgesehen,
dafs der Versuch sich nur auf drei Jahre zu erstrecken habe, und dafs er
nur auf Grund einer förmlichen Beschlufsfassung des Gemeinderates
weilergeführt werden könne.
Ein Mifsstand des hier gekennzeichneten Systems einer Arbeitslosen-
unterstützung dürfte vielleicht darin erblickt werden, dafs die Interessenten,
Fachvereinler und Sparer, in der Kommission selbst nicht unmittelbar
vertreten sind. Dieser Mangel wird aber jedenfalls dadurch abge-
schwächt, dafs fünf der vom Gemeinderat zu ernennenden Vcrwaltungs-
mitglieder den Vereinen zu entnehmen sind, welche beschlossen haben,
an dem Zuschufsfonds teilzunehmen. Es ging nicht an, die direkte Ver-
tretung der Interessenten in der Uebergangsperiode der Organisation zu
regeln; vielmehr wird man sich mit dieser Frage erst hei einer Revision
der Statuten beschäftigen können.
Dies die Grundzüge des Systems, welches die mit der Ausarbeitung
eines kommunalen Reglements zur Förderung der Arbeitslosenversiche-
rung beauftragte Sonderkommission dem Gemeinderat Gents unterbreitete,
nachdem sie es in ihrer Sitzung vom 10. April 1900 definitiv ange-
nommen hatte. Der Entwurf wurde von einer Abteilung des Gemeinderats
einer Prüfling unterzogen und von ihm im ganzen mit unbedeutenden
Abänderungen in seiner Sitzung vom 29. Oktober 1900 angenommen,
und zwar mit 32 gegen 1 Stimme, 1 Mitglied enthielt sich der Ab-
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I. ouis Yarlez, Die Komninnalvcrsiclierung gegen Arbcit>|nMgki'it in Gent. 245
Stimmung. In dieser Sitzung wurde jedoch beschlossen, die Festsetzung
des Betrages des Jahreszuscliusses bis zur Verhandlung über den städtischen
Haushaltetat zu verschieben. Hei dieser Verhandlung hatte das Schöffen-
kolleg eine Zuschufsziffer von 5000 Frcs. vorgeschlagen, welche die
Finanzkommission auf 10000 Frcs. erhöht hatte, während verschiedene
Gemeinderäte beantragten, die Ziffer von io 000 Frcs. festzusetzen.
Lange Verhandlungen, welche mehrere Tage dauerten, knüpften sich an
diese Vorschläge, bis schlicfslich der Antrag, die Summe auf 20000 Frcs.
festzusetzen, mit 20 Stimmen (konservative Katholiken, Liberale und
Kleinbürger) gegen 15 (Sozialisten, Radikale und katholische Arbeiter)
verworfen und der Vorschlag, 10000 Frcs. zu bewilligen, einstimmig
angenommen wurde.
Wenige Tage hierauf wurde die Verwaltungskommission durch den
Gemeinderat unter dem Vorsitz des Berichterstatters di r Sonderkommission,
Varlez, eingesetzt und in ihr Amt feierlich eingefühlt. Die Kommission
hat unverzüglich die Ausarbeitung eines Reglements ihrer Geschäfts-
führung unternommen, über welches sie sich nach ziemlich langen Ver-
handlungen am 3. Juni inol endgültig einigte, sowohl was die Ver-
sicherung gegen Arbeitslosigkeit, als die Spareinrichtung fiir den Fall der
Arbeitslosigkeit betrifft. Die Herabsetzung der Fondsbestände, welche
sich aus der Festsetzung des Zuschufslx'trages auf 10000 Frcs. ergiebt,
hat den Berichterstatter . vcranlafst, eine verhältnismätsige Verminderung
des Betrages der Erhöhungen in Vorschlag zu bringen, welche, Ins der
Geschäftsgang zuverlässigere Unterlagen geschaffen haben wird, vorläufig
50",, sowohl fiir Fachvercinsmitglieder als Sparer betragen sollen. Die
Genter Kasse zur Unterstützung der Arbeitslosen bat ihre Thätigkcit am
1. August 1001 begonnen, mul es haben allmählich 22 Fachvercinc mit
12492 Mitgliedern ihre Statuten eintragen lassen: l>ci drei weiteren
schwebt das F.intragungsvcrfahrcn. Diese Vereine gehören den ver-
schiedenen politischen Parteien an, zu welchen Arbeiter Gents zählen;
nur die Liberalen haben sich noch nicht angcschlossen. Am 15. Oktober
1901 zählten diese Vereine 250 Arbeitslose. Im Laufe des Monats
August haben die 10 Fachvereine, die den Anspruch auf Erhöhung der
Unterstützung erworben hatten, ihrerseits 3903 Frcs. ifi Cts. Arbeits-
losengelder ausgezahlt : der seitens des Fonds bewilligte Zuschufs von
50",, bis zu 1 Frs. pro Tag für 50 Tage hatte ihnen ferner ermöglicht,
1220 Frcs. 87 Cts. Erhöhungen zu verteilen, was insgesamt eine Ar-
beitsloscn-UntcrsUitzung von 5133 Frs. 3 Cts. ergiebt. Während des
Septcrabermonats waren die Leistungen der Kasse bereits höher. Drei-
zehn Fachvereine hatten 5579 Frcs. 48 Cts. zuzüglich 1821 Frcs. 13 Cts.
Erhöhungen, also insgesamt 7400 Eres, fit Cts. verausgabt.
Die rasche Verausgabung der Zuschüsse liefs es geraten erscheinen,
eine Herabsetzung des Betrages der Erhöhungen ins Auge zu fassen, in-
dessen entschlofs man sich, nocli einen Monat mit Maßnahmen in dieser
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246
Miszellen.
Hinsicht zu warten, da das Rechnungsjahr 1901 nur ein unvollständiges
Bild gewähren.
Die Sparkasse gegen Arbeitslosigkeit ist noch nicht in Wirksamkeit
getreten, da die Mitglieder erst einige Zeit ihr angehören müssen, be-
vor sie ihre Einlagen mit Erhöhungen zurückziehen dürfen. Alles ist
bisher ordnungsgemäfs verlaufen, und die Einrichtung hat keine be-
sonderen Organisationsschwierigkeiten gezeitigt.
Es haben bereits eine Anzahl Eachvereine die Arbeitslosenversiche-
rung eingerichtet, uin an den Gemeindezuschüssen teilzunehmcn ; andere
wieder haben den Betrag der Arbeitslosen-Unterstützungen beträchtlich
erhöht, wodurch die Anzahl der gegen Arbeitslosigkeit versicherten Ar-
beiter erheblich gestiegen ist, — ein zunächst immerhin befriedigendes
Resultat.
Die Organisation des Genier Gemcindefonds für Arbeitslosenversiche-
rung ist übrigens zur Zeit Gegenstand lebhaften Interesses für die belgischen
Arbeiter und Politiker. Die Kongresse der Verbände der Metallarbeiter,
der Setzer, der Buchbinder, der Holz- und Bauarbeiter und verschiedene
andere haben hintereinander den Wunsch ausgesprochen, dafs durch
Vermittelung der Fachvereine Ortsausschüsse in allen gröfseren Städten
des Landes gebildet werden sollen. In Antwerpen wurde bereits ein
Ortsverband begründet, welchem 25 Fachvereine angehören, unter ihnen
fast alle gröfseren der Stadt. Dieser Verband hat die Frage einer
Prüfung unterzogen und an die Gemeinde-, Provinzial- und Staats-
behörden das Ersuchen gerichtet, die Fachvereine zu den gleichen Unter-
stützungen zu verpflichten, wie sie die Genfer Vereine bewirkten. Die
genannten Behörden sind zur Zeit mit der Frage beschäftigt.
In Brüssel hat die Fachvereinskoinroission der sozialistischen Partei
die Sache in die Hand genommen. Sie hat Verhandlungen über die
Frage, sowie umfassende Erhebungen veranlafst und an sämtliche Ge-
meinderätc der Hauptstadt einen Antrag gerichtet, den Fachvereinen,
welche ihre Mitglieder gegen Arbeitslosigkeit versichern, einen Zuschufs
von 30 000 Frcs. zur Verteilung unter die verschiedenen Gemeinden im
Verhältnis ihrer durch Arbeitslosigkeit betroffenen Arbeiterbevölkerung
zu gewähren. Atn 19. Oktober 1901 berief der Brüsseler Bürgermeister
seine Kollegen aus den anderen Gemeinden zur gemeinsamen Beratung
über die Schaffung einer Arbeitslosenkasse.
Die Provinz Lüttich hatte bereits vor Errichtung der Genfer Kasse
einen Zuschufs von 1 500 Frcs. bewilligt, der direkt an die ihre Mit-
glieder gegen Arbeitslosigkeit versichernden Fachvereine gezahlt wird:
dieser Betrag kommt jedoch nur 3 Vereinen mit 288 Mitgliedern zu-
gute, welche ihrerseits 1223 Frcs. als Arbeitslosen-Unterstützung be-
willigt haben.
In Mecheln, in Verviers, in Löwen haben sich Komitees zum
gleichen Zwecke gebildet. In Lüttich wurde ein bezüglicher Antrag
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Louis Varlez, Die Knmmunalversiohcmng gegen Arbeitslosigkeit in Gent. 247
von den sozialistischen Gemeinderäten gestellt. In den verschiedenen
Vororten Gents endlich steht der Antrag auf der Tagesordnung, der
Genter Arbeitslosen kasse beizutreten. Kurzum, in ganz Belgien beschäf-
tigt sich man emsig mit der Einrichtung und Verbreitung der Arbeits-
losen-Versicherung. Gelegentlich der Interpellation über die industrielle
Krisis und die Mittel ihrer Abhilfe in der belgischen Kammer am
15. Oktober 1901 forderte der Premierminister de Smet de Nayer die
übrigen Gemeinden des Landes auf, dem trefflichen Vorgehen der
Stadt Gent zu folgen, wo man die Arbeitslosigkeit durch freie Ver-
einigungen bekämpft, die in einem gewissen Grade von seiten der Ge-
meindebehörde unterstützt und beaufsichtigt werden.“ Die sozialistischen
Abgeordneten Bertrand und Anseele gaben ihren Freunden denselben
Rat. Endlich hat der sozialistische Abgeordnete Denis einen Gesetz-
entwurf eingebracht, nach welchem der Staat die Arbeitslosenversicherung
durch Zuschüsse fordern soll. —
Das skizzierte Genter Unternehmen trägt durchaus einen stark ausge-
sprochenen lokalen Charakter: es wäre dort völlig unanwendbar, wo die
Arbeiter nicht so fest in Fachvereinen organisiert sind, wie in Gent, und
nicht, wie hier, längst die Notwendigkeit eingesehen haben, sich zu soliden
Gruppen zusammenzuschliefsen , die auf hohen, regelmäfsig gezahlten
Beiträgen basieren. In Ländern, wo diese Verbindungen fehlen, wäre es
vergeblich, ein derartiges System durchführen zu wollen. Es wäre ver-
fehlt, zu erwarten, dafs sich Vereine bilden , um der gesetzlichen Be-
günstigungen teilhaftig zu werden. Man schafft nicht Organe zur Er-
haltung dieser Einrichtung, sondern es müssen im Gegenteil derartige
Einrichtungen sich auf Grund bereits bestehender Organe bilden. Die
Stadt Gent indessen befindet sich in dieser Hinsicht in einer günstigen
Lage. Fs giebt wohl wenig Städte des Festlandes, welche hier mit ihr
konkurrieren können. Denn es ist wohl schon zur Genüge bekannt, in
welcher bewundernswerten Weise z. B. die Genossenschaft „Vooruit“
im Genter Arbeiterverband eine grofse Anzahl von Vereinen um sich
schart. Zudem bewirkt der Umstand, dafs in fast allen Gewcrlien
sozialistische, katholische und liberale Fachvereine nebeneinander be-
stehen, dafs keine der drei politischen Parteien, welche Gent unter sich
teilen, theoretisch der Fachvereinsbewegung feindlich gegenübersteht. So
liegen die Verhältnisse in < lent. Aber es giebt auch andere Städte, namentlich
in Deutschland, wo das Vereinswesen fast ebenso entwickelt ist wie in
Gent, und wo der hier zu unternehmende Versuch vollem Interesse be-
gegnen dürfte. Mag im übrigen die Erfahrung entscheiden, ob das
nntemommene Werk lebensfähig ist und Gutes zu schäften vermag.
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LITTERATUR.
Neue Litteratur von und über Gewerkschaften.
besprochen von
Dk. ADOLF BRAUN,
in Stuttgart.
j. Der deutsche Buchbindcrverband, sein Zweck und seine Thätig-
keit. Ein Mahnruf an alle nicht organisierte^ Arbeiter und Arbeiterinnen
in Buchbindereien, Kontobuchfabriken und Linieranstalten, sowie in der
Portefeuille-, Album-, Etuis-, Kartonagen-, Luxuspapier- und Ledergalanterie-
waren-Eabrikation Deutschlands. Stuttgart, ohne Jahr (1901). Verlag von
A. Dietrich. 32 S. 8".
2. Auf der Walze, Briefe eines Handwerksburschen. Stuttgart 1901.
Herausgegeben von Theodor Lcipart. 32 S. kl. 8°.
3. Ein ernstes Wort an alle in den Brauereien, Malzfabriken und
Bierniederlagcn beschäftigten Personen, Hannover, Verlag von F. Krieg.
2 S. 4".
4. Ein Mahnruf in ernster Zeit an die Metallarbeiter Oesterreichs.
Wien, Verlag des Metallarbeiterverbandes. 8 S. 8".
5. Der deutsche Buchbinderverband im Jahre 1900. Bericht des
Vorstandes. Stuttgart 1901. Herausgegeben vom deutschen Buchbiuder-
verband (A. Dietrich). 66 S. 8".
6. Deutscher I lolzarbeiterverband, Zahlstelle Stuttgart. Jahresbericht
für 1900. 21 S. kl. 8". Stuttgart, Verlag des deutschen Holzarbeiter-
verbandes, E. Steinbrenner.
7. Protokoll der 5. Generalversammlung des deutschen Metali-
arbeiterverbandes vom 28. Mai bis 1. Juni 1901. Stuttgart, Verlag von
A. Schlicke XXXII u. 296 SS. 8*'.
8. Scgitz, Martin, Vortrag liber den dritten Punkt der Tagesordnung:
Agitation. Zur fünften Generalversammlung des deutschen Metallarbeiter-
verbandes. Zur Orientierung für die Verbandsmitglieder. Stuttgart, ohne
Jahr (1901). Verlag des deutschen Metallarbeiterverbandes.
9. Bringmann, August, Praktische Winke für die deutsche Zimmerer-
bewegung. Herausgegeben im Aufträge des Ausschusses und Vorstandes
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Neue Littcr.ilur von uml über GewiTkneharten. 241)
des Zentralverbandes der Zimmerer und verwandten Berufsgenossen
Deutschlands. Hamburg 1401. Verlag von Fr. Schräder. 124 S. 8".
i o. Leipart, Theodor, Almanach des deutschen Holzarbeiterverbandes
für das Jahr 1902. Taschenkalender für die Verwaltungen und Mit-
glieder des Verbandes. Im Aufträge des Verbandsvoi Standes heraus-
gegeben. Dritter Jahrgang. Stuttgart, ohne Jahr (1901). Selbstverlag
des deutschen Holzarbeiterverbandes. 154 S. kl. 8".
11. Notizkalender für Metallarbeiter 1902, herausgegeben unter
Mitwirkung des Vorstandes des deutschen Metallarbeiterverbandes. Berlin,
ohne Jahr (1901 ). Verlag der Expedition der Buchhandlung Vorwärts.
220 S. kl. 8".
12. Notizkalender für Berg- und Hüttenarbeiter 1002. Heraus-
gegeben unter Mitwirkung des Vorstandes des Verbandes der deutschen
Berg- und Hüttenarbeiter. Berlin, ohne Jahr (1901 1. Verlag der Ex-
pedition der Buchhandlung Vorwärts. 220 S. kl. 8".
13. Malerkalender 1902. Herausgegeben unter Mitwirkung des Vor-
standes der Vereinigung der Maler, Lackierer, Anstreicher, .Tüncher und
Weifsbinder. Berlin, ohne Jahr (1901). Verlag der Expedition der
Buchhandlung Vorwärts. 220 8. kl. 8°.
14. Sind die Hamburger Akkordmaurer Streikbrecher oder nicht.
Hamburg, C. Hense (1901; 16 S. 8".
15. Aktenstücke über den Schiedsspruch in Sachen der Hamburger
Akkordmaurer. Berlin 1901. Verlag der Expedition der Buchhandlung
Vorwärts. 23 S. gr. 8".
t6. Wollrnann, Georg, Der Kampf um das Vereinsvermögen des
Verbandes der Porzellan- und verwandten Arbeiter: 116200 Mk. Wert-
papiere deutsche Reichsanleihe. Bericht des Verbalidsvorsitzenden.
Berlin. Verlag von G. Wollrnann (1901) 15 S. 4".
17. Bauarbeiterschutz im Königreich Sachsen. Herausgegeben von
der Landeskommission ftir Bauarbeiterschutz im Königreich Sachsen.
Dresden 1901. Verlag von August Friedrich. 40 S. 16".
18. Der Bauarbeiterschutz in Bayern. Taschenausgabe für jeden
bayerischen Bauarbeiter. Herausgegeben von der bayerischen Laudcs-
Bauarbeiter-Schutzkommission 1901. Nürnberg, J. Merkel. 32 S. kl. 16".
19. Schutz den Heimarbeitern! Eine Denkschrift dem Bundesrat
und Reichstag überreicht vom Verband der Schneider, Schneiderinnen und
verwandten Berufsgenossen. Stuttgart 1901. Fr. Holzhäuser 131 S. kl. 8".
20. Deutscher Reichstag und Lübecker Senat oder Reichsrecht geht
vor Landrecht. Ein lehrreicher Beitrag zur Geschichte der deutschen
Arbeiterbewegung. Lübeck 1900. August Kasch. 99 S. 8".
21. Fuhrmann D., Die wirtschaftliche Lage der Arbeiter Hanaus.
Im Aufträge der statistischen Kommission des Gewerkschaftskartells
Hanau a. M. bearbeitet, Hanau 190t. Verlag des Gewerkschafts-
kartells 87 S. 8".
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250
Litteratur.
22. Hirsch. Dr. Max, Verbandsanwalt, Klein, Rudolf, Petersdorf
Wilhelm, Verbandsbeamte, Arbeitsstatistik der deutschen Gewerkvereine
(Hirsch-Duncker) fiir das Jahr 1901. Nach den Angaben der Gewerbe-
lind Ortsvereine zusammengestellt, und mit Erläuterungen herausgegeben
Berlin 1901. Selbstverlag des Verbandes deutscher Gewerkvereine.
127 S. 4“.
23. Geschichte und Entwicklung der christlichen Gewerkschaften
Deutschlands und Protokoll des III. christl. Gewerkschaftskongresses zu
Krefeld. M.-GIadbach, Johann Gisberts 1901. in S. 8“.
24. Maier, Dr. Adam Karl. Der Verband der Glacehandschuh-
raacher und verwandten Arbeiter Deutschlands 1869 — 1900 (Wirtschafts-
und Verwaltungsstudien mit besonderer Berücksichtigung Bayerns. Heraus-
gegeben von Georg Schanz XII, Leipzig 1901). A. Deichert’sche Ver-
lagsbuchhandlung, Nachfolger. VIII. u. 391 S. S".
Ein Widerspruch ist nicht zu erwarten, wenn man behauptet, dafs
der gröfste Teil der hier genannten Schriften den meisten deutschen
Nationalökonomen nieht zur Kenntnis gelangt ist.- Die meisten dieser
Schriften sind im Buchhandel nicht zu haben, in keiner Biblio-
graphie verzeichnet, und doch ist ihre Kenntnis für diejenigen
wichtig, welche sich über die Gewerkschaftsorganisationen aus deren
eigenen Litteratur zu informieren beabsichtigen. Bekannter als diese
Broschüren sind wohl, dem Namen nach wenigstens, die Fachblätter
der deutschen Gewerkschaften. Aber deren Zahl ist so grofs, dass
es wohl kaum ein Dutzend Nationalökonomen giebt, welche schon
alle gesehen haben, geschweige denn sich über sie ein Urteil bilden
konnten. Die meisten der hier genannten Schriften, soweit sie von den
Gewerkschaften ausgehen , sind schon als Typen der Gcwerkschafts-
litteratur an sich interessant. So ist die zuerst genannte Schrift „der
deutsche Buchbinderverband etc.“ nur eine von vielen Schriften gleicher
Art, die von den Organisationen der Holzarbeiter, Schuhmacher etc.
herausgegeben wurden. Sie fallen meist durch eine aufserordentlich
elegante Ausstattung, vornehmen Umschlag, gutes Papier, klaren Druck,
Randleisten, Titelvignctten und dergl. auf. Sie sollen durch ihre äufsere
Erscheinung dem Empfänger, der sie gratis erhält, als ein nicht wert-
loses Objekt erscheinen, zum Lesen anreizen und verhüten, dafs sie
achtlos weggeworfen werden. Auf der ersten Seite der Agitationsschrift
des Buchbinderverbandes finden wir einen vierzeiligen gereimten Mahn-
ruf, sein Geschick selbst zu lenken. Auf der zweiten Seite findet sich
in auffallendem, aber nicht unschönem Druck eine Empfehlung, das
Schriftchen zu lesen und seinen Inhalt zu überlegen. Hierauf folgt eine
warm geschriebene Darstellung in populärstem Tone über den Zweck und
Nutzen der Organisation. Diese Abhandlung ist in eine grofse Anzahl
kleiner Abschnitte geteilt. Es werden da nicht nur die Gründe aufge-
zählt, welche für die Organisierung der Arbeiter sprechen, sondern auch
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Neue Litteratur von und über Gewerkschaften.
251
die speziellen Zwecke der Buchbinderorganisation und ihre Leistungen
für die einzelnen Unterstützungszweckc erörtert. Den Schlufs des Schrift-
chens bildet ein leicht auszulösender Schein „Anmeldung zur Aufnahme“.
Die Thatsache, dafs der Buchbinderverband schon mehrere Schriftchen
dieser Art veröffentlicht hat, scheint dafür zu sprechen, dafs diese Form
der Agitation ihre Früchte getragen hat. Die Agitationsschriften anderer
Verbände gleicher Art sind nicht immer genau nach diesem Schema
gearbeitet. So ist z. B. ein kurz vorher erschienenes Schriftchen des
deutschen Holzarbeiterverbandes einer besonderen Besprechung wert.
In Briefen aus dem Arbeiterleben, „Auf der Walze“ (2), werden die
Anlässe auseinandergesetzt, die den Arbeitern die Zugehörigkeit zur ge-
werkschaftlichen Organisation wertvoll machen, dann welche Vorteile
speziell der Holzarbeiterverband seinen Mitgliedern bietet. Die Schrift
ist geschickt und gewandt, aufserordentlich populär aber nicht flach
geschrieben, so dafs der vom Verfasser erwartete Erfolg sich einstcllen
dürfte.
Eine ältere Form der Agitation für den Beitritt zu den Gewerk-
schaften bildet das gewöhnliche Flugblatt, dafs die äufsere Gestalt der
bekannten Wahlflugblätter hat. In dem hier unter 3 als Muster ge-
nannten wird an die heutigen zollpolitischen Streitfragen angeknüpft,
dann an die Andeutungen von Bundesratsvertretern erinnert, dafs eine
stärkere Besteuerung des Bieres in Betracht gezogen werde. Hieran
knüpft sich eine Schilderung der dadurch für die Arbeiter des Brauer-
gewerbes zu gewärtigenden Gefahren an. Die Resultate und die Absichten
der Organisation werden dargelegt und dann zum Beitritt in dieselbe auf-
gefordert.
Als achtscitigcs Flugblatt, das dem gleichen Zwecke dient, sucht „ein
Mahnruf in ernster Zeit“ (4) die Metallarbeiter Oesterreichs der Organi-
sation zuzuführen. Das Flugblatt ist in einem warmen Tone gehalten,
unterscheidet sich von dem der Brauer in seinem Aufbaue vor allem
dadurch, dafs es das Verzeichnis sämtlicher Adressen des Verbandes der
Landes- und Bezirksvertrauensmänner sowie aller Ortsgruppen im lande
enthält. Es sei bei dieser Gelegenheit darauf hingewiesen, dafs die
meisten gröfseren deutschen Gewerkschaften ein- oder zweimal im Jahre
in eigenen Broschüren Adressenverzeichnisse ihrer Organisationen ver-
öffentlichen, die abgesehen von dem praktischen Werte für die Mitglieder,
vor allem für die auf der Reise befindlichen, auch ein nicht uninteres-
santes Material für denjenigen darstellen, der die topographische Ver-
teilung der Gewerkschaften in Deutschland feststellen wollte. Das
Material liefse sich ziemlich genau und vollständig für alle deutschen
Gewerkschaften erhalten, denn dort wo besondere Adressenverzeichnisse
in selbständiger Form nicht herausgegeben werden, finden sich diese von
Zeit zu Zeit in den Fachblättern. Da die Vierteljahrsabrechnungen der
deutschen Gewerkschaften die einzelnen Mitgliedschaften gesondert an-
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Liltrratur.
252
führen, licfscn sich auch für jeden Ort im Deutschen Reich die Mit-
gliederzahl der einzelnen Gewerkschaften und durch Summierung der
betr. Zahlen die Gesamtzahl der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter
unschwer feststellen. Diese Methode ist nicht frei von Kehlen |uellen,
auf die näher einzugehen, hier aber nicht notwendig erscheint, umso-
weniger als sie an dem an sich wertvollen Resultate nicht viel ändern
würden.
Einen neuen interessanten Typus der deutschen Gewerksehaftslitteratur
werden bald die Jahresberichte der Gewerkschaften bilden. Bisher war
es blofs üblich, dufs anläfslich der Generalversammlungen die Vorstände
einen in der Regel gedruckten Bericht der Generalversammlung vor-
legten, der dann durch Vermittlung der Fachzeitungen und der Proto-
kolle den Mitgliedern zur Kenntnis gebracht wurde. Diese Berichte be-
handelten in der Regel die Ereignisse von zwei Jahren, sie werden mit
der steigenden Bedeutung der Gewerkschaften immer umfangreicher, so
nimmt der Bericht des Vorstandes des deutschen .Metallarbeiterverbandes
an die Generalversammlung in Nürnberg (tooil 136 Seiten engen und
zum 'Teil tabellarischen Druckes ein. Dies hat dazu geführt, dafs künftig
der deutsche Metallarbeiterverband besondere Jahresberichte herausgeben
wird. Ihm vorangegangen sind der Seemanns-V erband in Deutschland und
der deutsche Buchbinderverband, der in einer sehr schön aasgestatteten
Schrift (5.1 Jahresberichte über die Organisation zu publizieren beginnt.
Gerade dieser Jahresbericht ist nicht nur als eine wichtige Form der
deutschen Gewerksehaftslitteratur zu erwähnen, sondern auch um deswillen
besonders bemerkenswert, weil er, wenn auch leider nur in sehr gedrängter
Kürze, eine Uebcrsieht über die bisherigen Leistungen der deutschen
Buchbinderorganisation voranschickt. Das Interesse an der Geschichte
der eigenen Organisation ist in den deutschen Gewerkschaften ein weit-
verbreitetes, wir besitzen, abgesehen von den Arbeiten Sclimoelcs,
Kulemanns und Maiers Schritten, die aus den Kreisen der Gewerk-
schaften hervorgegangen, diesem Zwecke dienen, so eine Geschichte der
Maurer-, der Bergarbeiter-, der Bäckcrltcvvegung. Seit vielen Jahren
arbeitet Üringmann an einer Geschichte der Zimmererbewegung, auf dem
letzten Mctallaibeiterkongrcs.se ist die Anregung gegeben worden, die
Geschichte der Metallarbeiterorganisation zu schreiben. Einem künftigen
Historiker der Gewerkschaftsbewegung werden die nun wohl in allgemeine
lebung kommenden Jahresberichte der Zentralverbände von grofsem
Nutzen sein. In detn Berichte des Buchbinderverbandes findet sich
auch die für weitere Kreise sehr interessante Vorgeschichte der Ein-
führung des Burlibindertarifes und tler Abdruck desselben. Hieran
schliefst sich eine Darstellung der Lohnbewegungen des Verbandes, eine
l'ebersicht über die Unterstiit/ungsleistungcn desselben, eine Reihe Er-
hebungen der Organisation sowie endlich schön gegliedert ein Rechen-
schaftsbericht über die Thätigkcit des Vorstandes und des Verbandes.
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Neue Lilteratur von und über (jewirksch-illun.
Bieten die Rechenschaftsberichte der Zentral verstände dei (icvverk-
schaften einen Veberblick über die Leistungen der Organisationen in ihrer
Gesamtheit, so kommen doch viele feine Züge ans dem Wirken der Gewerk-
schaften dabei nicht in Erscheinung. Oie grofsen Leistungen der Organi-
sationen in ihren einzelnen Zahlstellen , sind daraus nicht zu erkennen.
Von den lokalen Verwaltungsstellen hör t man nur, was sie finanziell geleistet
haben, falls kein Streik oder sonstige Differenzen bei ihnen vorgekomtnen
sind. Des^o erfreulicher ist es, dafs, wenn auch nur ganz vereinzelt,
auch grofsere Verwaltungsstellen beginnen, Jahresberichte herauszugeben.
So enthält der Jahresbericht der Zahlsteile Stuttgart des deutschen Holz-
arbeiterverbandes (6| interessante Mitteilungen über die Vereinbarungen
und Tarife, die als Ergebnis des grofsen Stuttgarter Schreinerstrikes
zwischen den Organisationen der Mobeifabrikanten und der Holzarbeiter
abgeschlossen wurden und über die Bemühungen und Kämpfe diese Ab-
machungen in Kraft zu erhalten. Im Zusammenhänge damit wurden
interessante Erhebungen über die Einwirkung des Akkordlohns)- temes auf
das Einkommen der Arbeiter gemacht, dabei auf einem freilich nicht um-
fangreichen Materiale fufsend fcslgcsiellt, dafs die Arbeiter in nicht wenigen
hallen im Stücklöhne weniger verdienten als im Zeitlöhne. Für das
innere Leben der Gewerkschaften ist die Uebersicht der Vorträge lehr-
reich, die in den Zahlstcllenversammlungen und in den beruflich ge-
schiedenen Sektionen gehalten wurden. Im ganzen sind es 2 ; Vorträge,
von denen wir einige nennen wollen: „Ferdinand Lassalle", „Die Auf-
gaben der Gewerkschaften“, „Der Arbeitsvertrag", „Die gegenwärtige
Wirtschaftslage", „Die Arbeitszeitverkürzung, eine Forderung der Kultur“,
„Der Wert der Statistik“, „Das Resultat der statistischen Erhebung im
Stuttgarter Drechslergewerbe“, „Die Pariser Weltausstellung“, „Afrika und
seine Kolonien", „Die Pflege der Zähne“, „Die Volksschule“, „Friedrich
List , der süddeutsche Nationalbkonom“, „Die Verbreitung und Ver-
wendung einiger wichtiger Kulturpflanzen im Altertum und in der
Neuzeit". Man sieht hieraus, dafs nicht nur die der Gewerkschaft
nächstiiegenden Gegenstände sondern auch Themen aus dem Ge-
biete der allgemeinen Bildung besprochen werden. Ferner findet
man in dem Berichten eine Uebersicht über die Leistungen der
Organisation, über ihre Kasscnverhältnisse, über die Vorgänge in den
einzelnen Sektionen, über besondere Differenzen mit einzelnen Unter-
nehmern. Den Schlnfs des Schriftchens bildet die Kritik einer Reihe
von Stellen aus dem Jahresberichte der Handels- und Gewerbekammer
in Stuttgart für 1S99, soweit sic die Holzindustrie betreffen. Die Lokal-
kassc schliefst mit einer Einnahme von 13234 Mk. 65 Pf., eine be-
merkenswert hohe Summe, da am 1. Januar 1900 infolge der voran-
gegangenen Strikebewegung kein Kasseubestand , ja im Gegenteil ein
Defizit vorhanden war. Von dieser Einnahme waren blofs 5497 Mk.
85 Pf. der Anteil der Zahlstelle an den Vcrbandseinnahmen für Stutt-
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254
Littcratiir.
gart, somit der überwiegende Teil der Einnahman besondere Leistungen,
die aus der Abrechnung des Verbandes und der Generalkommission
nicht zu erkennen sind. Die Ausgaben betrugen 7907 Mk. 20 Pf. so
dafs am t. Januar 1901 5327 Mk. 45 Pf. zur Verfügung der Lokalver-
waltung blieben. Wir würden wünschen, dafs in einem späteren Jahres-
berichte auch die Art und Stärke der Benutzung der Bibliothek durch
die Mitglieder und ihre Teilnahme an den Hochschulkursen erwähnt
würde. ^
Als ein umfangreiches Buch stellt sich uns das Protokoll der
V. Generalversammlung des deutschen Metallarbciterverbandes dar (7).
Dasselbe wird zu dem Preise von 10 Pf. an die Mitglieder abge-
geben. Bei dem grofsen Umfange dieser Veröffentlichung ist der Mangel
an Uebersichtlichkeit zu bedauern. Eis würde sich sehr empfehlen, so
dickleibige Gewerkschaftsprotokolle etwa nach dem Muster der Proto-
kolle über die Parteitage der sozialdemokratischen Partei zu veröffent-
lichen, die neben Sprechregistem auch Sachregister enthalten und aufser-
dern über jeder einzelnen Seite de» Inhalt derselben setzen. Die
Generalversammlungen erörtern in der Regel fast alles, was das Gewerk-
schaftsleben anlangt. Man kann deshalb aus ihnen sehr viele Belehrung
erhalten, wenn sie freilich auch nicht geeignet sind, als Spiegelbild des
Lebens innerhalb der Gewerkschaften selbst zu erscheinen. Da uns aber
eine Littcratiir dieser Art völlig abgeht, so werden noch auf lange Zeit
hinaus die Berichte der Gewerkschaftskongresse als wichtigstes Surrogat
zu betrachten sein. Einen grofsen Teil des Protokolls nimmt der Be-
richt des Vorstandes ein, dessen wir schon Erwähnung gethan haben.
Ihm sind voran geschickt die Anträge zur Generalversammlung, die
nicht weniger als 21 Seiten umfassen, und deren stattliche Zahl von 233
einen Riickschlufs auf die Selbständigkeit und das geistige Leben in
den Mitgliedschaften ermöglicht. Wir können selbstverständlich nur an
Beispielen dies begründen. So wird in den Anträgen zur Tagesordnung
u. a. die Besprechung der Fabrik- und Gewerbeinspektion, der Wahl von
Assistenten zur Gewerbeinspektion durch die Arbeiter, der Zollpolitik,
der sozialpolitischen Aufgaben des Verbandes gefordert. 1 1 Anträge
beziehen sich auf den Ausbau der Metallarbeiterzeitung, 18 auf die
Agitation, 8 auf die Taktik, 12 auf die Aenderung des Unterstützungs-
wesens, wozu noch 7 gehören, die die Frage des Umzugsgeldes genau
geregelt wissen wollen. 75 weitere Anträge zu bestimmten Paragraphen
des Statuts gestellt, empfehlen andere Fassungen der Unterstützungs-
bestimmungen. F.ine ganze Reihe weiterer Anträge war veranlafst durch
das Bestreben den Beamten des Verbandes im Falle der Invalidität
Pensionen zu sichern. Weitere Anträge erstrebten die V'ornahine von
statistischen und anderen Erhebungen durch den Verband, die Errichtung
eines Verbandsarchivs mit Registratur, Anregungen, eine Geschichte des
Metallarbciterverbandes vorzubereiten und zu schreiben etc. Aus dem
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Neue Litteratur von und über Gewerkschaften.
255
Rechenschaftsberichte können wir nur die interessante Berufsstatistik des
Verbandes, die Tabellen Uber die Agitationskosten, über die starke
Fluktuation der Mitglieder, über das bezahlte Reisegeld hervorheben,
das wieder berufsstatistisch geordnet ist, was auch für die Statistik, ülrer
die anderen bezahlten Unterstützungen gilt. Eine weitere Tabelle giebt
Rechenschaft über den Rechtsschutz. Hierauf folgt eine Berichterstattung
sehr interessanter Art über die Metallarbeiterstrikes im Jahre 1899 und
1900, über die Beziehungen zu den anderen Arbeiterorganisationen auf
nationalem wie internationalen Boden, die Arbeitsnachweise werden erörtert
und endlich der Rechnungsabschiufs gegeben, der zeigt, dafs dieser Ver-
band iin Jahre 1900 allein an Mitgliedsbeiträgen 1 145683 Mk. 80 Pf.
eingenommen hat. Die Ausgaben des Verbandes in diesem Jahre be-
trugen 1 007 776 Mk. 52 Pf. Auf die Verhandlungen selbst cinzugehen,
würde über den Rahmen dieser Uebersicht gehen. Erwähnt sei nur, das
vortreffliche Referat des aus dem Metallarbeiterberufe hervorgegangenen
Nürnberger Arbeitersekretärs Reichstags- und Uandtagsabgeordneten Martin
Segitz über die Agitation der Gewerkschaften, das als besondere Schrift (8)
in einer Auflage von 50000 Exemplaren zur Verteilung an die Mitglieder
gedruckt wurde. Den Schlufs des Protokolles bildet das auf der General-
versammlung stark veränderte Statut des deutschen Metailarbeitervev-
bandes, das gleichfalls in einer besonderen Ausgabe erschienen ist und
jedem Mitgliede zugestellt wurde.
Obgleich lediglich praktischen Verwaltungszwecken der Zimmerer-
gewerkschaft gewidmet, hat die Schrift von Bringmann (9) sehr grofse
Bedeutung für jedermann , der sich über Werden und Wirken der
Zahlstellen der deutschen Zentralverbände informieren will. In der
Vorrede zur Schrift findet sich der folgende Satz: „Das gewerkschaft-
liche Leben ist soweit gediehen , dafs zu einem erfolgreichen Ein-
greifen in dasselbe bestimmte Vorkenntnisse gehören, deren Erwerb
bei der bisherigen Sachlage nicht einfach war. Die immense Fluktuation
in der Gewerkschaftsbewegung läfst die gemachten Erfahrungen zum
gröfsten Teil immer wieder verloren gehen, solange die l'eberlieferung
auf die mündliche Uebertragung von Person zu Person angewiesen ist.“
„Das Büchlein bietet mehr als nur einfache Anweisungen; es giebt die
Mittel an die Hand, sich im gewerkschaftlichen Leben zurechtzufinden,
um bei den verschiedensten Vorkommnissen die erforderlichen praktischen
Mafsnahmcn treffen zu können.“ Das Buch gründet sich auf die ge-
machten Erfahrungen in der Organisation, ist aus dem I.eben, für
das Leben geschrieben. Es ist somit nicht blofs eine Anleitung über
die Art, wie künftig im Zinunererverbande gearbeitet werden soll, es
zeigt nicht minder, wie bisher der Zimracrerverband sich entwickelte.
Da die Schrift praktischen Zwecken dient, ist sie selbstverständlich
lediglich von diesem Gesichtspunkte aus geschrieben, sie enthält so
manches nicht, worüber sich derjenige unterrichten will, der das innere
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Litternlur.
256
Leben der Gewerkschaften zu studieren beabsichtigt. Ist sie nach dieser
Richtung nicht vollkommen,' so enthält sie doch für diese Zwecke aufser-
ordentlich Vieles. Ueber Anbahnung und Gründung der Ycrbandszahl-
stcllen über die Leitung und F.rhaltung derselben, wie die Lohn-
bewegungen angeregt und zu Knde geführt werden sollen, bietet die
Schrift sehr viel Material und so manchen Aufschluß der vielen neu
sein wird, die bisher über die Gewerkschaften mündlich und schriftlich
geurteilt haben. Man lernt auch aus dieser Schrift, dafs die Gewerk-
schaften nicht so einfache Organismen sind, wie ihr Fernstehende oft
vermuten, und erhält auch aus dieser Arbeit eines der Leiter der Ge-
werkschaften ein Urteil über die geistigen Kräfte, die in denselben
wirken. Wir bemerken nur, dafs ähnliche Schriften von anderen deutschen
Gewerkschaften vorangegangen sind, so vom Metallarbeiter- und Holz-
arbeiterverband, vom Unterstützungsverein der Kupferschmiede etc., die
z. T. noch interessanter sind, weil der Zimmererverband ein weniger
ausgebildetes Unterstützungswesen hat als z. B. der Metallarbeiterverband.
Für das Jahr 1000 hatte der deutsche Holzarbeiterverband zum
erstenmal einen Almanach für seine Mitglieder herausgegeben. Dieser
Kalender erscheint nun im dritten Jahre und für das Jahr 1902 sind
eine Reihe weiterer Kalender für andere Berufe zum crstenmale er-
schienen. Diese Kalender sind auch für die aufserhalb des Berufes
Stehenden nicht ohne Interesse. Sic werden zuin Teil zu Quellen für
die Geschichte der deutschen Gewerkschaften. Die drei Almanache des
deutschen Holzarbeitervcrbandcs enthalten eine ganze Reihe sonst nicht
käuflicher Materialien, so Statuten, Strikereglements und andere Ver-
öffentlichungen für die Vcrwaltungszwecke des Verbandes, dafs sie schon
dadurch zu wichtigen Informationsquellen über die deutsche Gewerk-
schaftsbewegung werden. Der Jahrgang für das Jahr 1892 (10) ist da-
durch bedeutungsvoll, dafs er eine ganze Reihe Materialien zur Ge-
schichte der Holzarbeitcrorganisationen beibringt, so eine Biographie des
Tischlers Theodor York, des hervorragendsten Gewerkschaftsorganisators
in der Zeit vor Verhängung des Sozialistengesetzes, dann finden wir einen
Abrifs über die internationalen Kongresse der Holzarbeiter und über
die 10 Jahre 1885 - 1893, in denen der Tischlerverband, der Vorläufer
des Holzarbeiterverbandes existierte. Die Mitglieder des Verbandes er-
halten aus dem Kalender auch sonst noch mannigfache Belehrung, nicht
nur über die V erhältnisse in der eigenen Organisation, über die Pflichten
und Rechte der Mitglieder, über die finanziellen Verhältnisse des Ver-
bandes, sondern auch ein kleines Lexikon des gewerblichen Rechtes,
Informationen über die Arbeiterversicherungsgesetze, technische Notizen
neben dem sonst üblichen Kalendermateriale.
Die drei anderen oben genannten Kalender haben neben dem
Kalendermaterial gemeinsam einen Abrifs über die neuen Arbeiterschutz-
bestimmungen, über das Unfallliirsorgegesetz, statistische und andere bc-
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Neue Littcralur von und über Gewerkschaften -57
lehrende Artikel über die Arbeiterbewegung, über Reichstag und Bundes-
rat , Adressenrnaterialien , auch eine Zusammenstellung der Adressen
der deutschen Gewerbeins|>ektoren , dann alter jeder Kalender den
speziellen Beruf betreffende Beiträge. Aus dem Kalender des Metallarlteiter-
verbandes (11) ist hervorzuhelren , ein geschichtlicher Abrifs über die
deutsche Metallarbeiterbewegung, das Gleiche enthält auch der Kalender
lür die Berg- und Hüttenarbeiter (12), der auch eine Reihe Informationen
über die gesetzlichen Bestimmungen, über Bergämter und Berginspektoren
eine Uebersicht derselben sowie auch über die Berggewerbegerichte, die
Knappschaftsberufungsgenossenschaft, die berg- und hüttenmännischen
Lehranstalten enthält. Von liesonderem Interesse wird für diejenigen,
die den tarifarischen Abmachungen innerhalb der Gewerkschaftsbewegung
Aufmerksamkeit schenken, der Malerkalender (13) sein, der zwar nicht
vollständiges aber doch reichliches und gut informierendes Material über
die Lohn- und Arbeitsverträge enthält, die zwischen der Arbeiterorganisation
und den Innungen sowie I-ohnkommissionen der Unternehmer geschlossen
wurden. Hieran schliefst sich eine Nachweisung über die Erhöhung des
Stundenlohnes und des Tagesverdienstes, sowie eine Uebersicht über die
Verkürzung der Arbeitszeit infolge der Lohnbewegung in den Jahren
1 890 — 1900. So scheinen die Jahresberichte der Gewerkschaften er-
gänzt zu werden durch die Almanache und Kalender.
Die Differenzen zwischen der sozialdemokratischen Partei und einem
Teil der Gewerkschaften über die Behandlung der Hamburger Akkord-
maurer, die auf dem Lübecker Parteitage von 1901 ihre Erledigung ge-
funden hatten, zeitigten eine kleine Litteratur. Ein grofser Teil (S. 205
bis 259) des Protokolles des Parteitages der sozialdemokratischen
Partei zu Lübeck wird von diesen Verhandlungen ausgefüllt. Vorher
erschienen zwei Schriften, von denen eine den Standpunkt des Hamburger
Gewerkschaftskartells (14) darlegt, während die andere die Aktenstücke
über den Schiedsspruch und einige Prefsäufserungen enthält 15). Blofs
als Formen der Litteratur über die Gewerkschaften seien diese Schriften
auch an dieser Stelle angeführt.
Die Schrift von G. Wollmann, der Kampf um das Vermögen, des
Verbandes der Porzellan- und verwandten Arbeiter (161 bespricht einen
aufserordentlichen interessanten Prozefs um das Vermögen des Porzellan-
arbeiterverbandes, das als Depositum bei der Reichsbank hinterlegt war,
aber wegen des Todes des früheren Kassierers nicht behoben werden
konnte. So wenig erfreulich der Inhalt dieser Schrift ist, so ist sie doch
bemerkenswert, weil sie die Schwierigkeiten zeigt, in die die Gewerk-
schaften liei ihrer Vermögensverwaltung kommen können. Jedenfalls
ist die Kenntnis dieser Schrift für alle Gewerkschaften erforderlich, da-
mit sie sich den geschilderten Gefahren nicht aussetzen. Dieser Prozefs
wäre nie nötig gewesen, wenn die Gewerkschaften ihre Goldbestände
unter eigenem Namen anlegen könnten. Da aber heute als Deponenten
Archiv für %oi. Geiet/gebung u. Statistik. XVII. 17
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258
Litteratur.
immer Personen vorgeschoben werden müssen, so ist der Besitz der
Arbeiterorganisationen Zufälligkeiten ausgesetzt. In England hat dieser
Mifsstand längst zur civilrechtlichen Anerkennung der Gewerkschaften
geführt. Auf Grund des B.G.B. ist dies im deutschen Reiche wohl auch
möglich, aber mit so vielen Gefahren für den Bestand der Gewerk-
schaften verknüpft, dafs keine einzige von den Vorteilen des Gesetzes
Gebrauch machte.
Ein lebhaftes Interesse widmen die Bauarbeiter den speziellen Fragen
des Bauarbeiterschutzes. In fast allen Landesteilen haben sie Landes-
oder provinziale Bauarbeiter -Schutz-Kommissionen gegründet, aufscrdem
an vielen Orten lokale Kommissionen dieser Art, die alle Mängel der Bau-
ausführung, die Ursachen der Unfälle u. dgl. festzustellen suchen, überaus
eifrig Eingaben an die Behörden richten zur Abstellung der Mängel und
zur Verbesserung der Bauvorschriften und Unfallverhütungsvorschriften und
Aehnlichem. Aber nicht nur hierauf richtet sich ihre Thätigkeit, sondern
auch auf die Belehrung ihrer Mitglieder über das bestehende Recht auf
diesem Gebiete. Eine ganze kleine Litteratur hat dieses Streben
gezeitigt. Mit dem Beispiele vorangegangen ist der Töpfer C. Hcinke
(nunmehr Sekretär der zentralen Bauarbeiter-Schutz-Kommission für das
deutsche Reich in Hamburg), der ein kleines Büchelchen „Der bau-
gewerbliche Arbeiterschutz im Königreiche Sachsen“ erscheinen liefs, das
blofs 5 Pf. kostete und alles Zweckdienliche enthielt.
Die neue Schrift über den Bauarbeiterschutz in Sachsen (17) bespricht
in einer Einleitung die Bedeutung dieses Zweiges des Arbeiterschutzes,
sie stellt als Forderungen für den Erlafs eines Arbeiterschutzgesetzes
im Baugewerbe durch die Rcichsregierung : ein Baugewerbeinspektorat
unter gleichberechtigter Mitwirkung der Arbeiter, eine Reform des
Unfallversicherungsgesetzes, wodurch gleichberechtigte Mitwirkung der
Arbeiter in der Verwaltung der Baugewerksberufsgenossenschaften wie
UeberWachung der Betriebe sichergestellt wird, auf. In besonderen Ab-
schnitten werden dann unter Anführung der Gesetzestexte behandelt : Der
baugewerbliche Arbeiterschutz der Gewerbeordnung für das deutsche
Reich, der baugewerbliche Arbeiterschutz des Strafgesetzes, Schutzmafs-
regeln aus dem sächsischen Baugesetze, die Verordnung für die Städte
Dresden und Leipzig, den Arbeiterschutz auf Bauten betreffend, ferner
eine Uebersicht über die Bauarbeiterschutzbestimmungen in anderen
Städten und Amtshauptmannschaften, die überaus interessant ist, weil sie
die Verschiedenheit der Anforderungen in verschiedenen Teilen des
gleichen Bundesstaates recht klar veranschaulicht. Hierauf folgen die
Forderungen der Arbeiter, bezüglich einer Aenderung der Unfallverhütungs-
Vorschriften im Baugewerbe. Dann wird auf die Bedeutung der Bau-
kontrollen durch die organisierten Arbeiter hingewiesen und ein For-
mular für die Erstattung von Anzeigen angefügt. Weiter finden sich in
dem Buchelchen praktische Winke zur Erhebung von Ansprüchen auf
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Neue Litteratur von und über Gewerkschaften.
259
Krankengeld oder Unfallrente, eine Reihe von Bestimmungen aus dem
Invaliditäts- und Altersvcrsicherungsgesetz, ein Formular für eine Steuer-
reklamation, eine Hilfstafel zur Berechnung der Einkommensteuersätze,
endlich ein Adressenverzeichnis. Und all dies wird dem Arbeiter von
seiner Organisation für den Preis von 5 Pf. geliefert. Die Bedeutung
dieses Schriftchens besteht aber nicht nur in ihrem Inhalte, sie gewährt
auch einen Rückschlufs auf eine bedeutungsvolle Seite der gewerkschaft-
lichen Bethätigung der Bauarbeiter.
Ein weiteres Schriftchen auf diesem Gebiete ist „Der Bauarbeiter-
schutz in Bayern“ (18). Dasselbe enthält zwei einleitende Aufsätze über
die Gefahren im Baugewerbe und die Notwendigkeit des Bauarbeiter-
schutzes, dann die bezüglichen reichsgesetzlichen Bestimmungen aus dem
Strafgesetzbuche, dem Bürgerlichen Gesetzbuche und der Gewerbeordnung,
sowie eine Uebersicht über den Inhalt der Unfallversicherungsgesetze,
hieran schliefsen sich die landesgesetzlichen Bestimmungen und zwar ein
Auszug aus dem Polizeistrafgesetzbuch für Bayern, aus der Bauordnung,
dann im vollen Wortlaute die oberpolizeilichen Vorschriften des Staats-
ministeriums des Innern zum Schutze der bei Bauten beschäftigten Per-
sonen und die Unfallverhütungsvorschriften der bayerischen Baugewerks-
berufsgenossenschaft. Als Anhang ist eine Anleitung zur ersten Hilfe-
leistung bei Unfällen vor Ankunft des Arztes angefügt. Den Schlufs
bildet die Aufforderung, alle Unfallsgefahren und Unfälle den lokalen
Bauarbeiterschutzkommissionen zur Anzeige zu bringen. Dafs solche
Schriftchen in kurzer Zeit, trotzdem sie in mehreren tausend Exemplaren
gedruckt werden und ihren Verbreitungsbezirk nur in kleinen Teilen
des Reiches haben, Neuauflagen erleben, spricht nicht nur für ihre Not-
wendigkeit, sondern auch für das gesunde Interesse der Arbeiter an den
Bestrebungen zur Herbeiführung eines ausreichenden Bauarbeiterschutzes.
Es darf nicht verkannt werden, dafs in Hinsicht auf den Bauarbeiter-
schutz eine Reihe von Fortschritten in den letzten Jahren zu verzeichnen
sind, so vor allem in Sachsen und Bayern, die nicht in letzter Linie der
ständigen Beschäftigung der baugewerblichen Arbeiter mit diesen Fragen
zu danken sind. Die intensive Agitation der Organisationen und
der Presse der Bauarbeiter läfst weitere Fortschritte auf diesem Gebiete
erhoffen.
Als eine neue Form der Bethätigung der deutschen Gewerkschaften
sind die Denkschriften an den Reichstag und Bundesrat über die Arbeits-
verhältnisse eines Gewerlres zu nennen. Den Anfang machte die Schrift
des Reichstagsabgeordneten Rieh. Calwer über die Berufsgefahren der
Steinarbeiter, cs ist mm eine zweite gefolgt, welche von neuem die
Aufmerksamkeit auf die traurigen Verhältnisse in der Konfektions-
industrie (19) lenken soll. Die Schrift erörtert auf Grund amtlichen
und nichtamtlichen Materiales zum Teil auch auf Grund von Er-
hebungen des Schneider-Verbandes die Arbeits- und Lebcnsverhält-
‘7*
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2ÖO
Littcratur.
nisse in der deutschen Konfektionsindustrie. Hieran schliefst sich ein
Abschnitt über den Arbeiterschutz in Hausindustrie und Heimarbeit
im Ausland, dann ein geschichtlicher Abrifs über die Bestrebungen der
organisierten Schneider im Interesse der Konfektionsarbeiter, eine histo-
rische Darstellung der deutschen Gesetzgebung zur Aenderung der Lage
der Konfektionsarbeiter und endlich eine Zusammenfassung der Forde-
rungen der Schneider an die Gesetzgebung.
Der Kntwurf eines Gesetzes zum Schutze der Arbeitswilligen hat in
Lübeck in einem wesentlichen Punkte für kurze Zeit Gesetzeskraft er-
langt durch eine Senatsverordnung über das Streikpostenstehen, deren
Rechtsgiiltigkeit sofort in Zweifel gezogen wurde. Diese Auffassung be-
stätigte das Reichsgericht. Vorher behandelte der Reichstag in seiner
208. Sitzung vom 11. Juli 1900 diesen Gegenstand aus Anlafs einer
Interpellation der Abgeordneten Albrecht und Genossen. Die Verhand-
lungen des Reichstages und die im Anschlüsse daran stattfindenden der
Bürgerschaft von Bremen vom 25. Juli tooo wurden im stenographischen
Wortlaute von den Lübecker Arbeiterorganisationen (20) veröffentlicht
und in einer grofsen Auflage verbreitet. Eine Besprechung dieser Schrift
erübrigt sich, es genügt, sie auch als eine charakteristische Erscheinung
der deutschen Gewerkschaftslitte ratur hier anzuführen.
Die deutschen Gewerkschaftsorganisationen haben schon manchen
Beitrag zur Sozialstatistik geliefert. Ueber ihren engen Kreis ist aber
selten von diesen I.eistungen Kunde gekommen. Ein beachtenswertes
Beispiel dieser Litteratur ist die Erhebung über die wirschaftliche Lage
der Arbeiter Hanaus <; 2 1 ). Sie zeichnet sich vorteilhaft vor voran-
gegangenen Arbeiten schon dadurch aus, dafs zwischen der Aufnahme
und der Veröffentlichung der Resultate blofs wenige Monate verstrichen
waren. Ebenso sticht sie vorteilhaft vor vorangegangenen Arbeiten da-
durch ab, dafs sie sich auf wenige und einfache Kragen beschränkt.
Der Fiagebogen ist auf Seite 87 abgedruckt, wir haben an ihm mit
Rücksicht auf die Zwecke, denen er dienen soll, blofs die mangelhafte
typographische Gliederung zu bemängeln. Dem F'ragebogen geht ein
Aufruf voran, in dem die Arbeiter und Arbeiterinnen aufgefordert werden,
die Fragen gewissenhaft zu beantworten, es wird weiter betont, dafs die
Statistik wahr sein mufs, dafs deshalb jeder seine Angaben durchaus
wahrheitsgemäfs zu machen habe. Bedauerlich ist, dafs der Fehler einer
früheren grofseren Erhebung ähnlicher Art wiederholt wurde, indem man
auf die Benennung der befragten Personen verzichtete. Mag es sein,
dafs die daraus entstehende Gefahr falscher Angaben nicht zu grofs ist,
jedenfalls begiebt man sich damit der Möglichkeit jeder Kontrolle und
setzt den Wert der Erhebung bedeutend herab. F'ür die vorliegende
Erhebung hat sich diese „Vorsichtsmafsregel“ als unnötig herausgestellt,
denn zahlreiche Personen haben sich die Fragebogen von der „statistischen
Kommission des Gewerkschaftskartells Hanau“ ausfüllen lassen.
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Neue I.itteratur von und (Iber Gvwerkscliaftcn. 26 1
Was nun die Resultate der Erhebung anlangt, so zeigen sich viel-
fach Mängel darin, dafs manche an sich sehr einfache Fragen von vielen
Arbeitern nicht beantwortet wurden, so vornehmlich von den Arbeite-
rinnen die Frage nach dem Preise der Schlafstellen. Die Beteiligung der
Arbeiterinnen (177) blieb weit hinter der der Arbeiter (2205) zurück. Es
finden sich die Verhältnisse der Arbeiter in 34 Berufen, wobei vielfach
die Verhältnisse der Gelernten und der Ungelernten geschieden wurden,
geschildert. Auch die I-agc der Frauen wird bei jedem der vier
Berufe, über die Angaben von ihnen vorliegen, besonders dargestellt.
Die Gesamtresultate werden für die Arbeiter wie für die Arbeiterinnen
besonders zusatnmengefafst. Wir heben aus diesen Abschnitten besonders
hervor, das Kapitel über die Mitarbeit der Frau, über die Arbeitszeit
und die Zimmermiete der Ledigen. Die Arbeit ist nicht nur interessant
als ein Beispiel statistischer Erhebungen durch die Gewerkschaften,
sondern auch die Resultate sind beachtenswert und in der sozialpoliti-
schen Diskussion verwertbar. Bedauerlich ist bei dem regen Eifer der
Arbeiterorganisationen für statistische Erhebungen, dafs sie nicht immer
so einfach vorbereitet und gut ausgeführt werden, wie die vorliegende,
und dafs eine Einheitlichkeit und damit eine Vergleichbarkeit der Re-
sultate verschiedener Erhebungen meist nicht vorhanden ist.
Die Statistik der Hirsch-Dunckcrschen Gewerkvereine erschien in
diesem Jahre zum 17. Male. An Umfang und an Zahl der Bericht-
erstatter hat sie unzweifelhaft im laufe der Jahre gewonnen, aber an
dem Urteile der Kritik kann sich wenig ändern. Auf den ersten An-
blick besticht die Arbeiterstatistik der deutschen Gewerkvereine , bei
näherem Zusehen fühlt man sich aber immer enttäuscht. Sicherlich
wäre es eine aufserordentliche Leistung, wenn wir aus ca. 500 Orten im
deutschen Reiche Auskünfte über den durchschnittlichen Wochenlohn
für erwachsene und jugendliche Arbeiter, über die Verbreitung des Ak-
kordlohnsystems, über den Wochenverdienst der Akkordlöhner, geschieden
nach Berufen, erhielten, wenn wir erfahren würden, ob die Löhne gestiegen,
gefallen oder stehen geblieben sind, wenn wir über die Länge des durch-
schnittlichen Arbeitstages, über Vorkommen und Dauer der Ueberarbeit Ge-
naueres erfahren würden. Dabei sehen wir ganz von der „freiwilligen Arbeits-
statistik“ ab, die über Arbeitsnachweis, Reiseunterstützung, Uebersiedelungs-
beihilfe, Arbeitslosigkeit und deren Unterstützung sowie über die Arbeits-
verhältnisse der Arbeiterinnen Auskunft geben soll. In Wirklichkeit sind
diese Publikationen nicht Ergebnisse statistischer Untersuchungen, sondern
lediglich die Zusammenstellungen von Urteilen einzelner über die Ver-
hältnisse eines Ortes, die in statistische Form gebracht werden. Der
Ortsverein bekommt einen F'ragebogen und ein beauftragtes Mitglied soll
dann über alle diese Fragen Gutachten abgeben. Wären einfache Ar-
beiter hierzu imstande, dann könnte man sich wahrlich ajt der Ausgaben
unserer amtlichen Statistik sparen.
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2Ö2
I.itteratur.
Aber auch wenn man durch die Mangel der Methode nicht abge-
schreckt wird, sieht man, dafs diese Zahlen nicht vorsichtig genug ge-
braucht werden können. Betrachten wir des Beispiels wegen die An-
gaben des Gewerkvereins der deutschen Maschinenbauer und Metall-
arbeiter für Berlin. Die Angaben aus io Ortsvereinen liegen vor. Es
ist nicht anzunehmen, dafs die Du r ch sc h n i 1 1 e der Löhne der Metall-
arbeiter in einer Stadt so sehr abweichen können, wie es diese Statistik
darstellt. Wir finden z. B. für jugendliche Arbeiter als durchschnitt-
lichen Wochenlohn angegeben: io — 12, 12, 12, 23, 14, 17,50, 18 Mk.,
dann für männliche Lehrlinge: 3, 3 — 10, 4,50, 6, 5, 5, 6 und 7,50 Mk.
Am klarsten tritt die Wertlosigkeit der Angaben für die erwachsenen
Arbeiter in Erscheinung. Da wird in Berlin 9 für Dreher, Schlosser,
Schmiede, Former, Heizer ein Durchschnittslohn von 21 — 30 Mk. an-
gegeben. Wer nur einmal die Lohnlisten einer grofsen Fabrik gesehen
hat, weifs, dafs ein Heizer und ein Former nicht gleich bezahlt werden,
und es gilt dies auch für die übrigen Kategorieen der Metallindustrie,
wenn auch nicht in gleichem Mafse. Wie kann man da aus diesen so
durchaus verschiedenen Berufsgruppen einen Durchschnitt ziehen und
was lehrt endlich ein Durchschnitt (!) von 21 — 30 Mk. Was soll es
bedeuten, wenn Maschinenbauer und Hilfsarbeiter, also wiederum zwei
durchaus verschieden entlohnte Gruppen in Berlin zusammengestellt
werden, und für sie ein Durchschnittslohn von 21 — 24 Mk. angegeben
ist. Bei Berlin 3 ist ein durchschnittlicher Wochenlohn für „Hand-
werker" mit 24 Mk. in Berlin 6 mit 27 Mk. angegeben, in Berlin 3
für Hilfsarbeiter 16,50 Mk., in Berlin 6 23 Mk., während in Berlin 8
Maschinenbauer und Schlosser nur 21 Mk. durchschnittlichen Wochen-
lohn erhalten sollen. Diese Zahlen allein beweisen schon, dafs diese
Methode eine durchaus unfruchtbare ist.
Der Wert, ja die Notwendigkeit der Statistik für Gewerkschaften
kann nicht geleugnet, aber die Schwierigkeiten sollten auch nicht
unterschätzt werden, andererseits soll aber auch nicht aus Ueber-
schätzung dieser Schwierigkeiten etwas geleistet werden, was nur nach
Statistik aussicht, aber keine Statistik ist. In seinen Erläuterungen be-
merkt der V’erbandsanwalt : „Dafs zumal für die praktischen Bedürfnisse
der Verbandsgenossen selbst — und für diese ist doch unsere Statistik
in erster Reihe bestimmt — die Kenntnis solcher von den Ortsvereinen
angegebenen Durchschnittssätze aus allen Berufen und aus allen Teilen
Deutschlands weit besser ist, als nur gelegentliche individuelle Aus-
künfte oder gar blofse Gerüchte.“ So richtig das an sich auch sein
mag, so doch wiederum nur in der Theorie, in der Praxis wird mit
den von uns angegebenen Zahlen aus Berlin kein Maschinenbauer etwas
anzufangen vermögen. Es sei übrigens bemerkt, dafs die gleiche Be-
obachtung, die wir für Berlin gemacht haben, sich auch für die anderen
Orte, die mehrere Ortsvereine besitzen, wiederholt. Dafs auch der Ar-
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Neue Littcratur von und über Gewerkschaften. 263
beiter der von einem Orte nach dem anderen zieht, sehr wenig Nutzen
davon hat, wenn er lur die meisten Orte Durchschnitts] ohne für die
„Metallindustrie" findet aber nicht erfährt, was ein Schlosser oder ein
Feinmechaniker, ein Rotgiefser, ein Werkzeugmacher, ein Modellschreiner,
ein Feilenhauer, ein Drahtzieher, ein Zainer erhält. Hieraus ergiebt
sich, dafs der praktische Wert dieser Statistik für die Gewerkvereins-
mitglieder nicht gröfser ist, als der Nutzen, den der Sozialstatistiker aus
ihr ziehen kann. Dr. Max Hirsch verschliefst sich nicht der Kritik, er
sagt: . . Die ganze Methode aber mufs offenbar den besonderen Ver-
hältnissen angepafst sein. Wir wissen sehr wohl, dafs namentlich für
die Lohnstatistik das absolut beste Verfahren, das des Individualnach-
weises, desgl. der speziellen Zählkarten für jeden einzelnen Arbeiter und
zwar ein ganzes Jahr umfassend bildet. . . . Allein die Frage mufs mit
Rücksicht auf die Bereitwilligkeit der (1894) 67000 (jetzt 92000) Mit-
glieder , sich der rechtzeitigen und zuverlässigen Ausfüllung des Zähl-
karten zu unterziehen, als auch aus der übergrofsen Zeit, Kraft und
Kostenaufwendung einer angemessenen Bearbeitung und Veröffentlichung
verneint werden.“ Meiner Meinung nach bedeutet dies doch ein recht
geringes Vertrauen in die eigene Kraft. Die Hirsch-Dunckerschen Ge-
werkvereine wiederholen ihre Erhebung blofs alle drei Jahre, würden sie
sich auf das allernotwendigste bei der Befragung beschränken, auf etwa
10 Fragen, von denen zwei bis drei als Kontrollfragen für die Ver-
arbeitung nicht in Betracht kämen, so ist nicht abzusehen, warum bei
dem finanziell guten Stande der Gewerkvereine eine Erhebung auf Grund
von Individualfragebogen nicht vorzunehmen wäre. Eine andere Frage
ist freilich die, ob überhaupt eine Sozialstatistik einer Organisation wie
die der Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine, von Wert ist. Scheiden
wir die Metallarbeiter aus, so ist die Zahl der Mitglieder der Hirsch-
Dunckerschen Gewerkvereine eine im Vergleich zu der Gesamtarbeiter-
zahl der betr. Berufe aufserordcntlich geringe, so liei dein Gewerkverein
der deutschen Fabrik- und Handarbeiter (1898: 15006), der Tischler
(6200), Schuhmacher und Lederarbeiter (5400), Textilarbeiter (3358),
Schneider (3332), Bauhandwerker (1920), graphischen Berufe (1903),
Maler, Cigarren- und Tabakarbeiter (1602) etc. Wenn z. B. die Ci-
garrenarbeiter blofs in sieben Orten, die graphischen Berufe und Maler
also Lithographen, Steindrucker, Buchdrucker, Buchbinder, Graveure,
Musterzeichner, Maler, Hilfsarbeiter etc. nur (1900) in 26 Orten des
deutschen Reiches vertreten sind, wenn dies für die Konditoren, Bäcker
und Müller blofs für 5 Orte gilt, so mufs man sich fragen, ob
Erhebungen dieser Art, abgesehen von lokalen Zwecken, lohnen.
Nach der Meinung des Referenten ist dies ebensowenig der Fall für
die Gewerkvereine, wie für die Sozialstatistik. Was für die Gewerk-
schaften gilt, dafs sie zu viel Statistik machen, bei der sich die Aus-
lagen nach den Erfolgen in keiner Weise rechtfertigen lassen, gilt auch
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2Ö4
Litteratur.
für die Gewerkvereinc, für letztere vielleicht in noch viel höherem
Mafse, da sie mit ganz anderen Ansprüchen an die Oeffentlichkeit
treten, und die Sozialstatistik sich äufserlich als eine über das ganze
deutsche Reich erstreckende für eine grofse Zahl von Lohnarbeiterberufen
darstcllt. Wir können dem Verbandsanwalte nicht zustimmen, und die
früheren fachmännischen Beurteiler seiner Statistik berechtigen ihn auch
nicht dazu, zu schreiben : „Unsere Verbandsstatistik hat mit wachsendem
Umfange auch aufserhalb der Gewerkvereinskreise steigende Beachtung
und Anerkennung in der Praxis und namentlich in der Wissenschaft ge-
funden.“
Auch die christliche Gewerkschaftsbewegung hat heute schon eine
nicht ganz kleine Litteratur und eine ganze Reihe von Gewerkschafts-
organen. In der hier angezeigten Schrift (23) sind nicht weniger als
16 Organe der christlichen Gewerkschaften angeführt, leider enthält sie
nicht auch ein Verzeichnis der einschlägigen Litteratur. Neben vier
Broschüren, die hierher gehören, werden zur Anschaffung für die Biblio-
theken der christlichen Gewerkvereine empfohlen : die deutschen Ueber-
setzungen der Schriften von Rogers, der Webbs und Howells, Sombarts
„Dennoch“, Kulemanns „Gewerkschaftsbewegung“, Grotjahns „Alkohol-
genufs" etc. Die Schrift selbst enthält eine leider sehr kurze Geschichte
der christlichen Gewerkschaften und eine Uebersicht über die beiden
ersten Kongresse derselben, auf die dann ein eingehendes Protokoll lies
dritten folgt. Neben vielem Unabgeklärten findet man oft kräftige Be-
tonung des Arbeiterstandpunktes, scharfe Klagen über die Verfolgungen
der christlichen Organisationen durch Unternehmer und Behörden. Hier-
aus und aus der Thatsache, dafs die Arbeiterschaft sich naturgeinäfs in
den Kämpfen um die Besserstellung ihrer Lage denjenigen anschliefsen
wird, die am energischsten ihre Interessen vertreten, läfst sich folgern,
dafs die verschiedenen Ströme der deutschen Gewerkschaftsbewegung
soweit sie sich nicht vornehmlich auf Unterstützungszwecke beschränken,
wie die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine, in absehbarer Zeit in ein
grofses Bett wieder zusammenfliefsen werden. Auf dem dritten Kongresse
wurde die Gründung von Zentralorganisationen befürwortet, die Not-
wendigkeit hoher Beiträge, gefüllter Kriegskassen, die Bedeutung der
Arbeitslosenunterstützung betont und bei aller Anerkennung des Unter-
stützungswesens doch der Hauptwert auf eine Beeinflussung der Lohn-
und Arbeitsbedingungen gelegt. Besondere Referate wurden der Ver-
leihung von Korporationsrechten an die Berufs verbände, dann der
Reform der Krankenversicherung und der Gewerbegerichtsreform ge-
widmet. Wer sich über die neuen Strömungen in der deutschen Ge-
werkschaftswelt informieren will, wird nicht umhin können, auch diese
Schrift zu lesen. Für die christlichen Gewerkschaften gilt es noch in
den Kämpfen für die Besserstellung ihrer Mitglieder den Beweis der
Existenzberechtigung zu erbringen. Dies wird ihnen nur gelingen, wenn sie
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Neue Littcratur vcin und Uber Gewerkschaften. 265
unabhängig, und ausschliefslich die Interessen der Arbeiter wahren, und wenn
sie ihre Mitglieder zur Zahlung von hohen Beiträgen zu erziehen vermögen,
um Kämpfe nicht nur beginnen, sondern auch ausfechten zu können.
Selbst in diesem günstigen Fall wird aber das Nebeneinanderbestehen ver-
schiedener Gewerkschaften die Kampfesstellung der Arbeiter den Unter-
nehmern gegenüber stets schwächen, denn es ist nicht möglich, den
einheitlichen Unternehmerorganisationen mit der gleichen Einheitlichkeit
entgegenzutreten, wo Mifstrauen und vorangegangene Kämpfe, oft auch
noch persönliche Eifersüchteleien das Zusammengehen zweier verschiedener
Organisationen des gleichen Berufes erschweren. Im Interesse der Ar-
beiter liegt demnach die Mannigfaltigkeit in der Gewerkschaftsbewegung
keineswegs.
Das Werk von I)r. Maier über den Verband der Glacehandschuh-
macher (24) schliefst sich würdig der gröfsten Monographie an, die wir
bisher über eine deutsche Gewerkschaft besafsen, der Arbeit Schmöles
über den Zimmererverband. Die Arbeit von Maier ist in zweierlei Hin-
sicht umfangreicher wie ihre Vorgängerin, weil sie bei ohnedies etwas
grüfserem Umfange die Arbeiterorganisation eines der allerkleinsten
Industriezweige behandelt, dann aber auch, weil sie bedeutend mehr hält,
als der Titel verspricht. Es ist nicht nur eine Geschichte der Organi-
sation, sondern gleichzeitig eine descriptive Studie über die Industrie. Die
Lohnverhältnisse, die Betriebsformen, das Lehrlingswesen u. s. w. werden
beleuchtet. Es werden auch das neben der Gewerkschaftsorganisation
laufende andere Unterstützungswesen, sowie die Verhältnisse der Unter-
nehmerorganisation behandelt. Erscheint auch manchmal die Darstellung
etwas breit, und zu viel in Einzelheiten sich verzweigend, so müssen
wir trotzdem auch dafür dem Verfasser Dank wissen, der uns eine
Quellenschrift für die deutsche Gewerkschaftsgeschichte gegeben hat, die
tief einführt in den Gedankeugang der Gründer und Mitglieder dieser
Organisation, die ihr Werden, ihre Kämpfe, und ihre Kräftigung an-
schaulich darstellt.
Es finden sich auch Ansätze eines Eindringens in die l’sychologie
der Arbeiter. Hier hätten wir sogar ein Mehr gewünscht. Dem
künftigen Historiker wird cs sicherlich nicht an Akten und Druck-
schriften, an Statistiken und prinzipiellen Auseinandersetzungen fehlen,
wenn er die Geschichte der Arbeiterbewegung unserer Tage schreiben
will, aber selbst bei reicher Kombinationsgabe wird er kein richtiges
Bild entwerfen können von dem inneren Leben in den Arbeiterorgani-
sationen, von der Art wie neue Ideen sich in denselben langsam ent-
wickeln und zum Siege gelangen. Die intime Seite der Arbeiter-
bewegung, die zu ihrem vollen Verständnisse gehört, die erst vieles
klar macht, was dem Fernerstehenden auch bei allem Wohlwollen meist
ein Buch mit sieben Siegeln bleibt, dieses intime Leben findet man
weder bei Schmöle, noch bei Maier dargestellt. Leider sind die Aus-
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266
Littcratur.
sichten sehr gering, dafs wir diese Schilderungen von anderer Seite er-
halten ; findet sich doch selbst in dein Buche von Päplow über die Ge-
schichte der Maurerorganisation, die doch von einem Vorkämpfer der-
selben geschrieben ist, diese Seite der Arbeiterbewegung nicht berück-
sichtigt. Man glaube doch nicht, dafs die Protokolle der Gewerkschafts-
kongresse oder Versammlungsberichte die Lücke auszufüllen vermöchten.
Gerade in diesen Berichten verschwindet hinter den polemischen Aus-
einandersetzungen und dem sachlich Beschlossenen das, was wir kurz
das Intime nennen mögen. Wenn wir dies aussetzen, so wollen wir uns
nicht die Schwierigkeiten der Erfüllung dieser Wünsche verhehlen, ge-
hört doch hierzu, dafs ein ökonomisch geschulter Mann, der das Wesent-
liche vom Unwesentlichen zu scheiden vermag, Beobachtungsgabe und
Schilderungskunst miteinander verbindet. Hierzu gehört auch sehr viel
Zeit und Vertrauen der Arbeiter, man mufs auch sicher sein, dafs *sie
sich nicht als Modelt fühlen, dafs sie gar keinen Grund haben, sich
nicht natürlich zu geben. Es schien mir notwendig, einmal auf diesen
Mangel aller historischen Darstellungen filier die Arbeiterbewegung
und speziell über die Gewerkschaftsbewegung hinzuweisen. Wir
kennen die neuen Ideen und die neuen Kampfmethoden, wir
können uns auch Rechenschaft ablegen über die Ursachen der
Arbeiterbewegung und über die Aenderungen innerhalb derselben.
Wir vermögen die historischen Data mehr oder minder genau festzustellen.
Das mag vielen genügen, und auch für die meisten Zwecke vollständig
ausreichen, aber es fehlt dabei doch etwas, was mit der Zeit sich voll-
ständig verflüchtigt, später nie mehr gewonnen werden kann, wenn es
nicht heute festgehalten wird, wo der Mitlebende noch über die ersten
Anfänge der modernen Formen der Arbeiterbewegung berichten kann.
Das, was die französische Memoiren-Litteratur seit Louis Saint-Simon
zur Geschichte der neueren Zeit beigetragen hat, sind hervorragende
Quellen, die das Material der Archive erst beleben und erleuchten,
dieses Material scheint dem künftigen Geschichtsschreiber der Arbeiter-
bewegung versagt zu bleiben. Die Gründe hierfür liegen ja klar zu
Tage; die Träger der Bewegung haben nicht die Mufse, Erinnerungen
aufzuzeichnen, vielen fehlt auch dazu die Fähigkeit, Rücksichten auf die
Verfolgungen, deren Erinnerung lebendig ist, deren Wiederkehr von
vielen ins Auge gefafst wird, wirken da zusammen, um diese Aussichts-
losigkeit zu erklären. Aber gerade diese ungünstigen Umstände sollten
die Geschichtsschreiber unserer Gewerkschaftsbewegung veranlassen,
einigermafsen ihr reines Aktenmaterial durch Schilderungen aus dem
Leben der Arbeiterbewegung zu ergänzen. Ohne die Schwierigkeiten
dieser Aufgabe zu verkennen, glauben wir doch die Hoffnung aussprechen
zu dürfen, dafs auch nach dieser Richtung die Litteratur über die Ge-
werkschaftsbewegung Fortschritte machen wird. Ansätze hierzu finden
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Neue Littcratur von und Uber Gewerkschaften. 267
sich in dem Buche Maiers, so einige recht nette Porträtskizzen der
Präsidenten und Vorsitzenden des Handschuhmacherverbandes.
Auf einen weiteren Mangel unserer Littcratur über die Gewerk-
schaftsbewegung, der auch das Buch von Maier trifft, habe ich schon
an anderer Stelle aufmerksam gemacht. Man läfst immer die deutschen
Gewerkschaften entstehen mit den Tagen, da J. B. v. Schweitzer, Max
Hirsch, Bebel und Liebknecht Ende der sechziger Jahre ihre Aufrufe
erlassen haben ; bestenfalls wird noch an Fritzsche und seine voran-
gegangenen Versuche, die Tabakarbeiter zu organisieren und an die
Buchdruckerorganisation und ihre Anfänge im Jahre 1848 erinnert. Es
scheint mir dies eine durchaus unhistorische Auffassung. Wer die
deutschen Gewerkschaftsorganisationen unserer Tage nur aus der Litte-
ratur kennt, der inufs fast annehmen, dafs sie im Kopfe einiger Führer
entstanden und ohne jeden Zusammenhang mit früheren Gebilden plötz-
lich aufgetaucht seien. Und doch ist es keine Frage, dafs auch unsere
Gewerkschaftsorganisationen durch manche Fäden verknüpft sind mit den
alten Gesellenorganisationen. Bis zum heutigen Tage bestehen Reste
alter Brüderschaften zum Teil noch unter dem Namen der Brüder-
schaften mit alten Sitten, wenn auch ausnahmslos zu Geselligkeits-
vercinen und Unterstützungskassen herabgesunken. Reste dieser Art
finden sich z. B. bei Kupferschmieden, Zimmerern, Maurern, Dachdeckern,
Gerbern ; noch mancher alte Zunftgebrauch, noch manche Grufsform, noch
manches alte Wort, noch manche unbeachtete Einzelheit in der Tracht,
manch1 altes Verkehrslokal deutet auf Erinnerungen an die früheren
Organisationen. Alte Truhen, Fahnen, Embleme, Kassen- und Protokoll-
bücher aus der Zunftzcit sind oft im Besitze ganz moderner Gewerk-
schaftsorganisationen, ja es läfst sich nachweisen, dafs es zwischen den
Gewerkschaftsorganisationen eines Ortes im gleichen Gewerbe so zwischen
Gewerkvereinen und internationalen Gewerkgenossenschaften oder Ar-
beiterschaften anfangs der 70 er Jahre heifse Kämpfe gab, welche die
Gerichte öfters sogar beschäftigt haben; diese sollten entscheiden, wer
der berechtigte Besitzer der Lade etc., der alten Gesellenorganisation
sei. Man vergifst fast immer den einen Umstand, dafs bei Proklamierung
der Gewerbefreiheit in ganz Deutschland, wenn auch oft nur noch in
rudimentären Resten Formen alter Gesellcnorganisationen bestanden haben.
Vielfach liefen diese mit Aufhebung der Zunft auseinander, vielfach
wurde das Eigentum der Gesellenschaft beim Trödler losgeschlagen,
der Erlös in der nächsten Kneipe vertrunken und damit zum letzten-
male das Zusammensein gefeiert. Aber das Bedürfnis des Zusammen-
seins war nicht auszurotten , oft änderte die Proklamierung der Ge-
werbefreiheit nur äufserlich etwas an dem Zusammenhalt der Ge-
sellen ; mit der Garantierung des Koalitionsrechtes traten diese Organi-
sationen wieder in die Oeffentlichkeit, wenn auch in anderem Gewände.
Fis ist charakteristisch, für die ersten Jahre der deutschen Gewerkschafts -
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268
Litteratur.
bewegung, dafs man mancherorts konkurrierte, nicht blofs um den Besitz
des Inventars der alten Gesellenschaflen, sondern auch um die Mitglieder
derselben ; oft sind in den Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereinen die alten
Gesellen wieder zu finden, in die sie manchenorts korporativ übertraten
und dann bei Aufzügen, patriotischen Feiern, Fürstcncinzügen mit dem
Staate der alten Gesellenbrüderschaft auftraten. Es ist merkwürdig, dafs
diesen dankbaren historischen Aufgaben sich niemand gewidmet hat,
utn so bedauerlicher als der Nachweis dieser Zusammenhänge zwischen
den alten Gesellenorganisationen und Gesellenverbänden, die sich
ja auch bis in unser Jahrhundert hinein nachweisen lassen, mit der Ent-
wicklung der modernen Gewerkschaftsorganisationen und mit jedem Tage
schwieriger wird.
Hierfür sind die Quellen die Arbeiter, welche in den fünfziger
Jahren des iq. Jahrhunderts ihre Lehrzeit in früher zünftigen Gewerben
durchgemacht haben ; immer geringer wird die Schar dieser Greise,
immer schwieriger, wird cs, Nachweise zu erbringen. Für die
Handschuhmacher wäre die Lösung dieser Aufgabe ganz besonders in-
teressant gewesen, da bei ihnen ganz eigenartige Verhältnisse Vorlagen ;
sie hatten mit ihrem Gewerbe ganz besondere Formen und Sitten ihrer
Organisation aus Frankreich in die brandenburgischen und anderen Lande
gebracht, die den vertriebenen Hugenotten Gastfreundschaft geboten
hatten. Leider findet sich in der Schrift Maiers hierüber nichts, ob-
gleich seine vornehmste Quelle, das Organ des Handschuhmacherver-
bands, hierüber so manchen Wink für weitere Forschungen enthält.
ln dieser Hinsicht hätten wir noch bei einem sonst so vollständigen
Buche manches andere gerne erörtert gesehen , so die merkwürdige
Handwerkssprache, aus der ja Beispiele gegeben sind und zu der sich
blofs einige leider verstreute Bemerkungen, jedoch keine zusammen-
fassende Dartellung in dem Buche finden.
So wie wir vom historischen Gesichtspunkte dies oder jenes zu be-
mängeln hatten, so auch von dem ganz modernen der Beurteilung der
Sozialdemokratie durch den Verfasser. Er findet vieles in der Ent-
wicklungsgeschichte des Handschuhmacherverbandes begründe! durch das
Streben, sozialdemokratischen Geist der Organisation einzuflöfsen ; er irrt
da oft unzweifelhaft und wir wollen nur auf den auffallendsten Irrtum hin-
weisen. Er meint, dafs der Name „Ortsverein“ den einzelnen Zahlstellen
gegeben wurde, weil dies ein sozialdemokratischer Terminus sei, nun
ist bekanntlich der „Ortsverein“ die bei den Hirsch-Dunckerschen Ge-
werkvereinen übliche Bezeichnung für das, was man Zahlstelle. Ver-
waltungsstelle , Filiale etc. bei den Gewerkschaften bezeichnet . die
durch die Generalkommssion vereinigt sind. Aber weniger diese und
ähnliche schiefe Erklärungsversuche aus politischen Motiven sind zu be-
mängeln als der in diesem Zusammenhänge weit wichtigere Umstand,
dafs der Verfasser die Tendenzen der Sozialdemokratie gründlich miss-
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Neue Litteratur von und über Gewerkschaften.
269
kennt Wie falsch ist es z. B. die Gründung und Stärkung der freien
Hilfskassen unter dem Sozialistengesetze auf die Absicht zurückzuführen,
die „allmählige Ausgleichung der bestehenden Klassengegensätze“ durch
die Arbeiterversicherung „zu verhindern.“ Die freien Hilfskassen hatten
nicht aus dem angeführten Gruntle unter dem Sozialistengesetze den
starken Zulauf, sondern weil sie die einzigen damals möglichen, der
Gefahr der Vernichtung am wenigsten ausgesetzten Formen der Ar-
beiterorganisation waren. F.s ist somit ohne jede Spitzfindigkeit die
starke Entwicklung dieser Kassen in jenen Jahren zu erklären. Für
den Standpunkt des Verfassers der Sozialdemokratie gegenüber ist wohl der
folgende Satz am meisten charakteristisch: „Der Verband erstrebt mit Erfolg
eine Besserung der Zustände innerhalb der gegenwärtigen Ordnung der
Dinge, die Sozialdemokratie negiert eine solche Thätigkeit ; denn je gröfser
die Zahl der Unzufriedenen, umsomehr eröffnet sich die Aussicht, auf einen
Zusammenbruch der bestehenden Gesellschaftsordnung, womit ihr Sieg
entschieden wäre.“ Dieser Satz läfst sich nicht vereinbaren mit dem
kurz vorangehenden : „Durch den Eintritt in die Generalkommission der
Gewerkschaften Deutschlands hat der Verband seine politische Stellung
unzweideutig gekennzeichnet, er bildet eine Vereinigung mit sozialdemo-
kratischer Tendenz.“ I ) i e Theorie, die der Verfasser der Sozialdemokratie
unterschiebt, widerstreitet der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie.
Auch für die Differenzen zwischen der Generalkommission und dem
Handschuhmacherverbande ist der Verfasser keine Autorität. An kon-
sequent wiederkehrenden Fehlern: der Schreibweise des Namens
Lassalle mit einem s, der Rede von „Dr.“ Liebknecht ersieht man, dafs
der Verfasser sich mit der Litteratur der Sozialdemokratie wenig be-
schäftigt haben kann.
Doch sind diese Mängel unbedeutend gegenüber den grofsen
Vorzügen dieses Buches. Gleich im Zusammenhänge mit den hervor-
gehobenen Mängeln wollen wir die interessante Darstellung der Kämpfe
der Organisation mit dem Berliner Polizeipräsidium hervorheben, die ja
den Kennern der Buchdruckerbewegung nicht unbekannt sind, die aller für
einen anderen Beruf noch nicht so ausführlich geschildert wurden. Be-
sonders wichtig ist die Feststellung, dafs der Handschuhmacherverband
sich den Forderungen des Polizeipräsidiums nicht unterworfen hat im
Gegensätze zum Buchdruckerverband und anderen Organisationen. Sehr
interessant ist auch die Geschichte des Verbandsblattes, die sich auch
als ein wichtiger Beitrag für die schwere Aufgabe einer Geschichte der
deutschen Arbeiterpresse darstellt. Lehrreich ist ferner die Gegenüber-
stellung der Orte, die in den Jahren 1869, 18S4 und iqoo Verbands-
angehörige in gröfserer Zahl aufwiesen, aber diese tabellarische Dar-
stellung wäre wertvoller geworden, wenn etwa durch einen Stern die
Orte gekennzeichnet wären, in denen in der Zwischenzeit Handschuh-
macherbetriebe aufgetaucht sind, während durch ein Kreuz diejenigen
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270
Litteratur.
Orte zu bezeichnen gewesen wären, aus denen die Handschuhmacher-
industrie verschwunden ist. Das Material hierfür hätte sich für die
gröfscren Orte in den Adrefsbüchern derselben, für die kleineren Orte
in Leuch's Adrefsbuch finden lassen. Eine Reihe von Verschiebungen
sind dem Referenten bekannt, er darf wohl vermuten, dafs es deren
nicht wenige gab. Das Tabellenmaterial ist sehr beachtenswert und
gestattet manchen Einblick auch in die inneren Verhältnisse des Ver-
bandes so z. B. eine Statistik über den Versammlungsbesuch , über
die Zahl der Restanten, der Restwochen, und der Restbeträge, über
die Aufnahme ausländischer Fachvereinsmitglieder und früherer Verbands-
mitgliedcr, über die Kassenverhältnisse und dcrgl.
Man würde irren, wenn man vermuten würde, aus dem Buche
lediglich Informationen über das Handschuhmachergewerbe schöpfen zu
können. Man kann auch vieles zur Beurteilung der deutschen Gewerk-
schaftsbewegung überhaupt aus ihm erfahren, so z. B. über den Kampf
gegen die Teilarbeit, gegen die Lehrlingszüchterei, gegen das Vorschufs-
wesen, die Hausarbeit, die Ueberfeierabendarbeit, den Akkordlohn, über
die Striketaktik, den Arbeitsnachweis, die Entwicklung und Bedeutung
des Unterstützungswesens etc. Freilich wird man nie übersehen dürfen,
dafs es sich um einen aufserordentlich kleinen Beruf bei den Hand-
schuhmachern, um eine sehr wenig Vorbildern folgende Entwicklung
der Organisation handelt. So manche Eigenart, wie z. B. die Urwahl,
das Bestehen auf die vierjährige Lehrzeit, erklären sich aus der Klein-
heit der Organisation und aus der Eigenartigkeit des Gewerbes, so
manches ist auch auf Kastengeist zurückzuführen gewesen, doch hat sich
diese Abschliefsung nach aufsen nicht erhalten, wogegen die Eigentüm-
lichkeiten in der Sprache noch vorhanden sind.
Den Abschlufs des Textes bildet eine Uebersicht über die Hand-
schuhmacherorganisationen des Auslandes und den Anhang des Buches
eine Reihe sehr wertvoller Aktenstücke für die Geschichte und den
gegenwärtigen Stand der Arbeiter- und Unternehmerorganisationen im
Handschuhinachcrgewerbe. Auf der letzten Seite des Buches finden wir
die wichtigste Maschine und das wichtigste Werkzeug der Handschuh-
macherei abgebildet. Es sei aus diesem Anlässe das Bedauern ausge-
sprochen, dafs die Schilderung der Technik des Gewerbes nicht von
einem Fachmanne revidiert wurde.
Der Verfasser hat es unterlassen, in einem abschliefsenden
Kapitel zusammenzufassen, was seine Studien ül>er die Leistungen dieser
Organisation im Laufe von mehr als drei Decennien ergeben haben.
Kr hätte einen Versuch machen sollen, die Lage der Handschuhmacher
in den Jahren 1869 und 1000 gegenüber zu stellen. Die Unternehmer
haben trotz ihrer feindlichen Stellung zugestehen müssen, dafs die Ge-
werkschaft Erhebliches geleistet hat, um das leidige Vorschufswesen mit
seiner demoralisierenden Wirkung aus der Welt zu schaffen. Vom sozial-
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Sinzheimcr, Ludwig, Der Londoner Grafschal'tsrat. 271
politischen Gesichtspunkte ist von der gröfsten Bedeutung der erfolg-
reiche Kampf der Gewerkschaft gegen die Heimarbeit, bemerkenswert
ihr Widerstand gegen die Einführung der Teilarbeit, die im Gegensätze
zu anderen Berufen eine Verschlechterung der Warenqualität zur Folge
gehabt hätte. Diese Zusammenfassung wäre um so wertvoller gewesen,
als nun gerade die Unternehmer sich der Hoffnung hingeben, diese
Organisation, eine der ältesten und erfolgreichsten Gewerkschaften im
Deutschen Reiche zu vernichten. Die Zeiten der gegenwärtigen Krise
werden von den Unternehmern ausgenützt, um die Arbeiter vor die
Wahl zu stellen, auf die Dauer arbeitslos zu werden oder die Zugehörig-
keit zur Organisation aufzugeben. Zur Beurteilung dieses Strebens der
Unternehmer wird das Buch von Dr. Maier von der allergröfstcn Be-
deutung sein. Wird cs entsprechend gewürdigt, so wird es auch sonst
vieles beitragen können zur Hebung des Verständnisses über das Wesen
und die Leistungen der deutschen Gewerkschaften.
Sinzheim er, Ludwig , Dr., Der Londoner Grafschaftsrat. Ein
Beitrag zur städtischen Sozialreform. Erster Band: Die
Schlufsperiode der Herrschaft der Mittelklasse in der
l.ondoner Stadtverwaltung. Stuttgart 1900, J. G. Cotta.
512 S. gr. 8".
Das Jahr 1889, in dem der Londoner Grafschaftsrat ins Leben trat,
markiert einen bedeutsamen Wendepunkt in der Geschichte des Städte-
lebens in England und auch anderwärts. Die von einer konservativen
Regierung — durch das Lokalverwaltungsgesetz von 1888 — geschaffene
munizipale Vertretung des als Grafschaft konstituierten Grofs-London
ward schon in der ersten Epoche ihres Bestehens zur typischen Ver-
treterin der als Munizipalsozialismus bekannten Gemeindepolitik. Wir
sagen absichtlich typischen Vertreterin und nicht Schöpferin. Denn es
ist vielleicht nicht ein einziger Punkt in der ganzen Liste der vom
Londoner Grafschaftsrat durchgeführten oder in Angriff genommenen
kommunalsozialistischen Mafsregeln, hinsichtlich dessen diese Körperschaft
nicht in England oder auf dem Festlande ihre Vorgänger gehabt hätte.
Aller wenn dem Londoner Grafschaftsrat auch nur wenig wahrhaft
schöpferische Neuerungen nachgerühmt werden können, so gebührt ihm
doch das Verdienst, dafs bei ihm zuerst die Mehrheit der Vertretung
einer Grofsstadt ersten Ranges — der gröfsten Stadt der Welt — be-
wufst zusammenfassend das vertrat, was vereinzelt — und nicht nur
unter dem Antrieb der Gelegenheit — von kleineren Gemeinden vor
ihr geleistet oder versucht worden war. Dadurch, dafs der Gedanke
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Litteratur.
munizipaler Gemeinwirtschaft grundsätzlich in weiterer Auslegung wie
bisher aufgegriffen wurde, sowohl was die Objekte der Gemeinde-
wirtschaft als auch was den Kreis der zur Anteilnahme berechtigten
Personen anbetrifft, dafs die Rücksicht auf die Sonderinteressen und
Vorurteile kapitalistischer Unternehmer und Eigentümer der Rücksicht
auf die Bedürfnisse der grofsen nichtkapitalistischen Bevölkerung im all-
gemeinen und der Arbeiterschaft ira besonderen wich, erhielt das Stück
Kommunalverwaltung, das der Londoner Grafschaftsrat zu besorgen hatte,
denjenigen Charakter, der die Anwendung des Begriffes „sozialistisch“ auf
sie rechtfertigt. Der Gebrauch dieses Wortes wird ferner dadurch ge-
rechtfertigt, dafs die Mitglieder des Londoner Grafschaftsrats zwar auf
Grund eines Wohnungszensus, sonst jedoch mit Ausschlufs jeder
Klassen Vertretung gewählt werden, der Zensus aber so bemessen
ist, dafs die grofse Mehrheit der Arbeiter Londons wahlberechtigt sind
und in den meisten Wahlbezirken die Mehrheit der Wähler bilden.
Von Anbeginn an hatte der Londoner Grafschaftsrat eine Gruppe von
Vertretern der Lohnarbeiterschaft in seiner Mitte, die dann von Wahl
zu Wahl zugenommen hat, und daneben eine gröfsere Anzahl Vertreter,
auf deren Wahl die organisierten Arbeiter inafsgebenden Einflufs aus-
üben. Er ist im wesentlichen eine demokratische Munizipal-
vertretung.
Die Leistungen und Erfahrungen dieser Körperschaft sind denn
auch für die Erkenntnis des Verwaltungswesens in der modernen Demo-
kratie von aufserordentlichem Wert. Der Londoner Grafschaftsrat ist
berühmt geworden durch eine Reihe von Mafsnahmen, die auch einzeln
insofern in das Gebiet der sozialen Reform fallen, als sie auf allgemeine
wirtschaftliche Verbesserungen abzielen und das Interesse der Gemein-
wirtschaft über das der Privatwirtschaft stellen. Aber ihre volle Be-
deutung erhalten diese Mafsregeln doch erst dadurch, dafs sie Ausdruck
einer Politik sind, die einen demokratischen Aufbau der Gemeinde zur
thatsächlichen, und eine demokratische Auffassung des Gemeindelebens
zur ideologischen Grundlage haben. Nur durch diesen Zusammenhang
erheben sie sich aus fiskalischen oder rein ökonomischen zu sozialen
Reformmafsregeln, denn nur dadurch erhält eine wirtschaftspolitische
Mafsregel heute den Charakter eines sozialreformerischen Unternehmens,
dafs sie auf Minderung oder Beseitigung von Vorrechten des Besitzes hinaus-
läuft, dafs sie — um ein geflügeltes Wort zu variieren — von einem
Tropfen demokratischen Oels durchzogen ist. Daher sind die admini-
strativen Probleme der Demokratie zugleich Probleme der Sozialreform,
oder, um es noch schärfer auszudrücken, is t d i e De mok rat i e selbst
ein Problem der Sozialreform.
In diesem weiten Sinne behandelt Dr. Ludwig Sinzheimcr in seinem
Werke, dessen ersten Band wir vor uns haben, das Wesen und Wirken
des Londoner Grafschaftsrats. Es schweben ihm, wie er im Vorwort
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Sinzhcimrr, Ludwig, Oer Londoner < >rafschaftsrat.
273
darlegt, bei dieser Arbeit drei Hauptziele vor. Erstens „die aus-
führliche Klarlegung der Beziehungen zwischen der S t a d t v er w al t u n g
und der Klassengliederung auf einem bestimmten geographischen
Gebiete in einem bestimmten Zeitabschnitte"; zweitens „die Aufklärung
der Frage, ob der sogenannte Munizipalsozialismus eine zu-
nehmende Stärke der Sozialdemokratie in England ankündet“,
und drittens „die Lieferung eines Beitrages zu einer, auf empirischer
Basis ruhenden Theorie des relativen We rtes des Staates
und der Gemeinden für die unteren Klassen, einer Theorie
der Bedeutung der staatlich-kommunalen Dezentralisation auf dem
Gebiete der Sozialpolitik“. Da der erste Band nur die Vorgeschichte
des Grafschaftsrats giebt, so kann er auch nur erst Teile des hier ent-
wickelten Programms zur Ausführung bringen. Al>er abgesehen von der
zweiten F'rage, für die dieser Band natürlich ganz aufser Betracht kommt,
und obwohl der Verfasser nur ganz ausnahmsweise auf spätere Entwick-
lungen Bezug nimmt, treten die für die Beantwortung des gestellten
Problems ausschlaggebenden Punkte doch schon hier mit aller Deutlich-
keit hervor. Wie es die Natur der Sache mit sich bringt, allerdings
zunächst im „Negativ".
Der Verfasser hat, wie Eingangs angezeigt, dem ersten Band den
Untertitel gegeben: „Die Schlufsperiode der Herrschaft der Mittelklasse
in der Londoner Stadtverwaltung". Präziser konnte der leitende Ge-
sichtspunkt nicht gekennzeichnet werden, unter dem Sinzhcimer den
Vorgänger des Londoner Grafschaftsrats und dessen Nebenorgane in der
Verwaltung Londons behandelt. Das hauptstädtische Betriebsamt —
„Metropolitan Board of Works“ — das von 1855 bis 1889 einen Teil
der Funktionen einer Zentralbehörde für Grofs-London besorgte, hatte,
wie die Korporation der City und die Pfarrei- und Distriktsämter des
aufserhalb der City gelegenen London, aus denen es sich in indirekter
Wahl rekrutierte, allerhand charakteristische Eigenheiten, aber als die
wesentlichste mufs doch immer die bezeichnet werden, dafs es, wie auch
jene Körperschaften, eine Vertretung der besitzenden Klassen war —
und zwar mehr noch de facto als de jure. Gesetzlich hatten auch die
unteren Schichten des Kleinbürgertums und ein Teil der besserbe-
zahlten Arbeiter das Stimmrecht zu den Kirchspiel- etc. Vertretungen,
aber der Wahlmodus und der Wählbarkeitszensus hielten diese Schichten
der Bevölkerung von der Wahl fern und machten die Besetzung der
Vertretungen zu einer Angelegenheit des wohlhabenden Bürgertums.
Wie die Sitzungen dieser Körperschaften selbst, verliefen auch die Wahlen
zu ihnen in der Regel unter völliger Teiinahmlosigkeit der Volksmasse.
Bis zu Ende März 1889 gab in der Verwaltung der Hauptstadt Eng-
lands das mittlere Bürgertum den Ausschlag.
Dieser Klassencharakter ist jedoch nur der bezeichnendste Charakter-
zug der Verwaltung Londons während der ersten neun Jahrzehnte des
Archiv für so z. Gesetzgebung u. Statistik. XVII. t8
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2/4
Litteratur.
19. Jahrhunderts. Neben ihm wird sie auch durch eine höchst un-
systematische Vielfältigkeit der Verwaltungsorgane, den Mangel au einer
organischen Verteilung der Aufgaben und Vollmachten gekennzeichnet.
Mit grofsem Fleifs und eindringender Kritik geht Sinzheimer den
Gründen nach, die es so lange zu keiner durchgreifenden und einheit-
lichen Organisation der munizipalen Verwaltung Londons kommen liefsen.
Er legt in lichtvoller Weise die Interessengegensätze und die Gegen-
sätze in den politischen Thcorieen blofs, die sich der grundsätzlichen und
einheitlichen Reform der Londoner Verwaltung Generationen hindurch
entgcgenstellten. Die Arbeiterklasse Englands stand dem Problem lange
Zeit interesselos gegenüber. Die Chartisten hatten ihr Augenmerk fast
ausschliefslich auf das allgemeine Stimmrecht irn Staat gerichtet; der
Gedanke der Eroberung der politischen Macht des Staates liefs die Be-
schäftigung mit kommunalen Fragen als neltensächlich erscheinen. Ja,
da es zumeist die Liberalen waren, die nach Inkrafttreten der Mttnizipal-
gesetzgebung von 1835 die Ersetzung der verrotteten Korporationen
durch repräsentative Gemeindevertretungen in den Städten betrieben,
kam es vor, dafs Chartisten die alten Korporationen in ihrem Wider-
stand gegen diese Umwandlung unterstützten. Robert Owen und seine
Schule hatten zwar sozialistische Kommunen im Auge, aber verbanden
damit nicht die Vorstellung von der Um- oder Ausgestaltung der ge-
gebenen Kommunen durch das Mittel einer sozialistischen Gemeinde-
poiitik, sondern dachten zumeist an grundsätzlich neue Schöpfungen —
die Owenschen „Townsbips“ — und verrammelten sich aufserdem den
Weg zu einer Anwendung ihrer kommunalistischen Ideecn auf die kom-
munalen Fragen der Epoche durch ihre doktrinäre Gegnerschaft gegen
den politischen Kampf. Aehnlich verhielt es sich mit der Gewerkschafts-
und Genossenschaftsbewegung. Kurz, die Masse der Sozialisten und
Arbeiter Englands betrachteten oder behandelten lange Zeit die F'ragen
der Gemeindeverwaltung als eine innere Angelegenheit der besitzenden
Klassen.
In deren Reihen aber stritten sich materiell interessierte Schichten
und Vertreter von einander abweichender Theorieen über das Mafs der
wünschbaren Gemeindehoheit und Gemeindethätigkeit. Als Extreme ein-
schlägiger theoretischer Anschauungen führt uns Sinzheimer auf der
einen Seile die Schule Edwin Chadwicks vor, welche der munizipalen
Selbstverwaltung durchaus skeptisch gegenüberstand und ihr eineu staat-
lich - zentralistisch organisierten Stab von Berufsbeamten überordnen
wollte, und auf der anderen Seite die für weitestgehende lokale Selbst-
verwaltung und Demokratie eintretende Schule von Toulmin Smith, dem
bekannten Flrforscher des englischen Gildcntums. Die Gegnerschaft
Chadwicks gegen die kommunale Selbstverwaltung ist wesentlich kon-
servativ-staatssozialistisch; sie entspringt der F'urcht vor plutokratischer
Kliquenwirtschaft in den Gemeinden. Die Begeisterung von Toulmin
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S i n z h c i ni er , Ludwig, Der Londoner Grafschaftsrat.
275
Smith für die demokratische Gemeinde- Autonomie aber wurzelt, wie
Sinzheimer in feiner Analyse klarlegt, in einer die Vergangenheit
romantisch verklärenden und die Gegenwart mit Unterschätzung der
materiellen Bedürfnisse formalistisch betrachtenden abstrakten Denkweise.
Von Smith wird nach Sinzheimer die Gemeinde immer nur als sittlicher,
aber nie als ökonomischer Körper behandelt. Ihm, dem die Dezentrali-
sation nicht weit genug gehen kann, so dass er selbst die Gemeinden in
möglichst kleine Einheiten zerschlagen möchte , und der sich energisch da-
gegen erklärt, die Steuerbefreiten vonderGemeindevertretungauszuschliefsen,
ihm sind Eigentum und Freiheit so heilig, dafs er um ihretwillen Sanitäts-
gesetze bekämpft und das Zehnstundengesetz verwirft. „Ueber der Ein-
gangspforte seines Systems,“ schreibt Sinzheimer von 'l'oulmin Smith,
„steht die Grabinschrift des alten Liberalismus: „Wenn ihr auch kein
Brot habt, so habt ihr doch Freiheit““. Ob man jedoch solche An-
schauungen, so sehr sie thntsächlich mit Interessen der Arbeiter im
Widerspruch stehen, als Aeufserungen einer „arbeiterfeindlichen Stimmung"
(S. 24t bezeichnen kann, scheint uns in diesem Falle zweifelhaft. Aber
nicht anfechtbar ist es, wenn Sinzheimer auf Grund ihrer die Smithschc
Theorie (S. 25) einen „überspannten Immaterialismus“ nennt. Nicht
bewufste Gegnerschaft gegen wirkliche Interessen der Arbeiter, sondern
Verkennung dieser Interessen bestimmt die Stellungnahme der meisten
Theoretiker des doktrinären Radikalismus der ersten Hälfte des neun-
zehnten Jahrhunderts. Sie findet sich in vielen Punkten auch noch bei
einem Mann, der der modernen Arbeiterbewegung bedeutend näher stand
als Toulmin Smith und den Uebergang vom abstrakten Radikalismus zum
demokratischen Sozialismus darstelit. nämlich John Stuart Mill. Dafs Mill
als der klassische Vertreter des Uebergangs vom kommunalistischen
Liberalismus des Toulmin Smith zum Munizipalsozialismus der Gegenwart
betrachtet werden kann, wird von Sinzheimer in einem der interes-
santesten Kapitel seines Buches (Abschn. III, Kap. 1 ) sehr geistreich
dargelegt. Mills Standpunkt bildet die Brücke zwischen der zentralisti-
schen Theorie Chadwicks und den Dezentralisationstendenzen der Schule
von Toulmin Smith. Indes ist dieser Vermittlungsstandpunkt keines-
wegs der eines geistlosen F'.klektikers, als den man, hierin Marx nach-
ahmend, heute gern Mill hinzustellen sucht. Was Marx über Mill schreibt,
bedarf manchmal ziemlich starker Nachprüfung. So z. B. die im
„Kapital“ Bd. 1, 4. Aufl. S. 4S0 81 am Oekonomen Mill geübte Kritik, die
teils auf unrichtigen Auszügen aus Mill beruht, teils aber auch das Citierte
nicht richtig behandelt. Dem Politiker Mill ist Marx gerechter geworden
als dem Oekonomen. Aber auch ihn hat er nicht völlig richtig be-
urteilt, teils weil er den esoterischen Mill nicht kannte, und teils weil
ihm für Fragen, die Mill beschäftigten, der Sinn oder das Interesse fehlte.
Mill sah nicht so tief wie Marx, aber er sah — und vielleicht gerade
deshalb — vieles, das der Oberfläche näher liegt, klarer und schärfer
iS*
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2 j6
Litteratur.
wie Marx. Als Angehöriger eines geschichtlich hervorragend aktiven
Volkes, in dessen Mitte lebend und wirkend, raufste er, der für den
Tag schrieb, auch dessen Probleme unter einem anderen Gesichtswinkel
betrachten, wie Marx. Deswegen sind aber seine Vermittlungen keines-
wegs blofs äufserlicher Natur, keine grundsatzlosen Kompromisse zwischen
unvereinbaren Gegensätzen. Es sind vielmehr Versuche, in die Sack-
gassen der abstrakten Spekulation Bresche zu legen und die Gesichts-
punkte zu finden, unter denen die nur in der Spekulation unvereinbaren,
in der Praxis aber neben- und miteinander wirkenden Kräfte zu har-
monischerer und systematischerer Ergänzung gebracht werden können.
Auf den vorliegenden Gegenstand bezogen, suchte Mill nach einem
unterscheidenden Merkmal für die sachgeinäfse Verteilung der Verwaltungs-
funktionen zwischen Staat und Gemeinde, das weder aus abstrakten Be-
griffen geschöpft war, noch auf ein Zickzack grundsatzloser Kompromisse
hinauslief. Und dies Merkmal ist für ihn „die gröfsere oder geringere
Intensität des Interesses, das die Art der Durchführung jener
Funktionen direkt für die Nation als Ganzes hat“ (S. 405).
Wie Mill auf Grund dieses Merkmals die Aufgaben im Einzelnen ver-
teilt, kann hier nicht ausgeführt werden, so interessant es für die Kenn-
zeichnung des Mannes wäre, der einen so grofsen Einflufs auf die bürger-
liche Demokratie in England ausgeiibt hat. Mill geht zwar von der
Nation als Ganzem aus, ist aber keineswegs Staatsanbeter. Seinem
Staatsideal ebenso wie seinem Gemeindeideal haftet, wie Sinzheimer sich
ausdrückt, ein „resignierter Zug“ an; Mills Auffassung fufst auf der An-
sicht oder Erkenntnis, dafs „wie im Staatsleben so auch im Gemeinde-
leben ein fesselloser Altruismus kein in absehbarer Nähe aufgerichtetes
und deshalb auch kein praktisch zu berücksichtigendes Ziel sei“ (S. 423).
Daher seine grofse Vorliebe für Abgrenzungen von Vollmachten. Mill
hatte, obwohl politisch Gegner der Whigs, das Whig-Temperament. Der Ein-
flufs des von ihm selbst so meisterhaft geschilderten Erz-Whig Tocqueville
läfst sich, wie Sinzheimer mit feiner Analyse nachweist, immer wieder
bei ihm feststellen. Wie Tocqueville und Toulmin Smith verbindet Mill
mit dem Eintreten für die Ausbildung kommunaler Selbstverwaltung er-
zieherische Absichten, aber ungleich jenen zielt die Erziehung bei ihm
zum Kollektivismus hin. Die Selbstverwaltung der Gemeinden ist bei
Mill nicht manchesterlich, ihm nicht nur wertvoll, weil sie kraftvolle
Persönlichkeiten schaffe, sondern auch deshalb, „weil sie die Individuen
mit der Fähigkeit und dem Willen ausstatte, allgemeinen Interessen zu
dienen", als ein Mittel zur Erzeugung und Förderung altruistischer
Motive.
Wer den Stand der englischen Arbeiterbewegung zu der Zeit kennt,
wo Mill als politischer Schriftsteller wirkte, kann sich nicht wundern,
dafs sie ihm als Schöpfer und Förderer solcher Motive nicht genügte. Er
kann sich aber auch fernerhin nicht wundem, dafs Mill den Ton mehr
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Sinzheimer, Ludwig, Der Londoner (trafschaftsrat. 277
auf diese Seite der Frage legte, als auf die der wirtschaflspolitischen
Leistungen der Gemeinden für die arbeitenden Klassen. Findet sich
doch selbst in einer am Vorabend der Schaffung des Londoner Graf-
schaftsrats — im Jahre 1887 — erschienenen Schrift eines so ausge-
sprochenen Sozialisten wie H. M. Hyndman üher die Notwendigkeit
einer Vereinheitlichung der Londoner Kommunalverwaltung noch kein
über diese allgemeinen Gesichtspunkte hinausgehendes Programm der
sozialpolitischen Aufgaben der Kommune London entwickelt. Es handelte
sich eben darum, erst die Form zu schaffen oder schaffen zu helfen, die
zur Gewinnung des neuen Inhalts erfordert war, und diesem Ziel gegen-
über erschienen die Einzelheiten dieses Inhalts als Fragen zweiten
Ranges.
Hier ist ein Punkt, wo Sinzheimer bei Analysierung der Stand-
punkte sich unseres Erachtens wiederholt etwas zu eng an den Buch-
staben von Erklärungen in Reden und Schriften hält. So wichtig es
für die Charakteristik einer Epoche ist, dal’s gewisse Gesichtspunkte in
den Reden und Schriften von hervorragenden Politikern nicht berührt
werden, so wenig zuverlässig sind solche Indizien, wo es sich um die
Charakteristik der wirklichen Ab- und Ansichten der betreffenden Poli-
tiker handelt. Die Gründe, welche diese für die von ihnen empfohlenen
Mafsrcgeln angeben, sind oft genug selbst in ihren eigenen Augen nur
Vorwände oder Hilfsargumente, nicht das letzte, sie wirklich bewegende
Motiv, und nicht alles, was sie unerwähnt lassen, ist deshalb ihnen un-
bekannt geblieben. Dies gilt vielleicht von keinem Lande so stark wie
von England, wo eine eingewurzelte spekulationsfeindliche Konvention
das ganze öffentliche Let>en beherrscht. Sinzheimer aber behandelt
wiederholt vorwiegend advokatorische Ausführungen als seien sie Be-
kenntnisse schöner oder unschöner Seelen und legt blofsen Vorwänden einen
über ihre unleugbare symptomatische Bedeutung hinausgehenden Zeugnis-
wert bei. Das beeinträchtigt an einzelnen Stellen die Beweiskraft seiner
kritischen Ausführungen, die wir im übrigen jedoch gerade wegen des
Lichts, das sie auf die allgemeine soziale Entwicklung Englands werfen,
ganz besonders hoch schätzen.
Ein anderer Fehler in der Sin/heimcrschen Darstellung besteht
unserer Meinung nach darin, dafs bei der Schilderung der Londoner
Kirchspielgemeinden und ihrer Sonderrechte nicht deutlich genug zum
Ausdruck gebracht wird, dafs es sich da in der Mehrheit der Fälle um
Gemeinden handelt, die ehedem auch äufscrlich von London getrennt
waren und erst im Laufe der Zeit durch Wachstum hüben und drüben
zu „Stadtteilen“' von Grofs-London geworden sind. Sinzheimer spricht
zum Beispiel in dieser Verbindung von einer „Dismembration der Lon-
doner Kommunal Verwaltung“, was den Eindruck erweckt, als handle es
sich um willkürliche Zerstückelung Londons, wo es sich faktisch
nur um Belassung einer uralten, aber hinfällig gewordenen Viel-
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27»
l.ittoratur.
köpfigkeit handelte. Nur soweit die City von London inbetracht
kommt, wird die geschichtliche Besonderheit scharf hervorgehoben.
Aber wenn die Rücksicht auf die City auch bis in die allerneueste Zeit
hinein für die Erhaltung der Selbständigkeit anderer Londoner Sonder-
getneinden ausschlaggebend gewesen ist, so handelte es sich doch auch
bei diesen um historische Rechte. Wem das bekannt ist, dem leuchtet
es auch bei Sinzheimer hindurch, wer es aber nicht wcifs, in dem wird
wiederholt die Vorstellung erweckt, als sei London, statt nicht oder
mangelhaft vereinigt, zu irgend einer Zeit willkürlich in Stücke ge-
schlagen worden.
Solche kleine Formfehler sind die einzigen Ausstellungen, die wir
an Sinzheimers Buch zu machen hätten. Irgend welchen nennenswerten
faktischen Irrtümern sind wir nirgends begegnet.
Wir haben uns jedoch bisher mehr an den formalpolitischen
Teil der Arbeit gehalten, während ihr grüfster Teil der Schilderung der
wirtschaftlichen und sozialpolitischen Verwaltung Londons im 19. Jahr-
hundert bis z.ur Schöpfung des Grafschaftsrats gewidmet ist. Dieser, für
den Sozialpolitiker so wichtige Teil ist vom Verfasser mit einer Sorgfalt
und Uebersichtlichkeit ausgearbeitet worden, die das höchste Lob ver-
dienen. Wir lernen die Geschichte aller wichtigen Verwaltungszweige
der Hauptstadt unter der Herrschaft der privilegierten Vestries und des
von ihnen in indirekter Wahl gebildeten Betriebsamts kennen, von der
Wohnungspolizei bis zum Drosehkenwesen, von der Gas- und Wasser-
versorgung bis zur Verwaltung der Docks, der Regelung des Ziehkinder-
wesens und der Finanzwirtschaft der Hauptstadt. Es ist da keineswegs
nur Schatten zu verzeichnen, der Londoner Grafschaftsrat ist nicht aus
dunkler Nacht als Lichterscheinung heraufgetaucht. So scharf Sinz-
heimers Kritik ist, so ist sie doch nirgends in anderer Weise tendenziös,
als dies der sozialpolitische Standpunkt des Verfassers der Sache nach
mit sich bringt und erheischt. Er kennzeichnet die Unvollkommenheiten,
aber er verschweigt nicht die Leistungen der früheren Verwaltung. Er
zeigt vielmehr, wie sie, dem praktischen Bedürfnis folgend, schrittweise
zu immer weiteren Reformen vorgeht, bis der Punkt erreicht wird, wo
der Klassenstandpunkt der Vertretung es zu keinem ferneren Fortschritt
kommen läfst. Seine oft sehr lebendigen, mit warmem Gefühl vorge-
tragenen Darlegungen sind eit) höchst wertvoller Beitrag zur NViitschafts*
geschichte des neunzehnten Jahrhunderts; sic veranschaulichen den Zu-
sammenhang privatwirtschaftlicher und öffentlich- wirtschaftlicher l'.nt-
wicklungen in unaufdringlicher, ungezwungener Weise aufs trefflichste.
Der Mangel einer einheitlichen Munizipalität Grofs-Londons ist für die
Unterlassung mancher kommunalistischen Mafsnahmen verantwortlich, die,
wie z. B. die Kommunalisierung der Gas- und Wasserwerke, anderwärts
mit Erfolg ins Werk gesetzt wurden. Aber dafür hat sich die Munizipal-
verwaltung Londons durch bedeutsame Einrichtungen schadlos gehalten,
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Norden holz, A., Allgemeine Theorie der gesellschaftlichen Produktion. 279
die nach anderer Seite hin vorbildlich geworden sind. Hierher gehört
z. B. der den Gasgesellschaften vorgeschriebene gleitende Tarif, der Er-
höhung der Dividenden nur im Verhältnis der Ennäfsigung des Gaspreises
erlaubt. Derartige Mafsnahmen sind um so interessanter, als sie, wie der
Verfasser hervorhebt. Versuche darstellen, das auf Kahlreichen anderen
Wirtschaftsgebieten aktuelle Problem zu lösen, welche Mittel dem
Staat zu Gebote stehen, um die Abnehmer der Erzeug-
nisse kartellierter Unternehmungen vor Ausbeutung zu
schützen (S. 256).
Nach alledem bildet diese, vom Verfasser als „Vorgeschichte" bc-
zeiehnete Arbeit ein in sich selbst abgerundetes Werk von grofsem In-
teresse, einen überaus wertvollen Beitrag zur Verwaltungsgeschichte und
den Verwaltungsproblemen der Gegenwart. Die Litteratur der Sozial-
politik erfährt durch sie eine nicht geringe Bereicherung.
Grofs-Lichterfelde-Berlin. ED. BERNSTEIN.
Nor den hol 2, Dr. jur., Allgemeine Theorie der gesellschaft-
lichen Produktion. München, C. H. Beck, 1901. X und
292 S.
Ein theoretisches Werk nationalökonomischen Inhalts zu schreiben,
erfordert heutzutage einen ungewöhnlichen Mut Denn das Interesse an
rein theoretischen Arbeiten ist offenbar geringer, denn jemals. Waren
die Leistungen eines Roscher und anderer Vertreter der national-
ökonomischen Biedermaierzeit nicht geeignet, den Respekt vor der
Theorie zu erhöhen, so haben die ungeniefsbaren Darstellungen der
Mengerschen Schule vollends die Freude an theoretischen Studien ver-
dorben.
Der Verfasser der vorliegenden Arbeit schlägt selbständige Bahnen
ein. Auffällig ist, dass er, obwohl von gesellschaftlicher Produktion im
allgemeinen die Rede ist, doch nur die kapitalistische Wirtschaftsordnung
im Auge hat und andere Produktionsweisen nur ganz beiläufig erwähnt.
Bei seiner Analyse bedient sich der Verfasser der deduktiven Methode.
Mit grosser logischer Kraft werden aus wenigen Grundbegriffen alle ver-
wickelteren Phänomene abgeleitet. Dabei ist es kein Wunder, wenn
das Kapital lediglich aus der zeitlichen Erstreckung der Produktion, aus
der Verlängerung der Produktionszeit erklärt wird. Bei dem Mangel an
historischer Methode bleibt die Entstehung, wie die geschichtliche Rolle
des Kapitals gleich unfafsbar. Noch mehr aus der Pistole geschossen
ist der Begriff der gesellschaftlichen Autoexploitation oder Selbstaus-
bcutung der Gesellschaft, mit dem der Verfasser operiert. Als Jurist
legt er den Hauptnachdruck auf den Umstand, dafs gewisse Institute
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28o
Litn-ralur.
des öffentlichen Rechts wie des Privatrechts Ausbeutung einzelner Ge-
sellschaftsglieder begünstigen. Dafs auch auf rein ökonomischem Wege
die Ausbeutung einzelner Gesellschaftsgliedcr möglich ist , wird nur
flüchtig angedeutet.
Der Schwerpunkt der Nordenholzschen Arbeit liegt in ihren Aus-
führungen über Verteilung und Austausch. Heide sind nach dem Ver-
fasser zwei völlig koordinierte Formen der Auseinandersetzung über das
gesellschafdiche Produkt. Dem Tauschwert der Waren tritt ein Ver-
teilungswert der Produktionsfaktoren (Kapital und Arbeit) zur Seite.
Während der Tauschwert den Inhalt der gesellschaftlichen Produktion
reguliert, bestimmt der Verteilungswert die Form der letzteren. Ver-
teilungswert wie Tauschwert werden durch die gesellschaftliche Widrig-
keit bestimmt. Der Verteilungswert der Arbeit hängt ab von den
widrigen Effekten der Arbeit. Der Verteilungswert des Kapitals hängt ab
von den widrigen Effekten des Kapitals oder dem Opfer, das der Kapitalist
durch den Verzicht auf unmittelbaren Genufs von Produkten leistet. —
Der Verfasser übersieht, dafs gerade die Arbeiter, denen die widrigsten
Arbeiten obliegen, dafs diese Arbeiter, die wie Maxim Gorki sagt, ihre
Arbeit mit bitterem Hafse hassen, am schlechtesten bezahlt werden. Die
Lehre vom Verteilungswert des Kapitals erinnert zu sehr an die alte,
oft widerlegte Abstinenztheorie.
Gegenliber der oberflächlichen Auffassung vieler Nationalökonomen,
die Arbeitslohn, Zins u. s. w. lediglich aus Zirkulationsvorgängen erklären,
verdient die scharfe Scheidung von Austausch und Verteilung, die der
Verfasser vornimuit, Anerkennung. Im gewissen Sinne begegnet sich der
Verfasser hier mit Marx, der freilich die Verteilungsverhältnisse nur für
eine Kehrseite der Produktionsverhältnisse hält. Wenn nach Nordenholz
der Verteilungswert der Produktionsfaktoren durch den Zugang und Abflufs
von Kapital und Arbeit zu den einzelnen Produktionszweigen reguliert
wird, so zeigt ein Hlick auf die von Marx gegebene Darstellung der
Ausgleichung der Kapitale und der Profitraten, welche komplizierte Vor-
gänge hier vorliegen. Dieselben’ sind weder durch das Spiel des Tausch-
werts noch durch den sogenannten Verteilungswert allen zu deuten. Zu
rügen ist dabei noch, dafs der Verfasser einfache Hegriffe durch kom-
pliziertere erklären will also ignotum durch ignotius deutet. Schon
Malthus hat davor gewarnt, bei der Untersuchung des Werts von Kapital
und Arlieit zu sprechen.
Wenn wir uns gegen den Hauptteil der vom Verfasser verfochtenen
1 heorien ablehnend verhalten, so können wir vielen Fänzelauslührungen
lebhaft zustimmen. Besonders gilt dies von dem Kapitel über die Orga-
nisationsformen der gesellschaftlichen Produktion, wo die juristische Ver-
anlagung des Verfassers sich glänzend bewährt. Schon um dieses
Kapitels willen bleibt das Huch lesenswert.
Bresl'iu. OTTO PRINGSHE1M.
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Die Trusts in Amerika.
Von
HENRY YV. MACROSTY, B. A.
in London.
In der Botschaft, welche der Präsident Roosevelt an den
Kongrefe der Yereinigten Staaten gerichtet hat. hat nichts so sehr
die öffentliche Aufmerksamkeit erregt wie seine Ankündigung, den
Trusts eine legislative Behandlung zu teil werden zu lassen. Schon
früher haben die Präsidenten in ihren Botschaften ihrer Abneigung
gegen die grolsen Unternehmerverbände einen mehr oder weniger
starken Ausdruck verliehen. Doch nie zuvor hatte das Problem
eine seiner Bedeutung und Schwierigkeit entsprechende Würdigung er-
fahren. Dabei hat es ständig an Universalität gewonnen, indem es
sich über alle Industriestaaten verbreitete. In der einen oder anderen
Gestalt erscheint es im schutzzöllnerischen Amerika wie im frei-
händlerischen England, ebenso in Deutschland, Oesterreich, Frank-
reich und sogar in Japan, überall zeigt sich, dal's die Sphäre des
freien Wettbewerbs mehr und mehr eingeengt wird. Die Herr-
schaft über das gewerbliche Gebiet ruht entweder in der Hand
grofser Firmen, die durch Patente geschützt sind, wie der Singer
Sewing Machine Company und der Dunlop Pneumatic Tyre Com-
pany ; oder in der Hand ungeheurer Kapitalvereinigungen, wie es die
Standard Oil Company, die United States Steel Corporation und die
anderen uns bekannten amerikanischen Trusts sind; aber auch in
der Hand von Syndikaten, Gesellschaften und Verbänden von
Fabrikanten, die sich freiwillig auf bestimmte oder unbestimmte
Zeit zusammenschliefsen, um die Löhne, die Produktionsmenge und
die Preise zu vereinbaren. Die alte individualistische, auf dem
freien Wettbewerb beruhende Organisation der Industrie weicht
Archiv für soz. Gesetzgebung u. Statistik. XVII. 19
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282
Henry W. M a c r o s t y ,
immer mehr einer neuen Organisationsform, deren Grundlagen die
Genossenschaft und die Vereinigung sind, während der Wettbewerb
der Industrievölker untereinander immer mehr zunimmt. Wie ein
Gemeinplatz klingt die Behauptung, dafs die am besten organisierten
Unternehmer eines lindes im Konkurrenzkampf um ein bestimmtes
Marktgebiet die minder gut organisierten Unternehmer eines anderen
Landes schlagen werden, und doch ist es diese einfache Thatsache,
welche die gewerbliche Organisation unserer ausländischen Kon-
kurrenten zum Gegenstand eines dauernden und lebhaften Interesses
für uns macht. Um nur ein Beispiel zu erwähnen, sei auf die
Diamond Match Company of America hingewiesen. Dieser „Trust“
beherrscht die Herstellung von Streichhölzern in den Vereinigten
Staaten. Einen besonders hohen Wert legt die Leitung dieser Ge-
sellschaft auf die Zusammensetzung ihrer wissenschaftlichen Kom-
mission. Die Summen, die sie jährlich für Experimente ausgiebt,
belaufen sich auf mindestens 500c» Dollars. Im letzten Jahre allein ver-
wandte sie 250000 Dollars auf den Ankauf von Patenten, und ihre Ver-
treter durchwandern auf der Suche nach neuen Erfindungen die
ganze Welt. In ganz anderer Weise verfahrt die grofse englische
Firma Bryant and May. In dem sicheren Besitz eines grofsen
Namens und gegenüber der Thatsache, dafs sie imstande war, ihr
Aktienkapital mit 17 Proz. zu verzinsen, vernachlässigte sie die Ver-
besserung ihrer Produktionstechnik und fuhr fort mit Maschinen
zu arbeiten, die man in Amerika schon vor 16 Jahren zu dem alten
Eisen geworfen hatte. Die natürliche Folge war, dafs die ameri-
kanische Gesellschaft in das Gebiet ihres englischen Konkurrenten
eindrang und eine Tochtergesellschaft in Liverpool gründete. Nach
einer fünfjährigen Geschäftstätigkeit hatte diese Gesellschaft eine
so starke Position erobert, dafs Bryant and May schließlich froh
waren, ihr Unternehmen an die Diamond Match Company zu ver-
kaufen. Diese für sie demütigende Aufsaugung erschien ihnen an-
nehmbarer als die Fortsetzung des Vernichtungskam pfes. Einen
ähnlichen Angriff versuchte im vergangenen Herbst der ameri-
kanische Tabak-Trust auf die englische Tabakindustrie. Der Trust
setzte sich in England durch Aufkauf einer sehr bekannten Ge-
sellschaft fest. Die englische Tabakindustrie aber ergab sich nicht.
Die Fabrikanten bildeten selbst eine gewaltige Vereinigung, die
Imperial Tobacco Company, der dreizehn hervorragende Firmen
beitraten, und die über ein Kapital von 15 Millionen Pfund
Sterling verfügt. Mit dem amerikanischen Wettbewerb haben
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Die Trusts in Amerika.
283
die englischen und deutschen Eisen- und Stahlindustrieen jetzt nicht
nur auf neutralen Märkten zu rechnen, sondern es ist auch die offen
eingestandene Absicht der United States Steel Corporation — des
„Octopus“ — dieses Trustungeheuers, einen umfangreichen Ausfuhr-
handel — koste es was es wolle — nach allen europäischen Märkten
zu betreiben.
Offenbar liegt es im Interesse aller Fabrikanten und Kaufleute,
der Organisation und dem Geschäftsverfahren der amerikanischen
„Trusts" ein sorgfältiges Studium zu widmen, da die Bewegung zur
Bildung von Verbänden in den Vereinigten Staaten am weitesten
und am schnellsten fortgeschritten ist. Es bietet sich dort auch die
günstigste Gelegenheit, die Mängel und die nachteiligen Folgen
dieser Organisationen zu beobachten. Denn es ist ein seltsames
Phänomen, dafs Amerika trotz der umfassenden Konsolidierungen
seiner Industrieen dem Individualismus treu geblieben ist. Amerika
ist ein neues Land, das von den unternehmungslustigsten Persön-
lichkeiten Europas kolonisiert wurde, und das in einer Art besiedelt
wurde, die Selbstvertrauen und Kraft der Initiative als Haupt-
tugenden erscheinen liefs. Der Nachdruck, der damit auf die Eigen-
schaften gelegt wurde, welche die Stärke der Individualität be-
dingen, wurde in einer späteren Zeit von der Führung der Grenz-
streitigkeiten auf die des Handels übertragen, und es blieb jedem
einzelnen selbst überlassen, seine Interessen zu erkennen und zu
wahren. Vielseitigkeit, Erfindungsgeist, Energie und Entschlossen-
heit wurden in dieser Weise ausgebildet, aber daneben entwickelten
sich auch mannigfache Schattenseiten. Caveat emptor! ist noch
immer der allgemeinste Grundsatz des amerikanischen Geschäfts-
verkehrs, und erst seit wenigen Jahren ist es gelungen, den Eisen-
bahngesellschaften wenigstens eine Idee von den Pflichten, die sie
der Gemeinschaft gegenüber erfüllen müssen, beizubringen. So
sehen wir, wie in der Neuzeit die konsequentesten Individualisten
eine Konsolidierung der Industrie durchführen, von der vielfach an-
genommen wird, dafs sie die Vorstufe zum Sozialstaate bilde.
In einem jungen Lande wie die Vereinigten Staaten geht
die Entwicklung so schnell vorwärts , dafs die Ereignisse der
Gegenwart gar bald vom Staube der Geschichte bedeckt werden.
Glücklicherweise sind wir wenigstens im Besitz des Rohmaterials
für den Aufbau einer solchen Geschichte. Der Kongrefs der Ver-
einigten Staaten nahm am 18. Juni 1898 ein Gesetz an zur Ein-
setzung einer Industriekommission (Industrial-Commission). Der
19*
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284
Henry \Y. Macrostv,
Kommission wurde folgende Anweisung gegeben: „Es soll ihre
Aufgabe sein, Untersuchungen über Fragen anzustellen, die sich aut
die Einwanderung, auf die I-age der Arbeiter und der Landwirt-
schaft , auf die industrielle Produktion und auf den Handel be-
ziehen. Sie soll ferner über die Ergebnisse ihrer Untersuchungen
dem Kongrefs Bericht erstatten und ihm Vorschläge zur Gesetz-
gebung machen, die sie inbezug auf diese Gegenstände für besonders
ratsam hält.“ Eine Abteilung dieser Kommission unternahm in-
folgedessen die Untersuchung der „Trusts und der Gewerbever-
bände". Vorgeladen vor diese Abteilung wurden dann nicht nur
die amtlichen Vertreter der hervorragenden und typischen Trusts,
sondern auch die vieler, in Europa noch nicht bekannter Organi-
sationen, die als Zeugen über die Entstehung und die Führung
ihres Geschäftsbetriebs vernommen wurden. Auch die Gegner und
die Konkurrenten der Trusts kamen vor der Kommission zum
Wort, die nichts unversucht liefs, um die Wahrheit zu ermitteln.
Die Zeugen gaben ihre Aussagen mit überraschender Offenheit, und
selbst grofse industrielle und finanzielle Magnaten deckten die Ge-
heimnisse ihrer Geschäftsführung rückhaltlos auf. Es machte den
Eindruck, als ob sie in dieser Weise das amerikanische Volk auf
ihre Seite ziehen wollten, um den Hafs und den Argwohn, womit
ihr Thun und Treiben betrachtet wurde, nach Möglichkeit zu zer-
streuen. Die Zeugenaussagen sind jetzt in mehreren Bänden von
mehr als 3000 Oktavseiten veröffentlicht, und wir beabsichtigen,
diesem Bericht einige Thatsachen zu entnehmen, die für die haupt-
sächlichsten Erscheinungsformen des wichtigsten aller modernen
wirtschaftlichen Probleme besonders charakteristisch sind.
Das moderne Wirtschaftsleben weist drei Züge auf, die in be-
ständigem Zusammenwirken einen Preisfall hereigeführt haben . . .
Es sind die Transportverbesserungen, die Entwicklung des Welt-
marktes und die Entstehung neuer wirtschaftlicher Gemeinschaften.
Amerika hatte sich durch seinen Schutzzolltarif dem Eindringen
lies fremden Wettbewerbes widersetzt, worunter England z. B. zu
leiden hatte. Aber es scheint, als ob dieser Schutz nur dazu diente,
einem energischen und schrankenlosen Wettbewerbe zwischen den
heimischen Fabrikanten auf dem inländischen Markte einen weiteren
Spielraum zu verschallen.
In dem Bericht heilst es: „Unter den Ursachen, welche zu der
Bildung von Gewerbeverbänden geführt haben , wurde von allen
Zeugen besonders der Wettbewerb hervorgehoben, der mit solcher
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Die Trusts in Amerika. 385
Kraft aufgetreten sei, dafs fast sämtliche konkurrierende Unter-
nehmungen ohne Gewinn arbeiten mufsten“. Das erste und natür-
liche Mittel um die entschwundenen Gewinne wieder zu erlangen,
bildet eine Vereinbarung zwischen den Fabrikanten, wodurch die
Preise in einer annehmbaren Höhe festgesetzt werden. Diese Ver-
einbarungen, welche „Pools" (Kartelle) genannt werden, bestehen
gewöhnlich nur kurze Zeit, denn die vereinbarten Preise sind immer
abnorm hoch. Die übertriebenen Gewinne veranlassen die Ent-
stehung neuer Konkurrenz oder sic schränken die Nachfrage ein
und veranlassen in dieser Weise den Austritt einiger Mitglieder aus
der Vereinigung. „Der Pool verliert dann seinen Hoden“ wie die
Redensart lautet, die Preise fallen, der Gewerbeverband wird auf-
gelöst bis später wiederum ein neuer Pool gebildet wird. Diese
Entwicklungsstufe wird durch häufige Preisschwankungen charakteri-
siert. Sie bestand hauptsächlich in der Whiskey-Produktion (1870
bis 1887), in der Stahlindustrie (1894—1898), in der Fabrikation
von F’ensterglas (1880 — 1900), in dem Anthracit-Kohlengewerbe
(1872 — 1899) und in verschiedenen anderen.
Es stellte sich heraus, dafs eine wirksamere F’orm der Organi-
sation nötig geworden war, und cs gelang im Jahre 1882 dem
Standard Oil-Trust diese Form zu entdecken. Die Gesellschaften,
welche in die Vereinigungen eintraten, übergaben den gröfsten Teil
ihrer Aktien den sogenannten Trustees, welche dadurch eine voll-
ständige Kontrolle über die vereinigten Betriebe erhielten. Die
Trustees gaben dann an Stelle der ihnen anvertrauten Aktien Certi-
fikate aus, die häufig den Wert des ursprünglichen Kapitals mehr-
fach überstiegen. Diese Organisationsform wurde im Jahre 1887
angenommen von dem Destillers und Cattlc Feeders-Trust (Whiskey-
Trust) und von der Sogar Refineries Company (dem Zucker-Trust)
in demselben Jahre.
Es war der neuen Form aber nur eine kurze Existenz be-
schieden, denn sie wurde in verschiedenen Staaten. für ungesetzlich
erklärt und die „Trusts" mufsten wieder aufgelöst werden.
Aber die Auflösung bedeutete auch nicht einmal eine zeit-
weilige Unterbrechung. Der Standard Oil-Trust reorganisierte seinen
Betrieb in zwanzig Gesellschaften, indem er die Trust Certifikate
durch eine entsprechende Menge Aktien der einzelnen Gesellschaften
ersetzte. Die einheitliche Kontrolle wurde dadurch gesichert, dafs
die Mehrzahl der Aktien jeder einzelnen Gesellschaft in den Händen
derselben Person verblieb. Mr. Carnegie nahm bis zu einem ge-
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286
Henry W. Macrosty,
wissen Grade diese Form für die Organisation seines grofsen Stahl-
geschäfts an. Es wurden ungefähr 27 Gesellschaften für die einzelnen
Produktionszweige gegründet und in jeder einzelnen hielt Mr. Carnegie
die Aktienmajorität.
Aul'scr diesem einzigen Falle hat das Beispiel der Standard Oil
Company keine Nachahmung gefunden. Die Methode, die jetzt ge-
wöhnlich angewendet wird, um eine Konsolidierung mehrerer Firmen
oder Gesellschaften durchzuführen, besteht darin, eine neue Gesell-
schaft ins Leben zu rufen, welche die einzelnen Betriebe aufkauft.
In England z. B. ist diese Methode ausschliefslich zur Anwendung
gelangt. Eine andere Methode, die aber nicht so allgemein ver-
breitet ist, ist die, dal's die neue Gesellschaft nicht die einzelnen
Betriebe als Eigentum erwirbt, sondern die grofse Mehrzahl der
Aktien von den ursprünglichen Gesellschaften kauft, in welchen sie
dann die Kontrolle durch Ernennung ihrer Direktoren erlangt. Als
ein Beispiel der letzteren Form mag die Federal Steel Company,
als ein Beispiel der ersteren mag die American Sugar Refining
Company gelten.
In ihrer Gesamtheit stellen sie die letzte Stufe der Trust-
bewegung jin den Vereinigten Staaten dar, denn die einzelnen
Standard Oil Companies werden jetzt auch zu einer grofsen Ge-
sellschaft zusammengefafst. Es ist das ein Verfahren , das von
Mr. Carnegie im Jahre 1 892 befolgt wurde. Es kommt häufig vor,
dafs eine Industrie in mehrere von einander unabhängige Zweige zer-
fallt. In diesem Falle werden besondere Vereinigungen in jedem
einzelnen Zweige vorgenommen und späterhin werden diese einzelnen
Trusts zu einem „Trust der Trusts" zusammengefafst. Beispiele
hiervon sind: The Destilling Company of America, die im Jahre
1899 die American Spirits Manufacturing Company, die Spirits
Distributing Company, die Standard Distilling and Distributing
Company the Kentucky Distillcries and Warehouse Company und
fünf Getreide- Whiskey-Firmen in sich aufnahm. Die im Jahre 1901
gegründete United States Steel Corporation umfafst die Carnegie
Steel Company, die National Steel Company, die American Tinplate
Company, die National Tube Company, die American Sheet Steel
Company, die American Bridge Company, die American Steel Hoop
Company, die American Steel and Wire Company und die Oliver
Company. Die im September 1901 gebildete Consolidated Tobacco
Company umfafst die American Tobacco Company, die Continental
Tobacco Company, die American Cigar Company und die American
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Die Trusts in Amerika.
287
Snuff Company. Die Gesellschaften, welche die Glieder dieser drei
grofsen Organisationen bilden, waren selbst wieder aus Vereinigungen
hervorgegangen. Eine weniger öffentliche Form der Vereinigung be-
steht in der Interessengemeinschaft der grofsen Finanzmagnaten wie
Mr. Pierpont Morgan und Mr. Rockefeiler, die in vielen Gesellschaften
einen grofsen Teil der Aktien besitzen. So kommt es, dafs eine be-
deutende, wenn auch unausgesprochene Vereinigung zwischen dem
Steel Trust und den Eisenbahn- und Dampfschiffsgescllschaften be-
steht.
Nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch haben wir den Aus-
druck „Trust" angewendet, selbst wo er nicht mehr am Platze ist.
Er wird im allgemeinen jeder Vereinigung beigelegt, die ein Monopol
anstrebt und das Odium, welches dieser Bezeichnung in den An-
langen des Zucker- und Petroleum-Trusts anhaftete, ist jetzt auch
auf Organisationen übertragen, die eine andere P'orm haben, aber
noch immer weitverbreitete Abneigung und Unzufriedenheit erregen.
Dieser Hafs hat aber die Ausbreitung der Bewegung nicht ver-
hindern können. Die folgende Tabelle, die nur die von der Kom-
mission untersuchten Trusts erwähnt, enthält die hauptsächlichsten
Daten über die Gröfse der Trusts und den Umfang der Kontrolle,
die sie ausüben. Ihre Zahlen machen indessen keinen Anspruch
auf Vollständigkeit.
(Siche die Tabelle S. 2 SS u. 289).
Es sind das alles Gründungen, die im Laufe der letzten Jahre
ins Leben gerufen wurden. Aufscr diesen sind noch zu nennen:
die Otis Elevator Company, welche die Herstellung von Aufzügen
jeder Art beherrscht; die Consolidated Ice Company, die durch ihre
Beziehungen zur demokratischen Parteipolitik New Yorks in
schlechten Geruch kam ; die Union Typewriter Company, die unter
Beibehaltung der äufseren Konkurrenzform , die Herstellung der
hauptsächlichsten Schreibmaschinen monopolisiert; die American
Telephone and Telegraph Company, die auch den Markt fast aus-
schliefslich beherrscht. Schliefslich ist noch die Northern Securities
Company zu erwähnen, die im November 1901 mit einem Kapital
von 1017 Millionen Dollars gegründet wurde, um die Aktien mehrerer
grofser Eisenbahngesellschaften zu erwerben.
Wie schwierig es ist, den Fortschritten der Trustbewegung zu
folgen, ergiebt sich aus der Thatsache, dafs die Gesellschaften,
welche im Jahre 1898 in den Vereinigten Staaten zum Zweck von
Konsolidierungen gegründet wurden, über ein Gcsamtkapital von
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288
Henry W. Macrosty,
Namen der Vereinigungen
Jahre
Ausgegebenes
Aktien- und
Leihkapital
Die Produk-
tion der Ver-
einigung als
Prozentsatz d.
'I ausend
Dollars
gesamten ame-
rikanischen
Produktion
Distilling Company of America (Whiskey)
1887 — 1899
77 5«>
80
l’nited States Steel Corporation (Stahl) .
1892—1901
I 297 000
70
Consolidated Tobacco Company (Tabak)
1890 1901
187 844,6
70
American Sugar Retining Company(Zuckcr)
1887
75000
90
National Shcar Company
1898
2 4IO
60
International Silver Company (Silber)
1898
«5 007,5
60
Standard Oil Company (Petroleum) . .
1882 — 1899
1 10 000
82
National Starch Company (Stärke)
United States Rubber Company (allgc-
1899
6 420
Die gesamte
Buchsenstarke
meine Gummiwarcn) ......
Rubber Good Manufacturing Company
1892
26000
1 “
(Boots)
1898
25 OOO
J
American Chisle Company (Kaugummi) .
United States Shuttle and Bobbin Com-
1899
9 000
65
P»ny
1901
1 850
85
American Smelting and Retining Com-
panv (Silber und Blei)
—
54800
85
PitLsburg Coal Company (Anthracit) . .
General Aristo Company (Photograph.
1899
64 000
IOO
Papier)
1899
4 800
75
Pittsburg Plate Glass Company(Spiegelglas)
American Window Glass Company
1895
14 000
7*
(Fensterglas)
1899
17 000
73
National Salt Company (Salz) ....
1899
12 000
75
National Wall Paper Company (Tapeten)
1892
35 500
60
American Thrcad Company (Garn) . .
Royal Buking Powder Company (cream
1898
14 900
33
of tartar powders, Backmehli . . .
1899
20 000
50
International Paper Company (Papier) .
General Chemical Company (Chemische
1898
48 000
60
Produkte)
1899
15428
50
National Asphalt Company
American Cotton Oil Company (Baum-
1900
20 750
90
wollöl)
1889
33 435
--
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Die Trusts in Amerika. 2$Q
Namen der Vereinigungen
Jahre
Ausgegebenes
Aktien- und
Leihkapital
in
Tausend
Dollars
Die Produk-
tion der Ver-
einigung als
Prozentsatz d.
gesamten ame-
rikanischen
Produktion
United States Leatber Company (Leder) .
i 894
1 4 :o
5°
American Bicydc Companv
i s<,<,
40 000
65
Borax Consolidated
1899
7000
100
Glucose Suu.ir Kitinidg Company . . .
>%7
40 OOO
95
Nach einer anderen Quelle, die uns
vorliegt, seien noch hinzugefügt :
The Prcsscd Steel Car Company . . .
—
25 OOO
—
The American Car and Koundrv Company
—
30 OOO
-
National Enamclling and Stamping Comp.
—
30 OOO
—
American Beet Sugar Company (Rüben-
zucker)
—
20 000
—
American Malting Company (Malz) . .
—
15000
—
Havana Comracrcial Tobacco Company
(Tabak)
—
20 OOO
—
National Linseed Oil Company (Lein-
saatöl i
iS 000
—
National Biscuit Company
—
4 5 000
—
United States Varnish Company . .
—
36 000
—
General Electric Company
—
20 S27
—
Amalgamatcd Copper Company (Kupfer)
—
155 000
—
United States Cast fron and Koundrv
Company (Gufseisen)
—
25 000
—
General Carriage Company of New York
(Transportgesellschaft)
--
25 000
—
National Electric Corporation ....
—
50 000
—
Cotton Prints Company
—
100 000
—
American Pottcries Company ....
—
27 000
—
American Spring and Axlc Co. Pullman
Car Company
—
12 500
—
Sanitär)' Enamelled Ware Manufacturers
—
74 "OO
—
American Stove Company
—
7 5 00
—
Alabama Consolidated Coal and Iron
Company
—
2 000
—
Standard Chain Company
—
5 000
—
American Steel Castings Company
—
1 5 000
—
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290
Henry W. Macrosly,
900 Millionen Dollars verfügten; während die Gesellschaften, die in
der ersten Hälfte des Jahres 1899 entstanden, mit 3100 Millionen
Dollars kapitalisiert waren. Das Gesamtkapital der Trusts, die
Ende 1899 existierten, wurde auf 8000 Millionen Dollars geschätzt
— es sind das in der That riesenhafte Summen! Das Tempo der
Entwicklung ist seit jener Zeit etwas langsamer geworden; denn
das Anlage suchende Publikum ist bei dem kolossalen Anwachsen
der Ccrtifikatenflut etwas znrückhaltcnder geworden. Unter dem
Einflufs der Kritik hat die Bewegung jedoch nur an Stetigkeit und
innerer Gesundheit gewonnen ; von einem Stillstand kann keines-
wegs die Rede sein.
Sehr wenige der in unserer Eiste angeführten Trusts sind im
Besitz eines absoluten Monopols; aber im Anschlufs an die darin
enthaltenen Zahlen ist zu beachten, dafs die American Tin-Plate
Company 90 Proz. der gesamten VV'eifsblech-Produktion der Ver-
einigten Staaten hervorbringt; die American Steel and Wire Com-
pany liefert 90 Proz. der gesamten Produktion von Drahtstiften und
60 Proz. der gesamten Produktion von Draht; die National Tube
Company produziert fast sämtliche Röhren und die American Bridge
Company 90 Proz. der Brücken, die in den Vereinigten Staaten ge-
baut werden; die Standard Oil Company stellt aufserhaib ihrer
Raffinerie 82 Proz. des rohen Oels her; und die Destilling Company
of America betreibt 66 Proz. des Grofshandels. Diejenigen Trusts,
welche 70 oder 80 Proz. einer Ware hervorbringen, sind imstande,
wie ein Kapitalist bemerkte, den Preis ihrer Waren durch Produktions-
cinstellung zu bestimmen. Sie beherrschen den Markt und setzen
ihre eignen Preise fest, die dann gewöhnlich von den unabhängigen
Produzenten angenommen werden. So bestimmen z. B. die Standard
Oil Company und die American Sugar Refining Company täglich
die Preise nach dem Stande des Marktes, und die erstere bestimmt
aufserdem als gröfster Produzent den Preis des rohen Oels. Die
American Tin-Plate Company übt in jeder Weise einen den Markt
beherrschenden Einflufs aus.
Die Trusts streben, aufser der Herrschaft des heimischen
Marktes auch die der ausländischen Märkte zu erlangen, und sie
sind jetzt schon die grolsen Exporteure amerikanischer Fabrikate.
So liefern z. B. die Carnegie Steel Company und die Standard Oil
Company 70 bezw. 90 Proz. der gesamten Stahl- und Petroleumaus-
fuhr. Der Aul’scnhandel hat natürlich die Amerikaner mit den
europäischen Produzenten in feindliche Berührung gebracht. Die
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Die Trusts in Amerika.
29
Standard Oil Company hat die schottischen Pctroleumproduzenten
ruiniert und teilt sich jetzt mit den Rothschilds und mit Nobel in
Europa. Es ist schon früher auf das Eindringen des Streichholz-
und des Tabaktrusts in England hingewiesen worden. Der nächste
Schritt der Entwicklung ist die Gründung von internationalen Trusts.
Die Borax Company beherrscht die Boraxfelder von Nord- und
Südamerika ; die American Thread Company und die grofsen eng-
lischen Vereinigungen J. und P. Coats Limited und die englische
Sewing Cotton Company sind miteinander durch gegenseitigen
Aktienbesitz verbunden, und sie beherrschen den Welthandel in
Nähgarn. Der Präsident der American Steel and Wire Company
sagte aus, dals er versucht habe, eine internationale Vereinigung
mit den Drahtproduzenten Englands, Deutschlands, Belgiens, Frank-
reichs und Oesterreichs zu gründen. Der Versuch sei aber daran
gescheitert, dafs man den Amerikanern nur 45 Proz. der Produktion
gestatten wollte, während sie 50 Proz. beanspruchten. Es ist ferner
beachtenswert, dals nach seiner Ansicht der deutsche Ausfuhrhandel
in Draht nur durch die günstigen E'rachtbedingungen seitens der
Staatseisenbahnen und der staatlich unterstützten Schiffahrtsgesell-
schaften gerettet worden sei, und dafs die deutschen Fabrikanten
die Vereinigung als ein Mittel erstrebten, um den Preis pro Tonne
um 120 Mk. zu erhöhen, während er selbst nur eine Erhöhung
um 40 Mk. beabsichtigte.
Glücklicherweise ist die Gefahr der internationalen Trusts noch
nicht sehr drohend, denn es wird noch einige Zeit dauern, bis die
nationale Eifersucht völlig durch das Verlangen nach erhöhtem Ge-
winn überwunden ist. Nachdem wir lediglich darauf hingewiesen
haben, können wir wieder darauf zurückkommen, wie die ameri-
kanischen Trusts die Herrschaft über den inländischen Markt aus-
zuüben suchen. In dem natürlichen Verlauf des Konkurrenzkampfes
üben die Konsumenten durch ihre Nachfrage nach billigen Waren
einen Druck auf den Kleinhändler aus. Der Kleinhändler überträgt
diesen Druck auf den Grolshändler und dieser auf den Fabrikanten.
Die Abwälzung der Preiskürzungen veranlafst den Fabrikanten
nun seinerseits, den Grolshändler auszuschalten und in direkte Be-
ziehungen mit dem Kleinhändler zu treten. Ja es kommt vor, wie
in den Gewerben der Fahrrad- und Nähmaschinenproduktion, dals
beide Händlergruppen ausgcschaltet werden und eine direkte Ver-
bindung zwischen dem Fabrikanten und dem Konsumenten her-
gestellt wird. Ist diese Ausschaltung in irgend einem Gewerbe
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292
II en r y W. Macrosty,
nicht durchzufuhren, so sehen sich die Fabrikanten zur Vereinigung
gezwungen. Fs lassen sich verschiedene Beispiele für die Ver-
einigten Staaten anführen, in welchen die Zwischenhändler eliminiert
worden sind. So wurde z. B. von dem Whiskeytrust die Spirits
Distributing Company und die Spirits Distilling und Distributing
Company organisiert, um dadurch sich das höchst einträgliche Ge-
schäft der Spritmischung und Rektifikation anzueignen, das bisher
von den Grofshändlern betrieben worden war. In einem anderen
halle versuchten die Jobbers oder Grofskaufleute von Spiegelglas
die Pittsburg Plate Glass Company zu zwingen, denjenigen Käufern,
die nicht der Jobbervereinigung angehörten, die hauptsächlichsten
Glasartcn nicht zu verkaufen. Infolgedessen sah sich die Plate Glass
Company genötigt, selbst Warenhäuser zu eröffnen, und sie hat für
die F.rrichtung derselben 4000000 Dollars verausgabt. Die Gesell-
schaft verkauft an jedermann, und da der Verkauf von Spiegelglas
allein nicht die Gründung von Filialen gestatten würde, so ver-
kaufen sie auch Fensterglas, Farben und andere Gebrauchsartikel
für Maler.
Häufiger aber sind die Fälle, in welchen der Trust nicht danach
strebt den Zwischenmann auszuschalten, sondern nur danach seinen
Geschäftsbetrieb zu regulieren und ihn in einen Agenten zu ver-
wandeln. Der Zwischenmann ist in der That der geschlossenen
Vereinigung gegenüber völlig ohnmächtig; und da unter dem Druck
der Konkurrenz und der Macht der Kleinhändler seine Gewinne immer
mehr reduziert werden, so muls er sich Iredingungslos ergeben.
Nach einer Vereinbarung, die in der amerikanischen Geschäfts-
sprache „Factors agreemenf' (Faktor = Agent) genannt wird, wird
er verpflichtet, seine Waren zu dem festen Preise zu verkaufen, zu
welchem er sie selbst erhält. Kann er nachweisen, dafs er diesen
Verpflichtungen nachgekommen ist, so erhält er nach einiger Zeit
einen Rabatt oder Abzug von diesem l’reisc und dieser Rabatt
bildet seinen einzigen Gewinn. Die Entwicklung dieses Rabatt-
systems ist lehrreich. Die Wholesale Groccrs Association wurde
im Jahre 1888 gegründet, um die I-age des Gewerbes zu heben.
Fis sollte das geschehen durch Preiserhöhung einzelner Waren, die
unter dem Druck der Konkurrenz zum Kostenpreisc verkauft
worden waren. Während eines Zeitraumes von 15 Monaten setzte
sie eine Erhöhung des Zuckerpreises um 1 4 Cent für das Pfund
durch, bis durch das Eintreten einer neuen F'irma der Preis wieder
herabgedrückt wurde.
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Die Truste in Amerika.
293
Schließlich im Jahre 1895 traten sie an den Zuckertrust
heran, und nach einigen Verhandlungen liefs sich dieser herbei,
ihnen den Zucker zu 5 3/,# Cents statt zu 5 Cents für das Pfund
zu liefern. Der Kleinhändler sollte dann nicht weniger als den
Lieferungspreis bezahlen. Diese Preiserhöhung hatte daher der
Konsument zu tragen, obgleich der Trust enorme Gewinne machte.
Erklärte der Grofshändler nach Verlauf von 3 Monaten, dals er
den Preis aufrecht erhalten habe, so wurde der Preisaufschlag ihm
wieder zurückerstattet. In dieser Weise erhielt er einen Gewinn
von 4 Proz., da aber seine Geschäftsunkosten 6 '/, Proz. betrugen,
so arbeitete er noch immer mit einem merklichen, wenn auch ge-
ringeren Verlust. Später gewährte man diesen Rabatt, ohne dals
eine Erklärung vorher abgegeben worden war, und als die Kon-
kurrenz durch Gründung neuer Zuckcrraffincrieen wieder zunahm,
wurde der Rabatt allgemein zugestanden und der Grofshändler
wurde keinerlei Beschränkungen inbetreff seiner Bezugsquellen unter-
worfen. Noch einen Schritt weiter ging der Sodatrust, — dieser
zahlte den Rabatt nur unter der Bedingung, dals die Soda, die von
anderen Fabrikanten bezogen wurde, nicht zu niedrigeren Preisen
verkauft werden sollte und dafs der Verkauf nicht mit besonderem
Eifer betrieben werde. Der Whiskeytrust legte dein Grofshändler
noch eine schärfere Verpflichtung auf, indem er den Rabatt nur
dann zugestand, wenn der Grofshändler seine sämtlichen Waren von
dem Trust bezog.
Die Vereinbarung der American Tobacco Company (welche
die Zigaretten-Produktion beherrscht) bestimmte, dafs dem Grols-
handelsagenten, der die vorgeschriebenen Preise einhält und nicht
die Waren anderer Fabrikanten bevorzugt, 2 '/* Proz. Diskont be-
willigt werde. Wenn er aber ausschliefslich die Produkte der
American Tobacco Company vertrieb, so erhielt er aufserdem noch
einen Diskont von 7 Proz. Diese Gesellschaft will dieses Ver-
fahren jetzt aufgegeben haben, dagegen scheint cs noch von der
Continental Tobacco Company angewendet zu werden. Dieser
Trust, der mit Kuchentabak handelt, gab 5 1 Proz. Diskont allen
Grofshändlcrn, welche sowohl die Waren gewisser, alter Firmen
wie die neuen Sorten, die seit der Gründung dieser Gesellschaft
auf den Markt gebracht sind, nicht führen. Da aber dieser Diskont
nicht ausreichte, um einen Gewinn zu machen, so ist leicht einzu-
sehen, welche gefährliche Waffe der Trust damit besafs. Sie ist
um so gefährlicher, als die American Tobacco Company ungefähr
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294
Henry W. Macrosly,
100 beliebte Zigarettensorten und die Continental Tobacco Com-
pany ungefähr 7 5 Arten von Kuchentabak besitzt. Darunter be-
finden sich Waren, die kein Tabakhändler entbehren kann. Zudem
machte man einen erfolgreichen Gebrauch von dieser Waffe ; denn in
einem 1897 erschienenen Pamphlet wird bemerkt, dass 79 Händlern
die Zusendung von Trust-Produkten verweigert wurde, weil sie
Konkurrenzwaren vertrieben oder die Preise gedrückt hatten. Die
General Aristo Company fabriziert photographisches Papier, das sie
durch die bekannte Eastman Kodak Company (eine Organisation,
die Zweiganstalten in Deutschland, Frankreich und England besitzt)
auf den Markt bringt. Die beiden Gesellschaften sind durch ihren
Besitz sehr eng miteinander verbunden, und ihre Waren müssen in-
folge der allgemeinen Nachfrage von jedem Händler auf Lager ge-
halten werden. Sie bieten allen Händlern in photographischen
Artikeln, welche die vereinbarten Preise einhalten, einen Diskont
von 1 5 Proz. und denjenigen, die keine Waren ihrer Konkurrenten
verkaufen, einen Extradiskont von 12 Proz. Sie gehen in ihrem Be-
streben, die ausschliefsliche Kontrolle über den Markt zu erlangen,
sogar noch weiter. Der Vizepräsident des General Aristo Company
gab zu, dafs „die Eastman Kodak Company dahin strebe, alleinige
Agenten für sich zu erlangen". Er sagte ferner: „Ich glaube nicht,
dafs die Eastman Kodak Company sich mit einem Händler ein-
lassen würde, der nicht bereit wäre, ihre sämtlichen Artikel aus-
schliefslich zu fuhren. Es liegt ihnen nicht daran, an ihn zu ver-
kaufen, ohne dai's er auf dem Absatz ihrer Waren seine ganze
Energie konzentriert.“
Diese Beispiele werden genügen. Andere, vor der Kommission
abgegebene Zeugenaussagen lassen nicht nur die weite Verbreitung
dieses Mifsbrauchs erkennen, sondern auch die Thatsache, dafs er im
allgemeinen des Beifalls der Grofs- und Kleinhändler sicher war;
denn diese erlangten dadurch auf Kosten der Konsumenten einen
Teil des Gewinns, um den die selbstmörderische Konkurrenz sie
gebracht hatte. Pis ist dieses Verfahren keineswegs auf Amerika
beschränkt. In England besteht eine bemerkenswerte Organisation
der Chemiker und Drogisten, die Proprietary Articles Trade Asso-
ciation, zu der 86 P'abrikanten und 3500 Kleinhändler, deren Ge-
samtzahl 90c» beträgt, gehören. Wenn ein Chemiker, welcher dem
Verbände angehört, irgend einen Artikel der vereinigten Fabrikanten
unter dem angesetzten Preise verkauft, so wird ihm die Lieferung
sämtlicher Waren, die von diesen Fabrikanten hergcstellt werden.
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Die Trusts in Amerika.
295
abgeschnitten. Die Kolonialwarenhändler bemühen sich, eine ähn-
liche Vereinbarung für den Verkauf von Thee, Kaffee, Kakao,
Stärke etc. zustande zu bringen. Es sind das Artikel, die grofsen-
teils unter dem Namen der Fabrikanten, die sie für den Kleinhandel
verpacken, verlangt werden.
Die Trustbewegung leidet trotz ihres weitverbreiteten Erfolges
an gewissen Mifsbräuchen, welche nicht nur die Interessen der
Nation, sondern auch das innere Gleichgewicht des Trusts bedrohen.
Der Präsident Roosevelt erwähnte in seiner an den Kongrefs ge-
richteten Hotschaft einen der hauptsächlichsten Uebelstände, indem
er die Notwendigkeit einer legislativen Hchandlung der Ueber-
kapitalisation betonte. In dem Bericht der Industrie-Kommission ist
darüber folgendes gesagt : „Es läfst sich aus den von der Kommission
aufgenommenen Zeugenaussagen im allgemeinen der Schlufs ziehen,
dals die Kapitalisation dieser Vereinigungen den Wert ihres wirk-
lichen Vermögens einschlicfslich ihres Patentbesitzes ganz beträcht-
lich übersteigt. In einigen Fällen, in welchen man mit einer ge-
wissen Mäfsigung vorgegangen ist, beträgt der Wert der aus-
gegebenen Aktien (sowohl der Vorzugsaktien, wie der gewöhnlichen
Aktien) den doppelten und dreifachen Wert des wirklichen Ver-
mögens, während in den meisten Fällen das Aktienkapital in gar
keinem Verhältnis zu dem thatsächlichen Wert der Anlagen und
Patente steht, wie z. B. in einem Falle, wo ein Vermögensbesitz
von vielleicht 500000 Dollars zu 8 Millionen Dollars kapitalisiert
worden war.
Es scheint im allgemeinen der Brauch zu sein, Vorzugsaktien
( preferred stock) auszugeben , um den Wert des konkreten Ver-
mögens darzustellen, und gewöhnliche Aktien (common stock) für
einen gleichen Betrag abstrakten Vermögens, wie für den Ruf der
Firmen, für die infolge der Konsolidierung zu erwartende Gewinn-
steigerung etc.
Als die American Tin-Plate Company gegründet wurde, brachten
die einzelnen Verkäufer ihre Betriebe zu dem höchsten Preise, den
sie erhalten konnten, in den Trust ein. Dieser Preis umfafste nicht
nur die konkreten Aktiva, sondern auch das Vertrauen in den Akt
der Konsolidierung. Aufserdem schätzten sie die Werte nicht nach
dem wirklichen Stande der Industrie, die damals nicht weit vom
Zusammenbruch war, sondern nach der Besserung, die als ein Er-
gebnis der Konsolidierung zu erwarten war. Sie erhielten ihre Be-
zahlung entweder in barem Gelde oder in Vorzugsaktien im Betrage
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296
Henry W. M a c r « s t y ,
des nominellen Wertes ihrer Betriebe und außerdem einen gleichen
Betrag gewöhnlicher Aktien als Prämie. Die Kapitalisten, welche
das Betriebskapital zur Verfügung stellten, erhielten dafür einen ent-
sprechenden Entgelt. Eine ähnliche Ueberkapitalisation fand statt bei
der National Steel Company, der American Steel Hoop Company,
welche ebenso wie die Tin-Plate Company jetzt in die United
States Steel Corporation aufgegangen sind, und ebenso bei der
National Biscuit Company. Diese Gründungen haben gewils schon
einen äufserst fiktiven Charakter, aber es lassen sich noch krassere
Beispiele anführen. Der alte Whiskeytrust übernahm seine Sprit-
fabriken zu einem Werte, der den faktischen Wert um das vier-
fache überstieg und die Standard Distilling und Distributing Com-
pany bezahlte den sechsfachen Wert für einige Betriebe, die sic
ankaufte. Vor der legislativen Kommission des Staates New York
(allgemein bekannt als die I.cxow Trust Kommission), die im Jahre
1897 ernannt wurde, sagte der Präsident der American Tobacco
Company aus, dafs die fünf Betriebe, welche zuerst angekauft
wurden, mit 10 Millionen Dollars in Vorzugsaktien und 15 Millionen
Dollars in gewöhnlichen Aktien bezahlt wurden. Hiervon kamen
5 Millionen Dollars auf Barvermögen, Land, Gebäude und ähnliche
Aktiva, vierhunderttausend Dollars kamen auf Maschinen und
19 Millionen sechshunderttausend Dollars repräsentierten den Wert
des Vertrauens , der Fabrikmarken , der Produktionsprozesse und
der übernommenen Patente. Herr Havcmeyer, der Präsident der
American Sugar Refining Company bezeugte vor der Industrie-
kommission, dafs die Hälfte seines Kapitals, das 75 Millionen
Dollars beträgt, zum Bau und zur Ausrüstung von Fabriken aus-
reichen würde, welche die 90 Proz. des amerikanischen Zuckers
produzieren könnten, welche dem Trust zufallen. Vor der Lexow
Kommission hatte er erklärt, dafs die 1 5 Gesellschaften, die ur-
sprünglich den Zuckertrust bildeten , ihre Betriebe zu Wert-
schätzungen einbrachten, die in keinem Verhältnis zu den fak-
tischen Werten standen. Ihr Wert wurde von den ursprünglichen
Eigentümern ohne vorhergehende unparteiische Untersuchung fest-
gestellt. Zu derselben Zeit kam ein seltsamer Fall zur Erörterung :
Mr. Searles, der Sekretär ries Trusts kaufte eine Zuckerfabrik für
325 000 Dollars, deren Eigentümer in den Trust nicht cintreten
wollten. Einer der Eigentümer bezeugte, dafs sie nach seiner und
seiner Kollegen Ansicht dabei ein gutes Geschäft gemacht hatten.
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Die Trusts in Amerika.
29 7
Mr. Searles verkaufte dann die Fabrik an den Trust für 700000
Dollars, die er in Certifikaten erhielt.
Eis ist unnötig, bei diesem Punkte noch weiter zu verweilen.
Die Anklage der Ueberkapitalisation besagt nicht, dafe überhaupt
kein Wert auf den Ruf der Firma und auf ihre Leistungsfähigkeit
gesetzt werden soll; es wäre das eine Verkennung offenbarer That-
sachen. Aber der amerikanische Gebrauch, den Wert des Ver-
trauens zu dem sieben bis vierzehnfachen Betrage der Jahresgewinne
einzuschätzen, ist weit eher zu verwerfen als der englische Gebrauch
des dreijährigen Kaufes. Aufserdetn hat die englische Erfahrung
der letzten Jahre gezeigt, welche grol'se Gefahren in der Ueber-
schätzung der Patente, der Fabrikmarken und ähnlicher abstrakter,
wenn auch wertvoller Aktiva liegt, denn diese können leicht durch
neue Erfindungen oder neue Geschmacksrichtungen ersetzt werden.
Als im Jahre 1891 die United Alkali Company gegründet wurde,
legte sie auf ihre Patente einen grofsen Wert. Als aber ihre an-
fänglichen Gewinne die Veranlassung gaben zur Entdeckung neuer
Produktionsprozesse, konnte sie sich auf dem Markte kaum noch
halten. Von einer ähnlichen Erfahrung wissen die englischen Fahr-
radgescllschaften zu erzählen. Mr. Havemeyer gab zu, dals der
Zuckertrust Fabriken weit über ihren Wert angekauft habe, um die
Konkurrenz zu vernichten. Der Trust habe sich dann schadlos
gehalten durch eine Preiserhöhung, die er nach der Beseitigung der
Konkurrenz vornehmen konnte. Von einem finanziellen Standpunkt
aus mag das zulässig sein, aber es ist immer riskant, da die Höhe
der Preise häufig neue Konkurrenten ins Leben ruft. Wenn wir
spekulative Werte vor Augen haben, wie die, auf welche der
folgende Auszug aus dem Prospekt der United States Rubber
Company hinweist, so mufs ein verdammendes Urteil ausgesprochen
werden, ln dem Prospekt heilst es: „Die gewöhnlichen Aktien
sollen unter anderem den Wert darstellen, welcher durch die Er-
höhung der Erwerbsfähigkeit, die der Konsolidierung zu verdanken
ist, geschaffen wird.“ .Solche Antizipationen zukünftiger Gewinne
lassen sich in keiner Weise rechtfertigen.
Im günstigsten Falle können wir die Aktien nur als eine
Prämie betrachten ; im ungünstigsten Falle sind sie ein Spielobjekt
und ein Mittel die Gewinne des Promoters zu steigern. Der Pro-
moter spielt eine sehr wichtige Rolle in der Geschichte der Trust-
bewegung. Es kommt häufig vor, dal's die einzelnen Unternehmer
in einer bestimmten Industrie zwar den Wunsch hegen, sich zu ver-
Atchiv für so/. Gesetzgebung u. Statistik. XVII. 2o
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298
Henry >1. Macrusty,
einigen, einander aber nicht genug trauen, um einer gemeinschaft-
lichen Kommission die Mitteilungen zu unterbreiten, welche für die
Organisation der neuen Gesellschaft nötig sind. Sie fürchten, dafs
jemand eine genaue Kenntnis von dem Geschäftsbetriebe seiner
Konkurrenten erlangen könne, der dann im letzten Augenblick sich
weigern würde, der Vereinigung beizutreten. Er wäre dann im-
stande, die erlangten Kenntnisse zu seinem eigenen Nutzen zu ver-
werten. Eine unparteiische Persönlichkeit ist daher unentbehrlich,
um die Vorverhandlungen im Geheimen zu führen und durch seine
Uebcrredungskunst eine genügende Zahl von Unternehmern zum
Beitritt zu veranlassen. Seine Funktionen gehen aber noch weiter.
Soll irgend eine Gesellschaft gegründet werden — handele es sich
nun um eine Konsolidierung oder nicht — so wird in England zu-
nächst ein Prospekt veröffentlicht, welcher Angaben über den Wert
der übernommenen Vermögensgegensländc enthält, über die jährlichen
Gewinne etc., und wenn auch die Aktienausgabe bisweilen durch
eine Anzahl Gründer gesichert ist, so wendet man sich im allge-
meinen doch direkt an die Anlage suchenden Klassen, um Kapital
zu erlangen. In den Vereinigten Staaten geht man in anderer
Weise vor. Die Aktien werden dort von den Banken übernommen,
welche sie nachher an die Börse bringen. Die Angaben, die in
England nötig sind, um den Erfolg zu sichern, werden in Amerika
nicht gemacht und der Erfolg der Emission beruht fast ganz auf
dem Ruf der betreffenden Finanzleute. Eine derartige Geheim-
haltung hat natürlich schädliche Folgen für das Anlage suchende
Publikum und das ganze System schliefst die Tendenz ein, die Ge-
sellschaft mit überflüssigem Kapital zu belasten. Der Finanzmann
erhält für seine Dienste gewöhnlich eine Prämie in gewöhnlichen
Aktien. Es werden ihm für jede hundert Dollars, die er in barem
Geldc liefert, hundert Dollars in Vorzugsaktien und hundert Dollars
in gewöhnlichen Aktien überwiesen. In gleicher Weise werden die
Leistungen des Promoters bezahlt, die darin bestehen, die Finanz-
iere zum Beitritt zu bewegen. Seine Vergütung ist im allgemeinen
eine sehr ansehnliche, hat aber einen spekulativen Charakter. Der
Promoter der American Tin-Plate Company erhielt io Millionen
Dollars in gewöhnlichen Aktien als Entgelt für seine Auslagen und
Dienste. Derselbe Herr ist auch der Promoter der American Steel
Hoop Company und der National Steel Company. Er erhielt in
beiden Fällen je 5 Millionen Dollars in gewöhnlichen Aktien.
Die Promoter der Dcstilling Company of America erhielten un-
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Die Trusts in Amerika.
299
gefahr 20 Millionen Dollars in Vorzugsaktien und gewöhnlichen
Aktien.
Der Geldwert dieser Summe betrug wahrscheinlich weniger
als die Hälfte ihres Kennwertes und konnte nur langsam realisiert
werden; denn das Angebot einer so grofsen Aktienmenge würde
den Preis erheblich gedrückt haben. Nachdem alle möglichen Ab-
züge gemacht sind, bleiben die Gewinne doch noch enorm hoch
und es kann uns nicht überraschen, wenn in dem Bericht der In-
dustriekommission gesagt wird : „Man kann mit Recht behaupten,
dafs der Vorgang der Gründung und der Kapitalisation sich oft in
einem entschiedenen Gegensatz zu den öffentlichen Interessen be-
findet. Das sollte verhindert werden."
Der Mii'sbrauch der Ueberkapitalisation ist an sich grofs genug,
indem er die Kapitalisation steigert und einen ungesunden Einflufs
auf die Industrie ausübt, er würde indessen noch gröfser sein, wenn
ernstlich versucht würde, für die gewöhnlichen Aktien Dividenden
zu zahlen. Glücklicherweise ist solch ein Fall selten wie der, dafs
die American Sugar Refining Company 12 Proz. Dividenden zahlte
und die National Tube Company 8 Proz. Fis wäre sonst die not-
wendige Folge, dafs die Preise für die Konsumenten erhöht werden
mülsten. Dagegen wird die Dividende für die Vorzugsaktien ge-
wöhnlich bezahlt, und wenn ein Gewinnüberschufs vorhanden ist,
so wird er entweder dem Reservefonds zugeführt, oder zur Aus-
dehnung des Betriebes verwendet. Immerhin ist es nicht ausge-
schlossen, dafs die Inhaber der gewöhnlichen Aktien später einmal
Dividenden verlangen werden und darin wird die Frage einen
aku)cn Charakter annehmen.
Unter dem Publikum ist die Besorgnis weit verbreitet, dafs
die grofsen Industrieverbände ihre Monopolstellung zum Zwecke
der Preiserhöhung ausnutzen könnten und allgemein wird die An-
klage gegen sie erhoben, dafs sie es thatsächlirh gethan haben.
Die Thatsachen aber sprechen kaum für die Annahme, dafs ein
Trust die unbeschränkte Macht besitzt, welche nötig ist, um die
Preise zu steigern. Der ursprüngliche Whiskeytrust scheiterte an
dem Versuch, die Preise so hoch zu treiben, dafs er 6 Proz. für
sein verwässertes Aktienkapital (= 24 Proz. des faktischen Wertes)
zahlen konnte und diese extremen Forderungen veranlafsten eine
Vereinigung von Kauficuten zur Gründung einer genossenschaft-
lichen Spritfabrik.
Der Seilertrust und der Tapetentrust gingen in derselben Weise
20*
Digitized by Google
300
Henry \V. Macrostv,
zu Grunde und dasselbe littst sich von den zahlreichen „Pools“ sagen,
deren Trümmer das Gebiet der amerikanischen Industrie bedecken.
Selbst der reiche Zuckertrust kam zu der Ansicht, dafe seine ge-
waltigen Gewinne die Veranlassung zur Errichtung neuer Zucker-
fabriken boten, die dann wieder durch heftigen Wettbewerb be-
kämpft werden mufsten, um schliefslich mit grofsen Kosten ange-
kauft zu werden. Die populäre Ansicht steht im Gegensatz zu
dem bekannten nationalökonomischen Gesetz, dafs der Maximal-
gewinn nicht durch den höchsten Preis, sondern durch den Preis
erlangt werden kann, welcher eine Nachfrage hervorruft, die die
gröfste Gewinnmasse bewirkt. Es läfst sich mathematiscli nach-
weisen, dafs es verschiedene Preise giebt, welche verschiedene Ge-
winne und eine verschiedene Nachfrage, aber denselben Gesamt-
gewinn in jedem Falle hervorrufen werden. Welches ist daher der
Beweggrund, nach welchem der Trust sich zu Gunsten der gröfsten
Produktion entscheidet? Fis ist einfach dieser, dafs mit der Höhe
der Preise und mit der Verringerung des Absatzes die Möglichkeit
für die Ifntstehung neuer Konkurrenzunternehmungen zunimmt.
Die Geschäftsleute sind gewöhnlich mit der nationalökonomischen
Theorie wenig vertraut, aber sie sind den Lehren der Erfahrung
zugänglich, und Herr Havemeyer, der Präsident des Zuckertrusts
erklärte vor der Industriekommission, dafs die oben dargelegten
Grundsätze für sein geschäftliches Verfahren mafsgebend seien.
„Hohe Löhne und niedrige Preise" bezeichnete Herr Schwab, der
Präsident der United States Steel Corporation als die Leitmotive,
nach welchen er sein Riesenunternehmen zu betreiben gedenke. Die
Gründer des Gummitrusts bekannten sich ungefähr zu demselben
Grundsatz und die Leiter des neuen Whiskeytrusts sollen durch
die Firfahrungen früherer Mifserfolge belehrt worden sein und
suchen in ihrem Betriebe nur einen mäfsigen Gewinn zu erzielen.
Die Pittsburg Plate Glass Company machte folgende eigentümliche
Erfahrung. Nachdem sie nur vollständig solide Unternehmungen zum
Eintritt in die Vereinigung zugelassen hatte, erhöhte sie die Preise
auf das Gewinnniveau, und ihre Konkurrenten, welche dieselben
Preise annahmen, wurden dadurch in eine günstige finanzielle I-age
versetzt.
Wenn wir den Monopolpreis beiseite lassen, so ist die Wahr-
scheinlichkeit vorhanden, dafs die Trustpreise höher sind, als die
des freien Wettbewerbs. In dem Bericht der Industriekommission
heilst es: „Die Ueberkapitalisation wird wahrscheinlich zu Zeiten
Digitized by Google
I)ic Trusts in Amerika.
in erhöhtem Preise empfunden“. Von gröfsercr Bedeutung ist es,
dafs der Zolltarif die Trusts in den Stand setzt, die Preise hoch zu
halten, indem er den preisdrückenden Kinflufs der ausländischen
Konkurrenz fernhält. Mr. Havemeyer, der selbst ein Trustmagnat
ist, hat folgenden Ausspruch gethan: „Die Mutter aller Trusts ist
die Zolltarifgesetzgebung insofern dadurch sämtlichen Interessen
des lindes mit Ausnahme der Zuckerraffinerie ein aufsergewöhn-
licher Schutz verliehen wird". Darin liegt eine gewisse Wahrheit,
da der Zolltarif Indusjrieen ins Leben rief und durch Ausschluss der
ausländischen Konkurrenz viele Leute veranlafste, ihr Glück in ge-
wissen Industrieen zu versuchen; dadurch entstand ein übertriebener
Wettbewerb, der die Konsolidierung zur notwendigen Folge hatte.
Eine andere Ansicht wurde von Vertretern der Eisenindustrie vor-
gebracht. Diese gestanden zu, dafs die grofsen Trusts so grofse
Ersparnisse durch Verbesserung der Produktionstechnik bewirken,
dafs der Zollschutz für sie überflüssig wäre, aber sie meinten, dafs
die kleinen unabhängigen Fabrikanten, die mit höheren Produktions-
kosten zu rechnen haben, durch den Freihandel vernichtet werden
würden. Der Freihändler geht nicht so weit wie Mr. Havemeyer.
Mr. Atkinson, der bekannte Nationalökonom, begnügte sich mit
folgender Erklärung: „Ich glaube, dafs der hohe Zoll den Trusts
die Gelegenheit giebt, mehr Zoll aus einem Monopol zu ziehen als
es ohne den Zoll der F'all sein würde."
Wenn wir uns dieser gemäfsigteren Richtung anschliefsen, so
sind immer noch einige Fehlerquellen auszuschaltcn. Man begeht
erstens häufig den Fehler, alle Preiserhöhungen als ein Ergebnis
der Unternehnierthätigkeit zu betrachten und dabei den steigernden
Einflufs der Kostenvermehrung zu übersehen. Während der drei
Jahre des aufsergewöhnlichen Aufschwungs (1899 — 1901) stiegen die
Preise der Rohmaterialien und der Arbeitsleistungen in ganz enormer
Weise und es waren besonders die Eisen-, Stahl- und Kohlen-
industrieen, welche zunächst davon betroffen wurden. Eine andere
natürliche Preissteigerung ergab sich aus der grofsen und anhaltenden
Nachfrage, die einen Druck auf das Angebot ausübte. Diese beiden
Faktoren müssen eliminiert werden, ehe wir die thatsächliche Wirkung
der Vereinigung auf die Preise abschätzen können. Wir müssen
uns ferner hüten, die Trustpreise mit denjenigen zu vergleichen, die
in der Periode, welche unmittelbar der Konsolidierung vorherging,
bestanden haben. In solchen Zeiten ist der Wettbewerb ungewöhn-
lich heftig und drückt die Preise aufserordentlich tief herab. Der
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302
Henry W. M a c r o s t y ,
zweite Irrtum wird begangen, wenn man die Preise mit denjenigen
vergleicht, die in freihändlerischen Ländern gezahlt werden. Indem
ein Land Schutzzölle zu dem ausdrücklichen Zweck, eine gröfsere
Mannigfaltigkeit der Industrien hervorzubringen, erhebt, entschliefst
es sich freiwillig, höhere Preise zu ertragen, um jenes Ziel zu er-
reichen. Den Kapitalisten oder dem Trust kann daraus kein Vor-
wurf gemacht werden.
Was den Zuckertrust anlangt, der einem Gewinn von 90 Millionen
Dollars jährlich einheimst, so ist es in diesem Fall klar, dafs der
Zoll zu hoch und die Preise übertrieben sind. Als man beschlofs,
den Zucker im Interesse der staatlichen Finanzen zu besteuern, war
es nur gerecht, dafs auch der importierte, raffinierte Zucker mit
einem differenziellen Zoll belastet wurde; denn sonst hätten sich
die amerikanischen Fabrikanten, welche Rohzucker vom Auslande
beziehen müssen, infolge des Gewichtsverlustes beim Raffinieren im
Nachteil befunden. Professor Taussig hat berechnet, dafs ‘/jo Cent
pro Pfund einen genügenden Schutz geben würde ; es wurde aber
infolge der unlauteren Bemühungen der Trustleiter, die unparteiisch
zu den Kassen beider politischen Parteien beisteuern, ' „ Cent vom
Pfund als Zoll erhoben. Infolgedessen konnte der Trust, als in
den Jahren 1887 — 1892 und 1898 — 1901 der Wettbewerb wieder
einsetzte, die Preise bis zum Verlustniveau herabdrücken und doch
fortfahren seine Dividenden zu zahlen. Professor Jenks sagt in dem
Spezialbericht über Preise, welchen er für die Industriekommission
bearbeitet hat, „dafs der ZucKerpreis in diesem Lande wahrschein-
lich im allgemeinen höher gewesen ist, als er bei freiem aber ge-
mälsigtem Wettbewerbe gewesen wäre“. Mr. Havemeyer, der Vor-
sitzende des Trusts meinte, dafs das Publikum kein Recht hätte, an
der Kostenverminderung, die sich aus der Verbesserung der Pro-
duktionstechnik ergiebt, teilzunehmen, und dafs der Trust eine Zeit-
lang mit Erfolg versucht habe, derartige Extragewinne für sich
selbst zu behalten.
Die Standard Oil Company zieht aus dem Zolltarif keinen
Vorteil, doch als an ihren Vizepräsidenten die Frage gerichtet
wurde ; „Giebt es eine Monopolgewalt, die lediglich auf die Macht
des Kapitals zurückzuführen ist?" antwortete er : „Zweifellos, die Fähig-
keit dazu ist gegeben, und wenn von dieser Fähigkeit ein unweiser
Gebrauch gemacht wird, so mul's sie sich selbst vernichten.“ Auf
eine andere Frage: „Können Sie nicht Dank Ihrer gröfseren Macht
Preise erzielen, die im allgemeinen stets etwas über den Konkurrenz-
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Die Trusts in Amerika.
303
preisen stehen?“ lautete seine Antwort : „Ja, hoffentlich. Nach meiner
Ansicht verfugen wir über einen besseren Geschäftsbetrieb, über
bessere Absatzgelegenheiten, bessere Transporteinrichtungen und
gröfsere persönliche Fähigkeiten, als es einem Konkurrenten mög-
lich wäre.“ Der Preis des raffinierten Oels fiel in New-York von
8 Dollar pro Fafs im Jahre 1 88 1 (dem Jahr vor der Gründung
des Trusts) auf 4 '/., Dollar im Jahre 1899, aber die Standard Oil
Company hat infolge ihres gewaltigen Betriebsumfangs eine aufser-
gewöhnlich günstige Gelegenheit zur Herstellung von Nebenprodukten,
die in ihrer Gesamtheit dem Wert des Oels ungefähr glcichkommen.
Da sie 30 Proz. Dividenden zahlt, scheint es, als ob ihre Konkur-
renten mit ihrer Behauptung, dafs die Rentabilität der Industrie
eine gröfsere Ermäfsigung der Oelprcises zulassen würde, Recht
hätten. Der Fall des Weilsblech-Trusts ist typisch für das Vor-
fahren dieser Organisationen überhaupt. Professor Jenks sagt: „Die
sehr starke Nachfrage nach Weifsblech würde die Fabrikanten wahr-
scheinlich veranlafst haben, diese Spannung (zwischen Kosten- und
Verkaufspreis) zu erweitern,“ auch wenn die Vereinigung nicht be-
standen hätte; aber durch die Verschmelzung fast aller Betriebe
unter einheitlicher Leitung wurde es möglich, die günstige Gelegen-
heit voll auszunutzen, und so kam es, dafs die Spannung diejenige
vom Jahre 1896 und vom Anfang des Jahres 1897 im wesentlichen
wieder erreichen konnte ') (d. h. die Maximalspannung).
Die amerikanischen Stahlindustriellcn geben dann auch zu, dafs
sie den Zoll auf Stahlschienen und auf andere Stahlfabrikate, bei
deren Herstellung- die Arbeitslöhne nur einen geringen Teil der
Produktionskosten ausmachen, nicht mehr nötig haben. Als die
Beamten der American Tin-Plate Company im Jahre 1899 vor der
Industriekommission vernommen wurden, stand der Preis des Weifs-
l) Indessen ist die Preiserhöhung des amerikanischen Weifsblechs seit März
1899 im allgemeinen nicht höher als die Steigerung gewesen, die im Wert des
Rohmaterials und der Arbeitsleistungen stattgefunden hat. Professor Gunton hat
nachgewiesen, dafs der Preis des amerikanischen Weifsblcchs, das im Jahre 1890
(in welchem der Zoll, der die Industrie geschaffen hat, entstand) 5,60 Dollar für
100 Pfund betragen hatte, auf 4.20 Dollar im April 1901 gesunken war; dagegen
war in Fnglnnd der Preis des Weifsblechs während desselben Zeitraums von 3 Dollar
auf 3.90 Dollar gestiegen. Dasselbe läfst sich von Staldschicnen sagen, deren Preis
im Jahre 1867 120,12 Dollar pro Tonne in Amerika und 65,70 Dollar in England
betrug, während im Mai 1901 der amerikanische Preis auf 28 Dollar und der eng-
lische auf 29,22 Dollar stand.
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304
Henry W. Macrosty,
blcchs ’/j Dollar unter dem Preise, den der Zolltarif gestattet haben
würde, ohne dafs der fremde Wettbewerb dabei in Frage ge-
kommen wäre.
Wenn die Trusts auch in beschränktem Umfang die Macht zur
Preissteigerung besitzen, und wenn sie auch wahrscheinlich die
Preise etwas über dem Niveau der Konkurrenzpreise halten, so
dürfen wir nach dem oben Gesagten doch schliefsen, dafs ein Ver-
such übertriebener Preiserhöhung nicht vorliegt, und dal's die that-
sächlichen Preise niedriger sind unter der Herrschaft der Trusts, als
sie cs unter der Herrschaft der Pools und der freiwilligen Verein-
barungen waren, als die Industrie noch nicht zur Konsolidierung
gelangt war. Soweit die preissteigernde Tendenz der Trusts zum
Ausdruck kommt, müssen wir ihre Wirksamkeit als antisozial be-
zeichnen. Eine ernstere Anklage hat man damit zu begründen ge-
sucht, dafs die Trusts für ihre Waren im Auslande niedrigere Preise
als im Inland fordern. Aber abgesehen davon, dafs die Vorgänge
auf welchen dieser Preisunterschied beruht, in Dunkel gehüllt sind,
läfst er sich in einfacher Weise erklären. Das hauptsächlichste Er-
fordernis moderner Industrie besteht darin, dafs die Fabriken nach
ihrer vollen Leistungsfähigkeit betrieben werden, um die laufenden
Kosten dadurch zu erniedrigen. Es wird sich häufig für einen
Fabrikanten lohnen, in gewissen Märkten zu einem niedrigen Preise
und selbst mit Verlust zu verkaufen, damit er den Ueberschufs, den
er in seinem regelmäfsigen Markt nicht absetzen kann, los werde.
Es ist das ein Gemeinplatz des Geschäftslebens, und europäische
Fabrikanten haben häufig danach gehandelt, indem sie ihren Ab-
satz nach Amerika zu erweitern suchten. Jetzt bekennen die ameri-
kanischen Industriemagnaten offen, dafs sie dieselbe Politik befolgen
wollen. Es ist aber immer nur ein vorübergehender Notbehelf,
niemals ein dauernder Grundsatz des Geschäftsverkehrs. Solche
Trusts, die, wie die Standard Oil Company, einen gesicherten aus-
ländischen Markt haben, ermäfsigen ihre Preise für den Export
nicht; andere Trusts, wie die in der Eisen- und Stahlindustrie, be-
trachten Europa lediglich als ein Aufnahmegebiet für ihren Ueber-
schufs und denken nicht daran, niedrige Auslandspreise zu bewilligen,
wenn die Nachfrage und die Preise im Inlande, wie es gegenwärtig
der Fall ist, hoch sind. Eine andere Ursache niedriger Exportpreise
liegt in dem Wunsche, neue Absatzgebiete zu erobern, indem man
die Lieferanten unterbietet. Es ist das auch ein allgemein be-
kanntes Verfahren.
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Die Trusts in Amerika.
30;
Man sagt, dafs der Trust die Tendenz zeige, vier Klassen der
Gesellschaft zu schädigen, nämlich den Kapitalisten, den Konsu-
menten, den Arbeiter und den konkurrierenden Produzenten. Die
ersten beiden Klassen sind oben schon hinreichend berücksichtigt
worden. Der Fall des Arbeiters bedarf nur einiger Worte. Ks ist
wahrscheinlich, dafs der Trust die Macht besitzt, die Arbeiter-
organisationen zu zertrümmern und die Löhne auf das Niveau der
nackten Existenz herabzudrücken. Es lälst sich indessen mit Sicher-
heit annehmen, dafs sie von dieser Macht, wenigstens in einem
demokratischen Lande wie Amerika, keinen Gebrauch machen
werden. Der Arbeiter kann die Leiden, die ihm in der Fabrik
auferlegt werden, am Wahltage rächen. „Sie sprechen davon, dafs
wir die Gesetzgebung durch Bestechung zu beeinflussen suchen !
nun, wir leben in beständiger Furcht vor der Gesetzgebung," be-
merkte ein hoher Trastb’eamter dem Verfasser gegenüber, und es
liegt zweifellos viel Wahrheit in diesem Ausspruch. Es kommt
noch hinzu, dafs die Trusts von Maschinen abhängen. Die Billig-
keit komplizierter und kostspieliger Maschinen wird aber anderer-
seits bedingt durch die Geschicklichkeit und Leistungsfähigkeit der
Arbeiter — zwei Eigenschaften, die aufs innigste mit den Löhnen
Zusammenhängen. Die Ausbeutung der Arbeiter hat daher eine
Grenze, die sehr eng gezogen ist. Vor ungefähr einem Jahre ver-
öffentlichte das Arbeitsamt der Vereinigten Staaten eine sehr lehr-
reiche Statistik von Löhnen, die von dreizehn Trusts bezahlt werden,
und es wurden diese Löhne mit denjenigen verglichen, welche vor
der Konsolidierung gezahlt wurden. Wir
können diese Statistik in
folgender Weise kurz zusammenfassen :
vor der
nach der
Konsol idierung
Konsolidierung
Gelernte Arbeiter mit einem Lolin bis zu 10 Dollars
pro Woche
9915
0349
Gelernte Arbeiter mit einem Lohn von IO — 15
Dollars Lohn pro Woche
14 122
!4 344
Gelernte Arbeiter mit einem Lohn Uber 15 Dollars
pro Woche
9 600
16 544
Ungelernte Arbeiter mit einem Lohn bis zu 8
Dollars pro Woche
25 592
19 937
Ungelernte Arbeiter mit einem Lohn über 8 Dollars
pro Woche
18077
34 277
Diese Zahlen lassen erkennen, dafs nicht nur die Menge der
beschäftigten Arbeiter und die Löhne, wie in einer Zeit des allgc-
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306
Henry W. Macrosty,
meinen Aufschwungs zu erwarten war, zugenommen haben, sondern
auch, dafs diese Zunahme am höchsten in der Klasse der gelernten
Arbeiter gewesen ist, obschon mehr Maschinen als vorher zur An-
wendung gelangten. Es sind also trotz der vermehrten Maschinen-
anwendung die gelernten Arbeiter nicht durch ungelernte ersetzt
worden.
Sehr viele Trusts hegen gegen Gewerkvereine keinerlei Feind-
seligkeit und verhandeln regelmäfsig mit ihnen über Löhne und
andere Arbeitsbedingungen. Andere, welche die Gewerkvereine
nicht anerkennen, besprechen alle gemeinsamen Angelegenheiten
mit Ausschüssen ihrer Arbeiterschaft und zwar wenn sie auch, wie
in dem Fall der Carnegie Steel Company, den Gewerkverein mit
Gewalt und Blutvcrgiefsen vernichtet haben. Kein Unternehmer in
Amerika wird es aber dulden, dafs in irgend einer Weise die Arbeits-
menge begrenzt, oder dafs ein einheitlicher Lohn durchgeführt
werde, der auf die verschiedene Geschicklichkeit keine Rücksicht
nimmt, oder dafs er in dem Recht, seine Arbeiter auszuwählcn,
beschränkt werde. Es sind das aber Forderungen, die in Amerika
selten gestellt werden, und die auch in Europa immer weniger von
den arbeitenden Klassen unterstützt werden.
Wir kommen jetzt zu dem Fall des konkurrierenden Produ-
zenten, der von dem Trust aus dem Feld geschlagen wircL Es ist
das treibende Prinzip des Wettbewerbs, dafs der leistungsfähigere
Konkurrent den weniger leistungsfähigen vernichtet. So mufste der
kleine Fabrikant dem grofsen weichen, und der grofse Fabrikant
mufs sich dem Trust ergeben, während der Trust nur durch die
Gemeinde oder den Staat entwurzelt und ersetzt werden kann.
Die einzige andere Möglichkeit ist die Wiederherstellung der freien
Konkurrenz. Diese Möglichkeit ist aber infolge der Ersparnisse an
Produktionskosten, die der Trust durchführen konnte, von vorn-
herein ausgeschlossen. Wenn wir aber die Vorteile unberück-
sichtigt lassen, welche dem Staat durch den Grofsbctrieb Zuwachsen,
so könnte man mit demselben Recht verlangen, dafs wir zu dem
Zunftsystem des Mittelalters zurückkehren. Neben dem Trust kann
sich der kleine Produzent immer noch halten und selbst ein Produ-
zent, dessen Betrieb, wenn man ihn nicht gerade mit einem Trust
vergleicht, grofs genannt werden könnte. Der Produzent, welcher
Spezialitäten oder patentierte Artikel hervorbringt oder der einen
kleinen und lokalen Markt versorgt, kann sich oft noch neben dem
Trust halten, indem ihm die bekannte Abneigung vieler Leute
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l)ic Trusts in Amerika.
307
gegen den Trust zugute kommt, die weniger geneigt sind, ihre
berechtigten und unberechtigten Wünsche zu berücksichtigen. Solch
ein Produzent kann wohl verlangen, dals er nicht durch unlautere
Mittel vernichtet werde, da er einem sozialen Bedürfnis genügt.
Wir haben schon eine Methode erwähnt, durch welche der Trust
versucht, ihn vom Markt zu vertreiben. Ein anderes Verfahren, das
von dem Whiskey-, Petroleum-, Zucker- und Tabaktrust häufig an-
gewendet worden ist, besteht darin, dals die Preise bis zu den oder
unter die Produktionskosten in den Gegenden herabgesetzt werden,
wo Konkurrenz vorhanden ist, während sie dort, wo der Trust ein
Monopol besitzt, hoch gehalten werden. Die Industriekommission
wird in ihrem Bericht wahrscheinlich empfehlen, dafs gegen einen
derartigen unlauteren Wettbewerb Mafsrcgeln ergriffen werden. Es
giebt aber so viel Mittel, geheime Preisermäfsigungen eintreten zu
lassen, dafs es schwierig sein würde, derartige Mafsregeln durchzu-
führen und wenn z. B. der Trust einen besseren Artikel für den-
selben Preis liefert wie der Konkurrent, der einen minder guten
verkauft, so würde die öffentliche Meinung sich gegen ein solches
Gesetz richten müssen. Die Furcht vor unangenehmen Prozessen,
welche die allgemeine Abneigung gegen die Trusts verstärken
würden, wäre mehr geeignet als die Furcht vor Strafen, die Durch-
führung eines solchen Gesetzes zn bewirken. Andere Vorschläge,
welche die Kommission gemacht hat und die vom Präsidenten
Roosevelt angenommen wurden, bezwecken die Sicherung gröfserer
Publizität, sowohl bei der Gründung des Trusts wie in seinen jähr-
lichen Geschäftsberichten. Eingehende Angaben, welche das über-
nommene Vermögen betreffen, würden die Möglichkeit der Ueber-
kapitalisation einschränken und den Kapitalisten beschützen. Ge-
schäftsberichte, welche alle wichtigen Einzelheiten enthalten und
einer Revision unterliegen, wären geeignet, die Frage der Preis-
bildung und der Notwendigkeit des Zollschutzes aufzuklären. In
dieser Weise könnten auch die Interessen des Konsumenten be-
schützt werden und zugleich könnte dadurch den unabhängigen
Fabrikanten gezeigt werden, auf welchen Gebieten der Wettbewerb
noch lohnend ist. Zu diesem Zwecke beabsichtigt Präsident Roose-
velt, ein Handelsamt in der Regierung einzurichten, und wenigstens
die grofsen Trusts der staatlichen Aufsicht zu unterwerfen. Nach-
dem diese Mafsregeln eine gewisse Zeit durchgeführt sein werden,
läfst sich mit gröfserer Sicherheit erkennen, welche Schritte gethan
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308
Henry W. Macrosty, Die Trusts in Amerika.
werden müssen, um die Gesellschaft gegen diese grolsen Privat-
monopole zu beschützen.
„The Economist“ (London) vom 30. November 1901 veröffent-
licht eine einfache Thatsache, die sowohl die wirkliche Gefahr,
welche von den Trusts ausgeht, wie die Ursache des unklaren, aber
tief empfundenen Mifstrauens, das gegen sie gerichtet ist, andeutet.
Fünf Männer, J. D. Rockefeller, E. H. Harriman, J. Pierpont Morgan,
W. K. Vanderbilt und G. J. Gould repräsentieren zusammen eine
Summe von 800 Millionen Dollars. Sie arbeiten zusammen und
haben einen neuen Geschäftsausdruck „Interessengemeinschaft“ zu
diesem Zwecke erfunden; mit ihren Verbündeten zusammen be-
herrschen sie ein Kapital von 7963000000 Dollars, während das
Gesamtkapital, das in den Banken, Eisenbahnen und Industriegesell -
schalten der Vereinigten Staaten angelegt ist, 17000000000 Dollars
beträgt. Sie bilden ein neues imperium in imperio, eine grofse
Macht, die der Regierung gegenübersteht und die mit ihr um die
Ausübung der Herrschaft über die grofse nordamerikanische Repu-
blik kämpft.
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Einige Reformversuche im Lohnsystem.
Von
EDUARD BERNSTEIN,
in Berlin.
I.
Eines der grössten Probleme der gegenwärtigen Produktions-
ordnung ist die Frage nach dem zweckmäfsigsten System der Ar-
beitsentlohnung. Die Kämpfe um die beiden grundsätzlich unter-
schiedenen Lohnformen : Zeitlohn und Stücklohn, sind bekannt.
Bekannt ist auch, dal's sie bisher unentschieden geblieben sind.
Allen Verurteilungen zum Trotz, die das Stücklohnsystem von
Arbeiterführern, Arbeiterfreunden. Arbeiterkongressen schon erfahren
hat, erhält cs sich ungeschwächt am Leben. Mächtige Arbeiter-
organisationen haben es in der Praxis gutgeheifsen, befestigt, ja,
verlangt und gestärkt. Der im Jahre 19c» veröffentlichte Bericht
des britischen Arbeitsamts über die Normal-[„Standard'‘-]Sätzc der
Stücklöhne und Wandeltarife berechnet, dafs, Handel und die libe-
ralen Berufe ausgenommen, aber I .andarbeiter und Dienstboten ein-
geschlosscn, von allen um Lohn arbeitenden Personen im Vereinigten
Königreich 74 Prozent Berufen oder Gewerbszweigen angehören, in
denen Zeitlöhne, 26 Prozent solchen, in denen Stücklöhne vor-
wiegen. Zieht man weiter die I .andarbeiter und Dienstboten ab,
so stellt sich das Verhältnis so: 61 Prozent der Arbeiter entfallen
auf Gewerbe, in denen Zeitlöhne, 39 Prozent auf solche, in denen
Stücklöhne überwiegen. Obwohl auch in der Landwirtschaft Stück-
oder Akkordarbeit ziemlich häufig vorkommt, ist es die Industrie
und sind es im grolsen und ganzen gerade die entwickelteren In*
dustrieen, wo die Tendenz zur Stücklohnung am stärksten auftritt. ')
M Bezeichnend ist, dafs die weiblichen Industriearbeiter ein unvergleichlich
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3io
Kduard Bernstein,
In dem citiertcn Bericht wird z. B. unter der Rubrik „Sticfel-
und Schuhgewerbe“ auseinandergesetzt, warum mit der Entwicklung
der Schuhwarenverfertigung zur Fabrikindustrie dies Gewerbe
mehr als je den Charakter einer „Stücklohnindustrie" erhielt. „Wie
sie in den gröfsten Unternehmungen ausgeführt wird, ward die
Arbeit systematisiert und in grofsen Sektionen ausgegeben. Sie
wurde zu einer fortlaufenden Wiederholung gleicher oder ähnlicher
Prozesse, und mit einigen Ausnahmen bot sich beiden Parteien das
Stücklohnsystem als höchst annehmbar dar."
So Seite 159 in der allgemeinen Einleitung. Auf Seite 168 169
wird genauer dargelegt, wie um die Jahreswende 189495 die in
Leicester zentralisierte Nationale Gewerkschaft der Schuh- und
Sticfelarbciter nach fortgesetzten Konflikten mit den Fabrikanten
die Aufstellung von Lohntarifen für Maschinenarbeit verlangte. Nach
einer Arbeitseinstellung, die sechs Wochen dauerte und von der
46000 Arbeiter betroffen wurden, ward auf einer gemeinsamen
Konferenz ein Vertrag geschlossen, in dem cs heilst: „Die Kon-
ferenz ist der Meinung, dal's ein Tarif oder Tarife für Arbeiten an
Leistenarbeit- und Fertigmachungmaschinen und die mit ihnen
verbundenen Arbeiten wünschenswert sind. Solche Tarife sollen
die derzeitige Leistungsfähigkeit von Durchschnittsarbeitern zur
Grundlage haben.“ Eine zweite Resolution forderte einen Stücklohn-
tarif für Saumarbeiten in Northampton. Aber die Ausarbeitung
des Tarifs stiefs auf grofsc Schwierigkeiten, so dafs es drei weitere
Jahre dauerte, bis ein solcher Tarif für Maschinenarbeit die An-
erkennung beider Teile fand. Es ist dies der am 9. November 1898
vom Gemischten Ausschuss ') Leicester gutgeheifsene „Tarif für
Arbeit an Leistenarbeitmaschinen" , d. h. für Maschinenarbeit an
Schuhwerk in all den Phasen, während deren dieses behufs Ver-
bindung von Oberteil und Sohle etc. am Leisten sitzt, bezw. an
ihm aufgesetzt wird. Er enthält Bestimmungen für alle Einzelheiten
stärkeres Verhältnis von Stücklohnarheitcrn stellen als die männlichen. Von je loo
in» Gewerbe thütigen weiblichen Lohnarbeitern entfallen 6l auf Gewerbe mit über-
wiegender Stücklöhnung und nur 39 auf solche mit überwiegender Zeitlöhnung. Bei
den Männern allein war das Verhältnis so: 33 Pro/., arbeiteten in Stücklohn- gegen
67 Proz. in Zcitlohnberatcn.
l) Unter Gemischten Ausschüssen — „Joint Committecs“ — werden in Lngland
Ausschüsse verstanden, die aus den Vertretern zweier, gegensätzliche Interessen ver-
tretenden Parteien zusammengesetzt sind. Im vorliegenden Falle also ein Ausschuß;
von Vertretern der Prinzipale und der Arbeiter.
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Einige Rcformversuche im Lohnsystem. 3 j [
der einschlägigen Arbeiten, wird aber, wie der Bericht feststellt,
nicht eigentlich als Tarif für Stückarbeit benutzt, sondern „haupt-
sächlich, wenn nicht durchweg, als Leitfaden in Fällen von Streit
darüber, wieviel Arbeit die Arbeiter flir die ihnen zugebilligten
VVochenlöhne zu leisten haben“ (S. 170). Mit anderen Worten, die
Form des Zeitlohns wird fcstgehalten, aber dem Wesen nach
ist der Lohn bereits Stücklohn. Abgesehen von der dem eng-
lischen Geist auch sonst innewohnenden Neigung, die alte Form
solange als möglich festzuhalten, gleichviel wie es um den Inhalt
steht, ist die Beibehaltung der Zeitlohnform zweifelsohne dem
Bestreben der Arbeiter zuzuschreiben, den Auswüchsen des Stück-
lohnsystems einen Riegel vorzuschieben. Und so ist eine Lohn-
form zustande gekommen, die in ihren Hauptpunkten grofse Achn-
lichkeit mit dem Rodbertus sehen „Werkarbeitstag“ aufweist.
In einer der modernsten Industrien sind die Männer der Praxis aus
Zweckmäfsigkeitserwägungen auf ein System der Lohnregulierung
verfallen, das der Mann der „grauen Theorie“ schon vor mehr als
einem Menschenalter ersonnen hat, das, wie er seinerzeit an Rudolf
Meyer schrieb, sein „kostbares Geheimnis" war. An Rodbertus er-
innert auch die Bestimmung in dem Vertrage, dafs im Pall einer
wesentlichen Verbesserung der derzeitig angewandten Maschinen
die Tarifsätze revidiert werden sollen.
In Leeds, einem der Hauptzentren für gröberes Schuhwerk,
ist ein Stücklohntarif für Vernieter und Fertigmacher in Kraft,
der im März 1878 von dem dortigen Finigungs- und Schiedsamt
vereinbart worden war, 1881 korrigiert, 1850 ergänzt und 1896 vom
Amt neugeprüft und bestätigt worden ist. Er gilt für ungefähr
2000 Arbeiter und ist nach Natur und Art der Arbeiten und Qualität
des Materials spezialisiert. In Birmingham ist seit dem 10. Fe-
bruar 1899 ein von einem gemischten Ausschufs der organisierten
Arbeiter und Unternehmer vereinbarter Stücklolmtarif in Kraft, und
in dem Hauptzentrum der Schuhwarenfabrikation, N'orthampton,
gilt seit dem I. September 1896 für Arbeiter am Leisten und Fertig-
macher von Schuhen für den heimischen Markt ein aufserordentlich
spezialisierter Stückloh ntarif. Auch London, Manchester, Edinburg
und andere Orte haben in der Schuhwarenfabrikation von Prinzi-
palen und Arbeitern vereinbarte Stücklohntarife.
Langsamer als in der Schuhwarenindustric vollzieht sich die
Ausbreitung des Stücklohnsystems in der Maschinenbauindu-
strie und der ihr verwandten Schiffbauindustrie Englands.
I
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312
Eduard Bernstein.
Das von den Fabrikanten beanspruchte Recht, überall da, wo es
ihnen zweckmäfsig erscheine, Stücklohnzahlung einzuführen, bildete,
wie bekannt, einen der vornehmsten Streitpunkte der grofsen Ar-
beitssperre von 1897/98 und ward am Schlüsse dieser Sperre vom
Verband der Vereinigten Maschinenbauarbeiter den Fabrikanten
zuerkannt. Wie weit seitdem von ihm Gebrauch gemacht worden
ist, läfst sich jedoch schwer ermitteln, da der Bericht des Arbeits-
amts nur solche Stücklohntnrife verzeichnet, die für eine gröfsere
Anzahl von Arbeitern als die eines einzelnen Geschäfts mafsgebend
sind. Darauf bezieht sich eben der Name Normal- bezw.
Standard-Stückloh ntarife. Solche Tarife setzen eine mehr
oder weniger einförmige Produktion voraus, die aber gerade
beim eigentlichen Maschinenbau fehlt. Dort herrscht, erklärt der
Bericht, „obwohl an verschiedenen Orten sehr viel Stücklohnarbcit
geleistet wird, eine unendlich weitgehende Verschiedenartigkeit der
Tarifsätze ; kein Versuch ist gemacht worden, einen Normalstück-
lohntarif einzuführen , der auf die Gesamtheit der Maschinenbau-
werkstätten der einzelnen Lokalitäten berechnet wäre“ (p. XIII).
Man wird nicht fehl gehen, wenn man annimmt, dafs in dieser
Unmöglichkeit, Normalstücklohntarife für den Maschinenbau fertig-
zustellen, einer der wesentlichsten Gründe des hartnäckigen Wider-
standes der englischen Maschinenbauarbeiter gegen die Einführung
der Stücklohnzahlung zu finden ist. In der dem Maschinenbau
nahe verwandten Dampfkesselfabrikation z. B., wo diese Schwierig-
keit nicht in gleichem Mafse besteht, sind in England, obwohl die
Kesselschmiedcgewerkschaft mehr Mitglieder ihres Gewerbes um-
falst als der Maschinenbauerverband, längst Stücklohntarife in Uebung.
LTnd in einem höchst bemerkenswerten Artikel über „Nutzen und
Mifsbräuche der Organisation von Unternehmern und Arbeitern“,
der im „Engineering Magazine“ vom Januar 1901 veröffentlicht
worden ist, schreibt Georg R. Barnes, der Generalsekretär des Ver-
bandes der britischen Maschinenbauarbeiter:
„Es giebt nur zwei Methoden, Stückarbeit ohne Reibungen und
zum dauernden Vorteil für Unternehmer und Arbeiter funktionieren
zu machen. Wo Normalstücklohntarife möglich sind, können solche
vom Unternehmer und der Gewerkschaft festgesetzt oder vereinbart
werden und alsdann jeder Arbeiter oder jede Gruppe von Arbeitern
ihrer eigenen Energie überlassen bleiben. Die andere Methode
— die da anzuwenden ist, wo die Arbeit nicht genügend gleich-
artig abgestuft ist, um Lohntarifc zu ermöglichen — besteht darin.
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Einige Reforniversuche im Lohnsystem.
313
dafs der Unternehmer selbst die Sätze für die einzelnen Arbeiten
bestimmt, aber einen gewissen Mindestlohn verbürgt, der meiner
Ansicht nach einen gewissen Prozentsatz höher sein sollte, als der
gewöhnliche Tagelohnsatz" (S. 563 564). Von dieser Verbürgung
eines Mindestlohnes wollten aber, lührt Barnes weiter aus, die Unter-
nehmer nichts wissen, weil, wie sie behaupteten, die Arbeiter, so-
bald ein solcher Lohn garantiert war, sich mit ihm begnügt und
keine Anstalten gemacht hätten, mehr als ihn zu verdienen. Das
beweise aber nur, meint Barnes, dafs die Sätze zu niedrig normiert
waren, um es dem Arbeiter möglich zu machen, bei stärkerer An-
strengung mehr zu verdienen. Es sei widersinnig, anzunehmen, dafs
Arbeiter sich weigern sollten, ihren Verdienst zu erhöhen, wenn sie
die Möglichkeit dazu vor sich sähen. Der Unternehmerbund lehne
beide Methoden der Stücklohnnormicrung ab, und die Folge sei,
dafs die Arbeiter überhaupt gegen Stücklöhne seien. Um billig zu
sein, müsse aber zugegeben werden, dafs die Praxis vieler Unter-
nehmer „erheblich besser“ gewesen sei, als „das Rezept der Organi-
sation, der sie angehören".
Soweit sich die ablehnende Haltung des Unternehmerbundes
gegen die hier entwickelten Methoden der Stücklohnnormierung
nicht aus den naturgemälsen Interessen der Klasse erklärt, haben
wir ihre Erklärung in den Schwierigkeiten zu suchen, die gerade
das Maschinengewerbe einheitlichen Stücklohntarifen entgegensetzt.
Nirgends wird soviel an den Lohnmethoden herumexperimentiert,
wie gerade in der Maschinenindustrie.1)
*) Zur Illustrierung der Sachlage folge hier ein Stück aus dem stenographischen
Protokoll der Verhandlungen des Hundes der britischen Maschinenbaufabrikanten
mit den Vertretern des Maschinenbauervereins, die im April 1897 im NVestminster
Palast Hotel, London, stattfanden und auf denen die Vertreter beider Parteien vor
einander freundschaftlich, aber gründlich ihr Herz ausschütteten :
„Der Vorsitzende der mittlerweile verstorbene Oberst D y c r , damals Leiter
der Armstrongschen Werke in Elswick bei Newcastle am Tyncj: Hier ein Fall,
der sich auf die Frage bezieht, von der wir reden. Es handelte sich darum, Walzen
mit Schäften abzupassen. Der gelernte Arbeiter brauchte 50 Stunden für eine Walze;
die Arbeit ward dann einem ungelernten Arbeiter übertragen , der 40 Stunden
brauchte, und dann einem Burschen, der 30 Stunden brauchte. Würden Sie uns
zurouten, jenen gelernten Arbeiter zu behalten?
M r. Seliicks r Präsident der Gewerkschaft]: Nein, ich würde ihn in den
Tync geschmissen haben.
M r. Black [Vorstandsmitglied der Gewerkschaft : Arbeiteten sie alle unter
gleichen Bedingungen ?
Archiv für soz. Gesetzgebung u. Statistik. XVII. 21
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3H
Eduard Bernstein,
n.
Im Jahre 1895 veröffentlichte das britische Arbeitsamt einen
Bericht über verschiedene Versuche, dem Stücklohnsystem eine ver-
besserte Gestalt zu geben.1) Von im ganzen sechs typischen Bei-
Der Vorsitzende: Unter genau den gleichen Bedingungen. Ich könnte
Ihnen eine ganze Zahl von Beispielen geben. Ich bin sicher, Mr. Ratcliffc [der
Distriktsdclcgiertc der Gewerkschaft für den Distrikt Nord - Ost- England , in
dem die Elswickwerke liegen] weifs, dafs wir in Elswick einen Stab von Leuten
speziell zu dem Zweck halten mufsten, darauf zu achten, dafs die Maschinen im
gehörigen Tempo gehalten und gehörig bedient wurden; und cs ist kein grofses
Kompliment für einen Körper von gelernten Arbeitern, wenn man das von ihnen
sagen mufs. Sie müssen das zugeben. Die Notwendigkeit, jene Leute zu halten,
zeigt, dafs etwas nicht in Ordnung ist.
M r. Crompton [Vorstandsmitglied der Gewerkschaft]: Die Notwendigkeit
wird vorbei sein, wenn jene Wunderkinder das Mannesalter erreicht haben. [An-
spielung auf den Burschen, von dem der Vorsitzende sprach.]
Der Vorsitzende: Aber bis sic herangewachsen sind, werden wir, scheint cs,
diesen besonderen Stab von Leuten halten müssen, und es ist keine schmeichelhafte
Sache für gelernte Arbeiter, wenn eine grofse Firma erklärt, dafs sie dazu genötigt
sei. Wir thun es nicht gern, aber wir haben keine andere Wahl.
M r. Clark [Unternehmer, Leiter eines grofsen Werkes in Sunderland]: Warum
führen Sic nicht Stückarbeit ein?
Der Vorsitzende: Stückarbeit ist sehr schwer durchzufUhren. Wir haben
Arbeit, die beständig wechselt, und würden nur mit grofse m Bedauern
daran gehen, feinere Arbeit auf StUcklöhnung anfertigen zu
lassen.
Mr. Ratcliffe [Gewerkschaftsdelcgicrtcr] : Sic haben Stückarbeit arbeiten
lassen, Oberst?
Der Vorsitzende: Ja; aber wir haben sic aus demselben Grunde aufgegeben,
aus dem wir die Leute für gehörige Bedienung und gehöriges Tempo der Maschinen
anstellen mussten.
M r. Sellicks: Sic thun, was andere auch thun.
Mr. Ratcliffe: Sie sind allesamt hinter dem [ArbeiU-jTempo her.
Der Vorsitzende: Verwerfen Sic das?
Mr. Ratcliffc: Nein, Oberst I)yer, aber was wir wollen, ist, unseren eigenen
Mafsstab von Komfort aufrecht erhalten.“
Soweit das Protokoll, das ich der Freundlichkeit von G. Barnes verdanke und
das ein helles Licht auf die, drei Monate nach jener Konferenz ausgebrochene Ar-
beitssperre im englischen Maschinenbaugewerbe wirft.
J) Er ist von dem bekannten Mitglied des Arbeitsamts, Mr. D. F. Schloss,
abgefasst und betitelt :
„Report on Guinsharing and other Systems of Bonus on Production.“ Er ist
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Einige Reformvcrsuche im Lohnsystem. 3 j -
spielen, die da vorgeführt werden, entfallen vier auf die Maschinen-
industrie. Es sind dies folgende Lohnberechnungssysteme :
1. Das „Spar-Anteil-[Gain-Sharing-]"System der
Firma Yale and Towne in Connecticut,' Ver. Staaten.
2. Das „P r ä m i e n 1 o h n" - S y s t e m des Mr. F. A. Halsey in
Sherbrooke, Provinz Quebeck, Kanada.
3. Das „Referenztarif“ -System der Firma Willans and.
Robinson, Thamcs Ditton, Surrey, England.
4. Das „G 00 d - F e 1 1 o w sh i p“ - Sy s t e m der Thamcs Iron-
works, Blackwall, Ost-London.
Ihnen reiht sich ein System an, das im „Engineering Magazine“
vom Januar 1901 — einer Nummer des genannten Fachblattes, die
speziell dem Thema „Betriebsleitung“ gewidmet ist — be-
schrieben ist und das wir hier als fünftes der Reformlohnsysteme
folgen lassen wollen. Fis ist dies
5. Das „Differential-Stücklohn“ -System des Mr. Fr. W.
Taylor von der Midvale Steel Company in Philadelphia.
Allen diesen Systemen liegt das Bestreben zu Grunde, die
Arbeiter zu höherer Arbeitsleistung zu veranlassen, als dies bei dem
Zeitlohnsystem zu geschehen pflegt, und die Nachteile und Linzu-
träglichkeiten zu vermeiden, die das Stücklohnsystem, wie es ge-
wöhnlich angewendet wird, teils für Arbeiter und teils für die
Unternehmer selbst im Gefolge hat. Man kann dies Bestreben
auch dahin kennzeichnen, ein Lohnsystem zu finden, das selbst-
thätig volle Ausnutzung der Arbeitszeit durch die Arbeiter herbei-
führt, ohne deshalb in Lohndrückerei auszuarten. Ein Problem, das
unter den heutigen Wirtschaftsverhältnissen sich überall da einzu-
stellen pflegt, wo eine wesentliche Verkürzung der Arbeitszeit
durchgeführt werden soll und cs entweder nicht möglich ist oder
nicht gewünscht wird, das Einkommen der Arbeiter zu ver-
ringern, das aber auch für eine sozialistische Wirtschaftsordnung,
wie sie sich überhaupt vorerst absehen läfst, seine Bedeutung be-
hält, — ja, sie vielleicht gerade in einer solchen erst in vollem
Umfange erhalten wird. Wenn das Machtwort des Unternehmers
und seines Beamten an Kraft verliert, wenn der Schrecken des
Hungers nicht mehr über dem Haupt des Arbeiters hängt, so wird
doch das Interesse des Gemeinwesens an voller Ausnutzung der
meines Wissens noch nirgends vom sozialistischen Standpunkt aus genauer erörtert
worden.
21*
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3 1<3
K d u a r d Bernstein,
vorhandenen Produktionsmittel und Produktionskräfte bleiben und
ein ökonomischer Antrieb zu ihr auf lange hinaus unentbehrlich
sein. Dies giebt bekanntlich auch Karl Marx zu, der in seinem
Brief von 1875 über den Entwurf des sozialistischen Parteiprogramms
von der kommunistischen Gesellschaft, wie sie sich aus der kapi-
talistischen zunächst herausentwickeln werde, schreibt, es werde in
.ihr der Austausch von Konsumtionsmitteln noch in der Weise er-
folgen, dafs gleichviel Arbeit in einer Form gegen gleich-
viel Arbeit in einer anderen Form ausgetauscht werde, und die
W e r t b e s t i m m u n g vorherrschend bleibe. Diese Darlegung
schliefst aber die Anerkennung einer I.ohnmethode ein,
bei der die Arbeit nach Menge und Beschaffenheit ge-
messen wird, weil der blofse Zeitaufwand kein genügendes Mals
für die Arbeitsleistung abgiebt. Im allgemeinen setzt der Zeit-
lohn entschiedene Abhängigkeit des Arbeiters, Arbeit unter
Aufsicht voraus. Nimmt die Abhängigkeit ab und wird die
Aufsicht eine immer mehr mittelbare, so steigert sich damit die
Notwendigkeit, zu irgend einer Art Stücklöhnung als Mittel einer
objektiven Kontrolle überzugehen.
Man kann nun von vornherein zwei Arten von Stückarbeit
grundsätzlich unterscheiden: die Stückarbeit Einzelner und
die Gruppenstückarbeit. Bei der Ersteren werden die Arbeiter
als Einzelne, bei der Zweiten werden gröfsere oder kleinere
Gruppen von Arbeitern als Kollektiveinheit auf Stücklohn ge-
setzt. Dem letzteren System verwandt ist das der Rotten-
ak kordarbeit. Fis ist geschichtlich sein Vorgänger, und wie
ihm die Tendenz innewohnt, in ein Zwischenmeistersystem
auszuarten, wobei ein Meister oder Vorarbeiter bestimmte Arbeiten
im Verding unternimmt und seine Mitarbeiter ablohnt und je nach-
dem ausbeutet, so sind auch bei der modernen Gruppenstück-
arbeit solche Tendenzen zu Tage getreten. Vielfach verbirgt sich
sogar hinter scheinbar persönlicher Stückarbeit solche
Zwischenunternehmerschaft. So ist der Spinner in der
Baumwollindustrie Englands eine Art Zwischenunternehmer, der
andere, niedriger bezahlte Arbeiter — die „Anknüpfer“ — unter
seiner Kontrolle hat und ablohnt. Desgleichen der Baumwoll-
weber, an verschiedenen Orten die Häuer in den Kohlengruben,
ferner die Eisenpuddler, die Plattenleger im Kessel - und
Eisenschiffsbau, und viele andere Arbeiter. Es ist daher sehr
ratsam, in jedem Falle von Stückarbeit nachzuforschen, ob, wo
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Einige Reform versuche im Lohnsystem.
317
formell persönliche Stückarbeit vorliegt, es sich wirklich um solche
handelt oder dem nach ihr bezahlten Arbeiter Hilfs- oder Unter-
arbeiter zur Seite stehen , die nach anderen Grundsätzen oder
Malsstäben als er entlohnt werden und in einem bestimmten Ab-
hängigkeitsverhältnis von ihm stehen, so dafs er ihr unmittelbarer
Arbeitsherr ist. Bei Gruppenstückarbeit, die als solche be-
zeichnet wird, ist wiederum zu untersuchen, wie es im Schofse der
Gruppe selbst aussieht. Die blofse Thatsache, dafs der Gruppe
ein Vorarbeiter vorsteht , begründet noch keine Zwischenunter-
nehmerschaft, und ebensowenig ist das Prinzip der Gruppenstück-
arbeit an völlige Gleichheit der Lohnsätze für alle Mitglieder der
Gruppe gebunden. Es ist ganz gut mit Abstufung der Lohnsätze
vereinbar. Aber wo eine oder mehrere Personen selbständig Auf-
träge von der Geschäftsleitung übernehmen und mit Hilfe einer
gröfseren Anzahl anderer Arbeiter ausführen , denen sie den Lohn
zahlen oder anweisen, da liegt nicht mehr Gruppenstückarbeit,
sondern Zwischenakkord vor, der von jener nicht scharf genug
unterschieden werden kann. Das hat offenbar George Barnes im
Sinn, wenn er in dem schon erwähnten Artikel im „Engineering
Magazine“ sich gegen die Verallgemeinerung des in Amerika ver-
breiteten Gruppensystems wendet, bei dem je eine ganze Gruppe
von Maschinen einem geschickten Stücklohnarbeiter mit einer An-
zahl Helfer zur Bedienung überwiesen wird: „Wenn das, was
man uns darüber erzählt, wahr ist," schreibt er, „so müssen die
amerikanischen Werkstätten nahezu von Wesen angefüllt sein , die
man in Schottland „Halblinge“ (d. h. halbe Menschen) nennt , und
die von wenigen Aufsehern in Hinblick auf Extravergütungen
[„Bonusse") kommandiert werden. . . . Das Gruppensystem kann
ohne Nachteil für irgend jemand da angewandt werden — und ist
in Grofsbritannien so angewandt worden — , wo es sich um die
Handhabung automatischer oder halbautomatischer Maschinen handelt.
Aber seine Anwendung bei Handhabung von Werkzeugen, die viel-
seitig gebraucht werden können, wird von den Arbeitern als im
Prinzip unbillig und , selbst unter dem Gesichtspunkt der Produk-
tion, von mehr als zweifelhaftem Wert für die Praxis verworfen.“
(a. a. O. S. 564565). Die Hörigkeit, welche die Lehrburschen
während der Lehrjahre in Grofsbritannien durchmachten, berechtigte
sie dazu, „in ihrem späteren Leben diejenigen Schritte zu ergreifen,
die etwa erfordert sind, das Gewerbe vor mikroskopischen Zertei-
lungen und der damit verbundenen Herabdrückung der gelernten
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3i8
Eduard Bernstein,
Arbeiter zu blofsen Maschinenwärtern, die zu einem düstern Einer-
lei von eintöniger und interesseloser Abrackerung verurteilt wären,
zu schützen“, (a. a. O.). Wir werden im folgenden sehen, inwie-
weit damit die erwähnten Systeme gekennzeichnet sind.
Eine zweite Einteilung der Stückarbeit ist die in Stückarbeit
auf Grund reiner Stücklöhne und Stückarbeit auf Grund von
Prämienaufschlägen auf Zeit- oder Stücklöhne, bezw.
Kombinationen beider.
Wo reine Stücklöhne möglich sind, werden ihnen die Unter-
nehmer und, wo diese den organisierten Arbeitern Stimme bei der
Vereinbarung von Normaltarifen für Stücklöhne einräumen,
die einen Minimallohn sicherstellen, auch die Arbeiterorganisationen
den Vorzug geben. Die weitblickenden Arbeiter stehen allem
Prämienwesen mifstrauisch, wenn nicht abweisend gegenüber. Aber
die Notwendigkeit , stärker wirkende Antriebe zur Erhöhung der
Arbeitsleistungen zu schaffen, hat doch immer wieder Unternehmer
veranlafst, es mit irgend welchen Prämiensystemen zu versuchen.
Am einfachsten erschien dabei das System der Gewinnbe-
teiligung. Indem man den Arbeitern nach Malsgabe ihrer Löhne
einen Anteil am Gewinn des Unternehmens zusprach, glaubte inan
das Mittel gefunden zu haben , sie zu energischerer Anspannung
ihrer Kräfte, zu möglichster Materialersparnis etc. anzufeuern. In-
des scheint es mit diesem System ähnlich zu gehen, wie mit den
einst so lebhaft propagierten Produktivgenossenschaften. Es ist
hier und da mit leidlichem Erfolg versucht worden, der indes auch
nicht immer vorhielt — aber es will sich nicht ausbreiten. Und
gegen seine Verallgemeinerung sprechen so ziemlich dieselben
Gründe, wie gegen die der Produktivgenossenschaften. Es ist, wenn
wir von den Fällen absehen, wo es lediglich Wohlthat und nicht
Wirtschaftsprinzip sein soll, im Fundament widerspruchsvoll. Es
setzt die Konkurrenzwirtschaft voraus und schlägt ihren Voraus-
setzungen ins Gesicht, indem es die Verantwortungen verschiebt.
Je gröfser das Unternehmen, um das cs sich handelt, um so ge-
ringere Gewähr hat der Einzelne, dafs seine Extraleistung ihm auch
im entsprechenden Mafse zu gute kommt. Zu dem Ubelstand, dafs
der Arbeiter lange Zeit im Ungewissen darüber ist, ob und in
welchem Umfange ihm ein Lohn für seine Mehrleistung zu teil
wird, kommt noch der, dafs ihm , je gröfser das Unternehmen, um
so mehr die Möglichkeit fehlt, zu übersehen, in welchem Mafse
andere zum Gedeihen des Ganzen beigetragen oder ihm Abtrag
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Einige Reformversuche im Lohnsystrm.
319
gethan haben. Es ist denn auch die Gewinnbeteiligung wiederholt
statt Friedensstifterin gerade die Ursache bitterer Streitigkeiten,
statt Herstellerin von Vertrauen Schürerin von Mifstrauen gewesen,
und keinenfalls kann sie als Abhilfe für ein widersinniges Lohn-
berechn ungssystem betrachtet werden. „Ich habe durch die Erfah-
rung gelernt," erklärte der Direktor der „Thames Ironworks", Mr.
A. F. Hills, vor der Königlichen Untersuchungskommission von
189294. „Ich hatte mit der Gewinnbeteiligung angefangen, aber
das war übereilt. Die' Fellowship Kameradschaft] ist der rechte
Anfang, und die Gewinnbeteiligung ist die Ergänzung." ')
Mr. Hills hatte, nachdem auf den ihm unterstellten grol'sen
Werken 1889 und 1890 allerhand Ausstände stattgefunden, den
dort beschäftigten Arbeitern ein Gewinnbeteiligungssystem vorge-
schlagen, wonach der, zehn Prozent des Aktienkapitals überschreitende
Gewinn zu gleichen Teilen zwischen Arbeitern und Aktionären ver-
teilt werden sollte. Nach dreimonatlicher lebhafter Diskussion war
der Vorschlag von den Arbeitern mit grofser Mehrheit abgelehnt
worden. Das nächste Jahr (1891) sah im Hochsommer wieder
einen Ausstand, und nun schlug Mr. Hills seinen Arbeitern ein ver-
bessertes Lohnsystem vor, das er „gute Kameradschaft" („good
fellowship“) nannte und das von einer Abteilung der Werke nach
den anderen angenommen worden ist. Etwas später — Ende 1 892
— führte er auch die Arbeitswoche von 48 Stunden ein , anfangs
mit mäfsiger Herabsetzung der Zeitlöhne; vom 26. April 1894 ab
aber wurden für 48 Stunden dieselben Lohnsätze bezahlt, wie vor-
dem für 54 Stunden bezahlt worden waren.
Das Fellowship-Systcm selbst ist nun , hinsichtlich der Lohn-
berechnung, in der That ein Prämien- oder Bonuslohn-
system. Desgleichen die oben unter I — 3 aufgezählten Systeme.
Alle vier Systeme stimmen in dem einen Punkt überein, dafs bei
ihnen den Arbeitern für die Zeit, die sie bei Ausführung ihnen
übertragener Arbeiten gegen den Voranschlag oder den normalen
Zeitsatz ersparen, eine Zuschlagszahlung auf den ausbe-
dungenen festen Lohn als Prämie oder Bonus vergütet wird.
Soweit ist das Prinzip schon ziemlich alt, haben wir es bei dem
System der Prämienzuschläge nur mit einer der verschiedenen
Formen des Stücklohnsystems zu thun. Und im Fall I, dem Spar-
l) Evidence before the Labour Commission, Group A. Vol. III, p. 3 1 1 (eitiert
im Bericht des Arbeitsamts über Gainsharing etc. p. 63).
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E d u a r d Bernstein,
anteil-, (englisch : gain sharing) System von Jale & Towne, ist das
Prämienarrangement faktisch auch nur eine Uebergangs-, wenn
nicht eine Vorbereitungsstufe zum gewöhnlichen Stücklohn-
system gewesen. Es war als Gruppenstückarbeitsystem ins Leben
gesetzt worden, aber nach verhältnismäfsig kurzer Zeit schon zeigte
ySich, dafs die Arbeiter, für die es berechnet war, der gewöhnlichen
Stückarbeit den Vorzug gaben, und auch die Firma fand , dafs sie
bei dieser letzteren besser fortkam. Unter diesen Umständen können
wir von einer Beschreibung der Einzelnheiten des Systems absehen.
Nur soviel, dafs die Firma bei ihm zwar den Arbeitern den nor-
malen Wochenlohn verbürgte, dafür aber die Beteiligung an Ver-
bindungen, welche die Beziehungen zwischen der Gesellschaft und
ihren Arbeitern störten oder auch nur angriffen, mit Entlassung
unter Verlust der Prämienansprüche bedrohte.
Sehr viel besser hat sich das Prämienlohn System des
Mr. Halscy bewährt. Es ist in dem Geschäft, wo es 189! zu-
erst versucht wurde, auch heute noch in Kraft und ist auch seit-
dem in verschiedenen anderen Geschäften eingeführt worden. Seine
Hauptgrundsätze sind die folgenden :
1. Dem Arbeiter wird der landläufige Zeitlohn als
Mindestsatz zuerkannt.
2. Kür jede Arbeit wird auf Grund vorliegender Erfahrungen
festgestellt, wieviel Zeit sie bisher erforderte und diese Zeit als
Normalzeit in Rechnung gestellt.
3. Braucht der Arbeiter weniger Zeit für die Arbeit, so wird
ihm für die gesparte Zeit eine bestimmte Prämien rate als Extra-
vergütung zuerkannt, deren Satz pro Stunde aber geringer ist als
der normale Stundenlohn.
4. Die Prämienrate soll möglichst dauernden Bestand
haben, eine Herabsetzung der Rate nur dann erfolgen,
wenn eine A end er ung des Produktionsprozesses selbst
die alte Zeitrate hinfällig gemacht hat. Der Arbeiter, erklärte Mr.
1 lalsey, dürfe nicht in den Glauben versetzt werden, dafs seine
Löhne nicht über eine gewisse Grenze sollen steigen dürfen.
3. Mr. Halsey empfiehlt, die Normalzeit nicht zu niedrig
anzusetzen. Er habe es für zweckmäfsiger gefunden, inbezug auf
die für die Arbeiten vorgeschriebene Zeit weitherzig zu sein und
lieber die Prämiensätze etwas niedriger zu halten. Dadurch werde
bewirkt, dafs selbst der weniger gute Arbeiter noch die Möglich-
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Einige Reform versuche im I.ohnsystem. ^21
keit vor sich sehe, seinen Lohn zu verbessern, und werde der Not-
wendigkeit vorgebeugt, die Prämienrate herabsetzen zu müssen.
6. Aus praktischen Gründen hat Mr. Halsey ferner in solchen
Fällen, wo sich eine Erhöhung der Prämien empfahl , nicht die
Prämienrate erhöht, sondern die Grenze der Zeitdauer für die aus-
zuführenden Arbeiten — die Normalzeit — heraufgesetzt.
Es empfahl sich dies wegen des Vorteils, den die Stetigkeit der
Prämien rate für die Berechnungen zur Folge hat.
7. Mit Bezug auf die Aufnahme des Systems von seiten der
Arbeiter schrieb Mr. Halsey 1894 an das britische Arbeitsamt, dafs
das System von den Arbeitern zuerst mit grofsem Milstrauen auf-
genommen worden sei. Aber ein wenig Geduld von seiten des
Unternehmers und einige Erfahrung auf seiten der Arbeiter hätten
genügt, das Mifstrauen zu beseitigen. Schlicfslich seien die Arbeiter
samt und sonders begierig gewesen, Prämienarbeit zu übernehmen.
Es sei im ganzen ohne Reibungen abgegangen, was Mr. Halsey
dem Umstande zuschreibt , dafs er durch Ansetzung niedriger Prä-
mienraten dafür gesorgt habe, eher Erhöhungen als Herabsetzungen
einführen zu müssen. Auch sei der Umstand , dafs das System
keinen Zwang einschliefse, seiner Annahme günstig.
Das war 1894. In der schon citierten Nummer des „Engineering
Magazine“ vom Januar 1901 spricht sich nun ein anderer amerika-
nischer Unternehmer, Mr. H. M. Norris, Leiter der Bickford Drill &
Tool Company , auf Grund eigener Erfahrungen über das System
aus. Im allgemeinen stimmt er Halsey rückhaltlos zu. Dagegen
hält er dessen Prinzip, die Prämienrate niedrig und die Zeitgrenze
hoch anzusetzen, nur für solche Werkstätten am Platze, wo bisher
einfacher Zeitlohn und die mit ihm verbundene schlaffe Arbeits-
woche vorgeherrscht haben. Wo aber die Fabrik schon gehörige
Leistungsfähigkeit entfaltet habe, fänden sich häufig Bedingungen
vor, die gerade das umgekehrte Prinzip, d. h. niedrige Zeitgrenze
und hohe Prämienrate, rechtfertigten. „Ich gehe davon aus," schreibt
er, „dafs unser [der Fabrikanten Hauptverdienst mehr von der Steige-
rung der Produktion als von der Herabsetzung des Preises der
Produkte stammt , und dafs, wenn die Zeitgrenzen mit gehöriger
Vorsicht normiert sind, der allgemeine Vorteil gröfser ist, als wenn
die Zeitgrenzen hoch und die Prämienraten niedrig sind." Die Zeit
sei der allmächtige Faktor, und wenn sie — die auf jedes Produkt
entfallende Arbeitszeit — nicht niedrig gehalten werde, verschwinde
der Profit schnell. Für das Durchschnittsunternehmen, das mit ge-
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322
Eduard Bernstein,
ringer Profitrate arbeite, sei „derjenige Plan der beste, der
den langsamen Arbeiter am schnellsten ausmerze."
(S. 638). Sei die Zeitgrenze hoch und die Prämienrate niedrig, so
nehme, nachdem der Arbeiter die erste Zeitersparnis erzielt habe,
der Antrieb zu weiterer Zeitersparnis stark ab. „Die erste Zeit-
ersparnis wird gewöhnlich mit sehr wenig Mchranstrengung von
seiten des Arbeiters erzielt. Aber von da ab ist jede weitere
Produktionssteigerung geeignet, mehr Muskelarbeit und höhere
geistige bezw. Nerven-; Anspannung zu erheischen und sollte,
meine ich, mit höherer Prämienrate belohnt werden."
Mr. Norris giebt einige Beispiele aus der von ihm geleiteten
Fabrik, die zeigen, was für Zeitersparnisse unter dem Prämiensystem
erzielt wurden. Die Liste eines Arbeiters, der hintereinander 316
Stück Produkte einer gewissen Art in 34 Posten zur Herstellung
übernommen hatte, für die zusammen 2500 Stunden als Normal-
zeit angesetzt waren, zeigt als wirklich gebrauchte Arbeitszeit
1770 Stunden, eine Zeitersparnis von nahezu 30 Prozent.
Einer dieser Aufträge, dessen Normalzeit auf 30 Stunden angesetzt
war, wurde bei der sechsten und siebenten Wiederholung in 18
Stunden ausgeführt. Die Firma macht mit den Arbeitern bei Zeit-
ersparnis Halbpart, und so erzielten sie und der betreffende Arbeiter
je eine Mehreinnahme von 94,93 Dollars. Das heifst, sie zahlte für
Arbeit, die sonst 650 Dollars an Lohn gekostet hätte, 555,06 Dol-
lars, während der Arbeiter für 1770 Stunden statt 460,13 Dollars
555,06 Dollars erhielt.
Auch Mr. Norris stellt fest, dafs das System, wo immer es
eingeführt werde, anfangs auf das gröfste Mifstrauen von seiten der
Arbeiter stofse. Sie betrachteten es „als den Keil, der eingeschoben
werde, um der Stückarbeit den Weg zu bahnen“. Damit ist auch
die Haltung angezeigt, die die Führer der organisierten Arbeiter
ihm entgegenbringen. Immerhin hat der Leiter des amerikanischen
„Internationalen Bundes der Maschinenarbeiter", Mr. O'Connell, sich
dahin geäufsert , dafs wenn das Prämiensystem „ehrlich ins Werk-
gesetzt und seine Versprechungen ehrlich innegehalten werden, es
von grofsem Wert sein könne für die Verminderung der Reibungen,
die sich jedesmal zeigen, wenn irgend etwas der Stückarbeit Aehn-
liches in Vorschlag gebracht wird“.
Das Referenztarifsystem der Herren Willan & Robinson in
Thames Ditton bei London unterscheidet sich nur wenig von dem
Halseyschen Prämiensystem. Auch bei ihm ist der leitende Ge-
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Einige Reformversuche im Lohnsystem.
323
danke die Feststellung eines Normalzeittarifes — hier
die „Referenzrate" genannt — für jede den Arbeitern übertragene
Arbeit und die Zahlung einer Prämie für die Zeitersparnis
bei der Ausführung. Der Prämiensatz für den Arbeiter ist der
gleiche wie bei den Bickford Tool & Drill Works, nämlich 50
Prozent der Ersparnis, und auch hier ward das Prinzip be-
obachtet, das Normalzeitmafs in der Regel höher anzusetzen als die
Zeitsumme, die die betreffende Arbeit bei Einführung des Systems
in Anspruch nahm. „Die Referenzraten", heifst cs im Einführungs-
schreiben der Firma an die Arbeiter, „werden im allgemeinen höher
angesetzt, als den jetzigen Kosten der Arbeiten entspricht, so dafs
bei der gegenwärtigen Arbeitsrate sich Ueberschüsse ergeben. In
verschiedenen Fällen, wo nach Ansicht der Firma die Produktion
Gewinn abwirft, wird man die Referenzrate erheblich höher als den
jetzigen Kostbetrag angesetzt finden, so dafs selbst ohne jede weitere
Verringerung des Zeitaufwandes, wie er jetzt ist, greifbare Zu-
schüsse zur Auszahlung gelangen". (Bericht, S. 122). Dagegen
ward in anderen Fällen die Normalzeit niedriger angesetzt als dem
gegebenen Kostpreis entsprach, und zwar weil die in Gebrauch be-
findlichen Produktionswerkzeuge veraltet waren. Die Firma ver-
sprach Einstellung zeitgemäfser Werkzeuge und Geräte und ver-
bürgte inzwischen den betreffenden Arbeitern unverkürzte Fortbe-
zahlung des normalen Zeitlohns. Der normale Zeitlohn solle
der Mindestlohn bleiben, auch wenn der Arbeiter mehr Zeit
für die Arbeit verbrauche, als der N'ormalzeittarif dafür vorschreibe.
Ferner ward auch hier Unveränderlichkeit des Zeittarifs
bei gleichbleibendem Produktionsprozels als leitendes
Prinzip festgesetzt. Solange nicht die Geschäftsleitung durch neue
Maschinen etc. den Produktionsprozels ändere, werde der Zeittarif
unverändert bleiben, Verbesserungen der Arbeitsmethode, die der
Initiative, bezw. dem Erfindungsgeist der betreffenden Arbeiter selbst
geschuldet sind, lassen den Zeittarif unberührt.
Bis zur Abfassung des Berichts des Arbeitsamts (1895} hatte
sich dies Lohnsystem als zufriedenstellend bewährt. Für 1894
wurden an Arbeiter derjenigen Abteilungen der Fabrik, in denen
das System eingeführt war, auf 10579 Pfd. Sterl. Lohn 1579 Pfd.
Sterl. Bonus verteilt, was eine Zuschlagsrate von 14,93 Prozent er-
giebt. Da aber in jenen Abteilungen auch Arbeiter thätig sind,
die nicht nach dem System entlohnt werden, ist der Zuschufs für
diejenigen Arbeiter, die unter ihm arbeiteten, ein höherer gewesen.
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324
Eduard Bernstein,
Die höchsten Bonusse pro Jahr wurden bei den Drehern und
Modellmachern, die niedrigsten bei den Fertigmachern und Schleifern
erzielt. ') Die Kostenersparnis für das Geschäft schätzt der Bericht
auf mindestens fünf Prozent.
Dem Good Fellowship -System der Thames Iron works
unterliegt, soweit die Lohnfrage inbetracht kommt, zunächst das-
selbe Prinzip der Feststellung von Normalzeittarifen und Prämierung
der Zeitersparnis, wie den vorher bezeichneten Systemen. Während
bei diesen aber die Frage, ob die Arbeiter als Einzelne oder ganze
(iruppen von Arbeitern die Einheiten für die Prämienberechnung
bilden sollen, als offene behandelt und nur für das System der An-
spruch erhoben wird, auf beide Fälle anwendbar zu sein, hatte die
Good Fellowship die ausgesprochene Tendenz, die Gruppe zur
Einheit für die Prämien arbeit zu machen, bezw. durch das
Mittel der l’rämien die Gruppenorganisation anziehend zu ge-
stalten. Nicht der Einzelne, sondern die „Kameradschaft“ sollte
die Prämie erwerben und unter ihre Mitgliedern verteilen. Zu
einem Teil scheint dem Urheber des Systems, Mr. Hills, die That-
sache zu dieser Gruppierungsidee veranlafst zu haben, dafs ohnehin
auf so grofsen Eisenwerken , wie es die Thames Ironworks sind,
viel Arbeit an Gruppen von Arbeitern übertragen wird. Daneben
aber haben ihn aber auch offenbar ideologische Beweggründe ge-
leitet, wie der Wunsch, ein Stück Sozialismus im Unternehmen zu
verwirklichen. Nicht dafs Mr. Hills ein Sozialist im strengen Sinne
dieses Wortes wäre. Seine Ziele bleiben durchaus auf dem Boden
der gegebenen Gesellschaftsordnung. Aber er will doch das Ver-
hältnis von Arbeiter und Unternehmer auf eine andere Basis als
die herkömmliche stellen, ruft überhaupt gern ethische und soziale
Prinzipien an. „Der Zweck dieses Plans," heilst es in der Einlei-
tung zu dem Good Fellowship Statut, „besteht darin, den möglichen
Verdienst jedes Arbeiters auf dem Werk zu erhöhen, das Prinzip
seiner Anwendung ist aber durchaus dem der „Stückarbeit" ent-
gegengesetzt , wie sie gewöhnlich verstanden wird, die jedermann
von seinem Nächsten unabhängig macht und vielen der Zerwürf-
nisse den Weg ebnet, die solange die besten Interessen von Kapi-
'} Da die betreffenden Zahlen sich aut' Jahreserträge beziehen, also auch solche
Arbeiten einsclilicfscn, die nicht nach dem Normalzeitmafs verrechnet wurden, besagt
das Obige nicht, dafs Fcrligmachcr und Schleifer bei Arbeiten, die unter das System
heim, stets schlechter daran waren als ihre Kollegen.
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Einige Rcformvcrsuclie im Lobnsystem.
325
tal und Arbeit gespalten haben. Die Stückarbeit ist zu oft der
Ausdruck einsiedlerartiger Selbstsucht, das Todesurteil sozialer
Wohlfahrt." Und: „Das vierte Prinzip der „guten Kameradschaft"
ist Gleichheit der Gewinnanteile im Verhältnis zu den gezahlten
Normallöhnen. Alle Zahlung von individuellen Arbeits-] Prämien
ist dem Vorwurf der Parteilichkeit und Günstlingswirtschaft aus-
gesetzt und steht in der Regel in keinem genauen Verhältnis zu
den Kosten des Stückes Arbeit, worauf sich die Prämien be-
ziehen."
Wie aus dem Vorhergehenden ersichtlich , bildet auch bei der
,.Good Fellowship“ ein Normal lohn die feste Grundlage der
Lohnbemessung. „Jeder Arbeiter,“ heifst es im § 1 des Statuts,
„wird von der Gesellschaft auf Grundlage der Normal- Lohn-]
rate des Gewerbes angestellt,“ d. h. auf Grundlage des von der
in Frage kommenden Gewerkschaft anerkannten Lohnsatzes. Unter
Zugrundelegung dieser Normallöhne und des normalen Zeitaufwands
werden nun die verschiedenen auszuftihrenden Arbeiten gewertet,
ihre „normale Arbeitskost“ oder ihr „Arbeitswert" fest-
gestellt, wobei die beteiligten Gewerbsgruppen durch Vertreter
Sitz und Stimme haben. Für eine ganze Reihe von Arbeiten, die
sich regelmäl’sig wiederholen, giebt es „festgesetzte Stück-
preise", und wo es angeht, werden selbst für die kleinsten Teil-
arbeiten „Stückpreise" oder „Arbeitswerte“ festgestellt. Auf Grund
dieser Arbeitswerte und der Gutachten der Ingenieure, Werkführer,
Vorarbeiter etc. über die Arbeitskost von Artikeln, für die es keine
festgesetzten Stückpreise giebt, macht die Firma bei Lieferungsaus-
schreiben ihre Angebote, wobei sie sich indes vorbehält, je nach
der Marktlage die Gesamtforderung zu modifizieren und alsdann
bei erfolgtem Zuschlag auch die Teilpreise entsprechend abzu-
ändern. Fs steht aber jeder Arbeitsgruppe frei, ihr zugewiesene
Arbeiten abzulehnen, wenn ihr der vorgeschlagene Arbeitswert un-
genügend erscheint Eine Kameradschaft besteht in der Regel aus
allen Arbeitern des gleichen Berufes, die in ein und derselben Ab-
teilung des Unternehmens beschäftigt sind (Schiffbau, Maschinenbau,
Reparatur etc.). Werden aber in ein und derselben Abteilung ver-
schiedene Lieferungsaufträge zu gleicher Zeit ausgeführt, so findet
eine entsprechende Einteilung in Lieferungskameradschaften
statt. Ferner giebt es auch, je nach der Natur der Arbeiten, zu-
sammengesetzte Kameradschaften, wo Arbeiter ver-
schiedener Berufsgruppen an ein und demselben Werk unmittelbar
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326
Eduard Bernstein,
kooperativ thätig sind, und Sektionskameradschaften, die aus
kleineren Gruppen von Berufsgenossen bestehen. So waren 1895
die 200 Plattenleger in der Schiffbauabteilung in Sektionskamerad-
schaften von 6 — 8 Mitgliedern eingeteilt. Innerhalb anderer Kame-
radschaften gruppieren sich die Arbeiter bei der Arbeit, und dem-
gemäfs auch bei der Berechnung der Prämien, je nachdem in Son-
derabteilungen, die von zwölf bis zu zwei Mitgliedern herabgehen,
und wo dies die Natur der Arbeiten mit sich bringt , findet auch
bei der Arbeit und Berechnung der Prämien völlige Individualisie-
rung statt. Jedoch wird seit 1895 bei der Schlufsabrechnung für
jeden Auftrag den Mitgliedern der einzelnen Untergruppen nur die
Hälfte des Gewinns ihrer Gruppe gutgeschrieben, die andere Hälfte
wird der ganzen Kameradschaft zur gleichmäfsigen Verteilung an
alle ihre Mitglieder gutgeschricben, gleichviel ob die Rechnung der
Einzelnen mit Gewinn oder Verlust abschliefst. Es sollen auf diese
Weise etwaige Vorteile oder Nachteile, die bei der Verteilung der
Arbeiten unterlaufen oder Folge von unkontrollicrbaren Umständen
sind, ausgeglichen und das Gemeinschaftsinteresse gestärkt, ein
„Gleichgewicht zwischen den individualistischen und den sozialisti-
schen Kräften" hergcstellt werden. An dem Gesamtgewinn jeder
Betriebsabteilung haben ferner auch die Vorarbeiter, die Tagelöhner
und die Kontoristen dieser Abteilung einen gewissen proportio-
neilen Anteil.
Was die Höhe der erzielten Prämien betrifft, so waren sie in
den verschiedenen Kameradschaften aufscrordentlich verschieden.
Es stehen da Sätze von 39,74 Prozent völliger Abwesenheit von
Gewinn (Zeitersparnis) gegenüber.1) Insgesamt wurde in dem Zeit-
raum von 1891 bis 1894 ein Durchschnittsgewinn von 5,68 Prozent
der Normallöhne erzielt. Das scheint nicht sehr hoch. Es ist aber
zu berücksichtigen, dafs im Laufe dieser Periode die Firma den
Achtstundentag, bezw. die 48 Stunden-Arbcitswoche bei Festhaltung
des alten Wochenlohns durchführte, und aufserdem fanden in dieser
Zeit zweimal Erhöhungen des Normalzeitlohns statt,
nämlich 4,25 Prozent im November 1892 und 6,25 Prozent im
') Verluste, d. h. Uhcrnormalc Zcitaufwändc der Gruppen oder Einzelpersonen
werden nur solange in Rechnung gestellt, als es sich um Arbeiten für ein und den-
selben Licferungsvertrag handelt. Hat eine Person oder Gruppe bei Schlufsabrechnung
über einen Auftrag mehr Verlust als Gewinn auf Buch, so wird der Rest einfach
als Null gesetzt, so dafs der Normallohn verbleibt.
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Einige Reformversuche im Lohnsystem.
327
April 1894, Unter diesen Umständen ist der Erfolg immerhin be-
merkenswert. N'ach den Erklärungen des Mr. Hills wäre ihm ohne
die Kameradschaftsorganisation die Durchführung der 48 Stunden-
Arbcitswoche unmöglich gewesen. Vom Standpunkt der Firma
ist danach das Ergebnis alles in allem zufriedenstellend gewesen.
Die Arbeiter ihrerseits scheinen im ganzen auch nicht unbefriedigt
gewesen zu sein, wenn auch einzelne Berufsgruppen es mehr über sich
haben ergehen lassen, als dafs sie ihm irgend welche stärkere Sym-
pathie entgegengebracht hätten. Die Gewerkschaften stellten sich
vielmehr anfänglich dem Plan durchaus feindselig gegenüber, haben
sich jedoch später mit ihm ausgesöhnt. So erklärte im Mai 1894
der Verband der Vereinigten Maschinenbauarbeiter in seinem Organ
die Thames Ironworks für „eines der anständigsten („fairest“) Werke
in London". Während der grofsen Arbeitssperre von 189798 ward
auf den Werken dieser Firma fortgearbeitet und herrschte zwischen
ihr und dem Verband der Arbeiter freundschaftliches Einver-
nehmen.')
*) Wie sieh das Good Fellowship Lohnsystem geschäftlich bewährt hat, zeigt
folgenden Stelle aus dent Geschäftsbericht der obigen Gesellschaft für 1898. Sic
beginnt mit einem Rücklick auf die Kämpfe, welche die Firma vor Einführung des
Systems mit ihren Arbeitern hatte und welche „ungeheuere Kosten’1 sie aufwenden
mufstc, „um die Autorität der Gesellschaft als Arbeitsprinzipal herzustellcn".
Dann heifst cs weiter:
„Das Good Fellowship System, das jedem Arbeiter ein direktes Inter-
esse an der Arbeit giebt, die er geradeausführt, war eingeführt worden,
um ein freundlicheres Verhältnis herzustellen. Fs hat sich in jeder Hinsicht als
über unsere Erwartungen zufriedenstellend bewährt. Wie unser Geschält sich aus-
gedehnt hat. zeigt folgende Tabelle der gezahlten Löhne:
1893 . . . . £ 99066
1894 .... „ 102465
1S95 .... „ 147790
1896 . . . , „ 163666
1897 .. »» 223902
1898 .... „ 242838
Unsere Kosten sind um gegen 17 bis 18 Prozent gefallen, während
den Arbeitern als Zuschlag zu den höchsten Löhnen, die im Königreich ge-
zahlt werden, und zum achtstündigen Arbeitstag, dessen Einführung durch
den Erfolg des Good Fellowship System gerechtfertigt wird, folgende Monats-
dividenden gezahlt wurden:
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328
E <1 u » i d Bernstein.
III.
Wie sich selbst der nichtfachmännisch geschulte Leser gesagt
haben wird, erfordert das System der Arbeitsprämien, wie es in der
Good Fellowship gchandhabt wird, eine aufscrordentlich um-
fangreiche und genaue Buchführung. Eine sehr ins Ein-
zelne gehende Buchführung braucht auch das Willans 8: Robinsonsche
System der Referenztarife. Es ist nun charakteristisch, dafs beide
Firmen erklären, diese Mehrkosten für die Buchführung stünden in
gar keinem Verhältnis zu den Vorteilen, die ihnen aus der
Durchführung des Systems erwüchsen. Willans & Robinson fügen
hinzu, dafs die Mehrkosten überhaupt nicht bedeutend seien, und
Mr. Hills giebt zwar eine erhebliche Steigerung der Ausgaben für
Buchführung und genaue Feststellung des Zeitverbrauchs bei den
verschiedenen Arbeiten („time-keeping“) zu, — „wir hatten eine
ganz neue Abteilung dafür einzurichten“, erklärte er vor der König-
lichen Arbeitskommission, — schätzt aber den erzielten Gewinn
dafür um so höher ein. „Zum erstenmal in der Geschichte dieses
Unternehmens,“ schreibt er in der „Thames Ironworks Gazette" vom
Januar 1895, „haben wir uns einen absolut zuverlässigen Kosten-
anschlag für alle Lieferungsaufträge gesichert, die wir zu irgend
eitler Zeit in Händen haben. Jeden Monat habe ich jetzt einen
genauen Ucberblick aus der Vogelschau über die finanziellen Er-
1892 . .
. 4S04 £
11 sh.
9 d.
IS93 .
2503 „
16 „
8
IS94 . .
. 1 1 12
16 „
5 ..
1895 . .
• ■ 5852
2 „
6 ..
1896 . .
. . 5081 „
«3 „
5 ••
1897 . .
• ■ 7 774 „
5 »
7 „
1898 . .
- - 15 390 „
4 >•
7 <>
zusammen 42519 £ 10 sh. 1 1 d.
Gegenüber dem Gerede von Konkurrenten, dafs Mr. Hill die Thames Iron Works
nur als rein „philantropisches Unternehmen“ betreibe, bemerkt dieser im Bericht,
»•ein Schiffs- und Maschinenhauwerk, das in derselben Zeit seine Produktion ver-
dreifachen, Feine Kosten verringern und den Aktionären zehn Prozent
Dividende bieten kann, braucht keine Furcht zu haben“.
I m ihre zunehmenden Aufträge ausführen zu können, haben die Thames Iron-
works im Jahre 1899 die am gegenüberliegenden Themseufer — in Greenwich — —
gelegene grolsc Maschinenbauanstalt der altangcschenen Firma John Penn & Sons
erworben und so den achtstündigen Arbeitstag über die Themse verpflanzt.
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Kinigc Rcfornivcrsuchc im Lobnsystcm.
329
gebnisse der im Monat geleisteten Arbeit. Ich kann nicht nur den
Stand jedes einzelnen der verschiedenen Aufträge feststellen, sondern
so wissenschaftlich genau ist das System du'rchgcfuhrt, dals, wenn
ich es wünsche, ich ermitteln kann, welchen Gewinn oder Verlust
jeder einzelne Arbeiter — ob Mann oder Bursche — in den ver-
schiedenen Abteilungen bei jedem einzelnen Lieferungsauftrag ge-
macht hat" (Bericht, S. 1061.
Wie schon weiter oben erwähnt, wurde auf den Thames
Ironworks die Berechnung des Normalzeitaufwands für die einzelnen
Arbeiten verschiedentlich so weit durchgeführt, dals Arbeitswerte
bis zu 1 Schilling und darunter festgcstellt wurden. Dies Prinzip
nun, die rechnerische Zerlegung aller Arbeiten bis in ihre
kleinsten Einzelheiten, um den für sic erforderten normalen Zeit-
aufwand, und damit ihren Arbeitswert fcstzustellen, ist in dem
fünften der oben aufgezählten Lohnsysteme , dem Taylorschen
System der Differential-Stücklohntarife, am konsequentesten durch-
geführt, man könnte fast sagen, wirklich zu einer Wissenschaft
erhoben.
Das Differential-Stücklohnsystem ist seit fünfzehn
Jahren in den Werken der Midvale Steel Company in Philadelphia,
wo es sein Erfinder, Mr. Fred. W. Taylor, eingeführt hat, mit so
grol’sem Erfolg für das Unternehmen in Uebung, dals auch andere
grolse Unternehmungen sich veranlalst gesehen haben, es bei sich
einzufuhren. Es wird im „Engineering Magazine“ von Mr. Sanford
E. Thomas in einem Artikel, den Mr. Taylor durchgesehen hat,
genauer beschrieben. Danach besteht sein Grundprinzip in einer
Feststellung des für die kleinsten Teile — die „Elemente" —
jeder Arbeitsleistung erforderten Zeitaufwands und die
Aufstellung von differenzierten Stücklohntarifen auf Grund dieser
Wertung der Elementarverrichtungen. Das Differenzierungsprinzip
ist ähnlich wie das der vorhergcschilderten Prämiensysteme : Zahlung
von höheren Einheitssätzen für alle Zeitersparnis. Das Normalzeit-
mafs wird so angesetzt, dals der Arbeiter „ohne äufserste Anspannung
seiner Kräfte“ den Xormallohn des Gewerbes verdienen und durch
zweckmäfsige Verwendung seiner Zeit Mehreinnahmen erzielen kann,
ohne befurchten zu müssen, dals grölserc Ergiebigkeit seiner Arbeit
Herabsetzung der Tarifsätze nach sich zieht. „Die ganze Vorteil-
haftigkeit des Systems ist zerstört,“ schreibt Mr. Thompson, „wenn
die Arbeiter den Eindruck empfangen, dals, sobald sie ihre Pro-
duktion steigern, die Lohnsätze reduziert werden.“
Archiv für *oz. Gesetzgebung u. Statistik. XVI [. 22
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33°
K. d u a r d Bernstein,
Mr. Thompson illustriert das System an folgendem Beispiel.
„Angenommen, es handle sich um das Glätten der Oberfläche
eines Stückes Gufseiscn. Bei dem gewöhnlichen Stücklohnsystem
würde der Beamte, der den Arbeitspreis berechnet, seine Liste der
an der Hobelmaschine ausgeführten Arbeiten durchsehen, bis er auf*
ein Stück Arbeit stöfst, das dem auszuführenden Stück möglichst
nahe kommt, und dann den für das letztere erforderten Zeitaufwand
vermutungsweise abschätzen. Unter dem Elementarsystem dagegen
würde etwa folgende Analyse gemacht werden :
A r b c i t des A r b c i ( c r s :
Zeit erheischt um das Stück vom Boden auf den 1 lobe! tisch zu liehen
„ „ ,, das Niveau herzurichten
„ „ Riegeln und Klammern anzuschrauben
t, „ „ Riegeln und Klammem abzuschraubcu
„ ,, das Stück auf den Boden zu setzen
„ „ „ die Maschine zu reinigen
Minuten
Arbeit der Maschine:
Zeit erheischt um einen Schnitt 1 4 Zoll dick, 4 Fufs lang und 21* Zoll
. breit ahzuhohcln
„ „ einen Schnitt 1 «. Zoll dick, 3 Fufs lang und 12 Zoll
breit ab/uhobein
„ .. ,, einen Schnitt von 4 Fufs Länge und 2 ' , Zoll Breite
zu glätten
,, „ ,, einen Schnitt von 3 Rufs Länge und 12 Zoll Breite
zu glätten
Insgesamt .
Hierzu .... Prozent für unvermeidbare Verzögerungen ...
Auf diese Weise lielscn sich alle Arbeiten in eine Reihe
elementarer Verrichtungen auflösen, wie sie sich in jeder Werkstatt
täglich in den verschiedenartigsten Kombinationen wiederholen und
deren Zeitaufwand sich leicht bestimmen lasse. Der Tarifaufsteller
werde bald so vertraut mit den Zciterfordernissen für jedes der
Arbeitsclemente, dafs er sie aus dem Gedächtnis niederschreiben
könne. Für denjenigen Teil der Arbeit, den die Maschine macht,
schlägt er Tabellen nach, welche für jede Maschine ausgearbeitet
sind und die Zeit für jede Kombination inbezug auf Länge, Breite
und Dicke des Schnitts angeben.
Natürlich sei cs e i n Ding , zu wissen , wieviel der Arbeiter
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Einigt* Kcformvcrsuchc im Lohnsystenu
leisten könne, und etwas ganz anderes, selbst den besten Arbeiter
zu veranlassen, mit seiner größtmöglichen Schnelligkeit zu produ-
zieren. Als das wirksamste Mittel zur Erzielung des letz.teren habe
sich die Aufstellung von Differentialtarifen — Erhöhung des I .ohnsatzes
bei schnellerer Produktion — erwiesen. Jede Betriebsleitung müsse
von der Erkenntnis ausgehen, dal's der Arbeiter für den gewöhn-
lichen Tagclohn keine aufsergewöhnliche Arbeitsleistung verrichten
werde. Versuche, bei Zahlung des blofsen Normallohns Maximal-
leistungen zu erzielen, seien stets gescheitert und verdienten stets
zu scheitern. Mr. Thompson giebt ein Beispiel, wo Mr. Taylor auf
Grund von genauer Analysierung der Arbeiten nach dem vor-
entwickelten Prinzip zu der l’eberzeugung kam, es müsse möglich
sein, von gewissen Stahlfabrikaten, die bis dahin im Verhältnis von
; Stück pro Tag von den Arbeitern festgestellt wurden, io Stück
pro Tag anzufertigen. Er habe daraufhin einen Tarif aufgesetzt,
wonach den Arbeitern bei einer Produktion von io Stück pro Tag
35 Cents (etwa 1,49 Mark), bei geringerer Produktion aber nur
25 Cents pro Stück gezahlt wurde, und in der That hätten dann
diejenigen Arbeiter, die ihre Sache verstanden, jahraus, jahrein mit
ganz seltenen Ausnahmen täglich zehn Stück des Artikels produ-
ziert und einen Tageslohn von 3J Dollars erzielt, während die
Konkurrenten der Firma, die den Verdienst ihrer Leute nicht auf
über 2 bis 2'., Dollars pro lag kommen liefsen, es nur auf eine
Tagesproduktion von durchschnittlich fünf Stück pro Arbeiter
brachten. Und in den fünfzehn Jahren, wo das Differentialtarif-
system in der Fabrik herrschte, sei es nicht ein einziges Mal zu
einem Ausstand der Arbeiter des Unternehmens gekommen.
Das System der Differentiallohntarife erfordert, dies sei noch
bemerkt, eine besondere Abteilung von Beamten für die Berechnung
der Tarife, die stets nach wissenschaftlicher Methode und nie auf
blofses Raten hin aufgestellt werden sollten. Ferner erheischt das
System sorgfältige Nachprüfung der angefertigten Artikel.
IV.
Kommen wir nun von der Beschreibung der Systeme auf Grund
der von ihren Erfindern oder deren Vertretern und Parteigängern
gelieferten Berichte zu ihrer sozialpolitischen Würdigung. Da haben
wir zunächst einige Thatsachen hervorzuheben, die wir bisher teils
nur flüchtig berührt, teils ganz übergangen haben, weil sie für die
22*
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332
Kduarri Bernstein,
Gesichtspunkte, um die es sich bisher gehandelt hat, nebensäch-
licher Natur sind.
Es wurde schon bemerkt, dafs mit dem Versuch der Durch-
führung des Gain Sharing-Systems von Yale & Towne ein Verbot
der Ausübung des Koalitionsrecht verbunden war. Merkwürdiger-
weise hat gerade dieser Versuch sich ganz und gar nicht bewährt.
Die Arbeiter drängten sich nach einfacher Stückarbeit , und die
Firma selbst fand nach einiger Zeit aus, dafs die einfache Stückarbeit
ihren Zweken besser diente als das so mühevoll ausgeklügelte
System. So kann ihr Versuch für unsere Betrachtung damit als
erledigt gelten.
Wie sich die Firmen, die das Halseysche Prämiensystem ein-
führten, zum Koalitionsrecht der Arbeiter stellten, wird nicht be-
richtet. Wir haben nur das, allerdings sehr bedingte Zugeständnis
eines Arbeiterführers, dafs das System zur Verminderung der
Reibungen zwischen Unternehmern und Arbeitern beitragen könne.
Auch in dem Bericht über das Willans & Robinsonsche System
fehlen Andeutungen über die Haltung des Geschäfts zur Organisa-
tion der Arbeiter; es wird nur bemerkt, dafs das System dahin
gewirkt habe, Eintracht zwischen Unternehmern und Arbeitern her-
zustcllen, die Beziehungen seien „sehr herzliche". Von der Good
Fellowship der Thames Ironworks wissen wir, dafs ein gutes Ein-
vernehmen zwischen Geschäftsleitung und Gewerkschaft besteht,
und von der Einführcrin des Systems der Difterentiallohntarife,
der Midvale Steel Company, heilst es, dafs sie „niemals ihren Ar-
bitern den Anschlufs an eine Arbeiterorganisation verwehrt hat".
Engin. Magaz., S. 6291.
Soweit könnte man folgern, dafs diese Systeme nicht notwendig
von vornherein sich den gewerkschaftlichen Bestrebungen der Ar-
beiter feindlich gegenüberstellen. Nun lesen wir aber im Bericht
über das Differential-Stücklohnsystem an der zuletzt citierten Stelle
weiter: „All die besten Arbeiter der Gesellschaft sahen deutlich
ein, dals der Erfolg einer Arbeiterorganisation die Verringerung
ihrer Löhne im Interesse der Erhöhung der Löhne der schlechteren
\rbeitcr bedeutete, und waren daher selbstverständlich n ich t zum
\nschlufs an die Organisation [der Arbeiter] zu be-
wegen.“ Mit anderen Worten heifst das, das Differential-Stück-
lohnsystcm hat einen Keil zwischen die Arbeiter getrieben und
infolge dessen hat die Firma, die es einführte, nichts von den Aus-
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Einige Kcformverstiche im Lohnsystem.
333
ständen verspürt, die während der fünfzehn Jahre in der amerika-
nischen Stahlindustrie gespielt haben.
Auf eine Schwächung der Arbeitersolidarität deutet ferner der
folgende Satz in dem zuletzt citiertcn Artikel : „Der grofse Vorteil
des Differential-Stücklohnsystems Lst, dafs es sehr schnell alle weniger
guten Arbeiter abstölst und diejenigen Leute anzieht, die für die
betreffende Arbeit am besten geeignet sind“ (S. 626). Und S. 628
erfahren wir: „Das Differential-Tarifsystem hat nicht den Zweck,
den Arbeiter zur Ueberanspannung seiner Kräfte zu zwingen, sondern
den, eine „natürliche Auslese“ zu ermöglichen, wodurch sich Leute
nach und nach selbst zu Arbeiten ausscheiden, für die sie durch
Natur und Ausbildung am besten geeignet sind.“
Von solcher „natürlichen Auslese" erzählen nun auch die
anderen Systeme. Im Artikel des Mr. X'orris über den Halscyschen
Präinienplan lasen wir: „Ich glaube, dafs für das Durchschnitts-
geschäft, das mit niedriger Profitrate arbeitet, der beste Plan der
ist, der am schnellsten den langsamen Arbeiter aus-
merzt" (Engin. Magaz., S. 6381. Und im Hericht über das Good
Fellowship- System heilst es, dafs in den ersten Monaten nach Ein-
führung des Systems in den Thames lronworks „zwischen 300
b i s 400 Arbeiter der versc hie denen Berufsgruppen auf
V erlangen derKameradschaften selbst aus der Arbeit
entlassen wurden“, weil sie sich als nicht leistungsfähig
genug erwiesen. So der Bericht des Arbeitsamts auf Seite in.
Auf Seite 70 wird in einer Note mitgeteilt, dafs in der Schiffbau-
abteilung der Thames lronworks während der ersten Zeit bei Be-
rechnung des von den verschiedenen Mitgliedern der Kameradschaft
der Bohrer verdienten Konus für eine Anzahl der leistungsfähigsten
Bohrer ein höherer Lohnsatz als ihr wirklicher unterstellt wurde,
um sie für die Zusammenkuppelung mit sehr viel weniger leistungs-
fähigen Arbeitern schadlos zu halten. „Es fand sich aber,“ heilst es
weiter, „dafs die Bohrer nach und nach die wenigst leistungsfähigen
Mitglieder des Berufs selbst ausmerzten, indem sie vom Werk-
führer ihre Entlassung verlangten, so dafs schliefslich nur wenig
Unterschied zwischen Bohrer und Bohrer in Bezug auf I.eistungsfahig-
keit bestand.“ Die fingierten Rechnungen wurden damit über-
flüssig. ')
*) Auf Seite 100 wird noch einmal erzählt: „Thatsächlich wird jetzt kein
Bohrer mehr behalten, der nicht erheblich mehr verdienen kann als seinen Zeit-
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334
Eduard Hern st rin.
Schlielslich gehören hierher auch die Erklärungen, denen wir
sowohl im Bericht über das Referenz -Tarifsystem als auch in dem
über das Good hello wship-System begegnen, dafs die Prämien-
tarife wohl da anfeuernd wirkten, wo die Arbeiter getrennt oder in
kleinen Gruppen die Ueberschufsproduktion verrechnen, aber sofort
versagen, wo sic auf gröfsere Gruppen kollektivistisch angewendet
werden sollen. In der Giefserei bei Willans & Robinson, wo 40
Mann bei der Berechnung der Förderung als eine Einheit betrachtet
werden, wurde überhaupt kein Bonus verdient — nach der Er-
klärung des Betriebsleiters hauptsächlich deshalb, weil die kräftigeren
Arbeiter unter dem Gefühl arbeiten, dafs jede Mchranstrengung
ihrerseits von der I Bissigkeit der anderen neutralisiert werden würde
(Bericht, S. 54). Auch die Giel'ser der Thames Ironworks haben es
nie zu einem mehr als nominellen Bonus gebracht, und die Vernieter
und Plattenleger erzielten erst nennenswerte Prämien, als sic von
der Abrechnung nach ganzen Berufskameradschaften zur Formierung
kleinerer Gruppen zurückkehrten, wie sie vordem im Gewerbe die
Arbeits- und Rechnungseinheiten gebildet hatten. Und diese kleinen
Gruppen sind nicht Gruppen gleichartiger Arbeiter, sondern Gruppen
von ein oder zwei qualifizierten Arbeitern mit ihren Gehilfen.
„Soviel ist sicher,“ heifst es in der zusammenfassenden Betrachtung
des britischen Arbeitsamts, „dafs die gewonnene Erfahrung im vor-
liegenden Fall die Unternehmer bewogen hat, die unter dem Good
Fcllowship-Systcm beschäftigten Gruppen kleiner zu machen, wie
am Anfang, während zur selben Zeit, wo die Kameradschaften klei-
neren Umfang erhielten, auch die Gruppeneinheit für die Berechnung
der Arbeit immer kleiner gemacht wurde. Durchgängig ist, so wird
behauptet, die beste Arbeit und sind die gröfsten „Profite“ von den
kleinsten Gruppen erzielt worden. Grofse Gruppen, war die Er-
fahrung der Firma, arbeiten nicht gut — „je kleiner, je besser“ ist
die sehr entschiedene Bemerkung des Hauptzeitkontrolleur?, Mr.
Francis Paync, der mit der Praxis des Good Fellowship-Systems
ganz besonders vertraut ist“ (S. 1 1 2).
Nach alledem ist soviel klar, dafs, welches auch die Absichten
der Unternehmer bei Einführung der Prämientarife sind, diesen im
ganzen keine wesentlich anderen Tendenzen innewohnen, als den
lolin. Kann er < 1 i . nicht, so verlangen, wie oben Seite 70, Note gezeigt wurde,
seine Kollegen seine Entlassung, und diesem Verlangen wird keine Weigerung ent-
gegengesetzt.“
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Einige Reform versuche ira Lohnsystem.
335
gewöhnlichen Stücklohnsystemen. Beruhen die Regeln der Prämien-
zahlung auf freiem Hntschlufs des Unternehmers oder blol's auf Ver-
einbarungen mit den von ihm beschäftigten Arbeitern, so erfahrt
das Solidaritätsgefühl der Arbeiter je nachdem eine stärkere oder
geringere Abschwächung. Die Arbeiter des Unternehmens sind
nicht mehr in gleicher Weise wie vordem an den Bestrebungen
ihrer Berufsgenossen aufserhalb des Unternehmens interessiert, können
sogar unter Umständen in Gegensatz zu ihnen treten. Und sogar
unter den Arbeitern des Unternehmens selbst kann das System
Gegensätze schaffen, die vordem nicht vorhanden waren. Nichts
illustriert dies besser als der Umstand, dafs gerade in dem System,
dem sein, unzweifelhaft es ehrlich meinender Urheber den schönen
Namen „gute Kameradschaft" gab, sich das, allerdings auch sonst
wohl vorkommende Phänomen, dafs Arbeiter auf Entlassung weniger
tüchtiger Kameraden dringen, in so starkem Grade zeigte, und dafs
der Gedanke, jedesmal die Berufsgenossen ganzer Betriebsabteilungen
in eine Kameradschaft zusammenzuschweil'sen, entweder an der
Sprengkraft der durch das Prämiensystem geweckten Sonder-
interessen zerschellte oder, wo die Kameradschaft aus irgend welchen
Gründen Bestand hatte, die mit dem Prämiensystem beabsichtigte
Produktionssteigerung vereitelte. Rechnen wir das System der
Differential-Stücklöhne den Prämienlohnsystemen zu — und im
Prinzip gehört es zu ihnen1) — so haben wir gesehen, dafs das
Unternehmen, das es zuerst eingeführt hat, sich rühmen konnte,
gerade die tüchtigsten Arbeiter seien der Gewerkschaft nicht bei-
getreten, weil deren Politik ihr Sonderinteresse zu benachteiligen
drohte.
Angesichts der grofsen sozialpolitischen Wichtigkeit der Ar-
beiterorganisationen wird man danach unter a 1 1 e n Umständen das
Mifstrauen und gegebenenfalls auch die Gegnerschaft der Arbeiter
gegen diese Systeme nicht nur begreiflich, sondern auch der Sache
nach gerechtfertigt finden.
Aber, mufs hinzugefügt werden, nur das Mifstrauen ist unter
allen Umständen sachlich am Platze. Von der Gegnerschaft da-
gegen läfst sich das nicht behaupten. Denn die Sache ist mit dem
bis soweit Gesagten noch nicht zu Ende. Das zeitweilige Interesse
*) Man hat die (»esamtheit der Lohnsysteme, die für höhere quantitative
Leistungen eine stufenweis steigende Lohnrate normieren, auch unter den flruppen-
namen „Systeme der Progressiv löhne“ zusammengefafst.
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336
Eduard Bernstein,
der Arbeiter als Berufsgruppe fallt nicht immer mit dem geschicht-
lichen Interesse ihrer Klasse, dem Interesse der allgemeinen gesell-
schaftlichen Entwicklung, zusammen.
Jedem Zweig ihrer Wirtschaft gegenüber hat die Gesellschaft
offenbar ein doppeltes Interesse : sie ist interessiert an seiner Er-
giebigkeit, und sie ist interessiert an dem Wohlstand derer, die in
ihm beschäftigt sind. Unter den heutigen Wirtschaftsverhältnissen
fällt die Sorge für das Ersterc hauptsächlich den Unternehmern,
die für das Letztere, soweit die Lohnverhältnisse in Krage sind,
in hohem Grade den Ar beiter Verbindungen zu. Diese Arbeits-
teilung bringt es jedoch mit sich, dal's den beruflichen Arbeiter-
verbindungen der Gesichtspunkt der Ergiebigkeit der Arbeiten ganz
aus dem Auge gerät oder von ihnen verkannt wird. Im Kampf
um die Erhaltung des Komfortmafses, wie der Arbeiterdelegierte
Ratclifte in der oben citierten Verhandlung es ausdrückte, erscheint
der Berufsgruppe als schädlich, was für das Gemeinwesen auf der
Linie des wirtschaftlichen Fortschritts liegt.
Die Steigerung der Ergiebigkeit der Arbeit ist in der Mehrheit
der Fälle nur durch Verwendung kostspieligerer Maschinen und
Anlagen zu erzielen. Soll die damit verbundene Mehrausgabe von
Arbeit zu einer wirklichen Verminderung der Produktionskosten
für das herzustellende Fabrikat führen, so ist eine relative Ver-
minderung der Ausgaben für die unmittelbar in der Fabrikation
thätige menschliche Arbeit unvermeidlich. Für dasselbe Quantum
Fabrikat mufs eiti geringeres Quantum unmittelbar verwandter Ar-
beit erheischt sein. Das ist aber, soll die Arbeitszeit nicht ver-
längert werden, oft nur durch gröl’scre Verdichtung der Arbeit,
bezw. Veränderung in der Verteilung der Arbeit zwischen hoch-
qualifizierten Arbeitern und blofsen Hilfsarbeitern zu erzielen.
Der gesellschaftliche Fortschritt erfordert Vermehrung und
Verbilligung der Produktion bei Verkürzung der Arbeitszeit —
letzteres auch von anderen Gesichtspunkten als dem der Produk-
tionstechnik aus. Verkürzung der Arbeitszeit heifst Erziehung zu
qualifiziertem Konsum, zu höherem Bedarf und damit zu weiterem
sozialem Fortschritt. Verkürzung der Arbeitszeit ist aber mit gleich-
zeitiger Verbilligung der Produktion nur vereinbar, wenn die Ar-
beitszeit in der Fabrik gehörig ausgenutzt wird. So verwerflich
jede Anspannung der Arbeitskraft ist, die der Gesundheit Abbruch
thut, so widersinnig ist der Schlendrian in der Fabrik. Allgemein
durchgeführt, würde er ein ernsthaftes Hemmnis des Fortschrittes
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Rillige Reformversuche im Lohnsystem.
337
der Gesellschaft werden. Nicht hier ist daher das Mittel der Er-
höhung des Komforts der Arbeiterklasse zu suchen. Für die ein-
zelne Berufsgruppc von Arbeitern dagegen sind jedoch mit der
Abkehr vom Schlendrian oft mindestens zeitweilig grolse Unzuträg-
lichkeiten verbunden, und so ist für sie die Verführung sehr
grols, auch da ihr entgegenzutreten, wo die Möglichkeiten gegeben
sind, durch eine weitsichtige Politik die Unzuträglichkeiten auf
ein sehr geringes Mafs herabzusetzen und einem viel versprechen-
den Fortschritt die Bahn zu ebnen. Es kann daher die bedingungs-
lose Gegnerschaft der Erkenntnis jener Möglichkeiten im Wege
stehen und so zur Ursache verhängnisvoller Unterlassungen werden.
Die Weigerung der tüchtigeren Arbeiter der Midvale Company,
der Gewerkschaft ihres Berufes beizutreten, kann das Produkt eng-
herziger Selbstsucht, sie kann aber auch lediglich die Folge einer
falschen Politik der betreffenden Gewerkschaft gewesen sein. Hat
die Gewerkschaft ihre Aufgabe , für Gleichheit der Arbeitsbe-
dingungen der Berufsgenossen zu sorgen, dadurch zu lösen gesucht,
dafs sie, statt ihre volle Kraft darauf zu verwenden, die untere
Grenze zu erhöhen, die obere herabzudrücken sich bemühte, so
würde das Fernbleiben jener Arbeiter als die natürliche Folge jener
zweckwidrigen Politik zu betrachten sein, bis ist ziemlich unwahr-
scheinlich, dals dies wirklich der Fall war. aber es liegt nicht ganz
aufscr dem Bereich der Möglichkeit, da derartiges anderwärts in
der That schon passiert ist.
Wo die Technik einer Industrie die Einführung der Stückarbeit
erlaubt, und die Bedingungen der Konkurrenz auf sie hindrängen,
da wird sie auf die Dauer nicht fernzuhalten sein. Es ist dann
richtiger, sich auf die Bekämpfung der mit der Stückarbeit verbun-
denen Gefahren einzurichten, als einen Teil der Energie auf aus-
sichtsloses Stemmen gegen das unvermeidlich Gewordene zu ver-
schwenden. Die Gefahren der Stückarbeit sind, wie die Geschichte
einer ganzen Reihe von Industrieen zeigt, nicht unüberwindlich.
Wenn, wie oben gezeigt wurde, der Stückarbeit die Tendenz der
Schwächung der Arbeitersolidarität innewohnt, so ist diese Tendenz
gewöhnlich dann am stärksten, wenn die Stückarbeit in einer In-
dustrie noch eine Ausnahme ist, schwächt sich aber in dem Mafse
ab, als die Stückarbeit sich verallgemeinert. Dann tritt eben von
einer anderen Seite her doch wieder die Notwendigkeit an die Ar-
beiter heran, sich zu gemeinsamer gewerkschaftlicher Aktion fest
zu verbinden.
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338
K <1 u ;i r d Bernstein,
Wir sahen, dal's alle Firmen, die die Präntienlöhne einführten,
den Arbeitern den Normalzeitlohn des Gewerbes als Mindestlohn
sicher stellten, einige sogar noch darüber hinausgingen. Sie konnten
das, weil ihnen das Präniienlohnsystem eine höhere Produktion
brachte als ihren Konkurrenten, die Zeitlöhne zahlten. Jemehr
aber das System sich verallgemeinert, um so geringer wird der
Vorzug der Einzelnen und damit die Garantie des Mindestlohns
unsicherer. Selbst die Mid vale Company hat, trotz der grofsen
Vorteile, die ihr das Differentialstücklohnsystem gewährte, einge-
standenermafsen ihre Grundrate des Lohns herabgesetzt, als „vor
einigen Jahren der Lohnlarif im ganzen Lande herabging“ (Eng.
Mag., S. 629). Wenn das schon geschah , wo sie eine Ausnahme-
stellung einnahm, wie erst dann, wenn das System sich verallge-
meinert. Auf der anderen Seite aber ist, gerade sobald es sich
verallgemeinert hat, auch die Möglichkeit gegeben, auf Grund seiner
gewerkschaftliche Normalstücklohnlarife auszuarbeiten
bezw. zu erkämpfen, wie sie in der Textilindustrie, im Buchdruck
etc. zum Schutz der Arbeiter bestehen. Auch wird dann immer
noch, und gerade dann die Notwendigkeit vorhanden sein, durch
gewerkschaftliches Vorgehen der Treiberei zu Ueberanspannung der
Kräfte Dämme entgegenzusetzen.
Wenngleich die fünf vorgeführten Beispiele nicht als erschöpfen-
der Beweis für die Unwiderstehlichkeit des Vordringens der Stück-
arbeit gelten können, vielmehr in der Mehrzahl der Berichte und
namentlich auch in den Schlulsbcmerkungcn des sehr sachkundigen
Mr. D. F. Schloss vom Britischen Arbeitsamt darauf verwiesen wird,
dal's eine ganze Reihe von Arbeiten in der Metallindustrie sich
noch der Stückarbeit entziehen, so steht doch soviel fest, dal's sie
auch hier bedeutende Fortschritte macht, und dal’s es Thorheit
wäre, sie wieder ausrotten zu wollen. Es zeigt daher von grol'ser
Einsicht in den Stand der Dinge, wenn die Gewerkschaft der eng-
lischen Maschinenbauer, wie aus der oben abgedruckten Erklärung
ihres Generalsekretärs Barnes hervorgeht, den bedingungslosen
Widerstand gegen das System, den sie noch vor 5 Jahren in einer
Antwort auf die Anfrage des Arbeitsamts als ihre Politik be-
zeichnete, endgültig hat fallen lassen, ln jener Antwort hiels cs:
„Und wir sehen keinen anderen Weg vor uns, als all diesen Systemen
der Bezahlung nach Ertragsergebnissen solange Widerstand zu leisten,
als unser gewerbliches System in seiner gegenwärtigen Form ge-
führt wird, wo eine Klasse das gewerbliche Produkt einer anderen
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Kinige Reform versuche im l.olmsysteni.
ausbeuten und um so wirkungsvoller ausbeuten kann, wenn sie
die schlimmste und schmutzigste Seite in der Natur des Arbeiters
anruft. Unter diesen Umständen haben wir keine Wahl, als diese
einladenden und fein erdachten Systeme wo immer möglich in Ver-
ruf zu bringen und unsere alte Methode eines Normallohns bis zu
der Zeit aufrecht zu erhalten, wo in unserer Industrie ein Prinzip
allgemeiner Genossenschaftlichkeit anerkannt ist, das jedem den
vollen üenufs des Produkts seiner Arbeit sichert“ (Bericht, S. 1 19).
Der Schlufssatz, erklärt Barnes in seinem Artikel im „Engineer-
ing Magazine", gelte noch heute so, wie er vor fünfzig Jahren ge-
golten habe, als die beste kurze Zusammenfassung der berechtigten
Bestrebungen der .Maschinenbauarbeiter, die Trade Unionisten sind.
Der Vordersatz aber ist gefallen, wie so mancher Programmpunkt
aus der ersten Epoche der Arbeiterbewegung hat fallen müssen,
wo die Anschauung von einem unvermittelten Uebergang von der
unbeschränkt kapitalistischen zur sozialistischen , bezw. genossen-
schaftlichen Produktion vorwaltete. Es wird nun begriffen, dafs der
„Abschaffung des Lohnsystems" die Aenderung der Lohnmethoden
vorausgeht und die unterschiedslose Verwerfung jeder anderen Lohn-
methode als das Zeitlohnsystem unhaltbar ist. Die Gewerkschaft
der Vereinigten Maschinenbauer Englands erlaubt heute ihren Mit-
gliedern, nach Stücklohn zu arbeiten, aber unter der Bedingung,
dal's das betreffende System die Billigung des Gewerkschaftsvor-
standes gefunden hat. Das ist offenbar ein richtiges Prinzip. Wir
haben oben gesehen, dafs während sich nach der Angabe von
George Barnes der englische Fabrikantenbund noch sperrt, offiziell
sich auf die von Barnes entwickelten Bedingungen zu verpflichten,
doch viele Mitglieder des Bundes bereits den Forderungeh der Ge-
werkschaft entgegenkommen.
Es folge schliefslich noch das Urteil eines der einflufsreichsten
Mitglieder des Fabrikantenbundes über die Prämienlohntarife.
Sir Benjamin C. Browne, Chef der grol'scn Maschinenfabrik von
Hawthorn, Leslie & Co., schreibt im „Engineering Magazine" (1901,
2. Heft):
„Sollen Stücklöhne oder Prämienlohnsysteme vorteilhaft wirken,
so ist es offenbar geboten, dafür zu sorgen, dafs die Arbeiter mit
ganzem Herzen dabei sind. . . . Verschiedene [Gewerkschafts-]
Führer erklären, sie würden sich den Stücklöhnen nicht wider-
setzen, sobald dem Arbeiter der Zeitlohn als Mindestlohn garantiert
werde. Das mögen manche Unternehmer nicht wollen, weil sie
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340
Eduard Bernstein, Einige Reformversuche im Lohnsystem.
meinen, dal's der Arbeiter alsdann seine Zeit vertrödeln würde. Es
ist aber schwer einzusehen, wie dies ärger sein könnte, als wenn
eben derselbe Mann auf Zeitlohn arbeitete, was doch die Alter-
native wäre, sobald er und der Prinzipal sich nicht über den Stück-
lohn einigen können. Man wird bemerkt haben, dafs das Prämien-
lohnsystem dieser Schwierigkeit durchaus abhilft. Ich schliefse mit
der Bemerkung, dafs die Stücklohnsystcme nicht als ein Mittel be-
trachtet werden sollten , die Preise durch Erzielung übermäfsiger
Anspannung der Arbeiter herabzudrücken, sondern vielmehr als ein
Mittel, jeden Arbeiter dazu aufzumuntern, sein Bestes zu thun und
Interesse an seiner Arbeit zu nehmen : eine Klasse tüchtigerer Ar-
beiter heranzuziehen und zu belohnen , und auf diese Weise dem
Unternehmer Kostenersparnisse zu bereiten."
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Die Lage der ungarischen Landarbeiter.
Von
Dr. JULIUS BIJNZEL.
Eine Darstellung der I .age der ungarischen Arbeiter stöfst auf
mannigfache Schwierigkeiten. Denn einerseits sind — wie das statis-
tische Landesamt selbst zugestehen mufs ') — die hier zur Verfügung
stehenden statistischen Angaben weder vollständig noch verläfslich,
andererseits wird es dem Einzelnen durch die Verhältnisse unmöglich
gemacht, die vorhandenen mangelhaften Angaben durch eigene Er-
hebungen zu prüfen oder zu ergänzen. Denn die Unternehmer
sind zur Mitteilung wichtiger Daten überhaupt nicht zu bewegen
und die Arbeiter, welche etwa Daten liefern könnten, stehen meist
unter derart scharfer behördlicher Beaufsichtigung, dals ein münd-
licher oder schriftlicher Verkehr mit ihnen mit den mannigfachsten
Unannehmlichkeiten verbunden ist. Erwägt man nun überdies, dals die
unabhängige, private Forschung auf volkswirtschaftlichem und sozialem
Gebiete in Ungarn eine keineswegs eifrige ist, dafs daher ihre Er-
gebnisse geringe sind und dafs auch diese geringen Ergebnisse nur
in der jenseits der Landesgrenzen wenig bekannten magyarischen
Sprache veröffentlicht werden, so kann es nicht Wunder nehmen,
dafs aufser in einigen älteren englischen, französischen und italie-
nischen Konsularberichten sich fast nirgends ausführlichere Angaben
über die Lage der ungarischen Arbeiter finden, trotzdem namentlich
die ungarische Landarbeiterbewegung die Aufmerksamkeit weiterer
Kreise auch im Auslande erregte. — So werden denn die hier
*) Vgl. Hokor in <ler vom statistischen Landesamte herausgegebenen Ge-
schichte und Organisation der amtlichen Statistik in Ingarn S. 256, wo es heilst,
dafs die uugarischc amtliche Statistik sich wiihreml ihres bisherigen Bestandes sehr
wenig in dem Kreise und in dem Geiste der Sozialstatistik bewegte.
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34 2 Julius Bunzcl,
mitgeteilten Daten, ‘) welche einiges Licht über die Lage der unga-
rischen Landarbeiter verbreiten dürften, vielleicht nicht ohne Inter-
esse sein, zumal diese Landarbeiter und ihre Angehörigen in Ungarn
mehr als den vierten Teil der Gesamtbevölkerung ausmachen. —
Genau lälst sich die Zahl der landwirtschaftlichen Arbeiter in
Ungarn allerdings leider nicht feststellen. Nach der Volkszählung
vom Jahre 1890 waren nämlich in allen Ländern der Stephanskrone
nur 580217 Diener (Ochsenknechte, Hirten u. dgl.) und 334846
Taglöhner in der Landwirtschaft beschäftigt. Allein überdies wurden
noch 1 242 284 Personen als „Taglöhner ohne nähere Bezeichnung“
ausgewiesen und von diesen können wohl mindestens 900 000 als
in der Landwirtschaft beschäftigt angesehen werden. Die Gesamt-
zahl der landwirtschaftlichen Arbeiter dürfte demnach ungefähr
1 815063, 1 2) d. i. 33,83 Proz. aller in der Landwirtschaft beschäftigten
und 24,5 Proz. aller ervverbthätigen Personen betragen. — Für
Ungarn im engeren Sinne (also einschliefslich Siebenbürgen, aber
ausschliefslich Fiume und Kroalicn-Slavonien) ergeben sich jedoch
wesentlich andere Verhältniszahlen. 1 lier beträgt nämlich die Zahl
der Diener 525940, die der Taglöhner 279360, während die Zahl
der in der Landwirtschaft beschäftigten „Taglöhner ohne nähere
Bezeichnung“ auch hier mit rund 900000 angenommen werden
kann, da die Zahl der Taglöhner Kroatien-Slavoniens (7559) nicht
ins Gewicht fällt und die in Fiume ausgewiesenen 1 061 Tag-
li>hner wohl in der Industrie beschäftigt sein dürften Die Gesamt-
zahl der landwirtschaftlichen Arbeiter Ungarns in dem erwähnten
Sinne betrüge demnach 1 705 300, d. i. ca. 48,04 Proz. der in der
Landwirtschaft beschäftigten und 27,06 Proz. aller erwerbthätigen
1 1 Soweit die«' Daten nicht älteren jeweils angeführten Veröffentlichungen ent-
nomtiirn wurden, verdanke ich dieselben der Überaus freundlichen Unterstützung, die
mir von seiten der ungarischen Behörden und Handelskammern wie seitens Privater
zu teil wurde. Insbesondere bin ich Sr. Exzellenz dem Herrn Staatssekretär im
Acker bauministcri um Kiss von Ncmesker, dem Herrn Ministerialräte im Handels-
ministerium Adolf Zay, dem Herrn Direktor des hauptstädtischen statistischen Bureaus
Dr. Josef von Körösy, Herrn Prof. Dr. Stephan Bauer in Basel, sowie dem Herrn
Sanitätsinspektor Dr. Farkas, Herrn Kammersekretär Dr. Krejcsi, dem Herrn Sekretär
des J.andesagrikulturvercins Kubinek, Herrn Kammerbibliothckar Szabö, sowie Herrn
Dr. Schwarz in Pest für die Mitteilung interessanter Daten und die Erteilung von
Ratschlägen mul Auskünften zu aufrichtigstem Danke verpflichtet.
*) Nach Hirsch (Ungarns Grundbcsitzverhiltnis.se, Halle 1893 S. 6) betrüge
die Zahl der landwirtschaftlichen Arbeiter I 925 189 (gegen 2024724 im Jahre 1880).
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Die Lage der ungarischen Landarbeiter.
343
Personen. — Aehnliche Verhältniswahlen ergeben sich natürlich,
wenn man die Zahl der landwirtschaftlichen Arbeiter und der von
ihnen Erhaltenen mit der Anzahl der von der Landwirtschaft
lebenden Personen, beziehungsweise der Gesamtbevölkerung ver-
gleicht. so dal's die I .andarbeiter in Ungarn i. e. S. thatsächlich
nahezu die Hälfte der ackerbautreibenden und mehr als den vierten
Teil der Gesamtbevölkerung bilden. —
I. Die Arbeit s Verhältnisse der ungarischen
Landarbeiter.
Die ungarischen P'eldarbeiter gliedern sich nach der Dauer des
Zeitraumes, auf welchen das Dienstverhältnis abgeschlossen wird, in
3 Gruppen: das Gesinde, die Monatsarbeiter und die Taglöhner.
Das Gesinde wird nämlich auf ein viertel Jahr verpflichtet, während
die Monatsarbeiter nur für einen Monat und die Taglöhner tageweise
in Dienst genommen werden. Sonst besteht jedoch in den drei
Gruppen bezüglich der Arbeitsverhältnisse kein wesentlicher Unter-
schied und sind selbst die Löhne im grofsen und ganzen die gleichen. —
Das Gesinde erhält neben einer Barentlohnung von 4o — 60 Fl.
jährlich, freie Wohnung und das Deputat. Rechnet man diese
Naturalbezüge in den Lohn mit ein, so beläuft sich das Jahresein-
kommen des männliches Gesindes — nach der vom Ackerbau-
ministerium für das Jahr 1897 veröffentlichten Lohnstatistik1) — per
Kopf auf 120 — 340 Fl. und zwar in Siebenbürgen durchschnittlich
auf 170 Fl., am rechten Theifsufer auf 175, am linken Donauufer
auf 183, am linken Theifsufer auf 187, am rechten Donauufer auf
210, zwischen der Donau und der Theifs auf 224 und im Theil's-
Maros-Eck auf 236 Fl. — Grofsknechte und Kutscher stehen sich
auf 300 — 350 Fl., hie und da auch auf 400 Fl. — Im Landes-
durchschnitt entfallen nach der „Arbeiterzeitung“ *) auf einen Knecht
ungefähr 167 Fl. 16 Kr. pro Jahr, d. i. 46 Kr. pro Tag.
Die Monatslöhner erhalten lediglich einen Barlohn von 9 — 15 F'l.
Selbst in der staatlichen Oekonomic von Babolna *) beträgt der
') Vgl. den „Pe.trr Lloyd“ vom 10. Frbruar 1849. I11 Hinkunft wird diete»
den ungarischen leitenden Kreisen nahestehende Blatt lediglich mit den Anfangsbuch-
staben ,,P. L.“ bezeichnet werden.
*) Vom 1. Januar 1898.
*) Vgl. die konigl. ungar. Landes-Pferdezuchtanstaltcn und das Godölloer königl.
ungar. Krongut. Veröffentlicht durch den konigl. ungar. Ackerbauminister. Pest 1896.
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344
Julius Hunzel,
durchschnittliche Monatslohn nur 15 Fl. 42 Kr. und zwar werden
im Januar und Februar 12 Fl., im März 14 Fl., im April 15 Fl.,
im Mai 16 FL, im Juni 18 Fl., im Juli und August 20 Fl., im Sep-
tember und Oktober 1 6 FL, im November 14 FL und im Dezember
1 2 FL bezahlt. Das Jahresverdienst eines Monatslöhners beliefe
sich demnach — bei steter Beschäftigug — auf 185 FL und der
Taglohn auf 50,68 Kr.
Das Jahreseinkommen der Taglöhner läl'st sich schwer fest-
stellen, da es hauptsächlich davon abhängt, für welchen Zeitraum
der Arbeiter Beschäftigung und Verdienst findet. Auch ist die
Entlohnung je nach Gegend und Jahreszeit eine sehr verschiedene.
Sie erfolgt entweder durch Gewährung von Zeitlohn (mit oder ohne
Verköstigung) oder im Akkord (Geldakkord oder Anteil an der
Ernte).
Der Taglohn ohne Verköstigung belief sich im Jahre 1897
nach der erwähnten amtlichen I.ohnstatistik *) für Männer auf ca
65 Kr. und für Frauen auf 45 Kr., was einem durchschnittlichen
Jahresverdienst von 237 FL 25 Kr. für Männer und 164 FL 25 Kr.
für Frauen entsprechen würde. Da jedoch die Taglöhner fast nie
ununterbrochen in Arbeit stehen und das Einkommen der Arbeiter
auch durch das vielfach herrschende Trucksystem arg geschmälert
wird, ist das Jahresverdienst thatsächlich ein weit geringeres. —
Und selbst wenn dies nicht der Fall wäre, würden die Löhne noch
immer niedrigere sein als die im Jahre 1869 gezahlten. — Nach
amtlichen Erhebungen '2) schwankten nämlich in diesem Jahre die
Durchschnittslöhne in Ungarn (ohne Siebenbürgen) auf dem flachen
Lande zwischen 34 und 98 Kr. für Männer und 21 und 61 Kr. für
Frauen, ln den Städten aber schwankten sie zwischen 35 und
146 Kr. für Männer und 24 und 90 Kr. für Frauen, so dafs, trotz-
dem selbstredend die Lebensführung seither eine wesentlich teuerere
wurde gegenüber dem Jahre 1869 eher ein Sinken der Löhne festzu-
stellen ist. *)
') Die Dalenwinmlung erfolg, bciläutij; bemerkt, durch die statistische Kom-
mission d*-s Ackerbauministcriums auf Gruml der von den landwirtschaftlichen Refe-
renten (das sind die dies Amt freiwillig übernehmenden Landwirte) auf rosafarbenen
Blanquettrn übermittelten Angaben.
■) Vgl. amtliche statist. Nachrichten. Herausgegeben vom königl. ungar. statist.
Bureau. V. Jahrg. i. Heft S. 315 ff.
\) Nach den von Julius kubinck, dem Sekretär des ungarischen Landcsagri-
kulturvcrcines, erhobenen Daten betrug 1. B. im Bekcser Komitate der Jahresverdienst
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I)ic Lage Her ungarischen Landarbeiter.
345
Natürlich sind die Taglöhne auch nach Jahreszeit und Landes-
gegend verschieden, was aus folgender Tabelle hervorgeht. Es be-
trugen die ohne Verköstigung im Jahre 1897 gezahlten Taglöhne1)
— nach den amtlichen Daten — in Kreuzern :
Für Männer Für Frauen
Distrikt
Frühj.
Sommer Herbst
Winter
Frühj.
Sommer Herbst
Winter
Linkes Donauufer
5«
85
63
45
37
5«
41
30
Rechtes Donauufer
55
91
63
45
42
59
46
34
Zwischen Thcifs u.
Donau . . . .
66
“3
79
50
48
73
54
37
Rechtes Thcifsufer
57
86
64
46
36
49
40
30
Linkes Thcifsufer .
53
95
62
42
3»
63
44
3*
Theifs-Maroseck .
57
100
72
47
43
69
5'
37
Siebenbürgen . .
55
80
61
49
43
58
45
36
I .andesdurchschnitt
57
93
64
46
41
60
44
34
Wo aber den Arbeitern Verköstigung gegeben wird, stellt sich
der Gesamtlohn zumeist noch niedriger, da selten der Wert der
Kost dem ganzen Abzüge vom Lohne entspricht. 2)
Gröfstenteils werden jedoch die landwirtschaftlichen Arbeiten
im Akkord und zwar entweder gegen Geldentlohnung oder gegen
einen Anteil an der Ernte vergeben. Die Geldakkordlöhne be-
trugen im Jahre 1897 für leichte Erdarbeiten (Grabenauswerfen,
eines Arbeiters im Jahre 1860: 200 Fl., im Jahre 1894: 180 Fl., der Verdienst
während der Erntezeit damals 75 jetzt 50 Fl., der durchschnittliche Taglohn in den
Monaten November bis April (bei 8 ständiger Arbeitszeit) damals 35 jetzt 40 Kr.;
im Mai und Juni (bei 12 ständiger Arbeitszeit) damals 40 jetzt 50 Kr., im Juli und
August (bei I4stündigcr Arbeitszeit) damals 1 Fl. 10 Kr. jetzt I Fl. 20 Kr., ini
September und Oktober (bei 10 ständiger Arbeitszeit) damals 50 Kr. jetzt 60 Kr.
Die geringe Erhöhung des Taglohnes jetzt gegen früher hat jedoch darum keine
Erhöhung sondern sogar eine Verringerung des Jahreseinkommens zur Folge, weil
infolge des Gebrauches der Maschinen die Erntcarbeitcn nur 24 statt wie früher
60 Tage in Anspruch nehmen.
l) Im Jahre 1899 waren die Löhne durchschnittlich noch etwas niedrigere.
So waren die Männerlöhne im Frühjahr von 57 auf 54, im Sommer von 93 auf 88,
im Herbst von 64 auf 63'/* und im Winter von 46 auf 45 Kr. gesunken. Vgl. Ung.
stat. Jahrb. X. F. VII. Bd. (1899) Pest 1901 S. 81.
*) Im Jahre 1897 betrugen die Durchschnittstaglöhne — aufser der Ver-
köstigung — nach den amtlichen Daten für Männer 47 Kr. (und zwar 40 Kr. im
Frühjahr, 68 im Sommer, 47 im Herbste und 32 im Winter) und für Frauen 3 1 '/2 Kr.
(und zwar 28 im Frühling, 43 im Sommer, 32 im Herbste und 23 im Winter).
Archiv für soz. Gesetzgebung u. Statistik. XVII. 23
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346
Julius Hunzel.
Drainieren und dergl.) per cbm 15 — 16 Kr., für schwere Krdarbeiten
30 — 32 Kr. und darüber, bür das einmalige Behauen der Hack-
früchte, wie Mais, Rüben und Erdäpfel wurden per Katastraljoch
(1600 Quadratklaftcrl durchschnittlich 3 Fl. 50 Kr. bis 4 Fl. (aber
z. B. im Bekeser Komitat I Fl. 92 Kr. und im Eisenburger Komi-
täte 8 Fl.) und für das gänzliche Abstellen der Maisfelder durch-
schnittlich 5 Fl. (aber z. B. im Krasso Szörenyer Komitate 3 Fl.
und im Csanader 8 Fl. nebst Kost) gezahlt. — Für das Ausheben
und Reinigen der Futterüben wurden 7—8 Fl. (in einigen Teilen des
Fester Komitates aber auch nur 3 Fl. 50 Kr.), für das Ausheben
und Reinigen der Zuckerrüben 12 — 14 Fl. (in einigen Teilen des Fester
Komitates aber auch nur 5 Fl.) gezahlt. — Für das Schneiden.
Bündeln und Häufen des Getreides erhielt eine „Sense“ (d. i. ein
Schnitter mit einem oder zwei Gehilfen) durchschnittlich 5 Fl. pro
Katastraljoch (im Alibunarer Bezirke aber nur 1 F’l. 50 Kr. bis 2. Fl.,
im Zsombolyer Bezirke dagegen auch 12 Fl.).') — Nach der
„Arbeiterzeitung“ erntet eine „Sense" in einer Saison 10 — 18 Joch ab.
Am häufigsten wird aber „und zwar gerade während der
jetzigen Feriode der billigen (ietreideprei.se nicht ohne Vorteil“1)
für den Landwirt die Getreideernte gegen einen Anteil am Ertrage
verakkordiert. Der Lohn der Teilarbeiter betrug per „Sense“ durch-
schnittlich :
im Distrikte mit Kost ohne Kost
Linkes Donauufer .... */is Vit 1 10
Rechtes Donauufer .... Vit 1 u \i©
zwischen Theifs und Donau . 1 ,3 1 ,, Vio */*
Rechtes Thcifsufcr .... 1 i« Vu 1 n
Linkes Theifsufer .... 1 u 1 ,» 1 ,,,
Theifs- Maroseck x, it 1n
doch schwankt das Lohnausmals /wischen und 1 „ (5,26 — 1 6,66
Proz.) und, wenn keine Verköstigung gewährt wurde, zwischen 1
*) Am linken Donauufer betrug der Geldlohn ohne Kost per Joch durchschnitt-
lich 4 Fl. to Kr., am rechten Donauufer 5 Fl.» zwischen Theifs und Donau 5 Fl.
40 Kr., am rechten Theifsufer 4 Fl. 50 Kr., »n linken Theifsufer 5 Fl., im Theifs-
Maroseck 5 Fl. 10 und in Siebenbürgen 4 Fl. 75 Kr. In einigen Gegenden wurde
der Lohn auch in Getreide ausgezablt und zwar wurden /.wischen Theifs und Donau
65 — 70 Kg, im Theifs-Maroseck 80 und am linken Thcifsufcr S7 Kg Getreide per
Katastraljoch bewilligt.
f) Vgl. E. von Eg an, Landwirtschaftliche Skizzen aus l'ngam. Berlin 1898,
Seite 39.
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Die Lage der ungarischen Landarbeiter.
347
und 'jS des Ernteertrages. An einigen Orten wurde auch '/-■ ' «•
V*. ja in einigen Fällen in Szentes auch '/* des Ertrages bewilligt.1)
Da nun das durchschnittliche Erträgnis 6 8 q per Katastraljoch
beträgt und eine „Sense“ in einer Saison io — 18 Joch abernten
kann, so dürfte der durchschnittliche Saisonverdienst einer „Sense“
sich auf rund io q Getreide belaufen.
Auch Tabak- und in vielen Fällen auch Maiskulturen werden
in der Regel gegen einen entsprechenden Anteil an der Ernte ver-
geben. und zwar wird bei Mais 1 , jedoch meist '3 und bei Leistung
von Robotarbeiten in Ausnahmefällen sogar die '/» des Ertrages
bewilligt. Bei der Tabakernte teilen die Unternehmer meist den
Ernteertrag mit den die Arbeit Uebernehmenden.5)
Es ist nun einleuchtend, dafs bei dieser so häufig vorkommenden
Art der Entlohnung — wie selbst der konservative Abgeordnete
Makfalvay zugeben mufste *) — die Arbeiter nur im Falle einer
sehr guten Ernte ihr Auskommen finden können. Ist die Ernte
eine schlechte oder wird sic gar durch Hagelschlag vernichtet, dann
sind die Arbeiter, denen andere Hilfsquellen ja nicht zur Verfügung
stehen und die sich gegen solche Zufälle auch nicht versichern
können, „geradezu dem Hunger überliefert".
Ebenso wenig erfreulich wie die I.ohnverhältnisse sind aber
auch die übrigen Arbeitsbedingungen für die Arbeiter. So dauert die
Arbeitszeit nach dem neuen noch zu besprechenden Fcldarbeiter-
gesetze — von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, also im Sommer
oft 15 — 16 Stunden, und konnte daher Egan schon mit Bezug auf
diese lange Arbeitsdauer sicherlich mit Recht die bezeichnende Be-
merkung machen, dals „sowohl die Ausnutzung der Gespanne, als
auch die Ausnutzung der Menschen — insbesondere bei den Akkord-
arbeiten — eine ganz hervorragende sei“.4)
Allein diese „Ausnutzung der Menschen“ ist auch noch nach
1 : In einigen Gegenden wurden die K.rntearbeiten auch gegen Gewährung vorher
auslicdungritor Gctreide<iuanten vergehen; so wurden am linker. Theifsufer 7 — 8, im
Theifs-Maroseck 6 — 8, zwischen Thcifs und Donau 6 — -7 und am rechten Donau-
ufer 6 — 6l <] Getreide für die Kmtearheiten bewilligt. Im C'songrader Komitate
wurden auch 10, im Bekeser 4 — 5 q bewilligt.
*1 Vgl. die Landwirtschaft Ungarns in Reiseberichten geschildert von Rein-
hold Rudloff, Berlin 1807.
:l) In einer bei Beratung des Feldarbeitergeset7.es gehaltenen, nach dem Poster
Lloyd citicrten Rede.
*i a. a. O.
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348
Julius Runzel
einer anderen Richtung eine „ganz hervorragende“. In den meisten
Gegenden Ungarns ist es nämlich üblich, dafs sich die Landwirte
bei Abschlufs der Arbeitsverträge unentgeltliche Arbeitsleistungen
ausbedingen. Es besteht also der Robot — wenngleich er durch das
Gesetz aufgehoben wurde — in der Praxis noch fort. Der Ackerbau-
minister hat allerdings im Abgeordnetenhause erklärt, er liebe es nicht,
wenn man die „diskretionäre Arbeit“ Robotarbeit nennt — aber That-
sache ist, dafs sich die Landwirte bei Abschluß der Arbeitsverträge
eine unentgeltliche Arbeitsleistung in der Dauer bis zu 40 Tagen,
und zwar oft gerade für die Erntezeit, ausbedingen und wie „frei-
willig“ die Arbeiter auf diese Bedingung cingchcn, geht schon aus
dem Umstande hervor, dafs diese „Vereinbarungen“ im Winter, wenn
wenig Arbeiter benötigt werden und das Angebot der hungernden
und frierenden Arbeiter ein geradezu stürmisches ist, getroffen werden.
Selbst der Referent für das Feldarbeitergesetz vom Jahre 1898
mufstc in seiner im Abgeordnetenhause gehaltenen Rede gestehen1):
„Fast in allen Gegenden des 1 „indes sind die sogenannten Robot-
arbeiten gebräuchlich, welche oft zur vollständigen Ausbeutung der
Arbeiter fuhren. Wo die Arbeitsnachfrage (soll wohl heifsen: das
Arbeitsangebot) sehr grofs ist, pflegen die Landwirte den Arbeitern
gegenüber mit diesen Robotarbeiten einen förmlichen Wucher zu
treiben“. Als dann aber ein anderer Abgeordneter *) bemerkte :
„Wenn man den mit dem Kapitale getriebenen Wucher verbieten
konnte, so kann man auch den mit der Arbeit getriebenen Wucher
verbieten,“ hielt ihm der Herr Ackerbauminister entgegen, dass man
die „diskretionäre Arbeit, welche in den Rahmen des Gesetzes von
Angebot und Nachfrage fallt, ohne grofse wirtschaftliche Erschüt-
terungen nicht abschaffen könne“, und so besteht denn diese jetzt
diskretionäre Arbeit genannte Robotarbeit auch heute noch fort.
Dafs bei dem Bestehen solcher Arbeitsbedingungen weder von
Bestimmungen über den Arbeiterschutz, noch von einer ernst zu
nehmenden Arbeiterversichcrung die Rede sein kann, braucht wohl
nicht besonders hervorgehoben zu werden.
Allein dies alles wird von den Arbeitern noch nicht allzu
schwer empfunden. Was jetloch das Arbeitsverhältnis für den Arbeiter
geradezu unerträglich macht, ist die vollkommene Rechtlosigkeit,
in der er sich dem Grundbesitzer gegenüber befindet. Denn in
Bezug auf die Rechtsprechung hat sich für den Feldarbeiter seit
1 J cit. nach dem fester Lloyd.
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Die Lage der ungarischen Landarbeiter.
349
den Zeiten der Hörigkeit so gut wie nichts geändert. Wohl wurde
die Gerichtsbarkeit durch die Herrenstühle durch den XI. Ges.-Art.
des Jahres 1848 aufgehoben, allein für die meisten Rechtssachen ist
auch jetzt in erster Instanz der von den Grundbesitzern gewählte
Oberstuhlrichter und in zweiter Instanz eine fast ausschliefslich aus
Grundbesitzern bestehende Kommission des aus der Komitatsver-
tretung gewählten Verwaltungsausschusses zuständig und „gegen im
Wesen übereinstimmende Entscheidungen hat keine Appellation
statt". J)
Der Pester Lloyd s) allerdings meint trotz alledem, dafs, wenn
von irgend einem Hände gesagt werden kann, dafs das Los des
Arbeiters ein gutes sei, das von Ungarn behauptet werden könne,
wo das Lohnminimum höher sei als in irgend einem europäischen
Staate. Graf Nicolaus Bcthlen aber, wohl ein unverdächtiger Zeuge,
war ehrlich genug, zu gestehen,*) dafs sich die Lage der Feldarbeiter
seit Aufhebung der Hörigkeit iin Jahre 1848 bis zur Gegenwart
zum mindesten um die Hälfte verschlechtert habe.
II. Die Lebensverhältnisse der ungarischen
Landarbeiter.
Dafs unter diesen Umständen auch die Lebensverhältnisse der
Arbeiter keine glänzenden sein können, liegt wohl auf der 1 land.
Und in der That sind namentlich die Wohnungen der Feldarbeiter
in der Regel in einem geradezu erbärmlichen Zustande. So mufste
Dr. F'ekete dem im September 1894 in Pest tagenden VIII. inter-
nationalen hygienisch-demographischen Kongresse berichten,4) dafs
z. B. im Trentschiner Komitate nicht ausnahmsweise, sondern in der
Regel 2 ja 3 F'amilien in einer niedrigen, rauchigen, der frischen
Luft entbehrenden Stube beisammen seien, in einer Atmosphäre, in
welcher der schwächere kindliche Organismus unfehlbar ein Opfer
der Krankheit wird. Im Winter werden dort die Fenster vernagelt,
damit die kalte Luft nicht eindringen könne. Aber auch in den
reichen Gegenden ist die Lage der beim Ackerbau verwendeten
*) Vgl. § 72 des II. G.A. vom Jahre 1898 und J. Bunzel in den Jahrb. für
Nat. und Stat. III. Folge, XV. Bd. S. 343 f.
2j Vgl. die 3. Beilage de» P. L. vom I. Jan. 1898.
r) In einem in der „Zukunft“ veröffentlichten Aufsatze.
4) Vgl. Comptes rendus et memoires VII. Band. Pest 1896, S. 256 ff.
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35°
Julius üunzcl,
dienstbaren Bewohner — nach Fekete — eine jämmerliche, da die
gewissenlosen Grundherren und Pächter 2 — 3 Lohnknechtfamilien
in eine Stube- zusammenzwängen. Selbst in der staatlichen Wirt-
schaft Mezöhegyes1) bestehen die Mauern der Arbeiterhäuser nur
aus gestampfter Erde und die Dächer aus Stroh. Diese Häuser
haben allerdings bei ihrer Errichtung auch nur 5 El. 50 per qm
Grundfläche gekostet, während für die Stallungen 10 — 11 Fl. und
für die Gesindewohnungen immerhin 1 1 Fl. 37 Kr. verwendet wurden,
ln den anderen Wirtschaften sind aber die Verhältnisse natürlich
noch viel schlechter. Hier wohnen oft überhaupt nur die verhei-
rateten Knechte in Wohnhäusern, wobei — wie schon erwähnt —
oft vielfach mehrere Familien in einem Zimmer hausen. Die un-
verheirateten Knechte werden meist in Ställen, Scheunen u. dergl.
untergebracht und die Taglöhner, welche zum grofsen Teil für den
Sommer aus anderen Gegenden zur Arbeit kommen, wohnen ent-
weder in den Hütten der in der Nähe wohnenden Taglöhner oder
in den von den Grundbesitzern errichteten Baracken oder in den
naheliegenden Ställen und Scheunen, wenn sie nicht, wie dies meist
der Fall ist, einfach auf freiem Felde auf ihrem Arbeitsplätze
übernachten.
Nicht minder unbefriedigend sind im übrigen die Ernährungs-
verhältnisse der landwirtschaftlichen Arbeiter in Ungarn. Da-
rüber hielt wenigstens der königlich ungarische Sanitätsinspektor
Eugen Farkas am 13. März 1897 im königlichen Aerzteverein einen
Vortrag, *) in welchem ein geradezu erschreckendes Bild von der
Ernährung der landwirtschaftlichen Arbeiter entrollt wurde. —
Dr. Farkas hatte, um sich verläfsliches Material zu schaffen, durch das
Ackerbauministerium an sämtliche ökonomische Berichterstatter des
I -indes einen Fragebogen gesendet, aus deren Beantwortung er
Aufklärung über die sich an den einzelnen Orten findende Art der
Ernährung und zwar soweit als möglich auch inbezug auf die
Quantitäten zu erhallen hoffte. Eis standen ihm denn auch wirklich
nach Rücklangen der Eirhebungsformulare „ungefähr 600 durchweg
pünktlich, teilweise mit besonderer Sorgfalt ausgefüllte und beant-
wortete E'ragcbogen zur Verfügung“, auf Grund deren er Alimcn-
*) Vgl. die königl. ungar. Pferdczuchtanstalten und das Gödöllöer königl. ungar.
Krongut a. a. O. S. 151.
2) Citicrt nach einem Separatabdruck aus der Pester medizinisch-chirurgischen
Presse. XXXIII. Jahrg. 1B97.
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Die Lage der ungarischen Landarbeiter.
35
tationstypen aufstelltc. Nach ilicsen wären aufser bei den Slovaken
und den siebenbiirgisclien Walachen sowohl das Eiwcifs als
die Fette und besonders die Kohlenhydrate in der zur Erntezeit
üblichen Nahrung der Arbeiter allerdings in bedeutend grösserer
Menge vorhanden, als sie zur Ernährung eines Menschen nothwendig
sind. Allein der ungarische Feldarbeiter nährt sich hauptsächlich
von Vegetabilien, welche der Organismus viel weniger auszunützen
imstande ist als gemischt cingeführtc animalische und vegetabilische
Nahrungsmittel. Fleisch fand sich nur bei 2 der aufgestellten Typen
in genügender Menge. Der von der Heimat entfernte Arbeiter lebt
eben häufig ausschließlich von Brot und erhält warme Speisen nur
sehr selten. Im Winter ist aber die Nahrung namentlich der nörd-
lichen Gebirgseinwohnerschaft eine ganz aufserordentlich schlechte.
Das einzige Nahrungsmittel der ärmeren Bevölkerung ist in manchen
dieser Gegenden die Kartoffel, in anderen der Mais, in wieder an-
deren der Hafer. Die Bevölkerung grosser Teile des Tre rit-
sch in er Komitates verköstigt sich ausschlicfslich mit Kartoffeln in
Essig ohne Fett und Fleisch. In einigen Feilen des Be reger
Komitates verköstigt sich der Feldarbeiter lediglich mit trockenen
oder mit Maismehl gemengten Bohnen, gekochten oder gebratenen
Kartoffeln in Krautsuppe oder in rohem Kraut und mit elendem
Maisbrot. Manchmal trinkt er Milch dazu; im Spätherbst und
Winter aber, wenn die Arbeit überall eingestellt ist und die ersparten
Pfennige verausgabt sind, steigt er selbst unter die Fastenkost her-
unter und entbehrt selbst das Salz. Im Komitate Arva ernähren
sich nach Keleti ') sämtliche Gemeinden schlecht von ungesäuertem
Gersten- und Haferbrot bezw. Maiskuchen. Währenddes Sommers
leben sie etwas besser und konsumieren viel Milch und Butter. Dagegen
gehört das Liptauer Komitat nach Keleti mit Ausnahme von
5 — 6 Gemeinden zu den am schlechtesten genährten Komitaten.
Mit Ausnahme von 2 Gemeinden wird Brot nur an Sonntagen und
bei feierlichen Gelegenheiten gegessen. Statt dessen ernährt sich
die Bevölkerung von einer aus Korn-, Gerste- oder Maismehl mit
Vgl. : Oie Fmährungsstalistik der Bevölkerung Ungarns von Dr. Karl Keleti,
Direktor tles konigl. Ungar, statistischen Zentralamtes Best 1SS7 S. 53. Ueber
<lie Richtigkeit der Methode, nach welcher dieses jedenfalls interessante Werk ab-
gefafst ist. läfst sich streiten. Die hier angeführten Angaben sind dem von Keleti
benutzten Rohmateriale entnommen, also unbeeinllufst von den etwa in der Be-
arbeitungsmethode liegenden Fehlern.
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352
Julius Bunzcl,
einer Beimischung von Milch zubereiteten kuchenartigen Mehlspeise.
Das Hauptnahrungsmittel besteht in Kartoffeln Fleisch wird
mit Ausnahme der erwähnten 2 Gemeinden an Wochentagen gar
nicht, an Sonntagen nur in sehr geringer Menge, Kraut, Milch und zum
Teil Topfen in gröfserem Mafse konsumiert. — Das Hauptnahrungs-
mittel der Bevölkerung in einem Teile des Gömörer Komitates1)
bilden Kartoffel, Maisbrei, Heidegrütze und Milch . . . und ist es auch
dieser höchst mangelhaften Ernährung, diesem lang ausdauernden
Zwangsfasten zuzuschreiben, dafs die Bevölkerung ungeachtet all
ihres Fleifses verkümmert und infolge der schlechten Ernährung
kaum arbeitsfähig ist und kaum etwas verdienen kann. — Auch das
unselige Branntweintrinken (selbst der Frauen und Kinder) verzehrt
ihre Kräfte und vermindert ihren Erwerb. Im Zipser Komitate
leben gleichfalls 45 Gemeinden „sozusagen elend“. Ihr Haupt-
nahrungsmittel bildet die Kartoffel, höchst selten ein anderes Ge-
müse. Fleisch (Schaffleisch) wird kaum 6 — 7 mal des Jahres ge-
gessen. Die Armut des Volkes gestattet auch nicht, in der Ernährung
einen Unterschied zwischen Sonn- und Wochentagen zu machen. Von
den zumeist von Walachen bewohnten 120 Gemeinden des Biliarer
Komitates 2) wird in den Bezirken Vaskot und Belenyes am schlech-
testen gelebt . . . und . . wird der gröfste Teil des Jahres durch-
gefastet. Desto mehr wird Branntwein getrunken . . . Fleisch ge-
niefst kaum der hundertste, Fett kaum jeder dreihundertste und bilden
Gurken, Kürbis Salat, zumeist aber Maiskuchen die Hauptnahrung,
Im Marmaroser Komitate") wird mit Ausnahme von 26 Ge-
meinden, deren Insassen nebst wenig Kornbrot auch Hafer und Mais-
brot konsumieren, nur Maisbrot gegessen. Aufser Brot bilden Bohnen
Kraut, Kartoffel, Zwiebel, wilde Birnen und Branntwein die Haupt-
nahrung. Im Winter wird noch mangelhafter gelebt als im Sommer
. . . . Fleisch wird auch Sonntags nur selten gegessen. Im Szat-
märer Komitate leben 58 Gemeinden mangelhaft. Ihre Haupt-
nahrung besteht aus Maisbrot, Bohnen, Kartoffeln, wenig Kraut und
Grünzeuggattungen dreiviertel Teile der Bevölkerung sind so
arm, dafs sie zum Kochen statt des Speckes und Fettes . . . zumeist
aus Sonnenblumen und Kürbiskernen gewonnenes Oel benützen. Der
gröfste Teil der Bevölkerung fristet fern von der Heimat sein Leben
*) Vgl. Kcleti a. a. O. S. 63.
*) Vgl. Keleti a. a. O. S. 65.
8) Vgl. Keleti a. a. O. S. 6b.
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Die Lage der ungarischen Landarbeiter.
353
. . . mit ein wenig hartem Brot und Zwiebeln. Der zu Hause ge-
bliebene Teil geniefst des Morgens Brot und Zwiebel, trinkt auch
Branntwein, wenn selbiger vorhanden ist; zum Nachtmahl dienen
Bohnen oder irgend eine Grünzeuggattung. Fleisch (Schaf- und
Schweinefleisch) wird an Wochentagen sehr selten gegessen, ln drei
Bezirken des Komitates Szilägy1) wird fast die Hälfte des Jahres
gefastet. Die Hauptnahrung bilden Maisbrei, Bohnen und Kürbis-
kerne. Zum Kochen wird in grofsem Mafsc das aus Sonnenblumen
gewonnene Oel verwendet. Fleisch wird sehr selten, Branntwein im
Uebermafsc konsumiert, ln geringer Menge dienen auch getrock-
nete Fische zur Ernährung. Im Ara der Komitate ernähren sich
27 Gemeinden höchst mangelhaft, weshalb auch deren Arbeitsfähig-
keit auf einer sehr niedrigen Stufe steht. Fleisch wird sehr selten
und wenig konsumiert , zwischen der Ernährung an Sonn- und
Wochentagen besteht kein Unterschied. Der Winter bildet eine
geringe Ausnahme, da zu dieser Zeit in sehr geringem Mal'se besser
gelebt wird. Der Branntweinkonsum ist ein starker. Auch im
Temescher Komitate*) ernähren sich viele Gemeinden sehr
mangelhaft . . . Die Hauptnahrung besteht aus Erbsen, Bohnen,
manchmal aus Kraut und in aufscrgewöhnlichem Mafse aus Branntwein.
— Wie man sieht, ist also das Gebiet, auf dem die Bevölkerung und
insbesondere die landwirtschaftliche Arbeiterschaft mit den grössten
Entbehrungen kämpft, ein keineswegs kleines. Nach Dr. Fekete :l) lebt
denn auch des slovakischen Volkes von Kartoffeln und elendem
Hafer- oder Gerstenbrot. Zu den Kartoffeln ist nicht einmal immer
Fett und das kaum den Namen verdienende Brot nicht immer in hin-
reichender Menge vorhanden. Der Walache und Szcklcr nährt sich
gleicherweise elend. — Es ist dies auch kaum anders denkbar, wenn
man erwägt, dafs rler Feldarbeiter von seinem Lohne in der Regel
nur 60 — 89 FL jährlich für seine und seiner ganzen Familie Er-
nährung erübrigen kann *). Selbst im Alfold bleiben nach einem
h Vgl. Kelcti a. a. O. S. 67.
*J Vgl. Keleti a. a. O. S. 68.
Jj a. a. O.
*) Vgl. Dt. Franz Krassei, „Die tag,- der ungarischen Fcldarbciter und
das Feldarbcitergesctz.“ in der „Monatsschrift für christliche Sozialrefomi“, Jahrg. l8<)8
ij. 203 fr. u. Dr. E. H. Schmitt, „Der ungarische Bauernsozialismus“ iu der „Zeit“
Nr. 184.
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354
Julius Hunzel,
von Dr. Ecscri ') veröffentlichten Budget eines Orosliazaer Feld-
arbeiters dem Arbeiter nur 122 Fl. 35 Kr. d. i. 33 1 ä Kr. täglich
zum Leben.
Unter solchen Umständen ist es kein Wunder, dals Dr. Fekete *)
„aufrichtig bekennen mufs, dafs ein grolser Teil der Ackerbauer, ja
die Bevölkerung ganzer Gegenden degeneriert“ und dafs die Pellagra
das Trachom und der Hungertyphus in Ungarn nicht aussterben
wollen. Die Pellagra ist eine infolge fast ausschliefslicher Mais-
nahrung entstehende Krankheit der Haut und des Gehirns, die im
Jahre 1898 in Siebenbürgen auftauchte, sich dann auch in Ungarn,
hauptsächlich im Temescher Komitate, ausbreitete und im Juni
bereits in 28 Gemeinden amtlich konstatiert war. — Das Trachom
feine Augenkrankheit) hingegen ist namentlich im ungarischen Tief-
lande verbreitet, wurde aber von den im Sommer im Alföld arbeitenden,
im Norden ansässigen Feldarbeitern auch in deren Heimat ver-
schleppt, wo der böse Samen auf fruchtbaren Boden fiel.*) Im
Jahre 1899 betrug denn die Zahl der Fälle im ganzen Königreiche
Ungarn (einschliefslich Kroatien - Slavoniens) schon 38945,*) so
dafs die ungarische Regierung sich genötigt sah, in das Budget
60000 Fl. als Auslagen für die Unterdrückung des Trachoms ein-
zustellen. Der Hungertyphus endlich trat im Jahre 1898 nicht nur
in den nördlichen Komitaten Arva, l.iptau und Turocz, sondern
auch in der reichsten Gegend des Landes, der „Kornkammer Un-
garns“, auf. Zuerst erschien dieser böse Gast dort in mehreren
Gemeinden des Torontaler Komitates und bald mufste der Fester
Lloyd berichten : „Fs klingt fast unglaublich, dafs auch in der
Bacska, diesem vielleicht am meisten gottgesegneten Komitate des
Landes, Hungersnot herrscht. Amtliche Daten bekundeten jedoch,
dafs im Coinitate mehr als 12321 Menschen brotlos sind und der
gröfsten Not entgegensehen. Die Zahl der Notleidenden nimmt
täglich zu." Nach späteren Nachrichten herrschte jedoch auch in
vielen anderen Gegenden, so im Heveser Komitate (in Tisza-Nana
allein hungerten 240 Familien), in Arad und im Temescher Ko-
*) Das treffliche Buch, welchem diese Angaben entnommen wurden, ist leider
nur in magyarischer Sprache erschienen.
*l a. a. O.
*) Vgl. Prof. I)r. Feuer in den Berichten über den VIII. hyg.-dem. Kongress
a. a. O. S. 707.
4) Vgl. ungar. Statist. Jahrbuch Jahrg. 1899 a. a. O. S. 66
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1 >ie Lage der ungarischen Landarbeiter.
355
mitate Hungersnot. Dabei wurden noch die Nachrichten über die
herrschende Not nach Möglichkeit unterdrückt und mul'ste eine in
Brod erscheinende Zeitung, welche über die Hungersnot in Slavonien
ausführliche, ergreifende Berichte gebracht hatte, infolge der zahl-
reichen Konfiskationen sogar das Erscheinen einstellen. Allein auch
die trotzdem bekannt gewordenen Thatsachen genügten, um die
Aufmerksamkeit weiterer Kreise in Ungarn auf die elende Lage der
ungarischen Feldarheiter zu lenken, ja man fing sogar in den Mi-
nisterien an, sich für die Lamlarbeiterfrage zu interessieren und zwar
umsomehr, als es unter der im allgemeinen recht geduldigen Land-
bevölkerung ganz bedenklich zu gähren begann.
III. Die soziale Bewegung unter den ungarischen
Feldarbeitern und deren Bekämpfung.
Den Anschluss an die Sozialdemokratie hatte die ungarische
Taglöhnerschaft allerdings schon lange vorher vollzogen. Bereits
gegen Ende der achtziger Jahre begann der Sozialismus unter der
landwirtschaftlichen Bevölkerung Anhänger zu finden, was sich bei
der Säkularfeier der französischen Revolution im Jahre 1889 und bei
der Maifeier desselben Jahres, an welchen Veranstaltungen bereits Feld-
arbeiter teilnahmcn, zeigte.1) Auch dem sozialdemokratischen Kon-
gresse i. J. 1 890 wohnten bereits 2 — 3 Delegierte der landwirtschaftlichen
Arbeiterschaft bei. Allein die Behörden traten der Bewegung so
energisch entgegen, dal's selbst der Arbeiter-Kalender3) erklärte, dafs
„die agrar-soziale Bewegung in nächster Zeit zu keiner hohen Be-
deutung gelangen" dürfte. Die Versammlungen wurden verboten,
den sich gründenden Arbciterbildungsvereinen wurde die Statuten-
bestätigung verweigert, die bestehenden Vereine löste man auf, ja
man veranlafste sogar die Geschäftsleute durch Einschüchterungen
und Chikanen zur Einstellung des Einzelvcrkaufes des sozialde-
mokratischen Blattes, so dafs dasselbe einstweilen gratis versendet
werden mul'ste. Allein trotzdem machte die Bewegung, namentlich
im höher gebildeten Tieflande, Fortschritte. Am 1. Mai 1891 kam
es sogar in Oroshaza (im Bekescher Komitate) zu einer Belagerung
des Stadthauses, weil die Behörden die Maifeier nicht dulden wollten.
*) Vgl. Hungarus „Briefe aus Ungarn“ in dem „Deutschen Wochenblatt“
Jahrg. 1898.
“) Vgl. allgemeiner Arbeitcrkalt'iider für das Jahr 1892. Pest 1892.
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356
Julius Hunzel,
Die bewaffnete Macht mufste einschreiten und es gab viele Tote
und Verwundete. An den folgenden Tagen wiederholten sich die
Unruhen an mehreren Orten des Komitates, insbesondere in Bekes
Csaba und Bathonya.') — Auch diese „Revolten“ wurden blutig unter-
drückt, ohne dals natürlich etwas für die Verbesserung der Lage der Ar-
beiter geschehen wäre, und der Sozialismus breitete sich immer weiter
aus, hauptsächlich in den Komitatcn Bekes, Arad, Csanad und
Csongrad. Ende April 1894 brach denn auch in Hödmezö-Väsärhely
(im Csongradcr Komitate) wieder eine Revolte unter den landwirt-
schaftlichen Arbeitern aus und zwar eine weit stärkere und weiter
ausgebreitete als die vom Jahre 189 t gewesen war. Aber auch
diese wurde blutig unterdrückt, das Versammlungsrecht im ganzen
Tiefland suspendiert, das Militär in dem genannten und dem Toron-
taler, Temescher und Arader Komitate verstärkt und im übrigen
blieb alles beim alten. Natürlich auch bezüglich der Ausbreitung
des Sozialismus. — Im Jahre 1894 hatten sich schon 16 Delegirtc
der Eeldarbeiter am sozialdemokratischen Kongresse beteiligt und
im Jahre 1896 fand der erste Fcldarbeitcrkongress statt, zu dem
aus 39 Orten 71 Feldarbeiter erschienen waren. Im Jahre 1897
hatten sich die Feldarbeiter sogar schon soweit organisiert, dafs sie
einen Erntestrike mit günstigem Erfolge zu Ende führen konnten.
Der Taglohn erhöhte sich zur Erntezeit um 40 ja 50 Proz. und er-
reichte in einigen Gegenden die bisher ungeahnte Höhe von 5 Fl.5),
während in 29 Gemeinden auch die Robotarbeit abgeschafft wurde.
— Dieser Erfolg war um so höher anzuschlagen, als die Regierung
mit Gewalt die Organisation der Arbeiter zu unterdrücken suchte
wofür die „Schlachten“ von Sari, Zenta, Nädudvar,") Elemer und
Alpar traurige Beweise abgeben. Auf dem dann zu Weihnachten
1897 in Budapest abgehaltenen Feldarbeiterkongresse4) liefsen sich
I
') Vgl. Deutsch und Schmitt a. a. O.
*) Vgl. Tomic a. a. O. S. 5.
3) Näheres über „die Schlacht bei Nadudvar“ siehe in der ..Zeit“ vom 12. Juni
1897, S. 162.
4) Die „gründliche Kenntnis der sozialistischen Redeform und Schlagworte“
von seiten der in die Verhandlung Eingreifenden, sowie „die andächtige Ruhe und
unermüdliche Ausdauer des Auditoriums“ hatte sogar dem P. L. imponiert. Auch
hebt dieses Blatt hervor, dafs die Kongrefsteilnehmer fast durchweg typische Ge-
stalten vom Lande waren : „Ungarische Bauern mit Kossuthbärten, an der schweren
Silberkette das Portrait des Arbeiterführers Marx tragend, Torontaler, Schwaben
(Deutsche) mit glattrasierten Gesichtern und enganliegenden Kleidern; auch die
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Die Lage der ungarischen Landarbeiter.
357
bereits 130 Gemeinden durch 212 Delegierte vertreten und wurde
auf diesem Kongresse u. a. auch eine neue Organisation beschlossen.
Nachdem die Regierung Vereinsgründungen unmöglich gemacht
und Versammlungen verboten hatte, wurde in jeder Gemeinde in
der Sozialisten wohnten, ein Blattkomitpe geschaffen. Jeder der sich
bei diesem Komite meldet, wird als Mitglied der Blattorganisation
betrachtet, wenn er sich verpflichtet hat, das vierzchntägig er-
scheinende magyarische „Feldarbeiter Tagblatt" (später das wöchent-
lich erscheinende Blatt „Weltfreiheit") oder die wöchentlich er-
scheinende deutsche „Volksstimme“ rcgelmäfsig abzunehmen. Der
die Gelder übernehmende und verwaltende Kassierer hat aber nur
für je 2 Mitglieder ein Blatt zu bestellen und die andere Hälfte des
eingelaufenen Geldes zum Teil für die Lokalorganisation zu ver-
wenden, zum Teil der Zentrale cinzuschickcn. Ucberdies war zu
Beginn des Jahres 1897 in der südungarischen Bauernstadt Czegled
ein Feldarbeiterkongress abgehalten worden, auf dem 12 Komitatc
von 195 Delegierten aus 50 Städten und Gemeinden vertreten ge-
wesen waren und am I. und 2. Januar 1898 folgte ein Kongress
südungarischer Landarbeiter deutscher Zunge in Temeswar, auf
dem 24 Gemeinden durch 39 Delegierte *) vertreten waren. Die
Organisation der ungarischen F'cldarbeiterschaft hatte demnach in
verhältnismässig kurzer Zeit bedeutende Fortschritte gemacht, ohne
dafs es zu gröfseren Ausschreitungen , zu denen der heifsblütige
Magyare sich leicht hinreissen läfst, gekommen wäre.
Da trafen zu Beginn des Jahres 1898 hauptsächlich aus den
nördlichen Komitaten des Landes, in welche die sozialdemokrati-
schen Ideen noch nicht gedrungen waren, drohende Nachrichten
über Unruhen und Bauernrevolten ein. Namentlich im Szabolcser
Komitate -) sollten nach diesen Meldungen „besorgniserregende“ Zu-
stände herrschen. Am 7. Februar erschien im Abgeordnetenhause
wenigstens eine Deputation von Landwirten mit einem Gesuche um
Anwendung energischer Mafsregeln gegen die „agrarsozialistische
Bewegung“, welches Gesuch von niemandem unterzeichnet war,
da angeblich jeder Landwirt sich in der Sicherheit des Lebens be-
slawischen Nationalitäten waren durch zahlreiche serbische, kroatische und slowakische
Baucrndelcgierte vertreten.“
*) Nach dem P. L. waren von den Delegierten höchstens 10 Feldarbeiter.
*) Beiläufig bemerkt, ist der Schwiegersohn des damaligen Ministerpräsidenten
Baron Banflfy Obergespan dieses Komitates.
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35«
Julius Itunz cl.
droht gefühlt hätte, wenn man seinen Namen als den eines Unter-
zeichners der Adresse bekannt gegeben hätte. Die Leute erzählten
u. a. in Xyiregyhaza, dem Hauptorte des Koinitats, könne man
nicht ohne Revolver in die Kirche gehen, kurz cs war kein Zweifel,
dafs man jeden Augenblick den Ausbruch einer gemeingefährlichen
Bauernbewegung befürchten mufstc. Es wurden also „umfassende"
Mafsnahmen getroffen und eine „ziemlich bedeutende“ Militärmacht
unter dem Kommando eines Generals in die meist „bedrohten"
Komitate Szabolcs und Szatmar gesendet. Es gelang auch wirklich,
die „Bewegung“ zu unterdrücken. Freilich stellte sich bald heraus,
dafs die „Bewegung“ keineswegs so „besorgniserregend“ gewesen
war, wie die ungarischen offiziösen Blätter hatten glauben machen
wollen. Die „Soziale Praxis"1) z. B. bemerkte: „Allerdings scheint die
Lage zu keinem Zeitpunkte wirklich so ernst gewesen zu sein und
die ungarische Regierungspresse sah sich genötigt, eine Reihe von
angeblichen Greuclthatcn der Bauern, die sie berichtet hat, für un-
wahr zu erklären . . . Soweit verlälslicfie Berichte vorlicgen, kam
cs in den erwähnten Komitaten zu wiederholten Zusammenrottungen
und Abhaltung verbotener Versammlungen, die stellenweise drohend
verliefen. Auch dieser ganze „Ausbruch“ wurde anscheinend nur
durch das autoritäre Vorgehen der Behörden veranlafst, die alle
Versammlungen verboten. — Verhaftungen von Bauernführern
reizten i) die Arbeiter zum Widerstande und sie suchten die Ge-
nossen zu befreien." Jedenfalls genügten aber die Vorgänge, um die
geplanten Malsnahmen gegen die — Sozialdemokraten durchzuführen,
obzwar diese an den „Ausbrüchen“ ganz unschuldig waren. Wie
sich nämlich bald herausstellte, waren die an den „Revolten" be-
teiligten Personen Anhänger Varkonyis, welche den Sozialdemokraten
geradezu feindlich gegenüberstanden. Stefan Varkonyi/') ein Pfcrde-
■nakler aus Czegled, der sich später durch Fuhrwerksunternehmungen,
bei Erdarbeiten u. s. w. ein Vermögen erworben hatte, war aller-
dings infolge seines Eifers und der materiellen Unterstützung, welche
er der Partei gewährte, im Jahre 1896 in die sozialdemokratische
') Vgl. „Soziale Praxis“, Zentralblatt für Sozialpolitik vom 12. Mai 189S,
Spalte 543.
*1 Wie die ungarischen Behörden das zu machen pflegen vgl. bei Ganz, „l)ie
Schlacht bei Nadudvar“ in der „Zeit“ a. a. O.
h Vgl. Dr. Paul F.ngelmann: „Edelanarchistische Phantasieen“ in der
„Neuen Revue“ vom 15. Mai 1S9S.
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Dii* Lage der ungarischen I-andarbcitcr.
359
Parteileitung gcvvälilt worden. Doch war er bald, da er nicht ge-
nügenden Einflufs gewinnen konnte, aus derselben wieder ausge-
treten und hatte ein eigenes Blatt „Der Ackerbauer“ gegründet, in
welchem er gegen die sozialdemokratische Parteileitung auftrat, ohne
zunächst ein selbständiges Programm zu entwickeln. Später lernte
er dann den Edelanarchisten Dr. Eugen Heinrich Schmitt kennen
und begann nun dessen Ideen, nach welchen der Christusgedanke
verwirklicht, d. h. im Menschen das göttliche Bewufstsein der Liebe
und Gemeinschaft erweckt werden soll, ') zu propagieren. Nach
Schmitt,2) dessen Agitator Varkonyi wurde, schlummert „in jedem
geringsten Menschen, ja auch im verworfensten Missethäter das
göttliche Bewufstsein der Liebe und Gemeinschaft und es gilt da-
her nur, diese Gottheit in den Geistern und Gemütern zu erwecken
und die frohe Botschaft der eigenen Gottheit des Menschen der
Welt zu verkünden. Ist dann das göttliche Bewufstsein der Ge-
meinschaft, der Liebe und der Freiheit unter den Menschen erst
verbreitet und haben die Menschen ihr Leben diesem Bewufstsein
entsprechend gestaltet, dann wird eine neue auf die Liebe und die
freie Vereinbarung aufgebautc Welt entstehen, welche die tierische
Gewaltthat in allen ihren Formen, in der Form des Terrorismus
der Revolutionäre ebenso, wie in der Form des Terrorismus der
Staatsgewalt verdammt und dann wird auch die Prophezeiung des
Jesaias erfüllt sein, der verheifsen hat, dal's die Schwerter in Pflüge
umgeschmiedet werden, dals die Völker sich nicht mehr bekriegen
werden, dafs der Löwe mit dem Lamme weiden wird. — Natürlich
darf zur Verwirklichung dieses Idealzustandes nie Gewalt angewendet
werden, da der Mensch, der unter welchem Titel immer Gewalt
übt, seine menschliche Würde weggeworfen hat und auf ein sitt-
liches Niveau gesunken ist, auf dem er kein sittliches Urteil mehr
über die I landiungen seiner Gegner hat. Der ersehnte Zustand
kann vielmehr nur dadurch herbeigeführt werden, dafs die Menschen
die Schmittschen Grundsätze zum Leben ihres Lebens machen.
„Wie sich das Licht nur darin offenbart, dafs cs in die Welt leuchtet,
so bringen wir unsere Grundsätze auch nur dadurch zur Geltung, dafs
wir Zeugnis ablcgcn für die Wahrheit bei jeder Gelegenheit — da-
') Vgl. „Katechismus der Religion des Geistes“ lusammengestellt von l>r.
Eugen Heinrich Schmitt. Leipzig 1895, S. 8 ff.
2) Vgl. Prcfsprozcf» von Dr. E. H. Schmitt, ,,Der Staat vor dem Richter-
stuhle der Wahrheit“. Pest 1897. S. 30.
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3<5o
Julius Bunzcl,
durch, dafs wir für unsere Grundsätze Anhänger anwerben in allen
Kreisen und die herrschende Lüge, so hoch dieselbe auch stehen
mag, sittlich rückhaltlos bekämpfen." — Dieser Kampf der Ver-
treter der Gewaltlosigkeit mufs aber naturgemäfs in erster Linie
gegen den Repräsentanten der Gewalt, d. i. den Staat, gerichtet
sein ') und zwar soll nach Schmitt dieser Kampf geführt werden
durch die „sittliche Aechtung der Gewalt". Das ist aber eine Waffe,
die nach Schmitt selbst „nur Menschen, die sich bereits hoch über
die tierische Gewaltthätigkcit erhoben haben“, handhaben können.
Solche Menschen sind aber die nordungarischen Bauern und Feld-
arbeiter nicht und können es auch nicht sein, weil sie unter Ver-
hältnissen leben, in welchen alle tierischen Instinkte im Menschen
wieder erwachen. Erst müssen ihre wirtschaftlichen Verhältnisse
gebessert werden, erst mufs, um mit Schmitt zu reden, „jeder Mensch
auf ehrliche Weise mit leichter Arbeit und Mühe sein Brot ver-
dienen können" und dann erst werden sie imstande sein, die Waffe
der sittlichen Aechtung der Gewalt gegen den Staat zu schwingen,
wobei es allerdings fraglich ist, ob sie das dann noch werden thun
müssen und wollen. So lange sich aber die wirtschaftlichen und
kulturellen Verhältnisse der ungarischen Feldarbciter und Klein-
bauern nicht gebessert haben, werden diese im gegebenen Fall ge-
wifs nicht mit der Waffe der sittlichen Aechtung, sondern mit
Sensen und Heugabeln den Kampf gegen die staatliche Gewalt
fuhren.
Es war daher vom Standpunkte der ungarischen Regierung
von allem Anfänge an gewil's nicht unbedenklich, als Stefan Varkonyi
die Ideen Schmitts zu verbreiten begann. Nichts destoweniger
traten die Behörden zunächst der Bewegung nicht entgegen, vielleicht
weil ihnen die Erklärung der „Unabhängigen“ dafs die Teilnahme
‘) Schmitt bezeichnet« denn auch den Staat einfach als „die Organisation
einer Räuberbande im Grofsen“ und verglich ihn mit dem Räuberhauptmanne Do-
minik Tiburzi, der in den Abruzzen fixe Beträge, Steuern von den Besitzenden bezog
und dann Arm und Reich die volle Sicherheit garantierte. — Was die staatliche
Polizei nie zustande gebracht hatte, trat damals ein, es herrschte in der That voll-
kommene Sicherheit in diesen Gegenden. Aufserdem aber schenkte Tiburzi von
seinen Rcichtümem reichliche Summen den Armen und Aermstcn, kurz, „er plünderte
die Reichen zu Gunsten der Armen, während der die Steuern in letzter Instanz auf
den Armen wälzende Staat die Armen zu Gunsten der Reichen plündert.“ — Nur
dafs nicht alle Räuber wie Tiburzi handeln und es nicht in allen Staaten, wie in
Italien und — Ungarn zugeht.
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Die Lage der ungarischen 1 Handarbeiter.
36
an den Wahlen verwerflich sei gefiel, vielleicht auch weil sie die
neue Partei als die schwächere gegen die Sozialdemokraten aus-
spielen wollten. So konnte Varkonyi ziemlich ungestört Anhänger
werben. Zunächst gewann er solche in Halas in Kleinkumanien,
dann breitete sich die Bewegung immer weiter aus, und im Herbste
1897 konnte in Czegled ein Landarbeiterkongrels abgehalten werden,
an dem hauptsächlich Südslaven, Serben und Rumänen teilnahmen.
Ende 1897 waren schon die nördlichen Komitate Heves, Szabolcs,
Szatmar, Beregh und Ung von der Bewegung ergriffen und es
wurde auch ein serbisches Blatt (Zemljodelac) von der Partei ge-
gründet. So berichtet wenigstens Schmitt.1) Nach den Mitteilungen
aus sozialdemokratischen Kreisen *) beschränkte sich allerdings die
Bewegung nur auf die nördlichen Komitate, wohin die sozialdemo-
kratischen Ideen noch nicht gedrungen waren und wo sich die Be-
wegung gerade wegen der Unklarheit ihrer Lehren beispiellos rasch
verbreitete, während sie anderwärts keine Fortschritte machen
konnte, da „der ungarische Kleinbauer und Feldarbeiter für die
geringste materielle Errungenschaft auf die Göttlichkeit der geistigen
Individualität verzichtet“ und sich überhaupt durch religiösen In-
differentismits auszeichnet. Wo sich aber die Bewegung verbreitete,
scheint sie viel Unheil in den Köpfen der Landarbeiter angerichtet
zu haben. Was an den Schwüren im Mondschein, dem Glauben
an die Rückkehr Kossuths und des verstorbenen Kronprinzen
Rudolf und anderen romantischen Dingen, von denen die
ungarische offiziöse Presse berichtete, wahres war, läfst sich
allerdings nicht feststellen, allein eine sehr klare Vorstellung
scheinen die Anhänger der Varkonyischen Bewegung von ihren
Bestrebungen nicht gehabt zu haben. Es entstanden die er-
wähnten Revolten, welche dann endlich die Regierung zur Unter-
drückung der Varkonyischen Bewegung veranlafste. Die ehemaligen
Anhänger Varkonyis schlossen sich hierauf — nach Schmitts An-
gaben ;l) — successive dessen religiöser in dem Blatte: „Ohne Staat"
propagierten Bewegung an. Die Zahl seiner Anhänger vermochte
aber Schmitt selbst nicht genau anzugeben, da auch die Zahl der
Abonnenten seines im übrigen seither eingegangenen Blattes einen
Schlufs auf dieselbe nicht zuliefs. Die Hauptzentren der Bewegung
‘) In der „Zeit“ a. a. O.
*} Vgl. Engel mann a. a. O.
si In einem an mich gerichteten Schreiben vom 29. August 1898.
Archiv für %ox. Ge«et;gebuug u. Statistik. XVII. 24
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362
Julius Hunzel,
sollen sich jedoch in der ungarischen Tiefebene, insbesondere in
den kernmagyarischen Theifsgegenden . . . besonders in den Kotni-
taten Pest , Jäsz-Kun-Szolnok , Bekes , Csongrad , Csanäd , Arad,
Torontäl, Bäcs, Bihar, Heves befunden haben.
In Wirklichkeit scheint sich aber die Sozialdemokratie mit mehr
Erfolg um die Erbschaft Varkonyis, dessen wenige Anhänger1) nunmehr
unter der Führung des Obergespans Grafen Victor Thoroczkay stehen
sollen, eifrig bemüht zu haben. Sie wird bei diesen Bemühungen zwar
durch die nach den Varkonyischen Revolten gegen sie in Anwen-
dung gebrachten Mafsnahmen behindert, andererseits jedoch aller-
dings unfreiwillig von der Regierung unterstützt, indem diese die
bekannteren Parteimitglieder aus der Hauptstadt ausgewiesen und
in ihre Heimatsgemeinden polizeilich abgeschoben hat, wodurch
das Land mit geschulten Agitatoren, die in ihren heimatlichen
Gegenden aufs eifrigste Propaganda treiben , überschwemmt wird.
Diese Agitatoren organisieren dann als Vertrauensmänner der
Partei in den verschiedenen Gegenden , da die Vereinsbildungcn
nicht gestattet werden, „geheime Tischgesellschaften", in denen
sozialistische Prel'serzeugnisse verbreitet werden und denen gegenüber
die Regierung völlig machtlos ist. — Leichenbegräbnis, Taufe,
Hochzeit, Verlobung, Schweineschlachten, mit einem Worte, jede
Gelegenheit wird benuzt das Parteiprinzip zu verbreiten, so dafs
nach dem 1898er Parteiberichte die sozialdemokratische Partei 600
Gemeinden zu den ihren zählte und das Parteiblatt in diesen Ge-
meinden in mehr als 3000 Exemplaren nur an Feldarbeiter und
Kleinbauern wanderte. Der Feldarbeitcrkongrefs im J. 1900 war
allerdings nur von 46 Delegierten aus 34 Orten besucht, doch waren
aus mehr als IOO Orten Begrüfsungsschreiben eingegangen, in denen
mitgeteilt wurde, dafs der Kongrcfs lediglich aus Mangel an Mitteln
nicht beschickt werden könne. —
Auch nach einer Rede des Abgeordneten Rohonczy hat sich
der Sozialismus vom Bekeser Komitate aus dem I aufe der Flüsse
nachgehend schon nördlich bis in das Szabolczer und Unger und
südwärts in das Csanader, Csongrader und Torontaler Komitat ver-
breitet, von wo er in die Bacska, das Baranycr Komitat und dann
weiter nördlich bis Paks ging. — In diesen Gegenden gehören
*) Auf dem im Frühjahr 1900 zu Szeghalom abgehaUencn Kongresse der .Un-
abhängigen“ waren nach der sozialdem. „Volksstimmc“ 17 Gemeinden vertreten.
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Dir Lage der ungarischen Landarbeiter.
363
nicht nur die Feldarbeiter ’) zu den Anhängern der sozialistischen
Bewegung, sondern auch die Kleingutsbesitzer neigen — wie Graf
Kärolyi erklärte, immermehr dem Sozialismus zu, was auch sehr na-
türlich ist , da sie, wie Tomic *) berichtet, wohl Haus und Hof be-
sitzen, aber derart verschuldet sind, dals sie auch nicht einen ein-
zigen Dachziegel ihr eigen nennen können.
Als Sozialdemokraten kann man sie deswegen freilich noch
nicht bezeichnen. Denn die Wünsche all’ dieser „Sozialisten“ gehen
oft weit auseinander, über die Mittel zur Erreichung ihrer Ziele
sind sic sich selten klar und nur in einem sind sie eigentlich einig:
in der Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen. Die
wirklichen organisierten Sozialdemokraten unter ihnen sehen aller-
dings als das Endziel ihrer Wünsche die Nationalisierung des Grund
und Bodens an. Viele aber, vielleicht die Meisten, träumen noch
von einer Aufteilung der Felder. „Diese stehen — wie Memmingcr“)
bemerkt — noch auf dem alten naturrechtlichen Standpunkte . . .
Sie haben noch das lebendige Bewufstsein, dafs das Volk ohne den
nationalen Boden gar nicht zu denken und dafs dieser Boden,
wenn er zum Schaden des Volkes ausgebeutet werde, wieder für
das Volk zu reklamieren sei . . . Darum halten sie es auch nur
für einen Akt der Gerechtigkeit, wenn sie die Rückgabe des natio-
nalen Bodens an seine Bebauer m. a. W. eine Aufteilung der Felder
verlangen. Zu dieser Theorie, welche thatsächlich aus der magy-
arischen und deutschen Rcchtsgeschichte begründet werden kann,
bekennen sich auch eine Menge Bauern , die nicht zur Klasse der
Taglöhner degradiert worden sind. Diese wollen sich beizeiten
vor dem Schicksale der Landarbeiter bewahren und weder ihre
Familien, noch ihren Stand untergehen lassen.“ Bezüglich der Detail-
forderungen gehen die Ansichten natürlich noch mehr auseinander.
1 ) Natürlich haben sich auch die Feldarbeiterinnen stellenweise bereits der Be-
rgung angeschlossen und waren nach der Soc. Praxis vom 6. Januar 1898 auch
einige derselben bereits als Delegierte am Pester Parteikongresse anwesend.
*) A. a. O. S. 6. Dortselbsl wird auch bemerkt, dafs gerade diese Bauern als
die Elendsten der Armen erklärt werden müssen. „Wenn sie nach der Ernte die
fälligen Schulden und Steuerlasten beglichen haben, erübrigt ihnen gewöhnlich nichts,
nicht einmal soviel als sich der Taglöhner für den Winter zu erübrigen vermag.
Wenn das Frühjahr heranbricht, bearbeiten sie ihr Feld, dessen Frucht abermals die
Schuldlastcn verschlingen, hungernd.“
*) Vgl. die agrarischen Unruhen in Ungarn von Anton Memminger in der
Monatsschrift für christliche Sozialreform, Jahrg. 1898, 3. Heft.
24*
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3^4
Julius Hunzel,
Der zu Weihnachten 1897 in Budapest abgehaltene Feldarbeiter-
kongrefs z. B. forderte den zvvölfstiindigen Arbeitstag bei Erstrebung
des Achtstundentages und Entlohnung der Ueberzeit nach Stunden,
Abschaffung der Akkordarbeit und aller Art unbezahlter Arbeit
und statt dessen Einführung des Taglohnes, wobei die Barzahlung
als Grundsatz aufgestellt wurde. Die Verträge, namentlich über
gröfsere Arbeiten, sollten nur durch Vermittlung des Zentralsckre-
tariates abgeschlossen werden, die Frauen gleichen Lohn wie die
Männer erhalten und Kinder unter 14 Jahren zur Arbeit nicht zu-
gelassen werden. Aufscrdem wurde die Schaffung von Arbciter-
schutzgcsetzen (die Ausdehnung des Krankenversicherungsgesetzes
auf die landwirtschaftlichen Arbeiter, die Siechen- und Invaliden-
unterstützung und die Ernennung von durch Arbeiter gewählte
Inspektoren für die Landwirtschaft) und endlich das allgemeine
gleiche geheime und direkte Wahlrecht, vollständige Vereins-, Ver-
sammlungs- und Verbindungsfreiheit, Aufhebung der die Schubie-
rungen und Ausweisungen regelnden Bestimmungen und Freiheit
der Kolportage gefordert. In den Szabolczer Gemeinden wieder
wurde Ueberlassung der Hälfte (statt des Drittels) des Ertrages an
die Arbeiter, Abschaffung des „Wuchers“, d. h. der Abgaben an
Eiern , Hühnern u. dgl., Verbot der Aufnahme von Arbeitern aus
fremden Gegenden, Rückgabe der früheren gemeinsamen Getreide-
stapelplätze, Einhaltung der Sonn- und Feiertagsruhe, Einführung
der progressiven Steuer und Abschaffung der Wasserschutzge-
büren und einer dort üblichen Art von Robot gefordert. Auf dem
in Temcswar im Januar 1898 abgehaltenen Feldarbeiterkongresse
wurde überdies das Recht des freien Tabakbaues und Tabakhandels
und die Abschaffung des Tabakmonopoles und auf dem im Oktober
I898 abgehaltencn Komitatskongresse in Szegedin die gesetzliche
Fcstseilung eines Lohnminimums gefordert.
Die Erreichung ihrer Wünsche aber erhoffen die Sozialdemo-
kraten von einem Erntestrikc, andere Parteien wieder glauben, durch
gewaltsames Vorgehen etwas erreichen zu können. Einstweilen
schlugen jedoch beide Mittel fehl. Die „Revolten" wurden von der
Regierung blutig unterdrückt1) und diese Gelegenheit, wie bereits
erwähnt, gleichzeitig dazu benützt, um Malsnahmen zu treffen, durch
welche auch ein Erntestrikc unmöglich gemacht wurde.
') Wie sehr man dabei trachtete das Volk zu beruhigen, gebt aus einer Mel-
dung des Budapesti Xaplü hervor, nach welcher bei einem Kleinbauern 15 — 20 Sol-
daten eimpiartiert worden waren, die demselben seine einzige Kuh niederstachen.
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Die Lage der ungarischen Landarbeiter.
365
Zunächst wurde eine Zirkularverordnung an sämtliche Muni-
zipien erlassen, in welcher diesen in Erinnerung gebracht wurde,
dafs auf Grund älterer Regierungsverordnungen und der infolge-
dessen ausgebildeten Praxis die Abhaltung von Volksversammlungen
nur dann zu gestatten sei, wenn die Anmeldung 24 Stunden vorher
bei der kompetenten Behörde erfolgt ist und von der Behörde die
Erlaubnis zur Abhaltung erteilt wurde. Um diesen Verordnungen
Nachdruck zu verschaffen, wurde aufserdem verfugt, dafs die Ver-
anstaltung von Volksversammlungen ohne Beobachtung der Vor-
schriften und die Teilnahme an denselben, sowie die Fortsetzung
von Volksversammlungen, welche durch die Behörde aufgelöst
wurde, als Uebertretung qualifiziert und mit 14 Tagen Arrest und
100 Fl. Geldstrafe geahndet wird. *) — Und nun wurden einfach
alle Versammlungen oft mit den sonderbarsten Begründungen, oft
auch ohne Angabe von Gründen, verboten. So verbot z. B. der
Stadthauptmann von Czegled eine auf den 12. Juni einberufene
Versammlung durch folgenden Bescheid: „Die Versammlung
wird nicht zur Kenntnis genommen, weil die bereits eingetretene
grol'se Arbeitsgelegenheit nicht geeignet erscheint, dafs die Ar-
beiter sich mit für sie von keinerlei Vorteil bietenden Fragen
befassen und in öffentlichen Versammlungen in Aufregung gebracht
werden.“
Nachdem dann so das Versammlungsrecht neu „geregelt" worden
war, wurde unter dem 26. Februar ein zweiter Erlafs an die Muni-
zipien gerichtet, in welchem in Erinnerung gebracht wurde, dafs im
Sinne des Ministerialerlasses vom 2. Mai 1875 jeder Verein vor
seiner Konstituierung verpflichtet sei, den Entwurf seiner Statuten
der königlichen Regierung zu unterbreiten. Wenn hinsichtlich dieses
solcherweise unterbreiteten Statutenentwurfes innerhalb 40 Tagen
ein Bescheid nicht erflossen ist oder eine Erinnerung nicht gemacht
wurde, könne der Verein seine Thätigkeit zeitweilig allerdings be-
ginnen, sich aber endgiltig nur dann konstituieren, wenn seine Sta-
tuten mit dem Visum der königlichen Regierung versehen würden.
Um dieser Verordnung Nachdruck zu verschaffen, wurde überdies
die Konstituierung beziehungsweise Bildung eines Vereines entgegen
den erwähnten Regeln, desgleichen die Teilnahme an der Leitung,
an den Beratungen oder sonstigen Punktionen eines aufgelösten oder
suspendierten Vereines als Uebertretung qualifiziert und mit Arrest
*) Citiert nach der Neuen Freien Presse.
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366
Julius Hunzel,
bis zu 15 Tagen und einer Geldbufse bis zu 100 Fl. bestraft.1)
Und nun wurde — wieder aus den sonderbarsten Gründen — jede
Vereinsbildung unmöglich gemacht. — So wurde die Gründung
mehrerer Feldarbeiter - Bildungsvereine im Bacser und Torontaler
Komitate nicht genehmigt „weil es auf dem Gebiet der Städte
genug Vereine gäbe, welche ganz analoge Zwecke verfolgen, weshalb
jene, welche den Verein zu gründen wünschen, auch im Rahmen
der bereits bestehenden Vereine ihren Wunsch nach weiterer Selbst-
bildung befriedigen können. Auch würden durch die Bildung neuer
Vereine die Kräfte der bereits bestehenden geschwächt ’) Von den
bestehenden Vereinen wurden 28 aufgelöst, davon 2 in Czcgled mit
3742 Mitgliedern. Im Szatmärer Komitate berief der Richter die
Führer eines aus 300 Mitgliedern bestehenden Vereines zu sich und
erklärte den Verein als aufgelöst. Als weitere Versammlungen ab-
gehalten wurden, drangen Gendarmen in das Lokal ein und einer
der Teilnehmer wurde getötet.2)
So war denn auch das Vereinsrecht neu geregelt und nun „mufste“,
nachdem „das Parlament ohne Unterschied der Parteien in überwiegen-
der Majorität der Verschärfung des Prefsgesetzes sehr geneigt
war", nur noch eine Verordnung erlassen werden, nach der sofort nach
dem Erscheinen des Blattes der Staatsanwaltschaft ein Exemplar zur
Durchsicht zu übermitteln ist. Da aber trotzdem angeblich aufreizende
Druckschriften in Warenmustern oder anderen Zeitungen versteckt,
entweder unter Kreuzband oder in verschlossenen Packeten zur Post
gegeben wurden, erhielten durch einen Erlafs des Justizministers
vom 6. März die Staatsanwaltschaften die Weisung, eventuell die
Postämter zu ersuchen, durch eine gründliche Untersuchung der
unter Kreuzband verschickten Sendungen nach den bestehenden Ver-
ordnungen vorzugehen, inbezug auf die geschlossenen Postpacketc
aber die nach Mafsgabe der äufseren Umstände und der lokalen
Verhältnisse geschöpften Daten hinsichtlich der verbotenen Natur
dieser Sendungen unverzüglich den Herren Staatsanwälten zur
Kenntnis zu bringen. Und nun wurden die Arbeiterblätter fast
rcgelmäfsig, die „Volksstimme" vom 25. Februar sogar zweimal kon-
*1 Citicrt nach der Neuen Freien Presse.
*) Cilierl nach dem P. L. Seit Herr von Szell Ministerpräsident in Ungarn
ist wird ein derartiges gewaltsames Vorgehen nach Möglichkeit vermieden. Das
System ist jedoch dasselbe geblieben und stehen auch all’ die angeführten Verord-
nungen noch in Kraft.
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Die Lage der ungarischen Landarbeiter.
367
fisziert, ja die in Städten, in denen sich kein Untersuchungsrichter
befand, erscheinenden Blätter wurden auf telegraphischem Wege kon-
fisziert, ehe der Richter den betreffenden Artikel noch gelesen hatte.
Das magyarische Feldarbeiterblatt „Weltfreiheit" mufste infolge der
Verfolgungen auch das Erscheinen einstellen.
Nun galt es aber noch die persönliche Freiheit der Arbeiter einzu-
schränken. Zunächst wurden bei den bekannten sozialdemokratischen
Führern Hausdurchsuchungen vorgenommen, welche den Abg.
Boda veranlafsten, an den Minister des Innern folgende Interpellation zu
richten: Besitzt der Herr Minister Kenntnis davon, dafs die haupt-
städtische Staatspolizei *) in den Wohnungen der Führer der sozial-
demokratischen Bewegung Hausdurchsuchungen abgehalten hat und die
dort Vorgefundenen Geldbeträge ohne Rücksicht auf deren Ursprung
einfach konfiszierte ; besitzt der Herr Minister ferner Kenntnis davon
dafs Angestellte der hauptstädtischen Polizei unter dem Vorwände
der Uebergabe einer Vorladung in der Wohnung einer Dame er-
schienen und dieselbe in ihrer Gegenwart nötigten, das Bett zu ver-
lassen und ihnen zu folgen; hat der Herr Minister Kenntnis davon,
dafs infolge dieses Vorfalles der Konsul von Nordamerika Ungarn
als einen Polizeistaat bezeichnete und sich zu einer Intervention ver-
anlafst fand, und wenn er von diesen Vorfällen Kenntnis besitzt, hat
er die Absicht .... die . . Handlungen zu ahnden ?" — Ja man
trieb es so arg, dafs sogar die „Neue Freie Presse“ meinte, dafs mit
der persönlichen Freiheit umgesprungen werde, als befände man
sich in einem Polizeistaate. — Die bei den Hausdurchsuchungen
neben Privatbriefen, Schriften u. dgl. konfiszierten Gelder wurden
vielfach mit der Begründung, sie seien durch eine verbotene Samm-
lung in den Besitz des Betreffenden gekommen, von der Polizei
zurückbehalten, ohne dafs auch nur der mindeste Beweis für die
Vornahme einer solchen Sammlung geliefert worden wäre, ja Varkonyi
wurde sogar noch zu 150 Fl. Strafe wegen dieser Sammlung ver-
urteilt, nachdem die Abonnementslisten, die den dokumentarischen
Beweis der groben Lügen bezüglich der „Sammlungen" darstellten
vernichtet worden waren. s) — Nach Vornahme dieser Hausdurch-
suchungen, welche in 5 1 Städten bei mehreren Hundert Arbeitern
') In der Provinz ging es natürlich noch viel ärger zu. Bekannte Sozialisten
erhielten fast täglich Besuche von der Polizei, so dafs einige von ihren Familien
wegziehen mufsten, weil auch diese sonst Tag und Nacht gestört worden wären.
*) Vgl. die „Neue Revue" vom I. Mai 1898.
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368
Julius ßunzel,
vorgenommen wurden , ging man dann an das zwangsweise
Photographieren der oft gänzlich unbescholtenen Sozialdemo-
kraten für das Verbrecheralbum. Auf die Frage des Verteidigers
eines der zu Photographierenden, auf Grund welchen Gesetzes die
zwangsweise Aufnahme stattfinde, antwortete der Pester Oberstadt-
hauptmann, dafs die photographische Aufnahme der Sozialisten sich
als zweckmäfsig erwiesen habe und deshalb vorgenommen werde. ’) —
So wurden 77 Sozialisten photographiert und dann das Album in
IOO Exemplaren verbreitet. Schliefslich kamen die Massenaus-
weisungen, welche mit der gröfsten Rücksichtslosigkeit durch-
geführt wurden, an die Reihe. Im ganzen wurden 216 Arbeiter
aus 32 Städten und Gemeinden ausgewiesen und abgeschoben. Vor
und während der Ernte war die Freizügigkeit überhaupt so gut
wie aufgehoben. Jedem, der durch die „vom Sozialismus ver-
seuchten Gegenden“ fuhr, fiel es auf, dafs auf jedem Bahnhofe zwei
Gendarmen postiert waren und sich beim Billettschalter ein Polizist
befand, der sich sehr lebhaft für das Reiseziel der einzelnen Personen
interessierte. Man liefs Bauern selbst in benachbarte Gegenden
nicht reisen und in der Hauptstadt wurden 60 Feldarbeiter nur aus
dem Grunde verhaftet, weil sie (im Inlande!) ohne Pafs waren. In
Szegedin wurde sogar ein Detektiv mehrere Stunden als verdächtig
in Haft behalten. 8) Natürlich mufste unter solchen Umständen der
Stand der Gendarmerie bedeutend verstärkt werden und im 1898 er
Budget waren auch schon über 7 Millionen für „Ausgaben für die
öffentliche Sicherheit" (davon mehr als 5 Millionen als „Erfordernis
für die Gendarmerie und über ls/4 Millionen als Erfordernis für die
hauptstädtische Polizei3) veranschlagt. Im J. 1899 wurden dann
noch 400 neue Gendarmen und 200 neue Polizisten eingestellt. —
Nach Möglichkeit wurden aber die Führer der Bewegung durch Ver-
urteilungen wegen Prefsvergehen, aufreizender Reden, detnon-
') Citiert nach der „Neuen Freien Presse".
*) Citiert nach dem Pester Lloyd.
5) Wie aber trotzdem die SicherheitSzuständc in der Hauptstadt beschallen
waren, geht aus einem Artikel des P. L. hervor, in welchem gesagt wird : „Die Ro-
mantik der Pufsta feiert ihre Auferstehung. Nicht etwa in der Tiefebene Ungarns. . .
auch im ßakonyer Walde nicht . . . , die Pufsten-Romantik hat einen Domizilwechsel
vorgenommen und unsere gute Hauptstadt Budapest zum Domizil gemacht." Die
Rubrik „Unsere Messerhelden", unter der von räuberischen Ueberfallen in den Strafsen
Pest* berichtet wurde, vermifste man denn auch selten in den Spalten der haupt-
städtischen Zeitungen.
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Die Lage der ungarischen I Handarbeiter.
369
strati ven Lesens einer Zeitung, Tragen eines breiten Hutes u. dgl. für
längere oder kürzere Zeit unschädlich gemacht. Nach dem „Berichte der
sozialdemokratischen Parteileitung über das Wirken der Partei vom
13. Juni 1897 bis 31. Dezember 1898 wurden in diesem Zeiträume gegen
die Sozialisten Freiheitsstrafen in der Dauer von 171 Jahren und
80 Tagen und Geldstrafen in der Höhe von 16752 Fl. verhängt und
aufserdem 259 Arbeiter verhaftet und längere Zeit in Untersuchung
gehalten.
Alle diese Mafsnahmen scheinen aber der Regierung zur Ver-
hinderung der Organisation der F'eldarbeiter und eines etwaigen
Erntestrikes noch nicht genügt zu haben. Um nämlich, wie es in
dem Motivenberichte heilst, „die ungestörte Abwicklung der land-
wirtschaftlichen Arbeiten zu sichern“, wurde der II. G.-A. vom
Jahre 1898 „über die Regelung d^r Rechtsverhältnisse zwischen
den Arbeitgebern und den landwirtschaftlichen Arbeitern“ geschaffen,
der im übrigen nichts anderes ist als eine zweite vermehrte und
verschlechterte Auflage des V. Abschnittes des XIII. G.-Art. vom
Jahre 1876.1) — Schon in diesem vor 22 Jahren abgefafsten Gesetze
fand sich die Vorschrift, dal’s Arbeiter, welche Feldarbeiten ver-
tragsmäfsig, d. h. nicht in der Eigenschaft als Dienstboten über-
nehmen wollen, mit einer Legitimationskarte oder einem Gemeindezeug-
nisse versehen sein müssen und dafs der betreffende Vertrag schrift-
lich abgeschlossen und vom Richter vidimiert sein mufs. s) Auch
findet sich in dem alten Gesetze bereits die Bestimmung, dafs Ar-
beiter, welche die Ausführung der übernommenen Arbeit verweigern,
hiezu auch durch Anwendung von Zwangsmafsregeln zu verhalten
seien und dafs zu gemeinsamer Arbeit aufgenommene Arbeiter für die
Vertragserfüllung zu ungeteilter Hand haften. Diese juristischen Kurio-
sitäten der „Ergänzung des Obligationenrechtes durch Gendarmen“
und der Haftung für eine fremde persönliche Dienstleistung bilden
also keine neue Errungenschaft. Dagegen haben jene Verfügungen
den Reiz der Neuheit für sich, welche bestimmen, dafs der Arbeiter,
der auf dem Arbeitsplätze nicht freiwillig erscheint oder die Arbeit
*) Aehnlichc Gesetze wurden bald darauf auch gegen die bei Flufsregulierungen,
Strafsen- und Eisenbahnbauten beschäftigten Erdarbeiter, gegen die Tabak- und Forst-
arbeiter sowie gegen die landwirtschaftlichen Subunternehmer und Hilfsarbeiter er-
lassen.
*) Jetzt mufs der Gemeinuenotär den Vertrag auch noch den Parteien verlesen
und dieselben auch auf ihre Rechte und Pflichten sowie auf die gesetzlichen Folgen
des Vertragsbruches aufmerksam machen.
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37°
Julius Bunzcl,
nicht beginnt, nicht ununterbrochen fortsetzt, dieselbe absichtlich
schlecht ausfuhrt oder auf dem Arbeitsplätze entgegen dem Ver-
trage ohne Arbeitsrequisiten oder Hilfsarbeiter erscheint, eine Ueber-
tretung begeht und mit Haft bis zu 60 Tagen bestraft wird. Auch
die Bestimmungen, nach welchen jene, die irgendwie (z. B. durch
Ueberlassung eines Lokales zu Versammlungen), zum Zustande-
kommen eines Strikes beitragen mit Haft bis zu 60 Tagen und
einer innerhalb 48 Stunden zu zahlenden Geldstrafe bis zu 400 Kronen
bestraft werden, waren im alten Gesetze noch nicht enthalten und
ist so immerhin die Sicherheit „der ungestörten Abwicklung der
landwirtschaftlichen Arbeiten“ noch wesentlich erhöht wurden. —
Dagegen wurden allerdings auch zwei der schreiendsten Mifsstände
— auf dem Papiere wenigstens — beseitigt. §32 des neuen Ge-
setzes verbietet, den Arbeitslohn oder das Verköstigungsdeputat durch
geistige Getränke oder Waren abzulösen, mit irgend einer Anwei-
sung zu bezahlen, die Arbeiter zu verpflichten, dafs sie ihre Nahrungs-,
Genufs-, Kleidungsartikel, ihre Requisiten bei dem Arbeitgeber oder
bei einem durch diesen bezeichneten Individuum kaufen, von dem
den Arbeitern gegebenen Vorschufs Zinsen einzuheben, über den
Wert des Vorschusses einen Wechsel zu nehmen, die Versicherungs-
prämie nach der Fassung vom Lohne der Arbeiter abzuziehen, und
§ 10 bestimmt, dafs bei Feststellung des Arbeitslohnes in einer be-
stimmten Quantität der anzuhoffenden Ernte, in dem Vertrage der
Arbeitslohn alternativ auch in einer nach Gewicht zu bestimmenden
Menge des Produktes oder aber in barem Geldc festgestellt werde.
Ebenso mul's der Geldwert einer etwa vereinbarten Verköstigung
angegeben werden. — Allein trotzdem wurde das neue Gesetz in
den volkswirtschaftlichen Zeitschriften mit einer seltenen Einmütig-
keit verurteilt. — So schrieb Krcjcsi in diesem Archiv:1) „In
der That genügt eine flüchtige Durchsicht der Bestimmungen des
Entwurfes, um die Ueberzeugung zu gewinnen, dals er sehr weit
davon entfernt ist, auch nur jenem geringen Mafse von sozialrefor-
matorischem Inhalt zu entsprechen, das in anderen Staaten die Re-
gierungsvorlagen soziapolitischer Natur enthalten.“ Auch I.ocw schrieb
in die „Soziale Praxis“:*) „Durch das Gesetz weht nicht der leiseste
') Vgl. Dr. E. R. J. Krcjcsi, „Gesetzentwurf über die Regelung der Rechts-
verhältnisse zwischen den Arbeitgebern und den landwirtschaftlichen Arbeitern'*,
im Archiv für soz. Gesetzgebung u. Stat. 1897.
*) Vgl. die Regelung der landwirtschaftlichen Arbeitsverhältnisse in Ungarn
von Pr. Loew in der Sozialen Praxis vom 23. Dezember 1897, Sp. 298.
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Die Lage der ungarischen Landarbeiter.
371
Hauch moderner Sozialpolitik, es ist nicht vielmehr als eine reine
Polizeiverordnung, die nicht mit Unrecht ein „Knebelgesetz“ ge-
nannt wurde.“ — Und Krassei schrieb in der „Monatsschrift fiir
christliche Sozialreform" : ') Niemand wird sich des Gedankens er-
wehren können, dafs dieses Gesetz zu den barbarischesten gehört, die
je ein menschliches Gehirn zur Unterdrückung von Mitmenschen
ersonnen hat. Mit wahrhaft asiatischer Brutalität tritt der Gesetz-
geber als Polizeimann auf. Ein solches Gesetz kann nur Hafs und
Wut säen.“ -)
Aber auch mit dem Vollzüge dieses Gesetzes waren die Mafs-
nahmen der ungarischen Regierung noch nicht erschöpft. Im § 77
hatte sich nämlich der Ackerbauminister ermächtigen lassen, das
landwirtschaftliche Arbeitervermittlungswesen durch eine
Verordnung zu regeln. Wie die Agrarier sich diese Regelung des
Arbeitervermittlungswescns dachten , ging aber aus einer Rede
des Grafen Karolyi hervor, in welcher dieser sagte: „Die Sanierung
der Eage läfst sich nicht von einzelnen Gesetzen, sondern blofs von
der Hebung der Konkurrenz erwarten. Wenn die Arbeiter im Al-
föld nicht arbeiten wollen, möge man einfach aus anderen Landes-
gegenden oder, wenn es sein mufs, selbst aus dem Auslande (11)
Arbeiter herbeischaffen. Der Regierung obliegt blofs die Pflicht,
dafür zu sorgen, dafs diese Arbeiter ruhig arbeiten können.“ —
Der Ackerbauininister erklärte also zunächst, aus anderen Landes-
gegenden Arbeiter herbeischaffen und eine slovakische Arbeiter-
reserve in Mezöhegyes für das grofse Alföld (die Tiefebene), eine
zweite in Kisber und Bäbolna (für die Gegenden jenseits der Donau)
und eine dritte im Bercger Komitatc zusammenziehen zu wollen.
Aufserdem gedachte die Regierung auch die Sträflinge in gröfserem
Umfange für Landarbeiten zu verwenden 3) und zu diesem Zweck ein
') Vgl. L)r. F, W. Krassei, Die Lage der ungarischen Feldarbeiter und das
Fcldarbeitergcsctz in der Monatsschrift dir Christi. Sozialref. Jahrg. 1898 .S. 203 ff.
*) Vgl. auch : „Ungarisches Standrecht“ in der Zeitschrift für Staats- und Volks-
wirtschaft, Jahrg. 1897, Grimöry, Der Ungar. Gesetzentwurf, betr. die Regelung der
Rechtsverhältnisse zwischen Arbeitgebern und landwirtschaftlichen Arbeitern in der
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung, VII. Jahrgang S. 75 ff.
und J. Hunzel, „Ein ungarischer Feldarbeitergesctzentwurf ' in den Jahrbüchern für
Nationalökonomie und Statistik, III. Folge. XV. Hand S. 338 ff.
*) Seit neuester Zeit scheinen auch Soldaten zur Feldarbeit herangezogen zu
werden. Wenigstens berichtet die sozialdem. „Volksstimme“ vom 27. Juni 1901,
dafs der Staat auf seinen Domänen bei Felsö-Görzsony statt der bisher dort bcschäf-
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372
Julius Hunzel,
eigenes Sammelgcfängnis im Tiefland anzulegen. Diese Anlegung
von Arbeiterreserven hat nun aber — natürlich abgesehen davon,
dafs „eine solche Verfügung ebensoviel Arbeiter ins Elend wirft als
aus der Ferne ins Alföld geschickt werden ') — auch ihre Schatten-
seiten. Zunächst ist sie sehr kostspielig, *) da die Arbeiter längere
Zeit auf Staatskosten unterhalten werden und eventuell bei der
Arbeit dann gegen die Strikenden geschützt werden müssen und
dann haben „die armen schlechtgenährten Slovaken nicht die gleich-
starken Nerven und Muskeln wie ihre magyarischen Leidensgenossen,
welche von altershcr gewohnt sind, in rasender Eile die reife Ernte
bei tropischer Hitze innerhalb zweier Wochen bei endloser Arbeits-
zeit einzuheimsen.“ Ueberdies jammerten die Grundbesitzer in den
nördlichen Komitatcn darüber, dafs durch solche Mafsnahmen in
ihren Gegenden die Arbeitslöhne gesteigert würden. Allein trotz-
dem wurde mit grofsen Kosten eine aus 40000 Mann bestehende
Arbeiterreserve in Mezöhegyes organisiert, ohne allerdings in gröfserem
Mafse in Anspruch genommen zu werden. Aufserdcm bestand im
Ackerbauministerium als Arbeitervermittlungsstelle eine „Arbeiter-
abteilung". Bei dieser suchten nach einer anfangs 1897 durchgeführten
Konskription angeblich 167031 Individuen Arbeit, hingegen wurden
von den Grundbesitzern und Pächtern 181 088 Arbeiter gesucht, so
dafs sich ein Defizit von 14057 Arbeitern zeigt, „vielleicht weil sich
die Institution bei den I^andwirten mehr eingebürgert hat als bei
den Arbeitern".*) Dafs dies der Fall ist, erscheint allerdings keines-
wegs ausgeschlossen und wäre bei der aus einer amtlichen Mit-
teilung4) hervorgehenden Tendenz dieses „Arbeitsvermittlungsbu-
reaux" auch nur natürlich. Diese Mitteilung lautet nämlich: „Seit
dem Inslebentreten des neuen Gesetzes wurden bereits viele Ernte-
verträge abgeschlossen . . . An manchen Orten aber stellen die
Arbeiter noch immer alizuhohe Forderungen, demzufolge aus den
Munizipien der oberen Gegenden bereits sehr viele Arbeiter in die
Komitate des Alföld und jenseits der Donau gedungen wurden.
Der Ackerbauminister hält auch jene Arbeiter in Evidenz, die Ar-
tigten Fcldarbeiter Soldaten verwendete , welche nebst Kost einen Tagelohn von
6 Kr. erhielten.
l) Aus der dt. Rede des Abgeordneten Makfalvay.
*J Für das Jahr 1899 wurden zur Hintanhaltung eines Strikes 1 80000 Fl. votiert.
s> Vgl. Ungarische statistische Mitteilungen, Neue Folge, 15. Band, S. 103.
) Citiert nach der Sozialen Praxis vom 14. April 1898.
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Die Lage der ungarischen Landarbeiter.
373
beiten auch in entfernteren Gegenden zu unternehmen geneigt sind,
und erteilt die Arbeiterabteilung des Ministeriums Arbeitgebern, die
aufser eigenem Verschulden mit den Arbeitern des betreffenden
Ortes keine Vereinbarungen erzielen können, über solche fremde
Arbeiter auf Anfrage in kurzem Wege Aufklärung“. Selbstredend
„können" die Grundbesitzer mit sozialistischen Arbeitern nie zu
einer Vereinbarung gelangen und „müssen“ sich daher durch das
Ministerium fremde Arbeiter beschaffen lassen, wodurch die hei-
mischen Arbeiter oft gezwungen werden, für 30 Kr. in Taglohn zu
gehen. —
Durch all’ diese Mittel gelang cs dann scheinbar auch wirklich,
die sozialistische Bewegung zu unterdrücken. Selbst auf dem zu
Ostern des Jahres 1900 abgehaltenen Parteitage der sozialdemo-
kratischen Feldarbeiter wurde von vielen Delegierten zugestanden,
dals infolge des brutalen Vorgehens der Behörden — insbesondere
der Stuiilrichtcr — die Zahl der Parteiangehörigen abnahm und
dafs bis auf Weiteres nicht einmal mehr an die Gründung
eines neuen Fachblattes für die Feldarbeiter gedacht werden könne.
Ob allerdings hieran nicht auch die schlechte Leitung der Partei
mitschuldig ist, mag dahingestellt bleiben. ’) Die Thatsache, dafs die
Bewegung einstweilen lahmgelegt wurde, steht jedesfalls fest, wenn
auch die Kadres der grolsen Feldarbeiterbewegung — wie die
Arbeiterzeitung meint — noch intakt sein sollten und damit be-
gnügt sich die Regierung und die herrschende „liberale" Partei.
Dafs cs unter der Asche weiter fortglimmt und dafs es über kurz
oder lang wieder zu Unruhen und Revolten kommen wird und
mufs, das macht den leitenden Kreisen weiter keine Sorge. Auch
der Umstand, dafs gerade in den kernmagyarischen Gegenden des
Alföld die Bevölkerungszunahme seit Hilde der achtziger Jahre
konstant sinkt und das ohnehin dünn bevölkerte Land über-
dies in den letzten 11 Jahren (1888 — 1899) weit über eine viertel
Million Arbeiter durch die Auswanderung verloren hat,l * 3) stört die
l) Auf dem vorletzten Kongresse (Ostern 1900) wurde übrigens ein Feldarbeiter-
sekretariat gegründet und ein neunköpfiges Feldarbeit« komite gewählt, wodurch die
Organisation gekräftigt werden sollte. Trotzdem mufste jedoch dem nächsten Partei-
tage (Pfingsten 1901) berichtet werden, dafs die Arbcits- und Existenzbedingungen
der landwirtschaftlichen Arbeiter immer düstere werden und dafs die Organisation
nicht in dem gewünschten Mafse vorgeschritten sei.
*) Im Jahre 1900 sind allein 38888 Personen ausgewandert, davon 20169 am*
Oberungarn.
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374
Julius Bunzcl,
„Patrioten" nicht in ihrer Ruhe. Ist doch die Arbeiterbewegung
niedergerungen und „der ungestörte Verlauf der Ernte gesichert“.
IV. Die Mafs nahmen der Regierung zur Besserung der
Lage der ungarischen F eidarbeite r.
Ganz nutzlos scheint im übrigen die Feldarbeiterbewegung
nicht geblieben zu sein. Nachdem sich nämlich die Annahme: die
ganze Bewegung sei nur ein Werk weniger Hetzer, denn doch nicht
mehr halten liefs, fing man wenigstens auch in Regierungskreisen
an, über die Ursachen der bald als wahren Grund der Bewegung
erkannten schlechten Lage der I Handarbeiter nachzudenken. Schwer
zu finden waren diese Ursachen ja nicht.
Schon die in früheren Jahrhunderten erfolgte Gründung reiner
Arbeiterkolonieen, in denen landwirtschaftliche Taglöhner in grofser
Zahl angesiedelt wurden, ohne dafs ihnen Grund und Boden ver-
liehen worden wäre, war ja der Schaffung besitzlosen landwirtschaft-
lichen Proletariats sehr günstig gewesen und als dann später die
feudalistische Gesellschaft in eine modern-bürgerliche umgestaltet
wurde, expropriierte man für den Bauer einen völlig ungenügenden
Anteil, so dafs auch der Bauernstand auf die Dauer sich nicht halten
konnte und immer mehr und mehr der Proletarisierung anheim-
fiel.1) Dieser Proletarisierungsprozcfs wurde natürlich nur be-
schleunigt durch die Veränderung in der landwirtschaftlichen Pro-
duktionsweise, den Uebergang zur intensiven Wirtschaft, der sich
seitdem vollzogen hat und den der Kleinbauer aus Mangel an Kapital
nicht mitmachen konnte. Auch hat das Schwinden der patriarcha-
lischen Verhältnisse, welche früher den Besitzer mit dem Arbeiter
verbanden, den Gegensatz zwischen den begüterten Grundbesitzern
und den proletarisierten Arbeitern und Kleingrundbesitzern noch
schärfer in die Erscheinung treten lassen.
Dazu kam nun noch, dafs das Erträgnis der landwirtschaftlichen
Arbeit nicht mehr so ergiebig war wie früher. Denn der Grundbesitzer,
dessen Einkommen infolge der in Ungarn ziemlich verbreiteten
') Vgl. Dr. E. H. Schmitt a. a. O. und ür. J. Deutsch, „Agrarsozialismus
in Ungarn“ in der „Zeit“ vom z. Mai 1896.
*) Nach der statistischen Konskription vom Jahre 1895 entfielen von der Flüche
der Wirtschaften beim Zwcrgbesilz 2,38 Pro*., beim Kleingrundbesitx 1,97 Proz.,
beim Mittelgrundbesitz 19,37 Proz. and beim Grofsgrundbesitz 16,43 Proz. auf die
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I)ic Lage der ungarischen I-andarbeiter.
375
Pachtvvirtschaft und der landwirtschaftlichen Krise ein immer ge-
ringeres wurde, mufste seine Ausgaben, um mit der neu entstehen-
den Plutokratie im Luxus konkurrieren zu können, erhöhen und
konnte somit seinen Arbeiten nicht mehr die alten oder gar höhere
Löhne bewilligen. Er zog es daher vor, landwirtschaftliche Ma-
schinen anzuschaffen, welche die menschliche Arbeitskraft vielfach
entbehrlich machten. Dadurch wurde einerseits die Nachfrage nach
Arbeitshänden vermindert und somit der Arbeitslohn immer tiefer
herabgedrückt und andererseits konnte auch die landwirtschaftliche
Arbeit in viel kürzerer Zeit bewältigt werden, so dafs selbst bei
gleichbleibenden oder steigenden Löhnen das Jahreseinkommen des
Taglöhners ein immer geringeres wurde. Und hatten sich die Ar-
beiter für einen Anteil am Hrntccrtrag verdungen, so schmälerten
wieder die schlechten Ernteergebnisse ihr Einkommen , welche
Schmälerung sich natürlich dort in verstärktem Mafse fühlbar
machte, wo — wie im Alfold — die Arbeiter früher infolge der
Stromregulierungsarbeiten ein erhöhtes Jahreseinkommen bezogen
hatten und wo jene die bisher — wie der Abgeordnete Rohoncy
bemerkte — ein Einkommen von 300 Fl. bezogen, sich nun mit
einem Verdienste von 60 Fl. begnügen sollten.
Dazu kommt noch, dafs sich dem Arbeiter auch gar keine
Aussicht bietet, jemals in eine bessere Lage zu gelangen. Bei der
grofsen Ausdehnung des gebundenen oder doch in festen Händen
befindlichen Besitzes und dem in Ungarn herrschenden Landhunger,
der in den hier inbetracht kommenden Gegenden herrscht, wird, wenn
ja einmal ein Streifen Landes zur Veräusserung gelangt, der Preis so
in die Höhe getrieben, dafs es dem Kleinbauern oder Arbeiter ganz
unmöglich ist, denselben zu erschwingen. ET kann also durch
eigene Hilfe sich nie eine bessere Lage erringen und giebt sich da-
her um so eher der Verzweiflung und dem allgemeinen Aus-
wanderungsfieber hin, als sich ihm nirgends eine rettende Hand
zeigt, welche ihn aus seinem Elende erretten könnte.
Denn die Regierung — welche wohl hierzu zunächst berufen
gewesen wäre — forschte zwar den Ursachen der schlechten Lage
der Feldarbciter eifrigst nach, unterdrückte jedoch mit Gendarmen
und Militär jede geringste, auf die Verbesserung der Arbeitsver-
hältnisse gerichtete Bewegung und konnte sich zu selbständigen
Pacht wirtschaften. (Vgl. landwirtschaftliche Statistik der Länder der ung. Krone
111. Teil (L'ng. stat. Mitteilungen N. F. XXIV. Bd.) Pest 1900 S. 43).
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376
Julius Hunzd,
Mafsregeln, durch welche die Lage der Arbeiter hätte gebessert
werden können, selbstredend schon garnicht entschliefsen. Nur das
Trucksystem hatte man zu beseitigen versucht und von dem Land-
wirten verlangt, dafs er beim Tcilschnitt dem Arbeiter einen Ertrag als
Minimum garantiere, da ja der Arbeiter sich nicht gegen Hagel-
schlag und Brandschaden versichern konnte, aber etwa aus diesen Ele-
mcntarcreignissen entstehenden Schaden mittragen mufste. Das
war aber auch alles. Von der Einführung einer Arbeiterschutz-
gesetzgebung war nicht die Rede, obzwar z. B. namentlich ein Verbot
der Kinderarbeit, ') sei cs auch nur für Kinder unter io Jahren, ge-
wifs am Platze gewesen wäre und auch die Bestimmungen des
Sonntagsruhegesetzes wohl auf die landwirtschaftlichen Arbeiter
hätten ausgedehnt werden können. Noch weniger wurde natürlich
an die Einführung einer Arbeiterversichcrung gedacht, obzwar
die Bestimmung, welche verfügt, dafs der Landwirt den Arbeiter
im Krankheitsfalle acht Tage lang verpflegen müsse, für den Arbeiter
völlig wertlos ist, da der Landwirt die Verpflegungskosten als ihm
entstandenen Schaden ja wieder vom Lohne abziehen kann.2) — Da-
für versuchte allerdings der Ackerbauminister die Gründung
„gesunder" Feldarbeitervcreinc in die Hand zu nehmen,
um durch populäre Vorträge Aufklärung in die breiten Schichten
der arbeitenden Bevölkerung zu tragen. Der erste derartige Verein
wurde in Mezöbereny gegründet und erklärte der Präsident in der
konstituierenden Versammlrng, dafs der Verein den Hals gegen
die Bourgeoisie nicht kenne, keinen sozialen Krieg wünsche, sondern
blols Gelegenheit zur Ausbildung geben wolle. Es sollen diesem
Vereine auch sogleich 500 Arbeiter beigetreten sein. Von der
Thätigkeit dieses Vereines und von einer gröfseren Zahl weiterer
Gründungen hat man jedoch nichts gehört, obzwar in das 1898er
Budget 150000 Fl. zur Unterstützung solcher Vereine und einzelner
„braver" Arbeiter eingestellt wurden. Auch mit einigen schüchternen
Versuchen der Einbürgerung der hausindustriellen Beschäftigung bei
den landwirtschaftlichen Arbeitern während der Winterszeit machte
man Fiasko, da es an dem Absätze der fertigen Erzeugnisse fehlte,
') lieber die Kinderarbeit vgl. die „Arbeiterzeitung“ vom I. Januar 1S98 S. II.
*i Auch die Hilfskasse für landwirtschaftliche Arbeiter und Dienstboten führte
keine obligatorische Versicherung für die Handarbeiter ein. Näheres vgl. in meiner
Besprechung dieses Zusatzes in den Conradschen Jahrb. für Nat. und Stat. III. F.
XX. Band S. 663 ff.
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Die Lage der ungarischen Landarbeiter.
377
und mit einzelnen Kolonisationsversuchen machte man noch
schlechtere Erfahrungen. • — So blieb denn im grofsen ganzen alles
beim Alten, zumal auch die Grundbesitzer und Pächter sich im
allgemeinen nicht veranlafst fühlten , die wirtschaftliche Lage ihrer
Arbeiter zu verbessern. Baron Edelsheim, Erzherzog Josef, Mark-
graf Pallavicini und Graf L. Tisza, welche einen Teil ihrer Güter
parzellierten und an Bauern verpachteten, um so deren Lage zu
verbessern, fanden sehr wenig Nachahmer. Man dachte nicht daran,
dafs „die Technik und die Ausbreitung der Fachkenntnisse die Mög-
lichkeit bieten , durch rationelles Vorgehen , durch vollkommenere
Ausnutzung der Naturkräfte die Arbeit produktiver, die Erzeugung
wohlfeiler zu gestalten, dafs die grofse Umwandlung, welche die
ungarische Landwirtschaft während der letzten zwanzig Jahre er-
fuhr, die Produktionsdurchschnitte wesentlich erhöhte, in der Vieh-
zucht ein produktiveres Verfahren einbürgerte und so die Her-
stellungskosten eines Meterzentners Getreides oder eines Kilogrammes
Fleisch zweifellos wesentlich verringerte, *) dafs sich daher auch die
Landwirte eher dazu entschliefsen können, den Arbeitern höheren
Lohn oder bessere Arbeitsbedingungen zu bewilligen, selbst wenn
sich infolge der verschlechterten Absatzverhältnisse der Reinertrag
bei den grofsen landwirtschaftlichen Betrieben etwas verringert
haben sollte. Der weitaus gröfste Teil der Grundbesitzer und
Pächter suchte nach wie vor den Arbeitern eine möglichst grofse
Zahl von Robottagen abzupressen und ihnen einen möglichst ge-
ringen Lohn zu gewähren. Derartige, von den Arbeitern ge-
wünschte Verhandlungen wurden meist schroff zurückgewiesen,
wozu die Bemerkung des Ackerbauministers, s) dafs „die Guts-
besitzer dort am meisten mit den Arbeitern zu schaffen hatten, wo
sie diesen gegenüber nicht genug Konsequenz und nicht genug
Entschiedenheit an den Tag gelegt haben" nicht wenig beigetragen
haben mag.
Es liegt nun auf der Hand, dafs ein solches Vorgehen der
Regierung und der Landwirte von den schlimmsten Folgen begleitet
sein mufs. Schon hat nach der „glatt“ verlaufenen Ernte die Re-
gierung sich genötigt gesehen , Notstandsarbeiten ausführen und
Unterstützungen verteilen zu lassen, weil in einigen Gegenden
Hungersnot ausgebrochen war. Und wenn auch damit vielleicht die
') Vgl. Stefan von Tisza, „Ungarische Agrarpolitik“. Leipzig 1897 S. 26.
*) Citier» nach dem Tester Lloyd.
Archiv für soz, Gesetzgebung u. Statistik. XVII. 25
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37«
Julius Runzel,
dringendste Not beseitigt wurde, so blieb doch die Erbitterung im
Volke, das selbst in der Opferwilligkeit nicht die Aktion des wohl-
thätigen, sondern des eingeschüchterten Vermögens erblickte,1) zu-
rück und man wird sich nicht wundern dürfen, wenn sich diese
Erbitterung immer wieder in Gewaltthätigkeiten Luft macht, denn
man kann von der Bevölkerung nicht die Respektierung der Gesetze
verlangen , wenn sich die Regierung selbst bei Ausführung ihrer
Mafenahmen über jedes Recht und Gesetz hinwegsetzt. Wenn der
Oberstadthauptmann der Hauptstadt sagen kann, er pfeife auf die
persönliche Freiheit, wenn ein Ministerpräsident erklärt, mit dem
Sozialismus in der Hauptstadt müsse man rechnen , den ganz
dummen Wünschen am Lande gegenüber könne man aber nur mit
Kugeln und Bajonetten auftreten und wenn jeder Versuch der
Landarbeiter zur Besserung ihrer wirtschaftlichen Lage mit Gewalt
unterdrückt wird, dann „entsteht die Gefahr, dafs die aller Rechte
beraubten Landleute zur Geheimbündelei und Verschwörung ge-
trieben und nach italienischem Muster Carbonari werden, die un-
heimliche Maffia oder Camorra organisieren oder nach dem Bei-
spiel der irischen Mondscheinbanden „arbeiten“ gehen".*) — Dann
wird schliefslich auch noch Schmitt ä) Recht behalten und durch
den schrankenlosen Nihilismus der Regierung wird die ungarische
Rechtsordnung selbst völlig zerstört werden.
Will man das vermeiden , so wird die Regierung die schroffe
Parteinahme für die Grundbesitzer aufgeben müssen, den auf
Besserung ihrer wirtschaftlichen Lage gerichteten Bestrebungen der
[.andarbeiter keinen prinzipiellen Widerstand entgegenstellen und
vor allem deren Organisation nicht verhindern dürfen.
Auch in England war die landwirtschaftliche Bevölkerung zu Be-
ginn der dreifsiger Jahre dermal'sen aufgeregt worden, „dafs sie zu
dem bekannten tückischen, bei der I .andbe vöikerung allgemein be-
liebten Mittel der Brandstiftung (deren Fälle sich auch in Ungarn
schon mehren)4) griff. Im Winter 1830 — 31 wurde dasselbe ganz
allgemein und . . . die Agrarverbrechen verschwanden auch nicht
') Vgl. I,. v. Ndvay jun., „Die Arbeiterfrage im Alfold mit besonderer Rück-
sicht auf die Verhältnisse im Komitatc Csongrad“ in der Zeitschr. für Volksw.,
Sozialpol. und Vcrw. Jabrg. 1897, S. IOO ff.
*) Vgl. M emm i ng e r a. a. O.
*) In der „Neuen Revue“ a. a. O.
4) Vgl. Tomii a. a. O. S. 34. Im Jahre 1896 (1895) betrug die Zahl der
erwiesenen Brandlegungen 937 (894), der gemutmafsten 2764 (2805), die Zahl der
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Die Lage der ungarischen Landarbeiter.
379
früher von der Tagesordnung, bis die ländlichen Arbeiter aus dem
Stumpfsinn erwachten und zu einer Organisation gelangten." Nach
der durch Arch in Angriff genommenen Gründung des Bundes der
Landarbeiter aber ist trotz des wütenden Klassenkampfes zwischen
Pächtern und Arbeitern nicht ein einziger Fall vorgekommen , der
an die bekannten Verbrechen früherer Jahre erinnert hätte.1) Und
so thut man denn auch in Ungarn gewifs sehr unrecht, wenn man
die Organisation der Arbeiter verhindert und so die Bewegung ge-
waltsam in ungesetzliche Bahnen drängt. — Dafs man auf diesem
Wege jedenfalls nicht zu den wünschenswerten guten Beziehungen
zwischen Landwirten und Arbeitern, wie sic in patriarchalischeren
Zeiten bestanden , gelangen wird , kann man sich doch wohl auch
in Ungarn nicht verhehlen. — In dieser Hinsicht kann eigentlich
nur ein Entgegenkommen von Seite der Landwirte den
Arbeitern gegenüber einen Erfolg haben. — Die Vorschläge, die
Buchenberger4) da macht, wie Verabreichung des Naturaldeputates
in guter Qualität, Einführung des Stücklohnes in möglichst grolsem
Umfange, Verkürzung der Arbeitszeit, Beteiligung der Arbeiter am
Gutsertrag, Handhabung einer milden Behandlungsweise, Fürsorge
gegen Bewucherung durch den Krämer, *) Schaffung einer insbe-
sondere in Rücksicht auf das Sparkassen- und Versicherungswesen
verständigen Gemeindeverwaltung und Gründung landwirtschaftlicher
Fachvereine verdienen es jedenfalls auch von den ungarischen Land-
wirten in Berücksichtigung gezogen zu werden. — Hat doch auch
der Vorstand des deutschen Landwirtschaftsrats die unerschütter-
liche Meinung, dafs ein ansässiger fleifsiger, treuer und zufriedener
Arbeiterstamm nicht nur die beste Grundlage für den landwirt-
schaftlichen Betrieb, sondern auch für das gesamte Volksleben und
die nationale Wehrkraft ist.4) — Soweit aber die Landwirte zu
Brände aus unbekannten Ursachen 2951 (2541), die Zahl der Brände überhaupt
8003 (7506).
*) Vgl. Kablukow, „Die ländliche Arbeiterfrage“. Stuttgart 1S88, S. 1 1 1 ff .
*) Vgl. B 11 c h c n b e r g e r , „Agrarwesen und Agrarpolitik“ in Wagners Lehr-
und Handbuch der politischen Oekonomie III».
*) ln Ungarn arbeiten sich bekanntlich Grundbesitzer und Krämer insofern in
die Hände als letzterer dem Arbeiter nur dann Kredit gewährt, wenn dieser mit
ersterem den Emtevertrag abgeschlossen hat.
4) Der Vorstand des Deutschen Landwirtschaftsrats hat beiläufig bemerkt als
Mittel zur Besserung der Arbeiterverhältnisse insbesondere empfohlen:
l) Gründung von Konsumvereinen, Lebensbedarfsanstalten für die Arbeiter.
25*
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380
Julius Dunzcl,
einem Entgegenkommen nicht bereit sein sollten, wird es Aufgabe
der Regierung sein , auf gesetzlichem Wege zum mindesten die
schreiendsten Uebelstände zu beseitigen. So wird sich vor allem
ein durch Arreststrafen sanktioniertes Verbot der Ausbeding-
ung von Robot- oder „diskretionären“ Arbeiten als not-
wendig erweisen. *) Eine etwa hierdurch eintretende Herabsetzung
der Erntelöhne wird durch die für solche Robotarbeiten zu leistenden
Löhne gewifs wettgemacht werden. Ferner wird eine Regelung
der Arbeitszeit erfolgen müssen. Die Bestimmung des neuen
Feldarbeitergesetzes, dafs die Arbeit von Sonnenaufgang bis Sonnen-
untergang, d. i. ausschliefslich der Arbeitspausen oft 15 Stunden, zu
dauern habe, wird sich gewifs nicht aufrecht erhalten lassen, -) ganz
abgesehen davon, dafs es — wie ein Abgeordneter bemerkte —
wirklich Tage giebt, an denen die Sonne überhaupt nicht aufgeht
und man doch den Arbeiter nicht verpflichten kann , immer einen
Kalender mit sich herumzutragen. — Dafs auch ein V e r b o t der
Arbeit von Kindern unter 10 Jahren — der Abgeordnete
Baron Podmanicky sprach im Magnatenhause sogar davon, dafs
Kinder unter 14 Jahren zu keiner oder wenigstens zu keiner
schweren Arbeit zugelassen werden sollten — am Platze wäre —
2) Errichtung von Kuh- und Schweinekassen.
3) Verbesserung der Arbeiterwohnungen.
4) Einführung von Fortbildungsschulen, Ilaushaltungsschulcn, Näh- und Strick-
schulen, Beförderung des Hausfleifses und Handfertigkeitsunterrichtes.
5) Gründung von Sparkassen (Guts-, Post- und Pfennigsparkassen).
6) Auszahlung des Lohnes in steigenden Quartalsraten.
71 Gewährung von Gratifikationen am Schlüsse des Dienstjahres.
8) Prämien in Geld, Abzeichen oder Sparbüchern für treue Dienstleistungen.
*) Selbstredend wird man auch den Gebrauch, nach dem sich die Landwirte
von ihren Arbeitern Naturalienabgaben (Eier, Hühner u. dgl.) ausbedingen, beseitigen
müssen.
*) Dr. P lötzmann bemerkte diesbezüglich in einem über ,,die Krisis am
landwirtschaftlichen Arbeitsmarktc“ in der ökonomischen Gesellschaft im Königreiche
Sachsen am 4. März 1S98 gehaltenen Vortrage (Dresden 1898, S. 36): Das zu lange
Fortarbeiten bringt überhaupt keinen Vorteil sondern nicht selten empfindliche Nach-
teile. Die tägliche Erfahrung zeigt, dafs solche Landwirte, die ihre Dienstboten zu
lange fortarbeiten lassen, mit ihren Arbeiten durchaus nicht früher fertig werden
als die, welche ihren Dienstboten bei Zeiten Feierabend geben. Zu seinem eigenen
Nutzen raten wir jedem Landwirt, er möge seinen Leuten zur rechten Zeit Feier-
abend geben.
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Die Lage der ungarischen Landarbeiter.
3«i
wurde bereits erwähnt. Dagegen soll dem ebenfalls vielfach ge-
forderten Verbote der Naturalentlohnung nicht das Wort geredet
werden. Wenn die gewährten Naturalien von guter Qualität sind
und auch die zu leistende Quantität fixiert ist, wird sich kaum etwas
ernstliches gegen die Naturalentlohnung, natürlich falls der betreffende
Gegenstand vom Arbeiter zu seinem Lebensunterhalt benötigt wird,
sagen lassen. — Der Arbeiter ist doch wenigstens von den Preis-
schwankungen, die in dem betrefferden Artikel Vorkommen können,
unabhängig und hat zum mindesten einen Teil seines Lebensunter-
haltes gesichert, während er beim Geldlohne im Falle schlechten
Wirtschaftens in das allergrölste Elend geraten kann. — Ebenso
ist die vom Abgeordneten Rakovsky im Abgeordnetenhause erhobene
Forderung nach Einsetzung von Kommissionen, welche die Gegen-
sätze zwischen den Grundbesitzern und Arbeitern ausgleichen und
auch auf die Bildung der Arbeitslöhne einwirken sollten, zum min-
desten verfrüht. Bei den derzeit zwischen den Parteien herrschen-
den Verhältnissen ist an ein gedeihliches Wirken solcher Kommis-
sionen leider nicht zu denken. Allein unter allen Umständen wird
für die Einführung der obligatorischen Kranken-, In-
validitäts- und Altersversorgung der landwirtschaftlichen
Arbeiter gesorgt werden müssen. Auch mit der in Aussicht ge-
stellten Inangriffnahme einer Steuerreform, welche den land-
, wirtschaftlichen Taglöhner und Kleinbauer von den bisherigen
keineswegs unbeträchtlichen Steuerlasten befreien würde, ‘) sollte
nicht länger gezögert werden.
Das Unterlassen des Unterdrückens der Bestrebungen der Ar-
beiter zur Erreichung ihrer berechtigten Forderungen, die Schaffung
von Arbeiterschutz- und Versicherungsgesetzen und die Durchführung
einer vernünftigen Steuerreform sind die Aufgaben, deren Erfüllung
der Augenblick von der Regierung fordert. In weiterer Folge
wird allerdings auch an die Schaffung einer Arbeitsgelegen-
heit für die Landarbeiter aufserhalb der Erntezeit
und an die Ueberlassung von Grund und Boden — in Pacht oder als
Eigentum — an das landwirtschaftliche Proletariat gedacht werden
müssen. Man hat auch schon daran gedacht, ein Netz von Kanälen
im Alföld zu bauen, um so vielen Arbeitern Gelegenheit zum Ver-
l) Gegenwärtig zahlt (nach S c h m i 1 1 a. a. O.) ein Arbeiter mit einem Jahres-
einkommen von 150 Fl. an Staatssteuern 8 Fl., an Gemeindesteuern 5 Fl. und an
Kirchensteuer 3 Fl.
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382
Julius Bunzel,
dienst zu geben, allein es ist fraglich, ob die verfügbaren Mittel zur
Ausführung dieses Planes reichen werden. Dafs die ebenfalls beab-
sichtigte Einbürgerung der Hausindustrie wenig Erfolg verspricht,
wurde bereits erwähnt und die Errichtung von Fabriken, die man
ins Auge fafste, wird sich einesteils deshalb nicht empfehlen, weil
sich der landwirtschaftliche Arbeiter zur industriellen Arbeit nicht
eignet, andererseits wäre es aber auch gefährlich, die Arbeitermassen
vom Feldbau zur Industrie zu lenken, da dann zur Erntezeit ein
empfindlicher Arbeitermangel eintreten könnte. Auch wenn man
glaubt, dafs durch das Verhindern des Einströmens fremder Arbeiter
die inländischen mehr Gelegenheit zum Arbeiten erhalten werden,
dürfte man sich täuschen, denn man hat ja auch bisher nur aus-
ländische Arbeiter herbeigezogen, wenn man sie zu Arbeiten brauchte,
welche der inländische Arbeiter nicht leisten konnte oder wollte.
Es wird hier vielmehr wohl nur durch eine Aenderung in der Be-
wirtschaftung der Güter, durch welche die landwirtschaftlichen Ar-
beiter gleichmäfsiger auf die verschiedenen Jahreszeiten verteilt
würden, Abhilfe zu schaffen sein.
Um aberden Arbeitern Grund u nd Boden verschaffen
zu können, wird man — falls sich nich't mehr Latifundienbesitzer
für Parzellierung ihrer Güter entschliefscn — die Staats- und Ge-
meindebesitzungen parzellieren müssen und die Parzellen an die
Arbeiter entweder gegen langsichtige Kaufschillingsraten verkaufen
oder sie auf längere Zeit verpachten.’) Allerdings wird man darauf
achten müssen, dafs das zugewiesene Land nur so grofs ist, dafs der
Arbeiter selbst nebenher noch auf Taglohn gehen kann.4) Am
besten wäre es wohl , wenn die Grundbesitzer sich entschliefsen
könnten, den Arbeitern einen Teil des Lohnes in Form von Ueber-
weisung kleiner Ackerparzellen zu gewähren und diesen dadurch die
Haltung eigenen Viehs zu ermöglichen, doch dürfte in Ungarn hie-
zu wenig Neigung vorhanden sein.
Und doch wäre gewifs auch vom Standpunkte der Landwirte
eine Aenderung der bestehenden Arbeiterverhältnisse höchst wün-
schenswert. Denn wenn auch in Ungarn auf ioo ha durchschnittlich
noch 30 Arbeiter entfallen, herrscht, während im nördlichen Ober-
*) Vgl. Dr. Deutsch a. a. O.
*) Es ist hier selbstredend nur von der Beiteilung landwirtschaftlicher Ar-
beiter mit Grund und Boden die Rede; bezüglich der Kolonisierung der Klein-
bauern gelten wesentlich verschiedene Grundsätze.
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Die Lage der ungarischen Landarbeiter.
3»3
land Arbeiter im Ueberflufs vorhanden sind, im Alföld zur Zeit der
Ernte Mangel. Als Ursache für diese chronische Arbeiternot wird
allerdings angegeben, dalls die Arbeiter überall zu der gleichen, kurzen,
durch die klimatischen Verhältnisse reduzierten Zeit stark gesucht
werden und man glaubt daher nur durch die bereits erwähnte Ver-
teilung der Arbeit auf einen gröfseren Zeitraum — die sich durch die
erhöhte Pflege des Anbaues von Handelspflanzen erreichen liefse —
hier Abhilfe schaffen zu können. Allein es ist doch wohl klar, dafs
auch bei der jetzigen Art der Bewirtschaftung der Güter dem Ar-
beitermangel abgeholfen werden könnte, wenn es gelänge, die Ar-
beitermassen, welche zur Erntezeit aus den nördlichen Landesteilen
herbeigezogen werden müssen und die infolge ihrer mangelhaften
Ernährung doch nicht so arbeitstüchtig sind, im Tieflande anzu-
siedeln und durch Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse kräftiger
und zur Arbeit tauglicher zu machen. Durch die Ansiedlung kleinerer
Gruppen, in den rein magyarischen Gegenden würden diese Slaven
natürlich unausweichlich der Magyarisierung verfallen und entspräche
dieser Vorgang also auch der magyarisch-nationalen Politik,1) welche
jede ungarische Regierung verfolgen zu müssen glaubt.
Allein wie immer Grundbesitzer und Regierung sich auch die
Lösung der landwirtschaftlichen Arbeiterfrage denken mögen, eine
Besserung der wirtschaftlichen Lage der Feldarbeiter und Klein-
bauern wird sie immer bringen müssen. Denn ein Staat, in welchem
mehr als ein Drittel der Bevölkerung in solchen Verhältnissen lebt
wie das ungarische Bauernproletariat, kann den von Ungarn doch
in Anspruch genommenen Namen eines Kulturstaates nicht mit
Recht führen.
Graz, Sylvester 1901.
*) Bis non hinderte diese Politik allerdings die Regierung nicht, aus Slovaken,
Serben und Kroaten „Arbeiterrcserven" zu bilden, um die magyarischen Arbeiter
im Tieflande in Schach halten und eine Verbesserung der L.age dieser ..staats-
erhaltenden Kieme nte“ verhindern xu können.
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Weibliche Fabrikinspektoren in der Schweiz.
Von
Dr. F. SCHÜLER,
eidgenössischem Fabrikinspektor.
Schon seit Jahren wird in der Schweiz die in verschiedenen
Ländern erfolgte Anstellung weiblicher Fabrikinspektoren ebenfalls
empfohlen, ja als ein Bedürfnis hingestellt. Es ist insbesondere die
sozialdemokratische Partei, welche mit aller Lebhaftigkeit dafür ein-
tritt. Sonderbarerweise bemüht sie sich darum mehr auf eidge-
nössischem, als auf kantonalem Boden. Und doch läge ein Versuch
mit dieser neuen Einrichtung in einem derjenigen Kantone, welche
spezielle Arbeiterinnenschutzgesetze besitzen, so nahe. Eis fehlt hier
an einer gehörig organisierten, nur diesem Zweck dienenden In-
spektion, ohne welche doch diese Gesetze nie zu rechter Wirksam-
keit werden gelangen können. Die Aufsicht mufs bis anhin durch
Beamte geübt werden, welche mit einer Menge anderer, teilweise
ganz heterogener Dinge zu thun haben.
Diese Arbeiterinnenschutzgesetze gelten für Betriebe, in welchen
nur weibliche Personen beschäftigt sind, für Berufsarten, in welchen
nur E'rauen angestellt werden und die von den Frauen am ge-
nauesten gekannt sind. Die dadurch geschützten Personen werden
am häufigsten, ja fast durchaus in Städten und grofsen Ortschaften
beschäftigt; sie sind daher ohne grofse Unbequemlichkeit, jedenfalls
ohne alle besonderen Anstrengungen zu besuchen. Dies alles hätte
auf den Gedanken bringen sollen, den Versuch mit Inspektorinnen
zuerst im engeren Gebiet der Kantone zu machen und das umso-
mehr, als gerade die Uebelständc in diesen, bisher dem Einflufe
der eidgenössischen Gesetzgebung entzogenen Betrieben am meisten
dem Wunsch nach weiblichem Aufsichtspersonal gerufen haben.
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Weibliche Kabrikinspektoren in der Schweiz.
385
Dann wäre ein Fortschreiten vom kantonalen zum Bundes-
gesetz, die Verpflanzung einer bewährten kantonalen Institution auf
das Gebiet des ganzen Bundes ein gewohnter und als praktisch
erprobter Vorgang gewesen. So wurde das schweizerische Fabrik-
gesetz geschaffen ; so werden vermutlich die kantonalen Arbeiterinnen-
schutzgesetze die Vorläufer und Vorbilder einer ausgedehnteren
Arbeiterschutzgesetzgebung des Bundes sein. Wäre der Versuch
mit der Einführung weiblicher Inspektoren in den Kantonen be-
friedigend ausgefallen, hätte alle Wahrscheinlichkeit für das gleiche
Vorgehen von Seite des Bundes bestanden. Ein solcher Entwick-
lungsgang der Gesetzgebung bietet grofse Vorteile. Im einzelnen
Kanton liegen die Verhältnisse einfacher; es ist leichter, einen Ein-
blick in die Wirkungen eines Gesetzes, in die Vor- und Nachteile
dieser oder jener Bestimmung zu gewinnen. Es ist leichter, Aende-
rungen vorzunehmen, zu beseitigen, was sich nicht bewährt, alles
den Bedürfnissen der Gesamtheit anzupassen. Der Kanton kann
sich mit viel geringerer Gefahr als Versuchsfeld für eine neue Ein-
richtung hergeben.
Ein solches allmähliches Vorgehen vermochte die Ungeduld
vieler nicht zu befriedigen; sie wollten ein Gesetz, das vom Bund
ausgehe und gelangten mit ihren Wünschen und Begehren an die
Bundesbehörden. Diese beauftragten die Fabrikinspektoren, ihre
Ansichten über die beantragte Neuerung in motiviertem Gutachten
mitzuteilen. Es lautete nicht zustimmend, was den Inspektoren
auch sofort und ohne dafs die Begründung ihrer Meinung zuerst
abgewartet worden wäre, den Vorwurf der „Zopfigkeit“ zuzog und
den Hohn, dafs sie nicht über den Kirchturm hinaus zu blicken
vermögen.
Wer ein richtiges Urteil in dieser Frage abgeben will, mufs
zuerst die Aufgabe kennen, welche das schweizerische Fabrikgesetz
den Inspektoren stellt. Dieses Gesetz umfafst nicht die ganze In-
dustrie, wie verschiedene andere Gesetzgebungen es thun. An Be-
strebungen, ein eigentliches, umfassendes Gewerbegesetz an seine
Stelle zu setzen, fehlt es nicht. Das Ziel wird aber nur allmählich,
Schritt um Schritt, aller Wahrscheinlichkeit nach erreicht werden,
denn der sich von den verschiedensten Seiten erhebende Wider-
stand ist ein sehr intensiver. Noch nicht einmal eine Revision des
„Fabrik‘‘gesetzes ist trotz mancher Anläufe erreicht. So sind denn
die Behörden einstweilen verpflichtet, sich an das bestehende
Fabrikgesetz zu halten, bis eine, hoffentlich baldige, Revision des-
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386
F. Scliulcr,
selben auch Aenderungen in der Organisation des Aulsichtsdienstes
bringt.
Die heute von den Inspektoren des Bundes zu überwachenden
Betriebe sind nur zum geringeren Teil in grofsen Städten konzen-
triert. Die zahlreichen kleinen Etablissements der Konfektion und
verschiedener Zweige der Textilindustrie unterstehen nur zum ge-
ringsten Teil der eidgenössischen Gesetzgebung. Die grofse Mehr-
zahl der „Fabriken“ befindet sich auf dem Lande, nicht wenige sehr
vereinzelt in verkehrsarmen Gegenden, oft in entfernten Berg-
gegenden zerstreut. Um von einem Betrieb zum anderen zu ge-
langen, bedarf es zuweilen einer ganzen mühsamen Tagereise.
Die Ueberwachung ist nach dem Wortlaut des Gesetzes Sache
der Kantone. Diese überlassen sie gröfstenteils der Ortspolizei oder
den Lokalbehörden. Nur wenige besitzen besondere Beamte hier-
für. Dafs sie vielfach mangelhaft ausfallt, ist sehr begreiflich. Der
den Vollzug überwachende eidgenössische Beamte hat zur Abstellung
der Mängel vielfach mit den kantonalen, Bezirks- und Ortsbehörden
zu verkehren. Sein Gutachten wird aber auch über alle möglichen
Dinge, Baupläne, Fabrikordnungen, Statuten für Wohlfahrtseinrich-
tungen eingeholt. Die richtige Ausführung der Haftpflichtgesetze
hat er zu kontrollieren. Zu alledem hat er seinen Vorgesetzten
Berichte und Gutachten zu erstatten.
Diese höchst komplizierte Aufgabe kann nicht leicht geteilt
werden. Mit dem Zerfallen des Inspektionsgebiets in zahlreiche
Kreise ginge alle Einheitlichkeit in der Ausführung des Gesetzes
verloren, die man jetzt schon durch Veranstaltung häufiger Kon-
ferenzen der Inspektoren zu sichern nötig fand. Eine Teilung der
Arbeit nach Arbeitszweigen würde eine übermäfsige Vermehrung
des Personals und seiner Reisen erheischen. So haben denn sowohl
die drei Inspektoren, als ihre sechs Assistenten sich mit allen Ge-
bieten zu beschäftigen , über welche sich die amtliche Aufsicht
erstreckt.
Ist nun von Frauen zu erwarten, dafs sie allen diesen An-
forderungen gerecht zu werden vermögen?
Die Erfahrungen mit dem bisherigen männlichen Personal
haben gezeigt, dals nur sehr ausdauernde, zähe Naturen den An-
forderungen dieses Berufes gewachsen sind. Einzelne waren zum
Verzicht gezwungen. Sollte dies nicht auch bei den Angehörigen
des „schwachen“ Geschlechts befürchtet werden müssen? Dafs sie
zeitweise, Ehefrauen oft während langer Monate, nicht reisefahig
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Weibliche Fabrikinspektoren in der Schweiz.
387
sein werden, braucht nicht erst erwähnt zu werden. Es kommt
noch hinzu, dals manche der erforderlichen Reisen, der Aufent-
halt in manchen unvermeidlichen Nachtquartieren alleinreisende
Frauen in Berührung mit wenig angemessener Gesellschaft bringen.
Solche Gründe bedingen es wohl, dafs man Frauen so selten als
Geschäftsreisende auftreten sieht. Es werden aber auch die Pflichten
der Hausfrau, der Hausmutter, mit der Aufgabe eines zu so häufiger
Wanderschaft gezwungenen Beamten wenig vereinbar sein. Und
doch wären gerade Frauen reiferen Alters, vertraut mit allen Ver-
hältnissen des Lebens, am ehesten zu einer solchen Beamtenstellung
geeignet. Es darf deshalb wohl behauptet werden, dafs mit Rück-
sicht auf die angeführten Ciründe Frauen nur dann für ein In-
spektorat passen würden, wenn ihnen ein Wirkungskreis in Städten
oder Industriezentren angewiesen werden könnte, wo es sich nur
um Touren in der nächsten Umgebung handeln könnte, oder wenn
die zu beaufsichtigenden Betriebe wenigstens ohne alle Strapazen,
geschützt vor aller Unbill der Witterung zu erreichen wären.
Von manchen Seiten wird auch die Eignung der Frauen für
Inspektorenstellen bezweifelt, weil sie der nötigen Kenntnisse und
der Veranlagung für ihre Erwerbung entbehren. Man glaubt dies
mit gemachten Erfahrungen beweisen zu können. Aber wenn auch
solche vorliegen, ist nicht aufeer acht zu lassen, dafe die Geistes-
kräfte des weiblichen Geschlechts in ganz anderer Richtung ent-
wickelt werden. Eine Vergleichung der Leistungen bei so un-
gleichen Vorbedingungen ist unzulässig. Wo Frauen der gleiche
Bildungsgang wie den Männern ermöglicht wurde, haben sie auf
den verschiedensten wissenschaftlichen und praktischen Gebieten
Vorzügliches geleistet. Sie haben deshalb in der Schweiz schon
längst in den verschiedenartigsten amtlichen Stellungen Verwendung
gefunden. Wohl giebt es wenig Frauen, welche jetzt die Kennt-
nisse besitzen, welche für einen Fabrikinspektor nötig sind; die Zahl
der brauchbaren Kandidatinnen für eine solche Stelle wäre eine
aufserordentlich kleine. Aber dals Frauen das erforderliche Wissen
leicht sich aneignen könnten, wird wohl von wenigen bezweifelt.
Es scheint übrigens der angebliche Mangel an Wissen und
Können bei vielen nur ein Scheingrund zu sein, warum sie sich
gegen die Anstellung von Frauen als Inspektorinnen sträuben,
während in Wirklichkeit eine ganz andere Befürchtung den Aus-
schlag giebt Diese soll hier unumwunden ausgesprochen werden.
Sie gründet sich auf die Charakterverschiedenheit der beiden Ge-
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schlechter, eine Verschiedenheit, die auch bei gleicher Erziehung
und gleichem Bildungsgang doch bestehen bleiben dürfte, da sie
zum Teil in körperlichen Unterschieden ihren Grund hat. Die
Frau ist durchschnittlich leichter erregbar, die Eindrücke übersetzen
sich leichter in Aeufserungen, in Handlungen. Der Verstand hat
weniger Zeit, seinen Einflufs auf das Handeln geltend zu machen.
Das Gefühl spielt bei der Frau die gröfsere Rolle. Die Frau ist
gefühlvoller und auf diesem lebhafteren Empfinden, dem tieferen
Gemüt beruhen ihre schönsten Vorzüge, Die brau ist aufopferungs-
fahiger, was sich tausendfach im Dienst der Kranken, der Armen
und Elenden bewährt. Verletzt etwas, das sie für schlecht und
niedrig hält, ihr Gefühl, ist sie rascher, lebhafter in der Verurteilung,
eifriger, begeisterter, mutiger, rücksichtsloser, ja leidenschaftlicher in
dessen Bekämpfung. Ihre gemütliche Beanspruchung macht sie
weniger geneigt zu kühlem Erwägen. Ebenso macht das Aeufsere,
die Form, der Ausdruck, in welchem das als unrecht Empfundene
zu Tage tritt, mehr Eindruck auf die Frau, als auf den Mann. Die
Empfindungen, die erregt werden, das Mitleid, der Zorn, die Ver-
achtung etc. sind oft so lebhaft, dals die kalte, ruhige Ucberlegung
nicht dagegen aufkotnmen kann. Die lebhafte Erregung läfst jede
Einwendung, je Entschuldigung als eine Parteinahme für den Un-
rechtthuenden auffassen. Solche Erfahrungen macht jeder Inspektor
in den zahlreichen Fällen, wo Frauen aus dem Arbeiterstand für
sich oder andere klagend bei ihm auftreten. Sie bleiben aber auch
nicht aus bei gebildeten Frauen, die an ernstes Nachdenken ge-
wöhnt sind; ja gerade bei denjenigen, welche am leichtesten für
alles Gute und Schöne begeistert sind, besteht am meisten Gefahr,
dals sie sich zu unbedachten Aeufserungen oder Handlungen hin-
reifsen lassen, wenn auf ihr lebhaftes Empfinden spekuliert wird.
Und diesem Bestreben ist niemand mehr ausgesetzt, als gerade ein
Fabrikinspektor, zumal da, wo sich der Arbeiter ohne Scheu und
ohne langes Besinnen an den Inspektor wendet, wo er glaubt, dals
ihm unrecht geschehen sei. Dies ist vielleicht in keinem anderen
I.and so häufig der Fall, wie in der Schweiz. Fast täglich wird
versucht, sei es von Arbeitern, sei es von Arbeitgebern, Dinge als
schweres Unrecht hinzustellen, die bei ruhiger Untersuchung fast
in nichts zerfallen, den Handlungen der Gegenpart schlechte Motive
unterzuschieben und sich selbst bei allen gemeinen Handlungen als
wohlmeinenden Biedermann hinzustellen. Man rechnet auf die Leicht-
gläubigkeit des Beamten, sucht sein Mifstrauen, seinen Widerwillen
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Weibliche Fabrikinspektoren in der Schwei/.
389
zu erwecken. Kaltes Blut ist in diesen Fällen die erste Eigenschaft,
welche vom Inspektor verlangt werden mufs. Dafs sie sich bei
den Frauen ebenso oft finden lasse wie bei den Männern, wird
von sehr vielen bezweifelt, und dies ist der Grund, warum sie gegen
die Anstellung von Frauen stimmen.
Ob diese Besorgnis begründet sei oder nicht, kann freilich erst
die Erfahrung beweisen. Leider ist den Berichten, die über die
Thätigkeit der Frauen im Fabrikinspektorat vorliegen, nichts darüber
zu entnehmen. Versuche, welche ein Urteil ermöglichen, sind
wünschbar. Ist doch auch so manchem tüchtigen, aber hcifsblütigen
Mann mit dem Amt und der damit verbundenen Verantwortlichkeit
eine ruhigere Auffassung der Dinge gekommen!
Mag nun aber die gleiche Qualifikation der Frau für die
Stellung als Fabrikinspektor zugegeben werden, drängt sich doch
die Frage auf, warum diese Stellen mit solchem Nachdruck für die
Frauen verlangt werden. Es geschieht vornehmlich in der Voraus-
setzung, dafs die weibliche Arbeiterschaft einer Inspektorin ein
gröfseres Zutrauen entgegenbringe, offener sich äufsere, als gegen-
über einem männlichen Beamten. Nach den übereinstimmenden
Erfahrungen der schweizerischen Inspektoren besteht aber diese an-
gebliche Scheu, sich über Dinge zu äufsern, welche sie für unrecht
oder gar unsittlich halten, bei den Arbeiterinnen gar nicht. Aus
der nächsten Umgebung der Inspektionssitze kommen relativ ebenso
viele Frauen, als Männer, um Beschwerden anzubringen und von
Prüderie ist keine Spur zu entdecken. Wird in dezenter Weise
gefragt, erhält man auch von den schüchternsten Personen unum-
wundene Antwort. Sie vertrauen auf die Verschwiegenheit des
befragenden Mannes. Uebrigens sind Verletzungen der Sittlichkeit
innerhalb der Fabriken höchst selten und auf das, was aufserhalb
vorgeht, hat der Inspektor so viel wie keinen, der Arbeitgeber
wenig Einflufs. Die sittlichen Zustände sind allerdings in den
Fabriken gröfserer Städte mit ihrer zahlreichen flottanten und zum
Teil sehr minderwertigen fremden Arbeiterinnenbevölkerung oft
sehr mifsliche; sonst aber nicht etwa viel schlimmer, als in land-
wirtschaftlichen Kreisen. So ergab im Kanton Zürich eine Zu-
sammenstellung der unehelichen Geburten in einigen hochindustriellen
und in mehreren vornehmlich Landwirtschaft treibenden Bezirken (alles
mit Ausschlufs der Stadt) dafs die ersteren 3 1/i, die letzteren 3 I’roz.
illegitime Kinder hatten, ein Verhältnis, das gewifs nicht sehr zu
Ungunsten der Fabrikarbeiterinnen spricht.
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390
F. Schüler,
Man scheint übrigens auch im Ausland die gleichen Krfahrungen
gemacht zu haben, wie in der Schweiz. Dafür zeugt eine Aeufserung
einer unanfechtbaren Autorität, der nordamerikanischen Ober-
inspektorin und eifrigen Verfechterin der Anstellung von Frauen
im Inspektorat, Florence Kelley. Sie sagt, auf siebenjährige Er-
fahrung sich stützend, dafs die Arbeiterinnen keinen Unterschied
machen zwischen männlichen und weiblichen Inspektoren und
dal's die zahlreichen Beschwerdebriefe der Arbeiterinnen nicht mora-
lische Verfehlungen betreffen und ebenso gut wie an Frauen, an
Männer gerichtet sein könnten. Aus den deutschen Berichten er-
giebt sich, dafe die weiblichen Vertrauenspersonen, welche in ver-
schiedenen Teilen Deutschlands bezeichnet wurden, gar nicht stark
beansprucht werden. Aus Bayern vernimmt man (1898er In-
spektionsber.), dafs die Arbeiterinnen vom Institut der weiblichen
Inspektorinnen fast keinen Gebrauch gemacht haben, die Sprech-
stunden gar nicht benutzten. Die zwei hessischen Assistentinnen
erhielten, „trotz der persönlichen Beziehungen beider, die unter den
älteren Arbeiterinnen mehrfach Bekannte trafen," nur in drei Fällen
Mitteilungen über Mifsstände.
In den Berichten der englischen Inspektorinnen, wenigstens
soweit sie mir zur Verfügung standen, finden sich fast ausschliels-
lich Gegenstände berührt, welche auch von den Männern zum Gegen-
stand der Berichterstattung gemacht werden, während ich Beobach-
tungen über den Einflufs der gewerblichen Arbeit auf die Frau zur
Zeit der Periode, der Schwangerschaft, des Wochenbetts, des Kinder-
nährens reichlich zu finden hoffte. Dafs die deutschen und, soviel
mir bekannt, auch die französischen Inspektorinnen in der kurzen
Zeit ihrer Amtsführung noch nicht dem Studium solcher Details
sich widmeten, finde ich begreiflich. Aber gerade in dieser Rich-
tung fiele es der Frau gewifs leichter, zu zuverlässigen Resultaten
zu gelangen.
Die amtlichen Berichte geben allerdings wenig Auskunft über
das kleine Detail auf denjenigen Gebieten, wo der Frau unbedingt
eine Ueberlegenheit über den Mann zugestanden werden mufs. Sie
hat den schärferen Blick, ein rascheres Urteil und wohl auch mehr
praktische Gewandtheit, wo es sich um Reinlichkeit und Ordnung,
um richtige Ernährung und Komfort, um Anstand und Sitte handelt.
Dafs sie die Thätigkeit des Mannes in mancher Beziehung ergänzen
kann, kann wohl nicht bestritten werden.
Diese Mitwirkung der Frau wäre am wertvollsten, wo es sich
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Weibliche Fabrikinspektoren in der Schwei/..
391
um Betriebe handelt, in welchen nur Frauen und Kinder beschäftigt
werden, wo technische Kenntnisse nicht oder in geringem Mafs er-
forderlich sind, wo vor allem lur richtige hygieinische Zustände zu
sorgen, der Vollzug der Frauen und Kinder betreffenden Gesetzes-
bestimmungen genau zu überwachen sind und Fragen des Rechts
u. dergl. selten an den Inspektor herantreten. Dieser Wirkungskreis
scheint aber nur in beschränktem Mafs sich darzubieten. Denn
auch in den Ländern, wo Inspektorinnen seit vielen Jahren amten,
ist ihre Zahl nicht sehr bedeutend in Vergleichung mit der sonstigen
Zunahme des Inspektionspcrsonals gestiegen. In England machten
die Frauen 1899 erst 5 Proz. des gesamten Personals aus und aus
Amerika berichtet die bereits citierte Dame, dafs die Vermehrung
der weiblichen Inspektoren nicht Schritt halte mit derjenigen der
männlichen. So betrug im Jahr 1897 die Zahl der männlichen In-
spektoren 137, die der weiblichen 23. In Staaten, wo deren An-
stellung neu ist, wird selbstverständlich mit grofser Vorsicht und
allmählich vorgegangen, denn die nötigen Erfahrungen lassen sich
nicht in einem oder zwei Jahren machen.
Aus allem Angeführten dürfte sich ergeben, dafs das Urteil
über die Zweckmäfsigkeit der Einführung von Inspektorinnen all-
gemein noch ein unsicheres ist. Dies empfanden auch die schweize-
rischen Behörden. Sogar die Denkschrift, welche der schweizerische
Frauenverein in sehr ruhiger und wohlüberlegter Weise abgefafst,
den Kantonsregierungen zustellte, hat bis anhin noch kaum prak-
tische Resultate gezeitigt. Was den Bund anbetrifft, mag die Schwierig-
keit, einer Inspektorin einen genügenden Wirkungskreis anzuweisen,
in hohem Mafs von einem Versuch abgehalten haben. Die Zahl
der nur weibliche Personen beschäftigenden, unter dem Fabrikgesetz
stehenden Etablissemente ist sehr gering. Sie beträgt nur 214 Be-
triebe mit 3487 Arbeiterinnen. In einzelnen Inspektionskreisen
fallen diese Zahlen besonders niedrig aus. Sogar der erste, in
welchem die Zahl der in Frage kommenden Betriebe vielleicht am
gröfsten ist, hat nur 80 mit 1 536 Personen aufzuweisen. Für diese kleine 1
Prozentzahl der Fabriken (3,5) und Arbeiter (1,44) besondere Be-
amtinnen anzustellen, würde als eine ungerechtfertigte Vermehrung
eines Beamtcnpersonals betrachtet, dessen Vergröfserung sonst schon
scheel genug angesehen wird. Nur eine Aenderung des Fabrik-
gesetzes, eine weitere Ausdehnung seines Wirkungsgebiets, vielleicht
ein Erlafs eines eidgenössischen Arbeiterinnenschutzgesetzes an Stelle
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K. Schüler, Weibliche Fabrikinspcklorcn in der Schweiz.
der vielgestaltigen und ziemlich zahlreichen kantonalen dürfte den
Anstofs zum V ersuch mit Inspektorinnen geben.
Ganz anders würde sich die Sache gestalten, wenn ein Kanton
mit zahlreichen Kleinbetrieben, die jetzt schon gesetzlicher Aufsicht
unterstehen, diesen Schritt unternehmen wollte. Zürich hatte z. R.
schon 1899 die Zahl von 745 Geschäften mit 2057 Arbeiterinnen
aufzuvveisen und diese Zahlen würden sich ohne Zweifel bedeutend
erhöhen, wenn eine ständige Inspektion auch auf dem Land und in
den kleineren Ortschaften genaue Nachschau hielte. So hat ja auch
mit der Einführung der Inspektion die Zahl der zu unterstellenden
Fabriken sofort sich gewaltig vermehrt. Eine Beamtin fände ge-
nügende Beschäftigung, könnte zugleich die Amtsstellc für Fabrik-
wesen wesentlich entlasten und den Schutz der Arbeiterinnen in
hohem Mafs fördern. Das Gebiet ihrer Thätigkeit wäre zudem so
beschaffen, dafs alle wegen der körperlichen Leistungsfähigkeit der
Frauen geäufserten Bedenken zum gröfsten Teil hinfällig würden.
Auch in anderen Kantonen würde Aehnliches möglich sein.
Es ist sehr zu wünschen, dafs in solcher Weise durch einen
praktischen Versuch auch in der Schweiz die schwebende F'rage
der Einführung weiblicher Inspektorinnen zur Entscheidung ge-
bracht werde.
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Sozialpolitik und Rassenhygiene in ihrem
prinzipiellen Verhältnis.
Von
Dr. ALFRED PLOETZ,
in Bcrlin-Schlachtcnsec.
Das Wort „Sozialpolitik“ wird in einem allgemeinen und in
einem besonderen Sinne gebraucht. Allgemein bedeutet es nichts
als eine Politik, die sich auf soziale Verhältnisse bezieht. So würde
z. B. die Einrichtung der Kasten, durch welche die in Indien ein-
gewanderten Arier ihre Rasse zu schützen suchten, unter diesen
allgemeinen Begriff fallen. Nicht aber unter den speziellen , der
heute vorherrscht. Denn im speziellen Sinne verbindet man mit
dem Wort Sozialpolitik den Begriff einer sozialisierenden Politik,
d. h. einer solchen, welche die gesellschaftlichen und speziell wirt-
schaftlichen Beziehungen unter den Individuen so auszugestalten
sucht, dafs sie sich in ihren Interessen weniger getrennt oder gar
feindlich, sondern mehr als Genossen gegenüberstehen , gleichbe-
rechtigter und einander hilfreicher. Das erhellt sofort, sobald
man sich die Einzelbestrebungen der modernen Sozialpolitik ver-
gegenwärtigt, als da sind : Verminderung der Arbeitslosigkeit, der
Unfälle, der Krankheiten ; Versicherung gegen Arbeitslosigkeit, Un-
fälle, Krankheiten und Alter; Verringerung der Arbeitszeit; Er-
leichterung der Arbeiterkoalierung ; Erhöhung der Löhne, Anteil am
Gewinn; Erleichterung der Frauenarbeit; Abschaffung der Kinder-
arbeit, freie Schulbildung für arme Kinder; freie ärztliche Behand-
lung für Alle; Verstaatlichung oder Kommunisierung wirtschaftlicher
Betriebe; Einkommen- und Vermögensteuer mit starker Progression;
Abschaffung der indirekten Steuern auf allgemein notwendige Konsum-
artikel; progressive Erbschaftssteuer bis zur Aufhebung des Erb-
rechts ; bessere Pflege der unehelichen und Waisenkinder u. s. w.
Archiv für soz. Gesetzgebung u. Statistik. XVIi. 26
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394
Alfred P 1 o c t z ,
Alle diese Einzelbestrebungen haben das Gemeinsame, dafs sie
hinzielen erstens auf die Gleichmachung der äufseren Entwicklungs-
und Erhaltungsbedingungcn für alle Individuen, d. h. also auf das
Ideal der Demokratie, und zweitens auf den Schutz derjenigen
Individuen, die nicht durch eigene innere Kraft die Fähigkeit haben,
sich diese gleichen äufseren Bedingungen nun auch zu Nutze zu
machen, d. h. also auf den Schutz der Schwachen als Inhalt des
humanitären Ideals. Beide Bestrebungen sind uralt. Der Kampf
zwischen Demokratie und Aristokratie erfüllt die Weltgeschichte
beinahe so lange, wie wir sie kennen, und ist heute so heftig als
je. Und der humanitäre Geist, erwacht schon vor Jahrtausenden,
hat sich von kleinen Anfängen bis zu der gewaltigen Macht ent-
wickelt, die heute in beinahe allen gesellschaftlichen Verhältnissen
ein mitbestimmender Faktor ist.
Da somit die Sozialpolitik nichts will als das gröfstc Wohl
aller Lebenden, so erscheint es auf den ersten Blick unsinnig, wenn
noch andere Menschen als gerade die Privilegierten ihr rasches
Vordringen mit Sorge verfolgen. Und doch hat sich der Wider-
stand erhoben, und glänzende Geister sind es, die hier das Wort
ergriffen haben, Männer, die himmelweit über den Verdacht erhaben
sind, Anw'älte der Privilegierten zu sein. Ich nenne Namen wie
Darwin, Wa llace, Huxley, Häckel, Nietzsche. Weitaus
die Mehrzahl aller Biologen steht auf ihrer Seite. Diese Männer
sind der Meinung, der Schutz der Schwachen würde schliefslich
durch ihre Erhaltung und Mischung mit den Starken das Niveau
der allgemeinen Tüchtigkeit herabdrücken und der Weiterentwick-
lung der menschlichen Anlagen einen ewigen Riegel vorschieben.
Von der Partei der Privilegierten ist dieser Einwand stark be-
nutzt worden, um gegen die moderne Sozialpolitik Propaganda zu
machen, und Viele, die frisch entschlossen ihren Weg gingen, sind
dadurch zu Zweiflern geworden und haben gelähmt die Hände in
den Schofs gelegt. Wir sehen , wir haben den stärksten Anlafs
zu untersuchen, ob und wie weit dieser Widerspruch berechtigt ist.
Das Leben erschöpft sich nicht mit dem einfachen Ausleben
der Individuen, es gehört dazu die Erzeugung neuen Lebens. Ueber
und nach dem Einzelnen lebt durch Generationen die Rasse. Auf
den ersten Blick könnte man denken, das Interesse aller Individuen
und das Interesse der Gesamtheit, zu der sie gehören, sei gleich-
bedeutend. Aber der Einspruch jener vorher angeführten Männer,
die die Interessen der Rasse vertreten und sie als teilweise gegen-
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Sozialpolitik und Rassenhygiene in ihren) prinzipiellen Verhältnis.
395
sätzlich zu denen der Individuen erkennen, mufs uns vorsichtig
machen und fordert uns auf, die Erhaltungsbedingungen der Rasse
für sich zu betrachten und dann zu untersuchen, wie weit die Be-
strebungen der Sozialpolitik mit ihnen vereinbar sind.
Das Wort „Rasse“, das so vielerlei bezeichnet, wollen wir hier
irr einem ganz allgemeinen Sinne brauchen, nämlich als eine durch
Generationen lebende Gesamtheit von Menschen in bezug auf
ihre körperlichen und geistigen Eigenschaften. Die
Lehre von den optimalen Bedingungen der Erhaltung und Entwick-
lung einer Rasse wollen wir Rassenhygiene nennen, gerade so wie
wir die Lehre von den optimalen Erhaltungsbedingungen des Indivi-
duums als Individualhygiene bezeichnen.
Welches sind nun die Elemente der Rassenhygiene r
Eine Rasse wird sich zuvörderst um so eher erhalten, je gröfser
die Zahl ihrer Mitglieder ist, da im Kampf ums Dasein der Rassen
untereinander die Zahl ihrer Individuen ein entscheidendes Moment
ist. Die Vermehrung steht in geradem Verhältnis zum Ueberschufs
der Geburten über die Todesfälle. Dieser Ueberschufs wird nun
natürlich um so gröfser sein, je höher die Geburtenrate und je
niedriger die Sterberate ist. Jedoch besteht eine gegenseitige Be-
einflussung dieser Raten insofern, als die steigende Geburtenrate
direkt eine progressiv höhere Sterblichkeit hervorruft, wie die
niedrige Geburtenrate eine niedrige Sterblichkeit, so dafs die Zu-
nahme des Geburtenüberschusses um so kleiner wird, je höher die
( ieburtenrate steigt. Dazu kommt noch, dafs die höheren Nummern
in der Geburtenreihenfolge einer Mutter eine stetig wachsende Lebens-
schwäche zeigen, so dafs ihr eventuelles Ueberleben nur das Tüchtig-
keitsniveau der späteren Generation herabdrücken würde. Das rassen-
hygienische Optimum der Fruchtbarkeit einer Mutter dürfte aus
diesen Gründen mit der Erzeugung von 4, höchstens 5 Kindern
gegeben sein. Alle sozialpolitischen Mafsregeln , die indirekt dazu
beitragen, hohe Kinderzahlen in der Ehe zu verhüten, wie die
Hebung der Lebenshaltung der Aermeren überhaupt, stehen also
in keinem Gegensatz zur Rassenhygiene, wenn sie nicht bis zu so
schweren Konsequenzen geführt werden, dafs die Geburtenrate, wie
in Frankreich z. B., stetig sinkt, und dadurch eine Verdrängung der
Rasse in die Wege geleitet wird.
Die Sterberate wird um so niedriger sein, je günstiger die
äufsere Umgebung für die Individuen ist. Je reichlicher und gleich-
mäfsiger eine Volkswirtschaft die gesamten Unterhaltsmittcl liefert,
26*
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Alfred I* 1 o e X i .
yß
desto mehr Individuen werden erhalten bleiben, und desto länger
wird ihr Leben dauern. Dasselbe wird der Fall sein, wenn die
konstitutionelle Kraft der Individuen steigt, sich gegen ihre Um-
gebung zu erhalten. Da wir viele Umgebungseinflüsse auf absehbare
Zeit nicht ändern können, oder ihre Aenderung einen ungebührlich
hohen Teil unserer Thatkraft absorbieren würde, ist die Vor-
bedingung einer dauern d niedrigen Sterberate die Erhaltung und
wenn möglich Verstärkung der individuellen Konstitutionskraft.
Und das leitet uns über zur zweiten Hauptbedingung der
optimalen Erhaltung und Entwicklung einer Rasse, d. i. die Erhal-
tung und wenn möglich Vervollkommnung der körperlichen und
geistigen Anlagen ihrer Mitglieder. Um diese zweite Bedingung in
ihre einzelnen Komponenten zerlegen zu können, müssen wir auf
die durch Darwin begründete biologische Entwicklungslehre zurück-
greifen, deren allgemeine Grundsätze auch für den Menschen volle
Gültigkeit haben. Das mufs immer wieder betont werden gegen-
über den mancherlei unzureichenden Versuchen von nicht natur-
wissenschaftlicher Seite, die Unterschiede in Einzelheiten und in
Graden zu prinzipiellen Unterschieden aufzubauschen.
Der Entwicklungsmechanismus ist kurz1) folgender: Die er-
zeugten Nachkommen sind in ihren Eigenschaften und dadurch in
ihrer Gesamttüchtigkeit verschieden von den Eltern und unter-
einander: Variation.
Die erzeugten Varianten nun treten in ein verschiedenes
Verhältnis zu ihrer Umgebung: Kampf ums Dasein in weiterem
Sinne. Ein grofser Teil von ihnen wird durch übermächtige
Schädlichkeiten "Betroffen in einer Weise, dafs cs für das blofse
BetrofTcnsein sowie für das Unterliegen ganz gleich ist , ob
die Varianten tüchtig oder untüchtig sind. Die übermächtigen
Einflüsse vernichten sic oder verhindern sonst ihre Fortpflanzung
entweder gleich völlig oder sie schädigen die betroffenen Varianten
so, dafs sie geschwächt werden und dadurch auch weniger mächtigen
Einflüssen zum Opfer fallen. Das Wirken dieser übermächtigen
Einflüsse, welche die Varianten betreffen und schädigen, gleich, ob
sie tüchtig oder untüchtig sind, nennt man die wahllose Aus-
schaltung oder die nonselektorischc Elimination der Vari-
anten aus dem Lebensprozefs der Art.
Ein zweiter Teil der Nachkommen wird durch nicht so mach-
*} ( icmtucrcs in Ploctz: Tüchtigkeit unserer Rasse etc. Berlin 1895.
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Sozialpolitik untl Kassenhypcoc in ihrem prinzipiellen Verhältnis.
tige Kinflüsse vernichtet oder sonst an der Fortpflanzung verhindert,
durch Einflüsse, welche den dritten noch übrigbleibenden Teil der
Nachkommen nicht schädigen können, weil er stark genug ist, sie
zu überwinden. Zu diesem zweiten Teil der Nachkommen gehören
auch die, welche auf Grund ihrer Schwäche übermächtigen Schäd-
lichkeiten leichter exponiert werden als die Starken. Diese ganze
Elimination des zweiten Teiles der Nachkommen ist somit eine
auswählende, da sie nur die Individuen mit schwachen Anlagen
trifft, aber die Starken schont. Wir nennen sie deshalb die selek-
torische Elimination oder kurz die Ausmerzung oder Aus-
jätung. Den übrigbleibendcn dritten Teil der Nachkommen, der
erhalten wird und zur Fortpflanzung kommt, nennen wir die Aus-
gelesenen und den Prozefs der Schonung auf Grund ihrer Stärke
die Auslese oder Selektion. Das auf Grund ihrer verschiedenen
Eigenschaften verschiedene Verhalten der Individuen zu der selek-
torischen Umgebung, d. h. zu den Umgebungsbestandteilen, die nur
für einen Teil der Individuen eine Schädlichkeit bedingen, nennen
wir im engeren und eigentlichen Sinne den Kampf ums Dasein,
den wir auch definieren können als den bewulsten und unbewufsten
Wettbewerb unter den Individuen bei Erstrebung günstiger und
Vermeidung ungünstiger Einflüsse der Umgebung. Eingeschlossen
in den Kampf ums Dasein ist, das wird immer wieder vergessen,
nicht nur die Erhaltung des Individuums, sondern auch die Er-
zeugung lebenskräftiger Nachkommenschaft. Man
mufs sich eben denken, dals die Nachkommen zum Sein der Eltern
hinzugehören. f
Je nachdem die Umgebungseinflüsse nur der äulsercn Natur
angehören oder von den anderen Individuen derselben Art her-
kommen, spricht man von einer cxtralen und einer sozialen Um-
gebung und demgemäfs auch von einem extralen und sozialen
Kampf ums Dasein, sowie von einer extralen und sozialen Aus-
jätung und Auslese, von welch letzterer der Teil, der sich auf die
Gewinnung eines Gatten bezieht, als geschlechtliche Auslese be-
zeichnet wird.
Ein anderer wichtiger Fall des Sozialkampfes ist iler Kampt
von ganzen Gruppen von Individuen gegeneinander, etwas, was
man Sozietätenkampf genannt hat. Dieser Sozietätenkampf ist be-
sonders wichtig, weil er es neben dem Wettbewerb der Familien
ist, der die sozialen Tugenden herangezüchtet hat. indem die Ge-
meinschaften, bei deren Mitgliedern die Variationen des Altruismus
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39»
Alfred l’loetz
und der Aufopferung häufiger vorkamen, im Kampf ums Dasein
gegen die anderen Gemeinschaften einen Vorteil besafsen, da sie
bei verminderter innerer Reibung mehr Kraft nach aufsen entfalten
konnten.
Aller Sozietätenkampf, auch der der Familien untereinander,
züchtet nach einer anderen Richtung als die Finzelkonkurrenz in-
sofern, als ein Teil der gezüchteten sozialen Tugenden, besonders
ein hoher Grad von Altruismus, seinem Träger oft zum Schaden
im Kinzelkampf gereicht. Das ist ein Zwiespalt in der Richtung
der Zuchtwahl, der sich nicht blofs beim Menschen, sondern bei
allen gesellig lebenden Tieren findet, ein Zwiespalt, hervorgebracht
durch den Umstand, dafs eine dem Individuum schädliche Eigen-
schaft, die sonst ausgejätet worden wäre, wie oft ein sehr hoher
Grad von Altruismus, der Gesellschaft in ihrem Kampf ums Dasein
von Vorteil ist, und dafs andererseits Eigenschaften, die dem Besitzer
im Einzclkampf oft von Vorteil sind, wie z. B. ein hoher Grad von
Egoismus, bei denjenigen Gesellschaften zum Untergang fuhren
mufste, bei denen diese Individuen zu zahlreich gezüchtet waren.
Daraus erklärt sich die oft erstaunlich vorteilhafte Balancierung
zwischen altruistischen und egoistischen Anlagen der Individuen.
Die im Kampf ums Dasein Ausgelesenen nun werden die
Eltern der neuen Generation und haben die Tendenz, die tüchtigen
Eigensclfaften. auf Grund deren sie obsiegten, ihren Nachkommen
durch die Vererbung zu übertragen. Durch die Thatsache, dafs
tüchtige Eltern durchschnittlich einen gröfseren Prozentsatz von
tüchtigen Nachkommen erzeugen, als untüchtige Eltern, hat die
Selektion einen verbessernden Einflufs auf die Qualität der nächsten
Generation. Allerdings nicht hinaus über die Darbietungen der
Variabilität, denn tüchtige Varianten können nur dann im Kampf
ums Dasein ausgelesen werden, wenn sie vorher erzeugt worden
sind. Wird die Umgebung rauher und der Kampf ums Dasein
schärfer, d. h. gehört eine höhere Tüchtigkeit des Individuums
dazu, sich zu erhalten und fortzupflanzen, so wird zwar durch die
engere Auslese der Tüchtigsten das Niveau der Art gehoben, allein
nur bis zu dem Durchschnitt der schon vorher bestandenen Varia-
bilität der Tüchtigeren. Erst wenn diese Variabilität selbst einen
fortschrittlichen Charakter annimmt, ist die wirkliche Grundlage
einer Weiterentwicklung gegeben. Kampf ums Dasein und Ver-
erbung konservieren also nur, das eigentlich schöpferische Element
der Entwicklung ist und bleibt die Variation.
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Sozialpolitik und Rasscnhygiene in ihrem prinzipiellen Verhältnis.
Kinc um so gröfsere Bedeutung hat aber der Kampf ums Da-
sein, wenn er resp. die Umgebung milder wird. Dann kommen
mehr Untüchtige zur Krhaltung und Fortpflanzung, mischen sich
infolgedessen mit Tüchtigeren und drücken nun kraft der Vererbung
das Niveau der Nachkommenschaft herab. Da von dieser jetzt
wiederum eine gegen früher erhöhte Zahl von Untüchtigen in der
milderen Umgebung erhalten bleibt, so ist bei sonst gleichen Um-
ständen der Rückgang der Art unvermeidlich. Der Kampf ums
Dasein oder die Ausjätung der Schwachen ist also in jedem Fall
der Bewahrer der Art vor Kntartung.
Soviel über die allgemeine Bedeutung der biologischen Ent-
wicklungsfaktoren. Wir wollen nun sehen, wie sich das im einzelnen
bei uns Menschen macht.
Was die Variation der Kinder von den Eltern anlangt, so giebt
es kein Kind, welches nicht in seinen körperlichen oder geistigen
Anlagen von den Eltern oder ihrent Durchschnitt abwiche. Die
einen sind kleiner, die anderen sind gröfser als die Eltern, die einen
dunkler an Haut, Haaren und Augen, die anderen heller, die einen
egoistischer, die anderen altruistischer, die einen klüger, die anderen
dümmer. Die Variationen von den Eltern sind also reichlich vor-
handen. Sie gehen in einigen P'ällen so weit, dals anscheinend
ganz verschiedene Typen herauskommen, selbst da, wo eine
Fälschung der Stammtafel sicher ausgeschlossen war.
Ebenso in die Augen springend ist die Variation der Menschen
unter einander, selbst in den engsten Abstammungskreisen. Ganz
abgesehen davon , dafs ein germanischer Norweger ein total
anderes Ding ist, als ein Kuli oder ein Kaffer, sind die Variationen
z. B. innerhalb der europäischen Rasse selbst aufserordentlich ver-
schieden. Wir haben alle Gröfsen vom hohen breitschulterigen
Kürassier bis zum zarten Schneiderlein, alle Kopfgröfsen von unter
50 bis zu den 62 cm Umfang eines Bismarck oder Eugen Richter.
Wir haben alle l-ang- und Rundkopfarten von 70 — 100 */„, die die
Breite von der Länge ausmacht. Wir haben alle Grade von In-
telligenz vom Idioten bis Kant, alle Grade des Selbstbewufstseins
vom bescheidenen Darwin bis zum Kaffeehaus-Uebermenschen, alle
Grade des Muts von den Pariser Salonhelden, die bei dem be-
kannten Bazarbrande schwache Frauen niederschlugen, um besser
fliehen zu können, bis zu dem Arzt, der sich mit seinem Pest-
kranken einschlielst, und alle Grade von Egoismus und Altruismus,
von der Gemütsroheit des moralisch Blödsinnigen bis zu dem Helden,
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400
Alfred Ploetz,
der sich für andere hinopfert. Also die Darbietungen der Ver-
änderlichkeit, auch nach der Richtung der aufsteigenden Entwick-
lung, sind in reichster Verschiedenheit vorhanden.
Wir kommen zur nonselektorischen Elimination. Wenn ein
Erdbeben auf Ischia oder Kratakoa Tausende und Zehntausende von
Menschen hinrafft, oder wenn ein Ziegel vom Dach einen Vorüber-
gehenden erschlägt, oder wenn ein Dienstbote ein kleines Mädchen
verbrüht, so dafs entstellende Brandnarben es an der späteren
Heirat hindern, so sind das alles Beispiele einer wahllosen Elimi-
nation.
Dals eine extrale Ausjätung stattfindet, ist nie bestritten worden.
Hitze, Kälte, Nässe z. B. sind Faktoren, gegen die sich die Menschen
je nach ihrer Konstitution verschieden verhalten. Wenn sich heute
beinahe jeder der Einatmung von Tuberkelbazillen aussetzt, und
sich auch über drei Viertel wirklich infizieren, jedoch nur ein be-
deutend geringerer Prozentsatz ernsthaft an der Tuberkulose erkrankt
und stirbt, so heilst das soviel, dafs der Tubcrkelbazill eine äufserc
Schädlichkeit ist, die sich den betroffenen Individuen gegenüber ver-
schieden verhält und einen Teil ausjätet, den anderen verschont.
Viel mehr Meinungsdifferenzen bestehen über die soziale Aus-
jätung. Und doch ist ihr ^tatsächliches Feld noch gröfser als das
der extralen, da sie cs ist, die sehr häufig den äufseren Schädlich-
keiten erst den Boden vorbereitet. Wenn ein Verbrecher durch
seine Mitbürger auf längere Zeit ins Gefängnis gesetzt wird, so be-
deutet das für ihn eine so grofse Schädlichkeit, dafs sie meistens
einer Ausmerzung gleichkommt. Bedeutet das Verbrechen, wie
sehr oft, wenn auch nicht immer, eine Schädigung anderer Menschen,
so liegt eine soziale Ausjätung derjenigen Individuen vor, deren
Intelligenz oder Organ für sittliche Hemmungen nicht besonders
ausgebildet sind.
Ein weiteres Beispiel der sozialen Ausjätung ist die geschlecht-
liche oder sexuelle. Die Frauen, die auf Grund ihrer minderwertigen
Eigenschaften kein Mann wählte, oder die einen so gearteten Charakter
hatten, dafs sie sich von keinem Mann wählen liefsen, sind völlig
ausgejätet. Analog bei den Männern. Da der Prozentsatz der un-
verheirateten F rauen und Männer sehr grofs ist, oft bis zu 25 und
30 Proz., und da der gröfse Teil dieser Unverheirateten auf Grund
von Eigenschaften unverheiratet blieb, die von denen der ver-
heirateten Individuen verschieden sind, so ist die sexuelle Aus-
jätung ein bedeutender Teil der sozialen Ausjätung überhaupt.
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Sozialpolitik und KasM'nhygient in ihrem prinzipiellen Verhältnis.
Als eine andere wichtige Form der letzteren erkannten wir die
Sozietäten- Ausjätung. Der Kampf ums Dasein der Sozietäten, von
kleinsten Gruppen bis zu grofsen Gesellschaften, nimmt bei den
Menschen ein noch ganz bedeutend gröfseres Feld ein als bei den
anderen Herdentieren. Einfache und erweiterte Familien haben
miteinander gekämpft sowie ganze Stämme und Völker, und zwar
nicht blofs um Herrschaft, was unwesentlicher ist, sondern auch im
Sinne der Darwinschen Zuchtwahl um Ausbreitung ihrer Nach-
kommenschaft. Wie wir schon vorher konstatierten, ist die Rich-
tung dieser Art des sozialen Kampfes neben der Verstärkung aller
möglichen tüchtigen Eigenschaften noch ganz besonders auf die
Heranzüchtung der sozialen Tugenden gerichtet, vor allem auf die
Willigkeit, die anderen Mitglieder der Gemeinschaft zu unterstützen
durch direkte physische Hilfsleistungen sowie durch Ehrlichkeit und
(ierechtigkeit, d. h. ganz im allgemeinen auf Altruismus aller Art
bis zur Aufopferung des eigenen Lebens. Denn nicht blofs die
Gesellschaften, die viele körperlich und geistig kräftige Individuen
zählten, hatten mehr Aussicht im Kampf ums Dasein mit anderen
Gesellschaften, sondern vor allem die Gesellschaften, bei denen dazu
noch eine grolsc Menge sittlich hochstehender Individuen kamen,
d. h. solcher, in derem Hirn die organischen Anlagen für altruistische
Bethätigung gut ausgebildet waren. Der schon berührte Zwiespalt
in den Richtungen der Züchtung beim Gruppenkampf und beim
Einzelkampf erklärt übrigens, weshalb ein so lebhafter Streit um
die Frage geführt wird, ob wirklich der Kampf ums Dasein das
hat hervorbringen helfen , was wir unsere Sittlichkeit , das gute
ethische Verhalten, nennen, denn er lielsc nur den Angepal'sten,
nicht den Besten überleben. Wenn wir den erwähnten Zwiespalt
der Zuchtwahl im Auge behalten, löst sich dieser Streit leicht, denn
im Kampf ums Dasein der Gruppen sind unsere hohen ethischen
Eigenschaften erworben als echte Anpassungen dieser Gruppen.
Noch eine wichtige Art der sozialen Auslese und Ausjätung
ist zu betrachten, die wirtschaftliche. Es giebt Bettler und Millionäre
und dazwischen alle Stufen der Lebenshaltung. Da die Menschen
um so eher erkranken und sterben, je ärmer sie sind, und um so
weniger leicht erkranken und um so später sterben, je wohlhabender
sie sind, und da die Zahl der Armen sehr grofs ist im Verhältnis
zu der der Wohlhabenden, so ist der Mangel an wirtschaftlichen
Gütern ein eliminierendes Element ersten Ranges, das allerdings
weniger direkt als indirekt wirkt, indem cs den extralen Schädlich-
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Alfred P 1 o e 1 1 ,
keiten, besonders den Bakterien, die Wege . öffnet. Nur bei den
höchsten Einkommen schlägt die Wirkung um. Zwar ist auch hier
noch die Sterblichkeit aufserordentlich gering, allein die Fruchtbar-
keit sinkt unter den notwendigen Ersatz der Zahl herab. Deshalb
besteht in diesen Kreisen der Reichsten eine äufserst scharfe Aus-
jäte der Unfruchtbaren, und nur ein verhäitnismäfsig kleiner Teil,
der gegenüber den Einflüssen des Reichtums seine Fruchtbarkeit zu
erhalten weifs, wird ausgelesen. Nach den mittleren Einkommen
zu wird die Fruchtbarkeit stetig normaler, bei den Arbeitern ist
sie oft übermäfsig grofs, um beim Lumpenproletariat wieder zu
sinken. Infolge dieses Verhaltens der Geburten- und Sterberate bei
den verschiedenen sozialen Schichten befinden sich die obersten und
untersten Schichten im Vergleich zu den breiten mittleren im Zu-
stande des Ausgejätetwerdens, und nur die mittlere Hälfte bildet
auf die Dauer den Ersatz der Nation. Auf dem Niveau dieser Ein-
kommenschichten, auch in den mittleren, ist nun überall bei gleichen
Tendenzen der Fruchtbarkeit die Elimination um so stärker je ge-
ringer das Einkommen.
Die Frage ist nur, wirkt diese Elimination selektorisch oder
nonselektorisch, d. h. wird oder bleibt jemand arm infolge seiner
L'ntüchtigkeit, oder ist und bleibt der Arme deshalb arm, weil er
unter übermächtigen Einflüssen steht, denen gegenüber es ganz
gleich ist, ob er tüchtig oder untüchtig ist ? Beides ist der Fall.
Die Armut ist sowohl nonselektorischer als selektorischer Art. Um
die Rolle des Einkommens im Kampf ums Dasein richtig zu würdigen,
müssen wir uns vergegenwärtigen, dals Armut zum grofsen Teil ein
relativer Begriff ist je nach der gesellschaftlichen Schicht, zu der
jemand gehört, und dafs deshalb die Auslese und Ausjäte durch
Einkommensunterschiede hauptsächlich innerhalb der Individuen des-
selben Niveaus statt hat, daneben allerdings auch in geringerem
Grade unter den einzelnen Schichten selbst. Wenn bei einem An-
gehörigen der oberen Zehntausend das Einkommen auf 2000 Mk.
gesunken ist, so kann das für ihn ein Grund sein, sich durch nicht
genügende Reduzierung seiner äul'seren Repräsentation mangelhaft
zu ernähren oder nicht zu heiraten, so dafs er der Ausjätung ver-
fallt. Ein Arbeiter dagegen, dessen Einkommen sich auf 2000 Mk.
erhöht, hat vor seinen Genossen eine gesteigerte Fähigkeit, un-
günstige Lebensbedingungen von seinen Kindern fern zu halten, und
ist so ein Ausgelesener seiner Schicht.
Doch nun im speziellen zu der Frage, ob und wie weit Armut
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Sozialpolitik und Kassenhygiene in ihrem prinzipiellen Verhältnis.
selektorisch und nonselektorisch zustande kommt. Wenn ein Fabrik-
herr bei einer allgemeinen wirtschaftlichen Krise einen Teil seiner
Arbeiter entlassen mufs, so wählt er dazu mit Vorliebe die faulen,
dummen, trunksüchtigen, schwächlichen, unbotmäfsigen oder ihm
sonst unbequemen aus. Sowenig die Unbotmäfsigkeit auf einer
Minderwertigkeit des Arbeiters zu beruhen braucht, so häufig wird
dies der Fall sein bei der Faulheit, Dummheit, Trunksucht und
Schwächlichkeit. Die Armut, in welche die entlassenen Arbeiter
geraten, wäre also zum gröfsten Teil wenigstens selektorischer Art.
Dasselbe findet in ähnlicher Weise auch bei den kleineren Arbeit-
gebern statt bis herunter zum Handwerker, der nur einen Lehrling
beschäftigt. Sie stellen minderwertige Arbeiter entweder gar nicht
ein, so dais diese Aermsten dem Lumpenproletariat verfallen, oder sie
entlassen sie wieder, wenn die Zeiten schlecht gehen, und degra-
dieren so den Arbeiter zum Mitglied der industriellen Reservearmee.
Aehnliches findet bei Beamten statt. Entlassungen und Beförderungen
richten sich nicht immer, aber vielfach nach der Qualität der An-
gestellten. In der Klasse der liberalen Berufe hängt ebenfalls die
Höhe des Einkommens oft genug ab von den persönlich bedeutenden
Qualitäten des Individuums. Ebenso auch bei den Unternehmern.
Selbst bei den Rentiers trifft es zu, denn nur der wirtschaftlich
Beanlagte unter ihnen bleibt oben, der Versclnvender wird arm.
Gegenüber allen diesen Fällen, in denen die Armut eine Folge
minderwertiger Eigenschaften ist, giebt es aber auch ein grofecs
Feld nonselektorisch bedingter Armut, die ihrem Opfer anhängt,
gleich, ob es tüchtig ist oder nicht Zur Erzeugung von Gütern
gehören nämlich nicht nur Arbeitswille und Arbeitskraft, sondern
auch Naturstoffe, aus denen ja erst mit Hilfe der Arbeit die ge-
wünschten Güter entstehen können. Wenn nun einzig einem Bruch-
teil von Menschen bereits die Produktionsmittel gehören allein
durch das Vorrecht ihrer Geburt, und sie das durch die Allgemein-
heit verteidigte Recht besitzen, jeden anderen von der Benutzung
abzuhalten, so wird dadurch für den grofeen Rest der Menschen
eine Zwangslage geschaffen, die ihn verhindert, ohne weitere Um-
stände Güter zu produzieren. Diese rechtliche Enterbung eines
grofsen Teils unserer Mitbürger hat zur Folge, dafs sie um jeden
Preis ihre Arbeitskraft den Besitzenden anbieten müssen, und des-
halb auf bekannte Weise daran verhindert werden, genügend wirt-
schaftliche Güter zu erwerben. Da dieser rechtliche Zustand durch
die Waffengewalt des Staates aufrecht erhalten wird, ist die allein
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Alfred P I o e 1 1 ,
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daraus entspringende Armut der blofs Arbeitskraft Besitzenden be-
dingt durcli übermächtige Schädlichkeiten und also nonselekto-
rischer Art.
jedoch durch folgende Umstände ist die kapitallose Geburt
nicht ein rein nonselektorisches Phänomen für die davon Betroffenen.
Schon die Geschichte der ursprünglichen Erlangung von l'rivelegien
in Bezug auf den Besitz von Produktionsmittel zeigt uns, dafs ein
grofser Teil der Erwerber derselben zwar in Bezug auf rücksichts-
losen Egoismus, aber auch auf Thatkraft, Umsicht und Intelligenz
hervorragend waren. Ihre Nachkommen waren durch Vererbung
häufiger tüchtig als untüchtig. Soweit sie tüchtig waren, hielten
sic oft das ererbte Gut beisammen oder vermehrten cs; soweit sie
untüchtig waren, verschwand es oft wieder aus ihren Händen, und
sie versanken in tiefere Stufen der Lebenshaltung. Dieser Prozefs
ist bis heute fortgegangen, und die heutigen Besitzer sind thatsäch-
lich zu einem Teil eine Auslese ganz bestimmter Charaktere, die
neben einem scharfen Erwerbssinn, Fleil's, Sparsamkeit, Thatkraft
und Intelligenz besitzen, zu einem anderen Teil die schlechten
Varianten der früheren tüchtigen Besitzer. Diese schlechten Vari-
anten sinken früher oder später in niedrigere Lebenshaltungen.
Dazu kommt ein permanentes, wenn auch wenig zahlreiches Auf-
steigen besonders tüchtiger Varianten aus tieferen Schichten bis zu
grolsem Besitz, so dafs man im allgemeinen sagen kann, dafs die
Nachkommen der heutigen grölseren Besitzer, auch bei Berück-
sichtigung der Quote mit zu stark betontem wirtschaftlichen Egois-
mus, doch prozentisch bedeutend mehr Tüchtige unter sich zählen,
als die der Armen. Dadurch ist bei diesen letzteren die That-
sache, dafs sie enterbt geboren werden, oft der Ausdruck der Ver-
erbung der Eigenschaften selektorisch Armer, also oft nur ein Glied
in der sich häufig genug durch Generationen hinziehenden wirt-
schaftlichen Ausjätung. Aber damit wird die Thatsache natürlich
nicht aus der Welt geschafft, dafs es unter den Armen eine ganze
Reihe tüchtiger Varianten giebt, tüchtig besonders auf allen mög-
lichen anderen Gebieten als gerade dem Erwerbsleben, deren Ent-
erbung bei der Geburt eine rein nonselektorisehe Schädlichkeit für
sie und eine Vergeudung von Kraft für die Kasse bildet.
Ueber den letzten der Entwicklungsfaktoren, die Vererbung,
brauchen wir uns nicht weiter auszulassen. Die Thatsache ist all-
gemein bekannt, dafs durchschnittlich tüchtige Eltern unter ihren
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Sozialpolitik und Hassenhygiene in ihrem prinzipiellen Verhältnis. 405
Nachkommen einen grölseren Prozentsatz von Tüchtigen aufweisen
als untüchtige Eltern.
Diese Skizzierung des Lebensprozesses unserer Rasse wäre
jedoch nicht vollständig ohne die Erwähnung, der auch bei den
Tieren beobachteten sogenannten Kontraselektion, d. h. der Schädi-
gung von Tüchtigen, gerade weil sie tüchtig sind, und der Förde-
rung von Schwachen, gerade weil sie schwach sind. Wenn wir
mehrere Male im Jahrhundert die Blüte unserer Völker auf die
Schlachtfelder schicken, um sie durch Waffen und Krankheiten
dezimieren zu lassen, während der Rest zu Hause bleibt und der-
weilen Kinder zeugt, so ist das ein Ausmerzen von Starken, weil
sie stark sind. Und wenn das auch zum Kampf ums Dasein
der Rassen untereinander gehört, so bleibt deshalb die Bedeutung
des Krieges für die Rasse selbst doch immer eine kontraselek-
torische. Wenn andererseits ein Kranker irgend einer sozialen Schicht
sorgfältig verpflegt wird, viel sorgfältiger als irgend ein Gesunder
derselben Schicht, so bedeutet das oft ein Erhaltenwerden durch
günstige Pflege, während vielleicht ein Tüchtiger in unverschuldeter
Armut der Elimination verfallt.
Gegen diese Anwendung darwinistischer Prinzipien auf die
Erhaltung und Weiterentwicklung unserer menschlichen Rasse wird
noch häufig folgender Einwand erhoben. Es wird zwar zugegeben,
dals der ganze Mechanismus zu einer feinen Anpassung der mensch-
lichen Rasse an ihre Umgebung führt, aber nicht zu einer Vervoll-
kommnung. Allein wir können uns bei näherer Ueberlegung leicht
davon überzeugen, dafs im Falle der Menschen die bessere An-
passung zugleich ein höherer Grad von Vollkommenheit ist. Denn
es findet nicht nur eine günstige Variation inbezug auf einfache
Konstitutionskraft und eine extrale Ausjäte der hierin ungünstigen
Varianten statt, die zur Anpassung der Rasse an die äufsere Natur-
umgebung führt, sondern es findet auch eine günstige Variation
statt inbezug auf die soziale Konstitutionskraft, d. h. inbezug auf
die Eigenschaften, welche die soziale Umgebung, bestehend aus
den anderen Individuen, zu einer günstigen machen, und eine soziale
Ausjätung der hierin unpassenden Varianten, wodurch die An-
passung der Individuen an ihre soziale Umgebung bewirkt wird. Die
extrale Anpassung erzeugt zwar nur das, was wir Gesundheit und körper-
liche Konstitutionskraft im engeren Sinne nennen, allein die soziale An-
passung erzeugt, und zwar besonders durch die sexuelle und Socie-
täten-Auslese, wenigstens einen grofsen Teil derjenigen Eigenschaften,
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4ö6
Alfred P I o c t z , •
die wir gewöhnlich als Konstituenten der Vollkommenheit ansehen,
wie Schönheit, Anmut, Liebenswürdigkeit, Altruismus, ja sogar
Heldentum. Das im Einzelnen alles nachzuweisen pafst nicht in
dem engen Rahmen dieser Erörterung.
Die Kombination : Variabilität, Kampf ums Dasein, Vererbung,
erscheint also als wirksam für Erhaltung wie Vervollkommnung.
Aber wie langsam und umständlich und vor allem wie grausam
arbeitet dieser Prozefs! Im I .aufe der Hunderttausende von Genera-
tionen, die das Menschengeschlecht wohl schon existiert, sind Milli-
onen blühender Leben nutzlos durch übermächtige Einflüsse ver-
nichtet worden, sind abermals Millionen im .Kampf ums Dasein
niedergetreten worden oder in elendem Siechtum verkommen, und
endloser Jammer ist der Preis gewesen für jeden kleinen Fortschritt
des Menschen in seiner Anpassung an die Erde und an seine eigene
Gesellschaft. Noch heute ist es nicht anders. Erst in neuester
Zeit ist unserer Rasse ein Selbstbcwufstsein ihrer Entwicklung ge-
wachsen, und sie geht an den Versuch, sich den Gang dieser Ent-
wicklung selbst zu gestalten und ihn in mildere und doch wirk-
samere Formen zu lenken.
Hiermit gelangen wir zur Rassenhygiene. Ihr Gegenstand ist
die Frage: wie werden die Faktoren der Erhaltung und Entwicklung
optimal gestaltet, damit die Erhaltung möglichst gesichert und die
Entwicklung möglichst rasch gefördert wird? Betrachten wir erst
die Optima der einzelnen Faktoren für sich und dann ihr Zu-
sammenwirken.
Was zunächst das eigentlich schöpferische Moment der Ent-
wicklung anlangt, die Variabilität, so wäre das Optimum natürlich
die F>zeugung möglichst vieler Variationen, die tüchtige und hoch-
entwickelte Individuen darstellen, und die Erzeugung möglichst
weniger untüchtiger Variationen. Die Ursachen der besonders
guten oder gar progressiven Variationen kennt man noch nicht.
Dagegen kennt man eine Anzahl von Ursachen der schlechten
Variation, auf die wir später noch zurückzukommen haben. Hier
würde also die Rassenhygiene die Vermeidung aller dieser Ur-
sachen fordern.
Inbezug auf die nonselektorische Elimination wäre das Optimum
ihre Reduzierung auf Null. Denn diese Elimination ist eine pure
Vergeudung der Zeugungskraft der Rasse und vermindert nur ihre
Widerstandskraft im Kampf ums Dasein.
Das Optimum der sclektorischen Elimination wäre eine solche
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Sozialpolitik und Rassenhygiene in ihrem prinzipiellen Verhältnis.
Verschärfung, resp. eine solche Erhöhung der Ungunst der Um-
gebung, dafs nur so viel der tüchtigsten Varianten jedesmal zur
Nachzucht übrig bleiben, dafs der Bestand der Rasse nicht gefährdet
wird. Da manche der ausmerzenden Faktoren sich über mehrere
Generationen hinziehen, ehe sie ihre völlig abschliefsende Wirkung
erzielt haben und mittlerweile die Glieder der zuerst noch nicht
gleich bis zum Tode oder bis zur Fortpflanzungs-Unfähigkeit ge-
schädigten Nachkommenschaft Zeit haben, sich mit Tüchtigeren zu
paaren, so sind unter den ausjätenden Faktoren diejenigen die
rassen hygienisch günstigsten, die ihr Werk möglichst rasch beenden.
Einer der kräftigsten Ausjäter heute ist der Alkohol. Aber er
braucht gewöhnlich viel Zeit dazu. Ein starker Trinker, der zudem
manchmal in seinen zwanziger Jahren noch nicht viel trinkt, wird
selten gleich sexuell ausgemerzt dadurch, dafs er keine Frau be-
kommt. Oft genug verheiratet er sich und bekommt nun zwar
nachgewiesenermafsen durchschnittlich weniger Kinder als die
Nichttrinker, allein er bekommt doch welche. Die taugen nun
allerdings meistens nicht viel, sind kleiner, schwächlicher und haben
eine grofse Sterblichkeit. Allein ein gewisser Teil von ihnen kommt
doch zur Verheiratung und vererbt nun seine Schwächen in er-
höhtem Mafse, wenn er eine untüchtige F'rau bekommt, oder vererbt
sie in geringerem Mafse, wenn er eine kräftige Frau bekommt. Im
ersteren Falle geht die Degeneration weiter vorwärts, im zweiten
Fall kann bei ihm zwar eine geringe Regeneration eintreten, aber nur
auf Kosten seiner tüchtigen Frau, deren gute Variations- und Ver-
erbungsmöglichkeiten er verdirbt. Auch dieser Nachwuchs ist also
noch immer minderwertig und verfällt deshalb leichter der Ausjäte,
kann aber seinerseits auch wieder tüchtige Varianten von ihrer
Höhe herabzichen. Wenn somit der Alkohol auch schliefslich neben
vielfacher nonselektorischen Schädigung eine starke ausjätende Funk-
tion denen gegenüber vollführt, die durch Leichtsinn, durch Mangel
an sittlichen Hemmungen und vor allem durch eine Sucht, sich zu
berauschen, zu den Untüchtigen gezählt werden müssen, so führt
er doch seine Rolle so langsam aus und wälzt sich so überflüssig
breit und zermalmend über eine Masse Menschen, die gar nicht
einmal nach ihm süchtig sind, sondern ihm nur indirekt ihre
Schwäche verdanken, dafs man gerade bei diesem Beispiel leicht
einsieht, wie viel vorteilhafter es für die Rasse ist, wenn an Stelle
eines solchen umständlichen und kostspieligen Faktors der Aus-
jätung ein anderer tritt, der seine Arbeit rasch und mit viel weniger
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A I fre d 1* lo et z.
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Schmerzen besorgt. Ganz ähnlich verhält es sich mit der Syphilis
und mit der Tuberkulose.
Eine günstigere Art der Ausjäte ist die der Unerwacbsenen
bis zur Zeit der Reife, also hauptsächlich die der Kinder. Man
weifs, dafs die Mortalität der Kinder in den ersten Lebensjahren
sehr hoch ist, dafs bis zum fünften Jahr oft ein Drittel der Ge-
borenen bereits wieder gestorben ist. Diese Sterblichkeit ist zwar
zu einem gewissen Teil nonselektorisch als Folge nonselektorischer
Armut der Eltern, allein der grölste Teil ist selektorischer Art und
ist die Folge einer geringeren Widerstandskraft gegen die gewöhn-
lichen Schädlichkeiten des Lebens, speziell der Ernährung.
Am mildesten und dabei doch am raschesten und wirksamsten
erscheint die sexuelle Ausjäte. Ein Mann oder eine Frau können
noch so kräftig sein, wenn sie keine Kinder haben, kommen sie für
das Fortleben der Rasse nicht in Betracht. Die Ausmerzung ist
glatt und vollständig, ohne dafs erst schwache Varianten in die
Welt gesetzt werden, die sich ein paar Generationen hindurch mit
dem Leben abquälen und schließlich doch zu Grunde gehen. Des-
halb ist die sexuelle die Idealausjäte unter den Individuen. Die
Frage ist nur, kann sie alle anderen Arten der Ausjäte insofern
vertreten, als sie nach derselben Richtung hin züchtet, d. h. die
Träger derselben Eigenschaften ausjätet, wie die anderen Arten.
Zu einem Teil ist das sicher der Fall, besonders soweit Heiraten
ein auch im biologischen Sinne auslcsender Prozefs ist. was be-
kanntlich keineswegs immer zutrifft aus ähnlichen Gründen der
Rücksicht auf Privilegien der Geburt, die wir bereits vorher er-
wähnten. Soweit jedoch eine Heirat selektorisch ist, erfolgt die
Wahl meistens auf Grund der Ueberzeugung von irgend einer
biologischen Wertigkeit, von stattlichem Wuchs, von Gesundheit,
Schönheit, Kraft, Güte, Intelligenz, Lebhaftigkeit etc., alles Dinge,
die entweder im extralen oder sozialen Kampf ums Dasein von
Bedeutung sind und Errungenschaften der bisherigen menschlichen
Entwicklung darstellen.
Das Optimum der Kontraselektion wäre natürlich ihre Redu-
zierung auf Null. Die Bewegung, die gegen die Kriege wenigstens
unter den höchststehenden Völkern gerichtet ist, ist deshalb emi-
nent im Sinne der Rassenhygiene, um so mehr als sie gerade bei
uns in Europa eine höchst, entwickelte Rasse, die der blonden
N'ordeuropäer, vor der kontraselektorischen Abbröckelung besonders
beschützen würde, denn gerade diese Rasscnelemente sind es, die
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Sozialpolitik und Raucnliygicnc in ihrem prinzipiellen Verhältnis.
4°9
durch ihre Körpergröße und militärisclien Tugenden hauptsächlich
in den Kriegen leiden. Nur etwa */a der jungen Leute ist tauglich,
und unter diesen Tauglichen bilden die Individuen der germanischen
Rasse einen bei weitem gröfseren Bruchteil als die der anderen
Rassen.
Man braucht nicht so weit zu gehen, wie Darwin, Gobi-
neau, Nietzsche, Ammon undChambcrlain, und die germa-
nische Rasse ohne Beweis, aus der blofsen Anschauung heraus, für
die weitaus beste zu erklären, deren Reinerhaltung eine der ersten
rassenhygienischen Forderungen sei. Man kann sogar der Meinung
sein, die auch nicht zu beweisen ist, dafs erst aus der Mischung
der Germanen mit ähnlich hochstehenden, aber verschiedenen Rassen,
die besten Typen entspringen. Es genügt auf jeden Fall voll-
kommen, in der hochgewachsenen weifsen Rasse mit dem steilen
Profil und dem grölsten Schädelinnenraum einen sehr wertvollen
und hochstehenden Typ zu erkennen, dessen Abschmelzung durch
kontraselektorische Einflüsse mit allen Kräften zu bekämpfen ist.
Was die Kontraselektion der Schwachen anlangt, so erscheint ihre
Beseitigung auf den ersten Blick im strengen Sinne der Rassen-
hygiene als selbstverständlich, allein wir werden weiterhin sehen,
dafs das durchaus nicht so einfach zu entscheiden ist.
Wenn wir nämlich nach dem Optimum des Verhaltens einer
Rasse im Kampf ums Dasein mit anderen Rassen fragen, so stofsen
wir zuerst wieder auf die schon früher erwähnte Forderung der
Ermöglichung eines möglichst hohen Geburtenüberschusses durch
quantitative Vermehrung der günstigen Umgebung, also z. B. für
uns durch Kolonien in den gemäfsigten Landstrichen. So ge-
wannen die 70 Millionen Nordeuropäer Raum in Amerika und
Australien und entschieden dadurch wahrscheinlich ein für allemal
■das Uebergewicht der nordarischen Rasse. Sodann stofsen wir
aber auf eine zweite Hauptforderung, die der möglichsten Redu-
zierung der inneren Reibung, um Kraft nach aufsen zu gewinnen.
Gerade wie unter sonst gleichen Umständen eine Familie um so
stärker nach aufsen dasteht, je weniger innere Reibung in ihr ist,
d. h. je mehr Altruismus die einzelnen Glieder gegeneinander be-
thätigen, standen auch die Stämme und gröfseren Gemeinschaften
um so stärker da, je mehr der Altruismus im weitesten Sinne des
Wortes, d. h. je mehr Respektierung und Förderung des anderen
Individuums unter ihnen zur Uebung gelangte. Und bei dieser
rassenhygienischen Forderung des Altruismus stofsen wir auf den
Archiv für *oz. Gesetzgebung u. Statistik. XVII. 27
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Alfred IMoetz,
Widerspruch gegen die Kontraselektion der Schwachen, aber auch
gegen alle selektorischen und nonselektorischen Schädigungen von
Individuen, die von anderen Individuen ausgehen, also auf einen
Widerspruch auch gegen den sozialen Kampf ums Dasein. Da, wie
wir sahen, auch die moderne Sozialpolitik in ihrer einen Hälfte
nichts ist als eine Dokumentation des Altruismus und eine Milderung
des Kampfes ums Dasein, so führt uns dieser Konflikt innerhalb
der Rassenhygiene auf die Sozialpolitik zurück, und wir wollen des-
halb die Erläuterung dieses Konfliktes zugleich betrachten mit der
rassenhygienischen Bedeutung der Sozialpolitik und ihrer einzelnen
Bestrebungen.
Von den beiden Hauptrichtungen der modernen Sozialpolitik,
der demokratischen und humanitären, hat die demokratische, d. h.
die Abschaffung aller Vorrechte der Geburt, also auch des Erbrechts
an Produktionsmitteln, rassenhygienisch sehr verschiedene Be-
deutungen. Erstens eine starke Verringerung der nonselektorischen
Armut, da nun auch die bisher enterbten tüchtigen Varianten mit
den nötigen Produktionsbedingungen ausgerüstet werden. Zweitens
bedeutet sie ein verzögerndes Eingreifen in die Auslese, da sie die
Erben der guten wirtschaftlichen Anlagen der besitzenden Eltern
der Mittel beraubt, den Sieg der Eltern auch für die erwachsenen
Kinder weiter wirken zu lassen. Drittens bedeutet sie ein ver-
zögerndes Eingreifen in die Ausjätc, da sie den Untergang der
Nachkommen von selektorisch Armen verzögert, die durch Ver-
erbung überwiegend untüchtig sind und kapitallos rascher unter-
liegen würden. Viertens aber bedeutet sie eine Beschleunigung der
Ausjäte derjenigen schlechten Varianten, die trotzdem sie Kinder
der Besitzenden sind , die tüchtigen Eigenschaften nicht geerbt
haben, sondern degeneriert sind. Solche schlechten Varianten werden
heute oft genug erhalten durch die grossen Einkommen, die sie
mühelos von ihren Eltern ererben, und würden einen sehr zweifel-
haften Erfolg im Kampf ums Dasein haben, wenn sie mit keiner
anderen Hülfe bestehen sollten, als mit demselben Recht an der
Benutzung der Produktionsmittel wie alle anderen auch.
Eine rassenhygienische Schädlichkeit durch demokratische
Forderungen erwächst also höchstens durch eine Verzögerung der
Auslese der tüchtigen Kinder tüchtiger Besitzender und der Aus-
jäte der untüchtigen Kinder untüchtiger Armer. Da jedoch dem
Siege dieser tüchtigen Kinder und dem Niedergang der untüchtigen
auf die Dauer nichts im Wege steht, so ist diese Schädlichkeit nur
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Sozialpolitik und Rassrnhygienc in ihrem prinzipiellen Verhältnis. } i j
sehr gering anzuschlagen, gerade so gering wie der Vorteil der
Beschleunigung der Ausjätung untüchtiger Erbsöhne. Um so mehr
springt der grofse Nutzen der starken Verminderung der non-
selektorischen Armut ins Auge.
Dazu kommt, dafe der Streit zwischen Privilegierten und Unter-
drückten um die aristokratischen Vorrechte zu gewissen Zeiten solche
Dimensionen angenommen hat, dafs die betreffende Gemeinschaft,
innerhalb deren der Streit bestand, oft die gröfsten Erschütterungen
erlitt zum Schaden ihrer Kraft im Kampf ums Dasein mit anderen
Gemeinschaften. Auch heute noch besteht diese Gefahr fort, gerade
für unsere am weitesten entwickelten Staaten am meisten. Soweit
also die moderne Sozialpolitik auf die demokratischen Forderungen
der Abschaffung aller Vorrechte der Geburt hindrängt, hat sie die
Kassenhygiene als kräftigen Anwalt neben sich.
Wie verhält es sich nun mit der humanitären Seite der Sozial-
j>olitik? Die humanitäre Bethätigung bedeutet stets eine Unter-
stützung ganz im allgemeinen Sinne von Menschen, die einer Unter-
stützung bedürfen. Das sind entweder die Tüchtigen oder die Un-
tüchtigen. Insofern als die Tüchtigen unterstützt werden, besonders
wenn sie sich im Zustande nonselektorischer Armut befinden und
vorübergehend, durch Krankheiten z. B. geschwächt sind, kommt
natürlich kein Konflikt mit rassenhygienischen Forderungen zustande.
Wohl aber, sobald es sich um die Unterstützung von Untüchtigen
handelt, um den Schutz der schwach beanlagten Individuen. Hier-
mit greift die humanitäre Bethätigung ein in den Kampf ums Da-
sein durch Verzögerung oder gänzliche Verhinderung der Ausjäte
von Untüchtigen.
Auf der anderen Seite jedoch liegt die humanitäre Bethätigung
ganz in der Richtung der rassenhygienischen Forderungen des
Altruismus unter den Mitgliedern einer Rasse, um durch Vermin-
derung der inneren Reibung mehr Kraft nach aufsen entfalten zu
können. Insofern ist also dieser Teil der Sozialpolitik identisch mit
einer rassenhygienischen Forderung selbst, und wir stehen vor einem
Zwiespalt im eigenen Lager, den wir näher betrachten wollen, nach-
dem wir uns noch vorher davon überzeugt haben, wie die Einzel-
bestrebungen der Sozialpolitik sich dem eben skizzierten allgemeinen
Verhalten der Sozialpolitik in rassenhygienischer Beziehung fügen.
Die Altersversicherung ist gleichbedeutend mit einem Schutz
von Individuen, die nur noch indirekt mit dem I.ebensprozels der
Rasse zu thun haben. Schwache und Starke haben ihr Leben hin-
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412
Alfred P 1 o c t z ,
durch dafür gesteuert, dal's den überlebenden Kräftigeren in ihrem
Alter geholfen wird. Ks handelt sich also eher um eine Mehrbe-
lastung von Schwachen. Bei der Krankenversicherung ist es eher
umgekehrt. Alle, die Kräftigen und die Schwachen, zahlen, aber
ganz überwiegend ist es der Schwache, der die Leistungen bean-
sprucht. Da die Schwachen aber immer die beiden Arten der
nonselektorisch Geschädigten und der schwach Beanlagten umfassen,
so ist es nur der letztere Teil, dessen Schutz gegen eine rassen-
hygienische Bedingung verstöfst, während er einer anderen, der Bc-
thätigung des Altruismus konform ist. Die Unfallversicherung ver-
hält sich genau so wie die Krankenversicherung, nur dafs hier die
Begünstigung nonselektorisch Geschädigter viel umfangreicher ist
als die der selektorisch Geschädigten. Dafs die letztere Klasse
überhaupt vorhanden ist, d. h. dafs viele Menschen Unfälle erleiden
auf Grund ihrer minderwertigen Eigenschaften, ist jedem Arzte
wohlbekannt. Schlaffheit, Langsamkeit, mangelhafte Seh- und Hör-
schärfe, Dummheit, Trunksucht etc. disponieren ihre Träger eher
zu Unfällen als Raschheit, gutes Gehör und Gesicht, Intelligenz,
Geistesgegenwart und Nüchternheit. Natürlich giebt es auch eine
Masse Unfälle, vor denen kein noch so tüchtiger Arbeiter sicher
ist. Also auch hier Ausgleichung nonselektorischer Schädlichkeiten
und Schutz der Untüchtigen.
Bei der Versicherung gegen Arbeitslosigkeit dagegen würde die
Begünstigung nonselektorisch Armer zwar auch bei Krisen z. B. und
bei Entlassung selbständiger Charaktere in Aktion treten, allein sie
würde doch nur eine geringe Rolle spielen gegenüber der Be-
günstigung Minderwertiger, die keine Arbeit erhalten konnten oder
wieder entlassen wurden, weil sie eine schlechte Qualität Arbeiter
repräsentieren. Also hier ganz überwiegend Schutz der schwach
Beanlagten.
Der Schutz der Schwangeren und Mütter ist ein Schutz non-
selektorisch und selektorisch Armer, die nicht genügend Einkommen
erwerben können, um ihre Frauen vor den Arbeitsunbilden zu
sichern. Dasselbe gilt für die Einschränkung der Kinderarbeit.
Die Antialkohol-Bestrebungen befinden sich durch Verminderung
nonselektorischer Keimvergiftung mit der Rassenhygiene im Ein-
klang, nicht so ohne weiteres jedoch durch ihre Verminderung der
Ausjäte Untüchtiger. Es liegt zwar auch im Interesse der Rassen-
hygiene, an Stelle der langsamen und übermäfsig breitspurigen Al-
koholausjäte eine andere, rascher wirkende Ausjäte zu setzen, und
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Sozialpolitik uml Kassenhygiene in ihrem prinzipiellen Verhältnis.
4« 3
zwar die sexuelle. Aber soweit das nicht gelingt, liegt in Bezug
auf seine selektorische Wirkung immer derselbe Konflikt vor wie
sonst beim Schutz der Schwachen.
Was die industriellen Keimgifte, Quecksilber, Blei, Phosphor
anlangt, so gilt für sie bei genauerem Zusehen ähnliches wie für
den Alkohol.
Bei der Verringerung der Arbeitszeit, sowie bei der Aufbesserung
der Löhne handelt es sich stets wieder um die Aufhebung nonse-
lektorischer Schädlichkeiten auf der einen Seite und den Schutz
der Schwachen auf der anderen. Dasselbe gilt für die freie ärzt-
liche Behandlung.
Wir ersehen aus alledem, was wir schon vorher konstatierten :
die humanitäre Seite der Sozialpolitik hat rassenhygienisch zwei Be-
deutungen: sie hebt nonselektorischc Schädlichkeiten auf und sie
schützt die Schwachen. Durch den Schutz der Schwachen ist sie im
Einklang mit der rassenhygienischen Forderung der möglichsten Ver-
stärkung altruistischer Bethätigung, aber gerade hierdurch auch im
Gegensatz zu einer anderen äufserst wichtigen rassenhygienischen
Forderung, nämlich der Erhaltung des Kampfes ums Dasein und
der Ausjätung.
Damit sind wir nun endlich zu der Notwendigkeit gedrängt,
diesen Widerspruch, der sich somit zu einem solchen innerhalb der
Rassenhygienie selbst zugespitzt hat, zu prüfen und womöglich zu
heben.
Der Konflikt ist von vielen Männern empfunden worden, bc-’
sonders auch von Darwin, dem wir für das erste Aufdecken der Ent-
wicklungsfaktoren tief verschuldet sind. ') Darwin hielt den Kampf
ums Dasein für so notwendig, dafs er klar aussprach : „Wenn der
Mensch noch höher fortschreiten soll, ist cs zu furchten, dafs er
einem strengen Kampf ums Dasein unterworfen bleiben mufs.“
Auch Huxley und Spencer wissen keinen andern Rat, ebenso
wenig Haeckel, Oskar Schmidt, Ziegler, Ammon und die meisten
Naturwissenschaftler, die sich mit dem Entwicklungsproblem der
Menschheit beschäftigt haben.
Andere, wie Broca, erhoffen alles von der Vererbung der
im Laufe des Individuallebens erworbenen Eigenschaften auf die
*) Dir neuerlichen Angriffe gegen Darwin hnl I’latc in vortrefflicher Weise
rurtickgewiesen in seiner Schrift: Leber Bedeutung und Tragweite des Darwinschen
Sclektionsprinzips. Leipzig 1900.
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414
Alfred Ploeti,
Nachkommenschaft. Sie glauben, durch die hohe Uebung unserer
guten Eigenschaften es dahin zu bringen, dafs die Uebungsresultate
in Form von verstärkten Anlagen auf die Kinder übertragen werden,
und so direkt das Menschengeschlecht zu vervollkommen. Darwin,
der die Möglichkeit dieses Vorganges noch wie alle damaligen
Biologen ohne weiteres annahm, hielt ihn jedoch nicht für wirksam
genug, um die Ausjätung entbehrlich zu machen. Neuerdings hat
Weismann diese Lehre der Vererbung erworbener Eigenschaften
so zweifelhaft zu machen gewufst, dafs bei genauer Nachforschung
wenigstens bei den höheren Tieren auch nicht ein einziger zweifel-
loser Fall zu konstatieren war. Also diese Hoffnung ist vorläufig
unsicher.
Ich kann hier nicht alle die vielen unzureichenden Vorschläge
anführen, die besonders in England gemacht worden sind, ich will
nur den von Alfred W a 1 1 a c e erwähnen , weil er der mit
Darwin gleichzeitige Begründer der Selektionstheorie war und zu-
gleich als Sozialist und englischer Fabier eine führende Stellung in
seiner Heimat einnahm. Wallace hält den Sozialismus für die zu-
künftige Wirtschaftsform und glaubt, dafs durch ihn die Frauen
wieder die volle sexuelle Wahlfreiheit bekommen würden, die sie
heute zum gröfeten Teil verloren haben durch die Notwendigkeit,
eine Versorgung zu suchen. Er meint, in einer Gesellschaft, in der
alle F'rauen in der Geldfrage unabhängig wären, würde die Anzahl
derer, die aus eigener Wahl unverheiratet bleiben würden, stark
wachsen, weil es eine grofse Anzahl Frauen gäbe, die überhaupt nicht
so sehr zur Ehe drängten. Andererseits sei die leidenschaftliche Liebe
beim Mann allgemeiner und gewöhnlich stärker. Und da sich in
einer sozialistischen Gesellschaft aufser der Ehe kaum ein anderer
Weg finden würde, ihr zu genügen, so würde fast jedes Weib An-
träge und damit wieder eine auslesende Funktion in die Hände
bekommen. Unter dem Druck einer geeigneten Erziehungswei.se
würde diese Funktion auch thatsächlich ausgeübt werden, und Ar-
beitsscheue, Kranke, geistig Schwache oder Selbstsüchtige würden
in der Regel ehelos bleiben.
Man kann zugestehen, dafs Vorgänge ähnlicher Tendenz sich
in einer reformierten Gesellschaft einstellen würden, aber es ist
schwer, zu der Ueberzeugung zu gelangen, dafs die so verbesserte
und verschärfte sexuelle Auslese genügend wirksam sein wird, das
starke Manquo der fortgefallenen extralen und sozialen Ausjätc zu
ersetzen.
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Sozialpolitik und Rassenhygiene in ihrem prinzipiellen Verhältnis.
415
Ein Vortlieil wäre es ja immer, und wie wir schon vorher
sahen, ist eine verschärfte sexuelle Ausjäte überhaupt, auch ohne
Rücksicht auf den uns beschäftigenden rassenhygienischen Konflikt,
den anderen Arten der Ausjäte vorzuziehen, aber genügen wird
sie nicht.
Denn erstens sehen wir, dafs es genug minderwertige Indivi-
duen beiderlei Geschlechts giebt, die ganz gut wissen, dafs sie nicht
so begehrenswert sind, und die bei Abwesenheit ökonomischer
Schwierigkeiten ruhig zur Ehe schreiten mit Individuen des anderen
Geschlechts, die gleich minderwertig sind. Man sieht doch die
merkwürdigsten, ja geradezu widerwärtige Personen eine Ehe ein-
gehen. Dieses Heiraten von minderwertigen Personen untereinander,
das heute verhältnismäfsig geringe Bedeutung hat, würde von um
so gröfserer Bedeutung werden, als dem ehelosen Manne die Ent-
schädigung durch die Prostitution nicht mehr in dem Mafse möglich
sein wird, wie heute. Er wird viel häufiger in die Lage kommen,
entweder auf jeden geschlechtlichen Verkehr verzichten oder eine
Frau heiraten zu müssen, die zwar nicht zu den besten und
schönsten gehört, die aber doch ein Weib ist, das ihm Liehe und
Kinder geben kann.
Zweitens, und das ist ausschlaggebend, hat die sexuelle Aus-
merze nur einen verhältnismäfsig beschränkten Spielraum, über eine
gewisse Schärfe hinaus beginnt sie die Vermehrung der Rasse zu
verhindern.
Die Abwälzung der gesamten Ausjätung auf die sexuelle trifft
also auf feste Hindernisse und ist deshalb nicht fähig, den Konflikt
zu lösen. Zudem ist auch die sexuelle Ausjäfe nicht frei von
Schmerzen und es gellt dabei nicht ohne Schädigung der Individuen
ab. Also selbst bei vorausgesetztem quantitativen Genügen kein prin-
zipieller Ausgleich. Inbezug auf die Schädigung durch die sexuelle
Ausjätung ist es nicht nur die gesellschaftliche Stellung der alten
Jungfer, die viele ältere Mädchen quält, es sind nicht nur ihre all-
mählich eintretenden psychischen Verschiedenheiten von den ver-
heirateten Frauen, sondern vor allem das bei liebebedürftigen
Naturen stark ausgeprägte Verlangen nach einer innigen Lebens-
gemeinschaft, wie sie eben nur mit einem Manne, selten mit Frauen
möglich ist, und wohl ebenso sehr die Sehnsucht nach einem Kinde,
das mit Mutterlust gehegt und gepflegt, und das auch dem ein-
samsten Weibe Zweck und Inhalt seines I xbens werden kann.
Es giebt meiner Meinung nach nur einen Weg, den Konflikt
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4i6
Alfred 1* 1 o e t z ,
zwischen der Notwendigkeit des Kampfes ums Dasein und der Not-
wendigkeit der Bethätigung des Altruismus zu lösen.
Dieser Weg besteht in der Abwälzung des Kampfes
ums Dasein und der Ausjäte auf die Variabilität, d. h.
in dem Bestreben, die bisher so wenig bekannten Gesetze der
Variabilität zu erforschen und sie bewufst auf die Verbesserung des
Nachwuchses anzuwenden. Denn je mehr wir im stände sind, die
Erzeugung schlechter Varianten zu verhindern, desto weniger
brauchen wir natürlich den Kampf ums Dasein, um sie wieder aus-
zujäten. Wir würden ihn gar nicht mehr brauchen, wenn wir es
in unsere Macht bekämen, in jeder Generation der Gesamtheit der
geborenen Varianten einen etwas höheren Durchschnitt zu geben, als
die Eltern ihn bereits hatten.
Wir hatten ja schon früher konstatiert, dal's allein die Variation
ein schöpferischer Entwicklungsfaktor ist, und dafs der Kampf ums
Dasein nur eine regulierende und präservierende, aber selbst keine
schöpferische Funktion ausübt. Nur das Geheimnilsvolle, das über
der Variabilität schwebte, weil man ihr näheres Geschehen nicht
kannte, kann erklären, dafs selbst Männer wie Darwin, nicht auf
die einfache Idee kamen, die Variabilität unter die menschliche
Herrschaft zu nehmen und so dem Kampf ums Dasein das Terrain
abzugraben. Aber ich sehe keinen Grund, weshalb wir nicht
diesem Geheimnis erfolgreich auf den Leib rücken könnten, denn
wir beobachten in der Natur und beim Menschen alle Tage, dafs
tüchtige und sogar fortschreitende Variationen immerfort erzeugt
werden, — aus aflfenähnlichen Wesen sind ja thatsächlich alle Varia-
tionen eines Göthe, Beethoven allmählich hervorgekrochen — und
da die Zeugung ein natürlicher Vorgang ist, der in der Kette der
chemisch-physikalischen Abhängigkeiten steht, so ist nicht abzusehen,
weshalb wir diese Abhängigkeiten nicht allmählich aufdecken sollten.
Es ist ja bis heute fast noch keine Arbeit darauf verwendet worden,
und es ist auch gar nicht nötig, die Vorgänge bis zu den feinsten
Einzelheiten zu erforschen, es genügt, die gröberen empirischen Ab-
hängigkeiten und Korrelationen festzustcllen. Dazu kommt, dal's
wir, wie jeder aufmerksame Leser aus dem Vorhergehenden leicht
ersehen wird, gar keine Wahl haben, ob wir diesen Weg betreten
wollen oder nicht, wir müssen einfach, denn es giebt keinen anderen
bei Strafe der Degeneration unserer Rasse.
Sehen wir nun, was wir etwa über die Ursachen und die Be-
herrschung der Variationen bereits heute feststellen können.
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Sozialpolitik und Kasscnlivgicnc in ihrem prinzipiellen Verhältnis. jiy
Die Variation geht entweder über den Durchschnitt der Eltern
hinaus, dann sprechen wir von Regeneration, wenn die Eltern un-
tüchtig waren, von fortschreitender Variation, wenn die Eltern be-
reits selbst tüchtige Typen repräsentierten. Oder die Variation geht
unter den Durchschnitt der Eltern herab, dann spricht man von
Degeneration oder rückschrcitender Variation. Ein Punkt in der Mitte
fortschreitender und rückschreitender Variation bildet die Vererbung,
die in Wirklichkeit nie völlig rein in die Erscheinung tritt, sondern
stets eine Tendenz bleibt.
Dafs sich allerlei Krankheitsanlagen und sonstige Schwächen,
körperliche und geistige, vererben, weifs man sehr gut, einiges wenige
weifs man über die Ursachen des noch tiefer unter die Eltern her-
absteigenden Variierens, der Degeneration, und so gut wie nichts
über das fortschreitende Variieren.
Eine I lauptursache rückschreitender Variation ist das Zusammen-
treffen zweier nach derselben Richtung schwacher Keimzellen. Wenn
zwei psychopathisch Belastete sich heiraten, geht fast immer der
Nachwuchs in der Degeneration noch ein Stück unter die Eltern,
ebenso z. B. in Bezug auf Anlage zur Tuberkulose. Hier könnte
viel durch Aufklärung der Eltern geschehen nach der Richtung der
Vermeidung zahlreicher Nachkommenschaft.
Eine zweite mächtig wirkende Ursache der Degeneration ist
die Vergiftung der Keimzellen auch tüchtiger Eltern durch Chemi-
kalien, besonders durch Alkohol. Hier vor allem hat meiner Meinung
nach die Propaganda gegen den Alkohol einzusetzen, denn keine
Dcgencrationsursache scheint so leicht vermeidbar wie diese. Wenn
erst der anfänglich durch die Wissenschaft, heute aber nur noch
durch die Produzenten von Wein, Schnaps und Bier in die Welt
gesetzte Schwindel von der nährenden, stärkenden Kraft des Alkohols
vernichtet sein wird, wird es den Leuten nicht mehr einfallen, wie
es noch immer geschieht, zur Erzeugung tüchtiger Kinder sich durch
Wein anzufeuern, und viele ernste Menschen werden es sich ange-
legen sein lassen, die Zeiten der Zeugung von denen des Alkohol-
genusses zu trennen.
Eine weitere beherrschbare Degenerationsursachc ist die Zeugung
durch zu junge oder zu alte Eltern. Der Tierzüchter weifs genau,
dafs die Nachkommenschaft noch nicht völlig erwachsener Tiere
nicht nur schwächlicher ist als die ganz gereifter Tiere, sondern
auch gerade die zuletzt erworbenen Rassecharaktere weniger gut
ausgeprägt zeigt. Aber die Menschen verheiraten ihre Töchter
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4 1 8
Alfred Ploctz
manchmal schon mit l6, ja mit 14 Jahren, zu einer Zeit, wo bei
unserer Rasse wenigstens von einer Reife keine Rede sein kann.
Unter 21 Jahren sollte keine Frau und unter 24 Jahren kein Mann
Kinder erzeugen. Fraglich ist, ob es je dahin kommen wird, aber
jede Annäherung ist von Vorteil. Was die Zeugung durch zu alte
Eltern betrifft, so scheint sie bei der Frau weniger eine Rolle zu
spielen, weil schon in relativ jungen Jahren ihre Zeugungskraft auf-
hört, wohl aber beim Manne. Wo hier die Grenze liegt, ist schwer
zu sagen, nach 50 wird durchschnittlich nicht mehr die volle Kraft
auf die Nachkommen vererbt, ln engem Zusammenhänge mit dem
Alter steht der Einflufs der Nummer in der Geburtenreihenfolge.
Die ersten vier Kinder einer Mutter, auch einer bereits älteren Mutter,
sind die lebenskräftigsten, dann geht es herunter zuerst in lang-
samem, dann in immer schnellerem Tempo, bis z. B. von den
zwölften Kindern bereits die Hälfte im ersten Lebensjahr zu Grunde
geht. Dr. H. Brehmer, der bekannte frühere Leiter von Görbersdorf,
machte die Beobachtung, dafs unter seinen Schwindsüchtigen die
sechst- und später Geborenen besonders zahlreich vertreten waren.
Auch bei Zwischenräumen zwischen den einzelnen Geburten, die
weniger als 2 Jahre betragen, zeigt sich eine Tendenz, nach der
schlechten Seite zu variieren.
F'ernere Quellen der Degeneration sind Inzucht, schlechte Rassen-
mischungen etc. Man sieht, es giebt auch bei tüchtigen Eltern eine
ganze Reihe von Ursachen, die zur Erzeugung von schwachen
Varianten führen können, und deren Vermeidbarkeit auf der Hand
liegt.
Nun noch ein Wort über aufsteigende Variation. Hier ist vor-
läufig noch so gut wie nichts bekannt. Man kann zwar erwarten,
dafs gerade so wie beim zeugenden Zusammentreffen zweier schlechten
Anlagen desselben Organs leicht eine Degeneration unter ihren
Durchschnitt cintritt, so auch beim Zusammentreffen zweier be-
sonders guter Anlagen die Möglichkeit einer aufsteigenden Variation
cintritt, allein bekannt darüber ist noch nichts. So wenig wie über
die aufsteigenden Variationen in das Gebiet neuer Entwicklungs-
möglichkeiten, weifs man bis jetzt exaktes über die Regeneration
untüchtiger Anlagen durch die Zeugung hindurch zu den normalen
tüchtigen. Dafs dies in Wirklichkeit öfter vorkommt, erscheint sicher,
ist auch biologisch gar nicht sehr unwahrscheinlich, denn bei ein-
zelligen Wesen kann man Regenerationsvorgänge, gerade wie auch
bei unseren Körperzellen l>eobachtcn, warum sollten nicht auch die
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Sozialpolitik und Rassonhygiene in ihrem prinzipiellen Verhältnis.
419
Keimzellen sich unter gewissen Bedingungen regenerieren können ?
Wenn wir die Kinder zweier Eltern betrachten, so sehen wir, dafs
einige mehr dem Vater ähnlich sind, andere mehr der Mutter. Das
kann manchmal so weit gehen, dafs ein Kind geradezu das Eben-
bild seines Vaters oder seiner Mutter genannt wird. Die Ver-
erbungskräftc von Vater und Mutter sind also verschieden unter
verschiedenen Umständen. Wenn es gelingt, diese Ursachen der
temporären Verschiedenheit der Vererbungskraft zu erforschen und
zu beherrschen, so wäre uns damit ein direktes Mittel der Regeneration
in die Hand gegeben. Denn der kräftigere der Eltern hätte dann
die Möglichkeit bekommen, seine bessere Konstitution öfter und mit
mehr Nachdruck zu vererben und so die Durchschnittsqualität des
Nachwuchses über den Elterndurchschnitt zu erheben. Doch wie
gesagt, das ist Zukunftsmusik, denn gearbeitet worden ist bisher
noch nicht auf diesem Gebiet.
Zwar kommt cs vorläufig hauptsächlich auf die Erforschung,
womöglich sämtlicher Quellen der schlechten Variationen an, denn
gerade sie sind es ja, die den Kampf ums Dasein und die Ausjäte
nötig machen. Zudem würden ja auch die Ursachen der bisherigen
vortrefflichen Variationen weiterbestehen. Allein s ä m 1 1 i c h c Quellen
der schlechten Variationen sind wohl noch für lange Zeit nicht zu
verstopfen, und so ist als Gegengewicht auch noch eine Verbesserung
der bisherigen guten Variation notwendig. Aber nicht nur als
Gegengewicht ist diese Verbesserung nötig, sondern sie ist zugleich,
ob mit oder ohne Ausjäte, der Schlüssel für das weite, unabsehbare
Feld der menschlichen Vervollkommnung. Alles, was unser Menschen-
geschlecht an Idealen kennt, ist nie erreicht gewesen in der Ver-
gangenheit, kein goldenes Zeitalter hat uns je gelächelt, nur die
Zukunft kann es bringen, wenn es überhaupt je gebracht werden
kann, und nur die weiter fortschreitende biologische Vervollkommung
des Menschen selbst ist der Weg dazu.
Ich will zum Schlufs meine Ausführungen kurz zusammen-
fassen: Die modernen sozialpolitischen Bestrebungen sind, soweit sie
demokratischer Natur sind, mit der Rassenhygiene wohl verträglich;
soweit sie den Schutz betreffen von Geschädigten, die unter über-
mächtigen wahllosen oder kontraselektorischen Einflüssen stehen,
ebenfalls; soweit sie den Schutz von Menschen betreffen, die geistig,
körperlich oder sittlich minderwertig sind, gefährden sie das Tüchtig-
keitsniveau der Nachkommenschaft. Daher ist es nötig, Gegen-
gewichte zu schaffen. Von einiger Bedeutung ist bereits die Ver-
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420 A. l'loctz, Sozialpolitik und Kassenhygiene in ihrem prinzipiellen Verhältnis.
schärfun^ der sexuellen Ausjäte besonders durch blofse Ehezeug-
nisse oder durch Eheverbote bei Belasteten oder bei Kranken, die
ihre Schwächen vererben würden. Hauptsache ist und bleibt jedoch
die Verbesserung der Variationen, und zwar nicht nur die Ver-
meidung der Erzeugung schlechter Varianten, sondern auch die*
Erforschung und Bewirkung der Erzeugung tüchtiger und fort-
schreitender Varianten.
Diese Forderungen müssen mit grolsem Ernst und Nachdruck
geltend gemacht werden, denn auf dem Spiele steht die Organi-
sationshöhe, die das Menschengeschlecht allmählich erklommen hat,
und der ungeheuere Preis von Elend , den es durch die grauen
Jahrtausende hindurch dafür bezahlt hat. Und andererseits steht
als Gewinn dagegen das ungehemmte Fortschreiten zu Höhen der
Entwicklung, die wir heute kaum erst ahnen können.
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GESETZGEBUNG.
DEUTSCHES REICH.
Die Novelle
zum Gewerbegerichtsgesetz und der preufsische
Ministerialerlafs vom 23. Dezember 1901.
Von
Dr. KARL FLESCH,
Stadtrat in Frankfurt a. M.
Durch Erlals vom 23. Dezember 1901 hat der Minister für
Handel und Gewerbe Vorschläge zur Aufstellung von Orts-(Kreis-)
Statuten für Gewerbegerichte auf Grund des Gewerbegerichtsgesetzes
vom 30. Juni 1901 an die zuständigen Stellen versandt. Im Ministerial-
Blatt der Handels- und Gewerbe-Verwaltung vom 11. Januar 1902
ist der Erlals und die Vorschläge veröffentlicht.
Die Vorschläge hier abzudrucken, ist nicht erfordert. Sie leiden
unseres Erachtens an dem Mangel, dafs sie das gesamte Gesetz, —
natürlich mit Ausnahme der lediglich auf das Verfahren bezüglichen
Bestimmungen in das Statut aufnehmen. Dadurch wird dies un-
gemein lang (91 Paragraphen!), und das Mifsverständnis, als ob
zwingende Bestimmungen des Gesetzes nur statutarischer Natur
wären, ist gar nicht auszuschliefsen. Dem gegenüber enthält z. B.
das in Frankfurt a. M. ausgearbeitete Statut — veröffentlicht im „Ge-
werbegericht“ Nr. 3 vom i. Dezember 1901, das sich streng auf
die Bestimmungen beschränkt, die statutarisch beordnet werden
müssen, weil sie im Gesetz nicht entschieden sind, — nur 37 Para-
graphen, und die ebenda Nr. 4 veröffentlichte sogen, „märkische
Fassung“ eines Statuts nur 50 Paragraphen, die überdies muster-
gültig kurz und klar gefafst sind. Was die Redaktion der „Vor-
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422
Gesetzgebung : Deutsches Reich.
schlage“ angeht, so wäre es vielleicht besser gewesen, wenn nicht
die verschiedenen bei einzelnen Materien vom Gesetz offengelassenen
Alternativen nebeneinander gestellt worden wären, sondern wenn
einfach ein für bestimmte Verhältnisse, — z. B. für die einer Mittel-
stadt, berechneter Entwurf aufgestellt worden wäre, und die mög-
lichen Vorarbeiten oder die für besondere örtliche oder industrielle
Verhältnisse wünschenswerten Abweichungen als Anmerkungen zum
Abdruck gelangt wären. Jetzt wird es den mit der Materie nicht
vertrauten Behörden und Interessenten recht schwer gemacht, sich
über die verschiedenen, in die Wahl gestellten Alternativvorschlägen
klar zu werden.
Weit bedenklicher als diese relativ untergeordneten Dinge,
sind aber einige Ausführungen des Erlasses, mit welchem die
Vorschläge zur Versendung an die Oberpräsidenten und Regierungs-
präsidenten gelangt sind. Dieser Erlafs lautet:
In der Anlage übersende ich Ihnen . . . Druckexemplare der auf meine An-
ordnung zusammcngcstelltcn Vorschläge für die Fassung von Orts-i Kreis- »Statuten,
durch welche Gcwerbegcrichtc auf (»rund des Gewerbegerichtsgesetzes in der Fassung
vom 29. September d. Js. (R.G.BI. S. 553) errichtet werden, mit dem Bemerken,
dafs weitere F.xemplare von dem Verlagsbuchhändler Fr. K ortkampf, Berlin W. 62,
Witlcnbergplatz 3 a bezogen werden können.
Ich hebe dabei hervor, dafs für die Auslegung des § 2 des Gewerbegerichts-
gesetzes Folgendes zu berücksichtigen ist : Durch die Fassung der Eingangsworte :
„Für Gemeinden“ hat zum Ausdruck gebracht werden sollen, dafs jede Gemeinde
mit mehr als zwanzigtausend Einwohnern zu einem Gewerbegerichtsbezirke gehören
mufs; in der Absicht des Gesetzgebers hat es also nicht gelegen, dafs für jede
derartige Gemeinde ein beso nd er es, auf den Bezirk dieser Gemeinde beschränktes
Gewerbegericht zu errichten ist. Der Vorschrift ist auch genügt, wenn die sachliche
Zuständigkeit eines bereits bestehenden Gewerbegerichts auf bestimmte Arten von
< lewerbe oder Fabrikbetrieben oder die örtliche Zuständigkeit auf bestimmte Teile
eines solchen Gcmeindcbczirks beschränkt (§ 7 Abs. 1 des Gesetzes) oder in dem
Orte eine besondere Kammer (§ 10, Abs. 2 a. a. O.) oder ein Bcrggewcrbegericht
(§ 82 Abs. I a. a. O.) vorhanden ist.
Die bestehenden Statuten sind thunlichst dem übersandten Muster entsprechend
umzugcstalten ; auch für die neu zu errichtenden Gewerbegerichte empfiehlt sich die
Anlehnung an die Vorschläge.
Für die Regelung des Wahl Verfahrens nach den Grundsätzen der Verhältnis-
wahl (§ 1 5 Abs. I des Gesetzes) werden besondere Vorschläge nach Beendigung
der hierüber eingeleiteten Erörterungen übersandt werden.
Wir legen weniger Gewicht auf die Worte, „dafs die bestehenden
Statuten thunlichst dem übersandten Muster entsprechend
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Karl Flesch, Die Novelle zum Gcwerbcgcrichtsgesctz eic.
423
timzugestalten sind“; — denn diese besagen ja nicht, dafs die Städte
gehindert sind, ihrem Statut anstatt der erschöpfenden Form der
„Vorschläge“ die kürzere zu geben, die unseres Erachtens mit Recht
von Jastrow („Gewerbegericht" vom 1. Januar 1902) empfohlen
wird. Wir halten aber für sehr anzweifelbar de lege lata und, was
ebenso wichtig oder wichtiger ist, für nicht gedeihlich de lege
ferenda die Auffassung des § 2 des Gewerbegerichtsgesetzes, welche
in dem Erlasse vorgetragen wird.
§ 2 schreibt vor: Für Gemeinden, welche nach der jeweilig
letzten Volkszählung mehr als 20000 Einwohner haben, m u fs
ein Gewerbegericht errichtet werden. Der Erlals erklärt
nun, es habe durch diese Fassung zum Ausdruck gebracht werden
sollen, dafs jede derartige Gemeinde zu einem Gewerbegerichts-
bezirk gehören müsse, und folgert hieraus zunächst, dafs hiernach
nicht erfordert sei, dafs für jede solche Gemeinde ein besonderes,
auf ihren Bezirk beschränktes Gewerbegericht zu errichten sei. Dies
ist zweifellos richtig; cs genügt auch, wenn sie sich mit anderen
Gemeinden vereinigt, wie ich dies z. B. bereits auf dem Verbands-
tag der deutschen Gewerbegerichtc zu Lübeck im September 1901
ausgeführt habe (Beilage zu Nr. 2 des Gewerbegerichts vom
I. November 1901). Wenn aber der Erlafs dann fortfährt, „dafs
es zur Erfüllung des Gesetzes Vorschrift auch genüge, wenn die
sachliche Zuständigkeit eines bereits bestehenden Gewerbegerichts
auf bestimmte Arten von Betrieben, oder die örtliche auf bestimmte
Teile des Bezirkes beschränkt sei, oder wenn ein Berggewerbe-
gericht vorhanden sei" — so dürfte es schwer sein, diese Inter-
pretation mit Wortlaut und Sinn des Gesetzes in Einklang zu
bringen. Sie wäre nur zutreffend, wenn wirklich, um mit dem
Erlasse zu sprechen , das Gesetz nichts anderes zum Ausdruck
brächte, als dafs jede Gemeinde von mehr als 20000 Einwohner „zu
einem Gewerbegerichtsbezirk gehören müsse“. Aber das Gesetz
verlangt ja mehr, als dies: Für jede solche Gemeinde muls ein
Gcwcrbcgericht errichtet werden, — also nach gegebener Zeit
vorhanden sein; der Nachdruck liegt nicht auf dem Zahl-
wort „ein Gewerbegericht“; es können sehr wohl für eine Ge-
meinde auch mehrere Gewerbegerichte in Betracht kommen,
wie der Erlafs — Anmerkung 4 zu den Vorschlägen — ganz richtig
feststellt. Der Nachdruck liegt vielmehr auf den Anfangsworten:
„Für jede Gemeinde“ von mehr als 20000 Einwohner etc. Ein
Gewerbegericht, das sich nur auf die Maschinenindustrie oder auf
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4-4
Gesetzgebung: Deutsches Reich.
die Bandweberei bezieht, oder das nur ein räumlich abgegrenztes
Stück der Gemarkung umfafst, besteht eben nur für die Angehörigen
einer Industriegruppe, eines Stadtteils; cs besteht zwar „in“ der
Gemeinde aber nicht für sie. Es ist freilich gleichgültig, wo das
Gewerbegericht seinen Sitz hat; derselbe mag aufserhalb der Ge-
meinde liegen; das Gesetz fordert nicht, dafs es „in der Gemeinde“
errichtet sei. Es ist auch gleichgültig, ob eins oder mehrere Ge-
werbegerichte vorhanden sind; das Gesetz erklärt nicht, dals „nur
e i n“, höchstens e i n Gewerbegericht errichtet werden dürfe. Aber
für die ganze Gemeinde, und mithin für alle zur Gemeinde
gehörigen dem Gewerbegerichtsgesetz unterstehenden Betriebe und
Betriebsangehörige mufs (mindestens) ein Gewerbegericht zur Ver-
fügung gestellt werden. Insoweit gemäfs § 7 des Gewerbegerichts-
gesetzes die örtliche Zuständigkeit des Gewerbegerichts auf be-
stimmte Teile des Gemeindebezirks eingeschränkt ist, oder, — bei-
erster Errichtung eines neuen Gewerbegerichts eingeschränkt wird,
besteht für die anderen Teile des Gemeindebezirks
kein Ge werbegericht, und mufs eventuell für diese die Lücke
ausgefüllt werden.
Diese Auffassung entspricht zunächst dem Wortlaut des Ge-
setzes; sie entspricht aber auch allein dem alten Grundsatz, dafs
lex posterior derogat legi priori. Der jetzige § 2 ist Art. 1 Nr. 1
des „Gesetzes vom 30. Juni 1901 zur Abänderung des Gesetzes
betreffend die Gewerbegerichte vom 29. Juli 1890"; der jetzige § 7
ist einfach der § 6 jenes früheren Gesetzes. Es geht nicht an, die
älteren Vorschrift zur Einengung des Inhalts der neueren zu be-
nutzen. Im Gegenteil versteht sich ganz von selbst, dafs die Vor-
schrift, welche eine Beschränkung der sachlichen oder örtlichen
Zuständigkeit eines Gewerbegerichts erlaubt, nicht zur Anwendung
kommen kann, um die neue Vorschrift, dafs für Gemeinden von
bestimmter Gröfse zu einem bestimmten Zeitpunkt ein Gewerbe-
gericht errichtet sein mufs, wieder teilweise aufzuheben. Der Um-
stand, dafs der Reichskanzler durch Art. 3 des Gesetzes vom 30. Juni
1901 die Ermächtigung — nicht die Verpfiichtuhg — erhielt,
„den T ext des Gewerbegerichts, wie er sich aus den in Art. I vor-
gesehenen Aenderungen ergiebt“ durch das Reichsgesetzblatt be-
kannt zu machen, bewirkt nicht, dafs nunmehr die Entstehungszeit
der einzelnen Bestimmungen völlig gleichgültig geworden ist.
Endlich dürfte aber auch nur die hier vorgetragene Auffassung
der Absicht des Gesetzgebers entsprechen, welcher doch offensicht-
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Karl Flcsch, Die Novelle /.um Gcwerbegerichlsgcsctz etc.
425
lieh in den Gewerbegerichten eine Institution sah, welche zur Milderung
der Gegensätze zwischen Arbeitern und Arbeitgebern beitragen
kann, und der die Existenz dieser Institution da, wo diese Gegen-
sätze am häufigsten und schärfsten sind, also in den gröfseren
Städten, sicher und von dem Belieben der Gemeindebehörden
(§ 1 Abs. 2 des Gewerbegerichtsgesetzes) unabhängig stellen wollte.
Die Zweifel, welche zuerst Cuno (Gewerbegericht vom 1. Februar
1902) ausgesprochen hat, ob der Erlafs sich mit dem Gesetz in Ein-
klang befinde, dürften hiernach durchaus berechtigt sein.
Inzwischen hat allerdings in der Reichstagssitzung vom IO. März
1902 Herr Staatssekretär v. Posadowsky Anlal's genommen, mit-
zuteilen, dals der preufsische Handelsminister am 4. März ein neues
Reskript erlassen habe, welches die an den Erlals vom 23. De-
zember geknüpften Befürchtungen zu zerstreuen bestimmt ist. Dieser
neue Erlafs weist, „in Hinblick auf den wesentlichsten Zweck der
Novelle, nämlich die obligatorische Errichtung von Gewerbegerichten
in Gemeinden von mehr als 20000 Einwohnern", insbes. den Be-
hörden, welchen die Bestätigung der von den Gemeinden beab-
sichtigten Gewerbegerichtsstatute zusteht, den Bezirksausschüssen A
und Provinzialräten, die Pflicht zu, „ein in sachlicher oder örtlicher
Beziehung beschränktes Gewerbegericht nur dann gutzuheifsen,
wenn die getroffenen Bestimmungen durch überwiegende Zweck-
mäfsigkeitsgründe gerechtfertigt scheinen“. Ohne die gute Absicht
des Erlasses zu verkennen, soll doch darauf aufmerksam gemacht
werden, dafs, wenn § 2 Gewerbegerichtsgesetzes wirklich, wie wir
glauben, vorschreibt, dafs „für die Gemeinden", welche mehr
als 20000 Einwohner haben, „Gewerbegerichte errichtet werden
sollen", ein sachlich oder räumlich beschränktes Gewerbegericht
dieser absoluten Vorschrift nicht genügt. Vom 5; 7 kann seitens
solcher Gemeinden nur insofern Gebrauch gemacht werden, als
sie neben dem „für die Gemeinde" bestimmten Gewerbegerichte
auch noch für einzelne Gewerbebetriebe oder Ortsteile be-
stimmte Gewerbegerichte errichten können. Es giebt aber keine
Zweckmäfsigkeitsgründe , die gestatteten , dafs man sich auf ein
Gewerbegericht der letzteren Art beschränkt.
Archiv für soz. Gesetzgebung u. Statistik. XVII
2S
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VEREINIGTE STAATEN VON AMERIKA
Die amerikanische Arbeitergesetzgebung des
Jahres 1901.
Von
Dr. jur. CHARLES HENRY HUBERICH,
Dozent der Rechte an der Universität von Texas (Austin).
Die in dem letzten Jahrzehnt zur Geltung gelangten Tendenzen
der amerikanischen Arbeitergesetzgebung — Beschränkung des Ver-
tragsrechts und der Arbeit von Frauen und Kindern, und die Zu-
riiekdrängung der Lehre vom laissez-faire — finden auch in den
Gesetzen des vergangenen Jahres ihren Ausdruck. Im ganzen ge-
nommen bietet die Gesetzgebung des Jahres 1901 wenig neues.
Zumeist sind die Gesetze Nachbildungen bestehender Kodifizierungen
des gemeinen Rechts. Die älteren Industriestaaten zeigen nur eine
geringe gesetzgeberische Thätigkeit ; einige, wie z. B. New Jersey
und Maryland erlielsen überhaupt keine Arbeitergesetze, während
die meisten sich auf unwesentliche Veränderungen des bestehenden
Rechts beschränkten. Am fruchtbarsten waren die Gesetzgebungen
der westlichen und südlichen Staaten.
’) ln diesem Bericht sind die Gesetze folgender Staaten und Territorien be-
rücksichtigt : Alabama, Arizona, California, Colorado, Connecticut, Idaho, Illinois,
Indiana, Kansas, Massachusetts, Michigan, Minnesota, Missouri, Montana, New Hamp-
shire, New York, North Carolina, Pennsylvania, South Carolina, Tennessee, Texas,
Washington, West Virginia und der Distrikt of Columbia.
In den Staaten Iowa, Kentucky, Louisiana, Maine, Mississippi, Ohio und
Vermont tagten die gesetzgebenden Körperschaften nicht während des vergangenen
Jahres. Nichts von Interesse bieten die Gesetzgebungen von Maryland, Nebraska,
New Jersey und Rhode Island. Unberücksichtigt blieben die Staaten Arkansas,
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Ch, II. Hubcrich, Die amerikanische Arbeitergesetzgebung des Jahres 1901. 42/
Die neue Gesetzgebung über die Verantwortlichkeit des Ar-
beitgebers gegenüber seinen Angestellten zeigt Einiges von Inter-
esse. Gesetze über diesen Gegenstand sind jetzt in ungefähr 25
Staaten erlassen, zumeist auf die sogen. Lehre von den Dienst-
genossen (doctrine of fellow-servants) begründet. Aus diesem Grund
ist folgendes Gesetz von Colorado, welches diese Lehre völlig
verwirft, von Interesse:
„Jede Korporation, Gesellschaft oder Einzelperson, welche Geschäftsträger,
Dienstleute oder Arbeiter anstellt, soll für die durch ihre eigene culpa oder durch
die culpa eines Dienstgenossen verursachten Körperverletzungen oder den Tod
eines solchen Geschäftsträgers, Dientboten oder Arbeiters, verantwortlich sein . .
Ein neues Gesetz von Connecticut, welches noch die alte
Anschauung darstellt, lautet wie folgt :
„Es soll tlii! l'Hicht des Arbeitgebers sein, gehörige (reasonablc) Vorsicht zu
eben in der Wahl einer gehörig sicheren Arbeitsstätte für seine Arbeiter, gehörig
sicherer Ausstattungen und Werkzeuge für deren Arbeit, und geeigneter und fähiger
Personen als deren Dienstgenossen. Es soll (ferner) die Pflicht des Arbeitgebers
sein, vorsichtig in der Ernennung oder Bezeichnung des Vizeprinzipals (vicc-principal)
sich zu verhalten, und eine geeignete und fähige Person als solchen Vizeprinzipal
zu wählen. Die Nichterfüllung einer Pflicht, welche gesetzlich dem Arbeitgeber
auferlegt ist, seitens des Vizeprinzipals, soll als Nichterfüllung seitens des Arbeit-
gebers angesehen werden.“
Im ganzen genommen ist dieses letzte Gesetz nur eine Wieder-
gabe der Regeln des gemeinen Rechts.
In New York wurde ein Gesetz, welches berechnet war, die
Verantwortlichkeit der Arbeitgeber beträchtlich zu erweitern vom
Parlament angenommen, jedoch von dem Gouverneur mit dem
Veto belegt, weil seines Erachtens „keine neuen wesentlichen Rechte
den .Angestellten dadurch erwuchsen" und das Gesetz ferner die
Zeit, in welcher Klage auf Schadenersatz für Körperverletzung er-
hoben werden müsste, bedeutend einschränkte.
Im wesentlichen die Sätze des gemeinen Rechts kodifizierend,
verordnet ein neues Statut von Indiana, dafs alle Verträge, worin
der Arbeitgeber sich der Verantwortlichkeit gegenüber seinen An-
gestellten oder im Todesfall der letzteren, deren Erben für die
durch die culpa des Arbeitgebers verursachten Schaden, zu ent-
ziehen sucht, als gesetzwidrig betrachtet werden sollen. Ferner
Delaware, Florida, Georgia, Nevada, North Dakola, Oregon, South Dakota, Utah,
Virginia, Wisconsin und Wyoming.
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CJcseligcbunf; : Vereinigte Staaten von Amerika.
sind Verträge zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, welche
darauf gerichtet sind, Dritte für den durch sic dem Arbeitnehmer
zugefügten Schaden nicht verantwortlich zu machen, verboten. Das
Gesetz verbietet ferner Verträge zwischen dem Arbeitnehmer und
Dritten, wenn solche Verträge berechnet sind, die Verantwortlich-
keit des Arbeitgebers dir den durch seine culpa dem Angestellten
verursachten Schaden zu verringern. Dieses Gesetz soll jedoch
keine Anwendung finden auf freiwillige Unterstützungsvereine oder
auf Arbeiterversicherungsgesellschaften , ebensowenig soll es mit
Bezug auf schwebende Prozesse oder auf Verträge, die vor dem
Erlafs dieses Gesetzes abgeschlossen wurden , rückwirkend sein.
Auch ist das Gesetz nicht darauf berechnet , Vergleiche wegen
schon stattgefundenen Schadens zwischen dem Arbeitgeber und
dem Arbeitnehmer oder im Todesfall des letzteren, dessen Erben
auszuschliefsen.
Die Gesetzgebung des vergangenen Jahres zeigt keine radikalen
Versuche, die Arbeitszeit in allen Gewerben festzustellen, wie
der nicht angenommene Gesetzentwurf von Colorado des Jahres
1895 versuchte. Der I .and tag des letztgenannten Staates hat jedoch
beschlossen, die folgende Aenderung der Staatsverfassung den
Wählern des Staates zu unterbreiten:
„Der Landtag soll die Arbeitszeit fiir Personen, die in Bergwerken oder anderen
unterirdischen Arbeiten, oder bei Hochöfen, Schmelzöfen oder anderen Erzreduzier-
werken, oder die in irgend einer anderen Industrie oder Arbeit, welche nach Ansicht
des Landtages der Gesundheit schädlich ist oder dem Leben oder den Gliedern
der Angestellten Gefahren aussetzt, thätig sind, auf 8 Stunden pro Tag feststellen
(ausgenommen in Fällen, wo Leben oder Eigentum in augenscheinlicher Gefahr sind)
und solche Verordnung durch angemessene Strafen durchsetzen.“
Interessant ist die Geschichte dieser Gesetzgebung. Im Jahre 1895
wurde ein Gesetzentwurf dem Landtag vorgelegt, welcher vor-
schrieb, dafs 8 Stunden Arbeit als ein gesetzliches Tagewerk fiir
alle Gewerbetreibende und Arbeiter angesehen werden sollte. Diesem
ersten Entwurf wurde sodann eine Aenderung beigefiigt, wodurch
die Anwendung des Gesetzes auf Arbeiter, die in Fabriken, Berg-
und Schmclzwerken angestellt sind, beschränkt werden sollte. Der
oberste Gerichtshof des Staates wurde aufgefordert, sein Urteil über
die Verfassungsmäfsigkeit eines solchen Gesetzes abzugeben, und
entschied „es sei nicht innerhalb der Kompetenz des Landtags,
solche Gesetzesbestimmungen in ihrer Anwendung auf die Minen-,
Fabrik- und Schmclzindustricen zu beschränken und diese Industrieen
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Cli. II. II über ich, Die amerikanische Arbeitergesetzgebung des Jahres 1901. 429
Einschränkungen inbezug auf die Arbeit ihrer Angestellten zu
unterwerfen, von welchen andere Unternehmer befreit sind. Hin
( resetz, wie das vorliegende, würde offenbar im Konflikt mit dem
Verfassungsverbot gegen Klassengesetzgebung und im Widerspruch
stehen mit dem freien Vertragsrecht, welches durch die Staatsver-
fassung garantiert und durch das 14. „amendment“ der Bundes-
verfassung geschützt ist.“
Sollte das obige Verfassungsgesetz angenommen werden, so
kann keine Frage über die Verfassungsmäfsigkeit solcher Gesetz-
gebung entstehen, soweit sie die Staatsverfassung betrifft. Ob
solche Gesetze mit den Bestimmungen der Bundesverfassung ver-
einbar sind, ist natürlich eine Frage, die in letzter Instanz durch
das oberste Bundesgericht entschieden werden muls.
Die Arbeitsstunden unil der Lohn der an öffentlichen Arbeiten
Beschäftigten sind der Gegenstand der Gesetzgebung in einigen
Staaten gewesen. Ein achtstündiger Arbeitstag ist durch neue Gesetze
festgesetzt, oder von neuem verordnet für die Arbeiter an öffentlichen
Arbeiten der Bundesregierung des Distrikt of Columbia und der
Staaten California und Minnessota. Der Staat Indiana
hat den Lohn der an öffentlichen Arbeiten Be-.chäftigten auf ein
Minimum von 20 Cts. (80 Pfennige) pro Stunde angesetzt. Ein
gleich lautendes Gesetz wurde in New-York beantragt, jedoch
nicht angenommen.
Missouri hat ein Gesetz erlassen, wodurch die Arbeitszeit
der beim. Graben von Erz, Kohlen oder anderen wertvollen Stoffen
Angestellten auf 8 Stunden pro Tag beschränkt ist. Colorado (das
Gesetz von 1891 abändernd) verordnet, dafs es keiner Eisenbahn-
gesellschaft erlaubt sei, von ihren Zugführern, Lokomotivenführern,
Heizern, Schaffnern, Telegraphenbeamten oder anderen Dienst-
personen, die in ihrem Beruf 16 (früher 18) aufeinanderfolgende
Stunden thätig waren, zu verlangen, dafs diese Personen die Arbeit
von neuem aufnehmen, oder denselben zu erlauben, dieses zu thun,
ohne dafs sie mindestens 10 (früher 8) Stunden Ruhe gehabt haben,
Unfälle ausgenommen.
Montana hat die Arbeitszeit in Minen, Schmelz- und Konzen-
trierwerken auf 8 Stunden pro Tag festgesetzt, ausgenommen in
Fällen, wo Leben oder Eigentum in Gefahr sind.
Aehnliche Einschränkungen des Arbeitsvertragsrechts zeigen die
Gesetzgebungen von Missouri, Arizona, Montana, South
Carolina und Pennsylvania. Der Staat Missouri hat eine
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Gesetzgebung: Vereinigte Staaten von Amerika.
1 5 tägige Lohnzahlungsperiode vorgeschrieben : dieses Gesetz zwingt
alle Fabrikbesitzer, selbst, wo ein anderslautendes Uebereinkommen
getroffen ist, ihre Arbeiter wenigstens alle 1 5 Tage voll zu be-
zahlen , und verbietet unter Drohung einer Zivilklage auf den
doppelten Betrag der fälligen Summe, dem Arbeitgeber mehr als
den Betrag des Ixihns für die 5 vorhergehenden Tage einzubehalten.
Arizona setzt in der Revision der Gesetze von 1901 fest,
dafs fälliger Lohn dem Arbeitet; bei seinem Abgang ausgezahlt
werden mufs. Die Staaten Montana und South Carolina
haben verordnet, dafs Lohnzahlungen in barem Geld oder durch
auf Sicht (Montana) oder nach 30 Tagen (South Carolina) in Geld
zahlbaren Anweisungen erfolgen müssen. Indiana hat die An-
nahme von Ueberweisungen jetzt fälliger oder nicht fälliger Lohn-
summen, und die Ausgabe von Anweisungen, die nicht ohne Ab-
zug in gesetzliche Münze umgcwandelt werden können, verboten.
Pennsylvania hat eine Steuer im Betrage von */4 des Nenn-
wertes auf alle Anweisungen, die als Zahlung von Lohngeldern
verausgabt wurden, und die nicht innerhalb 30 Tagen vom Tage
ihrer Ausgabe in barem Geld ohne Abzug zahlbar sind oder ge-
zahlt werden, eingeführt.
Die Gesetzgebung inbezug auf die Frauen- und Kinderarbeit
zeigt deutlich die in dem letzten Jahrzehnt wahrnehmbare Tendenz,
die Arbeitsstunden, und die Anzahl der Gewerbe, in welchen solche
Personen beschäftigt sein können, einzuschränken, und das Alter,
in welchem Kinder verwendet werden dürfen, zu erhöhen.
Das Kinderarbeitsgesetz von New H a m s h i r e wurde
einer durchgreifenden Revision unterworfen. Unter dem alten Ge-
setz war die Beschäftigung in Fabriken von Kindern im Alter von
weniger als 10 Jahren untersagt. Das gegenwärtige Gesetz ver-
bietet solche Anstellung von Kindern unter 12 Jahren, und ferner
-die Beschäftigung von Kindern unter 14 Jahren in irgend einem
Gewerbe, aufser, während der gesetzlichen Ferienzeit. Auch ist es
verboten, Kinder unter 16 Jahren während der gesetzlichen Schul-
zeit in einem Gewerbe zu beschäftigen, ohne amtliche Bescheinigung
des Alters des zu beschäftigenden Kindes und eines Certifikats des
Bezirksschulsupcrintendentcn, dafs das Kind englisch lesen und
schreiben kann. Das Gesetz verbietet weiter die Anstellung eines
Minderjährigen, der nicht lesen und schreiben kann, es sei denn,
dafs er die Abendschule oder eine Tagschule besucht und ein Arzt
bescheinigt, dafs für den physischen Zustand des Minderjährigen
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Ch. H. Hube rieh, Die amerikanische Arbeitergesetzgebung des Jahres 1901. 4 3 j
der Schulbesuch neben seiner Beschäftigung nicht gesundheits-
schädlich sei.
Ein Gesetz von Michigan verordnet, dafs keine männliche
Person unter 18 Jahren, und keine weibliche Person unter 21 Jahren
länger als 60 Stunden pro Woche in irgend einer Fabrik beschäftigt
werden soll, ausgenommen, wo die darüber hinausgehende Arbeit
dazu dient, notwendige Reparaturen an den Maschinen zu machen,
um Unterbrechung des regelmäfsigen Betriebes zu vermeiden. Ferner
soll keine der obenerwähnten Personen eine längere Zeit als
60 Stunden pro Woche oder io Stunden pro Tag, es sei denn,
dafs dadurch der letzte Tag der Woche um so viel kürzer werden
soll, in irgend einem Verkaufslokal, in welchem mehr als io Per-
sonen angestellt sind, beschäftigt werden. Kein Kind unter 14 Jahren
darf in einer Fabrik, einem Hotel, einer Werkstätte oder einem
Verkaufslokal zwischen 6 Uhr abends und 7 Uhr morgens be-
schäftigt werden. Arbeitgeber von Kindern unter 16 Jahren sind
gehalten, ein beschworenes Certifikat, worin der N.tme, das Alter,
der Geburtsort und der Wohnsitz solcher Kinder angegeben sind,
zur amtlichen Einsicht auszulegen. Kein Kind unter 16 Jahren
darf in irgend einer Beschäftigung verwendet werden, in welcher
dessen Leben oder körperliche Sicherheit Gefahren ausgesetzt sind,
oder dessen Gesundheit oder Sittlichkeit geschädigt werden könnte.
Keine männliche Person unter 18 Jahren und keine weibliche Person
unter 21 Jahren darf zur Reinigung von Maschinen, während sie
in Bewegung sind, angestellt werden.
Das Strafgesetz von California, welches die Beschäftigung
eines Kindes unter 14 Jahren in einem Beruf, welcher der Gesund-
heit des Kindes schädlich ist, oder dessen Leben und körperliche
Sicherheit Gefahren aussetzt, und die Verwendung eines solchen
Kindes als Seiltänzer, Musikant, Bettler, oder zu unsittlichen Zwecken,
verbietet, ist dahin geändert worden, dafs jetzt das Alter auf 16 Jahre
erhöht ist. Durch ein anderes Gesetz ist es Packetfahrtgesell-
schaftcn untersagt, sich Minderjähriger zur Ablieferung von Briefen,
Depeschen und Packeten an einem Platz von zweifelhaftem Ruf
oder an eine Person, die mit einem solchen Platz in Verbindung
steht, zu bedienen. Die Arbeit von Minderjährigen unter 18 Jahren
in Fabriken, Werkstätten und Verkaufslokalen darf in Zukunft
9 Stunden pro Tag, oder 54 Stunden (früher 10 bzw. 60 Stunden)
pro Woche nicht übersteigen, aufser in Fällen, wo Ueberstunden
notwendig sind, um Reparaturen an der Maschinerie vorzunehmen
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432
Gesetzgebung: Vereinigte Staaten von Amerika.
und dadurch eine Unterbrechung des gewöhnlichen Betriebes zu
vermeiden, oder wo eine andere Stundeneinteilung stattfindet, um
einen kürzeren Arbeitstag aus einem Tag der Woche zu machen.
Das Alter, in welchem Kinder überhaupt angestellt werden dürfen,
ist von io auf 12 Jahre erhöht.
Der Staat Massachusetts hat sein Gesetz von 1894, welches
die Beschäftigung von Minderjährigen in einem Handelsgewerbe
für längere Zeit als 58 Stunden wöchentlich verbot, dahin geändert,
dafs diese Verordnung im Monat Dezember für die in Lokalen zum
Detailverkauf Angestellten keine Anwendung finden soll. Dieser
Staat hat ferner die Verwendung von Personen unter 18 Jahren
bei der Herstellung von Säuren, wo die Beschäftigung gefährlich,
oder der Gesundheit nachteilig ist, verboten.
Missouri hat ein neues Verbot gegen die Anstellung von
Knaben unter 12 Jahren, bzw. 14 Jahren, wenn dieselben nicht
lesen und schreiben können, erlassen. Pennsylvania hat die
Arbeit von Kindern unter 13 Jahren in Bäckereien, Wäschereien.
Reinigungsanstalten, Druckereien, Fabriken, Werkstätten und Ver-
kaufslokalen untersagt und verlangt die Vorlegung einer Bescheinigung
über das Alter von Arbeitern zwischen 13 und 16 Jahren. Dieser
Staat verbietet weiter eine längere Arbeitszeit als 60 Stunden pro
Woche oder 1 2 Stunden pro Tag für alle Personen unter 2 1 Jahren
in den ebenerwähnten Beschäftigungen.
In Tennessee wurde das Alter, in welchem Kinder in Werk-
stätten, Fabriken und Bergwerken angestellt werden dürfen, von
12 auf 14 Jahre erhöht; und in Connecticut die Vorzeigung
eines Scheines seitens der Arbeitgeber, dafs die von ihm ange-
stellten Kinder unter 16 Jahren über 14 Jahre alt sind.
Der Staat Washington hat die Arbeit von Frauen in Fabriken.
Verkaufsläden, Wäschereien, Hotels und Restaurants auf 10 Stunden
pro Tag beschränkt, jedoch können die Arbeitsstunden so verteilt
werden, dafs die Arbeit zu irgend einer Zeit des Tages oder der
Nacht verrichtet werden darf. Pennsylvania verbietet die An-
stellung von Frauen in Bäckereien. Wasch- und Reinigungsanstalten,
Druckereien, Fabriken, Werkstätten und Vcrkaufslokalen auf eine
längere Zeit als 12 Stunden pro Tag, oder 60 Stunden pro Woche.
Missouri verordnet von neuem das Verbot von Frauenarbeit
in Bergwerken.
Die jetzt fast universell angenommene Forderung, dafs Arbeit-
geber weiblichen Angestellten Sitzgelegenheiten zur Verfügung
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Cli. H. Hu her ich, Die amerikanische Arbeitergesetzgebung des Jahres 190 1. 433
stellen und ihren Gebrauch während der Zeit, in welcher diese
Angestellten nicht beschäftigt sind , denselben gestatten , ist in
die Gesetze eingereiht, von neuem verordnet oder in ihrer An-
wendung erweitert in den Staaten Washington, WestVirginia,
Kansas, Illinois und Pennsylvania.
Ausführliche Bestimmungen über den Ausgleich von
Arbeiterstreitigkeiten enthalten die Gesetzgebungen von
Idaho und Missouri. Das Gesetz von Missouri1) sorgt für die
Ernennung eines staatlichen Vermittlungs- und Schiedrichteratnts
(State Board of Mediation and Arbhration) bestehend aus drei
Personen, wovon eine ein Arbeitgeber, die zweite ein Arbeitnehmer,
und die dritte weder ein Arbeitgeber noch ein Arbeitnehmer sein
soll. Die Mitglieder dieser Kommission sollen auf 3 Jahre ernannt
werden und sind vereidigt. Sie erwählen ihren Vorsitzenden und
sind ermächtigt, Regeln für die Führung von Prozessen aufzustellen.
Zwei Mitglieder sind handlungs- und beschlußfähig. Inbezug auf
die Pflichten und Befugnisse der Kommission verordnet das Gesetz
wie folgt :
„Sobald die Kommission in Kenntnis gesetzt ist, dal's in irgend einem Teil
des Staates eine Arbeitseinstellung oder Aussperrung, wodurch io oder mehr Per-
sonen betroffen werden, stattfinden wird oder ernsthaft droht, soll es die Pflicht
der genannten Kommission sein, sich nach dem Ort des Strikes, der Aussperrung
oder Streitigkeit zu begeben, sich mit den interessierten Parteien in Verbindung zu
setzen, und sich zu bemühen, durch Vermittlung einen Vergleich zu treffen. Sollten
alle Vermittlungsbcmühungcn felilschlagen, so soll cs die Pflicht der Kommission
sein, sich über die Ursachen der Beschwerden und Streitigkeiten genau zu unter-
richten, und zu diesem /weck ist die Kommission befugt, Zeugen unter Straf-
androhung zu citieren und zu verhören, das Erscheinen derselben zu erzwingen und
Geschäftsbücher und Dokumente vorlegen zu lassen, mit derselben Machtbefugnis
wie sie den höheren Gerichten dieses Staates oder den Richtern derselben zustehen.
Citationen können unterzeichnet und Eide zugeschoben werden durch irgend ein
Mitglied der Kommission. Besagte Kommission ist ferner befugt, irgend jemand,
der in demselben Geschäftszweig beschäftigt ist, oder der ihres Erachtens Kenntnis
der in Kontroverse liegenden Sachverhältnissc hat, oder der in dem betreffenden
Geschäftszweig die Lohnbücher führt, als Zeugen vorzuladen und unter Eid zu ver-
nehmen und die Herbeiführung von Büchern und Papieren, die als Lohnzahlungs-
listen dienen, zu verlangen. ... %
In allen Fällen von Beschwerden und Streitigkeiten zwischen Arbeitgebern
*) Dieses Gesetz ersetzt das in den Rcvised Statutes, 1899, Kap. 121, Art. 3
enthaltene.
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434
Gesetzgebung : Vereinigte Staaten von Amerika.
und Arbeitnehmern, wo solcher Streit io oder mehr Angestellte betriftt, soll es die
Pflicht der streitenden Parteien sein, den Streit der Kommission zur Untersuchung
zu überweisen. Innerhalb io Tagen nach Vollendung der durch dieses Gesetz
autorisierten Untersuchungen sollen die Mitglieder der Kommission oder eine
Stimmenmehrheit derselben eine Entscheidung lallen, worin eine ausführliche Schil-
derung der Kontroverse, und eine Darlegung der von ihnen entschiedenen Streit-
punkte enthalten ist, einen schriftlichen Bericht Über ihre Entscheidungen und Rat-
schläge machen, und eine genaue Abschrift des Berichts dem Gouverneur und den
beiden beteiligten Parteien zustellen und ferner denselben in einer Zeitung am Orte
veröffentlichen.
In allen Fällen wo das Ersuchen um das schiedsrichterliche Verfahren ein
beiderseitiges ist, oder wo beide Parteien sich verpflichten, sich der Entscheidung
der Kommission zu unterwerfen, soll die Entscheidung endgültig und für beide an
der Streitigkeit beteiligten Parteien bindend sein. In allen Fällen, wo eine oder die
andere Partei in dem Streit sich weigert, sich einem schiedsrichterlichen Verfahren
zu unterwerfen, soll die Entscheidung der Kommission eine endgültige und beide
Parteien bindende sein, es sei denn, dafs eine Einrede dagegen bei dem Schrift-
führer der Kommission innerhalb 5 Tagen nach gemachter und gekündigter Ent-
scheidung eingebracht wird.“
Zuwiderhandlungen gegen das obige Gesetz sollen als Ver-
gehen betrachtet werden und dem Schuldigen eine Geldstrafe von
50 bis 100 Dollar oder eine 6 Monate nicht übersteigende Haft
oder beide Strafen zuziehen.
In Idaho soll eine Arbeitskommission aus zwei durch den
Gouverneur auf 2 Jahre zu ernennenden und von dem Senat zu be-
stätigenden Personen eingesetzt werden. Einer der Ernannten soll
während der Dauer von 6 Jahren ein Lohnarbeiter in einer Industrie,
in welcher gewöhnlich eine Anzahl von Personen unter Leitung
und Kontrolle einer einzigen stehen, gewesen sein, und zur Zeit
seiner Ernennung mit dem Interesse der Arbeiter im Gegensatz
zu dem der Kapitalisten verknüpft sein. Der andere Ernannte soll
während eines gleichen Zeitraumes Arbeitgeber in einer solchen
Industrie gewesen sein, und das Kapitalisteninteresse vertreten.
Ueberdies müssen die beiden Mitglieder verschiedenen politischen
Parteien angehören. *)
1 1 Es ist zu bemerken, dafs dieses Gesetz die Bestimmungen, denen das Ge-
setz von New York als Vorbild dient, und welches Ernennungen aus verschiedenen
politischen Parteien verlangt, mit den Vorschriften solcher, welche nach dem Muster
des Gesetzes von Massachusetts fordern, dafs sowohl das Kapitalisten- als das Ar-
beiterintcrcsse vertreten sei, zu verschmelzen sucht.
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Cb. II. Huberich, Die amerikanische Arbeitergesetzgebung des Jahres 1901. 435
Die Pflicht dieser Kommission in Streitfällen zwischen Arbeitern
und Unternehmern ist in dem Gesetz folgendermafsen festgestellt:
„Nach Empfang zuverlässiger Nachricht über das Vorhandensein einer Arbeitsein-
stellung oder Arbeitsaussperrung oder einer anderen Streitigkeit, wodurch die Arbeit
oder Beschäftigung von 50 oder mehr Personen betroffen ist, soll es die Pllieht der
genannten Kommission sein, sich nach dem Ort der Streitigkeit zu begeben und
ihre Dienste als Vermittler den Parteien anzubieten. Vorgesehen jedoch wird, dafs
in allen Fällen, wo weniger als 50 Personen an dem Streit beteiligt sind, die Kom-
mission nach Belieben das Hecht hat, in derselben Weise zu verfahren, als ob 50
oder mehr Personen betroffen wären. Kalls die Kommission nicht den Erfolg hat,
eine friedliche Beilegung des Streites zu dieser Weise zu erlangen, soll sic sich be-
mühen, die streitenden Parteien zu überreden, ihre Streitsache einem Schiedsgericht
zu überweisen. Das Schiedsgericht kann in der, in diesem Gesetz entsprechenden
oder auf andere den Parteien beliebende Weise eingesetzt werden.“
Das vorgeschriebene Schiedsgericht soll aus der obenerwähnten
Kommission und dem Kreisrichter (distrikt judge) der Gegend, in
der der Streit seinen Ursprung hatte, bestehen. Diesen können
noch zwei andere Personen als Beisitzer beigefügt werden , in
welchem Fall jede der Parteien eine ernennt. Den Vorsitz führt
der Kreisrichter. Dieses Gericht hat das Recht, Zeugen vorzuladen
und unter Eid zu befragen, und, im allgemeinen, wie andere Ge-
richte zu verfahren. Die Sitzungen müssen öffentlich sein. Zwecks
Beschleunigung der Entscheidung erhalten die Schiedsrichter Be-
soldung nur für die ersten 1 5 Tage ihrer Sitzung in jedem Streit-
fall. Zur Fällung des Urteils genügt Stimmenmehrheit.
Das Gesetz von Illinois von 1895 ist dahin abgeäridert
worden, dafs, wenn eine Arbeitseinstellung oder Arbeitsaussperrung
vorhanden ist, welche nach der Auffassung des staatlichen Einigungs-
amts (State Board of Arbitration) das Gemeinwohl gefährdet, und
die streitenden Parteien sich weigern, ihre Streitigkeiten einem
Schiedsgericht zu überweisen, das staatliche Einigungsamt ermächtigt
ist, eine Untersuchung der Verhältnisse vorzunehmen und ihr Urteil
darüber mit den ihres Erachtens notwendigen Mafsregeln zu ver-
öffentlichen.
Zum Schutz der Unternehmer sollen folgende Gesetze vonM innes-
sota. North Carolina und Alabama dienen. Im erstgenannten
Staat gilt es als ein strafbares Vergehen, einen Lohnvorschufs. der
in Arbeit abgezahlt werden soll, anzunehmen und dann sich zu
weigern, die verabredete Arbeit zu verrichten oder den Vorschuls
in Geld zurückzuzahlcn. Das Gesetz von North Carolina, welches
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Gesetzgebung : Vereinigte Staaten von Amerika.
in der Anwendung auf gewisse Grafschaften beschränkt ist. lautet
wie folgt:
„Jede Korporation, Gesellschaft oder Privatperson, die vorsätzlich den Diener,
Angestellten, oder Tagelöhner einer anderen Korporation, Gesellschaft oder Privat»
person, der schriftlich oder mündlich einen Vertrag, wonach er im Dienste seines
Arbeitsgebers eine bestimmte /eit verbleiben mufs, abgeschlossen und dann den
Dienst seines Arbeitgebers unter Verletzung seines Vertrags, verlassen hat, be-
schäftigt, beherbergt, oder zu eigenem Dienste zurUckhält , soll eines Vergehens
schuldig befunden werden und mit einer Geld- oder Haftstrafc, oder mit beiden
Strafen nach Ermessen des Gerichts bestraft werden und überdies einer Civilklage
auf Schadensersatz zu Gunsten der beschädigten Partei unterliegen.“
Der Staat Alabama hat einige unwesentliche Veränderungen
in seinem Gesetz von 1896, welches eine ähnlich lautende Be-
stimmung enthält, gemacht. Dem ( leset/, von North Carolina ähn-
liche Bestimmungen sind in den Gesetzgebungen der meisten süd-
lichen Staaten der amerikanischen Union zu finden, und augen-
scheinlich gegen das unzuverlässige Element der Neger gerichtet.
In dem Gebiet der Arbeiterschutzgesetzgebung zeigt das
Jahr 1901 nur wenig Neues. Im Staat Tennessee gilt es als
ein Vergehen, Arbeiter durch falsche Vorspiegelungen inbezug
auf die zu verrichtende Arbeit, den dafür zu erhaltenden Lohn,
oder andere Bedingungen der Beschäftigung, oder inbetreff des
Vorhandenseins oder Nichtvorhandenseins einer Arbeitseinstellung
oder anderer Arbeitstörungen zu veranlassen, ihren Wohnsitz zu
ändern und verleiht aufserdem den so geschädigten Arbeitern das
Recht einer Zivilklage auf Schadenersatz.
Ein neues Gesetz des Staates Michigan schreibt vor, dafs
Fabrikaufseher ermächtigt sind, ein ärztliches Attest über die körper-
liche Fähigkeit derjenigen Arbeiter zu verlangen, die nach dem
Urteil der Aufseher physisch aufscr stände sind , die ihnen auf-
getragenen Arbeiten zu leisten und denjenigen die weitere Arbeit
zu verbieten, die körperlich dazu unfähig sind.
Die Gesetzgebung von Pennsylvania verordnet, dafs Eigen-
tümer von Anthracitkohlenininen, in welchem 10 oder mehr
Personen angcstellt sind, verpflichtet sein sollen, in jeder Minen-
grube ein Zimmer in der Gröfse von nicht weniger als 8 zu 12 Fufs,
welches als ein provisorisches Hospital bei Unglücksfällen dienen
soll, einzurichten und sowohl eine genügende Quantität von Lein-
oder Olivenöl, Verbände, Schienen und wollene und wasserdichte
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Ch. H. II uh er ich f Die amerikanische Arbeitergesetzgebung des Jahres 1901. 437
Deeken bereit zu halten, widrigenfalls sie sich sowohl einer Strafe
wie einer Zivilklage aussetzen.
Connecticut hat den Gebrauch von gefärbten oder gerippten
Fensterglas in Fabriken, das dem Augenlicht der Angestellten
schädlich ist, verboten. Dieser Staat hat ferner eine Verordnung
erlassen über die Aufsicht von Arbeiterherbergen, und ein Verbot
gegen die Uebervortcilung beim Verkauf von Waren seitens der
Arbeitgeber an ihre Arbeiter, als auch die Annahme von Geld
seitens der Arbeitgeber als Belohnung für Anstellung von Arbeitern.
Der Staat Kansas erliefs ein Gesetz, wodurch es Eisenhahn-
angestellten und anderen bestimmten Personen unter vorgeschriebenen
Bedingungen erlaubt ist , an dem Wahltage ihre Stimmzettel in
einem beliebigen Teil des Staats abzugeben. California machte
unwesentliche Veränderungen in seinem Gesetz von 1893. welches
die Beeinflussung oder den Zwang auf die Angestellten, eine be-
sondere politische Partei oder einen besonderen Kandidaten zu
unterstützen, den Unternehmern verbietet.
Die Staaten We st Virginia und Tennessee, dem Beispiel
der meisten nördlichen Staaten folgend, verordnen, dafs die Vor-
plätze der Strafsenbahnwaggons, während der Wintermonate, gegen
Wind und Wetter geschützt seien.
West Virginia hat ferner die Art und die Qualität des in Berg-
fackeln (nimeris toretes) zu gebrauchenden Oels festgestellt, und das
Gesetz von 1897, inbezug auf die Pflichten des Staatsberg-
werkaufsehers dahinlautcnd verändert: I. dafs Bergwerksunter-
nehmer verpflichtet sind, eine genaue Karte der unter ihnen im
Betrieb stehenden Minen, anzufertigen, oder anfertigen zu lassen;
2. dafs sie eine gehörige Wetterversorgung vorsehen; 3. dafs die
Quantität von Sprengstoffen, die in die Mine genommen werden
darf, das in dem Gesetz festgestellte Maximum nicht übersteigen
darf; 4. dafs der in diesem Gesetz vorgeschriebene Signalkodex
angewandt werde; 5. dafs Fördcrgestellc nach der in diesem Gesetz
vorgeschriebenen Weise gebaut werden, und das gesetzliche Maximum
von Schnelligkeit nicht übersteigen.
Tennessee hat die Qualität von Oel, das in Kohlenminen
gebraucht werden soll, festgestellt, und hat die gesetzliche Wetter-
versorgung von Kohlenminen genau bestimmt. Dieser Staat macht
es zu einem Vergehen, sich als Minen Werkführer, oder als Minen-
werkführer-Assistcnt auszugeben, ohne ein Examen vor einer für
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438
Gesetzgebung : Vereinigte Staaten von Amerika.
diesen Zweck eingesetzten Kommission bestanden zu haben, und
ohne Nachweis eines 5 jährigen Dienstes als Bergmann.
Das Gesetz von 1894 des Staates Missouri, bezüglich des
Sprengens in Kohlen-, Blei-, Zink-, Eisen- und Kupferminen und
Steinbrüchen erfuhr einige Abänderungen. Das Gesetz fordert jetzt
die Anstellung von besonderen Sprengarbeiten», die allein befugt
sind, die Sprengschüssearbeiten vorzunehmen, und welche nach
jedem Schufs eine genaue Untersuchung aller Sprengbohrlöcher zu
machen und die in der Nähe von nicht abgeschossenen Bohrlöchern
Beschäftigten zu benachrichtigen haben.
Ausführliche Bestimmungen über den Bau oder der Sicher-
stellung von Aufzügen, Schachten und Maschinen enthalten noch
die neuen Gesetze von Pennsylvania, Michigan, West
Virginia und Missouri. Letztgenannter Staat hat auch einen
Signalkodex für Bergarbeiten angenommen. Alabama
und Illinois haben die Qualität von dem in Bergwerken zu ge-
brauchenden Oel festgestellt. Kansas hat eine We 1 1 e r Ver-
sorgung nach den im Gesetze festgesetzten Regeln verordnet,
und Pennsylvania für eine gehörige Ventilierung von
Bäckereien gesorgt. New -York hat noch die Inspektion von
Waschanstalten vorgeschrieben.
Die Staaten California und Michigan haben den Ge-
brauch von Erschöpfungsapparaten (exhaust-fans) in be-
stimmten Beschäftigungen verordnet.
Texas hat sich den Gesetzgebungen der anderen Staaten an-
geschlossen durch den Erlafs eines Gesetzes, welches das black-
listing (Eintragung in die schwarze Liste) eines früher Angestellten,
mit der Absicht eine Anstellung des so Eingetragenen in ähnlicher
Beschäftigung zu verhindern oder zu erschweren, verbietet.
Der Staat Indiana hat im wesentlichen das Gesetz von 1 895
inbezug auf die Anfertigung und den Verkauf von Produkten der
Gelangnisarbeit von neuem verordnet. Das Gesetz fordert, dafs
Händler von Sträflingen verfertigter Waren sich ein Privilegium
vom Staatssekretär, wofür eine jährliche Abgabe von 500 Dollar
zu entrichten ist, verschaffen müssen. Ferner ist es zur Pflicht
solcher Händler gemacht, jährlich Bericht zu erstatten, und diesen
beim Staatsministerium zu hinterlegcn, worin die Namen derjenigen,
von welchen die Waren gekauft und an welche sie verkauft worden
sind, die Art der Waren und der dafür bezahlte Preis anzufuhren
ist. Ferner sollen alle Waren dieser Herkunft mit der Aufschrift
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Ch. H. Hubcrich, Die amerikanische Arbeitsgesetzgebung des Jahres 1901. 4^9
„convict-made“ versehen werden. In California ist es durch ein
Gesetz des Jahres 1901 zu einem Vergehen gemacht, Waren, die
ganz oder zum Teil durch Sträflinge fabriziert sind, zu verkaufen
oder zum Verkauf anzubieten, aufser in Fällen wo der Verkauf der
betreffenden Warenklasse durch Gesetz erlaubt ist. Durch ein
weiteres Gesetz ist es Gefängnisaufsehern verboten, Verbrecher bei
Steinarbeit, ausgenommen in Fällen, wo solche unmittelbar für
Staatsbauten verwertet werden soll, zu verwenden.
Die Errichtung und Erhaltung von freien staatlichen Arbcits-
nachweisungsbureaus wurde verordnet in den Staaten West
Virginia, Kansas (für Städte ersten und zweiten Ranges), und
Connecticut (für die Städte New Haven, Hartfod, Bridgeport,
Xorwich und Waterbury). Die Staaten Idaho und Connecticut
haben die Errichtung von Arbeitsnachweisungsbureaus seitens Privater
unter Einschränkungen gestellt : der Staat Idaho erfordert die Er-
langung eines Erlaubnisscheines von den Grafschaftkommissären,
und eine Kaution im Betrage von 5000 Dollar, während der Staat
Connecticut die Ausstellung eines solchen Scheines seitens des
Arbeitskommissärs und eine Kaution von 500 Dollar, als Vorbedingung
zu dem Betrieb eines solchen Geschäftes verlangt.
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MISZELLEN.
Ein Arbeiterwohnungsviertel in einer süddeutschen
Provinzstadt (Bayreuth).
Von
Dr. ernst cahn,
in Bayreuth.
Einleitung.
Während bereits lange in den Rheinlanden , in Westfalen, in
Berlin, Frankfurt a. M. und anderen grofsen Städten eine verhältnis-
inäfsig reiche baugenossenschaftliche Thätigkeit entfaltet wurde , ein-
zelne deutsche Staaten und viele gröfsere deutsche Verwaltungsbezirke
oder Städte eine allgemeine gesetzliche Regelung der Wohnungs-
mifsstände, zumeist der Mifsstände im Schlafstellenwesen, anstrebten,
in einzelnen parlamentarischen Körperschaften, Vereinen und Versamm-
lungen, in wissenschaftlichen Arbeiten und Broschüren die Wohnungsfrage
der arbeitenden Klassen diskutiert und behandelt wurde, herrschte in
Bayern in dieser Frage wenigstens in der breiten Oeffentlichkeit nahezu
eine idyllische Ruhe. Die bürgerlichen Kreise und Parteien rührten sich
in dieser Sache nur sehr wenig und den organisatorisch zumeist nur
wenig geschulten bayerischen Arbeitermassen fehlte Initiative und Fähig-
keit, die Reformsache selbständig in die Hand zu nehmen. Es ist von
sozialdemokratischer Seite selbst zugegeben worden,') dafs die relativ
selbständige Bedeutung der Wohnungsfrage gegenüber anderen sozialen
Fragen früher von der Sozialdemokratie unterschätzt, wenn nicht über-
sehen wurde, dafs die Bekämpfung des Wohnungselends durch Erhöhung
') Vgl. Nr. 276 und 279 *K-r sozialdemokratischen „Münchener Post", Jahr-
gang 12 { I Sq8 , das wachsende selbständige Interesse der Sozialdemokratie gegen-
über der Wohnungsfrage Uifst auch erkennen : Louis Cohn, T>ie Wohnungsfrage und
die Sozialdemokratie, München 1900.
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£. l'alin. Ein Arbcitcrwohnungsviertcl in einer südil. I’rnvinzsladt (Bayreuth). ^ i
■der Lohne nicht allein ermöglicht werden könne, und dafs zur Be-
kämpfung der Wohnungsmifsstände selbständige Mafsnahmen getroffen
werden miifsten.
Erst langsam und allmählich drang das Verständnis für die Be-
deutung der Wohnungsfrage der breiten Massen der Bevölkerung in
weitere Kreise. Es ist insbesondere in den letzten Jahren das Verdienst
des bekannten Universitätslehrers für Hygiene, des Münchener Professors
Dr. Hans Büchner, das Augenmerk weiterer Schichten, besonders auch
der obersten Staatsbehörden in Bayern, auf die grofse hygienische Be-
deutung der Wohnungsfrage gelenkt, sie auf deren Bedeutung immer
und immer wieder hingewiesen zu haben.
Was bis in tlie Mitte der neunziger Jahre von Staat, Gemeinde und
Gesellschaft für Erkenntnis und Besserung der Wohnungsmifsstände in
Bayern geleistet wurde, war, wie bereits gesagt, nicht viel, ln München
fanden seit den achtziger Jahren immer nach Ablauf von fünf Jahren
in Verbindung mit den Volkszählungen Wohnungszählungen statt, von
denen die Wohnungszählung von 1890 immerhin eine Fülle beachtens-
werten Materials beibrachte, wälirend die Wohnungszählung von 1895 nur
ungenügende Resultate zu 'Page förderte. In München und in einigen
anderen Städten entfalteten Baugenossenschaften und gemeinnützige
Vereine einige Thätigkeit; auch mit Staatsmitteln wurden eine Reihe
von Wohnungen für staatliche Arbeiter gebaut; Fabrikbesitzer schufen
in einzelnen Bezirken, besonders in der Stadt Nürnberg und Umgegend,
gesunde und billige Arbeiterwohnungen ; aber im ganzen war all diese
anerkennenswerte Thätigkeit gegenüber dem ungeheuren Umfang des
Wohnungselends völlig unzureichend.
Seit 1896 etwa macht sich ein gewisser Umschwung bemerkbar.
Die Zahl der privaten und öffentlichen Wohnungszählungen und Stich-
probenenquöten nimmt zu, die Zahl der Baugenossenschaften mehrt sich ;
das Interesse des Staates an der Wohnungsfrage wächst; auch einzelne
Stadtgemeinden beginnen sich zu rühren. In München freilich gelang
es zweimal, im Jahre 1898 und im Jahre 1900, den im Kollegium der
Gemeindebevollmächtigten nahezu die Mehrheit bildenden organisierten
Hausbesitzern, die nach Baseler Muster geplanten Wohnungsenqufiten,
deren erste einzelne Stadtteile und deren zweite die ganze Stadt um-
fassen sollte, zu Fall zu bringen ; doch ist jetzt durch den dortigen
Wohnungsreformverein ein frischer Zug in die Thätigkeit der Erbauung
von billigen und gesunden Arbeiterwohnungen gekommen.
Die allgemeine Steigerung des Interesses für die Verbesserung der
Wohnungsmifsstände fand auch in der bayerischen Kammer der Ab-
geordneten ihren Ausdruck. Im letzten Winter wurde dort verschiedene
Male über die Wohnungsnot, insbesondere in den gröfseren Städten, in
Verhandlung getreten und von den Vertretern verschiedener Parteien
-die Schaffung eines Wohnungsgesetzes verlangt. Wohl hauptsächlich auf
Archiv für tot. Gesetzgebung u. Statistik. XVII. 29
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442
Miszellen.
diese Verhandlungen hin und zugleich, um die notwendigen statistischen
Grundlagen für die Schaffung der neuen gesetzlichen Bestimmungen zu
erhalten, ordnete das kgl. Staatsministerium des Innern in allen gröfseren
Städten die Vornahme von Wohnungsenquätcn an, die denn auch in
einer Reihe dieser Städte am Knde des Jahres 189g und zu Anfang des
Jahres 1900 statthatten. Ueber die Art und Weise der Vornahme dieser
Enqueten sind nähere Angaben nicht in die Oeffentlichkeit gedrungen.
Anläfslich der Plenarwrhandlungen in der Kammer der Abgeordneten
über die Novelle zum Polizeistrafgesetzbuch, durch die eine gesetzliche
Grundlage für verordnungsmäfsige Bestimmungen über das polizeiliche
Einschreiten beim Vorhandensein von Wohnungsmifsständen geschaffen
wurde, äufserte der Minister des Innern, Freiherr v. Feilitzsch, auf eine
Anfrage bezüglich der Ergebnisse dieser Enqueten, die wichtigsten Re-
sultate dieser Enqueten seien in dem neugebildeten Wohnungsausschufs
der Kammer der Abgeordneten mitgeteilt und im Protokoll des Aus-
schusses niedergelegt worden; den Abgeordneten, die sich für die Er-
gebnisse der betr. F.nquSten interessierten, stehe es frei, sich durch Ein-
sichtnahme des betreffenden Protokolls Aufschlufs über jene Resultate
zu verschaffen.
Der gleichfalls bei jenen Kammerverhandlungen gegebenen Anregung,
die Ergebnisse der Enqueten auch weiteren Kreisen durch entsprechende
Veröffentlichung zugänglich zu machen, ist bis jetzt nicht nachgekommen
worden. Fast scheint es, als ob die Ergebnisse dieser EnquSten un-
genützt in den Akten verschwinden werden; das wäre im Interesse der
Wichtigkeit der Sache und angesichts des wertvollen Materials zu bedauern.
Von diesem Gesichtspunkt ausgehend, entschlofs sich der Verfasser der
vorstehenden Abhandlung, das Material der in der Stadt Bayreuth vor-
genonunenen Wohnungsenquete, an dessen Gewinnung er selbst beteiligt
war, zu verarbeiten und als Beitrag zur Erkenntnis der Wohnungszustände
der ärmeren Bevölkerungsklassen weiteren Kreisen zugänglich zu machen.
Dem kgl. Staatsministerium des Innern sind seinerzeit nur die wichtigsten
Ergebnisse dieser Enqufite mitgeteilt worden; hier soll versucht werden,
die Untersuchung mehr ins einzelne zu führen.
Ueber die äufseren Umstände bei Vornahme dieser Enquete ist
nur wenig zu berichten. Die Stadt Bayreuth zählt gegenwärtig etwa
29000 Einwohner. Die beiden letzten Jahrzehnte brachten eine lebhafte,
industrielle Entwicklung, die einen starken Zuzug von Arbeitern und
eine erhebliche Bevölkerungszunahme zur Folge Iralten. Auch die Bau-
tätigkeit war zweifellos während dieser Zeit eine lebhafte; doch er-
streckte sich dieselbe nur verhältnismäfsig wenig auf die Herstellung
kleinerer Wohnungen. Allmählich entwickelte sich ein grofser Mangel
an kleinen Wohnungen, der vor etwa 4 — 5 Jahren auch zu Erörterungen
in der hiesigen Lokalpresse Anlafs gab. ln der letzten Zeit sind
Klagen über den Mangel an kleinen Wohnungen wenigstens nicht mehr
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E. C a li n , Ein Arbntrrwolinungs viertel in einer siiild. Provinzsladt (Bayreuth). 4 a j
in die Lokalpresse gedrungen. Ebenfalls vor einigen Jahren sind auch
vereinzelte Mitteilungen über schlimme sanitäre Zustände in den Arbeiter-
wohnungen und hohe Wohnungspreise in der nunmehr eingegangenen
Bayreuther Abendzeitung veröffentlicht worden.
Man wufste wohl, dafs die Wohnungszustände in den Arbeitervierteln
vielfach sehr schlechte waren ; aber über den Umfang der Wohnungsnot
war man nicht unterrichtet. Freilich an Hinweisen auf das Wohnungs-
elend fehlte es nicht, so heifst es noch in dem Jahresbericht des ober-
fränkischen Fabriken- und Gewerbeinspektors für 1899 (S. 264 fr. des
Auszugs aus den Berichten der bayerischen Fabrik- und Gewerbe-
inspektoren): „Die Wohnungsverhältnisse der Arbeiter haben im Berichts-
jahr bezüglich Privatwohnungen keine sehr wesentliche Besserung er-
fahren. Die Herstellung kleiner und billiger Arbeiterwohnungen durch
private Bauunternehmer schreitet nur ganz langsam vorwärts." —
Die Bayreuther Wohnungsenquäte erstreckte sich auf einen Stadt-
distrikt von den 18 Stadtdistrikten der Stadt Bayreuth, den XI. Distrikt
sog. neuer Weg, bestehend aus Blumenstrafse, Brunnengasse, Am Main,
Mainstrafse, Mittelstrafse, Peuntgasse, Schulstrafse, Wiesenstrafse.
Bei der Enquete wurden die wenigen Teile des Viertels ausgeschieden,
die noch von bürgerlichen Kreisen bewohnt sind; auch die Wohnungen
der Hauseigentümer, die bei der Enquüte zum Teil mitgezählt worden
waren, wurden bei der Verarbeitung des Materials nicht weiter berück-
sichtigt. Gegenstand der EnquSte waren also nur Mieterwohnungen.
Als Mittel zur Gewinnung der Ergebnisse der Enquete diente der bei
der Heidelberger Enquete vom Winter 1895 96 und 189697 benutzte, nach
Baseler Muster gestaltete Haushaltungsbogen. Auf die Beschaffenheit der
Häuser überhaupt und andere Punkte, die vom Interesse gewesen wären,
wurde die Enquete nicht erstreckt. Im ganzen wurden von der Enquete
235 Wohnungen mit insgesamt 1043 Inwohnern = 3,6 Proz. der Ein-
wohnerschaft Bayreuths umfafst. Die Enquete, deren Vornahme vom
Magistrat zu Ende des Jahres 1899 beschlossen worden war, wurde am
25. Februar 1900 vorgenommen. in der Weise, dafs 8 Schutzleute, auf
deren jeden ca. 30 Wohnungen trafen, die notwendigen Erhebungen
pflogen und sodann die Bögen, deren jeder bereits nach dein Adrefs-
buch mit den Namen des Haushaltungsvorstandes bezeichnet worden war,
ausfüllten.
Die Bögen wurden beinahe alle sorgfältig ausgefüllt; die Be-
völkerung der untersuchten Wohnungen verhielt sich nach den mir zu-
gekommenen Mitteilungen fast durchweg entgegenkommend.
Der Distrikt, der den Gegenstand der Enquete bildete und wie be-
reits bemerkt, fast nur von den Angehörigen der Arbeiterklasse und
gleichstehenden sozialen Schichten bewohnt ist, gehört zu den Distrikten
mit den schlimmsten Wohnungsverhäitnissen in Bayreuth ; diese Fest-
stellung ist nötig, um der Ansicht vorzubeugen, als dürften aus den in
29*
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444
Miszellen.
diesen Bezirk gewonnenen Ergebnissen verallgemeinernde Schlüsse auf die
Wohnungsverhaltnisse in anderen Stadtbezirken -oder auch nur in allen
Arbeiterbezirken gezogen werden. Immerhin bietet die Beschränkung
der Enquete auf einen Arbeiterbezirk den Vorteil, einen neuen Einblick
in die Lebensverhältnisse des Arbeiterstandes zu ermöglichen und dadurch
einen Beitrag zur Erkenntnis unser sozialen Zustände zu liefern. Auch
dieser Gesichtspunkt hat den Verfasser bewogen, die vorstehende Arbeit
zu unternehmen.
Die Verarbeitung des gewonnenen Materials bot manche Schwierig-
keiten; von den Schutzleuten war nur der Kubikinhalt der einzelnen
Räume aus den Angaben über Höhe, Breite und Länge berechnet
worden; alle übrigen rechnerischen Manipulationen mufsten vom Ver-
fasser selbst ausgeführt werden. Die Gefahr, Rechenfehler zu machen,
lag da sehr nahe. Doch wurde dem durch möglichst sorgfältige Be-
rechnung, durch vollständige Reodierung der vom Verfasser selbst vor-
genommenen Berechnungen, durch Gegenüberstellung geeigneter Resultate
und durch Proben, soweit überhaupt möglich, vorgebeugt. Freilich
steigerte sich dadurch auch die Arbeitslast bedeutend.
Den städtischen Behörden sei für ihr Entgegenkommen durch
L'eberlassung des Materials der herzlichste Dank ausgesprochen.
Das Material.
Die Enquäte erstreckte sich, wie schon bemerkt, auf 235 Miet-
wohnungen mit 1043 Inwohnern; die 235 ausgefüllten Haushaltungs-
bogen waren sämtlich zur Verarbeitung benutzbar.
I. Räumezahl und Wohngenossenzahl.
Eine bis zur Vornahme der bekannten Baseler Wohnungsenquete
allgemein und ausschliefslich übliche Methode, das Vorhandensein einer
Wohnungsnot festzustellen, war die, den Prozentsatz zu berechnen, mit
dem die verschiedenen Gröfsenktassen (Wohnungen mit i, 2, 3 etc.
Räumen, bezw. heizbaren Zimmern) an der Gesamtzahl der untersuchten
Wohnungen beteiligt waren und wieviel Wohngenossen auf einen Raum
bezw. ein heizbares Zimmer trafen. Diente die Beantwortung der ersten
Frage dazu, das Mafs der Wohnbequemlichkeit bezw. Wohnlichkeit der
untersuchten Wohnungen ersehen zu lassen, so wollte man aus der Be-
antwortung der zweiten Frage Schlüsse auf die Ueberfüllung der Woh-
nungen ziehen. Beide Zwecke werden jetzt besser erreicht, ersterer
indem man die f rage nach der Räumezahl und die Frage nach der Art
und Weise der Benützung der Räume mit einander kombiniert, letzterer,
indem man die Grösse des Wohn- bezw. Schlafraumcs berechnet, der
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E. Cahn, Ein Arheitcrwohnungsvicrtcl in einer südd. Provinzstadt Bayreuth).
in den einzelnen Wohnungen auf den Wohngenossen bezw. Schläfer trifft.
Aber trotzdem behalten die erstgenannten Methoden noch ihren selb-
ständigen Wert, besonders auch im Hinblick auf die Beschaffenheit des
Bayreuther Materials. Denn die in den Fragebögen enthaltenen Fragen
liber die Benutzungsweise der Räume waren nur zum Teile in zufrieden-
stellender Weise beantwortet und infolgedessen war auch die Kombi-
nation von Räumezahl und Benutzungsweise nicht durchführbar und
aufserdem kann speziell aus der Zahl der Wohngenossen pro Raum
bezw. heizbares Zimmer einer Wohnung auf die Ueberflillung der betr,
Wohnung wenigstens cinigermafsen sicher geschlossen werden, weil für
die Frage, ob Ueberflillung vorliegt, nicht blofs der auf den einzelnen
Inwohner entfallende Kubikraum Luft, sondern auch die eine Ueber-
tragung von Krankheiten leichter ermöglichende und das allgemeine
Unbehagen der Inwohner steigernde grofse Wohngenossenzahl in Betracht
kommt.
Im einzelnen ergab die Enqu£te in Bayreuth:
Es gab in den untersuchten Distrikten aufgenommenc Woh-
nungen mit
Es hatten sonach je t Raum 35 = 14,9 Proz. der untersuchten Wohnungen
,, ,, ,, ,, 2 Räume 1 1 7 — SO, 6 ,, ,, ,, ,,
o h 11 •. 3 11 73 = 3L1 1» *1 n *’
4 „ 8 = 3.4 .. ..
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44<J
Miszellen.
Nimmt man an, dafs eine Wohnung mit drei und mehr Wohn-
genossen pro Raum als überfüllt, eine Wohnung mit zwei und mehr
Wohngenossen pro Raum als stark bewohnt anzusehen ist, so ergiebt
sich :
Es waren überfüllt: 66 = 23,8 Proz. der untersuchten Wohnungen.
Es waren stark bewohnt1) (einschliefslich der überfüllten Wohnungen)
130 = 55,3 Proz. der untersuchten Wohnungen.
Wir werden später sehen, dafs, wenn man eine Wohnung mit
weniger als 10 cbm Luftraum auf den Inwohner als überfüllt ansieht,
ungefähr die gleiche Anzahl der untersuchten Wohnungen als überfüllt
anzusehen sind als bei Anwendung der oben angewandten Methode.
Forscht man weiter nach, wie grofs die Anzahl der in jenen über-
füllten bezw. stark bewohnten Wohnungen gezählten Inwohnern im Ver-
hältnis zur Gesamtzahl der Inwohner der untersuchten Wohnungen war,
so ergiebt sich:
Es wurden insgesamt gezählt :
in den untersuchten Wohnungen: 1043 Wohngenossen
in den überfüllten Wohnungen: 426 — - 41 Proz.
in den stark bewohnten Widmungen : 716 = 68,8 Proz .(
der Gesamtzahl der in den
untersuchten Wohnungen ge-
zählten Inwohner.
Die Zahl der in den überfüllten Wohnungen gezahlten Inwohner
war sonach bei Anwendung obiger Methode eine sehr beträchtliche;
sie betrug ca. 2 5 der Gesamtzahl der Inwohner in den untersuchten
Wohnungen.
II. Die heizbaren Zimmer und deren Wohngenossenzahl.
Die bisher hauptsächlich von den deutschen Städtestatistikem ange-
wandte Methode, die Wohnungsnot festzustellen, war die, Wohnungen
mit einer gewissen Zahl von Wohngenossen auf das heizbare Zimmer
als überfüllt zu erklären. Die Mängel, die dieser Methode anhaften,
soweit sie ausschliefslich aus der Kombination von Räumen und Wohn-
genossenzahl auf das Mafs der Ueberfüllung schliefsen will, wurden
bereits oben dargethan ; allein diese Methode hat noch den weiteren
Nachteil, dafs sie alle unheizbaren Räume bei Beurteilung der Frage,
ob Ueberfüllung vorliegt, nicht weiter in Erwägung zieht. Auf diese
Weise bleiben oft 2 und 3 gröfsere Räume bei Beurteilung jener Frage
aufser Ansatz; die Meinung, dafs es sich bei den unheizbaren Räumen
immer um kleine nebensächliche Räume handelt, die für die Frage, ob
Ueberfüllung vorliegt, nur nebensächlich in Betracht kommen, dafs etwa
*) Unter den stark bewohnten Wohnungen werden im folgenden die über-
füllten Wohnungen überall immer wieder mitgezählt.
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F. Calin, Ein Arbeitcrwohnungs viertel in einer südd. Provinz-Stadt (Bayreuth). 447
alle Wohnungen mit einer gew issen Anzahl von heizbaren Zimmern sich
auch durchschnittlich innerhalb gewisser Raumgröfsen (Zahl von cbm
Luftraum) halten, wird jedenfalls durch die Bayreuther Enquete nicht
bestätigt. Trotzdem werden die Resultate der Bayreuther Enquöte über
das Verhältnis von Zahl der heizbaren Zimmer und Wohngenossenzahl
auch hier mitgeteilt, um eine Grundlage zur Vergleichung mit den Er-
gebnissen in anderen Städten zu gewinnen. Hierbei wurden, wie meist
üblich, die Küchen nicht zu den heizbaren Zimmern gerechnet, sondern
wurde zwischen Wohnungen mit r, 2 heizbaren Zimmern ohne Küche
und mit Küche geschieden. Bemerkt wird hierbei, dafs in einigen
wenigen Fällen die Küchen auch als Schlafräume benutzt wurden.
In dem untersuchten Bezirk gab es aufgenommene Wohnungen mit
I heizb.
I heizb.
I heizb.
2 heizb.
2 heizb.
2 heizb.
4 heizb.
Woh-
Zim-
Zim-
Zim-
Zim-
Zim-
Zim-
Zim-
nun-
mer
mer
mer
mern
mern
mern
mern
gen
ohne
mit
über-
ohne
mit
über-
mit
über-
Küche
Küche
haupt
Küche
Küche
haupt
Küche
haupt
und
1 Wolmgenosscn
>4
1
>s
—
—
—
—
>5
2 „
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—
—
—
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2
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—
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5
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3
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I
33
6
25
3
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1
1
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—
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•5
1
r
—
16
genossen
jo und mehr
«3
4
«7
1
—
1
—
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Wohngenossen
t
I
3
2
—
2
-
4
überhaupt
>75
39
214
11
9
20
I
*35
Fs hatten demgemäfs je
1 heizbares Zimmer
ohne
Küche :
>75 =
74,4 Proz. der untersuchten Wohnungen
I „
mit
,,
39 =
16,6 „
s,
44
2 heizbare „
ohne
tt
11 =
4.7 ..
.4
4.
2 t, „
mit
„
9 =
3 9 ..
,4
4.
t.
4
mit
M
1 =
0,4
.4
4.
Es hatten sonach je
1 heizbares Zimmer: 214 = 9t Pruz. der aufgenommenen Wohnungen
2 und mehr heizbare Zimmer: 21 = 9 „ „ „
Somit hatten ca. 3 \ der aufgenomraenen Wohnungen nur je 1 heizbares
Zimmer ohne Küche und mehr als " derselben nur je ein heizbares
Zimmer überhaupt.
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448
Miszellen.
Nimmt man nach der Methode der deutschen Städtestatistiker an,
dafs eine Wohnung mit je 6 und mehr Wohngenossen pro heizbares
Zimmer als überfüllt anzusehen ist, so würden in Bayreuth 63 der
untersuchten Mitwohnungen oder 26,9 Proz. derselben als überfüllt an-
zusehen sein. Bei Anwendung dieser Methode .würde also, wie später
zu zeigen sein wird, ungefähr dieselbe Anzahl Wohnungen als überfüllt
zu bezeichnen sein, wie dann, wenn man eine Wohnung mit weniger
als 10 cbm Luftraum pro Wohngenosse als überfüllt ansieht.
Nimmt man ferner an, dafs eine Wohnung mit vier und mehr
Wohngenossen pro heizbares Zimmer als stark besetzt zu bezeichnen ist,
so würden 133 der untersuchten Bayreuther Wohnungen oder 56,6 Proz.
derselben als „stark besetzt" anzuschen sein.
Fragt man weiter, wie sich die Zahl der Wohngenossen in jenen
als überfüllt bezw. als stark besetzt bezeichnten Wohnungen zu der
Gesamtzahl der Wohngenossen ihn den untersuchten Wohnungen verhält,
so ergiebt sich:
Die Gesamtzahl der Wohngenossen in den untersuchten Wohnungen
betrug 1043.
Hiervon wohnten in überfüllten Wohnungen 452 = 43,4 Proz.
Hiervon wohnten in stark besetzten Wohnungen 762 = 73,5 Proz.
Die Zahl der Wohngenossen, die in jenen von uns als i^berfüllt
bezeichneten Wohnungen gezählt wurden, war demnach eine sehr be-
trächtliche. Sie erreicht fast die Hälfte der Zahl der Wohngenossen in
den gezählten Wohnungen überhaupt.
Vergleicht man die Resultate der Bayreuther Enquete bezüglich
der Frage der Ueberfüllung mit den Resultaten der Wohnungunter-
suchungen in anderen deutschen Städten, so fallt das Ergebnis dieser
Vergleichung nicht eben zu gunsten Bayreuths aus. Im folgenden soll
eine Vergleichung, soweit möglich, nur mit den dem Verfasser näher
bekannten Münchener Arbeiterwohnungsverhältnissen versucht werden.
Nach der am 2. Dezember 1895 in München vorgenommenen An-
wesens- und Wohnungszählung, gab es im XVIII. Stadtbezirk (Giesing),
einem Arbeiterbezirke und zugleich einem der Bezirke mit den schlech-
testen Wohnungsverhältnissen in München ')
besetzte Wohnungen überhaupt 3884
besetzte Wohnungen mit keinem oder einem heizbaren Zimmer : 2691 == 69.3 Proz.
„ „ mit zwei oder mehr heizbaren /.immern: M93 — 30,7 „
,. „ mit 6 u. mehr Wohngenossen p. heizb. Zimmer : 366 3= 9,5 „
.. .. .. 4 .. .1 .. .. .. 1«4 = 31,6 ..
der besetzten Wohnungen des Bezirks.
1 Bezüglich der nachstehenden Zahlen vgl. Mitteilungen des statistischen
Amtes der Stadt München, XV. Bd., 6. Heft, Tabellen S. 41*, München 1897.
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I- Cab», Kin Arbcitcrwohnungsvicrtel in rincr südti. Provinzstadt (Bayreuth)- 449
Bemerkt wird, dals hierbei die sehr geringe Anzahl Wohnungen
mit keinem heizbaren Zimmer und 6 und mehr bezw. 4 und mehr
Wohngenossen den Wohnungen mit 6 und mehr bezw. 4 und mehr
Wohngenossen pro 1 heizbares Zimmer bereits zugezählt wurden.
Weiter gab es nach der genannten Zählung im XVIII. Stadtliezirk :
von Angehörigen der Arbeiterklasse besetzte Wohnungen:
überhaupt 2358
mit o oder i licirb. Zimmer: 1848=78,3 l'roz.) d'T ,von Angehörigen der
' J Arbeiterklasse besetzten
mit 2 oder mehr heizb. Zimmern: 510 = 21,7 „ Wohnungen des Bezirks.
von Angehörigen der Arbeiterklasse |
besetzte Wohnungen mit 6 und mehr J 251
Wohngenossen pro heizbares /immer J
von .Angehörigen der Arbeiterklasse j
besetzte Wohnungen mit 4 und mehr ! 1036
Wohngenossen pro heizbares /immer )
10.7 Pro/..
43,9 Proz.
der von Angehörigen der
Arbeiterklasse besetzten
Wohnungen des Bezirks.
Bemerkt wird auch hier, dafs die sehr geringe Zahl der von An-
gehörigen der Arbeiterklasse besetzten Wohnungen mit keinem heizbaren
Zimmer und 6 und mehr bezw. 4 und mehr Wohngenossen den von
Angehörigen der Arbeiterklasse besetzten Wohnungen mit 6 und mehr
bezw. 4 und mehr Wohngenossen pro heizbares Zimmer zugezählt
wurde.
Stellt man nun die Zahlen, die bei der Bayreuther Enquete und
der Münchener Zahlung gefunden wurden, einander gegenüber, so er-
giebt sielt :
Von den Arbeiter- Von den untersuchten
Wohnungen des XVIII. Stadt-
bezirks in München
hatten je I heizbares Zimmer 78.3 Proz.
waren überfüllt 10,7 ,,
waren stark besetzt 43.9 „
Wohnungen des
XI. Distrikts in Bayreuth
91 Pro/.
26.9 „
56,6 „
Sollte also nicht etwa die Zahl der auf ein heizbares Zimmer einer
Wohnung durchschnittlich entfallenden unheizbaren Räume oder die
durchschnittliche Gröfse der Räume in Bayreuth in den untersuchten
Wohnungen gröfser sein als bei den Giesinger Arbeiterwohnungen, so
wäre das Bild, das uns die Bayreuther Enquete bietet, als ein recht uner-
freuliches zu bezeichnen.
III. Luftraum und Schlafraum.
Die Einsicht in die Unzulänglichkeit der beiden oben angewandten
Methoden zur Erzielung exakter, ftir Wissenschaft wie Praxis gleich ver-
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450
Miszellen.
wertbarer Resultate bezüglich des Prozentsatzes der überfüllten Wohnungen
und des Mafses der Ueberfüllung in denselben hat zur Anwendung einer
anderen Methode geführt. Hierbei wird das Vorhandensein und Mafs
der Ueberfüllung nach dem auf den einzelnen Inwohner einer Wohnung
entfallenden Luftraum bezw. Schlafraum bemessen. Diese Methode ist
in gröfserem Stile bisher nur bei den grofsen Wohnungsenqußten in
Basel1) und Bern*), sodann in kleinerem Mafsstabe auch in verschiedenen
deutschen Städten angewandt worden. Die Resultate der bei der grofsen
Enquete im schlesisch-mährischen Kohlrcnrevier vorgenommenen Er-
hebungen sind meines Wissens bis auf den heutigen Tag nicht ver-
öffentlicht worden.
Der obengenannten Methode liegen Thatsachen der hygienischen
Wissenschaft zu Grunde.3) Nach den Untersuchungen von Pettenkofer
und Voit atmet ein Erwachsener stündlich durchschnittlich etwas über
22 1 Kohlensäure aus. Nun dürfen aber, ebenfalls nach Pettenkoferschen
Untersuchungen, in einem Kubikmeter Luft bewohnter Räume, wenn sie
noch ganz gut sein soll, nicht mehr als ’/io 1 Kohlensäure enthalten
sein. Soll nun die Luft einer bewohnten Wohnung nicht mehr als das
genannte Quantum Kohlensäure pro cbm enthalten, so rnufs angesichts
des oben genannten Ausatmungsquantums Kohlensäure die Kohlensäure-
menge der Luft so verdünnt werden, dafs sie eben nicht mehr als
7, „ 1 auf den cbm enthält; um diese Verdünnung zu bewerkstelligen,
bedarf es sehr vieler Frischluft. Aber auch die Luft im Freien enthält
schon Kohlensäure und zwar 3/i auf tooo Teile. Es können also einem
cbm Frischluft nur noch 4/m 1 Kohlensäure aufgebiirdet werden. Da
nun der Erwachsene in der Stunde 21 1 Kohlensäure ausatmet, so ergiebt
sich für einen Erwachsenen ein Bedarf von 55 — 60 cbm frischer
Luft in der Stunde.
Nimmt man nun an, dafs sich die Luft infolge der zahlreichen
kleinen Oeffnungen in den Wohnungen und infolge der Wärmeunter-
schiede auch ohne V’entilation in der Stunde 2 — 3 mal erneuert, so
müssen für einen Erwachsenen 30 - 20 cbm Luftraum zur Verfügung
stehen.
Eine Ausmessung des Luftraums der Wohnungen würde nun freilich
in den meisten unserer Grofs- und Mittelstädte zeigen, dafs jenes hygienisch
geforderte Minimum bei einem grofsen Prozentsatz der Wohnungen
bezw. Inwohner derselben nicht, oft nicht einmal entfernt, erreicht ist.
') Vgl. K. Itiicher: Die Wohnungsenquetc in der Stadt Basel. Basel 1891.
*) Vgl. Carl Landolt: Die Wohnungserhebung in der Stadt Bern. Bern 1899.
*) Die nachfolgenden Ausführungen hygienischer Natur sind, zum Teil wört-
lich, dem treftlichen Büchlein von l*rof. Dr. 11. Büchner-München ..Acht Vorträge
aus der Gesundheilsichre11, Leipzig. Teuhncr, 1898, entnommen.
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K. ('nhn, Hin Arhriterwohnungsviertel in einer silüü. Provinzstadt (Bayreuth). 4 - 1
Eine Wohnungsgesetzgebung, die vorschreiben würde, dafs Wohnungen
mit weniger als 20 cbm Luftraum pro Inwohner geräumt oder schwächer
belegt werden müssen, würde unfehlbar Fiasko machen. Es haben des-
halb auch die meisten gesetzlichen und verordnungsmäfsigen Bestimmungen
über das Wohnungswesen geringere Anforderungen gestellt. So müssen
nach dem Hamburger Gesetz betr. die Wohnungspflege in Schlafräumen,
welche an Aftermieter ödes Einlogierer abgegeben oder an Dienstboten,
Arbeiter und Gewerbegehülfen des Haushaltungsvorstandes überwiesen
werden, für jedes Kind unter 1 5 Jahren mindestens 5 cbm und für
jede ältere Person mindestens 10 cbm Luftraum vorhanden sein (§11
Abs. 2). Aehnliche Bestimmungen über Mindestluftraum, bald mit Aus-
dehnung auf sämtliche Inwohner von Wohnungen überhaupt, bald wie
in Hamburg, mit Beschränkung auf Wohnungen, in denen neben Fa-
milienangehörigen auch Nichtfamilienangehörige sich aufhalten, oder auf
Räume, in denen Schlafgängcr sich aufhalten, bestehen in Hessen-
Darmstadt, den Regierungsbezirken Düsseldorf und Arnsberg, in Braun-
schweig, Oldenburg, Berlin und einer grofsen Reihe sonstiger deutscher
Einzelstaaten und gröfserer staatlicher Verwaltungsbezirke t>ezw. Städte.
Ein gröfserer Mindestluftraum als 10 cbm pro Inwohner wird aber
nirgends gefordert. In der Praxis freilich ist die Durchführung selbst
dieser Minimalforderungen auf Schwierigkeiten gestofsen; es zeigte sich,
dafs bei dem in vielen Städten vorhandenen Mangel an kleinen Wohnungen
eine strikte Durchführung der betreffenden gesetzlichen Bestimmungen,
ein unbedingtes Festhalten an einen Mindestluftraum von 10 cbm pro
Inwohner eine sehr beträchtliche Anzahl von Familien einfach obdachlos
gemacht hätte; die Masse des Wohnungselends ist eben zu grofs, utn in
absehbarer Zeit die Durchführung auch bescheidener hygienischer Be-
stimmungen allgemein zu gestatten.
Sehen wir nun zu, wie sich nach der Bayreuther Enquete die
Wohnungsverhältnisse in dem untersuchten Distrikt hinsichtlich der Luft-
raumgröfse gestalteten. Es wurde in vorliegender Arbeit eine Scheidung
nach Gröfse des Wohnraums überhaupt und Gröfse des Schlafraums pro
Wohngenosse bezw. Schläfer vorgenommen, sodann auch berücksichtigt,
ob es sich bei den Inwohnern um erwachsene oder jugendliche Personen
(Personen im Alter von über oder unter 14 Jahren) handelte.
Von den 235 bei der Verarbeitung benutzten Fragebogen enthielten
234 zur Verarbeitung geeignete Angaben über den Kubikraum der Woh-
nungen. Nach Kubikraum und Wohngenossen ausgeschieden, ergab sich
in den untersuchten Wohnungen folgendes Resultat :
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452
Miszellen.
Es hatten je niebr als ')
T'l
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O _
II
IO — 12
cbm
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Woh-
nungen
insgesamt
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Wohngenosse
und
l Wohn-
genossen
~
-
_
2
4
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1
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1
—
—
—
—
9
10 u. mehr
Wohngcn.
3
4
Wohnung.
insgesamt
3
19
42
27
37
40
27
'3
.6
10
234
nthicltcn sonach je
3 — 5 cbm
3
—
1,3 Proz.
der
untersuchten Wohnungen
je mehr als
5-7 m
19
=
8,1 „
..
T. „
7—10 t«
4*
=
18 „
tt M
10—12 „
27
=
■ i-5 ..
M 4.
12-15 «
37
=■
15.8 0
•1 ..
15—20 M
40
=
17.5 •.
20—25 4,
*7
=
11,5 „
25-30 „
Es hatten je mehr als
'3
5-S ..
”
** *’
30 — 40 cbm pro Inwohner 16 = 6,8 Proz. der untersuchten Wohnungen
40 10 = 4.3
Unter den untersuchten Wohnungen gab es eine , die ihren In-
wohnern genau 10 cbm, 3 die ihren Inwohnern genau 12 cbm und eine,
die ihren Inwohnern genau 15 rbm Luftraum boten.
Je nachdem man eine Wohnung mit weniger als 20 cbm oder
1 5 cbm oder 1 2 cbm oder 1 o cbm Luftraum pro Inwohner als über-
füllt ansieht, würden in Bayreuth im XI. Distrikt
*) Bei der Enquete wurde ein Abzug an cbm Luftraum wegen der in den
Wohnungen befindlichen Schränke, Betten, Kommoden etc. nicht gemacht, so dafs
das hier gebotene Ergebnis noch etwas günstiger ist, als den Thatsachen entsprechen
würde.
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E. Cabn, Ein Arbeitcrwohnungsvicrtel in einer südd. Provinzstadt (Bayreuth). 45^
168 oder 71.8 Proz. der untersuchten Wohnungen (bei Annahme eines Mindest-
oder 117 ,. 54,3 ,. „
luftraums von 20 chm)
„ (bei Annahme eines Mindest-
*8 .. 377
luftraums von 15 cbm)
.. (hei Annalirtie eines Mindcst-
„ 63 „ 27.4 „
luftraums von 1 2 cbm)
„ (hei Annahme eines Mindest-
als überfüllt anzusehen sein.
luftraums von 10 chm)
Würde also die bayerische Wolmungsgesetzgebung die Räumung
aller Wohnungen, die ihren Inwohnern noch nicht io cbm Luftraum
pro Person gewähren, vorschreiben, so würden von den aufgenommenen
Wohnungen des untersuchten Bayreuther Bezirks allein 63 Wohnungen
oder mehr als 1 , derselben zu räumen sein und es wäre fraglich, ob
alle diese Haushaltungen in kurzer Zeit überhaupt wieder Unterkommen
finden würden.
Es wird also, zum mindesten in der ersten Zeit der Handhabung
der neuen bayerischen wohnungsgesetzlichen Bestimmungen, mögen diese
inhaltlich lauten wie sie wollen, unmöglich sein, in Städten mit schlechten
Wohnungsverhältnissen einen höheren Mindestluftraum als 7 cbm pro
Inwohner allgemein unbedingt zu fordern, und etwa nur die Räumung
aller Wohnungen mit einem geringeren Mindestluftraum als 7 cbm pro
Inwohner zu erzwingen, will man nicht andere erhebliche Nachteile für
die betroffenen Inwohner, herbeifuhren. Dieser Unterschied zwischen
dem hygienischen Ideal und der Möglichkeit seiner praktischen Durch-
führbarkeit unter den gegenwärtigen Verhältnissen mag betrübend sein ;
allein eine Gesetzgebung, die sich das Ziel setzt mit weitverbreiteten
Mifsständen aufzuräumen, wird, wenn sie ernstlich bestrebt ist, eine wirk-
liche Besserung der Wohnungsverhältnisse herbeizuführen, zunächst daran
gehen müssen, die krassesten Mifsstände zu beseitigen.
Vergleichbare Resultate aus den Wohnungsenqufiten in anderen
Städten liegen dem Verfasser nur wenige vor. Am besten dürften sich
zur Vergleichung noch die Ergebnisse der zu Anfang der neunziger Jahre
von der Berliner Arbeiter - Sanitäts- Kommission in Berlin vorgenom-
menen Wohnungsenquete eignen. *) Denn die Wohnungen in der
Sorauerstrafse in Berlin, deren Verhältnisse damals genauer unter-
sucht wurden, waren überwiegend von Angehörigen der Arbeiterklasse
besetzt.
Stellt man die Ergebnisse der Berliner und Bayreuther Enquete ein-
ander gegenüber, so ergiebt sich:
■) Vgl. darüber näher: Berliner Wohnungsvcrhällnissc. Denkschrift der Ber-
liner Arbeilcr-Sanitätskomniission, Berlin 1893, hier speziell S. 56.
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454
Miszellen,
Angaben über den Luftraum enthielten in Berlin 748, in Bayreuth
234 untersuchte Wohnungen.
Davon enthielten:
a) In Hcrlin (Soraucrstratse) b) In Bayreuth 1 XI. Distrikt!
der unters. Wohnungen der unters. Wohnungen
weniger als io cbm
pro Inwohner
20
=
2,5 Proz.
63
=
27 Proz.
lo — 12 „
(excl.) „
43
=
5-3 ..
a5
=
10,7
I2-15 11
87
=
in.9 „
39
=
16,7 .-
15—2'» M
♦♦ 0
192
=
24 .,
4>
=
175 -
20—25 „
152
=
19
27
=
1 ti5 .•
25—30 »»
85
=
10,6 „
'3
—
5-5
3«. — 40
129
-
16.1 „
16
—
6.8 ..
40 — 50 M
40
=
S
6
=
2-5
50 und mehr „
35
=
43
4
1,8 „
Es enthielten demnach in Berlin weniger als 10 cbm Luftraum pro
Inwohner: 2,5 Proz. der untersuchten Wohnungen; in Bayreuth weniger
als 10 cbm pro Inwohner 27 Proz. der untersuchten Wohnungen; es
enthielten demnach weiter in Berlin weniger als 15 cbm Luftraum pro
Inwohner: 18,7 Proz. der untersuchten Wohnungen, in Bayreuth weniger
als 15 cbm Luftraum pro Inwohner: 54,4 Proz. der untersuchten Woh-
nungen; es enthielten demnach endlich in Berlin weniger als 20 cbm
Luftraum pro Inwohner 42,7 Proz. der untersuchten Wohnungen, in
Bayreuth weniger als 20 cbm Luftraum pro Inwohner 71,9 Proz. der
untersuchten Wohnungen. Der angestcllte Vergleich fällt also sehr zu
Ungunsten der untersuchten Bayreuther Arbeiterwohnungen aus.
Sieht man weiter zu, wie sich die Zahl der Inwohner, die in
jenen einzelnen Klassen der Wohndichtigkeit gezahlt wurden, zur Ge-
samtzahl der in den untersuchten Wohnungen gezählten Inwohner ver-
hält, so ergiebt sich:
Die Zahl der Inwohner der untersuchten Wohnungen, deren Kubik-
raum und Inwohnerzahl angegelren war, l>etrug insgesamt 1039.
Davon lebten in Wohnungen
mit höchstens
7
cbm :
135 Inwohner
=
1 3 Proz.
-liier Inwohner
mehr
ils 7 bis cinschl.
10
265
«=
25.5 ..
.. io „ „
12
■32
=
12.7 „
M 12 „ „
15
179
=
17.2 ..
•• 15 « »•
2o
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14.0 ..
m 2o „
25
83
=
8
•• 25 ,, „
3«
35
=
3.4 ■.
•> .. .»
40
43
=
4,2 „
•> n
„ 4“
20 „
1,9 „
..
Von
diesen 1039 Inwohnern
lebten nun
wiederum in
Wohnungen
genau
10 cbin Luftraum
pro
Inwohner 6
Personen, in
Wohnungen
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E. Cahn, Ein Arbciterwohnungsvicrtcl in einer südd. Provinzstadt (Bayreuth). 4^
mit genau 12 cbm Luftraum pro Inwohner 11 Personen und in Woh-
nungen mit genau 1 5 cbm Luftraum pro Inwohner 3 Personen, so dafs
in den Wohnungen
mit weniger als 10 cbm Luftraum: 394 Inw. od. 38 fror, aller Inw. der unters. Wuhn.
„ •• .1 12 „ n 521 „ „ 50,1 „ „ „ „ „ „
„ „ „15 „ 7118 „ „ 68,1 „ „ „
1, » 20 „ „ 859 „ 82.3 „ „
gezählt wurden.
Bei Berücksichtigung der Zahl der betroffenen Personen verschiebt
sich also das Bild noch bedeutend zu Ungunsten der gesundheitlich
einigermafsen erträglichen Wohnungen» während noch ca. 1'3 aller unter-
suchten Wohnungen ihren- Inwohnern mindestens 20 cbm Luftraum pro
Person boten, lebten in jenen Wohnungen mit mindestens 20 cbm pro
Inwohner noch nicht 1 5 der Inwohner der untersuchten Wohnungen:
ähnlich ist das Verhältnis bei Vergleichung anderer Wo'nndichtigkeits-
gruppen.
Eine Reihe von Gesetzen und Verordnungen ülter das Wohnungs-
wesen verlangt für Kinder unter 14 Jahren einen geringeren Mindest-
luftraum als für Erwachsene (Personen von 14 Jahren und darüber).
Diese ungleichartige Behandlung hat ihre Grundlage in der wissenschaft-
lich beobachteten Thatsache, dafs Kinder weit weniger Kohlensäure aus-
atmen als Erwachsene, ihr Bedarf an frischer Luft deshalb auch ein ge-
ringerer ist als bei Erwachsenen und nach den oben angestellten Er-
wägungen auch der für Kinder zu berechnende Mindestluftraum geringer
bemessen werden kann als der für Erwachsene zu berechnende.
Um nun zu untersuchen, wie grofs der Prozentsatz der überfüllten
Wohnungen bezw. der verschiedenen Wohndichtigkeitsgruppen bei An-
wendung dieser oben berührten individualisierenden Methode sich ge-
staltet, wurde angenommen, dafs für Kinder unter 14 Jahren die Hälfte
des für Erwachsene erforderlichen Mindestluftraums durchschnitt-
lich genüge, allerdings eine sehr bescheidene Anforderung.
Hiervon ausgehend würden als überfüllt anzusehen sein:
hei Annahme eines Mindcstluflraums
von 7 cbm für Erwachsene und 3la cbm für Kinder: l Wohnung
10 .1 0
ii 11 ;
t,
11
31 Wohnungen
12 „
„ .. 6
11
1,
56
15 1. 0
.. 7'/i ..
"
..
95
20 „
„ .. ■*> »
»1
„
147
Bei Anwendung dieser Methode der Feststellung der Ueberfüllung
würde sich die Zahl der überfüllten Wohnungen bedeutend vermindern;
sie würde betragen:
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4-6 Miszellen.
beim Verlangen eines Mindestluftraums
sun Io bezw. 5 cbm.: 13,3 Proz. der unterMirhten Wohnungen
,. 12 6 23,8 ..
.. Ij 7 '/, 4», 8 .. .. .. „
.. 20 „ Io „ 62.8 „ „ „ „
Berechnet man nun nach dieser Methode der Feststellung der Ueber-
fiillung wiederum die Zahl der in den einzelnen Wohndiclitigkeitsklassen
wohnenden Personen, so ergiebt sich:
bei Annahme eines Mindestluftraums von
Io bezw. 5 cbm lebten in überfüllten Wohnungen : 1 78 Personen oder 17.1 Proz.
12 6 .. 354 .. 34
15 7* * .. 53« .. .. 5'
20 .. 764 .. .. 73.5 ..
der Inhalier der untersuchten Wohnungen.
Auch hier ist also der Prozentsatz der in den als überfüllt ange-
nommenen Wohnungen lebenden Inwohner erheblich gröfser als der
Prozentsatz der als überfüllt angenommenen Wohnungen , sofern man
natürlich l>ei der Vergleichung jedesmal die gleichen Merkmale für die
Feststellung der Ueberfüllung zu Grunde legt.
F.s ist oben davon die Rede gewesen, dafs bei Vorhandensein von
gesetzlichen und verordnungsmäfsigen Bestimmungen über das Woh-
nungswesen etwa eine liehördliche Räumung aller Wohnungen ohne den
gesetzlich geforderten Mindestluftraum pro Inwohner nur dann thatsach-
lich durchgeführt werden könne, wenn dieser Mindestluftraum sehr
niedrig gegriffen würde. Setzt man nun den Mindestluftraum für Er-
wachsene und Kinder verschieden fest, so kann man unter Umständen
auch bei etwas höherer Fixierung desselben wenigstens für Erwachsene
noch auf eine ^tatsächliche Durchführung der Bestimmungen über
Mindestluftrauin rechnen. Denn bei Annahme eines allgemeinen Mindest-
luftraums von 10 cbm wären 63 Wohnungen, bei Annahme eines all-
gemeinen Mindestluftraums von 7 cbm wären 22 Wohnungen, bei An-
nahme eines Mindestluftraums von 10 cbm für Erwachsene und 5 cbm
für Kinder 31 Wohnungen des untersuchten Distrikts als überfüllt an-
zuseben. Bei Anwendung eines verschiedenen Mindestluftraums für
Kinder und Erwachsene scheint aber auch angesichts der oben ange-
führten wissenschaftlichen Thatsachen eine gröfsere Garantie dafür ge-
geben zu sein, dafs von den überfüllten Wohnungen gerade die sanitär
bedenklichsten mit Sicherheit dem behördlichen Räumungsgebot ver-
fallen, wobei gleichzeitig zugegeben werden mag, dafs mit den oben an-
geführten Merkmalen noch nicht alle Merkmale einer sanitär bedenklichen
Wohnung erschöpft sind, vielmehr zweifellos unter Umständen auch eine
Wohnung mit dem gesetzlichen Mindestluftraum pro Inwohner wird ge-
räumt werden müssen.
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K. (.'ahn, Ein Arbeitcrwohnungsvicrtcl in einer sUdd. Provinzstadl (Bayreuth). 4J7
Einen Mafsstab für die Wohnbcquemlichkeit und zugleich für das
Mafs der Ueberfiillung der Wohnungen giebt auch die Gröfse des auf
die einzelnen Bewohner entfallenden Schlafraums. Denn die Schlafzeit
macht bei den meisten Familien den gröfsten Theil der Zeit aus, während
der alle Familienmitglieder oder der grofscre Teil derselben in der
gleichen Wohnung innerhalb 24 Stunden gleichzeitig vereinigt sind, da
tagsüber der Vater zumeist in Fabrik, Werkstatt oder Laden, die Kinder
zum Teil in der Schule festgehalten werden. Allerdings ist zuzugeben,
dafs geringer Luftraum pro Schläfer in den Schlafräuracn und geringer
Luftraum pro Bewohner innerhalb der gesamten Wohnung überhaupt sich
nicht notwendig decken. Denn nicht selten werden die gröfseren Räume
tagsüber als Wohnräumc und die kleineren Raume nachts zu Schlaf-
zwecken benützt, so dafs eine rationellere Verwendung der Räume
manchen Uebelstand beseitigen könnte. Allein für den untersuchten Be-
zirk hat diese Erscheinung offensichtlich nur nebensächliche Bedeutung;
hier ist enges Schlafen ein Ausdruck engen Wohnens überhaupt.
Eine Ausscheidung von F'rwachsenen und Kindern war nach dem
vorliegenden Material bei der Untersuchung der Gröfse der Schlaf-
räume nicht möglich. Auch wurde als Grundlage der Berechnung
nicht „die Wohnung" in Betracht gezogen. Denn der auf die einzelnen
Schläfer einer Wohnung entfallende Schlafraum war innerhalb sehr
vieler Wohnungen wiederum ein verschiedener und es hätte erst in-
direkt der in einer Wohnung durchschnittlich auf den Schläfer ent-
fallende Luftraum berechnet werden müssen , ein Resultat , das aber
keinen besonderen Wert hätte; vielmehr wurde allein der faktisch auf
den einzelnen Schläfer entfallende Schlafraum berücksichtigt.
Insgesamt wurden in den untersuchten Wohnungen 965 Personen
gezählt, bei denen die Gröfse des Schlafraums festgestellt worden war.
Von diesen 965 Personen halten
je bis 3 cbm Schlafraum 39 Personen oder 4 Pro/.
je mehr als 3 — 5
13 t
1. 1 3-7
1» »1 n 5 7
i6u „
„ 16.6
«I 11 »1 7
233
24.1
»1 •! ii lO“ “12
99
.. Io. 2
12 — 15
1 16
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96
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11 »1 n 20 — 25
ii 11
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C
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1, ,, 3°— 4°
• 1 1*
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11 2,6
0
V/“l
1
ii n
3
.. 0.3
5°
2
1. 0,3
Berücksichtigt man
weiter, dafs
auf 1 2 Personen je ein
Schlafraum
von genau 5 cbm, auf 13 Personen je ein Schlafraum von genau 7 cbm,
Archiv für soz. Gesetzgebung u. Statistik, XVII. 3°
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458
Miszellen.
auf 8 Personen je ein Schlafraum von genau io chm, auf 3 Personen
je ein Schlafraum von genau 12 cbm, auf 6 Personen je ein Schlaf-
raum von genau 1 5 cbm, auf 3 Personen je ein Schlafraum von genau
20 cbm entfiel, so ergab sich, dafs insgesamt
16,4 Pros, aller Personen, bei denen die Gröfsc des
Schlafraums ermittelt wurde, einen Schlaf-
raum von weniger als 5 cbm
*94 n
desgl.
7
54
desgl.
Io
64.7 ..
desgl.
12
76,4 ..
desgl.
*5
86,6 „
desgl.
20
besafsen.
Es ergab sich also das betrübende Resultat, dafs mehr als die
Hälfte der Personen, deren Schlafraum ermittelt wurde, einen Schlaf-
raum von weniger als je 10 cbm, fast zwei Drittel einen
Sclilafraum von weniger als je 12 cbm und mehr als drei
Viertel einen Schlafraum von weniger als je 15 cbm be-
safsen.
Benützung der Räume und Betten zahl.
Wenn der Satz Schmollers in seinem Grundrifs der allgemeinen
Volkswirtschaftslehre (in dem Kapitel über die Bedürfnisse) richtig ist:
„Ohne die Trennung von Wohn-, Schlaf- und Arbeitszimmer kein edleres,
höheres Familienleben"; dann wiese das Familienleben in den unter-
suchten Wohnungen des XI. Stadtdistrikts in Bayreuth nur wenige er-
freuliche Erscheinungen auf. Denn die Zahl der Wohnungen, in denen
ein besonderer nicht auch zum Schlafen benützter Wohnraum vorhan-
den war, war eine sehr geringe ; ihre Zahl betrug ca. 40 (eine ganz ge-
naue Angabe ist nicht möglich) ; in allen übrigen Wohnungen wurden
die tagsüber zum Wohnen benützten Räume nachts zum Schlafen be-
nützt. Im ganzen war also eine vollkommene Trennung von Wohn- und
Schlafraum nur in etwa ‘ — */„ der untersuchten Wohnungen durch-
geführt ; in einem grofsen Teile dieser begünstigten Wohnungen diente
aber der Wohnraum zugleich als Küche. Eine weiter ins einzelne
gehende Darstellung der Art und Weise der Verwendung der einzelnen
Räume der Wohnungen konnte mit Rücksicht auf die Unzulänglichkeit
des Materials in dieser Hinsicht nicht versucht werden ; sie hätte zudem
nur geringen Wert für die Erkenntnis der Wohnungszustände. Nur das
sei noch erwähnt, dafs in ca. 30 Fällen je ein Raum zugleich als Wohn-
raum, Schlafraum und Küche für sämtliche Mitglieder der Haushaltung,
die allerdings in Fällen dieser Art sehr häufig nur aus je einem Mit-
glied bestand, gedient hat.
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E. Cahn, Ein Arbcitcrwohnungsviertcl in einer südd. Provinzstadt (Bayreuth). 45g
Gewerbliche Mitbenutzung wurde in 9 von den untersuchten Woh-
nungen festgestellt; sie waren zumeist von kleinen Schneidern und Schuh-
machern besetzt. Nur in einem Falle diente der gewerblich benutzte
Raum gleichzeitig keinem anderen Zwecke; in 3 Fällen diente der ge-
werblich benutzte Raum zugleich als VV'ohnraum und Küche, in 4 Fällen
gleichzeitig als Wohn- und Schlafraum und in einem Falle gleichzeitig
als Schlafraum und Küche.
Als ein weiteres Merkmal für die in einer Wohnung herrschende
Bequemlichkeit und Behaglichkeit und gleichzeitig als wertvolles Mittel
zur Gewinnung eines Einblicks in das ganze soziale Niveau der be-
troffenen Volkskreise kann das Verhältnis der Zahl der einer Haushaltung zur
Verfügung stehenden Betten und der Zahl der sie benützenden Personen
gelten. Wie gesundheitlich und sittlich bedenklich unter Umständen das
Zusammenschlafen mehrerer Personen in einem Bett wirkt, ist ander-
wärts vielfach behandelt worden. Dafs es zumeist ein Ausflufs ungün-
stiger Lebens- und Einkommensverhältnisse ist, ist ebenfalls bekannt.
Es mag zugegeben werden, dafs es zuweilen auch bei günstigeren Ein-
kommensverhältnissen an der nötigen Anzahl verfügbarer Betten fehlt,
weil in den betreffenden Fällen mehr Geld ins Wirtshaus und in die
Schenke wandert, als ökonomisch zweckmäfsig und wohl auch gesundheit-
lich zuträglich ist. Für die iibergrofse Mehrzahl der Fälle dürfte die
Ursache des Mangels an einer genügenden Anzahl von Betten in sozialer
Not, in der Notwendigkeit, alle Einnahmen für Nahrung, Kleidung und
Mietzins auszugeben, bestehen.
In 232 untersuchten Wohnungen, deren jede je eine Haushaltung')
barg, wurden gezählt:
67 Haushaltungen, in denen für jede Person ein eigenes Bett vorhanden war,
03 Haushaltungen, in denen für je 2 Personen mehr als 1 Bett, aber nicht je
2 Betten vorhan den waren ;
von diesen 103 Haushaltungen waren wieder:
30 Haushaltungen, in denen auf je 3 Personen je 2 Betten trafen
25 ,, ,, „ „ „ 4 »• 11 3 »» »»
>5 it n « 0 t* 5 m n 4 »1 1»
13 ,1 n n o t, 5 t» -* 3 tt *1
41 Haushaltungen, in denen auf je 2 Personen je I Bett traf
16 „ „ „ für „ 6 „ mehr als je 2 aber weniger
als je 3 Betten vorhanden waren
S „ in denen auf je 3 Personen je 1 Bett vorhanden war
1 Haushaltung „ der „ „ 4 „ „1 „ „ »
') Bemerkt wird hier, dafs jede der untersuchten 235 Wohnungen nur je
einen Haushalt barg, so dafs eine Glcichsetzung von Wohnung und Haushaltung
zulässig ist und im folgenden öfter vorgenommen wurde.
3°*
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Miszellen.
460
Es herrschte also nur in etwas mehr als ein Viertel der hier
in Betracht kommenden Haushaltungen der normale Zustand, dafs auf
jede zur Haushaltung gehörige Person je ein Bett traf, während in ein
Viertel der hier in Betracht kommenden Haushaltungen auf 2 und
mehr Personen nur je ein Bett traf und in nahezu der Hälfte dieser
Haushaltungen auf je 2 Personen durchschnittlich mehr als ein und
weniger als 2 Betten trafen.
Abortverhältnisse.
Es ist im Interesse von Hygiene und Sauberkeit, dafs auf jede Haus-
haltung bezw. Wohnung mindestens ein eigener Abort kommt. Ange-
sichts dessen schreibt eine Reihe von Bauordnungen deutscher Einzel-
staaten, so u. a. das neue sächsische Baugesetz vom 1 . Juli 1900 (§ 133)
vor, dafs für jede selbständige Wohnung ein eigener Abort vorhanden sein
mufs. Freilich gelten diese Bestimmungen nur iur Neubauten und auch
hier können sie dadurch umgangen werden, dafs — wie nicht selten
vorkommt — eine Wohnung an mehrere Parteien zimmerweise oder
sonst geteilt vermietet wird, ln Bayreuth scheint der wünschenswerte
Zustand, dafs auf jede Wohnung ein eigener Abort kommt, bei weitem
nicht erreicht zu sein.
Bei 232 untersuchten Wohnungen, die je eine Haushaltung um-
fafsten, waren Angaben über die Abortverhältnisse vorhanden.
Von diesen 232 Haushaltungen hatten :
19 je einen eigenen Abort für sicli
55 den Abort mit noch einer anderen Haushaltung gemeinsam
n tt »» »»
3
„ I laushaltungen
36 »1 »i »* t*
3
35 *» " tt »»
4
5
•t tt
7 t. .. „
6
8 .. „
7
8
9 tt tt tt
9
Es hatten also nur ca. 8 Proz. der oben bezeichncten 232 Haus-
haltungen je einen eigenen Abort für sich, während mehr als die Hälfte
mit 1 — 3 anderen Haushaltungen und ca. 38 Proz. mit 4 — 9 anderen
Haushaltungen den Abort gemeinsam hatten, gewifs ein sehr wenig er-
freuliches Resultat.
Mietpreise.
Ein bedeutsames Mittel zur Beurteilung der Lebenshaltung der
Arbeiterklasse wie zur Erkenntnis des Wesens und der Tragweite der
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E. Cahn, Ein Arbeitcrwohnungsvicrtrl in einer sfldd. Provinzstadt (Bayreuth). ^(3 1
Bodenfrage in den Städten bildet die Mietpreisstatistik. Für Bayreuth
sind einer weiteren Verwertung der Ergebnisse dieser Statistik enge
Grenzen um deswillen gezogen, weil es an allen vergleichbaren Zahlen
für frühere Jahre oder andere Stadtdistrikte fehlt; soweit möglich und
zulässig, wurde eine Vergleichung mit den Resultaten der Statistik anderer
Städte versucht ; aber auch abgesehen hiervon können aus den nackten
Zahlen, die in dem untersuchten Distrikts selbst gefunden wurden, einzelne
wertvolle Schlüsse gezogen werden.
Im ganzen waren in dem untersuchten Distrikts die Mietpreise von
234 aufgenommenen Wohnungen angegeben.
Hiervon wurden gezählt:
12 Wohnungen zu einem
jährlichen Mietzins von
höchstens
. 50 Mk.
53 ii 11 ?i
>1 M 9V
mehr als
5°
*is 73 ..
81
M 91 99
99 99
75
,, 100 „
32 11 »> 1»
11 11 99
99 91
100
- US ..
31 «i n «t
11 91
*25
0 >5° ..
18 „ „ „
11 91 19
99 91
*5°
„ 200 „
7 .. ..
11 *9
200
Mk.
Eine Wohnung von
den letzgenannten 7
kostete
3°°.
eine 350 Mk
jährlichen Mietzins.
Es gab also :
5.1 l*roz. Wohnungen zu einem jährlichen Mietzins von höchstens ... 50 .Mk.
57.3
91
11 it
11
n 11 mehr
als
50
bis 100
26,0 „
11
91 1t 11
91
IOO
»5°
'7.7 ..
.1
tt 11
H
11 11 11
.1
l$°
„ 2oo
2.1 „
11
.. ..
11 1t 11
99
200
>1 250
0.9
91
25O
11 350
Vergleicht man mit diesen Zahlen die Ergebnisse der Münchener
Wohnungszählung vom 2. Dezember 1895 für den XVIII. Münchener Stadt-
bezirk (Giesing), so ergiebt sich für letzteren allerdings bei Berücksichtigung
auch der Mietpreise der leerstehenden Wohnungen, folgendes Resultat :
Wohnungen zum Preise von :
höchstens ... 50 Mk. gab es 2 Proz. unter den Wohnungen mit Preisangatie
mehr als
50 bis
IOO „
11 99 25 ||
1,
11 9|
100 „
150 „
tt 11 37»4 it
11
91 9t
150 »1
200 „
.. 9» *5»9 11
91
19
200 „
250 ..
91 91 6,9 „
19
11 11
11 11
250 „
35° ..
it 11 5t^ 1»
11 11
Da es sich im XVIII. Münchener Stadtbezirk wie im XI. Bayreuther
Stadtdistrikt um Arbeiterdistrikte handelt, die beide die schlimmsten Woh-
nungsverhältnisse ihrer Stadt aufweisen, so kann aus der Gegenüber-
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4Ö2
Miszellen.
Stellung der Mietpreise in den oben genannten Stadtdistrikten der beiden
Städte ein neuer Beleg für die allerdings nur mit Einschränkungen gel-
tende Thatsache entnommen werden, dafs der Arbeiter in der deutschen
Mittelstadt billiger wohnt als der Arbeiter in der deutschen Grofsstadt.
Doch darf deswegen aus verschiedenen Gründen, die hier nicht näher
zu erörtern sind, aus dieser Thatsache nicht etwa der Schlufs gezogen
werden, dafs die Lebenshaltung des Arbeiters in der deutschen Mittel-
stadt allgemein eine höhere ist als in der deutschen Grofsstadt.
Untersucht man die Höhe der Mietpreise in den verschiedenen
Raumzahlgruppen
der Wohnungen, so
ergiebt sich
Von den Wohnungen
zum Preise hatten je
hatten je
enthielten je
enthielten je
gab es
von
1 Raum
2 Räume
3 Räume
4 od. 5 Räume
insgesamt
höchstens 50 Mk.
1 1
—
1
—
12
über 50 bis 75 ,,
14
36
2
I
53
„ 75 „ 100 „
9
53
18
1
81
„ 100 „ 125 „
—
17
15
—
32
„ 115 ii 150 ..
—
9
21
I
31
„ 150 „ 200 „
—
2
12
4
18
„ 200 „ 250 „
—
—
2
3
5
über 250 „
—
—
2
—
2
insgesamt: 34
117
73
io
234
Aus diesen Zahlen kann der eigentlich selbstverständliche Schlufs
gezogen werden, dafs die Höhe des Mietpreises mit der Zahl der Räume
einer Wohnung wächst. Uebrigens ergiebt sich dasselbe Resultat, wenn
man die Höhe des Mietpreises pro Raum einer Wohnung in den verschie-
denen Raumzahlklassen einander gegcniibergestellt.
Es gab nämlich Wohnungen zum Preise von :
mit je
I Raum
mit je
2 Räumen
mit je
3 Räumen
mit je
4 u. 5 Räumen
insges.
höchstens 30 Mk.
pro Raum
»9
12
2
33
mehr als 30 — 40 Mk.
pro Raum
2
33
17
3
55
mehr als 40 — 50 Mk.
pro Raum
9
37
2S
4
73
mehr als 50 — 60 Mk.
pro Raum
8
16
9
1
34
mehr als 60 — 70 Mk.
pro Raum
5
9
4
—
18
mehr als 70 — So Mk.
pro Raum
6
2
I
—
9
mehr als 80 — IOO Mk.
pro Raum
4
1
2
—
7
mehr als 100 Mk.
pro Raum
—
—
—
—
Wohnungen insgesamt :
34
117
73
lo
234
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E. C'alin, Ein Arbeiterwohnungsviertel in einer stidd. I’rovinzstadt (Bayreuth). 463
Aus diesen Zahlen ergiebt sich aber auch, dafs das Wachsen der
Mietpreise mit dem Wachsen der Räumezahl nicht etwa proportional
geht, sondern viel langsamer voranschreitet ; während bei den Wohnungen
mit 1 Raume nur ca. 32 Proz. mit Mietpreisen von höchstens 50 Mk.
vorhanden waren, gab es unter den Wohnungen mit 2 Räumen ca.
76 Proz. zum Preise von höchstens 50 Mk. pro Raum, unter den Wohnungen
mit 3 Räumen ca. 78 Proz. zum Preise von höchstens 50 Mk. pro Raum
und endlich unter den Wohnungen mit 4 und 5 Räumen sogar 90 Proz.
zum Preise von höchstens 50 Mk. pro Raum. Aus diesen Ziffern darf
nun etwa nicht der Schlufs gezogen werden, dafs die kleinste Wohnung
die relativ teuerste ist; denn während die Wohnungen mit einem Raum
meist aus gröfseren Zimmern bestanden, befanden sich unter Wohnungen
mit 2 — 4 Räumen viele mit 1 oder mehreren kleineren Nebenräumen
(Kammern).
Die Möglichkeit der Vergleichung mit den Ergebnissen anderer
Städte tritt wieder ein, sobald man untersucht, wie stark die verschiedenen
Mietpreisklassen unter den Wohnungen mit 1 bezw. 2 bezw. 4 heizbaren
Zimmern (wobei die Küche nicht als heizbares Zimmer gerechnet wird),
vertreten sind.
Es gab :
Wohnungen
Wohnungen
Wohnungen
Wohnungen
zum
mit
mit
mit
ins-
Mietzins von
1 heizb. Zimm. 2 heizb. Zimm.
4 heizb. Zimm.
gesamt
höchstens 50 Mk.
12
—
—
12
mehr als 50 bis 75 „
52
t
-
53
„ „ 75 „ 100 „
77
4
—
81
„ „ 100 125 „
3°
a
—
32
»1 »♦ t25 .. 150 tt
»4
7
—
3*
„ „ KO „ 200 „
>s
3
—
18
mehr als 200 „
3
3
I
7
insgesamt :
213
20
I
234
Vergleicht man
die Mietpreise
in den Wohnungen mit
je 1 und 2
heizbaren Zimmern im Münchener Ostend (XIV. — XVIII. Stadtbezirk)1)
einem vorwiegend von Arbeitern bewohnten Stadtviertel, und in den
untersuchten Wohnungen mit je 1 und 2 heizbaren Zimmern im
XI. Bayreuther Stadtdistrikt, so ergiebt sich:
’) Vgl. hierüber Mitteilungen des Statist Amtes der Stadt München, XV. ßd.
6. Heit. Anwesens- und Wohnungszählung v. 2. Dezember 1895, Tabellen S. 24*,
München 1897.
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464
Miszellen
Es waren vorhanden Wohnungen :
Zum Mietzinse
von
Mit I heizbarem Zimmer
Mit 2 heizbaren Zimmern
in München . ..
(besetzte u. leere) ,n Kayreuth
in München
ibesetrte u. leere; .
in Bayreulli
höchstens 50 Mk.
l8z( 2,3 Proz.) 12 ( 5,6Proz.)
9( 0,4 Proz.)
—
mehr als 50 bis 100 „
2561(32.5 .. ) 129 (60,6 „ )
■01 ( 2,7 ,
’ }
5 (25 Proz.)
„ „ 100 „ 150 „
3080(39,1 „ ). 54(25,4 „ )
627(16,8 ,
• i
9(45 )
„ „ I SO „ 200 „
1561 (19,8 „ ) 15 ( 7,0 „ )
1205(32.4 ,
• i
3(15 - )
mehr als 200 ,,
496 ,62,9 „ ) 3( 1,4 „ )
1774(47,7 ■
. )!
3(15 - )
insgesamt :
7880 2 1 3
3716
1
20
Aus diesen Zahlen ergiebt sich wieder die gröfsere Billigkeit der
Arbeiterwohnungen Bayreuths in dem untersuchten Distrikt und, da die
Mietpreise in den übrigen Bayreuther Arbeitervierteln annähernd die
gleichen sein dürften, der Arbeiterwohnungen Bayreuths überhaupt gegen-
über den Münchener Arbeiterwohnungen, nur dafs hier diese Thatsache
durch Vergleichung von Wohnungen mit der gleichen Anzahl heizbarer
Zimmer noch klarer und einwandfreier zu Tage tritt als bei Vorführung
des oben beigebrachten Zahlenmaterials; denn dort konnte ja die
Möglichkeit, dafs etwa die betr. Münchener Arbeiterwohnungen durch-
schnittlich entsprechend gröfser und darum teurer seien, nicht weiter
berücksichtigt werden.
Bereits oben wurde festgestellt, dafs die Kostspieligkeit der Wohnungen
pro Raum mit dem Wachsen der Zahl der Räume in dem untersuchten
Distrikt abnimmt. Dieselbe Thatsache kann durch Vergleichung der
Preise pro heizbares Zimmer in den Wohnungen mit 1 heizbarem
Zimmer und mit 2 heizbaren Zimmern festgestellt werden.
Es gab nämlich :
Zum Preise
von
Wohnungen
1 mit t heizb. Zimmer
Wohnungen
t mit 2 heizb. Zimmern ,
überhaupt
höchstens 50 Mk pro
heizbares Zimmer . . '
12 (= 5,6 Proz.)
5 (= 25 Proz.)
17 (= 7.3 Pr°z.)
mehr als 50 — 75 Mk.
pro heizbares Zimmer
52 (= 24,4 „ ) i
9 (=45 » )
61 (= 26,2 )
mehr als 75 — 100 Mk.
pro heizbares Zimmer
77 <= 36,2 „ ) |
3(= >5 )
80 1 = 34.3 .. )
mehr als 100 Mk. pro
heizbares Zimmer . .
72 (« 33,8 „ )
3 (= '5 .. )
i
75 (=32,2 „ )
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E, Cahn, Ein Arbciterwolmungsviertel in einer südd. Provinzsladt (Bayreuth). 465
Auch hier wiederum wird man aus den angeführten Zahlen nicht
ohne weiteres auf die relativ gröfsere Billigkeit der Wohnungen mit
mehreren heizbaren Zimmern einen Schlufs ziehen können ; Ursache der
relativ gröfseren Kostspieligkeit der Wohnungen mit i heizbarem Zimmer
ist u. a. auch der Umstand, dafs sich unter dieser Gruppe eine gröfsere
Anzahl von Wohnungen mit mehreren unheizbaren Nebenräumen befand,
die den Mietpreis der Wohnungen verteuerten, während bei den
Wohnungen mit 2 heizbaren Zimmern die Zahl der unheizbaren Neben-
raumen gegenüber den heizbaren Zimmern nicht so erheblich ins Ge-
wicht fiel.
Eine exakte Feststellung über die verschiedene Höhe der Mietpreise
in Wohnungen von gleicher Gröfse, ater in verschiedenen Städten läfst
sich nur erzielen, wenn man die Höhe der Mietpreise pro cbm Luft-
raum einer Wohnung berechnet. Eine Vorführung der diesbezüglichen
Bayreuther Zahlen mufs an dieser Stelle unterbleiben, weil es dem Ver-
fasser an vergleichbaren Zahlen anderer Städte auf diesem Gebiete fehlt
und eine Vorführung der Bayreuther Zahlen allein wertlos sein würde.
Dagegen ist es von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit, die Höhe der
Mietpreise pro cbm -Luftraum einer Wohnung je nach dem Grade der
Ueberfüllung der Wohnungen zu gruppieren. Die ersten bezüglichen
Berechnungen sind erst vor einigen Jahren erfolgt. Es zeigte sich da
das seltsame Resultat, dafs der cbm Luftraum einer überfüllten Wohnung
in sehr vielen Fällen teurer zu stehen kommt als der cbm einer weniger
stark tesetzten Wohnung, dafs „schlecht wohnen“, sehr häufig auch
„teuer wohnen“ heifst, dafs ein grofser Teil der breiten Bevölkerungs-
schichten nicht nur in elenden Wohnungen zusammengepfercht wohnt,
sondern diese Wohnungen auch noch relativ teurer bezahlen mufs. So
wurde beispielsweise festgestellt, dafs in den Wohnungen der Bergarbeiter
im mährisch-schlesischen Kohlentezirk der cbm Luftraum teurer zu stehen
kommt als in den schönen, grofsen Wohnungen in der Wiener Ring-
strafse. Untersuchungen dieser Art auf breiterer Grundlage wurden
zuerst bei der schon früher behandelten Baseler Wohnungsenquete von 1889
vorgenommen, ln dem untersuchten Bayreuther Bezirk haben wir hier
insofern weniger gut verwertbare Zahlen vor uns, als es sich fast nur
um Arbeiterwohnungen handelt. Allein auch hier ist zu untersuchen,
inwieweit die oben erwähnten Erfahrungen auch für die einzelnen
Gruppen der Arbeiterwohnungen untereinander gelten , und dann wird
zu untersuchen sein, welche Ergebnisse eine Vergleichung der in Bayreuth
gefundenen Zahlen mit den vergleichbaren Resultaten anderer
Städte zu Tage fördert.
Im XI. Bayreuther Distrikt lieferte die Untersuchung folgendes Er-
gebnis:
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mehr als 3 Mk.
pro cbm Luftraum I — ! 1 ( 5,2 M ) 4 ( 9,8
466
Miszellen.
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E. Ca hn, Ein Arbeiterwohnungs viertel in einer sttdd. Provinzstadt (Bayreuth). 46 j
Aus diesen Zahlen ergiebt sich, dafs von den untersuchten Wohnungen
die überfiilltesten zugleich die teuersten waren.
Denn es gab Wohnungen zum Preise von höchstens 1,6 Mk. pro
cbm Luftraum:
überfüllte Wohnungen überhaupt: 16 = 26,2 Proz. der überfüllten Wohnungen
und zwar Wohnungen mit:
o bis 5 cbm Luftraum pro Inwohner: — Proz.
mehr als 5 „ 7 „ „ t, „ — „
„ t, 7 .. *0 » „ „ 39 ..
stark besetzte Wohnungen überhaupt: 43 = 41,3 Proz. der stark besetzten Wohnungen
und zwar Wohnungen mit:
mehr als IO bis 12 cbm Luftraum pro Inwohner: 33,3 Proz.
•» t, 12 „ 15 „ „ „ „ 59,4 „
>. 11 15 .. 20 .» n .. .1 30
genügende Wohnungen überhaupt : 38 = 57,6 Proz. der genügenden Wohnungen
und zwar Wohnungen mit:
mehr als 20 bis 30 cbm Luftraum pro Inwohner: 47,5 Proz.
„ „ 30 „ 40 „ „ „ 58
Weiter gab es Wohnungen zum Preise von mehr als 2 Mk. pro
cbm Luftraum.
überfüllte Wohnungen überhaupt: 27=42,9 Proz. der überfüllten Wohnungen
und zwar Wohnungen mit:
o bis 5 cbm Luftraum pro Inwohner: 100 Proz.
mehr als 5 „ 7 „ „ „ „ 52,6 „
11 1* 7 1. 10 34.I „
stark besetzte Wohnungen überhaupt: 24=23 Proz. der stark besetzten Wohnungen
und zwar Wohnungen mit:
mehr als 10 — 12 cbm Luftraum pro Inwohner: 37 Proz.
„ „ 1 2 — K 5 » ti it t. 10.8 „
genügende Wohnungen überhaupt : 6 = 8,8 Proz. der genügenden Wohnungen
und zwar Wohnungen mit:
mehr als 20 bis 30 cbm Luftraum pro Inwohner: 12, 5 Proz.
„ „ 30 40 „ „ „ „ 6,25 „
Vergleicht man die Mietpreise pro cbm Luftraum der Wohnung in
den untersuchten Wohnungen Bayreuths mit den Mietpreisen in den Arbeiter-
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468
Mis/cUrn.
Wohnungen anderer Städte, so ergiebt sich das bereits oben besprochene
Resultat, dafs die Arlieiterwohnungen in der Provinzstadt Bayreuth billiger
sind als etwa die Arbeiterwohnungen in Grofsstädten, wobei allerdings
mit der zweifellos zutreffenden Voraussetzung gerechnet wird, dafs die
Mietpreise in den untersuchten Bayreuther Arbeiterwohnungen den üb-
lichen Mietpreisen der Arbeiterwohnungen in Bayreuth sich annähern
und die Wohnungen mit höchstens 20 cbm Luftraum pro Inwohner
bezw. mit 1 oder 2 Räumen in den zum Vergleich herangezogenen
Städten zumeist von Angehörigen der arbeitenden Klassen bewohnt sind.
ln Bayreuth gab es unter den untersuchten Wohnungen mit höchstens
10 cbm Luftraum pro Inwohner: 17,5 Proz., die Mietpreise mit über
2,5 Mit. pro cbm Luftraum aufweisen und unter den untersuchten Woh-
nungen mit über 10 — 20 cbm Luftraum pro Inwohner: 4,8 Proz., die
Mietpreise mit über 2,5 Mk. pro cbm Luftraum aufwiesen.
In Basel wurde bei der im Februar 1 88 9 vorgenommenen Wohnungs-
enquete als Durchschnittsmietpreis pro cbm Luftraum in den Wohnungen
mit höchstens 10 chm Luftraum pro Inwohner: 4,59 fr. = 3,67 Mk.
und in den Wohnungen mit mehr als 10 — 20 cbm Luftraum pro In-
wohner: 3,95 fr. = 3,16 Mk. ermittelt.1)
Ferner wurde in Heidelberg bei der in den Wintermonaten 1895 96
und 1896/97 vorgenommenen Wohnungsenquete als Durchschnittsmietpreis
pro cbm Luftraum in den Wohnungen mit 1 Raum 2,57 Mk. und in
den Wohnungen mit 2 Räumen 2,31 Mk. festgestellt.-’')
Endlich wurde anläfslich der von der Berliner-Sanitätskommission
im Jahre 1893 vorgenommenen Enquete ermittelt, dafs in der nahezu
ausschliefslich von Arbeitern bewohnten Wohnungen in der Sorauerstrafse
in Berlin zumeist der cbm Luftraum 2 Mk. — 31., Mk. Miete kostete,
wahrend der Mietpreis pro cbm Luftraum in den untersuchten Wohnungen
Bayreuths zumeist 1,2 — 2,5 Mk. betrug.*)
Die Zusammensetzung der Haushaltungen.
Einen bedeutsamen Einblick in die mit dem Wohnungswesen in
Zusammenhang stehenden sozialen und sittlichen Zustände gewährt unter
L'mständen eine Untersuchung der Wohnungen je nach der Zusammen-
setzung der einzelnen in denselben befindlichen Haushaltungen. Die
Wohnungszustände der Haushaltungen mit Zimmermietern oder Gewerbe-
gehilfen können ersehen lassen, welches Mafs von Wohnbequemlichkeit
') Vgl. Bücher, Die Wohnungscnquetc in der Stadt Basel. Basel 1891.
*) Vgl. Bericht über die Ergebnisse der Untersuchung und Aufnahme aller
Wohnungm der Stadt Heidelberg. Heidelberg. S. II.
*) Vgl. Berliner Wohnungsverhältnissc. Denkschrift der Berliner Arbeiter-
Sanitätskommission. Bearbeitet von Adolf Braun. Berlin 1893. S. 64.
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E. Calin, Ein Arbciterwohnungsvintcl in einer siiilcl. Prnviiustadt (Bayreuth). 4ÖQ
den alleinstehenden, fern von der elterlichen Familie in Arbeit stehenden
jugendlichen Personen beschieden ist, und welche Folgen sich daraus
für die Verwendung der freien Zeit der betreffenden Personen, evtl, auch
für deren sittliches Verhalten mutmafslich ergehen. Dafs unter Umständen
starker Wirtshausbesuch und ehebrecherische Verhältnisse mit dem W0I1-
nungselcnd Zusammenhängen und von ihm abhängen, ist eine sicher be-
zeugte Thatsache. Aus den Wohnungszuständen der Haushaltungen mit
Pflegekindern können Schlüsse auf die sanitären Bedingungen , unter
denen diese Kinder aufwachsen, unter Umständen auch auf die sittlichen
Einflüsse, die in ihrer Jugend auf sie einwirken, gezogen werden. Dafs
das Hineindringen von fremden Elementen in den Familienverband be-
sonders unter ungünstigen Wohnungsverhältnissen schlimme F'olgen sitt-
licher Art mit sich bringen kann, ist bereits oben berührt.
Von den untersuchten 235 Wohnungen ira XI. Bayreuther Stadt-
distrikten
gab cs 30 mit Haushaltungen mit Schlafgangern, davon 2 mit Haus-
haltungen mit je 2 Schlafgängern, 5 mit Haushaltungen mit
je 3 Schlafgängern und eine mit einer Haushaltung mit
5 Schlafgängern ;
gab cs 1 1 mit Haushaltungen mit Pflegekindern, davon 2 Wohnungen
mit Haushaltungen mit je 2 Pflegekindern;
gab es <) mit Haushaltungen mit Schlafgängern u n d Pflegekindern, davon
eine mit 1 Haushaltung mit 3, eine mit einer Haushaltung mit
4 und eine mit 1 Haushaltung mit 5 Pflegekindern und Schlaf-
gängem.
Von den verschiedenen bisher berührten Gesichtspunkten, die zu-
sammen einen Einblick in die thatsächlichen Wohnungsverhältnisse der
untersuchten Wohnungen zu geben geeignet sind, sollen bei Darstellung
der Verhältnisse der Wohnungen mit Haushaltungen, in denen Schlaf-
gänger aufgenommen sind, nur diejenigen berücksichtigt werden, die
einen Einblick in die gerade hier sich aufdrängenden Fragen geben
können. Als solche Gesichtspunkte kommen u. U, Räumezahl einer
Wohnung, Wohngenossenzahl, Zahl der Schläfer in den einzelnen Räumen
einer Wohnung, Gröfse des Luftraums pro Inwohner, Grofse des Schlaf-
raums pro Schläfer in den einzelnen Wohnungen, evtl, auch Höhe des
Mietpreises in Betracht..
Von den 30 Wohnungen mit Schlafgängern war unter den unter-
suchten Wohnungen in Bayreuth nur eine, in der die sämtlichen Wohn-
genossen einer Wohnung (t Haushaltungsvorstand und 1 Schlafgänger)
zum Wohnen, Kochen und Schlafen nur einen Raum zusammen inne-
hatten, alle übrigen 29 Wohnungen enthielten je 2 — 5 Räume.
Die Wohnungen mit Schlafgängern waren zumeist von einer gröfseren
Anzahl von Wohngenossen besetzt ; unter den 30 Wohnungen mit
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470
Miszellen.
Schlafgängem hatten 1 5 je 6 und mehr Schlafgänger und hiervon wieder
6 je 9 und mehr Schlafgänger.
Da gesetzliche und verordnungsmäfsige Bestimmungen über das
Wohnungswesen sich vielfach darauf beschränken, bei Wohnungen mit
Schlafgängern für jeden Inwohner einen Mindestluftraum (von gewöhnlich
io cbm) vorzuschreiben oder anzuordnen, dafs in den Räumen, in denen
Schlafgängcr untergebracht sind, für jeden Schlafgänger ein gewisser
Mindestluftraum (gewöhnlich ebenfalls 10 cbm) vorhanden sein mufs,
überhaupt die Zahl der Verordnungen über Schlafstellenwesen im Gebiete
des deutschen Reiches Legion ist, erscheint es angebracht, zu berechnen,
wie grofs die Zahl der untersuchten Bayreuther Wohnungen mit Schlaf-
gängem und weniger als 10 cbm Luftraum pro Inwohner ist. Da ergab
sich, dafs 1 2 oder 40 Proz. der Wohnungen mit Schlafgängem weniger
als 10 cbm Luftraum pro Inwohner besafsen, also ein weit gTöfserer
Prozentsatz als der Prozentsatz der Wohnungen mit weniger als xo cbm
Luftraum pro Inwohner gegenüber den untersuchten Wohnungen über-
haupt betrug; aufserdem konnten 3 Wohnungen gefunden werden, in
denen sicher ein oder mehret e Schlafgänger einen Schlafraum von
weniger als 10 cbm besafsen, während die Zahl der aufserdem noch
vorhandenen Wohnungen mit weniger als 10 cbm Schlafraum für einen
oder mehrere oder alle zugehörigen Schlafgänger augesichts der be-
sonderen Gestaltung des vorliegenden Materials nicht ermittelt werden
konnte.
ln 14 von den 30 Wohnungen mit Schlafgängern schliefen der
oder die Schlafgänger mit Mitgliedern der Familie in demselben Raume
aufserdem trafen in 7 Wohnungen mit Schlafgängem auf 2 oder mehr Inwohner
nur je 1 Bett ; in einem dieser Fälle hatte mit Sicherheit der Haus-
haltungsvorstand und der Schlafgänger nur ein Bett zusammen, in einem
der Fälle trafen auf 6 Haushaltungsmitglieder, einschliefslich 3 Schlaf-
gänger 2 Betten; in wieviel Fällen sonst noch ein Zusammenschlafen
von Familienmitgliedern und Schlafgängem in einem und demselben Bett
stattfand, kann hier nicht näher angegeben werden, doch erscheint es
nach dem vorliegenden Material zweifellos, dafs es noch in einer ganzen
Reihe von Fallen statthatte. Dafs diese Zustände sittlich nicht un-
bedenklich sind, steht aufser allein Zweifel; doch kann ein zahlenmäfsig ge-
nauer Nachweis gerade über die Tragweite dieses Punktes bei der Be-
schaffenheit des Materials nicht erbracht werden.
Ebensowenig können genaue und zuverlässige Angaben über die
Gründe des Abvermietcns einzelner Wohnungsteile oder Schlafstellen an
Schlafgänger gemacht werden. Dafs hierfür ein Bedürfnis angesichts des
Vorhandenseins einer grofsen Zahl unverheirateter, von ihren Eltern ent-
fernter, erwachsener Personen vorliegt, liegt auf der Hand. Doch scheint
die Absicht, mit der Abvennietung einen Gewinn zu machen, die Haupt-
ursache zu sein; wenigstens scheint die grofse Anzahl von Wohnungen
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E. Cahn, Ein Arbcilerwohnungsviertel in rincr siidd. Provinzstadt (Hayrcuth). 47 I
mit 3 und mehr Räumen (15 oder 50 Proz. der Wohnungen mit Schlaf-
gängern, während die Wohnungen mit 3 und mehr Räumen nur ca.
35 Proz. der untersuchten Wohnungen überhaupt ausmachten) und mit
hohen Mietpreisen (5 oder 16,6 Proz. der Wohnungen mit Schlafgängern
kosteten über 150 Mk., während nur etwas mehr als 10 Proz. der
untersuchten Wohnungen überhaupt mehr als 150 Mk. Miete kosteten),
auf diese Ursache hinzudeuten. Aufserdem scheint starke wirtschaftliche
Bedrängnis den Anstofs zum Abvermieten zu geben; denn die auffallend
grofse Anzahl überfüllter Wohnungen mit Schlafgängern, die grofse An-
zahl der Wohnungen mit Schlafgängern, in denen auf 2 und mehr In-
wohner nur je ein Bett traf, scheinen mir in diesem Sinne verwertet
werden zu können.
Angesichts der im ganzen deutschen Reich gegenwärtig wirksamen
Bestrebungen behufs Verbesserung der Lage der aufserehelichen Kinder
durch Staat upd Gesellschaft erscheint ein Blick in die Wohnungen von
einigem Werte, in denen Pflegekinder, die wohl meist mit aufserehelichen
Kindern identifiziert werden können, untergebracht sind.
Es wurden 5—45 Proz. Wohnungen mit Pflegekindern unter den
1 1 Wohnungen mit Pflegekindern überhaupt gezählt, in denen auf den
Inwohner weniger als 10 cbm Luftraum trafen, ebenso viele, in denen
mit Sicherheit auf die Pflegekinder ein Schlafraum von weniger als
10 cbm traf, und gerade so viele, in denen auf je 2 oder mehr In-
wohner nur je ein Bett entfiel. Diese Prozentsätze sind abgesehen von
der Frage nach der Grofse des Schlafraums, wo eine sichere vollständige
Beantwortung nach dem vorliegenden Material nicht möglich ist, bedeutend
höher als die bezüglichen Prozentsätze gegenüber der Zahl der unter-
suchten Wohnungen überhaupt. In einem Fall, in dem ein Pflegekind
in einer Haushaltung untergebracht war, traf auf jeden Schläfer der
betr. Wohnung lediglich ein Schlafraum von 1,9 cbm, in einem anderen
Fall, in dem 2 Pflegekinder in einer Haushaltung untergebracht waren,
traf auf 3 Schläfer der betr. Wohnung ein Schlafraum von je 7 cbm
und auf 4 Schläfer ein solcher von je 4,2 cbm.
Eine verhältnismäfsig starke UeberfUUung ist auch in den Wohnungen
zu verzeichnen, in denen sich Haushaltungen mit Pflegekindern und
Schlafgängern zugleich befanden, (4 von 9 Wohnungen dieser Art ent-
hielten weniger als je 8,5 cbm Luftraum pro Inwohner).
Die Wohnungen der staatlichen Arbeiter und Unter-
beamten.
Seit mehreren Jahren sind in den Etats einzelner deutscher Staaten
u. a. auch Bayerns nicht unbeträchtliche Summen für die Erbauung von
Wohnungen von staatlichen Arbeitern und Unterbeamten, besonders von
Post- und Bahnarbeitern und Unterbeamten ausgeworfen. Dadurch sind
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472
Miszellen.
auf diesem Gebiete eine Reihe erfreulicher Resultate erzielt worden.
Gegen ein F.ingreifen des Staates auf diesem Gebiete sind selbst von
seiten derer , die gegen eine direkte produzierende Thätigkeil des
Staates und der Gemeinde auf dem Gebiete der Wohnungsfrage prin-
zipielle Einwendungen zu erheben pflegen, keinerlei Bedenken vor-
gebracht worden. Angesichts dieser Bestrebungen lag es nahe, zu
untersuchen, von welcher Beschaffenheit die Wohnungen der staatlichen
Arbeiter und Unterbeamten in dem untersuchten Bezirk waren.
Im ganzen wurden 14 solcher Wohnungen gezählt Die Wohnungs-
verhältnisse derselben sollen im folgenden detailliert dargestellt werden.
(Siehe die Uebersicht auf S. 473.)
Vergleicht man diese Zahlen mit den Ergebnissen der Enquete
überhaupt, so ergiebt sich, dafs die Wohnungen mit staatlichen Ar-
beitern und Unterbeamten durchweg bessere Zustände und Verhältnisse
aufwiesen als die übrigen untersuchten Wohnungen im Durchschnitt. Es
gab hier verhältnismäfsig weniger überfüllte und weniger stark besetzte
Wohnungen, weniger überfüllte Schlafräume, weniger Bettenmangel, da-
gegen verhältnismäfsig mehr Wohnungen mit 3 und mehr Räumen und
2 und mehr heizbaren Zimmern als bei den untersuchten Wohnungen
überhaupt. Die bessere wirtschaftliche Lage der staatlichen Arbeiter
und Unterbeamten zeigt sich darin, dafs diese mehr für ihre Wohnungen
aufzuwenden imstande sind als die übrigen Inhaber der untersuchten
Wohnungen ; Wohnungen zum Mietpreise von über 1 50 Mk., deren es
unter den untersuchten Wohnungen nur 25 gab, gehören hier nicht zu
den Seltenheiten. Wohnungen der allcrschlechtesten Sorte (Wohnungen
mit weniger als 7 cbm Luftraum pro Inwohner) wurden hier überhaupt
nicht gezählt. Die Wohnungen mit mehr als 20 cbm Luftraum, pro
Inwohner, die bei den untersuchten Wohnungen überhaupt nur etwas
mehr als ein Viertel ausmachten, bildeten hier die Hälfte. Uebcrhaupt
lieferten die Wohnungen der staatlichen Unterbeamten und Arbeiter
eines der wenigen erfreulicheren Bilder der ganzen Enquete, obgleich
es auch hier nicht an vielen Mifsständen im einzelnen fehlt, die es noch
zu beseitigen gilt, und ein idealer Zustand auch hier noch keineswegs
herrscht.
Die schlechtesten Wohnungen.
Am Schlüsse unserer gesamten Darstellung wollen wir uns noch
eingehender mit den Wohnungsverhältnissen der schlechtesten Wohnungen
befassen. Als solche bezeichnen wir die, in denen für den einzelnen
Inwohner höchstens 7 cbm Luftraum vorhanden sind und deren polizei-
liche Räumung unter allen Umständen gefordert werden mufs. Bereits
oben war davon die Rede, dafs 22 Wohnungen oder 9,4 Proz. der
untersuchten Wohnungen höchstens 7 cbm Luftraum enthielten. Jetzt
sollen diese 22 Wohnungen etwas genauer ins Auge gefafst werden.
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E. Calin, F.in Arbeitcrwohnungsvicrtcl in einer sttdd. Provinzstadt (Bayreuth). 473
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Archiv für so*. Gesetzgebung u. Statistik. XVII.
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474
Miszellen.
Von diesen 22 Wohnungen enthielten 3 je 4,5 — 4,6 cbm Luftraum
pro Inwohner, 6 je 5,4 — 6 cbm Luftraum pro Inwohner, 7 je mehr als
6 — 6,5 cbm Luftraum pro Inwohner und 6 je mehr als 6,5 — 7 cbm
Luftraum pro Inwohner. Diese 22 Wohnungen waren von 135 Wohn-
genossen bewohnt, von denen 45 einen Schlafraum von je höchstens
4 cbm, 35 einen Schlafraum von je mehr als 4 — 5 cbm, 26 einen
Schlafraum von je mehr als 5 — 7 cbm, 16 einen Schlafraum von je
mehr als 7 — 10 cbm, 10 einen Schlafraum von mehr als 10 cbm be-
safsen. Der Räumezahl nach enthielten 6 dieser Wohnungen je 1 Raum,
15 je 2 Räume und 1 3 Räume. Sämtliche 22 Wohnungen hatten
nur je 1 heizbares Zimmer. Die Zahl der Schläfer in den einzelnen
Räumen dieser Wohnungen schwankte zwischen 1 und 8; doch schliefen
in 1 8 von den 40 Räumen dieser 2 2 Wohnungen je mehr als 4 Schläfer.
In 1 7 von den 2 2 Wohnungen trafen auf 2 oder mehr Inwohner nur
je 1 Bett. Der Mietpreis ging nur in einer dieser Wohnungen unter
50 Mk. herunter, er betrug zumeist zwischen 50 und 100 Mk. und ging
in einem Pall bis auf 1 20 Mk. Auffallend ist der hohe Preis eines
cbm Luftraums in diesen Wohnungen; er überstieg in 13 Fällen den
Preis von 2 Mk. und betrug in einem Falle 3 und in einem Falle
4 Mk. Dabei befanden sich noch in 9 dieser Wohnungen Haushaltungen,
die ein oder mehrere Pflegekinder oder Schlafgänger oder beide zu-
gleich enthielten. Fragen wir nach dem Berufe der Haushaltungs-
vorstände in diesen Wohnungen, so erfahren wir, dafs in 123 dieser
Wohnungen Taglöhner, Dienstleute, Witwen oder alleinstehende Frauen
Haushaltungsvorstände waren. Fis sind also unständige und ungelernte
Arbeiter und hilflose Witwen oder P'rauen. die mit den schlechtesten
Wohnungen vorlieb nehmen müssen. In den übrigen 8 P'ällen scheint
eine besonders grofse Familie des Haushaltungsvorstands u. a. die Ur-
sache der Ueberfüllung zu sein, da hier die Zahl der Wohngenossen
eine besonders hohe und auch eine grofse Anzahl von Ziinmermietern
oder Pflegekindern nicht vorhanden war.
Fis läfst sich nicht sagen , welche Unsumme von Schmutz , Un-
bequemlichkeit , Anreiz zum Wirtshausbesuch diese Zahlen bedeuten,
wieviel sittlich bedenkliche F.rscheinungen sich in diesen Wohnungen
zeigen, inwieweit sie Herde oder Verbreiter von ansteckenden Krank-
heiten sind, wie das F'amilienleben und die Kindererziehung in diesen
Wohnungen beschaffen sind. Jedenfalls haben die Hygieniker wie der
Sozialpolitiker, der Philanthrop wie derjenige, der lediglich sich und
die Seinen von der Gefahr ansteckender Krankheiten bewahrt zu sehen
wünscht, an der Beseitigung solcher Wohnungen das erheblichste Inter-
esse. Gerade !>ei der Wohnungsfrage zeigt es sich, ähnlich wie bei
manchen anderen sozialen Problemen, dafs man soziale Reformen auch
vom Standpunkt des „vernünftigen Egoismus“ aus begründen kann, nur
schade, dafs es hier weiten bürgerlichen Kreisen, ähnlich wie etwa bei
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E. Valin, Ein Arbeiterwohnungsvicrtcl in einer sUdd. Provinzsladt (Bayreuth). -
der freiwilligen Versicherung, vielfach an der nötigen Weitsicht fehlt,
wie überhaupt der weitsichtige Egoismus bezeichnenderweise der sel-
tenere ist.
S c hlu fs.
Wir stehen am Schlüsse unserer Darstellung. Ein erfreuliches Bild
war es nicht, das sich unseren Blicken darbot. Sind auch die hygie-
nischen Verhältnisse in den untersuchten Bayreuther Arbeiterwohnungen
nicht schlechter oder jedenfalls nicht viel schlechter als die Wohnungs-
verhältnisse in den Arbeitervierteln der meisten Mittel- und Grofsstädte
— besser sind sie keinesfalls — so trat uns doch die Wohnungsnot in
ihren verschiedenen Seiten nur zu deutlich in den mannigfachen Zahlen-
reihen entgegen.
Es ist hier nicht der Ort, den Ursachen der Wohnungsnot nach-
zugehen und die Reformmafsregcln zu ihrer Bekämpfung darzulegen.
Das ist von anderer Seite und besser, als es der Verfasser zu thun ver-
möchte, bereits vielfach geschehen. Nur eine Krage taucht unwillkürlich
auf und verlangt ihre Beantwortung: Wird die zur Zeit in Bayern in
Vorbereitung befindliche Regelung des Wohnungswesens auf dem Wege
der Verordnung an den Verhältnissen der Bayreuther Arbeiterwohnungen
wie überhaupt den Wohnungen der breiten Massen in den bayerischen
Städten etwas ändern?
Ich liezweifle keinen Augenblick, dafs die allerärgsten Mifsstände
im Wohnungswesen durch die neuen Verordnungen werden beseitigt
werden.
Derselbe Ernst und Eifer in der Bekämpfung von Mifsständen, der
den bayerischen Fabriken- und Gewerbeinspektoren so oft nachgerühmt
worden ist, wird vermutlich bei den neuen Wohnungsinspektoren, sofern
sie unabhängige staatliche Beamte sind, zu finden sein.
Aber eine irgendwie durchgreifende und weitergreifende Besserung
der Wohnungsverhältnisse wird durch diese Verordnungen nicht herbei-
geführt werden können. Es ist in dieser Zeitschrift ') vor nicht langer
Zeit mit Recht hervorgehoben worden, dafs in neuerer Zeit „der Sinn
für Perspektive und Proportionen im Bereich der gesellschaftlichen
Probleme sich mehr und mehr entwickelt hat“, „dafs eine nüchternere
und klarere Abschätzung sozialer Mafsregeln“ und, wie hinzugefugt werden
darf, auch bezüglich der Leistungsfähigkeit solcher Mafsnahmen gegenwärtig
Platz gegriffen hat. Es wäre zu wünschen, dafs sich diese Vertiefung
sozialer Einsicht auch bei den Befürwortern der Verbesserung der Woh-
nungsverhältnisse immer mehr einbürgern mochte. Bei der gegenwärtigen
Verteilung der politischen und sozialen Macht, bei der gegenwärtigen
*) Vgl. XV. Band, S. 761, Berlin 1900,
3i*
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476
Miszellen.
Stärke der sich widerstreitenden reformfreundlichen und reformfeindlichen
Strömungen in der Wohnungsfrage, die sich in Parlamenten, städtischen
Vertretungskörpern und in der Presse regen, kann überhaupt in ab-
sehbarer Zeit selbst bei Anwendung weitgreifender Mittel von einer
„Lösung" der Wohnungsfrage, die so oft pomphaft verkündet wird, keine
Rede sein, da es ja nicht blofs auf den Inhalt der Refonnvorschläge,
sondern auch auf die Art und Weise der Ausführung derselben ankommt.
Man wird auch in der Wohnungsfrage, angesichts der geschilderten
Sachlage, sich daran gewöhnen müssen, von den gegenwärtig in Vor-
schlag gebrachten Reformvorschlägen etwas bescheidenere Wirkungen zu
erhoffen, für das erstrebte Ziel aber dann um so energischer und syste-
matischer zu arbeiten.
Zu den Mitteln, die zu diesen vorläufig etwas enger begrenzten
Zielen zu fuhren bestimmt sind, gehört unstreitig eine gut organisierte
Wohnungsinspektion ; ihr Ziel ist Schlicfsung der schlechtesten Wohnungen.
Aber auch diese Wohnungsinspektion setzt zu ihrer Durchführbarkeit,
will sie nicht von vornherein ganz niedrige Anforderungen an Wohnungen
stellen, voraus, dafs die Zahl der für die breiten Massen nach ihrer
Preislage in Betracht kommenden Wohnungen eine entsprechend grofse
ist, dafs ein gewisser, nicht zu karg bemessener, Ueberschufs an solchen
Wohnungen vorhanden ist, dafs beim Erlahmen der Privatspekulation in
Herstellung von Wohnungen für „kleine Leute", Staat, Gemeinde und
gesellschaftlich - genossenschaftliche Unternehmungen solche Wohnungen
beschaffen.
Geschieht dies nicht, so schafft man bei energischer Durchführung
einer nicht ganz niedrige Anforderungen stellenden Wohnungsinspektion
nur Obdachlosigkeit für eine Anzahl kinderreicher Familien. Auch in
Bayern stände zu befürchten, dafs bei einer Wohnungsinspektion der
gekennzeichneten Art angesichts des Umstandes, dafs die Zahl der
leerstehenden Wohnungen zu niedrigen Preisen in vielen bayerischen
Städten eine sehr geringe ist, dieselbe Wirkung erzielt würde. Aber
nur in selteneren Fällen hat man sich nicht gescheut, die Wohnungs-
inspektion der oben bezeichnten Art so straff durchzuführen, dafs jene
Wirkung thatsächlich eintrat. Entweder man hat seine Anforderungen
an die Wohnungen von vornherein oder später herabgesetzt oder man
hat, um Härten zu vermeiden, die Wohnungsinspektion etwas laxer
gehandhabt. ') In beiden Fällen wurde dann also das ursprünglich er-
strebte Ziel nicht voll erreicht. Ich glaube, dafs man auch in Bayern
über kurz oder lang, sofern man etwa von vornherein sich nicht ganz
enge Ziele bei der Wohnungsinspektion setzt, einen der beiden Wege
wird gehen müssen ; die Folge davon wird sein, dafs durch die Wohnungs-
') Vgl. Protokoll der 59. Sitzung der 2. Kammer der grofsherzogl. hessischen
Landstände (Verhandlung vom 31. März 1898 S. 1380 — 1384;.
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E. Cahn, Ein Arbeiterwohnungsviertel in einer südd. Provinzstadt (Bayreuth). 477
inspektion allein eine irgendwie weitergehendere Besserung der Wohnungs-
verhältnisse in Bayern nicht erzielt werden wird. Ueberhaupt kann die
Wohnungsinspektion wie überhaupt die repressive Thätigkeit allein nur
sehr wenig zur Verbesserung der Wohnungsverhältnisse wirken. Sie
kann wirksam werden erst, wenn ihr eine positive Thätigkeit, die Er-
bauung billiger und einigermalsen ausreichender Wohnungen für die breiten
Massen der Bevölkerung, zur Seite tritt. Die letztere Thätigkeit bleibt
überhaupt immer die Hauptsache in der ganzen Wohnungsreformthätig-
keit. Aber leider hat der objektiv und kritisch Urteilende nur zu sehr
Grund zu derAnnahme, dafs es auch hiermit in Bayern wie anderwärts
nicht allzurasch vorwärts gehen wird.
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Die österreichische Gewerbeinspektion im Jahre 1900.')
Von
Prof. Dr. ERNST MISCHLER,
in Graz.
In organisatorischer Hinsicht ist als Errungenschaft des Jahres 1900
nur die Errichtung Eines neuen Sprengels (Leoben) namhaft zu machen;
es bestehen derzeit sonach 21 territoriale und 2 nach sachlichen Ge-
sichtspunkten angeordnete Inspektorate (Wiener Verkehrsanlagen ; Binnen-
schiffahrt). Zweifelsohne ist dem Zentralgewerbeinspektor zuzustimmen,
wenn er als Bedingung der Erreichung des dieser Institution vor-
schwebenden Zieles die „systematische Weiterausgcstaltung der Ge-
werbeinspektion, vor allem aber . . . eine ausgiebige Erhöhung des Personal-
standes desselben“ hinstellt. Die Frage ist dabei nur, was unter dieser
„systematischen Weiterausgestaltung“ zu verstehen sein soll. Nach den
bisherigen, insbesondere durch den Organisationsplan des vormaligen
Zentralinspektors Klein vorgezeichneten Gestaltungstendenzen scheint nur
die Vermehrung und damit Verkleinerung der Sprengel nebst der
Personalvermehrung als „systematische Weitergestaltung“ in Betracht zu
kommen. Hierin würde ich einen entschiedenen Mangel erblicken.
Ausschliefslich extensive Anordnung zu pflegen, genügt nicht mehr ; es
handelt sich darum, den Anforderungen an den inneren Ausbau der
Organe gerecht zu werden und insbesondere Stellung zu den beiden
anderwärts als gestaltend wirkenden Momenten zu nehmen : zu der
Verwendung von Arbeitern und Frauen als Inspektionsorgane.
Dabei dürfte es gar nicht schwer fallen, in Uebereinstiinmung mit
den österreichischen Einrichtungen einen Weg zu finden um — wenigstens
dem einen dieser beiden Momente — diese hier zum Gegenstand einer
1 1 Bericht der k. k. Gewerbeinspektoren über ihre Amtsthätigkeit im Jahre 1900.
Wien 1901. Hof- und Staatsdruckerei, LXXV und 417 Seiten.
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Ernst Mise hl er, Die österreichische Gewerbeinspektion im Jahre 1900. 479
durchgreifenden Erörterung zu machen, würde den Rahmen dieser Mit-
theilung weit überschreiten — nämlich der Forderung nach Vertretung
der Arbeiter in der Organisation der lnspektion, ein grolses Stück ent-
gegengckomnien. Der Weg, den ich da im Auge habe, ist die Schaffung
eines Beirates für dieGewcrbeinspcktionim Handelsministerium
nach dem Muster der bereits bestehenden zahlreichen Beiräte. Ein An-
satz hierzu ist bereits gegeben, nämlich die mit 6. Januar 1899 vom
Kaiser genehmigte „Unfallverhütungskommission“, die sich administrativ
an die Gewerbeinspektion anlehnt. Gewifs ist der Gedanke einer solchen
Kommission richtig ; aber eine Kommission resp. ein Beirat flir alle An-
gelegenheiten der Gewerbesinspektion vermöchte nach allen Seiten hin
höchst erspriefslich zu wirken. F-s wäre zutreffend, denselben nach dem
Vurbilde des Arbeitsbeirates aus Kurien zusammenzusetzen und zwar
hätte er etwa zu umfassen 1) Vertreter der durch die Gewerbeinspektion
zu schützenden Arbeiterbevölkerung, 2) Vertreter der der Gewerbeinspektion
unterliegenden Industrieen, 3) Fachmänner aus dem Gebiete der Sozial-
politik, Technik und Hygiene, endlich 4) Regierungsorgane und zwar Ver-
treter der Gewerbeinspektion sowie der an dieser Verwaltung interessierten
Ressorts. Mit Rücksicht auf die Knappheit des Raumes sei es gestattet
diesen Gedanken hier nur einfach hinzustcllen, wobei ich mir eine Aus-
führung an anderer Stelle Vorbehalte.
ln der äufseren Anordnung zeigt der diesjährige Bericht nur geringe
Veränderungen gegenüber seinen Vorgängern : Abschnitte über die 1899
und 1900 neu errichteten Sprengel Komotau, Krakau, Czcrnowitz, Leoben,
sodann einen S|iezialbericht ül>er die Arbeit in den Tabakfabriken, und bei
einem Berichte eine kleine Monographie: die Malzerzeugnisse imOlmützer
Aufsichtsbezirke. Auch der lnspektion des Binnenschiffahrtsgewcrbes soll
wieder mehr Spielraum gegeben werden; wenn es einmal zum Ausbau
des projektierten Kanalnetzes gekommen sein wird , dann wird dieser
sachlich begrenzte Teil der österreichischen Gewerbeinspektion ohnehin
eine durchgreifende Umgestaltung erfahren müssen, und aus dem mehr
provisorischen Stadium von heute heraustreten.
Auch die innere Anordnung der Einzelberichte sowie des allge-
meinen Berichtes zeigt keine Veränderung. Dennoch durfte es erforder-
lich sein, den neu auftretenden Gestaltungstendenzen durch Aufnahme in
die Berichterstattung gerecht zu werden. So erscheint die besondere
plamnäfsige Berücksichtigung der Errichtungen und Wirkungen der
Arbeitsvermittlungsansalten erforderlich gegenüber den wenigen ver-
einzelten und verstreuten diesbezüglichen Bemerkungen. Auch die Frage
des Alkoholismus könnte zu eingehender Erörterung gelangen. Der einen
eisernen Bestand der heutigen Anordnung bildende Abschnitt über die
wirtschaftliche Lage der Arbeiter ist gut gedacht und enthält hie und
da auch viel Zutreffendes, schweift aber doch zu häufig von seiner Auf-
gabe ab, und enthält mehr die Schilderung der Lage der Industrie.
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480
Miszellen.
Auch müfsle dieser Abschnitt über die wirtschaftliche Lage der Arbeiter
innerlich etwas genauer disponiert werden. — Für die Bekanntgabe der
Resultate der Heimarbeiterenquete, welche die Gewerbeinspektoren durch-
geführt halten, wurde der Weg einer gesonderten Publikation gewählt. ')
Die Thätigkeit der Inspektion, sowie ihr Pcrsonalstand im Be-
richterstattungsjahre ist aus der folgenden Tabelle zu entnehmen, welche
den ganzen Zeitraum seit der Begründung dieser Institution umfafst.
1884
1886
1890
1893
1898
1899
1900
I. Inspektionsth äti gkeit.
Besuchte Betriebe
2 SS4
3 SO
5 892
9 666
1 1 057
■ '383
>5 393
Davon ohne Motoren . .
Arbeiter in den besc hü fügten
979
l 223
2494
3835
4832
449S
6411
Betrieben in 1000 ....
Arbeiter im Durchschnitt per
228
274
343
337
562
629
703
Betrieb
89
78
58
42
s*
55
46
II. Sonstige Amts-
geschäftc.
Einladungen zu Kommissionen
104
671
2 786
10 760
12 022
12 606
12464
Fälle persönlicher Anteilnahme
Abgegebene schriftliche Gut-
104
442
8S7
2 617
2 669
2623
2994
achten
Entgegengenommene Beschwer-
1 IOO
3
?
6 070
9075
9 263
10372
den der Arbeiter ....
IOO
> 359
5023
5817
8040
6 ^08
6 29s
Erfolgreich interveniert in Proz.
Fälle der Inanspruchnahme sei-
3
75
41
35
?
}
3
tens der Unternehmer . . .
?
400
3
2 704
2489
2 615
3078
III. Personale.
1
1
Bei der Zentrale
I
1
I
2
3
4
4
Amtsvorstände
Zugeteilte Inspektoren u. Kom-
9
12
16
18
■8
21
22
missäre
—
8
20
3>
29
3*
Zusammen
IO
13
25
40
52
54 |
57
Die Zahl der besuchten Betriebe ist erheblich gestiegen , jedoch
sind es diesmal wieder in gröfserem Mafse kleine Betrielte gewesen.
Die Zahl der Kinladungen zu Kommissionen, welche bis zum Vorjahre
in stetem Steigen begriffen war, scheint nunmehr auf einem Niveaustand
angelangt zu sein; die Fälle der persönlichen Anteilnahme an diesen
Kommissionen vermochten sich zwar, zufolge der Personalvermehrungen
1 ) Bericht der k. k. Gewerbeinspektoren über die Heimarbeit in Oesterreich.
Herausgcgchen vom k. k. Handelsministerium. Wien, Holder. 3 Bände, 1900
and 1901. ,
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Ernst Mischlcr, Die österreichische Gewerbeinspektiun im Jahre 1900. 48 1
etwas zu lieben, die schriftliche Erledigung ist jedoch in weit stärkerer
Zunahme begriffen ; letztere nimmt Dimensionen an, die für den Grund-
charakter und Hauptzweck der Gewerbeinspektion anfangen gefährlich
zu werden. Die Zahl der Fälle von Inanspruchnahme durch die Arbeiter
ist neuerlich in Abnahme begriffen, als Folge der Thätigkeit der Ge-
werbegerichte; letzte darf nicht gering veranschlagt werden, wenn die
Inanspruchnahme der Gewerbeinspektoren durch Arbeiter von 1898 bis
1900 von 8040 Fällen auf 6295 zu sinken vermochte; dabei steigt die
Inanspruchnahme durch die Unternehmer ziemlich an und nähert sich
dem Umfange der Inanspruchnahme durch den Arbeiter schon ganz merk-
lich, während durch lange Jahre hindurch eine grofse Differenz bestand.
Dabei kämpft aller die Institution der Gewerbegerichte, wie der allge-
meine Bericht (S. LXVIII) bemerkt, in zunehmendem Mafse mit der
Schwierigkeit, „dafs Gewerbegerichtsbeisitzer aus dem Arbeiterstande von
ihren Arbeitgebern entlassen wurden, zwar nicht mit ausdrücklichem
Hinweise auf die erwähnte Funktion, doch aber unter derartigen Um-
ständen, dafs die Betroffenen sowie ihre Genossen nur darin den Grund
suchen konnten.“ Nun ist dieser Thatsache gegenüberzuhalten, dafs die
gewählten Arbeitervertreter gesetzlich verhalten sind, die Berufung anzu-
nehmen; also auf der einen Seite der gesetzliche Zwang zur Annahme
der Wahl, auf der anderen Seite die Entlassung im Falle derselben, d. h.
im Falle der Erfüllung einer staatlich auferlegten Pflicht. Es genügt
nicht, wie es der allgemeine Bericht an dieser Stelle thut, diese Sachlage
nur zu beklage» ; hier niufs die logische Konsequenz aus derselben ge-
gezogen werden und diese kann keine andere sein als die Schaffung
eines gesetzlichen Schutzes der gewählten Arbeitervertreter im Wege
einer Gesetzesnovelle, welche an der Entlassung eines Arbeiters — falls
diese aus keinem anderen nachweisbaren Grunde erfolgte und als Folge
der Wahl angenommen werden müfstc — den Eintritt einer hin-
reichenden Entschädigung knüpft, oder die Entlafsbarkeit des Arbeiters
während der Dauer seines Mandates auf gewisse gesetzlich bestimmte
Fälle beschränkt. —
Die Beobachtungen über die Verwendung von Kindern, Jugend-
lichen und Frauen haben schon seit Jahren einen Niveaustand der Ziffern
dieser Personen ergeben; auch im Berichterstattungsjahr halten sich die
Ziffern auf dieser Höhe.
Es entfallen auf 1000 Hilfsarbeiter der besuchten Unternehmungen:
1884
1893
1 *897
1898
1899 !
1900
Frauenspersonen
323
297
291
278
307
294
Unter 16 Jahre alte Personen . . .
85
75
61 [
i
60
6z
60
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482
Miszellen.
Was die Fälle von gesetzwidriger Verwendung von Jugendlichen
und Frauen anbelangt, so hat schon das Vorjahr, in welchem eine ge-
nauere Beobachtung vorgeschrieben war, den Beweis erbracht, dafs diese
Ziffern, welche sich nur auf die inspizierten Betriebe beziehen, von der
Genauigkeit des Beobachtungsvorganges beeintlufst, erheblichen Schwan-
kungen unterliegen. So auch diesmal. Die Berichte selbst neigen auch
(z. B. S. 1 8 1 ) zu der in unserem vorjährigen Berichte ausgesprochenen
Ansicht, dafs die vorgeführten Ziffern überhaupt zu klein seien ; von
diesem Standpunkte aus ist die nachstehende Uebersicht zu beurteilen :
Widergesetzliche
1896
1893
1899
1900
Verwendungsfälle
c
c
£
S
Zus.
miinnl.
v
's
Zus.
c
c
£
weibl.
Zus.
miinnl.
'S
Zu*.
1. Nichtfabrik-
mäfsigcBctriebc
Kinder unt. 12 Jahren
3
3
20
75
95
'4
4
18
26
1
27
Kinder von 12 — 14
Jahren ....
89
4
93
106
12
1 18
■59
'5
«74
48
17
65
Zur Nachtzeit, dann
zu gefährlichen Ar-
beiten etc. verwen-
dete Jugendliche .
365
365
134
33
167
99
56
•55
233
12
245
Zusammen
457
4
461
260
120
380
272
75
347
307
30
337
11. Fabr i k mäfsige
Betriebe
Kinder unt. 12 Jahren
27
62
89
21
23
44
'7
I 1
2$
Kinder von 12 — 14
Jahren ....
78
48
126
228
165
393
182
'34
316
245
172
417
Jugendliche Hilfsar-
beiter bei Nacht .
16
6
22
48
■9
67
28
73
101
82
7
89
Zur Nachtzeit, zu gc-
fährl. Arbeiten etc.
verwendetejugend-
liche und Frauen .
4
>5»
155
5a
267
3*9
52
627
679
«3»
503
641
Zusammen
9S
205
3°3
355
5>3
868
283 857
1 140
482
<>93
"75
Totale
555
209
764
615
633
1248
555
932
1487
789
723
1512
Die Beobachtung der Arbeitszcitdauer bei 6315 fabrikmäfsigen Be-
trieben ergiebt im Zusammenhang mit den Ziffern der vergangenen Jahre
die Tendenz nach Verkürzung des Normalarbeitstages : Im Jahre 1897
wurde in 42 Prozent aller besuchten fabrikmäfsigen Betriebe durch
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Ernst Mi sc hier, Die' österreichische Gewerheinspeklion im Jahre 1 9. jo. 483
weniger als 11 Stunden gearbeitet, im Jahre 1898 in 46,6, 1899 in
48,5 und 1900 in 53,3 Prozent. Dabei sind die einzelnen Gewerbe-
klassen allerdings sehr ungleichmäfsig an der Bewegung beteiligt ; während
bei den graphischen Gewerben schon fast alle (dabei bei 30 Proz. der
9 Stundentag in Kraft), bei der Maschinenindustrie 85,1 Proz. und bei
den metallverarbeitenden Gewerben 78 Prozent aller besuchten fabrik-
mäfsigen Betriebe im Jahre 1900 eine Arbeitszeit von weniger als 11
Stunden haben, betragen diese Ziffern bei der Nahrungs- und Genufs-
mittelindustrie nur 23 Proz., bei der Papierindustrie 44 Proz. und bei
der Textilindustrie 50,4 Proz. Die nachstehende Tabelle enthält hierzu
die Ziffern für die letzten 4 Jahre:
Effektive Arbeitszeit in den besuchten fabriktnäfsigen
Betrieben.
Arbeitszeit
in Stunden
Jahr
Betriebe
8
»V.
9
91*
IO
IO1 4
IO',
1
io1 4 1 I
1 1 2
12
/.US.
l 897
17
6
110
>25
901
627
!
33 2002
432
I56
4423
überhaupt |
1S9S
8
6
202
183
1017
—
787
— >974
458
QO
4723
1899
7
1
182
164
1216
34
86.8
— 2165
291
17«
5104
(
19t»
18
8
235
22«
1550
27
1302
2518 301
130 0315
1807
1
_
8
5
74
2
92
48 MM
—
S
1042
Textil-
1S9S
2
—
5
10
109
156
— 73'
2
1015
Industrie )
1899
—
—
4
3
2 >6
3S
192
— ; 68l
1169
l
1900
—
4
12
20«
24
311
— ' 599
1
6
1223
Industrie in 1
1897
1
I
5
61
47
2 231
429
1
778
Nahrungs- u.J
Gcnufsmitteln 1
1898
1
—
13
—
63
—
67
— 271
337
—
752
1899
2
--
14
>4
81
94
— 362 276
1 844
1900
3
—
23
21
107
12»
— 514
281
2
10S0
Industrie in 1
1897
n
1
7
16
119
1
122
— 3>o
13
600
Steinen, Erden, '
1898
2
12
>4
114
—
123
— 1 227,
9
25
526
Thon, Glas 1
1899
1
1
8
23
>3<>
—
1 2 1
— 302
1
11
59
652
1900
3
2
10
2«
16»
171
— 40»
27
828
Erzeugung von i
1897
1
2
4
32
216
1
5*1
3 1 »3
—
—
4°3
Maschinen, |
189S
—
—
5
38
210
—
5S
- 54
—
—
365
Apparaten u.l
1899
—
—
7
34
21 ;
—
5'
— 73
—
—
3S0
Trans portmitt. (
1900
3
—
17
40
2«2
”,
— 66
I |
-
—
445
1897
—
3
22
>53
4
70
16 89
2
42
401
Metall-
1898
—
—
»
43
206
112
— j 140
31
16
557
industrie |
1899
2
—
8
33
217
10S
- 14»
1
35
553
1
I900
4
—
8
.3«
325
—
I8S
- 1 127!
—
37
745
Die bisher üblich-
gewesene „Ueberstundentabelle“ ist
diesmal
aus-
geblieben, gewifs wird sie stark vermifst werden ; ein Grund des Aus-
Digitized by Google
484
Miszellen.
bleibens ist nicht angegeben und nicht leicht erfindlich. Auch fehlt
noch immer eine Spezialisierung und genaue Statistik der Ueberschrei-
tungen der Arbeitszeit ; es soll nicht unterlassen werden, die Forderung
danach neuerdings zu erheben.
Hinsichtlich der abnehmenden Bedeutung der Ruhepausen und des
unbefriedigenden Zustandes des Ersatzruhetages ist im Berichterstattungs-
jahre Neues nicht zu bemerken. Auf dem Gebiete der Sonntagsruhe
machen sich die seltsamsten Strömungen geltend : während hier die Hand-
werksgehilfen am Sonntag f Lohnauszahlungstag) arbeiten, dafür Montag
und Dienstag blau machen, und, während anderwärts Fabrikarlieiter die
Sonntagsarbeit sogar mittels Strike erzwingen wollen, rotten die Buch-
drucker die Sonntagsarbeit in radikalster Weise aus und führen die
Handelsgehilfen verschiedenenorts einen heftigen Kampf um die Sonntags-
ruhe namentlich im Sommer. Hier wird es noch geraume Zeit bedürfen,
bis eine gewisse Stabilität der Verhältnisse eingetreten sein wird.
Während diese Zustände auf die Verschiedenheit von Bedürfnis und
Sitte zuriiekzuführen sind, basieren die zahlreichen Unklarheiten, Schwierig-
keiten und Mifsstände in der Praxis der Arbeitsbücher auf direkten Lücken
in der Gesetzgebung und widersprechender Praxis der Behörden; hier
thut energischer Wandel not, sollen die Arbeitsbücher, die heute beinahe
mehr schaden als nützen, nicht überhaupt jedes Ansehen eines offiziellen
Dokuments verlieren. Ungünstig lauten auch die Wahrnehmungen be-
treffend die Arbeiterverzeichnisse. Angesichts des vollkommen unbe-
friedigenden Zustandes der Befolgung der Vorschriften macht ein Be-
richterstatter (Leoben) den Vorschlag an Stelle der Arbeiterverzeichnisse
sowie des Strafgelder- und Sonntagsverzeichnisses die Führung von Lohn-
listen vorzuschreiben ; die Zentralinspektion scheint diesem Vorschläge
zuzustimmen.
Hinsichtlich der Praxis der Arbeitsordnungen bringt die Tendenz,
gemeinsame Arbeitsordnungen für ganze Betriebszweige, einzelne Lander
oder Orte zu schaffen, etwas Klarheit in die Sache. Im Berichterstattungs-
jahre kommen zu den bereits bestehenden Entwürfen noch jene für die
Warnsdorfer, die Zwickauer und die Jägerndorfer Textilindustriellen,
sowie für die Bauunternehmer in Teplitz hinzu. Selbstverständlich setzt
ein solchen Vorgang eine gewisse Zcntralisiemng , sei es auf Seite der
Unternehmer oder auch auf Seite der Arbeiter voraus. Gegenüber einer
derartigen Sachlage ist eine sachliche Behandlung von Arbeitsordnungen
resp. deren Entwürfen möglich ; gegenüber der Hochflut von diver-
gierenden Ordnungen für einzelne kleine Betriebe, seien diese auch
derselben Art, mufs aber die Kraft des Inspektionsorganes bald erlahmen.
Die Angaben über Arbeiterausschüsse lauten ebenso negativ wie
bisher.
Dringend der Regelung bedürftig ist auch die Angelegenheit der
Lohnauszahlungsperioden (z B. S. 132). Die Frage ist nach zwei Rich-
Digitized by Google
Ernst Miscbler, Die österreichische Gewerbeinspektion im Jahre 1900.
tunken hin ins Auge zu fassen : einerseits mit Rücksicht auf die Termine
für die Berechnung der ins Verdienen geltrachten und sonach auszu-
zahlenden Lohne, und andererseits mit Rücksicht auf die Verlängerung
dieser Berechnungstennine um einen Zeitraum z. B. die „Stehwoche",
wodurch die faktische Auszahlung der Löhne gegenüber den Abrechnungs-
terminen hinausgeschoben wird, damit stets eine Kautionssumme bereit
liege. In erstgenannter Hinsicht handelt es sich zunächst darum, allzu-
lange Lohnabrechnungstermine zu beseitigen und dem Arbeiter die Mög-
lichkeit zu eröffnen, Teilbeträge des Lohnes innerhalb der Berechnungs-
jteriode zu beheben ; mit Rücksicht auf die sogen. Stehwoche jedoch
resp. rücksichtlich ähnlicher Hinrichtungen entsteht die Frage über deren
Berechtigung überhaupt, und im Falle der Zulässigkeit die Frage der
Regelung dieses Kautionsverhältnisses hinsichtlich Verzinsung, Rück-
zahlung etc.
Hiermit im engsten Zusammenhänge stehen die gesetzwidrigen Lohn-
abzüge zum Zwecke eigenmächtiger Schätzung des durch Produktions-
fehler dem Arlreitgeber angeblich verursachten Schadens und dessen
Deckung durch Heranziehung der zurückbehaltenen Kaution, eventuell
auch noch des fälligen Lohnes, eine namentlich in der Textilindustrie
verbreitete Gepflogenheit.
Da gerade von Lohnabzügen die Rede ist, sei eines Kuriosums ge-
dacht, welches zeigt, wohin man kommt, wenn die sozialpolitischen Ge-
setze silbenstechend ausgelegt werden. Gemäfs 78 der Gewerbeordnung
ist der Gewerbeinhaber berechtigt, den Arbeitern „Wohnung, Feuerungs-
material" etc. bei der Lohnauszahlung nach vorhergehende! Vereinbarung
zuzuwenden, d. h. Ixrhnabzüge für z. B. beigestelltes Feuerungsmaterial,
also etwa Petroleumbeleuchtung zu machen — dagegen, wie ein Mi-
nisterialerlafs besagt (S. LXIX) für die beigestellte elektrische Beleuch-
tung nicht, weil die Beleuchtung unter den im }j 78 taxativ aufge-
zählten Gegenständen nicht vorkomme. Man wird diese Sachlage nicht
leicht verstehen. Denn wenn der Ministerialerlafs besagt, die Beleuch-
tung sei im $ 78 nicht inbegriffen, dann sind auch Lohnabzüge wegen
beigestellter Petroleumbeleuchtung durch 40 Jahre ungesetzlich gewesen,
denn diese ist ja auch eine Beleuchtung. Vermutlich fällt aber das Pe-
troleum unter den im $ 78 enthaltenen Begriff „Feuerungsmaterial" und
demzufolge sei auch eine beigestellte Petroleumbeleuchtung abzugsfähig,
d. h. wer mit Petroleum beleuchtet, kann — Vereinbarung vorausgesetzt —
hiefür Lohnabzüge machen, wer aber elektrisch beleuchtet, darf hiefür
überhaupt keine vornehmen. Das wird allerdings dem Laienverstand
schwer einleuchten. Ueberdies bildet dies gerade keine Aufmunterung
für die Unternehmer, von den minderwertigen Beleuchtungssystemen zum
elektrischen Lichte überzugehen. Richtig und wichtig wäre es, von der
ergangenen Entscheidung des Ministeriums Gebrauch zu machen, um
eine neuerliche Entscheidung hervorzurufen, welche generell klarstellt, ob
Digitized by Google
486
Miszellen.
überhaupt entgeltliche Beistellung von Beleuchtungsgegenständen verein-
bart, d. h. Lohnabzüge hieftir vorgenommen werden dürfen.
Gegenüber den Klagen über die aus Arbeitsunterbrechungen den Ar-
beitern erwachsenden Verluste, wie sie z. B. in Betrieben mit Wasserkraft
zu Zeiten von Wassermangel oder dadurch entstehen, dafs es z. B. in
Hüttenwerken oder in Welrereien an vorbereitetem Materiale fehlt, finden
wir in einem Inspektoratsberichte (Graz) den Hinweis darauf, dass ein-
zelne Unternehmungen den Arbeitern für solche Fälle das Recht auf
einen Minimallohn zuerkennen.
Die Revisionen der Arbeits- und Wohnräume ergaben dieselbe
Situation wie bisher und den Satz, dafs die Verhältnisse im Kleingewerbe
eine entscheidende Wendung zum Besseren noch nicht erfahren haben,
während sich in der Großindustrie allmählich ein Umschwung zuin
Besseren vollzieht. Die Berichterstattung erwähnt neuerdings der in
Böhmen und zwar diesmal auf Grund der Statthaltereierlässe vom
23. August 1899 Z. 107766 und 1. September 1900 Z. 112 743 durch-
geführten systematischen Revisionen unter Mitwirkung der politischen
Behörden, der Amtsärzte, ( ienossenschaftsvorsteher und Gewerbeinspek-
toren. Allerdings wird mitgeteilt, dafs die Zahl dieser Revisionen in
manchem Aufsichtssprengel 300 — 400 gewesen sei und in zahlreichen
Fällen zur Abstellung von Uebelständen ja mitunter zur „Schliefsung"
der betreffenden Betriebe geführt habe. Diese allgemeinen Angaben
genügen jedoch nicht, um das Bedenken, welches gegen diesen kompli-
zierten Revisionsvorgang von vornherein obwalten mufs, durch Beob-
achtung von dessen praktischen Erfolgen zu zerstreuen. Insbesondere
wäre es wichtig zu wissen, ob eine fortgesetzte fernere Ueberwachung
jener Betriebe besteht, in denen Uebelstände konstatiert worden sind,
sodann ob überhaupt die Befolgung der „Abstellungsbefehle“ kontrolliert
wird, was mit dem Personale und den Räumlichkeiten jener Betriebe
geschieht, welche wegen Mifsständen geschlossen wurden etc.
Eine besondere ständige Beachtung hatten die Inspektoren im Be-
‘richterstattungsjahre den Buchdruckereien zuzuwenden.
Ueberhaupt ist die ganze Berichterstattung dieses Abschnittes
(II. Beschaffenheit und Einrichtung der Arbeits- und Wohnstätten) eine
besonders gute und plantnäfsige, wenngleich zufolge der Materie vor-
wiegend technische: die Verhältnisse der Decken, Stiegen, Aborte,
Raumdimensionen, Durchgänge, Beleuchtungssysteme, Temperatur, Ven-
tilation, Staub, Dampfkessel und -Apparate sowie Kesselhäuser, Trocken-
räume, Wohn- und Schlafstätten werden mit kräftigen Strichen dem
Leser plastisch vorgeführt. Auch die Einzelfklle aus dem Gebiete der
Wohn- und Schlafstätten auf S. XLVII1 f. lassen an Kraft des Kolorits
nichts zu wünschen übrig.
Solche Einzelmitteilungen müssen jedoch mit der nötigen Vorsicht
aufgenommen werden. Auf der einen Seite werden Fälle ganz be-
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I'rnst Mischler, i >i<- iistmcichischf (icwcrbcinspcktion im Jalirc 1900, 487
sonders krasser Art von W ohn- und Schlafstätten und auf der anderen
Seite wieder Fälle günstiger Einrichtungen hervorgehoben. So lange die
Bedeutung solcher F.inzelangaben richtig erfasst wird, sind sie nur zu
begriifsen. Ihr Sinn liegt niemals darin, einen Schlufs auf den Umfang
des Vorkommens solcher Uebclstände resp, derartiger guter Einrichtungen
oder auch die Vergleichung des einen mit dem anderen zu ermöglichen;
dies wäre grundfalsch, denn es liegt in der Hand der Beobachter, mehrere
oder weniger Fälle heranszugreifen. Richtig ist es, eine möglichst grofse
Zahl von Fällen zu sammeln und damit die Kenntnis zu bereichern; in
welchem Verhältnisse die Zahl der mitgeteilten Fälle zu den Gesamt-
erscheinungen liegt, müfstc erst besonders konstatiert werden, falls dies
überhaupt möglich ist. Die Mitteilung solcher Einzclfälle hat offenbar
nur die Bedeutung, dafs wir in die Eigenart und Verschiedenartigkeit
des Vorkommens einer besonderen Thatsache, z. 15. hier des Wohnens
einen genauen Einblick gewinnen, wobei die Annahme von vornherein
berechtigt ist, dafs jeder der angegebenen Fälle nur als Typus einer
grüfseren Anzahl ähnlicher in Betracht komme. —
Der Bericht des Inspektors der Wiener Vcrkehrsanlagen bringt auch
heuer wieder eine gröfsere Anzahl von sehr dankenswerten Notizen einer-
seits über Lohne und andererseits über Wohnverhältnisse, aus welchen wir,
in Fortsetzung der in den bisherigen Berichten eingehaltenen Gepflogen-
heit die nachstehenden Lohndaten entnehmen resp. berechnen. Die Mit-
teilungen der Notizen aus der Wohnstatistik mufs diesmal aus Raumruck-
sichten unterbleiben.
Die erste Gruppe von Daten bezieht sich auf das Verhältnis von
Tngclohn zu Akkordlohn resp. zu Wochenlohn in denselben Beschäf-
tigungen ;
ragelohn
Akkordlohn
Jahr
u,
rt C
Si — v
£
v 3 s
.c > 2
■< ^
1 h'
von | bis
Gulden
<9 d
2 c-o
2*1
ä- ■/.
von bis
1
Gulden
Maurer bei Ziegelwerken . .
1 1
2,—
2,20
IO u. 1 I
2,—
2,20
Maurer bei Steinmauern . .
1 1
1.80
2.70
IOU. 1!
2,20
3 —
Stcinmetze
1 1
2,1*
2,80
1 t
2,40
35c
Zimmerleule
1 1
1.8s
2,50
1 I
2,50
j-
1899
Tischler
1 1
i,6o
2,20
2,20
2,*0
Schlosser, Schmiede
1 ]
1,60
2,60
IO
1.70
3.—
Erdarbeiter
Handlanger bei schwerer Ar-
1 1
1.30
1,6*
( 1
>-75
2, —
beit
11
1,30
'.55
I I
'.75
2, —
I
Maurer bei Steinmauern . .
1 1
1 So
2.00
IO, 11
2,20
3.—
1
1900 \
Steinmetz«
Handlanger bei schwerer Ar-
1 1
2,00
|
2,50
1 1 1
2,20
3,—
beit
IO, 1 I
1.30
t,6o
io'/j.i >
1 ,60
2. —
Digitized by Google
488
Miszellen.
Beruf
für 6 Tage berech-
neter Tagelohn
(Gulden)
eigentlicher
Wochcnlohn
(Gulden)
von
bis
von
bis
Aufseher
10,80
3°.—
IO,—
35.—
Bauschreiber
9,6°
12,60
12, —
»4.—
1900
Ilauptgeriister
10,80
13,20
12» —
22,50
Wächter
7.5®
10,20
9.—
14.—
Kutscher
7,80
9,60
9,-
11,—
Schon diese wenigen Daten lassen nicht unwichtige Aufschlüsse
über die Beziehung zwischen Lohnhöhe und Lohnform ahnen ; konkretere
Auseinandersetzungen hierüber setzen eine gröfsere Anzahl vou Beob-
achtungen voraus.
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Der Vollzug des schweizerischen Fabrikgesetzes.
Von
Dr. EMIL HOFMANN,
Nationalral in Fraucnfcld.
Die bekannte Doppelspurigkeit der Berichterstattung über den Voll-
zug des schweizerischen Fabrikgesetzes hat wenigstens das Gute, dafs die
Berichte der Kantonsregierungen ') aus oder zwischen den Zeilen die
Stellung der verschiedenen Obrigkeiten zum Fabrikgesetz deutlich heraus-
lesen lassen. Sie lehren so manche Andeutung und Klage der Berichte
der Fabrikinspektoren *) erst recht verstehen und im vollen Umfange
würdigen. Sie sind einerseits ein Selbstzeugnis, das die einzelnen
Kantonsregierungen der Durchführung des Fabrikgesetzes in ihrem Kanton
ausstellen und andererseits ein beredter Beweis für die mannigfachen
Schwierigkeiten, welche sich daraus ergeben müssen, dafs dem Bund blofs
die Kontrolle über den Vollzug, den Kantonen dagegen die eigentliche
Durchführung des Fabrikgesetzes obliegt. So manchem äufserst knappen
Bericht merkt man es ohne weiteres an, dafs bei seiner Abfassung Liebe
zum Gesetz kaum die Feder geführt hat. Nicht selten stüfst man auf
Bemerkungen, die den Neid der LTntemehmer anderer Kantone über andern-
orts geübte Laxheit im Gesetzesvollzug begreiflich erscheinen lassen. Diese
Berichte sind somit erst in der Vergleichung mit den Berichten der Fabrik-
inspektoren wertvoll, die jeweils interessantes Material auch über die Wir-
kungen der Arbeiterschutzgesetzgebung etc. enthalten. In diesem Jahre er-
hielten dieselben eine wertvolle Ergänzung in der Neubearbeitung des offi-
*) Berichte der Kalttonsregierungen Uber die Ausführung des Bundesgesetzes
betreffend die Arbeit in den Fabriken 1897 und 1898. Veröffentlicht vom schwei-
zerischen Industriedepartement. Aarau, Druck und Verlag von H. R. Sauerlander
u. Cie. 1899.
*) Berichte der eidgenössischen Fabrik- und Bergwerkinspektoren über ihre
Amtsthätigkcit in den Jahren 1898 u. 1899. Veröffentlicht vom schweizerischen In-
dustriedepartement. Aarau, Druck und Verlag von FI. R. Sauerlander u. Cie. 1900.
Archiv für sox, Gesetzgebung u. Statistik. XVII. 32
Digitized by Google
490
Miszellen.
ziellen Kommentars vom Jahre 1 888, ') welche das schweizerische Industrie-
departement herausgab. Behielt auch dieser letztere den Charakter des
früheren bei und bilden wiederum die Erlasse der Bundesbehörden den
Kommentar selbst, so dient er doch wesentlich zur Abrundung des durch
die Inspektoratsberichte vermittelten Bildes, das sich auf einem 20 jährigen
Hintergrund viel deutlicher abhebt. Dazu kommen in neuerer Zeit die
Berichte verschiedener städtischer Arbeitersekretariate etc., sowie die
allerdings noch nicht bearbeitete EnquSte des schweizerischen Grütli-
vereins betr. die Revision des Fabrikgesetzes, welche immermehr wert-
volle Beiträge zur Erkenntnis des Vollzuges des eidgenössischen Fabrik-
gesetzes liefern. *)
Die Berichte der Kantonsregierungen wie diejenigen der Fabrik-
inspektoren werden ungefähr nach demselben Schema erstattet. Bei den
ersteren begnügt sich das Industriedepartement mit einer blofsen Anein-
anderreihung, während es bei den letzteren ein übersichtliches Inhalts-
verzeichnis beifügt, welches das Studium dieser ziemlich weitläufigen Be-
richte wesentlich erleichtert. Die Kantonsregierungen befleifsigen sich
in ihrer Berichterstattung mit wenigen lobenswerten Ausnahmen einer oft
auffälligen Kürze. Diese ist begreiflich in allen Kantonen, in denen
die Zahl der dem Gesetze unterstellten Etablissementc und Arbeiter
gering ist. Es wird daher beispielsweise niemand sich stark darüber
aufhalten wollen, dafs Appenzell i./Rh. mit seinen 10 Etablissements
und 235 Arbeitern, Uri mit 11 Etablissements und 361 Arbeitern und
Nidwalden mit 13 Etablissements und 219 Arbeitern sich ihrer Pflicht
zur Berichterstattung auf je einer Druckseite entledigen , während
der Halbkanton Obwalden einen recht sorgfältigen und umfassenden
Bericht über den Votlzug des Fabrikgesetzes in seinen 1 3 Etablissements
mit 221 Arbeitern erstattet. Dagegen mufs die fragmentarische Kürze
z. B. des Berichts von Bern mit 762 dem Gesetz unterstellten Geschäften
doch etwas auffallen, namentlich auch angesichts der überaus einläfslichen
und sehr instruktiven Berichterstattung z. B. des Kantons St. Gallen, die
sich von der üblichen trockenen Aufzählung einer leider nicht immer
lückenlosen Reihe von Thatsachen sehr zu ihrem Vorteil unterscheidet.
Die Berichte der Fabrikinspektoren weisen naturgemäfs keine so
grofsen Verschiedenartigkeiten auf wie die Berichte der Kantonsregie-
rungen. Immerhin sind auch hier im einzelnen verschiedene Nuancie-
rungen der Berichterstattung zu konstatieren, die sich unter anderem auch
') Das Bundesgesetz betreffend die Arbeit in den Fabriken vom 23. Marz 1877.
Kommentiert durch seine Ausführungen in den Jahren 1878 — 1899. Bern (Schmid
u. Franke) 1900.
*) Vgl. z. B. hierzu: Otto Lang, Das schweizerische Fabrikgesetz, erläutert
unter besonderer Bezugnahme auf die Notwendigkeit seiner Revision. Zürich, Ver-
lag der Buchhandlung des schweizerischen Grütlivcreins. 1899.
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Emil Hofmann, Der Vollzug des schweizerischen Fabrikgesetzes. 49 1
darin zeigen, dafs der eine den Wohlfahrtseinrichlungen (vgl. z. Beilagen
A und B zum Bericht des ersten Inspektionskreises), der andere der
Verhütung der Unfälle und Gewerbekrankheiten gröfsere Aufmerksamkeit
in seinem Berichte widmet. Doch ist dies nicht etwa ein Fehler, sondern
geradezu ein Vorzug der Berichterstattung. Gerade die Verschiedenheit
der Bildung und des früheren Bemfs der Fabrikinspektoren läfst jeweils
diese Berichte zu einem wohlabgerundeten Ganzen werden, an dem man
nur ungern auch einen einzigen Zug vermissen würde.
Allerdings hat man schon mehrfach der F.infügung ausführlicher
Abhandlungen nachgeredet, dafs sie einerseits den Preis der Publikation
verteuern und dadurch den Arbeitern als den zunächst Interessierten
schwer zugänglich werden, sowie dafs andererseits die Untersuchungen etc.
immer nur eine bestimmte Kategorie von Unternehmern angehen und
durch ihre Einschaltung in einen kostspieligen Band leicht ihre Adresse
verfehlen. Allein das Bedenken hinsichtlich des Kostenpunktes liefse
sich leicht dadurch beseitigen, dafs den Arbeitern und ihren Organisationen,
soweit dies gewünscht würde, die Berichte unentgeltlich oder dann doch
zu bedeutend reduziertem Preise überlassen würden. Der zweite Ein-
wand ist eher berechtigt, besonders wenn der Bergwerksinspektor jeweils
auch derartige Abhandlungen seiner Berichterstattung einfiigen wollte.
Doch ist dies vorderhand nicht zu befürchten. Zudem ist der
Kreis der Unternehmer, der durch derartige Abhandlungen berührt
wird, meistens ziemlich grofs und darf denn doch nicht vergessen
werden, dafs aufser den direkt berührten Unternehmern und Arbeitern
auch die Behörden und eine ganze Anzahl weitere Interessenten hiervon
Kenntnis nehmen. Zum Beweise hierfür führen wir gerade die Inspek-
tionsberichte pro 1898 und 1899 an. Der Bergwerksinspektor publiziert
als Anhang ein Zirkular, das „Anhaltspunkte für den Verkehr zwischen
den kantonalen Behörden, beziehungsweise den bergwerklichen Betriebs-
inhabem und der eidgenössischen Bergwerkins|>ektion“ enthält. Dem
Berichte der drei F'abrikinspektorate ist beigegeben die „Anleitung für
den Rangierdienst auf Fabrik-Anschlufsgeleisen und Bahnanlagen“, welche
vom F'abrikinspektorat als Auszug aus den „Vorschriften über den Ran-
gierdienst auf den schweizerischen Normalbahnen“ verfafst wurde. Fabrik-
inspektor Dr. Schüler giebt zu seinem Berichte als Beilage Pläne und
Baubeschreibung eines billigen und komfortablen Arbeiterhauses, sowie
die Darstellung der ganz musterhaften Wasch- und Badeeinrichtung in
der züricherischen Gasfabrik Schlieren. Diese sowie die Darstellung
eines schweren Vergiftungsfalles in einer chemischen Fabrik etc. durch den
Bericht des III. Kreises entbehren gewifs nicht des allgemeinen Interesses.
Nach diesen allgemeinen Bemerkungen folgen wir den Berichten
der Fabrikinspektoren, welche folgendermafsen gegliedert sind: I. Allge-
meines. II. Die Arbeitsräume. III. Unfälle und Krankheiten, Mafs
regeln zu ihrer Verhütung. Haftpflicht und Unfallverhütung. IV. Ar-
32*
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492
Miszellen.
beiterlisteu, Fabrikordnungen, Lohnzahlung, Arbeitszeit. V. Kinder- und
Frauenarbeit. VI. Vollzug des Gesetzes durch die Behörden. Mithilfe
durch Arbeiter und Arbeitgeber. VII. Wohlfahrtseinrichtungen.
Die Zahl der dem Fabrikgesetz unterstellten Betriebe belief sich ain
31. Dezember 1899 auf 5917 mit 214871 Arbeitern, während sie zehn
Jahre früher blofs 4223 mit 169999 Arbeitern betrug. Die Zunahme
im Jahre 1899 betrug 19 F.tablisseroents mit 2253 Arbeitern. Diese
Vermehrung rührt vor allem von der überaus günstigen Geschäftslage
der meisten Industrieen her, welche noch eine gröfsere industrielle Weiter-
entwicklung ermöglicht hätte, wenn nicht trotz der Zuziehung ausländi-
scher Arbeitskräfte Mangel an Arbeitern bestanden hätte. Andererseits
trägt an dieser Vennehrung die Unterstellungspraxis sowie die zunehmende
Intensität der Kontrolle einen Teil der Schuld. Hinsichtlich des ersteren
Grundes ist namentlich an den üundesratsbeschlufs betreffend Vollziehung
von Art. 1 des Gesetzes vom 3. Juni 1891 zu erinnern. Dieser bis auf
den heutigen Tag namentlich auch vom schweizerischen Gewerbeverein
angefochtene Bundesratsbeschlufs ist seither konsequent ausgebaut worden.
Die Behörden haben in dieser Hinsicht aus ihren Erfahrungen die richtigen
Konsequenzen zu ziehen gewufst. Sie verstehen es immer besser, den
Versuchen, sich der Unterstellung unter das Gesetz zu entziehen, prinzi-
piell die Wege zu verlegen. Die im bereits erwähnten Kommentar ent-
haltenen Rekursentscheide und Bundesratsbeschlüsse zu Art. 1 des Ge-
setzes sind ein sprechender Beweis hierfür. Anders verhält es sich mit
der Kontrolle. Dieselbe läfst, trotzdem ihre Intensität von Jahr zu Jahr
zunimmt, immer noch zu wünschen übrig. Namentlich in der Westschweiz
sind immer noch eine ganze Anzahl von Betrieben, welche sich Dank
der Lässigkeit der inbetracht fallenden Unterbehörden der Unterstellung
unter das Fabrikgesetz zu entziehen verstehen.
Als bestes Mittel gegen diese I-ässigkeit, welche zudem sogar bei
Kantonsregierungen zu treffen ist, erscheint uns die Vermehrung der
Inspektionsbesuchc durch das Fabrikinspcktorat und die Steigerung des
Interesses der Arbeiterschaft an diesem Gesetze und seinem Vollzug.
Allerdings scheinen die Inspektoren geteilter Meinung zu sein über den
Wert der Inspektionsbesuche. Der Inspektor des I. Kreises, Dr. Schüler,
nennt es eine völlige Verkennung der Stellung der Inspektoren, wenn
man von ihnen häufigere Inspektionen wünsche. „Unsere Thätigkeit soll
nicht die eines Polizisten sein, der von Haus zu Haus eilt, um Ueber-
tretungen nachzuspüren. Diese rein polizeilichen Funktionen sollen nach
dem Gesetz von den Organen der Kantone ausgeführt werden, die ihrer-
seits von den zunächst Beteiligten, den Arbeitern selbst, in dieser Auf-
gabe unterstützt werden sollten. Schon die kleine Zahl der Inspektoren
sollte darauf hinweisen, dafs es nicht viel helfen könnte, wenn wir Tag
für Tag Fabriken besuchen wollten. Und was sollte dies fruchten, wenn
man nicht auch die Mittel zur Beseitigung der gefundenen Ucbelstände
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Emil Hofmann, Der Vollzug dos schweizerischen Kabrikgesrtzrs. 493
studiert, wenn man nicht in stetem engen Kontakt mit den Amtsstellen
bleibt, welche uns bei der Durchführung der gestellten Postulate zur
Seite stehen, uns in der Aufsicht zu unterstützen haben? Was hilft es,
wenn man sich nicht auch Zeit nimmt, sich mit den Verhältnissen und
Bedürfnissen, mit der gesamten I-age der Arbeiter vertraut zu machen,
der Arbeitergesetzgebung und den auf sie bezüglichen Bestrebungen sein
Augenmerk zuzuwenden? Campiche, der Inspektor des II. Kreises, da-
gegen scheint den mehrmaligen Inspektionsitesuchen einen gröfseren Wert
beizumessen, wenn er schreibt: „N’otre ardent ddsir d’arriver ä inspecter
au moins une fois par annc'e chaque fabrique a pu se rdaliser. En effet,
en 1899, tous les etablissements industriels du IIme arrondissement ont
fetb inspectes ; 88 l'ont fete 2 fois et 6 trois fois. Voilä donc un progrds
realise. car ce n’est que par des visites frequentes que 1’inspecteur peut
ariver faire respecter les lois et h reprimer les abus qui se commettcnt
dans les usines et les ateliers.“
Wir unsererseits teilen die letztere Ansicht und sind darum stets
für eine Vermehrung der Fabrikinspektionskreise eingetreten. Gewifs
stehen derselben eine Anzahl von Bedenken entgegen, die von Fabrik-
inspektor Dr. Schüler schon oft erschöpfend dargestcllt wurden. Aber
auf der anderen Seite werden diese auch von mir zum Teil zugegebenen
Nachteile durch eine ganze Anzahl gewichtiger Vorteile mehr als aufge-
wogen. Durch Vermehrung der Inspektionskreise wird das Inspcktions-
personal in engeren Kontakt mit Unternehmern, Arbeitern und Behörden
gerückt. Vor allem wird es dadurch noch weit seltener Vorkommen, dafs
Etablissemente, welche unter das Fabrikgesetz fallen, sich der Unter-
stellung zu entziehen wissen. Je öfter der Inspektor die inbetracht
fallenden Behörden auf derartige Unterlassungen aufmerksam machen
mufs, um so gröfser der Eifer derselben, die Wiederholung derartiger
Vorkommnisse zu vermeiden. Je näher Unternehmer, kantonale und
lokale Behörden den Fabrikinspektor wissen, um so eifriger der Vollzug
des Gesetzes, um so rascher und gründlicher die Abstellung von Mifs-
bräuchen. Wie nötig dies wäre, geht unter anderem auch daraus hervor,
dafs gute Geschäftsfreunde einander die Ankunft oder die bedrohliche
Nähe des Fabrikinspektors durchs Telephon oder mündlich mitteilen.
Hätten dieselben nichts zu verbergen, so wäre solche Mitteilung grund-
los. Unmöglich oder unnütz aber wäre sie, wenn der Besuch des
Inspektors sozusagen alle Tage ins Bereich des Möglichen gehörte.
Ferner könnte es dadurch vermieden werden, dafs jüngere Beamten zu
Inspektoren verwendet werden müssen. Dem älteren Fabrikinspektor
gegenüber werden sich Betriebsleiter schwerlich „ein geradezu unanstän-
diges Benehmen zu Schulden kommen lassen", wie dies gegenüber einem
Assistenten geschah. Auch würden „die Versuche, namentlich die jüngeren
Beamten etwas von oben herab zu behandeln", dann wohl von selbst
unterbleiben.
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494
Miszellen.
Uebrigens ist die Differenz in der Intensität der Kontrolle trotz
dieser geteilten Ansicht nicht sehr hedeuteed, wie aus beistchender Ueber-
sicht ersichtlich ist.
Waren ja z. B. im Jahre 1899 zu verzeichnen :
im I. Kreise
I»
It
II.
III.
Fabrik besuche
2209
2062
2 560
Etablissemenle
2077
1 648
2 168
Arbeiter
85010
483*1
97 5*7
Die Zahl der Besuche übersteigt somit in allen Inspektionsbezirken
die der dem Gesetze unterstellten Betriebe und läfst sich die steigende
Intensität der Kontrolle nicht in Abrede stellen. So wurden beispiels-
weise 1899 417 Besuche mehr verzeichnet als im vorhergehenden
Jahre und belief sich 1890 die Zahl der Besuche bei 4223 dem Gesetze
unterstellten Etablissements mit 109999 Arbeitern blofs auf 3866.
Das Interesse der Arbeiterschaft am richtigen Gesetzesvollzug ist
entschieden im Wachstum begriffen. Das zeigt sich einmal in der Be-
stellung von Kommissionen seitens der Arbeiterorganisationen zur Ucber-
wachung des Vollzugs des Fabrikgesetzes, sowie in der Häufigkeit, mit
welcher die Arbeitersekretariate, Arbeitskammem sowie die Fabrikins|jck-
torate in dieser Richtung in Anspruch genommen werden. Allerdings
zeigt sich dies mehr in den Industriezentren, während in den entlegenen
Gebieten noch häufig grofse Unwissenheit nach dieser Seite hin herrscht.
Hierüber wird sich niemand wundem angesichts des Vorwurfs des In-
spektors des 111. Kreises gegenüber verschiedenen Arbeiterorganisationen,
die sich doch sonst bemühen, die an sie gelangenden Klagen in vorur-
teilsloser Weise zu prüfen, dafs sie oft nicht wissen, was das Gesetz ver-
bietet und was es gestattet. Aehnlichen Vorwurf richtet der Inspektor
des II. Kreises an die Adresse der Arbeiter. Er ermahnt sie, sich mit
ihren Klagen zuerst an die Präsidenten der Arbeiterorganisationen, die
im allgemeinen hinsichtlich dieser Materie auf dem Laufenden seien, zu
wenden, während der Bericht des III. Kreises einzelne Arbeiterorganisa-
tionen ermahnt, das Gesetz selbst etwas näher anzuschen, wenn über
dessen Verletzung geklagt wird. Hier wie dort könnte auf die angegebene
Art viel unnötige Schererei und mancher Aergcr erspart werden.
Der Zustand der Arbeitsräume in neueren Etablissements ist
durchschnittlich ein recht befriedigender. Die Sorgfalt der Inspektoren
in der Begutachtung der Baupläne sowie die Vorschriften des Bundes-
rates, betreffend den Neu- und Umbau von Fabrikanlagen, vom 13. De-
zember 1897 tragen zweifelsohne gute Früchte. Hand in Hand mit der
gröfseren Rücksicht auf Gesundheit und Sicherheit der Arbeiter geht die
Verwendung besserer Materialien zu den Bauten. Granit findet immer
mehr Eingang zu den Böden in Färbereien und Bleichereien. Als
Bodenmaterial kommt häufig Pitchpineholz in Aufnahme, ebenso das
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Emil Ilofmann, Der Volllug des schweizerischen KabrikgcscUcs. qgj
gegen Feuer widerstandsfähige warme Xylolith. Das Petroleumlicht ver-
schwindet immer mehr. An seine Stelle tritt das elektrische Licht, die
Gasbeleuchtung, bei der Auerbrenner immer allgemeiner Eingang finden,
sowie das Acetylen und andere moderne Beleuchtungsmittel. Für Ven-
tilation und Staubbeseitigung werden oft die besten Einrichtungen ge-
schaffen. Während beispielsweise vor 8 Jahren noch im III. Inspektions-
kreise keine einzige Späneabsaugungsanlage vorhanden war, stehen heute
eine grofse Anzahl derselben im Betriebe; aber auch an Schmirgel-
und anderen Schleifapparaten, an Poliermaschinen, Gasiemiaschinen, in
Hecheleien, Schiefertafel- und Carbidfabriken findet man heute Absorp-
tionsanlagen. Es verschwinden allmählich die gewöhnlichen Heizungs-
anlagen vom Schauplatze, um neueren zweckdienlicheren und ökono-
mischen Apparaten Platz zu machen. Namentlich wird die immer all-
gemeinere Verbreitung der Niedcrdruck-Damplheizung sehr begrüfst, weil
dieses Heizungssystem am meisten, sowohl den hygienischen Anforde-
rungen, als auch denen eines bequemen und billigen Betriebes Rech-
nung trägt.
Weniger erfreulich klingt die Berichterstattung ülrer die Anwendung
derartiger Einrichtungen und niufs unter anderem konstatiert werden,
dafs die Schuld an der abscheulichen Luft in manchem Arbeitsraum bald
auf Prinzipale, bald auf Arbeiter, am öftersten auf beide zusammen ent-
falle. Nur so ist es erklärlich, dafs die Ventilation selbst da noch
mangelhaft ist, wo die besten Einrichtungen dafür vorhandeu sind, sowie
dafs die Beseitigung der Luftverpestung durch Rauchen seitens der
Arbeiter sehr schwer gelingt.
In älteren Betrieben ist naturgemäfs über die Arbeitsräume metir
Anstofs zur Klage vorhanden. Es wird über zu grofse Hitze und Kälte
geklagt. Das mag begreiflich erscheinen angesichts der Thatsache, dafs
man immer noch Lokale ohne jede Heizungseinrichtung trifft, sowie dafs
nicht selten in überheizten Lokalen seitens der Arbeiter oder Arbeit-
geber gegen Luftcmeuerung protestiert wird. Leider wird auch das
Tünchen schwarzer Decken und Wände von einzelnen Prinzipalen und
sogar Beamten als ein Luxus betrachtet. Schlimm steht cs auch oft in
alten Abtritten, unter denen noch mehrsitzige vorhanden sind. Der In-
spektor des III. Kreises zählt diese zu den am häufigsten zu bemängeln-
den Einrichtungen der Fabriken, die nicht nur sehr oft wegen mangelnder
Reinlichkeit, sondern auch wegen ihrer Einrichtung überhaupt beanstandet
werden müssen. Er führt dies auf mangelndes Verständnis zurück,
während sein Kollege aus dem I. Kreis die mangelnde Neigung zu Ver-
besserungen oft darauf zurückführt, dafs die Arbeiter zuweilen die besten
Einrichtungen aus blofsem Mutwillen demolieren.
Zur Illustrierung der schweren Aufgabe, welche den Inspektoren
durch die Ausführung der Vorschriften des Bundesrates betreffend den
Neu- oder Umbau von Fabrikanlagen vom 13. Dezember 1897 er-
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496
Miszellen.
wachsen ist, sowie des industriellen Aufschwungs fugen wir noch bei,
dafs in der Berichtsperiode 927 Baupläne begutachtet wurden und
zwar im:
I. Kreis .... 294
II
III 4S4
Von zwei Seiten her wird diese Aufgabe noch erschwert Einerseits
giebt es Bauherren, die alle Schliche und Ränke anwenden, die Gesetzes-
vorschriften zu umgehen, und andererseits scheint die Prüfung der
Baupläne durch kantonale Instanzen hier und da verschleppt zu werden.
Aehnliches ist leider über die Unfallmeldung zu berichten.
Allerdings decken sich auch hierin Erfahrungen und Anschauungen der
Fabrikinspektoren nicht ganz. Der Inspektor des III. Kreises ist davon
überzeugt, dafs die überwiegende Zahl der Unfälle zur Kenntnis der Be-
hörden gelangt. Als Beweis hierfür führt er die stete Vermehrung der
Unfallanzeigen bei sich annähernd gleichbleibender Unfallfrcquenz im
Verhältnis zur Arbeiterzahl sowie die zahlreichen Eingänge von Unfall-
anzeigen aus nicht haftpflichtigen Betrieben an. Die beiden anderen In-
spektoren dagegen klagen Uber Mängel im Anzeigewesen. Manchmal
unterbleiben in ihren Inspektionskreisen die Meldungen der Unfälle aus
Unkenntnis der Gesetze, manchmal aus bösem Willen und manchmal
aus Lässigkeit der Amtsstellen, bei denen hier und da Meldungen liegen
bleiben oder geradezu verloren gehen. Namentlich auch aus dem letz-
teren Grunde wird es sogar von Jahr zu Jahr schwieriger, auch nur die
Anzeigen des ersten Jahres der zweijährigen Berichtsperiode vollständig
zu erhalten. Vielleicht sorgt der vom Inspektor des I. Kreises einge-
schlagcne Weg für Abhilfe, welcher statt einer allgemeinen Klage über
die Lässigkeit der Behörden die schuldigen Amtsstellen in seinem Be-
richte folgendermafsen apostrophiert: „So bekam ich aus Zug Ende
Januar 1899 drei Anzeigen von 1895, deren letzte am 17. Dezember
desselben Jahres cingcgangen war, 7 von 1896, ebenfalls im gleichen
Jahr eingesandt, und 26 von 1897, von denen die letzte das Eingangs-
datum 1. März 1898 tmg. Es waren also 36 Anzeigen 10 — 12 Monate
liegen geblieben. In Chur hatten im Jahre 1898 fünf Firmen zusammen
35 Unfälle angezeigt; dem Inspektorat gingen 18 Anzeigen nicht zu,
selbst solche von schweren Fällen, wie der Verlust eines Armes. Aehn-
liches kommt übrigens, nur in geringerem Mafs, auch in anderen Kan-
tonen vor, am öftersten durch die Bezirks- oder Ortsbeamten verschuldet
und leider in keiner auch nur irgendwie wirksamen Weise geahndet."
Die stete Vermehrung der Unfälle kann somit nur zum Teil auf
die immer genauer und vollständiger werdende Unfallmeldung zurück-
geflihrt werden. Die Vermehrung der Zahl der Betriebe und Arbeiter,
sowie die Ausdehnung des Maschinenbetriebes tragen hieran wohl die
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I' ni i 1 llofmann, Der Vollzug des schweizerischen Fahrikgesetzes.
Hauptschuld. Daneben wirken noch eine ganze Anzahl von Begleit-
ursachen mit. So soll namentlich in einzelnen Industriezweigen ein
aufserordentlicher Leichtsinn in Bezug auf Beschaffung und Anwendung
von Schutzvorrichtungen bei Prinzipalen wie bei Arbeitern überhand
genommen haben. Auch denken manche Arbeitgeber immer noch zu
wenig daran, wie sehr die Entstehung von Unfällen durch Ueberfüllung
der Arbeitslokale mit Leuten, Material und Maschinen, durch den Zu-
stand des Fufsbodens und die Helligkeit der Beleuchtung beeinflufst wird.
Ebenso ist immer noch eine häutige Unfallursache die Anstellung un-
kundiger Arbeiter an gefährlichen Maschinen und Apparaten oder auch
das Antreiben und Hetzen bei der Akkordarbeit, wie es nach verschie-
denen schlimmen Erfahrungen nicht selten bei sog. Gruppenakkorden
oder auch da vorzukommen scheint, wo die Aufseher eine Tantieme für
die von ihren Untergebenen abgelieferte Arbeit erhalten.
Auch der häufige Arbeiterwechsel ist eine Ursache vermehrter Un-
fälle, namentlich dort, wo es sich um die Bedienung gefährlicher Mxschinen
handelt. Bei der genannten Stellung eines Teils der Arbeiter und Prin-
zipale gegenüber den Schutzvorrichtungen ist es geradezu ein Trost, dafe
blofs etwa 2 t Proz. der Unfälle durch Maschinen und Apparate verur-
sacht wurden, während die übrigen zum Maschinenbetrieb nicht in
direkter Beziehung standen und somit auch in den seltensten Fällen
durch Schutzvorkehrungen hätten vermieden werden können. Die Haupt-
sache ist schliefslich die Thatsache, dafs trotz der übereinstimmend
konstatierten vielfachen Abneigung der Arbeiter gegen Schutzvorrich-
tungen die Unfälle maschineller Natur eine abermalige Abnahme der
Verhältniszahl aufweisen. Ira ersten Kreis ist dielbe von 23,26 Proz. in
den Jahren 1888 — 89 und 21,61 Proz. in den Jahren 1895 — 96 auf
20,88 Proz. herabgesunken. Im II. Kreis vollzog sich diese Abnahme
noch schneller und in höherem Grade. Dort machten 1893 — 94 die
maschinellen Unfälle 24 Proz., 1895—96 19 Proz. und 1897 — 98 blofs
noch 17,11 Proz. aller Unfälle aus.
Die Vermehrung der Zahl der Unfälle gegenüber dem letzten Bi-
ennium beträgt rund 1 1 Proz. Im ersten Kreis wird dieselbe haupt-
sächlich den Fabrikunfällen, welche um 16,35 I>roz- zugenommen haben,
zugeschrieben, während sie in den beiden anderen Kreisen zu Lasten des
Baugewerbes fallen. Dafür ist die Heilungsdauer annähernd dieselbe ge-
blieben oder eher etwas niedriger geworden, was für etwelche Vermin-
derung der schweren Unfälle spricht. Bei den Fabrikunfällen des
III. Kreises schwankte beispielsweise von 1889—1898 die auf einen
Unfall entfallende Heilungsdauer zwischen 18 Tagen in den Jahren 1889
und 1S91 und 21 Tagen im Jahre 1893. 1897 betrug sie 18,8 und
1898 18,5 Tage. Bei den Unfällen in Nichtfabriken finden wir das
Maximum der Heilurigsdauer mit 21 Tagen in den Jahren 1890, 1893
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49»
Miszellen.
und 1895, das Minimum mit iS Tagen 18S9 und 1891. 1897 betrug
die Heilungsdauer 20,4 und 1898 19,7 Tage.
Die Zahl der Todesfälle hat wiederum eine Steigerung erfahren. Sie
betrug in der Berichtsperiode 265 gegenüber 240 in den Jahren 1895 — 96
und 21 1 in der Zeit von 1893 — 94. Der Umstand, dafs mehr als ein
Vierteil der Getöteten des III. Kreises Hilfsarbeiter waren, ist sehr be-
merkenswert. Derselbe giebt Veranlassung zu der immer und immer
wieder erneuten Ermahnung der Fabrikinspektoren an die Unternehmer,
zu gefährlichen .Arbeiten nur gelernte, mit der Gefahr vertraute Arbeiter
zu verwenden. Uebrigens ist es merkwürdig, dafs nicht noch mehr
Todesfälle entstehen angesichts der Thatsache, dafs einzelne Elektrizitäts-
werke ihren Angestellten eine dermafsen lange Arbeitsdauer zumuten,
dafs ein Nachlassen der erforderlichen Aufmerksamkeit fast notwendiger-
weise eintreten und zur Gefährdung der Leute führen mufs, sowie in
Berücksichtigung des Umstandes, dafs im Baugewerbe oft mit namen-
losem Leichtsinn vorgegangen wird.
Diese Beobachtung ist es denn auch gewesen, welche die sog. Ge-
rüstkontrolle zu einem Postulat der Arbeiterschaft werden liefs, dessen
Erfüllung sie mit aller Kraft erstrebt und auch schon vielfach erreicht
hat. So wirken in Zürich ') zwei Fachleute als ständige Gcriistkontrollcure
und ist dort der günstige Einflufs der „Verordnung zur Verhütung von
Unfällen bei Bauten vom 27. Februar 1895" unverkennbar. Einzig im
Jahre 1898 wurden in 10 Fällen durch eine sichere Gerüstung der
Sturz von Arbeitern in die ganze Tiefe des Baues und damit schweres
Unglück verhütet, während in 1 3 anderen Fällen, wo der Kontrolle Gefahr
in Verzug schien, durch sofortige Einstellung der Bauten Unglücksfälle
vermieden wurden. In Basel besteht seit dem 12. Februar dieses Jahres
eine Verordnung betr. Unfallverhütung bei Bauten in Kraft, deren Revi-
sion jedoch schon jetzt hauptsächlich aus dem Grunde erstrebt wird,
weil dort statt Fachleuten die Polizei als Gerüstkontrolleur zu funktionieren
hat. Dieselbe Forderung stellt die Arbeiterschaft der Stadt Luzern an
den bezüglichen Entwurf des Stadtrates. In anderen Kantonen, wie z. B.
in Bern wurde durch Erlafs eines kantonalen Gesetzes den Gemeinden
das Recht zum Erlafs von Verordnungen betr. Unfallverhütung bei
Bauten gegeben. Aber überall regt sich die Frage des Bauarbeiter-
schutzes und werden wahrscheinlich nächstens eine gröfsere Zahl kan-
tonaler und städtischer Behörden sich hiermit zu befassen haben. Uebri-
gens besteht auch eine von den Fabrikinspektoren aufgestellte „Anleitung
zur Verhütung von Unfällen im Baugewerbe“ und sollten die Behörden,
in deren Gebiet eine spezielle Gerustkontrolle nicht gut durchführbar
ist, wenigstens die Anwendung dieser Anleitung strikte vorschreiben.
*1 Vgl. hierzu : Geschäftsbericht des Stadtrates und der Zenlralschulpflcge der
Stadt Zürich vom Jahre 1899. Zürich, Buchdruckerei Berichthaus. 1900. S. 79.
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K m i l Ilofmann, Der Vollzug des schweizerischen Fabrikgesetzes.
Die Summe der ausgerichteten Entschädigungen ist im gleichen Ver-
hältnis zur Zahl der Unfälle gewachsen, sie beträgt in der Beriehts-
periode 6683878,07 Frs. Dazu hat der Durchschnittsbetrag der ein-
zelnen Entschädigung gleichfalls zugenommen. Derselbe belief sich im
I. Inspektionskreis
tS97
1898
in beiden Jahren
zusammen
Frs.
Krs.
Frs.
in Fabriken auf . . . .
1 44» 1 4
169.32
162,02
in anderen Betrieben auf .
1 35**5
>4'. 55
138.45
Gewachsen sind ferner die Heilungskosten. Dieselben betrugen per
Fall 1897 2 1 -3^ Frs., 1898 22,93 Frs. oder per Tag 0,98 Frs. im ersten
Jahre der Berichtsperiode und 1,07 Frs. im zweiten. Gewachsen sind
namentlich auch die Entschädigungssummen fiir bleibenden Nachteil in-
folge immer höherer Ansprüche der Geschädigten sowohl als höherer
Taxation des Schadens durch die Gerichte. Immer öfter wird in gra-
vierenden Fällen Klage wegen Fahrlässigkeit erhoben und l>ei nach-
gewiesenem Verschulden des Arbeitgebers das beschränkende Maximum
von 6000 Frs. beseitigt.
Es ist begreiflich, dafs bei dem soeben nachgewiesenen beständigen
Steigen der Auslagen für Unfallversicherung das Streben der Industriellen
auf Verminderung der Kosten gerichtet ist. Dafür sprechen die öftern
Austritte kleiner, ökonomisch schwacher Arbeitgeber aus den Unfall-
versicherungsanstaltcn. Dafür spricht aber auch die Thatsache, dafs viele
Betriebsinhaber die Arbeiter zu einer Leistung an die Versicherungs-
prämie mit heranziehen, ohne dafs die Arbeiter ihrer Rückversicherung
bei einer Unfallversicherungsgesellschaft in allen Fällen sicher sind. Das
Inspektorat des III. Kreises berichtet über ein Strafurteil, welches aus
diesem Grunde über eine Bahnunternehmerfirma verhängt wurde. Der
111. Jahresliericht der Arbeitskammer der Stadt Zürich führt folgenden
sprechenden Fall für die Konsequenzen derartiger Unterlassung an:
„Ein Maurer erlitt bei einem haftpflichtigen Bauunternehmer in Zürich
eine schwere Verletzung des linken Beines. Während vieler Monate
wurde er im Kantonsspital verpflegt. Das Bein wurde im Oberschenkel
amputiert und der Arbeitgeber zahlte nach vielem Drängen unsererseits
die Spitalrechnung und die Kosten eines künstlichen Beines. Wir traten
mit der Versicherungsgesellschaft, bei der fraglicher Meister versichert
war, behufs Entschädigung des Verletzten in Verbindung. Derselbe hatte
Anspruch auf cirka 5000 Frs. Die Versicherungsgesellschaft erklärte, die
Verantwortlichkeit für diesen Fall ablehnen zu müssen. Weitere Nach-
forschungen ergaben, dafs der Meister wegen Nichtbezahlung der Prämien
ausgeschlossen wurde, bevor sich der Unfall ereignet hatte. Der Ver-
letzte hat nun den Rechtsweg betreten und wird zweifelsohne 5000 Frs.
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500
Miszellen.
zugesprochen erhalten. Allein was nützt ihm das Gerichtsurteil, wenn der
Beklagte zahlungsunfähig ist?“
Es sollten diese und ähnliche Erfahrungen für die Arbeiterschaft ein
weiterer Ansporn sein, auf Beobachtung der Anleitungen der Fabrik-
inspektoren strikte zu dringen. Es sind dies, soweit Art. 2 des Gesetzes
inbetracht kommt, die folgenden: „Anleitung für die Einrichtung und
den Betrieb von Zigarren- und Tabakfabriken, vom 10. August 1896;
Belehrung für die Arbeiter in denjenigen Betrieben, in welchen Blei und
dessen Verbindungen verarbeitet oder verwendet werden, vom 13. August
1897; Anleitung zur Verhütung von Unfällen in Holzbearbeitungswerk-
stätten, vom 12. Oktober 1897; Anleitung zur Verhütung von gesund-
heitlichen Gefahren in Buchdruckereien und Schriftgiefsereien, vom 1 2.
Februar 1898; Anleitung zur Verhütung von Unfällen beim Betriebe von
Bahnen für Materialtransport, vom 12. Februar 1898. Ebenso würde es
sich sehr empfehlen, wenn von Arbeitern und Arbeitgebern, der ge-
werbehygienischen Sammlung im eidgenössischen Polytechnikum eine
gröfsere Aufmerksamkeit geschenkt würde. Dieselbe umfafst eine grofse
Zahl von Apparaten und Modellen zu Vorrichtungen, welche zum Schutze
von Leben und Gesundheit der Arbeiter bestimmt sind, sowie Pläne von
Arbeiterwohnungeu und für hygienische Einrichtungen in Fabriken.
Die Klage über mangelhafte Führung der Arbeiterlisten klingt
wiederum auch aus diesen Berichten heraus. Dieselbe wird nicht ver-
stummen, bis die Polizei zu jährlich mehrmaliger Kontrolle derselben
verpflichtet und jede Unterlassung der Eintragungen mit Bufse belegt
wird. Diese Arbeiterlisten gewinnen durch das Ueberhandnehmen aus-
ländischer Arbeiter erhöhtes Interesse. Schon heute zeigen sie, wie
unsere einheimische Arbeiterschaft immer mehr auf gewisse mit An-
strengung oder Unannehmlichkeiten verbundene Berufsarten verzichtet
und auch fast in allen anderen Industrieen Ausländer sich Eingang ver-
schaffen. Und dann mufs die fremde Nationalität sehr oft als Ausrede
für den Mangel der Altersausweisc dienen. Bei der aufserordentlichen
Begehrtheit der Kinderarbeit ist es ja ganz begreiflich, dafs namentlich
junge Italiener sehr häufig zur Fabrikarbeit zugezogen werden, bei denen
die Beibringung zuverlässiger Altersattcstc sehr schwer sein soll. Die
schweizerischen Zivilstandsämter befördern die Uebertretung des Kinder-
artikels dadurch indirekt, dafs sie auch solchen Kindern dann und wann
die bekannten F'abrikaltersausweise ausstellen, welche noch nicht 14 Jahre
alt sind. Hält inan damit die I-axheit einzelner Behörden zusammen, die
z. B. Polizeidirektionen Klagen wegen Anstellung zu junger Personen nur
durch einen Verweis erledigen läfst , so begreift man es vollständig,
dafs die Ueliertrctungen des Kinderartikels stetsfort zahlreich sind.
Allerdings läfst sich auch infolge der gesteigerten Nachfrage nach Kinder-
arbeit das Bestreben konstatieren, durch maschinelle Einrichtungen
Kinderarbeit zu ersparen, wie z. B. in Buchdruckereien durch Falzmaschinen
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Emil Hofmann. Der Vollzug des schweizerischen Fabrikgcsclzcs.
501
die Falzer, in Ziegeleien durch Hängebahnen und Transporteurs die
Ziegelträger. Aber dies genügt nicht, um die Lücke auszufullen und
der namentlich in der Ziegelei und Stickerei häufigen Verwendung von
Kindern unter dem gesetzlichen Alter zu steuern. Neben den arbeitenden
Kindern werden in Fabriken auch spielende Kinder angetrofl'en. Dadurch
werden Kinder in zartestem Alter allen Betriebsgefahren, allen Gefahren,
die der blofse Aufenthalt in einer Fabrik mit sich bringt, schonungslos
ausgesetzt, ohne dafs die Mehrzahl der Behörden gegen diesen Unfug
einzuschreiten wagt. Zur Belebung des Mutes auf dieser Seite wäre ein
interpretierender Bundesratsbeschlufs das beste Mittel.
Die Führung der Wöchnerinnenlisten läfst gleichfalls viel zu
wünschen übrig. In vielen Betrieben denkt man kaum an diese Aufgabe,
in anderen, namentlich kleineren, hält es oft schwer, das Zeugnis über
das Niederkunftsdatum zu erhalten. Aber auch da, wo man das Gesetz
gewissenhaft halten will, gehen oft Wöchnerinnen während der Ausschluß.*
zeit in einen anderen, oft viel nachteiligeren Betrieb über, wo sie fremd
sind. Hierin Wandel zu schäften, wird die Ausrichtung einer Entschä-
digung der Wöchnerinnen während der Ausschlufszeit sowie die Bestra-
fung auch der Wöchnerinnen für Umgehung des Gesetzes vorgeschlagen.
Die Auszahlung einer Entschädigung liefse den Ausschlufs auch deijenigen
Frauen, deren Kinder bei oder gleich nach der Geburt gestorben sind und
die sich selbst ganz wohl fühlen, weniger als Härte erscheinen.
Die Auszahlung des Lohnes scheint sich den gesetzlichen
Bestimmungen immer mehr anzupassen. Ueber die Bezahlung mit aus-
ländischem Geld gehen merkwürdigerweise wenig Beschwerden ein,
obschon sie in Betrieben, die hart an der Grenze liegen, gewifs nicht
selten vorkommt. Selbst im Kanton Tessin ist hier ein Wandel zum
Besseren zu melden, seit der dortige Staatsrat vom r. Januar 1900 ab
jegliche Ausnahme von Al. 1 des Artikels 10 des Fabrikgesetzes unter-
sagt hat. Hinsichtlich der Zahltagsfristen ist im allgemeinen die Tendenz
vorhanden, die für die Arbeiter äufserst lästigen und unangenehmen
langen Fristen durch kürzere zu ersetzen. Organisierte Arbeiterschaft
und Fabrikinspektorat unterstützen sich gegenseitig in diesem Bestreben.
Die Erfolge desselben soll beistehende Zusammenstellung der Zahlungs-
fristen veranschaulichen.
I.
Kreis
11.
Kreis
111.
Kreis
Zahltage
Arbeiter
Etablissem.
Arbeiter
Etablissem.
Arbeiter
Etablissem
Proz.
Proz.
Proz.
Proz.
Proz.
Proz.
bis zu 8 Tagen
10,1
16,1
*5.4
22,1
94
*3,5
14 tägige. . .
759
7*,5
44.1
48,8
79,2
76,3
monatliche . .
14,0
H,4
30,5
29,1
1 1,2
9,6
Die achttägige Löhnung ist vorab in der Industrie der polygraphischen
Gewerbe vorwiegend. Am nächsten steht dieser die Stickerei und die
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502
Miszellen.
chemische Industrie. Hei der Holz- und Maschinenindustrie sowie der
Industrie der Steine und Erden ist die 14 tägige Zahlung als Regel an-
zusehen. Zwischen den einzelnen Kantonen bestehen keine grofsen
Unterschiede. Im allgemeinen sind die langen Fristen mehr üblich im
westlichen und zentralen Teil des Landes. Doch haben auch in Glarus
6044 Arbeiter in */„ aller Etablissements monatlichen Zahltag. Merk-
würdigerweise sind die Ansichten der Arbeiter über die VVünschbarkeit
dieser oder jener Zahlungsfrist sehr verschieden. Während die organi-
sierten Arbeiter zumeist mit allem Nachdruck auf Zahlung in möglichst
kurzen Intervallen dringen, betrachten andere Arbeiter dies als ein Mittel
zum Antreiben zu überrascher Arbeit, oder als eine Erschwerung des
Kredits bei den Krämern oder als ein Anreiz zur Vermehrung der Zahl
der Wirtshausbesuche.
Als Zahltag figuriert immer noch hauptsächlich der Samstag. So
findet die Lohnzahlung im III. Kreis in 87 Proz. der Etablissements am
Samstage statt, während 13 Proz. derselben an anderen Wochentagen
bezahlen. Diese Verlegung des Zahltags erfreut sich namentlich auch
bei den Frauen grofser Beliebtheit und haben beispielsweise die Frauen
von St. Gallen und Umgebung bei ihren Arbeitgebern um die Verlegung
des Zahltags auf Mittwoch oder Freitag petitioniert.
Wenn über unregelmäfsige Zahlung Klage geführt wird, so stellt
sich bei näherem Zusehen heraus, dafs Mangel am nötigen Betriebsfond,
überhaupt Geldmangel die Ursache der Unregelmäfsigkeiten ist. Sie
kommen daher am häufigsten in den Industriezweigen und Betrieben vor,
die nach Art und Betriebsweise dem Handwerk am nächsten stehen,
dessen Gewohnheiten und Anschauungen am meisten bcibehalten haben.
Die Bestrebungen zur Verkürzung des Arbeitstages haben
ebenfalls in der Berichtsperiode in den meisten Zweigen der Industrie
etwelche Erfolge gehabt. Allerdings werden dieselben verschieden taxiert.
Aus dem III. Kreis wird berichtet, dafs die Reduktion der täglichen
Arbeitszeit seit dem Jahre 1895 nur unbedeutende Fortschritte gemacht
habe, während die beiden anderen Berichterstatter mit den Fortschritten
auf diesem Gebiete eher zufrieden zu sein scheinen. Im ersten Ins|>ek-
tionskreis haben nunmehr blofs noch 55,9 Proz. aller Arbeiter eine io1,
bis 1 1 ständige Arbeitszeit, während die übrigen eine kürzere Arbeitszeit
haben. Das ist doch gewifs ein Fortschritt gegenüber 1895, wo noch
67,4 Proz. der Arbeiter den Elfstunden-Tag hatten. Uebrigens haben auch
im 111. Kreis 52,6 Proz. weniger als täglich n Stunden zu arbeiten.
Leider läfst sich der Fortschritt in der Reduktion der Arbeitszeit seit
1895 für den III. Inspektionskreis nicht feststellen, da im Bericht sich
die Zahl der Etablissements mit einer kürzeren Arbeitszeit im Jahre
1895 neben die Zahl der Arbeiter, die in der Berichtsperiode weniger
als 1 1 Stunden arbeiteten, gestellt finden. Aber auch die Vergleichbar-
keit der Inspektoratsberichte unter einander läfst zu wünschen übrig,
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Emil Hof mann, Der Vollzug des schweizerischen Fabrikgosetzes.
was wir hier beiläufig bemerken. Wird auch kein Mensch von ihnen
verlangen, dafs sie sich in ihrer Berichterstattung möglichster Gleich-
artigkeit befleifsigen, so wird man andererseits doch den Wunsch nach
möglichster Vergleichbarkeit der übermittelten Zahlen begreifen und
völlig gerechtfertigt finden. Auch dürfte es sich empfehlen, dafs z. B. die
Relativzahlen, soweit sie vom eingehendensten Bericht berechnet wurden,
auch von den anderen Berichterstattern berechnet und mitgeteilt würden.
Neben den Bestrebungen zur Reduktion der Arbeitszeit läuft der
Kampf gegen die häufige und umfangreiche Gestaltung von Ueberzei t.
Auch hier haben wir neben Fabrikinspektoren und organisierten Ar-
beitern immer öfter auch Industrielle im Bunde, welch letztere die
Ueberzeit als unrentabel erklären und darauf verzichten. Vor allem
wird gröfsere Zurückhaltung in den Gestattungen gefordert, sowie für
die Gewährung derselben die gleichen Grundsätze. Ein Fortschritt ist hier
wenigstens insofern zu verzeichnen, als ein Kanton nach dem anderen gewisse
Grenzen flir die Gesamtzahl der Ueberstunden festzusetzen beginnt, die
im gleichen Jahr bewilligt werden dürfen, sowie gewisse Intervalle zwischen
den einzelnen Perioden der Ueberzeit fordert.
Die Notwendigkeit derartiger Einschränkung zeigt sich vor allen an
den Ueberzeitbewilligungen von unverhältnismäfsig langer Dauer. Es ist
doch gewifs des Guten zu viel, wenn z. B. einem Baugeschäft im Kanton
Bern bewilligt wurde, an 70 Tagen mit 4 Mann 1 '/„ Stunden länger
arbeiten zu dürfen, oder wenn Appenzell A./Rh. einer Ziegelei für 67
Arbeitstage mit 6 Arbeitern 1 '/, Stunden tägliche Ueberzeit bewilligte.
Ferner sollten durch diese Mafsregeln allzu zahlreiche Bewilligungen an
einzelne Geschäfte verhindert werden. Erhielten ja beispielsweise im
UI. Inspektionskreis 15 Betriebe per Jahr 5 und mehr Ueberzeitbewilli-
gungen, während 30 Betriebe mit 4 Bewilligungen und 46 mit 3 Ucber-
zeitbewilligungen sich begnügten. Welch grofser Unterschied in dieser
Hinsicht zwischen den einzelnen Kantonen noch herrscht, zeigt beistehende
Zustammenstellung.
Eis wurden Ueberzeitbewilligungen erteilt in
Ueberstunden p. Arbeiter
Zürich
für
13,6 Proz, der
Arbeiter
9,7 Stunden
Schwyz
9,4 ..
„
38,6 „
Glarus
4,8 „ „
„
30,8
Zug
2.2 ,, „
„
'4.7
St. Gallen
11
26.5 .. ..
ti
23.9
Graubünden
ti
9
„
'8,8 „
Dieser Unterschied hängt selbstredend nicht blofs von der Ver-
schiedenheit der Bcwilligungspraxis ab, sondern auch von der Verschie-
denheit der Industriezweige der einzelnen Gegenden. Unter den ver-
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504
Miszellen.
schiedenen Industriegruppen zeichnet sich die Stickerei durch die höchsten
Ziffern aus. Die Schifflistickerei war 1898 dazu gelangt, mehr als
ihrer Arbeiter zur Ueber/.eit anzuhalten und es entfiel auf jeden Ueber-
zeitarbeiter eine Stundenzahl von etwas über 19. Die gewöhnliche
Stickerei brachte cs sogar auf die hohe Zahl von 27,5 Ucberstunden
per Kopf der beanspruchten Arbeiter.
lieber die Begründung dieser Bewilligungen viele Worte zu ver-
lieren, lohnt sich kaum der Mühe. Mehr als die Hälfte derselben wird
mit „pressanten Arbeiten“ begründet. Unter diesen verbirgt sich oft
ganz einfach das Bestreben der Fabrikanten, mitunter auch der Arbeiter,
mehr zu verdienen. Dies fuhrt dann in zweiter Linie zu unerlaubten
Ueberschreitungen der Arbeitszeit, die wiederum am meisten in der Hand-
stickerei Vorkommen, wo namentlich Vor- und Nachmittagspausen zur Ver-
deckung der Gesetzesübertretung dienen müssen.
Der Gesetzesvollzug läfst immer noch sehr viel zu wünschen übrig.
Allerdings konstatieren die l'äbrikinspektoren mit Befriedigung, dafs die
Kantonsregierungen durchweg den guten Willen haben, dafür zu sorgen,
dafs dem Fabrikgesetz nachgclebt werde. Allein es stehen denselben
nicht überall, wie z. B. in Zürich und St. Gallen, besondere Beamtungen
für die Durchführung des Fabrikgesetzes zur Verfügung, welche mit Ver-
ständnis und Geschick ihrer Aufgabe nachleben. Im Gegenteil haben
sie es oft mit untergeordneten Beamten zu thun, welche als eigentliche
Hemmschuhe funktionieren. Solchen für den Vollzug des Fabrikgesetzes
geradezu unheilvollen Beamten gegenüber fehlt bei den Vorgesetzten
oft die Energie zu strenger Ahndung der Nachlässigkeit, der offen-
kundigen Duldung und der absichtlichen Unterstützung von Gesetzes-
übertretungen.
Mit diesen untergeordneten Beamten arbeiten vielfach auch die
unteren Gerichtsinstanzen Hand in Hand, indem sie Uebertretungen des
Fabrikgesetzes mit einer Milde beurteilen, die fast einer Aufmunterung
dazu gleich sieht. Wir verzichten darauf, aus der grofsen Zahl frappanter
Urteile einige der sprechendsten hier hervorzuheben und begnügen uns
damit, die in der Berichtsperiode wegen Gesetzesübertretungen verfallten
Bufsen anzuführen. Dieselben betrugen für 541 Uebertretungen blofs
10 768,95 Frs. Diese von früheren Erfahrungen nicht stark abweichenden
Ergebnisse rufen immer aufs neue den Wunsch, dafs ein revidiertes
Fabrikgesetz Bufscnminima für die einzelnen Arten der Uebertretungen
und Abstufungen nach Umfang und Dauer der Zuwiderhandlung vor-
schreibe. Auf diese Weise wäre der unfreundlichen Gesinnung, die bei
manchen Mitgliedern der unteren Gerichte gegen das Fabrikgesetz herrscht,
einigermafsen ein Riegel gesteckt und könnte der Unlust der zahlreichen
Industriellen, welche in den Gerichten sitzen, mit Strenge gegen die
Berufsgenossen vorzugehen, das Wirkungsfeld etwas eingeengt werden.
Die grofse Inkonsequenz, die sich in der Bemessung der Bufsen
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K m i I Hnfnmin, Der Vollzug des schweizerischen Kabrikgesetzes.
kund giebt, wird die Richter, welche geneigt wären, strengere Saiten auf-
zuziehen, eher zur Milde veranlassen. Den Klagen Uber ungleichen
Gesetzesvollzug in den einzelnen Kantonen und in den einzelnen Gegenden
derselben können sie ihr Ohr nicht ganz verschliefsen. Zur Illustration
der Begründetheit dieser Klage fuhren wir aus den Berichten der Kantons-
regierungen die Zahl der StraffUlle samt dem Bufsenbetrag an. In den
Jahren 1897 und 1898 waren in
Strafft llc
Bufsc
Zürich
76
785
Bern . .
64
850
Glarus
5
190
Baselsladt
29
435
Baseliand
4
] 10
St. Gallen
• 3*
645
Aargau
11
635
Thurgau .
44
629
Zum L'ebertlufs gesellt sich hierzu noch der Umstand, dafs aus den
Kantonen Unterwalden, Graubünden, Appenzell I. Rh. für die Berichts-
periode keine Bestrafungen gemeldet wurden und dafs sich in der Zeit
von 1897 und 1898 die Kantone Schwyz, Unterwalden und andere in
der gleichen I«age befanden. Leider spricht dies aber nicht dafür,
dafs in diesen Kantonen L’ebertretungen seltener seien, sondern ebenfalls
wieder blofs für ungleiche Handhabung des Gesetzes.
Der Bericht über die Wohlfahrtseinrichtungen zeigt unge-
fähr das gleiche Bild wie die vorhergehenden. Kine Menge von Arbeiter-
wohnungen sind von den verschiedenen firmen neu gebaut worden.
Doch damit ist die brennende Arbeiterwohnungsfrage immer noch nicht
gelöst. Thatsächlich sitzen die Arlieiter mit ihren Familien überall noch
oder doch mit geringen Ausnahmen viel zu teuer. In Stadt und
Land sind die Mietzinse häufig fast unerschwinglich, weil eben neben
rühmlichen Ausnahmen viele Fabrikanten sich nicht darum bekümmern,
wie und wo ihre Arbeiter wohnen.
Die Zahl der Arbeiter, welche Kost und Logis beim Arbeitgeber
haben, nimmt immer mehr ab, trotzdem ökonomisch sich der Arbeiter
in häuslicher Gemeinschaft mit dem Prinzipal oft weit besser stellt.
Dafür suchen sich die Arbeiter selber zu helfen, oder die Fabrikanten
errichten Speiseanstalten, wo die Arbeiter zu reduzierten Preisen eine ge-
sunde und kräftige Nahrung bekommen können. Immerhin können nicht
alle diese Einrichtungen Anspruch auf den Titel Wohlfahrtsanstalten
machen; denn oft wird der Betrieb derselben dem Aufsichtspersonal als
lukrativer Nebenerwerb überlassen, statt dafs der Gewinn der Arbeiter-
schaft zufällt, wie dies da und dort immer mehr in Uebung kommt.
Archiv für sor. Gesetzgebung u. Statistik. XVII. 33
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5o6
Miszellon.
Auf der anderen Seite denken die Konsumvereine auch nicht immer
daran, den günstigen Einflufs zu benützen, den sie auf eine vernünftige
Ernährung ausüben könnten, sondern bilden eine dem zuziehenden armen
Arbeiter schwer zugängliche Erwerbsgenossenschaft.
Der Bericht über die eidgenössische Bergwerksinspektion in den
Jahren 1897 und 1898 ist wesentlich kürzer als der erste Amtsbericht.
Die Anzahl der dem Bergwerksinspektor unterstellten Betriebe und
Arbeiter hat sich im grofsen und ganzen nicht wesentlich verändert. Es
waren 22 Bergwerke im engeren Sinne mit 40S Arbeitern und 115 meist
unterirdische Steinbrüche mit 1472 Arbeitern. Auffällig ist nur das ver-
hältnismäfsig häufige Vorkommen des Wechsels der Firmen sowie die
zahlreichen Einstellungen bisheriger und Eröffnungen neuer Betriebe.
Die Erklärung dieser Erscheinung liegt in den schädlichen bergwerk-
lichen Zuständen, namentlich der durch kurze Pachtdauer und schlechte
Besitzverhältnisse hervorgerufenen irrationellen Aufschliefsung und Aus-
beutung sowie dem Mangel an Fachkenntnissen und Zutrauen seitens
seriöser kapitalistischer Kreise.
Dies ist dann andererseits wiederum der Grund für die mifslichen
Unfallverhältnisse, deren Beobachtung und Sanierung eine der wichtigsten
Aufgaben des Bergwerksinspektors ist. Bei einem Mannschaftsbestand
von 1877 Mann waren in der Berichtsperiode nicht weniger als 281 Un-
fälle zu verzeichnen, wovon nicht weniger als 1 1 7 auf die Arbeiter der
Bergwerke im engeren Sinne entfallen. An der 76980 Frs. betragenden
Entschädigungssumme nehmen die Bergwcrksunfälle mit 38573,1 Frs.,
also mit etwas mehr als der Hälfte, teil. Erfreulich ist einzig die Ab-
nahme der tödlichen Unfälle von 16 auf 9. Doch hindert dies nicht,
dafs die betreffenden Verhältniszahlen immer noch sehr hohe sind. Die-
selben betrugen im Jahresdurchschnitt
für Hcrgwerke für Steinbrüche
pro Mille pro Mille
in der Schweiz pro 189899 2,47 2,38
in England pro 1896 ... 1.47 1,1
in Italien pro 1897 2.3 1 I.27
Unter diesen Umständen sind die Klagen über die ,, Praktiken der
meisten Unfallversicherungsgesellschaften mit unseren Bergwerken" be-
greiflich. F.s wird denselben vorgeworfen, dafs sie Schwierigkeiten bei
der Liquidierung der bedeutenden Entschädigungen bereiten, sowie dafs
sie durch übermäfsige Ansetzung der Prämien vielen Betriebsinhabern die
Versicherung erschweren, ja oft verunmöglichen.
Die Untersuchung der Unfälle, dieses nächst den direkten Schutz-
mafsnahmen wichtigste Mittel der Unfallverhütung, sowie die Unfall-
meldung wird immer noch in hohem Mafse vernachlässigt. Aehnlich ver-
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Rmil Holniann. Der Vollzug des schweizerischen FalmiigcseUcs.
hält es sich wohl mit den Mafsnahmen zur Verhütung von Unfällen, wie
überhaupt der ganze Vollzug des Gesetzes an allen Ecken und Enden
erst im Werden begriffen ist. Der Bergwerksinsi>ektor mufs und will
zuerst Erfahrungen sammeln ; den Kantonen mangeln oft derartige be-
triebskundige Personen zur Berichterstattung etc. und schliefslich mufs
bei Behörden und Arbeitern erst das richtige Interesse an dieser ln-
spektion geweckt werden.
33*
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LITTERATUR.
Zur Litteratur über die Wohnungsfrage.
Von
Dr. h. lindemann.
in Stuttgart.
1. Neue Untersuchungen über die Wohnungsfrage in Deutschland
und im Ausland. Herausgegeben vom Verein für Sozialpolitik.
2. v. Philippovich und Schwarz, Wohnungsverhältnisse in öster-
reichischen Städten. Wien 1900. In „Soziale Verwaltung in Oester-
reich". 1. Heft 7.
3. Die Wohnungs- und Gesundheitsverhältnisse der Heimarbeiter in
der Kleider- und Wäschekonfektion. Herausgegeben vom k. k. Arbeits-
statistischen Amte im Handelsministerium.
4. Die Wohnungsenquete in der Stadt Winterthur. Bearbeitet von
C. Landolt 1901.
5. Die Wohnungsenquete in der Stadt St. Gallen. Bearbeitet von
C. Landolt 1901.
6. Die Wohnungsverhältnisse der Arbeiter in Halle a. S. bearbeitet
von W. Swienty. Halle a. S. 1901.
7. P. Voigt, Grundrente und Wohnungsfrage in Berlin und seinen
Vororten. Jena 1901.
8. Stier -Somlo, Unser Mietrechtverhältnis und seine Reform.
Göttingen 1901.
9. v. Oppenheimer, Die Wohnungsnot und Wohnungsreform in
England. Leipzig igoi.
1 o. A. Kurelia, Wohnungsnot und Wohnungsjammer. Frank f. a. M. 1900.
11. 1.. Sinzheimer, Die Arbeitenvohnungsfrage. Stuttgart 1901.
1 2. H. Bingner, Wohnungsfrage und Wohnungspolitik in ihren Be-
ziehungen zur allgemeinen Sozialreform. Berlin 1901.
Die Wohnungsfrage ruckt erfreulicherweise in den Vordergrund des
öffentlichen Interesses. Eine Reihe von Kongressen hat sich im Jahre
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Zur Littcratur über die Wohnungsfrage.
509
1901 mit ihr in mehr oder weniger ausführlicher Weise auseinandergesetzt:
wir erwähnen nur die Kongresse zweier politischer Parteien, der Sozial-
demokratie und der süddeutschen Volkspartei, auf denen man sich mit
dem Anhören eines Referates begnügte, und die Generalversammlung
des Vereins für Sozial]>olitik, auf der allein das Problem eine seiner Be-
deutung entsprechende Behandlung fand. Der Verein für Sozialpolitik
hatte die Verhandlungen seiner Generalversammlung entsprechend seiner
Tradition durch eine umfassende litterarische Behandlung der Wohnungs-
frage vorbereitet. Seine „Neuen Untersuchungen über die Wohnungs-
frage in Deutschland und im Ausland" müssen als die wichtigste Publi-
kation auf diesem Gebiete bezeichnet werden — nicht allein auf Grund
ihres Umfanges, sondern ebenso auch mit Rücksicht auf den VS'ert der
gebotenen Leistungen. Danelien hat uns das vergangene Jahr eine ganze
Fülle von Werken, Schriften. Broschüren gebracht, die einesteils das ganze
Problem, zum anderen nur Teile desselben behandeln, wissenschaftlich
bedeutsame Arbeiten und wertloses Geschwätz sozialer Quacksalber und
Amateure im bunten Wechsel. Wir werden aus dem grofsen Haufen
einige Schriften zur kritischen Besprechung herausgreifen, nicht nur das
wissenschaftlich Bedeutsame, auch solches, das durch das Ziel, durch die
Bestrebungen, die darin hervortreten, die Aufmerksamkeit verdient. Bei
unserer Darstellung werden wir jeweils von den Untersuchungen des
„Vereins für Sozialpolitik“ den Ausgang nehmen , an die einzelnen
Schriften des Sammelwerkes das Zusammengehörige angliedern.
Wir beginnen mit der Wohnungsstatistik. Die Untersuchungen
des Vereins für Sozialpolitik enthalten aufser der grofseren Arbeit des
Referenten, die sich mit der deutschen Wohnungsstatistik bescliäftigt, noch
eine Reihe kleinerer Beiträge zur Wohnungsstatistik im Auslande. So
giebt C. Horäcek im Anhänge zu seiner Schrift „Die Bodenwertbewegung
in Prag und Vororten“ einen kurzen Ueberblick über die Wohnver-
hältnisse in Prag und Vororten, der die Resultate der Volkszählung vom
31. Dezember 1800 enthält. Für Oesterreich sind wir leider immer
noch ausschliefslich auf diese Volkszählung angewiesen. In Verbindung
mit ihr haben nämlich in 19 hervorragenden Städten Erhebungen über
die Wohnungsverhältnisse stattgefunden, die natürlich nach jeder Rich-
tung hin veraltet sind, aber in Ermangelung neueren Materiales immer
noch als Grundlage für alle Darstellungen österreichischer Wohmmgsver-
hältnissc dienen. Das gilt auch für die von Prof. v. Phiüppovich und
Dr. P. Schwarz bearbeitete Zusammenstellung „Die Wohnungsverhällnisse
in österreichischen Städten, insbesondere in Wien“, die in dem Sammel-
werke „Soziale Verwaltung in Oesterreich am Ende des 19. Jahrhunderts"
veröffentlicht worden ist. Unsere deutschen Wohnungszustände sind gewils
nicht glänzend, gegenüber den österreichischen sind sie es. Für diese ist,
in noch höherem Grade als für jene, der charakteristische Zug das stets
wachsende Zusammendrängen der Bevölkerung. Die Bchausungsziffer
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5io
Littcralur.
wächst (Prag Vororte 1880 37,4, 1890 44,3 Personen; Reichenberg Vor-
orte 14,5 bc/.w. 16,5 Personen). In den Häusern werden immer mehr
früher unbewohnte Räume zu Wohnzwecken adaptiert, d. h. die Keller- und
Dachwohnungen nehmen zu. In Wien stieg die Zahl der Kellerwohnungen
im Jahrzehnt 1880 — 1890 von 0,3 auf 1,2 l’roz., in Graz von 3,8 auf
6,9 Proz. In Reichenberg sind 24,5 Proz. aller Wohnungen Dach-
wohnungen, in Reichenberg Vororte 53,3 Proz. Hier hausen 28,9 Proz.
der Bevölkerung in Dachwohnungen ! Je grüfser der Prozentsatz der
kleinsten, einräumigen Wohnungen, desto gröfser der Prozentsatz der in
ihnen hausenden Bevölkerung, desto dichter die Belegung dieser Woh-
nungen, desto elender die Wohnungszustände. I11 Reichenlierg Vororte
sind 62 Proz. aller Wohnungen cinräutnige, in Innsbruck nur 24 Proz.
Daher sind denn auch bewohnt unter den einräumigen Wohnungen:
von 1 2 3 — 5 6 — 10 11 — 20 Pers.
in Innsbruck. . . .55,1 l’roz. 25,6 Proz. 17,3 I’roc. 2 Proz. — Proz.
in Rciclienbcrg Vororte 6,2 „ 19,7 „ 56,7 ,. 17,2 „ 0,2 „
Dieselbe Erscheinung läfst sich auch für die verschiedenen Bezirke
Wiens nachwciscn. Wie zu erwarten begegnen wir in den kleineren Woh-
nungen der weitgehendsten Ucberfüllutig. Nicht nur, dass die Wolin-
räumc derselben nach Bodenfläche und Luftinhalt kleiner sind, als die
grüfseren Wohnungen, sind sie auch viel dichter belegt Unter Berück-
sichtigung der Bodenfläche und des Luftinhaltes wurden sich die Woh-
nungszustände in den kleinen und kleinsten Wohnungen noch viel
schauderhafter darstellen, als dies bei der Beziehung der Bewohnerzahl
auf die Zimmerzahl der Fall ist. Das beweisen die Untersuchungen Prof,
v. Philippovichs deutlich genug, die derselbe 1893 in diesem Archive
veröffentlicht hat. Wenn also die vorliegende Schrift die Zahl der m
Wien in überfüllten Wohnungen hausenden Bevölkerung auf r 1 9 688 ^
8,91 Proz. der Gesamtbevölkerung angiebt und in den in Untersuchung
gezogenen Städten auf 560000 Menschen 21,9 Proz., der Gesamt-
bevolkerung berechnet, so sind das nur Minimalzahlen, die uns die
Gröfse des Wohnungselendes höchstens ahnen lassen. Ebenso be-
stimmend für die Höhe des Wohnniveaus, wie die Wohndichtigkeit, ist
die Ausstattung der Wohnungen mit Küche und Nebenräumlichkeiten.
Damit sieht es in Oesterreich über die Mafsen kläglich aus. In L'rfahr
waren 52,3 Proz., in Maxglan 65,5 Proz., in Reichenberg 57,5 Proz., in
Reichenberg Vororte sogar 79,2 Proz. der Wohnungen küchenlos. Fassen
wir nur die Dach- und Kellerwohnungen ins Auge, l>ei denen der
Mangel einer Küche am häufigsten ist, so steigen die Prozentsätze (so
in Reichenberg Vororte) bis auf 91,7 bezw. 92,3 Proz.! Und dann die
Abortzustände, die durch den Mangel jeder Kanalisation , jeder Des-
infektion, jeder Wasserspülung, durch die Lage der Aborte im Keller,
die Benutzung derselben durch eine tibergrofse Zahl von Bewohnern ge-
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Zur Litteratur üIkt die Woliiningafragr.
511
kennzeichnet sind ! Zur Vervollständigung des Mildes seien noch die
ausgedehnte Benutzung der Wohnräume zu (lewerbezwecken, die weit-
gehende Durchsetzung der Familien mit Aftermietem und Mettgehern, die
geringe Stabilität des Wohnens erwähnt, womit denn auch die wichtigsten
l’unkte genannt wären, über die die österreichische Statistik Aufschlufs
giebt.
Tiefer führt uns in die Wohnungsverhältnise eines allerdings nur
beschränkten Teiles der österreichischen Bevölkerung die Wohnungs-
untersuchung ein, die der ständige Arbeitsbeirat mit seiner mündlichen
Enquete über die Lage der Heimarbeiter in der Konfektionsindustrie
verbunden hat. F.s wurdeit im ganzen 409 Wohnungen von Heimarbeitern
besichtigt. Die Erhebungen erstreckten sich auf Wien (247 Wohnungen),
Prag (45 Wohnungen), Profsnilz und Umgebung (51), Boskotvitz und
Umgebung (31), Lemberg (30) und Rozdol f5 Wohnungen), also nicht
nur auf städtische, sondern auch auf ländliche Wohnungen. Der Unter-
suchung lag ein sehr ausführlicher Fragebogen zu (Irunde und die Yer-
arlieitung ist in vortrefflicher Weise ausgeführt, so dafs ihre Resultate
als recht wertvolle bezeichnet werden dürfen. Allerdings nur in be-
stimmten (irenzen. Die Wohnungsbenutzung der Heimarbeiter unter-
scheidet sich von der der nicht heimarbeitenden Klassen eben durch
das hinzukommeude Moment der Heimarbeit. So decken sich z. M. bei
den Heimarbeitern Wohnzimmer und Arbeitsräume ; besondere Wohn-
zimmer. die ausschliefslich zum Wohnen dienen, giebt es nicht und
kann es auch bei dem geringen Umfang der Wohnungen nicht geben,
der in Prag, Profsnitz und Boskowitz mit Umgebung, sowie Lemberg im
allgemeinen nicht über zwei Räume, in Wien nicht über 3 hinaus-
geht. Von den 1038 besichtigten Wohnräumen waren 445 Arbeits-
räume, d. h. Räume, in denen gearbeitet wurde, auch wenn sie aufserdem
noch eine andere Verwendung hatten, 742 waren Schlafräume. Von
den Schlafräumen dienten 35,6 Pro/.. = 264 nur als Schlafzimmer,
14,6 Proz. auch als Kuchen, 42,7 Pro/.. = 317 auch als Arbeitsräume,
und 7,1 Proz. zugleich auch als Küchen und Arbeitsräume. Die Ver-
hältnisse der Schlafräume sind von der Enquete sehr sorgfältig be-
handelt und dabei auch die Bettverhältnisse berücksichtigt worden. I11 den
sämtlichen 742 Schlafräumen schliefen im ganzen 2493 Personen. Am
stärksten ist die Belegung in Profsnitz und Boskowitz und Umgebung,
in Lemberg und Rozdol, dann in W ien und Prag. Nur iu 136 Fällen
beträgt sie 1 Person per Schlafraum und nur in 157 Fallen je 2 Per-
sonen per Raum ; sie steigt in 99 Fällen auf je 4, in 90 Fällen auf je
5, in 61 Fällen auf je 6, in 25 Fällen auf je 7, in 13 Fallen auf je 8,
in 6 Füllen auf je o, in 1 Falle auf je 10 und in 3 Fällen auf mehr
als je 10 Personen. Das sind Dichtigkeitsverhältnisse, die den elenden
sozialen Zuständen dieser Arbeitergruppe vollkommen entsprechen. Einen
noch tieferen Blick in dieselben gewähren uns die F.rhebungen über die
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512
l.ittcratur.
Belegstärke der Schlafstellen (Betten, Sophas, Wiegen etc). Zunächst
läfst sich in den Bettverhältnissen ein deutlicher Unterschied zwischen
Stadt und Land feststellen, ln der Stadt kommen ausschliefslich Bett-
stellen vor, Bänke werden höchst selten als Schlafstellen gebraucht. Auf
dem lande sind Bettstellen eine Seltenheit und dienen zumeist nur dem
Familienhaupt und dessen Frau; in grofser Ausdehnung werden sie
durch Bänke oder auf den Fufsboden gelegte Strohsäcke ersetzt. Auch
der hinter dem grofsen Küchenherd oder Backofen befindliche freie
Raum dient häufig als Schlafstätte. Nur 876 Schlafstättcn dienten einer
Person als Ruhestätte, 637 wurden von je 2, 103 von je 3, 6 von je
4 und 2 von mehr als je 4 Personen benutzt. Die richtige Bedeutung
gewinnen diese Ziffern erst dann, wenn wir das Hausstandsverhältnis
der Personen ins Auge fassen, die einen Schlafraum oder eine Schlaf-
stelle miteinander teilen. Auch darüber giebt uns die Enquete einigen
Aufschlufs. Von den 742 Schlafräumen wurden 434 nur von Familien-
mitgliedern benutzt. Leider hat die Bearbeitung diese Gruppe von Fa-
milienangehörigen nicht weiter z. B. nach Alter und Geschlecht zerlegt,
obschon eine solche Unterscheidung für die Beurteilung der üblichen
Sittlichkeitsanschauungen nicht ohne Bedeutung gewesen wäre. 2 r 2
Schlafräume wurden ausschliefslich von fremden Personen benutzt, die
nicht Mitglieder der Familie sind, also von Gehilfen, Lehrlingen, Dienstboten
und Schlafgängern, ln qö Schlafräumen schliefen Familienangehörige
mit fremden Personen zusammen und zwar in 69 Fällen gehörten die
Schläfer verschiedenen Geschlechtern an. Dagegen waren unter den
2 1 2 F'ällcn, wo ausschliefslich Fremde das Schlafgemach mit einander
teilten, nur 4 Falle, in denen Verschiedenheit der Geschlechter bestand.
Die Enquete hat sich natürlich nicht mit der Auszählung der Wohn-
räunie und der sie benutzenden Personen begnügt, sondern hat durch die
Ausmessung der Raum- und Flächenverhältnisse, sowie der F’ensterfläche
zu genaueren Resultaten über die Wohndichtigkeit und die Beleuchtungs-
Verhältnisse der Wohnungen zu kommen gesucht Als normal galt
eine Kopfquote von 4 qm Bodenfläche und 10 cbm Luftraum, also sehr
geringe Grofsen. In richtiger und zur Nachahmung empfohlener Weise
schied die Enquete die Tag- und Naeht-Wohndichtigkeit, die gerade bei
den Arbeiterwohnungen häufig sehr verschiedene Grofsen sind. Hier
tritt wieder der besondere Charakter der Wohnungsbenutzung durch die
Heimarbeiter in die Erscheinung. In ihren Wohnungen ist die Tages-
quote der Bodenflächc und des Luftraumes kleiner als die Nachtquote,
während bei den anderen Arbeitcrwohnungen wohl das umgekehrte
meist der F'all sein wird. Von den 409 Wohnungen waren nun 303
solche mit übernormaler Tagesquote der Bodenfläche, dagegen 330 mit
übcrnomialcr Nachtquote, und 335 mit übernormaler Tagesquote des
Luftraumes gegen 353 mit übernormaler Nachtquote. Die Verhältnisse
waren auf dem Lande viel schlechtere als in den Grofsstädten Prag und
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Zur Littcratur über die Wohnungsfrage.
5*3
Wien. Audi eine Illustration zu der Behauptung der Agrarier, dafs es
auf dem Lande keine W ohnungsfrage gäbe. Ks standen mit Bezug auf die
Bodentläche {Tagesquote) inProfsnitz und Umgebung 27 übcrnormale gegen
24 unternormale Wohnungen, in Boskowitz und Umgebung 16 gegen 15;
dagegen in Prag 36 gegen 9, in Wien 205 gegen 42; mit Bezug auf
Luftraum (Tagesquote) in Prossnitz und Umgebung 29 gegen 22, in
Boskowitz und Umgebung 14 gegen 17; dagegen in Prag 40 gegen 5.
in Wien 230 gegen 17. Ebenso wurden die ungünstigsten Extreme
0,5 bis 2,5 qm Bodenfläche und 3 — 6 cbm Luftraum pro Kopf aus-
schliefslich in ländlichen Wohnorten beobachtet. Auch die Beleuchtungs-
Verhältnisse der Arbeitsrüuine waren auf dem I .ande am schlechtesten.
In ausführlicher Weise kommen in der Bearbeitung noch die Miet-
zinse und die allgemeine Beschaffenheit der Wohnungen (Art der Fufs-
lkklen, der Ventilation, der Wasserbezugsverhältnisse, der Ableitung des
Küchenwassers, die Beschaffenheit der Aborte) zur Darstellung. Leider
verbietet es uns der beschränkte Raum, noch einige dieser Punkte zu
1 «rühren. W ir verweisen deshalb auf die Publikation selbst. Ehe wir
dieselbe aber ganz verlassen, sei noch auf die 5 1 Individualbeschrei-
bungen besonders schlechter Wohnungen hingewiesen, die uns ein
besseres, leliendigeres Bild von den Zuständen in denselben gelien, als
alle die sorgfältig gearbeiteten statistischen Tabellen.
Kehren wir zu den Untersuchungen des Vereins für Sozialpolitik
zurück. Der IV. Band bringt uns in der Arbeit des Dr. E. Vcr-ecs (Brüssel)
einige Daten über die W ohnungszustände in Belgien (pag. 190 — 194’)
und in der Arbeit des Dr. F. Mangold (Basel) „Untersuchung über die
Wohnungsfrage in der deutschen Schweiz“ eine ausführlichere Dar-
stellung der Resultate der schweizerischen Wohnungsenqueten von 1889
bis 1897, nämlich der von Basel, Zürich, Luzern, Bern; von Winterthur,
St. Gallen, Aarau nur die vorläufigen Resultate. Am ausführlichsten ist
die Baseler Enquete behandelt worden, die ja auch das Vorbild für die
anderen schweizerischen Städte war. Eine etwas eingehendere Darstellung
hätte wohl die Berner Enquete von C. Landolt verdient, die uns be-
deutsame und interessante Weiterbildungen der Wohnungsstatistik ge-
bracht hat. W ir erwähnen nur die durchgehende Berücksichtigung der
wirtschaftlichen Berufsstellung der Wohnungsinhaber mit ihren höchst
wichtigen Resultaten und die Untersuchungen über die Bodenrente der
normal bewohnten Grundstücke. Der erforderliche Platz hätte durch
eine zusammenfassende Verarbeitung der verschiedenen Statistiken sich
gut ersparen lassen, ganz abgesehen davon, dafs die Darstellung dadurch
entschieden an Ucbersichtlichkeit gewonnen hätte, das Gemeinsame und
das Besondere in den Wohnungsverhältnissen der schweizerischen Städte
schärfer hervorgetreten wäre. Seit der Veröffentlichung der Dr. Mangold-
schen Arbeit sind die Bearbeitungen der Wohnungsenqueten der Städte
Winterthur und St. Gallen, beide von C. Landolt verfafst, erschienen.
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514
l.itti*ratur.
Sie schliefscn sich eng an die der Iterner Enquete an, die als
Muster gedient hat. Neu, soweit schweizerische Wohnungsuntersuchungen
jeder Art und in anderen ländern allgemeine Wohnungsuntersuchungen
ganzer Städte in betracht kommen, ist die Feststellung der natürlichen
Helichtungsverhältnisse der Zimmer durch direkte Messungen in der
Wintcrthurer Enquete. Als Mindestforderung galt das Verhältnis
von Fensterfläche zu Hodenfläche wie i : io. Es ermangelten nun in
Winterthur von den 17440 natürlich beleuchteten Zimmern 2751 Zimmer
= 1 5,7 l’roz. des geforderten Mindesimafses der Beleuchtung. Dabei
ist Winterthur durchaus keine Stadt mit besonders schlechten Belich-
tungsverhältnissen. — Auch in der Nürnberger Wohnungsaufnahme ist
die Feststellung der natürlichen Belichtungsverhältnisse durch Messungen
der Fenstergröfse vorgesehen. Die Resultate werden gerade in Nürnberg
sehr interessante sein uncl voraussichtlich sehr schlagend nachweisen, wie
notwendig int Intere-se der hygienisch und wirtschaftlich so notwendigen
ausreichenden Belichtung eine weiträumige Bauweise ist. —
Die Bearbeitung der von den deutschen Städ'en in Verbindung mit
der Volkszählung vom 1. Dezember 1900 veranstalteten Wohnungsauf-
nahmen ist leider noch sehr im Rückstand geblieben. Unseres Wissens
haben bis jetzt nur die statistischen Aemter von Mannheim und München
die Ergebnisse dieser Wohnungszählung in ziemlich ausführlicher Weise
veröffentlicht. Es empfiehlt sich daher die Besprechung aufzuschieben,
bis eine gröfsere Zahl von Bearbeitungen vorliegt und es möglich wird,
die Entwicklung der Wohnungsverhältnisse in den deutschen Gressstädten
auf einem gröfseren Gebiete zu überschauen. So möge denn zum Ab-
schlufs dieser wohnungsstatistischen l'ebersicht noch mit einigen Worten
einer Privatenquete gedacht sein, die der sozialdemokratische
Verein in Halle a S. am 31. August und 2. September 1900 veran-
staltet hat und die \on W. Swienty bearbeitet worden ist Die Auf-
nahme beschränkt sich auf 7 Stiafsen, aus jedem Polizeibezirke eine, die
man mit Rücksicht auf das Vorwiegen durchschnittlicher Arbeiter-
wohnungszustände ausgewählt hatte. Im ganzen wurden 720 Wohnungen
mit 3 1 7 1 Personen in die Erhebung einbezogen. Es wäre höchst un-
gerecht, an eine derartige mit den geringen Mitteln eines sozial-
demokratischen Vereins unternommene Enquete den Mafsstab anzulegen,
mit dem inan offizielle Wohnungsaufnahmen zu messen gewohnt ist. Bei
derartigen Aufnahmen heifst es sich beschränken, das Ziel nicht höher
stecken, als die Kräfte reichen. Und eine solche Beschränkung ist sehr
schwierig ! Dann aber gilt es, den eng begrenzten Rahmen nur mit
Wichtigem, Wichtigstem auszufüllen. Das ist eine Kunst, die eine weit-
gehende Beherrschung des ganzen Gebietes der Wohnungsstalisl ik vor-
aussetzt. Und jede Frage mufs so scharf, wie nur möglich gefafst sein.
Sehen wir uns den Fragebogen auf die Beachtung dieser Grundsätze hin
an, so werden wir finden, dafs er oft genug gegen sie verstöfst. So ent-
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Zur Liltcrutur über die Wohnungsfrage.
5'5
liält der Fragebogen z. B. Fragen nach dem jährlichen Gesamtmictzins
inkl. Wassergeld, nacli der Höhe des Wassergeldes, nach anderen Ab-
gaben, die ev. für die Benutzung der Waschküche, des Trockenbodens etc.
zu zahlen sind, und nach den Kosten der Renovierung, wer dieselben
zu tragen hat. Das sind nicht weniger als vier Fragen, von denen drei
doch verhält nismäfsig wenig wichtige l’unkte betreffen. Dagegen wird
das so aufserordentlich wichtige Altermieter- und Schlafgängerwesen mit
je einer Frage nach der Zahl der abvermieteten möblierten Zimmer und
der Zahl der Schlafleute erledigt. Keine Frage danach, wie sich die
Schlafgänger in die Wohnungs- und Haushaltungsverhältnisse ihrer Mietgeber
einschielten. So um ollständig der Fragebogen, so unbestimmt die Fragen.
Iss wird nach den Wohnräumcn der Wohnung gefragt und dabei werden
Stuben, Kammern und Küche unterschieden. Worin besteht der Unter-
schied zwischen Kammer und Stube: Ist die Kammer ein nichtlieiz-
bares Zimmer? Wie ist dann die nächste Frage zu verstehen: „Wie
viel Räume sind davon heizbar?“ Welchen Wert bat ferner die Frage
nach der Kopfzahl der Familie, wenn nicht die einzelnen licstandteilc
der Familien geschieden werden können? Gleich mangelhaft ist auch
die Methode, nach der das Material bearbeitet worden ist. Der Ver-
fasser scheint keine andere Methode als die der Durchschnitte zu kennen,
die ja überhaupt in Enqueten der Arbeiterschaft die bevorzugte, häufig
die allein angewandte ist. So heifst es pag. iöff. : Von den Wohnungen
bestanden 5 aus 1 Raum mit 7 Personen, 31 aus 2 Räumen mit 102 Per-
sonen etc.; ferner: heizbare Räume waren vorhanden in 23 Wohnungen
mit 67 Bewohnern je 1, 98 Wohnungen mit 434 Bewohnern je 2 etc.;
ferner: der Rauminhalt sämtlicher Wohnungen beträgt 17622,5 chm,
im Durchschnitt also pro Wohnung 102,45 cbm, pro Kopf der Bewohner
21,9 cbm etc.; ferner: der Flächeninhalt der 172 Wohnungen betrug
6269 qm, im Durchschnitt pro Wohnung 36,4 qm, pro Person 7,7 qm etc.;
ferner: Mietzins wurde gezahlt pro Jahr für 5 Wohnungen mit 1 Raum
insgesamt 377,80 Mk., im Durchschnitt pro Wohnung 75,56 Mk., pro
Person 53,97 Mk., pro chm 2,20 Mk., pro qm 5,94 Mk. etc. Auf diese
stets gleich bleibende Weise wird Strafsc nach Strafse abgehandelt und
dann das Gesamtergebnis zusammengestellt. In dieser Zusammenfassung
begegnen wir dann statistischen Ungeheuerlichkeiten, wie einer Tafel
(pag. 54) über das Verhältnis des Mietpreises zu den Wohnungen, den
Bewohnern, d,jm Rauminhalt und der Grundfläche, von der wir die ersten
beiden Reihen folgen lassen: Miete- (inkl. Wassergeld) wurde bezahlt pro
Jahr für Wohnungen: 29 mit je 1 Raum, 53 Bewohnern, 857,50 cbm,
306,50 qm insgesamt 1794,30 Mk., pro Wohnung 61,87 Mk., pro
Person 33,85, pro cbm 2,09 Mk., pro qm 5,85 im Durchschnitt; 118 mit
je 2 Räumen, 423 Bewohnern, 6775,05 chm, 2769,80 qm insgesamt
12922,24 Mk., pro Wohnung 109,51 Mk., pro Person 30,52, pro chm 1,90,
pro qm 4,66 Mk. im Durchsvlmittt etc. Wer kann mit einer derartigen
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5*6
Litteratur.
Tabelle etwas anfangen ? Inwiefern hilft sie uns dazu, ein klares Bijd
von den Wohnungsverhältnissen zu erhalten, wenn innerhalb der Wohnungs-
klassen alles Besondere in das graue Einerlei des Durchschnittes aufgelöst
wird ? Die statistische Bearbeitung der Wohnungsaufnahrae ist vollständig
wertlos, das ist das scharfe Urteil, zu dem uns eine vorurteilslose Prüfung
führen mufs. Glücklicherweise macht sie nicht das ganze Buch aus.
Wir können sie getrost beiseite schieben und bekommen trotzdem oder,
besser gesagt, gerade dann ein viel besseres Bild von den geradezu
erschreckenden Wohnungszustanden, unter denen die Arbeiterschaft Halles
zu leiden hat. Diese beschreibenden Partieen des Buches, in denen wir
die oft leidenschaftliche Wärme des Verfassers in jeder Zeile spüren,
sind vortrefflich. Strafse auf Strafse, Wohnung auf Wohnung durch-
wandern wir so an der Hand unseres Führers, hören dabei die kurze,
stets traurige, oft trostlose Geschichte ihrer Insassen und steigen schliefs-
lich in das Inferno Halles, die Feldstrafse, hinab, wo die Elendesten der
Elenden für die hohen Renten ihrer erbärmlichen Löcher fronden.
„Schweineställe sind wahre Salons dagegen" — mit diesem kräftigen
Ausspruch schliefst die Beschreibung der Feldstrafse. Und wir sind
wieder um ein Bild der Not und des Jammers reicher. Mag es unsere
Nation in ihren Kultursalon stellen, um sich zu Zeiten daran zu erinnern,
dafs unsere Kulturaufgaben nicht auf dem Wasser, sondern auf dem
Lande liegen. Noch eine Lehre predigen uns diese Schilderungen mit
feurigen Zungen. Wer kann hier helfen? — tönt die Frage, und sie
antworten: nur die Gemeinde. Sie allein hat die Kraft dazu, und
ihre Pflicht ist es vor allen. Die Bewohner der Feldstrafse, um bei
diesem Beispiel zu bleiben, sind zu arm, als dafs sie bessere Wohnungen
bezahlen könnten, die von der privaten Bauuntemehmung errichtet sind.
Sie müssen in Höhlen hausen, damit der Privatkapitalist auch aus ihnen
seinen Profit hcrausholen kann. Ihnen kann nur die Gemeinde Hilfe
bringen. Und selbst abgesehen von der Pflicht der Wohnungsfürsorge
darf sie derartige Slums, die in Epidemiezeiten die gefährlichsten An-
steckungsherde bilden, schon aus volkshygienischen Gründen nicht dulden.
Diese hygienische Aufgabe kann sic nicht auf private Unternehmer ab-
wälzen. —
Rapide ist die Entwicklung der deutschen Städte in den letzten
Jahren der industriellen Blüte gewesen und ebenso rapide hat sich die
Steigerung der Grundwerte und Mieten durch den Bevölkerungszuwachs
bewirkt, vollzogen. Damit ist denn auch der ganze Problemkomplex,
der sich an die städtische Grundrente und ihre Bedeutung für die
Miethöhe knüpft, Gegenstand lebhaftester wissenschaftlicher Aufmerksam-
keit geworden. Nicht weniger als drei Arbeiten in den „Untersuchungen“
des Vereins für Sozialpolitik beschäftigen sich mit ihm: Dr. C. Horäcek
(Prag), Die Bodenwertbewegung in Prag und Vororten,
Dr. P. Schwarz (Wien), Die Entwicklung der städtischen
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Zur Litteratur über die Wohnungsfrage.
5*7
Grundrente in Wien, und Dr. A. Voigt (Frankfurt a/M.), Wie
Bodenbesitzverhältnisse, das Bau- und Wohnungswesen
in Berlin und seinen Vororten. Leider ist es uns bei der Be-
schränktheit des Raumes nicht möglich, auf die beiden ersten Arbeiten
näher einzugehen; wir müssen uns mit einer Besprechung der umfang-
reicheren Schrift Dr. A. Voigts begnügen. Diese Studie ist aus einer
ursprünglich beabsichtigten Zusammenfassung der Resultate hervorge-
wachseu, zu denen P. Voigt in seinem unvollendeten Buche Grund-
rente und Wohnungsfrage in Berlin und seinen Vororten
gekommen war. Anfänglich nur Referat wurde sie im Laufe der Dar-
stellung zur kritischen Besprechung und endete schliefslich in scharfem
Gegensätze zu dem P. Voigtschen Buche. Es wird sich daher empfehlen,
zunächst in Kürze den Inhalt des P. Voigtschen Buches zu skizzieren
und dann mit der A. Voigtschen Schrift die Ergebnisse desselben zu
würdigen.
Die von dem Institut für Gemeinwohl gestellte Aufgabe, die Krage
der grofsstadtischen Grundrentenbildung zu untersuchen wurde von
P. Voigt, der die Bearbeitung derselben übernommen hatte, auf die
Untersuchung der Bodenverhältnisse in Berlin und seinen Vororten be-
schränkt. Für die Stadt Berlin sollte in erster Linie die Entwicklung
der Verhältnisse des bebauten Grund und Bodens dargestellt werden,
während für die Vororte als Hauptaufgabe betrachtet wurde, den gegen-
wärtigen Wert des unbebauten Bodens für ein möglichst grofses Gebiet
festzustellen. Dadurch sollten die Unterlagen für etwaige wohnungs-
jiolitische Mafsrcgeln, namentlich für eine weitere Verschärfung der bau-
polizeilichen Bestimmungen beschafft werden. Die Feststellung der Preise
für unbebauten Boden ist eine verhältnismäfsig leichte Aufgabe; die
Schwierigkeiten beginnen da, wo es sich utn bebauten Boden handelt,
dessen Bebauung vielleicht schon Jahrzehnte zurückliegt. P. Voigt wandte
nun für die Berechnung des Gesamtwertes und des Bodenwertes der
Grundstücke die folgende Methode an. Für die Gegenwart wurde der
„gemeine Wert“ der Krgänzungssteuer angenommen, der durch Kapitali-
sierung des Gebäudesteuer-Nutzungswertes berechnet wird. Der Faktor
ist nach den Stadtteilen verschieden und schwankt zwischen 1 6 — 1 8 und
20 22. Durch Abzug der um io 20 I’roz. gekürzten F'euertaxe, die
den Gebäudewert darstellen soll, wurde der Bodenwert gefunden. Für
die Jahre 1865 und 1880, für die amtliche Schätzungen nicht Vorlagen,
wurde ein besonderes Verfahren dem amtlichen nachgebildct. Dal>ei
wurde einmal die wechselnde Höhe des Zinsfufses berücksichtigt und die
vorliegenden Kaufpreise mit den Nutzungs- und Mieterträgen, die gleich-
falls zur Verfügung standen, verglichen. Die auf diese W eise durch
Schätzung ermittelten Gesamtwerte wurden dann zur Ermittlung des
Bodenwertcs um die dem Alter des Hauses entsprechend reduzierte
F'euertaxe gekürzt. Diese auch von anderen Schriftstellern angewandte
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Litteratur.
518
Methode der Üodenwertberechnung ist nun, wie A. Voigt pag. 198 ff.
ausfuhrt, aufserordentlich mangelliaft. Man sucht Gebäude und Boden
zu trennen und berechnet den Gebäudewert aus dein Feuerkassenwert,
der durch Airschreibung einer mit dem Alter steigenden Quote von den
ursprünglichen Baukosten gefunden wird. Die Einwendungen, die A. Voigt
erhebt, sind durchaus begründet. Die Feuertaxe will gar nicht den Wert
des Gebäudes darstcllen, sondern nur einen Mafsstab für die Ent-
schädigung des Eigentümers in Brandfällen abgeben. Sie soll bei neuen
Gebäuden mit dem Kostenpreise übereinstimmen ; bei älteren wird eine
mehr oder weniger starke Amortisation zu Grunde gelegt. Nun kann
z. B. die Feuertaxe steigen, weil die Baukosten im Laufe der Jahre
zugenommen haben. Das ist eine ganz allgemeine Erscheinung. So
schreibt I.andolt, Die Wohnungscnquetc in der Stadt Bern pag. 64811.:
„In Bern findet nämlich fortwährend ein starkes Steigen des Assekuranz-
wertes, den wir hier dem Bauwert-Maximum als relativ analog voraus-
setzen, statt. Wie man aus dem alljährlichen Ausweis der kantonalen
Brandversicherungsanstalt ersieht, steigt der durchschnittliche Assekuranz-
wert pro Gebäude von Jahr zu Jahr. Und zwar ist dieses Steigen im all-
gemeinen nicht etwa auf eine wesentlich veränderte Bauart oder auf eine
Grofsenzunahme der Wohnhäuser zurückzuführen, sondern der allbekannten
Thatsachc der stets steigenden Preise der Produktionsmittel zuzuschreiben.“
Bleibt nun der Gebäudesteuer-Nutzungswert der gleiche, so wird durch
Subtraktion der Feuertaxe vom Gesamtwerte ein sinkender Bodenpreis
herausgerechnet werden, obschon vielleicht der Bodenpreis der gleiche
geblielren, vielleicht sogar gestiegen ist. A. Voigt bespricht einige andere
Beispiele, die zeigen, wie die von P. Voigt benutzte Methode unter Um-
ständen zu absurden Resultaten führt, und beschränkt die Bedeutung der
nach dieser Methode errechneten Tabellen der durchschnittlichen Haus-
grundstücks-, Gebäude und Bodenwerte darauf, dafs sic „wenigstens die
relative Abstufung der Werte nach den verschiedenen Stadtteilen einiger-
mafsen wiedergeben und daher nicht ganz wertlos sind“.
Das P. Voigtsche Buch giebt uns in den ersten zwei Kapiteln eine
Uelrersicht Uber die bauliche Entwicklung Berlins bis zum Tode Friedrichs
des Grofscn, die mit einem Panegytikus auf die Baupolitik der hohen-
zollcrnschen Fürsten im besonderen und auf ihre Staatspolitik im all-
gemeinen endigt. Mit dem dritten Kapitel beginnt dann die Dar-
stellung der Entwicklung der Umgegend von Berlin, die den Rest deä
Buches ausfüllt. Kapitel IV stellt die erste Periode der modernen Ent-
wicklung der Berliner Vororte dar, die Zeit von 1871 — 1887. Es ist
das die Periode der Griinderjahrc, die zum ersten Male das vorstädtische
Areal in den Bereich der grofscn Grund- und Bauspekulation zog. Ein
grofser Teil des Grund und Bodens kam in die Hände gewerbsmäfsiger
Terrainspekulanten. Die Bodenpreisbildung vollzieht sich nunmehr unter
Rücksicht auf die Möglichkeit der zukünftigen Verwertung als Bau
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Zur l.ilU-rntur UImt ili*' Wohnung-fragr*. -jo
land. Mit besonderem Nachdruck hebt dabei P. Voigt hervor, dafs die
Terrainspekulation der Gründerjahre die Verpflanzung der Mietkaserne
in die Vororte nicht einmal versucht, sondern stets an ihrem ursprüng-
lichen Programm, I-andhauskoloniecn zu errichten, festgehalten habe. Der
Ucberspekulation der Grimderjahre folgte eine bis zu Anfang der Soer Jahre
dauernde schwere wirtschaftliche Depression, dieser dann in dem neuen
Jahrzehnt ein langsamer Aufschwung. Der alte bauliche Charakter der
Vororte (Landhaus und kleines Miethaus) und mit ihm die entsprechend
niedrigen Hodenpreise erhielten sich auch in dieser Periode. Nur in
den direkt an Berlin anstofsenden Strafsenziigen von Schöneberg, Kis-
dorf, Charlottenburg etc. sah man die Berliner Mietkasernc. Die Gründe
für diese Erscheinung siebt P. Voigt in dem Vorhandensein noch grofserer
unbebauter Gebiete innerhalb des Berliner Weichbildes, dem Mangel
einer regulären Kanalisation und Wasserzuführung, in den überkommenen
Hau- und \\ ohnsitten und endlich in dem Kmtlufs des geltenden Baurechtes.
„Eine einzige unglückliche Verwallungsmafsrcgel, so schliefst er dies
Kapitel, lenkte aber die ganze Entwicklung mit einem Schlage in andere
Bahnen.“ Diese Yerwaltutlgsmafsregel ist nach P. Voigt die Ausdehnung
der Berliner Bauordnung von 1X87 auf fast sämtliche Vororte des Pots-
damer Regierungsbezirkes, wodurch die fünfstöckige Mietkasernc zur
Norm wurde. An dieser Darstellung übt nun A. Voigt eine in manchen
Punkten berechtigte Kritik. Er weist darauf hin, dafs die alte Bau-
polizeiordnung für das platte Land des Regierungsbezirkes Potsdam von
1872 durchaus nicht das Hindernis für den Hochbau nach Berliner Muster
bedeutete, wie P. Voigt anzunehmen geneigt ist. Von dem Bauwich von
5 m, der für Gebäude mit feuersicherer Bedachung vorgeschrieben war,
konnte dispensiert werden, wenn das eine Gebäude eine Brandmauer
hatte. Dieser Dispens wurde auch vor r887 regelmäfsig erteilt, so in
Teilen von Schöneberg, Rixdorf und Charlottcnhurg, die ganz Berliner
Bauverhältnisse aufwiesen. Die Mietkaseme war also schon in das neue
< '.ebiet eingedrungen, wo ihr thatsächlu h keine baupolizeilichen Hinder-
nisse im Wege standen. Der Druck der rapid anwachsenden Be-
völkerung, die sich natürlich am leichtesten und einfachsten durch die
Mietkasernc unterbringen liefs, förderte ganz beträchtlich die siegreiche
Ausdehnung der Mietkaserne in den neuen Gebieten, die noch durch
ein stets dichter werdendes Vorortseisenhahn- und Strafsenbahnnetz mit
dem Berliner Weichbild in engste Verbindung gebracht wurden. Die
Potsdamer Regierung zog also thatsächlich viel mehr die rechtlichen
Konsequenzen aus den bereits bestehenden Verhältnissen, als dafs sie das
System des Massenmiethauses octroyierte. Derartige Venvaltungsmafs-
regeln, deren Bedeutung P. Voigt ganz beträchtlich überschätzt, lassen
sich überhaupt nicht erfolgreich octroyiercn ; die wirtschaftliche Ent-
wicklung setzt sich gegen sic am Ende doch durch. Wenn aber
A. Voigt die Ansicht ausspricht, dafs allein der baugewerbliche Grofs-
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520
I.ittcratur.
betrieb und die diesem Grofsbetrieb adäquate Baufortn, das Massenntiet-
haus, im Stande gewesen wären, den Bevölkerungszuwachs in den Vororten
billig und zureichend unterzubringen, und dafs auch aus diesem Grunde
sich die Mietkaserne stets durchgesetzt haben würde, so ist daran nur
soviel richtig, dafs allerdings in Berlin und ebenso in den meisten
deutschen Städten der baugewerbliche Grofsbetrieb gar keine andere
Bauform kannte als eben das Miethaus mit vielen Etagen. Er fand das-
selbe bereits in allgemeinem Gebrauche vor, als er auf der Szene seiner
Wirksamkeit erschien, die ihm die rapide wirtschaftliche Entwicklung der
Grofsstadt mit ihrer Ansaugung grofser Bevölkerungsmasse» geschaffen
hatte. Allerdings hat er dann das Miethaus zu seinen Zwecken aus-
gestaltet und die so vollendete Bauform überall da angewandt, wo er
es ungehindert thun konnte. Ein Blick auf England genügt aber, um zu
zeigen, dafs baugewerblicher Grofsbetrieb und Kleinbau sich durchaus
nicht ausschliefsen. Hier ist der Kleinbau durchaus nicht dem klein-
gewerblichen Eigenbau überlassen; er liegt vielmehr in den Grofsstädten
ebenso in den Händen des Großbetriebes, wie in deutschen Grofsstädten
der Massenbau der Mietkasernen. Das Entscheidende ist unserer An-
sicht nach, dafs der sich entwickelnde Grofsbetrieb das Etagenmiethaus
bereits als tief eingewurzelte Bausitte vorfand, und diese Bauform seinen
Zwecken entsprechend ausgestaltet hat. Für die von ihm ausgebildete
Bauform hat der Grofsbetrieb sich dann in der Bauordnung die ge-
eignete rechtliche Grundlage ebenso geschaffen wie in den modernen
Hypothekenbanken die erforderliche Kreditorganisation. Das ist die
Reihenfolge der Ereignisse, wie sie A. Voigt fpag. 1 86 u. a. m.) richtig ge-
stellt hat. Auch darin stimmen sie A. Voigt vollständig bei, dafs durch eine
blofse Aenderung der Bauordnung der Bau kleiner Wohnhäuser nicht
erzwungen werden kann. Gegenüber dem kapitalistischen Grofsbetrieb
mit seiner Mietkaserne ist begreiflicherweise „der Kleinbetrieb mit selbst
bauendem Bauherrn und ersparten Kapitälchen und die Baugenossenschaft
mit el>euso mühsam zusammengebrachten Kapital“ konkurrenzunfähig.
Soll der Bau kleiner Wohnhäuser in erfolgreichen Wettbewerb mit dem
Grofsbetrieb und seiner Mietkaserne treten, so bedarf es dazu der gleichen
wirtschaftlichen Machtmittel, wie sie diesem zur Verfügung stehen —
und fügen wir noch hinzu, einer gründlichen Revolution unserer Wohn-
sitten, an der der kapitalistische Grofsbetrieb gar kein Interesse hat. So-
lange es die grofsen Massen der Bevölkerung vorziehen, sich in den
ungesunden Mietkasernen zusammenzupferchen, anstatt in den kleinen
Häusern der Vororte hygienisch zu wohnen, solange mufs der Kampf
gegen die Mietkaserne ein vergeblicher bleiben. Diese Erziehung der
Massen zu besseren Wohnsitten, zu höheren Wohnansprüchen ist eine
ungeheure, langwierige Aufgabe, deren Losung noch dadurch erschwert
wird, dafs sie in weitgehendstem Mafse durch die allgemeine Hebung
der Lebenshaltung dieser Bevölkerungsmassen und damit indirekt durch
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Zur Litlcratur über die Wohnungsfrage. r 2 1
alle diese Hebung fördernden oder hemmenden Faktoren der sozialen
Bewegung bedingt ist.
Das 6. Kapitel des P. Voigtsehen Ruches stellt die Entwicklung
der Verkehrsmittel, namentlich der Vorortbahnen dar, mit dem 7. Kapitel
wird die Darstellung der Bodenpreisbewegung in den einzelnen Vororten
aufgenommen. Die Untersuchung Ireginnt mit Charlottenburg, daran
schliefsen sich der Kurfürstendamm und die Villenkolonie Grunewald.
Ks ist uns natürlich nicht möglich, auf den wenigen z.ur Verfügung stehenden
Seiten diese aufserordentlich wertvollen Untersuchungen ausführlich zu
würdigen. Wir müssen deshalb den l.cser auf das Buch selbst verweisen
und uns darauf beschränken, einmal solche Punkte hcrauszugreifen, die
uns einer Kritik bedürftig scheinen, dann al>er vor allem die allgemein
gültigen Resultate kurz zu skizzieren. Im Kapitel „Charlottenburg“ be-
schäftigt sich P. Voigt auch mit den Mietpreisen in Charlottenburg,
wobei er die von Dr. Hirschberg bearbeitete Wohnungsstatistik von 1805
zu Grunde legt, und untersucht, wie sich die Mietpreisbildung in den
verschiedenen Stadtteilen im Verhältnis zur Wohlhabenheit ihrer Bewohner
gestaltet. Seiner Ansicht nach giebt die Grofse der Wohnungen in Ver-
bindung mit ihrer räumlichen Ausdehnung eine genaue Stufenleiter der
Wohlhabenheit. Das ist ja ohne weiteres richtig. Je gröfser die Woh-
nungen und je geringer die Zahl der Bewohner per Zimmer, desto gröfser
die Wohlhabenheit' der Mieter. Khenso richtig ist, dafs sieh die Miet-
preisquoten, die im Durchschnitt auf jede Wohnung, jedes Zimmer und
jeden Bewohner entfallen, ganz genau der Wohlhabenheit entsprechend
abstufen. Ganz und gar nicht richtig ist es aber, wenn er ausruft: „Die
Tabelle zeigt mit wahrhaft schlagender Deutlichkeit, wie gänzlich haltlos
die populäre Ansicht ist, dafs die ärmeren Klassen relativ teurer als die
besitzenden Klassen wohnten. Der Mietpreis eines Zimmers stellt sich
im reichsten Bezirke um 156 Proz. teurer als im ärmsten, die Kopf-
belastung im Vorderhause um das sechsfache, überhaupt um das fünf-
fache höher." Ks ist durchaus keine populäre Ansicht, dafs die ärmeren
Klassen relativ teuerer wohnen, als die besitzenden Klassen, sondern
eine Thatsache, die durch reichhaltiges statistisches Material bewiesen
ist. Freilich wenn man sich die Sache so bequem macht, wie P. Voigt,
und die Mietpreise auf die Zahl der Zimmer bezieht, kommt man zu
dem entgegengesetzten Resultat. Aber auch P. Voigt wird nicht so
kühn gewesen sein, die Zimmer einer hochherrschaftlichen Wohnung
mit den Zimmern einer Proletarierwohnung oder mit den Kochstuben
gleichwertig zu setzen. Jeder, der Wohnungsstatistik getrieben hat, weifs,
was er von den Begriff Zimmer zu halten hat. Beziehen wir dagegen
die Mietpreise auf den Kubikmeter Wohnraunt eine ganz bestimmte
Gröfse — so kommen wir überall zu dem Resultat, dafs die oberen
sozialen Schichten weniger dafür bezahlen als die ärmsten. Nach Lundolt
tBemer Enquete pag. 609) zahlt die obere soziale Schicht in Bern für
Archiv für so*. GeteUscbung u. Statistik. XVII. 34
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522
Littcralur.
den Kubikmeter Wohnraum 3 fr. 84, die mittlere 3 fr. 90 und die
untere 4 fr. 14. In Winterthur zahlt die obere soziale Schicht 3 fr. 28.
die mittlere 3,21, die untere 3,29 und die unterste 3,44 fr. Wir greifen
diese Zahlen aufs Geratewohl heraus, um die vollständige Haltlosigkeit
der P. Voigt’schen Behauptung nachzuweisen.
Von grofsem Interesse sind die Untersuchungen Uber die hypothe-
karische Belastung der Grundstücke in Charlottenburg. Es erwiesen sich
die älteren Strafsen als viel weniger verschuldet; die Verschuldung blieb
unter #/4 des gemeinen Wertes der belasteten Grundstücke. In den
neueren Strafsen erreichte dagegen die hypothekarische Belastung 96 Proz.
des Wertes der belasteten Grundstücke. Diese eigentümliche Erscheinung
erklärt sich in doppelter Weise: einmal drückt die bis zur Wertgrenzc
gehende hypothekarische Belastung nur das faktische Eigentumsverhältnis
in einer besonderen Form aus oder, aber der Spekulant sucht den Er-
trag seiner Spekulation nicht erst durch Verkauf, sondern bereits durch
die Hypothekenvaluta zu realisieren. In beiden Fällen mufs die iilrer-
mäfsige Beleihung zur Steigerung der Mieten führen. Auch hinsichtlich
der Kreditgeber waltete zwischen den älteren und neueren Strafsen ein
grofser Unterschied. Dort waren die meisten ersten Hypotheken int
Besitz von Privatpersonen, Stiftungen, Sparkassen, hier im Besitz von
Hypothekenbanken und Versicherungsgesellschaften. Der gleiche Unter-
schied bei der Verteilung der Hypothekensummen auf die Rangklassen,
ln den älteren Strafsen erreichten die ersten Hypotheken noch nicht die
Hälfte, in den neueren Strafsen dagegen mehr als 3 4, in einer Strafsc
sogar fast des Gesamtwertes der Grundstücke.
In der Entwicklung der Bodenpreise heben sich zwei Momente als
besonders bedeutungsvolle heraus. Die erste grofse Steigerung des
Bodenwertes tritt ein, wenn sich das Ackerland in Bauland verwandelt.
Die Höhe dieser Steigerung wird natürlich davon abhängen, ob die Be-
bauung mit der Mietkaserne oder mit Landhäusern bezw. Kleinbauten
stattfindet. In den Berliner Vororten sind diese Bebauungsarten für
einen grol'sen Teil des Gebietes, wie wir sahen, einander gefolgt,
ln der Gründerzeit der 70 er Jahre stieg der Bodenwert auf das 10 bis
40 fache des Ackerwertes ; hoher konnte er nicht steigen, solange an der
Bebauung mit kleinen Häusern festgehalten wurde, ln den 80 er Jahren
trat dann der Uebergang zum Hochbau ein und damit eine weitere
Steigerung der Bodenwerte bis annähernd auf die Höhe der Berliner
Preise Da wo die Mietkaserne herrscht, werden die Bodenpreise natür-
lich gleich von der Spekulation auf die Höhe des Hochbau- Bodenwertes
hinaufgetrieben. Die zweite grofse Steigerung der Bodenwerte tritt dann
ein, wenn die Wohnhäuser, -Strafsen und -Viertel sich in Geschäftshäuser,
-Strafsen und -Viertel verwandeln, mit anderen Worten bei der Ver-
wandlung des Holmbodens in Geschäftsboden. Scheiden wir diese beiden
Bodenklassen mit ihrer stürmischen Aufwärtsbewegung der Bodeupreise
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Zur Li tlcrat ur über die Wohnungsfrage.
523
aus, so können wir bei dein Boden der dichtbesiedelten Quartiere mit
festgewordener Art der Benutzung ein allmählich sich vollziehendes Wachs-
tum seines Wertes konstatieren. So sind in Wien in der Periode von
1 St)o — 1899 in den alten zehn Bezirken der Stadt viele Böden zu finden,
die nur wenig mehr als 10 Proz. an Wert zugenommen haben; dagegen
bleiben in den neueren 10 Bezirken, wo sich eben der Uebergang von
Ackerboden zu Wobnboden vollzieht, nur wenige Böden unter einer Zu-
wachsquote von 1 00 Proz. Hier ist die Verdoppelung des Wertes ebenso
die Regel wie in den Verkehrsstrafsen, wo sich mit der Entwicklung des
Verkehrs einmal die Pintwicklung zu Geschäfisstrafsen, und zweitens der
Uebergang vom kleinen zum grofsen Geschäftsverkehr vollzieht. ') Die
Thatsache, dafs nach der Bebauung in Wohnquartieren eine wesent-
liche Wertsteigerung des Bodens nicht mehr eingetreten ist, wird auch
von P. Voigt zu verschiedenen Malen hervorgehoben : „Die Terrain-
spekulation versteht es, die Bodenpreise bis zu der bei der gegebenen
baulichen Benutzung überhaupt noch möglichen Höhe zu treiben."
Ein wesentlicher P'aktor des Bodenpreises ist also die Art der ge-
gebenen baulichen Benutzung, mag dieselbe allein durch die Sitte oder
durch die Bauordnung vorgeschrieben sein. Dafs daneben andere Fak-
toren vorhanden sind, deren Wirkungen vielleicht die des erstgenannten
Faktors übertreffen können, wie I.age zu wirtschaftlich oder sozial be-
deutsamen Zentren etc., sei hier nur im Vorbeigehen erwähnt. P. Voigt
stellt nun für Teile von Grunewald und Halensee, wo Hochbau-, Vorort-
hochbau- und Landhausgebiete aneinander grenzen, folgende Bodenpreise
per qm fest:
Hochbau Vororthochbau t.andhausbezirk
Kurfürstendamm bciw. im Grunewald
Hauptstraßen .... 80 — 120 Mk. 60—70 Mk. 35 — 45 Mk.
Nebenslrafscn .... 60 — 90 „ 40 — 55 „ 20 — 30 „
Diese Zahlen beweisen aufs deutlichste den Einflufs bestimmter
Bauformen auf die Bodenpreise. Da nun diese Bauformen sich in ge-
wissen Grenzen durch die Bauordnungen für die einzelnen Baugebiete
festlegcn lassen, so folgt, dafs durch die Bauordnung eine Einwirkung
auf die Grenzen ausgeiibt werden kann, bis zu denen von der Bau-
und Grundstücksspekulation die Bodenpreise getrieben werden können.
Die Richtigkeit dieses Satzes wird durch das angeführte und anderes
Material des P. Voigtschen Buches in zweifelloser Weise erhärtet. Der
Nachweis ist um so dankenswerter, als gerade wieder im vergangenen
Jahre bei den Verhandlungen über die Stuttgarter Stadterweiterung
und in der Publikation des Stuttgarter statistischen Amtes über die-
*) Vgl. Vhilippovich. Wohnungs Verhältnisse in österreichischen Studien. 2. Boden-
wert und Miet/ins.
34*
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524
l.iltcrulur.
selbe ein solcher Kinllufs der Bauordnung, speziell der weiträumigen Be-
bauungsweise, auf die Bodenpreise bestritten worden ist.
Mit diesem Nachweise ist aber die Frage des Zusammenhanges
zwischen Bodenpreisen und Mietpreisen, wie A. Voigt in seiner Kritik
ausfuhrt, noch nicht beantwortet. Aus der Thatsaehe, dafs die Preisunter-
schiede des Bodens durch die Verschiedenheit seiner Ausnutzung für Bau-
zwecke bedingt sind, folgerte P. Voigt die Notwendigkeit möglichst
weitgehender Baubeschränkungen, um durch diese den Bodenwert- und
damit auch die Mietpreise der Wohnungen herabzudrucken. Wenn er
in seinem Werke den Nachweis führte, dafs überall in Berlin und seinen
Vororten der Hochbau den Bodenwert gesteigert habe, glaubte er auch
bewiesen zu haben, dafs der Hochbau für die Mietsteigerungen verant-
wortlich sei. I Jabei ging er von der Voraussetzung aus, dafs steigende
Bodenpreise sich auch in steigenden Mietpreisen ausdriieken müssen,
und unterliefs die Untersuchung des Problems, „ob nicht eine intensivere
Bebauung , die durch die höheren Bodenpreise verursachte Kosten-
erhöhung auszugleichen vermag". Mit diesem Problem beschäftigt sich
nun A. Voigt in dem sehr interessanten VIII. Kapitel seines Beitrages
zu den „Untersuchungen" des Vereins für Sozialpolitik in ausführlicher
Weise. Er geht von den Baukostenberechnungen des „Deutschen Bau-
kalenders“ aus, nach denen die Kosten des Quadratmeters der bebauten
Grundfläche nicht im gleichen, sondern in einem beträchtlich geringeren
Verhältnisse zu der Zahl der Geschosse steigen. Die Folge davon ist,
dafs die Baukosten eines Quadratmeters Wohnfläche mit der Zahl der
Geschosse abnehmen. Es könnten also in vielstöckigen Gebäuden
bei gleichen Bodenpreisen die Mietpreise für gleichen Wohnraum
billiger sein, als in ein- und zweistöckigen Gebäuden und bei verschie-
denen Bodenpreisen könnte die Mietkaserne einen bedeutend höheren
Bodenpreis ohne Mieterhöhung tragen als die kleinen Wohnhäuser. Die
Richtigkeit der Zahlen, auf die sich das Räsonnement stützt, voraus-
gesetzt, würde also die Konkurrenzfähigkeit des kleinen Miethauses von
einer bedeutenden Hcrabdrückung der Bodenpreise abhängen. Denn
wenn auf gleichem Gelände und daher auch bei gleichem Bodenpreise
sowohl die Mietkaserne wie das kleine Wohnhaus baugesetzlich erlaubt
sind, wird und tnufs die private Bauunternehmung nur die ersteren
bauen. Die Gesetze der Konkurrenz zwingen zur intensivsten baulichen
Ausnutzung der Grundstücke, die baugesetzlich möglich ist. Soll also
der Kleinbau konkurrenzfähig werden, so mufs man baugesetzlich die
Bodenpreise für den Hochbau möglichst verteuern (z. B. durch Be-
schränkung der überbaubaren Fläche etc.) und die für den Kleinbau
möglichst verbilligen, zugleich aber Gebiete abgrenzen, in denen nur der
letztere gestattet ist.
Die Baukosten stehen nach A. Voigt (Die Bedeutung der Bau-
kosten für die \V ohnungsprcisc) noch in einem anderen Zu-
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Zur I.ittcrutur über «lie Wohnungsfrage.
525
sammenhange mit dem Hodenpreis. Ihre Steigerung, die in dem letzten
Jahrhundert ganz, beträchtlich ist, hat direkt eine Steigerung der Hoden-
preise veranlafst. Die Rechnung ergiebt nätulich nicht nur, dafs bei gleichen
Preisen für 1 qm Wohnfläche ein < lehäude einen um so höheren Hodenpreis
zu tragen vermag, je gröfser die Zahl seiner Geschosse ist, sondern ebenso
auch, dafs diese Fähigkeit mit dem Preis für 1 qm Wohnfläche wächst. Hei
einem Preis von 22 Mk. für 1 qm Wohnfläche vermag ein zweistöckiges
( iebäude einen Bodenpreis von 1 2, ein dreistöckiges einen solchen von 24 Mk.
zu tragen. Steigt der Preis auf 1 1 1 -151 Mk., so können die Bodenpreise
betragen l>ei 2 Geschossen 58 — 72 Mk., I>ei 3 117 — 159, liei 4 176 bis
24S, bei 5 Geschossen 240 — 335 Mk. Es können also die mehr-
stöckigan Gebäude bei um so höheren Hodenpreisen konkurrenzfähig
bleiben, je höher sich die Baukosten für alle Arten Gebäude stellen.
Dazu kommt dann ferner noch, dafs bei einem teureren Haue die Boden-
kosten nicht so ins Gewicht fallen, als bei kleineren Bauten. In dem Mafse,
wie also die Baukosten steigen, wird es der Bodenspekulation möglich,
die Hodenpreise in den < lebieten des Hochbaues noch höher zu treilren,
als früher. Will man nun den Kleinbau gegenüber der Mietkaserne
fördern, ihn wieder konkurrenzfähig machen, so ist es, wie A. Voigt
aus den vorstehenden Ausführungen folgert, unbedingt notwendig, die
Baukosten Irei demselben möglichst herabzudrücken. „Statt dessen uber-
bieten sich, in bester Absicht natürlich, Genossenschaften, Gesellschaften,
Kommunen und Private in der möglichst vollkommenen äufseren und
inneren Ausstattung der Kleinbauten für Arbeiter, erleichtern so der
Mietkaserne die Konkurrenz, die ihrerseits mit wirtschaftlicher Not-
wendigkeit die Hodenpreise in die Hohe treibt, und beklagen sich dann
über die ( leister, die sie selbst gerufen“ (png. 363). In der Einfachheit
und Billigkeit der Arbeiterhäuser in Belgien und England sieht A. Voigt
daher neben der Sitte einen der Hauptgründe für die Erhaltung des
Kleinwohnungsbaues.
Suchen wir nun kurz die Resultate festzustellen, die sich unserer
Ansicht nach aus den im Vorstehenden skizzierten Untersuchungen er-
geben. Als die rapide Bevölkerungszunahme Berlins anfangs der 60 er
Jahre und dann seiner Vororte anfangs der 70er Jahre begann, fand die
kapitalistische Grofs-Bauunternehmung das Etagenhaus als die verbreitetste
Wolmform \ or. Bereits 1864 betrug die Zahl der Gebäude mit Erd-
geschofs und 3 Stockwerken 362 mit 4 und mehr 1 52 Sie
griff diese Wohuform als eine ihr äufserst kongeniale Hauform auf und
bildete dieselbe weiter aus. So ward also die Mietkaserne, deren An-
fänge bereits in vorkapitalistischer Zeit gelegt waren , zum Werk-
zeuge, mit dem der kapitalistische Grofsbetrieb die Hausung der zu-
strömenden Bevölkerungsmassen in Angriff nahm und, wenn wir nur die
Thatsache, nicht aber die Art der Hausung ins Auge fassen, auch
erfolgreich bewerkstelligte. Der Siegeslauf der Mietkaserne ist ebenso
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526
Litteratur.
in den wirtschaftlichen Produktionsverhältnissen begründet, wie ihre Ent-
stehung durch die wirtschaftliche Entwicklung der mit ihr beglückten
deutschen Städte bedingt ist. Es sind nun die Mieterträge, welche den
Bodenwert oder besser gesagt die Grenze bestimmen, bis zu der von
der Bodenspekulation die Bodenpreise mit dauerndem Erfolge getrieben
werden können. Wo also der Hochbau vorherrscht, müssen die Boden-
tlrcise viel höhere sein, als in Gebieten des Kleinbaues, und daraus
folgt dann wieder, dafs der Kleinbau in gemeinschaftlichen Gebieten
neben dem Hochbau unmöglich ist. Das Steigen der Mieten wird ver-
anlafst durch den Bevölkeningszuzug , der das Wohnungsangebot auf-
zehrt und eine gesteigerte Wohnungsnachfrage erzeugt. Diese Miet-
steigerung, an der theoretisch alle, in der Praxis wohl die Mehrzahl der
Wohnungen teilnimmt, ist zunächst gleichbedeutend mit einer Wert-
steigerung des bebauten Bodens, wirkt dann aber auch weiter preissteigernd
auf den unbebauten Boden. Die Chancen der Konjunktur werden natür-
lich von der Spekulation ausgeniitzt, der es zeitweise gelingen mag, den
Bodenpreis noch über seine in den wirtschaftlichen Verhältnissen be-
dingte Höhe hinauszutreiben. Ob diese spekulativ erreichte Höhe be-
hauptet wird, hängt davon ab, ob die wirtschaftliche Konjunktur fort-
dauert oder ein Umschlag eintritt. Wenn wir gröfsere Zeitabschnitte
und das Gebiet einer ganzen Stadt ins Auge fassen, können wir fest-
stellen, dafs, Gleichbleiben des Wirtschaftssystems vorausgesetzt, das
Steigen der Bodenpreise und ebenso der Mieten ein stetiges ist. Die
Kopfquote des Mietzinses steigt und sie bedeutet zweifellos eine absolute
Mehrbelastung der Wohnenden.
Mit der Wohnungsinspektion beschäftigen sich zwei Beiträge
zu den „Untersuchungen" des Vereins für Sozialpolitik : ein Beitrag Dr.
J. J. Reinekes, Die Beaufsichtigung der vorhandenen
Wohnungen und einer unter gleichem Titel von Oberbürgermeister
Z w e i ge r t - Essen. Der erste Referent giebt uns in dem ersten Teile seiner
Schrift eine Uebersicht über die gesetzliche Regelung der Wohnungsinspek-
tion in den deutschen Bundesstaaten, wobei er als Hamburger Medizinalrat
begreiflicherweise die Hamburger Wohnungsinspektion ausführlicher behan-
delt. Die Kritik, die er an dem ehrenamtlichen Charakter des Wohnungs-
pflegeramtes übt, deckt sich im wesentlichen mit dem, was wir in unserer
„Deutschen Städteverwaltung" (pag. 463) über die Hamburger Wohnungs-
inspektion ausgeführt haben. Es ist nicht unangebracht, die Hauptpunkte
derselben hier hervorzuheben, da auch andere Städte, z. B. Stuttgart, das
Hamburger Vorbild nachahmen wollen. Die womöglich tägliche Arbeit
der eigentlichen Wohnungsbesichtigung hat sich für den ehrenamtlichen
Wuhnungspfleger als zu grofs erwiesen. Daher auf der einen Seite das
Bestreben, sich der Ehrenpflicht zu entziehen, auf der anderen das Ver-
langen, eine gröfsere Zahl von technischen Assistenten anzustellen, die
die eigentliche Besichtigungsarbeit thun. Weitere Mängel sind die zu
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Zur Litteratur über die Wohnungsfrage.
527
grofse Kompliziertheit der Behörde — bei wichtigeren Mafsregeln ist
ein langer Instanzenzug möglich, der natürlich die besonders wünschens-
werte schnelle Erledigung der Uebelständc verhindert — und der
nicht genügende Zusammenhang mit der Baupolizei. Dagegen bezeichnet
es Dr. Reineke als einen Vorzug, dafs sich die Hamburger Behörde
ohne weiteres zu einer Zentralinstanz für das gesamte Wohnungswesen
entwickeln kann — wozu sie aber leider nicht die geringste Neigung
gezeigt hat. Der zweite Teil seiner Arbeit beschäftigt sich mit den
grofsen Sanierungsplänen in Hamburg, die nun endlich Gesetz geworden
sind und deren Durchführung in Angriff genommen ist. I )ie Sanierungen
wurden durch die Choleracpidemie von 1892 veranlafst; für ihre Yor-
bereitung wurde damals eine Sanierungskommission eingesetzt. Diese
Kommission erstattete ihre Berichte am 1. März 1899 und 14. Februar
1900, d. h. nach 7 bezw. 8 Jahren! Sie brauchte also noch 2 Jahre
länger für ihren Bericht als das Wohnungspflegegesetz, das 5 Jahre bis
zu seinem Zustandekommen gebraucht hatte. Eile mit Weile — scheint
das Motto der Hamburger Stadtverwaltung zu sein, wenigstens wo es
sich um die Hausung der arbeitenden Klassen handelt.
Der zweite Referent über Wohnungsinspektion ist der Olrerbtirger-
meister Zweigert, der, wie es scheint, gewählt worden ist, weil er als
„erster den Versuch gemacht hat in einer preufsischen Stadt einen tech-
nisch gebildeten Wohnungsins[>ektor anzustellen“. Herr Zweigert hat
allerdings reaktionäre, aber doch originale Anschauungen und auch den
Mut, ihnen originellen Ausdruck zu geben. Das Referat, das er z. B.
vor einigen Jahren auf der Versammlung des Deutschen Vereins für
öffentliche Gesundheitspflege über Desinfektion hielt, geifselte in zwar
übertriebener, aber doch nicht ganz unberechtigter Weise die Bazillenjägerei
der Mediziner und erregte in ebenso berechtigter Weise wegen der durchaus
rückständigen und laienhaften Anschauungen über Desinfektion einen gewal-
tigen Sturm unter den medizinischen Fachgelehrten. Noch im Jahre 1 89 1
bezweifelte Herr Zweigert sehr stark, dafs es eine Wohnungsnot gälte:
jetzt ist er, wie er angiebt, aus einem Saulus zum Paulus geworden.
Kr ist jetzt bereit, das Vorhandensein einer W ohnungsfrage und die Not-
wendigkeit des Fangreifens mit gesetzlichen und polizeilichen Mafsregeln
zu bezeugen — sollte vielleicht dies saulinisch-paulinischc Zeugnis die
Herausgeber der Untersuchungen mit zu ihrer Wahl bestimmt haben?
Aber auch heute noch hält Herr Zweigert an der Ansicht fest, dafs man
im allgemeinen nicht von der Ausbeutung der Wohnungsmictcr durch
die Vermieter zu sprechen berechtigt sei. Kr verabscheut das Wort
„ausbeutende Hausbesitzer", er bedauert, dafs von der Goltz in seinem
bekannten Buche von Hausbesitzern spricht, die in „Hamburg infolge
der plutokratischen Wahlordnung im Bürgerausschufs mit Erfolg den Be-
strebungen des Senates entgegengetreten seien“, was doch nur die ein-
fache Konstatierung der Thatsachcn ist, und er giefst die Schale seines
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528
Litte rutur.
Zornes über L Cohn lind seine Schrift, Die Wohnungsfrage und die
Sozialdemokratie aus, weil er von Hausagrariern redet, das Haugenossen-
schaftswesen als den „bequemsten Tummelplatz“ für alle sozialpolitischen
Quacksalber" bezeichnet und Überhaupt ein kräftiges Wortlein zu
sprechen sich herausnimmt. Wir geben die Hoffnung nicht auf, dafs
Herr Zweigert auch in diesem Punkte zum Paulus werden wird, wenn
er ihn einmal vorurteilslos studiert hat. Vielleicht können wir ihm ein
wenig zu schnellerer Erkenntnis helfen. Seite 57 sagt er selbst: „Die
Teuerkeit wird noch dadurch gesteigert, dafs die Privatunternehmer, wie
wir das in Essen vielfach zu beobachten (ielegenheit haben, bemüht
sind, das ganze Haus an eine Mittelsperson zu vermieten und dieser
die Weitervermietung der einzelnen W ohnungen zu überlassen. Der erste
Mieter ist dann naturgemäfs bemüht, soviel wie möglich durch die
Weitervermietung herauszuschlagen und verteuert dadurch auch seiner-
seits die Wohnung.“ In diesen Fällen ist also von dem patriarchalischen
Verhältnis zwischen Hausbesitzer und Mieter, das die Herren Haus-
Iresitzer und ihre Verteidiger nicht genug zu rühmen wissen, überhaupt
keine Rede mehr. Hier handelt es sich um den nacktesten Vcrwcrtungs-
prozefs des Kapitals, und wo in diesem Prozefs die wirtschaftliche Ucber-
macht benutzt wird, um die höchsten Erträge aus den wirtschaftlich
Schwächeren herauszuwirtschaften, da spricht man von Ausbeutung. Und
dafs die grofse Masse der Arbeiterschaft und des kleinen Heaintenstandes
den Hausbesitzern gegenüber die Schwächeren sind, wird wohl auch
Herr Zweigert zugeben. Ob nun die Hausbesitzer selber zu 80 Proz.
oder mehr verschuldet sind, kommt dabei gar nicht in Frage.
Um dem Gegensatz zwischen Hausbesitzer und Mieter die Schärfe
zu nehmen, empfiehlt Herr Zweigert bei der Erörterung der Wohnungs-
trage, wenigstens bei dein Teile derselben, der von dem Eingreifen der
öffentlichen Gewalt, von den „gesetzlichen und polizeilichen Mafsrcgcln
/.ur Verbesserung der Wohnungsverhältnisse handelt, soweit angängig, die
sozialen Gesichtspunkte zurücktreten zu lassen und die Wohnungsfrage
in erster Linie als eine Frage der Gesundheitspolizei aufzufassen“. Von
diesem Standpunkte ist es allerdings von untergeordneter Bedeutung, ob
staatliche oder Gemeindebehörde die \Vohnungsins|>ektion ausüben, „ob
man die Wohnungsbeaufsichtigung als eine kommunale Wohlfahrtsein-
richtung oder als eine Aufgabe rein polizeilicher Thätigkeit bezeichnet".
Herr Zweigert kann es daher auch gar nicht als Fehler ansehen, dafs
in Preufsen die Wohnungslieaufsichtigung der Polizei und nicht den
Gemeindebehörden übertragen ist. Er ist der Ansicht, dafs in diesem
Staate der rechtliche Zustand nach der formellen und materiellen Seite
so gut geordnet ist, w ie das nur immer gewünscht werden kann. Für
ihn ist der preufsische Polizeiverwalter der geborene Träger der
Wohnungsinspektion, da er nicht nur seinem Gewissen, sondern auch der
Vorgesetzten Dicnslltchürde und ev. dem Zivil- und Strafrichter verant-
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Zur Litteratur Ul»cr die Wohnungsfrage.
529
wörtlich ist. Trotz dieser grofsen Verantwortlichkeit ist von seiten der
nach Herrn Zweigert so befähigten Polizei Verwaltungen, wie er selbst
zugeben tnufs, bis zum Jahre 1893 so gut wie gar nichts geschehen
und wird auch heutigen Tages erstaunlich wenig geleistet. Hat sieh
Herr Zweigert nicht einmal nach dem (irunde dieser Erscheinung gefragt?
Hatte er es gethan, so wäre ihm vielleicht der Gedanke gekommen, ilafs
diese Unthätigkcit gerade in dem Wesen »1er Polizei Verwaltungen be-
gründet ist, »lafs es nicht angeht, eine so eminent soziale Einrichtung,
wie die Wohnungsinspektion auf das Niveau polizeilicher Schutzmafsregcln
herabzudrücken und dafs ohne die aktive Teilnahme nicht nur der Ge-
meindeverwaltung, sondern auch der Bürgerschaft derartig lief in »las
wirtschaftliche l-eben »1er einzelnen eingreifende Mafsregeln undurch-
führbar sind.
Die Kapitel: Stadt er Weiterung und Bauordnung sind von
J. Stubben und B. Schilling für die „Untersuchungen'- des Vereins fm
Sozialpolitik bearbeitet worden ; das crstcrc von Stubben allein, das zweite
von beiilen gemeinsam. Stubben giebt im wesentlichen einen kurzen Auszug
aus seinem älteren gröfseren Werke, Der Städtebau, und berücksichtigt
dabei die neuere Gesetzgebung und Litteratur in ausreichender Weise.
Wesentlich neue Gesichtspunkte werden von ihm nicht aufgcslellt: «lie
Schrift hält sit:h in »len Grenzen des Berichtes. Interessante Daten ent-
hält der Abschnitt 1Y, in dem die Resultate einer Ent)uete in den
103 Städten des Deutschen Reiches mit mehr als 30000 Einwohnern
dargestellt sind. Die Schwierigkeiten, die den Gemeinden bei der Ein-
stellung und Durchführung ihrer Bebauungspläne seitens der staatlichen
Behörden gemacht werden, treten dabei in ein sehr helles Lieht. Auf
diesem Gebiete feiert der Itcschränkte Egoismus der staatlichen Kessort-
politik gerailezu Orgien. Aus der von Stubben und Schilling gemeinsam
verfafsten Schrift, Die Bauordnung, sei zunächst hervorgehoben, dafs
sich die Verfasser mit aller Entschiedenheit für eine „Reichsbauordnung"
ausspreclu'n. Eine solche Reichsbauordnung, die den Rahmen und die
Zielpunkte der örtlichen Bauordnungen zu bestimmen hätte, halten sie
nicht nur für möglich, sondern auch für höchst nützlich und erstrebens-
wert. In neuerer Zeit hätte das Sächsische Baugesetz den praktischen
Beweis dafür erbracht, dafs sich allgemein leitende Gesichtspunkte für ein
gröfseres Gebiet sehr gut in Gesetzesform bringen lassen. Selbstver-
ständlich müsse dabei der Ortsgesetzgebung das Recht weiterer Aus-
bildung gewahrt bleiben. Das ist allerdings ein sehr wichtiger Punkt,
da ja bekanntlich ein Erkenntnis des prcufsischen Oberverwaltungs-
gerichtes eine Verschärfung der Verordnungen höherer Instanz für
ebenso ungesetzlich erklärt hat, als eine Abschwächung derselben. In
sehr hübscher Weise stellen die Verfasser neben die „territoriale“ Ab-
stufung der Bauortlnungen, die man wohl treffender als die Abstufung
nach dem Ueberbauungsgradc bezeichnen dürfte, die Abstufung der liau-
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530
Littcratur.
Ordnung nach den Gebäudegattungen. Die meisten Bauordnungen sind
ja, soweit es sich um Wohnhäuser handelt, geradezu auf die Mietkasernen
zugeschnitten und erschweren durch die Uebertragung der zahlreichen
für diese Hausgattung unbedingt notwendigen Baupolizeivorschriften den
Kleinhau in ganz unnötiger Weise. Will man also den hygienisch und
sittlich viel wünschenswerteren Kleinbau befördern, so raufs man sowohl mit
Rücksicht auf den Ucberbauungsgrad der Grundstücke, wie auch auf die
eigentliche Bauausführung demselben wesentliche Krleichterungen zubilligen.
Das ist al>er bis jetzt nur in den allerwenigsten Städten geschehen.
Von ioo Städten mit mehr als 30000 Einwohnern mufsten 4/s die
Frage verneinen, ob ihre Bauordnung durch erleichternde Bestimmungen
den Bau von kleinen Häusern begünstige. Auch dort, wo solche Er-
leichterungen bestehen, sind dieselben höchst bescheidener Art, wie
Reihenbau in Gruppen auf dem Gebiete der offenen Bebauung, geringerer
Fensterabstand von der Nachbargrenze, kleinere Hoffläche, Verwendung
von Fachwerk, weniger scharfe Bestimmungen über die Anlage von
Treppen und Brandmauern etc. Anderseits soll die Bauordnung den
Bau von Mietkasernen ülrerhaupt erschweren, auf jeden Fall aber
ihre anstöfsigsten Zuge aus der Welt schäften. Das Z.usaminendrängen
zahlreicher Wohnungen auf eine Eitage und Anweisen derselben auf
eine Treppe z. B. läfst sich sehr einfach durch ein direktes Verbot
unmöglich machen, ln Karlsruhe und im Entwurf der neuen Metzer
Bauordnung werden für je zwei Wohnungen im gleichen Stockwerk eine
Treppe verlangt. Wie rückständig auf diesem Gebiete unsere Bau-
ordnungen sind, geht auch daraus hervor, dafs keine derselben die Ab-
schliefsbarkeit jeder selbständigen Wohnung nach aufsen hin fordert.
Ausführlicher l>ehandeln die Verfasser die wichtige E’rage der Gebäude-
abstände und Gebäudehöhe an Höfen. Mit Recht halten sie. wie auch
Baumeister und von Grubcr besondere Vorschriften über Hofgröfsen für
entbehrlich, sofern man nur über die Gebäudeabstände angemessene
Vorschriften erläfst. Baumeister verlangt bekanntlich solche Gebäude-
abstände, dafs durch dieselben ein Lichteinfallswinkel von 45” garantiert
wird. Damit würde den an Höfen belegenen Wöhnräumen inbezug
auf Licht- und Luftzufuhr dieselbe Lage wie den strafsenwärts ge-
richteten Zimmern gewährt werden. Wir müssen eine Reihe sehr
interessanter Abschnitte über die Zahl der Geschosse (Keller- und Dach-
wohnungen , die Be- und Entwässerung, die Aborte, die Rückwirkung
feuerpolizeilicher und konstruktiver Bestimmungen auf die Wöhnweise über-
gehen und heben hier nur noch den Satz hervor, dafs wir hinsichtlich der
Berücksichtigung sozialer Gesichtspunkte in den Bauordnungen uns
überhaupt erst in den Anfängen befinden. ,.I)ie Bauordnung ist in den
letzten Jahren eine E’rage der allgemeinen sozialen Wohlfahrt ge-
worden" — wir unterschreiben diesen Satz mit all seinen Konsequenzen
und stellen daher an unsere Gemeindeverwaltungen die Forderung, nun
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Zur Littcralur über <lic Wohnungsfrage.
53 1
aucli den sozialen Grundsätzen in den Hauordnungen zum Siege zu
verhelfen.
Die Bedeutung des Mietrechtes für die Wohnfrage untersucht
eine Abhandlung von Dr. F 1 e s c h und Z i r n d o r f e r (in Frankfurt a M.\
die diese Frage mit Rücksicht auf die deutsche Gesetzgebung behandeln,
und eine solche von Prof. P ferse he (Prag), der die österreichischen
Zustände darstellt. Wenn wir auch den beiden erstgenannten Verfassern
darin beistimmen, dafs die Ausgestaltung des Mictrechtes nach sozialen
Grundsätzen gröfsere Aufmerksamkeit, als bisher ihr zu teil geworden
ist, verdient, so schätzen wir doch den Kintlufs desselben auf die
Wohnungsfrage nicht so hoch ein, als sic es tliun. Ihre Vorschläge
laufen im wesentlichen auf die von Dr. Flesch schon früher litterarisch
vertretenen Forderungen hinaus. Auf der einen Seite wird eine der-
artige Umgestaltung des Mietrechtes verlangt, dafs dem Vermieter durch
schleunigen und billigen Mietprozefs und rasche Exekution die Rente
gesichert sei. Anderseits soll durch eine Unterscheidung zwischen
grofsen und kleinen Mietverhältnissen der Schutz des kleinen wirtschaft-
lich schwächeren Mieters erreicht werden. Zu diesem Zwecke wäre cs
notwendig, die Bestimmung der Minimalleistungen, die der Vermieter
machen mufs, und der Minimalanforderungen, die der Mieter gegen jeden
Mitmieter hat, unter den Schutz des öffentlichen Rechtes zu stellen.
Gekünstelt erscheint uns die Art und Weise, wie das Kahlpfändungs-
recht und der Schutz des beweglichen Eigentums des einen Ehegatten
gegenüber dem anderen in Beziehung mit der Wohnungsfrage gebracht
werden. Gcwifs sind Möbel und sonstiger Hausrat erforderlich, um eine
Wohnung wohnlich zu machen, aber ebensogut kann man diesen Satz
auch umdrehen. Und wenn nun Mieter die zum Wohnen notwendigen
Mittel durch Zwangsvollstreckungen verloren oder verkauft bezw. vergeudet
haben, so können wir in solchen Fällen keine direkte Beziehung der
Rechtsordnung zur Wohnungsfrage entdecken, wie es die Verfasser thun.
Die von ihnen vorgeschlagene weitere Ausdehnung der Pfandfreiheit
nach dem Vorbilde der amerikanischen exemtion laws und ebenso
der Schutz der Frau gegen eine Verschleuderung des zum Wohnen er-
forderlichen Mobiliars durch den Mann sind doch in erster Linie für
die soziale Existenz einer Familie, die sich allerdings zum guten Teil,
aber doch nur zum Teil in der Wohnung abspielt, von Bedeutung, da-
gegen eher geeignet, die Wohnungsnot zu verschärfen, soweit sie eine
Folge der Ablehnung bestimmter Mieterklassen durch die Vermieter ist,
als zu erleichtern
Mit dem Mietrechtsverhältnis und seiner Reform be-
schäftigt sich gleichfalls eine Schrift von Dr. Stier-Somlo, die in
der Sammlung von Abhandlungen „Die Wohnungsfrage und das Reich",
herausgegeben vom Verein Reichs-Wohnungsgesetz, erschienen ist. Der
Verfasser will prüfen, „wie weit das bestehende Mietrecht, der Miet-
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532
I.ittcratur.
pro/efs und die Zwangsvollstreckung gegen Mieter einer Sozialisierung im
Sinne fortschreitender gemäfsigter Sozialpolitik bedürfen". Seine all-
gemeinen Resultate decken sich im wesentlichen mit den Vorschlägen
der Ireiden vorgenannten Autoren. Das gilt z. B. für die Beschleunigung
des Miet prozesses und die Krrichtung von Mietschiedsgerichten, für die
Sozialisierung der Zwangsvollstreckung und die Berücksichtigung der Ver-
schiedenheiten der Mietverhältnisse. Beachtenswert ist sein Vorschlag,
die Räutnungsaufforderung zunächst durch besondere Wohnungsbeamte
ergehen zu lassen und erst bei Widerstand den Gerichtsvollzieher in
Aktion zu setzen. Im einzelnen unterwirft den Verfasser, die Be-
stimmungen des von dem Verband der deutschen Hausbcsit/ervereine
ausgearbeiteten Mietvertragsentwurfes einer scharfen Kritik und stellt im
Anschlufs daran eine Reihe von Sätzen auf, die über das Bürgerliche
Gesetzbuch hinaus itn Interesse des Mieters notwendig sind. Ks handelt
sich hier um die Aufhebung von Parteiabreden gegen die }JjJ 535 — 53S
des Bürgerlichen Gesetzbuches, die Wirkung nicht vertragsmäfsiger Be-
nutzung der gemieteten Sache auf Kündigung und Schadenersatz, das
Aufrechnungsrecht des Mieters, das Räumungsrecht und den Anspruch
auf Zahlung fälliger Mietraten, den Interessengegensatz zwischen Mieter
und Vermieter bei baulichen Veränderungen und Verbesserungen, das
Kiindigungsrecht des Mieters bei Nichtgcnchmigung der Aftermiete, die
Einbeziehung der Hausordnung in den Mietvertrag und den Ausschluß
der Verzugsfolgen. Den Vorschlägen des Verfassers wird man in den
Hauptpunkten zustimmen können. „Utopistisch“ würden dieselben aller-
dings nicht nur dem Zweifler, wie der Verfasser meint, sondern auch
dem praktischen Politiker insofern erscheinen, als eine Verwirklichung
derselben nicht nur an der Thatsache des Bürgerlichen Gesetzbuches,
sondern auch an dem zähen Widerstande der Hausbcsitzerklasse für
lange Zeit unüberwindbare Hindernisse finden dürfte. —
Wir kommen nunmehr zur Besprechung des zweiten Bandes der
Untersuchungen des Vereins für Sozialpolitik „Die Mafsnahmen zur
Kr Stellung und zur Forderung des Baues gesunder und
billiger k I e i 11er Woh n un gen". An der Spitze dieses Bandes steht
ein Beitrag des Prof. H. Al brecht, Bau von kleinen Wohnungen
durch Arbeitgeber, Stiftungen, gemeinnützige Baugcscll-
schaften und -Vereine, Baugenossenschaften und in
eigener Regie der Gemeinden, der auf Grund einer umfassenden
Sachkenntnis in klarer, nüchterner, vorurteilsloser Prüfung das Für und
Widct der Bauthätigkcit der Arbeitgeber und Korporationen erwägt und
zu sehr beachtenswerten Resultaten kommt, ln der Plage des Baues
von Wohnungen durch Arbeitgeber nimmt er den Standpunkt ein, der
von den fortgeschritteneren Sozialreforincrn vertreten wird. Kr hält die
Nachteile für so grofs, dafs er den Arbeitgebern empfiehlt, in anderer
Weise ihren Arbeitern Wohnungen zu verschallen. P'.r denkt da an die
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Zur Litte rat ur iiln-r <lii* Wohnungsfrage.
533
l'ebemahme von Aktien gemeinnütziger Ballgesellschaften, von Anteil-
scheinen vier Baugenossenschaften gegen die Gewährung des Rechtes,
eine entsprechende Zahl der von solchen Gesellschaften hcrgestellten
Wohnungen für ihre Arbeiter in Anspruch zu nehmen. Dabei mufs
aber in gleicher Weise wie bei den Wohnungen der Arbeitgeber selbst
dafür gesorgt sein, dafs der Arbeiter nicht nach Losung des Arbeits-
verhältnisses aus seiner Wohnung auf die Strafse gesetzt wird (wie im
Dresdener Spar- und Bauverein geschehen). Auch mit seiner Kritik der
„gemeinnützigen Bauthütigkeit" kann man im wesentlichen einverstanden
sein, ln trefflicher Weise werden die Gründe gegen das Eigenhaus-
system entwickelt und darauf hingewiesen, dafs besonders in den Fällen,
wo sich die bauenden Gesellschaften ein Vorkaufsrecht ausbedingen, < bis
oft in raffinierter Weise verklausulierte Eigentumsrecht des mit einem
Hause beglückten Käufers kaum noch einen Inhalt hat. Wozu also
dieser ganze Apparat, wenn man das Ziel viel einfacher auf dem Wege
des Mielsystems erreichen kann? Mit dem Mietsystem sind ja Ein-
und Zweifamilienhäuser ebensogut möglich als des Etagenhaus fiir das
in seiner hygienischen Form Rrof. Albrccht in berechtigter Weise ein-
tritt. Die Zahl der Organisationsformen auf dem Gebiete der gemein-
nützigen Bauthätigkeit ist eine sehr grofse. Davon tragen die Aktien-
gesellschaften, Gesellschaften mit beschränkter Haftpflicht, eine Anzahl
von Vereinen und Stiftungen den Charakter von Veranstaltungen, die
auf den Wohlthätigkeitssinn der besitzenden Klassen basiert sind, daher
auch stets nur ein sehr beschränktes Gebiet bearbeiten können. Ihnen
gegenüber stehen die von den Wohnungsbedürftigen selbst organisierten
( »enossenschaften, die ja in den letzten Jahren in den Vordergrund des
allgemeinen öffentlichen Interesses getreten sind. In zutreffender Weise
wird hcrvorgeholien, dafs das Arbeitsfeld der Baugenossenschaften gleichfalls
ein begrenztes ist. Sic setzen eine besser gelohnte, sozial höherstehende
Arbeiterklasse voraus, für die d'e erstgenannten Organisationsformen
wegen ihres Wohlthätigkeitscharakters veraltet sind. Ueber die prak-
tischen Resultate nicht nur der Genossenschaften, sondern der gemein-
nützigen Bauthätigkeit iilrerhaupt und ebenso über ihre Zukunftsaus-
sichten urteilt der Verfasser pessimistisch, aber durchaus zutreffend in
folgender Weise : „Wenn wir überblicken, was denn nun in Summa durch
die gesamte gemeinnützige Bauthätigkeit geschaffen ist, so werden wir,
wenn wir ehrlich sein wollen, offen eingestehen müssen, dafs das Ge-
samtresultat im Vergleich zu dem vorhandenen Notstand ein traurig
geringfügiges ist, und das wird auch, wenn wir uns in den bisherigen
Bahnen weiter bewegen, in absehbarer Zeit kaum viel anders werden.
Fiir uns, wie für die meisten, die sich mit dieser Frage eingehend be-
schäftigt haben, steht fest, dafs ohne eine gründliche Aenderung der
staatlichen Wohnungspolitik und ohne ein tlmtkräftiges Eingreifen der
Gemeinden, zu dem ja erfreulicherweise bereits die Ansätze vorhanden
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534
Litteralur.
sind, die Wohnungsfrage ungelöst bleiben wird. Wir betrachten die
gemeinnützigen Ballgesellschaften und die Baugenossenschaften nur als
die Pioniere, die zunächst einmal die Erfahrungen sammeln, auf denen
eine Wohnungsreform in gröfserem Stile weiter bauen kann, die durch
das Beispiel anregend wirken und den Massen der Wohnungsbedürftigen,
die in dem jahrelangen Wohnungselend fast schon den Mafsstab dafür
verloren haben, was ein gesundes und behagliches Heim für die ge-
samte Lebenshaltung bedeutet, erst wieder zum Bewufstsein bringen,
woran sie kranken.“ —
Ein thatkräftiges Eingreifen des Staates und der Gemeinden! Mit
der gleichen Forderung schliefst auch Landes rat Brandts seinen
Beitrag, der die „Beschaffung der Geldmittel für die ge-
meinnützige Bau t h ä t ig k e i t“ behandelt. Das freie Walten der
Spekulation in der Wohnungsfrage kann zu keinem guten Ende führen,
oder, wie er sich an anderer Stelle ausdrückt, auf dem Wege des absolut
freien Spiels der wirtschaftlichen Kräfte kann die Wohnungsfrage nicht
gelost werden, sonst müfste sie längst gelöst sein. Wie die Anlage und
Erweiterung der Städte mufs auch die Schaffung der erforderlichen
Wohnungen zu einer öffentlichen Angelegenheit werden. Als Ziel be-
zeichnet Brandts die weitestgehende Ausscheidung der spekulativen, mit
Boden- und Verkaufsspekulation verbundenen Bauthätigkeit aus der
Wohnungsproduktion und ihren Ersatz durch die Bauthätigkeit im Auf-
träge sei es des einzelnen Privatmannes, sei es der Konsumenten-
genossenschaften. Um das zu erreichen, bedarf es aller v iel weitgehenderer
Maßnahmen , als der Verfasser annimmt. Mit der Verbilligung der
Bodenpreise durch öffentliche Eingriffe, mit der Organisation der
Konsumenten, ja selbst mit der öffentlichen Regelung des Hypotheken-
kredits, so wertvoll alle diese Maßnahmen auch sein mögen, ist es
da nicht gethan. Dafür ist die Vorbedingung die Heraussetzung des
Grund und Bodens aus dem Getriebe der kapitalistischen Wirtschaft, dip
Kommunalisierung der Grundrente. — Landesrat Brandts geht davon
aus, daß die Produktion von Arbeiterwohnungen wesentlich hinter dem
Bedürfnis zurückgeblieben ist und daher eine „behördliche Anregung,
ja geradezu eine Prämiierung derselben erforderlich ist". Es fragt sich
nur, ob die behördliche Nachhilfe auch dem gewerblichen Wohnungsbau
oder nur dem gemeinnützigen Wohnungsbau zugewandt werden solle?
Mit anderen Worten soll auch das Baugewerbe, wie das ja stets von der
Organisation der Hausbesitzer gefordert wird, oder sollen nur die orga-
nisierten Konsumenten, denen der gemeinnützige Wohnungsbau zugute
kommt, subventioniert werden ? Eine Reihe von Prämien kommt nun
nach Ansicht des Verfassers auch für den gewerbsmäßigen Arbeiter-
Wohnungsbau und -Besitz in Betracht, nämlich einmal Mittel, die, wie
der Erlaß von Straßenbaukosten, Stempelkosten, Umsatzsteuer, Abstufung
der Bauordnungen, eine Verbilligung der Herstellungskosten bewirken,
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Zur Litteratur über die Wohnungsfrage.
535
und ferner solche Mittel, die, wie die Verminderung der Gebäudesteuer,
Abstufung der Gebühren etc., die jährlichen Abgaben von Arbeiter-
häusern herabsetzen. Eine Verbilligung der Mieten erwartet auch
Brandts nicht von diesen Mafsnahmcn, sondern nur eine Erhöhung der
Arbcitcrhausrcnte und von dieser Erhöhung einen lebhafteren Bau von
Arbeiterwohnungen. Irgend welche Gegenleistungen mit Bezug auf Höhe
der Mieten, Maximalbelegung etc. will er nicht verlangt wissen, da sich die
allgemeine Bauunternehmung nicht gern auf solche Bedingungen einläfst.
Das glauben wir gern ; denn, würde eine Erhöhung der Mieten ausge-
schlossen, so fiele auch jede spekulative Ausbeutung. Welcher Vorteil
aber den Mietern aus dieser ganzen Subvention erwachsen soll, ist uns
vollständig unklar, wenn eine Verbilligung der Mieten ausgeschlossen
ist. Den einzigen Nutzen hat das private Bauunternehmertum in der
gestiegenen Arbeiterhausrentc. Sehr viel scheint sich übrigens der Ver-
fasser nicht von diesen Subventionen zu versprechen; es bedarf nach
ihm einer noch weitergehenden Anregung, um die nötige Zahl neuer
Arbeiterwohnungen zu erhalten, nämlich „billiges und ausreichendes
Geld“. Für die Geldunterstützung sollen aber auch nach Brandts ge-
wisse Gegenleistungen übernommen werden, sie sollen nur dem „gemein-
nützigen Wohnungsbau“ zugute kommen. Worin besteht nun die Ge-
meinnützigkeit? Wir können die von dem Verfasser gegebene Definition
nicht gerade für sehr glücklich halten. Wesentliche und unwesentliche
Merkmale stehen ohne Ordnung durcheinander, vor allem aber fehlt es
an dem konstituierenden Merkmal. Dafs die zu bauenden Häuser
äufserlich architektonische Durchbildung zeigen müssen, ist doch sehr
nebensächlich. Ein mäfsiger Gewinn (was ist ein solcher mäfsiger Ge-
winn?) aus Hausbau, Hausmiete und Hausverkauf soll erlaubt sein, zu-
gleich aber die Häuser und Grundstücke möglichst dauernd der Speku-
lation entzogen werden. Jetier Hausverkauf auch mit mäfsigem Gewinn
bedeutet aber die Ausnutzung der steigenden Grundrente, eine Teilnahme
an den Gewinnen, die zum guten Teil durch die Thätigkeit tlcr Speku-
lation erzielt werden. Unseres Erachtens mufs das Hauptmerkmal der
gemeinnützigen Bauthätigkcit gerade der dauernde Verzicht auf die
steigende Grundrente sein. Die Mieten sollen nach den Selbstkosten
berechnet und nicht in Zeiten günstiger Konjunkturen erhöht werden.
Damit wird das allgemeine Steigen des Mietniveaus, das eine Folge der-
selben zu sein pflegt, durchbrochen; Inseln billiger Mieten aus der Hoch-
flut der kapitalistischen Ausbeutung gerettet. Wenn dann zunächst ein-
zelne Mietergruppen infolgedessen «len Vorteil besonders billiger Woh-
nungen geniefsen, so können wir darin kein Unglück sehen. Wir sehen
den Zweck der gemeinnützigen Bauthätigkcit nicht wie Brandts darin,
den Arbeitern für den sonst üblichen Aufwand eine geräumigere, bessere
Wohnung zu liefern. Eine geräumigere, bessere Wohnung für geringeren
Aufwand — das ist das zu erreichende Ziel, solange nicht das Einkommen
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536
Literatur.
der Arbeiterschaft derartig gestiegen ist, dafs der heute von ihr für
W ohnung aufzuwendende Teil desselben in das richtige Verhältnis zum
Ganzen gebracht ist.
Der zweite gröfsere Teil der Schrift ist der Darstellung der der
gemeinnützigen liauthätigkeit schon heute zur Verfügung stehenden oder
zu erschließenden Geldquellen gewidmet. Als communis opinio be-
zeichnet der Verfasser die Notwendigkeit der Zentralisierung der dir
den gemeinnützigen Wohnungsbau erforderlichen Geldmittel. Eine staat-
liche oder kommunale Bank, mit dem Hecht der Ausgabe öffentlicher
Obligationen oder staatlicher Pfandbriefe, in denen die Versicherungs-
anstalten, die Stiftungen, die Sparkassen u. s. f. einen Teil ihres Vermögens
anzulegen hatten, wäre geradezu die Bedingung für die rüstige Weiter-
entwicklung der gemeinnützigen liauthätigkeit.
Das grofse Gebiet der Mafsregeln, die von den Gemeinden
zur Unterstützung des Klcinwohnungsbaues getroffen
werden können, wird von Oberbürgermeister Beck- Mannheim in
ausführlicher Darstellung, von Oberbürgermeister Ad ick es mit spezieller
Bezugnahme auf die Thätigkeit der Frankfurter Stadtverwaltung be-
handelt. Beide nehmen in dieser Frage ungefähr denselben Standpunkt
ein. Als die natürlichste Form der Befriedigung des Wohnungsbedarfcs
bezeichnet der ersten? die Erstellung von Gebäuden mit mehreren Woh-
nungen durch Privatunternehmer und die Vermietung der nicht für den
eigenen Bedarf erforderlichen Räume zu Erwerbszwecken. Aus dieser
Auffassung folgt dann, dafs die gesamte „gemeinnützige Bauthätigkeit“,
um diesen Samtnelausdruck hier anzuwenden, nur als Ergänzung dienen
darf und aulzuhören hat, sobald die private Bauthätigkeit gesunde und
billige Kleinwohnungen in genügender Zahl liefert. Sie bestimmt dann
auch die Stellung, die die Gemeinden gegenüber den treidelt Arten von
Bauthätigkeit einzunchmen haben. Um das Privatkapital wieder für
den Kleinwohnungsbau zu interessieren, will er demselben aufser der
üblichen Verzinsung und Amortisierung und dem Ersatz aller Baraus-
lagcn (inkl. Gebäudesteuer) noch einen mäfsigen Reingewinn zugcstchen
und tritt daher entschieden für die steuerliche Begünstigung des Ar-
beiterhauses ein, ganz ohne Rücksicht darauf, ob die Häuser von der
privaten oder gemeinnützigen Bauthätigkeit errichtet sind. Eine Gegen-
leistung für diese Steuerprivilegierung privater Unternehmer oder Haus-
besitzer, die doch vor allem in der Festlegung der Mieten zu bestehen
hätte, lehnt er ebenso ab, wie Brandts. Seinen Glauben, dafs vielleicht
ein Teil der Steuerprivilegierung durch die Konkurrenz auch dem Mieter
zugute kommen würde, teilen wir durchaus nicht. Bisher hat alle Er-
fahrung gezeigt, dafs die errungenen Miethöhen bei den kleinen Woh-
nungen von den Hausbesitzern selbst in Zeiten schlechter Konjunktur mit
Erfolg verteidigt werden. Die Verbilligung der Bauplatzprcise durch eine
zielbewufste Bodenpolitik der Gemeinde, die Beschränkung des Ueber-
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Zur Litn ralur über die Wohnungsfrage.
537
bauungsgrades der Grundstücke, eine zweckentsprechende ( Gestaltung der
Bebauungspläne und Bauordnungen, und die steuerliche Beschränkung
des Boden wuchers und ebenso die Vereinfachung der Bauvorschriften
gesteht der Verfasser den beiden Arten der Bauthätigkcit in gleicher
Weise zu. Baudarlehen will er seitens der Gemeinden nur dann ge-
währt wissen, wenn sich der Grund und Boden im Obereigentum der-
selben Irefindet und im Wege des Erbbaurechts verliehen wird; weiter-
gehender Kreditgewährung durch die Gemeinden steht er sehr ab-
lehnend gegenüber. Die Mafsnahraen, mit denen die gemeinnützige liau-
thätigkeit ausschliefslich gefordert werden soll, beschranken sich daher
auf die Anregung zur Entstehung von Bauvereinigungen, Teilnahme an
der Konstituierung und Verwaltung derselben, Ueberlassung städtischer
Grundstücke als Baugelände und Uebernahmc der Bürgschaft für
Kapital und Zinsen solcher Bauvereinigungen, bei denen eine Kontrolle
durch die Gemeinde möglich erscheint. Der Eigenbau von Häusern
durch die Gemeinden oder andere öffentliche Verbände zur Befriedigung
des allgemeinen Wohnungsliedtirfnisses begegnet nacli dem Verfasser
mannigfachen Bedenken. Wir brauchen kaum zu erwähnen, dafs wir
der Gemeinde eine ganz andere zentrale Stellung auf dem Gebiete der
Hausung zunächst der arbeitenden Klassen, dann aber auch der ganzen
Bevölkerung zuweisen, daher ihre positive und negative Thätigkeit in
den Vordergrund stellen, die Unterstützung der gemeinnützigen Bau-
tätigkeit nur als subsidiäres Hilfsmittel betrachten, eine Subvention der
privaten Unternehmung aber vollständig ablehnen.
Der dritte Band der Untersuchungen des Vereins für
Sozialpolitik l>eschäftigt sich mit dem A U s 1 a n d e. I )en Beitrag
über die Schweiz halten wir bereits vorhin erwähnt. Frankreich,
Dänemark und Schweden sind von Prof. Al brecht, Belgien,
Nordamerika, Rufsland und Norwegen von ausländischen Mit-
arbeitern bearbeitet worden. Die Wohnungsfrage in England wurde von
Dr. C. Bö t z o w - Hamburg in sachgemäfser Weise behandelt. Es würde
sich empfohlen haben, auch die Leistungen der schottischen Städte, vor
allem Glasgows, dann auch Edinburghs zu besprechen. Die Sanierungs-
arbeiten des londoner Grafschaftrates finden eine eingehende Würdigung.
Eine Aufzählung derselben findet man aufserdem noch in einem eng-
lisch geschriebenen Bericht des ersten Architekten des Grafschaftsrates,
M r. R i i c y , der im Anhang abgedruckt ist. Wer sich in tiefer ein-
dringender Weise mit der Sanierungs- und Hausungspolitik und -Arbeit
des Londoner Grafschaftsrates und seines Vorgängers, des Metropolitan
Board of Works, beschäftigen will, der sei auf den Ende t <)oo veröffent-
lichten Bericht des Mr. C. J. Stewart, Clerk of the Council, T li e
Housing Qucstion in London, verwiesen, der das Material in
außerordentlich vollständiger M'cisc zusammenträgt und übersichtlich ver-
arbeitet. Mit englischen Zuständen beschäftigt sich auch das Buch
Archiv für so;. Gesetzgebung u. Statistik. XVII. 35
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53»
Littcratur.
v. Opp e n h e ime rs, „Die Wohnungsnot «ndiVolinungsreforra
in England“, das in fleifsiger Weise das englische Material verwertet,
ohne im wesentlichen Neues zu bringen. Als ein Vorzug des Buches mufs
es bezeichnet werden, dafs sich der Verfasser nicht darauf beschränkt,
eine trockene Aufzählung der Gesetze und eine ebenso trockene Wieder-
gabe ihres Inhaltes zu geben, sondern bestrebt ist, durch die Schilderung der
praktischen Anwendung der Gesetze seiner Darstellung Leben und Inhalt
zu geben. Man vergleiche z. B. die Beschreibung einer public inquiry
(pag. 39 ff.) und man wird zugeben, wie notwendig gerade bei den
englischen Zuständen eine solche Ergänzung des trockenen Gesetzes-
textes ist. Im allgemeinen hält sich der Verfasser an der Oberfläche
der Dinge ; ein tieferes Eindringen wird man oft vermissen. Man ver-
gleiche nur sein Kapitel: Die Dezentralisation und die Eisenbahnen mit
der gründlichen Behandlung, die der gleiche Gegenstand in dem vor-
trefflichen Buche L. Sinzheimers, „Der Londoner Grafschaftsrat", gefunden
hat. Seine Urteile sind daher unseres Erachtens häufig anfechtbar; so
ist das über die Resultate der privaten Baugesellschaften zu günstig und
die Bedeutung der Mifs Octavia Hill wie ihrer Bestrebungen wird von
ihm entschieden überschätzt.
An die Besprechung der bisher behandelten Schriften, die sich mit
den einzelnen Seiten des Wohnungsproblems beschäftigen, schliefsen wir
nun die einiger Bücher an, die einen Ueberblick über die gesamte
Wohnungsfrage zu geben versuchen. Da wäre zunächst die von K u -
rella veröffentlichte Broschüre Wohnungsnot und Wohnungs-
jammer zu nennen. Kurella ist Arzt und als Arzt neigt er, wie er
selbst sagt (p. 31 Note), dazu, Krankheitsursachen auf dem Wege der
Kasuistik, nicht auf dem der Statistik zu demonstrieren. In dieser Aus-
sage ist zugleich der Fehler angegeben, an dem seine Darstellung krankt :
über den einzelnen Erscheinungen, ihrer Beschreibung und Besprechung,
kommt das allgemeine in den Erscheinungen, die wirtschaftlichen Gesetze,
zu kurz. Bei dieser Ueberschätzung der Statistik kann es nicht wunder-
nehmen, dafs der wohnungsstatistische Teil des Buches entschieden der
schwächste ist. Kurella fordert als normales Minimum eine Wohnung,
die aufser einer Küche 3 Zimmer und 2 Kammern mit einem Luftraum
von mindesten zusammen 2 50 cbm und einer Grundfläche von mindestens
68 qm besitzt. Diese weitgehende Forderung läfst sich ja gewifs mit
Gründen der Ethik und Hygiene ohne weiteres verteidigen, für die
praktische Wohnungspolitik scheidet sie aber ebenso aus, wie die Forde-
rung der Bodenreformer nach Expropriation des gesamten städtischen
Bodens. Als Idealen, die in fernerer Zukunft ihre Verwirklichung finden,
kommt solcher Forderungen eine gewisse Berechtigung zu; sobald man
aber dieselben als Mafsstab der Kritik benutzt, kommt man zu leicht zu
Uebertreibungen, die nur die Sache, der man dient, gefährden können.
Was der Verfasser gegen die Wohnungskalamität vorschlägt, erschöpft
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Zur Littcratur über die Wohnungsfrage.
539
sich in den zwei Mitteln: Aufhebung der Ungleichheit des kommunalen
Wahlrechts und Recht der Städte auf unbeschränkte Expropriation des
Grund und Hodens. Da beide aber bei den politischen Verhältnissen in
Deutschland den Städten sobald nicht zu teil werden durften, empfiehlt
der Verfasser zunächst eine energische sanitäre Wohnungspolizei, Ankauf
von Grund und Boden, Erbauung preiswürdiger und technisch tadelloser
Wohnungen, bessere Gestaltung der Bebauungspläne durch die Ge-
meinden — Vorschläge, die sich mit denen anderer Wohnungsreformer
decken. Die Schrift ist lebendig geschrieben; das beste an ihr sind die
beschreibenden Partien.
Einen vortrefflichen Abrifs der Arbeitenvohnungsfrage giebt L. Sinz-
h e i m e r in einem Büchlein, „Die Arbeiterwohnungsfrage", das im wesent-
lichen eine Wiederholung einer Reihe von Münchener Volks-Hochschul-
vorträgen ist. Drei Seiten der Arbeiterwohnungsfrage sind darin in ge-
meinverständlicher Weise von dem Verfasser behandelt worden : die
Methoden der beschreibenden Volkswirtschaft in ihrer Anwendung auf
die Wohnungsfrage, die Geschichte der Arbeiterwohnungsfrage im Zu-
sammenhänge mit der Geschichte der sozialen Bewegung überhaupt und
endlich die praktisch in Betrarht kommenden Mittel der Abhilfe. Am
besten hat uns das Kapitel : Methoden zur Beurteilung von Wohnungs-
zuständen gefallen. Die Art und Weise, wie hier die statistische Methode
dem Verständnisse der Arbeiterschaft näher gebracht wird, wie die
durch die Statistik zusamraengetragenen allgemeinen Thatsachen gedeutet
und in ihrem Zusammenhänge mit der Gesamtheit der Erscheinungen
des Wohnungswesens, insbesondere auch der statistisch nicht fafsbaren,
dargestellt werden, ist geradezu musterhaft und vorbildlich. Ein aus-
führliches Kapitel macht die Arbeiter mit der englischen Wohnungspolitik
bekannt. Daran schliefst sich das Kapitel Geschichte der Gesetzgebung
und Verwaltung in Deutschland, das der Reihe nach die Wohnungs-
inspektion. die Neuerungen auf dem Gebiete des Enteignungsrechtes, den
Bau kommunaler und staatlicher Häuser, die Unterstützung der Bau-
thätigkeit aus öffentlichen Mitteln, das Eingreifen des Reiches und die
Bestrebungen des Vereins Reichswohnungsgesetz in kurzen knappen
Schilderungen vorfuhrt. Ein besonderes Kapitel ist den Baugenossen-
schaften gewidmet. Das Schlufskapitel sucht die zukünftigen Aufgaben
in Deutschland zu skizzieren. Die hohe Wertschätzung der Wohnungs-
inspektion, die aufs engste mit dem Wohnungsbau verbunden sein mufs,
teilen wir ebenso mit dem Verfasser, wie w ir davon überzeugt sind, dafs
die Formen der deutschen Wohnungsinspektion von Grund aus geändert
werden müssen. Und wenn wir auch die Bedeutung der Baugenossen-
schaften für die zukünftige Entwicklung des Wohnungswesens nicht so
hoch anschlagen, so stimmen wir um so mehr seiner Empfehlung kommu-
naler Logierhäuser nach englischem Muster, seiner Verurteilung jeder
Unterstützung des Wohnungsbaues der Arbeitgeber durch öffentliche Dar-
35*
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540
Littcratur.
lehen und seiner scharfen Abwehr der agrarischen Angriffe auf die
Freizügigkeit zu.
W ie notwendig aber die energische Abwehr aller Angriffe auf die
Freiziigigkeit durch alle Freunde sozialpolitischen Fortschrittes heutzutage
ist, das beweist aufs schlagendste die Schrift von I)r. H. Bingner,
„Wo hnungsfragc und Wo hnungspolitik in ihren Be-
ziehungen zur allgemeinen Sozial re form“, deren A und O
die Beschränkung der Freizügigkeit ist. Inwieweit die Bingnerschen
Vorschläge sich mit den Plänen decken, die in preufsischen Regierungs-
kreisen zur Wohnungsfrage ausgetiflelt werden, läfst sich natürlich schwer
feststellen ; wir können uns aber nicht des Verdachtes erwehren, dafs
das Elaborat des !)r. Bingner den Zwecken der W ohnungsaktion der
königl. preufsischen Regierung dient Fhitrechtung der Arbeiterklasse und
Entrechtung der Gemeinden sind die beiden Grtindzüge dieser Spott-
geburt einer Wohnungsreform. Zuziehende müssen von den Stadtgemeinden
abgewiesen werden, wenn sie nicht lieiin Anzuge nachweisen, dafs sie
entweder aus der Rente ihres Vermögens sich ihren Lebensverhält-
nissen angemessen völlig zu erhalten vermögen oder behufs Antritts
eines bereits vor dem Anzug vertraglich festgestellten Arbeitsverhält-
nisses zuziehen — das ist die Bingnersche Reform der Freizügigkeit.
Sie bedeutet für die vorwartsstrebende Arbeiterschaft die Aussperrung
von der Stadt. Um auch den Zuzug gelernter Arbeiter im Falle eines
nur wechselnden Bedürfnisses auszuschliefsen, soll „das' Arbeitsverhältnis
von Seiten des Arbeitgebers nur kündbar sein bei Unbrauchbarkeit des
Arbeitnehmers oder dauernder Einschränkung des Betriebes mit einer
Karenzzeit von 3 — 6 Monaten, während derer bei geminderter Thätig-
keit ein örtlich verschieden festzusetzender Lohn weiter zu zahlen wäre,
wenn nicht eine für die Arbeitnehmer kostenlose Ueberführung in einen
gleichartigen Betrieb mit denselben Durchschnittslöhnen als gleichwertige
Flntsehädigung erfolgt“ — das ist die Bingnersche Reform der Lohn-
verträge. Sie bedeutet den Ruin unserer Industrie, für die Arbeiter die
Aussperrung von der industriellen Arbeit ülrerhaupt. Auf gleicher Höhe
wirtschaftlicher und politischer Reaktion stehen die Bingnerschen Vor-
schläge für die F.rrichtung von Wohnungsämtern.
Damit nehmen wir Abschied von der Wohnungslitteratur von Jahres
1 <)o 1 , deren Leistungen alles in allein einen beträchtlichen theoretischen
Fortschritt bedeuten. Möge der gewonnenen F'rkenntnis die praktische
Bethätigung folgen. —
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Edel heim, John, Beiträge zur Geschichte der Sozial Pädagogik etc.
Edelheim, John, Dr.t Beiträge sur i Uschichte der Sozialpädagogik
mit besonderer Berücksichtigung des französischen Revolutions-
zeitalters. Berlin u. Bern, akad. Verlag dir soziale Wissen-
schafteil. Dr. John Edelheim. 1902. (223 S.) 8".
Eine „Geschichte der Sozialpädagogik“ wäre eine grofse und dank-
bare Aufgabe. Auch diese „Beiträge" sind dankenswert, da sie wenigstens
über eine wichtige Epoche neue und wertvolle Aufschlüsse bringen.
Mifsgliickt zwar ist der erste Abschnitt der historischen Darstellung,
der „die Sozialpädagogik bis zum französischen Revolutionszeitalter"
behandelt. Nach einigen eilig hingeworfenen Bemerkungen (4 Seiten)
über „die Sozialpädagogik der Naturvölker und 'des Orients" folgt ein
.eingehenderer Bericht über Plato, wesentlich nach Pohlmanns bekanntem
Buche und meiner (zuerst in dieser Zeitschrift erschienenen) Abhandlung
„Platos Staat und die Idee der Sozialpädagogik“. Dann geht es mit
Siebenmeilenstiefcln über Aristoteles, den Hellenismus, Rom, das Mittel-
alter (das mit zwei summarischen Urteilen von l.etourneau und Comte
abgethan wird), die Renaissance, den Jesuitismus und Jansenismus zur —
Erziehung Ludwigs XIV., für deren trevorzugte Behandlung ein tieferer
Grund, als dafs dem Verfasser gerade ein Buch darüber vorlag (Lacour-
Gayet, L'education politiipie de Eouis XIV), nicht zu erkennen ist. Rein
Wort dagegen von Morus, von Campanella, oder nur von Comenius,
dessen Grundsätze schwerlich ohne Einflufs auf die Theoretiker des
18. Jahrhunderts gewesen sind. 34 Seiten in Summa für die Sozial-
padagogik von Urzeiten bis zur Revolution sind gewifs wenig ; aber so
gefüllt sind sie noch zu viel. Der Leser thut daher besser, gleich mit
Abschnitt 11 zu beginnen ; auch im Interesse des Verfassers, damit
er an dessen eigentliche Arbeit nicht mit zu ungünstigem Vorurteil
herantritt.
Der zweite Abschnitt behandelt die sozial pädagogischen Theoretiker
vor (d. h. am Vorabend) der Revolution. Leider fallen für den gröfsteu,
Rousseau, nur ein paar Brocken ab, die nicht viel Ahnung davon be-
weisen, was dieser Mann war. Dafs der tiefe Soziologe, der den Grund-
satz aufstellt, „die Gesellschaft im Menschen, den Menschen in der Ge-
sellschaft zu studieren“, der den Begriff eines Moi commun, einer
volonte genirale, die nicht die volonte de tous sei, geprägt hat, als Päda-
goge für die soziale Seite der Erziehung blind gewesen sein sollte, hätte
sich dem Verfasser von Anfang an als volle Unmöglichkeit aufdrängen
müssen. Hätte er dann in das freilich als extrem individualistisch be-
rufene Buch, den Emile, einen Blick geworfen, so würde er gefunden
haben, dafs Rousseau die soziale Pädagogik im Grundsatz anerkennt;
dafs er Platos Staat die beste Erziehungsschrift nennt, die je geschrieben
sei, nicht ohne die Möglichkeit seines Ideals mit Nachdruck zu verleb
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542
Littcratur.
digen; dafs er also die blofs individuale Behandlung der Erziehung
keineswegs an sich für ausreichend halt, sondern sich zu ihr nur des-
halb entschliefst, weil er die bevorstehende Umwälzung der Gesellschaft
mit völliger Sicherheit voraussieht, und in dieser l.age einerseits nicht
die gegebene, für den Untergang reife gesellschaftliche Verfassung zu
Grunde legen mag, andererseits nicht Utopist genug ist, um etwa die
voraussichtlich kommende zum Fundament seiner Darstellung zu wählen.
So resigniert er sich schliefslich dahin : es gebe zur Zeit keine bürger-
liche Erziehung und könne keine geben, denn wo kein Vaterland, da
gebe es auch keine Bürger. Selbst so verleugnet seine Pädagogik nicht
die soziale Richtung seines Denkens. Sie bricht durch, wenn er die
allgemeine Arbeitspflicht behauptet („Jeder müfsige Bürger ist ein Be-
trüger“ — ein Ausbeuter, würde es heute lauten) ; wenn er das Recht
der Standes- und Klassenunterschiede in der Erziehung uneingeschränkt,
verneint („Was Menschen geschaffen haben, können Menschen zerstören,
nur die Natur prägt ihren Geschöpfen unauslöschliche Charaktere auf;
die Natur aber schafft weder Prinzen, noch Reiche, noch Vornehme . . .“) ;
wenn er „Menschheit" schlechtweg gleich „Volk" setzt („Das Volk ist
es, welches die Menschheit ausmacht; man nehme Könige und Philo-
sophen weg, man wird nicht viel davon merken; es wird um die
Menschheit deshalb nicht schlechter stehen“); und wenn er als Ab-
schlufs der Erziehung, wie selbstverständlich, einen gründlichen theoreti-
schen und praktischen Kurs in Soziologie fordert. Man mag einwenden,
das sei ein blofs s]>oradisches Aufleuchten besserer Einsicht. Aber
frei genialen Menschen sind einzelne Gedankenblitze oft wertvoller als
was zu breiter Ausführung gelangt. Uebrigens sehen diese Aeufserungen,
die über das sonstige Niveau seiner pädagogischen Erwägungen gleich
erratischen Blöcken emporragen, nicht nach blofseti vorübergehenden
Einfällen aus, sondern sie weisen auf eine wohlbedachte Ueberzeugung
des für radikale Theorie doch einmal hochbegabten Mannes hin. Und
das Zeitalter war für diese Ueberzeugung vorltereitet : diese Blitze
schlugen ein. — Auch ein Diderot hatte wohl auf etwas mehr, als
3 Zeilen in einer Anmerkung (S. 5;), Anspruch. Desgleichen war
Turgot nicht zu übergehen, dessen, wenn auch blofs knapp skizzierte
Grundidee der Nationalerziehung (s. Neymarck, Turgot, Vol. fl p. 76)
von Condorcet aufgenommen und bewunderungswürdig durchgeführt wurde.
Eingehend werden dagegen zuerst Helvetius und Holbach vorge-
führt. Ersterer hatte den mächtigen Kinflufs der sozialen Organisationen
auf die geistige Formung des Individuums wohl begriffen. Diese Er-
kenntnis verleitet ihn freilich zu weit übertriebenen Hoffnungen wegen
der pädagogischen Wirkung der auch von ihm erwarteten demokrati-
schen Verfassungsumwälzung. Nicht als ob er den Einflufs der öko-
nomischen Bedingungen rilierhaupt verkannt hätte, aber er denkt die
ökonomische Lage sell>st einseitig abhängig von der Staatsform, ln
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F. dclhcim, John, Beiträge 7 ur Geschichte <lcr Sozialpiicjagogik rtc. - J ^
der ganzen Darstellung des Verfassers ist der Doppelsinn des Sozialen
(ökonomisch — politisch) nicht genug beachtet.
Die genaueste Behandlung finden die Theorieen der Physiokraten.
Damit kommen wir zu dem besten Teil der Darstellung. Zwar über
Quesnay schliefst er sich eng an Onckens Artikel im Handwörterbuch
der Staatswissenschaften an. Ueber den älteren Mirabeau alrer konnte
er, aufser «lern von Knies herausgegebenen Briefwechsel mit Karl
Friedrich von Baden, einen durch Onckens Vermittlung ihm zugänglich
gewordenen ungedruckten Briefwechsel mit von Schefer, dem Minister
Gustavs III. von Schweden benutzen und so ganz Neues bieten. Be-
deutsam ist hier schon der schlichte Ausspruch des Prinzips, auf dem
alle soziale Pädagogik beruht: „Der Baum wird nur von seinen Wurzeln
gehalten. Die Wurzeln des Menschen sind seine Beziehungen zu anderen
Menschen.“ Die auf einen gesunden ökonomischen Kreislauf (Organi-
sation der gesellschaftlichen Arbeit und des Austausches der Arbeits-
produkte) gegründete Interessencinheit, die „aus der ganzen Nation eine
einzige Familie macht", ist zugleich der wesentliche Inhalt und das reale
Fundament der Bildung, die ihrerseits, über die ganze Nation verbreitet,
eine Hauptstütze der gesellschaftlichen Ordnung ausmacht, ja die allein
„aus einem Volk eine Nation macht". Das Bedeutsame liegt hier, wie
mir scheint, in folgendem: 1) der fast ausschliefslich ökonomischen
Auffassung der Gesellschaft und also der gesellschaftlichen Bildung, die,
abgesehen von den Fllementarfächern , rein auf die Grundsätze des
Physiokratismus beschränkt wird; womit 2) in einem interessanten Zu-
sammenhang steht die Auffassung des sozialen Lebens ausschliefslich
nach dem Vorbild der Familie ; ich glaube wenigstens (in meiner Sozial-
pädagogik) bewiesen zu haben, dafs die Organisationsform der Familie,
des oikos, mit der ökonomischen Grundform der Gemeinschaft Rege-
lung des sozialen Trieblebens d. i. der sozialen Arbeit und Verteilung
des Arbeitsertrags) in einer tiefbegründeten Beziehung (nicht blofs nach
Seiten der Erziehung) steht; 3) in der statischen, nicht dynamischen
Vorstellung des sozialen Lebens, d. h. in der Meinung von einer ewigen,
unabänderlich identischen „Natur" der Gesellschaft, die, ähnlich wie bei
Plato, keine Entwicklung zu höheren und höheren d. h. mehr differen-
zierten und wiederum zentraler geeinten Organisationsformen, sondern
nur Schwankungen um eine Gleichgewichtslage, zeitweilige Störung und
Wiederherstellung einer normalen Verfassung, gleichsam Erkrankung und
Wiedergesundung des sozialen Körpers kennt. Auch das hängt mit der
Einseitigkeit des Ausgehens von den „natürlichen", nämlich blofs öko-
nomischen Grundlagen der Gesellschaft zusammen. Denn schon der
soziale „Wille", die selliständige Ausprägung der „Form“ des sozialen
Lebens, vollends der Standpunkt der sozialen „Vernunft“, welche Wirt-
schaft und Recht als blofse dienende Mittel auf das unendlich ferne
Ziel der geistigen, sittlichen, ja ästhetischen Vollendung des Menschen-
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544
l.ittcratur.
tums in der Gemeinschaft bezieht, in dieser Unterordnung aber not-
wendig als umwandelbar und fort und fort umwandlungsbedurftig er-
kennen lehrt, führt über die blofs statische Auffassung zwingend hinaus,
zum Sozialismus der „unendlichen Aufgabe" und damit zum einzig halt-
baren Begriff sozialer Entwicklung. Der Physiokratismus ist daher bc-
deutsam gerade durch die unbeirrte Verfolgung seiner Einseitigkeit, die
Iresonders deutlich nach pädagogischer Richtung in der naiven Konse-
quenz zu Tage tritt, dafs nicht nur der Inhalt der sozialen Bildung im
physiokratischen Katechismus ein für allemal festgelegt, sondern eine
fortdauernde soziale Erziehung geleistet werden soll durch eine nach
chinesischem Muster täglich erscheinende Zeitung, die „von einem Tri-
bunal hoher Mandarinen redigiert wird und für deren Richtigkeit und
Genauigkeit die Autoren mit ihrem Kopf bürgen“. Ein Quesnay und
Mirabeau hätten diese Haftpflicht treuherzig übernommen. Aber solche
Irrtumsfreiheit ist nicht über-, sondern untermenschlich. Irren allein ist
menschlich.
Kaum minder belehrend ist die 1775 für den König von Schweden
aufgesetzte Denkschrift De l'instruction publique von Mercier de la
Riviere, deren Inhalt der Verfasser ebenfalls genau darlegt. Er will darin
nur eine verflachende Popularisierung der Lehren von Quesnay und
Mirabeau sehen. Aber sein eigener Bericht beweist, dafs man es viel-
mehr mit einem Versuch zu tliun hat, über die Einseitigkeit des Physio-
kratismus durch Aufnahme Rousseauscher Ideen hinauszukommen.
Mercier lehrt zunächst mit bemerkenswerter Bestimmtheit die Wechsel-
abhängigkeit der „öffentlichen Meinung", d. h. der in einer gegebenen
Gesellschaft vorwaltenden , insbesondere ethischen und zwar sozial-
ethischen Denkrichtung von der Gestaltung der sozialen Organisationen,
und umgekehrt ; woraus der Verfasser (freilich ohne deutlich zu machen,
ob er auch darin die eigenen Formulierungen seines Autors wiedergiebt
oder Eigenes hinzuthut) jedenfalls sachlich richtig jene Doppelseitigkeit
der sozialpädagogischen Theorie folgert (S. 114), die ich kurz so aus-
gedrückt habe, dafs sie zum Gegenstand habe „die sozialen Bedingungen
der Bildung und die Bildungsbedingungen des sozialen Lebens“. Wenn
aber Mercier auf dieser Grundlage den Idealbegriff der Gemeinschaft
definiert als die Vereinigung einer Vielheit von Menschen, der zufolge
sie „einen und denselben Willen“ habe und gewissermafsen „ein einziges
Individuum" ausmachc, so liegt, wie noch in einer Reihe weiterer Mo-
tive, der Gedanke an Rousseau so aufserordentlich nahe, dafs man sich
wundert, beim Verfasser nirgends auch nur die Frage seiner Stellung
zu diesem aufgeworfen zu finden. Jedenfalls führt eine so ausdrückliche
Anerkennung des Gemein wi I len s über die blofse „Int er esse nein-
heil" Mirabeaus grundsätzlich hinaus. Die Steigerung des Einheits-
charakters der Gemeinschaft von der „einzigen Familie“ zum „einzigen
Individuum" ist ebenfalls unwidersprechlich. Und nun halte man daneben
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Edel he im, John, Beiträge zur Geschichte der Sozialpädagogik etc.
Rousseaus volontt gintrale und Moi commun : wer kann da an Zufall
glauben ?
Viel weniger wichtig sind die Ideen des Dupont de Nemours, die
der Verfasser ebenfalls in ziemlicher Breite vorfuhrt, obgleich er selbst
ihnen „geringes theoretisches Interesse" zuschreibt. Sic ergehen sich
mit Vorliebe in phantasievoller Ausmalung von Einzelheiten äufserlichster
Art, wie Nationalfeste, Nationaltracht u. dgl.
Abschnitt III hat zum Gegenstand die Sozialpädagogik während der
Revolution. Hier verläfst sich der Verfasser wieder fast durchweg auf
seine, im allgemeinen ja gut unterrichteten Gewährsmänner: Duruy,
Compayre, Hippeau u. a. Er berührt kurz die Cahiers , die mit be-
merkenswerter Einhelligkeit die (demokratische) Organisation der
„Nationalerziehung“ fordern ; dann den ganz liberalistischen Entwurf des
jüngeren Mirabeau und den schon radikaleren Talleyrands. Diesem
wird übertriebenes Lob gespendet. Soll einmal die „Tiefe“ der sozialen
Erfassung der Erziehungsaufgabe den Ausschlag geben, so gebührt dem
nur wenig jüngeren Entwurf Condorcet sicher der Vorrang. Der Ver-
fasser scheint von diesem nur den der gesetzgebenden Versammlung
vorgelegten Rapport , nicht die ausführliche Abhandlung Sur Pinstruc-
tion publique ( Oeuvres , Vol. V/f) zu kennen, den ich meiner Dar-
stellung (Monatshefte der Comcnius-Gesellschaft, 1894) zu Grunde ge-
legt halie. (Dieser Aufsatz ist dem Verfasser entgangen, obwohl er z. B.
in der so fleifsig von ihm benutzten Abhandlung über Plato citiert ist)
Condorcet kommt bei ihm schon dadurch zu kurz, dafs er, nach der
Behandlung des jüngeren Mirabeau und Talleyrands, nicht fortfahrt die
einzelnen Entwürfe vorzuführen, sondern unter einer Anzahl sachlicher
Rubriken allemal die Auffassungen sämtlicher weiter in Betracht kom-
menden Theorieen oder Gesetzentwürfe zusammenstelit; ein Verfahren,
welches er schwerlich auf Condorcet miterstreckt hätte, wenn er die
grofse Einheitlichkeit gerade seines sozialen Erziehungsplanes sich zum
Bewufstsein gebracht hätte. So will er auch den „ersten Plan einer
University-Extension“ bei l.anthenas finden (S. 168), während gerade in
diesem Punkte Condorcet mit sehr weitgehenden Vorschlägen voran-
gegangen war.
Soviel vom historischen Inhalt des Buches. In theoretischer Hin-
sicht fordert unsere Aufmerksamkeit zunächst die Einleitung, wo der
Verfasser sich, in der Absicht den Begriff der Sozialpädagogik genau
zu umgrenzen, vorzugsweise mit meinen darauf bezüglichen Aufstellungen
auseinandersetzt. Er erkennt meine oben schon berührte Bestimmung
der Aufgabe der Sozialpädagogik als „im allgemeinen“ richtig an, findet
aber die specielle Durchführung in mehreren Punkten anfechtbar.
1. Wenn ich die Schule als eine eigene Form der bildenden Gemein-
schaft behandle, so sei das Soziologie der Pädagogik, nicht Sozialpäda-
gogik. (Aller, wenn die allgemeine Definition gelten soll, so gehört die
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Kitleratur.
Untersuchung der Organisationsformen der Bildung und des Einflusses,
den sie el>en als Organisationen auf die individuelle Entwicklung üben,
zweifellos zur Aufgabe der Sozialpädagogik, besonders, sofern diese Or-
ganisationen als eingegliedert in die gesamte soziale Organisation und
als deren Ausflufs und Ausdruck ins Auge gefafst werden, wie ich es
that.) 2. Ich behandle die Pädagogik des sittlichen Willens unter Vor-
aussetzung der Gemeinschaft ; das sei vielmehr Sozialethik. (Ich habe
im zweiten Teil meines Buches die Sozialethik als Voraussetzung der
Sozialpädagogik, nicht direkt als solche behandelt; die Pädagogik des
sittlichen Willens aber, sofern sie als hauptsächlich erziehende Macht
die Gemeinschaft erweist, fällt direkt unter den vom Verfasser aner-
kannten allgemeinen Begriff.) Besonders aber 3. findet er auszusetzen,
dafs ich überhaupt die ganze Pädagogik in Sozialpädagogik aufgehen
lasse, eine individuelle Pädagogik mit eigenen, nicht blofs abgeleiteten
Rechten neben der sozialen nicht anerkenne. Die individuelle und
soziale Pädagogik stehen nach dem Verfasser sich ergänzend nebenein-
ander. (Aber gegen diese dualistische Ansicht glaube ich entscheidende
Gründe in meinem Buche geltend gemacht zu haben. Meine, sagen
wir monistische Auffassung folgt, wenn nicht direkt aus meiner Defi-
nition der Sozialpädagogik selbst, dann aus den wesentlichen Voraus-
setzungen, aus welchen sie hergeleitet wurde.! Der Verfasser weist
seinerseits (S. 19) der sozialen Pädagogik folgende Aufgaben zu: 1. Die
Bedeutung der Erziehung, der individuellen wie der sozialen, für Be-
stand und Fortschritt der Gesellschaft. 2. Die Beziehung der Gesell-
schaft zu dem Problem der individuellen Erziehung im Hinblick a) auf
die Grenzen der Wirksamkeit des Staates und der Gesellschaft auf
diesem Gebiet, b) die quantitative und qualitative Verbreitung der Er-
ziehung auf die Massen. 3. Das Problem des unbewussten erziehlichen
Einflusses des gesellschaftlichen Milieus auf die Erwachsenen. 4. Die
Beziehung der Gesellschaft zum Problem der sozialen Erziehung, d. h.
der Erziehung für eine bestimmte Gesellschaftsordnung, mit entsprechen-
der Untereinteilung wie unter 2. Mir will die Logik dieser Einteilung
nicht klar werden. Zwar nur ein etwas undeutlicher Ausdruck ist „indi-
viduelle“ und „soziale“ Erziehung für Erziehung in individueller, in
sozialer Absicht. (Man ist geneigt zu verstehen: Erziehung auf dem
Wege individueller bezw. sozialer Einwirkung.) Aber jedenfalls zu eng
wird die „soziale" Erziehung verstanden als „Erziehung für eine be-
stimmte Gesellschaftsordnung", der dann wohl als individuelle Erziehung
gegenüberstände die Erziehung des Individuums nur für sich selbst.
Ist das die Meinung, so versteht man nicht, welche Bedeutung die
individuelle Erziehung für Bestand und Fortschritt der Gesellschaft haben
soll, und inwiefern sie, umgekehrt, die Gesellschaft als solche angeht.
Andererseits erscheint die Bedeutung der „sozialen" Erziehung für- die
Gesellschaft nach dieser Fassung des Begriffs dermafsen selbstverständ-
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Kd el heim, John, Beiträge /ur Geschichte der Sozia) pädagogik rtc. 5^7
lieh, dafs man zweifelhaft wird, wieso sie überhaupt noch ein Problem
bilde. Man versteht ebenfalls nicht, inwiefern auf dem Gebiete der so
verstandenen sozialen Erziehung dem Einflufs der Gesellschaft Grenzen
zu setzen seien; die Erziehung für die Gesellschaft, sollte man denken,
gehe die Gesellschaft auch ganz an. Demnach wollen Nr. 1 und 2
sowie die Untereinteilung unter 4. nicht verständlich werden. Vollends
unglücklich steht zwischen den einander parallel gedachten Hauptnurn-
mern 2 und 4 das Problem des unbewufsten erziehlichen Einflusses des
Milieus auf die Erwachsenen; wobei nicht einleuchtet, weshalb der un-
bewufste vom bewufsten Einflufs, und der unbewufste Einflufs auf die
Erwachsenen von dem auf die Kinder (oder werden diese etwa nur
bewufst erzogen?) getrennt werden soll.
Aber vielleicht verstehen wir uns nur nicht über die Ausdrücke.
Ich versuche datier lieber in Kürze meine Auffassung zu präzisieren.
Unmittelbar sind es jedenfalls Individuen, die erzogen werden, und un-
mittelbar geschieht auch die erziehende Einwirkung durch Individuen.
Auch baut sich im Bewufstsein des Einzelnen aller Inhalt seiner Bildung
zunächst als seine eigentümliche, individuelle Welt auf. In allen diesen
Bedeutungen ist überhaupt jede Erziehung individuell. Nun aber wird
behauptet: da Cs aller Inhalt der humanen Bildung der Individuen zuletzt
der Gemeinschaft entstammt; dafs alle erziehende Einwirkung auf die
Individuen zuletzt unter dem entscheidenden Einflufs der Gemeinschaft
steht; dafs schliefslich auch das Bewufstsein des Individuums, sofern es
zu seiner normalen Entfaltung gelangt, sich über die Enge der blofs
individuellen Ansicht notwendig erhebt. Insofern ist wiederum alle Er-
ziehung der Idee nach, aber auch faktisch in verschiedenen Graden der
Annäherung, sozial. Also kann von keinem blofsen Nebeneinander der
individuellen und sozialen Pädagogik die Rede sein, sondern die indi-
viduelle Ansicht der Erziehung beruht ganz und gar nur auf einer in
ihren Grenzen zulässigen und nützlichen, aber schliefslich zu über-
windenden Abstraktion ; die komplete Ansicht der Erziehung ist die
soziale. Von diesem Standpunkt würde aber die Einteilung der Sozial-
pädagogik schwerlich so ausfallen können wie bei dem Verfasser.
Ueber dessen .sozialpädagogische Denkrichtung geben weiteren Auf-
schlufs die „Schlufsbetrachtungen". Ein kritischer Rückblick auf die
liochsinnigen Entwürfe des Revolutionszeitalters führt zu dem Ergebnis,
dafs der Erziehung ein mächtiger Einflufs auf ganze Völker zwar an
sich wohl zukommt, aber nur die durch viele Generationen fortdauernde
Einwirkung eines und desselben Erziehungssystems grofse Erfolge er-
warten läfst. Die Hoffnung, durch verbesserte Erziehung sozusagen von
heute auf morgen eine neue Gesellschaft bilden zu können, hat sich
trüglich erwiesen. Noch heute liegt die Hauptschwierigkeit in der
Indifferenz der Massen in Erziehungssachen, der durch unermüdliche
Popularisierung der Pädagogik entgegenzuwirken ist. Einseitig ist auch
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548
Littcratur.
die Meinung, dafs Staatszwang in der Erziehung alles vermöge. Eine
gewisse Freiheit mufs der Privaterziehung bleiben, schon weil sonst Re-
formideen sich nicht erproben könnten. (Das will auch nicht einleuchten.
Mit dem Prinzip der Staatsschule ist Erprobung von Reformideen an sich
wohl vereinbar. Ist Verstaatlichung z. B. der Verkehrsmittel notwendig
ein Hemmnis des Fortschritts? Verstaatlichung mufs nicht Uniformierung
oder einseitige Zentralisation bedeuten. Dezentralisation ist kein
Widerspruch gegen Oeffentlichkeit.) Der Revolutions-Grundsatz der All-
gemeinheit der Elementarbildung ist durchgedrungen. Es bleibt eine
ähnlich allgemeine Verbreitung der mittleren (und selbst der höheren!
Bildung zu erstreben. Hier verweist der Verfasser auf die Volkshoch-
schulbewcgung. Er leugnet nicht, dafs die entscheidende Vorbedingung
die Umwandlung der sozialen Ordnungen wäre, in welcher Beziehung
er, aufser auf meine Sozialpädagogik, auf Diesterweg hinweist, und von
diesem das Wort citiert: „Teilnehmende Sorgftdt für die leiblichen Be-
dürfnisse der unteren Klassen, aus freiem Antriebe, aus Gerechtigkeit
und Humanität: Für den braven Mann giebt es kein Privatglück mehr
ohne öffentliches Wohl“ (Beiträge zur l^ösung der Lebensfrage der
Civilisation, 1837). Nur hält der Verfasser auch hier seinen Einwand
aufrecht, dafs das zur Sozialpolitik, nicht zur Sozialpädagogik gehöre. —
Zum Schlufs behandelt er noch die Frage: Moral- oder Religionsunter-
richt? Er entscheidet sich wesentlich im Sinne meiner Aufstellungen.
Moraldogmen sind nicht besser als religiöse; auf unparteiische sozial-
politische Belehrung kommt es an, auf Grund deren der Lernende dann
seine Wahl selbst zu treffen hat. Wozu ich nur hinzuzusetzen finde,
dafs auch eine genügend tiefe sozialwissenschaftliche Belehrung den
religiösen Faktor nicht umgehen kann, aber auch nicht dogmatisch
Partei nehmen, sondern nur unbefangen die Thatsachen vorfuhren, für
die darin liegenden Probleme das Verständnis öffnen, und die metho-
dischen Handhaben zu ihrer dereinstigen selbständigen Entscheidung
vorbereiten wird.
Im ganzen läfst das Buch viel guten Eifer und Verständnis für die
Bedeutung der Aufgabe erkennen. Und wenn allerdings weder die
historische Untersuchung gründlich genug geführt, noch die theoretische
Vertiefung der Schwere der Probleme ganz gewachsen ist, so ist immer-
hin einige nützliche Vorarbeit geleistet, und für den Weiterstrebenden
Ansätze und Anregungen genug in dem Buche zu finden. Es verlohnt
also woltl der Mühe, es zu lesen.
Marburg.
P. NATORP.
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Der Stahlarbeiterstrike vom Sommer 1901 und
seine Lehren.
Ein Beitrag zum Verständnis des amerikanischen
Kapitalismus.
Von
HEINRICH WAENTIG.
Motto:
A pnnciplc is a jguod thing to hght for.
not to live on.
Ellen Glasgow.
1 . Einleitung.
Wer von Philadelphia durch den „Garten Pennsylvanias" west-
wärts streifend, die Alleghenies überschreitet, kommt in ein Land,
das im Volksmunde den bezeichnenden Namen „the black country“
führt. Ueber waldige Höhenzüge, entlang an Kohlengruben und
Kokereien, Hochöfen und Stahlwerken führt ihn sein Weg, bis er
endlich da, wo Monongahela und Allegheny sich zum Ohio ver-
einigen, das Zentrum dieses Gebietes erreicht. Hier war es, wo
1704 französische Kanadier Fort Duquesne errichteten, das wenige
Jahre später ihren Rivalen zum Opfer fiel; hier, wo 1765 dann eng-
lische Kolonisten Pitt zu Ehren eine Stadt seines Namens grün-
deten, die, zunächst der Stapelplatz eines ausgebreiteten Indianer-
handels, bald zu einer gewissen Wohlhabenheit, als „Iron City" zu
unermefslichem Reichtume aber erst dann gelangte, als sich heraus-
stellte, dafs sie im Herzen eines der mächtigsten Kohlenbecken der
Welt gelegen sei. Ein Reichtum, von dem man sich übrigens heute
auch durch den Augenschein überzeugen kann, wenn man, den Lärm
und Schmutz der in ewig undurchdringlichen Qualm gehüllten Thal-
sohle des träge dahin schleichenden Monongahela hinter sich lassend,
zu den villenbedeckten, luftigen Uferhöhen emporklimmt.
Archir Tür soi. Gesetzgebung u. Statistik. XVII. 3**
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550
Heinrich Waentig,
Der grofse Stahlarbeitcrstrike, der damals im ganzen Osten die
Gemüter erregte, war schon im vollen Gange, als ich nach langer
Fahrt an einem heifsen Juliabende des vergangenen Jahres unter
dem grellen Scheine lohender Bessemer Converter, die gleich riesigen
Fackeln in die Nacht hinaus leuchteten, in Pittsburg meinen Einzug
hielt. Doch wie wenig glich das Bild, das sich mir darbot, dem-
jenigen, das ich im stillen erwartet hatte! Auf Strafsen und Plätzen
eine lustige, zuversichtliche, sonntäglich gekleidete Menge, ruhelos
auf und ab wogend; vor den Bars und Zeitungsredaktionen lachende
Gruppen, die neuesten Ereignisse vom Kriegsschauplätze diskutierend
und neugierig nach den Extrablättern haschend, die in nie ver-
siegender Flut von heiseren Newsboys ausgeboten werden ; draufsen
vor der Stadt aber, an den Flufsufern und auf den Höhen weifse
Zeltreihen, die camps feiernder Strikcr, die sich mit Weib und Kind
aus der schwülen Enge sonnendurchglühter Stahlwerke hinaus in
die freie Natur geflüchtet haben ! •) Später sind dann freilich trübe
und ernste Tage gefolgt, die ich nicht mehr mit erlebt habe. Und
.als ich ein halb Jahr später nach Pittsburg zurückkehrte, um jetzt
in eisigem Schneegestöber forschend von VV'erk zu Werk zu wan-
dern , da war die Pintscheidung längst gefallen und fast nichts ge-
mahnte mehr an die heifsen Sommertage mit ihrem Glauben und
Hoffen.
Dennoch wäre es zu bedauern, wenn die Ereignisse jener Zeit
ungenützt der Vergessenheit anheimfallen sollten. Nicht halb so
dramatisch wie der oft citierte Homesteadstrike von 1892, der in-
folge des unglückseligen Eingreifens gemieteter Söldlinge zu einer
blutigen Schlacht ausartete; viel begrenzter auch als der grofse
Pullmanstrike von 1894, der infolge der Beteiligung der American
Railway Union über weite Bezirke einen völligen Stillstand von
Handel und Wandel herbeiführte; überragt der Stahlarbeitcrstrike
von 1901 doch beide bei weitem an wissenschaftlichem Interesse.
Denn die Ursachen, aus denen er hervorging, das Objekt, das auf
dem Spiele stand, die Bedingungen, unter denen er verlief, und die
Gründe, aus denen er schliefslich verloren wurde, gewähren einen
tiefen Piinblick in das Wesen, die Triebkräfte und die Entwicklungs-
tendenzen des amerikanischen Kapitalismus, dessen genauere Erfor-
schung trotz seiner Bedeutung bisher fast ganz vernachlässigt worden
rj Vgl. dazu die Schilderung Gilson Willct’s in Collicr’s Weekly vom 3. August
1901, p. 7, 1 7 f . : The strikt* of the Steel Workers.
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Der Slahlarbeiterstrike vom Sommer 1901 und seine Lehren.
551
ist. Vielleicht gelingt es mir, im Folgenden ein Weniges zur Aus-
füllung dieser Lücke beizutragen.
2. Die Vorgeschichte.
Daß auch der Stahlarbeiterstrike von 1892, der sog. Home-
steadstrike , 1 ) im letzten Grunde ein l’rinzipienstreit , kein blofser
Lohnkampf gewesen sei, hat Ca roll D. W right jüngst wieder
betont. „Der Kampf“, bemerkt er, „wurde thatsächlich durch-
geführt, weit mehr um Anerkennung zu erzwingen, als um irgend
einer anderen Ursache willen. Gewifs, die Lohn- und Preisfrage
existierte; aber sie war untergeordnet. Und der Entschluß auf der
einen Seite, den Einflufs der Amalgamated Association zu brechen,
und auf der anderen, ihn zu kristallisieren und zu erhalten, war der
wirkliche Streitpunkt." *) Das ist bis zu einem gewissen Grade
richtig und deshalb bildet der Ausstand von 1901 halb und halb
die Fortsetzung des früheren Kampfes, wenn auch natürlich unter
veränderten Verhältnissen und auf höherer Stufenleiter. Denn klar
und völlig unvcrhüllt wird diesmal die grol'sc Prinzipienfrage in den
Vordergrund gestellt. 3) Und dennoch standen, allem äußeren
Scheine zum Trotz, in diesem wie in jenem früheren Falle, sehr
vitale Interessen zur Entscheidung. Ja, der schliefslichc Konflikt
war von seiten der Arbeiter so wenig um eines leeren Prinzipcs
*) Ueber diesen vgl. besonders Annual Report of the Secretary of Internal
Affairs of the Commonwealth of Pennsylvania, Part III, Industrial Statistics, Vol. XX,.
1892. Harrisburg 1S93, I), p. I ff. — CaroII D. Wrigbt. The Industrial Evolution
of the United States, London 1S96, p. 309 tf. — Derselbe, The National Amalgamated
Association of Iron, Steel and Tin Workers 1892 — 1001 in The Quarterly Journal of
Economics, Vol. XVI, Nov. 1901, p. ll ff. fSep.-Abdr.) und die daselbst citierte
Littcratur.
*) Wright, The National Amalgamated Association, p. 25.
a) „We arc fighting for a principle,“ heilst cs im Amalgamated Journal, dem
ofti/.iellcn Organ der Amalgamated Association of Iron, Steel and Tin Workers, „for
the cause of humanity pure and simple.** Ja, gelegentlich wird die Stellungnahme
des Verbandes und seines Leiters sogar mit derjenigen des amerikanischen Volkes
und seines Präsidenten in dem spanisch - amerikanischen Konflikte verglichen (vgl.
The Amalgamated Journal (Pittsburg) vom II. 7. 1901, p. I, vom 18. 7. Ol, p. 1,
vom 1. 8. 01, p. I u. s. w.). Später freilich hat Präsident Shaffer in öffentlicher
Rede betont, dafs „the strike was a matter of wages and labor condition®, not-
withstanding the efforts of the representatives of the Opposition to prejudice the
labor cause by allegations to the contrary“ (New York Tribüne vom 11. 8. 01, p. 2).
36*
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552
Heinrich Wacntig,
willen vom Zaune gebrochen worden, wie manche dies haben dar-
stellen wollen,1) dafs er sich vielmehr mit innerer Notwendigkeit
früher oder später aus der Logik der Thatsachen hätte ergeben
müssen, weil in entwickelter kapitalistischer Produktionsordnung
bei Abschlufs des Arbeitsvertrages die freie Selbstbestimmung des
Kontrahenten Arbeit dauernd nur auf kollektiver Basis gesichert
erscheint. Diese Erkenntnis eben war es, die sich zunächst in
dunklem Drange, später zielbcwufst zu verwirklichen strebte. Ein
kurzer Rückblick auf die Geschichte der Amalgamated Association
of Iron, Steel and Tin Workers in ihren wechselnden Beziehungen
zu den Unternehmern der Stahlbranche wird die Richtigkeit dieser
Behauptung erweisen.
Die National Amalgamated Association of Iron, Steel and Tin
Workers, so nannte sich der Verband, nachdem er Mitte der 90er
Jahre auch die Arbeiter der neu aufstrebenden Weifsblechindustrie
in sich aufgenommen hatte, ging aus einer im August 1876 zu
Pittsburg erfolgten Verschmelzung mehrerer von einander unab-
hängiger Vereine hervor. -) Es waren die United Sons of Vulcan,
ausschliefslich bestehend aus „boilers and puddlers“; weiter die
Associated brotherhood of Iron and Steel Heaters, Rollers and
’) So heifst cs im Commcrcial and Financial Chronicle vom 20. 4. 1901, p. 747:
„No public svmpathy wouhl follow the action of the men, if they were to sinke
for no better reason than to get the heads of their unions recognized . . . over a
mere question of method for niaking known gricvances to one's employer.“
2i Zur Geschichte der Amalgamated Association of Iron, Steel and Tin Workers
vgl. Annual Report of the Secretary of Internal Affairs of the Commonwealth of
Pennsylvania, Part III, Industrial Statistics. Vol. XV. Harrisburg 1887. Offieial
Document No. 12. G., p. I ff. : The Amalgamated Association of Iron and Steel
Workers, skctch of its history with referenccs to the rise and progress of methodical
conciliation and the sliding scale of wages and their rcsults in combination with
Organisation. — Caroll D. W right, The Amalgamated Association of Iron and Steel
Workers im Quarterly Journal of Economics, July 1893 (Sep.-Abdr.). — Derselbe,
The National Amalgamated Association of Iron, Steel and Tin Workers 1892 — 1901
im Quarterly Journal of Economics, Nov. 1901 (Sep.-Abdr.) und die dort erwähnte
Litteratur. Endlich Report of the Industrial Commission on Labor Organisations,
Labor Disputes and Arbitration, Vol. XVII, Washington 1901. p. 212 ff. Die obige
Darstellung beabsichtigt keineswegs den Gegenstand zu erschöpfen. Es wird nur
so viel mitgetcilt werden, als zum Verständnis des Strikes von 1901 unbedingt er-
forderlich ist. Doch wird das Versäumte in einer später zu veröffentlichenden so-
zialen Entwicklungsgeschichte der nordamerikanischen Stahl- und Eisenindustrie gründ-
lich nachgeholt werden.
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Der Stahlarbciterstrike vom Sommer 1901 und seine Lehren.
553
Roughers of the United States, gebildet von Arbeitern, die in Hoch-
öfen und Walzwerken thätig waren; endlich die Iron and Steel Roll
Hands Union, zusammengesetzt aus „Catchers, hookers, helpers and
others engaged about the trains of work." Der älteste und wich-
tigste unter ihnen war der Verband der United Sons of Vulcan,
der, zunächst als rein lokaler Geheimbund unter dem Namen Iron
City Forge am 17. April 1858 zu Pittsburg gegründet, sich mit dem
Aufleben des Eisengewerbes zu Beginn der 60 er Jahre von dort
über die umliegenden Städte und Staaten ausbreitete und am 8.
September 1862 zum ersten Male auch öffentlich hervortrat. Der
wichtigste nicht nur, weil er der stärkste Verband war, sondern
namentlich auch, weil sich in seinem Scholse, und zwar ziemlich
lange vor der erwähnten Verschmelzung, diejenige Politik ausbildete,
die nachmals für die Amalgamatcd Association vorbildlich werden
sollte. Kr nämlich war es, der sich nach langen Kämpfen auf
Anraten des weitblickenden Seniorpartners B. F. Jones der noch
heute hochbedeutenden Pittsburger Firma Jones and I.aughlins
Limited zum ersten Male im ganzen Bereiche der Vereinigten Staaten
bewegen liefs, am 13. Mai 1865 zwecks Vermeidung der von beiden
Seiten gleich unangenehm empfundenen Produktionsstörungen ein
zu gleichen Teilen von Unternehmern und Arbeitern beschicktes
Kommittee mit Verabredung einer sliding scale zu betrauen, der
entsprechend sich für bestimmte Frist die Löhne der Arbeiter
automatisch den Schwankungen der Produktmarktpreise anpassen
sollten.
Durch dieses System,1) das 1876 von der Amalgamatcd Asso-
ciation übernommen und weiter ausgebildet wurde, schien die Rege-
lung der Lohnfrage gewissermafsen auf eine ganz neue Grundlage
gestellt, woraus sich bedeutsame Folgen allgemeiner Natur für das
Verhältnis der Unternehmer der Stahlbranche zu ihren Arbeitern
*) Ein genaueres Kingehen auf die sehr interessante, aber auch höchst kompli-
zierte Entwicklungsgeschichte dieses Sliding scalc-Systcms ist für das Verständnis des
Folgenden nicht notwendig. Ich werde an einem anderen Orte ausführlich darauf
zurückkommen. Im übrigen verweise ich aul die soeben citierlc Litteratur und
weiter auf Reports of the Industrial Commission on The Relations and Conditions
of Capital and Labor, employed in manufacturcs and general business, Vol. VII,
Washington 190t, p. 85 ff., 383 IT. und Reports on Labor Organisation, Labor
Disputes and Arbitration, Vol. XVII, p. 339 ff. Endlich vgl. Western Scale of prices,
governing wages in rolling mills for the year ending June 30, 1002. Published by
Nat. Lodge, Am. Assoc.’ of J. St. and T. W. 1901/2. Pittsburgh Pa.
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554
Heinrich W a e n t i g ,
ergaben. Zunächst wurde allen Streitereien der interessierten Par-
teien über Lohnhöhe, Lohnform u. s. w. , für eine bestimmte
Zeit wenigstens, der Boden entzogen. Nicht, dafs fortan Konflikte
überhaupt vermieden worden wären. Wurden doch allein in der
Zeit von 1876 — 85 von der Amalgamated Association nicht weniger
als 93 „legalisierte" Strikes, darunter 17 „in defense of unionism"
und 3 „to compel the signing of the scale“ ausgefochten. Wohl
aber ward damit der anhaltende latente Kriegszustand durch ein
System periodischer Friedensschlüsse ersetzt, namentlich seitdem
das zuerst übliche Eingehen der kollektiven Lohnverträge auf un-
bestimmte F'rist mit 90 tägiger Kündigung der Vereinbarung eines
festen Jahrestermines von Juni zu Juni hatte weichen müssen.
„Zum ersten Male in der Geschichte dieser Industrie", heilst es in
dem erwähnten Berichte des Secretary of Internal Affairs of the
Commonwealth of Pennsylvania, „war eine gewisse Wahrschein-
lichkeit dafür vorhanden, dafs die Arbeit ohne Unterbrechung durch
eine zwölfmonatliche Periode andauern werde." Und so stark war
seitdem die selbstbewufste Vertragstreue der Arbeiter, dafs sie bei-
spielsweise eine ihnen während des Geschäftsaufschwunges von 1880
seitens der Unternehmer unter der Hand angebotene Lohnerhöhung
über das vereinbarte Maximum der Scale hinaus ziemlich kühl
behandelten , mit dem Bemerken . dafs die Amalgamated Asso-
ciation die einmal eingegangene Verpflichtung unter allen Um-
ständen einhalten werde, wie hoch auch immer die Produktpreise
im weiteren Verlaufe noch steigen sollten. ’)
Die zweite nicht minder wichtige Folge jener gemeinsamen
Verhandlungen war, dafs sich itn Anschluls daran gewisse mehr
oder weniger anerkannte Einflufssphären der Amalgamated Asso-
ciation herausbildeten, innerhalb deren sie ihre allgemeinen An-
schauungen über die zweckmäfsige Organisation des Arbeitsver-
hältnisses zu verwirklichen sich für berechtigt halten durfte. War
es doch kaum angängig, dem für den Abschluls kollektiver Lohn-
verträge unentbehrlichen Arbeiterverband lediglich ad hoc gelten
zu lassen, ohne ihm auch sonst eine gewisse Vertrauensstellung in
den einzelnen Werken einzuräumen. F'reilich, das Mals dieses Ein-
flusses bildete seither den Gegenstand immer erneuter Kämpfe. Denn
besonders die differenziellc Behandlung der sog. non-union men
■) Annu.il Report of the Secretary of Internal Affairs of the < Commonwealth
of Pennsylvania, Part III, Vol. XV, p. 15 ff.. 25.
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Der Stahlarbeitcrstrike vom Sommer 1901 und seine Lehren.
555
seitens der Verbandsmitglieder, ') ferner die zuerst 1887 eingeführte
„one job rule“ *) und andere weitergeltende Hingriffe 3) waren den
Unternehmern aus leicht begreiflichen Gründen ein Dorn im Auge.
Auch auf diesem Gebiete aber gelangte man aus einem Zustande
unaufhörlichen Kleinkrieges zu einer Art periodischen Waffenstill-
standes in der Form, dafs das Unterzeichnen der vereinbarten neuen
Scale für ein bestimmtes Werk und bestimmte Frist zugleich die
stillschweigende Anerkennung des V'erbandes samt seinen den
Unternehmern bekannten Tendenzen bedeutete, so dafs jener feier-
liche Akt eine doppelte Wichtigkeit erhielt.
In eine neue Phase trat die Entwicklung, als sich mit dem
Beginn der achtziger Jahre auch auf dem Gebiete der Eisen- und
*) So bestimmt die Konstitution der Amalgamated Association in Art. XXXIV
Scction 6: „that in euch works the Mill Committee sball wait on eacb new work-
man, when emploved, and ask bim for bis withdrawa! card. But il‘ he bas not
gol a withdrawal card and is not a member ot‘ this association, Steps sball be
taken to persuade himtojoin it.“; in Art. XXXVI Sect. 3: dafs alle den
im Verbände vertretenen Branchen zugehörigen Ankömmlinge „shall producc a wor-
king card, beforc they be allowed to work; and thosc not members, who
have situations, sball be given four wecks’ time to join“; endlich in Art XVII
Scct. 5 : „that no member in any works »hall render any assistance or loan his
tools to any workman who persistentley refuses to bccome a member of this asso-
ciation.“ Vgl. auch Reports of the Industrial Commission, Vol. XVII, p. 215.
r) In Art. XVII Scct. 8 der Konstitution heilst cs: „This association will not
tolcratc any man holding morc than onc job. One furnace single turn,
one train of rolls double turn, one Steel melting gas furnace onc turn, to constitute
onc job, and all arc expcctcd to enforcc this rule. Any man, holding two or more
separate jobs in violation of this section, shall be stigmatized as a „blacksheep“ etc.
*) „The Constitution provides an claborate series of provisions as to the size
of charges in fiimaccs of various sorts and as to the number of heats which shall
constitute a day’s work. The output of tinplatc rolling mills is strictly limited,
and if any crew is lound to have surpassed the limit, the lodge is to collect the
equivalcnt of the overweight or surplus eaming and an additional fine, for each
offense, of 25 cents from the roller and from the doubler“ (Reports of the In-
dustrial Commission, Vol. XVII, p. 217). Vgl. auch Constitution of the Amalgamated
Association, Art. XVIII ff. Charles M. Schwab behauptet sogar vor der Industrial
Commission, dafs vor 1892 in den Homcstead Steel Works „at one time the labor
associations took it upon themselves to select their own foremen and to select the
men who should succeed them in case of a vacancy.“ (Reports of the Industrial
Commission, Vol. XIII. On Trusts and Industrial Combinations. Washington IQOI,
p. 461).
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556
Heinrich Wacntig,
Stahlindustrie jene Konsolidationsbewegung geltend zu machen be-
gann, die das ungeordnete Nebeneinander heftig konkurrierender
und nur durch lose Interessenverbände verknüpfter Unternehmungen
schrittweise durch planvolle Neubildungen zu ersetzen suchte und
zwanzig Jahre später mit der Begründung der United States Steel
Corporation ihren vorläufigen Abschlufs finden sollte. Der wachsende
Umfang wie die Vielgestaltigkeit der neuen Unternehmungen er-
höhten die Verantwortung ihrer Leiter und erschwerten die richtige
Kalkulation bei wechselnden Konjunkturen. Souveräne Beherrschung
der Produktionsfaktoren ward mehr denn je die unentbehrliche Vor-
aussetzung erfolgreicher Leitung, eine Forderung, mit deren Verwirk-
lichung ein machtvoller, in seiner Politik oft unberechenbarer Ar-
beiterverband bei seinem Einflufs auf die Gestaltung der Arbeits-
bedingungen, wenn nicht gar auf die innere Einrichtung des Betriebes
sich schlecht zu vertragen schien. ') Kein Wunder, dafs man sich
auf seiten der Unternehmer im Geheimen mit dem Gedanken ver-
traut machte, diese Selbstbestimmung einzudämmen. Verdächtig ist
es jedenfalls, dafs die allen ihren Rivalen auf dem bezeichneten
Wege weit vorausgeeilte Carnegie Co. es war, welche unter dem
Drucke der zu Beginn der neunziger Jahre eintretenden Depression
die Theorie zuerst in die Praxis umsetzte. Der Homesteadstrike
von 1892 mit seinen blutigen Ereignissen wäre ein nichtswürdiger
Frevel gewesen, wenn es sich dabei wirklich nur um ein paar
lumpige Lohngroschen gehandelt hätte. Er endete bekanntlich mit
der Vernichtung des Einflusses der Amalgamated Association in den
Werken der Carnegie Co., deren gelernte Arbeiter bis 1 892 zu etwa
80 °/0 organisiert gewesen waren. !) Jeder Versuch, den alten Zu-
’) Welch grofse Bedeutung bei der Berechnung der Produktionskosten des Stahls
gerade dem Faktor Arbeit zukommt, hat Charles M. Schwab vor der Industrial
Commission zu erläutern gesucht. „You ought to bcar in mmd,“ erklärte er, „that the
cost of making steel is very large ly onc of labor, no matter from whicb point
you takc it. After you fix a price on your raw matcrials that you think is fair,
everything eise entering into it is labor. People say, labor docs not form a very
considcrablc part. Here is $ 5 for steel and the labor is 50 Cents. But everything
that gocs into the finished product, has had labor expended on it at somc time
and labor is by all odds tlic one real ly important item of cost; labor in the nickel
mines that give us the nickel; it may bc in the mangancsc mincs that adds to the
cost of the manganese ore ; it is the cost ol labor to the railroads that adds to
your freight; and so on all along the linc — it is labor, labor, labor cvcrywhere.M
(Reports of the Industrial Commission, Vol. XIII, p. 466).
*) Nach Charles M. Schwab, a. a. O. p. 460.
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Der Stahlarbeitcrstrike vom Sommer 1901 und seine Lehren.
55 7
stand allmählich wiederherzustellen, wurde fortan mit eiserner Hand
im Keime erstickt. ')
Es war ein harter Schlag und die Amalgamated Association
hat sich von dieser Erschütterung bis auf den heutigen Tag nicht
ganz wieder erholen können, *) obwohl sie für ihre Verluste in der
Arbeiterschaft der etwa um dieselbe Zeit aufkommenden und unter
dem Schutze hoher Zolle rasch emporblühenden Weifsblech-
industrie einen gewissen Ersatz fand. Der immer zunehmenden
Konzentration auf den verschiedenen Gebieten der Stahl- und Eisen-
industrie, die besonders zu Ende der 90 er Jahre aufs neue grofse
Fortschritte machte — die Federal Steel Co., die American Tin
Plate Co., die National Steel Co., die American Steel Hoop Co.,
die American Steel and VV’ire Co. u. s. w. wurden in den Jahren
189899 organisiert — stand man gleichwohl nicht feindselig gegen-
über, da das Sliding scale- System darunter vorläufig nicht zu leiden
hatte.8) Ja, es konnte der Präsident des Verbandes Theodore
J. Shaffer am 23. September 1899 bei seiner Vernehmung durch
die Industrial Commission die Frage: „Welchen Einflufs wird die
industrielle Konzentration auf die Löhne und die Zahl der An-
gestellten in Ihrem Gewerbe und in anderen voraussichtlich aus-
üben ?“ mit den Worten beantworten : „Sie hat soweit einen wohl-*
’) Jeder Versuch der Organisation zog sofortige Entlassung nach sich (Theo-
dore J. Shaffer, Präsident der Amalgamated Association, vor der Industrial (’otn*
mission in Reports of the Industrial Commission, Vol. VII, p. 385 .
a) NachCaroll D. Wright's verläfslicher Darstellung erreichte der Verband
den Höhepunkt seiner Entwicklung i. J. 1891 mit 24 06S Mitgliedern. Diese Zahl
sank dann rasch auf 10000 (1894) und hat sich nicht mehr viel Uber 14000 er-
hoben The National Amalgamated Association, p. 6).
*) Präsident Shaffer konnte im September 1899 vor der Industrial Commission
erklären, dals sein Verband etwa „70 aller Arbeiter in den organisierten Ge-
werben kontrolliere.“ Zur Erläuterung fügte er dann hinzu : „I think that in
what are organized as regulär Steel plants wc have about one half, not less than
one half. In an other part of the Steel business, called the sheet-iron and platc
trades, wc are almost solidly organized to-day. Wc have about *,0 of the
iron workers organized. We have about * 9 of the tin workers“. (Reports of the
Industrial Commission, Vol. VII, p. 3831. Letztere sind die sog. „hot mül men“. Die
andere Hälfte, die „lin-house men“, sind ebenfalls sämtlich organisiert, gehören je-
doch einem besonderen Verbände, der International Protective Tin Workers’ Asso-
ciation, an. Vgl. zu alledem auch die Erklärung des früheren Präsidenten der Amal-
gamatrd Association, Mahlon M. Garland, ebenda p. 85, 97.
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Heinrich Waentig,
thätigen t.influfs gehabt und ich glaube, die Mehrzahl unserer Mit-
glieder dürfte lieber mit diesen grolsen Korporationen, Syndikaten,
Trusts und Kartellen zu tliun haben, als mit den kleineren
Werken zu verhandeln.“1) Daher man denn die im Jahre 1899 in die
Konstitution der Amalgamated Association eingeführte Bestimmung
des Art. XVII Sec. 23: „Sollte ein einzelnes Werk eines Trust oder
Kartells Schwierigkeiten machen, so sollen alle diesem Trust oder
Kartell zugehörigen Werke die Arbeit einstellcn, bis dafs die Be-
schwerde behoben ist," welche späterhin eine so verhängnisvolle
Rolle gespielt, lediglich als einen Versuch zu betrachten hat,
die Verbandsverfassung den veränderten l’roduktionsbedingungen
anzupassen. Diese durchaus friedliche Haltung 4) machte jedoch
sofort feindseligem Mifstrauen Platz, als unter der Patenschaft
J. Pierpont M organs die unerwartete Verschmelzung einer
gröi'scrcn Zahl der vorhandenen Trusts einschlicfslich der Carnegie Co.
zu einem einzigen Riesenunternehmen erfolgte und an dessen Spitze
ein Mann trat, der, ein Organisator von unzweifelhafter Genialität,
obwohl aus Arbeiterkreisen hervorgegangen, sich doch bisher in
Wort und That als erklärter Gegner von Arbeiterverbänden be-
währt hatte : Charles M. Schwab. *)
') Reports of the Industrial Commission, Vol. VJIT p. 395.
') Bezeichnend die Worte, mit denen Shaffcr sein Zeugnis vor der Industrial
Commission .schliefst: ,,As I said. I do i^ot bclicve in strikes or the vie-
le nee consequent upon them. 1 bclicve that our people can be edueated up
to a conservative coursc, a prudent and intelligent action, and that if wc are per-
mitted to follow the coursc wc have followed for the past two years, it will bc a
comparatively short time only when our Organisation will convincc the
skcptical outsidc that working people ought to bc organised“ (Re-
ports of the Industrial Commission, Vol. VII. p. 398).
*) Diese Anschauungen hatte Schwab vor allem als Leiter der Cargenie Works
bethatigt, ihnen aber auch öffentlich Ausdruck verliehen vor der Industrial Com-
mission in den Worten: „If I were a workingman — as 1 was — if 1 were a working-
man now in one of these mills, espccially if managed under the broad policy
under which I hopc the stcel manufacturc is administcred, 1 would not want to
bclong to a labor Organisation. It puts all men, no matter what their ability, in
the same dass of work on cxactly the samt levcl... The lcvcl is that of the
poorcst man in that department. As a working man, I would not advancc and
I would not be able to show superior ability over any olher, if I were in an Orga-
nisation.“ Charakteristisch auch der Artikel Sch wabs in der North American Review,
Vol. CLXXII, 1901, p. 655 fr., bes. 660 f. Wie unbeliebt Schwab im Gegensatz
zu Morgan in Arbeiterkreisen vielfach damals war, hat sich während des Strikes
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Der StahlarheiUTstrikc vom Sommer 1901 und seine Lehren.
559
Edward S. Me ade schliefst eine lehrreiche Untersuchung
über die Genesis der United States Steel Corporation mit der,
soweit ich urteilen kann, zutreffenden Bemerkung, dafs die bei der
Bildung jenes Trust gesuchten Vorteile in erster Linie gewesen
„die Vermeidung des Wettbewerbes und die Sicherung dauernder
Stabilität und Harmonie des Stahlgewcrbes im mittleren Westen.“1)
Für den Einsichtigen nämlich war es ein offenes Geheimnis, dafs
die in den Jahren 1898 — 1900 gegründeten Stahltrusts, fast aus-
nahmslos hochgradig spekulativen Charakters, auf sehr unsicherer
Basis ruhten, da sic infolge schwerer Uberkapitalisation und des
Mangels ausreichender Reservefonds'-’) einem etwaigen Konkurrenz-
kämpfe zwar technisch, aber nicht finanziell gewachsen waren. Dafs
ein solcher zunächst nicht eingetreten, war einem besonderen Um-
stande zu verdanken, dem wirtschaftlichen Gleichgewichte nämlich,
in welchem sich die in Betracht kommenden Unternehmungen bei
ihrer Gründung befanden. I latten doch die Carnegie Co. , die
Federal Steel Co. und die National Steel Co. als Produzenten von
Halbfabrikaten auf der einen, die National Tube Co., American Steel
and Wire Co., American Tin Plate Co., American Steel Hoop Co.
und American Sheet Steel Co. als Produzenten gebrauchsfertiger
Waren auf der anderen Seite einander gewissermalsen ergänzt, wäh-
rend die einzelnen Glieder jeder der beiden Gruppen, teils geo-
deutlich gezeigt. Vgl. z. B. New York Tribüne v. 5. 8. 1901, p. 2 und v. 6. 8. 01. p. 2.
„Charles M. Schwab is a labor crusher“, hiefs es. „YVith that pupil of Carnegie out of
the way, we would have a smooth sailing44. (Chicago Record Ilerald v. 23. 8. 01. p. 2.)
Solche und ähnliche Aeufscrungcn wurden in der Presse öfters den Leitern der Amal-
gamated Association in den Mund gelegt. Naiv verlangte man geradezu seinen
Rücktritt : „The Amalgamated Association is not making a light upon any minor
official of the stcel combine, but on Mr. Schwab. The fight is against him. Hc
has stood and still Stands in the wav of a Settlement44.
*) The Quarterly Journal of Economics, Vol. XV, Aug. 1901, p. 517 ff.
*) Der Verfasser erörtert diese Frage mit besonderer Rücksicht auf die Fede-
ral Stcel, American Steel and Wire, National Tube, National Steel, American Tin Plate
und American Steel Hoop Co.’s und schliefst seine Betrachtungen mit den Worten :
„The preferred stock represented value in existcnce and the common stock v a I u e
in prospcct. And when we consider that 5 215484000, or 53 per Cent., out of
the total stock capitalization of $ 408 065 000, was common stock, w’hose value w'as
yct to be demonstrated, the security offered to an investor in the stcel Stocks by a
surplus reserve of $ 32686000 can bc estimated at its true value as con-
siderably less than nothing44 (a. a. O. p. 527 ff.).
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560
Heinrich VV a c n t i g ,
graphisch, teils gewerblich-technisch gegeneinander abgegrenzt, jedes
für sich sein eigenes Sondergebiet ungestört beherrschte. Dieses nun
änderte sich im Herbste 1900, als sinkende Konjunkturen alle jene
Kompagnieen, deren Kapitalisation ohne genügende Vorsichtsmafs-
regeln der günstigen Geschäftslage von 1899 angepafst worden war,
und damit zugleich ihre Gründer, Leiter und Aktionäre mit fallenden
Preisen, reduzierten Profiten, schwindenden Dividenden und empfind-
lichen Wcrtverlusten auf dem Effektenmärkte bedrohten, wenn es nicht
gelang, dieser Gefahr auszuweichen. Als nächstes und geeignetstes
Mittel zu deren Abwendung ergab sich für die Bedrängten die
Herabsetzung der Produktionskosten, die für die Produzenten ge-
brauchsfertiger Waren am wirksamsten durch Emanzipation von
den Lieferanten des Rohmateriales zu bewerkstelligen war. Suchten
so die Glieder der zweiten Gruppe sich von denen der ersten un-
abhängig zu machen, so erklärten letztere, besonders die best-
gerüstete Carnegie Co., ') in ihrem Absätze bedroht, sich durch
künftige Fabrikation des Endproduktes schadlos halten zu wollen.
Kurz, ein wütender Krieg aller gegen alle war im Ausbrechen, wo-
bei Vernichtung der Schwächeren, unabsehbare Verluste aller un-
vermeidlich schienen. Durch die am 25. Februar 1901 erfolgte
Gründung der United States Steel Corporation, die am 1. April ihre
praktische Thätigkeit begann, gelang es, diese Gefahr zu beschwören,
und so grofs war der Glaube an die „economies of combination“
bei diesem gewaltigen L'nternehmen, dafs man es wagen durfte,
ihre „anticipated profits" durch 416 Millionen Dollar im Ueberschufe
über die teilweise schon stark verwässerten Fonds der verschmol-
zenen Finzelkompagnicen zu kapitalisieren. *)
Freilich, bildete nicht gerade diese immense Ueberkapitalisation
eine neue Gefahr? War sie nicht erst recht ganz abnorm günstigen
finanziellen wie industriellen Konjunkturen, insbesondere einem Hoch-
*) Näheres a. a. O. p. 532 ff., 539 ff.
3) A. a. (). p. 550. Näheres in The Commercial and Financial Chronicle
v. 2. 3. 1901, p. 408 h In die Kombination wurden aul'scr den im Text genannten
Unternehmungen noch die American Bridge Co. sowie die Rockcfeller ore and trans-
portation intcrcsts cinbezogcn. Hin Syndikat unter Leitung J. Pierpont Morgan*
hatte zur Durchführung des Planes $ 200 Mill. gezeichnet. Vgl. ferner The Iron
Age v. 11. 4. 1901, p. 14 f., v. 13. 2. 1902, p. 27 b, v. 6. 2. 1902, p. 16 ff.; end-
lich das Zeugnis von Charles M. Schwab vor der Industrial Commission die
United States Steel Corporation betreffend in Reports of the Industrial Commission,
Vol. XIII, p. 450 ff., 475 ff.
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Der Slahlarbcitersirike vom Sommer 1901 uud seine Lehren.
56
Schutzzollsysteme angepafst, das nicht von ewiger Dauer sein konnte ?
Wie, wenn es unter dein Drucke einer übermächtigen Volksbewegung
ins Wanken kommen sollte ? Lag es dann, nachdem im übrigen
alles Denkbare zur Verminderung der Produktionskosten schon früher
geschehen, nicht nahe, bei sinkenden Preisen schwindende Profite
durch gedrückte Löhne hochzuhalten? Hatte es doch Charles
M. Schwab vor der Industrial Commission offen ausgesprochen,
dafs die einzigen, die von einer Aufhebung oder Erniedrigung der
Stahl- und Eisenzölle benachteiligt werden würden , die Arbeiter
seien ! ')
Gedanken wie diese müssen den Leitern der Amalgamated
Association im vergangenen Jahre oft durch den Kopf gegangen
sein, und wenn sie sich die machtvolle Gröfse des Gegners vor
Augen führten, *) schweiften ihre Blicke wohl besorgt über die bedenk-
liche Lückenhaftigkeit ihrer Organisation im Rahmen des „Billion-
dollartrust" dahin. Lag cs doch auf der Hand, dafs nur eine wohl*
gerüstetc und straff organisierte Arbeiterschaft etwaigen Vorstül'sen
des Unternehmertums genügenden Widerstand würde entgegensetzen
können. Völlig unorganisiert waren die Leute der Carnegie-Werke und
die der American Steel and Wire Co. ; teilweise organisiert die der
National Tube Co. und der National Steel Co. Als streng „union“
galten die Arbeiter der Steel Hoop Co., Sheet Steel Co., Tin Plate
Co. und Eederal Steel Co. Aber selbst im Bereiche dieser vier letzt-
genannten Kompagnieen waren keineswegs alle zugehörigen Be-
triebe als „union“ offiziell anerkannt. *) Ja, bei dem Nebeneinander-
*) Reports of the Industrial Commission, Vol, XIII, p. 466: „It would not hurt
anybody in those lincs where we did not need a tariff, and tlic only persons
it would hurt in those lines wherc wc do, are the working peopl c.“
*) Nach einem „unofficial, though said to bc trustworthy Statement*1, das zu
Anfang Marz in der Presse erschien, eignete oder „kontrollierte“ der Trust damals 78
Hochöfen, 149 Stahlwerke und 6 sog. „finishing plants“ mit einer Jahreskapazität in
fertigem Produkt von ca. 9 Mül. tons. „The Company,“ hiefs cs weiter, „will own
Lake Superior iron mines which produced last ycar nearly 1 1 mill. tons of ore. It
has 18 300 coke ovens, 70830 acs. of coal lands and about 30000 acs. of surface
land in the coke regions. Its lake flcet will number 66 vessels. When the Rockefeller
ore and vessel interests arc absorbed, which it is said, will probably come later,
the iron ore capacity will be increascd about 2 mill. tons a year and the numbers
of lake vessels by 59, making 125 large ore-carriers in all. A conservative esti*
mate of the number of men employed by the company’s various interests puts it at
125000“ (The Commercial and Financial Chronicle v. 2. 3. 1901, p. 441).
*) Vgl. dazu Collier’s VVcekly v. 3. 8. 1901, p. 17 und eine im New York
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562
Heinrich \V a e n t i g
bestehen von Union und non-union plant« innerhalb derselben Unter-
nehmung war zu befürchten, dals man versuchen werde, letztere
auf Kosten der ersteren allmählich auszudehnen, um im Falle kri-
tischer Verwicklungen mit den genügsameren und jedenfalls weniger
widerstandsfähigen non-union men ‘) in Zukunft ein um so leichteres
Spiel zu haben. Und da es keineswegs an Thatsachcn fehlte, die
sich als erste Aeufserungen einer koalitionsfcindlichen Politik
deuten liefsen,4) so beschlols die Amalgamated Association in ihrer
Ende Mai und Anfang Juni 1901 zu Milwaukee abgehaltenen Jahres-
versammlung einer solchen dadurch vorzubeugen, dafs sie nach und
nach ihre Anerkennung als Vertreterin der Arbeiterschaft in allen
der United States Steel Corporation zugehörigen Betrieben fordere
und, wenn nötig, erzwinge.
Zum Ausbruch kam der Konflikt Ende Juni 1901. Schon war
es gelungen, den üblichen Jahresvertrag über die Scale mit den Ver-
tretern der Tin Plate Co., allerdings unter vorläufiger Ausschaltung
einer wichtigen Frage,5) in Cleveland abzuschliefsen, als die daran
Tribüne v. 6. 8. Ol. p. 2 mitgetcilte Statistik. Danach wären z. B. von den Be-
trieben der Steel Hoop Co. 1 1 organisiert, 1 unorganisiert, von denen der Tin Plate
Co. 27 organisiert, I unorganisiert, von denen der Sheet Steel Co. 17 organisiert
und 4 unorganisiert gewesen u. s. w.
') Nach Shaffer (Reports of the Industrial Commission, Vol. VII, p. 384 f.)
gilt von dem größeren Teile der non-union men, dafs sie nicht annähernd das-
selbe erhalten, wie die union men. Und zwar beträgt die Lohndifferenz gelegent-
lich 20, ja 40 Proz. Auch sind die übrigen Arbeitsbedingungen vielfach ungünstiger.
Vgl. Shaffer in Leslic's Weekly v. 24. 8. 1901. p. 158, 163.
*) Insbesondere wird von den Vertretern der Amalgamated Association öffent-
lich behauptet, dafs die Unternehmer darauf ausgegangen seien, die Arbeiterver-
bände systematisch austu rotten, dafs „by keeping the men idle while non-union
mills werc operated, they succceded in creating discontcnt and the men suffering for
want of employment wert prcvailcd upon to violate their Obligation to the union
and go to work for less than seale rates, at the samc time agrccing to sever Con-
nection with the Amalgamated Association and refrain from uniting with any labor Or-
ganisation“ (Shaffer in Lcslie’s Weekly v. 24. 8. 1901, p. 158). Genauere An-
gaben hierüber mit besonderer Rücksicht auf die American Sheet Steel Co. sind von
demselben Gewährsmann auf der Jahresversammlung der Amalgamated Association
v. 1901 gegeben worden, Daten, die durch eine Indiskretion aus den Geheimakten
des Verbandes in die Presse gedrungen sind (Chicago Daily Tribüne v. 24. 8. 1901,
p. 3)* Vgl. auch Shaffer ’s Statement v. 1. 7. 1901 im Amalgamated Journal v. 4. 7.
1901, p. 1.
Die Einbeziehung des Werkes Monessen wurde seitens der Unternehmer
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Der Stall larbciterstrike vom Sommer 1901 und seine Lehren.
503
sich anknüpfenden Verhandlungen mit der American Sheet £teel
Co. nach längeren) Hin und Her ins Stocken kamen, da letztere
sich standhaft weigerte, einen von der Amalgamated Association
geforderten, fiir alle ihre Werke ohne Ausnahme gültigen Kollektiv-
vertrag zu unterzeichnen, wobei sic neben gewissen anderen sogar
zwei im vergangenen Jahre unter die Union mills gerechnete Betriebe
ausnehmen wollte.1) Dies war um so wichtiger, als die Tin Plate Co.
ihre Zustimmung in dem kritischen Punkte ausdrücklich von dem Vor-
gehen der Sheet Steel Co. abhängig gemacht hatte. Da nun weiter auch
die Steel Hoop Co., trotz der Versicherung, dals alle ihre Betriebe
thatsächlich organisiert seien, dem Beispiele der anderen folgend,
erklärte, die Kinflul'ssphärc des Arbeiterverbandes unter keinen Um-
ständen über das bisherige Mals ausdehnen zu wollen , während
wiederum dieser auf seinem „Alles oder nichts!" beharrte, so erliefs
Präsident Shaffer am t. Juli seinen Strikebefchl, indem er zunächst
die Werke der Steel Hoop Co. und Sheet Steel Co., die über
Pennsylvania, Ohio, Indiana und West Virginia verstreut lagen, für
die Mitglieder der Amalgamated Association sperrte. i) „Unser Vor-
schlag“, schrieb Shaffer*) einige Wochen später, „wurde in
solcher Form zurückgewiesen, dals wir uns davon überzeugten,
nichts als die Vernichtung des sheet department der Amalgamated
Association werde die Gegenpartei zufriedenstellen. Offenbar war
cs ihr Plan, die Scale in jedem Jahre für eine immer kleinere Zahl
von Union mills zu zeichnen , durch Schliefsen einiger von ihnen
diese noch weiter zu verringern, um endlich das Gewerkschafts-
wesen mit Stumpf und Stiel auszurotten. Und da wir sofortigen
Tod langen Qualen vorzogen, stellten wir uns zum Kampfe."
3. Der Strike verlauf.
So war denn der Krieg offiziell erklärt, doch nahmen vorder-
hand beide Parteien den Konflikt nicht allzu tragisch, da man auf
baldige Beilegung hoffte. In der That wurden abermals Vergleichs-
verhandlungen eingelcitet, die sich durch mehrere Tage hinzogen,
alier völlig ergebnislos verliefen. Denn die drei Kompagnieen ver-
von dem Verhallen der Sheet Steel Co. abhängig gemacht. (Vgl. Shaffers Er-
klärung v. 21. 9. 1901, abgedr. im American Federationist v. Oct. 1901, p. 415O
*) Vgl. die Erklärung Shaffers im Amalgamated Journal v. 4. 7. 1901, p. ;.
*) Strikebefchl im Amalgamated Journal v. 4. 7. 1901, p. I.
*) Shaffer in Lcslies Wcekly v. 24. 8. 1901, p. 15S.
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564
Heinrich \V a c n ti g
harrten auf ihrem ablehnenden Standpunkte, mit der Begründung,
dafs man entschieden Bedenken tragen müsse, durch gleichmäfsige
Anerkennung des Unionprinzips für alle Betriebe der beteiligten
Unternehmungen das bisherige Gleichgewicht der Kräfte (balance
of power) in unerträglicher Weise zu Gunsten der Amalgamated
Association zu verschieben, wo nicht gar freie Arbeiter, vielleicht gegen
ihren Willen, in deren Verband hineinzuzwingen. *) Jetzt erst machte
man Krnst. Der Ausstand ward am 15. Juli auf den Bereich der
Tin Plate Co. ausgedehnt, womit denn sämtliche Betriebe der
American Steel Hoop Co. und der American Tin Plate Co. mit Aus-
nahme je eines (Duncansville und Monessen) und die der American
Sheet Steel Co. mit Ausnahme von vier (Vandergrift, Leechburg,
Scottdale und Saitsburg' blockiert und etwa 46000 Mann arbeitslos
waren. •) So hoffte man, den Gegner in kürzester Zeit mürbe zu
machen.
Wirklich gestaltete sich die Gesamtlage zunächst für die
Arbeiter recht günstig. Die fortdauernde grolsc Hitze, die den
Ausständigen eine mehrwöchentliche Ruhepause nur erwünscht er-
scheinen liel's, und weiter der Umstand, dafs die Amalgamated
Association ihre finanziellen Kräfte vorläufig schonen konnte, da
sie nach Art. X Sect. 4 ihrer Konstitution *) in den Monaten Juli
und August keine Strikeuntcrstützungen zu zahlen hatte, die That-
sache endlich, dafs die Aufregung des Kampfes ansteckend wirkte
und viele der bisher Säumigen den rührigen Organisatoren des
Verbandes in die Arme trieb, *) das alles verbesserte ihre Chancen.
Dazu kam, dafs der ganze Kampf, dessen Auf- und Abwogen sich,
wenn auch wohl nicht in dem von den Arbeiterführern erhofften
Mafse, in den Börsenkursen reflektierte, 5j der United States Steel
*) Vgl. Amalgamated Journal v. 18. 7. 1901, p. I, und Collier s Wcekly v. 3. 8.
1901, p. 17.
Vgl. Amalgamated Journal v. 18. 7. 1901, p. I, und New York Tribüne v.
6. 8. 1901, p. I. Frühere Schatzungen, so die v. 16. 7. 190t. p. I, sind wohl etwas
übertrieben.
3) „Except a strikc has been legalizcd 3 months prior to July first, no benc-
fits shall bc paid to any member for any strike during the months of July and
August", heilst es daselbst
4) Vgl. die Strikcbcrichte des New York Tribüne v. 18. 7. 1901, p. I f., v. 21.
7. 01, p. 1, v. 22. 7. Oi, p. I u. s. w.
&) Siehe unten S. 29 f. u. New York Tribüne v. 16. 7. 1901, p. 2, v. 17. 7. 01,
p. io, v. 21. 7. 01, p. 4 u. s. w.
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Der Siahlarbeitcrstrike vom Sommer iooi and seine Lehren. 565
Corporation gerade damals sehr unerwünscht sein mufste. Denn
zu ihrem noch keineswegs vollendeten inneren Ausbau bedurfte sie
vor allem ungestörten Friedens. Sie verhielt sich zunächst ab-
wartend und war in der Hauptsache nur darauf bedacht, die Kx-
pansionsbestrebungen der Amalgamated Association zu vereiteln
und die bei ihr Aushaltenden durch freiwillige Konzessionen mög-
lichst an sich zu fesseln. 1
Unterdessen suchten unparteiische Elemente zu vermitteln und
es gelang, gegen Ende Juli in New York glücklich eine Konferenz
zustande zu bringen, an der sich als Vertreter der United States
Steel Corporation insbesondere die Herren Morgan und Schwab,
für die Amalgamated Association Präsident Shaffer und Sekretär
Williams beteiligten. Aber auch diese Verhandlungen zerschlugen
sich, da der Executive Board des Arbeiterverbandes, den man nach
allerhand Zwischenfallen schliefslich in corpore hatte von Pittsburg
nach New York kommen lassen, sich nicht zur Annahme des jetzt von
Mr. Morgan gestellten Ultimatums verstehen wollte. Um des lieben
Friedens willen, wie man sagte, war man zu Konzessionen bereit
und hatte die alte, bekannte Forderung dahin eingeschränkt, dafs
die Scale nur für jene Betriebe von der United States Steel Cor-
poration zu zeichnen sei, deren Arbeiter thatsächlich organi-
siert und durch Befolgung des Strikebefehles unmil'sverständlich
zu erkennen gegeben, dafs sie mit der Amalgamated Association
verbunden zu sein wünschten. Diesem Verlangen gegenüber hatte
sich Morgan nicht grundsätzlich ablehnend verhalten, wohl
aber seine augenblicklich e Erfüllung verweigert. Seine eigenen
Friedensbedingungen waren:
Aufrechterhaltung des Vertrages vom I. Juli 1901 in der da-
maligen Fassung für die Tin Plate Co.;
Unveränderte Erneuerung der Scale des vergangenen Jahres für
die Steel Hoop Co.;
Unterzeichnung der Scale für alle im Vorjahre einbezogenen
Betriebe der Sheet Steel Co., mit Ausnahme der Werke Old Meadow
und Saitsburg, die von der Amalgamated Association offiziell ab-
gefallen seien.
Doch fanden leider diese Vorschläge wiederum vor den Augen
der Arbeiter keine Gnade. Da nun die Steel Corporation schliefe-
lich erklärte, dafs sie sich fortan auf keine weiteren Verhandlungen
*) New York Tribüne .v. 16. 7. 1901, p. 2, v. 27. 7. 01, p. l u. s. w.
Archiv für *01 Gesetzgebung u. Statistik. XVII. 37
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566
Heinrich W a e n t i g ,
mit der Amalgamated Association als solcher einlassen werde, so
bedeutete das Scheitern der Konferenz einen definitiven Bruch. ')
Damit war man an einem entscheidenden Wendepunkte ange-
langt. Denn hatte sich die Steel Corporation bisher rein abwehrend
verhalten, so ging sie nunmehr zur Offensive über, indem sie sich
mit allen Kräften bemühte, ihre durch den Strike lahmgelegten
Werke mit Hilfe unorganisierter Arbeiter sobald als irgend möglich
wieder in Gang zu bringen. Demgegenüber blieb der in die De-
fensive gedrängten Amalgamated Association zur Durchkreuzung
der Politik ihres Gegners nichts anderes übrig, als ihre oft geäufserte
Drohung wahr zu machen, d. h. für den ganzen Bereich der United
States Steel Corporation den Generalstrike zu erklären, vor allem
auch, um den etwa in Betrieb gesetzten Werken dadurch die Zu-
fuhr an Rohmaterial abzuschneiden. I lierfur kamen aufser der
Carnegie Co., auf deren Arbeiter aus früher erwähnten Gründen
nicht sicher zu rechnen war, die Federal Steel Co., die National
Steel Co. und die National Tube Co. inbetracht. Würden sich
in dieser kritischen Tage die einzelnen Zweige der Amalgamated
Association als solidarisch bewähren ? Würden wenigstens die orga-
nisierten Arbeiter jener Unternehmungen, obwohl sie an dem Aus-
gange des Kampfes nicht unmittelbar interessiert waren, dem an
sie ergehenden Rufe zur Hilfeleistung vollzählig Folge leisten ? Dafs
man in Pittsburg solange zögerte, den Strikebefehl zu erlassen, und,
als er dann endlich am 6. August erfolgte, den Beginn des Aus-
standes seltsam genug wieder um einige weitere Tage bis zum
io. August hinausschob,*) war kein gutes Zeichen und die Er-
fahrung hat gelehrt, dafs die Skeptiker Recht behalten sollten.
Von Anbeginn nämlich hatten die in Chicago, Milwaukee und
Joliet konzentrierten Arbeiter der Federal Steel Co. sich zwar zu
finanzieller Beihilfe erboten, jedoch die Idee des Generalstrikes be-
kämpft, ohne dafs es der Zentralleitung, die von dieser Sachlage
unterrichtet sein mufste, gelungen wäre, ihre Abneigung zu be-
siegen. Als dann der kritische Tag heran kam, versagten sie den
Gehorsam, mit der auch in einer sehr geschickt abgefafsten öffent-
*) Vgl. zu alledem die umfassenden Strikeberichtc des New York Tribüne
V. 28. 7. 1901, p. 17, V. 29. 7. Ol, p. I f., v. 30. 7. Ol, p. I f., V. 31. 7. Ol, p. 1 f.,
V. 1. 8. Ol, p. I f., V. 2. 8. oi, p. I f., v. 3. 8. ol, p. I f-, vor allem aber das
Statement des Kxecutivc Board im New York Tribüne v. 4. 8. 01, p. I.
*) Vgl. New York Tribüne v. 7. 8. 1901, p. I.
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Der Stahlarbeitcrstrike vom Sommer 1901 und seine Lehren.
567
liehen Erklärung 1 ) niedergelcgtcn Begründung, dafs sie selbst keinerlei
Beschwerden gegen ihre Arbeitgeber hätten, ein Ausstand ihrerseits
überdies unvereinbar sein würde mit ihrem Arbeitsvertrage, '-) wenn
nicht gar mit der Konstitution der Amalgamated Association.
„Man wird Euch sagen, dafs Ihr Verträge unterschrieben habt,"
hatte Shaffer den Widerspenstigen vorgehalten, „aber Ihr seid nie-
mals übereingekommen, die United States Steel Corporation in jene
Verträge eintreten z. u lassen. Ihre Beamten meinen , Ihr wäret
ihnen mitsamt den Werken verkauft, mit Verträgen und allem
anderen. Erinnert Euch aber, dafs Ihr vor Abschluls jener Ver-
träge Verpflichtungen gegenüber der Amalgamated Association
übernommen habt. Sie ist es, die Euch jetzt zu Hilfe ruft in
dieser Stunde der Not !" 3j Und wirklich gelang es der Beredsam-
') Dieselbe ist ubgedruckt im Chicago Kecord Herahl v. 21. 8. 1901, p. I f. Sie
schliefst mit den bezeichnenden Worten : „After taking legal advicc, wc fecl ccrtain
that President ShatTer s Claim timt our contracts arc void, becausc the Illinois
Steel Co., with whom our agreement was madc, had been absorbed by the United
States Steel Co., is without foundation. The principlcs of Union labor arc as dcar
to us as to any men in the country who earn their living by honest toil, but wc
do not think wc should be expcctcd to violatc every rule of
business integrity and personal honor for a matter of sentiment,
for tbis is a time, when wc must not lct our sympalhy get away with our better
judgment.“
*) Die Erklärung bemerkt diesbezüglich: „The merabers of our Organisation
work under a contract with our cmploycrs which is perpetual, unlcss terminated
in a manner, provided for in the contract. It is spccifically provided that this
contract can be broken under no circumstances cxccpt by either party to the agree-
ment, giving thrcc month’s notice of ils intention, the notice to bc given previous
to Oct. I.“ Diese Behauptung entspricht dem Inhalt des Vertrages vom Eebr. 1901,
von welchem ich eine Abschrift besitze. Darin wird ausdrücklich hervorgehoben,
dass beide Parteien „desire to avoid the annoyance and the loss of time incidcnt
to both said partics by reason of the readjustment of wages during the year and
[that they also wish to avoid strikes and the attendant loss of time.“
\ Memorandum of Agreement madc and entcred into in the month of Fcbruary
1901 by and between the Illinois Steel Co. and its employees, members of Lakeside
Lodgc So. 9 of the Amalgamated Association of Iron and Steel workers of the
United States who work by the ton in the rail mill at the south works of the said
Company.)
*) Shaffer bezog sich in seinem Vorgehen natürlich auf den berüchtigten Art. XVII
Sect. 23: „Should one mill in a combinc or trust have a difticulty, all mills in
said combine or trust shall ceasc work until such grievance is settled.“
37*
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568
Heinrich W a c n l i g ,
keit M. P. Tighe’s nach langen Bemühungen, die Arbeiter von
Joliet und Milwaukee in ihrem Vorhaben wankend zu machen. l)
Um so halsstarriger zeigten sich die von Chicago, wobei ich dahin-
gestellt lassen will, ob wirklich allein strenger Rechtlichkeitssinn
oder nicht auch weltkluger Egoismus -) für ihr Verhalten be-
stimmend gewesen ist. Für das Ergebnis bleibt dies gleichgültig
und der ungünstige Eindruck jenes Abfalles im eigenen Lager der
Amalgamated Association war um so tiefer, als auch die sonstige
Beteiligung hinter den gehegten Erwartungen zurückblieb. 3) Schon
damals scheint, wenngleich man das nicht eingestehen mochte, das
Vertrauen zu ihrer Sache in den Massen tief erschüttert gewesen
zu sein. „Die Frage, die zur Entscheidung stand, war nicht populär
genug, um soviele in den Strike zu verwickeln,“ soll ein Mitglied
der Amalgamated Association nachdenklich bemerkt haben, „und
die Leute konnten sich nicht für diese Sache begeistern. Nun
folgen sic blind ihren Führern, kritisieren sie aber dabei um so
mehr.“4) In New York dagegen jubelte man. „Präsident Shaffer
hat seine letzte Karte ausgespielt und verloren", hiefs es in Wall-
street. „Das heutige Fehlschlagen des Generalstrikes ist der An-
fang vom Ende. Die Amalgamated Association hat in ihrem
’) Vgl. New York Tribüne v. 12. S. 1901, p. I, v. 14. S. 01, p. 2. Chicago
Daily Tribüne v. 17. 8. Ol, p. 4, Chicago Sunday Tribüne v. 18. 8. 01, p. t,
Chicago Kccord Hcrald v. 25. S. 01, p. 1 f.
*) Die Arbeiter der South Chicago Works nehmen eine Vorzugsstellung ein,
worauf hier nicht naher eingegangen werden kann. Dafs sie angesichts des Schick-
sals der Arbeiter in den Carnegie Works seit 1892 wenig Verlangen trugen, jene
aufs Spiel zu setzen, wird man begreiflich finden. Auch im übrigen scheint mir
ihre Stellungnahme unanfechtbar. Konstitution und Vertrag befinden sich in unlös-
barem Widerspruch und da der Vertrag der Zentrallcitung sicherlich bekannt war, so
trifft sie die Verantwortung. Präsident Shaffers Auffassung ist für den, der das Ver-
hältnis der United States Steel Corporation zu ihren konstituierenden Kompagnieen
näher kennt, unhaltbar. Hatte er sic aber, so hätte sic viel eher geltend gemacht
werden müssen, nicht erst bei Bedarf. Auch glaube ich nicht fehlzugehen, wenn
ich annehmc , dafs die eventuelle Anwendung jener Theorie seitens der Illinois
Steel Co. zu ihren Gunsten von den Arbeitern schwer getadelt worden wäre. Und
mit Recht.
*) Man hatte geglaubt, die Gesamtzahl der Strikenden auf etwa 125000 bringen
zu können (New York Tribüne v. 10. 8. 190t, p. 2). Thatsächlich belief sie sich
wohl nicht auf viel mehr als 65000 Mann (New York Tribüne v. 13. 8. Ol, p. 1,
v. 14. 8. 01, p. I, v. 15. 8. Ol, p. 1, 3).
4) New York Tribüne v. 6. 8. 1901, p. I.
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Der Stahlarbeiterstrikc vom Sommer 1901 und seine Lehren.
sonderbaren Kampfe für ihr sogen. Prinzip den kürzeren gezogen.
Nicht lange, so werden die Leute Prinzip Prinzip sein lassen und
sich wieder den Dollars zuwenden." ')
Nur zu schnell sollte sich diese Voraussage bewahrheiten, denn
auch die Steel Corporation war unterdessen nicht müfsig gewesen.
Mit ihren Bemühungen, die gesperrten Betriebe auch ohne Zuthun
der Amalgamated Association wieder in Gang zu bringen, hatte sie
überraschende Erfolge gehabt. Zunächst nur sporadisch mit einigen
wenigen Arbeitern, die bei Nacht und Nebel in die blockierten
Werke hineingeschmuggclt werden mufsten. Bald aber mehrten
sich die Abtrünnigen, so dafs ein Bollwerk der Strikenden nach
dem anderen ins Wanken kam. *)
Dazu nahte jetzt der verhängnisvolle I. September. Von diesem
Tage ab hatte man den schon längst ins Gedränge geratenen Aus-
ständigen Strikeunterstülzungen zu gewähren, die den keineswegs
geldstrotzendcn Verbandssäckcl nur zu schnell leeren mufsten. Und
dabei war noch immer kein Frieden abzusehen, denn der unter der
Hand in New York gemachte Vorschlag, die Beilegung des Streites
einem Schiedsgericht zu überlassen, war von dort aus schroff ab-
gelchnt worden. '*) Nur mit grölster Mühe gelang es schliefslich
einer Gruppe einflufsreicher Männer unter Leitung des eben so
klugen wie geschäftsgewandten Präsidenten der American Federation
of Labor, Samuel Gompers,*) zu den Vertretern der Steel Cor-
poration vorzudringen, um im Aufträge der Amalgamated Associa-
tion neue Friedensverhandlungcn anzuknüpfen. Unterzeichnung der
Scale für alle Betriebe des vergangenen Jahres, Zusicherung von
Vereinslöhnen für die Arbeiterschaft aller jetzt gesperrten Werke,
endlich das Versprechen, dafs kein Ausständiger wegen seiner Ver-
bindung mit einer Arbeiterorganisation seine Stelle verlieren bezw.
*) New York Tribüne v. 13. 8. 1901, p. 3.
*) Ygl. New- York Tribüne v. 8. 8. 1901 , p. 2, v. 9. 8. Ol, p. I f-, v. 10. 8. 01,
p. 2, v. 15. 8. 01, p. 1,3; Chicago Record Herald v. 23. 8. Ol, p. 2, v. 25. 8. Ol,
p. 2 u. s. w.
’| New York Tribüne v. 11. 8. 1901, p. 2; Chicago Record Hcrald v. 29. 8.
Ol, p. I, und v. 30. 8. 01, p. I.
*) Aufser ihm waren Mitglieder der Kommission John Mitchell, President
of the Vnited States Mine Workers of America, Frank P. Sargent, Grand
Chief of the Brotherhood of Locomotive Fircmen, Henry White, Secretary of
the United Garment Workers of America, Ralph M. Easlcy, Secretary of the
National Civic Federation, und Professor J. W. Jenks of Cornell Unieersity.
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570
Heinrich W a c n t i g ,
an der Zugehörigkeit zu einer solchen gehindert werden solle — das
war alles, was man auf seiten der Amalgamated Association jetzt ver-
langte. *) Den Vertretern der Steel Corporation jedoch erschien unter
den veränderten Bedingungen auch diese Forderung noch zu hoch
und es wurde eine Beilegung des Streites nur auf folgender Basis
in Aussicht gestellt: Unterzeichnung der Scale für alle im ver-
gangenen Jahre offiziell als „Union“ anerkannt gewesenen Betriebe
der in Frage stehenden drei Kompagnien, mit Ausnahme der Werke
Old Meadow, Saitsburg, Hyde Park, Crescent, Irondale, Chester,
Cambridge, Star und Monessen; jedoch kein Widerspruch gegen die
Wiedcreinstellung der jetzt Ausständigen noch gegen die künftige
Zugehörigkeit zu irgend welchen Arbeiterorganisationen. 4) Trotz
dringlichen Zuredens der Unterhändler, mit dem energischen Hin-
weise auf die aus den Büchern der United States Steel Corporation
unwiderleglich hervorgehende milsliche Lage der Gegenpartei, B)
konnte man sich in Pittsburg nicht entschliefsen, zuzugreifen. Man
wartete; worauf? ist schwer zu sagen. Ob auf das helfende Ein-
greifen anderer Arbeiterverbände: Wenigstens hat sich Sh affe r
später auf das Bitterste über deren Passivität beklagt, nachdem
er die kostbare Bedenkzeit von 24 Stunden ungenützt hatte ver-
streichen lassen, so dafs der immer hoffnungsloser werdende Kampf
seinen Fortgang nehmen mufste.
Und doch war nunmehr der Zusammenbruch fast unvermeid-
lich. Denn einer nach dem anderen kehrten vor allem jene, die
dem Strikegebote nur widerwillig gefolgt waren, zu den Fleisch-
töpfen der Steel Corporation zurück; und wo das nicht geschah,
verstand es diese mit wachsendem Glücke, die vakanten Stellen
mit neuen Arbeitskräften zu besetzen. . Voll Angst sahen die
Strikenden sich aus ihren alten Brotstellen durch Neulinge ver-
drängt, und als dann der grofse Zahltag wirklich herankam und sich
*) Vgl. American Federationist, Vol. VIII, Oct. 1901, p. 416 (Abdruck des
Strikeberichts Shaffcrs v. 21. 9. 1901), Chicago Record Herald v. 6.9.01, p. I f.
und v. 7. 9. ol, p. 7.
*) American Federationist, Vol. VIII, OcU 1901, p. 42t II*. (Strikebcricht von
Präsident Gompcrs).
*) In dem nach Pittsburg gesandten Telegramm heilst es: „From the facts
demonstrated to us of the present Situation of the strike, that is the mills already
in Operation and several olhers which will be in Operation within a day or two,
wc arc strongly of the opinion that the interest of your trade and your Organisation
demands that these terms bc acccpted.“
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*
Der Stahlarheitcrstrike vom Summer 1901 und seine Lehren. 57 l
herausstellte, dafs die Amalgamatcd Association ihren Kriegsfonds
nahezu erschöpft hatte, ') da war kein Halten mehr. Gebieterisch
verlangten die in ihren Hoffnungen Getäuschten, deren Hallelujah !
über Nacht in ein Kreuzige! umgeschlagen war, von ihrem schwer
darniedergebeugten Führer die schleunige Beilegung des Zwistes,
die dann auch schliel'slich am 14. September zu New York, aller-
dings unter schweren Opfern, glücklich gelang. *) Was zunächst
die Steel Hoop Co. betrifft, so sollte der Besitzstand der Amal-
gamated Association vom vergangenen Jahre ungeschmälert gewahrt
bleiben. Gleiches sollte gelten für die Scale der Sheet Steel Co.,
allerdings mit Ausnahme der schon früher streitig gewesenen Werke
Old Meadow und Saitsburg und der jetzt neu hinzutretenden Hyde
Park und Canal Dover. Dagegen verlor man im Bereiche der Tin
Plate Co., die man früher fast ausnahmslos beherrscht hatte, die
Betriebe Demmler, Crescent, Irondale, Chester, Cambridge, Star und
Monessen, da die Steel Corporation die Anerkennung der Amal-
gamatcd Association für irgend ein Werk, das sie selbst ohne deren
Beihilfe wieder in Gang gebracht, entschieden ablehnte, indem sie
weiter ausdrücklich stipuliertc: „non-union mills shall be represented
as such — no attempts made to organise: no Charters granted; old
Charters retained by men, if they desire,“ und der Kompagnie das Recht
ausbedang, „ohne Rücksicht auf seine Zugehörigkeit zu Arbeiter-
organisationen jeden Angestellten zu entlassen, der durch seine Da-
zwischenkunft, durch Kränkung, oder Zwang einen andern davon
abhalten sollte, friedlich seinem Berufe nachzugehen.“
Nicht leichten Herzens wird man sich zur Annahme dieser
Bedingungen entschlossen haben, die einen vollständigen Verzicht
auf die vorläufige Verwirklichung jenes Prinzips bedeuteten, für das
man gekämpft und gelitten hatte. In bitteren Schmähungen machte
sich die Entrüstung der Arbeiter gegen ihren Führer Luft, der so-
eben erst den Bannstrahl gegen die Männer von Chicago ge-
schleudert und den manche jetzt am liebsten selbst in Anklage-
!) Vgl. Chicago Daily Tribüne v. 24. S. 1901, p. 3; Chicago Record Hcrald
v. 12. 9. 01, p. 4 und C. D. \V right, The National Amalgamated Association, p. 9.
Die Mitte September füllige Summe soll sich auf $ 68000, der Kassenbestand
Ende Mai auf ca. 75000 $ belaufen haben. Die Ausgabe an Strikcgeldern beträgt
bis 26. Okt. 1901 nach Wright $ 125000.
*) American Kederationist Vol. VIII, Oct. 1901, p. 417; Chicago Record Herald
v. 8. 9. 1901, p. 8, v. 9. 9. 01, p. 8, v. 10. 9. 01, p. 13, v. 13. 9. 01. p. I, 4*.
v. 14. 9. 01, p. 10, v. 16. 9. 01, p. 10 u. s. w.
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572
Heinrich Wa c n t i g ,
zustand versetzt hätten. *) Ja, die am schwersten betroffenen An-
gehörigen der Weifsblechindustrie erwogen eine Zeit lang ernstlich,
ob sie ihre Verbindung mit der so wenig erfolgreichen Amalgamated
Association nicht besser lösen sollten. *) Aber man hatte keine
Wahl. Denn jener Friedensvertrag war die letzte Planke, auf die
man sich retten konnte. Weiteres Zögern würde sichere Ver-
nichtung bedeutet haben.
4. Die Lehren.
Ueber die Ursachen des für manche wohl unerwarteten Zusammen-
bruches der Amalgamated Association ist viel diskutiert worden.
War vielleicht die von ihr verfochtene Forderung ihrer Natur nach
so unvernünftig, dafs ihre Verteidigung notwendig mit einem
Fiasko hätte enden müssen? Fast möchte man es glauben, wenn
man die wegwerfenden Bemerkungen kapitalfreundlicher Blätter über
„Shaffer's ambitious campaign for power“, seinen „reckless and un-
reasonable course“ liest, „ln der That scheint ein solches Knde
das fast unvermeidliche Schicksal grolser Arbeiterverbände zu sein,
wie sie nun einmal bisher geleitet worden sind,“ bemerkt melan-
cholisch der New York Tribüne.3) „Eitle, ehrgeizige und skrupel-
lose Führer benützen sie in den Tagen der Macht, um ungerechte
und extravagante Forderungen durchzusetzen. Arbeitgeber, die
erst Willens gewesen , sie in ihrem Einflüsse wachsen zu sehen,
werden zu ihrer Selbsterhaltung in die Opposition gedrängt. Und
zum Schlüsse giebt's eine Katastrophe.“ Aber ist die Sache damit
wirklich abgethan? Dafs sich hinter dem viel bekrittelten „Prinzipe"
sehr reale Interessen verbargen, habe ich früher klarzulegen ver-
sucht. Wer aber, so mufs man sich fragen, kann es dem Arbeiter
verdenken, wenn er jenen mächtigen, unter Anwendung von
„douce violence“ in allen erdenklichen Formen gegründeten Ka-
pitalverbänden zur Vermeidung der in Acht und Bann gethanen
„ruinous individual competition“ auf dem Warenmärkte seiner-
seits zur Einschränkung der für ihn wahrlich nicht minder fühlbaren
l) The Dululh News Tribüne v. 31. S. 1901, p. 1, Chicago Record licrald
v. 17. 9. ol, p. 14 und Amalgamated Journal v. 5. 9. ol, p. 1.
*) Chicago Record Herald v. 18. 9. 1901, p. II, v. 21. 9. 01, p. 5, v. 22. 9.
01, p- 3-
*1 New York Tribüne v. 19. 9. 1901, p. 8.
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Oer Stahlarbciterstrikc vom Sommer 1901 und seine Lehren.
573
„ruinous individual competition“ auf dem Arbeits markte eine
Zwangsverbrüderung der Arbeit gegenüberstcllt? ')
bedeutungsvoll ist es jedenfalls, dafs ein Amerikaner, der in wirt-
schaftlichen Dingen sonst das blinde Vertrauen seiner Mitbürger ge-
meist, kein anderer nämlich als J. Pier po nt Morgan, gerade bei
jenen Strikekonferenzen sich wiederholt dahin geäulscrt hat, er für
seine Person sei Arbeiterverbänden keineswegs feindlich gesinnt, ja,
er betrachte sic mit Genugthuung. Denn er ziehe, wenn es sich um
Feststellung der Arbeitsbedingungen handele, den „chaotischen und
unzuverlässigen Ergebnissen" der Verhandlungen mit einzelnen In-
dividuen die durch Vermittelung wohlorganisierter und wohlver-
walteter Gewerkschaften gewonnenen vor. Er bitte nur, ihn für
den Augenblick nicht weiter zu treiben, als er vernünftigerweise
gehen könne: versichere dagegen, dals im Laufe der Zeit, etwa in
zwei Jahren, die Steel Corporation bereit sein werde, die Scale für
alle ihr unterstellten Werke zu zeichnen. •) Also, nicht eigentlich
mehr das Prinzip an sich, sondern nur noch die Form, in der
seine Verwirklichung zu ungelegener Zeit erzwungen werden sollte,
wurde, wenigstens im späteren Teile des Kampfes, als Mr. Morgan
eingegriffen, von seitc des Trust angcfochten. Und dafs man sich
mit dieser grundsätzlichen Anerkennung und den verhcilsungsvollen
Versprechungen aus so machtvollem Munde nicht wenigstens als
Abschlagszahlung begnügen wollte, war ein schwerer taktischer
Fehler, der sich bitter gerächt hat.
Shaffer selbst hat in seiner Erklärung vom 21. September
1901 a) den „Mangel an Geld, den Verlust der öffentlichen Zu-
stimmung, den Abfall von Hunderten und die Vernachlässigung
durch andere Organisationen“ als die Hauptursachen seiner Nieder-
!) Mit Recht hat erst neuerdings wieder auch der bekannte Leiter des amerika-
nischen Arbeitsamtes betont: „The new understanding must learn also, that com-
bination is the inevitable result of efforts to cscapc suicidal con*
ditions of unregulated competition of produccrs comhating against
each other in the dark for custom, or the hungry competition of
work men combating against each other in the dark for the custom of cm-
ploycrs — the opportunitv to eam the daily bread of life for seif and wife and
child“ (Caroll D. Wright, Consolidated Labor in North American Review, Jan. 1902,
P- 34).
*i American Federationist, Vol. VIII, Oct. 1901, p. 428: auch C. D. Wright
in North American Review, Jan. 1902, p. 40.
a) Chicago Record Hcrald v. 24. 9. 1901, p. II.
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574
Heinrich \V a e n t i g ,
läge bezeichnet, damit aber doch nur teilweise das Richtige ge-
troffen. *) Wie immer in solchen Fällen, haben zahlreiche Momente
zusammengewirkt. Ausschlaggebend aber war die Täuschung, in
der man sich auf seiten der Amalgamated Association über die
Tendenz der öffentlichen Meinung und über das Stärke-
verhältnis der streitenden Parteien befand. Denn eben
diese Täuschung hat es vor allen Dingen verschuldet, dafs man,
anstatt sich mit dem zur Zeit Erreichbaren abzufinden, sich solange
von trügerischen Siegeshoffnungen narren liefs.
Nur wer länger in den Vereinigten Staaten gelebt, wird die
Macht der öffentlichen Meinung in diesem Lande richtig ein-
schätzcn. Sie mag für lange schlummern, sich geweckt zeitweilig
neutral verhalten; hat sie aber gesprochen, so giebt sic den Aus-
schlag, weil in allen wichtigen Fragen ihr Verdikt sich über kurz
oder lang in ein politisches Strafgericht über die Schuldigen Um-
setzen mufs. Und so glaube ich denn nicht, dafs ein Strike, von welcher
Seite immer, in erklärtem Widerspruche zu ihr gewonnen werden kann.
Kein Wunder, dafs auch in diesem Falle jede der streitenden Par-
teien sich bemühte, das Schwergewicht der öffentlichen Meinung
auf ihre Seite herüber zu ziehen. Dafs dabei zunächst die Amal-
gamated Association im Vorteile war, lag in der Natur der Dinge;
nur hatte man unklugerweise den taktisch günstigen Termin zur
Eröffnung des Kampfes verpafst. Das war die Zeit, als in den Früh-
lingstagen des Jahres 1901 die United States Steel Corporation soeben
erst ins Leben getreten war und alle Welt, eine rücksichtslose
Raubpolitik oder doch schwere Erschütterungen befürchtend, dem
Eindringling mit tiefem Mifstraucn gegenüberstand. Man hatte sich
getäuscht. Keine wüste Preissteigerung, kein brutaler Lohndruck,
kein Krach war erfolgt. Und mit jener dem Amerikaner eigen-
*) Gegen den Vorwurf der Vernachlässigung der Amalgamated Association hat
sich S. Gompers. der Präsident der American Federation of Labor, auf das energischste
verwahrt. „No request, cither written, telegraphic or verbal, was ever rcceivcd during
the strike at the office of the American Federation of Labor from Mr. Shaffer or
from any other representative of the Amalgamated Association, asking lor financial
assistance“, heifst es in einer Gegenerklärung und weiter an anderer Stelle: „I feit
contident that the executive officers of the trade unions of America ought not
and would not violatc or break tlicir contracts or agreements with
their cmploycrs throughoul the country. Hencc there would not and ought
not to be a widc-spread sympathctic strike“ (American Federation ist, Vol. VIII,
Oct. 1901, p. 417 f. u. 429).
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Der Stahlarbciterstrike vom Sommer 1901 und seine Lehren.
575
tiimlichen Anpassungsfähigkeit hatte man sich längst auch an die
bis dahin unerhörten Dimensionen des Rilliondollartrust gewöhnt.
Als sich daher im folgenden Juni nach langer Beratung die Arnal-
gamated Association zum Streite rüstete, erschien sie dem Volke
mit nichtcn als ein Ritter Georg, der gegen den Drachen Kapital
zu Felde zog, vielmehr als unwillkommener Störenfried, der täppisch
drohte, die mit ihrem goldenen Füllhorn über die Lande schwebende
liebliche Fee Prosperity zu verjagen.
Und noch ein .anderer Umstand darf nicht vergessen werden.
Als ein etwas derber und rücksichtsloser, im ganzen aber doch gut-
mütiger und unermüdlicher Geselle, der lebt und leben lälst, gern
mit den Dollars in seinen weiten Taschen klimpert, in friedlichen
Wettkämpfen die nationale Ehre verteidigt, stets hilfsbereit Kirchen
und Krankenhäuser, Schulen und Universitäten, Bibliotheken und
Museen baut, schöne Frauen mit Perlen und Diamanten schmückt
und dem nicht minder wohlgenährten Bruder Arbeit, wenngleich
man sich zuweilen in den Haaren liegt, frei von dem Hochmut
stolzen Herrentumes die schwieligen Hände drückt — so und nicht
anders malt sich das „Kapital“ im Geiste des amerikanischen Durch-
schnittsbürgers. Nicht dessen anerkannte Vorherrschaft, nur deren
unvernünftige Ueberspannung erregt zuweilen seinen Widerspruch. *)
Und als dann gar im weiteren Verlaufe des Strikes der Centralleitung
der Amalgamated Association mit mehr als einem Schein des
Rechtes der Vorwurf gemacht werden konnte, dafs sie deren Mit-
glieder zum Kontraktbruche verleite, als jener Vorwurf gegen sie
von den eigenen Verbandsangehörigen offen erhoben und ihre
Politik von diesen vor dem ganzen Lande desavouiert wurde, da
stellte sich die öffentliche Meinung unverhüllt auf die Seite der
*) Sogar in Arbeiterkreisen ist dies völlig anerkannt. Bezeichnend ist in
dieser Hinsicht die Einleitung der Konstitution der Amalgamated Association. Es
heilst dort S. 5 : „In all countrics and all times Capital has been used by some
possessing it to monopolizc particular branches of busincss , until the vast and
various industrial pursuits of the world are centralizing under the immediate control
of a comparatively small portion of mankind. Although an unequal distribution of
the worlds wealth, it is, perhaps, necessary that it should be so. To attain the
highest degree of success in any undertaking it is necessary to have the most per-
fect and systematic arrangement possible; to acquirc such a System it requires the
management of a busincss to be placcd as ncar as possible under the
control of one mind; thus the conccntration of wealth and business tact con-
duces to the most perfect working of the vast business machinery of the world.**
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576
1 1 e i n r i c li W a c n t i g ,
Steel Corporation, und zwar um so entschiedener, als diese sich
während des ganzen Kampfes versöhnlich gezeigt und kein Mittel
angewandt, das die Kritik hätte zu scheuen brauchen.
Der entmutigende Druck, den so die öffentliche Meinung
schliefslich auf die Partei der Arbeiter ausübte, wurde ihr doppelt
verhängnisvoll, da sich mit jedem neuen Tage mehr herausstellte,
dafs man die Stärke des Gegners bei weitem unterschätzt hatte.
Wie leicht man sich die Besiegung des Trust gedacht, geht deut-
lich aus jenem durch eine Indiskretion nachmals in die Oeffent-
lichkeit gedrungenen Geheimberichte hervor. Vor allem glaubte
man an die finanzielle Schwäche der Steel Corporation
und berief sich zum Beweise dessen auf die grofsc Nachgiebigkeit,
die ihre Leiter gelegentlich eines nach kurzen Verhandlungen den
Wünschen der Arbeiter entsprechend beigelegten Konfliktes in
Mc Keesport bei Pittsburg Mitte April des Jahres gezeigt hatten. ')
„Wir gewannen infolge ihrer Schwäche", soll Shaffer geradezu
erklärt haben. „Denn die United States Steel Corporation ist heute
nur eine lose Zusammenfassung von Körpern ohne klare Organi-
sation, ohne ausgeprägte Regierungsformen, ohne systematische
Operationspläne. Dabei entspricht dem Unterschied zwischen ihrem
realen Besitz und ihrer nominellen Kapitalisierung keinerlei Wert
in Anlagen oder sonstigen Sicherheiten irgend welcher Art. Reali-
sieren lassen sich jene Scheinwerte nur durch den Verkauf der
verwässerten Stocks an Outsiders, die dabei von den Gründern,
Maklern und Spekulanten ausgebeutet werden. So dumm diese
Käufer auch sind, so wissen wir doch, dafs sie sich weigern
würden, ihr gutes Geld für die Aktien einer in Strikes verwickelten
Unternehmung herzugeben. Deshalb siegten wir. Denn unsere
blofsc Erklärung, die Arbeit cinstellen zu wollen, beeinflufstc den
Vertrieb ihrer Papiere in wenigen Tagen bis zu einem Betrage
von- einer Million Dollar allein in Wall Street und erschwerte
überdies ihren Absatz in London." In der That wird diese Be-
hauptung durch den Kurszettel bestätigt. Denn es notierten die
zum ersten Male am 28. März 1901 an der New Yorker Börse ge-
handelten Aktien der United States Steel Corporation folgender-
malsen : 2)
’) Chicago Record Hcrald v. 24. 8. 1901, p. 1 f. Vgl. dazu auch The Cummer-
eial and F inancial Chroniclc v. 2o. 4. 1901, p. 746 f.
*) Die obigen Ziffern wurden den rcgrlmärsigen Kursausweisen des Commercial
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Der Stahlarbeiterslrikc vorn Sommer 190J und seine Lehren.
577
Common
stock
Preferred
stock
höchst
niedrigst
höchst niedrigst
13. April
46* ,
47* ,
94'.
95%
15- ..
47'/,
4S
94*/-
957.
16. ,.
46
47
93*/.
95
17- ..
45'.
46’'.
93'.
941 .
18.
453 .
47’ .
93’/.
94*.
19- ..
4»‘ ,
47' .
93 ";s
95 «• *■
Und der äufserst heftige Kurssturz, den, wie aus den folgenden
Ziffern sich ergiebt, die Aktien der Steel Corporation zusammen
mit anderen Werten gelegentlich der in der zweiten Maiwoche in-
folge des Northern Pacific Corners hercinbrechenden Börsenkrise er-
litten, mag die I.eiter der Amalgamated Association vollends in ihrer
Ueberzeugung bestärkt haben.
Common
stock
Preferred stock
höchst
niedrigst
höchst
niedrigst
4-
Mai 50 ljt
53'.
98' .
ioo
6.
„ 52 1 ,
54
100
IOI* H
. 7-
.. 5*' .
53
98'.
IOO5 ,,
8.
.. 44
5«’i
87
99
9-
.. 24
47
69
98
10.
„ 4>
45
90
94
'3-
44
46
92
93',4
■4-
„ 4 1 1 .
44* .
89".
92
»5-
.. 39' .
43‘.
88" ,
9«
16.
.. 42 ' ■!
44
9°*s
92
«7-
t» 43 ’ .
45
9t*,
94 U. 5. w.
Schon damals aber hatte
das Chronicle die
Arbeiter vor einem
unüberlegten
Strike gewarnt :
„Der
Umstand,
dafs die iron and
Steel interests
in so weitem U
mfange
in einer Hand vereinigt sind,
wurde der United States Steel Corporation eine bisher noch nicht
dagewesene Widerstandskraft gegenüber einem Ausstande verleihen,“'
bemerkte das Blatt am 20. April. „Auch wäre es völlig irrig an-
and Financial Chronicle entnommen. Der Wochenumsatz „on basis of ioo share
lots“ betrug 368804 bcz. 233882 gegenüber 564612 bcz. 236864 der vorhergehenden
und 669437 bez. 348571 der folgenden Woche, die zu einer am 30. 4. kulmi-
nierenden Haussebewegung überleitete. Das Finanzblatt beklagt sich über ,,a general
selling movement of Steel Securities“ am 16. 4. und wirft die Frage auf, ob nicht
etwa die Strikeführcr direkte Verbindung mit der Börse unterhielten. Am 17. 4.
fanden die Ausglcichsvcrhandlungcn statt.
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5/8
Heinrich \V a e n 1 i g ,
zunehmen , es werde die Corporation von erheblichen Verlusten
betroffen werden. Sie würde doch einen Ausweg finden, um die
Produktion innerhalb gewisser Grenzen aufrecht zu erhalten, und
dazu für alle Ware, die sie auf Lager hat, oder sonstwie auf den
Markt bringen könnte, erheblich gesteigerte Preise erzielen." ’)
Und zum Ueberflufs war Shaffer vor Eröffnung der Feindselig-
keiten vertraulich mitgeteilt worden, dal's man in jeder Hinsicht
gerüstet sei. „Man sagte uns," erklärt er selbst in einer zu
Wellsville gehaltenen Rede, „dafs die United States Steel Corpora-
tion einen Kriegsfonds von 200000000 Dollar zur Verfügung habe,
oder, wie man sich uns gegenüber ausdrückte, eine Reserve, um
im Falle von Arbeitsstreitigkeiten damit ihre Aktien aufzupolstern
(bolster up).“ 2) Und dafs dies keine leere Drohung war, hat die Er-
fahrung gezeigt. Denn obwohl sich die einzelnen Phasen des
Kampfes, wie kaum anders zu erwarten, auf das genauste in den
Kursschwankungen wiederspiegelten, auch zeitweilig immense
Umsätze stattfanden .,) so sind die vor Beginn des Strikes mit
49'’’ s bezw. 99 :1 , notierten common bezw. preferred Stocks der
United States Steel Corporation doch nur ein einziges Mal, Mitte Juli
nämlich, auf 37 bezw. 86 herabgesunken, um sich jedoch alsbald
wieder zu erholen. Und die als vernichtender Hauptcoup geplante
Erklärung des Generalstrikes hat sie eigentlich kaum noch berührt.
Wie wenig die Amalgamated Association aber auch sonst dem
Trust hat anhaben können , das sollte sich noch deutlicher
aus der Veröffentlichung seiner Rechenschaftsberichte im Herbst
und zu Neujahr ergeben. Gleich bei Beginn des Ausstandes hatte
man in Wallstreet betont, dafs, selbst wenn die Steel Hoop Co.,
M The Commcrcial and Financial Chronicle v. 20. 4. 1901, p. 747.
2) New York Tribüne v. 19. 7. 1901, p. 2. Später wurde bekannt, dafs einer
der routiniertesten Börscnlcute von New York. Mr. James K. Kecnc, den beson-
deren Auftrag erhalten halte, die finanzielle Kampagne gegen die Amalgamated
Association zu führen (vgl. Duluth Evening Hcrald v. 29. 8. 01 p. 9).
3) Fs betrugen die Wochcnumsatze „on basis of loo sharc lots“ nach Aus-
weisen des Commcrcial and Financial Chronicle in United States Steel Corporation
Common und Preferred Stocks, gerechnet ab 22. 6. 1901 :
237822 und 103297
192 258 „ 102326
492512 „ 183396
595915 „ 356112
333175 .. 105947
567595 und 242892
376325 „ 182640
167 770 „ 77 647
118895 .. 63971
( — 23. 8. Ol) u. s. w.
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Der Stahlarbeiterslrike vom Sommer 1901 und seine Lehren.
579
die Sheet Steel Co. die Tin Plate Co. und eventuell die Federal
Steel Co. lahmgelegt werden sollten, dennoch die Lage der Steel
Corporation keineswegs eine bedrängte sei, und diese Behauptung
folgendermafsen begründet : „Die American Steel and Wire Co., die
eine non-union Compagnie ist, kann für sich allein die Produktion
der Steel Hoop Co., die Carnegie Co., auch eine non-union Com-
pagnie, im Verein mit mehreren anderen, die der Sheet Steel Co.
mit übernehmen. Kurz, die einzige Unternehmung, deren Geschäft
durch den Strike faktisch zum Stillstand gebracht werden könnte,
wäre die American Tin Plate Co.“1) ln der That hat die Steel
Corporation nach Vorwegnahme der zur Verzinsung der 5%, igen
Bonds und zur Dotierung des Reservefonds u. s. w. erforderlichen
Summen am 1. Oktober wie schon vorher am 2. Juli Vierteljahrs-
dividenden von 1 3 , 0 „ auf ihren preferred und 1 " „ auf ihren com-
mon stock verteilen können und ihre Reinerträge haben sich von
Beginn der Operationen ab bis Fnde des Jahres folgendermafsen
gestaltet * ) :
April $ 7 356 744
Mai „ 9612349
Juni „ 9394 747
Juli „ 95X0151
August „ 9810SS0
„Die Thatsache, dafs unsere Gewinne während der Strike-
monate so grofse waren, mag manche Leute mystifizieren,“ heifst
es in dem Oktoberbericht. „Aber allen Ernstes, der Strike war für
uns in keinem Sinne ein empfindlicher Schlag. Ermöglichte er es
uns doch, zu Minimalkosten viele notwendige Reparaturen
durchzuführen, die stets in die Mitte des Sommers fallen,
während einige der von den Ausständigen gesperrten Werke unter
allen Umständen zu dem genannten Zwecke hätten geschlossen
werden müssen. Llcberdies sind jene Zahlen ein deutlicher Beweis
vom Werte der Konzentration. Konnten wir doch während des
Strikes, solange nur noch einige von unseren Werken im Gange
waren, diesen diejenige Arbeit übertragen, die sonst
*) New York Tribüne v. 16. 7. 1901, p. I.
*) The Commercial and Financial Chronicle v. 5. 10. 1901, p. 722; The Iron
Agc v. 6. 2. 02. p. 16. Die Verringerung der Reinerträge im Dezember ist auf den
durch Zufrieren der Seen hervorgerufenen Stillstand der Eisenminen und Verkehrs-
anstalten zurückzuführen.
September $ 9272812
Oktober „ 12205774
November „ 9795841
Dezember „ 7750000 {Schätzung).
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5 So
Heinrich W a e n l i g ,
auf die geschlossenen Etablissements gefallen war e.“
Die Wahrheit ist, dafs eine Unternehmung von der Vielseitigkeit,
Einheitlichkeit und Elasticität ') der United States Steel Corpora-
tion, die, begünstigt von einem Hochschutzzolle, in ihrem Lande
etwa 75", 0 des Gesamtproduktes ihrer Branche *) „kontroliert“, zumal
wenn sie von einem Finanzier wie Pierpont Morgan gesteuert und
von einem Industriellen wie Charles Schwab geleitet wird, fast
einer uneinnehmbaren Feste gleicht. Gewifs wird sic gerade wegen
der wunderbaren Kompliziertheit ihrer inneren Organisation Stö-
rungen aller Art nach Möglichkeit aus dem Wege gehen. Einmal zum
Kampf gezwungen aber, wird sie ihre ganze Stärke erweisen. Denn,
da sie ihren Gewinn aus den mannigfachsten Quellen zieht, ihre Er-
zeugung in weitem Spielräume beliebig verteilen, augenblickliche
Verluste durch spätere Preiserhöhungen wett machen kann und in-
folge ihrer Monopolstellung, für kürzere Perioden wenigstens, eine
Verdrängung vom Markte nicht zu befürchten hat, so wird cs sich
für sie rcgelmäl'sig mehr um zeitliche bezw. örtliche Verschiebung
ihrer Produktion und ihrer Einnahmen, nicht um definitiven Verlust
ihres Absatzes handeln Und nur ein gründlich gerüsteter, straff
organisierter, einheitlich geleiteter und womöglich über ihren ganzen
Bereich sich erstreckender Arbeiterverband, wird ihr einigermalsen
gefährlich werden können.
*) Wie crot's diese Elastizität ist, zeigt sich daran, dafs man während des Aus-
Standes z. B. allen Ernstes erwogen zu haben scheint, der Arbeitskräfte wegen ein-
zelne Etablissements von dem einem Orte nach dem anderen zu verlegen. Vgl. New York
Tribüne v. 27. 7. 1901, p. 2, v. 10. S. Ol, p. I, v. 11. 8. 01, p. I, v. 14. 8. 01, p. I
und The Commcrcial and Financial Chronicle v. 17. 8. 01, p. 310. Es zeige sich
dabei, bemerkte das Finanzblatt, „that Capital possesses all degrees of mobility“.
*) Nach Charles M. Schwab in Reports of the Industrial Commission,
Vol. XIII, p. 455.
3) „Reports of the Cnited States Steel Corporation showed.“ heifst es im
Engineering and Mining Journal v. 4. I. 1902, p. 17. „that the carnings for the month
of August were greater than any previous month. There is no doubt
however, that the profits would liavc been larger, but for the strike.“ Thatsächlich
wurde der Ausfall, wie meine Tabelle zeigt, im Oktober nach geholt. Ucber
die Preisgestaltung unter dem Einflüsse des Strikes vgl. Engineering and Mining
Journal v. 4. 1. 02. p. 17 ff. und Iron Age v. 2. 1. 02, p. 7 ff., 30 ff. Das Er-
gebnis wird zusammengefafst in den Worten : „The Suspension of the stcel, hoop,
sheet, tube and tinplate mills did not affect the prices of pig iron or
finished material cxccpt sheets.“
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Der Stahlarbcitcrstrike vom Sommer 1901 und seine Lehren.
581
Die Amalgamated Association nun erfüllte, streng genommen,
fast keine dieser Bedingungen. Schon ihre finanzielle Lage mufs,
wie sich aus den unten angeführten Ziffern ergiebt, in Anbetracht
der Gröl’se ihres Vorhabens als gänzlich unzulänglich bezeichnet
werden. ') Hs betrugen nämlich ihre
im
Mitglieder-
Gesamt-
Gesamt-
Ueber-
Jahre
zahl
einnahme $
ausgabe 5
schüsse 8
1895
10000
34 539
2 1 O4S
'3491
1896
1 1 000
35781
12525
23255
1897
• I0500
44426
15962
28 463
180S
IO 500
52663
25S3O
26832
1899
1 1 050
57070
22 202
34 868
1900
14035
84307
27 364
56943
1901
13S93
1 19659
44 760
74 89S
Nun konnten die 74898 $, die sich Ende Mai in der Verbands-
kasse befanden , natürlich durch aufserordcntlichei Beiträge nicht
strikender Mitglieder oder anderer Arbeiterverbände ergänzt werden.
Doch hatte mit Recht schon im April das Commercial and Finan-
cial Chronicle es als „eine närrische, allerdings weit verbreitete
Idee bezeichnet, dal's ein ausgedehnter, sich über viele verbündete
( iewerbszweige erstreckender Ausstand grölsere Gewinnchancen habe
als ein auf ein einzelnes Gewerbe beschränkter.“ Denn je gröfser die
Zahl der Ausständigen, desto schwieriger werde ihre Ernährung. sj
Und schliefslich hat sich auch herausgestellt, dafs man die zur Fort-
führung des Strikes unentbehrlichen Geldmittel nicht flüssig machen
konnte. Man hatte sich leichten Sinnes auf Art. X Sec. 4 der Kon-
stitution und die Schwäche des Widersachers verlassen.
Immerhin hätte man über diese finanziellen Schwierigkeiten
allenfalls hinwegkommen können, wenn die Verbandsgenossen durch
eiserne Selbstzucht bei der gemeinsamen Fahne zusammengehalten
worden wären. Wie es aber gerade damit stand, haben unzählige
*) Vgl. Chicago Daily Tribüne v. 24. 8. 1901, p. 3. Die im Texte mitgeteiiten,
angeblich jenem Geheimberichte entstammenden Ziffern stimmen in Kolumne 2 nicht
mit den von Caroll D. Wright (The National Amalgamated Association u. s. w.t p. 9)
bei der Amalgamated Association ermittelten überein, welche durchweg, das Jahr
1901 ausgenommen, niedriger angegeben sind. Jedenfalls stellen, da die Ausgaben-
summen identisch sind, die „Uoberschüssc“ das Maximum der am Kndc jedes Finanz-
jahres vorhandenen Mittel dar. Die jedesmaligen Kcstbcstände dürften zu Beginn
der neuen Periode unter den Einnahmen gebucht worden sein.
*) The Commercial and Financial Chronicle v. 20. 4. 1901, p. 104 b
Archiv für so/, (»esetziccbunfj u. Statistik. XVII. 3“
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582
Heinrich Waentig,
Beispiele beleuchtet.1) Prophetischen Geistes hat Gompers1) in
einem Briefe vom 15. Mai 1901 Shaffer davor gewarnt, „Unmög-
liches zu versuchen oder sich für eine Sache einzusetzen, welche
die Masse der Arbeiter in ihrem ruhigen und nüchternen
Urteil weder billigen, noch vertreten" wolle. „Any attempt on our
part,“ hatte er hinzugefügt, „to go farther than thc workers are
prepared to support by their action, will simply lcave the
proposer high and dry and will wreck the movement
for which we have given so many years to build.“ Das alles trat
jetzt ein. Bitter beklagte sich am Ende des Kampfes das Amalga-
mated Journal 3) über den hervorgetretenen Mangel an Solidaritäts-
gefuhl und machte ihn geradezu für das Scheitern des ganzen
Unternehmens verantwortlich. „Niemals zuvor," so heifst es hier,
„hat die Amalgamated Association so grofsartige Unterstützung
von Seite verwandter Gewerbe erfahren, nur reichte sie nicht weit
genug, um wirksam zu sein. Wenn nur die Arbeiter von Duqucsne,
Braddock und Homestead das glänzende Beispiel ihrer Brüder von
Mc. Keesport nachgeahmt hätten, so würde ein anderer Frieden
erlangt worden sein. Hätten die Leute von Monessen die Arbeit
eingestellt, anstatt dem Trust zu helfen, so würde die Association
heute anders dastehen. Wenn die Männer von Vandergrift, Leech-
burg, Scottdale und Saitsburg sich dem Kampfe um Anerkennung
angeschlosscn hätten, anstatt dem Trust in seinen Bemühungen bei-
zustehen, unseren Strike zu brechen, der doch in Scene gesetzt worden
war, gerade um ihnen das Koalitionsrecht zu erkämpfen, so würde
der Ausstand von der Association gewonnen worden sein. Wären
die Männer von Chicago loyal geblieben und dem Rufe des Präsi-
denten gefolgt, hätte Bayview bis zum Ende ausgehalten und Joliet
nicht geschwankt, so würden auch andere Orte, die eine gewisse
Unsicherheit zeigten, nicht abgefallen sein. Hätten die Roller in
Painters Mill sich tapfer gezeigt, anstatt das Hasenpanier zu er-
greifen, ja alle unsere Leute nur so treu zu den Interessen unserer
Organisation gestanden, wie die Glieder des Trust zu den seinen,
dann würde sich der Sieg an die Fahne der Arbeit geheftet haben.
Aber das alles war nicht der Fall. Es fehlte an der nötigen Ein-
tracht. A house divided against itself must fall!“
*) New York Tribüne v. 21. 7. 1901, p. I, v. 23. 7. 01, p. 2, v. 7. 8. 01,
p. 2 U. S. W.
*) American Federationist, Vol. VIII, Oct. 1901, p. 427.
*) Amalgamated Journal v. 19. 9. 1901, p. I.
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Der Stahlarbciterstrikc vom Sommer I90I und seine Lehren.
s«3
Gewifs! Und zwar war dies noch in einem anderen Sinne
richtig. Darf man doch nicht vergessen, dafs selbst in den erklärten
union-mills ein sehr erheblicher Teil der Arbeiterschaft außerhalb
der Amalgamated Association stand : die Ungelernten.1) Zwar ver-
bot die Konstitution die Aufnahme solcher „laborers" nicht geradezu,
„the latter to be admitted at the discretion of the subordinate lodge“,
wie sich Art. I charakteristisch ausdrückt, doch hatte man gewifs
nichts gethan, um sie zu fördern, oder sonst unter jenen Leuten
moralische Kroberungen zu machen. War doch ihr Anlernen durch Ver-
bandsmitglicdcr nach Art. XVII Sect. t<) der Konstitution mit Aus-
schlufs von der Gewerkschaft bedroht. “) So baute man denn, und
in gewissem Mafse mit Recht, auf die Unentbehrlichkeit der or-
ganisierten gelernten Arbeiter gerade für die von dem Strikc in
erster Linie betroffenen Betriebe der Sheet Steel Co., Steel Hoop Co.
und Tin Plate Co., *) ohne zu bedenken, dals es der Steel Corporation
*) Die Ungelernten wurden natürlich durch den Ausstand der (Jelernten mit
arbeitslos. Hin Berichterstatter des New York Tribüne (v. 10.8. 1901, p. 2) schätzte
vor Frklähing des Generalstrikes die Zahl der in den Kampf verwickelten Arbeiter
der ersteren Kategorie auf 45000 gegenüber etwa 20000 der letzteren.
*) In dem Artikel heifst es: „Slmuld any member ol this association undertake
to instruct an unskilled workman in any of tbe trades represented in this Asso-
ciation, it ' shall bc the duty of the Mill Committee to notify hitn that this asso-
ciation ca 11 not toleratc such procecdings, and slmuld he still persist in
doing so, Chargen shall bc preferred against hitn, and he shall be cx pell cd or
suspended, as the lodge may determinc.“
*) Sehr lehrreich ist in dieser Hinsicht ein offenbar sachverständiger Artikel
des New York Tribüne v. 6. 8. 1901, p. 1, in dem ausgefUhrt wird, dafs hochmoderne
Betriebe, wie z. B. die der Carnegie- Werke zu Homestcad, Duquesne und Braddock,
durch Strikes wohl überhaupt nicht mehr lahm zu legen seien, „as the
machincry at thcsc plants is so automatic that new men can soon bebroken
i n , and the men who Step out will be out for good. Every heat of mctal and
every lot that is finished are tested by ehern ists and experts to such an extent that
nothing is left to chance in thesc inammoth plants. The experts are not sym-
pathizers with the strikers, and wilh their aid the plants could almost
be run with men who had never seen a stcel plant“. Ganz anders
stehe es natürlich in jenen altmodischen Betrieben , die man ohne gelernte Arbeit
nicht in Gang erhalten könne. Zu dieser Kategorie gehörten über */4 der Steel
hoop-Bctricbc und alle Werke der Sheet Stcel Co. mit Ausnahme von I oder 2.
„Tin plate making“, heifst cs endlich, „requires a high degree of proficiency, and
the American Tin Plate Co. is at the merey of the strikers.“ Vgl. dazu auch
Berichte über Handel und Industrie, zusammengestellt im Reichsamt des Innern,
Band IV, 1902, p. 107 f.
3**
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584
Heinrich W a e n t i g ,
auf die Dauer gelingen mufetc, die Geschicktesten unter jenen Un-
gelernten , die der Amalgamatcd Association gegenüber durch
keinerlei Verpflichtungen gebunden waren, für sich zu gewinnen
und auszubilden. Die Schnelligkeit, mit der es itn Laufe des Monats
August gelang, ein Werk nach dem anderen, wieder in Gang zu
bringen, deutet darauf hin, dafs jene Taktik vom Trust mit bestem
Erfolge zur Anwendung gebracht worden ist.
So konnte für den, der mit den Dingen intimer vertraut war,
der Ausgang des Kampfes kaum zweifelhaft sein, obwohl für eine
gute Sache von einerrl für seine Mission begeisterten Priester ge-
rungen wurde. Denn ein solcher war es, der den Arbeitern das
Banner vorantrug. ') Und als ein unerschütterlicher Glaubensheld
hat er sich auch bethätigt. Aber betont nicht schon die Schrift,
dafs der Glaube wohl selig mache „als eine gewisse Zuversicht
des, das man hoffet, und nicht zweifelt an dem, das man
nicht sichet“, um damit stillschweigend anzudeuten, dafs er
nicht irdische Schlachten gewinnen kann ? Die Unfähigkeit, sein
heifscs Sehnen nüchterner Abwägung der taktischen Möglichkeiten
unterzuordnen, ist Sh affe r verhängnisvoll geworden, hast rührend
spricht sich diese Zwiespältigkeit seiner gequälten Seele in den
von dem besonnenen Gompers mit Recht verspotteten Worten
aus: „We knew our cause would he lost; but procedc'd, fceling
assured, wc could win, if Support could he secured for the
faithful strikers.“ '•) Und als dann der rettende Engel ausblieb, hat
er sich in diesem verlorenen Spiele doch nicht eher ergeben, bis
sich mit überwältigender Klarheit zeigte, dafs die Trümpfe samt
und sonders in der 1 land des lachenden Gegners safsen. —
5. Das Nachspiel.
Ucbcr die Forderung der Amalgamatcd Association hat der
Ausgang des Strikcs entschieden, nicht über das von ihr ver-
M Präsident I h. J. Sliaffcr, gcb. am 23. 4. 1S57 zu Pittsburg Pa., war in seiner
Jugend als rollcr ini Stahlgcwebc tliätig, graduierte später an der Western Universitv
zu Pitlsburg mul widmete sich von da ab für io Jahre dem geistlichen Stande in
der Methodist Kpiscopal Churcli. Seine geschwächte Gesundheit zwang ihn, zu
seinem früheren Berufe zurückzukehren, in dem er am 9. 4. 1898 zum Haupte der
Amalgamatcd Association of Iron, Steel and Tin Workers gewählt wurde. Wer den
hageren, etwas schwärmerischen Mann näher kennt, wird an der Lauterkeit seiner
Absichten nicht zweifeln können.
*) American Federationist, Vol. VIII, < >ct. 1901, p. 415, 421.
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Der Stahlarbcitcrslrike vom Sommer 1901 und seine Lehren.
585
fochtenc Prinzip. „Ich sage Euch.“ hatte einer ihrer Führer drohend
ausgerufen. ’) „die Frage mufs noch entschieden werden, auf diese
oder jene Weise. Wenn nicht im friedlichen Strikc, dann durch die
Gesetzgebung; versagt diese, inufs man’s mit dem Stimmzettel ver-
suchen. Geht's auch damit nicht, nun so fürchte ich, wird nichts
übrig bleiben als an das Bajonett zu appellieren. Ich sage Euch,
die I.age ist heute eine solche, dafs unser Land am
Vorabend einer der gröfsten Revolutionen steht, die
sich jemals in der Weltgeschichte zu getragen haben.“
In milderer Form, aber nicht minder bestimmt, hat sich Andrew
Carnegie ausgesprochen. „Einige Unternehmungen haben sich
in Amerika geweigert," heilst es in seiner Gospel of wealth, •)
„die Koalitionsfreiheit ihrer Leute anzuerkennen. Doch kann diese
Politik nur als eine vorübergehende Phase der Entwicklung be-
trachtet werden. Ist doch das Recht des Arbeiters, sich zu ver-
einigen und Gewerkschaften zu gründen, nicht minder heilig als das
des Fabrikanten, mit seinen Genossen Verabredungen zu treffen und
Bündnisse einzugehen, und es wird früher oder später eingeräumt
werden müssen.“ Es würde, in einem demokratischen Lande
wenigstens, wo grundsätzlich allen mit gleichem Mafse zu messen
ist, zugestanden werden müssen, auch wenn die oft gehörten Vor-
würfe sich bewahrheiteten , dafs Gewerkvereine der technischen
Vervollkommnung und dem sozialen Frieden des Gewerbes
schädlich seien.'1) Aber sind sie es wirklich, oder besser, müssen
sie es notwendig sein? Wie verträgt sieh z. B. mit jener Be-
hauptung der folgende Absatz des im Februar 190 1 zwischen der
Lakesidc I.odge No. 9 der Amalgamated Association und der
Illinois Steel Co. abgeschlossenen Vertrages, der bekanntlich im
Ausstande des vergangenen Sommers jene wichtige Rolle spielte?
Er lautet: „die Parteien kommen weiter überein, dafs, falls die
eine wirksamere Maschinerie einführen oder ihren Betrieb sonstwie
vervollkommnen sollte, so dafs cs möglich würde, die Arbeit in ihrem
Schienenwalzwerk durch eine geringere Zahl oder minder gelernte
New York Tribüne v. 12. 8. 1901, p. 2.
2) Andrew Carnegie, The Gospel of Wealtli, New York 1900, p. 114.
*1 Diese Befürchtung ist mit besonderer Schärte wieder gelegentlich der im
Dezember iqoi von der National Civic Federation zu New York veranstalteten Kon«
ferenz.cn durch Charles M. Schwab ausgesprochen worden (vgl. National Con-
ference on Industrial Conciliation. held at New York, Dccember t6 and 17, 1901.
New York 1902, p. 32 IT.].
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586
H c i n r i c h W a e n t i g ,
Arbeiter verrichten zu lassen, die andere alles t h u n will, was
in ihren Kräften steht, um die genannten Verbesse-
rungen durchzuführen, auch bei der Vornahme aller
derjenigen Modifikationen beistehen will, die solche
Vervollkommnung, hinsichtlich der Lohnsätze oder
der Arbeiterzahl mit sich bringen sollte, Modifika-
tionen, über die sich die Parteien später zu einigen hätten.“ Und
wie verträgt es sich damit ferner, dafs nach einem am 29. Juni
1901 zwischen der Republic Iron and Steel Co. und der Amal-
gamated Association abgeschlossenen Vertrage alle in künftigen
Jahren bei den Verhandlungen über die Scale hervortretenden un-
löslichen Meinungsverschiedenheiten durch einen von beiden Kon-
trahenten einzusetzenden board of concilation von 3 Personen bei-
gelegt werden , sollen, wobei der Arbeiterverband sich ausdrücklich
verpflichtet, unterdessen alle Betriebe der Gesellschaft gegen Fort-
zahlung der bisherigen Löhne in Gang zu erhalten?1) Sollte es
wirklich nicht möglich sein, bei einigem guten Willen auch in
anderen P'ällen einen Ausweg aus dem Dilemma zu finden ?
Wenn irgend wer, so schienen freilich von solcher Verständigung
jene himmelweit entfernt, die sich soeben in erbittertem Kampfe
gemessen hatten. Und doch hat jener Strike schließlich keine Ent-
fremdung, sondern eher eine Annäherung der Beteiligten herbei-
geführt. Das kam am deutlichsten zum Ausdruck auf jenen denk-
würdigen, kurz vor Weihnachten 1901 von der National Civic
Federation zu New York veranstalteten Konferenzen zwecks Be-
ratung von Maßnahmen zur Vermeidung und Beilegung von Arbeits-
streitigkeiten, *) an denen eine Reihe hervorragender Männer aus
’) Reports of the Industrial Commission, Yol. XVII, p. 341.
*) Vgl. darüber New York Tribüne v. 17. 12. 1901, p. 1 und v. 18. 12. ci, p. 1,
auch American Federationist, Vol. IX, Jan. 1902, p. 22 ff. Die National Civic
Federation ist aus einer im Juni 1900 durchgeführten Erweiterung der 1893 zwecks
Anbahnung munizipaler Reformen gegründeten Chicago Civic Federation hervor-
grgangen. Sic hat sich um weitere Kreise besonders durch Veranstaltung einer
Reihe von Konferenzen verdient gemacht, die das Interesse an sozialen Reformen
zu wecken bestimmt waren. Ich verweise insbesondere auf die folgenden Be-
richte: Congress on Industrial Conciliation and Arbitration, held at Chicago Nov. 13
and 14, 1894, Chicago 1894; National Conference on Practical Reform of Primary
Fleetions, held at New York. Jan. 20 and 21, 1898, Chicago 189S; Chicago Con-
ference on Trusts, held September 13, 14, 1 5 and 16, 1899. Chicago 1900; National
Conference on Taxation, held at Buffalo, May 23 and 24, 1901. Die Federation
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Der Stahlarbciterstrike vom Sommer 1901 und seine Lehren.
587
allen Teilen des Gandes, darunter auch die Blüte seiner Unter-
nehmer- und Arbeiterschaft teilnahmen. Hier trafen sich auch
Schwab und Shaffer wieder, und die versöhnlichen und takt-
vollen Worte des Siegers zeugten für die feine Diplomatie des
amerikanischen Arbeitgebers. „Ich bin hier“1, so etwa führte er aus,
„bereit, mich überzeugen zu lassen, begierig, die Kehrseite der Me-
daille zu sehen, und entschlossen, zu thun, was recht ist. Möglich,
dafs mein Motiv ein selbstsüchtiges ist. Aber ich erkenne, dals von
der friedlichen Schlichtung jener Streitigkeiten zwischen Kapital
und Arbeit das künftige Glück der Vereinigten Staaten abhängt.
Der gewerbliche Verfall in anderen 1 .andern ist auf die Feindselig-
keit der Gewerkvereine zurückzuführen. Nun ich leugne nicht, dafs
das Kapital gelegentlich willkürlich und radikal vorgegangen ist.
Die Arbeiterverbände aber haben das Gleiche gethan. Alles in
allem sind Reichtum und Wohlfahrt der Unternehmer und Arbeiter
eng mit einander verknüpft, ihre Interessen sind wechselseitige und
beide sollten Zusammenhalten. Ich bin hierher gekommen, um mich
mit all meiner praktischen Erfahrung in den Dienst dieser Sache
zu stellen, und hoffe, dals diese Konferenz zu einem guten Ende
führen wird.“ ' )
Klingt das aber nicht wie ein vollkommener Umschwung in
der Arbeiterpolitik der Steel Corporation r .Sollte ihr Sieg vielleicht
doch eine — Niederlage gewesen sein? Hat man sich etwa im
geheimen davon überzeugt, dafs die für die Frosperität moderner
Riesenunternehmungen zweifellos unentbehrliche Verfügung über
die Produktionsfaktoren, insbesondere die Arbeit, sich am Ende noch
auf einem anderen und zuverlässigeren Wege sichern lasse, als
durch Vernichtung sprossenden Lebens? Fast scheint es so. Denn,
bin ich recht unterrichtet, so hat der Trust, seine friedliche Ge-
sinnung bethätigend, den Besiegten zur Vermeidung künftiger
Streitigkeiten einen dreijährigen I.ohnvertrag angeboten, worüber
die Entscheidung der Gegenpartei noch ausstcht. '•') Wie immer sie
ausfallen möge, so bedeutet jener Schritt, der sich übrigens auch
hat ihren Sitz in New York, dort ein Hurcau unter Leitung von Mr. Ralph M.
Easley und hat zur Erfüllung ihrer Aufgaben ein Taxation Department und ganz
neuerdings ein Industrial Department organisiert.
*) National Conference on Industrial Concilalion, p. 32 iT.
*) C. D. W right, The National Amalgamaled Association, p. 34.
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H. Waentig, Der Stahlarbciterstrike vom Sommer 1901 und seine Lehren.
auf andere Weise bezahlt machen dürfte,') doch schon an und für
sich ein wichtiges Symptom für das unaufhaltsame Reifen sozial-
politischer Erkenntnis.
Das gilt natürlich erst recht von dem in jenen Dezembertagen
gegründeten Industrial Department der National Civic Federation.
Seine Aufgabe ist nach dem Wortlaute eines Mitte Dezember 1901
veröffentlichten Programmes : ■) „Alles zu thun, um den industriellen
Frieden zu fördern, behilflich zu sein bei der Herstellung recht-
licher Beziehungen zwischen den Unternehmern und ihren Ange-
stellten, zu versuchen, durch seine guten Dienste Arbeitseinstellungen
und Aussperrungen zu verhüten und, wo ein Bruch geschehen, den
Frieden wieder herbeizuführen, auf Antrag als unparteiisches Forum
Streitfragen zwischen Arbeitgebern und Arbeitern zu beurteilen und
zu entscheiden, als Schiedsgericht jedoch nur dann zu wirken, wenn
beide Parteien cs mit dieser Funktion freiwillig betrauen.“ Ob es seinen
hohen Zweck erfüllen, das heilst, sich als gerechtes Tribunal einer
geläuterten öffentlichen Meinung bewähren wird, bleibt a! zuwarten.
Sicherlich werden seine Erfolge wesentlich abhängen von dem
wachsenden Verständnis für die Natur der kapitalistischen Produk-
tionsordnung, die zwar nicht eine Interessenharmonie, wohl aber
ein Rcziprozitätsverhältnis zwischen Kapital und Arbeit begründet,
und nicht zuletzt von ernster, geduldiger, nüchterner Arbeit. Denn
nicht ist zum Schöpfer neuer Lebensordnungen geschickt, wer dem
Kinde gleich mit zitternden Händen sehnsüchtig nach leuchtenden
Sternen langt, sondern der, welcher auf festem Grunde mit ner-
vigem Arme Stein auf Stein türmend, sich Stufe um Stufe in
seinen I liinmcl hineinbaut.
•j Vor allem würden die Ilochschut/.zollner einen Vertrag, der die Steel Corpo-
ration für längere Zeit auf gewisse Lohnpositionen festlcgt, als gewichtigen Grund
gegen eine Herabsetzung der Tarife ins Feld führen können.
2) New York Tribüne v. 19. 12. 1901, p. I.
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Koalitionsrecht und Erpressung.
Voll
WOLFGANG HEINE,
Mitglied des Reichstages, in Berlin.
Die rechtsbegriindencie Thätigkeit des Gesetzgebers vermag
wenig zu schaffen, wenn nicht dafür gesorgt wird, dafs das Recht
in seinem Sinne gehandhäbt werde. Für diese alte Erfahrung, die
in der Emsigkeit parlamentarischer Arbeit nicht selten vergessen
wird, bietet die Geschichte des Koalitionsrechts der Arbeiter in
Deutschland ein sprechendes Beispiel. Als im Jahre 1899 die Reichs-
regierung durch den Entwurf eines „Gesetzes zur Regelung des ge-
werblichen Arbeitsverhältnisses“ die Ausübung des Koalitionsrcchts
durch gesetzliche Schranken erschweren wollte, konnten die
Gegner des Entwurfs zur Ueberräschung aller, die nicht zufällig auf
diesem besonderen Gebiete beschlagen waren, nachweisen, in welchem
Mal'se auch schon ohne das Zuchthausgesetz die durch die Rcichs-
gewerbcordnung garantierte Koalitionsfreiheit der Arbeiter durch
die Rechtsprechung in Strafsachen und durch die Praxis der
Verwaltungsbehörden eingeengt wird, und welche Fallstricke den
Arbeiter bedrohen, der von diesem Grundrechte des gewerblichen
Lebens Gebrauch machen will. Namentlich die treffliche, in diesem
Archiv Bd. XIV', S. 472 ff. erschienene Monographie des Professors
Dr. Löwenfeld in München gab eine erschöpfende und übersicht-
liche Darstellung der strafrechtlichen Drangsalierungen, denen das
Koalitionsrecht der deutschen Arbeiter unterworfen ist.
Damals schon wurde wiederholt darauf hingewiesen, dafs wenn
auch das Zuchthausgesetz selbst fiele, man alter Erfahrung gemäfs
annehmen könnte , dafs die Verwaltungspraxis und gerichtliche
Judikatur, die schon so tüchtiges auf diesem Gebiete geleistet hätten,
nicht säumen würden, durch Polizeiverordnungen und durch eine
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590
Wolfgang Heine,
ausdehnende Auslegung bestehender Gesetze, thatsächlich den Zu-
stand herbeizuführen , den gesetzlich zu begründen die Reichs-
regierung und ihre Hintermänner nicht vermocht hätten. Diese
Voraussage hat sich über alle Erwartung hinaus erfüllt, und zwar
hat man verstanden verschiedene Wege zu finden und auszubauen,
um die Zwecke, die mit dem Zuchthausgesetze verfolgt wurden, zu
erreichen. Vor allem aber ist es die Anwendung des Er-
pressungs paragraphen gegen Arbeiterkoalitionen, die eine unge-
ahnte Ausdehnung gewonnen hat , und die um so gehässiger
empfunden wird, als das, was das Rechtsgefühl des Volkes unter
„Erpressung" versteht, ein nichtswürdiges, völlige moralische Ver-
worfenheit verratendes Delikt ist, und weil, wie schon Löwenfeld
in dem citierten Aufsatze treffend hervorgehoben hat, eine Ver-
urteilung wegen Erpressung vor der öffentlichen Meinung infamierend
wirkt, auch wenn die Aberkennung der Ehrenrechte ') unterblieben ist.
Bei der Beratung des Zuchthausgesetzes im Reichstage hatte der
nationalliberale Abgeordnete Dr. Bassermann seine Bedenken schon
gegen die damalige Anwendung des Erpressungsparagraphen geäufsert
und hervorgehoben, dals wenn diese Judikatur sich weiter entwickelte,
ein grofser Teil des Koalitionsrechts in Frage gestellt sein würde.*)
Nun, diese Entwicklung ist eingetreten: was 1899 immerhin
noch eine Ausnahme war, so dafs der Staatssekretär Dr. Nieberding
bitten konnte, an so vereinzelte Urteile keine allgemeinen Folgerungen
zu knüpfen, ist heut etwas alltägliches, so dafs keine Woche ver-
geht, in der nicht die Arbeiterblätter neue Erpressungsprozesse aus
Anlafs der Ausübung des Koalitionsrechts zu melden hätten. Zu-
gleich hat eine immer subtiler werdende Auslegung den Kreis der
als Erpressung behandelten Fälle erheblich erweitert.
Deshalb war, als im Herbste 1901 die Zeitungen von einer Ministe-
rialverordnung erzählten, die den Staatsanwaltschaften die Erhebung
solcher Anklagen zur Pflicht machen sollte, und die von der Presse
als „das Ende des Koalitionsrechts der Arbeiter“ bezeichnet wurde,
dies für die Kenner der Rechtsprechung nichts überraschendes.
Der preufsische Justizminister hat in der Sitzung des Ab-
*1 Nur die 3. Strafkammer des Landgerichts zu Dresden hat einen noch nicht
wegen Vergehens bestraften Maurer Duda, der unter Androhung der Sperre den
üblichen Stundenlohn von 45 Pfennigen gefordert hatte, während der Arbeitgeber
nur 43 zahlen wollte, wegen eines Objekts von im ganzen 60 Pfennigen, zu 6 Mo-
naten Gefängnis und 3 Jahren Ehrverlust verurteilt. (Urteil vom 18. Nov. 1898.1
*) Session 189800. 97. Sitzung, Sten. Per. S. 2669.
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Koalitionsrecht und Erpressung.
591
geordneten Hauses vom 17. Februar 1902 Aufklärung darüber gegeben.
Danach soll es sich darum gehandelt haben, dafs Mitglieder einer
Arbeiterorganisation sich geweigert hatten, mit einem Arbeiter, der
von der Organisation abfallen wollte, länger zusammenzuarbeiten,
und dafs sie dessen Hntlassung gefordert hatten. Dieser Fall gab
dem Minister Anlafs, die Staatsanwaltschaften auf die Möglichkeit
hinzuweisen, die Anklage unter dem Gesichtspunkte der Erpressung
zu erheben und dadurch den Fall in der Revisionsinstanz zur
Beurteilung durch das Reichsgericht zu bringen.
Das Reskript des Justizministers und seine Erörterung im
Reichstage und Landtage scheinen auf die Anklagebehörden nicht
ohne Eindruck geblieben zu sein, denn in den letzten Monaten hört
man noch weit mehr von derartigen Erprcssungsanklagcn als früher.
Deshalb ist es wohl gerechtfertigt, den Gegenstand in diesem
Archiv von neuem zu behandeln, die Unvereinbarkeit dieser Recht-
sprechung mit dem Bestehen eines wirksamen Koalitionsrechts
darzuthun, den Nachweis zu führen, dafs sie juristisch falsch ist, und
die Notwendigkeit einer gesetzgeberischen Abhilfe zu betonen und
die möglichen Wege dazu anzudeuten.
Der in Betracht kommende § 253 des Strafgesetzbuchs für das
deutsche Reich lautet:
Wer, um sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögens-
vorteil zu verschaffen, einen anderen durch Gewalt oder Drohung zu einer
Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt, ist wegen Erpressung mit
Gefängnis nicht unter einem Monat zu bestrafen.
Der Versuch ist strafbar.
Dafs der Gesetzgeber hierbei an ein ganz besonders schweres
und unentschuldbares Delikt gedacht hat, geht schon aus der
Normierung der Minimalstrafc von einem Monat Gefängnis hervor.
Diebstahl, Betrug, ja selbst Urkundenfälschung beim Vorliegen
mildernder Umstände lassen weit geringere Strafen zu.
Wie man sieht, setzt das Strafgesetzbuch im wesentlichen zwei
Thatbcstandsmomente voraus, den auf den anderen ausgeübten Z w a n g
und das Ziel des rechtswidrigen Vermögens Vorteils.
Für die uns interessierenden Bälle aus dem Gebiete des Koalitions-
rechts kommt der Zwang durch Gewalt (vis absoluta) nicht in-
betracht, sondern nur der Willenszwang durch Drohung (vis com-
pulsiva). Als Drohung betrachtet unsere Theorie und Recht-
sprechung die Ankündigung eines Uebels, dessen Verwirk-
lichung mindestens mittelbar von dem Ankündigenden abhängig
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592
Wolfgang Heine,
ist. Man verlangt aber dabei nicht, dafs ein wirkliches Uebel vor-
läge, sondern begnügt sich mit einem, das als solches von dem Be-
drohten nur „empfunden wird". Ebenso hält man es für aus-
reichend, wenn der Bedrohte nur an die Möglichkeit der Ver-
wirklichung durch den Drohenden glaubt.
Für die Schädigung des Koalitionsrechts mittels § 253 Str.G.B.
ist ferner ganz besondere wichtig die herrschende Auffassung, dafs
eine Drohung im Sinne dieses Gesetzes keineswegs die An-
kündigung unerlaubter oder unsittlicher Handlungen voraus-
setze, sondern dafs jede, auch die erlaubteste und befugteste An-
kündigung eines Uebels darunter falle. Hierbei hat die Recht-
sprechung allerdings den allgemeinen Sprachgebrauch auf ihrer
Seite, der von Drohungen auch spricht, wenn der Vorgesetzte dem
Untergebenen, der Lehrer dem Schüler, das Gesetz dem Verbrecher,
befugterweise Uebel in Aussicht stellen. Wichtiger als dieser
Sprachgebrauch erscheint aber, dafs auch einige Fälle, die gerade
das Rechtsbewufstscin des Volkes herkömmlicherweise mit dem
Namen „Erpressung“ belegt, in der Ausnutzung von Bedrohungen
bestehen, die unter anderen Umständen durchaus erlaubt sein würden.
So spricht man allgemein von „Erpressung“, wenn jemand einen
anderen durch Hinweis auf die Möglichkeit einer Bestrafung oder
der Herbeiführung eines öffentlichen Skandals zur Hergabe von Geld
nötigt, während es keinen Bedenken unterliegen würde, die straf-
bare Handlung oder das anstöfsige Geheimnis zum Zwecke legaler
Rechtsverfolgung oder moralischer Beurteilung bekannt zu machen.
Man wird also wohl zugeben müssen, dafs unter Umständen
eine Erpressung verübt werden kann, auch durch Androhungen, die
unter anderen Umständen zulässig wären, das berechtigt aber
noch lange nicht zu der Behauptung, die Ankündigung jeder
Handlung, möge sie noch so erlaubt sein, sei eine „Drohung", wenn
die Handlung als Uebel empfunden werden könne. Man mufs jede
Theorie an ihren Konsequenzen prüfen, und die sind hier nament-
lich für das K oal i t i o n s rec h t ganz unleidlich. Ein Strikc oder
eine Sperre sind für den Arbeitgeber stets Uebel, also ihre An-
kündigung eine Drohung. Es ist gar nicht mehr möglich, alle die
Einzclfälle aufzuzählen, in denen Arbeiter wegen Erpressung ver-
urteilt worden sind, die nichts gethan hatten, als den Arbeitgebern
anzukündigen, dafs sie von dem ihnen durch 152 Gew.O. ver-
liehenen Koalitionsrecht Gebrauch machen und die Arbeit nieder-
legen würden , wenn ihnen nicht höhere Löhne oder günstigere
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Koalitionsrecht und Erpressung.
593
Arbeitsbedingungen bewilligt würden , oder wenn man ihnen zu-
mutete, mit Strikcbrechcrn oder Nichtorganisierten zusammen zu
arbeiten. Kin besonderer I 'all sei hier kurz erwähnt: Der Ver-
trauensmann der Tabakarbeiter in VVeifsenfels, Normann, hatte einem
Zigarrenfabrikanten, der besonders niedrige Löhne zu zahlen pflegte,
geschrieben, er werde die Löhne in den Arbciterblättcrn bekannt
machen. ln dieser Ankündigung einer sachlich gerechtfertigten
öffentlichen Kritik, die durchaus im Rahmen der Wahrung der dem
Angeklagten anvertrauten Interessen lag, hat da.4 Landgericht zu
Naumburg einen Erpressungsversuch gesehen, und Normann zu zwei
Wochen Gefängnis verurteilt.1) Hätte er rücksichtslos, und ohne dem
Fabrikanten die Möglichkeit einer Abänderung zu lassen, die Veröffent-
lichung vorgenommen, so hätte man ihm nichts anhaben können.
So hat man es dahin gebracht, dal's strenggenommen Arbeiter,
die sich vor Verurteilung schützen wollen, genötigt sind, jede Verhand-
lung, die zur Beilegung der Differenzen führen könnte, zu vermeiden,
und stets ohne weiteres die Arbeit niederzulegen. Damit droht
auch der Berichterstatter des letzten Gewerkschaftskongresses zu
Stuttgart. Fine solche Praxis würde sicherlich für die Entwick-
lung der Gewerbe sehr .schädlich sein und gerade auch dem Arbeit-
geber ungemein lästig werden, besonders aber mufs man betonen,
dals bei ihr der eigentliche Wert des Koalitionsrechts überhaupt
verloren gehen würde, denn der liegt nicht in erster Reihe im
Strike selbst, sondern in der Möglichkeit, durch Aufstellung einer
organisierten Macht sich die Anwendung dieses letzten Mittels
wenn möglich zu ersparen, nach dem Grundsätze: „si vis pacem
para bellum“.
Das alles sind Konsequenzen, die sich aus der unmäfsigen
Ausdehnung des Begriffs der ..Drohung“ ergeben.
Wie weit die Rechtsprechung in dieser Richtung geht, und
wie die einfache Ausübung des Koalitionsrechts dadurch betroffen
wird, zeigt der folgende Fall :
Ein Parlier verhandelte mit einem Maurergesellen Domke über
die Beilegung eines schon ausgebrochenen Strikes und dieser er-
klärte namens der Mitarbeiter, dals die Arbeit wieder aufgenommen
werden würde, wenn der entlassene Maurer Schulz wieder eingestellt
würde. Nach dem Arbeitsvertrage waren die Arbeiter zur sofortigen
Niederlegung der Arbeit berechtigt gewesen, und sie hatten keine
l) Mitjjelcilt in» Vorwärts vom 7. Juli 1901.
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594
Wolfgang Heine,
Verpflichtung, die Arbeit wieder aufzunehmen. Auf Grund dieser
Feststellungen hatte das Landgericht den D. von der Anklage der
Erpressung freigesprochen, das Reichsgericht ') hat aber dieses Ur-
teil aufgehoben, weil nicht nur in dem Inaussichtstellen von Hand-
lungen, sondern auch in der Ankündigung von Unterlassungen
eine Drohung gefunden werden könne. Diese liege hier in der
Ankündigung der Nichtbeseitigung des bereits vorhandenen Uebels,
des Strikes.
Das Reicli^gericht beruft sich zur Begründung seiner Auf-
fassung auf ein in Bd. 14, S. 264 der Entscheidungen in Straf-
sachen abgedrucktes Urteil. Sehr zu Unrecht, denn dort wird der
Satz aufgestellt, dafs die Ankündigung eines Nichtthuns, eines Unter-
lassens dann als Drohung im Sinne des tj 253 Str.G.B. anzusehen sei,
wenn „die Unterlassung zugleich die gewollte Verletzung einer Pflicht
zum Handeln enthält“. Welche Pflicht zum Handeln aber soll im vor-
liegenden Falle bestanden haben, wo das Gericht ausdrücklich fest-
gestellt hatte, dafs die Arbeiter keine Verpflichtung hatten, die Arbeit
wieder aufzunehmen ? — Aber das Reichsgericht hat so gesprochen
und ein ehrenwerter Mann ist als Erpresser bestraft worden.
Aehnlich im Thatbestand, wenn auch etwas abweichend in der
Begründung, liegt der bekannte Fall aus dem Strike in den
Mohrschen Fabriken zu Altona vom Jahre 1896. Nach der Fest-
stellung des Urteils des Landgerichts Altona vom 15. Oktober 1896
hatte eine Versammlung, nachdem Mohr alle Forderungen der Ar-
beiter abgelehnt hatte, beschlossen, die Mohrschen F'abrikate zu
Boykotten, und eine Kommission gewählt, um diesen Beschlufs
durchzuführen.
Dies war bereits durch die Zeitungen zu Mohrs Kenntnis ge-
langt, als die Mitglieder der Kommission, ehe sie den Boykott
proklamierten, Mohr noch einmal zum Zwecke einer gütlichen Bei-
legung aufsuchten. Wie das Urteil zu Gunsten dieser drei Kom-
missionsmitglieder annimmt, hat Mohr selbst die Besprechung
damit eröffnet, dafs er erklärte, er habe aus dem „Echo“ Kenntnis
des Beschlusses, sic sollten nur ruhig den Boykott über ihn ver- »
hängen. Eins der Kommissionsmitglieder hat darauf erwidert, be-
vor sie das thäten, wollten sie noch einmal mit Mohr unterhandeln,
und bei den Verhandlungen haben alle drei auf die Folgen, die
’) l'rtcil des II. Strafsenat» vom 7. Juli 189g. II. 2046. 99. c/a Schultz und
Gen. ungcdruckt.
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Koalitionsrccht und Erpressung.
595
der Boykott für Mohr haben würde, hingewiesen. Die Verhand-
lungen sind dabei mit gröfster Höflichkeit geführt worden. Trotz-
dem hat das Gericht in dieser blofsen Hindeutung auf die
Folgen des Versammlungsbeschlusses, der schon bestand, der an
sich erlaubt war, und den zu beseitigen die Kommissionsmitglieder
nicht die geringste Pflicht hatten, eine Drohung gesehen und cs
hat sie wegen versuchter Erpressung bestraft.
Das Reichsgericht1) hat diese Deduktion für richtig erklärt.
Nur eines Formfehlers wegen ist das Urteil aufgehoben worden,
und die nochmalige Verhandlung hat dann auf Grund anderer
Feststellungen zur Freisprechung der Angeklagten geführt.
Gerade wie in dem vorher angeführten Falle des Maurers
Dotnke sind hier gutwillige Bemühungen zur Beilegung schon be-
stehender Differenzen als Erpressung bestraft worden. Charakte-
ristisch ist auch noch, dal's Mohr selbst die Verhandlungen nicht
als Bedrohung aufgefafst und keinen Strafantrag gestellt hatte, son-
dern dafs die Anklage erhoben worden ist auf Grund eines Be-
richts, den die Mitglieder der Kommission selbst in voller Harm-
losigkeit vor einer Volkversammlung erstattet hatten. Dafs eine
solche Praxis der Anklagehehörden und Gerichte Verständnis für
das zeigte, was man sozialen Frieden nennt, kann man nicht gerade
behaupten.
Die Konsequenzen dieser Judikatur liegen auf der Hand :
würden sie regelmäfsig gezogen, so würde es keine Verhandlung
vor einem Einigungsamte zur Beilegung eines Streitfalles geben,
bei der nicht Erpressungen verübt würden, und Vorsitzende, die
sich bemühten eine Partei zur Nachgiebigkeit gegen die Forderungen
der anderen zu bewegen, würden sich der Beihilfe zur Erpressung
schuldig machen.
Fis scheint, dafs den Gerichten doch hier und da Bedenken
wegen der Konsequenzen aus ihrer Auffassung der Drohung ge-
kommen sind, und sic haben sich bemüht, zwischen „Verhand-
lungen" und „Drohungen" einen. Unterschied zu finden. Das mufste
von vornherein ein aussichtsloses Unternehmen sein , weil die
grenzenlose Begrenzung — der Widerspruch bezeichnet durchaus
die unsinnige Sachlage — des Begriffs Drohung jede tiefergehende
Unterscheidung ausschlofs. So sind denn diese Versuche auch nicht
*) Urteil des IV. Strafsenats vom 22. Januar 1897 c a Heine und Gen. un-
gedruckt.
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59<5
Wölfgang Heine,
über allgemeine Redensarten hinausgekommen oder an völlig äufser-
liclien Merkmalen kleben geblieben. So z. H. in der Entscheidung
des Reichsgerichts in Strafsachen Bd. 21, S. 114, wo behauptet
wird, die „Drohun g“ sei charakterisiert durch den Willen, durch
Ankündigung eines Uebels Zwang auf den Willen des anderen
auszuüben, während die Auf. Stellung einer Vertragsposition
dem anderen volle Freiheit lasse. In Wahrheit ist eine solche
Freiheit im wirtschaftlichen Leben nur höchst selten vorhanden, ja
es ist geradezu das Wesen des Vertrags, den Willen zu binden,
und jede Partei sucht dahin zu wirken, dafs der fremde Wille sich
dem ihrigen unter ordne. In dem Zwang auf den Willen kann
also das Wesen der Drohung nicht liegen. Noch viel oberfläch-
licher ist es, wenn dasselbe Urteil Wert darauf legt, dals die ange-
klagten Mitglieder der Lohnkommission mit einer „einseitigen"
Forderung aufgetreten seien, oder wenn in ihm und anderen Ent-
scheidungen hervorgehoben wird, die Angeklagten seien „höhnisch
und dreist“ aufgetreten.1) In dem erwähnten Mohrschcn Falle
wiederum hat den Angeklagten ihre Höflichkeit nichts genützt, weil
sie sich, wie das Reichsgericht, sagt „nicht bittend" an den Arbeit-
geber gewendet haben. Dies letzte Argument ist zu charakteristisch
für die Auffassung, die die Rechtsprechung beherrscht, um uner-
wähnt bleiben zu können. Man kann es nur recht würdigen, wenn
man die Konsequenz daraus zieht, dafs danach auch jeder Arbeit-
geber eine Bedrohung und Erpressung begehen würde, der seine
Arbeiter „nicht bittet“ auf eine vorgeschlagene Lohnherabsetzung
einzugehen, sondern ihnen kurz eröffnet, dafs wer nicht damit zu-
frieden sei, nicht länger bei ihm arbeiten könne. Wieviel Arbeit-
geber würde es danach geben, die nicht der Erpressung schuldig
wären? — Selbstverständlich wird kein Gericht diese absurde
Konsequenz ziehen, das praktische Ergebnis ist dann aber, dafs dem
Arbeiter ein ruhiges, vertragsmäfsiges aber nicht devotes Ver-
handeln, wie es sich unter gleichberechtigten Vertragsparteien
ziemt, als Erpressung angerechnet wird, dem Arbeitgeber nicht.
Dem liegt am Ende nichts anderes zu Grunde als die Abneigung
der bevorrechteten Bevölkerungsschichten, mit der von der Ver-
fassung und der Gewerbeordnung vorausgesetzten Gleichberechtigung
zwischen Arbeitern und Arbeitgebern Ernst zu machen.
') Diese Beweisführungen hat schon Löwenfeld in dem zitierten Aufsätze
Koalitionsrerht und Strafrecht S. 498 ff. ausgezeichnet abgefertigt.
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Koalitionsrecht und Erpressung.
597
Noch weit verletzender als die ausgedehnte Auffassung der
„Drohung" ist für ein niehtverbildctcs Rechtsgefuhi die Auslegung,
die unsere Rechtsprechung dem Begriffe des rechtswidrigen
Vermögens Vorteils gegeben hat. Dieser Begriff findet sich
gleichmäfsig bei den Delikten des Betrugs und der Erpressung, und
wird von Theorie und Praxis auch bei beiden völlig gleich behandelt.
Die herrschende Definition sagt, dafs Vermögens vorteil
jede „günstigere Gestaltung der Vermögenslage“ sei.
Hiervon ausgehend hat man angenommen, dafs Arbeiter, die sich
geweigert hatten, mit einem der Organisation nicht angehörigen
Kollegen zusammen zu arbeiten, dadurch bezweckt hätten, der Kasse
des Verbandes den Vermögensvorteil der Beiträge zuzuwenden und
hat sie wegen Erpressung bestraft. Dafs die Kasse gleichzeitig die
Verpflichtung zu Gegenleistungen übernimmt, hat man aus-
drücklich als unerheblich bezeichnet, weil diese „künftigen" Gegen-
leistungen „völlig ungewifs und unbestimmt" seien.1) Hieraus müfste
man schliefsen, dafs derjenige, der bestimmte und gewisse
Gegenleistungen für ebensolche von der anderen Seite einzutauschen
bereit wäre, z. B. der Arbeiter, der für einen bestimmten ange-
messenen Lohn arbeiten will, keinen Vermögensvorteil im Sinne
des Strafgesetzes erstrebte, aber in anderen Entscheidungen, z. B. in
dem angeführten Urteil gegen den Maurer Domkc geht die Recht-
sprechung viel weiter, und sieht Erstreben eines Vermögcnsvorteils
schon in dem Verlangen, einen Arbeiter einzustellen
oder nicht zu entlassen. Mit Recht erklärt Merkel eine
solche Auslegung für unzulässig, und er verneint das Erstreben
eines Vermögcnsvorteils im Sinne des §' 253 Str.G.B. in allen
Fällen , wo „durch die Drohung Vcräufscrungen gegen volle
Aequivalente herbeigeführt werden, wo also für die Werte, welche
der Thätcr sich zuzuwenden sucht, Gegenwerte entweder bereits
gegeben wurden, oder bei der That gegeben werden oder zur
Disposition stehen".*)
Interessant ist, dafs das Reichsgericht in einem anderen Falle,
der sich nicht auf Arbeiter bezog, die ihr Koalitionsrecht ausübten,
l) F.ntsch. des R.G. in Strafs. BdL 32, S. 336.
*) Merkel in v. II oltzendorffs Handhuch des deutschen Strafrechts Bd. 3,
S. 731. M. hat seine grundlegenden Untersuchungen über den Begriff der Erpressung
bereis in den 1867 erschienenen kriminalistischen Abhandlungen entwickelt, es em-
pfiehlt sich jedoch, nach dem im allgemeinen Gebrauche befindlichen I landbuche
zu citieren.
Archiv für s 01. Gesetzgebung u. Statistik. XVII. 39
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598
W o 1 f g a n g Heine,
sehr wohl die richtigen Grenzen des Begriffs eines „Vermögens-
Vorteils" zu finden gewufst hat. Es hat ausdrücklich erklärt, dafs
das Bestreben, Mitglieder für eine Versicherungsgesellschaft
auf Gegenseitigkeit zu gewinnen, und durch die von ihnen zu
zahlenden Prämien und N'achschüsse die Vermögenslage der Gesell-
schaft zu verbessern, nicht als Verschaffen eines Vermögensvorteils
anzusehen sei, weil das Interesse der Gesellschaft iden-
tisch sei mit dem Interesse der gesamten Gesell-
schafter.1) Das ist sehr gut gesagt, und trifft Wort für Wort
auf die Arbeiterverbände , Strikekassen und dgl. zu , angewendet
wird es aber auf sie nicht.
Den eigentlich anstöfsigen Charakter und die unerträglichsten
Folgen erhält diese Auslegung jedoch erst durch ihre Verbindung
mit der geradezu unmöglichen Ausdehnung des Begriffs der „Rechts-
widrigkeit" eines Vermögensvorteils.
Anknüpfend an einen Ausdruck der Motive zum Strafgesetzbuch
nennt die Praxis „rechtswidrig“ jeden Vermögensvorteil, auf den der
Thäter „kein Recht hat“. Am weitesten geht wohl ein Urteil
des preufsischen Obertribunals vom 13. März 1872,*) das zwar von
einem Betrugsfalle handelt, dessen Grundsätze aber auch für das
Gebiet der Erpressung angewendet werden. Danach wird „die auf
Erlangung eines rechtswidrigen Vorteils gerichtete Absicht nur
dann für ausgeschlossen erachtet, wenn dem Thäter ein sowohl
seiner Existenz als seinem Umfange nach anerkannter oder
bereits unzweifelhaft festgcstellter Anspruch . . . zustand“.
Pis bedarf keiner langen Ausführungen darüber, dafs das Sprach-
gefühl und das natürliche Rechtsgefühl unter „rechtswidrig“ nicht
alles verstehen werden, was ohne Recht geschieht, sondern nur
das, was gegen das Recht unternommen wird, die Rechtsprechung
unserer Gerichte klammert sich aber an den Ausdruck der Motive,
obgleich keineswegs feststeht, dafs deren Verfasser und der Gesetz-
geber sich aller Konsequenzen des unbestimmten Ausdruckes „ohne
Recht" bewufst gewesen wären.
Merkel hat zuerst darauf hingewiesen, dafs diese Definition des
Begriffs rechtswidrig „durchaus unbrauchbar" a) sei und zu „absurden
Konsequenzen" führen müfstc. Dies war zu einer Zeit, wo noch
*) Urteil des II. Strafsenats vom 2. Oktober 1885. F.ntsch. Bd. 12, S. 394.
r) Oppenhof, Kcchtspr. des Obcrtribunals Bd. 13, S. 303.
*) Holt zendorffs Handbuch S. 732.
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Koalitionsrccht und Erpressung.
599
kein Mensch an die Anwendung des Erpressungsbegriffs auf die
Ausübung des Koalitionsrechts denken konnte. Wie richtig er
prophezeit hat, beweist die neuste Rechtsprechung auf diesem Gebiete.
Es ist schon erwähnt worden, dafs man es für Erpressung er-
klärt hat, wenn Arbeiter die Einstellung eines Kollegen oder seine
Nichtentlassung mit den Mitteln der Arbeitseinstellung oder Sperre
durchzusetzen suchten. Hier wurde deduziert, dafs der Betreffende
kein Recht auf Beschäftigung oder längere Beschäftigung gehabt
hätte, und dafs deshalb in der Anstellung, die man ihm hätte ver-
schaffen wollen, ein „rechtswidriger Vermögensvorteil“ läge.1) Dieser
das Rechtsgefühl verletzenden Ansicht ist einmal der III. Senat
des Reichsgerichts mit sehr verständigen Gründen entgegengetreten.
Von der Auffassung des Landgerichts, die Wiederannahme zur
Arbeit stelle sich vom Standpunkt des Angeklagten als ein Ver-
mögensvorteil dar, auf dessen Verwirklichung dieser keinen Anspruch
habe, sagt der Senat :
, »Damit kann nur gemeint sein, dafs die Wiederannahme zur Arbeit
eine Lohnforderung zur Folge gehabt haben würde. Diese wäre aber keine
unberechtigte gewesen, wenn, wie vorausgesetzt werden mufs, die Arbeits-
leistung vorhergegangen wäre. Zunächst handelt es sich aber nur um
die Einstellung als Arbeiter; dies wäre eine Handlung der genannten
Firma gewesen , welche zu fordern der Angeklagte kein Recht hatte.
Einen Vermögensvorteil stellte sie unmittelbar nicht dar.“
Leider ist dies den Kern der Sache treffende Urteil vereinzelt ge-
blieben.
Man hat in gleicher Weise Bestrebungen auf dauernde Fest-
setzung der Löhne mittels Tarifvertrages *) oder auf Lohnerhöhung 4)
*) So in dem citiertcn Falle c/a Heine und Genossen zu Altona. Ebenso in
dem Urteil gegen den verstorbenen Reichstagsabgeordneten Ocrtcl aus Nürnberg.
Urteil des Reichsgerichts I. Strafsenat vom 16. Mai 1896 und in dem citiertcn Ur-
teil gegen den Maurer Domke, des II. Strafsenats vom 7. Juli 1899.
*) Urteil vom 22. Juni 1896, Jur. Wochenschrift Bd. 25, S. 541 Nr. 24. In
Entsch. in Strafs. Bd. 33, S. 408 wird wieder der entgegengesetzte Standpunkt ver-
treten, und es ist ergötzlich zu sehen, wie dort der IV. Strafsenat sich windet, um
der Notwendigkeit einer Plenarentscheidung auszuweichen.
*) Reichsger. II. Strafsenat vom I. April 1891 bei Reger Bd. XI S. 280.
Ebenso Urteil des III. Strafsenats vom 9. Februar 1899, Deutsche Juristenzeitung
1899, S. 238.
4) Siehe vorige Note und das oben erwähnte Urteil des Landgerichts Naumburg
gegen Normann, sowie den S. 590 Anm. 1 angeführten Fall des Duda.
39*
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6oo
Wolfgang Heine,
als erpresserisches Streben nach rechtswidrigen Vermögensvorteilen
bestraft. Man mufs sich danach ernstlich fragen , welches An-
wendungsgebiet für die nach § 152 der Gew.O. erlaubten Arbeits-
einstellungen zum Zwecke der Erlangung besserer Arbeitsbedingungen
noch bleibt.
Die Weigerung, mit Nichtorganisierten zusammenzuarbeiten,
hat man, wie ebenfalls schon erwähnt, als eine Erpressung zu
Gunsten der Verbandskasse behandelt, indem man von der ge-
künstelten Deutung ausgegangen ist, dies geschähe, um die Nicht-
organisierten dadurch zu zwingen, am Verband teilzunehmen und
um diesen durch deren Beiträge zu bereichern. *) Ja selbst das
an ein Verbandsmitglied gerichtete Verlangen, seine rückstän-
digen Beiträge zu bezahlen, ist als die Forderung eines rechts-
widrigen Vermögensvorteils für die Verbandskasse angesehen und
als Erpressung bestraft worden, *) wobei darauf Wert gelegt wird,
dafs nach § 152 Gew.O. aus Verabredungen zur Erlangung gün-
stigerer Arbeitsbedingungen keine Klage stattfände. #
In den letzten Fällen zeigt sich die ganze Verkehrtheit der
Auffassung besonders in der Annahme, dals es den organisierten
Arbeitern, die sich weigerten, mit Strikcbrechern, Nichtorganisierten
oder saumseligen Beitragszahlern zusammenzuarbeiten, überhaupt
darauf ankämc, dadurch die Verbandskasse zu bereichern.
Ist denn die Judikatur so blind für das, was das Volk thut und
fühlt, dals sie nichts davon merkt, wie hier moralische Inter-
essen, Pflichtgefühl und Standesehre den Ausschlag geben ? — Wenn
ein Offizierkorps ein Mitglied ausstöfst, das seine Ehrenscheine
nicht einlöst, denkt es doch wahrhaftig nicht daran, dem Gläubiger
zu seinem Gelde verhelfen zu wollen, sondern es will mit dem
Ehrenwortbrüchigen nichts zu thun haben. Nun, das Solidaritäts-
gcfiihl im wirtschaftlichen Kampfe ist das charakteristische Standes-
chrgefühl des Arbeiters. In einer Zeit, wo man sich auf allen Ge-
bieten bemüht, die „unlautere Konkurrenz“ abzuschneiden, sollte
man doch einsehen, dafs die Arbeiterklasse sich gegen den niedrigen
Egoismus schützen mufs, der cs zwar sehr angenehm findet, an den
Gewinnen der gewerblichen Kämpfe, höheren Löhnen, besseren
,) Aufser der schon citicrten Entscheidung Bd. 32, S. 336, noch in der Sache
c a Gutzmcr. Urteil des II. Strafsenats des Reichsgerichts vom 25. April 1902.
*) I-andgericht II zu Berlin c a Richter vom 6. März 1902, das Urteil ist aus
anderen Gründen vom Reichsgericht aufgehoben worden.
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Koalitionsrccht und Erpressung. Coi
Arbeitsbedingungen u. s. w. Anteil zu nehmen, sich aber von den
dazu nötigen Opfern zu drucken, ja die mutigen und opferfreudigen
Klassengenossen zu unterbieten sucht. Und besonders sollte eigent-
lich die Beamtenklasse, die im höchsten Mafse nach aufsen die un-
erbittliche Geltung des Standesgeluhls und der Standesehre zur
Schau zu tragen pflegt, ähnliche moralische Empfindungen auch
in einer anderen Klasse zu würdigen wissen.
Es läfst sich aber leider nicht leugnen, dafs in der Recht-
sprechung dem Koalitionsrecht der Arbeiter gegenüber keinerlei
Verständnis für die wirtschaftlichen Bedürfnisse und die Standes-
begrifie der Arbeiterklasse zu bemerken ist, dagegen ein hohes
Mals von Sympathie für die wirtschaftlichen Interessen und die
Machtgelüste des Unternehmertums.
Diese ganze Rechtsprechung nimmt nicht den geringsten An-
stofs daran, dafs sie das Koalitionsrecht, über dessen Wichtig-
keit für die Gesundheit des gesellschaftlichen Lebens die Gesetz-
geber sich völlig klar gewesen sind, in der Praxis aufhebt. Und
doch soll die Praxis die Probe auf die Theorie sein, und wenn
theoretische Definitionen zu Folgerungen führen, die mit der Ver-
nunft und den Gesetzen unvereinbar sind, so mufs man die De-
finitionen korrigieren, nicht Vernunft und Gesetz. So liegt hier
der Fall: wenn die Ankündigung des Strikes und der Sperre zum
Zwecke der Erlangung günstigerer Lohnbedingungen eine straf-
bare Erpressung wäre, dann hätte der Gesetzgeber nicht das
Koalitionsrecht eingeführt und die Verabredung zu solchen Beein-
flussungen des Willens des Arbeitgebers ausdrücklich für straffrei
erklärt. Umgekehrt, weil der Gesetzgeber in der Gewerbeordnung
diese Rechte eingeführt hat, ist es ausgeschlossen, dafs er ihre An-
wendung als Erpressung angesehen hätte. Man kann auch nicht
sagen, dafs das Strafgesetzbuch von 1871 die Gewerbeordnung von
1869 insoweit abgeändert hätte, denn § 152 der Gew.O. ist zum
letzten Male bei Beratung der Gewerbeordnungsnovelle von 1892
neu beraten und ohne welche Beschränkungen bestätigt worden.
Und es ist Thatsache, dafs diese ganze Judikatur sich, wo der
wirtschaftliche Streit zwischen Arbeitern und Arbeitgebern in Frage
kommt, einseitig gegen die Arbeiter wendet. Wenn die
Ankündigung eines Strikes durch Arbeiter eine nach § 253
Str.G.B. strafbare Drohung darstellt, so mufs dasselbe von den An-
kündigungen der Entlassung oder Aussperrung gelten, wodurch die
Arbeitgeber ihre Forderungen nach Lohnherabsetzungen, Ver-
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002
Wolfgang Ilcinc,
längerungen der Arbeitszeit u. s. w. den Arbeitern aufzuzwingen
suchen. Fortwährend berichten die Zeitungen von entsprechenden
Drohungen der Arbeitgeber, namentlich von ganz offiziell gefafsten
und verkündeten Beschlüssen ihrer Verbände, und noch kein Staats-
anwalt hat sich gerührt, eine Erpressungsanklage darauf zu stützen,
kein Justizminister hat eine Anregung dazu gegeben.
Der preufsischc Justizministcr Schönstädt hat geglaubt, den
Vorwurf der „Klassenjustiz“ damit entkräften zu können, dafs er
auf eine Verurteilung eines Unternehmers hinwies, der einem
anderen Unternehmer mit Abbruch der Geschäftsverbindung gedroht
hatte, er wird aber niemanden überzeugen, solange er nicht nach-
weisen kann, dafs Unternehmer, die ihren Arbeitern Entlassung
oder Aussperrung ankündigen, ebenso angeklagt werden, wie Ar-
beiter, die ihren Arbeitgebern das gleiche thun. Uebrigens hat
es auch in dem vom Justizminister erwähnten Falle Schwierigkeit
genug gegeben, ehe die Verurteilung ausgesprochen worden ist,
und die Begnadigung hat nicht auf sich warten lassen. Das Urteil
selbst, das ebenso falsch ist, wie die gegen Arbeiter gefällten soll
im weiteren Verlauf dieser Abhandlung erörtert werden. *)
Ebensowenig wie gegen Arbeitgeber in ihrem Verhältnis zu
Arbeitern zieht die Praxis die Konsequenzen ihrer verkehrten Be-
griffsbestimmungen in anderen Fällen, und man mufs auch offen
sagen, dafs sie sie nicht ziehen könnte, ohne den gesamten
Handel und Verkehr lahmzulcgen. Wie schon bemerkt, bezeichnet
Merkel die übliche Definition, wonach „rechtswidriger Vermögens-
vorteil" jeder sei , „auf den noch kein unzweifelhaft festge-
stellter Anspruch zusteht", als unbrauchbar und seine Folgen als
absurd, und er erläutert dies an folgendem Beispiel : ä) Er weist
darauf hin, dafs der Hauswirt, der von seinem Mieter bei Ablauf
des Vertrages höheren Mietszins fordert, etwas verlange, worauf er
einen Rechtsanspruch nicht habe, und dafs die Konsequenz dieser
Auffassung sein miifste, auch ihn wegen Erpressung zu bestrafen,
wenn der Mieter, was leicht der Fall sein könnte, die für den Fall
der Nichtbewilligung in Aussicht gestellte Kündigung als Ucbel
empfände.
Das Beispiel ist sehr zutreffend, und es liefsen sich tausend
ähnliche bilden. Jeder wirtschaftliche Geschäftsbetrieb beruht auf
*) Siche Seite 605.
*) a. a. O. S. 732.
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Koalitionsrccht und Erpressung.
603
dem Streben nach Vermögensvorteilen, die einem noch nicht
z u s t e h e n , sondern auf die man Rechte erst erwerben will. Er-
strebt die Putzmacherin, die der um einen neuen Hut handelnden
Kundin den Preis nennt, einen rechtswidrigen Vermögensvorteil ? —
So thöricht cs klingt, nach der von der Rechtsprechung ange-
nommenen Definition müfste man die Frage bejahen, da die Ver-
käuferin vor Abschlufe des Kaufes noch keinen Anspruch auf den
Kaufpreis hat, da sic jedenfalls etwas bei dem Geschäft verdienen
will, und da es auf die Gegenleistung nicht ankommen soll. Und
wenn die Putzmacherin bestimmt erklärt, nicht unter 20 Mk. im
Preise hinuntergehen zu wollen, und wenn die Käuferin, die nur
15 Mk. auszugeben hat, das als ein Uebel empfindet, vielleicht gar
einige Thränen vergiefst, so ist nach der Theorie, dal's jedes In-
aussichtstellen einer als Uebel empfundenen Handlung oder auch
nur Unterlassung eine Drohung sei, die Erpressung vollendet.
Noch grölser wird die Gefahr dieser Rechtsprechung erscheinen,
wenn man sich des Müsbrauchs erinnert, der in der Praxis mit dem
Begriffe des Eventualdolus üblich geworden ist. Man stelle
sich vor, dafs jemand einen Anspruch gegen einen anderen zu
haben meint, dafs sein Rechtsanwalt ihm sagt, die Rechtsfrage sei
streitig, und die Gerichte würden vielleicht die Klage abweisen,
dafs aber der Gläubiger trotzdem dabei beharrt, den Gegner zu-
nächst zur Zahlung aufzufordern, und wenn nötig zu klagen. Es
ist für niemand angenehm, verklagt zu werden, die Klage also ein
Uebel. Die Zahlungsaufforderung unter Hinweis auf die Klage ist
die Ankündigung eines Uebels, also eine Drohung. Dafs die Klage
eine gesetzlich zugelassene Handlung ist, soll ja nach der Meinung
der Judikatur bedeutungslos sein. Der Auffordernde weifs, dafs
sein Anspruch vielleicht nicht juristisch anerkannt wird, also ihm
möglicherweise nicht zusteht, er rechnet mit dieser Möglichkeit und
nimmt sie in seinen Willen auf; er ist sich bewufst, die Klage an-
zukündigen, auch für den Fall, dafs sein Anspruch nicht rechtlich
bestehen sollte, er will also mindestens eventuell durch Drohung
sich einen Vermögensvorteil verschaffen, auf den ihm kein Recht
zustande , der demnach „rechtswidrig“ wäre, kurz er ist ein Er-
presser. Hat Merkel nicht recht, wenn er solche Konsequenzen
nach denen man in keinem juristisch zweifelhaften Falle zur Klage
schreiten dürfte, absurd nennt?
Dieser Einsicht hat sich denn auch die Rechtsprechung nicht
ganz verschliefsen können, und sie hat hier und da Anläufe gemacht,
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604
W o 1 f g a n g Heine,
den Begriff des „rechtswidrigen Vermögensvorteils" und damit den
der Erpressung schärfer zu umgrenzen, freilich ohne rechten Erfolg.
Schon das Urteil vom 6. Oktober 18901) sagt — anscheinend,
ohne sich dabei des Gegensatzes zur sonstigen Rechtsprechung be-
wufst zu werden — :
„Der Begriff der Rechts Widrigkeit des Vermögcnsvorteils auf
dem Gebiet der Erpressung . . . erfordert . . . weiter nichts als das Nicht-
bcslehen eines Rechtes ... in Verbindung mit dem Um-
stande, dafs zu dessen Erreichung ... das Mittel des Zwangs durch
Gewalt oder Drohung angewendel wird.“
Gegenüber dieser einseitigen Betonung des Zwanges hebt
Frank, der das Urteil einer Kritik unterzogen hat,1) zutreffend
hervor, dafs der Geschäftsverkehr eine Menge Fälle kennt, in denen
mittels Drohung ein VVillenszwang ausgeübt werden soll. Ferner
aber enthält die Definition dieses Urteils nur scheinbar eine
Einengung des Begriffs der Rechtswidrigkeit. Das Gesetz stellt für
die Erpressung zwei Begriffsmerkmale auf, die Drohung und den
rechtswidrigen Vermögensvorteil. Wenn nach der citiertcn Ent-
scheidung ein an sich nicht rechtswidriger Vorteil lediglich durch
das Moment der Drohung zum rechtswidrigen werden könnte, so
wären dadurch die positiven Begriffsbestandteile der Erpressung auf
das eine der Drohung zurückgeführt, und die kumulative Fassung
des Gesetzes, das neben der Drohung noch Rechtswidrigkeit
fordert, wäre ungeschickt und sinnlos. Das Gesetz müfste dann
richtig lauten :
„wer abgesehen vom Falle eines ihm unzweifelhaft zustehenden Anspruchs
sich durch Gewalt oder Drohung einen Vermögensvorteil zu verschaffen
sucht etc.“
Da es aber anders lautet, sieht man , dafs diese Auslegung
nicht nur mit dem Geist, sondern auch mit dem Wortlaut des
Gesetzes unvereinbar ist. Und die praktischen Ergebnisse dieser
Rechtsauffassung müssen völlig unerträglich werden, da die Judikatur
auch die erlaubteste Ankündigung einer als Uebel empfundenen
Handlung oder Unterlassung als Drohung ansieht. So ist es er-
klärlich, dafs gerade die citierte Entscheidung als erste dazu kommt,
die Ankündigung eines Strikes, der die Wiedereinstellung von
') Entsch. Bel. 21, S. 117.
’) Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft Pd. 14, S. 392 ff.
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Koalitionsrccht und Erpressung. ÖO$
Arbeitern bezweckte, die ihrer Wahlbeteiligung wegen entlassen
worden waren, als Erpressung zu bestrafen.
Einen erneuten Versuch zu einer schärferen Begriffsbe-
stimmung der Rechtswidrigkeit macht das Urteil des I. Strafsenats
vom 29. November 1900, ’) das interessant ist, weil hier zum ersten
Male eine Unternehmer Organisation unter dem Gesichtspunkte
der Erpressung angefafst worden ist, freilich nicht wegen ihres Vor-
gehens gegen Arbeiter, sondern gegen andere Unternehmer. Es
heilst dort, ähnlich wie in der vorher zitierten Entscheidung:
„Ein Gewinn . . . kann nicht schon wegen seiner durch die gewöhn-
lichen Kalkulationen vielleicht nicht gerechtfertigten Höhe als rechts-
widrig bezeichnet werden, wohl aber wenn oder soweit er auf rechts-
widrige Weise durch ... Zwang, Gewalt oder Drohung erzielt wird.“
Die Fall lag folgendermafsen : Der Direktor eines behufs
Regelung der Preisverhältnisse gebildeten Verbandes von Munitions-
fabriken hatte einem Kunden mitgeteilt, dafs die zur Konvention
gehörigen Firmen an Kunden, die auch von Nichtverbandsfirmen
Ware bezögen, nicht liefern würden, und hatte den Kunden
unter Hinweis auf seine Bezüge von einer aufsenstehenden Firma
zur Stellungnahme aufgefordert und schliefslich mit Einstellung der
Geschäftsverbindung durch die Verbandsfirmen bedroht. Das Reichs-
gericht sieht die Rechtswidrigkeit dieser Drohung darin, dafs das
Kartell dadurch in die Verhältnisse und die Gewerbeausübung
Dritter eingegriffen und die unter dem Schutze der gesetzlich
gewährleisteten Gewerbefreiheit stehende Konkurrenz unterbunden
habe.*)
Juristisch ist diese Begründung haltlos: ein Recht auf Kon-
kurrenz ist in keinem Gesetze begründet und die Berufung auf
die Gewer befrei heit ist nichts als eine Verlegenheitsredensart,
weil diese nur die Freiheit von staatlichen Beschränkungen be-
deutet, nicht die vertragsmäfsige Bindung ausschliefst. Was aber
das Kartell wollte, war gerade die Heranziehung des Kunden zu
der durchaus zulässigen Abrede der Beschränkung seines Bezugs
auf die Konventionsfirmen. Ebenso unüberlegt ist die Argumentation,
dafs Kartelle nicht in die Rechtssphäre Dritter eingreifen dürften.
Zieht nicht jede zunächst unter den Verbandsmitgliedern selbst
getroffene Abrede, z. B. die Festsetzung von Produktionsbc-
*) Kntsch. in Strafs. Bd. 34, S. 16 ff.
*) Das. S. 22 und 23.
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6o 6
W o 1 fgang Itcine,
Schränkungen oder Minimalpreisen von selbst Wirkungen auf die
Rcchtssphäre Dritter nach sich? Kann nicht jeder gröfsere Ab-
schluß an der Börse, auch wenn er sich auf zwei Kontrahenten
beschränkt, ebensolche Folgen für Dritte haben ?
Nicht wertvoller ist das Urteil in volkswirtschaftlicher und
sozialer Beziehung. Freilich mufs man es dem Reichsgericht lassen,
dal's es das feine Verständnis, das es für die „Strikebrecher“ unter
den Arbeitern zu haben pflegt, in diesem Falle auch dem Kartell-
brecher aus dem Unternehmerstande nicht versagt hat, desto
geringer ist das Verständnis für die wichtigste wirtschaftliche
Tendenz der Gegenwart, zum Zusammen sc hlufs der zer-
splitterten Einzelkräfte zu gemeinsamen Wirken. Unwillkürlich wird
man an die öfter citierten Worte erinnert, mit denen der Ver-
fassungsausschufs der französischen Nationalversammlung sich in
einem Bericht vom 14. Juni 1791 über wirtschaftliche Koalitionen
ausläfst, und wo es heifst: „es darf nicht den Mitgliedern einer
Profession nachgelassen werden, sich zu vereinigen zum Schutz ihrer
vermeintlichen gemeinsamen Interessen. Es giebt keine Korporationen
mehr im Staate, es giebt nur das Sonderinteresse eines jeden
Individuums und das allgemeine Interesse.“ Nur dafs dieser über-
schwängliche Individualismus vom Jahre 1701 der Anfang einer Ent-
wicklung gewesen ist, die wir heut hinter uns haben.
Sowohl juristisch als volkswirtschaftlich unterscheidet sich dies
Urteil des Reichsgerichts sehr zu seinem Nachteil von dem Urteil
des Obersten Iandesgerichts für Bayern vom 7. April 1 888, *) wto
namentlich das Argument der Unzulässigkeit eines Zwangs auf
Dritte sehr treffend mit der. Bemerkung abgefertigt wird,
„dafs es als Existenzbedingung des Vereins, welcher einen erlaubten Zweck
verfolgt, erscheint, womöglich alle Gewcrbsgenossen in sich aufzunehmen,
da die Aufsenbleibendcn sich der durch den Verein erzielten Vorteile
ohne jedes Opfer ihrerseits erfreuen würden.“
Ohne Zweifel bietet die Frage der Bildung industrieller Kar-
telle und ihres Vorgehens Grund genug zu ernsten Erwägungen,
diese aber fallen der Gesetzgebung zu, und solange die Ge-
setze solche Kartelle gestatten, dürfen die Gerichte nicht diese
politische Frage ersten Ranges so nebenbei dadurch „lösen“ wollen,
dafs es ihnen einfällt, auf Grund eines für ganz andere Zwecke ge-
*) Sammlung von Knlschcidungen in Gegenständen des Zivilrechts und Zivil-
prozesses Hd. 12, S. 67 tT.
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Koalitionsrccht und Erpressung.
607
gebenen Strafgesetzes die Thätigkeit der Kartelle für „verboten“ zu
erklären. Man kann nicht umhin, zu sagen, dafs damit die Justiz
die Grenzen ihrer Befugnisse verkennt. Es war nötig, auch dies
Urteil hier eingehender zu besprechen, weil die Kartelle der Unter-
nehmer die dem Zwecke der Preisbildung den Kunden gegenüber
dienen, das natürliche Korrelat der Arbeitervereinigungen sind, die
bessere Lohn- und Arbeitsbedingungen d. h. eine bessere Ver-
wertung der Ware Arbeitskraft herbeiführen wollen, und weil sehr
vieles, das auf die einen zutrifft, auch von den anderen gilt.
So wenig nun die verschiedenen Versuche des Reichsgerichts,
den Begriff des „rechtswidrigen Vermögcnsvortcils“ überhaupt und
bei der Erpressung besonders zu definieren, geglückt sind, und so
unerträglich ihre Folgerungen für die Praxis sind, so fehlt es der
Theorie doch durchaus nicht an einem Auswege. Wenn der Ge-
setzgeber im Strafrecht, ohne den Begriff näher zu definieren, von
einem „rechtswidrigen Vermögensvorteil“ spricht, so will er offen-
bar, dafs die Frage nach der Rechtmäfsigkeit oder Rechtsswidrigkeit
nach den Rechtsquellen beurteilt werde, die für Vermögens-
rechte überhaupt mafsgebend sind , also nach dem Zivilrecht. *)
Man kann aber noch weiter gehen: der Begriff des rechtswidrigen
Vermögensvorteils findet sich, wie schon gesagt, im Strafgesetzbuch
beim Betrug und der Erpressung, und diese beiden Strafgesetze
entsprechen genau den zivilrechtlichen Fällen der „Täuschung" und
des „Zwangs“, die man als „Willensfehler" bezeichnet. Offenbar
hat der Gesetzgeber das Wort „widerrechtlich“ nicht in einem
ganz allgemeinen Sinne gebraucht, — wie die von der Judikatur
angenommene Definition „ohne Recht“ es annimmt, — sondern er
hat an diese besonderen Thatbestände der Täuschung und des
Zwangs gedacht und Rechtswidrigkeit mit Bezug auf diese
Willcnsfehler gemeint. Das entspricht auch durchaus dem
üblichen Hergang bei der Gesetzgebung, bei der der Gesetzgeber
von einem Komplex von T hatbeständen ausgeht, die er so
oder so regeln will, und für deren Regelung er dann die gesetz-
lichen Begriffsformulierungen sucht, so gut es ihm glücken will.
Danach mufs man definieren: „rechtswidrig“ ist ein Ver-
mögensvorteil, den der Thäter für sich oder einen anderen vom
Geschädigten in zivilrechtlich anfechtbarer Weise erwirbt, und zwar
im Falle des Betrugs (§ 263 Str.G.B.), wenn die Anfechtbarkeit auf
’) Merkel a. a. O. S. 733. Frank a. a. O. S. 398.
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6o8
W o 1 f g a n g Heine,
Täuschung, im Falle der Erpressung (§ 253 Str.G.B.), wenn sie auf
Zwang beruht, entweder auf absolutem Zwang (Gewalt) oder auf
Willenszwang (Drohung).
Dies ist, wenn auch in etwas anderer Fassung, die Ansicht
von Merkel und Olshausen *) und anscheinend auch von Frank.
Für die Notwendigkeit, den Begriff des rechtswidrigen Ver-
mögensvorteils in strafrechtlichem Sinne auf die Bestimmungen des
Bürgerlichen Rechts über Anfechtbarkeit wegen Täuschung und
Betruges Zurückzufuhren und durch sic zu beschränken, sprechen
auch die Motive zum B.G.B. § 123. Es heifst dort:
„Das B.G.B. spricht im Anschlüsse an § 253 Str.G.B. von Drohung.
Es wird nicht nur damit der richtige Gedanke in zutreffender Weise zum
Ausdruck gebracht, sondern zugleich die Einheit der Behandlung
auf strafrechtlichem und privatrechtlich cm Gebiete ge-
wahrt.“
Also, die Verfasser der Motive, und wie man annehmen mufs,
auch die Gesetzgeber des B.G.B. sind der Ansicht gewesen, dafs
die §§ 123 B.G.B. und 253 Str.G.B. dieselbe Materie behandeln,
und dafs die Behandlung einheitlich sein solle. Die Drohung, die
in § 123 B.G.B. zur Unwirksamkeit einer Rechtshandlung führt, ist
keine andere als die, die nach § 253 Str.G.B. eine Strafe nach sich
zieht, und umgekehrt. Daraus ergiebt sich dann die diesseits ver-
tretene Ansicht, dafs auch rechtswidrig im Sinne des § 253 Str.G.B.
nur der Vermögensvorteil sein kann, der nach § 123 B.G.B. wegen
vorgefallcncr Drohung nicht als rechtmäGsig angesehen werden
könnte.
Damit wissen wir aber noch immer nicht, was nach bürger-
lichem Rechte ein durch Täuschung oder Zwang erlangter, also
rechtswidriger Vermögensvorteil ist, und leider ist die Beantwortung
dieser Frage auch nicht mit zwei Worten zu geben. Wir wollen
im folgenden uns auf die Erörterung des Zwanges beschränken.
Das I’reufsische Allgemeine Landrecht, das sich nicht
an die geschärfte Logik der juristisch Gebildeten, sondern an den
ordinären Menschenverstand wenden wollte, das deshalb auch be-
müht war, sich im allgemein verständlichen Deutsch auszudrücken,
und das in philiströser Redseligkeit keine Skrupel empfand, ge-
legentlich auch einmal Ueberflüssiges zu sagen oder Gesagtes zu
*) Kommentar z. Strafgesetzbuch § 263 Note 45, § 253 Note S.
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Koalitionsrccht und Erpressung. 6o<)
wiederholen , behandelte den Gegenstand ziemlich kasuistisch, ’)
immerhin stellte es ausdrücklich den allgemeinen Satz auf:
„Die Drohung, sich seines Rechtes gesetzmäfsig zu bedienen, kann
niemals als Zwang angesehen werden“,
und machte davon nur eine Ausnahme zu Ungunsten der Drohung
mit Strafanzeige, selbst wenn sie mit Grund erfolgen sollte. Auf
das Koalitionsrecht der Arbeiter angewendet, zeigt dieser Satz recht
deutlich die Unhaltbarkeit der Auffassung, die in der Drohung mit
befugter Arbeitseinstellung nicht nur einen Zwang, sondern sogar
eine strafbare Erpressung sehen will.
Das Bürgerliche Gesetzbuch fafst sich wie gewöhnlich kürzer
und handelt die Materie in wenigen Zeilen ab : *)
Wer zur Abgabe ciuer Willenserklärung ... widerrechtlich
durch Drohung bestimmt worden ist, kann die Erklärung anfechten.
Von der absoluten Gewalt spricht das Bürgerliche Gesetz-
buch nicht, weil es in diesem Falle überhaupt keinen Akt des
Willens annimmt, also auch eine besondere Anfechtung nicht
braucht. Für unsere dem Koalitionsrecht gewidmete Untersuchung
kommen solche Fälle auch nicht in Betracht. Was den Willens-
zwang, die Drohung anlangt, so macht nicht jede Drohung, sondern
nur die „widerrechtliche" eine Willenserklärung zivilrechtlich an-
fechtbar.
Also ist die davon abhängige strafrechtliche „Rechtswidrigkeit“
des Vermögensvorteils zu erklären durch die zivilrechtliche „Wider-
rechtlichkeit“ der Drohung.
Welche Drohung ist nun „widerrechtlich“ ? Das Bürgerliche
Gesetzbuch und die Motive schweigen darüber. Ziemlich eingehend
behandelt dagegen der Kommentar von Rehbein a) zum Bürgerlichen
Gesetzbuch diese Fragen. Er sagt:
„Widerrechtlich“ ist die Drohung notwendig, wenn sic eine strafbare
Handlung darstellt. Was strafbar ist, kann nicht nicht widerrecht-
lich sein. Widerrechtlich ist deshalb die Drohung, die den Thatbestand
des § 253 Str.G.B. enthält.
*) T. 1 Tit 5 §§ 3i-5*-
*) § 1*3 B.G.n.
3) Das Bürgerliche Gesetzbuch mit Erläuterungen von Dr. H. Rehbein, Reichs-
gcrichtsrat. t. Aufl. Bd. I S. 143 ff.
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6io
Wolfgang Heine,
Sehr wahr! Was sogar vom Strafgesetz bedroht ist, mufs
auch im Sinne des Privatrechts widerrechtlich sein, nur hilft uns
diese Erwägung leider in unserer Untersuchung nicht weiter. Mit
demselben Grunde kann man sagen: was privatrechtlich nicht
widerrechtlich ist, kann unmöglich im strafrechtlichen Sinne
„rechtswidrig" sein und sogar eine entehrende Kriminalstrafe nach
sich ziehen. Wenn der Kriminalist, um festzustellen, was „Er-
pressung“ ist, den Zivilisten fragt, was im privatrechtlichen Sinne
„widerrechtlich“ sei , so ist ihm nicht damit gedient , dafs der
Zivilist ihm antwortet: widerrechtlich ist, was strafrechtlich „Er-
pressung" genannt wird.
Ebensowenig hilft es uns, dafs Rehbein, den Begriff der Er-
pressung erläuternd, fortfahrt:
„d. h. sich oder einem anderen einen rechtswidrigen Vermögensvortcil zu
verschaffen bezweckt; rechtswidrig ist der Vermögensvorteil, auf den der
Drohende oder Dritte keinen Rechtsanspruch hat, dessen Erlangung viel-
mehr gegen das Recht verstöfst.
Wie man sicht, steht beiläufig auch Rehbein auf dem Stand-
punkt, dafs im Sinne des Strafgesetzes rechtswidrig nur sei, was
gegen das Recht sei, aber wenn wir uns von ihm dem Zivi-
listen erklären lassen wollen, welcher Anspruch gegen das
Recht verstofse, hilft es uns nichts, dals es uns zur Erklärung
dasselbe Wort auftischt, das wir eben erklärt haben wollen. Wir
müssen suchen, aus diesem Kreise herauszukommen.
Völlig freilich läfst uns Rchbein nicht im Stich, er fafst seinen
Standpunkt in den folgenden Sätzen zusammen, die ich ausführ-
lich wiedergebe, unter Auslassung nur einiger von ihm angeführter
Beispiele, die von der uns interessierenden Frage ablenken:
Widerrechtlich ist die Drohung, die Stellung der
Alternative, zu widerrechtlichem Zwecke... Nicht wider-
rechtlich ist sic zum Zweck erlaubter Selbsthilfe. Nicht widerrecht-
lich ist die Drohung auch, wenn das angedrohte Ucbel selbst kein
Unrecht, der Drohende mit der Ausführung dessen, was er
droht, nur sein Recht ausüben würde. Darauf beruhen die
38. 39. 40 I 4 A.L.R., wonach die Einrede des Zwanges nicht zu-
gelassen wird bei Drohung, sich seines Rechts gesetzmäfsig zu
bedienen, sein Recht gerichtlich zu verfolgen, oder einen
zugedachten noch nicht eingeräumten Vorteil zu ent-
ziehen. Drohung mit Klage wegen bestehender Forderung, berechtigter
Zwangsvollstreckung , rechtmäfsiger Kündigung, Entlassung,
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Koalitionsrccht und Erpressung. 6ll
Rücktritt von einem V ertrage, rechtniälsigem Widerruf, N i c h t a b -
sclilufs eines in Aussicht genommenen Vertrages, ist selbst
dann nicht widerrechtlich, wenn sie den anderen vor eine lästige
Alternative stellt. Das im Begriff der Drohung liegende Stellen der
Alternative ist nicht widerrechtlich, wenn ein Recht auf das eine oder
andere besteht. Zahle die Schuld, oder ich klage, . . . verkaufe zu 100,
oder ich kaufe nicht, ... bewillige meine Bedingungen, oder
ich schliefse nicht ab, ist danach jedenfalls nicht widerrechtlich.
Ebensowenig widerrechtlich ist: ... g i c b mehr Lohn, oder ich
kündige oder klage. Das Stellen der Alternative ist auch in diesen
Fällen nicht widerrechtlich, obwohl ein Rechtsanspruch auf die
Lohnerhöhung nicht besteht, weil ein Recht auf Kündi-
gung ... besteht, der (legner kein Recht auf Nichtausübung dieses
Rechts hat, die Stellung der Alternative nichts anderes in sich schliefst,
als die Proposition des Verzichts auf das Recht gegen eine Leistung
seitens des anderen, oder die Proposition eines Vergleichs oder neuen
Vertrages.“
Das alles ist im Grunde auch mehr Kasuistik als Prinzip,
wofür der Vorwurf aber weniger Rehbein trifft, als den Gesetz-
geber, der einen so verschiedener Auffassung und Deutung fähigen
Ausdruck wie „widerrechtlich" ohne jede Erläuterung gelassen hat.
Eine mehr prinzipielle Lösung versucht Endemann. ') Er
unterscheidet zwei Fälle der widerrechtlichen Drohung im Sinne
des § 123 B.G.B.
a) Das angedrohte Uebel selbst kann widerrechtlich sein (man
droht mit Erschielsen) oder
b) die Drohung bezieht sich zwar auf ein an sich berechtigtes
Vorgehen, der Erfolg, den man bezweckt, ist aber ein „rechts-
widrige r“.
Viel nützt uns das freilich auch nicht, denn was „rechtswidrig"
sei, sagt uns Endemann an dieser Stelle nicht.
Immerhin werden wir ihm folgen können, wenn er die Rechts-
widrigkeit einer Drohung in Fällen annimmt, wo das angedrohte
Uebel selbst eine strafbare oder gesetzwidrige Handlung ist, und
ebenso lassen sich Fälle denken, wo das erstrebt? Ziel den Aus-
schlag giebt, z. B. wenn jemand die Drohung mit einer an sich
zulässigen Strafanzeige benutzt, um Vermögensgewinne herauszu-
schlagen, wozu der Fall der Erwirkung einer Bufse zu einem un-
eigennützigen Zwecke nicht gerechnet werden kann. 4)
') Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts Bd. I S. 3 1 5 der 6. Aufl.
*) Rehbein a. a. O. S. 144.
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ÖI2
Wo! fg an g Heine,
Bei dieser Zurückführung des strafrechtlichen Begriffs der
Rechtswidrigkeit auf die zivilrechtlichen Bestimmungen über An-
fechtbarkeit wegen Täuschung oder Zwanges ist nun aber festzu-
halten, dafs durchaus nicht jeder sich des Betrugs oder der Er-
pressung schuldig macht, der eine Leistung erstrebt, die der Gegner
wegen Täuschung oder Zwanges verweigern oder zurückfordern
könnte. Vielmehr ist die kriminalrechtliche Wirkung von Täuschung
und Zwang enger, als die zivilrechtliche. Zunächst setzen der
strafrechtliche Betrug und Zwang (Erpressung) das Bewufstsein
der Rechtswidrigkeit des Anspruchs voraus, was bei der
zivilrechtlichen Anfechtung nicht der Fall ist. Ferner aber mufs
in den strafrechtlichen Fällen ein „Vermögens vorteil“ erstrebt
worden sein, was bei einer entsprechenden Gegenleistung des
Thäters vernünftigerweise nicht angenommen werden kann. Zivil-
rechtlich dagegen kann jede durch Täuschung erschlichene oder
durch Zwang abgenötigte Vermögensleistung zurückgefordert
werden, auch wenn ein voller Gegenwert dafür gegeben worden
war, selbstverständlich unter Rückgewährung des Empfangenen.
Ziehen wir nun die Konsequenzen für das Koalitionsrecht, so
kommen wir zu folgenden Ergebnissen :
I. Wenn Arbeiter dem Arbeitgeber ankündigen, dafs sie die
Arbeit niederlegen oder nicht wieder aufnehmen würden, so ist,
wenn keine Pflicht zur Arbeit bestand, also nach gehöriger
Kündigung, oder wo Kündigung ausgeschlossen war auch ohne
solche , dies nicht widerrechtlich, es können also auch
durch diese „Drohung" die erstrebten Vermögensleistungen nicht
anfechtbar werden.
1. Erfolgt solche Ankündigung zum Zwecke, künftige Ar-
beitsverträge für sich oder andere abzuschliefsen oder ablaufcnde zu
verlängern, Arbeitslöhne oder andere Arbeitsbedingungen bewilligt
zu erhalten, so ist auch der Zweck nicht widerrechtlich, selbst
wenn der geforderte Lohn über die üblichen Kalkulationen hinaus-
geht. ') Es mag sein, dafs der Arbeitgeber dadurch in Schwierig-
keiten kommen kann, aber er hat es ja in der Hand, sich durch
längere Verträge (Tarife) vor einer solchen Ausnutzung der Kon-
junkturen zu schützen, wenn er sich nur selbst in gleicher Weise
bindet.
2. Erpressung liegt aufserdem nicht vor, schon weil mit
‘) Vgl. »las cilicrlc Kcielisgcrichtsurteil Entsch. Bd. 34, S. 22.
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Koalitionsrecht und Erpressung. 613
Rücksicht auf die Gegenleistungen nicht von einem Vermögens-
vorteil die Rede sein kann.
3. Manchmal werden unter Ankündigung der Fortsetzung eines
Strikes und dgl. Nebenforderungen erhoben, z. B. Schadens-
ersatz für Ausgesperrte, auch wo die Aussperrung wegen Aus-
schlusses der Kündigung zulässig war, Entschädigung der Mitglieder
der Lohnkommission ’) u. s. w. Auch darin wird man nicht einen
„widerrechtlichen Zweck“ sehen können, obgleich auf die fraglichen
Leistungen an sich kein Anspruch bestand , denn sic sind als
Gegenleistungen für die Vorteile anzusehen, die der Arbeit-
geber durch die Fortsetzung oder Wiederaufnahme der Arbeit,
wozu die Arbeiter ihrerseits nicht verpflichtet waren, gewinnt;
unter Umständen werden solche Zahlungen auch als Sühne für
zugefügtes moralisches oder vertragliches Unrecht aufzufassen sein.
II. Etwas anders gestaltet sich die Sache, wenn die Arbeiter
dem Arbeitgeber die sofortige Arbeitsniederlegung androhen, wo
eine Kündigungsfrist besteht, ohne dafs einer der gesetzlichen
Gründe sofortiger Lösung des Arbeitsvertrages vorläge, wo sie also
kontraktbrüchig werden. Hier ist die Drohung offenbar
widerrechtlich. In der Anwendung aber ist zu unterscheiden :
1. Die Drohung wird ausgesprochen, um den Abschlufs
künftiger Arbeits vertrage herbeizuführen, z. B. einen Tarif-
vertrag zu erlangen, der erst künftig in Kraft treten soll, oder die
Einstellung anderer Arbeiter durchzusetzen, die noch nicht einge-
stellt oder die entlassen worden waren (Wiedereinstellung Gemafs-
regclter). Hier würde der Arbeitgeber die unter dem Drucke einer
widerrechtlichen Drohung gegebene Versprechung zivilrechtlich an-
fechten, die Gültigkeit des Tarifs bestreiten, die Einstellung der
Arbeiter verweigern oder sie entlassen können. Trotzdem kann von
einer Erpressung nicht die Rede sein, wegen der angebotenen
Gegenleistung, die den Begriff des Vermögens vor teils aus-
schliefst (s. zu I 2).
2. Wenn dagegen die Arbeiter mit Arbeitsniederlegung unter
Kontraktsbruch drohen, um für die bereits übernommene Arbeit
mehr als den vereinbarten Preis oder bei Zeitlohn schon für die
Zeit vor Ablauf des Vertrages höhere Lohnsätze zu erzwingen, so
wird sich nach dem geltenden Recht nicht bestreiten lassen, dafs
auch ein Vermögensvorteil erstrebt wird, der als „rechts-
') Z. B. in dem Falle F.ntsch. des Rcichsg. in Strafs. Bd. ai, S. 116.
Archiv für sox, Gesetzgebung u. Statistik. XVII. 40
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6i4
Wolfgang Heine,
widrig“ angesehen werden mufs. In diesen Fällen liegt Erpressung
vor, wenn nämlich die sonstigen Voraussetzungen, namentlich das
Bewufstsein der Rechts Widrigkeit der Forderung nicht
fehlen. Auf dies Requisit mufs besonders aufmerksam gemacht
werden, weil nicht selten Arbeitgeber oder deren Stellvertreter die
Arbeiter mit Absicht über die Höhe des Lohnes oder der Accord-
preise im unklaren lassen. Auch in dem besprochenen Falle des
Maurers D u d a soll es so gelegen haben.
In Berlin wurde kürzlich ein Kellner von der Anklage der Er-
pressung freigesprochen, dessen Fall folgendermafsen lag: Für ein
Vercinsfcst waren Aushilfskellner zu einem Lohn angenommen
worden, neben dem sie auf Trinkgelderverdienst angewiesen waren.
Infolge gewisser Einrichtungen beim Feste erhielten die Kellner
nur geringe Gelegenheit, von den einzelnen Teilnehmern Geld ein-
zukassieren und so Trinkgelder zu verdienen. Sie baten den Wirt
um Zulage, er gab unbestimmte Versprechungen, und schliefslich
sollen die Kellner unter Drohung der Arbeitsniederlegung eine be-
stimmte Versprechung gefordert haben. Hier wurde auf Grund
der Unklarheit der Abreden das Bewufstsein der Rechtswidrigkeit
verneint.
Andererseits lassen sich wohl Falle denken, in denen unter der
Drohung einer unberechtigten Arbeitseinstellung Forderungen ge-
stellt werden, die sich als erpresserisch charakterisieren, z. B. wenn
sich Arbeiter weigern sollten, die letzte Hand an eine Arbeit zu
legen, von der sie wissen, dafs sie geliefert werden mufs, und wenn
dies geschähe, um irgend eine Zuwendung zu erlangen, die nicht
mehr als Vergütung für besondere Leistungen angesehen werden
könnte. In der Praxis der Gerichte ist übrigens ein solcher Fall
noch nicht bekannt geworden.
III. Wenn Drohungen gegen Mitarbeiter, die Arbeit
nicderzulegen, oder nicht mit ihnen zusammenzuarbeiten, zu dem
Zwecke erfolgen, sic zum Beitritt zu Verbänden oder zur Zahlung
an Strikefonds zu bewegen, kann es nicht darauf ankommen, ob
die Arbeitseinstellung dem Arbeitgeber gegenüber befugt ist
oder nicht, denn dem Mitarbeiter gegenüber wäre die Arbeits-
einstellung jedenfalls nicht widerrechtlich. Dagegen dürfte hier die
Widcrrechtlichkcit der Drohung aus § !53Gew.O. zu folgern sein.
Erpressung liegt auch hier nicht vor, weil, wie schon ausge-
führt, dabei gar nicht der Zweck verfolgt wird, der Organisation
Vermögen zuzuwenden, sondern lediglich moralische Motive leitend
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Koalilionsrccbt und Erpressung. ßlj
sind. Aufserdem auch, weil die Organisation keinen Vermögens-
vorteil erwirbt, der von dem des Beisteuernden getrennt wäre, wie
das in dem citierten die Versicherungsgesellschaften auf Gegenseitig-
keit betreffenden Urteile des Reichsgerichts dargelegt ist.
Würde die Rechtsprechung diesen Darlegungen folgen, so
würden die Gefahren, mit denen die Anwendung des Erpressungs-
paragraphen heut das Koalitionsrecht bedroht, in der Hauptsache
beseitigt sein. Aber einmal ist darauf nicht zu hoffen, denn die
Judikatur hält auf das zäheste an ihren Irrtümcrn fest, und ferner
würde der Rechtszustand immer noch unbefriedigend und
gefährlich sein. Es ist ein nicht zu billigender Umweg, wenn
das Strafrecht den weittragenden Begriff des „rechtswidrigen"
Vermögensvorteils verwendet, aber ihn nicht selbst zu umgrenzen
sucht, sondern seine Auslegung dem Zivilrecht überläl'st, und es ist
eine Unklarheit und fast ein Zirkelweg, wenn das Zivilrecht uns
wieder auf das ebenso unbegrenzte Wort „widerrechtlich" ver-
weist Es kann gar nicht ausbleiben, dafs die Rechtsprechung dabei
immer wieder auf Irrwege gerät. Eine Abänderung des Ge-
setzes ist also unbedingt notwendig.
Im Jahre 1899 hat die sozialdemokratische Reichstagsfraktion
die Einbringung des Zuchthausgesetzes mit einer Gegenvorlage von
Bestimmungen zum Schutze des Koalitionsrechts beantwortet, die
als Zusätze zu der damals vom Reichstage beratenen Gewcrbe-
ordnungsnovelle formuliert waren.1) Unter diesen Anträgen, die in
der Sitzung vom 1. Dezember 1899 abgelehnt worden sind, befand
sich auch folgender Entwurf eines § 152c:
Das Verlangen, einen Arbeitsvertrag zu schlicfscn, andere in Arbeit
zu nehmen , andere Arbeitsbedingungen , insbesondere höhere Löhne,
kürzere Arbeitszeit zu gewähren, oder bestimmte Bedingungen als Voraus-
setzungen für Fortsetzung oder Aufnahme der Arbeit zu erfüllen, sowie
das Verlangen, einer Wohlthätigkeitsanstalt , einer öffentlich-rechtlichen
Korporation oder einer politischen gewerblichen oder gemeinnützigen
Vereinigung eine Zuwendung zu machen, ist nicht als rechtswidrig und
der dadurch erstrebte Vermögensvorteil nicht als ein rechtswidriger im
Sinne irgend eines Gesetzes zu erachten.
Dieser Antrag sollte seiner Entstehung und Absicht nach ein
Notgesetz darstellen, das ohne den Erpressungsbegriff neu zu
*) Drucks. Nr. 45s, X. Legislaturper. I. Session,
4°*
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6i6
Wolfgang Heine,
formulieren, lediglich die schlimmsten Auswüchse der Judikatur der
Arbeiterklasse gegenüber beschneiden wollte. Es ist nicht ganz
ohne Recht eingewendet worden, dafs für diesen Zweck die Fassung
des Entwurfs teilweis etwas zu allgemein sei; namentlich würde
danach auch der nicht wegen Betruges belangt werden können,
der sich unter falschen Angaben über gewerbliche Fähigkeiten, die
er nicht besäße, Lohnvorschüsse erschwindelte, um dann die Stellung
gar nicht anzutreten.
Eine grundsätzliche Besserung kann nur in Verbindung
mit der Neubearbeitung des ganzen Strafgesetzbuchs durch Aende-
rung des § 253 selbst en eicht werden. Solange das System und
die Terminologie des neuen Strafgesetzbuchs nicht einmal in den
Umrissen bekannt sind, hat es keinen Zweck, Formulierungen zu
entwerfen. Nur die Gesichtspunkte können angeführt werden, die
inbetracht kommen müssen.
Nach diesseitiger Meinung sollte man auf den wertlosen Ruhm,
eine so differenzierte Materie durch eine einzige Norm regeln zu
wollen, verzichten und eine Scheidung vornehmen. Etwa nach Vor-
gang der zivilrechtlichen Bestimmungen des Allgemeinen I .andrechts
sollte man die Drohung mit nicht gesetzwidrigen Hand-
lungen grundsätzlich aus dem Gebiete dcrErpressung aus-
scheiden.
Dies allein würde jeden Mifsbrauch der Judikatur ausschliefsen,
und ist im Interesse gerade auch des anständigen Geschäftsver-
kehrs notwendig. Daneben müfste man durch besondere Be-
stimmung die wenigen Fälle wiederum der Erpressung zuteilen,
bei denen ein Bedürfnis dazu vorliegt, etwa die der Drohung mit
Strafanzeige oder mit Verlassen in hilfloser I.age.
Was das Vermögensziel der Erpressung betrifft, so wird
man zum Ausdruck bringen müssen, dafs die Fälle, in denen eine
Gegenleistung angeboten wird , nicht darunter fallen , dafs
andererseits nicht die Fiktion einer Gegenleistung vor der Be-
strafung schützt. Am nächsten liegt hier der Gedanke einer
Regelung wie beim Wucher, wo die Strafbarkeit eintritt, wenn der
gewährte oder versprochene Vermögensvorteil den Wert der Gegen-
leistung dergestalt übersteigt, dafs nach den Umständen des Falles
die Vermögensvorteile in auffälligem Mißverhältnis zu der Leistung
stehen ; ') nur erhebt sich das Bedenken, dafs damit wieder ein der
’) §§ 301a und 30JC St.C.B.
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Koalitionsrccht und Strafrecht. 617
richterlichen Willkür weiten Spielraum lassender Begriff ein neues
Anwendungsgebiet erhalten wurde. Allerdings hat man beim Wucher
bisher nichts von unangemessener Ausdehnung des Begriffs des
„auffälligen Milsverhältnisses“ gehört, aber die Erfahrungen auf den
Gebieten der Rechtspflege, die von den sozialen Kämpfen und
Leidenschaften berührt werden, ermutigen nicht gerade dazu, auf
ihnen neue dehnbare Begriffe zur Anwendung kommen zu lassen.
Immerhin wäre die Gefahr bei der geforderten Beschränkung des
Begriffs der Drohung nicht allzugrofs.
Endlich würden die Zuwendungen an Stiftungen oder Korpora-
tionen aller Art, wenn sie zur Sühne eines Unrechts, oder zur Er-
füllung einer sittlichen oder Anstandspflicht gefordert werden, von
dem Thatbestand der Erpressung auszuschliefscn sein.
Eine volle Sicherheit gegen eine Judikatur, die zu so ab-
surden Konsequenzen gelangt, wie die heutige über Erpressung,
kann freilich auch ein noch so sorgfältig formuliertes Strafgesetz
nicht schaffen, denn die Formel des Gesetzes hat überhaupt nicht
den Wert, den die landläufige Justizpflege ihr beimifst. Schon weiter
vorn war darauf hingewiesen worden wie der Gesetzgeber arbeitet.
Er geht, was Theorie und Judikatur immer wieder vergessen, nicht
vom Allgemeinen zum Besondcrn , sondern umgekehrt vom Be-
sondern zum Allgemeinen vor, er beurteilt nicht nach den juristischen
Begriffen die Thatsachen des Lebens, sondern er hat einen Komplex
von Thatbeständen vor Augen und eine ihm für sie passend
dünkende Regelung. Diese formuliert er zum Gesetz, und das
glückt manchmal, aber manchmal auch nicht, ln jedem Falle
bleiben die gesetzlichen Begriffe nur Mittel des Ausdrucks,
und nur mit Vorbehalt können aus ihnen Konsequenzen abgeleitet
werden, die nicht ausdrücklich ausgesprochen sind. Keinesfalls
dürfen die Formeln des Gesetzes, wie es die heutige Begriffsjuris-
prudenz liebt, nach Art mathematischer Formeln behandelt
werden, aus denen man die überraschendsten, aber — falls man
nur richtig gerechnet hat — unzweifelhaft wahren Dinge ableitcn
kann. Aus den Gesetzen kann man nicht alles folgern, was sich
nach Sprache und Logik noch aus ihnen deduzieren läfst, sondern
ihre Anwendung ist an den Willen des Gesetzgebers gebunden,
aus dem sie stammen. Nicht nur was diesem entgegen steht, darf
man aus ihnen nicht folgern, sondern auch das nicht, wovon nicht
fest steht, dafs der Gesetzgeber es sich als Konsequenz vorgestellt
hat. Sicherlich gilt dies von der Anwendung des Strafrechts, das
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6i8
Wolfgang Heine, Koalitionsrccht und Erpressung.
seiner Ausnahmenatur wegen nicht ausdehnend angewendet werden
darf, und bei dem sich diese Folge schon aus dem Grundsatz nulla
poena sine lege ergiebt.
Als die Judikatur zuerst vor der Frage stand , ob die Er-
pressungsnorm auf Arbeiter anzuwenden sei, die ihr Koalitionsrecht
benutzten , um Arbeit oder bessere Bedingungen zu bekommen,
hätte sie sich fragen müssen, ob der Gesetzgeber sich eine solche
Möglichkeit vorgestellt hätte. Man mufs annehinen, dafs, wenn die
Rechtsprechung sich durch diese Erwägung hätte leiten lassen, es
nie zu so falschen und die Justiz -blofsstellenden Urteilen gekommen
wäre.
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GESETZGEBUNG.
DEUTSCHES REICH.
Die neue Seemannsordnung und ihre Nebengesetze.
Eingeleitet von
H. MOLKENBUHR,
Mitglied d. Reichstags.
Nur langsam folgt die Gesetzgebung der wirtschaftlichen Ent-
wicklung auf dem Gebiete der Sozialpolitik. Erst dann wenn
auf einem Gebiete die Mifsstände zu grofs werden, entschliefst sich
der Gesetzgeber, mit Reformen die gröbsten zu beseitigen. Zu
den Fragen, die sich ihm förmlich aufdrängten, gehört die Reform
der Seemannsordnung und was mit ihr zusammenhängt.
Schon die Motive weisen in ihrer Einleitung darauf hin, dafs
in der Zeit, in der die jezt geltende Seemannsordnung in Kraft
ist, seit dem I. Januar 1873, eine völlige Umwälzung in der See-
schiffahrt eingetreten ist, und die für ganz andere Verhältnisse ge-
schaffene Seemannsordnung für die Gegenwart nicht mehr pafst.
Während am I. Januar 1873 erst 216 Dampfschiffe mit 6621 Mann
Besatzung unter deutscher Flagge fuhren, ist deren Zahl bis zum
I. Januar 1901 auf 1320 mit 36861 Mann Besatzung gestiegen.
Im gleichen Zeitraum ging die Zahl der Segelschiffe von 43 1 1 mit
33 103 Mann auf 2493 mit 13689 Mann Besatzung zurück. 1873 fuhr
83,5 Proz. der Seeleute auf Segelschiffen, während 1901 nur noch
27 Proz. der Besatzung auf Segelschiffen, also von 50550 Mann
der Gesamtbesatzung 36861 auf Dampfschiffen beschäftigt waren.
Bei der Besitzung der Dampfschiffe tritt das seemännische Personal,
welches man bei Schaffung der Seemannsordnung 1872 vorwiegend
im Auge hatte, mehr und mehr zurück. Auf grofsen Passagier-
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Gesetzgebung: Deutsches Reich.
dampfern, wie z. B. die „Deutschland" gehören von der 522 Mann
starken Besatzung nur 57 zu den seemännischen, 246 zum Maschinen-
personal und 219 Personen sind in Küchen, Provianträumen und
mit der Bedienung und Verpflegung der Passagiere beschäftigt.
Aber auch auf den Frachtdampfern gehört wenig mehr als ein
Viertel der Besatzung dem eigentlichen Seemannsberuf an.
Aber fast noch gröfser, als im SchifTsmaterial und der Be-
satzung, ist die Umwälzung im Rhedereigewerbe gewesen. Nimmt
man die Leistung, d. h. die zurückgelegten Seemeilen und die Menge
der transportierten Güter und beförderten Personen zum Mafsstab,
dann giebt es wohl kein Gewerbe, welches in den letzten 30 Jahren,
einen ähnlichen Aufschwung zu verzeichnen hat, wie die deutsche
Rhederei. Und doch giebt es wohl kaum ein anderes, in
welchem die Zahl der selbständigen Betriebe in ähnlichem Ver-
hältnis zuriiekgegangen ist. Von der rapiden Abnahme der Be-
triebe giebt der Kataster der See-Berufsgenosscnschaft ein anschau-
liches Bild. In 13 Jahren, vom I. Januar 1888 bis zum I. Januar
1900, ging die Zahl der registrierten Schiffahrtsbetriebe von 1790
auf 1357 zurück. Während früher bei der Mehrzahl der Schiffe
Rheder und Kapitän dieselbe Person war, wodurch es den Schiffs-
leutcn zu jeder Zeit möglich war, mit dem Arbeitgeber direkt zu
verhandeln, ist jetzt der gröfste Teil des Rhedereigewerbes an
Aktiengesellschaften übergegangen und dadurch der persönliche
Verkehr der Schiffsleute mit dem Rheder fast völlig beseitigt.
Aber wenn auch nicht die technische und wirtschaftliche Um-
wälzung eingetreten wäre, so wäre eine Reform der Seemanns-
ordnung nicht minder nötig gewesen. Die gegenwärtig geltende
Seemannsordnung entstand 1872, also zu einer Zeit, als die ödesten
manchcst erlichen Anschauungen ungehemmt in der deutschen Ge-
setzgebung zur Geltung kamen. Die Heiligkeit der Vertrags-
freiheit wurde überall zum Ausdruck gebracht. In den betreffen-
den Paragraphen der Scemannsordnung, wo immer dort Rechte
der Schiffsleute erwähnt werden, kehren stereotyp die Worte
wieder : „wenn nicht ein anderes vereinbart ist". Genau genommen
beruhten die Rechte der Seeleute auf freier Vereinbarung. Diese
Worte fehlen aber in allen Paragraphen, in denen die Pflichten der
Schiffsleute festgesetzt sind. Die Pflichterfüllung der Schiffsleute
ist der freien Vereinbarung entzogen und hierüber findet man Be-
stimmungen in der Scemannsordnung, die den Anschauungen ent-
sprungen sind, die iin 14. bis 16. Jahrhundert in England die
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H. Molken bulir, Die neue Seemannsordnung und ihre NebengcscUc. 621
Arbeitergesetze hervorriefen. Ein Schififsmann, der durch Dienst-
verweigerung den Schilfer zu einer Handlung oder Unterlassung
nötigen will, kann nach § 89 der Seemannsordnung mit Gefäng-
nis bis zu zwei Jahren und der Rädelsführer gar mit Zuchthaus bis
zu fünf Jahren bestraft werden. Die geltende Seemannsordnung
bringt also zwei Grundgedanken zum Ausdruck, die beide überlebt
sind und in modernen Gesetzen vermieden werden sollten. Der
Versuch, die Strafbestimmungen der Seemannsordnung durch das
Zuchthausgesetz auf gewerbliche Arbeiten anzuwenden, ist kläglich
gescheitert und ebenso gehören die Grundsätze der absoluten Ver-
tragsfreiheit, wie sie in der geltenden Seemannsordnung zum Aus-
druck kommen, der Vergangenheit an.
Gesetze mit so veralteten Grundgedanken lassen sich dem See-
mann gegenüber auf die Dauer nicht aufrecht erhalten, weil der
Seemann durch seinen Beruf gezwungen ist, sich einen grofsen
Theil Gesetzeskenntnis anzueignen. In dem „Handbuch für die
deutsche Handelsmarine“ werden nicht weniger als 139 Reichs-
gesetze, Verordnungen u. s. w. erwähnt, die auf die Seeschiffahrt
Bezug haben. Sicht der Seemann , dafs aus anderen Gesetzen der
Grundgedanke, welcher in der Seemannsordnung zum Ausdruck
kommt, verschwunden ist, dann wird auch er darauf dringen, dafs
er in derselben Weise berücksichtigt werde.
So kam aus Seemannskreisen das Drängen nach einer Reform
der Seemannsordnung. Als 1890 für die gewerblichen Arbeiter die
Gewerbegerichte geschaffen und die Gewerbeordnung revidiert
wurde , wobei auch durch die Bestimmungen über die Arbeits-
ordnung die Vertragsfreiheit eingeengt wurde, die Sonntagsruhe er-
weitert und einige andere Schutzbestimmungen gegeben wurden,
da verlangten die Seeleute auch Berücksichtigung. Die damals aus-
gesprochenen Wünsche der Seeleute bewogen den Abgeordneten
Schwartz-Lübeck im Februar 1893 seinen Antrag einzubringen, in
welchem er eine Aenderung der für die Seeleute ungünstigsten Be-
stimmungen der Seemannsordnung verlangte.
Dieser Antrag brachte die Frage der Revision in Flufs. Der
Antrag Schwanz wurde erweitert und im Dezember 1895 von der
sozialdemokratischen Fraktion im Reichstage wieder eingebracht.
In der Zeit vom 9. bis 11. März 1896 wurde von der technischen
Kommission für Seeschiffahrt im Reichsamt des Innern eine Anzahl
von Auskunftspersonen aus dem Stande der Schiflfsleute ver-
nommen und hierbei brachte die Regierung in Erfahrung, dafs auch
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622
Gesetzgebung : Deutsches Reich.
nach Ansicht dieser Personen die Seemannsordnung dringend einer
Reform bedürfe.
Eine Vorlage wurde dann am 12. März 1900 an den Reichs-
tag gebracht und nach der ersten Beratung an eine Kommission
verwiesen. Aber bevor die Kommission den Entwurf in erster
Lesung durchberaten hatte, trat der Schlufs der Session ein, wo-
durch die Sache vorläufig wieder zum Stillstand kam. Bei Er-
öffnung der Session im November 1900 ging dem Reichstage der
Entwurf in demselben Wortlaut wieder zu, und dieser ist nun ver-
abschiedet und Gesetz geworden.
Die meisten Hoffnungen, die in Scemannskreisen gehegt wurden,
sind unerfüllt geblieben. Zwar sind eine Anzahl Verbesserungen
geschaffen. Eine Anzahl von Rechten der Seeleute sind nicht mehr
durch „freie Vereinbarung“ zu beseitigen, sondern zwingendes Recht
geworden. Dem Schiffsmann mufs jetzt ein von dem Rheder
oder dessen Vertreter unterschriebener Ausweis gegeben werden,
aus welchem er den Namen des Schiffes, seine Dienststellung, An-
gabe der Reise oder Dauer des Vertrages, die Höhe der Heuer,
sowie Zeit und Ort der Anmusterung ersehen kann. Für die Zeit,
wenn das Schiff im Hafen oder auf der Rhede liegt, ist die täg-
liche Arbeitszeit auf 10 Stunden und in den Tropen auf 8 Stunden
beschränkt; für weitere Arbeit mufs Ueberstundenlohn gezahlt
werden und kann der Ueberstundenlohn nicht mehr durch Vertrag
ausgeschlossen werden. Das Maschinenpersonal auf Dampfschiffen
in transatlantischer Fahrt mufs in drei Wachen eingeteilt sein, so
dafs in 24 Stunden stets nur 8 Stunden Dienst im Maschinen- oder
Kesselraum ist. Der achtstündige Arbeitstag wird noch um die
Zeit verlängert, die zum Ueberbordwerfen der Asche und Schlacken
erforderlich ist.
Die Sonn- und Festtagsarbeit soll soweit als möglich einge-
schränkt und darf die Mannschaft im Reichsgebiet nicht mit Löschen
und Laden an Sonn- und Festtagen beschäftigt werden. Die
Sonntagsruhe war für die geltende Seemannsordnung ein völlig un-
bekannter Begriff. Die Heuerzahlung mufs jetzt vom Tage der
Anmusterung und wenn der Dienstantritt früher erfolgt, von diesem
Tage an beginnen. Auch hier darf nicht mehr wie nach dem be-
stehenden Gesetz durch Vertrag ein späterer Termin angesetzt
werden. Auch darf die Zahlung für Ueberarbeit, die die Schiffs-
leute machen müssen, wenn die Mannschaft während der Reise sich
verringert, nicht mehr durch Vertrag ausgeschlossen werden. Eben-
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H. Molkcnbulir, Die neue Sccmannsordnung und ihre Ncbcngcsctzc. 623
falls darf der in •§ 749 des Handelsgesetzbuchs vorgesehene Anteil
der Mannschaft an Berge- oder Hilfslohn nicht durch Vereinbarung
beseitigt werden. Dieses sind die wesentlichsten Schranken , die
der „freien Vereinbarung" gesetzt sind. Nach den Erfahrungen
war die Freiheit der Vereinbarung immer nur auf Seite des
Rheders.
Inbezug auf Krankenflirsorge ist es, soweit die Dauer des
Anspruchs berührt wird , bei dem bestehenden Gesetz geblieben,
was weniger ist als früher bereits dem. Seemann bewilligt wurde.
Nach Art. 548 des Handelsgesetzbuchs vom 24. Juni 1861 hatte der
Schiffsmann Anspruch auf Krankenverpflegung und freie Kur, wenn
er vor Antritt der Reise erkrankte, sowie wenn er die Reise antrat
und mit dem Schiffe nach dem Heimatshafen oder dem Halen, wo
er geheuert worden war, zurückkehrte bis zum Ablauf von drei
Monaten seit der Rückkehr des Schiffes; und wenn er die Reise
antrat und mit dem Schiffe zurückkehrte, die Rückreise des Schiffes
jedoch nicht in dem Heimatshafen des Schiffes oder dem Hafen
endete, wo der Schiffsmann geheuert war, bis zum Ablauf von
sechs Monaten seit der Rückkehr des Schiffes. Da man auf den
kleinen Schiffen schwer kranke Seeleute nicht behalten konnte, so
bildete die Heimschaffung nach dem Heimatshafen die Ausnahme,
also war der Anspruch auf eine Unterstützung von sechs Monaten die
Regel. 1872 schränkte man den Anspruch der Seeleute ein, indem man
die Worte : „den Heimatshafen, oder den Hafen, wo der Schiffsmann
angeheuert ist", durch die Worte: „einen deutschen Hafen" ersetzte.
Der Anspruch von sechs Monaten blieb nur noch, wenn der Kranke
in einem ausländischen Hafen zurückgelassen war. Dieser Fall trat
aber 1872 viel häufiger ein als jetzt. Die grofsen Dampfschiffe, auf
welchen jetzt die Mehrzahl der Schiffsleute fahrt, haben viel bessere
Vorrichtungen, einen Kranken an Bord zu behalten, als cs die
Segelschiffe haben. Auch kehren die Dampfschiffe in viel kürzeren
Zwischenräumen nach Deutschland zurück und werden daher die
Kranken in der Regel nach einem deutschen Hafen bringen, so dafs
das Recht auf drei Monate Unterstützung die Regel sein wird.
Eine Erweiterung der Rechte ist eingetreten, indem die Unter-
stützung nicht mehr, wie es der Fall war, bei Geschlechtskrank-
heiten versagt werden darf. Ferner darin , dafs die Familie der
Kranken, wenn sie überwiegend von dessen Heuer gelebt hat, An-
spruch auf ein Viertel der Heuer hat. Hier schliefst sich die See-
mannsordnung in so weit dem Gesetz für Krankenversicherung an,
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624
Gesetzgebung : Deutsches Reich.
als man der Familie des besser gelohnten Seemanns eine Unter-
stützung zukommen läfst, wie sie die Familie des gegen Krankheit
versicherten Arbeiters auch hat. Auch hier beträgt das Kranken-
geld die Hälfte des Arbeitslohnes und die Familienunterstützung,
der in Heilanstalten untergebrachten Kanken, die Hälfte des Kranken-
geldes. Die Familie des Schiffsmannes ist aber schon dadurch be-
nachteiligt, dafs nur die Heuer bei Berechnung der F'amilienunter-
stützung in Anrechnung kommt, während der Sehiffsmann neben
seiner Heuer noch Kost und Ueberstundcnlohn hat. Bei der
Krankenversicherung müssen die Naturalbezüge und Tantiemen bei
Berechnung der Lohnhöhe mit in Anrechnung gebracht werden.
Ferner werden die Familien schlecht gelohnter Seeleute gar keine
Familienunterstützung erhalten , weil die Unterstützung nur dann
gezahlt wird, wenn der Unterhalt der Familie ganz oder über-
wiegend aus dem Heuerverdienste bestritten ist. In der
zweiten Lesung war beschlossen, dafs die Unterstützung auch dann
gezahlt werden mufs, wenn die Angehörigen nur teilweise von
dem Heuerverdienst gelebt haben. Das Wort „teilweise“ wurde
durch „überwiegend“ ersetzt, weil, wie die Antragsteller behaupteten,
dieses Wort auch im Seeunfallversicherungsgesetz stehe. Die An-
tragsteller haben aber offenbar übersehen, dafs es dort nur auf
Aszendenten, elternlose Enkel oder Ehemänner, die von ihren
Frauen ernährt werden, Bezug hat. Hier verlieren Ehefrauen und
Kinder die Unterstützung, denen im Kranken- und Unfallversicherungs-
gesetz unter allen Umständen ein Anspruch auf Unterstützung zu-
gebilligt wird. Bedenklich ist die Fassung für die Familien der
Schiffsleute, bei denen die Heuer nur einen verschwindend kleinen
Bruchteil des Arbeitsverdienstes ausmacht. Bei den Stewards der
grofsen Passagierdampfer bildet das Trinkgeld die Haupteinnahme-
quelle. Ein Steward kann seine Familie ganz aus seinem Arbeits-
verdienst erhalten haben, und doch kann man ihm nachweisen, dafs
aus dem Heuerverdienst nur ein so geringer Bruchteil zum Unter-
halt beigetragen ist, dafs die Familie unmöglich Anspruch auf
Familienunterstützung machen kann. In ähnliche Notlage werden
die Familien der kranken Schiffsleute der unteren Chargen kommen.
Wenn diese Schiffsleute auch mehr als die Hälfte ihrer Heuer an die
Familie abgeben, so wird man in den grofsen I Iafenstädtcn doch
leicht nachweisen können , dafs damit nicht die Hälfte der Aus-
gaben der Familie bestritten werden kann und folglich fallt der
Anspruch fort. Lückenhaft ist die Bestimmung auch, weil man
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H. Molkcnbuhr, Die neue Seemannsordnung und ihre Nebengesetze. 625
keine Mindestleistung festgesetzt hat. Nach dem Krankenversiche-
rungsgesetz mufs mindestens ein Viertel des ortsüblichen Tagelohns
gewöhnlicher Tagearbeiter als Familienunterstützung gezahlt werden.
Diese Summe werden die Familien der Seeleute in Bremen und
Kiel nur erreichen, wenn die Monatsheuer 87,50 Mark, in Hamburg,
wenn dieselbe 75 Mark betragen hat, eine Summe, die nur an
einen geringen Bruchteil der Schiffsleute bezahlt wird. Die Familien
erkrankter Seeleute sind also, mit wenigen Ausnahmen , schlechter
gestellt als die Familien auf Grund des Krankenversicherungsgesetzes
versicherter Arbeiter.
F-benfalls hat man sich nicht entschlossen , die Lücke zu be-
seitigen , die zwischen Beendigung der Krankenunterstützung und
Beginn der Invalidenrente besteht, obwohl Graf Posadowsky wieder-
holt die Beseitigung dieser Lücke als eine der vornehmsten und
nächsten Aufgaben der Gesetzgebung bezeichnet hat. Man hätte
hier um so leichter ein Recht auf 26 Wochen Krankenunterstützung
bewilligen können, weil, wie wir oben bereits nachgewiesen haben,
dieses Recht in der Zeit zwischen 1861 und 1873 die Regel War.
Gegenwärtig hat der kranke Schiffsmann nur dann Anspruch auf
sechs Monate Verpflegung, wenn er in einem ausländischen Hafen
zurückgclassen ist. Der kranke Schiffsmann kann aber jederzeit,
auch gegen seinen Willen, nach Deutschland transportiert werden,
sobald das Seemannsamt, in dessen Bezirk er sich befindet, und
irgend ein Arzt seine Zustimmung giebt. Der Arzt braucht den
Kranken gar nicht gesehen zu haben. Nach den Beschlüssen der
zweiten Lesung, sollte der behandelnde Arzt seine Zustimmung
geben. Das Wort „behandelnde" wurde durch das Wort „ein" er-
setzt. Durch den Rücktransport wird dies Recht auf dreimonat-
liche Unterstützung zur Regel werden. Wenn die in Aussicht ge-
stellte Reform des Krankenversicherungsgesetzes kommt und dann
die Dauer der Krankenunterstützung auf sechs Monate ausgedehnt
wird, dann wird man auch diesen Teil der Seemannsordnung
ändern oder die Krankenversicherung auf die Seeleute ausdehnen
müssen. Durch die Ausdehnung der Unterstützungsdauer von 13 auf
26 Wochen wird keine übermäfsige Belastung der Rhederei ent-
stehen. Denn nach Berechnungen solcher Krankenkassen, die hier
länger als 1 3 Wochen Krankenunterstützung zahlen , betragen die
Aufwendungen für Kranke in der 13. bis 26. Woche 8 bis 9 Proz.
von der Summe, die an Kranke bezahlt wird, welche weniger als
13 Wochen krank sind.
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Gesetzgebung: Deutsches Reich.
Eine grundsätzliche Aenderung ist in der Organisation der See-
mannsämtcr eingetreten, sobald diese als Strafgericht zu entscheiden
haben. Die Organisation der Seemannsämter im Reichsgebiet bleibt
zwar den Landesregierungen überlassen, aber dieselben können es
nicht ganz so machen, wie es ihnen beliebt. Gegenwärtig bestehen
die Seemannsämter in Hamburg und Bremen aus je einer Person.
Diese kann bei Uebertretungen, die mit Gcldbufse bis zu 150 Mark
oder mit Haft bestraft werden, willkürlich die Strafen festsetzen.
Der Verurteilte hat zwar das Recht, gerichtliche Entscheidung zu
verlangen, da er aber irt den meisten Fällen bald wieder den 1 lafen-
platz verläfst, so hat diese Bestimmung fast nur einen theoretischen
Wert. Jetzt soll das Seemannsamt im Reichsgebiet nur Strafen ver-
hängen können , wenn neben den Vorsitzenden zwei schiffahrts-
kundige Beisitzer an den Verhandlungen teilnehmcn. Die Ver-
handlungen im Strafverfahren sind öffentlich.
Ein recht dunkles Kapitel sind die Disziplinär- und die Straf-
vorschriften. Hier findet man alles vereinigt , was in einem mo-
dernen Arbeitergesetz nicht stehen sollte. Die Disziplinarvorschriften
beginnen zwar mit einer Neuerung, die man immer als Verschlech-
terung ansehen mufs, man mag auf einem Standpunkt stehen, auf
welchem man will. Die Anbeter der straffen Subordination müssen
es als Verschlechterung und Lockerung der Disziplin ansehen, wenn
die Disziplinargewalt, die sonst von dem Schiffer allein ausgeübt
wurde, nun an zwei resp. drei Personen übertragen wird. Jede Zer-
splitterung, und die daraus herrührenden, sich wiedersprechenden
Anordnungen, müssen die Disziplin lockern. Solche widersprechende
Anordnungen können nicht ausbleiben. Sollen sie vermieden
werden, dann mufs der Kapitän sich jeder Einmischung in die An-
ordnungen des ersten Offiziers auf Deck, und in die Anordnungen
des Obermaschinisten im Maschinenraum enthalten, dann wird der
Kapitän zur Repräsentationsfigur, der nur noch die Herrschaft über
das Küchen- und Aufwartepersonal hat. Die Disziplinargewalt über
diesen Teil des Personales darf er nicht auf andere übertragen. Er
ist dann Zeremonienmeister und Obermundschenk, aber nicht mehr
Kapitän.
Das Gesetz zwingt ihn zwar nicht, die in § 84 erwähnte
Uebertragung vorzunehmen. Macht der Kapitän von diesem Rechte
keinen Gebrauch, dann wird es ihm schwer fallen, mit dem ersten
Offizier und Obermaschinisten in Frieden zu leben. Jeder Offizier,
dem man ein Recht vorenthält, was seine Kameraden auf anderen
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H. Molkenbuhr, Die neue Sccmannsordnung und ihre Nebengesetze. 627
Schiffen haben, wird sich zurückgesetzt fühlen. Er mufs es als ein
Mifstrauen, welches der Kapitän gegen ihn hat, empfinden. Wenn
aber die Harmonie in der obersten Leitung gestört ist, dann wird
der ganze Organismus leiden.
Schlimmer wird es noch für die Schifisleute. Der Kapitän
kann eine generelle Anordnung treffen , die der Schiffsmann sich
zur Richtschnur nehmen kann. Wenn nun der mit Disziplinarge-
walt ausgerüstete Offizier eine entgegengesetzte Anordnung trifft,
dann ist der Konflikt da. An solchen Konflikten wird es nicht
fehlen und der Schiffsmann wird der leidende Teil sein, weil auch
er es nicht vermocht hat, was schon in der Bibel als Unmöglich-
keit bezeichnet wurde, ln den Fällen, wo der Kapitän nicht ganz
zurücktritt, soll der Schiffsmann zwei Herrn dienen. Die §§ 85
bis 92 sind eine getreue Kopie der Gesindeordnungen und dann
folgen die Bestimmungen mit den Strafandrohungen. Hier ist nun
das ganze Register an Strafthaten vorhanden, denen man schon oft,
aber vergeblich versucht hat, auch für den gewerblichen Arbeiter,
Geltung zu verschaffen. Es beginnt mit der kriminellen Bestrafung
des Kontraktbruches, der zwangsweisen Zurückbringung, und dann
folgen die schweren Strafen wegen Nachlässigkeit bei der Arbeit
oder Gehorsamsverweigerung gegen Vorgesetzte.
Man sagt, solch schwere Strafen sind nötig, weil im Schiffs-
dienst stramme Disziplin herrschen mufs. Die Notwendigkeit der
strammen Disziplin ist aber keine besondere Eigentümlichkeit des
Schiffahrtsgewerbes, stramme Disziplin ist auch in jedem Grofs-
betrieb nötig. Kein grofscs Werk kann vollbracht werden, ohne
dafs viele Kräfte einheitlich Zusammenwirken. Im Bergbau, Eisen-
bahnbetrieb, in Hütten und Walzwerken , auf Bauten u. s. w. ist
überall das Zusammenwirken in demselben Mafse nötig, wie auf
Schiffen und die Erfahrung lehrt, dafs man im Gewerbe die Straf-
androhungen entbehren kann, die man bei der Schiffahrt für
dringend erforderlich hält. Genau genommen sind die Straf-
androhungen eine Beleidigung für die Kapitäne, indem man es so
hinstellt, als sei der Kapitän unfähig Ordnung zu halten, wenn ihm
nicht der Strafrichter zur Seite stände. So unfähig sind unsere
Kapitäne aber nicht und auf den Schiffen, wo die beste Ordnung
und Disziplin herrscht, sind dieselben nicht die Folge der Straf-
gesetzgebung, sondern das Produkt der Thätigkcit und Tüchtigkeit
des Kapitäns. Dem tüchtigen und geistig überlegenen Kapitän
folgt jeder Seemann mit förmlicher Begeisterung, da bedarf es der
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Gesetzgebung : Deutsches Reich.
Strafandrohung für Gehorsamsverweigerung nicht. Würde eine
Statistik über die Strafanzeigen der Kapitäne geführt, dann würde
sich wahrscheinlich heraussteilen, dafs die tüchtigsten Kapitäne am
wenigsten auf dieser Liste zu finden sind. Der echte Seemann
würde sich schämen, zum Richter zu laufen und diesem zu erzählen,
dafs er nicht in der Lage war, die Disziplin -aufrecht zu erhalten.
Um so häufiger wird der unfähige Kapitän den Strafrichter an-
rufen. Wenn Befehle gegeben werden, die jeder erfahrene Seemann
für eine Dummheit oder die Folge von Trunkenheit hält, werden
dieselben nur unvollkommen oder gar nicht ausgeführt. Nicht weil
der Widerstrebende ein Raufbold oder Bösewicht ist, sondern weil
er die ihm aufgetragene Arbeit für überflüssig oder gar schädlich
hält. Durch unfähige oder dem Trunk ergebene Schiffsführer
werden die Strafvorschriften zu einer Gefahr für die Seeleute. Der
Untergebene ist dem Vorgesetzten auch dann unbedingten Gehor-
sam schuldig, wenn der Vorgesetzte total betrunken oder sonst
völlig unfähig ist, seinen Dienst zu versehen. Wenn der Kapitän
Manöver anordnet , die den Untergang des Schiffes herbeiführen
müssen, dann entschliefsen sich die Schiffsleute nur schwer zum
Ungehorsam oder Widerstand , weil sie immer ihre Freiheit und
ihr Fortkommen aufs Spiel setzen. Könnte genau abgewogen
werden, wie viel Schaden an Gut und Menschenleben der er-
zwungene blinde Gehorsam schon angcrichtet hat, und könnte man
ermessen, was dadurch gewonnen ist, dann würde wahrscheinlich
der Verlust den Gewinn stark übersteigen. Mancher Kapitän
würde vorsichtiger in seinen Anordnungen werden, wenn die dra-
konischen Strafen fehlen. Die Annahme, dafs die hohen Straf-
bestimmungen nötig sind, weil grofser Schaden angerichtet werden
kann, ist trügerisch. Man übersieht dabei geflissentlich, dafs mit
dem Gut des Kaufmanns und des Rheders auch das Leben des
Schiffsmannes auf dem Spiele steht. Die Lebensgefahr nötigt den
Schiffsmann zur Vorsicht. Der Schiffsmann aber, der in seiner Ver-
blendung schon sein eignes Leben aufs Spiel setzt, wird sich auch
nicht durch die Strafandrohungen in der Seemannsordnung vom
Ungehorsam abschrccken lassen.
Für die wirklichen Vergehen und Verbrechen gegen Leben und
Eigentum hat das Strafgesetzbuch zahlreiche und schwere Strafen.
Die Schiffsbesatzung ist im Strafgesetz schon so reichlich mit Straf-
androhungen bedacht, wie kein anderer Berufszweig. Nur der, welcher
den Beruf des Seemanns und das Personal nicht kennt, kann zu dem
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H. Molkcnbuhr, Die neue Seemannsordnung und ihre Ncbengcsctze.
Entschlufs kommen, dafs ein weiteres Strafregister nötig ist. Die
Strafen, wie sie für Dienstboten, Landarbeiter und Seeleute für
Handlungen und Unterlassungen bei der Arbeit vorgesehen sind,
haben auch jeden Schein von Berechtigung verloren, nachdem die
Ueberflüssigkeit durch das Beispiel der gewerblichen Arbeiter er-
wiesen ist. Unsere Schiffsführer beweisen auch durch die That,
dafs sie die Bestimmungen für überflüssig halten, indem sie oft
Schiffe vollständig mit Farbigen bemannen, also Leute anstellen, die
die Seemannsordnung weder lesen noch verstehen können, denen
die Ausdrücke ivie Haft, Gefängnis und Zuchthaus völlig unfassbare
Begriffe sind. Kann man mit Chinesen und Malayen Schiffahrt
treiben, dann wird man es erst recht mit zivilisirten Europäern
können, die wissen, dafs sie mit jeder Handlung, durch welche
Leben und Eigentum gefährdet oder geschädigt wird, eine nach
dem allgemeinen Strafrecht verbotene und unter Strafe gestellte
Handlung begehen. Mehr als die Hälfte der in der Seemanns-
ordnung angedrohten Strafen ist überflüssig und unter Umständen
eine Gefahr, welcher man dem Menschen noch aussetzt, dessen Be-
ruf ein ununterbrochener Kampf gegen die Gefahren ist, mit welchen
er durch Sturm, Wellen und Klippen bedroht wird.
Technisch hat man jetzt mit der früheren Praxis gebrochen,
den alten Paragraphen ihre alten Nummern zu lassen und zwischen-
geschobcnc Neuerungen durch Buchstaben zu bezeichnen. Durch
diese Einrichtung ist die Gewerbeordnung ein abschreckendes Bei-
spiel. Die bestehende Seemannsordnung hatte 1 1 1 Paragraphen.
Der Regierungsentwurf hatte bereits 122 mit fortlaufenden Nummern
versehene Paragraphen, deren Zahl durch den Reichstag auf 138
erhöht wurde. Soweit Paragraphen des bestehenden Gesetzes in
ihrem Wortlaut übernommen sind, sind sie jetzt mit anderen Ziffern
versehen.
Die Regelung einer wichtigen und spruchreifen Materie unter-
liefs die Vorlage und der Reichstag begnügte sich mit der Annahme
einer Resolution, in welcher die Regelung gefordert wird. Wir
meinen gesetzliche Vorschriften über Seetüchtigkeit, Tiefgang und
Bemannung der Schiffe. In einer Anzahl von Gesetzen wie im
Handelsgesetzbuch, Auswanderergesetz, Unfallverhütungsvorschriften
der Seeberufsgenossenschaft u. s. w. wird gefordert, dafs die Schiffe
in seetüchtigem Zustand, gehörig bemannt und nicht überladen sein
dürfen. Aber alle Gesetze vermeiden es anzugeben, was unter den.
Archiv für toi. Gesetzgebung u. Statistik. XVII. 4*
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Gesetzgebung : Deutsches Reich.
hier genannten Begriffen zu verstehen ist. Folglich hat der Rheder
nach eigenem Gutdünken zu entscheiden.
lieber die Seetüchtigkeit entscheiden zwar die Schiffsklassi-
fikationsgesellschaften. Aber dieses sind Aktiengesellschaften , bei
denen auch andere Rücksichten mitsprechen. Ein Schiff wird auch
dann nicht von der Fahrt ausgeschlossen, wenn es gar keine Klasse
mehr hat. In den letzten Jahrzehnten haben die Seeleute freilich
das Glück gehabt, eine gewaltige Macht wirken zu sehen, die unter
den alten Schiffen mehr aufgeräumt hat, als die mächtigste Ueber-
wachungsgcsellschaft je vermocht hätte. Diese Macht war die fort-
schreitende Technik. Schiffe mit der dreifachen Ladefähigkeit, wie
vor wenigen Jahrzehnten wurden gebaut. Diese grofsen Dampfer
brauchen nicht mehr Besatzung und nur wenig mehr Kohlen als
die vor IO bis 15 Jahren gebauten kleinen Dampfer. Die grofsen
Gesellschaften, an deren Spitze weitsichtige Geschäftsleute standen,
ersetzten die alten Schiffe schnell durch grofsräumige, neue Schiffe.
Die Frachtsätze pafsten sich der erhöhten Leistungsfähigkeit der
neuen Schiffe an und so hörten die alten Schiffe auf, rentabel zu
sein. Manches Schiff, welches sonst vielleicht trotz Klassifikations-
gesellschaften noch länger als ein Jahrzehnt gelaufen wäre, bis es
die Wellen verschlungen hätten, wurde zum Abbruch verkauft, weil
das Weiterfahren nicht allein nichts cingcbracht, sondern Geld gekostet
haben würde. Solche Revolutionen, wie der Uebergang vom Holz-
zum Eisen- und vom Eisen- zum Stahlschiff, sowie vom kleinen zum
grofsräumigeu Dampfer, wiederholen sich nicht in kurzen Zwischen-
räumen, und darum werden die Perioden wiederkommen, in denen
das Durchschnittsalter der Schiffe erheblich höher ist als gegen-
wärtig. Nachdem die Reichsgesetze wiederholt die Seetüchtigkeit
der Schiffe gebieten, man aber nicht in der Lage ist, den Begriff
der Seetüchtigkeit in Gesetzen festzulegen, ist die behördliche Kon-
trolle direkt geboten.
Ebenso ist es mit dem Verbot der Ueberladung. Vielfach ist'
zwar behauptet worden, es lasse sich die I-adegrcnze nicht genau,
bestimmen. Nachdem aber Grofsbritannien, dessen Schiffe auf allen
Meeren am zahlreichsten angetroffen werden, vorangegangen und
jedes Schiff mit einer Tieflademarke versehen hat, und die beiden
grüfsten Gesellschaften, die Hamburg-Amerika-Linie und der Nord-
deutsche Lloyd, dem Beispiele gefolgt sind, wird man nicht be-
haupten können, dafs es unerfüllbare Wünsche sind, die ausge-
sprochen werden. Ebenso verhält es sich mit der Bemannungsskala.
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II. Molkenbuhr, Die neue Scemannsordnnng und ihre Nebengesetze. 63t
Auch liier ist Großbritannien vorangegangen. Auch die Schiffs-
klassifikationsgesellschaften setzen die Bemannungsskala fest , aber
kein Rheder ist gezwungen, sie zu beachten. Wenn ein Schiff ver-
loren ist und die Zahl der Geretteten und der Ertrunkenen genannt
wird, dann findet man in der Regel, dafs die dort gegebene Ziffer
sich nicht deckt mit der im „Handbuch für die deutschen Handels-
marine“ angegebenen Zahl der Besatzung.
Mit der Seemannsordnung wurden noch drei Nebengesetze ver-
abschiedet. Das Gesetz betreffend, die Verpflichtung
der Kauffahrteischiffe zur Mitnahme heimzuschaffen*
der Seeleute, wurde dahin erweitert, dafs die Schiffe, nicht wie
früher, nur verpflichtet sind, hülfsbedürftige Seeleute mitzunehmen,
sondern sie sollen jetzt auch verpflichtet sein, solche Seeleute mit-
zunehmen, die wegen einer strafbaren Handlung an die deutschen
Behörden abgeliefert werden sollen. Die Entschädigungssätze, die
der Rheder verlangen kann für die Heimschaffung hilfsbedürftiger
Seeleute, wurden, wenn die Heimschaffung auf einem Dampfer er-
folgt, für Schiffsoffiziere von 4,50 Mark auf 6 Mark und die andern
Seeleute von 2 Mark auf 3 Mark pro Tag erhöht. Bei Heim-
schaffung auf Segelschiffen liefs man es bei den 1872 festgesetzten
Sätzen.
Eine ganz neue Materie regelt das „Gesetz betreffend Stellen-
vermittlung für Schiffsleute". Es ist eine alte Erfahrung, dafs Ar-
beitslose sehr oft das Opfer gewissenloser Ausbeuter und Betrüger
werden. Besonders schlimm waren die Seeleute daran. Sie haben
für diese Ausplünderer den charakteristischen Namen „Landhaifische"
erfunden. Zwar hat schon mehrfach die Partikulargesetzgebung den
Versuch gemacht, hier cinzuschreiten , aber die Versuche hatten
wenig praktische Erfolge. Wenn man dem Heuerbaas den Betrieb
der Wirtschaft untersagte, dann verkaufte er die Wirtschaft, bevor-
zugte aber bei der Stellenvermittlung die Leute, die in der Wirt-
schaft, wo er auch verkehrt, das meiste Geld verzehrten. Als
dritter im Bunde erscheint noch ein Händler mit Ausrüstungsgegen-
ständen. Wenn ein Seemann von langer Reise heimkehrt und bald
die nicht unbedeutende Summe seines verdienten Lohnes ausgegeben
hat, dann entdeckt er, dafs er in der Regel nur sein Geld ausge-
geben, aber sehr wenig dafür erhalten hat. Der Mittelpunkt solcher
Ausplünderungskompagnien ist in der Regel der Heuerbaas.
Eis gab Heuerbaase, die unter den Seeleuten als Landhaifische
schlimmster Sorte bekannt waren, und doch hatten sie grofse Kund-
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Gesetzgebung : Deutsches Reich :
schaft, weil sie begehrenswerte Stellen zu vergeben hatten. Es sind
das dieselben Mifsstände, die bei der gewerbsmäfsigen Stellenver-
mittlung bei anderen Gewerben auch beklagt werden. Der See-
mann wird aber öfter noch schlimmer ausgeplündert, weil bei ihm
zu der Notlage in der er sich als Arbeitsloser befindet, noch hinzu-
kommt , dafs er in der Regel unbeholfener ist , und sich in der
Regel schon auf See befindet, wenn er den erlittenen Schaden ganz
übersehen kann. Er ist fern von der Heimat und kann nicht die
Hilfe von Gerichten und Behörden in Anspruch nehmen, und wenn
er heimkehrt, hat er den Schaden schon verschmerzt.
Hier hat nun die Gesetzgebung einen energischeren Schritt unter-
nommen, als bei derselben Materie in der Gewerbeordnung. Das
Verbot des Betriebs von Nebenbeschäftigung resp. der Annahme
von Vergütungen von Gastwirten, Händlern und Pfandleihern wird
nur einen problematischen Wert haben, da sich die stille Teilhaber-
schaft nie kontrollieren läfst. Wer will schlicfslich diese Geschäfts-
leute hindern, dem Heuerbaas oder dessen Frau Geschenke zu
machen. Die wirksamste Mafsregel liegt in § 4 Abs. 2, durch
welche der Rheder gezwungen wird, mindestens die Hälfte der Ver-
mittlungsgebühren zu zahlen. Da werden die Rheder bald cinsehen,
dafs es eine viel billigere Form der Stellenvermittlung giebt als das
Heuerbaasw'esen. Sehr bald wird man zu der Einsicht kommen,
dafs grofse Hcucrbüreaus viel billiger arbeiten können, und in grofsen
Hafenstädten werden bald die Heuerbaase ausgeschaltet und durch
Heuerbüreaus ersetzt sein.
Wenn diese Heuerbüreaus allein von den Rhedern eingerichtet
und verwaltet werden, werden vielleicht neue Schattenseiten für den
Schiffsmann entstehen. Die trüben Erfahrungen, die Arbeiter anderer
Erwerbszweige mit den Arbeitsnachweisen der Unternehmer gemacht
haben, werden dem Seemann nicht erspart bleiben. Dazu kommt,
dafs die Rheder durch die Büreaus eine genaue Uebersicht über die
Lage des Arbeitsmarktes haben und jede für den Seemann un-
günstige Konjunktur ausnützen können.
Also auch hier winkt dem Seemann keine ungetrübte Freude.
Vielleicht wird es ja den Seeleuten gelingen, durch Stärkung ihrer
Organisation die hier drohenden Gefahren zu überwinden. Die
Organisationen haben nun ein gröfseres Thätigkeitsfeld. Mit der Be-
freiung vom Heuerbaas wird der Seemann auch von dem Anhang
und Freunden des Heuerbaases befreit. Dann können die Organi-
sationen dazu übergehen , die Ausrüstungsgegenstände genossen-
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Gesell, betreffend eine Seemannsordnung.
633
schaftlich einzukaufen. Der billige Bezug notwendiger Sachen wird
ein Band sein, was den Seemann mit an seine Organisation fesselt.
Die Abänderung seerechtlicher Vorschriften des Handelsgesetz-
buchs war eine notwendige Konsequenz der Abänderung der See-
mannsordnung.
Wir lassen nunmehr den Text der Seemannsordnung und der
Nebengesetze im Wortlaut folgen :
Seemannsordnung.
Vom 2. Juni 1902.
Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser, König von Preufsen ctc.
verordnen im Namen des Reichs , nach erfolgter Zustimmung des Bundesrats und
des Reichstags, was folgt:
Erster Abschnitt.
Einleitende Vorschriften.
§ I. Die Vorschriften dieses Gesetzes finden auf alle Kauffahrteischiffe (Ge-
setz vom 22. Juni 1899 § 1, Reichs-Gesetzbl. 18*9 S. 319, Reichs-Gesetzbl. 1901
S. 184) Anwendung, welche das Recht, die Reichsflagge zu führen, ausüben dürfen.
Sic sind der Abänderung durch Vertrag entzogen, soweit nicht eine ander-
weitige Vereinbarung ausdrücklich zugclasscn ist.
Durch Kaiserliche Verordnung mit Zustimmung des Bundesrats kann bestimmt
werden, inwieweit die Vorschriften dieses Gesetzes auf Binnenschiffe Anwendung
finden, welche das Recht, die Reichsflagge zu führen, ausüben dürfen (Gesetz vom
22. Juni 1899 § 26 a).
§ 2. Kapitän im Sinne dieses Gesetzes ist der Führer des Schiffes (Schiffer),
in dessen Ermangelung oder Verhinderung sein Stellvertreter.
Schiffsoffiziere im Sinne dieses Gesetzes sind diejenigen zur Unterstützung des
Kapitäns in der Führung des Schiffes bestimmten Angestellten, welche zur Ausübung
ihres Dienstes eines staatlichen Befähigungsnachw'cises bedürfen. Aulserdem gelten
als Schiffsoffiziere die Ärzte, Proviant- und Zahlmeister.
Schiffsmann im Sinne dieses Gesetzes ist jede sonstige zum Dienste auf dem
Schiffe während der Fahrt für Rechnung des Rheders angcstelltc Person, ohne
Unterschied, ob die Anmusterung (§ 1.3) erfolgt ist, oder nicht. Auch die weibliche
Angestellte hat die Rechte und Pflichten des Schiffsmanns. Der Lootse gilt nicht
als Schiffsmann. Die Gesamtheit der Schiffsleutc bildet die Schiffsmannschaft.
§ 3. Der Kapitän ist der Dienstvorgesetzte der Schiffsoffizierc und Schiffs-
lcute. Seine Stellvertretung liegt, soweit nicht vom Rheder oder vom Kapitän hin-
sichtlich der Vertretung in einzelnen Dienstzweigen anderweitige Anordnung ge-
troffen ist, dem Steuermann, in Ermangelung eines solchen dem Bestmann, ob.
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Gesetzgebung : Deutsches Reich.
Die Schiffsoffizicre sind Vorgesetzte sämtlicher Schiffsleute. Auf die Schiffs-
offiziere finden die für die Schiffsmannschaft oder den Schiffsmann geltenden Vor-
schriften, soweit nicht ausdrücklich ein anderes festgesetzt ist, Anwendung.
Das dienstliche Verhältnis der Schiffsoffiziere unter einander, insbesondere das
Verhältnis zwischen Offizieren verschiedener Dienstzweige, bestimmt sich nach den
vom Rheder oder vom Kapitän getroffenen besonderen Festsetzungen. Auf Dampf-
schiffen ist jedoch während der Ausübung des Wachtdienstcs der wachthabende
Maschinist dem wachthabenden Steuermann insofern untergeordnet, als er die von
diesem nach der Maschine gegeben Befehle auszuführen hat.
Die aufser den Schiffsoffizieren in den einzelnen Dienstzweigen als Vorgesetzte
geltenden Schiffsleute werden vom Kapitän bestimmt und sind der Schiffsmannschaft
durch Aushang bekannt zu geben.
§ 4. Der Bundesrat erläfst Bestimmungen über Zahl und Art der Schiffs-
offiziere, mit welchen die Schiffe zu besetzen sind, sowie über den Grad des Be-
fähigungszeugnisses, das der Kapitän und die Schiffsoffiziere besitzen müssen. Die
Bestimmungen sind dem Reichstag bei seinem nächsten Zusammentritt zur Kenntnis-
nahme vorzulegen.
§ 5. Seemannsämtcr mit den durch dieses Gesetz ihnen zugewiesenen Befug-
nissen und Obliegenheiten sind ira Reichsgebiete die landesrechtlich, in den Schutz-
gebieten die vom Reichskanzler bestellten Behörden, ira Auslande die Konsulate
des Reichs für Mafenplätzc. ^
Die Einrichtung der Seemannsämtcr im Reichsgebiete steht den Landes-
regierungen nach Mafsgabe der Landesgesetze zu. Ihre Geschäftsführung unterliegt
der Oberaufsicht des Reichs. Bei der Entscheidung in den im § 122 bezeichncten
Fällen müssen die Seemannsämtcr innerhalb des Reichsgebietes mit einem Vor-
sitzenden und zwei schiffahrtskundigen Beisitzern besetzt sein.
Ist ein Konsul Mitinhaber oder Agent der Rhederei des Schiffes, so ist er
von der Wahrnehmung der im § 58 bezeichncten Geschäfte eines Seemannsamtes in-
bezug auf dieses Schiff ausgeschlossen, wenn von dem bcschwerdeführcnden Schiffs-
offizier oder der Mehrzahl der bcschw'erdcführenden Schiffsleutc gegen seine Mit-
wirkung Widerspruch erhoben wird.
§ 6. Die Schutzgebiete gelten im Sinne dieses Gesetzes als Inland.
Deutsche Häfen im Sinne dieses Gesetzes sind nur die Häfen des Reichs-
gebiets.
Zweiter Abschnitt.
Sccfahrtsbücher und Musterung.
§ 7. Niemand darf im Reichsgebiet als Schiflsmann in Dienst treten, bevor
er sich über Namen, Geburtsort und Alter vor einem Seemannsamt ausgewiesen
und von demselben ein Seefahrtsbuch ausgefertigt erhalten hat.
Ist der Schiffsmann ein Deutscher, so darf er vor vollendetem vierzehnten
Lebensjahre zur Ucbcrnahme von Schiffsdiensten nicht zugclassen wxrdcn ; auch hat
er sich über seine Militärvcrhältnissc, sowie, wenn er noch minderjährig ist, darüber
auszu weisen, dafs er von seinem gesetzlichen Vertreter zur Uebernahmc von Schiffs-
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Gesetz, betreffend eine Seemannsordnung. 635
diensten ermächtigt worden ist. Der Genehmigung des Vormundschaftsgetfchts be-
darf es nicht.
Mit dem Seefahrtsbuch ist dem Schiffsmanne zugleich ein Abdruck der See-
mannsordnung, des Gesetzes, betreffend die Verpflichtung der Kauffahrteischiffe zur
Mitnahme heimzuschaffender Seeleute, dt?s Gesetzes, betreffend die Stellenvermittelung
für Schiffsleute, und einer amtlichen Zusammenstellung der Bestimmungen über die
Militärverhältnisse der seemännischen und halbseemännischen Bevölkerung auszu-
händigen.
Der Bundesrat bestimmt, inwieweit als Schiffsleute nur solche Personen ange-
mustert werden dürfen, welche nach Untersuchung ihres körperlichen Zustandes für
den zu übernehmenden Dienst geeignet sind.
§ 8. Die für einen einzelnen Fall erteilte Ermächtigung des gesetzlichen Ver-
treters (§ 7) gilt im Zweifel als ein für allemal erteilt.
Kraft derselben ist der Minderjährige für solche Rechtsgeschäfte unbeschränkt
geschäftsfähig, welche die Eingehung oder Aufhebung von Heuerverträgen oder die
Erfüllung der sich aus einem solchen Vertrag ergebenden Verpflichtungen betreffen.
§ 9. Wer bereits ein Seemannsbuch ausgefertigt erhalten hat, mufs behufs
Erlangung eines neuen Seefahrtsbuchs das ältere vorlegen, oder dessen Verlust
glaubhaft machen. Dafs dies geschehen, wird von dem Seemannsamt in dem neuen
Seefahrtsbuche vermerkt.
Wird der Verlust glaubhaft gemacht, so ist diesem Vermerke zugleich eine
Bescheinigung des Seemannsamts über die früheren Rang- und Dienstverhältnisse,
sowie über die Dauer der Dienstzeit und über die dem Schiffsmann anzurechnenden
Beitragswochen für die Invalidenversicherung, soweit derselbe sich hierüber ge-
nügend ausweist, beizufügen.
§ 10. Wer nach Inhalt seines Scefahrtsbuchs angemustert ist, darf nicht von
neuem angemustert werden, bevor er sich über die Beendigung des früheren Dienst-
verhältnisses durch den in das Scefahrtsbuch cinzutragcnden Vermerk (g§ 22, 25)
ausgewiesen hat Kann nach dem Ermessen des Seemannsamts ein solcher Vermerk
nicht beigebracht werden, so dient statt desselben, sobald die Beendigung des
Dienstverhältnisses auf andere Art glaubhaft gemacht ist, ein vom Scemannsamtc
hierüber cinzutragcndcr Vermerk im Seefahrtsbuche.
§ II. Einrichtung und Preis des Scefahrtsbuchs bestimmt der Bundesrat. Die
Ausfertigung erfolgt kosten- und stempelfrei.
Das Seefahrtsbuch mufs über die Militärverhältnisse und die Invalidenver-
sicherung des Inhabers Auskunft geben.
§ 12. Der Kapitän hat die Musterung (Anmusterung, Abmusterung) der
Schiffsmannschaft nach Mafsgabc der folgenden Bestimmungen 13 bis 26) zu
veranlassen.
Der Kapitän oder ein zum Abschlufs von Heuerverträgen bevollmächtigter
Vertreter der Rhcdcrei und der Schiffsmann müssen bei der Musterung zugegen
sein ; gewerbsmäfsige StcUcnvcrmiUlcr für Schiffsleute dürfen als Vertreter nicht be-
stellt werden.
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Gesetzgebung: Deutsches Reich.
§ 13. Die Anmusterung besteht in der Verlautbarung des mit dem Schiffs-
manne geschlossenen Heuervertrags vor einem Seemannsamte. Sie mufs vor Antritt
oder Fortsetzung der Reise, wenn dies aber ohne Verzögerung der Reise unausführ-
bar ist, sobald ein Seemannsamt angegangen werden kann, erfolgen ; die Gründe
für die Verzögerung oder Unterlassung der Anmusterung sind in das Schiffstagebuch
einzutragen. Geschieht die Anmusterung innerhalb des Reichsgebiets, so ist dabei
das Sccfahrtsbuch vorzulegcn.
§ 14. Die Anmusterungsverhandlung wird vom Seemannsamt als Musterrolle
ausgefertigt. Wenn die gesamte Schiffsmannschaft nicht gleichzeitig mittelst Einer
Verhandlung angemustert wird, so erfolgt die Ausfertigung auf Grund der ersten
Verhandlung.
Die Musterrolle mufs enthalten: Namen und Nationalität des Schiffes, Namen
und Wohnort des Kapitäns, Namen, Wohnort und dienstliche Stellung jedes Schiffs-
manns, den Hafen der Ausreise, die Bestimmungen des Heuervertrags, namentlich
auch den Ucberstundcnlohnsatz (§ 35 Abs. 3, § 37 Abs. 3I und etwaige besondere
Verabredungen. Insbesondere mufs aus der Musterrolle erhellen, was dem Schiffs-
manne für den Tag an Speise und Trank gebührt. Bei besonderen Verabredungen
mit Schiffsolfiziercn kann die Eintragung auf die Wiedergabe des wesentlichen In-
halts beschränkt werden. Abreden, welche nach § I Abs. 2 unzulässig sind, dürfen
nicht aufgenoramen werden.
Im übrigen wird die Einrichtung der Musterrolle vom Bundesrate bestimmt.
Die Musterrolle mufs sich während der Reise an Bord befinden ; auf Erfordern
ist sie dem Scemannsamtc vorzulegcn.
§ 15. Wird ein Schiffsmann erst nach Ausfertigung der Musterrolle ange-
mustert, so hat das Seemannsamt eine solche Musterung in die Musterrolle cinzutragen.
§ 16. Bei jeder innerhalb des Reichsgebiets erfolgenden Anmusterung wird
vom Seemansamte hierüber und über die Zeit des Dienstantritts in das Sccfahrts-
buch jedes Schiffsmanns ein Vermerk eingetragen, welcher zugleich als Ausgangs-
oder Secpafs dient. Aufscrhalb des Reichsgebiets erfolgt eine solche Eintragung
nur, wenn das Sccfahrtsbuch zu diesem Zwecke vorgclcgt wird.
Das Sccfahrtsbuch ist demnächst vom Kapitän für die Dauer des Dienst-
verhältnisses in Verwahrung zu nehmen.
§ 17. Wird ein angemusterter Schiffsmann durch ein unabwendbares Hindernis
aufserstandc gesetzt , den Dienst anzutreten , so hat er sich hierüber sobald wie
möglich gegen den Kapitän und das Seemannsamt, vor welchem die Anmusterung
erfolgt ist, auszuweisen. Der Kapitän hat das Sccfahrtsbuch dem Schiffsmann oder
dem Sccmannsamt, vor welchem die Anmusterung erfolgt ist, sobald als thunlich zu
übersenden.
§ 18. Die Abmusterung besteht in der Verlautbarung der Beendigung des
Dienstverhältnisses seitens des Kapitäns und der aus diesem Verhältnis ausschcidcndcn
Mannschaft vor einem Scemannsamtc. Sie mufs, sobald das Dienstverhältnis be-
endigt ist, erfolgen, und zwar, wenn nicht ein anderes vereinbart wird, vor dem
Scemannsamtc desjenigen Hafens, wo das Schiff liegt, und nach Verlust des Schiffes
vor demjenigen Scemannsamtc, welches zuerst angegangen werden kann.
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Gesetz, betreffend eine Seemannsordnung.
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§ 19. Vor der Abmusterung hat der Kapitän dem abzumusternden Schiffs-
mann im Scefahrtsbuchc die bisherigen Rang- und Dienstverhältnisse und die Dauer
der Dienstzeit zu bescheinigen, auf Verlangen auch ein Führungszeugnis zu erteilen.
Das Zeugnis darf in das Seefahrtsbuch nicht eingetragen werden. Dasselbe ist
kosten« und slempelfrci.
§ 20. Die Unterschriften des Kapitäns unter der Bescheinigung und dem
Zeugnisse (§ 19) werden von dem Sccmannsamte, vor welchem die Abmusterung
stattfindet, kosten- und stempelfrei beglaubigt
§ 21. Verweigert der Kapitän die Ausstellung des Zeugnisses (§ 19), oder
enthält dieses oder die Bescheinigung im Seefahrtsbuche (§ 19) Angaben, deren
Richtigkeit der Schiffsmann bestreitet, so hat auf dessen Antrag das Seemannsarat
den Sachverhalt zu untersuchen und das Ergebnis der Untersuchung dem Schiffs-
roannc zu bescheinigen.
§ 22. Die erfolgte Abmusterung wird vom Sccmannsamt in dem Scefahrts-
buchc des abgemusterten Schiffsmanns und in der Musterrolle vermerkt.
§ 23. Sind seit der Ausfertigung der Mustcnrolle mindestens zwei Jahre ver-
flossen, so ist auf Antrag des Kapitäns diesem vom Seemannsamt ein dem gegen-
wärtigen Bestände der Schiffsmannschaft entsprechender beglaubigter Auszug aus
der Musterrolle zu erteilen, welcher fernerhin als Musterrolle zu benutzen ist.
§ 24. Die Musterrolle sowie der etwa nach § 23 erteilte Auszug sind nach
Beendigung derjenigen Reise oder derjenigen Zeit, auf welche die als Musterrolle
ausgefertigte Anmusterungsverhandlung (§ 14) sich bezieht, dem Seemannsamte, vor
welchem abgemustert wird, zu überliefern.
Letzteres übersendet die Schriftstücke dem Seemannsamte des Heimatshafens
und in Ermangelung eines solchen dem Seemannsamte des Registerhafens.
§ 25. Erfährt der Bestand der Mannschaft Acnderungcn, bei welchen eine
Musterung (§ 12) nach Mafsgabe vorstehender Bestimmungen ohne Verzögerung der
Reise unausführbar ist, so hat der Kapitän, sobald ein Sccmannsamt angegangen
werden kann, bei demselben unter Darlegung der Hinderungsgründc die Musterung
nachzuholen, oder, sofern auch diese nachträgliche Musterung nicht mehr möglich
ist, den Sachverhalt anzuzeigen. Ein Vermerk über die Anzeige ist vom Seemanns-
amt in die Musterrolle und in die Seefahrtsbüchcr der beteiligten Schiflslcutc ein-
zutragen.
§ 26. Die Kosten der Musterungsvcrhandlungen , einschliefslich der Aus-
fertigung der Musterrolle fallen dem Rheder zur Last.
Die Bestimmungen über die in gleicher Höhe für alle Seemannsämter inner-
halb des Reichsgebiets festzustel lenden Kosten erfolgen durch den Bundesrat.
Dritter Abschnitt.
Vertragsverhältnis.
§ 27. Die Gültigkeit des Heuervertrages ist durch schriftliche Abfassung und
durch den nachfolgenden Vollzug der Anmusterung nicht bedingt. Jedoch ist dem
Schiffsmann bei der Anheuerung ein von dem Kapitän oder dem Vertreter der
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Gesetzgebung : Deutsches Reich.
-Rhederei (§ 12 Abs. 2) unterschriebener Ausweis (Heucrschcin) zu geben, welcher
enthält :
Namen des Schiffes,
Angabe der Dienststellung,
Angabe der Reise oder Dauer des Vertrages,
Höhe der Heuer,
Zeit und Ort der Anmusterung.
• Aulkündigungsfristen und sonstige die Lösung des Heuervertrags betreffende
Zeitbestimmungen sollen für beide vertragschliefsendc Teile gleich sein. Bei ent-
gegenstehender Vereinbarung kann der Schiffsmann die dem anderen Teile zuge-
standene Frist oder Zeitbestimmung für sich in Anspruch nehmen.
§ 28. Der Heuervertrag kann für eine Reise oder auf Zeit abgeschlossen
werden.
Ist bei der Anhcuerung für eine Reise deren Endziel nicht angegeben, so
läuft in Ermangelung anderweitiger Vereinbarung, unbeschadet der Vorschrift des
§ 69, der Heuervertrag bis zur Rückkehr in den Halen der Ausreise (§ 14).
Bei Anhcuerung auf unbestimmte Zeit soll im Heuervertrag eine Kündigungs-
frist angegeben oder in anderer Weise über die Beendigung des Dienstverhältnisses
Bestimmung getroffen werden. Ist dies nicht geschehen, so kann jeder Teil in
jedem Hafen, welchen das Schiff zum Löschen oder Laden anläuft, vom Vertrage
unter Einhaltung einer Kündigungsfrist von vierundzwanzig Stunden zurücktreten.
§ 29. Ist bei dem Abschlüsse des Heuervertrags die Vereinbarung über den
Betrag der Heuer nicht durch ausdrückliche Erklärung getroffen worden, so wird
im Zweifel die Heuer als vereinbart angesehen, die das Seemannsamt des Hafens,
in welchem der Schiffsmann angemustert wird, für die daselbst zur Zeit der An-
musterung übliche geklärt.
§ 30. Hat ein Schi fismann sich durch mehrere Verträge Für ein und dieselbe
Zeit verheuert, so geht, falls auf Grund eines der Verträge eine Anmusterung statt-
gefunden hat, dieser, sonst der zuerst abgeschlossene Vertrag vor.
§ 31. Wird ein Schiffsmann erst nach Anfertigung der Musterrolle geheuert,
so gelten für ihn in Ermangelung anderer Vertragsbestimmungen die nach Inhalt
der Musterrolle mit der übrigen Schiffsmannschaft getroffenen Abreden.
§ 32. Die Verpflichtung des Schiffsmanns, sich mit seinen Sachen an Bord
cinzufindcn und Schiffsdienste zu leisten, beginnt, wenn nicht ein anderes bedungen
ist, mit der Anmusterung. Der Zeitpunkt, zu welchem der Dienstantritt erfolgen
soll, ist dem Schiffsmanne bei der Anhcuerung, der Liegeplatz oder ein Mcldcort
ist ihm bei der Anmusterung anzugeben.
Wenn der Schiffsmann den Dienstantritt länger als vicrundzwanzig Stunden
verzögert, ist der Kapitän oder der Rheder zum Rücktritt von dem Heuervertrage
befugt. Die Ansprüche wegen etwaiger Mehrausgaben für einen Ersatzmann und
wegen sonstiger aus der Verzögerung erwachsener Schäden werden hierdurch nicht
berührt.
§ 33. Der Schiffsmann, welcher nach der Anmusterung, ohne einen genügenden
Entschuldigungsgrund, dem Antritt oder der Fortsetzung des Dienstes sich entzieht,
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Gesetz, betreffend eine Seemannsordnung.
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kann auf Antrag des Kapitäns vom Seemannsamte, wo aber ein solches nicht vor-
handen ist, von der Ortspolizeibehörde zwangsweise zur Erfüllung seiner Pflicht an-
gehaltcn werden.
Die daraus erwachsenden Kosten hat der Schiffsmann zu ersetzen.
§ 34. Der Schiffsmann ist verpflichtet, in Ansehung des Schiffsdienstes den
Anordnungen des Kapitäns der Schiffsoffizierc und seiner sonstigen Dienstvorgesetzten
unweigerlich Gehorsam zu leisten und zu jeder Zeit alle für Schiff und Ladung ihm
übertragene Arbeiten zu verrichten.
Er hat diese Verpflichtung zu erfüllen, sowohl an Bord des Schiffes und in
dessen Booten» als auch in den Leichterfahrzeugen und auf dem Lande, sowohl
unter gewöhnlichen Umständen, als auch unter Havarie.
Ohne Erlaubnis des Kapitäns oder eines Schiffsoffiziers darf er das Schiff bis
zur Abmusterung nicht verlassen, doch darf ihm in einem Hafen des Reichsgebietes
in seiner dienstfreien Zeit, wenn nicht triftige Gründe vorlicgcn, die Erlaubnis nicht
verweigert werden. Ist ihm eine solche Erlaubnis erteilt, so mufs er zur festgesetzten
Zeit zurückkehren.
§ 35. Liegt das Schiff im Hafen oder auf der Rhede, so ist der Schiffsmann
nur in dringenden Fällen schuldig, länger als zehn Stunden täglich zu arbeiten. In
den Tropen wird diese Zeit, soweit es sich nicht ausschliefslich um Aufsichtsdienst
oder Arbeiten zur Verpflegung und Bedienung der an Bord befindlichen Personen
handelt, auf acht Stunden beschränkt. Bei Berechnung dieser Arbeitsdauer ist der
Wachtdienst in Rechnung zu bringen.
Die Vorschriften des Abs. l finden auf Schiffsoffiziere keine Anwendung. Den
Schiffsoffizicrcn »st im Hafen oder auf der Rhede eine Ruhezeit von mindestens acht
Stunden innerhalb jeder vierundzwanzig Stunden zu gewähren.
Arbeit, welche über die im Abs. 1 bestimmte Dauer von zehn oder acht
Stunden geleistet wird, ist als Ueberstundenarbeit zu vergüten, soweit sie nicht zur
Verpflegung und Bedienung der an Bord befindlichen Personen, oder zur Sicherung
des Schiffes in dringender Gefahr erforderlich ist.
§ 36. Auf Sec geht die Mannschaft des Decks und Maschinendienstes Wache
um Wache. Die abgelöste Wache darf nur in dringenden Fällen zu Schiffsdiensten
verwendet werden. Auf Dampfschiffen ist die ablösende Maschinenwachc ver-
pflichtet, das vor der Ablösung erforderliche Aschehieven zu besorgen. Diese Vor-
schriften gelten nicht für Fahrten von nicht mehr als zehnstündiger Dauer.
Auf Dampfschiffen ih transatlantischer Fahrt wird für das Maschinenpcrsonal
der Dienst in drei Wachen eingeteilb
Unter welchen Umständen im übrigen eine Mannschaft in mehr als zwei
Wachen zu gehen hat, bestimmt der Bundesrat.
§ 37. An Sonn- und Festtagen dürfen, solange das Schiff im Hafen oder auf
der Rhede liegt, Arbeiten, cinschlicfslich des Wachtdienstes nur gefordert werden,
soweit sie unumgänglich oder unaufschicblich oder durch den Personenverkehr be-
dingt sind.
Mit Löschen und Laden dürfen, solange das Schiff innerhalb des Reichsgebiets
im Hafen oder auf der Rhede liegt, die zur Schitfsmannschafl gehörigen Personen
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Gesetzgebung : Deutsches Reich.
an Sonn- und Festtagen nicht beschäftigt werden. Diese Vorschrift gilt nicht für
die Ladung derjenigen Dampfschiffe, welche in regclmäfsigem Fahrplane die Kaiser-
lich deutsche Post befördern und fiir die rum Löschen und Laden dieser Dampf-
schiffe dienenden Fahrzeuge, sowie für das Gepäck der Reisenden und für leicht
verderbende Güter. Aufserdcm können von einer durch die Zentralbehörde des
Bundesstaates zu bestimmenden Behörde in Notfällen Ausnahmen von dieser Vorschrift
auf jedesmaligen Antrag gestattet werden.
Sonn- und Festtagsarbeit (Abs. I, 2) ist als Ucbcrstundenarbeit zu vergüten,
soweit sie nicht zur Verpflegung und Bedienung der an Bord befindlichen Personen
oder zur Sicherung des Schiffes in dringender Gefahr erforderlich ist.
Soweit nicht dringende Gründe cntgcgenstchcn, ist an Sonn- und Festtagen
im Hafen und auf der Rhede der Schiffsmannschaft Gelegenheit zur Teilnahme am
Gottesdienst ihrer Konfession zu geben und der hierzu erforderliche Urlaub zu
erteilen.
§ 38. Auf See darf an Sonn- und Festtagen über das hinaus, was zur Sicher-
heit und zur Fahrt des Schiffes zur Bedienung der Maschine, zum Segeltrocknen,
Bootsdienst und zur Verpflegung und Bedienung der an Bord befindlichen Personen
unbedingt erforderlich ist, der Schiffsmannschaft Arbeit nur in dringenden Fällen
auferlegt werden. •
Die Vorschrift des § 37 Abs. 4 findet auf See entsprechende Anwendung.
Auch ist dem Schiffsmann, der es verlangt, die Teilnahme an gemeinschaftlichen
Andachten seiner Konfession zu gestatten.
§ 39. Als Festtage im Sinne der §§ 37, 38 gelten im Inlandc die von der
Landesregierung des Liegeorts bestimmten Tage, im Ausland und auf Sec die Fest-
tage des inländischen Heimathafens; in Ermangelung eines solchen werden die Fest-
tage durch Anordnung des Reichskanzlers bestimmt. Im Sinne des § 37 Abs. 4
gelten als Festtage im Auslande auch die kirchlich gebotenen Festtage des Liegeorts.
§ 40. Die Vorschriften des § 35 Abs. 3 und des § 37 Abs. 3 finden auf
Schiffsoffizicrc keine Anwendung, sofern nicht ein anderes vereinbart ist.
§ 4!. Bei Seegefahr, besonders bei drohendem Schiffbruche, sowie bei Ge-
walt und Angriff gegen Schiff oder Ladung hat der Schiffsmann alle befohlene
Hilfe zur Erhaltung von Schiff und Ladung unweigerlich zu leisten und darf ohne
Einwilligung des Kapitäns, solange dieser selbst an Bord bleibt, das Schiff nicht
verlassen.
Er bleibt verbunden , bei Schiffbruch für Rettung der Personen und ihrer
Sachen, sowie für Sicherstellung der Schiffsteile, der Gerätschaften und der Ladung,
den Anordnungen des Kapitäns gemafs, nach besten Kräften zu sorgen und bei der
Bergung gegen Fortbczug der Heuer und der Verpflegung Hülfe zu leisten.
§ 42. Der Schiffsmann ist, auch wenn der Heuervertrag infolge eines Ver-
lustes des Schiffes beendigt ist (§ 69), verpflichtet, auf Verlangen bei der Verklarung
mitzuwirken und seine Aussage eidlich zu bestärken.
Dieser Verpflichtung hat er gegen Zahlung der etwa erwachsenden Versäumnis-,
Reise- und Verpflegungskosten, deren Höhe im Streitfälle die Verklarungsbehördc,
im Auslande der Konsul, festzusetzen hat, nachzukommen. Auf Verlangen des
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Gesetz, betreffend eine Seemannsordnung.
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Schiffsmanns ist ihm ftir die Versäumnis-, Reise- und Verpflegungskosten ein an-
gemessener Vorschufs zu zahlen.
§ 43. Stellt sich nach Antritt der Reise heraus, dafs der Schiffsmann zu dem
Dienste, zu welchem er sich verheuert hat, untauglich ist, so ist der Kapitän befugt,
ihn im Range herabzusetzen und seine Heuer verhältnismäfsig zu verringern.
Diese Befugnis besteht nicht gegenüber Schiffsoffizicren.
Wird von dieser Befugnis Gebrauch gemacht, so hat der Kapitän die ge-
troffene Anordnung und die die Anordnung begründenden Tbatsachen, sobald thun-
lich, in das Schiffstagebuch cinzutragen, die Eintragung dem Schift’stnanne vorzu-
lesen und in dem Tagebuche zu vermerken, dafs und wann dies geschehen ist.
Vor der Eröffnung und Eintragung tritt die Verringerung der Heuer nicht in Wirk-
samkeit.
Dem Schiffsmann ist auf Verlangen eine vom Kapitän Unterzeichnete Abschrift
der Eintragung auszuhändigen.
Gegen die getroffene Anordnung kann der Schiffsmann die Entscheidung des
Seemannsamts an rufen, welches zuerst angegangen werden kann. Erst nach Ent-
scheidung des Seemannsamts, falls aber ein solches nicht angerufen ist, bei der Ab-
musterung, dürfen Eintragungen über den Sachverhalt in das Seefahrtsbuch, und
zwar nur durch das Seemannsamt, vorgenommen werden.
§ 44. Die Heuer ist vom Tage der Anmusterung, falls diese dem Dienst-
antritt vorangcht, sonst vom Tage des Dienstantrittes an zu zahlen.
Als Dienstzeit gilt auch die zur Erreichung des Meldcorts (J$ 32) erforderliche
Reisezeit
§ 45. Die Heuer hat der Schiffsmann, sofern keine andere Vereinbarung
getroffen ist, erst nach Beendigung der Reise oder des Dienstverhältnisses zu be-
anspruchen.
Der Schiffsmann kann jedoch in einem Hafen, in welchem das Schiff ganz
oder zum gröfseren Teil entlöscht wird, die Auszahlung der Hälfte der bis dahin
verdienten Heuer (§ 80) verlangen, sofern bereits drei Monate seit der Anmusterung
verflossen sind. In gleicher Weise ist der Schiffsmann bei Ablauf je weiterer drei
Monate nach der früheren Auszahlung wiederum die Auszahlung der Hälfte der
seit der letzten Auszahlung verdienten Heuer zu fordern berechtigt.
Ist die Anheucrung auf Zeit erfolgt (§ 28), so kann der Schiffsmann bei Rück-
kehr in den Hafen der Ausreise die bis dahin verdiente Heuer beanspruchen.
§ 46. Die Auszahlung des dem Schiffsmannc bei der Beendigung des Dienst-
verhältnisses zustchendcn Heuerguthabens mufs an ihn persönlich und, soweit nicht
im Auslände die dortigen Gesetze eine andere Behörde bestimmen, vor dem ab-
mustemden Seemannsamt oder durch dessen Vermittelung geschehen und von diesem
in der Abmusterungsverhandlung bescheinigt werden. Bei Verhinderung des Schiffs-
manns ist mit dessen Zustimmung die Auszahlung an ein Familienmitglied zulässig,
ln einer Gast- oder Schankwirtschaft darf die Auszahlung nicht vorgenommen werden.
Von der Mitwirkung des Seemannsamts darf abgesehen werden, wenn sie
ohne Verzögerung der Reise nicht herbeigeführt werden kann.
Das Seemannsamt ist verpflichtet, bei der Abmusterung die dem Schiffsmann
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Gesetzgebung : Deutsches Reich.
auszuzahlende Heuer auf dessen Antrag ganz oder teilweise in F.mpfang zu nehmen
und nach Angabe des Schifismanns an auswärts wohnende Angehörige desselben
oder an Sparkassen oder sonstige Verwahrungsstellen gebührenfrei zu übermitteln.
Die durch die Ucbcrmittclung entstehenden baren Auslagen werden, sofern der
Schiffsmann ein Deutscher ist, von dem Rheder getragen.
§ 47. Inwieweit vor dem Antritte der Reise Vorschufszahlungen auf die
Heuer zu leisten oder Handgelder zu zahlen sind, bestimmt in Ermangelung einer
Vereinbarung der Ortsgebrauch des Hafens, in welchem der Schiffsmann ange-
mustert wird.
§ 48. Alle Zahlungen an Schiffslcute müssen nach Wahl derselben, Vorschufs-
zablungen jedoch nach Wahl des Kapitäns, entweder in baar oder mittels einer
auf den Rheder ausgestellten Anweisung geleistet werden. Die Zahlbarkeit der An-
weisungen darf bei Vorschufszahlungen an die Bedingung geknüpft werden, dafs der
Schiffsmann sich bei der Abfahrt des Schiffes an Bord befindet. Im übrigen mufs
die Anweisung unbedingt und auf Sicht gestellt sein.
§ 49. Vor Antritt der Reise ist ein Abrechnungsbuch anzulcgen, in welchem
die verdiente Heuer und der verdiente Ucbcrstundenlobn in regelmäfsigcn Zeit-
abschnitten zu berechnen, sowie alle auf die Heuer geleisteten Vorschufs- und Ab-
schlagszahlungen und die etwa gegebenen Handgelder, bei Zahlung in fremder
Währung auch der zu Grunde gelegte Kurs, einzutragen sind. In dem Abrechnungs-
buch ist von dem Schiffsmann über den Empfang jeder Zahlung zu quittieren. Die
Zahl der geleisteten Ueberstunden sowie der danach verdiente Ueberstundenlohn ist
wöchentlich und spätestens am Tage nach dem jedesmaligen Verlassen eines Hafens
in dem Abrechnungsbuche zu vermerken; sodann ist dieser Vermerk dem Schiffs-
manne zur unterschriftlichen Anerkennung vorzulegen. Verweigert er die An-
erkennung, so ist auch dies und der hierfür angegebene Grund im Abrcchnungs-
buchc zu vermerken.
Ferner ist jedem Schiffsmanne, der cs verlangt, noch ein besonderes Heuer-
buch zu übergeben und darin ebenfalls die verdiente Ilcuer, der verdiente Ucber-
stundenlohn sowie jede auf die Heuer des Inhabers geleistete Zahlung, bei Zahlung
in fremder Währung auch der zu Grunde gelegte Kurs, einzutragen. Vor der Ab-
musterung ist dem Schilfsmann in diesem Heuerbuche sein Gesamtguthaben zu be-
rechnen.
§ 50. Wenn die Zahl der Mannschaft des Decks- oder Maschinendienstes
sich während der Reise vermindert und der weitere Verlauf der Reise eine Ver-
minderung der Arbeitsanforderungen nicht in Aussicht stellt, so mufs der Kapitän
die Mannschaft ergänzen, soweit die Umstände es gestatten. Solange eine Er-
gänzung nicht erfolgt, sind die während der Fahrt ersparten Hcuergelder unter die-
enigen Schitfslcutc desselben Dienstzweigs, welchen dadurch eine Mehrarbeit er-
wachsen ist, nach Verhältnis dieser und der Heuer zu verteilen. Ein Anspruch auf
die Verteilung findet jedoch nicht statt, wenn die Verminderung der Mannschaft
durch Entw'cichung herbeigeführt ist und die Sachen des entwichenen Schilfsmanns
nicht an Bord zurückgeblieben sind.
§ 51. Wird ein Schiffsmann bei Abfahrt des Schiffes vermifst, so hat der
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Gesetz, betreffend eine Seemannsordnung.
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Kapitän demjenigen Seemannsamt, in dessen Bezirk zuerst diese Wahrnehmung ge-
macht wird, behufs Ermittelung sobald als thunlich Anzeige zu erstatten und das
Seefahrtsbuch des Vermifsten zu übermitteln.
§ 52. In allen Fällen, in welchen ein Schiff mehr als zwei Jahre auswärts
verweilt, tritt flir den seit zwei Jahren im Dienste befindlichen Schiffsmann eine Er-
höhung der Heuer ein, wenn diese nach Zeit bedungen ist.
Diese Erhöhung wird, wie folgt, bestimmt:
1. der Schiffsjunge tritt mit Beginn des dritten Jahres in die in der Muster-
rolle bestimmte oder aus derselben als Durchschnittsbetrag sich ergebende
Heuer der Leichtmatrosen, und mit Beginn des vierten Jahres in die in
der Musterrolle bestimmte Heuer der Vollmatrosen ein;
2. der Leichtmatrose erhält mit Beginn des zweiten Jahres die in der Muster-'
rolle bestimmte Heuer der Vollmatrosen und mit Beginn des vierten
Jahres ein Fünftel derselben mehr an Heuer;
3. für die übrige Schiffsmannschaft steigt die in der Musterrolle angegebene
Heuer mit Beginn des dritten Jahres um ein Fünftel und mit Beginn des
vierten Jahres um ein ferneres Fünftel ihres ursprünglichen Betrags.
In den Fällen des Abs. 2 Nr. I, 2 tritt der Schiffsmann mit der Erhöhung der
Heuer zugleich in die entsprechende Kangklassc ein.
§ 53. Die aus den Dienst- und Heuerverträgen herrührenden Forderungen
des Kapitäns und der zur Schiffsmannschaft gehörigen Personen, welche auf einem
nach den §§ 862, 863 des Handelsgesetzbuchs als verschollen anzusehenden Schiffe1
sich befunden haben, werden fällig mit Ablauf der Verschollenheitsfrist. Das Dienst-
verhältnis gilt sodann einen halben Monat nach dem Tage für beendet, bis zu
welchem die letzte Nachricht Uber das Schiff reicht.
Der Betrag der Forderungen ist dem Seemannsamte des Heimatshafens und in
Ermangelung eines solchen dem Seemannsamte des Registerhafens zu übergeben.
Das Sccmannsamt hat die Aushändigung an die Empfangsberechtigten zu vermitteln.
§ 54. Dem Schiffsmanne gebührt Beköstigung für Rechnung des Schiffes von
dem Zeitpunkte des Dienstantritts an bis zur Abmusterung, jedoch wenn diese ohne
Verzögerung der Reise unausführbar ist, bis zur Beendigung des Dienstverhältnisses.
Er darf die verabreichten Speisen und Getränke nur zu seinem eigenen Bcdarfc ver-
wenden und nichts davon veräufsern, vergeuden oder sonst bei seitc bringen. An-
statt der Beköstigung kann auf Grund besonderer Abrede eine entsprechende Gcld-
entschädigung gewährt werden.
§ 55. Die Schiffsmannschaft hat an Bord des Schiffes vom Zeitpunkt des
Dienstantritts an bis zur Abmusterung, jedoch wenn diese ohne Verzögerung der
Reise unausführbar ist, bis zur Beendigung des Dienstverhältnisses Anspruch auf
einen, ihrer Zahl und der Gröfsc des Schiffes entsprechenden, nur für sie und ihre
Sachen bestimmten wohlverwahrten und genügend zu lüftenden I.ogisraum.
Kann dem Schiffsmann infolge eines Unfalls oder aus anderen Gründen zeit-
weilig ein Unterkommen auf dem Schiffe nicht gewährt werden, so ist ihm ein
anderweitiges angemessenes Unterkommen zu verschaffen.
§ 56. Die dem Schiffsmanne für den Tag mindestens zu verabreichenden-
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Gesetzgebung: Deutsches Reich.
Speisen und Getränke (§ 54) bestimmen sich, soweit nicht ein anderes vereinbart
ist, nach dem örtlichen Rechte des Heimatshafens und in Ermangelung eines solchen
nach dem örtlichen Rechte des Registerhafens. Der Erlafs näherer Bestimmungen
steht den Landesregierungen im Verordnungswege und, sofern es an einem inlän-
dischen Heimatshafen oder Registerhafen fehlt, dem Reichskanzler zu.
lieber Gröfse und Einrichtung des Logisraums (§ 55), über die Einrichtung
von Wasch- und Uadcräumen und Aborten an Bord der Schiffe und die mindestens
mitzunchmcndcn llcilmitttcl beschliefst der Bundesrat. Die Beschlüsse des Bundes-
rates sind dem Reichstage bei seinem nächsten Zusammentritt zur Kenntnisnahme
vorzulcgen.
§ 57. Der Kapitän ist berechtigt, bei ungewöhnlich langer Dauer der Reise,
oder wegen eingetretener Unfälle, eine Kürzung der Rationen oder eine Acndcmng
hinsichtlich der Wahl der Speisen und Getränke eintreten zu lassen.
Er hat im Schiffstagebuche zu bemerken, wann, aus welchem Grunde und in
welcher Weise eine Kürzung oder Aenderung eingetreten ist.
Dem Schiffsmann gebührt eine den erlittenen Entbehrungen entsprechende
Vergütung. Uebcr diesen Anspruch entscheidet unter Vorbehalt des Rechtsweges
das Seemansamt, vor welchem abgemustert wird.
§ 58. Wenn ein Schiffsoffizier oder nicht weniger als drei Schiffsleute bei
einem Sccmannsamtc Beschwerde darüber erheben, dafs das Schiff, für welches sie
angemustert sind, nicht seetüchtig ist, oder dafs die Vorräte, welche das Schiff für
den Bedarf der Mannschaft an Speisen und Getränken mit sich führt, ungenügend
oder verdorben sind, so hat das Seemannsamt mit möglichster Beschleunigung unter
Hinzuziehung von erreichbaren Sachverständigen und der ortsanwesenden Beschwerde-
führer eine Untersuchung des Schiffes oder der Vorräte zu veranlassen, und das Er-
gebnis in das Schiffstagebuch einzutragen. Auch hat das Seemannsamt, falls die
Beschwerde sich als begründet erweist, für die geeignete Abhilfe Sorge zu tragen.
Kommt der Kapitän den zu diesem Bchufc getroffenen Anordnungen nicht
nach, so kann jeder Schiffsoflizier und jeder Schiffsmann seine Entlassung mit der
für den Fall des § 74 Nr. l versehenen Wirkung (§ 76) fordern.
§ 59. Falls der Schiffsmann nach Antritt des Dienstes oder nach der An-
musterung erkrankt oder eine Verletzung erleidet, so trägt der Rheder die Kosten
der Verpflegung und Heilbehandlung. Diese Verpflichtung erstreckt sich :
1. wenn der Schiffsmann wegen der Krankheit oder Verletzung die Reise
nicht antritt, bis zum Ablaufe von drei Monaten seit der Erkrankung oder
Verletzung ;
2. wenn er die Reise angetreten hat, bis zum Abläufe von drei Monaten
nach dem Verlassen des Schiffes in einem deutschen Hafen, und bis zum
Ablaufe von sechs Monaten nach dem Verlassen des Schiffes in einem
anderen Hafen.
Im Falle einer Verletzung hört die Verpflichtung des Rheders dem Verletzten
gegenüber auf, sobald und soweit die Berufsgenossenschaft die Fürsorge übernimmt.
Der Rheder ist berechtigt, die Verpflegung und Heilbehandlung dem Schiffs-
mann in einer Krankenanstalt zu gewähren.
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Gesetz, betreffend eine Seemannsordnung.
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Ein Schiffsmann, der wegen Krankheit oder Verletzung aufserhalb des Reichs-
gebiet« zurückgeblieben ist, kann mit seiner Einwilligung und der des behandelnden
Arztes oder des Seemannsamts nach einem deutschen Hafen in eine Krankenanstalt
überführt werden. Ist der Schiffsmann aufserstande , die Zustimmung zu erteilen,
oder verweigert er sie ohne berechtigten Grand, so kann sie nach Anhörung eines
Arztes durch dasjenige Seemannsamt ersetzt werden, in dessen Bezirk der Schiffs-
mann sich zur Zeit befindet Findet die UeberfÜhrung statt, so erstreckt sich die
Verpflichtung des Rheders stets nur bis zum Ablaufe von drei Monaten seit der
Aufnahme in die Krankenanstalt des deutschen Hafens.
Der Schiffsmann, welcher sich der Heilbehandlung ohne berechtigten Grund
entzieht und hierdurch nach ärztlichem Gutachten die Heilung vereitelt oder wesent-
lich erschwert hat, verliert den Anspruch auf kostenfreie Verpflegung und Heil-
behandlung. Ueber die Berechtigung des Grundes, sowie über Beginn und Dauer
des Verlustes entscheidet vorläufig das Seemannsamt.
Dem Schiffsmannc gebührt, falls er nicht mit dem Schiffe nach dem Hafen
der Ausreise {§ 14) zurückkehrt, freie Zurückbeförderung (§§ 78, 79) nach diesem’
Hafen oder nach Wahl des Kapitäns eine entsprechende, im Streitfälle vom See-
mannsamte vorläufig fcstzusetzcnde, Vergütung.
§ 60. Liegt der Hafen der Ausreise aufserhalb des Reichsgebiets, so kann
der in einem deutschen Hafen geheuerte Schiffsmann in den Fällen des § 59 Abs. 6,
des § b6 Abs. 3 und der §§ 69, 71, 72, 79 die Rückbeförderung auch nach dem
Hafen, an welchem er geheuert ist, verlangen. Im Übrigen kann vereinbart werden,
dafs für die dem Schiffsmann in den vorbczcichncten Fällen zustehenden Rückbe-
förderungsansprüche an Stelle des Hafens der Ausreise ein anderer Hafen, ins-
besondere derjenige, an welchem die Heuerung oder die Anmusterung stattgefunden
hat, treten soll.
Unterlässt es der Rheder oder sein Vertreter, dem Ansprache des Schiffsmanns
auf freie Zurückbeförderung innerhalb einer vom See mann tarnte gestellten Frist zu
genügen oder befindet sich der Rheder oder sein Vertreter wegen Abwesenheit
nicht in der Lage, entsprechende Vorkehrungen zu treffen, so kann das Seemanns-
amt, sofern dadurch dem Rheder keine höheren Kosten erwachsen, auf Antrag des
Schiffsmanns anordnen, dafs an die Stelle des gesetzlich oder vertragsmäfsig be-
stimmten Rückbeförderangshafens ein anderer, vom Seemannsamte zu bezeichnender
Hafen tritt.
§ 61. Die Heuer bezieht der erkrankte oder verletzte Schiffsmann:
1. wenn er die Reise nicht antritt, bis zur Einstellung des Dienstes;
2. wenn er die Reise angetreten hat, bis zu dem Tage, an welchem er das
Schiff vcrläfsL
Für die Dauer des Aufenthalts in einer Krankenanstalt gebührt dem Schiffs-
manne keine Heuer. Hat er aber Angehörige, deren Unterhalt er bisher ganz oder
überwiegend aus seinem Heuerverdienste bestritten hat, so ist ein Viertel der Heuer
zu zahlen. Die Zahlung kann unmittelbar an die Angehörigen erfolgen.
Ist der Schiffsmann bei der Verthcidigung des Schiffes zu Schaden gekommenr
Archiv für so*. Gesetzgebung u. Statistik. XVII. 4^
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Gesetzgebung: Deutsches Reich.
so hat er auf eine angemessene, im Streitfälle vom Seemannsamte vorläufig fcstzu-
setzendc Belohnung Anspruch.
§ 62. Auf den Schiffsmann, welcher die Krankheit oder Verletzung durch
eine stratbare Handlung sich zugezogen oder den Dienst ohne einen ihn nach $ 74
dazu berechtigenden Grund verlassen hat, finden die 59 bis 61 keine Anwendung»
Ob die Voraussetzungen des Abs. 1 vorliegcn, entscheidet vorläufig das See-
mannsamt.
§ 63. Mufs der Schiffsmann wegen Frkrankung oder Verletzung am Lande
zuriickgclassen werden, so hat, soweit der SchitTsmann nicht ein anderes bestimmt*
der Kapitän die Sachen und das Heuerguthaben des Schifismanns behufs Fürsorge
fiir deren Aufbewahrung dem am Orte der Zurücklassung befindlichen Seemanns-
amte zu überliefern. Mit Genehmigung dieses Seemannsamts kann die Ueberlieterung
an eine andere geeignete Stelle, insbesondere an die Verwaltung der Krankenanstalt*
in welche der Schifismann aufgenommen ist, erfolgen. Das Gleiche gilt, wenn sich
am Orte der Zurücklassung kein Seemannsamt befindet. In diesem Falle hat der
Kapitän dem Scemannsamt, in dessen Bezirke die Zurücklassung erfolgt, von dem
Sachverhalt Anzeige zu machen.
Der Kapitän hat bei Ucbcrlicferung der Sachen eine von ihm und einem
Schiffsoffizier, in Frmangclung eines solchen von einem Schififsinanne , zu unter-
schreibende Aufzeichnung der Sachen und des Betrags des Heuerguthabens beizu-
fügen und ein zweites Exemplar der Aufzeichnung unter Vermerk der Aufbewahrungs-
stelle dem Schiflsmanne zu übergeben.
Bei Erkrankung oder Verletzung des Kapitäns hat der Stellvertreter mit den.
Sachen des Kapitäns nach den Vorschriften der Abs. 1, 2 zu verfahren.
§ 64. Stirbt der Schifismann nach Antritt des Dienstes, so hat der Rheder
die bis zum Todestage verdiente Heuer (§ 8oj zu zahlen und, sofern der Tod
innerhalb der Zeit der Fürsorgepflicht des Rheders (§ 59) erfolgt, die Bestattungs-
kosten zu tragen.
Ist anzunehmen, dafs das Schiff innerhalb vierundzwanzig Stunden einen Hafen
erreicht, so ist, falls nicht gesundheitliche Bedenken entgegenstehen, die Leiche mit-
zunehmen und für deren Bestattung am I,ande Sorge zu tragen.
Die Art der Bestattung auf See mufs den Sccgebräuchen entsprechen.
Wird der Schiffsmann bei Verteidigung des Schiffes getötet, so hat der
Rheder eine angemessene, erforderlichenfalls von dem Richter zu bestimmende Be-
lohnung zu entrichten.
§ 65. Der auf dem Schiffe während der Reise eintretende Tod des Kapitäns
oder eines Schiflsmanns ist gemäfs SS 61 bis 64 des Gesetzes über die Beurkundung
des Personenstandes und die Ehcscbliefsung vom 6. Februar 1875 (Reichs-GcsetzbL
S. 23) bei Vermeidung der im § 68 daselbst angedrohten Strafe zu beurkunden.
Soweit der Xachlafs eines verstorbenen Schiffsmanns sich an Bord befindet,
hat der Kapitän für die Aufzeichnung und sorgfältige Aufbewahrung sowie erforder-
lichenfalls für den Verkauf des Nachlasses im Wege der Versteigerung Sorge zu
tragen. Die Aufzeichnung ist unter Zuziehung von zwei Schiffsoffizieren oder anderen
glaubhaften Personen vorzunehmen.
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Gesetz, betreffend eine Seemannsordnung.
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Die Nachlafsgcgenstände selbst, der etwaige Erlös aus denselben sowie das
etwaige llcuerguthabcn sind nebst der erwähnten Aufzeichnung und dem Nachweis
über den Todesfall demjenigen Scemannsamte, bei dem es zuerst geschehen kann,
oder mit dessen Genehmigung dem Scemannsamte des Ausreise- oder des Heimats-
hafens zu übergeben.
Für den Nachlafs des während der Reise verstorbenen Kapitäns hat der Stell-
vertreter nach Mafsgabe der Vorschriften der Abs. 2, 3 Sorge zu tragen.
§ 66. Der für eine Reise geheuerte Schiffsmann ist verpflichtet, während der
ganzen Reise, cinschliefslich etwaiger Zwischenreisen, bis zur Beendigung der Rück-
reise im Dienste zu verbleiben, wenn in dem Heuervertrage nicht ein anderes be-
stimmt ist.
Unter Rückreise im Sinne des Abs. 1 ist die Reise nach dem Hafen zu ver-
stehen, von welchem das Schiff seine Ausreise angetreten hat. Wenn jedoch das
Schiff von einem nicht europäischen Hafen (§ 82) kommt und seine Ausreise von
einem deutschen Hafen angetreten hat, so gilt auch jede Reise nach einem Hafen
Grofsbritanniens, des Kanals, der Nordsee, des Kattegats, des Sundes oder der
Ostsee, als Rückreise, falls die Reise ^tatsächlich in dem betreffenden Hafen endet,
und dies der Schiffsmannschaft spätestens alsbald nach der Ankunft vom Kapitän
erklärt wird.
Endet die Rückreise nicht in dem Hafen der Ausreise, so hat der Schiffsmann
Anspruch auf freie Zurückbeförderung (§§ 78, 79) nach diesem Hafen oder nach
Wahl des Kapitäns auf eine entsprechende, im Streitfälle vom Scemannsamte vor-
läufig festzusetzendc Vergütung; aufserdem gebührt ihm neben der verdienten Heuer
die Heuer für die Dauer der Zurückbeförderung (§ 73 i.
§ 67. Der für eine bestimmte Zeit geheuerte Schiffsmann ist, sofern keine
andere Vereinbarung getroffen ist, verpflichtet, bis zum Ablaufe dieser Zeit im
Dienste zu verbleiben.
Läuft die Dienstzeit während einer Reise ab, so kann in Ermangelung einer
anderen Vereinbarung der Schiffsmann seine Entlassung erst im nächsten Hafen,
welchen das Schiff zum Löschen oder Laden anläufl, verlangen. Ist es nach Be-
scheinigung des Seemannsamts oder in E.rmangclung eines solchen der örtlichen Be-
hörde dem Kapitän nicht möglich, in dem Hafen einen Ersatzmann anzuheuern, so
ist der Schiffsmann verpflichtet, gegen eine Erhöhung der Heuer um ein Viertel,
den Dienst bis zu einem Hafen, in welchem der Ersatz möglich ist, längstens aber
noch drei Monate hindurch fortzusrtzen. Ist der Schiffsmann in einem deutschen
Hafen geheuert , so mufs auf sein Verlangen das Dienstverhältnis unter den bis-
herigen Bedingungen bis zur Rückkehr nach einem deutschen Hafen, längstens aber
noch drei Monate hindurch, fortgesetzt werden.
§ 68. Nach beendigter Reise kann der Schiffsmann seine Entlassung nicht
früher verlangen, als bis die Ladung gelöscht, das Schiff gereinigt und im Hafen
oder an einem anderen Orte festgemacht, auch die etwa erforderliche Verklarung
abgelegt ist
§ 69. Der Heuervertrag endet, wenn das Schiff durch einen Zufall dem
Rheder verloren geht, insbesondere
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Gesetzgebung : Deutsches Reich.
1. wenn es verunglückt;
2. wenn es als reparaturunfähig oder reparaturunwürdig kondemniert (§ 479
des Handelsgesetzbuchs) und in dem letzten Falle ohne Verzug öffent-
lich verkauft wird ;
3. wenn es geraubt wird ;
4. wenn es aufgebracht oder angehalten und für gute Prise erklärt wird.
Der Schiffsmann hat alsdann Anspruch auf freie Zurückbeförderung (§§ 78,
79) nach dem Hafen der Ausreise oder nach Wahl des Kapitäns auf eine ent-
sprechende, im Streitfälle vom Sccmannsamte vorläufig festzusetzende Vergütung;
aufserdem ist ihm neben der verdienten Heuer noch der Betrag der halben Heuer
für die Dauer der Zurückbeförderung (§ 73) zu gewähren.
§ 70. Der Kapitän kann den SchitTsmann vor Ablauf der Dienstzeit entlassen:
1. so lange die Reise noch nicht angetreten ist, wenn der Schiffsmann zu
dem Dienste, zu welchem er sich verheuert hat, untauglich ist;
2. wenn der Schiffsmann eines groben Dienstvergehens, insbesondere wieder-
holten Ungehorsams, fortgesetzter Widerspenstigkeit, wiederholter Trunken-
heit im Dienste, oder der Schmuggelei sich schuldig macht;
3. wenn der Schiffsmann des Vergehens des Diebstahls, Betrugs, der Un-
treue, Unterschlagung, Hehlerei oder Urkundenfälschung oder einer mit
Zuchthaus bedrohten Handlung sich schuldig macht;
4. wenn der Schiffsmann durch eine strafbare Handlung eine Krankheit oder
Verletzung sich zuzicht, welche ihn arbeitsunfähig macht;
5. wenn der Schiffsmann mit einer geschlechtlichen Krankheit behaftet ist,
die den übrigen an Bord befindlichen Personen Gefahr bringen kann.
Ob dies der Fall ist, bestimmt sich, sofern ein Arzt zu erlangen ist, nach
dessen Gutachten ;
6. wenn die Reise, für welche der SchitTsmann geheuert war, wegen Krieg,
Embargo oder Blokadc, wegen eines Ausfuhr- oder Einfuhrverbots oder
wegen eines anderen, Schiff oder Ladung betreffenden Zufalls nicht ange-
treten oder fortgesetzt werden kann.
Der Kapitän mufs die Entlassung, sowie deren Grund, sobald es geschehen
kann, dem Schiffsmanne mittcilcn und in den Fällen des Abs. I Nr. 2 bis 5 späte-
stens, bevor dieser das Schiff verläfst, in das Schiffstagebuch cintragcn. Dem Schiffs-
mann ist auf Verlangen eine vom Kapitän Unterzeichnete Abschrift der Eintragung
auszuhändigen.
§ 71. Dem SchifTsmanne gebührt in den Fällen des § 70 Nr. 1 bis 4 nicht
mehr als die verdiente Heuer (§ 80).
Im Falle der Nr. 5 bestimmen sich die Ansprüche des SchitTsmanns nach den
Vorschriften der §§ 59 bis 61. Dies gilt für Angehörige eines auswärtigen Staates
nur insoweit, als nach einer im Reichs-Gesetzblatt enthaltenen Bekanntmachung
Deutschen, die zum Dienste auf einem Schiffe dieses Staates angcstcllt sind, durch
die dortige Gesetzgebung oder durch Staatsvertrag eine entsprechende Fürsorge ge-
währleistet ist.
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Gesetz, betreffend eine Seemannsordnung. 649
In den Fällen der Nr. 6 stehen dem Schiffsmanne, wenn die Entlassung nach
Antritt der Reise erfolgt, die im § 69 Abs. 2 bezeichneten Ansprüche zu.
§ 72. Der für eine Reise geheuerte Schiffsmann , welcher aus anderen als
aus den im § 70 erwähnten Gründen vor Ablauf des Heuervertrags entlassen wird,
erhält ah Entschädigung die Heuer für einen Monat unter Anrechnung der etwa
empfangenen Hand- und Vorschufsgeldcr.
Ist die Entlassung erst nach Antritt der Reise erfolgt, so hat er aufserdem
Anspruch auf freie Zurückbeförderung (§§ 78, 79) nach dem Hafen der Ausreise
oder nach Wahl des Kapitäns auf eine entsprechende, im Streitfälle von dem See-
mannsamte vorläufig festzusetzende Vergütung. Auch erhält er aufser der im Abs. I
vorgesehenen und der verdienten Heuer (§ 80) die Heuer für die nach § 73 zu
berechnende voraussichtliche Dauer seiner Reise nach dem Rückbeförderungshafen.
§ 73. Ist der Rückbefordcrungshafen ein deutscher, so wird in Fällen vor-
zeitiger Entlassung nach Antritt der Reise (§ 72 Abs. 2) behufs Ermittelung der
dem Schiffsmanne für die Rückreise gebührenden Heuer die Dauer der Reise
unter Zugrundelegung von Dampfscbiffsbeförderung, wie folgt, gerechnet :
bei Entlassung : -zu :
a) in einem Hafen der Nordsee oder des englischen Kanals,
der Ostsee oder der an diese angrenzenden Gewässer . . */« Monat,
b) in einem sonstigen europäischen Hafen i§ 82) I „
c) in einem aufsereuropäischcn Hafen, mit Ausnahme der unter d
genannten O/t ,»
d) in einem Hafen des Grofscn Ozeans oder Australiens . . 2 „
Mufs die Rückbeförderung ganz oder teilweise mittels Segelschiffs stattfinden,
so ist für die mittels Segelschiffs zuriickzulcgcndc Strecke das Doppelte der Dauer
der Dampfschiffsbeförderung zu rechnen.
Erfolgt in den Fällen a und b des Abs. 1 die Rückbeförderung unter aus-
schlicfslicher Benutzung der Eisenbahn, so wird die Dauer der Reise nicht in An-
satz gebracht.
Die Dauer der Rückreise wird nach Mafsgabe des Vorstehenden, bei Rück-
beförderung nach einem aufscrdeutschen Hafen unter angemessener Berücksichtigung
der Sätze a bis d, im Streitfälle vom Seemannsamtc vorläufig festgesetzt.
§ 74. Der Schiffsmann kann seine Entlassung fordern :
1. wenn sich der Kapitän einer schweren Verletzung seiner Pflichten gegen
den Schiffsmann, insbesondere durch Mifshandlung oder durch Duldung
solcher seitens anderer Personen der Schiffsbesatzung, durch grundlose
Vorenthaltung von Speise und Trank oder durch Verabreichung ver-
dorbenen Proviants, schuldig macht ;
2. wenn das Schiff die Flagge wechselt;
3. wenn nach Beendigung der Ausreise eine Zwischcnrcisc beschlossen, oder
wenn eine Zwischenrcisc beendigt ist, sofern seit dem Dienstantritte ein
oder ein und ein halbes Jahr, je nachdem das Schiff in einem euro-
päischen (§ 82) oder in einem nicht europäischen Hafen sich befindet,
verflossen ist;
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Gesetzgebung: Deutsches Reich.
4. wenn das Schiff nach einem Hafen bestimmt ist, oder einen Hafen an-
laufcn soll, der schon zur Zeit der Anmusterung durch Pest, Cholera,
oder Gelbfieber verseucht war, sofern nicht dem Schiffsmanne bei der
Anmusterung dieser Hafen und die Verseuchung mitgeteilt worden ist.
Als verseucht im Sinne dieser Vorschrift gilt ein Hafen, in dem ein Pest-,
Cholera- oder Gclbficberlierd vorhanden ist Der Anspruch auf Ent-
lassung fallt fort, sobald die Verseuchung aufgehört hat;
5. wenn der Schiffsmann beabsichtigt, sich für die Maschinisten-, Steuer-
manns- oder Sch iffer prüfung vorzubereiten oder eine ihm nachweislich
angebotene Stellung als Kapitän anzunehmen, sofern er einen geeigneten
Ersatzmann stellt und durch den Wechsel dem Schiffe kein Aufenthalt
entsteht. Ob der vorgeschlagene Ersatzmann geeignet ist, entscheidet im
Streitfall das nächste Seemannsamt.
Der Wechsel des Rheders oder Kapitäns giebt dem Schiffsmannc kein Recht,
die Entlassung zu fordern.
§ 75. Im Falle des § 74 Nr. 3 kann die Entlassung nicht gefordert werden:
1. wenn der Schiffsmann für eine längere als die daselbst angegebene Zeit
sich verheuert hat. Die Verheuerung auf unbestimmte Zeit oder mit der
allgemeinen Bestimmung, dafs nach Beendigung der Ausreise der Dienst
für alle Reisen, welche noch beschlossen werden möchten, fortzusetzen
sei, wird als Verheuerung auf solche Zeit nicht angesehen;
2. sobald die Rückreise angeordnet ist.
§ 76. Der Schiffsmann hat in den Fällen des § 74 Nr. I, 2 dieselben An-
sprüche, welche für den Fall des § 72 bestimmt sind.
In den Fällen des § 74 Nr. 3 bis 5 gebührt ihm nicht mehr, als die ver-
diente Heuer. Jedoch hat er im Falle der Nr. 4 die im § 72 bestimmten An-
sprüche, sofern bei der Anmusterung im licimatshafcn der Rheder, sein Vertreter
(§12 Abs. 2) oder der Kapitän, bei der Anmusterung in einem anderen Hafen der
Kapitän von der Verseuchung Kenntnis hatte.
§ 77. Im Auslande darf der Schiffsmann, welcher seine Entlassung fordert,
aufser in dem Falle eines Flaggen Wechsels gegen den Willen des Kapitäns erst auf
Grund einer vorläufigen Entscheidung des Sccmannsamts (§ 129) den Dienst ver-
lassen.
§ 78. Ist nach den Bestimmungen dieses Gesetzes ein Anspruch auf freie
Zurückbeförderung begründet, so umfafst er auch den Unterhalt während der Reise
sowie die Beförderung der Sachen des Schiffsmanns. Den Schiffsoffizieren ist die
Zurückbeförderung und der Unterhalt in der Kajüte zu gewähren.
Im Streitfall entscheidet über die Art der Zurückbeförderung vorläufig das
abmustemde Scemannsamt.
§ 79. Dem Anspruch auf freie Zurückbeförderung und auf Fortbczug von
Heuer für die Dauer der Zurückbeförderung wird genügt, wenn dem Schiffsmannc,
welcher arbeitsfähig ist, mit Genehmigung des Sccmannsamts ein seiner früheren
Stellung entsprechender und durch angemessene Heuer zu vergütender Dienst auf
einem deutschen Kauffahrteischiffe nachgewiesen wird, welches nach dem Rück-
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Gesetz, betreffend eine Seemannsordnung. 65 j
beförderungsliafen oder einem demselben nahe bclegencn Hafen geht; im letzteren
Kalle gebührt dem Schiffsmann eine entsprechende Vergütung für die weitere freie
Zurückbeförderung ($ 78) bis zu dem zuerst bezeichncten Hafen.
Ist der Schiffsmann kein Deutscher, so wird ein Schiff seiner Nationalität
einem deutschen Schiffe gleichgeachtet.
§ 80. In den Fällen der §§ 45, 53, 61, 64, 69, 71, 72, 76 wird die ver-
diente Heuer, sofern die Heuer nicht zeitweise, sondern in Bausch und Bogen für
die ganze Reise bedungen ist, mit Rücksicht auf den vollen Heuerbetrag nach
Verhältnis der geleisteten Dienste, sowie des etw'a zurückgelcgtcn Teiles der Reise
bestimmt. Zur Ermittelung der in den §§ 72, 73 erwähnten Heuer für einzelne
Monate wird die durchschnittliche Dauer der Reise cinschlicfslich der Ladungs-
und Löschungszeit unter Berücksichtigung der Beschaffenheit des Schiffes in Ansatz
gebracht und danach die Heuer für die einzelnen Monate berechnet. Bei Berech-
nung der Heuer für einzelne Tage wird der Monat zu 30 Tagen gerechnet.
§ 81. Der dem Schiffsmann als Lohn zugestandene Anteil an der Fracht
oder am Gewinne wird als Heuer im Sinne dies Gesetzes nicht angesehen.
§ 82. In den Fällen der $§ 66, 73, 74 sind die nicht europäischen Häfen
des Mittelländischen und des Schwarzen Meeres den europäischen Häfen glcich-
zustellen.
§ 83. Der Kapitän darf einen Schiffsmann aufserhalb des Reichsgebiets nicht
ohne Genehmigung des Seemannsamts zurücklassen. Wenn für den Fall der Zurück-
lassung eine Hilfsbedürftigkeit des Schiffsmanns zu besorgen ist, so kann die Er-
teilung der Genehmigung davon abhängig gemacht werden, dafs der Kapitän gegen
den Eintritt der Hilfsbedürftigkeit für einen Zeitraum bis zu drei Monaten Sicher-
stellung leistet.
Ist der Schiffsmann mit der Zurücklassung einverstanden und befindet sich
kein Sccmannsamt am Platze und läfst sich auch die Genehmigung eines anderen
Seemannsamts ohne Verzögerung der Reise nicht einholen, so ist der Kapitän be-
befugt, den Schiffsmann ohne Genehmigung zurückzulassen. Der Rheder bleibt in
diesem Falle für die aus einer etwaigen Hilfsbedürftigkeit des Schiffsmanns während
■der nächsten drei Monate erwachsenden Kosten haftbar.
Die Bestimmungen des § 127 werden hierdurch nicht berührt
Vierter Abschnitt.
Disziplinar-Vorschriften.
§ 84. Der Schiffsmann ist der Disziplinargewalt des Kapitäns unterworfen.
Die Ausübung der Disziplinargewalt des Kapitäns kann nur auf den ersten Offizier
des Decksdienstes und den ersten Offizier des Maschinendienstes innerhalb ihres
Dienstbereichs übertragen werden. Dieselben haben jeden Fall der Ausübung der
Disziplinargewalt binnen vierundzwanzig Stunden dem Kapitän anzuzeigen.
§ 85. Der Schiffsmann ist verpflichtet, sich stets nüchtern zu halten und gegen
jedermann ein angemessenes und friedfertiges Betragen zu beobachten.
Dem Kapitän, den Schiffsoffizieren und seinen sonstigen Vorgesetzten hat er
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Gesetzgebung : Deutsches Reich.
mit Achtung zu begegnen und ihren dienstlichen Befehlen unweigerlich Folge zu
leisten.
§ 86. Der Schiffsmann hat dem Kapitän auf Verlangen wahrhcitsgemäfs und
vollständig mitzuteilen, was ihm über die den Schiffsdienst betreffenden Angelegen-
heiten bekannt ist.
§ 87. Der Schiffsmann darf ohne Erlaubnis des Kapitäns keine Güter an
Bord bringen oder bringen lassen. Für die gegen dieses Verbot beförderten eigenen
oder fremden Güter mufs er die höchste am Abladungsortc zur Abladungszeit für
solche Reisen und Güter bedungene Fracht erstatten, unbeschadet der Verpflichtung
zum Ersatz eines erweislich höheren Schadens.
Der Kapitän ist auch befugt, solche Güter über Bord zu werfen, wenn ihr
Verbleib an Bord Schiff oder Ladung oder die Gesundheit der an Bord befindlichen
Personen gefährden oder das Einschreiten einer Behörde zur Folge haben kann.
§ 88. Die Vorschriften des § 87 finden auch Anwendung, wenn der Schiffs-
mann ohne Erlaubnis des Kapitäns Waffen oder Munition, Branntwein oder andere
geistige Getränke, oder mehr an Tabak und Tabakswaren, als er zu seinem Ge-
brauch auf der beabsichtigten Reise bedarf, an Bord bringt oder bringen läfst.
Die gegen dieses Verbot mitgenommenen Gegenstände verfallen dem Schiffe.
§ 89. Der Kapitän hat die auf Grund der Vorschriften der §§ 87, 88 ge-
troffenen Anordnungen, sobald es geschehen kann, in das Schiffstagebuch cinzu-
tragen.
§ 90. Liegt das Schiff im Hafen oder auf der Rhede, so ist der Kapitän
befugt, wenn nach den Umständen eine Entweichung zu befurchten ist, die Sachen
der Schiffsleutc bis zur Abreise des Schiffes in Verwahrung zu nehmen.
§ 91. Zur Aufrechterhaltung der Ordnung und zur Sicherung der Rcgel-
mäfsigkeit des Dienstes ist der Kapitän befugt, die geeigneten Mafsregeln zu er-
greifen. Gcldbufscn, Kostschmälcrung von mehr als dreitägiger Dauer, Einsperrung
und körperliche Züchtigung darf er jedoch zu diesem Zwecke weder als Strafe
verhängen, noch als Zwangsmittel an wenden.
Bei einer Widersetzlichkeit oder bei beharrlichem Ungehorsam ist der Kapitän
zur Anwendung aller Mittel befugt, welche erforderlich sind, um seinen Befehlen
Gehorsam zu verschaffen. Zu diesem Zwecke ist ihm auch die Anwendung von
körperlicher Gewalt in dem durch die Umstände gebotenen Mafsc gestattet. Er
darf ferner gegen die Beteiligten die geeigneten Sicherungsmafsregeln ergreifen und
sie nötigenfalls während der Reise fesseln.
Jeder Schiffsmann mufs dem Kapitän auf Erfordern Beistand zur Aufrecht-
erhaltung der Ordnung, sowie zur Abwendung oder Unterdrückung einer Wider-
setzlichkeit leisten.
Im Auslände kann der Kapitän in dringenden Fällen die Kommandanten der
ihm zugänglichen Schiffe der Kriegsmarine des Reichs um Beistand zur Aufrecht-
crhaltung der Disziplin angehen.
§ 92. Der Kapitän hat jede in Gemäfsheit der Vorschriften des § 91 ge-
troffene Mafsrcgel mit Angabe der Veranlassung, sobald es geschehen kann, in das
Schiffstagebuch cinzutragcn.
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Gesetz, betreffend eine Seemannsordnung.
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Fünfter Abschnitt.
Strafvorschriften.
§ 93- Ein Schiffsmann, welcher nach Abschlufs des Heuervertrags sich ver-
borgen halt, um sich dem Antritte des Dienstes zu entziehen, wird mit Geldstrafe
bis zu sechzig Mark bestraft.
Wenn ein Schiffcmann, um sich der Fortsetzung des Dienstes zu entziehen,
entweicht oder sich verborgen hält, so tritt Geldstrafe bis zu dreihundert Mark oder
Gefängnisstrafe bis zu drei Monaten ein.
Ein Schiffsmann, welcher mit der Heuer entweicht oder sich verborgen hält,
um sich dem übernommenen Dienste zu entziehen, wird mit der im § 298 des
Strafgesetzbuchs angedrohten Gefängnisstrafe bis zu einem Jahre belegt. Sind
mildernde Umstände vorhanden, so kann auf Geldstrafe bis zu dreihundert Mark
erkannt werden.
In den Fällen der Abs. I, 2 tritt die Verfolgung nur auf Antrag des Kapitäns
ein. Die Zurücknahme des Antrags ist zulässig.
§ 94. In den Fällen des § 93 Abs. 2, 3 verliert der Schiffsmann, wenn er
vor Abgang des Schiffes weder zur Fortsetzung des Dienstes freiwillig zurückkehrt,
noch zwangsweise zurückgebracht wird, den Anspruch auf die bis dahin verdiente
Heuer. Die Heuer und, sofern diese nicht ausreicht, auch die an Bord zurück-
gelassenen Sachen des Schiffsmanns können von dem Rheder zur Deckung seiner
Schadensansprüche aus dem Heuer- oder Dienstvertrag in Anspruch genommen
werden ; soweit die Heuer hierzu nicht erforderlich ist, wird mit ihr nach Mafsgabe
des § 132 verfahren. Dem Seemannsamte, bei welchem die Meldung von der
Entweichung erfolgt (§ 25) ist, sobald cs geschehen kann, eine Aufstellung über
den Betrag der Schadensansprüche und des Heuerguthabens einzureichen, widrigen-
falls die vorgedachte Befugnis erlischt.
§ 95. Hat der Schiffsmann sich im Auslände dem Dienste in einem der Fälle
des § 74 Nr. I, 3, 4, 5 der Vorschrift des § 77 entgegen entzogen, so tritt Geld-
strafe bis zum Betrag einer Monatsheuer ein.
§ 96. Mit Geldstrafe bis zum Betrag einer Monatsheuer wird ein Schiffsmann
bestraft, welcher sich einer gröblichen Verletzung seiner Dienstpflichten schuldig
macht.
* Als Verletzung der Dienstpflicht, die, wenn sie in gröblicher Weise erfolgt,
nach Abs. 1 strafbar ist, wird insbesondere angesehen :
1. Nachlässigkeit im Wachtdicnste ;
2. Ungehorsam gegen den Dienstbefehl eines Vorgesetzten;
3. ungebührliches Betragen gegen Vorgesetzte, gegen andere Mitglieder der
Schiffsmannschaft oder gegen Reisende;
4. Verlassen des Schiffes ohne Erlaubnis oder Ausbleiben über die fest-
gesetzte Zeit;
5. Wegbringen eigener oder fremder Sachen von Bord des Schiffes und an
Bord bringen oder an Bord bringen lassen von Gütern oder sonstigen
Gegenständen ohne Erlaubnis ;
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Gesetzgebung : Deutsches Reich.
6. eigenmächtige Zulassung fremder Personen an Bord und Gestattung de»
Anlegens von Fahrzeugen an das Schiff;
7. Trunkenheit im SchifTsdienstc ;
> 8. Vergeudung, unbefugte Veräufserung oder beiseite 'bringen von Proviant.
Gegen Schiffsoffizicrc kann die Strafe bis auf den Betrag einer zweimonatlichen
Heuer erhöht werden.
Die Verfolgung tritt nur auf Antrag des Kapitäns oder eines verletzten Schiffs-
manns ein. Der Antrag kann bis zur Abmusterung gestellt werden. Die Zurück-
nahme ist bis zur rechtskräftigen Entscheidung zulässig.
§ 97. In den Fällen der §§ 95, 96 wird, wenn der Heuer nicht monatsweise
bedungen ist, bei der Festsetzung der Geldstrafe der einer Monatsheuer ent*
sprechende Geldbetrag nach dem Ermessen des Seemannsamtes berechnet.
§ 98. Der Kapitän hat, sobald es geschehen kann, jede gröbliche Verletzung
der Dienstpflicht (§ 96) mit genauer Angabe des Sachverhalts in das Schiffstagebuch
einzutragen und dem Schiffsmanne von dem Inhalte der Eintragung unter ausdrück-
licher Hinweisung auf die Strafandrohung des § 96 Mitteilung zu machen, auch
demselben auf Verlangen eine Abschrift der Eintragung auszuhändigen.
Unterbleibt die Mitteilung, so sind die Gründe der Unterlassung im Tagebuch
anzugeben. Ist die Eintragung versäumt, so tritt keine Verfolgung ein, soweit nicht
im Falle des § 96 Abs. 2 Nr. 3 der verletzte Schiffsmann darauf anträgt.
§ 99. Beschwert sich ein Schiffsmann über ungebührliches Betragen der Vor-
gesetzten oder anderer Mitglieder der Schiffsmannschaft oder darüber, dafs das
Schiff, für welches er angeraustert ist, nicht seetüchtig ist, oder dafs die Vorräte,
welche das Schiff für den Bedarf der Mannschaft an Speisen und Getränken mit
sich Führt, ungenügend oder verdorben sind, so hat der Kapitän die Beschwerde
mit genauer Angabe des Sachverhaltes in das Schiffstagebuch einzutragen und dem
Beschwerdeführer auf Verlangen eine Abschrift der Eintragung auszuhändigen.
§ loo. Ein Schiffsmann, welcher den wiederholten Befehlen des Kapitäns,
eines Schiffsoffiziers oder eines anderen Vorgesetzten den schuldigen Gehorsam
verweigert, wird mit Gefängnis bis zu drei Monaten oder mit Geldstrafe bis zu
dreihundert Mark bestraft.
§ 101. Wenn zwei oder mehrere zur Schiffsmannschaft gehörige Personen
dem Kapitän, einem Schiffsoftizicr oder einem anderen Vorgesetzten den schuldigen
Gehorsam auf Verabredung gemeinschaftlich verweigern, so tritt gegen jeden Be-
teiligten Gefängnisstrafe bis zu einem Jahre ein. Der Rädelsführer wird mit Ge-
fängnis bis zu drei Jahren bestraft.
Sind mildernde Umstande vorhanden, so kann auf Geldstrafe bis zu sechs-
hundert Mark erkannt werden. Der Rädelsführer wird in diesem Falle mit Gefäng-
nis bis zu einem Jahre bestraft.
§ 102. Ein Schiffsmann, welcher zwei oder mehrere zur Schiffsmannschaft
gehörige Personen zur Begehung einer nach den §§ toi, I05 strafbaren Handlung
auffordert, ist gleich dem Anstifter zu bestrafen, wenn die Aufforderung die straf-
bare Handlung oder einen strafbaren Versuch derselben zur Folge gehabt hat.
Ist die Aufforderung ohne Erfolg geblieben, so tritt im Falle des § 101
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Gesetz, betreffend eine Seemannsordnung. 655
Geldstrafe bis zu dreihundert Mark, im Falle des § 105 Geldstrafe bis zu sechs-
hundert Mark oder Gefängnisstrafe bis zu einem Jahre ein.
§ 103. Ein Schiffsmann, welcher den Kapitän, einen Schiffsoffizier oder einen
anderen Vorgesetzten durch Gewalt oder durch Bedrohung mit Gewalt, oder durch
Verweigerung der Dienste zur Vornahme oder zur Unterlassung einer dienstlichen
Verrichtung nötigt, wird mit Gefängnis bis zu zwei Jahren bestraft. Sind mildernde
Umstände vorhanden, so kann auf Geldstrafe bis zu sechshundert Mark erkannt
werden. Der Versuch ist strafbar.
§ 104. Dieselben Strafvorschriften (§ 103) finden auf den Schiffsmann An-
wendung, welcher dem Kapitän, einem Schiffsoffizicr oder einem anderen Vor-
gesetzten in Ausübung seiner Dienstbefugnissc durch Gewalt oder durch Bedrohung
mit Gewalt Widerstand leistet oder den Kapitän, einen Scbiffsoffizier oder einen
anderen Vorgesetzten thätlich angreift.
§ 105. Wird eine der in den §§ 103, 104 bezcichneten Handlungen von
mehreren Schiffslcutcn auf Verabredung gemeinschaftlich begangen , so kann die
Strafe bis auf das Doppelte des angedrohten Höchstbetrages erhöht werden.
Der Rädelsführer sowie diejenigen, welche gegen den Kapitän, einen Schiffs-
offizicr oder einen anderen Vorgesetzten Gcw'altthäligkeitcn verüben, werden mit
Zuchthaus bis zu fünf Jahren oder mit Gefängnis von gleicher Dauer bestraft; auch
kann neben der Zuchthausstrafe auf Zulässigkeit von Polizeiaufsicht erkannt werden.
Sind mildernde Umstände vorhanden , so tritt Gefängnisstrafe nicht unter drei
Monaten ein.
§ 106. Ein Schiffsmann, welcher solchen Befehlen des Kapitäns, eines Schiffs-
offiziers oder eines anderen Vorgesetzten den Gehorsam verweigert, welche sich
auf die Abwehr oder auf die Unterdrückung der in den §§ 103, 104 bezcichneten
Handlungen beziehen, würd mit Gefängnis bis zu sechs Monaten oder mit Geldstrafe
bis zu dreihundert Mark bestraft.
§ 107. Mit Geldstrafe bis zu sechzig Mark oder mit Haft bis zu vierzehn
Tagen wird bestraft ein Schiffsmann, welcher
1. bei Verhandlungen, die sich auf die Erteilung eines Seefahrtsbuchs, auf
eine Eintragung in dasselbe oder auf eine Musterung beziehen, wahre
Thatsachen entstellt oder unterdrückt oder falsche vorspiegelt, um ein
Seemannsamt zu täuschen;
2. es unterläfst, sich gcmäfs g 12 zur Musterung zu stellen;
3. im Falle eines dem Dienstantritt entgegenstehenden Hindernisses cs unter-
läfst, sich hierüber gcmäfs g 1 7 gegen das Sceinannsamt auszuweisen ;
4. w’ider besseres Wissens eine auf unwahre Behauptungen gestützte Be-
schwerde gcmäfs § 99 bei dem Kapitän vorbringt ;
5. der vorläufigen Entscheidung des Seemannsamts (§ 129 Abs. 3) zuwider-
handelt.
Durch die Bestimmung des Abs. I Nr. I wird die Vorschrift des § 271 des
Strafgesetzbuchs nicht berührt.
§ 108. Wer wider besseres Wissen eine auf unwahre Behauptungen gestützte
Beschwerde über Sccuntüchtigkcit des Schiffes oder Mangelhaftigkeit des Proviants
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656
Gesetzgebung: Deutsches Reich.
bei einem Seemannsamte vorbringt (§ 58) und hierdurch eine Untersuchung veran-
lagt, wird mit Gefängnis bis zu drei Monaten oder mit Geldstrafe bis zu drei-
hundert Mark bestraf!.
Wer leichtfertig eine auf unwahre Behauptungen gestützte Beschwerde über
Seeuntüchtigkeit des Schiffes oder Mangelhaftigkeit des Proviants bei einem See*
mannsamte vorbringt und hierdurch eine Untersuchung veranlagst, wird mit Geld-
strafe bis einhundert Mark bestraf!.
§ 109. Ein Schiffsmann, welcher vorsätzlich und rechtswidrig Teile des
Schiffskörpers, der Maschine, der Takelung oder Ausrüstungsgegenstände oder Ver-
richtungen, welche zur Rettung von Menschenleben dienen, zerstört oder be-
schädigt, wird mit Geldstrafe bis eintausend Mark oder Gefängnis bis zu zwei
Jahren bestraf!.
Der Versuch ist strafbar.
Die Verfolgung tritt nur auf Antrag ein.
§ 1 10. Die Verhängung einer in diesem Abschnitt oder durch sonstige straf-
gesetzliche Vorschriften angedrohten Strafe wird dadurch nicht ausgeschlossen, dafs
der Schuldige aus Anlafs der ihm zur Last gelegten That bereits disziplinarisch
bestraft worden ist. Jedoch mufs eine Disziplinarstrafe, sowohl in dem Straf-
bescheide des Seemannsamts (§ 123), wie in dem gerichtlichen Strafurteile bei Ab-
messung der Strafe berücksichtigt werden.
§ 1 1 1. Der Kapitän, Schiffsoffizicr oder sonstige Vorgesetzte, welcher einem
Schiffsmanne gegenüber seine Disziplinargewalt mifsbraucht, wird mit Geldstrafe bis
zu eintausend Mark oder mit Gefängnis bis zu einem Jahre bestraft.
§ 112. Der Kapitän, welcher die gehörige Verproviantierung des Schiffes vor
Antritt oder während der Reise vorsätzlich unterläfst, wird mit Gefängnis bestraft,
neben welchem auf Geldstrafe bis zu eintausendfünfhundert Mark sowie auf Ver-
lust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden kann.
Ist die Unterlassung aus Fahrlässigkeit geschehen, so tritt, wenn infolge dessen
der Schiffsmannschaft die gebührende Kost nicht gewahrt werden kann, Geldstrafe
bis zu fünfhundert Mark oder Gefängnis bis zu einem Jahre ein.
§ 113. Mit Geldstrafe bis zu dreihundert Mark, mit Haft oder mit Gefängnis
bis zu drei Monaten wird bestraft ein Kapitän, welcher
1. den Verpflichtungen zuwidcrhandclt, welche ihm durch die gcmäfs § 50
Abs. 2 vom Bundesrat erlassenen Vorschriften aufcrlegt werden;
2. den Verpflichtungen zuwiderhandelt welche ihm durch die gcmäfs § 4
vom Bundesrat erlassenen Vorschriften über die Besetzung der Schiffe mit
Schiffsoffizieren aufcrlegt werden ;
3. einem Schiffsmanne grundlos Speise und Trank vorenthält oder ohne Not
verdorbenen Proviant verabreicht;
4. einen Schiffsmann, abgesehen von dem Falle des § 83 Abs. 2, im Aus-
land ohne Genehmigung des Sceinannsamts zurückläfsL
§ 114. Mit Geldstrafe bis zu cinhundcrtundfünzig Mark oder mit Haft wird
bestraft ein Kapitän, welcher
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Gesetz, betreffend eine Seemannsordnung. &$7
1. es unterläfst, für die Bekanntgabe der Vorgesetzten durch Aushang (§ 3
Abs. 4) Sorge zu tragen ;
2. es unterläfst, bei der Anheuerung dem Schiffsmanne den vorgeschriebenen
Hcucrschcin (§ 27) cinzuhändigcn ;
3. den ihm in Ansehung der Musterung obliegenden Verpflichtungen nicht
genügt, oder unterläfst, dafür zu sorgen, dafs die Musterrolle sich
während der Reise an Bord befindet;
4. bei Verhandlungen, welche sich auf eine Musterung oder eine Eintragung
in ein Seefahrtsbuch beziehen, wahre Thatsachen entstellt oder unter-
drückt, oder falsche vorspiegelt, um ein Scemannsamt zu täuschen ;
5. der Vorschrift des § 34 Abs. 3 zuwider dem Schiffsinann ohne triftigen
Grund die Erlaubnis zum Verlassen des Schiffes verweigert; die Bestrafung
tritt nur ein, wenn der Schiffsmann sie binnen drei Tagen nach der Ver-
weigerung des Urlaubs beim Seemannsamt beantragt ;
6. den Vorschriften des § 37 Abs. 2, 4 und des § 38 zuwiderhandclt ;
7. den Vorschriften der §§ 46, 48, betreffend die Auszahlung der Heuer und
der Vorschüsse, zuwiderhandclt;
8. cs unterläfst, für die Erfüllung der im § 49 vorgesehenen Obliegenheiten
Sorge zu tragen ;
9. den Vorschriften des § 50 zuwider die Mannschaft nicht ergänzt;
10. die ihm obliegende Fürsorge für das Seefahrtsbuch (g 17), für die Sachen
und für das Heuerguthaben des erkrankten oder für den Nachlafs des
verstorbenen Schiffsmanns verabsäumt (ä§ 63, 65);
11. den Vorschriften des § 64 Abs. 2, 3 zuwiderhandelt;
12. eine der in den §g 70, 89, 92, 99 vorgeschriebenen Eintragungen in das
Schiffstagebuch unterläfst ;
13. den ihm bei Vergehen und Verbrechen nach den §§ 126, 127 obliegenden
Verpflichtungen nicht genügt;
14. dem Schiffsmann ohne dringenden Grund die Gelegenheit versagt, die
Entscheidung des Scemannsamts nachzusuchen (gg 129, 130);
15. der Anordnung eines Seemannsamts wegen Vollstreckung eines Straf-
bescheids (§ 125 Abs. 2) nicht Folge leistet oder der vorläufigen Ent-
scheidung eines Scemannsamts (§ 129 Abs. 3) zuwiderhandelt;
16. cs unterläfst, dafür Sorge zu tragen, dafs die im § X 33 vorgeschriebenen
Abdrücke und Schriftstücke im Volkslogis zugänglich sind.
Durch die Vorschrift des Abs. 1 Nr. 4 wird die Vorschrift des § 271 des
Strafgesetzbuchs nicht berührt
§ II 5. Mit Geldstrafe bis zu zehn Mark oder mit einem Tage Haft wird be-
straft ein Kapitän oder ein Schiffsmann, der sich vor dem Sccmannsamtc ungebühr-
lich benimmt
§ 116. Ein Schiffsoffizier, welcher es unterläfst, geraäfs § 84 von der Aus-
übung der Disziplinargewalt binnen vierundzwanzig Stunden dem Kapitän Mitteilung
zu machen, wird mit Geldstrafe bis zu einhundertfünfzig Mark oder mit Haft
bestraft.
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Gesetzgebung : Deutsches Reich.
§ 117. Wer als Rheder, oder als Vertreter eines Rheders vorsätzlich den ge-
mäfs § 56 Abs. 2 vom Bundesrat erlassenen Vorschriften zuwiderhandelt oder den
Kapitän aufser Stand setzt, für die genügende Verproviantierung des Schiffes oder
die Mitnahme der vorschriftsmäfsigen Heilmittel zu sorgen, wird, sofern nicht in
den letzteren Fällen nach anderen Vorschriften eine schwerere Strafe verwirkt ist,
mit Geldstrafe bis zu eintausend Mark oder mit Gefängnis bis zu einem Jahre
bestraft.
Gleiche Strafe verwirkt, wer in der im Abs. I bezeichnten Eigenschaft vor-
sätzlich den gemäfs § 4 vom Bundesrat erlassenen Vorschriften über die Besetzung
der Schiffe mit Kapitänen und Schiffsoflizicrcn zuwidcrhandclt.
§ 118. Wer als Rheder, oder als Vertreter eines Rheders durch seine Anord-
nung den Vorschriften des § 37 Abs. 2, 4 und des § 38 über die Sonntagsruhe
zuwiderhandelt, wird mit Geldstrafe bis zu dreihundert Mark oder mit Haft bestraft.
§ 119. Wer als Rheder oder als Vertreter eines Rheders es unterläfst, bei
der Anheuerung dem Schiffsmannc den vorgeschriebenen Heuerschein (§ 27) cinzu-
händigen, wird mit Geldstrafe bis zu einhundertundfüntzig Mark oder mit Haft
bestraft.
§ 120. Als Rheder im Sinne der §§ u7 bis 119 gelten auch die Vorstands-
mitglieder von Aktiengesellschaften oder sonstigen durch einen Vorstand vertretenen
Handelsgesellschaften, eingetragenen Genossenschaften und juristischen Personen,
welche Rhederei betreiben.
§ (21. Die Verfolgung wegen der in den 93 bis 119 bczcichnetcn straf-
baren Handlungen findet auch dann statt, wenn die strafbaren Handlungen aufser-
halb des Reichsgebiets begangen sind.
Die Verjährung der Strafverfolgung beginnt in diesem Falle erst mit dem Tage,
an welchem das Schiff, dem der Thätcr zur Zeit der Begehung angehörte, zuerst
ein Secmannsarat erreicht.
Die Verfolgung wird nicht dadurch ausgeschlossen, dafs der Thäter ein Aus-
länder ist.
§ 122. In den Fällen des § 93 Abs. 1, 2 und der §§ 95, 96, 107, 114 bis
116, li 8, 1 19 erfolgt die Untersuchung und Entscheidung durch das Seemannsamt,
im Falle des § 93 Abs. 2 jedoch nur, wenn dieses seinen Sitz aufscrhalb des Reichs-
gebietes hat, und in den Fällen der §§ 118, 119 nur, wenn cs seinen Sitz im In-
landc hat.
§ 123. Das Seemannsamt hat den Angcschuldigten verantwortlich zu ver-
nehmen und den Thatbestand mit möglichster Beschleunigung festzustellen. Eine
Vereidigung von Zeugen findet nicht statt. Nach Abschlufs der Untersuchung ist ein
mit Gründen versehener Bescheid zu erteilen, welcher zu verkünden und dem An-
gcschuldigten im Falle seiner Abwesenheit in Ausfertigung zuzustellen ist Wird
eine Strafe festgesetzt, so ist die Dauer der für den Fall des Unvermögens an Stelle
der Geldstrafe tretenden Freiheitsstrafe zu bestimmen. Der Bescheid wirkt in betreff
der Unterbrechung der Verjährung wie eine richterliche Handlung.
Das Verfahren vor dem Seemannsamt ist gebührenfrei.
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Gesetz, betreffend eine Seemannsordnung. &S9
Im Inlande finden auf dasselbe die Vorschriften der §§ 170, 173 bis 176 des
Gerichtsverfassungsgesetzes über die Oeffentlichkcit entsprechende Anwendung.
Im Ucbrigen wird das Verfahren vor dem Seemannsamt durch Verordnung
des Bundesrats geregelt. Die Verordnung ist dem Reichstage bei seinem nächsten
Zusammentritt zur Kenntnisnahme vorzulegen.
§ 1 24. Gegen den Bescheid des Seemannsamls kann der Beschuldigte inner-
halb einer zehntägigen Frist von der Verkündigung oder der Zustellung ab auf ge-
richtliche Entscheidung antragen. Der Antrag ist bei dem Seemannsamte zu Proto-
koll oder schriftlich anzubringen. Dasselbe hat dem Antragsteller auf Verlangen
eine Bescheinigung über den Antrag zu erteilen.
Vcrläfst das Schiff vor Ablauf der Frist den Hafen, so kann der Schiffsmann
auch bei dem Kapitän zu Protokoll oder schriftlich innerhalb der Frist Einspruch
einlegen. Dem Schiffsmann ist auf Verlangen eine Bescheinigung über den er-
hobenen Einspruch cinzuhändigcn. Der Kapitän hat, sobald cs geschehen kann,
den Einspruch in das Schiffstagebuch einzutragen und den Antrag dem Sccmanns-
amte zu übersenden. Die Verjährung ruht von der Einlegung des Einspruchs bis
zum Eingänge des Antrags beim Seemannsamte.
Hat das Seemannsamt seinen Sitz im Iniande, so ist für das weitere Verfahren
dasjenige Gericht örtlich zuständig, in dessen Bezirke dieser Sitz belegen ist Hat
cs seinen Sitz im Auslande, so .ist dasjenige Gericht örtlich zuständig, in dessen
Bezirke sich der inländische Heimatshafen oder in Ermangelung eines solchen der
Registerhafen des Schiffes befindet ; fehlt es an einem hiernach zuständigen deutschen
Gerichte, so wird das Gericht von dem Reichsgericht bestimmt.
§ 125. Der Bescheid des Seemannsamts ist inbetreff der Beitreibung der
Geldstrafe vorläufig vollstreckbar.
Die Vollstreckung der Strafbescheide der inländischen Secmannsamter erfolgt
durch die landesgesetzlich hierzu bestimmten Behörden. Die Vollstreckung der von
einem Scemannsamt im Ausland erlassenen Strafbescheide erfolgt gebührenfrei durch
dieses selbst, wobei der Kapitän den auf Beitreibung der Geldstrafe gerichteten An-
ordnungen des Seemannsamts Folge zu leisten hat; die Vorschriften der §§ 811,
850 der Civilprozefsordnung über die Unpfändbarkeit von Sachen und Ansprüchen
finden entsprechende Anwendung.
Die im Absatz 2 bezeichnten inländischen Vollstreckungsbehörden haben auf-
Ersuchen auch die von einem Seemannsamt aufscrhalb ihres Amtsbereichs erlassenen
Strafbescheide gegen die innerhalb ihres Amtsbereichs befindlichen Personen zu Voll-
streckern Auf die Erledigung des Ersuchens finden die Vorschriften des Gesetzes
über den Beistand bei Einziehung von Abgaben und Vollstreckung von Vermögens-
strafen vom 9. Juni 1S95 (Rcichs-Gesetzbl. S. 256) entsprechende Anwendung.
§ 126. Begeht ein Schiffsmann, während das Schiff sich auf der See oder im
Auslande befindet, ein Vergehen oder Verbrechen, so hat der Kapitän unter Zu-
ziehung von Schiffsoffizieren und anderen glaubhaften Personen alles dasjenige genau
aufzuzeichnen, was auf den Beweis der Thal und auf deren Bestrafung Einflufs
haben kann. Insbesondere ist in den Fällen der Tötung oder schweren Körperver-
letzung die Beschaffenheit der Wunden genau zu beschreiben, auch zu vermerken.
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66o
Gesetzgebung : Deutsches Reich.
wie lange der Verletzte etwa noch gelebt hat, ob und welche Heilmittel angewendet
sind und welche Nahrung der Verletzte zu sich genommen hat.
§ 127. Der Kapitän ist ermächtigt, jederzeit die Sachen der Schiffsleute,
welche der Beteiligung an einer strafbaren Handlung verdächtig sind, zu durch«
suchen.
Der Kapitän ist ferner ermächtigt, denjenigen Schiffsmann, der sich einer der
im § 70 Nr. 5 und im § 93 Abs. 2, 3 bezeichncten strafbaren Handlungen schuldig
macht, festzunehmen, ln den Fällen des § 70 Nr. 3 ist er hierzu verpflichtet, wenn
das Entweichen des Thätcrs zu besorgen steht, ln den Fällen des § 93 Abs. 2, 3
ist von einer Einsperrung abzusehen, sofern sich das Schiff auf hoher See befindet.
Der Thäter ist unter Mitteilung der aufgenommenen Verhandlungen an das-
jenige Seemannsamt, bei welchem cs zuerst geschehen kann, abzuliefern. Wenn im
Auslande das Seemannsamt aus besonderen Gründen die Ucbcmahmc ablehnt, so
bat der Kapitän die Ablieferung bei demjenigen Seemannsamte zu bewirken, bei
welchem es anderweit zuerst geschehen kann.
In dringenden Fällen ist der Kapitän, wenn im Ausland ein Seemannsamt
nicht rechtzeitig angegangen werden kann, ermächtigt, den Thäter der fremden Be-
hörde behufs dessen Ucbcrmittelung an eine zuständige deutsche Behörde zu über-
geben. Hiervon hat er bei demjenigen Seemannsamte, bei welchem es zuerst ge-
schehen kann, Anzeige zu machen.
Sechster Abschnitt
Allgemeine Vorschriften.
§ 128. Jedes Seemannsamt ist verpflichtet, die gütliche Ausgleichung der zu
seiner Kenntnis gebrachten , zwischen dem Kapitän und dem Schiffsmannc be-
stehenden Streitigkeiten zu versuchen. Insbesondere bat das Seemannsamt, vor
welchem die Abmusterung des Schiffsmanns erfolgt, hinsichtlich solcher Streitig-
keiten einen Güteversuch zu veranstalten.
§ 129. Der Schiffsmann darf den Kapitän vor einem ausländischen Gerichte
weder strafrechtlich noch civilrcchtlich belangen, sofern gegen ihn ein Gerichtsstand
im Inlande begründet ist Handelt er dieser Bestimmung zuwider, so ist er nicht
allein für den daraus entstehenden Schaden verantwortlich, sondern er wird aufser-
dem der bis dahin verdienten Heuer verlustig.
Er kann in den Fällen, die keinen Aufschub leiden, die vorläufige Entschei-
dung des Seemannsamts nachsuchen. Die Gelegenheit hierzu darf der Kapitän ohne
dringenden Grund nicht versagen. Auch dem Kapitän steht unter denselben Vor-
aussetzungen, wie dem Schiffsmanne, die Befugnis zu, die Entscheidung des See-
mannsamts nachzusuchen.
Jeder Teil hat die Entscheidung des Seemannsamts einstweilen zu befolgen,
vorbehaltlich der Befugnis, seine Rechte vor der zuständigen Behörde geltend zu
machen.
Im Falle eines Zwangsverkaufs des Schiffes finden die Vorschriften des Abs. 1
auf die Geltendmachung der Forderungen des Schiffsmanns aus dem Ileucrvcrtrage
keine Anwendung.
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Gesetz, betreffend eine Seemannsordnung.
66 r
§ 130. Im Inlande wird der Streit zwischen dem Kapitän und dem Schiffs-
manne, welcher nach der Anmusterung über den Antritt oder die Fortsetzung des
Dienstes entsteht, von dem Scemannsamt, in dessen Bezirke das Schiff liegt, unter
Vorbehalt des Rechtsweges entschieden.
§ 131. Die nach den £§ 129, 130 getroffene Entscheidung des Seemannsamts
steht einem für vorläufig vollstreckbar erklärten Urteile gleich. Der Erteilung der
Vollstreckungsklausel bedarf es nicht Ist die zuständige Behörde angerufen oder
der Rechtsweg beschritten, so findet § der Civilprozessordnung entsprechende
Anwendung.
§ 132. Die nach den Vorschriften des fünften Abschnitts festgesetzten oder
erkannten Geldstrafen fliefsen der Seemannskasse und in Ermangelung einer solchen
der Orts- Armenkasse des inländischen Heimatshafens des Schiffes, welchem der
Thäter zur Zeit der Begehung der strafbaren Handlung angehörte, zu, insofern sie
nicht im Wege der Iamdesgesctzgcbung zu anderen ähnlichen Zwecken bestimmt
werden. In Ermangelung eines inländischen Hcimatsliafens tritt an dessen Stelle
der inländische Registerhafen ; fehlt cs auch hieran, so erfolgt die Bestimmung durch
den Reichskanzler.
g 133. Ein Abdruck dieses Gesetzes, der für das Schiff Uber Kost und Logis
geltenden Vorschriften (§ 56) und einer amtlichen Zusammenstellung der Be-
stimmungen über die Militärvcrhältnisse der seemännischen und halbseemännischen
Bevölkerung (§ 7) sowie eine Abschrift der in der Musterrolle enthaltenen Be-
stimmungen des Heuervertrags cinsehlicfslich aller N ebenbestimmungen müssen im
Volkslogis zur jcderzcitigcn Einsicht der Schiffsleute vorhanden sein.
§ 134. Die Anwendung des § I Abs. 2, des zweiten Abschnitts, der §§ 36,
45» A4r de» § 49i der §§ 59 bis 64, des § 65 Abs. 2, 3 und des § 133 auf kleinere
Fahrzeuge (Küstenfahrer u. s. w.) kann durch Verordnung des Bundesrats ganz oder
teilweise ausgeschlossen werden. Die Verordnung ist dem Reichstag bei seinem
nächsten Zusammentritt zur Kenntnisnahme vorzulcgen.
§ 135. Keine Anwendung finden:
1. auf Sccschlcpper der § I Abs. 2 und die §§ 35 bis 38;
2. auf Bergungsfahrzeuge der § I Abs. 2 und soweit diese Fahrzeuge in
Thätigkeit sind, die §§ 35 bis 38;
3. auf Hochscefischereifahrzeuge der § 36, der § 37 Abs. 2 und der § 38
Abs. I und, soweit die Mannschaft vertragsmäfsig am Gewinn beteiligt
ist, der § 1 Abs. 2.
§ 136. Soweit im Auslände nach den dortigen Gesetzen eine Verlautbarung
des Dienstvertrages oder der Beendigung des Dienstverhältnisses für die Mannschaft
deutscher Schiffe vor der ausländischen Behörde erfolgen mufs, kann der Reichs-
kanzler bestimmen, dafs die An- und Abmusterung vor dem Seemannsamt (§§ 13,
18) durch einen von diesem in die Musterrolle cinzutragenden Hinweis auf die Ver-
lautbarung vor der ausländischen Behörde ersetzt werden darf.
§ 137. Dieses Gesetz tritt am I. April 1903 in Kraft. Die Seemannsord-
nung vom 27. Dezember 1872 tritt mit demselben Tage aufscr Kraft
Archiv für so*. Geseugebuug u. Statistik. XVII. 43
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Gesetzgebung: Deutsches Reich.
§ 13S. Wenn in anderen Gesetzen auf Vorschriften verwiesen wird, welche
durch dieses Gesetz aufscr Kraft gesetzt sind, so treten die entsprechenden Vor-
schriften dieses Gesetzes an deren Stelle.
Urkundlich etc.
Gegeben Neues Palais, den 2. Juni 1902.
Gesetz, betreffend die Verpflichtung der Kauffahrteischiffe zur Mitnahme
heimzuschaffender Seeleute.
Vom 2. Juni 1902.
Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser, König von Preufsen etc.
verordnen im Namen des Reichs, nach erfolgter Zustimmung des Rundesrats und
des Reichstags, was folgt:
§ I. Jedes deutsche Kauffahrteischiff, welches von einem aufscrdcutschen
Hafen nach einem deutschen Hafen oder nach einem Hafen des Kanals, Grofs-
britanniens, des Sundes oder des Kattegats oder nach einem aufscrdcutschen Hafen
der Nordsee oder der Ostsee bestimmt ist, ist verpflichtet, deutsche Seeleute, welche
aufserhalb des Reichsgebiets sich in hilfsbedürftigem Zustande befinden oder wegen
einer nach den Reichsgesetzen strafbaren Handlung an die heimischen Behörden
abgcliefert werden sollen, behufs ihrer Zurückbeförderung nach Deutschland auf
schriftliche Anweisung des Seemannsamts gegen eine Entschädigung ({$ 5) nach
seinem Bestimmungshafen mitzunehmen. Das Gleiche gilt, wenn das Schiff nach
einem anderen aufserdeutschen Hafen bestimmt ist, von welchem aus die Weiter-
beförderung nach einem der vorbezcichnetcn Häfen erfolgen kann. Deutsche Häfen
im Sinne dieses Absatzes sind nur die Häfen des Reichsgebiets.
ln Ansehung ausländischer Seeleute, welche unmittelbar nach einem Dienste
auf einem deutschen Kauffahrteischiff aufserhalb des Reichsgebiets sich in einem
hilfsbedürftigen Zustande befinden, liegt den nach deren Heimatslande bestimmten
deutschen Kauffahrteischiffen eine gleiche Verpflichtung ob.
Zur Erfüllung dieser Verpflichtungen kann der Kapitän vom Sccmannsamte
zwangsweise angehalten werden.
§ 2. Bieten mehrere Schiffe Gelegenheit zur Mitnahme, so sind die zu be-
fördernden Seeleute durch das Seemannsamt nach Verhältnis der Gröfsc der Schiffe
und der Zahl ihrer Mannschaften auf die einzelnen Schiffe zu verteilen.
§ 3. Die Mitnahme kann verweigert werden:
1. wenn und soweit an Bord kein angemessener Platz für die Mitzunchmcnden
vorhanden ist ;
2. wenn der Mitzuhehmcndc bettlägerig krank oder mit einer die Gesund-
heit oder Sicherheit der an Bord befindlichen Personen gefährdenden ge-
schlechtlichen oder sonstigen Krankheit behaftet ist;
3. wenn und soweit die Zahl der Mitzunehmenden bei Hilfsbedürftigen ein
Vierteil, bei Straffälligen ein Sechstel der Schiffsmannschaft übersteigt,
oder mehr als ein Straffälliger mitgenommen werden soll ;
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Gesetz, betr. d. Verpflichtung d. Kauffahrteischiffe zur Mitnahme von Seeleuten. 663
4. wenn die Mitnahme nicht mindestens zwei Tage vor dem Zeitpunkte ver-
langt wird, an welchem das Schiff zum Abgehen fertig ist;
5. wenn der Hafen von einer deutschen Dampferlinie, die zur Mitnahme
vertragsmäfsig verpflichtet ist, auf der Heimreise nach Deutschland in
regelmäfsiger Fahrt angelaufcn wird.
Die Entscheidung über den Grund der Weigerung steht dem Seemanns-
amte zu.
§ 4. Während der Reise erhält der wegen Hilfsbedürftigkeit Mitgenommene
seiner Stellung entsprechend (§ 5) Kost und Logis von seiten des Schiffes.
Der wegen einer strafbaren Handlung Mitgenommene ist nach den vom See-
mannsamt zu erteilenden Weisungen zu behandeln. Die Bewachung liegt dem
Kapitän ob, sofern nicht ein besonderer Begleiter mitgegeben wird.
Der Mitgenommene ist der Disziplinargewalt des Kapitäns unterworfen.
§ 5. Als Entschädigung (§ 1) ist, in Ermangelung einer anderweitigen Verein-
barung, zu zahlen
a) bei Mitnahme Hilfsbedürftiger für jeden Tag des Aufenthalts an Bord:
1. für einen Kapitän oder einen Schiffsoffizicr 3 Mark auf Segelschiffen und
6 Mark auf Dampfschiffen ;
2. für jeden anderen Seemann 1,50 Mark auf Segelschiffen und 3 Mark auf
Dampfschiffen ;
b) bei Mitnahme Straffälliger der gewöhnliche Ucbcrfahrtspreis oder, falls ein
solcher nicht zu ermitteln ist, das Doppelte der flir die Mitnahme Hilfs-
bedürftiger aufgestellten Sätze und aufserdem, wenn ein besonderer Begleiter
nicht mitgegeben wird, eine angemessene von dem anweisenden Seemanns-
amte (§ 1) vorläufig fcstzusetzende Vergütung für die Bewachung. Für die
Bemessung dieser Vergütung kann der Bundesrat bestimmte Sätze aufstcllcn.
§ 6. Die Entschädigung wird im Bestimmungshafen durch das Seemannsamt
gegen Auslieferung der wegen der Mitnahme erteilten Anweisung (§ 1) für Rechnung
des Reichs ausgezahlt.
§ 7. Der wegen Hilfsbedürftigkeit Mitgenommene haftet für die durch die
Zurückbeförderung verursachten Aufwendungen.
Die Vorschriften, welche den Rheder oder andere Personen zur F.rstattung
solcher Aufwendungen verpflichten, werden durch dieses Gesetz nicht berührt.
Bei Mitnahme eines Straffälligen bleibt dem Reiche der Rückgriff an den
Bundesstaat Vorbehalten, dessen Behörden der Mitgenommene zur Strafverfolgung
oder Strafvollstreckung zugeführt wird.
§ 8. Wer sich der Erfüllung einer ihm nach § I obliegenden Verpflichtung
entzieht, wird mit Geldstrafe bis zu einhundertundfünfzig Mark oder mit Haft be-
straft. Für die Festsetzung der Strafe und für das weitere Verfahren kommen die
in den §§ 5, 122 bis 125 der Sccmannsordnung enthaltenen Vorschriften zur An-
wendung.
§ 9. Dieses Gesetz tritt am I. April 1903 in Kraft. An demselben Tage
tritt das Gesetz, betreffend die Verpflichtung deutscher Kauffahrteischiffe zur Mit-
43*
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Gesetzgebung : Deutsches Reich.
nähme hilfsbedürftiger Seeleute, vom 27. Dezember 1872 (Reichs-Gesetzbl. S. 432
aufser Kraft.
§ 10. Soweit in anderen Gesetzen auf Vorschriften des Gesetzes, betreffend
die Verpflichtung deutscher Kauffahrteischiffe zur Mitnahme hilfsbedürftiger Seeleute,
vom 27. Dezember 1872, verwiesen ist, treten die entsprechenden Vorschriften dieses
Gesetzes an deren Stelle.
Urkundlich etc.
Gegeben Neues Palais, den 2. Juni 1902.
Gesetz, betreffend die Stellenvermittelung für Scbiffsleute.
Vom 2. Juni 1902.
Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser, König von Prcufscn etc.
verordnen im Namen des Reichs nach erfolgter Zustimmung des Bundesrats und
des Reichstags, was folgt:
§ l. Auf die gewerbsmäfsige Stellenvermittelung für Schifislcute finden die Vor-
schriften der Gewerbeordnung insoweit Anwendung, als nicht nachstehend besondere
Bestimmungen getroffen sind.
§ 2. Wer die Stellenvermittelung für Schiffsleute gewerbsmäfsig betreiben
will, bedarf dazu der Erlaubnis der höheren Verwaltungsbehörde.
Die Erlaubnis ist zu versagen :
1. wenn Thatsachcn vorliegen, welche die Unzuverlässigkeit des Nach-
suchcnden inbezug auf den beabsichtigten Gewerbebetrieb darthun ;
2. wenn der Nachsuchende eines der im § 3 Abs. 1 bezcichneten Gewerbe
betreibt ; die Landeszentralbchördcn sind befugt, Ausnahmen von dieser
Vorschrift zuzulassen.
§ 3. Wer die Stellenvermittelung für Schiffsleute gewerbsmäfsig betreibt, darf
gewerbsmäfsige Vermietung von Wohn- und Schlafstellen, Gastwirtschaft, Schank-
wirtschaft, Kleinhandel mit geistigen Getränken, Handel mit Ausrüstungsgegenständen
für Schiffsleute und das Geschäft eines Geldwechslers oder Pfandleihers weder
selbst noch durch andere betreiben. Die Landeszentralbchördcn sind befugt, Aus-
nahmen von dieser Vorschrift zuzulassen.
Der Stcllcnvcrmittlcr darf ferner mit Gewerbetreibenden der vorbezeichncten
Art nicht dergestalt in Geschäftsverbindungen treten, dafs er sich ftir die Ausübung
seiner Vcrmitllcrthätigkeit von ihnen Vergütungen irgend welcher Art gewähren oder
versprechen läfst.
§ 4. Die den Stcllenvcrmittlcrn für Schiffsleutc zukommenden Gebühren
werden durch Taxen bestimmt, welche von den Landesregierungen oder den von
diesen bezcichneten Behörden nach Anhörung von Vertretern der Stellen Vermittler,
der Rheder und der Schifislcute festgesetzt werden.
Die Gebühr ist von dem Rheder und dem Schiffsmannc je zur Hälfte zu
zahlen ; eine cntgcgenslehcndc Vereinbarung zu Ungunsten des Schiffsmanns ist
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Gesetz, betreffend die Stellenvermittelung für Schiffslcute.
665
nichtig. Der Anspruch des Stellenvermittlcrs auf die vom Rheder zu zahlende
Hälfte erlischt, wenn der Schiffsmann seinen Dienst nicht zur festgesetzten Zeit
Antritt.
§ 5. Die Landesregierungen erlassen Vorschriften darüber, in welcher Weise
•die Stellenvermittler für Schiffsleute ihre Bücher zu führen und welcher polizei-
lichen Kontrolle Uber den Umfang und die Art ihres Geschäftsbetriebs sic sich zu
unterwerfen haben.
§ 6. Die Erlaubnis zum Gewerbebetriebe mufs zurückgenommen werden,
wenn aus Handlungen oder Unterlassungen des Inhabers die Unzuverlässigkeit des-
selben inbezug auf den Gewerbebetrieb klar erhellt.
Die Unzuverlässigkeit inbezug auf den Gewerbebetrieb ist stets anzunchmcn,
wenn der Stellenvermittler wiederholt die festgesetzte Gebührentaxe überschritten
oder sich aufser den taxmäfsigen Gebühren Vergütungen irgend welcher Art von
dem Schiffsmanne hat gewähren oder versprechen lassen, oder wenn er dem Verbot
des § 3 zuwiderhandelt.
Stellen Vermittlern für Schiffsleute, welche vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes
den Gewerbebetrieb begonnen haben, mufs derselbe untersagt werden, wenn That-
sachen vorliegen, welche die Unzuverlässigkeit des Gewerbetreibenden inbezug auf
den Gewerbetrieb darthun.
§ 7* Wegen des Verfahrens und der Behörden, welche inbezug auf die
Zurücknahme der Erlaubnis und die Untersagung des Gewerbebetriebs mafsgebend
sind, gelten die Vorschriften der §§ 20, 21 der Gewerbeordnung.
§ 8. Mit Geldstrafe bis zu dreihundert Mark oder mit Haft wird bestraft:
1. wer den Gewerbebetrieb eines Stellenvermittlcrs für Schiffsleutc ohne die
vorgeschriebene Erlaubnis unternimmt oder fortsetzt oder von den bei
Erteilung der Erlaubnis festgesetzten Bedingungen abwcicht;
2. ein Stellenvermittler für Schiffsleute, welcher
a) einen nach § 3 Abs. I ihm verbotenen Gewerbebetrieb unternimmt
oder forlsetzt, oder welcher sich von Gewerbetreibenden der dort be-
zeichnten Art für die Ausübung seiner Vermittlerthätigkeit Vergütungen
irgend welcher Art gewähren oder versprechen läfst;
b) die von der Behörde festgesetzte Taxe Überschreitet, oder sich aufser
den taxmäfsigen Gebühren Vergütungen anderer Art von dem Schiffs-
manne gewähren oder versprechen läfst;
c) es unternimmt, einen Schiffsmann zum Bruche des cingegangenen
Heuervertrags zu verleiten ;
3. ein Gewerbetreibender der im § 3 Abs. 1 bezeichnten Art, welcher es
unternimmt, einen Stellenvermittler für Schiffsleute durch Gewährung oder
Versprechung von Vergütungen irgend welcher Art zu einer den Interessen
des Schiffsmanns widerstreitenden Ausübung der Vermittlerthätigkeit zu
bestimmen.
§ 9. Mit Geldstrafe bis zu einhundertundfünfzig Mark oder mit Haff wird
bestraff.
/
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666
Gesetzgebung : Deutsches Reich.
1. ein Stcllcnverraittler fiir Schiffsleute, welcher den im § 5 bezeichneten
Vorschriften zuwiderhandelt;
2. ein Stellcnvermittler für Schiffslcute oder ein Gewerbetreibender der im
§ 3 Abs. 1 bezeichneten Art, welcher im Inlandc den von einer zu-
ständigen Behörde erlassenen Vorschriften zur Verhinderung des vor-
zeitigen Betretens einlaufender Schiffe und des Anbordbringcns von
geistigen Getränken zuwiderhandelt ;
3. der Kapitän, der im Inlandc den Vorschriften einer zuständigen Behörde,
im Auslände den Anordnungen eines Seemannsamts zuwider Stellenver-
mittler für Schiffslcute oder Gewerbetreibende der im § 3 Abs. 1 be-
zcichneten Art an Bord läfst oder an Bord duldet ;
4. der Kapitän, welcher es unterläfst, dafür zu sorgen, dafs ein Abdruck
dieses Gesetzes im Volkslogis zugänglich ist (§ 10).
In den Fällen des Abs. I Nr. 3, 4 kommen im Auslände für die Festsetzung
der Strafe und fiir das weitere Verfahren die in den §§ 5, 122 bis 125 der Sce-
mannsordnung enthaltenen Vorschriften zur Anwendung.
§ 10. F.in Abdruck dieses Gesetzes mufs auf jedem deutschen Kauffahrteischiff
im Volkslogis zur jederzeitigen Einsicht der Schiffslcute vorhanden sein.
§ II. Dieses Gesetz tritt am I. April 1903 in Kraft.
Urkundlich etc.
Gegeben Neues Palais, den 2. Juni 1902.
Gesetz, betreffend Abänderung seerechtlicher Vorschriften
des Handelsgesetzbuchs.
Vom 2. Juni 1902.
Wir Wilhelm , von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser , König von Prcufscn etc.
verordnen im Namen des Reichs, nach erfolgter Zustimmung des Bundesrats und
des Reichstags, was folgt:
Artikel I.
Die §§ 481, 547 bis 549, 553, 749 des Handelsgesetzbuchs werden durch die
nachfolgend unter denselben Ziffern angeführten Vorschriften ersetzt. Hinter § 553
werden die nachfolgend als §§ 553a, 553b bezeichneten Vorschriften eingeschaltet
§ 481. Zur Schiffsbesatzung werden gerechnet der Schiffer, die Schiffsoffizicre,
die Schiffsmannschaft sowie alle übrigen auf dem Schiffe angestellten Personen.
§ 547. Wird ein Schiffer, der für eine bestimmte Reise angcstcllt ist, ent-
lassen, weil die Reise wegen Krieg, Embargo oder Blockade, wegen eines Einfuhr-
oder Ausfuhrverbots oder wegen eines anderen Schiff oder Ladung betreffenden
Zufalls nicht angetreten oder fortgesetzt werden kann, so erhält er gleichfalls nur
dasjenige, was er von der Heuer einschlicfslich aller sonst bedungenen Vorteile bis
dahin verdient hat. Dasselbe gilt, wenn ein auf unbestimmte Zeit angcstclltcr Schiffer
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Gesetz, betr. Abänderung seerechtlich er Vorschriften des Handelsgesetzbuchs. 667
aus einem der angeführten Gründe entlassen wird, nachdem er die Ausführung einer
bestimmten Reise übernommen hat.
Erfolgt in diesen Fällen die Entlassung während der Reise, so kann der
Schiffer aufserdem nach seiner Wahl entweder freie Rückbeförderung nach dem
Hafen, wo er geheuert worden ist, oder eine entsprechende Vergütung beanspruchen.
Ein nach den Vorschriften dieses Gesetzbuchs begründeter Anspruch auf freie
Rückbeförderung umfafst auch den Unterhalt während der Reise sowie die Beför-
derung der Sachen des Schiffers.
§ 548. Wird ein Schiffer, der auf unbestimmte Zeit angcstcllt ist, aus anderen
als den in den 88 546, 547 angeführten Gründen entlassen, nachdem er die Aus-
führung einer bestimmten Reise übernommen hat, so erhält er aufser demjenigen,
was ihm nach den Vorschriften des § 547 gebührt, als Entschädigung noch die
Heuer für einen Monat und für die nach § 73 der Seemannsordnung zu berech-
nende voraussichtliche Dauer seiner Reise nach dem Rückbeförderungshafen.
§ 549. War die Heuer nicht zeitweise, sondern in Bausch und Bogen für die
ganze Reise bedungen, so wird in den Fällen der 546 bis 548 die verdiente
Heuer mit Rücksicht auf den vollen Heuerbetrag nach dem Verhältnisse der ge-
leisteten Dienste sowie des etwa zurückgclegten Teiles der Reise bestimmt. Zur
Ermittelung der Heuer für einzelne Monate wird die durchschnittliche Dauer der
Reise einschliefslich der Ladungs- und Löschungszeit unter Berücksichtigung der
Beschaffenheit des Schiffes in Ansatz gebracht und danach die Heuer für die ein-
zelnen Monate berechnet. Bei Berechnung der Heuer für einzelne Tage wird der
Monat zu 30 Tagen gerechnet
§ 553. Falls der Schiffer nach Antritt des Dienstes erkrankt oder eine Ver-
eisung erleidet, so trägt der Rheder die Kosten der Verpflegung und Heilbehand-
lung. Diese Verpflichtung erstreckt sich:
1. wenn der Schiffer wegen der Krankheit oder Verletzung die Reise nicht
antritt, bis zum Ablaufe von drei Monaten seit der Erkrankung oder Ver-
letzung ;
2. wenn er die Reise angetreten hat, bis zum Ablaufe von drei Monaten
nach dem Verlassen des Schiffes in einem deutschen Hafen, und bis zum
Abläufe von sechs Monaten nach dem Verlassen des Schiffes in einem
anderen Hafen.
Im Falle einer Verletzung hört die Verpflichtung des Rheders dem Verletzten
gegenüber auf, sobald und soweit die Berufsgenossenschaft die Fürsorge übernimmt.
Der Rheder ist berechtigt, die Verpflegung und Heilbehandlung dem Schiffer
in einer Krankenanstalt zu gewähren. Hat der Schiffer seinen Wohnsitz an dem
Orte, wo er das Schiff verlafst oder an dem Orte der Krankenanstalt, in welche er
aufgenommen werden soll, so kann die Aufnahme nur erfolgen:
1, für den Schiffer, welcher verheiratet ist oder eine eigene Haushaltung hat
oder Mitglied der Haushaltung seiner Familie ist, mit seiner Zustimmung,
oder unabhängig von derselben, wenn die Art der Krankheit Anfor-
derungen an die Behandlung oder Verpflegung stellt, welchen in der
Familie des Erkrankten oder Verletzten nicht genügt werden kann, oder
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668
Gesetzgebung : Deutsches Reich.
wenn die Krankheit eine ansteckende ist, oder wenn der Zustand oder
das Verhalten des Schiffers eine fortgesetzte Beobachtung erfordert;
I. in sonstigen Fällen unbedingt.
Ein Schiffer, der wegen Krankheit oder Verletzung aufscrh&lb des Reichs-
gebiets zurückgeblieben ist, kann mit seiner Einwilligung und der des behandelnden
Arztes oder des Seemannsamtes nach einem deutschen Hafen in eine Krankenanstalt
überführt werden. Ist der Schiffer aufserstande, die Zustimmung zu erteilen, oder
verweigert er sic ohne berechtigten Grund, so kann sie nach Anhörung eines Arztes
durch dasjenige Seemannsamt ersetzt werden, in dessen Bezirk der Schiffer sich zur
Zeit befindet. Findet die Ueberführung statt, so erstreckt sich die Verpflichtung de*
Rheders stets nur bis zum Abläufe von drei Monaten seit der Aufnahme in die
Krankenanstalt des deutschen Hafens.
Der Schiffer, welcher sich der Heilbehandlung ohne berechtigten Grund ent-
zieht und hierdurch nach ärztlichem Gutachten die Heilung vereitelt oder wesentlich
erschwert hat, verliert den Anspruch auf kostenfreie Verpflegung und Heilbehand-
lung. Uebcr die Berechtigung des Grundes, sowie über Beginn und Dauer des
Verlustes entscheidet vorläufig das Sccmannsamt.
Falls der Schiffer nicht mit dem Schiffe nach dem Heimatshafen, oder dem
Hafen, wo er geheuert worden ist, zurückkehrt, gebührt ihm ferner freie Zurückbe-
förderung (§ 547) oder nach seiner Wahl eine entsprechende Vergütung.
§ 553 a. Die Heuer, einschlicfslich aller sonst bedungenen Vorteile, bezieht
der erkrankte oder verletzte Schiffer:
wenn er die Reise nicht antritt, bis zur Einstellung des Dienstes;
wenn er die Reise angetreten hat, bis zu dem Tage, an welchem er ias
Schiff verlafst.
Der Bezug der Heuer wird während des Aufenthalts in einer Krankenanstalt \
nicht gekürzt.
Ist der Schiffer bei Verteidigung des Schiffes zu Schaden gekommen, so hat
er überdies auf eine angemessene , erforderlichenfalls von dem Richter zu be-
stimmende Belohnung Anspruch.
§ 553 b. Auf den Schiffer, welcher die Krankheit oder Verletzung durch eine
strafbare Handlung sich zugezogen oder den Dienst widerrechtlich verlassen hat,
finden die §§ 553, 553 a keine Anwendung.
§ 749- Wird ein Schiff oder dessen Ladung ganz oder teilweise von einem
anderen Schiffe geborgen oder gerettet, so wird der Berge- oder Hülfslohn zwischen
dem Rheder, dem Schiffer und der übrigen Besatzung des anderen Schiffes in der
Weise verteilt, dafs zunächst dem Rheder die Schäden am Schiffe und Betrieb*-
mehrkosten ersetzt werden, welche durch die Bergung oder Rettung entstanden sind,
und dafs von dem Reste der Rheder eines Dampfschiffes zwei Drittel, eines Segel-
schiffes die Hälfte, der Schiffer und die übrige Besatzung eines Dampfschiffes je ein
Sechstel, eines Segelschiffes je ein Viertel erhält.
Der auf die Schiffsbesatzung mit Ausnahme des Schiffers entfallende Betrag
wird unter alle Mitglieder derselben mit besonderer Berücksichtigung der sachlichen
und persönlichen Leistungen eines jeden verteilt. Die Verteilung erfolgt durch den
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Gesetz, betr. Abänderung seercchtlicher Vorschriften des Handelsgesetzbuchs. 669
Schiffer mittels eines vor Beendigung der Reise der Besatzung bekannt zu gebenden
Verteilungsplans, der den jedem Beteiligten zukommenden Bruchteil festsetzt.
Gegen den Vertcilungsplan ist Einspruch bei demjenigen Seemannsamte zu-
lässig, welches nach Bekanntgabe des Planes zuerst angegangen werden kann. Das
Sccmannsamt entscheidet nach Anhörung der Beteiligten endgültig, unter Ausschlufs
des Rechtswegs, Uber den Einspruch und eine etwaige andere Verteilung. Be-
glaubigte Abschrift der Entscheidung ist dem Rheder vom Scemannsamte mit thun-
lichster Beschleunigung mitzuteilcn.
Vereinbarungen, welche den Vorschriften der Abs. I, 2 zuwiderlaufen, sind
nichtig.
Diese Vorschriften tinden für den Fall der Bergung oder Rettung durch Ber-
gungs- oder Schleppdampfer keine Anwendung.
Artikel 2.
Dieses Gesetz tritt am I. April 1903 in Kraft.
Urkundlich etc.
Gegeben Neues Palais, den 2. Juni 1902.
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GROSSBRITANNIEN.
Die englische Fabrikgesetzgebung in den
Jahren 1878—1901.
Von
HENRY W. MACROSTY, B. A„
in London.
Zwischen den beiden Haupt-Fabrikgesetzen von 1878 und 1901
liegt ein Zeitraum von 23 Jahren, innerhalb dessen aufser den
beiden Spezialgesetzen betreffend die Baumwollfabriken von 1889
und 1897 drei Nebengesetze, 1883, 1891 und 1895, erlassen wurden.
Die im Laufe fast eines Vicrteljahrhunderts vollzogenen Aende-
rungen in Gesetzgebung und Verwaltung lassen sich am besten auf
der Grundlage des Gesetzes von 1878 ersichtlich machen. Nach-
dem dieses Gesetz die Verhältnisse der Fabriken und Werkstätten
geregelt hatte, befafste sich das Parlament damit, die den beiden
genannten Kategorien nicht zugehörenden Arbeitsstätten dem Ge-
setze zu unterwerfen und einzelnen Industrien gegenüber schärfere
Malsnahmen zu treffen. Das Gesetz von 1901, welches nicht nur
die frühere Gesetzgebung neu redigierte, sondern auch Acnde-
rungen traf, hat insbesondere die Verkürzung der Samstagarbeit
in den Textilfabriken um eine Stunde, die Erhöhung der Alters-
grenze beschäftigter Kinder auf zwölf Jahre, und neue Bestimmungen
bezüglich gefährlicher Betriebe geschaffen; es liefert aufserdem den
Beweis, dafs es der Gesetzgebung nicht gelungen ist, die Wasch-
anstalten und die Heimarbeit, zwei dunkle Punkte der britischen In-
dustrie, wirksam zu regeln. Wie sehr die gesetzlichen Vorschriften
hierdurch in Einzelheiten geändert wurden, läfst sich am besten
aus der Thatsache entnehmen, dafs von 83 zur Zeit benutzten
Formularen 60 neu sind oder seit dem Gesetze von 1878 Aende-
rungen erfuhren.
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H. VV. Maerosty, Die engl. Fabrikgesetzgebung in den Jahren 1878—1901. 67 1
Beginnen wir unsere Uebersicht mit den Bestimmungen über
Gesundheitsschutz und Sicherheit.
Das Gesetz von 1891 rief eine Umwälzung in der Zuständig-
keit dadurch hervor, dafs es die Aufsicht über die sanitären Ver-
hältnisse der Werkstätten von den Fabrikinspektoren auf die Orts-
behörden übertrug und den Staatssekretär des Innern zum Ein-
schreiten ermächtigte, falls diese versagten. Das Resultat ist nicht
ganz befriedigend, denn verschiedentlich beklagen sich die Fabrik-
inspektoren darüber, dafs die Ortsbehörden ihrer Aufgabe nicht ge-
hörig nachkoinmen. Während nach dem Gesetze von 1878 Ueber-
füllung und schlechte Ventilation der Arbeitsräume allgemein als
Zuwiderhandlung betrachtet wurde, setzte das Gesetz von 1895
ein Raumminimum von 250 Kubikfufs pro Person und von 400
für Ueberstunden fest; das Gesetz von 1901 ermächtigt den Staats-
sekretär des Innern, für jedwede Klasse von Fabriken oder Werk-
stätten ein gewisses Mals von Ventilation anzuordnen ; auch be-
seitigt das letztere einen bedenklichen Mangel des 1895 er Gesetzes
durch die Bestimmung, dafs in den Arbeitsräumen eine „verständige
Temperatur“ nicht nur zu erhalten sei, sondern dafs dies auch
durch Mittel geschehe, welche die Luft nicht verschlechtern ’).
Aufserdem trifft es Vorsorge für gehörige Entwässerung nasser
Fufsböden. Das Gesetz von 1891 ordnete an, dafs in allen vom
I. Januar 1892 ab erbauten Fabriken von den Sanitätsbehörden ge-
nehmigte Mafsnahmcn zur Rettung aus Feuersgefahr vorhanden sein
müssen, welche Vorschrift das Gesetz von 1895 auf sämtliche vom
1. Januar 1891 ab erbaute Werkstätten ausdehnt; vorausgesetzt
ist in beiden Fallen, dafs im Betriebe mehr als 40 Arbeiter be-
schäftigt sind. In allen übrigen Fabriken (und, nach dem 1895 er
Gesetz, Werkstätten) soll bezüglich der Anbringung derartiger Mafs-
nahmen im Streitfälle zwischen der Sanitätsbehörde und dem Be-
triebsinhaber schiedsrichterliche Entscheidung eintreten. Nach dem
Gesetze von 1891 müssen sämtliche Aufzüge, nicht nur jene, an
welchen jemand „vorüberkommen kann", sowie alle gefährdenden
Maschinenteile mit Schutzvorrichtungen versehen sein. Das Gesetz
von 1895 regelte die Aufstellung selbstthätiger Maschinen, und das
Gesetz von 1901 schrieb vor, dafs jeder Dampfkessel ein Sicher-
heitsventil, einen Dampf- und einen Wassermanometer haben müsse.
') Wo nichts anderes bemerkt, sind im folgenden wörtliche Anfuhrungen dem
Gesetze von 190 1 entnommen.
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672
Gesetzgebung: Grofsbritannien.
auch einmal in je 14 Monaten von einem Sachverständigen geprüft
werden soll. Das 1895 er Gesetz verbot, jugendliche Personen
(sowohl wie Kinder) mit der Reinigung im Gange befindlicher ge-
fährlicher Maschinen zu beschäftigen. Ferner ermächtigte es zur
zwangsweisen Betriebscinstellung in Fabriken oder Werkstätten,
deren Beschaffenheit sich als der Gesundheit, dem Leben oder Leib
gefährlich erwies, desgleichen zum Verbot der Benutzung einer
ebenso beschaffenen Maschine. Dasselbe Gesetz ordnete an, dals
dem Fabrikinspektor von jedem Unfall mit tödlichem Ausgange
oder mit nachfolgender Behinderung des Betroffenen, an einem der
nächsten drei Tage fünf Stunden lang in seiner gewöhnlichen Be-
schäftigung thätig zu sein, Meldung erstattet werden müsse. Es
unterwarf dieser Vorschrift auch Werkstätten, in denen nur männ-
liche Erwachsene beschäftigt werden, und ermächtigte den Staats-
sekretär des Innern zur förmlichen Untersuchung jeden Unfalls.
Eingehendere Bestimmungen hierüber trifft das Gesetz von 1901.
Was alsdann die Arbeitszeit anlangt, so ist zunächst zu
bemerken, dafs jetzt Frauen, jugendliche Personen und Kinder in
Textilfabriken in derselben Weise beschäftigt werden dürfen, wie
nach dem Gesetze von 1878, mit der Ausnahme, dafs die Samstags-
arbeit eine Stunde weniger beträgt, wodurch die gesamte wöchent-
liche Arbeitszeit für jugendliche Personen und Frauen auf 55 Stunden
festgesetzt wird. Diese Aenderung, welche das Gesetz von 190t
einführt, stiefs bei den Unternehmern auf heftigen Widerspruch,
welche vorgaben, dafs die männlichen Arbeiter, — deren Arbeits-
zeit selbstverständlich gleichzeitig mit der ihrer weiblichen Arbeits-
genossen verkürzt werden müsse — lediglich eine Stunde zum Fufs-
ballspiel herausschlagen wollten. Demgegenüber wurde jedoch
hervorgehoben, dafs viele Frauen an Handwerker in anderen Be-
rufen verheiratet seien, die sehr darunter litten, dafs ihre Frauen
am Samstag eine Stunde länger als sic selbst arbeiten müfsten.
In Nicht-Textilfabriken und -Werkstätten wurde die früher ledig-
lich als Ausnahme zugelassene Arbeitszeit von 8 Uhr morgens bis
8 Uhr abends durch das 1895 er Gesetz zur Regel erhoben. Wurde
eine Frau oder eine jugendliche Person an irgend einem Tage der
Woche nicht über acht Stunden beschäftigt, und ist dem Fabrik-
inspektor Meldung erstattet, so erlaubt das Gesetz von 1891
Samstagbeschäftigung von 6 Uhr morgens bis 4 Uhr nachmittags
abzüglich zweier Stunden Essenspause. Für Werkstätten, in denen
nur Erwachsene beschäftigt werden, soll nach dem Gesetze von
»
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II. W. Macrosty, Die engl. FabrikgeseUgebung in den Jahren 1878 — 1901. 673
1891 die Arbeitszeit der Frauen eine näher bestimmte Periode von
12 Stunden zwischen 6 Uhr morgens und io Uhr abends, abzüg-
lich I ’/* Stunden Essenspause, und Samstags eine näher bestimmte
Periode von 8 Stunden zwischen 6 Uhr morgens und 4 Uhr vor-
mittags abzüglich '/, Stunde Essenspause betragen.
Nach dem Gesetze von 1895 darf ein Kind an einem Tage,
während dessen es innerhalb einer Fabrik oder Werkstätte be-
schäftigt ist, aufscrhalb der Fabrik oder Werkstätte in deren Be-
triebe nur während der zulässigen Arbeitszeit beschäftigt werden.
Die gleiche Vorschrift findet Anwendung auf Frauen und jugend-
liche Personen, wenn sie in Fabriken oder Werkstätten sowohl vor
als nach dem Mittagessen beschäftigt werden. Hierunter fällt auch
die Beschäftigung in einem Laden und das Mitnehmen von Arbeit
nach Hause.
Ueberstunden zur Bewältigung dringender Arbeit sind durch
das Gesetz von 1895 jugendlichen Personen und in Textilfabriken
beschäftigten Frauen nicht mehr gestattet; auch beträgt nach
demselben Gesetz die höchste Zahl der Ueberarbeitstagc für Frauen
in Nichttextilfabriken und -Werkstätten gegen früher fünf nur noch
drei Tage wöchentlich und gegen 48 nur noch 30 Tage jährlich.
Von diesem Privileg wird nach Aussage der Fabrikinspektoren in
ausgiebiger Weise Gebrauch gemacht, jedoch selten dort, wo es für
den Fäll des Verderbs von Stoffen durch Wettcreinfliisse zuge-
lassen ist. In dem Flachsschwingbctriebe und der Türkischrot-Färberei
kamen nach den Berichten während der sechs Jahre von 1895 — 1900
keine Ueberstunden vor, im Seilereibetrieb im Freien 24 im Jahre
1895 und 4 in den Jahren 1896—1900, in der Bleicherei im Freien
168 im Jahre 1895, 8 1896 — 1900. Die Gestattung von Ueber-
stunden behufs Fertigstellung von Arbeiten im Kattundruck, im
Eisenhüttenbetricbe, in Papierfabriken und Gielscrcien ist gleichfalls
toter Buchstabe. Die Ueberbeschäftigung von F'rauen in der In-
dustrie der I'ruchtkonserven, Fischkonserven oder -räucherei, und
in der Herstellung kondensierter Milch wurde durch das Gesetz
von 1895 von 96 Tagen auf 60, und durch das Gesetz von 1901
auf wöchentlich drei Tage und insgesamt 50 Tage herabgesetzt.
Als auffällig verdient hierbei hervorgehoben zu werden, dafs sich
die Fabrikgesetze mit den Arbeiten, wie sie zum Abbringen von
Fischen aus Booten oder bei der Ankunft von Früchten in der
Fabrik behufs Verhinderung deren Verderbs erforderlich sind, über-
haupt nicht befassen. Die Fabrikinspektoren berichten, dafs grofse
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674
Gesetzgebung: Großbritannien.
Firmen Ueberstunden sogar in der Marmcladefabrikation vermeiden,
wo doch das Material sehr leicht verderben kann. Man hat heraus-
gefunden, dafs Ueberstunden die Arbeitskräfte des Unternehmers
schädigen, und dafs beispielsweise im Schneidergewerbe die während
der Nachtstunden verrichtete Arbeit am nächsten Morgen nochmals
gethan werden mufs. Das Gesetz von 1901 ermächtigt den Staats-
sekretär des Innern, für die Beschäftigung von Frauen und jugend-
lichen Personen in Molkereien besondere Vorschriften zu erlassen
und ihre Beschäftigung an Sonn- und Feiertagen für nicht länger
als 3 Stunden zu gestatten, „vorausgesetzt, dafs diese Regelung
keine Verlängerung der nach dem gegenwärtigen Gesetze zulässigen
täglichen oder wöchentlichen Höchstzahl der Beschäftigungsstunden
einräumt.“ Eine bezügliche Sonderbestimmung ist in Vorbereitung.
Endlich mufs bemerkt werden, dafs die Bestimmung des Gesetzes
von 1895, nach welcher der Staatssekretär des Innern anordnen
kann, „dafs verschiedene Zweige oder Betriebsabteilungen, welche
in derselben Fabrik oder Werkstätte eingerichtet sind, für sämtliche
oder irgend einen der Zwecke der Fabrikgesetze so behandelt
werden sollen, als seien sie verschiedene Fabriken oder Werk-
stätten“, dort, wo sie Anwendung fand, die Durchführung des Ge-
setzes nur erschwerte.
Das Beschäftigungsalter für Kinder wurde durch das Gesetz
von 1901 auf zwölf Jahre erhöht, und genügt ein 13 jähriges Kind
den vom Staatssekretär und dem Unterrichtsamt festzustellenden
Anforderungen in Bezug auf Kenntnisse und Schulbesuch, so kann
es volle Zeit beschäftigt werden. Diese Anforderungen sind 350
Schulbesuche jährlich (wobei Vormittag- und N’achmittagsbesuche
besonders berechnet werden) oder das Absolvieren der 5. Stufe.
Auch Ortsstatuten lokaler Behörden sind zu beobachten, und weichen
sic von den allgemeinen Vorschriften ab, so gelten die schärferen
Bestimmungen.
Durch Gesetz von 1895 wurde die Beschäftigung von Frauen
innerhalb vier Wochen nach ihrer Niederkunft verboten.
Wir gelangen nunmehr zur Rubrik der „gefährlichen und
gesundheitsschädlichen Industrien“. §79 des Gesetzes
von 1901 bestimmt: „Gewinnt der Staatssekretär die Ueberzeugung,
dafs irgend eine Industrie, Maschineneinrichtung, Betriebsanlage, ein
Verfahren, oder eine Handarbeit, welche in Fabriken oder Werk-
stätten erforderlich sind, der Gesundheit gefährlich oder schädlich,
oder leibes- oder lebensgefährlich ist, entweder überhaupt oder
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H. W. Macrosty, Die engl. Fabrikgesetzgebung in den Jahren 1878 — 1901. 675
lediglich für Frauen, Kinder oder eine andere Kategorie von Per-
sonen, so kann er diese Industrie, Maschincncinrichtung, Betriebs-
anlage, das Verfahren oder die Handarbeit als gefährlich be-
zeichnen, und es kann alsdann der Staatssekretär im Rahmen der
Bestimmungen des gegenwärtigen Gesetzes Vorschriften erlassen,
welche ihm thunlich erscheinen, und seines Erachtens zur Be-
seitigung der vorliegenden Mifsstände geeignet sind.“
„Sondervorschriften" für gefährliche Industrien wurden erstmals
durch das Gesetz von 1891 eingeführt, und zwar in wesentlich den
gleichen Ausdrücken, wie vorstehend angeführt, aber mit dem Vor-
behalt, dals das Gesetz keine Anwendung finden solle auf „Haus-
werkstätten", oder Werkstätten in einem Wohnhause, wo lediglich
Mitglieder derselben Familie beschäftigt sind. Indessen ist das Ver-
fahren in der Aufstellung von Vorschriften in wesentlichen Einzel-
heiten geändert worden. Die Vorschriften sind zu veröffentlichen,
es besteht eine Einwendungsfrist von 21 Tagen, sodann findet unter
Leitung eines vom Sekretär des Innern ernannten Fachmanns eine
öffentliche Untersuchung statt. Es kann Beweis durch Eid er-
hoben werden, und es können sich die Parteien durch Anwälte ver-
treten lassen. Sind die Vorschriften endgültig festgestellt, so müssen
sie vierzig Tage lang dem Parlament unterbreitet werden, innerhalb
welcher Zeit jedes Haus sämtliche oder irgendwelche einzelne Vor-
schriften durch Beschlufs beseitigen kann. Nach dem Gesetze von
1891 konnte ein P'abrikinhaber verlangen, dals die Vorschriften der
schiedsrichterlichen Entscheidung unterliegen sollten; der Inhaber
einerseits und der Sekretär des Innern andererseits wählten je einen
Schiedsrichter, und die beiden Schiedsrichter einen Obmann, welcher
für den Fall ihrer Uneinigkeit zu entscheiden hatte. Diese Pint-
scheidung des Obmanns war eine endgültige. Auf diese Weise blieb
dem Staatssekretär unmittelbares Einschreiten und Verantwortlichkeit
erspart, es entstanden Verzögerungen, und der Obmann erachtete
es in der Regel als seine Pflicht, einen Vergleich der Parteien zu-
stande zu bringen. Jetzt bleibt dem Staatssekretär und seinem
technischen Stab volle Gewalt und Verantwortlichkeit; die Ergeb-
nisse der öffentlichen Untersuchung dienen ihm als Anhalt, binden
ihn aber nicht. Die Vorschriften können auf sämtliche Fabriken
oder Werkstätten einer Industrie Anwendung finden, oder sie können
eine namentlich bezeichnete Gattung ganz oder bedingungsweise
ausnehmen. Sie können ,,a) die Beschäftigung aller Personen oder
einer Klasse Personen in einer Industrie, Maschineneinrichtung, Be-
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676
Gesetzgebung: Grofsbritannien.
triebsanlage, einein Verfahren oder einer Handarbeit, die als ge-
fährlich bezeichnet sind, verbieten, oder die Beschäftigungszeit
ändern oder beschränken, und b) die Benutzung eines Stoffes oder
Verfahrens verbieten, einschränken oder beaufsichtigen, und c) irgend-
welche in diesem Gesetze (§ 3) enthaltene Sondervorschriften für
irgend eine Gattung von Fabriken oder Werkstätten abändern oder
ausdehnen.“ Diese Ermächtigungen sind neu. Die Vorschriften
sind in jeder Fabrik oder Werkstätte auszuhängen und jedem Ar-
beiter, der darum ersucht, einzuhändigen. Zuwiderhandlungen seitens
des Inhabers, Eigentümers oder Leiters werden mit Geldstrafe bis
zu £ IO, und bis zu £ 2 für jeden weiteren Tag der Zuwider-
handlung nach erfolgter Ueberführung geahndet. Andere Personen
unterliegen einer Geldstrafe bis zu £ 2, wobei der Inhaber gleich-
falls bis zu £ 10 bestraft wird, falls er nicht beweist, dafs er für
die Uebertretung nicht haftbar ist. Die Vorschriften können auch
Inhabern, die keine Arbeiter beschäftigen, oder Eigentümern von
Mietsfabriken Verpflichtungen auferlegen. Aerzte, welche Patienten
behandeln, die an Blei-, Phosphor-, Arsenik- oder Quecksilberver-
giftung, oder Karbunkclgeschwüren leiden, und sich diese Erkran-
kungen in einer Fabrik oder Werkstätte zugezogen haben, sind ver-
pflichtet, hiervon Meldung an den Ober-Fabrikinspektor zu erstatten.
Desgleichen hat der Inhaber von allen derartigen, in Fabriken oder
Werkstätten vorkommenden Erkrankungen dem Bezirksinspektor
und Amtschirurgen Anzeige zu machen. Auch für andere Krank-
heiten kann der Staatssekretär diese Meldepflicht anordnen. Wo
Blei, Arsenik oder andere giftige Substanzen verwendet werden,
sind geeignete Wascheinrichtungen anzubringen. Wo „ein Ver-
fahren Anwendung findet, bei welchem Staub oder irgendwelche
Gase, Dämpfe, oder andere Verunreinigungen erzeugt, und von den
Arbeitern in nachteiligem Mafse eingeatmet werden“, kann der In-
spektor das Anbringen von Ventilationen oder anderen mechani-
schen Lüftungseinrichtungen verlangen. Diese letzteren Bestim-
mungen sind aus dem Gesetze von 1895 übernommen. § 75, Abs. 2,
welcher vorschreibt, dafs sich die Arbeiter in den Essenspausen
nicht in Räumen aufhalten dürfen, wo Blei, Arsenik oder andere
giftige Substanzen derart verwendet werden, dafs sie Staub oder
Dünste erzeugen, ist teils neu, teils entstammt er einer Verfügung
aus dem Jahre 1882.
Sondervorschriften gelten jetzt für die Herstellung doppelchrom-
saurer Salze, chemische Fabriken, Töpfer- und Porzellanfabriken,
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H. W. Macrosty, Die engl. Fabrikgesetzgebung in den Jahren 1878 — 1901. 677
Fabriken elektrischer Akkumulatoren, das Emaillieren von eisernem
Geschirr, die Herstellung von Explosivstoffen (Schiefsbenzol), Flachs-
spinnereien und -Webereien. Bleiwerke (Bleirot, Bleiorange, Bleivveifs
und Bleigelb), Bleiarbeit, Werke, in denen chromsaures Bleioxyd
Verwendung findet, (Gclbphosphor- oder Wcifsphosphor-)Streichholz-
fabriken, Mal- und Farbwerke und Anstalten fiir Arsenikgewinnung,
für das Verzinnen und Emaillieren von gufseisernem Geschirr,
Mctallgeschirr und Kochgerät, die Fabrikation kohlensauren Wassers,
die Feilenhauerei, das Wollkämmen und -sortieren und für Wand-
tapetenfabriken.
Es ist hier besonders hervorzuheben, dafs der Staatssekretär
des Innern durch das Gesetz unumschränkt befugt ist, irgendwelche
Betriebe in der ihm geeignet erscheinenden Weise zu regeln. Sein
Einschreiten ist allein dadurch bedingt, dafs das Parlament inner-
halb einer 40 tägigen Frist sich nicht einmischt, eine Einschrän-
kung, welche die grofsen gesetzgebenden Körpern eigentümliche
Schwerfälligkeit in der Regel hinfällig macht.
Ein weiterer Gegenstand der englischen Fabrikgesetzgebung sind
die M i e t s f a b r i k e n (tenement factories). Man versteht hierunter
„eine Fabrik, in welcher Maschinentriebkraft nach verschiedenen
Teilen desselben Gebäudes, das verschiedene Personen zwecks Be-
triebes eines gewerblichen Verfahrens oder eines Handwerkes inne-
haben, dergestalt geliefert wird, dafs diese Teile nach dem Gesetze
besondere Fabriken darstellen, und wobei . . . sämtliche innerhalb
desselben Grundstückes oder derselben Umfriedigung gelegene Ge-
bäude als ein Gebäude behandelt werden" (149). Derartige Miets-
fabriken kommen namentlich im Sheffielder Messerschmiedegcwcrbe
vor, wo der Eigentümer eines Gebäudes seine Räume an ver-
schiedene Personen vermietet und ihnen Triebkraft und Triebwerk
liefert. Die Mieter sind meist ganz arme Leute, welche völlig aufser-
stände sind, die in ihrem gefährlichen, stauberzeugenden Gewerbe
erforderlichen Schutzvorrichtungen zu beschaffen; auch hat die Er-
fahrung gezeigt, dafs es thöricht wäre, ihnen gegenüber die Durch-
führung der gesetzlichen Vorschriften zu versuchen. Das Gesetz
von 1895 half hier dadurch, dafs es den Eigentümer für die sani-
tären Verhältnisse, Lüftung und Ueberfullung haftbar machte, des-
gleichen für das Fehlen von Schutzvorrichtungen an Maschinen, für
das Tünchen und Waschen der Räume, ausgenommen dort, wo diese
einen einzigen Mieter überlassen sind, für „das Vorhandensein von
Abzugsrohren oder anderer Vorkehrungen, wie sie für die Thätig-
Archiv für soa. Gesetzgebung u. Stattslik. XVU. 44
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6;8
Gesetzgebung : Grofsbritannien.
keit des Ventilators oder anderer Mittel“ zur Beseitigung von Gasen,
Staub u. s. w. erforderlich sind, für das Anbringen von Bekannt-
machungen bezüglich der Arbeitszeiten, Essenspausen und der Art
der Beschäftigung von Kindern. Verfügungen, betreffend die
Schliefsungen gefahrdrohender Räumlichkeiten, sind an den Eigen-
tümer zu erlassen. Der Eigentümer einer Mietsfabrik mit Schleiferei-
betrieb haftet für gehörige Instandhaltung der Ketten, für gehörige
Schutzvorrichtungen an VVellentransmissionen, Riemenscheiben und
Trommeln, für die Beschaffung von Einrichtungen zur Beseitigung
des Schmutzes, und, in nach dem I. Januar 1896 erbauten Räumen,
für das Vorhandensein des vorschriftsmäfsigen Abstandes für jeden
Schleifstein. Das Gesetz von 1901 hob die Bestimmung auf, dafs
die vorstehenden Anordnungen nicht auf solche Inhaber von Teilen
einer Fabrik Anwendung finden sollen, die jährlich mehr als £ 200
Miete zahlen ; auch ermächtigte cs den Staatssekretär des Innern,
zu verfügen, dafs in derartigen Fabriken, falls sie zur Baumwoll-
weberei benutzt würden, der Eigentümer für die Ventilation und
für die Befolgung der Vorschriften über die Feuchtigkeit der Luft
verantwortlich sein solle.
Waschanstalten waren bis zum Jahre 1895 allein den sani-
tären Vorschriften des Gesetzes über die öffentliche Gesundheits-
pflege unterworfen. In diesem Jahre wurden sie zum ersten Male
einem Fabrik- und Werkstättengesetz eingefügt, jedoch nur als eine
besondere Kategorie. Da dieser Industriezweig sich in einem
Uebergangsstadium von der Handarbeit zur Fabrikindustrie befindet,
und in grofsem Umfange von Wohlthätigkeitsanstalten und armen,
zu Hause arbeitenden Frauen ausgeübt wird, wurden die Versuche
eines staatlichen Eingreifens lebhaft bekämpft. In der That haben
die Gegner „staatlicher Einmischung in die Freiheit des Individuums“
hier ihre letzte Schlacht geschlagen und mit Unterstützung der an
der Unabhängigkeit der Klosterwäschereien interessierten irischen
römisch-katholischen Mitglieder des Parlaments bisher ein ernsthaftes
Vorgehen der Gesetzgebung verhindert. Indessen ist auf diesem
Gebiete eine Regelung dringend nötig, denn in London allein ar-
beiten von 50537 beschäftigten Personen nur 23 Proz. zu Hause, und
Dutzende kleiner Wäschereien befinden sich in Wohnhäusern, die
zu diesem Zwecke gänzlich ungeeignet und die mit einem Stabe
der Handhabung von Maschinen unkundiger Leute besetzt sind. Der
Gesetzentwurf von 1 895 unterstellte die Waschanstalten im allgemeinen
den Fabrikgesetzen, allein der oben angedcutete Koinpromifs hin-
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H. W. Macrosty, Die engl. Fabrikgesetzgebung in den Jahren 1878-1901. 679
derte eine einschneidende Regelung. Im Jahre 1901 stellte die Re-
gierung wiederum die Forderung, den Staatssekretär des Innern
zur Anwendung der Fabrikgesetze auf die Waschanstalten mit oder
ohne Abänderungen zu ermächtigen, kam aber damit nicht vor-
wärts. „Inbezug auf die Vorschriften über den Schutz der Gesund-
heit und die Sicherheit, Unfälle, Schulunterricht der Kinder, An-
zeigen über die Eröffnung einer Fabrik oder Werkstätte, das An-
bringen von Auszügen aus den Gesetzen und von Bekanntmachun-
gen, und die in diesen Bekanntmachungen mitzuteilenden Gegen-
stände (soweit sic auf Waschanstalten zutreffen), Zuständigkeiten
der Inspektoren, Strafen und Strafverfahren" gelten Waschanstalten
als Fabriken oder als Waschanstalten, je nachdem eine Triebkraft
gebraucht wird oder nicht. Dagegen treten an Stelle der Vor-
schriften der Fabrikgesetze über die Arbeitszeiten und Essens-
pausen folgende Sonderbestimmungen :
(1) „Auf jede Waschanstalt, die in gewerblicher Weise und in
Gewinnabsicht betrieben wird, sollen folgende Vorschriften An-
wendung finden:
a) Die Beschäftigungsdauer, ausschließlich der Essenspausen und Niclflan-
wcscnhcil an der Arbeitsstätte , darf innerhalb 24 aufeinanderfolgender
Stunden für Frauen vierzehn, für jugendliche Personen zwölf, und für
Kinder zehn Stunden nicht überschreiten, desgleichen innerhalb einer
Woche insgesamt sechzig Stunden für Frauen und jugendliche Personen
und dreifsig Stunden für Kinder, abgesehen von l'cberstunden, soweit sic
Frauen gestattet sind.
b) Frauen, jugendliche Personen oder Kinder dürfen ununterbrochen hinter»
einander nicht länger als fünf Stunden ohne eine F.ssenspause von min-
destens einer halben Stunde beschäftigt werden.
c) Frauen, jugendlichen Personen und Kindern, die in der Waschanstalt be-
schäftigt werden, sind die gleichen Feiertage zu gestatten, wie sic Frauen
jugendlichen Personen und Kindern, welche in einer Fabrik oder Wcrk-
stattc arbeiten, nach dem gegenwärtigen Gesetze erlaubt sind.
d) Die in der Waschanstalt anzubringendc Bekanntmachung soll die Arbeits-
zeiten und die Fssenspauscn genau angeben, jedoch dürfen die Arbeits-
zeiten und die Essenspausen vor Beginn der Beschäftigung an jedem Tage
anders festgesetzt werden.“
In mit Triebkraft ausgestatteten Waschanstalten müssen behufs
Regelung der Temperatur und Beseitigung der Dämpfe Ventilatoren
oder „andere geeignet beschaffene Vorrichtungen“ im Gebrauche
sein; ferner dürfen sich die Plättöfen nicht im Plättraume befinden,
Gasöfen, welche schädliche Ausdünstungen ausstrahlen, sind ver-
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68o
Gesetzgebung : Grofsbritannien.
boten, auch „sind die Fufsböden in guter Verfassung zu erhalten
und mit Entwässerungsvorrichtungen zu versehen, welche dem
Wasser freien Ablauf gestatten“. Endlich sind Wohlthätigkeits-
anstalten, welche aus der Arbeit solcher Frauen Gewinn ziehen,
deren sittliche Eigenschaften sic bessern, von der Beaufsichtigung
durch weibliche Fabrikinspektoren ausgenommen, obwohl sich kein
stichhaltiger Grund für diese Ausnahme denken läfst.
(2) „In Ueberstunden dürfen in Waschanstalten arbeitende Frauen
unter folgenden Bedingungen beschäftigt werden:
a) Frauen dürfen nicht über vierzehn Stunden täglich beschäftigt werden, und
b) Die Ueberzeit darf an einem Tage nicht mehr als zwei Stunden be-
tragen ; und
c) In Ueberstunden darf an nicht mehr als drei Tagen wöchentlich, oder
mehr als dreifsig Tagen jährlich gearbeitet werden, und
d) Ks sind die Vorschriften des § 60 des gegenwärtigen Gesetzes bezüglich
der Bekanntmachungen zu beobachten. (D. h., der Unternehmer hat sieben
Tage vorher dem Inspektor und den Angestellten von seiner Absicht, in
Ueberstunden arbeiten zu lassen, Kenntnis zu geben.)
„Das Gesetz findet keinerlei Anwendung auf Waschanstalten, in welchen ledig-
lich 'beschäftigt werden :
a) Insassen eines Gefängnisses, einer X.wangserziehungs- oder Besserungs-
anstalt oder eines anderen Instituts, welches zur Zeit gesetzlich einer an-
deren Aufsicht untersteht, als jener der Fabrikinspektoren ; oder
b) Insassen einer Anstalt, die in guter Absicht zu frommen oder wobl-
thätigen Zwecken betrieben wird ; oder
c) Mitglieder derselben Familie, die in der Waschanstalt wohnen, oder wenn
daselbst höchstens zwei anderwärts wohnende Personen beschäftigt werden.'4
Die dritte Ausnahme entzieht einen der schlimmsten Fälle der
Beaufsichtigung. Es ist hier keine ärztliche Bescheinigung not-
wendig, Sonntags- und Nächtarbeit sind gestattet, die Essenspausen
brauchen nicht eingehalten zu werden, die Beschäftigungsdauer kann
sich tagtäglich und für jeden Arbeiter ändern. Ohne Ueberstunden
darf eine Frau oder ein 13 oder 14 jähriges Mädchen unter Hinzu-
rechnung von 2 Stunden Essenspausen von 8 Uhr früh bis Mitter-
nacht an zwei Wochentagen, von 8 Uhr früh bis 8 Uhr abends an
zwei anderen Wochentagen, und an Montagen und Samstagen (die
hergebrachten kurzen Arbeitstage) von 10 Uhr morgens bis 8 Uhr
abends bezw. von 8 Uhr früh bis Nachmittag arbeiten. Wer mit
der Geschichte der Fabrikgesetzgebung vertraut ist, wird erkennen,
dafs somit eine wirksame Aufsicht über die Waschanstalten unmög-
lich ist, und es wird dies auch alljährlich durch die Berichte de
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H. W. Macrosty, Die engl. Fabrikgesetzgebung in den Jahren 1878 — 1901. 68l
Fabrikinspektoren seit 1895 bestätigt. „Eine 68 ständige Arbeits-
zeit nach Abzug der Essenspausen ist etwas ganz gewöhnliches,
und zwar für junge 14jährige Mädchen“, sagt ein Inspektor.1)
Folgende fachkundige Kritik des Fräulein Paterson, einer der Lon-
doner Fabrikinspektorinnen, verdient als allgemeine Würdigung der
Art und Weise, wie Gesetze gemacht werden, besondere Hervor-
hebung an dieser Stelle. *) „Formulare und Bekanntmachungen sind
stets wichtig, ganz besonders aber hier weit mehr als in anderen
Arbeitsstätten, und der Inspektor mufs in der Lage sein, wenn er
gestattet, die Arbeitszeit dem jeweiligen Bedürfnis anzupassen, auf
strenge Einhaltung der Vorschriften über die Bekanntmachungen in
der Arbeitsstätte zu bestehen. Man kann mit Sicherheit behaupten,
dafs man in 3 von 5 Handwäschereien mit Leuten zu thun hat,
welche nicht soweit denken können, dafs selbstverständlich die
schriftlichen Festsetzungen der Arbeitszeiten um so wichtiger sind,
je öfter diese wechseln. Fis ist doch gewifs selbst für eine Person
mit beschränktem Gesichtskreise nicht schwer, einzusehen, was bei-
spielsweise die Vorschrift bedeutet, dafs jemand von Montag bis
Freitag nicht vor 8 Uhr morgens oder nach 8 Uhr abends arbeiten
darf, und dafs die Arbeitszeit an Samstagen nur von 8 Uhr morgens
bis 4 Uhr nachmittags dauern soll. Indessen, die Bestimmungen für
Waschanstalten mit ihrer Strenge einerseits und ihrer Nachgiebig-
keit andererseits werden einfach nicht verstanden. So ist z. B. für
die gehörige Durchführung des Gesetzes wesentlich, dafs die in der
Arbeitsstätte angebrachte Bekanntmachung nicht nur die tägliche,
sondern auch die wöchentliche Beschäftigungszeit angeben mufs,
dafs, wenn zwei Stunden, sagen wir, die von .8 — 10 Uhr abends,
zur Überstundenarbeit bestimmt werden, diese zwei Stunden nicht
in den gewöhnlichen Arbeitstag mit eingerechnet werden dürfen.
Aber es ist mir bis jetzt noch nicht gelungen, den Inhabern kleiner
Wäschereien dies hinlänglich klar zu machen. Im Drange, schmutzige.
Wäsche herein- und gewaschene hinauszubringen, schreiben sie bei-
spielsweise fortgesetzt als Arbeitsstunden die Zeit von 9 Uhr mor-
gens bis 9 Uhr abends auf die Bekanntmachung, beschäftigen aber
dabei ihre Arbeiter von 8 Uhr morgens bis 1 1 Uhr abends oder
an Stunden, wie sie ihnen gerade passend erscheinen, und ihr Ge-
wissen ist nicht ruhig, wenn sie am Ende der Woche nicht über
die zulässige Gesamtzahl von Arbeitsstunden arbeiten licfscn.“ —
*) Factorics and Workshops Annual Report for 1901 (C. 1112) p. 26.
*) A. a. O., p. 178.
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682
Gesetzgebung : Großbritannien.
Durch das Gesetz von 1895 wurden die Vorschriften der
Fabrikgesetze betreffend die Zuständigkeit einer Behörde mit sum-
marischer Gerichtsbarkeit, auf Antrag eines Inspektors die fernere
Benutzung gefahrdrohend schadhafter Maschinen oder Betriebs-
anlagen zu untersagen, desgleichen die Bestimmungen über die Mel-
dung von Unfällen, Anordnungen betreffs gefährlicher Betriebe, die
Berechtigung der Inspektoren zum Eintritt und zur Ueberwachung,
sowie über die Geldbufsen im Falle der Tötung oder Körperver-
letzung ausgedehnt auf „jedes Dock, jede Werft, jeden Lager-
platz und Warenspeicher, sowie auf alle Maschinen oder
Anlagen, die beim Entladen oder Beladen von Schiffen oder beim
Einnehmen von Kohlen auf diesen in einem Dock, Hafen oder
Kanal“ Anwendung finden, ferner auf „alle Grundstücke, auf denen
durch Dampf, Wasser oder eine andere Triebkraft getriebene
Maschinen zwecks Errichtung eines Gebäudes oder Herstellung an-
derer, mit einem Gebäude zusammenhängender Bauten vorüber-
gehend benutzt werden", und zwar in derselben Weise, als ob die
genannten Arbeitsstätten Fabriken seien. Die gleichen Bestim-
mungen finden ferner nach dem Gesetze von 1901 Anwendung auf
jede Eisenbahn oder Nebenlinie, welche nicht zu einer öffentlichen
Eisenbahn gehört und „in Verbindung mit einer Fabrik oder Werk-
stätte, oder mit einer Arbeitsstätte betrieben wird, auf welche irgend
eine Vorschrift des gegenwärtigen Gesetzes Anwendung findet".
Bäckereibetriebe unterstanden nach dem Gesetz von 1878
denselben Bestimmungen wie andere „Nicht-Textilfabriken“ und
Werkstätten hinsichtlich der Beschäftigung von Arbeitern ; für Städte
über 5000 Einwohner bestanden jedoch besondere Vorschriften über
Tünchen, Anstrich und Aufwaschen der inneren Bäckereiräume, so-
wie über die gehörige Trennung der Schlafräume von den Arbeits-
räumen. Das Gesetz von 1895 beseitigte die Beschränkung dieser
.Vorschriften auf Städte mit der angegebenen Einwohnerzahl. Durch
Gesetz von 1883 war ferner der Bäckereibetrieb untersagt für nicht
vor dem I. Juni 1883 in Betrieb genommenen Räumlichkeiten, falls
Abtritte etc. mit dem Backraum direkt in Verbindung standen, oder
wenn sich irgendwelche Abzugsrohren nach dem Backraum öffneten ;
diese Bestimmung galt von 1895 ab allgemein. Das Gesetz von
1883 ermächtigte ferner eine Behörde mit summarischer Gerichts-
barkeit, einen Bäckereibetrieb aus sanitären Gründen zu schliefsen;
ferner übertrug es die Durchführung der Gesetze von 1878 und 1883
vom Fabrikinspektor auf die Ortsbehörden bezüglich der kleinen
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H. W. Macrosty, Die engl. Fabrikgesetzgebung in den Jahren 1878 — 1901. 683
Bäckereien. Das Gesetz von 1895 verbot den Betrieb unterirdischer
Bäckereien, soweit ihr Betrieb nicht vor dem 1. Januar 1896 be-
gonnen hatte. Ferner bestimmte das Gesetz von 1901 an Steile
dieses Termins den 1. Januar 1902 und schrieb vor, dafs alle
übrigen, vom I. Januar 1894 ab betriebenen unterirdischen Bäckereien
vom Bezirksausschufs als geeignet begutachtet werden müssen, wo-
bei dem Inhaber die Berufung an eine Behörde mit summarischer
Gerichtsbarkeit offen steht, falls diese Begutachtung verweigert wird.
Inbetreff der Baumwollspinnereien und anderer mit
Feuchtigkeit verbundener Spinnereibetriebe verordnete ein Sonder-
gesetz von 1889, dafs in sämtlichen Schuppen, Räumen oder Werk-
stätten, in denen Baumwollwebereibetrieb stattfindet und die Luft
durch künstliche Mittel feucht erhalten wird, der Feuchtigkeitsgehalt
der Luft die Grade nicht übersteigen dürfe, wie sie in der dem Ge-
setze angehängten Tabelle angegeben sind; diese Tabelle konnte
durch Verfügung des Staatssekretärs des Innern abgeändert werden,
welche dem Parlament unterbreitet werden mufste und von diesem
innerhalb einer 40tägigen Frist aufgehoben werden konnte. Amt-
lich geprüfte Nässe- und Trockenheits-Kugelthcrinometer inufsten
in jedem Raum behufs Feststellung der Feuchtigkeit vorhanden sein.
Das Gesetz von 1901 dehnte diese Bestimmungen auf andere Textil-
fabriken aus, in denen die Luft künstlich feucht erhalten wird, und
verordnete ferner speziell für Baumwollspinnereien, dafs zu diesem
Zwecke nur reines Wasser verwendet werden darf, dafs die Dampf-
leitungsröhren mit nicht durchlässigem Stoffe bekleidet sein müssen,
dafs vermittelst geeigneter Ventilationscinrichtungcn der Karbon-
Dioxydgehalt der Luft stets höchstens 9 ; 10000 betragen darf
(anstatt der vordem vorgeschriebenen 600 Kubikfufs frischer Luft
pro Stunde für jede Person), dafs die Aufsenseite des Daches im
Sommer gestrichen werden mufs, und dafs in allen nach dem
2. Februar 1898 erbauten Fabriken geeignete Räumlichkeiten zur
Aufbewahrung der Kleider der Arbeiter vorhanden sein müssen.
Diese Ergänzungen waren durch die Sonderkommission empfohlen
worden, welche 1896 behufs Erhebungen über die Wirkung des
Baumwoll-Fabrikgesetz.es von 1889 eingesetzt wurde. Durch das
Gesetz von 1897 wurde der Staatssekretär des Innern ermächtigt,
die vorgeschlagenen Mafsnahmen zur Anwendung zu bringen, soweit
sic ihm geeignet erschienen. Die Kommission sagte aufserdem
in ihrem Berichte, das Gesetz von 1889 habe in den Weberäumen
vortrefflich gewirkt.
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Gesetzgebung : Grofsbritannicn.
Was die Hausindustrie anlangt, so sind auf diesem Gebiete
folgende gesetzliche Bestimmungen seit 1878 erlassen worden. Das
Gesetz von 1891 gab dem Inhaber einer Fabrik oder Werkstätte
auf, ein Verzeichnis zu führen mit Angabe sämtlicher von iiim als
Arbeiter oder Subunternehmer aufserhalb der Fabrik oder Werk-
stätte beschäftigten Personen, sowie der Orte, an welchen sie thätig
seien, und nach dem Gesetze von 1895 hatte er jährlich zweimal
dem Fabrikinspektor ein Verzeichnis seiner Aufsenarbeiter einzu-
reichen. Das Gesetz von 1901 ordnete an, dafs diese Verzeichnisse
dem Bezirksausschufs einzureichen seien, und dem Fabrikinspektor
nur auf sein Ersuchen. Findet der Bezirksausschufs, dafs jemand
in ungesunden Räumlichkeiten beschäftigt wird, so kann er sich be-
hufs Herbeiführung eines Verbotes der Beschäftigung daselbst an
eine Behörde mit summarischer Gerichtsbarkeit wenden, eine Auf-
gabe, die nach dem Gesetz von 1895 dem Fabrikinspektor oblag.
Durch letzteres Gesetz wurde bei Strafe verboten, Kleidungsstücke
in Räumlichkeiten, in denen ansteckende Krankheiten herrschen, an-
fertigen, reinigen oder ausbessern zu lassen, und das Gesetz von
1901 ermächtigte den Bezirksausschufs (oder in dringlichen Fällen
zwei seiner Mitglieder nebst dem ärztlichen Sanitätsbeamten) zum
Erlasse eines Verbots, einem Insassen derartiger Häuser Arbeit hin-
auszugeben und zum Gebot der Desinfektion dieser Räumlichkeiten.
Das Gesetz von 1895 dehnte die Vorschrift der Heimarbeiterlisten
aus auf Inhaber „einer RäumlichKeit, aus welcher irgendwelche
Schneiderarbeit nach auswärts verabfolgt wird“, sowie auf jeden von
ihm beschäftigten Subunternehmer. Hierdurch wurden die Kleider-
läden dem Gesetze unterstellt, und das Gesetz von 1901 schlofs
hierzu die Läden aller Gewerbszweige ein, auf welche die Vor-
schriften über die Hausindustrie Anwendung finden, denn es kommt
sehr häufig vor, dafs Ladengeschäfte Kleidungsstücke aufser dem
Hause anfertigen lassen. Sämtliche vorstehend erwähnten Vor-
schriften finden nur Anwendung auf „diejenigen Arbeitsgattungen,
welche von Zeit zu Zeit durch besondere Verfügungen des Staats-
sekretärs bezeichnet werden“. Durch solche Verfügungen sind jenen
Bestimmungen unterstellt worden „das Anfertigen, Reinigen, Waschen,
Aendcrn, Verzieren, Zurichten von Spitzen und Spitzengardinen und
-netzen , die Fabrikation von Alfenidewaren , Kunsttischler- und
Möbelarbciten, sowie Polsterarbeiten und die Feilenfabrikation."
Hinsichtlich der Hauswerkstätten (Wohnräume, in denen nur
Mitglieder der eigenen Familie beschäftigt werden) bleibt cs nach dem
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H. W. Macrosty, Die engl. Fabrikgesetzgebung in den Jahren 1S78 — 1901. 685
Gesetze von 1901 bei den unzulänglichen gesetzlichen Bestimmungen
des Jahres 1 878, ja, cs schwächt fliese sogar noch dadurch ab, dafs
es ausnimmt : die Handarbeit des Strohflechtens , des Klöppel-
kissenmachens, des Handschuhmachens und andere Heimarbeit,
welche der Staatssekretär infolge ihres „leichten Charakters" aus-
nehmen darf, desgleichen die Fälle, „in denen nur in unregelmäfsigen
Zwischenräumen gearbeitet wird", und wo „die Arbeit der Familie
nicht den ganzen oder hauptsächlichen Lebensunterhalt gewährt".
Andererseits findet das Gesetz von 1901 in als gefährlich begut-
achteten Gewerben ebenso Anwendung, als ob die Betriebsstätte
eine Fabrik oder Werkstätte sei — im Gegensatz zu einer Haus-
werkstätte.
Als letzten Gegenstand unserer Uebersicht erwähnen wir noch
die Sondervorschriften über Lohnberechnungen. Das Gesetz
von 1891 schrieb vor, dafs jedem Weber im Baumwoll-, Kamm-
garn-, Woll- oder Leinen- oder Jutegewerbe und jedem nach Stück
bezahlten Spuler, Weber oder Haspler im Baumwollgcwerbe, „hin-
längliche Anhaltspunkte an die Hand zu geben sind, damit er sich
vergewissern kann, wieviel Lohn er für seine Arbeit zu bean-
spruchen hat". Des Näheren bestimmte das Gesetz von 1895, dafs
jedem Stückarbeitcr in einer Textilfabrik die Anhaltspunkte bei
Verabfolgung der Arbeit einzuhändigen und diese aufserdem durch
Plakat bekannt zu geben seien, ferner gab es Vorschriften für auto-
matische Zähler und ermächtigte den Staatssekretär des Innern,
diese Regelung auf Nicht-Textilfabriken oder -Werkstätten auszu-
dehnen. Diese Bestimmungen sind in dem Gesetze von 1901 mit dem
Zusatze übernommen worden, dafs den Baumwollwebern „die Unter-
lagen und die Bedingungen" bekannt zu geben seien, „durch weiche
die Preise geregelt werden", d. h. es sind die festgesetzten An-
haltspunkte und deren Abänderungen durch Plakat gehörig kund
zu geben.
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SCHWEIZ.
Der Gesetzesentwurf
betr. Arbeiterinnenschutz des Kantons Bern.
Von
Dr. EMIL HOFMANN,
Nationalrat in Frauenfcld.
Die kantonale Arbeiterschutzgesetzgebung hat lange nicht die
rasche Entwicklung erfahren, die man anfänglich erwartet hatte.
Während der ersten zehn Jahre der Wirksamkeit des eidg. Fabrik-
gesetzes hatte sich blofs ein Kanton entschlossen, die von demselben
nicht berührten Arbeiter oder wenigstens einen Teil derselben zu
schützen. Dieses Beispiel des Kantons Baselstadt blieb, wenn man
von dem nach Umfang und Tendenz sehr engbeschränkten Arbeiter-
schutzgesetz von Nidwalden absieht, bis anfangs der neunziger Jahre
ohne Nachfolger. Erst als der Kanton Glarus im Jahr 1892 mit
seinem Arbeiterschutzgesetz den Bann gebrochen, begann sich eine
Reihe von Kantonen ihrer Pflicht nach dieser Seite hin zu erinnern.
Leider erlahmte dieser edle Wetteifer bald wieder. Nachdem die
Kantone St. Gallen, Zürich, Solothurn, Luzern, Neuenburg sog.
Arbeiterinnenschutzgesetze erlassen hatten, trat ein gewisser Still-
stand ein. Dieser war wohl nicht zuletzt durch die Erfahrungen
mit dem Vollzug der kantonalen Arbeiterschutzgesetze veranlafst,
bei dem sich allmählich drei Typen herauszubilden begannen. Der
eine dieser wird durch die Kantone repräsentiert, wo der Vollzug
entweder vollständig ruht wie im Kanton Glarus, oder blofs bei
gewissen Anlässen funktioniert, wie dies im Kanton Nidwalden mit
dem Gesetz betr. den Arbeiterschutz vom 29. April 1888 der Fall
ist, das namentlich wegen der Arbeiter an Strafsen, Eisenbahnen,
Plufskorrektionen, Entsumpfungen und Steinbrüchen erlassen wurde.
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E. Hofmann, Der Gesetzesentwurf belr. Arbcitcrinncnschutz d. Kantons Bern. 687
Der zweite, zahlreichste Typus zeigt sich in den Kantonen, in denen
sich der Arbeiterschutz hauptsächlich auf die Städte beschränkt,
während der dritte Typus mit vollständigem Vollzug des Gesetzes
blofs in einem einzigen Kanton zu finden ist.
Diese keineswegs erfreulichen Erfahrungen spiegelten sich natur-
gemäfs in der Legiferierung der übrigen Kantone. Dieselben wagten
nicht mehr, einen gröl'seren Teil der vom eidg. Fabrikgesetz nicht
berührten Arbeiterkatcgorieen zu schützen. Selbst die Beschränkung
des, Schutzes auf die Arbeiterinnen ging ihnen noch viel zu weit.
Sie versuchten sich daher auf dem Gebiete des Lehrlings- und
Kinderschutzes, schufen Bestimmungen zum Schutze des Dienst-
personals in Wirtschaften und Hotels, bemühten sich in der mo-
dernen Sonntagsgesetzgebung ein neues Surrogat des Arbeiter-
schutzes zu erhalten oder verbrämten die Gesetze zur Schlichtung
von Arbeitskonflikten mit Bestimmungen des Arbeiterschutzes.
Natürlich fällt es uns nicht ein, die Notwendigkeit des Lehrlings-
und Kinderschutzes etc. zu bestreiten. Das leider sehr dürftige
Material, das wir über Kinderausbeutung, Auswüchse des Lchrlings-
wesens etc. besitzen, spricht so sehr für die Notwendigkeit der
Legiferierung auf diesem Gebiete, dals dieselbe allgemein anerkannt
wird. Ebenso unbestritten ist die Notwendigkeit des Schutzes des
Dienstpersonals in Hotels und Wirtschaften und der Fürsorge für
Sonntagsruhe oder entsprechenden Ersatz derselben in gewissen
Erwerbszweigen und Betriebsarten. Aber über dieser Fürsorge darf
das nicht minder wichtige Gebiet des Arbeiterinnenschutzes nicht
vernachlässigt werden. Es heilst auch hier: das eine thun und das
andere nicht lassen. Wir begrüfsen es daher lebhaft, dafs sich
wiederum ein Umschwung zu Gunsten der Arbcitcrinnenschutz-
gesetzgebung vollzogen hat, indem neben dem Kanton Aargau mit
seinem bezüglichen Gesetzesentwurf nun auch noch der Kanton Bern
mit einem solchen getreten ist.
Schon die Art der Entstehung dieses Entwurfes ist interessant.
Den Anstofs zu demselben gab der Adjunkt des Schweiz. Arbeiter-
sekretariats durch eine Motion im Grofsen Rat des Kantons Bern, in
welcher er den Erlafs eines kantonalen Arbeiter- und Arbeiterinnen-
schutzgesetzes verlangt. Die Direktion des Innern veranstaltete
hierauf eine Enquete über den Erlafs von Gesetzesbestimmungen
betreffend Arbeiter- und Arbeiterinnenschutz, bei der sie sich be-
mühte, möglichst alle an einem solchen Gesetz interessierte Kreise
und bei der Ausführung desselben in Betracht fallenden Behörden
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Gesetzgebung : Schweiz.
zum Worte kommen zu lassen. Diese Art des Vorgehens, welche
sich für unsere Verhältnisse sehr empfiehlt, führte zu einem durch
das Generalsekretariat der Bernischcn Handels- und Gewerbekammer
aufgestelltcn Gesetzesentwurf über das Lehrlingswesen, welcher dem-
nächst vom Grofsen Rat behandelt wird.
Hinsichtlich des Arbeiterschutzgesetzes zeigte sich eine gröfsere
Verschiedenheit der Meinungen. Dieselben waren geteilt, indem
sich die einen mehr dem Ideal einer allgemeinen Regelung des
Arbeiterschutzes zuneigten, die anderen wenigstens vorläufig einer
Beschränkung auf den Arbeiterinnenschutz den Vorzug gaben. Ent-
sprechend diesen zwei Strömungen wurden von der bernischen
Handels- und Gewerbekammer einer hierfür eingesetzten Kommission
des Grofsen Rates ein Entwurf für allgemeine Regelung des Arbeiter-
schutzes und ein Spezialgesetz betr. Arbeiterinnenschutz unterbreitet.
Die Kommission gab wohl aus taktischen Gründen diesen letzteren
den Vorzug. Der Gesetzentwurf zerfällt in folgende Abschnitte:
I. Anwendung des Gesetzes; 2. Allgemeiner Schutz; 3. Arbeitszeit;
4. Dienstvertrag, Arbeitsordnung; 5. Lohnzahlung, Abzüge, Schaden-
ersatz; 6. Straf- und Vollzugsbestimmungen.
Hinsichtlich des Umfangs oder der Anwendung des Ge-
setzes ist dreierlei hervorzuheben. Dasselbe erstreckt sich nach dem
Vorbilde des Zürcher Gesetzes auf alle dem eidg. Fabrikgesetz
nicht unterstellten Geschäfte, in denen eine oder mehrere der Fa-
milie nicht angehörende weibliche Personen zum Zwecke des Er-
werbs beschäftigt werden, während in Basel die Anwendung des
Gesetzes an ein Minimum von drei in St. Gallen an ein solches von
zwei Arbeiterinnen oder an die Beschäftigung von Arbeiterinnen
oder Lchrtöchtern unter 18 Jahren geknüpft ist. Es kennt blos eine
Ausnahme, nämlich die landwirtschaftlichen Betriebe und blos eine
Beschränkung des Schutzes hinsichtlich der zur Bedienung von
Käufern in Ladengeschäften verwendeten Bediensteten.
Dadurch unterscheidet es sich sehr zu seinem Vorteil von
seinen Vorgängern, indem es seinen Kreis weiter ausdehnt und
unter anderem auch das kaufmännische Hilfspersonal, soweit Frauens-
personen inbetracht fallen, zu schützen sucht. Allerdings kommt
es dabei diesem Pintwurf trefflich zu statten, dafs über die Sonn-
tagsruhe, über das Wirtschaftswesen und über die Ruhetage des
Dienstpersonals in Wirtschaften bereits gesetzliche Bestimmungen
bestehen, sowie dafs die gesetzliche Regelung der kaufmännischen
und gewerblichen Berufslehre bevorsteht. Dadurch wird der Ent-
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E. H ol'mann, Der Gcsctzcscntwurf betr. ArbciterinnenschuU d. Kantons Bern. 689
wurf der Schwierigkeit enthoben, allzu verschiedenartige Verhält-
nisse unter einen Hut bringen zu müssen.
In zweiter Linie verbietet das Gesetz die Verwendung schul-
pflichtiger Mädchen zu gewerblicher Lohnarbeit. Diese Bestimmung
ist als ein grofser Fortschritt zu bezeichnen, der berufen ist, einem
längst gefühlten Uebelstand abzuhelfen. Lehrer, Schulmänner,
Hygieniker etc. beklagen die Ueberanstrengung der schulpflichtigen
Kinder bitter; denn es ist begreiflich, dafs ein Schüler, welcher vor
und nach der täglichen Schulzeit noch mehrere Stunden ins Joch
des Erwerbs gespannt wird, nicht dieselbe Frische, Lernbegierde
und Arbeitslust besitzt, wie seine Mitschüler, bei denen dies nicht
der Fall ist. Wie verschiedene Erhebungen z. B. in der Stadt
Zürich, den Kantonen St. Gallen und Thurgau, sowie die Enquete
über die Fürsorge für Nahrung und Kleidung armer Schulkinder
in der Schweiz im Jahre 1895 gezeigt haben, handelt er sich dabei
weniger um Beschäftigung in Fabriken als um solche in kleineren
Betrieben, welche dem Fabrikgesetz nicht unterstellt sind, sowie
in der Hausindustrie. Die gewerbliche Beschäftigung von Schul-
kindern kommt sehr wahrscheinlich in der Hausindustrie am
häufigsten %-or und ist hier zweifelsohne am verhängnisvollsten.
Diese Erscheinung ist nach der erwähnten Enquete besonders in
den Teilen unseres Landes zu konstatieren, wo die grolsen schweize-
rischen Export industrieen ihre Arbeiterschaft rekrutieren, aber sie ist
auch im Kanton Bern zu finden, wie aus folgendem Bericht hervor-
geht: „Es ist Thatsache, dals man die Kinder der Schule so viel
wie möglich entzieht, um sie daheim zur Arbeit anzuhalten. Zur
Verfertigung von Zündholzschachteln müssen viele Kinder die Zeit
zwischen der Schule opfern, um einige wenige Franken zu ver-
dienen. Hinter dieser mechanischen Arbeit können sich die Kinder
weder geistig noch körperlich richtig entwickeln. Für nichts haben
sie Interesse und sind abgestumpft in allem, was sich auf Lehre
und Schule bezieht.“
Es wäre daher sehr zu begrüfsen, wenn auch der hausindustriellen
Ausbeutung jugendlicher Arbeitskräfte auf gesetzlichem Wege vor-
gebeugt werden könnte. Doch ist es sehr begreiflich, dafs der in
Frage stehende Gesetzesentwurf dies unterlassen hat. Schon in
seiner gegenwärtigen Beschränkung wird derselbe mit einer scharfen
Opposition zu rechnen haben. Hätte derselbe seinen Umfang noch
weiter ausgedehnt, wäre seine Annahme überhaupt sehr fraglich
geworden.
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690
Gesetzgebung : Schweiz.
In dritter Linie gewährleistet der Entwurf „jedermann“ das
Recht, bei den Vollzugsbchörden die Unterstellung eines Geschäfts
unter dieses Gesetz zu beantragen. Auch das ist ein Vorzug dieses
Gesetzes, welcher sich auf die mifslichen Erfahrungen der bisherigen
Unterstellungspraxis anderer Kantone stützt. Die Verpflichtung der
Geschäftsinhaber, den Behörden von ihrer Unterstellungspflicht An-
zeige zu machen, genügt nicht. Selbst die Aufnahme eines Ver-
zeichnisses sämtlicher dem Gesetze unterstellten Gewerbe und die
Verpflichtung der Ortsbehörden zur Fortführung desselben, wie dies
in Luzern und Neuenburg geschah, erwies sich als ungenügend,
indem die Einbeziehung der pflichtigen Geschäfte unter das Gesetz
dort wenigstens auf dem L?ndc trotzdem noch sehr viel zu wün-
schen übrig läfst. Dieser grofsen Schwierigkeit begegnet der vor-
liegende Entwurf auf die denkbar einfachste Art und Weise. Indem
er jedermann das Recht einräumt, auf die Unterstellungspflicht auf-
merksam zu machen und die Unterstellung zu beantragen, statuiert
er in gewissem Sinne auch die Pflicht hierzu. Arbeiterorganisationen,
Arbeiterfreunde, Frauenvereine, Geistliche, Lehrer etc. werden sich
nicht leicht über dieselbe hinwegsetzen können, besonders wenn
durch periodische Veröffentlichungen in den Lokal- und Bczirks-
blättcrn die unterstellten Betriebe der betr. Gegend jedermann be-
kannt gegeben werden. Diese in der Ausführungsverordnung fest-
zusetzende Publikation würde weitere Kreise auf das Gesetz auf-
merksam machen, die zunächst in Frage kommenden Kreise an
ihre Rechte und Pflichten erinnern und jeder Ausrede die Wege
verlegen.
Der zweite, den „allgemeinen Schutz“ regelnde Abschnitt des
Gesetzes geht weiter als seine Vorbilder. Dasselbe verlangt nicht
blofs wie das Zürcher und teilweise auch das Ncuenburger Gesetz
Anwendung aller erfahrungsgemäls und nach dem Stande der je-
weiligen Technik, sowie durch die gegebenen Verhältnisse er-
möglichten Schutzmittel zum Schutze der Gesundheit und zur
Sicherung gegen körperliche Verletzungen und andere Schädigungen,
sondern regelt auch die Frage der Sitzgelegenheit für die in den
offenen Gcschäftslokalen, sowie in den dazu gehörenden Comptoirs
beschäftigten Arbeiterinnen und postuliert für die Bedürfnisanstalten
eine den Anforderungen der Gesundheitspflege, der Sitte und des
Anstandes entsprechende Einrichtung.
Ferner verbietet das Gesetz die unterirdische Beschäftigung
von Arbeiterinnen in eigentlichen Bergwerken und Brüchen und
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K. Mofmann, Der Gesetzesentwurf betr. Arbeiterinnenschutz d. Kantons Bern. 69 1
beschränkt die ununterbrochene Arbeit an Tretmaschinen für Mäd-
chen unter <6 Jahren auf drei Stunden. Dieser Passus ist seinem
Wortlaut nach etwas unklar. Wahrscheinlich soll diese dreistündige
Beschäftigung an der Tretmaschine das Maximum für einen Tag
bedeuten. Trifft dies nicht zu, so sollte die Pause normiert werden,
welche zwischen den Perioden dreistündiger Arbeit an der Tret-
maschine stattzufinden hätte.
Endlich soll es anerkennend hervorgehoben werden, dafs der
Entwurf auch hier für die künftige Entwicklung der Erwerbs- und
Betriebsverhältnisse den nötigen Spielraum nach zwei Seiten hin
offen hält. Derselbe ermächtigt den Regierungsrat nicht nur zur
Ausführung der allgemeinen Schutzbestimmungen Weisungen oder
den Sonderverhältnissen einzelner Gewerbe Rechnung tragende
Vorschriften zu erlassen, sondern räumt ihm auch die Befugnis ein,
die Verwendung weiblicher Personen zu bestimmten gewerblichen
Verrichtungen zu untersagen.
Der Abschnitt über die Arbeitszeit stellt sich auf den Roden
des in dieser Hinsicht am weitesten gehenden Zürcher Gesetzes,
das es in manchen Beziehungen noch übertrifft. Es normiert wie
das genannte Gesetz die tägliche Arbeitszeit auf io und an
Vorabenden von Sonn- und Festtagen auf 9 Stunden und verlangt
für alle Arbeiterinnen eine I ’/, ständige Mittagpause. In Ueberein-
stimmung mit den einschlägigen Gesetzen der Kantone St. Gallen
und Luzern schreibt es vor, obligatorische Schulstunden in den
Maximalarbeitstag einzurechnen und verbietet Lohnabzüge dieses
Unterrichtsbesuches wegen. Diese letztere Bestimmung kann selbst-
redend nur durch den Ausbau des Schulwesens zu voller Geltung
gelangen, wenn auch nicht in Abrede zu stellen ist, dafs sie schon
heute viel Gutes zu wirken imstande ist. Immerhin wäre zu
wünschen , dafs hier den heute noch bestehenden Verhältnissen
etwas mehr Rechnung getragen würde, indem vorgeschrieben würde,
auch die fakultativen Unterrichtsstunden in den Maximalarbeitstag
einzurechnen, allerdings mit entsprechendem Lohnabzug für diesen
Fall. Solange dies nicht geschieht, wird die Einrichtung von Koch-
und Haushaltungskursen etc. immer noch nicht in vollem Mafse die
Kreise erreichen, für die solche von Bund und Kantonen subven-
tionierten Kurse in erster Linie bestimmt sind.
Selbstverständlich sorgt auch dieser Entwurf für die nötige
Elastizität und Anpassung an die vielgestaltigen Anforderungen des
Lebens, indem er den Behörden einen ziemlichen Spielraum zur
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Gesetzgebung : Schweiz.
Ueberzeit Bewilligung gewährt. Allerdings vergifst derselbe auch die
Kautelen gegen den Mifsbrauch dieser Bewilligungen nicht. Die-
selben bewegen sich nach zwei Seiten hin. Die einen liegen in
den Händen der Arbeiterinnen, die anderen in denjenigen der Be-
hörden. Die ersteren sind unseres Ermessens die wichtigeren. Die
wichtigste derselben ist die Bestimmung, dafs der Lohn für Ueber-
zeitarbeit höher sein soll als der gewöhnliche Lohn. Die Erhöhung
von 1 5 °/„, welche der Berner Entwurf vorsieht, scheint uns aller-
dings etwas zu gering, um als vorzüglichste Kautele gegen Mifs-
brauch zu wirken. Um in diesem Sinne zu funktionieren, müfste
dieselbe mindestens 25 °/0 betragen, wie dies beispielsweise in den
Gesetzen der Kantone Zürich, Luzern und Solothurn gefordert ist.
Nicht unwesentlich ist die Bestimmung, dafs die Ueberzeitbe-
willigungen im Arbeitslokal anzuschlagen seien. Dadurch bekommen
die Arbeiterinnen ein Kontrollmittel in die Hand sowohl über die
ungesetzliche und nicht bewilligte Arbeitszeitverlängerung als auch
über Art und Grad der Gesetzesüberwachung sowie der Ueberzeit-
bewilligung. Gegenüber diesen Kautelen ist die Forderung des Ein-
verständnisses der Arbeiterinnen mit der Uebcrzeitarbeit ziemlich
gering anzuschlagen.
Leider verzichtet das Gesetz auf die Anführung der Gründe,
aus denen eine Ueberzeitbewilligung bewilligt werden darf, wie dies
z. B. im Gesetze von Zürich und Luzern geschehen ist. Es be-
schränkt sich darauf, die Uebcrzeitbewilligungen zur Ausnahme zu
stempeln und an dringende Fälle zu knüpfen. Dies scheint uns
nicht genügend. Will man zu einer möglichst gleichmäfsigen Praxis
kommen, müssen den lokalen Behörden bestimmte Normen an die
Hand gegeben werden. Ohne solche läuft man Gefahr, dafs ein
starker Prozentsatz derselben alles als dringende Fälle betrachtet,
dadurch zu Ungerechtigkeiten und Unglcichmäfsigkeitcn im Gesetzes-
vollzug Anlafs gebend.
Hinsichtlich der Beschränkung der Ueberzeit nach dem Umfange
ist es zu bedauern, dafs der Entwurf blofs die Mädchen unter 18
Jahren ausschliefst und dies nicht wie das St. Galler und Luzerner
Gesetz auch auf die Schwangeren ausdehnt.
Die Beschränkung der Dauer der Ueberzeit läfst gleichfalls zu
wünschen übrig. Dieselbe giebt sich mit der Bestimmung zufrieden,
dafs dieselbe nicht länger als zwei Monate pro Jahr dauern dürfe.
Dafs eine solche Bestimmung völlig ungenügend ist, zeigen die Er-
fahrungen und Mafsnahmen des Kantons St. Gallen sowie die Bc-
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F.. Hofmann, Der Gesetaesentwurf bclr. Arbciterinncnschutz d. Kantons Bern. 693
Stimmungen neuerer Arbeiterinnenschutzgesetze deutlich. Sah sich
doch St. Gallen zur Aufstellung folgender Regel für die Einteilung
der Ueberzeitbewilligung veranlal'st:
Wenn eine erteilte Arbeitsfrist abgelaufen ist, so soll nicht un-
mittelbar an dieselbe anschliefsend eine neue Arbeitszeit gewährt
werden, sondern
1. wenn ein Geschäft bis auf 14 Tage über die Zeit gearbeitet
hat, so soll eine neue bezügliche Bewilligung erst nach Ablauf von
mindestens 6 Tagen (Normalarbeitszeit) erteilt werden;
2. wenn ein Geschäft gestützt auf regierungsrätlichc Bewilligung
bis zu 3 Wochen resp. 4 Wochen über die Zeit gearbeitet hat, so
soll eine neue (bezirksamtliche oder regierungsrätliche Bewilligung)
erst nach Ablauf von mindestens 8 — 10 Tagen resp. bei 4 Wochen
erst nach Ablauf von mindestens 14 Tagen erteilt werden.
Luzern und Neuenburg beschränken das Maximum der Ueber-
zeit auf täglich 2 Stunden, während Zürich dazu noch ein Maximum
der- in einem Jahr zu bewilligenden Ueberstunden aufstellt. Ferner
vermissen wir die Festsetzung einer Taxe für die Ueberzeitbe-
willigungen, welche selbstverständlich nach der Zahl der Arbeite-
rinnen, für welche Ueberzeit bewilligt wird, abzustufen wäre. Eine
solche Taxe verbunden mit nennenswerter Erhöhung des Lohnes
für Ueberstunden ist eines der besten Mittel, das Verlangen von
Ueberzeitbewilligung auf das berechtigte Mals zu beschränken.
Endlich heben wir noch hervor, dafs der Entwurf für das in
Laden- und Kundengeschäften in der offenen Geschäftszeit zur Be-
dienung der Kunden verwendete Personal neben der erforderlichen
Zeit für die Mahlzeiten eine ununterbrochene Nachtruhe von min-
destens 10 Stunden verlangt.
Der Wöchnerinnenparagraph des Entwurfs zieht gewissermafsen
das Mittel aus den bereits bestehenden Gesetzen. Er geht nicht
so weit wie das Gesetz von Baselstadt, welches Wöchnerinnen vor
und nach ihrer Niederkunft im ganzen während 8 Wochen von der
Arbeit in Geschäften ausschliefst, aber weiter als das Gesetz von
Solothurn, welches dies blofs für 4 Wochen thut und für die fol-
genden 2 Wochen die Erlaubnis zum Wegbleiben noch offen hält.
Der Berner Entwurf erlaubt die Beschäftigung von Frauen in der
5. und 6. Woche nach ihrer Niederkunft erst auf Grund des Zeug-
nisses eines diplomierten Arztes und stellt den Wiedereintritt für
die zwei folgenden Wochen ihrem Belieben anheim.
Die Regelung des Dienstvertrags zeigt teilweise einen Fort-
Archiv für ioz. Gesetzgebung u. Statistik. XVII. 45
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Gesetzgebung : Schweiz.
schritt gegenüber den bisherigen Gesetzen, teils läfst diese zu
wünschen übrig. Das letztere ist der Fall mit Bezug auf die Auf-
stellung einer Arbeitsordnung. Es ist zu bedauern, dafs der Ent-
wurf im Einklang mit den übrigen bezüglichen Gesetzen den Stand-
punkt einnimmt, dafs es weder nötig noch praktisch durchführbar
sei, die Aufstellung einer Arbeitsordnung auch für die kleinsten Be-
triebe zu verlangen. Wir halten dafür, dafs gerade für diese eine
im Geschäftslokal an sichtbarer Stelle angeschlagene vom Regierungs-
rate genehmigte Geschäftsordnung sehr notwendig und wohlthätig
wäre; denn gerade die Einzelarbeiterin ist hinsichtlich der Bestim-
mungen über die Arbeitszeit und deren Einteilung, die Bedingungen
des Ein- und Austritts, die Art der Bezahlung, allfällige Bufsen und
die mit dem Gesetzesvollzug betrauten Behörden meistens viel mehr
im Unklaren, als Arbeiterinnen in gröfseren Geschäften.
Als einen Vorzug des Gesetzes betrachten wir die Bestimmungen
über die den Arbeiterinnen auf ihr Verlangen auszustellenden Zeug-
nisse. Dieselbe verlegen den bei der Zeugnisausstellung nicht selten
praktizierten Chikanen nach Kräften den Weg, indem sie den Um-
fang des Zeugnisses nicht blofs auf Art und Dauer der Beschäfti-
gung, sondern auch auf Leistung und Aufführung erstrecken und
das Versehen der Zeugnisse mit Merkmalen, welche den Zweck
haben, die Arbeiterin in einer aus dem Wortlaut des Zeugnisses
nicht ersichtlichen Weise zu kennzeichnen, verbieten. Ferner gehört
hierher die Statuierung des Rechtes für Vater oder Vormund einer
minderjährigen Arbeiterin, das Zeugnis zu verlangen, sowie die
Möglichkeit, für die letztere auf Gutheifsen der Vollziehungsbehörde
das Zeugnis direkt ausgehändigt zu bekommen gegen den Willen
des Vaters oder Vormundes.
Im fünften Abschnitt scheint es uns ein Mangel zu sein, dafs
der Entwurf, welcher auch hier sonst dem löblichen Beispiel der
Gesetze von Zürich und Luzern folgt, neben dem Verbot der Lohn-
abzüge für Miete, Reinigung, Heizung oder Beleuchtung des Lokals
sowie für Miete und Benutzung der Werkzxuge nicht auch die Be-
rechnung des Arbeitsmaterials zu einem höheren als dem Selbst-
kostenpreis untersagt. Die Bestimmungen über Decompte und
Bufsen bedeuten gleichfalls keinen Fortschritt und machen wir dar-
auf aufmerksam, dafs beispielsweise das Neuenburger Gesetz jedes
Zurückbehalten von Lohn verbietet. Immerhin mufs anerkannt
werden, dafs der Entwurf in seiner Ueberzeugung von der Not-
wendigkeit der Bufsen und des Decompte wenigstens den Mifs-
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E. Hofmann, Der Gesetzesentwurf betr. Arbcitcrinncnschutz d. Kantons Bern.
brauchen mit diesen beiden Institutionen nach Kräften zu wehren
sucht, indem er zum Beispiel das Zurückbehalten von Lohn für
Versicherungszwecke von dem Einverständnifs der Arbeiterin ab-
hängig macht und über den Bezug und die im Interesse der Ar-
beiterinnen zu erfolgende Verwendung der Bufsen Buchführung ver-
langt.
Die Strafbestimmungen des Entwurfes finden unseren Beifall
nach keiner Richtung. Das Bufscnmaximum von 200 Francs ist uns
namentlich auch im Hinblik auf die in diesem Kanton befolgte
Praxis gegenüber den Uebertretungen des eidg. Fabrikgesetzes viel
zu niedrig. Wir sehen nicht ein, warum derselbe nicht wie im
Kanton Zürich und Neuenburg auf 500 Francs festgesetzt wurde.
Daran ändert die Bestimmung nichts, welche für Wiederholungsfälle
und bei erschwerendem Thatbestand Gefängnisstrafe bis auf 14 Tage
in Aussicht nimmt; denn diese ist ein Drohmittel, das seine Schrecken
wegen konstanter Nichtanwendung bald verlieren dürfte. Aber
auch noch nach einer anderen Richtung müssen wir es bedauern,
dafs der Entwurf dem Vorbilde des Neuenburger Gesetzes nicht
gefolgt ist. Dasselbe berücksichtigt bei Uebertretungen die Anzahl
der Arbeiterinnen, mit denen der schuldige Arbeitgeber das Gesetz
verletzte. Die Bulse von 5 bis 20 Francs soll mit der Anzahl
dieser Arbeiterinnen multipliziert werden. Wir erblicken darin ein treff-
liches Mittel durch richtiges Anpassen des Strafmafscs an das Ver-
gehen, Gesetzcsverletzungen einzuschränken und die Klagen der
Arbeiterschaft, dafs die Ucbertretung des Gesetzes trotz der Bufsen
für die Unternehmer sehr rentabel seien, verstummen zu lassen.
Bei der genugsam bekannten Milde gegen derartige Gesetzes-
übertretungen ist es unbedingt nötig, von anfang an bestimmte
Normen und eine feste Praxis cinzubürgcrn.
Die Vollzugsbesiimmungen verdienen dagegen wieder alles
Lob. Im Gegensatz zu den übrigen Arbeiterinnenschutzgesetzen,
mit Ausnahme desjenigen von Neuenburg, sieht der Berner Entwurf
die Schaffung eines kantonalen Inspektorates auf dem Dekretswege
vor. Derselbe hat damit unseres Ermessens den einzig richtigen
Weg cingeschlagcn , um zu einem richtigen und gleichmäfsigen
Vollzug des Gesetzes zu gelangen. Dafs es damit im grofsen und
ganzen nicht gut bestellt ist , dürfte aus dem in der Einleitung
Gesagten zur Genüge hervorgehen. Das Widerstreben der Unter-
nehmer gegen die Unterstellung unter derartige Gesetze, die Lax-
heit der mit dem Vollzug derselben betrauten unteren Instanzen
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6gö
Gesetzgebung: Schweiz.
sowie die allzu milde Gerichtspraxis kann nur durch die Schaffung
einer besonderen Amtsstelle überwunden werden. Ebenso ist ein
kantonales Fabrikinspcktorat berufen , das Interesse der Arbeiter-
schaft am richtigen Vollzug und rationellen Ausbau dieses Gesetzes
stets wach zu halten. Dasselbe kann bei richtiger Organisation
auch für den Vollzug des eidg. Fabrikgesetzes vorbildlich wirken.
Mit weitem Blick vermeidet der Entwurf, dieses Inspektorat mit
anderen Geschäften zu überladen , wie dies bei dem Bureau für
Fabrik- und Haftpflichtwesen des Kantons Zürich oder dem Lehrlings-
inspektorat des Kantons Neuenburg der Fall ist, dem die Uebcr-
wachung des Arbeiterinnenschutzgesetzes Überbunden ist. Ohne
diesen beiden Institutionen, deren segensreiche Wirksamkeit nach
bestimmten Seiten von uns übrigens schon mehrfach anerkennend
hervorgehoben wurde, zu nahe treten zu wollen, scheinen sie uns
für den Vollzug des Arbeiterinnenschutzes nicht besonders qualifi-
ziert zu sein. Diese Funktion wird am besten weiblichen In-
spektoren übertragen. In Würdigung dieses Grundsatzes läfst der
Berner Entwurf den Spielraum für einen solchen Versuch offen, wie
dem Wortlaut desselben sowie einem Vortrag des Chefs des betr.
Departements, Nationalrat Steiger, in der Sektion Bern der inter-
nationalen Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz zu ent-
nehmen ist.
Wir konstatieren dies mit hoher Genugthuung, wie uns über-
haupt der Entwurf als Ganzes trotz einiger Aussetzungen an Einzel-
heiten und teilweise Nebensächlichem als ein bedeutsamer Fort-
schritt auf dem Gebiete des kantonalen Arbeiterschutzes erscheint.
Auch die Arbeiterschaft ist derselben Meinung wie wir. Gelingt es
der Vorberatung, etliche der Hauptschwächen des Entwurfes aus-
zumerzen, woran wir keinen Augenblick zweifeln, so wird sich das
Berner Gesetz als ein mustergültiges präsentieren, das eine neue
Aera auf dem Gebiete des kantonalen Arbeiterschutzes inauguriert.
Wir geben im folgenden den Wortlaut des besprochenen Ent-
wurfs wieder:
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Gesetzentwurf betreffend Arbeiterinnenschutz.
697
Gesetzentwurf betreffend Arbeiterinnenschutz.
Der Grofse Rat des Kantons Bern
in Ausführung von Art. 82 der Staalsvcrfassung, soweit er den Schutz der weib-
lichen Arbeitskräfte betrifft,
auf den Antrag des Regicrungsrates
beschlicfst :
I. Anwendung des Gesetzes.
§ I. Dieses Gesetz findet Anwendung auf alle dem eidgenössischen Fabrik-
gesetz nicht unterstellten Geschäfte, in denen eine oder mehrere, der Familie nicht
angehörende weibliche Personen zum Zwecke des F.rwcrbs beschäftigt werden.
Ausgenommen sind die landwirtschaftlichen Betriebe.
Für die Bediensteten in Ladengeschäften, welche nicht zu gewerblichen Ar-
beiten, sondern zur Bedienung der Käufer verwendet werden, gelten blofs die §§ 2,
4» 5» *5. t6, 22, 2fi, 27.
Vorbehalten bleiben die gesetzlichen Bestimmungen über kaufmännische und
gewerbliche Berufslehre, über Sonntagsruhe, über das Wirtschaftswesen und über
die Ruhetage des Dienstpersonals in Wirtschaften.
§ 2. Schulpflichtige Mädchen dürfen zu gewerblicher Lohnarbeit nicht ver-
wendet werden.
3. Geschäftsinhaber, die Arbeiterinnen beschäftigen, haben der Ortspolizei
hievon Anzeige zu machen.
Jedermann ist berechtigt, bei den Vollzugsbehörden die Unterstellung eines
Geschäfts unter dieses Gesetz zu beantragen. Wenn über die Unterstellung Zweifel
obwaltet, so entscheidet die Direktion des Innern, wobei jedoch das Rekursrecht
an den Regierungsrat Vorbehalten bleibt.
II. Allgemeiner Schutz.
§ 4. Keine weibliche Arbeitskraft darf in übermäfsiger, die Gesundheit ge-
fährdender Weise angestrengt werden.
Mädchen unter 16 Jahren können nicht mehr als drei Stunden zu ununter-
brochener Arbeit an Tretmaschinen angehalten werden. In eigentlichen Bergwerken
und Brüchen sollen Arbeiterinnen unterirdisch nicht beschäftigt werden.
Der Regierungsrat ist befugt, die Verwendung weiblicher Personen zu be-
stimmten gewerblichen Verrichtungen, welche ihre Kräfte übersteigen oder welche
von besonderer Gefahr für ihre Gesundheit oder Moralität sind, zu untersagen.
§ 5. Die Arbeitsräumc sollen trocken, hell, gut ventiliert sein und nach
Bodenfläche und Kubikinhalt in einem richtigen Verhältnis zur Zahl der darin be-
schäftigten Personen stehen, so dafs Gesundheit und Leben nach Möglichkeit ge-
sichert werden.
In den offenen Geschäftslokalen, sowie in den dazu gehörenden Comptoirs
mufs für die daselbst beschäftigten Arbeiterinnen eine geeignete und hinsichtlich der
Zahl ausreichende Sitzgelegenheit vorhanden sein, deren Benutzung dem Personal
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Gesetzgebung : Schweiz.
während der Zeit, in welcher es durch seine Beschäftigung nicht daran gehindert
ist, gestattet werden mufs. Für die mit der Bedienung der Kundschaft beschäftigten
Personen muss die Sitzgelegenheit so eingerichtet sein, dafs sie auch während
kürzerer Arbeitsunterbrechung benützt werden kann.
Die Bedürfnisanstalten müssen so eingerichtet sein, dafs den Anforderungen
der Gesundheitspflege entsprochen wird, und dafs ihre Benützung ohne Verletzung
von Sitte und Anstand erfolgen kann.
§ 6. Zum Schutze der Gesundheit und zur Sicherung gegen körperliche Ver-
letzungen und andere Schädigungen sollen alle erfahrungsgemäfs und durch den
jeweiligen Stand der Technik, sowie durch die gegebenen Verhältnisse ermöglichten
Schutzmittel angewendet werden.
§ 7. Der Regierungsrat ist ermächtigt, zur nähern Ausführung dieser allge-
meinen Schutzbestimmungen (§§ 4 bis 6) Weisungen oder den Sonderverhältnissen
einzelner Gewerbe Rechnung tragende Verordnungen zu erlassen.
1IL Arbeitszeit.
§ 8. Die Dauer der regelmäfsigen Arbeitszeit darf für erwachsene Arbeite-
rinnen nicht mehr als 10, an den Vorabenden von Sonn- und Festtagen nicht mehr
als 9 Stunden betragen. Für Arbeiterinnen unter 18 Jahren ist nur eine um
I Stunde kürzere Maximalarbeitszeit zulässig.
Obligatorische Unterrichtsstunden zählen bei Berechnung dieser zulässigen Ar-
beitszeit mit Es dürfen dafür keine Lohnabzüge gemacht werden.
§ 9. Diese Arbeitszeit mufs in die Zeit zwischen 6 Uhr, bezw. in den
Sommermonaten Juni, Juli und August zwischen 5 Uhr morgens und 8 Uhr abends
verlegt werden.
Ucber die Mittagszeit sind wenigstens I1/* Stunden frei zu geben.
Ruhepausen können von der Arbeitszeit nur insoweit abgerechnet werden, als
die Arbeiterinnen während derselben den Arbeitsraum verlassen dürfen.
Die Arbeitsstunden sind nach der öffentlichen Uhr zu richten.
§ 10. Es ist verboten, den Arbeiterinnen über die gesetzliche Arbeitszeit des
Geschäftes hinaus weitere Arbeit nach Hause mitzugeben.
§11. ln dringenden Fällen und ausnahmsweise können auf begründetes Ge-
such bin und innerhalb der durch § 9, Alin. I gezogenen Grenzen durch den Ge-
meinderat vorübergehend Verlängerungen der Arbeitszeit bewilligt oder Ausnahmen
von § 10 gestattet werden. Für Arbeiterinnen unter 18 Jahren jedoch dürfen keine
Bewilligungen zur Ueberzcitarbcit erteilt werden.
Bei Verlängerungen für mehr als 14 Tage und bei periodisch wiederholten
Gesuchen ist immer Bewilligung durch die Direktion des Innern erforderlich. Die
Gesamtdauer solcher Verlängerungen darf für dasselbe Geschäft, vorbehaltlich der
Bestimmungen des folgenden Artikels, nicht zwei Monate im Jahr übersteigen.
Zur Einholung solcher Bewilligungen ist das Einverständnis der zu den be-
treffenden Arbeiten verwendeten Arbeiterinnen erforderlich.
§ 12. Der Regierungsrat ist befugt, auf begründetes Gesuch hin, ftir Ge-
werbe, welche in Bezug auf Fabrikationsart oder den Eingang von Aufträgen unter
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Gesetzentwurf betreffend Arbeiterinnenschutz.
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besondern Verhältnissen arbeiten, vorübergehend eine abweichende, immerhin den
Zweck dieses Gesetzes nicht verletzende Arbeitszeit zu bewilligen. Die Bewilligung
kann indessen abgeändert oder zurückgezogen werden, wenn diese besondern Ver-
hältnisse des Gewerbes nicht mehr bestehen.
§ 13. Jede Bewilligung zur Ucberzeitarbeit ist schriftlich zu erteilen und im
Arbeitsraum anzuschlagen. Die Vollzugsbehörden haben sich von jeder Bewilligung
gegenseitig Mitteilung zu machen.
Bei Mifsbrauch einer erteilten Bewilligung kann dieselbe einem Geschäfte ent-
zogen werden.
§ 14. Alle Ucberzeitarbeit ist besonders zu entschädigen. Der betreffende
Lohn soll wenigstens 15 Prozent höher sein, als der gewöhnliche Lohn.
§ 15. Die Angestellten in Laden- und Kundengeschäften können in der
offenen Geschäftszeit zur Bedienung der Kunden ohne Beschränkung verwendet
werden, aber unter der Bedingung, dafs ihnen, aufser der erforderlichen Zeit für
die Mahlzeiten, eine ununterbrochene Nachtruhe von mindestens 10 Stunden ge-
währt w'ird.
§ 16. Wöchnerinnen dürfen nach ihrer Niederkunft 4 Wochen lang im Ge-
schäft überhaupt nicht und während der folgenden zwei Wochen nur dann be-
schäftigt werden, w*enn das Zeugnis eines diplomierten Arztes dies für zulässig
erklärt. Sic sind berechtigt, bis auf 8 Wochen von der Arbeit wcgzubleiben.
Jfochschw'angcrn Personen ist gestattet, die Arbeit jederzeit auf blofsc Anmeldung
hin nicderzulegen.
IV. Dienstvertrag, Arbeitsordnung.
§ 17. Das ArbeiLsvcrhältnis kann, wenn nichts anderes verabredet ist, durch
eine jedem Teile freistehende, 14 Tage vorher erklärte Kündigung, jedoch nur auf
den Zahltag oder Samstag gelöst werden. Werden durch besondere Uebereinkunft
oder in einer Arbeitsordnung andere Kündigungsfristen vereinbart, so müssen sie
für beide Teile gleich sein. Vereinbarungen, welche dieser Bestimmung zuwider-
laufen, sind nichtig.
Bei Stückarbeit geht die Kündigung auf den Zeitpunkt der Vollendung einer
angefangenen Arbeit, sofern dabei die ordentliche Kündigungsfrist nicht um mehr
als 4 Tage verkürzt oder verlängert wird.
Die ersten zwei Wochen von der Anstellung an gelten als Probezeit in dem
Sinne, dafs es bis zum Ablauf derselben jedem Teile freisteht, das Arbeitsverhältnis,
unter Einhaltung einer mindestens dreitägigen Kündigungsfrist, aufzulösen.
§ 18. Aus wuchtigen Gründen kann (Art. 346 O. R.) die Aufhebung des
Dienstvertrages vor Ablauf der Dienstzeit von jedem Teile verlangt werden.
Uebcr das Vorhandensein solcher Gründe entscheidet der Richter nach freiem
Ermessen.
Liegen dieselben in vertragswidrigem Verhalten des einen Teiles, so hat dieser
vollen Schadenersatz zu leisten. Im übrigen werden die ökonomischen Folgen einer
vorzeitigen Auflösung vom Richter nach freiem Ermessen bestimmt, unter Würdigung
der Umstände und des Ortsgebrauches.
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Gesetzgebung : Schweiz.
§ 19. Jeder Arbeiterin ist bei ihrem Austritt auf Verlangen ein Zeugnis über
Art und Dauer der Beschäftigung auszustellen ; dieses Zeugnis ist auf Verlangen der
Arbeiterin auch auf ihre Aufführung und Leistungen auszudehnen.
Den Arbeitgebern ist untersagt, die Zeugnisse mit Merkmalen zu versehen,
welche den Zweck haben, die Arbeiterin in einer aus dem Wortlaut des Zeugnisses
nicht ersichtlichen Weise zu kennzeichnen.
Ist die Arbeiterin minderjährig, so kann das Zeugnis vom Vater oder Vormund
gefordert und bebändigt werden. Auf Gutheifsen der Vollziehungsbehörde hin kann
die Aushändigung auch gegen den Willen des Vaters oder Vormundes an die Ar-
beiterin direkt erfolgen.
§ 20. Arbeitsordnungen und deren Abänderungen bedürfen der Genehmigung
des Rcgicrungsrates und sind mit derselben versehen an sichtbarer Stelle des Ge-
schäftslokales anzuschlagen. Bevor die Genehmigung einer Arbeitsordnung erteilt
wird, soll den betroffenen Personen Gelegenheit geboten werden, sich darüber aus-
zusprechen.
§ 21. Ein diesem Gesetz unterstelltes Geschäft kann, sofern dessen Umfang
oder Natur es rechtfertigen, zum Erlafs einer Arbeitsordnung angehalten werden.
Eine Arbeitsordnung soll jedenfalls enthalten : die Bestimmungen über die Arbeitszeit
und deren Einteilung, die Bedingungen des Ein- und Austritts, die Art der Lohn-
zahlung, allfällige Bestimmungen über Bufsen und die Bezeichnung derjenigen Be-
hörden, w’elche den Vollzug dieses Gesetzes zu überwachen haben.
Erzeigen sich bei Anwendung einer Arbeitsordnung Ucbclstände, so können
die Vollzugsbehörden jederzeit die Revision dieser Arbeitsordnung verfügen.
V. Lohnzahlung, Abzüge, Schadenersatz.
§ 22. Der Lohn ist, sofern nicht Monats- oder Jahresanstcllung vereinbart
wurde, mindestens alle 14 Tage und zwar an einem Werktage während der Ar-
beitszeit und im Geschäftslokale in den gesetzlichen Münzsorten bar auszubczahlcn.
Lohnabzüge für Miete, Reinigung, Heizung oder Beleuchtung des Lokals,
sowie für Miete und Benützung der Werkzeuge sind untersagt.
§ 23. Lohn darf nur bei vorausgegangener gegenseitiger Vereinbarung und
höchstens bis auf die Hälfte eines durchschnittlichen Wochenlohnes zurückbchalten
werden (Decoropte).
Ebenso ist das Zurückbehalten von Lohn zu Vcrsicherungszwccken nur bei
gegenseitigem Einverständnis zulässig.
§ 24. Herabsetzungen des Lohnes sind den beschäftigten Arbeiterinnen so
rechtzeitig anzuzeigen, dafs es ihnen möglich ist, zu kündigen, ohne von der Herab-
setzung betroffen zu werden.
$ 25. Bufsen dürfen nur verhängt werden, w'enn sie in einer genehmigten
Arbeitsordnung angedroht sind. Eine Bufse darf einen Viertel des Taglohns der
gebüfsten Person nicht übersteigen und ist im Interesse der beschäftigten weiblichen
Personen und unter ihrer Zustimmung zu verwenden. Ucber den Bezug solcher
Bufsen und deren Verwendung ist Buch zu führen.
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Gesetzentwurf betreffend Arbeiterinnenschutz.
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§ 26. Giebt der Geschäftsinhaber« Kost und Wohnung, so ist dies in billiger
Weise in Anrechnung zu bringen. Hierbei soll den Anforderungen an eine aus-
reichende und gesundheitsgemäfse Ernährung und Unterkunft Genüge geleistet werden.
§ 27. Wer die gemäfs Gesetz, Arbeitsordnung oder in besonderen Verein-
barungen bestehenden Verpflichtungen verletzt, hat dem andern Teile den verur-
sachten Schaden zu ersetzen (Art. Hoff. O. R.). Ueber die Höhe der Entschädigung
entscheidet der zuständige Richter, unter Würdigung aller Verhältnisse, nach freiem
Ermessen.
Lohnabzüge für verdorbene Arbeit dürfen nur gemacht werden , wenn der
Schaden aus Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit entstanden ist.
VI. Straf- und Vollzugs bestimmungen.
§ 28. Der Vollzug dieses Gesetzes ist Sache der Gemeindebehörden und der
Rcgierungsstatthalter, welche unter Aufsicht und Leitung der Direktion des Innern,
bezw. eines besondern kantonalen Inspcktoratcs das Nötige vorzukehren haben.
Die Direktion des Innern und die Gemeinderäte führen Verzeichnisse der
unter dieses Gesetz fallenden Geschälte. Die genannten Behörden haben sich
gegenseitig Aenderungen mitzuteilen.
Die Direktion des Innern ist gehalten, im Staatsvcrvealtungsbericht regelmäfsig
über den Vollzug dieses Gesetzes Bericht zu erstatten und darin die erteilten Be-
willigungen zur Ucbcrzeitarbeit zu verzeichnen.
§ 29. Die Direktion des Innern ist befugt, je nach Bedürfnis durch Sach-
verständige periodisch Inspektionen vornehmen zu lassen.
Abfällig nötig werdende Aufstellung eines kantonalen ständigen Inspektorates
bleibt einem Dekrete des Grofsen Rates Vorbehalten.
Den mit dem Vollzug und der Ucbcrwachung dieses Gesetzes beauftragten
Organen ist auf Verlangen jederzeit der Eintritt in die Arbeitsräume und Geschäfts-
lokalc zu gestatten.
§ 30. Jedem der unter dieses Gesetz fallenden Geschäfte ist nach Inkraft-
treten desselben je ein Exemplar davon zuzustellen. Weitere Exemplare können
jederzeit bei den Gemeindebehörden unentgeltlich bezogen werden.
§ 31. Der Geschäftsinhaber ist dafür verantwortlich, dafs in seinem Geschäfte
den Anforderungen dieses Gesetzes genügt wird.
§ 32. Uebcrtretungcn der §§2, 4 — 6, 8— tl, 13 — 16, 19 — 25, 31 seitens der
Geschäftsinhaber oder ihrer Vertreter werden mit Polizeibufse von Fr. 5 bis 200
geahndet. In Wiederholungsfällen und bei erschwerendem Thatbcstand kann Ge-
fängnisstrafe bis auf 14 Tage ansgesprochen werden.
§ 33- Dieses Gesetz tritt (nach seiner Annahme durch das Volk) auf den
in Kraft.
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MISZELLEN. i
Die Lage der studentischen Hauslehrer an den
Wiener Hochschulen.
Von
Dr. FRITZ WINTER,
in Wien.
Die Struktur des Hochschullebens hat sich seit einer geraumen
Zeit sehr verändert. Die »alte Burschenherrlichkeit« ist längst vorbei,
an ihre Stelle ist eine grofse Zerklüftung des studentischen Lebens ge-
treten. Auch unter den Studenten zeigen sich die Gegensätze, die unser
gesamtes gesellschaftliches Leben beherrschen. Die einen beziehen die
Hochschule, unterstützt von den grofsen Geldmitteln ihrer Väter, und
die Zeit des Studiums ist für sie eine Zeit, in der sie sich frei von
allen drückenden Verpflichtungen auslcben und austoben können , dabei
die Formen des Studentenlebens aus der Mitte des vorigen Jahr-
hunderts karrikiert bewahrend. Die anderen aber beziehen die Hoch-
schule, ohne jedes Mittel zum Studium oder zum Leben während der
Studienjahre. Sie finden keine Stütze an ihrer Familie, ja sie selbst
müssen die Rolle des Ernährers dieser Familie übernehmen. Die ge-
sellschaftlichen Traditionen gewisser Schichten der minder bemittelten
Kaufmannswelt, der unteren Beamtenschaft, die sämtlich in einem mehr
oder minder glänzenden Elend leben, zwingen sie, ihre Söhne studieren
zu lassen. Die Hoffnung, durch das akademische Studium ihre Kinder
in eine höhere Gesellschaftsschichte aufsteigen zu lassen, verführt sie, auf
die Erwerbskraft ihrer Söhne auf Jahre hindurch zu verzichten. Aber
andererseits müssen diese Söhne selbst darauf sehen, sich die Mittel für
das Studium durch Arbeit zu verschaffen. Für sie sind die Studenten-
jahre nicht Jahre des Austobens, sondern eine Zeit angestrengtester Er-
werbsart, um so angestrengter als sie an eine erträgnisreiche Arbeit
nicht denken und neben einer mühevollen, wenig einträglichen Arbeit
ihre Pflichten gegenüber der Wissenschaft, ihrem Studium erfüllen sollen.
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F. Winter, Die Lage der Student. Hauslehrer an den Wiener Hochschulen. 703
So wächst ein geistiges Proletariat heran, dem jedes Studienjahr neue
Rekruten zuführt.
Der erwerbende Student ist eine ständige Erscheinung unserer Hoch-
schulen geworden. Seine Lage, die Bedingungen, unter denen er er-
wirbt, unter denen er studieren mufs, die Art seines Erwerbs sind aber
unseres Wissens bis heute noch nicht Gegenstand einer wissenschaftlichen
Untersuchung gewesen.
Im österreichischen Abgeordnetenhaus nun wurde im Winter ver-
gangenen Jahres ein Gesetzentwurf eingebracht, der »ergänzende Vor-
schriften über den Dienstvertrag für Krankenpflege, Unterricht,
Erziehung und andere höhere häusliche und persönliche Dienstleistungen«
schaffen sollte. Dieser Gesetzentwurf, der sich im grofsen und ganzen
mit der Festsetzung von Kündigungsfristen und Fristen für die Gehalt-
auszahlung beschäftigt, nebenbei für gewisse Kategorieen eine Regelung
des Dienstverhältnisses im Falle der Krankheit des Dienstnehmers ver-
sucht, war die Veranlassung für die Durchführung einer Enquete über
die Lage des studentischen Hauslehrers. Der Nachhilfeunterricht an
Schüler der Volks- und Mittelschulen ist ja der Haupterwerbszweig der
erwerbenden Studenten. Die Enquete wurde vom »sozialwissenschaft-
lichen Bildungsverein« an der Wiener Universität veranstaltet. Sie war
eine schriftliche. Die Mitglieder des Vereines sorgten in rührigster
Weise für die Verbreitung der Fragebogen und so ist es trotz der
nationalen und politischen Gegensätze an den Wiener Hochschulen ge-
lungen, eine gröfsere Anzahl von Studenten zur Darlegung ihrer Lebens-
verhältnisse zu bringen Die Enquete war ursprünglich unternommen
worden, um Material für eine Verbesserung des erwähnten Gesetzent-
wurfes zu schaffen, der gerade an den für die studentischen Hauslehrer
entscheidenden Stellen versagt , sie hat sich im Laufe der Beratungen
zu einer Erhebung über die Lage der studentischen Hauslehrer über-
haupt erweitert, und ihre Ergebnisse gewähren einen interessanten Ein-
blick in dieses Stück Erwerbsarbeit, das nach seinen Vorbedingungen,
wie seinem Endzweck von jeder anderen Enverbsthätigkeit so sehr ver-
schieden ist.
Im ganzen sind 22t Fragebogen cingelaufen, von denen 196 der
Bearbeitung unterworfen werden konnten. Hiervon entfallen t3o Bogen
auf die Wiener Universität, 44 auf die technische Hochschule, 2r auf
Besucher des Gymnasiums und ein Bogen auf einen Besucher der Handels-
akademie. Die ungleichmäfsige Verteilung auf die verschiedenen Hoch-
schulen ist aber durchaus nicht auf eine geringere Beteiligung der Technik
an der Enquete , sondern wohl hauptsächlich auf den Umstand zurück-
zuführen, dafs die Besucher der Technik infolge der Art ihres Studiums
weniger in die Lage kommen, häuslichen Unterricht zu erteilen. Im
grofsen und ganzen aber ist die Beteiligung an der Enquete eine schwache
zu nennen. Die Darlegung der Ergebnisse wird uns zu dem Schlufs
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704
Miszellen.
führen, dafs es nicht gelungen ist, in alle Schichten der erwerbenden
Studenten zu dringen, dafs vielmehr die schlechtest Gestellten von den
Fragebogen nicht erreicht wurden. Die Verteilung der Fragebogen
konnte nur an den Hochschulen vorgenommen werden. Diese Studenten
aber sind überhaupt nicht in der Lage, die Vorlesungen zu besuchen.
Um beurteilen zu können, unter welchen Bedingungen die erwerbs-
tätigen Studenten die schweren Konflikte zwischen Broterwerb und
Studium austragen , ist es notwendig festzustellen , vor allem welcher
Teil ihres Einkommens durch ihre Erwerbsthätigkeit ihnen verschafft
wird, und wie weit sie inbezug auf Wohnung und Essen auf die Unter-
stützung ihrer Angehörigen rechnen können , aber es wird auch nicht
aufser acht gelassen werden dürfen, wie lange Zeit die jungen Leute in
Wien wohnen, weil sich aus ihrem kürzeren oder längeren Aufenthalt in
Wien ein genauer Schlufs darauf ziehen läfst, ob sie bereits Ortsbekannt-
schaft genug haben, um auch nur die Wege zu wissen, auf denen sie
sich einen Erwerb verschaffen können.
Die Ex|>erten gehören fast durchwegs den jüngeren Jahrgängen der
Studentenschaft an. 5: Proz. derselben besuchen die Hochschule erst
das erste und zweite Jahr, 34 Proz. das dritte und vierte Jahr und nur
10 Proz. sind bereits mehr als vier Jahre an der Hochschule, während
5 Proz. über diesen Umstand keine Angabe machten. Je länger die
Studenten, die für ihren Lebensunterhalt arbeiten müssen, an der Hoch-
schule sind, desto mehr werden sie ihr entfremdet. Sie nennen sich
wohl noch Studenten, aber in Wirklichkeit hat die ständige Erwerbs-
thätigkeit ihnen das Bewufstsein geraubt, dafs die Studentenjahre nur
Jahre des Ueberganges zu einem wirklichen Beruf sind. Wir finden sie
deshalb auch nicht unter den Experten.
Kategorieen des häuslichen Unterrichtes zu unterscheiden , ist aus
der Enquete nicht möglich. Der Privatunterricht der Studenten hat
erfahrungsgemäfs seine Abstufungen. Von dem gewöhnlichen Nachhilfe-
unterricht, der darin besteht, dafs bei einzelnen Schülern nur wenige
Stunden in der Woche eine Wiederholung des in der Schule Gelernten
vorgenommen wird, dehnt er sich über die Form der Beaufsichtigung
der Arbeit des Schülers während des ganzen Nachmittags aus auf die
Thätigkeit der Lehrer, den Schüler länger oder kürzer auf Spazier-
gängen zu begleiten bis zu einem Dienstverhältnis, das, wie der Gesetz-
entwurf sich ausdrückt, »seine Erwerbsthätigkeit vollständig oder haupt-
sächlich in Anspruch nimmt«. Aber selbst hier bestehen noch Unter-
schiede. Es giebt hier Lehrer, »Hofmeister«, wie sie in Wien genannt
werden, die in die Hausgemeinschaft des Dienstgebers aufgenommen
sind und solche, die aufserhalb des Hauses wohnen. Aber ob gerade
die letztere Kategorie, deren ganze Zeit in der Erwerbsarbeit aufgeht,
unter anderen, schlechteren Bedingungen arbeitet, läfst sich nach der
Enquete nicht feststellen, da auch an diese, die ebenfalls nicht in
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F. Winter, Die Lage der Student. Hauslehrer an den Wiener Hochschulen.
die \ orlesungen kommen, die Fragebogen nicht herangelangen konnten.
Es haben sich an der Enquete nur 6 Leute beteiligt, die »Hofmeisters
sind. Die Enquete beleuchtet also vor allem die gröfste Kategorie der
studentischen Hauslehrer, der Studenten, die in mehreren Familien einzelne
Lektionen geben.
Diese Studenten stammen aus ganz bestimmten Iterufskreisen. Nach
dem Beruf ihres Vaters bezw. der Mutter verteilt, entstammten von je
100 Experten:
der I-and- und Forstwirtschaft 6,12
der Industrie und dem Gewerbe 16,32
dem Handel 28.57
den freien Berufen 27,05
sonstigen 16,32
ohne Angabe waren 5,62
Von je 100 Experten hatten nicht weniger wie 55,62 ihre Väter
in dem Berufszweig des Handels und in den freien Berufen. Nach der
Berufsstellung des Vaters itn Hauptberuf aber waren von je 100 Vätern
der Experten:
Selbständige 36,77
Angestellte 31,62
Arbeiter 9,67
Sonstige 16,32
ohne Angabe 5,62
Vergleicht man beide Zahlenreihen miteinander, so ergiebt sich,
dafs der grüfste Theil der Experten aus Familien stammt, die der kleinen
Kaufmannswelt und der niederen Beamtenschaft angehören, jenen Kreisen,
die, wie schon eingangs erwähnt, mit allen möglichen Opfern ihre Söhne
den akademischen Berufen zuzuftihren streben. Die Rubrik »Sonstige«,
die auch einen ziemlichen Prozentsatz von Hauslehrern stellt, rekrutiert
sich zum allergröfsten Teil aus Witwen nach Vätern der bereits erwähnten
Berufs/weige.
Unter welchen Verhältnissen diese Familien leben , die ihre Söhne
dem kostspieligen und zeitraubenden Hochschulstudium zuftihren, das
charakterisiert wohl am besten die offenherzige Angabe eines Experten,
der die Rubrik »Beruf des Vaters« mit den Worten ausfüllte: »Vorstands-
adjunkt der . . . Bahn, stark verschuldet.« Wir finden aber auch Familien,
wo der Vater gestorben und die Mutter mit einer Reihe unversorgter
Kinder zurtickgelassen wurde, Familien, deren Väter zu alt oder zu krank
zum Erwerb sind. Der Student wird dann der Erhalter der Familie.
Die Enquete hat sich nun darauf beschränkt zu erforschen, welche
Rolle im Gesamteinkommen des Studenten sein Einkommen aus der
Lektionsthätigkeit bildet, da wahrheitsgetreue Angaben über die Höhe
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706
Miszellen.
und Art seines Einkommens nicht zu haben gewesen wären. Es wurde
deshalb gefragt, ob sein Einkommen aus dem Lektionengeben sein ganzes
Einkommen sei , ob es den Hauptteil seines Einkommens bilde , ob es
sich lediglich auf einen Zuschufs zu seinem übrigen Einkommen be-
schränke oder ob es nur ein Taschengeld zur Befriedigung seiner aller-
persönlichsten Bedürfnisse bilde. Das Ergebnis war, dafs von je 100
Hauslehrern das Einkommen aus dem Lektionengeben das ganze Ein-
kommen bildete bei 48,98, den Hauptteil ihres Einkommens bei 32,14,
einen Zuschufs dazu bei 10,72 und lediglich ein Taschengeld bei 8,16.
Bei dem gröfsten Teil der Hauslehrer, bei 81,12 Proz. , bedeutet dem-
nach ein gänzlicher oder theilweiser Ausfall der Lektionen ein mehr
oder minder grofses Elend nicht nur für den Studenten selbst, sondern
auch für seine Familie.
Die Lebensverhältnisse der Studenten sind demnach sehr traurige.
Es haben zwar 53,06 Proz. von ihnen eine Wohnung bei Eltern oder
Verwandten, 8,16 Proz. eine unentgeltliche Wohnung durch einen
Unterstützungsverein ’) und nur 37,76 Proz. wohnen bei fremden Leuten,
während von 1,02 Proz. hierüber keine Angaben vorliegen. Aber trotz-
dem müssen 60,21 Proz. aller Experten für ihre Wohnung bezahlen, auch
ein grofser Teil derjenigen, der bei den Eltern wohnt.
Mit der Beköstigung der Lehrer steht es noch schlimmer, wenn
auch die mannigfaltigen Formen derselben nicht auf eine einfache
Formel zurückzuführen sind. Jedenfalls speisen 52,04 Proz. ganz oder
teilweise bei Eltern oder Verwandten, aber nicht weniger als 65,8t Proz.
haben für ihr Essen zu zahlen. Die F'ragebogen enthüllen herzzerreifsende
Details. Da giebt es eine Reihe von Leuten, welche neben dem Essen,
das sie von ihren Eltern haben , noch eine Anzahl von Speisemarken,
Anweisungen auf Verabreichung von Mittagskost in der vom Senat der
Universität und Technik erhaltenen Speiseanstalt erhalten. Man kann
sich vorstellen, wie die Beköstigung bei den Filtern beschaffen ist, wenn
die Studenten zu einem solchen Aushilfsmittel greifen. Nicht weniger
als 23 Proz. verschaffen sich ihr Mittagessen überhaupt nur durch diese
Speisemarken. Da die Unterst ützungsvereine aber nicht für alle Tage
der Woche an einen Petenten diese Marken herausgeben, so ist es sehr
fraglich, ob sie an den anderen Tagen der Woche überhaupt ein Mittag-
essen haben. So antwortet z. B. ein Experte auf die Frage, woher er
seine Mahlzeiten bezieht, mit dem bezeichnenden Wort > nirgends« und
fügt erklärend hinzu » Büffet <. Das bedeutet, dafs er zu Mittag kaum
mehr als ein Butterbrot oder ein »paar Würstel« ifst. Kin anderer
wieder schreibt: »Firnähre mich kärglich.'
’) Diese verhiiltnismäfsig bedeutende Zahl ist nur auf den 7.ufal! zurflckiu-
tühren, dafs eine gröfserc Anzahl der Bewohner des in Wien bestehenden Studenten-
heims an der Enquete sich beteiligten.
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F. Winter, Die Lage der Student. Hauslehrer an den Wiener Hochschulen,
707
Die Lage dieser Studenten ist demnach eine solche, dafs sie auf
jede Lektion, die sie bekommen, angewiesen sind, dafs sie ihre Arbeits-
kraft um jeden Preis, auch den geringsten, verkaufen.
Von den 196 Experten werden im ganzen 348 Lektionen gegeben,
die sich aber nicht auf alle gleichmäfsig verteilen. Von 100 Experten
wird nur je eine, von 59 je 2, von 24 je 3, von 9 je 4 und von je 2
je 5 und 6 Lektionen gegeben.
Die Lektionsthätigkeit soll nur einen Nebenerwerb der Studenten
darstellen , sie soll ihm ermöglichen in möglichst kurzer Zeit möglichst
viel Geld zu verdienen und soviel als möglich von seiner Zeit für die
Studien zu ersparen. Doch hat die Lektionsthätigkeit diesen Charakter
nicht bei allen Studenten. Bei einem grofsen Theil derselben wächst
sich diese Nebenbeschäftigung direkt zu einem Hauptberuf heraus, der
den Studenten von seiner eigentlichen Beschäftigung, dem Studium, fern-
hält. Von je 100 Experten gaben in einer Woche
I — 3 Stunden demnach jeden zweiten Tag 1
4 — 6 Stunden demnach täglich I Stunde
Stunde
7 — 12
13—18
19—24
25—30
31—36
über 36
1» 2
»» 3
.. 4
»» 5
„ 6
über 6
11,63
28,08
28,61
14,83
8, 18
5,61
1,53
1,53
Wenn man inbetracht zieht, dafs für jede Lektion auch noch die
Zeit eingerechnet werden mufs, die auch den Hin- und Rückweg ent-
hält, so hat man jedesmal gering gerechnet eine Stunde zuzuschlagcn.
Dazu kommt noch der Weg von einer Lektion zur anderen. Ein
Student, der 2 Stunden täglich giebt, hat den Nachmittag gerade ausge-
füllt, einer, der mehr wie 2 Stunden giebt, ist mit Arbeit schon über-
lastet. Mehr wie 2 Stunden täglich geben aber 31,68 Proz., beinahe
ein Drittel der Experten. Die Art der Arbeit ist dazu eine sehr ab-
spannende und ermüdende und gestattet nur den mit besonderer Energie
Ausgestatteten sich nach Absolvierung der Lektionen noch mit ihrem
Studium zu beschäftigen. Natürlich sind gerade die am meisten mit
Stunden belastet, für die das l.ektionieren Lebensnotwendigkeit ist!
Mehr wie 2 Stunden täglich geben von je too Experten, die ihr
ganzes Einkommen aus der Lektionsthätigkeit ziehen, 39,58, von denen,
bei denen es den Hauptteil des Einkommens bildet 33,29 , während
von den Experten, für die die Lektionsthätigkeit einen Zuschufs zu ihrem
Einkommen oder nur Taschengeld abwerfen soll, nur 4,76 bezw. 12,50
mehr wie 2 Stunden täglich geben. Die Lektionsthätigkeit bedeutet so
für sehr viele Stutenden eine sehr langwierige und angestrengte Arbeit.
Liefert sie nun auch den entsprechenden Ertrag?
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708
Miszellen.
Das monatliche Einkommen der Experten schwankt aufserordentlich.
Das niedrigste, das zu verzeichnen ist, erreicht 5 K. nicht, während das
höchste bis auf 1 70 K steigt. Dazwischen finden sich alle möglichen
Abstufungen. Von je 100 Experten hatten ein Einkommen von
0 — 15 K.
.... 5,10
16—50 „
.... 47.44
51 — 100 „
.... 32.67
über 100 „
.... 14,28
ohne Angabe
.... 0,51
Die gröfsere Hälfte hat also ein Einkommen , das nicht mehr als
50 Kronen beträgt. Untersuchen wir nun die einzelnen Kategorieer,, so
hatten von je 100 Experten derselben Kategorie, denen das Einkommen
aus der Lektionsthätigkeit
bildete
ein
das Ganze den Ilauptteil
einen
ein
Einkommen
des Einkommens
Zuscliufs
Taschengeld
0—15
3.*3
3,‘S
9*5 1
18,75
16—50
36,46
49.24
85.72
56,25
51 — IOO
39.57
34,95
4.77
18,75
über ico
20,84
11.13
—
6,25
ohne Angabe
—
1,60
—
—
Es zeigt sich demnach, dafs die Grenze des monatlichen Einkommens
von 50 K., die wohl als das Existenzminimum angesehen werden kann,
am meisten von denen überschritten wird, die ihren ganzen I .ebens-
unterhalt aus der I.ektionsthätigkeit ziehen. Diese Leute übernehmen
eben so viele Stunden als sie erhalten können.
Allein weder aus der Anzahl der wöchentlich gegebenen Stunden
noch aus dem monatlichen Gesamteinkommen lassen sich die Lohngesetze
des Stundengebens feststellen. Dazu ist es notwendig, den auf die
einzelne Lektionsstunde entfallenden Preis mit den Umständen in Ver-
bindung zu setzen, von denen der Lohn beeinflufst werden kann. Fassen
wir die auf die einzelnen Stunden entfallenden Preissätze nach Kate-
gorieen, die von 50 zu 50 Hellern ansteigen, zusammen, so halten von je
100 Lektionen einen Preis von
0 — 50 H.
2,87
151 — 200 H.
38.21
301—
-350 H.
0,87
51 — IOO „
29,59
201 — 250 „
6,03
35*“
400 „
0,29
101—150 „
19.59
251—300 „
2,31
über
400 „
0,58
Bei dem Preissatz von 2 K. für die Lektion bricht die Steigerung
plötzlich ab; die Anzahl der Lektionen, die mehr als 2 K. trägt, sind
so kleine, dafs sie sich als Ausnahme darstellen. Es zeigt aber von
der aufserordentlich schlechten Bezahlung der Lektionen, dafs mehr als
die Hälfte der Lektionen keinen höheren Lohnsatz wie 1 5o H. haben,
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F. Winter, Die Lage der Student. Hauslehrer an den Wiener Hochschulen. 709
Immerhin ater finden sich doch mehr wie 38 Proz. der Lektionen, die
•einen Preissatz von 2 K. haben, was als ein sehr hohes Honorar be-
zeichnet werden mufs. Gerade an diesem Punkt zeigt sich nämlich
ziemlich deutlich, dafs die Enquete an die schlechtestentlohnten Studenten
nicht herangekommen ist. Durchblättert man nämlich die Fragebogen
bei jener Frage, in der die Experten aufgefordert wurden, die schlechteste
Lektion anzugeben , die sie jemals gehabt haben , so stöfst man auf
ganz wunderliche Entlohnungen, die natürlich auch heute noch vorhanden
sein müssen, um so mehr da die Experten ja zum gröfsten Teil den
jüngeren Jahrgängen entstammen. Da wird von Lektionen berichtet,
für die bei einer Arbeitsleistung von 6 Stunden wöchentlich ein Monats-
honorar von 8 Kronen, für 7 Stunden ein solches von 6 Kronen oder
von 10 Kronen bezahlt und zwar in mehreren Fällen, so dafs wohl von
Ausnahmsfallen nicht die Rede sein kann. Die in jeder Hinsicht
■originellste Lektion hatte jedenfalls der Experte, der eine Lektion von
5 Uhr früh bis 8 l’hr früh und von 12 Uhr mittags bis 9 Uhr abends
gab und als Honorar hierfür, die Wohnung »ein Hofkabinett, in dem
man sich nicht umdrehen konnte», Frühstück, 20 K. monatlich, sowie —
ein paar sehr deutliche Liebcsanträge seitens der Hausfrau erhielt.
Die Höhe des Preissatzes der einzelnen Lektion variiert nach der
Art des Unterrichtes, nach der Ausdehnung der Lektion und nach dem
Beruf, dem der Vater des Schülers angehört.
Setzt .man die Prciskategorieen einer Lektionsstunde in Verbindung
mit der Art des Unterrichtes, der zu leisten ist, so erhält man
folgendes Bild. Von je 100 Lektionen, die zu geben waren, kamen in
eine Preislage von
O
bis
50 H.
; 5*
bis '
100H.I
101
bis
150H.
151
bis
200II.
201
bis
250H.
251
bis
300H.
301
bis
350H.
35*
bis
400II.1
über
400H.
Volks- und Bürgerschüler
10,00
60,00
20,00
10,00
—
—
—
—
—
Mittelschüler (unt. Klassen)
o,5S
31,20
21,97
39,25
5.4°
1,08
-
0,54
—
Mittelschüler (ob. Klassen)
3.45
",49;
>4,94
50,57
8,05
5,75
i 3,45
2,3°
Spezialfächer
—
34,49
17,25
31,02
13.29
3,45
—
—
ohne Angabe
33.33
16,76
j
50,00
—
1
—
—
Es zeigt sich demnach ein gewisser Unterschied in der Bezahlung,
je nach dem Alter des Schülers. Bei dem Unterricht von Volks- und
Bürgerschülern fallen 90 Proz. der Lektionen in die Preiskatagorieen bis
zu 150 Hellern, bei den Mittelschülern der unteren Klassen und den
Archiv für *01. Gesettgebung u. Statistik. XVII. ^ 4<>
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7io
Miszellen.
Spezialfächern (Klavier, Stenographie u. dergl.) sind es nur mehr 54
bezw. 52 Proz.), während der Unterricht von Mittelschülern der oberen
Klassen zur gröfseren Hälfte in die Preiskategorie von 1 5 1 — 200
Hellern fällt.
Vergleicht man nun in derselben Weise die Anzahl der in einer
Woche zu absolvierenden Stunden einer Lektion, so zeigt sich der innige
Zusammenhang, der da besteht.
Es hatten von je 100 Lektionen in der wöchentlichen Anzahl eine
Entlohnung von
1—3
4—6
7—12
13—
19—24
25 — 30 mehrwie3<>
von
0 — 50 H.
0,65
1.83
6,52
Stunden
37.50
50,00
51 — 100 „
28,38
17.43
39,13
60,00
50,00
75.00
—
IOI — 150 „
17.42
25.69
15.15
15,00
12,50
12,50
—
151—200 „
47.74
39.45
23,91
20,00
—
—
50,00
201 — 250 „
3.23
1 1,01
8,7°
—
—
—
—
251- 300 „
t.93
1,83
4,35
5,00
—
—
—
301-350 „
0,65
0,92
2,17
—
—
—
—
351-400 „
—
0,92
—
—
—
—
—
mehr wie 400 H.
—
0,92
—
—
—
12,50
—
100,00
100,00
100,00
100,00
100,00
1 00,00
100,00
Von den Lektionen, die eine wöchentliche Anzahl von 1 — 3 Stunden
umfafsten, liegen die meisten in der Preislage von 1S1 — 200 H. Auch
die Lektion mit einer Arbeitsleistung von 4-6 Stunden hat die Mehr-
heit der Fälle in derselben Preislage, doch schon eine sehr grofse An-
zahl in der nächstniedrigeren Preislage von 51 — 100 H. Aber bei einer
Dauer der Lektion von 7 — 12 Stunden die Woche rückt die Mehrheit
der Fälle in diese Preiskategorie und bleibt hier auch bei den übrigen
Lektionen von noch gröfserer Ausdehnung. Je anstrengender und länger
eine Lektion ist, desto schlechter wird sie bezahlt Der Grund ist leicht
erklärlich. In jeder Familie, die einen Hauslehrer nimmt, wird nur ein
bestimmter Geldbetrag für diese immer unangenehme Ausgabe einge-
setzt, über den man auch dann nicht hinausgeht, wenn die Anforde-
rungen aufserordentlich steigen. Auf der anderen Seite aber nehmen
die Studierenden jede Lektion an, die ihnen angeboten wird, wenn sich
bei derselben nur der Betrag herausschlagen läfst, den sic zum Leben
brauchen, mag auch die Arbeitsleistung eine aufserordentlich grofse sein.
Die Bezahlung variiert aber auch nach der Berufsstellung, die der
Vater des Schülers einnimmt. Während die Mehrheit der Fälle (48,08 -
Proz.) in der Preislage von 51 — 100 H. liegt, wenn der Vater der In-
dustrie und dem Gewerbe angehört, so liegt die Mehrheit der Fälle
(51,82 Proz.) in der Preislage von 151 — 200 H. wenn der Vater einem
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F. Winter, Die Lage der Student. Hauslehrer an den Wiener Hochschulen. J 1 1
freien Beruf angehört. Es scheint, dafs die Angehörigen der akademischen
Berufe auch die Thätigkeit der Hauslehrer besser einschätzen.
Die Frage, welche Rolle die Naturalentlohnung bei dem Honorar
für die Lektionsthätigkeit spielt, läfst sich aus der Enquete leider nicht
lösen, da ira ganzen nur 33 Fälle von Naturalentlohnung vorkamen,
von denen überdies 12 Fälle sich auf das Vesperbrot beschränkten.
Jedenfalls ist mit der Naturalentlohnung eine Reihe von Uebelständen
verbunden, da die Mahlzeiten nicht nur hinsichtlich der Güte und Menge,
sondern besonders deshalb nicht entsprechen, weil der Lehrer, der sich
nach der Zeiteinteilung im Hause des Schülers richten mufs, oft sehr
viel Zeit mit dem Warten auf die Mahlzeiten versäumt.
Der Termin der Zahlung ist fast durchwegs monatlich. Eine andere
Abmachung kommt äufserst selten vor. Dafür beklagt sich aber eine
gröfsere Anzahl von Lehrern über Unpünktlichkeit in der Einhaltung
des Zahlungstermines.
Einen grofsen Raum in dem Fragebogen nahmen die Fragen nach
dem Ausfall von Stunden durch Verhinderung des Schülers oder Lehrers,
sowie deren Bezahlung ein. Der Gesetzentwurf, der die Veranlassung
der Enquete war, bestimmt nämlich, dafs in bestimmten F'ällen, wenn
der Dienstnehmer durch Krankheit oder einen Unglücksfall an der
Leistung seiner Dienste verhindert sei, dennoch ein Entgelt für die aus-
gefallenen Stunden verlangen könne, dies allerdings nur dann, wenn
das »Dienstverhältnis seine Erwerbsthätigkeit vollständig oder haupt-
sächlich in Anspruch nimmt«.
Die Enquete fallt nun für diese Verhältnisse in eine schlechte Zeit,
da für diese Fragen als Stichzeit die Zeit vom 1. Dezember bis
10. Januar angegeben war, in welche die Weihnachtsferien fallen. Da
nun viele Studenten um diese Zeit in die Heimat fahren, so mufste
die Zahl der durch Verschulden des Lehrers versäumten Stunden eine
über das gewöhnliche Mafs hinausgehende sein. Dennoch zeigt sich,
dafs von 100 ausgefallenen Stunden 66,61 durch Verschulden des
Schülers und 33,39 durch Verschulden des Lehrers entfielen. Von den
letzteren war ein Drittel durch Krankheit des Lehrers versäumt worden.
Die Absage der Stunde durch den Schüler ist immer für den Lehrer
sehr unangenehm, selbst, wenn die Absage rechtzeitig erfolgt. Mit der
gewonnenen freien Zeit läfst sich ja gewöhnlich nicht viel anfangen.
Dazu kommt noch , dafs beinahe 24 Proz. der durch Verschulden des
Schülers versäumten Stunden gar nicht rechtzeitig abgesagt wurden, so-
dafs der Lehrer noch den Weg in das Haus des Schülers machen
mufste, und dort erst erfuhr, dafs die Lektion nicht abgehalten werden
sollte. Ueberdies aber wurden ihm von den Stunden, an deren Ver-
säumnis der Lehrer gar kein Verschulden trägt , nicht weniger als
70 Proz. gar nicht vergütet. Dagegen zeigt sich merkwürdigerweise,
46*
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712
Miszellen.
dafs von den durch Verschulden des Lehrers versäumten Stunden die
gröfsere Hälfte allerdings entschädigt wurde, ein Ergebnis, das um so
auffallender ist, als es nicht nur nicht mit den allgemeinen Erfahrungen,
sondern auch nicht mit dem Verhalten bei der Absage der Stunde
durch den Schüler übereinstimmt. • Es scheint dies also mehr ein Zu-
fallsergebnis zu sein und keinen Schlufs auf eine allgemeine Regel zu-
zulassen.
Es erübrigt uns nur noch die Verhältnisse der Lektionenvermittlung
zu besprechen.
Die Aufnahme eines Lehrers ist mehr oder minder Vertrauens-
sache. Die meisten Eltern wünschen für ihre Kinder nur den Lehrer
aufzunehmen, der ihnen von irgend einer Seite empfohlen wird. Aber
auch hier wie ülierall besteht ein weiter Markt, auf dem die Stunden
ausgeboten werden. Das Annoncieren der Lehrer, wie der Eltern des
Schülers nimmt einen breiten Raum in der Lektionenvermittlung ein.
Dagegen ist die Thätigkeit der verschiedenen Studentenvereine, die sich
mit Lektionenvermittlung beschäftigen, eine sehr minimale. Von je
too in die Enquete einbezogenen Lektionen waren vermittelt worden
durch
eine Annonce des Lehrers *0,93
„ „ „ Schülers 5,47
Empfehlung ehemaliger Lehrer 24,42
.. .. Schüler 9,78
„ Privater 38,19
Untcrstützungsvcrcinc 1,74
auf andere Weise 5,74
ohne Angabe 3,73
Die meisten Stunden werden daher durch Empfehlungen vermittelt.
Es ist aber vor allem für das Honorar, das man für die Lektion
erzielen kann, nicht gleichgültig, auf welche Weise dieselbe vermittelt
wurde. Während bei der Vermittlung durch eine Annonce des Schülers
oder des Lehrers der gröfste Teil 47,37 bezw. 39,48 Proz. in die
Preislage von 51 — 100 H per Stunde fällt, rückt die Mehrheit der Fälle,
wenn irgend eine Empfehlung vorliegt, in die Preisstufe von 151 — 200 H.
Geschieht nämlich die Vermittlung durch eine Annonce, so zeigt sich
sofort das Ueberangebot an Arbeitskräften, das bei dem l.ektionieren
immer vorhanden ist, während dann, wenn der Lehrer auf, eine Empfeh-
lung hin aufgenommen wird, er nicht nur selbstbewufster auftreten kann,
sondern auch die Eltern des Schülers in Rücksicht auf den Empfehlenden
sich scheuen werden, allzusehr den Preis zu drücken. Eine Empfehlung
kann sich aber nicht jeder verschaffen. Namentlich die Ortsfremden —
und von den Experten hatten nicht weniger als 58,04 Proz. aufserhalb
Wiens maturiert und waren 39,28 Proz. weniger als zwei Jahre in Wien —
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F. Winter, Die Lage der Student. Hauslehrer an den Wiener Hochschulen, jrjj
entbehren dieser Unterstützung ganz. Daher ist es erklärlich, dafs sehr
häufig zu dem bequemen wenn auch unrationellen Mittel des Inserates
gegriffen wird. Von den Kxperten hatten 35,71 Proz. am Beginn des
letzten Wintersemesters nicht weniger als 287 Annoncen aufgegeben,
für die sie insgesamt 356 K. auslegten. In den zwei gelcsensten Wiener
Tagesblättem waren in der Zeit vom 15. September bis 15. Oktober
vorigen Jahres, also in der Zeit des Schulbeginnes nicht weniger als wie
rund tausend Inserate über Lektionen zu finden.
So ist das Lektionen vermittlungswesen ein sehr schlecht organi-
siertes. Leute, die in Wien nicht bekannt sind, werden bei dem
herrschenden Ueberangebot kaum zu einer Lektion kommen. Ist cs
doch charakteristisch, dafs von den Experten nicht weniger als 47,44
Proz. erklärten, dafs sie für ihre Bedürfnisse nicht genügend Stunden
haben. Der Wechsel der Lehrer aber ist ein sehr häufiger. Von je
100 Lektionen hatten begonnen
vor mehr als 3 Jahren 8,35
vor weniger als 3 aber mehr als 2 Jahren . . 6.34
vor weniger als 2 aber mehr als I Jahr . . . 16,38
vor weniger als einem aber mehr als ■/, Jahr . 5,77
vor weniger als ■/, aber mehr als */* Jahr . . 28,71
vor weniger als */4 Jahr 33,0°
ohne Angabe . 1,45
Die meisten Lektionen (61,71 Proz.) hatten die Lehrer also erst
am Beginn des Schuljahres übernommen. Die I .ektionenvermittlung ist
demnach ein Gebiet, das am meisten der Reform bedarf.
Ueberblicken wir nun das Bild, das die Enquete uns über die
Lage der studentischen Hauslehrer verschafft hat, so wird der Gesamt-
eindruck kein günstiger sein. Die jungen Leute, die da ohne Mittel die
Hochschule beziehen, in der Hoffnung durch eine angestrengte Erwerbs-
arbeit sich die Möglichkeit zur Vollendung ihrer Studien zu verschaffen,
müssen bald bittere Erfahrungen machen. Statt ihr Studium, das sie
ihrem Lebensberuf zuführen soll, ernsthaft zu betreiben, sind sie ge-
zwungen eine abspannende, langweilige und schlechtbezahlte Arbeit zu
leisten, für die sie in ihrer übergrofsen Mehrzahl nicht einmal geeignet
sind. Und doch ist gerade diese Art der Erwerbsthätigkeit unter den
heutigen Studienverhältnissen notwendig , will man weniger bemittelten
Leuten nicht jeden Weg zum Hochschulstudium versperren. Irgend-
welche Reformen auf diesem Gebiete vorzunehmen, ist äufserst schwierig.
An eine zusammenfassende Organisierung der Studenten ist nicht zu
denken, an eine gesetzliche Festlegung eines Minimallohnsatzes, wie sie
von sehr vielen der Experten verlangt wird, ebensowenig. Es bleibt
nichts anderes übrig, als einerseits gesetzliche Bestimmungen zu schaffen,
die schärfer als der Entwurf des oft erwähnten Gesetzes die Rechte der
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Miszellen.
Hauslehrer wahren und Einrichtungen zu treffen, die das Auffinden von
Erwerbsarbeit erleichtern. Andererseits wird man bei der immer wachsen-
deren Zahl der zur Erwerbsarbeit gezwungenen Studenten darangehen
müssen , Einrichtungen zu treffen , die den minder Bemittelten ermög-
lichen, ihre Studien ohne die geschilderten Hindernisse zu vollenden.
Das Problem, das sich da aufthut, ist kein unwichtiges, es handelt
sich darum, für einen kräftigen und unverdorbenen Nachwuchs der
akademischen Berufe aus den Söhnen des Volkes zu sorgen.
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Die Aussichten der elektrischen Landwirtschaft.
Von
DR. OTTO PRINGSHEIM,
in Breslau.
Henry van de Velde schildert den Eindruck, den eine in Paris
ausgestellte Dynamomaschine von riesigen Abmessungen machte, mit
folgenden Worten: »Und dann die Maschine von Siemens & Halske.
Epische C.rofsartigkeit und Adel der Formen verbinden sich in ihr mit
der Erhabenheit und Ruhe einer Landschaft. Mehrere tausend Um-
drehungen macht das riesige Schwungrad in der Minute . . . Andächtig
habe ich vor der Maschine gestanden und in ihr inbrünstig die voll-
kommenste Verkörperung moderner Schönheit bewundert.«
Sollte der Nationalökonom der Entwicklung der Elektrotechnik
nicht mindestens das gleiche Interesse entgegenbringen, wie der Künstler?
Vor kurzem hatte es den Anschein, als ob die Elektrotechnik ein
neues gewaltiges Gebiet erobern würde. Die Zeit schien nicht fern zu
sein, wo auch das platte Land sich allgemein des Vorteils elektrischer
Anlagen erfreuen würde. Durch Vorträge, Ausstellungen und schön aus-
gestattete Broschüren wurde seitens der elektrischen Gesellschaften leb-
hafte Propaganda gemacht, um die Landwirte für den elektrischen Be-
trieb zu gewinnen. Indessen die umfangreichen Projektaufstellungen, die
Konzessionen bei 99 Behörden, die schwierige Finanzierung und andere
Umstände verzögerten den Bau von Uebcrlandzentralen, — bis der
Krach kam. Dieser hat mehrere Gesellschaften vernichtet, die anderen
in ihrer Aktionsfähigkeit gehemmt. So sind in Deutschland zwar zahl-
reiche elektrische Einzelanlagcn auf Privatgütem und Staatsdomänen
entstanden, aber nur wenige Zentralen gebaut worden. Die ganze kul-
turell so wichtige Bewegung, die Elektrizität auf dem Lande einzubürgern,
ist ins Stocken geraten.
Hat die Elektrotechnik erst Vorposten auf das Land gesandt, so
ist es ihr doch gelungen, in wenigen Jahren bedeutende Fortschritte zu
machen. \\Tasser- und Windkraft, Dampfmaschinen und was besonders
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Miszellen.
interessant in einzelnen Fällen FJektromotoren ') werden benutzt, um die
Dynamos anzutreiben, die Licht- und Kraftstrom für weite Strecken er-
zeugen. — Der wichtigste Fortschritt seit 1895 besteht in der Möglich-
keit, die sog. Hochspannungsmotoren direkt ohne Transformator mit
Strom zu versehen.4) Man arbeitet hierbei mit den enormen Spannungen
von 15000 Volt und mehr.*)
Ohne bei technischen Einzelheiten zu verweilen, gehen wir zu der
entscheidenden ökonomischen Frage über: >Hat der technische Fort-
schritt den Preis elektrischer Energie bereits soweit verbilligt, dafs ihre
allgemeine Verwendung in der Landwirtschaft ratsam ist?« Die Frage
dürfte, soweit sie die elektrischen Einzelanlagen betrifft, zu verneinen
sein. Hören wir darüber die Erklärung eines Sachverständigen, des
Reg.-llaumeisters Fischer : »Hinsichtlich der wirtschaftlichen Wirkung der
elektrischen Kraftübertragung bedauere ich manchem Schwärmer, der
grofse Hoffnungen darauf setzt, Enttäuschungen bereiten zu müssen. Die
bis jetzt ausgeführten Anlagen bleiben meines Erachtens den Nachweis
ihrer wirtschaftlichen Berechtigung schuldig, wenigstens, wenn es sich
um Anlage einer eigenen Zentrale handelt. Sehr dankenswert ist die
Veröffentlichung über die Anlagen auf den königlichen Domänen, weil
hier wenigstens teilweise ausführliche zahlenmäfsige Grundlagen gegeben
sind ... Für Rodenberg werden die Kosten bei elektrischem Betrieb
auf 3582 Mk. gegen 3600 Mk. der alten Betriebsweise angegeben, das
bedeutet eine Ersparnis von vollen 18 Mk. Für Sillium beliefen sich die
Kosten früher auf 4400 Mk., nach Einführung des elektrischen Betriebs
auf 4012,52 Mk., sodafs ein Vorteil von 388 Mk. erwächst. Wie ist
aber gerechnet? Die Ausgaben für den Umbau der Stauanlage, des
Grundwerks und der umschliefsenden Gebäudemauem und für die Tur-
binen mit zusammen 39740 Mk. sind ganz aufser Acht geblieben . . .
Ferner ist die Verzinsung zu 3 Proz. gerechnet, ein Zinsfufs, der bei
Aufnahme eines Kapitals für Privatzwecke natürlich nicht ausreicht. Be-
rücksichtigt man diese Umstände, die für Rodenberg in gleicher Weise
zutreffen, so kann von einem wirtschaftlichen Vorteil nicht mehr die
Rede sein . . . »Erst bei einem Preise von 20 Pf. für die elektrische
*) So auf der Anlage des Grafen Lajos Balthydny in Ikervär (Ungarn). Der
filr den Motor notige Strom wird in meilcnwcitcr Entfernung durch Wasserkräfte
erzeugt. Vgl. Dalmady Ödön, Az Ikerväri villamos rativek, Budapest 1900 und
Schuckert & Co., Die Elektrizität im Dienste der Uandwirtschnft (1901) S. 87.
*) Schuckert & Co. a. a. O. S. 63.
’) In Amerika kommen Spannungen von 40 — 50 000 Volt vor. Uppenborn,
Kalender für Elektrotechniker 19. Jahrg. (1902) I, S. 162. Kilr die jüngst pro-
jektierte elektrische Anlage, durch welche die Kraft der Stromschnellen der Mur
nutzbar gemacht werden soll, ist eine Spannung von 17 000 Volt gewählt worden.
Eine solche Spannung kam noch nirgends in Oesterreich in Anwendung.
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Otto Pringsheim, Die Aussichten der elektrischen Landwirtschaft. jij
Pferdekraftstunde, meint der erwähnte Fachmann, sind Ersparnisse gegen-
über dem Lokomobilbetrieb möglich. ’)
Nun setzen die Projekte der Gesellschaft »Helios« für den Kreis
Samter, der A. E. G. für den Kreis Trebnitz und der Finna Gebr.
Körting für denselben Kreis die Kilowattstunde für Kraftbedarf mit
18 Pf., resp. 16 und 20 Pf. an, während für Beleuchtungszwecke
50 und 60 Pf. berechnet werden. Wir sehen also, dafs die Tarife der
grofsen Zentralen sich der angegebenen Norm nähern, wo der elektrische
Betrieb Ersparnisse gewährt. — Bei grofsen städtischen Zentralen rechnet
man noch niedrigere Sätze. Für das zweite Elektrizitätswerk in Breslau
nimmt die Leitung an, dafs zukünftig die Pferdekraftstunde mit 10 Pf.,
höchstens 1 2 Pfg. werde verkauft werden können , wobei noch ein be-
trächtlicher Reingewinn übrig bleiben werde. *) Es handelt sich aller-
dings hier um eine sehr grofse Anlage von mehr als 4000 Pferde-
kräften. *)
Hs ist deutlich, dafs die Zentrale gegenüber der Einzelanlage und die
grofse Zentrale gegenüber der kleineren im Vorteil ist. Je gröfser nun
der Absatz von Elektrizität ist, desto gröfsere Zentralen können gebaut
werden. Die Frage ist nun nicht mehr, woher mit der Elektrizität,
sondern wohin mit der Elektrizität.
Ich hatte bereits darauf hingewiesen, dafs die weitere Entwicklung
dazu führen werde, alle landwirtschaftlichen Maschinen elektrisch zu
betreiben.4) Uebereinstimmend damit erklärte Professor Backhaus:
»Ich glaube, das 20. Jahrhundert wird in der Landwirtschaft unter dem
Zeichen der Elektrizität stehen , allerdings nur dann , wenn sie für alle
vorkommenden Zwecke Verwendung finden kann. Wollte man sie nur
theilweise verwenden, so wäre das nicht richtig, sofern es nicht gelingt,
die wichtigsten Feldarbeiten elektrisch auszuführen, bleibt die Verwendung
der Elektrizität eine halbe Malsregel. < *) — Merkwürdigerweise heifst es
dagegen in einer von Siemens & Halske veranlafsten Publikation: »Die
Bodenbearbeitung durch Eggen, sowie der Betrieb etwaiger Drill- und Mäh-
maschinen erfolgt vorteilhafter Weise durch Zugtiere, da diese Arbeiten
bei einem verhältnismäfsig geringem Kraftbedarf infolge beständigen
Ortswechsels den maschinellen Betrieb sehr komplizieren würden.9)
') Jahrbuch der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft Bd. 16 (1901) S. III.
*) Bericht betr. Erweiterung der städtischen Elektrizitätswerke (in Breslau) S. 4.
*) Die Maschineneinheiten der Elektrizitätswerke sind in stetem Wachstum be-
griffen. Für neuerdings eingerichtete Werke wurden Dampfmaschinen von 6000
Pferdekräften bestellt.
*) ln diesem Archiv Bd. XV, S. 412.
y\ Jahrbuch der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft, Bd. 167 (1901) S. 63.
•) Siemens & Halske A.-G., Die Elektrizität in der Landwirtschaft (1901'
S. 47.
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7*8
Miszellen.
Es unterliegt jedoch keinem Zweifel, dafs elektrischer Betrieb auch
bei den erwähnten Maschinen möglich ist.1) Uebrigens dürften, wenn
erst die Kraftquelle da ist, flir immer neue Zwecke landwirtschaftliche
Maschinen konstruiert werden, darunter solche mit grofsem Kraftbedarf.*)
Abgesehen von dem elektrischen Betrieb aller Maschinen werden
elektrische Heizung und Beleuchtung möglichst vielseitig anzuwenden
und das Signalwesen auszubilden sein. Für die elektrische Beleuchtung
ist es wesentlich, dafs sie nicht nur in Haus und Hof, sondern auch auf
dem Feld erfolgt. Dies wird eine ungemein wichtige soziale Folge
haben, die allgemeine Einführung der Nachtarbeit in die Landwirtschaft.
Schon vor Jahren hat sich ein Mann , wie Rudolf Meyer für landwirt-
schaftliche Nachtarbeit ausgesprochen , als das einzige Mittel , um der
überseeischen Konkurrenz zu begegnen. Heute, wo noch mehr die
Ueberflutung mit amerikanischem, sibirischem und bald auch babylonischem
Getreide droht s), wo die Deroute auf dem Zuckcnnarkt den Rübenbau
gefährdet, wird man aus sozialen Gründen Nachtschichten nicht schlecht-
weg verwerfen können. Man wird höchstens verlangen können, dafs die
in der Industrie eingeführten gesetzlichen Beschränkungen auf die Land-
wirtschaft übertragen werden. — Wo elektrischer Landwirtschaftsbetrieb
besteht, giebt es heute schon Nachtarbeit. Dafs diese beim Dreschen
und Einfahren vorkommt, ist früher gezeigt worden.4) Für die Pflug-
arbeit genüge folgendes Beispiel: »Auf Domäne Catlenburg (Prov.
Hannover) ist mit gutem Erfolge versucht worden, des Nachts zu pflügen,
was bei dem elektrischen Pfluge eher möglich ist, als beim Dampfpfluge,
weil die Arbeit des Maschinisten eine wesentlich leichtere ist. Es sind
keine Kohlen einzuwerfen und kein Wasserstand zu beobachten und
vor allem wird der Maschinist durch kein Kesselfeuer geblendet, sodafs
er viel besser imstande ist, seine Maschine zu bedienen, als der Dampf-
pflugmaschinist. ®)
Bis vor kurzem waren die erwähnten Anwendungen der Elektrizität
die einzigen, die für landwirtschaftliche Zwecke in Frage kamen. In-
zwischen ist in aller Stille ein neuer Zweig elektrischer Landwirtschaft
entstanden, die Elcktrokultur. Unter diesem Namen fafst man alle
Methoden zusammen , das Pflanzenwachstum durch direkte elektrische
*) Vgl. hierzu Backhaus, Das Versuchsgut Quednau (1901) S. 28.
*) In Paris war eine neu erfundene Drainicrmasehine ausgestellt, die 12 Pferde-
kräfte beanspruchte. Dr. Albert u. Schiller, Die landwirtschaftlichen Maschinen
auf der Pariser Weltausstellung (1901) S. 58 (Arbeiten der D. L. G. H. 65.)
*) Vgl. Uber die drohende Konkurrenz Babyloniens P. Kohrbach, Di
Bagdadbahn (1902).
4) ln diesem Archiv Bd. XV, S. 416.
3) Schuckcrt & Co. a. a. O. S. 88
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Otto Pringshcim, Die Aussichten der elektrischen Landwirtschaft 719
Beeinflussung zu befördern.1) Die Bemühungen, durch elektrische Kräfte
Feld- und Gartenfrüchte so zu behandeln, dafs höhere Erträge gewonnen
werden, haben erst im letzten Jahrzehnt zu bestimmteren Resultaten ge-
führt. Im Jahr 1891 begann Paulin seine Versuche, bald darauf folgte
Jean Fuchs in Clos Buraccio auf Elba, seit 1899 experimentiert O’Sulli-
van in Irland erfolgreich, 1900 und 1901 brachte Lemstrüm in Helsing-
fors seine jahrelangen Untersuchungen zum Abschlufs. Heute sind be-
reits drei oder vier Systeme der Elektrokultur vorhanden. Eine Anzahl
Forscher sucht eine Erhöhung der Bodenfruchtbarkeit durch elektro-
lytische Wirkungen zu erreichen , zu diesem Beruf läfst man Pflanzen
zwischen in den Boden versenkten Elektroden wachsen , die Elektrizität
aus einer Gleichstromquelle erhalten. Diese bereits seit einiger Zeit be-
kannte Methode ist neuerdings von dem Ingenieur Heber in Rendsburg
verbessert und mit bedeutendem Erfolge angewandt worden. — Am
zahlreichsten sind die Versuche, die atmosphärische Elektrizität der Ent-
wicklung der Vegetation dienstbar zu machen.*) »Welch ungeheueres
Arsenal für den Ackerbau nützlicher Kräfte beherbergt nicht der den
Erdball umgebende elektrische Luftozean. < (Barral.) Leider hängt der
Erfolg dieser Behandlungsweise von dem wechselnden Zustand der
Atmosphäre ab und bleibt bei grofser Trockenheit auch ganz aus.
Nichtsdestoweniger sind auch hier günstige Resultate erzielt worden.
Auch die statische Elektrizität ist von wohlthätigem Einflufs auf das
Pflanzenleben, l.emström hat die Wirkung der Influenz-Elektrizität syste-
matisch untersucht. s) — Gleichviel, welches System der Elektrokultur den
Sieg davonträgt, die hier gewonnenen Resultate werden der Praxis zu
') Die LiUrratur über Elektrokultur ist bereits recht umfangreich. Zu er-
wähnen ist besonders: E. Wollny, Leber die Anwendung der Elektrizität bei der
Pflanzenkultur (18831. M. O'Sullivan, The Potato bligbt, its cause and preven-
tion (1876). Camille Pabst, Electricite agricole (1894), 3. Abschnitt. Jean
Fuchs, C'ommunicatinn presentee aux membres de la VI. section du IV. congres
international d'agriculturc (Lausanne) le 16 septembre 1898. S. Lemström, Ex-
periences sur Pinfluencc de l’clectricite sur les vegetaux (1890) und Elektrokultur
(1902). A. Daul, Werdende elektrische Gärtnerei (1902). G. Heber, Eleklricität
und Pflanzenwachstum (1902).
*) Uebcr den gegenwärtigen Stand der Lehre von der Luftclektrizilät. Vgl.
Exner, Meteor. Zeitsch. 1900, H. 12 und II. Gcitel, Ucber die Anwendung der
Lehre von den Gasionen auf die Erscheinungen der atmosphärischen Elektrizität
(1902'!.
J) Lemströms Verdienste um die Landwirtschatt beschränken sich nicht hierauf.
Auch seine Methode, die durch Nachtfröste verursachten Schädigungen zu verhüten,
ist beachtenswert. Vgl. Lemström, On Night-Frosts and the means of preventing their
ravages, llelsingfors 1893.
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7 20
Miszellen.
Gute kommen. Für die Landwirtschaft bedeutet das eine Erhöhung
ihrer Erträge, für die Elektrotechnik ein neues Feld der Bethätigung.
Aus den angeführten Thatsachen dürfte hervorgehen, dafs die Land-
wirtschaft ein reiches sich stets erweiterndes Absatzgebiet für Elektrizität
bilden wird. Ob dasselbe in vollem Umfange erschlossen wird, wird
wesentlich von der Haltung der Elektrizitäts-Gesellschaften abhängen.
Glauben dieselben sich für anderweitige Verluste an der Landwirtschaft
entschädigen zu müssen , halten sie sogar eine Ringbildung ’) zur Er-
leichterung des Publikums geboten, so ist es nicht ausgeschlossen, dafs
die Landwirte sich dauernd von der Elektrizität abwenden und etwa in
Spiritusmotoren ihr Heil suchen. Wird umgekehrt den Landwirten
elektrischer Strom zu einigermafsen coulanten Bedingungen geliefert, so
wird die heute noch fehlende Neigung zu Neueinrichtungen sich ein-
stellen und auch kleinere Besitzer ergreifen.2) — Aber selbst in diesem
Falle bleibt die »Elektrisierung« der Landwirtschaft eine gewaltige,
viele Jahre erfordernde Aufgabe. Rechnet man für jeden Kreis nur
2 Elektrizitätswerke und die Anlagekosten derselben mit je einer
Million Mark, so würde nahezu eine Milliarde Kapital erforderlich sein,
während das Gesamtkapital der deutschen elektrischen Gesellschaften nur
500 Millionen betragen soll.
Wollen wir uns die ökonomischen Folgen des elektrischen Land-
wirtschaftsbetriebes klar vor Augen führen, so wird die Annahme zweck-
dienlich sein , der jahrelange L'mgestaltungsprozefs sei bereits abge-
schlossen und der elektrische Betrieb in dem überwiegenden Teile der
Landwirtschaft heimisch. Dies würde notwendigerweise die Abschaffung
eines grofsen Teils der Zugtiere bedingen. Nun entsteht ein interessantes
Problem. Die Notwendigkeit, den Dünger der Zugtiere zu ersetzen und
die Stallungen auszunützen, wird die Aufstellung von entsprechend mehr
Nutzvieh, in erster Reihe von Milchkühen und Mastochsen veranlassen.
Dazu drängt auf der anderen Seite die Verringerung der städtischen
Düngerzufuhr infolge der Zunahme der elektrischen Bahnen, Automobile
und Fahrräder. Wie soll nun diese Vermehrung des Nutzviehbestandes
möglich sein , ohne Druck auf den Milch und Fleischmarkt auszuüben,
*) Vgl. hierüber die Vorschläge von Hans Sönnichscn, Die Vereinigung
der Elektrizitätstirmcn (1902).
a) Wie sehr sich auch kleinere Landwirte mit der Elektrizität befreunden,
zeigt folgender Bericht über die elektrische Anlage in Jaad (Ungarn). ,,Dcr überaus
praktische Wert läfst sich am besten in dem Umstand erkennen, dafs trotz gleich-
zeitigem Vorhandensein einer Dampfdreschmaschine, sowie mehrerer Göpeldrcsch-
maschinen der Besitzer der elektrischen Garnitur um dieselbe förmlich bestürmt
wird und auch der bisher ungläubigste Landwirt gegenwärtig keineu höheren
Wunsch hat als mit dieser Garnitur seinen Drusch besorgen zu können.“
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Otto Pringsheim, Die Aussichten der elektrischen Landwirtschaft. 72 1
wenn jetzt schon mäfsige Erhöhungen der Milchpreise kaum durchzu-
setzen sind?
Um welche Umwälzungen es sich handeln kann, mögen folgende
Ziffern zeigen. Die Produktion von Fleisch und Milch läfst sich in
Deutschland nicht genau feststellen. Fine neuerdings aufgestellte Schätzung
nimmt die Produktion von Rindtieisch zu 700000 Tonnen jährlich an.')
10,5 Millionen Kühe würden bei Annahme von 2000 I.iter jährlichen
Milchertrag 21 Milliarden Liter liefern. Nun waren nach der Zählung
von 1895 mit Ackerarlteit beschäftigt
Pferde Ochsen und Kühe
2646603 3 358659*)
Nimmt man an, dafs nur je eine Million Pferde und Ochsen durch
den elektrischen Betrieb überflüssig werden, so sind zu ersetzen an Dünger
(180 Ctr. pro Pferd, 200 Ctr. pro Stück Rindvieh)
180 Millionen Ctr. Pferdedünger
200 „ „ Rindviehdünger
380 Millionen Ctr. Dünger.
Um diese Düngermengen zu liefern, müfsten 1,9 Millionen Stück
Rindvieh neu aufgcstcllt werden. F.rfolgt eine geringere Zufuhr städtischen
Düngers, so würde die Vermehrung des Viehstapels noch gröfser sein.
Die Vermehrung der Milchproduktion würde mindestens 10 — 20 Proz.
betragen und ebenso bedeutend mehr Fleisch geliefert werden. Bei der
geringen Milchkonsumtion der Arbeiterklasse bedarf cs eines beträcht-
lichen Anwachsens städtischer Bevölkerung, wenn eine Ueberproduktion
vermieden werden soll.")
Auch die heute schon vorhandenen Schwierigkeiten, Stroh abzu-
setzen , können sich nach Verallgemeinerung des elektrischen Betriebs
steigern.
Hand in Hand mit der Veränderung der Viehhaltung, wird eine
Verschiebung der Anbauflächen gehen. Der Anbau von Hafer wird
abnehmen, dagegen Klee, Futterrüben und ähnliche Gewächse mehr
gebaut werden. Hierunter kann ein Teil der Landwirte zu leiden haben.4)
') Der deutsche Bauer und die Getreidczölle (1902) S. 203 und 204. Eine
an gleicher Steile mitgeteiltc Berechnung des Deutschen Landwirtschaftsralcs nimmt
754 425 Tonnen an. Ueber die Schwierigkeit, die deutsche Flcischproduktion zu
berechnen. Vgl. die deutsche Volkswirtschaft am Schlüsse des 19. Jahrhunderts,
S. 53 u. 54.
*) Statistisches Jahrbuch f. d. D. Reich 1900 S. 28.
•) „Die meisten Arbeiterhaushalte zeigen, wenn cs hoch kommt, einen täg-
lichen Verbrauch von nur 1 Liter Milch“. H. Kurei la, Der neue Zolltarif und
die Lebenshaltung des Arbeiters S. 13.
4) Nach Alfred Nossig, Die moderne Agrarfrage S. 434« werden hiervon
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Miszellen.
Ob nicht der Einflufs des elektrischen Landwirtschaftsbetriebs auf
die Arbeiterverhältnisse ein tiefeinschneidender sein wird, verdient jeden-
falls eine besondere Untersuchung, Hier genüge der Hinweis, dafs die
nächsten Folgen Steigerung der Intensität der Arbeit und häufigeres
Vorkommen der Akkordarbeit ') sein müssen. — Auch die Zusammen-
setzung der Arbeiterschaft wird eine andere werden. Neben den neu
auftretenden Monteuren und Maschinisten werden die bei der Wartung
des Viehs beschäftigten Personen, meistens Spezialarbeiter an Bedeutung
gewinnen, während das Gesinde an Wichtigkeit verliert.
Wie die Landarbeiter, werden auch die Landhandwerker von dem
grofsen Umwandlungsprozefs der Landwirtschaft nicht unberührt bleiben. *)
Die Möglichkeit, mit Hilfe der Elektrizität eigene Schmiede- und Stell-
macherwerkstätten zu betreiben, wird von vielen Landwirten benutzt
werden. Wenn auch die selbständigen Handwerker nicht ganz verdrängt
werden, so werden doch die Landwirte mehr, als jetzt in der Lage
sein, auf die Preisforderungen derselben mäfsigend einzuwirken.
Wir brauchen nicht zu erörtern, wie weit die Lage der Bauern
sich ändern wird. Die obigen Andeutungen dürften genügen, um den
eingreifenden Einflufs des elektrischen Betriebes zu zeigen. Es scheint,
dafs auch hier die moderne Technik neben dem Füllhorn eine Pandora-
büchse trägt. Deshalb mag mancher bedenklich werden und es lieber
sehen, wenn alles beim alten bliebe. Wer aber weifs, dafs jeder tech-
nische Fortschritt den Keim weiterer Fortschritte in sich trägt, der
wird sich nie damit befreunden können, dafs das platte Land der Elektro-
technik verschlossen bleiben soll. Flr wird jeden Sieg derselben feiern
als ein Mittel zur Erreichung des einzig grofsen Zieles, der j nicksichts-
losen , in geometrischer Progression vorangetriebenen Entfaltung der
modernen Produktivkräfte.«
besonders die kleineren Landwirte betroffen. „Die fallende Nachfrage nach Pferden
bedeutet einen doppelten Verlust für die kleinen landwirtschaftlichen Produzenten“.
*) Heute hindert die Furcht, dafs die Zugtiere überangestrengt werden, vielfach
die Ausdehnung der Akkordarbeit. Leopold Hübel, Die Gestaltung des land-
wirtschaftlichen Betriebes mit Rücksicht auf den herrschenden Arbcitermhngcl (1902)
S. 53-
9) Ueber die Lage und Zukunft des Landhandwerks. Vgl. Sombart, Der
moderne Kapitalismus, besonders I, 580 ff.
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LITTERATUR.
Lotmar, Philipp, Der Arbeitsvertrag. Nach dem Privatrecht des
Deutschen Reiches. — Erster Band. Leipzig, Duncker &
Humblot 1902, gr. 8°, 827 S.
Als Zweck seines Werkes bezeichnet der Verfasser auf S. 1, eine
Darstellung des Privatrechtes des Arbeitsvertrages zu liefern „auf Grund
der deutschen Reichsgesetze und an derHand der wirtschaftlichen
Thatsache n“. Die vorzügliche Art, in der er insbesondere den letzten
Teil dieses Versprechens gelöst hat, ist schon als reine Arbeitsleistung
betrachtet des höchsten Lobes sicher. Der Verfasser hat die grofsen
Knquöten des Vereins für Sozialpolitik, das in der „Sozialen Praxis“, dem
„Gewerbegericht“ und den nationalökonomischen Fachzeitschriften und
Monographien zerstreute Material in umfassender Weise systematisch be-
nutzt und so ein Werk geschaffen, welches — mag das Urteil über
seinen sachlichen Standpunkt ausfallen wie immer — jedenfalls in seiner
Art in der bisherigen privatrechtlichen Litteratur nicht viele und auf
dem Gebiet des Privatrechtes der modernen Arbeit überhaupt nicht
seines Gleichen hat. — Es ist aber grade angesichts der umfassenden
Beherrschung der ökonomischen Thatsachen, welche sich der Verfasser
zu verschaffen gewufst hat, nur um so mehr anzuerkennen, dafs er der
naheliegenden Gefahr: ökonomische und juristische Betrachtungsweise
zu vermengen, völlig entgangen ist. Die Berufung auf „wirtschaft-
liche Gesichtspunkte“, wie wir sie gelegentlich in der Judikatur und noch
öfter in der Litteratur der letzten Jahrzehnte finden, stellt sich fast immer
dann ein, wenn die juristischen Begriffe fehlen. — Die prinzipielle Be-
schränkung des Verfassers auf die juristische Behandlung seines Themas
tritt schon in dessen Abgrenzung zu Tage, welche durch den zu
Grunde gelegten rein formalen Begriff des „A r be i t s v e r t r a g e s“ ge-
geben wird. Die Aufgabe der Feststellung und systematischen Analyse
des Inhalts dieses Begriffs füllt fast die Hälfte des vorliegenden Bandes
(S. 32—344)-
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7 24
Litteratur.
Eine „ökonomisch“ orientierte Begriffsbildung, die ihre Systematik der
„Materie“ des Wirtschaftslebens entnehmen wollte, würde vermutlich die-
jenigen Thatbestände, welche der Verfasser als „proletarische Arbeitsver-
hältnisse“ bezeichnet, zu erfassen suchen, und wenn dieser Versuch, wie
auf dem Gebiete des Rechtes kaum anders möglich, mifslänge, sich
genötigt sehen, die Kategorie „Arbeitsvertrag“ überhaupt beiseite zu lassen
und die einzelnen von der Gesetzgebung bisher erfafsten Typen von
Arbeitsverhältnissen je isoliert als untereinander nicht weiter zusammen-
hängende Gebilde hinzunehmen und zu analysieren. Zersplitterung und
Prinzipienlosigkeit der wissenschaftlichen Erfassung des Rechts der mo-
dernen Arbeit, insbesondere die Unfälligkeit, für nicht von der Gesetz-
gebung geregelte Thatbestände, wie sie das Leben täglich neu bietet,
den juristischen Ort zu bestimmen, wäre die thatsächlich bereits nur zu
oft zu beobachtende Folge.
Ferner aller läge eine entscheidende formale Schwierigkeit fiir
jeden solchen Versuch in dem Umstand, dafs, im Anschlufs an das
römische Recht , auch das Bürgerliche Gesetzbuch die abstrakten Kate-
gorien „Dienstvertrag“ und „Werkvertrag" aufgestellt und rechtlich ge-
regelt hat. Ihr Bereich durchschneidet sich mit demjenigen von min-
destens einem Teil der anderweit gesetzlich geregelten konkreten That-
bestände; die rechtliche Regelung dieser letzteren durch Spezialgcsetze ist
ferner in sehr verschiedenem Mafse vollständig ') ; und schon die mangel-
hafte Definition, welche das Bürgerliche Gesetzbuch für die eine seiner
Kategorien : den „Dienstvertrag", giebt, schliefst endlich auch die Möglich-
keit aus, alle jene Spezialtypen gemeinsam mit denjenigen ähnlichen
Thatbeständen, welche sonst das Leben bietet, als einfache Abwandlungen
jener beiden abstrakten gesetzlichen Typen des bürgerlichen Gesetzbuchs
zu erfassen.
Einen grundsätzlichen Ausweg aus dieser vom Verfasser gründlich
und überzeugend dargelegten Situation findet er, — im Anschlufs an
eine auch von anderen geäufserte, aber nicht erschöpfend begründete An-
sicht, — allein in der Herstellung eines rein wissenschaftlich zu gewinnen-
den juristischen „Ueberbaus" Uber den sämtlichen einzelnen abstrakten
und konkreten gesetzlichen Typen, welche als solche auf den so zu finden-
den Gattungsbegriff zu reduzieren sind. Nur auf diese Art — darin
kann dem Verfasser nur beigepflichtet werden — kommt insbesondere
auch der wissenschaftlich und gesetzgeberisch gleich sehr als Stiefkind
') Ks ist z. B. der Vertrag mit Heimarbeitern kein gewerblicher Arbeits-
Vertrag im Sinne der G.O. (S. 311), dagegen ist er „Arbeitsvcrlrag“ nach des Ver-
fassers Terminologie auch wo der Arbeitnehmer den Stoff beschafft (S. 184. 185);
problematisch bleibt, ob er als liienstvcrtrag oder als Werkvertrag im Sinne des B.G.B.
zu behandeln ist oder keiner dieser Kategorien untersteht, worüber der Verf. im
2. Band sich äufsern will (S. 31 1 unten).
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Lotmar, Philipp, Der Arbeitsvertrag. 725
behandelte gewerbliche Arbeitsvertrag systematisch zu seinem Rechte.
Dies, obwohl oder vielmehr gerade weil sich der so gewonnene Rechts-
be griff des Arbeitsvertrages gegen die Qualität und den Preis der be-
dungenen Arbeit ebenso indifferent verhält, wie gegen die ökonomische
und soziale Lage der beteiligten Parteien (S. 60 ff.). „Arlteitnehmer“
im Rechtssinn und „Arbeiter“ im üblichen sozialpolitischen Sprachgebrauch
sind selbstverständlich nicht identisch: im Rechtssinn ist der Norddeutsche
Lloyd ganz ebenso Arbeitnehmer gegenüber dem Passagier wie der Ver-
leger gegenüber dem Atiftr ') und der Fabrikarbeiter gegenüber dem
Fabrikanten. Wer, wie es mifsverständlich geschieht, in dem darin sich
äufsernden Formalismus der juristischen Begriffsbildung den Grund
des vielbeklagten „unsozialen“ Charakters des geltenden Privatrechts oder
der bestehenden Rechtspflege J) sucht, greift weit fehl. Nicht unformale,
„positive“ B e g r i f f e , sondern passend spezialisierte Rechts normen
und unbefangene, sich streng an die Norm und damit auch an die Form
— „die Zwillingssehwester der Freiheit“ — bindende Rechtsprechung
thun not.*)
Die juristische Wissenschaft kann dagegen dem Ziele einer zeitge-
mäfsen legislatorischen und jurisdiktionellen Behandlung der Interessen der
Arbeiterklasse dadurch und nur dadurch den Weg ebnen, dafs sie 1) die
Thatsachen des Lebens und damit die praktische Bedeutung der Rechts-
normen, sowohl der bestehenden als anderer als möglich zu konstruierender,
unbefangen und unter möglichster Vermeidung vorschneller Werturteile
erfafst, und 2) die einmal bestehenden Rechtsnormen nach ihrer formalen
Methode logisch bearbeitet und dadurch ihre Anwendung der Willkür
entzieht, auch derjenigen F'orm der Willkür, welche sich in das Gewand
sozialethischer F.rwägungen kleidet. Mögen solche in einem einzelnen
Fall einmal den Interessen der Arbeiterschaft zu gute kommen, so ist —
die F.rfahrung der letzten Jahre hat uns das genügend gelehrt — nichts
sicherer, als dafs sie bei dem sozialen Milieu, welches den Berufsjuristen
umgiebt und mit dem für absehbare Zeit zu rechnen ist, auf die Dauer
ganz anderen Interessen dienstbar werden.
*) Ich will nicht verhehlen, dafs mir die Auflassung der Uebcrtragung des
Vertriebs seitens des Autors (== der Erwerbsgelcgenheit) als Arbeitsentgelt des
Verlegers der Natur des Verhältnisses Gewalt anzuthun scheint, suspendiere aber
mein definitives Urteil bis zum Erscheinen des zweiten Bandes.
*) Die Frage der Berechtigung dieser Beschwerde bleibt hier ganz dahingestellt
Vergleiche darüber A. Meng er, Das bürgerliche Recht und die besitzlosen Volks-
klasscn.
*) Hiermit scheint im Ergebnis auch Mengcr a. a. O. einverstanden, trotz mehr-
facher im Einzelnen nicht substanziierter Bemerkungen gegen den „Formalismus“ des
geltenden Privatrechts. Vgl. seine Bemerkungen über die Analogie, a. a. O. S. 25.
Archiv ftir soz. Gesetzgebung u. Statistik. XVII. 47
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726
Litteratur.
Der vom Verfasser zugrunde gelegte privatrechtliche Thatbestand
des Arbeitsvertrages J) — Zusage von Arbeit gegen Entgelt — erscheint
an sich recht einfach. Allein der Versuch, die positiven Rechtsnormen,
denen er untersteht, systematisch zu entwickeln, stöfst auf ein unentwirr-
bar scheinendes Durcheinander überall hin verzettelter gesetzlicher De-
tails, welche zunächst einer vom Verfasser mit grofser Sorgfalt vor-
genommenen Umschichtung und Neuanordnung bedurften. Der Arbeits-
vertragsbegriff des Verfassers schneidet dabei gelegentlich gesetzliche
Typen durch : so den Hinterlegungsvertrag des B.G.B., der unter die
Arbeitsverträge nur im Fall der (allerdings gesetzlich präsumierten] Ent-
geltlichkeit fällt. Er weist ferner die unentgeltlichen Arbeitsverhältnisse
grundsätzlich ab. Die praktische Bedeutung dieser Scheidung ist
nicht allzu grofs. 5) Der systematische Grund liegt für den Verfasser in
*) Die Bedeutung der Aufstellung dieser Kategorie liegt nicht zuletzt auch in
der Beseitigung der Subsumtion des Arbeitsvertrages unter die Miete. Hier
einige Bemerkungen zu den Ausführungen des Verfassers. Dafs die prinzipielle
Scheidung von der Miete sich schon dadurch ergäbe, dafs die Arbeit durch Ge-
brauch „aufgebraucht“ werde (S. 49) und nicht zurückerstatlet werden könne, die
Miete aber auf res quae usu consumuntur nicht anwendbar sei, dieser Ansicht wird
kaum zugestimmt werden können. Wenn L. als Gegensatz die unzweifelhaft ver-
mietbare Wasserkraft anführt, so liegt die Sache hier bezüglich der einmal hinab ge-
laufenen Wassermengen ebenso, nicht anders auch bezüglich der einmal abgclaufencn
Zeitspanne beim Vermieten eines Hauses. Vielmehr entscheidet der auch vom Ver-
fasser hervorgehobene Umstand, dafs die „vermietete“ Arbeitskraft nach unsrer
heutigen Anschauung nicht in Detcntion und usus des „Mieters“ derselben über-
geht. Dafs die Auffassung des antiken Rechtes hier eine andre war,, erklärt sich
aus der geschichtlichen Herkunft des freien Arbeitsvertrages. Temporäre Begründung
von Arbeitsverhältnissen geschieht in der ältesten Zeit — worüber uns die Keil-
schriften, die indischen Dramen und noch der rudimentäre Rest, der im römischen
mancipium in die historische Zeit hineinragt, belehren — entweder als Kauf von
Unfreien (des fremden Kindes oder Sklaven), oder als Miete derselben, also von
Sachen: dergestalt, dafs z. B. in den Keilschriften das Mieten eines freien Ar-
beiters in dem Vertragsschema der Miete eines fremden Sklaven untergebracht und
als Miete des Arbeiters von ihm selbst als Vermieter bezeichnet und als tem-
poräre Versklavung rechtlich behandelt wird.
*) Es fällt nach dem Verfasser z. B. das Volontärvcrhältnis mangels Entgelt-
lichkeit aus dem Bereich des Arbeitsertrages heraus. Ebenso das unentgeltliche
Auftragsverhältnis des B.G.B. Unterliegt dies keinen wesentlichen praktischen Be-
denken, so wird man daran zunächst Anstofs nehmen, dafs der Aufbewahrungs-
vertrag, je nachdem er entgeltlich oder unentgeltlich geschlossen wird, Arbeitsvertrag
sein soll oder nicht. Indessen ist eine solche Scheidung, welche im positiven
deutschen Recht allerdings wesentlich nur für die Bestimmung der pflichtmäfsigcn
Sorgfalt des Verwahrers Bedeutung hat , an sich alt und in den verschiedensten
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L otmar Philipp, Der Arbeitsvertrag.
727
dem Bedürfnis, den Arbeitsvertrag ausschließlich auf dem Gebiet der
synallagmatischen Vetträge zu erhalten. Es ist nun dem Verfasser nicht zu
bestreiten, dafs das juristische Interesse am Arbeitsvertrag wesentlich
in den Beziehungen von Arbeit und Entgelt zueinander gipfelt. Das allein
würde aber die Ausschliefsung der unentgeltlichen Arbeitsverhältnisse viel-
leicht noch nicht unbedingt erzwingen. Vielmehr war doch wohl entschei-
dend, dafs nach der Methode des Verfassers auch die systematische
Gliederung des Arbeitsvertrages an jene Beziehung allein anknüpfen
kann. Der formale und zu scharfer disjunktiver Bcgriffsbildung geneigte
Standpunkt des Verfassers macht sich nämlich auch bei der Frage der
Arteinteilung des Arbeitsvertrages geltend. Der Verfasser fragt zu-
nächst — und das mit Recht — auch hier (S. 342 — 43 cf. auch S. 323 f.
insbes. 328' lediglich nach den im logischen Sinne „reinen" Thatbe-
ständen, wie sie „das I.eben“ — d. h. hier: nicht die Gesetze — liefert
und gelangt dabei zu völligem Absehen von den, für die Feststellung des
Begriffs „Arbeitsvertrag“ von ihm lediglich als Erkenntnismittel ver-
werteten, gesetzlichen Typen. Er ist der Ansicht, dafs als artbildendes
Merkmal weder die Art der Arbeitsleistung noch die Art des Entgelts,
sondern lediglich die Art der Beziehung beider zueinander in Frage komme:
Zeitlohn oder Akkord. Es versteht sich, dafs über den wissenschaftlichen
Wert einer Arteinteilung nur das dadurch erzielte Ergebnis an wissen-
schädlicher Erkenntnis entscheiden kann. Da die Ausführung der Konse-
quenzen jener vom Verfasser ausschliefslich zugrunde gelegten Ein-
teilung und die systematische Erörterung beider Kategorien dem 2. Band
überwiesen ist, auf den der Verfasser selbst wiederholt verweist, so wird
erst, wenn dieser vorliegt und der Verfasser die Früchte seiner Syste-
matik erntet, ein endgültiges Urteil möglich sein. Erst dann wird ins-
besondere sich zeigen müssen, ob thatsächlich auch bei den keineswegs
vereinzelt verkommenden Kombinationen von Zeitlohn und Akkord
sich dennoch immer — wie der Verfasser sich nicht ganz klar aus-
drückt: — „das Walten der einen und der anderen Form aufz.eigen läfst“
derart, dafs der Artgegensatz in seiner Reinheit erhalten bleibt.
Auf die Einzelheiten des ersten Abschnittes einzugehen ist hier
nicht möglich, und auch aus dem eben erwähnten Grunde noch nicht
wünschenswert. Hingewiesen sei daher nur noch auf die vom Verfasser
schon in anderen Arbeiten vertretene weite Ausdehnung des ' Begriffs der
Moral Widrigkeit, welche, so sehr man vielem zuzustimmen geneigt
sein wird, kaum durchweg auf den Beifall der Rechtsprechung wird
zählen dürfen. Als moralwidrig und daher nichtig sieht er — um
Hechten vollzogen (vgl. z. B. die grofse Tragweite des Unterschiedes im Talmud).
. — Klar und zutreffend ist vom Verfasser die Scheidung zwischen dem Gesellschafts-
Vertrag und partiarischen Arbeitsverhältnissen durchgefiihrt iS. 401). Fs entscheidet
das Vorhandensein oder Fehlen einer Vermogcnsgemcinschaft (B.G.B. 71S. 722).
47*
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Littcratur.
Einzelnes hervorzuheben — nicht nur den Vertrag mit Claqueurs und
Privatdetektivs an ('S. 109 — uo), sondern auch das kontraktliche Ver-
bot des Beitritts zu Fachvereinen und die Zumutung eines Arbeitgebers
an seine Arbeiter, Strikebrecherarbeit zu leisten (S. 118 — 119)- Danach
niufs aber z. B. auch der Arbeitsvertrag mit „Arbeitswilligen" im
Strikefall, ebenso aber auch die Arbeitsverträge mit einzelnen Arbeit-
gebern, welche die Forderungen der Strikenden erfüllen, während
andere sie ablehnen, und das Weiterarbeiten der von einer partiellen
Sperre nicht betroffenen Betriebe moralwidrig sein, — Konsequenzen, die
Lot mar doch kaum wird ziehen können, ’) obwohl er z. B. nicht vor
der Feststellung zuriickschreckt, dafs ein grofser Teil unserer Produktion
auf nach § 138 B.G.B. (Wucherparagraph) ausbeuterischen und daher
nichtigen Arbeitsverträgen ruhe (S. 171 und 172).-') So sympathisch
L.'s sozialpolitische Gesinnung in solchen Ansichten zu Tage tritt, so
wird er sich selbst nicht verhehlen, dafs zur Uebertragung seiner Auf-
fassungen in das Gebiet der Rechtspraxis heute grundstürzende
*) Wenn aber doch, dann wäre es wünschenswert gewesen, dafs er die Konse-
quenzen bis aufs letzte ausdrücklich gezogen hätte. Dieselben sind nämlich keines-
wegs an sich widersinnig, sic führen nur m. E. auf Aufgaben welche die Rechts-
pflege nicht lösen kann. Denn die praktische Folge jener Anwendung des Begriffs
der Moralwidrigkcit auf Verletzung von Klasseninteressen würde sein müssen: dafs
in jedem Fall einer Arbeitsstreitigkeit gültige Arbeitsverträge weiterhin nicht einge-
gangen und die Ausführung der noch laufenden nicht erzwungen werden kann.
Mit anderen Worten: das Zivilrecht wird gewissermafsen wegen Ausbruchs eines
sozialen Kriegszustandes auf dessen Dauer in seiner Anwendbarkeit auf das Ar-
bcilsvcrhältnis innerhalb des Gebiets der Arbeitseinstellung sistirt, ähnlich wie
etwa die Thätigkcit des Arbeitsnachweises. Damit entsteht der Zwang, zur Her-
stellung des Normalzustandes von Klasse zu Klasse zu verhandeln. Das Vorhanden-
sein juristisch legitimierter Organisationen wäre aber dann offenbar absolute
Voraussetzung dafür, dafs überhaupt im Rechtssinn eine Beendigung dieses Zustandes
cintretcn könnte. Praktisch kämen wir damit nicht etwa nur zur gesetzlichen An-
erkennung der Koalitionen im gewöhnlichen Sinne dieser Forderung , sondern bei
konsequenter Lösung zur Z wan g s Organisation der beiden beteiligten Parteien. Dies
zeigt m. E. deutlich genug, dafs die ethischen Aufgaben, welche der Verfasser hier
der Rechtspflege stellt, thatsächlich solche der Gesetzgebung sind, — einer
Gesetzgebung, die in weiter Zukunft liegt.
*) So zweifellos die Anwendbarkeit des § 138 auf das Gebiet des Arbeits-
vertrages ist, so zweifelhaft ist es, welche Früchte seine Verwertung im Sinne des
Vcrf. tragen würde. Voraussetzung ist, dafs die Vcrmögcnsvorleile des
Arbeitgebers im auffälligen Mifsvcrhältnis zur Leistung des Arbeiters stehen.
Grade in den sozialpolitisch bedenklichsten Fällen aber, bei Schmarotzer-Industrien
mit Heimarbeit, zumal wo der Zwischcnmcistcr rechtlich als Arbeitgeber erscheint*
ist dies sehr häutig nicht der Fall.
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!, otmar, Philipp, Der Arbeitsvertrag.
729
Aenderungen des ganzen Charakters unserer Rechtspflege, namentlich die
Beseitigung ihrer formalistischen Grundlage, m. a. W.'Uebergang
zur „Kadijustiz" vorausgesetzt werden tnüfsten. Das Richterpersonal
unserer ordentlichen Gerichte erscheint für eine derartige Aufgabe nicht
qualifiziert; wo es sich, freiwillig oder unter dem Zwang schlechter Re-
daktion tler Gesetze, derselben bemächtigt hat, ist das Ergebnis1) bisher
wenig erfreulich gewesen. Selbst die Gewerbegerichte aber würden bei
so weittragenden Versuchen nur den Ast absägen, auf dem sie selbst
sitzen. Das Problem des Minimallohns ist vermittelst unserer Rechts-
pflege, und wohl auf dem Wege der Rechtspflege überhaupt, nicht lösbar;
und richterliche Instanzen, die es dennoch versuchten, würden augen-
blicklich in den Strudel des Klassenkampfes gerissen, ihres Charakters
als Instanz über den Parteien entkleidet und betreffs ihrer Zusammen-
setzung und Parteistellung Gegenstand des politischen’ Machtkampfes. Es hat
seinen guten Grund, dafs die Funktion des Gewerbegerichtes als K ini-
gungsamt auf die Regelung zuk ünftiger Arbeitsbedingungen be-
schränkt ist. Die Arbeiterschaft hat unter unseren Verhältnissen m. E.
allen Anlafs, sich zunächst auf die auch heute noch nicht erfüllte
Forderung zu beschränken, dafs ihr formal gleiches Recht unter Bei-
seitelassung aller Kautschukparagraphen — auch der möglicherweise
zu ihren Gunsten verwertbaren — zugemessen werde *)
*) Man denke an die unglaubliche Judikatur des Reichsgerichts in Hörsen-
angelegcnhcitcn.
*) Obige Ausführungen wollen nicht etwa als eine „Widerlegung“ Lotmars be-
trachtet sein. Es ist durchaus zuzugeben, dafs wenn man mit dem $ 138 Absatz 2
B.G.B. in auch nur annähernd ähnlicher Weise „Ernst macht“ wie das Reichsgericht
mit dem Begriff des „groben lTnfugs“ oder wie Reichsgericht und Oberverwaltungs-
gericht mit gewissen anderen Bestimmungen unserer Gesetze, man schliefslich
zu den Konsequenzen des Verfassers und, wie gezeigt, noch darüber hinaus ge-
langen mufs. Es ist nur begreiflich, wenn der Verfasser hier Einseitigkeit der Ein-
seitigkeit rntgcgcnstellt. Und — um auf die Erörterungen der vorigen Anmerkung
nochmals zurückzugreifen — nachdem der Gedanke aufgetaucht war, den psychischen
Zwang zum Streik mit entehrenden Strafen zu belegen, »st es ein ganz natürlicher
Rückschlag hiergegen, wenn der Verfasser auf die ethischen Grundlagen auch
der so viel beklagten „Ausschreitungen“ gegen „Arbeitswillige“ zurückgreift.
Sicherlich mufs cs ja den Massen der Arbeiterschaft unverständlich sein, wenn an
Stellen, welche mit Recht die Pflege von „Ehre und Kameradschaft“ als der sitt-
lichen Grundpfeiler des Heeres unter ihre Obhut nahmen, das Verständnis dafür
völlig mangelt, dafs in den ökonomischen Kämpfen der Gegenwart, ungeachtet ihrer
oft rohen Können, doch auch der sittliche Gedanke der Kameradschaft der Arbeits-
genossen untereinander als einer bindenden Ehrenpflicht sich auswirkt. — Allein, es
darf schliefslich nicht verkannt werden, dafs im politischen wie im ökonomischen
Krieg Empfindung gegen Empfindung steht, und dafs, wenn einmal der rein formale
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730
Litteratur.
Es mufs hier von einer eingehenderen Besprechung der Abschnitte
II, III, IV ; — Zahlungszeit, Arbeitszeit, Vertragszeit — abgesehen werden,
so wertvoll viele der Ausführungen des Verfassers auch sind — z. B. S. 448 die
Kritik des §1193 der G.O., S. 465 — 66 die prinzipielle Erörterung der all-
gemeinen Konsequenzen der Mittellosigkeit als normalen Zustandes des
Arbeitsnehmers für die legislatorische Behandlung des proletarischen
Arbeitsvertrages. Hier sollen vielmehr noch einige Bemerkungen zu
Abschnitt V, in welchem die Naturalvergütung, und Abschnitt VI, in
welchem der Tarifvertrag exkursweise eingehender behandelt sind, gemacht
werden.
Dafs der Verfasser die Natural Vergütung zum Gegenstand einer
selbständigen, systematischen Behandlung gemacht hat, ist sehr dankens-
wert. Allerdings führt die hier wohl etwas zu weitgehende Neigung
des Verfassers zu zweigliedrig-disjunktiver Klassifikation zu manchen nicht
ohne weiteres anzunehmenden terminologischen Konsequenzen. Da er
Naturalvergütung und Geldvergütung als erschöpfende Gegensätze be-
handelt, gelangt er dazu, auch die Gewährung von Erwerbsgelegenheit
— z. B. zum Trinkgeldverdienst — als Natural Vergütung aufzufassen, da
sie keinen Geldaufwand des Prinzipals darstelle (S. 700). Nun ist aber
der Begriff „Naturalien“ ökonomischen Ursprungs und, soll er juristisch
Standpunkt des Rechts verlassen wird, aus solchen allgemeinen Empfindungen heraus
je nach der persönlichen Wcltanschaung auch das grade Gegenteil deduzierbar ist.
Es ist ein Irrtum der „ethischen“ Nationalökonomen und Politiker, zu glauben, dafs
in solchen Fällen ein eindeutiger sittenrichterlicher Entscheid möglich sei. — Den
Beweis für das Gesagte kann der Verfasser leicht den, in sachlicher Hinsicht höchst
verdienstlichen und scharfsinnigen Ausführungen von G. A. Leist über die Frage
der Zwangsgcwalt der Vereine. [„Vereinsfreiheit und Vereinsherrschaft in Deutsch-
land“, und: „Die Strafgcwalt privater Vereine“ in Schmollcrs Jahrbuch 1902] ent-
nehmen, über welche eine Bemerkung gestattet sei, da auch hier über ein eng ver-
wandtes Thema aus vermeintlich allgemeinen Rechtsprinzipien heraus, ohne ge-
nügende Abwägung der praktischen Konsequenzen deduziert wird. Leist bekämpft
vom Standpunkt eines dem Lotmar'schcn polar entgegengesetzten extremen Indi-
vidualismus aus jeden vom Staat nicht ausdrücklich sanktionierten ökonomischen
oder sonstigen psychischen Zwang gegen das einzelne Vcreinsmitglicd zum unfrei-
willigen Festhalten am Verein. Er berücksichigt dabei nicht, dafs auf sozialem Ge-
biet damit lediglich die volle Anarchie des Klassenkampfes mit allen ähren aus der
Zeit vor Entstehung der Gcwcrkvcreinc wohl bekannten Konsequenzen erzwungen
wird. Vor allem aber entgeht ihm, dafs sein Prinzip nicht die geringste Aussicht
hat, wirklich allseitig, gegenüber j e d e r Art von Verbänden, z. B. auch den
Orden und Kongregationen der katholischen Kirche durchgeführt zu werden, obwohl
diesen letzteren das in manchen Gesetzgebungen verpönte Merkmal anhaftet, dafs
sic ihren Mitgliedern Gehorsam — teilweise sogar unbedingten Gehorsam —
gegenüber auswärtigen Obern aufzuerlcgcn.
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Lolmar, Philipp, Der Arbeitsvertrag.
731
geprägt werden, so ist nicht einzusehen, warum für die Rechtssprache
cs nelten „Geld“ und „Naturalien“ kein drittes und eventuell viertes
Glied in der Reihe der möglichen Vergütungsformen geben sollte. Nähme
man Lotmars Sprachgebrauch ganz streng, so müfste auch in der Ueber-
tragung derjenigen Chance des Gelderwerbs, welche sich rechtlich in
dem besitz einer in Zukunft fälligen Geldforderung ausdrückt, eine
Naturalleistung erblickt werden. Aehnlich ist es zu beurteilen, wenn die
Zusage der Lehrausbildung seitens des Meisters als Gewährung von
„Konsumtibilien“ rubriziert wird.
Ist hier der Begriff der Naturalvergütung zu weit gefafst, so ge-
legentlich zu eng. Beispielsweise, wenn der Verfasser S. 686 die Zu-
sage freier ärztlicher Behandlung oder freier Lieferung von Schul-
requisiten überhaupt nicht als Arbeitsvergütung, sondern als Wohl-
fahrtseinrichtung behandelt wissen will, da sie nicht nach dem Umfang
der Arbeitsleistung, sondern des Bedürfnisses bestimmt sei. Allein
ersteres ist insofern doch der Fall, als eben nur das während der Dauer
des Arbeitsverhältnisses eintretende Bedürfnis zu decken ist, und die ver-
blciliende Unsicherheit des ob? und wieviel? der Leistung ist nichts
prinzipiell anderes, als z. B. die Unsicherheit des F.rtrages der von dem
Instlandc „im Felde“ zu erwartenden Krträge.
Können diese wesentlich terminologischen Fragen nur unter be-
sonderen Konstellationen juristische Bedeutung gewinnen, so ist dagegen
von erheblicher rechtlicher Tragweite die Frage (S. 705 f, 715, 716),
ob das Verhältnis des Oberkellners, Zählkellners, Büffetiers und ähnlicher
Funktionäre auch dann als reines Arbeitsvertragsverhältnis anzusehen ist,
wenn dieselben Büffet, Keller etc. für eigene Rechnung gegen feste Ab-
gaben an den Wirt verwalten oder für die Trinkgeldeinnahme an den
Wirt „Pacht“ zahlen und so ökonomisch in die Reihe der „Unternehmer“
einrlicken.
Wenn der Verfasser, welcher m. E. mit Recht auch in diesen Fällen
reines Arbeitsverhältnis annimmt , dafür gellend macht , dafs die „fak-
tische“ *) Stellung eines solchen Funktionärs zu Wirt und Publikum völlig
die gleiche sei wie sonst, so ist doch jedenfalls, so weit die Rechtslage
in Betracht kommt, das gleiche nicht zutreffend: Je nach Lage des Falls
erwirbt nicht der Wirt, sondern der Funktionär und 11 u r er die Forde-
rung gegen den Gast. Dies schliefst nach der Definition des Ver-
fassers die Auffassung als Arbeitsverhältnis nicht aus; für dieselbe
wird aber entscheidend doch nur sein können, dafs nach der objektiven
Sachlage die Thätigkeit des betreffenden Funktionärs: Einziehung von
Schulden der Gäste , Verkauf von Speisen und Getränken , nicht als
dessen aus seiner Pächterstellung folgendes Recht, sondern , obwohl
sie auf eigene Rechnung geschieht, als eine dem Prinzipal ge sc hui-
*) Was heilst das in diesem Fall?
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732
Litteratur.
dete Leistung anzusehen ist (S. 706 und 707). Erst wo dies un-
zweideutig anders liegt, beginnt die Grenze des Pachtverhältnisses, denn
darin, dafs man die fraglichen Thatbestände möglichst als einheitliche
Rechtsverhältnisse, nicht als Kombinationen mehrerer, konstruieren sollte,
wird dem Verfasser zuzustimmen sein. ') — Die ähnlichen Konstruktions-
schwierigkeiten auf dem Gebiete der ländlichen Arbeitsverfassung be-
handelt der Verfasser S. 709 f. Dafs das Heuerlings- Verhältnis nicht
wohl als einheitliches Rechtsverhältnis konstruierbar ist , sondern hier
notgedrungen eine Kombination von Pacht und Arbeitsvertrag ange-
nommen werden mufs, nimmt der Verfasser mit Recht an, obwohl auch
in diesem Fall das Interesse des Bauern meist nicht auf Verwertung
der verpachteten Parzelle, sondern auf Sicherung der Emtearbeitskraft
gerichtet ist. *) Der Übergang zu den reinen Arbeitsverhältnissen mit
— unter Umständen abgabepflichtiger s) — Landanweisung als Entgelt
ist wohl noch flüssiger als die Darstellung des Verfassers erkennen läfst.4)
Dafs die Art der Gestaltung des Naturallohnes der Einteilung des Ver-
fassers in: entweder Zeit- oder Akkordlohnverträge erhebliche
Schwierigkeiten bereitet, gesteht er S. 7 1 8 f. selbst zu. Da jedoch erst
der 2. Band sich mit der Lösung derselben befassen wird, soll ihm hier
nicht vor gegriffen werden.
Der höchst wertvolle Schlufs des 1. Bandes, die F.rörterung der
juristischen Natur des Tarifvertrages (Abschnitt VI), ist im wesent-
lichen ein Auszug aus einem Aufsatz des Verfassers in dieser Zeitschrift
(Band 15. S. 1 f). Da auf eine eingehende Analyse aus diesem Grunde
') Die Konsequenzen der Auffassung des Verf. sind keineswegs überwiegend
dem Arbeitgeber günstige. Cf. das von ihm S. 707 Anm. 2 zitierte Urteil, des
Karlsruher Gewerbegerichts in Gew.Gcr. I 71.
*) Geschichtlich analog ist die Zwiespältigkeit und Wandlung im ökonomischen
und rechtlichen Charakter des antiken Kolonats Verhältnisses: Anfangs Pacht mit
Ausbedingung einiger Erntefronden neben dem Z. ins als Entgelt für da» dem Kolon
cingeräumte Hecht, die Früchte des Ackers zu geniefsen, — schliefslich Arbeits-
verhältnis mit abgabepflichtiger Bodennutzung als Entgelt.
3) Dies beachtet den Verfasser S. 710 wohl nicht genügend bei seiner sonst
recht befriedigenden Formulierung.
*) Den Ausführungen des Verfassers auf S. 711. 712 habe ich keinen Grund
entgegenzutreten, glaube vielmehr, dafs seine juristische Konstruktion das richtige
trifft. F'estzuhalten ist, als eventuell auch rechtlich erheblich, trotzdem, dafs die
Landanweisung, welche an nicht kontraktlich gebundene Tagelöhner gewährt wird,
häutig thatsächlich nicht als einfache Vergütung für die Arbeit , sondern für einen
gewissen zeitlichen Umfang der Arbcitsbercilschafl gewährt wird, also nur
unter der auch rechtlich nicht anfechtbaren Bedingung, dafs die Arbeitsleistungen zeit-
lich diesen Umfang erreichen. Sie korrespondiert also nicht wie die ver-
sprochenen Geldleistungen den einzelnen Arbeitsleistungen.
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I, otmar, Philipp, Der Arbeitsvertrag.
733
verzichtet werden kann, so mag nur noch in Kürze auf die Ausführungen
S. 780 f. eingegangen werden, durchweiche L. versucht, dem Tarifvertrag
eine derart mafsgebende Rechtswirkung auf die gesamten innerhalb des
von ihm betroffenen Kreises abgeschlossenen Arbeitsverträge zu vindi--
zieren , dafs dadurch selbst die rechtliche Möglichkeit für die be-
teiligten, abweichende Verträge abzuschliefsen, aufgehoben sei. Die Ana-
logie der — vom Gesetz als nur in bestimmter Form derogierbar an-
erkannten — Arbeitsordnung beweist tn. E. doch nichts für I’rivat-
vereinbarungen , denen eine gesetzliche Regelung (leider!) fehlt. Die
Berufung darauf aber, dafs der Tarifvertrag anderenfalls seinen begriff-
lichen Zweck nicht erreichen würde, ist „ontologischen“ Charakters, — es
fragt sich ja el>en, ob das Recht dieses Mittel für die Erreichung jenes
Zwecks gelten läfst. Der Verfasser, welcher in Folge des 134" Abs. 2
G.O. selbst zugeben rauls, dafs jene angebliche Wirkung des Tarifvertrages
in Form der Arbeitsordnung einseitig vom Arbeitgeber beseitigt werden
kann , darf m. E. aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen heraus auch nicht
die rechtliche Möglichkeit der zweiseitigen Beseitigung leugnen. Dafs
dadurch die Interessen dritter — der tariftreuen Arbeitgeber und Arbeit-
nehmer — verletzt werden, ist zutreffend. Allein oh diese Interessen
rechtlich geschützt sind, ist eben die Frage. ‘) Es ist nun allerdings
höchst beachtenswert, dafs auch einzelne Gewerbegerichte begonnen haben,
dem Tarifvertrag eine über den normalen Wirkungsbereich der Privat-
disposition hinausgehende Bedeutung zuzuschreiben ; aber nur auf dem Wege
des Nachweises gewohnheitsrechtlicher Entwicklung könnte diesem
Gedanken der Recht (im objektiven Sinn) begründenden Autonomie
der Interessentenverbände rechtliche Anerkennung wissen-
schaftlich und nur im Wege der Gesetzgebung auch praktisch
gesichert werden. Dafs die Rechtspflege sich ohne einen solchen
Rückhalt entschliefscn sollte, den Tarifvertrag als m ehr als eine lex
contractus, welcher mangels entgegenstehender Vereinbarungen gilt,
anzusehen, ist mir nicht wahrscheinlich. —
Die Stoffeinteilung des Werkes ist im vorliegenden Bande nicht ohne
weiteres durchsichtig und verständlich, was bei der logischen Schärfe
der Begriffsgliederung Lotmars dem Leser doppelt auffällt. Die Ein-
schiebung des Kapitel über die Eingehung des Arbeitsvertrags in den
ersten Abschnitt ist kaum gerechtfertigt, und ob es sich nicht, trotz des
grofsen Umfangs der betreffenden Partien, doch empfohlen hätte die
Naturalvergütung mit der Lehre vom Entgelt und den Tarifvertrag mit
') Der Verfasser gerät S. 794 infolge seiner Konstruktion auch in Schwierig-
keiten gegenüber der Krage, wann ein unbefristet geschlossener Tarifvertrag erlösche.
Nach ihm nach der „üblichen“ (?) Zeit; — m. E. gilt für derartige Vereinbarungen
stets ipso jure die Klausel rebus sic stantibus, und das entspricht den Thalsachen
des Lebens, was näher auszuführen hier unmöglich ist.
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734
Liltcratur.
der I,ehre von der Eingehung gemeinsam zu behandeln kann gleichfalls
bezweifelt werden.
Ueber die einzelnen juristischen Aufstellungen werden die Fach-
juristen zu urteilen haben.1) Dem Grundgedanken und dem Geist seiner
Durchführung nach aber — das darf schon jetzt gesagt werden — ist
es unzweifelhaft ein grofser Wurf, der Lotmar gelungen ist. Das Privat-
recht eines Vertrages, mit dem — wie der Verfasser mit Recht hervor-
hebt — an Häufigkeit und grundlegender Bedeutung nur noch der
Kaufvertrag konkurrieren kann, ist hier zum ersten Male in um-
fassender Systematik und Kasuistik vorgelegt. Es ist dabei zur Evidenz
dargethan, das die Probleme, welche er der juristischen Forschung stellt,
sich an Tiefe und Bedeutung mit denen jedes anderen Gebiets des
Privatrechts messen können. Und die Art, wie diese Probleme vom
Verfasser angegriffen worden sind, niufs als eine ebenso eigenartige wie
glückliche angesehen werden, eben deshalb, weil sie die alte Methode
der juristischen Arbeit sich an einem bisher vernachlässigten Gebiete
bewähren läfst.
Heidelberg.
MAX WEBER.
Flesch , Dr. jur. Karl, Zur Kritik des Arheitsver träges. Seine volks-
wirtschaftliche Funktion und sein positives Recht. Sozial-
rechtliche Erörterungen. Jena, Verlag von Gustav Fischer
1901. 36 S. 8°.
„Die Gerechtigkeit ist blind; sie soll bei Anwendung des
Gesetzes nicht nach der Person sehen, namentlich nicht den Mächtigeren
begünstigen. Aber der Gesetzgeber ist sehend; er soll gewahr
werden, ob die gleiche Vorschrift sich für alle eignet; und dem Gesetz-
geber des Arbeitsvertrages ist gerade vorzuwerfen, dafs er bisher
nicht gesehen, nicht beachtet hat, wie die Anwendung der gleichen
Vorschriften bezüglich der Lösbarkeit des Arbeitsvertrages thatsächlich
die Freiheit des Arbeits Vertrages, die im Interesse der F’rei-
heit der Persönlichkeit, der staatsbürgerlichen Gleichheit geschützt werden
sollte, für den schwächeren Teil, d. h. wenigstens in Grofsbetrieben : für
den Arbeiter aufgehoben hat“ {S. 20). Der in diesen beiden Sätzen
enthaltene Gedanke durchzieht diese ganze mit grofsem Verständnis für
die thatsächlichen Zustände des industriellen Lebens und mit ebenso
*) Ich halte cs wohl für möglich, dafs die Ausdehnung des Arbeitsver-
tragsbcgrifTcs des Verfassers — z. B. auf «len Ycrlagsvcrtrag — sich nicht wird
halten lassen. Das thut dem Wert seines Grundgedankens aber keinen Abbruch.
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Flcsch, Karl, Zur Kritik des Arbeitsvertrages.
735
grofser Wärme für die Interessen der Arbeiter wie objektiver Aner-
kennung der berechtigten Ansprüche der Unternehmer geschriebene
sozialrechtliche Studie. Trotzdem der Arbeitsvertrag einer der Grund-
pfeiler ist, auf denen unsere heutige Volkswirtschaft ruht, ist er von
der Rechtswissenschaft und Gesetzgebung von jeher und fast bis in die
letzte Zeit kümmerlich und nebensächlich behandelt worden. ') Die
älteren Juristen lernten auf der Universität fast nichts von ihm; sie
halten sämtlich das Wechsel- und Handelsrecht, das eheliche Güterrecht
— die Verträge, die zwischen den Vermögenden, den Hausherren im
Staatsgebäude, geschlossen werden — für weit wichtiger als die Ab-
machung, die ein kleiner Schuhmacher mit seinem Gesellen oder ein
Fabrikant mit einem seiner Hunderte von Tagelöhnern trifft. Aber auch
das Bürgerliche Gesetzbuch hat tiefer gehende Fragen des Arbeitsrechts
gar nicht berührt. Einen Vorwurf kann Fl e sch den Verfassern des
Gesetzbuchs daraus freilich nicht machen, denn: „Jedes Gesetzbuch hat
stets nur in Paragraphen gebracht, was es an klarer Rechtserkenntnis
vorfindet.“
Den Ausgangspunkt der Untersuchung bildet für Flesch die nackte
Thatsache, dafs der Arbeitsvertrag wichtige Aufgaben unserer Volkswirt-
schaft zu erfüllen hat und zugleich den besonderen Interessen der Ar-
beitgeber und Arbeiter dienen soll.
Was leistet nun der Arbeitsvertrag den Arbeitgebern? F.r
leistet jedenfalls für die Regel alles, was der Arbeitgeber braucht: er
schafft ihm gehorsame, willige eifrige Arbeiter, die im Betrieb wie
aufser dem Betrieb auf den „Arbeitgeber“, d. h. auf den, der so gütig
ist, sie zu beschäftigen, angewiesen sind. Der freie Arbeitsvertrag er-
möglicht aber auch jede Anpassung der Produktion an die Marktlage;
er erlaubt dem Arbeitgeber ferner, die Arbeitskräfte stets so zu wählen,
wie es der zu leistenden Arl>eit am 1 testen entspricht (Frauenarbeit oder
Kinderarbeit anstatt der Männer; polnische oder italienische Saison-
arbeiter anstatt einheimischer mit Familien behafteter Leute u. s. w.)
„Kurzum , sowohl vom Standpunkt des praktischen Bedürfnisses des
Kaufmannes und des Handwerkers, der Hilfskräfte sucht, als vom Stand-
punkt des Herrengefühls des weithin schaltenden Gutsherrn und Fabrik-
besitzers, oder vom Standpunkt des Marxistischen Kapitalisten, der Mehr-
wert und nichts als Mehrwert erzeugen will, leistet der Arbeitsvertrag
') Mit dem epochemachenden Werke Prof. Pli, Lotmars, „Der Arbeitsver-
trag nach dem Privatrecht des Deutschen Reiches" (Leipzig, Verlag von Duncker 'V
Humblot 1002) ist ein beachtenswerter Umschwung cingetreten. Der in Doktri-
narismus erstarrten Jurisprudenz wird aus den Thatsachen des täglichen Lebens
neues warm pulsierendes Itlut zugeführt. Das Werk räumt gründlich aut, nicht nur
mit der Unkenntnis der Ergebnisse der Verwaltung, sondern sogar der Bestimmungen
des öffentlichen Rechts, die sich bei unseren Ziviljuristen leider allzu häutig lindet.
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736
Littcratur.
in fast vollkommener Art alles, was nur erwartet und verlangt werden
kann.“ Nur in einem Ausnahmefall versagt der Arbeitvertrag: Wenn
das Mittel der sofortigen Entlassung versagt, weil der Arbeitsgeber nicht
mehr jeden Augenblick statt des Entlassenen andere Arbeiter haben
kann, wenn er einer Arbeiterorganisation gegenübersteht, wenn sich der
individuelle in den kollektiven Arbeitsvertrag verwandelt. Jetzt,
durch die Arbeiterkoalitionen hat sich das Bild geändert; der Arbeits-
vertrag ist auch für den Arbeitgeber nicht mehr schrankenlos „frei“;
die Koalition bestimmt die Bedingungen, unter denen Arbeiter zu haben
sind, und sie befindet darüber, ob ein Arbeiter vom Arbeitgeber ent-
lassen werden darf. Jetzt hat der Arbeiter zwar kein Recht, aber
doch die nicht zu leugnende Möglichkeit, die Arbeit jederzeit und nach
Willkür einzustellen oder sie überhaupt nicht aufzunehmen. Die Koali-
tion erlaubt ihm , diese Möglichkeit wahrzunehmen und stellt seine
Macht dar. Macht erzeugt Mut, Mut führt leicht zu Ucbermut. Es
soll nicht geleugnet werden, dafs gar manche Strikes ein Ausflufs dieses
Uebermuts sind und als Regel stellt ihn auch Flesch nicht hin. Nun
hört aber auch die Zufriedenheit der Arbeitgeber mit dem freien Arbeits-
vertrag auf. „Die Handwerker wollen durch Wiederbelebung der Zünfte
ihre Autorität über den Arbeiter hersteilen; die Grofsindustricllen
sprechen vom Schutz der Arbeitswilligen, meinen aber den Schutz
ihrer Herrschaft über die Arbeiter. Alle sind einig über die
Verwerflichkeit der Arbeiterorganisationen und fordern die unbedingte
Aufrechterhaltung des für ihre Sonderinteressen bequemen rein indivi-
duellen Arbeitsvertrages. East nirgends innerhalb der Kreise der In-
dustrie wird eine Stimme laut, welche die durch den individuellen Ar-
beitsvertrag in seiner jetzigen Gestalt vermittelte Unterdrückung des Ar-
beiters als verwerflich bezeichnete, oder die, ohne Berührung der
moralischen Seite, darauf hinweist, dafs schlicfslich die Häufigkeit der
Kollektivstreitigkeiten, die ja öfter als durch Lolmfragen durch Macht-
fragen veranlafst sind, ebenso die Unvollkommenheit des geltenden Ar-
beitsrechts beweist, wie die Häufigkeit der Fehden im Mittelalter die
Unvollkommenheiten des damaligen Rechtsschutzes und der Gerichts-
verfassung.“
Die einzige Bestimmung des geltenden Rechts über Kollektivstreitig-
keiten, diejenige des § 152 der Gewerbeordnung, steht nach Flesch
juristisch ungefähr auf der Höhe der früheren Rechtssätze, die den
Nachdruck von Schriften oder die Nuchbildung von Bildwerken für
straffrei erklärten, oder den Genossenschaften die juristische Existenz
absprachen. Vor allem hätten aber jedenfalls die Arbeitgeber ein Inter-
esse daran, dafs die Arbeiterkoalitionen vom Rechte anerkannt und Ver-
mögens- und damit verantwortungsfähig gemacht würden.
Welche Wirkungen hat nun aber der Arbeitsvertrag für den Ar-
beiter? Der Arbeiter „giebt seine Zeit und erhält Geld. Weigert
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Fl c sch, Karl, Zur Kritik des Arbeitsvertrages.
737
sich der „Arbeitgeber“ — in Wahrheit der Eigentümer der Produktions-
mittel, der Arbeit sucht — ihm seine Arbeit, d. h. seine Zeit abzu-
nehmen, so hungert der Arbeiter; er hat aufser dem Arheitsvertrag kein
Mittel, zu Geld zu gelangen, wie ja auch der sogen. Arbeitgeber kein
anderes Mittel hat, um sich die Arbeitskräfte zu beschaffen, ohne die
alle Produktionsmittel, über die er verfügt, zwecklos sind.“ In diesen
Ausführungen ist, da cs sich um einfache Arbeit handelt, überall statt
Arbeit Zeit gesetzt, was an sich bedenklich erscheint. Der so häufige
Akkordlohn z. B. kommt dabei nicht zur Geltung. Indes beschränken sich
Flcschs Ausführungen darauf, festzustellcn, was unter Berücksichtigung
der ^tatsächlichen wirtschaftlichen Machtverhältnisse zu postulieren ist,
damit die vom Recht zu fordernde Gleichheit zwischen Arbeitgeber
und Arbeiter auch thatsächlich und nicht blofs formell verwirklicht
werde. Der Präge, welche ökonomische Schwierigkeiten sich einer
solchen rechtlichen Regelung entgcgcnstellcn, tritt Klesch nur insofern
näher, als er zwischen Handwerkern und industriellen Grofsbctrieben
unterscheidet. Dies zeigt sich klar, wenn Klesch im unmittelbaren An-
schlufs an die soelren zitierten Sätze fortfährt: „Giebt der Unternehmer
— um dies Wort anstatt des, wie wir sehen, zweideutigen Ausdrucks
„Arbeitgeber" zu gebrauchen — zu wenig Geld,“ so leidet der Ar-
beiter Mangel; nimmt er zu viel Zeit in Anspruch, so leiden die
übrigen Aufgaben des Arbeiters — die Pflichten, die er gegen sich
selbst, seine Familie, den Staat zu erfüllen hat. Der Arbeiter müfste
hiernach, will er nicht Not leiden oder seine außerhalb des Arbeits-
vertrages belogenen Pflichten verletzen, sich vorsehen, dafs er nach
Inhalt des Arbeitsvertrages: 1. Geld genug empfängt und 2. Zeit genug
für sich behält, sowie 3. dafs kein Arbeitsvertrag, den er schliefst, auf-
hört, ohne dafs Gelegenheit ist, ihn durch einen anderen zu ersetzen."
Vom Arbeitslohn verlangt nun F'lcsch, dafs er dem Arbeiter
gewähren mufs, was er braucht, um selbst zu leben a) während der
Arbeit, b) während der Zeit, in der er keinen Arbeitsvertrag schiiefsen
kann, also der Zeit der Ruhe, der Krankheit und sonstigen unver-
schuldeten Verhinderung; und dafs er dem Arbeiter weiter gewähren
mufs, c) was dieser, wenn er verheiratet ist, zum Unterhalt seiner Fa-
milie braucht.
Man würde aber irren , wenn man Klesch nach diesen Postu-
laten zu den Anhängern eines weitgehenden auf das Existenzminimum
begründeten Lohhminimums rechnen würde. Denn diese Forderungen
vermag weder der individuelle noch der kollektive Arbeitsvertrag zu er-
füllen. Zunächst aus einem äufseren Grund: Jede Arbeiterkoalition
würde zerfallen, kaum ein Tarifvertrag käme zustande, wenn für jüngere
und ledige Arbeiter ein geringerer Lohn zugestanden würde. Sodann
aber aus einem inneren: Worauf es ankommt, ist, dafs der Lohn den
objektiv vorhandenen Bedürfnissen der einzelnen Arbeiter sich anpafst,
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73«
Littcratur.
so dafs also der Arbeiter, wenn und solange er gröfsere, objektiv nach-
weisbare Bedürfnisse hat oder zu gröfseren Ausgaben genötigt ist, diesen
gerecht werden kann, obwohl seine Arbeitsleistung nur dieselbe, viel-
leicht zeitweise eine geringere ist, als die seiner Kollegen, welche zur
Zeit jene Ausgaben nicht haben. Diese Forderungen, die schon einen
stark kommunistischen Beigeschmack haben , können aber nach Flesch
aus dem „Lohn“ begrifflich nicht befriedigt werden. Den Anfang einer
Lohnregulierung, die diesen Forderungen gerecht zu werden versucht,
erblickt er in der Arheiterversirherung und in dem Arbeitsnachweis.
Einen weiteren Ausbau von diesem Zwecke dienenden Einrichtungen
sieht er in der unentgeltlichen Volksschule, in der Wöchnerinnenpflege
in Frankreich, in der unentgeltlichen Beerdigung, den Ferienkolonien,
der F'rühstUcksspeisung armer Schulkinder, den öffentlichen Lesehallen,
den Erholungsheimen für Erwachsene. Alle diese Einrichtungen er-
scheinen ihm im rechten Lichte nur dann wenn sie nicht als Wohl-
thaten betrachtet werden, die Begüterte den Armen eines bestimmten
Ortes erweisen, sondern als Versuche in kleinem Mafsstabe, um den Ar-
beitern zunächst eines kleineren Kreises die Deckung aufserordentlicher
Ausgaben zu ermöglichen, zu denen ihr blofs aus dem Arbeitslohn ge-
speistes Budget nicht hinreichen würde. Und er kommt zu dem Schlüsse:
„Wenn der Arbeitsvertrag die Arbeiter nicht in den Stand setzt — und
nicht instandsetzen kann — alle, insbesondere auch alle aufser-
ordentlichen Bedürfnisse zu bestreiten, welche an den einzelnen heran-
treten können, so mufs dieser Mangel seine Korrektur nicht allein in,
allerdings denkbaren positiven Bestimmungen über die Lohnhöhe, son-
dern mindestens ebensosehr in der Schaffung von öffentlichen (staat-
lichen oder kommunalen) Einrichtungen finden, welche jedem Unbe-
mittelten zugute kommen, aber auch nur solchen, bei denen die
betreffenden Bedürfnisse hervortreten. Dafs hiermit — mit der Schaffung
von Gesetzen über die Unterhaltung von Volksbibliotheken, wie in Eng-
land, über Gewährung von Lehrmittelfreiheit, unentgeltlichem Begräbnis
u. s. w., wie in der Schweiz — die Fixierung eines Minimallohnes für
I leimarbeit, Kinderarbeit, Frauenarbeit in gewissen Branchen, die schärfere
gesetzliche Beantwortung der Frage, wann Zahlung zu geringen Lohnes
als Wucher strafbar ist, bedarf keiner Ausführung.“
Dafs all diese Wohlthätigkeitsanstalten zusammengenommen den
von Flesch aufgestellten Postulatcn nicht zu genügen vermögen , be-
darf wohl kaum eines Beweises. Flesch hat also das Postulat aufge-
stellt, cs aber nicht gelöst. Er hat auch nicht ausgeführt, wie und in
welchem Umfang der weitere Ausbau dieser Einrichtungen zu verlangen
sei, um seinen Postulatcn zu genügen. Aufserdem ist es widerspruchs-
voll, wenn er diese Einrichtungen des Charakters der Wohlthätigkeit
entkleidet wissen, ihrer Benützung aber nur Unbemittelten einräumen
will. Die grofse Klarheit, die der Verfasser überall bei der Kritik
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Flesch, Karl, Zur Kritik des Arbeitsvertrages.
739
juristischer Fragen zeigt, verläfst ihn, sobald es sich um weiter tragende
volkswirtschaftliche Probleme handelt.
Hinsichtlich der Arbeitszeit ist dem Verfasser das Eintreten ftir
die relativ verschiedenen hygienischen Forderungen selbstverständlich,
ihm stehen soziale Forderungen im Vordergrund des Interesses. Der
heutige Zustand läfst dem Arbeiter keine Zeit, um seinen Verpflichtungen
gegen Staat, Gemeinde und Familie nachzukommen. „Es wird nicht
geleugnet werden können, dafs die sogen. Selbstverwaltung, die sogen.
Herrschaft von Bildung und Besitz, eine Klassenherrschaft war,
welche Staat, Gemeinde und öffentliche Korporationen der ausschliefs-
lichen Verfügung einer kleinen Minderheit überantwortete.“ In den
letzten Jahrzehnten hat sich das ganze Gebiet der sozialen Verwaltung
(Krankenkassen, Altersversicherungsanstalten, Zwangsinnungen, Gewerbe-
gerichte u. s. w.) aufgethan, an deren Verwaltung die Arbeiter nach dem
Gesetze teilnehmen müssen.
„Hat der Unternehmer wirklich (nicht das Recht, aber) die Macht,
die Durchführung aller Gesetze zu vereiteln, zu deren
Ausführung die Mitwirkung der Arbeiter verlangt wird?“ Flesch ver-
langt entsprechende Ausdehnung der Vorschrift des § 1S0 des Invaliden-
versicherungsgesetzes und Festsetzung von Strafe .auf jedes Verhalten,
das geeignet ist, dem Arbeiter die Erfüllung öffentlicher Verpflichtungen
unmöglich zu machen, sei es durch Verweigerung des Urlaubs, sei es
durch Drohung mit Entlassung u. s. w.
Die gröfste Ungleichheit erblickt endlich Flesch in der gleichen
vierzehntägigen Kündigung. Im Verhältnis zwischen Handwerksmeister
und Geselle entspricht sie zwar allen billigen Anforderungen, sie wird
aber um so ungerechter, je gröfser der Betrieb ist. Im gleichen Mafse
wird sie nämlich für den Arbeitgeber ein nicht ins Gewicht fallender
Nachteil, eine ijuantite negligcable, während sie den Arbeiter vor die
Existenzfrage stellt. In dieser Beziehung bedarf es nach Flesch der
Ständigkeit des Arbeitsvertrages, einerseits durch die, auf das Gedeihen
der Produktion im allgemeinen abzielenden Mafsrcgeln der Volkswirt-
schaft, sodann durch Organisierung von Anstalten, welche den Abschlufs
eines anderen Arbeitsvertrages erleichtern (öffentliche Arbeitsvermittelungs-
stellen) oder die Nachteile der Vertragslosigkeit mindern (Arbeitslosen-
versicherung), endlich aber auch „zum Schutz der Arbeitswilligen“ gegen
willkürliche, durch den Gang des Betriebes nicht geforderte und durch
das Verhalten des Arbeiters nicht notwendig gemachte Entlassung einer
entsprechenden Aenderung des heute gültigen positiven Rechts. „Es
mufs ein richterliches Verfahren — z. B. vor dem Gewerbegerichte —
über die Gründe zulässig sein, aus denen der Unternehmer den Arbeits-
vertrag gelöst hat, und zwar auch dann, wenn der Auflösung die gesetz-
liche oder vertragsmäfsige Kündigung vorausging. Gelangt das Gericht
zu der Utberzeugung, dafs für die Lösung Gründe mafsgebend waren,
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740
Liiteratur.
die mit den volkswirtschaftlichen Zwecken lind Aufgaben des Arbeits-
vertrages nichts zu thun haben, die also weder Zusammenhängen mit
den geschäftlichen Dispositionen, noch mit der Geschäftslage des Unter-
nehmers, noch mit den Leistungen des Arbeiters, so müssen sich hieran
wenigstens im Grofsbetrieb, Nachteile für den Arbeitgeber knüpfen, die
sowohl in einer ausgedehnten Entschädigungspflicht gegen die entlassenen
Arbeiter, als unter Umständen, wenn die geschehene Kündigung sich
als Bestrafung des Arbeiters für dessen politisches Verhalten u. s. w.
darstellt, in Strafen bestehen können.“
Alle Achtung vor dem guten Willen des Verfassers. Aber er scheint
uns, obwohl er in der Abschätzung der Machtverhällnisse zwischen Ar-
beiter und Arbeitgeber ein so richtiges Urteil zeigt, die Machtmittel der
Unternehmer denn doch noch zu unterschätzen. Durch fortgesetzte Chikane
kann man jeden Arbeiter dazu zwingen, dafs seine Arbeitsleistung keine
entsprechende mehr ist. Und wer will einem Arbeitgeber nachweisen,
dafs er eine, etwa vierzehntägige Betriebseinschränkung nur vorgenommen
hat, um eine Anzahl mifsliebiger Arbeiter entlassen zu können? Es liegt
uns fern, die Elesch'schen Forderungen vom Standpunkt des Betriebs-
leiters zu bekämpfen, aber wir müssen hinter ihre praktische Durch-
führbarkeit ein grofses Fragezeichen machen. Dabei müfste eine totale
und fundamentale Umwandlung der Rechtsanschauungen unserer Zivil-
juristen vorausgesetzt werden. Bei der ofiziellen und offiziösen Förderung
jedweder, auch der ungerechtesten Sozialistenverfolgung ist auch in ab-
sehbarer Zeit nicht zu erwarten, dafs die Forderungen des Verfassers
auch nur in Erwägung gezogen werden. Trotz alledem müssen wir
unser Urteil dahin zusammenfassen : Eis ist eine mutige Schrift, die von
warmem Empfinden für das Wohl der arbeitenden Klassen getragen,
ihnen auf der Grundlage des geltenden Rechtes zu besseren Daseins-
bedingungen verhelfen will. Es ist ein programmatischer Entwurf der
Regelung der gesetzlichen Bestimmungen über den Arbeitsvertrag von
höheren sozialen Gesichtspunkten aus.
Berlin.
CI.EMEINS HEISS.
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v. Zwicdincck-Südenhorst, Lohnpolitik ctc.
74
/
von Zwicdincck-Südenhorst , Dr. Otto, Lohnpolitik und Lohn-
theorie mit besonderer Berücksichtigung des Minimallohnes.
Leipzig, Verlag von Duncker & Humblot. 1902. XIII und
410 S. 8°. Preis 9 Mk.
Der Arbeiterschutz bei Vergebung öffentlicher Arbeiten und IJefe-
rungen. Bericht des k. k. arbeitsstatistischen Amtes über
die auf diesem Gebiete in den europäischen und über-
seeischen Industriestaaten unternommenen Versuche und
bestehende Vorschriften. Wien 1900. Aus der k. k. Hof-
und Staatsdruckerei. Xu. 163 S. gr. 8°. Preis 1 Kr. 20 h.
Klien, Dr. Ernst, Minimallohn und Arbeiterbeamtentum. I. Bd. 2. H.
der Abhandlungen des staatswissenschaftlichen Seminars zu
Jena, herausgegeben von Prof. Dr. Pierstorff. Verlag von
Gustav Fischer in Jena. 1902. 232 S. 8°. Preis 6 Mk.
Zwei Ziele hat sich v. Zwiedineck bei seinen Untersuchungen gesteckt :
erstens die Darstellung der Wandlungen in der Lohnpolitik und zweitens
die Erörterung der Grundlagen und Aufgaben der modernen Lohn-
politik überhaupt, insbesondere aber des aktuellsten Mittels, welches sie
in Anwendung bringt, der Mindestlohnfestsetzung.
Mit grofsem Fleifs hat Verfasser in detn ersten Abschnitt „Lohn-
politik bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts" alle Nachrichten über
die Wirksamkeit autoritärer I.ohnpolitik gesammelt. Bis zum Ausgang
des Mittelalters galt ■ für die lohnpolitischen Mafsregeln in Deutschland
das Motto: „Du solt nit wuchern mit deiner Hände werck, denn die
seel get darby verloren“, schrieb der heilige Augustinus. Die Arbeit,
auch die zu Krwerbszwecken unternommene, sollte nicht den Zweck
haben, „Gelt und Reichtumb zu scharren“, denn „wer nur suchet Gelt
und Reichtumb zu scharren mit sin Arbeit, der handelt schlecht und
sin arbeit ist wucher“. Bei der Aufgabe des mittelalterlichen Hand-
werks, wie dies Werner Sombart in seinem grofs angelegten Werke „Der
moderne Kapitalismus“ formuliert hat. dem Manne seine Nahrung zu
schaffen, griff die Lohn]x>litik der Behörden ein, indem sie einen Maxi-
mallohn schuf. Der Maximallohn beherrscht das ganze Mittelalter, sei
er nun als Schutz des Konsumenten oder der Meister gegenüber den
Gesellen gedacht. Kr verlor übrigens viel an seiner scheinbaren Härte
durch das Vorherrschen des Naturallohnes.
Auch in England war der Maximallohn bis zum Gesetz 5 Elisabeth
c. 4 von 1563 vorherrschend gewesen. Dieses Gesetz versuchte zum
, Archiv für ftoz. Gesetzgebung: u. Statistik. XVII. 4^
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742
Littcralur.
erstenmal Hinrichtungen zu schaffen, die den Lohnarbeitern einen an-
gemessenen Unterhalt zu sichern bestimmt waren. Es wurd^ nunmehr
die Feststellung der Löhne den örtlichen Behörden übertragen, aber die
Lohnfestsetzung blieb Maximallohn. Das Gesetz, i James 1 c. 6 (1603)
ist das erste Minimallohngesetz. Im 18. Jahrhundert waren aber die
Lohngesetze völlig in Verfall gekommen. Formell wurden aber die
ältereren Bestimmungen über die Lohnfestsetz.ungen durch die Friedens-
richter erst durch das Gesetz 53 George 111 c. 40 aufgehoben und
damit die Petitionen um Festsetzungen von Minimallohntarifen aus den
Jahren 1795, 1800 und 1808 abgewiesen.
Der zweite Abschnitt „Lohntheorie und theoretische Lohnpolitik“
beschäftigt sich mit der Theorie der Lehre vom Lohn. Kr zerfällt nach
einer kurzen Einleitung über „die Gruppierung der zu besprechenden
Thcorieen“ in folgende Hauptabschnitte: „Die Lohnfrage in der indivi-
dualistischen Ockonomik"; „Die Lohnfrage im Lichte der katholisch-
sozialen Litteratur“; „Das sozialistische Arbeitsentgelt; „Sozialethische
Theorieen zur Lohnfrage“.
Von all den vorgetragenen Lohntheorieen können wir sagen, dafs
sie Verfasser klar und übersichtlich wiedergegeben hat und dafs sie so
allgemein bekannt sind, dafs ein weiteres Eingehen auf sie in dieser
Zeitschrift erübrigt.
Der dritte Abschnitt „Thatsachen der modernen Lohnpolitik“ giebt
zunächst einen Ueberblick über die Entwicklung und Wandlungen in der
Lohnpolitik der Trade-Unions. Es ist im allgemeinen ein Auszug aus
den bekannten Werken von B. und S. Webb imter Berücksichtigung der
Arbeiten von Brentano, Held, von Schulz-Gävernitz und einiger eng-
lischer Autoren. Hieran schliefst sich eine eingehende Darstellung und
Kritik der Fair-wages-Klauseln bei Submissionen in- England. Die Aus-
führungen des Verfassers sind eingehender als diejenigen in der Schrift
des k. k. arbeitsstatistischen Amtes und durch diese keineswegs überholt.
So sind z. B. die statistischen Daten, die von Z.-S. giebt, viel eingehender
und brauchbarer. Und die Bemerkung auf S. 6 der Schrift des arbeits-
statistischen Amtes: „demgemäfs wird auch von Seite der Offerenten
weder gegen die Resolution selbst, noch gegen die Art ihrer Hand-
habung etwas cingewendet“ steht in direktem Widerspruch zu der von
v. Z.-S. (S. 254 oben) aus dem Originalreport edierten Stelle.
Für die übrigen Staaten : Belgien, Holland, Frankreich, Schweiz,
Oesterreich, Deutschland, Vereinigten Staaten von Nordamerika beschränkt
v. Z.-S. leider seine Untersuchungen auf die Darstellung und Kritik der
anständigen Lohnklausel. Hieran reiht sich die Wiedergabe und Kritik
der eigenartigen Gesetzgebung von Neuseeland und Viktoria, das den
Minimallohn für eine grofse Zahl von Berufen allgemein obligatorisch
eingeführt hat.
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v. /. w i c d i n cc k - Sü «1 e n h o rs t , Lohnpolitik etc.
743
Die Lohnklauseln lassen sich hiernach in drei Gruppen einteilen:
i. Ks werden, wie vom Londoner Schulamt und Grafschaftsrat direkt
die Stand irdlöhne der Gewerkvereine zu Grunde gelegt. Hierher ist
auch das Vorgehen einiger deutschen Reichsbehörden, der preufsischen,
sächsischen und elsafs-lothringischen. Staatsbehörden , durch das der
liuchdiuckcrtarif bei der Vergebung staatlicher Druckaufträge anerkannt
worden ist, zu rechnen. Die bei einigen Provinzial Verwaltungen Belgiens
übliche Modalität der Lohnbestimmung, wo der an Ort und Stelle
zwischen Arbeitern und Unternehmern kollektiv vereinbarte Lohn als
Minimallohn erklärt wird, gehört ebenfalls zu dieser Gruppe, wenn sic
sich auch der englisclu-n Lohnklausel: „common in the dislriet“ nähert.
i. Die in dem betreffenden Orte und Gewerbe üblichen oder vor-
herrschenden Löhne sind acceptiert in den Lohnklauseln der englischen
Staatsbehörden, in den Gesetzen von Indiana, Kansas und New Vork für
die Arbeiten der Staatsbehörden, der Bezirke und Gemeinden sowie in
Frankreich. 3. Ziffernmäßige Löhne und Lohntarife /.eit- und Stück-
löhne) kommen vor in Belgien, namentlich aber bei holländischen Ge-
meindeverwaltungen und bei den Arbeitern der tistereichischen Staats-
balmverwaltung („Stabilisierung" der Löhne . Daneben sind hier und
da besondere Lohnsätze lür ll.dbarbciter vorgesehen; es findet sich in
Amerika häutig die Bestimmung, dafs amerikanische Staatsbürger und
namentlich die ehemaligen Land- und Marinesoldalen und Seeleute aus
den Sezessionskriegen zu bevorzugen sind.
Der vierte Abschnitt behandelt die „Voraussetzungen und Grund-
lagen der modernen Lohnpolitik.“ Ks hat sich gezeigt, dafs zur Zeit der
Koalitionsverbote r 7po bis iS’o eine Krhöhung der L'nternehmcr-
gewinnc fast in allen Industriezweigen vor sich ging, auch der Kapital-
zins stieg, während gleichzeitig die Arbeitslöhne fast allenthalben fielen.
Demgegenüber ist seit der Anerkennung und Verbreitung der Gewerk-
vereine in Knglaml. wenn man gröbere Perioden ins Auge fafst, ein
stetiges und erhebliches Steigen der Lohne zu beobachten. Kin Zurück-
gehen der Löhne und ihrer eigenen Organisation vermochten allerdings
auch die englischen Trude-Unions während der Kri-en nicht zu ver-
hindern. Ks besteht jedoch ein ganz, wesentlicher Unterschied zwischen
der Rückwirkung von Krisen auf die Lohnhöhe und dem Mafse. sowie
der Art, in welchen die Gcrchäftsstockcngen heute und überhaupt in
jüngerer Zeit auf die I ohngestaltiing Kintlufs üben. Aufser dem Mittel
der Arbeitslosenunterstützung hat vor allem auch die Disziplinierung der
organisierten Arbeiter die Gelähr eines zu weitgehenden ungerechtfertigten
Lohndruckes abweliren geholfen.
Kine eingehende Untersuchung der möglichen Wirkungen einer
Lohnerhöhung ergiebt, dafs diese ebensowohl die Konsumenten als die
Produzenten treffen können, ln letzterem Kall kann die Kapitalbildung
gehemmt oder es kann die Konsumkraft der Kapitalistenklasse cinge-
4S*
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744
Littcratur.
schränkt «erden. Beides ist ohne Nachteil für die Volkswirtschaft, da
die Kapitalbildung und daher das Kapitalanlagebedürfnis in weit höherem
Mafsc steigen, als die Volkswirtschaft es verlangt und da eine solche
Verschiebung des Konsums nur eine an sich wünschenswerte Aus-
gleichung der Klassengegensätze zur Folge haben müfste. Eine nam-
hafte Vermehrung der Arbeitslosigkeit wegen der durch die Lohn-
erhöhung unrentabel gewordenen und daher eingestellten Betriebe ist
überhaupt nicht zu befürchten.
Wird die Lohnerhöhung aber auf die Warenpreise abge«'älzt, so
müssen die Arbeiter keineswegs den ganzen erreichten Vorteil wieder
in erhöhten Warenpreisen abgeben, sondern ein Teil der Mehrauslage
an Lohn wird von den übrigen Bevölkenmgsklassen aufgebracht. Be-
züglich der Aufrechterhaltung der Konkurrenzfähigkeit auf dem inter-
nationalen Markt durch manche Exportindustrieen um jeden Preis be-
merkt v. Z.-S. unter Hinweis auf die Konfektionsindustrie mit vollem
Recht: „der volkswirtschaftliche Vorteil davon, dafs die einheimischen
Arbeiter um Hungerlöhne arbeiten, damit sich die Bevölkerung des Aus-
landstaates, der die Waren kauft, besonders billig kleidet, ist nicht ein-
zusehen.“ Gilt es jedoch den Konkurrenzkampf mit einer ausländischen
Industrie, die niedrigere Löhne zahlt, im eigenen Lande aufzunehmen,
dann trifft das zu, was Brentano als Ergebnis seiner Untersuchung fest-
stellt, wenn er sagt: „Lohnsteigerungen auf Kosten der Konsumenten
sind jedoch nur möglich, insofern die Preise dadurch nicht so sehr
erhöht werden, dafs die Nachfrage der Konsumenten sich der aus-
ländischen statt der einheimischen Industrie zuwendet.“ Jedoch kann
hier eine Zollschranke abhelfen und unter Umständen gerechtfertigt sein.
Wird aber danach getrachtet, eine Produktionsverteuerung infolge Er-
höhung der Löhne durch eine technische Produktionsverbilligung wett
zu machen, dann ist die Förderung der Produktivität durch die Lohn-
erhöhung ganz aufser Zweifel gestellt.
Es kann aber eine Korrektur der freien Lohnbiidung aus ethischen
Gründen zu fordern sein. Und zwar ist hierbei unser Gerechtigkeits-
ideal und ein verfeinertes Freiheitsempfinden ausschlaggebend. Die
Forderung der Gerechtigkeit , die v. Z. - S. als allgemein anerkannte
glaubt bezeichnen zu dürfen, geht darauf hinaus, dafs die Arbeit eines
in seiner Vollkraft stehenden Menschen, wenn sie ihn ganz in Anspruch
nimmt, ihm eine angemessene Lebensführung schaffen soll. Und das
Freiheitsempfinden verlangt, dafs die Vertragsfreiheit nicht blofs' eine
formelle, sondern eine materielle sei. Die hauptsächlichste hieraus ab-
zuleitende Folgerung ist die Anerkennung der Koalitionsfreiheit und der
rechtliche Schutz des kollektiven Arbeitsvertrages. Ein staatliches Ein-
greifen ist dagegen bei den Hausindustriellen und den ungelernten Tage-
löhnern, die nicht organisationsfähig sind, angezeigt, um unter Mitwirkung
der beiden Arbeitsvertragsparteien einen Minimallohn festzustellen, der
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v. Zwiedincck-Südenhorst, Lohnpolitik etc.
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jenem Gerechtigkeitsidca! entspricht, und so ein Herkommen in der
Lohnfestsetzung zu brechen, wo cs zu wirklich ungesunden und unhalt-
baren Verhältnissen geführt hat.
Die ganze Lohntheorie des Verfassers leidet an dem grofsen Mangel,
dafs sie die Lohne der landwirtschaftlichen Arbeiter unberücksichtigt
lafst. Die Lohne aller Berufsklasscn sind in ihrem Verhältnis zu einander
relative Grofsen. Alle höheren Löhne sind gewissermafsen eine Funktion
der niedrigsten Löhne, d. h. der Löhne der landwirtschaftlichen Arbeiter.
Gelingt es diese dauernd zu heben, so müssen mit Notwendigkeit die
Löhne aller gelernten Arbeiter steigen. Das ganze Problem der sozialen
F'rage, will mir scheinen, kann mit Erfolg nur von der Produktion der
notwendigsten Bedarfsgegenstände d. h. von der landwirtschaftlichen Pro-
duktion aus in Angriff genommen werden. Im einzelnen auf dieses
Problem näher einzugehen, ist hier nicht der Ort.
Der Bericht des k. k. arbeitsstatistischen Amtes bildet in mancher
Hinsicht eine F'.rgänzung der angezeigten Schrift. F'.r behandelt den Ar-
betlerschutz. bei Vergebung öffentlicher Arbeiten und Lieferungen in
folgenden Staaten: Grofsbritannien, Belgien, den Niederlanden, Frankreich,
den Vereinigten Staaten von Amerika, im Deutschen Reich, in der
Schweiz, in Norwegen, Oesterreich, Ungarn, Bosnien und in der Herze-
gowina. In einem Anhang wird die Heranziehung von Arbeiterassozia-
tionen zu öffentlichen Arbeiten, wie sie namentlich in England und
Italien versucht worden ist, auf Grund eines Berichts des englischen
Arbeitsamtes dargestellt. Hinsichtlich des Minimallohnes kommen die
gleichen Thatsachen wie in dem soeben besprochenen Werke zur Dar-
stellung und finden namentlich hinsichtlich der deutschen Gemeinde-
verwaltungen weitgehende F'.rgänzung. Daneben sind noch andere Ar-
beiterschutzbestimmungen , wie die , welche die Sicherung der Lohn-
zahlung überhaupt zum Zwecke hat. hygienische Unfallverhütungsmafs-
regeln u. dergl. berücksichtigt. Eine Durchsicht der Submissionsklauseln
ergiebt, dafs sie in ihrer grofsen Mehrzahl nur einer Berufsklassc, der
der Bauarbeiter zu gute kommen. Der amtliche Bericht zeichnet sich
durch eine gewissenhafte Sammlung des Materials, genaue Quellenangabe
und übersichtliche objektive Darstellung aus.
Die Schrift von Klien bietet, namentlich für die deutschen Verhält-
nisse eine willkommene F'.rgänzung derjenigen von v. Zwiedineck-Südenhorst.
Sie zerfällt in einen theoretischen, einen praktischen und einen speziellen
Teil. Der theoretische Teil bietet im wesentlichen kaum etwas neues;
Verf. folgt hier den Ansichten Brentanos und der österreichischen Schule.
Das über den Minimallohn vorliegende Thatsachenmaterial gliedert Klien
in seinem praktischen Teil in i. obrigkeitlichen Minimallohn und zwar
a) staatlichen, b) kommunalen; 2. korporativen und 3. singulären Minimal-
lohn. Durch diese Fanteilung wird ganz unnötigerweise organisch Zu-
sammengehöriges willkürlich auseinandergerissen. Der von v. Zwicdineck-
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.ittcratur.
Siidenhorst und vom k. k. österreichischen arbeitsstatistischen Amt ge-
wählten Darstellung nach Landern gebührt entschieden der Vorzug. Der
staatliche Minimallohn ist zu dem nur von prinzipieller Bedeutung für
das Vorgehen Australiens, wo er kraft Kompetenzhoheit eingeführt wurde.
Im übrigen unterscheidet sich der staatliche Minimallohn nur für Genf,
Indiana, (Kansas, New York und Frankreich, wo der Staat durch Gesetz
als Arbeitgeber an die Einhaltung des Minimallohnes gebunden ist, vom
kommunalen, während in allen übrigen Staaten zwischen staatlichem und
kommunalem Minimallohn aufser in der Person des Arbeitgebers kein
wesentlicher Unterschied besteht. Logischerweise wären diese letzteren
Minimallöhne, sofern sie von Staat und Gemeinde einseitig festgesetzt
werden und hierzu keine gesetzliche Bindung besteht, unter Kliens sin-
guläre Minimallöhne zu rechnen. Auch von korporativem Minimallohn
zu sprechen und darunter den von den Gewerkschaften verlangten oder
im Wege des kollektiven Arbeitsvertrags mit den Unternehmern verein-
barten Minimallohn zu verstehen, ist geradezu irreführend, solange die
Gewerkvereine und der kollektive Arbeitsvertrag in den meisten Staaten
der rechtlichen Anerkennung entbehren. Es handelt sich hier i. um
von den Arbeitgeber- und Arbeiterverbänden gemeinschaftlich festge-
setzte Minimallöhne, 2. um einseitig a) von den Arbeitern, b) von den
Unternehmern (Kliens „singuläre Minimallöhne“) festgesetzte Minimal-
löhne.
Es hätte sich umsomehr empfohlen, bei der Darstellung des That-
sachcninaterials die geographische Einteilung, die wiederum geschicht-
liche Zusammenhänge ins richtige Licht zu setzen vermag, beizubchalten,
als Klien in seiner „analytischen Darstellung der Lebenserscheinungen
des .Minimallohnes“, in der er Umfang, Inhalt tmd Rechtscharakter der
Minimallohnbestimmung liehamieh, zu zahlreichen Wiederholungen ge-
nötigt ist.
Wenn wir von Deutschland absehen, ist Klien in seiner Darstellung
des Thatsar.hemnaterials über diejenige von v. Zwiedineck Siidenhorst und
des österreichischen arbeitsstatistischen Amtes nicht hinausgekomtnen,
sondern im Gegenteil durch Auseinandcrreifsung von Zusammengehörigem
weit dahinter zurückgeblieben. Kr hätte besser gethan, sich hier auf
einen kurzen Auszug zu beschränken und dafür seine zahlreichen No-
tizen über die Minimallohn- bezw. Tarifbestrebungen deutscher Gewerk-
vereine und Arbeitgeberverbände zu einer Geschichte dieser Bestrebungen
auszuarbeiten. Klien hat hier allerdings eine Menge Material aus der
„Sozialen Praxis“ zusanimcngclragen, aber die Ausführlichkeit der Dar-
stellung ist zu verschieden, je nachdem eben diese (Quelle reichlicher
oder spärlicher Hofs. Es fehlt eben leider immer noch eine systematische
Geschuhte der deutschen Gewerk vereine.
Wesentlich günstiger mufs das Urteil über den dritten wertvollsten
Teil des Buches lauten, der als eine „Monographie des Minimallohnes in
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v. /. w i c d i nec k -S(l de n li i> r st , Lohnpolitik etc.
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der deutschen Kommunalverwnltung" bezeichnet werden kann. Klien hat
hier mit grofsem Fleifs alle statutarischen Regelungen des Arbeitsver-
hältnisses der städtischen Arbeiter gesammelt. Leider reifst er hier
wiederum um gekünstelter Unterscheidungen willen Zusammengehöriges
auseinander. Der ziemlich klare Sachverhalt ist doch der, dafs von den
von Klien bearbeiteten Städten München am weitesten in der Fürsorge
für seine Arbeiter gegangen ist, indem es ihnen einen Rechtsanspruch
auf Invaliden-, Alters-, Witwen- und Waisenpension gegeben und die
Bestimmung getroffen hat, dafs künftighin der einmal erreichte Lohn
niemals, also auch nicht bei eintretender Minderung der Arbeitsleistung,
herabgesetzt werden darf. Am äufsersten Knde auf der prinzipiellen
Auffassung der Frage steht Berlin, das die Arbeiterftirsorge als reinen
Gnadenakt angesehen wissen will. An München schliefsen sich an die
Städte Mannheim, Karlsruhe, Frankfurt a. M., Stuttgart, Freiburg i. Br.
K.s folgen mit mehr oder weniger ausgiebiger Arbeiterftirsorge für ihre
städtischen Arbeiter Cannstatt, Baden-Baden, Ulm, Worms. Darmstadt,
Düsseldorf, Kssen, Köln, Mainz, (liefsen, Fürth, Dresden, Charlottenburg,
Spandau, Hamburg, Breslau, Braunschweig und •Kassel. Bei all diesen
Städten handelt es sich um den weiteren Ausbau der Arbeiterversiche-
rung, den Klien in willkürlicher theoretischer Konstruktion als Vorstufe
des Mintmallohnes behandelt. Sodann berichtet er über sechs süd-
deutsche Städte, tiie den .Minimallohn prinzipiell anerkannt und durch-
geführt haben: Frankfurt a. M„ Mannheim. Karlsruhe, Stuttgart, Frei-
burg i. Br., München. Zu diesen Städten sind inzwischen noch solche
gekommen — Klien erwähnt von einigen die schwebenden Verhand-
lungen — , wo. für die bei Submissionsaufträgen lteschäftigten Arbeiter
in irgend einer Form Mindestlöhne gesichert sind, wie in Braunschweig,
Cannstatt, Dresden, Frankfurt a. M., Stettin, Strafsburg, Wiesbaden, Mar-
kirch i. E. und teilweise in Charlottenburg. Dazu kommen von Städten
dieser Gruppe die von Klien erwähnten : Kassel, Mengen und Gleiwitz.
Ferner gehören hierher noch die Städte, die den Buchdruckertarif an-
genommen haben, nämlich: Leipzig, Mannheim, Gotha, Rudolstadt,
Heidelberg, Karlsruhe, Tilsit, Hannover, Nördlingen, Ansbarh, Ulm a. D.
und Frankfurt a. M.
Merkwürdigerweise behandelt nun aber Klien die Arbeiterstatute
der oben erwähnten süddeutschen Städte nicht etwa an der Spitze des
über den weiteren Ausbau der deutschen Arbeiterversicherung handelnden
Kapitel, sondern in dem Kapitel über den prinzipiell durchgeführten
Minimallohn. Wiederholungen und Unklarheiten sind die Folge solch
verfehlter Systematik. Das Kapitet aber, das Klien in seiner Entdecker-
freude überschreibt : „Eine Neuschöpfung auf Grund des kommunalen
Minitnallohnes in Deutschland — der Arbeiterbeamte“ hätten wir ihm
am liebsten ganz geschenkt. Seine breiten staatsrechtlichen Ausführungen
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Litteratur.
sind juristisch gegenstandslos und volkswirtschaftlich wertlos. Der einzig
richtige Gedanke mag dabei sein, dafs die städtischen Arbeiter durch
solche „Systematisierung“ oder „Stabilisierung“ von der übrigen Arbeiter-
schaft abgedrängt werden. Kliens Buch bietet eine Fülle von Material
und Anregung und ist daher trotz der Mängel im systematischen Aufbau
sehr wertvoll.
Berlin.
CLEMENS HEISS.
Lipprrt & Co. (G. PitU'sche KuchJr.), Naumburg a. S.
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