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Full text of "Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik"

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OMNIBUS.  ARTIBU! 


BOOK 


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A RCHI  V 


FÜR 


SOZIALE  GESETZGEBUNG  UNI)  STATISTIK. 


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ARCHIV 

' FÜR 

SOZIALE  GESETZGEBUNG 
UND  STATISTIK. 

ZEITSCHRIFT 

ZUR  ERFORSCHUNG  DER  GESELLSCHAFTLICHEN 
ZUSTÄNDE  ALLER  LÄNDER 


IN  VERBINDUNG  MIT 

EINER  REIHE  NAMHAFTER  FACHMÄNNER  DES 
IN-  UND  AUSLANDES 

HERAUSGEGEBEN  VON 

Dr.  HEINRICH  BRAUN. 


SIEBZEHNTER  BAND. 


BERLIN. 

CARL  HEYMANNS  VERLAG. 

1902. 

BRUXELLES:  i.ihkaiiuk  kübopärnne  c.  mu^oabdt.  — BUDAPEST:  krrdisahd 
PKK! PER.  — CHRISTIANIA:  H.  ASCHKHOUO  & CO.  — HAAG:  LIBRAIRIB  BRLINFANTK 
PRftRRs.  — KOPENHAGEN:  akdr.  fked.  höst  h sön.  — LONDON:  david  hott. — 
NEW- YORK:  oüstav  e.  stecuert.  — PARIS:  h.lk  soudikr.  — ST.  PETERSBURG : 
K.  L.  RICKER.  — ROM:  LOK8CUKR  & CO.  — STOCKHOLM : SAMSON  Sr  WALLIS.  — 
WIEN  : UAN28C1IK  K.  K.  HOKVKRLAOS-  UND  UNIVKRS1TÄTSRUCHHASDLÜSO.  — ZÜRICH  : 

HKTKR  & ZELLER. 


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Ä.S9  ZI 


Nachdruck  und  Uebercetzung  Vorbehalten.. 


Verlags-Archiv  35*4. 


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INHALT  DES  SIEBZEHNTEN  BANDES. 


ABHANDLUNGEN. 

Seite 

Bernstein,  Eduard,  M.  d.  R.,  in  Berlin,  Einige  Reformversuchc 

itn  Lohnsystera 309 

Bunzel,  Dr.  Julius,  in  Graz,  Die  Lage  der  ungarischen  Land- 
arbeiter   341 

Cohen,  Dr.  Arthur,  in  München,  Der  Entwurf  von  Bestimmungen 

über  die  Beschäftigung  der  Gastwirtsgehilfen  in  Deutschland  . 93 

Flesch,  Stadtrat  Dr.  Karl,  in  Frankfurt  a.  M.,  Das  preufsischc 
Fürsorge-Erziehungsgesetz  vom  2.  Juli  1900.  Vom  Standpunkt 

der  Armenpflege  und  der  Sozialpolitik 2 t 

Heine,  Wolfgang,  M.  d.  R.,  in  Berlin,  Koalitionsrecht  und 

Erpressung 589 

Heifs,  Dr.  Clemens,  in  Berlin,  Die  deutsche  Strikestatistik  . 150 
Macrosty,  Henry  W.,  B.  A.  in  London , Die  Trusts  in 

Amerika 281 

F 1 o e t z , Dr.  Alfred,  in  Berlin-Schlachtensee,  Sozialpolitik  und 

Rassenhygiene  in  ihrem  prinzipiellen  Verhältnis 393 

Schüler,  Dr.  F.,  eidgenössischem  Fabrikinspektor  a.  ü.  in  Mollis, 

Weibliche  Fabrikinspektoren  in  der  Schweiz 384 

Schulz,  M.  von,  Vorsitzendem  des  Gewerbegerichts  in  Berlin, 

Arbeiter-  und  Konsumentenschutz  im  Bäckergewerbe  ...  51 

Sombart,  Prof.  Dr.  Werner,  in  Breslau,  Der  Stil  des  modernen 

Wirtschaftslebens 1 

Waentig,  Prof.  Dr.  Heinrich,  in  Münster,  Der  Stahlarbeiter- 
strike  vom  Sommer  1901  und  seine  Lehren.  Ein  Beitrag  zum 
Verständnis  des  amerikanischen  Kapitalismus 549 

GESETZGEBUNG. 

Deutsches  Reich.  Das  Baupfandgesetz.  Von  Htinrich  Freist, 

in  Berlin 169 

Wortlaut  der  Entwürfe  eines  Reichsgesetzes,  betreffend  die 

Sicherung  der  Bauforderungen 184 


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VI 


Inhalt. 


Seite 

Die  Novelle  /.um  Gcwerbegerichtsgesetz  und  der  prcufsische 
Ministerialerlafs  vom  2,y  Dezember  igoi.  Von  Dr.  Karl 

Flesch „ Stadtrat  in  Frankfurt  a.  M 4 2 1 

Die  neue  Seemannsordnung  und  ihre  Nebengesetze  von  H. 

Xfitlbrnhuhr  in  Berlin  . 

Wortlaut  des  Gesetzes,  betreffend  eine  Seeraannsordnting  vom 

2.  Juni  1902 

Wortlaut  des  Gesetzes,  betreffend  die  Verpflichtung  der  Kauf- 
fahrtcischifl'e  zur  Mitnahme  heimzuschaffender  Seeleute  vom 

2.  Juni  1902 

Wortlaut  des  Gesetzes,  betreffend  die  Stellenvermittelung  für 


Schiftsleute  vom  2.  Juni  1902 664 

Wortlaut  des  Gesetzes,  betreffend  Abänderung  seerechtlicher  Vor- 
schriften des  Handelsgesetzbuchs  vom  2.  Juni  1902  . . . 666 

Dänemark.  Das  neue  Fabrikgesetz  vom  u.  April  1901.  Von 

Adolf  Jemen,  Sekretär  des  statistischen  Amtes  in  Kopenhagen  209 


Grofsbritannien.  Die  englische  Fabrikgesetzgebung  in  den 
laliren  1878 — iqoi.  Von  Henry  IV.  Macrosty , 11.  A.  in 


London 670 

Italien.  Das  neue  Gesetz,  betreffend  die  National- Versorgungs- 
kasse für  die  Invalidität  und  das  Alter  der  Arbeiter.  F.inge- 

leitet  von  Prof,  Carlo  F.  Ferraris,  in  Padua 195 

Wortlaut  des  Gesetzes,  betreffend  die  National- Versorgungskassc 

für  die  Invalidität  und  das  Alter  der  Arbeiter 199 

Schwei  z. Der  Gesetzentwurf  betreffend  Arheiterinnensrhutz  im 

Kanton  Bern.  Von  Dr.  Emil  Hof  mann , Nationalrat  in 

Frauen  l eid 6S6 

Wortlaut  des  Gesetzentwurfs  betreffend  Arbeiteiinnenschutz  im 

Kanton  Bern  697 

Vereinigte  Staaten  von  Amerika.  Die  amerikanische  Ar- 
beitergesetzgebung des  Jahres  iqoi.  Von  Dr.  jur.  Charles 
Henry  Huberich,  Dozent  der  Rechte  an  der  Universität  von 
T evas  426 


MISZELLEN. 

Braun,  Dr.  Adolf,  in  Nürnberg,  Ausdehnung  der  Statistik  aber 

die  Krankenversicherung  im  Deutschen  Reiche 21  7 

Cahn,  Dr.  Ernst,  in  Bayreuth,  Ein  Arbeiterwohnungsvieitel  in 

einer  süddeutschen  Provinzstadt  (Bayreuth) 440 

Hofmann,  Dr.  Emil,  Nationalrat  in  Frauenfeld,  Der  Vollzug 

des  schweizerischen  Fabrikgesetzes 48g 

M i s c h 1 e r , Prof.  Dr.  Ernst,  in  Graz,  Die  österreichische  Ge- 
werbeinspektion im  Jahre  1900  . . . 478 


619 

633 

662 


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Inhalt. 


VI 


Seite 

Pringsheim,  Dr.  Otto,  in  Breslau.  Die  Aussichten  der  elek- 
trischen Landwirtschaft . s , , , , „ . . . . , . 7'S 

Varlcz,  Dr.  Louis,  Arbeitskorrespondent  in  Gent,  Die  Kom- 
munalversicherung gegen  Arbeitslosigkeit  in  Gent  . . . . 238 

Winter,  Dr,  Fritz,  in  Wien,  Die  Lage  der  studentischen  Haus- 
lehrer an  den  Wiener  Hochschulen 702 


LITTERATUR. 

E d e 1 h e i m , Dr,  John,  Beiträge  zur  Geschichte  der  Sozialpäda- 
gogik mit  besonderer  Berücksichtigung  des  französischen  Re- 
volutionszeitalters. Besprochen  von  Prof.  Dr.  Paul  Natarp,  in 

Marburg  i.  H 541 

Flesch,  Dr.  jttr.  Karl,  Zur  Kritik  des  Arbeitsvertrags.  Seine 
volkswirtschaftliche  Funktion  und  sein  positives  Recht.  Sozial- 
rechtliche Erörterungen.  Besprochen  von  Dr,  Clemens  Heiß, 

in  Berlin 7.84 

Lot  mar,  Philipp,  Der  Arbeitsvertrag.  Nach  dem  Privatrecht 
des  Deutschen  Reiches.  Erster  Band.  Besprochen  von  Prof. 

Dr.  Max  U'ebrr,  in  Heidelberg 72% 

Norden  holz,  Dr.  jur.  A.,  Allgemeine  Theorie  der  gesellschaft- 
lichen Produktion.  Besprochen  von  Dr.  Otto  Pringsheim , in 

Breslau 279 

Neue  Litteratur  von  und  über  Gewerkschaften.  Besprochen  von 

Dr.  Adolf  Braun,  in  Nürnberg 248 

Sinzheimer,  Dr.  Ludwig,  Der  Londoner  Grafschaftsrat.  Erster 

Band.  Besprochen  von  Eduard  Bernstein,  M.  d.  R.,  in  Berlin  271 
Zur  Litteratur  über  die  Wohnungsfrage.  Besprochen  von  Dr.  // 

Lindemann,  in  Stuttgart-Degerloch 508 

v.  Zw'iedineck-Sii  den  hörst,  Dr.  Otto,  Lohnpolitik  und 
Lohntheorie  mit  besonderer  Berücksichtigung  des  Minimal- 
lohnes. — Der  Ar  beiter  schütz  bei  Vergebung 
öffentlicher  Arbeiten  und  Lieferungen.  Bericht 
des  k.  k.  arbcilsstat ist ischen  Amtes  über  die  auf  diesem  Gebiete 
in  den  europäischen  und  überseeischen  Industriestaaten  unter- 
nommenen Versuche  und  bestehende  Vorschriften.  — K 1 i c n , 

Dr.  Ernst,  Minimallohn  und  Arbeiterbeamtentum.  1.  Bd.  2.  H. 
der  Abhandlungen  des  staatswissenschafllichen  Seminars  zu 
Jena,  herausgegeben  von  Prof.  Dr.  Pierstorff.  Besprochen  von 
Dr.  Clemens  Heifs,  . "4 1 


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Verzeichnis  derjenigen  Autoren,  die  zum  XVII.  Bande  Beiträge 

lieferten. 


Bernstein,  E.,  in  Berlin,  271,  30g. 
Braun,  A,  in  Nürnberg,  2 1 7,  248. 
Bunzel,  J.,  in  Graz,  341. 

Cahn,  F..,  in  Bayreuth,  440. 

Cohen,  A.,  in  München,  93. 
Ferraris,  C.  F.,  in  Padua,  195. 
Flesch,  K..,  in  Frankfurt  a.  M.,  21,421. 
Frcesc,  H.,  in  Berlin,  169. 

Heine,  W.,  in  Berlin,  5.89. 

Heifs,  C„  in  Berlin,  150,  734,  741. 
Hofniann,  E.,  in  Frauenfeld,  4S9, 686. 
Huberich,  Ch.  H.,  in  Austin,  426. 
Jensen,  A.,  in  Kopenhagen,  209. 
Lindeinann,  H.,  Stuttgart-Degerloch, 
So«. 


Macrostv,  1 1.  \Y.,  in  London,  281,  670. 
Mischler,  E.,  in  Graz,  478. 
Molkenbuhr,  H.,  in  Hamburg,  619. 
Natorp,  P.,  in  Marburg  i.  H.,  541. 
I'loetz,  A.,  in  Berlin-Schlachtensee, 
393- 

Pringshcim,  O.,  in  Breslau,  279,  715. 
Schüler,  F.,  in  Mollis  (Schweiz),  3S4. 
Schulz,  M.  von,  in  Berlin,  51. 
Sorabart,  W.,  in  Breslau,  1. 

Varlez,  L.,  in  Gent,  238. 

Wacntig,  H.,  in  Münster,  549. 
Weber,  M.,  in  Heidelberg,  723. 
Winter,  F.,  in  Wien,  702. 


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Der  Stil  des  modernen  Wirtschaftslebens. 


Von 

WERNER  SOMBART. 


„Früher  war  man  dreihundert  Jahre  lang  ein 
Schlofsherr  oder  ein  Leineweber;  jetzt  kann  jeder 
Leineweber  eine*  Tages  Schlofsherr  sein.*' 

(Theodor  Fontane.) 

Wir  werden  uns  die  Eigenart  des  Verlaufs  moderner  Wirtschaft 
am  besten  klar  machen,  wenn  wir  unser  Augenmerk  auf  die  aller 
kapitalistischen  Wirtschaft  offenbar  innewohnende  Tendenz  zur  Ent- 
faltung von  Widersprüchen,  von  Konflikten  lenken.  Widersprüche 
meine  ich,  in  diesem  Sinne  Antinomien,  — NB.  methodisch  ganz 
harmloser  Natur,  ohne  allen  „dialektischen"  Tiefsinn  gedacht  -<* 
zwischen  der  Zwecksetzung  der  kapitalistischen  Wirtschaftssubjekte 
und  den  Erfolgen  ihrer  auf  die  Erfüllung  jener  Zwecke  gerichteten 
Thätigkeit.  Diese  Erfolge  nämlich  stellen  in  entscheidenden  Fällen 
das  Gegenteil  dessen  dar,  was  man  erreichen  wollte:  vom  Stand- 
punkte kapitalistischer  Wertung  aus  betrachtet,  wirkt  also  hier  die 
Kraft,  die  stets  das  Gute  will  und  stets  das  Böse  schafft. 

Das  gilt  gleich  von  der  elementarsten  Thatsache  kapitalistischer 
Wirtschaftsführung.  Wir  wissen,  dafs  diese  auf  Erzielung  möglichst 
hohen  Gewinns  durch  möglichst  niedrigen  Einkauf  und  möglichst 
vorteilhaften  Verkauf  von  Werten  gerichtet  ist.  Nun  bringt  es  aber 
alsobald  die  Konkurrenz  mit  sich,  dafs  eine  Gegentendenz  sich 
jenem  Streben  cntgegenstellt : um  den  Mitbewerber  zu  überbieten, 
müssen  die  Preise  beim  Aufkauf  möglichst  hoch,  um  ihn  zu  unter- 
bieten, beim  Verkauf  möglichst  niedrig  bemessen  werden.  Es  ent- 
steht somit  das  Problem , trotz  wachsend  unvorteilhafter  Preis- 
gestaltung Gewinn  zu  erzielen.  Der  Versuch  einer  Lösung  dieses 

Archiv  für  soz.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVII.  1 


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2 


Werner  Somhart, 


Problems  treibt  in  einen  neuen  Konflikt  hinein,  schafft,  wenn  wir 
wollen,  abermals  eine  Antinomie. 

Offenbar  mufs  jetzt  alles  Sinnen  und  Trachten  des  kapitalisti- 
schen Unternehmers  (den  wir  uns  in  Zukunft  in  dubio  immer  als 
Produzenten  gewerblicher  Erzeugnisse  denken  wollen)  auf  best- 
mögliche Anpassung  an  den  Bedarf  gerichtet  sein:  d.  h.  auf  Ver- 
billigung und  Verbesserung  der  angebotenen  Waren.  In  dieser 
Nötigung  aber  findet  das  mächtige  Streben  unserer  Unternehmer, 
auf  unausgesetzte  Vervollkommnung  der  Verfahrungsweisen , auf 
Steigerung  der  Produktivkräfte  zu  sinnen,  seine  Erklärung.  Nun 
kennt  man  den  Erfolg  dieses  Strebens:  die  unerhörte  Steigerung 
des  Produktionserfolges,  somit  die  Vermehrung  des  feilgebotenen 
Warenquantums , somit  die  Tendenz  zur  Ucbcrfüllung  der  Märkte, 
somit  eine  notorische  Verschlechterung  der  Absatzbedingungen,  auf 
deren  Verbesserung  man  ausgegangen  war. 

Eine  Hauptstärke  der  kapitalistischen  Unternehmung,  in  der  ihre 
Eigenart  am  deutlichsten  hervortritt,  ist,  wie  wir  ebenfalls  wissen, 
ihre  ausgeprägt  kalkulatorische  Schärfe:  genaue  Preisberechnung  ist 
die  Basis  ihres  Wirkens.  Wiederum  ergiebt  sich,  dafs  dieses  Be- 
mühen zu  Konsequenzen  führt,  die  das  Gegenteil  dessen  darstellen, 
was  in  der  Absicht  des  Wirtschaftssubjektes  lag.  Dem  extremen  sub- 
jektiven Rationalismus  entspricht  die  absolute  objektive  Irrationalität 
der  Preisbildung,  die  durch  die  Auf-  und  Abwärtsbewegung  der 
Konjunktur,  sowie  durch  den  unausgesetzten  Wechsel  der  Preishöhe 
jeder  Uebersehbarkcit  und  Vorausbestimmbarkeit  verlustig  geht. 
Daher  als  Gegenpol  der  Kalkulation  notwendig  die  Spekulation  sich 
herausbildet,  die  nicht  blofs  die  Schätzung  des  späteren  Bedarfs, 
sondern  auch  die  Schätzung  der  späteren  Produktionsbedingungen, 
bezw.  der  Veränderungen  in  der  Produktion  umfafst,  welche  sich 
in  dem  Zeitraum  zwischen  Produktion  und  Kosumtion  ergeben. 
Die  Unbercchenbarkeit  der  zukünftigen  Preisgestaltung  und  damit 
das  Spekulative  [der  Wirtschaftsführung  wächst  also  in  dem  Mafsc, 
als  die  Länge  des  Zeitraums  zunimmt,  der  zwischen  Produktions- 
anfang und  Konsumtion  der  Güter  verstreicht,  und  gleichzeitig  die 
Veränderungen  in  den  Produktionsbedingungen  während  jenes  Zeit- 
raums häufiger  werden.  Nun  besteht  aber  die  Tendenz,  dafs  diese 
beiden  Fälle  sich  immer  regelmäfsigcr  einstellen.  Und  diese  Ten- 
denz erwächst  abermals  mit  Notwendigkeit  aus  Zweckreihen,  die 
auf  das  Gegenteil  des  erzielten  Erfolges  ausgerichtet  sind. 

Die  häufige  Veränderung  der  Produktionsbedingungen  ist,  wie 


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Der  Stil  des  modernen  Wirtschaftslebens. 


3 


leicht  ersichtlich,  die  unmittelbare  Wirkung  des  wissenschaftlichen 
Verfahrens  im  Dienste  kapitalistischer  Interessen.  Erst  dieses  revo- 
lutioniert täglich  die  Güter-Herstellungs-  und  Transportmethoden, 
schafft  täglich  neue  Güterqualitäten,  die  die  alten  Güterarten  ver- 
drängen, und  senkt  durch  neue  Erfindungen  von  heute  auf  morgen 
tlie  Produktionskosten  einer  Ware  auf  ein  noch  kurz  vorher  uner- 
hörtes Niveau.  Freilich  schafft  erst  das  kapitalistische  Interesse  die 
Motive  dieser  unausgesetzten  Revolutionicrung,  für  die  das  wissen- 
schaftliche Verfahren  nur  die  Mittel  liefert.  Der  Kapitalismus  er- 
zeugt also  selbst  wieder  mit  Hilfe  höchster  Rationalisierung  der 
Technik  das  für  ihn  schlechthin  Irrationelle:  die  Unberechenbarkeit, 
die  Unstetigkeit  und,  damit  verknüpft,  die  unausgesetzte  Entwertung 
der  produzierten  Waren  und  der  Produktionsmittel.  Denn  in  dem 
Mafsc,  wie  durch  neue  Verfahrungsweisen  die  Preise  gesenkt  werden 
oder  eine  neue  Anordnung  der  sachlichen  Produktionsfaktoren  sich 
als  notwendig  erweist,  verlieren  die  unter  den  früheren  Bedingungen 
hergestellten  Produkte  oder  zur  Arbeit  bestimmten  Produktions-  • 
mittel  naturgemäl's  an  Wert.  Sofern  in  einer  Sphäre  der  Güter- 
produktion eine  stetige  Tendenz  zur  Preissenkung  vorherrscht  (und 
das  trifft  für  die  Mehrzahl  der  gewerblichen  Erzeugnisse  zu),  kann 
man  dann  wohl  die  Wertverminderung  der  Vorprodukte  eine  „ge- 
setzmäfsige"  nennen.1) 

Und  es  bedarf  keiner  weiteren  Begründung,  dafs  dieses  „Ge- 
setz“ eine  um  so  gröfsere  Bedeutung  für  das  Wirtschaftsleben  ge- 
winnt, je  länger  die  Produktionszeit  der  Güter  währt.  Besteht  nun 
in  der  That  eine  Tendenz  in  der  Gegenwart,  diese  zu  verlängern, 
beobachten  wir  nicht  vielmehr  eine  unausgesetzte  und  zwar  rapid 
sich  vollziehende  Abkürzung  der  Güter-Produktions-  und  Transport- 
zeiten ? 

Mit  dieser  Fragestellung  sind  wir  an  die  Erörterung  eines 
Problems  herangerückt,  das  zu  den  interessantesten  unserer  Wissen- 
schaft gehört.  Beobachten  wir  doch  in  der  Litteratur,  die  sich  mit 
ihm  beschäftigt , das  seltsame  Phänomen , dafs  zwei  der  schärfsten 
Denker,  die  die  Nationalökonomie  der  Gegenwart  aufzuweisen  hat, 
sich  in  diametral  entgegengesetztem  Sinne  zu  dem  scheinbar  so  ein- 
fachen Gegenstände  geäufsert  haben.  Während  der  eine  behauptet5), 
dafs  unser  Wirtschaftsleben  von  der  Tendenz  beherrscht  werde,  die 

*)  O.  Wittel  sh  öfer,  Untersuchungen  über  das  Kapital  (1890),  49. 

*)  Lcxis  in  Schmollers  Jahrbuch  XIX,  332  tT. 


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Werner  Sombart 


wirtschaftlichen  Prozesse  abzukürzen,  verficht  der  andere  die  Mei- 
nung *),  dafs  gerade  in  einer  zunehmenden  Verlängerung  des  Pro- 
duktionsweges die  charakteristische  Eigentümlichkeit  der  kapitalisti- 
schen Produktionsweise  beruhe. 

Es  kann  nun  für  mich  keinem  Zweifel  unterliegen,  dafs,  was 
eigentlich  bei  zwei  so  hervorragenden  Gelehrten  selbstverständlich 
ist,  beide  recht  haben.  Sie  sehen  nur  dieselbe  Sache  von  zwei 
verschiedenen  Seiten  an,  also  dafs  sic  jedem  von  ihnen  in  völlig 
anderer  Gestalt  erscheint.  In  der  hier  bevorzugten  Betrachtung 
handelt  es  sich  aber  im  Grunde  um  gar  nichts  anderes  als  um  eine, 
ich  möchte  hinzufügen  die  bemerkenswerteste,  jener  Antinomien,  die 
aus  der  Entfaltung  der  kapitalistischen  Triebkräfte  sich  ergeben. 

Was  zunächst  wohl  nicht  bestritten  werden  kann,  ist  dieses, 
dafs  der  Wunsch  nach  Abkürzung  der  Produktionsprozesse  aus  dem 
Gewinnstreben  jedes  kapitalistischen  Unternehmers  mit  Notwendig- 
keit erzeugt  wird.  Und  nicht  nur  der  Produktionsprozesse  im 
einzelnen,  sondern  des  gesamten  wirtschaftlichen  Prozesses  schlecht- 
hin. Ja,  es  dürfte  die  Behauptung  kaum  auf  Widerspruch  stofsen, 
dafs  in  dieser  (subjektiven)  Tendenz  zur  Abkürzung  der  Produk- 
tions- und  Zirkulationzeit  der  Waren  — sobald  wir  deren  Lebens- 
lauf von  dem  Zeitpunkt  an  in  Betracht  ziehen,  da  sie  in  die  Ver- 
fügungsgewalt eines  Wirtschaftssubjektes  eintreten  — mit  anderen 
Worten  in  dem  Bestreben  jedes  Händlers,  seine  Waren  möglichst 
rasch  zu  verkaufen,  jedes  Produzenten,  seine  Güter  in  einer  mög- 
lichst kurzen  Frist  herzustellen,  das  moderne  Wirtschaftsleben  den 
prägnantsten  Ausdruck  seiner  Eigenart  findet.  Wie  sollte  es  denn 
auch  anders  sein,  da  doch  dieses  Bestreben  in  dem  zentralsten  kapi- 
talistischen Interesse  seine  Begündung  findet,  in  dem  Interesse 
nämlich  an  raschem  Kapitalumschlag. 

Bei  gegebenem  Gcsamtkapital  und  gegebenen  Produktions- 
bedingungen entscheidet  die  Häufigkeit  des  Kapitalumschlags  über 
die  Höhe  der  Produktionskosten  und  des  Profits:  je  häufiger  der 
Kapitalumschlag,  desto  niedriger  können  jene  bei  gleichen  Profit- 
raten gestellt  werden,  desto  leichter  ist  eine  Unterbietung  im  Kon- 
kurrenzkämpfe also  möglich , während  umgekehrt  bei  gegebenen 
Produktionskosten  die  Höhe  der  Profitrate  bestimmt  wird  durch 

J)  E.  von  Böhm-Bawcrk,  Positive  Theorie  des  Kapitals  (1889)  und  aus- 
führlicher und  polemisch  gegen  Lcxis  in  der  Schrift:  Einige  strittige  Fragen  der 
Kapitalsthcoric  (1900),  8 ff. 


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Der  Stil  des  modernen  Wirtschaftslebens. 


5 


die  Häufigkeit  des  Kapitalumschlags.  Dieses  Verhältnis  des  Kapital- 
umschlags zu  Produktionskosten  und  Profitrate  macht  es  verständ- 
lich, weshalb  die  moderne  kapitalistische  Entwicklung  gerade  in  der 
Beschleunigung  des  Kapitalumschlags  die  gelungenste  I.ösung  des 
Konfliktes  gefunden  hat,  der  aus  der  behaupteten  Antinomie  für 
das  einzelne  Wirtschaftsubjekt  folgt. 

Nun  bedeutet  aber  Beschleunigung  des  Kapitalumschlags  sowohl 
Abkürzung  der  Zeitdauer,  während  welcher  sich  das  Produkt  in 
der  Produktionsphäre  befindet  — der  Produktionszeit  — als  der- 
jenigen Zeitdauer,  während  deren  es  sich  in  der  Znkulationssphäre 
aufhält  — der  Umlaufszeit.  Für  das  Handelskapital  kommt  es  er- 
sichtlich nur  auf  eine  Abkürzung  der  letzteren,  für  das  Produktions- 
kapital auf  die  Abkürzung  beider  Zeiträume  an.  Für  das  umlaufende 
Kapital  ist  es  ohne  weiteres  klar,  dafs  die  Abkürzung  der  Pro- 
duktions- -j-  Umlaufszeit  bezw.  nur  der  letzteren,  die  das  einzelne 
Produkt  zu  durchlaufen  hat,  den  Rückstrom  des  Kapitals  beschleunigt. 
Es  gilt  der  Satz  aber  ebenso  auch  für  das  fixe  Kapital.  Der  Rück- 
strom dieses  Kapitalteils  an  seinen  Ausgangspunkt  wird  dadurch 
eigenartig  gestaltet,  dass  der  Wert  der  Produktionsmittel,  in  denen 
er  investiert  ist,  nur  in  längeren  Perioden  stückweise  in  den  Pro- 
duktenwert  übergeht  und  somit  ebenfalls  auch  nur  stückweise  in 
längeren  Perioden  sich  für  den  kapitalistischen  Unternehmer  repro- 
duziert. Dessen  Interesse  ist  es  nun  selbstverständlich,  dafs  auch 
das  fixe  Kapital  — seinen  Umfang  einmal  als  gegeben  angenommen  — 
möglichst  rasch  umschlage,  das  heifst:  sein  Wert  möglichst  bald 
in  der  Geldform  zu  dem  kapitalistischen  Unternehmer  zurückkehre: 
die  Amortisations-  oder  Abschreibeperioden  thunlichst  abgekürzt 
werden.  Dieses  Ziel  ist  nun  aber  offenbar  — bei  sonst  gleichen 
Bedingungen  — um  so  eher  zu  erreichen,  je  gröfser  die  Menge  der 
mit  einem  gegebenen  Betrage  fixen  Kapitals  in  einer  bestimmten 
Periode  hergestellten  Güter  ist.  Diese  aber  hängt  abermals  — die 
(meist  unveränderlichen)  übrigen  Produktionsbedingungen  als  ge- 
geben angenommen  — von  der  Länge  der  Umlaufszeiten  des  um- 
laufenden Kapitales  oder,  was  dasselbe  ist,  von  der  Kürze  der 
Produktions-  und  Umlaufszeit  des  einzelnen  Produkts  ab. 

Also  auch  hier  mündet  das  Interesse  des  kapitalistischen  Unter- 
nehmers in  das  Interesse  einer  Abkürzung  der  Produktions-  und 
Umlaufszeiten  der  Güter  ein.  Um  nun  eine  solche  herbeizuführen, 
erspäht  er  als  wirksamstes  Mittel  die  entsprechende  Ausgestaltung 
der  Produktions-  und  Transporttechnik. 


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6 


Werner  Sombart, 


In  einem  früheren  Band  dieses  Archivs  habe  ich  einen  Ueber- 
blick  der  technischen  Evolution  in  objektiver  Betrachtung  zu  geben 
versucht.  *)  Hier  möchte  ich  zur  Vervollständigung  noch  hinzufügen, 
dafs  die  Entwicklung  der  modernen  Technik  in  unmittelbarer  Be- 
ziehung auf  die  Interessen  des  Kapitals  und  diese  in  wirksamster 
Weise  auf  die  Beschleunigung  der  Produktion  und  des  Transports 
gerichtete  allein  richtig  zu  verstehen  sind.  Lassen  sich  die  Fort- 
schritte der  Technik  überhaupt,  wie  ich  es  versucht  habe,  objektiv 
am  besten  unter  dem  Gesichtspunkt  einer  Entwicklung  zur  Freiheit 
gruppieren,  so  wird  man  diejenigen  Leistungen,  die  die  Technik  in 
kapitalistischer  Zeit  aufzuweisen  hat,  ganz  gewifs  am  mühelosesten 
unter  dem  Gesichtspunkt  der  Tcmpobeschleunigung  anordnen 
können.  Denn  mag  es  sich  um  die  Vervollkommnung  der  Maschinerie, 
um  die  Plinsteilung  neuer  Naturkräftc,  um  den  Verzicht  auf  den 
Organisierungsprozefs  der  Natur  handeln:  überall  ist  die  Wirkung 
eine  Beschleunigung  des  Produktions-  oder  Transporttempos  gewesen. 
Für  diese  Eigenart  der  Entwicklung  liegen  aber,  wie  wir  sehen, 
die  Motive  in  den  kapitalistischen  Interessen  deutlich  zu  Tage. 
Wobei  noch  dieser  Umstand  Berücksichtigung  verdient,  dafs  jede 
Errungenschaft  der  Technik,  auf  welchem  Gebiete  es  auch  sei,  die 
eine  solche  Tempobeschleunigung  herbeifuhrt,  gleichsam  aus  sich 
heraus  das  Bedürfnis  gleicher  technischer  Vollkommenheit  in  allen 
anderen  Sphären  des  Wirtschaftslebens  erzeugt.  Jedermann  weifs, 
mit  welcher  zwingenden  Notwendigkeit  beispielsweise  die  Erfindung 
des  Kraftwebstuhls  aus  der  Erfindung  der  Spinnmaschine  folgte, 
mit  welcher  zwingenden  Notwendigkeit  die  Erfindungen  des  aus- 
gehenden 18.  Jahrhunderts  in  der  Produktionssphäre  auf  die  Er- 
findung der  Eisenbahn  und  diese  wieder  auf  die  Erfindung  der 
elektrischen  Telegraphie  hindrängte.  „Hindrängte“  nicht  im  Sinne 
einer  ctwelchen  mystischen  „immanenten  Teleologie“,  sondern  in 
dem  Verstände  einer  handgreiflichen  Interessenverknüpfung  der 
kapitalistischen  Wirtschaftssubjekte. 

Aber  die  vervollkommnete  Technik  läfst  sich  für  die  wirt- 
schaftlichen Bedürfnisse  erst  verwerten,  wenn  die  ihr  adäquaten 
Organisationen  für  Gütcrerzeugung  und  Verkehr  ge- 
schaffen sind.  So  bemerken  wir  denn,  wie  deren  Ausbildung  parallel 
der  technischen  Evolution,  also  gleichfalls  auf  Tempobeschleunigung 

•)  Vgl.  meine  Abhandlung:  Die  gewerbliche  Arbeit  und  ihre  Organisation  im 
14.  Hand  dieses  Archivs  S.  17  ff. 


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Der  Stil  des  modernen  Wirtschaftslebens. 


7 


gerichtet,  sich  in  der  modernen  Zeit  vollzogen  hat:  die  Allgcgen- 
wärtigkeit  der  Post,  ebenso  wie  die  vermehrte  Zahl  ihrer  Dienst* 
Verrichtungen  — sechs-  oder  zehnmaliges  Abtragen  der  Postsachen 
im  Laufe  eines  Tages,  die  Einrichtung  von  letter  boxes  — , die 
stundenweb  abgelassenen  Eisenbahnzüge,  der  Minutenverkehr  der 
Strafsenbahnen,  die  regelmäfeigen  Dampferverbindungen,  die  sechsmal 
täglich  erscheinende  Zeitung  sind  Beispiele  entsprechender  Ver- 
kehrsorganisationen. 

Die  Umgestaltung  der  Grofs handelsformen  (von  der  Re- 
volutionierung  des  Detailhandels  sei  hier  abgesehen),  wie  wir  sie 
in  unserer  Zeit  beobachten,  lassen  sich  aus  gleichen  Tendenzen  er- 
klären: Uebergang  vom  Loco-  zum  Lieferungshandel,  Ausbildung 
des  Blankovcrkaufs,  Ersatz  des  individuellen  durch  das  generelle 
Lieferungsgeschäft,  Entwicklung  des  Terminhandels:  alle  diese  Neue- 
rungen, durch  die  Kauf-  und  Verkauftermin  angenähert  werden 
sollen,  laufen  in  ihrer  Wirkung  auf  denselben  Effekt,  wie  die  Ver- 
vollkommnung der  Börsenorganisation:  eine  Beschleunigung  des 
Handels,  also  eine  Abkürzung  der  Umlaufszeit  der  Waren,  somit 
aber  auch  der  Umschlagszeit  des  Handelskapitals  hinaus.  Hierher 
dürfen  wir  aber  wohl  auch  viele  neue  Formen  des  Krcditver- 
kchrs  rechnen.  Freilich  der  Kredit  als  solcher  bewirkt  eher  das 
Gegenteil:  eine  Verlängerung  der  Umschlagsperioden.  Aber  in  dem 
Mafse,  wie  er  sich  zu  einem  wohlgefügten  Systeme  ausbildet,  ent- 
wickelt er  Formen,  die  sehr  wohl  ebenfalls  eine  Tempobeschleunigung 
des  Waren-  (bezw.  Geld-)  Umlaufs  zur  Folge  haben.  Ich  denke 
natürlich  in  erster  Reihe  an  die  grofsartige  Entwicklung,  die  das 
Diskonto-  und  Lombardgeschäft  in  unserer  Zeit  erfahren  haben.  *) 

In  der  Produktions  Sphäre  aber  gilt  es,  eine  solche  Be- 
triebsorganisation zu  schaffen,  dafs  die  rascheste  Verarbeitung  der 
Rohstoffe  gewährleistet  wird.  Das  kann  unter  bestimmten  Um- 
ständen die  hausindustriclle  Betriebsform  sein  (Saisonarbeit!),  unter 
anderen  Verhältnissen  der  vollkommenste  Fabrikbetrieb  (Maschinen- 

•)  Beim  alten  Büsch  lesen  wir  noch:  „Es  ist  noch  nicht  gar  lange,  da  ein 
Kaufmann  cs  als  seinem  Kredit  schädlich  ansah,  wenn  er  einen  Wechsel  diskon- 
tieren licfs.“  Nun  habe  sich  die  Sitte  zwar  eingebürgert,  weil  die  Handlung  überall 
so  lebhaft  geworden  sei,  „dafs  auch  der  solide  Kaufmann  (!)  für  jeden  Tag  es  als 
Verlust  ansicht,  wenn  sein  Geld  müfsig  steht“.  Immerhin  aber:  „der  Kaufmann 
läfst  cs  nicht  gern  zu  jedermanns  Wissenschaft  kommen,  dafs  er  seine  Wechsel  zum 
Diskont  weggegeben  habe“.  Joh.  Georg  Lt  Uschs  Sämmtlichc  Schriften  Über 
die  Handlung  I (1824),  79. 


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Werner  Somit art, 


System !).  Immer  aber  ist  dabei  das  Hauptaugenmerk  auf  eine 
zweckentsprechende  Gestaltung  des  Arbeitsvertrages  zu  richten : 
vor  allem  gehört  hierher  die  Entwicklung  des  Stücklohnsystems, 
das  in  eminentem  Mafse  den  Anforderungen  der  Tempobeschleunigung 
im  Produktionsprozesse  gerecht  wird. 

Ein  Blick  in  die  Praxis  genügt,  um  zu  erkennen,  dafs  alle  die 
genannten  Mittel  zur  Tempobeschleunigung  des  Wirtschaftslebens 
aber  auch  thatsächlich  ihren  Zweck  erreicht  haben.  Auf  jedem 
Gebiete  der  gewerblichen  Güterproduktion  sind  die  Produktions- 
zeiten während  des  letzten  Jahrhunderts  ganz  wesentlich  abgekürzt. 
Bekannte  Beispiele  dafür  liefern  die  Eisen-  und  Lederindustrie:  die 
Verarbeitung  des  Roheisens  zu  Schweifseisen  bezw.  Stahl  dauert 
beim  Herrifrischen  etwa  3 Wochen, 

„ Puddeln  „ 2 Tag, 

„ Bessemerprozefs  „ 20  Minuten. 

Die  Zubereitung  der  Häute  zu  Leder  beansprucht 
bei  der  Grubengerberei  alten  Stils  I — I Jahre, 

„ „ neueren  Bottichgerberei  4 — 6 Wochen, 

„ „ elektrischen  Gerberei  4 Tage. 

Das  mögen  Fälle  extremer  Verkürzung  der  Produktionszeit 
sein.  Dafs  sie  aber  nicht  etwa  vereinzelt  sind,  weifs  jeder,  der  die 
Fortschritte  der  modernen  Industrie  verfolgt.  Neuerdings  hat  nun 
die  allgemein  beobachtete  Thatsache  auch  eine  umfassende,  exakte, 
ziflfermälsige  Bestätigung  erfahren  durch  die  grofsartige  Enquete 
des  Arbeitsamts  der  Vereinigten  Staaten  über  Hand-  und  Maschinen- 
arbeit. ')  Hier  ist  in  nicht  weniger  als  672  Fällen  genau  festgestellt 
worden,  welche  Zeitdauer  die  Herstellung  eines  gegebenen  Pro- 
duktenquantums  vor,  bezw.  nach  Einführung  der  Maschinentechnik 
(auf  die  besonders  berücksichtigt  ist)  beansprucht  hat,  bezw.  bean- 
sprucht. Das  Ergebnis  ist  das  erwartete : überall  hat  eine  beträcht- 
liche Abkürzung  der  Produktionszeit  stattgefunden,  in  einzelnen 
Fällen  auf  den  hundertsten,  ja  den  tausendsten  Teil  der  früheren 
Zeitdauer.  Eine  vollständige  Mitteilung  der  Ergebnisse  im  einzelnen 
ist  aus  naheliegenden  Gründen  ausgeschlossen : füllt  doch  allein  die 
summarische  Mitteilung  der  Ergebnisse  jener  Untersuchung  55  Seiten 
(a.  a.  O.  Vol.  I.  S.  24 — 79).  Die  Anführung  einzelner  Beispiele 

')  Thirleenth  Annual  Report  of  the  Commissioner  of  Labour.  189S.  Rand 
and  Maschine  Labour.  Vol.  1.  Introduction  and  Analysis.  189g.  Voll.  II.  General 
Tablc.  1899. 


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Der  Stil  des  modernen  Wirtschaftslebens. 


9 


hat  aber  keinen  Sinn.  So  mufs  der  Interessent  auf  das  Selbst- 
studium jener  höchst  eigenartigen  und  wertvollen  Publikation  ver- 
wiesen werden. 

Noch  augenfälliger  hat  sich  die  Entwicklung  auf  dem  Gebiete 
des  Transports  vollzogen.  Man  rechnet  im  allgemeinen,  dafs 
durch  Georg  Stephensons  Lokomotive  die  vorher  erreichte 
Maximal-Fahrgeschwindigkeit  um  das  5 fache  stieg,  durch  Roberts 
verbesserte  Maschine  nochmals  verdoppelt  wurde.  Das  sind  jedoch 
nur  Annäherungs-  und  Durchschnittswerte.  Korrektere  Vorstellungen 
von  der  Steigerung  der  Geschwindigkeit,  die  durch  die  Einführung 
der  Eisenbahnen  erzielt  worden  ist,  gewinnen  wir,  wenn  wir  be- 
stimmte Angaben  mit  einander  vergleichen.  So  dauerte  die  Stückgut- 
beförderung von  Magdeburg  bis  Hamburg  ') : 

1590  = 6 Tage, 

1690  = 3—4  „ 

1890  = 9 Stunden  (Postzug). 

Von  Friedrichshafen  am  Bodensee  lieferte  man  kurz  vor  Ein- 
führung der  Eisenbahnen  — im  Jahre  1841  — unter  besonders 
günstigen  Bedingungen  „Eilgut"  nach  Mannheim  und  Mainz  in 
6 Tagen,  nach  Hamburg  in  16  Tagen,  nach  Leipzig  in  10  Tagen, 
nach  Mailand  in  10  Tagen,  nach  Genua  in  1 5 Tagen,  nach  Livorno 
in  24  Tagen5).  Vor  Eröffnung  der  Eisenbahnen  betrug  auf  dem 
Wasserwege  zwischen  Berlin  und  Hamburg  die  Lieferungszeit 
10  Tage  bis  3 — 4 Wochen,  heute  im  Höchstfälle  4 Tage,  wird  aber 
in  der  Regel  nicht  voll  beansprucht *). 

Die  französische  Diligence  fuhr  1839  8—10  Kilometer,  der 
Schnellzug  fährt  heute  65  Kilometer  pro  Stunde.  Die  Schnellpost 
Halle-Frankfurt  a.  M.  brauchte  in  den  letzten  Jahren  vor  Er- 
öffnung der  Eisenbahnen  für  die  343  Kilometer  lange  Strecke 
35  Stunden  einzchliefslich  aller  Aufenhalte 4),  der  D-Zug  legt  die- 

*)  Nach  F.  C.  Huber,  Die  geschichtliche  Entwicklung  des  modernen  Ver- 
kehrs. 1893.  S.  222.  Ueber  die  Postsendungs-  und  Befbrderungsdauer  in  den  An- 
fängen der  modernen  Post  unterrichtet  durch  Beibringung  eines  reichen  Thatsnchen- 
matcrials  jetzt  A.  Schulte,  Geschichte  des  mittelalterlichen  Handels  und  Verkehrs, 
1900,  I,  386  f.,  507.  lieber  die  Länge  der  Kurrierreisen  und  die  Wcchselterminc 
im  14.  und  15.  Jahrhundert  Pegolotti  und  lizzano  bei  Pagnini,  Deila,  decima  3, 
198  f. ; 4,  100  f. 

•)  Huber,  S.  122. 

*)  Berlin  und  seine  Eisenbahnen  etc.  2 (1896),  142. 

4)  Berlin  und  seine  Eisenbahnen  etc.  2,  5. 


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IO 


Werner  Somburt, 


selbe  Entfernung  (1901)  in  6 1/3  Stunde  zurück.  Die  Reise  von 
Berlin  nach  Paris  beanspruchte  über  Frankfurt  a.  M.  in  der 
letzten  Postzeit  schnellstens  88  a/4  Stunden,  über  Köln  — mit  Be- 
nutzung von  Eisenbahnteilstrecken,  aber  schlechtem  Anschlüsse  — 
100  Stunden'),  heute  (über  Strafsburg)  17  Stunden  13  Minuten. 
Die  raschesten  Diligencen  gab  es  in  England;  sie  fuhren  15  bis 
16  Kilometer2). 

Die  Seefahrten  haben  sich  in  folgender  Weise  verkürzt.  Es 
brauchten  zur  Reise  von  Europa  nach  Amerika: 


Chr.  Columbus  (Bahama-Inseln) 70  Tage, 

Franklin  (von  New- York) 42  „ 


die  „Sanannah“  (l.  Dampfschiff  1819)*)  ....  26  „ 

„Kaiser  Wilhelm  der  Grofse"  (Nordd.  Lloyd  1 897)  5 „ 1 5 St. 

„Deutschland“  (Hamb.  - Amerik.  - Paketfahrt  - A.  - G. 


1900) S - 

Vasco  de  Gama  legte  den  Weg  von  Lissabon  nach  Calicut  in 
314  Tagen  zurück.  Aber  im  ganzen  16.  Jahrhundert  dauerte  die 
Hin-  und  Herreise  zwischen  Portugal  und  Ostindien  noch  regel- 
mäfsig  1 8 Monate 4).  Die  Zeit,  die  die  holländischen  Schiffe  im 
17.  und  18.  Jahrhundert  zwischen  Europa  und  Indien  zubrachten, 
betrug  selten  nur  5 — 6 Monate,  meist  7 Monate,  zuweilen  10 — 15 
Monate.  „Die  Fahrten  dauerten  übermäfsig  lange,  weil  die  Schiffer 
aus  Unwissenheit  und  Nachlässigkeit  so  oft  Umwege  machten,  die 
günstigen  Winde  und  Zeitpunkte  versäumten  und  ihre  Instruktionen 
übertraten  5).“ 

Der  erste  Dampfer  (im  Jahre  1825)  war  noch  120  Tage 
zwischen  Falmouth  und  Calcutta  unterwegs.  Jetzt  sind  die  Fahr- 
zeiten folgende:  London — Bombay  („Caledonia"  1898)  Hinreise: 
12  Tage  ioa/4  Stunden,  Rückreise:  12  Tage  2 Stunden;  London — 
Hongkong  („Australia"  und  „Oriental“)  24  Tage.  Die  „Himalaya“ 
fahrt  die  Strecke  London — Westaustralien  in  23  Tagen  1 1 Stunden, 
die  „Victoria“  bringt  uns  von  England  nach  Melbourne  in  34  Tagen 
20  Stunden. 


*)  Berlin  und  seine  Eisenbahnen  elc.  2,  6. 

*)  E.  Sax,  Die  Verkehrsmittel  2 (1879),  6.  Vgl.  auch  E.  Engel,  Zeitalter 
des  Dampfes.  2.  Aull.  18S1. 

*)  Geistbcck,  Weltverkehr.  1889.  S.  357. 

4)  Saatfeld,  Gcsch.  des  portugiesischen  Kolonialwcsens  (1810),  139. 

Ä)  Saalfeld,  Geschichte  des  holländischen  Kolonialwesens  in  Ostindien 
(1812),  217. 


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Der  Stil  des  modernen  Wirtschaftslebens.  1 j 

Was  Telegraph  und  Telephon  zur  Beschleunigung  des 
wirtschaftlichen  Gesamtprozesses  beigetragen , liegt  zu  deutlich  zu 
Tage,  um  besonderer  Hervorkchrung  zu  bedürfen. 

Es  mag  jedoch  an  einigen  Beispielen  noch  verdeutlicht  werden, 
in  welcher  Weise  jene  technischen  Errungenschaften  in  Verbindung 
mit  den  entsprechenden  Organisationsformen  nun  thatsächlich  eine 
Verkürz  ungderUmschlagspcriodcn  herbeiführen.  Zunächst 
im  überseeischen  Importgeschäft.  Vor  50  Jahren  war  jede 
Nachricht,  die  aus  den  U.  S.  A.  nach  Europa  gelangte,  mindestens  I Monat 
alt ; ebenso  lange  dauerte  cs,  um  einen  Auftrag  nach  drüben  gelangen 
zu  lassen.  Dann  kam  der  Transport  der  gekauften  Ware  von  langer 
und  unbestimmter  Dauer.  Erst  nach  ihrer  Ankunft  konnte  der 
Importeur  über  sie  disponieren  und  auf  einen  Käufer  hoffen.  Erst 
wenn  dieser  gefunden  war  und  bezahlt  hatte,  hatte  der  Kaufmann 
sein  Kapital  von  neuem  disponibel.  Heute  findet  der  Hamburger 
oder  Bremer  Importeur  morgens,  wenn  er  aufs  Komtor  kommt, 
Depeschen  aus  New- York  oder  Bombay  vor,  worin  Anstellungen 
von  Petroleum,  Schmalz,  Baumwolle  etc.  für  einen  ganz  bestimmten 
Preis  gemacht  werden.  Der  Kaufmann  kalkuliert  den  acceptablen 
Verkaufspreis;  sucht  für  diesen  Käufer,  findet  sic  vielleicht  schon 
an  der  Börse,  acceptiert  noch  von  der  Börse  aus  telegraphisch  die 
Offerte  des  New-Yorker  oder  Bombayer  Hauses  und  betrachtet  damit 
im  wesentlichen  das  Geschäft  als  erledigt ').  Besonders  deutlich  ist 
die  Beschleunigung  der  Handelsgeschäfte  und  damit  des  Kapital- 
umschlages in  der  Entwicklung  des  amerikanischen  Getreide- 
handels zu  verfolgen  '■*).  Sobald  der  städtische  Elevatorbesitzer 
in  New- York  abends  die  telegraphische  Uebersicht  von  den  Tages- 
einkäufen der  Landelevatoren  erhält,  telegraphiert  er  seine  Verkaufs- 
Offerten  mit  kurzer  Annahmefrist  in  alle  Richtungen  der  Welt  hinaus. 
In  der  Nacht  kommt  die  Antwort  zurück.  Morgens  findet  der 
Elevatorbesitzer  die  Antwort  vor,  welche  den  Verkauf  von  so  und 
so  viel  Busheis  Getreide  meldet.  Dieser  Verkauf  wird  stets  unter 
Cif-Bedingungen  abgeschlossen.  Die  Verschiffung  selbst  wird  baldigst 
zu  den  ersten  annehmbaren  Bedingungen  angenommen,  so  dals  bis- 

*)  Vgl.  Th.  Barth,  Wandlungen  im  Welthandel.  1882.  S.  8,  IO. 

*)  Vgl.  H.  Schuhmacher,  Der  ‘Getreidehandcl  in  den  Vcr.  Staaten  von 
Amerika  etc.  Jahrbücher  für  N.-Ock.  III.  F.  Bd.  X.  S.  825.  Für  die  ältere  Form 
des  Gctrcidehandels  im  19.  Jahrhundert  vgl.  C.  J.  Fuchs,  Der  englische  Getreide- 
handel  und  seine  Organisation;  a.  a.  O.  N.  F.  Bd.  XX. 


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Werner  Somb.irt, 


weilen  das  bereits  vor  Ankunft  in  der  Stadt  wieder  verkaufte  Ge- 
treide nur  zum  Zweck  der  Gradierung  und  genauen  Wägung  den 
Elevator  passiert.  Zugleich  mit  der  Verschiffung  und  gleichzeitigen 
Konnossementsausstellung  wird  in  der  Höhe  des  Kaufpreises  auf  den 
Käufer  ein  Wechsel  gezogen  und  ohne  Schwierigkeit  mit  90 — 95  Proz. 
sogleich  honoriert  und  beim  lokalen  Bankier  diskontiert:  womit  der 
Kaufpreis  des  betreffenden,  in  der  Getreidelieferung  engagierten 
Kapitalteils  vollendet,  sein  Umschlag  vielleicht  binnen  2 — 3 Tagen 
vollzogen  ist. 

Wie  aber  Verkehrs-  und  Produktionstechnik,  Handels-  und 
Betriebsorganisation  in  einander  greifen  und  zur  Abkürzung  des 
Kapitalumschlags  beitragen,  dafür  bietet  ein  Schulbeispiel  die 
Baumwollspinnerei  dar.  An  ihr  hat  bekanntlich  Karl  Marx 
im  zweiten  Bande  des  Kapitals  seine  geniale  Theorie  der  Kapital- 
zirkulation vornehmlich  illustriert.  Und  es  ist  nun  reizvoll,  zu  be- 
obachten, wie  sich  seit  der  Abfassung  jenes  zweiten  Bandes,  also 
seit  etwa  einem  Menschenalter  die  Bedingungen  des  Kapitalumschlags 
von  Grund  aus  geändert  haben.  Marx  rechnet  noch  mit  6 — 8 wöchent- 
lichen Baumwolltransporten,  ebenso  langen  Rcmittierungszeiten,  mit 
eigengehandeltcn  Rohstoffen , grofsen  I tigern , wochcnlangen  Pro- 
duktionszeiten u.  s.  w.  und  gelangt  auf  diese  Weise  zu  aufser- 
ordentlich  langen  Umschlagsperioden,  die  heute  völlig  antiquiert  sind. 
Heute  ist  das  Prinzip  dieses : der  englische  Spinner  kauft  den  Rohstoff 
in  kleineren  Quantitäten  von  8 zu  8 Tagen  in  Liverpool  gegen  bar 
oder  kurzes  Ziel.  Also  so  gut  wie  gar  keine  Baumwolle  wird  auf 
Lager  gehalten.  Die  gekaufte  Baumwolle  verweilt  in  der  Fabrik 
nur  wenige  Tage.  Zwei  bis  dreimal  wöchentlich  verkauft  er  das 
Garn  an  der  Börse  von  Manchester,  deren  Organisation  selbst  ihm 
erst  die  Möglichkeit  seiner  kurzfristigen  Produktion  verschafft  ’). 

Augenfällig  ist  nun  die  Thatsache , dafs  sich  die  Länge  des 
Lebenslaufs  einer  Ware  in  ihrem  naturalen  Zustande  keineswegs 
notwendig  deckt  mit  der  Länge  der  Umschlagsperioden  der  Einzel- 
kapitalien. Letztere  können  somit  auch  eine  Abkürzung  erfahren, 
ohne  dals  jener  in  seiner  Dauer  altericrt  wird,  wie  auch  unsere 
Beispiele  schon  ersichtlich  machen.  Beim  reinen  Differenzgeschäft 
beobachten  wir  sogar  eine  völlige  l.oslösung  des  Kapitalumschlags 
von  dem  Schicksale  der  Ware  selbst.  Aber  als  Regel  darf  doch 
gelten,  dafs  auch  die  Abkürzung  der  (objektiven)  Zirkulationszcit, 

*)  Vgl.  G.  von  Schulzc-Gacvcrnitz,  Der  Grofsbetrieb  (1892),  lol  ff. 


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Der  Stil  des  modernen  Wirtschaftslebens. 


1 3 


sowie  der  Produktionszeit  der  Ware  aus  dem  Streben  nach  Be- 
schleunigung des  Kapitalumschlages  sich  ergiebt,  somit  also  eine 
Tempobeschleunigung  des  wirtschaftlichen  Prozesses  auch  in  naturaler 
Betrachtungsweise  (d.  h.  ohne  Rücksichtnahme  auf  die  dabei  ent- 
stehenden Rechtsverhältnisse)  die  Folge  ist. 

Kann  diese  Thatsache  jemand  leugnen?  Kaum.  Sicherlich 
aber  nicht  Böhm-Bawerk.  Und  doch  bleibt  dieser  nach  wie  vor 
bei  seiner  Behauptung  stehen:  es  werde  das  Wirtschaftsleben  (in- 
sonderheit das  der  Gegenwart)  von  der  Tendenz  zur  Verlängerung 
des  Produktionsweges  beherrscht.  Und  hat  er  damit  etwa  nicht 
recht?  Ist  es  nicht  der  längere  Weg,  den  die  maschinelle  Herstellung 
von  Leinengarn  zurücklegt,  als  der,  auf  dem  die  spinnende  Bäuerin 
zum  Ziel  gelangt:  beide  Mal  angenommen,  dafs  die  Produktion  der 
Ware  selbst  samt  derjenigen  ihrer  Produktionsmittel  gerade  jetzt 
im  Augenblicke  anfange.  Gilt  nicht  dasselbe  für  jede  Produktion 
auf  hoher  technischer  Basis  unter  Anwendung  grofser  Maschinen- 
systeme in  mächtigen  Fabrikgebäuden,  wo  ein  gewaltiger  Apparat 
von  Produktionsmitteln  in  Bewegung  gesetzt  wird,  im  Vergleich 
zu  der  technisch  weniger  vollendeten  Herstellungsweise?  Selbst 
wenn  man  zögern  möchte,  eine  Allgemeinheit  dieser  Tendenz  an- 
zuerkennen : so  viel  ist  doch  sicher , dafs  in  der  überwiegenden 
Mehrzahl  der  Fälle  sich  ihre  Wirksamkeit  beobachten  läfst.  Wir 
können  als  Regel  annehmen,  dafs  die  vollkommenere  Verfahrungs- 
weise  einer  mächtigeren  Zusammenfassung  produktiver  Kräfte,  ge- 
nauer: einer  stärkeren  Verwendung  von  Produktionsmitteln  bedarf 
als  die  weniger  vollkommene.  Da  diese  aber  — die  Produktion 
als  Ganzes  genommen  — vor  Beginn  des  eigentlichen  Produktions- 
prozesses immer  erst  herzustellen  sind,  so  dauert  es  natürlich  alle- 
mal länger,  ehe  die  erste  Menge  Produkt  mittelst  des  vollkommeneren 
Verfahrens  gewonnen  wird. 

Im  praktischen  Wirtschaftsleben  tritt  nun  freilich  dieser  Sach- 
verhalt niemals  unmittelbar  als  solcher  in  die  Erscheinung:  braucht 
ja  doch  kaum  eine  längere  Spanne  Zeit  zu  vergehen,  bis  der 
Fabrikant  seine  Schuhfabrik,  als  bis  der  Schuster  seine  Werkstatt 
eingerichtet  hat.  Beide  kaufen  alles,  was  sie  zur  Produktion  be- 
dürfen, fertig  auf  dem  Markte.  Und  wenn  sie  nun  ihre  Thätigkeit 
beide  an  demselben  Tage  beginnen,  so  haben  am  Abend  dieses 
Tages  in  der  grofsen  P'abrik  hundert  Arbeiter  too  Paar  Schuhe 
fix  und  fertig  gestellt,  während  auf  dem  Arbeitstisch  des  Schusters 
ein  Paar  in  halbfertigem  Zustande  liegt. 


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Werner  Sorabart, 


Gleichwohl  macht  sich  auch  in  der  Praxis  jene  Verlängerungs- 
tendenz (wie  wir  der  Einfachheit  halber  fürderhin  sagen  wollen), 
wenn  auch  auf  Umwegen,  bemerkbar.  Und  zwar  darin,  dafs  sie 
auf  eine  Verlängerung  der  Umschlagsperioden  des 
Kapitals  hinwirkt.  Jeder  Ersatz  der  Handarbeit  durch  Maschinen- 
arbeit bedeutet  eine  Vermehrung  des  fixen  Kapitals  im  Verhältnis 
zum  Gesamtkapital,  retardiert  also  den  Rückstrom  des  Kapitals  zu 
seinem  Besitzer,  dieweil  ja  die  Wesenheit  des  fixen  Kapitals  darin 
beruht,  dafs  es  seinen  Wert  in  einer  längeren  Produktionszeit  als 
das  umlaufende  dem  Produkte  zusetzt,  also  auch  reproduziert. 
Werden  aber  gröfsere  Betriebsstätten,  stärkere  Maschinen,  schnellere 
Schiffe  gebaut,  so  bedeutet  auch  dieses  wiederum  leicht  eine  Ver- 
längerung der  Umschlagsperioden  des  Kapitals,  wenn  nämlich  die 
neuen  Produktionsmittel  so  viel  mächtiger  in  ihren  Ausmafsen  sind, 
dafs  sie  auch  eine  längere  Amortisationsperiode  erheischen. 

Und  nun  wird  es  auch  ersichtlich,  weshalb  ich  den  Streit 
Lcxis-Böhm  unter  dem  Gesichtspunkt  der  Antinomie  zu  betrachten 
den  Leser  aufforderte.  Die  Beschleunigung  des  wirtschaftlichen 
Prozesses  leiteten  wir  aus  dem  Bedürfnis  des  Kapitals  nach  Ab- 
kürzung seiner  Umschlagsperioden  ab.  Die  Wegverlängerungs- 
tendenz dagegen  lösten  wir  auf  in  eine  Tendenz  gerade  zur  Ver- 
längerung der  Umschlagsperioden.  Beide  Tendenzen  also  wirken 
einander  entgegen.  Aber  was  das  Entscheidende  ist:  ihr  Gegen- 
einanderwirken ist  ein  notwendiges,  ein  „gesetzliches"  deshalb,  weil 
die  eine  die  andere  aus  sich  erzeugt.  In  dem  Sinnen  auf  Be- 
schleunigung des  Umschlags  seines  Kapitals  wird,  wie  wir  feststellen 
konnten,  der  Unternehmer  darauf  geführt,  den  technischen  Prozefs 
der  Gütererzeugung  und  des  Gütertransports  vor  allem  abzukürzen. 
Nun  ergiebt  sich  aber,  dafe  diese  Abkürzung  den  Ersatz  des  um- 
laufenden durch  fixes  Kapital  (Uebergang  zur  Maschinenarbeit  u.  dgl.) 
den  Ersatz  von  Produktionsmitteln  mit  kurzen  Reproduktions- 
perioden durch  solche  mit  langen  Reproduktionsperioden  meist  er- 
forderlich macht  (Eisen  oder  Stahl  statt  Holz,  massive  statt  Fach- 
werksgebäude u.  dgl.).  Denn  nur  die  solcherart  verstärkten 
Produktionsmittel  vermögen  die  Verfahrungswcisen  zu  tragen,  aus 
deren  Anwendung  die  Beschleunigung  des  technischen  Prozesses 
folgen  soll.  Das  Streben  des  Unternehmers  nach  Ab- 
kürzung erzeugt  also  zunächst  die  Tendenz  zur  Ver- 
längerung der  Umschlagsperioden  seines  Kapitals. 
Ist  nun  aber  einmal  die  Betriebsanlage  auf  der  verbreiterten  Basis 


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Der  Stil  des  modernen  Wirtschaftslebens. 


15 


ins  Leben  gerufen,  so  wird  nun  alles  Bemühen  des  Unternehmers 
auf  höchstmögliche  Schnelligkeit  des  Prozesses  gerichtet  sein,  um 
das  in  der  Anlage  investierte  Kapital  möglichst  rasch  zu  repro- 
duzieren, bezw.  zu  amortisieren.  So  erzeugt  die  Verlän- 
gerungstendenz wiederum  die  Abkürzungstendenz  und 
so  fort  in  dulce  infinitum.  Und  es  gewinnt  fast  den  Anschein, 
als  ob  diese  unausgesetzte,  erzwungene  Entwicklung  dieser  beiden 
Gegentendenzen  die  Bcwegungsformel  sei,  in  der  sich  das  moderne 
kapitalistische  Wirtschaftsleben  abspielen  müsse.  Jedenfalls  ist 
ihre  Wirksamkeit  für  die  Ausbildung  des  Gesamtcharakters  unserer 
Wirtschaftsepoche  von  geradezu  entscheidender  Bedeutung. 

Denn  machen  wir  uns  klar,  dafs  in  der  Wirksamkeit  jener 
beiden  Tendenzen  die  Entfaltung  einer  Erscheinung  eingeschlossen 
ist,  die  wir  getrost  als  das  Centralphänomen  der  wirtschaft- 
lichen Entwicklung  schlechthin  bezeichnen  können.  Ich  meine 
natürlich  das  zunehmende  Ueberwiegen  der  sachlichen  über  die 
persönlichen  Produktionsfaktoren  im  wirtschaftlichen  Prozefs;  die 
sich  immer  mehr  ausdehnende  Herrschaft  der  vorgethanen  über 
die  lebendige  Arbeit,  der  Vergangenheit  über  die  Gegenwart.  Denn 
darauf  läuft  doch  am  letzten  Ende  die  immer  wiederkehrende  Er- 
setzung des  umlaufenden  durch  das  fixe  Kapital  ebenso  wie  die 
Verdichtung  des  letzteren  hinaus,  dafs  die  einzelne  Arbeitskraft 
mit  einem  immer  gröfseren  Apparat  von  Produktionsmitteln  aus- 
gestattet wird,  um  einen  Zuwachs  an  Leistungsfähigkeit  zu  er- 
fahren. In  kapitalistischer  Betrachtung  bedeutet  diese  Wandlung 
aber  nichts  anderes  als  eine  Verschiebung  des  Verhältnisses  zwischen 
Real-  und  Personalkapital  zu  Gunsten  des  ersten,  was  bekanntlich 
Marx  schon  in  ausführlicher  Darstellung  entwickelt  hat  (r  wächst 
rascher  als  v). 

Für  die  Beziehungen  zwischen  kapitalistischen  und  vor- 
kapitalistischen Wirtschaftsformen  aber  birgt  diese  Tendenz  noch 
den  tieferen  Sinn,  dafs,  weil  die  erfolgreiche  Wirtschaftsführung 
im  wachsenden  Mafse  der  Zuhilfenahme  sachlicher  Produktions- 
faktoren bedarf,  solche  aber  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  nur  kollek- 
tiven Arbeitern  • — also  auf  beträchtlich  erweiterter  Stufenleiter  — 
möglich  ist,  die  Verfügung  über  ein  entsprechendes  Sachvermögen 
immer  mehr  zur  Bedingung  selbständiger  Produktion  wird.  Wollte 
man  ein  allgemeines  Gesetz  für  das  Zurückweichen  des  Handwerks 
vor  der  kapitalistischen  Produktionsweise  aufstcllcn,  so  könnte  es 
kein  anderes  sein  als  dieses:  dafs  in  dem  Mafse,  wie  im  Wirtschaft - 


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Werner  Sombart, 


liehen  Prozefs  die  lebendige  Arbeit  im  Verhältnis  zu  den  sachlichen 
Produktionsfaktoren  an  Bedeutung  verliert,  das  auf  dem  Grunde 
persönlicher  Arbeitsleistung  aufgebaute  Handwerk  der  auf  der  Vor- 
herrschaft der  Produktionsmittel  basierten  kapitalistischen  Organi- 
sation weichen  mufs. 

Ein  solches  „Gesetz“  ist  nun  aber  in  dieser  Allgemeinheit  ein 
blutleeres  Schemen.  Es  wäre  deshalb  eine  armselige  Theorie  der 
gewerblichen  Entwicklung,  wollte  sie  sich  mit  seiner  Formulierung 
begnügen.  Anderen  Untersuchungen ')  mufs  ich  Vorbehalten,  die 
reiche  Mannigfaltigkeit  der  kausalen  Verknüpfungen,  aus  denen  sich 
der  Umgestaltungsprozefs  des  modernen  Wirtschaftslebens  zusammen- 
setzt, vor  dem  geistigen  Auge  des  Lesers  auszubreiten. 

Ihre  rechte  Würdigung  erfahren  die  hier  blofsgclegten  Prinzipien 
der  wirtschaftlichen  Entwicklung  erst,  wenn  wir  sie  in  ihrer  Wirkung 
auf  den  gesamten  Zuschnitt  der  modernen  Kultur,  auf 
den  „Stil  des  Lebens"  verfolgen.  Das  im  einzelnen  zu  thun,  mufs 
auch  späteren  Studien  überlassen  bleiben.  Hier  soll  nur  in  den 
Grundzügen  jener  Zusammenhang  skizziert  werden,  soweit  es  nötig 
ist  für  das  Verständnis  des  Verlaufs  desjenigen  Abschnitts  gewerb- 
lichen Lebens,  den  wir  zunächst  verfolgen. 

Was  der  moderne  Kapitalismus,  sei  es  unmittelbar  durch  Be- 
einflussung der  mit  ihm  in  Berührung  kommenden  Personen,  sei  es 
durch  Vermittlung  von  Zwischengliedern,  die  er  selbst  erst  erzeugt 
und  unter  denen  die  Errungenschaften  der  Technik  die  vornehmste 
Stelle  einnehmen,  an  neuen  N’uanzicrungsn  in  das  Kulturleben 
hineinträgt,  läfst  sich  in  einigen  Schlagworten  vielleicht,  wie  folgt, 
zusammenfassen. 

Er  wirkt  vor  allem  das,  was  man  eine  Ueberwindung  der 
Materie  nennen  kann,  offensichtlich  durch  den  technischen  Fort- 
schritt, für  den  er  die  Triebkräfte  erzeugt.  Seltsamer  Weise  hat 
aber,  wie  jedermann  weifs,  diese  Ueberwindung  der  Materie  erst  ein- 
mal zu  einem  Siege  des  Materiellen  geführt.  Es  ist  oft  und  mit 
Recht  unserer  Zeit  vorgehalten  worden,  dafs  sie  eine  vorwiegend 
sachliche  Kultur  — auf  Kosten  der  Persönlichkeit  — entwickelt 
habe.  Wir  werden  nach  dem,  was  wir  früher  erfahren  haben, 
diese  Tendenz  der  Kulturentwicklung  durchaus  begreiflich  finden, 
weil  wir  sic  als  unmittelbaren  Ausflufs  der  wirtschaftlichen  Ent- 
wicklung aufzufassen  vermögen.  Diese,  sahen  wir,  drängt  die  per- 

1 ) Vgl.  mein  demnächst  erscheinendes  Werk : Der  moderne  Kapitalismus,  Bd.  II. 


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Der  Stil  des  modernen  Wirtschaftslebens. 


1 7 


sönliche  Arbeitskraft  immer  mehr  zurück,  läfst  die  vorgethane 
Arbeit  (in  den  Produktionsmitteln)  eine  immer  entscheidendere 
Rolle  spielen,  versachlicht  also  gleichsam  den  gesamten  wirtschaft- 
lichen Prozefs.  Was  Wunder,  wenn  die  im  Bereiche  des  Wirt- 
schaftslebens gewonnenen  Anschauungen  über  dessen  Grenzen  hinaus 
ihre  Herrschaft  auszudehnen  versuchen  und  allerorts  eine  Neigung 
erzeugen,  die  sachlichen  Kulturfaktoren  zu  überwerten.  Die  Re- 
aktionsbewegung, wie  sie  vor  allem  an  den  Namen  F r i e d r i c h 
Nietzsche  sich  anknüpft,  ist  im  Grunde  doch  auch  nur  eine  Be- 
stätigung für  die  Existenz  und  Mächtigkeit  jener  Tendenzen.  Auf 
der  andern  Seite  hat  die  Ueberwindung  der  Materie  doch  unstreitig 
einen  Zug  ins  Grofsartige,  ins  Massige,  aber  auch  ins  Mächtige  in 
unsere  Zeit  hineingetragen.  Ich  möchte  glauben,  dafs  gerade  auch 
der  Schwung  eines  Friedrich  Nietzsche,  die  „P'ahrt“,  die  sein 
Geistesleben  hatte,  nicht  denkbar  wären  ohne  die  naturwissenschaft- 
lichen und  technischen  Errungenschaften  der  Zeit.  Zumal  wenn 
wir  diese  auf  die  andern  Gebiete  ihrer  Wirksamkeit  verfolgen. 

Da  ist  es  die  Ueberwindung  des  Raumes,  die  sich  als 
zweite  grofse  Leistung  uns  darstellt.  Wie  sie  die  Welt  gleichsam 
ausgeweitet,  die  Idee  der  Unendlichkeit  erst  recht  zu  einem  Besitztum 
unserer  Seele  gemacht  hat,  so  hat  sie  die  Raumverhältnisse  auf  der 
Erde  in  unserer  Vorstellung  verkleinert.  Und  indem  sie  die  In- 
differenz gegenüber  den  Entfernungen  erzeugte,  verhalf  sie  der 
Gleichgültigkeit  gegenüber  dem  Unterschiede  der  Oertlichkeiten  und 
ihres  Zubehörs  zum  Leben.  Sie  hat  in  eminentem  Mal'sc  nivellierend 
auf  Lebensgewohnheiten,  Leistungen,  Geschmack  gewirkt.  Man  hat 
geradezu  dem  Gedanken  Ausdruck  gegeben : es  werde  mit  Dichtung 
und  Kunst  überhaupt  bald  zu  Ende  gehen,  wenn  es  nicht  gelinge, 
„die  Verkehrsmittel  in  ihren  zersetzenden  Folgen“  zu  dämmen.  In 
der  That:  jede  dichterische  oder  künstlerische  Produktion  ist  heute 
binnen  wenigen  Tagen  oder  Wochen  Gemeingut  der  gesamten  „ge- 
bildeten Welt“.  Das  Publikum  steht  unter  unausgesetzter  Beein- 
flussung durch  die  Leistungen  der  ganzen  Erde,  die  Künstler  selbst 
kommen  vor  lauter  „Anregungen"  von  aufsen  her,  die  ihnen  die 
Eisenbahn  in  Form  von  Ausstellungsbildern,  oder  die  Kunstzeit- 
schriften zutragen,  oder  die  sie  selbst  auf  Reisen  empfangen,  kaum 
noch  zur  Sammlung,  Vertiefung  und  Entwicklung  ihrer  Eigenart '). 

*)  Das  ist  mit  Bezug  auf  den  Entwicklungsgang  Hans  Ungcrs  hübsch  dar- 
gclegt  von  Hans  W.  Singer  in  der  Deutschen  Kunst  und  Dekoration.  Januar 
1900.  S*  179  ff. 

Archiv  Tür  sox.  Gesetzgebung  a.  Statistik.  XVII.  2 


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Werner  Sombart, 


Wiederum  sind  die  Reaktionsströmungen , wie  sie  unsere  Zeit  in 
der  Betonung  des  Wertes  einer  „Heimatkunst“  erzeugt  hat,  nur 
Bestätigungen  für  das  Walten  der  gekennzeichneten  Grundtendenz. 

Aber  noch  viel  mehr  unserer  Epoche  zu  eigen  gehört  die  U e b er- 
windun g der  Zeit.  Es  scheint  mir  in  der  That  nicht  un- 
berechtigt zu  sein,  wenn  man  gerade  das  letzte  Jahrhundert  „in 
erster  Linie  als  Aera  der  Siege  über  die  Zeit"  bezeichnet 
hat.  „Wir  dringen  an  der  Hand  der  Wissenschaft  auf  dem  Boden 
der  geologischen,  paläontologischen,  historischen  und  archäologischen 
Entdeckungen  immer  mehr  und  mehr  in  das  Innere  der  Vergangen- 
heit ein,  wir  verwandeln  in  Zukunft  und  verewigen  die  Gegenwart 
mit  Hilfe  der  Photographie,  des  Phonographen,  der  Kinematographie 
und  anderer  wunderbarer  Entdeckungen,  wir  sagen  die  mögliche 
Zukunft  der  Welten  voraus,  vermöge  der  physikalischen  Lehre  von 
den  Energien , wir  heben  auf  und  modifizieren  thatsächlich  die 
Mafsc  der  Zeit,  und  dadurch  des  Raumes  vermöge  der  Eisenbahnen, 
Telegraphen,  Telephone  — der  Raum  ist  von  der  Wissenschaft 
teilweise  schon  zur  Zeit  der  Renaissance  vermöge  ihrer  Entdeckungen, 
so  auch  während  der  folgenden  Jahrhunderte  überwunden  worden. 
Die  Zeit  aber  unterwirft  und  überwältigt  der  Mensch  immer  mehr 
und  mehr  vermöge  seiner  neuen  Entdeckungen  und  Erfindungen  in 
unserem  Jahrhundert  *).“ 

Diese  objektive  Beherrschung  der  Zeit  hat  nun  aber  zu  einer 
völligen  Neugestaltung  des  individuellen  Zeitbewufstseins 
geführt,  an  der  die  Einwirkung  der  kapitalistischen  Interessen  noch 
unmittelbarer,  handgreiflicher  zu  Tage  tritt. 

Es  ist  hier  vor  allem  die  gesteigerte  Wertung  der  Zeit 
hervorzuheben,  die  sowohl  in  der  fortschreitenden  Exaktheit  ihrer 
Messung,  als  in  der  wachsenden  Bedeutung  sich  ausdrückt,  die  wir 
auch  den  kleinsten  Zeitabschnitten  beilegen.  Der  Sekundenzeiger 
an  den  billigsten  Taschenuhren,  die  dem  Durchciler  der  Grofsstadt 
auf  Schritt  und  Tritt  begegnenden  Grofs-  und  „Normaluhren  s),  die 

Nicolas  von  Grot,  Der  Begriff  der  Seele  und  der  psychischen  Knergic 
in  der  Psychologie  im  Archiv  für  systematische  Phlilosophie.  Band  IV  (1898). 
S.  262.  Sehr  viel  hübsche  Gedanken  zu  unserem  Thema  enthält  auch  der  Vortrag 
von  Prof.  M.  Lazarus  über  „Zeit  und  Weile“  (in  den  „Idealen  Fragen“  [i878j 
S.  159 — 232),  nur  fehlt  seinen  Ausführungen  leider  — wie  so  oft  bei  „Philosophen“  — 
die  Pointe:  nämlich  der  Hinweis  auf  die  historische  Relativität  der  Zeitwertung. 

•)  In  Spanien  ist  an  keinem  Bahnhof  eine  Uhr.  „Das  Zeitgefühl  scheint  etwas. 
Fremdes  in  Spanien.“  R.  Mut  her,  Studien  und  Kritiken  1 (1900),  341. 


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Der  Stil  des  modernen  Wirtschaftslebens. 


'9 


Fünfminutenaudienzen  bei  Beamten,  Aerzten,  Rechtsanwälten,  die 
Gesangs-  oder  Klavier, stunden"  von  15  Minuten  bei  grofsen 
Meistern,  die  Fünftelsekundenmessung  beim  Fahrradsport,  die 
Exaktheit  unseres  Bahnverkehrs,  die  summarischen  Verfahren  im 
Gerichtswesen  und  in  der  Verwaltung,  die  Postkarte,  der  Telegramm- 
stil, das  gesamte  Bewegungstempo  in  der  Grofsstadt  im  Vergleich 
zur  Kleinstadt,  alle  diese  Erscheinungen  sind  der  Ausdruck  jener 
gesteigerten  Wertung  der  Zeit. 

Mit  dieser  Iland  in  Hand  geht  nun  aber  das  wachsende  Be- 
dürfnis einer  immer  zahlreicheren  Menschengruppe  nach  be- 
schleunigter Lebensführung,  will  sagen:  nach  einer  stärkeren 
Konzentrierung  der  Eindrücke  sowohl,  als  der  Gefühls-  und  Willens- 
äußerungen, somit  nach  einer  vermehrten  Ausgabe  von  Energie 
in  einem  bestimmten  Zeitraum.  Dafs  diese  immer  mehr  um  sich 
greifende  Grundstimmung  unserer  Epoche  unmittelbar  aus  dem 
Stile  unseres  Wirtschaftslebens  herauswächst,  ergeben  unsere  früheren 
Ausführungen. 

Der  ganze  wirtschaftliche  Prozefs,  weil  er  auf  Beschleunigung 
hindrängt,  beruht  ja  auf  nichts  anderem,  als  auf  einer  stetig  zu- 
nehmenden Intensivierung  und  Kondensierung  der  wirtschaftlichen 
Vorgänge  im  Interesse  vermehrten  Geldgcwinncns.  Und  diese  Vor- 
gänge  greifen  natürlich  zunächst  in  alle  Sphären  des  sozialen  Lebens 
hinüber,  in  denen  auch  der  Erwerbstrieb  rege  geworden  ist,  also 
dafs  immer  mehr  Menschen  aus  diesem  rein  materiellen  Grunde 
ihre  Lebens-  d.  h.  Geschäftsführung  zu  beschleunigen,  d.  h.  zu  ver- 
dichten sich  angelegen  sein  lassen.  Von  jenen  Centren  gesteigerter 
Lebensintensität  geht  dann  der  Anstoss  aus,  der  immer  weitere 
Kreise  aus  ihrer  beschaulichen  Ruhe  aufstört.  Schließlich  wird  das 
gesamte  Kulturleben  von  dem  Fieber  ergriffen,  cs  beginnt  das 
Hasten  und  Drängen  auf  allen  Gebieten,  das  nun  recht  eigentlich 
die  Signatur  der  Zeit  geworden  ist. 

Häufung  der  Eindrücke  und  dadurch  bewirkte  vermehrte  Aus- 
schaltung von  Lebensenergic  ist  unser  tiefstes  und  nachhaltigstes 
Bedürfnis  geworden:  Zola  und  Ibsen  vergleiche  man  mit  Walter 
Scott  und  J.  H.  Voss,  Liszt  und  Richard  Straufs  mit  Haydn  und 
Mozart  um  zu  ermessen,  welchen  ungeheuren  Grad  von  Intcnsivi- 
sierung  und  somit  Tempobeschleunigung  unsere  Zeit  erreicht  hat. 

Es  scheint  nun  aber  ein  psychologisches  Gesetz  zu  sein,  dafs 
die  Beschleunigung  des  Lebenstempos  mit  Notwendigkeit  eine 
raschere  Uebersättigung,  Ueberspannung,  Uebermüdung  erzeugt  und 

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Werner  Sombart,  Der  Stil  des  modernen  Wirtschaftslebens. 


damit  das  Bedürfnis  — wenn  nicht  schon  nach  Ruhe,  wie  es  in 
allen  Dekadenzerscheinungen  zu  Tage  tritt,  so  doch  — nach  Ab- 
wechslung der  Reizungsqualitäten.  Es  entsteht  so  jene  Freude  am 
Neuen  um  seiner  selbst  willen,  jene  „Neuerungssucht“,  die  dem 
Kapital  die  psychologische  Unterlage  bietet,  um  darauf  wiederum 
sein  System  des  unausgesetzten  Formwcchscls  der  Gebrauchsgüter 
aufzubauen,  das  es,  wie  wir  in  anderem  Zusammenhänge  noch  ge- 
nauer verstehen  lernen  werden,  um  seiner  Selbsterhaltung  willen  in 
der  Mode  ausgestaltct  hat.  In  dieser  löst  sich  also  aus  dem 
Zentrum  der  kapitalistischen  Interessen  abermals  eine  Tendenz  zu 
fortwährender  Neugestaltung  unserer  Umwelt  los,  die  sich  zwar 
zunächst  nur  auf  die  materielle  Güterwelt  erstreckt,  dann  aber  natür- 
lich auch  sehr  bald  auf  die  Gebiete  der  idealen  Interessen  hinüber- 
greift: unsere  Philosophiesysteme,  unsere  Kunststile  und  Litteratur- 
richtungen  wechseln  jetzt  beinahe  ebenso  häufig  wie  unsere 
Kravatten-  und  Hutmoden. 

Alles  dieses  tritt  nun  aber  zurück  gegenüber  der  revolutionären 
Wirkung,  die  die  kapitalistische  Wirtschaft  unausgesetzt  auf  die 
sozialen  Schichtungs Verhältnisse  ausübt.  Es  ist  eine 
jedermann  vertraute  Erscheinung,  dafs  diese  täglich  in  neuer  Ge- 
staltung sich  unserm  Auge  darbieten,  sei  es,  weil  neue  soziale 
Klassen  entstehen,  alte  verschwinden,  sei  es,  weil  die  Zusammen- 
setzung jeder  sozialen  Gruppe  selbst  ebenfalls  einem  fortwährenden 
Wandel  unterliegt.  Das  war  es,  was  Theodor  Fontane  mit  ge- 
wohnter Prägnanz  ausdrücktc,  als  er  die  Worte  schrieb,  die  diesem 
Kapitel  als  Motto  vorangestellt  sind.  Wer  ihren  Sinn  begriffen  hat, 
besitzt  dann  die  Schlüssel  des  Verständnisses  für  die  innerste  Eigen- 
art unserer  Zeit  und  wird  auch  mit  geschärftem  Auge  den  Umgestal- 
tungsprozefs  auf  den  einzelnen  Gebieten  des  sozialen  Lebens  ver- 
folgen können. 


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Das  preufsische  Fürsorge-Erziehungsgesetz 
vom  2.  Juli  1900. 

Vom  Standpunkt  der  Armenpflege  und  der 
Sozialpolitik. 

Von 

Dr.  k.  flesch, 

Stadtrat  in  Frankfurt  a.  M. 

Es  sind  in  neuerer  Zeit  wenige  Gesetze  erlassen  worden,  die 
sich  einer  so  allgemein  günstigen  Aufnahme  zu  erfreuen  gehabt 
haben,  wie  das  am  I.  April  19OI  in  Kraft  getretene  preufsische 
Gesetz  über  die  Fürsorge- Erziehung  Minderjähriger 
vom  2.  Juli  1900.  Es  hat  diese  ungeteilte  Sympathie  zu  (Linken 
nicht  nur  dem  idealen  Motiv,  der  Billigung  des  Zwecks,  den  es  er- 
reichen will;  sondern  auch  dem  ganz  nüchternen  und  realen  Moment, 
dafs  es  die  Kosten,  welche  seine  Durchführung  erfordert,  in  erster 
Linie  den  stärkern  Schultern,  dem  Staat  und  den  Kommunalverbänden 
auflegt.  Ein  Gesetz,  welches  eine  nützliche,  ja  notwendige  Erwei- 
terung der  öffentlichen  Leistungen  bewirkt,  ohne  die  Privaten  über- 
haupt heranzuziehen,  ohne  die  Gemeinden  mehr  als  bisher  zu  be- 
lasten; ein  Gesetz,  das  die  bereits  bestehende  Beitragspflicht  des 
Staates  vergröfsert,  ohne  dem  Staat  wesentlich  gröfseren  Einfluls 
auf  die  zu  beordnende  Angelegenheit  zu  geben ; ein  Gesetz,  das  ins- 
besondere den  kleinen  Gemeinden  und  Gutsbezirken  eine  Vermin- 
derung der  unerfreulichsten  Ausgaben,  — nämlich  derer  für  Armen- 
pflege — und  zugleich  eine  Besserung  der  Armenlursorgc  in  sichere 
Aussicht  stellt,  — kann  es  Wunder  nehmen,  dafs  ein  solches  Gesetz  in 
den  gesetzgebenden  Körperschaften,  den  Provinziallandtagen  und 
noch  mehr  in  den  Magistraten  und  Bürgermeistereien  freudig  bewill- 
kommnet ward?  Auch  wird  in  derThat  jede  Besprechung  des  Ge- 
setzes beginnen  müssen  mit  der  vollsten  Billigung  des  Zwecks  des 


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22 


K.  F 1 e s c h , 


Gesetzes  und  mit  der  Anerkennung,  dafs  sich  der  Gesetzgeber  bei 
der  Durchführung  seines  legislatorischen  Gedanken  von  fiskalischen 
und  bureaukratischen  Neigungen  im  wesentlichen  frei  zu  halten  ver- 
standen hat.  Das  Gesetz  bedeutet  einen  wirklichen  Fortschritt, 
dessen  Tragweite  vielleicht  da  und  dort  überschätzt  worden  ist, 
aber  keineswegs  gering  geschätzt  werden  darf.  Eis  bleibt  noch 
genug  des  Erfreulichen,  auch  wenn,  wie  wir  sehen  werden,  das 
Gesetz  juristisch  sich  fast  durchaus  auf  den  bereits  betretenen  Wegen 
hält,  vom  Standpunkt  der  Armenpflege  manche  Dunkelheiten  und 
Unklarheiten  in  sich  birgt,  und  das  Gebiet  der  eigentlichen  Sozial- 
politik kaum  berührt.  Im  übrigen  versteht  sich  von  selbst,  dafs 
diese  wie  wir  glauben,  durchaus  objektive  Beurteilung  um  einige 
Grade  wärnter  werden,  oder  aber  sich  dem  Gefrierpunkt  um  etwas 
annähern  mufs,  je  nach  dem  politischen  Standpunkt,  von  dem  der 
Beurteiler  ausgeht.  Das  kann  kaum  anders  sein  bei  einem  Gesetz, 
dafs  so,  wie  dieses,  die  wichtigsten  Tagesfragen  — oder  Schlag- 
worte — direkt  oder  indirekt  berührt,  (die  Verrohung  der  Jugend; 
die  Liederlichkeit,  Genufssucht;  Irreligiosität  der  Massen;  — die 
überlange  Arbeitszeit,  die  Hungerlöhne,  die  kein  Familienleben  auf- 
kommen  lassen  u.  s.  w.),  und  das  zugleich  einer  Gattung  von  Be- 
amten, — auch  die  Richter  sind  ja  Beamte ! — eine  so  weitgehende 
Macht  einräumt,  wie  sie  in  diesem  Gesetz  den  Vormundschafts- 
richtern gegeben  ist. 

Indessen  ist  die  Aufgabe  dieses  Aufsatzes  und  dieser  Zeit- 
schrift die  Klarlegung  dessen,  was  im  neuen  Gesetze  ist.  Die 
Ergänzung  durch  die  Darlegung  dessen,  was  in  dasselbe  herein- 
getragen  werden  kann,  — und  was  Jeder,  je  nach  seinem 
Standpunk,  hereinzutragen  versuchen  wird,  mufs  der  politischen 
Uebcrzeugung  der  einzelnen  Leser  Vorbehalten  bleiben. 

I.  Juristisch  stellt  sich  das  Gesetz  dar  als  eine  Erweiterung 
des  früheren,  von  ihm  aufgehobenen  sogenannten  Zwangserziehungs- 
gesetzes vom  13.  März  1878. 

Dieses  bezog  sich  auf  Kinder,  die  nach  Vollendung  des  6.  und 
vor  Vollendung  des  12.  Jahres  eine  strafbare  Handlung  be- 
gangen hatten;  die  Zwangserziehung  endete  mit  dem  16.,  in  Aus- 
nahmefällen mit  dem  18.  Lebensjahr  des  Kindes. 

Das  Fürsorgegesetz  bezieht  sich  auf  alle  Minderjährigen 
unter  1 8 Jahren;  diese  können  durch  Beschlufs  des  Vormundschafts- 
richters  der  Fürsorgeerziehung,  — die  regelmäßig  erst  mit  der 
Minderjährigkeit  endet  (§  13)  — unterworfen  werden; 


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Das  prcufsischc  Fiirsorge-Erzichunpsgesctz  vom  2.  Juli  1900. 


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1.  wenn  es  zur  Verhütung  der  sittlichen  Verwahrlosung 
erforderlich  ist  (§  l Abs.  I u.  2) 

a)  in  Rücksicht  auf  die  Eltern  des  Kindes:  (weil  der  Vater 
sein  Recht  der  Sorge  für  das  Kind  mifsbraucht,  das  Kind 
vernachlässigt,  oder  sich  eines  ehrlosen  oder  unsittlichen 
Verhaltens  schuldig  macht). 

b)  in  Rücksicht  auf  eine  Handlung  des  Kindes  und  die 
Verhältnisse,  in  denen  cs  lebt:  (weil  die  Beschaffenheit  einer 
vom  Kind  begangenen  strafbaren  Handlung  oder  die  Per- 
sönlichkeit der  Eltern  oder  Erzieher  oder  die  sonstigen  Ver- 
hältnisse die  Verhütung  der  weiteren  sittlichen  Verwahr- 
losung erfordern). 

2.  wenn  cs  zur  Verhütung  des  völligen  sittlichen  Ver- 
derbens des  Minderjährigen  notwendig  ist  (§  1 Abs.  3) 

weil  die  erziehliche  Einwirkung  der  Eltern  oder  der  Schule 
hierzu  unzulänglich  ist. 

Der  Richter  mufs  also,  um  zum  Beschlufs  der  Fürsorge-Er- 
ziehung zu  gelangen,  stets  zugleich  objektiv  feststellen,  ob 
gewisse  thatsächliche Momente  vorliegen  und  subjektiv  schätzen, 
beurteilen,  ob  im  gegebenen  Fall  die  Mafsregel  „erforderlich“ 
bczw.  „notwendig  ist“. 

Das  subjektive  Moment,  die  Ansicht  des  Richters,  seine  persön- 
liche Auffassung  von  den  Umständen  und  Verhältnissen,  aus  welchen 
heraus  der  Fürsorgeerziehungsfall  an  ihn  herantritt,  spielen  also  für 
die  Durchführung  des  Gesetzes  eine  besonders  wichtige  Rolle.  Im 
übrigen  aber  enthalten  die  Anwendungsfalle  eigentlich  nichts,  was 
über  den  Inhalt  des  geltenden  Rechts,  nämlich  des  bürgerlichen 
Gesetzbuches  |§  1666,  § 1838)  wesentlich  hinausginge.  Neu  ist  nur 
die,  nicht  juristische  sondern  administrative  oder  finanzielle  An- 
ordnung, welche  gewissen  Verwaltungsorganen  — den  kommunalstän- 
dischen Verbänden  die  Durchführung  der  betreffenden  Anordnungen 
des  Vormundschaftsrichters  auflegt,  und  ihnen  die  Aufbringung  der 
erforderlichen  Mittel  erleichtert,  indem  es  den  Staatszuschufs,  — der 
nach  dem  Zwangserziehungsgesetz  nur  die  Hälfte  betrug,  nun- 
mehr auf  zwei  Drittel  erweitert  (§  15). 

Juristisch  neu  ist  dagegen  die  Strafbestimmung  des  § 21,  welche 
mit  Gefängnis  bis  zu  2 Jahren  und  mit  Geldstrafen  bis  zu  1000  M. 
oder  mit  einer  dieser  Strafen  den  bedroht,  der  einen  Minderjährigen 
dein  eingeleiteten  Verfahren  oder  der  angeordneten  Fürsorge- 
erziehung entzieht,  oder  ihn  verleitet,  sich  dem  Verfahren  oder  der 


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24 


K.  Flesch, 


Fürsorgeerziehung  zu  entziehen.  Bisher  fehlte  es  an  einer  solchen 
Vorschrift  gänzlich.  Die  grofse  Unbestimmtheit  der  nunmehr  er- 
lassenen Strafandrohung  kann  kaum  getadelt  werden;  sie  soll  ebenso 
gut  gegenüber  dem  blofsen  Unbedacht,  dem  mangelnden  Verständnis 
von  Verwandten  und  guten  Freunden  des  Kindes  zur  Anwendung 
kommen,  als  gegenüber  der  raffinierten  Bosheit  und  der  völligen 
Verderbtheit,  die  z.  B.  ein  sittlich  gefährdetes  junges  Mädchen  der 
Fürsorgeerziehung  entreifsen  will,  um  es  einem  Leben  der  Lieder- 
lichkeit aufs  Neue  zuzuführen  oder  zu  erhalten. 

Juristisch  neu  ist  wohl  auch  der  § 5,  der  dem  Vormundschafts- 
gericht das  Recht  giebt,  bei  Gefahr  im  Verzug  die  vorläufige  Unter- 
bringung des  Minderjälirigen  anzuordnen.  Immerhin  läfst  sich 
streiten,  ob  dem  Vormundschaftsrichter  eine  solche  Befugnis  zum 
Krlafs  einstweiliger  Verfügungen  nicht  auch  schon  ohne  die  aus- 
drückliche Vorschrift  des  § 5 zugestanden  hätte.  Wichtig  und  in 
hohem  Grad  wertvoll  sind  aber  jedenfalls  die  ausführlichen  Vorschriften, 
welche  die  Durchführung  der  vormundschaftsrichterlichen  Anordnung 
und  die  Tragung  der  aus  ihr  entstandenen  Kosten  betreffen.  Indem 
nunmehr  aufser  Zweifel  steht,  dafs  die  Polizeibehörde  die  vom  Vor- 
mundschaftsgericht für  notwendig  erachtete  Mafsregel  auszuführen 
hat  (durch  Unterbringung  des  Mündels  in  einer  Anstalt  oder  einer 
Familie)  und  dafs  sie  in  allen  Fällen  die  hieraus  entstehenden  Kosten 
vorzuschiefsen  hat,  ist  die  an  sich  nur  formale  Befugnis  des  Vor- 
mundschaftsrichters — mag  sie  schon  früher  bestanden  haben  oder 
ihm  neu  verliehen  sein  — erst  zu  einer  wirklichen  und  für  die 
ganze  Stellung  des  Vormundschaftrichters  bedeutsamen  Macht- 
erweiterung geworden. 

II.  Weniger  einfach  als  die  Aenderungen  am  bisherigen  posi- 
tiven Recht  sind  die  Einwirkungen  darzustellcn,  welche  das  Gesetz 
auf  die  Armenpflege  ausübt. 

1.  Zwar  finanziell  und  administrativ  oder  instanzenmäfsig  ist  das 
Erforderliche  bald  gesagt,  mindestens  insoweit,  als  die  öffent- 
liche Armenpflege  in  Betracht  kommt. 

Die  Kosten  der  Fürsorgeerziehung  gehen,  wie  bereits  bemerkt, 
zu  */'g  zu  Lasten  des  Staats,  zu  '/s  zu  Lasten  des  kommunalstän- 
dischen Verbandes ; die  der  Zwangserziehung  teilten  sich  zwischen 
Staat  und  kommunalständischen  Verband  halb  und  halb.  Die  Orts- 
armenverbände, d.  h.  die  Gemeinden  hatten  früher  wie  jetzt  nur  die 
relativ  geringen  Kosten  der  Ueberführung  des  Zöglings  in  die  An- 
stalt, seiner  ersten  Ausstattung  und  der  Rückreise  oder  des  Begräb- 


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Das  preulsischc  FUrsorgc-Erzichungsgesctz  vom  2.  Juli  1900. 


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nisses  zu  tragen  (§  15  des  Ges.)  Zwangserziehung  konnte  aber 
nach  den  engen  Voraussetzungen  des  Gesetzes  nur  selten  Platz 
greifen;  die  Fürsorgeerziehung  ist  fast  überall  auf  dem  weiten  Ge- 
biet der  Kinderpflege  — mit  Ausnahme  lediglich  der  reinen  Waisen- 
pflege — anwendbar,  wird  also  namentlich  vielfach  auf  Kinder  an- 
gewandt werden , die  selbst  oder  deren  Eltern  sonst  öffentliche 
Unterstützung  beansprucht  hätten  oder  thatsächlich  bisher  erhalten 
haben.  Das  neue  Gesetz  kann  hiernach  Erleichterung  der  Ge- 
meinden auf  einem  der  wichtigsten  und  kostspieligsten  Teile 
der  Armenpflege  bedeuten;  Ueberwälzung  der  den  regelmälsigen 
Trägern  der  Armenlast , den  Gemeinden  ersparten  Kosten  zu- 
nächst auf  den  übergeordneten  Kommunalverband,  d.  h.  die  Pro- 
vinz oder  — ausnahmsweise  z.  B.  in  Hessen.- Nassau  — den  Re- 
gierungsbezirk, und  sodann  auf  den  Staat.  Freilich  ist  hierbei  zu 
beachten,  dal's  die  Ueberwälzung  keine  so  vollständige  und  allge- 
meine ist,  wie  es  den  Anschein  hat.  Die  Mittel  des  Kommunal- 
verbandes  werden  im  wesentlichen  von  den  Gemeinden  mit  be- 
sonderer Heranziehung  der  steuerkräftigen  grofsen  Gemeinden,  der 
Städte  aufgebracht,  so  dal's  der  charakteristische  Zug  der  Ent- 
lastung des  flachen  Landes  zum  Nachteil  der  grofsen  Städte  aller- 
dings auch  in  diesem  Gesetze  wahrgenommen  werden  kann. 

2.  Andererseits  nimmt  das  Gesetz  aber  den  Gemeinden  nicht 
nur  Ausgaben  ab,  sondern  auch  Aufgaben. 

Die  Fürsorgeerziehung  tritt  ein,  wie  wir  gesehen  haben,  aus- 
schliefslich  auf  Beschlufs  des  Vormundschaftsgerichtes  (§  4),  und 
ihre  Durchführung  liegt  ebenso  ausschlicfslich  dem  Kommunal- 
verband ob  (§  9),  der  insbesondere  auch  für  die  Errichtung  der 
zur  Unterbringung  der  Zöglinge  erforderten  Erziehung-  und  Besserungs- 
anstalten zu  sorgen  hat,  insoweit  es  an  solchen  fehlt  (§  14);  der  für 
die  in  Familien  untergebrachten  Zöglinge  F'ürsorge  zu  bestellen  hat 
(§  n);  über  Anträge  auf  frühere  Aufhebung  der  Fürsorgeerziehung 
beschlielst  (§  13)  u.  s.  w.  Seine  Selbständigkeit  wird  nirgends  durch 
ein  konkurrierendes  Recht  der  Gemeinde  gehemmt,  die  bisher 
als  Ortsarmenverband  die  Versorgung  der  in  Armenpflege  ge- 
nommenen Kinder  so  gut  wie  allein  in  der  Hand  hatte;  sondern 
lediglich  durch  sehr  ausgedehnte  Aufsichtsbefugnisse  des  Staats. 
So  sind  z.  B.  die  Reglements  der  von  den  Kommunalverbänden 
errichteten  Anstalten  bezüglich  aller  Bestimmungen  über  Aufnahme, 
Behandlung,  Unterricht  und  Entlassung  der  Zöglinge  der  Genehmi- 
gung der  beiden  beteiligten  Ministerien  (des  Innern  und  des 


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26 


K.  Flescli, 


Unterrichts)  Vorbehalten  (§  17).  Es  ist  nicht  zu  viel  gesagt,  wenn 
hiernach  erklärt  wird,  dafs  das  Gesetz  eine  gewisse  Tendenz  hat, 
den  Schwerpunkt  der  Kinderfürsorge  aus  der  Gemeinde  weg  zu 
verlegen;  über  die  Frage,  ob  ein  nicht  verwaistes  Kind  aus  der 
Familie  weggenommen  werden  soll,  ob  eine  Anstalt  zur  Kinder- 
fiirsorge  errichtet  oder  subventioniert  werden  soll,  welchen  Inhalt 
das  Reglement  für  diese  Anstalt  haben  soll  u.  s.  w.  entscheiden 
künftig  sehr  oft,  wenn  nicht  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  nicht 
mehr  die  städtischen  Behörden,  sondern,  je  nach  der  Art  des 
Falles,  die  Vormundschaftsrichter,  die  Landesdirektoren  und  die 
Minister.  Vom  Standpunkt  derjenigen  gröfseren  Armenverwaltungen 
aus,  die  mit  Mühe  und  Kosten  besondere  Organisationen  für  die 
Kinderpflege  geschaffen  haben  (Waisendepots,  Kinderherbergen,  Pflege- 
kolonien  in  auswärtigen  Orten  u.  s.  w.),  enthält  das  Gesetz  also 
geradezu  eine  Minderung  der  bisherigen  Selbstverwal- 
tung. Allerdings,  wie  hinzugefügt  werden  mag,  nur  vom  Stand- 
punkt dieser  relativ  wenigen  gröfseren  Armenverwaltungen.  In  der 
Mehrzahl  der  Gemeinden,  insbesondere  in  den  kleinen  Landorten 
konnte  von  einer  derartigen  Ausgestaltung  der  Kinderpflege  ja  keine 
Rede  sein ; man  brachte  Kinder  nur  unter,  wenn  man  mufste,  d.  h. 
wenn  sie  vollverwaist  oder  vollverwaisten  gleich  zu  achten  waren; 
und  man  begnügte  sich  im  übrigen  damit,  den  Eltern  der  Kinder 
bare  Unterstützung  zu  geben,  also  diejenige  Art  Armenpflege,  welche 
zwar  der  Verwahrlosung  der  Kinder  nicht  eatgegenarbeitete,  dafür 
aber  jederzeit  eingestellt  oder  unterbrochen  werden  konnte.  Für 
diese  alle  — also  für  die  überwiegende  Mehrzahl  der  Gemeinden 
und  wohl  auch  der  Bevölkerung  — kann  hiernach  von  einer  Ein- 
schränkung der  Selbstverwaltung  nicht  gesprochen  werden;  für  sie 
tritt  durch  das  neue  Gesetz  nur  um  so  deutlicher  die  alte  Wahrheit 
hervor,  dals  die  Ueberlassung  der  öffentlichen  Armenpflege  an  allzu 
kleine,  lokale  Verbände  fehlerhaft  ist. 

3.  Wichtiger  freilich  als  die  Frage  nach  den  Instanzen  und  Or- 
ganen, denen  die  Durchführung  des  neuen  Gesetzes  obliegt,  ist  die 
nach  der  materiellen  Bedeutung,  die  es  für  die  Armenpflege  hat. 

Hier  tritt  uns  zunächst  entgegen  ein  Punkt,  der  mit  dem  eben 
besprochenen  unmittelbar  zusammenhängt,  da  er  sich  gleichfalls  nur 
auf  die  öffentliche  Armenpflege  bezieht. 

Jede  Unterstützung,  die  von  den  Organen  der  öffentlichen 
Armenpflege  gewährt  wird,  hat  insbesondere  zwei  Wirkungen,  deren 
eine  speziell  mit  dem  Unterstützungswohnsitzgesetz,  die  andere  mit 


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Das  prcufsische  Fürsorgc-F.rziehungsgcsetz  vom  2.  Juli  1900. 


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den,  für  Ausübung  öffentlicher  Rechte  gültigen  Vorschriften  zu- 
sammenhängt; und  deren  eine  hauptsächlich  die  Gemeinde  angeht, 
in  welcher  der  Unterstützte  wohnt  oder  gewohnt  hat,  während  die 
andere  ausschließlich  den  Unterstützten  selbst,  oder  falls  dieser  — 
als  Kind,  Ehefrau,  Stiefkind  u.  s.  w.  — wirtschaftlich  unselb- 
ständig ist,  den  Vorstand  der  Familie  angeht,  zu  der  er  gehört: 

Die  eine  Wirkung  ist,  dal's  von  der  Zeit,  die  zwischen  dem 
Beginn  oder  Ende  der  Unterstützung  und  dem  Anzug  des  Unter- 
stützten an  einen  bestimmten  Ort  liegt,  vielfach  abhängt,  ob  dieser 
Ort  oder  ein  anderer  (ein  früherer  Wohnort)  der  Unter- 
stützungswohnsitz ist,  d.  h.  die  mit  der  Unterstützung  ver- 
knüpften Kosten  zu  zahlen  hat;1)  oder  ob  diese  Last  keinem  ein- 
zelnen Ort,  sondern  einem  Kommunalverband  (Landarmenverband) 
obliegt  ? s)  Die  andere  Wirkung  ist,  dafs  mit  dem  Genüsse  öffent- 
licher Unterstützung  eine  Einschränkung  der  öffentlichen  Rechte 
des  Unterstützten,  insbesondere  seines  aktiven  und  passiven  Wahl- 
rechts unmittelbar  verknüpft  ist. 

Auch  die  Unterbringung  eines  Kindes  hat,  wenn  sie  im  Wege 
der  öffentlichen  Armenpflege  erfolgt,  diese  beiden  Wirkungen. 

So  lange  sie  dauert,  behält  das  Familienhaupt,  dessen  F'amilie  das 
untergebrachte  Kind  angehört,  den  Unterstützungswohnsitz,  den  er 
zur  Zeit  der  Unterbringung  des  Kindes  hatte;  oder,  richtiger  ausge- 
drückt: so  lange  sie  dauert,  kann  der  Ort  oder  Kommunalverband, 
der  bei  Beginn  der  Unterbringung  die  Kosten  der  öffentlichen  Unter- 
stützung zu  tragen  hatte,  von  dieser  Last  nicht  frei  werden,  — 
auch  nicht,  wenn  die  Familie  den  Wohnort  wechselt,  oder  wenn 
das  Familienhaupt  stirbt;  und  nicht  einmal  für  die  Familienglieder, 
die  es  neu  in  der  Familie  aufzunehmen  für  gut  findet:  Ein  Witwer, 
dessen  Kind  von  ihm  in  Stich  gelassen  und  deshalb  im  Wege  der 
öffentlichen  Armenpflege  untergebracht  ward,  belastet,  falls  er  sich 


*)  Die  Redensart:  X hat  den  Unterstützungswohnsitz  in  A ist  streng  genommen, 
ungenau.  X hat  in  A nicht  mehr  Unterstützungsanspruch  als  in  B,  C oder  D;  son- 
dern es  hat  lediglich  Ort  A die  Pflicht,  den  Orten  B,  C,  D u.  s.  w.  nach  Mafsgabe 
der  bestehenden  Vorschriften  Alles  zu  ersetzen,  was  diese  für  Unterstützung  des  X 
aufwandten.  X selbst  ist  für  die  Leistungen  jedes  dieser  Orte  glcichmäfsig  nur  Ob- 
jekt, zufälliger  Gegenstand  einer  vcrwaltungsrcchtlichcn  Belastung  dieser  Orte.  — 

*}  Ueber  den  Zusammenhang  zwischen  Armenpflege  und  Wahlrecht,  vgl.  die  sehr 
interessante,  auf  einen  von  mir  gestellten  Antrag  hin  seitens  des  Vereins  für  Armen- 
pflege eingeleitete  Foquetc:  (Referate  der  Herren  Aschrott , Flcsch  und  Bertram 
Heft  26,  Verhandlungen  auf  der  sechzehnten  Versammlung  1896  zu  Strafsburg,  Heft  28). 


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28 


K.  Fl  es  cli, 


wieder  verheiratet,  den  Ort,  der  s.  Z.  unvorsichtig  genug  war,  das 
Kind  durch  Unterbringung  in  einer  Erziehungsanstalt  der  Verwahr- 
losung zu  entreifsen,  dauernd  mit  der  Fürsorge  auch  für  die  ehelichen 
oder  unehelichen  Kinder,  welche  die  zweite  Frau  in  die  Ehe  bringt, 
oder  die  er  selbst  mit  ihr  erhält.  Kein  Wunder,  dafs  insbesondere 
kleinere  Orte  sich  lieber  mit  ihrer  Armenunterstützungspflicht  ab- 
finden,  — indem  sie  Trunkenbolde  und  Müfsiggänger , die  ihre 
Kinder  hungern  lassen,  mit  barem  Geld  unterstützen,  und  sie  viel- 
leicht zugleich  durch  Versagung  der  Wohnung  zum  Abzug  nötigen, 
als  dafs  sic  dieser  Pflicht  in  sachgemäfser  Weise,  d.  h.  durch  Unter- 
bringung der  Kinder,  welche  ihr,  selbst  verwahrloster  Vater  nicht 
erziehen  kann  oder  will,  genügen.  Und  gerade  wegen  dieser 
leicht  erklärlichen  Abneigung  der  Armenverbände  gegen  diese  Form 
der  Armenunterstützung  wird  die  andere,  oben  erwähnte  Wirkung; 
die  während  der  ganzen  Unterbringung  des  Kindes  dauernde  Be- 
schränkung der  politischen  Rechte  des  Vaters  weniger  beachtet ! 

Die  Fürsorgeerziehung  ist  aber,  ebenso  wie  die  Zwangserziehung, 
formal  betrachtet,  kein  Akt  deröffentlichen  Armenpflege; 
sie  hat  also  jene  beiden  Wirkungen  nicht.  Der  Mann,  dessen  Kind 
während  seines  Aufenthaltes  in  A.  in  Fürsorgeerziehung  genommen 
ist,  steht  dort  nicht  in  öffentlicher  Unterstützung,  und  ist  nicht  in 
seinem  Wahlrecht  beschränkt. 

Daraus  folgt  einmal,  dafs  die  Abnahme  des  Kindes  den  Vater  nicht 
hindert,  den  Unterstützungswohnsitz  an  einem  anderen  Ort,  B,  C,  D, 
zu  erwerben,  wenn  erdorthin  verzieht;  und  weiter,  dafs  jemand,  dessen 
Kinder  in  Fürsorgeerziehung  genommen  worden,  besser  daran  ist, 
als  jemand,  der  Armenpflege  erhält.  Die  Gemeinde,  in  welcher  der 
Vater  Wohnsitz  nimmt,  hat  also  kein  Interesse,  der  Fürsorgeerziehung 
zu  widersprechen,  bezw.  sie  hat  es  höchstens  dann,  wenn  die  Familie 
erst  angezogen  ist,  den  Unterstützungswohnsitz  noch  nicht  erworben 
hat.  Denn  während  die  Aufnahme  des  Kindes  eines  Neuangezogenen 
in  eine  Erziehungsanstalt  den  Erwerb  des  Unterstützungswohnsitzes 
hinderte,  wenn  sic  im  Wege  der  öffentlichen  Armenpflege 
erfolgte,  erleichtert  sie  ihn,  wenn  sie  durch  Fürsorgeerziehung 
geschieht:  Die  Familie  hat  einen  Esser  weniger,  hat  es  also  leichter, 
sich  die  Subsistenzmittel  dureh  die  bekannten  2 Jahre  ohne  Hülfe 
der  öffentlichen  Armenpflege  zu  verschaffen. 

Vom  Standpunkt  der  Gemeinde  aus  haben  sich  die  Verhält- 
nisse also  gewissermaßen  gedreht : 

Die  Unterbringung  von  Kindern,  die,  bzw.  deren  Vater,  Stief- 


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Das  preufsischc  Fürsorge-Erzichungsgcsclz  vom  2.  Juli  1900. 


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vater,  uneheliche  Mutter  u.  s.  w.  den  IT  nterstützungs  Wohnsitz 
hatten,  belastete  die  Gemeinde  schwer;  möglicherweise,  — weil 
sich  durch  sie  der  l'nterstützungswolinsitz  der  ganzen  Familie  kon- 
servierte, — lang  über  die  Beendigung  der  Erziehung  hinaus;  dagegen 
war  die  Unterbringung  neu  an  gezogener  Kinder  das  beste 
Mittel,  um  die  Eltern  am  Erwerb  des  Unterstützungswohnsitzes  in  der 
Gemeinde  zu  hindern:  also  schlechte  Armenpflege  für  ortsangchörige 
Kinder;  bereitwillige  Unterbringung  ortsfremder  Kinder.  Dagegen 
ist  jetzt  möglichst  zahlreiche  Herbeiführung  der  Fürsorgeerziehung 
für  unterstützungswohnsitzberechtigte  Kinder  das  beste  Mittel  zur 
Verringerung  der  eigenen  Armenlast;  und  sie  liegt  zugleich  — was 
namentlich  die  kleineren  Gemeinden  bei  der  Stellung  von  Anträgen 
auf  Fürsorgeerziehung  geltend  zu  machen  nicht  unterlassen  werden, 
mehr  im  Interesse  der  Kinder,  als  die  schwer  zu  kontrollierende 
offene  Armenunterstützung  der  Eltern.  Die  Väter  der  Kinder  anderer- 
seits haben  möglicherweise  ein  Interesse  daran,  c’ie  Unterbringung 
der  Kinder  im  Wege  der  öffentlichen  Armenpflege  zu  hindern : so- 
gar die  Aufnahme  eines  Kindes  in  ein  Hospital  zwecks  Vornahme 
einer  Operation  beraubt  den  Vater  der  politischen  Rechte!  Aber 
sie  haben  gar  keines,  oder  höchstens  ein  ethisches  oder  gemüt- 
liches, sich  der  Fürsorgeerziehung  oder  früher  der  Zwangserziehung 
zu  widersetzen.  Erwägt  man  nun,  dafs  Kinder,  deren  Filtern  ein 
herumzichendes  Leben  führen,  im  Zweifel  leichter  der  Fürsorge- 
erziehung bedürfen  werden,  als  solche,  die  wenigstens  an  einem 
Ort  ansässig  sind  und  daher  feste  Wohnung  und  regelmäfsigen 
Schulunterricht  haben;  und  erwägt  man  weiter,  dafs  Eltern,  deren 
Kinder  zur  Fürsorgeerziehung  gebracht  werden  müssen,  wenigstens 
vielfach  ihrer  Erziehungspflicht  nicht  genügt  haben  werden,  so  findet 
man  allerdings,  dafs  die  Wohlthaten  des  neuen  Gesetzes  einer 
Kategorie  von  Kindern  besonders  schwer  zu  teil  werden , die 
seiner  besonders  bedürftig  sind , nämlich  denen  der  Wohnsitz- 
losen,  z.  B.  der  herumziehenden  Landarbeiter;  und  dafs  sie  sich 
andererseits  in  ganz  besonderem  Mafse  ausgiefsen  über  die  Filtern, 
die  ihre  wichtigste  Pflicht,  der  Erziehung  nicht  genügen,  und  die 
nun  zum  Dank  für  diese  Pflichtvergessenheit  von  der  Fürsorge  für 
die  Kinder  und  von  den  Nachteilen  der  öffentlichen  Armenpflege 
zugleich  befreit  werden: 

4.  Es  wäre  falsch  diese  Komplikationen,  die  sich  durch  die  künst- 
lichen Bestimmungen  des  Unterstützungswohnsitzgesetzes  über  die 
sogenannte  armenrechtliche  Familieneinheit  und  den  abgeleiteten 


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30 


K.  F 1 c s c h , 


Unterstützungswohnsitz  ergeben,  zu  übersehen;  aber  es  wäre  noch 
weniger  richtig,  in  ihnen  die  wesentliche  Bedeutung  des  neuen 
Gesetzes  zu  erblicken.  Für  die  Erziehung  der  heranwachsenden 
Generation  ist  es  zweifellos  von  äufserster  Wichtigkeit,  dafs  nunmehr 
die  Gemeinden  in  der  Mehrzahl  der  Fälle,  — bei  ortsangehörigen 
Kindern  — deren  Unterbringung  in  geordnete  Verhältnisse  nicht 
mehr  scheuen,  ja  dafs  sie  der  Fürsorgeerziehung  den  Vorzug  vor  der 
offenen  Armenpflege  geben  werden,  und  nunmehr  für  die  ganze 
Kategorie  der  bereits  erwerbsfähigen  (über  15  Jahre  alten)  Kinder, 
welche  der  öffentlichen  Armenpflege  entwachsen  sind,  die  Möglichkeit 
der  öffentlichen  Fürsorge  überhaupt  erstmals  eröffnet  ist,  dieser  Vor- 
teil überwiegt  jedenfalls  den  freilich  gleichfalls  unleugbaren  Nach - 
teil,  dafs  die  Verwahrlosung  des  Kindes,  wenn  sic  zur  Fürsorge- 
erziehung führt,  nunmehr  für  die  Eltern  die  Prämie  der  Befreiung 
von  allen  unangenehmen  Folgen  der  öffentlichen  Armenpflege  ent- 
hält. ')  Ueberdics  «aber  ist  die  öffentliche  Armenpflege  selbst  nur 
ein  Teil  der  Armenfürsorge.  Wer  also  die  Einwirkung  des  Gesetzes 
«auf  die  Armenfürsorge  im  ganzen,  — als  Summe  der  Leistungen 
der  öffentlichen,  kirchlichen,  vereinsmäfsigen  und  nichtvereinsmäfsigen 
Wohlthätigkeit  — erkennen  will,  d,arf  sich  nicht  mit  der  Feststellung 
begnügen,  dafs  der  Anteil  der  öffentlichen  Armenfürsorge  an 
der  Kinderpflege  verringert  wird. 

3.  Bei  dieser  Betrachtung  kommt  nun  zunächst  ein  Moment 
zur  Erwägung: 

*)  Unterbringung  eines  an  sich  erwerbsfähigen  Menschen,  die  veranlagst  wird, 
um  ihn  /u  erziehen,  ist  keine  Armenunterstützung  im  Sinne  U.W.G. 

Das  Bundesamt,  das  von  je  her  auf  diesem  Standpunkt  stand,  hat  ihn  noch 
neuerdings  aufs  entschiedenste  aufrecht  erhalten,  und  zwar  in  einem  Urteil  vom 
18.  Mai  1901  in  Sachen  des  O.A.V.  Frankfurt  a.  M.,  den  L.A.V.  Wiesbaden,  wo  cs 
aussprach , dafs  die  Lehrbcihülfet  die  der  Landarmenverband  für  einen  arbeits- 
fähigen, aber  verwahrlosten  fünfzehnjährigen  Burschen  zahlte,  als  Armenunter- 
stützung nicht  zu  betrachten  sei. 

Die  öffentliche  Armenunterstützung  unterscheidet  sich  also  von  der  Fürsorge- 
erziehung in  doppelter  Beziehung : sie  endet  mit  der  beginnenden  Krwcrbsfahigkeit. 
ohne  Rücksicht  darauf,  ob  das  der  Erziehung  gesteckte  Ziel  erreicht  ist;  und  sie 
kann,  ganz  nach  Willkür  und  Laune  der  Eltern  eines  unterstützten  Kindes  auch 
schon  früher  unterbrochen  werden.  Die  Ermahnung  der  ministeriellen  Auführungs- 
bestimmungen  vom  18.  Dezember  1900:  dafs  Fürsorgeerziehung  nur  in  Aussicht  zu 
nehmen  sei,  wenn  nicht  durch  Armenpflege  dem  Fortgang  der  Verwahrlosung  ge- 
steuert werden  könne,  dürfte  also  recht  wenig  praktischen  Wert  haben. 


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Das  preufsisclie  Fürsorge-Erziehungsgesetz  vom  2.  Juli  1900. 


31 


Alle  Armenpflege,  die  öffentliche  wie  die  private  tritt  nur  ein, 
wenn  sie  erbeten  wird.  Beneficia  non  obtruduntur;  Armenpflege 
wird  niemandem  geleistet,  der  sie  ablehnt. 

Dieser  Satz  erscheint  selbstverständlich,  solange  es  sich  um 
Unterstützung  eines  erwachsenen,  eigener  Entschlicfsungen  fähigen 
Menschen  handelt;  er  wird  aber  sofort  bedenklich,  so  wie  man  als 
Objekt  der  Unterstützung  ein  Kind  denkt.  Wenn  die  Unterbrin- 
gung eines  verwahrlosten  Kindes  in  einer  Pflegcstelle,  und  die  Dauer 
seines  Verbleibs  dort  von  der  Zustimmung  oder  dem  Nichtwider- 
spruch der  Eltern  abhängt,  so  giebt  man  denjenigen,  welche  die 
Verwahrlosung  verschulden,  die  Macht,  denen  in  den  Arm  zu  fallen, 
welche  ihr  wehren  wollen.  Es  ist  ohne  weiteres  ersichtlich,  dafs 
sich  hieraus  schwere  Unzuträglichkeiten  entwickeln  müssen:  Auf 

die  elterlichen  Rechte  kann  nicht  verzichtet  werden.  Verträge  mit 
den  Eltern  oder  Versprechungen  derselben,  kraft  deren  sie  sich 
verpflichten,  die  Kinder  in  der  Erziehungsanstalt  zu  belassen,  sind 
also  ungültig.  Liederliche  und  pflichtvergessene  Eltern  übergeben 
daher  ihre  Kinder  mit  Vergnügen  der  Armenpflege,  solange  diese 
erwerbsfähig  sind;  aber  man  holt  sic  ohne  Dank  und  nach  Willkür 
zurück,  sowie  sie  fähig  zum  Erwerb  oder  zur  Hausarbeit  werden. 
Ob  das  Kind  schon  die  nötige  sittliche  Widerstandskraft  erlangt 
hat  ?,  ob  die  bisherigen  Pfleger  des  Kindes,  die  Vorstände  der  betei- 
ligten Vereine,  die  Vertrauensmänner  der  Armenverwaltungen  u.  s.  w. 
damit  einverstanden  sind?,  kümmert  nicht.  Die  öffentliche  Armen- 
pflege hatte  bisher  gegen  diese  Eigenmacht  wenigstens  einige,  wenn 
auch  ganz  ungenügende  Mittel  (Entziehung  der  sonstigen  Unter- 
stützung, Rückgabe  auch  der  anderen  in  Armenpflege  genommenen 
Kinder  u.s.  w.) ; die  private  Kinderfürsorge  der  Pestalozzivereine,  Vin- 
zenzvereine, Elisabethenvereine  u.  s.  w.  war  sogar  vollständig  schutz- 
los, mithin  jeden  Augenblick  der  Gefahr  ausgesetzt,  dafs  die  ganze 
einem  Kind  zuge wandte  Arbeit  durch  die  Böswilligkeit,  den  Eigen- 
nutz oder  den  Leichtsinn  der  Eltern  vernichtet  ward. 

Diesen  Uebelstand  nun,  der  für  die  gesamte  Kinderfürsorge 
eine  wahre  crux  war,  und  jede  kräftige  Entwicklung  dieses  Teils 
der  Armenpflege  hemmte,  hat  das  Fürsorgegesetz  gründlich  und 
vollständig  beseitigt.  Die  in  Fürsorgeerziehung  genommenen  Kinder 
sind  bis  zur  Volljährigkeit  der  Verfügung  der  Eltern  entzogen 
(§  13);  diese  setzen  sich  sogar,  wie  bereits  angeführt,  schwerer 
Strafen  aus,  wenn  sie  die  Kinder  der  Fürsorgeerziehung  zu  ent- 
ziehen versuchen  (§  2l).  Nur  darf  nicht  vergessen  werden,  dafs 


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32 


K.  Flesch 


dieser  kräftige  Schutz  nicht  zugewandt  wird  den  Kindern, 
welche  von  der  öffentlichen  oder  privaten  Armenpflege  unterge- 
bracht sind;  sondern  lediglich  den  in  Fürsorgeerziehung 
genommenen.  Vermehrt  ist  nicht  die  Macht  der  Armenämter, 
Vercinsvorstände  u.  s.  w.,  sondern  es  ist  neu  geschaffen  eine  staat- 
liche Instanz,  deren  Entschliefsung  den  Willen  der  Eltern  mit  den 
stärksten  staatlichen  Machtmitteln  durch  polizeiliche  Anordnung  und 
Strafverhängung  zu  brechen  in  der  I.age  ist.  Die  öffentliche 
Armenpflege  wird  kaum  Grund  haben,  hiermit  unzufrieden  zu 
sein.  Sie  übergiebt  einfach  die  Kinder,  deren  Verpflegung  ihr 
bisher  zur  Last  fiel,  soweit  möglich , der  Fürsorgeerziehung. 
Lasten  erwachsen  ihr  hieraus  nicht,  vielfach  sogar  im  Gegen- 
teil pekuniäre  Erleichterung;  und  wer  die  Erziehungsarbeit  leitet, 
ob  sie  selbst,  oder  eine  andere  Behörde?  kann  gleichgültig 
sein , wenn  nur  das  Ziel  der  Erziehung  jetzt  besser  gesichert 
ist,  als  früher.  Wohl  aber  läfst  sich  denken,  dal's  die  private 
Kinderfürsorge  angesichts  des  neuen  Gesetzes  geradezu  um  ihre 
Zukunft  besorgt  wird;  es  könnte  scheinen,  als  ob  sie  weniger  not- 
wendig, wenn  nicht  gar  überflüssig  geworden  wäre,  nachdem  der 
Staat  selbst  einen  so  grofsen  Teil  der  bisher  von  ihr  versehenen 
Arbeit  wahrzunehmen  begonnen  hat.  Immerhin  mag  darauf  auf- 
merksam gemacht  werden,  dafs  das  Gesetz,  so  weit  seine  Maschen 
auch  gespannt  sind,  doch  noch  nicht  alle  Fälle  erfal'st,  in  denen 
das  Verbleiben  eines  Kindes  in  seiner  Familie  ungeeignet  ist 
(körperlich  oder  geistig  besonders  schwach  veranlagte  Kinder ; 
kränkliche  oder  moralisch  schwache,  völlig  verarmte  Eltern  u.  s.  w.) ; 
und  dafs  überdies  die  Kommunalverbände,  schon  aus  pekuniären 
Gründen  die  bereits  bestehenden  Anstalten  nicht  entbehren  und 
schon  wegen  der  Neuheit  der  Aufgabe  die  Erfahrungen  der  vor- 
handenen Vereine  nicht  entbehren  könnten,  selbst  wenn  das  Gesetz 
ihnen  die  Errichtung  eigener  Anstalten  nicht  mit  der  Beschränkung 
übertrüge,  „soweit  es  an  Gelegenheit  fehlt",  vorhandene  zu 
benutzen  (j;  14). 

III.  Die  bisherigen  Erörterungen,  die  sich  streng  an  den  positiven 
Inhalt  des  neuen  Gesetzes  und  des  vorhandenen  Armen-  und  Fa- 
milienrechtes hielten,  scheinen  zu  ergeben,  dafs,  wie  die  öffentliche, 
so  auch  die  private  Armenpflege  durch  das  Fürsorgegesetz  in  ihren 
Aufgaben  eingeschränkt  wird. 

Wer  auf  die  Form  das  Hauptgewicht , legt,  und  wer,  — mit 
vollem  Recht,  — in  der  öffentlichen  Armenpflege  oder  in  der 


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Das  prcufsische  Kttrsorgc-Krziehungsgcsctz  vom  2.  Juli  1900. 


33 


Privat wohlthätigkeit  und  Almosen  die  schlechtesten  Formen  der 
staatlichen  Hilfeleistung  erblickt,  mag  hierin  gerade  den  wesent- 
lichsten und  prinzipiellen  Fortschritt  finden,  den  das  neue  Gesetz 
herbeifuhrt.  Kine  genauere  Betrachtung  läfst  indes  bei  diesem  Re- 
sultat nicht  stehen  bleiben.  Das  P’ürsorgegesetz  hat  der  Armen- 
pflege nichts  genommen ; sondern  es  hat  im  Gegenteil  ihr  ein  bisher 
vom  Staat  last  unbeachtet  gelassenes  Gebiet  hinzugefügt : die  Hilfe- 
leistung an  Kinder,  die  zwar  nicht  der  Nahrung  und  Kleidung,  oder 
des  Obdaches,  wohl  aber  der  Erziehung  entbehren. 

Unsere  Rechts-  und  Gesellschaftsordnung  hat  zwei  grol'sc  In- 
stitutionen ausgebildet,  durch  welche  auch  dem  Unbemittelten 
die  Möglichkeit  gegeben  werden  soll,  alle  Bedürfnisse,  die  mate- 
riellen wie  die  ideellen  zu  befriedigen.  Pis  sind  dies  der  Arbeits- 
vertrag und  die  Familie;  der  erstere  das  einzige  Mittel,  das 
heutzutage  dem  Erwachsenen  gegeben  ist,  um  sich,  auch  wenn  er 
kein  Privatvermügen  besitzt,  den  physischen  Unterhalt  und  die 
Möglichkeit  der  Anteilnahme  an  allen  höheren  Kulturgütern  und 
am  öffentlichen  I.eben  zu  schaffen;  die  andere,  die  Familie,  die 
grofse  Schutzorganisation,  innerhalb  deren  die  noch  nicht  Arbeits- 
fähigen, die  Kinder,  Nahrung,  Pflege  und  Erziehung  finden  sollen. 
Wo  die  Aufforderung  zum  Abschlufs  von  Arbeitsverträgen  nicht 
zum  Ziel  führt  (es  ist  keine  Arbeit  vorhanden;  oder  der  Arbeits- 
ertrag ist  zu  gering;  oder  der  rechtzeitige  Abschlufs  des  Vertrages 
wird  unterlassen),  — oder  wo  die  Familie  nicht  begründet  werden 
kann  oder  nicht  funktioniert  (Pihelosigkeit  der  1 .andarbeiter  in 
Bayern,  Steiermark  u.  s.  w.  infolge  der  Ehe-  und  Niederlassungs- 
gesetze; Liederlichkeit  des  Ehemannes;  Arbeitszwang  der  Ehefrau 
wegen  des  ungenügenden  Erwerbs  des  Ehemannes)  ist  für  die  vom 
Arbeitsvertrag  im  Stich  gelassenen , oder  von  ihm  sich  aus- 
schliefscndcn  Erwachsenen  und  für  die  von  der  F'amilienfiir- 
sorge  ausgeschlossenen  Kinder  keine  Möglichkeit  der  ge- 
ordneten Existenz  im  Staat  und  Gesellschaft,  insoweit  nicht 
die  Wohlthätigkeit  oder  die  Armenpflege  sie  vor  dem  Schlimmsten 
bewahren  will. 

Erfüllten  nun  der  Arbeitsvertrag  und  die  Familie  ihre  Funk- 
tionen ? 

Die  allgemeine  Annahme  ist,  dals  das  regelmäfsig  der  Fall  sei, 
vorausgesetzt  nur,  dafs  die  beteiligten  Personen,  die  Arbeiter  und 
die  F'amilienvorstände  ihre  Pflicht  thun;  und  vorausgesetzt  weiter, 
dafs  das  Recht  alle  Staatsbürger  gleich,  insbesondere  die  Unbemittelten 

Archiv  für  tot.  Gesetzgebung)  u.  Statistik.  XVII.  3 


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34 


K.  F 1 c s c h , 


und  Armen  nicht  ungünstiger  behandelt,  als  die  mit  Vermögen  aus- 
gestatteten Staatsbürger.  „Jeder  für  sich ; und  gleiches  Recht  für  alle  1“ 

Die  Armenpflege  erscheint  hiernach  als  ein  nur  ausnahmsweise 
zulässiges,  und  noch  seltener  notwendiges  Hilfsmittel,  dessen  Vor- 
handensein und  dessen  Anwendung  daher  denn  auch  in  vielen 
Staaten  ruhig  der  Privatinitiative  der  wohlthätigen  Anstalten  u.  s.  w. 
überlassen  wird  (so  z.  B.  in  Frankreich,  in  Holland  in  manchen, 
Staaten  der  Union).  Demgegenüber  steht  dann  die  andere  Auffassung, 
dafs  eben  die  regelmäfsige  und  fortdauernde  Zunahme  der  Armen- 
pflege der  beste  Beweis  dafür  sei,  dafs  Arbeitsvertrag  und  Familie, 
jedenfalls  in  ihrer  zeitigen,  rechtlichen  Gestaltung  und  Ausstattung 
— nach  Ansicht  der  Marxistischen  Schule  der  Sozialdemokratie, 
sogar  überhaupt  und  prinzipiell  — ungenügend  seien,  um  die  be- 
rechtigten Anforderungen  der  Unvermögenden  zu  befriedigen.  Wenig- 
stens so  lange  als  die  Getetzgebung  die  Mängel  nicht  beseitigt 
hat,  welche  jene  Institutionen  an  den  völligen  Leistungen  ihrer  Auf- 
gabe hindern,  müsse  also  die  Armenpflege  eintreten.  Die  Armen- 
pflege erscheint  bei  dieser  Auffassung  als  unvermeidliche,  wenn  auch 
schlechte  Aushilfe;  als  das  Supplement,  die  Ergänzung,  die  überall 
zum  Vorschein  kommt,  wo  im  Spiel  der  staatlichen  oder  gesell- 
schaftlichen Einrichtungen  Lücken  und  Mängel  anerkannt  werden,  und 
wo,  bezw.  so  lange  als  bessere  Hilfe  — durch  die  Machtmittel  des 
Staates  (Gesetzgebung  und  Verwaltung)  oder  durch  Stärkung  der 
ideellen  Faktoren  im  Menschen  (Hebung  des  Pflichtgefühls  durch 
Unterricht  oder  durch  Religion  oder  durch  Furcht  vor  Strafe)  noch 
nicht  gefunden  ist. 

Welche  dieser  Auffassungen  nun  auch  richtig  sein  mag,  sicher  ist, 
dafs  die  deutsche  Gesetzgebung  in  den  letzten  Jahren  sich  wenigstens 
des  Arbeitsvertrags  vielfach  angenommen  hat,  und  zwar  gerade  in  dem 
Sinn,  dafs  Hilfe  geschaffen  werden  sollte  für  diejenigen  Unvermögenden, 
die  zum  Abschlufs  eines  Arbeitsvertrags  zeitweise  nicht  oder  dauernd 
nicht  mehr  in  der  Lage  sind  (Kranken-,  Unfalls-,  Altersversicherung).  • 
Es  scheint  also  anerkannt  zu  sein,  dafs  der  Arbeitsvertrag  bisher 
nicht  ausreicht,  — auch  nicht  bei  voller  Rechtsgleichheit  zwischen  Ar- 
beitgeber und  Arbeiter,  und  bei  durchschnittlicher  Tüchtigkeit,  Spar- 
samkeit u.  s.  w.  der  Arbeiter,  — um  diesen  den  Unterhalt  zu  sichern 
auch  während  der  Pausen,  die  unvermeidlicher  Weise  ab  und  zu  in 
der  Arbeitsfähigkeit  eines  jeden  eintreten ; und  es  scheint  anerkannt, 
dafs  gesetzliche  Hilfe  durch  Lohnregulierung,  d.  h.  Zufügung  des 
erforderten  Betrags  zum  Einkommen  des  Arbeiters  geschaffen  werden 


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Das  prcufsische  Fürsorgc-Erzichungsgcsetz  vom  2.  Juli  1900. 


35 


mufs,  damit  dieser  nicht  auf  Armenunterstützung  angewiesen  sei, 
um  die  Zeit  der  Krankheit,  die  Periode  des  Alters  u.  s.  w.  zu  über- 
stehen. Der  Arbeitsvertrag  ist  also  zwecks  Eindämmung  der 
Armenpflege  durch  grofse  gesetzliche  Organisationen  verstärkt 
worden ; dagegen  ist  zur  Kräftigung  der  Familie  als  Schutz- 
organisation der  Unerwachsenen  fast  nichts  geschehen. ')  Das  ehe- 
liche Güterrecht,  die  Regelung  der  Unterhaltspflicht,  das  Vormund- 
schaftsrecht haben  alle  vielmehr  die  vermögensrechtlichen  Ansprüche 
der  Unerwachsenen  als  ihren  Anspruch  auf  Erziehung,  Heranbildung 
pflegliche  Fürsorge  im  Auge.  Die  Bestimmungen  über  den  Schul- 
zwang, über  die  Beschränkung  der  Kinderarbeit  oder  über  die  Mög- 
lichkeit der  Einführung  der  obligatorischen  Fortbildungsschule  sehen 
völlig  davon  ab,  ob  die  Familie,  der  das  Kind  während  der  Schul- 
zeit entrissen  oder  der  es  nach  den  zugelassenen  Arbeitsstunden 
überlassen  wird,  zur  Leistung  der  Erziehungsarbeit  imstande  ist. 
Es  gilt  vielmehr,  ganz  wie  früher  für  den  Arbeitsvertrag  so  jetzt 
noch  für  die  Familie,  gewissermassen  als  Axiom,  dafs  sie  zur  Er- 
füllung ihrer  Aufgabe  als  Schutz  und  Stütze  der  heranwachsenden 
Generation  jederzeit  bereit  und  befähigt  sei,  solange  nur  gewisse  aufser- 
halb  des  Bereichs  des  Staats  und  des  Rechts  liegende  Kräfte  religiöser 
oder  ethischer  Art  in  ihr  walten.  Uebersehen  wird  hierbei  nur,  dafs  die 
Familie  zu  ihrem  Bestand  aufser  dem  Wirken  jener  ideellen  Kräfte 
auch  noch  materieller  Unterlagen  bedarf,  deren  Vorhandensein  durch 
das  positive  Recht  allerdings  erleichtert  und  gesichert  werden  kann. 
Die  Familie  bedarf  I.  der  räumlichen  Unterlage,  der  Wohnung; 
2.  einer  angemessenen  Ausstattung  dieses  Raumes  und  eines  ge- 
wissen Vorrats  wirtschaftlicher  Güter  für  jedes  Familienmitglied, 
des  Ha  uss  t a nd  s;2)  3.  der  fortwährenden,  ununterbrochenen  Zufuhr 

*)  Genannt  werden  könnte  allenfalls  § 137  Abs.  4 der  Gewerbeordnung,  nach 
welchem  Arbeiterinnen  über  16  Jahren,  die  ein  Hauswesen  zu  besorgen  haben,  die 
Mittagspause,  wenn  sie  weniger  als  I *'1  Stunden  betragt,  um  ijt  Stunde  verlängert 
• werden  mufs. 

*)  Das  Wort  „Hausstand"  wird  hier  in  dem  Sinn  gebraucht,  den  cs  im 
§ 811  der  Civilprozefsordnung  vom  17.  Mai  189S  erstmals  erhalten  hat.  Unsere 
Civilprozcfsordnung  steht  aber  auch  jetzt,  nachdem  sie  in  der  gedachten  Bestimmung 
erstmals  den  „Hausstand“  ihren  Schutz  verliehen  hat,  weit  hinter  dem  Recht  der 
Union  zurück,  das  mit  gutem  Grund  den  householder  having  a family  nach  jeder 
Richtung  in  seinen  besonderen  Schutz  nimmt.  Ich  darf  wohl  auf  meine  Aus- 
führungen im  Conradschcn  Handwörterbuch,  s.  v.  Zwangsvollstreckung  und  in  den 
Schriften  des  Vereins  für  Armenpflege  Heft  6 p.  127  (Wohnungsnot  vom  Standpunkt 
der  Armenpflege)  hinweisen,  die  auf  diese  Dinge  zuerst  aufmerksam  machten. 

3* 


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ß(5  K.  F 1 c s c h , 

der  für  die  Erhaltung  des  Mobiliars  und  die  Ernährung  der  Familien- 
glicder  notwendigen  äufseren  Mittel;  des  Einkommens  des 
Familien  Vorstandes;  und  endlich  4.  der  fortwährenden  und  unaus- 
gesetzten Pflege  jenes  Mobiliarbestandes  und  der  Fürsorge  für  die 
einzelnen  Familienmitglieder ; der  häuslichen  Arbeit,  der  Haus- 
pflege.  Wo  eins  dieser  vier  Dinge  — Wohnung,  Hausstand,  Ein- 
kommen, Hauspflege  — auch  nur  zeitweise  fehlt,  kann  die  Familie 
ihre  wichtigste  Funktion,  die  Kinderfiirsorge,  unmöglich  erfüllen. 
Und  da  unser  Recht  — das  öffentliche  wie  das  private  — und  unsere 
Verwaltung  sich  um  die  Geeignetheit  der  Wohnung  für  die  Auf- 
gaben der  Familie  fast  nicht  kümmert,  im  gesamten  Hausstand 
auch  jetzt  noch  in  erster  Linie  Sicherungsobjekte  für  die  Gläubiger 
des  Familienvorstandes  sieht,  bezüglich  des  Einkommens  zwischen 
dem  Familienvorstand  und  dem  Alleinstehenden  überhaupt  nicht 
unterscheidet,  und  die  häusliche  Arbeit,  die  Hauspflege,  der 
Beachtung  fast  völlig  unwert  hält,  so  kann  es  nicht  Wunder  nehmen, 
wenn  die  Kindererziehung  der  unbemittelten  Bevölkerung  fortwäh- 
rend Not  leidet  und  fremde  Hilfe,  der  I’rivatwohlthätigkeit,  der  Er- 
zichungsvereine,  der  kirchlichen  Anstalten,  der  öffentlichen  Armenpflege 
in  stets  steigendem  Mafse  zur  „Steuerung  der  Verwahrlosung"  in  An- 
spruch genommen  werden  mufs.  Heilung  oder  wenigstens  Linderung 
könnte  und  sollte  gebracht  werden  durch  Ausbildung  von  Vorschriften, 
welche  dem  Unvermögenden  die  Beschaffung  einer  geeigneten  Wohnung 
erleichtern  (Wohnungsgesetzgebung) '),  ihm  den  Besitz  des  erforder- 
lichen Mobiliars  sichern  (die  amerikanischen  exemption  laws),  welche 
ferner  die  Nichterfüllung  der  Pflichten  als  Familienvorstand  streng 
bestrafen,  °)  endlich  durch  alle  Mafsnahmcn,  welche  den  regelmäl’sigen 

J)  lieber  die  auffallende  Analogie,  die  zwischen  der  Wohnungsschutzgesctz- 
gebung  in  der  Arbeiterschutzgesetzgebung  besteht,  vgl.  das  Gutachten  über  das 
Wohnungsrecht  von  Dr.  Zirnsdorfer  und  mir  in  der  neuesten  Publikation  des  Ver- 
eins für  Sozialpolitik.  Die  Analogie  ist  eine  Folge  nicht  nur  des  Satzes,  dafs  die 
Wohn  frage  Lohn  frage  ist,  sondern  der,  bereits  vom  römischen  Rechterkannten 
Zusammengehörigkeit  der  locatio  conductio  rei  und  operarum. 

*)  Die  Vorschriften  des  Strafgesetzbuches  §361,  Nr.  5,  io,  welche  die  Vernach- 
lässigung der  Pllichten  als  Familienvorstand  einfach  als  Ueberlrctung  bestrafen,  sind  ein 
wahrer  Hohn  auf  die  Bedeutung  der  Familie.  Wann  aber  mit  der  Behandlung  des 
Delikts  als  Bagatellsache  und  mit  der  Bagatellstrafe  von  6 Wochen  Haft  dann  das 
Recht  des  Richters  verbunden  wird,  die  Bagatellstrafe  nach  Willkür  und  nach  dem 
augenblicklichen  Eindruck  des  Falles  durch  Uebcrwcisung  an  die  Polizeibehörde  zu 
verstärken,  so  lieifst  das  zum  Hohn  noch  den  groben,  sinnfälligen  Mangel  an  Logik 
hinzufügen.  Vgl.  die  Ausführungen  von  Jastrow  und  mir  in  den  Schriften  des 
Vereins  für  Armenpflege  Heft  40,  Seite  50  ff. 


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Das  prcufsischc  Fürsorge 'Erzieh  ungsgcsete  vom  2.  Juli  1900. 


37 


Zuflufs  eines  genügenden  Arbeitslohnes  sichern;  die  Regelung 
des  Arbeitsvertrages  und  das  Gedeihen  der  Familie 
stehen  in  natürlichem  Zusammenhang-  So 'lange  aber 
nicht  durch  derartige  Vorschriften  die  Organisation  der  Familie  so- 
weit gestärkt  ist,  als  dies  eben  durch  Gesetze  u.  s.  w.  geschehen 
kann,  müssen  die  Folgen  der  ungenügenden  Organisation  wenigstens 
im  einzelnen  Fall  ausgeglichen  werden.  Diese  Ausgleichung  im  einzelnen 
Fall  nun  ward  bisher  mitunter  vollzogen  von  der  öffentlichen  Armen- 
pflege, nämlich  dann,  wenn  nicht  nur  die  Erziehung,  sondern  auch 
die  physische  Existenz  des  Kindes  durch  dessen  Verbleiben  in  der 
Familie  gefährdet  war;  und  aufserdem  gelegentlich,  nach  Wahl  und 
Willkür  von  der  privaten  Armenpflege,  wenn  deren  Aufmerksam- 
keit zufällig  auf  den  Fall  gelenkt  war.  Sie  wird  künftig  auf  Grund  des 
Fürsorgegesetzes  von  staatlichen  Organen  vollzogen  werden  können, 
überall,  wo  die  Gefahr  vorhanden  ist,  dafs  die  Familie  nach  den 
thatsächlichen  Umständen  die  Verwahrlosung  eines  Minderjährigen 
nicht  verhindern  kann;  und  die  staatlichen  Organe  (Landrat  und 
Gemeindevorstand)  müssen  von  Amts  wegen  die  Prüfung  der  Not- 
wendigkeit der  Fürsorgeerziehung  herbeiführen : sie  sind  zur  Stellung 
des  Antrags  verpflichtet  (§4  des  Gesetzes),  ebenso  wie  sie  zur 
Armenunterstützung  verpflichtet  sind,  wenn  deren  Voraussetzungen 
vorliegen.  Hiermit  sind  aber  die  wesentlichen  Kennzeichen 
aller  staatlichen  Armenpflege  gegeben,  nämlich  1.  Ein- 
greifen von  staatlichen  Organen  und  staatlichen  Mitteln  zur  Be- 
seitigung von  Notständen  im  Leben  einzelner  Personen; 
2.  Beschränkung  der  Unterstützung  auf  die  F’älle  der  Unfähig- 
keit nächstverpflichteten  Privaten;  3.  Pflicht  der  staatlichen  Or- 
gane zur  Hilfeleistung  in  allen  Fällen  des  Notstandes  und  zur 
Aufbringung  der  Mittel  nach  Mafsgabe  der  Zahl  dieser 
F'älle.  Dieser  sachlichen  Zusammengehörigkeit  gegenüber  ist  es 
gleichgültig,  dafs  die  Mittel  zur  Fürsorgeerziehung  nicht  wie  die  der 
Armenpflege  von  den  einzelnen  Gemeinden  aufgebracht  werden,  so 
dafs  jenes  umständliche  Abrechnungsverfahren  zwischen  den  Ge- 
meinden unterbleiben  kann,  das  den  verwaltungsrechtlichen  Kern 
des  Unterstützungswohnsitzes  bildet;  und  dafs  ferner  als  Objekt 
der  Unterstützung  hier  nicht  das  Familienoberhaupt,  sondern  der 
von  Verwahrlosung  bedrohte  Minderjährige  erscheint,  dessen  Zu- 
stimmung zum  Eintritt  und  Dauer  der  staatlichen  Unterstützung 
natürlich  ebensowenig  erfordert  ist,  wie  etwa  die  eines  Geistes- 
kranken zum  Eintritt  oder  Beendigung  der  Anstaltspflege. 


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3» 


K.  Fl  esc h, 


Indem  wir  hiernach  die  Fürsorgeerziehung  als  Teil  der  Armen- 
pflege  — das  Wort  im  volkswirtschaftlichen  Sinn,  nicht  in  dem  des 
Gesetzes  gehommen  — auffassen,  scheiden  wir  sie  natürlich  von 
der  Sozialpolitik.  Aufgabe  der  letzteren  ist  nicht  die  Unterstützung 
des  Einzelnen,  sondern  die  Verminderung  des  Klassengegensatzes, 
der  durch  den  Widerspruch  zwischen  der  thatsächlichen  Ungleich- 
heit der  Machtverteilung,  „des  Vermögens“  und  der  formal  im 
Staat  bestehenden  Rechtsgleichheit  aller  Staatsbürger  geschaffen 
worden  ist. 

IV.  Wenn  aber  eine  Reform  auch  nicht  zum  Gebiet  der  Sozial- 
politik gehört,  so  kann  sie  doch  bei  dem  engen  Zusammenhang 
zwischen  allen  Gebieten  des  öffentlichen  Lebens  ihre  Wirkungen 
dorthin  erstrecken.  Namentlich  mufs  jede  Reform  in  der  Armen- 
pflege, die  wirklich  eine  Verbesserung  und  nicht  etwa  nur  eine 
Vermehrung  der  Unterstützungsgelder  darstellt,  auch  auf  dem 
sozialpolitischen  Kampfesfeld  fühlbar  werden,  sowohl  in  der  Art, 
dafs  sie  durch  Verringerung  des  Elends  in  einzelnen  Fällen  vielfache 
Schärfen  und  Härten  mildern  wird,  als  noch  mehr  dadurch,  dafs 
sie  Umfang  und  Grund  einzelner  sozialer  Beschwerden  und  dadurch 
die  Abhilfmittel  besser  erkennen  läfst. 

Dafs  das  Fürsorgeerziehungsgesetz  Wirkungen  der  erstcren  Art 
sogar  in  hervorragendem  Mafse  haben  mufs,  dafs  es  namentlich 
vielfach  präventiv  wirken,  Minderjährige  vor  dem  Schicksal  ihrer 
Eitern  bewahren  wird,  bedarf  keiner  Darlegung.  Dafs  es  aber  auch 
bedeutsame  Wirkungen  der  anderen  Art  haben  mufs  oder  kann, 
mag  schliefslich  wenigstens  an  einigen  Beispielen  dargelcgt  werden. 

I.  Einen  hierher  gehörigen  Punkt  haben  wir  freilich  bereits  er- 
wähnt: Auch  die  Zwangserziehung  brachte  für  den  Vater  des 
Zwangszöglings  nicht  die  Nachteile  der  öffentlichen  Armenpflege, 
Aber  die  Zwangserziehnng  trat  relativ  nur  selten  ein.  Soll  dagegen 
diese  Privilegiierung  nunmehr  allen  Familienvorständen  zu  teil 
werden,  deren  Kinder  durch  Fürsorgeerziehung  unterstützt  werden 
müssen,  so  wird  sich  die  Aufmerksamkeit  notwendig  darauf  lenken, 
dafs  die  Befreiung  aller  solcher  Familienvorstände,  auch  derjenigen 
Väter,  welche  die  Unterbringung  der  Kinder  selbst  verschuldet, 
vielleicht  herbeigeführt  haben,  ebenso  schablonenhaft  und  ungerecht 
ist,  wie  die  Rcchtsininderung  aller  in  öffentlicher  Armenpflege 
stehender  Personen,  auch  derjenigen,  die  lediglich  durch  unglück- 
liche Zufalle  oder  lediglich  infolge  des  Prinzips  der  Familieneinheit 
unterstützt  werden ; — und  ebenso  unlogisch,  wie  die  Beschränkung 


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Das  prcufsischc  Fürsorge-Erzichungsgesetz  vom  2.  Juli  1900. 


39 


dieser  Rechtsminderung  auf  die  Pfleglinge  der  Armenverbände,  unter 
Freilassung  aller  Gewohnheitsbettler  und  aller  gewerbsmäfsigen 
Kostgänger  der  milden  Stiftungen  und  Vereine. 

Es  wäre  möglich,  dals  das  Fürsorgegesetz,  indem  es  diese  Un- 
gleichheiten zur  Kenntnis  weiterer  Kreise  bringt,  den  Anlafs  giebt, 
dals  die  Frage  der  Einwirkung  der  Armenunterstützung  auf  das 
Wahlrecht  nunmehr  revidiert  wird,  und  zwar  in  der  Art,  dafs 
künftig  die  Entziehung  der  öffentlichen  Rechte  nicht  mehr  eintritt 
bei  jeder  Verabreichung  öffentlicher  Unterstützung,  und  nicht  mehr 
eintritt  nur  bei  öffentlicher  Unterstützung,  sondern  überall  dann, 
aber  auch  nur  dann,  wenn  jemand  nach  Ausspruch  des  Richters 
oder  der  zuständigen  Verwaltungsbehörde  seine  öffentlichen  Pflich- 
ten zur  Sclbstfürsorge  oder  als  Familienvorstand  so  schwer  und 
derart  dauernd  aul'ser  Acht  gelassen  hat,  dafs  infolge  seines 
Verschuldens  die  öffentliche  oder  private  Armenpflege  und 
Fürsorge  für  ihn  oder  zum  Schutz  seiner  Angehörigen  eintreten 
mufste. 

2.  Ein  weiterer  hierher  gehöriger  Punkt  betrifft  die  mit  der  Durch- 
führung des  Gesetzes  betrauten  richterlichen  und  Verwaltungs- 
organe. 

Es  giebt  wohl  keine  behördliche  Entscheidung  — mit  Aus- 
nahme vielleicht  des  Scheidungsurteils  — die  schärfer  in  das  Fa- 
milienleben eingreift,  als  der  Beschluls,  durch  welchen  der  Vor- 
mundschaftsrichter die  Fürsorgeerziehung  anordnet  (§  3 des  Gesetzes), 
also  ein  Kind  jedem  Einflul's  der  nächsten  Angehörigen  dauernd 
entzieht.  ’) 

Dafs  ein  solcher  Beschluls  nicht  dem  Ermessen  einer  Verwal- 
tungsbehörde überlassen,  sondern  mit  allen  Garantien  der  Rechts- 
sprechung umgeben  wird,  ist  nur  zu  billigen ; ebenso  auch,  dafs  das 
Gesetz  die  grölste  Sorgfalt  darauf  verwendet,  dafs  er  nur  nach  aus- 
giebigster Untersuchung  des  Falles  erfolge.  Es  müssen  — nach 
§ 4 — vorher  gehört  werden  die  Eltern,  der  Vormund,  der  Lehrer 
des  Kindes,  ferner  der  Gemeindevorstand,  der  zuständige  Geistliche 
und  der  Landrat;  und  letzterer,  der  Gemeinde  Vorstand,  der  zustän- 
dige Kommunalverband  und  der  gesetzliche  Vertreter  des  Minder- 
jährigen haben  Beschwerderecht  mit  aufschiebender  Wirkung.  Aber 


*)  Von  der  Ausnahmsbefugnis  des  § io:  widerrufliche  Anordnung  der  Unter- 
bringung in  der  eigenen  Familie  des  Zöglings  wird  voraussichtlich  nur  selten  Ge- 
brauch gemacht  werden. 


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40 


K.  Flesch , 


die  erstinstanzliche,  d.  h.  die  in  neun  Zehnteln  der  Fälle  endgiltige 
Entscheidung  erfolgt  doch  durch  den  Richter  allein;  und  es  ist  all- 
gemein bekannt,  dals  die  Lebensverhältnisse  der  ärmeren  Klassen 
eben  nicht  das  Feld  sind,  das  unsern  Richtern  nach  ihrem  Lebens- 
gang und  ihren  Lebensbeziehungen  besonders  bekannt  zu  sein  pflegt. 
Für  die  Arbeitsverträge  der  Unbemittelten  sind  besondere  Gerichte, 
— die  Gewerbegerichte  — eingeführt ; für  das  Familienrecht  können 
analoge  Einrichtungen  der  Natur  der  Sache  nach  kaum  getroffen 
werden.  Namentlich  ist  der  Gemeindewaisenrat  (vgl.  B.G.B.  1849  ff.) 
wenigstens  zur  Zeit  wohl  nirgends  im  Stande,  im  gleichen  Sinn  zu 
wirken.  Er  ist  Hilfsorgan  des  Yormundschaftsrichters,  ohne  irgend 
welches  Recht  der  Mitwirkung  bei  dessen  Entscheidungen;  und  er 
hat  Kenntnis  von  den  Verhältnissen  wohl  nur  dann,  wenn  er  mit 
der  Armenverwaltung  organisch  verbunden  ist  (Artikel  77  des 
preußischen  Ausführungsgesetzes  zum  Bürgerlichen  Gesetzbuch  vom 
20.  Sept.  1899).  Immerhin  aber  wird  das  Fürsorgeerziehungsgesetz 
dafür  sorgen,  dafs  künftig  die  Vormundschaftsrichter  ihre  Hauptauf- 
gabe nicht  mehr  in  der  Ueberwachung  der  Vermögensverwaltung 
der  begüterten  Mündel,  und  im  Studium  der  hiermit  zusammen- 
hängenden Rechtsfragen  finden,  sondern  dafs  sie  auch  allmählich 
und  durch  die  Handhabung  des  Gesetzes  selbst  die  Verhältnisse, 
Anschauungen  und  Lebensweise  der  Unbemittelten  genauer  kennen 
lernen.  Der  Mangel  an  gegenseitigem  Verständnis  zwischen  Richter 
und  Rechtssuchenden,  der  für  den  Arbeitsvertrag  der  Lohnarbeiter 
nunmehr  wenigstens  innerhalb  des  Geltungsbereichs  der  Gewerbe- 
gerichte und  bis  zu  einem  gewissen  Grad  für  den  der  Kaufleute, 
durch  die  Handelskam mem  der  Landgerichte  behoben  ist,  wird  so 
für  den  Amtsbereich  des  Vormundschaftsrichters  immerhin  abge- 
schwächt und  eingeschränkt  werden. 

3.  Die  Ausführung' der  Fürsorgeerziehung  liegt  den 
Kommunalverbänden,  also  Verwaltungsbehörden  ob  (§  9).  Sie  zerfallt 
in  die  Bestimmung  der  Art  der  Unterbringung,  und  die  Auswahl  der 
Anstalten  oder  Familien,  und  sodann  in  die  Durchführung  der  Er- 
ziehung selbst.  Je  weniger  bureaukratisch  und  je  ausschliefslicher 
nach  rein  pädagogischen  Motiven  hierbei  verfahren  wird,  um  so 
besser.  Die  Kommunal-  und  Provinziallandtage,  welche  das  Selbst- 
verwaltungselement in  der  Verwaltung  der  Kommunalverbände 
repräsentieren,  werden  dafür  zu  sorgen  haben,  dafs  ihre  Exe- 
kutivorganc,  die  Landesdirektoren,  Landesräte,  Provinzialaus- 
schüsse u.  s.  w.  von  der  Durchführung  des  Gesetzes  alle  fremden 


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Das  prcufsischc  Fürsorge- Erziehungsgesetz  vom  2.  Juli  1900. 


4* 


Gesichtspunkte  fernhalten.  Die  gute  Erziehung  und  die  für  das 
Wohl  des  Kindes  zweckdienlichste  Berufsausbildung  haben  das  Ziel 
zu  sein,  dem  sich  alle  anderen,  — wirtschaftliche,  politische,  konfes- 
sionelle, nationale  Rücksichten  unterordnen  müssen.  Ob  die  Provin- 
zialvertretungen — der  Hauptsache  nach  Landräte,  Bürgermeister  der 
Landorte,  die  gewohnt  sind,  der  Initiative  der  höheren  staatlichen 
Behörden  zu  folgen,  Rittergutsbesitzer,  die  mit  den  Vertretern  der 
Regierung  schon  sozial  in  den  engsten  Beziehungen  stehen,  mit 
gänzlichem  Ausschlufs  von  Vertretern  der  unbemittelten  Stände  — 
dieser  Aufgabe  überall  gewachsen  sein  werden,  mul’s  s:ch  noch 
zeigen. 

Wenn  aber  das  Gesetz  hier  einen  wunden  Punkt  in  der  Ent- 
wicklung unserer  inneren  Verwaltung,  also  ein  Moment  mehr  poli- 
tischer Art  vors  Auge  führt,  so  berührt  es  andererseits  auch  einen 
der  wichtigsten  sozialen  Gegensätze,  den  zwischen  Stadt  und  Land. 
Es  ist  ersichtlich,  dafs  die  Unterbringung  der  Kinder  in  kleinen 
Städten  und  auf  dem  flachen  Land  mehr  Aussicht  auf  Erfolg  der 
Erziehung  bietet,  als  ihre  Belassung  oder  gar  ihre  Verbringung 
nach  grofsen  Städten.  Die  kommunalen  Armenämter  und  die  Er- 
ziehungsvereine, sowohl  in  Deutschland,  als  in  England,  Amerika 
u.  s.  w.  suchen  daher  die  ihrer  Obhut  anhcimgcfallcnen  Kinder 
mit  Vorliebe  in  Familien  unterzubringen,  die  auf  Dörfern  oder  in 
kleineren  Orten,  thunlichst  weit  von  der  Stadt  entfernt,  unterzubringen. 
Den  Kindern  soll  das  Bewufstsein  der  Zugehörigkeit  zur  Grofsstadt 
verloren  gehen,  in  der  sie  entweder  keine  Freunde  oder  nur  solche 
Beziehungen  haben,  die  ihnen  schädlich  oder  verderblich  werden 
könnten.  Hierbei  ist  man  indes,  unter  Herrschaft  des  Unter- 
stützungswohnsitzgesetzes wenigstens,  vielfach  beschränkt,  sowohl 
durch  die  künstlichen  Vorschriften  dieses  Gesetzes  selbst,  als  auch 
durch  die  Vorschriften  über  Schulbaulast  u.  s.  w.,  welche  den 
kleineren  Orten  die  dauernde  Anwesenheit  unvermögender  Kinder 
unerwünscht  erscheinen  lassen ; vor  allem  aber  durch  den  Mangel 
an  Beziehungen  zwischen  den  Armenämtern  der  Grofsstadt  und 
den  Landorten,  der  das  Auffinden  geeigneter  Pflegeorte  oft  er- 
schwert, oder  von  blofsen  Zufälligkeiten  abhängig  macht.  Das 
Fürsorgeerziehungsgesetz  hat,  insoweit  als  es  die  Kinderpflege  von 
den  Ortsarmen  verbänden  auf  die  Kommu  naiverbände  übertrug, 
diese  Schwierigkeiten  beseitigt,  und  dadurch  auch  die  Arbeit  der 
eigentlichen  Armenpflege,  insbesondere  der  Waisenpflege  erleichtert. 
Eis  wird  künftig  in  höherem  Mafse  als  bisher  möglich  sein,  Kinder, 


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42 


K.  Fl cscli , 


deren  Eltern  in  der  Grofsstadt  Schiffbruch  erlitten,  wieder  auf  das 
Land  zurückzubringen.  Man  hat  hieran  schon  grofse  Erwartungen 
und  schroffe  Verurteilungen  geknüpft;  das  eine  von  seiten  derer, 
die  auf  diese  Art  der  sogenannten  Entvölkerung  des  flachen  Landes 
oder  richtiger  der  Leutenot  der  ländlichen  Grundbesitzer  abhelfen 
wollten;  das  andere  von  seiten  derer,  welche  die  Landflucht  der 
Kleinbauern  und  Tagelöhner  einzig  und  allein  auf  die  schlechten 
Arbeitsbedingungen,  und  diese  einzig  und  allein  auf  den  bösen 
Willen,  den  Eigennutz  der  Grofsgrundbesitzer  zurückführen  möchten. 
Es  bedarf  kaum  der  Erwähnung,  dafs  sowohl  die  Hoffnungen  als 
die  Angriffe  unbegründet  sind.  Mafsrcgcln  der  Armenfursorge,  — 
und  mehr  als  eine  solche  ist  ja  auch  das  Fürsorgegesetz  nicht,  — 
können  einzelne  Personen  erleichtern,  die  durch  Strömungen  der 
Volkswirtschaft  in  unglückliche  Verhältnisse  gerieten ; aber  sie 
reichen  nie  aus,  um  solche  Strömungen  zu  dämmen ; und  speziell 
das  Anwachsen  der  Städte  hat  so  starke,  so  tiefgehende  und  so 
weitverzweigte  Ursachen,  dafs  die  wenigen  Fälle  der  rückläufigen 
Bewegung  kaum  zu  bemerken  sein  werden,  welche  etwa  durch  das 
Fürsorgegesetz  oder  die  Armenpflege  eingclcitet  werden  könnten. 

Andererseits  kann  man  aber  auch  sehr  wohl  anerkennen,  dafs 
die  Arbeitsverhältnisse  der  Landarbeiter  vielfach  schlechter  beordnet 
sind,  als  die  der  gewerblichen  Arbeiter,  ohne  sich  deshalb  gegen 
die  sinnfällige  Thatsachc  verschliefsen  zu  müssen,  dafs  die  Unter- 
bringung auf  dem  Land  vermögenslosen  und  familienlosen  Kindern 
bessere  Chancen  gewährt,  sowohl  bezüglich  der  Wahrscheinlichkeit 
in  der  Pflegefamilie  engen  Anschlufs  und  Ersatz  für  die  fehlenden 
Angehörigen  zu  finden,  als  auch,  bezüglich  der  Aussichten  auf  das 
spätere  Fortkommen.  Sind  also  nur  die  Schulverhältnisse  am  Pflege- 
ort genügend,  und  ist  für  die  Ueberwachung  der  Kinder  auch  in 
den  gefährlichen  Jahren  nach  der  Schule  (15 — 19  Jahre)  genügend 
gesorgt,  so  kann  allein  darin,  dafs  nach  erlangter  Grofsjährigkeit 
der  Pflegling  genötigt  ist,  den  Weg  in  die  Grofsstadt  sich  aufs 
neue  zu  suchen,  unmöglich  ein  Nachteil  für  ihn  erblickt  werden.  *) 

')  Die  weiteren  Kragen;  ob  es  überhaupt  im  Interesse  der  Besserung  der 
Arbeitervcrhällnissc  liegt,  wenn  die  Arbeitgeber  auf  dem  Lund  thatsächlich  mehr  und 
mehr  zur  Heranziehung  ausländischer  Arbeiter  sich  vcranlafsl  sehen;  oder  wenn  jede 
Rtlckvcrsctzung  der  in  die  Stadt  verzogenen  und  dort  überzähligen  Bevölkerung  auf 
das  Land  systematisch  bekämpft  wird , liegt  ausserhalb  des  Kähmens  dieser  Arbeit. 
Ebenso  die  Untersuchung,  ob  die  Gründe  des  Andrangs  in  die  Städte  wirklich  so 
allgemein  die  Mangelhaftigkeit  der  von  den  Arbeitgebern  auf  dem  Land  gebotenen 


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Das  preufsischc  Fäirsorge-Frziehungsgesetz  vom  2.  Juli  1900. 


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4.  Die  Ueberwachung  der  Fürsorgezöglinge  ist,  wenn 
sie  in  einer  Anstalt  untergebracht  sind,  natürlich  in  erster  Linie  Sache 
des  Anstaltsvorstandes ; aufserdem  ist  aber  für  jeden  in  einer  Familie 
untergebrachten  Zögling  zur  ständigen  Kontrolle  Uebcrwachung 
seiner  Erziehung  und  Pflegling  vom  Kommunalverband  ein  soge- 
nannter Fürsorger  zu  bestellen  (§  n des  Gesetzes).  Hierdurch 
wird  weder  — selbstverständlich  — das  vom  Kommunalverhand 
auszuübende  Aufsichtsrecht,  noch  auch  die  Befugnisse  des  etwaigen 
Vormunds  beseitigt.  Das  Gesetz  ändert  am  bestehenden  Vormund- 
schaftsrecht nur  in  einem  Nebenpunkt,  indem  es  nämlich  bestimmt, 
dafs,  nicht  nur,  wie  bisher  — § 78  Abs.  I des  Ausführungsgesetzes 
zum  B.G.B.  — der  Vorstand  einer  unter  Verwaltung  des  Staats 
oder  einer  Gemeinde  stehenden  Anstalt  Vormundschaftsrecht  über 
die  Anstaltspfleglinge  hat,  sondern  dafs  auch  auf  Antrag  des 
Kommunalverbandes  die  Vorstände  einer  unter  staatlicher 
Aufsicht  stehenden  Erziehungsanstalt  zum  Vormund  ernannt 
werden  können.  Regel  bleibt  hiernach  der  Fortbestand  des  Rechts 
des  Vormunds:  und  diese  Vielheit  der  Uebcrwachung  — Vormund 
und  Fürsorger,  Vormund  und  Anstaltsvorstand  — könnte  bedenk- 
lich erscheinen;  sie  schadet  indessen  voraussichtlich  nichts,  und 
zwar  einfach  um  deswillen,  weil  die  Vormünder  unvermögender 
Kinder  in  der  Regel  doch  nichts  für  die  Mündel  thun.  Die  Ein- 
setzung der  „Fürsorger"  neben  den  Vormündern  ist  gewissermafsen 
ein  Anerkenntnis  dieser  Thatsache,  und  es  wäre  nur  zu  wünschen, 
dals  dieses  Anerkenntnis  dazu  führte,  die  Vormundschaft  über  die 
vermögenslosen  Kinder,  auch  wenn  sie  nicht  der  Fürsorgeerziehung 


Arbeitsbedingungen  sind:  und  nicht  vielmehr  die,  vom  Zuthun  der  städtischen  Ar- 
beitgeber ganz  unabhängige,  aber  auch  von  den  ländlichen  Arbeitgebern  ganz  un- 
verschuldete, im  Lauf  der  Jahrhunderte  bewirkte  Anhäufung  fast  aller  Wohl- 
fahrtseinrichtungen  (Stiftungen,  Krankenhäuser , Biidungsanstaltcn)  und  fast  aller 
Gelegenheiten  nicht  nur  zur  Liederlichkeit  sondern  auch  zu  anregender,  kulturell 
fördernder  Unterhaltung  in  den  grofsen  Städten.  — F.inen  sehr  interessanten, 
meines  Erachtens  des  Studiums  und  der  Nachahmung  werten  Versuch,  die  Zu- 
kunft der  aufs  Land  verbrachten,  dort  in  guten  PHegestcllen  erzogenen  und 
sorgfältig  überwachten  Kinder  durch  Ansammlung  eines  kleinen  Kapitals  für  sie  zu 
sichern , macht  der  evangelische  Verein  für  Waiscnpflegc  zu  Witkowo  in  Posen. 
Wenn  die  Mittel  hierzu  durch  Privatwohlthütigkcit  oder  in  sonstiger  Webe  gesichert 
werden  können,  sind  die  Kinder  jedenfalls  nach  Beendigung  der  Unterbringung  weit 
besser  daran  als  diejenigen,  die  ohne  jede  llülfsmittcl  in  einer  Grofsstadt  sich  selbst 
überlassen  sind. 


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44 


K.  Fitseh, 


unterstellt  sind,  anders  zu  gestalten.  Freilich  wäre  das  kaum  anders 
möglich,  als  dafs  mit  dem  System  der  unentgeltlichen  „ehrenamt- 
lichen“ Arbeit  im  Vormundschaftswesen  bis  zu  einem  gewissen 
Grad  gebrochen  würde.  Die  Ueberwachung  alleinstehender  jugend- 
licher Personen  kann,  wenn  sie  ihren  Zweck  erreichen  soll,  nicht 
dem  guten  Willen  irgend  eines  Mannes  — oder  einer  Frau  — an- 
vertraut werden,  die  an  dem  Mündel  keinerlei  Interesse  hat,  sondern 
muüs  dem  Beauftragten  zur  Amtspflicht,  zum  Beruf  gemacht  werden. 
Was  für  die  in  staatlich  verwalteten  oder  staatlich  beaufsichtigten 
Anstalten  untergebrachten  Kinder  recht  ist  (Vormundschaft  der 
Anstaltsvorstände , also  in  der  Regel  berufsmäfsig  vorgebil- 
deter und  verpflichteter  Personen),  mul's  für  die  aufserhalb 
einer  solchen  Anstalt  lebenden  billig  sein;  und  wenn  sogar  die 
unter  Aufsicht  des  Kommunalverbandes  stehenden  Fürsorge- 
zöglinge  eines  vom  Kommunalverband  ernannten  Fürsorgers  — 
neben  dem  Vormund  — nicht  entbehren  sollen,  der  mit  der 
Pflegestelle  sich  in  fortlaufender  Verbindung  hält '),  so  sollte  man 
annehmen,  dafs  für  die  nicht  in  staatliche  Fürsorge  genommenen 
Minderjährigen  eine  ähnliche  Institution  noch  weniger  entbehrt 
werden  könne.  Die  Frage  der  Krsetzung  der  ehrenamtlichen  Vor- 
münder für  alleinstehende,  unbemittelte  Minderjährige  durch  berufs- 
beamtliche  oder  der  Krsetzung  des  ehrenamtlichen  Gemeindewaisen- 
rats als  Aufsichtsorgan  für  die  Vormünder  durch  eine  berufsbeamt- 
liche  Beaufsichtigung  der  alleinstehenden  Minderjährigen  (z.  B.  der 
aufserhalb  des  Wohnorts  ihrer  Familie  in  Arbeit  stehenden  Lehrlinge, 
Dienstboten  u.  s.  w.)  wird  durch  das  Fürsorgegesetz  immer  näher- 
gerückt. Wenn  der  preufsische  Städtetag  auf  seiner  Tagung  zu  Berlin, 
am  29.  Januar  1901  sich  dahin  ausgesprochen  hat,  dafs  die  obliga- 
torische Fortbildungsschule  die  wirksamste  Einrichtung  zum  besten 
der  schulentlassenen  Jugend  sei,  so  ist  hieran  sicher  etwas  Richtiges. 
Aber  die  Fortbildungsschule  giebt  keinen  Anhalt  für  die  schulfreie 
Zeit  und  für  die  aufserhalb  des  Berufs  belegenen  Lebensverhältnisse; 

Vorbild  für  die  „Fürsorger“  waren  offenbar  die  von  den  städtischen  Armen- 
verwaltungen für  jede  Pflegestation  bestellten  „Vertrauensmänner,“  welche  den  Ver- 
kehr zwischen  den  Pflegccltcm  und  dem  Amt  vermittelten.  Iiine  gute  Beschreibung 
ihrer  Thätigkcit  enthält  V’II  der  ministeriellen  AustÜlirungsbcstimmungen  zu  dem 
Gesetz,  vom  18.  Dezember  1900.  Ob  freilich  sich  das  Amt  des  Fürsorgers  als 
reines  F.hrenarat  durchführen  läfst,  wie  diese  Ausführung>bcstimmnngen  glauben, 
scheint  mir  zweifelhatt.  Die  Armenvcrwaltungcn  zahlen  den  Vertrauensmännern 
meist  eine,  nach  der  Zahl  der  ihnen  überwiesenen  Kinder  abgemessene  Vergütung. 


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Das  prcufsischc  Fürsorge- Erziehungsgesetz  vom  2.  Juli  1900. 


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der  Lehrer  vermag  den  „Fürsorger“  nicht,  oder  doch  nur  bezüglicli 
einer  beschränkten  Anzahl  junger  Leute,  und  nur  dann  zu  ersetzen, 
wenn  er  mit  der  Fürsorge  für  diese  berufsmäfsig  beauftragt,  und 
entsprechend  honoriert  wird.  Ist  man  aber  darüber  klar,  dafs  die 
Minderjährigen  aus  vermögenden  Ständen  neben  dem  vormund- 
schaftlichen Schutz  noch  der  Fürsorge  ihrer  Verwandten  und  Freunde 
bedürfen,  und  dafs  weijer  der  vormundschaftliche  Schutz  noch  diese 
persönliche  Fürsorge  mit  der  Schulentlassung  enden  dürfen,  so  wird 
man  in  einer  solchen  Ausdehnung  des  organisierten  Schutzes  der 
unvermögenden  Minderjährigen  nicht  etwa  eine  lästige  Ueber- 
wachung.  sondern  eine  Art  Ausgleich  für  einen  Teil  dessen  zu  er- 
blicken, was  der  durch  Yermögensbesitz  gestärkte  Familienverband 
seinen  Angehörigen  leistet,  und  was  die  Kinder  der  Aermcren  bisher 
entbehren  müssen. 

Jedenfalls  wären  eine  derartige  Organisation  der  jetzigen,  den 
Verhältnissen  der  Unbemittelten  schlecht  angepafsten  Vormundschaft 
samt  Gemeindewaisenrats  in  Verbindung  mit  der  allmählichen 
Schaffung  der  obei.  (bei  III)  erwähnten  Gesetze,  welche  die  mate- 
riellen Grundlagen  des  Familienlebens  stärken  und  mit  der  Be- 
gründung der  erforderlichen  Anstalten  zu  Gunsten  der  alleiustehen- 
den  schulentlassenen  Jugend  die  besten  Vorbeugemittel  gegen  die 
sozialen  Schäden,  deren  Folgen  sowohl  das  frühere  Zwangser- 
ziehungsgesetz, als  auch  die  Arbeit  der  öffentlichen  und  privaten 
Armenpflege  und  jetzt  das  Fürsorgeerzichungsgesetz  eben  doch  nur 
im  Einzelfall,  nicht  den  Ursachen  und  Quellen  nach  zu  bekämpfen 
vermögen. 

Wir  lassen  nunmehr  den  Wortlaut  des  Gesetzes  folgen: 

Gesetz  über  die  Fürsorgeerziehung  Minderjähriger.  Vom  3.  Juli  1900. 

Wir  Wilhelm,  von  Gottes  Gnaden  König  von  Preufseo  etc.  verordnen  mit 
Zustimmung  beider  Häuser  des  Landtags  für  den  Umfang  der  Monarchie,  was  folgt: 

§ I.  Ein  Minderjähriger,  welcher  das  achtzehnte  Lebensjahr  noch  nicht 
vollendet  hat,  kann  der  Fürsorgeerziehung  überwiesen  werden: 

1.  wenn  die  Voraussetzungen  des  § 1666  oder  des  § 1838  des  Bürgerlichen 
Gseelzbuchs  vorliegen  und  die  Fürsorgeerziehung  erforderlich  ist,  um  die 
Verwahrlosung  des  Minderjährigen  zu  verhüten ; 

2.  wenn  der  Minderjährige  eine  strafbare  Handlung  begangen  hat,  wegen 
der  er  in  Anbetracht  seines  jugendlichen  Alters  strafrechtlich  nicht  verfolgt 
werden  kann,  und  die  Fürsorgeerziehung  mit  Rücksicht  auf  die  Beschaffen- 
heit der  Handlung,  die  Persönlichkeit  der  Eltern  oder  sonstigen  Erzieher 


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Aß 


Das  preul&ischc  Fürsorgc-F.rzichungsgesetz  vom  2.  Juli  1900. 


und  die  übrigen  Lcbcnsverhältnisse  zur  Verhütung  weiterer  sittlicher  Ver- 
wahrlosung des  Minderjährigen  erforderlich  ist; 

3.  wenn  die  Fürsorgeerziehung  aufser  diesen  Fallen  wegen  Unzulänglichkeit 
der  erziehlichen  Einwirkung  der  Eltern  oder  sonstigen  Erzieher  oder  der 
Schule  zur  Verhütung  des  völligen  sittlichen  Verderbens  des  Minder- 
jährigen notwendig  ist 

§ 2.  Die  Fürsorgeerziehung  erfolgt  unter  öffentlicher  Aufsicht  und  auf  öffent- 
liche Kosten  in  einer  geeigneten  Familie  oder  in  einer  Erziehungs-  oder  Besserungs- 
anstalt. 

§ 3.  Die  Unterbringung  zur  Fürsorgeerziehung  erfolgt,  nachdem  das  Vormund- 
schaftsgericht durch  Beschlufs  das  Vorhandensein  der  Voraussetzungen  des  § 1 unter 
Bezeichnung  der  ftir  erwiesen  erachteten  Thatsachen  festgestellt  und  die  Unterbringung 
angeordnet  hat. 

§ 4.  Das  Vormundschaftsgericht  beschließt  von  Amtswegen  oder  auf  Antrag. 
Zur  Stellung  des  Antrags  sind  berechtigt  und  verpflichtet: 

der  Landrat,  in  den  Hohenzollernschcn  Landen  der  Oberamtmann,  in 
Städten  mit  mehr  als  10000  Einw'ohncrn  sowie  in  den  nach  § 28  der 
Kreisordnung  ftir  die  Provinz  Hannover  vom  6.  Mai  1884  (Gesctz-Samral. 
S.  181)  denselben  gleichgestellten  Städten  auch  der  Gemeindevorstand, 
in  Stadtkreisen  der  Gemeindevorstand  und  der  Vorsteher  der  Königlichen 
Polizeibehörde. 

Vor  der  Beschlufsfassung  soll  das  Vormundschaftsgericht,  soweit  dies  ohne  er- 
hebliche Schwierigkeit  geschehen  kann,  die  Eltern,  den  gesetzlichen  Vertreter  des 
Minderjährigen  und  in  allen  Fällen  den  Gemeindevorstand,  den  zuständigen  Geist- 
lichen und  den  Leiter  oder  Lehrer  der  Schule,  welche  der  Minderjährige  besucht, 
hören,  auch  hat,  wenn  die  Beschlufsfassung  nicht  auf  Antrag  erfolgt,  das  Vormund- 
schaftsgericht zuvor  dem  Landrat  (Obcramtmannc,  Gemeindevorstandc,  Vorsteher  der 
Königlichen  Polizeibehörde)  unter  Mitteilung  der  Akten  Gelegenheit  zu  einer  Acufsc- 
rung  zu  geben. 

Der  Beschlufs  ist  dem  gesetzlichen  Vertreter  des  Minderjährigen,  diesem  selbst, 
wenn  er  das  vierzehnte  Lebensjahr  vollendet  hat,  dem  Landrat  (Oberamtmanne, 
Gemeindevorstandc,  Vorsteher  der  Königlichen  Polizeibehörde)  und  dem  verpflichteten 
Kommunalverbandc  (§  14)  zuzustellen. 

Gegen  den  Beschlufs  steht  den  im  Abs.  3 Genannten  die  sofortige  Beschwerde 
zu,  dem  gesetzlichen  Vertreter  des  Minderjährigen  oder  diesem  selbst  jedoch  nur 
dann,  wenn  der  Beschlufs  auf  Unterbringung  zur  Fürsorgeerziehung  lautet.  Die  Be- 
schwerde hat  aufschiebende  Wirkung. 

§ 5.  Bei  Gefahr  im  Verzüge  kann  das  Vormundschaftsgericht  eine  vorläufige 
Unterbringung  des  Minderjährigen  anordnen.  Die  Polizeibehörde  des  Aufenthaltsorts 
hat  in  diesem  Falle  für  die  Unterbringung  des  Minderjährigen  in  einer  Anstalt  oder 
in  einer  geeigneten  Familie  zu  sorgen. 

Die  durch  die  vorläufige  Unterbringung  erwachsenden  Kosten  fallen,  sofern 
die  Ucbcrweisung  zur  Fürsorgeerziehung  demnächst  endgültig  angeordnet  wird,  dem 
verpflichteten  Kommunalverbandc  (§  14),  anderenfalls  demjenigen  zur  Last,  welcher 


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Das  preußische  Fürsorgc-Erzichungsgesetz  vom  2.  Juli  1900. 


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die  Kosten  der  örtlichen  Polizeiverwaltung  zu  tragen  hat.  Die  Polizeibehörde  hat 
in  allen  Fällen  die  durch  die  vorläufige  Unterbringung  entstehenden  Kosten  vor- 
zuschicfscn. 

Streitigkeiten  über  die  Angemessenheit  der  dem  Erstattongspflichtigen  in  Rech- 
nung gestellten  Vorschüsse  der  Polizeibehörde  entscheidet  der  Bezirksausschuß»  im 
lieschlufsverfahren.  Der  Beschluß  des  Bezirksausschusses  ist  endgültig. 

§ 6.  Hat  die  im  § 4 angeordnete  Anhörung  der  Eltern  oder  des  gesetzlichen 
Vertreters  nicht  stattfinden  können,  so  sind  dieselben  berechtigt,  die  Wiederaufnahme 
des  Verfahrens  zu  verlangen. 

§ 7-  Soweit  nicht  in  diesem  Gesetz  ein  Anderes  bestimmt  ist,  finden  auf  das 
gerichtliche  Verfahren  die  allgemeinen  Vorschriften  über  die  durch  Landesgesetz  den 
ordentlichen  Gerichten  übertragenen  Angelegenheiten  der  freiwilligen  Gerichtsbarkeit 
Anwendung. 

§ 8.  Die  gerichtlichen  Verhandlungen  sind  gebühren-  und  stcmpelfrci;  die 
baren  Auslagen  fallen  der  Staatskasse  zur  Last.  Ist  nach  dem  Ermessen  des  Vor- 
mundschaftsgerichts die  Vernehmung  der  nach  § 4 Abs.  2 zu  hörenden  Personen 
erforderlich  gewesen,  so  haben  sie  Anspruch  auf  Erstattung  der  notwendigen  baren 
Auslagen  aus  der  Staatskasse;  dies  gilt  jedoch  nicht  fiir  die  Eltern  des  Minder- 
jährigen. 

Verträge  über  die  Unterbringung  von  Zöglingen  sind  stcmpelfrci. 

§ 9.  Die  Ausführung  der  Fürsorgeerziehung  liegt  dem  verpflichteten  Kom- 
munalverband ob  (§  14);  er  entscheidet  darüber,  in  welcher  Weise  der  Zögling 
untergebracht  werden  soll.  Im  Falle  der  Anstaltserziehung  ist  der  Zögling,  soweit 
möglich,  in  einer  Anstalt  seines  Bekenntnisses  unterzubringen.  Im  Falle  der  Fa- 
milienerziehung mufs  der  Zögling  mindestens  bis  zum  Aufhören  der  Schulpflicht  in 
einer  Familie  seines  Bekenntnisses  unlcrgebracht  werden. 

Der  Kommunal  verband  hat  dem  Vormundschaftsgcrichtc  von  der  Unterbringung 
und  von  der  Entlassung  des  Zöglinges  Mitteilung  zu  machen. 

Die  Ueberführung  des  Zöglinges  liegt  der  Polizeibehörde  des  Aufenthalts- 
orts ob. 

§ 10.  Die  Zöglinge  dürfen  nicht  in  Arbeitshäusern  und  nicht  in  Landarmen- 
häusern, in  Anstalten,  welche  für  Kranke,  Gebrechliche,  Idioten,  Taubstumme  oder 
Blinde  bestimmt  sind,  nur  so  lange  untergebracht  werden,  als  cs  ihr  körperlicher 
oder  geistiger  Zustand  erfordert 

In  Ausführung  einer  eingeleiteten  Fürsorgeerziehung  kann  die  Erziehung  in  der 
eigenen  Familie  des  Zöglinges  unter  Aufsicht  des  Kommunalverbandes  widerruflich 
angeordnet  werden. 

§ 11.  Für  jeden  in  einer  Familie  untergcbrachten  Zögling  ist  zur  Uebcr- 
wachung  seiner  Erziehung  und  Pflege  von  dem  Kommunal  verband  ein  Fürsorger  zu 
bestellen.  Hierzu  können  auch  Frauen  bestellt  werden. 

§ 12.  Auf  Antrag  des  verpflichteten  Kommunal  Verbundes  kann,  unbeschadet 
der  Vorschriften  des  Artikel  78  § 1 des  AusfUhrungsgcsetzcs  zum  Bürgerlichen  Ge- 
sclzbuchc,  der  Vorstand  einer  unter  staatlicher  Aufsicht  stehenden  Erziehungsanstalt 
vor  den  nach  § 1776  des  Bürgerlichen  Gesetzbuchs  als  Vormünder  berufenen  Per- 


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Das  prcufsische  Fürsorgc-Frziehungsgcsctz  vom  2.  Juli  1900. 


soncn  zum  Vormunde  der  auf  Grund  der  §§  3 ff.  in  der  Anstalt  untergebrachten 
Zöglinge  bestellt  werden. 

Das  gleiche  gilt  für  Zöglinge,  die  unter  der  Aufsicht  des  Vorstandes  der  An- 
stalt in  einer  von  ihm  flusgcwühlten  Familie  erzogen  werden;  liegt  die  Beaufsichtigung 
der  Zöglinge  einem  von  dem  verpflichteten  Kommunal  verbände  bestellten  Beamten 
ob,  so  kann  dieser  auf  Antrag  des  Kommunalverbandes  statt  des  Vorstandes  der 
Anstalt  zum  Vormunde  bestellt  werden. 

Neben  dem  nach  th*n  Vorschriften  der  Abs.  I,  2 bestellten  Vormund  ist  ein 
Gegenvormund  nicht  zu  bestellen.  Dem  Vormunde  stehen  die  nach  § 1852  des 
Bürgerlichen  Gesetzbuchs  zulässigen  Befreiungen  zu. 

§ 13.  Die  Fürsorgeerziehung  endigt  mit  der  Minderjährigkeit. 

Die  frühere  Aufhebung  der  Fürsorgeerziehung  erfolgt  durch  Beschlufs  des 
Kommunalverbandes  von  Amtswegen  oder  auf  Antrag  der  Eltern  oder  des  gesetz- 
lichen Vertreters  des  Minderjährigen,  wenn  der  Zweck  der  Fürsorgeerziehung  erreicht 
oder  die  Erreichung  des  Zweckes  anderweit  sichergestellt  ist.  Die  Aufhebung  kann 
unter  Vorbehalt  des  Widerrufs  beschlossen  werden. 

Gegen  den  ablehnenden  Beschlufs  des  Kommunalverbandes  kann  der  Antrag- 
steller binnen  einer  Frist  von  zwei  Wochen  vom  Tage  der  Zustellung  ab  dir  Ent- 
scheidung des  Vormundschaftsgerichts  an  rufen.  Gegen  den  Beschlufs  des  Vcrmund- 
schnft-sgcrichts  findet  die  Beschwerde  statt.  Die  Beschwerde  des  Kommunalver- 
bandes hat  aufschiebende  Wirkung. 

Ein  abgewiesener  Antrag  darf  vor  dem  Ablaufe  von  sechs  Monaten  nicht 
erneuert  werden. 

§ 14.  Die  Provinzialverbände,  in  der  Provinz  Hessen-Nassau  die  Bezirks- 
verbände der  Regierungsbezirke  Wiesbaden  und  Cassel,  des  Lauenburgische  Landes- 
kommunalverband,  der  La  ndeskommuna]  verband  der  Hohcnzollcrnschcn  Lande  sowie 
der  Stadtkreis  Berlin  sind  verpflichtet,  die  Unterbringung  der  durch  Beschlufs  des 
Vorraundschaftsgerichls  zur  Fürsorgeerziehung  überwiesenen  Minderjährigen  in  einer 
den  Vorschriften  dieses  Gesetzes  entsprechenden  Weise  zu  bewirken.  Sie  haben  ftir 
die  Errichtung  von  Erziehung»-  und  Besserungsanstalten  zu  sorgen,  soweit  cs  an 
Gelegenheit  fehlt,  die  Zöglinge  in  geeigneten  Familien  sowie  in  öffentlichen,  kirch- 
lichen oder  privaten  Anstalten  unterzubringen,  auch  soweit  nötig  für  ein  ange- 
messenes Unterkommen  bei  der  Beendigung  der  Fürsorgeerziehung  zu  sorgen. 

Zur  Unterbringung  verpflichtet  ist  derjenige  Kommunalvcrband,  in  dessen  Ge- 
biete der  Ort  liegt,  als  dessen  Vormundschaftsgericht  das  Gericht  Beschlufs  ge- 
fafst  hat. 

§ 15.  Die  Kosten,  welche  durch  die  Ucberführung  des  Zöglinges  in  eine 
Familie  oder  Anstalt,  durch  die  dabei  nötige  reglemcntsmäfsigc  erste  Ausstattung, 
durch  die  Beerdigung  des  während  der  Fürsorgeerziehung  verstorbenen  und  durch 
die  Rückreise  des  aus  der  Fürsorgeerziehung  entlassenen  Zöglinges  entstehen,  fallen 
dem  Ortsarmenverband,  in  welchem  er  seinen  Unterstützungswohnsitz  bat,  zur  Last. 
Ist  ein  solcher  Ortsarmenverband  nicht  vorhanden,  so  fallen  diese  Kosten  dem  ver- 
pflichteten Konimunalvcrhnndc  (§  14  Abs.  2)  zur  Last.  Die  übrigen  Kosten  des 


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Das  preufsischc  Fürsorge- Erzichungsgcsetz  vom  2.  Juli  1900. 


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Unterhalts  und  der  Erziehung  sowie  der  Fürsorge  für  entlassene  Zöglinge  tragen  in 
allen  Fällen  die  Kommunal  verbände. 

Die  Kommunalverbände  erhalten  zu  den  nach  Abs.  I von  ihnen  zu  tragenden 
Kosten  aus  der  Staatskasse  einen  Zuschufs  in  Höhe  von  zwei  Dritteln  dieser  Kosten. 
Der  Betrag  des  Zuschusses  wird  jährlich  auf  Liquidation  der  im  Vorjahr  aufge- 
wendeten Kosten  oder  im  Einverständnisse  mit  den  einzelnen  Kommunalverbänden 
periodisch  als  Bauschsumme  von  dem  Minister  des  Innern  festgesetzt. 

§ 16.  Die  Kommunalverbände  sind  berechtigt,  die  Erstattung  der  während 
der  Fürsorgeerziehung  entstandenen  Kosten  des  Unterhalts  eines  Zöglings  von  diesem 
selbst  oder  von  dem  auf  Grund  des  Bürgerlichen  Hechtes  zu  seinem  Unterhalte 
Verpflichteten  zu  fordern.  Dieselbe  Berechtigung  steht  den  Ortsarmenverbänden 
hinsichtlich  der  ihnen  nach  § 15  Abs.  I zur  Last  fallenden  Kosten  zu. 

Für  die  Erstattungsforderung  der  Kommunalverbände  sind  Tarife  zu  Grunde 
zu  legen,  welche  von  dem  Minister  des  Innern  nach  Anhörung  der  Kommunal- 
verbände festgesetzt  werden.  Die  Kosten  der  allgemeinen  Verwaltung  der  Fürsorge- 
erziehung, des  Baues  und  der  Unterhaltung  der  von  den  Kommunal  verbänden  er- 
richteten Anstalten  bleiben  hierbei  aufser  Ansatz. 

Wird  gegen  den  Erstattungsanspruch  Widerspruch  erhoben,  so  beschliefst 
darüber  auf  Antrag  des  Kommunalvcrbandes  oder  ( >rtsarmenverbandes  der  Bezirks- 
ausschuß 

Der  Bcschlufs  ist  vorbehaltlich  des  ordentlichen  Rechtswegs  endgültig. 

Zwei  Drittel  der  durch  die  Kommunalvcrbändc  von  den  Erstattungspflichtigen 
eingezogenen  Beträge  sind  auf  den  Beitrag  des  Staates  (§  15  Abs.  2)  anzurcchnen. 

§ 17.  Die  Kommunalvcrbändc  haben  für  die  Ausführung  der  Fürsorge- 
erziehung und  für  die  Verwaltung  der  von  ihnen  errichteten  Erziehungs-  und  Besse- 
rungsanstalten Reglements  zu  erlassen. 

Die  Reglements  bedürfen  der  Genehmigung  der  Minister  des  Innern  und  der 
geistlichen , Unterrichts-  und  Mcdizinalangclcgcnhcitcn  in  betreff  derjenigen  Be- 
stimmungen, welche  sich  auf  die  Aufnahme,  die  Behandlung,  den  Unterricht  und 
<lie  Entlassung  der  Zöglinge  beziehen. 

Hinsichtlich  der  Privatanstalten  hchält  es  bei  den  bestehenden  Vorschriften 
sein  Bewenden. 

§ 18.  Die  gesetzlichen  Bestimmungen  über  die  religiöse  Erziehung  der  Kinder 
finden  auch  auf  die  FUrsorgcerziehnng  Anwendung. 

§ 19.  Wenn  schulpflichtige  Zöglinge  der  öffentlichen  Volksschule  ohne  sitt- 
liche Gefährdung  der  übrigen  die  Schule  besuchenden  Kinder  nicht  zugewiesen 
werden  können,  so  hat  der  Kommunal  verband  dafür  zu  sorgen,  dafs  diesen  Zög- 
lingen während  des  schulpflichtigen  Alters  der  erforderliche  Schulunterricht  ander- 
weitig zu  teil  wird.  Im  Streitfälle  entscheidet  der  Oberpräsident. 

§ 20.  Die  zuständigen  staatlichen  Aufsichtsbehörden  der  Kommunalverbändc 
und  in  höherer  Instanz  der  Minister  des  Innern  haben  die  Oberaufsicht  über  die 
zur  Unterbringung  von  Zöglingen  getroffenen  Veranstaltungen  zu  führen ; sic  sind 
befugt,  zu  diesem  Zwecke  Revisionen  vorzunehmen. 

Archiv  für  so*.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVII.  4 


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Das  preufsischc  Fürsorgc-Erziehungsgesetz  vorn  2.  Juli  1900. 


§ 21.  Wer,  abgesehen  von  den  Fällen  der  §§  120,  235  des  Strafgesetzbuchs, 
einen  Minderjährigen,  bezüglich  dessen  das  gerichtliche  Verfahren  auf  Unterbringung 
zur  Fürsorgeerziehung  eingeleitet  oder  die  Unterbringung  zur  Fürsorgeerziehung  an- 
geordnet ist,  dem  Verfahren  oder  der  angeordneten  Fürsorgeerziehung  entzieht,  oder 
ihn  verleitet,  sich  dem  Verfahren  oder  der  Fürsorgeerziehung  zu  entziehen,  oder  wer 
ihm  hierzu  vorsätzlich  behilflich  ist,  wird  mit  Gefängnis  bis  zu  zwei  Jahren  und 
mit  Geldstrafe  bis  zu  Eintausend  Mark  oder  mit  einer  dieser  Strafen  bestraft. 

Der  Versuch  ist  strafbar. 

§ 22.  Der  Minister  des  Innern  ist  mit  der  Ausführung  dieses  Gesetzes  be- 
auftragt. 

§ 23.  Dieses  Gesetz  tritt  mit  dem  1.  April  1901  in  Kraft. 

Mit  dem  gleichen  Zeitpunkte  wird  das  Gesetz  vom  13.  März  1878,  betreffend 
die  Unterbringung  verwahrloster  Kinder,  aufgehoben. 

Kommunalvcrbändc,  welche  zur  Zeit  des  Inkrafttretens  dieses  Gesetzes  über 
geeignete  Anstalten  nicht  in  ausreichendem  Mafsc  verfügen,  sollen  bis  zum  I.  April 
1903  bei  der  Unterbringung  der  Zöglinge  den  im  § io  Abs.  I dieses  Gesetzes  aus- 
gesprochenen Beschränkungen  nicht  unterliegen. 

Urkundlich  unter  Unserer  Höchsteigenhändigen  Unterschrift  und  beigedrucktem 
Königlichen  Insiegel. 

Gegeben  Wilhelmshaven,  den  2.  Juli  1900. 

(L.  S.)  Wilhelm. 

Fürst  zu  Hohenlohe,  v.  Miqucl.  v.  Thielen.  Frhr.  v.  Hammerstein. 
Schönstedt.  Brefcld.  v.  Gofsler.  Gr.  v.  Posadowsky.  Gr.  v.  Bttlow» 
Studt.  Frhr.  v.  Rh  ein  haben. 


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Arbeiter-  und  Konsumentenschutz  im  Bäckergewerbe. 

Von 

M.  v.  SCHULZ, 

Vorsitzendem  des  Gewerbcgcriehts  zu  Kerlin, 

Seit  Jahren  schon  war  die  Reichsregierung  in  der  Litteratur,  in 
zahlreichen  dem  Bundesrat  von  Bäckergesellen  zugegangenen  Peti- 
tionen, durch  Strikes  und  auch  durch  amtliche  Berichte  auf  die 
übermäfsigen  Ansprüche  hingewiesen  worden , welche  im  Bäcker- 
gewerbe an  die  Arbeitskraft  der  Arbeitnehmer  vielfach  gestellt 
würden.  Als  daher  bei  Beratung  der  Arbeiterschutznovelle  der  Reichs- 
tag 1891  beschlofs,  dafs  durch  § I20e  Abs.  3 dieser  Novelle  der 
Bundesrat  ermächtigt  werden  sollte,  für  solche  Gewerbe,  in  denen 
durch  übergrofse  Dauer  der  täglichen  Arbeitszeit  die  Gesundheit 
der  Arbeiter  gefährdet  wird,  Dauer,  Beginn  und  Ende  der  zulässigen 
täglichen  Arbeitszeit  und  der  zu  gewährenden  Pausen  vorzuschreiben, 
erklärte  bei  dieser  Gelegenheit  der  preufsische  Handelsminister  — 
ohne  Widerspruch  zu  finden  — , dafs  die  Bäcker  bei  einem  Vor- 
gehen des  Bundesrates  auf  Grund  des  § I20e  mit  zuerst  in- 
betracht kommen  würden.1)  Diesen  Worten  folgte  bald  die  That. 
Bereits  im  Juni  1892  ordnete  der  Reichskanzler  eine  Untersuchung 
an,  ob  für  die  im  Bäckergewerbe  beschäftigten  Personen  die  obrig- 
keitliche Regelung  der  Arbeitszeit  notwendig  und  ohne  Gefährdung 
der  Existenzfähigkeit  der  einzelnen  Betriebe  durchführbar  sei.  Die 
Reichskommission  für  Arbeiterstatistik  — eine  halb  aus  Regierungs- 
vertretern , halb  aus  Parlamentariern  zusammengesetzte  Reichs- 
behörde — wurde  beauftragt,  bei  dieser  Untersuchung  sich  zu  be- 
teiligen und  deren  Resultate  zu  begutachten.  Auf  Vorschlag  der 
Kommission  sind  an  ungefähr  10  Prozent  aller  Bäcker-  und  Kon- 

l)  Reichstag  vom  22.  April  1896,  S.  1850  (R)- 

4* 


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52 


M.  v.  Schulz, 


ditorenbetriebe  Fragebogen  zur  Beantwortung  versendet  worden, 
um  die  übliche  Dauer  der  Arbeitszeit  festzustellen.  Das  Ergebnis 
ist  von  dem  Kaiserlichen  Statistischen  Amt  bearbeitet  und  ver- 
öffentlicht worden.1) 

Hiernach  vernahmen  behufs  Aufklärung  über  zweifelhafte  Punkte 
und  über  die  etwaige  Durchführbarkeit  einer  Verkürzung  der  Arbeits- 
zeit die  Landesbehörden  protokollarisch  550  Arbeitgeber  und  Arbeit- 
nehmer, welche  Fragebogen  ausgefüllt  hatten.  Es  sind  ferner  Ver- 
treter der  Bäckerinnungen  und  anderer  Vereinigungen  der  Bäcker- 
meister, auf  der  anderen  Seite  auch  die  Vertreter  von  Organisationen 
der  Bäckergesellen  gutachtlich  gehört  worden.  Aufserdem  wurden 
von  Krankenkassen  ziffernmäfsige  Angaben  über  die  Krankheits- 
und Sterblichkeitsverhältnisse  erbeten.  Dieses  Material  ist  ebenfalls 
statistisch  bearbeitet,4)  und  mit  einem  Gutachten  des  Kaiserlichen 
Gesundheitsamts  versehen  der  Kommission  wieder  vorgelegt.  Nach- 
dem diese  ihrerseits  noch  40  Auskunftspersonen  des  Bäcker-  und 
Konditorenge  werbcs  über  die  einschlägigen  Verhältnisse  eingehend 
befragt  hatte,8)  erstattete  sie  im  Sommer  1894  dem  Reichskanzler 
das  gewünschte  Gutachten  unter  Beifügung  eines  Entwurfes  von 
„Bestimmungen  betr.  die  Beschäftigung  von  Gehilfen  und  Lehr- 
lingen in  Bäckereien  und  Konditoreien“.4)  Die  Kommission  bezeich- 
nete  die  Arbeitsdauer  im  Bäcker-  und  Konditorengewerbe  als  eine 
höchst  gesundheitsschädliche.  Sie  regte  deswegen  eine  Maximal- 
arbeitszeit  von  12  Stunden  täglich  an  für  alle  Personen,  die  mit 
der  Bereitung  von  Bäcker-  und  Konditorwaren  beschäftigt  werden. 
Dieser  Maximalarbeitstag,  welcher  durch  eine  zusammenhängende 
Pause  von  einer  Stunde  unterbrochen  werden  darf,  sollte  für  Lehr- 
linge im  ersten  und  zweiten  Jahre  um  zwei  bezw.  eine  Stunde 
gekürzt  werden.8) 

*)  Drucksache  der  Kommission  für  Arbeiterstatistik  Nr.  I : Erhebung  über  die 
Arbeitszeit  in  Backereien  und  Konditoreien,  veranstaltet  im  September  1892. 

*)  Drucksache  Nr.  3;  Erhebungen  über  die  Arbeitszeit  in  Bäckereien  und 
Konditoreien,  II.  Teil. 

*)  Drucksache  Nr.  4:  Protokoll  über  die  Verhandlungen  vom  14.  Februar 
bis  20.  Februar  1894  und  die  Vernehmung  von  Auskunftspersonen  über  die  Arbeitszeit 
in  Bäckereien  und  Konditoreien. 

4)  Drucksache  Nr.  6:  Bericht  über  die  Erhebungen  betreffend  die  Arbeitszeit  in 
Bäckereien  und  Konditoreien. 

®)  Oldenberg,  Der  Maximalarbeitstag  im  Bäcker-  und  Konditorengewerbe. 
Leipzig*  Verlag  von  Dunkcr  & iiumblot  1894,  S.  2 ff. 


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Arbeiter-  und  Konsumentenscliutz  im  Bäckergcwcrbc. 


53 

Die  Kommission  empfahl  endlich  besondere  Vorschriften  über 
die  Sonntagsruhe  in  Bäckereien  und  Konditoreien.1) 

*)  Bereits  die  im  Jahre  1892  in  Kraft  getretene  Ordnung  der  Sonntagsruhe 
im  Backwarenverkauf  hatte  die  Bäckermeister  gereizt  (Oldenberg  a.  a.  O.,  S.  4,  5 
und  199).  Als  aber  die  Bestimmungen  der  §§  105  a bis  105  f und  105  h der  Novelle 
vom  1.  Juni  1891,  soweit  sie  sich  auf  die  Sonntagsruhe  in  der  Industrie  und  im 
Handwerk  beziehen,  zum  I.  April  1895  in  Kraft  gesetzt  wurde  (Kaiserl.  Verordnung 
vom  4.  Februar  1895  — R.G.B1.  S.  11)  und  die  sämtlichen  Bundesregierungen  auf 
Grund  des  § 105  c a.  a.  O.  die  Sonntagsarbeit  in  den  Bäckereien  und  Konditoreien 
nach  den  Vorschlägen  der  Kommission  für  Arbeiterstatistik  festsetzte,  brachte  dieses 
das  Blut  der  Bäckermeister  derart  in  Wallung,  dafs  ein  Bäckermeister  nicht  einmal 
vor  Frivolitäten  zurückscheute.  So  meinte  derselbe  auf  dem  Bäckcrmeistcrkongrcfs 
in  Breslau  inbezug  auf  die  Sonntagsarbeit:  „Wenn  die  Seligkeit  der  Gesellen  nur 
davon  abhängc,  dafs  sic  Frühgottesdienst  und  Messe  besuchen,  so  hätte  wohl  der 
Hades  nicht  Raum  für  alle  die  Gelehrten  und  Doktoren,  die  bei  Lebzeiten  versäumt 
haben,  sich  bei  geistlosen  Predigern  eine  Schlafstelle  zu  mieten.“  Redner  legte  dann 
dar,  dafs  in  Berlin  1896  140  Bäckereibetriebe  „pleite  gegangen“  seien  und  zwar 
zum  g rö  fs  t e n Teil  infolge  der  Sonntagsruhe  für  die  Bäcker  ; aber  weder  ein  Hitze 
noch  ein  Stöcker  kann  uns  beibringen,  dafs  wir  Sonntags  das  Brot  nicht  aus  den 
Ofen  ziehen  dürfen.  Der  Staat  macht  Sonntags  Geschäfte,  die  Fiscnbahn  verkauft 
Sonntags  eine  Million  Fahrkarten...  und  seihst  der  Pastor  macht  Sonn- 
tags Geschäfte,  wenn  er  tauft  und  traut!  (Reichstag  vom  1 3.  Januar  1897, 
S.  4006  (A)  (B).  Ucber  die  häufigsten  Ursachen  der  Bankerotte  der  Bäcker 
(Wirtschaft  mit  fremdem  Kapital  etc.)  Oldenberg  a.  a.  O.,  S.  125. 

Die  Bestimmungen  über  die  Sonntagsruhe  im  Bäckereibetrieb  sollen  nach 
gerichtlichen  Entscheidungen  aut  ein  Grofsuntcrnehmcn  (Restaurationsbetrieb)  nicht 
anwendbar  sein  (F.  A.  Günthers  Bäcker-  und  Konditorzeitung  vom  23.  Oktober  1900, 
Nr.  85).  Die  Direktion  der  Aschingerschen  Schankbetriebe  zu  Berlin  stellt  nämlich  in 
einer  eigenen  Bäckerei  das  Brot  für  ihre  32  „Bierqucllcn“  her.  Auf  Beschwerde  der 
hiesigen  beiden  Bäckerinnungen  hat  das  Polizeipräsidium  die  Aktiengesellschaft 
Aschinger  wegen  wiederholter  Verstöfsc  gegen  die  Vorschriften  über  die  Sonntagsruhe 
in  Bäckereien  (begangen  durch  Sonntagsarbeit  in  ihrem  Bäckercibctriebc)  mit  einem 
Strafmandate  bedacht.  Die  Direktion  der  Gesellschaft  beantragte  gerichtliche  Ent- 
scheidung und  wurde  sowohl  vom  Schöffengerichte,  wie  von  der  Strafkammer  des 
Landgerichtes  freigesprochen  mit  der  Begründung,  dafs  die  Aschingersclu*  Bäckerei 
nur  ein  Bestandteil  des  Gastwirtsbetriebes  der  Gesellschaft  bilde  und  demnach  nicht 
in  der  Sonntagsarbeit  beschränkt  werden  könne  (Deutsche  Warte  vom  23.  Mai  1901). 
Die  beiden  Entscheidungen  sind  allerdings  nicht  zutreffend.  Die  Innungsmeister  und 
das  Polizeipräsidium  sind  im  Recht.  Der  Betrieb  einer  Bäckerei  gehört  begrifflich 
nicht  zum  Schankbetrieb,  weil  er  nicht  unmittelbar  die  Zwecke  desselben  verfolgt. 
Der  „Nebenbetrieb“  der  Bäckerei  kann  an  sich  als  selbständiger  Betrieb  bestellen 
und  von  dem  „Hauptbetrieb“  des  Bierausschankes  getrennt  werden,  ohne  dafs  dieser 
letztere  dadurch  seine  wirtschaftlichen  und  rechtlichen  Charakter  verliert. 


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54 


M.  v.  Schulz, 


Nach  längerer  Pause  erging  auf  den  unter  dem  16.  Dezember  [895 
von  Preufscn  beim  Bundesrat  gestellten  Antrag  und  nachdem  der 
Bundesrat  den  von  Preufscn  vorgelegten  Vorschriften  unter  un- 
wesentlichen Abänderungen  zugestimmt  hatte,  die  Bekanntmachung 
des  Reichskanzlers  vom  4.  März  1896  betreffend  den  Betrieb  von 
Bäckereien  und  Konditoreien.  Mehrfach  weicht  die  Verordnung 
des  Bundesrats  von  den  Vorschlägen  der  Kommission  für  Arbeiter- 
statistik ab.  Hauptsächlich  sind  folgende  Unterschiede  bemerkens- 
wert: Die  Kommission  hatte  einen  Maximalarbeitstag  für  die  Arbeiter 
sämtlicher  Bäckereien  und  Konditoreien  beantragt.  Dagegen 
finden  die  entsprechenden  Bestimmungen  des  Bundesrats  keine  An- 
wendung auf  solche  Konditoreien,  in  denen  nur  Konditorwaren, 
also  keine  Backwaren  gefertigt  werden.  Ferner  sind  die 
Bäckereien  und  diejenigen  Konditoreien,  welche  neben  den  ihrem 
Gewerbe  eigentümlichen  Waren  auch  „Backwaren“  hersteilen,  den 
Beschränkungen  der  Hundesratsverordnung  nicht  unterworfen,  sobald 
sie  ihre  Arbeiter  ausschließlich  am  Tage  zwischen  5 1 Uhr 
morgens  und  8 1 Uhr  abends  beschäftigen.  Die  Vorschriften  über 
den  Maximalarbeitstag  haben  somit  nur  für  Bäckereien  und  gemischte 
Betriebe  der  Konditoreien,  in  denen  Gehilfen  oder  Lehrlinge  nachts 
thätig  sind,  Gültigkeit.') 

Ueber  die  Kinschränkung  der  Bäckerarbeit  auf  12  bis  16 
Stunden  liels  sich  der  Staatsminister  v.  Berlepsch  folgendermalsen 
im  Reichstage2)  aus:  „Wie  liegt  denn  die  Sache?  24  Stunden  hat 

Während  des  Druckes  dieses  Aufsatzes  bringen  die  Zeitungen  die  Nachricht, 
dafs  das  Kammergericht  auf  die  Revision  der  Staatsanwaltschaft  das  Urteil  der 
Strafkammer  aufgehoben  und  die  Sache  an  das  Berufungsgericht  zurückverwiesen 
habe.  Die  Bestimmungen  über  die  Sonntagsruhe  hätten  von  der  Aktiengesellschaft 
beobachtet  werden  müssen.  Das  Revisionsgericht  hat  ferner  ausgeführt,  dafs  ein  Be- 
trieb nur  dann  ein  Nebenbetrieb  sei,  wenn  er  organisch  mit  dem  Hauptbetriebe 
verbunden  und  diese  Verbindung  zugleich  eine  übliche  wäre.  Keine  der  beiden 
Voraussetzungen  sei  hier  gegeben.  Denn  die  Bäckerei  wird  in  besonderen  Räumen 
aufserhalb  jeden  räumlichen  Zusammenhanges  mit  den  Schankstätten  der  Gesellschaft 
betrieben.  Bäckereien  sind  ferner  als  Nebenbetriebe  des  Schankgewerbes  nicht  üblich. 

’)  Wenn  derartige  Betriebe  aufserdem  Gehilfen  und  Lehrlinge  halten,  welche 
nur  am  Tage  zu  arbeiten  haben,  so  besteht  natürlich  für  d i ese  Arbeiter  und 
ihre  Prinzipale  die  Bundesratsverordnung  ebensowenig  als  wenn  die  betreffenden 
Arbeitgeber  Personen  nachts  überhaupt  nicht  beschäftigten. 

Am  Schlüsse  unseres  Artikels  werden  wir  übrigens  die  Be- 
kanntmachung des  Reichskanzlers  vom  4.  März  1896  folgen  lassen. 

f)  Reichstag  vom  22  April  1896,  S.  1860  (B)  (C). 


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Arbeiter-  und  Konsumentenschutz  im  Bäckergewerbe. 


55 


der  Tag.  Von  diesen  24  Stunden  sind  in  den  Bestimmungen  des 
Bundesrats  für  jeden  Gehilfen  8 Stunden  der  Ruhe  zugesprochen. 
Es  bleiben  also  16  Stunden  übrig.  Von  diesen  16  Stunden  können 
-1 31/*  Stunden  zu  regelmäfsigen  Betriebsarbeiten  verwendet  werden, 
sobald  während  der  Arbeitsschicht  eine  Stunde  Pause  gewährt 
w'ird  — was,  soviel  ich  weifs,  überwiegend  der  Fall  ist. 

Dreizehn  Stunden  kann  nämlich  alsdann  die  Arbeitsschicht 
dauern  und  eine  halbe  Stunde  ist  für  die  Herstellung  des  Vorteiges 
vorgesehen.  Daneben  sind  gelegentliche  Uebcrarbciten  unbeschränkt 
zulässig.  Aufserdem  kann  an  40  Tagen  im  Jahre  Ueberarbeit  statt- 
finden." 

Abgesehen  von  den  8 Stunden  absoluter  Ruhe  kann  also  die 
Arbeitszeit  unter  Umständen  16  Stunden  währen.  Der  Redner  warf 
die  Frage  auf,  ob  hier  nicht  zu  wenig  anstatt  zu  viel  gefordert  sei. 
Mit  Recht  wohl  zweifelte  Herr  v.  Berlepsch  daran,  dafs  in  dieser 
Arbeitszeit  von  1 3 a Stunden  für  Herstellung  der  Ware  selbst  und 
2’/j  Stunden  zur  Verrichtung  gelegentlicher  Nebenarbeiten  die 
Bäckereien  nicht  mit  ihren  Arbeiten  fertig  werden  könnten.  Der 
Regierungsvertreter  hob  auch  noch  hervor,  dafs  besondere  Ver- 
günstigungen denjenigen  Betrieben  eingeräumt  worden  seien,  die 
Sonntags  gar  nicht  arbeiten.  In  solchen  Fällen  ist  zugelassen, 
dafs  die  Meister  die  an  den  beiden  vorhergehenden  Wochentagen 
endigenden  Schichten  um  2 Stunden  verlängern,  also  1 5 */9  statt 
13’ ä Stunden  verwenden  dürfen. 

Einst  teilten  alle  Parteien  die  Ansicht  des  Ministers,  dafs  die 
Arbeitgeber  mit  der  ihnen  überlassenen  Arbeitszeit  ganz  gut  aus- 
kommen  würden.  Die  grol'se  Mphrzahl  der  führenden  Zeitungen 
einschlielslich  der  konservativen  hatte  sich  mit  der  Bundesratsver- 
ordnung einverstanden  erklärt.’) 

Um  so  überraschender  war  der  plötzliche  Umschwung,  hervor- 
gerufen durch  die  rege  Agitation  der  Bäckermeister.  Die  Interpellation 
der  Abgeordneten  Freiherr  v.  Manteuffel  und  Genossen  betr.  die 
Bestimmungen  des  Bundesrats  über  den  Betrieb  von  Bäckereien  und 
Konditoreien 2)  cröffncte  im  Reichstage  den  Reigen.  Die  Bundes- 
ratsverordnung sollte  stürzen.  „Die  protestierenden  Parteien,  aufser 
dem  Freisinn,  erklärten  die  Verordnung  für  rechtswidrig,  weil  die 

’)  Reichstag  vom  22.  April  1896.  S.  1850  (C)  und  Preußische  Jahrbücher, 
Bd.  85,  S.  388. 

*)  Reichstag  vom  22.  April  1896,  S.  1843  ff. 


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56 


M.  v.  Schulz, 


gesundheitsschädliche  lange  Arbeitsdauer  nicht  nachgewiesen  sei; 
ausnahmslos  aber  für  inopportun,  im  Hinblick  auf  den  Kleinbetrieb 
und  die  zu  besorgende  Unzufriedenheit.  Konservative  und  andere 
Redner  fürchteten  den  Abfall  von  Bäckergesellen  zur  Sozialdemo- 
kratie   Die  freisinnige  Volkspartei,  mit  den  zunftfeindlichen 

Konkordiabäckerinnungen  wahlverwandt,  meinte,  die  Landwirte 
würden  künstlich  zur  Gründung  grofser  genossenschaftlicher  Land- 
brotbäckereien angereizt  werden,  und  bei  aller  Sympathie  für  Ge- 
nossenschaften sei  das  unerwünscht ; in  Belgien  gebe  es  sogar  riesige 
sozialdemokratische  und  katholische  Genossenschaftsbäckcreien."  ’) 

Die  Reichsregierung  hielt  den  Abgeordneten  vor  Augen,  dafs 
in  50  Proz.  aller  Bäckereibetriebe  über  12  Stunden  bis  14,  16,  gar 
bis  18  Stunden  und  zwar  zur  Nachtzeit  gearbeitet  werde,  ohne 
irgend  einen  Ruhetag  im  ganzen  Jahre  in  überheizten  Räumen  und 
in  schlechter  Luft.  Wann  wolle  man , äuiserte  der  Regierungs- 
vertreter, von  dem  § i2oe  Gebrauch  machen,  es  sei  denn  in  diesem 
Falle.  Wenn  die  Abgeordneten  ihre  Meinung  wechselten,  so  gebe 
dies  für  die  Regierung  absolut  keinen  Anlafs,  ihrerseits  dasselbe  zu 
thun.  Diese  deutliche  Absage  hinderte  jedoch  die  Konservativen 
nicht,  am  15.  und  16.  Juni  1896  im  preufsischen  Abgeordneten- 
hausc  den  Protestlern  des  Reichstages  Heeresfolge  zu  leisten  und 
die  preufsische  Regierung  zu  ersuchen,  Sorge  zu  tragen,  dafs  die 
Bäckerschutzverordnung  nicht  erst  in  Kraft  trete.  Regierungsseitig 
wurden  die  Antragsteller  belehrt,  dafs  ihrem  Anträge  nicht  statt- 
gegeben  werden  würde.  Sic  könnten  wohl  auch  kaum  erwarten, 
dafs  die  preufsische  Regierung  gewillt  sei,  ihren  Einflufs  aufzubieten, 
zur  Aufhebung  einer  Anordnung,  die  auf  Preufsens  Antrag,  wie 
den  Antragstellern  ja  bekannt  sei,  soeben  erging.  Der  Handels- 
minister nannte  die  Motive  der  konservativen  Opposition  mit  dem 
wahren  Namen:  Sie  fürchtete  die  von  den  Bäckermeistern  gedrohte 
Entziehung  der  politischen  Kundschaft.2) 

Die  angefeindete  Bundesratsverordnung  trat,  wie  bestimmt,  am 
1.  Juli  1896  in  Kraft. 

Nachdem  der  Beistand  des  Reichstages  und  Landtages  nichts 

*)  Preufsische  Jahrbücher,  Bd.  85,  S.  388. 

3j  Soziale  Praxis  vom  25.  Juni  1896,  Sp.  I054.  Es  mag  hier  mitgctcilt 
werden,  dafs  der  Abgeordnete  Pastor  Schall  in  der  fraglichen  Sitzung  des  Ab- 
geordnetenhauses die  Backstube  auf  dem  Lande  als  Lieblingsau  (enthalt  der  Krauen 
im  Winter  pries. 


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Arbeiter-  und  Konsumentenschutz  im  Bärkorgowerbe. 


57 


gefruchtet,  versuchten  cs  die  Bäckermeister  auf  eigene  Faust,  gegen 
den  Maximalarbeitstag  Front  7.u  machen.  Fs  geschah  dies  zunächst 
auf  der  Jahresversammlung  des  Verbandes  „Germania“  vom  17.  bis 
19.  August  1896.  Etwa  350  Vertreter  deutscher  Bäckerinnungen 
fafsten  folgende  Resolution:1) 

„1.  dafs  die  Verordnung  des  Bundesrats  nur  in  den  Betrieben 
vollkommen  durchführbar  ist,  in  welchen  in  zwei  Schichten 
gearbeitet  werden  kann ; 

2.  dafs  die  Verordnung  zu  unzähligen  unerquicklichen  Streitig- 
keiten zwischen  Meister  und  Gesellen  Veranlassung  giebt, 
zu  solchen  auch  bereits  geführt  hat  und  dies  noch  in  weit 
stärkerem  Malsc  thun  wird,  wenn  erst  die  zuständigen  Be- 
hörden energischer  über  die  Befolgung  der  einzelnen  Be- 
stimmungen der  Verordnung  wachen  werden; 

3.  dafs  durch  die  Verordnung  die  Autorität  der  Meister  in  den 
eigenen  Werkstätten,  ihr  FinHufs  auf  die  Leistungen  der 
Gesellen  und  hiermit  die  Möglichkeit  nutzbringender  Fort- 
führung ihrer  Betriebe  vernichtet  und  in  natürlicher  Folge 
davon  tausende  von  Gesellen  der  Arbeitsgelegenheit  beraubt 
werden : 

4.  dals  endlich  die  Verordnung  bei  strenger  Durchführung  am 
wenigsten  diejenigen  wenigen  Betriebe  betrifft,  welche  zunächst 
die  Veranlassung  zu  derselben  gegeben  haben , weil  sie 
Schichtwechsel  einrichten  können,  dagegen  die  Kleinbetriebe, 
weil  dieselben  durch  die  Bestimmungen  aufser  stand  gesetzt 
werden,  alle  Anforderungen  ihrer  Kundschaft  zu  befriedigen, 
konkurrenzunfähig  macht.“ 

Der  Inhalt  dieses  Beschlusses  enthält  im  wesentlichen  alles 
dasjenige,  was  die  Helfer  der  Bäckermeister  schon  im  Reichstage 
und  im  Abgeordnetenhause  vorgebracht  hatten  und  was  bereits  von 
der  Kommission  für  Arbeiterstatistik  auf  seine  Richtigkeit  hin  unter- 
sucht worden  war.  Nicht  genug  mit  diesem  Proteste  haben  die 
Bäckermeister  mehrfach  die  Rechtsgültigkeit  der  Bundesratsverord- 
nung gegen  polizeiliche  Strafverfügungen  bei  den  Gerichten  angc- 
fochten  — überall  mit  demselben  Mifserfolg.2) 

*)  Soziale  Praxis  vom  25.  Juni  1896,  Sp.  1054  un«l  1055.  I>azu  Reichstag 
vom  13.  Januar  1897,  S.  40031!.  und  Oldenberg  a.  a.  O.,  S.  128  t’f. 

*)  Soziale  Praxis  vom  14.  Oktober  1897,  Sp.  42,  und  Preulsisclic  Jahrbücher, 
Bd.  85,  S.  391  a.  E. 


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M.  v.  Schulz, 


58 

Im  Laufe  der  Jahre  erging  nun  Protest  auf  Protest  seitens  der 
Bäckermeister,  ohne  dafs  sie  imstande  gewesen  wären,  irgend  welche 
neue  Momente  für  die  Aufhebung  der  Bundesratsverordnung  ins 
Feld  zu  führen.  Auch  im  Reichstage  kehrten  die  Verhandlungen 
über  den  Maximalarbeitstag  wieder;  doch  brachten  sie  bis  jetzt  kein 
greifbares  Ergebnis.  Man  will  deswegen  gern,  wenn  der  Maximal- 
arbeitstag fallt,  die  Schranken  der  Minimalruhezeit  sich  auferlegen 
lassen.  Die  Freunde  tler  Bäckermeister  im  Reichstage  und  die 
Wortführer  auf  den  Innungsverbandstagen  legten  sich  von  jetzt  an 
für  diese  Aendcrung  des  Arbeiterschutzes  ein.  So  verlangten  die 
rheinischen  Bäckermeister  in  ihrer  Versammlung  zu  Krefeld  am 
20.  Juni  1898  entweder  eine  Wochen  - Maximalarbeitszeit  von  72 
Stunden  oder  eine  Minimalruhezeit.1)  Der  Zentralverbandstag  der 
deutschen  Bäckerinnungen  zu  Berlin  forderte  gleichfalls  unter  Ver- 
werfung des  Maximalarbeitstages  eine  Minimalruhezeit  von  8 Stunden.*) 
Der  12.  Zentralverbandstag  des  Bäckerinnungsverbandes  „Germania" 
ferner,  welcher  am  15.  und  16.  August  1899  in  Magdeburg  tagte, 
wiederholte,  dafs  der  Bundesrat  an  Stelle  des  jetzigen  Maximal- 
arbeitstages eine  Ruhezeit  von  8 oder  10  Stunden  pro  Tag  ver- 
ordnen solle.3)  In  der  Sitzung  des  Reichstages  vom  12.  Januar  1901 
verkündete  auch  der  Abgeordnete  Oertel,  dafs  die  Bäckermeister 
mit  einer  Ersetzung  des  Maximalarbeitstages  durch  eine  Mindest- 
ruhezeit von  10  Stunden  einverstanden  seien. 

Es  wird  sich  bald  zeigen,  ob  der  Bundesrat  seine  Verordnung 
zurückziehen  und  den  Maximalarbeitstag  durch  die  Minimalruhezeit 
ersetzen  wird.  Wenn  dies  geschieht,  so  hätten  die  Meister,  obwohl 
die  Verhältnisse  kaum  andere  geworden  sind,  wie  zur  Zeit  des 
Erlasses  vom  4.  März  1896,  durch  ihr  beharrliches  Drängen4)  für 
sich  einen  teilweisen  Erfolg  errungen.  Wir  kommen  auf  die  zu 
erwartende  neue  Verordnung  unten  nochmals  zurück.  Zunächst 


1 1 Soziale  Praxis  vom  30.  Juni  1S98,  Sp.  1030. 

*)  Soziale  Praxis  vom  2.  Dezember  1898,  Sp.  225. 

*)  Soziale  Praxis  vom  24.  August  1899,  Sp.  1240. 

4)  F.in  ähnliches  Schauspiel  wie  bei  den  Bäckermeistern  erleben  wir  zur  Zeit 
bezüglich  der  in  Aussicht  genommenen  Bundesratsverordnung  zum  Schutze  der 
Kellner  etc.  Der  Eingriff  des  Bundesrats  zur  Regelung  der  Ruhezeit  der  in  Gast- 
und  Schankwirtschaften  beschäftigten  Personen  soll  ganz  so  wie  die  Bäckcrcivcr- 
ordnung  — die  Arbeitgeber  dos  Gastwirtsgewerbes  „in  der  empfindlichsten  Weise 
belästigen  und  schädigen“  („der  Gastwirtsgehilfe.  Organ  zur  Wahrung  und  Förderung 
der  Interessen  der  Angestellten  im  Gastwirtsgewerbe  Deutschlands  Nr.  34  und  Nr.  35). 


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Arbeiter-  und  Konsumentenschutz  im  Häckergewerbe. 


59 


möchten  wir  hervorheben , dafs  ursprünglich  viele  Meister  ohne 
weiteres  die  Ausführbarkeit  und  Nützlichkeit  der  Bundesratsverord- 
nung cingestanden.')  Zu  der  eingetretenen  auffallenden  Schwen- 
kung gab  der  Abgeordnete  Hitze  im  Reichstage  die  Lösung.  Er 
bemerkte:  Ich  kenne  eine  ganze  Reihe  von  Innungen  und  Bäcker- 
meistern, die  anfangs  der  Verordnung  als  solcher  zustimmten  und 
erst  durch  die  Berliner  Bäckermeister  u.  s.  w.  zur  absoluten  Ab- 
lehnung gekommen  sind.®) 

Eine  grofsc  Rolle  bei  der  heutigen  Ablehnung  des  Maximal- 
arbeitstages durch  die  Bäckermeister  spielt  die  stets  wiederkehrendc 
Behauptung,  dafs  durch  die  Beschränkung  der  Arbeitszeit  die  Klein- 
betriebe zu  Grunde  gehen,  während  die  Grofsbetriebe  sich  cinrichten 
könnten.  Die  Beschwerdeführer  kümmern  sich  nicht  um  den  ihnen 
erbrachten  Nachweis,  dafs  durch  den  Maximalarbeitstag  die  grofsen 
Bäckereien  am  meisten  betroffen  werden,  die  kleinen  am  wenigsten, 
weil  sie  schon  den  zwölfstündigen  Arbeitstag  haben.8)  Wenn  die 
Bäckermeister  ferner  einwenden,  dafs  durch  den  Maximalarbeitstag 
ihnen  erheblicher  Schaden  zugefügt  werde,  so  läfst  sich  schlecht 
damit  zusammenreimen,  was  etwa  ein  Jahr  nach  Einführung  der 
Verordnung  die  Bäckergesellen  in  einer  Petition  an  den  Reichs- 
kanzler diesem  bekundeten:  „War  der  Kaufpreis  früher  für  eine 
Bäckerei,  in  der  bis  zu  3 Mann  arbeiteten,  1500 — 3000  Mk.,  so  ist 
es  jetzt  nichts  Ungewöhnliches,  dafs  für  derartige  Bäckereien  bis  zu 
6000  Mk.  gezahlt  werden." 4)  Ganz  abgesehen  davon,  dafs  die 
Bäckermeister  von  den  hergebrachten  Gewohnheiten  ®)  nicht  lassen 
möchten,  wird  auch  ein  wichtiger  Grund,  weshalb  sie  immer  und 
immer  wieder  gegen  den  Maximalarbeitstag  sich  sträuben,  der  sein, 
dafs  es  ihnen  unangenehm  ist,  „unter  Polizeiaufsicht“  zu  stehen. 


')  Soziale  Praxis,  VIII.  Jahrgang.  Sp.  568  und  Oldcnherg  a.  a.  O.,  S.  144. 

*)  Soziale  Praxis,  VIII.  Jahrgang,  Sp.  941,  ferner  die  „Grenzboten“  58.  Jahr- 
gang 3.  Vierteljahr,  S.  47. 

V Drucksache:  Verhandlungen  Nr.  6,  Bericht  über  die  Erhebungen  betreffend  die 
Arbeitszeit  in  Bäckereien  und  Konditoreien.  Die  Bäckerei  ist  in  Deutschland  ganz 
überwiegend  Kleinbetrieb.  Siehe  darüber  Oldenberg  a.  a.  O.,  S.  9. 

*)  Siebe  übrigens  Oldenberg  a.  a.  O.,  S.  143  a.  A. 

6)  Oldenberg  a.  a.  O.,  S.  150.  Die  Arbeitgeber  waren  ferner  während  der 
Verhandlungen  der  Kommission  für  Arbeilerstatistik  nicht  davon  abzubringen : eine 
Beschränkung  der  Arbeitszeit  ist  nicht  möglich,  weil  sic  eine  Beschränkung 
de  s B c t ri  e bes  u n d da  m i t ei  ne  B esc  h r än  kun  g dcsGewinncs  bedeutet. 
(Oldenberg  a.  a.  O.,  S.  128). 


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6o 


M.  v.  Schulz, 


Eine  dies  bestätigende  Episode  erzählte  der  Abgeordnete  Molkenbuhr 
im  Reichstage:  „Als  einmal  die  Bäckermeister  in  der  Kommission 
so  recht  mit  Emphase  gegen  den  Maximalarbeitstag  gewettert 
hatten , ging  ich  mit  einem  der  Bäckermeister  nach  Hause  und 
sagte:  es  ist  seltsam,  dafs  die  Bäckermeister  weniger  vom  Geschäft 
zu  verstehen  scheinen,  als  die  Gesellen;  die  Gesellen  wissen  immer 
Aushilfsmittel,  die  Meister  nicht.  Ja,  sagte  er,  wir  wissen's  auch, 
das  geht  auch  ganz  gut,  aber  wir  wollen  den  Gewerbe- 
inspektor nicht  in  der  Backstube  habe n.“  Der  Abgeord- 
nete meinte,  dafs  vielleicht  manches  in  der  Backstube  vorgehe,  was 
die  Meister  lieber  den  Aufsichtsbeamten  verbergen.1)  Diesen  Punkt 
werden  wir  unten  noch  eingehender  zu  erörtern  haben. 

Man  hat  auch  eingeworfen,  dal's  die  Bundesratsverordnung  zu 
komplizierte  Bestimmungen  enthalte.  Sie  sei  undurchführbar.  Ein 
einfacher  Handwerksmeister  könne  sich  in  dieselbe  nicht  hinein- 
finden. So  schlimm  ist  cs  aber  damit  nicht  bestellt.  Als  unmittel- 
bar vor  Einführung  der  Bäckereiverordnung  und  unmittelbar  nachher 
in  der  Presse  lebhafte  Beschwerden  der  Interessenten  über  die  Ver- 
ordnung laut  wurden,  hat  die  Reichsregierung  unter  dem  23.  Sep- 
tember 1896  ein  Rundschreiben  an  die  verbündeten  Regierungen 
gerichtet,  in  welchem  gebeten  wurde,  die  Wirksamkeit  der  Ver- 
ordnung zu  beobachten  und  über  etwaige  Mifsständc  zu  berichten. 
Der  Regicrungsvcrtreter  teilte  im  Reichstage  s)  mit,  dals  nach  ein- 
zelnen Regierungen , welche  schon  Auskunft  erteilt  hätten , die 
Bäckermeister  hier  und  da  sich  beklagen  und  dafs  cs  den  Anschein 
gewinne,  als  ob  das  Verhältnis  zwischen  Gesellen  und  Meister  sich 
nicht  verbessert  habe.  Indessen  sei  diese  Wahrnehmung 
nicht  überall  im  Reiche  gemacht  worden.  Derart  standen 
die  Verhältnisse  kurz  nach  Einführung  der  Verordnung.  Hören  wir 
die  späteren  Berichte  der  Gewerbeinspektoren,  so  ist  „das  Ergebnis 
der  amtlichen  Ermittelungen  ein  dicker  Strich  durch  die  von  den 
Wortführern  der  Bäckermeister  entworfenen  Schrcckbilder“,  wie 
Ohlenberg !l)  in  seinem  Aufsatze:  „Die  Bäckereiverordnung  in  der 
Praxis“  schreibt.  Der  Schriftsteller  führt  unter  anderem  an,  dafs 
der  Obermeister  in  einer  Stadt  des  Ostens  dem  Gewerbeinspektor 
versicherte,  die  Verordnung  sei  für  die  Entwicklung  und  Schaffens- 


*)  Reichstag  vom  22.  April  1896,  S.  1S63  (D). 
f)  Reichstag  vom  13.  Januar  1897,  S.  41*02  (I)). 
a]  Soziale  Praxis  vom  1.  Juni  1899,  Sp.  937. 


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Arbeiter-  und  Knnsumentcnsehulr  im  Bäckergewerbe.  0 1 

freudigkeit  des  Bäckereipersonals  segensreich  und  dazu  angetlian, 
mit  der  Zeit  ein  besseres  Einvernehmen  zwischen  Meister  und 
Gesellen  herbeizuführen. 

Neuerdings  wird  auch  über  die  Bäckereiverordnung  im  Bericht 
der  Gewerbeaufsicht  Baden  mitgeteilt,  dafs  die  Vorschriften 
vom  4.  März  1896  als  vollständig  durchgeführt  gelten 
können  und  dafs  die  festgestellten  Uebertretungen  sich  in  den 
normalen  Grenzen  halten.  Auch  die  Arbeiterschaft  erkenne  die 
genügende  Durchführung  dieser  Bestimmungen  an.  Ebenso  stülst 
im  Dresdener  Bezirk  die  Bäckereiverordnung  nicht  mehr  auf  grol'sen 
Widerstand.  Von  den  1872  Bäckereien  und  Konditoreien,  die 
revidiert  wurden,  verstiefsen  78,  also  etwa  4 Proz.  gegen  die  Vor- 
schriften. Eine  der  Polizeibehörden  im  Dresdener  Bezirk  bezeugt 
ferner:  „Es  hat  sich  aufs  neue  gezeigt,  dals  sich  die  Vorschriften 
der  Verordnung  mehr  und  mehr  eingclebt  und  zu  gröfseren 
unliebsamen  oder  unzufriedenen  Aussprachen  aus  den  beteiligten 
Kreisen  nicht  Anlafs  gegeben  haben“. 

In  dem  Jahresberichte  der  württembergischen  Fabrikinspektion 
sagt  der  Inspektor  für  den  ersten  Bezirk:  „Die  achtstündige  Minimal- 
ruhe im  Bäckergewerbe  glaubt  die  Mehrzahl  der  Meister  nicht  ein- 
halten  zu  können,  während  einzelne  z u g e b e n , d a l’s  in 
ihrem  Betrieb  die  Minimalruhe  einzuhalten  keine 
Schwierigkeit  mache;  es  müssen  eben  Meister  und  Gesellen 
harmonieren,  auch  müsse  die  Einrichtung  und  auch  die  Ge- 
hilfenzahl dem  Umfang  des  Geschäftes  entsprechen. 
Letztere  Bedingung  ist  ohne  weiteres  einleuchtend,  erfordert  aber 
gröfsere  Mittel,  die  nicht  jedem  zur  Verfügung  stehen." 

Jedweder  wird  der  Ansicht  sein,  dafs  ein  Meister,  der  die 
Mittel  zu  einer  geordneten  Geschäftsführung  nicht  hat,  den  Bäckerei- 
betrieb unterlassen  mufs,  zumal  wenn  er  die  Aufrechterhaltung 
desselben  nur  durch  das  Opfer  der  Gesundheit  seiner  Gesellen 
erkaufen  kann. 

Der  Abgeordnete  Bebel  ist  nicht  einmal  mit  dem  bestehenden 
Zustande  zufrieden.  Er  drückte  sich  in  dieser  Hinsicht  bei  der 
Reichstagsdebatte  am  13.  Januar  1897  drastisch  folgendermalsen 
aus:  „Seinem  Pferde,  seinem  Ochsen,  seinem  Esel  wird  er  (nämlich 
der  Bäckermeister)  nicht  blofs  acht  Stunden  gönnen,  seine  Tiere 
wird  er  nicht  sechzehn  Stunden  anspannen;  er  würde  sich  sagen: 
dann  ruinierst  du  dein  Pferd,  deinen  Ochsen,  deinen  Esel  und  das 
kostet  Geld,  aber  der  Geselle  kostet  kein  Geld.“ 


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62 


M.  v.  Schulz, 


Wenn  auch  die  Bäckermeister  nicht  so  bösartig  veranlagt  sind, 
wie  der  Abgeordnete  anzunehmen  scheint,  so  dürfte  die  von  den 
Meistern  behauptete  und  gegen  die  Verordnung  vom  4.  März  1896 
angeblich  sprechende  Undurchführbarkeit  der  ununterbrochenen  acht- 
stündigen Ruhe  freilich  oft  auf  Sparsamkeitsrücksichten  zurück- 
zuführen sein.  Der  Gewerbeinspektor  für  den  dritten  württem- 
bergischen  Bezirk  bemerkt  hierzu:  „Diese  (die  Undurchführbarkeit 
der  achtstündigen  Ruhe)  wird  von  einem  anderen  Bäckermeister 
rundweg  bestritten,  der  die  Nichteinhaltung  dieser  Bestimmung 
darauf  zurückführt,  dafs  ein  erheblicher  Teil  der  Bäckermeister  aus 
Sparsamkeitsgründen  von  ihrer  althergebrachten  Arbeitsmethode 
nicht  ablassen  wolle.  Anstatt  die  im  Preis  höher  stehende  Prefs- 
hefe  zu  verwenden,  durch  welche  die  Zeit  des  Vorteigmachens  um 
2 — 3 Stunden  hinausgeschoben  werden  könne,  würde  die  billigere 
Bierhefe  verwendet.  Dies  habe  die  Unterbrechung  der  achtstündigen 
Ruhezeit  zur  Folge,  wenn  nicht  gerade  der  Meister  selbst  das  Vor- 
teigmachen besorge.  Dieses  von  einem  erfahrenen  Bäckermeister 
geäufserte  Urteil,  an  dessen  Richtigkeit  zu  zweifeln  die  Gewerbe- 
inspektion keinen  Grund  hat , weist  auf  eine  bedauerliche  Kurz- 
sichtigkeit in  jenen  Kreisen  hin,  deren  Folgen  sich  durch  das  Fern- 
bleiben der  tüchtigen  Bäckergehilfen,  die  eine  strikte  Durchführung 
der  gesetzlichen  Bestimmungen  verlangen,  schon  bemerkbar  machen 
werden.“ 

Der  Gewerbeinspektor  erklärte,  dafs  im  allgemeinen  die 
befragten  Bäckermeister  sich  dahin  geäufsert  haben, 
dafs  man  mit  tüchtigen  Bäckergehilfen  den  zwölf- 
ständigen  Maximalarbeitstag  ein  halten  könne. 

Auch  Oldenberg  hält  endlich  „die  Möglichkeit  und  Zweck- 
mäfsigkeit  einer  Abkürzung  der  Arbeitszeit  für  wahrscheinlich".') 
Trotz  alledem  wird  Zeitungsnachrichten  zufolge  im  Bundesrat  er- 
wogen, ob  es  nicht  vorteilhaft  wäre,  den  Maximalarbcitstag  fallen 
zu  lassen  und  die  Minimalruhezeit  einzuliihren.  Die  F.  A.  Günther- 
schc  Bäcker-  und  Konditorzeitung  *)  berichtet  aus  der  „Kölnischen 
Zeitung"  über  den  Entwurf  einer  neuen  Verordnung:  „Der  Entwurf 
unterscheidet  sich  von  den  bestehenden  Vorschriften  hauptsächlich 
dadurch,  dafs  nicht  die  Dauer  der  Arbeitsschichten, 

*)  Oldenberg  a.  a.  O.,  S.  150. 

*)  Nr.  79  vom  2.  Oktober  1900.  Ferner  Soziale  Praxis  vom  28.  Februar  1901, 
Sp.  529  fr.  und  vom  I.  Juni  1899,  Sp.  945  ; endlich  Reichstag  den  12.  Januar  d.  J.,  S.  644. 


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Arbeiter-  und  Konsumentensebutz  im  Bäckergewerbe. 


63 


sondern  die  Dauer  der  Pausen  zwischen  den  Arbeits- 
schichten festgesetzt  wird.  Die  Ruhezeit  soll  für  jeden 
Gesellen  mindestens  10  Stunden  betragen , die  nur  innerhalb  der 
letzten  beiden  Stunden  und  nur  für  höchstens  eine  halbe  Stunde 
behufs  Herstellung  des  Vorteiges  unterbrochen  werden  darf.  Werden 
den  Gehilfen  nicht  während  der  Arbeitsschicht  mindestens  zwei 
halbstündige  Pausen  oder  eine  einstündige  Pause  gewährt,  so  mul's 
die  Ruhezeit  mindestens  elf  Stunden  betragen,  ln  der  Woche 
müssen  mindestens  sieben  Ruhezeiten  gewährt  werden,  während  die 
Arbeitsschicht  einschliefslich  der  Pausen  nicht  länger  als  1 5 Stunden 
dauern  darf.  Für  Lehrlinge  unter  16  Jahren  ist  eine  Ruhezeit  von 

12  oder  13  Stunden  vorgeschrieben,  die  Arbeitsschicht  darf  höchstens 

13  Stunden  dauern.  An  20  Tagen  im  Jahre  kann  die  Ortspolizei- 
behörde Ausnahmen  zulassen.  Wird  den  Gehilfen  und  Lehrlingen 
für  den  Sonntag  eine  mindestens  24  ständige,  spätestens  am  Sonn- 
abend Abend  um  10  Uhr  beginnende  Ruhezeit  gewährt,  so  darf 
die  vorhergehende  Ruhezeit  bei  den  Gehilfen  bis  auf  vier,  bei  den 
Lehrlingen  unter  16  Jahren  auf  6 Stunden  verkürzt  werden.  Sofern 
die  für  den  Sonntag  zu  gewährende  Ruhezeit  am  Sonnabend  späte- 
stens um  6 Uhr  abends  beginnt  und  mindestens  30  Stunden  dauert, 
darf  die  Herstellung  des  Sonntagsbedarfs  an  Backwaren  unmittelbar 
an  die  vorhergehende  Arbeitsschicht  angeschlossen  werden.  Dabei 
darf  jedoch  aber  die  Gesamtdaucr  der  Beschäftigung  einschliefslich 
der  Pausen  für  die  Gehilfen  17  Stunden,  für  die  Lehrlinge  unter 
16  Jahren  15  Stunden  nicht  überschreiten.“ 

Man  vermutet,  dafs  den  Bäckermeistern  durch  die  neue  Ver- 
ordnung ein  Entgegenkommen  gezeigt  werden  solle,  als  eine  Art 
von  Kompensation  dafür,  dafs  sie  sich  die  noch  unten  zu  erwäh- 
nenden notwendigen  Mafsregeln  der  Hygiene  zukünftig  gefallen 
lassen  müssen.  Eis  blieb  nicht  aus,  dafs  gegen  die  beabsichtigte 
Veränderung  des  Arbeiterschutzes  in  Bäckereien  die  Gehilfen  sich 
erhoben.  Versammlungen  der  Berliner  Bäckereiarbeiter  am  12.  März 
und  7.  Mai  19011}  und  die  achte  Generalversammlung  des  Ver- 
bandes der  Bäcker  und  Berufsgenossen  Deutschlands  in  Mainz  am 
II.  April  1901*)  traten  für  die  Beibehaltung  des  Maximalarbeits- 
tages ein. 

Wir  wollen  nunmehr,  bevor  wir  zu  den  sanitären  Zuständen 


*)  „Vorwärts“  vom  13.  März  und  8.  Mai  1901. 
f)  „Vorwärts“  vom  It.  April  1901,  Hauptblatt  S.  3. 


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64 


M.  v.  Schulz, 


im  Bäckergewerbe  übergehen,  einen  Ueberblick  geben  über  die 
Wege  zum  Arbeiterschutz,  welche  dem  Bundesrat  offen  standen,  als 
er  1896  sich  für  den  Maximalarbeitstag  entschied.  Er  hatte  noch 
drei  Wege : 

Der  Bundesrat  konnte  die  Minimalruhezeit  wählen,  welche  jetzt 
in  Erage  kommt  und  seinerzeit  von  der  Minderheit  der  Reichs- 
kommission  für  Arbeiterstatistik  befürwortet  war.  Man  hielt  im 
Reichstage  die  Einführung  dieser  Ruhezeit  nicht  für  angebracht, 
„weil  sie  den  Anreiz  bieten  könnte,  die  dann  freigelassene  Zeit  aufs 
äufserste  auszunützen  und  weil  hier  der  gute  Wille  des  Gesetz- 
gebers vielleicht  das  Gegenteil  dessen  erreichen  könnte,  was  er 
erstrebt".1)  Der  Abgeordnete  Richter  war  dagegen  für  die  Minimal- 
ruhezeit,  durch  welche  man,  wie  er  bemerkte,  wohl  fast  sämtliche 
Vorteile  der  Bestimmungen  der  Bäckereiverordnung  erreicht  haben 
würde,  ohne  die  Nachteile  und  ohne  die  so  überaus  komplizierte 
und  ganz  unausführbare  Kontrolle.4) 

Auf  dem  zweiten  Wege  käme  der  Bundesrat  zur  „Maximal- 
arbeitswoche“. ■1)  Habe  man  die  Maximalarbeitswoche,  so  wurde 

Januar  1897  im  Reichstage  ausgeführt,  dann  fallen  alle  jene  von  den 
Meistern  erhobenen  Bedenken  inbezug  auf  technische  Schwierig- 
keiten hinweg;  gleichwohl  erreiche  man  den  Schutz  des  Bäckerei- 
arbeiters und  vermeide  eine  allzu  grofse  Einengung  der  Bäcker- 
meister und  eine  Beschleunigung  des  in  der  Entwicklung  begriffenen 
Grofsbetriebes.  Oldenbcrg  ist  indels  ein  Gegner  der  Maximalarbeits- 
wochc,  weil  die  schon  jetzt  schwierige  Kontrolle  durch  Schaffung  der 
Maximalarbcitswochc  vollends  auf  Denunziation  basiert  sein  würde. 
Bekanntlich  wird  dem  augenblicklich  bestehenden  Maximalarbeits- 
tagc  und  den  über  denselben  gegebenen  Vorschriften  vorgeworfen, 
die  Gesellen  zur  Denunziation  zu  verleiten. 

Wir  kommen  endlich  zu  dem  Mittel:  durch  Verbot  der  Nacht- 
arbeit4) die  Arbeiter  zu  schützen.  Hier  ist  hervorzuheben,  dafs  bei 
der  Reichstagsdebatte  am  22.  April  : 896  über  den  Maximalarbeitstag 
der  Abgeordnete  Hitze  an  die  Bäckermeister  die  Aufforderung  rich- 

')  Reichstag  vom  13.  Januar  1897,  S.  4011. 

•)  Reichstag  vom  22.  April  1896,  S.  1877. 

■v)  ln  England  haben  die  Gesellen  die  Maximalarbeitswoche  empfohlen  (Olden- 
burg a.  a.  O.,  S.  138). 

•|  l'eber  die  Nachtarbeit  im  Bäckergewerbe  und  die  Bemühungen  sie  zu  be- 
seitigen, siehe  Oldenbcrg,  Maximalarbeitstag  S.  160 ff.  Siehe  hierzu  F.  A.  Gün- 
thers Bäcker-  um!  Konditorzcitung  Nr.  44.  vom  I.  Juni  1900. 


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Arbeiter-  und  Konsumentenschutz  im  Bäckergewerbe. 


65 


tete,  unter  sich  zu  vereinbaren,  die  Nachtarbeit  abzu- 
schaffen. Wenn  die  Bäcker  sich  in  diesem  Sinne  einigten,  dann 
sei  für  sie  auch  die  ganze  ihnen  so  unangenehme  Verordnung  be- 
seitigt, da  diese,  wenn  blofs  Tagesschicht  sei,  nicht  zutreffe.  In 
jüngster  Zeit  ist  wiederum  der  Abschaffung  der  Nachtarbeit  das 
Wort  geredet  worden.1)  Thatsächlich  besteht  die  Nachtarbeit  in 
Deutschland  noch  nicht  lange  und  allgemein.  „Unsere  Grofsväter 
sind  alle  noch  ohne  frisches  Frühstücksgebäck  aufgewachsen.“  *)  Der 
Abgeordnete  Hitze  bemerkte  im  Reichstage,  dafs  die  Nachtarbeit 
gar  kein  Bedürfnis  sei,  das  technisch  erforderlich  wäre.  Es  gebe 
Gegenden , z.  B.  am  Rhein , in  Westfalen , in  denen  die  Sonntags- 
arbeit in  Bäckereien  unbekannt  sei.  Das  Publikum  habe  sich  daran 
gewöhnt  und  gebe  sich  zufrieden  mit  den  Brötchen,  die  am  Vor- 
abend gebacken  seien  und  so  könnte  die  Nachtarbeit  sehr  wohl 
beseitigt  werden.3)  Auch  Oldenberg  weist  darauf  hin,  dafs  die  vor- 
wiegend grofestädtische  Nachtarbeit  nur  des  Weifsbrotes  wegen  da 
sei,  das  zum  Frühstück  frisch  und  pünktlich  geliefert  werden  solle. 
Mit  einem  etwas  anderen  Gebäck  ginge  es  auch  anders.4) 

Neuerdings  machte  sich  deshalb  eine  Bewegung  unter  den 
Berliner  Bäckermeistern  selbst  bemerkbar  für  Abschaffung  der 
Nachtarbeit.  Man  plante  die  Absendung  einer  Eingabe  an  die 
Behörden  mit  der  Forderung,  dafs  die  Arbeiten  in  den  Bäckereien 
vor  4 Uhr  morgens  nicht  in  Angriff  genommen  werden  dürften. 
Eis  könnte  dann,  so  heifst  es  in  der  Begründung,  um  7 Uhr  früh 
die  erste  frische  Backware  an  das  Publikum  geliefert  werden.  Die 
Markthallen,  Militärkantinen,  Bahnhöfe  und  Gasthöfe  müfsten  sich 
zum  Teil  abends  vorher  mit  Back  wäre  versorgen,,  ebenso  diejenigen 

*)  Der  „ Arbeitsmarkt“  vom  l.  Juli  1901,  Sp.  337  ft. 

*)  Der  „Arbeitsmarkt“  vom  I.  Juli  1901,  Sp.  341. 

3)  Reichstag  vom  22.  April  1896,  S.  1854  (D). 

Die  Bäckergesellen  in  Holland  haben  die  Nachtarbeit  zu  beseitigen  versucht, 
doch  ohne  Erfolg.  Die  Bewegung  fand  über  die  Arbeiterkreise  hinaus  Unterstützung. 
So  hatte  sich  zu  ihrer  Förderung  in  Amsterdam  ein  aus  vielen  der  angesehensten 
Damen  zusammengesetztes  Frauenkomitee  gebildet.  Die  von  den  Gesellen  unter- 
nommene Bewegung  scheiterte  zumeist  infolge  der  mangelnden  Organisation.  Unter 
dem  Druck  der  Konkurrenz  mulstc  sogar  die  Bäckerei  des  grofsen  Konsumvereins 
„Eigen  Hulp“  die  Nachtarbeit  von  neuem  cinführen  (Soziale  Praxis  VII.  Jahrgang, 
Sp.  94  und  4411.  „Das  I Lochgeneigte  Publikum  wünscht  überall  zum  FriihstückskatTee 
frisch  gebackene  Semmeln  zu  bekommen.“  (Soziale  Praxis  X.  Jahrgang,  Sp.  J&O). 

4)  Soziale  Praxis  V.  Jahrgang,  Sp.  77,  und  Oldenberg,  Maximalarbcitstag,  S.  46. 

Aichiv  für  soz.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVII.  5 


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66 


M.  v.  Schulz 


Kreise  der  Bevölkerung,  die  aufsergewöhnlich  früh  Kaffeegebäck 
wünschen. 

Die  Befürworter  der  Aufhebung  der  Nachtarbeit  fanden  jedoch 
nicht  genügende  Unterstützung.  Fis  entwickelte  sich  infolgedessen 
eine  Agitation  unter  den  Bäckermeistern,  welche  dahin  ging:  Mit 
der  Beschäftigung  der  Gesellen  solle  um  i Uhr  morgens  begönnert 
werden,  während  bisher  regelmäfsig  die  Arbeit  in  den  Bäckereien 
bereits  um  9 Uhr  abends  anfing.  Die  Meister  waren  sich  jedoch 
darüber  klar,  dafs  diese  Einschränkung  der  Nachtarbeit  gesetzlich 
fcstgelegt  werden  müsse,  um  hierdurch  der  unlauteren  Konkurrenz 
zu  begegnen.1)  Fis  ist  leider  nicht  gelungen  die  leitenden  Personen 
der  Bäckermeisterverbände  für  die  Absendung  einer  Petition  im 
Sinne  der  erwähnten  Fiinschränkung  der  Nachtarbeit  zu  gewinnen. 
Im  Juli  d.  J.  hatten  die  Innungsmeister  der  „Concordia"  Verbandstag 
in  Krossen.  Die  Frage  der  Nachtarbeit  stand  zwar  auf  der  Tages- 
ordnung, wurde  aber  abgesetzt,  nachdem  der  Obermeister  Gemeinhard 
es  für  verfrüht  bezeichnete,  über  die  Abschaffung  der  Nachtarbeit 
zu  verhandeln.  Im  Interesse  des  Friedens  unter  den  Bäckermeistern 
sei  eine  weitere  Agitation  nicht  ratsam.5)  Die  Berliner  Bäcker- 
gesellen scheinen  augenblicklich  an  die  Möglichkeit  der  Beseitigung 
der  Nachtarbeit  ebenfalls  nicht  zu  glauben.  In  ihrer  Versammlung 
im  Juli  d.  J.  nahmen  sie  eine  Resolution  an,  dafs  ihre  nächste 
Forderung,  die  Abschaffung  des  Kost-  und  Logiswesens  sei ; dann 
erst  können  sie  an  ihre  vornehmste  Forderung  — Aufhebung  der 
Nachtarbeit  — denken/1) 


J)  „Vorwärts“,  Beilage  vom  4.  Juni  1901,  Nr.  127,  und  „Berliner  Neuesten 
Nachrichten“  vom  28.  Juni  1901.  No.  297. 

*)  „Vorwärts“  vom  17.  Juli  1901.  Die  hiesige  Bäckerinnung  „Germania“ 
erklärte  sich  mit  den  Beschlüssen  der  Bäckermeister  auf  dem  Verbandstage  in  Krossen 
einverstanden. 

Es  sei  hier  erwähnt,  dafs  in  einer  Petition  der  österreichischen  Bäckergesellen 
an  den  Reichsrat  die  Notwendigkeit  der  Nachtarbeit  nicht  anerkannt  wird.  Dennoch 
wollen  aber  die  Gesellen  in  diesem  Punkte  «len  Wünschen  des  Publikums  Rechnung 
tragen.  Als  Aequivalent  fordern  sie  Verkürzung  der  Arbeitszeit  („Vorwärts“  vom 
15.  Mai  1901). 

*)  Die  Gerechtigkeit  verlangt  es,  hier  einem  Irrtum  der  Bäckergesellen  ent- 
gegenzutreten: Vor  dem  Berliner  Einigungsamt  ist  «len  Gesellen  von  ihren  Meistern 
versprochen  worden,  an  den  drei  h«»hen  Festen  ihnen  je  eine  Nacht  freizugeben. 
Die  Arbeiter  behaupten,  dafs  nur  ein  verschwindender  Teil  der  Bäckermeister  diese 


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Arbeiter*  und  Konsumcntenschutz  im  Bäckcrge werbe. 


67 


Während  der  Verhandlung  der  Berliner  Bäckermeister  mit  ihren 
Gesellen  vor  dem  Einigungsamt  am  7.  Juli  v.  durch  welche  die 
zwischen  diesen  Gewerbetreibenden  bestehenden  Differenzen  auf 
gütlichem  Wege  gelöst  wurden , vertraten  die  Gesellen  auch  die 
Forderung  auf  Abschaffung  des  Kost-  und  Logiswesens.*)  Es  wurde 


Neuerung  eingefilhrt  habe.  Die  Führer  der  Meisterschaft  hätten  aber  bis  heute 
noch  nicht  einen  Finger  gerührt,  den  genannten  Vergleiehsbestiinmungen 
Geltung  zu  verschaffen.  („Vorwärts“  vom  25.  Mai  d.  J.).  Diese  Ausführungen  ent- 
sprechen nicht  den  Thatsachen.  Der  Zentralvcrband  der  Deutschen  Bäckerinnungeii 
„Germania“  hat  vielmehr  an  den  Bundesrat  unter  dem  21.  September  1900  eine 
Hingabe  behufs  Durchführung  der  „Freinacht“  gerichtet  (Soziale  Praxis  X Jahrgang, 
Sp.  10  und  F.  A.  Günthers  Bäcker-  und  Konditorzeitung  vom  25.  September  1900, 
Nr.  77).  Der  Bundesrat  wurde  von  dem  Zentralverband  ersucht,  eine  Verordnung 
dahin  zu  erlassen , dafs  die  höheren  Verwaltungsbehörden  ermächtigt  werden , in 
einzelnen  Gemeinden  die  Arbeit  in  den  Bäckerei-  und  Konditorcibetrioben  vom 
ersten  Feiertag  früh  8 Uhr  bis  zum  zweiten  Feiertag  abends  8 Uhr  an  den  drei 
Ilauptfesten : Ostern,  Pfingsten  und  Weihnachten,  zu  verbieten,  wenn  zwei  Drittel 
der  beteiligten  Gewerbetreibenden  dies  beantragen.  Die  Meister  begründeten  ihr 
Gesuch  damit,  dafs  cs  aussichtslos  sei,  „durch  freie  Vereinbarung  die  Bäckermeister 
zu  veranlassen,  in  der  Nacht  vom  ersten  zum  zweiten  Feiertag  nicht  arbeiten  zu 
lassen ; den  Gesellen  abwechselnd  je  an  einem  F'eicrtage  eine  Krcinacht  zu  gewähren, 
scheitere  daran,  dafs  Aushilfe-Gesellen  an  diesen  Tagen  überhaupt  nicht  zu  haben 
sind“.  (Siehe  hierzu  F.  A.  Günthers  Bäcker-  und  Kunditorzcitung  vom  5.  Oktober 
1900,  Nr.  80:  Fürsorge  der  Germania  und  vom  26.  Oktober  1900,  Nr.  861.  Da 
über  den  Erfolg  der  Fangabe  nichts  bekannt  wurde,  wurde  Nachfrage  im  RcichsanU 
des  Innern  gehalten.  Diese  ergab,  dafs  der  Bundesrat  auf  das  Gesuch  nicht  ein- 
gehen  kann,  weil  die  Gewerbeordnung  keine  Handhabe  dazu  bietet  (F.  A.  Günthers 
Bäcker-  und  Konditorzeitung  vom  II.  Dezember  1900,  Nr.  99  I.  Beilage).  Jedenfalls 
ist  hiernach  der  Vorstand  des  Verbandes  ehrlich  bestrebt  gewesen , die  gemachten 
Zusagen  zu  erfüllen.  Der  Konkurrenz  der  Meister  gegenüber  scheint  der  Vorstand 
machtlos  zu  sein.  Er  kann  sein  Versprechen  nicht  halten. 

Eine  Fürsprache  der  Beseitigung  der  Nachtarhbeit  ist  übrigens  in  beachtens- 
werter Weise  der  Gcwerbcaufsichtsbeamtc  für  Unter-F.lsafs.  Er  sagt:  „Die  grolsc 
Mehrzahl  der  Bäckermeister  und  ihrer  Frauen  in  Stadt  und  Land  und  erst  recht  die 
grofse  Mehrzahl  der  Bäckergesellen  werden  es  mit  Freuden  brgrüfsen,  wenn  der 
Bundesrat  die  Nachtarbeit  in  den  Bäckereien  untersagen  wollte ; Meister  wie  Gesellen 
sind  der  Ansicht,  dafs  erst  dadurch  für  das  Gewerbe  menschenwürdige  Zustände  ge- 
schaffen werden  würden  u.  s.  w.  (Vorwärts  vom  22.  September  1901). 

*)  Soziale  Praxis  vom  21.  Juni  1909,  Sp.  984  fr. 

*)  Siehe  hierüber  die  Notizen  im  VIII.  Jahrgange  der  Sozialen  Praxis,  Sp.  J47, 
172,  254,  283,  368,  482,  565,  590  und  645. 

Die  Bäckergesellen  Hamburgs  strikten  1898,  um  hauptsächlich  die  Beseitigung 


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68 


M.  v.  Schulz, 


damals  von  den  Arbeitnehmern  behauptet,  dafs  das  jetzige  Kost-  *) 
und  Logiswesen  die  Gesellen  für  die  Zeit  der  Arbeitslosigkeit  *)  in 
die  sogenannten  Bäckerpennen  *)  triebe  und  dafs  in  den  Arbeits- 


dcs  Kost-  und  Logiswesens  durchzusetzen  (Soziale  Praxis  vom  30.  Juni  1898, 

Sp.  1025). 

In  Leipzig  und  in  München  traten  anfangs  1899  die  Bäckergesellen  ebenfalls 
mit  der  Forderung  nach  Abschaffung  von  Kost  und  Logis  hervor  (Soziale  Praxis, 
VIII.  Jahrgang,  Sp.  590!.  Nachträglich  verzichteten  die  Gesellen  in  München  auf 
die  Beseitigung  des  Wohnzwangcs.  Dennoch  kam  es  dort  zum  Ausstand  (a.  a.  O., 
Sp.  850),  welcher  zu  Gunsten  der  Arbeitnehmer  endete  (a.  a.  O.,  Sp.  956).  Juni  1900 
entstanden  die  Bäckcrstrikcs  in  Leipzig  und  in  Frankfurt  a./M. , durch  welche  in 
erster  Linie  die  Aufhebung  des  bisherigen  Kost-  und  Logiswesens  erkämpft  werden 
sollte  (Soziale  Praxis,  IX.  Jahrgang,  Sp.  923).  Vergl.  dazu  bezüglich  der  Schlaf- 
stätten der  Berliner  Bäcker  Lehwcfs:  das  Bäckergewerbc  in  Berlin  in  den 
„Schriften  des  Vereins  für  Sozialpolitik  LXVIII“.  Untersuchungen  Uber  die  Lage 
des  Handwerks  in  Deutschland  Bd.  VII,  S.  160:  „Räume,  in  denen  am  Tage  ein 
oder  mehrere  Gesellen  schlafen,  während  zur  Nachtzeit  in  denselben  Belten  die 
Mädchen  liegen,  Räume,  in  denen  nicht  selten  auch  Backroatcrial,  wie  Mehl,  Hefe, 
Zucker  u.  s.  w.  aufbewahrt  wird,  sind  noch  nicht  in  dem  Mafsc  anstöfsig, 
dafs  sic  nicht  von  einem  Innungsmeister,  der  zugleich  Stadtverordneter  ist,  in  der 
Stadtverordnetenversammlung  (Bäcker-  und  Konditorzeitung  Stuttgart  XXI  1886) 
zur  Sprache  gebracht  werden  könnten.  Man  kann  sich  danach  ohne  Detailschil- 
derungen  ein  Bild  von  den  „Wohnräumen“  machen,  deren  Zustand  einer  Beschreibung 
fast  nicht  fähig  ist." 

')  Die  im  übrigen  von  den  Gesellen  fast  durchweg  bemängelte  Beköstigung 
durch  den  Meister  hat  hier  für  uns  kein  Interesse.  Nur  sollte  cs  nicht  gestattet 
sein  die  Arbeitsräume  als  Spciselokalc  für  die  darin  Arbeitenden  zu  benutzen  (Sozialc 
Praxis  VII.  Jahrgang,  Sp.  1290).  Bezüglich  des  Kostwesens  lese  man  die  Zeitschrift 
„der  Bäcker".  Berlin  vom  27.  Januar  1897,  S.  3,  Sp.  2 a.  E.  und  Sp.  4.  Man  wird 
dort  von  dem  guten  Verhältnis  zwischen  Meister  und  Gesellen,  welches  angeblich 
durch  die  stark  befehdete  Bundcsralsverordnung  vom  4.  März  1896  zerstört  wird 
wenig  merken.  Siehe  sonst  „Beitrag  zur  Lage  der  Bäckereiarbeiter  Berlins“.  Verlag 
von  F".  Schneider,  S.  13,  14,  2t,  23  und  24. 

*)  Ucber  Arbeitslosigkeit  und  „Lehrlingszüchtung"  im  Bäckergewerbc  siche 
Oldcnberg  in  der  Sozialen  Praxis  VII.  Jahrgang,  Sp.  1099fr.,  VIII.  Jahrgang 
Sp.  25 — 30  und  „Maximalarbeitstag“  S.  59,  51,  io2,  103  und  16S.  Dagegen  der 
„Arbeitsmarkt“  vom  15.  Juli  1901  Sp.  356  und  Soziale  Praxis  vom  1.  Juni  1899 
Sp.  140  a.  E. 

’l  Nach  den  polizcilichcrscits  angestcUtcn  Ermittelungen  existieren  in  Berlin 
vielleicht  noch  mehr  als  40  sogenannte  Bäckerpcnnen.  Sic  werden  zum  gröfsten 
Teil  von  früheren  Bäckern  — alten  Bäckergesellen,  die  nicht  mehr  arbeiten  — unter- 
halten. Hier  liegen  nicht  selten  6,  8 und  mehr  Männer  in  einem  Kaum.  Die 


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Arbeiter-  und  Konsumentenschutz  im  Häckergewerbe. 


69 


und  Schlafräumen  vieler  Bäckereien  häufig  eine  grofse  Unsauberkeit 
sich  zeigte.  Wenn  auch  zweifelsohne  in  Berlin  zahlreiche  Bäckereien 
vorhanden  sein  werden,  in  denen  die  von  den  Bäckergesellen 
behaupteten  Schmutzereien  nicht  zu  finden  sind, ')  so  bestätigen 
dennoch  die  Erhebungen  der  Bäckergesellen  vom  Jahre  1 900,  -)  von 
welchen  vor  dem  Einigungsamt  und  bei  den  Beratungen  des  Ge- 


Bäckerpennen  sind  uralt  und  durch  die  merkwürdigen  Verhältnisse  im  Bäckergewerbe 
hervorgerufen;  in  früheren  Jahren  soll  die  Wirtschaft  in  ihnen  teilweise  noch  ärger 
gewesen  sein  als  heute. 

Die  bestehenden  Ucbclständc  sind  auf  folgende  Gcschäftscigcntümlichkciten 
zurückzuführcn : 

1.  dafs  die  Gesellen  gröfstcnteils  im  Hause  des  Meisters 
wohnen. 

2.  dafs  auf  die  14  tägige  gesetzliche  Kündigungsfrist  von  beiden  Seiten  beim 
Abschlufs  des  Arbeitsvertrages  verzichtet  wird  und  eine  tägliche  Kündigung  bis 
vormittags  10  Uhr  üblich  ist. 

Ein  aus  der  Arbeit  gehender  Bäckergeselle  sucht  sich  absichtlich  keine  Schlaf- 
stelle, weil  er  dort  nicht  nach  Belieben  ein-  und  ausziehen  kann,  sondern  geht  in 
eine  ,, Bäckerpenne“,  hier  ist  er  stets  gern  gesehen.  Das  mitgebrachte  Geld  ist  bald 
verspielt  und  vertrunken.  Alsdann  borgt  der  Pennenwirt  Kost  und  Logis,  bis  der 
Geselle  wieder  arbeitet  und  zahlungsfähig  ist.  Um  abzuhelfen,  hat  die  Bäckerinnung 
„Concordia“  gesunde  Schlafräume  mit  145  Betten  für  arbeitslose  Bäckergesellen  in 
ihrem  Innungshause  geschaffen.  Ebenso  unterhält  die  Bäckerinnung  „Germania“  eine 
Herberge  mit  22  Betten.  Es  wird  uns  berichtet,  dafs  diese  Herbergen,  in  denen 
man  für  wenig  Geld  wohnen  kann,  rcgelmäfsig  nur  von  Bäckergesellen  in  Anspruch 
genommen  werden,  die  erst  von  aufscrhalb  nach  hier  zugereifst  sind. 
Sobald  sic  hier  erst  in  Arbeit  waren , werden  sie  von  ihren  Nebengesellcn  den 
sogenannten  Pennen  zugeführt.  Die  Bäckerinnung  „Concordia“  giebt  infolgedessen 
auch  anderen  Handwerksgesellen  in  ihrem  Innungshause  Logis. 

Darauf  erwidern  die  Gesellen,  dafs  sie  einmal  den  Hang  haben  unter  sich 
allein  zu  sein.  Was  die  Herberge  der  „Concordia“  anlangc,  so  würden  ferner  die 
Bäcker,  wenn  sie  dort  Unterkunft  suchten,  nicht  etwa  bevorzugt.  Man  nehme  in  der 
Herberge  unterschiedslos  Handwerksburschen  aller  Art  auf.  Endlich  sei  das  in  der 
Herberge  der  „Concordia“  verkehrende  Publikum  keineswegs  ein  gutes. 

')  Der  Abgeordnete  Dr.  Oertcl  äufserte  in  der  Reichstagssitzung  vom  12.  Januar 
d.  J.  nach  dieser  Richtung  hin  folgendes:  Ich  kenne  Bäckercibctriebc  in  Kellern 
hier  in  Berlin  und  anderwärts,  die  sanitär  geradezu  musterhaft  sind. 
Ich  würde  mich  selber  darin  gern  aufhalten,  wenn  ich  nicht  anderweitig  beschäftigt  wäre. 

*)  Beitrag  zur  Lage  der  Bäckcrciarbeitcr  Berlins.  Ergebnis  statistischer  Er- 
hebungen, veröffentlicht  von  der  Lohnkommission  der  Bäcker  Berlins.  Berlin  1900, 
Verlag:  F.  Schneider  und  Oldenberg  a.  a.  O.,  S.  Soff. 


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M.  v.  Schulz, 


Werbegerichtsausschusses ')  die  Rede  war,  — so  mangelhaft  sie  sein 
mögen  — bezüglich  eines  wenn  auch  noch  so  kleinen  Teils  der 
Berliner  Bäckereien  nicht  blofs  alles  das,  was  Bebel  in  seiner  be- 
kannten Broschüre  über  die  Verhältnisse  in  Berliner  Bäckereien  ver- 
öffentlicht hat,  sie  bringen  sogar  Beispiele,  bei  deren  Kenntnisnahme 
man  von  heftiger  Uebelkeit  befallen  werden  kann.  Nach  den  Mit- 
teilungen ä)  der  Bäckergesellen  ist  „die  Beschaffenheit  der  Arbeits- 
räume heute  in  den  meisten  Betrieben  noch  dieselbe  wie  früher: 
äufserst  gedrückte  Atmosphäre,  Raummangel  und  verpestete  Luft  . 
Die  „Semmeltücher“  sollen  häufig  unreinlich  sein.  „\\  enn  dann 
noch  Fälle  Vorkommen,  dafs  man  sich  die  Füfse  in  den  Backeimern 
wäscht,  dann  mufs  dieses  für  die  Konsumenten  äufserst  appetit- 
anregend sein."  Spucknäpfc  sind  nach  Angabe  nirgends  aufgestellt; 
man  spuckt  eben  auf  den  Fufsboden.  In  den  Backräumen  und  unter  den 
Beuten  kriecht  und  läuft  Ungeziefer,  wie  Schwaben,  Mäuse,  Ameisen, 
ja  sogar  Ratten  herum.  So  das  Bild  einer  Reihe  von  Bäckereien. 
Die  Schlafräume  der  Gesellen  sind  ferner  „elende  Gelasse  (beengt, 
schmutzig,  mitunter  voll  Ungeziefer),  in  welchen  die  Arbeiter  zu- 
sammengepfercht nach  gethaner  Arbeit  Erholung  und  Ruhe  suchen 
sollen“.  Viele  dieser  Schlafgemächer  liegen,  wie  die  Backstuben, 
im  Keller  und  entbehren  hin  und  wieder  des  allernotwendigsten 
Komforts.  Sie  werden  überdies  nur  selten  und  dann  noch  ungenügend 
gereinigt.  Die  Bettwäsche  läfst  ebenfalls  zu  wünschen  übrig.  Oft 
wird  nicht  einmal,  wenn  neues  Personal  antritt,  an  einen  Wechsel 
der  Bettwäsche  gedacht.*)  Es  ist  dieses  Verfahren  um  so  bedauer- 

1)  Soziale  Praxis  vom  22.  November  I QOO,  Sp.  185  ff*  und  18.  April  19m,  Sp.  74°* 
Iler  Ausschuß  gab  auf  Krsuchen  des  hiesigen  Polizeipräsidenten  ein  Gutachten  zum 
tVohnungswcscn  im  hiesigen  Bäckergewerbe  ab.  Zu  dem  Gutachten  sei  angeführt, 
dafs  z.  B.  nach  der  Behauptung  der  Gesellen  manchmal  die  Mehlstube  und  die 
Backräumc  zur  Schlafstube  dienen.  Siehe  noch  Soziale  Praxis  vom  4.  Februar  1897, 
Sp-  462:  Berliner  Bäckcrenqucte  im  Oktober  1896. 

*)  Geber  einen  ähnlichen  Bericht  der  österreichischen  Gewerbeinspektion  be- 
ztiglicli  der  sanitären  Zustände  in  den  Bäckereien  Niederösterreichs,  vergl.  Soziale 
Praxis  IX.  Jahrgang,  Sp.  1274  a.  E.  Bezüglich  der  Mifsstände  im  Prager  Bäckcr- 
Rewerbe:  Soziale  Praxis  Nr.  (3  vom  19.  Dezember  1898,  Sp.  337.  Siehe  ferner 
"’eyl,  Handbuch  der  Hygiene,  Berlin  VIII.  Bd.  3.  Lieferung:  Hygiene  der  Müller, 
Bäcker  und  Konditoren,  bearbeitet  von  Dr.  Zadcck,  S.  578 ff. 

Vergl-  Zadeck  a.  a.  0„  S.  580  und  S.  581. 

Aus  einzelnen  bei  den  Arbeitern  übel  a n g cs  ch riebe n en  Bäckereien 
‘'den  tt-ir  folgendes  mit:  Die  eine  Bäckerei  liegt  im  Zentrum  von  Berlin.  „Das 


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Arbeiter-  und  Konsumentenschutz  im  Bäckergewerbe. 


7> 


licher  als,  wie  wir  noch  näher  ausführen  werden,  zahlreiche  arbei* 
tende  Bäckergesellen  mit  ansteckenden  Krankheiten  behaftet  sind. 
Wenn  derartiges  in  Berlin,  wo  die  Bäckermeister  der  Kon- 
trolle der  Polizei,  der  Innungen  und  dcrGewerkschaft 
der  Arbeiter  unterliegen,  Vorkommen  kann,  wie  wird  es  in 
der  Provinz  aussehen  ? *) 

Solche  Mil’sstände,  deren  Vorhandensein  durch  die  Beisitzer  des 
Einigungsamtes  und  durch  die  meisten  Mitglieder  des  Ausschusses 
des  Gewerbegerichts  aus  eigener  Erfahrung  bestätigt  wurde,  sind 
von  den  Gegnern  des  Bäckerarbeiterschutzes  durch  einfaches  Be- 
streiten nicht  aus  der  Welt  zu  schaffen.  Mit  der  Bemerkung,  dals 

Klosct  befindet  sich  dort  unmittelbar  über  dem  Mehlboden.  Dasselbe  war  schon 
4 — 5 mal  verstopft  und  überschwemmte  mit  der  Jauche  den  ganzen  Roggcnmehl- 
kasten.  Das  daselbst  vorhandene  Mehl  wurde  ruhig  zum  Backen  verwendet.“  Von 
einer  anderen  Bäckerei  heifst  es:  „Die  Schlafräume,  welche  ebenfalls  im  Keller 
liegen,  strotzen  von  Ungeziefer  aller  Art  (Flöhe,  Läuse,  Wanzen).  Die  Wände  der- 
selben sehen  aus  wie  verräucherte  Strafscnmauern“.  In  einer  dritten  Bäckerei  wird 
„das  Mehl  nicht  gesiebt  und  so  kam  es  vor,  dafs  der  Kot  der  Katze  im  Teig 
zu  finden  war“.  Eine  Bäckerei  endlich  kennt  überhaupt  nicht  eine  Klosctanlage ; 
die  Gesellen  verrichten  ihre  Notdurft  in  den  Winkeln  auf  den  Hof  oder  in  den 
Backräumen.  Es  soll  mit  dieser  Blumenlese  genug  sein.  Die  „Köln.  Volks- 
zeitung“ bemerkt  hierzu:  „Bei  den  ekelhaften  Geschichten,  die  durch  die  bisherigen 
Erhebungen  zu  Tage  gefordert  und  teilweise  gerichtlich  festgestellt  worden  sind, 
möchte  man  fast  die  Frage  aufwerfen,  ob  nicht  im  neuen  Rcichsscuchen- 
gesetz  bezüglich  der  Nahrungsmittel  - Industrie  etwaige  Vorschriften  inbezug  auf 
Sauberkeit  zu  erlassen  wären  (Soziale  Praxis  IX.  Jahrgang,  Sp.  923).  Das  „Berliner 
Tageblatt“  vom  3.  Juni  1900  und  der  „Vorwärts“  vom  30.  Mai  1900  brachten 
Auszüge  aus  der  Schrift  der  Bäckergesellen  über  ihre  Lage.  Vcrgl.  hierzu  die 
Zeitung  „Der  Bäcker“  vom  27.  Januar  1897,  S.  I ff, 

*)  Einen  markanten  Fall  aus  der  Provinz  erzählt  Oldenberg  in  dem  III., 
IV.  Jahrgang  der  Sozialen  Praxis,  Sp.  987:  „Vor  einigen  Monaten  wurde  der 
Bäckermeister  D.  in  I.  zu  300  Mark  Strafe  und  in  die  Prozefskosten  verurteilt;  er 
hatte  in  seiner  Backstube  einen  grofsenTrog,  in  dem  er  abwechselnd 
den  Brotteig  cinrührte,  die  Kinder  badete,  und  der  zugleich  zur 
Reinigung  der  schmutzigen  Wäsche  dient c.“  Der  Magen  mufs  hier 
aufständig  werden  wie  bei  der  Durchsicht  der  durch  die  Presse  verbreiteten  Würz- 
burger und  Mannheimer  Gerichtsverhandlungen  über  unsaubere  Bäckereien. 
Oldenberg  sagt  im  VIII.  Jahrgang  der  Sozialen  Praxis,  Sp.  943  mit  Bezug  auf 
die  Würzburger  und  Mannheimer  Bäckereien:  „Der  Raum  verbietet,  auf  das  un- 
ästhetische Thema  einzugehen,  das  Hautdechtcn,  Nachttöpfc  und  Fäkalien  auf  der 
Bühne  erscheinen  läfst.“  Ucbcr  Einzelheiten  siehe  den  Leitartikel  in  der  „Deutschen 
Bäckerzeitung“  (Hamburg,  den  6.  Mai  1899). 


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M.  v.  Schulz, 


die  Berichte  Bebels  und  der  Berliner  Bäckergesellen  „unbewiesene“ 
und  „mafslose"  sind,  erreicht  man  nichts  gegenüber  den  Fest- 
stellungen der  Gerichte,  der  Reichskommission  für  Arbeiterstatistik  *) 
und  der  Aeufserung  des  Vertreters  der  Reichsregierung  im  Reichs- 
tage. Der  Staatsminister  Graf  von  Posadowsky-Wehner  erklärte 
nämlich  im  Reichstage : *)  „Es  sind  schwere  Uebelstände  — darüber 
ist  gar  kein  Zweifel  — bei  dem  Bäckereibetriebe  hervorgetreten 
und  auch  durch  gerichtliche  Erkenntnisse  festgestellt  und 
es  liegt  im  dringendsten  hygienischen  Interesse,  diesen 
Uebelständen  entgegenzutreten."  Vor  dem  Einigungsamt  bestritten 
gleichwohl  die  Meister,  dafs  die  von  den  Gesellen  mitgeteilten 
„Schweinereien"  Vorkommen.  Wenn  Unreinlichkeiten  hier  und  da 
beständen,  so  trügen  die  Gesellen  und  nicht  die  Meister  die  Schuld- 
Die  Arbeitgeber  lehnten  wegen  der  Eigenart  ihrer  Betriebe  die 
Beseitigung  des  zeitigen  Kost-  und  Logiswesens  vor  dem  Einigungs- 
amt ab.  Durch  ihre  eventuelle  Nachgiebigkeit  würden  böse  Folgen 
sowohl  für  sie  wie  für  die  Gesellen  eintreten.3)  Des  ungeachtet 
willigten  sie  in  den  von  ihnen  mit  ihren  Arbeitern  geschlossenen 
Vergleich  ein,  dafs  bei  Betrieben  mit  drei  bis  vier  Gesellen  der 
Werkmeister  (i.  Geselle),  bei  Betrieben  mit  fünf  und  mehr  Gesellen 
der  Werkmeister  und  die  Kneter  im  Hause  des  Meisters  nicht  mehr 
zu  wohnen  brauchen  und  dafür  einen  Lohnzuschlag  empfangen. 
Ferner  verpflichteten  sich  die  Parteien  gemeinschaftlich  noch  zu 
ermitteln,  ob  bezw.  inwieweit  es  angebracht  sei,  für  die  übrigen 
Gesellen  das  Kost-  und  Logiswesen  beizubehalten  und  auf  Grund 
der  Feststellungen  Beschlufs  zu  fassen.  Es  ist  hier  anzuführen,  dafs 
das  Einigungsamt  die  Abschaffung  von  Kost  und  Logis  beim  Meister 
für  berechtigt  und  notwendig  hielt.  Man  war  aber  der  Ansicht, 

*)  Die  Reichskommission  giebl  in  dem  Bericht  über  die  Erhebungen  betreffend 
die  Arbeitszeit  der  Bäckereien  und  Konditoreien  dem  Wunsche  Ausdruck,  dafs  die 
Bundesregierungen  den  Arbeite-  und  Schlafräumen  der  Bäckereien  und  Konditoreien 
eine  erhöhte  Aufmerksamkeit  zuwenden  mögen.  Aus  der  mündlichen  Vernehmung 
der  Auskunftspersonen  und  aus  persönlicher  Erfahrung  einzelner  Mit- 
glieder hat  die  Kommission  den  Eindruck  gewonnen,  als  ob  die  Arbeitsräume 
und  die  Schlafstätten  der  Bäcker-  und  Konditorgehilfen  sich  vielfach  in  einem  Zu- 
stande befänden,  welcher  die  Gesundheit  schädigen  mufs.  (Siehe  Drucksachen  der 
Kommission  für  Arbeiterstatistik,  Verhandlungen  Nr.  6,  S.  23  und  24,  Berlin  Carl 
Heymann’s  Verlag  1894). 

*)  Reichstag  — 25.  Sitzung  Montag  den  14.  Januar  1901,  S.  673  (C). 

*)  Siehe  das  Nähere  Soziale  Praxis  vom  21.  Juni  1900,  Sp.  984  fr. 


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Arbeiter-  und  Konsumentenschutz  im  Bäckcrgcwerbc. 


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dafs  diese  Forderungen  tief  in  die  wirtschaftlichen  Ver- 
hältnisse der  Meister  einschneiden  und  daher  nur 
nach  und  nach  durchführbar  seien.  Eine  ähnliche  Vor- 
sicht hält  der  bereits  genannte  Vertreter  der  Reichsregierung  für 
geboten , soweit  bei  einer  neuen  Bäckereiverordnung  die  äufsere 
Ausgestaltung  der  Bäckereiwerkstätten  inbetracht  kommt. 

Ob  die  Meister  und  Gesellen  Schritte  unternommen  haben,  die 
Zweckmäfsigkeit  oder  Unzweckmäfsigkeit  des  heutigen  Kost-  und 
Logiswesens  zu  ermitteln  und  ob  dabei  insbesondere  Unsauberkeiten 
der  Schlaf-  und  Backräume  entdeckt  worden  sind,  haben  wir  bisher 
nicht  erfahren. 

Da  die  Meister  die  von  den  Gesellen  erhobenen  Beschwerden 
als  hinfällig  zurückwiesen  und  infolge  des  Vergleiches  der  Parteien 
für  das  Einigungsamt  es  sich  erübrigte,  die  Anschuldigungen  auf 
ihre  Richtigkeit  hin  zu  untersuchen,  beantragten  30  Beisitzer  des 
Gewerbegerichts  beim  Ausschufs  dieser  Behörde,  den  Polizeiprä- 
sidenten zu  veranlassen,  Nachforschungen  anzustellen,  ob  die  vor 
dem  Einigungsamt  im  Juni  1900  und  bei  der  Verhandlung  im 
„Ausschufs  für  Gutachten  und  Anträge“  November  v.  J.  besprochenen 
Unsauberkeiten  in  den  Bäckereien  Berlins  bestehen.1)  Die  Beisitzer 
begründeten  ihren  Antrag  unter  anderem  folgcndermafsen : „ . . . ist 
es  doch  im  Interesse  der  Allgemeinheit,  wie  auch  im 
Interesse  der  reinlichen  Meister  und  Gehilfen  durchaus 
erforderlich,  den  schmierigen  Meistern  und  Gesellen  auf  die 
Finger  zu  sehen.  Die  Semmeltücher  müssen  überall  rein  sein.  Die 
Backeimer  dürfen  nicht  zum  Fufswaschen  benutzt  werden.  Die  An- 
gewohnheit der  Gehilfen,  während  der  Arbeitspausen  auf  den  Tischen, 
auf  welchen  Backwaren  gearbeitet  werden,  zu  schlafen,  ist  abzu- 
schaflen.*)  Gesellen , welche  die  Krätze  haben  oder  an  Syphilis 
erkrankt  sind,  dürfen  während  der  Krankheitsdauer  Arbeiten  in  der 
Backstube  nicht  verrichten.  Es  mufs  für  genügende  Waschvorrich- 
tung und  genügende  Anzahl  von  Handtüchern  Sorge  getragen 
werden.  Ferner  ist  eine  Bestimmung  dahingehend  zu  erlassen,  dals 
die  Gesellen  während  der  Arbeitszeit  mit  einem  reinen  Taschentuch 
versehen  sein  müssen.“  8) 

*)  Siehe  Anmerkung. 

*)  Siehe  auch  Drucksachen  der  Kommission  für  Arbeiterstatistik,  Verhandlungen 
Nr.  4,  Protokoll  über  die  Verhandlungen  der  Kommission  Air  Arbeiterstatistik  vom 
14.  bis  20.  Februar  1894,  S.  31  und  S.  77. 

*)  Siehe  die  zitierten  Drucksachen  der  Kommission  für  Arbeiterstatistik  S.  77. 


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M.  v.  Schulz, 


Der  Ausschuß  beschlofs  nach  längerer  Verhandlung  dem  Anträge 
der  Beisitzer  zu  entsprechen.  Es  verdient  hervorgehoben  zu  werden, 
dals  während  der  Debatte  ein  Arbeitnehmerbeisitzer  eine  Enquete 
des  Polizeipräsidiums  schon  aus  dem  Grunde  für  erforderlich  erachtete, 
weil  den  Bäckergesellen  und  ihrem  Material  nicht 
Glauben  geschenkt  Werden  würde.  Man  war  aufserdem 
der  Meinung,  dafs  die  Behörde  noch  ganz  andere  Dinge,  wie  die 
Gesellen,  zu  Tage  fördern  werde.1) 

Wie  erwähnt,  wälzten  die  Meister  in  der  Einigungsamtsver- 
handlung die  Verantwortung  an  den  geschilderten  Unzuträglich- 
keiten im  Bäckergewerbe  auf  die  Gesellen  ab.  Gewifs  mufs  zuge- 
standen werden,  dafs  den  Bäckereiarbeitern  der  Sinn  für  Reinlichkeit 
oft  fehlt.  Hieran  trägt  aber  die  lange  Arbeitsdauer  in  erster 
Linie  die  Schuld.  Oldenberg  weist  darauf  hin,  dafs  dieser  letztere 
Zusammenhang  wiederholt  in  der  Oeffentlichkeit  mit  Nachdruck 
betont  worden  ist  und  zwar  von  Bäckermeistern  und  Gesellen.2) 
Leider,  fährt  der  Schriftsteller  fort,  sind  nach  Ausweis  der  amtlichen 
Statistik  die  Lehrlinge,  denen  wohl  vorzugsweise  die  Reinigungs- 
arbeit obliegt,  in  Deutschland  mit  Arbeit  am  meisten  über- 
lastet. Dies  hindert  freilich  die  Bäckermeister  nicht,  sich  anhaltend 
gegen  die  Bundesratsverordnung  vom  4.  März  1896  und  den  Maximal- 
arbeitstag  aufzulehnen. 

Eigentlich  sollten  die  Bäckermeister  einer  Aenderung  der  Bundes- 
ratsverordnung ebenso  abhold  sein,  wie  ihre  Gesellen,  da  ermüdete 
Arbeiter  Verständnis  für  die  notwendige  Sauberkeit  nicht  be- 
sitzen. Die  Meister  hätten  umsomehr  alle  Ursache,  es  beim  alten 


Diese  Verhältnisse  werden  für  die  Leipziger  Bäckereien  bestritten  (J.  A.  Günthers 
Bäcker-  und  Konditorzeitung  Nr.  41  von  1900). 

J)  in  der  Versammlung  der  Berliner  Bäckereiarbeiter  vom  7.  Mai  d.  J.  gegen 
die  „Verschlechterung  der  Bäckereiverordnung“  berief  sich  ein  Redner  aut  einen 
Polizeibeamten,  welcher  erzählt  habe:  „Was  in  der  Broschüre  der  LohnkommUsion 
und  in  der  Besprechung  derselben  im  „Vorwärts"  über  unsaubere  Verhältnisse  in 
den  Backstuben  gesagt  worden  ist,  das  ist  ja  sehr  krafs;  aber  wir  haben  bei  der 
amtlichen  Kontrolle  der  Bäckereien  noch  viel  schlimmere  Zustände  gefunden, 
als  sie  in  jener  Broschüre  dargestellt  sind.“  („Vorwärts"  vom  8.  Mai  1901,  2,*.Bci- 
lage  S.  2,  Sp.  3. 

*)  Soziale  Praxis  Ilt./lV.  Jahrgang,  Sp.  989,  X.  Jahrgang,  Sp.  533  und  Pro- 
tokoll über  die  Verhandlungen  der  Kommission  für  Arbeiterstatistik  vom  14.  bis 
20.  Februar  1894.  Drucksachen  der  Kommission  für  Arbeiterstatistik,  Verhandlungen 
Nr.  4 S.  77,  Sp.  I. 


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Arbeiter-  und  Konsumcntenschutz  im  Bäckergewerbe. 


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bleiben  zu  lassen,  als  unter  ihren  Arbeitern  die  Krätze  und  die 
Geschlechtskrankheiten  verbreitet  sind  und  durch  Arbeit  abge- 
stumpfte ')  Gesellen  diesen  Krankheiten  gegenüber  nicht  die  nötigen 
Kräfte  besitzen.5)  Zur  näheren  Ermittlung  des  Gesundheitszustandes 
der  hiesigen  Bäckergesellen  wurden  infolge  des  Antrages  der  30  Bei- 
sitzer des  Gewerbegerichts  an  109  Spezialärzte  für  Hautkrankheiten, 
an  120  Aerzte  des  Gewerkskrankenvereins  und  an  die  öffentlichen 
Krankenhäuser  Fragebogen  vom  Gewerbegericht  geschickt.  Es 
sollten  die  letzten  2 Jahre  inbetracht  gezogen  werden.  Die  Fragen 
lauteten  wie  folgt: 

1.  Wieviel  Bäckergesellen  sind  in  der  genannten  Frist  behandelt 

a)  an  der  Krätze  (Bäckerkrätze)? 

b)  an  Geschlechtskrankheiten? 

2.  Wenn  bekannt,  wieviel  der  Arbeiter  blieben  trotz  der  Krank- 
heiten in  Arbeit? 

3.  a)  Klagen  die  Bäcker,  dafs  sie  die  Krankheiten  sich  aus  den 

unsauberen  Logis,  welche  ihnen  von  den  Meistern  ange- 
wiesen sind,  holen  ? 

b)  Ist  Ansteckungsgefahr  infolge  unsauberer  Betten  vor- 
handen ? 

4.  Sind  die  Bäckergesellen,  welche  in  Kellern  und  in  schlecht 
ventilierten  Räumen  arbeiten,  weniger  widerstandsfähig  gegen 
genannte  Krankkeiten  ? *) 

’)  Za  deck  a.  a.  O.,  S.  592  bemerkt:  „Der  16-,  1 8-,  20-stündigc  Aufenthalt  im 
geschlossenen  und  überhitzten  Raume,  dessen  Luft  mit  Dunst,  Schweifs,  Kohlensäure 
und  anderen,  von  der  Gärung,  Feuerung,  Beleuchtung,  Atmung  und  Perspiration  her- 
rührenden,  mehr  oder  weniger  giftigen  Produkten  überladen  ist;  das  Hasten  infolge 
des  unrrgelmäfsigcn  Betriebes,  der  Mangel  an  Bewegung  im  Freien , an  Sauerstoff 
ünd  Sonnenlicht;  der  unzureichende  und  gestörte  Schlaf  bei  Tage,  in  schlechter 
Luft,  auf  schmutzigem  Lager,  der  Mangel  an  Ruhetagen  im  ganzen  Jahr,  die  ganze 
soziale  Ausnahmestellung,  alles  das  macht  aus  dem  Bäcker  jenen  bleichen,  saft-  und 
kraftlosen,  übernächtig  und  unzufrieden  dreinschauenden  Gesellen,  der  mit  jedem 
Jahr,  das  er  länger  unter  diesen  Arbeitsbedingungen  verbleibt,  an  geistiger  und 
körperlicher  Elastizität  cinbüfst.“ 

*)  Siche  hierzu  Gutachten  des  Kaiserlichen  Gesundheitsamtes  über  den  Einflufs 
der  Beschäftigung  der  Bäckergesellen  und  Lehrlinge  auf  die  Gesundheit,  S.  47  der 
Drucksachen  der  Kommission  für  Arbeiterstatistik,  Erhebungen  Nr.  3,  2.  Teil.  Berlin, 
Heymanns  Verlag,  1894. 

*)  In  Berlin  sind  rund  2100  Bäckereien  vorhanden,  in  welchen  jährlich  zu- 
sammen vielleicht  5000  Bäckergesellen  beschäftigt  werden. 

Im  übrigen  siche  über  die  Erkrankungen  der  Bäcker  Zadecka.  a.  O.,  S.  581  ff. 


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7 6 


M.  v.  Schulz, 


Aus  den  Krankenhäusern  und  von  den  Gewerksärzten  gingen 
vollzählig  Antworten  ein.  Von  den  Spezialärzten  gaben  aber  nur 
32  Auskunft;  hiervon  hatten  16  Aerzte  Bäckergesellen  überhaupt 
nicht  behandelt.  Das  Resultat  war  nachstehendes: 

Es  befanden  sich  während  der  letzten  2 Jahre  in  den  Kranken- 
häusern und  bei  den  besagten  Aerzten  in  Behandlung 

339  Bäckergesellen  an  Bäckerkrätze  und  eigentlicher  Krätze1) 
und  ferner 

1394  Bäckergesellen  an  Geschlechtskrankheiten,  zusammen 
1733  Bäckergesellen. 

Die  Frage  3 a ist  meist  verneint,  dagegen  sind  die  Fragen  3 b 
und  4 fast  durchweg  bejaht. 

325  an  Krätze  und  Geschlechtskrankheit  Erkrankte 
blieben  trotz  Ermahnung  in  Arbeit. 

Nach  der  Sozialen  Praxis  *)  ist  ein  grofser  Prozentsatz  sämt- 
licher Bäckereiarbeiter  an  Tuberkulose,  Syphilis,  Krätze,  Flechten 
u.  s.  w.  krank  und  arbeitet  dennoch  mit  halbnacktem 
Körper  am  Backtroge.  Die  weite  Verbreitung  der  Geschlechts- 
krankheiten wird  bestätigt  in  dem  Handbuche  der  Hygiene  von 
Dr.  VVeyl  Teil  II.*)  Es  heifst  dort:  „In  der  Leipziger  Ortskranken- 
kasse der  Bäcker  und  Konditoren  machten  ansteckende  und  Ge- 
schlechtskrankheiten 1892  8,80  Proz.  aller  Erkrankungen  (gegenüber 
1,50  Proz.  bei  den  übrigen  Arbeitern)  aus,  in  der  Berliner  Orts- 
krankenkasse der  Bäcker  Geschlechtskrankheiten  1892 
und  1893:  8 und  8,5  Proz.  aller  Erkrankungen,  in  der 
Wiener  Innungskasse  der  Bäcker  kamen  auf  venerische  Erkrankungen 
1890 — 93:  5,2  Proz.  u.  s.  w."  „Die  Zahl  der  Venerischen 
wird  indessen  durch  diese  Ziffern,  welche  nur  die 
zur  Arbeitsunfähigkeit  führenden  Krankheiten  ent- 
halten, nicht  annähernd  erschöpft,  weil  die  überaus 
grofse  Mehrzahl  solcher  Kranken  weiter  arbeitet." 

*)  Der  Nürnberger  Magistrat  bat  eine  amtliche  Warnung  und  Belehrung  pub- 
liziert, welche  hauptsächlich  gegen  die  Krätze  der  Bäckergesellen  gerichtet 
wurde.  „Wer  wissentlich  an  Krätze  leidet  und  mit  Verheimlichung  dieses  l'mstandes 
»ich  als  Gewerbegehilfe  «der  Lehrling  verdingt,  wird  bestraft.“  (Soziale  Praxis,. 
Ul..  IV.  Jahrgang,  Sp.  676. 

f)  III. /IV.  Jahrgang,  Sp.  987. 

*)  a.  a.  O.,  S.  587  fC  Siehe  hierzu  Hirschberg:  Die  soziale  Lage  der  ar- 
beitenden Klassen  in  Berlin“,  Berlin  1897,  S.  63  und  78  und  das  Gutachten  des 
Kaiserlichen  Gesundheitsamtes  a.  a.  O.,  S.  46. 


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Arbeiter-  und  KonsumcntcnschuU  im  Bäckcrgcwcrbc. 


77 


„Das  Verbleiben  solcher  an  ansteckenden  Ge- 
schlechts- und  Hautkrankheiten  (Krätze!),  an  Ver- 
letzungen, eiternden  Wunden  und  Tuberkulose  lei- 
denden Bäcker  und  Konditoren  bei  der  Arbeit  ist  im 
Interesse  der  Arbeiter  ebenso  wie  der  Konsumenten 
in  gleicher  Weise  zu  verurteile n.“ 

Bei  Gelegenheit  der  Besprechung  des  Maximalarbeitstages  im 
Bäckergewerbe  führte  im  Reichstage  *)  der  Abgeordnete  Bebel  auf 
Grund  einer  Krankenstatistik  des  Verbandes  der  Bäckereiarbeitcr 
aus  dem  Jahre  1895  ferner  folgendes  aus:  „In  dem  erwähnten  Ver- 
bände waren  853  Erkrankungen  in  einem  Jahre  vorgekommen; 
darunter  waren  allein  182  Zellgewebsentzündungen  an  den  Fingern, 
Händen,  Armen,  Füfsen  und  Beinen,  d.  h.  also  an  Gliedern,  die  zur 
Arbeit  gebraucht  werden.  Sind  diese  Glieder  verletzt,  so 
wird  der  Arbeiter  nicht  eher  zum  Arzt  gehen,  bis  er 
mufs.  Sie  können  sich  ungefähr  ausmalen,  was  das  für  Wirkungen 
inbezug  auf  die  Teigbereitung  hat.  Weiter  waren  von  den  853 
Kranken  100  an  Lungenleiden  erkrankt  gewesen,  die  also  ihren 
Aus wurf  in  der  Werkstätte  ablagerten.  Weiter  gab  es 
56  an  Hautausschlag  (Krätze)  Erkrankte,  28,  die  an  Geschwüren 
litten,  und  14  Geschlechtskranke.*)  Ich  meine,  diese  Thatsachen, 
die  ich  durch  eine  Fülle  ähnlicher  und  teilweise  noch  schlimmerer 
Thatsachen  ergänzen  könnte,  und  zwar  durch  solche,  die  zum  Teil 
durch  Gerichtsverhandlungen  in  der  letzten  Zeit  festgestellt  worden 
sind , mögen  Ihnen  den  Beweis  liefern , dafe  auf  diesem  Gebiete 
nicht  nur  etwas  geschehen  mufs,  cs  nicht  blofs  bei  dem  bleiben 
kann,  was  bisher  geschehen  ist,  sondern  dafs  weit  mehr  geschehen 
mufs.“  *) 

Wie  unverantwortlich  übrigens  einzelne  Bäckergesellen  bei  Er 
krankungen  sich  verhalten,  darüber  ein  Beispiel : Unlängst  erzählte 
uns  ein  Arzt,  dafs  ein  von  ihm  behandelter  Geselle  es  fertig  bekam, 

’)  Reichtag  — 151.  Sitzung,  Mittwoch  den  13.  Januar  1897,  S.  4007  (A). 

*)  Auch  der  Bericht  der  Krankenkasse  der  Wiener  Bäcker  tu r 1898  wirft 
ein  grelles  Licht  auf  die  sanitären  Zustände  im  Bäckergewerbe.  Die  Zahl  der 
syphilitischen  und  der  Hautkrankheiten  hat  sich  erhöht.  Hierzu  bemerkt  das  Fach- 
organ „Zeitgeist:  „Nach  wie  vor  ist  die  Arbeitszeit  eine  Ubcrmäfsig 
ausgedehnte  und  dadurch  die  Vorbereitung  für  Erkrankungen 
gegeben.“  (Soziale  Praxis,  VIII.  Jahrgang,  Sp.  981). 

*)  Der  Abgeordnete  v.  Kardorff  hielt  in  derselben  Sitzung  die  Angaben  Bebels 
für  Ucbertreibungen. 


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M.  v.  Schulz, 


7» 

zu  arbeiten,  obwohl  er  ein  syphilitisches  Geschwür  am  Daumen 
der  rechten  Hand  hatte  und  es  ihm  streng  untersagt  war,  Arbeiten 
zu  verrichten. 

Sogar  vor  denjenigen  Bäckern,  welche  das  Krankenhaus  auf' 
gesucht  haben,  ist  der  Konsument  nicht  gesichert.  Behrendt1) 
äufsert  sich  dahin:  „Jeder  Arzt,  der  mit  den  Verhältnissen  eines 
Krankenhauses  vertraut  ist,  weifs,  wie  aufserordentlich  schwer  es  ist, 
Personen,  die  auf  eigene  Meldung  Aufnahme  fanden,  bis  zu  ihrer 
vollständigen  Heilung  im  Krankenhausc  zurück  zu  halten.  Kaum 
dafs  die  Initialsklerose  oder  die  ulcerierte  Papeln  überhäutet  sind, 
suchen  sie  häufig  ihre  Entlassung  nach,  um  wieder  ihrer  Be- 
schäftigung nachzugehen,  und  dabei  handelt  es  sich  meisten- 
teils um  Personen,  die  entweder  als  Arbeiter  in  Fabriken  oder 
Geschäften  thätig  sind,  um  Kaufleute,  Handwerker,  Dienstboten, 
kurz  um  Personen,  welche  darauf  angewiesen  sind,  in  Ausübung 
ihres  Berufes,  wie  in  grofsen  Werkstätten,  mit  anderen  Personen  in 
nahe  Berührung  zu  kommen,  ja  welche  zum  Teil  aufserdem  noch, 
wie  beispielsweise  Bäcker,  Fleischer,  Konditoren,  mit  der  Zu- 
bereitung von  Nahrungs-  und  Genufsmitteln  für  weite 
Kreise  beschäftigt  werden.“ 

Wenn  wir  alles  das,  was  von  uns  dargelcgt  worden  ist,  über- 
blicken, müssen  wir  einräumen,  dafs  auch  für  uns  in  Deutschland 
die  Ausführungen  von  Marx  im  ersten  Band  des  „Kapitals“  zu  den 
Ergebnissen  der  Untersuchung  englischer  Bäckereien  zutreffen.  Marx 
erzählt  zunächst  von  der  BrotverfäLschung,  namentlich  in  London, 
welche  durch  das  Komitee  des  Unterhauses  „über  die  Verfälschung 
von  Nahrungsmitteln“  (1855—56)  enthüllt  wurde.  „Jedenfalls  hatte 
das  Komitee  die  Augen  des  Publikums  auf  sein  „tägliches  Brot“  und 
damit  auf  die  Bäckerei  gelenkt.  Gleichzeitig  erscholl  in  öffentlichen 
Meetings  und  Petitionen  an  das  Parlament  der  Schrei  der  Londoner 
Bäckergesellen  über  Ueberarbeitung  u.  s.  w.  Der  Schrei  wurde  so 

dringend,  dafs  Herr  H.  S.  Tremmenheere zum  königlichen 

Untersuchungskommissar  bestellt  wurde.  Sein  Bericht  samt  Zeugen- 
aussagen regte  das  Publikum  auf,  nicht  sein  Herz,  sondern  seinen 
Mägen.  Der  bibelfeste  Engländer  wufste  zwar,  dafs  der  Mensch, 
wenn  nicht  durch  Gnadenwahl  Kapitalist  oder  Landlord  oder 
Sinekurist,  dazu  berufen  ist,  sein  Brot  im  Schweifse  seines  Angesichts 

>)  Behrendt,  Syphilis,  Prostitution  und  öffentliche  Gesundheitspflege  — Ex- 
trait  des  Cnmptcs-rcndus  du  XII  t nngres  International  de  Medecine. 


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Arbeiter-  und  Konsumentenschutz  im  Bäckergewcrbc. 


79 


zu  essen,  aber  er  wufste  nicht,  clals  er  in  seinem  Brote  täglich  ein 
gewisses  Quantum  Menschenschweifs ')  essen  mufs , getränkt  mit 
Eiterbeulenauslecrung,  Spinnweben,  schwarzen  Käferleichnamen 
u.  s.  w.  *)  Bei  dieser  Sachlage  kann  es  für  den  Konsumenten  kaum 
ein  Trost  sein,  dafs  die  schädlichen  Krankheitskeime,  welche  der 
Teig  der  künftigen  Backwaren  in  sich  aufnehmen  mufs,  durch  die 
Backhitze  getötet  werden.  Denn  der  Vorgang  des  Backens  läfst 
immerhin  noch  Reste  der  ungehörigen  Beimischungen  in  der  Back- 
ware zurück 8)  und  befreit  auch  nicht  vor  dem  Widerwillen  gegen 
die  unreinen  Produkte.  Selbst  wenn  man  aber  auf  alle  diese  Um- 
stände nicht  Gewicht  legen  wollte,  wird  man  des  ungeachtet  in- 
betracht ziehen  müssen,  dafs  jedenfalls  die  fertige  Ware  beim  Fort- 
schaflen  aus  der  Backstube  von  erkrankten  Gesellen  berührt  werden 
wird  und  hierbei  Krankheitsstoffe  auf  das  Backwerk  übertragen 
werden  können. 

Wie  ist  es  nun  möglich,  dafs  Zustände  so  schlimmer  Art  unter 
den  Arbeitern  in  den  Bäckereien  Vorkommen?  Die  Antwort  ist 
folgende4):  „ln  erster  Linie  ist  dafür  die  Thatsache  haftbar  zu 
machen,  dals  die  Bäckergesellen  infolge  der  Arbeitsbedingungen 
meist  unverheiratet6)  bleiben.  Als  adjuvans  kommt  hinzu  der 
Alkoholmifsbrauch  infolge  der  schweren  und  langen  körperlichen 
Arbeit  in  überhitzter,  eine  beständige  Schweifsabsonderung  bewir- 
kender Luft,  deren  hohe  Temperatur  ebenfalls  den  Geschlechts- 
trieb steigert.*)  Der  Alkoholmifsbrauch  aber  steigert  nicht  nur 
den  Geschlcchtstricb , sondern  er  depraviert  ihn  auch,  macht  ihn 
immer  weniger  wählerisch.  Dazu  kommt  die  infolge  der  Nacht- 
arbeit (und  des  dadurch  notwendigen  Schlafes  während  der  Tages- 

l)  Za  deck  a.  a.  Ü. , S.  586. 

*)  Marx,  Kapital,  Kd.  I,  S.  235  und  Bebel,  Zur  Lage  der  Arbeiter  in  den 
Bäckereien.  Stuttgart  1890.  S.  16. 

*)  ,, Selbst  in  den  bestverwaltcten  und  reinlichsten  Bäckereien“  sagt  ein  Londoner 
Sanilälsinspcktor.  „bedeutet  das  Kneten  mit  den  Händen  ein  gewisses  Mafs  organi- 
scher Verunreinigung  und  es  kann  kein  Zweifel  sein,  dafs  diese  Unreinlichkcitsquellc 
dem  Grade  nach  alle  anderen  bei  weitem  übertritTt“  (Oldcnbcrg  a.  a.  O. , S.  69). 

G Reichstag  — 151.  Sitzung  — Mittwoch  den  13.  Januar  1897,  S.  4006  und 
Za  deck,  a.  a.  O.  S.  586  und  587. 

®)  Hirschberg  a.  a.  O. , S.  65.  Durch  Beseitigung  des  Kost-  und 
Logis  wesens,  welches  das  Heiraten  der  Gesellen  nicht  zu  läfst, 
■würde  bald  Besserung  erreicht  werden. 

Siehe  Ol  den  borg  a.  a.  O. , S.  116  Antn.  I und  S.  117. 


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So 


M.  v.  Schulz, 


zeit)  erzwungene  Enthaltsamkeit  von  den  gewöhnlichen  Genüssen 
des  Lebens,  die  naturgemäfs  eine  Reaktion  erzeugt  und  dazu  ver- 
leitet, sich  in  den  seltenen  freien  Stunden  schadlos  zu  halten  und  in 
ihnen  gewissermalsen  die  Genüsse  oder  wenigstens  die  eingebildeten 
Genüsse  zu  konzentrieren." 

Aufser  den  Geschlechtskrankheiten  finden  wir  ferner  bei  den 
Bäckern  eine  relativ  hohe  Morbiditätsziffer  infolge  von  Erkran- 
kungen der  Atmungsorgane  (Tuberkulose)  und  an  rheu- 
matischen und  äufseren  (Haut-)  Erkrankungen. ') 

Somit  ist  es  eine  der  wichtigsten  Aufgaben  der  Gewerbe-  und 
Gesundheitspolizei  für  die  Abstellung  der  geoffenbarten  Mifsstände 
Sorge  zu  tragen.*) 

In  verschiedenen  Städten  und  Staaten  Deutschlands  hat  man 
dicserhalb  Verordnungen  erlassen.*)  Zunächst  erging  1895  in  Nürn- 
berg eine  Sauberkeitsordnung,  welche  hauptsächlich  mit  der  Krätze 
sich  befafste.4)  Der  Nürnberger  Magistrat  veröffentlicht  aufserdem 
regelmäfsig  die  Namen  der  Bäckermeister  von  Nürnberg  und  Um- 
gegend, welche  krätzkranke  Gesellen  beschäftigen.*)  Hiernach  kam 
Hamburg  mit  umfassenden  Vorschriften  über  gesunde  und  saubere 
Ausstattung  der  Backräume. °)  In  der  Hamburger  Verordnung  fehlen 
jedoch  Uebcrgangsbestimmungen,  die  auch  den  alten  Betrieben  die 
Verpflichtung  auferlegen,  die  geforderten  Aenderungen  innerhalb 
eines  gewissen  Zeitraumes  einzuführen.  1898  folgte  Lübeck  7),  ferner 


>}  Siehe  auch  Za  deck  a.  a.  O.,  S.  593  ff.,  insbesondere  S.  597;  Hirsch- 
berg  a.  a.  O. , S.  64  und  78.  Nach  dem  Gutachten  des  Kaiserlichen  Gesundheits- 
amtes a.  a.  O.,  S.  46  leiden  die  Bäcker  „im  allgemeinen  nicht  so  häufig  an  Krank- 
heiten der  Atmungswerkzeuge  wie  andere  Staubarbeiter“. 

*)  Zadcck  a.  a.  O.,  S.  604. 

*)  Es  mag  hier  erwähnt  werden,  dafs  in  New- York  (Staat)  1895  ein  Bäcker- 
Schutzgesetz  in  Kraft  getreten  ist,  welches  eine  Reihe  von  Sauberkeitsvorschriften 
enthält.  Diese  Vorschriften  sind  1896  noch  vermehrt  worden  (Soz.  Praxis  Nr.  52 
vom  24.  September  1896,  Sp.  1363)* 

4)  Soziale  Praxis  Nr.  39  vom  24.  Juni  1895. 

a)  Soziale  Praxis,  V.  Jahrgang,  Sp.  338  und  die  Grenzboten,  58.  Jahrgang, 
3.  Vierteljahr  1899,  S.  46. 

•)  Soziale  Praxis  Nr.  4 t vom  14.  Juli  1898,  Sp.  10S1  und  Jahrgang  VII, 
Sp.  308,  ferner  „Der  Bäcker“,  Offizielles  Organ  der  Bäcker  und  Berufsgenossen 
Deutschlands  Nr.  II,  Berlin  im  Dezember  1897,  S.  2. 

*)  Deutsche  Bäckerzeitung,  Hamburg  den  12.  November  1898. 


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Arbeiter-  und  Konsumentenschutz  im  Bäckerge werbe.  $1 

Dresden  mit  einer  bedeutend  milderen  Verordnung ')  wie  Hamburg. 
In  Strafsburg  traf  man  1898  gleichfalls  Mafsnahmen  für  die  Reinlich- 
keit und  Gesundheit  in  Bäckereibetrieben.®)  Es  wurde  eine  Polizei- 
verordnung fiir  Unterelsafs  *)  nach  dem  Muster  der  Hamburger 
Verordnung  erlassen.  Ferner  bekam  die  Stadt  Weimar  eine  ähn- 
liche Verordnung  am  2.  Mai  1899. 4)  Alsdann  erschien  eine  für 
das  Bäcker-  und  Konditorgewerbe  in  Baden  gültige  Verordnung  des 
Badischen  Ministeriums  vom  29.  Juli  1900  mit  einer  Reihe  von 
Bestimmungen  für  die  Arbeiter  und  die  Nahrungsmittelhygiene. 5) 

Nunmehr  ist  man  dabei,  fiir  ganz  Deutschland  eine  Bäckerei- 
verordnung zu  schaffen.  Der  Entwurf")  dieser  Verordnung  hat 
nachstehenden  Inhalt: 

L 

§ I.  Der  Fufsbodcn  der  Arbeitsräumc  darf  nicht  tiefer  als  einen  halben  Meter 
unter  dem  ihm  umgebenden  Erdboden  liegen. 

§ 2.  Die  Arbeitsräume  müssen  mindestens  drei  Meter  hoch  und  mit  Fenstern 
versehen  sein,  welche  nach  Zahl  und  Gröfse  genügen,  um  für  alle  Teile  der  Räume 
Licht  und  Luft  in  ausreichendem  Mafsc  zu  gewähren.  Die  Fenster  müssen  so  ein- 
gerichtet sein,  dafs  sie  zum  Zwecke  der  Lüftung  ausreichend  geöffnet  werden  können. 

§ 3.  Die  Räume  müssen  mit  einem  dichten  und  festen  Fufsbodcn  versehen 
sein,  der  eine  leichte  Beseitigung  des  Staubes  auf  feuchtem  Wege  gestattet.  Die 
Wände  und  Decken  müssen,  soweit  sie  nicht  mit  einer  glatten,  abwaschbaren  Be- 
kleidung oder  mit  einem  Oelfarbcnanstrich  versehen  sind,  halbjährlich  mindestens 
einmal  mit  Kalk  frisch  angestrichen  werden.  Der  Oelfarbcnanstrich  muls  mindestens 
alle  fünf  Jahre  erneuert  werden. 

§ 4.  Die  Arbeitsräume  dürfen  nicht  in  unmittelbarer  Verbindung  mit  den  Be- 
dürfnisanstalten stehen.  Die  letzteren  müssen  so  gelegen  sein,  dafs  sie  von  den  Ar- 


*)  Soziale  Praxis,  VII.  Jahrgang,  Sp.  469  und  „Der  Bäcker“,  Nr.  2,  Berlin  im 
Februar  1898. 

*)  Soziale  Praxis,  VIII.  Jahrgaug,  Sp.  96. 

*)  Soziale  Praxis,  VIII.  Jahrgang,  Sp.  1084  und  „Deutsche  Bäckerzeitung“  vom 
12.  November  1898. 

4)  Deutsche  Bäckerzeitung,  Hamburg,  den  24.  Juni  1899. 

B)  Soziale  Praxis,  Nr.  44  vom  2.  August  1900,  Sp.  1128  und  Oldcnbcrg, 
■ebendort  Nr.  35  vom  I.  Juni  1895,  Sp.  943  und  F.  A.  Günthers  Bäcker-  und 
Konditorzeilung  Nr.  6t  vom  31.  Juli  1900. 

•)  Abgedruckt  in  der  Deutschen  Bäckerzcitung,  Hamburg  den  3.  November 
1900.  Siche  hierzu  Soziale  Praxis  vom  12.  Juli  1900,  Nr.  41  Sp.  1056.  Nach 
F.  A.  Günthers  Bäcker-  und  Konditorzeitung  Nr.  90  vom  9.  November  1900  soll 
cs  sich  lediglich  um  einen  Entwurf  für  Preufscn  handeln.  Zweifelhaft  • Soziale  Praxis 
vom  28.  Februar  1901,  Sp.  532. 

Archiv  für  %oz.  Gesel/tfehung  11.  Statistik.  XVII.  6 


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82 


M.  v.  Schulz, 


heitern  ohne  Gefahr  für  Gesundheit,  Sitte  und  Anstand  erreicht  werden  können.  — 
Die  Abzugsrohre  der  Ausgüsse  und  Klosetts  dürfen  nicht  durch  die  Arbeitsräume 
geführt  werden. 

§ 5.  In  Bäckereien,  in  welchen  regclmäfsig  mehr  als  zwei  Gehilfen  und  Lehr- 
linge beschäftigt  werden,  müssen  für  das  Backhaus  und  die  Backstube  getrennte 
Räume  vorhanden  sein. 

§ 6.  Die  Zahl  der  in  jedem  Arbcilsraumc  beschäftigten  Personen  mufs  so  be- 
messen sein,  dafs  auf  jede  wenigstens  fünfzehn  Kubikmeter  Luftraum  entfallen.1)  — 
In  Fällen  weitergehenden  außerordentlichen  Bedarfs  und  an  den  Vorabenden  der 
Sonn-  und  Festtage  ist  eine  dichtere  Belegung  der  Arbeitsräume  gestattet,  jedoch 
mit  der  Jlafsgabc,  dafs  wenigstens  zehn  Kubikmeter  Luftraum  auf  die  Person  ent- 
fallen müssen. 

§ 7.  Die  Temperatur  in  den  Arbeitsräumen  darf  35  Grad  Celsius  nicht  über- 
steigen. In  jedem  Arbeitsraum,  mit  Ausnahme  der  Mchlkammer,  ist  ein  Thermometer 
anzubringen. 

§ 8.  Den  Arbeitern  mufs  Gelegenheit  gegeben  werden,  sich  umzukleiden  und 
zu  waschen.  Die  hierfür  bestimmten  Räumlichkeiten  müssen  für  die  Zahl  der  be- 
schäftigten Arbeiter  genügend  grofs,  von  den  Arbeitsräumen  zugfrei  zu  erreichen 
sowie  während  der  kalten  Jahreszeit  geheizt  sein,  ln  diesen  Räumlichkeiten  sind 
ausreichende  Wascheinrichtungen  anzubringen  und  mit  Seife  auszuslatten,  für  jeden 
Arbeiter  ist  mindestens  wöchentlich  ein  reines  Handtuch  zu  liefern.  — Soweit  nicht 
genügende  Wascheinrichtungen  mit  fliefsendem  Wasser  vorhanden  sind,  mufs  für 
höchstens  je  fünf  Arbeiter  eine  Waschgeicgcnhcit  eingerichtet  werden.  Es  mufs 
ferner  dafür  gesorgt  werden,  dafs  bei  der  Wascheinrichtung  stets  reines  Wasser  in 
ausreichender  Menge  vorhanden  ist,  und  dafs  das  gebrauchte  Wasser  an  Ort  und 
Stelle  ausgegossen  werden  kamt.  — Die  Bctricbsuntemchmcr  haben  darauf  zu  halten, 
dafs  die  Arbeiter  sich  vor  dem  Zurichten  und  Teigmachen  Hände  und  Arme  mit 
reinem  Wasser  gründlich  reinigen, 

g 9.  In  den  Arbeitsräumen  müssen  ausreichende  Sitzgelegenheiten  ftir  die  Ar- 
beiter vorhanden  sein. 

g 10.  In  den  Arbeitsräumen  sind  mit  Wasser  gefüllte  und  täglich  zu  reinigende 
Spucknäpfe,  und  zwar  in  jedem  Arbeitsraum  mindestens  einer,  aufzuslcllen.  Das 
Ausspucken  auf  den  Fufsbodcn  ist  von  den  Arbeitgebern  zu  untersagen. 

g II.  Die  Arbeitsräume  dürfen  zu  anderen,  mit  dem  ordnungsgemäfsen  Be- 
triebe nicht  zu  vereinbarenden  Zwecken,  insbesondere  als  Wasch-,  Schlaf-  oder 
Wohnräume  nicht  benutzt  werden. 

§ iz.  Die  Arbeitsräume  sind  dauernd  in  reinlichem  Zustande  zu  erhalten  und 
täglich  mindestens  einmal  gründlich  zu  lüften.  — Die  Fufsbodcn  müssen  täglich,  die 
Arbeitsräume  wöchentlich  einmal  gereinigt  werden;  die  abwaschbaren  Wand- 
bckleidungcn  sowie  der  Oclfarbenanslrich  sind  halbjährlich  mindestens  einmal  ab- 
zuwaschen.   Die  im  Betriebe  verwendeten  Geräte,  Gefiifsc,  Tücher  u.  dergl.  dürlen 

■)  Zadcek  a.  a.  O.,  S.  609. 


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Arbeiter-  und  Konsuraentenschutz  im  Bäckergewerbe. 


83 


nicht  zu  anderen  als  zu  Betriebszwecken  benutzt  und  müssen  in  reinlichem  Zustande 
erhalten  werden. 

§ 13.  Die  Arbeiter  müssen  während  der  Arbeit  mindestens  mit  Beinkleid  und 
Brusttuch  bekleidet  sein. 

§ 14.  Arbeiter,  welche  mit  ansteckenden  oder  ekelerregenden  Krankheiten  be- 
haltet sind,  dürfen  nicht  beschäftigt  werden. 


II. 


§ 15.  In  jedem  Arbeitsraum  ist  ein  von  der  Ortspolizeibchörde  zur  Bestätigung 
der  Richtigkeit  seines  Inhaltes  Unterzeichneter  Aushang  anzubringen,  aus  dein  er- 
sichtlich ist. 

a.  die  Länge,  Breite  und  Höhe  des  Raumes, 

b.  der  Inhalt  des  Luftraumes  in  Kubikmetern, 

c.  die  Zahl  der  Personen,  die  nach  § 6 in  den  Arbeitsräumen  beschäftigt 
w’erden  darf. 


III. 

§ 16.  Die  Schlafräume  *}  der  Gehilfen  und  Lehrlinge  dürfen  nicht  in  solcher 
Nahe  zum  Backofen  liegen , dafs  in  ihnen  eine  übermafsige  Hitze  herrscht.  Auch 
dürfen  sie  nicht  in  unmittelbarer  Verbindung  mit  den  Bedürfnisanstalten  stehen.  — 
Soweit  die  Schlafräume  über  Aborten  liegen,  müssen  sie  von  diesen  durch  eine  luft- 
undurchlässige Decke  getrennt  sein.  Die  Schlafräume  müssen  für  jede  darin  unter- 
gebrachte Person  mindestens  zehn  Kubikmeter  Luftraum  und  vier  Kubikmeter  Boden- 
fläche darbieten  und  mit  mindestens  einem  öflfnungsfähigen  Fenster  versehen  sein. 
Die  öffnungsfähige  Fensterfläche  mufs  auf  je  dreifsig  Kubikmeter  Luftranm  minde- 
stens ein  Quadratmeter  betragen.  — Für  jede  in  den' Schlafräumen  untergebrachte 
Person  mufs  ein  besonderes  Bett  vorhanden  sein.  Die  Betten  dürfen  während  der 
Zeit  der  Benutzung  nicht  übereinander  stehen  und  nicht  von  verschiedenen  Personen 


*)  Sollte  cs  zu  einer  allmählichen  Beseitigung  des  Kost-  und  Logiswesens  aus 
Anlafs  von  Bestimmungen  des  Bundesrats  über  die  vom  Meister  den  Gesellen  zu 
gewährenden  Quartiere  kommen,  so  glauben  wir  nicht,  dals  dann,  wie  die  Bäcker- 
meister befürchten,  lediglich  die  „Bäckerpcnnc“  Vorteile  haben  werde.  Die  Führer 
der  Arbeiter  stellen  wenigstens  dies  in  Abrede.  Wenn  man  sieht,  mit  welcher 
Energie  — Jahre  hindurch  --  die  Abschaffung  des  Kost-  und  Logiswesens  von  der 
< Organisation  der  Gesellen  angestrebt  wird  und  wenn  man  bedenkt,  dafs  sie  zweifellos 
aus  dieser  Abschaffung  auch  eine  Stärkung  ihrer  Organisation  erhoffen,  so  kann  die 
Grfahr  der  Bäckerpenne  nicht  so  grols  sein.  Die  Bäckergeselle»  müssen  ihre  Fach- 
gennssen  kennen  und  wissen,  dafs  ihre  Organisation  mit  Kollegen,  welche  in  Bücker- 
pennen  versumpft  sind,  nichts  zu  beginnen  vermag.  Hier  im  1’ebrigen  Obacht  zu 
geben,  wird  man  getrost  den  interessierten  Arbeitern  überlassen  können.  Siehe 
hierzu:  ,,Ein  Notschrei  der  Bäckereiarbeiter  Deutschlands“,  Hamburg.  Verlag  von 
O.  Altmann  1898,  ferner  „Beitrag  zur  Lage  der  Bäckereiarbeiter  Berlins“,  Berliu 
1900,  Verlag  von  F.  Schneider,  endlich  „Die  F.ntwicklung  des  Verbandes  der  Bäcker“, 
Hamburg  1900,  Verlag  von  O.  Altmann. 

6* 


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84 


M.  v.  Schulz, 


Schichtweise  benutzt  werden.  Die  Bettwäsche  mufs  mindestens  alle  vier  Wochen 

und  bei  jedem  Wechsel  der  das  Belt  benutzenden  Person  erneuert  werden.  Für 

je  zwei  in  solchen  Schlafräumen  untergebrachte  Personen  mufs  mindestens  ein 
Waschgeschirr  und  für  jede  Person  mindestens  ein  Handtuch  vorhanden  sein,  das 
mindestens  wöchentlich  zu  erneuern  ist. 


IV. 

Gegenüber  den  bei  dem  Erlasse  dieser  Bekanntmachung  bereits  bestehenden 
Anlagen  können  während  der  ersten  zehn  Jahre  nach  Erlafs  dieser  Bekanntmachung 
auf  Grund  der  Bestimmungen  unter  I § I,  § 2,  § 4 Absatz  I.  § 5,  § 8 Abs.  l u.  2, 
so  lange  nicht  eine  Erweiterung  oder  ein  Umbau  cintritt,  nur  Anforderungen  gestellt 
werden,  welche  zur  Beseitigung  erheblicher,  das  Leben,  die  Gesundheit  oder  die 
Sittlichkeit  der  Arbeiter  gefährdenden  Mifsständc  erforderlich,  oder  ohne  unver- 
hältnismäfsigc  Aufwendungen  ausführbar  erscheinen. 

Gegen  die  Verfügung  der  zuständigen  Polizeibehörde  steht  dem  Unternehmer 
binnen  zwei  Wochen  die  Beschwerde  an  die  höhere  Verwaltungsbehörde  zu.  Gegen 
die  Entscheidung  der  höheren  Verwaltungsbehörde  ist  binnen  vier  Wochen  die  Be- 
schwerde an  die  I-andcs-Zentralbehörde  zulässig;  diese  entscheidet  cndgiltig. 

Die  Bestimmungen  des  Entwurfes  lehnen  sich  eng  an  die 
Nürnberger  Verordnung  und  an  die  in  anderen  Städten  und  Bundes- 
staaten erlassenen  Verordnungen  an.  Durch  die  Verordnung  will 
man  in  Deutschland  der  von  uns  in  diesem  Aufsatze  genannten 
Uebel  inbezug  auf  Gröfse,  Ucht,  Beschaffenheit  und  Reinhaltung 
der  Arbeits-  und  Schlafräumc  der  Gesellen  und  Lehrlinge  Herr 
werden.  Wie  in  den  anderen  Verordnungen  wird  auch  in  dem 
Entwürfe  vorgeschrieben,  dafs  Arbeiter,  welche  mit  ansteckenden 
oder  ekelhaften  Krankheiten  behaftet  sind,  nicht  Arbeiten  verrichten 
dürfen. 

Der  Abgeordnete  Oertel  erklärte  in  seiner  erwähnten  Reichs- 
tagsrede, dafs  die  Bäckermeister  eine  längere  Ucbergangszeit  zur 
Erfüllung  der  zukünftigen  Verordnung  erbitten.  Die  Arbeiter  be- 
furchten ein  Nachgeben  der  Regierung. 

Mag  man  nun  den  Arbeitgebern  in  manchen  Punkten  sich  will- 
fährig zeigen  oder  nicht,  soviel  darf  erhofft  werden,  dafs  die  Ver- 
ordnung ein  sofortiges  Eingreifen  der  Behörde  beim  Vorhandensein 
ungesunder  Schlafräume  der  Gesellen  statuiert,  und  dafs  sonst 
nicht  zu  lange  Fristen  zur  Abstellung  der  Mängel  gewährt 
werden.  Der  Meister,  welcher  Gesellen  nur  schädliche  Schlafstätten 
zu  bieten  'hat,  ist  anzuhalten,  denselben  nachzulassen,  sich  außerhalb 
der  Bäckerei  eine  Schlafstube  zu  suchen.  Mit  dem  Schutz  der 


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Arbeiter-  und  Konsumentcnschulz  im  Bäckergewerbe. 

leiblichen  und  geistigen  Gesundheit  der  Arbeiter  schützt  man  gleich- 
zeitig das  Interesse  der  konsumierenden  Gesamtbevülkerung. ') 

Wir  würden  noch  dazu  raten,  den  Entwurf  zu  ergänzen.  Es 
wäre  nämlich  an  der  Zeit,  die  Bäckermeister  anzuweisen,  die  über  die 
Stral'se  zu  transportierende  Ware  vor  Strafsenschmutz  zu  schützen  4) 
und  ihre  Kundschaft  zu  hindern,  die  Backware  beim  Einkauf  zu 
betasten.  *) 

Erfreulich  ist,  dafs  nach  der  Rede  des  Abgeordneten  Oertel  im 
Reichstage  die  Bäckermeister  selbst  gegen  vorhandene  Unreinlich- 
keiten und  Mifsstände  verordnungsmäfsige  Bestimmungen  verlangen. 
Nur  meint  der  Abgeordnete  zu  dem  fraglichen  Entwurf:  „Wenn 
die  Bäcker  fordern,  dafs  das  Nichtwaschen  der  Gesellen  strafbar 
gemacht  werde,  so  haben  sie  recht.  Wie  will  man  einen  Bäcker- 
meister verantwortlich  machen  dafür,  dafs  seine  Gesellen  sich  nicht 
waschen?  Er  kann  es  nicht  anders  machen,  als  sich  hinstellen, 
Seife  nehmen  und  einen  Herrn  nach  dem  andern  selbst  reinigen.“  4) 
So  arg  ist  es  denn  doch  noch  nicht.  Hören  wir  einen  Bericht 
Reinhardts  “)  über  die  Konsumbäckerei  in  Breslau : „Nicht  nur  dafs 
im  Arbeitssaal  der  Konsumbäckerei  die  gröfste  Sauberkeit  herrscht, 
auch  am  eigenen  Körper  hat  sich  der  Bäcker  derselben  zu  be- 

*)  Bei  der  kommunalen  Vermittlung  im  Bäckerstreik  von  Lyon  wurde  unter 
anderem  folgendes  vereinbart : Eine  spezielle  hygienische  Kommission,  die  der  Bürger- 
meister für  jeden  Stadtbezirk  ernennt,  hat  die  von  den  Meistern  den  Arbeitern  an- 
gewiesenen Wohnräume  zu  inspizieren  und  kann  unter  Ausschluß  jeglicher  Berufung 
den  Arbeitgeber  anhaltcn,  dem  Gehilfen  entweder  eine  gesunde  Wohnung  anzu- 
weisen oder  aber  50  Centimes  pro  Tag  Entschädigung  zu  zahlen.  (Soziale  Praxis, 
VI.  Jahrgang  1896,1897  Sp.  203. 

*)  Siehe  Gutachten  des  Landessanitätsrates  von  Oesterreichisch  Schlesien 
(Soziale  Praxis,  VII.  Jahrgang,  Sp.  1290). 

*)  Zeitungsnachrichten  zufolge  wünschen  die  Berliner  Bäckermeister  eine  der- 
artige obrigkeitliche  Anordnung. 

4)  Reichstag  — 24.  Sitzung,  Sonnabend  den  12.  Januar  1901,  S.  645.  Siehe 
ferner  dort  die  Kritik  über  einzelne  Paragraphen  der  Verordnung.  Die  Verordnung 
soll  auf  den  fabrikmäfsigen  Grofsbetrieb  zugeschnitten  sein,  während  sie  den  kleinen 
und  mittleren  Betrieb  mindestens  in  einzelnen  Bestimmungen  absolut  unberücksichtigt 
lasse.  Sollte  man  nicht  Erkundigung  über  die  von  anderen  Staaten  mit  derartigen 
Verordnungen  gesammelten  Erfahrungen  eingezogen  haben?  Die  Kritik,  dafs  die 
geplante  Verordnung,  welche  sich  den  bereits  erprobten  Verordnungen  eng  an- 
schliefst, „allzusehr  nach  dem  grünen  Tisch  rieche*4,  scheint  uns  eine  unberechtigte 
zu  sein. 

n)  Schriften  des  Vereins  für  Sozialpolitik,  7.  Bd.  1IL  Teil  1896  S.  125. 


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M.  v.  Schulz, 


fleifeigcn.  Bevor  er  an  die  Arbeit  geht,  mute  er  sich  in  einen 
geräumigen,  in  der  kalten  Jahreszeit  geheizten,  Saal  begeben  und 
sich  daselbst  einer  gründlichen  Reinigung  unterziehen,  vor  allem  die 
Hände  tüchtig  waschen.  Zu  diesem  Zweck  sind  an  der  einen 
Längsseite  des  Saales  20  Waschbecken  mit  je  einem  Hahn  für 
warmes  und  kaltes  Wasser  angebracht,  aufserdem  gehört  zu  jedem 
Seife,  Holzwolle  zum  Reiben  und  ein  Handtuch.  Erst  nachdem  der 
Bäcker  sich  gründlich  gereinigt  und  seine  weifee  Fabrikkleidung  ’), 
die  sehr  oft  gewaschen  wird,  angezogen  hat,  darf  er  an  die  Arbeit 
gehen , während  welcher  das  Rauchen  verboten  ist.  Ueber  die 
Innehaltung  der  Reinlichkeitsvorschriften  wachen  die  beiden  Back- 
meister sehr  scharf  und  jeder,  der  sich  denselben  nicht  fügt,  wird 
ohne  weiteres  entlassen."  Reinhardt  fügt  hinzu : ..Derartige  vom 
hygienischen  Standpunkte  so  anerkennenswerte  Einrichtungen  fehlen 
in  den  meisten  Kleinbetrieben,  obwohl  sich  hierin  auch  mit 
kleinen  Mitteln  schon  viel  erreichen  liefs e."  *) 

Mit  Recht  legt  deswegen  der  Entwurf  den  Bäckermeistern  die 
Pflicht  auf,  den  Arbeitern  Gelegenheit  zu  geben,  sich  umzukleiden 
und  zu  waschen.  Auch  nur  bei  einigem  Entgegenkommen  wird 
der  kleine  Meister  ausreichende  Wascheinrichtungen  in  seinem  Be- 
triebe ebenfalls  anbringen  können. 

Anders  ist  es  bei  Krankheiten  der  Gesellen.  Nicht  selten 
wird  cs  sich  ereignen,  dafe  dem  Meister  die  Krankheit  des  Gesellen 
verborgen  bleibt.  Selbst  mit  bester  Absicht  ist  der  Meister  dann 


')  Vgl.  dazu  den  Artilcl  der  Sozialen  Praxis,  VII.  Jahrgang,  Sp.  1290:  ,,Die 
Arbeiter  sollen  die  Bäckereiarbeiten  in  einem  eigens  dazu  bestimmten  weifsen,  stets 
reinlichen,  waschbaren  Anzug  verrichten,  welcher  nach  Beendigung  der  Arbeit  jedes- 
mal abzulegcn  und  mit  dem  gewöhnlichen  Haus-  oder  Strafsenanzug  zu  vertauschen 
ist.  Wie  die  sonst  benutzten  Arbeilsanzilge  beschaffen  sind,  finden  wir  in  Günthers 
Bäcker-  und  Kondilorzeitung  vom  21.  April  1894  beschrieben  (siehe  auch  OId.cn- 
berg  in  der  Sozialen  Praxis,  III.  IV.  Jahrg.  Sp.  988}.  4889  kamen  unter  den  Mann- 
heimer Bäckern  öfters  Flechten  vor.  „Das  liegt  aber  nicht,“  so  bemerkt  dir 
Günthersche  Zeitung,  „an  der  Arbeitszeit,  sondern  an  den  Uber  alles  Mafs 
schmutzigen  Arbeitsanzügen,  die  allein  stehen  bleiben,  so  steil 
sind  sie  mit  Schmutz  gefüllt.  Dafs  sich  darin  Bakterien  entwickeln,  ist  nicht 
zu  verwundern,  und  wir  halten  es  für  eine  Aufgabe  der  Gesundheits- 
polizei, hier  energisch  Wandel  zu  schaffen.“ 

*)  Lesenswert  ist  auch  der  Artikel,  der  „Breslauer  Morgenzeitimg“  (Nr.  33  vom 
20.  Januar  d.  J.  über  die  Konsumbäckerei,  welche  übrigens  zur  Zeit  62  Bäcker 
beschäftigt. 


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Arbeiter-  und  Konsumenten  schütz  im  Bäckergewerbe. 


»7 


nicht  in  der  Lage,  seinen  Gesellen  vron  der  Arbeit  auszuschliefsen. 
•Es  stehen  in  Frage  erkrankte  und  in  der  Genesung  befindliche 
Gesellen.  Diese  will  Behrend  ')  auf  administrativem  Wege  verhindern, 
Gebäck  zuzubereiten.  Er  schreibt:  „Inbezug  auf  die  Arbeiter  in 
Fabriken  und  Werkstätten  ist  die  Polizei  berechtigt,  den  Nachweis 
guter  hygienischer  Verhältnisse  zu  verlangen ; sie  thut  dies  bereits 
in  umfangreicher  Weise,  insofern  es  die  Einrichtung  der  Fabrik  und 
die  Art  des  Betriebes  betrifft,  und  könnte  es  auch  inbezug  auf  die 
einzelnen  Personen  fordern.  In  dieser  Beziehung  miifste  jeder  Arbeit- 
geber verpflichtet  sein,  bei  Einstellung  von  Arbeitern  den  Nachweis 
sich  erbringen  zu  lassen , dafs  dieselben  nicht  an  einer  an- 
steckenden Krankheit,  namentlich  nicht  an  Syphilis 
leiden  und  dieser  Nachweis  miifste  in  bestimmten  zeitlichen  Zwischen- 
räumen erneuert  werden*);  diejenigen  Personen  aber,  welche  wegen 
einer  Geschlechtskrankheit  in  ärztlicher  Behandlung  standen,  sollten, 
bevor  sie  zu  ihrer  Arbeitsstelle  zugelasscn  werden,  die  Beibringung 
eines  ärzlichen  Zeugnisses,  das,  in  Deutschland  wenigstens,  unter 
Mitwirkung  der  Krankenkassen  und  ohne  Kosten  für  den  Einzelnen 
zu  beschaffen  wäre,  zur  Pflicht  gemacht  werden.“  Gleicher  Natur 
sind  die  Vorschläge,  welche  bei  einem  Referat11)  überdas  Gutachten 
des  Landessanitätsrates  von  Oesterreichisch-Schlesien  die  Bäckerei- 
betriebe betreffend  gemacht  wurden : „Es  sollte  jede  in  eine 

Bäckerei  als  Arbeiter  eintretende  Person  vor  ihrem  Arbeitsantritt 
von  dem  hierzu  bestimmten  Arzte  auf  ihren  Gesundheitszustand 
untersucht  und  erst  nach  erfolgter  Bestätigung  ihrer  Zulässigkeit 
durch  den  Arzt  zur  Arbeit  aufgenommen  werden.  Ferner  mülste 
jeder  Betriebsleiter  einer  Bäckerei  verpflichtet  werden,  einen  jeden 
unter  seinen  Arbeitern  auftretenden  Krankheitsfall  sofort  bei  der 
Gemeinde  anzumelden.  Die  sanitären  Organe  der  Gemeinde  wie 
auch  die  Bezirksärzte  wären  zu  verpflichten,  die  Bäckereien  periodi- 
schen Revisionen  zu  unterziehen  und  hierbei  sowohl  auf  die 

sanitären  Verhältnisse  der  Bauanlage,  des  Betriebes  und  der  inneren 
Einrichtung  ihr  Augenmerk  zu  richten,  als  auch  den  Gesundheits- 
zustand des  darin  beschäftigten  Personals  zu  prüfen  und  bei  wahr- 


*)  Syphilis,  Prostitution  und  öffentliche  Gesundheitspflege.  Extrait  des  Comptcs- 
rendus  du  XII.  Congres  International  de  Medecine. 

*)  Reichstag  vom  13.  Januar  1897,  S.  4007  (A/B). 
a)  Soziale  Praxis,  VII.  Jahrgang,  Sp.  1290. 


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88 


M.  v.  Schulz 


genommenen  Unzuträglichkeiten  Anzeige  zu  erstatten."  *)  Diese 
hygienischen  Vorschläge  sind  so  wichtige,  dafe  sie  bei  der  end- 
gültigen Festsetzung  der  Backstubenordnung  geprüft  und  eventuell 
berücksichtigt  werden  sollten. 

Was  zum  Schlufs  nochmals  die  Backräume  als  solche  anlangt  *), 
so  klärt  uns  über  die  Beschaffenheit  derselben  am  besten  die  Protest- 
eingabe auf,  welche  die  Kommission  der  vereinigten  Berliner  Haus- 
besitzer und  Bäckermeister  an  die  Staatsministerien  aller  deutschen 
Bundesstaaten,  an  den  Reichskanzler,  sowie  an  den  Bundesrat  un- 
längst abgesandt  hat  Ganz  abgesehen  davon,  dafs  in  dieser  Ein- 
gabe die  projektierten  Bestimmungen  über  die  Hygiene  in  Bäckereien 
als  vielfach  zu  weit  gehend  und  unzeckmäfsig  bezeichnet  werden, 
wird  besonders  gegen  den  Absatz  IV  des  Entwurfes  Einspruch 
erhoben,  der  alle  den  Bestimmungen  nicht  entsprechende  Arbeits- 
räume nach  Ablauf  von  io  Jahren  aufser  Gebrauch  setzen  will.  Die 
Bittsteller  erklären  : „Die  weitaus  überwiegende  Anzahl  der  Bäckerei- 
arbeitsräume befindet  sich  in  Kellergeschossen  und  entspricht  nicht 
den  vorgesehenen  Bestimmungen.  In  Berlin  sind  allein,  bei  etwa 
1700  Bäckereiinhabern,  90  Proz.  aller  Backstuben  von  solcher  Be- 
schaffenheit, dafs  sie  nach  10  Jahren  für  Bäckereibetriebe  geschlossen 
werden  müssten."  „Der  Hauseigentümer,  der  für  die  Ueberlassung 
der  Benutzung  der  bisherigen  Bäckereiräume  einen  verhältnismälsig 
hohen,  wenn  auch  nur  angemessenen  Mietszins  von  in  gröfseren 
Städten  meist  mehreren  1000  Mk.  jährlich  erzielte,  würde  in  Zukunft 
diese  Räume  nur  als  Kellcrverschläge  oder  Lagerräume 
anderweitig  vermieten  können  und  mit  einemmal  für  alle  Zukunft 
hinaus  nur  einen  Mietspreis  von  vielleicht  hundert  oder  einigen 
hundert  Mark  erhalten." 8)  Aus  diesen  offenbar  wahrheitsgetreuen 


*)  Auf  der  14.  Hauptversammlung  des  preufsischen  Medizinalbeamten  Vereins 
1897  wurde  die  Frage,  inwieweit  eine  Teilnahme  der  Mcdizinalbcaratcn  bei  Hand- 
habe der  Gewerbchygienc  erforderlich  sei,  beraten.  Beide  Referenten  forderten, 
dafs  der  Medizinalbeamte  auch  auf  die  hygienischen  Mifsstände  im  Kleingewerbe 
seine  Aufmerksamkeit  wende  unter  besonderer  Berücksichtigung  der  Lehrlings-  und 
Gesellcnvcrhaltnisse,  der  gesundheitsschädlichen  Betriebe  und  der  Nahrungsmittel- 
industrie (Soziale  Praxis,  VII.  Jahrgang,  Sp.  15).  (Siehe  ferner  Hirschberg 
a.  a.  O.,  S.  65. 

*)  F.  A.  Günthers  Bäcker-  und  Konditorzeitung  vom  2.  und  5.  Oktober,  vom 
13.  und  23.  November  und  vom  4.  Dezember  1900,  Kretschmar,  Die  Arbeits- 
und Wohn  räume  in  Berliner  Bäckereien  1893  und  Oldenberg  a.  a.  O.,  S.  85  u.  91, 
*)  Kntnommen  aus  dem  „Vorwärts“  vom  2.  und  ll.  Juli  1901. 


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Arbeiter-  und  Konsumentcnschutz  im  Mac kerge werbe. 


89 


Schilderungen  der  eigentlich  nur  zu  Kellerverschlägcn  geeigneten 
Backstuben  erhellt,  dafs  das  Vorgehen  der  Gesetzgebung  durchaus 
gerechtfertigt  ist.  Unser  tägliches  Brot  mufs  in  diesen  Nahrungs- 
mitteln angemessenen  Werkstätten  hergestellt  werden.  Geldverluste 
und  Beeinträchtigungen  einzelner  Personen  dürfen,  da  das  öffentliche 
Interesse  ’)  gründliche  Vorkehrungen  gegen  unreinliche  und  un- 
geeignete Bäckereibetriebe  erheischt , kaum  in  Betracht  gezogen 
werden. 

Sollte  man  aber  den  Bäckermeistern  entgegenkommen  und  die 
Ausführung  der  neuen  Mafsregeln  denjenigen  Bäckereien,  welche 
diese  Gebote  nicht  erfüllen  können,  erlassen,  so  darf,  wie  Jastrow  *) 
auch  zur  Einführung  des  Maximalarbeitstages  bemerkt  hat , das 
Privileg  der  alten  Bäckereien  keineswegs  anders  als  persönlich 
gefafst  werden.  Es  mufs  spätestens  mit  dem  Tode  des  Inhabers 
erlöschen. 

Von  manchen  Seiten  wird  warnend  behauptet,  dafs  die  Back- 
stubenordnung eine  Prämiierung  der  grofsen  Betriebe  darstelle  und 
die  kleineren  Betriebe  unmöglich  mache.  Unleugbar  beginnt  in  den 
Hauptstädten  auch  für  das  Bäckerhandwerk  der  Grofsbetrieb  sich 
zu  entwickeln.  *)  Es  wird  den  Bäckermeistern  daher  einst  so  gehen, 
wie  heute  den  Schank-  und  Gastwirten,  die  unter  den  umfang- 
reichen Großbetrieben  in  ihrem  Gewerbe  leiden. 

Wenn  wir  auch  keinen  Anlafs  haben,  zu  wünschen,  dafs  der 
Entwicklungsprozefs  zum  Bäckereigrofsbetriebe  beschleunigt  werdei 
so  hat  es  doch  für  den  Konsumenten  etwas  Anheimelndes,  wenn  er 
hört,  wie  appetitlich  es  schon  jetzt  in  den  Brotfabriken  u.  s.  w. 
hergeht.  4) 


')  Sociale  Praxis,  X.  Jahrgang,  Sp.  533. 

*)  Sociale  Praxis,  V.  Jahrgang,  S.  821. 

*)  Ol  den  borg  a.  a.  O.,  S.  9. 

*)  Olbenbcrg  a.  a.  O.,  S.  89  und  Sociale  Praxis  vom  16.  September  1895, 

S.  989- 

Aus  Amerika  kommt  die  Nachricht,  dafs  die  kürzlich  in  Xewyork  begründete 
„National  Bread  Company"  beabsichtige,  durch  ein  System  von  grofsartigen  Brod- 
fabriken  den  Brodkonsum  in  allen  gröfseren  Städten  des  Landes  zu  befriedigen. 
Das  soll  geschehen,  indem  man  zu  dem  landesüblichen  Preise  von  5 Cents  für  einen 
kleinen  Laib  Brod  ein  bedeutend  besseres,  reinlicheres  und  gesünderes 
Brod,  als  bisher  die  Konsumenten  zu  essen  bekommen,  zu  liefern  verspricht  Es 
wird  in  den  Fabriken  eine  neue  Teigknetmaschine  cur  Anweridung  kommen.  (Ber- 
liner Tageblatt  Nr.  404  vom  11.  August  1901,  1.  Beiblatt.) 


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go 


M.  v.  Schulz, 


Wir  möchten  jedoch  bezweifeln,  dafs  die  bald  erscheinenden 
hygienischen  Vorschriften  des  Bundesrates  den  Grofsbetrieb  so  fördern 
werden,  wie  man  besorgt.  Der  unreinliche  Bäckermeister  wird 
zwar  verschwinden.  Von  der  unwürdigen  Konkurrenz  befreit,  wird 
dann  der  saubere  und  unternehmungslustige  Bäckermeister  um  so 
besser  in  der  Lage  sein,  den  Kampf  mit  dem  Grol'sbetriebe  auf- 
zunehmen ’)  und  sich  seine  Kundschaft  zu  erhalten. 

Der  Wortlaut  der  erörterten  Bekanntmachung  ist  der  folgende: 

Bekanntmachung  des  Reichskanzlers,  betreffend  den  Betrieb  von  Bäckereien 
und  Konditoreien  vom  4.  März  1896. 

Auf  Grund  des  § 120  c der  Gewerbeordnung  hat  der  Bundesrat  nachstehende 
Vorschriften  ül»er  den  Betrieb  von  Bäckereien  und  Konditoreien  erlassen : 

1.  Der  Betrieb  von  Bäckereien  und  solchen  Konditoreien,  in  denen  neben  den 
Konditorwaren  auch  Bäckerwaren  hergestellt  werden,  unterliegt,  sofern  in 
diesen  Bäckereien  und  Konditoreien  zur  Nachtzeit  zwischen  8 1 Uhr  abends 
und  5 1 ? Uhr  morgens  Gehilfen  oder  Lehrlinge  beschäftigt  werden,  folgenden 
Beschränkungen : 

I.  Die  Arbeitsschicht  jedes  Gehilfen  darf  die  Dauer  von  zwölf  Stunden  oder, 
falls  die  Arbeit  durch  eine  Pause  von  mindestens  einer  Stunde  unterbrochen 
wird,  cinscbliefslich  dieser  Pause  die  Dauer  von  dreizehn  Stunden  nicht 
überschreiten.  Die  Zahl  der  Arbeitsschichten  darf  für  jeden  Gehilfen 
wöchentlich  nicht  mehr  als  sieben  betragen. 

Aufserhalb  der  zulässigen  Arbeitsschichten  dürfen  die  Gehilfen  nur  zu 
gelegentlichen  Dienstleistungen  und  höchstens  eine  halbe  Stunde  lang  bei 
der  Herstellung  des  Vorteiges  (Hefestück.  Sauerteigs),  im  übrigen  aber 
nicht  bei  der  Herstellung  von  Waren  verwendet  werden.  Erstreckt  sich 
die  Arbeitsschicht  thatsächlich  über  eine  kürzere  als  die  im  Absatz  1 be- 
zeiebnete  Dauer,  so  dürfen  die  Gehilfen  während  des  an  der  zulässigen 
Dauer  der  Arbeitsschicht  fehlenden  Zeitraumes  auch  mit  anderen  als  ge- 
legentlichen Dienstleistungen  beschäftigt  werden. 

Zwischen  je  zwei  Arbeitsschichten  mufs  den  Gehilfen  eine  ununter- 
brochene Kühe  von  mindestens  acht  Stunden  gewährt  werden. 

2.  Auf  die  Beschäftigung  von  I^chrlingen  finden  die  vorstehenden  Bestimmungen 
mit  der  Mafsgabc  Anwendung,  dafs  die  zulässige  Dauer  der  Arbeitsschicht 
im  ersten  Lehrjahre  zwei  Stunden,  im  zweiten  Lehrjahre  eine  Stunde 

*)  Leider  ist  ein  jüngst  gemachter  Versuch  von  Berliner  Bäckermeistern,  eine 
Genossenschaitsbäckerci  zu  gründen,  mittels  welcher  der  Konkurrenz  der  sogenannten 
■Groüsbäcker  entgegengetreten  werden  sollte,  als  mifslungcn  anzusehen.  Eine  Umfrage 
hat  ergeben,  dafs  nur  ein  kleiner  Teil  der  Bäckermeister  dem  Projekte  Interesse 
entgegenbrachte  und  sich  beteiligen  wollte.  Der  Plan  mufstc  deswegen  aufgegeben 
werden.  (Staatsbürger-Zeitung  vom  16.  August  1901.) 


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Bekanntmachung  des  Reichskanzlers,  betr.  den  Betrieb  von  Bäckereien  etc.  qj 


weniger  beträgt,  als  die  für  die  Beschäftigung  von  Gehilfen  zulässige 
Dauer  der  Arbeitsschichl , und  dafs  die  nach  Ziffer  I Absatz  3 zu  ge- 
währende ununterbrochene  Ruhezeit  sich  um  eben  diese  Zeiträume  ver- 
längert. 

3.  Uebcr  die  unter  den  Ziffern  1 und  2 festgesetzte  Dauer  dürfen  Gehilfen 
und  Lehrlinge  beschäftigt  werden : 

a)  an  denjenigen  Tagen,  an  welchen  zur  Befriedigung  eines  bei  Festen 
oder  sonstigen  besonderen  Gelegenheiten  hervortretenden  Bedürfnisses 
die  untere  Verwaltungsbehörde  t'ebcrarbeit  für  zulässig  erklärt  hat; 

b)  aufserdem  an  jährlich  zwanzig  der  Bestimmung  des  Arbeitgebers  über- 

lassenen Tagen.  Hierbei  kommt  jeder  Tag  in  Anrechnung,  an  dem 
auch  nur  ein  Gehilfe  oder  Lehrling  über  die  unter  den  Ziffern  1 und  2 
festgesetzte  Dauer  beschäftigt  worden  ist.  % 

Auch  an  solchen  Tagen,  mit  Ausnahme  des  Tages  vor  dem  Weihnacht*-, 

( >ster-  und  Pfingstfest,  mufs  zwischen  den  Arbcitssrhichtcn  den  Gehilfen 
eine  ununterbrochene  Ruhe  von  mindestens  acht  Stunden,  den  Lehr- 
lingen eine  solche  von  mindestens  zehn  Stunden  im  ersten  Lehrjahre, 
mindestens  neun  Stunden  im  zweiten  I*chrjahrc  gewährt  werden. 

Die  untere  Verwaltungsbehörde  darf  die  Ueberarbeit  (a)  für  höchstens 
zwanzig  Tage  im  Jahre  gestatten. 

4.  Der  Arbeitgeber  hat  datür  zu  sorgen,  dafs  an  einer  in  die  Augen  fallenden 
Stelle  der  Betriebsstätte  ausgehängt  ist: 

a)  eine  mit  dem  polizeilichen  Stempel  versehene  Kalendertafel , auf  der 
jeder  Tag,  an  dem  Ueberarbeit  auf  Grund  der  Bestimmung  unter 
Ziffer  3b  stattgefunden  hat,  noch  am  Tage  der  Ueberarbeit  mittels 
Durchlochung  oder  Durchstreichung  mit  Tinte  kenntlich  zu  machen  ist; 

b)  eine  Tafel,  welche  in  deutlicher  Schrift  den  Wortlaut  dieser  Be- 
stimmungen 1 1 bis  V)  wiedergiebu 

5.  An  Sonn-  und  Festtagen  darf  die  Beschäftigung  von  Gehilfen  und  Lehr- 
lingen auf  Grund  des  § 105  c der  Gewerbeordnung  und  der  in  den 
$§  105  b und  105  f a.  a.  O.  vorgesehenen  Ausnahmebewilligungen  nur 
insoweit  erfolgen,  als  dies  mit  den  Bestimmungen  unter  den  Ziffern  1 bis  3 
vereinbar  ist. 

In  Betrieben,  in  denen  den  Gehilfen  und  Lehrlingen  für  den  Sonntag 
eine  mindestens  vierundzwanzigstündige,  spätestens  am  Sonnabend  Abend 
um  zehn  Uhr  beginnende  Ruhezeit  gewährt  wird,  dürfen  die  an  den  zw 
vorhergehenden  Werktagen  endigenden  Schichten  um  je  zwei  Stunden 
Über  die  unter  den  Ziffern  I und  2 bestimmte  Dauer  hinaus  verlängert 
werden.  Jedoch  mufs  auch  dann  zwischen  je  zwei  Arbeitsschichten  den 
Gehilfen  eine  ununterbrochene  Ruhezeit  von  mindestens  acht  Stunden,  den 
Lehrlingen  eine  solche  von  mindestens  zehn  Stunden  im  ersten  Lehrjahre, 
mindestens  neun  Stunden  im  zweiten  Lehrjahre  gelassen  werden. 

II.  Als  Gehilfen  und  Lehrlinge  im  Sinne  der  Bestimmungen  unter  I gelten  solche 
Personen , welche  unmittelbar  bei  der  Herstellung  von  Waren  beschäftigt 


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g2  Bekanntmachung  des  Reichskanzlers,  betr.  den  Betrieb  von  Bäckereien  etc. 

werden.  Dabei  gelten  Personen  unter  sechzehn  Jahren,  welche  die  Ausbildung 
zum  Gehilfen  nicht  erreicht  haben,  auch  dann  als  Lehrlinge,  wenn  ein  Lehr- 
vertrag nicht  abgeschlossen  ist. 

Die  Bestimmungen  über  die  Beschäftigung  von  Gehilfen  finden  auch  auf 
gewerbliche  Arbeiter  Anwendung , welche  in  Bäckereien  und  Konditoreien 
lediglich  mit  der  Bedienung  von  Hilfsvorrichtungen  (Kraftmaschinen,  Be- 
leuchtungsanlagen und  dergleichen)  beschäftigt  werden. 

III.  Die  Bestimmungen  unter  I finden  keine  Anwendung  auf  Gehilfen  und  Lehrlinge, 
die  zur  Nachtzeit  überhaupt  nicht  oder  doch  nur  mit  der  Herstellung  oder 
Herrichtung  leicht  verderblicher  Waren,  die  unmittelbar  vor  dem  Gcnufs 
hcrgestcllt  oder  hergerichtet  werden  müssen  (Fis,  Cremes  und  dergleichen), 
beschäftigt  werden. 

ft  IV.  Die  Bestimmungen  unter  I finden  ferner  keine  Anwendung: 

1.  auf  Betriebe,  in  denen  regelmäfsig  nicht  mehr  als  dreimal  wöchentlich 
gebacken  wird ; 

2.  auf  Betriebe,  in  denen  eine  Beschäftigung  von  Gehilfen  oder  Lehrlingen 
zur  Nachtzeit  lediglich  in  einzelnen  Fällen  zur  Befriedigung  eines  bei 
Festen  oder  sonstigen  besonderen  Gelegenheiten  hervortretenden  Bedürfnisses 
mit  Genehmigung  der  unteren  Verwaltungsbehörde  stattfindet. 

Diese  Genehmigung  darf  die  untere  Verwaltungsbehörde  für  höchstens 
zwanzig  Nächte  erteilen. 

V.  Die  vorstehenden  Bestimmungen  treten  am  l.  Juli  1896  in  Kraft  Während 
der  Zeit  vom  1.  Juli  bis  31.  Dezember  1896  darf  Ucberarb eit  auf  Grund  der 
Bestimmung  unter  I Ziffer  3 a für  höchstens  zehn  Tage  und  Nachtarbeit  auf 
Grund  der  Bestimmung  unter  IV  Ziffer  2 für  höchstens  zehn  Nächte  gestattet 
werden,  sowie  Ueberarbeit  auf  Grund  der  Bestimmung  unter  1 Ziffer  3 b an 
höchstens  zehn  Tagen  stattfinden. 

Berlin,  den  4.  März  1896. 

Der  Stellvertreter  des  Reichskanzlers, 
von  Bötticher. 


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Der  Entwurf  von  Bestimmungen  über  die 
Beschäftigung  der  Gastwirtsgehilfen. 

Von 

Dr.  ARTHUR  COHEN 

, in  München. 

L 

Eine  Spätfrucht  des  sozialpolitischen  Aufschwungs  von  1890 
ist  reif  geworden!  Seiner  Herkunft  nach  einer  Phase  der  Gesetz- 
gebung angehörend,  die  in  manchen  Beziehungen  schon  als  über- 
wunden gelten  darf,  in  seiner  embryonalen  Entwicklung  mehrfach 
durch  äufsere  Einflüsse  gehemmt,  trägt  der  dem  Bundesrat  vorliegende 
in  der  Ueberschrift  dieses  Aufsatzes  erwähnte  Entwurf  schon  gleich 
bei  seiner  Geburt  hippokratische  Züge. 

Die  „fragwürdige  Gestalt"  des  Entwurfes  kommt  einer  dringenden 
Einladung  gleich,  sich  mit  seiner  Entstehung  näher  zu  be- 
schäftigen. 

Die  Bestimmungen  der  Gewerbeordnungsnovelle  vom  I.juni  1891 
über  die  Sonntagsruhe  beziehen  sich  auf  das  Gast-  und  Schank- 
wirtschaftsgewerbe nicht  (§  105  i).  Man  ist  aber  im  Reichstag  bei  der 
Beratung  der  Novelle  einig  darüber  gewesen,  dafs  den  Angestellten 
in  diesem  Gewerbe  ein  Schutz  gewährt  werden  müsse,  namentlich 
auch  in  der  Richtung  der  Sonntagsruhe:  die  Verhältnisse  im  Gast- 
und  Schankwirtschaftsgewerbe  seien  aber  ganz  eigenartige,  sie 
erheischten  eine  besondere  Regelung  und  müfsten  jedenfalls  vorher 
untersucht  werden.  In  diesem  Sinne  sprach  sich  auch  der  Re- 
gierungsvertreter , der  Organisator  des  „neuen  Kurses“ , Herr 
von  Berlepsch,  aus.1) 

')  Vgl.  meine  Abhandlung  „Die  Lohn-  und  Arbeitsverhältnisse  der  Münchener 
Kellnerinnen“  in  diesem  „Archiv“  Band  V (1892)  S.  looff. 


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94 


Arthur  Cohen, 


Die  Vornahme  der  Erhebung  wurde  der  iin  Jahre  1892  ein- 
gesetzten Reichskommission  für  Arbeiterstatistik  über- 
tragen. Dieselbe  beschäftigte  sich  zum  ersten  Male  am  30.  Juni 
1893  mit  dem  Gegenstände.1)  Es  wurde  zunächst  die  Aussendung 
.von  Fragebogen  beschlossen.  Die  Fragebogen  enthielten  Fragen 
über  Arbeitszeit  (auch  über  die  Arbeitspausen,  freie  Tage,  Ausgehe- 
zeiten),  Dienstzeit,  Stellenvermittlung  (auch  über  Vermittlungs- 
gebühren), Löhne  (auch  über  die  Lohnabzüge  und  Naturallöhnung), 
wurden  an  10  Proz.  der  Gehilfenbetricbe  im  deutschen  Reiche  ver- 
teilt und  zur  Hälfte  von  den  Arbeitgebern,  zur  anderen  Hälfte  von 
den  Arbeitern  beantwortet.  Dieser  erste  I eil  der  Erhebung  bezog 
sich  nur  auf  die  Arbeitsverhältnisse  der  Kellner,  Kellnerinnen 
und  Kellnerlehrling e.*)  Es  wurde  zwar  im  Schofse  der  Kom- 
mission angeregt,  die  Befragung  auch  auf  die  anderen  im  Wirt- 
schaftsgewerbe beschäftigten  Personen,  oder  wenigstens  auf  das 
Küchenpersonal,  oder  wenigstens  auf  die  Köche  auszudehnen,  die 
betreffenden  Anträge  wurden  aber  abgelehnt.  Eine  Ausdehnung 
auf  das  ganze  Personal  mache  die  Erhebung  zu  umfangreich  und 
schwerfällig;  ein  grofser  Teil  des  Wirtschaftspersonals  sei  zum  Ge- 
sinde zu  rechnen  und  falle  daher  überhaupt  nicht  unter  die  Ge- 
werbeordnung; die  Arbeitsverhältnisse  der  Köche  könne  man  später 
immer  noch  feststellen.  Ja  sogar  der  schüchtern  aufgetretene  Ver- 
such. die  Einbeziehung  der  Lohnkellner  (Aushilfskellner)  in  die 
Befragung  zu  veranlassen  (Antrag  Morgenstern),  wurde  aus  fonnal- 
juristischen  Gründen,  weil  die  Lohnkellner  selbständige  Gewerbe- 
treibende seien  (!),  abgelehnt. 

Der  zweite  Teil  der  Erhebung  bestand  in  der  Einholung'  von 
Gutachten  von  den  Arbeitgeber-  und  Arbeiterver- 
einigungen und  vom  Reichsgesundheitsamte.  ' ) Zu  diesem 
Zwecke  wurden  an  die  Organisationen  der  Wirte  und  der  Kellner 
und  an  die  Krankenkassen  Fragebogen  hinausgegeben.  Die 
Organisationen  wurden  befragt  über  die  etwaigen  nachteiligen  Folgen 
der  üblichen  Arbeitszeit,  über  ihre  Wünsche  und  Ansichten  in  Be- 

i)  Druck*,  der  Komm.  f.  ArheilerstatistiU.  Verhandlungen  III  4,  19,  39.  1 

r,  Die  Ergebnisse  wurden  vom  kiis.  Statistischen  Amte  in  tabellarischer  Form 
verarbeitet,  mit  Einleitung  versehen  und  erörtert  ^Drucksachen  etc.  hrhtbungen  Nr.  6. 
Erhebung  Uber  die  Arbeits-  und  (ichaltsvtrhältnissc  der  Kellner 
und  Kellnerinnen.  Berlin,  Carl  lleymanns  Verlag,  1894.  — leb  zitiere:  „Er- 
hchungon  Teil  I“). 

3)  Beschlossen  in  der  Sitzung  vom  9.  November  1S94  (Verb.  VII  3). 


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Der  Entwurf  von  Bestimmungen  über  die  Beschäftigung  von  Gastwirtsgehilfen. 


Ziehung  auf  die  gesetzliche  Regelung  der  Arbeitszeit  und  auf  die 
Sonntagsruhe,  über  die  Nachteile  des  Trinkgelderwesens  und  der 
gewerbsmälsigen  Stellenvermittlung,  über  die  Verwendung  der  Straf- 
gelder. In  diesem  Stadium  der  Erhebungen  wurden  auch  die  Ar- 
beitsverhältnisse der  Köche  hereingezogen.  Es  wurden  nämlich 
auch  an  die  Köchevereinigungen  Fragebogen  gerichtet;  darin  wurde 
auch  nach  der  täglichen  Arbeitszeit  der  Köche,  Köchinnen,  Mamsells 
(Küchenbeschliefserinnen)  und  Kochlehrlinge  gefragt.  Die  Kranken- 
kassen wurden  veranlagt,  bestimmte  Fragen  über  die  Morbidität 
und  Mortalität  der  Kellner  und  Köche  zu  beantworten. 

Die  Ergebnisse  wurden  im  Jahre  1895  veröffentlicht.1)  Nun- 
folgte eine  lange  Pause.  Schon  bald  nach  der  Errichtung  der 
Kommission  für  Arbeiterstatistik  war  eine  wirtschaftliche  Depression 
eingetreten  und,  als  Folge,  eine  Art  Gesetzesmüdigkeit.  Dann  kam 
die  ,.Aera  Stumm",  der  Widerstand  gegen  die  Fortführung  der 
Sozialreform,  der  Stillstand  derselben.  Auch  in  der  Thätigkeit  der 
Kommission  für  Arbeiterstatistik  machte  sich  die  Wendung  fühlbar. 
In  der  Presse  verlautete  sogar,  man  wolle  die  Kommission  einschlafen 
lassen,  nur  die  bereits  angeschnittenen  Beratungsgegenstände  sollte 
sie  langsam  zu  Ende  führen.  In  der  That  wurde  der  Kommission 
lange  Zeit  kein  neuer  Beratungs-gegenstand  mehr  zugewiesen,  und 
vom  20.  November  1894  bis  zum  10.  Dezember  1895  fand  überhaupt 
keine  Sitzung  statt. 

In  ihrer  Sitzung  vom  28.  Juni  1898  kam  die  Kommission  für 
Arbeiterstatistik  auf  die  Arbeitsverhältnisse  im  Gast-  und  Schank- 
wirtschaftsgewerbe zurück,  sic  beschlofs  Auskunftspersonen 
zu  vernehmen.5)  Die  Vernehmung  fand  am  17.  November  1898 
und  an  den  folgenden  Tagen  statt.3)  Es  wurden  61  Personen  ver- 
nommen, nämlich  6 Hoteliers,  10  Restaurateure,  3 Cafebesitzer, 
1 Saalbesitzer,  1 Cafegeschäftsführer,  8 Hotelkellner,  1 1 Restaurant* 

*)  Erhebungen  Xr.  9:  Erhebung  etc.  wir  oben.  Zweiter  Teil.  Merlin, 
Carl  Heymanns  Vertag.  — l>ir  Antworten  der  Kerub. Vereinigungen  sind  vom  kais. 
Statistischen  Amte  zusammcngestellt,  die  Antworten  der  Krankenkassen  in  das  Gut- 
achten des  Reichsgesund  heil. amtes  hineingearbcilct. 

*)  Vrrh.  XV  9. 

:il  Drucks,  etc.  Verhandlungen  Xr.  16:  Protokolle  über  die  Verhandlungen 
der  Kommission  für  Arbeiterstatistik  vom  17.,  18,  19.  und  21.  November  1S98  und 
die  Vernehmung  von  Auskunft. s personen  üher  dir  Verhältnisse  der 
in  Gast-  und  Sc  h a n k w i r ts  c h a ft  c n beschäftigten  Personen.  Kcrlin, 
Carl  Ilcymanns  Verlag,  1899. 


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96 


Arthur  Cohen, 


kellner,  4 Cafekellner,  2 Saalkellner,  2 Cafebuffetdamen,  6 Restaurant- 
kellnerinnen, 3 Hotelköche,  2 Restaurantköche,  1 Hotelköchin,  I 
Restaurantköchin.  Die  Auskünfte  bezogen  sich  besonders  auf  die 
Einteilung  der  Arbeit  innerhalb  der  Betriebe,  sowie  darauf,  welche 
gesetzlichen  Malsregeln  die  Auskunftspersonen  für  wünschenswert 
und  durchführbar  hielten. 

Damit  war  die  Erhebung  beendigt,  der  Referent  Reichstags- 
abgeordneter Molkenbuhr  und  der  Korreferent,  der  bayerische  Be- 
vollmächtigte zum  Bundesrat  Herrmann,  erstatteten  ihre  Berichte. 
Die  Kommission  hielt  am  14.  Dezember  1899  ihre  Schlufsberatung 
ab ')  und  kam  dabei  zu  den  am  Schlüsse  des  Aufsatzes  abgedruckten 
Vorschlägen.  Der  Sch  1 u fs be  rieh t der  Kommission  an  den 
Reichskanzler  wurde  vom  Korreferenten  *)  ausgearbeitet  und  in  der 
Kommissionssitzung  vom  13.  Juni  1900  festgestellt®) 

Hierauf  fanden  zwischen  den  beteiligten  Reichsämtern  und 
prcufsischen  Ressorts  Beratungen  statt,  und  als  Ergebnis  derselben 
veröffentlichten  die  Blätter  anfangs  April  1901  den  am  Schlüsse 
dieses  Aufsatzes  abgedruckten  „Entwurf  von  Bestimmungen 
über  die  Beschäftigung  von  Gehilfen  und  Lehrlingen 
in  Gast-  und  in  Schankwirtschaften".  — 

YVas  waren  nun  die  Ergebnisse  der  Enquete?  Wir  be- 
schränken uns  auf  die  Arbeitszeit,  weil  auch  der  uns  beschäf- 
tigende Entwurf  nur  sie  zu  regeln  bestimmt  ist.  — 

Die  regelmäfsige  tägliche  Arbeitszeit4)  beträgt  nach  der 
Statistik  (Erhebungen  I.  Teil,  Tab.  2 b)  in  2,7  Proz.  der  befragten  Betriebe 
12  Stunden  oder  weniger,  in  12,7  Proz.  mehr  als  12  bis  14  Stunden,  in 
in  53,3  Proz.  mehr  als  14  bis  16  Stunden,  in  31,3  Proz.  mehr  als  16 
Stunden.  In  37.6  Proz.  der  befragten  Betriebe  fanden  an  gewissen 

*)  Vcrh.  Nr.  17.  Die  Berichte  der  Referenten  sind  als  Anlagen  des  Protokolls 
veröffentlicht. 

*)  Der  Referent  Molkenbuhr  hatte  darauf  verachtet,  wahrscheinlich  weil  er 
mit  seinen  weitergehenden  Vorschlägen  in  der  Kommission  nicht  durchgedrungen 
war  (M.  gehört  der  sozialdemokratischen  Partei  an). 

*)  Drucks,  etc.  Verhandlungen  Nr.  18:  Protokolle  etc.  und  Bericht  über 
die  Erhebungen  betr.  die  Verhältnisse  der  in  Gast-  und  Schank- 
wirtschaften  beschäftigten  Personen.  Berlin,  Carl  Heymanns  Verlag,  1900. 
Am  Schlüsse  des  Berichtes  findet  sich  eine  Zusammenstellung  der  Vorschläge  der 
Kommission  ffir  Arbeiterstatistik. 

4)  mit  Kinschlufs  der  unten  /u  erwähnenden  Arbeitspausen  (vgl.  Erheb.  Teil  I 
S.  [04). 


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Der  Kniwurf  von  Bestimmungen  Uber  die  Beschäftigung  der  Gastwirtsgehilfen. 


Tagen  der  Woche  oder  zu  gewissen  Zeiten  des  Jahres  wesentliche 
U eberschreitun  gen  der  regelinäfsigen  Arbeitszeit 
statt,  und  zwar  in  29,5  Proz.  an  60  Tagen  und  weniger,  in  5,3  Proz. 
an  60  bis  120  Tagen,  in  2,3  Proz.  an  mehr  als  120  Tagen;  ein  Aus- 
gleich der  Ueberschreitungen  ergiebt  sich  bei  65,1  Proz.  der  be- 
treffenden Betriebe  dadurch,  dafs  am  Tage  nachher  eine  längere 
Ruhezeit  gewährt  wird,  ln  61,1  Proz.  der  Betriebe  wird  die  täg- 
liche Arbeitszeit  regelmäfsig  durch  Arbeitspausen1)  unterbrochen, 
und  zwar  in  29,2  Proz.  der  Betriebe  durch  Arbeitspausen  von  ,/e 
bis  I Stunde  und  in  31, 9 Proz.  durch  Pausen  von  längerer  Dauer. 

Wenn  in  einem  Betriebe  die  Arbeitszeit  der  Beschäftigten  ver- 
schieden lang  war,  so  hat  das  Statistische  Amt  bei  der  Auszählung 
nur  die  Angabe  mit  der  längsten  Arbeitszeit  berücksichtigt.  *)  Analog 
bei  den  Ueberschreitungen.  Da  aus  diesem  Grunde  die  Betriebs- 
tabellen ein  zu  ungünstiges  Bild  ergeben  könnten,  so  müssen  wir 
die  Berufstabellen  herzuzichcn. 

Es  haben  eine  regelmäfsige  tägliche  Arbeitszeit 3)  von  4) 


12  Stunden  u. 

12 — 14 

14 — 16 

16 — 18 

mehr  als 

weniger 

Stunden 

Stunden 

Stunden  1 

18  Stunden 

Oberkellner  . . 2,7  Proz. 

7,6  Proz. 

46.0  Proz. 

40,6  Proz. 

2,5  Proz. 

Kellner  . . . 4,3  „ 

79 

49,2  „ 

36,0  „ 

2,6  „ 

Kellnerinnen  . 5,0  „ 

»9.3  „ 

51.8  .. 

23,4  .. 

0,5 

Kcllncrlehrlingc  2,3  „ 

12,8  „ 

60,5  „ 

23,6  >. 

0,8  „ 

Die  regelmäfsige 

tägliche 

Arbeitszeit 

erscheint  also 

bei  der 

Ausscheidung  nach  Berufskategorieen  in  Ansehung  der  erwachsenen 
männlichen  Arbeiter  ungünstiger,  in  Ansehung  der  weiblichen  Per- 
sonen und  der  Lehrlinge  günstiger  als  bei  der  Zählung  der  Betriebe. 

In  19,9  Proz.  der  Betriebe  wird  dem  Personal  von  Zeit  zu  Zeit 
ein  Ruhetag  gewährt  (mindestens  24  Stunden)  und  zwar:  in 
6,5  Proz.  12  mal  im  Jahre  und  weniger,  in  7,4  Proz.  13  bis  24  mal 
und  in  6 Proz.  häufiger.  Regelmäfsige  Ausgehezeiten  (unter 
24  Stunden)  werden  in  54,3  Proz.  der  Betriebe  gewährt,  nämlich 
in  45,3  Proz.  12  bis  48  mal  im  Jahre,  in  5,4  Proz.  49  bis  96  mal  und 
in  3,6  Proz.  mehr  als  96  mal. 

Beim  Küchen  personal  ist  eine  löstündige  Arbeitszeit  (mit 
Einschlufs  der  Arbeitspausen)  gebräuchlich. 

*)  gewöhnlich  mit  Dienstbereitschaft. 

*)  Erheb.  Teil  II  S.  13. 

a)  ebenfalls  mit  Einschlufs  der  Arbeitspausen. 

4)  Bericht  etc.  S.  9. 

-Archiv  für  so t.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVII.  7 


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98 


Arthur  Cohen, 


Aus  diesen  Ziffern  schliefst  das  Gesundheitsamt  mit  Recht ') 
auf  Mangel  an  Erholung  und  Erfrischung  durch  ge- 
nügenden Schlaf.  Von  den  Berufskrankheiten  der 
Kellner  (Kellnerinnen)  * ) wollen  wir  nur  die  Störungen  im  Blut- 
kreislauf der  unteren  Gliedmafsen  erwähnen,  welche  sich  durch 
das  anhaltende  Stehen  entwickeln  und  Krampfadern,  Krampfader- 
entzündung und  -Blutungen  zur  Folge  haben.  Ueberhaupt  arbeiten 
die  Kellner  unter  hygienisch  ungünstigen  Umständen,  in 
Lokalen,  deren  Luft  durch  Tabaksqualm,  Verbrennungsgase  und 
Ausdünstungen  verunreinigt  ist.  Es  ist  daher  kein  Wunder,  dass 
die  Lungenschwindsucht  unter  den  Kellnern  sehr  stark  verbreitet  ist. 

Von  1000  Sterbcfällen  nachstehender  Altersgruppen  entfielen 
in  Preufsen  in  den  Jahren  1884  bis  1893  auf  Tuberkulose: 


15—20 

20 — 25 

25—30 

30—40  40 50 

50-60 

60 — 70 

70 — 80 

über 

bei  (männlich.) 

Jahre 

Jahre 

Jahre 

Jahre 

Jahre 

Jahre 

Jahre 

Jahre 

80  J. 

Kellnern  . . 

bei  der  männl. 
Bevölkerung 

401 

621 

6 33 

588 

438 

348 

217 

überhaupt 

37o 

459 

467 

411 

329 

263 

'7* 

56 

10 

*)  Erhebungen  Teil  II  S.  57 /8. 

*)  Bei  der  Sterblichkeitsstatistik  der  Gastwirtsgehülfen  mufs  man  sich 
hüten,  das  Durchschnittsalter  der  gestorbenen  Kellner  mit  dem  Durch- 
schnittsalter der  erwachsenen  männlichen  Bevölkerung  überhaupt  (oder  den  Prozent- 
satz der  in  einem  bestimmten  Alter  gestorbenen  Kellner  mit  dem  Prozentsatz  der  in 
dem  betreffenden  Alter  gestorbenen  erwachsenen  Männer)  zu  vergleichen.  Denn  der 
Tod  ist  nicht  die  einzige  Möglichkeit,  aus  dem  Berufe  auszuscheiden,  und  gerade  die 
Gastwirtsgehülfen  gehen  häufig  zu  einem  anderen  Berufe  oder  zu  einer  anderen  Be- 
rufsstellung über.  Oder  m.  a.  W. : Der  Altersaufbau  der  Kellner  ist  sehr  ver- 
schieden von  dem  Altersaufbau  der  erwachsenen  männlichen  Bevölkerung.  (Ebenso, 
ja  noch  mehr,  beim  weiblichen  Geschlecht,  bei  den  Kellnerinnen.)  Da  es  verhält- 
nismäfsig  sehr  viele  jugendliche  Kellner  gibt,  so  müssen  die  sterbenden  Kellner 
(d.  b.  die  als  Kellner  Sterbenden)  natürlich  auch  verhältnismäfsig  jung  sein. 
Vgl.  Mayr,  Statistik,  Bd.  II  S.  295  ff.  Selbst  das  Reichsgesundheitsamt  hat  diesem 
Umstand  nicht  genügend  Rechnung  getragen  (s.  die  Bemerkung  Erheb.  Teil  II  S.  73 

unten,  S.  74:  „Immerhin  bleibt von  Bedeutung“).  Uebcr  die  bekannte,  methodisch 

einwandfreiere,  aber  (wegen  zu  weiter  Altersrahmen)  auch  nicht  unbedenkliche, 
englische  Statistik  von  Oglc  (Wirts-  und  Hotelpersonal  die  grölste  Sterblichkeit, 
nämlich  397  gegenüber  der  Grundzahl  100  bei  den  Geistlichen)  s.  ebenfalls  Mayr 
S.  298.  Das  Neueste  über  die  Mortalität  in  den  verschiedenen  Berufen  in  Eng- 
land ist  der  Report  of  the  General  Registrar  of  Births,  Dcats  and  Mariages  von  1897. 

3)  Fircks  in  der  Zeilsclir.  des  kgl.  preufs.  statistischen  Bureaus  1897  S.  90  u.  84. 


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Der  Entwurf  von  Bestimmungen  Uber  die  Beschäftigung  der  Gastwirtsgehilfen.  gg 

Die  ungünstigen  Gesundheitsverhälltnisse  der  Kellnerschaft  sind, 
wie.das  Gesundheitsamt  feststellte1),  zum  Teil  auf  die  gegenwärtig 
übliche  übermässige  Dauer  der  täglichen  Arbeitszeit  zurückzuführen. 
Die  Reichskommission  kam  daher  zu  dem  Ergebnisse,  dass  die 
tägliche  Arbeitszeit  der  Kellner  durch  ihre  über- 
mäfsige  Dauer  deren  Gesundheit  gefährde,  dass  also  die 
Voraussetzung  und  das  Bedürfnis  zur  Anwendung 
von  § I20e  Abs.  III  der  Gewerbeordnung2)  gegeben  sei. 
Das  Gleiche  gilt  von  den  Köchen.*) 

n. 

Die  Klagen  der  Gastwirtsgehilfen  über  die  lange  Arbeitszeit 
und  über  ihre  schädlichen  Wirkungen  auf  die  Gesundheit  sind  also 
berechtigt.  Man  darf  aber  nicht  bei  der  Konstatierung  der  un- 
günstigen Arbeitsbedingungen  stehen  bleiben,  sondern  man  muss 
auch  deren  Ursachen  zu  erforschen  suchen.  Zum  Teil  ist  die 
ungünstige  Lage  des  Gewerbes  Schuld  an  der  Verwahr- 
losung der  Arbeitsverhältnisse. 

Die  Betriebsformen  im  „Beherbergungs-  und  Krquickungs- 
gewerbe“  haben  von  1882  auf  1895  folgende  Entwicklung  durch- 
gemacht. 4) 


Haupt- 

betriebe 

Allcin- 

betriebe 

Gehilfen- 

betriebe 

Gehilfenbetriebe  mit 

bis  5 

6—10 

11-50 

mehr  als  50 

beschäftigten  Personen 

1882 

169844 

88231 

81 613 

75  760 

4 167 

1 667 

•9 

1895 

234  437 

58  230 

176  207 

162  435 

9 75* 

3 925 

96 

Aus  der  Abnahme  der  Alleinbctriebe  und  Zunahme  der  Ge- 
hilfenbetriebe (in  allen  Grössenklassen)  schliesst  Molkenbuhr,  dafs 


>)  Erheb.  Teil  II  S.  79. 

*)  § 120 c Abs.  III  lautet:  „Durch  Bcschlufs  des  Bundesrats  können  für  solche 
Gewerbe,  in  welchen  durch  übermäfsige  Dauer  der  täglichen  Arbeitszeit  die  Gesund- 
heit der  Arbeiter  gefährdet  wird,  Dauer,  Beginn  und  Ende  der  zulässigen  täglichen 
Arbeitszeit  und  der  zu  gewährenden  Pausen  vorgeschrieben  und  die  zur  Durch- 
führung dieser  Vorschriften  erforderlichen  Anordnungen  erlassen  werden“. 

*)  Verb.  XVIII  n. 

4)  Vierteljahrs!»,  zur  Stat.  des  Deutschen  Reichs,  Jahrg.  1898  Ergänzungsheft  I 
S*  5 und  1 1. 

7* 


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IOO 


Arthur  Cohen, 


das  Gewerbe  im  Aufsteigen  begriffen  sei.1)  In  Wirklichkeit  haben 
die  Zahlen  nur  morphologische  Bedeutung,  sie  zeigen,  dafs  die 
mittleren  und  gröfseren  Betriebe  in  der  Zunahme,  die  Zwergbetriebe 
(Alleinbetriebe)  in  der  Abnahme  begriffen  sind,  über  die  mate- 
rielle Lage  der  Unternehmer  ist  damit  noch  nichts  gesagt.  Auf 
das  Reich  sich  erstreckende  Untersuchungen  fehlen,  die  Reichser- 
hebung hatte  ja  nur  die  Lage  der  Angestellten  zum  Gegen- 
stände. Lokale  Untersuchungen  haben  dargethan,  dafs  die  Wirte 
sich  häufig  in  drückender  Abhängigke  it  von  den  kapitalistisch 
arbeitenden  Brauereien  befinden,  ln  München9)  liefern  die 
Brauereien  nicht  nur  das  Bier,  sondern  sie  schiefsen  vielfach  den 
Anwesenskaufschillung  vor,  sie  geben  Baukapitalien  auf  Hypothek 
oder  verpachten  Wirtschaften,  nachdem  sie  sie  gekauft  oder  gepachtet 
haben;  dafür  verlangen  sie  vom  Wirt  den  Abschlufs  langjähriger  (drei- 
bis  zwölfjähriger)  Bierliefcrungsverträge.  Im  Volksmunde  werden  die 
Münchener  Wirte  schon  als  „Geschäftsführer  der  Brauereien"  bezeich- 
net, die  Gebundenheit  der  Wirte  an  die  Brauereien  findet  nur  in  der 
Konkurrenz  der  Brauereien  untereinander  durch  Abjagen  der  Wirte 
(„Wirtshatz“)  ihre  Schranke.  Die  günstigsten  Konkurrenzbedingungen 
haben  die  Brauereien  mit  dem  gröfsten  Kapital,  denn  nicht 
die  Brauerei  mit  dem  billigsten  Bier  erringt  den  Sieg,  sondern  die 
Brauerei,  die  das  gröfste  Darlehen  giebt. 

Ich  weife  nicht,  ob  diese  oder  derartige  Zustände  auch  sonst 
im  deutschen  Reich  bestehen.  Aber  es  ist  notorisch,  dafs  auch 
die  Gasthofbesitzer  vielfach  überschuldet  sind.  Nur  tritt  hier  an  die 
Stelle  der  Brauerei  die  Bank,  der  Baukapitalist,  der  Wcinhändler. 
Die  ungünstigen  Vermögens-  und  Geschäftsverhältnisse  zwingen 
viele  Unternehmer  dazu,  ihre  Betriebskosten  auf  das  geringstmögliche 
Mafs  einzuschränken , und  dieses  führt  zu  den  harten  Arbeits- 
bedingungen, zur  Ausnützung  der  Arbeitskraft  des  Personals,  zur 
Verringerung  der  Löhne  unter  Berufung  auf  die  Trinkgelder.  In 
München  ist  es  bereits  zu  Zuständen  gekommen,  welche  der  Pro- 
stitution der  Heimarbeiterinnen  in  der  Konfektionsbranche  wenig 
nachgeben:  wie  die  Kellnerinnen  auf  das  Trinkgeld,  so  werden  die 
Schänkkellner  (Zapfer,  Buffetier)  auf  den  durch  schlechtes  Ein- 


>)  Verb.  XVII  62. 

*)  Struvc,  die  Entwicklung  des  bayerischen  Braugewerbes  im  19.  Jahrhundert. 
(Sehmollcr  Forsch.  XII  1)  1893  S.  252  ff.  Vgl.  Trefz,  Das  Wirtsgewerbe  in  München 
(Münch.  Volksw.  Stud.  33.  Stück)  1899  S.  55  ff. 


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Der  Entwurf  von  Bestimmungen  Uber  die  Beschäftigung  der  Gastwirtsgehilfen,  joi 

Schänken  zu  erzielenden  besonderen  Schanknutzen  angewiesen.1)  a) 
Vor  kurzem  hat  in  München  eine  Schänkkellnerversammlung  statt- 
gefunden mit  dem  Programm : „Die  Schankkellner  dürfen  sich  nicht 
mehr  zum  Werkzeug  eines  unlauteren  Geschäftsgebahrens  her- 
geben !" 

Allerdings  ist  die  prekäre  Lage  der  Unternehmer 
kein  Grund,  den  Angestellten  den  gesetzlichen  Schutz 
zu  verweigern,  auf  den  sie  sonst  Anspruch  hätten 
Denn  die  Rücksichtnahme  auf  eine  Klasse  hat  immer  ihre  Grenze 
in  den  berechtigten  Interessen  der  darunter  Leidenden.  Die  U n - 
fähigkeit  der  Gewerbetreibenden,  die  Lage  ihrer 
Arbeiter  aus  sich  selbst  heraus  bestmöglichst  zu  ge- 
stalten, mufs  für  die  Gesetzgebung  sogar  ein  Motiv  mehr 
bilden,  in  die  Arbeitsverhältnisse  zwangsweise  einzugreifen. 

Was  das  Hotelgewerbe  betrifft,  so  ist  die  Besserung  der 
Arbeitsbedingungen  durch  die  Beteiligten  auch  wegen  der  Inter- 
nationalität dieses  Gewerbes  und  der  Fluktuation  der  Arbeiterschaft 
schwierig : das  moderne  Hotel  ist  nicht  deutsch,  französisch  u.  s.  w., 
sondern  „europäisch“.  Das  hindert  aber  nicht  die  Einführung  des 
Arbeiterschutzes  durch  Gesetz,  denn  trotz  der  Internationalität 
Jcr  Betriebsweise  ist  die  internationale  Konkurrenz  im 
Hotelgewerbe  beschränkt.  Ein  Geschäftsreisender,  der  in  Berlin 
seine  Kunden  hat,  ein  Kranker,  dem  die  Heilquellen  Baden-Badens 
verordnet  sind,  mufs  es  ruhig  hinnehmen,  wenn  die  Zimmerpreise 
in  den  deutschen  Hotels  wegen  des  gesetzlichen  Arbeiterschutzes 
erhöht  werden  (was  aber  nicht  zu  befürchten  ist). 

Von  der  anderen  Hauptkategorie  der  Arbeitgeber,  den  eigent- 
lichen Wirten,  sind  aus  anderen  Gründen  keine  Fortschritte  in 
der  Arbeitsorganisation  zu  erwarten.  Wo  ist  die  Zeit  hingekommen, 
da  die  Wirte  als  Hauptstützen  des  liberalen  Fortschritts  galten,  wo 
sie  neben  dem  Müller,  Apotheker  und  „Kaufmann“  die  einzigen 
„aufgeklärten“  Elemente  auf  dem  Lande  waren  ? Freilich : Etwas 
verbissen  Reaktionäres  hatten  die  Wirte  immer  an  sich,  cs  stammte 
aus  der  Zeit  der  Gutsherrschaft  und  Polizeiwillkür.  Durch  die 
technische  und  wirtschaftliche  Entwicklung  im  Nahrungsmittel- 
gewerbe sind  die  Wirte  immer  mehr  in  die  Defensive  gegen  die 

l)  Trcfz  S.  216,  93. 

9)  Nach  „Gastwirtsgchülfe“  1901  Nr.  19  hat  der  Milsbrauch,  schlecht  einzu- 
schankcn,  auch  in  Berlin  um  sich  gegriffen. 


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102 


Arthur  Cohen, 


Gewerbefreiheit  gedrängt  worden,  ')  und  die  aufrichtigen  Freunde 
der  Gewerbefreiheit  sind  jetzt  unter  den  Wirten  stark  in  der  Minder- 
heit. Der  in  Deutschland  am  weitesten  verbreitete  Verband,  der 
„Bund  deutscher  Gastwirte“  (Sitz  Leipzig,  früher  Darmstadt)  ist  in 
zünftlcrischcr  Richtung  thätig:  er  will  Berücksichtigung  der  Be- 
dürfnisfrage bei  der  Konzessionserteilung  im  ganzen  Reich,  Ein- 
reihung des  Flaschenbierhandols  unter  die  konzessionspflichtigen 
Gewerbe  u.  s.  w. ä)  Dafs  die  Regelung  der  Arbeitsbedingungen 
durch  die  Obrigkeit  das  Korrelat  des  Konzessionssystems  bildet, 
daran  denken  die  Freunde  der  staatlichen  Intervention  nicht.  Sie 
wollen  vom  Staat  eine  Ausnahmebehandlung,  sie  sperren  sich 
aber  gegen  die  Gleichstellung  ihrer  Gehilfen  mit  den  übrigen 
gewerblichen  Arbeitern  in  Beziehung  auf  den  Arbeiterschutz. 

Der  Staat  hat  die  Wirte  auch  immer  mit  einem  gewissen 
Respekt  behandelt,  denn  bei  ihrer  räumlichen  Verbreitung  über  das 
ganze  Land  hin  üben  sie  thatsächlich  einen  grofsen  Einflufs  nament- 
lich auf  die  politische  Gesinnung  der  Landbevölkerung.  Man  kann 
daher,  auch  ohne  an  den  Alkoholteufel  zu  denken,  von  der 
deutschen  „Kauponokratie"3)  sprechen.  Wenigstens  sticht  die 
I^anginut , die  man  gegenüber  den  anarchischen  Zuständen  im 
Wirtschaftsgewerbe  zeigte  und  noch  beweist,  merkwürdig  al* 
von  der  Raschheit,  mit  der  die  Regierung  mitten  in  der  Reaktion 
ihre  „Pflicht  thun  zu  müssen“  erklärte,  als  der  Arbeiterstreik  im 
Berliner  Konfektionsgewerbe  ausbrach  (1896). 

Pän  anderes  Hindernis,  die  Regelung  der  Arbeitsbedingungen 
der  Selbsthilfe  der  Beteiligten  zu  überlassen,  ist  der  Mangel  an 
Organisationsfähigkeit  im  Gewerbe.  Auf  die  Ver- 
schiedenheit zwischen  dem  Hotelgewerbe  und  dem 
eigentlichen  Wirtsgewerbe  haben  wir  schon  hingewiesen. 
In  sozialer  Beziehung  verhält  sich  der  Hotelier  zum  Schankwirt 
etwa  wie  der  Kleinindustrielle  zum  Handwerker.  Das  städtische 
Hotel  hat  eine  geordnete  Buchführung,  cs  wird  nach  kaufmännischen 
Grundsätzen  verwaltet.  In  das  Wirtsgewerbe  dringen  mehr  „unge- 
lernte" Elemente  ein  wie  in  das  Hotelgewerbe;  es  ist  vielfach  die 
Zuflucht  bankerotter  Existenzen.  Einen  ähnlichen  Gegensatz 


’)  Siehe  bes.  Trcfz  S.  124  ff.,  134  ff. 

*)  Der  „Deutsche  Gastwirtsverband“,  der  in  Berlin  und  Hamburg  die  meisten 
Anhänger  besitzt,  ist  Gegner  dieser  gewerbcrcchtliclien  Beschränkungen. 

*)  Bode,  Wirtshausreform  S.  107. 


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Der  Entwurf  von  Bestimmungen  über  die  Beschäftigung  der  Gastwirtsgehilfen,  jqj 

finden  wir  bei  den  Angestellten.  Der  Restaurantkellner  weifs, 
dafe  ihm  am  Abend  seiner  Laufbahn  wahrscheinlich  das  Los  des 
Lohnkellners  bcschieden  ist.  Der  Hotclkellner  dünkt  sich  besser 
als  der  Restaurantkellner,  er  fühlt  sich  dem  Kavalier  nahe,  er 
will  höher  hinaus  und  hinauf:  nämlich  zum  Hotelbesitzer. 

{Eine  Mittelstellung  nimmt  der  mit  den  Bedürfnissen  der  litte- 
rarischen  Boheme  vertraute  Cafekellner  ein.)  Die  Verlotterung 
der  Arbeitsbedingungen  erträgt  sich  leichter,  wenn  man  weife, 
dafe  man  später  selbst  aus  ihr  Kapital  schlagen  kann.  Die  Kellner 
erkennen  die  Kellnerinnen  nicht  als  Kollegen  an,  die  „besseren 
Kellner"  wollen  nicht  neben  den  Lohnkellnern  Platz  nehmen  '),  ja 
selbst  innerhalb  der  Kellnerinnenklasse  herrscht  Xeid,  Eifersucht  und 
Mifstraucn,  ein  Gegensatz  zwischen  Jungen  und  Alten,  Hübschen 
lind  Häfelichen,  Cafe-  und  Brauhauskellnerinnen.  *)  Die  Organisations- 
fähigsten sind  noch  die  Lohnkellner  und  Aushilfskellnerinnen,  denn 
bei  ihnen  kommt  zu  den  Mängeln  der  Arbeitsbedingungen  die  Un- 
regelmäfsigkcit  der  Arbeitsgelegenheit  und  der  Schrecken  einer 
unsicheren  Zukunft.  Auch  haben  sie  am  meisten  Zeit  zum  Ueber- 
denken  ihrer  Lage,  zum  Besuche  von  Versammlungen. 

So  kommt  es,  dafe  selbst  in  Arbeiterkreisen  wenig  Vertrauen 
in  die  Organisationsfähigkeit  der  Gastwirtsgehilfen  besteht. 

Den  drei  erwähnten  Klassen  Hotel-,  Restaurant-,  Lohnkellner  ent- 
sprechen die  drei  bedeutendsten  V e r b ä n d e : Verband  deutscher  Gast- 
hofgehilfen (Zweig  des  „Genfer  Verbandes“),  Deutscher  Kellnerbund 
{Union  Ganymed),  Verband  deutscher  Gastwirtsgehilfen  (Organe : „Ver- 
band“ in  Basel,  „Hotelrevue“  in  Leipzig,  „Gastwirtsgehilfe"  in  Berlin).8) 
Sie  bekämpfen  einander,  in  den  letzten  Jahren  ist  es  aber  in  manchen 
Städten  zur  Bildung  von  gemeinschaftlichen  E'achkommissionen  ge- 
kommen. Auf  dem  Boden  der  modernen  Arbeiterbewegung  steht 
nur  der  Gastwirtsgehülfenverband,  bei  den  anderen  Organisationen 
liegt  der  Schwerpunkt  in  der  Stellenvermittlung,  Unterstützung,  in 
Einrichtungen  zum  gegenseitigen  Anschlufe  im  Ausland.  Die  Arbeit- 
geber verhalten  sich  zu  den  Gehülfenorganisationen  nicht  unfreund- 
lich, soweit  sich  diese  auf  die  eigentlichen  Standesfragen,  d.  h.  auf 


*)  Acufserung  eines  „Genfers“  auf  einer  Kellncrversammlung  in  Stuttgart  vom 
5.  September  1900  (Gastwirtsgehülfc  Nr.  41). 

*)  „Gegensatz  zwischen  Mantillc  und  Schürze“  (Frkf.  Ztg.). 

*)  !m  ganzen  dürften  etwa  10  Proz.  der  männlichen  Gastwirtsgehülfen  organi- 
siert sein,  vgl.  Protokoll  des  Gastwirtsgehilfenkongresses  S.  106  und  10S. 


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04 


Arthur  Cohen, 


die  eben  bezeichnten  Aufgaben  beschränken.  Denn  sie  sehen 
dabei  in  den  Gehülfen  ihre  künftigen  Kollegen.  Und  in  der  Thatr 
wie  kann  man  von  den  Prinzipalen  Besserung  der  Arbeitsbedingungen 
„fordern",  wenn  man  auf  ihren  Zuspruch  bei  der  Stellenvermittlung 
angewiesen  ist  ? Die  Kellnervereine  haben  durch  die  Errichtung 
von  Arbeitsnachweisen  ihrer  Wirksamkeit  Fesseln  angelegt,  ohne 
auf  dem  Gebiet  der  Stellenvermittlung  prinzipielle  Erfolge  erzielt 
zu  haben.  (In  den  letzten  Jahren  hat  der  Kellnerbund,  angeregt 
durch  die  öffentliche  Diskussion  über  gesetzlichen  Kellnerschutz 
und  angespornt  durch  die  Konkurrenz  des  Gastwirtsgehilfenverbandes, 
gelegentlich  scharfe  Akkorde  in  der  Frage  der  Regelung  der  Arbeits- 
verhältnisse angeschlagen.) 


III. 

Das  Problem  des  Arbeiterschutzes  im  Wirtschafts- 
gewerbe besteht  darin,  die  Arbeits Verfassung  von  der 
Betriebsverfassung,  die  Arbeitszeit  von  derBetriebs- 
zeit  loszulösen,  unabhängig  zu  machen.  Die  Betriebszeit 
hängt  von  äufseren  Umständen  ab,  von  den  Bedürfnissen  der  Kon- 
sumenten (des  Publikums),  den  Verkchrsgewohnheiten , Verkehrs- 
gelegenheiten, von  der  Jahreszeit  und  Witterung.  Sic  ist  also  als 
etwas  gegebenes  zu  betrachten ; eine  Beschränkung  der  Betriebszeit 
durch  Gesetz  und  Verwaltung  mag  vom  polizeilichen  Standpunkt 
empfehlenswert  erscheinen  (Polizeistunde),  eine  durchgreifende  Be- 
schränkung der  Betriebszeit  nach  Art  des  gesetzlichen  Laden- 
schlusses aber  dürfte  bei  den  Lebensgewohnheiten  in  Deutschland 
kaum  ausführbar,  vielleicht  vom  wirtschaftlichen  Standpunkte  gar 
nicht  wünschenswert  sein. 

Was  bekämpft  werden  mufs,  das  ist  die  Ein- 
richtung, dafs  das  Personal  so  lange  beschäftigt 
wird,  als  der  Betrieb  dauert,  das  Lokal  dem  Besuche 
geöffnet  ist.  Sie  stammt  aus  der  Zeit,  wo  das  ganze  Gastwirt- 
schaftspersonal zum  häuslichen  Gesinde  gehörte.  Der  „Bursche“ 
des  18.  Jahrhunderts  war,  wenn  im  Gasthause  beschäftigt,  zugleich 
Diener  und  Aufwärter.  Wie  die  häusliche  Dienerschaft 
stets  dienstbereit  sein  mufs,  so  der  moderne  Kell- 
ner, solange  das  Lokal  geöffnet  ist,  arbeitsbereit. 
Die  Arbeitsbereitschaft  ist  aber  nach  modernen  Begriffen  der  Ar- 
beit zuzurechnen.  Nur  wer  noch  in  der  patriarchalischen  Auf- 
fassung befangen  ist,  kann  die  Zeit  der  Arbeitsbcrcitschaft  als 


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Der  Entwurf  von  Bestimmungen  Über  <lic  Beschäftigung  der  Gastwirtsgehilfen.  105 

Ruhepause  betrachten.  Sowohl  bei  der  häuslichen  Arbeit 
I Amerika),  als  auch  beim  Kellnerberuf  geht  die  Ent- 
wicklung entschieden  in  der  Richtung  einer  festen 
Begrenzung  der  Arbeitszeit.  In  den  sogenannten  Wiener 
Cafes,  der  modernsten  Kategorie  von  Wirtschaftsbetrieben,  wird  zur 
Zufriedenheit  der  Beteiligten  mit  Schichtwechsel  gearbeitet.  Auch 
sonst  kennt  man  in  vielen  Grolsbetrieben  Schichtwechsel,  aber  er 
ist  so  irrationell  eingerichtet  und  die  Schichten  sind  solange  be- 
messen, dafs  eine  gesetzliche  Regelung  doch  nicht  entbehrt  werden 
kann.  — 

Bei  der  gesetzlichen  Regelung  der  Arbeitszeit  im  Wirtschafts- 
gewerbe hat  man  die  Sonntagsruhe  oder  den  Ersatz  derselben, 
die  Arbeitszeit  der  weiblichen  und  jugendlichen  Arbeiter 
und  auch  die  tägliche  Arbeitszeit  der  erwachsenen  männ- 
lichen Arbeiter  ins  Auge  zu  fassen.  Letzteres  recht- 
fertigt sich  aus  dem  Umstand,  dafs  eine  gesundheits- 
schädliche Ausdehnung  der  Arbeitszeit  konstatiert 
worden  ist.  Es  handelt  sich  also  um  den  sogenannten 
hygienischen  Maximalarbeitstag  (§  i20e  der  Gewerbe- 
ordnung). Die  Arbeitszeit  soll  beschränkt  werden  nicht  etwa  im 
Interesse  der  betreffenden  Arbeiterklasse  (dieses  hat  sie  selbst  zu 
wahren),  sondern  im  Interesse  der  Gesundheit  des  Volkes,  von  dem 
sie  ein  Teil  ist.  Der  hygienische  Maximalarbcitstag  kann  in 
Deutschland  vom  Bundesrat  durch  Verordnung  eingeführt 
werden,  aber  natürlich  immer  nur  gewerbeweise.  Zu  untersuchen, 
bei  welchen  Gewerben  die  tägliche  Arbeitszeit  durch  übermäfsige 
Dauer  die  Gesundheit  der  Arbeiter  gefährde  — das  eben  ist  bis 
jetzt  die  Hauptaufgabe  der  Reichskommission  für  Arbeiterstatistik 
gewesen.  Sie  begutachtete  beim  Bäckergewerbe  einen  Maxi- 
malarbeitstag von  12  Stunden.  Welche  Aufregung  die  be- 
treffende Verordnung  des  Bundesrats  bei  den  interessierten  Arbeit- 
gebern hervorgerufen  hat,  ist  bekannt.  Beim  Handelsgewerbe 
Beschränkung  der  Betriebs  zeit  (Ladenschlufsstundc).  Auch 
dieser  Vorschlag  wurde  in  Arbeitgeberkreisen  mit  Murren  aufge- 
nommen; man  ging  so  weit,  zu  behaupten,  die  Kommission  für 
Arbeiterstatistik  habe  gar  nicht  das  Recht,  Vorschläge  zur  gesetz- 
lichen Regelung  zu  machen.  Mit  der  Agitation  gegen  die  Verord- 
nung über  das  Bäckergewerbe  begann  die  oben  erwähnte  Re- 
aktion in  der  Sozialpolitik,  die  Diskussion  über  die  Ladenschlufs- 
stunde  traf  sic  auf  ihrem  Höhepunkte.  Es  ist  daher  psychologisch 


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o6 


Arthur  Cohen, 


begreiflich,  dafs  die  Kommission  beim  nächsten  Gewerbe,  der 
Müllerei,  zu  einem  harmloseren  Mittel  griff:  der  Mindest- 
ruhezeit. 

Die  Mindestruhezeit  hat  denselben  Zweck  wie  das  Verbot 
der  Nachtarbeit.  Sie  soll  dem  Arbeiter  einen  ununterbrochenen 
Schlaf  von  gewisser  Zeitdauer  sichern.  Sic  tritt  an  die  Stelle  des 
Verbotes  der  Nachtarbeit,  wo  dieses  Verbot  wegen  der  Unregel- 
mäfsigkeit  des  Betriebes  undurchführbar  erscheint.  Wie  man  beim 
Ersatz  für  die  mangelnde  Sonntagsruhe  die  Idee  der  Wochen- 
ruhe von  ihrer  formalen  Umkleidung , der  Sonntagsheiligung, 
loslöst,  so  die  Erholung  durch  Schlaf  von  der  Nachtruhe : man 
schreibt  vor,  dafs  dem  Arbeiter  täglich  eine  ununterbrochene 
Ruhezeit  von  gewisser  Länge  zu  gewähren  ist,  man  überläfst  es 
aber  der  Vereinbarung  der  Beteiligten  (praktisch  dem  Arbeitgeber), 
zu  bestimmen,  in  welchen  Teil  des  Tages  die  Ruhezeit  zu  ver- 
legen sei. 

Die  Sicherung  einer  genügenden  Erholung  durch 
zusammenhängenden  Schlaf  ist  eines  der  ältesten  Inventar- 
stücke des  Arbeiterschutzes.  Das  Verbot  der  Nachtarbeit  hat  im 
System  des  Arbeiterschutzes  die  Stellung  einer  Ergänzung  des 
Maximalarbeitstages.  Man  will  verhindern,  dafs  der  Arbeitgeber  die 
Arbeitsstunden  auf  den  vollen  Tag  so  verteilt,  dafs  der  Arbeiter 
eines  ununterbrochenen  Schlafes  von  gewisser  Iünge  entbehren 
mufs.  Daher  wird  beim  Schutze  der  jugendlichen  und  weiblichen 
Arbeiter  Maximalarbeitstag  und  Verbot  der  Nachtarbeit  in  einem 
Atem  genannt.  In  der  That  liegt  im  blofsen  Verbot  der  Nacht- 
arbeit, in  der  blofsen  Mindestruhezeit  eine  Halbheit:  Man  be- 
gnügt sich,  dem  Arbeiter  Gewähr  zu  leisten  für  seine  Erholung 
durch  Schlaf.  Aber  cs  giebt  noch  andere  tägliche  Funktionen  als 
Arbeit  und  Schlaf.  Es  ist  z.  B.  für  die  Gesundheit  sehr  wichtig, 
dafs  man  bei  der  Hauptmahlzeit  von  der  Arbeit  ausgespannt  ist, 
und  bei  fortschreitender  Kultur  wird  eine  tägliche  Körperpflege  als 
Wohlthat  und  Bedürfnis  empfunden.  Daher  das  Verlangen  der 
Gastwirtsgehilfen,  dafs  aufser  der  Mindestruhezeit  tägliche  Ar- 
beitspausen gesetzlich  eingeluhrt  werden  sollen. 

Mindestruhezeit  und  Arbeitspausen:  eine  gesetzliche  Rege- 
lung der  Erholungszeit  als  Gegenstück  zum  Maxi- 
malarbeitstag. Man  begegnet  den  Gefahren  einer  übermäfsigen 
täglichen  Arbeitszeit  dadurch,  dafs  man  für  die  Erholung  des  Ar- 
beiters sorgt. 


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Der  Entwurf  von  Bestimmungen  über  die  Beschäftigung  der  Gastwirtsgehilfen,  107 

Der  dem  Bundesrat  vorliegende  Entwurf  will  eine  tägliche 
Mindestruhezeit  von  acht  Stunden  einführen.  Von  der  goldenen 
Regel:  „8  Stunden  Arbeit,  8 Stunden  Erholung,  8 Stunden 

Schlaf!"  wird  also  nur  das  letzte  Drittel  acceptiert.  Man  will  vom 
achtstündigen  Normalarbeitstag  nichts  wissen,  sondern  hält  die 
achtstündige  Normalschlafnacht  für  genügend.  Bei 
Städten  von  mehr  als  20000  Einwohnern  soll  die 
Mindestruhezeit  freilich  neun  Stunden  betragen.  Aber  dadurch 
ist  das  Prinzip  der  achtstündigen  Normalschlafnacht  nicht  be- 
seitigt, sondern  gerade  sanktioniert:  Die  Regierung  will,  dafs  dem 
Arbeiter  auch  Zeit  gewährt  werden  soll,  den  \V  e g zu  seiner  Schlaf- 
stelle und  von  liier  zur  Arbeitsstätte  zurückzulegen,  der  in  grolsen 
Städten  oft  ein  beträchtlicher  ist.  Dafs  auch  die  Verwaltungsbe- 
hörden das  Recht  haben  sollen,  die  achtstündige  Mindestruhezeit 
zu  einer  neunstündigen  auszudehnen,  ist  — das  kann  man  heute 
schon  mit  Sicherheit  behaupten  — praktisch  bedeutungslos.  Das 
sieht  schön  aus  und  thut  keinem  Menschen  weh. 

Aber  auch  dieses  Schlafminimum  darf  an  6o  Tagen  im  Jahre 
verweigert  werden.  Dadurch  wird  die  Mindestruhezeit  beinahe  zu 
einer  Mafsregel,  die  sich  selbst  aufhebt,  ihrer  selbst  spottet.  Aus 
der  achtstündigen  Mindestruhezcit  ergiebt  sich  ein  sechzehnstündige 
Arbeitszeit  mit  Einschlufs  der  Arbeitsbereitschaft.  Diese  tägliche 
Arbeitszeit  darf  also  an  6o  Tagen  im  Jahre  überschritten 
werden.  Zwar  mufs  auf  jede  derartige  Ueberschreitung  die  volle 
Schlafzeit  von  8 — 9 Stunden  gewährt  werden, ')  und  der  Regie- 
rungsentwurf enthält  aufserdem  die  versöhnende  Bestimmung,  dafs 
die  Schlafzeit  unter  allen  Umständen  wöchentlich  mindestens  56 
(8  mal  7)  bezw.  63  (9  mal  7)  Stunden  betragen  mufs.  Aber  diese 
Bestimmung  kann  nur  bei  einer  strengen  Kontrolle  durchgeführt 
werden.  Wie  steht  es  nun  mit  dieser? 

Die  gegenwärtige  Periode  der  Entwicklung  des  Arbeiterschutzes 
in  Deutschland  charakterisiert  sich  dadurch,  dafs  der  Arbeiter- 
schutz von  den  Fabriken  auf  die  anderen  Arten 
von  Gewerbebetrieben  ausgedehnt  wird.  Dabei  sucht 
man  die  Besonderheiten  einer  jeden  Gewerbeart  zu  berücksichtigen. 
Die  Organisation  der  Gewerbeaufsicht  aber  ist  dieselbe  geblieben. 
Die  Beamten  sind  zwar  etwas  vermehrt,  und  auch  sonst  sind  Ver- 


*)  Der  Korreferent  hatte  80  l’eberschreitungstage  mit  mindestens  6-stündiger 
Ruhezeit  beantragt. 


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Besserungen  im  Aufsichtsdienste  getroffen  worden.  Aber  im  ganzen 
ist  die  Entwicklung  der  Gewerbeaufsicht  hinter  der 
Entwicklung  des  Arbeiterschutzes  zurückgeblieben. 
Eine  jede  neue  Auszweigung  des  Arbeiterschutzes  hätte  die  Frage 
nach  sich  ziehen  müssen,  ob  die  bestehende  Gewerbcaufsicht  der 
Erweiterung  ihrer  Aufgabe  gewachsen,  oder  wie  sonst  für  die 
Durchführung  der  neuen  Bestimmungen  zu  sorgen  sei.  Unsere 
Gewerbeinspektion  ist  aus  dem  Fabrikarbeiterschutz  hervorgegangen, 
die  Fabrikaufsicht  bildet  noch  immer  ihre  prinzipiell  wichtigste 
Aufgabe,  und  es  ist  daher  psychologisch  klar,  dal's  sie  auch  jetzt 
noch  das  Sinnen  und  Trachten  eines  richtigen  Gewerbeaufsiclrts- 
beamten  fast  vollständig  ausfüllt.  Die  Kontrolle  über  die  Ausfüh- 
rung der  neuen  Bestimmungen  bleibt  daher  praktisch  den  Orts- 
polizeibehörden überlassen.  Diesen  Zustand  braucht  man  heutzutage 
nicht  mein  zu  qualifizieren;  er  ist  durch  die  ganze  bisherige  Ge- 
schichte des  Arbeiterschutzes  in  allen  Ländern  gerichtet.  Es  ist  zu 
befürchten,  dafs  der  Schutz  der  Bäcker,  Müller,  i leimarbeiter,  Hand- 
lungsgehilfen,  Werkstättenarbeiter,  Kellner,  wenn  nicht  für  genü- 
gende Aufsicht  gesorgt  wird,1)  ebenso  auf  dern  Papier 
bleibt,  wie  dieses  durch  Jahrzehnte  das-  Schicksal 
des  Fabrikarbeiterschutzes  gewesen  ist.  Die  kantonalen 
Wirtschafts-  und  Arbeiterinnenschutzgesetze  der  Schwei  z haben  der 
Kommission  für  Arbeiterstatistik  bei  ihren  Arbeiten  über  den  Schutz 
der  Gastwirtsgehilfen  zum  Material  und  vielfach  zum  Vorbild  ge- 
dient. Besonders  enthalten  fast  sämtliche  die  Mindestruhezeit, 
meistens  von  8 Stunden.  Die  Regierung  kann  sich  also  zur  Be- 
gründung ihres  Entwurfes  auf  die  arbeiterfreundliche  Schweiz  be- 
rufen. Die  Hauptfrage  ist  aber  doch:  Hat  sich  die  Mindest- 
ruhezeit  bewährt,  als  ausführbar  erwiesen?  „Der 
Vollzug  der  kantonalen  Arbeiterinnenschutzgesetze",  schreibt  Hof- 
mann, der  aus  amtlichem  Materialien  schöpft,*)  „läfst  naturge- 
mäfs  viel  zu  wünschen  übrig.  Das  Widerstreben  der  betroffenen 
Arbeitgeber  wider  derartige  Eingriffe  der  Staatsgewalt  verbindet 
sich  häufig  mit  der  Indolenz  und  ökonomischen  Gedrücktheit  eines 
Teiles  der  Arbeiterschaft,  sowie  mit  der  Gleichgültigkeit  lokaler 

*)  F.s  ist  nicht  nötig,  dafs  die  Kontrolorgane  die  höhere  technische  Vorbildung 
der  Fabrikinspektoren  besitzen,  aber  es  müssen  unabhängige,  unparteiische,  energische 
und  zuverlässige  Leute  sein. 

*)  Jahrbücher  für  Nationalökonomie  Fd.  19  S.  234. 


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Der  Entwurf  von  Bestimmungen  über  die  Beschäftigung  der  Gastwirtsgehilfen.  J09 


Aufsichtsbehörden  und  milder  Gerichtspraxis.  Sozusagen  ausnahms- 
los sind  diese  kantonalen  Arbeiterschutzgesetze  Sorgenkinder  der 
Landesväter. . . ."  Was  besonders  die  Kellnerinnen,  Buffetdamen  etc. 
betrifft,  so  „dürften  bei  diesen  die  aus  St.  Gallen  gemeldeten  Ver- 
hältnisse ziemlich  typisch  sein.  Wollten  sich  die  dortigen  Auf- 
sichtsorgane hinsichtlich  des  Freinachmittags  und  der  Nachtruhe 
erkundigen,  gaben  diese  meist  ausweichende  Antworten,  vermutlich 
nur  in  der  Befürchtung,  bei  Bekanntgabe  der  Thatsachcn  ihre  Stel- 
lung zu  verlieren“. ')  „Leider  scheinen  die  mit  der  Ueberwachung 
des  Vollzugs  des  eidgenössischen  Fabrikgesetzes  betrauten  Amts- 
stellen der  Kantone  St.  Gallen  und  Zürich  durch  Arbeitsüberhäufung 
verhindert  zu  sein,  sich  dem  kantonalen  Arbeiterinnenschutze  in  ge- 
nügendem Mafse  zu  widmen.“  Es  ist  also  eine  Ergänzung  des 
kantonalen  Aufsichtspersonals  höchst  notwendig.  „Erst  wenn  dies 
geschehen,  ist  eine  der  wichtigsten  Vorbedingungen  zu  befriedi- 
gender Gestaltung  der  Ausführung  der  kantonalen  Arbeiterinnen- 
schutzgesetze gegeben.“  *)  Auch  i c h habe  als  Schweizer  Sommer- 
gast auf  gelegentliche  Anfragen  diesen  Eindruck  gewonnen.  Eine 
Kellnerin  in  einem  besuchten  Lokal  der  Stadt  Glarus  wufste  über- 
haupt nichts  von  ihrer  täglichen  Ruhezeit  und  wöchentlichen  Frei- 
zeit (1895).  Ein  Wirt  im  Toggenburgischen  (St.  Gallen)  erklärte 
lachend , um  diese  Dinge  bekümmere  man  sich  im  „Ländle“ 
(Toggenburg)  nicht  (1898).  Eine  Wirtsfrau  aus  St.  Gallen  gab  die 
Auskunft  (1896):  In  der  Stadt  St.  Gallen  werde  der  Kellnerschutz 
berücksichtigt,  weil  hier  die  organisierten  Arbeiter  dafür  sorgten, 
auf  dem  Lande  aber  kenne  man  die  Bestimmungen  kaum,  oder 
man  denke  nicht  daran,  sie  einzuhalten. 

Worin  bestehen  nun  die  Kontroll Vorschriften  des  deut- 
schen Entwurfes?  Der  Arbeitgeber  hat  ein  Verzeichnis  der 
geschützten  Personen  zu  führen.  Am  Schlüsse  jeder  Woche  ist  in 
einer  besonderen  Rubrik  einzutragen,  wieviel  Uebcrschreitungen  der 
täglichen  Ruhezeit  bei  jeder  einzelnen  Person  vorgekommen  sind.3) 
Das  ist  alles.  Der  Arbeitgeber  braucht  also  nicht  anzugeben , wie 


')  S.  240. 

*)  S.  243  und  244. 

*)  Frage:  Wie  ists,  wenn  ein  Gehülfe  im  I-aufe  des  Jahres  den  Arbeitgeber 
wechselt?  Nach  welchem  Grundsätze  verteilen  sich  die  60  zulässigen  Geber- 
schreitungen  auf  die  beiden  Arbeitgeber  ? Vgl.  Wochenschrift  des  Internat.  Vereins 
der  Gaslhofbcsitzcr  1901  Nr.  24  S.  4 oben. 


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I IO 


Arthur  Cohen, 


lange  die  Ueberschreitung  gedauert  hat,  wann  die  Ruhezeit  nach- 
geholt worden  ist,  die  Zeiten  der  Ruhe  brauchen  überhaupt  nicht 
konstatiert  zu  werden.  Was  der  Aufsichtsbeamte  mit  einem  so  ge- 
führten Verzeichnisse  anfangen  soll,  weifs  ich  nicht.  Von  der  Auf- 
sicht ist  in  dem  Entwürfe  überhaupt  nicht  die  Rede.  Die  3 400 

Gewerbeaufsichtsbeamten  in  Deutschland  sollen  also  die  Bagatelle 
von  176000  Betrieben  im  Jahre  mehr  revidieren  als  bisher.  Oder 
will  man,  dafs  die  Bürgermeister  und  Schutzleute  die  Ausführung 
in  die  Hand  nehmen  ? Hat  man  noch  nicht  genug  an  der  Un- 
gleichartigkeit der  Behandlung  und  an  der  Polizeiwillkür,  die  in  Be- 
ziehung auf  die  Polizeistunde,  auf  die  Erlaubnis  zur  Abhaltung  von 
Tanzmusik  u.  s.  w.  herrscht  ? 

Wir  rekapitulieren:  Der  Entwurf  enthält  eine  Mindest- 
schlafzeit mit  Ausnahmen,  die  den  6.  Teil  des  Jahres  betragen, 
komplizierte  Kompensationen  zur  Abschwächung  ihrer  schutzfeind- 
lichen Wirkung  und  mit  durchaus  ungenügender  Kontrolle  über  die 
Durchführung  der  Mafsregeln,  der  Ausnahmen  und  Kompensationen. 
Dabei  war  man  sich  in  der  Kommission  in  allen  Stadien  der  Unter- 
suchung darüber  klar,  wie  schwierig  die  Durchführung  einer  bestimmten 
täglichen  Arbeitszeit  oder  Ruhezeit  sich  gestalten  wird.  In  der  That 
kann  man  leicht  voraussehen,  dafs  gesetzliche  Vorschriften  darüber 
nicht  nur  auf  die  schon  erwähnten  sachlichen  Hindernisse  (wirt- 
schaftliche Schwäche  der  Unternehmer),  sondern  auch  auf  den  sub- 
jektiven Widerstand  der  Beteiligten , auf  Bequemlichkeit , Gleich- 
gültigkeit, Engherzigkeit  und  Trotz  der  Arbeitgeber,  auf  Leichtsinn, 
Aengstlichkeit,  Unverstand  der  Arbeiter  stofsen  wird. 

Was  für  eine  Schlufsfolgerung  wäre  daraus  zu  ziehen 
gewesen  ? Da  der  erste  Teil  des  Programmes  — die  Regelung  der 
täglichen  Arbeitszeit  — so  problematische  Bedeutung  be- 
sitzt, so  ist  dem  zweiten  Teil  — Ersatz  der  Sonntagsruhe 
— ein  um  so  gröfsercs  Augenmerk  zu  widmen,  so  darf  dieser 
mit  um  so  kühnerem  Griffe  gehandhabt  werden.1)  Aber  was  sehen 
wir ! Die  Kommission  schlägt  eine  wöchentliche  Ruhezeit 
von  6 Stunden  vor,4)  die  sich  nur  in  Gemeinden  von  mehr 


!)  Vgl.  meine  Artikelserie  in  der  „Sozialen  Praxis“  VIII.  Jahrg.  Nr.  29,  40, 
41  (1899),  namentlich  Nr.  40. 

2)  Zu  gewähren  zwischen  1 2 Uhr  Mittags  und  9 Uhr  Abends.  Es  dürfte  aber 
unbedenklich  und  aus  Betriebsrücksichten  zu  empfehlen  sein,  einen  weiteren  Spiel- 


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Der  Entwurf  von  Bestimmungen  über  die  Beschäftigung  der  Gastwirtsgehilfen,  j j j 


als  10000  Einwohnern  alle  drei  Wochen  in  einen  ganzen 
Ruhetag  verwandeln  soll.  Der  Entwurf  geht  darin  weiter: 
Auch  die  Gastwirtsgehilfen  in  Gemeinden  von  weniger  als  ioooo 
Einwohnern  sollen  vom  vollen  Ruhetag  nicht  ganz  ausgeschlossen 
sein ; sie  sollen  alle  drei  Wochen  darauf  Anspruch  haben , ebenso 
die  Gehilfen  in  Gemeinden  von  io — 20000  Einwohnern;  die  Gast- 
wirtsgehilfen in  Gemeinden  von  mehr  als  20  000  Einwohnern 
aber  alle  zwei  Wochen.  *) 

Warum  die  Arbeiter  in  Grofsstädten  vor  ihren  Kollegen  in 
kleinen  Orten  begünstigt  werden  sollen , ist  dem  Verfasser  dieses 
Aufsatzes  unerfindlich;  man  ist  doch  sonst  dem  „Proletariat  der 
Grofsstädte“  nicht  so  freundlich  gesinnt.  Aber  halt!  da  fällt  mir 
ein , dafs  der  Urheber  des  Vorschlags,  Korreferent  Herrmann , die 
Differenziierung  der  Wochenruhe  nach  Ortsgröfsenklassen  damit  be- 
gründet, dafs  in  den  kleineren  Städten  und  auf  dem  Lande 
der  Dienst  nicht  ständig  anspannend  und  eine  Aus- 
hilfsperson kaum  zu  beschaffen  sei.*)  Nun  ist  es  von 
vornherein  auffallend,  dafs  weder  die  von  Herrmann  vorgeschlagene 
noch  die  in  der  Kommission  gewählte  Begrenzung  (8000  bezw. 
10000  Einwohner)  der  Ortsgröfsenklasseneinteilung  der  Kellner- 
statistik entspricht.  Ich  meine:  wenn  man  schon  einmal  Jahre  lang 
Erhebungen  vornimmt,  so  ist  es  eine  Forderung  der  Vernunft,  dafs 
man  ihre  Ergebnisse , wenn  sich  die  Gelegenheit  giebt , berück- 
sichtigt. 


raum  zu  bestimmen,  etwa,  wie  die  Arbeitgebervereinigungen  wollen,  von  8 oder  9 L'lir 
morgens  bis  9 Uhr  abends. 

*)  Die  Ruhetage  und  die  Dauer  der  Ruhezeit  sind  in  das  oben  erwähnte  Ver- 
zeichnis der  geschützten  Personen  einzutragen. 

*)  Verh.  XVII  15,  75. 


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I I 2 


Arthur  Cohen, 


Auf  \oo  Betriebe  kommen  Betriebe,1)  in  denen 


an  gewissen 

von  Zeit  zu  Zeit  ein 

die 

Arbeitszeit 

3)  dauert 

tagen  oder 

voller 

Ruhetag  ge- 

e 

r7* 

Zeilen  des 
Jahres 

Ausgehe- 

= ~ 

Ue  her  schrei- 

Betrieben  der 

N 

-r 

vO 

tuugen  der 

wahrt 

7 

7 

regcl- 

werden 

Personal  das 

1 

1 

u 

ma  folgen 

0 

0 

et 

Arbeitszeit 

Ersatzmannes 

auferlegen 

inGrofsstädtcn 

( 1 00  oexi  und 
mehr  Ein- 

36 

12,9 

29,6  36,2 

'7.7 

304 

62,4 

23.6 

20,3 

wolmer) 

in 

23.8 

20,6 

364 

56,2 

io,8 

(20  000 

49 

10.3 

40,4 

17.3 

bis  100000  E.) 

in 

8.5 

43.9 

47.8 

18.8 

(3000—20000 

3° 

237 

21,5 

42.O 

8,7 

Einwohner) 

in 

1 

1 

26.9 

41.6 

(2000—  3000 

37 

10.5 

>7.3 

47.5 

22.7 

7.o 

Einwohner) 

in  kleinen 

5>,S 

6,1 

(weniger  als 

7.' 

5.4 

35.7 

47.3 

4.5 

29,5 

2000  Einw.) 

1 1 

Reichsdurch- 

schnitt 

39 

10.4 

25.5 

40,6 

19,6 

37.6 

54.3 

19.9 

12,7 

Wenn  wir  die  Arbeitszeit  bis  zu  14  Stunden  als  (verhältnis- 
mäl'sig)  günstig,  von  14  bis  zu  16  Stunden  als  mäl'sig  und  die  Arbeits- 
zeit von  mehr  als  16  Stunden  als  ungünstig  bezeichnen,  und  nur 
die  beiden  Extreme  ins  Auge  fassen,  so  gewinnen  wir  nachstehende 
Reihenfolge : 

günstig  ungünstig 


(irofsstüdtc  . . . 

Mittelstädte  . . . 

Kleinstädte  . . . 

Landstädte  . . • 

Kleine  Ortschaften 

Kcichsdurclischnitt 

>)  Erhebungen  Teil  I S.  32/3. 

*)  Nach  Abzug  der  Pausen. 


4 

s 

3 


zwischen 
3 u-  4 


3 
2 

4 

5 

zwischen 
2 u.  3 


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Der  Kn t wurf  von  Hestimmungen  Uber  die  Beschäftigung  der  Gastwirtsgehilfen,  jjj 

Es  crgiebt  sich  also,  dafs  in  den  Kleinstädten  die  Arbeits- 
zeit am  ungünstigsten  für  die  Angestellten  ist,  dann  kommen 
die  Mittelstädte.  Am  günstigsten  ist  die  Arbeitszeit  in  den 
kleinen  Ortschaften,  dann  kommen  die  Grofsstädte  und  Landstädte 
(in  den  Grofsstädten  sind  die  Extreme  schärfer  vertreten  als  in  den 
Landstädten).  Die  Neigung  zu  Ueberschreitungen  der  regel- 
mäfsigen  Arbeitszeit  wächst  mit  der  Kleinheit  der  Orte,  die  Sitte, 
regclmäfsige  Ausgeh ezeiten  zu  gewähren,  mit  der  Gröfse  der 
Orte.  Ferner  kann  man  sagen : Je  günstiger  in  der  Ortsgröfsen- 
klasse  die  regelmäl'sige  tägliche  Arbeitszeit,  desto  liberaler  sind  die 
Arbeitgeber  der  betreffenden  Ortsgröfsenklasse  in  Beziehung  auf 
die  Gewährung  voller  Ruhetage  (oder  desto  eher  sind  sie  dazu 
in  der  Lage),  nur  treten  hier  die  Mittelstädte  noch  hinter  den  Klein- 
städten zurück.  Was  die  Verpflichtung  betrifft,  einen  Ersatz- 
mann zu  stellen,  so  haben  wie  eine  Kurve,  die  mit  der  Gröfse  der 
Orte  sehr  scharf  ansteigt. 

Wir  sehen , dafs  nicht  die  geringste  Veranlassung 
besteht,  die  Wirtschaftsbetriebe  im  deutschen  Reich 
nach  der  Einwohnerzahl  der  Gemeinden,  in  welchen 
sie  sich  befinden,  zu  halbieren,  die  Arbeitgeber  der 
einen  Hälfte,  die  Arbeiter  der  anderen  Hälfte  zu  be- 
günstigen, oder  den  Strich  gerade  bei  der  Einwohnerzahl  20  000, 
10000  oder  8000  zu  machen.  Es  findet  sich  in  den  Erhebungen 
absolut  kein  Anhaltspunkt  für  diese  Grenze.  Wenn  man  einen 
Unterschied  machen  will,  so  gebe  man  den  Kellnern  der  Kleinstädte 
häufigere  Gelegenheit  zur  wöchentlichen  Erholung,  weil  sie  die 
längste  tägliche  Arbeitszeit  haben.  Aber  die  Kellner  an  kleineren 
Orten  hinter  den  Kellnern  der  gröfseren  Städte  und  der  Grofsstädte 
zurückzusetzen , dürfte  um  so  weniger  zu  billigen  sein , als  gerade 
jene  unter  häufiger  Ueberarbeit  und  dem  Mangel  an  Ausgehezeiten 
zu  leiden  haben.  Ferner  dürfte  aus  dem  Umstand,  dafs  verhältnis- 
mälsig  viele  Arbeitgeber  auf  dem  I.ande  ihren  Angestellten  von  Zeit 
zu  Zeit  einen  vollen  Ruhetag  gewähren , ohne  ihnen  die  Verpflich- 
tung aufzuerlegcn , einen  Ersatzmann  zu  stellen  — aus  diesem 
Umstand , sage  ich , dürfte  hervorgehen , dafs  die  Wirte  auf  dem 
Lande  auf  eine  Aushilfe  keinen  grofsen  Wert  legen,  weil  sie  im 
Notfall  selbst  zugreifen  können.  Es  ist  also  auch  der  zweite  vom 
Korreferenten  für  seinen  Antrag  vorgebrachte  Grund  hinfällig. 

Die  Abstufung  sozialpolitischer  Mafsregeln  nach  Ortsgrüfsen- 
klassen  oder  Betriebsformen  scheint  eine  Lieblingsidee  der  offiziellen 

Archiv  für  soz.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVII.  8 


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114 


Arthur  Cohen, 


Sozialpolitiker  werden  beziehungsweise  bleiben  zu  wollen.  Diese 
hat  man  beim  Mühlengewerbe,  jene  beim  Handelsgewerbc  gewählt. 
Es  scheint  dabei  die  alte  Vorstellung  nicht  ohne  Einflufs  gewesen 
zu  sein,  dafs  der  Schutz  der  Arbeiter  in  den  Kleinbetrieben  und 
auf  dem  Lande  weniger  notwendig  sei  als  in  den  kapitalistisch  organi- 
sierten Grofsbetrieben  der  Städte.  Der  Staat  dürfe  sich  nicht  zum 
Totengräber  des  Kleinbetriebes  hergeben.  Die  städtischen  Grofs- 
betriebe  dagegen  brauche  man  nicht  so  zart  anzufassen. 

Die  Gewerbeordnungsnovclle  von  1891  hat  sich  durch  eine 
gewisse  Universalität  der  Einführung  der  Sonntagsruhe  ausgezeichnet 
fdie  vielen  Ausnahmen  sind  erst  beim  Vollzug  dazu  gekommen); 
nur  das  Verkchrsge werbe  und  das  Wirtschaftsgewerbe  hat  man  aus 
guten  Gründen  — Notwendigkeit  einer  besonderen  Regelung  — 
draufsen  gelassen.  In  der  Zwischenzeit  haben  sich  die  Meinungen 
dahin  geklärt,  dafs  die  „besondere  Regelung"  in  der  Verschaffung 
eines  Ersatzruhctag.es  für  den  Sonntag  bestehen  müsse;  daneben 
könne  bestimmt  werden,  dafs  dem  Personal  turnusweise  Gelegenheit 
zum  Besuche  des  Gottesdienstes  gegeben  werden  müsse.  Man 
trennt  also  die  Arbeit s ruhe  von  der  religiösen  Erbau- 
ung, meines  Erachtens  mit  Recht.  Mit  der  Idee  der  feiertäglichen 
Arbeitsruhe  verträgt  sich  aber  weder  die  Abzwackung  eines  Tages- 
teiles, noch  die  verschiedene  Behandlung  nach  Ortsgrölsenklassen. 
Die  G e rech  t i gkeit  verlangt,  dafs  die  Gastwirtsgehilfen  wie  die 
anderen  gewerblichen  Arbeiter  vom  Gesetzgeber  ihren  vollen 
Wochenruhetag  gesichert  erhalten,  wenn  keine  besonderen , in  der 
Eigenartigkeit  des  Gewerbes  liegenden  Gründe  dagegen  sprechen.  Als 
einen  solchen  Grund  nun  bezeichnet  man  die  eigentümliche  Ent- 
lohnungsart: das  Trinkgeldsystem.  Man  sagt,  der  Gastwirts- 
gehilfe lege  selbst  Wert  darauf,  in  den  Tagesstunden,  wo  das  Ge- 
schäft flott  gehe  (also  meistens  mittags  und  abends)  mitzuthun,  um 
die  Trinkgelder  nicht  cinzubüfsen.  Das  mag  im  einzelnen  Fall  richtig 
sein.  Wenn  man  einen  Kaufmann  auffordert,  seinen  I-aden  um 
sieben  oder  acht  Uhr  zu  schliefsen , da  er  genug  gearbeitet  habe 
und  Erholung  bedürfe , so  wird  er  cs  für  einen  schlechten  Scherz 
halten;  dies  braucht  ihn  aber  nicht  zu  hindern,  eine  Petition  zu 
unterschreiben  um  Einführung  einer  früheren  Ladenschlufsstunde.  Ich 
behaupte  nicht,  dafs  dieses  Beispiel  auch  auf  den  Gastwirtsgehilfen 
zutrifft,  ich  habe  es  nur  angeführt,  um  klar  zu  machen,  was  ich  meine. 
Es  besteht  eben  ein  Gegensatz  zwischen  wo  hlthätigem 


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Der  Entwurf  von  Bestimmungen  über  die  Beschäftigung  der  Gastwirtsgehilfen,  j i 5 

Zwang  und  antisoz ialem  kurzsichtigem  Egoismus1) 
Die  erwähnte  Argumentation  steht  auf  demselben  Niveau,  wie  die 
oben  zurückgewiesene,  dafs  der  Arbeiterschutz  in  der  ungünstigen 
wirtschaftlichen  I-age  der  Unternehmer  ihre  Grenze  finden  müsse. 
Sie  erinnert  daran,  dafs  manche  Arbeitgeber  auf  den  Wunsch  ihrer 
Arbeiter,  dafs  die  Arbeitszeit  gekürzt  werden  möge,  zur  Antwort 
geben : „Seid  froh,  dafs  das  Geschäft  geht,  dafs  die  Arbeitszeit  nicht 
reduziert  werden  mufs !"  *) 

*)  Der  „Verein  Münchener  Kellnerinnen“  erklärt  in  seiner  Petition  an  den 
Reichstag,  dafs,  wie  in  den  beiden  vorbereitenden  Kellnerinncnversammlungcn  aus- 
drücklich und  unter  allseitiger  Zustimmung  konstatiert  worden  sei,  die  Kellnerinnen 
gerne  einen  ganzen  Tagesverdienst  an  Trinkgeldern  auf  sich  nähmen,  wenn  sie  sich 
damit  die  Möglichkeit  erkauften,  sich  einmal  vollständig  auszuruhen  und  ihre  per- 
sönlichen Angelegenheiten  zu  ordnen. 

*)  Dafs  die  Einführung  eines  Wochenruhetages  und  überhaupt  die  gesetzliche 
Beschränkung  der  Arbeitszeit  die  auf  den  einzelnen  Kellner  treffenden  Trinkgelder 
vermindert  — wenigstens  vorübergehend  — ist  möglich,  meinetwegen  wahrschein- 
lich, aber  durchaus  nicht  gewifs.  Es  ist  nämlich  auch  möglich,  dafs  durch 
bessere  Einteilung  der  Arbeit,  überhaupt  durch  Betriebs  Verbesserungen  — 
wie  viele  solche  liefsen  sich  noch  anbringen ! — oder  durch  Erhöhung  der 
Leistungsfähigkeit  des  einzelnen  Arbeiters  infolge  des  gesetzlichen  Schutzes 
es  gelingt,  mit  dem  bisherigen  Personal  auszukommen.  Wenn  dies  nicht  cintrifft, 
sondern  das  Personal  vermehrt  oder  Aushülfspcrsonal  hcrangezogen  werden  mufs,  so 
können  zunächst  beide  Teile,  der  Arbeitgeber  und  seine  alten  Arbeiter,  pekuniären 
Nachteil  erleiden,  jener  durch  Erhöhung  des  Gesamtbetrages  der  Natural- 
löhnung und  der  (geringfügigen)  Baarl  ohne,  diese  durch  verminderte  Ge- 
legenheit, Trinkgelder  einzunehmen.  Den  Vorteil  haben  die  arbeitslosen 
und  die  Lohnkellner,  indirekt  aber  die  Wirtsgehülfenklassc  überhaupt,  durch  Ver- 
minderung der  Anzahl  der  Arbeitslosen  und  Besserung  der  Stellung 
im  Lohnkampf  infolge  Sinkens  des  Angebotes  von  Arbeit.  Auf  diesen  Vorteil 
ist  aber  kein  grofses  Gewicht  zu  legen,  weil  erfahrungsgemäls  das  Arbeitsreservoir 
nach  seiner  Entleerung  sich  bald  wieder  füllt.  Der  Trinkgcldcntgang  beim  einzelnen 
Kellner  kann  mit  der  Zeit  dazu  führen,  dass  die  Gäste  gröfscre  Trinkgelder 
geben  oder  zu  einer  Erhöhung  der  Baarlöhne.  Letzteres  ist  das  Normale, 
Wünschenswerte.  Denn  die  Löhne  sind  beim  Wirtsgewerbe  im  Hinblick  auf  die 
„vielen  Trinkgelder“  so  sehr  gesunken.  Verringert  sich  das  auf  den  einzelnen 
treffende  Quantum  an  Trinkgeldern,  so  müfsten  nach  dem  Satze:  „wenn  die  Ursache 
aufhört,  hört  auch  die  Wirkung  auP‘  die  Löhne  wieder  steigen.  Wenn  wir  dieses 
annehmen,  so  hätte  also  zuletzt  der  Arbeitgeber  die  Kosten  des  Arbeiterschutzes  zu 
tragen.  Doch  nicht  ganz  zuletzt:  er  kann  sie  nämlich  auf  seine  Lieferanten 
♦.der  auf  das  Publikum  abwälzen.  Oder  m.  a.  W. : Er  kann  die  Preise  der 
Zimmer,  der  Speisen  und  Getränke  erhöhen ; er  kann  aber  auch  den  Brauer  nötigen, 

8* 


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Arthur  Cohen, 


1 16 

Ein  Wochenruhe  von  6 Stunden  (Entwurf)  oder  die  Freigabe 
eines  Nachmittags  und  Abends  in  der  Woche  (z.  B.  von  2 Uhr 
nachmittags  bis  zum  anderen  Morgen),  welcher  viele  das  Wort  reden, 
genügt  nicht.  Ein  Teil  der  Freizeit  mufs  dazu  benützt  werden, 
den  versäumten  Schlaf  nachzuholen,  „tüchtig  auszuschlafen,"  wie  man 
sagt.  Der  Zweck  der  Sonntagsruhe  wird  aber  nur  dann  erreicht, 
wenn  man  den  Leuten  Gelegenheit  giebt,  nicht  nur  zur  Erheiterung 
und  Geselligkeit,  sondern  auch  zur  Selbstbesinnung,  zum 
Nachdenken  über  ihre  Lage,  damit  sie  Selbsth  ilfe  zu- 
stande bringen.  Sie  müssen  aus  der  Mischung  von  Stumpfsinn  und 
Blasiertheit  aufgerüttelt  werden,  woran  man  den  Kellner  erkennt  — 
es  mufs  aufhören:  dieses  widerliche  Hin-  und  Herpendeln  zwischen 
Arbeitslast  und  Sinnentaumel,  zwischen  Stumpfsinn  und  Genufssucht, 
das  der  ganzen  Klasse  einen  Makel  aufdrückt! 

IV. 

Wie  stellen  sich  nun  die  Beteiligten  zu  dem  Ent- 
w u r f ? 

Am  14.  Dezember  1899  hatte  die  Kommission  für  Arbeiter- 
statistik ihre  Beschlüsse  gefafst.  Der  erste  Verband,  der  sich 
darauf  äufserte,  war  meines  Wissens  der  „Internationale  Verein 
der  Gasthofsbesitzer“  (sog.  „Kölner  Verein").  Derselbe  richtete 
am  28.  Dezember  eine  Eingabe  an  das  Reichsamt  des  Innern,  worin 
er  erklärt,  dafs  eine  ununterbrochene  8stündige  Ruhezeit  nur  mit 
Hilfe  eines  vermehrten  Personals  durchgeführt  werden  könne,  und 
diese  Vermehrung  für  viele  Betriebe  eine  schwere,  ja  unerträgliche 
Last  bedeuten  würde.  Die  tägliche  Ruhezeit  sei  auf  7 Stunden  fest- 
zusetzen, und  in  jeder  Woche  solle  ein  freier  Nachmittag  obliga- 
torisch sein.  Auf  der  Berliner  Generalversammlung  am  6.  Dezember 
1900  änderte  der  Verein  der  Gasthofbesitzer  seine  Taktik.  Der 

das  Bier,  den  Weinhändler,  den  Wein  billiger  zu  liefern,  die  Pachtzinsen  können  cr- 
mäfsigt,  die  harten  Darlehcnsbedingungcn  gemildert  werden.  Aber  da  verlieren  wir 
uns  in  schöne  Träume.  U überhaupt  kann  ich  nicht  wissen,  welche  dieser  möglichen 
Wirkungen  thatsächlich  einlreten.  Ich  bin  kein  Hellseher.  Aber  da  im  Kampfe 
der  Interessen  viel  mit  den  „voraussichtlichen  Wirkungen“  des  geplanten  Arbeiter- 
schutzes gearbeitet  wird,  wobei  jeder  etwas  anderes  „Voraussicht“,  so  wollte  ich 
mich  der  Aufgabe  nicht  entziehen,  wenigstens  die  möglichen  Wirkungen  zu  er- 
örtern. Nur  so  viel  läfst  sich  sagen:  Welche  dieser  Wirkungen  eintret en 
mögen,  keine  ist  geeignet,  von  der  Einführung  des  Arbeiter* 
Schutzes  im  (iast-  und  Schankwirtschaftsgewerbe  abzuschrcckcn. 


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Der  Entwurf  von  Bestimmungen  über  die  Beschäftigung  der  Gastwirtsgehilfen.  \{j 

Referent  Hoyer  führte  aus:  Die  vielen  Mifsstände,  die  von  den 
Arbeitnehmern  angeführt  werden,  finden  sich  wenig  oder  gar  nicht 
im  eigentlichen  Hotelbetrieb,  sondern  zumeist  in  Restaurants  sowie 
Gast-  und  Schankwirtschaften.  ’)  Hei  der  gesetzlichen  Regelung 
seien  daher  die  Hotels  von  den  Gast-  und  Schankwirtschaften  zu 
trennen.  Für  die  Hotelangestellten  genüge  eine  7 ständige  Ruhezeit. 
Wenn  eine  solche  Trennung  nicht  möglich  sei,  so  wolle  der  Verein 
ein  Opfer  bringen  und  dem  Vorschlag  der  8 ständigen  Ruhezeit  bei- 
treten. Eine  Diskussion  fand  nicht  statt.  *)  Die  Wirte  nahmen 
auf  dem  Heidelberger  Bundestag  vom  14.  August  1900  Stellung  zu- 
den  Vorschlägen  der  Kommission.11)  Der  Referent  erklärte  diese 
als  zu  weitgehend  und  meinte,  sie  seien  „offenbar  unter  dem  Ein- 
flufs  der  Beschlüsse  des  letzten  Kellnerkongresses  in  Berlin"  zu 
stände  gekommen  l dabei  fand  dieser  Kongrefs  erst  drei  Monate 
später  statt!).  Er  empfahl,  auf  Milderung  der  Vorschläge  zu  dringen. 
Zwei  andere  Redner  warnten  vor  einem  solchen  Schritt.  Man  solle 
doch  die  im  allgemeinen  für  die  Arbeitgeber  günstig  gehaltenen 
Bestimmungen  nicht  ohne  weiteres  bemängeln  und  sich  dadurch 
der  Gefahr  aussetzen,  dal's  man  mit  dem  Gastwirlsgewerbe  so  ver- 
fahre, wie  seiner  Zeit  mit  dem  Bäckergewerbe.  — 

Diese  Stimmung  war  bei  -den  Arbeitgebern  die  vorherrschende. 
Man  war  froh,  dafs  es  nicht  schlimmer  gekommen  war,  und  man 
beschäftigte  sich  mit  der  Frage  der  Regelung  der  Arbeitsverhält- 
nisse nicht  mehr  als  vorher. 

Im  Gegensatz  dazu  war  die  Agitation  der  Gastwirts- 
gehilfen von  Anfang  an  im  wesentlichen  einheitlich,  zielbewufst 
und  energisch.  Vom  6.  bis  zum  9.  März  1900  fand  in  Berlin  ein 
Fachkongrefs  der  deutschen  Gastwirtsgehilfen  statt, 4) 
auf  welchem  der  Gastwirtsgehilfenverband  und  der  Kellnerbund, 
nicht  aber  der  Genfer  Verband  (Hauptverwaltung),  offiziell  ver- 
treten waren.  Die  auf  diesem  Kongrefs  gefafsten  Beschlüsse  sind 
in  der  Reichstagssitzung  vom  4.  Mai  1901  Gegenstand  der  Be- 


*)  Vgl.  dagegen  den  Bericht  der  Reichskommission  S.  9:  „Nach  der  Art  der 
Betriebe  geordnet,  beträgt  in  43,4  Proz.  der  Gasthofe,  in  25,8  der  Schank-  und 
Speisewirtschaften,  in  21,5  Proz.  der  Saalwirtschaften  und  in  25,7  Proz.  der  Cafes 
die  tägliche  Arbeitszeit  mehr  als  16  Stunden.“ 

2)  Wochenschrift  des  internationalen  Vereins  der  Gasthofbesitzer  1900  Nr.  50. 
*)  Vgl.  Bayerische  Gastwirtszcitung  1900  Nr.  35. 

*)  Protokoll  der  Verhandlungen  etc.  Berlin  1900. 


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1 18 


Arthur  Cohen, 


ratung  gewesen.1)  Es  wird  gefordert:  Maximalarbeitszeit  von  12 
Stunden,  welche  auf  höchstens  15  Stunden  zu  verteilen  ist;  Wochen- 
ruhetag von  36  Stunden,  welcher  alle  4 Wochen  auf  einen  Sonntag- 
zu  fallen  hat;  Maximalarbeitszeit  von  10  Stunden  und  Ausschlufs 
der  Nachtarbeit  für  Personen  unter  16  Jahren  (Forderung  betr. 
die  weiblichen  Arbeiter  s.  u.);  Einführung  von  besonderen  Aufsichts- 
organen. Auch  die  Kellnerinnen  rührten  sich : Am  9.  März 
1 900  wurde  in  München  ein  Kellneririnenverein  gegründet  2) ; 
seine  petitionsweise  formulierten  I* orderungen  lauten:  Mindestruhe- 
zeit von  10 Stunden  mit  höchstens  30  Ausnahmen  im  Jahre;  wöchent- 
licher Ruhetag  von  24  Stunden,  Inspektion.  Ende  März  1900  fanden 
in  Berlin  Kellnerinnenversammlungen  statt,  in  denen  ebenfalls  zehn- 
stündige Ruhezeit  verlangt  wurde.  Dieser  Anlauf  zu  einer  „Kellne- 
rinnenbewegung" ging  von  Frauen  aus  und  hängt  mit  der  Frauen- 
bewegung zusammen:  Der  Bayerische  Frauentag  von  1899  hatte, 
nach  Referaten  von  Dr.  med.  Brendel  und  dem  Verfasser,  eine 
Maximalarbeitszeit  von  14  Stunden  und  aufserdem  eine  Mindest- 
ruhezeit von  8 Stunden,  bei  Jugendlichen  (bis  zu  20  Jahren)  von 
10  Stunden  gefordert. 

Der  erschienene  Entwurf  fand  auf  keiner  Seite  ein  rechtes 
Gefallen.  Der  „Gastwirtsgehilfe"  schrieb3):  Die  achtstündige  Ruhe- 
zeit sei  so  viel  wie  der  löstündige  .Vormalarbeitstag,  sanktioniert 
von  der  Gesetzgebung.  Die  „Hotelrevue"4)  nannte  den  Entwurf 
das  kärgliche  Ergebnis  einer  8jährigen  sozialpolitischen  Thätigkeit. 
Viel  bemerkt  wurde,  dafs  auch  die  nationalliberale  Vationalzeitung  ■'  ) 
den  geplanten  Schutz  „unzulänglich"  fand.  In  Berlin  wurde  von 
der  dortigen  Fachkommission  der  Gastwirtsgehilfen  eine  Protest- 
Versammlung  abgehalten ; andere  Städte  folgten,  überall  wurde 
die  Berliner  Resolution  angenommen.  Es  traf  sich,  dafs  der  deutsche 
Kellnerbund  eben  in  Kassel  seine  Jahresversammlung  abhielt8) ; auch 
da  wurde  der  Entwurf  abgelehnt  (24.  April),  aber  ohne  dafs  man 
sich  für  die  Forderungen  des  Berliner  Gehilfenkongresses  von  1900 
besonders  erwärmt  hätte. 

*)  IO.  I.cgislaturpcr.  II.  Sess.  S.  2557  ff.  und  Beilage  228. 

*)  Von  ihm  handelt  ein  Aufsatz  (von  Arbeitersekretär  Timm  in  München)  im 
„Gastwirtsgchülfen“  1900  Nr.  41  und  43. 

*)  1901  Nr.  14- 

4)  1901  Nr.  14. 

»)  1901  Nr.  213. 

a)  Der  Bericht  ist  Von  der  Hauptverwaltung  im  Druck  herausgegeben  worden. 


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Der  Entwurf  von  Bestimmungen  über  die  Beschäftigung  der  Gastwirtsgehilfen.  I I (y 

Aber  auch  auf  der  anderen  Seite,  bei  den  Arbeitgebern, 
entstand  eine  Agitation  gegen  den  Entwurf.  Man  hatte  sich  soeben 
notdürftig  mit  der  achtstündigen  Mindestruhezeit  der  Kommission 
für  Arbeiterstatistik  abgefunden  und  erklärt,  dafs  sie  zwar  pekunäre 
„Opfer“  erfordere,  alter  die  Fortführung  des  Gewerbes  nicht  un- 
möglich mache  — und  nun  kam  das  Gefürchtete  dennoch : die 
neunstündige  Mindestruhezeit.  Dafs  sie  sich  nur  auf  die  Städte 
mit  mehr  als  20000  Einwohnern  bezieht  und  auch  hier  nur  mit 
Rücksicht  auf  den  Gang  nach  Hause  und  zum  Geschäfte  eingeführt 
werden  soll,  verschlug  nichts,  der  Kampf  gegen  sie  wurde  zum 
Feldgeschrei.  Dies  geht  aus  einer  Eingabe  hervor,  die  von 
vier  Arbeitgebervereinigungen  *)  an  den  Bundesrat  gerichtet  worden 
ist,  und  die  wir  hier  analysieren,  weil  sie  einen  famosen  Beitrag 
zur  Klassenpsychologic  bildet.  Es  heifst  darin : Durch  die  ge- 
plante Verordnung  würde  der  Betrieb  des  Gewerbes  aufs  äufserste 
erschwert  und  vielfach  dem  Einzelnen  unmöglich  gemacht.  Schon 
mit  der  8 stündigen  Ruhezeit  würde  der  überwiegende  Teil  der 
Wirte  sich  nur  mit  grofsen  Opfern  abfinden  können.  Trotz- 
dem seien  die  Wirte  bereit , sie  hinzunehmen  , die  neun- 
stündige Ruhezeit  in  Orten  mit  mehr  als  20000  Einwohnern 
sowie  auf  Grund  Polizeiverordnung  aber  sei  eine  unmögliche 
Anforderung,  zumal  was  die  kleineren  Betriebe  anlange.  Im  Hotel- 
betrieb lasse  sich  mit  Aushilfspersonen  nicht  wirtschaften,  der  Zwangs- 
ruhetag alle  zwei  bis  drei  Wochen  sei  undurchführbar.  Die  Führung 
des  Verzeichnisses  der  beschäftigten  Personen  sei  eine  unerfüllbare 
Aufgabe,  wenn  der  Unternehmer  nicht  eine  besondere  Person  dazu 
anstelle  (!).  Den  Wirten  wäre  es  selbst  lieber,  wenn  die  Arbeitszeit 
in  ihren  Betrieben  „nach  der  Schablone"  geregelt  werden  könnte. 
Aber  die  armen  Gehilfen!  Ihnen  würde  durch  die  Heranziehung 
von  Aushilfen  das  Trinkgeld  geschmälert,  und  den  Ruhetagszwang 
würden  sie  erst  recht  nur  als  Last  und  Nachteil  empfinden,  der  liege 
nur  im  Interesse  der  arbeitslosen  Kellner.  (Merkwürdig,  wie 
besorgt  die  Arbeitgeber  manchmal  für  das  Wohl  ihrer  Arbeiter  sind! 
Sie  sträuben  sich  gar  nicht  im  eigenen  Interesse  gegen  das  Geschenk, 
nein,  sic  fürchten  nur  für  das  Einkommen  ihrer  Angestellten,  und 
sie  glauben,  ihr  Personal  gegen  das  „Lumpenproletariat"  in  Schutz 


'}  Bund  Deutscher  Gastwirte  (Sitz  Leipzig,  26000  Mitglieder);  Gastwirtsvcr- 
Band  (Sit*  Berlin,- 27000  Mitglieder);  Verein  der  Hotelbesitzer  in  Berlin;  Berliner 
Gastwirteinnung. 


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20 


Arthur  Cohen, 


nehmen  zu  müssen.)  Wenn  es  irgendwie  der  Betrieb  zulasse,  werde 
jeder  einsichtige  Wirt  auch  schon  in  seinem  eigenen  Interesse  dem 
Verlangen  seiner  Angestellten  nach  einem  „gelegentlich  freien  Tage“ 
entsprechen.  (Aber  die  Verordnung  soll  eben  gegen  die  nicht 
einsichtsvollen  Wirte  gerichtet  sein  und  die  Ruhe  von  der  „Gelegen- 
heit“ frei  machen !)  Man  solle  es  also  dem  verständigen  Ermessen 
und  dem  guten  Willen  der  beiderseitig  Beteiligten  — Arbeitgeber 
und  Arbeitnehmer  — ■ überlassen,  sich  über  die  Ruhezeit  und  ihre 
Dauer  angemessen  zu  einigen.  (Die  Einigung  mit  den  Arbeitern 
über  die  Arbeitszeit  liegt  doch  sonst  nicht  im  Programm  der  Arbeit- 
geber! Zur  Herbeiführung  einer  angemessenen  Einigung  haben  die 
Arbeitgeber  lange  genug  Zeit  gehabt).  Schliefsiich  wird  in  der  Ein- 
gabe noch  die  Behauptung  aufgestellt,  dafs  die  grofse  Morbidität 
der  Kellner  nicht  im  „vermeintlichen  Mangel  an  Arbeitspausen“, 
sondern  in  der  Neigung  zu  Ausschweifungen  und  diese  wieder  im 
reichlichen  Verdienst  an  Trinkgeldern  ihre  Ursache  habe. 

Technisch  weit  geschickter  ist  die  Petition  des  „Inter- 
nationalen Vereins  der  Gasthofsbesitzer“  zum  Entwurf.1) 
Durch  die  im  Entwürfe  vorgesehenen  Bestimmungen  lege  man  eine 
Last  auf  die  Schultern  der  Gasthofsbesitzer,  welche  sie  aufser  Stande 
seien , zu  tragen.  Die  neunstündige  Minimalruhezeit  in 
Orten  von  mehr  als  20000  Einwohnern  würde  ihre  Existenzfähigkeit 
in  Erage  stellen.  Sie  sei  in  gröfseren  Restaurants,  welche  über  ein  hin- 
reichendes Personal  verfügten,  um  Schichtarbeit  einrichten  zu  können, 
wohl  durchführbar,  wenn  auch  nicht  ohne  erhebliche  Kosten  und 
Störungen  im  Betriebe.  Sie  sei  auch  in  kleineren  Restaurants  noch 
durchführbar,  weil  das  Personal  in  solchen  Betrieben  gleichartig  sei 
und  sich  deshalb  in  den  stilleren  Geschäftsstunden  gegenseitig  ver- 
treten könne.  Im  Hotelbetrieb  dagegen  sei  das  Personal  in  ganz  ver- 
schiedenartigen Stellungen  thätig,  als  Oberkellner,  Zimmerkellner, 
Saalkellner  u.  s.  w.,  es  unterscheide  sich  nach  Kenntnissen  und  Vor- 
bildung, so  dafs  eine  gegenseitige  Vertretung  ausgeschlossen  sei. 
Der  Zimmerkellner  könne  nicht  den  Oberkellner  vertreten  [aber  der 
Hotelier!),  und  diesem  wiederum  werde  man  eine  Vertretung  des 
Saal-  oder  Zimmerkellners  nicht  zumuten  dürfen  [!].  Die  neun- 
stündige Ruhezeit  in  Gasthöfen  sei  aber  auch  übertrieben,  weil  hier 
die  Angestellten  fast  ausnahmslos  im  Hause  wohnen,  eine  Berechnung 


*)  Wochenschrift  des  Internationalen  etc.  1901  Nr.  24,  vgl«  auch  das  Referat 
des  Vereinssyndikus  auf  dem  Stockholmer  Kongrcfs,  ebenda. 


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Der  Entwurf  von  Bestimmungen  über  die  Beschädigung  der  Gastwirtsgehilfen.  j 2 I 


der  Wegzeit  also  unnötig  sei.  Auch  der  Wochenruhetag  sei 
unausführbar,  wegen  der  Unmöglichkeit  gegenseitiger  Vertretung, 
weil  Aushülfspersonal  fiir  Hotels  schwer  zu  beschaffen  sei,  und  in 
Hotels  mit  Aushülfspersonal  nicht  gearbeitet  werden  könne.  Die 
einzelnen  Petitionspunkte  entsprechen  im  wesentlichen  der 
Stellung,  die  der  Verein  der  Gasthofsbesitzer  vor  dem  Erscheinen 
des  Entwurfs  auf  seinem  Berliner  Kongrefs  eingenommen  hatte  (s.  o.). 

So  die  Arbeitgeber. 

Im  übrigen  richtet  sich  die  Kritik,  die  dem  Entwürfe  zu  teil 
geworden  ist,  hauptsächlich  gegen  die  enge  Begrenzung  des  Kreises 
der  zu  schützenden  Personen  und  dagegen,  dafs  der  Verordnungsweg 
offen  gelassen  wird. 

Der  Nachteil  einer  Bundesrats  Verordnung  bestünde 
darin,  dafs  wegen  der  beschränkten  gewerberechtlichen  Zuständig- 
keit des  Bundesrates  der  Schutzrahmen  ein  sehr  enger  werden  müfste. 
Der  Entwurf  will  nur  die  tägliche  Arbeitszeit  und  die  wöchentliche 
Ruhezeit  regeln  und  ein  Mindestalter  der  Kellnerinnen  festsetzen. 
Aber  es  fragt  sich,  ob  der  Bundesrat  zu  letzterem  berechtigt  ist ') ; 
ja  sogar  die  Befugnis  des  Bundesrates  zur  Einführung  von  wöchent- 
lich zu  berechnenden  Ruhepausen  erscheint  mir  zweifelhaft,  weil 
der  in  Betracht  kommende  § I20e  Abs.  3 nur  von  der  täglichen 
Arbeitszeit  spricht.  Andererseits  findet  sich  in  dem  „Entwürfe" 
kein  hygienischer  Arbeiterschutz,  obwohl  dieser  zur  Zuständigkeit 
des  Bundesrates  gehört.  Ich  bin  der  Meinung,  dafs  der  Bundesrat 
durch  § 120a  Abs.  t der  Gewerbeordnung  berechtigt  ist,  das  Sitz- 
verbot im  Wirtschaftsgewerbe  für  ungültig  zu  erklären  und  die  Be- 
schaffung von  Sitzgelegenheit  vorzuschreiben,  weil  sich  herausgestellt 
hat,  dafs  langdauerndes  Stehen  gesundheitliche  Gefahren  mit  sich 
bringt.  Jedenfalls  kann  die  Frage,  die  nun  schon  ein  Jahrzehnt  lang 
auf  der  Tagesordnung  steht,  nur  bei  einer  gesetzlichen  Regelung 
befriedigend  gelöst  werden.  Beim  Erlafs  einer  Bundesratsver- 
ordnung wäre  es  z.  B.  unmöglich,  die  Arbeitgeber  zu  zwingen,  den 
Arbeitern  auf  Verlangen  Zeit  zum  Besuche  des  Gottesdienstes  zu 
geben,  Bestimmungen  über  Arbeitsordnungen,  Straf-  und  Bruchgelder 
zu  erlassen  *),  befriedigende  Kontrolleinrichtungen  zu  schaffen.  Es 

*)  Auch  der  Korreferent  hat  dieses  Bedenken  (Verh.  XVII  15). 

*)  Welche  Unklarheit  über  die  Arbeitsbedingungen  unter  den  Be- 
teiligten vielfach  herrscht,  dürfte  daraus  hervorgehen , dafs  die  beim  (Jexvrrbe- 
gerichte  München  gegen  Wirte  anhängig  gemachten  Klagen  gegen  30  Proz.  aller 


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122 


Arthur  Cohen, 


ist  also  nicht  gleichgültig,  ob  die  Regelung'  im  Wege  der 
Verordnung  oder  der  Gesetzgebung  stattfindet,  wie  der  Abgeordnete 
Hitze  im  Reichstag  gemeint  hat.  Es  ist  schon  wegen  des  wohl- 
thätigen  Eindruckes  nicht  gleichgültig,  den  eine  gründliche  Behand- 
lung der  Sache  im  Reichstag  auf  Arbeitgeber,  Arbeiter  und  Publikum 
machen  könnte.  Eis  mufs  den  Wirten  einmal  zu  Geinüte  geführt 
werden,  dafs  das  „rühr  mich  nicht  an!"  aufgehört  hat,  den  Wirts- 
gehilfen, dafs  sie  gegen  die  Uebermacht  der  Arbeitgeber  und  den  Kon- 
kurrenzdruck in  den  eigenen  Reihen  nicht  schutzlos  sind.  Es  wäre 
also  derselbe  Weg  zu  beschreiten,  wie  seiner  Zeit  beim  Handels- 
gewerbe. Die  Entwicklung  geht  über  den  Fabrik- 
arbeiterschutz und  den  hygienischen  Maximalarbeits- 
tag unaufhaltsam  vorwärts  zu  einer  besonderen 
schutzrechtlichen  Gestaltung  des  Arbeitsverhäl  t- 
nisses  bei  den  übrigen  schütz  bedürftigen  Arbeiter- 
kategorien. 

Elinig  waren  die  Stimmen  über  den  Entwurf  (mit  Ausnahme  der 
Arbeitgeber  und  eines  Teils  der  konservativen  Presse)  in  der  Ver- 
werfung der  vorgesehenen  Geltungsgrenze,  und  in  keinem 
Punkte  wurde  eine  so  scharfe  Kritik  geübt.  Nach  dem  Entwurf  soll 
dieser  nämlich  Anwendung  finden  auf  Kellner,  Köche  und  das 
Buffetpcrsonal Die  Kritiker  wollen,  dafs  das  ganze  in  Gast- 
und  Schankvvirtschaften  beschäftigte  gewerbliche  Personal  *)  unter 
den  Schutz  gestellt  wird.  Molkenbuhr  wollte  als  Referent  der 
Kommission  für  Arbeiterstatistik  seine  Vorschläge  auf  alle  Personen 
bezogen  wissen,  welche  mit  Arbeiten  im  Gast-  und  Schankwirt- 

Klagen  (1894  32  Proz.,  1899  29  Proz.)  ausmachen,  obwohl  im  Wirtsgewerbe  in 
München  nur  ein  Zwölftel  aller  gewerblich  thätigen  Personen  beschäftigt  sind. 

*)  mit  Einschlufs  der  Personen,  die  mit  dem  „Fertigmachen  kalter  Speisen“  be- 
schäftigt sind. 

*)  Die  Gröfsc  und  Zusammensetzung  der  Arbeiterschaft  im  Be- 
herbergungs-  und  Erquickungsgewerbe  ist  aus  nachstehender  Tabelle  zu  ersehen 
(Berufsstatistik  1895):  [c  1 = Familienangehörige,  die  im  Betriebe  ihres  Haushaltungs- 
vorstands thatig.  aber  nicht  eigentliche  Gewerbsgchülfen  sind,  c2  Oberkellner,  Kellner, 
Kellnerinnen,  auch  Lehrlinge,  C3  andere  Hülfspcrsoncn  (Hausdiener,  Hausknechte, 
Kutscher),. 


C I 

C 2 

c3 

Summe 

n».  5749 

52370 

42737 

100856 

w.  50634 

37I2I 

125924 

213679 

Summe  56383 

89491 

168661 

314535 

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Der  Entwurf  von  Bestimmungen  über  die  Beschäftigung  der  Gastwirtsgehilfen.  123 

Schaftsgewerbe  beschäftigt  sind,  oiine  Rücksicht  auf  die  Form  des 
Dienst-  oder  Arbeitsvertrages,  also  auch  auf  das  „Gesinde".') 
Dieser  weitgehende  Antrag  wurde  aber  schon  von  der  Kommission 
abgelehnt,  weil  die  Erhebungen  sich  nur  auf  Kellner  und  Köche  be- 
zogen hätten.  Die  Kommission  stellte  sich  im  wesentlichen  auf  den 
Standpunkt,  den  dann  später  der  Entwurf  eingenommen  hat.  Nur 
fehlt  in  ihren  Vorschlägen  die  Berücksichtigung  des  Buffet- 
personals. Die  Aufnahme  desselben  unter  die  Geschützten  durch 
den  Entwurf  stellt  sich  als  eine  wesentliche  Verbesserung  der 
Kommissionsvorschläge  dar,  die  von  den  Kritikern  zu  wenig  be- 
achtet worden  ist.  Wenn  man  aber  der  Kommission  aus  ihrer 
Selbstbeschränkung  einen  Vorwurf  macht,  so  geht  man  darin  zu 
weit.  Sie  ist  doch  eine  Enquetekommission  und  kann  daher  nur 
Vorschläge  machen  in  Beziehung  auf  Verhältnisse,  die  sie  erforscht 
hat.  Man  hat  die  Arbeitsverhältnisse  im  Wirtschaftsgewerbe  fest- 
stcllcn  lassen,  um  eine  solide  Grundlage  ihrer  schutzrechtlichen  Re- 
gelung zu  bekommen.  Die  Logik  erfordert,  dafs  diese  sich  auf  die 
Arbeiterkategorieen  beschränkt,  deren  Arbeitsverhältnisse  so  bekannt 
geworden  sind.  Wenn  man  alle  Kategorieen  schützen  wollte,  so 
hätte  man  die  Erhebung  danach  einrichten  müssen.  Natürlich  hindert 
nichts,  eine  Zusatzerhebung  zu  veranstalten  und  dann  Zusatzbestim- 
mungen zu  erlassen.  Von  der  Menge  und  Verschiedenheit  der  Ar- 
beiterkategorieen in  grofsen  Etablissements  macht  sich  der  Unein- 
geweihte schwer  eine  Vorstellung.  In  den  Verzeichnissen  des  Ar- 
beitsamtes München  werden  nur  für  die  weiblichen  Angestellten 
im  Wirtschaftsgewerbe  folgende  Rubriken  geführt:  Buffetmädchen, 
Schankkellnerin,  Kellnerin,  Kassicrin,  Wassermädchen,  Garderobiere: 
Köchin,  Küchenbeschliefscrin,  Küchenmädchen,  Herdmädchen,  Kochen- 
lernerin;  Hausmädchen,  Zimmermädchen.  Ein  Teil  des  Wirtschafts- 
personals ist  seinen  Verrichtungen  nach  mehr  dem  Verkehrsgewerbe 
zuzurechnen  als  dem  Wirtschaftsgewerbe,  z.  B.  die  Hoteldiencr  und 
Hotelkutscher;  diese  müssen  mit  dem  Bahn-  und  Trägerpersonal 
Hand  in  Hand  arbeiten,  die  Einteilung  der  Arbeit  ist  bei  ihnen  noch 
mehr  von  den  Verkehrseinrichtungen  und  Verkehrsbedürfnissen  ab- 
hängig wie  beim  übrigen  Wirtschaftspersonal. 

V. 

Eine  besondere  Betrachtung  erfordert  der  Schutzderjugend- 
lichen  Personen.  Die  Vorschläge  der  Kommission  für  Arbeiter - 

>)  Vcrh.  XVII  68. 


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124 


Arthur  Cohen, 


Statistik  sind  gerade  in  dieser  Beziehung  sehr  dürftig.  Jugendliche 
Personen  unter  16 Jahren  sollen  von  io  Uhr  abends  bis  6 Uhr  morgens 
nicht  beschäftigt  werden  dürfen.  Das  ist  alles.  Es  soll  also  bei  ihnen 
keine  ausgedehntere  Mindestruhezeit  zur  Anwendung  kommen  wie 
bei  den  Erwachsenen.  Dies  erscheint  um  so  merkwürdiger,  als  die 
Kommission  selbst  in  ihrem  Bericht  (S.  io)  das  Gutachten  des 
Reichsgesundheitsamtes  citiert,  dafs  es  angezeigt  sei,  in  Gast-  und 
Schankwirtschaften  zumal  für  die  noch  in  der  körperlichen  Ent- 
wicklung stehenden  Lehrlinge  eine  Kürzung  der  Arbeitszeit  ein- 
treten  zu  lassen , und  dafs  die  Mindestruhezeit  bei  jugendlichen 
Personen  wenigstens  io  Stunden  — ohne  Einrechnung  des 
Weges  nach  und  von  der  Arbeitsstätte  — betragen  solle.  Der 
Entwurf  begünstigt  die  Jugendlichen  (unter  16  Jahren)  mehr  als 
die  Kommission:  Es  soll  nicht  nur  die  Nachtarbeit  (io— 6 Uhr) 
bei  ihnen  ausgeschlossen  sein,  sondern  ihre  tägliche  Ruhezeit  soll 
mindestens  neun  Stunden  betragen,  ohne  Rücksicht  auf  die  Gröfse 
des  Ortes  und  Polizeiverordnungen.  Die  wöchentliche  Ruhe 
wird  bei  den  Jugendlichen  ebenso  knapp  zugemessen  wie  bei  den 
Erwachsenen. ') 

Auch  wenn  man  die  Beschränkung  der  effektiven  Ar- 
beitszeit im  Wirtschaftsgewerbe  verwirft,  wird  man  bei  den  jugend- 
lichen Personen  eine  Ausnahme  machen  müssen.  Man  wird  doch  nicht 
behaupten  können  oder  wollen,  dafs  die  wirtschaftliche  Existenz  der 
Unternehmer  im  Gewerbe  davon  abhängig  sei,  dafs  sie  ihre  Lehrlinge 
15  bis  16  Stunden  lang  arbeiten  lassen  können,  dafs  also  das  ganze 
Gewerbe  auf  die  Ausbeutung  der  Lehrlinge  gegründet  sei.  Nach 
der  Berufszählung  von  1895  gab  es  am  Zählungstage  im  Reich 
52370  männliche  Kellner,  wovon  6606  unter  16  Jahre  alt  waren. 
Eine  an  sich  nicht  durchführbare  Mafsregel  kann  durchführbar  sein, 
wenn  sie  auf  den  achten  Teil  des  Personals  beschränkt  wird.  Aber 
W'enn  bei  irgend  einem  Teilproblcm  der  sozialen  Frage,  so  müssen 
beim  Schutz  der  jugendlichen  Arbeiter  die  wirtschaftlichen  Interessen 
der  Unternehmer  hinter  den  Forderungen  der  Volkshygiene  zurück- 
treten. Der  Fachkongrefs  der  Gastwirtsgehilfen  wünscht  eine  Be- 
schränkung der  Arbeitszeit  jugendlicher  Personen  auf  10  Stunden; 
ich  halte  diese  Forderung  nicht  für  unbescheiden.  Die  gegen- 
wärtige Arbeitszeit  haben  wir  oben  festgestellt.  Danach  haben 
nur  15,1  Proz.  der  Lehrlinge  eine  Arbeitszeit  von  14  Stunden  und 

*)  Die  „Grund/ügc  der  gesetzlichen  Regelung  der  gewerblichen  Kinderarbeit 
außerhalb  der  Fabriken“  sind  erst  beim  Druck  bekannt  geworden. 


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Der  Entwurf  von  Bestimmungen  Uber  die  Beschäftigung  der  Gastwirtsgehilfen.  125 

weniger,  60,5  Proz.  eine  Arbeitszeit  von  14 — 16  und  24,4  Proz.  eine 
Arbeitszeit  von  mehr  als  16  Sfunden.  Bei  34,9  Proz.  der  Lehrlinge 
finden  an  gewissen  Tagen  der  Woche  oder  zu  gewissen  Zeiten  des 
Jahres  Ueberschreitungen  der  regelmäfsigen  Arbeitszeit  statt.  Von 
diesen  Zahlen  kann  man  wirklich  sagen,  dafs  sic  beredt  sind!  Soll 
sich  der  Schutz  nur  auf  die  bejammernswerten  Burschen  mit  mehr 
als  16  stündiger  Arbeitszeit  beziehen,  soll  er  nicht  auch  die  grofse 
Masse  der  Lehrlinge  umfassen,  die  zwar  nicht  in  die  allerletzte 
Elendsrubrik  gehören,  aber  immerhin  eine  erschreckend  lange  Arbeits- 
zeit haben  und  dadurch  dafs  sie  die  kompakte  Majorität  (beinahe  - „) 
bilden,  das  Augenmerk  des  Gesetzgebers  besonders  auf  sich  lenken? 
Der  Schutz  der  jugendlichen  Arbeiter  ist  bei  der 
Regelung  der  Arbeits  Verhältnisse  im  Gastwirts- 
gewerbe die  Hauptsache,  und  man  müfste  lieber  auf  die 
Mindestruhezeit  der  Erwachsenen  verzichten,  als  dafs  man  von  den 
wesentlichen  Bestandteilen  des  Schutzes  der  Jugendlichen  etwas 
preisgäbe.  Man  mufs  nämlich  bedenken,  dafs  viele  Lehrlinge 
ganz  auf  den  Schutz  des  Staates  angewiesen  sind.  Sie  selbst  sind 
zu  schwach,  sich  zu  helfen,  ihren  Eltern  fehlt  häufig  die  Einsicht, 
manchmal  das  Pflichtgefühl,  sehr  oft  die  wirtschaftliche  Möglichkeit, 
in  das  Arbeitsverhältnis  ihrer  Kinder  zu  deren  Bestem  einzugreifen, 
sie  haben  nur  den  einen  Gedanken : dafs  ihre  Kinder  möglichst 
bald  und  möglichst  viel  „verdienen".  Auch  die  Vormünder  kümmern 
sich  gewöhnlich  wenig  um  die  Arbeitsbedingungen  der  Betriebe, 
wohin  sie  ihre  Mündel  zur  Lehre  schicken,  das  bürgerliche  Gesetz- 
buch ermächtigt  sie  sogar  ausdrücklich,  sich  dieser  Pflicht  zu  ent- 
schlagen  (§  1 1 3).  Wie  der  Staat  die  Fürsorge  für  die  Erhaltung 
des  Vermögens  der  Kinder,  und  zwar  auch  gegen  den  Willen 
des  Vaters,  übernommen  hat,  so  sollte  er  auch  das  wirtschaftliche 
Gut  der  Arbeitskraft,  das  gerade  für  die  wirtschaftlich 
Schwachen  so  grofse  Bedeutung  besitzt,  schon  von  ihrer  frühen 
Jugend  an  vor  der  Gefahr  der  Verschleuderung  durch  Arbeitgeber, 
Eltern'  und  Vormünder  bewahren. 

VI. 

Eine  bevorzugte  Stellung  in  der  Schutzpolitik  geniefst  auch 
das  weibliche  Geschlecht.  Als  das  schwächere  und  bei  der 
Entwicklung  der  künftigen  Generation  vorzüglich  beteiligte  Ge- 
schlecht verdient  es  besonders  den  staatlichen  Schutz  im  Arbeits- 
verhältnis, und  der  Arbeiterschutz  ist  ja  vom  Schutze  der  jugend- 


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I2Ö 


Arthur  Ctahcn 


liehen  und  weiblichen  Arbeiter  ausgegangen.  Sehen  wir  zu,  wie 
der  Entwurf  diesem  Programmpunkte  Rechnung  trägt!  Der  Ent- 
wurf bestimmt,  dafs  weibliche  Personen  unter  18  Jahren 
nicht  zur  Bedienung  der  Gäste  verwendet  werden 
dürfen,  aul'ser  wenn  sie  zur  Familie  des  Arbeitgebers  gehören. 
Es  ist  also  eine  Altersklasse  von  einer  Beschäftigungsart  ausge- 
schlossen. Die  Bestimmung  beruht  auf  einem  Vorschlag  der  Kom- 
mission, nur  wollte  diese  die  gelegentliche  Bedienung  der  Gäste 
erlaubt  wissen. 

Das  ist  alles.  Weibliche  Personen  unter  18  Jahren,  die  nicht  zur 
Bedienung  der  Gäste  verwendet  werden,  z.  B.  Küchenmädchen,  werden 
also  gerade  so  behandelt,  wie  das  männliche  Personal,  also  i m 
Alter  von  16 — 18  Jahren  wie  erwachsene  männliche 
Arbeiter.  Bis  zu  ihrem  18.  Lebensjahre  werden  die  jungen 
Mädchen  vom  Kellnerinnenberufe  ferne  gehalten,  dann  werden  sie 
ohne  einen  Uebergang,  wie  er  bei  den  männlichen  Arbeitern  infolge 
des  Schutzes  der  Jugendlichen  besteht,  in  ihren  beruflichen  Existenz- 
kampf gleich  fest  hineingeschoben.  Anders,  wenn  sie  zur  Familie  des 
Arbeitgebers  gehören.  Familienmitglieder  dürfen  schon  im  zarten 
Kindesalter  zur  Bedienung  der  Gäste  herangezogen  werden,  bis  zum 
16.  Lebensjahre  bis  io  L'hr  abends;  von  diesem  Alter  an  geniefsen 
auch  sie  keinen  gröfseren  Schutz  als  ihre  erwachsenen  männlichen 
Berufsgenossen.  Ich  glaube  nicht,  dafs  es  in  der  Absicht  der  Ver- 
fasser des  Entwurfes  gelegen  ist,  die  Poesie  des  „Wirtstöchterleins“ 
zu  bewahren,  ich  glaube,  dafs  sie  von  ganz  anderen  Vorstellungen 
geleitet  worden  sind.  Man  macht  wieder  einmal  respektvoll  vor 
dem  „Heiligtum  der  Familie"  Halt.  Schutz  der  Familie  geht  vor 
Arbeiterschutz,  das  Familieninteresse  vor  der  Sittlichkeit. 

Denn  um  diese  letztere  handelt  es  sich  bei  de  r B e - 
Stimmung,  nicht  um  Fernhaltung  von  ungünstigen 
Arbeitsbedingungen.  Die  Kommission  hat  zwar  ihren  Vor- 
schlag auch  mit  dem  Interesse  der  Gesundheit  begründet1) 
Dieser  Begründung  widerspricht  aber  der  Umstand,  dafs  die  Kom- 
mission bei  den  männlichen  Kellnern  unter  16  Jahren  keine  höhere 
Mindestruhezeit  vorgeschlagen  hat  als  bei  den  Erwachsenen  (s.  o.). 
Sind  die  gesundheitlichen  Gefahren  der  Bedienung  der  Gäste  bei 
den  Geschlechtern  so  verschieden  grofs,  dafs  man  die  weiblichen 
Jugendlichen  zwischen  16  und  18  Jahren  ganz  ausschliefsen 


>)  Verb.  XVIII  io. 


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Der  Entwurf  von  Bestimmungen  über  die  Beschäftigung  der  Gastwirtsgehilfen.  \2J 

mufs,  die  männlichen  Jugendlichen  bis  zu  16  Jahren  aber 
kaum  besser  zu  behandeln  braucht  als  die  erwachsenen  männlichen 
Arbeiter  ? 

Wie  steht  es  nun  um  die  Gefährdung  der  Sittlichkeit  der 
Kellnerinnen,  um  die  Gefährdung  der  allgemeinen  Sittlich- 
keit durch  die  Kellnerinnen? 

Es  ist  wahr:  Der  Kcllnerinnenberuf  bringt  mehr,  als  dies  die 

meisten  anderen  weiblichen  Berufe  thun,  seine  Dienerinnen  in  sitt- 
liche Versuchung,  in  die  Gefahr  eines  zu  frühzeitigen,  eines  unge- 
regelten Geschlechtsverkehrs,  überhaupt  einer  Vcrstumpfung  des 
weiblichen  Schamgefühls.  Und  wenn  es  auch  übertrieben  ist,  das 
Wirtshausleben  als  eine  „Atmosphäre  der  Leichtfertigkeit,  Trunken- 
heit und  Gemeinheit“  zu  bezeichnen '),  so  wird  doch  durch  den 
beständigen  dienstlichen  Verkehr  mit  den  Angehörigen  des  anderen 
Geschlechtes,  durch  die  unwillkürliche,  wenn  auch  passive  Anteil- 
nahme an  oft  lascivcn  Gesprächen  die  Sinnlichkeit  rasch  und  intensiv 
erregt.  Der  Wirtshausbesuch  ist  eben  vorzugsweise  Lebensgewohn- 
heit der  Männer.  Diese  erkaufen  sich  um  ein  paar  Münzen  das 
Recht,  sich  einige  Stunden  im  Lokale  aufzuhalten,  und  damit  die 
Möglichkeit,  zu  der  Kellnerin  in  persönliche  Beziehungen  zu  treten, 
welche  die  verschiedensten  Formen  annehmen  und  alle  Stadien 
durchlaufen  können , vom  harmlosen  teilnehmenden  Gespräch  bis 
zum  sporadischen  geschlechtlichen  Verkehr  und  zum  „Liebesver- 
hältnis“ (welches  dann  freilich  mitunter  auch  zur  Ehe  führt). 

Im  übrigen  mufs  man  zwischen  der  soliden  und  der  un- 
soliden Kellnerinnenbedienung  unterscheiden.  Wir  ge- 
brauchen die  Ausdrücke  solid,  unsolid,  nicht  gerne,  weil  sie  unklar 
und  durch  das  Neuzünftlcrtum  (der  „solide  Handel“  u.  s.  w.)  in 
Mifskredit  gekommen  sind.  Aber  es  wird  sich  gleich  zeigen,  was 
wir  darunter  verstehen. 

Der  Typus  des  Wirtshauses  mit  „unsolider“  Damenbedienung 
ist  die  sogenannte  A n i m i e r k n e i p e.  So  schwer  cs  ist , eine 
Schuldefinition  der  Animierkneipen  zu  geben,  so  stellen  sie  doch 
einen  ganz  bestimmten  Typus  dar,  sowohl  was  das  Kellnerinncn- 
material,  als  auch  was  ihre  Zweckbestimmung  und  das  Treiben  in 
ihnen  betrifft.  „Sie  heben  sich  von  denjenigen  Lokalen,  in  welchen 
die  Bedienung  der  Gäste  durch  anständige  weibliche  Personen 
stattfindet  ...  so  bestimmt  ab,  daCs  die  Ortspolizeibehörden  sich 

l)  Petition  badischer  Sittlichkcitsvcrcinc,  s.  u. 


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128 


Arthur  Co  heu, 


selten  im  Zweifel  darüber  befinden  werden,  ob  das  Lokal  zu  den 
in  geschlechtlicher  Beziehung  verdächtigen  oder  nicht  verdächtigen 
gehört“.1)  Betriebstechnisch  als  das  wesentliche  erscheint  mir,  dafs 
die  Kellnerinnen  nicht  nur  zur  Bedienung,  sondern  auch  zum 
Amüsement  der  Gäste  gehalten  werden.  Sie  sind  dein  Wirte  gegen- 
über verpflichtet,  den  Gast  nicht  nur  zu  bedienen,  sondern  auch 
ihn  zu  unterhalten,  sich  auf  Wunsch  zu  ihm  zu  setzen,  mit  ihm  zu 
trinken,  sich  Scherze  und  Zärtlichkeiten  gefallen  zu  lassen  u.  s.  w. 
Daher  befinden  sich  in  solchen  Lokalen  meistens  mehr  Kellnerinnen, 
als  zur  Bedienung  der  Gäste  nötig  wäre.  Dadurch,  dass  der  Wirt 
sein  Lokal  als  Animierkneipe  einrichtet,  erklärt  er  sich  dem  Be- 
sucher gegenüber  bereit,  ihm  zu  gestatten,  dass  er  sich  mit  den 
Kellnerinnen  amüsiert.  Voraussetzung  ist  dabei,  dass  der  Gast  einen 
gewissen  A u f w a n d macht,  namentlich  für  geistige  Getränke.  Wie 
grol's  der  Aufwand  sein  muss,  richtet  sich  nach  der  Gewohnheit, 
nach  örtlichen  Verhältnissen,  den  konkreten  Umständen,  dem  dis- 
kretionären Ermessen  von  Wirt  und  Kellnerin.  Je  gröfser  der 
Aufwand,  desto  gröfser  das  Amüsement,  das  darin  gipfelt,  dafs 
hinter  verschwiegenen  Vorhängen  etc.  allerlei  Unkeuschheiten 
getrieben  werden.-)  Der  Wirt  macht  sich  durch  den  grölseren 
Konsum  bezahlt  und  interessiert  die  Kellnerin  am  Gelingen  seiner 
Spekulation  durch  Tantiemen,  die  ihr  Aequivalent  für  ihre  Halb- 
prostitution bilden.  Die  Kellnerin  trinkt  mit  und  animiert 
zum  Trinken,  der  Gast  „zieht  die  Konsequenzen“,  das  Mädchen 
animiert  noch  mehr,  und  der  Kreislauf  befriedigt  Wirt,  Kellnerin 
und  Publikum. 

Pis  ist  schwer,  über  diese  Zustände  zu  urteilen,  ohne  in  die 


’)  Schmollen  Jahrbuch  1890  S.  524. 

*)  Die  Begehung  wirklicher  L’ nsi Ul  ich  keilen  (Beischlaf  und  Beischlafs- 
ähnliche  Handlungen!  in  den  Animierkneipen  durfte  vergleichsweise  selten  sein,  weil 
sie  den  Wirt  in  die  Gelahr  des  Verlustes  der  Konzession  bringt.  (§  33  der  Gew.O. : 
„Wer  Gastwirtschaft,  Schankwirtschaft  oder  Kleinhandel  mit  Branntwein  oder  Spiritus 
betreiben  will,  bedarf  dazu  der  Erlaubnis.  Diese  Erlaubnis  ist  nur  dann  zu  ver- 
sagen: l.  wenn  gegen  den  Nachsuchenden  Thaisachen  vorliegen,  welche  die  An- 
nahme rechtfertigen,  dafs  er  das  Gewerbe  zur  Förderung  der  Völlerei,  des  ver- 
botenen Spiels,  der  Hehlerei  oder  der  U n s i 1 1 1 i c h k c i t mifsbrauchen  werde 
Die  Behörden  sind  darin  sehr  strenge:  Die  Konzession  wird  gleich  beim  ersten 
Falle  entzogen,  ohne  Rücksicht  darauf,  ob  der  Wirt  von  der  Begehung  der  unsitt- 
lichen Handlung  Kenntnis  gehabt  hat;  er  hätte  eben  Obacht  geben  sollen  (Sclimollcrs 
Jahrbuch,  ebenda  1. 


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Der  Entwurf  von  Bestimmungen  über  die  Beschäftigung  der  Gastwirtsgehilfen.  129 

Gefahr  der  Uebertreibung  und  einseitiger  Auffassung  zu  verfallen 
oder  einen  allzuweiten  Spaziergang  in  unübersehbare  Gebiete  (Pro- 
stitution, Pauperismus)  zu  machen.  Bildungsstätten  sind  diese 
Animierkneipen  sicherlich  nicht.  Aber  man  kann  sich  auf  den 
Standpunkt  stellen : Wenn  die  Prostitution  in  allen  ihren  übrigen 

Formen  und  Nuancen  blüht,  wenn  Bordelle  geduldet  werden,  so  ist 
es  unlogisch  und  inkonsequent , die  Animierkneipen  unmöglich 
machen  zu  wollen. 

Geber  die  Verbreitung  der  Animierkneipen  und  der  übrigen 
Wirtshäuser  mit  dem  Zwecke,  den  Gästen  zu  ermöglichen , sich 
mit  den  Kellnerinnen  in  der  soeben  beschriebenen  Weise  zu  amü- 
sieren, lassen  sich  keine  genauen  Angaben  machen.  Die  Kommission 
für  Arbeiterstatistik  hat  diese  Dinge  unberücksichtigt  gelassen, 
Kellnerinnen  von  Animierkneipen  — man  darf  wohl  sagen : leider  — 
nicht  vernommen.  Soviel  wird  man  sagen  können:  Es  handelt  sich 
hier  um  eine  spezifisch  norddeutsche  Erscheinung.  In  Norddeutsch- 
land kommt  diese  Art  Wirtshäuser  in  den  Grofs-  und  Mittelstädten 
vor,  bis  herab  zu  Städten  von  8 — ioooo  Einwohnern.  Sie  lenken 
hier  die  öffentliche  Aufmerksamkeit  in  einem  Grade  auf  sich,  dafs 
die  Lokale  mit  harmloser  Mädchenbedienung  daneben  verschwinden. 
Auch  in  Mittel-  und  Westdeutschland  machen  sie  sich  in  den 
gröfseren  Städten  bemerkbar.  In  Bayern  sind  sie  eine  seltene  Er- 
scheinung. 

Die  Kellnerin  der  Animierkneipe  mag  das  bedauernswürdigste 
Geschöpf  der  Welt  sein,  das  Ergebnis  unglücklicher  Veranlagung 
und  elender  sozialer  Zustände,  man  thut  ihr  aber  kein  Unrecht, 
wenn  man  sagt:  sie  gehört  der  Prostitution  zu  und  kommt  auch 
meistens  von  ihr  her.  Die  Animierkneipe  kann  für  sie  keine  sitt- 
liche Gefahr  mehr  bilden,  wohl  aber  bildet  sie  selbst  ein  stehendes 
Kapitel  in  dem  Katalog  der  Gefühls-  und  Geschmacksroheiten  des 
„Bildungsphilisters,“  die  unserer  Kultur  noch  immer  das  Gepräge 
des  Barbarischen  geben. 

Ganz  anders  der  Typus  der  „Münchener  Kellnerin“!1) 
Diese  tritt  gewöhnlich  mit  16  bis  17  Jahren  in  das  Geschäft  ein, 
wie  jede  Arbeiterin.  Wenn  sie  frühzeitig  „fallt",  so  teilt  sie  darin 
nur  das  Los  fast  aller  Mädchen,  die  selbst  ihr  Brot  verdienen  und 


*)  Bei  Würdigung  des  Nachfolgenden  beachte  man,  dafs  cs  in  München  nach 
der  Statistik  von  1895  2766  Kellnerinnen  und  nur  930  Kellner  (zum  gröfsten  Teil 
Hotel  kcllner  und  Kellner  1 e h r 1 i n g c)  gibt. 

Archiv  für  so«.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVII.  9 


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'3° 


Arthur  Cohen, 


daraus  das  Recht  ableiten,  ihre  eigene  Vorschungzu  spielen.  Wenn 
sie  den  Klippen  ihres  Berufes  nicht  gewachsen  ist,  wenn  sie  körper- 
lich und  psychisch  verkommt,  so  ist  sie  allein  es,  die  darunter 
leidet.  Die  „arme,  verführte  männliche  Jugend“,  die  man  so  gerne 
gegen  die  Kellnerinnen  ausspielt,  darf  keinesfalls  auf  ihr  Konto  ge- 
schrieben werden. 

Nun  wird  als  Zeichen,  dafs  die  Mädchenbedienung  einen  un- 
lauteren Zweck  hat,  auch  der  häufige  Wechsel  der  Kellne- 
rinnen, sowie  der  Umstand  angesehen,  dafs  nur  junge  und 
hübsche  Mädchen  engagiert  werden.  Und  es  wird  be- 
hauptet, dafs  diese  Merkmale  auch  bei  Lokalen  mit  „solider  Mädchen- 
bedienung" zutreffen.  Aber  auch  «hierbei  laufen  Uebertreibungen 
und  schiefe  Vorstellungen  unter. 

Dafs  die  Kellnerinnen  häufig  ihre  Stellen  wechseln,  ist  richtig. 
Aber  auch  bei  den  Kellnern  ist  dies  der  Fall,  und  gerade  in  der 
Statistik  der  Dienstzeiten  tritt  der  Unterschied  zwischen  solider  und 
unsolider  Mädchenbedienung  deutlich  hervor. 

Bei  der  Erhebung  der  Kommission  für  Arbeiterstatistik  *)  von 
1893  befanden  sich  37  Proz.  der  Kellner  und  57  Proz.  der  Kell- 
nerinnen erst  drei  Monate  oder  noch  kürzere  Zeit  in  Stellung. 
In  Berlin  67  Proz.  der  Kellnerinnen,  in  Bayern  r.  R.  dagegen  nur 
47  Proz.,  in  München  nur  43  Proz.,  also  nicht  viel  mehr  (relativ), 
als  Kellner  im  Reich. 

Der  anstrengende  Dienst  in  den  heifsen,  schlecht  ventilierten, 
raucherfullten  Lokalen  läfst  den  Stellenwechsel  wegen  der  gewöhn- 
lich damit  verbundenen  Freizeit  in  einem  rosigen  und  dem  Be- 
urteilenden in  einem  milden  Lichte  erscheinen.  Dazu  kommen  die 
häufigen  Streitigkeiten  zwischen  Arbeitgeber  und  Arbeiter,  sowie 
das  pekuniäre  Interesse  der  Stellenvermittler  an  der  Lebhaftigkeit 
des  Arbeitsmarktes  — alles  Umstände,  welche  auf  Abkürzung  der 
Dienstzeit  hinwirken.  Dafs  die  weiblichen  Arbeiter  ihre  Stelle 
häufiger  wechseln  als  die  männlichen,  ist  eine  Erfahrung,  die  man 
auch  in  anderen  Berufen  machen  kann. 

Dafs  der  häufige  Wechsel  der  Kellnerinnen  in  dem  Wunsche 
der  Wirte  seinen  Grund  hat,  den  Gästen  immer  „frische  Ware“, 
wie  man  sich  geschmackvoll  ausdrückt,  zu  bieten,  ist  eine  Behaup- 
tung, die  sich  in  dieser  Allgemeinheit  nicht  aufrecht  erhalten  läfst. 
In  den  Animierkneipen  mag  eine  Dienstzeit  von  14  Tagen  bis 

')  Tabelle  XII  der  Erhebungen  Teil  I. 


I 


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Der  Entwurf  von  Bestimmungen  über  die  Beschäftigung  der  Gastwirtsgehilfen.  |^j 

I Monat  das  gewöhnliche  sein.  Dem  Müncheuer  Bierphilister,  einem 
ausgesprochenen  Gewohnheitsmenschen,  macht  es  sicherlich  kein 
Vergnügen,  ein  „neues  Gesicht"  zu  sehen  und  es  würde  ihm  gewifs 
den  Aufenthalt  am  Stammtisch  verleiden,  wenn  er  alle  paar  Wochen 
eine  Neueintretende  an  seine  kleinen  Wünsche  und  Bedürfnisse  ge- 
wöhnen müfste. 

Was  nun  die  Behauptung  betrifft,  dal's  nur  hübsche  undjunge 
Kellnerinnen  angestellt  werden,  so  ist  sie  bei  einem  Teil  der  Lokale 
in  München  richtig,  wenn  man  sic  negativ  fafst:  dafs  keine  häfs- 
lichen  und  alten  Kellnerinnen  angestellt  werden.  Die  Besitzer  der 
Ca fe- Res t au  ra n ts  in  München  sehen  in  den  letzten  Jahren  mehr 
und  mehr  auf  ein  „angenehmes  Aeufsere“  der  zu  engagierenden  Kellnerin ; 
aber  das  ist  nicht  so  zu  verstehen,  dafs  man  durch  die  Anwesenheit 
von  Beautes  auf  die  Frequenz  des  Lokals  einzuwirken  beabsichtigt, 
sondern  was  man  will,  ist:  eine  repräsentable  Erscheinung.  Dafs 
möglichst  junge  Kellnerinnen  engagiert  werden,  ist  ebenfalls 
eine  Uebertreibung ; das  Wahre  an  der  Sache  ist  nur,  dafs  man 
nicht  gerne  über  ein  gewisses  Alter  (etwa  Ende  der  Zwanziger) 
hinausgeht.  Innerhalb  dieser  Grenzen  erhalten  die  Tüchtigeren  und 
Geübteren  den  Vorzug  (oder  die  von  den  Verdingerinnen  Prote- 
gierten, d.  h.  die  Zahlungsfähigsten).  Wer  darin  eine  Unsittlichkeit 
erblickt,  wenn  man  eine  hübsche  Kellnerin  lieber  sieht  als  eine 
häfsliche,  und  wenn  man  sich  mit  dem  bedienenden  Mädchen  in 
ein  Gespräch  einläfst,  das  dem  leichtlebigen  süddeutschen  Volkstum 
entsprechend  ein  paar  harmlos  leichtfertige  Bemerkungen  enthält, 
dem  ist  freilich  nicht  zu  helfen,  dem  werden  die  Münchener  und  die 
norddeutschen  Kellnerinnen  immer  wesenseins  sein.  Nicht  ohne 
Einflufs  auf  die  Ansprüche  an  das  Aeufsere  der  Kellnerinnen  ist 
übrigens  der  Fremdenverkehr  gewesen,  überhaupt  das  Eindringen 
fremder,  namentlich  norddeutscher  Filemente  in  die  Be- 
völkerung. Anders  als  in  den  Cafe-Restaurants  sieht  das  Kellnerinnen- 
material in  den  Brauhäusern  und  in  den  Wirtshäusern  der 
Arbeiterviertel  aus.  Hier  kann  man  die  ältesten  und  abscheu- 
lichsten F'raucnzimmcr  finden,  an  denen  auch  der  wütendste  Sitt- 
lichkeitsfanatiker nichts  auszusetzen  hätte.  Dies  ist  ein  Zeichen, 
dafs  der  Einheimische  von  der  Kellnerin  nichts  will,  als  dafs  er  gut 
bedient  wird.  Die  paar  gemütlichen  Witze,  die  er  mit  ihr  macht, 
haben  nur  accidentielle  Bedeutung. 

Vom  Sittlichkeitsstandpunkte  ist  also  dieKellne- 
rinnenfragc  in  Süddeutschland  eine  ganz  andere,  als 

9* 


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132 


Arthur  Cohen 


in  Norddeutschland.  Es  giebt  zwar  noch  immer  Leute,  welche 
das  verneinen.  So  behauptet  der  Generalsekretär  der  deutschen 
Sittlichkeitsvereine,  Henning,  in  einer  von  diesen  herausgegebenen 
„Denkschrift  über  das  Kellnerinnenwesen" ')  S.  7 : „Endlich  sind  die 
vielgerühmten  süddeutschen  Verhältnisse  in  bezug  auf  weibliche 
Bedienung  keineswegs  besser  zu  nennen  als  in  Norddeutschland,  nur 
einige  Nebenumstände  und  die  „Gewohnheit"  lassen  sie  besser  er- 
scheinen als  sie  sind."  Und  worauf  gründet  sich  dieses  Ver- 
dammungsurteil? Auf  eine  Enquete  über  das  Kellnerinnenwesen, 
welche  die  „Konferenz  der  deutschen  Sittlichkeitsvereine"  im  Jahre 
1894,  mit  Hilfe  meist  geistlicher  Mitarbeiter,  veranstaltet  hatte,  und 
welche  besonders  zum  Zwecke  gehabt  hat,  die  Unterschiede  zwischen 
Nord-  und  Süddeutschland  festzustellen,  namentlich  in  der  Richtung, 
ob  die  weibliche  Bedienung  in  Süddeutschland  den  guten  Rut  ver- 
diene, den  sie  bei  Vielen  habe.  Es  liefen  aber  aus  ganz  Deutsch- 
land nur  27  Antworten  ein,  und  darunter  befinden  sich  nur  sechs 
aus  Süddeutschland,  aus  Bayern  r.  R.  keine!  Aus  diesem,  wie  in 
der  „Denkschrift"  selbst  zugestanden  wird  (S.  2),  „durchaus  ungenügen- 
den" Material  leitet  deren  Verfasser  die  Berechtigung  ab  (S.  7),  das 
Kellnerinnenwesen  als  „eine  Vorstufe  zur  gewerbsmäfsigen  Unzucht, 
im  Grunde  genommen  diese  selbst"  zu  bezeichnen  *),  und  damit 
tausenden  von  emsigen,  schwer  arbeitenden  Frauen  einen  Makel 
aufzudrücken.  Ist  das  wahrhaftig,  ist  es  sittlich  ? 

So  verschieden  aber  das  sittliche  Niveau  der  süddeutschen  und 
der  norddeutschen  Kellnerinnen  im  allgemeinen  ist,  so  ist  es  anderer- 
seits ein  Irrtum3),  wenn  man  meint,  dafs  auch  die  Arbeits- 
bedingungen der  süddeutschen  Kellnerinnen4)  gün- 
stigere seien  als  die  ihrer  norddeutschen  Kolleginnen, 

*)  Kommissionsverlag  Wallmann,  Leipzig.  20  S. 

')  Die  kleinen  Städte  und  das  „Wirtstöchterlcin“  werden  dabei  natürlich  wieder 
ausgenommen.  „Die  vagierende  Prostitution  und  weibliche  Bedienung  gehören  zu- 
sammen. Wir  denken  zwar  nicht  an  das  ehrsame  (!)  Wirtstöchterlcin,  welches  uns 
in  den  Gasthäusern,  in  Dörfern  und  Städten  die  Erfrischungen  reicht  (!),  sondern 
an  diejenigen  Frauenzimmer  (!),  welche  den  Kellncrinnendienst  \!)  als  ihren  Beruf  (!) 
ergreifen“  (C  itat  aus  „Denkschrift“  etc.  S.  14). 

3)  Vgl.  meine  Abhandlung  „Die  Lohn-  und  Arbeitsverhältnisse  der  Münchener 
Kellnerinnen“  in  diesem  „Archiv“  5.  Bd.  1892  namentlich  S.  103  fr. 

4)  Leber  die  Arbeitsbedingungen  der  Münchener  Kellnerinnen  und  über  ihre 
wirtschaftliche  und  soziale  Lage  vgl.  jetzt  auch  Trefz,  Das  Wirtsgew.  in  München, 

1899,  S.  178  ft. 


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Der  Entwurf  von  Bestimmungen  Uber  die  Beschäftigung  der  Gastwirtsgehilfen.  133 


ja,  dafs  dieselben  besonders  rosig  seien.  Die  Reichserhebung  hat 
diese  Illusion,  welche  namentlich  in  denjenigen  süddeutschen  Kreisen 
weit  verbreitet  war,  die  von  der  Annahme  ausgehen,  dals  im  Süden 
alles  besser  sei  wie  int  Norden,  endgültig  zerstört.  *) 

Die  Arbeitszeit*)  der  Kellnerinnen  beträgt: 


12 

Stunden 

und 

weniger 

mehr  als 

12  bis  14 

14  bis  16  j 16  bis  18 

18 

Stunden 

im  nordöstlichen  Deutschland 
im  nordwestlichen  Deutschi, 
in  Mitteldeutschland  . . . 

in  Süddeutschland  .... 

bei  8,7  "0 
>8.4  .. 
..  > .5  .. 
„ > ,8  „ 

bei  40,7  °/0 
„ 28,9  „ 
,,  >1,4  .. 
„ 9.8  „ 

1 

bei  41,6%  bei  8,3% 

„ 46,8  „ 5,9  .. 

„ 52.9  .•  ..  32,9  „ 
„ 56,9  ..  1 ..  3>i>  .. 

bei  0,7  °/0 

11  n 

„ >.3 .. 
„ 0,4 

Rcichsdurchschnitt  .... 

„ 5.°  .1 

„ >9,3  .. 

„ 51.8  .,  ..  23,4  „ 

..  °.5  .. 

Die  Arbeitszeit  bewegt  sich  also  in  Mittel-  und  in  Süddeutsch- 
land über  dem  Reichsdurchschnitt,  im  Norden  £)eutschlands  unter 
demselben.  Wenn  sich  dieses  Ergebnis  auch  nicht  zu  Gunsten 
der  norddeutschen  Verhältnisse  verwerten  lässt,  weil  es  zum  Teil 
davon  herrührt,  dass  in  den  Animierkneipen  die  „Arbeit“  sehr  spät 
am  Tage  beginnt,  so  zeigt  es  doch  die  Grundlosigkeit  opti- 
mistischer Vorstellungen  in  Beziehung  auf  die  Arbeitszeit  der 
Kellnerinnen  in  Süddeutschland:  1/a  der  Kellnerinnen  ist  hier 
mehr  als  16  Stunden  im  Tage  beschäftigt.  — 

Die  Vorschläge  zur  Beseitigung  der  sittlichen 
Mifsstände  im  Kellnerinnenwesen,  die  bis  jetzt  gemacht 
worden  sind,  bewegen  sich  zum  Teil  auf  dem  Gebiete  der  Ge- 
werbepolizei. 

So  hat  der  schon  zitierte  Anonymus  (Verwaltungsrichter)  in 


*)  Vgl.  auch  Münchener  Medizinische  Wochenschrift  1901  S.  37 1 : „Das  Material 
der  Münchener  Orlskrankenkassc  für  das  Beherbcrgungs-  und  Erquickungsgewerbe 
ist  ganz  anders  geartet  wir  bei  den  übrigen  Kassen : Vorzüglich  weibliches  Personal, 
seit  früher  Jugend  angestrengt,  Fehlen  der  Nachtruhe  und  nötigen  Erholung,  be- 
ständiger Aufenthalt  in  schlecht  ventilierten  Räumen,  unverständiger  Lebenswandel, 
Unterernährung  u.  s.  w.  Auf  diese  Umstände,  in  welchen  die  Ursache  des  hohen 
Krankenstandes  in  erster  Linie  zu  suchen  ist,  haben  die  Aerzte  wiederholt  hinge- 
wiesen.“ 

*}  mit  Einschlufs  der  Arbeitspausen. 


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134 


Arthur  Cohen 


Schmollers  Jahrbuch  ')  vorgeschlagen,  den  Behörden  die  Befugnis  zu 
geben,  die  Erteilung  der  Schankkonzession  „von  der  Bedingung  abhängig 
zu  machen,  dafs  zur  Bedienung  der  Gäste  keine  Personen  weiblichen 
Geschlechts  oder  nur  gewisse  von  den  Behörden  zu  bezeichnende 
Personen  weiblichen  Geschlechts  verwendet  werden".  Gegenwärtig 
ist  das  infolge  §41  der  Gewerbeordnung  5)  unmöglich.  Die  Polizei- 
behörde kann  z.  B.  bei  Erteilung  der  Konzession  nicht  zur  Be- 
dingung machen,  dafs  keine  bisherige  Prostituierte  als  Kellnerin  an- 
gestellt wird.  Diesen  Rechtszustand  hat  offenbar  auch  der  Verein 
gegen  den  Mifsbrauch  geistiger  Getränke  im  Auge,  wenn  er  eine 
gesetzliche  Bestimmung  .will  des  Inhalts*):  „In  Gast-  und  Schank- 
wirtschaften sind  als  Kellnerinnen  nur  Mädchen  oder  Frauen  zu- 
zulassen und  zu  beschäftigen,  welche  . . . durch  eine  Bescheinigung 
der  zuständigen  Behörde  nachgewiesen  haben,  dafs  gegen  sie  in 
sittlicher  Beziehung  Bedenken  nicht  vorliegen  . . . Die  Landes- 
polizeibehörden  . . . können  . . für  bestimmte  Wirtschaften  auf  Wider- 
ruf und  für  besondere  Zeiten  und  Gelegenheiten  Ausnahmen  zu- 
lasscn.“  Aber  schon  die  Fassung  des  Vorschlags  zeigt  dem  Leser, 
wie  schwierig  es  ist,  das  Personal  der  Animierkneipen  und  der- 
artiger Lokale  zu  säubern,  ohne  die  wirtschaftliche  Existenz  und- 
den  guten  Ruf  von  tausenden  weiblicher  Arbeiter  den  Polizei- 
behörden auf  Gnade  und  Ungnade  zu  überliefern.  Gegen  dieses 
Bedenken  hält  auch  der  Vorschlag  des  Autors  des  Aufsatzes  in 
Schmollers  Jahrbuch  nicht  stand.  Soll  man  zulassen,  dafs  die  Poli- 
zeibehörden das  Vorleben  einer  jeden  Kellnerin  untersuchen,  oder 
auf  welche  andere  Weise  sollen  sie  die  Aufgabe  erfüllen,  die  ihnen 
eine  derartige  gesetzliche  Bestimmung  auferlegen  würde? 

Der  Verein  gegen  den  Mifsbrauch  geistiger  Ge- 
tränke verlangt  auch,  dafs  die  Kellnerinnen  „während  der  Beschäfti- 
gung sicheines  untadeligen  Rufes  erfreuen“  (!) ; widrigenfalls  soll  dein 
Wirt  die  Konzession  entzogen  werden  können.  Wenn  das  nur  ein 
ungeschickter  Ausdruck  ist  für  den  Gedanken,  dafs  den  Wirt  nicht 
nur  die  Förderung  wirklicher  Unsittlichkeiten,  sondern  auch  die  Förde- 
rung blofser  Unkeuschheiten  den  Verlust  der  Konzession  kosten 
soll,  so  ist  darauf  zu  entgegnen,  dafs  das  Gebiet  der  Unkeuschheiten 

')  Die  Konzcssionicrung  des  Schankbetriebes  in  Preufsen,  1890,  S.  522  ff. 

7)  Satz  2 : „In  der  Wahl  des  Arbeit*-  und  Hülfspersonals  finden  keine  anderen 
Beschränkungen  statt  als  die  durch  das  gegenwärtige  Gesetz  fcstgcstellten.“ 

*)  Protokoll  der  15.  Jahrcsvcrs.  in  Heidelberg  1898  S.  44  ff. 


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Der  Entwurf  von  Bestimmungen  über  die  Beschäftigung  der  Gastwistsgehilfen.  \^z 

kein  so  fest  abgegrenztes  ist,  dafs  dieser  Begriff  oder  verwandte  Be- 
griffe polizeirechtlich  verwertet  werden  könnten.  Andere  Vor- 
schläge desselben  Vereins  gehen  dahin:  es  soll  verboten  sein, 
Frauenspersonen,  welche  noch  nicht  18  Jahre  alt  sind,  als  Kell- 
nerinnen zu  beschäftigen ; ferner,  die  Kellnerinnen  nach  1 1 Uhr 
Abends  zur  Bedienung  der  Gäste  zu  verwenden,  oder  ihnen  auch 
nur  den  Aufenthalt  im  I.okal  zu  gestatten. 

Ebenso  forderten  einige  badische  Sittlichkeitsvereine  (Verein 
der  Freundinnen  junger  Mädchen  u.  s.  w.)  in  einer  Eingabe  an  den 
badischen  Landtag1):  i.  dafs  kein  Mädchen  unter  21  Jahren  sich 
dem  Kellneijinnenberufe  solle  widmen  dürfen ; 2.  dafs  die  Arbeits- 
zeit der  Kellnerinnen  nicht  länger  als  bis  io  höchstens  n Uhr 
nachts  solle  ausgedehnt  werden  dürfen.  — ln  der  allgemeinen  Kon- 
ferenz der  deutschen  Sittlichkeitsvereine  vom  14.  Februar  1900 
wurde  beschlossen , diese  Forderungen  durch  eine  Petition  an  die 
Reichsbehörden  zu  unterstützen.  Die  Petition  ist  auch  abgegangen.*) 

Im  Vergleich  zu  diesen  weitgehenden  lediglich  durch  die  Be- 
sorgnis um  das  sittliche  Heil  der  Kellnerinnen  im  besonderen  und 
des  Publikums  im  allgemeinen  eingegebenen  Wünschen  nehmen 
sich  die  eigentlich  sozialpolitischen  Vorschläge  der 
genannten  Körperschaften  sehr  bescheiden  aus.  Der  Verein  gegen 
den  Mifsbrauch  geistiger  Getränke  will  gesetzliche  Sicherung 
einer  ununterbrochenen  7stündigen  Nachtruhe  der  Kellnerinnen; 
die  badischen  Vereine  wollen  eine  ununterbrochene  8 ständige 
Schlafzeit  der  Kellnerinnen,  einen  freien  Nachmittag  in  der  Woche 
und  Freigebung  des  Sonntag  Vormittag  bis  1 1 Uhr.  Das  weitere 
Verlangen  der  badischen  Vereine,  dafs  jeder  Wirt  bestraft  werden 
soll,  der  eine  Kellnerin  ohne  bestimmten  Lohn  anstellt,  ist  nur  pla- 
tonischer Natur. 

Sehr  bezeichnend  für  den  Geist,  der  die  Leute  beseelt,  die  so 
leichtherzig  mit  den  Erwersbedingungen  einer  ganzen  Bevölkerungs- 
klasse umspringen,  ist  der  übliche  Hinweis  auf  den  Dienstboten- 
mangel,  den  die  bösen  Kellnerinnen  mitverschulden.  So  heilst  es 
in  der  erwähnten  Petition  der  badischen  Vereine:  „Wenn  Mädchen 
in  einem  Alter  von  16  Jahren  und  darunter,  wie  das  häufig  der 
Fall  ist,  in  Wirtschaften  eintreten,  dann  gewöhnen  sie  sich  so  sehr 
an  das  freie  ungebundene  Leben,  dafs  sie  fast  nie  mehr  in  einen 


l)  Verh.  der  Ständevers.  1895/96.  Beilagenheft  4 zu  den  Prot,  der  2.  K.  S.  1 73  fl. 
*)  Verhandl.  XV1Ü  2. 


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136 


Arthur  Cohen, 


Privatdienst  einzutreten  wünschen,  auch  selten  mehr  zu  einem 
solchen  verlangt  werden  oder  noch  zu  gebrauchen  sind".1)  Und 
der  Münchener  Landesvorstand  des  Vereins  der  Freundinnen  junger 
Mädchen  will,  in  einer  Petition  an  den  Reichstag,  gar:  dafs  Mäd- 
chen unter  20  Jahren  die  Ausübung  des  Kellncrinnenberufes  nicht 
gestattet  werden  soll,  wenn  sie  nicht  ein  Zeugnis  über 
mehrjährige  (!)  Hausarbeit  vorlegen  können. 

Während  hier  Sozialpolitik  getrieben  wird  im  Dienste 
einer  gewissen  Weltanschauung  — und  achl  wie  dilettan- 
tisch — , werden  beinahe  dieselben  Forderungen  von  einer  ganz 
anderen  Seite  geltend  gemacht,  nicht  von  Verfechtern  eines  Ideals, 
sondern  von  Vertretern  eines  ganz  bestimmten  materiellen  Inter- 
esses, eines  Klasseninteresses.  Die  vom  Kellnerkongresse  in 
Berlin  (1900)  beschlossene  Petition  enthält  nämlich  die  Forderung: 
„Weibliche  Personen  unter  18  Jahren  sollen  nicht  zur  Bedienung 
der  Gäste  zugelassen  werden;  im  übrigen  soll  das  weibliche  Per- 
sonal von  abends  10  Uhr  bis  morgens  6 Uhr  in  die  Wirtschafts- 
räume, die  dem  Verkehr  der  Gäste  dienen,  keinen  Zutritt  haben."*) 

Die  männlichen  Kellner  sind  nämlich  in  der  Kellnerinnen- 
frage in  zwei  Lager  gespalten.  Die  meisten  Kellner  (es  sind  mehr 
die  unorganisierten)  folgen  hierin  ihrem  Klasseninstinkt:  sie  sehen 
in  der  Mädchenbedienung  nur  den  unlauteren  Wettbewerb,  sie  em- 
pfinden einen  tiefgründigen  Hafs  gegen  die  armen  Geschöpfe,  die 
ihnen  einen  grofsen  Platz  an  der  Futterkrippe  wegnehmen  und  das 
soziale  Ansehen  des  Berufs  so  tief  herabdrücken,  einen  Hafs,  wie 
ihn  nur  ein  in  den  gedrücktesten  Verhältnissen  lebender  Familien- 
vater gegen  seine  Konkurrenten  empfinden  kann.  Das  Verbot  der 
Bedienung  von  Gästen  durch  weibliche  Personen  bei  Nacht  gilt 
ihnen  nur  als  Mittel  zum  Zweck:  der  Beseitigung  dieser  unlauteren 
Konkurrenz.  Die  intelligenteren  Kellner  aber  denken  in 
dieser  heiklen  Sache  modern  und  vernünftig.  Sie  betrachten  die 
Kellnerinnen  als  Kollegen , die  es  noch  schlimmer  haben,  wie 
sie  selbst,  sie  verkennen  nicht  den  ursächlichen  Zusammenhang 
zwischen  gedrückter  wirtschaftlicher  Lage  und  tiefem  sittlichem 
Niveau.  Die  Beschlüsse  des  Kongresses  zur  Kellnerinnenfrage 


J)  Die  Petition  selbst  liegt  mir  nicht  vor.  Ich  citicrc  nach  dem  Berichte  der 
Petitionskommission. 

*)  Diese  Fassung  wurde  gewählt,  um  zu  verhindern,  dafs  die  Kellnerinnen 
nach  Beendigung  der  Tagesarheit  (scheinbar)  als  Gäste  dableiben. 


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Der  Entwurf  von  Bestimmungen  über  die  Beschäftigung  der  Gastwirtsgehilfen.  137 

beruhten  auf  einem  Kompromifs  zwischen  den  beiden  Rich- 
tungen. Dafs  nämlich  die  Forderung  des  Ausschlusses  der  Nacht- 
arbeit von  Kellnerinnen  nicht,  wie  man  meinen  könnte,  den 
Schutz  der  Kellnerinnen  vor  Ausbeutung  ihrer  Arbeitskraft,  son- 
dern den  Schutz  der  männlichen  Kellner  vor  der  Konkurrenz 
der  Kellnerinnen  zum  Zwecke  hat,  geht  daraus  hervor,  dafs  der 
Kongrefs  keine  besonderen  Wünsche  in  Beziehung  auf  den  Schutz 
des  übrigen  weiblichen  Wirtschaftspersonals  hat.  Auch  er  will  zu- 
geben, dafs  Mädchen  im  Alter  von  16  bis  zu  18  Jahren,  soweit  sie 
nicht  zur  Bedienung  der  Gäste  verwendet  werden,  in  Beziehung  auf 
die  Arbeitszeit  keinen  Vorsprung  haben  sollen  vor  den  erwachsenen 
männlichen  Gastwirtsgehilfen.  Es  geht  auch  aus  der  Begründung 
hervor,  welche  dem  Kompromifsantrag  auch  von  solchen  Rednern 
zu  teil  geworden  ist,  die  zur  vernünftigen  Minorität  gehören.  *) 
Dafs  der  Ausschlufs  der  Kellnerinnen  von  der  Bedienung  der  Gäste 
nach  10  Uhr  abends  die  Kellnerinnenbedienung,  wie  wir  unten 
zeigen  werden,  unmöglich  machen  würde,  mufste  man  auf  dem 
Kongresse  wissen:  Wer  das  Mittel  will,  mufs  auch  den  Zweck 
wollen.  *) 

Wie  eine  ironische  Antwort  auf  diesen  Beschlufs  des  Ge- 
hilfenkongresses klingt  ein  Beschlufs  des  Bundes  deutscher  Gastwirte 
(Heidelberg  1900):  Gemeinsam  mit  dem  Bunde  der  Landwirte 
und  dem  deutschen  Gastwirtsverband  beim  Reichstag  um  das  Ver- 
bot der  Fabrikarbeit  und  der  Beschäftigung  in  kaufmännischen, 
besonders  Warenhausbetrieben  für  Mädchen  unter  17  Jahren  zu 
petitionieren.  Wenn  die  Kellner  die  weibliche  Arbeit  bekämpfen, 
um  das  Angebot  von  Arbeit  einzuschränken , so  wünschen  die 

*)  Z.  B.  Prot.  S.  94:  „Das  Verbot  der  Beschäftigung  der  Kellnerinnen  nach  io  Uhr 
Abends  wird  von  grofser  Wirksamkeit  sein;  denn  in  kleineren  Wirtschaften  kann 
wohl  der  Wirt  selbst  von  io  bis  12  Uhr  Nachts  die  Gäste  bedienen,  nicht  aber  in 
den  grofsen  Lokalen ; da  müfste  er  eben  männliche  Geholfen  einstelle  n“. 

*)  ln  einer  Münchener  Kellncrinncnvcrsammlung  wurde  ein  Flugblatt  mit 
folgendem  Inhalt  verteilt:  „Kolleginnen!  Unsere  männlichen  Kollegen,  die  Gast- 
wirtsgehülfcn,  haben  die  Forderung  aufgestellt,  dafs  Kellnerinnen  nach  io  Uhr 
Abends  nicht  beschäftigt  werden  dürfen.  Sie  berufen  sich  auf  die  niedere  so- 
ziale Stellung  der  Kellnerin  und  behaupten,  die  Kellnerinnen  seien  nur  dazu 
da,  die  Gäste  zu  animieren.  Kolleginnen!  so  mag  es  in  Norddcutschland  sein, 
in  München  ist  es  nicht  so!  Wir  stehen  auf  gleicher  Stufe  mit  unseren  männlichen 
Kollegen.  Unsere  Arbeit  ist  gerade  so  ehrenhaft.  Und  wir  dürfen  uns  nicht  ver- 
drängen lassen“  u.  s.  w. 


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13» 


Arthur  Cohen, 


Wirte  umgekehrt  eine  künstliche  Steigerung  des  Angebotes  weib- 
licher Arbeitskräfte  in  ihrem  Gewerbe:  Sozialpolitik  der  Er- 
langung billiger  Arbeitskräfte  — ein  würdiges  Gegenstück 
zur  Sozialpolitik  aus  Brotneid  1 J)  — 

Was  die  Vorschläge  betrifft,  die  Ausübung  des  Kellnerinnen- 
berufes von  Erreichung  eines  gewissen  Lebensalters  abhängig  zu 
machen,  so  werden  wir  später  mehr  darüber  hören.  Jetzt  wollen 
wir  uns  nur  mit  der  anderen  vorgeschlagencn  MaCsregel  beschäf* 
tigen,  die  Kellnerinnen  von  der  Bedienung  zur  Nacht- 
zeit auszuschliefsen.  Es  wird  hierfür  von  den  Freunden  der 
Sittlichkeit  vorgebracht:  In  später  Abendstunde  steige  die  sittliche 
Gefahr  für  die  Mädchen,  da  die  Gäste  durch  das  lange  Trinken 
nicht  mehr  genügend  Herr  ihrer  selbst,  die  Mädchen  erschöpft  und 
weniger  widerstandsfähig  seien.  •)  Dies  mag  mitunter  der  Fall  sein, 
aber  mit  demselben  Rechte  kann  man  umgekehrt  fragen:  Glaubt 
man,  dafs  die  jungen  Männer,  die  die  Cafes  der  Mädchenbedienung 
wegen  aufsuchen,  als  Lämmer  das  Lokal  betreten  und  erst  im 
Laufe  der  Stunden,  also  etwa  um  1 1 Uhr  den  Höhepunkt  ihrer 
Frivolität  erreichen,  die  Bestie  in  ihnen  zum  Ausbruch  kommt? 
Glaubt  man,  dafs  die  jungen  Mädchen  am  späten  Abend,  wenn  sie 
vor  Müdigkeit  fast  umsinken,  eher  dazu  geneigt  sind,  sich  Zärtlich- 
keiten gefallen  zu  lassen,  als  etwa  beim  Frühschoppen,  wo  sie  noch 
munter  sind  ? Es  ist  also  eine  Halbheit,  wenn  man  die  Kellnerinnen- 
bedienung aus  Gründen  der  Sittlichkeit  bekämpft,  sich  nur  gegen 
die  Abendbedienung  der  Mädchen  zu  wenden.  Andererseits  liegt 
die  Gefahr  nahe,  dafs  der  Ausschlufs  der  Mädchen  von  der  Nacht- 
arbeit ihren  Ausschlufs  aus  dem  Gewerbe  überhaupt  zur  Folge  hat. 
Das  Verbot  der  Nachtarbeit  ist  zwar  die  herkömmliche  Mafsregel 
zum  Schutze  der  weiblichen  Arbeiter,  aber  beim  Gast-  und  Schank- 
wirtschaftsgcwerbe  ist  diese  Mafsregel  aus  demselben  Grunde  unan- 
nehmbar, der  überhaupt,  wie  wir  gesehen  haben,  zur  Festsetzung 
einer  Mindestruhezeit  in  diesem  Gewerbe  hindrängt : U n r e g e 1 - 
mäfsigkeit  des  Betriebs.  Oder  ist  es  vielleicht  gerade  der 
Ausschlufs  des  weiblichen  Geschlechtes  vom  Kellnerinnenberufe, 
was  man  in  letzter  Linie  will  und  durch  eine  derartige  Mafsregel 
zu  erreichen  hofft  ? Durch  welche  Erfahrungsthatsachen  will  man 

*)  Die  Wirte  wollen  also  nicht  nur  ein  Monopol  auf  ihre  Erwcrbsgclcgenheitcn, 
sondern  auch  auf  ihre  Arbeitskräfte. 

*)  Badische  Petition  a.  a.  O.  S.  173. 


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Der  Entwurf  von  Bestimmungen  Uber  die  Beschäftigung  der  Gastwirtsgehilfen.  j jg 

ein  so  radikales  Vorgehen  rechtfertigen?  Mit  dem  Unwesen  der 
Animierkneipen?  Wir  haben  gesehen,  dafs  diese  nur  ein  lokales 
Uebel  sind.  Es  ist  ja  ganz  natürlich , dafs  die  Zustände  im 
politisch-sozialen  Zentrum  und  in  dessen  Umgebung  die  öffentliche 
Kritik  in  besonderem  Mafse  herausfordern.  Aber  die  hier  gemachten 
Beobachtungen  zu  verallgemeinern  und  zur  Beseitigung  der  Vorge- 
fundenen Mifsstände  einen  Apparat  zu  empfehlen,  dessen  Wirkung 
räumlich  weit  über  den  Sitz  des  Uebels  hinausgreifen  würde,1)  ist 
eine  zwar  häufig  geübte,  aber  darum  nicht  minder  zu  mifs- 
bi lügende  Praxis.  Die  Sozialpolitik  der  Sittlichkeitsfanatiker 
wird  dadurch  nicht  besser , dafs  sic  metropolitancr  Kurz- 
sichtigkeit entspringt.  — 

Ungünstige  Arbeitsbedingungen  üben  auf  das  weibliche  Ge- 
schlecht einen  stärkeren  Druck  als  auf  das  männliche.  Es  ist  daher 
der  Wunsch  ganz  berechtigt,  die  Schutzmafsregeln  bei  jenem 
etwas  kräftigerzu  be  m essen,  als  bei  diesem.  Der  gröfsere  Schutz 
wird  die  weiblichen  Arbeiter  um  so  leistungsfähiger  machen  und,  weit 
entfernt  die  Konkurrenzfähigkeit  des  weiblichen  Geschlechtes  gegen- 
über dem  männlichen  herabzusetzen,  dieselbe  durch  gesteigerte  Lei- 
stungener höhen").  NurdarfderSchutznichtdarinbestehen, 
dafs  man  das  weib liehe  Geschlecht  von  dem  betreffen- 
den Arbeitserwerb  ganz  ausschliefst.  Sei  es  direkt,  durch 
das  Verbot  der  Mädchenbedienung,  sei  es  durch  das  Verbot  der 
Nachtarbeit  trotz  der  Erkenntnis,  dafs  Nachtarbeit  im  Wirschafts- 
gewerbe unentbehrlich  ist.  Wohl  aber  kann  man  gewisse  besonders 
jugendliche  Altersklassen  ausschliel’sen  und  das  Jugcndschutzalter 
bei  den  Geschlechtern  differenziell  behandeln,  d.  h.  beim  weiblichen 
Geschlecht  höher  ansetzen  als  beim  männlichen.  Aber  auch  hierbei 
darf  man  nicht  mit  Sittlichkeitsprogrammen  kokettieren,  weil  man 
sonst  leicht  in  die  Gefahr  kommt,  einem  Phantom  zu  liebe 
das  Erwerbsleben  meistern  zu  wollen  und  dabei  gerade 
die  dringendsten  Forderungen  der  Sozialpolitik  zu  übersehen.  Die 
Sittlichkeit  darf  man  bei  der  Sozialpolitik  sozusagen  nur  als  Neben- 

*)  Der  Abgeordnete  Letocha  brachte  in  der  Kommission  für  Arbeiterstatistik 
vor,  dafs  er  bei  der  Einbringung  seines  Antrages  (siche  unten)  ganz  besonders 
die  in  Berlin  und  Umgebung  herrschenden  Zustände  im  Auge  gehabt  habe,  die, 
er  aus  seiner  richterlichen  Thätigkcit  näher  kennen  gelernt  habe  und  als  ganz 
schrecklich  bezeichnen  müsse  (Verhandl.  XVII  S.  16). 

*)  Vgl.  Hel.  Simon  in  der  ,,Soz.  Pr.“  Jahrgang  X Nr.  33. 


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140 


Arthur  Cohen, 


produkt  erstreben.  Sie  gleicht  dem  Glück,  das  dem  Glücksjäger 
entschlüpft,  wenn  er  es  zu  fassen  glaubt,  das  aber  ungerufen 
kommt,  wenn  man  sich  seiner  würdig  macht  und  gläubig  harrt. 
Bessert  die  Arbeitsbedingungen,  und  die  Sittlichkeit  wird  von  selbst 
kommen ! 

Der  Beschäftigung  als  Kellnerin  eine  Grenze  zu  ziehen  in  der 
Art,  dafs  besonders  jugendliche  Altersklassen  davon 
ausgeschlossen  sein  sollen1)  — das  ist  eine  Mafsregel,  die 
sich  sozusagen  von  selbst  aufdrängt.  Ks  ist  in  der  That  ein  Un- 
ding, junge  Mädchen  gleich  von  der  Volksschule  weg  in  Wirtshaus- 
lokale zu  schicken.*)  Aber  die  Grenze  erst  beim  18.  Lebensjahre 
(Antrag  der  Kommission  für  Arbeiterstatistik)  oder  gar  erst  beim 

,)  Zur  Würdigung  aller  nach  Altersklassen  differenzierten  Schutzmafsrcgeln  be- 
darf es  der  Kenntnis  der  Altersgliederung  der  geschützten  Hevölkerungsklassc. 
Man  vgl.  daher  bei  den  nachfolgenden  Ausführungen  folgende  nach  einigen  be- 
sonders wichtigen  Altersstufen  aufgebaute 


Tabelle. 

Nach  der  ßerufsstatistik  von  1895  hatten  ein  Alter  von 


im  Deutschen  Reich 

in  Bayern 

Gastwirts- 
gehilfinnen 
(C  XXII  c 2 w 
und  c 3 w) 

Kellnerinnen 
(C  XXII  c 2 w) 

Gastwirts- 
gehilfinnen 
(C  XXII  c 2 w 
und  c 3 w) 

Kellnerinnen 
(C  XXII  c 2 w) 

absolut  j relativ  1 absolut 

relativ 

absolut 

relativ 

absolut  | relativ 

bis  zu  16  Jahren 
16—18  „ 

18— io  „ 

20-30 
über  30  ,, 

»°943 
22  768 
28  889 
75  76i 
24684 

6,7 

»4,0  | 

»7.7 

46,5  ! 
»S,»  1 

1 53» 
3 534 

5289 
»9  345 
7422 

4,« 

9,6 

»4,2 

52,1 

20,0 

1 053 

2529 
3670 
»3  449 
6467 

3,9 

9,3 

»3,5 

49,5 

23,8 

543 

» »3» 

1 648 
6489 
3 3'6 

4.1 

8,6 

12,6 

49,4 

25,3 

Summe  . . . 

163  045 

100,0 

1 

37  »»» 

100,0 

27  168 

100,0  1 13  127 

100,0 

*)  Ueber  die  Folgen  der  Verwendung  fcicrtagsschulpflichtiger  Mädchen 
zur  Bedienung  der  Gäste  hat  die  Münchener  Schulbehörde  bemerkenswerte 
Beobachtungen  gemacht.  U.  a.  wird  festgestelll,  dafs  in  einem  Nachtcafe  feiertags- 
schulpflichtige  Mädchen  während  der  Karncvalzcit  regclmäfsig  täglich  19  bis  20 
Stunden  beschäftigt  werden.  Es  müsse  etwas  geschehen,  um  die  Mädchen  vor  der- 
artigen Ucbcranstrcngungen  zu  schützen  und  vor  einer  Gefahr,  die  nicht  blofs  auf 
den  Körper  wirke,  sondern  das  ganze  Seelenleben  eines  solchen  Mädchens  zu  Grunde 
zu  richten  drohe  (Münchener  Gemeindezeitung  1900  Nr.  26,  Sitzungsberichte). 


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Der  Entwurf  von  Bestimmungen  über  die  Beschäftigung  der  Gastwirtsgehilfen. 


21.  (Antrag  der  Sittlichkeitsvereine)  zu  ziehen,  geht  zu  weit.  Es 
genügt,  wenn  die  Mädchen  im  Alter  von  16  bis  zu  18  Jahren  einen 
ihrem  jugendlichen  Alter  entsprechend  erweiterten  Schutz  geniefsen, 
sie  völlig  vom  Kellnerinnenberuf  fernzuhalten,  ist  weder  nötig  noch 
ratsam  (siehe  unten). 

Es  ist  ja  schwierig,  sich  für  eine  bestimmte  Grenze  zu  ent- 
scheiden. Das  Leben  bewegt  sich  in  Übergängen.  Was  unmittel- 
bar diesseits  der  Grenze  zweckmäfeig  erscheint,  kann  nicht  unmittel- 
bar jenseits  derselben  plötzlich  als  verwerflich  angesehen  werden. 
Soviel  ist  sicher:  Erwachsenen  weiblichen  Personen  den  Zugang 
zum  Kellnerinnenberufe  zu  versperren,  ist  eine  Ungerechtigkeit  und 
eine  unvernünftige  Hemmung  der  Erwerbsthätigkeit.  Das  würde 
aber  geschehen,  wenn  man,  wie  die  Sittlichkeitsvereine  wollen,  als 
Altersgrenze  das  21.  Lebensjahr  bestimmen  würde.  Der  General- 
sekretär der  Sittlichkeitsvereine  setzt  zwar  riesige  Hoffnungen  auf 
eine  derartige  Mafsregel.  Er  meint,1)  dafs  sie  „nicht  nur  der  Un- 
zucht im  Kellnerinnengewcrbe  Einhalt  thun,  sondern  der  Prostitution 
überhaupt  nahezu  (!)  den  Todesstofs  versetzen  (!)“  würde.  Es  ist 
unnötig,  bei  einer  solchen  Begründung  länger  zu  verweilen.  Der 
Zweck  der  Altersgrenze  kann  nur  der  sein,  Mädchen,  welche  noch 
nicht  genügend  entwickelt,  noch  nicht  reif  und  widerstandsfähig  ge- 
nug sind,  von  einem  Berufe  fernzuhalten,  der  nicht  nur  gesund- 
heitlich aufserordentliche  Anforderungen  stellt,  sondern  bei  dem  auch 
Unverstand  und  schlechtes  Beispiel  so  leicht  verderblich  wirken 
können.  Ob  jenes  mit  16,  17  oder  18  Jahren  der  Fall  ist,  diese 
Frage  müfste  eigentlich  für  jedes  einzelne  Individuum  besonders  be- 
antwortet werden.  Aber  wirtschaftliche  Gründe  mahnen,  die 
Altersgrenze  nicht  zu  hoch  anzusetzen  und  lieber  die  nächsten 
darüber  liegenden  Altersklassen  mit  einem  erhöhten  Schutze  zu  um- 
geben. Es  dürfte  also  genügen,  die  Vollendung  des  sechzehnten 
Lebensjahres  als  Voraussetzung  der  Beschäftigung  als  Kellnerin  *)  zu 
bestimmen.  So  auch  die  Anträge  des  Münchener  Kellnerinnenvereins 
und  der  Münchener  Handels-  und  Gewerbekammer !),  die  man  in  dieser 
Angelegenheit  wohl  als  sachkundige  Körperschaften  betrachten 
kann.  Damit  würde  schon  ein  grofser  Fortschritt  erzielt,  der  ärger- 

*)  Denkschrift  S.  19. 

2)  Die  Beschäftigung  von  Mädchen  unter  16  Jahren  in  der  Küche  als  Koch- 
lehrlinge  oder  Küchenmädchen  unterliegt  keinen  Bedenken. 

a)  Bayer.  Handels*.  1901  Nr.  20. 


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142 


Arthur  Cohen, 


lichste  Mlisstand  würde  aus  der  Welt  geschafft,  und  die  Mädchen, 
die  sich  dazu  anschicken,  den  Kellnerinnenberuf  zu  ergreifen,  hätten 
Zeit,  sich  zuerst  einige  hauswirtschaftliche  Kenntnisse  anzueignen, 
die  ihnen  besonders  bei  einem  späteren  Wiederaustritt  aus  dem  Berufe 
dienlich  sein  können. 

Was  die  Gastwirtsgehilfinnen  im  Alter  von  16  bis 
zu  18  Jahren  betrifft,  so  wären  sie  als  jugendliche  Personen 
zu  behandeln.  Das  helfet,  es  hätten  auf  sie  dieselben  Schutzmafs- 
regeln  Anwendung  zu  finden , wie  nach  dem  Entwürfe  auf  die 
männlichen  Personen  bis  zu  16  Jahren.  Es  wäre  ihnen  also  eine 
neunstündige  Ruhezeit  zu  gewähren,  und  ihre  Beschäfti- 
gung bei  Nacht,  von  io  bis  6 Uhr,  wäre  zu  verbieten.1} 
Sic  genössen  also  einen  gröfeeren  Schutz  als  die  männlichen  Gast- 
wirtsgehilfen gleichen  Alters.  Dieser  besondere  Schutz  dürfte  sich 
aber  nicht,  wie  der  Korreferent  will,  auf  die  Kellnerinnen  be- 
schränken, sondern  er  müfste  alle  Gastwirtsgehilfinnen  (also 
auch  die  Küchenmädchen)  umfassen.  Also  nicht  Verbot  der  Bedienung 
der  (iäste  oder  des  Aufenthalts  im  Gastlokal  zur  Nachtzeit,  sondern 
Nachtruhe!  Diesen  jungen  Dingern  fehlt  die  Nachtruhe2),  nicht 
die  „Sittlichkeit" 

Die  Reichstagsabgeordneten  Hitze  (Zentrum),  Letocha  (Zentrum) 
und  Jakobskötter  (konservativ)  haben  in  der  Kommission  für 
Arbeiterstatistik  als  Mitglieder  dieser  Kommission  den  Antrag  ge- 
stellt3),  zu  bestimmen,  dafe  weibliche  Personen  im  Alter  von  18 
bis  zu  21  Jahren  nur  in  der  Zeit  von  6 Uhr  morgens  bis  1 1 Uhr 
abends  zur  Bedienung  der  Gäste  verwendet  werden  dürfen. 
(Sie  gehen  dabei  von  der  Annahme  aus,  dafe  der  Beschlufe  der 


')  Auch  die  Petition  des  Münchener  Kcllncrinnenvercins  enthält  die  Forderung: 
„zu  verbieten,  dafs  Mädchen  von  16  bis  18  Jahren  zwischen  io  Uhr  Abends  und 
6 Uhr  Morgens  beschäftigt  werden.“ 

Hei  der  Vernehmung  von  Auskunftspersonen  erzählte  eine  Münchener  „Buffet- 
dame“ i Vcrh.  XVI  92  3)  vom  Dienst  der  Wassermädchen  *)  im  prüften  Cafe  Münchens: 
„Die  Wassermädchen  kommen  in  der  Früh  um  6 Uhr  und  gehen  Nachts  zwischen 
12  und  */4 1 Uhr.  Die  Mädchen  sind  sehr  schwach  und  sehen  sehr  schlecht  aus,  sic 
schlafen  sehr  wenig.“ 

*)  Die  Wassermädchen  (Biermädchen),  meistens  bis  zu  i8  Jahren  alt, 
sind  die  Gehülfinnen  der  eigentlichen  Kellnerinnen,  der  Kassiererinnen;  diese 
werden  so  genannt,  weil  sie  allein  (nicht  ihre  Gehülfinnen)  das  Recht  haben,  von 
«lern  Gaste  das  Geld  einzukassicren. 

3i  Verband?.  XVII  16. 


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Der  Entwurf  von  Bestimmungen  über  die  Beschäftigung  der  Gastwirtsgehilfen.  143 

Kommission,  Mädchen  unter  18  Jahren  von  der  Beschäftigung  als 
Kellnerin  überhaupt  auszuschliefsen,  Gesetz  wird.)  Aber  Personen 
im  Alter  von  1 8 bis  zu  2 1 Jahren  dürften  doch  kaum  mehr  als 
jugendliche  Personen  anzusehen  sein ! Der  Antrag  ist  aber  auch 
schon  deshalb  fehlerhaft,  weil  er  eine  Vergünstigung  — oder  ist  es 
eine  Benachteiligung?  — der  Kellnerinnen  im  Alter  von  18  bis  zu 
21  Jahren  gegenüber  den  übrigen  Gastwirtsgehilfinnen  des  gleichen 
Alters  bedeuten  würde.  Die  Beschränkung  des  Antrags  auf  eine 
bestimmte  Beschäftigungsart,  als  Kellnerin,  ruft  wieder  den  Verdacht 
hervor,  dafs  es  sich  dabei  nicht  um  Arbeiterschutz  handelt,  sondern 
dafs  unter  der  Maske  der  Sozialpolitik  wieder  etwas  Sittlichkeit 
eingeschwärzt  werden  soll.  Darauf  deutet  auch  die  Begründung 
hin,  welche  die  Antragsteller  dem  Antrag  haben  zu  teil  werden 
lassen.1)  Da  müssen  wir  nun  wieder  sagen:  Die  Fernhaltung  der 
Kellnerinnen  von  der  Nachtarbeit  bildet  kein  Palladium  gegen  sitt- 
liche Gefahren,  wohl  aber  kann  sie  zu  einem  Ergebnisse  fuhren, 
das  die  Antragsteller  selbst  nicht  wollen : dafs  den  so  „Geschützten“ 
die  Ausübung  ihres  Berufes  unmöglich  gemacht  wird.  Die  Kellne- 
rinnen im  Alter  von  18  bis  21  Jahren  machen  aber  ein  volles 
Fünftel  aller  Kellnerinnen  im  Reiche  aus.  Bei  den  Mädchen  im 
Alter  von  16  bis  18  Jahren  kann  eine  solche  Bcfurchtuug  deshalb 
nicht  aufkommen,  weil  dieselben  meistens  nur  Hilfsarbeit  verrichten, 
z..B.  als  Wasser-  oder  Biermädchen,  deren  Arbeit  nicht  so  unent- 
behrlich ist,  dafs  man  nicht  in  den  Nachtstunden  darauf  verzichten 
könnte.  Die  Altersklasse  18  bis  21  Jahre  dagegen  besteht  wohl 
mit  geringen  Ausnahmen  aus  Vollkellnerinnen. 

Praktisch  die  wichtigste  Frage  des  Arbeiterinnenschutzes  im 
Gastwirtsgewerbe  ist  jedenfalls  gegenwärtig  die,  ob  die  Alters- 
grenze von  18  oder  von  löjahren  gewählt  werden  soll. 
Der  offizielle  Vorschlag  (18  Jahre)  bezieht  sich  auf  den  7.  Teil  aller 
Kellnerinnen,  während  die  Altersgrenze  von  16  Jahren  nur  den 
24.  Teil  ausschliefsen  würde.  Die  Wahl  der  Altersgrenze  von 
18  Jahren  stellt  also  eine  sehr  einschneidende  Mafsregel  dar.  Seine 
Tragweite  dürfte  aber  über  seine  ziflermäfsige  Bedeutung  noch 
hinausgehen.  Viele  von  den  jungen  Mädchen,  welche  gegenwärtig 
gleich  beim  Eintritt  in  das  Erwerbsleben  den  Kellncriunenberuf  er- 
greifen, würden  nämlich  voraussichtlich,  wenn  ihnen  der  Weg  dazu 
versperrt  sein  würde,  nach  der  Ueberschreitung  der  Altersgrenze 

')  ebenda,  vgl.  auch  oben  S.  47  Anm.  1. 


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144 


Arthur  Cohen, 


von  18  Jahren  dem  Kellnerinnenberufe  sich  nicht  mehr  zuwenden 
wollen,  sondern  in  dem  einmal  ergriffenen  Berufe  verharren. 

Aber:  „wäre  das  ein  Unglück?"  so  höre  ich  fragen. 
Ist  doch  die  gewerbliche  Lohnarbeit  des  Weibes  immer  nur  als 
notwendiges  Uebel  anzusehen,  und  gehört  doch  deren  Einschränkung 
zum  sozialpolitischen  Programm  der  Zukunft,  die  Verhinderung  der 
Fabrikarbeit  verheirateter  Frauen  sogar  zu  den  aktuellen  Forderungen ! 
Soll  man  also  nicht  schon  jetzt  damit  anfangen,  eine  Erwerbssparte 
nach  der  anderen  — „weiberrcin“  zu  machen  ? Nun  gar,  wo  es  sich 
um  eine  Arbeit  handelt,  deren  Gesundheitsschädlichkeit  feststeht, 
und  die  überhanpt  wenig  Verlockendes,  dagegen  viel  Abstofscndes 
an  sich  hat? 

Der  Ausschlufs  der  Altersklasse  16  bis  j8  vom  Kellnerinnen- 
berufe deutet  vermehrte  Konkurrenz  bei  den  andern  weib- 
lichen Berufen,  namentlich  bei  den  Handlungsgehilfinnen  und 
Heimarbeiterinnen.  Vermehrte  Konkurrenz  aber  bedeutet 
geringeren  Lohn,  überhaupt  ungünstigere  Arbeitsbeding- 
ungen. Nun  hat  man  gerade  in  der  letzten  Zeit  Schritte  unter- 
nommen, die  Arbeitsverhältnisse  der  Verkäuferinnen  und  Heim- 
arbeiterinnen zu  verbessern.  Es  liegt  gevvifs  im  sozialpolitischen 
Interesse,  die  gewerbliche  Berufsarbeit  der  Frauen  nicht  ganz  der 
Triebkraft  ihrer  Entwicklung  zu  überlassen.  Aber  mit  der  Be- 
schränkung der  weiblichen  Arbeit  in  einzelnen  Gewerben  muLs 
man  sehr  vorsichtig  sein,  weil  man  dadurch  leicht  die  Lage  der 
Arbeiter  — und  zwar  nicht  nur  der  weiblichen  sondern  auch  der 
männlichen  — in  den  Komplementärgewerben  verschlechtert.  So 
schlimm  die  Arbeitsverhältnisse  der  Kellnerinnen  sind  — solange 
die  Lage  der  Heimarbeiterinnen,  Handlungsgehilfinnen  u.  s.  w. 
nicht  eine  wesentlich  bessere  ist,  ’}  hat  man  keinen  Grund,  hemmend 
in  die  Berufswahl  einzugreifen  und  dem  Heer  der  Verkäuferinnen 
und  Heimarbeiterinnen  neue  Bataillone  anzugliedern.  Der  Ausschlufs 
der  Altersklasse  16 — 18  vom  Kellnerinnenberufe  würde  nur  die  Folge 
haben,  dafs  sich  nur  solche  Mädchen  dem  Kellnerinnenberufe  widmen 
würden,  die  in  anderen  Berufen  bereits  Schiffbruch  erlitten  haben.1) 

* * 

* 

*)  Die  „Allg.  Zig.“  meint  sogar:  „Auf  alle  Fälle  sind  die  Kellnerinnen  weit 
besser  daran,  wie  die  Mehrzahl  unserer  Ladnerinnen,  die  bei  meist  ganz  bescheidener 
Bezahlung  auch  oft  eine  zehn-  bis  zwölfstündige  Arbeitszeit  haben.“  (io.  März  1900, 
aus  Anlafs  der  Gründung  des  Kcllnerinncnvcrcins.) 

*)  Die  oben  erwähnte  Petition  der  Wirte  enthält  die  beachtenswerte  Anregung, 


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Der  Entwurf  von  Bestimmungen  über  die  Beschäftigung  der  Gastwirtsgehilfen.  145 

Wenn  wir  die  Kommissionsvorschläge  und  den  Entwurf  mit- 
einander vergleichen  (siehe  unten),  so  finden  wir,  dafs  die  Moll- 
akkorde, die  die  Kommission  angeschlagen  hat,  von  einer  ent- 
schiedeneren Tonart  abgclöst  worden  sind.  Die  Folgen  haben 
wir  schon  konstatiert:  Während  es  der  Kommission  gelungen 
ist,  die  Arbeitgeber  zufrieden  zu  stellen,  erklären  sich  dieselben 
kategorisch  gegen  den  Entwurf.  Die  Fortschrittsfreudigkeit  der 
Regierung  hat  dadurch  einen  argen  Stofs  erlitten,  denn  sie  würde 
es  natürlich  gerne  vermeiden,  gegen  den  offenen  Protest  der  Arbeit- 
geber weiter  in  der  Sache  vorzugehen.  Dazu  kommt,  dafs,  so  viel  ich 
weifs,  aufser  der  preufsischen  Regierung  bis  jetzt  (Ende  September) 
noch  kein  Bundesstaat  sich  offiziell  zur  Sache  geäufsert  hat,  also 
namentlich  die  süddeutschen  Regierungen  sich  die  Hände  noch  nicht 
gebunden  haben.  Ich  glanbe  deshalb  nicht,  dafs  es  zu  einer 
Bundesratsverordnung  kommen  wird,  denn  die  Regierungen  werden 
das  Odium  einer  „Bäckereiverordnung"  nicht  von  neuem  auf  sich 
laden  wollen.  Ich  halte  diesen  Standpunkt  für  berechtigt:  der 
Reichstag  ist  der  Platz,  wo  Interessenkämpfe  zum  Austrag  zu 
bringen  sind.  Ob  der  Reichstag  den  von  der  Regierung  einge- 
schlagenen Weg  weiter  verfolgt  und  die  Bestimmungen  des  Ent- 
wurfes ausbaut,  erscheint  fraglich.  Es  ist  möglich,  dafs  statt  einer 
Verbesserung  eine  Verwässerung  des  Entwurfes  vorgenommen  wird, 
oder  dafe  von  gewissen  Parteien  als  Preis  für  ihre  Arbeiterfreund- 
lichkeit Konzessionen  an  den  Sittlichkeitsstandpunkt  verlangt  werden. 
Es  ist  ferner  möglich,  dafs  praktisch  wichtige  Bestandteile  des 
Arbeiterschutzes  geopfert  werden  zu  Gunsten  der  Papierexistenz 
einer  undurchführbaren  Mafsregel.  Die  Regelung  der  täglichen 
Arbeitszeit  ohne  Fürsorge  für  eine  entsprechende  Aufsicht  wird 
z.  B.  immer  einen  Scheinerfolg  bilden.  Sie  hat  nur  dann  einen 
Wert,  wenn  sie  nicht  nur  das  Schlafbedürfnis,  sondern  auch  den 
Weg  ins  Geschäft  und  nach  Hause,  ferner  den  Zeitaufwand  auf 
Reinigung  und  Bekleidung  berücksichtigt,  wenig  Ausnahmen  enthält 
und  mit  einer  sorgfältigen  Aufsicht  verbunden  wird.  Wir  würden 
es  daher  beklagen,  wenn  der  Reichstag  z.  B.  die  neunstündige 
Ruhezeit  acceptieren,  durch  diese  Leistung  aber  sich  der  Aufgabe 

die  Bestimmung  des  Mindcstaltcrs  der  Kellnerinnen  den  einzelnen  Staaten  zu 
überlassen.  Auf  diese  Weise  könne  die  Verschiedenheit  des  Kellnerinnen  Wesens 
in  den  verschiedenen  Teilen  des  Reiches  berücksichtigt  werden.  (Das  Reich  könnte 
und  müfste  ra.  E.  dennoch  ein  Mindestalter  von  16  Jahren  fcstsctzen ; darüber  hinaus- 
zugehen, wäre  Sache  der  einzelnen  Staaten.) 

Archiv  für  *01.  Geset/yebung  u.  Statistik.  XVII.  IO 


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146 


Arthur  Cohen, 


ledig  dünken  würde,  den  Wochenruhetag  und  den  Schutz  der  Jugend- 
lichen konsequent  durchzufuhren.  Die  Wochenruhe  steht  schon' 
deshalb  auf  einer  höheren  Rangstufe  sozialpolitischer  Wertung,  weil 
sie  in  ganz  anderem  Mafse  als  die  tägliche  Ruhe  zur  sozialen 
Hebung  der  Arbeiterklasse  beiträgt.  Die  tägliche  Ruhe  kommt 
möglicherweise  sogar  von  selbst,  wenn  man  den  Gastwirtsgehülfen 
den  vollen  Wochenruhetag  durch  Gesetz  sichert.  Man  helfe  den 
Arbeitern,  um  sie  für  den  sozialen  Kampf  zu  stärken! 

Nachstehend 

die  der 

Vorschläge  *)  der  Reichskommission  für  Entwurf  von  Bestimmungen  über  die 
Arbeiterstati8tik  zur  Regelung  der  Be-  Beschäftigung  von  Gehilfen  und  Lehr- 
schäftigung  des  Personals  in  den  Gast-  lingen  in  Gast-  und  in  Schankwirt- 
und  Schankwirtschaften.  *)  schäften. 

1.  In  den  Gast-  und  Schank-  I.  In  Gast-  und  in  Schank- 
wirtschaften ist  den  Hilfspersonen  wirtschaften  ist  jedem  Gehilfen 

innerhalb  je  24  Stunden  eine  un-  und  Lehrling  über  16  Jahre  inner- 

unterbrochene Ruhezeit  von  min-  halb  der  auf  den  Beginn  seiner 
destens  8 Stunden  zu  gewähren.  Arbeit  folgenden  vierundewanzig 

Stunden  eine  ununterbrochene 
Ruhezeit  von  mindestens  acht 
! Stunden  zu  gewähren. 

Für  Gehilfen  und  Lehrlinge 
unter  16  Jahren  sowie  in  Ge- 
meinden, welche  nach  der  jeweilig 
letzten  Volkszählung  mehr  als 
20000  Einwohner  haben,  mufs 


*)  Aufser  diesen  Vorschlägen  äufserte  die  Kommission  folgende  Wünsche: 
Es  möge  gelegentlich  einer  Revision  der  einschlägigen  Bestimmungen  der  Gewerbe- 
ordnung darauf  Bedacht  genommen  werden,  dafs  zum  mindesten  an  jedem  zweiten 
Sonntag  dem  Personal  für  die  Zeit  von  wenigstens  zwei  Stunden  Gelegenheit 
zum  Besuche  des  Gottesdienstes  des  betreffenden  Bekenntnisses  zu  geben 
sei.  Ferner:  Falls  die  Vorschriften  der  §§  33  und  53  der  Gewerbeordnung  zur  Be- 
seitigung der  Gefahren  und  Schäden,  welche  die  sogenannten  Animierkneipen 
für  die  dort  verkehrenden  Gäste  wie  für  die  bedienenden  Kellnerinnen  mit  sich 
bringen,  nicht  ausreichen  sollten,  wünscht  die  Kommission,  dafs  auf  eine  Ergänzung 
derselben  Bedacht  genommen  werde. 

*)  Um  ihre  Vergleichung  mit  den  Bestimmungen  des  „Entwurfes“  zu  erleichtern, 
habe  ich  sic  nach  diesen  geordnet  und  entsprechend  redigiert. 


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Der  Entwurf  von  Bestimmungen  über  die  Beschäftigung  der  Gastwirtsgehilfen. 


2.  An  höchstens  60  Tagen  im 
Jahre  darf  eine  Ueberschreitung 
der  durch  die  achtstündige  Ruhe- 
zeit bedingten  täglichen  Arbeits- 
zeit stattfinden ; jedoch  mufs  nach 
beendigter  Thätigkeit  eine  min- 
destens achtstündige  ununter- 
brocheneRuhezeitgewährt  werden. 


3.  In  den  Gast-  und  Schank- 
wirtschaften ist  den  Hilfspersonen 
aufser  der  Ruhezeit  zu  I.  in  jeder 
Woche  in  der  Zeit  zwischen  12 
Uhr  mittags  und  9 Uhr  abends 
eine  solche  von  mindestens  6 
Stunden  zu  gewähren. 

In  Gemeinden  von  mehr  als 
10000  Einwohnern  ist  den  Hilfs- 
personen alle  3 Wochen  statt  der 
auf  die  betreffende  Woche  ent- 
fallenden sechsstündigen  Ruhezeit 
ein  ganzer  Tag  frei  zu  geben. 


die  Ruhezeit  mindestens  neun 
Stunden  betragen.  Für  kleinere 
Ortschaften  kann  diese  längere 
Ruhezeit  für  Gehilfen  und  Lehr- 
linge über  16  Jahre  durch  Polizei- 
verordnungen der  zum  Erlafs 
solcher  Verordnungen  berechtigten 
Behörden  vorgeschrieben  werden. 

Die  Zahl  der  Ruhezeiten  darf 
! für  die  Woche  nicht  weniger  als 
sieben  betragen. 

2.  Bis  zu  sechzigmal  im  Jahre 
darf  die  aus  den  Bestimmungen 
unter  Ziffer  1 Absatz  1 , 2 sich 
ergebende  Höchstdauer  der  Ar- 
beitszeit für  den  einzelnen  Gehilfen 
und  Lehrling  überschritten  werden ; 
jedoch  muls  in  allen  Fällen  nach 
dem  Abschlüsse  der  Arbeit  eine 
Ruhezeit  von  der  in  Ziffer  1 Ab- 
satz 1,  2 vorgeschriebenen  Dauer 
gewährt  werden.  Auch  behält  es 
bei  der  Bestimmung  der  Ziffer  i 
Absatz  3 sein  Bewenden. 

3.  An  Stelle  der  nach  Ziffer  1 
Absatz  1,  2 zu  gewährenden  un- 
unterbrochenen acht-  oder  neun- 
stündigen Ruhezeit  ist  den  Ge- 
hilfen und  Lehrlingen  alle  drei 
Wochen  mindestens  einmal  eine 
ununterbrochene  Ruhezeit  von 
mindestens  24  Stunden  zu  ge- 
währen. In  Gemeinden,  welche 
nach  der  jeweilig  letzten  Volks- 
zählung mehr  als  20000  Einwohner 
haben,  ist  diese  Ruhezeit  min- 
destens alle  2 Wochen  zu  ge- 
währen. 

In  denjenigen  Wochen,  in 
welchen  hiernach  eine  ununter- 

10* 


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148 


Arthur  Cohen, 


4.  In  jedem  Gast-  und  Schank- 
wirtschaftsbetrieb ist  ein  Verzeich- 
nis zu  fuhren,  in  welches  spätestens 
nach  Ablauf  jeder  Woche  einzu- 
tragen ist,  an  welchem  Tage  bezw. 
Nachmittag  einer  jeden  Hilfsperson 
die  für  die  Woche  vorgeschriebene 
Ruhezeit  gewährt  wurde. 

In  jedem  Gast-  und  Schank- 
wirtschaftsbetrieb ist  ein  Verzeich- 
nis zu  führen,  in  welches  jede 
Ueberschreitung  der  durch  die 
achtstündige  Ruhezeit  bedingten 
täglichen  Arbeitszeit  spätestens  ain 
ersten  Tage,  nachdem  sie  statt- 
gefunden hat,  einzutragen  ist. 

Die  Verzeichnisse  sind  auf 
Verlangen  der  Ortspolizeibehörde 
vorzulegen. 


5.  Jugendliche  Personen  unter 
16  Jahren  dürfen  in  der  Zeit  von 


brochene  vierundzwanzigstündige 
Ruhezeit  nicht  gewährt  zu  werden 
braucht,  ist  aufcer  der  in  Ziffer  I, 
Abs.  1,  2 festgesetzten  ununter- 
brochenen acht-  oder  neunstündi- 
gen Ruhezeit  mindestens  einmal 
eine  weitere  ununterbrochene 
Ruhezeit  von  mindestens  6 Stunden 
zu  gewähren,  welche  in  der  Zeit 
zwischen  1 2 Uhr  mittags  und  9 Uhr 
abends  liegen  mufs. 

4.  Die  Arbeitgeber  sind  ver- 
; pflichtet,  für  jedes  Kalenderjahr 

ein  Verzeichnis  anzulegen,  welches 
j die  Namen  der  einzelnen  Gehilfen 
; und  Lehrlinge  enthalten  mufs.  In 
j das  Verzeichnis  ist  bei  Ablauf  jeder 
Woche  neben  den  Namen  der 
einzelnen  Gehilfen  und  Lehrlinge 
einzutragen,  wie  oft  innerhalb  dieser 
Woche  für  jeden  einzelnen  Ge- 
hilfen und  Lehrling  von  der  in 
Ziffer  2 gewährten  Befugnis  Ge- 
brauch gemacht  worden  ist.  Zu- 
gleich sind  diejenigen  Tage,  an 
welchen  eine  Ruhezeit  gemäl's 
Ziffer  3 gewährt  worden  ist,  und 
die  Dauer  dieser  Ruhezeit  einzu- 
tragen. Fällt  das  Ende  des  Ka- 
lenderjahres nicht  mit  dem  Ablauf 
der  Woche  zusammen,  so  sind  die 
Eintragungen  für  die  in  die  Woche 
fallenden  Teile  beider  Kalender- 
jahre getrennt  vorzunehmen. 

Die  Verzeichnisse  sind  auf  Er- 
fordern den  zuständigen  Behörden 
und  Beamten  jederzeit  zur  Einsicht 
vorzulegen. 

5.  Gehilfen  und  Lehrlinge 
i unter  16  Jahren  dürfen  in  der  Zeit 


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Der  Entwurf  von  Bestimmungen  über  die  Beschäftigung  der  Gaslwirtsgehüfen. 


io  Uhr  abends  bis  6 Uhr  morgens  1 
nicht  beschäftigt  werden. 

6.  Weibliche  Personen  unter 
18  Jahren,  welche  nicht  zu  den 
Familienangehörigen  des  Wirtes 
gehören,  dürfen  nicht  zur  ständigen 
Bedienung  der  Gäste  verwendet 
werden. 

7.  Als  Hilfspersonen  im  Sinne 
dieser  Bestimmungen  gelten  solche 
Personen,  welche  als  Kellner, 
Oberkellner,  Kellnerlehrlinge,  als 
Köche,  Kochlehrlinge,  Köchinnen 
oder  Mamsells  beschäftigt  werden ; 
Köchinnen  und  Mamsells  jedoch 
nur  dann,  wenn  sie  nach  der 
Gröfse  und  Einrichtung  des  Be- 
triebs als  gewerbliche  Gehilfinnen 
anzusehen  sind. 


von  ioUhr  abends  bis  6Uhr  morgens 
nicht  beschäftigt  werden. 

6.  Gehilfen  und  Lehrlinge 
weiblichen  Geschlechts  unter  18 
Jahren,  welche  nicht  zur  Familie 
des  Arbeitgebers  gehören,  dürfen 
nicht  zur  Bedienung  der  Gäste 
verwendet  werden. 

7.  Als  Gehilfen  und  Lehrlinge 
im  Sinne  dieser  Bestimmungen 
gelten  solche  Personen  männlichen 
und  weiblichen  Geschlechts,  wel- 
che im  Betriebe  der  Gast-  und  der 
Schankwirtschaften  als  Oberkell- 
ner, Kellner  oder  Kellnerlehrlinge, 
als  Köche  oder  Kochlehrlinge,  am 
Büffet  oder  mit  dem  Fertigmachen 
kalter  Speisen  beschäftigt  werden. 

8.  Die  vorstehenden  Bestim- 
mungen treten  am  I.  Oktober 
1901  in  Kraft. 

Bis  zum  31.  Dezember  1901 
ist  Ueberarbeit  (Ziffer  2)  höchstens 
lunfzehnmal  zulässig. 


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Die  deutsche  Strikestatistik. 

Von 

Dr.  CLEMENS  HEISS, 

in  Berlin 

Die  erste  Publikation  einer  fortlaufenden  Statistik  des 
Deutschen  Reiches  über  Strikes  und  Aussperrungen  erfolgte 
auf  Grund  der  Bestimmungen  des  Bundesrats  vom  io.  Juni  1898  in 
den  „Vierteljahrsheften  zur  Statistik  des  Deutschen  Reichs"  Jahrg. 
1898,  IV.  H.,  S.  185  fr.  Nach  diesen  Bestimmungen  findet  die  Er- 
hebung des  Urmaterials  für  das  ganze  Reichsgebiet  statt.  Die  nach 
einem  einheitlichen  Formular  über  jede  gemeinsame  Arbeitsein- 
stellung mehrerer  gewerblicher  Arbeiter  (Strike)  und  über  jede 
gemeinsame  Aussperrung  mehrerer  gewerblicher  Arbeiter  (Aus- 
sperrung) auszufüllende  Nach  Weisung  enthält  14  Punkte.  Diese 
betreffen  glcichmäfsig  Ort,  Gewerbeart,  Anzahl  der  Betriebe,  Ge- 
samtzahl der  in  ihnen  beschäftigten  Arbeiter  (darunter  Personen 
unter  21  Jahren),  Beginn  und  Ende  des  Strikes  (resp.  der  Aus- 
sperrung), Höchstzahl  der  Strikenden  (darunter  Minderjährige),  Zahl 
der  Kontraktbrüchigen  (darunter  Minderjährige),  Höchstzahl  der 
indirekt  vom  Strike  erfafsten  Arbeiter,  Gründe  des  Strikes  und 
Forderungen  der  Ausständigen,  Ergebnisse  des  Strikes,  Einwirkung 
und  Unterstützung  von  Berufsvereinigungen  und  dritten  Personen, 
Vergleichsverhandlungen  (unmittelbar  zwischen  den  Parteien,  vor 
dem  Gewerbegericht,  durch  Vermittlung  %ron  Berufsvereinigungen 
oder  dritten  Personen),  polizeilichen  Schutz  Arbeitswilliger  und 
sonstige  polizeiliche  Mafsnahmen,  Bemerkungen  (auch  darüber,  ob 
die  Staatsanwaltschaft  in  Anspruch  genommen  worden  ist,  sowie 


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Die  deutsche  Strikestatistik. 


.151 


über  nachweisbare  Verluste  an  Arbeitslohn  während  des  Strikes). 
Die  Ausfüllung  der  Nachweisungen  liegt  den  Ortspolizeibehörden 
ob,  soweit  nicht  durch  die  Landeszentralbehörden  andere  Stellen 
damit  beauftragt  werden. ')  Die  Nachweisung  für  einen  Strike  oder 
eine  Aussperrung  ist  sogleich  nach  deren  Beendigung  auszufüllen 
und  alsbald  auf  dem  Dienstwege  der  höheren  Verwaltungsbehörde 
zu  übersenden.  Diese  wird  die  Prüfung,  und  soweit  erforderlich 
die  Vervollständigung  des  Inhalts  der  Nach  Weisungen  veranlassen, 
hierbei  diejenigen  Nachweisungen  bezeichnen,  die  sich  nach  ihrer 
Kenntnis  der  Verhältnisse  auf  denselben  Strike  oder  dieselbe 
Aussperrung  beziehen , und  binnen  zwei  Wochen  nach  dem 
Schlüsse  jedes  Vierteljahres  die  in  dessen  Laufe  ihr  einge- 
reichten Nachweisungen  oder  eine  Fehlanzeige  an  das  Kaiserliche 
Statistische  Amt  senden.  Gelegentlich  der  Einsendung  wird  die 
höhere  Verwaltungsbehörde  zugleich  über  diejenigen  zu  ihrer 
Kenntnis  gekommenen  Strikes  und  Aussperrungen  Aufschlufs  geben, 
welche  im  Laufe  des  Vierteljahres  ausgebrochen,  aber,  weil  noch 
nicht  beendet,  in  die  Nach  Weisungen  noch  nicht  aufgenommen 
sind.  Die  Landesregierungen  werden  die  höheren  Verwaltungs- 
behörden anweisen,  Rückfragen  des  Kaiserlichen  Statistischen  Amtes 
unmittelbar  zu  erledigen.  Letzteres  hat  für  jedes  Vierteljahr  eine 
summarische  Ucbersicht  über  die  Strikes  und  Aussperrungen  und 
für  jedes  Jahr  eine  ausführliche  Statistik  derselben  sobald  als  thun- 
lich  zu  veröffentlichen. 

Dies  sind,  von  ganz  unwesentlichen  Bestimmungen,  wie  z.  B. 
über  den  Formularbezug , abgesehen , die  Bestimmungen , nach 
denen  die  erstmals  in  der  „Statistik  des  Deutschen  Reiches“, 
(Neue  Folge,  Band  1 34  s)  vorliegende  deutsche  Strikestatistik  be- 
arbeitet worden  ist.  Die  Strikestatistik  für  das  Jahr  1900  ist  ent- 
halten in  der  „Statistik  des  Deutschen  Reiches“,  Neue  Folge, 
Band  141.*)  In  der  Einleitung  zu  dieser  Publikation  wird  noch  be- 
merkt, dafs  nach  einer  generellen  Anordnung,  deren  Wortlaut  aber 
leider  nicht  mitgeteilt  wird,  bei  der  Nachprüfung  der  Nachweisungen 
durch  die  höheren  Verwaltungsbehörden  „die  Gewerbeaufsichts- 


*)  Eine  solche"  Verfügung  ist  uns  nicht  bekannt  geworden. 

2)  Strikes  und  Aussperrungen  im  Jahre  1899.  Bearbeitet  im  Kaiserlichen  Sta- 
tistischen Amt  Berlin  1900.  Verlag  von  Putlkammer  und  Mühlbrecht,  Buchhandlung 
für  Staats-  und  Rechtswissenschaft. 

*)  Ebenda.  1901. 


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!52 


Clemens  Heifs, 


beamten  in  thunlichst  weitem  Umfange  beteiligt  werden  sollen“. 
Weiter  heifst  es:  „Da  die  Behörde,  welcher  die  Aufstellung  der 
Nachweisung  obliegt,  bei  Sammlung  der  in  dieselben  aufzunehmenden 
Angaben  im  wesentlichen  auf  Erkundigungen  ihrer  untergeordneten 
Organe  bei  den  Beteiligten  angewiesen  sein  wird,  so  bestimmt  eine 
besondere  Vorschrift,  daß  bei  diesen  die  Interessen  der  Arbeit- 
geber und  Arbeitnehmer  gemeinsam  berührenden  Fragen  beide 
Teile  gleichmäfsig  berücksichtigt  werden  sollen,  damit  ein  möglichst 
objektives  Bild  des  Sachverhältnisses  erlangt  werde."  Weiter  heifst 
es  in  dem  amtlichen  Bericht  — und  es  kommt  hierbei  eine,  wenn 
auch  unbewufste  Kritik  des  amtlichen  Erhebüngsverfahrens  zum 
Ausdruck  — wörtlich : „Da  die  Möglichkeit  nicht  von  der  Hand 
zu  weisen  ist,  dafs  die  Polizeibehörden  — mit  Rücksicht  auf  ihre 
gewöhnlichen  Obliegenheiten  (!)  — hauptsächlich  und  in  erster 
Linie  immer  *)  von  denjenigen  Arbeitskonflikten  Kenntnis  erlangen 
werden,  bei  denen  es  zu  Kontraktbruch,  zu  Ausschreitungen  u.  s.  w. 
kommt,  während  ihrer  Aufmerksamkeit  vielfach  solche  Ausstände, 
namentlich  kleineren  Umfangs,  entgehen  können,  bei  welchen  ihre 
Hilfe  nicht  in  Anspruch  genommen  wird,  so  wird,  um  einer  zu  be- 
fürchtenden Unvollständigkeit  der  Erhebungen  vorzubeugen,  seitens 
des  Kaiserlichen  Statistischen  Amtes  eine  grofse  Anzahl  von 
Zeitungen  (gegenwärtig  44,  1900  45),  die  sich  vornehmlich  oder 
ausschließlich  mit  der  Behandlung  der  Arbeiterfrage  beschäftigen, 


*)  Die  Häufung  der  Worte : „Hauptsächlich  und  in  erster  Linie  immer“  ist 
bezeichnend.  An  anderer  Stelle  (Statistik  des  Deutschen  Reiches,  X.  F.  Bd.  134 
S.  V)  wird  sie  noch  bekräftigt.  Es  heifst  hier  nach  einer  ausführlichen  Erörterung 
des  Begriffs  des  Strikcs : „ln  der  oben  aufgestclltcn  Begriffsbestimmung  sind  alle 
Erfordernisse  hervorgehoben,  bei  deren  Vorhandensein  ein  Arbeitskonflikt  im  Sinne 
dieser  Statistik  als  Strikc  gelten  soll.  Um  jedoch  vielfach  zu  Tage  getretenen 
irrigen  Auffassungen  für  die  Zukunft  endgültig  vorzubeugen,  sei  an  dieser  Stelle 
noch  ausdrücklich  darauf  hingewiesen,  dafs  Kontraktbruch,  Ausschreitungen  der 
Arbeiter,  Schädigung  des  Unternehmers  u.  s.  w.  zwar  Begleiterscheinungen  eines 
jeden  Strikes  sein  können,  dafs  sie  aber  mit  dem  Wesen  des  Strikes  an  sich  nicht 
das  Geringste  zu  thun  haben  und  dafs  daher  das  Vorlicgcn  eines  Strikefallcs  nicht 
aus  dem  Grunde  verneint  werden  darf,  weil  die  Arbeiter  rechtzeitig  gekündigt 
hatten,  die  Bewegung  in  aller  Ruhe  und  ohne  dafs  sie  überhaupt  der  Ocffentlich- 
keit  bekannt  wurde,  verlief,  der  Unternehmer  sofort  andere  Arbeiter  an  Stelle  der 
Strikcnden  einzustellen  vermochte,  vielleicht  auch  dem  Unternehmer  eine  zeitweilige 
Herabsetzung  des  Arbeiterbestandes  oder  sogar  ein  zeitweiliger  Stillstand  des  Be- 
triebes im  Hinblick  auf  die  Geschäftslage  gar  nicht  unerwünscht  war  u.  s.  w.“ 


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Die  deutsehe  Strikestatistik. 


153 


einer  regelmäfsigen  eingehenden  Durchsicht  bezüglich  der  in  ihnen 
über  den  Ausbruch  und  die  Beendigung  von  Arbeitskonflikten  ent- 
haltenen Nachrichten  unterzogen  ‘).  An  der  Hand  dieses  bereits 
im  Laufe  des  Vierteljahres  selbst  im  Statistischen  Amt  gesammelten 
Materials  werden  die  nach  Ablauf  des  Quartals  seitens  der  höheren 
Verwaltungsbehörden  übersandten  Nachweisungen,  Fehlanzeigen  und 
Mitteilungen  über  begonnene,  aber  noch  nicht  beendete  Strikes  auf 
ihre  Vollständigkeit  hin  geprüft  und,  sofern  durch  Zeitungsnotizen 
zur  Kenntnis  des  Amtes  gelangte  Strikes  u.  s.  w.  in  den  amtlichen 
Nachweisungen  keine  Berücksichtigung  gefunden  haben,  sofort  die 
erforderlichen  Rückfragen  in  die  Wege  geleitet.  In  Verfolg  der- 
selben sind  zahlreiche  Arbeitskonflikte,  die  zunächst  der  Ortspolizei- 
behörde, sowie  der  höheren  Verwaltungsbehörde  unbekannt  ge- 
blieben waren,  nachträglich  zur  amtlichen  Nachweisung  gebracht 
worden;  vielfach  stellte  sich  allerdings  auch  bei  den  eingeleiteten 
Ermittlungen  heraus,  dafs  es  sich  im  Gegensatz  zu  den  Zeitungs- 
nachrichten nicht  um  wirkliche  Strikes  oder  Aussperrungen,  sondern 
z.  B.  um  über  einzelne  Unternehmungen  verhängte  Sperren  ge- 
handelt hatte,  oder  dafs  cs  vor  der  angekündigten  Arbeitseinstellung 
zur  Einigung  zwischen  Arbeitgebern  und  Arbeitnehmern  gekommen 
war,  oder  dafs  die  Arbeiter  noch  im  letzten  Augenblick  von  der 
angedrohten  Niederlegung  der  Arbeit  Abstand  genommen  hatten." 

Difficile  est  satiram  non  scribere  über  diese  Erhebungsmethode. 
Also  die  Ortspolizeibehörden  und  die  ihnen  Vorgesetzten  höheren 
Verwaltungsbehörden,  denen  ihre  Amtspflicht  eine  regelmäfsige 
Berichterstattung  über  die  Strikebewegung  auferlegt,  wissen  nicht 
einmal  das,  was  jedermann  in  der  Zeitung  lesen  kann,  sie  müssen 
von  Berlin  aus  auf  die  in  ihrem  Bezirke  vorgekommenen 
Strikes  aufmerksam  gemacht  werden!  Und  dann  sollen  diese  Be- 
hörden, „die  hauptsächlich  und  in  erster  Linie  immer 
von  denjenigen  Arbeitskonflikten  Kenntnis  erlangen  werden,  bei 
denen  es  zu  Kontraktbruch,  zu  Ausschreitungen 
u.s.  w.  kommt",  beide  Teile  gleichmäfsig  berück- 
sichtigen, damit  ein  möglichst  objektives  Bild  des  Sachver- 
hältnisses  erlangt  werde ! Eine  naivere  Zumutung  ist  uns  — wir 
müssen  es  offen  gestehen  — noch  selten  zu  Gesicht  gekommen. 
Also  diejenigen  niederen  Polizeiorgane  — denn  sie  werden  mit  der 

')  Möchte  doch  das  Kauert.  Statistische  Amt  ähnlich  wie  das  Österreich.  Arbeits- 
statistische Amt  seine  Lesefrilchte  als  Anhang  zur  Strikestatistik  publizieren ! 


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«54 


Clemens  Heils, 


Ausfüllung  der  Fragebogen  betraut  — , die  jahraus  jahrein  von  der 
Vorgesetzten  Behörde  dazu  angehalten  werden,  in  jedem  Strike  ein 
Vergehen,  um  nicht  zu  sagen  ein  Verbrechen  zu  erblicken,  die  bei 
jedem  Strike  die  Interessen  der  angesehenen  Unternehmer  gegen- 
über den  armen  Teufeln  von  Arbeitern  auf  das  einseitigste  zu  ver- 
treten haben,  sollen  unter  gleichmäfsigcr  Berücksichtigung  beider 
Teile  ein  objektives  Urteil  über  die  Gründe  des  Strikes  und  die 
Forderungen  der  Strikenden  abgeben.  Das  ist  denn  doch  etwas 
zu  viel  verlangt.  ’) 

Verstärkt  wird  nun  die  Befangenheit  dieser  niederen  Polizei- 
organe gegenüber  den  Strikenden  durch  die  Fragen  nach  dem 
Kontraktbruch  und  dem  Einschreiten  der  Staatsanwaltschaft.  Für 
den  Schutzmann  ein  Grund  weiter,  die  Strikenden  für  Beschuldigte 
anzusehen.  Wenn  nun  hier  die  niederen  Polizeiorgane  in  ihrem 
Berichte  selber  das  Urteil  über  die  Gründe  des  Strikes  abzugeben 
haben,  werden  sie  nicht  nach  dem  Grundsatz  in  dubio  pro  reo, 
sondern  nach  jenem  anderen  Grundsatz  aus  der  Zeit  der  Herrschaft 
der  peinlichen  Frage  verfahren : „Der  Beschuldigte  leugnet,  also  ist 
er  schuldig!“  Fis  wird  also  auf  dem  vorgeschriebenen  Wege,  sei 
es,  dafs  der  Polizeibeamte  die  Strikenden  hört  und  ihre  von  der 
Ansicht  der  Unternehmer  abweichende  Meinung  über  die  Gründe 
des  Strikes  (Regelfall!)  nicht  glaubt,  sei  es,  dafs  er  es  überhaupt 
nicht  für  der  Mühe  wert  hält,  sie  zu  fragen,  wenn  ihm  die  Aus- 
kunft des  Unternehmers  zur  Ausfüllung  der  Formulare  genügt,  in 


')  Dafs  wir  nicht  zuviel  behaupten,  wenn  wir  sagen,  dafs  die  Polizeibehörden 
bei  Strikes  die  Interessen  der  Unternehmer  auf  das  Einseitigste  vertreten,  dafür 
wollen  wir,  trotzdem  dies  beinahe  eine  gemeinplätzliche  Erfahrungstatsache  ge- 
worden ist,  nur  zwei  Beispiele  anführen.  Trotzdem  wir  seit  geraumer  Zeit  die 
Rechtsprechung  darüber  verfolgen,  ist  uns  nicht  ein  Kall  bekannt  geworden,  in 
dem  Unternehmer  wegen  Verletzung  des  § 153  der  R.G.O.  besü-aft  worden  wären. 
I)afs  hierwegen  gegen  Unternehmer  überhaupt  Anklage  erhoben  wird,  gehört  zu 
den  gröfsten  Seltenheiten.  Und  doch  sind  die  Fälle,  in  denen  sich  Unternehmer 
gegen  § 153  R.G.O.  vergehen,  gar  nicht  so  selten.  Einen  anderen  Fall,  der  selbst 
die  Vorurteilslosigkeit  der  Gerichte  in  bedenklichstem  Lichte  erscheinen  läfst,  hindert 
uns  nur  das  Strafgesetzbuch  kritisch  zu  würdigen.  Wir  erwähnen  deshalb  die  nackte 
Thatsache,  dafs  das  Oberlandesgericht  Naumburg  den  Satz  einer  sozialdemokratischen 
Zeitung  „Zuzug  ist  fernzuhalten!“  für  groben  Unfug  erklärt  und  nachdem  das  zu- 
ständige Landgericht  bei  seiner  Freisprechung  verharrt  war,  da  dem  Oberlandes- 
gericht über  Thatsachcn  kein  Urteil  zustehe,  weiter  erkannt  hatte,  dafs  dieses  Urteil 
eine  Rcchtsauslegung  enthalte  und  die  Sache  einem  anderen  Landgericht  zuwies. 


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Die  deutsche  Strikrstatistik. 


155 


der  weitaus  überwiegenden  Mehrzahl  der  Fälle  die  Anschauung  der 
Unternehmer  über  die  Gründe  des  Strikes  in  der  amtlichen  Statistik 
zum  Ausdruck  kommen. 

Wenn  man  mit  der  gleichmäfsigen  Berücksichtigung  beider 
Teile  wirklich  Ernst  machen  will,  so  mufs  man  von  den  Ortspolizei- 
behörden zum  mindesten  verlangen,  dafs  sie  für  jeden  Strikefall, 
womöglich  auf  Grund  protokollarischer  Vernehmung,  die  Gründe 
und  Forderungen  berichten,  wie  sie  ihnen  von  den  Vertretern  der 
beiden  Parteien  selber  mitgeteilt  worden  sind.  Das  ist  das  Mindeste, 
was  man  von  einer  objektiven  amtlichen  Berichterstattung  verlangen 
kann.  Denn  solange  die  Ortspolizeibehörden,  ohne  spezielle  Nach- 
weisung der  Ansichten  der  am  Strike  beteiligten  Parteien,  nur  ihre 
eigene  Meinung  über  die  Gründe  des  Strikes  zu  berichten  haben, 
kann  man  unmöglich  eine  objektive  Berichterstattung  erwarten. 
Im  vorliegenden  Falle  mufs  es  ganz  unumwunden  gesagt  werden, 
dafs  die  Polizeibehörden  das  Vertrauen  in  ihre  Objektivität  ver- 
scherzt haben.  Es  mufs  daher,  wenn  man  ihrer  Mitwirkung  nicht 
entbehren  zu  können  glaubt,  für  Kontrollmafsregeln  gesorgt  werden. 
Dafs  man  ihrer  Mitwirkung  entraten  kann,  zeigt  das  Beispiel  fcing- 
lands.  Ja,  werden  die  Vertreter  der  Regierung  sagen,  wir  haben 
aber  die  englischen  Einrichtungen : die  Berufsvertretungen,  das  Ar- 
beitsamt u.  s.  w.  nicht.  Ganz  richtig,  ihr  habt  kein  Arbeitsamt, 
keine  Arbeiterkammern  — aus  dem  einfachen  Grunde,  weil  ihr  sie 
nicht  haben  wollt. 

Dafs  die  Fragen  nach  dem  Kontraktbruch  und  dem  Einschreiten 
der  Staatsanwaltschaft  einen  ganz  unverhältnismäfsigen  Raum  in 
dem  Frageformular  einnimmt,  würde  neben  der  prinzipiellen  Un- 
zuverlässigkeit der  mit  der  Erhebung  betrauten  Behörden  eigentlich 
erst  in  zweiter  Linie  in  Betracht  kommen,  wenn  dieser  Umstand 
eben  nicht  geeignet  wäre,  diese  Unzuverlässigkeit  noch  ganz  erheb- 
lich zu  steigern.  Hier  müssen  wir  auf  die  Veranlassung  der  Strike- 
statistik  noch  kurz  zurückgreifen.  Es  ist  ja  urbi  et  orbi  bekannt, 
dafs  die  deutsche  Strikestatistik  nicht  etwa  dem  Bedürfnis,  über 
diese  bedeutsamen  Vorgänge  des  wirtschaftlichen  F.ebens  zuver- 
lässigen Aufschlufs  zu  erhalten,  ihre  Entstehung  verdankt,  sondern 
dafs  sie  in  Scene  gesetzt  wurde,  um  Material  herbeizuschleppen  für 
die  Arbeitswilligenvorlagc,  die  bestimmt  war,  das  Koalitionsrecht 
der  Arbeiter  zu  erdrosseln.  Daher  interessierte  man  sich  in  den 
ersten  vorläufigen  Veröffentlichungen  vor  allem  für  die  Zahl  der 
Kontraktbrüchigen.  Dieses  Interesse  war  so  sehr  im  Vordergrund, 


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156 


Clemens  Heifs, 


dafs  man  sich  nicht  einmal  um  die  Erfolge  des  Strikes  kümmerte. 
Nachdem  die  Zuchthausvorlage  durchgefallen  war,  werden  die 
Zahlen  der  Kontraktbrüchigen  „als  minder  wichtig"  in  die  summa- 
rischen Uebersichten  nicht  mehr  aufgenommen , dafür  aber  Mit- 
teilungen über  den  Erfolg  der  Strikes,  über  die  Zahlen  der  infolge 
des  Strikes  zum  Feiern  gezwungenen  Arbeiter  und,  sofern  der 
Strike  sich  nicht  auf  alle  Betriebszweige  des  Unternehmens  er- 
streckt hatte,  auch  über  die  Ziffern  der  in  den  ausschliefslich  vom 
Strike  ergriffenen  Beschäftigungsarten  thätigen  Personen  gebracht.  *) 
Wir  mufsten  bei  der  Erhebungsmethode  und  den  damit  zu- 
sammenhängenden Veränderungen  in  der  Publikation  der  Ergebnisse 
etwas  länger  verweilen,  um  dem  Leser  die  Unterlagen  zu  einem 
Werturteil  über  die  amtliche  deutsche  Strikestatistik  zu  bieten.  s) 
Dafs  das  Nachweisungsformular  auch  den  bescheidensten  An- 
sprüchen nicht  zu  genügen  vermag,  zeigt  eine  Vergleichung  mit 
dem  österreichischen  Zahlblatt.8)  Hinsichtlich  der  Bearbeitung  des 


*)  Vgl.  Vierteljahrsheftc  zur  Statistik  des  Deutschen  Reiches  1900  II.  H. 
S.  194/205,  III.  II.  S.  53,72  und  Statistik  des  Deutschen  Reiches  X.  F.  Bd.  134  S.  II. 

*)  Die  deutsche  Strikestatistik,  die  erstmals  anläfslieh  einer  beabsichtigten  Ver- 
schärfung des  § 153  der  Gewcrbordnung  zum  Nachteil  der  Arbeiterorganisationen  im 
Jahre  1889  aufgenommen  worden  ist  und  die  nunmehr  auch  den  kriminalpolitischen 
Standpunkt  allzu  sehr  betont,  vermag  selbst  dem  Informationsbcdilrfnis  der  Unter- 
nehmer nicht  zu  genügen.  Die  vorwiegend  den  Untemehmerstand punkt  vertretende 
„Kölnische  Zeitung“  schreibt  u.  a.  in  ihrer  Nr.  1776  vom  14.  Dezember  1898: 

„Die  von  dem  Bundesrat  bestimmte,  etaras  bureaukratische  Methode  der  Ma- 
terialsammlung giebt  uns  deshalb  zu  mannigfachen  Bedenken  Anlass,  und  wir  können 
uns  nicht  der  Befürchtung  verschliefsen,  dafs  auf  diesem  Wege  niemals  eine  allen, 
auch  den  höchsten  Anforderungen  entsprechende,  von  jeder  Tendenz  nach  irgend 
welcher  Richtung  freie  Statistik  der  Arbeitseinstellungen  geschaffen  wird.  Es 
gehört  keineswegs  viel  Phantasie  dazu,  um  sich  die  praktischen  Erfolge  einer  poli- 
zeilichen Erkundigung  nach  den  Ursachen  und  Ergebnissen  der  Ausstände  oder  gar 
nach  den  während  derselben  gezahlten  Unterstützungen  klar  zu  machen.“ 

Die  „Kölnische  Zeitung“  ist  überzeugt,  dafs  die  vorgeschricbene  Methode  der 
Strikcerhebungen  „bei  Vertretern  der  Wissenschaft  kaum  Anklang  finden  wird.  Man 
mufs  eben  mit  aller  Bestimmtheit  an  dem  Gedanken  festhalten,  dafs  eine  Reichs- 
Ausstandsstatistik  nicht  allein  den  Zwecken  einzelner  Verwaltungszweige  dienen  kann, 
sondern  vielmehr  ihre  vornehmste  Aufgabe  in  der  aus  den  Ergebnissen  zu  ge- 
winnenden Bereicherung  der  Kenntnis  unserer  wirtschaftlichen  und  sozialen  Zustände 
zu  erblicken  hat,  woraus  sich  dann  wiederum  für  die  Praxis  die  wichtigsten  Schlüsse 
über  die  Machtverhältnissc  innerhalb  der  Produktion  ergeben  werden.“  — 

*)  Vgl.  die  Arbeitseinstellungen  und  Aussperrungen  im  Gewerbebetriebe  in 


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Die  deutsche  Strikcstatistik. 


157 


so  gewonnenen  Rohmaterials  durch  das  Kaiserl.  Statistische  Amt 
können  wir  C.  I^egien  zustimmen,  der  in  Nr.  48  des  „Korrespondenz- 
blatts der  Generalkommission  der  Gewerkschaften  Deutschlands" 
vom  3.  Dezember  1900  schreibt: 

„Das  Statistische  Amt  ist,  das  geht  aus  allen  Teilen 
hervor,  bemüht  gewesen,  das  Material  ohne  Tendenz  in 
objektivster  Weise  zu  bearbeiten.  Zu  wünschen  wäre,  dals 
die  Tendenz  auch  aus  der  Fragestellung  schwindet  und  die 
Mängel  in  der  Berichterstattung  beseitigt  werden.  Dann 
erst  wird  die  amtliche  Strikcstatistik  vollen  Wert  erhalten 
und  als  ein  verdienstliches  Werk  angesehen  werden  können.“ 
Mit  dem  von  der  amtlichen  Statistik  aufgestellten  Begriffs- 
bestimmung des  Strikes  und  der  ganz  analogen,  der  Aussperrung, 
können  wir  uns  einverstanden  erklären.  Sie  lautet: 

„Im  Sinne  der  hier  bearbeiteten  Statistik  gilt  als  Strike 
jede  gemeinsame  Arbeitseinstellung  mehrerer  gewerblicher 
Arbeiter,  die  zum  Zwecke  der  Durchsetzung  bestimmter 
Forderungen  beim  Arbeitgeber  erfolgt  ist.“1) 

Auch  damit  sind  wir  einverstanden,  dafs  die  Sympathie-  oder 
„Mitstrikes",  trotzdem  bei  ihnen  diese  BegrifTsmerkmale  nicht  immer 
zuzutreffen  brauchen,  durchweg  als  Strikes  mitgezählt  werden.  Da- 
gegen halten  wir  es  nicht  für  richtig,  dafs  die  anläßlich  der  Mai- 
feier verhängten  Aussperrungen  nicht  als  solche  gezählt  wurden. 
Der  Schaden  ist  übrigens  nicht  grofs,  da  diese  Aussperrungen  be- 
sonders nachgewiesen  worden  sind.  Da  die  Statistik  sich  auf  die 
Strikes  „gewerblicher"  Arbeiter  beschränkt,  so  bleiben  von  der  Auf- 
nahme solche  Konflikte  ausgeschlossen,  welche  sich  auf  dem  Boden 
der  Land-  und  Forstwirtschaft,  einschliefslich  Weinbau  und  Jagd, 
in  den  Grenzen  der  wissenschaftlichen  und  höheren  künstlerischen 
Krwerbsthätigkeit,  sowie  der  litterarischen  Thätigkeit  oder  endlich 
auf  dem  Gebiete  der  Frwerbsthätigkeit  im  zivilen  und  militärischen 
Staats-  und  Kommunaldienst  und  im  Kirchendienst  zutragen  sollten.1) 
Sollte  die  Nichtberücksichtigung  der  landwirtschaftlichen  Strikes  nur 

Oesterreich  während  des  Jahres  1895,  hcrausgegeben  vom  statistischen  Departement 
im  k.  k.  Handelsministerium,  Wien  1897,  Alfred  Holder,  S.  8 f.,  und  Protokoll  der 
zweiten  Sitzung  des  Arbeitsbeirats  am  14.  u.  15.  November  1898  S.  155  ff.  und 
S.  171  ff. 

*)  Statistik  des  Deutschen  Reiches.  N.  F.  Bd.  134  S.  V und  wörtlich  so  N.  F. 
Bd.  14 1 S.  5.* 

*)  A.  a.  O.  S.  V. 


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158 


Clemens  Heils, 


auf  ihrem  seltenen  Vorkommen  oder  auf  zarter  Rücksichtnahme 
auf  die  Agrarier  beruhen?  Der  Ausschlufs  der  übrigen  Kategorieen 
kann  bei  ihrem  seltenen  Vorkommen  wohl  kaum  ins  Gewicht 
fallen,  wiewohl  ebendeshalb  kein  vernünftiger  Grund  für  eine  Sonder- 
behandlung einzuschcn  sein  dürfte. 

Ueber  die  Strikes  stellt  die  amtliche  Statistik  4 Tabellen  auf, 
wozu  noch  eine  fünfte  über  die  Aussperrungen  kommt.  Tabelle  I : 
„Die  einzelnen  Strikefalle  des  Jahres  1899  nach  ihrer  örtlichen  und 
zeitlichen  Verteilung“  (S.  I — 71  bezw.  2—105  des  Tabellenwerkes), 
giebt  eine  nach  der  Zeitfolge  des  Beginnes  geordnete  Aufzählung 
der  innerhalb  der  einzelnen  Bundesstaaten,  für  l’reufsen  auch  der 
innerhalb  der  einzelnen  Regierungsbezirke,  im  Laufe  des  Jahres  1899  in 
der  Schwebe  befindlich  gewesenen  Strikefalle  unter  Hervorhebung  des 
Ortes,  an  welchem,  und  der  Gewerbeart,  in  welcher  die  Strike- 
bewegung  zum  Ausbruch  gekommen  ist.  Tabelle  2 bringt  die 
„Zusammenfassung  der  Strikefalle  des  Jahres  1899  nach  Staaten 
und  Landesteilen“  und  weist  nur  die  Gesamtzahl  der  Strikefalle 
ohne  Eingehen  auf  die  Gewerbegruppen  nach.  Während  in  den 
Tabellen  I und  2 die  geographische  Darstellung  der  Ausstands- 
bewegung den  Ausgangspunkt  für  die  Anordnung  des  Stoffes  bildet, 
ist  die  Aufstellung  der  Tabellen  3 und  4 unter  dem  Gesichtspunkt 
erfolgt,  nachzuweisen,  in  welchem  Umfange  die  einzelnen  Gewerbe- 
arten und  Gewerbegruppen  durch  die  Strikebewegung  in  Mitleiden- 
schaft gezogen  worden  sind.  Tabelle  3:  „Die  einzelnen  Strikefalle 
des  Jahres  1899  nach  der  Verteilung  der  Strikenden  auf  die 
Gewerbcarten"  (S.  78  — 153  bezw.  S.  118 — 221  des  Tabellcnwerkes) 
soll  zeigen,  welchen  Gewerbearten  die  Strikenden  in  den  einzelnen 
Strikefallen  angchörten.  bis  ist  jeder  einzelne  Strike  mit  Angabe 
des  Ortes  nachgewiesen.  Mafsgebend  für  die  Einteilung  sind  die 
durch  die  Berufs-  und  Gewerbezählung  eingeführten  Gewerbegruppen 
und  -arten.  Tabelle  4 bringt  für  das  Reich  als  Ganzes  eine 
„Zusammenfassung  der  Strikefalle  des  Jahres  1899  bezw.  1900  nach 
Gewerbegruppen  und  Gewerbearten“  (S.  156 — 169  bezw.  222 — 257 
des  Tabellenwerkes).  In  Tabelle  5 (S.  170 — 171  bezw.  258 — 261) 
sind  die  wenigen  Aussperrungen  einzeln  nachgewiesen. 

Da  das  Tabellen  werk  im  Jahre  1900  ganz  wesentliche  Ver- 
besserungen erfahren  hat,  so  wollen  wir  seinen  Hauptinhalt  an  der 
Hand  der  Tabelle  4,  die  für  die  Beurteilung  der  Strikes  als  Massen- 
erscheinungen am  wichtigsten  ist,  zunächst  nach  Mafsgabe  der 
Publikation  für  1899  darstellcn,  um  hieran  die  aus  dem  begleitenden 


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Die  deutsche  Strikcstatistik. 


•59 


Text  des  statistischen  Amtes  selbst  unmittelbar  abzuleitende  Kritik 
zu  schliefsen  und  alsdann  die  im  Jahre  igoo  vorgenommenen  Ver- 
besserungen für  sich  darstellen.  Denn  nur  so  hoffen  wir  Klarheit 
in  die  in  der  Darstellung  des  Kaiserl.  Statistischen  Amtes  recht 
komplizierte  Materie  zu  bringen.  Das  Statistische  Amt  hat  nämlich 
den  Text  zur  Krklärung  der  Tabellen  wörtlich  wieder  abgedruckt 
und  die  Abänderungen  an  der  betreffenden  Stelle  eingefügt,  ohne 
eine  eingehende  Darstellung  davon  zu  geben,  inwieweit  die  neue 
Statistik  vom  Vorjahre  abweicht. 

Tabelle  4 weist  zunächst  die  Zahl  der  begonnenen  Strikes  ins- 
gesamt und  besonders  für  die  einzelnen  Quartale  nach.  Alle 
weiteren  Nachweisungen  beziehen  sich  auf  die  im  Jahre  1899  be- 
endigten Strikes,  deren  Gesamtzahl,  Gesamtdaucr  nach  Arbeitstagen 
in  Spalte  3 und  4 nachgewiesen  werden.  Die  Spalten  5 — 8 weisen 
die  Zahl  der  betroffenen  Betriebe  nach  und  zwar  solche,  in  denen 
der  Strike  den  Gesamtbetrieb  erfafste,  und  solche,  in  denen  sich  der 
Strike  auf  einzelne  Betriebszweige  beschränkte,  wobei  je  diejenigen, 
die  zu  völligem  Stillstand  kamen,  besonders  aufgeführt  werden.  Die 
bei  Ausbruch  des  Strikes  beschäftigten  Arbeiter,  je  besonders  nach- 
gewiesen nach  ihrer  Gesamtzahl  und  der  Zahl  derjenigen  unter 
21  Jahren,  enthalten  die  Spalten  9 — 12,  wobei  die  in  den  nicht  vom 
Strike  ergriffenen  Betriebszweigen  beschäftigten  Arbeiter  hervor- 
gehoben werden.  Mit  der  Höchstzahl  der  während  der  Dauer  des 
Strikes  gleichzeitig  strikenden  Personen  befassen  sich  die  Spalten 
13 — 18.  Es  wird  hier  die  Gesamtzahl  und  besonders  die  Zahl  der 
unter  21  jährigen  und  die  Zahl  der  zur  sofortigen  Arbeitsniederlegung 
berechtigten  und  der  kontraktbrüchigen  Arbeiter,  je  wieder  unter  Her- 
vorhebung derjenigen  unter  21  Jahren  nachgewiesen.  In  Spalte  19  folgt 
die  Höchstzahl  der  am  Strike  nicht  beteiligten,  aber  infolge  des- 
selben gezwungen  feiernden  Arbeiter.  Spalte  20  29  ist  überschrieben 

„die  Forderungen  der  Strikenden  betrafen  ...  mal:  den  Arbeits- 
lohn und  zwar  Aufrechterhaltung,  Erhöhung  des  bisherigen  Arbeits- 
lohnes; Sonstiges;  die  Arbeitszeit  und  zwar  Verkürzung  der 
bisherigen  Arbeitszeit , Abschaffung  der  Ueberstunden ; Sonstiges ; 
andere  Gegenstände  und  zwar  Aenderung  der  Löhnungsweise, 
Entfernung  von  Vorgesetzten,  VViederanstellung  entlassener  Arbeiter ; 
Sonstiges.  Spalte  30  weisen  die  Strikefalle  mit  vollem,  31  diejenigen 
mit  teilweisem  und  32  diejenigen  mit  keinem  Erfolg  nach.  In 
Spalte  33-37  werden  die  Strikefalle  erfafst,  die  beendigt  wurden 
durch  Verhandlungen  unmittelbar  zwischen  den  Parteien,  vor  dem 


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i6o 


Clemens  Heils, 


Gewerbegericht,  unter  Vermittlung  von  Berufsvereinigungen  oder 
dritten  Personen,  auf  Antrag  der  Arbeitnehmer,  der  Arbeitgeber. 
Endlich  wird  in  Spalte  38  und  39  die  Zahl  der  Strikefälle  registriert, 
bei  denen  dritte  Personen  oder  Berufsvereinigungen  auf  den  Aus- 
bruch des  Strikcs  hingewirkt  oder  (und)  denselben  unterstützt  haben 
und  zwar  überhaupt  oder  insbesondere  mit  Geldbeträgen. 

Die  Einteilung  der  Köpfe  der  übrigen  Tabellen  ist  im  grossen 
und  ganzen  die  gleiche,  weshalb  wir  nicht  weiter  auf  sie  eingehen. 
Wer  solchem  Tabcllcnungetüm  grofse  Uebersichtlichkeit  nachrühmen 
will,  mufs  schon  sehr  bescheiden  sein.  Man  sieht,  das  grofse  Format 
der  amtlichen  Statistik,  das  (ur  die  Kombinierung  verschiedener 
Gesichtspunkte  seine  grofsen  Vorteile  hat,  hat  auch  seine  Nachteile, 
wenn  es  zur  Aneinanderreihung  nicht  zusammengehöriger  Dinge 
mifsbraucht  wird.  Man  mache  doch  aus  dem  ungefügen  Klotz 
3 Tabellen,  von  denen  Tabelle  I die  Spalten  I — 19,  Tabelle  2 die- 
jenigen von  20 — 29  und  Tabelle  3 diejenigen  von  30 — 32  nach- 
zuweisen hätten.  Die  Spalten  15 — 18  und  33 — 39  könnten  dann 
noch  in  einer  Xebentabclle  behandelt  werden. 

Die  Spalten  20 — 29  können  natürlich  in  keiner  Weise  befriedigen. 
Es  genügt  nicht  darzulegen,  wie  oft  die  einzelnen  Forderungen 
erhoben  wurden , sondern  es  mufs  jeden  weiterforschenden  Leser 
interessieren,  von  wie  viel  Arbeitern  die  einzelnen  Forderungen 
erhoben  wurden.  Hier  läfst  uns  die  amtliche  Statistik  im  Stich. 
Dann  kommt  ferner  noch  das  fatale  Wort  „Sonstiges“  innerhalb 
dieser  10  Spalten  nicht  weniger  als  dreimal  vor.  Das  ist  ein 
offenbares  Mifsverhältnis.  Doch  die  amtliche  Statistik  giebt  uns 
wenigstens  darüber  Aufschlufs,  was  sie  unter  „Sonstiges"  versteht. 
S.  IX  heifst  es : „Insbesondere  haben  in  Spalte  22  Berücksichtigung 
gefunden  die  Forderungen,  welche  betrafen : Gewährung  besonderer 
Bezahlung  bezw.  Erhöhung  der  bereits  eingeführten  Bezahlung  für 
Ucberstunden,  Nacht-  und  Sonntagsarbeit,  sowie  für  Aufsenarbeit, 
Entschädigung  für  die  Fahrt  zur  Arbeitsstelle,  sowie  für  die  durch 
das  Warten  auf  Arbeit  verloren  gehende  Zeit,  Gewährung  von  Ab- 
schlagszahlungen u.  s.  w.,1)  in  Spalte  25  die  Forderungen,  welche 
sich  bezogen  auf:  Einführung  von  Arbeitspausen,  Verlängerung  der 
bestehenden  Frühstücks-,  Mittags-  oder  Vesperpause,  früheren  Arbeits- 
schlufs  am  Sonnabend  und  am  Abend  vor  Festtagen,  bestimmte 
Regelung  der  Arbeitszeit,  Nichteinführung  von  Ucberstunden,  Nacht* 

')  liier  würde  also  erst  noch  ein  „Sonstiges“  zu  folgen  haben! 


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Die  deutsche  Strikestatistik. 


161 


arbeit  und  Sonntagsarbeit  u.  dergl. ')  Von  den  „anderen  Gegen- 
ständen“, auf  welche  sich  die  Forderungen  der  Strikenden  gerichtet 
haben,  werden  die  auf  Aenderung  der  bisherigen  Löhnungsweise 
(Ersetzung  der  Accordarbeit  durch  Lohnarbeit  oder  umgekehrt  der 
Lohnarbeit  durch  Accordarbeit  ',  *)  die  auf  Entfernung  von  Vor- 
gesetzten und  die  auf  Wiederanstellung  entlassener  Arbeiter  hin- 
zielenden besonders  behandelt.  Die  hierher  gehörige  Sammel- 
spalte 29  umfafst  alle  Bestrebungen,  die  in  den  Vorderspalten  nicht 
unterzubringen  waren,  als  z.  B.  die  Wünsche  auf:  bessere  Behandlung, 
Zurücknahme  von  Beschimpfungen,  Vornahme  gesundheitlicher  Ver- 
besserungen , Reinigung  der  Arbeitsräume,  bessere  Heizung  und 
Lüftung  der  Arbeitsstätte,  Beschaffung  von  Waschgelegenheit,  von 
ordnungsmäfsigen  Aborten,  Abschaffung  von  Kost  und  Logis  beim 
Meister,  unentgeltliche  Lieferung  von  Arbeitsmaterialien,  Anstellung 
besonderer  Arbeiter  für  gewisse  Nebenarbeiten,  Freigabe  der  nicht 
gesetzlichen  Feiertage,  Anerkennung  eines  Arbeiterausschusses,  einer 
Lohnkommission,  des  Gesellenarbeitsnachweises,  des  freien  Koalitions- 
rechtes der  Arbeiter,  Einführung  eines  für  Arbeitgeber  und  Arbeit- 
nehmer gemeinsamen  Arbeitsnachweises,  Aushängung  der  Arbeits- 
ordnung, Einführung  von  Lohntarifen,  von  Lohnbüchern,  Verteilung 
von  Accordzetteln  vor  Ausgabe  der  Accordarbeit,  Erlaubnis  zum 
Verlassen  der  Arbeitsstätten  während  der  Pausen,  freie  Verfügung 
hinsichtlich  der  Festsetzung  der  Frühstücks-  und  Vesperpausen, 
Erlafs  oder  Ermäfsigung  von  Strafgeldern,  nachträgliche  Lohn- 
auszahlung für  die  am  2.  Mai  von  der  Arbeit  Ausgeschlossenen 
u.  dergl.  mehr.  Insonderheit  umfafst  die  Spalte  29  auch  die  Forde- 
rungen, welche  sich  richteten  auf:  Freigabe  des  t.  Mai,  Nicht- 
anfertigung von  Strikearbeit,  Entlassung  von  Mitarbeitern  (insbeson- 
dere Arbeitswilliger),*)  Nichtannahme  gewisser  Arbeiter,  Nicht- 
maferegelung  von  Arbeitern,  Aenderung  der  Arbeitsordnung,  schrift- 
liche Bestätigung  getroffene!,  Vereinbarungen,  Einführung  von 
Kündigungsfristen  oder  Ausschlufs  derselben , Beibehaltung  der 
bisherigen  Löhnungsweise  (wenn  der  Arbeitnehmer  [soll  wohl  heifsen 
Arbeitgeber]  seinerseits  die  Lohnarbeit  durch  Accordarbeit  oder 

')  A.  a.  O.  S.  IX. 

*)  Gerade  die  beiden  Spezialfalle  würden  interessieren,  werden  aber  leider 
von  der  amtlichen  Statistik  nicht  gesondert  nachgewiesen. 

a)  Warum  das  Kind  nicht  mit  dem  sprachgebrauchlichen  Namen  „Strikc- 
brechcr“  nennen?! 

Archiv  für  sox.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVII.  1 1 


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162 


Clemens  Heifs, 


umgekehrt  die  Accordarbeit  durch  Lohnarbeit  ersetzen  will),  Lohn- 
auszahlung bis  zum  Schlufs  der  Arbeitszeit.“ 

Es  sind  dies  alles  so  ungemein  interessante  Einzelheiten,  dafs 
jeder  gewissenhafte  Sozialpolitiker  zum  mindesten  einmalige  Aus- 
zählung aller  Strikes  nach  diesen  Gesichtspunkten  und  zwar  nach 
der  Zahl  der  Fälle  und  derjenigen  der  die  Forderungen  erhebenden 
Arbeiter  verlangen  mufs.  Bei  den  häufiger  vorkommenden  Forde- 
rungen ist  natürlich  auch  besondere  Auszählung  nach  Gewerbearten 
zu  verlangen. 

Die  Veröffentlichungen  für  das  Jahr  1900  haben  demgegenüber 
nun  in  folgenden  wichtigen  Punkten  eine  Erweiterung  erfahren. 
Hinsichtlich  der  von  den  Strikenden  aufgestellten  Forderungen 
wird  speziell  bei  den  auf  den  Arbeitslohn  sich  beziehenden  unter- 
schieden, ob  es  sich  um  die  Aufrechterhaltung  des  bisherigen 
Lohnes  (Sp.  20),  um  Erhöhung  desselben,  einschliefelich  der  Fest- 
setzung eines  Minimallohncs  (Sp.  21),  um  Bezahlung  bezw.  höhere 
Bezahlung  für  Ueberstunden,  für  Nachtarbeit,  Arbeit  an  Sonn-  und 
Feiertagen  (Sp.  22)  und  um  besondere  Bezahlung  von  Nebenarbeiten, 
Aufsenarbeit,  der  Fahrt  zur  Arbeitsstelle,  der  durch  Warten  auf 
Arbeit  versäumten  Zeit  (Sp.  23)  handelt.  Auch  die  auf  die  Arbeits- 
zeit bezüglichen  Forderungen  sind  spezieller  gegliedert  worden. 
Es  haben  eine  besondere  Behandlung  gefunden  diejenigen  Forde- 
rungen, welche  sich  richten  auf  Aufrechterhaltung  oder  Verkürzung 
der  bisherigen  Arbeitszeit  im  ganzen  (Sp.  25,  26),  auf  Abschaffung 
oder  Beschränkung  der  Ueberstunden,  der  Nachtarbeit,  der  Arbeit 
an  Sonn-  und  Feiertagen  (Sp.  25).  Auf  Verkürzung  der  Arbeits- 
zeit an  Samstagen,  an  Vorabenden  von  hohen  Festtagen,  auf  Ein- 
führung oder  Verlängerung  von  Arbeits-  (Frühstücks-,  Mittags-, 
Vesper-)Pausen  (Sp.  28),  auf  Nichteinführung  von  Ueberstunden,  von 
Arbeit  an  Sonn-  und  Feiertagen  (Sp.  29)  und  auf  bestimmte  Rege- 
lung der  Arbeitszeit,  wo  solche  noch  nicht  stattgehabt  hat  (Sp.  30). 
Die  Spalte  24  der  neuen  Publikation,  die  „Sonstiges“  behandelt,  ist 
hiernach  nunmehr  belastet  mit  Forderungen,  welche  betrafen : Ge- 
währung von  Abschlagszahlungen  bezw.  häufigerer  oder  höherer 
Abschlagszahlungen,  Gleichstellung  des  Lohnes  für  männliche  und 
weibliche  Arbeiter,  Auszahlung  des  Lohnes  am  Freitag,  Erhöhung 
des  Kostgeldes  u.  s.  w.,  Spalte  31  enthält  die  Forderungen,  welche 
sich  bezogen  auf:  Gewährung  arbeitsfreier  Tage,  gleicher  Arbeits- 
zeit für  verschiedene  Kategorieen  von  Arbeitern,  Verschiebung  der 
Arbeitszeit  und  dergleichen.  Von  den  „anderen  Gegenständen",  auf 


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Die  deutsche  Strikestatistik. 


163 

welche  sicli  die  Forderungen  der  Strikcnden  gerichtet  hatten 
(Sp.  32  —43),  werden  die  auf  Aenderung  der  bisherigen  Löhnungsweise 
(Ersetzung  der  Accordarbeit  durch  Lohnarbeit  oder  umgekehrt  der 
Lohnarbeit  durch  Accordarbeit  Sp.  32),  auf  Beibehaltung  der  bis- 
herigen Löhnungsweise  (Sp.  33),  auf  Wiederanstellung  entlassener 
Arbeiter  (Sp.  34),  auf  Entlassung  bezw.  Nichteinstellung  von  Ar- 
beitern (Sp.  35  ),  auf  Entlassung  von  Vorgesetzten  (Sp.  36),  auf  Frei- 
gabe des  1.  Mai  (Sp.  37),  auf  Vornahme  gesundheitlicher  Verbesse- 
rungen, bessere  Reinigung,  Heizung  und  Lüftung  der  Werkstätten, 
Verglasung  der  Neubauten,  Beschaffung  von  Waschgclegcnheit,  Be- 
schaffung ordnungsmäfsiger  Aborte  (Sp.  38),  auf  Nichtanfertigung 
von  „Strikearbeit"  (Sp.  39),  auf  bessere  Behandlung,  Zurücknahme 
von  Beschimpfungen  (Sp.  40),  auf  Anerkennung  eines  'Arbeiter- 
ausschusses, der  Lohnkommission,  des  Gesellen-Arbeitsnachweises, 
des  freien  Koalitionsrechtes,  des  Rechtes,  einer  Organisation  ange- 
hören zu  dürfen  (Sp.  41),  und  endlich  auf  Aushängung  bezw.  Ab- 
änderung der  Arbeitsordnung,  Einführung  bezw.  Abänderung  von 
Lohntarifen,  Lohnbüchern,  Verteilung  von  Accordzetteln  vor  Aus- 
gabe der  Accordarbeiten  u.  s.  w.  hinzielenden  besonders  behandelt 
Die  hierher  gehörige  Sammelspalte  43  umfafst  alle  Bestrebungen, 
die  in  den  Vorspalten  nicht  unterzubringen  waren,  als  z.  B.  die 
W'ünschc  auf:  Abschaffung  von  Kost  und  Logis  beim  Meister,  un- 
entgeltliche Lieferung  von  Arbeitsmaterialien,  Anstellung  besonderer 
Arbeiter  für  gewisse  Nebenarbeiten,  Freigabe  der  nicht  gesetzlichen 
Feiertage,  Erlaubnis  zum  Verlassen  der  Arbeitsstätte  während  der 
Pausen,  freie  Verfügung  hinsichtlich  der  Feststellung  der  Frühstücks- 
und Vesperpausen,  Erlafs  oder  Ermäfsigung  von  Strafgeldern,  nach- 
trägliche Lohnauszahlung  für  die  am  2.  Mai  von  der  Arbeit  Aus- 
geschlossenen u.  dcrgl.  mehr.  Insonderheit  enthält  die  Spalte  43 
auch  die  Forderungen,  welche  sich  richten  auf:  Nichtmafsregelung 
von  Arbeitern,  schriftliche  Bestätigung  getroffener  Vereinbarungen, 
Einführung  von  Kündigungsfristen  oder  Ausschlufs  derselben,  die 
Lohnauszahlung  bis  zum  Schlufs  der  Arbeitszeit,  Abschaffung  der 
Heimarbeit. 

Der  Erfolg  der  Strikenden  wird  in  den  Spalten  44 — 46  zur 
Darstellung  gebracht,  während  sich  Angaben  über  die  Art  und 
Weise,  in  welcher  der  Ausstand  seine  Erledigung  gefunden,  in  den 
Spalten  47 — 51  finden.  Insbesondere  giebt  Spalte  48  über  die  Fälle 
Auskunft,  in  denen  das  Gewerbegericht  als  Einigungsamt  thätig 
war.  Die  beiden  letzten  Spalten  der  Tabelle  befassen  sich  endlich 

11* 


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iC>4 


Clemens  Heifs, 


mit  der  Frage,  ob  dritte  Personen  oder  Berufsvereinigungen  auf  den 
Ausbruch  des  Strikes  hingewirkt  oder  denselben,  insbesondere  aucli 
mit  Geldbeträgen,  unterstützt  haben. 

Die  Spalten  i — 19  der  alten  und  neuen  Publikation  und  ebenso 
die  Spalten  30 — 39  der  alten  und  44 — 53  der  neuen  Publikation 
sind  hiernach  gleich  geblieben,  während  die  auf  die  Forderungen 
der  Strikcnden  bezüglichen  Spalten  eine  ganz  wesentliche  Ver- 
besserung erfahren  haben.  *)  Indessen  können  leider  auch  diese 
Verbesserungen  noch  nicht  voll  befriedigen,  da  immer  noch  die  Zahl 
der  die  betreffenden  Forderungen  stellenden  Arbeiter  zu  vermissen 
ist.  Und  es  ist  doch  viel  wichtiger  zu  wissen,  wie  viele  Arbeiter 
eine  bestimmte  Forderung  erhoben , als  nur  darüber  belehrt  zu 
werden,  wie  oft  die  Forderung  gestellt  wurde. 

Dagegen  hat  die  Nachweisung  dcrErfolge  derStrikenden, 
die  in  der  ersten  Publikation  noch  unbefriedigender  war  als  die 
Forderungen,  leider  auch  in  der  neuen  Publikation  keinerlei  Aende- 
rung  erfahren. 

Sic  ist  geradezu  beschämend  ärmlich.  In  wie  viel  Fällen  voller, 
teilweiser  oder  kein  Frfolg  erreicht  wurde,  das  ist  alles!  Nicht 
einmal,  wie  vielen  Arbeitern  dieser  dreifach  gegliederte  Erfolg  zu 
gute  kam,  interessierte  unsere  amtliche  Statistik.  Auch  hier  müssen 
wir  nach  dem  Muster  der  österreichischen  Statistik  eine  Kombinierung 
des  Erfolges  der  Strikendcn  mit  ihren  Forderungen  verlangen.  Wir 
werden  dann  sicher  die  letzten  sein,  die  sich  darüber  beklagen, 
wenn  die  Tabelle  statt  3 Spalten  beide  Seiten  des  schönen  amtlichen 
Formates  beansprucht ! 

Was  nun  die  Ergebnisse  im  allgemeinen  anlangt,  so  betrug  die 
Gesamtzahl  der  im  Berichtsjahre  1900  (bezw.  1899)  vorgekommenen 
Strike  1462  (1336),  von  denen  48  (14)  bereits  vor  dem  I.  Januar  1900 
(1899)  ausgebrochen  waren,  und  von  denen  29  (48)  am  Schlüsse 
des  Jahres  1900  (1899)  noch  nicht  zur  Erledigung  gelangt  waren. 
An  der  Gesamtzahl  der  begonnenen  Ausstände  war  Preufsen  mit 
64,57  Proz.  (62,50  Proz.),  Sachsen  mit  8,00  Proz.  (11,15  Proz.), 
Bayern  mit  6,77  Proz.  (7,64  Proz.),  Hamburg  mit  5,68  Proz.  (4,64  Proz.) 
und  Hessen  mit  1,57  Proz.  (2,10  Proz.)  beteiligt;  jeder  der  übrigen 
Bundesstaaten  hatte,  insofern  er  überhaupt  von  der  Ausstandsbewe- 


*)  Das  Tabcllcnungettim  ist  natürlich  mit  seinen  54  Spalten  noch  unübcrsicht* 
lieber  geworden.  Eine  Zerlegung  in  3 oder  4 Tabellen  wird  geradezu  zur  Pflicht 
eines  guten  Geschmackes. 


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Die  deutsche  Strikestatistik. 


65 


gung  in  Mitleidenschaft  gezogen  war,  in  beiden  Jahren  weniger  als 
2 Proz.  sämtlicher  Strikes  aufzuweisen.  Unter  den  preufsischen  Provinzen 
steht  an  erster  Stelle  Berlin  mit  18,69  Proz.  (27,19  Proz.)  aller 
innerhalb  Preufsens  begonnenen  Strikes,  es  folgen  Brandenburg  mit 
18, ti  Proz.  (20,24  Proz.),  Rheinland  mit  13,88  Proz.  (14,97  Proz.) 
und  Sachsen  11,68  Proz.  (8,74  Proz.),  auf  jede  der  nichtgenannten 
Provinzen  entfallen  weniger  als  10  Proz.,  nur  Hohenzollern  ist  über- 
haupt von  Strikes  verschont  geblieben.  Mehr  als  1 sämtlicher 
Ausstände  (nämlich  34,68  bezw.  35,78  Proz.)  galten  dem  Baugewerbe, 
an  zweiter  Stelle  kam  die  Industrie  der  Holz-  und  Schnitzstoffe 
mit  1347  Proz.  (12,20  Proz.)  inbetracht.  An  dritter  Stelle  steht 
im  Jahre  1899  die  Metallverarbeitung  mit  10,93  Proz.  (1900  an 
vierter  mit  6,50  Proz.),  im  Jahre  1900  die  Industrie  der  Steine  und 
Erden  mit  6,91  Proz.  (1899  8,46  Proz.).  Alle  übrigen  Gewerbe- 
gruppen weisen  in  beiden  Jahren  geringere  Prozentsätze  auf. 

Die  Einzelnachweisungen  beziehen  sich  nur  auf  die  innerhalb 
des  Berichtsjahres  beendigten  Strikes.  Wir  geben  folgende  Auf- 
stellung, um  einen  Ueberblick  der  Strikebewegung  in  den  Jahren 
1899  und  1900  zu  bieten. 

(Siehe  die  Tabelle  auf  S.  1 66.) 

Wir  müssen  es  uns  versagen,  auf  die  Verteilung  der  Strikes  auf 
die  einzelnen  Landesteile  und  die  preufsischen  Provinzen  hier  näher 
einzugehen.  In  den  einleitenden  Erläuterungen  werden  die  Strikes 
noch  weiter  für  das  ganze  Reich  unterschieden,  ob  es  sich  um 
Angriffs-  oder  Abwehr-,  Einzel-  oder  Gruppcnstrikes  handelte.  Für 
die  beiden  letzteren  werden  die  vollständigen  und  die  unvollständigen 
besonders  nachgewiesen.  Ferner  werden  die  Strikes  mit  Intervention 
von  Berufsvereinigungen  und  ohne  solche  im  Jahre  1899  nach 
Einzel-  und  Gruppcnstrikes  besonders  nachgewiesen,  im  Jahre  1900 
ist  diese  Nachweisung  noch  nach  Angriffs-  oder  Abwehrstrikes 
gegliedert.  Ferner  sind  die  Strikes  nach  ihrer  Dauer  (1,  1 — 5, 
6—10,  II — 20,  21  — 30,  31 — 50,  51 — 100,  101  und  mehr  Tage), 
nach  der  Zahl  der  betroffenen  Betriebe  (l,  2—5,  6 — 10,  11 — 20, 
21 — 30,  31—40,  41 — 50,  51  und  mehr),  nach  der  Zahl  der  Arbeiter, 
die  die  Arbeit  eingestellt  haben  (2 — 5,  6 — 10,  11 — 20,  21 — 30, 
31 — 50,  51 — 100,  101 — 200,  201 — 500,  501  und  mehr  Arbeiter)  in 
Gruppen  gegliedert  und  es  werden  hierbei  in  der  Veröffentlichung 
für  das  Jahr  1900  durchweg  die  Angriffs-  und  Abwehrstrikes  unter- 
schieden, was  im  Vorjahre  nicht  der  Fall  ist.  Hinsichtlich  des 
Erfolges  enthält  die  Tabelle  für  1899  die  Nachweisung,  ob  die 


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i66 


Clemens  Heifs , 


Zahl  der  be- 

Höchst- 

Zahl 

troffenen 

Zahl 

zahl  der 
während 

der 

Betriebe 

der 

der  Dauer 

Gewerbegruppen 

Jahr 

been- 

davon 

kamen 

beschiif- 

des 

Strikcs 

deten 

über- 

zu  vül- 

tigten 

gleich- 

Strikcs 

haupt 

ligem 

Still- 

Personen 

zeitig 

Strikcn- 

stand 

den 

L Kunst*  und  Handclsgärtncrei 

1 iqoo 
\ 1 899 

1 

I 

1 

1 

— 

27 

5 

2Q 

4 

III.  Bergbau,  Hütten-  u.  Salinen- 

1 iqoo 

52 

i°3 

6 

41  921 

14Z55 

wesen,  Torfgräberei 

11899 

35 

52 

L3 

10  221 

111027 

IV.  Industrie  der  Steine  u.  Erden 

f I QoO 

22 

122 

Z2 

u 886 

5525 

US99 

los 

251 

10218 

5919 

V.  Metallverarbeitung  . . . 

1 1900 

42 

522 

2h 

IO  OhQ 

3245 

VS90 

140 

690 

115 

4S522 

9609 

VI.  Industrie  der  Maschinen,  In- 

/1900 

66 

200 

25 

25  251 

7325 

strumentc  und  Apparate 

11S99 

45 

ll6 

14 

14  428 

3 73t> 

VII.  Chemische  Industrie  . . . 

J ! OCX) 

s 

8 

5 

2855 

552 

1 1 899 

4 

4 

— 

±55 

121 

VIII.  Industrie  der  forstw.  Neben- 

produkte,  Leuchtstoffe,  Fette, 
Ocle 

1 1 900 
1 1 899 

8 

4 

S 

s 

I 

1 

1 £121 
446 

5 91 
104 

IX.  Textilindustrie 

1 1900 
1 1899 

71 

104 

158 

169 

22 

22 

18  716 

2h  ÖQ2 

6928 
1 1 088 

X.  Papierindustrie 

1 IOOO 

1 lS<>9 

2Q 

9 

22 

12 

3 

5 

5218 
1 ns 

3362 

224 

XI.  Lederindustrie 

1 1900 
1 1S99 

44 

32 

225 

91 

43 

18 

5766 

3445 

2 462 
1 489 

XII.  Industrie  der  Holz-  und 

1 IQOO 

107 

2 2t2 

1 048 

44  121 

21  252 

Schnitzstoffe 

1 IS99 

1.S4 

1 228 

514 

21  7J_9 

S541 

XIII.  Industrie  der  Nahrungs-  u. 

( IQOO 

71 

310 

22 

7 227 

3 »'4 

Gcnufsmittcl 

1 I 899 

53 

5£I 

LI 

1 25Ü 

3040 

XIV.  Beklcidungs-  u.  Rcinigungs- 

/ 1 QOO 

n 

252 

2QO 

62  552 

7584 

gewerbe 

1 IS99 

64 

671 

?nr> 

0 22\ 

4 946 

XV.  Baugewerbe 

/ 1 900 
11899 

496 

42J 

2869 
3 ‘29 

l ȟ 
985 

71 24i 

25  555 

33  274 
52554 

XVI.  Polygraphische  Gewerbe 

1 1900 
IIS99 

i_6 

12 

ih 

18 

L 

1 6o8 
1 490 

291 

4.U 

' XVII.  Künstlerische  Gewerbe  . . 

1 IQOO 

1 1899 

5 

z 

6 

2 

1 

2 

381 

I 005 

127 

Z8 

XVIII.  Ilandelsgewcrbe  .... 

| I9OO 

1 1S99 

41 

ih 

147 

88 

64 

14  028 
1 752 

3016 

1355 

XX.  Verkehrsgewerbe  .... 

i iquo 

\ 1899 

58 

31 

245 

85 

52 

44 

14  933 
4 552 

9 ll5 
1 861 

XXI.  Beherbergungs-  und  Er- 

| IOOO 

— 

— 

— 

— 

— 

(juickungsgewcrbc 

1 1S99 

3 

2 

IQO 

25 

Gesamtsumme 

S 1900 

' 433 

2142 

2 733 

29S  810 

1 22  803 

(1899 

1 28S 

7 121  1 890 

256  858 

22  552 

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Die  deutsche  StrikcsUtistik. 


167 

Strikes  a)  vollen,  b)  keinen,  ci  teilweisen  Erfolg  hatten  und  für  die 
Strikes  mit  teilweisem  Erfolg  endlich  noch  die  weitere  Gliederung: 
I.  vollen  oder  teilweisen  Erfolg  inbezug  auf  Erhöhung  des  Arbeits- 
lohnes, 2.  vollen  oder  teilweisen  Erfolg  inbezug  auf  Verkürzung 
der  Arbeitszeit  und  3.  vollen  oder  teilweisen  Erfolg  inbezug  auf 
Erhöhung  des  Arbeitslohnes  und  Verkürzung  der  Arbeitszeit.  Für 
1900  sind  auch  hierbei  Angriffs-  und  Abwehrstrikes  unterschieden. 
Die  Gliederung  hinsichtlich  des  teilweisen  Erfolges  geht  auch  hier 
weiter.  Sie  umfafst  folgende  5 Punkte:  r.  vollen  Erfolg  inbezug 
auf  Erhöhung  des  Arbeitslohnes,  2.  teilweisen  Erfolg  inbezug  auf 
Erhöhung  des  Arbeitslohnes,  3.  vollen  Erfolg  inbezug  auf  Erhöhung 
des  Arbeitslohnes  und  vollen  oder  teilweisen  Erfolg  inbezug  auf 
Verkürzung  der  Arbeitszeit,  4.  teilweisen  Erfolg  inbezug  auf  Er- 
höhung des  Arbeitslohnes  und  vollen  oder  teilweisen  Erfolg  in- 
bezug auf  Verkürzung  der  Arbeitszeit,  5.  vollen  oder  teilweisen 
Erfolg  inbezug  auf  Verkürzung  der  Arbeitszeit.  Da  die  Tabelle 
den  gleichen  Kopf  hat,  wie  die  oben  geschilderte  Tabelle  4,  erfahren 
wir  hier  wenigstens  für  das  ganze  Reich  und  die  Gesamtsumme 
der  Strikenden,  wievielen  der  Erfolg  der  Strikes  zugute  ge- 
kommen ist. 

Doch  wir  wollen  auch  hier  nicht  auf  Einzelheiten  näher 
eingehen  und  nur  noch  kurz  ein  Zeugnis  des  amtlichen  Quellen- 
werkes zu  Gunsten  der  Arbeiterorganisationen  registrieren.  S.  64* 
N.  F.  Bd.  141  der  Statistik  des  Deutschen  Reiches  heifst  es  wörtlich: 

„Die  Bedeutung  und  Wirksamkeit  der  Arbeiterorga- 
nisationen dürfte  sich  darin  zeigen,  dafs  von  den  Strikes 
mit  Intervention  von  Berufsvereinigungen  nur  42,3  Proz. 
ohne  jeden  Erfolg  und  41,7  Proz.  mit  teil  weisem  Erfolg 
endeten,  während  sich  die  entsprechenden  Ziffern  bei  den 
Ausständen  ohne  Intervention  solcher  Vereinigungen  auf 
50,5  bezw.  25,4  Proz.  stellen.  Hinsichtlich  der  Fälle  mit 
vollem  Erfolg  ist  allerdings  zu  bemerken,  dafs  die  ohne 
Intervention  von  Berufsvereinigungen  durchgefiihrten  Strikes 
24,1  Proz.,  diejenigen  hingegen,  bei  welchen  Berufsvereini- 
gungen intervenierten , nur  16,0  Proz.  solcher  Fälle  auf- 
weisen." 

Die  Frage  nach  dem  Kontraktbruch  und  dem  Einschreiten  der 
Polizei  bezw.  der  Staatsanwaltschaft  tritt  erheblich  zurück  und  macht 
sich  glücklicherweise  nicht  mehr  so  aufdringlich  geltend,  wie  in 


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i68 


Clemens  Heifs,  Die  deutsche  Strikestatislik. 


den  ersten  Quartalspublikationen.  Sie  wird  in  diesen  sogar  über- 
haupt nicht  mehr  behandelt. 

Wenn  wir  auch  zahlreiche  Ausstellungen  sowohl  hinsichtlich 
der  Erhebung  als  der  Bearbeitung  des  statistischen  Materials  zu 
machen  hatten , so  zeigt  doch  die  zeitig  erschienene  Statistik 
für  1900  gegenüber  dem  Vorjahr  einen  ganz  erheblichen  Fort- 
schritt. Die  Hoffnung  ist  also  vorhanden,  dafs  mit  der  Zeit  eine 
weitergehende  wissenschaftliche  Bearbeitung  des  Materials  zustande 
kommt.  Betreff  der  Art  der  Erhebung  können  wir  allerdings 
nur  von  der  Einführung  von  Arbeiterkammern  und  eines  Reichs- 
arbeitsamtes, die  wohl  früher  oder  später  kommen  mufe,  eine 
gründliche  Reform  erwarten. 


1 


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GESETZGEBUNG. 


DEUTSCHES  REICH. 

Das  Baupfandgesetz. 

Von 

HEINRICH  FREESE, 

in  Berlin. 

Auf  Beschlufs  des  Königlich  Preufsischen  Staatsministeriums 
sind  zwei  neue  Entwürfe  eines  Reichsgesetzes  zur  Sicherung  der 
Hauforderungen  veröffentlicht  worden.  Schon  im  Jahre  1895  hatte 
der  frühere  Justizminister  von  Schelling  fünf  verschiedene  Ent- 
würfe, die  allerdings  nur  die  Bedeutung  von  Skizzen  haben  sollten, 
der  Justizkommission  des  preufsischen  Abgeordnetenhauses  vorge- 
legt. Der  Kommissar  des  Justizministers  Oberlandesgerichts- Präsident 
E i c h h o 1 1 z gab  dabei  zu,  dafs  wenn  man  den  Hauhandwerkern 
wirklich  helfen  wolle,  nichts  übrig  bleiben  werde,  als  Abhilfe  auf 
dem  Gebiete  des  dinglichen  Rechtes  zu  suchen.  Er  fand  aber,  dafs 
die  Mängel  aller  fünf  Entwürfe  so  erheblich  seien,  dafs  er  allen  die 
Ausführbarkeit  entschieden  absprach. 

Im  Jahre  1897  hat  dann  Herr  Justizminister  Dr.  Schönstedt 
zwei  weitere  Entwürfe  veröffentlicht,  ein  Reichsgesetz  zur  Sicherung 
der  Rauforderungen  und  ein  preufsisches  Ausführungsgesetz.  An 
diese  Entwürfe  hat  sich  eine  ziemlich  umfangreiche  Litteratur  ge- 
knüpft. Zumeist  in  Form  von  Broschüren  und  kurzen  Aufsätzen,  an 
der  begreiflicherweise  die  Vertreter  der  Rechtswissenschaft  den 
grölsten  Anteil  gehabt  haben.  In  den  letzten  beiden  Jahren  sind 
auch  zwei  gröfsere  Werke  über  diese  Frage  erschienen.  Von  diesen 
hat  uns  das  eine,  das  bekannte  Buch  von  Dr.  Georg  Solmsscn 
(früher  Salomonsohn)  die  langersehnte  Auskunft  über  die  vielfach 


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70 


Gesetzgebung:  Deutsches  Reich. 


angezogene  amerikanische  Schutzgesetzgebung  verschafft. ')  Das 
andere,  dessen  Verfasser  ich  selbst  bin,  versuchte  die  erste  zu- 
sammenhängende historische  und  kritische  Darstellung  der  ganzen 
Angelegenheit  für  deutsche  Verhältnisse  zu  geben. 

Man  durfte  nach  diesen  Vorgängen  annehmen,  dafs  die  ver- 
bündeten Regierungen  oder  der  preufsische  Justizminister,  in  dessen 
Hände  sie  die  weitere  Förderung  dieser  wichtigen  Angelegenheit 
gelegt  haben,  nunmehr  mit  einer  endgültigen  Vorlage  an  die  gesetz- 
gebenden Körperschaften  herantreten  würde.  Im  Reichstage  ist 
dieser  Erwartung  wiederholt  Ausdruck  gegeben  worden,  zuletzt  am 
iS.  März  1901.  Es  sind  jetzt  beinahe  vier  Jahre  seit  der  Veröffent- 
lichung der  letzten  Gesetzentwürfe  verflossen.  Zehn  Jahre  sind  ver- 
strichen seitdem  der  damalige  Staatssekretär  des  Reichs-Justizamts 
Dr.  Bosse  der  von  mir  geführten  Deputation  Berliner  Bauhand- 
werker bei  Uebergabe  der  vom  Bunde  für  Bodenbesitzreform  aus- 
gearbeiteten Petition  die  Hoffnung  aussprach,  dafs  sich  bis  zur  Ein- 
führung des  Bürgerlichen  Gesetzbuch  noch  Mittel  und  Wege 
finden  liefsen,  den  Forderungen  der  Bauhandwerker  in  irgend  einer 
Form  zu  entsprechen. 

Deshalb  mufste  es  in  den  beteiligten  gewerblichen  Kreisen  eine 
wenig  angenehme  Ueberraschung  hervorrufen , als  sich  aus  den 
kürzlich  erfolgten  Veröffentlichungen  ergab,  dafs  wir  nicht  eine  Vor- 
lage vor  uns  haben,  die  demnächst  im  Reichstage  zur  Verhandlung 
kommen  wird.  Es  sind  wieder  nur  Entwürfe,  die  in  gleicher  Weise 
wie  der  Entwurf  vom  Jahre  1897  auf  Beschlufs  des  Staatsministe- 
riums zu  allgemeiner  Kenntnis  gebracht  werden.  Nur  sind  aus  dem 
einen  Entwürfe  eines  Rcichsgesetzes  in  der  aus  Vertretern  der  be- 
teiligten preufsischen  Ministerien  und  der  Reichsämter  der  Justiz  und 
des  Innern  zur  weiteren  Beratung  eingesetzten  Kommission  zwei  ge- 
worden. Die  Kommission  hat  sich  nicht  einigen  können  und  es  sind 
zwei  Entwürfe  mit  verschiedenem  Inhalt  und  mit  sich  widersprechen- 
den Begründungen  veröffentlicht  worden.  Giebt  es  ein  stärkeres 
Zeichen  vollendeter  Hilflosigkeit  und  ist  es  verwunderlich,  wenn  ich 
als  beteiligter  Gewerbetreibender  in  meiner  ersten  Ueberraschung 
ausrief:  „Die  Medizinmänner  wissen  noch  immer  keine  Hilfe“? 

Die  Haltung  des  Herrn  Justizministers  Dr.  Schönstedt  und  des 


')  Der  gesetzliche  Schutz  der  Baugläubiger  in  den  Vereinigten  Staaten.  Berlin  1900. 
Vgl.  auch  Dr.  Paul  Voigt,  F.in  neuer  Beitrag  zur  Frage  des  Bauhandwerker- 
schutzes, in  diesem  Archiv,  XVI,  204  ff. 


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Heinrich  Freese,  Das  Baupfandgesetz.  \y\ 

prcufsischen  Staatsministeriums  ist  mir  auch  heute  noch  nicht  ganz 
verständlich.  Die  Kommission,  die  die  Minister  eingesetzt  haben, 
kann  wohl  geteilter  Meinung  gewesen  sein.  Die  eine  Hälfte  kann 
dem  Entwurf  A,  die  andere  dem  Entwurf  B den  Vorzug  geben. 
Der  Herr  Justizminister  und  die  Staatsregierung  können  aber  kaum 
zu  gleicher  Zeit  zwei  Meinungen  über  dieselbe  Sache  haben  und 
sie  können  nur  den  Entwurf  A oder  B vertreten.  Was  würde 
man  von  einem  Arzte  sagen,  der  dem  Kranken  gleichzeitig  zwei 
Rezepte  verschreibt  und  sie  der  Oeffentlichkeit  zur  gefälligen  Aus- 
wahl übergeben  wollte.  Bis  die  Oeffentlichkeit  darüber  einig  ge- 
worden ist  kann  der  Kranke  längst  tot  sein.  Ich  kann  deshalb 
mein  Bedauern  über  diese  Entschliefsung  nicht  unterdrücken  und 
werde  dabei  zu  lebhaft  an  die  oft  gehörte  Behauptung  erinnert, 
dafs  unserer  Zeit  der  Beruf  zur  Gesetzgebung  abgehe. 

Die  Ursache  dieses  negativen  Ergebnisses  der  langjährigen  Be- 
ratungen wird  wohl  in  letzter  Linie  in  der  Zusammensetzung  der 
Kommission  zu  suchen  sein.  Eine  schöpferische  Hand  scheint  dabei 
gefehlt  zu  haben,  und  der  Stand  der  Baugewerbetreibenden  ist  an- 
scheinend ganz  unvertreten  geblieben.  Jedenfalls  darf  es  den  Herrn 
Justizminister  nicht  befremden,  dafs  die  Aufnahme  dieser  beiden 
Entwürfe  in  den  gewerblichen  Kreisen  im  ganzen  nicht  so  günstig 
sein  wird,  wie  er  es  wünschen  wird  und  wie  es  seine  guten  Ab- 
sichten zweifellos  verdienen.  Weniger  wäre  auch  in  diesem  Falle 
mehr  gewesen. 

Wenn  ich  diese  Bemerkungen  über  meine  grundsätzliche  Stel- 
lung zu  beiden  Entwürfen  vorausschicke,  so  soll  damit  nicht  gesagt 
sein,  dafs  ich  mich  der  Pflicht  entziehen  will,  beide  Entwürfe  in 
ihren  Einzelheiten  sachlich  zu  prüfen.  Ich  werde  vielmehr  auch 
dieser  unerfreulichen  Haltung  der  Staatsregierung  gegenüber  die 
Stellung  beibehalten,  die  ich  schon  bei  den  Verhandlungen  mit  dem 
späteren  Minister  Dr.  Bosse  und  in  meiner  Kritik  der  Entwürfe 
von  1897  angenommen  habe.  Ich  werde  auch  ferner  jeden  ernsten 
Versuch  unterstützen,  die  Mifsstände  im  Bauwesen  zu  beseitigen 
und  nach  besten  Kräften  dazu  beitragen,  dieses  dunkle  Grenzgebiet 
des  Real-  und  des  Personalkredits  aufzuhellen  und  neu  abzugrenzen. 
Wir  werden  sehen,  dafs  das  erste  herbe  Urteil  über  die  beiden  Ent- 
würfe sich  bei  näherer  Untersuchung  ihrer  Einzelheiten  wesentlich 
günstiger  gestalten  wird. 

Die  Forderung  der  Bauhandwerker  ging  bekanntlich  dahin,  bei 
Neubauten  ein  Vorrecht  vor  allen  eingetragenen  Hypotheken,  seien 


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Gesetzgebung:  Deutsches  Reich. 


sie  als  Restkaufgeld  oder  für  Baugelder  eingetragen  oder  sonstigen 
Ursprungs,  zu  erhalten.  Diese  Forderung  ging  davon  aus,  dafs  es 
die  Arbeit  der  Handwerker  ist,  durch  die  die  Spekulationswerte  der 
Baustellen  ihre  Deckung  erhalten.  Der  Baustellenhändler  sollte  ver- 
hindert werden,  sich  aus  den  Leistungen  der  Bauhandwerker  be- 
zahlt zu  machen.  Der  Geldgeber  sollte  genötigt  werden,  sich  um 
die  Verwendung  der  Baugelder  zu  kümmern.  Nur  die  bezahlten 
Handwerkerlieferungen  sollten  in  das  Pfandrecht  der  eingetragenen 
Hypotheken  fallen,  die  unbezahlten  nicht.  In  der  vorbehaltlos  er- 
folgenden Ueberlassung  der  Leistungen  der  Handwerker  an  die 
Hypothekengläubiger  erblickten  sie  die  letzte  Ursache  ihrer  un- 
sicheren läge. 

Der  Reichsgesetzentwurf  vom  Jahre  1897  kam  diesen  An- 
sprüchen entgegen.  Er  bestimmte,  dafs  in  durch  landesherrliche 
Verordnung  ausgewählten  Gemeinden  oder  Teilen  von  Gemeinden 
vor  Erteilung  der  Baucrlaubnis  ein  Bau  vermerk  einzutragen  sei. 
Der  Bauvermerk  sollte  die  Höhe  des  Baustellenwertes  enthalten. 
Diese  Vorschrift  wurde  beschränkt  auf  Grundstücke , die  in  den 
letzten  fünf  Kalenderjahren  unbebaut  gewesen  waren.  Die  Bau- 
gläubiger sollten  ihre  Bauforderungen  binnen  6 Monaten  nach  der 
Gebrauchabnahme  des  Gebäudes  bei  dem  Grundbuche  anmelden. 
Als  Baugläubiger  sollten  nur  die  Unternehmer  des  Bauwerks  und 
auf  Dienstvertrag  angestcllte  Personen  gelten,  sofern  die  Verträge 
von  dem  Eigentümer  der  Baustelle  oder  für  dessen  Rechnung  ge- 
schlossen wären.  Die  Eintragung  der  Bauforderungen  sollte  durch 
einstweilige  Verfügung  erfolgen.  Wenn  die  vereinbarten  Vergütungen 
die  üblichen  und  mehr  als  den  fünften  Teil  überstiegen,  so  sollte 
jeder  Beteiligte  Einspruch  erheben  können.  Die  Bauforderungen 
sollten  unter  sich  gleichen  Rang  haben  und  bei  der  Zwangsver- 
steigerung den  voreingetragenen  Hypotheken  vorgehen,  soweit  sie 
den  Bauwert  übersteigen.  Baugeldzahlungen,  die  zum  Zweck  der 
Tilgung  von  Bauforderungen  geleistet  werden,  sollten  den  Bau- 
forderungen vorgehen.  Zwangsversteigerungen  sollten  erst  zwei 
Wochen  nach  Ablauf  der  Eintragungsfrist  stattfinden.  Auf  die  den 
Baugeldcrn  gewährten  Rechte  sollte  erst  nach  Beginn  der  Anmelde- 
frist oder  nach  Anordnung  der  Zwangsversteigerung  verzichtet 
werden.  Das  preufsische  Ausführungsgesetz  bestimmte  in  der  Haupt- 
sache, dafs  die  Feststellung  der  Baustellenwerte  durch  Bauschöffen- 
ämter  erfolgen  sollte.  F'ür  deren  Zusammensetzung  und  Wirksam- 
keit wurden  nähere  Anweisungen  gegeben. 


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Heinrich  Frees e,  Das  Baupfandgesetz. 


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Lieber  die  Vorzüge  und  Fehler  dieser  Entwürfe  habe  ich  mich 
ausführlich  in  meinem  Buche:  Das  Pfandrecht  der  Bauhandwerlcer 
ausgesprochen.  r)  Ich  habe  verlangt  1.  dafs  das  Gesetz  nur  für  ganze 
Gemeinden,  nicht  auch  für  Teile  von  Gemeinden  gelten  solle,  2.  den 
Einschlufs  aller  Abrifsbauten,  d.  h.  solcher,  die  an  Stelle  von  abge- 
rissenen Häusern  errichtet  wurden.  Ebenso  auch  gröfserer  Repa- 
raturen. 3.  Ein  volles  Vorrecht  für  die  Arbeiter.  4.  Die  Berück- 
sichtigung auch  solcher  Baugläubiger,  die  nicht  direkt  mit  dem 
Eigentümer  kontrahieren.  5.  Die  Trennung  von  Baustelle  und  Ge- 
bäude in  der  Zwangsversteigerung  und  verhältnismäfsige  Verteilung 
des  Erlöses  auf  die  Gläubiger  der  Baustelle  und  des  Gebäudes. 
6.  Sicherung  des  Baugeldes  nach  den  in  den  Vereinigten  Staaten 
von  Nordamerika  bewährten  Vorschriften.  Insbesondere  keine 
Vorschriften,  die  den  Baugeldgeber  nötigen,  die  Baurechnungen  selbst 
zu  prüfen  und  zu  zahlen. 

In  den  jetzt  veröffentlichen  Gesetzentwürfen  ist  von  einer  Aus- 
dehnung des  Gesetzes  auf  Teile  von  Gemeinden  Abstand  ge- 
nommen (tj  1).  Auch  das  Verlangen,  dafs  die  Baustelle  seit  fünf 
Jahren  unbebaut  sein  müsse,  hat  man  fallen  lassen.  Es  soll  nur  zur 
Zeit  der  Erteilung  der  Bauerlaubnis  unbebaut  sein  (§  2). 
Der  Bau  vermerk  ist  wie  in  dem  früheren  Entwürfe  vor  Erteilung 
der  Baucrlaubnis  einzutragen.  Die  Bauerlaubnis  darf  nur  erteilt 
werden,  wenn  die  dem  Bauvermerk  vorangehenden  Belastungen  den 
Baustellenwert  nicht  übersteigen.  Sonst  ist  durch  Hinterlegung 
von  Geld  oder  Wertpapieren  in  dieser  Höhe  Sicherheit  zu  leisten 
(§  4).  Die  kaufmännischen  Lieferanten  sind  von  dem  Schutz- 
gesetz ausgeschlossen  (§  6).  Dagegen  sind  die  Architekten,  sowie 
die  Fuhrleute  etc.  nach  dem  Wortlaut  mit  eingeschlossen.  Der 
Bauherr  hat  die  Namen  aller  Baugläubiger,  den  Betrag  ihrer  Ver- 
gütung und  die  Zahlungsfristen  oder  die  Verträge  selbst  in  Ur- 
sshrift  oder  Abschrift  mit  allen  Nachrtägen  zum  Grundbuche  einzu- 
reichen. Unterläfst  er  das,  so  ist  er  jedem  Beteiligten  zum  Schaden- 
ersatz verpflichtet  (§  7).  Die  den  Baugläubigern  gewährten  Ver- 
gütungen dürfen  die  üblichen  nicht  übersteigen  (§9).  Die  Schutz- 
frist der  Baugläubiger  ist  auf  drei  Monate  herabgesetzt.  Sie  be- 
ginnt mit  der  Veröffentlichung  der  Gebrauchabnahme  oder  der 
Löschung  der  Bauerlaubnis  (§  12).  Die  Anmeldung  der  Bau- 
forderungen erfolgt  durch  einstweilige  Verfügung  (§  13). 


*)  Leipzig  1901,  Friedrich  Fhnil  Perthes. 


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Gesetzgebung : Deutsches  Reich. 


Die  Anmeldung  einer  Bauforderung  gilt  als  zurückgenomnien,  wenn 
der  Bauherr  dafür  Sicherheit  bestellt  (§  14).  Bis  zur  Löschung 
des  Bauvermerks  ist  die  Einsicht  des  Grundbuches  jedem  gestattet 
(§  16).  Die  Bauforderungen  haben  unter  sich  gleichen  Rang 
(§  19).  Der  Baugelder  vertrag  ist  zum  Grundbuche  cinzu- 

reichen  (§  20).  Der  Baugeldgeber  erhält  ein  Vorrecht  für  alle 
zum  Zwecke  der  Tilgung  einer  Bauforderung  geleisteten  Zahlungen. 
Ebenso  für  Zahlungen,  die  er  in  Höhe  einer  vom  Eigentümer  ge- 
tilgten Bauforderung  an  diesen  leistet  (§  21).  Auf  Antrag  des  Bau- 
geldgebers ist  zur  Vermittelung  der  von  ihm  geleisteten  Zahlungen 
ein  Treuhänder  zu  bestellen  |§  22).  Findet  die  Zwangsver- 
steigerung oder  Zwangsverwaltung  schon  vor  der  Gebrauchabnahme 
und  der  Eintragung  der  Bauhypothek  statt,  so  erlangen  die  Bau- 
gläubiger Befriedigung  auf  Grund  des  Bauvermerks  (§  23).  Die 
Zwangsversteigerung  darf  nicht  früher  als  zwei  Wochen 
nach  dem  Ablauf  der  Eintragungsfrist  für  die  Baugläubiger  statt- 
finden (§  25).  Für  das  Verteilungsverfahren  sind  die  Amtsgerichte 
zuständig  (§  29).  Die  Obliegenheiten  der  Baupolizei  und  des  Treu- 
händers können  auch  einer  Behörde  übertragen  werden  (§  37). 
Die  Werkmeister-Hypothek  nach  § 648  des  Bürgerlichen  Gesetz- 
buches wird  den  Baugläubigern,  die  von  ihren  weiter  gehenden 
Rechten  keinen  Gebrauch  gemacht  haben,  Vorbehalten. 

Der  zweite  Entwurf,  der  zum  Unterschiede  von  dem  ersten, 
der  die  Bezeichnung  A trägt,  mit  B bezeichnet  ist,  enthält  eine 
Reihe  von  Abweichungen  gegen  den  ersten  Entwurf,  die  im  Texte 
durch  Fettdruck  hervorgehoben  sind.  Er  unterscheidet  sich  zunächst 
dadurch,  dafs  die  kaufmännischen  Lieferanten  in  das  Schutzgesetz 
mit  eingezogen  worden  sind  (§  6).  Als  Baugläubiger  gelten  auch 
solche,  welche  zur  Herstellung  des  Bauwerkes  zu  verwendende 
Sachen  geliefert  haben.  Ferner  sind  aufser  den  Unternehmern,  die 
ihre  Werk-,  Dienst-  oder  Lieferungs- Verträge  mit  dem  Eigentümer 
der  Baustelle  oder  für  dessen  Rechnung  geschlossen  haben  (un- 
mittelbare Bauforderungen  l auch  solche  in  das  Schutzgesetz  mit 
eingezogen,  denen  die  Herstellung  des  Bauwerkes  oder  eines  ein- 
zelnen Teiles  eines  Bauwerkes  weiter  übertragen  wurde  (mittelbare 
Bauforderungen).  Als  Nachmänner  gelten  nur  solche,  die  Werk- 
verträge abgeschlossen  haben.  Die  kaufmännischen  Lieferanten,  wie 
auch  die  auf  Dienstverträge  beschäftigten  Personen  bleiben  ausge- 
schlossen (§  6 a).  Mittelbare  Bauforderungen  dürfen  den  Betrag 
nicht  überschreiten,  aus  welchem  dem  unmittelbaren  Vormanne  eine 


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Heinrich  Free  sc,  Das  Baupfandgesetz. 


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Bauforderung  erwachsen  ist ; mehrere  Bauforderungen  desselben 
Vormannes  sind  soweit  erforderlich  verhältnismäfsig  herabzusetzen 
(§  6 b).  Zahlungen  an  einen  Vormann  sind  für  die  Bauforderungen 
seiner  Nachmänner  malsgebend  (§  6 c).  Die  Anzeigen  von  Nach- 
männern  sind  durch  Gerichtsvollzieher  zuzustellen  (§  6d).  Das 
weitere  wird  in  den  §§  7 a — c und  13 — 18  näher  geregelt.  Der 
fünfte  Teil  der  Baugelder  darf  nur  ausgezahlt  werden,  wenn  binnen 
einer  Frist  von  zwei  Wochen  seit  dem  Beginn  der  Anmeldungsfrist 
für  Bauforderungen  kein  Baugläubiger  Widerspruch  erhoben  hat. 
Wird  Widerspruch  erhoben,  so  ist  der  Betrag  zu  hinterlegen  (§  21). 

Das  ist  der  wesentliche  Inhalt  der  Bestimmungen. 

Wie  stellen  wir  uns  zu  diesen  beiden  Entwürfen?  Zunächst 
ist  anzuerkennen,  dafs  wieder  eine  Arbeit  vorliegt,  die  vom  Stand- 
punkte der  Rechtswissenschaft  aus  wahrscheinlich  dasselbe  Lob 
finden  wird,  wie  die  Entwürfe  vom  Jahre  1897.  Es  ist  augen- 
scheinlich, dafs  sich  die  Verfasser  grol'se  Mühe  gegeben  haben,  die 
schwierigen  Rechtsverhältnisse  gegenseitig  zu  ordnen  und  dabei 
alle  Möglichkeiten  zu  berücksichtigen,  die  sich  aus  den  vorhandenen 
komplizierten  Verhältnissen  für  die  Rechtsprechung  ergeben  werden. 
Eine  Reihe  von  tabellarischen  Uebersichten,  wie  sich  die  Abrech- 
nung zwischen  den  verschiedenen  Parteien  stellen  wird,  sind  zur 
weiteren  Erläuterung  in  die  Begründung  eingeschaltet. 

Für  mich  besteht  kein  Zweifel,  dafs  dem  Entwürfe  B der  Vor- 
zug zu  geben  ist.  Es  ist  in  diesem  Entwürfe  der  Versuch  gemacht 
worden,  auch  diejenigen  Bauhandwerker  in  die  Schutzbestimmung 
einzuschliefsen,  die  nicht  direkt  mit  dem  Bauherrn  kontrahiert  haben. 
Ich  habe  vorgeschlagcn,  diese  Unternehmer,  die  nicht  in  unmittel- 
barer Vertragbeziehung  zum  Bauherrn  stehen  „Dritt  unter- 
nehm er"  zu  nennen,  nach  Analogie  der  Bezeichnung  Drittschuldner 
anstelle  der  im  Gesetzentwurf  angewandten  Bezeichnung  Nach- 
männer oder  des  in  den  Motiven  sogar  gebrauchten  unschönen 
Ausdrucks  Unterunternehmer.  Die  Forderung,  dafs  diese  Personen 
in  den  Kreis  der  Baugläubiger  aufgenommen  werden,  hat  schon  der 
Abgeordnete  Schumacher  im  Jahre  1893  in  der  Justizkommission 
des  preufsischen  Abgeordnetenhauses  erhoben,  später  ist  sie  von 
vielen  Seiten,  besonders  auch  vom  deutschen  Juristentage  unter- 
stützt worden.  Dadurch,  dafs  diesen  Drittuntcrnehmern  gesetzlich 
die  Möglichkeit  gegeben  wird,  in  die  Rechte  ihrer  Vormänner  auch 
gegen  deren  Willen  einzutreten,  wird  in  wirksamer  Weise  einer 
Umgehung  des  Schutzgesetzes  vorgebeugt.  Schon  im  Entwürfe  A 


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Gesetzgebung : Deutsches  Reich. 


ist  ini  6 Umgehungsversuchen  ein  kleiner  Riegel  vorgeschoben, 
da  auch  solche  Personen  als  Eigentümer  gelten,  die  den  Bau  mit 
Zustimmung  des  Eigentümers  als  Bauherr  ausführen.  Trotzdem 
liegt  die  Möglichkeit  zu  nahe,  alle  Baugläubiger  dadurch  von  dem 
im  § 6 verlangten  direkten  Vertragschlufs  mit  dem  Eigentümer 
und  damit  von  den  Wohlthaten  des  Gesetzes  auszuschliefsen,  dafs 
die  ganze  Bauausführung  einer  Zwischenperson  übertragen  wird. 
Der  Bauschwindler  X.  ist  der  Eigentümer  der  Baustelle  und  der 
Bauschwindler  Y.  führt  den  Bau  aus.  An  diesen  haben  sich  die 
Bauhandwerker  zu  wenden,  wenn  sie  Arbeit  haben  wollen.  Dieser 
grofsen  Gefahr  können  wir  nur  ausweichen,  wenn  wir  den  Dritt- 
unternehmern  das  Recht  geben,  unter  Ueberspringen  des  vorge- 
schobenen Strohmannes  ihre  Forderungen  geltend  zu  machen. 

Als  Verbesserungen  der  jetzt  vorliegenden  Entwürfe,  gegenüber 
dem  vom  Jahre  1897,  mufs  ich  folgende  anerkennen:  1.  Die  Aus- 
dehnung des  Gesetzes  nur  auf  ganze  Gemeinden,  nicht  auch  auf 
Teile  von  Gemeinden.  2.  Das  Fallenlassen  des  Anspruchs,  dafs  die 
Baustelle  in  den  letzten  fünf  Jahren  unbebaut  sein  sollte.  3.  Die 
Herabsetzung  der  Anmeldefrist  für  Bauforderungen  auf  drei  Monate. 
4.  Die  Beschränkung  der  Bauforderungen  auf  die  üblichen  Ver- 
gütungen. 5.  Die  Möglichkeit,  unberechtigten  Anmeldungen  durch 
Sicherstellung  auszuweichen.  6.  Die  vorgeschriebene  Einreichung 
der  Baugeldverträge  zu  den  Grundbuchakten.  7.  Die  Verweisung 
des  Verteilungsverfahrens  an  das  zuständige  Amtsgericht.  8.  Die 
Beibehaltung  der  Werkmeister-Hypothek  des  § 648  des  Bürgerlichen 
Gesetzbuches  für  alle  Baugläubiger,  die  ihr  Baupfandrecht  nicht  be- 
nutzt haben.  Zu  diesen  Vorzügen  tritt  im  Entwurf  B.  noch  der 
Hinschlufs  der  Drittunternchmcr.  Aufserdem  die  wichtige  Vor- 
schrift, die  der  amerikanischen  Gesetzgebung  entnommen  ist  und 
auf  deren  Anwendbarkeit  ich  in  meinem  Buche  schon  hingewiesen 
hatte,  die  Verpflichtung  des  Baugeldgebers,  den  fünften  Teil  der 
Baugelder  erst  zwei  Wochen  nach  der  Gebrauchabnahme  auszu- 
zahlen. 

Diese  zehn  P'orderungen  sind  mit  alleiniger  Ausnahme  der 
unter  7.  aufgeführten  sämtlich  in  meinem  vorerwähnten  Buche 
Seite  189  und  als  Ergebnisse  meiner  Untersuchungen  aufgestcllt 
und  näher  begründet  worden.  Da  die  Verfasser  der  Entwürfe  weder 
von  meinem  Buche,  noch  ich  von  ihren  Entwürfen  Kenntnis  hatten, 
so  liegt  in  dieser  erfreulichen  Uebereinstimmung  bei  der  sonstigen 
grofsen  Verschiedenheit  unseres  Standpunktes  für  mich  eine  starke 


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Heinrich  F re  esc,  Das  Baupfandgesetz. 


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Gewähr  für  die  Richtigkeit  unserer  Schlussfolgerungen.  Andere 
nicht  minder  wichtige  Forderungen,  die  ich  als  Grundbedingungen 
für  ein  wirksames  Raupfandgesetz  aufgestellt  habe,  sind  aber  unbe- 
rücksichtigt geblieben.  Trntzdem  unterliegt  es  für  mich  keinem 
Zweifel,  dafs  die  Entwürfe  in  ihrer  jetzt  vorliegenden  Gestalt  grofse 
Verbesserungen  gegenüber  den  Entwürfen  von  1897  aufweisen. 

Die  hauptsächlichen  Kehler  der  Entwürfe  sehe  ich  in  folgenden 
Funkten  : Vor  allem  in  der  dem  Bauherrn  auferlegten  Pflicht,  sämt- 
liche I.ieferungsverträge  und  deren  Nachträge  oder  doch  die  jedem 
Unternehmer  zu  zahlenden  Vergütungen  mit  den  Zahlungsfristen 
bei  dem  Grundbuchrichter  einzurcichcn.  Wird  von  einem  Unter- 
nehmer ein  Teil  des  Bauwerkes  an  andere  Unternehmer  weiter 
übertragen,  so  gelten  dieselben  Vorschriften.  Ein  unmögliches  Ver- 
langen. Kein  Bauher  kann  diesen  Ansprüchen  in  vollem  Umfange 
nachkommen,  weil  sich  beständig  während  der  Ausführung  Ab- 
weichungen von  den  Kostenanschlägen  und  Lieferungsverträgen  als 
notwendig  erweisen.  Wohin  diese  Bestimmungen  führen,  zeigt  deutlich 
der  im  Entwurf  B.  § 7 1>  erhobene  Anspruch,  jede  nachträgliche  Be- 
stellung an  einen  Unternehmer  oder  von  diesem  an  einen  Drittunter- 
nehmer  durch  Anschlag  rechtzeitig  auf  dem  Bau  bekannt  zu  geben. 
Das  könnte  nett  werden  ! Der  solide  Bauherr,  und  solche  giebt  es  Gott 
Lob  noch  in  grofser  Zahl,  wird  dadurch  einfach  unter  Polizeiaufsicht 
gestellt  und  das  sogar  dann,  wenn  er  überhaupt  keine  Baugelder 
aufnehmen  will,  sondern  aus  eigenen  Mitteln  baut.  Da  aufserdem 
der  Einblick  ins  Grundbuch  jedem  freistehen  soll,  was  ich  durch- 
aus billige,  so  werden  damit  alle  Verträge  der  öffentlichen  Kontrolle 
überantwortet.  Ich  glaube  nicht,  dafs  diese  Bestimmungen  durch- 
führbar sind  und  wenn  sie  durchführbar  sind,  dafs  sie  gerechtfertigt 
sind.  Den  Anspruch,  dafs  der  Baugeldvcrtrag  einzurcichen  ist,  habe 
ich  selbst  vertreten.  Der  Baugläubiger  mufs  Kenntnis  dieses  Ver- 
trages besitzen.  Ebenso  halte  ich  es  für  notwendig,  dafs  bei  Ueber- 
gabe  der  ganzen  Bauausführung  an  einen  Hauptunternehmer  dieser 
Bauvertrag  zum  Grundbuche  eingcreicht  wird.  Durch  den  Bau- 
geldvcrtrag werden  die  Lieferungen  der  Baugläubiger  im  voraus 
dem  Pfandrechte  eines  Dritten  unterworfen  und  bei  l'ebergabe  der 
Bauausführung  an  einen  Hauptunternehmer  werden  die  Rechte  aller 
Baugläubiger  durch  diesen  Vertrag  ihrem  Umfange  nach  begrenzt. 
Es  ist  daher  billig,  dafs  dem  Baugläubiger  Gelegenheit  gegeben 
wird,  in  diese  Verträge  Einblick  zu  nehmen.  Was  darüber  hinaus 
geht,  ist  aber  vom  Uebel  und  ich  halte  diese  Bestimmungen  des 

Archiv  für  soz.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVII.  12 


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178  Gesetzgebung : Deutsches  Reich. 

§ 7 für  unannehmbar.  Ein  wenig  sonderbar  nimmt  sich  dabei  noch 
die  Bestimmung  aus,  dafs  der  Eigentümer,  wenn  er  die  Einreichung 
der  Verträge  unterläfst,  dem  Baugläubiger  zum  Ersatz  des  daraus 
entstehenden  Schadens  verpflichtet  ist  Diese  Bestimmung  ist  nur 
eine  Fufsangel  für  den  soliden  Unternehmer.  Von  dem  unsoliden. 
Unternehmer,  der  in  doloser  Absicht  die  Einreichung  unterlassen, 
wird  und  die  Baugläubiger  um  ihre  Forderungen  betrügt,  ist  natür- 
lich auch  kein  Schadenersatz  zu  erlangen. 

Sehr  bedauerlich  ist  der  Ausschlufs  aller  an  Stelle  von  abge- 
rissenen Gebäuden  errichteten  Neubauten.  Ich  habe  in  meinem 
Buche  ausführlich  auf  das  Unthunliche  dieses  Ausschlusses  hinge- 
wiesen ')  und  ich  kann  an  dieser  Stelle  nur  auf  das  dort  Gesagte 
verweisen.  Der  Ausschlufs  dieser  Neubauten  von  der  Wohlthat  des 
Gesetzes  läfst  sich  weder  rechtlich  noch  wirtschaftlich  rechtfertigen. 
Gebäude,  die  infolge  von  Brandschaden  wiederherzustellen  sind,  sind 
ebenfalls  ausgeschlossen  worden  (§  2),  obgleich  gerade  hierbei  die 
Anwendung  des  Treuhandsystems  nahe  gelegen  hätte.  Ueber  die 
wichtige  Frage,  ob  Wechsel,  die  der  Bauherr  dem  Baugläubiger 
gegeben  hat,  als  Hindernis  für  die  Anmeldung  einer  Bauforderung 
anzusehen  sind,  eine  Frage,  die  in  der  amerikanischen  Gesetzgebung 
beantwortet  worden  ist,  läfst  sich  die  Begründung  der  Entwürfe 
nicht  aus.  Unzwcckmäfsig  erscheint  mir  auch,  dafs  Bauforderungen, 
die  angemeldet  sind,  die  aber  vom  Bauherrn  getilgt  sind,  in  eine 
dem  Eigentümer  zufallende  Grundschuld  verwandelt  werden.  Da 
die  Lieferanten  unter  Umständen  von  dem  Schutzgesetz  ausge- 
schlossen werden  und  diese  sich  in  diesem  Falle  durch  Sicher- 
heits-Hypotheken, hinter  dem  Baugeld  und  den  Bauforderungen 
decken  werden,  so  sehe  ich  nicht  ein,  warum  getilgte  Bauforderungen 
nicht  im  Grundbuche  gelöscht  werden  sollen,  so  dafs  die  dahinter 
stehenden  Lieferanten  entsprechend  vorrücken.  Die  übrigen  Bau- 
gläubiger  bedürfen  dieser  freigewordenen  Stelle  nicht  mehr,  da  sie 
schon  in  voller  Höhe  gedeckt  sind.  Ferner  ist  gegen  § 23  ein- 
zuwenden, dafs  dort  keine  Frist  vorgesehen  ist,  binnen  welcher 
die  Anmeldung  der  Bauforderungen  erfolgen  mufs.  Ich  glaube,  es 
wird  zweckmälsig  sein,  auch  in  dem  dort  behandelten  halle,  d.  h. 
wenn  die  Zwangsversteigerung  vor  Vollendung  des  Baues  und  Be- 
ginn der  Eintragungsfrist  erfolgt,  die  dreimonatliche  Frist  beizube- 
halten. 

*)  a.  a.  O.  S.  97. 


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Heinrich  Frcest,  Das  Baupfandgesetz. 

Auf  die  Einbeziehung  oder  den  Ausschluss  der  kaufmännischen 
Lieferanten  lege  ich  keinen  entscheidenden  Wert.  Die  Billigkeits- 
griinde  dafür,  sie  mit  zu  berücksichtigen  weil  sie  ebenfalls  zur  Her- 
stellung des  Baues  beitragen,  halten  den  Gegengründen  die  Wage. 
Sie  sind  nicht  wie  der  Bauhandwerker  genötigt,  vorzuleisten  und 
sind  in  der  Regel  wirtschaftlich  stark  genug,  sich  erforderlichenfalls 
anderweit  Sicherheit  zu  erzwingen.  Sache  der  Gesetzgebung  ist  es 
nur,  dafür  zu  sorgen,  dafs  dies  nicht  wie  bisher  auf  Kosten  der 
Handwerker  geschieht.  Auch  haben  die  kaufmännischen  Lieferanten 
durchweg  erklärt,  keiner  gesetzlichen  Sicherung  zu  bedürfen  und 
ich  halte  es  nicht  für  zweckmäfsig,  ihnen  einen  Schutz  aufzudrängen, 
den  sie  nicht  verlangt  haben.  Aufserdem  können  sie  sich  indirekt 
die  Vorteile  des  Gesetzes  sichern,  wenn  sie  ihre  Lieferungen,  Holz, 
Eisen , Steine  nicht  direkt  zum  Bau  liefern,  sondern  an  die  be- 
teiligten Baugewerkmeister.  Diese  geniefsen  den  Schutz  des  Ge- 
setzes und  damit  auch  indirekt  ihre  Lieferanten. . Bei  der  grofsen 
Geschäftskundigkeit  dieser  Lieferanten  kann  man  im  voraus  an- 
nehmen, dafs  sie,  wenn  das  Gesetz  eingeführt  wird,  ohne  Ausnahme 
diesen  Weg  der  Lieferung  wählen  werden.  Damit  ist  die  Sicher- 
heitsfrage für  sie  gelöst. 

Den  Hauptfehler  beider  Entwürfe  sehe  ich  in  der  Abgrenzung 
der  Rechte  der  Baugläubiger  gegenüber  dem  Baustellcnverkäufer. 
Das  Restkaufgeld  des  Baustellenverkäufers  soll,  soweit  dessen  Hypo- 
thek innerhalb  des  Wertes  der  Baustelle  bleibt,  bei  der  Zwangs- 
versteigerung in  voller  Höhe  bevorzugt  bleiben.  Eine  kleine  Be- 
schränkung dieses  Vorzugsrechts  hat  das  Gesetz  dadurch  vorge- 
nommen, dafs  auch  die  zweijährigen  Zinsen  für  die  auf  der  Bau- 
stelle ruhenden  Hypotheken  innerhalb  des  Baustellenwertes  bleiben 
sollen.  Die  Baustelle  darf  also  nur  mit  90 — 92  Proz.  ihres  Wertes 
belastet  sein.  Ich  halte  trotzdem  diese  Abgrenzung  für  unannehm- 
bar. Wenn  der  Neubau  auf  dem  Wege  der  Zwangsvollstreckung 
versteigert  wird,  so  erzielt  weder  das  Gebäude,  noch  die  Baustelle 
den  Preis,  der  im  freien  Verkehr  bei  einem  Verkauf  gezahlt  würde. 
Es  ist  also  ein  Unrecht,  das  man  den  Baugläubigern  und  den  kauf- 
männischen Lieferanten  zufügt,  wenn  man  den  ganzen  Ausfall  bei 
Zwangsversteigerung  ausschliefslich  ihnen  auferlegt.  Der  Baustellen- 
verkäufer, der  durch  den  hohen  Preis  für  seine  Baustelle  zumeist  an 
dem  schlimmen  Ausgang  des  Unternehmens  die  Schuld  trägt,  wird 
dagegen  in  voller  Höhe  gedeckt.  Nachdem  durch  Dr.  Solmssens 
Untersuchungen  festgestellt  worden  ist,  dafs  in  den  Vereinigten  Staaten 

12* 


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i8o 


Gesetzgebung : Deutsches  Reich. 


von  Nordamerika , wenigstens  in  den  jüngeren  Baupfandgesetzen, 
die  Auseinandersetzung  dahin  erfolgt,  dal's  in  der  Zwangsversteige- 
rung Baustelle  und  Gebäude  jedes  für  sich  abgeschätzt  werden  und 
der  Erlös  der  Versteigerung  verhältnistnäfsig  auf  die  Gläubiger  der 
Baustelle  und  die  Gläubiger  des  Gebäudes  (Baugeld  und  Bauforde- 
rungen) verteilt  wird,  sehe  ich  keinen  Grund  mehr  ein,  weshalb  in 
unserer  Gesetzgebung  auf  ältere  und  rechtlich  nicht  zu  begründende 
Vorschläge  zurückgegriffen  werden  soll. 

Die  Ursache  der  anderweiten  Entscheidung,  die  die  Verfasser 
der  Entwürfe  getroffen  haben,  ist  ausschliefslich  in  Gründen  der 
juristischen  Doctrin  zu  suchen.  Man  will  von  dem  Grundsätze 
superficies  solo  cedit,  der  die  letzte  Ursache  der  schlimmen  Zu- 
stände im  Baugewerbe  ist,  nicht  abgehen.  Dieses  Prinzip  soll  auch 
fernerhin  nicht  durchbrochen  werden,  wenigstens  nicht  zu  Gunsten 
der  Handwerker.  Lieber  verletzt  man  die  Ansprüche  der  Billigkeit 
als  ein  wohl  gehütetes  Prinzip.  Trotzdem  Dernburg,  der  treff- 
liche Verteidiger  der  Rechte  der  Handwerker,  schon  vor  langer  Zeit 
darauf  hingewiesen  hat,  dafs  die  Gesetzgebung  nicht  dazu  da  sei, 
Prinzipien  durchzuführen,  sondern  vorhandene  Milsstände  zu  be- 
seitigen. Dabei  verfahren  die  Verfasser  nicht  einmal  konsequent. 
Die  Einräumung  einer  bevorzugten  Rangstellung  an  die  Bau- 
hypothek vor  früher  eingetragenen  Hypotheken  wird  auf  Seite  12 
der  Begründung  (amtliche  Ausgabe)  als  anstölsig  bezeichnet.  Der 
Baugelderhypothek  wird  aber " auf  Seite  14  eine  bevorzugte  Rang- 
stellung dennoch  zugesprochen.  Man  sieht,  die  Verletzung  der 
Grundbuchprinzipien  erregt  nur  Anstofs,  wenn  sie  zu  Gunsten  der 
Bauhandwerker  nicht  wenn  sie  zu  Gunsten  der  Kapitalisten  er- 
folgen soll. 

Wenn  die  Gesetzentwürfe  daran  festgehalten  haben,  die  Ab- 
schätzung der  Baustelle  schon  vor  der  Bauerlaubnis  zu  verlangen, 
während  ich  vorgeschlagen  hatte  ’),  sic  nur  im  Falle  der  Zwangsver- 
steigerung vorzunehmen,  so  können  die  Bauhandwerker  sich  dieser 
Entscheidung  fügen.  Dem  soliden  Bauherrn  wird  dadurch  eine 
Formalität  auferlegt,  die  ich  ihm  gern  erspart  und  ausschliefslich 
dem  Bauschwindler  Vorbehalten  hätte.  Für  den  Handwerker  ist 
aber  die  vor  Beginn  des  Baues  erfolgende  Abschätzung  vorteilhafter, 
weil  anzunehmen  ist,  dafs  der  Wert  des  Grundstückes  durch  die 


*)  a.  a.  O.  S.  206. 


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Heinrich  Freese,  Das  Baupfanclgcscu.  l8l 

Bebauung  nicht  fallen  sondern  steigen  wird.  Die  vorher  erfolgende 
Abschätzung  wird  also  niedriger  ausfallen. 

Um  die  Stellung  der  auf  der  Baustelle  haftenden  Hypotheken 
nicht  zu  erschüttern  und  doch  ein  Uebergreifen  der  Baustellen- 
Hypothek  auf  das  in  der  Entstehung  begriffene  Gebäude  zum  Nach- 
teil der  Baugläubiger  zu  verhindern,  hat  man  den  von  Herrn  Pro- 
fessor Brunner  gemachten  Vorschlag  angenommen.  Danach  hat 
der  Bauherr,  wenn  die  vor  dem  Bauvermerk  eingetragenen  Hypo- 
theken den  Baustellenwert  überschreiten,  für  diesen  Mehrbetrag 
Sicherheit  in  Geld  oder  in  Wertpapieren  zu  hinterlegcn.  Dieser 
Vorschlag  ist  für  die  Baugläubiger  nicht  unannehmbar,  weil  hinter- 
legte Gelder  oder  Wertpapiere  dem  Gläubiger  mehr  Sicherheit 
bieten,  als  die  beste  Stelle  im  Grundbuchc.  Hätte  es  aber  nicht 
noch  näher  gelegen,  für  das  Gebäude  während  des  Bestehens  des 
Bauvermerkes  ein  eigenes  Grundbuchblatt  anzulegen,  wie  dies  im 
Bürgerlichen  Gesetzbuche  vorgeschrieben  ist,  wenn  ein  Bau  auf 
Grund  des  Erbbaurechtes  aufgeführt  wird  ? Oder  hätte  man  nicht 
auf  andere  Weise  Baustelle  und  Gebäude  während  des  Bestehens 
des  Bauvermerkes  trennen  können  ? Dadurch  hätte  man  gleichzeitig 
ermöglichen  können,  dafs  bei  der  Versteigerung  beide  Kategorieen 
von  Gläubigern,  die  Beleiher  der  Baustelle  und  die  Baugläubiger 
gleichmäfsig  berücksichtigt  werden. 

Nicht  geringer  sind  die  Bedenken,  die  ich  gegen  die  in  dem 
Entwürfe  vorgesehene  Regelung  der  Baugeldfrage  habe.  Der  Vor- 
schag,  den  ich  schon  in  meiner  früheren  Arbeit  gemacht  habe,  dem 
Baugeldgeber  auch  Zahlungen  als  Erstattung  von  Bauforderungen 
zu  ermöglichen,  die  der  Bauherr  vorher  getilgt  hat,  ist  allerdings 
im  § 21  angenommen  worden.  Ich  habe  aber  schon  in  meinem 
Buche  darauf  hingewiesen,  dafs  diese  Erleichterung  nicht  ausreichend 
ist.  Nach  dem  Wortlaut  des  5;  21  sollen  den  Bauforderungen  nur 
solche  Zahlungen  Vorgehen,  die  von  dem  Baugeldgcber  „zum 
Zwecke  der  Tilgung  einer  Bauforderung  oder  in  Höhe  einer  von 
dem  Eigentümer  getilgten  Bauforderung  an  diesen  geleistet  ge- 
worden sind".  In  beiden  Fällen  ist  der  Baugeldgeber,  wenn  er 
sicher  gehen  will,  genötigt,  jede  Bauforderung  im  einzelnen  zu 
prüfen. ')  Ich  fürchte,  dafs  kein  Baugeldgeber  hierzu  bereit  sein 
wird. 

Die  Verfasser  der  Entwürfe  haben  das  selbst  eingesehen  und 

*)  Kntwurf  S.  40  der  amtlichen  Ausgabe. 


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Gesetzgebung : Deutsches  Reich. 


haben  deshalb  im  § 22  dem  Baugeldgeber  gestattet,  einen  Treu- 
händer bestellen  zu  lassen.  Das  ist  allerdings  ein  Ausweg.  Ob 
nach  den  Erfahrungen,  die  wir  auf  anderen  Gebieten  des  Hypo- 
thekenverkehrs mit  Treuhändern  gemacht  haben,  dieser  Weg  noch 
zu  empfehlen  ist,  mufs  ich  anheimstellen.  Auch  in  den  Vereinigten 
Staaten  von  Nordamerika  sind  die  Erfahrungen,  die  man  damit  ge- 
macht hat,  nicht  die  besten,  ln  dem  Buche  von  Dr.  Solmssen 
wird  dies  ausdrücklich  hervorgehoben.  *)  Ich  will  es  wünschen,  dafs 
wir  in  Deutschland  bessere  Erfahrungen  machen. 

Im  § 37  hat  man  schon  als  letztes  Mittel  die  Uebertragung 
dieser  Verrichtungen,  sowie  die  der  Baupolizei  einer  Behörde  Vor- 
behalten. Das  hat  besonders  Justizrat  Dr.  Reuling  befürwortet. 
Ich  habe  schon  in  meinem  Buche  (Seite  189)  meine  Bedenken  gegen 
eine  so  weit  gehende  obrigkeitliche  Einmischung  ausgesprochen 
und  habe  der  Meinung  Ausdruck  gegeben,  dafs  man  dann  auch  noch 
einen  Schritt  weitergehen  und  das  ganze  Bauwesen  verstaatlichen 
könne.  Wenn  man  schon  die  amerikanische  Gesetzgebung  als  Vor- 
bild benutzen  will,  so  sollte  man  meines  Erachtens  das  wählen, 
was  sich  bewährt  hat  und  nicht  das,  was  sich  nicht  bewährt  hat. 
Warum  beschränkt  man  sich  nicht  darauf,  zu  verlangen,  dafs 
erstens  der  Baugeldvertrag  zu  den  Grundbuchakten  einzureichen  ist. 
Zweitens  habe  ich  in  meinem  Buche  s)  verlangt,  dafs  der  Baugeld- 
geber die  Beträge  für  alle  bei  ihm  durch  einstweilige  Verfügung  an- 
gemcldeten  Bauforderungen  zurück  zu  halten  hat.  Das  hat  auch  der 
Justizminister  v.  Schell  ing  in  seinem  Entwürfe®)  empfohlen,  ent- 
spricht dem  amerikanischen  Rechte  und  es  ist  sehr  bedauerlich,  dafs 
man  diesen  Vorschlag  nicht  in  Erwägung  gezogen  hat.  Schliefslich 
soll  der  Baugeldgeber  noch,  wie  dies  im  Entwurf  B schon  vorgesehen 
ist,  ein  Fünftel  des  Baugeldes  nicht  früher  als  zwei  Wochen  nach 
der  Gebrauchabnahme  zahlen.  Diese  drei  Mafsregeln  haben  sich  in 
den  Vereinigten  Staaten  als  ausreichend  erwiesen  und  es  erscheint 
mir  weder  als  zweckmäfsig  noch  ratsam,  darüber  hinaus  zu  gehen. 

Die  zuletzt  genannte  Bestimmung,  die  ich  auch  in  meinem 
Buche  befürwortet  habe,  ist  mehrfach  beanstandet  worden.  Sie 
sichert  aber  den  letzten  am  Bau  beteiligten  Handwerkern  wenigstens 
einen  Teil  ihrer  Forderungen  und  in  der  Zurückhaltung  dieses  Teiles 


*)  a.  a.  O.  S.  66. 

*)  a.  a.  O.  S.  197,  198- 
*)  Entwurf  S.  155. 


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Heinrich  Frcesc,  Das  Baupfandgesetz. 


183 


■der  Baugelder  bis  zwei  Wochen  nach  der  Gebrauchabnahme  ist 
keine  Benachteiligung  des  Bauherrn  oder  der  Baugläubiger  zu  er- 
blicken. 

Sehr  zweckmäfsig  ist  es,  dafs  man  durch  § 16  bis  zur  Löschung 
des  Bauvermerkes  jedem  die  Einsicht  in  das  Grundbuch  gestattet 
hat.  Das  ist  von  mehreren  Seiten  gewünscht  worden,  und  ich  habe 
diesen  Anspruch  ebenfalls  erhoben.  Dagegen  ist  cs  bedauerlich, 
dafs  man  nicht  den  weiteren  Vorschlag  angenommen  hat,  den  der 
Schutzverein  Berliner  Bauinteressen  und  der  Oberlandesgerichtsrat 
Magens  befürwortet  haben,  mit  der  Zwangsversteigerung  eines 
unter  dem  Baupfand  stehenden  Gebäuden  stets  ein  Konkurs- 
verfahren zu  verbinden  und  die  Kosten  aus  dem  Erlös  der 
Liegenschaften  zu  decken.  Die  übrigen  Mafsregeln,  die  im  Bau- 
pfandgesetz' getroffen  werden,  richten  sich  vornehmlich  gegen  die 
kapitalistischen  Beleihen  Diese  Vorschrift  würde  sich  ausschliefslich 
gegen  die  Person  des  Bauschwindlers  richten.  Der  Baulöwe  han- 
tiert mit  Tausenden,  aber  einen  Konkurs  giebt  es  nicht.  Einfach 
weil  aufser  den  Baulichkeiten  fast  nie  eine  Masse  vorhanden  ist  und 
weil  diese  ausschliefslich  den  Ilypothekengläubigern  Vorbehalten 
bleibt.  Nur  wenn  mit  der  Zwangsversteigerung  ein  partielles  Kon- 
kursverfahren verbunden  wird,  kann  der  Bauunternehmer  angehalten 
werden,  nachzuweisen,  aus  welchen  Ursachen  der  Zusammenbruch 
erfolgt  ist,  und  dafs  er  ordnungsgemäfs  Bücher  geführt  hat.  Ohne 
ein  Konkursverfahren  ist  gerade  diese  letzte  Vorschrift,  auf  die  von 
Gegnern  des  Baupfandgesetzes  stets  hingewiesen  wird,  gegen- 
standslos. 

Sehr  wünschenswert  wäre  es,  wenn  man  die  Stellung  des  Ar- 
beiters verbessern  könnte.  Es  ist  nicht  gerecht,  ihn  mit  seiner 
Lohnforderung  auf  die  Bauhypothek  zu  verweisen.  Seiner  wirtschaft- 
lich noch  schwächeren  Lage  entspricht  nur  ein  volles  Vorrecht. 
Aufserdem  erscheint  es  unbillig,  ihn  als  Drittgläubiger  ganz  auszu- 
schliefsen.  Die  dafür  auf  S.  60  der  Begründung  angeführten  Gründe 
sind  wenig  einleuchtend.  Im  übrigen  mufs  ich  auch  in  dieser  Hin- 
sicht auf  das  darüber  in  meinem  Buche  Seite  110,  201  und  212 
gesagte  hinweisen. 

Soll  ich  mein  Urteil  über  die  beiden  Entwürfe  zusammenfassen, 
so  glaube  ich  erwiesen  zu  haben,  dafs  sie  zweifellos  gegenüber  dem 
Entwürfe  von  1897  wesentliche  Vorzüge  aufweisen.  Es  gilt  das  be- 
sonders von  dem  Entwurf  B,  den  meines  Erachtens  der  Herr 
Justizminister  allein  hätte  veröffentlichen  sollen.  Im  ganzen  ist  im 


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Gesetzgebung : Deutsches  Reich. 


Gesetze  der  Baustellenhandel  zu  günstig  und  der  Baugeldgebcr  zu 
ungünstig  behandelt  worden.  Die  Entwürfe  dürfen  aber  als  eine 
annehmbare  Grundlage  für  die  Gesetzgebung  angesehen  werden. 

Im  Folgenden  geben  wir  ihren  Wortlaut  wieder: 


Entwürfe  eines  Reichsgesetzes,  betreffend  die  Sicherung  der 
Bauforderungen. 


Bearbeitet  von  einer  Kommission,  bestehend  aus  Vertretern  der 
beteiligten  preufsisclicn  Ministerien  und  der  Rcichsämtcr  der 
Justiz  und  des  Innern  und  zu  Folge  eines  Beschlusses  des 
preufsisclicn  St aa t s m in is t cri  u m s im  September  1901 
veröffentlicht. 


Die  von  dem  Entwurf  A abweichenden  und  ergänzenden  Be- 
stimmungen sind  in  Kursivschrift  gesetzt. 


Erster  Abschnitt. 

Sicherung  der  Bauforderungen. 

g l.  Durch  landesherrliche  Verordnung  kann  angeordnet  werden, 
dafs  lür  einzelne  Gemeinden  im  Kalle  der  Errichtung  eines  Neubaues  eine 
Sicherung  der  Baufordenmgen  nach  den  Vorschriften  dieses  Gesetzes  statttindet. 
Die  Sicherung  erfolgt  durch  Eintragung  einer  Hypothek  (Ba  u h y po  t h ek)  und,  so- 
weit die  der  Bauhypothek  vorgehenden  Belastungen  den  Baustellcnwcrt  übersteigen, 
durch  Hinterlegung  von  Geld  oder  Wertpapieren. 

gl.  Neubau  im  Sinne  dieses  Gesetzes  ist  jedes  zu  Wohn-  oder  gewerb- 
lichen Zwecken  bestimmte  Gebäude,  das  aul  einer  Baustelle  errichtet  wird,  welche 
zur  Zeit  der  Erteilung  der  Bauerlaubnis  unbebaut  oder  nur  mit  Gebäuden  unter- 
geordneter Art  besetzt  ist. 

Ist  für  ein  versichertes  Gebäude  die  Versicherungssumme  nach  den  Ver- 
sichcrungsbedingungen  nur  zur  Wiederherstellung  zu  zahlen,  so  finden  auf  den 
Wiederaufbau  die  Vorschriften  dieses  Gesetzes  keine  Anwendung. 

g 3.  Zur  Sicherung  des  Ranges  der  Bauhypothek  ist  vor  dem  Beginne  des 
Baues  der  Vermerk,  dafs  das  Grundstück  bebaut  werden  soll  (Bauvermerk),  in 
das  Grundbuch  einzutragen. 

4.  Die  Rauerlaubnis  darf  von  der  BaupolizcibchÖrde  nur  erteilt  werden, 
wenn  der  Bauvermerk  eingetragen  ist  und  entweder  die  dem  Bauvermerke  vorgehen- 


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Entwürfe  eines  Reicl  sgesotzes,  betr.  die  Sicherung  der  Hauforderungen.  |S^ 

den  Belastungen  den  Baustcllcnwcrt  nicht  übersteigen  oder  gemäfs  £ 1 durch  Hinter- 
legung Sicherheit  geleistet  ist. 

Bei  der  Feststellung  der  Belastungen  kommen  nur  in  Ansatz: 

1.  Hypotheken  und  Grundschulden  mit  ihrem  Kapitalbetrag  und  zweijährigen 
Zinsen  ;* 

2.  Rentenschulden  und  solche  Reallasten,  welche  die  Leistung  von  Geld- 
renten zum  Gegenstände  haben,  mit  ihrer  Ablösungssumme ; 

3.  nicht  ablösbare  Geldrenten  mit  ihrem  nach  § 9 der  Zivilprozefsordnung 
zu  berechnenden  Werte; 

4.  öffentliche  Lasten,  die  nicht  in  wiederkehrenden  Leistungen  bestehen,  ins- 
besondere die  Verpflichtung  zur  Leistung  von  Beiträgen  für  die  Kosten 
der  Herstellung  einer  Strafse,  mit  dem  von  der  Baupolizeibehörde  zu 
schätzenden  Betrage  dieser  Lasten. 

Rechte,  die  durch  Eintragung  einer  Vormerkung  oder  eines  Widerspruchs 
gesichert  sind,  stehen  eingetragenen  Rechten  gleich. 

Zu  einer  Kangünderung,  durch  die  dem  Bauvermerke  der  Vorrang  vor 
anderen  Rechten  c ingeräumt  wird,  genügt  an  Stelle  der  Einigung  des  zurücktretenden 
und  des  vertretenden  Berechtigten  die  Erklärung  des  zurücktretcnden  Berechtigten 
gegenüber  dem  Grundbuchamte.] 

§ 5.  Leber  die  Eintragung  des  Bau  vermerk  es  hat  das  Grundbuchamt  von 
Amtswegen  eine  Bescheinigung  zu  erteilen;  in  dieser  Bescheinigung  ist  der  Ge- 
samtbetrag der  im  § 4 Abs.  2 Nr.  1 bis  3 bezeichneten  Belastungen  anzugeben,  so- 
weit sic  dem  Bauvermerke  vergehen. 

Der  Baustelienwert  ist  durch  eine  Bescheinigung  der  zuständigen  Behörde 
nachzuweisen. 

Die  Grundsätze  für  die  Bemessung  des  Baustellenwcrts  und  das  Feststellungs- 
Verfahren  werden,  sofern  sie  nicht  landesgesetzlich  geregelt  sind,  durch  landesherr- 
liche Verordnung  bestimmt.  Das  Gleiche  gilt  von  den  für  das  Feststellungsverfahren 
und  die  Eintragung  des  Bauvermerkes  sowie  der  Bauhypothek  zu  erhebenden  G c - 
b ü h r e n. 


Zweiter  Abschnitt. 

Baugläubiger. 

§ 6.  Als  Baugläubiger  gelten  die  an  der  Herstellung  des  Bauwerkes  oder 
eines  einzelnen  Teiles  des  Bauwerkes  auf  Grund  eines  Werk-  oder  Dienst- 
vertrags Beteiligten  [Zusatz  in  Enticurf  B:  sowie  diejenigen,  welche  zur 
Herstellung  des  Bauwerks  zu  verwendende  Sachen  geliefert  haben ] wegen 
ihrer  Ansprüche  auf  die  in  Geld  vereinbarte  Vergütung,  sotern  die  Werk-  oder 
Dienstverträge  [Entwurf  B:  Werk Dienst  oder  Lieferungscer  trüge]  von  dem 
Eigentümer  der  Baustelle  oder  für  dessen  Rechnung  geschlossen  worden  sind  (Hau- 
Forderungen  [Entwurf  B : unmittelbare  Bauforderungen]).  Dem  Eigentümer  der 


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Gesetzgebung : Deutsches  Reich. 


Baustelle  steht  gleich,  wer  den  Bau  mit  Zustimmung  des  Eigentümers  als  Bauherr 
ausführt  Durch  eine  nachträgliche  Veräufscrung  der  Baustelle  werden  die  Rechte 
der  Baugläubiger  nicht  berührt 

Zusätze  im  Entwurf  B:  ffff  Hu  — 6d. 

ff  Ga.  lut  dir  einem  Unternehmer  übertragene  Herstellung  des  Bauwerkes 
oder  eines  einzelnen  Teiles  des  Bautcerkes  an  andere  Unternehmer  (Xach- 
tnänner)  weiter  übertragen  worden,  so  gelten  auch  die  Xochmänner  wegen  der 
ihnen  ans  dem  Werkverträge  gegen  ihre  Vormänner  zustehenden  Ansprüche  als 
Bangläubiger  ( mittelbare  Bauforderungen). 

ff  Hb.  Mittelbare  Bauforderungen  dürfen  den  Betrag  nicht  überschreiten, 
für  welchen  dein  unmittelbaren  Vormann  eine  Bauforderung  enrarhsen  ist: 
mehrere  Bauforderungen  von  Xaehmännern  desselben  Vormanns  sind  soweit  er- 
forderlich eerhiHtnismäfsig  herabzusetzen.  Ist  die  Banforderung  eines  Xach- 
manns  nach  Satz  1 herabzusetzen,  so  ist  der  herabgesetzte  Betrag  für  den  Um- 
fang der  Bauforderungen  seiner  Xachmänner  mafsgebend. 

ff  6c.  Sind  vor  der  Eintragung  der  Bauhg/sdhek  Zahlungen  an  einen 
Vormann  auf  dessen  Banforderung  geleistet,  so  ist  der  verbleibende  Best  der 
Bauforderung  des  Vormanns  für  den  Umfang  der  Bauforderungen  seiner  Xach- 
rniinner  mafsgebend. 

ff  Hd.  Hat  ein  Xachmann  seine  Banforderung  dem  Schuldner  eines  Vor- 
manns  angezeigt,  so  tritt  die  angezeigte  Forderung  bis  zur  Höhe  der  an  den 
Vormann  nach  der  Anzeige  geleisteten  Zahlungen  an  die  Stelle  der  Bauforde- 
rung des  Vormann*.  Sind  mehrere  gegen  denselben  Vormann  bestehende  Bau- 
forderungen, deren  Summe  die  an  den  Vormann  geleistete  Zahlung  übersteigt, 
angezeigt,  so  findet  eine  rerhältnismäfsige  Herabsetzung  der  jedem  Xaehmanne 
zufallenden  Beträge  der  Bauforderungen  des  Vorman ns  statt.  Bestehen  mehrere 
angezeigte  Bauforderungen  gegen  verschiedene  Vormänner,  so  schliefst  der  frühere 
Xachmann  den  sjsiteren  aus,  soweit  die  ( on  ihnen  angezeigten  Beträge  sich 
decken. 

Die  Anzeige  ist  durch  Gerichtsvollzieher  zuzustellen:  sie  verliert  ihre 
Kraft,  wenn  nicht  binnen  drei  Wochen  eine  schriftliche  Anerkennung  der  Bau- 
forderung durch  den  Vormann  oder  eine  die  Aufrechterhaltung  der  Anzeige 
anordnende  einstweilige  Verfügung  zugestcllt  wird.  Auf  die  Erlassung  der 
einstweiligen  Verfügung  finden  die  Vorschriften  des  ff  lä  entsprechende  An- 
wendung. 

§ 7.  Der  Eigentümer  hat  sor  dem  Beginne  des  Baues  dem  Grundbuch- 
amt eine  Erklärung  einzureichen,  aus  welcher  ersichtlich  sind: 

1.  die  Personen  der  nach  § 6 als  Baugläubiger  anzusehenden  Unternehmer 
des  Bauwerkes  oder  einzelner  Teile  des  Bauwerkes; 

2.  der  Betrag  der  jedem  Unternehmer  zu  zahlenden  Vergütung : 

3.  die  Fristen,  in  denen  die  Vergütung  zu  zahlen  ist 

Werden  die  Verträge  mit  den  Unternehmern  abgeändert  oder  erst  später  ge- 


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Entwürfe  eines  Reichsgesetzes,  betr.  die  Sicherung  der  Bauforderungen.  187 

schlossen,  so  hat  der  Eigentümer  unverzüglich  dem  Grundbuchamt  eine  Erklärung 
einzurcichen,  welche  die  im  Abs.  I vorgesehenen  Angaben  enthält  oder  berichtet. 

Die  Erklärungen  sind  von  «lern  Eigentümer  zu  unterzeichnen. 

Ist  ein  schriftlicher  Vertrag  geschlossen,  so  kann  statt  der  Erklärung  der  Ver- 
trag in  Urschrift  oder  in  einer  von  dem  Eigentümer  Unterzeichneten  Abschrift  cin- 
gereicht  werden.  Die  Einsicht  der  Erklärungen  und  Verträge  ist  Jedem  gestattet. 

Erfüllt  der  Eigentümer  die  ihm  nach  Abs.  i bis  4 obliegenden  Verpflichtungen 
nicht,  so  ist  er  jedem  Beteiligten  zum  Ersätze  des  daraus  entstehenden  Schadens 
verpflichtet. 

Die  sich  auf  den  Eigentümer  beziehenden  Vorschriften  der  Abs.  I bis  5 rinden 
auf  diejenigen  Unternehmer  entsprechende  Anwendung,  welche  die  Herstellung  des 
Bauwerkes  oder  einzelner  Teile  des  Bauwerkes  an  andere  Unternehmer  weiter  über- 
tragen. 

Zusätze  in  Entwurf  B:  7a  — 7c. 

§ 7 a.  Soweit  ein  Fachmann  nach  § 7 Schadensersatz  gegen  den  Eigen- 
tümer beanspruchen  kann,  gilt  seine  Bauforderung  als  unmittelbare  Bauforde- 
rung;  die  Vorschriften  der  ff  ff  6 b,  6c  finden  keine  Anwendung. 

Soweit  ein  Fachmann  nach  ff  7 Schadensersatz  gegen  einen  Enternehmer 
beanspruchen  kann,  gilt  der  Unternehmer  als  unmittelbarer  Vormann. 

ff  7b.  Wird  an  einen  Vormann  eine  Zahlung  auf  Grund  eines  Vertrags 
geleistet , der  nicht  nach  ff  7 angezeigt  worden  ist,  oder  war  die  Zahlung  nach 
Maßgabe  der  abgegebenen  Erklärungen  noch  nicht  fällig  und  kannte  in  diesem 
Falle  der  Zahlende  die  Absicht  des  Empfängers , seine  Fachmänner  zu  benach- 
teiligen, so  treten  die  Bauforderungen  der  Fachmänner  bis  zur  Höhe  der 
Zahlung  an  die  Stelle  der  Bauforderung  des  Vormanns.  Die  Vorschriften  des 
ff  6d  Abs.  I Satz  2,  3 finden  entsprechende  Anwendung. 

Ist  eine  Erklärung  nicht  vor  dem  Beginne  des  Baues  eingereicht , so  ist 
sie  nur  zu  berücksichtigen,  wenn  sie  mindestens  eine  Woche  vor  der  Zahlung 
durch  Anschlag  auf  dem  Baue  bekannt  gemacht  ist. 

ff  7c.  Jeder  Unternehmer  haftet  dein  Besteller  dafür , daß  von  den  Fach- 
männern des  Unternehmers  Bauforderungen  nur  bis  zur  Bähe  des  von  dem 
Besteller  an  den  Unternehmer  oder  dessen  Rechtsnachfolger  geschuldeten  Be- 
trags geltend  gemacht  werden. 

§ 8.  Dem  Baugläubiger  steht  eine  Bauforderung  nur  insoweit  zu,  als 
seine  Leistungen  in  den  Bau  verwendet  worden  sind.  Ist  diese  Verwendung  nicht 
vollständig  erfolgt,  so  ist  die  vereinbarte  Vergütung  in  dem  Verhältnisse  herab- 
zusetzen, in  welchem  bei  dem  Abschlüsse  des  Vertrags  der  Wert  der  vereinbarten 
Leistung  zu  dem  Werte  der  in  den  Bau  verwendeten  Leistung  gestanden  haben  würde. 

§ 9.  Ucbersteigt  die  vereinbarte  Vergütung  die  übliche  Vergütung 
offenbar  in  erheblichem  Mafsc,  so  kann  jeder  Beteiligte  verlangen,  dafs  bei  der  Be- 
rechnung der  Ansprüche  aus  der  Bauhypothek  an  Stelle  des  vereinbarten  Preises 
der  übliche  Preis  zu  Grunde  gelegt  wird. 


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1 88 


Gesetzgebung:  Deutsches  Reich. 


Dritter  Abschnitt. 

Bauvermerk.  Bauhypothek. 

§ io.  Die  Eintragung  des  Bau  Vermerkes  erfolgt  auf  Antrag  des  Eigen- 
tümers. Bildet  die  Baustelle  nur  einen  Teil  eines  Grundstücks,  so  ist  sic  von  dem 
Grundstück  abzuschrciben  und  als  selbständiges  Grundstück  cmzutragen. 

Der  Eigentümer  kann  bei  der  Baupolizeibehörde  beantragen,  dafs  sic  die  Ein- 
tragung des  Bauvermerkes  veranlasse.  In  diesem  Falle  erfolgt  die  Eintragung  auf 
Ersuchen  der  Baupolizeibehörde;  das  Ersuchen  soll  erst  gestellt  werden,  wenn  die 
Baupolizeibchörde  die  Erteilung  der  Bauerlaubnis  für  wahrscheinlich  erachtet. 

§ II.  Der  Bauvermerk  wird  gelöscht,  wenn  dem  Grundbuchamt  eine  Be- 
scheinigung der  Baupolizeibehörde  vorgelegt  wird,  dass  vor  dem  Beginne  des  Baues 
die  Bauerlaubnis  erloschen  oder  von  dem  Baue  Abstand  genommen  ist. 

§ 12.  Die  Baugläubiger  können  ihre  Bauforderungen  bei  dem  Grund- 
buchamte binnen  einer  Frist  von  drei  Monaten  anmelden,  nachdem  die  Bau- 
polizeibehörde in  dem  für  ihre  Bekanntmachungen  bestimmten  Blatte  veröffentlicht 
hat,  dafs  baupolizeiliche  Bedenken,  das  Gebäude  in  Gebrauch  zu  nehmen,  nicht  be- 
stehen, oder  dafs  die  Baucrlaubnis  nach  dem  Beginne  des  Baues  erloschen  ist.  Die 
Frist  beginnt  mit  dem  Tage,  an  welchem  das  die  Veröffentlichung  enthaltende  Blatt 
ausgegeben  wird.  Die  Veröffentlichung  soll  spätestens  einen  Monat  nach  der  Ge- 
brauchsabnahme  oder  nach  dem  Erlöschen  der  Bauerlaubnis  erfolgen.  Von  der  er- 
folgten Veröffentlichung  hat  die  Baupolizeibchörde  dem  Grundbuchanit  unverzüglich 
Mitteilung  zu  machen. 

§ 13.  Die  Anmeldung  einer  Bauforderung  ist  nur  wirksam,  wenn  bis  zum 
Abläufe  der  Anmeldungsfrist  die  schriftliche  Zustimmung  des  Eigentümers 
zur  Anmeldung  oder  eine  gegen  den  Eigentümer  ergangene,  die  Anmeldung  zu- 
lassende einstweilige  Verfügung  zu  den  Akten  des  Grundbuchamts  eingcreicht 
wird.  [Zusatz  in  Entwurf  B:  Bei  mittelbaren  Bau  fordern  ngen  müssen  der 
unmittelbare  Vormann  und  die  weiteren  Vor  man  71  er  in  der  Zustimniungs- 
erklär  ung  oder  in  der  einstweiligen  Verfügung  angegeben  sein.  Das  Grundbuch- 
amt hat,  sobald  eine  Anmeldung  wirksam  geworden  ist,  dem  Anmcldendcn  eine 
Bescheinigung  über  die  Anmeldung  zu  erteilen. 

Zur  Erlassung  der  einstweiligen  Verfügung  sind  glaubhaft  zu  machen : 

1.  der  von  dem  Anmcldendcn  abgeschlossene  Vertrag; 

2.  die  Verwendung  seiner  Leistungen  in  den  Bau  und  bei  teilweiser  Ver- 
wendung der  nach  g 8 zu  berechnende  Betrag  der  Bauforderung; 

3.  wenn  der  Vertrag  nicht  mit  dem  Eigentümer  abgeschlossen  ist,  die  Vor- 
aussetzungen, unter  denen  nach  § 6 der  Vertrag  einem  mit  dem  Eigen- 
tümer geschlossenen  Vertrage  gleich  steht. 

Entwurf  B lautet  in  # IS  von  Abs.  2 Sr.  S ab: 

S.  bei  Bauf Order ungen  eines  Xaehmanns  die  Angemessenheit  der  verein- 
barten 1 'ergiitung  ; 

4.  bei  unmittelbaren  Bau forder ungen  und , iccnn  ein  anderer  als  der 


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Entwürfe  eines  Reichsgesetzes,  betr.  die  Sicherung  der  Bauforderungen.  189 

Vertragsgegner  als  unmittelbarer  Yormann  bezeichnet  wird,  dir  in 
den  §#  (i,  6d,  7a  oder  7b  bestimmten  Voraussetzungen; 

5.  bei  mittelbaren  Bauforderungen  die  Heihenfolge  der  Yorntänner,  so- 
fern sieh  diese  nicht  aus  den  nach  § 7 erstatteten  Anzeigen  ergiebt. 

Wird  Widerspruch  gegen  die  einstweilige  Verfügung  erhoben,  so  ist  die 
Verfügung  auch  aufzuheben,  soweit  das  Xichtbestchen  der  Bauforderung  in  Ge- 
nuifshe.it  der  Vorschriften  der  Ob,  6c  glaubhaft  gemacht  wird. 

§ 14.  Liegen  bei  dem  Ablaufe  der  Anmcldungsfrist  wirksame  A n meid  ungen 
nicht  vor,  so  wird  der  Bauvermerk  von  Amtswegen  gelöscht. 

Die  Zurücknahme  einer  Anmeldung  bedarf  der  für  Eintragungs- 
bewilligungen in  der  Grundbuchordnung  vorgeschriebenen  Form. 

Der  Zurücknahme  einer  Anmeldung  steht  es  gleich,  wenn  dem  Grundbuch- 
ainte  nachgewiesen  wird,  dafs  für  die  angemeldetc  Forderung  Sicherheit  ge- 
leistet ist. 

Die  Sicherheit  ist  durch  Hinterlegung  von  Geld  oder  Wertpapieren  zu  be- 
wirken. 

Das  Grundbuchamt  hat  auf  Antrag  dem  Anmeldenden  eine  Frist  zu  bestimmen, 
binnen  welcher  dieser  dem  Grundbuchamtc  die  Einwilligung  in  die  Rückgabe 
der  Sicherheit  zu  erkliiren  oder  die  Erhebung  der  Klage  wegen  seiner  An- 
sprüche nachzuweisen  hat.  Nach  dem  Ablaufe  der  Frist  hat  das  Grundbuchamt  auf 
Antrag  die  Rückgabe  der  Sicherheit  anzuordnen,  wenn  nicht  inzwischen  die  Er- 
hebung der  Klage  nachgewiesen  ist.  Auf  das  Verfahren  finden  die  Vorschriften 
des  Gesetzes  über  die  Angelegenheiten  der  freiwilligen  Gerichtsbarkeit  entsprechende 
Anwendung ; gegen  den  Bcschlufs,  durch  welchen  der  Antrag  auf  Bestimmung  einer 
F'rist  abgelehnt  wird,  steht  dem  Antragsteller,  gegen  die  Entscheidung  über  die 
Rückgabe  der  Sicherheit  beiden  Teilen  die  sofortige  Beschwerde  zu. 

$ 15.  Liegen  bei  dem  Ablaufe  der  Frist  wirksame  Anmeldungen  vor,  so  wird 
von  Amtswegen  unter  Löschung  des  Bauvermerkes  eine  als  Bauhypothek  zu  be- 
zeichnende Hypothek  mit  dem  Range  des  Bauvermerkes  eingetragen.  Mit  der 
Eintragung  entsteht  die  Hypothek.  Die  Baubypothck  gilt  als  Sicherungshypothek, 
auch  wenn  sie  im  Grundbuch  nicht  als  solche  bezeichnet  ist. 

Der  Gesamtbetrag  der  Bauhypothek  wird  durch  die  Summe  der  wirksam 
angemeldctcn  Bauforderungen  bestimmt.  Zinsen  der  Bauforderungen  werden  nicht 
berücksichtigt. 

Entwurf  B hat  statt  des  vorstehenden  Absatzes  folgende  zwei  Absätze: 

Bei  der  Bestimmung  des  Betrags  der  Bauhypothek  sind  zu  berück- 
sichtigen : 

1.  die  Anmeldungen  der  unmittelbaren  Bau  fordern  tu/en  : 

2.  die  Anmeldungen  der  unmittelbaren  Bauforderungen,  soweit  sie  nicht 
in  Anmeldungen  der  Vormänncr  Deckung  finden. 

Zinsen  der  Bau f orderungen  werden  nicht  berücksichtigt. 

Bei  der  Eintragung  der  Bauhypothek  sind  aufser  ihrem  Gesamtbeträge  die  den 
einzelnen  Baugliiubigem  zustehenden  Teilbeträge  anzugeben. 


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190 


Gesetzgebung : Deutsches  Reich. 


Wird  gcmäfs  § I durch  Hinterlegung  Sicherheit  geleistet,  so  vermindert  sich 
der  Betrag  der  Bauhypothek  um  den  Betrag  der  Sicherheit  unter  vcrhältnismäfsigcr 
Herabsetzung  der  den  einzelnen  Baugläubigem  zustehenden  Teilbeträge. 

Zusatz  in  Entwurf  B:  § loa. 

Für  mittelbare  Bauforderungen  ist,  soweit  diese  in  Anmeldungen 
der  Vormänner  Deckung  finden,  zugleich  mit  der  Bauhgjxtfhek  ein  Pfand - 
recht  einzutragen.  Das  Pfandrecht  entsteht  mit  der  Eintragung  und  geht 
anderweit  begründeten  dinglichen  Hechten  im  Bange  vor. 

Das  Pfandrecht  besteht  an  der  Bauforderung  des  unmittelbaren  Vormanns. 
Hat  der  unmittelbare  Vormann  seine  Bauforderung  nicht  oder  nicht  in  einem 
zur  Deckung  der  Bauforderung  des  Nachmanns  ausreichenden  Betrag  ange- 
meldet, so  besteht  das  Pfandrecht  in  Höhe  des  nicht  gedeckten  Betrags  an  der 
Bauforderung  des  nächsten  anmeldenden  Vormanns  und  soweit  erforderlich 
weiterer  Vormänner.  Die  Bauforderungen  mehrerer  Nachmänner  desselben  Yor- 
manns  haben  unter  sich  gleichen  Bang. 

Ergiebt  sich,  dass  die  von  einem  Vormann  angcmeldete  Bauforderung  zur 
Zeit  dir  Eintragung  der  Bauhgpothek  nicht  bestand,  so  haben  die  Xachmänner 
dieselben  Hechte,  welche  sie  haben  würden,  wenn  die  Anmeldung  des  Vornuinns 
nicht  erfolgt  wäre. 

§ 16.  Bis  zur  Löschung  des  Bauvermerkcs  ist  die  Einsicht  des  Grund- 
buchs und  der  im  § 1 1 der  Grundbuchordnung  bczeichneten  Urkunden  sowie  der 
Mitteilungen  der  Baupolizeibehörde  Jedem  gestattet. 

§ 17.  Beruht  die  Wirksamkeit  einer  Anmeldung  auf  einer  einstweiligen 
Verfügung  und  wird  diese  nach  der  Eintragung  der  Bauhypothek  durch  rechts 
kräftige  Entscheidung  aufgehoben,  so  erwirbt  der  Eigentümer  des  Grundstücks 
den  dem  Anmeldendcn  zustehenden  Teilbetrag  der  Bauhypothek.  Zusatz  in  Ent- 
wurf B die  Vorschrift  des  $ Iba  Abs.  3 wird  hierdurch  nicht  berührt. 

§ 18.  Leistet  der  Eigentümer  für  eine  angcmeldete  Bauforderung  Sicher- 
heit, so  erwirbt  er  den  dem  Annieldcnden  zustrhenden  Teilbetrag  der  Bauhypothek 
Zusatz  in  Entwurf  B:  oder  das  dem  Au  meldenden  zustehende  Pfandrecht . 
Die  Vorschriften  des  § 14  Abs.  4,  5 finden  entsprechende  Anwendung. 

§ 19.  Mehrere  bei  der  Eintragung  der  Bauhypothek  berücksichtigte  Bau- 
forderungen  haben  unter  sich  gleichen  Rang. 

Verwandelt  sich  ein  Teil  der  Bauhypothek  in  eine  dem  Eigentümer 
des  Grundstücks  zufallcnde  Grundschuld,  so  kann  diese  zum  Nachteile  der  den  Bau- 
gläubigern verbleibenden  Bauhypothck  nicht  geltend  gemacht  werden. 

Die  Vorschrift  des  Abs.  2 findet  entsprechende  Anwendung,  wenn  ein  Teil  der 
Bauhypothek  in  eine  gewöhnliche  Hypothek,  eine  Grundschuld  oder  Rentcnschuld 
umgewandelt  oder  wenn  an  die  Stelle  einer  Bauforderung,  für  welche  die  Bau- 
hypothek besteht,  eine  andere  Forderung  gesetzt  W’ird. 

§ 20.  Der  Rang  der  Bauhypothek  gegenüber  anderen  Rechten  be- 
stimmt sich  nach  der  Eintragung  des  Bauvermerkes.  Ist  jedoch  nach  dem  Bauver- 
merk eine  Hypothek  zu  Gunsten  eines  Gläubigers  eingetragen,  welcher  die  Gcwäh- 


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Entwürfe  eines  Rcicbsgcsctzes,  bctr.  die  Sicherung  der  Bauforderungen.  \(j\ 

rung  von  Baugeldern  übernommen  hat,  so  gelten  für  diese  Hypothek,  falls  sie  bei 
der  Eintragung  als  Baugelderhypothek  bezeichnet  ist,  die  Vorschriften  der  §§21,22. 

Das  Grundbuchamt  soll  eine  Baugcldcrhypotheknur  eintragen,  wenn 
der  Baugcldervertrag  zu  den  Akten  des  Grundbuchamtes  eingereicht  ist. 

§ 21.  Die  Baugel  de  rliy  pothek  geht  der  Ba  u h yp  o th  e k im  Range  um 
den  Betrag  derjenigen  Zahlungen  vor,  welche  in  Anrechnung  auf  die  Baugelder  von 
dem  Baugeldgeber  zum  Zwecke  der  Tilgung  einer  Bauforderung  an  den  Baugläubiger 
oder  in  Höhe  einer  von  dem  Eigentümer  getilgten  Bauforderung  an  diesen  geleistet 
worden  sind.  I)cr  Vorrang  ist  ausgeschlossen,  soweit  dem  Baugeldgeber  zur  Zeit 
der  Zahlung  bekannt  war,  dafs  die  Bauforderung  nicht  bestehe;  der  Kenntnis  steht 
eine  auf  grober  Fahrlässigkeit  beruhende  Unkenntnis  gleich. 

Zusatz  in  Entwurf  B:  ff  21.  .16».  2,  3. 

ln  Ansehung  des  fünften  Teiles  der  Baugelder  finden  die  Vorschriften  des 
Abs.  1 keine  Anwendung,  wenn  binnen  einer  Frist  von  zwei  Wochen  seit  dem 
Beginne  der  Anmeldungsfrist  ein  Baugläubiger  Widerspruch  gegen  die  .-lii*- 
zahlung  erhoben  hat.  Wird  Widerspruch  erhoben,  so  ist  der  Baugeldgeber  be- 
rechtigt, den  fünften  Teil  des  Baugeldes  mit  der  Wirkung  zu  hinterlegen,  dafs 
die  Baugelderhypothek  in  Höhe  des  hinterlegten  Betrags  der  Bauhypothek  im 
Range  vorgeht.  Auf  den  hinterlegten  Betrag  finden  die  Vorschriften  des  vierten 
Abschnitts  entsprechende  Anwendung. 

Der  Widerspruch  gegen  die  Auszahlung  ist  dem  Baugeldgeber  durch  einen 
Gerichtsvollzieher  zuzustellen.  Der  Widerspruch  verliert  seine  Wirkung,  wenn 
nicht  dem  Baugeldgeber  t nur  dem  Ablaufe  der  Anmeldungsfrist  die  im  ff  13 
Abs.  1 Satz  3 bezeichnet e Bescheinigung  des  Grundbuchamts  vorgelegt  wird . 
Wird  der  Widerspruch , zurückgenommen,  so  gilt  er  als  nicht  erfolgt. 

§ 22.  Auf  Antrag  des  Baugeldgebcrs  ist  zur  Vermittelung  der  von  ihm  zu 
leistenden  Zahlungen  ein  Treuhänder  zu  bestellen.  In  diesem  Kalle  begründen 
alle  nach  Mafsgabc  der  Anweisungen  des  Treuhänders  geleisteten  Zahlungen  den 
V'orrang  vor  der  Bauhypothek,  sofern  der  Baugeldgeber  durch  Anschlag  auf  dein 
Baue  bekannt  gemacht  hat,  dafs  er  durch  Vermittelung  des  Treuhänders  Zahlung 
leisten  werde.  Der  Treuhänder  darf  die  Anweisung  zur  Zahlung  nur  erteilen,  soweit 
der  Baugeldgeber  nach  Mafsgabc  des  § 21  zur  Zahlung  mit  Wirkung  gegen  die 
Baugläubiger  berechtigt  ist. 

Entwurf  B schiebt  hier  folgenden  Absatz  ein:  Dem  Treuhänder  ist  der 
Widerspruch  gegen  die  Auszahlung  des  fünften  Teiles  der  Baugelder  zuzustellen 
und  die  Bescheinigung  des  Grundbuchamts  vorzulegen. 

Soweit  die  Leistung  von  Zahlungen  durch  Vermittelung  des  Treuhänders  von 
diesem  [Entwurf  B sagt  statt  „von  diesem oder  die  nach  ff  21  Abs.  2 er- 
folgte Hinterlegung  von  dem  Treuhänder j in  öffentlich  beglaubigter  Form  be- 
scheinigt wird,  hat  das  Grundbuchamt  den  Vorrang  der  Baugelderhypothek  vor  der 
Bauhypothek  in  das  Grundbuch  einzutragen. 

Auf  den  Treuhänder  finden  die  für  einen  Pfleger  geltenden  Vorschriften  des 
Bürgerlichen  Gesetzbuchs,  mit  Ausnahme  des  § 1 7^5»  entsprechende  Anwendung* 


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Gesetzgebung:  Deutsches  Reich. 


Der  Treuhänder  kann  für  die  Führung  seines  Amtes  eine  angemessene  Ver- 
gütung verlangen.  Vor  der  Festsetzung  der  Vergütung  soll  der  Baugeldgeber  soweit 
thunlich  gehört  werden. 

Durch  Anordnung  der  Landesjustizverwaltung  können  die  dem  VormundschafU- 
gerichl  in  Ansehung  der  Treuhänder  obliegenden  Verrichtungen  für  mehrere  Amts- 
gerichtsbezirke einem  Amtsgericht  übertragen  werden. 

§ 23.  Ist  im  Falle  der  Zwangsversteigerung  oder  der  Z w a n g s v c r w a I - 
tung  zur  Zeit  der  Eintragung  des  Vollstreckungsvcrmerkes  die  Eintragung  der  Bau- 
liypothck  noch  nicht  erfolgt,  so  können  die  Baugläubiger  auf  Grund  des  Bauver- 
merkes Befriedigung  aus  dem  Grundstücke  verlangen;  die  Vorschriften  der  §§15 
/.matz  in  Entwurf  II:  loa  . 18  bis  22  linden  entsprechende  Anwendung. 

§ 24.  Das  Grundbuchamt  hat  im  Falle  des  § 23  nach  der  Eintragung  des 
Vollstreckungsvermerkes  dem  Vollstreckungsgericht  eine  beglaubigte  Abschrift  der 
wirksamen  Anmeldungen  zu  erteilen.  Baugläubiger,  für  die  nach  der  Mitteilung  des 
Grundbuchamts  zur  Zeit  der  Eintragung  des  Vollstreckungsvcrmerkes  eine  wirksame 
Anmeldung  vorlag,  stehen  für  das  Vollstreckungsverfahren  Gläubigem,  die  zu  dieser 
Zeit  im  Grundbuch  eingetragen  waren,  gleich. 

Liegt  später  eine  wirksame  Anmeldung  vor,  so  hat  das  Grundbuchamt  sic  dem 
Vollstreckungsgerichte  nachträglich  mitzuleilen;  die  Mitteilung  ersetzt  die  Anmeldung 
und  Glaubhaftmachung  der  Forderung  im  Vollstreckungsverfahren. 

§ 25.  Hatte  zur  Zeit  der  Eintragung  des  Vollstreckungsvcrmerkes  die  An- 
meldungsfrist bereits  begonnen,  so  darf  der  Versteigerungstermin  nicht  auf  einen 
früheren  Zeitpunkt  als  zwei  Wochen  nach  dem  Abläufe  der  Frist  bestimmt  werden. 
Ist  diese  Vorschrift  verletzt,  so  ist  der  Zuschlag  zu  versagen. 

Beginnt  die  Anmeldungsfrist  im  Laufe  des  Vollstrcckungsverlahrcns,  so  kann 
jeder  an  dem  Verfahren  Beteiligte  die  Aufhebung  des  Termins  und  die  Bestimmung 
eines  anderen  Termins  verlangen,  wenn  der  Terrain  auf  einen  früheren  als  den  nach 
Abs.  1 zulässigen  Zeitpunkt  bestimmt  ist.  Im  Falle  der  Verletzung  dieser  Vorschrift 
ist  der  Zuschlag  zu  versagen,  es  sei  denn,  dafs  das  Recht  des  Beteiligten  durch 
den  Zuschlag  nicht  beeinträchtigt  wird  oder  der  Beteiligte  das  Verfahren  genehmigt. 
Die  Genehmigung  ist  durch  eine  öffentlich  beglaubigte  Urkunde  nachzuweisen. 

§ 26.  Soweit  durch  ein  Urteil  der  Widerspruch  eines  Baugläubigers  gegen 
die  Aufnahme  der  Forderung  eines  anderen  Baugläubigers  in  den  Verteilungsplan 
rechtskräftig  als  begründet  anerkannt  ist,  wirkt  das  Urteil  für  alle  Baugläubiger. 
I »er  widersprechende  Baugläubiger  kann  Erstattung  seiner  Prozefskosten  aus  dem 
bei  der  Verteilung  auf  die  Baugläubiger  entfallenden  Betrag  insoweit  verlangen,  ab 
infolge  des  \\  iderspruchs  der  Anteil  des  Prozefsgegncrs  an  diesem  Betrage  vermindert 
ist.  [Zusatz  in  Entwurf  JE  Ist  der  Prozefngegner  ein  Xachmann , so  kann  di e 
Erstattung  nur  denjenigen  ßaugtä ubigern  gegenüber  verlangt  werden , denen  der 
Wegfall  den  XachmannB  zum  Vorteile  gereicht. | 


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Entwürfe  eines  Kcichsgcsetzes,  bctr.  die  Sicherung  der  Hauforderungen. 

Vr  i c r t e r A b s c h n i 1 1. 

Sicherheitsleistung. 

§ 27.  Eine  geniäfs  § I durch  Hinterlegung  bestellte  Sicherheit  haftet 
den  Haugläubigem  in  der  gleichen  Weise,  wie  ihnen  kraft  der  Hauhypothek  das 
Grundstück  haftet. 

§ 28.  Wird  der  Hauvermerk  nach  $}  1 1 oder  § 14  gelöscht,  so  hat  das 
Grundbuchanit  auf  Antrag  die  Rückgabe  der  Sicherheit  anzuordnen.  Das 
Gleiche  gilt,  wenn  dem  Grundbuchamte  nach  dem  Ablaufe  der  Anmeldungsfrist  die 
Zustimmung  aller  Haugläubiger,  für  welche  wirksame  Anmeldungen  vorliegen,  in  der 
für  Eintragungsbewilligungen  durch  die  Grundbuchordnung  vorgeschriebenen  Form 
nachgewiesen  wird ; die  Zustimmung  eines  Haugläubigers  kann  dadurch  ersetzt 
werden,  dafs  zu  seinen  Gunsten  Sicherheit  geleistet  wird.  Auf  die  Sicherheitsleistung 
finden  die  Vorschriften  des  g 14  Abs.  4,  5 Anwendung. 

£ 29.  Nach  dem  Ablaufe  der  Anmeldungslrist  kann  der  Eigentümer  sowie 
jeder  Haugläubiger,  welchem  die  Sicherheit  haftet,  die  Einleitung  eines  Vertei- 
lungsverfahrens beantragen. 

Für  das  Verteilungsverfahren  ist  das  Amtsgericht  zuständig,  in  dessen  Bezirke 
das  Grundstück  belegen  ist. 

Gegen  den  Heschlufs,  durch  welchen  der  Antrag  auf  Einleitung  des  Verteilungs- 
verfahrens  zurückgewiesen  wird,  steht  dem  Antragsteller  die  Beschwerde  zu. 

Der  Bcschlufs,  durch  welchen  der  Antrag  eines  Haugläubigers  zugclassen  wird, 
ist  auch  dem  Eigentümer  zuzustcllcn ; dem  Eigentümer  steht  gegen  den  Heschluls 
die  sofortige  Beschwerde  zu. 

Auf  die  Beschwerde  finden  die  Vorschriften  der  Civilprozcfsordnung  ent- 
sprechende Anwendung. 

§ 36.  Wird  der  Antrag  zugelassen,  so  hat  das  Gericht  gleichzeitig  das  Grund- 
buchamt um  Erteilung  einer  beglaubigten  Abschrift  der  wirksamen  Anmeldungen  zu 
ersuchen. 

Sind  Wertpapiere  hinterlegt,  so  hat  das  Gericht  die  Veräufserung  der  Papiere 
nach  Mafsgabc  der  Vorschriften  über  die  Zwangsvollstreckung  anzuordnen ; der  Erlös 
ist  zu  hinterlegen.  Ist  das  Verfahren  auf  Antrag  eines  Haugläubigers  eingeleitet 
worden,  so  darf  die  Veräufserung  erst  angeordnet  werden,  wenn  der  Bcschlufs, 
durch  welchen  der  Antrag  zugelassen  w'ird,  rechtskräftig  geworden  ist. 

§ 31.  Das  Gericht  hat  nach  dem  Eingänge  der  beglaubigten  Abschrift  der 
wirksamen  Anmeldungen,  im  Falle  des  § 30  Abs.  2 jedoch  nicht  vor  der  Hinter- 
legung des  Erlöses  einen  Termin  zur  Verteilung  zu  bestimmen. 

Die  Terminsbestimmung  ist  dem  Eigentümer  sowie  jedem  Baugläubiger,  für 
welchen  eine  wirksame  Anmeldung  vorliegt,  zuzustellen ; sie  soll  an  die  Gerichtstafel 
angeheftet  werden. 

$ 32.  Auf  das  Verteilungsverfahren  linden  die  Vorschriften  des  § 106,  des 
£ 107  Abs.  1 Satz  1,  des  § in,  des  § 113  Abs.  1,  des  § 114  Abs.  I,  der  §§  115, 
117,  119,  120,  124,  126,  des  § 127  Abs.  2,  3 und  der  135,  J37  bis  142  des 
Gesetzes  über  die  Zwangsversteigerung  und  die  Zwangsverwaltung  entsprechende  An- 
Archiv  für  <oi.  üf«t»gehung  u.  Stn*i*tik.  XVII.  13 


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194 


Gesetzgebung : Deutsches  Reich. 


Wendung.  Ansprüche,  für  die  nach  der  Mitteilung  des  Grundbuchamts  eine  wirk- 
same Anmeldung  vorliegt,  gelten  ira  Sinne  des  § 124  Abs.  I als  Ansprüche,  die  zur 
Zeit  der  Fintragung  des  Versteigerungsvermerkes  aus  dem  Grundbuch  ersichtlich  waren. 

§ 33.  Sind  ein  Verteilungsverfahren  in  Ansehung  der  Sicherheit  und  ein  Ver- 
teilungsverfahren über  den  Erlös  des  mit  der  Bauhypothek  belasteten  Grundstücks 
gleichzeitig  anhängig,  so  hat  das  Gericht  beide  Verfahren  zu  verbinden.  Die  Ver- 
bindung findet  nicht  mehr  statt,  sobald  in  einem  der  Verfahren  der  Vcrteilungstermin 
abgehaltcn  ist. 

§ 34.  Im  Falle  des  § 23  erstreckt  sich  das  Verteilungsverfahren  über  den 
Erlös  des  Grundstücks  zugleich  auf  die  gemäfs  § I durch  Hinterlegung  geleistete 
Sicherheit.  Die  Vorschriften  des  § 30  Abs.  2 finden  entsprechende  Anwendung. 

Fünfter  Abschnitt. 

Schlufsbestimmungen. 

§ 35.  Soll  das  Gebäude  von]  einem  Erbbauberechtigten  errichtet  werden,  so 
ist  der  Bauvermerk  auf  dem  Grundbuchblatte  des  Erbbaurechts  cinzutragen.  Der 
Wert  des  Erbbaurechts  tritt  an  die  Stelle  des  Baustellenwerts. 

Bei  der  Feststellung  der  Belastungen  sind  sowohl  die  auf  dem  Erbbaurecht 
als  die  auf  dem  Grundstücke  haftenden,  dem  Erbbaurechte  vorgehenden  Belastungen 
zu  berücksichtigen. 

Die  sich  auf  den  Eigentümer  beziehenden  Vorschriften  dieses  Gesetzes  finden 
auf  den  Erbbauberechtigten  Anwendung. 

§ 36.  Auf  die  durch  dieses  Gesetz  den  Baugläubigern  gewährten  Rechte 
kann  erst  nach  dem  Beginne  der  Anmeldungsfrist  oder  nach  der  Anordnung  der 
Zwangsversteigerung  oder  der  Zwangsverwaltung  verzichtet  werden. 

§ 37.  Durch  Landesgesetz  können  die  nach  diesem  Gesetze  der  Bau  Polizei- 
behörde obliegenden  Verrichtungen  einer  anderen  Behörde,  die  nach  § 22 
einem  Treuhänder  obliegenden  Verrichtungen  einer  Behörde  übertragen  werden. 

§ 38.  Auf  Grundstücke  des  Fiskus  und  solche  Grundstücke,  welche  einem 
dem  öffentlichen  Verkehre  dienenden  Bahnunternehmen  gewidmet  sind,  sowie 
auf  Grundstücke,  die  nach  landesherrlicher  Verordnung  ein  Grundbuch  blatt 
nur  auf  Antrag  erhalten,  finden  die  Vorschriften  dieses  Gesetzes  keine  An- 
wendung. 

Das  Gleiche  gilt  von  den  Grundstücken  eines  Landesherrn  und  den 
Grundstücken,  welche  zum  Hausgut  oder  Familiengut  einer  landesherrlichen  Fa- 
milie, der  Fürstlichen  Familie  Hohenzollern  oder  der  Familie  des  vormaligen 
Hannoverschen  Königshauses,  des  vormaligen  Kurhessischen  und  des  vormaligen 
Nassauischcn  Fürstenhauses  gehören. 

§ 39-  Wird  die  im  $$  1 vorgesehene  landesherrliche  Verordnung 
zurückgenommen,  so  finden  die  Vorschriften  dieses  Gesetzes  nur  noch  in  An- 
sehung der  Grundstücke  Anwendung,  bei  denen  ein  Bauvermerk  oder  eine  Bau- 
hypothek bereits  eingetragen  ist. 


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ITALIEN. 


Das  neue  Gesetz,  betreffend  die 
National -Versorgungskasse  für  die  Invalidität  und 
das  Alter  der  Arbeiter. 

Eingelcitct  von 

Prof.  CARLO  F.  FERRARIS 

in  Padua. 


Durch  das  Gesetz  vom  17.  Juli  1898  wurde  in  Italien  eine 
National  -Versorgungskasse  für  die  Invalidität  und  das  Alter  der 
Arbeiter  geschaffen. 

Die  Erfahrung  der  ersten  Jahre  hat  die  Notwendigkeit  einiger 
Veränderungen  und  neuer  Vorschriften  gezeitigt.  Durch  das  Gesetz 
vom  7.  Juli  1901  wurden  sie  dekretiert.  Zugleich  wurde  die 
Regierung  ermächtigt,  das  neue  und  das  frühere  Gesetz  in  einem 
einheitlichen  Texte  zu  vereinigen , und  so  ist  das  jetzt  geltende 
Gesetz  vom  28.  Juli  1901,  Nr.  387,  zustande  gekommen. 

Dieses  Gesetz  hat  die  innere  Einrichtung  der  National  -Ver- 
sorgungskasse in  ihren  Hauptzügen  unverändert  gelassen;  es  ist 
daher  unnötig,  eine  vollständige  Darstellung  derselben  zu  geben, 
und  ich  verweise  auf  meine  Abhandlung  über  das  Gesetz  von 
1898  in  diesem  Archiv,  Band  XIII,  S.  651  ff. 

Im  folgenden  werde  ich  nur  die  neuen  Bestimmungen  kurz 
andeuten  und  erläutern. 

1.  Das  Gesetz  hat  zuerst  die  Eingänge,  welche  aus  dem  früheren 
kirchlichen  Vermögen  (dem  sogenannten  Kultusfonds)  und  aus  der 
Verjährung  der  aufser  Kurs  gesetzten  und  nicht  zur  Einlösung 
gelangten  staatlichen  Kassenscheine  zu  I und  2 Lire  und  der  alten 
Noten  der  Zettelbanken  in  die  Nationalkasse  flielsen  sollen,  besser 
geregelt,  und  die  Grundsätze  für  die  Anlegung  der  der  Kasse 

‘3* 


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196 


Gesetzgebung : Italien. 


gehörenden  Kapitalien  und  der  Zinszahlungen  aus  den  für  Rechnung 
der  Nationalkasse  in  der  Zentraldepositen-  und  Anleihenkasse  hinter- 
legten Kapitalien  festgestellt.  Das  Gesetz  hat  weiterhin  einige  Ein- 
künfte der  Nationalkasse  von  der  sehr  lästigen  Mobiliar-Einkommen- 
steuer, und  die  von  der  Kasse  gewährten  Leibrenten  und  die  den 
Erben  Versicherter  bezahlten  Summen  von  dieser  Steuer  wie  von 
der  Erbschaftssteuer  befreit. 

2.  Dem  Versicherten  wurde  erlaubt,  zwei  oder  mehrere  Jahres- 
beiträge, deren  Minimalbetrag  6 Lire  ist,  auf  einmal,  resp.  im  I-aufe 
eines  Jahres  zu  bezahlen.  Demgemäfs  kann  er,  wenn  er  in  den 
folgenden  Jahren  aufser  stände  ist,  den  Betrag  zu  zahlen,  die  Vor- 
teile der  Kasse  für  so  viele  Jahre  geniefsen,  als  sein  geleisteter 
Beitrag  den  jährlichen  Minimalbeitrag  von  6 Lire  darstellt.  Wenn 
er  z.  B.  in  einem  Jahre  24  Lire  bezahlt  hat,  so  kann  er  fiir  vier 
Jahre  die  jedem  Versicherten  zugesicherte  Anteilquote  erhalten, 
auch  wenn  er  in  den  drei  folgenden  Jahren  keinen  Beitrag  ge- 
leistet hat. 

3.  Um  auf  die  Altersrente  Anspruch  zu  erhalten,  soll  der  Ver- 
sicherte mindestens  25  Jahre  der  Kasse  angehört  haben.  Doch 
erfährt  diese  allgemeine  Regel  folgende  Modalitäten  und  Ausnahmen : 

a)  Die  Männer,  welche  jene  Bedingung  erfüllt  und  das  60.  Alters- 
jahr erreicht  haben,  können  den  Schlufs  der  Rechnung  und  die 
Liquidation  der  Rente  fordern,  oder  beide  bis  zum  65.  Altersjahre, 
aber  nicht  weiter,  verschieben. 

b)  Die  Frauen,  welche  jene  Bedingung  erfüllt  und  das  55-  Alters- 
jahr erreicht  haben,  können  den  Schlufs  der  Rechnung  und  die 
Liquidation  der  Rente  fordern,  oder  beide  bis  zum  60.  Altersjahr, 
aber  nicht  weiter,  verschieben. 

c)  Arbeiter,  welche  schon  in  vorgerücktem  Alter  stehen,  können 
mit  Verkürzung  der  Normalperiode  von  25  Jahren  der  Kasse  bei- 
treten, sie  sollen  jedoch  mindestens  IO  Jahre  der  Kasse  angehören. 
Die  Verkürzung  kann  beliebig  2 bis  15  Jahre  umfassen,  aber  es 
sollen  dann  eben  so  viele  Jahresbeiträge  (von  mindestens  6 Lire 
jeder),  mit  den  Zinseszinsen  bezahlt  werden,  als  die  Zahl  der  Jahre 
ist,  für  welche  die  Verkürzung  verlangt  wurde.  Die  Erlaubnis,  mit 
einer  solchen  verkürzten  Periode  sich  einzuschreiben,  erlischt  am 
31  Dezember  1903.  Um  die  Bezahlung  der  Beiträge  zu  erleichtern, 
nimmt  die  Kasse  Ratenzahlungen  bis  zum  31.  Dezember  1903  an. 
Auch  bereits  Versicherten,  welche  in  vorgerücktem  Alter  stehen, 
hat  die  Verwaltung  der  Kasse  gestattet,  die  Verkürzung  der  Normal- 


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Carlo  F.  Ferraris,  Das  neue  Gesetz,  betr.  d.  National- Versorgungskasse  etc.  j gy 

periode  unter  den  oben  beschriebenen  Bedingungen  zu  erlangen. 
Das  Gesetz  ermächtigt  aufserdem  die  Kasse,  diesen  mit  verkürzter 
Periode  Versicherten  nicht  nur  die  ordentlichen  Anteilquoten,  welche 
sie  jedes  Jahr  aus  ihren  Einkünften  in  gleicher  Summe  in  der  indivi- 
duellen Rechnung  und  auf  dem  Inskriptionsbuch  der  Versicherten 
für  diese  gutschreibt , sondern  auch  spezielle  Anteilquoten  ebenso 
zu  verrechnen.  Die  Kasse  hat  zu  diesem  Zweck  schon  einen  Fonds 
von  600000  Lire  bestimmt. 

4.  Die  Hilfskassen  und  die  anderen  gleichartigen  Arbeiter- 
Vorsorgevereine  haben  bis  jetzt  sehr  wTenig  von  der  Erlaubnis 
Gebrauch  gemacht,  ihre  Mitglieder  bei  der  Kasse  zu  versichern. 
Ein  Hindernis  bestand  in  der  Thatsache,  dafs  solche  Vereine,  ins- 
besondere jene,  welche  die  juristische  Persönlichkeit  nicht  erlangt 
haben  oder  nicht  erlangen  können,  nicht  ausschlifeslich  von  Per- 
sonen, welche  nach  Art.  8 des  Gesetzes  der  Nationalkasse  beitreten 
können,  gebildet  sind.  Um  dieses  Hindernis  zu  beseitigen  und  jene 
Vereine  zur  Einschreibung  ihrer  Mitglieder  anzuspornen,  hat  das 
Gesetz  bestimmt,  dafs  alle  Mitglieder  der  Nationalkasse  beitreten 
können,  nur  mit  diesem  Unterschiede  dafs  diejenigen,  welche  nicht 
die  vom  Art.  8 vorgesehene  Eigenschaft  besitzen,  keine  Anteil- 
quote von  der  Kasse  empfangen ; diejenigen  dagegen,  die  solche 
Eigenschaft  besitzen,  nicht  nur  die  ordentlichen  jährlichen  Anteil- 
quoten erhalten,  sondern  auch,  w’enn  sie  das  50.  Altersjahr  zurück- 
gelcgt  haben,  auch  spezielle  Anteilquoten  empfangen  können;  alle 
solche  Anteilquoten  werden  natürlich,  wie  oben  schon  bemerkt, 
nicht  ausbezahlt,  sondern  auf  dem  Inskriptionsbuch  und  in  der  indivi- 
duellen Rechnung  des  Versicherten  gutgeschrieben. 

5.  Die  Lage  der  Versicherten,  welche  aufhören,  Arbeiter  zu 
sein,  d.  h.  die  im  Art.  8 des  Gesetzes  vorgesehene  Anwartschaft, 
der  Kasse  beitreten  zu  können,  verlieren,  wrar  früher  nicht  geregelt. 
Das  Gesetz  bestimmt  jetzt,  dafs  sie  in  jenem  Falle  die  Beiträge 
weiter  leisten  können,  obgleich  sie  nicht  mehr  die  Anteilquoten 
erhalten : Es  wird  ihnen  im  Verhältnis  ihrer  Einzahlungen  zur  gesetz- 
mäfsigen  Zeit  die  Rente  gewährt.  Wenn  der  Versicherte  wieder 
Arbeiter  wird,  ist  ihm  gestattet,  die  eventuell  während  der  Unter- 
brechung nicht  geleisteten  Beiträge,  mit  den  entsprechenden  Zinsen, 
zu  bezahlen. 

6.  Alle  Mitglieder  des  Verwaltungsrates  der  Kasse  (sie  sind 
gegenwärtig  zwölf)  werden  durch  königliches  Dekret  ernannt.  Früher 
bezeichnete  das  Gesetz  unter  den  zur  Ernennung  besonders  em- 


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ig8 


Gesetzgebung:  Italien. 


pfohlcnen  Personen  nur  die  Vertreter  der  Sparkassen  und  der 
anderen  juristischen  Personen,  die  zu  Gunsten  der  Kasse  Beiträge 
leisten;  das  neue  Gesetz  hat  auch  die  Vertreter  der  mit  juristischer 
Persönlichkeit  versehenen  HüHskassen  und  kooperativen  Produktiv- 
Gesellschaften  von  Arbeitern,  welche  ihre  Mitglieder  bei  der  Na- 
tionalkasse versichert  haben,  cinbezogen. 

7.  Eine  besondere  Erklärung  verlangt  der  letzte  Artikel  des 
Gesetzes.  Er  verbietet  die  Benennung  „Nationalkasse"  jenen  Unter- 
nehmungen, Gesellschaften  oder  Anstalten,  denen  sie  nicht  durch 
das  Gesetz  erteilt  wurde.  Es  sind  Kassen  in  Italien  entstanden, 
welche,  obgleich  sie  auf  falscher  Grundlage  beruhen,  doch  mit 
jener  trügerischen  Bezeichnung  eine  ziemliche  Klientel  auch  unter 
den  Arbeitern  gefunden  haben.  Um  eine  gefährliche  Konkurrenz 
für  die  Nationalkasse  zu  verhindern,  hat  das  Gesetz  jene  Vorschrift 
angenommen. 

Wir  lassen  nunmehr  den  Wortlaut  des  Gesetzes  folgen: 


Viktor  Emmanuel  III«  von  Gottes  Gnaden  und  durch  Volkes  Willen  König 
von  Italien. 

Auf  Grund  des  Art.  15  des  Gesetzes  vom  7.  Juli  1901,  Nr.  322,  welcher  unserer 
Regierung  die  Ermächtigung  giebt,  in  einem  einheitlichen  Texte  die  Bestimmungen 
desselben  Gesetzes  und  jene  des  Gesetzes  vom  17-  Juli  1898,  Nr.  350,  zu  vereinigen; 

Nach  Anhörung  des  Staalsrates ; 

Auf  Vorschlag  des  Präsidenten  des  Ministerrates,  unseres  Ministers  Staatssekretärs 
ad  interim  für  Ackerbau,  Gewerbe  und  Handel; 

Nach  Anhörung  des  M inist errates ; 

Haben  Wir  verordnet  und  verordnen: 

Einziger  Artikel. 

Es  wird  der  beiliegende  einheitliche  Text  des  Gesetzes,  betr.  die  National* 
Versorgungskasse  für  die  Invalidität  und  das  Alter  der  Arbeiter,  welchen  auf  unserem 
Befehl  der  vorschlagcnde  Minister  unterschrieben  hat,  bestätigt. 

Wir  verordnen,  dafs  das  vorliegende  Dekret,  mit  dem  Staalsinsiegel  versehen, 
in  die  amtliche  Sammlung  der  Gesetze  und  Dekrete  des  Königreichs  Italien  auf- 
genommen werde  und  verfügen,  dafs  jedermann,  dem  es  angcht,  es  befolge  und  zur 
Befolgung  bringe. 

Gegeben  Rom,  den  28.  Juli  19OJ. 

Viktor  Emmanuel 

G.  Zanardelli. 


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Gesetz,  betr.  die  Xational-Versorgungskasse  für  die  Invalidität  u.  das  Alter  etc. 


*99 


Gesetz,  einheitlicher  Text  (vom  28.  Juli  1901,  Nr.  387),  die  National- 
Versorgungskasse  für  die  Invalidität  und  das  Alter  der  Arbeiter  betreffend. 

(Cassa  nazionalc  di  Previdcnza  per  la  invalidita  e per  la  vccchiaia  degli  Operai). 

Art  I.  Line  nationale  Versorgungskasse  für  die  Invalidität  und  das  Alter 
der  Arbeiter  wird  errichtet  Sie  ist  eine  autonome,  als  juristische  Person  aner- 
kannte Anstalt,  mit  dem  Zcntralsitz  in  Rom  und  regionalen,  provinzialen,  kommu- 
nalen Sukkursalen,  nach  den  Bestimmungen,  welche  das  organische,  mit  königlichem 
Dekret  nach  Anhörung  des  Beirates  fUr  Hilfs-  und  Sparanstalten  und  des  Staats- 
rates zu  erlassende  Statut  enthalten  wird. 

Als  autonome  Anstalt  wird  die  Kasse  eine  eigene,  von  der  staatlichen  voll- 
ständig getrennte  Vertretung  und  Verwaltung  haben , und  der  Staat  wird  keine 
weitere  Verantwortlichkeit  und  keine  weitere  als  die  in  den  folgenden  Artikeln,  den 
Beitrag  und  die  Aufsicht  betreffenden,  vorausgcschcncn  Lasten  auf  sich  nehmen. 

Art.  2.  Die  erste  Dotation  der  nationalen  Versorgungskasse  besteht  in  einem 
auf  folgender  Weise  gebildeten  Vermögen  von  zehn  Millionen  Lire: 

a)  in  der  Anweisung  von  fünf  Millionen  Lire  aus  der  Summe  der  Banknoten, 
welche  das  aufgehobene  Zettelbankkonsortium  ausgegeben  hatte  und  nach 
den  Vorschriften  des  Gesetzes  vom  7.  April  1881,  Nr.  133,  über  die  Auf- 
hebung des  Zwangskurses  jetzt  verjährt  sind  ; 

b)  in  der  Anweisung  von  fünf  Millionen  Lire  aus  der  Summe  der  am  31.  De- 
zember 1896  verfügbaren  Nettogewinne  der  Postsparkasse. 

Art.  3.  Die  Dotation  der  Nationalkasse  wird  später  durch  Anweisung  folgen- 
der Beiträge  zu  ihrem  Vermögen  erhöht  werden: 

a)  der  Hälfte  des  Wertes  der  Banknoten,  welche  auf  Grund  des  Art.  3 des 
durch  königliches  Dekret  vom  9.  Oktober  1900,  Nr.  373,  bestätigten  ein- 
heitlichen Textes  des  Gesetzes  über  die  Zeltclbanken  und  die  Banknoten- 
ausgabe, verjährt  sein  werden ; 

b)  der  Einlagen  auf  Grund  der  Postsparkassenbücher,  welche  auf  Grund  des 
Artikel  10  des  Gesetzes  vom  27.  Mai  1875,  Nr.  2779,  zu  Gunsten  der 
Zcntxaldcpositcn-  und  Anleihenkasse  verjährt  sein  werden ; 

c)  des  Kapitalbetrages  der  Depositen  bei  der  Zcntraldcpositen-  und  Anleihen- 
kasse, welche  auf  Grund  des  Art  14  des  Gesetzes  vom  17.  Mai  1863, 
Nr.  1270,  verjährt  sein  werden; 

d)  des  zehnten  Teils  des  Nettoeinkommens  des  zu  kirchlichen  Zwecken  vom 
Staate  verwalteten  Vermögens,  welcher  zu  Gunsten  des  Staates  vom  Ar- 
tikel 35  des  Gesetzes  vom  7.  Juli  1866,  Nr.  3036,  angewiesen  wurde; 

c)  der  Beiträge , Vermächtnisse  und  Schenkungen , welche  von  juristischen 
Personen  oder  von  Privaten  herrühren  und  mit  keiner  besonderen,  indi- 
viduellen oder  kollektiven,  Bestimmung  zu  Gunsten  einer  Gruppe  von 
Versicherten  gebunden  sein  werden; 

f)  einer  Quote  der  jährlichen  ordentlichen,  in  den  folgenden  Art.  6 und  7 
vorgesehenen  Eingänge  der  Kasse. 

Zur  teilweisen  Erfüllung  der  Bestimmung  sub  d),  wird  die  Verwaltung 


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20C 


Gesetzgebung:  Italien. 


des  früheren  kirchlichen  .Vermögens  (Kultusfonds,  Fond«.  per  il  culto),  in 
fünf  Finanzjahren  mit  Beginn  von  1901 — 1902,  die  Summe  von  29^0000 
Lire  der  National  - Versorgungskasse  abgeben,  welche  Summe  in  jenes 
Zehntel  des  Nettoeinkommens , welches  aus  jenem  Vermögen  auf  Grund 
des  'Art.  35  des  Gesetzes  vom  7.  Juli  1866,  Nr.  3036,  dem  Staate  zu  be- 
zahlen ist.  berechnet  wird. 

Art.  4.  Der  Betrag  der  Kassenscheine,  welche  auf  Grund  des  Gesetzes  vom 
|6.  Februar  1899,  Nr.  45,  den  Legalkurs  am  31.  Dezember  1901  verlieren  und  zur 
Einlösung  im  Jahre  1902  nicht  vorgclegt  sein  werden,  wird  im  Januar  1903  als 
freiwilliges  und  zinstragendes  Deposit  der  Zcntraldepositcn-  und  Anleihenkasse  ab- 
gegeben, und  mit  dieser  Summe  werden  die  Kassenscheine  an  dem  für  ihre  Ver- 
jährung bestimmten  Termin  eingclöst. 

Die  Zinsen  aus  diesem  Deposit  werden  zu  Gunsten  der  National-Vcrsorgungs- 
kasse  für  die  Invalidität  und  das  Alter  der  Arbeiter  auf  dieselbe  Weise  angewiesen, 
wie  cs  für  die  verjährten  Kassenscheine  vom  Art.  3 des  obengenannten  Gesetzes 
bestimmt  wird. 

Art.  5.  Die  Zettel  banken,  im  Verhältnis  zur  Normalgrenze  ihres  Notenumlaufes 
am  l.  Januar  1901,  welche  vom  Art.  7 des  mit  königlichem  Dekret  vom  9.  Oktober  1900, 
Nr.  373,  bestätigten  einheitlichen  Textes  des  Gesetzes  über  die  Zettelbankcn  bestimmt 
wird,  werden,  ohne  Vermehrung  der  respektiven  Schuld,  der  Zentraldcpositen-  und 
Anleihenkasse,  binnen  15  Tagen  nach  dem  Datum  des  vorliegenden  Gesetzes,  die 
Summe  von  8 Millionen  Lire  bezahlen , welche  Summe  der  ihrer  Noten , die  den 
Legalkurs  nicht  mehr  haben  und  voraussichtlich  verloren  gegangen  sind,  entspricht. 

Die  Zentraldcpositen-  und  Anleihenkasse  wird  diese  8 Millionen  Lire  in  Staats- 
rente,  5%  brutto,  anlcgen : die  betreffenden  Inhaberpapiere  sollen  umgewandelt 
werden,  zur  Hälfte  auf  den  Namen  der  National-Versorgungskasse  für  die  Invalidität 
und  das  Alter  der  Arbeiter,  zur  Hälfte  auf  den  Namen  der  drei  Zettelbanken  ira 
Verhältnis  zur  respektiv  bezahlten  Summe.  Auf  diesen  Rententiteln  soll  mit  be- 
sonderer Bemerkung  erkenntlich  gemacht  werden,  dafs  sie  als  Bürgschaft  zu  Gunsten 
der  Besitzer  der  Banknoten,  bis  zur  Verjährung  dieser,  dienen  werden. 

Sobald  die  Verjährung  der  alten  cinzuziehendcn  Banknoten  eintritt,  wird  die 
obengenannte  Rente  in  ihrem  Werte  geschätzt,  und,  auf  Grund  des  festgestellten 
wirklichen  Betrages  der  verjährten  Banknoten,  die  Hälfte  dieses  Betrages  der  National- 
Versorgungskasse  angewiesen  und  die  andere  Hälfte  den  Zettelbanken,  im  Verhältnis 
zu  ihrer  Forderung,  zurückgegeben. 

In  der  Anweisung  der  zur  National-Versorgungskasse  gehörenden  Summe  soll 
man,  zu  ihrem  Nachteil  oder  Vorteil,  den  LTnterschied  berechnen,  welcher  zwischen 
dem  geschätzten  Werte  oder  dem  Verkaufspreise  der  Rente  und  ihrem  Ankaufspreise 
sich  ergeben  wird. 

Art.  6.  Die  jährlichen  ordentlichen  Eingänge  der  Nationalkassc  sind  die 
folgenden : 

a)  das  Drittel  der  jährlichen  Nettogewinne  der  Postsparkasse  nach  Mafsgabc 
des  Art.  15  des  Gesetzes  vom  27.  Mai  1875,  Nr.  2779,  für  jedes  der 
zwei  Jahre  1897  und  1898,  und  fünf  Zehntel  derselben  jährlichen  Netto- 


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Gesetz,  betr.  die  National- Versorgungskasse  für  die  Invalidität  u.  das  Alter  etc.  20 1 

gewinne  seit  dem  I.  Januar  1899  an:  aufserdem,  wenn  der  Gesamtbetrag 
der  Spareinlagen  in  der  Postsparkasse  500  Millionen  Lire  erreichen  wird, 
so  wird  die  Nationalkasse  sieben  Zehntel  der  Nettogewinne , welche  aus 
der  die  genannte  500  Millionen  Lire  übersteigenden  Summe  der  Depositen 
gezogen  sein  wird,  erhalten ; 

b)  der  vierte  Teil  der  jährlichen  Nettogewinne  der  Verwaltung  der  gericht- 
lichen Depositen,  auf  Grund  des  Art.  8 des  Gesetzes  vom  29.  Juni  1882, 
Nr.  835,  für  jedes  der  zwei  Jahre  1897  und  1898,  und  die  Hälfte  der- 
selben Nettogewinne  seit  dem  1.  Januar  1899  an  ; 

c)  der  Betrag  der  Erbschaften,  welche  in  Ermangelung  einer  erbberechtigten 
Person  dem  Staate  nach  den  Vorschriften  der  Art.  742  und  758  des 
Bürgerlichen  Gesetzbuches  angewiesen  sind; 

d)  die  jährlichen  Zinsen  des  nach  den  Bestimmungen  der  vorhergehenden 
Art.  2 und  3 gebildeten  Vermögens  der  Kasse ; 

e)  jeder  eventueller  Eingang  der.  Kasse. 

Art.  7.  In  den  ersten  zehn  Jahren,  welche  dem  Jahre  der  Einrichtung  der 
Nationalkassc  folgen  werden,  soll  ein  Teil  der  im  vorigen  Artikel  6 bezeichnetcn 
jährlichen  Eingänge,  nach  Abzug  der  Verwaltungskosten,  herausgenommen  und  zur 
Vermehrung  des  Vermögens  der  Kasse  angewiesen  werden.  Die  Herausziehung  soll 
in  dem  Jahr  für  Jahr  vom  Vcrwaltungsratc  bestimmten  Mals,  in  solcher  Weise  doch, 
dafs  am  Ende  des  zehnten  Jahres  das  Vermögen  einen  Betrag  von  mindestens  sechzehn 
Millionen  erreicht,  slattfinden. 

Art  8.  Der  Nationalkassc  können  die  italienischen  Bürger  beider  Geschlechter, 
welche  mit  Handarbeiten  beschäftigt  sind  oder  Dienste  gegen  Stücklohn  oder  Tag- 
lohn verrichten,  beitreten. 

Die  verheirateten  Frauen  können  ohne  Erlaubnis  des  Ehegatten,  und  die 
Minderjährigen  ohne  Autorisation  seitens  des  die  elterliche  Gewalt  oder  die  Vor- 
mundschaft Ausübenden,  sich  cinschreiben. 

Für  jeden  Versicherten  soll  man  der  Kasse,  entweder  unmittelbar  durch  den 
Versicherten  selbst  oder  durch  andere  Personen,  doch  auf  seine  Rechnung,  einen 
jährlichen  Beitrag  bezahlen ; dieser  kann  hundert  Lire  nicht  übersteigen  und  in 
kleineren  Raten,  als  50  Centimes,  nicht  ausbezahlt  werden. 

Der  Beitrag  soll  doch  jährlich  mindestens  sechs  Lire  erreichen,  wenn  der 
Versicherte  an  den  im  folgenden  Artikel  vorgesehenen  Anteilquoten  (quotc  di 
concorso)  tcilnehmcn  will. 

Wenn  der  vom  Versicherten  oder  von  anderen  auf  seine  Rechnung  bezahlte 
Beitrag  einem  der  Zahl  der  seit  der  Einschreibung  vergangenen  Jahre  entsprechenden 
Multiplum  von  6 Lire  erreicht,  so  wird  der  Versicherte  die  im  folgenden  Artikel 
vorgesehenen  Anteilquoten  erhalten,  auch  wenn  er  im  Jahre  keinen  Beitrag  bezahlt  hat. 

Wer  die  Aufnahme  in  die  Kasse  verlangt,  soll  erklären  entweder  ob  er  seine 
jftbrüchen  Beiträge  ganz  auf  Grund  des  Prinzips  der  Gegenseitigkeit  bezahlen  will 
oder  ob  er  vorzieht,  während  der  Anhäufungsperiode  die  Beiträge  mit  dem  Vorbehalt 
zu  hinterlegcn,  dafs  dieselben,  im  Todesfälle  vor  der  im  Art.  12  vorgesehenen 
Liquidation,  den  im  Art.  14  bezeichneten  Personen  ausbezahlt  werden. 


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Gesetzgebung:  Italien. 


Art.  9.  Der  Teil  der  im  Art.  6 bezeichneten  jährlichen  Ncttocingänge  der 
Kasse,  welcher  dem  Vermögen  nach  den  Bestimmungen  der  Art.  7 nicht  angewiesen 
sein  wird,  wird  in  jedem  Jahre  verfügbar  sein,  um  Anteilquoten  (quotc  di  concorso) 
jenen  Versicherten,  welche  die  im  drittletzten  und  vorletzten  Paragraphen  des  Art.  8 
vorgesehenen  Bedingungen  erfüllen,  zu  gestatten. 

Die  Anteilquote  soll  für  jede  der  dazu  berechtigten  Versicherten  gleich  sein; 
ihre  Modalitäten  und  Grenzen  wird  das  im  Art.  l vorgesehene  Statut  bestimmen. 
In  keinem  Falle  jedoch  wird  die  jährliche  Anteilquote  in  den  ersten  fünf  Jahren 
des  Bestehens  der  Kasse  für  jeden  Versicherten  zwölf  Lire  übersteigen. 

Der  aus  der  obengenannten  verfügbaren  Summe  nach  der  Verteilung  unter 
den  Versicherten  sich  ergebende  Uebcrschufs  soll  zu  vier  Zehnteln  dem  in  Art  13 
vorgesehenen  Invaliditätsfonds  und  zu  einem  Zehntel  der  im  Art.  20  vorgesehenen 
aufserordentlichcn  Reserve  zugewiesen  werden:  die  übrigen  fünf  Zehntel  sollen  zur 
Vermehrung  der  im  folgenden  Jahre  verfügbaren  Summe  bestimmt  werden. 

Art.  IO.  Von  der  Verteilung  der  im  vorigen  Artikel  vorgesehenen  verfügbaren 
Summen  sind  jene  Arbeiter  ausgeschlossen,  zu  Gunsten  deren,  im  Zustande  von 
Alter  oder  von  nicht  von  einem  Arbeitsunfall  herrührender  Invalidität,  jährliche 
Renten,  entweder  vom  Staate,  von  den  Provinzen,  von  den  Gemeinden,  oder  auch, 
besonderen  gesetzlichen  Vorschriften  gemäfs,  von  anderen  öffentlichen  Verwaltungen 
oder  von  privaten  Unternehmungen  bewilligt  werden. 

Art.  II.  Die  Bildung  der  Kapitalien  zu  Gunsten  der  Versicherten,  sei  es 
jener,  die  ihre  Beiträge  ganz  für  die  Anhäufung  auf  Gegenseitigkeit,  sei  es  jener, 
die  die  Beiträge  mit  dem  Vorbehalt,  dafs  dieselben  im  Todesfälle  während  der 
Anhäufungsperiode  den  im  Art.  14  erwähnten  Personen  zurückerstattet  werden, 
hinterlegt  haben,  findet  mit  dem  System  der  individuellen  Rechnungen  statt,  je  nach 
den  Vorschriften  dieses  Gesetzes  und  jener  des  Statutes  und  des  besonderen  tech- 
nischen Reglements  der  Kasse,  welche  auf  Vorschlag  des  Ministers  für  Ackerbau, 
Gewerbe  und  Handel  nach  Anhörung  des  Beirates  für  Hilfs-  und  Sparanstalten 
und  des  Staatsrates  mit  königlichem  Dekret  bestätigt  sein  werden. 

Für  jeden  Versicherten  öfTnet  die  Kasse  eine  einzige  Rechnung,  worin  be- 
zeichnet werden: 

I.  im  Falle  der  Anhäufung  der  Beiträge  ganz  auf  Gegenseitigkeit: 

a)  die  jährlichen  vom  Versicherten  selbst  oder  von  anderen  zu  seinen  Gunsten 
ausbezahlten  Beiträge: 

b)  die  durch  den  Tod  der  Versicherten  verfügbar  gewordenen  Beiträge  nach 
den  Bestimmungen  des  Art.  16; 

c)  die  jährlichen  Anteilquoten,  welche  nach  den  Bestimmungen  des  Art.  9 
dem  Versicherten  gutzuschrciben  sind ; 

d)  die  schon  anderen  Versicherten  zuerkannten  und  durch  ihren  Tod  verfüg- 
bar gewordenen  Anteilquoten  nach  den  Bestimmungen  des  Art.  15; 

e)  jede  andere  Summe,  die  eventuell  zu  Gunsten  des  Versicherten  oder  einer 
Klasse  oder  Kategorie  von  Arbeitern,  zu  welcher  er  angchört,  hinterlegt 
wurde ; 

H die  Zinseszinscn  der  vorerwähnten  Fingängc,  welche  doch  für  die  folgen- 


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Gesetz,  betr.  die  National- Versorgungskasse  für  die  Invalidität  u.  das  Alter  etc.  20 ^ 

den  drei  Gruppen,  Ziffer  aj  mit  Ziffer  b),  Ziffer  c)  mit  Ziffer  d),  und 
Ziffer  e)  abgesondert  berechnet  sein  sollen. 

II.  im  Falle  der  Anhäufung  der  Beiträge  mit  Vorbehalt  der  Zurückerstattung 
an  die  Erben , werden  in  der  Rechnung  die  in  den  Ziffern  a),  c),  d),  e),  f)  vor- 
gesehenen Eingänge  und  die  fällig  gewordenen  Zinsen  auf  die  Beiträge  des  ge- 
storbenen Versicherten  eingetragen. 

Dem  Besitzer  der  individuellen  Rechnung  giebt  die  Kasse  ein  lnskriptionsbuch, 
worin  alle  Posten  der  Rechnung  au fgesch rieben  werden. 

Art.  12.  Der  Schlufs  und  die  Liquidation  der  individuellen  Rechnung  werden 
nach  wenigstens  25  Jahren  seit  dem  Tage  der  Zahlung  der  ersten  Beitragsquote 
gemacht,  vorausgesetzt,  dafs  der  Versicherte  das  60.  Altersjahr  zurückgelegt  hat. 
Dem  Versicherten  ist  erlaubt,  den  Schlufs  und  die  Iiquidation  der  Rechnung  bis 
zum  65.  Altersjahr,  aber  nicht  weiter,  zu  verschieben. 

Für  die  Frauen  können,  auf  ihren  Antrag,  der  Schlufs  und  die  Liquidation 
der  Rechnung,  wenn  sie  das  55.  Altersjahr  zurückgelegt  haben,  stattfinden,  voraus- 
gesetzt, dafs  mindestens  25  Jahre  seit  dem  Tage  der  Zahlung  der  ersten  Beitragsquote 
verflossen  sind.  Das  Vorrecht,  einen  solchen  Antrag  zu  stellen,  erlischt  mit  der 
Zurücklcgung  des  60.  Altersjahres;  mit  dessen  Eintritt  wird  die  im  ersten  Teil  des 
Artikels  fcstgcstellte  Regel  angewandt. 

Der  Schlufs  und  die  Liquidation  der  Rechnung  erfolgt  in  jedem  Altersjahre, 
wenn  die  Invalidität  des  Versicherten  vorschriflsmäfsig  anerkannt  wird,  vorausgesetzt, 
dass  mindestens  5 Jahre  seit  dem  Tage  der  Zahlung  der  ersten  Beitragsquote  ver- 
flossen sind. 

In  transitorischer  Weise  und  bis  zum  31.  Dezember  1903  werden  Inskriptionen 
mit  der  Bedingung  angenommen,  dafs  der  Schlufs  und  die  Liquidation  der  Rechnung 
nach  Bcilragsperiodcn  von  weniger  als  25  Jahren,  aber  nicht  als  10  Jahren  stattlinde; 
doch  sollen  in  diesem  Falle  die  Versicherten,  mit  den  Zinseszinsen,  die  jährlichen 
Beitragsquotrn,  welche  fehlen,  um  die  Normalperiodc  von  25  Jahren  zu  erreichen, 
bezahlen. 

Den  Arbeitern,  welche  die  Eintragung  mit  verkürzter  Periode  erlangt  haben, 
kann  der  Verwaltungsrat  der  Nationalkasse,  aufser  der  ordentlichen  Anteilquoten, 
auch  besondere  Anteilquoten  anweisen. 

Die  Liquidation  der  Rechnung  wird  in  der  Regel  mit  der  Umwandlung  des 
aus  allen  in  dar  Rechnung  vcrzcichneten  Summen  gebildeten  Kapitals  in  eine  gleich 
zu  erstattende  Leibrente  zu  Gunsten  des  Versicherten  gemacht. 

Das  vom  ersten  Paragraphen  des  vorigen  Artikels  vorgesehene  technische 
Reglement  der  Kasse  wird  die  besonderen  Fälle  bestimmen,  in  denen  die  Liquidation 
entweder  mit  der  sofortigen  Zahlung  eines  Kapitals,  oder  mit  der  Zahlung  eines 
Kapitals  und  einer  Leibrente,  oder  mit  der  Zahlung  einer  sofortigen  Leibrente  zu 
Gunsten  des  Versicherten  und  der  Reservierung  eines  nach  dem  Tode  desselben 
seinen  gesetzlichen  oder  testamentarischen  Erben  zu  zahlenden  Kapitals  gemacht 
sein  wird. 

Art.  13.  Im  Falle  einer  vorschriflsmäfsig  fcstgcstelltcn  Invalidität  wird  die 


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Gesetzgebung : Italien. 


aus  der  Liquidation  der  Rechnung  des  Versicherten  sich  ergebende  Leibrente  durch 
einen  Spezialfonds  vermehrt  Dieser  Fonds  wird  gebildet: 

a)  aus  den  Summen,  welche  der  geseUmäfsig  zur  Vorsorge  der  Arbeitsun- 
fähigen Verpflichtete  bezahlen  wird : 

b)  aus  den  Quoten,  die  aus  der  in  den  Art.  9 und  15  vorgesehenen  jähr- 
lichen Verteilung  sich  ereignen  werden ; 

c)  aus  den  Schenkungen,  den  Vermächtnissen  und  allen  anderen  Eingängen, 
welche  zu  Gunsten  der  Invaliden  angewiesen  sein  werden ; 

d)  aus  den  jährlichen  Zinsen  desselben  Fonds. 

Art.  14.  Wenn  während  der  Anhäufungsperiode  der  Tod  eines  Arbeiters, 
welcher  mit  dem  im  letzten  Paragraphen  des  Art.  8 vorausgesehenen  Vorbehalt 
eingeschrieben  war,  sich  ereignet,  werden  die  vom  Versicherten  bezahlten  Beiträge 
und  die  an  der  Ziffer  e)  des  Art.  1 1 bestimmten  Summen,  ohne  die  Zinseszinsen,  dem 
überlebenden  Ehegatten,  den  minderjährigen  Söhnen,  den  unverheirateten  Töchtern 
und  den  Aszendenten  ausschliefslich  bezahlt;  dieselben  sollen  in  einer  dreijährigen 
Periode,  um  das  Recht  nicht  zu  verlieren,  die  Bezahlung  verlangen. 

Die  Verteilung  unter  den  obengenannten  Personen  wird  in  folgender  Weise 
staUfinden : drei  Fünftel  sollen  den  minderjährigen  Söhnen  und  den  unverheirateten 
Töchtern,  zwei  Fünftel  dem  Ehegatten  angewiesen  werden.  Wenn  der  einge- 
schriebene Arbeiter  keine  Nachkommenschaft,  aber  Aszendenten,  hinterläfst,  soll  die 
Quote  des  Ehegatten  drei  Fünftel  betragen.  Wenn  jemand  der  Berechtigten  fehlt, 
so  wächst  seine  Quote  den  übrigen  zu. 

Im  technischen  Reglement  sollen  die  Normen  für  die  rcgcliiiäfsige  Mitteilung 
des  Todes  der  Versicherten  bestimmt  werden. 

Art.  15.  Die  an  den  Ziffern  c)  und  d)  des  Art.  II  bezeichnten  Summen, 
welche  durch  den  Tod  der  Versicherten  verfügbar  geworden  sind,  werden  am  Ende 
jedes  Jahres  mit  den  gehörigen  Zinseszinsen  so  verteilt:  ein  Fünftel  dem  im  Art.  13 
vorgesehenen  Invaliditätsfonds;  ein  Fünftel  der  in  Art.  20  vorgesehenen  aufscrordent- 
lichen  Risikoreserve : die  übrigen  drei  Fünftel  zu  Gunsten  aller  Versicherten,  welche 
im  Jahre  einen  Beitrag  von  mindestens  sechs  Lire  bezahlt  haben. 

Das  technische  Reglement  wird  die  Normen  für  die  Verteilung,  unter  den 
nach  Altersjahren  unterschiedenen  Versicherten,  der  im  vorigen  Paragraphen  be- 
zeichnten Summen  bestimmen. 

Die  jedem  Versicherten  angewiesene  Quote  wird  in  seiner  individuellen  Rech- 
nung mit  der  ihm  gebührenden  Anteilquote  der  im  Art.  9 vorgesehenen  Summen 
registriert. 

Art.  16.  Die  an  den  Ziffern  a)  und  bj  des  Art.  11  vorgesehenen  Summen,  mit 
den  gehörigen  Zinsen,  welche  durch  den  Tod  der  mit  ganz  auf  Gegenseitigkeit 
verbundenen  Beiträgen  Versicherten  verfügbar  geworden  sind,  sollen  unter  jenen, 
welche  in  gleicher  Weise  ihre  Beiträge  ganz  auf  Gegenseitigkeit  verbunden  haben, 
verteilt  werden.  Die  jedem  der  obenbezeichnten  Versicherten  gebührende  Quote 
soll  in  seiner  individuellen  Rechnung  registriert  und  seinen  jährlichen  Beiträgen  hin- 
zugefügt werden. 

Die  Zinseszinsen  der  an  den  Ziffern  a)  und  c)  des  Art  II  vorgesehenen 


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Gesetz,  bctr.  die  NatiooiI'Versdrgungskassc  für  die  Invalidität  u.  das  Alter  etc.  205 

Summen  und,  im  Falle  dafs  die  im  Art.  14  bezeichneten  Personen  fehlen,  die 
Summen  selbst,  welche  durch  den  Tod  der  mit  dem  Vorbehalt  der  Zurfickerstattung 
der  Beiträge  Versicherten  verfügbar  geworden  sind,  soll  unter  jenen,  welche  denselben 
Vorbehalt  gemacht  haben , verteilt  werden.  Die  jedem  der  obengenannten  Ver- 
sicherten gebührende  Quote  soll  in  der  individuellen  Rechnung  registriert,  doch  von 
den  jährlichen  Beiträgen  getrennt  gehalten  werden. 

Die  Verteilung  der  im  ersten  und  zweiten  Paragraphen  dieses  Artikels  be- 
zeichneten Summen  und  Zinseszinsen  wird  jährlich  nach  den  Bestimmungen  des 
zweiten  Paragraphen  des  Art.  15  stattfinden. 

Art.  17.  Der  Versicherte,  welcher  die  im  Art.  8 des  Gesetzes  vorgesehene 
Eigenschaften  verliert,  kann  die  Bezahlung  der  Beiträge  fortsetzen,  aber  nicht  mehr, 
•es  sei  denn,  dafs  er  eventuell  wieder  jene  Eigenschaften  erwirbt,  die  Wohlthat  der 
Anteilquoten  der  Kasse  geniefsen.  Die  Liquidation  der  ihm  gebührenden  Leibrente 
wird  zur  vorschriftsmäfsigen  Zeit  nach  den  Bestimmungen  des  Art.  12  stattfinden. 

Wenn  der  Versicherte  die  im  Art.  8 vorgesehenen  Eigenschaften  wieder  er- 
wirbt, wird  er  das  Vorrecht  haben,  die  der  Periode  der  Unterbrechung  entsprechenden, 
um  die  entsprechenden  Zinsen  vermehrten,  Einzahlungen  im  Ganzen  oder  zum  Teil 
zu  leisten. 

Art.  18.  Der  Nationalkasse  können  für  die  Umwandlung  in  Leibrenten  die 
Entschädigungen , welche  den  durch  Arbeitsunfall  erwerbsunfähig  gewordenen 
Arbeitern  zu  leisten  sind,  und  die  Summen,  welche  juristischen  oder  Privatpersonen 
zu  Gunsten  der  durch  Alter  oder  Krankheit  erwerbsunfähig  gewordenen  Arbeiter 
spenden,  eingczaldt  werden. 

Art.  19.  Die  Arbeiterhilfskassen  und  die  gleichartigen  Vorsorgevereine  der 
Arbeiter,  welche  Alters-  und  lnvaliditätssubsidicn  bewilligen,  können  die  zu  diesem 
Zwecke  gesammelten  Summen  und  nach  und  nach  die  dazu  bestimmten  Beiträge 
der  Mitglieder  in  der  Kassl*  einzahlen. 

Den  auf  Grund  dieses  Artikels  bei  der  Kasse  versicherten  Mitgliedern,  welche 
die  im  ersten  Teil  des  Art.  . 8 vorgesehenen  Eigenschaften  besitzen,  werden  die  im 
Art.  9 vorgesehenen  Anteilquoten  erhalten : und,  wenn  sie  das  50.  Altersjahr  zurück- 
gelegt  haben,  können  ihnen  auch  spezielle  Quoten  angewiesen  werden. 

Die  Natiönalkasse  kann  dir  Verwaltung  der  speziellen  Anstalten , welche  die 
im  Art.  10  erwähnten  Verwaltungen  oder  Unternehmungen  zu  Alters-  und  Invalidität«- 
Vorsorge  ihrer  Arbeiter  gründen  werden,  übernehmen. 

Die  Bedingungen  und  Normen  dieser  Aufgaben  der  Kasse  sollen  in  den  ein- 
zelnen Fällen  vom  Verwaltungsrat  derselben  bestimmt  und  von  der  Regierung  nach 
Anhörung  des  Staatsrates  bestätigt  werden. 

Art.  20.  Die  Kapitalien,  aus  welchen  die  von  der  Natiönalkasse  liquidierten 
Leibrenten  bestehen,  bilden  einen  besonderen  Fonds  mit  der  Bezeichnung  „Leib- 
renten-Fonds“. 

Das  vom  Art.  1 1 vorgesehene  Reglement  wird  die  Perioden,  welche  nicht  fünf 
Jahre  übersteigen  sollen,  bestimmen,  am  Fnde  deren  die  technischen  Bilanzen  des 
genannten  Fonds  fcstgcstellt  sein  sollen,  sowie  die  Regeln  für  die  Bildung  derselben. 

Als  Bürgschaft  für  den  Leibrentenfonds  soll  eine  aufserordentliche  Risiko- 


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Gesetzgebung : Italien. 


reserve  mit  den  in  den  Art  9 und  15  bezeichnten  Summen,  mit  den  anderen  be- 
sonderen vom  Reglement  vorzusch reibenden  Anweisungen,  mit  den  aus  den  tech- 
nischen Bilanzen  des  Fonds  resultierenden  Nettoaktiven  und  mit  den  Zinsen  der 
Kapitalien  des  Fonds  gebildet  werden. 

Die  aufaerordentliche  Risikoreserve  ist  dazu  bestimmt,  das  zufällige  Defizit 
des  Leibrentenfonds  im  Verhältnis  zu  den  in  der  technischen  Bilanz  berechneten 
mathematischen  Reserven  zu  decken. 

Das  Reglement  wird  die  obere  Grenze,  welche  die  aufscrordentiichc  Reserve 
erreichen  soll,  festsetzen  und  zugleich  die  zu  ergreifenden  besonderen  Malsregeln 
fiir  den  Fall,  dals  die  Reserve  zur  Deckung  des  sich  ereignenden  Defizits  im  Leib- 
rentenfonds ungenügend  erscheint,  bestimmen. 

Art.  2l.  Die  Kapitalien  der  einzelnen  Fonds  der  Nationalkassc  sollen,  nach 
den  im  Reglement  festzustellendcn  Normen  und  Grenzen,  in  folgender  Weise  ange- 
legt werden: 

a)  in  vom  italienischen  Staate  ausgegebenen  oder  verbürgten  Wertpapieren ; 

b)  in  Eisenbahnobligationcn,  welche  nach  Mafsgabc  der  vom  Staate  zu 
leistenden  Annuitäten  ausgegeben  wrerdcn ; 

c)  durch  die  Zentraldepositen-  und  Anleihenkassc  nach  den  Vorschriften  der 
Nr.  2 des  Art.  12  des  Gesetzes  vom  14.  Juli  1898,  Nr.  335; 

d)  in  verzinslichen  Depositen  bei  der  Zcntraldeposilcn-  und  Anleihenkassc. 

Alle  die  unbeweglichen  und  die  von  den  obengenannten  verschiedenen  beweg- 
lichen Güter,  welche  in  Besitz  der  Kasse  gelangen  werden,  sollen  binnen  fünf  Jahren 
verkauft  und  in  nach  der  vorgeschriebenen  Weise  anzulcgcndes  Geld  uragewandelt 
werden. 

Diese  fünfjährige  Periode  kann  auf  Vorschlag  des  Ministers  für  Ackerbau 
Gewerbe  und  Handel,  nach  Anhörung  des  Staatsrates,  mit  königlichem  Dekret  ver- 
längert werden. 

Die  Nationalkassc  soll  keine  unbeweglichen  Güter,  auch  nicht  als  Sitz  für 
seine  Aemter.  erwerben. 

Art.  22.  Die  den  individuellen  Rechnungen  im  Verhältnis  zu  den  verzeich- 
nten Summen  anzuweisenden  jährlichen  Zinsen  sollen  dem  durchschnittlichen  Pro- 
zentsatz des  Ertrages,  welche  die  Nationalkassc  aus  ihren  Kapitalien  im  Jahre  er- 
halten hat,  entsprechen. 

Die  den  individuellen  Rechnungen  zugewiesenen  Zinsen  und  die  denselben 
Rechnungen  zugewiesenen  Quoten,  welche  aus  der  Verteilung  der  in  den  Art.  9,  1 5 
und  16  vorgesehenen  Summen  herrühren,  unterliegen  der  Mobiliar- Einkommen- 
steuer nicht. 

Art.  23.  Die  von  der  Kasse  gestatteten  Leibrenten,  wie  jede  andere  Forde- 
rung der  Versicherten,  können  nur  für  den  Teil,  welcher  die  jährlichen  400  Lire 
Übersteigt,  enteignet,  gepfändet  und  auf  Dritte  übertragen  werden ; sic  können  durch 
Vollmacht  nur  im  Falle  cinkassiert  werden , dals  eine  durch  ärztliche  Erklärung 
bestätigte  Krankheit  des  Versicherten  oder  ein  durch  Erklärung  des  Bürgermeisters 
seiner  Wohnungsgemeinde  bestätigtes  Hindernis  vorhanden  ist 

Im  Falle  des  Verlustes  der  den  Versicherten  von  der  Nationalkassc  cin- 


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Gesetz,  betr.  die  National-Yersorgungskasse  tür  die  Invalidität  u.  das  Alter  etc.  20J 


gehändigten  Bücher  werden  Duplikate  mit  den  Normen,  welche  für  die  Bücher  der 
Postsparkassen  gelten,  ausgegeben. 

Art.  24.  Die  von  der  Nationalkasse  gestatteten  Leibrenten  und  die  Summen, 
welche  den  in  den  Art.  12  und  14  bezeichnten  Erben  der  Versicherten  zu  zahlen 
sind,  unterliegen  der  Mobiliar- Einkommensteuer  und  Erbschaftssteuer  nicht. 

Art.  25.  Die  Operationen  für  die  Einschreibung  bei  der  Nationalkasse,  die 
Elinforderung  der  Beiträge  und  die  Bezahlung  der  Leibrenten  sowie  jeder  anderen 
Summe  sollen,  ohne  Entgelt  seitens  der  Nationalkasse,  durch  die  Postämter  und  die 
Postsparkassen  besorgt  werden. 

Der  Briefwechsel  der  Kasse  mit  den  öffentlichen  Aemtern  und  den  Versicherten 
wird  unfrankiert  stattfinden. 

Art.  26.  Die  National kasse  geniefst  dieselben  fiskalischen  Befreiungen,  welche 
den  Postsparkassen  und  den  ordentlichen  Sparkassen  gestattet  sind  oder  sein  werden. 
Die  Verwandlung  der  Kapitalien  in  Leibrenten  und  jede  andere  die  Lebensversiche- 
rung betreffende  Operation  der  Nationalkasse  unterliegt  den  Abgaben  über  die  Ver- 
sicherungsgeschäfte und  die  Leibrentenverträge  nicht. 

Von  den  Register-  und  Stempelabgaben  sowie  von  jeder  anderen  Gebühr  oder 
Ausgabe  bleiben  die  Uehertragungen  der  Titel  der  Staatsschuld,  in  denen  die  Kapi- 
talien der  Kasse  angelegt  sind,  die  Register,  Bestätigungen  (certificatil,  Erklärungen, 
und  jede  andere  Urkunde,  welche  zur  Ausführung  dieses  Gesetzes  der  Kasse  oder 
den  Privaten  nötig  sein  werden,  frei. 

Von  jeder  Register  , Stempel-,  Hypotheken-  und  toter  Hand-Abgabe  bleiben 
auch  die  Schenkungen  und  Vermächtnisse  zu  Gunsten  der  Kasse  frei. 

Die  jährlichen  Zinsen  aus  den  Fonds  der  Nationalkasse,  mit  Ausnahme  jener, 
welche  aus  den  vom  Staate  ausgegebenen  oder  verbürgten  Wertpapieren  herrühren, 
unterliegen  der  Mobiliar-Einkommensteuer  nicht. 

Art.  27.  Die  autonome  Verwaltung  der  National kasse  wird  von  einem 
Kate,  deren  Mitglieder  alle  mit  königlichem  Dekret  ernannt  werden,  geführt.  In 
der  Zahl  der  Mitglieder,  welche  nach  den  Statuten  der  Kasse  den  Vcrwaltungsrat 
bilden,  können  auch  Vertreter  der  Sparkassen  oder  anderen  juristischen  Personen, 
die  zu  Gunsten  der  Nationalkasse  Beitrage  leisten , sowie  die  Vertreter  der  mit 
juristischer  Persönlichkeit  versehenen  Hilfskassen  und  kooperativen  Produktions- 
Gesellschaften  von  Arbeitern,  die  ihre  Mitglieder  bei  der  Nationalkasse  versichert 
haben,  berufen  werden.  Im  Vcrwaltungsrate  werden  auch  Vertreter  der  bei  der 
Kasse  versicherten  Arbeiter  berufen;  ihre  Zahl  soll  dem  vierten  Teil  der  Mitglieder 
desselben  entsprechen. 

Rcchlmäfsiges  Mitglied  des  Verwaltungsrates  soll  auch  ein  Vertreter  für  jedes 
der  drei  Ministerien,  für  Ackerbau,  Gewerbe  und  Handel,  des  Staatsschatzes  und 
fiir  die  Post  und  die  Telegraphen  sein. 

Art.  28.  Der  Verwaltungsrat  der  Nationalkassc  soll: 
a)  das  organische  Statut  der  Kasse  vorbereiten ; 

b'j  die  Normen  für  die  Einrichtung  der  Sukkursalen  der  Kasse,  ihre  Auf- 
gaben, die  Grenzen  ihrer  Thätigkeit,  die  Verwaltung  der  ihnen  anver- 


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208 


Gesetzgebung : Italien. 


trauten  Summen,  ihre  Verwaltungsreglements  und  ihre  Verhältnisse  zum 
Hauptsitzc  bestimmen ; 

c)  das  technische  Reglement  der  Nationalkasse  und  die  Tarife  für  die  Liqui- 
dation der  Leibrenten  verfassen. 

Das  Statut  und  das  technische  Reglement  der  Nationalkasse,  die  Reglements 
der  Sukkursalen,  die  Tarife  der  Leibrenten,  die  statistischen  Tabellen  und  der  Zins- 
satz, die  zur  Berechnung  der  Tarife  dienen  werden,  sollen,  nach  Anhörung  des  Bei- 
rates für  Hilfs-  und  Sparanstallen  und  des  Staatsrates,  auf  Vorschlag  des  Ministers 
für  Ackerbau,  Gewerbe  und  Handel  im  Einverständnis  mit  den  Ministern  des  Staats- 
schatzes und  für  die  Post  und  die  Telegraphen,  mit  königlichem  Dekret  bestätigt 
werden. 

Mit  demselben  Verfahren  sollen  die  Veränderungen  des  Statutes  und  des  Regle- 
ments, sowie  jene  des  Zinssatzes,  der  statistischen  Tabellen  und  der  daraus  her- 
rührenden  Tarife  für  die  Liquidation  der  Leibrenten,  bestätigt  werden. 

Art.  29.  Die  Nationalkasse  kann  mit  königlichem  Dekret  ermächtigt  werden, 
einige  Zweige  der  Versicherung  zu  betreiben. 

Die  verfügbaren  Nettogewinne  aus  der  Verwaltung  dieser  Zweige  der  Ver- 
sicherung sollen  zur  Vermehrung  der  im  Art.  6 vorgesehenen  jährlichen  Eingänge 
der  Kasse  bestimmt  werden. 

Art.  30.  Die  Nationalkasse  steht  unter  der  Aufsicht  des  Ministeriums  für 
Ackerbau,  Gewerbe  und  Handel,  und  soll  demselben  die  jährlichen  Generalbilanzen 
und  die  speziellen  der  Sukkursalen,  die  technischen  Bilanzen  und  alle  die  geforderten 
Angaben  und  Erkundigungen  mittcilen. 

Die  technischen  Bilanzen  sollen  auch  dem  Ministerium  des  Staatsschatzes  zu- 
gesandt werden. 

Art.  31.  Die  Bewahrung  der  Wertpapiere  und  den  Kassadienst  besorgt  un- 
entgeltlich die  Zentraldcpositen-  und  Anlcihenkasse. 

Auf  den  Teil  der  Nettogewinne  der  Postsparkasse  und  der  Verwaltung  der 
gerichtlichen  Depositen,  welcher  der  Nationalkasse  angewiesen  ist,  solange  die  ent- 
sprechende Summe  noch  nicht  gesetzmäfsig  angelegt  ist,  wird  die  Zentraldcpositcn- 
und  Anlcihenkasse  den  Normalzins  bezahlen;  die  Verpflichtung  beginnt  mit  dem 
ersten  Januar  des  darauffolgenden  Jahres,  auf  das  die  Nettogewinne  sich  beziehen. 

Art.  32.  Die  Benennung  „Nationalkasse“  kann  von  keiner  Unternehmung, 
Gesellschaft  oder  Anstalt  geführt  oder  beibehalten  bleiben,  welcher  sic  nicht  durch 
Gesetz  erteilt  wurde. 

Gesehen,  auf  Befehl  Seiner  Majestät, 

Der  Präsident  des  Ministerrates, 

Minister  ad  interim  für  Ackerbau,  Gewerbe  und  Handel. 

G.  Zanardelli. 


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DÄNEMARK. 


Das  neue  Fabrikgesetz  vom  n.  April  1901. 

Von 

ADOLPH  JENSEN, 

Sekretär  des  statistischen  Amtes,  in  Kopenhagen. 

Der  erste  zarte  Keim  der  dänischen  Arbeiterschutzgesetzgebung 
wurde  vor  über  hundert  Jahren  gelegt,  indem  eine  Verordnung  vom 
21.  März  1800  den  Handwerksmeistern  vorschrieb,  ihre  Lehrlinge 
auf  solche  Weise  zu  behandeln,  „wie  es  guten  Hausvätern  ziemt, 
und  sie  nicht  zu  strengerer  .Arbeit  anzuwenden,  als  ihre  Kräfte 
erlauben." 

Diese  kleine  armselige  Vorschrift  enthielt  alles,  was  sich  in 
der  dänischen  Gesetzgebung  von  Arbeiterschutz  vorfand,  bis  das 
Gesetz  vom  23.  Mai  1873  die  Ordnung  einführtc,  welche  bis  jetzt 
gegolten  hat.  In  drei  Vierteln  eines  Jahrhunderts  hatte  also  auf 
diesem  Gebiete  in  der  dänischen  Gesetzgebung  Stillstand  geherrscht, 
während  schon  ein  grol'ser  Teil  der  übrigen  europäischen  Länder 
bedeutende  Schritte  vorwärts  auf  der  Bahn  des  Arbeiterschutzes 
gemacht  hatte.  Das  Gesetz  von  1873  stellte  uns  allerdings  völlig 
auf  die  Höhe  mit  den  Forderungen,  die  damals  für  berechtigt  an- 
gesehen werden  mufsten,  aber  die  dänische  Industrie  hat  sich  in 
den  seitdem  verflossenen  28  Jahren  so  bedeutend  entwickelt,  dal’s 
eine  Revision  des  Fabrikgesetzes  eine  dringende  Notwendigkeit  ge- 
worden war. 

Obgleich  man  dies  allgemein  anerkannte,  wurde  doch  die 
jetzt  durchgeführte  Reform  lange  verzögert  infolge  des  politischen 
Stillstandes,  welcher  viele  Jahre  in  Dänemark  herrschte,  und  das 
neue  Gesetz  selbst  zeigt  an  entscheidenden  Stellen  das  Gepräge 
eines  Kompromisses.  Trotzdem  bezeichnet  es  einen  bedeutenden 
Fortschritt.  In  den  folgenden  Betrachtungen  wird  das  näher 

Archiv  für  so*.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVII.  14 


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210 


Gesetzgebung : Dänemark. 


nachgewiesen  werden;  wir  übergehen  alles  von  geringer  Be- 
deutung und  konzentrieren  die  Aufmerksamkeit  auf  folgende  drei 
Hauptpunkte:  i.  den  Umfang  des  Gesetzes,  2.  die  Bestimmungen 
der  Arbeitszeit  für  Kinder  und  jugendliche  Arbeiter  und  3.  die 
Organisation  der  Aufsicht. 

Hinsichtlich  des  erstgenannten  Punktes  mufs  hervorgehoben 
werden,  dafs  das  neue  Gesetz  auf  einem  ganz  anderen  Prinzip  als 
das  ältere  ruht.  Das  Gesetz  von  1873  umfafste  nur  solche  Fabriken 
und  fabrikmäfsig  betriebene  Werkstätten,  in  denen  Personen  unter 
1 8 Jahren  beschäftigt  wurden.  Es  war  also  kein  allgemeines 
Fabrikgesetz,  es  war  nur  ein  Gesetz  zum  Schutz  minderjähriger 
Arbeiter,  wie  schon  sein  Titel:  „Gesetz  betr.  die  Arbeit  von 
Kindern  und  jugendlichen  Arbeitern  in  Fabriken  etc."  zeigt.  Den 
Schutz  der  erwachsenen  Arbeiter  kennt  man  in  der  dänischen 
Gesetzgebung  erst  seit  1889,  wo  ein  Gesetz  zur  Verhütung  von 
Unfällen  beim  Gebrauch  von  Maschinen  erlassen  wurde.  Die  allge- 
meinen Verordnungen  hygienischer  Natur,  welche  das  Gesetz  von 
1873  enthielt,  kamen  selbstverständlich  auch  erwachsenen  Arbeitern 
zugute,  aber  nur  als  ein  indirektes  Ergebnis  des  durch  das  Gesetz 
erzielten  Schutzes  der  minderjährigen  Arbeiter.  Im  Gegensatz  hier- 
zu setzt  das  Gesetz  von  1901  fest,  dafs  der  Schutz  ohne  Rücksicht 
auf  das  Alter,  prinzipiell  für  alle  Arbeiter  gelten  müsse,  die  unter 
denselben  äufseren  Bedingungen  beschäftigt  werden;  und  in  Ueber- 
einstimmung  mit  diesem  Prinzip  bezeichnet  das  Gesetz  sich  selbst 
als  ein  Gesetz  über  „Arbeit  in  Fabriken  und  diesen  gleichgestellten 
Betrieben".  Das  ist  die  erste,  grofse  und  bedeutungsvolle  Aenderung. 

Während  man  in  dieser  Hinsicht  bis  zur  äufsersten  Grenze  ge- 
gangen ist,  ist  es  bedeutend  schwieriger  gewesen,  die  nächstliegende 
Frage  zu  lösen,  nämlich  die,  welche  Betriebe  dem  gesetzlichen 
Schutz  und  der  Aufsicht  unterstellt  werden  sollen.  Geht  man  die 
ganze  Skala  der  Betriebsformen  durch : Die  Fabrik , die  fabrik- 
mäfsig betriebene  Werkstatt,  den  grofsen  Handwerksbetrieb,  den 
kleinen  Handwerksbetrieb,  die  hausindustrielle  Werkstatt,  den  Familien- 
betrieb, so  ist  es  aufserordentlich  schwierig  die  rechte  Grenzlinie 
zu  wählen.  Das  Gesetz  von  1873  umfafste  unter  seinem  Schutz 
Fabriken  und  fabrikmäfsig  betriebene  Werkstätten  und  überlicls  im 
übrigen  durch  sein  Schweigen  der  Administration,  im  einzelnen  zu 
entscheiden,  welche  Betriebe  diesen  Bezeichnungen  entsprachen.  In 
der  Praxis  wurden  zweifelhafte  Fälle  lange  Zeit  auf  die  Weise  er- 
ledigt, dals  das  Kennzeichen  eines  fabrikmäfsig  betriebenen  Unter- 


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Adolph  Jenscn,  Das  neue  Fabrikgesetz  vom  II.  April  1901. 


211 


nehmens  darin  gesucht  wurde,  ob  es  mechanische  Triebkraft  an- 
wendete oder  nicht;  später  aber  kam  man  dahin,  auch  der  Arbeiter- 
anzahl Bedeutung  bei  dieser  Entscheidung  zuzuschreiben.  Ich  denke, 
dafs  man  bei  der  Erwägung,  wo  die  Grenze  in  dem  neuen  Gesetz 
zu  setzen  sei,  besonders  von  folgenden  drei  Rücksichten  geleitet 
worden  ist;  erstens  dem  Wunsche,  den  Schutz  so  weit  wie  möglich 
auszudehnen,  weil  ein  grofser  Teil  der  Vorschriften  des  Gesetzes 
ebenso  gut  in  den  kleinen,  ja  in  den  allerkleinsten  Betrieben  von 
nöten  ist  wie  in  den  grofsen  Fabriken.  Zweitens:  vom  Hinblick 
auf  das  praktisch  Erreichbare,  da  es  ja  nicht  genügend  ist,  Gesetz- 
bestimmungen  zu  geben,  es  mul's  auch  für  gesicherte  Durchführung 
gesorgt  werden.  Endlich  von  dem  Bedenken,  dafs  der  Uebergang  vom 
alten  zum  neuen  so  gelinde  wie  möglich  sich  vollziehe.-  Die  beiden 
letzten  Gesichtspunkte  sind  die  entscheidenden  geworden.  Man  hat, 
aufser  den  Fabriken  und  fabrikmälsig  betriebenen  Werkstätten,  einen 
wesentlichen  Teil  der  gröfseren  Handwerksbetriebe  einbezogen. 

Diese  Ausdehnung  des  Gesetzes  ist  sicher  wohl  begründet, 
wenn  man  die  starke  Entwicklung  in  Betracht  zieht,  welche 
die  dänische  Industrie  im  Laufe  der  letzten  zwanzig  Jahre  durch- 
gemacht hat.  Der  fabrikmäfsige  Betrieb  hat  durch  die  starke  Be- 
nutzung der  Kraftmaschinen  und  in  den  letzteren  Jahren  durch  die 
Entwicklung  der  Kraftüberführungstechnik  sich  so  ausgedehnt,  dafs 
der  jetzt  gezogene  Umfang  des  Gesetzes  keineswegs  für  zu  grofs 
angesehen  werden  kann.  Viel  eher  könnte  man  geltend  machen, 
dafs  man  in  gewissen  Punkten  allzu  zögernd  vorgegangen  ist.  Ich 
denke  hier  nicht  daran,  dafe  jetzt  wie  vorher  die  Arbeiter  des 
Ackerbaus,  der  Forstwirtschaft,  der  Fischerei  und  die  Seeleute 
aufserhalb  des  Schutzes  stehen;  denn  ganz  abgesehen  davon,  dafs 
eine  derartige  Ausdehnung  des  Gesetzes  grofsen  praktischen 
Schwierigkeiten  begegnen  würde,  dürfte  es  wenig  zweckmäfsig  sein, 
solche  Neuerungen  in  einem  Gesetz  über  Arbeit  in  industriellen 
Betrieben  aufzunehmen.  Mit  grösserem  Recht  könnte  man  dem 
Gesetz  den  Vorwurf  machen,  dafs  es  nicht  die  Industrieen  trifft, 
welche  aufserhalb  gedeckter  Räume  arbeiten,  namentlich  also  das 
Baugewerbe.  Auch  ist  es  wenig  rationell,  dafs  Molkereien  aus- 
drücklich von  den  Bestimmungen  des  Gesetzes  ausgeschlossen  sind. 
Der  Molkereibetrieb  geht  in  Dänemark  vollständig  fabrikmäfsig 
vor  sich,  gröfstenteils  in  selbständigen,  vom  Ackerbau  getrennten 
Anlagen,  und  so  grofs  ist  die  relative  Bedeutung  der  Butter- 
fabriken, dafs  sie  über  ein  Drittel  sämtlicher  industriellen  Be- 

‘4* 


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212 


Gesetzgebung:  Dänemark. 


triebe  mit  mechanischer  Kraft  (excl.  Wind  und  Wasser)  aus- 
machen. Ueber  1400  durch  Dampf  getriebene  Molkereien  von 
den  Bestimmungen  des  Fabrikgesetzes  auszuschliefsen,  läfst  sich 
kaum  begründen.  — Es  kommt  mir  endlich  auch  vor,  dafs  man 
sehr  gut  einräumen  kann,  dafs  der  kleine  Handwerksbetrieb  aufser- 
halb  des  geschützten  Gebietes  verbleibt,  und  doch  gleichzeitig 
fordert,  dafs  der  Schutz  nach  der  Hausindustrie  hin  ausgedehnt 
werden  möge;  dieselbe  ist  doch  viel  näher  mit  der  Fabrik  als  mit 
dem  Handwerksbetrieb  verwandt.  Die  hausindustriellen  Arbeiter 
gehören  gröfstenteils  der  Grofsindustrie  an,  der  Betriebsform,  der 
man  vor  allem  die  Fesseln  des  Arbeiterschutzes  auferlegt  hat.  Das 
neue  dänische  Gesetz  berührt  überhaupt  nicht  die  Hausindustrie, 
aber  gerade  dadurch,  dafs  es  den  Fabriken  die  Fesseln  fester  anlegt, 
wird  es  künftighin  dazu  beitragen,  die  Frage  über  die  Stellung  der 
Gesetzgebung  zur  hausindustriellen  Arbeit  zuzuspitzen.  Das  strenge 
Fabrikgesetz  kann  in  vielen  Fächern  decentralisierend  wirken,  es 
kann  zur  Folge  haben,  dafs  die  grofsc  Arbeitsstelle  sich  in  viele 
kleine  häusliche  Werkstätten  auflöst,  welche  von  den  Einschrän- 
kungen des  Gesetzes  befreit  sind. 

Indessen  — die  Ausdehnung  des  Gesetzes  ist  von  aufser- 
ordentlichcr  Bedeutung;  die  Anzahl  der  Betriebe  unter  Inspektion 
wird  von  ca.  3000  auf  über  7000  steigen,  die  Zahl  der  beschützten 
Arbeiter  von  ca.  65000  auf  ca.  115  000. 

Hinsichtlich  der  Arbeit  von  Kindern  in  Fabriken  wurde  durch 
das  Gesetz  von  1873  das  Alter  von  zehn  Jahren  als  Minimalgrenze 
festgestellt.  Während  dies  für  die  damalige  Zeit  eine  ganz  ange- 
messene Bestimmung  war,  hat  die  Entwicklung  seitdem  so  grofsc 
Fortschritte  gemacht,  dafs  Dänemark,  was  diesen  Punkt  anbelangt, 
sehr  weit  zurück  war;  nur  Italien  hatte  eine  ebenso  niedrige  Alters- 
grenze. Die  Regierung  schlug  alsdann  vor  ein  Minimalalter  von 
14  Jahren  festzustcllen,  d.  i.  der  Zeitpunkt,  wo  das  Kind  seine 
Schulpflicht  erfüllt  hat.  Die  Regierung  wünschte  also,  in  lieber  - 
einstimmung  mit  dem  in  der  Berliner  Konferenz  von  1890  festge- 
stellten Prinzip,  mit  dem  herrschenden  h al  f-t  i mer-System  zu 
brechen,  das  bei  uns  allgemein  für  nicht  befriedigend  angesehen 
wird.  Der  Vorschlag,  das  Minimalalter  von  10  auf  14  Jahre  zu 
erhöhen,  erwies  sich  als  z u radikal,  um  durchgeführt  werden  zu 
können.  Es  drehte  sich  darum,  ca.  4000  Kinder  von  der  Ar- 
beit in  Fabriken  auszuschliefsen,,  die  hauptsächlich  in  der  Cigarren- 
und  Tabaksindustrie,  in  Glaswerken,  Tuchfabriken  und  Ziegeleien 


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Adolph  lensen,  Das  neue  Kabrikgesetz  vom  II.  April  1901.  213 

beschäftigt  waren.  Es  ist  wohl  überflüssig  zu  bemerken,  dafs 
von  seiten  der  betreffenden  Industrien  heftig  gegen  den  Regierungs- 
vorschlag protestiert  wurde,  indem  man  sich  darauf  berief,  dafs  die 
Abschaffung  der  Kinderarbeit  lähmend  auf  die  Exportfähigkeit 
wirken  würde.  Es  war  namentlich  die  Tabakindustrie,  welche  das 
Notsignal  gab.  Aufserordentlich  schwierig  ist  es,  zu  entscheiden, 
inwiefern  die  Furcht  der  Fabrikanten  begründet  war. ') 

Es  wurde  im  § 9 festgesetzt,  dafs  Kinder  unter  12  Jahren 
nicht  zur  Arbeit  in  Betrieben  verwendet  werden  dürfen,  die  der 
Inspektion  unterstellt  sind,  und  das  half-timer -System  wird  also 
für  das  Alter  von  12  — 14  Jahren  beibehalten.  Von  einem  gewissen 
Gesichtspunkt  aus  gesehen,  war  dieses  Resultat  vielleicht  ganz  gut. 
Die  Einführung  des  Prinzips,  dafs  die  Schulpflicht  erfüllt  werden 
müsse,  ehe  cs  dem  Kinde  erlaubt  wird,  sein  eigentliches  Arbeits- 
leben anzufangen,  würde  in  Dänemark  eine  so  starke  Veränderung 
der  geltenden  Gesetzgebung  mit  sich  geführt  haben,  dafs  es  leicht 
verhängnisvolle  Folgen  hätte  haben  können.  Die  Erfahrungen 
anderer  Länder  zeigen,  dafs  selbst,  wo  die  Begrenzung  der  Kinder- 
arbeit stufenweise  vor  sich  gegangen  ist,  doch  dadurch  dafs  die 
Fesseln  fester  angelegt  wurden,  schlimme  Folgen  eingetroffen  sind; 
die  Kinder  sind  oft  in  Betriebe,  welche  keiner  Inspektion  unter- 
stellt sind,  gedrängt  worden.  Es  darf  nicht  vergessen  werden,  dafs 
das  Kind,  welches  in  einer  Fabrik  arbeitet,  doch  die  Schutz- 
bestimmungen des  Gesetzes  genielst  (die  Arbeitszeit,  die  Ruhe- 
pausen, die  YVerkstattshygieine  betreffend  etc.),  wird  es  aber  in  die 
Hausindustrie  getrieben,  so  ist  es  vollständig  aufserhalb  von  aller 
Kontrolle.  Das  Minimalalter  von  14  Jahren  ist  unzweifelhaft  das 
Ziel,  welches  in  Dänemark  erstrebt  werden  muls,  viel  spricht  aber 
dafür,  dafs  es  gut  gewesen,  dafs  man  dieses  Ziel  nicht  auf  einmal 
erreichte. 

F'ür  jugendliche  Arbeiter  von  14 — 18  Jahren,  die  keine  Schule 
mehr  zu  besuchen  haben,  hat  das  neue  Gesetz  keine  Veränderung 
herbeigeführt,  was  die  Dauer  der  effektiven  Arbeitszeit  anlangt; 
doch  ist  eine  recht  wichtige  Aenderung  der  Vorschriften  über  Ruhe- 


’)  Ein  gröfserer  Industriebetreibender  im  Texlilfach  erklärte  mir  gegenüber, 
dafs  seine  Fabrik  es  vielmehr  als  eine  ökonomische  Frlcichterung  fühlen  würde, 
wenn  die  Kinderarbeit  verboten  würde,  da  die  Fabrik  im  Grunde  genommen  die- 
Kinder  nur  aus  Gnade  und  Barmherzigkeit  zur  Arbeit  engagierte  um  den  F.ltcrn, 
die  in  derselben  Fabrik  arbeiteten,  eine  kleine  ökonomische  Stütze  zu  gewähren. 


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214 


Gesetzgebung:  Dänemark. 


pausen  eingeführt  Während  das  ältere  Gesetz  anordnete,  dafs  der 
zwölfstündige  Brutto-Arbeitstag  von  einer  Ruhepause  von  mindestens 

2 Stunden  unterbrochen  werden  sollte,  wovon  I */',  Stunden  vor 

3 Uhr,  ging  der  Vorschlag  der  Regierung  darauf  aus,  dafs  nach  je 

4 Stunden  Arbeit  V*  Stunde  Ruhepause  folgen  solle.  Durch  diese 
Ordnung  wollte  man  erreichen,  dafs,  mit  Beibehaltung  derselben 
effektiven  Arbeitszeit  von  io  Stunden,  sich  keine  Hindernisse  in  den 
Weg  legten  für  eine  Einschränkung  der  Brutto-Arbeitszeit  bis  zu 
1 1 Stunden.  Bei  Aufstellung  dieser  Regel  hatte  man  offenbar  die 
bestimmte  Voraussetzung  vor  Augen  gehabt,  dafs  die  effektive 
arbeitszeit  die  Maximumsgrenze  des  Gesetzes  erreichte,  nämlich 
io  Stunden,  und  in  diesem  Falle  würde  die  Regel  selbstverständ- 
lich gut  sein,  weil  sie,  wie  gesagt,  ein  Herunterbringen  der  Brutto- 
Arbeitszeit  bis  auf  1 1 Stunden  ermöglichen  würde.  Wo  aber  be- 
reits nur  1 1 oder  io’/t  Stunden  brutto  und  nur  9 Stunden  netto 
gearbeitet  wurde,  würde  kaum  etwas  gewonnen  sein ; die  ältere 
Ordnung  würde  man  hier  vorziehen.  In  Rücksicht  hierauf  wurde 
im  endgültigen  Gesetz  die  Aenderung  eingeführt,  dafs  nach  je 
4 '/,  Stunden  (anstatt  nach  je  4 Stunden)  Arbeit  eine  Ruhepause 
von  mindestens  '/*  Stunde  folgen  solle.  Dieselbe  Regel  über 
Ruhepausen  gilt  übrigens  für  Kinder  zwischen  12  und  14  Jahren, 
deren  zusammengefafste  Brutto-Arbeitszeit  nicht  6 Stunden  über- 
steigen darf. 

Ein  besonderes  Interesse  knüpft  sich  an  die  durch  das  Gesetz 
von  1901  vollzogene  Reorganisation  der  Inspektionsbehörden.  Die 
Leitung  ist  einem  vom  König  ernannten  Direktor  unterstellt,  unter 
ihm  ressortieren  zwei  Sekretäre,  von  denen  der  eine  sozialökono- 
misch, der  andere  technisch  ausgebildet  sein  soll.  Die  Anzahl  der 
Inspektoren  ist  nicht  im  Gesetz  festgestellt;  zur  Zeit  sind  20  an- 
gestellt, aber  wahrscheinlich  mufs  diese  Zahl  sehr  bald  erhöht 
werden.  Es  verdient  Anerkennung,  dafs  das  Gesetz  den  Forderungen 
der  Zeit  entgegengekommen  ist  durch  die  Bestimmung,  dafs  Frauen 
Arbeitsinspektoren  sein  können,  und  die  Administration  hat  bereits 
einen  weiblichen  Inspektor  angestellt.  An  der  Seite  des  Direktors 
und  dessen  Personal  stellt  das  Gesetz  indessen  eine  andere  Insti- 
tution, den  sogenannten  „Arbeitsrat“.  Das  Eigentümliche  bei  diesem 
Arbeitsrat  ist,  dafs  das  Ernennungsrecht  von  6 unter  den  8 Mit- 
gliedern des  Rates  in  die  Hände  der  Zentralvereine  der  Arbeitgeber 
und  Arbeiter  gelegt  ist.  Der  Impuls  zur  Bildung  dieser  aufser- 
ordentlich  demokratischen  Institution  ist  dem  Gesetz  über  das  Recht 


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Adolph  Jensen,  Das  neue  FabrikgcseU  vom  11.  April  1901.  215 

zu  Zeugenvernehmungen  für  gewerbliche  Schiedsgerichte ')  ent- 
nommen, welches  den  fachlichen  Centralvereinen  eine  ähnliche  halb- 
offizielle Stellung  verleiht.  Obgleich  der  Arbeitsrat  selbstverständ- 
lich nichts  mit  der  Inspektion  selbst  zu  thun  hat,  wird  derselbe 
doch  einen  bedeutenden  Einflufs  ausüben  können  hinsichtlich  der 
Art  und  Weise,  wie  der  Arbeiterschutz  durchgeführt  wird.  Dem 
Rate  soll  teils  Bericht  erstattet  werden,  teils  sollen  Erklärungen 
von  demselben  eingeholt  werden  in  mehreren  wichtigen  Fällen 
namentlich  hinsichtlich  der  Entscheidung,  ob  ein  Betrieb  der 
Inspektion  unterstellt  sein  soll.  Ferner  ist  dem  Rat  das  Recht 
zur  Initiative  gegeben  in  allen  Sachen  die  Fabrikgesetzgebung 
betreffend , so  dafs  die  Möglichkeit  vorhanden  ist , dafs  der 
Arbeitsrat  sich  zu  einem  sozialpolitischen  Organ  von  weitreichender 
Bedeutung  entwickeln  kann.  In  diesem  Zusammenhang  kann  be- 
merkt werden,  dafs  der  Minister  des  Innern  dem  internationalen 
Arbeitsamt  in  Basel  mitgetcilt  hat,  dafs  die  Frage  der  Errichtung 
einer  dänischen  Sektion  der  internationalen  Vereinigung  für  gesetz- 
lichen Arbeiterschutz  durch  den  zu  aktivierenden  Arbeitsrat  beraten 
werden  solle. 

Was  besonders  dem  Gesetz  das  Gepräge  eines  Kompromisses 
verleiht,  ist,  dafs  erwachsene  weibliche  Arbeiter  nicht  unter  die 
Regeln  über  Maximal-Arbeitszeit  und  Ruhepausen  eingezogen  sind. 
Der  Regierungsvorschlag  stellte  in  dieser  Hinsicht  die  erwachsenen 
weiblichen  Arbeiter  gleich  mit  den  jugendlichen  Arbeitern  zwischen 
14  und  18  Jahren,  das  will  sagen,  es  wurde  ein  Maximal-Arbeitstag 
von  10  Stunden  netto  und  die  obengenannten  Regeln  über  Ruhe- 
pausen vorgeschlagen;  ferner  sollte  Nachtarbeit  und  Sonntagsarbeit 
den  weiblichen  Arbeitern  verboten  werden.  Obgleich  als  ein  Mangel 
des  Gesetzes  hervorgehoben  werden  mufs,  dafs  diese  wenig  weit- 
gehenden Vorschläge  nicht  durchgeführt  wurden,  spielt  es  doch 
vermutlich  in  der  Praxis  keine  gröfsere  Rolle.  In  den  Betrieben, 
welche  im  Jahre  1899  der  Fabrikinspektion  unterstellt  waren, 
arbeiteten  im  ganzen  12616  weibliche  Arbeiter  über  18  Jahren; 
die  Verteilung  nach  der  täglichen  Arbeitszeit  war  folgende: 


91/*  Stunden  oder  darunter  . . . 4162 

io  Stunden 6440 

io1,,  1 75° 


*)  Vgl.  den  Band  15  dieser  Zeitschrift,  S.  677  ff. 


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216 


Gesetzgebung : Dänemark. 


1 1 Stunden  . 182 

Ueber  1 1 Stunden  ......  46 

Unbestimmte  Arbeitszeit  ....  36 

Wenn  das  Gesetz  einen  zehnstündigen  Maximal-Arbeitstag  fest- 
gestellt hätte,  würde  es  also  wesentlich  nur  seinen  Stempel  auf  das 
gedrückt  haben,  was  bereits  in  Dänemark  als  normale  Praxis  ange- 
sehen werden  niufs.  Hieraus  folgt,  das  keine  Gefahr  vorhanden  war, 
die  genannte  Begrenzung  der  Arbeitszeit  der  weiblichen  Arbeiter 
könne  schädlich  gewirkt  haben,  indem  sie  die  weiblichen  Arbeiter 
in  gröfserem  Umfange  in  unregulierte  Betriebe  hinüber  jage.  Man 
benutzte  auch  nicht  dieses  Argument  um  den  Vorschag  zu  be- 
kämpfen; der  Widerstand  nahm  formell  seinen  Ausgangspunkt  von 
der  Doktrin,  dal's  das  Gesetz  nicht  in  die  Kontraktfreiheit  mündiger 
Menschen  eingreifen,  und  dafs  namentlich  kein  Unterschied  zwischen 
der  Stellung  des  Mannes  und  der  Frau  im  Arbeitsverhältnis  gemacht 
werden  dürfe ; in  der  Praxis  aber  war  es  doch  wbhl  die  Rücksicht- 
nahme auf  die  Interessen  eines  kleinen,  aber  kräftig  repräsentierten 
Kreises  von  Arbeitgebern,  welche  in  dieser  Hinsicht  den  Ausschlag 
gaben. 

Die  einzige  Sonderbestimmung  für  weibliche  Arbeiter  ist  die 
Anordnung  der  vierwöchentlichen  Kindbettferien.  Diese  neue  Be- 
stimmung, welche  man  in  fast  allen  neueren  Fabrikgesetzen  wieder- 
findet, hat  in  Dänemark  eine  besonders  humane  Fassung  erlangt 
durch  die  Nebenbestimmung,  dafs  die  Unterstützung,  welche  während 
der  Kindbettferien  geleistet  wird,  nicht  als  Armenhilfe  betrachtet 
werden  solle  und  daher  auch  nicht  die  gewöhnlichen  gesetzlichen 
Wirkungen  derselben  erhalte. 

Das  dänische  Fabrikgesetz  von  1901  bezeichnet  ohne  Zweifel 
einen  bedeutenden  Fortschritt  hinsichtlich  des  bisher  bestehenden 
Zustandes,  aber  völlig  auf  der  Höhe  mit  den  Forderungen  der  Zeit 
ist  das  Gesetz  nicht,  und  es  wird  es  noch  weniger  sein,  wenn,  wie 
im  Sc h 1 u fs pa ragra p h angeordnet,  erst  im  Jahre  19 IO  Vorschläge  zur 
Revision  seiner  Bestimmungen  gemacht  werden  sollen. 


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J 


MISZELLEN. 

Ausdehnung  der  Statistik  über  die  Kranken- 
versicherung im  Deutschen  Reiche. 

Von 

DR.  ADOLF  BRAUN 

in  Stuttgart. 

Man  könnte  das  statistische  und  speziell  das  sozialstatistische  Ur- 
material  nicht  unfruchtbar  in  zwei  Gruppen  teilen,  in  das  ohne  Rücksicht 
auf  etwaige  künftige  statistische  Verarbeitung  gewonnene  und  in  das 
lediglich  zum  Zwecke  der  statistischen  Verwertung  beschaffte.  An  das 
letztere  denkt  der  Sozialstatistiker  in  erster  Linie;  rechnet  man  auch  zu 
diesem  die  Erhebungen  der  Reichskonimission  der  Arbeiterstatistik,  Fest- 
stellungen etwa  der  Art  wie  die  der  Gewerbeaufsichtsbeamten  über  die 
Fabrikarbeit  verheirateter  Frauen  und  ähnliche,  so  bleibt  doch  die 
Menge  dieses  Materials  weit  zurück  hinter  dem . was  man  zur  Auf- 
hellung unserer  sozialen  Verhältnisse  für  erforderlich  erachten  tnufs. 
Illusionen  über  sozialstatistische  Erhellungen,  die  die  ganze  Arbeiterklasse 
erfassen,  dürfte  man  beute  bei  Sachkennern  kaum  noch  antreffen.  Statt 
fruchtlos  Erhebungen  dieser  Art  zu  fordern,  wird  cs  vielleicht  nützlicher 
sein,  darauf  hinzuweisen,  dafs  so  manches  Unnaterial  vorhanden  ist,  das 
Verwaltungszweckcn  dient,  oder  infolge  der  Thätigkeit  der  Verwaltung 
entstanden  ist,  nicht  besonders  erhoben  werden  mufs,  ohne  jede 
weitere  Belästigung  der  Bevölkerung  vorliegt,  blofs  der  Bearbeitung 
harrt  und  uns  Aufschlüsse  über  die  Lebensverhältnisse  der  arbeitenden 
Klasse  gewähren  kann,  die  von  hoher  Bedeutung  nicht  nur  Air  die  Sta- 
tistik, sondern  auch  für  ein  späteres  Eingreifen  der  Gesetzgebung  und 
für  die  Aufklärung  der  Bevölkerung  werden  könnte.  Rohmaterial  dieser  Art 
findet  sich  in  jedem  Fabrikcomptoir,  in  jeder  Krankenkasse,  in  jedem 
Bureau  der  Berufsgenossenschaften  und  der  Invaliditätsanstalten.  Manches 
Material,  z.  B.  das  in  den  verschiedenen  Zweigen  der  Arbeiterversicherung 


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218 


Miszellen. 


angehäufte,  erfährt  eine  Verwertung,  aber  eine  völlig  ungenügende,  ledig- 
lich dem  engsten  Verwaltungszweck  äufserlicher  Kontrolle  genügende; 
ein  tieferes  Kindringen  fehlt,  obgleich  jeder  Statistiker,  der  weifs,  was 
aus  dem  Materiale  geschafft  werden  könnte,  nur  aufs  lebhafteste  be- 
dauert, dafs  diese  Schätze  in  Registraturen  verstauben  und  vermodern 
und  keiner  anderen  Zukunft  entgegensehen  als  der  Papierstampfe.  Es 
wäre  eine  dankenswerte  Aufgabe,  festzustellen,  welches  statistische  Ur- 
material  dieser  Art  im  Reiche  existiert,  welchen  Wert  seine  Verarbeitung 
hätte,  wobei  selbstverständlich  nüchtern  zu  prüfen  wäre,  ob  die  Kosten 
der  Verarbeitung  im  Verhältnisse  stehen  würden  mit  den  zu  gewärtigen- 
den Ergebnissen. 

Betrachten  wir  dieses  Problem  auf  dem  Gebiete  der  reichsgesetz- 
lichen Krankenversicherung. 

Der  Personenkreis  des  Krankenversicherungsgesetzes  ist  kein  eng 
umschriebener,  gewisse  Personenkreise  können  auf  ihren  Antrag,  andere 
auf  Antrag  des  Unternehmers  von  der  Beitragspflicht  enthoben  werden, 
andererseits  ist  eine  Ausdehnung  des  Versicherungszwanges  möglich  durch 
Verfügung  des  Reichskanzlers,  durch  Beschlufs  des  Bundesrates,  durch 
Anordnung  einer  Zentralbehörde,  durch  statutarische  Bestimmungen  einer 
Gemeinde  oder  eines  Kommunalverbandes.  ')  In  der  Praxis  hindern 
aber  diese  Bestimmungen  eine  statistische  Betrachtung  nicht.  Die  be- 
rufliche Zusammensetzung  des  gegen  Krankheit  versicherten  Teiles  der 
Bevölkerung  wird  sich  trotz  dieser  Bestimmungen  nicht  erheblich  mehr 
ändern  als  die  Berufsgruppierung  in  der  Gesamtbevölkerung.  Dieser 
Personenkreis  umfafst  nicht  einen  so  grofsen  Bruchteil  der  Bevölkerung 
wie  die  beiden  anderen  grofsen  Zwangsversicherungen,  *)  aber  noch  immer 
einen  aufserordentlich  grofsen  und  in  seiner  Zusammensetzung  ziemlich 
gleichmäfsigen ; ist  auch  die  Zugehörigkeit  der  Krankenkassen  noch  nicht 
einmal  berufstatistisch  gruppiert  worden,  was  de  lege  ferenda  sehr  wichtig 
wäre,  so  genügt  doch  für  unsere  Zwecke  vollkommen  die  Feststellung, 
dafs  fast  die  gesamten  in  Industrie,  Handwerk,  Baugewerbe,  Verkehrs- 

’)  K ranke  nversichcrungsgcsctx  i.  d.  Fassung  vom  Io.  April  1892  §§  1,  2,  2a, 
ab,  3,  3a,  3h. 

*)  Fs  waren  versichert  im  Jahre  1898  hei  einer  berechneten  Gcsamtlrevölkerung 
von  54283000  Seelen  gegen  Krankheit  9325722  Personen 

„ l'nfall  16746000  „ 

„Invalidität  und  Alter  12  659000  „ 

Die  neuen  Geselle  über  die  Unfall-  u.  Invalidenversicherung  haben  den  Kreis  auf 
Grund  derselben  versicherungspttichtigen  Personen  noch  ausgedehnt.  Bei  der  ersten 
Zahl  sind  die  in  den  Knappscliaftskassen  ihrer  Krankenversicherungspflieht  genügenden 
Personen  mitgezählt.  Ohne  diese,  die  in  die  Statistik  der  Krankenversicherung  nicht 
einbezogen  werden,  betrug  1898  die  durchschnittliche  Mitgliederzahl  8502645. 


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Adolf  Braun,  Ausdehnung  der  Statistik  über  die  Krankenversicherung.  2 IQ 


wesen  (mit  Ausnahme  der  Seeschiffahrt)  als  Arbeiter  thätigen  Personen 
auf  Grund  des  Krankenversicherungsgesetzes  versichert  sind  und  dafs  die 
befreiten  Personen  diesen  gegenüber  an  Zahl  nicht  ins  Gewicht  fallen.  Die 
landwirtschaftlichen  Arbeiter  Preussens  und  Bayerns  und  von  12  anderen 
Bundesstaaten  stehen  noch  immer  aufserhalb  dieser  Versicherung.  Eine  be- 
rufsstatistische Verarbeitung  des  Materials  der  Krankenversicherung,  die  eine 
Voraussetzung  jeder  weiteren  Verwertung  des  Materials  ist,  wird  freilich  auch 
für  die  kleineren  Berufsgruppen  bis  in  die  kleinsten  hinein  wertvolle  Er- 
gebnisse zeitigen.  Würde  schon  eine  l>e rufsstatistische  Durchleuchtung 
der  in  der  »Statistik  der  Krankenversicherung«  veröffentlichten  Mate- 
rialien bedeutungsvolle  Ergebnisse  zeitigen,  so  kann  dies  doch  keineswegs 
allein  genügen,  ist  doch  die  Statistik  der  Krankenversicherung  ein  Muster- 
stück von  Verwaltungsstatistik  in  dem  Sinne,  dafs  sie  kaum  mehr  fest- 
stellt, als  eben  dem  engsten  Zwecke  der  Aufsicht  über  die  Krankenkassen 
und  der  Materialsammlung  für  erforderlich  werdende  Novellen  zu  dem 
Gesetze  entspricht. 

Dieser  Statistik  liegen  zu  Gntnde  die  »Vorschriften  über  die  Art 
und  Form  der  Rechnungsführung«  '),  dann  die  »Nachweisung  betreffend 
die  Krankenversicherung  etc.«, a)  einige  sehr  eingehende  Fragebogen, 
welche  auf  dem  Beschlufs  des  Bundesrates  vom  3.  November  1892  — 
§ 6S4  der  Protokolle  — beruhen.  a)  Ein  Eingehen  auf  diese  Grundlagen 
der  Krankenversicherung  erübrigt  sich,  da  den  Lesern  dieser  Zeit- 
schrift dieselben  zugänglich,  sie  auch  regelmäfsig  in  diesem  Archive 
besprochen  worden  sind  und  für  unseren  Zweck  die  Feststellung  ge- 
nügt, dafs  nicht  viel  mehr,  jedenfalls  in  sozialstatistischer  Beziehung 
nicht,  aus  denselben  festgestellt  werden  kann  als  die  acht  Tabellen 
bieten,  die  eben  diese  Statistik  enthält.  Nun  wollen  wir  keineswegs  diese 
Tabellen  missen,  wir  können  aber  in  ihnen  nur  den  äufseren  Aufbau 
einer  Krankenstatistik  sehen,  es  ist  eben  im  strengsten  Sinne  des  Wortes 
eine  Statistik  der  Krankenversicherung  und  nicht  der  Erkrankungen 
der  Arbeiter.  Alle  Tabellen  haben  die  Kassenarten  zur  Grundlage,  das 
Individuum,  ja  die  berufsmäfsig  aufgebaute  Krankenkasse  verschwindet 
in  der  Statistik  der  Krankenversicherung  völlig.  Selbst  die  Versicherungs- 
verhältnisse sind  nicht  insgesamt  für  die  Provinzen  und  Bundesstaaten 
feststellbar,  weil  mangels  jedes  Zurückgehens  auf  die  Person  des  Ver- 
sicherten die  versicherten  Personen  als  ansässig  am  Sitze  der  Kasse  an- 
genommen werden,  was  nicht  für  alle  Kassen,  vor  allem  nicht  für  die 
eingeschriebenen  Hilfskassen  gilt.  Die  Kasse,  als  statistische  Einheit  ge- 


’)  Abgedruckt  als  Anlage  B auf  S.  6 f.  der  Statistik  der  Krankenversicherung 
im  Jahre  1894  (Berlin  1897!  Statistik  des  Deutschen  Reiches  N.  F Band  84. 

*)  a.  a.  O.  S.  II  IT. 

’)  a.  a.  O.  S.  I. 


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220 


Miszellen. 


nommen,  garantiert  somit  nicht  einmal  für  die  einfachsten  Zusammen- 
stellungen der  Krankenkassenstatistik  richtige  Resultate,  erst  das  Zurück- 
gehen auf  das  versicherungspflichtige  Individuum  schafft  uns  den  theo- 
retischen (Hauben  an  die  Richtigkeit  des  statistischen  Ergebnisses.  Doch 
selbst  den  Fall  gesetzt,  dafs  das  Ergebnis  der  Statistik  der  Krankenver- 
sicherung allen  Anforderungen  der  Theorie  und  der  Praxis  genügen 
würde,  so  bliebe  ihr  Wert  für  den  Praktiker  der  Arbeiterversicherung 
ein  begrenzter,  den  Sozialstatistiker  liefse  sie  fast  völlig  im  Stiche.  Bei 
aller  Freude  an  jedem  Zahlenmeer , von  dem  ich  mich  frei  weifs, 
was  nützt  es  der  Sozialstatistik,  wenn  sie  für  preufsische  Provinzen,  für 
Bayern  rechts  und  links  des  Rheins  und  für  die  Bundesstaaten  festge- 
•-tellt  erhält  Zahl  und  Ausdehnung  der  Krankenkassen,  Karenzzeit,  Mit- 
gliederzahl, Erkrankungsfallc,  Krankheitstage,  Sterbefälle,  Einnahmen  und 
Ausgaben,  Aktiva  und  Passiva,  finanzielle  Lage  der  Kassen,  statuten- 
tnässige  Dauer  der  Unterstützungen,  Prozentverhältnis  der  Beiträge  und 
des  Krankengeldes  zum  Lohne  u.  s.  w.  Fäne  Reihe  weiterer  F'ragen  der 
Krankenkassenstatistik  sind  in  der  Einleitung  zur  Statistik  der  Kranken- 
versicherung für  1884')  behandelt,  so  die  monatliche  Mitgliederzahl  der 
Ortskrankenkassen,  um  deren  systematische  Verwertung  ftir  die  Beur- 
teilung der  Fluktuationen  auf  dem  Arbeitsmarkte  sich  die  Zeitschrift  „Der 
Arbeitsmarkt“  seit  längerer  Zeit  bemüht,  und  die  dort,  wo  es  sich  um 
nach  Mitgliedern  beruflich  geschiedene  Orlskrankenkassen  handelt,  ganz 
interessante  Resultate  zeitigt,  wenn  nicht  neben  diesen  Kassen  grofse 
Betriebskrankenkassen,  starke  Innungskrankenkassen  und  eine  beachtens- 
werte Zugehörigkeit  der  Arbeiter  dieses  Berufes  zu  freien  Hilfskassen 
vorhanden  ist.  Wir  ftihren  dies  hier  nur  näher  aus,  um  zu  zeigen,  wie 
trügerisch  jede  statistische  Verwertung  des  Materials  werden  kann,  wenn 
sie  auf  der  Verarbeitung  der  Ergebnisse  einzelner  Kassen  und  nicht  auf 
der  systematischen  Verarbeitung  der  Individualangaben  beruht.  Weiter 
finden  wir  in  der  Statistik  für  1884  die  organisierten  Kassen  nach 
Gröfsenklassen,  die  durchschnittliche  statutenmäfsige  Unterstützungsdauer 
der  Mitglieder  der  Ortskrankenkassen,  die  Ortskrankenkassen  nach  Mit- 
gliederzahl und  Karenztagen  und  das  Prozentverhältnis  des  Kranken- 
geldes zum  Lohne  bei  den  Mitgliedern  der  Ortskrankenkassen  dargestellt. 
Die  Angaben  des  letzterwähnten  Abschnittes  könnten  etwas  mehr  sozial- 
statistisches  Interesse  beanspruchen,  wenn  das  Verhältnis  zum  wirklichen 
Lohne,  dessen  Feststellung  ja  auf  Grund  des  i;  49  111  und  IV  Kranken- 
versicherungsgesetzes  den  Krankenkassen  obliegt,  berechnet  würde  und 
nicht  zum  'l'agelohnc  beim  Eintritte  in  die  Ortskrankenkasse ; werden 
doch  die  Veränderungen  des  Lohnes  nur  zum  geringsten  Teile  zur 
Kenntnis  der  Kassen  gebracht  und  ist  doch  bei  den  Akkordarbeitern  der 

')  win  tr.,  xxiv,  LViiir.,  Lxvtr.,  i.xm,  i.xxxii,  i.xxxtvtr. 


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Adolf  Braun,  Ausdehnung  der  Statistik  über  die  Krankenversicherung.  221 

angegebene  Lohn  meist  weit  entfernt  von  dem  thatsächlich  verdienten. 
Aber  selbst  wenn  diesen  Einwendungen  wenig  Wert  beizumessen  wäre, 
so  beziehen  sich  diese  Berechnungen  doch  nur  auf  weniger  als  ein  Fünftel 
der  in  Ortskranlcenkassen  und  auf  ein  Elftel  bis  ein  Zwölftel  aller  ver- 
sicherten Personen  1 598  932  Mitglieder  Ortskrankenkassen  spezieller  Be- 
rufe gegenüber  3 109  100  in  Ortskrankenkassen  und  6939412  überhaupt 
am  31.  Dezember  1894  gegen  Krankheit  versicherte  Personen).  Ähn- 
liche Einwendungen  sind  bei  der  Berechnttng  des  Prozentverhältnisses 
der  Beiträge  zum  Lohn  bei  den  Ortskrankenkassen  zu  machen.  Seit 
1884  hat  die  Statistik  der  Krankenversicherung  eher  Rückschritte  als 
Fortschritte  in  der  Bearbeitung  des  gleichgebliebenen  Materials  gemacht. 

Sobald  man  die  Zahlen  der  Statistik  der  Krankenversicherung  zur 
Aufstellung  der  sozialen  Verhältnisse  heranziehen  will,  lassen  sie  im  Stiche. 
Welchen  Nutzen  hätte  diese  Statistik  bei  der  letzten  grbfseren  sozialstatisti- 
schen Erhebung  bieten  können!  Aber  hören  wir  Urteile  von  Männern,  die 
diese  Erhebung  geleitet  haben.  Anläfslich  der  Untersuchung  der  Gewerbe- 
inspektoren über  die  Beschäftigung  verheirateter  Frauen  in  Fabriken  äufserte 
sich  der  Regierungs-  und  Medizinalrat  für  den  Regierungsbezirk  Pots- 
dam l)  u.  a.  auch  über  die  Krankenkassenstatistik,  die  er  mit  Recht  unter 
Zuziehung  der  Kassenärzte  aufgestellt  wissen  will:  „Die  vorliegenden 
Statistiken  können  zum  gröfsten  Teile  als  einwandsfrei  nicht  erachtet 
werden,  da  die  Dauer  tler  Zugehörigkeit  zum  Betriebe  dabei  zu  wenig 
berücksichtigt  ist“.  „Um  zunächst  diejenigen  Betriebe  kennen  zu  lernen, 
die  ....  als  gesundheitsschädlich  zu  erachten  sind ist  eine  sorg- 

fältige Statistik  erstes  Erfordernis.  Ohne  Zwang,  ohne  staatliche  Autori- 
sation sind  hier  verwettbare  Unterlagen  nicht  zu  beschaffen.  Jeder 
Krankenkasse  wäre  zu  diesem  Zwecke  die  Führung  statistischer  Register 
für  jedes  Kassenmitglied  vorzuschreiben,  die  etwa  folgende  Rubriken  zu 
enthalten  hätten : 

1.  Name  — Geburtsjahr  — Geschlecht  — Art  der  Arbeit  — 
Dauer  der  Zugehörigkeit  zum  Berufe  — vorangegangene  Be- 
schäftigung. 

2.  Tägliche  Arbeitszeit  (Ueberstundenarbeit). 

3.  Gegenwärtiger  Lohn  (früherer). 

4.  Gesundheitlicher  Zustand  der  Mitglieder  — Konstitution  — 
Lebensführung  (Alkoholismus),  vorangegangene  Krankheiten  — 
Krankheiten  im  Berufe  — Krankheitstage  •—  erwerbsunfähig  oder 
nicht  — Ausgang  der  Krankheit. 

5.  Hinsichtlich  der  Berufskrankheiten  im  engeren  Sinne  müssten  bei 
den  verheirateten  weiblichen  Arbeitern  aufserdem  noch  die  Unter- 


*)  Jahresberichte  der  trewcrbc-AufsichlsheanUen  und  Bergbehörden  für  das 
Jahr  1899  J.  Itand  S.  52 1. 


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222 


Miszellen. 


fragen  hinsichtlich  Schwangerschaft,  Laktation,  Gesundheitszustand 
(wieviel  gestorben  — und  in  welchem  Alter)  gestellt  werden.*' 
Beachtet  mufs  auch  die  Forderung  einheitlicher  Normen  bei  Be- 
zeichnung der  Krankheitsformen  werden.  Der  genannte  Medizinalbeamte 
schlägt  22  Hauptgruppen  vor.  Ks  erschiene  uns  als  Aufgabe  des  Reichs* 
gesundheitsamtes,  nach  vorausgegangenen  Erhebungen  ein  Schema  defi- 
nitiv auszuarbeiten,  das  vorläufig  schon  durch  das  Reichsamt  des  Innern 
allen  Aerzten  und  Kassenverwaltungen  amtlich  zugänglich  und  empfohlen 
werden  könnte,  vorbehaltlich  späteren  gesetzlichen  Zwanges,  damit  würde 
die  Erprobung  des  Schemas  in  der  Praxis  ermöglicht  und  der  eventuellen 
späteren  gesetzlichen  Vorschrift  gut  vorgearlieitet  werden. 

Anlässlich  der  erwähnten  Enquete  stellt  auch  der  Gewerberat  für 
den  Regierungsbezirk  Oppeln  fest’):  „dafs  in  den  Listen  der  Fabrik- 
krankenkassen zumeist  die  Art  der  Erkrankung  nicht  angegeben  ist“  und 
der  Gewerberat  für  den  Inspektionsbezirk  Chemnitz  *)  hält  es  für  nötig, 
dafs  von  allen  Krankenkassen  und  in  allen  Fabriken  Nachweise  geführt 
werden,  aus  welchen  sich  die  Art  der  Erkrankung  genau  ersehen  läfst 
und  deren  Einsichtnahme  auch  den  zuständigen  Bezirksärzten  oder  anderen 
dazu  bestimmten  Aerzten  zu  gestatten  wäre. 

Das  Bedürfnis  einer  Statistik  der  gegen  Krankheit  Versicherten  und 
nicht  blofs  der  Kasseneinrichtungen  auch  für  die  nicht  zu  engen  Zwecke 
der  Verwaltung  ist  durch  die  angeführten  Gutachten  erwiesen.  Das  Streben 
der  Aufsichtsbeamten,  genaue  zahlenmäfsige  Nachweisung  bei  der  Beant- 
wortung der  ihnen  gestellten  Fragen  zu  verwenden,  war  begreiflich,  aber 
weder  die  vom  Kaiserlichen  statistischen  Amte  publizierte  Statistik  konnte 
herangezogen  werden,  noch  eigneten  sich  hierzu  die  weitergehenden 
Erhebungen  einzelner  Krankenkassen  — von  Ausnahmefällen  abgesehen. 

Erwägt  man  nun,  dafs  zur  Durchführung  der  120  c,  d und  vor 
allem  des  $ 120  e der  Gewerbeordnung  eine  genaue  Kenntnis  der  gesund- 
heitsstorenden  Berufseinwirkungen  erforderlich  wäre,  so  mufs  man  eigent- 
lich auch  bei  Beschränkung  der  amtlichen  Statistik  auf  die  reinen  Ver- 
waltungszwecke recht  erstaunt  sein , dafs  man  im  Reichsamt  des  Innern 
noch  nicht  die  Notwendighcit  eingesehen  hat,  eine  genaue  nach  Berufen, 
Geschlecht  und  Alter  geordnete  Krankenstatistik  zu  schaffen.  Aber  auch 
für  die  Verwaltungszweckc  jeder  gut  geleiteten  Kasse  genügt  der  Ein- 
blick in  ihre  Verhältnisse  nicht,  den  sie  sich  aus  der  Ausfüllung  des 
vom  Bundesrate  vorgegebenen  Formulars  verschaffen  kann,  dies  hat  viele 
Kassen  veranlafst,  selbständig  statistisch  ihr  Material  zu  verwerten,  wieder 
— von  Ausnahmefällen  abgesehen  — mit  Beschränkung  auf  das  mo- 
mentan ins  Auge  springende  Verwaltungsbedürfnis,  so  zur  Kontrolle  der 


’)  a.  a.  O.  I S.  210. 
')  a.  a.  O.  II  S.  659. 


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Adolf  Braun,  Ausdehnung  der  Statistik  über  die  Krankenversicherung.  223 

Aerzte,  der  grüfseren  Willfährigkeit  derselben  den  Wünschen  der  Mit- 
glieder gegenüber,  zur  Feststellung  von  Simulanten,  zum  Vergleiche  der 
Apothekerrechnungen  u.  dgl.  Dabei  fiel  ja  hier  und  da  auch  etwas  für 
denjenigen  ab,  dessen  Interesse  weiter  reicht.  Es  kann  gar  nicht  be- 
stritten werden,  dafs  das  Bedürfnis  statistischer  Feststellungen  sich  immer 
häufiger  für  die  Kassen  Verwaltungen  ergab  und  dafs  quantitativ  gar  nicht 
Unbeträchtliches  geleistet  wurde.  Al>er  selbst  die  Sammlung  all’  dieser 
in  Verwaltungsberichten  verstreuten  Materialien  würde  nicht  befriedigen, 
wäre  doch  für  den  Statistiker  der  erste  und  letzte  Eindruck,  dafs  die 
Zahlen  nicht  vergleichbar  sind,  dafs  die  Aufnahmemethoden  gar  sehr  von 
einander  abweichen,  dafs  mit  dem  Material  meist  sehr  dilettantenhaft 
verfahren  wurde.  All'  diese  Leistungen  sind  durchaus  freiwillig,  ohne  vor- 
geschriebenes Schema,  i.  d.  R.  ohne  jede  Beratung  mit  Fachmännern  unter- 
nommen. Lediglich  einer  momentan  notwendigen  Feststellung  zu  Liebe 
wird  plötzlich  statistisch  losgearbeitet ; dabei  handelt  es  sich  meist  um 
eine  weitere  Ueberlastung  ohnedies  nicht  glänzend  bezahlter  Beamter. 
Was  aus  all’  diesen  Voraussetzungen  zur  Vermehrung  unseres  Wissens 
über  die  Morbidität  und  ihre  Beziehung  zu  den  sozialen  Ursachen  heraus 
springt,  läfst  sich  ziemlich  leicht  erraten.  Dabei  soll  ja  keineswegs  be- 
stritten werden,  dafs  einzelne  Kassen  gutes,  ja  vorzügliches  geleistet 
haben  oder  wenigstens  die  Grundlagen  hierzu  beschafften.  Bei  aller 
Anerkennung  des  Geleisteten  rnufs  dies  den  Wunsch  hervorrufen,  dafs 
die  guten  Leistungen  nicht  vereinzelt  bleiben,  dafs  ihr  Wert  für  die 
betreffende  Kasse  und  für  die  Allgemeinheit  gesteigert  werde  durch 
die  Herbeiführung  einer  Vergleichbarkeit  der  Ergebnisse.  Bei  den  Mo- 
menten, mit  denen  eine  Verwaltung  der  Kasse  zu  rechnen  hat,  wird 
das  hier  Wünschenswerte  ohne  bindende  Anordnung  nicht  erzielt  werden 
können.  Heute  herrscht  das  laisser  faire,  laisser  passer  auf  dem  Gebiete 
der  Krankenstatistik ; wir  sind  ja  der  Zeit  entwachsen,  wo  man  gegen 
das  Prinzip  der  unbeschränkten  Konkurrenz  zu  Felde  zu  ziehen  hat, 
niemals  hat  man  es  aber  auf  dem  Gebiete  der  Statistik  billigen  können 
und  doch  halten  wir  es  gerade  hier  noch  zu  bekämpfen. 

Sicherlich  sind  in  den  letzten  Jahren  manche  Fortschritte  auf.  dem 
Gebiete  der  Krankenkassenstatistik  auch  in  technischer  Beziehung  zu  ver- 
zeichnen. zUs  ich  anfangs  der  qoer  Jahre  den  Rendanten  und  ninfs- 
gebende  Vorstandsmitglieder  einer  der  gröfsten  Berliner  Ortskrankenkasseu 
für  die  Anlegung  von  Zählkarten  für  jedes  einzelne  Mitglied  zu  inter- 
essieren suchte  und  ihnen  neben  dein  statistischen  den  verwaltungstech- 
nischen Wert  dieser  Systems  auseinanderzusetzen  suchte,  stiefs  ich  auf  gar 
kein  Verständnis.  Heute  hat  schon  eine  Reihe  von  Krankenkassen  dieses 
meines  Erachtens  für  eine  Verwertung  ihres  Materials  allein  verwendbare 
System  in  Anwendung  gebracht.  „So  hat  man  z.  B.  in  Stuttgart,  Dresden, 
Leipzig,  Barmen  und  Frankfurt  a.  M.  das  Krankenkartensystem  eingeführt, 
was  sich  nach  Angabe  der  betreffenden  Verwaltungen  nach  jeder  Richtung 


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224 


Miszellen. 


hin  vorteilhaft  bewahrt  hat.  Auf  diesen  Karten  wird  alles  vermerkt,  was  in 
Bezug  der  Mitgliedschaft,  der  Krankenanmeldung,  der  Dauer  der  Krank- 
heit, des  konsultierten  Arztes  u.  s.  w.  notwendig  erscheint. 

Diese  Krankenkarten  bleiben  in  den  Händen  der  Verwaltung  und 
werden  alphabetisch  geordnet  in  Fächer  gestellt.  Sobald  ein  Mitglied  etwas 
wünscht,  wird  diese  Karte  hervorgezogen  und  inan  findet  auf  ihr  alles 
verzeichnet,  was  man  über  das  Mitglied  zu  wissen  seit  Jahren  für  notwendig 
hält.  Ks  dürfte  sich  empfehlen,  dieses  Kartensystem  auch  in  unserer 
Verwaltung  einzuführen.“  ')  Dafs  dieses  System  trotz  seiner  Vorteile  noch 
nicht  allgemein  durchgeführt  wurde , liegt  daran , dafs  seine  Einführung 
Mehrarbeiten,  bei  grösseren  Kassen  die  Anstellung  ständiger  Beamter  (in 
Strafsburg  i.  Eis.  bei  ca.  1 7 000  Mitglieder  drei  besonders  sich  diesen 
Aufgaben  widmende  Angestellte)  erfordert. s)  Die  Zahl  der  Kranken- 
Personalkarten  ist  wegen  der  häufigen  An-  und  Abmeldungen  bedeutend 
grösser  als  die  der  Mitglieder,  so  in  Bannen*)  bei  einer  Jahresdurch- 
schnittsziffer von  23405  und  bei  einer  höchsten  Mitgliederzahl  von 
242X2  Versicherten  ca.  60000  Zählkarten.  Es  konnte  von  mir  nicht 
festgestellt  werden,  wo  in  Deutschland  das  System  der  Zählkarte  zuerst 
bei  einer  Krankenkasseneinrichtung  eingeführt  wurde,  es  scheint  dies 
bei  der  allgemeinen  Ortskrankenkasse  in  Frankfurt  a.  M.  gewesen  zu  sein, 
die  meines  Wissens  dieses  System  am  meisten  ausgebaut  hat.  Mir 
liegen  gleichzeitig  in  Verwendung  stehende  7 Kartenformulare  dieser 
Kasse  vor,  ein  Beweis  dafür,  dafs  das  Kartensystem  sich  ausgezeichnet 
zu  Verwaltungszwecken  eignet,  dafs  es  aufserordentlich  viel  Zeitersparnis, 
raschere  Uebersicht,  bessere  Kontrolle  und  schnellere  Abfertigung  zur 
Folge  hat.  Auf  Grund  jeder  dieser  Zählkarten  liefsen  sich  statistische 
Feststellungen  machen,  womit  nicht  gesagt  sein  soll,  dafs  dies  geschehen 
soll.  Da  aber  dieses  ausgebildete  Kartensystem  für  die  Verwaltungen 
anderer  Kassen  vorbildlich  war  und  einen  Einblick  in  die  Kassenver- 
waltung gewährt,  dürfte  es  vielen  willkommen  sein,  diese  Formulare 
kennen  zu  lernen.  Die  Karten  sind  zumeist  aus  sehr  guten,  meist  hell- 
grauen Kartons  verfertigt,  sie  unterscheiden  sich  zwar  ziemlich  auffallend 
durch  den  Druck , leider  ist  aber  eine  Unterscheidung  durch  Farben 
unterlassen  worden. 

Karte  1 ist  eine  Registerkarte  für  die  Unternehmer . sie  hat  wenig 
Interesse  für  uns.  Ihr  Text  lautet : 

,i  Bericht  über  die  Informationsreise  (erg.  ües  Vorstandes  der  Orlskrunken- 
kasse  Strafst >urg  i.  Eis.)  vom  II.  Juli  his  26.  Juli  1898  S.  1 1 ff.  Rcchcnschafls- 
brriehl  der  gemeinsamen  f Irtskrankenkasse  Strafsburg  i.  Eis.  f.  d.  Jahr  1898  S.  21. 

* Rechenschaftsberichte  etc.  für  1899  S.  18,  für  1900  S.  6,  24.  25. 

1j  Gcscheüs- bericht  der  allgemeinen  Ortskrankenkasse  zu  Rarmen  auf  das Jahr 
1899  X.  2 f. 


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Adolf  Braun,  Ausdehnung  der  Statistik  über  die  Krankenversicherung.  225 

Stadtbezirk Hebeliste Nr 

a)  Zuname : 

b)  Vorname: 

c)  Geschäftsbetrieb: 

d)  Wohnung:  (3  Zeilen) 

Berufsgenossenschaft:  (2  Zeilen) 

Bemerkungen : 

Die  Rückseite  der  Karte  ist  frei.  Sie  ist  17X11  cm  grols. 

Von  viel  höherem  Interesse  ftir  den  Sozialstatistiker  sind  die  folgen- 
den Formulare,  so  vor  allem  Formular  2 u.  3. 

Karte  2 ist  26%  X 2 t */ä  cm  grofs  und  hat  folgenden  Text  auf  der 
Vorderseite : 

(Siche  die  Karte  auf  S.  316.) 

Für  die  Kassenverwaltung  hat  diese  Karte  aufserordentlich  hohen 
Vorteil.  Die  bezogenen  Unterstützungen  können  sofort  übersehen  werden, 
es  sind  keine  Registerbände  nachzuschlagen , nicht  ebensoviele  Seiten 
wie  Untersützungsfalle  oft  in  mehreren  Büchern  aufzuschlagen,  Notizen 
hcrauszuziehen  u.  s.  w.  Ein  Handgriff  schafft  das  ganze  Material , eine 
halbe  Minute  informiert  über  alles,  was  das  Verwaltungsorgan  über , das 
Mitglied  zu  erfahren  sucht:  „Die  bezogenen  Unterstützungen  (Kranken- 
geld, Hospitalpflege,  Heilmittel,  Anfang  und  Ende  der  Erwerbsunfähigkeit, 
Name  des  behandelnden  Arztes  und  der  Diagnose).  Unter  Bemerkungen 
werden  die  Strafen,  in  welche  die  Mitglieder  bei  Zuwiderhandeln  gegen 
die  Krankenvorschriften  verfallen,  eingetragen.  Auf  Grund  dieser  Auf- 
zeichnungen sind  wir  in  der  Lage,  das  Verhalten  des  Mitgliedes  der  Kasse 
gegenüber  sofort  beurteilen  zu  können.'1  ’) 

Welch  grofsen  Wert  dieses  Formular  als  statistisches  Urmaterial  hat, 
ist  nicht  weiter  auseinanderzusetzen,  lehrt  das  doch  das  Formular  selbst. 
Eine  leichte  Unterscheidbarkeit  der  weiblichen  und  männlichen  Mitglieder 
durch  Wahl  von  verschieden  gefärbten  Kartons  liefse  sich  ohne  Kosten 
erreichen  und  damit  die  Verarbeitung  des  Materials  etwas  erleichtern.  -) 

Karte  3 ist  nur  auf  einer  Seite  liedruckt,  sie  dient  als  „Kranken- 
karte"  und  ist  26  cm  breit  und  20 ' cm  hoch.  Sie  hat  folgenden 
Vordruck : 

(Siebe  die  Karte  auf  S.  227.) 

’)  Freundliche  briefliche  Mitteilung  des  langjährigen  Vorsitzenden  der  Kasse, 
Herrn  E.  Graf  vom  15.  Mai  1901. 

*)  Dieser  Forderung  entspricht  das  dem  gleichen  Zwecke  dienende  Formular 
der  allgemeinen  Ortskrankenkasse  Strafsburg  i.  Fils.,  so  auch  das  Dresdener. 

Archiv  für  tor.  Gfneugebtinj;  u.  Statistik.  XVII.  15 


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2 6 Zeilen  Raum  für  ebensoviele  Eintragungen  dann 
Bemerkungen 
drei  durchgehende  Zeilen  Raum. 


Mitglied-Nr. 


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Sterbe  fall : Datum  Sterbegeld : Mk. 


228 


Miszellen. 


Diese  Karte  enthält  Angaben,  die  zum  Teile  schon  durch  Karte  2 
feststellbar  sind,  sie  dient  in  der  Hauptsache  zur  Kontrolle  der  in  Frank- 
furt a.  M.  eingeführten  freien  Arztwahl.  Neben  diesem  Zwecke  dient  sie 
zu  statistischen  Zwecken 

a)  für  Krankheitsarten  — Dauer  — Tage  — Morbidität  — 
Mortalität  etc.,  Erwerbsfähigkeit  bez.  Erwerbsunfähigkeit  der 
Kranken.  ’) 

b)  flir  die  Feststellung  der  durch  die  einzelnen  Aerzte  der  Kasse 
verursachten  Krankheitskosten,  dann  die  Krankheitsdauer.  *) 

Zur  Kontrolle  der  Feststellungen  des  unter  3 b angeführten  dienen 
die  Karten  5,  6 und  7.  Dieselben  sind  14  cm  breit  und  23  cm  hoch. 
Die  Karte  Nr.  5 hat  folgenden  Vordruck: 


Nr 

Dr. 


t-’ 

£ 

'■J 

■ 

■1 

■ 

Monat 

Su  rama 

c 

3 

RezeptJ  Pr"‘ 

M.  | rr. 

Rezepte 

Preis 
M.  ! Pf. 

M. 

Pf. 

i' 

1 

Formular  Nr.  6 lautet : 


Nr. 

Dr. 


Droguerie 

Heilmittel 

Milch 

Bäder 

Apotheken 

I 

R 

1 

1 

! 

*)  Siehe  die  Verwertung  dieses  Materials  in  den  Geschäftsberichten  der  all- 
gemeinen Ortskrankenkasse  zu  Frankfurt  a.  M.,  so  Ihr  das  Jahr  1898  Tabelle  O auf 
S.  24—28,  wo  fiir  Jt  Berufe  die  Zahl  der  nach  Geschlecht  getrennten  Erkrankten, 
die  nach  13  und  26  Wochen  ausgesteuerten  männlichen  und  weiblichen  Mitglieder, 
19  Krankheitsgruppen  uud  für  die  erwerbsfähigen  und  erwerbsunfähigen  Fälle  die 
Krankheitstage  und  die  Hospitalfällc  angegeben  sind. 

*)  Das  Material  findet  sich  verarbeitet  in  den  folgenden  zwei  Publikationen 


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Adolf  Braun,  Ausdehnung  der  Statistik  Uber  die  Krankenversicherung. 


Formular  7 lautet  auf  der  Vorderseite: 


Aufsenbezirk. 


Dr.  med.  

in  

bei  der  Kasse  thätig  seit  190.. 

ausgetreten  am 190.. 


Praxis  für  folgende  Ortschaften.  (Raum  für  3o  Eintragungen.) 
Die  Rückseite  hat  folgenden  Vordruck: 


J-3 

0 'i  Ü 

&F  5 
t & 

Die  zur 
Berechnung 
kommende 
Mitgliedzahl  : 

1 Bezahltes 
j Mono- 
rar 

M.  | Pf. 

Gc- 

1 meldete 
1 Krank- 
heitsfälle 

Datum  der 
Zahlung  : 

Bemerkungen 

1 

f,  2 

•*>  * ul 

106t 



• 

(Wiederholt  für  3 weitere  Jahre.) 


Endlich  ist  noch  eine  Karte  (4)  vorzuführen  sie  ist  22  cm  breit 
20  cm  hoch.  Auf  der  Vorderseite  findet  sich  das  folgende: 

(Siche  die  Karte  auf  S.  230.) 

Auf  der  Rückseite  steht  für  die  Jahre  1902  und  1903  der  gleiche 
Tabellenkopf. 

Zur  statistischen  Verwertung  eignet  sich  diese  Karte  nicht,  fehlt  doch, 
was  auch  für  die  Zwecke  der  Verwaltung  wünschenswert  wäre,  Ge- 
schlecht, Beruf  und  Alter  der  versicherten  Personen  und  die  Art  der 
Erkrankung. 

der  allgemeinen  Ortskrankenkassc  Frankfurt  a.  M. : Tabellarische  Uebcrsichten  be- 
treffend Erkrankungsfälle,  Dauer  der  Erwerbsunfähigkeit  und  entstandene  Kosten  aus 
dem  Jahre  1896.  Bearbeitet  durch  die  Statistische  Abteilung  Frankfurt  a.  M.  Ok- 
tober 1897.  15  unnumerierte  Seiten  8 °.  Dasselbe  für  das  Jahr  1897  Frankfurt  a.  M. 

Oktober  1898.  |6  unnumerierte  Seiten  Kl.  4“ 


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230 


Miszellen. 


Familienkasse. 

Buch -Nr. 

Familienname : Vornamen : Geboren: 

Wohnung:  (a  Zeilen  Raum) 

Wer  ist  versichert:  Vater,  Mutter,  Ehefrau,  Kinder? 


1901 


Sieben  Zeilen  Raum 
Bemerkungen 

dann  6 Zeilen  Raum. 

Empfehlenswert  ist  da  das  Formular  der  Ortskrankenkasse  Dresden, 
das  folgenden  Wortlaut  hat: 

Ortskrankenkasse  Dresden.  Karte  Nr. 

Krankenkarte  für  Angehörige: 


des  Mitglieds  geh.  am l8  Nr. 

Wohnung:  


Vor-  und  Rückseite  dieser  23  cm  breiten  und  1 7 cm  hohen  Karte 
tragen  den  gleichen  Kopf  und  haben  34  Zeilen  Raum  zu  Eintragungen. 
Auszusetzen  an  der  Karte  ist  das  Fehlen  des  Zunamens,  der  bei  vor- 
ehelichen Kindern  und  anderen  nicht  den  gleichen  Namen  wie  das 
Familienoberhaupt  führenden  Familienangehörigen  nötig  wäre  und  eine 
Frage  nach  der  Stellung  des  Erkrankten  zum  Versicherten  (Sohn,  Tochter 
u.  s.  w.),  sowie  nach  dem  Berufe  (Heimarbeiter,  Schüler  u.  s.  w.). 

Von  der  Verwaltung  der  Allgemeinen  Ortskrankenkasse  zu  Frank- 
furt a.  M.  erbat  ich  über  dieses  System  ein  Gutachten,  dem  ich  das 
folgende  entnehme: 

„Das  eingeführte  Kartensystem,  welches  als  Ersatz  für  diverse 
Bücher  eingeführt  wurde,  bewährt  sich  vorzüglich.  Doch  raufs 


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Adolf  II raun,  Ausdehnung  der  Statistik  über  die  Krankenversicherung.  23 1 


dabei  beachtet  werden,  dafs  nur  ständige  Leute  mit  diesen 

Karten  arbeiten,  weil  sonst  das  Abstellen  und  Auffinden  der 
zu  gebrauchenden  Karte  zu  viel  Zeit  rauben  würde.“  *) 

„Eis  lassen  sich  auf  Grund  des  auf  den  Karten  verzeichneten 
Materials  alle  möglichen  Erfahrungen  feststellen“. 

Es  heifst  dann  nach  diesem  den  Wert  des  Systems  für  die  Kassen- 
verwaltungen feststellenden  Urteile  weiter  in  bezug  auf  die  social- 

statistische Bedeutung  der  Materials  und  auf  die  geringe  Hoffnung,  die 
man  auf  die  Verwerthung  desselben  durch  die  Kassen  selbst  auf- 

bauen darf: 

„Eine  grofse  Kasse  wäre  eigentlich  am  berufensten  und  zum 
Teil  auch  wohl  verpflichtet,  derartig  fortgesetzte  Erhebungen 
mit  den  nötigen  Verarbeitungen  machen  zu  lassen.  Nur  er- 
fordern diese  Arbeiten  einen  ungeheuren  Aufwand  von  Arbeits- 
kraft und  damit  auch  eine  grofse  Ausgabe  für  Verwaltungs- 
kosten." 

„Der  in  den  Jahren  1897  und  1898  unternommene  Anlauf  für 
derartige  Arbeiten  wurde  aus  den  oben  angeführten  Gründen 
bald  wieder  aufgegeben,  weil  man  auch  anderseits  einen  Zweifel 
in  den  Wert  dieser  Arbeiten  setzte.  Hoffentlich  gelingt  es  wieder 
eine  andere  Anschauung  herbeizuführen,  damit  derartige  Arbeiten 
wieder  aufgenornmen  werden  können.“ 

Der  Zweifel  an  dem  Wert  dieser  Arbeiten,  der  wohl  nicht  bei 
meinem  Gewährsmanne,  wohl  aber  bei  seinen  Kollegen  im  Vorstande 
der  von  ihm  geleiteten  Kasse  bestehen,  ist  umso  eigentümlicher,  als  wir 
gerade  dem  Materiale  der  Ortskrankenkassen  zu  Frankfurt  a.  M.  das 
Neueste  und  Beste  über  die  Morbiditätsstatistik  im  Deutschen  Reiche 
verdanken.  *)  Der  Verfasser  dieser  Arbeiten , auf  die  näher  einzugehen 


')  Mir  liegen  noch  Formulare  ähnlicher  Art  <lcr  Allgemeinen  Ortskranken- 
kasse in  Bannen,  der  Gemeinsamen  Ortskrankenkasse  Strafshurg  i.  Fis.  und  der 
Ortskrankenkasse  Dresden  vor.  Nach  späteren  Mitteilungen  des  Herrn  Graf  in  dem 
gleichen  Schreiben  sind  auch  in  Mainz  und  Bockenhcim  ähnliche  Karten  eingefiihrt 
worden. 

*)  Bleicher,  Dr.  H.,  Frankfurter  Krankheitstafcln.  Untersuchungen  Uber  Kr- 
krankungsgefahr  und  Erkrankungshäufigkeit  nach  Alter,  Geschlecht,  Civilstand  und 
Beruf.  Auf  Grund  des  Materiales  der  Ortskrankenkasse  zu  Frankfurt  a.  M. 
Mit  5 graphischen  Tafeln.  Bearbeitet  von  dem  Direktor  des  Stilistischen  Amtes 
(Beiträge  zur  Statistik  der  Stadt  Frankfurt  a.  M.  Neue  Folge.  Im  Aufträge  des 
Magistrats  herausgegeben  durch  das  Statistische  Amt.  Viertes  Heft)  56  und  I.XXXl 
S.  4°.  Frankfurt  a.  M.  1900  und  zur  Statistik  der  Krankenkassen  (Beiträge  zur 
Statisük  der  Stadt  Frankfurt  a.  M.  Neue  Folge.  (Im  Aufträge  des  Magistrats  heraus- 
gegeben durch  das  Statistische  Amt,  F.rgänzungsblatt  Nr.  2)  35  S.  4 °. 


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232 


Miszellen. 


aufserhalb  des  Planes  dieser  Studie  liegt,  hat  sich  auch  mit  der  theo- 
retischen Seite  der  Krankenstatistik  befafst , in  einem  Referate  zur 
VIII.  Konferenz  der  Städtestatistiker  (Lübeck  April  1893).’)  Leider  hat 
der  Direktor  des  Frankfurter  statistischen  Amtes  die  Gelegenheit  nicht 
benutzt,  auf  der  Städtestatistiker-Konferenz  für  die  Einheitlichkeit  der 
Formulare  zu  wirken.  Wir  meinen,  dass  gerade  Aufgaben  dieser  Art  in 
den  Bereich  der  Konferenzen  der  beamteten  Statistiker  gehören.  Er 
begnügte  sich,  die  aufserordentliche  Verschiedenheit  des  Materials  fest- 
zustellen und  zu  konstatieren,  dafs  „von  einem  einheitlichen  Arbeitsplan 
. . . . könne  ....  überhaupt  keine  Rede  sein  ....  Die  Methode  der 
Verarbeitung,  wie  schon  die  Art  der  Gewinnung  des  Materiales  wird  fast 
in  jeder  Stadt  eine  andere  sein  müssen.  *)  Damit  ist  resigniert  auf  die 
Vergleichbarkeit  des  Materials  und  auf  die  Gewinnung  der  „grossen 
Zahl“  Verzicht  geleistet.  Fis  mufs  aber  erwogen  werden,  dafs  eine 
eindringliche  Verarbeitung  des  Materials  auch  einer  grossen  Kasse  dieses 
so  zersplittert,  dafs  die  Beleuchtung  der  Resultate  nicht  mehr  angängig 
ist,  da  der  „Zufall"  nicht  mehr  mit  Sicherheit  eliminierbar  ist.  Wir  sind 
in  der  Lage,  Herrn  Direktor  Bleicher  dafür  selbst  als  Autorität  ins  Feld 
führen  zu  können.  In  seiner  Bearbeitung  der  Frankfurter  Ortskranken- 
kassenstatistik heifst  es  s) : 

Auch  für  manche  andere  Berufe,  für  welche  in  den  ausführ- 
licheren Tabellen  Rechnungsmaterial  niedergelegt  ist,  wären  charak- 
teristische Daten  anzugeben,  sie  sind  aber  unsicherer,  wie  die  hier  her- 
vorgehobenen, weil  das  Beobachtungsmaterial  für  dieselben  noch  weniger 
umfassend  war.“  Wir  können  uns  dagegen  doch  nur  helfen,  indem  wir 
die  Materialien  möglichst  vieler,  womöglich  aller  Kassen  bearbeiten  lassen, 
so  zu  Vergleichsgelegenheiten  und  zu  Massenerscheinungen  für  die  meisten 
Berufsarten  gelangen.  Hiervon  wären  wir  nicht  so  weit  entfernt,  wenn 
die  städtischen  statistischen  Bureaus  auf  die  Ortskrankenkassen  Ver- 
waltungen entweder  direkt  oder  durch  die  zuständigen  Referenten  der 
Magistrate  auf  die  Vorstände  der  Ortskrankenkassen  eingewirkt  hätten, 
damit  das  Zählkartensystem  eingeführt  werde  und  damit  es  überall  in 
gleicher  Weise  eingeführt  werde.  Leider  geschah  nichts  in  dieser  Hin- 
sicht und  auch  auf  den  Kongressen  der  verschiedenen  Kassenarten,  die 
fast  alljährlich  stattfinden,  ist  dieser  Frage  zu  wenig  Aufmerksamkeit 
geschenkt  worden.  Dies  ist  begreiflich,  weil  die  Kassenverwaltungen  das 
Kartensystem  vornehmlich  zur  Vereinfachung  der  Verwaltung  einfuhren, 


*)  Bleicher.  Dr.,  In  welcher  Richtung  liifst  sich  das  Material  der  Kranken- 
kassen statistisch  verwerten.  8 S.  Folio  autographiert  „als  Manuskript  gedruckt.“ 
*)  a.  a.  O.  S.  3. 

*)  Frankfurter  Krankheitstafeln  etc.  S.  37,  s.  auch  ebendort  S.  45  vorletzten 
Absatz. 


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Adolf  Braun,  Ausdehnung  der  Statistik  über  die  Krankenversicherung.  233 


cs  somit  nur  ihren  speziellen  Zwecken  entsprechend  einrichten , kein 
weiteres  Interesse  an  einer  späteren  statistischen  Verwertung  des  Materials 
und  damit  an  dem  gleichen  Wortlaute  desselben  haben.  Meine  Umfrage 
und  die  mir  vorliegenden  Formulare  beweisen  es,  dafs  ein  Einheitlichkeit, 
wie  sie  im  Interesse  der  Sozialstatistik  zu  wünschen  wäre,  nicht  vor- 
handen ist.  Die  wenigsten  Kassen  besitzen  überhaupt  Formulare,  die 
als  Zählkarten  mit  Erfolg  verwertbar  wären.  Aber  auch  darüber  dürfte 
keine  Meinungsverschiedenheit  herrschen , dafs  es  ebensosehr  Kraftver- 
schwendung, wie  Fehlen  jeder  Garantie  sachgemäfser  Verarbeitung,  wie 
Unmöglichkeit  der  Information  bedeuten  würde,  wenn  jede  Kasse  ihr 
Material  selbständig  verarbeiten  und  die  Ergebnisse  gesondert  publizieren 
würde.  Man  betrachte  doch  die  ungeheuerliche  Zersplitterung  unseres 
■Krankenkassenwesens,  wobei  wir  natürlich  nur  die  im  Auge  haben, 
welche  den  Anforderungen  des  ^75  des  Krankenversicherungsgesetzes 
entsprechen.  1898  betrug  die  durchschnittliche  Mitgliederzahl  dieser 
Kassen  396,3,  die  der  einzelnen  (8177)  Gemeindeversicherung  172,4, 
der  (4568)  Ortskrankenkassen  892,9,  der  (7040  Betriebskrankenkassen 
324,0,  der  (74I  Baukrankenkassen  244,6,  der  (601)  Innungskrankenkassen 
264,8,  der  (1415)  Eingeschriebenen  Hilfskassen  541,3  und  der  (255) 
Landesrecht  liehen  Hilfskassen  225,4  ’).  Im  ganzen  besafsen  wir  1898 
22  130  Kasseneinrichtungen  *).  Als  eines  der  Ziele  der  geplanten  Reform 
der  Krankenversicherung  ist  die  Schaffung  grofser  Kassen,  die  Zusammen- 
legung der  Ortskrankenkassen,  die  Ueberführung  der  Gemeindeversicherung, 
soweit  sie  nicht  als  lediglich  subsidiäre  Einrichtung  erhalten  werden  soll, 
in  die  zentralisierten  Ortskrankenkassen  ins  Auge  gefafst,  dies  wird  die 
Verwaltung  der  Kassen  vereinfachen,  verbilligen  und  verbessern  und  auch 
für  andere  Methoden  der  Verwaltung  als  die  heute  üblichen  Raum 
schaffen,  es  werden  dann  auch  bessere  Aussichten  für  die  Sammlung  des 
statistisch  verarbeilbaren  Materials  gegeben  sein. 

Anläfslich  der  Reform  der  Krankenversicherung  wird  man  auch 
gesetzliche  Bestimmungen  über  die  Verwertung  des  Materials  im  Interesse 
einer  Morbiditätsstatistik  grofsen  Stiles  für  die  deutsche  Arbeiterklasse 
ins  Auge  zu  fassen  haben.  Ob  man  mit  dieser  Aufgabe  das  Reichs- 
gesundheitsamt  betraut,  das  ja  schon  jetzt  für  die  gröfseren  Städte  die 
Totenscheine  bearbeitet,  oder  das  Statistische  Amt  des  Deutschen 
Reiches  oder  das  so  oft  in  Aussicht  gestellte  arbeitsstatistische  Amt  des 
Reiches,  wird  dann  besonders  zu  erwägen  sein , man  wird  sich  auch 
darüber  die  Entscheidung  Vorbehalten  können , ob  es  nicht  am  Platze 
ist,  die  Fortsetzung  der  bisherigen  Statistik  der  Krankenversicherung  der 


*)  Statistik  der  Krankenversicherung  im  Jahre  1898.  Bearbeitet  ira  Kaiserlichen 
Statistischen  Amt.  Statisük  des  Deutschen  Reiches  X.  F.  Band  127  (Berlin  1900)  S.  7*. 
*)  a.  a.  O.  S.  6» 


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234 


Miszellen. 


statistischen  Zentralstelle  zu  überlassen,  dagegen  die  Verarbeitung  des 
Individualkartenmaterials  dem  Reichsgesundheitsamte.  Jedenfalls  wird  es 
sich  empfehlen , den  einzelnen  Kassenverwaltungen  die  Möglichkeit  zu 
schaffen,  im  Interesse  ihrer  Verwaltung  Ergänzungsfragen  zu  stellen  und 
gegen  Erstattung  der  aufgelaufenen  Kosten  die  gesonderte  Verarbeitung 
ihres  Materials  fordern  zu  dürfen. 

Diese  Vorschläge  müssen  mit  dem  Einwande  rechnen,  dafs  die  jähr- 
liche Wiederholung  einer  Verarbeitung  der  ca.  9 Millionen  Zahlkarten 
aufserordentliche  Kosten  verursachen  würde.  Wenn  ich  auch  meine, 
dafs  vieles  dagegen  spricht,  diesem  Einwande  zu  grofse  Bedeutung  Itci- 
zuraessen,  so  könnte  man  sich  ja  auch  mit  einer  Verarbeitung  der  Zähl- 
karten eines  Jahres  in  fünfjährigen  Zwischenräumen  begnügen.  Ein 
anderer  Einwand  ist  der,  dafs  man  bei  der  Fluktuation  unserer  Arbeiter- 
bevölkerung von  Ort  zu  Ort,  und  innerhalb  eines  Ortes  von  Ortskasse 
zu  Betriebskasse,  Innungskasse  etc.  das  Individuum  und  seine  statistisch 
zu  erfassenden  Angaben  nicht  w'erde  erhalten  können,  da  das  Individuum 
mehrfach  angeführt  sein  wird,  andererseits  für  Hunderttausende  Arbeiter 
keine  sich  auf  ein  ganzes  Jahr  beziehende  Zählkarte  vorhanden  sein  wird. 
Dem  kann  aber  leicht  durch  Beachtung  des  folgenden  Vorschlages  ge- 
steuert werden.  Bei  der  Anmeldung  des  Versicherten  wäre  mitzuteilen, 
wo  und  wann  er  zuletzt  versichert  war;  die  einzelnen  Kassen  hätten  so- 
dann auf  Grund  dieser  Angaben  die  Karten  auszutauschen;  bekanntlich 
findet  auch  zwischen  den  Invaliditätsversicherungsanstalten  ein  Karten- 
austausch statt  und  die  Krankenkassen  haben  sich  auch  jetzt  schon  gegen- 
seitig Mitteilungen  zu  machen  und  mit  Invaliditätsversicherungsanstalten 
und  Berufsgenossenschaften  ununterbrochen  Korrespondenz  zu  pflegen. 

Dieser  Kartenaustausch  wäre  sogar  statistisch  von  besonderem  Werte. 
Bleicher  hat  den  Nachweis  erbracht,  wie  verschieden  die  Morbidität  der 
Vollmitglieder  und  der  Nichtvollmitglieder,  d.  h.  der  durch  ein  ganzes 
Jahr  der  Kasse  angehörenden  Versicherten  und  der  fluktuierenden  Ar- 
beiterbevölkerung ist.  ’)  Der  Kartenaustausch  könnte  zu  einer  Scheidung 
dieser  Mitglieder  für  die  Verarbeitung  des  Materials  führen,  indem  für 
alle  am  Januar  der  Kasse  Angehörenden  eine  Karte  etwa  blau  für 
das  männliche  und  rot  für  das  weibliche  Mitglied  angelegt  würde,  auf 
der  Karte  ist  auch  der  Tag  des  Eintrittes  zu  vermerken.  Für  die  im 
Laufe  des  Jahres  eintretenden,  bisher  noch  nicht  Versicherten  wären  etwa 
violette  Karten  für  die  männlichen,  gelbe  für  die  weiblichen  anzulegen, 
die  Karten  der  ausscheidenden  Mitglieder  werden  versandt  und  bei  der 

*)  Frankfurter  Krankheitstafeln  S.  5,  II,  15,  24,  38 — 44,  Vif.,  XVI  IT.  etc.  und 
derselbe  ,,In  welcher  Richtung  läfst  sich  etc.“  S.  8,  S.  auch  Geschäfts-Bericht  der 
Allgemeinen  Ortskrankenkasse  zu  Barmen  für  das  Rechnungsjahr  1900  S.  2 u.  3 
(unnumeriert) : Bei  23454  Mitgliedern  waren  65000  Personalkarten  erforderlich. 


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Adolf  Braun,  Ausdehnung  der  Statistik  über  die  Krankenversicherung. 


neuen  Kasse  auf  neue  Formulare  übertragen,  auf  graue  für  die  männ- 
lichen und  grüne  für  die  weiblichen,  so  erhalten  wir  sofort  geschieden 
Vollmitglieder,  die  das  ganze  Jahr  der  gleichen  Kasse  angehören,  und 
zwei  Kategorien  von  Nichtvollmitgliedern,  die  neuversicherten  und  die 
fluktuierende  Arbeiterbevölkerung.  Dafs  wir  damit  vielleicht  auch  ein 
Mittel  gefunden  haben,  die  Arbeitslosigkeit  im  Laufe  der  verschiedenen 
Monate  und  für  die  gelernten  Berufe  wie  für  die  Gesamtheit  der  Ar- 
beiter zu  messen,  wenn  auch  nicht  mit  absoluter  Genauigkeit,  sei  nur 
nebenbei  erwähnt,  ebenso  dafs  wir  dann  versuchen  können,  die  Rück- 
wirkung der  Arbeitslosigkeit  auf  die  Morbidität,  im  Laufe  der  Jahre  auch 
auf  die  Mortalität  zu  untersuchen. 

So  wie  sich  in  der  ganzen  medizinischen  Wissenschaft  und  in  der 
sich  so  erfreulich  entwickelnden  Hygiene  die  Prophylaxis  immer  mehr  in 
den  Vordergrund  stellt,  so  wird  auch  von  weitsichtigen  Kassenverwal- 
tungen immer  deutlicher  eingesehen,  dafs  man  den  Mitgliedern  wie  den 
Kassen  mehr  mit  der  Prophylaxis  wie  mit  der  Therapie  helfen  könnte. 
Um  aber  diese  erst  keimenden  Ideen  und  Pläne  erstarken  und  reifen  zu 
lassen,  bedarf  es  einer  viel  genaueren  Kenntnis  der  Erkrankungsursachen 
und  Erkrankungsgefahren  unserer  Arbeiter  in  jedem  Berufe,  in  jeder 
Lebensbedingung.  Deshalb  müssen  die  Krankenkassen  das  Material  be- 
sitzen, das  zu  dieser  Erkenntnis  nötig  ist,  auch  dies  ist  praktisch  und 
nicht  „theoretisch"  oder  „wissenschaftlich“,  auch  dies  wäre  „Verwaltungs- 
statistik“. Schon  sehen  wir  die  Krankenkassen,  wenn  auch  nur  zaghaft, 
auf  das  Gebiet  der  Wohnungsfrage  hinübergreifen.  So  wird  von  ihnen 
„auf  die  Schaffung  von  Verbesserungen  in  gesundheitlicher  Beziehung, 
Ixrsung  der  Schwierigkeiten  in  der  Wohnungsfrage"  u.  dergl.  mehr  hin- 
gewiesen ').  In  einem  anderen  Berichte ä)  heifst  es : „Bei  dieser  Ge- 
legenheit müssen  wir  auch  der  Wohnungsverhältnisse  der  unteren  Klassen 
der  Bevölkerung,  die  sich  in  der  Hauptsache  ja  mit  den  Mitgliedern  der 
Ortskrankenkasse  deckt,  mit  einigen  Worten  gedenken.  Dafs  in  Strafs- 
burg ein  Wohnungselend  ohnegleichen  besteht,  ist  nicht  allein  durch 
unsere  Krankenkassenkontrolleure,  sondern  auch  durch  die  Untersuchungen 

der  Wohnungskommission  festgestellt  worden Die  Folgen  hat 

natürlich  in  hohem  Mafse  auch  die  Ortskrankenkassc  zu  tragen.  Eine 
Bevölkerungsklasse,  die  in  solchen  „Wohnungen“  hausen  mufs,  wo  nach 
den  Untersuchungen  der  Wohnungskommission  Erwachsene  und  Kinder 
in  der  Regel  auf  die  Hälfte  des  Mindestluftraumes  angewiesen  sind,  ist 
natürlich  der  Erkrankung  in  weit  stärkerem  Mafse  ausgesetzt  als  die  Be- 

*)  Geschäftsbericht  der  Allgemeinen  Ortskrankenkassc  zu  Barmen  für  das 
Rechnungsjahr  1900  S.  5 (unnumeriert). 

*}  Rechenschaftsbericht  der  Gemeinsamen  Ortskrankenkassc  Strafsburg  i.  Eis. 
für  das  Jahr  1898  (Strafsburg  1899)  S.  ao  u.  21. 


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236 


Miszellen. 


sitzer  geräumiger,  heller  und  luftiger  Wohnungen.  Es  leuchtet  ein,  dafs 
dadurch  auch  die  Dauer  der  Krankheiten  wesentlich  verlängert  werden 
mufs.  Gegen  eine  Ueberfuhrung  ins  Spital  aber  sträuben  sich  viele 
Kranke  auch  deswegen,  weil  dann  ihrer  Familie  der  gröfste  Teil  des 

Krankengeldes  entgeht In  je  besseren  Wohnungen  der  Arbeiter 

wohnt,  um  so  weniger  ist  er  der  Gefahr  der  Erkrankung  ausgesetzt,  um 
so  weniger  wird  die  Ortskrankenkasse  belastet.“  Wie  verheerend  die 
Tuberkulose  unter  unseren  Arbeitern  wütet,  wie  sehr  die  Tuberkulose- 
bekämpfung, abgesehen  von  den  ideellen  Seiten  dieser  Aufgabe,  finanziell 
für  unsere  Krankenkassen  eine  Frage  ersten  Ranges  ist,  braucht  hier  nicht 
auseinandergesetzt  zu  werden;  es  sei  nur  hingewiesen  auf  die  hohe  Be- 
deutung der  Wohnungsfursorge  für  die  Tuberkulosebekämpfung  *).  Die 
Beziehungen  zwischen  Krankenkassen  und  Wohnungsfürsorge  sind  heute 
schon  ein  Gegenstand  öffentlicher  Diskussion  *).  Von  welch  ungeheuerer 
Bedeutung  zur  Aufklärung  über  die  engen  Beziehungen  zwischen  Mor- 
bidität und  Mortalität  und  dem  Wohnungselende  könnte  da  eine  Statistik 
der  Krankenkassen  werden. 

Die  Wohnungsfrage  und  die  Krankheitshäufigkeit  sind  sicherlich 
keine  reinen  Lohnfragen,  aber  dafs  sie  in  hohem  Mafse  durch  die  Lohn- 
höhe beeinflufst  sind,  ist  nicht  weiter  auseinanderzusetzen.  Deshalb  er- 
scheint es  uns  der  Erwägung  wert,  ob  lohnstatistische  Erhebungen  nicht 
an  die  Krankenstatistik  anzuknüpfen  sind;  schon  das  in  Kraft  stehende 
Krankenversicherungsgesetz  gewährt  den  Ortskrankenkassen  die  erforder- 
lichen Handhaben  hierzu  in  dem  $ 49  Abs.  3.  Rein  theoretisch  liefse 
sich  unzweifelhaft  für  die  Personen,  welche  zu  den  Angaben  ihrer  Löhne 
und  der  Aenderungen  derselben  verpflichtet  sind,  eine  Lohnstatistik  aus- 
arbeiten. Freilich  wird  kein  Praktiker  daran  glauben,  dafs  auch  die  best 
verwaltete  Ortskrankenkasse  im  Deutschen  Reiche  auf  Grund  der  ihr 
gemachten  Angaben  das  Material  zu  einer  richtigen  Lohnstatistik  beizu- 
stellen imstande  wäre.  Heute  wird  von  der  wohl  überwiegenden  Zahl  der 
deutschen  Industriearbeiter  im  Akkordlöhne  gearbeitet,  fast  überall  gilt 
für  diese  ein  fiktiver  Stunden-  oder  Tagelohn,  der  blofs  dann  zum  wirk- 
lichen wird,  wenn  eine  Akkordfestsetzung  nicht  möglich  ist  Dieser 
fiktive  Lohn  wird  in  der  Regel  den  Krankenkassen  bei  der  Anmeldung 
der  Versicherten  angegeben,  die  Thatsache  der  Verbreitung  der  Akkord- 

*)  S.  ti . Thesen  zum  Vortrage  von  Lanüral  Dr.  Heydweiller-Lüdcnscheid  zu 
dem  dieses  Tlu-ma  behandelnden  Vortrage  auf  der  Generalversammlung  des  Zentral- 
komitees zur  Krrichtung  von  Heilstätten  für  Lungenkranke  am  23.  März  1901  und 
Pannwitz,  Dr.,  Generalsekretär  des  Zentralkomitees,  Der  Stand  der  Tuberkulose- 
bekämpfung im  Frühjahre  1901  etc.  Berlin  190t  S.  86  (unnumeriert). 

J)  Flöte.  Stadtdirektor,  Die  Wohnungsnot  und  die  Krankenkassen.  Soziale 
Praxis,  Jahrg.  190001,  Sp.  873  IT. 


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Adolf  Braun,  Ausdehnung  der  Statistik  über  die  Krankenversicherung.  237 

arbeit  hat  auch  zur  Folge,  dafs  die  wenigsten  Arbeiter  auch  nur  mehrere 
Wochen  im  Jahre  den  gleichen  Verdienst  haben.  Nun  weifs  ja  jeder, 
dafs  der  Wechsel  im  Föhne  fast  niemals  zur  Kenntnis  der  Kassenver- 
verwaltungen  kommt.  Nach  einer  Sammlung,  Verarbeitung  oder  gar  Ver- 
öffentlichung der  von  unseren  Kassenverwaltungen  wohl  behüteten  l.ohn- 
angaben  kann  es  selbstverständlich  niemand  besonders  gelüsten.  Durch 
Vorschläge  nach  einer  schärferen  Fassung  des  $ 48  Krankenversicherungs- 
gesetz und  Empfehlung  von  Strafbestimmungen  zu  einer  Lohnstatistik 
gelangen  zu  wollen,  scheint  mir  auch  nicht  der  richtige  Weg.  Es  ist 
nicht  die  Aufgabe  der  Krankenkassen,  Lohnstatistik  zu  treil>en,  man  kann 
aber  wohl  von  ihnen  fordern,  dafs  sie  Beziehungen  von  Lohnhöhe  und 
Lohnschwankungen  zur  Morbidität  und  Mortalität  aufstellen.  Hierzu  sind 
nicht  die  allerfeinsten  Messungen  nötig,  da  braucht  man  sich  nicht  in 
die  Streitfrage  nach  der  besten  Methode  der  Lohnerhebung  einzulassen. 
Es  würde  genügen,  die  Kassen  zur  Sammlung  der  Lohnabgaben  etwa  in 
folgender  Welse  zu  verhalten:.  Bei  der  Anmeldung  ist  die  vorläufige  Lohn- 
angabe zu  machen,  ■)  diese  ist  nach  einer  zu  bestimmenden  Zahl  von 
Wochen  durch  eine  andere  Lohnangabe  zu  ersetzen,  die  als  durchschnitt- 
licher Wochenverdienst  seit  Antritt  des  Arbeitsverhältnisses  zu  betrachten 
ist.  Zweimal  im  Jahre,  wobei  die  Zeitpunkte  mit  Rücksicht  auf  die 
Fluktuationen  in  dem  betreffenden  Berufe  festzusetzen  wären , sollen  die 
faktischen  Lohnangaben  für  alle  Versichnten  wiederholt  werden.  Dieses 
Material  wäre  auf  die  Zählkarten  zu  übertragen  und  die  Gruppierung 
nach  Lohnklassen  hätte  entsprechend  einer  generellen  Anordnung  zu  er- 
folgen. Dieses  System  würde  für  die  Zwecke  der  Kassen  Verwaltung  und 
Krankenstatistik  genügen;  abgesehen  von  den  zahlreichen  anderen 
Kontrollmitteln  der  Kassen,  böte  ja  die  Zusammensetzung  des  Vor- 
standes zu  zwei  Dritteln  aus  Arbeitern  genügende  Möglichkeit,  dafs  diese 
sich  vor  unrichtiger  Darstellung  der  Arbeiterverhältnisse  sichern. 

Die  Krankenkassen  könnten  sich  selbst  nützen  und  einer  brauch- 
baren und  nicht  zum  mindesten  ihnen  vorteilhaften  Krankenstatistik  die 
Wege  ebnen,  wenn  sie  das  Kartensystem  ausbilden  wollten  und  wenn 
sie  in  ihren  Organen  und  auf  ihren  Kongressen  eine  Einheitlichkeit  des 
Kartensystems  erstreben  wollten.  Seitens  der  oberen  und  obersten  auf- 
sichtsführenden Behörden  könnten  das  System  und  die  Benützung  von 
Karten  nach  besonderen  Vorlagen  empfohlen  werden.  So  erfreulich  all' 
dies  wäre,  das  wichtigste  bleibt,  dafs  bei  den  Beratungen  über  das  neue 
Krankenversicherungsgesetz  die  Statistik  nicht  als  Aschenbrödel  im  Winkel 
stehen  bleibt. 

*)  Jetzt  ist  diese  Lohnangabc  die  wirkliche,  nun  kann  aber  von  kaum  weniger 
als  von  70  Proz.  der  Versicherten  bis  zum  Tag  der  Anmeldung  eine  Lohnfeststellung 
nicht  gemacht  werden  und  wo  dies  auch  der  Kall,  entspricht  der  Lohn  in  der  ersten 
Woche  selten  dem  in  spaterer  Zeit  des  Arbeitsverhältnisses  thatsachlich  bezogenen. 


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Die  Kommunalversicherung  gegen  Arbeitslosigkeit 

in  Gent- 

Von 

Dr.  LOUIS  VARLF.Z, 

Arbeilskorrespondent  in  Gent. 

Die  Frage  der  Versicherung  gegen  Arbeitslosigkeit  mufs  fortgesetzt 
jeden  beschäftigen , der  überhaupt  an  die  Zukunft  denkt.  Wir  glauben 
daher,  im  nachstehenden  die  Aufmerksamkeit  auf  einen  interessanten 
Versuch  zur  Lösung  dieser  Frage  lenken  zu  müssen,  welcher  in  der  Stadt 
Gent  unternommen  wird. 

Während  Basel,  St.  Gallen  und  Zürich  die  Lösung  des  Problems  in 
Zwangskassen  suchen,  Bern  und  Köln  freie  Kassen  eingerichtet  haben, 
Adler  und  seine  Anhänger  für  die  Zwangsversicherung,  Schanz  für  obli- 
gatorische Sparkassen  eintreten , verwarf  die  in  Gent  geschaffene  Ge- 
meindekommission zur  Prüfung  der  Mittel  und  Wege  einer  Lösung  der 
Arbeitslosenfrage  sowohl  die  Zwangsversicherung  als  die  Errichtung  be- 
sonderer Kassen  und  befürwortete  ein  neues  System,  das  wir  in  den 
folgenden  Zeilen  kurz  skizzieren  werden. 

Zuvor  noch  einige  Worte  über  seine  Geschichte. 

Einzelne  Mitglieder  des  Gemeinderats  Gents,  Sozialisten  tmd  Nicht- 
sozialisten, hatten  bereits  vielfach  auf  die  Notwendigkeit  hingewiesen, 
Mafsnahmen  zum  Besten  der  Arbeitslosen  zu  ergreifen,  bis  endlich  der 
Gemcinderat  einstimmig  beschlofs,  eine  Sonderkommission  zur  Unter- 
suchung der  Frage  einzusetzen.  Die  Kommission  bestand  zur  Hälfte  aus 
Unternehmern,  zur  Hälfte  aus  Arbeitern  und  Angestellten,  welche  in 
gleicher  Anzahl  den  drei  Parteien  des  Genter  Gemeinderates,  der 
liberalen,  der  katholischen  und  antisozialistischen,  der  sozialistischen  und 
radikalen  entnommen  wurden.  Der  zweiundzwanzig  Mitglieder  starken 
Kommission  wurden  einige  Professoren  und  Nationalökonomen  beige- 
geben. Zum  Sekretär  und  Berichterstatter  wurde  Varlcz,  Arbeits- 
korrespondent in  Gent,  ernannt.  Die  Kommission  billigte  einstimmig 


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Louis  Var  lei,  Die  Kommunal  Versicherung  gegen  Arbeitslosigkeit  in  Gent.  239 

die  vom  Berichterstatter  befürworteten  allgemeinen  Grundzüge  und  be- 
schlofs  einen  Reglementsentwurf  nachstehenden  Inhaltes: 

Der  Gemeinderat  von  Gent  ernennt  einen  Attsschufs  zur  Verwaltung 
und  Verwendung  einer  ihm  von  der  Gemeindeverwaltung  in  drei  jähr- 
lichen Raten  z.ur  Verfügung  gestellten  Summe  im  Betrage  von  60000  Frcs. 

Diese  60000  Frcs.  sind  bestimmt,  den  Betrag  der  von  den  eine 
Arbeitslosenversicherung  einrichtenden  Vereinen  bewilligten  Geldunter- 
stützungen zu  verdoppeln  oder  zum  mindesten  zu  erhöhen.  Aufserdem 
wird  eine  besondere  Sparkasse  gegen  die  Arbeitslosigkeit  begründet ; auch 
hier  werden  die  den  Sparern  geleisteten  Rückzahlungen  im  Falle  der  Arbeits- 
losigkeit wie  dort  erhöht.  Arbeitslosen-Unterstützungen  und  Rückzahlungen 
dürfen  keinesfalls  1 Frc.  pro  Tag  und  5o  Frcs.  pro  Jahr  und  Empfänger 
übersteigen.  Sind  die  Fonds  erschöpft,  so  stellt  der  Ausschufs  seine  Thätig- 
keit  ein ; beschliefst  der  Gemeinderat,  die  Versuche  fortzusetzen,  dann 
hat  er  ein  neues  Reglement  aufzustellen.  Die  Sonderkommission  geht 
vor  allem  von  dem  Grundsätze  aus,  dafs  von  der  Schaffung  einer  be- 
sonderen Versicherungskasse  abzusehen  sei.  Sie  wurde  hierbei  bestimmt 
durch  die  hohen  Unkosten  allgemeiner  Natur,  die  allzu  verschiedenen 
Risiken,  die  Wahrscheinlichkeit,  ja  fast  Gewifsheit,  nur  schlechte  Risiken 
zu  haben,  durch  den  Mifserfolg  der  früheren  Versuche,  namentlich  aber 
durch  die  Unmöglichkeit,  eine  kommunale  Kasse  auf  dem  Prinzip  der 
Gegenseitigkeit  zu  schaffen.  Ausserdem  fürchtete  sie,  den  bereits  or- 
ganisierten Vereinen  ungerechtfertigte  Konkurrenz  zu  bereiten. 

Fenier  hat  sie  auch  den  Grundsatz  der  Zwangsversicherung  ver- 
worfen. Abgesehen  von  wesentlichen  juristischen  Schwierigkeiten  wurde 
geltend  gemacht , dafs  der  Gegenstand  noch  zu  neu , zu  verwickelt  sei, 
dafs  es  deshalb  nicht  angehe,  die  Leute  zur  Versicherung  gegen  ihren 
Willen  zu  nötigen.  , 

Die  Kommission  glaubte,  die  gesamte  Einrichtung  der  Versicherung 
am  besten  den  Fachvereinen  überlassen  zu  sollen,  welche  in  der  Stadt 
Gent  bereits  15000  bis  20000  Arbeiter  und  Angestellte  umfassen  und 
Allen  Erhöhungen  der  Unterstützungen  in  Aussicht  zu  stellen,  welche 
bereits  durch  die  Zugehörigkeit  zu  diesen  Vereinen  auf  solche  ein  An- 
recht haben.  Dem  Arbeiter  und  Angestellten,  welcher  in  seinem  Verein 
eine  Arbeitslosenunterstützung  von  t Fr.  täglich  erhält,  wird  der  soeben 
geschaffene  Spezialfonds  eine  gleiche  Entschädigung  gewähren,  so  weit 
die  ihm  zur  Verfügung  stehenden  Mittel  dies  zulassen,  andernfalls  eine 
Erhöhung  von  75,  50 °/„  oder  auch  weniger.  Der  Betrag  dieser  Er- 
höhung wird  je  nach  dem  Kassenbestandc  bemessen  werden. 

Die  Vorzüge  dieses  Systems  treten  besonders  in  einer  Stadt  wie 
Gent  hervor,  wo  die  Anzahl  der  Fachvereine  und  ihrer  Mitglieder  be- 
deutend ist  und  wo  fast  alle  bereits  eine  Versicherung  gegen  Arbeits- 
losigkeit eingerichtet  haben.  Die  Fachvereine  dieser  Stadt  umfassen 
bereits  19  212  Mitglieder,  von  welchen  2436  kaufmännische  Angestellte 


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240 


Miszellen. 


sind,  406  Arbeiter  der  Buchindustrie,  9936  Arbeiter  und  Arbeiterinnen 
der  Textilindustrieen,  532  Arbeiter  des  Baugewerbes,  1058  Arbeiter  der 
Holzindustrie,  2114  der  Metallindustrieeu,  268  Zigarrenarbeiter  und  Ar- 
beiter der  Nahrungsmittelgewerbe,  320  Arbeiter  der  Bekleidungsindustrie. 
1576  Dockarbeiter  und  Transportarbeiter,  566  Mitglieder  verschiedener 
Industrieen. 

Diese  Fachvereinsangehörigen  werden  die  erste  Teilnehmergruppe 
des  Kommunalfonds  bilden,  und  es  wird  voraussichtlich  diese  Beihilfe 
den  Erfolg  haben,  die  Anzahl  der  Fachvereinsmitglieder  und  somit  die 
Beteiligten  der  kommunalen  Versicherung  beträchtlich  zu  steigern.  Die 
Zahl  der  Fachvereinsmitglieder,  ca.  20  000,  ist  eine  ganz  bedeutende, 
wenn  man  berücksichtigt,  dafs  die  industrielle  Bevölkerung  der  Stadt  sich 
nur  auf  42580  Unternehmer  und  Arbeiter  beläuft,  bezw.  auf  36500 
Arbeiter  mit  Einschlufs  der  Auslader  und  der  Heimarbeiter  der  Be- 
kleidungsindustrie. Allerdings  wohnt  eine  Anzahl  Fachvereinsmitglieder 
in  den  Vorstädten,  deren  industrielle  Bevölkerung  einige  tausend  Arbeiter 
umfafst. 

Die  Vorteile  dieses  Systems  sind  mannigfach.  Fast  sämtliche  Unkosten 
allgemeiner  Natur,  die  in  den  kommunalen  Kassen  so  bedeutend  sind, 
werden  erspart  und  den  Fachvereinen  überlassen,  für  die  sie  von  ge- 
ringem Belang  sind,  da  die  Uebenvachung  der  erhöhten  Pension  nicht 
kostspieliger  ist,  als  die  Zahlung  einer  solchen  von  geringerem  Betrage. 
Man  hat  alsdann  von  vornherein  einen  enormen  Bestand  von  Mitgliedern, 
welche  der  Elite  der  Arbeiterklasse  angehören  und  vom  Nutzen  der 
Versicherung  bereits  überzeugt  sind.  Die  gesamte  Organisation  beruht 
auf  striktem  Gegenseitigkeitsprinzip,  wodurch  allein  Unterschleifen  ent- 
gegengetreten wird.  Sie  ist  eine  ausschliefslich  berufliche,  d.  h.  auf 
offenkundig  gleichen  Risikogruppen  aufgebaut.  Endlich  wird  die  Ver- 
sicherung gegen  Arbeitslosigkeit  von  Anfang  an  eine  zahlreiche  und 
überzeugungsvolle  Propaganda  für  sich  haben,  die  entschlossen  ist,  den 
Fachvereinen  möglichst  viele  Mitglieder  zuzuführen. 

Die  Genfer  Kommission,  welche  gröfstcnteils  aus  Bürgern,  grofsen- 
teils  aus  Unternehmern  bestand,  hat  dadurch,  dafs  sie  sich  in  der  Be- 
kämpfung der  Arl>citslosigkeit  direkt  an  die  Organisation  einer  sozialen 
Kategorie,  an  die  Arbeitervereine  selbst  wandte,  ein  hohes  Mafs  von 
Initiative  und  Unerschrockenheit  an  den  Tag  gelegt.  Von  19212  Fach- 
vereinlern gehören  an:  10899  den  sozialistischen  Fachvereinen,  3621 
den  katholischen,  1572  den  liberalen,  3120  endlich  den  parteilosen. 
Diese  letzteren  sind  fast  sämtlich  entweder  Vereine  kaufmännischer  An- 
gestellten oder  doch  eher  Fachhilfskassen,  als  eigentliche  Fachvereine. 

Aus  den  Verhandlungen  der  Kommission  ist  hervorzulielten,  dafs 
vor  allem  ein  Punkt  zu  lebhaften  Debatten  führte : die  Organisation  der 
Kontrolle  über  die  Verwendung  der  den  Vereinen  überwiesenen  Gelder. 
Es  wurden  zweierlei  Wege  vorgeschlagen.  Der  Berichterstatter  empfahl 


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Louis  Varlez,  Die  Kommunal  Versicherung  gegen  Arbeitslosigkeit  in  Gent.  24 1 

die  den  Vereinen  zu  gewährende  Beihilfe  gegen  ein  vom  Sekretär  des 
Vereins  aufztistellendcs  detailliertes  Verzeichnis  der  Verwendung  der 
Gelder  zu  zahlen,  vou  einer  namentlichen  Angabe  der  die  Arbeitslosen- 
unterstützung empfangenden  Personen  aber  abzusehen.  Für  eine  nament- 
liche Kontrole  der  Unterstützten  war  er  nur  dann , wenn  Unterschleife 
vermutet  würden  oder  zur  Anzeige  kämen,  für  welchen  Fall  ein  Kon- 
trolleur einzusetzen  wäre,  der  sich  eidlich  zu  verpflichten  hätte,  alle  ihm 
gelegentlich  seiner  Kontrolle  bekannt  werdenden  Angaben  persönlicher 
Natur  geheim  zu  halten.  Der  Berichterstatter  wollte  hiermit  verhindern, 
dafs  die  Namen  der  jedem  Verein  angehörenden  Mitglieder  bekannt 
würden,  da  andernfalls  Verdächtigungen  und  der  Abfall  von  Mitgliedern 
hervorgerufen  würden.  Kr  hielt  dafür,  dafs  die  Kontrolle  innerhalb  der 
Vereine  selbst  zur  Verhinderung  von  Unterschleifen  genüge.  Verschiedene 
Kommissionsmitglieder  dagegen  verlangten  energisch  die  namentliche 
Bezeichnung  der  Unterstützten  als  einziges  Mittel  einer  wirksamen  Kon- 
trolle der  Gelder. 

Nach  laugen  Verhandlungen  wurde  endlich  ein  gemischtes  System 
vorgeschlagen,  dem  man  allseitig  zustimmte.  Hiernach  wäre  die  Kon- 
trolle von  Anfang  an  durch  einen  Kontrolleur  auszuülren,  der  berechtigt 
sein  solle,  dem  Präsidenten  und  dem  Sekretär  des  Ausschusses  alle  not- 
wendigen persönlichen  Angaben  zu  machen.  Alle  drei  Genannten 
hätten  sich  eidlich  zu  verpflichten,  die  hierdurch  erlangte  Kenntnis  ge- 
heim zu  halten.  Der  Gemeinderat  hat  nach  Prüfung  des  Vorschlages 
der  Sonderkommission  die  Kontrollvorschriftcn  noch  etwas  verschärft, 
indem  er  anordnete,  dafs  sämtliche  Kommissionsmitglieder  berechtigt 
sein  sollten,  sich  über  die  persönlichen  Feststellungen  des  Kontrolleurs 
aus  den  Büchern  der  Fachvereine  unterrichten  zu  lassen,  allerdings  nur 
unter  eidlicher  Zusicherung  der  Geheimhaltung. 

Möge  man  über  das  Wohlwollen  der  Kommissionsmitgliedcr  gegen- 
über den  Fachvereinen  denken  wie  man  will,  — jedenfalls  hätte  der 
gemachte  Vorschlag  nicht  die  Zustimmung  aller  anwesenden  Unternehmer 
gefunden,  wenn  sämtliche  Arbeiter,  welche  etwa  Anspruch  erheben  wollten 
auf  die  kommunalen  Zuschüsse  zur  Versicherung  gegen  Arbeitslosigkeit, 
gezwungen  w'erdcn  sollten , den  Fachvercinen  beizutreten  und  somit 
thätigen  Anteil  an  dem  sozialen  Kampfe  für  eine  Aenderung  der  wirt- 
schaftlichen Verhältnisse  zu  nehmen.  Diese  einmütige  Zustimmung  konnte 
nur  durch  die  Organisation  der  Unterstützung  auch  für  Xichtfach- 
vereinler  erreicht  werden.  Alter  wie  diese  bewerkstelligen,  ohne  eine 
besondere  Versicherungskasse  zu  schaffen  ? Es  wurde  in  dieser  Hinsicht 
folgende  Regelung  vorgeschlagen , deren  Einzelheiten  die  Verwaltungs- 
kommission des  Fonds  in  seiner  Sitzung  vom  3.  Juni  1901  nunmehr 
endgültig  festgesetzt  hat.  Arbeiter  oder  Arbeiterinnen,  welche  keinem 
am  Fonds  beteiligten  Fachverein  angehören,  können  sich  bei  der  vom 
Staate  garantierten  allgemeinen  Spar-  uud  Versorgungskasse  ein  Spar- 

Archiv  für  *or.  CiescEzgeliung  n.  SlaliUiV.  XVII.  IÖ 


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242 


Miszellen. 


kassenbuch  ausstellen  und  dieses  in  ein  besonderes  Register  eintrager» 
lassen.  Der  Inhaber  dieses  Sparkassenbuches  bleibt  im  Besitze  desselben 
und  kann  beliebig  Spareinlagen  oder  Rentengelder  darauf  einzahlen. 

Im  Falle  der  Arbeitslosigkeit  erhält  der  Sparer  jedoch  nach  Er- 
füllung von  Formalitäten , wie  sie  bei  den  Fachvereinen  zwecks  Er- 
langung von  Arbeitslosenunterstützungen  gefordert  werden  (Bescheinigung 
der  Arbeitslosigkeit  und  täglicher  Eintrag  in  ein  besonderes  Register),, 
und  welche  bei  der  Arbeitsbörse  erfüllt  werden  können,  eine  Erhöhung 
der  Sparrente  in  dem  gleichen  Verhältnis,  wie  die  Arbeitslosenunter- 
stützungen der  Fachvereine.  Die  Erhöhung  wird  in  keinem  Falle  den 

Satz  von  einem  Franc  für  jeden  vorschriftsmäfsig  im  Register  einge- 
tragenen arbeitslosen  Tag  übersteigen,  und  wird  denselben  Schwankungen 
unterliegen,  wie  die  den  Fachvereinsmitgliedern  gezahlte  Erhöhung  der 
Arbeitslosenunterstützungen.  Zur  Verhinderung  von  Betrügereien  sind 

verschiedene  Maßnahmen  vorgesehen  (wie  die  Bedingung  des  Wohn- 
sitzes, Dauer  der  Einlage,  Kontrolle  der  Arbeitslosigkeit  u.  s.  w.).  Die 
jährlichen  Erhöhungen  werden  keinesfalls  50  Frcs.  pro  Mitglied  über- 
steigen. 

Nach  der  Ansicht  des  Berichterstatters  müfste  der  notwendige  Zu- 
schufs  zur  Organisation  dieser  Kasse  20000  Frcs.  jährlich  betragen.  Auch 
die  Kommission  befürwortete  diese  Ziffer,  wollte  jedoch  die  endgültige 
Entscheidung  hierüber  dem  Gemeinderat  Gents  überlassen. 

Auf  iq  000  Fachvereinsmitglieder  und  auf  eine  mehr  oder  minder 
beträchtliche  Anzahl  von  Sparern  berechnet,  würde  dies  eine  Unter- 
stützung von  1 Frc.  pro  Mitglied  und  Jahr  ergeben.  In  Basel  hatte  der 
Rat  einen  — darauf  in  der  Volksabstimmung  verworfenen  — Jahres- 
zuschufs  von  30000  Frcs.  bewilligt;  im  Kanton  St.  Gallen  kann  der 
Zusclntfs  2 Frcs.  für  jeden  Versicherten  erreichen;  in  Bern  wurden  für 
612  Mitglieder  7000  Frcs.,  gleich  11  Frcs.  für  jeden  Versicherten,  ge- 
zahlt ; in  Zürich  wurde  vorgeschlagen,  im  ersten  Jahre  70  000  Frcs.  und 
in  den  folgenden  Jahren  30- — 70000  Frcs.  zuzuschiefsen ; in  Köln,  wo 
man  1900  nur  536  Mitglieder  zusammenbrachte,  belief  sich  der  städtische 
Zusclmfs  auf  25000  Mark,  aufserdem  trugen  die  Ehrenmitglieder 
13320  Mark  bei. 

Wie  man  sieht,  weist  das  Genter  Projekt  eine  ziemlich  niedrige  Zu- 
schufsziffer  auf.  Wir  glauben,  dafs  in  einem  gewöhnlichen  Jahre  der 
Zuschufs  von  20000  Frcs.  kaum  zur  Erhöhung  der  Arbeitslosenunter- 
stützungen um  100  u/„  hinreichen  wird.1)  Da  nicht  alle  diese  Unter- 

')  für  das  Jahr  1809  haben  wir  Erhellungen  angestellt  über  die  Wirksamkeit 
der  Versicherung  gegen  Arbeitslosigkeit  in  den  Genter  Kachvereincn ; die  Erhebungen 
erstreckten  sich  auf  41  der  gröfsten  Arbeit  er- Kachvercioc  mit  damals  16563  Mit- 
gliedern. Zwei  dieser  Vereine  mit  78  Mitgliedern  verweigerten  Auskunft;  7 mit 
1845  Mitgliedern  hatten  weder  irgendwelche  Versicherung  gegen  Arbeitslosigkeit  oder 


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Louis  Varlcz,  Die  Kommunal  Versicherung  gegen  Arbeitslosigkeit  in  Gent. 


Stützungen  dem  Kommunalfonds  zur  I.ast  fielen  (nämlich  als  Unter- 
stützungen an  Nicht-Genter,  Unterstützungen  von  mehr  als  i Frc. 
Unterstützungen  nach  dem  50.  Tage  der  Arbeitslosigkeit),  so  glauben  wir 
nicht,  dafs  die  den  Fachvereinsmitgliedern  zu  leistenden  Zuschüsse 
im  ersten  Jahre  20  000  Frcs.  übersteigen  würden.  Es  blieben  somit  noch 
die  Sparer,  welche  die  unbekannte  und  dem  Problem  bedrohliche  Gröfse 
bilden.  Die  städtischen  Zuschüsse  werden  eine  dreifache  Wirkung  haben. 
Zuvörderst  werden  sie  die  üble  Lage  der  von  Arbeitslosigkeit  betroffenen 
Fachvereinler  mildern,  indem  sie  die  ihnen  geleisteten  Unterstützungen 
erhöhen,  indem  sie  ferner  durch  die  gesteigert  Wirksamkeit  ihrer  Spar- 
einlagen oder  ihrer  Versicherung  eine  weitere  Anzahl  von  Arbeitern  ver- 
anlassen, zu  sparen  oder  sich  zu  versichern,  und  endlich  indem  sie 
namentlich  die  Versicherung  gegen  Arbeitslosigkeit  in  verschiedenen 
Gewerben  erleichtern,  so  z.  B.  in  den  Saisonindustrieen,  wo  die  Schwere 
des  Arbeitslosigkeitsrisikos  die  Organisation  der  Versicherung  durch  die 
Interessenten  allein  fast  unmöglich  macht.  Sodann  steht  zu  erwarten, 
dafs  viele  Fachvereine  den  Betrag  ihrer  Unterstützungen  erhöhen  werden, 
So  haben  bereits  mehrere  der  bedeutendsten  beschlossen,  ihre  'l'hätig- 
keit  der  Arbeitslosenversicherung  in  erhöhtem  Mafse  zuzuwenden.  Einige 
haben  geradezu  eine  Versicherungskasse  gegen  Arbeitslosigkeit  einge- 
richtet, zahlreiche  andere  haben  den  Betrag  ihrer  Arbeitslosenunter- 
stützungen erhöht,  andere  wieder  beschäftigen  sich  eifrig  mit  der  Frage, 
in  der  Absicht  Zuschüsse  aus  den  Fonds  zu  erhalten.  Wir  haben  seit 
fünf  Jahren,  Monat  für  Monat  das  Verhältnis  der  Arbeitslosen  in  fast 
sämtlichen  Genter  Fachvereinen  verfolgt , und  -wir  haben  gefunden, 
dafs  in  diesem  Zeiträume  sich  der  Durchschnitt  der  Arbeitslosen  auf 
ungefähr  25  pro  1000  Fachvereinsmitglicder  beläuft.  Dieser  Durch- 
schnitt sinkt  auf  9 bei  den  kaufmännischen  Angestellten,  auf  22  in  den 
in  Gent  besonders  stark  vertretenen  Textil-  und  Metallindustrieen,  be- 
trägt 25  in  der  Holz-  und  Buchdruckindustrie,  und  steigt  andererseits 
auf  75  in  den  Nahrungsmittelgewerben,  auf  85  in  den  diversen  In- 
dustricen,  auf  122  im  Baugewerbe,  auf  144  in  der  Bekleidungsindustrie 
und  auf  500  bei  den  Dockarbeitern.  Jeder  Fachverein  wird  nun  die 
Versicherung  den  fachlichen  Bedürfnissen  anpassen.  Es  ist  daher  sehr 

Stillstand  der  Fabrikbetriebe  eingerichtet,  noch  Reisegelder  bewilligt;  6 mit  1 47° 
Mitgliedern  hatten  wohl  in  sehr  unvollkommener  Weise  die  eine  oder  andere  dieser 
Unterstützungen  organisiert,  haben  uns  aber  den  Betrag  der  hierfür  aufgewandten, 
jedenfalls  sehr  geringen  Summe  nicht  mitgeteilt;  26  endlich  der  gröfsten  Fach- 
vereine mit  13  170  Mitgliedern  hatten  26438  Frcs.  auf  diese  Versicherung  verwendet 
Im  Jahre  1901  hatte  der  Betrag  der  für  die  Arbeitslosenversicherung  bestimmten 
Summe  beträchtlich  zugenommen:  in  den  ersten  6 Monaten  des  Jahres,  vor  dem 
Inkrafttreten  der  vorstehend  mitgcteilten  Anordnungen,  hatten  allein  die  fünf  gröfsten 
sozialistischen  Fachvereine  15845  Frcs.  bewilligt. 

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Miszellen. 


wahrscheinlich,  dafs  von  Jahr  zu  Jahr  die  für  die  Versicherung  gegen 
die  Arbeitslosigkeit  auszusetzenden  Summen  infolge  jener  Zuschüsse 
steigen  werden  und  eine  Verringerung  ihres  auf  die  Mitglieder  ent- 
fallenden Prozentsatzes  eintritt. 

Wenn  im  ersten  Jahre  die  Gewerkschaften  zu  dem  Zwecke  20  000  Frcs. 
aussetzen,  so  wird  die  Erhöhung  mit  einem  Zuschufs  von  10000  Frcs.  für 
die  Unterstützungen  50  11  „ betragen  können ; gestattet  die  Entwicklung  der 
Versicherung  und  der  Sparkasse  im  zweiten  Jahre  30000  Frcs.  zur  Ver- 
teilung zu  bringen,  so  werden  die  10000  Frcs.  dann  nur  eine  Erhöhung 
von  33",,  zulassen.  Mit  40000  Frcs.  sinkt  der  Prozentsatz  der  Ver- 
teilung für  die  Mitglieder  auf  25",,,  wenn  nicht  die  Kommune  sich 
entschliefsen  sollte,  ihren  Zuschufs  zu  erhöhen,  was  der  Bürgermeister 
für  den  Fall  in  Aussicht  zu  stellen  glaubte,  dafs  der  Fonds  befriedigende 
Resultate  zeitigen  würde.  Auch  können  Zuschüsse  von  anderer  Seite 
geleistet  werden. 

Es  ist  selbstverständlich,  dafs  die  Kasse  mit  Unterstützungen  bei 
Ausständen  und  Aussperrungen  nichts  zu  thun  hat,  ebensowenig  mit  der 
Versicherung  gegen  Alter,  Krankheit  und  Unfall. 

Man  steht  hier  auf  völlig  neuem  Boden.  Die  Erfahrung  hat 
gezeigt,  dafs  annehmbar  erscheinende  Vorschläge  oft  an  schweren 
Mängeln  litten.  Um  nun  zu  vermeiden,  dafs  nicht  die  Routine  die  hier 
getroffene  Einrichtung  auch  dann  aufrecht  erhalte,  wenn  sie  sich  als 
schlecht  oder  unwirksam  erweisen  sollte,  ist  in  den  Statuten  vorgesehen, 
dafs  der  Versuch  sich  nur  auf  drei  Jahre  zu  erstrecken  habe,  und  dafs  er 
nur  auf  Grund  einer  förmlichen  Beschlufsfassung  des  Gemeinderates 
weilergeführt  werden  könne. 

Ein  Mifsstand  des  hier  gekennzeichneten  Systems  einer  Arbeitslosen- 
unterstützung dürfte  vielleicht  darin  erblickt  werden,  dafs  die  Interessenten, 
Fachvereinler  und  Sparer,  in  der  Kommission  selbst  nicht  unmittelbar 
vertreten  sind.  Dieser  Mangel  wird  aber  jedenfalls  dadurch  abge- 
schwächt, dafs  fünf  der  vom  Gemeinderat  zu  ernennenden  Vcrwaltungs- 
mitglieder  den  Vereinen  zu  entnehmen  sind,  welche  beschlossen  haben, 
an  dem  Zuschufsfonds  teilzunehmen.  Es  ging  nicht  an,  die  direkte  Ver- 
tretung der  Interessenten  in  der  Uebergangsperiode  der  Organisation  zu 
regeln;  vielmehr  wird  man  sich  mit  dieser  Frage  erst  hei  einer  Revision 
der  Statuten  beschäftigen  können. 

Dies  die  Grundzüge  des  Systems,  welches  die  mit  der  Ausarbeitung 
eines  kommunalen  Reglements  zur  Förderung  der  Arbeitslosenversiche- 
rung beauftragte  Sonderkommission  dem  Gemeinderat  Gents  unterbreitete, 
nachdem  sie  es  in  ihrer  Sitzung  vom  10.  April  1900  definitiv  ange- 
nommen hatte.  Der  Entwurf  wurde  von  einer  Abteilung  des  Gemeinderats 
einer  Prüfling  unterzogen  und  von  ihm  im  ganzen  mit  unbedeutenden 
Abänderungen  in  seiner  Sitzung  vom  29.  Oktober  1900  angenommen, 
und  zwar  mit  32  gegen  1 Stimme,  1 Mitglied  enthielt  sich  der  Ab- 


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I.  ouis  Yarlez,  Die  Komninnalvcrsiclierung  gegen  Arbcit>|nMgki'it  in  Gent.  245 


Stimmung.  In  dieser  Sitzung  wurde  jedoch  beschlossen,  die  Festsetzung 
des  Betrages  des  Jahreszuscliusses  bis  zur  Verhandlung  über  den  städtischen 
Haushaltetat  zu  verschieben.  Hei  dieser  Verhandlung  hatte  das  Schöffen- 
kolleg eine  Zuschufsziffer  von  5000  Frcs.  vorgeschlagen,  welche  die 
Finanzkommission  auf  10000  Frcs.  erhöht  hatte,  während  verschiedene 
Gemeinderäte  beantragten,  die  Ziffer  von  io  000  Frcs.  festzusetzen. 
Lange  Verhandlungen,  welche  mehrere  Tage  dauerten,  knüpften  sich  an 
diese  Vorschläge,  bis  schlicfslich  der  Antrag,  die  Summe  auf  20000  Frcs. 
festzusetzen,  mit  20  Stimmen  (konservative  Katholiken,  Liberale  und 
Kleinbürger)  gegen  15  (Sozialisten,  Radikale  und  katholische  Arbeiter) 
verworfen  und  der  Vorschlag,  10000  Frcs.  zu  bewilligen,  einstimmig 
angenommen  wurde. 

Wenige  Tage  hierauf  wurde  die  Verwaltungskommission  durch  den 
Gemeinderat  unter  dem  Vorsitz  des  Berichterstatters  di  r Sonderkommission, 
Varlez,  eingesetzt  und  in  ihr  Amt  feierlich  eingefühlt.  Die  Kommission 
hat  unverzüglich  die  Ausarbeitung  eines  Reglements  ihrer  Geschäfts- 
führung unternommen,  über  welches  sie  sich  nach  ziemlich  langen  Ver- 
handlungen am  3.  Juni  inol  endgültig  einigte,  sowohl  was  die  Ver- 
sicherung gegen  Arbeitslosigkeit,  als  die  Spareinrichtung  fiir  den  Fall  der 
Arbeitslosigkeit  betrifft.  Die  Herabsetzung  der  Fondsbestände,  welche 
sich  aus  der  Festsetzung  des  Zuschufslx'trages  auf  10000  Frcs.  ergiebt, 
hat  den  Berichterstatter . vcranlafst,  eine  verhältnismätsige  Verminderung 
des  Betrages  der  Erhöhungen  in  Vorschlag  zu  bringen,  welche,  Ins  der 
Geschäftsgang  zuverlässigere  Unterlagen  geschaffen  haben  wird,  vorläufig 
50",,  sowohl  fiir  Fachvercinsmitglieder  als  Sparer  betragen  sollen.  Die 
Genter  Kasse  zur  Unterstützung  der  Arbeitslosen  bat  ihre  Thätigkcit  am 
1.  August  1001  begonnen,  mul  es  haben  allmählich  22  Fachvercinc  mit 
12492  Mitgliedern  ihre  Statuten  eintragen  lassen:  l>ci  drei  weiteren 
schwebt  das  F.intragungsvcrfahrcn.  Diese  Vereine  gehören  den  ver- 
schiedenen politischen  Parteien  an,  zu  welchen  Arbeiter  Gents  zählen; 
nur  die  Liberalen  haben  sich  noch  nicht  angcschlossen.  Am  15.  Oktober 
1901  zählten  diese  Vereine  250  Arbeitslose.  Im  Laufe  des  Monats 
August  haben  die  10  Fachvereine,  die  den  Anspruch  auf  Erhöhung  der 
Unterstützung  erworben  hatten,  ihrerseits  3903  Frcs.  ifi  Cts.  Arbeits- 
losengelder ausgezahlt : der  seitens  des  Fonds  bewilligte  Zuschufs  von 
50",,  bis  zu  1 Frs.  pro  Tag  für  50  Tage  hatte  ihnen  ferner  ermöglicht, 
1220  Frcs.  87  Cts.  Erhöhungen  zu  verteilen,  was  insgesamt  eine  Ar- 
beitsloscn-UntcrsUitzung  von  5133  Frs.  3 Cts.  ergiebt.  Während  des 
Septcrabermonats  waren  die  Leistungen  der  Kasse  bereits  höher.  Drei- 
zehn Fachvereine  hatten  5579  Frcs.  48  Cts.  zuzüglich  1821  Frcs.  13  Cts. 
Erhöhungen,  also  insgesamt  7400  Eres,  fit  Cts.  verausgabt. 

Die  rasche  Verausgabung  der  Zuschüsse  liefs  es  geraten  erscheinen, 
eine  Herabsetzung  des  Betrages  der  Erhöhungen  ins  Auge  zu  fassen,  in- 
dessen entschlofs  man  sich,  nocli  einen  Monat  mit  Maßnahmen  in  dieser 


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Miszellen. 


Hinsicht  zu  warten,  da  das  Rechnungsjahr  1901  nur  ein  unvollständiges 
Bild  gewähren. 

Die  Sparkasse  gegen  Arbeitslosigkeit  ist  noch  nicht  in  Wirksamkeit 
getreten,  da  die  Mitglieder  erst  einige  Zeit  ihr  angehören  müssen,  be- 
vor sie  ihre  Einlagen  mit  Erhöhungen  zurückziehen  dürfen.  Alles  ist 
bisher  ordnungsgemäfs  verlaufen,  und  die  Einrichtung  hat  keine  be- 
sonderen Organisationsschwierigkeiten  gezeitigt. 

Es  haben  bereits  eine  Anzahl  Eachvereine  die  Arbeitslosenversiche- 
rung eingerichtet,  uin  an  den  Gemeindezuschüssen  teilzunehmcn ; andere 
wieder  haben  den  Betrag  der  Arbeitslosen-Unterstützungen  beträchtlich 
erhöht,  wodurch  die  Anzahl  der  gegen  Arbeitslosigkeit  versicherten  Ar- 
beiter erheblich  gestiegen  ist,  — ein  zunächst  immerhin  befriedigendes 
Resultat. 

Die  Organisation  des  Genier  Gemcindefonds  für  Arbeitslosenversiche- 
rung ist  übrigens  zur  Zeit  Gegenstand  lebhaften  Interesses  für  die  belgischen 
Arbeiter  und  Politiker.  Die  Kongresse  der  Verbände  der  Metallarbeiter, 
der  Setzer,  der  Buchbinder,  der  Holz-  und  Bauarbeiter  und  verschiedene 
andere  haben  hintereinander  den  Wunsch  ausgesprochen,  dafs  durch 
Vermittelung  der  Fachvereine  Ortsausschüsse  in  allen  gröfseren  Städten 
des  Landes  gebildet  werden  sollen.  In  Antwerpen  wurde  bereits  ein 
Ortsverband  begründet,  welchem  25  Fachvereine  angehören,  unter  ihnen 
fast  alle  gröfseren  der  Stadt.  Dieser  Verband  hat  die  Frage  einer 
Prüfung  unterzogen  und  an  die  Gemeinde-,  Provinzial-  und  Staats- 
behörden das  Ersuchen  gerichtet,  die  Fachvereine  zu  den  gleichen  Unter- 
stützungen zu  verpflichten,  wie  sie  die  Genfer  Vereine  bewirkten.  Die 
genannten  Behörden  sind  zur  Zeit  mit  der  Frage  beschäftigt. 

In  Brüssel  hat  die  Fachvereinskoinroission  der  sozialistischen  Partei 
die  Sache  in  die  Hand  genommen.  Sie  hat  Verhandlungen  über  die 
Frage,  sowie  umfassende  Erhebungen  veranlafst  und  an  sämtliche  Ge- 
meinderätc  der  Hauptstadt  einen  Antrag  gerichtet,  den  Fachvereinen, 
welche  ihre  Mitglieder  gegen  Arbeitslosigkeit  versichern,  einen  Zuschufs 
von  30  000  Frcs.  zur  Verteilung  unter  die  verschiedenen  Gemeinden  im 
Verhältnis  ihrer  durch  Arbeitslosigkeit  betroffenen  Arbeiterbevölkerung 
zu  gewähren.  Atn  19.  Oktober  1901  berief  der  Brüsseler  Bürgermeister 
seine  Kollegen  aus  den  anderen  Gemeinden  zur  gemeinsamen  Beratung 
über  die  Schaffung  einer  Arbeitslosenkasse. 

Die  Provinz  Lüttich  hatte  bereits  vor  Errichtung  der  Genfer  Kasse 
einen  Zuschufs  von  1 500  Frcs.  bewilligt,  der  direkt  an  die  ihre  Mit- 
glieder gegen  Arbeitslosigkeit  versichernden  Fachvereine  gezahlt  wird: 
dieser  Betrag  kommt  jedoch  nur  3 Vereinen  mit  288  Mitgliedern  zu- 
gute, welche  ihrerseits  1223  Frcs.  als  Arbeitslosen-Unterstützung  be- 
willigt haben. 

In  Mecheln,  in  Verviers,  in  Löwen  haben  sich  Komitees  zum 
gleichen  Zwecke  gebildet.  In  Lüttich  wurde  ein  bezüglicher  Antrag 


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Louis  Varlez,  Die  Knmmunalversiohcmng  gegen  Arbeitslosigkeit  in  Gent.  247 

von  den  sozialistischen  Gemeinderäten  gestellt.  In  den  verschiedenen 
Vororten  Gents  endlich  steht  der  Antrag  auf  der  Tagesordnung,  der 
Genter  Arbeitslosen kasse  beizutreten.  Kurzum,  in  ganz  Belgien  beschäf- 
tigt sich  man  emsig  mit  der  Einrichtung  und  Verbreitung  der  Arbeits- 
losen-Versicherung.  Gelegentlich  der  Interpellation  über  die  industrielle 
Krisis  und  die  Mittel  ihrer  Abhilfe  in  der  belgischen  Kammer  am 
15.  Oktober  1901  forderte  der  Premierminister  de  Smet  de  Nayer  die 
übrigen  Gemeinden  des  Landes  auf,  dem  trefflichen  Vorgehen  der 
Stadt  Gent  zu  folgen,  wo  man  die  Arbeitslosigkeit  durch  freie  Ver- 
einigungen bekämpft,  die  in  einem  gewissen  Grade  von  seiten  der  Ge- 
meindebehörde unterstützt  und  beaufsichtigt  werden.“  Die  sozialistischen 
Abgeordneten  Bertrand  und  Anseele  gaben  ihren  Freunden  denselben 
Rat.  Endlich  hat  der  sozialistische  Abgeordnete  Denis  einen  Gesetz- 
entwurf eingebracht,  nach  welchem  der  Staat  die  Arbeitslosenversicherung 
durch  Zuschüsse  fordern  soll.  — 

Das  skizzierte  Genter  Unternehmen  trägt  durchaus  einen  stark  ausge- 
sprochenen lokalen  Charakter:  es  wäre  dort  völlig  unanwendbar,  wo  die 
Arbeiter  nicht  so  fest  in  Fachvereinen  organisiert  sind,  wie  in  Gent,  und 
nicht,  wie  hier,  längst  die  Notwendigkeit  eingesehen  haben,  sich  zu  soliden 
Gruppen  zusammenzuschliefsen , die  auf  hohen,  regelmäfsig  gezahlten 
Beiträgen  basieren.  In  Ländern,  wo  diese  Verbindungen  fehlen,  wäre  es 
vergeblich,  ein  derartiges  System  durchführen  zu  wollen.  Es  wäre  ver- 
fehlt, zu  erwarten,  dafs  sich  Vereine  bilden , um  der  gesetzlichen  Be- 
günstigungen teilhaftig  zu  werden.  Man  schafft  nicht  Organe  zur  Er- 
haltung dieser  Einrichtung,  sondern  es  müssen  im  Gegenteil  derartige 

Einrichtungen  sich  auf  Grund  bereits  bestehender  Organe  bilden.  Die 
Stadt  Gent  indessen  befindet  sich  in  dieser  Hinsicht  in  einer  günstigen 
Lage.  Fs  giebt  wohl  wenig  Städte  des  Festlandes,  welche  hier  mit  ihr 
konkurrieren  können.  Denn  es  ist  wohl  schon  zur  Genüge  bekannt,  in 
welcher  bewundernswerten  Weise  z.  B.  die  Genossenschaft  „Vooruit“ 

im  Genter  Arbeiterverband  eine  grofse  Anzahl  von  Vereinen  um  sich 

schart.  Zudem  bewirkt  der  Umstand,  dafs  in  fast  allen  Gewcrlien 

sozialistische,  katholische  und  liberale  Fachvereine  nebeneinander  be- 
stehen, dafs  keine  der  drei  politischen  Parteien,  welche  Gent  unter  sich 
teilen,  theoretisch  der  Fachvereinsbewegung  feindlich  gegenübersteht.  So 
liegen  die  Verhältnisse  in  < lent.  Aber  es  giebt  auch  andere  Städte,  namentlich 
in  Deutschland,  wo  das  Vereinswesen  fast  ebenso  entwickelt  ist  wie  in 
Gent,  und  wo  der  hier  zu  unternehmende  Versuch  vollem  Interesse  be- 
gegnen dürfte.  Mag  im  übrigen  die  Erfahrung  entscheiden,  ob  das 
nntemommene  Werk  lebensfähig  ist  und  Gutes  zu  schäften  vermag. 


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LITTERATUR. 

Neue  Litteratur  von  und  über  Gewerkschaften. 

besprochen  von 

Dk.  ADOLF  BRAUN, 

in  Stuttgart. 

j.  Der  deutsche  Buchbindcrverband,  sein  Zweck  und  seine  Thätig- 
keit.  Ein  Mahnruf  an  alle  nicht  organisierte^  Arbeiter  und  Arbeiterinnen 
in  Buchbindereien,  Kontobuchfabriken  und  Linieranstalten,  sowie  in  der 
Portefeuille-,  Album-,  Etuis-,  Kartonagen-,  Luxuspapier-  und  Ledergalanterie- 
waren-Eabrikation  Deutschlands.  Stuttgart,  ohne  Jahr  (1901).  Verlag  von 
A.  Dietrich.  32  S.  8". 

2.  Auf  der  Walze,  Briefe  eines  Handwerksburschen.  Stuttgart  1901. 
Herausgegeben  von  Theodor  Lcipart.  32  S.  kl.  8°. 

3.  Ein  ernstes  Wort  an  alle  in  den  Brauereien,  Malzfabriken  und 
Bierniederlagcn  beschäftigten  Personen,  Hannover,  Verlag  von  F.  Krieg. 
2 S.  4". 

4.  Ein  Mahnruf  in  ernster  Zeit  an  die  Metallarbeiter  Oesterreichs. 
Wien,  Verlag  des  Metallarbeiterverbandes.  8 S.  8". 

5.  Der  deutsche  Buchbinderverband  im  Jahre  1900.  Bericht  des 
Vorstandes.  Stuttgart  1901.  Herausgegeben  vom  deutschen  Buchbiuder- 
verband  (A.  Dietrich).  66  S.  8". 

6.  Deutscher  I lolzarbeiterverband,  Zahlstelle  Stuttgart.  Jahresbericht 

für  1900.  21  S.  kl.  8".  Stuttgart,  Verlag  des  deutschen  Holzarbeiter- 

verbandes, E.  Steinbrenner. 

7.  Protokoll  der  5.  Generalversammlung  des  deutschen  Metali- 
arbeiterverbandes  vom  28.  Mai  bis  1.  Juni  1901.  Stuttgart,  Verlag  von 
A.  Schlicke  XXXII  u.  296  SS.  8*'. 

8.  Scgitz,  Martin,  Vortrag  liber  den  dritten  Punkt  der  Tagesordnung: 
Agitation.  Zur  fünften  Generalversammlung  des  deutschen  Metallarbeiter- 
verbandes. Zur  Orientierung  für  die  Verbandsmitglieder.  Stuttgart,  ohne 
Jahr  (1901).  Verlag  des  deutschen  Metallarbeiterverbandes. 

9.  Bringmann,  August,  Praktische  Winke  für  die  deutsche  Zimmerer- 
bewegung.  Herausgegeben  im  Aufträge  des  Ausschusses  und  Vorstandes 


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Neue  Littcr.ilur  von  uml  über  GewiTkneharten.  241) 

des  Zentralverbandes  der  Zimmerer  und  verwandten  Berufsgenossen 
Deutschlands.  Hamburg  1401.  Verlag  von  Fr.  Schräder.  124  S.  8". 

i o.  Leipart,  Theodor,  Almanach  des  deutschen  Holzarbeiterverbandes 
für  das  Jahr  1902.  Taschenkalender  für  die  Verwaltungen  und  Mit- 
glieder des  Verbandes.  Im  Aufträge  des  Verbandsvoi Standes  heraus- 
gegeben. Dritter  Jahrgang.  Stuttgart,  ohne  Jahr  (1901).  Selbstverlag 
des  deutschen  Holzarbeiterverbandes.  154  S.  kl.  8". 

11.  Notizkalender  für  Metallarbeiter  1902,  herausgegeben  unter 
Mitwirkung  des  Vorstandes  des  deutschen  Metallarbeiterverbandes.  Berlin, 
ohne  Jahr  (1901 ).  Verlag  der  Expedition  der  Buchhandlung  Vorwärts. 
220  S.  kl.  8". 

12.  Notizkalender  für  Berg-  und  Hüttenarbeiter  1002.  Heraus- 
gegeben unter  Mitwirkung  des  Vorstandes  des  Verbandes  der  deutschen 
Berg-  und  Hüttenarbeiter.  Berlin,  ohne  Jahr  (1901 1.  Verlag  der  Ex- 
pedition der  Buchhandlung  Vorwärts.  220  S.  kl.  8". 

13.  Malerkalender  1902.  Herausgegeben  unter  Mitwirkung  des  Vor- 
standes der  Vereinigung  der  Maler,  Lackierer,  Anstreicher,  .Tüncher  und 
Weifsbinder.  Berlin,  ohne  Jahr  (1901).  Verlag  der  Expedition  der 
Buchhandlung  Vorwärts.  220  8.  kl.  8°. 

14.  Sind  die  Hamburger  Akkordmaurer  Streikbrecher  oder  nicht. 
Hamburg,  C.  Hense  (1901;  16  S.  8". 

15.  Aktenstücke  über  den  Schiedsspruch  in  Sachen  der  Hamburger 
Akkordmaurer.  Berlin  1901.  Verlag  der  Expedition  der  Buchhandlung 
Vorwärts.  23  S.  gr.  8". 

t6.  Wollrnann,  Georg,  Der  Kampf  um  das  Vereinsvermögen  des 
Verbandes  der  Porzellan-  und  verwandten  Arbeiter:  116200  Mk.  Wert- 
papiere deutsche  Reichsanleihe.  Bericht  des  Verbalidsvorsitzenden. 
Berlin.  Verlag  von  G.  Wollrnann  (1901)  15  S.  4". 

17.  Bauarbeiterschutz  im  Königreich  Sachsen.  Herausgegeben  von 
der  Landeskommission  ftir  Bauarbeiterschutz  im  Königreich  Sachsen. 
Dresden  1901.  Verlag  von  August  Friedrich.  40  S.  16". 

18.  Der  Bauarbeiterschutz  in  Bayern.  Taschenausgabe  für  jeden 
bayerischen  Bauarbeiter.  Herausgegeben  von  der  bayerischen  Laudcs- 
Bauarbeiter-Schutzkommission  1901.  Nürnberg,  J.  Merkel.  32  S.  kl.  16". 

19.  Schutz  den  Heimarbeitern!  Eine  Denkschrift  dem  Bundesrat 
und  Reichstag  überreicht  vom  Verband  der  Schneider,  Schneiderinnen  und 
verwandten  Berufsgenossen.  Stuttgart  1901.  Fr.  Holzhäuser  131  S.  kl.  8". 

20.  Deutscher  Reichstag  und  Lübecker  Senat  oder  Reichsrecht  geht 
vor  Landrecht.  Ein  lehrreicher  Beitrag  zur  Geschichte  der  deutschen 
Arbeiterbewegung.  Lübeck  1900.  August  Kasch.  99  S.  8". 

21.  Fuhrmann  D.,  Die  wirtschaftliche  Lage  der  Arbeiter  Hanaus. 
Im  Aufträge  der  statistischen  Kommission  des  Gewerkschaftskartells 
Hanau  a.  M.  bearbeitet,  Hanau  190t.  Verlag  des  Gewerkschafts- 
kartells  87  S.  8". 


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250 


Litteratur. 


22.  Hirsch.  Dr.  Max,  Verbandsanwalt,  Klein,  Rudolf,  Petersdorf 
Wilhelm,  Verbandsbeamte,  Arbeitsstatistik  der  deutschen  Gewerkvereine 
(Hirsch-Duncker)  fiir  das  Jahr  1901.  Nach  den  Angaben  der  Gewerbe- 
lind  Ortsvereine  zusammengestellt,  und  mit  Erläuterungen  herausgegeben 
Berlin  1901.  Selbstverlag  des  Verbandes  deutscher  Gewerkvereine. 
127  S.  4“. 

23.  Geschichte  und  Entwicklung  der  christlichen  Gewerkschaften 
Deutschlands  und  Protokoll  des  III.  christl.  Gewerkschaftskongresses  zu 
Krefeld.  M.-GIadbach,  Johann  Gisberts  1901.  in  S.  8“. 

24.  Maier,  Dr.  Adam  Karl.  Der  Verband  der  Glacehandschuh- 
raacher  und  verwandten  Arbeiter  Deutschlands  1869 — 1900  (Wirtschafts- 
und Verwaltungsstudien  mit  besonderer  Berücksichtigung  Bayerns.  Heraus- 
gegeben von  Georg  Schanz  XII,  Leipzig  1901).  A.  Deichert’sche  Ver- 
lagsbuchhandlung, Nachfolger.  VIII.  u.  391  S.  S". 

Ein  Widerspruch  ist  nicht  zu  erwarten,  wenn  man  behauptet,  dafs 
der  gröfste  Teil  der  hier  genannten  Schriften  den  meisten  deutschen 
Nationalökonomen  nieht  zur  Kenntnis  gelangt  ist.-  Die  meisten  dieser 
Schriften  sind  im  Buchhandel  nicht  zu  haben,  in  keiner  Biblio- 
graphie verzeichnet,  und  doch  ist  ihre  Kenntnis  für  diejenigen 
wichtig,  welche  sich  über  die  Gewerkschaftsorganisationen  aus  deren 
eigenen  Litteratur  zu  informieren  beabsichtigen.  Bekannter  als  diese 
Broschüren  sind  wohl,  dem  Namen  nach  wenigstens,  die  Fachblätter 
der  deutschen  Gewerkschaften.  Aber  deren  Zahl  ist  so  grofs,  dass 
es  wohl  kaum  ein  Dutzend  Nationalökonomen  giebt,  welche  schon 
alle  gesehen  haben,  geschweige  denn  sich  über  sie  ein  Urteil  bilden 
konnten.  Die  meisten  der  hier  genannten  Schriften,  soweit  sie  von  den 
Gewerkschaften  ausgehen , sind  schon  als  Typen  der  Gcwerkschafts- 
litteratur  an  sich  interessant.  So  ist  die  zuerst  genannte  Schrift  „der 
deutsche  Buchbinderverband  etc.“  nur  eine  von  vielen  Schriften  gleicher 
Art,  die  von  den  Organisationen  der  Holzarbeiter,  Schuhmacher  etc. 
herausgegeben  wurden.  Sie  fallen  meist  durch  eine  aufserordentlich 
elegante  Ausstattung,  vornehmen  Umschlag,  gutes  Papier,  klaren  Druck, 
Randleisten,  Titelvignctten  und  dergl.  auf.  Sie  sollen  durch  ihre  äufsere 
Erscheinung  dem  Empfänger,  der  sie  gratis  erhält,  als  ein  nicht  wert- 
loses Objekt  erscheinen,  zum  Lesen  anreizen  und  verhüten,  dafs  sie 
achtlos  weggeworfen  werden.  Auf  der  ersten  Seite  der  Agitationsschrift 
des  Buchbinderverbandes  finden  wir  einen  vierzeiligen  gereimten  Mahn- 
ruf, sein  Geschick  selbst  zu  lenken.  Auf  der  zweiten  Seite  findet  sich 
in  auffallendem,  aber  nicht  unschönem  Druck  eine  Empfehlung,  das 
Schriftchen  zu  lesen  und  seinen  Inhalt  zu  überlegen.  Hierauf  folgt  eine 
warm  geschriebene  Darstellung  in  populärstem  Tone  über  den  Zweck  und 
Nutzen  der  Organisation.  Diese  Abhandlung  ist  in  eine  grofse  Anzahl 
kleiner  Abschnitte  geteilt.  Es  werden  da  nicht  nur  die  Gründe  aufge- 
zählt, welche  für  die  Organisierung  der  Arbeiter  sprechen,  sondern  auch 


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Neue  Litteratur  von  und  über  Gewerkschaften. 


251 


die  speziellen  Zwecke  der  Buchbinderorganisation  und  ihre  Leistungen 
für  die  einzelnen  Unterstützungszweckc  erörtert.  Den  Schlufs  des  Schrift- 
chens  bildet  ein  leicht  auszulösender  Schein  „Anmeldung  zur  Aufnahme“. 
Die  Thatsache,  dafs  der  Buchbinderverband  schon  mehrere  Schriftchen 
dieser  Art  veröffentlicht  hat,  scheint  dafür  zu  sprechen,  dafs  diese  Form 
der  Agitation  ihre  Früchte  getragen  hat.  Die  Agitationsschriften  anderer 
Verbände  gleicher  Art  sind  nicht  immer  genau  nach  diesem  Schema 
gearbeitet.  So  ist  z.  B.  ein  kurz  vorher  erschienenes  Schriftchen  des 
deutschen  Holzarbeiterverbandes  einer  besonderen  Besprechung  wert. 

In  Briefen  aus  dem  Arbeiterleben,  „Auf  der  Walze“  (2),  werden  die 
Anlässe  auseinandergesetzt,  die  den  Arbeitern  die  Zugehörigkeit  zur  ge- 
werkschaftlichen Organisation  wertvoll  machen,  dann  welche  Vorteile 
speziell  der  Holzarbeiterverband  seinen  Mitgliedern  bietet.  Die  Schrift 
ist  geschickt  und  gewandt,  aufserordentlich  populär  aber  nicht  flach 
geschrieben,  so  dafs  der  vom  Verfasser  erwartete  Erfolg  sich  einstcllen 
dürfte. 

Eine  ältere  Form  der  Agitation  für  den  Beitritt  zu  den  Gewerk- 
schaften bildet  das  gewöhnliche  Flugblatt,  dafs  die  äufsere  Gestalt  der 
bekannten  Wahlflugblätter  hat.  In  dem  hier  unter  3 als  Muster  ge- 
nannten wird  an  die  heutigen  zollpolitischen  Streitfragen  angeknüpft, 
dann  an  die  Andeutungen  von  Bundesratsvertretern  erinnert,  dafs  eine 
stärkere  Besteuerung  des  Bieres  in  Betracht  gezogen  werde.  Hieran 
knüpft  sich  eine  Schilderung  der  dadurch  für  die  Arbeiter  des  Brauer- 
gewerbes zu  gewärtigenden  Gefahren  an.  Die  Resultate  und  die  Absichten 
der  Organisation  werden  dargelegt  und  dann  zum  Beitritt  in  dieselbe  auf- 
gefordert. 

Als  achtscitigcs  Flugblatt,  das  dem  gleichen  Zwecke  dient,  sucht  „ein 
Mahnruf  in  ernster  Zeit“  (4)  die  Metallarbeiter  Oesterreichs  der  Organi- 
sation zuzuführen.  Das  Flugblatt  ist  in  einem  warmen  Tone  gehalten, 
unterscheidet  sich  von  dem  der  Brauer  in  seinem  Aufbaue  vor  allem 
dadurch,  dafs  es  das  Verzeichnis  sämtlicher  Adressen  des  Verbandes  der 
Landes-  und  Bezirksvertrauensmänner  sowie  aller  Ortsgruppen  im  lande 
enthält.  Es  sei  bei  dieser  Gelegenheit  darauf  hingewiesen,  dafs  die 
meisten  gröfseren  deutschen  Gewerkschaften  ein-  oder  zweimal  im  Jahre 
in  eigenen  Broschüren  Adressenverzeichnisse  ihrer  Organisationen  ver- 
öffentlichen, die  abgesehen  von  dem  praktischen  Werte  für  die  Mitglieder, 
vor  allem  für  die  auf  der  Reise  befindlichen,  auch  ein  nicht  uninteres- 
santes Material  für  denjenigen  darstellen,  der  die  topographische  Ver- 
teilung der  Gewerkschaften  in  Deutschland  feststellen  wollte.  Das 
Material  liefse  sich  ziemlich  genau  und  vollständig  für  alle  deutschen 
Gewerkschaften  erhalten,  denn  dort  wo  besondere  Adressenverzeichnisse 
in  selbständiger  Form  nicht  herausgegeben  werden,  finden  sich  diese  von 
Zeit  zu  Zeit  in  den  Fachblättern.  Da  die  Vierteljahrsabrechnungen  der 
deutschen  Gewerkschaften  die  einzelnen  Mitgliedschaften  gesondert  an- 


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Liltrratur. 


252 

führen,  licfscn  sich  auch  für  jeden  Ort  im  Deutschen  Reich  die  Mit- 
gliederzahl  der  einzelnen  Gewerkschaften  und  durch  Summierung  der 
betr.  Zahlen  die  Gesamtzahl  der  gewerkschaftlich  organisierten  Arbeiter 
unschwer  feststellen.  Diese  Methode  ist  nicht  frei  von  Kehlen |uellen, 
auf  die  näher  einzugehen,  hier  aber  nicht  notwendig  erscheint,  umso- 
weniger als  sie  an  dem  an  sich  wertvollen  Resultate  nicht  viel  ändern 
würden. 

Einen  neuen  interessanten  Typus  der  deutschen  Gewerksehaftslitteratur 
werden  bald  die  Jahresberichte  der  Gewerkschaften  bilden.  Bisher  war 
es  blofs  üblich,  dufs  anläfslich  der  Generalversammlungen  die  Vorstände 
einen  in  der  Regel  gedruckten  Bericht  der  Generalversammlung  vor- 
legten, der  dann  durch  Vermittlung  der  Fachzeitungen  und  der  Proto- 
kolle den  Mitgliedern  zur  Kenntnis  gebracht  wurde.  Diese  Berichte  be- 
handelten in  der  Regel  die  Ereignisse  von  zwei  Jahren,  sie  werden  mit 
der  steigenden  Bedeutung  der  Gewerkschaften  immer  umfangreicher,  so 
nimmt  der  Bericht  des  Vorstandes  des  deutschen  .Metallarbeiterverbandes 
an  die  Generalversammlung  in  Nürnberg  (tooil  136  Seiten  engen  und 
zum  'Teil  tabellarischen  Druckes  ein.  Dies  hat  dazu  geführt,  dafs  künftig 
der  deutsche  Metallarbeiterverband  besondere  Jahresberichte  herausgeben 
wird.  Ihm  vorangegangen  sind  der  Seemanns-V  erband  in  Deutschland  und 
der  deutsche  Buchbinderverband,  der  in  einer  sehr  schön  aasgestatteten 
Schrift  (5.1  Jahresberichte  über  die  Organisation  zu  publizieren  beginnt. 
Gerade  dieser  Jahresbericht  ist  nicht  nur  als  eine  wichtige  Form  der 
deutschen  Gewerksehaftslitteratur  zu  erwähnen,  sondern  auch  um  deswillen 
besonders  bemerkenswert,  weil  er,  wenn  auch  leider  nur  in  sehr  gedrängter 
Kürze,  eine  Uebcrsieht  über  die  bisherigen  Leistungen  der  deutschen 
Buchbinderorganisation  voranschickt.  Das  Interesse  an  der  Geschichte 
der  eigenen  Organisation  ist  in  den  deutschen  Gewerkschaften  ein  weit- 
verbreitetes, wir  besitzen,  abgesehen  von  den  Arbeiten  Sclimoelcs, 
Kulemanns  und  Maiers  Schritten,  die  aus  den  Kreisen  der  Gewerk- 
schaften hervorgegangen,  diesem  Zwecke  dienen,  so  eine  Geschichte  der 
Maurer-,  der  Bergarbeiter-,  der  Bäckcrltcvvegung.  Seit  vielen  Jahren 
arbeitet  Üringmann  an  einer  Geschichte  der  Zimmererbewegung,  auf  dem 
letzten  Mctallaibeiterkongrcs.se  ist  die  Anregung  gegeben  worden,  die 
Geschichte  der  Metallarbeiterorganisation  zu  schreiben.  Einem  künftigen 
Historiker  der  Gewerkschaftsbewegung  werden  die  nun  wohl  in  allgemeine 
lebung  kommenden  Jahresberichte  der  Zentralverbände  von  grofsem 
Nutzen  sein.  In  detn  Berichte  des  Buchbinderverbandes  findet  sich 
auch  die  für  weitere  Kreise  sehr  interessante  Vorgeschichte  der  Ein- 
führung des  Burlibindertarifes  und  tler  Abdruck  desselben.  Hieran 
schliefst  sich  eine  Darstellung  der  Lohnbewegungen  des  Verbandes,  eine 
l'ebersicht  über  die  Unterstiit/ungsleistungcn  desselben,  eine  Reihe  Er- 
hebungen der  Organisation  sowie  endlich  schön  gegliedert  ein  Rechen- 
schaftsbericht  über  die  Thätigkcit  des  Vorstandes  und  des  Verbandes. 


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Neue  Lilteratur  von  und  über  (jewirksch-illun. 


Bieten  die  Rechenschaftsberichte  der  Zentral  verstände  dei  (icvverk- 
schaften  einen  Veberblick  über  die  Leistungen  der  Organisationen  in  ihrer 
Gesamtheit,  so  kommen  doch  viele  feine  Züge  ans  dem  Wirken  der  Gewerk- 
schaften dabei  nicht  in  Erscheinung.  Oie  grofsen  Leistungen  der  Organi- 
sationen in  ihren  einzelnen  Zahlstellen , sind  daraus  nicht  zu  erkennen. 
Von  den  lokalen  Verwaltungsstellen  hör  t man  nur,  was  sie  finanziell  geleistet 
haben,  falls  kein  Streik  oder  sonstige  Differenzen  bei  ihnen  vorgekomtnen 
sind.  Des^o  erfreulicher  ist  es,  dafs,  wenn  auch  nur  ganz  vereinzelt, 
auch  grofsere  Verwaltungsstellen  beginnen,  Jahresberichte  herauszugeben. 
So  enthält  der  Jahresbericht  der  Zahlsteile  Stuttgart  des  deutschen  Holz- 
arbeiterverbandes  (6|  interessante  Mitteilungen  über  die  Vereinbarungen 
und  Tarife,  die  als  Ergebnis  des  grofsen  Stuttgarter  Schreinerstrikes 
zwischen  den  Organisationen  der  Mobeifabrikanten  und  der  Holzarbeiter 
abgeschlossen  wurden  und  über  die  Bemühungen  und  Kämpfe  diese  Ab- 
machungen in  Kraft  zu  erhalten.  Im  Zusammenhänge  damit  wurden 
interessante  Erhebungen  über  die  Einwirkung  des  Akkordlohns)- temes  auf 
das  Einkommen  der  Arbeiter  gemacht,  dabei  auf  einem  freilich  nicht  um- 
fangreichen Materiale  fufsend  fcslgcsiellt,  dafs  die  Arbeiter  in  nicht  wenigen 
hallen  im  Stücklöhne  weniger  verdienten  als  im  Zeitlöhne.  Für  das 
innere  Leben  der  Gewerkschaften  ist  die  Uebersicht  der  Vorträge  lehr- 
reich, die  in  den  Zahlstcllenversammlungen  und  in  den  beruflich  ge- 
schiedenen Sektionen  gehalten  wurden.  Im  ganzen  sind  es  2 ; Vorträge, 
von  denen  wir  einige  nennen  wollen:  „Ferdinand  Lassalle",  „Die  Auf- 
gaben der  Gewerkschaften“,  „Der  Arbeitsvertrag",  „Die  gegenwärtige 
Wirtschaftslage",  „Die  Arbeitszeitverkürzung,  eine  Forderung  der  Kultur“, 
„Der  Wert  der  Statistik“,  „Das  Resultat  der  statistischen  Erhebung  im 
Stuttgarter  Drechslergewerbe“,  „Die  Pariser  Weltausstellung“,  „Afrika  und 
seine  Kolonien",  „Die  Pflege  der  Zähne“,  „Die  Volksschule“,  „Friedrich 
List , der  süddeutsche  Nationalbkonom“,  „Die  Verbreitung  und  Ver- 
wendung einiger  wichtiger  Kulturpflanzen  im  Altertum  und  in  der 
Neuzeit".  Man  sieht  hieraus,  dafs  nicht  nur  die  der  Gewerkschaft 
nächstiiegenden  Gegenstände  sondern  auch  Themen  aus  dem  Ge- 
biete der  allgemeinen  Bildung  besprochen  werden.  Ferner  findet 
man  in  dem  Berichten  eine  Uebersicht  über  die  Leistungen  der 
Organisation,  über  ihre  Kasscnverhältnisse,  über  die  Vorgänge  in  den 
einzelnen  Sektionen,  über  besondere  Differenzen  mit  einzelnen  Unter- 
nehmern. Den  Schlnfs  des  Schriftchens  bildet  die  Kritik  einer  Reihe 
von  Stellen  aus  dem  Jahresberichte  der  Handels-  und  Gewerbekammer 
in  Stuttgart  für  1S99,  soweit  sic  die  Holzindustrie  betreffen.  Die  Lokal- 
kassc  schliefst  mit  einer  Einnahme  von  13234  Mk.  65  Pf.,  eine  be- 
merkenswert hohe  Summe,  da  am  1.  Januar  1900  infolge  der  voran- 
gegangenen Strikebewegung  kein  Kasseubestand , ja  im  Gegenteil  ein 
Defizit  vorhanden  war.  Von  dieser  Einnahme  waren  blofs  5497  Mk. 
85  Pf.  der  Anteil  der  Zahlstelle  an  den  Vcrbandseinnahmen  für  Stutt- 


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254 


Littcratiir. 


gart,  somit  der  überwiegende  Teil  der  Einnahman  besondere  Leistungen, 
die  aus  der  Abrechnung  des  Verbandes  und  der  Generalkommission 
nicht  zu  erkennen  sind.  Die  Ausgaben  betrugen  7907  Mk.  20  Pf.  so 
dafs  am  t.  Januar  1901  5327  Mk.  45  Pf.  zur  Verfügung  der  Lokalver- 
waltung  blieben.  Wir  würden  wünschen,  dafs  in  einem  späteren  Jahres- 
berichte auch  die  Art  und  Stärke  der  Benutzung  der  Bibliothek  durch 
die  Mitglieder  und  ihre  Teilnahme  an  den  Hochschulkursen  erwähnt 
würde.  ^ 

Als  ein  umfangreiches  Buch  stellt  sich  uns  das  Protokoll  der 
V.  Generalversammlung  des  deutschen  Metallarbciterverbandes  dar  (7). 
Dasselbe  wird  zu  dem  Preise  von  10  Pf.  an  die  Mitglieder  abge- 
geben. Bei  dem  grofsen  Umfange  dieser  Veröffentlichung  ist  der  Mangel 
an  Uebersichtlichkeit  zu  bedauern.  Eis  würde  sich  sehr  empfehlen,  so 
dickleibige  Gewerkschaftsprotokolle  etwa  nach  dem  Muster  der  Proto- 
kolle über  die  Parteitage  der  sozialdemokratischen  Partei  zu  veröffent- 
lichen, die  neben  Sprechregistem  auch  Sachregister  enthalten  und  aufser- 
dern  über  jeder  einzelnen  Seite  de»  Inhalt  derselben  setzen.  Die 
Generalversammlungen  erörtern  in  der  Regel  fast  alles,  was  das  Gewerk- 
schaftsleben anlangt.  Man  kann  deshalb  aus  ihnen  sehr  viele  Belehrung 
erhalten,  wenn  sie  freilich  auch  nicht  geeignet  sind,  als  Spiegelbild  des 
Lebens  innerhalb  der  Gewerkschaften  selbst  zu  erscheinen.  Da  uns  aber 
eine  Littcratiir  dieser  Art  völlig  abgeht,  so  werden  noch  auf  lange  Zeit 
hinaus  die  Berichte  der  Gewerkschaftskongresse  als  wichtigstes  Surrogat 
zu  betrachten  sein.  Einen  grofsen  Teil  des  Protokolls  nimmt  der  Be- 
richt des  Vorstandes  ein,  dessen  wir  schon  Erwähnung  gethan  haben. 
Ihm  sind  voran  geschickt  die  Anträge  zur  Generalversammlung,  die 
nicht  weniger  als  21  Seiten  umfassen,  und  deren  stattliche  Zahl  von  233 
einen  Riickschlufs  auf  die  Selbständigkeit  und  das  geistige  Leben  in 
den  Mitgliedschaften  ermöglicht.  Wir  können  selbstverständlich  nur  an 
Beispielen  dies  begründen.  So  wird  in  den  Anträgen  zur  Tagesordnung 
u.  a.  die  Besprechung  der  Fabrik-  und  Gewerbeinspektion,  der  Wahl  von 
Assistenten  zur  Gewerbeinspektion  durch  die  Arbeiter,  der  Zollpolitik, 
der  sozialpolitischen  Aufgaben  des  Verbandes  gefordert.  1 1 Anträge 
beziehen  sich  auf  den  Ausbau  der  Metallarbeiterzeitung,  18  auf  die 
Agitation,  8 auf  die  Taktik,  12  auf  die  Aenderung  des  Unterstützungs- 
wesens, wozu  noch  7 gehören,  die  die  Frage  des  Umzugsgeldes  genau 
geregelt  wissen  wollen.  75  weitere  Anträge  zu  bestimmten  Paragraphen 
des  Statuts  gestellt,  empfehlen  andere  Fassungen  der  Unterstützungs- 
bestimmungen. F.ine  ganze  Reihe  weiterer  Anträge  war  veranlafst  durch 
das  Bestreben  den  Beamten  des  Verbandes  im  Falle  der  Invalidität 
Pensionen  zu  sichern.  Weitere  Anträge  erstrebten  die  V'ornahine  von 
statistischen  und  anderen  Erhebungen  durch  den  Verband,  die  Errichtung 
eines  Verbandsarchivs  mit  Registratur,  Anregungen,  eine  Geschichte  des 
Metallarbciterverbandes  vorzubereiten  und  zu  schreiben  etc.  Aus  dem 


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Neue  Litteratur  von  und  über  Gewerkschaften. 


255 


Rechenschaftsberichte  können  wir  nur  die  interessante  Berufsstatistik  des 
Verbandes,  die  Tabellen  Uber  die  Agitationskosten,  über  die  starke 
Fluktuation  der  Mitglieder,  über  das  bezahlte  Reisegeld  hervorheben, 
das  wieder  berufsstatistisch  geordnet  ist,  was  auch  für  die  Statistik,  ülrer 
die  anderen  bezahlten  Unterstützungen  gilt.  Eine  weitere  Tabelle  giebt 
Rechenschaft  über  den  Rechtsschutz.  Hierauf  folgt  eine  Berichterstattung 
sehr  interessanter  Art  über  die  Metallarbeiterstrikes  im  Jahre  1899  und 
1900,  über  die  Beziehungen  zu  den  anderen  Arbeiterorganisationen  auf 
nationalem  wie  internationalen  Boden,  die  Arbeitsnachweise  werden  erörtert 
und  endlich  der  Rechnungsabschiufs  gegeben,  der  zeigt,  dafs  dieser  Ver- 
band iin  Jahre  1900  allein  an  Mitgliedsbeiträgen  1 145683  Mk.  80  Pf. 
eingenommen  hat.  Die  Ausgaben  des  Verbandes  in  diesem  Jahre  be- 
trugen 1 007  776  Mk.  52  Pf.  Auf  die  Verhandlungen  selbst  cinzugehen, 
würde  über  den  Rahmen  dieser  Uebersicht  gehen.  Erwähnt  sei  nur,  das 
vortreffliche  Referat  des  aus  dem  Metallarbeiterberufe  hervorgegangenen 
Nürnberger  Arbeitersekretärs  Reichstags-  und  Uandtagsabgeordneten  Martin 
Segitz  über  die  Agitation  der  Gewerkschaften,  das  als  besondere  Schrift  (8) 
in  einer  Auflage  von  50000  Exemplaren  zur  Verteilung  an  die  Mitglieder 
gedruckt  wurde.  Den  Schlufs  des  Protokolles  bildet  das  auf  der  General- 
versammlung stark  veränderte  Statut  des  deutschen  Metailarbeitervev- 
bandes,  das  gleichfalls  in  einer  besonderen  Ausgabe  erschienen  ist  und 
jedem  Mitgliede  zugestellt  wurde. 

Obgleich  lediglich  praktischen  Verwaltungszwecken  der  Zimmerer- 
gewerkschaft gewidmet,  hat  die  Schrift  von  Bringmann  (9)  sehr  grofse 
Bedeutung  für  jedermann , der  sich  über  Werden  und  Wirken  der 
Zahlstellen  der  deutschen  Zentralverbände  informieren  will.  In  der 
Vorrede  zur  Schrift  findet  sich  der  folgende  Satz:  „Das  gewerkschaft- 
liche Leben  ist  soweit  gediehen , dafs  zu  einem  erfolgreichen  Ein- 
greifen in  dasselbe  bestimmte  Vorkenntnisse  gehören,  deren  Erwerb 
bei  der  bisherigen  Sachlage  nicht  einfach  war.  Die  immense  Fluktuation 
in  der  Gewerkschaftsbewegung  läfst  die  gemachten  Erfahrungen  zum 
gröfsten  Teil  immer  wieder  verloren  gehen,  solange  die  l'eberlieferung 
auf  die  mündliche  Uebertragung  von  Person  zu  Person  angewiesen  ist.“ 
„Das  Büchlein  bietet  mehr  als  nur  einfache  Anweisungen;  es  giebt  die 
Mittel  an  die  Hand,  sich  im  gewerkschaftlichen  Leben  zurechtzufinden, 
um  bei  den  verschiedensten  Vorkommnissen  die  erforderlichen  praktischen 
Mafsnahmcn  treffen  zu  können.“  Das  Buch  gründet  sich  auf  die  ge- 
machten Erfahrungen  in  der  Organisation,  ist  aus  dem  I.eben,  für 
das  Leben  geschrieben.  Es  ist  somit  nicht  blofs  eine  Anleitung  über 
die  Art,  wie  künftig  im  Zinunererverbande  gearbeitet  werden  soll,  es 
zeigt  nicht  minder,  wie  bisher  der  Zimracrerverband  sich  entwickelte. 
Da  die  Schrift  praktischen  Zwecken  dient,  ist  sie  selbstverständlich 
lediglich  von  diesem  Gesichtspunkte  aus  geschrieben,  sie  enthält  so 
manches  nicht,  worüber  sich  derjenige  unterrichten  will,  der  das  innere 


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Litternlur. 


256 

Leben  der  Gewerkschaften  zu  studieren  beabsichtigt.  Ist  sie  nach  dieser 
Richtung  nicht  vollkommen,'  so  enthält  sie  doch  für  diese  Zwecke  aufser- 
ordentlich  Vieles.  Ueber  Anbahnung  und  Gründung  der  Ycrbandszahl- 
stcllen  über  die  Leitung  und  F.rhaltung  derselben,  wie  die  Lohn- 
bewegungen angeregt  und  zu  Knde  geführt  werden  sollen,  bietet  die 
Schrift  sehr  viel  Material  und  so  manchen  Aufschluß  der  vielen  neu 
sein  wird,  die  bisher  über  die  Gewerkschaften  mündlich  und  schriftlich 
geurteilt  haben.  Man  lernt  auch  aus  dieser  Schrift,  dafs  die  Gewerk- 
schaften nicht  so  einfache  Organismen  sind,  wie  ihr  Fernstehende  oft 
vermuten,  und  erhält  auch  aus  dieser  Arbeit  eines  der  Leiter  der  Ge- 
werkschaften ein  Urteil  über  die  geistigen  Kräfte,  die  in  denselben 
wirken.  Wir  bemerken  nur,  dafs  ähnliche  Schriften  von  anderen  deutschen 
Gewerkschaften  vorangegangen  sind,  so  vom  Metallarbeiter-  und  Holz- 
arbeiterverband, vom  Unterstützungsverein  der  Kupferschmiede  etc.,  die 
z.  T.  noch  interessanter  sind,  weil  der  Zimmererverband  ein  weniger 
ausgebildetes  Unterstützungswesen  hat  als  z.  B.  der  Metallarbeiterverband. 

Für  das  Jahr  1000  hatte  der  deutsche  Holzarbeiterverband  zum 
erstenmal  einen  Almanach  für  seine  Mitglieder  herausgegeben.  Dieser 
Kalender  erscheint  nun  im  dritten  Jahre  und  für  das  Jahr  1902  sind 
eine  Reihe  weiterer  Kalender  für  andere  Berufe  zum  crstenmale  er- 
schienen. Diese  Kalender  sind  auch  für  die  aufserhalb  des  Berufes 
Stehenden  nicht  ohne  Interesse.  Sic  werden  zuin  Teil  zu  Quellen  für 
die  Geschichte  der  deutschen  Gewerkschaften.  Die  drei  Almanache  des 
deutschen  Holzarbeitervcrbandcs  enthalten  eine  ganze  Reihe  sonst  nicht 
käuflicher  Materialien,  so  Statuten,  Strikereglements  und  andere  Ver- 
öffentlichungen für  die  Vcrwaltungszwecke  des  Verbandes,  dafs  sie  schon 
dadurch  zu  wichtigen  Informationsquellen  über  die  deutsche  Gewerk- 
schaftsbewegung werden.  Der  Jahrgang  für  das  Jahr  1892  (10)  ist  da- 
durch bedeutungsvoll,  dafs  er  eine  ganze  Reihe  Materialien  zur  Ge- 
schichte der  Holzarbeitcrorganisationen  beibringt,  so  eine  Biographie  des 
Tischlers  Theodor  York,  des  hervorragendsten  Gewerkschaftsorganisators 
in  der  Zeit  vor  Verhängung  des  Sozialistengesetzes,  dann  finden  wir  einen 
Abrifs  über  die  internationalen  Kongresse  der  Holzarbeiter  und  über 
die  10  Jahre  1885  - 1893,  in  denen  der  Tischlerverband,  der  Vorläufer 
des  Holzarbeiterverbandes  existierte.  Die  Mitglieder  des  Verbandes  er- 
halten aus  dem  Kalender  auch  sonst  noch  mannigfache  Belehrung,  nicht 
nur  über  die  V erhältnisse  in  der  eigenen  Organisation,  über  die  Pflichten 
und  Rechte  der  Mitglieder,  über  die  finanziellen  Verhältnisse  des  Ver- 
bandes, sondern  auch  ein  kleines  Lexikon  des  gewerblichen  Rechtes, 
Informationen  über  die  Arbeiterversicherungsgesetze,  technische  Notizen 
neben  dem  sonst  üblichen  Kalendermateriale. 

Die  drei  anderen  oben  genannten  Kalender  haben  neben  dem 
Kalendermaterial  gemeinsam  einen  Abrifs  über  die  neuen  Arbeiterschutz- 
bestimmungen, über  das  Unfallliirsorgegesetz,  statistische  und  andere  bc- 


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Neue  Littcralur  von  und  über  Gewerkschaften  -57 

lehrende  Artikel  über  die  Arbeiterbewegung,  über  Reichstag  und  Bundes- 
rat , Adressenrnaterialien , auch  eine  Zusammenstellung  der  Adressen 
der  deutschen  Gewerbeins|>ektoren , dann  alter  jeder  Kalender  den 
speziellen  Beruf  betreffende  Beiträge.  Aus  dem  Kalender  des  Metallarlteiter- 
verbandes  (11)  ist  hervorzuhelren , ein  geschichtlicher  Abrifs  über  die 
deutsche  Metallarbeiterbewegung,  das  Gleiche  enthält  auch  der  Kalender 
lür  die  Berg-  und  Hüttenarbeiter  (12),  der  auch  eine  Reihe  Informationen 
über  die  gesetzlichen  Bestimmungen,  über  Bergämter  und  Berginspektoren 
eine  Uebersicht  derselben  sowie  auch  über  die  Berggewerbegerichte,  die 
Knappschaftsberufungsgenossenschaft,  die  berg-  und  hüttenmännischen 
Lehranstalten  enthält.  Von  liesonderem  Interesse  wird  für  diejenigen, 
die  den  tarifarischen  Abmachungen  innerhalb  der  Gewerkschaftsbewegung 
Aufmerksamkeit  schenken,  der  Malerkalender  (13)  sein,  der  zwar  nicht 
vollständiges  aber  doch  reichliches  und  gut  informierendes  Material  über 
die  Lohn-  und  Arbeitsverträge  enthält,  die  zwischen  der  Arbeiterorganisation 
und  den  Innungen  sowie  I-ohnkommissionen  der  Unternehmer  geschlossen 
wurden.  Hieran  schliefst  sich  eine  Nachweisung  über  die  Erhöhung  des 
Stundenlohnes  und  des  Tagesverdienstes,  sowie  eine  Uebersicht  über  die 
Verkürzung  der  Arbeitszeit  infolge  der  Lohnbewegung  in  den  Jahren 
1 890 — 1900.  So  scheinen  die  Jahresberichte  der  Gewerkschaften  er- 
gänzt zu  werden  durch  die  Almanache  und  Kalender. 

Die  Differenzen  zwischen  der  sozialdemokratischen  Partei  und  einem 
Teil  der  Gewerkschaften  über  die  Behandlung  der  Hamburger  Akkord- 
maurer, die  auf  dem  Lübecker  Parteitage  von  1901  ihre  Erledigung  ge- 
funden hatten,  zeitigten  eine  kleine  Litteratur.  Ein  grofser  Teil  (S.  205 
bis  259)  des  Protokolles  des  Parteitages  der  sozialdemokratischen 
Partei  zu  Lübeck  wird  von  diesen  Verhandlungen  ausgefüllt.  Vorher 
erschienen  zwei  Schriften,  von  denen  eine  den  Standpunkt  des  Hamburger 
Gewerkschaftskartells  (14)  darlegt,  während  die  andere  die  Aktenstücke 
über  den  Schiedsspruch  und  einige  Prefsäufserungen  enthält  15).  Blofs 
als  Formen  der  Litteratur  über  die  Gewerkschaften  seien  diese  Schriften 
auch  an  dieser  Stelle  angeführt. 

Die  Schrift  von  G.  Wollmann,  der  Kampf  um  das  Vermögen,  des 
Verbandes  der  Porzellan-  und  verwandten  Arbeiter  (161  bespricht  einen 
aufserordentlichen  interessanten  Prozefs  um  das  Vermögen  des  Porzellan- 
arbeiterverbandes, das  als  Depositum  bei  der  Reichsbank  hinterlegt  war, 
aber  wegen  des  Todes  des  früheren  Kassierers  nicht  behoben  werden 
konnte.  So  wenig  erfreulich  der  Inhalt  dieser  Schrift  ist,  so  ist  sie  doch 
bemerkenswert,  weil  sie  die  Schwierigkeiten  zeigt,  in  die  die  Gewerk- 
schaften liei  ihrer  Vermögensverwaltung  kommen  können.  Jedenfalls 
ist  die  Kenntnis  dieser  Schrift  für  alle  Gewerkschaften  erforderlich,  da- 
mit sie  sich  den  geschilderten  Gefahren  nicht  aussetzen.  Dieser  Prozefs 
wäre  nie  nötig  gewesen,  wenn  die  Gewerkschaften  ihre  Goldbestände 
unter  eigenem  Namen  anlegen  könnten.  Da  aber  heute  als  Deponenten 

Archiv  für  %oi.  Geiet/gebung  u.  Statistik.  XVII.  17 


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258 


Litteratur. 


immer  Personen  vorgeschoben  werden  müssen,  so  ist  der  Besitz  der 
Arbeiterorganisationen  Zufälligkeiten  ausgesetzt.  In  England  hat  dieser 
Mifsstand  längst  zur  civilrechtlichen  Anerkennung  der  Gewerkschaften 
geführt.  Auf  Grund  des  B.G.B.  ist  dies  im  deutschen  Reiche  wohl  auch 
möglich,  aber  mit  so  vielen  Gefahren  für  den  Bestand  der  Gewerk- 
schaften verknüpft,  dafs  keine  einzige  von  den  Vorteilen  des  Gesetzes 
Gebrauch  machte. 

Ein  lebhaftes  Interesse  widmen  die  Bauarbeiter  den  speziellen  Fragen 
des  Bauarbeiterschutzes.  In  fast  allen  Landesteilen  haben  sie  Landes- 
oder provinziale  Bauarbeiter -Schutz-Kommissionen  gegründet,  aufscrdem 
an  vielen  Orten  lokale  Kommissionen  dieser  Art,  die  alle  Mängel  der  Bau- 
ausführung, die  Ursachen  der  Unfälle  u.  dgl.  festzustellen  suchen,  überaus 
eifrig  Eingaben  an  die  Behörden  richten  zur  Abstellung  der  Mängel  und 
zur  Verbesserung  der  Bauvorschriften  und  Unfallverhütungsvorschriften  und 
Aehnlichem.  Aber  nicht  nur  hierauf  richtet  sich  ihre  Thätigkeit,  sondern 
auch  auf  die  Belehrung  ihrer  Mitglieder  über  das  bestehende  Recht  auf 
diesem  Gebiete.  Eine  ganze  kleine  Litteratur  hat  dieses  Streben 
gezeitigt.  Mit  dem  Beispiele  vorangegangen  ist  der  Töpfer  C.  Hcinke 
(nunmehr  Sekretär  der  zentralen  Bauarbeiter-Schutz-Kommission  für  das 
deutsche  Reich  in  Hamburg),  der  ein  kleines  Büchelchen  „Der  bau- 
gewerbliche Arbeiterschutz  im  Königreiche  Sachsen“  erscheinen  liefs,  das 
blofs  5 Pf.  kostete  und  alles  Zweckdienliche  enthielt. 

Die  neue  Schrift  über  den  Bauarbeiterschutz  in  Sachsen  (17)  bespricht 
in  einer  Einleitung  die  Bedeutung  dieses  Zweiges  des  Arbeiterschutzes, 
sie  stellt  als  Forderungen  für  den  Erlafs  eines  Arbeiterschutzgesetzes 
im  Baugewerbe  durch  die  Rcichsregierung : ein  Baugewerbeinspektorat 
unter  gleichberechtigter  Mitwirkung  der  Arbeiter,  eine  Reform  des 
Unfallversicherungsgesetzes,  wodurch  gleichberechtigte  Mitwirkung  der 
Arbeiter  in  der  Verwaltung  der  Baugewerksberufsgenossenschaften  wie 
UeberWachung  der  Betriebe  sichergestellt  wird,  auf.  In  besonderen  Ab- 
schnitten werden  dann  unter  Anführung  der  Gesetzestexte  behandelt : Der 
baugewerbliche  Arbeiterschutz  der  Gewerbeordnung  für  das  deutsche 
Reich,  der  baugewerbliche  Arbeiterschutz  des  Strafgesetzes,  Schutzmafs- 
regeln  aus  dem  sächsischen  Baugesetze,  die  Verordnung  für  die  Städte 
Dresden  und  Leipzig,  den  Arbeiterschutz  auf  Bauten  betreffend,  ferner 
eine  Uebersicht  über  die  Bauarbeiterschutzbestimmungen  in  anderen 
Städten  und  Amtshauptmannschaften,  die  überaus  interessant  ist,  weil  sie 
die  Verschiedenheit  der  Anforderungen  in  verschiedenen  Teilen  des 
gleichen  Bundesstaates  recht  klar  veranschaulicht.  Hierauf  folgen  die 
Forderungen  der  Arbeiter,  bezüglich  einer  Aenderung  der  Unfallverhütungs- 
Vorschriften  im  Baugewerbe.  Dann  wird  auf  die  Bedeutung  der  Bau- 
kontrollen durch  die  organisierten  Arbeiter  hingewiesen  und  ein  For- 
mular für  die  Erstattung  von  Anzeigen  angefügt.  Weiter  finden  sich  in 
dem  Buchelchen  praktische  Winke  zur  Erhebung  von  Ansprüchen  auf 


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Neue  Litteratur  von  und  über  Gewerkschaften. 


259 


Krankengeld  oder  Unfallrente,  eine  Reihe  von  Bestimmungen  aus  dem 
Invaliditäts-  und  Altersvcrsicherungsgesetz,  ein  Formular  für  eine  Steuer- 
reklamation, eine  Hilfstafel  zur  Berechnung  der  Einkommensteuersätze, 
endlich  ein  Adressenverzeichnis.  Und  all  dies  wird  dem  Arbeiter  von 
seiner  Organisation  für  den  Preis  von  5 Pf.  geliefert.  Die  Bedeutung 
dieses  Schriftchens  besteht  aber  nicht  nur  in  ihrem  Inhalte,  sie  gewährt 
auch  einen  Rückschlufs  auf  eine  bedeutungsvolle  Seite  der  gewerkschaft- 
lichen Bethätigung  der  Bauarbeiter. 

Ein  weiteres  Schriftchen  auf  diesem  Gebiete  ist  „Der  Bauarbeiter- 
schutz in  Bayern“  (18).  Dasselbe  enthält  zwei  einleitende  Aufsätze  über 
die  Gefahren  im  Baugewerbe  und  die  Notwendigkeit  des  Bauarbeiter- 
schutzes, dann  die  bezüglichen  reichsgesetzlichen  Bestimmungen  aus  dem 
Strafgesetzbuche,  dem  Bürgerlichen  Gesetzbuche  und  der  Gewerbeordnung, 
sowie  eine  Uebersicht  über  den  Inhalt  der  Unfallversicherungsgesetze, 
hieran  schliefsen  sich  die  landesgesetzlichen  Bestimmungen  und  zwar  ein 
Auszug  aus  dem  Polizeistrafgesetzbuch  für  Bayern,  aus  der  Bauordnung, 
dann  im  vollen  Wortlaute  die  oberpolizeilichen  Vorschriften  des  Staats- 
ministeriums des  Innern  zum  Schutze  der  bei  Bauten  beschäftigten  Per- 
sonen und  die  Unfallverhütungsvorschriften  der  bayerischen  Baugewerks- 
berufsgenossenschaft.  Als  Anhang  ist  eine  Anleitung  zur  ersten  Hilfe- 
leistung bei  Unfällen  vor  Ankunft  des  Arztes  angefügt.  Den  Schlufs 
bildet  die  Aufforderung,  alle  Unfallsgefahren  und  Unfälle  den  lokalen 
Bauarbeiterschutzkommissionen  zur  Anzeige  zu  bringen.  Dafs  solche 
Schriftchen  in  kurzer  Zeit,  trotzdem  sie  in  mehreren  tausend  Exemplaren 
gedruckt  werden  und  ihren  Verbreitungsbezirk  nur  in  kleinen  Teilen 
des  Reiches  haben,  Neuauflagen  erleben,  spricht  nicht  nur  für  ihre  Not- 
wendigkeit, sondern  auch  für  das  gesunde  Interesse  der  Arbeiter  an  den 
Bestrebungen  zur  Herbeiführung  eines  ausreichenden  Bauarbeiterschutzes. 
Es  darf  nicht  verkannt  werden,  dafs  in  Hinsicht  auf  den  Bauarbeiter- 
schutz eine  Reihe  von  Fortschritten  in  den  letzten  Jahren  zu  verzeichnen 
sind,  so  vor  allem  in  Sachsen  und  Bayern,  die  nicht  in  letzter  Linie  der 
ständigen  Beschäftigung  der  baugewerblichen  Arbeiter  mit  diesen  Fragen 
zu  danken  sind.  Die  intensive  Agitation  der  Organisationen  und 
der  Presse  der  Bauarbeiter  läfst  weitere  Fortschritte  auf  diesem  Gebiete 
erhoffen. 

Als  eine  neue  Form  der  Bethätigung  der  deutschen  Gewerkschaften 
sind  die  Denkschriften  an  den  Reichstag  und  Bundesrat  über  die  Arbeits- 
verhältnisse eines  Gewerlres  zu  nennen.  Den  Anfang  machte  die  Schrift 
des  Reichstagsabgeordneten  Rieh.  Calwer  über  die  Berufsgefahren  der 
Steinarbeiter,  cs  ist  mm  eine  zweite  gefolgt,  welche  von  neuem  die 
Aufmerksamkeit  auf  die  traurigen  Verhältnisse  in  der  Konfektions- 
industrie (19)  lenken  soll.  Die  Schrift  erörtert  auf  Grund  amtlichen 
und  nichtamtlichen  Materiales  zum  Teil  auch  auf  Grund  von  Er- 
hebungen  des  Schneider-Verbandes  die  Arbeits-  und  Lebcnsverhält- 

‘7* 


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2ÖO 


Littcratur. 


nisse  in  der  deutschen  Konfektionsindustrie.  Hieran  schliefst  sich  ein 
Abschnitt  über  den  Arbeiterschutz  in  Hausindustrie  und  Heimarbeit 
im  Ausland,  dann  ein  geschichtlicher  Abrifs  über  die  Bestrebungen  der 
organisierten  Schneider  im  Interesse  der  Konfektionsarbeiter,  eine  histo- 
rische Darstellung  der  deutschen  Gesetzgebung  zur  Aenderung  der  Lage 
der  Konfektionsarbeiter  und  endlich  eine  Zusammenfassung  der  Forde- 
rungen der  Schneider  an  die  Gesetzgebung. 

Der  Kntwurf  eines  Gesetzes  zum  Schutze  der  Arbeitswilligen  hat  in 
Lübeck  in  einem  wesentlichen  Punkte  für  kurze  Zeit  Gesetzeskraft  er- 
langt durch  eine  Senatsverordnung  über  das  Streikpostenstehen,  deren 
Rechtsgiiltigkeit  sofort  in  Zweifel  gezogen  wurde.  Diese  Auffassung  be- 
stätigte das  Reichsgericht.  Vorher  behandelte  der  Reichstag  in  seiner 
208.  Sitzung  vom  11.  Juli  1900  diesen  Gegenstand  aus  Anlafs  einer 
Interpellation  der  Abgeordneten  Albrecht  und  Genossen.  Die  Verhand- 
lungen des  Reichstages  und  die  im  Anschlüsse  daran  stattfindenden  der 
Bürgerschaft  von  Bremen  vom  25.  Juli  tooo  wurden  im  stenographischen 
Wortlaute  von  den  Lübecker  Arbeiterorganisationen  (20)  veröffentlicht 
und  in  einer  grofsen  Auflage  verbreitet.  Eine  Besprechung  dieser  Schrift 
erübrigt  sich,  es  genügt,  sie  auch  als  eine  charakteristische  Erscheinung 
der  deutschen  Gewerkschaftslitte ratur  hier  anzuführen. 

Die  deutschen  Gewerkschaftsorganisationen  haben  schon  manchen 
Beitrag  zur  Sozialstatistik  geliefert.  Ueber  ihren  engen  Kreis  ist  aber 
selten  von  diesen  I.eistungen  Kunde  gekommen.  Ein  beachtenswertes 
Beispiel  dieser  Litteratur  ist  die  Erhebung  über  die  wirschaftliche  Lage 
der  Arbeiter  Hanaus  <; 2 1 ).  Sie  zeichnet  sich  vorteilhaft  vor  voran- 

gegangenen Arbeiten  schon  dadurch  aus,  dafs  zwischen  der  Aufnahme 
und  der  Veröffentlichung  der  Resultate  blofs  wenige  Monate  verstrichen 
waren.  Ebenso  sticht  sie  vorteilhaft  vor  vorangegangenen  Arbeiten  da- 
durch ab,  dafs  sie  sich  auf  wenige  und  einfache  Kragen  beschränkt. 
Der  Fiagebogen  ist  auf  Seite  87  abgedruckt,  wir  haben  an  ihm  mit 
Rücksicht  auf  die  Zwecke,  denen  er  dienen  soll,  blofs  die  mangelhafte 
typographische  Gliederung  zu  bemängeln.  Dem  F'ragebogen  geht  ein 
Aufruf  voran,  in  dem  die  Arbeiter  und  Arbeiterinnen  aufgefordert  werden, 
die  Fragen  gewissenhaft  zu  beantworten,  es  wird  weiter  betont,  dafs  die 
Statistik  wahr  sein  mufs,  dafs  deshalb  jeder  seine  Angaben  durchaus 
wahrheitsgemäfs  zu  machen  habe.  Bedauerlich  ist,  dafs  der  Fehler  einer 
früheren  grofseren  Erhebung  ähnlicher  Art  wiederholt  wurde,  indem  man 
auf  die  Benennung  der  befragten  Personen  verzichtete.  Mag  es  sein, 
dafs  die  daraus  entstehende  Gefahr  falscher  Angaben  nicht  zu  grofs  ist, 
jedenfalls  begiebt  man  sich  damit  der  Möglichkeit  jeder  Kontrolle  und 
setzt  den  Wert  der  Erhebung  bedeutend  herab.  F'ür  die  vorliegende 
Erhebung  hat  sich  diese  „Vorsichtsmafsregel“  als  unnötig  herausgestellt, 
denn  zahlreiche  Personen  haben  sich  die  Fragebogen  von  der  „statistischen 
Kommission  des  Gewerkschaftskartells  Hanau“  ausfüllen  lassen. 


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Neue  I.itteratur  von  und  (Iber  Gvwerkscliaftcn.  26 1 

Was  nun  die  Resultate  der  Erhebung  anlangt,  so  zeigen  sich  viel- 
fach Mängel  darin,  dafs  manche  an  sich  sehr  einfache  Fragen  von  vielen 
Arbeitern  nicht  beantwortet  wurden,  so  vornehmlich  von  den  Arbeite- 
rinnen die  Frage  nach  dem  Preise  der  Schlafstellen.  Die  Beteiligung  der 
Arbeiterinnen  (177)  blieb  weit  hinter  der  der  Arbeiter  (2205)  zurück.  Es 
finden  sich  die  Verhältnisse  der  Arbeiter  in  34  Berufen,  wobei  vielfach 
die  Verhältnisse  der  Gelernten  und  der  Ungelernten  geschieden  wurden, 
geschildert.  Auch  die  I-agc  der  Frauen  wird  bei  jedem  der  vier 
Berufe,  über  die  Angaben  von  ihnen  vorliegen,  besonders  dargestellt. 
Die  Gesamtresultate  werden  für  die  Arbeiter  wie  für  die  Arbeiterinnen 
besonders  zusatnmengefafst.  Wir  heben  aus  diesen  Abschnitten  besonders 
hervor,  das  Kapitel  über  die  Mitarbeit  der  Frau,  über  die  Arbeitszeit 
und  die  Zimmermiete  der  Ledigen.  Die  Arbeit  ist  nicht  nur  interessant 
als  ein  Beispiel  statistischer  Erhebungen  durch  die  Gewerkschaften, 
sondern  auch  die  Resultate  sind  beachtenswert  und  in  der  sozialpoliti- 
schen Diskussion  verwertbar.  Bedauerlich  ist  bei  dem  regen  Eifer  der 
Arbeiterorganisationen  für  statistische  Erhebungen,  dafs  sie  nicht  immer 
so  einfach  vorbereitet  und  gut  ausgeführt  werden,  wie  die  vorliegende, 
und  dafs  eine  Einheitlichkeit  und  damit  eine  Vergleichbarkeit  der  Re- 
sultate verschiedener  Erhebungen  meist  nicht  vorhanden  ist. 

Die  Statistik  der  Hirsch-Dunckcrschen  Gewerkvereine  erschien  in 
diesem  Jahre  zum  17.  Male.  An  Umfang  und  an  Zahl  der  Bericht- 
erstatter hat  sie  unzweifelhaft  im  laufe  der  Jahre  gewonnen,  aber  an 
dem  Urteile  der  Kritik  kann  sich  wenig  ändern.  Auf  den  ersten  An- 
blick besticht  die  Arbeiterstatistik  der  deutschen  Gewerkvereine , bei 
näherem  Zusehen  fühlt  man  sich  aber  immer  enttäuscht.  Sicherlich 
wäre  es  eine  aufserordentliche  Leistung,  wenn  wir  aus  ca.  500  Orten  im 
deutschen  Reiche  Auskünfte  über  den  durchschnittlichen  Wochenlohn 
für  erwachsene  und  jugendliche  Arbeiter,  über  die  Verbreitung  des  Ak- 
kordlohnsystems, über  den  Wochenverdienst  der  Akkordlöhner,  geschieden 
nach  Berufen,  erhielten,  wenn  wir  erfahren  würden,  ob  die  Löhne  gestiegen, 
gefallen  oder  stehen  geblieben  sind,  wenn  wir  über  die  Länge  des  durch- 
schnittlichen Arbeitstages,  über  Vorkommen  und  Dauer  der  Ueberarbeit  Ge- 
naueres erfahren  würden.  Dabei  sehen  wir  ganz  von  der  „freiwilligen  Arbeits- 
statistik“ ab,  die  über  Arbeitsnachweis,  Reiseunterstützung,  Uebersiedelungs- 
beihilfe,  Arbeitslosigkeit  und  deren  Unterstützung  sowie  über  die  Arbeits- 
verhältnisse der  Arbeiterinnen  Auskunft  geben  soll.  In  Wirklichkeit  sind 
diese  Publikationen  nicht  Ergebnisse  statistischer  Untersuchungen,  sondern 
lediglich  die  Zusammenstellungen  von  Urteilen  einzelner  über  die  Ver- 
hältnisse eines  Ortes,  die  in  statistische  Form  gebracht  werden.  Der 
Ortsverein  bekommt  einen  F'ragebogen  und  ein  beauftragtes  Mitglied  soll 
dann  über  alle  diese  Fragen  Gutachten  abgeben.  Wären  einfache  Ar- 
beiter hierzu  imstande,  dann  könnte  man  sich  wahrlich  ajt  der  Ausgaben 
unserer  amtlichen  Statistik  sparen. 


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2Ö2 


I.itteratur. 


Aber  auch  wenn  man  durch  die  Mangel  der  Methode  nicht  abge- 
schreckt wird,  sieht  man,  dafs  diese  Zahlen  nicht  vorsichtig  genug  ge- 
braucht werden  können.  Betrachten  wir  des  Beispiels  wegen  die  An- 
gaben des  Gewerkvereins  der  deutschen  Maschinenbauer  und  Metall- 
arbeiter für  Berlin.  Die  Angaben  aus  io  Ortsvereinen  liegen  vor.  Es 
ist  nicht  anzunehmen,  dafs  die  Du  r ch sc  h n i 1 1 e der  Löhne  der  Metall- 
arbeiter in  einer  Stadt  so  sehr  abweichen  können,  wie  es  diese  Statistik 
darstellt.  Wir  finden  z.  B.  für  jugendliche  Arbeiter  als  durchschnitt- 
lichen Wochenlohn  angegeben:  io — 12,  12,  12,  23,  14,  17,50,  18  Mk., 
dann  für  männliche  Lehrlinge:  3,  3 — 10,  4,50,  6,  5,  5,  6 und  7,50  Mk. 
Am  klarsten  tritt  die  Wertlosigkeit  der  Angaben  für  die  erwachsenen 
Arbeiter  in  Erscheinung.  Da  wird  in  Berlin  9 für  Dreher,  Schlosser, 
Schmiede,  Former,  Heizer  ein  Durchschnittslohn  von  21 — 30  Mk.  an- 
gegeben. Wer  nur  einmal  die  Lohnlisten  einer  grofsen  Fabrik  gesehen 
hat,  weifs,  dafs  ein  Heizer  und  ein  Former  nicht  gleich  bezahlt  werden, 
und  es  gilt  dies  auch  für  die  übrigen  Kategorieen  der  Metallindustrie, 
wenn  auch  nicht  in  gleichem  Mafse.  Wie  kann  man  da  aus  diesen  so 
durchaus  verschiedenen  Berufsgruppen  einen  Durchschnitt  ziehen  und 
was  lehrt  endlich  ein  Durchschnitt  (!)  von  21 — 30  Mk.  Was  soll  es 
bedeuten,  wenn  Maschinenbauer  und  Hilfsarbeiter,  also  wiederum  zwei 
durchaus  verschieden  entlohnte  Gruppen  in  Berlin  zusammengestellt 
werden,  und  für  sie  ein  Durchschnittslohn  von  21  — 24  Mk.  angegeben 
ist.  Bei  Berlin  3 ist  ein  durchschnittlicher  Wochenlohn  für  „Hand- 
werker" mit  24  Mk.  in  Berlin  6 mit  27  Mk.  angegeben,  in  Berlin  3 
für  Hilfsarbeiter  16,50  Mk.,  in  Berlin  6 23  Mk.,  während  in  Berlin  8 
Maschinenbauer  und  Schlosser  nur  21  Mk.  durchschnittlichen  Wochen- 
lohn erhalten  sollen.  Diese  Zahlen  allein  beweisen  schon,  dafs  diese 
Methode  eine  durchaus  unfruchtbare  ist. 

Der  Wert,  ja  die  Notwendigkeit  der  Statistik  für  Gewerkschaften 
kann  nicht  geleugnet,  aber  die  Schwierigkeiten  sollten  auch  nicht 
unterschätzt  werden,  andererseits  soll  aber  auch  nicht  aus  Ueber- 
schätzung  dieser  Schwierigkeiten  etwas  geleistet  werden,  was  nur  nach 
Statistik  aussicht,  aber  keine  Statistik  ist.  In  seinen  Erläuterungen  be- 
merkt der  V’erbandsanwalt : „Dafs  zumal  für  die  praktischen  Bedürfnisse 
der  Verbandsgenossen  selbst  — und  für  diese  ist  doch  unsere  Statistik 
in  erster  Reihe  bestimmt  — die  Kenntnis  solcher  von  den  Ortsvereinen 
angegebenen  Durchschnittssätze  aus  allen  Berufen  und  aus  allen  Teilen 
Deutschlands  weit  besser  ist,  als  nur  gelegentliche  individuelle  Aus- 
künfte oder  gar  blofse  Gerüchte.“  So  richtig  das  an  sich  auch  sein 
mag,  so  doch  wiederum  nur  in  der  Theorie,  in  der  Praxis  wird  mit 
den  von  uns  angegebenen  Zahlen  aus  Berlin  kein  Maschinenbauer  etwas 
anzufangen  vermögen.  Es  sei  übrigens  bemerkt,  dafs  die  gleiche  Be- 
obachtung, die  wir  für  Berlin  gemacht  haben,  sich  auch  für  die  anderen 
Orte,  die  mehrere  Ortsvereine  besitzen,  wiederholt.  Dafs  auch  der  Ar- 


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Neue  Littcratur  von  und  über  Gewerkschaften.  263 

beiter  der  von  einem  Orte  nach  dem  anderen  zieht,  sehr  wenig  Nutzen 
davon  hat,  wenn  er  lur  die  meisten  Orte  Durchschnitts] ohne  für  die 
„Metallindustrie"  findet  aber  nicht  erfährt,  was  ein  Schlosser  oder  ein 
Feinmechaniker,  ein  Rotgiefser,  ein  Werkzeugmacher,  ein  Modellschreiner, 
ein  Feilenhauer,  ein  Drahtzieher,  ein  Zainer  erhält.  Hieraus  ergiebt 
sich,  dafs  der  praktische  Wert  dieser  Statistik  für  die  Gewerkvereins- 
mitglieder nicht  gröfser  ist,  als  der  Nutzen,  den  der  Sozialstatistiker  aus 
ihr  ziehen  kann.  Dr.  Max  Hirsch  verschliefst  sich  nicht  der  Kritik,  er 
sagt:  . . Die  ganze  Methode  aber  mufs  offenbar  den  besonderen  Ver- 

hältnissen angepafst  sein.  Wir  wissen  sehr  wohl,  dafs  namentlich  für 
die  Lohnstatistik  das  absolut  beste  Verfahren,  das  des  Individualnach- 
weises, desgl.  der  speziellen  Zählkarten  für  jeden  einzelnen  Arbeiter  und 
zwar  ein  ganzes  Jahr  umfassend  bildet.  . . . Allein  die  Frage  mufs  mit 
Rücksicht  auf  die  Bereitwilligkeit  der  (1894)  67000  (jetzt  92000)  Mit- 
glieder , sich  der  rechtzeitigen  und  zuverlässigen  Ausfüllung  des  Zähl- 
karten zu  unterziehen,  als  auch  aus  der  übergrofsen  Zeit,  Kraft  und 
Kostenaufwendung  einer  angemessenen  Bearbeitung  und  Veröffentlichung 
verneint  werden.“  Meiner  Meinung  nach  bedeutet  dies  doch  ein  recht 
geringes  Vertrauen  in  die  eigene  Kraft.  Die  Hirsch-Dunckerschen  Ge- 
werkvereine wiederholen  ihre  Erhebung  blofs  alle  drei  Jahre,  würden  sie 
sich  auf  das  allernotwendigste  bei  der  Befragung  beschränken,  auf  etwa 
10  Fragen,  von  denen  zwei  bis  drei  als  Kontrollfragen  für  die  Ver- 
arbeitung nicht  in  Betracht  kämen,  so  ist  nicht  abzusehen,  warum  bei 
dem  finanziell  guten  Stande  der  Gewerkvereine  eine  Erhebung  auf  Grund 
von  Individualfragebogen  nicht  vorzunehmen  wäre.  Eine  andere  Frage 
ist  freilich  die,  ob  überhaupt  eine  Sozialstatistik  einer  Organisation  wie 
die  der  Hirsch-Dunckerschen  Gewerkvereine,  von  Wert  ist.  Scheiden 
wir  die  Metallarbeiter  aus,  so  ist  die  Zahl  der  Mitglieder  der  Hirsch- 
Dunckerschen  Gewerkvereine  eine  im  Vergleich  zu  der  Gesamtarbeiter- 
zahl der  betr.  Berufe  aufserordcntlich  geringe,  so  liei  dein  Gewerkverein 
der  deutschen  Fabrik-  und  Handarbeiter  (1898:  15006),  der  Tischler 
(6200),  Schuhmacher  und  Lederarbeiter  (5400),  Textilarbeiter  (3358), 
Schneider  (3332),  Bauhandwerker  (1920),  graphischen  Berufe  (1903), 
Maler,  Cigarren-  und  Tabakarbeiter  (1602)  etc.  Wenn  z.  B.  die  Ci- 
garrenarbeiter blofs  in  sieben  Orten,  die  graphischen  Berufe  und  Maler 
also  Lithographen,  Steindrucker,  Buchdrucker,  Buchbinder,  Graveure, 
Musterzeichner,  Maler,  Hilfsarbeiter  etc.  nur  (1900)  in  26  Orten  des 
deutschen  Reiches  vertreten  sind,  wenn  dies  für  die  Konditoren,  Bäcker 
und  Müller  blofs  für  5 Orte  gilt,  so  mufs  man  sich  fragen,  ob 
Erhebungen  dieser  Art,  abgesehen  von  lokalen  Zwecken,  lohnen. 
Nach  der  Meinung  des  Referenten  ist  dies  ebensowenig  der  Fall  für 
die  Gewerkvereine,  wie  für  die  Sozialstatistik.  Was  für  die  Gewerk- 
schaften gilt,  dafs  sie  zu  viel  Statistik  machen,  bei  der  sich  die  Aus- 
lagen nach  den  Erfolgen  in  keiner  Weise  rechtfertigen  lassen,  gilt  auch 


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2Ö4 


Litteratur. 


für  die  Gewerkvereinc,  für  letztere  vielleicht  in  noch  viel  höherem 
Mafse,  da  sie  mit  ganz  anderen  Ansprüchen  an  die  Oeffentlichkeit 
treten,  und  die  Sozialstatistik  sich  äufserlich  als  eine  über  das  ganze 
deutsche  Reich  erstreckende  für  eine  grofse  Zahl  von  Lohnarbeiterberufen 
darstcllt.  Wir  können  dem  Verbandsanwalte  nicht  zustimmen,  und  die 
früheren  fachmännischen  Beurteiler  seiner  Statistik  berechtigen  ihn  auch 
nicht  dazu,  zu  schreiben : „Unsere  Verbandsstatistik  hat  mit  wachsendem 
Umfange  auch  aufserhalb  der  Gewerkvereinskreise  steigende  Beachtung 
und  Anerkennung  in  der  Praxis  und  namentlich  in  der  Wissenschaft  ge- 
funden.“ 

Auch  die  christliche  Gewerkschaftsbewegung  hat  heute  schon  eine 
nicht  ganz  kleine  Litteratur  und  eine  ganze  Reihe  von  Gewerkschafts- 
organen. In  der  hier  angezeigten  Schrift  (23)  sind  nicht  weniger  als 
16  Organe  der  christlichen  Gewerkschaften  angeführt,  leider  enthält  sie 
nicht  auch  ein  Verzeichnis  der  einschlägigen  Litteratur.  Neben  vier 
Broschüren,  die  hierher  gehören,  werden  zur  Anschaffung  für  die  Biblio- 
theken der  christlichen  Gewerkvereine  empfohlen : die  deutschen  Ueber- 
setzungen  der  Schriften  von  Rogers,  der  Webbs  und  Howells,  Sombarts 
„Dennoch“,  Kulemanns  „Gewerkschaftsbewegung“,  Grotjahns  „Alkohol- 
genufs"  etc.  Die  Schrift  selbst  enthält  eine  leider  sehr  kurze  Geschichte 
der  christlichen  Gewerkschaften  und  eine  Uebersicht  über  die  beiden 
ersten  Kongresse  derselben,  auf  die  dann  ein  eingehendes  Protokoll  lies 
dritten  folgt.  Neben  vielem  Unabgeklärten  findet  man  oft  kräftige  Be- 
tonung des  Arbeiterstandpunktes,  scharfe  Klagen  über  die  Verfolgungen 
der  christlichen  Organisationen  durch  Unternehmer  und  Behörden.  Hier- 
aus und  aus  der  Thatsache,  dafs  die  Arbeiterschaft  sich  naturgeinäfs  in 
den  Kämpfen  um  die  Besserstellung  ihrer  Lage  denjenigen  anschliefsen 
wird,  die  am  energischsten  ihre  Interessen  vertreten,  läfst  sich  folgern, 
dafs  die  verschiedenen  Ströme  der  deutschen  Gewerkschaftsbewegung 
soweit  sie  sich  nicht  vornehmlich  auf  Unterstützungszwecke  beschränken, 
wie  die  Hirsch-Dunckerschen  Gewerkvereine,  in  absehbarer  Zeit  in  ein 
grofses  Bett  wieder  zusammenfliefsen  werden.  Auf  dem  dritten  Kongresse 
wurde  die  Gründung  von  Zentralorganisationen  befürwortet,  die  Not- 
wendigkeit hoher  Beiträge,  gefüllter  Kriegskassen,  die  Bedeutung  der 
Arbeitslosenunterstützung  betont  und  bei  aller  Anerkennung  des  Unter- 
stützungswesens  doch  der  Hauptwert  auf  eine  Beeinflussung  der  Lohn- 
und  Arbeitsbedingungen  gelegt.  Besondere  Referate  wurden  der  Ver- 
leihung von  Korporationsrechten  an  die  Berufs  verbände,  dann  der 
Reform  der  Krankenversicherung  und  der  Gewerbegerichtsreform  ge- 
widmet. Wer  sich  über  die  neuen  Strömungen  in  der  deutschen  Ge- 
werkschaftswelt informieren  will,  wird  nicht  umhin  können,  auch  diese 
Schrift  zu  lesen.  Für  die  christlichen  Gewerkschaften  gilt  es  noch  in 
den  Kämpfen  für  die  Besserstellung  ihrer  Mitglieder  den  Beweis  der 
Existenzberechtigung  zu  erbringen.  Dies  wird  ihnen  nur  gelingen,  wenn  sie 


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Neue  Littcratur  vcin  und  Uber  Gewerkschaften.  265 

unabhängig,  und  ausschliefslich  die  Interessen  der  Arbeiter  wahren,  und  wenn 
sie  ihre  Mitglieder  zur  Zahlung  von  hohen  Beiträgen  zu  erziehen  vermögen, 
um  Kämpfe  nicht  nur  beginnen,  sondern  auch  ausfechten  zu  können. 
Selbst  in  diesem  günstigen  Fall  wird  aber  das  Nebeneinanderbestehen  ver- 
schiedener Gewerkschaften  die  Kampfesstellung  der  Arbeiter  den  Unter- 
nehmern gegenüber  stets  schwächen,  denn  es  ist  nicht  möglich,  den 
einheitlichen  Unternehmerorganisationen  mit  der  gleichen  Einheitlichkeit 
entgegenzutreten,  wo  Mifstrauen  und  vorangegangene  Kämpfe,  oft  auch 
noch  persönliche  Eifersüchteleien  das  Zusammengehen  zweier  verschiedener 
Organisationen  des  gleichen  Berufes  erschweren.  Im  Interesse  der  Ar- 
beiter liegt  demnach  die  Mannigfaltigkeit  in  der  Gewerkschaftsbewegung 
keineswegs. 

Das  Werk  von  I)r.  Maier  über  den  Verband  der  Glacehandschuh- 
macher (24)  schliefst  sich  würdig  der  gröfsten  Monographie  an,  die  wir 
bisher  über  eine  deutsche  Gewerkschaft  besafsen,  der  Arbeit  Schmöles 
über  den  Zimmererverband.  Die  Arbeit  von  Maier  ist  in  zweierlei  Hin- 
sicht umfangreicher  wie  ihre  Vorgängerin,  weil  sie  bei  ohnedies  etwas 
grüfserem  Umfange  die  Arbeiterorganisation  eines  der  allerkleinsten 
Industriezweige  behandelt,  dann  aber  auch,  weil  sie  bedeutend  mehr  hält, 
als  der  Titel  verspricht.  Es  ist  nicht  nur  eine  Geschichte  der  Organi- 
sation, sondern  gleichzeitig  eine  descriptive  Studie  über  die  Industrie.  Die 
Lohnverhältnisse,  die  Betriebsformen,  das  Lehrlingswesen  u.  s.  w.  werden 
beleuchtet.  Es  werden  auch  das  neben  der  Gewerkschaftsorganisation 
laufende  andere  Unterstützungswesen,  sowie  die  Verhältnisse  der  Unter- 
nehmerorganisation behandelt.  Erscheint  auch  manchmal  die  Darstellung 
etwas  breit,  und  zu  viel  in  Einzelheiten  sich  verzweigend,  so  müssen 
wir  trotzdem  auch  dafür  dem  Verfasser  Dank  wissen,  der  uns  eine 
Quellenschrift  für  die  deutsche  Gewerkschaftsgeschichte  gegeben  hat,  die 
tief  einführt  in  den  Gedankeugang  der  Gründer  und  Mitglieder  dieser 
Organisation,  die  ihr  Werden,  ihre  Kämpfe,  und  ihre  Kräftigung  an- 
schaulich darstellt. 

Es  finden  sich  auch  Ansätze  eines  Eindringens  in  die  l’sychologie 
der  Arbeiter.  Hier  hätten  wir  sogar  ein  Mehr  gewünscht.  Dem 
künftigen  Historiker  wird  cs  sicherlich  nicht  an  Akten  und  Druck- 
schriften, an  Statistiken  und  prinzipiellen  Auseinandersetzungen  fehlen, 
wenn  er  die  Geschichte  der  Arbeiterbewegung  unserer  Tage  schreiben 
will,  aber  selbst  bei  reicher  Kombinationsgabe  wird  er  kein  richtiges 
Bild  entwerfen  können  von  dem  inneren  Leben  in  den  Arbeiterorgani- 
sationen, von  der  Art  wie  neue  Ideen  sich  in  denselben  langsam  ent- 
wickeln und  zum  Siege  gelangen.  Die  intime  Seite  der  Arbeiter- 
bewegung, die  zu  ihrem  vollen  Verständnisse  gehört,  die  erst  vieles 
klar  macht,  was  dem  Fernerstehenden  auch  bei  allem  Wohlwollen  meist 
ein  Buch  mit  sieben  Siegeln  bleibt,  dieses  intime  Leben  findet  man 
weder  bei  Schmöle,  noch  bei  Maier  dargestellt.  Leider  sind  die  Aus- 


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266 


Littcratur. 


sichten  sehr  gering,  dafs  wir  diese  Schilderungen  von  anderer  Seite  er- 
halten ; findet  sich  doch  selbst  in  dein  Buche  von  Päplow  über  die  Ge- 
schichte der  Maurerorganisation,  die  doch  von  einem  Vorkämpfer  der- 
selben geschrieben  ist,  diese  Seite  der  Arbeiterbewegung  nicht  berück- 
sichtigt. Man  glaube  doch  nicht,  dafs  die  Protokolle  der  Gewerkschafts- 
kongresse oder  Versammlungsberichte  die  Lücke  auszufüllen  vermöchten. 
Gerade  in  diesen  Berichten  verschwindet  hinter  den  polemischen  Aus- 
einandersetzungen und  dem  sachlich  Beschlossenen  das,  was  wir  kurz 
das  Intime  nennen  mögen.  Wenn  wir  dies  aussetzen,  so  wollen  wir  uns 
nicht  die  Schwierigkeiten  der  Erfüllung  dieser  Wünsche  verhehlen,  ge- 
hört doch  hierzu,  dafs  ein  ökonomisch  geschulter  Mann,  der  das  Wesent- 
liche vom  Unwesentlichen  zu  scheiden  vermag,  Beobachtungsgabe  und 
Schilderungskunst  miteinander  verbindet.  Hierzu  gehört  auch  sehr  viel 
Zeit  und  Vertrauen  der  Arbeiter,  man  mufs  auch  sicher  sein,  dafs  *sie 
sich  nicht  als  Modelt  fühlen,  dafs  sie  gar  keinen  Grund  haben,  sich 
nicht  natürlich  zu  geben.  Es  schien  mir  notwendig,  einmal  auf  diesen 
Mangel  aller  historischen  Darstellungen  filier  die  Arbeiterbewegung 
und  speziell  über  die  Gewerkschaftsbewegung  hinzuweisen.  Wir 
kennen  die  neuen  Ideen  und  die  neuen  Kampfmethoden,  wir 
können  uns  auch  Rechenschaft  ablegen  über  die  Ursachen  der 
Arbeiterbewegung  und  über  die  Aenderungen  innerhalb  derselben. 
Wir  vermögen  die  historischen  Data  mehr  oder  minder  genau  festzustellen. 
Das  mag  vielen  genügen,  und  auch  für  die  meisten  Zwecke  vollständig 
ausreichen,  aber  es  fehlt  dabei  doch  etwas,  was  mit  der  Zeit  sich  voll- 
ständig verflüchtigt,  später  nie  mehr  gewonnen  werden  kann,  wenn  es 
nicht  heute  festgehalten  wird,  wo  der  Mitlebende  noch  über  die  ersten 
Anfänge  der  modernen  Formen  der  Arbeiterbewegung  berichten  kann. 
Das,  was  die  französische  Memoiren-Litteratur  seit  Louis  Saint-Simon 
zur  Geschichte  der  neueren  Zeit  beigetragen  hat,  sind  hervorragende 
Quellen,  die  das  Material  der  Archive  erst  beleben  und  erleuchten, 
dieses  Material  scheint  dem  künftigen  Geschichtsschreiber  der  Arbeiter- 
bewegung versagt  zu  bleiben.  Die  Gründe  hierfür  liegen  ja  klar  zu 
Tage;  die  Träger  der  Bewegung  haben  nicht  die  Mufse,  Erinnerungen 
aufzuzeichnen,  vielen  fehlt  auch  dazu  die  Fähigkeit,  Rücksichten  auf  die 
Verfolgungen,  deren  Erinnerung  lebendig  ist,  deren  Wiederkehr  von 
vielen  ins  Auge  gefafst  wird,  wirken  da  zusammen,  um  diese  Aussichts- 
losigkeit zu  erklären.  Aber  gerade  diese  ungünstigen  Umstände  sollten 
die  Geschichtsschreiber  unserer  Gewerkschaftsbewegung  veranlassen, 
einigermafsen  ihr  reines  Aktenmaterial  durch  Schilderungen  aus  dem 
Leben  der  Arbeiterbewegung  zu  ergänzen.  Ohne  die  Schwierigkeiten 
dieser  Aufgabe  zu  verkennen,  glauben  wir  doch  die  Hoffnung  aussprechen 
zu  dürfen,  dafs  auch  nach  dieser  Richtung  die  Litteratur  über  die  Ge- 
werkschaftsbewegung Fortschritte  machen  wird.  Ansätze  hierzu  finden 


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Neue  Littcratur  von  und  Uber  Gewerkschaften.  267 

sich  in  dem  Buche  Maiers,  so  einige  recht  nette  Porträtskizzen  der 
Präsidenten  und  Vorsitzenden  des  Handschuhmacherverbandes. 

Auf  einen  weiteren  Mangel  unserer  Littcratur  über  die  Gewerk- 
schaftsbewegung, der  auch  das  Buch  von  Maier  trifft,  habe  ich  schon 
an  anderer  Stelle  aufmerksam  gemacht.  Man  läfst  immer  die  deutschen 
Gewerkschaften  entstehen  mit  den  Tagen,  da  J.  B.  v.  Schweitzer,  Max 
Hirsch,  Bebel  und  Liebknecht  Ende  der  sechziger  Jahre  ihre  Aufrufe 
erlassen  haben ; bestenfalls  wird  noch  an  Fritzsche  und  seine  voran- 
gegangenen Versuche,  die  Tabakarbeiter  zu  organisieren  und  an  die 
Buchdruckerorganisation  und  ihre  Anfänge  im  Jahre  1848  erinnert.  Es 
scheint  mir  dies  eine  durchaus  unhistorische  Auffassung.  Wer  die 
deutschen  Gewerkschaftsorganisationen  unserer  Tage  nur  aus  der  Litte- 
ratur  kennt,  der  inufs  fast  annehmen,  dafs  sie  im  Kopfe  einiger  Führer 
entstanden  und  ohne  jeden  Zusammenhang  mit  früheren  Gebilden  plötz- 
lich aufgetaucht  seien.  Und  doch  ist  es  keine  Frage,  dafs  auch  unsere 
Gewerkschaftsorganisationen  durch  manche  Fäden  verknüpft  sind  mit  den 
alten  Gesellenorganisationen.  Bis  zum  heutigen  Tage  bestehen  Reste 
alter  Brüderschaften  zum  Teil  noch  unter  dem  Namen  der  Brüder- 
schaften mit  alten  Sitten,  wenn  auch  ausnahmslos  zu  Geselligkeits- 
vercinen  und  Unterstützungskassen  herabgesunken.  Reste  dieser  Art 
finden  sich  z.  B.  bei  Kupferschmieden,  Zimmerern,  Maurern,  Dachdeckern, 
Gerbern ; noch  mancher  alte  Zunftgebrauch,  noch  manche  Grufsform,  noch 
manches  alte  Wort,  noch  manche  unbeachtete  Einzelheit  in  der  Tracht, 
manch1  altes  Verkehrslokal  deutet  auf  Erinnerungen  an  die  früheren 
Organisationen.  Alte  Truhen,  Fahnen,  Embleme,  Kassen-  und  Protokoll- 
bücher aus  der  Zunftzcit  sind  oft  im  Besitze  ganz  moderner  Gewerk- 
schaftsorganisationen, ja  es  läfst  sich  nachweisen,  dafs  es  zwischen  den 
Gewerkschaftsorganisationen  eines  Ortes  im  gleichen  Gewerbe  so  zwischen 
Gewerkvereinen  und  internationalen  Gewerkgenossenschaften  oder  Ar- 
beiterschaften anfangs  der  70  er  Jahre  heifse  Kämpfe  gab,  welche  die 
Gerichte  öfters  sogar  beschäftigt  haben;  diese  sollten  entscheiden,  wer 
der  berechtigte  Besitzer  der  Lade  etc.,  der  alten  Gesellenorganisation 
sei.  Man  vergifst  fast  immer  den  einen  Umstand,  dafs  bei  Proklamierung 
der  Gewerbefreiheit  in  ganz  Deutschland,  wenn  auch  oft  nur  noch  in 
rudimentären  Resten  Formen  alter  Gesellcnorganisationen  bestanden  haben. 
Vielfach  liefen  diese  mit  Aufhebung  der  Zunft  auseinander,  vielfach 
wurde  das  Eigentum  der  Gesellenschaft  beim  Trödler  losgeschlagen, 
der  Erlös  in  der  nächsten  Kneipe  vertrunken  und  damit  zum  letzten- 
male  das  Zusammensein  gefeiert.  Aber  das  Bedürfnis  des  Zusammen- 
seins war  nicht  auszurotten , oft  änderte  die  Proklamierung  der  Ge- 
werbefreiheit nur  äufserlich  etwas  an  dem  Zusammenhalt  der  Ge- 
sellen ; mit  der  Garantierung  des  Koalitionsrechtes  traten  diese  Organi- 
sationen wieder  in  die  Oeffentlichkeit,  wenn  auch  in  anderem  Gewände. 
Fis  ist  charakteristisch,  für  die  ersten  Jahre  der  deutschen  Gewerkschafts - 


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268 


Litteratur. 


bewegung,  dafs  man  mancherorts  konkurrierte,  nicht  blofs  um  den  Besitz 
des  Inventars  der  alten  Gesellenschaflen,  sondern  auch  um  die  Mitglieder 
derselben ; oft  sind  in  den  Hirsch-Dunckerschen  Gewerkvereinen  die  alten 
Gesellen  wieder  zu  finden,  in  die  sie  manchenorts  korporativ  übertraten 
und  dann  bei  Aufzügen,  patriotischen  Feiern,  Fürstcncinzügen  mit  dem 
Staate  der  alten  Gesellenbrüderschaft  auftraten.  Es  ist  merkwürdig,  dafs 
diesen  dankbaren  historischen  Aufgaben  sich  niemand  gewidmet  hat, 
utn  so  bedauerlicher  als  der  Nachweis  dieser  Zusammenhänge  zwischen 
den  alten  Gesellenorganisationen  und  Gesellenverbänden,  die  sich 
ja  auch  bis  in  unser  Jahrhundert  hinein  nachweisen  lassen,  mit  der  Ent- 
wicklung der  modernen  Gewerkschaftsorganisationen  und  mit  jedem  Tage 
schwieriger  wird. 

Hierfür  sind  die  Quellen  die  Arbeiter,  welche  in  den  fünfziger 
Jahren  des  iq.  Jahrhunderts  ihre  Lehrzeit  in  früher  zünftigen  Gewerben 
durchgemacht  haben ; immer  geringer  wird  die  Schar  dieser  Greise, 
immer  schwieriger,  wird  cs,  Nachweise  zu  erbringen.  Für  die 
Handschuhmacher  wäre  die  Lösung  dieser  Aufgabe  ganz  besonders  in- 
teressant gewesen,  da  bei  ihnen  ganz  eigenartige  Verhältnisse  Vorlagen ; 
sie  hatten  mit  ihrem  Gewerbe  ganz  besondere  Formen  und  Sitten  ihrer 
Organisation  aus  Frankreich  in  die  brandenburgischen  und  anderen  Lande 
gebracht,  die  den  vertriebenen  Hugenotten  Gastfreundschaft  geboten 
hatten.  Leider  findet  sich  in  der  Schrift  Maiers  hierüber  nichts,  ob- 
gleich seine  vornehmste  Quelle,  das  Organ  des  Handschuhmacherver- 
bands, hierüber  so  manchen  Wink  für  weitere  Forschungen  enthält. 

ln  dieser  Hinsicht  hätten  wir  noch  bei  einem  sonst  so  vollständigen 
Buche  manches  andere  gerne  erörtert  gesehen , so  die  merkwürdige 
Handwerkssprache,  aus  der  ja  Beispiele  gegeben  sind  und  zu  der  sich 
blofs  einige  leider  verstreute  Bemerkungen,  jedoch  keine  zusammen- 
fassende  Dartellung  in  dem  Buche  finden. 

So  wie  wir  vom  historischen  Gesichtspunkte  dies  oder  jenes  zu  be- 
mängeln hatten,  so  auch  von  dem  ganz  modernen  der  Beurteilung  der 
Sozialdemokratie  durch  den  Verfasser.  Er  findet  vieles  in  der  Ent- 
wicklungsgeschichte des  Handschuhmacherverbandes  begründe!  durch  das 
Streben,  sozialdemokratischen  Geist  der  Organisation  einzuflöfsen ; er  irrt 
da  oft  unzweifelhaft  und  wir  wollen  nur  auf  den  auffallendsten  Irrtum  hin- 
weisen.  Er  meint,  dafs  der  Name  „Ortsverein“  den  einzelnen  Zahlstellen 
gegeben  wurde,  weil  dies  ein  sozialdemokratischer  Terminus  sei,  nun 
ist  bekanntlich  der  „Ortsverein“  die  bei  den  Hirsch-Dunckerschen  Ge- 
werkvereinen übliche  Bezeichnung  für  das,  was  man  Zahlstelle.  Ver- 
waltungsstelle , Filiale  etc.  bei  den  Gewerkschaften  bezeichnet . die 
durch  die  Generalkommssion  vereinigt  sind.  Aber  weniger  diese  und 
ähnliche  schiefe  Erklärungsversuche  aus  politischen  Motiven  sind  zu  be- 
mängeln als  der  in  diesem  Zusammenhänge  weit  wichtigere  Umstand, 
dafs  der  Verfasser  die  Tendenzen  der  Sozialdemokratie  gründlich  miss- 


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Neue  Litteratur  von  und  über  Gewerkschaften. 


269 


kennt  Wie  falsch  ist  es  z.  B.  die  Gründung  und  Stärkung  der  freien 
Hilfskassen  unter  dem  Sozialistengesetze  auf  die  Absicht  zurückzuführen, 
die  „allmählige  Ausgleichung  der  bestehenden  Klassengegensätze“  durch 
die  Arbeiterversicherung  „zu  verhindern.“  Die  freien  Hilfskassen  hatten 
nicht  aus  dem  angeführten  Gruntle  unter  dem  Sozialistengesetze  den 
starken  Zulauf,  sondern  weil  sie  die  einzigen  damals  möglichen,  der 
Gefahr  der  Vernichtung  am  wenigsten  ausgesetzten  Formen  der  Ar- 
beiterorganisation waren.  F.s  ist  somit  ohne  jede  Spitzfindigkeit  die 
starke  Entwicklung  dieser  Kassen  in  jenen  Jahren  zu  erklären.  Für 
den  Standpunkt  des  Verfassers  der  Sozialdemokratie  gegenüber  ist  wohl  der 
folgende  Satz  am  meisten  charakteristisch:  „Der  Verband  erstrebt  mit  Erfolg 
eine  Besserung  der  Zustände  innerhalb  der  gegenwärtigen  Ordnung  der 
Dinge,  die  Sozialdemokratie  negiert  eine  solche  Thätigkeit ; denn  je  gröfser 
die  Zahl  der  Unzufriedenen,  umsomehr  eröffnet  sich  die  Aussicht,  auf  einen 
Zusammenbruch  der  bestehenden  Gesellschaftsordnung,  womit  ihr  Sieg 
entschieden  wäre.“  Dieser  Satz  läfst  sich  nicht  vereinbaren  mit  dem 
kurz  vorangehenden : „Durch  den  Eintritt  in  die  Generalkommission  der 
Gewerkschaften  Deutschlands  hat  der  Verband  seine  politische  Stellung 
unzweideutig  gekennzeichnet,  er  bildet  eine  Vereinigung  mit  sozialdemo- 
kratischer Tendenz.“  I ) i e Theorie,  die  der  Verfasser  der  Sozialdemokratie 
unterschiebt,  widerstreitet  der  Geschichte  der  deutschen  Sozialdemokratie. 
Auch  für  die  Differenzen  zwischen  der  Generalkommission  und  dem 
Handschuhmacherverbande  ist  der  Verfasser  keine  Autorität.  An  kon- 
sequent wiederkehrenden  Fehlern:  der  Schreibweise  des  Namens 
Lassalle  mit  einem  s,  der  Rede  von  „Dr.“  Liebknecht  ersieht  man,  dafs 
der  Verfasser  sich  mit  der  Litteratur  der  Sozialdemokratie  wenig  be- 
schäftigt haben  kann. 

Doch  sind  diese  Mängel  unbedeutend  gegenüber  den  grofsen 
Vorzügen  dieses  Buches.  Gleich  im  Zusammenhänge  mit  den  hervor- 
gehobenen Mängeln  wollen  wir  die  interessante  Darstellung  der  Kämpfe 
der  Organisation  mit  dem  Berliner  Polizeipräsidium  hervorheben,  die  ja 
den  Kennern  der  Buchdruckerbewegung  nicht  unbekannt  sind,  die  aller  für 
einen  anderen  Beruf  noch  nicht  so  ausführlich  geschildert  wurden.  Be- 
sonders wichtig  ist  die  Feststellung,  dafs  der  Handschuhmacherverband 
sich  den  Forderungen  des  Polizeipräsidiums  nicht  unterworfen  hat  im 
Gegensätze  zum  Buchdruckerverband  und  anderen  Organisationen.  Sehr 
interessant  ist  auch  die  Geschichte  des  Verbandsblattes,  die  sich  auch 
als  ein  wichtiger  Beitrag  für  die  schwere  Aufgabe  einer  Geschichte  der 
deutschen  Arbeiterpresse  darstellt.  Lehrreich  ist  ferner  die  Gegenüber- 
stellung der  Orte,  die  in  den  Jahren  1869,  18S4  und  iqoo  Verbands- 
angehörige in  gröfserer  Zahl  aufwiesen,  aber  diese  tabellarische  Dar- 
stellung wäre  wertvoller  geworden,  wenn  etwa  durch  einen  Stern  die 
Orte  gekennzeichnet  wären,  in  denen  in  der  Zwischenzeit  Handschuh- 
macherbetriebe aufgetaucht  sind,  während  durch  ein  Kreuz  diejenigen 


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270 


Litteratur. 


Orte  zu  bezeichnen  gewesen  wären,  aus  denen  die  Handschuhmacher- 
industrie  verschwunden  ist.  Das  Material  hierfür  hätte  sich  für  die 
gröfscren  Orte  in  den  Adrefsbüchern  derselben,  für  die  kleineren  Orte 
in  Leuch's  Adrefsbuch  finden  lassen.  Eine  Reihe  von  Verschiebungen 
sind  dem  Referenten  bekannt,  er  darf  wohl  vermuten,  dafs  es  deren 
nicht  wenige  gab.  Das  Tabellenmaterial  ist  sehr  beachtenswert  und 
gestattet  manchen  Einblick  auch  in  die  inneren  Verhältnisse  des  Ver- 
bandes so  z.  B.  eine  Statistik  über  den  Versammlungsbesuch , über 
die  Zahl  der  Restanten,  der  Restwochen,  und  der  Restbeträge,  über 
die  Aufnahme  ausländischer  Fachvereinsmitglieder  und  früherer  Verbands- 
mitgliedcr,  über  die  Kassenverhältnisse  und  dcrgl. 

Man  würde  irren,  wenn  man  vermuten  würde,  aus  dem  Buche 
lediglich  Informationen  über  das  Handschuhmachergewerbe  schöpfen  zu 
können.  Man  kann  auch  vieles  zur  Beurteilung  der  deutschen  Gewerk- 
schaftsbewegung überhaupt  aus  ihm  erfahren,  so  z.  B.  über  den  Kampf 
gegen  die  Teilarbeit,  gegen  die  Lehrlingszüchterei,  gegen  das  Vorschufs- 
wesen,  die  Hausarbeit,  die  Ueberfeierabendarbeit,  den  Akkordlohn,  über 
die  Striketaktik,  den  Arbeitsnachweis,  die  Entwicklung  und  Bedeutung 
des  Unterstützungswesens  etc.  Freilich  wird  man  nie  übersehen  dürfen, 
dafs  es  sich  um  einen  aufserordentlich  kleinen  Beruf  bei  den  Hand- 
schuhmachern, um  eine  sehr  wenig  Vorbildern  folgende  Entwicklung 
der  Organisation  handelt.  So  manche  Eigenart,  wie  z.  B.  die  Urwahl, 
das  Bestehen  auf  die  vierjährige  Lehrzeit,  erklären  sich  aus  der  Klein- 
heit der  Organisation  und  aus  der  Eigenartigkeit  des  Gewerbes,  so 
manches  ist  auch  auf  Kastengeist  zurückzuführen  gewesen,  doch  hat  sich 
diese  Abschliefsung  nach  aufsen  nicht  erhalten,  wogegen  die  Eigentüm- 
lichkeiten in  der  Sprache  noch  vorhanden  sind. 

Den  Abschlufs  des  Textes  bildet  eine  Uebersicht  über  die  Hand- 
schuhmacherorganisationen des  Auslandes  und  den  Anhang  des  Buches 
eine  Reihe  sehr  wertvoller  Aktenstücke  für  die  Geschichte  und  den 
gegenwärtigen  Stand  der  Arbeiter-  und  Unternehmerorganisationen  im 
Handschuhinachcrgewerbe.  Auf  der  letzten  Seite  des  Buches  finden  wir 
die  wichtigste  Maschine  und  das  wichtigste  Werkzeug  der  Handschuh- 
macherei abgebildet.  Es  sei  aus  diesem  Anlässe  das  Bedauern  ausge- 
sprochen, dafs  die  Schilderung  der  Technik  des  Gewerbes  nicht  von 
einem  Fachmanne  revidiert  wurde. 

Der  Verfasser  hat  es  unterlassen,  in  einem  abschliefsenden 
Kapitel  zusammenzufassen,  was  seine  Studien  ül>er  die  Leistungen  dieser 
Organisation  im  Laufe  von  mehr  als  drei  Decennien  ergeben  haben. 
Kr  hätte  einen  Versuch  machen  sollen,  die  Lage  der  Handschuhmacher 
in  den  Jahren  1869  und  1000  gegenüber  zu  stellen.  Die  Unternehmer 
haben  trotz  ihrer  feindlichen  Stellung  zugestehen  müssen,  dafs  die  Ge- 
werkschaft Erhebliches  geleistet  hat,  um  das  leidige  Vorschufswesen  mit 
seiner  demoralisierenden  Wirkung  aus  der  Welt  zu  schaffen.  Vom  sozial- 


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Sinzheimcr,  Ludwig,  Der  Londoner  Grafschal'tsrat.  271 

politischen  Gesichtspunkte  ist  von  der  gröfsten  Bedeutung  der  erfolg- 
reiche Kampf  der  Gewerkschaft  gegen  die  Heimarbeit,  bemerkenswert 
ihr  Widerstand  gegen  die  Einführung  der  Teilarbeit,  die  im  Gegensätze 
zu  anderen  Berufen  eine  Verschlechterung  der  Warenqualität  zur  Folge 
gehabt  hätte.  Diese  Zusammenfassung  wäre  um  so  wertvoller  gewesen, 
als  nun  gerade  die  Unternehmer  sich  der  Hoffnung  hingeben,  diese 
Organisation,  eine  der  ältesten  und  erfolgreichsten  Gewerkschaften  im 
Deutschen  Reiche  zu  vernichten.  Die  Zeiten  der  gegenwärtigen  Krise 
werden  von  den  Unternehmern  ausgenützt,  um  die  Arbeiter  vor  die 
Wahl  zu  stellen,  auf  die  Dauer  arbeitslos  zu  werden  oder  die  Zugehörig- 
keit zur  Organisation  aufzugeben.  Zur  Beurteilung  dieses  Strebens  der 
Unternehmer  wird  das  Buch  von  Dr.  Maier  von  der  allergröfstcn  Be- 
deutung sein.  Wird  cs  entsprechend  gewürdigt,  so  wird  es  auch  sonst 
vieles  beitragen  können  zur  Hebung  des  Verständnisses  über  das  Wesen 
und  die  Leistungen  der  deutschen  Gewerkschaften. 


Sinzheim  er,  Ludwig , Dr.,  Der  Londoner  Grafschaftsrat.  Ein 
Beitrag  zur  städtischen  Sozialreform.  Erster  Band:  Die 
Schlufsperiode  der  Herrschaft  der  Mittelklasse  in  der 
l.ondoner  Stadtverwaltung.  Stuttgart  1900,  J.  G.  Cotta. 
512  S.  gr.  8". 

Das  Jahr  1889,  in  dem  der  Londoner  Grafschaftsrat  ins  Leben  trat, 
markiert  einen  bedeutsamen  Wendepunkt  in  der  Geschichte  des  Städte- 
lebens in  England  und  auch  anderwärts.  Die  von  einer  konservativen 
Regierung  — durch  das  Lokalverwaltungsgesetz  von  1888  — geschaffene 
munizipale  Vertretung  des  als  Grafschaft  konstituierten  Grofs-London 
ward  schon  in  der  ersten  Epoche  ihres  Bestehens  zur  typischen  Ver- 
treterin der  als  Munizipalsozialismus  bekannten  Gemeindepolitik.  Wir 
sagen  absichtlich  typischen  Vertreterin  und  nicht  Schöpferin.  Denn  es 
ist  vielleicht  nicht  ein  einziger  Punkt  in  der  ganzen  Liste  der  vom 
Londoner  Grafschaftsrat  durchgeführten  oder  in  Angriff  genommenen 
kommunalsozialistischen  Mafsregeln,  hinsichtlich  dessen  diese  Körperschaft 
nicht  in  England  oder  auf  dem  Festlande  ihre  Vorgänger  gehabt  hätte. 
Aller  wenn  dem  Londoner  Grafschaftsrat  auch  nur  wenig  wahrhaft 
schöpferische  Neuerungen  nachgerühmt  werden  können,  so  gebührt  ihm 
doch  das  Verdienst,  dafs  bei  ihm  zuerst  die  Mehrheit  der  Vertretung 
einer  Grofsstadt  ersten  Ranges  — der  gröfsten  Stadt  der  Welt  — be- 
wufst  zusammenfassend  das  vertrat,  was  vereinzelt  — und  nicht  nur 
unter  dem  Antrieb  der  Gelegenheit  — von  kleineren  Gemeinden  vor 
ihr  geleistet  oder  versucht  worden  war.  Dadurch,  dafs  der  Gedanke 


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272 


Litteratur. 


munizipaler  Gemeinwirtschaft  grundsätzlich  in  weiterer  Auslegung  wie 
bisher  aufgegriffen  wurde,  sowohl  was  die  Objekte  der  Gemeinde- 
wirtschaft als  auch  was  den  Kreis  der  zur  Anteilnahme  berechtigten 
Personen  anbetrifft,  dafs  die  Rücksicht  auf  die  Sonderinteressen  und 
Vorurteile  kapitalistischer  Unternehmer  und  Eigentümer  der  Rücksicht 
auf  die  Bedürfnisse  der  grofsen  nichtkapitalistischen  Bevölkerung  im  all- 
gemeinen und  der  Arbeiterschaft  ira  besonderen  wich,  erhielt  das  Stück 
Kommunalverwaltung,  das  der  Londoner  Grafschaftsrat  zu  besorgen  hatte, 
denjenigen  Charakter,  der  die  Anwendung  des  Begriffes  „sozialistisch“  auf 
sie  rechtfertigt.  Der  Gebrauch  dieses  Wortes  wird  ferner  dadurch  ge- 
rechtfertigt, dafs  die  Mitglieder  des  Londoner  Grafschaftsrats  zwar  auf 
Grund  eines  Wohnungszensus,  sonst  jedoch  mit  Ausschlufs  jeder 
Klassen  Vertretung  gewählt  werden,  der  Zensus  aber  so  bemessen 
ist,  dafs  die  grofse  Mehrheit  der  Arbeiter  Londons  wahlberechtigt  sind 
und  in  den  meisten  Wahlbezirken  die  Mehrheit  der  Wähler  bilden. 
Von  Anbeginn  an  hatte  der  Londoner  Grafschaftsrat  eine  Gruppe  von 
Vertretern  der  Lohnarbeiterschaft  in  seiner  Mitte,  die  dann  von  Wahl 
zu  Wahl  zugenommen  hat,  und  daneben  eine  gröfsere  Anzahl  Vertreter, 
auf  deren  Wahl  die  organisierten  Arbeiter  inafsgebenden  Einflufs  aus- 
üben. Er  ist  im  wesentlichen  eine  demokratische  Munizipal- 
vertretung. 

Die  Leistungen  und  Erfahrungen  dieser  Körperschaft  sind  denn 
auch  für  die  Erkenntnis  des  Verwaltungswesens  in  der  modernen  Demo- 
kratie von  aufserordentlichem  Wert.  Der  Londoner  Grafschaftsrat  ist 
berühmt  geworden  durch  eine  Reihe  von  Mafsnahmen,  die  auch  einzeln 
insofern  in  das  Gebiet  der  sozialen  Reform  fallen,  als  sie  auf  allgemeine 
wirtschaftliche  Verbesserungen  abzielen  und  das  Interesse  der  Gemein- 
wirtschaft über  das  der  Privatwirtschaft  stellen.  Aber  ihre  volle  Be- 
deutung erhalten  diese  Mafsregeln  doch  erst  dadurch,  dafs  sie  Ausdruck 
einer  Politik  sind,  die  einen  demokratischen  Aufbau  der  Gemeinde  zur 
thatsächlichen,  und  eine  demokratische  Auffassung  des  Gemeindelebens 
zur  ideologischen  Grundlage  haben.  Nur  durch  diesen  Zusammenhang 
erheben  sie  sich  aus  fiskalischen  oder  rein  ökonomischen  zu  sozialen 
Reformmafsregeln,  denn  nur  dadurch  erhält  eine  wirtschaftspolitische 
Mafsregel  heute  den  Charakter  eines  sozialreformerischen  Unternehmens, 
dafs  sie  auf  Minderung  oder  Beseitigung  von  Vorrechten  des  Besitzes  hinaus- 
läuft, dafs  sie  — um  ein  geflügeltes  Wort  zu  variieren  — von  einem 
Tropfen  demokratischen  Oels  durchzogen  ist.  Daher  sind  die  admini- 
strativen Probleme  der  Demokratie  zugleich  Probleme  der  Sozialreform, 
oder,  um  es  noch  schärfer  auszudrücken,  is t d i e De mok rat i e selbst 
ein  Problem  der  Sozialreform. 

In  diesem  weiten  Sinne  behandelt  Dr.  Ludwig  Sinzheimcr  in  seinem 
Werke,  dessen  ersten  Band  wir  vor  uns  haben,  das  Wesen  und  Wirken 
des  Londoner  Grafschaftsrats.  Es  schweben  ihm,  wie  er  im  Vorwort 


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Sinzhcimrr,  Ludwig,  Oer  Londoner  < >rafschaftsrat. 


273 


darlegt,  bei  dieser  Arbeit  drei  Hauptziele  vor.  Erstens  „die  aus- 
führliche Klarlegung  der  Beziehungen  zwischen  der  S t a d t v er w al  t u n g 
und  der  Klassengliederung  auf  einem  bestimmten  geographischen 
Gebiete  in  einem  bestimmten  Zeitabschnitte";  zweitens  „die  Aufklärung 
der  Frage,  ob  der  sogenannte  Munizipalsozialismus  eine  zu- 
nehmende Stärke  der  Sozialdemokratie  in  England  ankündet“, 
und  drittens  „die  Lieferung  eines  Beitrages  zu  einer,  auf  empirischer 
Basis  ruhenden  Theorie  des  relativen  We rtes  des  Staates 
und  der  Gemeinden  für  die  unteren  Klassen,  einer  Theorie 
der  Bedeutung  der  staatlich-kommunalen  Dezentralisation  auf  dem 
Gebiete  der  Sozialpolitik“.  Da  der  erste  Band  nur  die  Vorgeschichte 
des  Grafschaftsrats  giebt,  so  kann  er  auch  nur  erst  Teile  des  hier  ent- 
wickelten Programms  zur  Ausführung  bringen.  Al>er  abgesehen  von  der 
zweiten  F'rage,  für  die  dieser  Band  natürlich  ganz  aufser  Betracht  kommt, 
und  obwohl  der  Verfasser  nur  ganz  ausnahmsweise  auf  spätere  Entwick- 
lungen Bezug  nimmt,  treten  die  für  die  Beantwortung  des  gestellten 
Problems  ausschlaggebenden  Punkte  doch  schon  hier  mit  aller  Deutlich- 
keit hervor.  Wie  es  die  Natur  der  Sache  mit  sich  bringt,  allerdings 
zunächst  im  „Negativ". 

Der  Verfasser  hat,  wie  Eingangs  angezeigt,  dem  ersten  Band  den 
Untertitel  gegeben:  „Die  Schlufsperiode  der  Herrschaft  der  Mittelklasse 
in  der  Londoner  Stadtverwaltung".  Präziser  konnte  der  leitende  Ge- 
sichtspunkt nicht  gekennzeichnet  werden,  unter  dem  Sinzhcimer  den 
Vorgänger  des  Londoner  Grafschaftsrats  und  dessen  Nebenorgane  in  der 
Verwaltung  Londons  behandelt.  Das  hauptstädtische  Betriebsamt  — 
„Metropolitan  Board  of  Works“  — das  von  1855  bis  1889  einen  Teil 
der  Funktionen  einer  Zentralbehörde  für  Grofs-London  besorgte,  hatte, 
wie  die  Korporation  der  City  und  die  Pfarrei-  und  Distriktsämter  des 
aufserhalb  der  City  gelegenen  London,  aus  denen  es  sich  in  indirekter 
Wahl  rekrutierte,  allerhand  charakteristische  Eigenheiten,  aber  als  die 
wesentlichste  mufs  doch  immer  die  bezeichnet  werden,  dafs  es,  wie  auch 
jene  Körperschaften,  eine  Vertretung  der  besitzenden  Klassen  war  — 
und  zwar  mehr  noch  de  facto  als  de  jure.  Gesetzlich  hatten  auch  die 
unteren  Schichten  des  Kleinbürgertums  und  ein  Teil  der  besserbe- 
zahlten Arbeiter  das  Stimmrecht  zu  den  Kirchspiel-  etc.  Vertretungen, 
aber  der  Wahlmodus  und  der  Wählbarkeitszensus  hielten  diese  Schichten 
der  Bevölkerung  von  der  Wahl  fern  und  machten  die  Besetzung  der 
Vertretungen  zu  einer  Angelegenheit  des  wohlhabenden  Bürgertums. 
Wie  die  Sitzungen  dieser  Körperschaften  selbst,  verliefen  auch  die  Wahlen 
zu  ihnen  in  der  Regel  unter  völliger  Teiinahmlosigkeit  der  Volksmasse. 
Bis  zu  Ende  März  1889  gab  in  der  Verwaltung  der  Hauptstadt  Eng- 
lands das  mittlere  Bürgertum  den  Ausschlag. 

Dieser  Klassencharakter  ist  jedoch  nur  der  bezeichnendste  Charakter- 
zug der  Verwaltung  Londons  während  der  ersten  neun  Jahrzehnte  des 

Archiv  für  so z.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVII.  t8 


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2/4 


Litteratur. 


19.  Jahrhunderts.  Neben  ihm  wird  sie  auch  durch  eine  höchst  un- 
systematische Vielfältigkeit  der  Verwaltungsorgane,  den  Mangel  au  einer 
organischen  Verteilung  der  Aufgaben  und  Vollmachten  gekennzeichnet. 

Mit  grofsem  Fleifs  und  eindringender  Kritik  geht  Sinzheimer  den 
Gründen  nach,  die  es  so  lange  zu  keiner  durchgreifenden  und  einheit- 
lichen Organisation  der  munizipalen  Verwaltung  Londons  kommen  liefsen. 
Er  legt  in  lichtvoller  Weise  die  Interessengegensätze  und  die  Gegen- 
sätze in  den  politischen  Thcorieen  blofs,  die  sich  der  grundsätzlichen  und 
einheitlichen  Reform  der  Londoner  Verwaltung  Generationen  hindurch 
entgcgenstellten.  Die  Arbeiterklasse  Englands  stand  dem  Problem  lange 
Zeit  interesselos  gegenüber.  Die  Chartisten  hatten  ihr  Augenmerk  fast 
ausschliefslich  auf  das  allgemeine  Stimmrecht  irn  Staat  gerichtet;  der 
Gedanke  der  Eroberung  der  politischen  Macht  des  Staates  liefs  die  Be- 
schäftigung mit  kommunalen  Fragen  als  neltensächlich  erscheinen.  Ja, 
da  es  zumeist  die  Liberalen  waren,  die  nach  Inkrafttreten  der  Mttnizipal- 
gesetzgebung  von  1835  die  Ersetzung  der  verrotteten  Korporationen 
durch  repräsentative  Gemeindevertretungen  in  den  Städten  betrieben, 
kam  es  vor,  dafs  Chartisten  die  alten  Korporationen  in  ihrem  Wider- 
stand gegen  diese  Umwandlung  unterstützten.  Robert  Owen  und  seine 
Schule  hatten  zwar  sozialistische  Kommunen  im  Auge,  aber  verbanden 
damit  nicht  die  Vorstellung  von  der  Um-  oder  Ausgestaltung  der  ge- 
gebenen Kommunen  durch  das  Mittel  einer  sozialistischen  Gemeinde- 
poiitik,  sondern  dachten  zumeist  an  grundsätzlich  neue  Schöpfungen  — 
die  Owenschen  „Townsbips“  — und  verrammelten  sich  aufserdem  den 
Weg  zu  einer  Anwendung  ihrer  kommunalistischen  Ideecn  auf  die  kom- 
munalen Fragen  der  Epoche  durch  ihre  doktrinäre  Gegnerschaft  gegen 
den  politischen  Kampf.  Aehnlich  verhielt  es  sich  mit  der  Gewerkschafts- 
und Genossenschaftsbewegung.  Kurz,  die  Masse  der  Sozialisten  und 
Arbeiter  Englands  betrachteten  oder  behandelten  lange  Zeit  die  F'ragen 
der  Gemeindeverwaltung  als  eine  innere  Angelegenheit  der  besitzenden 
Klassen. 

In  deren  Reihen  aber  stritten  sich  materiell  interessierte  Schichten 
und  Vertreter  von  einander  abweichender  Theorieen  über  das  Mafs  der 
wünschbaren  Gemeindehoheit  und  Gemeindethätigkeit.  Als  Extreme  ein- 
schlägiger theoretischer  Anschauungen  führt  uns  Sinzheimer  auf  der 
einen  Seile  die  Schule  Edwin  Chadwicks  vor,  welche  der  munizipalen 
Selbstverwaltung  durchaus  skeptisch  gegenüberstand  und  ihr  eineu  staat- 
lich - zentralistisch  organisierten  Stab  von  Berufsbeamten  überordnen 
wollte,  und  auf  der  anderen  Seite  die  für  weitestgehende  lokale  Selbst- 
verwaltung und  Demokratie  eintretende  Schule  von  Toulmin  Smith,  dem 
bekannten  Flrforscher  des  englischen  Gildcntums.  Die  Gegnerschaft 
Chadwicks  gegen  die  kommunale  Selbstverwaltung  ist  wesentlich  kon- 
servativ-staatssozialistisch; sie  entspringt  der  F'urcht  vor  plutokratischer 
Kliquenwirtschaft  in  den  Gemeinden.  Die  Begeisterung  von  Toulmin 


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S i n z h c i ni er , Ludwig,  Der  Londoner  Grafschaftsrat. 


275 


Smith  für  die  demokratische  Gemeinde- Autonomie  aber  wurzelt,  wie 
Sinzheimer  in  feiner  Analyse  klarlegt,  in  einer  die  Vergangenheit 
romantisch  verklärenden  und  die  Gegenwart  mit  Unterschätzung  der 
materiellen  Bedürfnisse  formalistisch  betrachtenden  abstrakten  Denkweise. 
Von  Smith  wird  nach  Sinzheimer  die  Gemeinde  immer  nur  als  sittlicher, 
aber  nie  als  ökonomischer  Körper  behandelt.  Ihm,  dem  die  Dezentrali- 
sation nicht  weit  genug  gehen  kann,  so  dass  er  selbst  die  Gemeinden  in 
möglichst  kleine  Einheiten  zerschlagen  möchte , und  der  sich  energisch  da- 
gegen erklärt,  die  Steuerbefreiten  vonderGemeindevertretungauszuschliefsen, 
ihm  sind  Eigentum  und  Freiheit  so  heilig,  dafs  er  um  ihretwillen  Sanitäts- 
gesetze bekämpft  und  das  Zehnstundengesetz  verwirft.  „Ueber  der  Ein- 
gangspforte seines  Systems,“  schreibt  Sinzheimer  von  'l'oulmin  Smith, 
„steht  die  Grabinschrift  des  alten  Liberalismus:  „Wenn  ihr  auch  kein 
Brot  habt,  so  habt  ihr  doch  Freiheit““.  Ob  man  jedoch  solche  An- 
schauungen, so  sehr  sie  thntsächlich  mit  Interessen  der  Arbeiter  im 
Widerspruch  stehen,  als  Aeufserungen  einer  „arbeiterfeindlichen  Stimmung" 
(S.  24t  bezeichnen  kann,  scheint  uns  in  diesem  Falle  zweifelhaft.  Aber 
nicht  anfechtbar  ist  es,  wenn  Sinzheimer  auf  Grund  ihrer  die  Smithschc 
Theorie  (S.  25)  einen  „überspannten  Immaterialismus“  nennt.  Nicht 
bewufste  Gegnerschaft  gegen  wirkliche  Interessen  der  Arbeiter,  sondern 
Verkennung  dieser  Interessen  bestimmt  die  Stellungnahme  der  meisten 
Theoretiker  des  doktrinären  Radikalismus  der  ersten  Hälfte  des  neun- 
zehnten Jahrhunderts.  Sie  findet  sich  in  vielen  Punkten  auch  noch  bei 
einem  Mann,  der  der  modernen  Arbeiterbewegung  bedeutend  näher  stand 
als  Toulmin  Smith  und  den  Uebergang  vom  abstrakten  Radikalismus  zum 
demokratischen  Sozialismus  darstelit.  nämlich  John  Stuart  Mill.  Dafs  Mill 
als  der  klassische  Vertreter  des  Uebergangs  vom  kommunalistischen 
Liberalismus  des  Toulmin  Smith  zum  Munizipalsozialismus  der  Gegenwart 
betrachtet  werden  kann,  wird  von  Sinzheimer  in  einem  der  interes- 
santesten Kapitel  seines  Buches  (Abschn.  III,  Kap.  1 ) sehr  geistreich 
dargelegt.  Mills  Standpunkt  bildet  die  Brücke  zwischen  der  zentralisti- 
schen Theorie  Chadwicks  und  den  Dezentralisationstendenzen  der  Schule 
von  Toulmin  Smith.  Indes  ist  dieser  Vermittlungsstandpunkt  keines- 
wegs der  eines  geistlosen  F'.klektikers,  als  den  man,  hierin  Marx  nach- 
ahmend, heute  gern  Mill  hinzustellen  sucht.  Was  Marx  über  Mill  schreibt, 
bedarf  manchmal  ziemlich  starker  Nachprüfung.  So  z.  B.  die  im 
„Kapital“  Bd.  1,  4.  Aufl.  S.  4S0  81  am  Oekonomen  Mill  geübte  Kritik,  die 
teils  auf  unrichtigen  Auszügen  aus  Mill  beruht,  teils  aber  auch  das  Citierte 
nicht  richtig  behandelt.  Dem  Politiker  Mill  ist  Marx  gerechter  geworden 
als  dem  Oekonomen.  Aber  auch  ihn  hat  er  nicht  völlig  richtig  be- 
urteilt, teils  weil  er  den  esoterischen  Mill  nicht  kannte,  und  teils  weil 
ihm  für  Fragen,  die  Mill  beschäftigten,  der  Sinn  oder  das  Interesse  fehlte. 
Mill  sah  nicht  so  tief  wie  Marx,  aber  er  sah  — und  vielleicht  gerade 
deshalb  — vieles,  das  der  Oberfläche  näher  liegt,  klarer  und  schärfer 

iS* 


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2 j6 


Litteratur. 


wie  Marx.  Als  Angehöriger  eines  geschichtlich  hervorragend  aktiven 
Volkes,  in  dessen  Mitte  lebend  und  wirkend,  raufste  er,  der  für  den 
Tag  schrieb,  auch  dessen  Probleme  unter  einem  anderen  Gesichtswinkel 
betrachten,  wie  Marx.  Deswegen  sind  aber  seine  Vermittlungen  keines- 
wegs blofs  äufserlicher  Natur,  keine  grundsatzlosen  Kompromisse  zwischen 
unvereinbaren  Gegensätzen.  Es  sind  vielmehr  Versuche,  in  die  Sack- 
gassen der  abstrakten  Spekulation  Bresche  zu  legen  und  die  Gesichts- 
punkte zu  finden,  unter  denen  die  nur  in  der  Spekulation  unvereinbaren, 
in  der  Praxis  aber  neben-  und  miteinander  wirkenden  Kräfte  zu  har- 
monischerer und  systematischerer  Ergänzung  gebracht  werden  können. 
Auf  den  vorliegenden  Gegenstand  bezogen,  suchte  Mill  nach  einem 
unterscheidenden  Merkmal  für  die  sachgeinäfse  Verteilung  der  Verwaltungs- 
funktionen zwischen  Staat  und  Gemeinde,  das  weder  aus  abstrakten  Be- 
griffen geschöpft  war,  noch  auf  ein  Zickzack  grundsatzloser  Kompromisse 
hinauslief.  Und  dies  Merkmal  ist  für  ihn  „die  gröfsere  oder  geringere 
Intensität  des  Interesses,  das  die  Art  der  Durchführung  jener 
Funktionen  direkt  für  die  Nation  als  Ganzes  hat“  (S.  405). 
Wie  Mill  auf  Grund  dieses  Merkmals  die  Aufgaben  im  Einzelnen  ver- 
teilt, kann  hier  nicht  ausgeführt  werden,  so  interessant  es  für  die  Kenn- 
zeichnung des  Mannes  wäre,  der  einen  so  grofsen  Einflufs  auf  die  bürger- 
liche Demokratie  in  England  ausgeiibt  hat.  Mill  geht  zwar  von  der 
Nation  als  Ganzem  aus,  ist  aber  keineswegs  Staatsanbeter.  Seinem 
Staatsideal  ebenso  wie  seinem  Gemeindeideal  haftet,  wie  Sinzheimer  sich 
ausdrückt,  ein  „resignierter  Zug“  an;  Mills  Auffassung  fufst  auf  der  An- 
sicht oder  Erkenntnis,  dafs  „wie  im  Staatsleben  so  auch  im  Gemeinde- 
leben ein  fesselloser  Altruismus  kein  in  absehbarer  Nähe  aufgerichtetes 
und  deshalb  auch  kein  praktisch  zu  berücksichtigendes  Ziel  sei“  (S.  423). 
Daher  seine  grofse  Vorliebe  für  Abgrenzungen  von  Vollmachten.  Mill 
hatte,  obwohl  politisch  Gegner  der  Whigs,  das  Whig-Temperament.  Der  Ein- 
flufs  des  von  ihm  selbst  so  meisterhaft  geschilderten  Erz-Whig  Tocqueville 
läfst  sich,  wie  Sinzheimer  mit  feiner  Analyse  nachweist,  immer  wieder 
bei  ihm  feststellen.  Wie  Tocqueville  und  Toulmin  Smith  verbindet  Mill 
mit  dem  Eintreten  für  die  Ausbildung  kommunaler  Selbstverwaltung  er- 
zieherische Absichten,  aber  ungleich  jenen  zielt  die  Erziehung  bei  ihm 
zum  Kollektivismus  hin.  Die  Selbstverwaltung  der  Gemeinden  ist  bei 
Mill  nicht  manchesterlich,  ihm  nicht  nur  wertvoll,  weil  sie  kraftvolle 
Persönlichkeiten  schaffe,  sondern  auch  deshalb,  „weil  sie  die  Individuen 
mit  der  Fähigkeit  und  dem  Willen  ausstatte,  allgemeinen  Interessen  zu 
dienen",  als  ein  Mittel  zur  Erzeugung  und  Förderung  altruistischer 
Motive. 

Wer  den  Stand  der  englischen  Arbeiterbewegung  zu  der  Zeit  kennt, 
wo  Mill  als  politischer  Schriftsteller  wirkte,  kann  sich  nicht  wundern, 
dafs  sie  ihm  als  Schöpfer  und  Förderer  solcher  Motive  nicht  genügte.  Er 
kann  sich  aber  auch  fernerhin  nicht  wundem,  dafs  Mill  den  Ton  mehr 


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Sinzheimer,  Ludwig,  Der  Londoner  (trafschaftsrat.  277 

auf  diese  Seite  der  Frage  legte,  als  auf  die  der  wirtschaflspolitischen 
Leistungen  der  Gemeinden  für  die  arbeitenden  Klassen.  Findet  sich 
doch  selbst  in  einer  am  Vorabend  der  Schaffung  des  Londoner  Graf- 
schaftsrats — im  Jahre  1887  — erschienenen  Schrift  eines  so  ausge- 
sprochenen Sozialisten  wie  H.  M.  Hyndman  üher  die  Notwendigkeit 
einer  Vereinheitlichung  der  Londoner  Kommunalverwaltung  noch  kein 
über  diese  allgemeinen  Gesichtspunkte  hinausgehendes  Programm  der 
sozialpolitischen  Aufgaben  der  Kommune  London  entwickelt.  Es  handelte 
sich  eben  darum,  erst  die  Form  zu  schaffen  oder  schaffen  zu  helfen,  die 
zur  Gewinnung  des  neuen  Inhalts  erfordert  war,  und  diesem  Ziel  gegen- 
über erschienen  die  Einzelheiten  dieses  Inhalts  als  Fragen  zweiten 
Ranges. 

Hier  ist  ein  Punkt,  wo  Sinzheimer  bei  Analysierung  der  Stand- 
punkte sich  unseres  Erachtens  wiederholt  etwas  zu  eng  an  den  Buch- 
staben von  Erklärungen  in  Reden  und  Schriften  hält.  So  wichtig  es 
für  die  Charakteristik  einer  Epoche  ist,  dal’s  gewisse  Gesichtspunkte  in 
den  Reden  und  Schriften  von  hervorragenden  Politikern  nicht  berührt 
werden,  so  wenig  zuverlässig  sind  solche  Indizien,  wo  es  sich  um  die 
Charakteristik  der  wirklichen  Ab-  und  Ansichten  der  betreffenden  Poli- 
tiker handelt.  Die  Gründe,  welche  diese  für  die  von  ihnen  empfohlenen 
Mafsrcgeln  angeben,  sind  oft  genug  selbst  in  ihren  eigenen  Augen  nur 
Vorwände  oder  Hilfsargumente,  nicht  das  letzte,  sie  wirklich  bewegende 
Motiv,  und  nicht  alles,  was  sie  unerwähnt  lassen,  ist  deshalb  ihnen  un- 
bekannt geblieben.  Dies  gilt  vielleicht  von  keinem  Lande  so  stark  wie 
von  England,  wo  eine  eingewurzelte  spekulationsfeindliche  Konvention 
das  ganze  öffentliche  Let>en  beherrscht.  Sinzheimer  aber  behandelt 
wiederholt  vorwiegend  advokatorische  Ausführungen  als  seien  sie  Be- 
kenntnisse schöner  oder  unschöner  Seelen  und  legt  blofsen  Vorwänden  einen 
über  ihre  unleugbare  symptomatische  Bedeutung  hinausgehenden  Zeugnis- 
wert  bei.  Das  beeinträchtigt  an  einzelnen  Stellen  die  Beweiskraft  seiner 
kritischen  Ausführungen,  die  wir  im  übrigen  jedoch  gerade  wegen  des 
Lichts,  das  sie  auf  die  allgemeine  soziale  Entwicklung  Englands  werfen, 
ganz  besonders  hoch  schätzen. 

Ein  anderer  Fehler  in  der  Sin/heimcrschen  Darstellung  besteht 
unserer  Meinung  nach  darin,  dafs  bei  der  Schilderung  der  Londoner 
Kirchspielgemeinden  und  ihrer  Sonderrechte  nicht  deutlich  genug  zum 
Ausdruck  gebracht  wird,  dafs  es  sich  da  in  der  Mehrheit  der  Fälle  um 
Gemeinden  handelt,  die  ehedem  auch  äufscrlich  von  London  getrennt 
waren  und  erst  im  Laufe  der  Zeit  durch  Wachstum  hüben  und  drüben 
zu  „Stadtteilen“'  von  Grofs-London  geworden  sind.  Sinzheimer  spricht 
zum  Beispiel  in  dieser  Verbindung  von  einer  „Dismembration  der  Lon- 
doner Kommunal  Verwaltung“,  was  den  Eindruck  erweckt,  als  handle  es 
sich  um  willkürliche  Zerstückelung  Londons,  wo  es  sich  faktisch 
nur  um  Belassung  einer  uralten,  aber  hinfällig  gewordenen  Viel- 


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27» 


l.ittoratur. 


köpfigkeit  handelte.  Nur  soweit  die  City  von  London  inbetracht 
kommt,  wird  die  geschichtliche  Besonderheit  scharf  hervorgehoben. 
Aber  wenn  die  Rücksicht  auf  die  City  auch  bis  in  die  allerneueste  Zeit 
hinein  für  die  Erhaltung  der  Selbständigkeit  anderer  Londoner  Sonder- 
getneinden  ausschlaggebend  gewesen  ist,  so  handelte  es  sich  doch  auch 
bei  diesen  um  historische  Rechte.  Wem  das  bekannt  ist,  dem  leuchtet 
es  auch  bei  Sinzheimer  hindurch,  wer  es  aber  nicht  wcifs,  in  dem  wird 
wiederholt  die  Vorstellung  erweckt,  als  sei  London,  statt  nicht  oder 
mangelhaft  vereinigt,  zu  irgend  einer  Zeit  willkürlich  in  Stücke  ge- 
schlagen worden. 

Solche  kleine  Formfehler  sind  die  einzigen  Ausstellungen,  die  wir 
an  Sinzheimers  Buch  zu  machen  hätten.  Irgend  welchen  nennenswerten 
faktischen  Irrtümern  sind  wir  nirgends  begegnet. 

Wir  haben  uns  jedoch  bisher  mehr  an  den  formalpolitischen 
Teil  der  Arbeit  gehalten,  während  ihr  grüfster  Teil  der  Schilderung  der 
wirtschaftlichen  und  sozialpolitischen  Verwaltung  Londons  im  19.  Jahr- 
hundert bis  z.ur  Schöpfung  des  Grafschaftsrats  gewidmet  ist.  Dieser,  für 
den  Sozialpolitiker  so  wichtige  Teil  ist  vom  Verfasser  mit  einer  Sorgfalt 
und  Uebersichtlichkeit  ausgearbeitet  worden,  die  das  höchste  Lob  ver- 
dienen. Wir  lernen  die  Geschichte  aller  wichtigen  Verwaltungszweige 
der  Hauptstadt  unter  der  Herrschaft  der  privilegierten  Vestries  und  des 
von  ihnen  in  indirekter  Wahl  gebildeten  Betriebsamts  kennen,  von  der 
Wohnungspolizei  bis  zum  Drosehkenwesen,  von  der  Gas-  und  Wasser- 
versorgung bis  zur  Verwaltung  der  Docks,  der  Regelung  des  Ziehkinder- 
wesens und  der  Finanzwirtschaft  der  Hauptstadt.  Es  ist  da  keineswegs 
nur  Schatten  zu  verzeichnen,  der  Londoner  Grafschaftsrat  ist  nicht  aus 
dunkler  Nacht  als  Lichterscheinung  heraufgetaucht.  So  scharf  Sinz- 
heimers Kritik  ist,  so  ist  sie  doch  nirgends  in  anderer  Weise  tendenziös, 
als  dies  der  sozialpolitische  Standpunkt  des  Verfassers  der  Sache  nach 
mit  sich  bringt  und  erheischt.  Er  kennzeichnet  die  Unvollkommenheiten, 
aber  er  verschweigt  nicht  die  Leistungen  der  früheren  Verwaltung.  Er 
zeigt  vielmehr,  wie  sie,  dem  praktischen  Bedürfnis  folgend,  schrittweise 
zu  immer  weiteren  Reformen  vorgeht,  bis  der  Punkt  erreicht  wird,  wo 
der  Klassenstandpunkt  der  Vertretung  es  zu  keinem  ferneren  Fortschritt 
kommen  läfst.  Seine  oft  sehr  lebendigen,  mit  warmem  Gefühl  vorge- 
tragenen Darlegungen  sind  eit)  höchst  wertvoller  Beitrag  zur  NViitschafts* 
geschichte  des  neunzehnten  Jahrhunderts;  sic  veranschaulichen  den  Zu- 
sammenhang privatwirtschaftlicher  und  öffentlich- wirtschaftlicher  l'.nt- 
wicklungen  in  unaufdringlicher,  ungezwungener  Weise  aufs  trefflichste. 
Der  Mangel  einer  einheitlichen  Munizipalität  Grofs-Londons  ist  für  die 
Unterlassung  mancher  kommunalistischen  Mafsnahmen  verantwortlich,  die, 
wie  z.  B.  die  Kommunalisierung  der  Gas-  und  Wasserwerke,  anderwärts 
mit  Erfolg  ins  Werk  gesetzt  wurden.  Aber  dafür  hat  sich  die  Munizipal- 
verwaltung Londons  durch  bedeutsame  Einrichtungen  schadlos  gehalten, 


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Norden  holz,  A.,  Allgemeine  Theorie  der  gesellschaftlichen  Produktion.  279 


die  nach  anderer  Seite  hin  vorbildlich  geworden  sind.  Hierher  gehört 
z.  B.  der  den  Gasgesellschaften  vorgeschriebene  gleitende  Tarif,  der  Er- 
höhung der  Dividenden  nur  im  Verhältnis  der  Ennäfsigung  des  Gaspreises 
erlaubt.  Derartige  Mafsnahmen  sind  um  so  interessanter,  als  sie,  wie  der 
Verfasser  hervorhebt.  Versuche  darstellen,  das  auf  Kahlreichen  anderen 
Wirtschaftsgebieten  aktuelle  Problem  zu  lösen,  welche  Mittel  dem 
Staat  zu  Gebote  stehen,  um  die  Abnehmer  der  Erzeug- 
nisse kartellierter  Unternehmungen  vor  Ausbeutung  zu 
schützen  (S.  256). 

Nach  alledem  bildet  diese,  vom  Verfasser  als  „Vorgeschichte"  bc- 
zeiehnete  Arbeit  ein  in  sich  selbst  abgerundetes  Werk  von  grofsem  In- 
teresse, einen  überaus  wertvollen  Beitrag  zur  Verwaltungsgeschichte  und 
den  Verwaltungsproblemen  der  Gegenwart.  Die  Litteratur  der  Sozial- 
politik erfährt  durch  sie  eine  nicht  geringe  Bereicherung. 

Grofs-Lichterfelde-Berlin.  ED.  BERNSTEIN. 


Nor  den  hol  2,  Dr.  jur.,  Allgemeine  Theorie  der  gesellschaft- 
lichen Produktion.  München,  C.  H.  Beck,  1901.  X und 
292  S. 

Ein  theoretisches  Werk  nationalökonomischen  Inhalts  zu  schreiben, 
erfordert  heutzutage  einen  ungewöhnlichen  Mut  Denn  das  Interesse  an 
rein  theoretischen  Arbeiten  ist  offenbar  geringer,  denn  jemals.  Waren 
die  Leistungen  eines  Roscher  und  anderer  Vertreter  der  national- 
ökonomischen Biedermaierzeit  nicht  geeignet,  den  Respekt  vor  der 
Theorie  zu  erhöhen,  so  haben  die  ungeniefsbaren  Darstellungen  der 
Mengerschen  Schule  vollends  die  Freude  an  theoretischen  Studien  ver- 
dorben. 

Der  Verfasser  der  vorliegenden  Arbeit  schlägt  selbständige  Bahnen 
ein.  Auffällig  ist,  dass  er,  obwohl  von  gesellschaftlicher  Produktion  im 
allgemeinen  die  Rede  ist,  doch  nur  die  kapitalistische  Wirtschaftsordnung 
im  Auge  hat  und  andere  Produktionsweisen  nur  ganz  beiläufig  erwähnt. 
Bei  seiner  Analyse  bedient  sich  der  Verfasser  der  deduktiven  Methode. 
Mit  grosser  logischer  Kraft  werden  aus  wenigen  Grundbegriffen  alle  ver- 
wickelteren  Phänomene  abgeleitet.  Dabei  ist  es  kein  Wunder,  wenn 
das  Kapital  lediglich  aus  der  zeitlichen  Erstreckung  der  Produktion,  aus 
der  Verlängerung  der  Produktionszeit  erklärt  wird.  Bei  dem  Mangel  an 
historischer  Methode  bleibt  die  Entstehung,  wie  die  geschichtliche  Rolle 
des  Kapitals  gleich  unfafsbar.  Noch  mehr  aus  der  Pistole  geschossen 
ist  der  Begriff  der  gesellschaftlichen  Autoexploitation  oder  Selbstaus- 
bcutung  der  Gesellschaft,  mit  dem  der  Verfasser  operiert.  Als  Jurist 
legt  er  den  Hauptnachdruck  auf  den  Umstand,  dafs  gewisse  Institute 


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28o 


Litn-ralur. 


des  öffentlichen  Rechts  wie  des  Privatrechts  Ausbeutung  einzelner  Ge- 
sellschaftsglieder begünstigen.  Dafs  auch  auf  rein  ökonomischem  Wege 
die  Ausbeutung  einzelner  Gesellschaftsgliedcr  möglich  ist , wird  nur 
flüchtig  angedeutet. 

Der  Schwerpunkt  der  Nordenholzschen  Arbeit  liegt  in  ihren  Aus- 
führungen über  Verteilung  und  Austausch.  Heide  sind  nach  dem  Ver- 
fasser zwei  völlig  koordinierte  Formen  der  Auseinandersetzung  über  das 
gesellschafdiche  Produkt.  Dem  Tauschwert  der  Waren  tritt  ein  Ver- 
teilungswert der  Produktionsfaktoren  (Kapital  und  Arbeit)  zur  Seite. 
Während  der  Tauschwert  den  Inhalt  der  gesellschaftlichen  Produktion 
reguliert,  bestimmt  der  Verteilungswert  die  Form  der  letzteren.  Ver- 
teilungswert wie  Tauschwert  werden  durch  die  gesellschaftliche  Widrig- 
keit bestimmt.  Der  Verteilungswert  der  Arbeit  hängt  ab  von  den 
widrigen  Effekten  der  Arbeit.  Der  Verteilungswert  des  Kapitals  hängt  ab 
von  den  widrigen  Effekten  des  Kapitals  oder  dem  Opfer,  das  der  Kapitalist 
durch  den  Verzicht  auf  unmittelbaren  Genufs  von  Produkten  leistet.  — 
Der  Verfasser  übersieht,  dafs  gerade  die  Arbeiter,  denen  die  widrigsten 
Arbeiten  obliegen,  dafs  diese  Arbeiter,  die  wie  Maxim  Gorki  sagt,  ihre 
Arbeit  mit  bitterem  Hafse  hassen,  am  schlechtesten  bezahlt  werden.  Die 
Lehre  vom  Verteilungswert  des  Kapitals  erinnert  zu  sehr  an  die  alte, 
oft  widerlegte  Abstinenztheorie. 

Gegenliber  der  oberflächlichen  Auffassung  vieler  Nationalökonomen, 
die  Arbeitslohn,  Zins  u.  s.  w.  lediglich  aus  Zirkulationsvorgängen  erklären, 
verdient  die  scharfe  Scheidung  von  Austausch  und  Verteilung,  die  der 
Verfasser  vornimuit,  Anerkennung.  Im  gewissen  Sinne  begegnet  sich  der 
Verfasser  hier  mit  Marx,  der  freilich  die  Verteilungsverhältnisse  nur  für 
eine  Kehrseite  der  Produktionsverhältnisse  hält.  Wenn  nach  Nordenholz 
der  Verteilungswert  der  Produktionsfaktoren  durch  den  Zugang  und  Abflufs 
von  Kapital  und  Arbeit  zu  den  einzelnen  Produktionszweigen  reguliert 
wird,  so  zeigt  ein  Hlick  auf  die  von  Marx  gegebene  Darstellung  der 
Ausgleichung  der  Kapitale  und  der  Profitraten,  welche  komplizierte  Vor- 
gänge hier  vorliegen.  Dieselben’  sind  weder  durch  das  Spiel  des  Tausch- 
werts noch  durch  den  sogenannten  Verteilungswert  allen  zu  deuten.  Zu 
rügen  ist  dabei  noch,  dafs  der  Verfasser  einfache  Hegriffe  durch  kom- 
pliziertere erklären  will  also  ignotum  durch  ignotius  deutet.  Schon 
Malthus  hat  davor  gewarnt,  bei  der  Untersuchung  des  Werts  von  Kapital 
und  Arlieit  zu  sprechen. 

Wenn  wir  uns  gegen  den  Hauptteil  der  vom  Verfasser  verfochtenen 
1 heorien  ablehnend  verhalten,  so  können  wir  vielen  Fänzelauslührungen 
lebhaft  zustimmen.  Besonders  gilt  dies  von  dem  Kapitel  über  die  Orga- 
nisationsformen  der  gesellschaftlichen  Produktion,  wo  die  juristische  Ver- 
anlagung des  Verfassers  sich  glänzend  bewährt.  Schon  um  dieses 
Kapitels  willen  bleibt  das  Huch  lesenswert. 

Bresl'iu.  OTTO  PRINGSHE1M. 


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Die  Trusts  in  Amerika. 

Von 

HENRY  YV.  MACROSTY,  B.  A. 

in  London. 

In  der  Botschaft,  welche  der  Präsident  Roosevelt  an  den 
Kongrefe  der  Yereinigten  Staaten  gerichtet  hat.  hat  nichts  so  sehr 
die  öffentliche  Aufmerksamkeit  erregt  wie  seine  Ankündigung,  den 
Trusts  eine  legislative  Behandlung  zu  teil  werden  zu  lassen.  Schon 
früher  haben  die  Präsidenten  in  ihren  Botschaften  ihrer  Abneigung 
gegen  die  grolsen  Unternehmerverbände  einen  mehr  oder  weniger 
starken  Ausdruck  verliehen.  Doch  nie  zuvor  hatte  das  Problem 
eine  seiner  Bedeutung  und  Schwierigkeit  entsprechende  Würdigung  er- 
fahren. Dabei  hat  es  ständig  an  Universalität  gewonnen,  indem  es 
sich  über  alle  Industriestaaten  verbreitete.  In  der  einen  oder  anderen 
Gestalt  erscheint  es  im  schutzzöllnerischen  Amerika  wie  im  frei- 
händlerischen  England,  ebenso  in  Deutschland,  Oesterreich,  Frank- 
reich und  sogar  in  Japan,  überall  zeigt  sich,  dal's  die  Sphäre  des 
freien  Wettbewerbs  mehr  und  mehr  eingeengt  wird.  Die  Herr- 
schaft über  das  gewerbliche  Gebiet  ruht  entweder  in  der  Hand 
grofser  Firmen,  die  durch  Patente  geschützt  sind,  wie  der  Singer 
Sewing  Machine  Company  und  der  Dunlop  Pneumatic  Tyre  Com- 
pany ; oder  in  der  Hand  ungeheurer  Kapitalvereinigungen,  wie  es  die 
Standard  Oil  Company,  die  United  States  Steel  Corporation  und  die 
anderen  uns  bekannten  amerikanischen  Trusts  sind;  aber  auch  in 
der  Hand  von  Syndikaten,  Gesellschaften  und  Verbänden  von 
Fabrikanten,  die  sich  freiwillig  auf  bestimmte  oder  unbestimmte 
Zeit  zusammenschliefsen,  um  die  Löhne,  die  Produktionsmenge  und 
die  Preise  zu  vereinbaren.  Die  alte  individualistische,  auf  dem 
freien  Wettbewerb  beruhende  Organisation  der  Industrie  weicht 

Archiv  für  soz.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVII.  19 


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282 


Henry  W.  M a c r o s t y , 


immer  mehr  einer  neuen  Organisationsform,  deren  Grundlagen  die 
Genossenschaft  und  die  Vereinigung  sind,  während  der  Wettbewerb 
der  Industrievölker  untereinander  immer  mehr  zunimmt.  Wie  ein 
Gemeinplatz  klingt  die  Behauptung,  dafs  die  am  besten  organisierten 
Unternehmer  eines  lindes  im  Konkurrenzkampf  um  ein  bestimmtes 
Marktgebiet  die  minder  gut  organisierten  Unternehmer  eines  anderen 
Landes  schlagen  werden,  und  doch  ist  es  diese  einfache  Thatsache, 
welche  die  gewerbliche  Organisation  unserer  ausländischen  Kon- 
kurrenten zum  Gegenstand  eines  dauernden  und  lebhaften  Interesses 
für  uns  macht.  Um  nur  ein  Beispiel  zu  erwähnen,  sei  auf  die 
Diamond  Match  Company  of  America  hingewiesen.  Dieser  „Trust“ 
beherrscht  die  Herstellung  von  Streichhölzern  in  den  Vereinigten 
Staaten.  Einen  besonders  hohen  Wert  legt  die  Leitung  dieser  Ge- 
sellschaft auf  die  Zusammensetzung  ihrer  wissenschaftlichen  Kom- 
mission. Die  Summen,  die  sie  jährlich  für  Experimente  ausgiebt, 
belaufen  sich  auf  mindestens  500c»  Dollars.  Im  letzten  Jahre  allein  ver- 
wandte sie  250000  Dollars  auf  den  Ankauf  von  Patenten,  und  ihre  Ver- 
treter durchwandern  auf  der  Suche  nach  neuen  Erfindungen  die 
ganze  Welt.  In  ganz  anderer  Weise  verfahrt  die  grofse  englische 
Firma  Bryant  and  May.  In  dem  sicheren  Besitz  eines  grofsen 
Namens  und  gegenüber  der  Thatsache,  dafs  sie  imstande  war,  ihr 
Aktienkapital  mit  17  Proz.  zu  verzinsen,  vernachlässigte  sie  die  Ver- 
besserung ihrer  Produktionstechnik  und  fuhr  fort  mit  Maschinen 
zu  arbeiten,  die  man  in  Amerika  schon  vor  16  Jahren  zu  dem  alten 
Eisen  geworfen  hatte.  Die  natürliche  Folge  war,  dafs  die  ameri- 
kanische Gesellschaft  in  das  Gebiet  ihres  englischen  Konkurrenten 
eindrang  und  eine  Tochtergesellschaft  in  Liverpool  gründete.  Nach 
einer  fünfjährigen  Geschäftstätigkeit  hatte  diese  Gesellschaft  eine 
so  starke  Position  erobert,  dafs  Bryant  and  May  schließlich  froh 
waren,  ihr  Unternehmen  an  die  Diamond  Match  Company  zu  ver- 
kaufen. Diese  für  sie  demütigende  Aufsaugung  erschien  ihnen  an- 
nehmbarer als  die  Fortsetzung  des  Vernichtungskam pfes.  Einen 
ähnlichen  Angriff  versuchte  im  vergangenen  Herbst  der  ameri- 
kanische Tabak-Trust  auf  die  englische  Tabakindustrie.  Der  Trust 
setzte  sich  in  England  durch  Aufkauf  einer  sehr  bekannten  Ge- 
sellschaft fest.  Die  englische  Tabakindustrie  aber  ergab  sich  nicht. 
Die  Fabrikanten  bildeten  selbst  eine  gewaltige  Vereinigung,  die 
Imperial  Tobacco  Company,  der  dreizehn  hervorragende  Firmen 
beitraten,  und  die  über  ein  Kapital  von  15  Millionen  Pfund 
Sterling  verfügt.  Mit  dem  amerikanischen  Wettbewerb  haben 


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Die  Trusts  in  Amerika. 


283 


die  englischen  und  deutschen  Eisen-  und  Stahlindustrieen  jetzt  nicht 
nur  auf  neutralen  Märkten  zu  rechnen,  sondern  es  ist  auch  die  offen 
eingestandene  Absicht  der  United  States  Steel  Corporation  — des 
„Octopus“  — dieses  Trustungeheuers,  einen  umfangreichen  Ausfuhr- 
handel — koste  es  was  es  wolle  — nach  allen  europäischen  Märkten 
zu  betreiben. 

Offenbar  liegt  es  im  Interesse  aller  Fabrikanten  und  Kaufleute, 
der  Organisation  und  dem  Geschäftsverfahren  der  amerikanischen 
„Trusts"  ein  sorgfältiges  Studium  zu  widmen,  da  die  Bewegung  zur 
Bildung  von  Verbänden  in  den  Vereinigten  Staaten  am  weitesten 
und  am  schnellsten  fortgeschritten  ist.  Es  bietet  sich  dort  auch  die 
günstigste  Gelegenheit,  die  Mängel  und  die  nachteiligen  Folgen 
dieser  Organisationen  zu  beobachten.  Denn  es  ist  ein  seltsames 
Phänomen,  dafs  Amerika  trotz  der  umfassenden  Konsolidierungen 
seiner  Industrieen  dem  Individualismus  treu  geblieben  ist.  Amerika 
ist  ein  neues  Land,  das  von  den  unternehmungslustigsten  Persön- 
lichkeiten Europas  kolonisiert  wurde,  und  das  in  einer  Art  besiedelt 
wurde,  die  Selbstvertrauen  und  Kraft  der  Initiative  als  Haupt- 
tugenden erscheinen  liefs.  Der  Nachdruck,  der  damit  auf  die  Eigen- 
schaften gelegt  wurde,  welche  die  Stärke  der  Individualität  be- 
dingen, wurde  in  einer  späteren  Zeit  von  der  Führung  der  Grenz- 
streitigkeiten auf  die  des  Handels  übertragen,  und  es  blieb  jedem 
einzelnen  selbst  überlassen,  seine  Interessen  zu  erkennen  und  zu 
wahren.  Vielseitigkeit,  Erfindungsgeist,  Energie  und  Entschlossen- 
heit wurden  in  dieser  Weise  ausgebildet,  aber  daneben  entwickelten 
sich  auch  mannigfache  Schattenseiten.  Caveat  emptor!  ist  noch 
immer  der  allgemeinste  Grundsatz  des  amerikanischen  Geschäfts- 
verkehrs, und  erst  seit  wenigen  Jahren  ist  es  gelungen,  den  Eisen- 
bahngesellschaften wenigstens  eine  Idee  von  den  Pflichten,  die  sie 
der  Gemeinschaft  gegenüber  erfüllen  müssen,  beizubringen.  So 
sehen  wir,  wie  in  der  Neuzeit  die  konsequentesten  Individualisten 
eine  Konsolidierung  der  Industrie  durchführen,  von  der  vielfach  an- 
genommen wird,  dafs  sie  die  Vorstufe  zum  Sozialstaate  bilde. 

In  einem  jungen  Lande  wie  die  Vereinigten  Staaten  geht 
die  Entwicklung  so  schnell  vorwärts , dafs  die  Ereignisse  der 
Gegenwart  gar  bald  vom  Staube  der  Geschichte  bedeckt  werden. 
Glücklicherweise  sind  wir  wenigstens  im  Besitz  des  Rohmaterials 
für  den  Aufbau  einer  solchen  Geschichte.  Der  Kongrefs  der  Ver- 
einigten Staaten  nahm  am  18.  Juni  1898  ein  Gesetz  an  zur  Ein- 
setzung einer  Industriekommission  (Industrial-Commission).  Der 

19* 


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284 


Henry  \Y.  Macrostv, 


Kommission  wurde  folgende  Anweisung  gegeben:  „Es  soll  ihre 
Aufgabe  sein,  Untersuchungen  über  Fragen  anzustellen,  die  sich  aut 
die  Einwanderung,  auf  die  I-age  der  Arbeiter  und  der  Landwirt- 
schaft , auf  die  industrielle  Produktion  und  auf  den  Handel  be- 
ziehen. Sie  soll  ferner  über  die  Ergebnisse  ihrer  Untersuchungen 
dem  Kongrefs  Bericht  erstatten  und  ihm  Vorschläge  zur  Gesetz- 
gebung machen,  die  sie  inbezug  auf  diese  Gegenstände  für  besonders 
ratsam  hält.“  Eine  Abteilung  dieser  Kommission  unternahm  in- 
folgedessen die  Untersuchung  der  „Trusts  und  der  Gewerbever- 
bände". Vorgeladen  vor  diese  Abteilung  wurden  dann  nicht  nur 
die  amtlichen  Vertreter  der  hervorragenden  und  typischen  Trusts, 
sondern  auch  die  vieler,  in  Europa  noch  nicht  bekannter  Organi- 
sationen, die  als  Zeugen  über  die  Entstehung  und  die  Führung 
ihres  Geschäftsbetriebs  vernommen  wurden.  Auch  die  Gegner  und 
die  Konkurrenten  der  Trusts  kamen  vor  der  Kommission  zum 
Wort,  die  nichts  unversucht  liefs,  um  die  Wahrheit  zu  ermitteln. 
Die  Zeugen  gaben  ihre  Aussagen  mit  überraschender  Offenheit,  und 
selbst  grofse  industrielle  und  finanzielle  Magnaten  deckten  die  Ge- 
heimnisse ihrer  Geschäftsführung  rückhaltlos  auf.  Es  machte  den 
Eindruck,  als  ob  sie  in  dieser  Weise  das  amerikanische  Volk  auf 
ihre  Seite  ziehen  wollten,  um  den  Hafs  und  den  Argwohn,  womit 
ihr  Thun  und  Treiben  betrachtet  wurde,  nach  Möglichkeit  zu  zer- 
streuen. Die  Zeugenaussagen  sind  jetzt  in  mehreren  Bänden  von 
mehr  als  3000  Oktavseiten  veröffentlicht,  und  wir  beabsichtigen, 
diesem  Bericht  einige  Thatsachen  zu  entnehmen,  die  für  die  haupt- 
sächlichsten Erscheinungsformen  des  wichtigsten  aller  modernen 
wirtschaftlichen  Probleme  besonders  charakteristisch  sind. 

Das  moderne  Wirtschaftsleben  weist  drei  Züge  auf,  die  in  be- 
ständigem Zusammenwirken  einen  Preisfall  hereigeführt  haben  . . . 
Es  sind  die  Transportverbesserungen,  die  Entwicklung  des  Welt- 
marktes und  die  Entstehung  neuer  wirtschaftlicher  Gemeinschaften. 

Amerika  hatte  sich  durch  seinen  Schutzzolltarif  dem  Eindringen 
lies  fremden  Wettbewerbes  widersetzt,  worunter  England  z.  B.  zu 
leiden  hatte.  Aber  es  scheint,  als  ob  dieser  Schutz  nur  dazu  diente, 
einem  energischen  und  schrankenlosen  Wettbewerbe  zwischen  den 
heimischen  Fabrikanten  auf  dem  inländischen  Markte  einen  weiteren 
Spielraum  zu  verschallen. 

In  dem  Bericht  heilst  es:  „Unter  den  Ursachen,  welche  zu  der 
Bildung  von  Gewerbeverbänden  geführt  haben , wurde  von  allen 
Zeugen  besonders  der  Wettbewerb  hervorgehoben,  der  mit  solcher 


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Die  Trusts  in  Amerika.  385 

Kraft  aufgetreten  sei,  dafs  fast  sämtliche  konkurrierende  Unter- 
nehmungen ohne  Gewinn  arbeiten  mufsten“.  Das  erste  und  natür- 
liche Mittel  um  die  entschwundenen  Gewinne  wieder  zu  erlangen, 
bildet  eine  Vereinbarung  zwischen  den  Fabrikanten,  wodurch  die 
Preise  in  einer  annehmbaren  Höhe  festgesetzt  werden.  Diese  Ver- 
einbarungen, welche  „Pools"  (Kartelle)  genannt  werden,  bestehen 
gewöhnlich  nur  kurze  Zeit,  denn  die  vereinbarten  Preise  sind  immer 
abnorm  hoch.  Die  übertriebenen  Gewinne  veranlassen  die  Ent- 
stehung neuer  Konkurrenz  oder  sic  schränken  die  Nachfrage  ein 
und  veranlassen  in  dieser  Weise  den  Austritt  einiger  Mitglieder  aus 
der  Vereinigung.  „Der  Pool  verliert  dann  seinen  Hoden“  wie  die 
Redensart  lautet,  die  Preise  fallen,  der  Gewerbeverband  wird  auf- 
gelöst bis  später  wiederum  ein  neuer  Pool  gebildet  wird.  Diese 
Entwicklungsstufe  wird  durch  häufige  Preisschwankungen  charakteri- 
siert. Sie  bestand  hauptsächlich  in  der  Whiskey-Produktion  (1870 
bis  1887),  in  der  Stahlindustrie  (1894—1898),  in  der  Fabrikation 
von  F’ensterglas  (1880 — 1900),  in  dem  Anthracit-Kohlengewerbe 
(1872 — 1899)  und  in  verschiedenen  anderen. 

Es  stellte  sich  heraus,  dafs  eine  wirksamere  F’orm  der  Organi- 
sation nötig  geworden  war,  und  cs  gelang  im  Jahre  1882  dem 
Standard  Oil-Trust  diese  Form  zu  entdecken.  Die  Gesellschaften, 
welche  in  die  Vereinigungen  eintraten,  übergaben  den  gröfsten  Teil 
ihrer  Aktien  den  sogenannten  Trustees,  welche  dadurch  eine  voll- 
ständige Kontrolle  über  die  vereinigten  Betriebe  erhielten.  Die 
Trustees  gaben  dann  an  Stelle  der  ihnen  anvertrauten  Aktien  Certi- 
fikate  aus,  die  häufig  den  Wert  des  ursprünglichen  Kapitals  mehr- 
fach überstiegen.  Diese  Organisationsform  wurde  im  Jahre  1887 
angenommen  von  dem  Destillers  und  Cattlc  Feeders-Trust  (Whiskey- 
Trust)  und  von  der  Sogar  Refineries  Company  (dem  Zucker-Trust) 
in  demselben  Jahre. 

Es  war  der  neuen  Form  aber  nur  eine  kurze  Existenz  be- 
schieden,  denn  sie  wurde  in  verschiedenen  Staaten. für  ungesetzlich 
erklärt  und  die  „Trusts"  mufsten  wieder  aufgelöst  werden. 

Aber  die  Auflösung  bedeutete  auch  nicht  einmal  eine  zeit- 
weilige Unterbrechung.  Der  Standard  Oil-Trust  reorganisierte  seinen 
Betrieb  in  zwanzig  Gesellschaften,  indem  er  die  Trust  Certifikate 
durch  eine  entsprechende  Menge  Aktien  der  einzelnen  Gesellschaften 
ersetzte.  Die  einheitliche  Kontrolle  wurde  dadurch  gesichert,  dafs 
die  Mehrzahl  der  Aktien  jeder  einzelnen  Gesellschaft  in  den  Händen 
derselben  Person  verblieb.  Mr.  Carnegie  nahm  bis  zu  einem  ge- 


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286 


Henry  W.  Macrosty, 


wissen  Grade  diese  Form  für  die  Organisation  seines  grofsen  Stahl- 
geschäfts an.  Es  wurden  ungefähr  27  Gesellschaften  für  die  einzelnen 
Produktionszweige  gegründet  und  in  jeder  einzelnen  hielt  Mr.  Carnegie 
die  Aktienmajorität. 

Aul'scr  diesem  einzigen  Falle  hat  das  Beispiel  der  Standard  Oil 
Company  keine  Nachahmung  gefunden.  Die  Methode,  die  jetzt  ge- 
wöhnlich angewendet  wird,  um  eine  Konsolidierung  mehrerer  Firmen 
oder  Gesellschaften  durchzuführen,  besteht  darin,  eine  neue  Gesell- 
schaft ins  Leben  zu  rufen,  welche  die  einzelnen  Betriebe  aufkauft. 
In  England  z.  B.  ist  diese  Methode  ausschliefslich  zur  Anwendung 
gelangt.  Eine  andere  Methode,  die  aber  nicht  so  allgemein  ver- 
breitet ist,  ist  die,  dal's  die  neue  Gesellschaft  nicht  die  einzelnen 
Betriebe  als  Eigentum  erwirbt,  sondern  die  grofse  Mehrzahl  der 
Aktien  von  den  ursprünglichen  Gesellschaften  kauft,  in  welchen  sie 
dann  die  Kontrolle  durch  Ernennung  ihrer  Direktoren  erlangt.  Als 
ein  Beispiel  der  letzteren  Form  mag  die  Federal  Steel  Company, 
als  ein  Beispiel  der  ersteren  mag  die  American  Sugar  Refining 
Company  gelten. 

In  ihrer  Gesamtheit  stellen  sie  die  letzte  Stufe  der  Trust- 
bewegung jin  den  Vereinigten  Staaten  dar,  denn  die  einzelnen 
Standard  Oil  Companies  werden  jetzt  auch  zu  einer  grofsen  Ge- 
sellschaft zusammengefafst.  Es  ist  das  ein  Verfahren , das  von 
Mr.  Carnegie  im  Jahre  1 892  befolgt  wurde.  Es  kommt  häufig  vor, 
dafs  eine  Industrie  in  mehrere  von  einander  unabhängige  Zweige  zer- 
fallt. In  diesem  Falle  werden  besondere  Vereinigungen  in  jedem 
einzelnen  Zweige  vorgenommen  und  späterhin  werden  diese  einzelnen 
Trusts  zu  einem  „Trust  der  Trusts"  zusammengefafst.  Beispiele 
hiervon  sind:  The  Destilling  Company  of  America,  die  im  Jahre 
1899  die  American  Spirits  Manufacturing  Company,  die  Spirits 
Distributing  Company,  die  Standard  Distilling  and  Distributing 
Company  the  Kentucky  Distillcries  and  Warehouse  Company  und 
fünf  Getreide- Whiskey-Firmen  in  sich  aufnahm.  Die  im  Jahre  1901 
gegründete  United  States  Steel  Corporation  umfafst  die  Carnegie 
Steel  Company,  die  National  Steel  Company,  die  American  Tinplate 
Company,  die  National  Tube  Company,  die  American  Sheet  Steel 
Company,  die  American  Bridge  Company,  die  American  Steel  Hoop 
Company,  die  American  Steel  and  Wire  Company  und  die  Oliver 
Company.  Die  im  September  1901  gebildete  Consolidated  Tobacco 
Company  umfafst  die  American  Tobacco  Company,  die  Continental 
Tobacco  Company,  die  American  Cigar  Company  und  die  American 


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Die  Trusts  in  Amerika. 


287 


Snuff  Company.  Die  Gesellschaften,  welche  die  Glieder  dieser  drei 
grofsen  Organisationen  bilden,  waren  selbst  wieder  aus  Vereinigungen 
hervorgegangen.  Eine  weniger  öffentliche  Form  der  Vereinigung  be- 
steht in  der  Interessengemeinschaft  der  grofsen  Finanzmagnaten  wie 
Mr.  Pierpont  Morgan  und  Mr.  Rockefeiler,  die  in  vielen  Gesellschaften 
einen  grofsen  Teil  der  Aktien  besitzen.  So  kommt  es,  dafs  eine  be- 
deutende, wenn  auch  unausgesprochene  Vereinigung  zwischen  dem 
Steel  Trust  und  den  Eisenbahn-  und  Dampfschiffsgescllschaften  be- 
steht. 

Nach  dem  gewöhnlichen  Sprachgebrauch  haben  wir  den  Aus- 
druck „Trust"  angewendet,  selbst  wo  er  nicht  mehr  am  Platze  ist. 
Er  wird  im  allgemeinen  jeder  Vereinigung  beigelegt,  die  ein  Monopol 
anstrebt  und  das  Odium,  welches  dieser  Bezeichnung  in  den  An- 
langen des  Zucker-  und  Petroleum-Trusts  anhaftete,  ist  jetzt  auch 
auf  Organisationen  übertragen,  die  eine  andere  P'orm  haben,  aber 
noch  immer  weitverbreitete  Abneigung  und  Unzufriedenheit  erregen. 
Dieser  Hafs  hat  aber  die  Ausbreitung  der  Bewegung  nicht  ver- 
hindern können.  Die  folgende  Tabelle,  die  nur  die  von  der  Kom- 
mission untersuchten  Trusts  erwähnt,  enthält  die  hauptsächlichsten 
Daten  über  die  Gröfse  der  Trusts  und  den  Umfang  der  Kontrolle, 
die  sie  ausüben.  Ihre  Zahlen  machen  indessen  keinen  Anspruch 
auf  Vollständigkeit. 

(Siche  die  Tabelle  S.  2 SS  u.  289). 

Es  sind  das  alles  Gründungen,  die  im  Laufe  der  letzten  Jahre 
ins  Leben  gerufen  wurden.  Aufscr  diesen  sind  noch  zu  nennen: 
die  Otis  Elevator  Company,  welche  die  Herstellung  von  Aufzügen 
jeder  Art  beherrscht;  die  Consolidated  Ice  Company,  die  durch  ihre 
Beziehungen  zur  demokratischen  Parteipolitik  New  Yorks  in 
schlechten  Geruch  kam ; die  Union  Typewriter  Company,  die  unter 
Beibehaltung  der  äufseren  Konkurrenzform , die  Herstellung  der 
hauptsächlichsten  Schreibmaschinen  monopolisiert;  die  American 
Telephone  and  Telegraph  Company,  die  auch  den  Markt  fast  aus- 
schliefslich  beherrscht.  Schliefslich  ist  noch  die  Northern  Securities 
Company  zu  erwähnen,  die  im  November  1901  mit  einem  Kapital 
von  1017  Millionen  Dollars  gegründet  wurde,  um  die  Aktien  mehrerer 
grofser  Eisenbahngesellschaften  zu  erwerben. 

Wie  schwierig  es  ist,  den  Fortschritten  der  Trustbewegung  zu 
folgen,  ergiebt  sich  aus  der  Thatsache,  dafs  die  Gesellschaften, 
welche  im  Jahre  1898  in  den  Vereinigten  Staaten  zum  Zweck  von 
Konsolidierungen  gegründet  wurden,  über  ein  Gcsamtkapital  von 


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288 


Henry  W.  Macrosty, 


Namen  der  Vereinigungen 

Jahre 

Ausgegebenes 
Aktien-  und 
Leihkapital 

Die  Produk- 
tion der  Ver- 
einigung als 
Prozentsatz  d. 

'I  ausend 
Dollars 

gesamten  ame- 
rikanischen 
Produktion 

Distilling  Company  of  America  (Whiskey) 

1887 — 1899 

77  5«> 

80 

l’nited  States  Steel  Corporation  (Stahl)  . 

1892—1901 

I 297  000 

70 

Consolidated  Tobacco  Company  (Tabak) 

1890  1901 

187  844,6 

70 

American  Sugar  Retining  Company(Zuckcr) 

1887 

75000 

90 

National  Shcar  Company 

1898 

2 4IO 

60 

International  Silver  Company  (Silber) 

1898 

«5  007,5 

60 

Standard  Oil  Company  (Petroleum)  . . 

1882 — 1899 

1 10  000 

82 

National  Starch  Company  (Stärke) 

United  States  Rubber  Company  (allgc- 

1899 

6 420 

Die  gesamte 
Buchsenstarke 

meine  Gummiwarcn)  ...... 

Rubber  Good  Manufacturing  Company 

1892 

26000 

1 “ 

(Boots) 

1898 

25  OOO 

J 

American  Chisle  Company  (Kaugummi)  . 
United  States  Shuttle  and  Bobbin  Com- 

1899 

9 000 

65 

P»ny 

1901 

1 850 

85 

American  Smelting  and  Retining  Com- 

panv  (Silber  und  Blei) 

— 

54800 

85 

PitLsburg  Coal  Company  (Anthracit)  . . 

General  Aristo  Company  (Photograph. 

1899 

64  000 

IOO 

Papier) 

1899 

4 800 

75 

Pittsburg  Plate  Glass  Company(Spiegelglas) 
American  Window  Glass  Company 

1895 

14  000 

7* 

(Fensterglas) 

1899 

17  000 

73 

National  Salt  Company  (Salz)  .... 

1899 

12  000 

75 

National  Wall  Paper  Company  (Tapeten) 

1892 

35  500 

60 

American  Thrcad  Company  (Garn)  . . 

Royal  Buking  Powder  Company  (cream 

1898 

14  900 

33 

of  tartar  powders,  Backmehli  . . . 

1899 

20  000 

50 

International  Paper  Company  (Papier)  . 
General  Chemical  Company  (Chemische 

1898 

48  000 

60 

Produkte) 

1899 

15428 

50 

National  Asphalt  Company 

American  Cotton  Oil  Company  (Baum- 

1900 

20  750 

90 

wollöl) 

1889 

33  435 

-- 

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Die  Trusts  in  Amerika.  2$Q 


Namen  der  Vereinigungen 

Jahre 

Ausgegebenes 
Aktien-  und 
Leihkapital 
in 

Tausend 

Dollars 

Die  Produk- 
tion der  Ver- 
einigung als 
Prozentsatz  d. 
gesamten  ame- 
rikanischen 
Produktion 

United  States  Leatber  Company  (Leder)  . 

i 894 

1 4 :o 

5° 

American  Bicydc  Companv 

i s<,<, 

40  000 

65 

Borax  Consolidated  

1899 

7000 

100 

Glucose  Suu.ir  Kitinidg  Company  . . . 

>%7 

40  OOO 

95 

Nach  einer  anderen  Quelle,  die  uns 

vorliegt,  seien  noch  hinzugefügt : 

The  Prcsscd  Steel  Car  Company  . . . 

— 

25  OOO 

— 

The  American  Car  and  Koundrv  Company 

— 

30  OOO 

- 

National  Enamclling  and  Stamping  Comp. 

— 

30  OOO 

— 

American  Beet  Sugar  Company  (Rüben- 
zucker)   

— 

20  000 

— 

American  Malting  Company  (Malz)  . . 

— 

15000 

— 

Havana  Comracrcial  Tobacco  Company 
(Tabak) 

— 

20  OOO 

— 

National  Linseed  Oil  Company  (Lein- 
saatöl i 

iS  000 

— 

National  Biscuit  Company 

— 

4 5 000 

— 

United  States  Varnish  Company  . . 

— 

36  000 

— 

General  Electric  Company 

— 

20  S27 

— 

Amalgamatcd  Copper  Company  (Kupfer) 

— 

155  000 

— 

United  States  Cast  fron  and  Koundrv 
Company  (Gufseisen) 

— 

25  000 

— 

General  Carriage  Company  of  New  York 
(Transportgesellschaft) 

-- 

25  000 

— 

National  Electric  Corporation  .... 

— 

50  000 

— 

Cotton  Prints  Company 

— 

100  000 

— 

American  Pottcries  Company  .... 

— 

27  000 

— 

American  Spring  and  Axlc  Co.  Pullman 
Car  Company 

— 

12  500 

— 

Sanitär)'  Enamelled  Ware  Manufacturers 

— 

74  "OO 

— 

American  Stove  Company 

— 

7 5 00 

— 

Alabama  Consolidated  Coal  and  Iron 
Company 

— 

2 000 

— 

Standard  Chain  Company 

— 

5 000 

— 

American  Steel  Castings  Company 

— 

1 5 000 

— 

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290 


Henry  W.  Macrosly, 


900  Millionen  Dollars  verfügten;  während  die  Gesellschaften,  die  in 
der  ersten  Hälfte  des  Jahres  1899  entstanden,  mit  3100  Millionen 
Dollars  kapitalisiert  waren.  Das  Gesamtkapital  der  Trusts,  die 
Ende  1899  existierten,  wurde  auf  8000  Millionen  Dollars  geschätzt 
— es  sind  das  in  der  That  riesenhafte  Summen!  Das  Tempo  der 
Entwicklung  ist  seit  jener  Zeit  etwas  langsamer  geworden;  denn 
das  Anlage  suchende  Publikum  ist  bei  dem  kolossalen  Anwachsen 
der  Ccrtifikatenflut  etwas  znrückhaltcnder  geworden.  Unter  dem 
Einflufs  der  Kritik  hat  die  Bewegung  jedoch  nur  an  Stetigkeit  und 
innerer  Gesundheit  gewonnen ; von  einem  Stillstand  kann  keines- 
wegs die  Rede  sein. 

Sehr  wenige  der  in  unserer  Eiste  angeführten  Trusts  sind  im 
Besitz  eines  absoluten  Monopols;  aber  im  Anschlufs  an  die  darin 
enthaltenen  Zahlen  ist  zu  beachten,  dafs  die  American  Tin-Plate 
Company  90  Proz.  der  gesamten  VV'eifsblech-Produktion  der  Ver- 
einigten Staaten  hervorbringt;  die  American  Steel  and  Wire  Com- 
pany liefert  90  Proz.  der  gesamten  Produktion  von  Drahtstiften  und 
60  Proz.  der  gesamten  Produktion  von  Draht;  die  National  Tube 
Company  produziert  fast  sämtliche  Röhren  und  die  American  Bridge 
Company  90  Proz.  der  Brücken,  die  in  den  Vereinigten  Staaten  ge- 
baut werden;  die  Standard  Oil  Company  stellt  aufserhaib  ihrer 
Raffinerie  82  Proz.  des  rohen  Oels  her;  und  die  Destilling  Company 
of  America  betreibt  66  Proz.  des  Grofshandels.  Diejenigen  Trusts, 
welche  70  oder  80  Proz.  einer  Ware  hervorbringen,  sind  imstande, 
wie  ein  Kapitalist  bemerkte,  den  Preis  ihrer  Waren  durch  Produktions- 
cinstellung  zu  bestimmen.  Sie  beherrschen  den  Markt  und  setzen 
ihre  eignen  Preise  fest,  die  dann  gewöhnlich  von  den  unabhängigen 
Produzenten  angenommen  werden.  So  bestimmen  z.  B.  die  Standard 
Oil  Company  und  die  American  Sugar  Refining  Company  täglich 
die  Preise  nach  dem  Stande  des  Marktes,  und  die  erstere  bestimmt 
aufserdem  als  gröfster  Produzent  den  Preis  des  rohen  Oels.  Die 
American  Tin-Plate  Company  übt  in  jeder  Weise  einen  den  Markt 
beherrschenden  Einflufs  aus. 

Die  Trusts  streben,  aufser  der  Herrschaft  des  heimischen 
Marktes  auch  die  der  ausländischen  Märkte  zu  erlangen,  und  sie 
sind  jetzt  schon  die  grolsen  Exporteure  amerikanischer  Fabrikate. 
So  liefern  z.  B.  die  Carnegie  Steel  Company  und  die  Standard  Oil 
Company  70  bezw.  90  Proz.  der  gesamten  Stahl-  und  Petroleumaus- 
fuhr. Der  Aul’scnhandel  hat  natürlich  die  Amerikaner  mit  den 
europäischen  Produzenten  in  feindliche  Berührung  gebracht.  Die 


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Die  Trusts  in  Amerika. 


29 


Standard  Oil  Company  hat  die  schottischen  Pctroleumproduzenten 
ruiniert  und  teilt  sich  jetzt  mit  den  Rothschilds  und  mit  Nobel  in 
Europa.  Es  ist  schon  früher  auf  das  Eindringen  des  Streichholz- 
und  des  Tabaktrusts  in  England  hingewiesen  worden.  Der  nächste 
Schritt  der  Entwicklung  ist  die  Gründung  von  internationalen  Trusts. 
Die  Borax  Company  beherrscht  die  Boraxfelder  von  Nord-  und 
Südamerika ; die  American  Thread  Company  und  die  grofsen  eng- 
lischen Vereinigungen  J.  und  P.  Coats  Limited  und  die  englische 
Sewing  Cotton  Company  sind  miteinander  durch  gegenseitigen 
Aktienbesitz  verbunden,  und  sie  beherrschen  den  Welthandel  in 
Nähgarn.  Der  Präsident  der  American  Steel  and  Wire  Company 
sagte  aus,  dals  er  versucht  habe,  eine  internationale  Vereinigung 
mit  den  Drahtproduzenten  Englands,  Deutschlands,  Belgiens,  Frank- 
reichs  und  Oesterreichs  zu  gründen.  Der  Versuch  sei  aber  daran 
gescheitert,  dafs  man  den  Amerikanern  nur  45  Proz.  der  Produktion 
gestatten  wollte,  während  sie  50  Proz.  beanspruchten.  Es  ist  ferner 
beachtenswert,  dals  nach  seiner  Ansicht  der  deutsche  Ausfuhrhandel 
in  Draht  nur  durch  die  günstigen  E'rachtbedingungen  seitens  der 
Staatseisenbahnen  und  der  staatlich  unterstützten  Schiffahrtsgesell- 
schaften gerettet  worden  sei,  und  dafs  die  deutschen  Fabrikanten 
die  Vereinigung  als  ein  Mittel  erstrebten,  um  den  Preis  pro  Tonne 
um  120  Mk.  zu  erhöhen,  während  er  selbst  nur  eine  Erhöhung 
um  40  Mk.  beabsichtigte. 

Glücklicherweise  ist  die  Gefahr  der  internationalen  Trusts  noch 
nicht  sehr  drohend,  denn  es  wird  noch  einige  Zeit  dauern,  bis  die 
nationale  Eifersucht  völlig  durch  das  Verlangen  nach  erhöhtem  Ge- 
winn überwunden  ist.  Nachdem  wir  lediglich  darauf  hingewiesen 
haben,  können  wir  wieder  darauf  zurückkommen,  wie  die  ameri- 
kanischen Trusts  die  Herrschaft  über  den  inländischen  Markt  aus- 
zuüben  suchen.  In  dem  natürlichen  Verlauf  des  Konkurrenzkampfes 
üben  die  Konsumenten  durch  ihre  Nachfrage  nach  billigen  Waren 
einen  Druck  auf  den  Kleinhändler  aus.  Der  Kleinhändler  überträgt 
diesen  Druck  auf  den  Grolshändler  und  dieser  auf  den  Fabrikanten. 
Die  Abwälzung  der  Preiskürzungen  veranlafst  den  Fabrikanten 
nun  seinerseits,  den  Grolshändler  auszuschalten  und  in  direkte  Be- 
ziehungen mit  dem  Kleinhändler  zu  treten.  Ja  es  kommt  vor,  wie 
in  den  Gewerben  der  Fahrrad-  und  Nähmaschinenproduktion,  dals 
beide  Händlergruppen  ausgcschaltet  werden  und  eine  direkte  Ver- 
bindung zwischen  dem  Fabrikanten  und  dem  Konsumenten  her- 
gestellt wird.  Ist  diese  Ausschaltung  in  irgend  einem  Gewerbe 


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292 


II en r y W.  Macrosty, 


nicht  durchzufuhren,  so  sehen  sich  die  Fabrikanten  zur  Vereinigung 
gezwungen.  Fs  lassen  sich  verschiedene  Beispiele  für  die  Ver- 
einigten Staaten  anführen,  in  welchen  die  Zwischenhändler  eliminiert 
worden  sind.  So  wurde  z.  B.  von  dem  Whiskeytrust  die  Spirits 
Distributing  Company  und  die  Spirits  Distilling  und  Distributing 
Company  organisiert,  um  dadurch  sich  das  höchst  einträgliche  Ge- 
schäft der  Spritmischung  und  Rektifikation  anzueignen,  das  bisher 
von  den  Grofshändlern  betrieben  worden  war.  In  einem  anderen 
halle  versuchten  die  Jobbers  oder  Grofskaufleute  von  Spiegelglas 
die  Pittsburg  Plate  Glass  Company  zu  zwingen,  denjenigen  Käufern, 
die  nicht  der  Jobbervereinigung  angehörten,  die  hauptsächlichsten 
Glasartcn  nicht  zu  verkaufen.  Infolgedessen  sah  sich  die  Plate  Glass 
Company  genötigt,  selbst  Warenhäuser  zu  eröffnen,  und  sie  hat  für 
die  F.rrichtung  derselben  4000000  Dollars  verausgabt.  Die  Gesell- 
schaft verkauft  an  jedermann,  und  da  der  Verkauf  von  Spiegelglas 
allein  nicht  die  Gründung  von  Filialen  gestatten  würde,  so  ver- 
kaufen sie  auch  Fensterglas,  Farben  und  andere  Gebrauchsartikel 
für  Maler. 

Häufiger  aber  sind  die  Fälle,  in  welchen  der  Trust  nicht  danach 
strebt  den  Zwischenmann  auszuschalten,  sondern  nur  danach  seinen 
Geschäftsbetrieb  zu  regulieren  und  ihn  in  einen  Agenten  zu  ver- 
wandeln. Der  Zwischenmann  ist  in  der  That  der  geschlossenen 
Vereinigung  gegenüber  völlig  ohnmächtig;  und  da  unter  dem  Druck 
der  Konkurrenz  und  der  Macht  der  Kleinhändler  seine  Gewinne  immer 
mehr  reduziert  werden,  so  muls  er  sich  Iredingungslos  ergeben. 

Nach  einer  Vereinbarung,  die  in  der  amerikanischen  Geschäfts- 
sprache „Factors  agreemenf'  (Faktor  = Agent)  genannt  wird,  wird 
er  verpflichtet,  seine  Waren  zu  dem  festen  Preise  zu  verkaufen,  zu 
welchem  er  sie  selbst  erhält.  Kann  er  nachweisen,  dafs  er  diesen 
Verpflichtungen  nachgekommen  ist,  so  erhält  er  nach  einiger  Zeit 
einen  Rabatt  oder  Abzug  von  diesem  l’reisc  und  dieser  Rabatt 
bildet  seinen  einzigen  Gewinn.  Die  Entwicklung  dieses  Rabatt- 
systems ist  lehrreich.  Die  Wholesale  Groccrs  Association  wurde 
im  Jahre  1888  gegründet,  um  die  I-age  des  Gewerbes  zu  heben. 
Fis  sollte  das  geschehen  durch  Preiserhöhung  einzelner  Waren,  die 
unter  dem  Druck  der  Konkurrenz  zum  Kostenpreisc  verkauft 
worden  waren.  Während  eines  Zeitraumes  von  15  Monaten  setzte 
sie  eine  Erhöhung  des  Zuckerpreises  um  1 4 Cent  für  das  Pfund 
durch,  bis  durch  das  Eintreten  einer  neuen  F'irma  der  Preis  wieder 
herabgedrückt  wurde. 


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Die  Truste  in  Amerika. 


293 


Schließlich  im  Jahre  1895  traten  sie  an  den  Zuckertrust 
heran,  und  nach  einigen  Verhandlungen  liefs  sich  dieser  herbei, 
ihnen  den  Zucker  zu  5 3/,#  Cents  statt  zu  5 Cents  für  das  Pfund 
zu  liefern.  Der  Kleinhändler  sollte  dann  nicht  weniger  als  den 
Lieferungspreis  bezahlen.  Diese  Preiserhöhung  hatte  daher  der 
Konsument  zu  tragen,  obgleich  der  Trust  enorme  Gewinne  machte. 
Erklärte  der  Grofshändler  nach  Verlauf  von  3 Monaten,  dals  er 
den  Preis  aufrecht  erhalten  habe,  so  wurde  der  Preisaufschlag  ihm 
wieder  zurückerstattet.  In  dieser  Weise  erhielt  er  einen  Gewinn 
von  4 Proz.,  da  aber  seine  Geschäftsunkosten  6 '/,  Proz.  betrugen, 
so  arbeitete  er  noch  immer  mit  einem  merklichen,  wenn  auch  ge- 
ringeren Verlust.  Später  gewährte  man  diesen  Rabatt,  ohne  dals 
eine  Erklärung  vorher  abgegeben  worden  war,  und  als  die  Kon- 
kurrenz durch  Gründung  neuer  Zuckcrraffincrieen  wieder  zunahm, 
wurde  der  Rabatt  allgemein  zugestanden  und  der  Grofshändler 
wurde  keinerlei  Beschränkungen  inbetreff  seiner  Bezugsquellen  unter- 
worfen. Noch  einen  Schritt  weiter  ging  der  Sodatrust,  — dieser 
zahlte  den  Rabatt  nur  unter  der  Bedingung,  dals  die  Soda,  die  von 
anderen  Fabrikanten  bezogen  wurde,  nicht  zu  niedrigeren  Preisen 
verkauft  werden  sollte  und  dafs  der  Verkauf  nicht  mit  besonderem 
Eifer  betrieben  werde.  Der  Whiskeytrust  legte  dein  Grofshändler 
noch  eine  schärfere  Verpflichtung  auf,  indem  er  den  Rabatt  nur 
dann  zugestand,  wenn  der  Grofshändler  seine  sämtlichen  Waren  von 
dem  Trust  bezog. 

Die  Vereinbarung  der  American  Tobacco  Company  (welche 
die  Zigaretten-Produktion  beherrscht)  bestimmte,  dafs  dem  Grols- 
handelsagenten,  der  die  vorgeschriebenen  Preise  einhält  und  nicht 
die  Waren  anderer  Fabrikanten  bevorzugt,  2 '/*  Proz.  Diskont  be- 
willigt werde.  Wenn  er  aber  ausschliefslich  die  Produkte  der 
American  Tobacco  Company  vertrieb,  so  erhielt  er  aufserdem  noch 
einen  Diskont  von  7 Proz.  Diese  Gesellschaft  will  dieses  Ver- 
fahren jetzt  aufgegeben  haben,  dagegen  scheint  cs  noch  von  der 
Continental  Tobacco  Company  angewendet  zu  werden.  Dieser 
Trust,  der  mit  Kuchentabak  handelt,  gab  5 1 Proz.  Diskont  allen 
Grofshändlcrn,  welche  sowohl  die  Waren  gewisser,  alter  Firmen 
wie  die  neuen  Sorten,  die  seit  der  Gründung  dieser  Gesellschaft 
auf  den  Markt  gebracht  sind,  nicht  führen.  Da  aber  dieser  Diskont 
nicht  ausreichte,  um  einen  Gewinn  zu  machen,  so  ist  leicht  einzu- 
sehen, welche  gefährliche  Waffe  der  Trust  damit  besafs.  Sie  ist 
um  so  gefährlicher,  als  die  American  Tobacco  Company  ungefähr 


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294 


Henry  W.  Macrosly, 


100  beliebte  Zigarettensorten  und  die  Continental  Tobacco  Com- 
pany ungefähr  7 5 Arten  von  Kuchentabak  besitzt.  Darunter  be- 
finden sich  Waren,  die  kein  Tabakhändler  entbehren  kann.  Zudem 
machte  man  einen  erfolgreichen  Gebrauch  von  dieser  Waffe ; denn  in 
einem  1897  erschienenen  Pamphlet  wird  bemerkt,  dass  79  Händlern 
die  Zusendung  von  Trust-Produkten  verweigert  wurde,  weil  sie 
Konkurrenzwaren  vertrieben  oder  die  Preise  gedrückt  hatten.  Die 
General  Aristo  Company  fabriziert  photographisches  Papier,  das  sie 
durch  die  bekannte  Eastman  Kodak  Company  (eine  Organisation, 
die  Zweiganstalten  in  Deutschland,  Frankreich  und  England  besitzt) 
auf  den  Markt  bringt.  Die  beiden  Gesellschaften  sind  durch  ihren 
Besitz  sehr  eng  miteinander  verbunden,  und  ihre  Waren  müssen  in- 
folge der  allgemeinen  Nachfrage  von  jedem  Händler  auf  Lager  ge- 
halten werden.  Sie  bieten  allen  Händlern  in  photographischen 
Artikeln,  welche  die  vereinbarten  Preise  einhalten,  einen  Diskont 
von  1 5 Proz.  und  denjenigen,  die  keine  Waren  ihrer  Konkurrenten 
verkaufen,  einen  Extradiskont  von  12  Proz.  Sie  gehen  in  ihrem  Be- 
streben, die  ausschliefsliche  Kontrolle  über  den  Markt  zu  erlangen, 
sogar  noch  weiter.  Der  Vizepräsident  des  General  Aristo  Company 
gab  zu,  dafs  „die  Eastman  Kodak  Company  dahin  strebe,  alleinige 
Agenten  für  sich  zu  erlangen".  Er  sagte  ferner:  „Ich  glaube  nicht, 
dafs  die  Eastman  Kodak  Company  sich  mit  einem  Händler  ein- 
lassen würde,  der  nicht  bereit  wäre,  ihre  sämtlichen  Artikel  aus- 
schliefslich  zu  fuhren.  Es  liegt  ihnen  nicht  daran,  an  ihn  zu  ver- 
kaufen, ohne  dai's  er  auf  dem  Absatz  ihrer  Waren  seine  ganze 
Energie  konzentriert.“ 

Diese  Beispiele  werden  genügen.  Andere,  vor  der  Kommission 
abgegebene  Zeugenaussagen  lassen  nicht  nur  die  weite  Verbreitung 
dieses  Mifsbrauchs  erkennen,  sondern  auch  die  Thatsache,  dafs  er  im 
allgemeinen  des  Beifalls  der  Grofs-  und  Kleinhändler  sicher  war; 
denn  diese  erlangten  dadurch  auf  Kosten  der  Konsumenten  einen 
Teil  des  Gewinns,  um  den  die  selbstmörderische  Konkurrenz  sie 
gebracht  hatte.  Pis  ist  dieses  Verfahren  keineswegs  auf  Amerika 
beschränkt.  In  England  besteht  eine  bemerkenswerte  Organisation 
der  Chemiker  und  Drogisten,  die  Proprietary  Articles  Trade  Asso- 
ciation, zu  der  86  P'abrikanten  und  3500  Kleinhändler,  deren  Ge- 
samtzahl 90c»  beträgt,  gehören.  Wenn  ein  Chemiker,  welcher  dem 
Verbände  angehört,  irgend  einen  Artikel  der  vereinigten  Fabrikanten 
unter  dem  angesetzten  Preise  verkauft,  so  wird  ihm  die  Lieferung 
sämtlicher  Waren,  die  von  diesen  Fabrikanten  hergcstellt  werden. 


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Die  Trusts  in  Amerika. 


295 


abgeschnitten.  Die  Kolonialwarenhändler  bemühen  sich,  eine  ähn- 
liche Vereinbarung  für  den  Verkauf  von  Thee,  Kaffee,  Kakao, 
Stärke  etc.  zustande  zu  bringen.  Es  sind  das  Artikel,  die  grofsen- 
teils  unter  dem  Namen  der  Fabrikanten,  die  sie  für  den  Kleinhandel 
verpacken,  verlangt  werden. 

Die  Trustbewegung  leidet  trotz  ihres  weitverbreiteten  Erfolges 
an  gewissen  Mifsbräuchen,  welche  nicht  nur  die  Interessen  der 
Nation,  sondern  auch  das  innere  Gleichgewicht  des  Trusts  bedrohen. 
Der  Präsident  Roosevelt  erwähnte  in  seiner  an  den  Kongrefs  ge- 
richteten Hotschaft  einen  der  hauptsächlichsten  Uebelstände,  indem 
er  die  Notwendigkeit  einer  legislativen  Hchandlung  der  Ueber- 
kapitalisation  betonte.  In  dem  Bericht  der  Industrie-Kommission  ist 
darüber  folgendes  gesagt : „Es  läfst  sich  aus  den  von  der  Kommission 
aufgenommenen  Zeugenaussagen  im  allgemeinen  der  Schlufs  ziehen, 
dals  die  Kapitalisation  dieser  Vereinigungen  den  Wert  ihres  wirk- 
lichen Vermögens  einschlicfslich  ihres  Patentbesitzes  ganz  beträcht- 
lich übersteigt.  In  einigen  Fällen,  in  welchen  man  mit  einer  ge- 
wissen Mäfsigung  vorgegangen  ist,  beträgt  der  Wert  der  aus- 
gegebenen Aktien  (sowohl  der  Vorzugsaktien,  wie  der  gewöhnlichen 
Aktien)  den  doppelten  und  dreifachen  Wert  des  wirklichen  Ver- 
mögens, während  in  den  meisten  Fällen  das  Aktienkapital  in  gar 
keinem  Verhältnis  zu  dem  thatsächlichen  Wert  der  Anlagen  und 
Patente  steht,  wie  z.  B.  in  einem  Falle,  wo  ein  Vermögensbesitz 
von  vielleicht  500000  Dollars  zu  8 Millionen  Dollars  kapitalisiert 
worden  war. 

Es  scheint  im  allgemeinen  der  Brauch  zu  sein,  Vorzugsaktien 
( preferred  stock)  auszugeben , um  den  Wert  des  konkreten  Ver- 
mögens darzustellen,  und  gewöhnliche  Aktien  (common  stock)  für 
einen  gleichen  Betrag  abstrakten  Vermögens,  wie  für  den  Ruf  der 
Firmen,  für  die  infolge  der  Konsolidierung  zu  erwartende  Gewinn- 
steigerung etc. 

Als  die  American  Tin-Plate  Company  gegründet  wurde,  brachten 
die  einzelnen  Verkäufer  ihre  Betriebe  zu  dem  höchsten  Preise,  den 
sie  erhalten  konnten,  in  den  Trust  ein.  Dieser  Preis  umfafste  nicht 
nur  die  konkreten  Aktiva,  sondern  auch  das  Vertrauen  in  den  Akt 
der  Konsolidierung.  Aufserdem  schätzten  sie  die  Werte  nicht  nach 
dem  wirklichen  Stande  der  Industrie,  die  damals  nicht  weit  vom 
Zusammenbruch  war,  sondern  nach  der  Besserung,  die  als  ein  Er- 
gebnis der  Konsolidierung  zu  erwarten  war.  Sie  erhielten  ihre  Be- 
zahlung entweder  in  barem  Gelde  oder  in  Vorzugsaktien  im  Betrage 


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296 


Henry  W.  M a c r « s t y , 


des  nominellen  Wertes  ihrer  Betriebe  und  außerdem  einen  gleichen 
Betrag  gewöhnlicher  Aktien  als  Prämie.  Die  Kapitalisten,  welche 
das  Betriebskapital  zur  Verfügung  stellten,  erhielten  dafür  einen  ent- 
sprechenden Entgelt.  Eine  ähnliche  Ueberkapitalisation  fand  statt  bei 
der  National  Steel  Company,  der  American  Steel  Hoop  Company, 
welche  ebenso  wie  die  Tin-Plate  Company  jetzt  in  die  United 
States  Steel  Corporation  aufgegangen  sind,  und  ebenso  bei  der 
National  Biscuit  Company.  Diese  Gründungen  haben  gewils  schon 
einen  äufserst  fiktiven  Charakter,  aber  es  lassen  sich  noch  krassere 
Beispiele  anführen.  Der  alte  Whiskeytrust  übernahm  seine  Sprit- 
fabriken zu  einem  Werte,  der  den  faktischen  Wert  um  das  vier- 
fache überstieg  und  die  Standard  Distilling  und  Distributing  Com- 
pany bezahlte  den  sechsfachen  Wert  für  einige  Betriebe,  die  sic 
ankaufte.  Vor  der  legislativen  Kommission  des  Staates  New  York 
(allgemein  bekannt  als  die  I.cxow  Trust  Kommission),  die  im  Jahre 
1897  ernannt  wurde,  sagte  der  Präsident  der  American  Tobacco 
Company  aus,  dafs  die  fünf  Betriebe,  welche  zuerst  angekauft 
wurden,  mit  10  Millionen  Dollars  in  Vorzugsaktien  und  15  Millionen 
Dollars  in  gewöhnlichen  Aktien  bezahlt  wurden.  Hiervon  kamen 
5 Millionen  Dollars  auf  Barvermögen,  Land,  Gebäude  und  ähnliche 
Aktiva,  vierhunderttausend  Dollars  kamen  auf  Maschinen  und 
19  Millionen  sechshunderttausend  Dollars  repräsentierten  den  Wert 
des  Vertrauens , der  Fabrikmarken , der  Produktionsprozesse  und 
der  übernommenen  Patente.  Herr  Havcmeyer,  der  Präsident  der 
American  Sugar  Refining  Company  bezeugte  vor  der  Industrie- 
kommission, dafs  die  Hälfte  seines  Kapitals,  das  75  Millionen 
Dollars  beträgt,  zum  Bau  und  zur  Ausrüstung  von  Fabriken  aus- 
reichen  würde,  welche  die  90  Proz.  des  amerikanischen  Zuckers 
produzieren  könnten,  welche  dem  Trust  zufallen.  Vor  der  Lexow 
Kommission  hatte  er  erklärt,  dafs  die  1 5 Gesellschaften,  die  ur- 
sprünglich den  Zuckertrust  bildeten , ihre  Betriebe  zu  Wert- 
schätzungen einbrachten,  die  in  keinem  Verhältnis  zu  den  fak- 
tischen Werten  standen.  Ihr  Wert  wurde  von  den  ursprünglichen 
Eigentümern  ohne  vorhergehende  unparteiische  Untersuchung  fest- 
gestellt.  Zu  derselben  Zeit  kam  ein  seltsamer  Fall  zur  Erörterung : 
Mr.  Searles,  der  Sekretär  ries  Trusts  kaufte  eine  Zuckerfabrik  für 
325  000  Dollars,  deren  Eigentümer  in  den  Trust  nicht  cintreten 
wollten.  Einer  der  Eigentümer  bezeugte,  dafs  sie  nach  seiner  und 
seiner  Kollegen  Ansicht  dabei  ein  gutes  Geschäft  gemacht  hatten. 


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Die  Trusts  in  Amerika. 


29  7 

Mr.  Searles  verkaufte  dann  die  Fabrik  an  den  Trust  für  700000 
Dollars,  die  er  in  Certifikaten  erhielt. 

Eis  ist  unnötig,  bei  diesem  Punkte  noch  weiter  zu  verweilen. 
Die  Anklage  der  Ueberkapitalisation  besagt  nicht,  dafe  überhaupt 
kein  Wert  auf  den  Ruf  der  Firma  und  auf  ihre  Leistungsfähigkeit 
gesetzt  werden  soll;  es  wäre  das  eine  Verkennung  offenbarer  That- 
sachen.  Aber  der  amerikanische  Gebrauch,  den  Wert  des  Ver- 
trauens zu  dem  sieben  bis  vierzehnfachen  Betrage  der  Jahresgewinne 
einzuschätzen,  ist  weit  eher  zu  verwerfen  als  der  englische  Gebrauch 
des  dreijährigen  Kaufes.  Aufserdetn  hat  die  englische  Erfahrung 
der  letzten  Jahre  gezeigt,  welche  grol'se  Gefahren  in  der  Ueber- 
schätzung  der  Patente,  der  Fabrikmarken  und  ähnlicher  abstrakter, 
wenn  auch  wertvoller  Aktiva  liegt,  denn  diese  können  leicht  durch 
neue  Erfindungen  oder  neue  Geschmacksrichtungen  ersetzt  werden. 

Als  im  Jahre  1891  die  United  Alkali  Company  gegründet  wurde, 
legte  sie  auf  ihre  Patente  einen  grofsen  Wert.  Als  aber  ihre  an- 
fänglichen Gewinne  die  Veranlassung  gaben  zur  Entdeckung  neuer 
Produktionsprozesse,  konnte  sie  sich  auf  dem  Markte  kaum  noch 
halten.  Von  einer  ähnlichen  Erfahrung  wissen  die  englischen  Fahr- 
radgescllschaften  zu  erzählen.  Mr.  Havemeyer  gab  zu,  dals  der 
Zuckertrust  Fabriken  weit  über  ihren  Wert  angekauft  habe,  um  die 
Konkurrenz  zu  vernichten.  Der  Trust  habe  sich  dann  schadlos 
gehalten  durch  eine  Preiserhöhung,  die  er  nach  der  Beseitigung  der 
Konkurrenz  vornehmen  konnte.  Von  einem  finanziellen  Standpunkt 
aus  mag  das  zulässig  sein,  aber  es  ist  immer  riskant,  da  die  Höhe 
der  Preise  häufig  neue  Konkurrenten  ins  Leben  ruft.  Wenn  wir 
spekulative  Werte  vor  Augen  haben,  wie  die,  auf  welche  der 
folgende  Auszug  aus  dem  Prospekt  der  United  States  Rubber 
Company  hinweist,  so  mufs  ein  verdammendes  Urteil  ausgesprochen 
werden,  ln  dem  Prospekt  heilst  es:  „Die  gewöhnlichen  Aktien 
sollen  unter  anderem  den  Wert  darstellen,  welcher  durch  die  Er- 
höhung der  Erwerbsfähigkeit,  die  der  Konsolidierung  zu  verdanken 
ist,  geschaffen  wird.“  .Solche  Antizipationen  zukünftiger  Gewinne 
lassen  sich  in  keiner  Weise  rechtfertigen. 

Im  günstigsten  Falle  können  wir  die  Aktien  nur  als  eine 
Prämie  betrachten ; im  ungünstigsten  Falle  sind  sie  ein  Spielobjekt 
und  ein  Mittel  die  Gewinne  des  Promoters  zu  steigern.  Der  Pro- 
moter spielt  eine  sehr  wichtige  Rolle  in  der  Geschichte  der  Trust- 
bewegung.  Es  kommt  häufig  vor,  dal's  die  einzelnen  Unternehmer 
in  einer  bestimmten  Industrie  zwar  den  Wunsch  hegen,  sich  zu  ver- 

Atchiv  für  so/.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVII.  2o 


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298 


Henry  >1.  Macrusty, 


einigen,  einander  aber  nicht  genug  trauen,  um  einer  gemeinschaft- 
lichen Kommission  die  Mitteilungen  zu  unterbreiten,  welche  für  die 
Organisation  der  neuen  Gesellschaft  nötig  sind.  Sie  fürchten,  dafs 
jemand  eine  genaue  Kenntnis  von  dem  Geschäftsbetriebe  seiner 
Konkurrenten  erlangen  könne,  der  dann  im  letzten  Augenblick  sich 
weigern  würde,  der  Vereinigung  beizutreten.  Er  wäre  dann  im- 
stande, die  erlangten  Kenntnisse  zu  seinem  eigenen  Nutzen  zu  ver- 
werten. Eine  unparteiische  Persönlichkeit  ist  daher  unentbehrlich, 
um  die  Vorverhandlungen  im  Geheimen  zu  führen  und  durch  seine 
Uebcrredungskunst  eine  genügende  Zahl  von  Unternehmern  zum 
Beitritt  zu  veranlassen.  Seine  Funktionen  gehen  aber  noch  weiter. 
Soll  irgend  eine  Gesellschaft  gegründet  werden  — handele  es  sich 
nun  um  eine  Konsolidierung  oder  nicht  — so  wird  in  England  zu- 
nächst ein  Prospekt  veröffentlicht,  welcher  Angaben  über  den  Wert 
der  übernommenen  Vermögensgegensländc  enthält,  über  die  jährlichen 
Gewinne  etc.,  und  wenn  auch  die  Aktienausgabe  bisweilen  durch 
eine  Anzahl  Gründer  gesichert  ist,  so  wendet  man  sich  im  allge- 
meinen doch  direkt  an  die  Anlage  suchenden  Klassen,  um  Kapital 
zu  erlangen.  In  den  Vereinigten  Staaten  geht  man  in  anderer 
Weise  vor.  Die  Aktien  werden  dort  von  den  Banken  übernommen, 
welche  sie  nachher  an  die  Börse  bringen.  Die  Angaben,  die  in 
England  nötig  sind,  um  den  Erfolg  zu  sichern,  werden  in  Amerika 
nicht  gemacht  und  der  Erfolg  der  Emission  beruht  fast  ganz  auf 
dem  Ruf  der  betreffenden  Finanzleute.  Eine  derartige  Geheim- 
haltung hat  natürlich  schädliche  Folgen  für  das  Anlage  suchende 
Publikum  und  das  ganze  System  schliefst  die  Tendenz  ein,  die  Ge- 
sellschaft mit  überflüssigem  Kapital  zu  belasten.  Der  Finanzmann 
erhält  für  seine  Dienste  gewöhnlich  eine  Prämie  in  gewöhnlichen 
Aktien.  Es  werden  ihm  für  jede  hundert  Dollars,  die  er  in  barem 
Geldc  liefert,  hundert  Dollars  in  Vorzugsaktien  und  hundert  Dollars 
in  gewöhnlichen  Aktien  überwiesen.  In  gleicher  Weise  werden  die 
Leistungen  des  Promoters  bezahlt,  die  darin  bestehen,  die  Finanz- 
iere zum  Beitritt  zu  bewegen.  Seine  Vergütung  ist  im  allgemeinen 
eine  sehr  ansehnliche,  hat  aber  einen  spekulativen  Charakter.  Der 
Promoter  der  American  Tin-Plate  Company  erhielt  io  Millionen 
Dollars  in  gewöhnlichen  Aktien  als  Entgelt  für  seine  Auslagen  und 
Dienste.  Derselbe  Herr  ist  auch  der  Promoter  der  American  Steel 
Hoop  Company  und  der  National  Steel  Company.  Er  erhielt  in 
beiden  Fällen  je  5 Millionen  Dollars  in  gewöhnlichen  Aktien. 
Die  Promoter  der  Dcstilling  Company  of  America  erhielten  un- 


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Die  Trusts  in  Amerika. 


299 

gefahr  20  Millionen  Dollars  in  Vorzugsaktien  und  gewöhnlichen 
Aktien. 

Der  Geldwert  dieser  Summe  betrug  wahrscheinlich  weniger 
als  die  Hälfte  ihres  Kennwertes  und  konnte  nur  langsam  realisiert 
werden;  denn  das  Angebot  einer  so  grofsen  Aktienmenge  würde 
den  Preis  erheblich  gedrückt  haben.  Nachdem  alle  möglichen  Ab- 
züge gemacht  sind,  bleiben  die  Gewinne  doch  noch  enorm  hoch 
und  es  kann  uns  nicht  überraschen,  wenn  in  dem  Bericht  der  In- 
dustriekommission gesagt  wird : „Man  kann  mit  Recht  behaupten, 
dafs  der  Vorgang  der  Gründung  und  der  Kapitalisation  sich  oft  in 
einem  entschiedenen  Gegensatz  zu  den  öffentlichen  Interessen  be- 
findet. Das  sollte  verhindert  werden." 

Der  Mii'sbrauch  der  Ueberkapitalisation  ist  an  sich  grofs  genug, 
indem  er  die  Kapitalisation  steigert  und  einen  ungesunden  Einflufs 
auf  die  Industrie  ausübt,  er  würde  indessen  noch  gröfser  sein,  wenn 
ernstlich  versucht  würde,  für  die  gewöhnlichen  Aktien  Dividenden 
zu  zahlen.  Glücklicherweise  ist  solch  ein  Fall  selten  wie  der,  dafs 
die  American  Sugar  Refining  Company  12  Proz.  Dividenden  zahlte 
und  die  National  Tube  Company  8 Proz.  Fis  wäre  sonst  die  not- 
wendige Folge,  dafs  die  Preise  für  die  Konsumenten  erhöht  werden 
mülsten.  Dagegen  wird  die  Dividende  für  die  Vorzugsaktien  ge- 
wöhnlich bezahlt,  und  wenn  ein  Gewinnüberschufs  vorhanden  ist, 
so  wird  er  entweder  dem  Reservefonds  zugeführt,  oder  zur  Aus- 
dehnung des  Betriebes  verwendet.  Immerhin  ist  es  nicht  ausge- 
schlossen, dafs  die  Inhaber  der  gewöhnlichen  Aktien  später  einmal 
Dividenden  verlangen  werden  und  darin  wird  die  Frage  einen 
aku)cn  Charakter  annehmen. 

Unter  dem  Publikum  ist  die  Besorgnis  weit  verbreitet,  dafs 
die  grofsen  Industrieverbände  ihre  Monopolstellung  zum  Zwecke 
der  Preiserhöhung  ausnutzen  könnten  und  allgemein  wird  die  An- 
klage gegen  sie  erhoben,  dafs  sie  es  thatsächlirh  gethan  haben. 
Die  Thatsachen  aber  sprechen  kaum  für  die  Annahme,  dafs  ein 
Trust  die  unbeschränkte  Macht  besitzt,  welche  nötig  ist,  um  die 
Preise  zu  steigern.  Der  ursprüngliche  Whiskeytrust  scheiterte  an 
dem  Versuch,  die  Preise  so  hoch  zu  treiben,  dafs  er  6 Proz.  für 
sein  verwässertes  Aktienkapital  (=  24  Proz.  des  faktischen  Wertes) 
zahlen  konnte  und  diese  extremen  Forderungen  veranlafsten  eine 
Vereinigung  von  Kauficuten  zur  Gründung  einer  genossenschaft- 
lichen Spritfabrik. 

Der  Seilertrust  und  der  Tapetentrust  gingen  in  derselben  Weise 

20* 


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300 


Henry  \V.  Macrostv, 


zu  Grunde  und  dasselbe  littst  sich  von  den  zahlreichen  „Pools“  sagen, 
deren  Trümmer  das  Gebiet  der  amerikanischen  Industrie  bedecken. 
Selbst  der  reiche  Zuckertrust  kam  zu  der  Ansicht,  dafe  seine  ge- 
waltigen Gewinne  die  Veranlassung  zur  Errichtung  neuer  Zucker- 
fabriken boten,  die  dann  wieder  durch  heftigen  Wettbewerb  be- 
kämpft werden  mufsten,  um  schliefslich  mit  grofsen  Kosten  ange- 
kauft zu  werden.  Die  populäre  Ansicht  steht  im  Gegensatz  zu 
dem  bekannten  nationalökonomischen  Gesetz,  dafs  der  Maximal- 
gewinn nicht  durch  den  höchsten  Preis,  sondern  durch  den  Preis 
erlangt  werden  kann,  welcher  eine  Nachfrage  hervorruft,  die  die 
gröfste  Gewinnmasse  bewirkt.  Es  läfst  sich  mathematiscli  nach- 
weisen,  dafs  es  verschiedene  Preise  giebt,  welche  verschiedene  Ge- 
winne und  eine  verschiedene  Nachfrage,  aber  denselben  Gesamt- 
gewinn in  jedem  Falle  hervorrufen  werden.  Welches  ist  daher  der 
Beweggrund,  nach  welchem  der  Trust  sich  zu  Gunsten  der  gröfsten 
Produktion  entscheidet?  Fis  ist  einfach  dieser,  dafs  mit  der  Höhe 
der  Preise  und  mit  der  Verringerung  des  Absatzes  die  Möglichkeit 
für  die  Ifntstehung  neuer  Konkurrenzunternehmungen  zunimmt. 
Die  Geschäftsleute  sind  gewöhnlich  mit  der  nationalökonomischen 
Theorie  wenig  vertraut,  aber  sie  sind  den  Lehren  der  Erfahrung 
zugänglich,  und  Herr  Havemeyer,  der  Präsident  des  Zuckertrusts 
erklärte  vor  der  Industriekommission,  dafs  die  oben  dargelegten 
Grundsätze  für  sein  geschäftliches  Verfahren  mafsgebend  seien. 
„Hohe  Löhne  und  niedrige  Preise"  bezeichnete  Herr  Schwab,  der 
Präsident  der  United  States  Steel  Corporation  als  die  Leitmotive, 
nach  welchen  er  sein  Riesenunternehmen  zu  betreiben  gedenke.  Die 
Gründer  des  Gummitrusts  bekannten  sich  ungefähr  zu  demselben 
Grundsatz  und  die  Leiter  des  neuen  Whiskeytrusts  sollen  durch 
die  Firfahrungen  früherer  Mifserfolge  belehrt  worden  sein  und 
suchen  in  ihrem  Betriebe  nur  einen  mäfsigen  Gewinn  zu  erzielen. 
Die  Pittsburg  Plate  Glass  Company  machte  folgende  eigentümliche 
Erfahrung.  Nachdem  sie  nur  vollständig  solide  Unternehmungen  zum 
Eintritt  in  die  Vereinigung  zugelassen  hatte,  erhöhte  sie  die  Preise 
auf  das  Gewinnniveau,  und  ihre  Konkurrenten,  welche  dieselben 
Preise  annahmen,  wurden  dadurch  in  eine  günstige  finanzielle  I-age 
versetzt. 

Wenn  wir  den  Monopolpreis  beiseite  lassen,  so  ist  die  Wahr- 
scheinlichkeit vorhanden,  dafs  die  Trustpreise  höher  sind,  als  die 
des  freien  Wettbewerbs.  In  dem  Bericht  der  Industriekommission 
heilst  es:  „Die  Ueberkapitalisation  wird  wahrscheinlich  zu  Zeiten 


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I)ic  Trusts  in  Amerika. 

in  erhöhtem  Preise  empfunden“.  Von  gröfsercr  Bedeutung  ist  es, 
dafs  der  Zolltarif  die  Trusts  in  den  Stand  setzt,  die  Preise  hoch  zu 
halten,  indem  er  den  preisdrückenden  Kinflufs  der  ausländischen 
Konkurrenz  fernhält.  Mr.  Havemeyer,  der  selbst  ein  Trustmagnat 
ist,  hat  folgenden  Ausspruch  gethan:  „Die  Mutter  aller  Trusts  ist 

die  Zolltarifgesetzgebung insofern  dadurch  sämtlichen  Interessen 

des  lindes  mit  Ausnahme  der  Zuckerraffinerie  ein  aufsergewöhn- 
licher  Schutz  verliehen  wird".  Darin  liegt  eine  gewisse  Wahrheit, 
da  der  Zolltarif  Indusjrieen  ins  Leben  rief  und  durch  Ausschluss  der 
ausländischen  Konkurrenz  viele  Leute  veranlafste,  ihr  Glück  in  ge- 
wissen Industrieen  zu  versuchen;  dadurch  entstand  ein  übertriebener 
Wettbewerb,  der  die  Konsolidierung  zur  notwendigen  Folge  hatte. 
Eine  andere  Ansicht  wurde  von  Vertretern  der  Eisenindustrie  vor- 
gebracht. Diese  gestanden  zu,  dafs  die  grofsen  Trusts  so  grofse 
Ersparnisse  durch  Verbesserung  der  Produktionstechnik  bewirken, 
dafs  der  Zollschutz  für  sie  überflüssig  wäre,  aber  sie  meinten,  dafs 
die  kleinen  unabhängigen  Fabrikanten,  die  mit  höheren  Produktions- 
kosten zu  rechnen  haben,  durch  den  Freihandel  vernichtet  werden 
würden.  Der  Freihändler  geht  nicht  so  weit  wie  Mr.  Havemeyer. 
Mr.  Atkinson,  der  bekannte  Nationalökonom,  begnügte  sich  mit 
folgender  Erklärung:  „Ich  glaube,  dafs  der  hohe  Zoll  den  Trusts 
die  Gelegenheit  giebt,  mehr  Zoll  aus  einem  Monopol  zu  ziehen  als 
es  ohne  den  Zoll  der  F'all  sein  würde." 

Wenn  wir  uns  dieser  gemäfsigteren  Richtung  anschliefsen,  so 
sind  immer  noch  einige  Fehlerquellen  auszuschaltcn.  Man  begeht 
erstens  häufig  den  Fehler,  alle  Preiserhöhungen  als  ein  Ergebnis 
der  Unternehnierthätigkeit  zu  betrachten  und  dabei  den  steigernden 
Einflufs  der  Kostenvermehrung  zu  übersehen.  Während  der  drei 
Jahre  des  aufsergewöhnlichen  Aufschwungs  (1899 — 1901)  stiegen  die 
Preise  der  Rohmaterialien  und  der  Arbeitsleistungen  in  ganz  enormer 
Weise  und  es  waren  besonders  die  Eisen-,  Stahl-  und  Kohlen- 
industrieen,  welche  zunächst  davon  betroffen  wurden.  Eine  andere 
natürliche  Preissteigerung  ergab  sich  aus  der  grofsen  und  anhaltenden 
Nachfrage,  die  einen  Druck  auf  das  Angebot  ausübte.  Diese  beiden 
Faktoren  müssen  eliminiert  werden,  ehe  wir  die  thatsächliche  Wirkung 
der  Vereinigung  auf  die  Preise  abschätzen  können.  Wir  müssen 
uns  ferner  hüten,  die  Trustpreise  mit  denjenigen  zu  vergleichen,  die 
in  der  Periode,  welche  unmittelbar  der  Konsolidierung  vorherging, 
bestanden  haben.  In  solchen  Zeiten  ist  der  Wettbewerb  ungewöhn- 
lich heftig  und  drückt  die  Preise  aufserordentlich  tief  herab.  Der 


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302 


Henry  W.  M a c r o s t y , 


zweite  Irrtum  wird  begangen,  wenn  man  die  Preise  mit  denjenigen 
vergleicht,  die  in  freihändlerischen  Ländern  gezahlt  werden.  Indem 
ein  Land  Schutzzölle  zu  dem  ausdrücklichen  Zweck,  eine  gröfsere 
Mannigfaltigkeit  der  Industrien  hervorzubringen,  erhebt,  entschliefst 
es  sich  freiwillig,  höhere  Preise  zu  ertragen,  um  jenes  Ziel  zu  er- 
reichen. Den  Kapitalisten  oder  dem  Trust  kann  daraus  kein  Vor- 
wurf gemacht  werden. 

Was  den  Zuckertrust  anlangt,  der  einem  Gewinn  von  90  Millionen 
Dollars  jährlich  einheimst,  so  ist  es  in  diesem  Fall  klar,  dafs  der 
Zoll  zu  hoch  und  die  Preise  übertrieben  sind.  Als  man  beschlofs, 
den  Zucker  im  Interesse  der  staatlichen  Finanzen  zu  besteuern,  war 
es  nur  gerecht,  dafs  auch  der  importierte,  raffinierte  Zucker  mit 
einem  differenziellen  Zoll  belastet  wurde;  denn  sonst  hätten  sich 
die  amerikanischen  Fabrikanten,  welche  Rohzucker  vom  Auslande 
beziehen  müssen,  infolge  des  Gewichtsverlustes  beim  Raffinieren  im 
Nachteil  befunden.  Professor  Taussig  hat  berechnet,  dafs  ‘/jo  Cent 
pro  Pfund  einen  genügenden  Schutz  geben  würde ; es  wurde  aber 
infolge  der  unlauteren  Bemühungen  der  Trustleiter,  die  unparteiisch 
zu  den  Kassen  beider  politischen  Parteien  beisteuern,  ' „ Cent  vom 
Pfund  als  Zoll  erhoben.  Infolgedessen  konnte  der  Trust,  als  in 
den  Jahren  1887 — 1892  und  1898 — 1901  der  Wettbewerb  wieder 
einsetzte,  die  Preise  bis  zum  Verlustniveau  herabdrücken  und  doch 
fortfahren  seine  Dividenden  zu  zahlen.  Professor  Jenks  sagt  in  dem 
Spezialbericht  über  Preise,  welchen  er  für  die  Industriekommission 
bearbeitet  hat,  „dafs  der  ZucKerpreis  in  diesem  Lande  wahrschein- 
lich im  allgemeinen  höher  gewesen  ist,  als  er  bei  freiem  aber  ge- 
mälsigtem  Wettbewerbe  gewesen  wäre“.  Mr.  Havemeyer,  der  Vor- 
sitzende des  Trusts  meinte,  dafs  das  Publikum  kein  Recht  hätte,  an 
der  Kostenverminderung,  die  sich  aus  der  Verbesserung  der  Pro- 
duktionstechnik ergiebt,  teilzunehmen,  und  dafs  der  Trust  eine  Zeit- 
lang mit  Erfolg  versucht  habe,  derartige  Extragewinne  für  sich 
selbst  zu  behalten. 

Die  Standard  Oil  Company  zieht  aus  dem  Zolltarif  keinen 
Vorteil,  doch  als  an  ihren  Vizepräsidenten  die  Frage  gerichtet 
wurde ; „Giebt  es  eine  Monopolgewalt,  die  lediglich  auf  die  Macht 
des  Kapitals  zurückzuführen  ist?"  antwortete  er  : „Zweifellos,  die  Fähig- 
keit dazu  ist  gegeben,  und  wenn  von  dieser  Fähigkeit  ein  unweiser 
Gebrauch  gemacht  wird,  so  mul's  sie  sich  selbst  vernichten.“  Auf 
eine  andere  Frage:  „Können  Sie  nicht  Dank  Ihrer  gröfseren  Macht 
Preise  erzielen,  die  im  allgemeinen  stets  etwas  über  den  Konkurrenz- 


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Die  Trusts  in  Amerika. 


303 


preisen  stehen?“  lautete  seine  Antwort : „Ja,  hoffentlich.  Nach  meiner 
Ansicht  verfugen  wir  über  einen  besseren  Geschäftsbetrieb,  über 
bessere  Absatzgelegenheiten,  bessere  Transporteinrichtungen  und 
gröfsere  persönliche  Fähigkeiten,  als  es  einem  Konkurrenten  mög- 
lich wäre.“  Der  Preis  des  raffinierten  Oels  fiel  in  New-York  von 
8 Dollar  pro  Fafs  im  Jahre  1 88 1 (dem  Jahr  vor  der  Gründung 
des  Trusts)  auf  4 '/.,  Dollar  im  Jahre  1899,  aber  die  Standard  Oil 
Company  hat  infolge  ihres  gewaltigen  Betriebsumfangs  eine  aufser- 
gewöhnlich  günstige  Gelegenheit  zur  Herstellung  von  Nebenprodukten, 
die  in  ihrer  Gesamtheit  dem  Wert  des  Oels  ungefähr  glcichkommen. 
Da  sie  30  Proz.  Dividenden  zahlt,  scheint  es,  als  ob  ihre  Konkur- 
renten mit  ihrer  Behauptung,  dafs  die  Rentabilität  der  Industrie 
eine  gröfsere  Ermäfsigung  der  Oelprcises  zulassen  würde,  Recht 
hätten.  Der  Fall  des  Weilsblech-Trusts  ist  typisch  für  das  Vor- 
fahren dieser  Organisationen  überhaupt.  Professor  Jenks  sagt:  „Die 
sehr  starke  Nachfrage  nach  Weifsblech  würde  die  Fabrikanten  wahr- 
scheinlich veranlafst  haben,  diese  Spannung  (zwischen  Kosten-  und 
Verkaufspreis)  zu  erweitern,“  auch  wenn  die  Vereinigung  nicht  be- 
standen hätte;  aber  durch  die  Verschmelzung  fast  aller  Betriebe 
unter  einheitlicher  Leitung  wurde  es  möglich,  die  günstige  Gelegen- 
heit voll  auszunutzen,  und  so  kam  es,  dafs  die  Spannung  diejenige 
vom  Jahre  1896  und  vom  Anfang  des  Jahres  1897  im  wesentlichen 
wieder  erreichen  konnte  ')  (d.  h.  die  Maximalspannung). 

Die  amerikanischen  Stahlindustriellcn  geben  dann  auch  zu,  dafs 
sie  den  Zoll  auf  Stahlschienen  und  auf  andere  Stahlfabrikate,  bei 
deren  Herstellung-  die  Arbeitslöhne  nur  einen  geringen  Teil  der 
Produktionskosten  ausmachen,  nicht  mehr  nötig  haben.  Als  die 
Beamten  der  American  Tin-Plate  Company  im  Jahre  1899  vor  der 
Industriekommission  vernommen  wurden,  stand  der  Preis  des  Weifs- 

l)  Indessen  ist  die  Preiserhöhung  des  amerikanischen  Weifsblechs  seit  März 
1899  im  allgemeinen  nicht  höher  als  die  Steigerung  gewesen,  die  im  Wert  des 
Rohmaterials  und  der  Arbeitsleistungen  stattgefunden  hat.  Professor  Gunton  hat 
nachgewiesen,  dafs  der  Preis  des  amerikanischen  Weifsblcchs,  das  im  Jahre  1890 
(in  welchem  der  Zoll,  der  die  Industrie  geschaffen  hat,  entstand)  5,60  Dollar  für 
100  Pfund  betragen  hatte,  auf  4.20  Dollar  im  April  1901  gesunken  war;  dagegen 
war  in  Fnglnnd  der  Preis  des  Weifsblechs  während  desselben  Zeitraums  von  3 Dollar 
auf  3.90  Dollar  gestiegen.  Dasselbe  läfst  sich  von  Staldschicnen  sagen,  deren  Preis 
im  Jahre  1867  120,12  Dollar  pro  Tonne  in  Amerika  und  65,70  Dollar  in  England 
betrug,  während  im  Mai  1901  der  amerikanische  Preis  auf  28  Dollar  und  der  eng- 
lische auf  29,22  Dollar  stand. 


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304 


Henry  W.  Macrosty, 


blcchs  ’/j  Dollar  unter  dem  Preise,  den  der  Zolltarif  gestattet  haben 
würde,  ohne  dafs  der  fremde  Wettbewerb  dabei  in  Frage  ge- 
kommen wäre. 

Wenn  die  Trusts  auch  in  beschränktem  Umfang  die  Macht  zur 
Preissteigerung  besitzen,  und  wenn  sie  auch  wahrscheinlich  die 
Preise  etwas  über  dem  Niveau  der  Konkurrenzpreise  halten,  so 
dürfen  wir  nach  dem  oben  Gesagten  doch  schliefsen,  dafs  ein  Ver- 
such übertriebener  Preiserhöhung  nicht  vorliegt,  und  dal's  die  that- 
sächlichen  Preise  niedriger  sind  unter  der  Herrschaft  der  Trusts,  als 
sie  cs  unter  der  Herrschaft  der  Pools  und  der  freiwilligen  Verein- 
barungen waren,  als  die  Industrie  noch  nicht  zur  Konsolidierung 
gelangt  war.  Soweit  die  preissteigernde  Tendenz  der  Trusts  zum 
Ausdruck  kommt,  müssen  wir  ihre  Wirksamkeit  als  antisozial  be- 
zeichnen. Eine  ernstere  Anklage  hat  man  damit  zu  begründen  ge- 
sucht, dafs  die  Trusts  für  ihre  Waren  im  Auslande  niedrigere  Preise 
als  im  Inland  fordern.  Aber  abgesehen  davon,  dafs  die  Vorgänge 
auf  welchen  dieser  Preisunterschied  beruht,  in  Dunkel  gehüllt  sind, 
läfst  er  sich  in  einfacher  Weise  erklären.  Das  hauptsächlichste  Er- 
fordernis moderner  Industrie  besteht  darin,  dafs  die  Fabriken  nach 
ihrer  vollen  Leistungsfähigkeit  betrieben  werden,  um  die  laufenden 
Kosten  dadurch  zu  erniedrigen.  Es  wird  sich  häufig  für  einen 
Fabrikanten  lohnen,  in  gewissen  Märkten  zu  einem  niedrigen  Preise 
und  selbst  mit  Verlust  zu  verkaufen,  damit  er  den  Ueberschufs,  den 
er  in  seinem  regelmäfsigen  Markt  nicht  absetzen  kann,  los  werde. 
Es  ist  das  ein  Gemeinplatz  des  Geschäftslebens,  und  europäische 
Fabrikanten  haben  häufig  danach  gehandelt,  indem  sie  ihren  Ab- 
satz nach  Amerika  zu  erweitern  suchten.  Jetzt  bekennen  die  ameri- 
kanischen Industriemagnaten  offen,  dafs  sie  dieselbe  Politik  befolgen 
wollen.  Es  ist  aber  immer  nur  ein  vorübergehender  Notbehelf, 
niemals  ein  dauernder  Grundsatz  des  Geschäftsverkehrs.  Solche 
Trusts,  die,  wie  die  Standard  Oil  Company,  einen  gesicherten  aus- 
ländischen Markt  haben,  ermäfsigen  ihre  Preise  für  den  Export 
nicht;  andere  Trusts,  wie  die  in  der  Eisen-  und  Stahlindustrie,  be- 
trachten Europa  lediglich  als  ein  Aufnahmegebiet  für  ihren  Ueber- 
schufs und  denken  nicht  daran,  niedrige  Auslandspreise  zu  bewilligen, 
wenn  die  Nachfrage  und  die  Preise  im  Inlande,  wie  es  gegenwärtig 
der  Fall  ist,  hoch  sind.  Eine  andere  Ursache  niedriger  Exportpreise 
liegt  in  dem  Wunsche,  neue  Absatzgebiete  zu  erobern,  indem  man 
die  Lieferanten  unterbietet.  Es  ist  das  auch  ein  allgemein  be- 
kanntes Verfahren. 


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Die  Trusts  in  Amerika. 


30; 


Man  sagt,  dafs  der  Trust  die  Tendenz  zeige,  vier  Klassen  der 
Gesellschaft  zu  schädigen,  nämlich  den  Kapitalisten,  den  Konsu- 
menten, den  Arbeiter  und  den  konkurrierenden  Produzenten.  Die 
ersten  beiden  Klassen  sind  oben  schon  hinreichend  berücksichtigt 
worden.  Der  Fall  des  Arbeiters  bedarf  nur  einiger  Worte.  Ks  ist 
wahrscheinlich,  dafs  der  Trust  die  Macht  besitzt,  die  Arbeiter- 
organisationen zu  zertrümmern  und  die  Löhne  auf  das  Niveau  der 
nackten  Existenz  herabzudrücken.  Es  lälst  sich  indessen  mit  Sicher- 
heit annehmen,  dafs  sie  von  dieser  Macht,  wenigstens  in  einem 
demokratischen  Lande  wie  Amerika,  keinen  Gebrauch  machen 
werden.  Der  Arbeiter  kann  die  Leiden,  die  ihm  in  der  Fabrik 
auferlegt  werden,  am  Wahltage  rächen.  „Sie  sprechen  davon,  dafs 
wir  die  Gesetzgebung  durch  Bestechung  zu  beeinflussen  suchen ! 
nun,  wir  leben  in  beständiger  Furcht  vor  der  Gesetzgebung,"  be- 
merkte ein  hoher  Trastb’eamter  dem  Verfasser  gegenüber,  und  es 
liegt  zweifellos  viel  Wahrheit  in  diesem  Ausspruch.  Es  kommt 
noch  hinzu,  dafs  die  Trusts  von  Maschinen  abhängen.  Die  Billig- 
keit komplizierter  und  kostspieliger  Maschinen  wird  aber  anderer- 
seits bedingt  durch  die  Geschicklichkeit  und  Leistungsfähigkeit  der 
Arbeiter  — zwei  Eigenschaften,  die  aufs  innigste  mit  den  Löhnen 
Zusammenhängen.  Die  Ausbeutung  der  Arbeiter  hat  daher  eine 
Grenze,  die  sehr  eng  gezogen  ist.  Vor  ungefähr  einem  Jahre  ver- 
öffentlichte das  Arbeitsamt  der  Vereinigten  Staaten  eine  sehr  lehr- 
reiche Statistik  von  Löhnen,  die  von  dreizehn  Trusts  bezahlt  werden, 
und  es  wurden  diese  Löhne  mit  denjenigen  verglichen,  welche  vor 


der  Konsolidierung  gezahlt  wurden.  Wir 

können  diese  Statistik  in 

folgender  Weise  kurz  zusammenfassen : 

vor  der 

nach  der 

Konsol  idierung 

Konsolidierung 

Gelernte  Arbeiter  mit  einem  Lolin  bis  zu  10  Dollars 
pro  Woche 

9915 

0349 

Gelernte  Arbeiter  mit  einem  Lohn  von  IO — 15 
Dollars  Lohn  pro  Woche 

14  122 

!4  344 

Gelernte  Arbeiter  mit  einem  Lohn  Uber  15  Dollars 
pro  Woche 

9 600 

16  544 

Ungelernte  Arbeiter  mit  einem  Lohn  bis  zu  8 
Dollars  pro  Woche 

25  592 

19  937 

Ungelernte  Arbeiter  mit  einem  Lohn  über  8 Dollars 
pro  Woche 

18077 

34  277 

Diese  Zahlen  lassen  erkennen,  dafs  nicht  nur  die  Menge  der 
beschäftigten  Arbeiter  und  die  Löhne,  wie  in  einer  Zeit  des  allgc- 


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306 


Henry  W.  Macrosty, 


meinen  Aufschwungs  zu  erwarten  war,  zugenommen  haben,  sondern 
auch,  dafs  diese  Zunahme  am  höchsten  in  der  Klasse  der  gelernten 
Arbeiter  gewesen  ist,  obschon  mehr  Maschinen  als  vorher  zur  An- 
wendung gelangten.  Es  sind  also  trotz  der  vermehrten  Maschinen- 
anwendung die  gelernten  Arbeiter  nicht  durch  ungelernte  ersetzt 
worden. 

Sehr  viele  Trusts  hegen  gegen  Gewerkvereine  keinerlei  Feind- 
seligkeit und  verhandeln  regelmäfsig  mit  ihnen  über  Löhne  und 
andere  Arbeitsbedingungen.  Andere,  welche  die  Gewerkvereine 
nicht  anerkennen,  besprechen  alle  gemeinsamen  Angelegenheiten 
mit  Ausschüssen  ihrer  Arbeiterschaft  und  zwar  wenn  sie  auch,  wie 
in  dem  Fall  der  Carnegie  Steel  Company,  den  Gewerkverein  mit 
Gewalt  und  Blutvcrgiefsen  vernichtet  haben.  Kein  Unternehmer  in 
Amerika  wird  es  aber  dulden,  dafs  in  irgend  einer  Weise  die  Arbeits- 
menge begrenzt,  oder  dafs  ein  einheitlicher  Lohn  durchgeführt 
werde,  der  auf  die  verschiedene  Geschicklichkeit  keine  Rücksicht 
nimmt,  oder  dafs  er  in  dem  Recht,  seine  Arbeiter  auszuwählcn, 
beschränkt  werde.  Es  sind  das  aber  Forderungen,  die  in  Amerika 
selten  gestellt  werden,  und  die  auch  in  Europa  immer  weniger  von 
den  arbeitenden  Klassen  unterstützt  werden. 

Wir  kommen  jetzt  zu  dem  Fall  des  konkurrierenden  Produ- 
zenten, der  von  dem  Trust  aus  dem  Feld  geschlagen  wircL  Es  ist 
das  treibende  Prinzip  des  Wettbewerbs,  dafs  der  leistungsfähigere 
Konkurrent  den  weniger  leistungsfähigen  vernichtet.  So  mufste  der 
kleine  Fabrikant  dem  grofsen  weichen,  und  der  grofse  Fabrikant 
mufs  sich  dem  Trust  ergeben,  während  der  Trust  nur  durch  die 
Gemeinde  oder  den  Staat  entwurzelt  und  ersetzt  werden  kann. 
Die  einzige  andere  Möglichkeit  ist  die  Wiederherstellung  der  freien 
Konkurrenz.  Diese  Möglichkeit  ist  aber  infolge  der  Ersparnisse  an 
Produktionskosten,  die  der  Trust  durchführen  konnte,  von  vorn- 
herein ausgeschlossen.  Wenn  wir  aber  die  Vorteile  unberück- 
sichtigt lassen,  welche  dem  Staat  durch  den  Grofsbctrieb  Zuwachsen, 
so  könnte  man  mit  demselben  Recht  verlangen,  dafs  wir  zu  dem 
Zunftsystem  des  Mittelalters  zurückkehren.  Neben  dem  Trust  kann 
sich  der  kleine  Produzent  immer  noch  halten  und  selbst  ein  Produ- 
zent, dessen  Betrieb,  wenn  man  ihn  nicht  gerade  mit  einem  Trust 
vergleicht,  grofs  genannt  werden  könnte.  Der  Produzent,  welcher 
Spezialitäten  oder  patentierte  Artikel  hervorbringt  oder  der  einen 
kleinen  und  lokalen  Markt  versorgt,  kann  sich  oft  noch  neben  dem 
Trust  halten,  indem  ihm  die  bekannte  Abneigung  vieler  Leute 


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l)ic  Trusts  in  Amerika. 


307 


gegen  den  Trust  zugute  kommt,  die  weniger  geneigt  sind,  ihre 
berechtigten  und  unberechtigten  Wünsche  zu  berücksichtigen.  Solch 
ein  Produzent  kann  wohl  verlangen,  dals  er  nicht  durch  unlautere 
Mittel  vernichtet  werde,  da  er  einem  sozialen  Bedürfnis  genügt. 
Wir  haben  schon  eine  Methode  erwähnt,  durch  welche  der  Trust 
versucht,  ihn  vom  Markt  zu  vertreiben.  Ein  anderes  Verfahren,  das 
von  dem  Whiskey-,  Petroleum-,  Zucker-  und  Tabaktrust  häufig  an- 
gewendet worden  ist,  besteht  darin,  dals  die  Preise  bis  zu  den  oder 
unter  die  Produktionskosten  in  den  Gegenden  herabgesetzt  werden, 
wo  Konkurrenz  vorhanden  ist,  während  sie  dort,  wo  der  Trust  ein 
Monopol  besitzt,  hoch  gehalten  werden.  Die  Industriekommission 
wird  in  ihrem  Bericht  wahrscheinlich  empfehlen,  dafs  gegen  einen 
derartigen  unlauteren  Wettbewerb  Mafsrcgeln  ergriffen  werden.  Es 
giebt  aber  so  viel  Mittel,  geheime  Preisermäfsigungen  eintreten  zu 
lassen,  dafs  es  schwierig  sein  würde,  derartige  Mafsregeln  durchzu- 
führen und  wenn  z.  B.  der  Trust  einen  besseren  Artikel  für  den- 
selben Preis  liefert  wie  der  Konkurrent,  der  einen  minder  guten 
verkauft,  so  würde  die  öffentliche  Meinung  sich  gegen  ein  solches 
Gesetz  richten  müssen.  Die  Furcht  vor  unangenehmen  Prozessen, 
welche  die  allgemeine  Abneigung  gegen  die  Trusts  verstärken 
würden,  wäre  mehr  geeignet  als  die  Furcht  vor  Strafen,  die  Durch- 
führung eines  solchen  Gesetzes  zn  bewirken.  Andere  Vorschläge, 
welche  die  Kommission  gemacht  hat  und  die  vom  Präsidenten 
Roosevelt  angenommen  wurden,  bezwecken  die  Sicherung  gröfserer 
Publizität,  sowohl  bei  der  Gründung  des  Trusts  wie  in  seinen  jähr- 
lichen Geschäftsberichten.  Eingehende  Angaben,  welche  das  über- 
nommene Vermögen  betreffen,  würden  die  Möglichkeit  der  Ueber- 
kapitalisation  einschränken  und  den  Kapitalisten  beschützen.  Ge- 
schäftsberichte, welche  alle  wichtigen  Einzelheiten  enthalten  und 
einer  Revision  unterliegen,  wären  geeignet,  die  Frage  der  Preis- 
bildung und  der  Notwendigkeit  des  Zollschutzes  aufzuklären.  In 
dieser  Weise  könnten  auch  die  Interessen  des  Konsumenten  be- 
schützt werden  und  zugleich  könnte  dadurch  den  unabhängigen 
Fabrikanten  gezeigt  werden,  auf  welchen  Gebieten  der  Wettbewerb 
noch  lohnend  ist.  Zu  diesem  Zwecke  beabsichtigt  Präsident  Roose- 
velt, ein  Handelsamt  in  der  Regierung  einzurichten,  und  wenigstens 
die  grofsen  Trusts  der  staatlichen  Aufsicht  zu  unterwerfen.  Nach- 
dem diese  Mafsregeln  eine  gewisse  Zeit  durchgeführt  sein  werden, 
läfst  sich  mit  gröfserer  Sicherheit  erkennen,  welche  Schritte  gethan 


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308 


Henry  W.  Macrosty,  Die  Trusts  in  Amerika. 


werden  müssen,  um  die  Gesellschaft  gegen  diese  grolsen  Privat- 
monopole  zu  beschützen. 

„The  Economist“  (London)  vom  30.  November  1901  veröffent- 
licht eine  einfache  Thatsache,  die  sowohl  die  wirkliche  Gefahr, 
welche  von  den  Trusts  ausgeht,  wie  die  Ursache  des  unklaren,  aber 
tief  empfundenen  Mifstrauens,  das  gegen  sie  gerichtet  ist,  andeutet. 
Fünf  Männer,  J.  D.  Rockefeller,  E.  H.  Harriman,  J.  Pierpont  Morgan, 
W.  K.  Vanderbilt  und  G.  J.  Gould  repräsentieren  zusammen  eine 
Summe  von  800  Millionen  Dollars.  Sie  arbeiten  zusammen  und 
haben  einen  neuen  Geschäftsausdruck  „Interessengemeinschaft“  zu 
diesem  Zwecke  erfunden;  mit  ihren  Verbündeten  zusammen  be- 
herrschen sie  ein  Kapital  von  7963000000  Dollars,  während  das 
Gesamtkapital,  das  in  den  Banken,  Eisenbahnen  und  Industriegesell  - 
schalten  der  Vereinigten  Staaten  angelegt  ist,  17000000000  Dollars 
beträgt.  Sie  bilden  ein  neues  imperium  in  imperio,  eine  grofse 
Macht,  die  der  Regierung  gegenübersteht  und  die  mit  ihr  um  die 
Ausübung  der  Herrschaft  über  die  grofse  nordamerikanische  Repu- 
blik kämpft. 


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Einige  Reformversuche  im  Lohnsystem. 

Von 

EDUARD  BERNSTEIN, 

in  Berlin. 

I. 

Eines  der  grössten  Probleme  der  gegenwärtigen  Produktions- 
ordnung ist  die  Frage  nach  dem  zweckmäfsigsten  System  der  Ar- 
beitsentlohnung. Die  Kämpfe  um  die  beiden  grundsätzlich  unter- 
schiedenen Lohnformen : Zeitlohn  und  Stücklohn,  sind  bekannt. 
Bekannt  ist  auch,  dal's  sie  bisher  unentschieden  geblieben  sind. 
Allen  Verurteilungen  zum  Trotz,  die  das  Stücklohnsystem  von 
Arbeiterführern,  Arbeiterfreunden.  Arbeiterkongressen  schon  erfahren 
hat,  erhält  cs  sich  ungeschwächt  am  Leben.  Mächtige  Arbeiter- 
organisationen haben  es  in  der  Praxis  gutgeheifsen,  befestigt,  ja, 
verlangt  und  gestärkt.  Der  im  Jahre  19c»  veröffentlichte  Bericht 
des  britischen  Arbeitsamts  über  die  Normal-[„Standard'‘-]Sätzc  der 
Stücklöhne  und  Wandeltarife  berechnet,  dafs,  Handel  und  die  libe- 
ralen Berufe  ausgenommen,  aber  I .andarbeiter  und  Dienstboten  ein- 
geschlosscn,  von  allen  um  Lohn  arbeitenden  Personen  im  Vereinigten 
Königreich  74  Prozent  Berufen  oder  Gewerbszweigen  angehören,  in 
denen  Zeitlöhne,  26  Prozent  solchen,  in  denen  Stücklöhne  vor- 
wiegen. Zieht  man  weiter  die  I .andarbeiter  und  Dienstboten  ab, 
so  stellt  sich  das  Verhältnis  so:  61  Prozent  der  Arbeiter  entfallen 
auf  Gewerbe,  in  denen  Zeitlöhne,  39  Prozent  auf  solche,  in  denen 
Stücklöhne  überwiegen.  Obwohl  auch  in  der  Landwirtschaft  Stück- 
oder Akkordarbeit  ziemlich  häufig  vorkommt,  ist  es  die  Industrie 
und  sind  es  im  grolsen  und  ganzen  gerade  die  entwickelteren  In* 
dustrieen,  wo  die  Tendenz  zur  Stücklohnung  am  stärksten  auftritt. ') 

M Bezeichnend  ist,  dafs  die  weiblichen  Industriearbeiter  ein  unvergleichlich 


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3io 


Kduard  Bernstein, 


In  dem  citiertcn  Bericht  wird  z.  B.  unter  der  Rubrik  „Sticfel- 
und  Schuhgewerbe“  auseinandergesetzt,  warum  mit  der  Entwicklung 
der  Schuhwarenverfertigung  zur  Fabrikindustrie  dies  Gewerbe 
mehr  als  je  den  Charakter  einer  „Stücklohnindustrie"  erhielt.  „Wie 
sie  in  den  gröfsten  Unternehmungen  ausgeführt  wird,  ward  die 
Arbeit  systematisiert  und  in  grofsen  Sektionen  ausgegeben.  Sie 
wurde  zu  einer  fortlaufenden  Wiederholung  gleicher  oder  ähnlicher 
Prozesse,  und  mit  einigen  Ausnahmen  bot  sich  beiden  Parteien  das 
Stücklohnsystem  als  höchst  annehmbar  dar." 

So  Seite  159  in  der  allgemeinen  Einleitung.  Auf  Seite  168  169 
wird  genauer  dargelegt,  wie  um  die  Jahreswende  189495  die  in 
Leicester  zentralisierte  Nationale  Gewerkschaft  der  Schuh-  und 
Sticfelarbciter  nach  fortgesetzten  Konflikten  mit  den  Fabrikanten 
die  Aufstellung  von  Lohntarifen  für  Maschinenarbeit  verlangte.  Nach 
einer  Arbeitseinstellung,  die  sechs  Wochen  dauerte  und  von  der 
46000  Arbeiter  betroffen  wurden,  ward  auf  einer  gemeinsamen 
Konferenz  ein  Vertrag  geschlossen,  in  dem  cs  heilst:  „Die  Kon- 
ferenz ist  der  Meinung,  dal's  ein  Tarif  oder  Tarife  für  Arbeiten  an 
Leistenarbeit-  und  Fertigmachungmaschinen  und  die  mit  ihnen 
verbundenen  Arbeiten  wünschenswert  sind.  Solche  Tarife  sollen 
die  derzeitige  Leistungsfähigkeit  von  Durchschnittsarbeitern  zur 
Grundlage  haben.“  Eine  zweite  Resolution  forderte  einen  Stücklohn- 
tarif für  Saumarbeiten  in  Northampton.  Aber  die  Ausarbeitung 
des  Tarifs  stiefs  auf  grofsc  Schwierigkeiten,  so  dafs  es  drei  weitere 
Jahre  dauerte,  bis  ein  solcher  Tarif  für  Maschinenarbeit  die  An- 
erkennung beider  Teile  fand.  Es  ist  dies  der  am  9.  November  1898 
vom  Gemischten  Ausschuss  ')  Leicester  gutgeheifsene  „Tarif  für 
Arbeit  an  Leistenarbeitmaschinen" , d.  h.  für  Maschinenarbeit  an 
Schuhwerk  in  all  den  Phasen,  während  deren  dieses  behufs  Ver- 
bindung von  Oberteil  und  Sohle  etc.  am  Leisten  sitzt,  bezw.  an 
ihm  aufgesetzt  wird.  Er  enthält  Bestimmungen  für  alle  Einzelheiten 

stärkeres  Verhältnis  von  Stücklohnarheitcrn  stellen  als  die  männlichen.  Von  je  loo 
in»  Gewerbe  thütigen  weiblichen  Lohnarbeitern  entfallen  6l  auf  Gewerbe  mit  über- 
wiegender Stücklöhnung  und  nur  39  auf  solche  mit  überwiegender  Zeitlöhnung.  Bei 
den  Männern  allein  war  das  Verhältnis  so:  33  Pro/.,  arbeiteten  in  Stücklohn-  gegen 
67  Proz.  in  Zcitlohnberatcn. 

l)  Unter  Gemischten  Ausschüssen  — „Joint  Committecs“  — werden  in  Lngland 
Ausschüsse  verstanden,  die  aus  den  Vertretern  zweier,  gegensätzliche  Interessen  ver- 
tretenden Parteien  zusammengesetzt  sind.  Im  vorliegenden  Falle  also  ein  Ausschuß; 
von  Vertretern  der  Prinzipale  und  der  Arbeiter. 


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Einige  Rcformversuche  im  Lohnsystem.  3 j [ 

der  einschlägigen  Arbeiten,  wird  aber,  wie  der  Bericht  feststellt, 
nicht  eigentlich  als  Tarif  für  Stückarbeit  benutzt,  sondern  „haupt- 
sächlich, wenn  nicht  durchweg,  als  Leitfaden  in  Fällen  von  Streit 
darüber,  wieviel  Arbeit  die  Arbeiter  flir  die  ihnen  zugebilligten 
VVochenlöhne  zu  leisten  haben“  (S.  170).  Mit  anderen  Worten,  die 
Form  des  Zeitlohns  wird  fcstgehalten,  aber  dem  Wesen  nach 
ist  der  Lohn  bereits  Stücklohn.  Abgesehen  von  der  dem  eng- 
lischen Geist  auch  sonst  innewohnenden  Neigung,  die  alte  Form 
solange  als  möglich  festzuhalten,  gleichviel  wie  es  um  den  Inhalt 
steht,  ist  die  Beibehaltung  der  Zeitlohnform  zweifelsohne  dem 
Bestreben  der  Arbeiter  zuzuschreiben,  den  Auswüchsen  des  Stück- 
lohnsystems einen  Riegel  vorzuschieben.  Und  so  ist  eine  Lohn- 
form zustande  gekommen,  die  in  ihren  Hauptpunkten  grofse  Achn- 
lichkeit  mit  dem  Rodbertus sehen  „Werkarbeitstag“  aufweist. 
In  einer  der  modernsten  Industrien  sind  die  Männer  der  Praxis  aus 
Zweckmäfsigkeitserwägungen  auf  ein  System  der  Lohnregulierung 
verfallen,  das  der  Mann  der  „grauen  Theorie“  schon  vor  mehr  als 
einem  Menschenalter  ersonnen  hat,  das,  wie  er  seinerzeit  an  Rudolf 
Meyer  schrieb,  sein  „kostbares  Geheimnis"  war.  An  Rodbertus  er- 
innert auch  die  Bestimmung  in  dem  Vertrage,  dafs  im  Pall  einer 
wesentlichen  Verbesserung  der  derzeitig  angewandten  Maschinen 
die  Tarifsätze  revidiert  werden  sollen. 

In  Leeds,  einem  der  Hauptzentren  für  gröberes  Schuhwerk, 
ist  ein  Stücklohntarif  für  Vernieter  und  Fertigmacher  in  Kraft, 
der  im  März  1878  von  dem  dortigen  Finigungs-  und  Schiedsamt 
vereinbart  worden  war,  1881  korrigiert,  1850  ergänzt  und  1896  vom 
Amt  neugeprüft  und  bestätigt  worden  ist.  Er  gilt  für  ungefähr 
2000  Arbeiter  und  ist  nach  Natur  und  Art  der  Arbeiten  und  Qualität 
des  Materials  spezialisiert.  In  Birmingham  ist  seit  dem  10.  Fe- 
bruar 1899  ein  von  einem  gemischten  Ausschufs  der  organisierten 
Arbeiter  und  Unternehmer  vereinbarter  Stücklolmtarif  in  Kraft,  und 
in  dem  Hauptzentrum  der  Schuhwarenfabrikation,  N'orthampton, 
gilt  seit  dem  I.  September  1896  für  Arbeiter  am  Leisten  und  Fertig- 
macher von  Schuhen  für  den  heimischen  Markt  ein  aufserordentlich 
spezialisierter  Stückloh ntarif.  Auch  London,  Manchester,  Edinburg 
und  andere  Orte  haben  in  der  Schuhwarenfabrikation  von  Prinzi- 
palen und  Arbeitern  vereinbarte  Stücklohntarife. 

Langsamer  als  in  der  Schuhwarenindustric  vollzieht  sich  die 
Ausbreitung  des  Stücklohnsystems  in  der  Maschinenbauindu- 
strie und  der  ihr  verwandten  Schiffbauindustrie  Englands. 

I 


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312 


Eduard  Bernstein. 


Das  von  den  Fabrikanten  beanspruchte  Recht,  überall  da,  wo  es 
ihnen  zweckmäfsig  erscheine,  Stücklohnzahlung  einzuführen,  bildete, 
wie  bekannt,  einen  der  vornehmsten  Streitpunkte  der  grofsen  Ar- 
beitssperre von  1897/98  und  ward  am  Schlüsse  dieser  Sperre  vom 
Verband  der  Vereinigten  Maschinenbauarbeiter  den  Fabrikanten 
zuerkannt.  Wie  weit  seitdem  von  ihm  Gebrauch  gemacht  worden 
ist,  läfst  sich  jedoch  schwer  ermitteln,  da  der  Bericht  des  Arbeits- 
amts nur  solche  Stücklohntnrife  verzeichnet,  die  für  eine  gröfsere 
Anzahl  von  Arbeitern  als  die  eines  einzelnen  Geschäfts  mafsgebend 
sind.  Darauf  bezieht  sich  eben  der  Name  Normal-  bezw. 
Standard-Stückloh  ntarife.  Solche  Tarife  setzen  eine  mehr 
oder  weniger  einförmige  Produktion  voraus,  die  aber  gerade 
beim  eigentlichen  Maschinenbau  fehlt.  Dort  herrscht,  erklärt  der 
Bericht,  „obwohl  an  verschiedenen  Orten  sehr  viel  Stücklohnarbcit 
geleistet  wird,  eine  unendlich  weitgehende  Verschiedenartigkeit  der 
Tarifsätze ; kein  Versuch  ist  gemacht  worden,  einen  Normalstück- 
lohntarif einzuführen , der  auf  die  Gesamtheit  der  Maschinenbau- 
werkstätten der  einzelnen  Lokalitäten  berechnet  wäre“  (p.  XIII). 

Man  wird  nicht  fehl  gehen,  wenn  man  annimmt,  dafs  in  dieser 
Unmöglichkeit,  Normalstücklohntarife  für  den  Maschinenbau  fertig- 
zustellen, einer  der  wesentlichsten  Gründe  des  hartnäckigen  Wider- 
standes der  englischen  Maschinenbauarbeiter  gegen  die  Einführung 
der  Stücklohnzahlung  zu  finden  ist.  In  der  dem  Maschinenbau 
nahe  verwandten  Dampfkesselfabrikation  z.  B.,  wo  diese  Schwierig- 
keit nicht  in  gleichem  Mafse  besteht,  sind  in  England,  obwohl  die 
Kesselschmiedcgewerkschaft  mehr  Mitglieder  ihres  Gewerbes  um- 
falst  als  der  Maschinenbauerverband,  längst  Stücklohntarife  in  Uebung. 
LTnd  in  einem  höchst  bemerkenswerten  Artikel  über  „Nutzen  und 
Mifsbräuche  der  Organisation  von  Unternehmern  und  Arbeitern“, 
der  im  „Engineering  Magazine“  vom  Januar  1901  veröffentlicht 
worden  ist,  schreibt  Georg  R.  Barnes,  der  Generalsekretär  des  Ver- 
bandes der  britischen  Maschinenbauarbeiter: 

„Es  giebt  nur  zwei  Methoden,  Stückarbeit  ohne  Reibungen  und 
zum  dauernden  Vorteil  für  Unternehmer  und  Arbeiter  funktionieren 
zu  machen.  Wo  Normalstücklohntarife  möglich  sind,  können  solche 
vom  Unternehmer  und  der  Gewerkschaft  festgesetzt  oder  vereinbart 
werden  und  alsdann  jeder  Arbeiter  oder  jede  Gruppe  von  Arbeitern 
ihrer  eigenen  Energie  überlassen  bleiben.  Die  andere  Methode 
— die  da  anzuwenden  ist,  wo  die  Arbeit  nicht  genügend  gleich- 
artig abgestuft  ist,  um  Lohntarifc  zu  ermöglichen  — besteht  darin. 


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Einige  Reforniversuche  im  Lohnsystem. 


313 


dafs  der  Unternehmer  selbst  die  Sätze  für  die  einzelnen  Arbeiten 
bestimmt,  aber  einen  gewissen  Mindestlohn  verbürgt,  der  meiner 
Ansicht  nach  einen  gewissen  Prozentsatz  höher  sein  sollte,  als  der 
gewöhnliche  Tagelohnsatz"  (S.  563  564).  Von  dieser  Verbürgung 
eines  Mindestlohnes  wollten  aber,  lührt  Barnes  weiter  aus,  die  Unter- 
nehmer nichts  wissen,  weil,  wie  sie  behaupteten,  die  Arbeiter,  so- 
bald ein  solcher  Lohn  garantiert  war,  sich  mit  ihm  begnügt  und 
keine  Anstalten  gemacht  hätten,  mehr  als  ihn  zu  verdienen.  Das 
beweise  aber  nur,  meint  Barnes,  dafs  die  Sätze  zu  niedrig  normiert 
waren,  um  es  dem  Arbeiter  möglich  zu  machen,  bei  stärkerer  An- 
strengung mehr  zu  verdienen.  Es  sei  widersinnig,  anzunehmen,  dafs 
Arbeiter  sich  weigern  sollten,  ihren  Verdienst  zu  erhöhen,  wenn  sie 
die  Möglichkeit  dazu  vor  sich  sähen.  Der  Unternehmerbund  lehne 
beide  Methoden  der  Stücklohnnormicrung  ab,  und  die  Folge  sei, 
dafs  die  Arbeiter  überhaupt  gegen  Stücklöhne  seien.  Um  billig  zu 
sein,  müsse  aber  zugegeben  werden,  dafs  die  Praxis  vieler  Unter- 
nehmer „erheblich  besser“  gewesen  sei,  als  „das  Rezept  der  Organi- 
sation, der  sie  angehören". 

Soweit  sich  die  ablehnende  Haltung  des  Unternehmerbundes 
gegen  die  hier  entwickelten  Methoden  der  Stücklohnnormierung 
nicht  aus  den  naturgemälsen  Interessen  der  Klasse  erklärt,  haben 
wir  ihre  Erklärung  in  den  Schwierigkeiten  zu  suchen,  die  gerade 
das  Maschinengewerbe  einheitlichen  Stücklohntarifen  entgegensetzt. 
Nirgends  wird  soviel  an  den  Lohnmethoden  herumexperimentiert, 
wie  gerade  in  der  Maschinenindustrie.1) 

*)  Zur  Illustrierung  der  Sachlage  folge  hier  ein  Stück  aus  dem  stenographischen 
Protokoll  der  Verhandlungen  des  Hundes  der  britischen  Maschinenbaufabrikanten 
mit  den  Vertretern  des  Maschinenbauervereins,  die  im  April  1897  im  NVestminster 
Palast  Hotel,  London,  stattfanden  und  auf  denen  die  Vertreter  beider  Parteien  vor 
einander  freundschaftlich,  aber  gründlich  ihr  Herz  ausschütteten : 

„Der  Vorsitzende  der  mittlerweile  verstorbene  Oberst  D y c r , damals  Leiter 
der  Armstrongschen  Werke  in  Elswick  bei  Newcastle  am  Tyncj:  Hier  ein  Fall, 
der  sich  auf  die  Frage  bezieht,  von  der  wir  reden.  Es  handelte  sich  darum,  Walzen 
mit  Schäften  abzupassen.  Der  gelernte  Arbeiter  brauchte  50  Stunden  für  eine  Walze; 
die  Arbeit  ward  dann  einem  ungelernten  Arbeiter  übertragen , der  40  Stunden 
brauchte,  und  dann  einem  Burschen,  der  30  Stunden  brauchte.  Würden  Sie  uns 
zurouten,  jenen  gelernten  Arbeiter  zu  behalten? 

M r.  Seliicks  r Präsident  der  Gewerkschaft]:  Nein,  ich  würde  ihn  in  den 
Tync  geschmissen  haben. 

M r.  Black  [Vorstandsmitglied  der  Gewerkschaft  : Arbeiteten  sie  alle  unter 
gleichen  Bedingungen  ? 

Archiv  für  soz.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVII.  21 


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3H 


Eduard  Bernstein, 


n. 

Im  Jahre  1895  veröffentlichte  das  britische  Arbeitsamt  einen 
Bericht  über  verschiedene  Versuche,  dem  Stücklohnsystem  eine  ver- 
besserte Gestalt  zu  geben.1)  Von  im  ganzen  sechs  typischen  Bei- 

Der  Vorsitzende:  Unter  genau  den  gleichen  Bedingungen.  Ich  könnte 
Ihnen  eine  ganze  Zahl  von  Beispielen  geben.  Ich  bin  sicher,  Mr.  Ratcliffc  [der 
Distriktsdclcgiertc  der  Gewerkschaft  für  den  Distrikt  Nord  - Ost- England , in 
dem  die  Elswickwerke  liegen]  weifs,  dafs  wir  in  Elswick  einen  Stab  von  Leuten 
speziell  zu  dem  Zweck  halten  mufsten,  darauf  zu  achten,  dafs  die  Maschinen  im 
gehörigen  Tempo  gehalten  und  gehörig  bedient  wurden;  und  cs  ist  kein  grofses 
Kompliment  für  einen  Körper  von  gelernten  Arbeitern,  wenn  man  das  von  ihnen 
sagen  mufs.  Sie  müssen  das  zugeben.  Die  Notwendigkeit,  jene  Leute  zu  halten, 
zeigt,  dafs  etwas  nicht  in  Ordnung  ist. 

M r.  Crompton  [Vorstandsmitglied  der  Gewerkschaft]:  Die  Notwendigkeit 
wird  vorbei  sein,  wenn  jene  Wunderkinder  das  Mannesalter  erreicht  haben.  [An- 
spielung auf  den  Burschen,  von  dem  der  Vorsitzende  sprach.] 

Der  Vorsitzende:  Aber  bis  sic  herangewachsen  sind,  werden  wir,  scheint  cs, 
diesen  besonderen  Stab  von  Leuten  halten  müssen,  und  es  ist  keine  schmeichelhafte 
Sache  für  gelernte  Arbeiter,  wenn  eine  grofse  Firma  erklärt,  dafs  sie  dazu  genötigt 
sei.  Wir  thun  es  nicht  gern,  aber  wir  haben  keine  andere  Wahl. 

M r.  Clark  [Unternehmer,  Leiter  eines  grofsen  Werkes  in  Sunderland]:  Warum 
führen  Sic  nicht  Stückarbeit  ein? 

Der  Vorsitzende:  Stückarbeit  ist  sehr  schwer  durchzufUhren.  Wir  haben 
Arbeit,  die  beständig  wechselt,  und  würden  nur  mit  grofse m Bedauern 
daran  gehen,  feinere  Arbeit  auf  StUcklöhnung  anfertigen  zu 
lassen. 

Mr.  Ratcliffe  [Gewerkschaftsdelcgicrtcr] : Sic  haben  Stückarbeit  arbeiten 
lassen,  Oberst? 

Der  Vorsitzende:  Ja;  aber  wir  haben  sic  aus  demselben  Grunde  aufgegeben, 
aus  dem  wir  die  Leute  für  gehörige  Bedienung  und  gehöriges  Tempo  der  Maschinen 
anstellen  mussten. 

M r.  Sellicks:  Sic  thun,  was  andere  auch  thun. 

Mr.  Ratcliffe:  Sie  sind  allesamt  hinter  dem  [ArbeiU-jTempo  her. 

Der  Vorsitzende:  Verwerfen  Sic  das? 

Mr.  Ratcliffc:  Nein,  Oberst  I)yer,  aber  was  wir  wollen,  ist,  unseren  eigenen 
Mafsstab  von  Komfort  aufrecht  erhalten.“ 

Soweit  das  Protokoll,  das  ich  der  Freundlichkeit  von  G.  Barnes  verdanke  und 
das  ein  helles  Licht  auf  die,  drei  Monate  nach  jener  Konferenz  ausgebrochene  Ar- 
beitssperre im  englischen  Maschinenbaugewerbe  wirft. 

J)  Er  ist  von  dem  bekannten  Mitglied  des  Arbeitsamts,  Mr.  D.  F.  Schloss, 
abgefasst  und  betitelt : 

„Report  on  Guinsharing  and  other  Systems  of  Bonus  on  Production.“  Er  ist 


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Einige  Reformvcrsuche  im  Lohnsystem.  3 j - 

spielen,  die  da  vorgeführt  werden,  entfallen  vier  auf  die  Maschinen- 
industrie. Es  sind  dies  folgende  Lohnberechnungssysteme  : 

1.  Das  „Spar-Anteil-[Gain-Sharing-]"System  der 

Firma  Yale  and  Towne  in  Connecticut,'  Ver.  Staaten. 

2.  Das  „P  r ä m i e n 1 o h n"  - S y s t e m des  Mr.  F.  A.  Halsey  in 

Sherbrooke,  Provinz  Quebeck,  Kanada. 

3.  Das  „Referenztarif“ -System  der  Firma  Willans  and. 

Robinson,  Thamcs  Ditton,  Surrey,  England. 

4.  Das  „G  00  d - F e 1 1 o w sh  i p“  - Sy  s t e m der  Thamcs  Iron- 

works,  Blackwall,  Ost-London. 

Ihnen  reiht  sich  ein  System  an,  das  im  „Engineering  Magazine“ 
vom  Januar  1901  — einer  Nummer  des  genannten  Fachblattes,  die 
speziell  dem  Thema  „Betriebsleitung“  gewidmet  ist  — be- 
schrieben ist  und  das  wir  hier  als  fünftes  der  Reformlohnsysteme 
folgen  lassen  wollen.  Fis  ist  dies 

5.  Das  „Differential-Stücklohn“ -System  des  Mr.  Fr.  W. 

Taylor  von  der  Midvale  Steel  Company  in  Philadelphia. 

Allen  diesen  Systemen  liegt  das  Bestreben  zu  Grunde,  die 
Arbeiter  zu  höherer  Arbeitsleistung  zu  veranlassen,  als  dies  bei  dem 
Zeitlohnsystem  zu  geschehen  pflegt,  und  die  Nachteile  und  Linzu- 
träglichkeiten  zu  vermeiden,  die  das  Stücklohnsystem,  wie  es  ge- 
wöhnlich angewendet  wird,  teils  für  Arbeiter  und  teils  für  die 
Unternehmer  selbst  im  Gefolge  hat.  Man  kann  dies  Bestreben 
auch  dahin  kennzeichnen,  ein  Lohnsystem  zu  finden,  das  selbst- 
thätig  volle  Ausnutzung  der  Arbeitszeit  durch  die  Arbeiter  herbei- 
führt, ohne  deshalb  in  Lohndrückerei  auszuarten.  Ein  Problem,  das 
unter  den  heutigen  Wirtschaftsverhältnissen  sich  überall  da  einzu- 
stellen pflegt,  wo  eine  wesentliche  Verkürzung  der  Arbeitszeit 
durchgeführt  werden  soll  und  cs  entweder  nicht  möglich  ist  oder 
nicht  gewünscht  wird,  das  Einkommen  der  Arbeiter  zu  ver- 
ringern, das  aber  auch  für  eine  sozialistische  Wirtschaftsordnung, 
wie  sie  sich  überhaupt  vorerst  absehen  läfst,  seine  Bedeutung  be- 
hält, — ja,  sie  vielleicht  gerade  in  einer  solchen  erst  in  vollem 
Umfange  erhalten  wird.  Wenn  das  Machtwort  des  Unternehmers 
und  seines  Beamten  an  Kraft  verliert,  wenn  der  Schrecken  des 
Hungers  nicht  mehr  über  dem  Haupt  des  Arbeiters  hängt,  so  wird 
doch  das  Interesse  des  Gemeinwesens  an  voller  Ausnutzung  der 


meines  Wissens  noch  nirgends  vom  sozialistischen  Standpunkt  aus  genauer  erörtert 
worden. 

21* 


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3 1<3 


K d u a r d Bernstein, 


vorhandenen  Produktionsmittel  und  Produktionskräfte  bleiben  und 
ein  ökonomischer  Antrieb  zu  ihr  auf  lange  hinaus  unentbehrlich 
sein.  Dies  giebt  bekanntlich  auch  Karl  Marx  zu,  der  in  seinem 
Brief  von  1875  über  den  Entwurf  des  sozialistischen  Parteiprogramms 
von  der  kommunistischen  Gesellschaft,  wie  sie  sich  aus  der  kapi- 
talistischen zunächst  herausentwickeln  werde,  schreibt,  es  werde  in 
.ihr  der  Austausch  von  Konsumtionsmitteln  noch  in  der  Weise  er- 
folgen, dafs  gleichviel  Arbeit  in  einer  Form  gegen  gleich- 
viel Arbeit  in  einer  anderen  Form  ausgetauscht  werde,  und  die 
W e r t b e s t i m m u n g vorherrschend  bleibe.  Diese  Darlegung 
schliefst  aber  die  Anerkennung  einer  I.ohnmethode  ein, 
bei  der  die  Arbeit  nach  Menge  und  Beschaffenheit  ge- 
messen wird,  weil  der  blofse  Zeitaufwand  kein  genügendes  Mals 
für  die  Arbeitsleistung  abgiebt.  Im  allgemeinen  setzt  der  Zeit- 
lohn entschiedene  Abhängigkeit  des  Arbeiters,  Arbeit  unter 
Aufsicht  voraus.  Nimmt  die  Abhängigkeit  ab  und  wird  die 
Aufsicht  eine  immer  mehr  mittelbare,  so  steigert  sich  damit  die 
Notwendigkeit,  zu  irgend  einer  Art  Stücklöhnung  als  Mittel  einer 
objektiven  Kontrolle  überzugehen. 

Man  kann  nun  von  vornherein  zwei  Arten  von  Stückarbeit 
grundsätzlich  unterscheiden:  die  Stückarbeit  Einzelner  und 
die  Gruppenstückarbeit.  Bei  der  Ersteren  werden  die  Arbeiter 
als  Einzelne,  bei  der  Zweiten  werden  gröfsere  oder  kleinere 
Gruppen  von  Arbeitern  als  Kollektiveinheit  auf  Stücklohn  ge- 
setzt. Dem  letzteren  System  verwandt  ist  das  der  Rotten- 
ak  kordarbeit.  Fis  ist  geschichtlich  sein  Vorgänger,  und  wie 
ihm  die  Tendenz  innewohnt,  in  ein  Zwischenmeistersystem 
auszuarten,  wobei  ein  Meister  oder  Vorarbeiter  bestimmte  Arbeiten 
im  Verding  unternimmt  und  seine  Mitarbeiter  ablohnt  und  je  nach- 
dem ausbeutet,  so  sind  auch  bei  der  modernen  Gruppenstück- 
arbeit solche  Tendenzen  zu  Tage  getreten.  Vielfach  verbirgt  sich 
sogar  hinter  scheinbar  persönlicher  Stückarbeit  solche 
Zwischenunternehmerschaft.  So  ist  der  Spinner  in  der 
Baumwollindustrie  Englands  eine  Art  Zwischenunternehmer,  der 
andere,  niedriger  bezahlte  Arbeiter  — die  „Anknüpfer“  — unter 
seiner  Kontrolle  hat  und  ablohnt.  Desgleichen  der  Baumwoll- 
weber,  an  verschiedenen  Orten  die  Häuer  in  den  Kohlengruben, 
ferner  die  Eisenpuddler,  die  Plattenleger  im  Kessel  - und 
Eisenschiffsbau,  und  viele  andere  Arbeiter.  Es  ist  daher  sehr 
ratsam,  in  jedem  Falle  von  Stückarbeit  nachzuforschen,  ob,  wo 


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Einige  Reform  versuche  im  Lohnsystem. 


317 


formell  persönliche  Stückarbeit  vorliegt,  es  sich  wirklich  um  solche 
handelt  oder  dem  nach  ihr  bezahlten  Arbeiter  Hilfs-  oder  Unter- 
arbeiter zur  Seite  stehen , die  nach  anderen  Grundsätzen  oder 
Malsstäben  als  er  entlohnt  werden  und  in  einem  bestimmten  Ab- 
hängigkeitsverhältnis von  ihm  stehen,  so  dafs  er  ihr  unmittelbarer 
Arbeitsherr  ist.  Bei  Gruppenstückarbeit,  die  als  solche  be- 
zeichnet wird,  ist  wiederum  zu  untersuchen,  wie  es  im  Schofse  der 
Gruppe  selbst  aussieht.  Die  blofse  Thatsache,  dafs  der  Gruppe 
ein  Vorarbeiter  vorsteht , begründet  noch  keine  Zwischenunter- 
nehmerschaft, und  ebensowenig  ist  das  Prinzip  der  Gruppenstück- 
arbeit an  völlige  Gleichheit  der  Lohnsätze  für  alle  Mitglieder  der 
Gruppe  gebunden.  Es  ist  ganz  gut  mit  Abstufung  der  Lohnsätze 
vereinbar.  Aber  wo  eine  oder  mehrere  Personen  selbständig  Auf- 
träge von  der  Geschäftsleitung  übernehmen  und  mit  Hilfe  einer 
gröfseren  Anzahl  anderer  Arbeiter  ausführen , denen  sie  den  Lohn 
zahlen  oder  anweisen,  da  liegt  nicht  mehr  Gruppenstückarbeit, 
sondern  Zwischenakkord  vor,  der  von  jener  nicht  scharf  genug 
unterschieden  werden  kann.  Das  hat  offenbar  George  Barnes  im 
Sinn,  wenn  er  in  dem  schon  erwähnten  Artikel  im  „Engineering 
Magazine“  sich  gegen  die  Verallgemeinerung  des  in  Amerika  ver- 
breiteten Gruppensystems  wendet,  bei  dem  je  eine  ganze  Gruppe 
von  Maschinen  einem  geschickten  Stücklohnarbeiter  mit  einer  An- 
zahl Helfer  zur  Bedienung  überwiesen  wird:  „Wenn  das,  was 

man  uns  darüber  erzählt,  wahr  ist,"  schreibt  er,  „so  müssen  die 
amerikanischen  Werkstätten  nahezu  von  Wesen  angefüllt  sein , die 
man  in  Schottland  „Halblinge“  (d.  h.  halbe  Menschen)  nennt , und 
die  von  wenigen  Aufsehern  in  Hinblick  auf  Extravergütungen 
[„Bonusse")  kommandiert  werden.  . . . Das  Gruppensystem  kann 
ohne  Nachteil  für  irgend  jemand  da  angewandt  werden  — und  ist 
in  Grofsbritannien  so  angewandt  worden  — , wo  es  sich  um  die 
Handhabung  automatischer  oder  halbautomatischer  Maschinen  handelt. 
Aber  seine  Anwendung  bei  Handhabung  von  Werkzeugen,  die  viel- 
seitig gebraucht  werden  können,  wird  von  den  Arbeitern  als  im 
Prinzip  unbillig  und , selbst  unter  dem  Gesichtspunkt  der  Produk- 
tion, von  mehr  als  zweifelhaftem  Wert  für  die  Praxis  verworfen.“ 
(a.  a.  O.  S.  564565).  Die  Hörigkeit,  welche  die  Lehrburschen 
während  der  Lehrjahre  in  Grofsbritannien  durchmachten,  berechtigte 
sie  dazu,  „in  ihrem  späteren  Leben  diejenigen  Schritte  zu  ergreifen, 
die  etwa  erfordert  sind,  das  Gewerbe  vor  mikroskopischen  Zertei- 
lungen und  der  damit  verbundenen  Herabdrückung  der  gelernten 


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3i8 


Eduard  Bernstein, 


Arbeiter  zu  blofsen  Maschinenwärtern,  die  zu  einem  düstern  Einer- 
lei von  eintöniger  und  interesseloser  Abrackerung  verurteilt  wären, 
zu  schützen“,  (a.  a.  O.).  Wir  werden  im  folgenden  sehen,  inwie- 
weit damit  die  erwähnten  Systeme  gekennzeichnet  sind. 

Eine  zweite  Einteilung  der  Stückarbeit  ist  die  in  Stückarbeit 
auf  Grund  reiner  Stücklöhne  und  Stückarbeit  auf  Grund  von 
Prämienaufschlägen  auf  Zeit-  oder  Stücklöhne,  bezw. 
Kombinationen  beider. 

Wo  reine  Stücklöhne  möglich  sind,  werden  ihnen  die  Unter- 
nehmer und,  wo  diese  den  organisierten  Arbeitern  Stimme  bei  der 
Vereinbarung  von  Normaltarifen  für  Stücklöhne  einräumen, 
die  einen  Minimallohn  sicherstellen,  auch  die  Arbeiterorganisationen 
den  Vorzug  geben.  Die  weitblickenden  Arbeiter  stehen  allem 
Prämienwesen  mifstrauisch,  wenn  nicht  abweisend  gegenüber.  Aber 
die  Notwendigkeit , stärker  wirkende  Antriebe  zur  Erhöhung  der 
Arbeitsleistungen  zu  schaffen,  hat  doch  immer  wieder  Unternehmer 
veranlafst,  es  mit  irgend  welchen  Prämiensystemen  zu  versuchen. 

Am  einfachsten  erschien  dabei  das  System  der  Gewinnbe- 
teiligung. Indem  man  den  Arbeitern  nach  Malsgabe  ihrer  Löhne 
einen  Anteil  am  Gewinn  des  Unternehmens  zusprach,  glaubte  inan 
das  Mittel  gefunden  zu  haben , sie  zu  energischerer  Anspannung 
ihrer  Kräfte,  zu  möglichster  Materialersparnis  etc.  anzufeuern.  In- 
des scheint  es  mit  diesem  System  ähnlich  zu  gehen,  wie  mit  den 
einst  so  lebhaft  propagierten  Produktivgenossenschaften.  Es  ist 
hier  und  da  mit  leidlichem  Erfolg  versucht  worden,  der  indes  auch 
nicht  immer  vorhielt  — aber  es  will  sich  nicht  ausbreiten.  Und 
gegen  seine  Verallgemeinerung  sprechen  so  ziemlich  dieselben 
Gründe,  wie  gegen  die  der  Produktivgenossenschaften.  Es  ist,  wenn 
wir  von  den  Fällen  absehen,  wo  es  lediglich  Wohlthat  und  nicht 
Wirtschaftsprinzip  sein  soll,  im  Fundament  widerspruchsvoll.  Es 
setzt  die  Konkurrenzwirtschaft  voraus  und  schlägt  ihren  Voraus- 
setzungen ins  Gesicht,  indem  es  die  Verantwortungen  verschiebt. 
Je  gröfser  das  Unternehmen,  um  das  cs  sich  handelt,  um  so  ge- 
ringere Gewähr  hat  der  Einzelne,  dafs  seine  Extraleistung  ihm  auch 
im  entsprechenden  Mafse  zu  gute  kommt.  Zu  dem  Ubelstand,  dafs 
der  Arbeiter  lange  Zeit  im  Ungewissen  darüber  ist,  ob  und  in 
welchem  Umfange  ihm  ein  Lohn  für  seine  Mehrleistung  zu  teil 
wird,  kommt  noch  der,  dafs  ihm , je  gröfser  das  Unternehmen,  um 
so  mehr  die  Möglichkeit  fehlt,  zu  übersehen,  in  welchem  Mafse 
andere  zum  Gedeihen  des  Ganzen  beigetragen  oder  ihm  Abtrag 


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Einige  Reformversuche  im  Lohnsystrm. 


319 


gethan  haben.  Es  ist  denn  auch  die  Gewinnbeteiligung  wiederholt 
statt  Friedensstifterin  gerade  die  Ursache  bitterer  Streitigkeiten, 
statt  Herstellerin  von  Vertrauen  Schürerin  von  Mifstrauen  gewesen, 
und  keinenfalls  kann  sie  als  Abhilfe  für  ein  widersinniges  Lohn- 
berechn ungssystem  betrachtet  werden.  „Ich  habe  durch  die  Erfah- 
rung gelernt,"  erklärte  der  Direktor  der  „Thames  Ironworks",  Mr. 
A.  F.  Hills,  vor  der  Königlichen  Untersuchungskommission  von 
189294.  „Ich  hatte  mit  der  Gewinnbeteiligung  angefangen,  aber 
das  war  übereilt.  Die'  Fellowship  Kameradschaft]  ist  der  rechte 
Anfang,  und  die  Gewinnbeteiligung  ist  die  Ergänzung."  ') 

Mr.  Hills  hatte,  nachdem  auf  den  ihm  unterstellten  grol'sen 
Werken  1889  und  1890  allerhand  Ausstände  stattgefunden,  den 
dort  beschäftigten  Arbeitern  ein  Gewinnbeteiligungssystem  vorge- 
schlagen, wonach  der,  zehn  Prozent  des  Aktienkapitals  überschreitende 
Gewinn  zu  gleichen  Teilen  zwischen  Arbeitern  und  Aktionären  ver- 
teilt werden  sollte.  Nach  dreimonatlicher  lebhafter  Diskussion  war 
der  Vorschlag  von  den  Arbeitern  mit  grofser  Mehrheit  abgelehnt 
worden.  Das  nächste  Jahr  (1891)  sah  im  Hochsommer  wieder 
einen  Ausstand,  und  nun  schlug  Mr.  Hills  seinen  Arbeitern  ein  ver- 
bessertes Lohnsystem  vor,  das  er  „gute  Kameradschaft"  („good 
fellowship“)  nannte  und  das  von  einer  Abteilung  der  Werke  nach 
den  anderen  angenommen  worden  ist.  Etwas  später  — Ende  1 892 
— führte  er  auch  die  Arbeitswoche  von  48  Stunden  ein , anfangs 
mit  mäfsiger  Herabsetzung  der  Zeitlöhne;  vom  26.  April  1894  ab 
aber  wurden  für  48  Stunden  dieselben  Lohnsätze  bezahlt,  wie  vor- 
dem für  54  Stunden  bezahlt  worden  waren. 

Das  Fellowship-Systcm  selbst  ist  nun , hinsichtlich  der  Lohn- 
berechnung, in  der  That  ein  Prämien-  oder  Bonuslohn- 
system. Desgleichen  die  oben  unter  I — 3 aufgezählten  Systeme. 
Alle  vier  Systeme  stimmen  in  dem  einen  Punkt  überein,  dafs  bei 
ihnen  den  Arbeitern  für  die  Zeit,  die  sie  bei  Ausführung  ihnen 
übertragener  Arbeiten  gegen  den  Voranschlag  oder  den  normalen 
Zeitsatz  ersparen,  eine  Zuschlagszahlung  auf  den  ausbe- 
dungenen festen  Lohn  als  Prämie  oder  Bonus  vergütet  wird. 
Soweit  ist  das  Prinzip  schon  ziemlich  alt,  haben  wir  es  bei  dem 
System  der  Prämienzuschläge  nur  mit  einer  der  verschiedenen 
Formen  des  Stücklohnsystems  zu  thun.  Und  im  Fall  I,  dem  Spar- 

l)  Evidence  before  the  Labour  Commission,  Group  A.  Vol.  III,  p.  3 1 1 (eitiert 
im  Bericht  des  Arbeitsamts  über  Gainsharing  etc.  p.  63). 


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320 


E d u a r d Bernstein, 


anteil-,  (englisch : gain  sharing)  System  von  Jale  & Towne,  ist  das 
Prämienarrangement  faktisch  auch  nur  eine  Uebergangs-,  wenn 
nicht  eine  Vorbereitungsstufe  zum  gewöhnlichen  Stücklohn- 
system gewesen.  Es  war  als  Gruppenstückarbeitsystem  ins  Leben 
gesetzt  worden,  aber  nach  verhältnismäfsig  kurzer  Zeit  schon  zeigte 
ySich,  dafs  die  Arbeiter,  für  die  es  berechnet  war,  der  gewöhnlichen 
Stückarbeit  den  Vorzug  gaben,  und  auch  die  Firma  fand , dafs  sie 
bei  dieser  letzteren  besser  fortkam.  Unter  diesen  Umständen  können 
wir  von  einer  Beschreibung  der  Einzelnheiten  des  Systems  absehen. 
Nur  soviel,  dafs  die  Firma  bei  ihm  zwar  den  Arbeitern  den  nor- 
malen Wochenlohn  verbürgte,  dafür  aber  die  Beteiligung  an  Ver- 
bindungen, welche  die  Beziehungen  zwischen  der  Gesellschaft  und 
ihren  Arbeitern  störten  oder  auch  nur  angriffen,  mit  Entlassung 
unter  Verlust  der  Prämienansprüche  bedrohte. 

Sehr  viel  besser  hat  sich  das  Prämienlohn  System  des 
Mr.  Halscy  bewährt.  Es  ist  in  dem  Geschäft,  wo  es  189!  zu- 
erst versucht  wurde,  auch  heute  noch  in  Kraft  und  ist  auch  seit- 
dem in  verschiedenen  anderen  Geschäften  eingeführt  worden.  Seine 
Hauptgrundsätze  sind  die  folgenden : 

1.  Dem  Arbeiter  wird  der  landläufige  Zeitlohn  als 
Mindestsatz  zuerkannt. 

2.  Kür  jede  Arbeit  wird  auf  Grund  vorliegender  Erfahrungen 
festgestellt,  wieviel  Zeit  sie  bisher  erforderte  und  diese  Zeit  als 
Normalzeit  in  Rechnung  gestellt. 

3.  Braucht  der  Arbeiter  weniger  Zeit  für  die  Arbeit,  so  wird 
ihm  für  die  gesparte  Zeit  eine  bestimmte  Prämien  rate  als  Extra- 
vergütung zuerkannt,  deren  Satz  pro  Stunde  aber  geringer  ist  als 
der  normale  Stundenlohn. 

4.  Die  Prämienrate  soll  möglichst  dauernden  Bestand 
haben,  eine  Herabsetzung  der  Rate  nur  dann  erfolgen, 
wenn  eine  A end  er  ung  des  Produktionsprozesses  selbst 
die  alte  Zeitrate  hinfällig  gemacht  hat.  Der  Arbeiter,  erklärte  Mr. 
1 lalsey,  dürfe  nicht  in  den  Glauben  versetzt  werden,  dafs  seine 
Löhne  nicht  über  eine  gewisse  Grenze  sollen  steigen  dürfen. 

3.  Mr.  Halsey  empfiehlt,  die  Normalzeit  nicht  zu  niedrig 
anzusetzen.  Er  habe  es  für  zweckmäfsiger  gefunden,  inbezug  auf 
die  für  die  Arbeiten  vorgeschriebene  Zeit  weitherzig  zu  sein  und 
lieber  die  Prämiensätze  etwas  niedriger  zu  halten.  Dadurch  werde 
bewirkt,  dafs  selbst  der  weniger  gute  Arbeiter  noch  die  Möglich- 


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Einige  Reform  versuche  im  I.ohnsystem.  ^21 

keit  vor  sich  sehe,  seinen  Lohn  zu  verbessern,  und  werde  der  Not- 
wendigkeit vorgebeugt,  die  Prämienrate  herabsetzen  zu  müssen. 

6.  Aus  praktischen  Gründen  hat  Mr.  Halsey  ferner  in  solchen 
Fällen,  wo  sich  eine  Erhöhung  der  Prämien  empfahl , nicht  die 
Prämienrate  erhöht,  sondern  die  Grenze  der  Zeitdauer  für  die  aus- 
zuführenden Arbeiten  — die  Normalzeit  — heraufgesetzt. 
Es  empfahl  sich  dies  wegen  des  Vorteils,  den  die  Stetigkeit  der 
Prämien  rate  für  die  Berechnungen  zur  Folge  hat. 

7.  Mit  Bezug  auf  die  Aufnahme  des  Systems  von  seiten  der 
Arbeiter  schrieb  Mr.  Halsey  1894  an  das  britische  Arbeitsamt,  dafs 
das  System  von  den  Arbeitern  zuerst  mit  grofsem  Milstrauen  auf- 
genommen worden  sei.  Aber  ein  wenig  Geduld  von  seiten  des 
Unternehmers  und  einige  Erfahrung  auf  seiten  der  Arbeiter  hätten 
genügt,  das  Mifstrauen  zu  beseitigen.  Schlicfslich  seien  die  Arbeiter 
samt  und  sonders  begierig  gewesen,  Prämienarbeit  zu  übernehmen. 
Es  sei  im  ganzen  ohne  Reibungen  abgegangen,  was  Mr.  Halsey 
dem  Umstande  zuschreibt , dafs  er  durch  Ansetzung  niedriger  Prä- 
mienraten dafür  gesorgt  habe,  eher  Erhöhungen  als  Herabsetzungen 
einführen  zu  müssen.  Auch  sei  der  Umstand , dafs  das  System 
keinen  Zwang  einschliefse,  seiner  Annahme  günstig. 

Das  war  1894.  In  der  schon  citierten  Nummer  des  „Engineering 
Magazine“  vom  Januar  1901  spricht  sich  nun  ein  anderer  amerika- 
nischer Unternehmer,  Mr.  H.  M.  Norris,  Leiter  der  Bickford  Drill  & 
Tool  Company , auf  Grund  eigener  Erfahrungen  über  das  System 
aus.  Im  allgemeinen  stimmt  er  Halsey  rückhaltlos  zu.  Dagegen 
hält  er  dessen  Prinzip,  die  Prämienrate  niedrig  und  die  Zeitgrenze 
hoch  anzusetzen,  nur  für  solche  Werkstätten  am  Platze,  wo  bisher 
einfacher  Zeitlohn  und  die  mit  ihm  verbundene  schlaffe  Arbeits- 
woche vorgeherrscht  haben.  Wo  aber  die  Fabrik  schon  gehörige 
Leistungsfähigkeit  entfaltet  habe,  fänden  sich  häufig  Bedingungen 
vor,  die  gerade  das  umgekehrte  Prinzip,  d.  h.  niedrige  Zeitgrenze 
und  hohe  Prämienrate,  rechtfertigten.  „Ich  gehe  davon  aus,"  schreibt 
er,  „dafs  unser  [der  Fabrikanten  Hauptverdienst  mehr  von  der  Steige- 
rung der  Produktion  als  von  der  Herabsetzung  des  Preises  der 
Produkte  stammt , und  dafs,  wenn  die  Zeitgrenzen  mit  gehöriger 
Vorsicht  normiert  sind,  der  allgemeine  Vorteil  gröfser  ist,  als  wenn 
die  Zeitgrenzen  hoch  und  die  Prämienraten  niedrig  sind."  Die  Zeit 
sei  der  allmächtige  Faktor,  und  wenn  sie  — die  auf  jedes  Produkt 
entfallende  Arbeitszeit  — nicht  niedrig  gehalten  werde,  verschwinde 
der  Profit  schnell.  Für  das  Durchschnittsunternehmen,  das  mit  ge- 


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322 


Eduard  Bernstein, 


ringer  Profitrate  arbeite,  sei  „derjenige  Plan  der  beste,  der 
den  langsamen  Arbeiter  am  schnellsten  ausmerze." 
(S.  638).  Sei  die  Zeitgrenze  hoch  und  die  Prämienrate  niedrig,  so 
nehme,  nachdem  der  Arbeiter  die  erste  Zeitersparnis  erzielt  habe, 
der  Antrieb  zu  weiterer  Zeitersparnis  stark  ab.  „Die  erste  Zeit- 
ersparnis wird  gewöhnlich  mit  sehr  wenig  Mchranstrengung  von 
seiten  des  Arbeiters  erzielt.  Aber  von  da  ab  ist  jede  weitere 
Produktionssteigerung  geeignet,  mehr  Muskelarbeit  und  höhere 
geistige  bezw.  Nerven-;  Anspannung  zu  erheischen  und  sollte, 
meine  ich,  mit  höherer  Prämienrate  belohnt  werden." 

Mr.  Norris  giebt  einige  Beispiele  aus  der  von  ihm  geleiteten 
Fabrik,  die  zeigen,  was  für  Zeitersparnisse  unter  dem  Prämiensystem 
erzielt  wurden.  Die  Liste  eines  Arbeiters,  der  hintereinander  316 
Stück  Produkte  einer  gewissen  Art  in  34  Posten  zur  Herstellung 
übernommen  hatte,  für  die  zusammen  2500  Stunden  als  Normal- 
zeit angesetzt  waren,  zeigt  als  wirklich  gebrauchte  Arbeitszeit 
1770  Stunden,  eine  Zeitersparnis  von  nahezu  30  Prozent. 
Einer  dieser  Aufträge,  dessen  Normalzeit  auf  30  Stunden  angesetzt 
war,  wurde  bei  der  sechsten  und  siebenten  Wiederholung  in  18 
Stunden  ausgeführt.  Die  Firma  macht  mit  den  Arbeitern  bei  Zeit- 
ersparnis Halbpart,  und  so  erzielten  sie  und  der  betreffende  Arbeiter 
je  eine  Mehreinnahme  von  94,93  Dollars.  Das  heifst,  sie  zahlte  für 
Arbeit,  die  sonst  650  Dollars  an  Lohn  gekostet  hätte,  555,06  Dol- 
lars, während  der  Arbeiter  für  1770  Stunden  statt  460,13  Dollars 
555,06  Dollars  erhielt. 

Auch  Mr.  Norris  stellt  fest,  dafs  das  System,  wo  immer  es 
eingeführt  werde,  anfangs  auf  das  gröfste  Mifstrauen  von  seiten  der 
Arbeiter  stofse.  Sie  betrachteten  es  „als  den  Keil,  der  eingeschoben 
werde,  um  der  Stückarbeit  den  Weg  zu  bahnen“.  Damit  ist  auch 
die  Haltung  angezeigt,  die  die  Führer  der  organisierten  Arbeiter 
ihm  entgegenbringen.  Immerhin  hat  der  Leiter  des  amerikanischen 
„Internationalen  Bundes  der  Maschinenarbeiter",  Mr.  O'Connell,  sich 
dahin  geäufsert , dafs  wenn  das  Prämiensystem  „ehrlich  ins  Werk- 
gesetzt  und  seine  Versprechungen  ehrlich  innegehalten  werden,  es 
von  grofsem  Wert  sein  könne  für  die  Verminderung  der  Reibungen, 
die  sich  jedesmal  zeigen,  wenn  irgend  etwas  der  Stückarbeit  Aehn- 
liches  in  Vorschlag  gebracht  wird“. 

Das  Referenztarifsystem  der  Herren  Willan  & Robinson  in 
Thames  Ditton  bei  London  unterscheidet  sich  nur  wenig  von  dem 
Halseyschen  Prämiensystem.  Auch  bei  ihm  ist  der  leitende  Ge- 


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Einige  Reformversuche  im  Lohnsystem. 


323 


danke  die  Feststellung  eines  Normalzeittarifes  — hier 
die  „Referenzrate"  genannt  — für  jede  den  Arbeitern  übertragene 
Arbeit  und  die  Zahlung  einer  Prämie  für  die  Zeitersparnis 
bei  der  Ausführung.  Der  Prämiensatz  für  den  Arbeiter  ist  der 
gleiche  wie  bei  den  Bickford  Tool  & Drill  Works,  nämlich  50 
Prozent  der  Ersparnis,  und  auch  hier  ward  das  Prinzip  be- 
obachtet, das  Normalzeitmafs  in  der  Regel  höher  anzusetzen  als  die 
Zeitsumme,  die  die  betreffende  Arbeit  bei  Einführung  des  Systems 
in  Anspruch  nahm.  „Die  Referenzraten",  heifst  cs  im  Einführungs- 
schreiben der  Firma  an  die  Arbeiter,  „werden  im  allgemeinen  höher 
angesetzt,  als  den  jetzigen  Kosten  der  Arbeiten  entspricht,  so  dafs 
bei  der  gegenwärtigen  Arbeitsrate  sich  Ueberschüsse  ergeben.  In 
verschiedenen  Fällen,  wo  nach  Ansicht  der  Firma  die  Produktion 
Gewinn  abwirft,  wird  man  die  Referenzrate  erheblich  höher  als  den 
jetzigen  Kostbetrag  angesetzt  finden,  so  dafs  selbst  ohne  jede  weitere 
Verringerung  des  Zeitaufwandes,  wie  er  jetzt  ist,  greifbare  Zu- 
schüsse zur  Auszahlung  gelangen".  (Bericht,  S.  122).  Dagegen 
ward  in  anderen  Fällen  die  Normalzeit  niedriger  angesetzt  als  dem 
gegebenen  Kostpreis  entsprach,  und  zwar  weil  die  in  Gebrauch  be- 
findlichen Produktionswerkzeuge  veraltet  waren.  Die  Firma  ver- 
sprach Einstellung  zeitgemäfser  Werkzeuge  und  Geräte  und  ver- 
bürgte inzwischen  den  betreffenden  Arbeitern  unverkürzte  Fortbe- 
zahlung des  normalen  Zeitlohns.  Der  normale  Zeitlohn  solle 
der  Mindestlohn  bleiben,  auch  wenn  der  Arbeiter  mehr  Zeit 
für  die  Arbeit  verbrauche,  als  der  N'ormalzeittarif  dafür  vorschreibe. 
Ferner  ward  auch  hier  Unveränderlichkeit  des  Zeittarifs 
bei  gleichbleibendem  Produktionsprozels  als  leitendes 
Prinzip  festgesetzt.  Solange  nicht  die  Geschäftsleitung  durch  neue 
Maschinen  etc.  den  Produktionsprozels  ändere,  werde  der  Zeittarif 
unverändert  bleiben,  Verbesserungen  der  Arbeitsmethode,  die  der 
Initiative,  bezw.  dem  Erfindungsgeist  der  betreffenden  Arbeiter  selbst 
geschuldet  sind,  lassen  den  Zeittarif  unberührt. 

Bis  zur  Abfassung  des  Berichts  des  Arbeitsamts  (1895}  hatte 
sich  dies  Lohnsystem  als  zufriedenstellend  bewährt.  Für  1894 
wurden  an  Arbeiter  derjenigen  Abteilungen  der  Fabrik,  in  denen 
das  System  eingeführt  war,  auf  10579  Pfd.  Sterl.  Lohn  1579  Pfd. 
Sterl.  Bonus  verteilt,  was  eine  Zuschlagsrate  von  14,93  Prozent  er- 
giebt.  Da  aber  in  jenen  Abteilungen  auch  Arbeiter  thätig  sind, 
die  nicht  nach  dem  System  entlohnt  werden,  ist  der  Zuschufs  für 
diejenigen  Arbeiter,  die  unter  ihm  arbeiteten,  ein  höherer  gewesen. 


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324 


Eduard  Bernstein, 


Die  höchsten  Bonusse  pro  Jahr  wurden  bei  den  Drehern  und 
Modellmachern,  die  niedrigsten  bei  den  Fertigmachern  und  Schleifern 
erzielt. ')  Die  Kostenersparnis  für  das  Geschäft  schätzt  der  Bericht 
auf  mindestens  fünf  Prozent. 

Dem  Good  Fellowship -System  der  Thames  Iron  works 
unterliegt,  soweit  die  Lohnfrage  inbetracht  kommt,  zunächst  das- 
selbe Prinzip  der  Feststellung  von  Normalzeittarifen  und  Prämierung 
der  Zeitersparnis,  wie  den  vorher  bezeichneten  Systemen.  Während 
bei  diesen  aber  die  Frage,  ob  die  Arbeiter  als  Einzelne  oder  ganze 
(iruppen  von  Arbeitern  die  Einheiten  für  die  Prämienberechnung 
bilden  sollen,  als  offene  behandelt  und  nur  für  das  System  der  An- 
spruch erhoben  wird,  auf  beide  Fälle  anwendbar  zu  sein,  hatte  die 
Good  Fellowship  die  ausgesprochene  Tendenz,  die  Gruppe  zur 
Einheit  für  die  Prämien arbeit  zu  machen,  bezw.  durch  das 
Mittel  der  l’rämien  die  Gruppenorganisation  anziehend  zu  ge- 
stalten. Nicht  der  Einzelne,  sondern  die  „Kameradschaft“  sollte 
die  Prämie  erwerben  und  unter  ihre  Mitgliedern  verteilen.  Zu 
einem  Teil  scheint  dem  Urheber  des  Systems,  Mr.  Hills,  die  That- 
sache  zu  dieser  Gruppierungsidee  veranlafst  zu  haben,  dafs  ohnehin 
auf  so  grofsen  Eisenwerken , wie  es  die  Thames  Ironworks  sind, 
viel  Arbeit  an  Gruppen  von  Arbeitern  übertragen  wird.  Daneben 
aber  haben  ihn  aber  auch  offenbar  ideologische  Beweggründe  ge- 
leitet, wie  der  Wunsch,  ein  Stück  Sozialismus  im  Unternehmen  zu 
verwirklichen.  Nicht  dafs  Mr.  Hills  ein  Sozialist  im  strengen  Sinne 
dieses  Wortes  wäre.  Seine  Ziele  bleiben  durchaus  auf  dem  Boden 
der  gegebenen  Gesellschaftsordnung.  Aber  er  will  doch  das  Ver- 
hältnis von  Arbeiter  und  Unternehmer  auf  eine  andere  Basis  als 
die  herkömmliche  stellen,  ruft  überhaupt  gern  ethische  und  soziale 
Prinzipien  an.  „Der  Zweck  dieses  Plans,"  heilst  es  in  der  Einlei- 
tung zu  dem  Good  Fellowship  Statut,  „besteht  darin,  den  möglichen 
Verdienst  jedes  Arbeiters  auf  dem  Werk  zu  erhöhen,  das  Prinzip 
seiner  Anwendung  ist  aber  durchaus  dem  der  „Stückarbeit"  ent- 
gegengesetzt , wie  sie  gewöhnlich  verstanden  wird,  die  jedermann 
von  seinem  Nächsten  unabhängig  macht  und  vielen  der  Zerwürf- 
nisse den  Weg  ebnet,  die  solange  die  besten  Interessen  von  Kapi- 

'}  Da  die  betreffenden  Zahlen  sich  aut' Jahreserträge  beziehen,  also  auch  solche 
Arbeiten  einsclilicfscn,  die  nicht  nach  dem  Normalzeitmafs  verrechnet  wurden,  besagt 
das  Obige  nicht,  dafs  Fcrligmachcr  und  Schleifer  bei  Arbeiten,  die  unter  das  System 
heim,  stets  schlechter  daran  waren  als  ihre  Kollegen. 


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Einige  Rcformvcrsuclie  im  Lobnsystem. 


325 


tal  und  Arbeit  gespalten  haben.  Die  Stückarbeit  ist  zu  oft  der 
Ausdruck  einsiedlerartiger  Selbstsucht,  das  Todesurteil  sozialer 
Wohlfahrt."  Und:  „Das  vierte  Prinzip  der  „guten  Kameradschaft" 
ist  Gleichheit  der  Gewinnanteile  im  Verhältnis  zu  den  gezahlten 
Normallöhnen.  Alle  Zahlung  von  individuellen  Arbeits-]  Prämien 
ist  dem  Vorwurf  der  Parteilichkeit  und  Günstlingswirtschaft  aus- 
gesetzt und  steht  in  der  Regel  in  keinem  genauen  Verhältnis  zu 
den  Kosten  des  Stückes  Arbeit,  worauf  sich  die  Prämien  be- 
ziehen." 

Wie  aus  dem  Vorhergehenden  ersichtlich , bildet  auch  bei  der 
,.Good  Fellowship“  ein  Normal  lohn  die  feste  Grundlage  der 
Lohnbemessung.  „Jeder  Arbeiter,“  heifst  es  im  § 1 des  Statuts, 
„wird  von  der  Gesellschaft  auf  Grundlage  der  Normal-  Lohn-] 
rate  des  Gewerbes  angestellt,“  d.  h.  auf  Grundlage  des  von  der 
in  Frage  kommenden  Gewerkschaft  anerkannten  Lohnsatzes.  Unter 
Zugrundelegung  dieser  Normallöhne  und  des  normalen  Zeitaufwands 
werden  nun  die  verschiedenen  auszuftihrenden  Arbeiten  gewertet, 
ihre  „normale  Arbeitskost“  oder  ihr  „Arbeitswert"  fest- 
gestellt, wobei  die  beteiligten  Gewerbsgruppen  durch  Vertreter 
Sitz  und  Stimme  haben.  Für  eine  ganze  Reihe  von  Arbeiten,  die 
sich  regelmäl’sig  wiederholen,  giebt  es  „festgesetzte  Stück- 
preise", und  wo  es  angeht,  werden  selbst  für  die  kleinsten  Teil- 
arbeiten „Stückpreise"  oder  „Arbeitswerte“  festgestellt.  Auf  Grund 
dieser  Arbeitswerte  und  der  Gutachten  der  Ingenieure,  Werkführer, 
Vorarbeiter  etc.  über  die  Arbeitskost  von  Artikeln,  für  die  es  keine 
festgesetzten  Stückpreise  giebt,  macht  die  Firma  bei  Lieferungsaus- 
schreiben ihre  Angebote,  wobei  sie  sich  indes  vorbehält,  je  nach 
der  Marktlage  die  Gesamtforderung  zu  modifizieren  und  alsdann 
bei  erfolgtem  Zuschlag  auch  die  Teilpreise  entsprechend  abzu- 
ändern. Fs  steht  aber  jeder  Arbeitsgruppe  frei,  ihr  zugewiesene 
Arbeiten  abzulehnen,  wenn  ihr  der  vorgeschlagene  Arbeitswert  un- 
genügend erscheint  Eine  Kameradschaft  besteht  in  der  Regel  aus 
allen  Arbeitern  des  gleichen  Berufes,  die  in  ein  und  derselben  Ab- 
teilung des  Unternehmens  beschäftigt  sind  (Schiffbau,  Maschinenbau, 
Reparatur  etc.).  Werden  aber  in  ein  und  derselben  Abteilung  ver- 
schiedene Lieferungsaufträge  zu  gleicher  Zeit  ausgeführt,  so  findet 
eine  entsprechende  Einteilung  in  Lieferungskameradschaften 
statt.  Ferner  giebt  es  auch,  je  nach  der  Natur  der  Arbeiten,  zu- 
sammengesetzte Kameradschaften,  wo  Arbeiter  ver- 
schiedener Berufsgruppen  an  ein  und  demselben  Werk  unmittelbar 


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326 


Eduard  Bernstein, 


kooperativ  thätig  sind,  und  Sektionskameradschaften,  die  aus 
kleineren  Gruppen  von  Berufsgenossen  bestehen.  So  waren  1895 
die  200  Plattenleger  in  der  Schiffbauabteilung  in  Sektionskamerad- 
schaften von  6 — 8 Mitgliedern  eingeteilt.  Innerhalb  anderer  Kame- 
radschaften gruppieren  sich  die  Arbeiter  bei  der  Arbeit,  und  dem- 
gemäfs  auch  bei  der  Berechnung  der  Prämien,  je  nachdem  in  Son- 
derabteilungen, die  von  zwölf  bis  zu  zwei  Mitgliedern  herabgehen, 
und  wo  dies  die  Natur  der  Arbeiten  mit  sich  bringt , findet  auch 
bei  der  Arbeit  und  Berechnung  der  Prämien  völlige  Individualisie- 
rung statt.  Jedoch  wird  seit  1895  bei  der  Schlufsabrechnung  für 
jeden  Auftrag  den  Mitgliedern  der  einzelnen  Untergruppen  nur  die 
Hälfte  des  Gewinns  ihrer  Gruppe  gutgeschrieben,  die  andere  Hälfte 
wird  der  ganzen  Kameradschaft  zur  gleichmäfsigen  Verteilung  an 
alle  ihre  Mitglieder  gutgeschricben,  gleichviel  ob  die  Rechnung  der 
Einzelnen  mit  Gewinn  oder  Verlust  abschliefst.  Es  sollen  auf  diese 
Weise  etwaige  Vorteile  oder  Nachteile,  die  bei  der  Verteilung  der 
Arbeiten  unterlaufen  oder  Folge  von  unkontrollicrbaren  Umständen 
sind,  ausgeglichen  und  das  Gemeinschaftsinteresse  gestärkt,  ein 
„Gleichgewicht  zwischen  den  individualistischen  und  den  sozialisti- 
schen Kräften"  hergcstellt  werden.  An  dem  Gesamtgewinn  jeder 
Betriebsabteilung  haben  ferner  auch  die  Vorarbeiter,  die  Tagelöhner 
und  die  Kontoristen  dieser  Abteilung  einen  gewissen  proportio- 
neilen Anteil. 

Was  die  Höhe  der  erzielten  Prämien  betrifft,  so  waren  sie  in 
den  verschiedenen  Kameradschaften  aufscrordentlich  verschieden. 
Es  stehen  da  Sätze  von  39,74  Prozent  völliger  Abwesenheit  von 
Gewinn  (Zeitersparnis)  gegenüber.1)  Insgesamt  wurde  in  dem  Zeit- 
raum von  1891  bis  1894  ein  Durchschnittsgewinn  von  5,68  Prozent 
der  Normallöhne  erzielt.  Das  scheint  nicht  sehr  hoch.  Es  ist  aber 
zu  berücksichtigen,  dafs  im  Laufe  dieser  Periode  die  Firma  den 
Achtstundentag,  bezw.  die  48  Stunden-Arbcitswoche  bei  Festhaltung 
des  alten  Wochenlohns  durchführte,  und  aufserdem  fanden  in  dieser 
Zeit  zweimal  Erhöhungen  des  Normalzeitlohns  statt, 
nämlich  4,25  Prozent  im  November  1892  und  6,25  Prozent  im 


')  Verluste,  d.  h.  Uhcrnormalc  Zcitaufwändc  der  Gruppen  oder  Einzelpersonen 
werden  nur  solange  in  Rechnung  gestellt,  als  es  sich  um  Arbeiten  für  ein  und  den- 
selben Licferungsvertrag  handelt.  Hat  eine  Person  oder  Gruppe  bei  Schlufsabrechnung 
über  einen  Auftrag  mehr  Verlust  als  Gewinn  auf  Buch,  so  wird  der  Rest  einfach 
als  Null  gesetzt,  so  dafs  der  Normallohn  verbleibt. 


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Einige  Reformversuche  im  Lohnsystem. 


327 


April  1894,  Unter  diesen  Umständen  ist  der  Erfolg  immerhin  be- 
merkenswert. N'ach  den  Erklärungen  des  Mr.  Hills  wäre  ihm  ohne 
die  Kameradschaftsorganisation  die  Durchführung  der  48  Stunden- 
Arbcitswoche  unmöglich  gewesen.  Vom  Standpunkt  der  Firma 
ist  danach  das  Ergebnis  alles  in  allem  zufriedenstellend  gewesen. 
Die  Arbeiter  ihrerseits  scheinen  im  ganzen  auch  nicht  unbefriedigt 
gewesen  zu  sein,  wenn  auch  einzelne  Berufsgruppen  es  mehr  über  sich 
haben  ergehen  lassen,  als  dafs  sie  ihm  irgend  welche  stärkere  Sym- 
pathie entgegengebracht  hätten.  Die  Gewerkschaften  stellten  sich 
vielmehr  anfänglich  dem  Plan  durchaus  feindselig  gegenüber,  haben 
sich  jedoch  später  mit  ihm  ausgesöhnt.  So  erklärte  im  Mai  1894 
der  Verband  der  Vereinigten  Maschinenbauarbeiter  in  seinem  Organ 
die  Thames  Ironworks  für  „eines  der  anständigsten  („fairest“)  Werke 
in  London".  Während  der  grofsen  Arbeitssperre  von  189798  ward 
auf  den  Werken  dieser  Firma  fortgearbeitet  und  herrschte  zwischen 
ihr  und  dem  Verband  der  Arbeiter  freundschaftliches  Einver- 
nehmen.') 

*)  Wie  sieh  das  Good  Fellowship  Lohnsystem  geschäftlich  bewährt  hat,  zeigt 
folgenden  Stelle  aus  dent  Geschäftsbericht  der  obigen  Gesellschaft  für  1898.  Sic 
beginnt  mit  einem  Rücklick  auf  die  Kämpfe,  welche  die  Firma  vor  Einführung  des 
Systems  mit  ihren  Arbeitern  hatte  und  welche  „ungeheuere  Kosten’1  sie  aufwenden 
mufstc,  „um  die  Autorität  der  Gesellschaft  als  Arbeitsprinzipal  herzustellcn". 

Dann  heifst  cs  weiter: 

„Das  Good  Fellowship  System,  das  jedem  Arbeiter  ein  direktes  Inter- 
esse an  der  Arbeit  giebt,  die  er  geradeausführt,  war  eingeführt  worden, 
um  ein  freundlicheres  Verhältnis  herzustellen.  Fs  hat  sich  in  jeder  Hinsicht  als 
über  unsere  Erwartungen  zufriedenstellend  bewährt.  Wie  unser  Geschält  sich  aus- 
gedehnt hat.  zeigt  folgende  Tabelle  der  gezahlten  Löhne: 

1893  . . . . £ 99066 

1894  ....  „ 102465 

1S95  ....  „ 147790 

1896  . . . , „ 163666 

1897  ..  »»  223902 

1898  ....  „ 242838 

Unsere  Kosten  sind  um  gegen  17  bis  18  Prozent  gefallen,  während 
den  Arbeitern  als  Zuschlag  zu  den  höchsten  Löhnen,  die  im  Königreich  ge- 
zahlt werden,  und  zum  achtstündigen  Arbeitstag,  dessen  Einführung  durch 
den  Erfolg  des  Good  Fellowship  System  gerechtfertigt  wird,  folgende  Monats- 
dividenden gezahlt  wurden: 


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328 


E <1  u » i d Bernstein. 


III. 

Wie  sich  selbst  der  nichtfachmännisch  geschulte  Leser  gesagt 
haben  wird,  erfordert  das  System  der  Arbeitsprämien,  wie  es  in  der 
Good  Fellowship  gchandhabt  wird,  eine  aufscrordentlich  um- 
fangreiche und  genaue  Buchführung.  Eine  sehr  ins  Ein- 
zelne gehende  Buchführung  braucht  auch  das  Willans  8:  Robinsonsche 
System  der  Referenztarife.  Es  ist  nun  charakteristisch,  dafs  beide 
Firmen  erklären,  diese  Mehrkosten  für  die  Buchführung  stünden  in 
gar  keinem  Verhältnis  zu  den  Vorteilen,  die  ihnen  aus  der 
Durchführung  des  Systems  erwüchsen.  Willans  & Robinson  fügen 
hinzu,  dafs  die  Mehrkosten  überhaupt  nicht  bedeutend  seien,  und 
Mr.  Hills  giebt  zwar  eine  erhebliche  Steigerung  der  Ausgaben  für 
Buchführung  und  genaue  Feststellung  des  Zeitverbrauchs  bei  den 
verschiedenen  Arbeiten  („time-keeping“)  zu,  — „wir  hatten  eine 
ganz  neue  Abteilung  dafür  einzurichten“,  erklärte  er  vor  der  König- 
lichen Arbeitskommission,  — schätzt  aber  den  erzielten  Gewinn 
dafür  um  so  höher  ein.  „Zum  erstenmal  in  der  Geschichte  dieses 
Unternehmens,“  schreibt  er  in  der  „Thames  Ironworks  Gazette"  vom 
Januar  1895,  „haben  wir  uns  einen  absolut  zuverlässigen  Kosten- 
anschlag für  alle  Lieferungsaufträge  gesichert,  die  wir  zu  irgend 
eitler  Zeit  in  Händen  haben.  Jeden  Monat  habe  ich  jetzt  einen 
genauen  Ucberblick  aus  der  Vogelschau  über  die  finanziellen  Er- 


1892  . . 

. 4S04  £ 

11  sh. 

9 d. 

IS93  . 

2503  „ 

16  „ 

8 

IS94  . . 

. 1 1 12 

16  „ 

5 .. 

1895  . . 

• ■ 5852 

2 „ 

6 .. 

1896  . . 

. . 5081  „ 

«3  „ 

5 •• 

1897  . . 

• ■ 7 774  „ 

5 » 

7 „ 

1898  . . 

- - 15  390  „ 

4 >• 

7 <> 

zusammen  42519  £ 10  sh.  1 1 d. 


Gegenüber  dem  Gerede  von  Konkurrenten,  dafs  Mr.  Hill  die  Thames  Iron  Works 
nur  als  rein  „philantropisches  Unternehmen“  betreibe,  bemerkt  dieser  im  Bericht, 
»•ein  Schiffs-  und  Maschinenhauwerk,  das  in  derselben  Zeit  seine  Produktion  ver- 
dreifachen, Feine  Kosten  verringern  und  den  Aktionären  zehn  Prozent 
Dividende  bieten  kann,  braucht  keine  Furcht  zu  haben“. 

I m ihre  zunehmenden  Aufträge  ausführen  zu  können,  haben  die  Thames  Iron- 
works im  Jahre  1899  die  am  gegenüberliegenden  Themseufer  — in  Greenwich  — — 
gelegene  grolsc  Maschinenbauanstalt  der  altangcschenen  Firma  John  Penn  & Sons 
erworben  und  so  den  achtstündigen  Arbeitstag  über  die  Themse  verpflanzt. 


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Kinigc  Rcfornivcrsuchc  im  Lobnsystcm. 


329 


gebnisse  der  im  Monat  geleisteten  Arbeit.  Ich  kann  nicht  nur  den 
Stand  jedes  einzelnen  der  verschiedenen  Aufträge  feststellen,  sondern 
so  wissenschaftlich  genau  ist  das  System  du'rchgcfuhrt,  dals,  wenn 
ich  es  wünsche,  ich  ermitteln  kann,  welchen  Gewinn  oder  Verlust 
jeder  einzelne  Arbeiter  — ob  Mann  oder  Bursche  — in  den  ver- 
schiedenen Abteilungen  bei  jedem  einzelnen  Lieferungsauftrag  ge- 
macht hat"  (Bericht,  S.  1061. 

Wie  schon  weiter  oben  erwähnt,  wurde  auf  den  Thames 
Ironworks  die  Berechnung  des  Normalzeitaufwands  für  die  einzelnen 
Arbeiten  verschiedentlich  so  weit  durchgeführt,  dals  Arbeitswerte 
bis  zu  1 Schilling  und  darunter  festgcstellt  wurden.  Dies  Prinzip 
nun,  die  rechnerische  Zerlegung  aller  Arbeiten  bis  in  ihre 
kleinsten  Einzelheiten,  um  den  für  sic  erforderten  normalen  Zeit- 
aufwand, und  damit  ihren  Arbeitswert  fcstzustellen,  ist  in  dem 
fünften  der  oben  aufgezählten  Lohnsysteme , dem  Taylorschen 
System  der  Differential-Stücklohntarife,  am  konsequentesten  durch- 
geführt, man  könnte  fast  sagen,  wirklich  zu  einer  Wissenschaft 
erhoben. 

Das  Differential-Stücklohnsystem  ist  seit  fünfzehn 
Jahren  in  den  Werken  der  Midvale  Steel  Company  in  Philadelphia, 
wo  es  sein  Erfinder,  Mr.  Fred.  W.  Taylor,  eingeführt  hat,  mit  so 
grol’sem  Erfolg  für  das  Unternehmen  in  Uebung,  dals  auch  andere 
grolse  Unternehmungen  sich  veranlalst  gesehen  haben,  es  bei  sich 
einzufuhren.  Es  wird  im  „Engineering  Magazine“  von  Mr.  Sanford 
E.  Thomas  in  einem  Artikel,  den  Mr.  Taylor  durchgesehen  hat, 
genauer  beschrieben.  Danach  besteht  sein  Grundprinzip  in  einer 
Feststellung  des  für  die  kleinsten  Teile  — die  „Elemente"  — 
jeder  Arbeitsleistung  erforderten  Zeitaufwands  und  die 
Aufstellung  von  differenzierten  Stücklohntarifen  auf  Grund  dieser 
Wertung  der  Elementarverrichtungen.  Das  Differenzierungsprinzip 
ist  ähnlich  wie  das  der  vorhergcschilderten  Prämiensysteme : Zahlung 
von  höheren  Einheitssätzen  für  alle  Zeitersparnis.  Das  Normalzeit- 
mafs  wird  so  angesetzt, dals  der  Arbeiter  „ohne  äufserste  Anspannung 
seiner  Kräfte“  den  Xormallohn  des  Gewerbes  verdienen  und  durch 
zweckmäfsige  Verwendung  seiner  Zeit  Mehreinnahmen  erzielen  kann, 
ohne  befurchten  zu  müssen,  dals  grölserc  Ergiebigkeit  seiner  Arbeit 
Herabsetzung  der  Tarifsätze  nach  sich  zieht.  „Die  ganze  Vorteil- 
haftigkeit  des  Systems  ist  zerstört,“  schreibt  Mr.  Thompson,  „wenn 
die  Arbeiter  den  Eindruck  empfangen,  dals,  sobald  sie  ihre  Pro- 
duktion steigern,  die  Lohnsätze  reduziert  werden.“ 

Archiv  für  *oz.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVI [.  22 


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33° 


K. d u a r d Bernstein, 


Mr.  Thompson  illustriert  das  System  an  folgendem  Beispiel. 

„Angenommen,  es  handle  sich  um  das  Glätten  der  Oberfläche 
eines  Stückes  Gufseiscn.  Bei  dem  gewöhnlichen  Stücklohnsystem 
würde  der  Beamte,  der  den  Arbeitspreis  berechnet,  seine  Liste  der 
an  der  Hobelmaschine  ausgeführten  Arbeiten  durchsehen,  bis  er  auf* 
ein  Stück  Arbeit  stöfst,  das  dem  auszuführenden  Stück  möglichst 
nahe  kommt,  und  dann  den  für  das  letztere  erforderten  Zeitaufwand 
vermutungsweise  abschätzen.  Unter  dem  Elementarsystem  dagegen 
würde  etwa  folgende  Analyse  gemacht  werden : 


A r b c i t des  A r b c i ( c r s : 

Zeit  erheischt  um  das  Stück  vom  Boden  auf  den  1 lobe! tisch  zu  liehen 

„ „ ,,  das  Niveau  herzurichten 

„ „ Riegeln  und  Klammern  anzuschrauben 

t,  „ „ Riegeln  und  Klammem  abzuschraubcu 

„ ,,  das  Stück  auf  den  Boden  zu  setzen 

„ „ „ die  Maschine  zu  reinigen 


Minuten 


Arbeit  der  Maschine: 

Zeit  erheischt  um  einen  Schnitt  1 4 Zoll  dick,  4 Fufs  lang  und  21*  Zoll 

. breit  ahzuhohcln 

„ „ einen  Schnitt  1 «.  Zoll  dick,  3 Fufs  lang  und  12  Zoll 

breit  ab/uhobein 

„ ..  ,,  einen  Schnitt  von  4 Fufs  Länge  und  2 ' , Zoll  Breite 

zu  glätten 

,,  „ ,,  einen  Schnitt  von  3 Rufs  Länge  und  12  Zoll  Breite 

zu  glätten 

Insgesamt  . 

Hierzu  ....  Prozent  für  unvermeidbare  Verzögerungen  ... 


Auf  diese  Weise  lielscn  sich  alle  Arbeiten  in  eine  Reihe 
elementarer  Verrichtungen  auflösen,  wie  sie  sich  in  jeder  Werkstatt 
täglich  in  den  verschiedenartigsten  Kombinationen  wiederholen  und 
deren  Zeitaufwand  sich  leicht  bestimmen  lasse.  Der  Tarifaufsteller 
werde  bald  so  vertraut  mit  den  Zciterfordernissen  für  jedes  der 
Arbeitsclemente,  dafs  er  sie  aus  dem  Gedächtnis  niederschreiben 
könne.  Für  denjenigen  Teil  der  Arbeit,  den  die  Maschine  macht, 
schlägt  er  Tabellen  nach,  welche  für  jede  Maschine  ausgearbeitet 
sind  und  die  Zeit  für  jede  Kombination  inbezug  auf  Länge,  Breite 
und  Dicke  des  Schnitts  angeben. 

Natürlich  sei  cs  e i n Ding , zu  wissen , wieviel  der  Arbeiter 


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Einigt*  Kcformvcrsuchc  im  Lohnsystenu 

leisten  könne,  und  etwas  ganz  anderes,  selbst  den  besten  Arbeiter 
zu  veranlassen,  mit  seiner  größtmöglichen  Schnelligkeit  zu  produ- 
zieren. Als  das  wirksamste  Mittel  zur  Erzielung  des  letz.teren  habe 
sich  die  Aufstellung  von  Differentialtarifen  — Erhöhung  des  I .ohnsatzes 
bei  schnellerer  Produktion  — erwiesen.  Jede  Betriebsleitung  müsse 
von  der  Erkenntnis  ausgehen,  dal's  der  Arbeiter  für  den  gewöhn- 
lichen Tagclohn  keine  aufsergewöhnliche  Arbeitsleistung  verrichten 
werde.  Versuche,  bei  Zahlung  des  blofsen  Normallohns  Maximal- 
leistungen zu  erzielen,  seien  stets  gescheitert  und  verdienten  stets 
zu  scheitern.  Mr.  Thompson  giebt  ein  Beispiel,  wo  Mr.  Taylor  auf 
Grund  von  genauer  Analysierung  der  Arbeiten  nach  dem  vor- 
entwickelten Prinzip  zu  der  l’eberzeugung  kam,  es  müsse  möglich 
sein,  von  gewissen  Stahlfabrikaten,  die  bis  dahin  im  Verhältnis  von 
; Stück  pro  Tag  von  den  Arbeitern  festgestellt  wurden,  io  Stück 
pro  Tag  anzufertigen.  Er  habe  daraufhin  einen  Tarif  aufgesetzt, 
wonach  den  Arbeitern  bei  einer  Produktion  von  io  Stück  pro  Tag 
35  Cents  (etwa  1,49  Mark),  bei  geringerer  Produktion  aber  nur 
25  Cents  pro  Stück  gezahlt  wurde,  und  in  der  That  hätten  dann 
diejenigen  Arbeiter,  die  ihre  Sache  verstanden,  jahraus,  jahrein  mit 
ganz  seltenen  Ausnahmen  täglich  zehn  Stück  des  Artikels  produ- 
ziert und  einen  Tageslohn  von  3J Dollars  erzielt,  während  die 
Konkurrenten  der  Firma,  die  den  Verdienst  ihrer  Leute  nicht  auf 
über  2 bis  2'.,  Dollars  pro  lag  kommen  liefsen,  es  nur  auf  eine 
Tagesproduktion  von  durchschnittlich  fünf  Stück  pro  Arbeiter 
brachten.  Und  in  den  fünfzehn  Jahren,  wo  das  Differentialtarif- 
system in  der  Fabrik  herrschte,  sei  es  nicht  ein  einziges  Mal  zu 
einem  Ausstand  der  Arbeiter  des  Unternehmens  gekommen. 

Das  System  der  Differentiallohntarife  erfordert,  dies  sei  noch 
bemerkt,  eine  besondere  Abteilung  von  Beamten  für  die  Berechnung 
der  Tarife,  die  stets  nach  wissenschaftlicher  Methode  und  nie  auf 
blofses  Raten  hin  aufgestellt  werden  sollten.  Ferner  erheischt  das 
System  sorgfältige  Nachprüfung  der  angefertigten  Artikel. 

IV. 

Kommen  wir  nun  von  der  Beschreibung  der  Systeme  auf  Grund 
der  von  ihren  Erfindern  oder  deren  Vertretern  und  Parteigängern 
gelieferten  Berichte  zu  ihrer  sozialpolitischen  Würdigung.  Da  haben 
wir  zunächst  einige  Thatsachen  hervorzuheben,  die  wir  bisher  teils 
nur  flüchtig  berührt,  teils  ganz  übergangen  haben,  weil  sie  für  die 

22* 


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332 


Kduarri  Bernstein, 


Gesichtspunkte,  um  die  es  sich  bisher  gehandelt  hat,  nebensäch- 
licher Natur  sind. 

Es  wurde  schon  bemerkt,  dafs  mit  dem  Versuch  der  Durch- 
führung des  Gain  Sharing-Systems  von  Yale  & Towne  ein  Verbot 
der  Ausübung  des  Koalitionsrecht  verbunden  war.  Merkwürdiger- 
weise hat  gerade  dieser  Versuch  sich  ganz  und  gar  nicht  bewährt. 
Die  Arbeiter  drängten  sich  nach  einfacher  Stückarbeit , und  die 
Firma  selbst  fand  nach  einiger  Zeit  aus,  dafs  die  einfache  Stückarbeit 
ihren  Zweken  besser  diente  als  das  so  mühevoll  ausgeklügelte 
System.  So  kann  ihr  Versuch  für  unsere  Betrachtung  damit  als 
erledigt  gelten. 

Wie  sich  die  Firmen,  die  das  Halseysche  Prämiensystem  ein- 
führten, zum  Koalitionsrecht  der  Arbeiter  stellten,  wird  nicht  be- 
richtet. Wir  haben  nur  das,  allerdings  sehr  bedingte  Zugeständnis 
eines  Arbeiterführers,  dafs  das  System  zur  Verminderung  der 
Reibungen  zwischen  Unternehmern  und  Arbeitern  beitragen  könne. 
Auch  in  dem  Bericht  über  das  Willans  & Robinsonsche  System 
fehlen  Andeutungen  über  die  Haltung  des  Geschäfts  zur  Organisa- 
tion der  Arbeiter;  es  wird  nur  bemerkt,  dafs  das  System  dahin 
gewirkt  habe,  Eintracht  zwischen  Unternehmern  und  Arbeitern  her- 
zustcllen,  die  Beziehungen  seien  „sehr  herzliche".  Von  der  Good 
Fellowship  der  Thames  Ironworks  wissen  wir,  dafs  ein  gutes  Ein- 
vernehmen zwischen  Geschäftsleitung  und  Gewerkschaft  besteht, 
und  von  der  Einführcrin  des  Systems  der  Difterentiallohntarife, 
der  Midvale  Steel  Company,  heilst  es,  dafs  sie  „niemals  ihren  Ar- 
bitern den  Anschlufs  an  eine  Arbeiterorganisation  verwehrt  hat". 
Engin.  Magaz.,  S.  6291. 

Soweit  könnte  man  folgern,  dafs  diese  Systeme  nicht  notwendig 
von  vornherein  sich  den  gewerkschaftlichen  Bestrebungen  der  Ar- 
beiter feindlich  gegenüberstellen.  Nun  lesen  wir  aber  im  Bericht 
über  das  Differential-Stücklohnsystem  an  der  zuletzt  citierten  Stelle 
weiter:  „All  die  besten  Arbeiter  der  Gesellschaft  sahen  deutlich 
ein,  dals  der  Erfolg  einer  Arbeiterorganisation  die  Verringerung 
ihrer  Löhne  im  Interesse  der  Erhöhung  der  Löhne  der  schlechteren 
\rbeitcr  bedeutete,  und  waren  daher  selbstverständlich  n ich  t zum 
\nschlufs  an  die  Organisation  [der  Arbeiter]  zu  be- 
wegen.“ Mit  anderen  Worten  heifst  das,  das  Differential-Stück- 
lohnsystcm  hat  einen  Keil  zwischen  die  Arbeiter  getrieben  und 
infolge  dessen  hat  die  Firma,  die  es  einführte,  nichts  von  den  Aus- 


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Einige  Kcformverstiche  im  Lohnsystem. 


333 

ständen  verspürt,  die  während  der  fünfzehn  Jahre  in  der  amerika- 
nischen Stahlindustrie  gespielt  haben. 

Auf  eine  Schwächung  der  Arbeitersolidarität  deutet  ferner  der 
folgende  Satz  in  dem  zuletzt  citiertcn  Artikel : „Der  grofse  Vorteil 
des  Differential-Stücklohnsystems  Lst,  dafs  es  sehr  schnell  alle  weniger 
guten  Arbeiter  abstölst  und  diejenigen  Leute  anzieht,  die  für  die 
betreffende  Arbeit  am  besten  geeignet  sind“  (S.  626).  Und  S.  628 
erfahren  wir:  „Das  Differential-Tarifsystem  hat  nicht  den  Zweck, 
den  Arbeiter  zur  Ueberanspannung  seiner  Kräfte  zu  zwingen,  sondern 
den,  eine  „natürliche  Auslese“  zu  ermöglichen,  wodurch  sich  Leute 
nach  und  nach  selbst  zu  Arbeiten  ausscheiden,  für  die  sie  durch 
Natur  und  Ausbildung  am  besten  geeignet  sind.“ 

Von  solcher  „natürlichen  Auslese"  erzählen  nun  auch  die 
anderen  Systeme.  Im  Artikel  des  Mr.  X'orris  über  den  Halscyschen 
Präinienplan  lasen  wir:  „Ich  glaube,  dafs  für  das  Durchschnitts- 
geschäft, das  mit  niedriger  Profitrate  arbeitet,  der  beste  Plan  der 
ist,  der  am  schnellsten  den  langsamen  Arbeiter  aus- 
merzt" (Engin.  Magaz.,  S.  6381.  Und  im  Hericht  über  das  Good 
Fellowship- System  heilst  es,  dafs  in  den  ersten  Monaten  nach  Ein- 
führung des  Systems  in  den  Thames  lronworks  „zwischen  300 
b i s 400  Arbeiter  der  versc  hie  denen  Berufsgruppen  auf 
V erlangen  derKameradschaften  selbst  aus  der  Arbeit 
entlassen  wurden“,  weil  sie  sich  als  nicht  leistungsfähig 
genug  erwiesen.  So  der  Bericht  des  Arbeitsamts  auf  Seite  in. 
Auf  Seite  70  wird  in  einer  Note  mitgeteilt,  dafs  in  der  Schiffbau- 
abteilung der  Thames  lronworks  während  der  ersten  Zeit  bei  Be- 
rechnung des  von  den  verschiedenen  Mitgliedern  der  Kameradschaft 
der  Bohrer  verdienten  Konus  für  eine  Anzahl  der  leistungsfähigsten 
Bohrer  ein  höherer  Lohnsatz  als  ihr  wirklicher  unterstellt  wurde, 
um  sie  für  die  Zusammenkuppelung  mit  sehr  viel  weniger  leistungs- 
fähigen Arbeitern  schadlos  zu  halten.  „Es  fand  sich  aber,“  heilst  es 
weiter,  „dafs  die  Bohrer  nach  und  nach  die  wenigst  leistungsfähigen 
Mitglieder  des  Berufs  selbst  ausmerzten,  indem  sie  vom  Werk- 
führer  ihre  Entlassung  verlangten,  so  dafs  schliefslich  nur  wenig 
Unterschied  zwischen  Bohrer  und  Bohrer  in  Bezug  auf  I.eistungsfahig- 
keit  bestand.“  Die  fingierten  Rechnungen  wurden  damit  über- 
flüssig. ') 


*)  Auf  Seite  100  wird  noch  einmal  erzählt:  „Thatsächlich  wird  jetzt  kein 
Bohrer  mehr  behalten,  der  nicht  erheblich  mehr  verdienen  kann  als  seinen  Zeit- 


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334 


Eduard  Hern  st  rin. 


Schlielslich  gehören  hierher  auch  die  Erklärungen,  denen  wir 
sowohl  im  Bericht  über  das  Referenz -Tarifsystem  als  auch  in  dem 
über  das  Good  hello wship-System  begegnen,  dafs  die  Prämien- 
tarife wohl  da  anfeuernd  wirkten,  wo  die  Arbeiter  getrennt  oder  in 
kleinen  Gruppen  die  Ueberschufsproduktion  verrechnen,  aber  sofort 
versagen,  wo  sic  auf  gröfsere  Gruppen  kollektivistisch  angewendet 
werden  sollen.  In  der  Giefserei  bei  Willans  & Robinson,  wo  40 
Mann  bei  der  Berechnung  der  Förderung  als  eine  Einheit  betrachtet 
werden,  wurde  überhaupt  kein  Bonus  verdient  — nach  der  Er- 
klärung des  Betriebsleiters  hauptsächlich  deshalb,  weil  die  kräftigeren 
Arbeiter  unter  dem  Gefühl  arbeiten,  dafs  jede  Mchranstrengung 
ihrerseits  von  der  I Bissigkeit  der  anderen  neutralisiert  werden  würde 
(Bericht,  S.  54).  Auch  die  Giel'ser  der  Thames  Ironworks  haben  es 
nie  zu  einem  mehr  als  nominellen  Bonus  gebracht,  und  die  Vernieter 
und  Plattenleger  erzielten  erst  nennenswerte  Prämien,  als  sic  von 
der  Abrechnung  nach  ganzen  Berufskameradschaften  zur  Formierung 
kleinerer  Gruppen  zurückkehrten,  wie  sie  vordem  im  Gewerbe  die 
Arbeits-  und  Rechnungseinheiten  gebildet  hatten.  Und  diese  kleinen 
Gruppen  sind  nicht  Gruppen  gleichartiger  Arbeiter,  sondern  Gruppen 
von  ein  oder  zwei  qualifizierten  Arbeitern  mit  ihren  Gehilfen. 
„Soviel  ist  sicher,“  heifst  es  in  der  zusammenfassenden  Betrachtung 
des  britischen  Arbeitsamts,  „dafs  die  gewonnene  Erfahrung  im  vor- 
liegenden Fall  die  Unternehmer  bewogen  hat,  die  unter  dem  Good 
Fcllowship-Systcm  beschäftigten  Gruppen  kleiner  zu  machen,  wie 
am  Anfang,  während  zur  selben  Zeit,  wo  die  Kameradschaften  klei- 
neren Umfang  erhielten,  auch  die  Gruppeneinheit  für  die  Berechnung 
der  Arbeit  immer  kleiner  gemacht  wurde.  Durchgängig  ist,  so  wird 
behauptet,  die  beste  Arbeit  und  sind  die  gröfsten  „Profite“  von  den 
kleinsten  Gruppen  erzielt  worden.  Grofse  Gruppen,  war  die  Er- 
fahrung der  Firma,  arbeiten  nicht  gut  — „je  kleiner,  je  besser“  ist 
die  sehr  entschiedene  Bemerkung  des  Hauptzeitkontrolleur?,  Mr. 
Francis  Paync,  der  mit  der  Praxis  des  Good  Fellowship-Systems 
ganz  besonders  vertraut  ist“  (S.  1 1 2). 

Nach  alledem  ist  soviel  klar,  dafs,  welches  auch  die  Absichten 
der  Unternehmer  bei  Einführung  der  Prämientarife  sind,  diesen  im 
ganzen  keine  wesentlich  anderen  Tendenzen  innewohnen,  als  den 


lolin.  Kann  er  < 1 i . nicht,  so  verlangen,  wie  oben  Seite  70,  Note  gezeigt  wurde, 
seine  Kollegen  seine  Entlassung,  und  diesem  Verlangen  wird  keine  Weigerung  ent- 
gegengesetzt.“ 


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Einige  Reform  versuche  ira  Lohnsystem. 


335 


gewöhnlichen  Stücklohnsystemen.  Beruhen  die  Regeln  der  Prämien- 
zahlung auf  freiem  Hntschlufs  des  Unternehmers  oder  blol's  auf  Ver- 
einbarungen mit  den  von  ihm  beschäftigten  Arbeitern,  so  erfahrt 
das  Solidaritätsgefühl  der  Arbeiter  je  nachdem  eine  stärkere  oder 
geringere  Abschwächung.  Die  Arbeiter  des  Unternehmens  sind 
nicht  mehr  in  gleicher  Weise  wie  vordem  an  den  Bestrebungen 
ihrer  Berufsgenossen  aufserhalb  des  Unternehmens  interessiert,  können 
sogar  unter  Umständen  in  Gegensatz  zu  ihnen  treten.  Und  sogar 
unter  den  Arbeitern  des  Unternehmens  selbst  kann  das  System 
Gegensätze  schaffen,  die  vordem  nicht  vorhanden  waren.  Nichts 
illustriert  dies  besser  als  der  Umstand,  dafs  gerade  in  dem  System, 
dem  sein,  unzweifelhaft  es  ehrlich  meinender  Urheber  den  schönen 
Namen  „gute  Kameradschaft"  gab,  sich  das,  allerdings  auch  sonst 
wohl  vorkommende  Phänomen,  dafs  Arbeiter  auf  Entlassung  weniger 
tüchtiger  Kameraden  dringen,  in  so  starkem  Grade  zeigte,  und  dafs 
der  Gedanke,  jedesmal  die  Berufsgenossen  ganzer  Betriebsabteilungen 
in  eine  Kameradschaft  zusammenzuschweil'sen,  entweder  an  der 
Sprengkraft  der  durch  das  Prämiensystem  geweckten  Sonder- 
interessen zerschellte  oder,  wo  die  Kameradschaft  aus  irgend  welchen 
Gründen  Bestand  hatte,  die  mit  dem  Prämiensystem  beabsichtigte 
Produktionssteigerung  vereitelte.  Rechnen  wir  das  System  der 
Differential-Stücklöhne  den  Prämienlohnsystemen  zu  — und  im 
Prinzip  gehört  es  zu  ihnen1)  — so  haben  wir  gesehen,  dafs  das 
Unternehmen,  das  es  zuerst  eingeführt  hat,  sich  rühmen  konnte, 
gerade  die  tüchtigsten  Arbeiter  seien  der  Gewerkschaft  nicht  bei- 
getreten, weil  deren  Politik  ihr  Sonderinteresse  zu  benachteiligen 
drohte. 

Angesichts  der  grofsen  sozialpolitischen  Wichtigkeit  der  Ar- 
beiterorganisationen wird  man  danach  unter  a 1 1 e n Umständen  das 
Mifstrauen  und  gegebenenfalls  auch  die  Gegnerschaft  der  Arbeiter 
gegen  diese  Systeme  nicht  nur  begreiflich,  sondern  auch  der  Sache 
nach  gerechtfertigt  finden. 

Aber,  mufs  hinzugefügt  werden,  nur  das  Mifstrauen  ist  unter 
allen  Umständen  sachlich  am  Platze.  Von  der  Gegnerschaft  da- 
gegen läfst  sich  das  nicht  behaupten.  Denn  die  Sache  ist  mit  dem 
bis  soweit  Gesagten  noch  nicht  zu  Ende.  Das  zeitweilige  Interesse 

*)  Man  hat  die  (»esamtheit  der  Lohnsysteme,  die  für  höhere  quantitative 
Leistungen  eine  stufenweis  steigende  Lohnrate  normieren,  auch  unter  den  flruppen- 
namen  „Systeme  der  Progressiv  löhne“  zusammengefafst. 


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336 


Eduard  Bernstein, 


der  Arbeiter  als  Berufsgruppe  fallt  nicht  immer  mit  dem  geschicht- 
lichen Interesse  ihrer  Klasse,  dem  Interesse  der  allgemeinen  gesell- 
schaftlichen Entwicklung,  zusammen. 

Jedem  Zweig  ihrer  Wirtschaft  gegenüber  hat  die  Gesellschaft 
offenbar  ein  doppeltes  Interesse : sie  ist  interessiert  an  seiner  Er- 
giebigkeit, und  sie  ist  interessiert  an  dem  Wohlstand  derer,  die  in 
ihm  beschäftigt  sind.  Unter  den  heutigen  Wirtschaftsverhältnissen 
fällt  die  Sorge  für  das  Ersterc  hauptsächlich  den  Unternehmern, 
die  für  das  Letztere,  soweit  die  Lohnverhältnisse  in  Krage  sind, 
in  hohem  Grade  den  Ar  beiter  Verbindungen  zu.  Diese  Arbeits- 
teilung bringt  es  jedoch  mit  sich,  dal's  den  beruflichen  Arbeiter- 
verbindungen der  Gesichtspunkt  der  Ergiebigkeit  der  Arbeiten  ganz 
aus  dem  Auge  gerät  oder  von  ihnen  verkannt  wird.  Im  Kampf 
um  die  Erhaltung  des  Komfortmafses,  wie  der  Arbeiterdelegierte 
Ratclifte  in  der  oben  citierten  Verhandlung  es  ausdrückte,  erscheint 
der  Berufsgruppe  als  schädlich,  was  für  das  Gemeinwesen  auf  der 
Linie  des  wirtschaftlichen  Fortschritts  liegt. 

Die  Steigerung  der  Ergiebigkeit  der  Arbeit  ist  in  der  Mehrheit 
der  Fälle  nur  durch  Verwendung  kostspieligerer  Maschinen  und 
Anlagen  zu  erzielen.  Soll  die  damit  verbundene  Mehrausgabe  von 
Arbeit  zu  einer  wirklichen  Verminderung  der  Produktionskosten 
für  das  herzustellende  Fabrikat  führen,  so  ist  eine  relative  Ver- 
minderung der  Ausgaben  für  die  unmittelbar  in  der  Fabrikation 
thätige  menschliche  Arbeit  unvermeidlich.  Für  dasselbe  Quantum 
Fabrikat  mufs  eiti  geringeres  Quantum  unmittelbar  verwandter  Ar- 
beit erheischt  sein.  Das  ist  aber,  soll  die  Arbeitszeit  nicht  ver- 
längert werden,  oft  nur  durch  gröl’scre  Verdichtung  der  Arbeit, 
bezw.  Veränderung  in  der  Verteilung  der  Arbeit  zwischen  hoch- 
qualifizierten Arbeitern  und  blofsen  Hilfsarbeitern  zu  erzielen. 

Der  gesellschaftliche  Fortschritt  erfordert  Vermehrung  und 
Verbilligung  der  Produktion  bei  Verkürzung  der  Arbeitszeit  — 
letzteres  auch  von  anderen  Gesichtspunkten  als  dem  der  Produk- 
tionstechnik aus.  Verkürzung  der  Arbeitszeit  heifst  Erziehung  zu 
qualifiziertem  Konsum,  zu  höherem  Bedarf  und  damit  zu  weiterem 
sozialem  Fortschritt.  Verkürzung  der  Arbeitszeit  ist  aber  mit  gleich- 
zeitiger Verbilligung  der  Produktion  nur  vereinbar,  wenn  die  Ar- 
beitszeit in  der  Fabrik  gehörig  ausgenutzt  wird.  So  verwerflich 
jede  Anspannung  der  Arbeitskraft  ist,  die  der  Gesundheit  Abbruch 
thut,  so  widersinnig  ist  der  Schlendrian  in  der  Fabrik.  Allgemein 
durchgeführt,  würde  er  ein  ernsthaftes  Hemmnis  des  Fortschrittes 


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Rillige  Reformversuche  im  Lohnsystem. 


337 


der  Gesellschaft  werden.  Nicht  hier  ist  daher  das  Mittel  der  Er- 
höhung des  Komforts  der  Arbeiterklasse  zu  suchen.  Für  die  ein- 
zelne Berufsgruppc  von  Arbeitern  dagegen  sind  jedoch  mit  der 
Abkehr  vom  Schlendrian  oft  mindestens  zeitweilig  grolse  Unzuträg- 
lichkeiten  verbunden,  und  so  ist  für  sie  die  Verführung  sehr 
grols,  auch  da  ihr  entgegenzutreten,  wo  die  Möglichkeiten  gegeben 
sind,  durch  eine  weitsichtige  Politik  die  Unzuträglichkeiten  auf 
ein  sehr  geringes  Mafs  herabzusetzen  und  einem  viel  versprechen- 
den Fortschritt  die  Bahn  zu  ebnen.  Es  kann  daher  die  bedingungs- 
lose Gegnerschaft  der  Erkenntnis  jener  Möglichkeiten  im  Wege 
stehen  und  so  zur  Ursache  verhängnisvoller  Unterlassungen  werden. 

Die  Weigerung  der  tüchtigeren  Arbeiter  der  Midvale  Company, 
der  Gewerkschaft  ihres  Berufes  beizutreten,  kann  das  Produkt  eng- 
herziger Selbstsucht,  sie  kann  aber  auch  lediglich  die  Folge  einer 
falschen  Politik  der  betreffenden  Gewerkschaft  gewesen  sein.  Hat 
die  Gewerkschaft  ihre  Aufgabe , für  Gleichheit  der  Arbeitsbe- 
dingungen der  Berufsgenossen  zu  sorgen,  dadurch  zu  lösen  gesucht, 
dafs  sie,  statt  ihre  volle  Kraft  darauf  zu  verwenden,  die  untere 
Grenze  zu  erhöhen,  die  obere  herabzudrücken  sich  bemühte,  so 
würde  das  Fernbleiben  jener  Arbeiter  als  die  natürliche  Folge  jener 
zweckwidrigen  Politik  zu  betrachten  sein,  bis  ist  ziemlich  unwahr- 
scheinlich, dals  dies  wirklich  der  Fall  war.  aber  es  liegt  nicht  ganz 
aufscr  dem  Bereich  der  Möglichkeit,  da  derartiges  anderwärts  in 
der  That  schon  passiert  ist. 

Wo  die  Technik  einer  Industrie  die  Einführung  der  Stückarbeit 
erlaubt,  und  die  Bedingungen  der  Konkurrenz  auf  sie  hindrängen, 
da  wird  sie  auf  die  Dauer  nicht  fernzuhalten  sein.  Es  ist  dann 
richtiger,  sich  auf  die  Bekämpfung  der  mit  der  Stückarbeit  verbun- 
denen Gefahren  einzurichten,  als  einen  Teil  der  Energie  auf  aus- 
sichtsloses Stemmen  gegen  das  unvermeidlich  Gewordene  zu  ver- 
schwenden. Die  Gefahren  der  Stückarbeit  sind,  wie  die  Geschichte 
einer  ganzen  Reihe  von  Industrieen  zeigt,  nicht  unüberwindlich. 
Wenn,  wie  oben  gezeigt  wurde,  der  Stückarbeit  die  Tendenz  der 
Schwächung  der  Arbeitersolidarität  innewohnt,  so  ist  diese  Tendenz 
gewöhnlich  dann  am  stärksten,  wenn  die  Stückarbeit  in  einer  In- 
dustrie noch  eine  Ausnahme  ist,  schwächt  sich  aber  in  dem  Mafse 
ab,  als  die  Stückarbeit  sich  verallgemeinert.  Dann  tritt  eben  von 
einer  anderen  Seite  her  doch  wieder  die  Notwendigkeit  an  die  Ar- 
beiter heran,  sich  zu  gemeinsamer  gewerkschaftlicher  Aktion  fest 
zu  verbinden. 


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338 


K <1  u ;i  r d Bernstein, 


Wir  sahen,  dal's  alle  Firmen,  die  die  Präntienlöhne  einführten, 
den  Arbeitern  den  Normalzeitlohn  des  Gewerbes  als  Mindestlohn 
sicher  stellten,  einige  sogar  noch  darüber  hinausgingen.  Sie  konnten 
das,  weil  ihnen  das  Präniienlohnsystem  eine  höhere  Produktion 
brachte  als  ihren  Konkurrenten,  die  Zeitlöhne  zahlten.  Jemehr 
aber  das  System  sich  verallgemeinert,  um  so  geringer  wird  der 
Vorzug  der  Einzelnen  und  damit  die  Garantie  des  Mindestlohns 
unsicherer.  Selbst  die  Mid  vale  Company  hat,  trotz  der  grofsen 
Vorteile,  die  ihr  das  Differentialstücklohnsystem  gewährte,  einge- 
standenermafsen  ihre  Grundrate  des  Lohns  herabgesetzt,  als  „vor 
einigen  Jahren  der  Lohnlarif  im  ganzen  Lande  herabging“  (Eng. 
Mag.,  S.  629).  Wenn  das  schon  geschah , wo  sie  eine  Ausnahme- 
stellung einnahm,  wie  erst  dann,  wenn  das  System  sich  verallge- 
meinert. Auf  der  anderen  Seite  aber  ist,  gerade  sobald  es  sich 
verallgemeinert  hat,  auch  die  Möglichkeit  gegeben,  auf  Grund  seiner 
gewerkschaftliche  Normalstücklohnlarife  auszuarbeiten 
bezw.  zu  erkämpfen,  wie  sie  in  der  Textilindustrie,  im  Buchdruck 
etc.  zum  Schutz  der  Arbeiter  bestehen.  Auch  wird  dann  immer 
noch,  und  gerade  dann  die  Notwendigkeit  vorhanden  sein,  durch 
gewerkschaftliches  Vorgehen  der  Treiberei  zu  Ueberanspannung  der 
Kräfte  Dämme  entgegenzusetzen. 

Wenngleich  die  fünf  vorgeführten  Beispiele  nicht  als  erschöpfen- 
der Beweis  für  die  Unwiderstehlichkeit  des  Vordringens  der  Stück- 
arbeit gelten  können,  vielmehr  in  der  Mehrzahl  der  Berichte  und 
namentlich  auch  in  den  Schlulsbcmerkungcn  des  sehr  sachkundigen 
Mr.  D.  F.  Schloss  vom  Britischen  Arbeitsamt  darauf  verwiesen  wird, 
dal's  eine  ganze  Reihe  von  Arbeiten  in  der  Metallindustrie  sich 
noch  der  Stückarbeit  entziehen,  so  steht  doch  soviel  fest,  dal's  sie 
auch  hier  bedeutende  Fortschritte  macht,  und  dal’s  es  Thorheit 
wäre,  sie  wieder  ausrotten  zu  wollen.  Es  zeigt  daher  von  grol'ser 
Einsicht  in  den  Stand  der  Dinge,  wenn  die  Gewerkschaft  der  eng- 
lischen Maschinenbauer,  wie  aus  der  oben  abgedruckten  Erklärung 
ihres  Generalsekretärs  Barnes  hervorgeht,  den  bedingungslosen 
Widerstand  gegen  das  System,  den  sie  noch  vor  5 Jahren  in  einer 
Antwort  auf  die  Anfrage  des  Arbeitsamts  als  ihre  Politik  be- 
zeichnete,  endgültig  hat  fallen  lassen,  ln  jener  Antwort  hiels  cs: 
„Und  wir  sehen  keinen  anderen  Weg  vor  uns,  als  all  diesen  Systemen 
der  Bezahlung  nach  Ertragsergebnissen  solange  Widerstand  zu  leisten, 
als  unser  gewerbliches  System  in  seiner  gegenwärtigen  Form  ge- 
führt wird,  wo  eine  Klasse  das  gewerbliche  Produkt  einer  anderen 


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Kinige  Reform  versuche  im  l.olmsysteni. 


ausbeuten  und  um  so  wirkungsvoller  ausbeuten  kann,  wenn  sie 
die  schlimmste  und  schmutzigste  Seite  in  der  Natur  des  Arbeiters 
anruft.  Unter  diesen  Umständen  haben  wir  keine  Wahl,  als  diese 
einladenden  und  fein  erdachten  Systeme  wo  immer  möglich  in  Ver- 
ruf zu  bringen  und  unsere  alte  Methode  eines  Normallohns  bis  zu 
der  Zeit  aufrecht  zu  erhalten,  wo  in  unserer  Industrie  ein  Prinzip 
allgemeiner  Genossenschaftlichkeit  anerkannt  ist,  das  jedem  den 
vollen  üenufs  des  Produkts  seiner  Arbeit  sichert“  (Bericht,  S.  1 19). 

Der  Schlufssatz,  erklärt  Barnes  in  seinem  Artikel  im  „Engineer- 
ing Magazine",  gelte  noch  heute  so,  wie  er  vor  fünfzig  Jahren  ge- 
golten habe,  als  die  beste  kurze  Zusammenfassung  der  berechtigten 
Bestrebungen  der  .Maschinenbauarbeiter,  die  Trade  Unionisten  sind. 
Der  Vordersatz  aber  ist  gefallen,  wie  so  mancher  Programmpunkt 
aus  der  ersten  Epoche  der  Arbeiterbewegung  hat  fallen  müssen, 
wo  die  Anschauung  von  einem  unvermittelten  Uebergang  von  der 
unbeschränkt  kapitalistischen  zur  sozialistischen , bezw.  genossen- 
schaftlichen Produktion  vorwaltete.  Es  wird  nun  begriffen,  dafs  der 
„Abschaffung  des  Lohnsystems"  die  Aenderung  der  Lohnmethoden 
vorausgeht  und  die  unterschiedslose  Verwerfung  jeder  anderen  Lohn- 
methode als  das  Zeitlohnsystem  unhaltbar  ist.  Die  Gewerkschaft 
der  Vereinigten  Maschinenbauer  Englands  erlaubt  heute  ihren  Mit- 
gliedern, nach  Stücklohn  zu  arbeiten,  aber  unter  der  Bedingung, 
dal's  das  betreffende  System  die  Billigung  des  Gewerkschaftsvor- 
standes gefunden  hat.  Das  ist  offenbar  ein  richtiges  Prinzip.  Wir 
haben  oben  gesehen,  dafs  während  sich  nach  der  Angabe  von 
George  Barnes  der  englische  Fabrikantenbund  noch  sperrt,  offiziell 
sich  auf  die  von  Barnes  entwickelten  Bedingungen  zu  verpflichten, 
doch  viele  Mitglieder  des  Bundes  bereits  den  Forderungeh  der  Ge- 
werkschaft entgegenkommen. 

Es  folge  schliefslich  noch  das  Urteil  eines  der  einflufsreichsten 
Mitglieder  des  Fabrikantenbundes  über  die  Prämienlohntarife. 

Sir  Benjamin  C.  Browne,  Chef  der  grol'scn  Maschinenfabrik  von 
Hawthorn,  Leslie  & Co.,  schreibt  im  „Engineering  Magazine"  (1901, 
2.  Heft): 

„Sollen  Stücklöhne  oder  Prämienlohnsysteme  vorteilhaft  wirken, 
so  ist  es  offenbar  geboten,  dafür  zu  sorgen,  dafs  die  Arbeiter  mit 
ganzem  Herzen  dabei  sind.  . . . Verschiedene  [Gewerkschafts-] 
Führer  erklären,  sie  würden  sich  den  Stücklöhnen  nicht  wider- 
setzen, sobald  dem  Arbeiter  der  Zeitlohn  als  Mindestlohn  garantiert 
werde.  Das  mögen  manche  Unternehmer  nicht  wollen,  weil  sie 


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340 


Eduard  Bernstein,  Einige  Reformversuche  im  Lohnsystem. 


meinen,  dal's  der  Arbeiter  alsdann  seine  Zeit  vertrödeln  würde.  Es 
ist  aber  schwer  einzusehen,  wie  dies  ärger  sein  könnte,  als  wenn 
eben  derselbe  Mann  auf  Zeitlohn  arbeitete,  was  doch  die  Alter- 
native wäre,  sobald  er  und  der  Prinzipal  sich  nicht  über  den  Stück- 
lohn einigen  können.  Man  wird  bemerkt  haben,  dafs  das  Prämien- 
lohnsystem dieser  Schwierigkeit  durchaus  abhilft.  Ich  schliefse  mit 
der  Bemerkung,  dafs  die  Stücklohnsystcme  nicht  als  ein  Mittel  be- 
trachtet werden  sollten , die  Preise  durch  Erzielung  übermäfsiger 
Anspannung  der  Arbeiter  herabzudrücken,  sondern  vielmehr  als  ein 
Mittel,  jeden  Arbeiter  dazu  aufzumuntern,  sein  Bestes  zu  thun  und 
Interesse  an  seiner  Arbeit  zu  nehmen : eine  Klasse  tüchtigerer  Ar- 
beiter heranzuziehen  und  zu  belohnen , und  auf  diese  Weise  dem 
Unternehmer  Kostenersparnisse  zu  bereiten." 


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Die  Lage  der  ungarischen  Landarbeiter. 

Von 

Dr.  JULIUS  BIJNZEL. 

Eine  Darstellung  der  I .age  der  ungarischen  Arbeiter  stöfst  auf 
mannigfache  Schwierigkeiten.  Denn  einerseits  sind  — wie  das  statis- 
tische Landesamt  selbst  zugestehen  mufs  ')  — die  hier  zur  Verfügung 
stehenden  statistischen  Angaben  weder  vollständig  noch  verläfslich, 
andererseits  wird  es  dem  Einzelnen  durch  die  Verhältnisse  unmöglich 
gemacht,  die  vorhandenen  mangelhaften  Angaben  durch  eigene  Er- 
hebungen zu  prüfen  oder  zu  ergänzen.  Denn  die  Unternehmer 
sind  zur  Mitteilung  wichtiger  Daten  überhaupt  nicht  zu  bewegen 
und  die  Arbeiter,  welche  etwa  Daten  liefern  könnten,  stehen  meist 
unter  derart  scharfer  behördlicher  Beaufsichtigung,  dals  ein  münd- 
licher oder  schriftlicher  Verkehr  mit  ihnen  mit  den  mannigfachsten 
Unannehmlichkeiten  verbunden  ist.  Erwägt  man  nun  überdies,  dals  die 
unabhängige,  private  Forschung  auf  volkswirtschaftlichem  und  sozialem 
Gebiete  in  Ungarn  eine  keineswegs  eifrige  ist,  dafs  daher  ihre  Er- 
gebnisse geringe  sind  und  dafs  auch  diese  geringen  Ergebnisse  nur 
in  der  jenseits  der  Landesgrenzen  wenig  bekannten  magyarischen 
Sprache  veröffentlicht  werden,  so  kann  es  nicht  Wunder  nehmen, 
dafs  aufser  in  einigen  älteren  englischen,  französischen  und  italie- 
nischen Konsularberichten  sich  fast  nirgends  ausführlichere  Angaben 
über  die  Lage  der  ungarischen  Arbeiter  finden,  trotzdem  namentlich 
die  ungarische  Landarbeiterbewegung  die  Aufmerksamkeit  weiterer 
Kreise  auch  im  Auslande  erregte.  — So  werden  denn  die  hier 

*)  Vgl.  Hokor  in  <ler  vom  statistischen  Landesamte  herausgegebenen  Ge- 
schichte und  Organisation  der  amtlichen  Statistik  in  Ingarn  S.  256,  wo  es  heilst, 
dafs  die  uugarischc  amtliche  Statistik  sich  wiihreml  ihres  bisherigen  Bestandes  sehr 
wenig  in  dem  Kreise  und  in  dem  Geiste  der  Sozialstatistik  bewegte. 


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34 2 Julius  Bunzcl, 

mitgeteilten  Daten,  ‘)  welche  einiges  Licht  über  die  Lage  der  unga- 
rischen Landarbeiter  verbreiten  dürften,  vielleicht  nicht  ohne  Inter- 
esse sein,  zumal  diese  Landarbeiter  und  ihre  Angehörigen  in  Ungarn 
mehr  als  den  vierten  Teil  der  Gesamtbevölkerung  ausmachen.  — 
Genau  lälst  sich  die  Zahl  der  landwirtschaftlichen  Arbeiter  in 
Ungarn  allerdings  leider  nicht  feststellen.  Nach  der  Volkszählung 
vom  Jahre  1890  waren  nämlich  in  allen  Ländern  der  Stephanskrone 
nur  580217  Diener  (Ochsenknechte,  Hirten  u.  dgl.)  und  334846 
Taglöhner  in  der  Landwirtschaft  beschäftigt.  Allein  überdies  wurden 
noch  1 242  284  Personen  als  „Taglöhner  ohne  nähere  Bezeichnung“ 
ausgewiesen  und  von  diesen  können  wohl  mindestens  900  000  als 
in  der  Landwirtschaft  beschäftigt  angesehen  werden.  Die  Gesamt- 
zahl der  landwirtschaftlichen  Arbeiter  dürfte  demnach  ungefähr 
1 815063, 1  2)  d.  i.  33,83  Proz.  aller  in  der  Landwirtschaft  beschäftigten 
und  24,5  Proz.  aller  ervverbthätigen  Personen  betragen.  — Für 
Ungarn  im  engeren  Sinne  (also  einschliefslich  Siebenbürgen,  aber 
ausschliefslich  Fiume  und  Kroalicn-Slavonien)  ergeben  sich  jedoch 
wesentlich  andere  Verhältniszahlen.  1 lier  beträgt  nämlich  die  Zahl 
der  Diener  525940,  die  der  Taglöhner  279360,  während  die  Zahl 
der  in  der  Landwirtschaft  beschäftigten  „Taglöhner  ohne  nähere 
Bezeichnung“  auch  hier  mit  rund  900000  angenommen  werden 
kann,  da  die  Zahl  der  Taglöhner  Kroatien-Slavoniens  (7559)  nicht 
ins  Gewicht  fällt  und  die  in  Fiume  ausgewiesenen  1 061  Tag- 
li>hner  wohl  in  der  Industrie  beschäftigt  sein  dürften  Die  Gesamt- 
zahl der  landwirtschaftlichen  Arbeiter  Ungarns  in  dem  erwähnten 
Sinne  betrüge  demnach  1 705  300,  d.  i.  ca.  48,04  Proz.  der  in  der 
Landwirtschaft  beschäftigten  und  27,06  Proz.  aller  erwerbthätigen 


1 1 Soweit  die«'  Daten  nicht  älteren  jeweils  angeführten  Veröffentlichungen  ent- 
nomtiirn  wurden,  verdanke  ich  dieselben  der  Überaus  freundlichen  Unterstützung,  die 
mir  von  seiten  der  ungarischen  Behörden  und  Handelskammern  wie  seitens  Privater 
zu  teil  wurde.  Insbesondere  bin  ich  Sr.  Exzellenz  dem  Herrn  Staatssekretär  im 
Acker bauministcri um  Kiss  von  Ncmesker,  dem  Herrn  Ministerialräte  im  Handels- 
ministerium Adolf  Zay,  dem  Herrn  Direktor  des  hauptstädtischen  statistischen  Bureaus 
Dr.  Josef  von  Körösy,  Herrn  Prof.  Dr.  Stephan  Bauer  in  Basel,  sowie  dem  Herrn 
Sanitätsinspektor  Dr.  Farkas,  Herrn  Kammersekretär  Dr.  Krejcsi,  dem  Herrn  Sekretär 
des  J.andesagrikulturvercins  Kubinek,  Herrn  Kammerbibliothckar  Szabö,  sowie  Herrn 
Dr.  Schwarz  in  Pest  für  die  Mitteilung  interessanter  Daten  und  die  Erteilung  von 
Ratschlägen  mul  Auskünften  zu  aufrichtigstem  Danke  verpflichtet. 

*)  Nach  Hirsch  (Ungarns  Grundbcsitzverhiltnis.se,  Halle  1893  S.  6)  betrüge 
die  Zahl  der  landwirtschaftlichen  Arbeiter  I 925  189  (gegen  2024724  im  Jahre  1880). 


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Die  Lage  der  ungarischen  Landarbeiter. 


343 


Personen.  — Aehnliche  Verhältniswahlen  ergeben  sich  natürlich, 
wenn  man  die  Zahl  der  landwirtschaftlichen  Arbeiter  und  der  von 
ihnen  Erhaltenen  mit  der  Anzahl  der  von  der  Landwirtschaft 
lebenden  Personen,  beziehungsweise  der  Gesamtbevölkerung  ver- 
gleicht. so  dal's  die  I .andarbeiter  in  Ungarn  i.  e.  S.  thatsächlich 
nahezu  die  Hälfte  der  ackerbautreibenden  und  mehr  als  den  vierten 
Teil  der  Gesamtbevölkerung  bilden.  — 

I.  Die  Arbeit s Verhältnisse  der  ungarischen 
Landarbeiter. 

Die  ungarischen  P'eldarbeiter  gliedern  sich  nach  der  Dauer  des 
Zeitraumes,  auf  welchen  das  Dienstverhältnis  abgeschlossen  wird,  in 
3 Gruppen:  das  Gesinde,  die  Monatsarbeiter  und  die  Taglöhner. 
Das  Gesinde  wird  nämlich  auf  ein  viertel  Jahr  verpflichtet,  während 
die  Monatsarbeiter  nur  für  einen  Monat  und  die  Taglöhner  tageweise 
in  Dienst  genommen  werden.  Sonst  besteht  jedoch  in  den  drei 
Gruppen  bezüglich  der  Arbeitsverhältnisse  kein  wesentlicher  Unter- 
schied und  sind  selbst  die  Löhne  im  grofsen  und  ganzen  die  gleichen. — 

Das  Gesinde  erhält  neben  einer  Barentlohnung  von  4o — 60  Fl. 
jährlich,  freie  Wohnung  und  das  Deputat.  Rechnet  man  diese 
Naturalbezüge  in  den  Lohn  mit  ein,  so  beläuft  sich  das  Jahresein- 
kommen des  männliches  Gesindes  — nach  der  vom  Ackerbau- 
ministerium für  das  Jahr  1897  veröffentlichten  Lohnstatistik1)  — per 
Kopf  auf  120  — 340  Fl.  und  zwar  in  Siebenbürgen  durchschnittlich 
auf  170  Fl.,  am  rechten  Theifsufer  auf  175,  am  linken  Donauufer 
auf  183,  am  linken  Theifsufer  auf  187,  am  rechten  Donauufer  auf 
210,  zwischen  der  Donau  und  der  Theifs  auf  224  und  im  Theil's- 
Maros-Eck  auf  236  Fl.  — Grofsknechte  und  Kutscher  stehen  sich 
auf  300 — 350  Fl.,  hie  und  da  auch  auf  400  Fl.  — Im  Landes- 
durchschnitt entfallen  nach  der  „Arbeiterzeitung“  *)  auf  einen  Knecht 
ungefähr  167  Fl.  16  Kr.  pro  Jahr,  d.  i.  46  Kr.  pro  Tag. 

Die  Monatslöhner  erhalten  lediglich  einen  Barlohn  von  9 — 15  F'l. 
Selbst  in  der  staatlichen  Oekonomic  von  Babolna  *)  beträgt  der 

')  Vgl.  den  „Pe.trr  Lloyd“  vom  10.  Frbruar  1849.  I11  Hinkunft  wird  diete» 

den  ungarischen  leitenden  Kreisen  nahestehende  Blatt  lediglich  mit  den  Anfangsbuch- 
staben ,,P.  L.“  bezeichnet  werden. 

*)  Vom  1.  Januar  1898. 

*)  Vgl.  die  konigl.  ungar.  Landes-Pferdezuchtanstaltcn  und  das  Godölloer  königl. 
ungar.  Krongut.  Veröffentlicht  durch  den  konigl.  ungar.  Ackerbauminister.  Pest  1896. 


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344 


Julius  Hunzel, 


durchschnittliche  Monatslohn  nur  15  Fl.  42  Kr.  und  zwar  werden 
im  Januar  und  Februar  12  Fl.,  im  März  14  Fl.,  im  April  15  Fl., 
im  Mai  16  FL,  im  Juni  18  Fl.,  im  Juli  und  August  20  Fl.,  im  Sep- 
tember und  Oktober  1 6 FL,  im  November  14  FL  und  im  Dezember 
1 2 FL  bezahlt.  Das  Jahresverdienst  eines  Monatslöhners  beliefe 
sich  demnach  — bei  steter  Beschäftigug  — auf  185  FL  und  der 
Taglohn  auf  50,68  Kr. 

Das  Jahreseinkommen  der  Taglöhner  läl'st  sich  schwer  fest- 
stellen, da  es  hauptsächlich  davon  abhängt,  für  welchen  Zeitraum 
der  Arbeiter  Beschäftigung  und  Verdienst  findet.  Auch  ist  die 
Entlohnung  je  nach  Gegend  und  Jahreszeit  eine  sehr  verschiedene. 
Sie  erfolgt  entweder  durch  Gewährung  von  Zeitlohn  (mit  oder  ohne 
Verköstigung)  oder  im  Akkord  (Geldakkord  oder  Anteil  an  der 
Ernte). 

Der  Taglohn  ohne  Verköstigung  belief  sich  im  Jahre  1897 
nach  der  erwähnten  amtlichen  I.ohnstatistik  *)  für  Männer  auf  ca 
65  Kr.  und  für  Frauen  auf  45  Kr.,  was  einem  durchschnittlichen 
Jahresverdienst  von  237  FL  25  Kr.  für  Männer  und  164  FL  25  Kr. 
für  Frauen  entsprechen  würde.  Da  jedoch  die  Taglöhner  fast  nie 
ununterbrochen  in  Arbeit  stehen  und  das  Einkommen  der  Arbeiter 
auch  durch  das  vielfach  herrschende  Trucksystem  arg  geschmälert 
wird,  ist  das  Jahresverdienst  thatsächlich  ein  weit  geringeres.  — 
Und  selbst  wenn  dies  nicht  der  Fall  wäre,  würden  die  Löhne  noch 
immer  niedrigere  sein  als  die  im  Jahre  1869  gezahlten.  — Nach 
amtlichen  Erhebungen  '2)  schwankten  nämlich  in  diesem  Jahre  die 
Durchschnittslöhne  in  Ungarn  (ohne  Siebenbürgen)  auf  dem  flachen 
Lande  zwischen  34  und  98  Kr.  für  Männer  und  21  und  61  Kr.  für 
Frauen,  ln  den  Städten  aber  schwankten  sie  zwischen  35  und 
146  Kr.  für  Männer  und  24  und  90  Kr.  für  Frauen,  so  dafs,  trotz- 
dem selbstredend  die  Lebensführung  seither  eine  wesentlich  teuerere 
wurde  gegenüber  dem  Jahre  1869  eher  ein  Sinken  der  Löhne  festzu- 
stellen ist.  *) 

')  Die  Dalenwinmlung  erfolg,  bciläutij;  bemerkt,  durch  die  statistische  Kom- 
mission  d*-s  Ackerbauministcriums  auf  Gruml  der  von  den  landwirtschaftlichen  Refe- 
renten (das  sind  die  dies  Amt  freiwillig  übernehmenden  Landwirte)  auf  rosafarbenen 
Blanquettrn  übermittelten  Angaben. 

■)  Vgl.  amtliche  statist.  Nachrichten.  Herausgegeben  vom  königl.  ungar.  statist. 
Bureau.  V.  Jahrg.  i.  Heft  S.  315  ff. 

\)  Nach  den  von  Julius  kubinck,  dem  Sekretär  des  ungarischen  Landcsagri- 
kulturvcrcines,  erhobenen  Daten  betrug  1.  B.  im  Bekcser  Komitate  der  Jahresverdienst 


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I)ic  Lage  Her  ungarischen  Landarbeiter. 


345 


Natürlich  sind  die  Taglöhne  auch  nach  Jahreszeit  und  Landes- 
gegend verschieden,  was  aus  folgender  Tabelle  hervorgeht.  Es  be- 
trugen die  ohne  Verköstigung  im  Jahre  1897  gezahlten  Taglöhne1) 
— nach  den  amtlichen  Daten  — in  Kreuzern : 

Für  Männer  Für  Frauen 


Distrikt 

Frühj. 

Sommer  Herbst 

Winter 

Frühj. 

Sommer  Herbst 

Winter 

Linkes  Donauufer 

5« 

85 

63 

45 

37 

5« 

41 

30 

Rechtes  Donauufer 

55 

91 

63 

45 

42 

59 

46 

34 

Zwischen  Thcifs  u. 
Donau  . . . . 

66 

“3 

79 

50 

48 

73 

54 

37 

Rechtes  Thcifsufer 

57 

86 

64 

46 

36 

49 

40 

30 

Linkes  Thcifsufer  . 

53 

95 

62 

42 

3» 

63 

44 

3* 

Theifs-Maroseck  . 

57 

100 

72 

47 

43 

69 

5' 

37 

Siebenbürgen  . . 

55 

80 

61 

49 

43 

58 

45 

36 

I .andesdurchschnitt 

57 

93 

64 

46 

41 

60 

44 

34 

Wo  aber  den  Arbeitern  Verköstigung  gegeben  wird,  stellt  sich 
der  Gesamtlohn  zumeist  noch  niedriger,  da  selten  der  Wert  der 
Kost  dem  ganzen  Abzüge  vom  Lohne  entspricht. 2) 

Gröfstenteils  werden  jedoch  die  landwirtschaftlichen  Arbeiten 
im  Akkord  und  zwar  entweder  gegen  Geldentlohnung  oder  gegen 
einen  Anteil  an  der  Ernte  vergeben.  Die  Geldakkordlöhne  be- 
trugen im  Jahre  1897  für  leichte  Erdarbeiten  (Grabenauswerfen, 

eines  Arbeiters  im  Jahre  1860:  200  Fl.,  im  Jahre  1894:  180  Fl.,  der  Verdienst 
während  der  Erntezeit  damals  75  jetzt  50  Fl.,  der  durchschnittliche  Taglohn  in  den 
Monaten  November  bis  April  (bei  8 ständiger  Arbeitszeit)  damals  35  jetzt  40  Kr.; 
im  Mai  und  Juni  (bei  12  ständiger  Arbeitszeit)  damals  40  jetzt  50  Kr.,  im  Juli  und 
August  (bei  I4stündigcr  Arbeitszeit)  damals  1 Fl.  10  Kr.  jetzt  I Fl.  20  Kr.,  ini 
September  und  Oktober  (bei  10 ständiger  Arbeitszeit)  damals  50  Kr.  jetzt  60  Kr. 
Die  geringe  Erhöhung  des  Taglohnes  jetzt  gegen  früher  hat  jedoch  darum  keine 
Erhöhung  sondern  sogar  eine  Verringerung  des  Jahreseinkommens  zur  Folge,  weil 
infolge  des  Gebrauches  der  Maschinen  die  Erntcarbeitcn  nur  24  statt  wie  früher 
60  Tage  in  Anspruch  nehmen. 

l)  Im  Jahre  1899  waren  die  Löhne  durchschnittlich  noch  etwas  niedrigere. 
So  waren  die  Männerlöhne  im  Frühjahr  von  57  auf  54,  im  Sommer  von  93  auf  88, 
im  Herbst  von  64  auf  63'/*  und  im  Winter  von  46  auf  45  Kr.  gesunken.  Vgl.  Ung. 
stat.  Jahrb.  X.  F.  VII.  Bd.  (1899)  Pest  1901  S.  81. 

*)  Im  Jahre  1897  betrugen  die  Durchschnittstaglöhne  — aufser  der  Ver- 
köstigung — nach  den  amtlichen  Daten  für  Männer  47  Kr.  (und  zwar  40  Kr.  im 
Frühjahr,  68  im  Sommer,  47  im  Herbste  und  32  im  Winter)  und  für  Frauen  3 1 '/2  Kr. 
(und  zwar  28  im  Frühling,  43  im  Sommer,  32  im  Herbste  und  23  im  Winter). 

Archiv  für  soz.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVII.  23 


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346 


Julius  Hunzel. 


Drainieren  und  dergl.)  per  cbm  15 — 16  Kr.,  für  schwere  Krdarbeiten 
30 — 32  Kr.  und  darüber,  bür  das  einmalige  Behauen  der  Hack- 
früchte, wie  Mais,  Rüben  und  Erdäpfel  wurden  per  Katastraljoch 
(1600  Quadratklaftcrl  durchschnittlich  3 Fl.  50  Kr.  bis  4 Fl.  (aber 
z.  B.  im  Bekeser  Komitat  I Fl.  92  Kr.  und  im  Eisenburger  Komi- 
täte  8 Fl.)  und  für  das  gänzliche  Abstellen  der  Maisfelder  durch- 
schnittlich 5 Fl.  (aber  z.  B.  im  Krasso  Szörenyer  Komitate  3 Fl. 
und  im  Csanader  8 Fl.  nebst  Kost)  gezahlt.  — Für  das  Ausheben 
und  Reinigen  der  Futterüben  wurden  7—8  Fl.  (in  einigen  Teilen  des 
Fester  Komitates  aber  auch  nur  3 Fl.  50  Kr.),  für  das  Ausheben 
und  Reinigen  der  Zuckerrüben  12 — 14  Fl.  (in  einigen  Teilen  des  Fester 
Komitates  aber  auch  nur  5 Fl.)  gezahlt.  — Für  das  Schneiden. 
Bündeln  und  Häufen  des  Getreides  erhielt  eine  „Sense“  (d.  i.  ein 
Schnitter  mit  einem  oder  zwei  Gehilfen)  durchschnittlich  5 Fl.  pro 
Katastraljoch  (im  Alibunarer  Bezirke  aber  nur  1 F’l.  50  Kr.  bis  2.  Fl., 
im  Zsombolyer  Bezirke  dagegen  auch  12  Fl.).')  — Nach  der 
„Arbeiterzeitung“  erntet  eine  „Sense"  in  einer  Saison  10 — 18  Joch  ab. 

Am  häufigsten  wird  aber  „und  zwar  gerade  während  der 
jetzigen  Feriode  der  billigen  (ietreideprei.se  nicht  ohne  Vorteil“1) 
für  den  Landwirt  die  Getreideernte  gegen  einen  Anteil  am  Ertrage 
verakkordiert.  Der  Lohn  der  Teilarbeiter  betrug  per  „Sense“  durch- 
schnittlich : 

im  Distrikte  mit  Kost  ohne  Kost 

Linkes  Donauufer  ....  */is  Vit  1 10 

Rechtes  Donauufer  ....  Vit  1 u \i© 

zwischen  Theifs  und  Donau  . 1 ,3  1 ,,  Vio  */* 

Rechtes  Thcifsufcr  ....  1 i«  Vu  1 n 

Linkes  Theifsufer  ....  1 u 1 ,»  1 ,,, 

Theifs- Maroseck x,  it  1n 

doch  schwankt  das  Lohnausmals  /wischen  und  1 „ (5,26 — 1 6,66 
Proz.)  und,  wenn  keine  Verköstigung  gewährt  wurde,  zwischen  1 

*)  Am  linken  Donauufer  betrug  der  Geldlohn  ohne  Kost  per  Joch  durchschnitt- 
lich 4 Fl.  to  Kr.,  am  rechten  Donauufer  5 Fl.»  zwischen  Theifs  und  Donau  5 Fl. 
40  Kr.,  am  rechten  Theifsufer  4 Fl.  50  Kr.,  »n  linken  Theifsufer  5 Fl.,  im  Theifs- 
Maroseck  5 Fl.  10  und  in  Siebenbürgen  4 Fl.  75  Kr.  In  einigen  Gegenden  wurde 
der  Lohn  auch  in  Getreide  ausgezablt  und  zwar  wurden  /.wischen  Theifs  und  Donau 
65 — 70  Kg,  im  Theifs-Maroseck  80  und  am  linken  Thcifsufcr  S7  Kg  Getreide  per 
Katastraljoch  bewilligt. 

f)  Vgl.  E.  von  Eg  an,  Landwirtschaftliche  Skizzen  aus  l'ngam.  Berlin  1898, 
Seite  39. 


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Die  Lage  der  ungarischen  Landarbeiter. 


347 


und  'jS  des  Ernteertrages.  An  einigen  Orten  wurde  auch  '/-■  ' «• 
V*.  ja  in  einigen  Fällen  in  Szentes  auch  '/*  des  Ertrages  bewilligt.1) 
Da  nun  das  durchschnittliche  Erträgnis  6 8 q per  Katastraljoch 

beträgt  und  eine  „Sense“  in  einer  Saison  io — 18  Joch  abernten 
kann,  so  dürfte  der  durchschnittliche  Saisonverdienst  einer  „Sense“ 
sich  auf  rund  io  q Getreide  belaufen. 

Auch  Tabak-  und  in  vielen  Fällen  auch  Maiskulturen  werden 
in  der  Regel  gegen  einen  entsprechenden  Anteil  an  der  Ernte  ver- 
geben. und  zwar  wird  bei  Mais  1 , jedoch  meist  '3  und  bei  Leistung 
von  Robotarbeiten  in  Ausnahmefällen  sogar  die  '/»  des  Ertrages 
bewilligt.  Bei  der  Tabakernte  teilen  die  Unternehmer  meist  den 
Ernteertrag  mit  den  die  Arbeit  Uebernehmenden.5) 

Es  ist  nun  einleuchtend,  dafs  bei  dieser  so  häufig  vorkommenden 
Art  der  Entlohnung  — wie  selbst  der  konservative  Abgeordnete 
Makfalvay  zugeben  mufste  *)  — die  Arbeiter  nur  im  Falle  einer 
sehr  guten  Ernte  ihr  Auskommen  finden  können.  Ist  die  Ernte 
eine  schlechte  oder  wird  sic  gar  durch  Hagelschlag  vernichtet,  dann 
sind  die  Arbeiter,  denen  andere  Hilfsquellen  ja  nicht  zur  Verfügung 
stehen  und  die  sich  gegen  solche  Zufälle  auch  nicht  versichern 
können,  „geradezu  dem  Hunger  überliefert". 

Ebenso  wenig  erfreulich  wie  die  I.ohnverhältnisse  sind  aber 
auch  die  übrigen  Arbeitsbedingungen  für  die  Arbeiter.  So  dauert  die 
Arbeitszeit  nach  dem  neuen  noch  zu  besprechenden  Fcldarbeiter- 
gesetze  — von  Sonnenaufgang  bis  Sonnenuntergang,  also  im  Sommer 
oft  15 — 16  Stunden,  und  konnte  daher  Egan  schon  mit  Bezug  auf 
diese  lange  Arbeitsdauer  sicherlich  mit  Recht  die  bezeichnende  Be- 
merkung machen,  dals  „sowohl  die  Ausnutzung  der  Gespanne,  als 
auch  die  Ausnutzung  der  Menschen  — insbesondere  bei  den  Akkord- 
arbeiten — eine  ganz  hervorragende  sei“.4) 

Allein  diese  „Ausnutzung  der  Menschen“  ist  auch  noch  nach 

1 : In  einigen  Gegenden  wurden  die  K.rntearbeiten  auch  gegen  Gewährung  vorher 
auslicdungritor  Gctreide<iuanten  vergehen;  so  wurden  am  linker.  Theifsufer  7 — 8,  im 
Theifs-Maroseck  6 — 8,  zwischen  Thcifs  und  Donau  6 — -7  und  am  rechten  Donau- 

ufer 6 — 6l <]  Getreide  für  die  Kmtearheiten  bewilligt.  Im  C'songrader  Komitate 
wurden  auch  10,  im  Bekeser  4 — 5 q bewilligt. 

*1  Vgl.  die  Landwirtschaft  Ungarns  in  Reiseberichten  geschildert  von  Rein- 
hold Rudloff,  Berlin  1807. 

:l)  In  einer  bei  Beratung  des  Feldarbeitergeset7.es  gehaltenen,  nach  dem  Poster 
Lloyd  citicrten  Rede. 

*i  a.  a.  O. 


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348 


Julius  Runzel 


einer  anderen  Richtung  eine  „ganz  hervorragende“.  In  den  meisten 
Gegenden  Ungarns  ist  es  nämlich  üblich,  dafs  sich  die  Landwirte 
bei  Abschlufs  der  Arbeitsverträge  unentgeltliche  Arbeitsleistungen 
ausbedingen.  Es  besteht  also  der  Robot  — wenngleich  er  durch  das 
Gesetz  aufgehoben  wurde  — in  der  Praxis  noch  fort.  Der  Ackerbau- 
minister  hat  allerdings  im  Abgeordnetenhause  erklärt,  er  liebe  es  nicht, 
wenn  man  die  „diskretionäre  Arbeit“  Robotarbeit  nennt  — aber  That- 
sache  ist,  dafs  sich  die  Landwirte  bei  Abschluß  der  Arbeitsverträge 
eine  unentgeltliche  Arbeitsleistung  in  der  Dauer  bis  zu  40  Tagen, 
und  zwar  oft  gerade  für  die  Erntezeit,  ausbedingen  und  wie  „frei- 
willig“ die  Arbeiter  auf  diese  Bedingung  cingchcn,  geht  schon  aus 
dem  Umstande  hervor,  dafs  diese  „Vereinbarungen“  im  Winter,  wenn 
wenig  Arbeiter  benötigt  werden  und  das  Angebot  der  hungernden 
und  frierenden  Arbeiter  ein  geradezu  stürmisches  ist,  getroffen  werden. 
Selbst  der  Referent  für  das  Feldarbeitergesetz  vom  Jahre  1898 
mufstc  in  seiner  im  Abgeordnetenhause  gehaltenen  Rede  gestehen1): 
„Fast  in  allen  Gegenden  des  1 „indes  sind  die  sogenannten  Robot- 
arbeiten gebräuchlich,  welche  oft  zur  vollständigen  Ausbeutung  der 
Arbeiter  fuhren.  Wo  die  Arbeitsnachfrage  (soll  wohl  heifsen:  das 
Arbeitsangebot)  sehr  grofs  ist,  pflegen  die  Landwirte  den  Arbeitern 
gegenüber  mit  diesen  Robotarbeiten  einen  förmlichen  Wucher  zu 
treiben“.  Als  dann  aber  ein  anderer  Abgeordneter  *)  bemerkte : 
„Wenn  man  den  mit  dem  Kapitale  getriebenen  Wucher  verbieten 
konnte,  so  kann  man  auch  den  mit  der  Arbeit  getriebenen  Wucher 
verbieten,“  hielt  ihm  der  Herr  Ackerbauminister  entgegen,  dass  man 
die  „diskretionäre  Arbeit,  welche  in  den  Rahmen  des  Gesetzes  von 
Angebot  und  Nachfrage  fallt,  ohne  grofse  wirtschaftliche  Erschüt- 
terungen nicht  abschaffen  könne“,  und  so  besteht  denn  diese  jetzt 
diskretionäre  Arbeit  genannte  Robotarbeit  auch  heute  noch  fort. 

Dafs  bei  dem  Bestehen  solcher  Arbeitsbedingungen  weder  von 
Bestimmungen  über  den  Arbeiterschutz,  noch  von  einer  ernst  zu 
nehmenden  Arbeiterversichcrung  die  Rede  sein  kann,  braucht  wohl 
nicht  besonders  hervorgehoben  zu  werden. 

Allein  dies  alles  wird  von  den  Arbeitern  noch  nicht  allzu 
schwer  empfunden.  Was  jetloch  das  Arbeitsverhältnis  für  den  Arbeiter 
geradezu  unerträglich  macht,  ist  die  vollkommene  Rechtlosigkeit, 
in  der  er  sich  dem  Grundbesitzer  gegenüber  befindet.  Denn  in 
Bezug  auf  die  Rechtsprechung  hat  sich  für  den  Feldarbeiter  seit 


1 J cit.  nach  dem  fester  Lloyd. 


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Die  Lage  der  ungarischen  Landarbeiter. 


349 


den  Zeiten  der  Hörigkeit  so  gut  wie  nichts  geändert.  Wohl  wurde 
die  Gerichtsbarkeit  durch  die  Herrenstühle  durch  den  XI.  Ges.-Art. 
des  Jahres  1848  aufgehoben,  allein  für  die  meisten  Rechtssachen  ist 
auch  jetzt  in  erster  Instanz  der  von  den  Grundbesitzern  gewählte 
Oberstuhlrichter  und  in  zweiter  Instanz  eine  fast  ausschliefslich  aus 
Grundbesitzern  bestehende  Kommission  des  aus  der  Komitatsver- 
tretung  gewählten  Verwaltungsausschusses  zuständig  und  „gegen  im 
Wesen  übereinstimmende  Entscheidungen  hat  keine  Appellation 
statt". J) 

Der  Pester  Lloyd s)  allerdings  meint  trotz  alledem,  dafs,  wenn 
von  irgend  einem  Hände  gesagt  werden  kann,  dafs  das  Los  des 
Arbeiters  ein  gutes  sei,  das  von  Ungarn  behauptet  werden  könne, 
wo  das  Lohnminimum  höher  sei  als  in  irgend  einem  europäischen 
Staate.  Graf  Nicolaus  Bcthlen  aber,  wohl  ein  unverdächtiger  Zeuge, 
war  ehrlich  genug,  zu  gestehen,*)  dafs  sich  die  Lage  der  Feldarbeiter 
seit  Aufhebung  der  Hörigkeit  iin  Jahre  1848  bis  zur  Gegenwart 
zum  mindesten  um  die  Hälfte  verschlechtert  habe. 


II.  Die  Lebensverhältnisse  der  ungarischen 
Landarbeiter. 

Dafs  unter  diesen  Umständen  auch  die  Lebensverhältnisse  der 
Arbeiter  keine  glänzenden  sein  können,  liegt  wohl  auf  der  1 land. 
Und  in  der  That  sind  namentlich  die  Wohnungen  der  Feldarbeiter 
in  der  Regel  in  einem  geradezu  erbärmlichen  Zustande.  So  mufste 
Dr.  F'ekete  dem  im  September  1894  in  Pest  tagenden  VIII.  inter- 
nationalen hygienisch-demographischen  Kongresse  berichten,4)  dafs 
z.  B.  im  Trentschiner  Komitate  nicht  ausnahmsweise,  sondern  in  der 
Regel  2 ja  3 F'amilien  in  einer  niedrigen,  rauchigen,  der  frischen 
Luft  entbehrenden  Stube  beisammen  seien,  in  einer  Atmosphäre,  in 
welcher  der  schwächere  kindliche  Organismus  unfehlbar  ein  Opfer 
der  Krankheit  wird.  Im  Winter  werden  dort  die  Fenster  vernagelt, 
damit  die  kalte  Luft  nicht  eindringen  könne.  Aber  auch  in  den 
reichen  Gegenden  ist  die  Lage  der  beim  Ackerbau  verwendeten 


*)  Vgl.  § 72  des  II.  G.A.  vom  Jahre  1898  und  J.  Bunzel  in  den  Jahrb.  für 
Nat.  und  Stat.  III.  Folge,  XV.  Bd.  S.  343  f. 

2j  Vgl.  die  3.  Beilage  de»  P.  L.  vom  I.  Jan.  1898. 
r)  In  einem  in  der  „Zukunft“  veröffentlichten  Aufsatze. 

4)  Vgl.  Comptes  rendus  et  memoires  VII.  Band.  Pest  1896,  S.  256  ff. 


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35° 


Julius  üunzcl, 


dienstbaren  Bewohner  — nach  Fekete  — eine  jämmerliche,  da  die 
gewissenlosen  Grundherren  und  Pächter  2 — 3 Lohnknechtfamilien 
in  eine  Stube-  zusammenzwängen.  Selbst  in  der  staatlichen  Wirt- 
schaft Mezöhegyes1)  bestehen  die  Mauern  der  Arbeiterhäuser  nur 
aus  gestampfter  Erde  und  die  Dächer  aus  Stroh.  Diese  Häuser 
haben  allerdings  bei  ihrer  Errichtung  auch  nur  5 El.  50  per  qm 
Grundfläche  gekostet,  während  für  die  Stallungen  10 — 11  Fl.  und 
für  die  Gesindewohnungen  immerhin  1 1 Fl.  37  Kr.  verwendet  wurden, 
ln  den  anderen  Wirtschaften  sind  aber  die  Verhältnisse  natürlich 
noch  viel  schlechter.  Hier  wohnen  oft  überhaupt  nur  die  verhei- 
rateten Knechte  in  Wohnhäusern,  wobei  — wie  schon  erwähnt  — 
oft  vielfach  mehrere  Familien  in  einem  Zimmer  hausen.  Die  un- 
verheirateten Knechte  werden  meist  in  Ställen,  Scheunen  u.  dergl. 
untergebracht  und  die  Taglöhner,  welche  zum  grofsen  Teil  für  den 
Sommer  aus  anderen  Gegenden  zur  Arbeit  kommen,  wohnen  ent- 
weder in  den  Hütten  der  in  der  Nähe  wohnenden  Taglöhner  oder 
in  den  von  den  Grundbesitzern  errichteten  Baracken  oder  in  den 
naheliegenden  Ställen  und  Scheunen,  wenn  sie  nicht,  wie  dies  meist 
der  Fall  ist,  einfach  auf  freiem  Felde  auf  ihrem  Arbeitsplätze 
übernachten. 

Nicht  minder  unbefriedigend  sind  im  übrigen  die  Ernährungs- 
verhältnisse der  landwirtschaftlichen  Arbeiter  in  Ungarn.  Da- 
rüber hielt  wenigstens  der  königlich  ungarische  Sanitätsinspektor 
Eugen  Farkas  am  13.  März  1897  im  königlichen  Aerzteverein  einen 
Vortrag,  *)  in  welchem  ein  geradezu  erschreckendes  Bild  von  der 
Ernährung  der  landwirtschaftlichen  Arbeiter  entrollt  wurde.  — 
Dr.  Farkas  hatte,  um  sich  verläfsliches  Material  zu  schaffen,  durch  das 
Ackerbauministerium  an  sämtliche  ökonomische  Berichterstatter  des 
I -indes  einen  Fragebogen  gesendet,  aus  deren  Beantwortung  er 
Aufklärung  über  die  sich  an  den  einzelnen  Orten  findende  Art  der 
Ernährung  und  zwar  soweit  als  möglich  auch  inbezug  auf  die 
Quantitäten  zu  erhallen  hoffte.  Eis  standen  ihm  denn  auch  wirklich 
nach  Rücklangen  der  Eirhebungsformulare  „ungefähr  600  durchweg 
pünktlich,  teilweise  mit  besonderer  Sorgfalt  ausgefüllte  und  beant- 
wortete E'ragcbogen  zur  Verfügung“,  auf  Grund  deren  er  Alimcn- 

*)  Vgl.  die  königl.  ungar.  Pferdczuchtanstalten  und  das  Gödöllöer  königl.  ungar. 
Krongut  a.  a.  O.  S.  151. 

2)  Citicrt  nach  einem  Separatabdruck  aus  der  Pester  medizinisch-chirurgischen 
Presse.  XXXIII.  Jahrg.  1B97. 


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Die  Lage  der  ungarischen  Landarbeiter. 


35 


tationstypen  aufstelltc.  Nach  ilicsen  wären  aufser  bei  den  Slovaken 
und  den  siebenbiirgisclien  Walachen  sowohl  das  Eiwcifs  als 
die  Fette  und  besonders  die  Kohlenhydrate  in  der  zur  Erntezeit 
üblichen  Nahrung  der  Arbeiter  allerdings  in  bedeutend  grösserer 
Menge  vorhanden,  als  sie  zur  Ernährung  eines  Menschen  nothwendig 
sind.  Allein  der  ungarische  Feldarbeiter  nährt  sich  hauptsächlich 
von  Vegetabilien,  welche  der  Organismus  viel  weniger  auszunützen 
imstande  ist  als  gemischt  cingeführtc  animalische  und  vegetabilische 
Nahrungsmittel.  Fleisch  fand  sich  nur  bei  2 der  aufgestellten  Typen 
in  genügender  Menge.  Der  von  der  Heimat  entfernte  Arbeiter  lebt 
eben  häufig  ausschließlich  von  Brot  und  erhält  warme  Speisen  nur 
sehr  selten.  Im  Winter  ist  aber  die  Nahrung  namentlich  der  nörd- 
lichen Gebirgseinwohnerschaft  eine  ganz  aufserordentlich  schlechte. 
Das  einzige  Nahrungsmittel  der  ärmeren  Bevölkerung  ist  in  manchen 
dieser  Gegenden  die  Kartoffel,  in  anderen  der  Mais,  in  wieder  an- 
deren der  Hafer.  Die  Bevölkerung  grosser  Teile  des  Tre rit- 
sch in  er  Komitates  verköstigt  sich  ausschlicfslich  mit  Kartoffeln  in 
Essig  ohne  Fett  und  Fleisch.  In  einigen  Feilen  des  Be  reger 
Komitates  verköstigt  sich  der  Feldarbeiter  lediglich  mit  trockenen 
oder  mit  Maismehl  gemengten  Bohnen,  gekochten  oder  gebratenen 
Kartoffeln  in  Krautsuppe  oder  in  rohem  Kraut  und  mit  elendem 
Maisbrot.  Manchmal  trinkt  er  Milch  dazu;  im  Spätherbst  und 
Winter  aber,  wenn  die  Arbeit  überall  eingestellt  ist  und  die  ersparten 
Pfennige  verausgabt  sind,  steigt  er  selbst  unter  die  Fastenkost  her- 
unter und  entbehrt  selbst  das  Salz.  Im  Komitate  Arva  ernähren 
sich  nach  Keleti  ')  sämtliche  Gemeinden  schlecht  von  ungesäuertem 
Gersten-  und  Haferbrot  bezw.  Maiskuchen.  Währenddes  Sommers 
leben  sie  etwas  besser  und  konsumieren  viel  Milch  und  Butter.  Dagegen 
gehört  das  Liptauer  Komitat  nach  Keleti  mit  Ausnahme  von 
5 — 6 Gemeinden  zu  den  am  schlechtesten  genährten  Komitaten. 
Mit  Ausnahme  von  2 Gemeinden  wird  Brot  nur  an  Sonntagen  und 
bei  feierlichen  Gelegenheiten  gegessen.  Statt  dessen  ernährt  sich 
die  Bevölkerung  von  einer  aus  Korn-,  Gerste-  oder  Maismehl  mit 


Vgl. : Oie  Fmährungsstalistik  der  Bevölkerung  Ungarns  von  Dr.  Karl  Keleti, 
Direktor  tles  konigl.  Ungar,  statistischen  Zentralamtes  Best  1SS7  S.  53.  Ueber 
<lie  Richtigkeit  der  Methode,  nach  welcher  dieses  jedenfalls  interessante  Werk  ab- 
gefafst  ist.  läfst  sich  streiten.  Die  hier  angeführten  Angaben  sind  dem  von  Keleti 
benutzten  Rohmateriale  entnommen,  also  unbeeinllufst  von  den  etwa  in  der  Be- 
arbeitungsmethode  liegenden  Fehlern. 


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352 


Julius  Bunzcl, 


einer  Beimischung  von  Milch  zubereiteten  kuchenartigen  Mehlspeise. 

Das  Hauptnahrungsmittel  besteht  in  Kartoffeln Fleisch  wird 

mit  Ausnahme  der  erwähnten  2 Gemeinden  an  Wochentagen  gar 
nicht,  an  Sonntagen  nur  in  sehr  geringer  Menge,  Kraut,  Milch  und  zum 
Teil  Topfen  in  gröfserem  Mafse  konsumiert.  — Das  Hauptnahrungs- 
mittel der  Bevölkerung  in  einem  Teile  des  Gömörer  Komitates1) 
bilden  Kartoffel,  Maisbrei,  Heidegrütze  und  Milch  . . . und  ist  es  auch 
dieser  höchst  mangelhaften  Ernährung,  diesem  lang  ausdauernden 
Zwangsfasten  zuzuschreiben,  dafs  die  Bevölkerung  ungeachtet  all 
ihres  Fleifses  verkümmert  und  infolge  der  schlechten  Ernährung 
kaum  arbeitsfähig  ist  und  kaum  etwas  verdienen  kann.  — Auch  das 
unselige  Branntweintrinken  (selbst  der  Frauen  und  Kinder)  verzehrt 
ihre  Kräfte  und  vermindert  ihren  Erwerb.  Im  Zipser  Komitate 
leben  gleichfalls  45  Gemeinden  „sozusagen  elend“.  Ihr  Haupt- 
nahrungsmittel bildet  die  Kartoffel,  höchst  selten  ein  anderes  Ge- 
müse. Fleisch  (Schaffleisch)  wird  kaum  6 — 7 mal  des  Jahres  ge- 
gessen. Die  Armut  des  Volkes  gestattet  auch  nicht,  in  der  Ernährung 
einen  Unterschied  zwischen  Sonn-  und  Wochentagen  zu  machen.  Von 
den  zumeist  von  Walachen  bewohnten  120  Gemeinden  des  Biliarer 
Komitates  2)  wird  in  den  Bezirken  Vaskot  und  Belenyes  am  schlech- 
testen gelebt  . . . und  . . wird  der  gröfste  Teil  des  Jahres  durch- 
gefastet. Desto  mehr  wird  Branntwein  getrunken  . . . Fleisch  ge- 
niefst  kaum  der  hundertste,  Fett  kaum  jeder  dreihundertste  und  bilden 
Gurken,  Kürbis  Salat,  zumeist  aber  Maiskuchen  die  Hauptnahrung, 
Im  Marmaroser  Komitate")  wird  mit  Ausnahme  von  26  Ge- 
meinden, deren  Insassen  nebst  wenig  Kornbrot  auch  Hafer  und  Mais- 
brot konsumieren,  nur  Maisbrot  gegessen.  Aufser  Brot  bilden  Bohnen 
Kraut,  Kartoffel,  Zwiebel,  wilde  Birnen  und  Branntwein  die  Haupt- 
nahrung. Im  Winter  wird  noch  mangelhafter  gelebt  als  im  Sommer 
. . . . Fleisch  wird  auch  Sonntags  nur  selten  gegessen.  Im  Szat- 
märer  Komitate  leben  58  Gemeinden  mangelhaft.  Ihre  Haupt- 
nahrung besteht  aus  Maisbrot,  Bohnen,  Kartoffeln,  wenig  Kraut  und 

Grünzeuggattungen dreiviertel  Teile  der  Bevölkerung  sind  so 

arm,  dafs  sie  zum  Kochen  statt  des  Speckes  und  Fettes  . . . zumeist 
aus  Sonnenblumen  und  Kürbiskernen  gewonnenes  Oel  benützen.  Der 
gröfste  Teil  der  Bevölkerung  fristet  fern  von  der  Heimat  sein  Leben 


*)  Vgl.  Kcleti  a.  a.  O.  S.  63. 

*)  Vgl.  Keleti  a.  a.  O.  S.  65. 

8)  Vgl.  Keleti  a.  a.  O.  S.  6b. 


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Die  Lage  der  ungarischen  Landarbeiter. 


353 


. . . mit  ein  wenig  hartem  Brot  und  Zwiebeln.  Der  zu  Hause  ge- 
bliebene Teil  geniefst  des  Morgens  Brot  und  Zwiebel,  trinkt  auch 
Branntwein,  wenn  selbiger  vorhanden  ist;  zum  Nachtmahl  dienen 
Bohnen  oder  irgend  eine  Grünzeuggattung.  Fleisch  (Schaf-  und 
Schweinefleisch)  wird  an  Wochentagen  sehr  selten  gegessen,  ln  drei 
Bezirken  des  Komitates  Szilägy1)  wird  fast  die  Hälfte  des  Jahres 
gefastet.  Die  Hauptnahrung  bilden  Maisbrei,  Bohnen  und  Kürbis- 
kerne. Zum  Kochen  wird  in  grofsem  Mafsc  das  aus  Sonnenblumen 
gewonnene  Oel  verwendet.  Fleisch  wird  sehr  selten,  Branntwein  im 
Uebermafsc  konsumiert,  ln  geringer  Menge  dienen  auch  getrock- 
nete Fische  zur  Ernährung.  Im  Ara  der  Komitate  ernähren  sich 
27  Gemeinden  höchst  mangelhaft,  weshalb  auch  deren  Arbeitsfähig- 
keit auf  einer  sehr  niedrigen  Stufe  steht.  Fleisch  wird  sehr  selten 
und  wenig  konsumiert , zwischen  der  Ernährung  an  Sonn-  und 
Wochentagen  besteht  kein  Unterschied.  Der  Winter  bildet  eine 
geringe  Ausnahme,  da  zu  dieser  Zeit  in  sehr  geringem  Mal'se  besser 
gelebt  wird.  Der  Branntweinkonsum  ist  ein  starker.  Auch  im 
Temescher  Komitate*)  ernähren  sich  viele  Gemeinden  sehr 
mangelhaft  . . . Die  Hauptnahrung  besteht  aus  Erbsen,  Bohnen, 
manchmal  aus  Kraut  und  in  aufscrgewöhnlichem  Mafse  aus  Branntwein. 
— Wie  man  sieht,  ist  also  das  Gebiet,  auf  dem  die  Bevölkerung  und 
insbesondere  die  landwirtschaftliche  Arbeiterschaft  mit  den  grössten 
Entbehrungen  kämpft,  ein  keineswegs  kleines.  Nach  Dr.  Fekete  :l)  lebt 
denn  auch  des  slovakischen  Volkes  von  Kartoffeln  und  elendem 
Hafer-  oder  Gerstenbrot.  Zu  den  Kartoffeln  ist  nicht  einmal  immer 
Fett  und  das  kaum  den  Namen  verdienende  Brot  nicht  immer  in  hin- 
reichender Menge  vorhanden.  Der  Walache  und  Szcklcr  nährt  sich 
gleicherweise  elend.  — Es  ist  dies  auch  kaum  anders  denkbar,  wenn 
man  erwägt,  dafs  rler  Feldarbeiter  von  seinem  Lohne  in  der  Regel 
nur  60 — 89  FL  jährlich  für  seine  und  seiner  ganzen  Familie  Er- 
nährung erübrigen  kann  *).  Selbst  im  Alfold  bleiben  nach  einem 


h Vgl.  Kelcti  a.  a.  O.  S.  67. 

*J  Vgl.  Keleti  a.  a.  O.  S.  68. 

Jj  a.  a.  O. 

*)  Vgl.  Dt.  Franz  Krassei,  „Die  tag,-  der  ungarischen  Fcldarbciter  und 
das  Feldarbcitergesctz.“  in  der  „Monatsschrift  für  christliche  Sozialrefomi“,  Jahrg.  l8<)8 
ij.  203  fr.  u.  Dr.  E.  H.  Schmitt,  „Der  ungarische  Bauernsozialismus“  iu  der  „Zeit“ 
Nr.  184. 


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354 


Julius  Hunzel, 


von  Dr.  Ecscri ')  veröffentlichten  Budget  eines  Orosliazaer  Feld- 
arbeiters dem  Arbeiter  nur  122  Fl.  35  Kr.  d.  i.  33 1 ä Kr.  täglich 
zum  Leben. 

Unter  solchen  Umständen  ist  es  kein  Wunder,  dals  Dr.  Fekete  *) 
„aufrichtig  bekennen  mufs,  dafs  ein  grolser  Teil  der  Ackerbauer,  ja 
die  Bevölkerung  ganzer  Gegenden  degeneriert“  und  dafs  die  Pellagra 
das  Trachom  und  der  Hungertyphus  in  Ungarn  nicht  aussterben 
wollen.  Die  Pellagra  ist  eine  infolge  fast  ausschliefslicher  Mais- 
nahrung entstehende  Krankheit  der  Haut  und  des  Gehirns,  die  im 
Jahre  1898  in  Siebenbürgen  auftauchte,  sich  dann  auch  in  Ungarn, 
hauptsächlich  im  Temescher  Komitate,  ausbreitete  und  im  Juni 
bereits  in  28  Gemeinden  amtlich  konstatiert  war.  — Das  Trachom 
feine  Augenkrankheit)  hingegen  ist  namentlich  im  ungarischen  Tief- 
lande verbreitet,  wurde  aber  von  den  im  Sommer  im  Alföld  arbeitenden, 
im  Norden  ansässigen  Feldarbeitern  auch  in  deren  Heimat  ver- 
schleppt, wo  der  böse  Samen  auf  fruchtbaren  Boden  fiel.*)  Im 
Jahre  1899  betrug  denn  die  Zahl  der  Fälle  im  ganzen  Königreiche 
Ungarn  (einschliefslich  Kroatien  - Slavoniens)  schon  38945,*)  so 
dafs  die  ungarische  Regierung  sich  genötigt  sah,  in  das  Budget 
60000  Fl.  als  Auslagen  für  die  Unterdrückung  des  Trachoms  ein- 
zustellen. Der  Hungertyphus  endlich  trat  im  Jahre  1898  nicht  nur 
in  den  nördlichen  Komitaten  Arva,  l.iptau  und  Turocz,  sondern 
auch  in  der  reichsten  Gegend  des  Landes,  der  „Kornkammer  Un- 
garns“, auf.  Zuerst  erschien  dieser  böse  Gast  dort  in  mehreren 
Gemeinden  des  Torontaler  Komitates  und  bald  mufste  der  Fester 
Lloyd  berichten : „Fs  klingt  fast  unglaublich,  dafs  auch  in  der 
Bacska,  diesem  vielleicht  am  meisten  gottgesegneten  Komitate  des 
Landes,  Hungersnot  herrscht.  Amtliche  Daten  bekundeten  jedoch, 
dafs  im  Coinitate  mehr  als  12321  Menschen  brotlos  sind  und  der 
gröfsten  Not  entgegensehen.  Die  Zahl  der  Notleidenden  nimmt 
täglich  zu."  Nach  späteren  Nachrichten  herrschte  jedoch  auch  in 
vielen  anderen  Gegenden,  so  im  Heveser  Komitate  (in  Tisza-Nana 
allein  hungerten  240  Familien),  in  Arad  und  im  Temescher  Ko- 


*)  Das  treffliche  Buch,  welchem  diese  Angaben  entnommen  wurden,  ist  leider 
nur  in  magyarischer  Sprache  erschienen. 

*l  a.  a.  O. 

*)  Vgl.  Prof.  I)r.  Feuer  in  den  Berichten  über  den  VIII.  hyg.-dem.  Kongress 
a.  a.  O.  S.  707. 

4)  Vgl.  ungar.  Statist.  Jahrbuch  Jahrg.  1899  a.  a.  O.  S.  66 


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1 >ie  Lage  der  ungarischen  Landarbeiter. 


355 


mitate  Hungersnot.  Dabei  wurden  noch  die  Nachrichten  über  die 
herrschende  Not  nach  Möglichkeit  unterdrückt  und  mul'ste  eine  in 
Brod  erscheinende  Zeitung,  welche  über  die  Hungersnot  in  Slavonien 
ausführliche,  ergreifende  Berichte  gebracht  hatte,  infolge  der  zahl- 
reichen Konfiskationen  sogar  das  Erscheinen  einstellen.  Allein  auch 
die  trotzdem  bekannt  gewordenen  Thatsachen  genügten,  um  die 
Aufmerksamkeit  weiterer  Kreise  in  Ungarn  auf  die  elende  Lage  der 
ungarischen  Feldarheiter  zu  lenken,  ja  man  fing  sogar  in  den  Mi- 
nisterien an,  sich  für  die  Lamlarbeiterfrage  zu  interessieren  und  zwar 
umsomehr,  als  es  unter  der  im  allgemeinen  recht  geduldigen  Land- 
bevölkerung ganz  bedenklich  zu  gähren  begann. 


III.  Die  soziale  Bewegung  unter  den  ungarischen 
Feldarbeitern  und  deren  Bekämpfung. 

Den  Anschluss  an  die  Sozialdemokratie  hatte  die  ungarische 
Taglöhnerschaft  allerdings  schon  lange  vorher  vollzogen.  Bereits 
gegen  Ende  der  achtziger  Jahre  begann  der  Sozialismus  unter  der 
landwirtschaftlichen  Bevölkerung  Anhänger  zu  finden,  was  sich  bei 
der  Säkularfeier  der  französischen  Revolution  im  Jahre  1889  und  bei 
der  Maifeier  desselben  Jahres,  an  welchen  Veranstaltungen  bereits  Feld- 
arbeiter teilnahmcn,  zeigte.1)  Auch  dem  sozialdemokratischen  Kon- 
gresse i.  J.  1 890  wohnten  bereits  2 — 3 Delegierte  der  landwirtschaftlichen 
Arbeiterschaft  bei.  Allein  die  Behörden  traten  der  Bewegung  so 
energisch  entgegen,  dal's  selbst  der  Arbeiter-Kalender3)  erklärte,  dafs 
„die  agrar-soziale  Bewegung  in  nächster  Zeit  zu  keiner  hohen  Be- 
deutung gelangen"  dürfte.  Die  Versammlungen  wurden  verboten, 
den  sich  gründenden  Arbciterbildungsvereinen  wurde  die  Statuten- 
bestätigung verweigert,  die  bestehenden  Vereine  löste  man  auf,  ja 
man  veranlafste  sogar  die  Geschäftsleute  durch  Einschüchterungen 
und  Chikanen  zur  Einstellung  des  Einzelvcrkaufes  des  sozialde- 
mokratischen Blattes,  so  dafs  dasselbe  einstweilen  gratis  versendet 
werden  mul'ste.  Allein  trotzdem  machte  die  Bewegung,  namentlich 
im  höher  gebildeten  Tieflande,  Fortschritte.  Am  1.  Mai  1891  kam 
es  sogar  in  Oroshaza  (im  Bekescher  Komitate)  zu  einer  Belagerung 
des  Stadthauses,  weil  die  Behörden  die  Maifeier  nicht  dulden  wollten. 

*)  Vgl.  Hungarus  „Briefe  aus  Ungarn“  in  dem  „Deutschen  Wochenblatt“ 
Jahrg.  1898. 

“)  Vgl.  allgemeiner  Arbeitcrkalt'iider  für  das  Jahr  1892.  Pest  1892. 


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356 


Julius  Hunzel, 


Die  bewaffnete  Macht  mufste  einschreiten  und  es  gab  viele  Tote 
und  Verwundete.  An  den  folgenden  Tagen  wiederholten  sich  die 
Unruhen  an  mehreren  Orten  des  Komitates,  insbesondere  in  Bekes 
Csaba  und  Bathonya.')  — Auch  diese  „Revolten“  wurden  blutig  unter- 
drückt, ohne  dals  natürlich  etwas  für  die  Verbesserung  der  Lage  der  Ar- 
beiter geschehen  wäre,  und  der  Sozialismus  breitete  sich  immer  weiter 
aus,  hauptsächlich  in  den  Komitatcn  Bekes,  Arad,  Csanad  und 
Csongrad.  Ende  April  1894  brach  denn  auch  in  Hödmezö-Väsärhely 
(im  Csongradcr  Komitate)  wieder  eine  Revolte  unter  den  landwirt- 
schaftlichen Arbeitern  aus  und  zwar  eine  weit  stärkere  und  weiter 
ausgebreitete  als  die  vom  Jahre  189  t gewesen  war.  Aber  auch 
diese  wurde  blutig  unterdrückt,  das  Versammlungsrecht  im  ganzen 
Tiefland  suspendiert,  das  Militär  in  dem  genannten  und  dem  Toron- 
taler,  Temescher  und  Arader  Komitate  verstärkt  und  im  übrigen 
blieb  alles  beim  alten.  Natürlich  auch  bezüglich  der  Ausbreitung 
des  Sozialismus.  — Im  Jahre  1894  hatten  sich  schon  16  Delegirtc 
der  Eeldarbeiter  am  sozialdemokratischen  Kongresse  beteiligt  und 
im  Jahre  1896  fand  der  erste  Fcldarbeitcrkongress  statt,  zu  dem 
aus  39  Orten  71  Feldarbeiter  erschienen  waren.  Im  Jahre  1897 
hatten  sich  die  Feldarbeiter  sogar  schon  soweit  organisiert,  dafs  sie 
einen  Erntestrike  mit  günstigem  Erfolge  zu  Ende  führen  konnten. 
Der  Taglohn  erhöhte  sich  zur  Erntezeit  um  40  ja  50  Proz.  und  er- 
reichte in  einigen  Gegenden  die  bisher  ungeahnte  Höhe  von  5 Fl.5), 
während  in  29  Gemeinden  auch  die  Robotarbeit  abgeschafft  wurde. 
— Dieser  Erfolg  war  um  so  höher  anzuschlagen,  als  die  Regierung 
mit  Gewalt  die  Organisation  der  Arbeiter  zu  unterdrücken  suchte 
wofür  die  „Schlachten“  von  Sari,  Zenta,  Nädudvar,")  Elemer  und 
Alpar  traurige  Beweise  abgeben.  Auf  dem  dann  zu  Weihnachten 
1897  in  Budapest  abgehaltenen  Feldarbeiterkongresse4)  liefsen  sich 

I 

')  Vgl.  Deutsch  und  Schmitt  a.  a.  O. 

*)  Vgl.  Tomic  a.  a.  O.  S.  5. 

3)  Näheres  über  „die  Schlacht  bei  Nadudvar“  siehe  in  der  ..Zeit“  vom  12.  Juni 
1897,  S.  162. 

4)  Die  „gründliche  Kenntnis  der  sozialistischen  Redeform  und  Schlagworte“ 
von  seiten  der  in  die  Verhandlung  Eingreifenden,  sowie  „die  andächtige  Ruhe  und 
unermüdliche  Ausdauer  des  Auditoriums“  hatte  sogar  dem  P.  L.  imponiert.  Auch 
hebt  dieses  Blatt  hervor,  dafs  die  Kongrefsteilnehmer  fast  durchweg  typische  Ge- 
stalten vom  Lande  waren : „Ungarische  Bauern  mit  Kossuthbärten,  an  der  schweren 
Silberkette  das  Portrait  des  Arbeiterführers  Marx  tragend,  Torontaler,  Schwaben 
(Deutsche)  mit  glattrasierten  Gesichtern  und  enganliegenden  Kleidern;  auch  die 


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Die  Lage  der  ungarischen  Landarbeiter. 


357 


bereits  130  Gemeinden  durch  212  Delegierte  vertreten  und  wurde 
auf  diesem  Kongresse  u.  a.  auch  eine  neue  Organisation  beschlossen. 
Nachdem  die  Regierung  Vereinsgründungen  unmöglich  gemacht 
und  Versammlungen  verboten  hatte,  wurde  in  jeder  Gemeinde  in 
der  Sozialisten  wohnten,  ein  Blattkomitpe  geschaffen.  Jeder  der  sich 
bei  diesem  Komite  meldet,  wird  als  Mitglied  der  Blattorganisation 
betrachtet,  wenn  er  sich  verpflichtet  hat,  das  vierzchntägig  er- 
scheinende magyarische  „Feldarbeiter  Tagblatt"  (später  das  wöchent- 
lich erscheinende  Blatt  „Weltfreiheit")  oder  die  wöchentlich  er- 
scheinende deutsche  „Volksstimme“  rcgelmäfsig  abzunehmen.  Der 
die  Gelder  übernehmende  und  verwaltende  Kassierer  hat  aber  nur 
für  je  2 Mitglieder  ein  Blatt  zu  bestellen  und  die  andere  Hälfte  des 
eingelaufenen  Geldes  zum  Teil  für  die  Lokalorganisation  zu  ver- 
wenden, zum  Teil  der  Zentrale  cinzuschickcn.  Ucberdies  war  zu 
Beginn  des  Jahres  1897  in  der  südungarischen  Bauernstadt  Czegled 
ein  Feldarbeiterkongress  abgehalten  worden,  auf  dem  12  Komitatc 
von  195  Delegierten  aus  50  Städten  und  Gemeinden  vertreten  ge- 
wesen waren  und  am  I.  und  2.  Januar  1898  folgte  ein  Kongress 
südungarischer  Landarbeiter  deutscher  Zunge  in  Temeswar,  auf 
dem  24  Gemeinden  durch  39  Delegierte  *)  vertreten  waren.  Die 
Organisation  der  ungarischen  F'cldarbeiterschaft  hatte  demnach  in 
verhältnismässig  kurzer  Zeit  bedeutende  Fortschritte  gemacht,  ohne 
dafs  es  zu  gröfseren  Ausschreitungen , zu  denen  der  heifsblütige 
Magyare  sich  leicht  hinreissen  läfst,  gekommen  wäre. 

Da  trafen  zu  Beginn  des  Jahres  1898  hauptsächlich  aus  den 
nördlichen  Komitaten  des  Landes,  in  welche  die  sozialdemokrati- 
schen Ideen  noch  nicht  gedrungen  waren,  drohende  Nachrichten 
über  Unruhen  und  Bauernrevolten  ein.  Namentlich  im  Szabolcser 
Komitate  -)  sollten  nach  diesen  Meldungen  „besorgniserregende“  Zu- 
stände herrschen.  Am  7.  Februar  erschien  im  Abgeordnetenhause 
wenigstens  eine  Deputation  von  Landwirten  mit  einem  Gesuche  um 
Anwendung  energischer  Mafsregeln  gegen  die  „agrarsozialistische 
Bewegung“,  welches  Gesuch  von  niemandem  unterzeichnet  war, 
da  angeblich  jeder  Landwirt  sich  in  der  Sicherheit  des  Lebens  be- 


slawischen  Nationalitäten  waren  durch  zahlreiche  serbische,  kroatische  und  slowakische 
Baucrndelcgierte  vertreten.“ 

*)  Nach  dem  P.  L.  waren  von  den  Delegierten  höchstens  10  Feldarbeiter. 

*)  Beiläufig  bemerkt,  ist  der  Schwiegersohn  des  damaligen  Ministerpräsidenten 
Baron  Banflfy  Obergespan  dieses  Komitates. 


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35« 


Julius  Itunz cl. 


droht  gefühlt  hätte,  wenn  man  seinen  Namen  als  den  eines  Unter- 
zeichners der  Adresse  bekannt  gegeben  hätte.  Die  Leute  erzählten 
u.  a.  in  Xyiregyhaza,  dem  Hauptorte  des  Koinitats,  könne  man 
nicht  ohne  Revolver  in  die  Kirche  gehen,  kurz  cs  war  kein  Zweifel, 
dafs  man  jeden  Augenblick  den  Ausbruch  einer  gemeingefährlichen 
Bauernbewegung  befürchten  mufstc.  Es  wurden  also  „umfassende" 
Mafsnahmen  getroffen  und  eine  „ziemlich  bedeutende“  Militärmacht 
unter  dem  Kommando  eines  Generals  in  die  meist  „bedrohten" 
Komitate  Szabolcs  und  Szatmar  gesendet.  Es  gelang  auch  wirklich, 
die  „Bewegung“  zu  unterdrücken.  Freilich  stellte  sich  bald  heraus, 
dafs  die  „Bewegung“  keineswegs  so  „besorgniserregend“  gewesen 
war,  wie  die  ungarischen  offiziösen  Blätter  hatten  glauben  machen 
wollen.  Die  „Soziale  Praxis"1)  z.  B.  bemerkte:  „Allerdings  scheint  die 
Lage  zu  keinem  Zeitpunkte  wirklich  so  ernst  gewesen  zu  sein  und 
die  ungarische  Regierungspresse  sah  sich  genötigt,  eine  Reihe  von 
angeblichen  Greuclthatcn  der  Bauern,  die  sie  berichtet  hat,  für  un- 
wahr zu  erklären  . . . Soweit  verlälslicfie  Berichte  vorlicgen,  kam 
cs  in  den  erwähnten  Komitaten  zu  wiederholten  Zusammenrottungen 
und  Abhaltung  verbotener  Versammlungen,  die  stellenweise  drohend 
verliefen.  Auch  dieser  ganze  „Ausbruch“  wurde  anscheinend  nur 
durch  das  autoritäre  Vorgehen  der  Behörden  veranlafst,  die  alle 
Versammlungen  verboten.  — Verhaftungen  von  Bauernführern 
reizten i)  die  Arbeiter  zum  Widerstande  und  sie  suchten  die  Ge- 
nossen zu  befreien."  Jedenfalls  genügten  aber  die  Vorgänge,  um  die 
geplanten  Malsnahmen  gegen  die  — Sozialdemokraten  durchzuführen, 
obzwar  diese  an  den  „Ausbrüchen“  ganz  unschuldig  waren.  Wie 
sich  nämlich  bald  herausstellte,  waren  die  an  den  „Revolten"  be- 
teiligten Personen  Anhänger  Varkonyis,  welche  den  Sozialdemokraten 
geradezu  feindlich  gegenüberstanden.  Stefan  Varkonyi/')  ein  Pfcrde- 
■nakler  aus  Czegled,  der  sich  später  durch  Fuhrwerksunternehmungen, 
bei  Erdarbeiten  u.  s.  w.  ein  Vermögen  erworben  hatte,  war  aller- 
dings infolge  seines  Eifers  und  der  materiellen  Unterstützung,  welche 
er  der  Partei  gewährte,  im  Jahre  1896  in  die  sozialdemokratische 

')  Vgl.  „Soziale  Praxis“,  Zentralblatt  für  Sozialpolitik  vom  12.  Mai  189S, 
Spalte  543. 

*1  Wie  die  ungarischen  Behörden  das  zu  machen  pflegen  vgl.  bei  Ganz,  „l)ie 
Schlacht  bei  Nadudvar“  in  der  „Zeit“  a.  a.  O. 

h Vgl.  Dr.  Paul  F.ngelmann:  „Edelanarchistische  Phantasieen“  in  der 
„Neuen  Revue“  vom  15.  Mai  1S9S. 


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Dii*  Lage  der  ungarischen  I-andarbcitcr. 


359 


Parteileitung  gcvvälilt  worden.  Doch  war  er  bald,  da  er  nicht  ge- 
nügenden Einflufs  gewinnen  konnte,  aus  derselben  wieder  ausge- 
treten und  hatte  ein  eigenes  Blatt  „Der  Ackerbauer“  gegründet,  in 
welchem  er  gegen  die  sozialdemokratische  Parteileitung  auftrat,  ohne 
zunächst  ein  selbständiges  Programm  zu  entwickeln.  Später  lernte 
er  dann  den  Edelanarchisten  Dr.  Eugen  Heinrich  Schmitt  kennen 
und  begann  nun  dessen  Ideen,  nach  welchen  der  Christusgedanke 
verwirklicht,  d.  h.  im  Menschen  das  göttliche  Bewufstsein  der  Liebe 
und  Gemeinschaft  erweckt  werden  soll, ')  zu  propagieren.  Nach 
Schmitt,2)  dessen  Agitator  Varkonyi  wurde,  schlummert  „in  jedem 
geringsten  Menschen,  ja  auch  im  verworfensten  Missethäter  das 
göttliche  Bewufstsein  der  Liebe  und  Gemeinschaft  und  es  gilt  da- 
her nur,  diese  Gottheit  in  den  Geistern  und  Gemütern  zu  erwecken 
und  die  frohe  Botschaft  der  eigenen  Gottheit  des  Menschen  der 
Welt  zu  verkünden.  Ist  dann  das  göttliche  Bewufstsein  der  Ge- 
meinschaft, der  Liebe  und  der  Freiheit  unter  den  Menschen  erst 
verbreitet  und  haben  die  Menschen  ihr  Leben  diesem  Bewufstsein 
entsprechend  gestaltet,  dann  wird  eine  neue  auf  die  Liebe  und  die 
freie  Vereinbarung  aufgebautc  Welt  entstehen,  welche  die  tierische 
Gewaltthat  in  allen  ihren  Formen,  in  der  Form  des  Terrorismus 
der  Revolutionäre  ebenso,  wie  in  der  Form  des  Terrorismus  der 
Staatsgewalt  verdammt  und  dann  wird  auch  die  Prophezeiung  des 
Jesaias  erfüllt  sein,  der  verheifsen  hat,  dal's  die  Schwerter  in  Pflüge 
umgeschmiedet  werden,  dals  die  Völker  sich  nicht  mehr  bekriegen 
werden,  dafs  der  Löwe  mit  dem  Lamme  weiden  wird.  — Natürlich 
darf  zur  Verwirklichung  dieses  Idealzustandes  nie  Gewalt  angewendet 
werden,  da  der  Mensch,  der  unter  welchem  Titel  immer  Gewalt 
übt,  seine  menschliche  Würde  weggeworfen  hat  und  auf  ein  sitt- 
liches Niveau  gesunken  ist,  auf  dem  er  kein  sittliches  Urteil  mehr 
über  die  I landiungen  seiner  Gegner  hat.  Der  ersehnte  Zustand 
kann  vielmehr  nur  dadurch  herbeigeführt  werden,  dafs  die  Menschen 
die  Schmittschen  Grundsätze  zum  Leben  ihres  Lebens  machen. 
„Wie  sich  das  Licht  nur  darin  offenbart,  dafs  cs  in  die  Welt  leuchtet, 
so  bringen  wir  unsere  Grundsätze  auch  nur  dadurch  zur  Geltung,  dafs 
wir  Zeugnis  ablcgcn  für  die  Wahrheit  bei  jeder  Gelegenheit  — da- 

')  Vgl.  „Katechismus  der  Religion  des  Geistes“  lusammengestellt  von  l>r. 
Eugen  Heinrich  Schmitt.  Leipzig  1895,  S.  8 ff. 

2)  Vgl.  Prcfsprozcf»  von  Dr.  E.  H.  Schmitt,  ,,Der  Staat  vor  dem  Richter- 
stuhle der  Wahrheit“.  Pest  1897.  S.  30. 


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3<5o 


Julius  Bunzcl, 


durch,  dafs  wir  für  unsere  Grundsätze  Anhänger  anwerben  in  allen 
Kreisen  und  die  herrschende  Lüge,  so  hoch  dieselbe  auch  stehen 
mag,  sittlich  rückhaltlos  bekämpfen."  — Dieser  Kampf  der  Ver- 
treter der  Gewaltlosigkeit  mufs  aber  naturgemäfs  in  erster  Linie 

gegen  den  Repräsentanten  der  Gewalt,  d.  i.  den  Staat,  gerichtet 

sein  ')  und  zwar  soll  nach  Schmitt  dieser  Kampf  geführt  werden 

durch  die  „sittliche  Aechtung  der  Gewalt".  Das  ist  aber  eine  Waffe, 

die  nach  Schmitt  selbst  „nur  Menschen,  die  sich  bereits  hoch  über 
die  tierische  Gewaltthätigkcit  erhoben  haben“,  handhaben  können. 
Solche  Menschen  sind  aber  die  nordungarischen  Bauern  und  Feld- 
arbeiter nicht  und  können  es  auch  nicht  sein,  weil  sie  unter  Ver- 
hältnissen leben,  in  welchen  alle  tierischen  Instinkte  im  Menschen 
wieder  erwachen.  Erst  müssen  ihre  wirtschaftlichen  Verhältnisse 
gebessert  werden,  erst  mufs,  um  mit  Schmitt  zu  reden,  „jeder  Mensch 
auf  ehrliche  Weise  mit  leichter  Arbeit  und  Mühe  sein  Brot  ver- 
dienen können"  und  dann  erst  werden  sie  imstande  sein,  die  Waffe 
der  sittlichen  Aechtung  der  Gewalt  gegen  den  Staat  zu  schwingen, 
wobei  es  allerdings  fraglich  ist,  ob  sie  das  dann  noch  werden  thun 
müssen  und  wollen.  So  lange  sich  aber  die  wirtschaftlichen  und 
kulturellen  Verhältnisse  der  ungarischen  Feldarbciter  und  Klein- 
bauern nicht  gebessert  haben,  werden  diese  im  gegebenen  Fall  ge- 
wifs  nicht  mit  der  Waffe  der  sittlichen  Aechtung,  sondern  mit 
Sensen  und  Heugabeln  den  Kampf  gegen  die  staatliche  Gewalt 
fuhren. 

Es  war  daher  vom  Standpunkte  der  ungarischen  Regierung 
von  allem  Anfänge  an  gewil's  nicht  unbedenklich,  als  Stefan  Varkonyi 
die  Ideen  Schmitts  zu  verbreiten  begann.  Nichts  destoweniger 
traten  die  Behörden  zunächst  der  Bewegung  nicht  entgegen,  vielleicht 
weil  ihnen  die  Erklärung  der  „Unabhängigen“  dafs  die  Teilnahme 

‘)  Schmitt  bezeichnet«  denn  auch  den  Staat  einfach  als  „die  Organisation 
einer  Räuberbande  im  Grofsen“  und  verglich  ihn  mit  dem  Räuberhauptmanne  Do- 
minik Tiburzi,  der  in  den  Abruzzen  fixe  Beträge,  Steuern  von  den  Besitzenden  bezog 
und  dann  Arm  und  Reich  die  volle  Sicherheit  garantierte.  — Was  die  staatliche 
Polizei  nie  zustande  gebracht  hatte,  trat  damals  ein,  es  herrschte  in  der  That  voll- 
kommene Sicherheit  in  diesen  Gegenden.  Aufserdem  aber  schenkte  Tiburzi  von 
seinen  Rcichtümem  reichliche  Summen  den  Armen  und  Aermstcn,  kurz,  „er  plünderte 
die  Reichen  zu  Gunsten  der  Armen,  während  der  die  Steuern  in  letzter  Instanz  auf 
den  Armen  wälzende  Staat  die  Armen  zu  Gunsten  der  Reichen  plündert.“  — Nur 
dafs  nicht  alle  Räuber  wie  Tiburzi  handeln  und  es  nicht  in  allen  Staaten,  wie  in 
Italien  und  — Ungarn  zugeht. 


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Die  Lage  der  ungarischen  1 Handarbeiter. 


36 


an  den  Wahlen  verwerflich  sei  gefiel,  vielleicht  auch  weil  sie  die 
neue  Partei  als  die  schwächere  gegen  die  Sozialdemokraten  aus- 
spielen wollten.  So  konnte  Varkonyi  ziemlich  ungestört  Anhänger 
werben.  Zunächst  gewann  er  solche  in  Halas  in  Kleinkumanien, 
dann  breitete  sich  die  Bewegung  immer  weiter  aus,  und  im  Herbste 
1897  konnte  in  Czegled  ein  Landarbeiterkongrels  abgehalten  werden, 
an  dem  hauptsächlich  Südslaven,  Serben  und  Rumänen  teilnahmen. 

Ende  1897  waren  schon  die  nördlichen  Komitate  Heves,  Szabolcs, 
Szatmar,  Beregh  und  Ung  von  der  Bewegung  ergriffen  und  es 
wurde  auch  ein  serbisches  Blatt  (Zemljodelac)  von  der  Partei  ge- 
gründet. So  berichtet  wenigstens  Schmitt.1)  Nach  den  Mitteilungen 
aus  sozialdemokratischen  Kreisen  *)  beschränkte  sich  allerdings  die 
Bewegung  nur  auf  die  nördlichen  Komitate,  wohin  die  sozialdemo- 
kratischen Ideen  noch  nicht  gedrungen  waren  und  wo  sich  die  Be- 
wegung gerade  wegen  der  Unklarheit  ihrer  Lehren  beispiellos  rasch 
verbreitete,  während  sie  anderwärts  keine  Fortschritte  machen 
konnte,  da  „der  ungarische  Kleinbauer  und  Feldarbeiter  für  die 
geringste  materielle  Errungenschaft  auf  die  Göttlichkeit  der  geistigen 
Individualität  verzichtet“  und  sich  überhaupt  durch  religiösen  In- 
differentismits  auszeichnet.  Wo  sich  aber  die  Bewegung  verbreitete, 
scheint  sie  viel  Unheil  in  den  Köpfen  der  Landarbeiter  angerichtet 
zu  haben.  Was  an  den  Schwüren  im  Mondschein,  dem  Glauben 
an  die  Rückkehr  Kossuths  und  des  verstorbenen  Kronprinzen 
Rudolf  und  anderen  romantischen  Dingen,  von  denen  die 
ungarische  offiziöse  Presse  berichtete,  wahres  war,  läfst  sich 
allerdings  nicht  feststellen,  allein  eine  sehr  klare  Vorstellung 
scheinen  die  Anhänger  der  Varkonyischen  Bewegung  von  ihren 
Bestrebungen  nicht  gehabt  zu  haben.  Es  entstanden  die  er- 
wähnten Revolten,  welche  dann  endlich  die  Regierung  zur  Unter- 
drückung der  Varkonyischen  Bewegung  veranlafste.  Die  ehemaligen 
Anhänger  Varkonyis  schlossen  sich  hierauf  — nach  Schmitts  An- 
gaben ;l)  — successive  dessen  religiöser  in  dem  Blatte:  „Ohne  Staat" 
propagierten  Bewegung  an.  Die  Zahl  seiner  Anhänger  vermochte 
aber  Schmitt  selbst  nicht  genau  anzugeben,  da  auch  die  Zahl  der 
Abonnenten  seines  im  übrigen  seither  eingegangenen  Blattes  einen 
Schlufs  auf  dieselbe  nicht  zuliefs.  Die  Hauptzentren  der  Bewegung 

‘)  In  der  „Zeit“  a.  a.  O. 

*}  Vgl.  Engel  mann  a.  a.  O. 

si  In  einem  an  mich  gerichteten  Schreiben  vom  29.  August  1898. 

Archiv  für  %ox.  Ge«et;gebuug  u.  Statistik.  XVII.  24 


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362 


Julius  Hunzel, 


sollen  sich  jedoch  in  der  ungarischen  Tiefebene,  insbesondere  in 
den  kernmagyarischen  Theifsgegenden  . . . besonders  in  den  Kotni- 
taten  Pest , Jäsz-Kun-Szolnok , Bekes , Csongrad , Csanäd , Arad, 
Torontäl,  Bäcs,  Bihar,  Heves  befunden  haben. 

In  Wirklichkeit  scheint  sich  aber  die  Sozialdemokratie  mit  mehr 
Erfolg  um  die  Erbschaft  Varkonyis,  dessen  wenige  Anhänger1)  nunmehr 
unter  der  Führung  des  Obergespans  Grafen  Victor  Thoroczkay  stehen 
sollen,  eifrig  bemüht  zu  haben.  Sie  wird  bei  diesen  Bemühungen  zwar 
durch  die  nach  den  Varkonyischen  Revolten  gegen  sie  in  Anwen- 
dung gebrachten  Mafsnahmen  behindert,  andererseits  jedoch  aller- 
dings unfreiwillig  von  der  Regierung  unterstützt,  indem  diese  die 
bekannteren  Parteimitglieder  aus  der  Hauptstadt  ausgewiesen  und 
in  ihre  Heimatsgemeinden  polizeilich  abgeschoben  hat,  wodurch 
das  Land  mit  geschulten  Agitatoren,  die  in  ihren  heimatlichen 
Gegenden  aufs  eifrigste  Propaganda  treiben , überschwemmt  wird. 
Diese  Agitatoren  organisieren  dann  als  Vertrauensmänner  der 
Partei  in  den  verschiedenen  Gegenden , da  die  Vereinsbildungcn 
nicht  gestattet  werden,  „geheime  Tischgesellschaften",  in  denen 
sozialistische  Prel'serzeugnisse  verbreitet  werden  und  denen  gegenüber 
die  Regierung  völlig  machtlos  ist.  — Leichenbegräbnis,  Taufe, 
Hochzeit,  Verlobung,  Schweineschlachten,  mit  einem  Worte,  jede 
Gelegenheit  wird  benuzt  das  Parteiprinzip  zu  verbreiten,  so  dafs 
nach  dem  1898er  Parteiberichte  die  sozialdemokratische  Partei  600 
Gemeinden  zu  den  ihren  zählte  und  das  Parteiblatt  in  diesen  Ge- 
meinden in  mehr  als  3000  Exemplaren  nur  an  Feldarbeiter  und 
Kleinbauern  wanderte.  Der  Feldarbeitcrkongrefs  im  J.  1900  war 
allerdings  nur  von  46  Delegierten  aus  34  Orten  besucht,  doch  waren 
aus  mehr  als  IOO  Orten  Begrüfsungsschreiben  eingegangen,  in  denen 
mitgeteilt  wurde,  dafs  der  Kongrcfs  lediglich  aus  Mangel  an  Mitteln 
nicht  beschickt  werden  könne.  — 

Auch  nach  einer  Rede  des  Abgeordneten  Rohonczy  hat  sich 
der  Sozialismus  vom  Bekeser  Komitate  aus  dem  I aufe  der  Flüsse 
nachgehend  schon  nördlich  bis  in  das  Szabolczer  und  Unger  und 
südwärts  in  das  Csanader,  Csongrader  und  Torontaler  Komitat  ver- 
breitet, von  wo  er  in  die  Bacska,  das  Baranycr  Komitat  und  dann 
weiter  nördlich  bis  Paks  ging.  — In  diesen  Gegenden  gehören 


*)  Auf  dem  im  Frühjahr  1900  zu  Szeghalom  abgehaUencn  Kongresse  der  .Un- 
abhängigen“ waren  nach  der  sozialdem.  „Volksstimmc“  17  Gemeinden  vertreten. 


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Dir  Lage  der  ungarischen  Landarbeiter. 


363 


nicht  nur  die  Feldarbeiter  ’)  zu  den  Anhängern  der  sozialistischen 
Bewegung,  sondern  auch  die  Kleingutsbesitzer  neigen  — wie  Graf 
Kärolyi  erklärte,  immermehr  dem  Sozialismus  zu,  was  auch  sehr  na- 
türlich ist , da  sie,  wie  Tomic  *)  berichtet,  wohl  Haus  und  Hof  be- 
sitzen, aber  derart  verschuldet  sind,  dals  sie  auch  nicht  einen  ein- 
zigen Dachziegel  ihr  eigen  nennen  können. 

Als  Sozialdemokraten  kann  man  sie  deswegen  freilich  noch 
nicht  bezeichnen.  Denn  die  Wünsche  all’  dieser  „Sozialisten“  gehen 
oft  weit  auseinander,  über  die  Mittel  zur  Erreichung  ihrer  Ziele 
sind  sic  sich  selten  klar  und  nur  in  einem  sind  sie  eigentlich  einig: 
in  der  Unzufriedenheit  mit  den  bestehenden  Verhältnissen.  Die 
wirklichen  organisierten  Sozialdemokraten  unter  ihnen  sehen  aller- 
dings als  das  Endziel  ihrer  Wünsche  die  Nationalisierung  des  Grund 
und  Bodens  an.  Viele  aber,  vielleicht  die  Meisten,  träumen  noch 
von  einer  Aufteilung  der  Felder.  „Diese  stehen  — wie  Memmingcr“) 
bemerkt  — noch  auf  dem  alten  naturrechtlichen  Standpunkte  . . . 
Sie  haben  noch  das  lebendige  Bewufstsein,  dafs  das  Volk  ohne  den 
nationalen  Boden  gar  nicht  zu  denken  und  dafs  dieser  Boden, 
wenn  er  zum  Schaden  des  Volkes  ausgebeutet  werde,  wieder  für 
das  Volk  zu  reklamieren  sei  . . . Darum  halten  sie  es  auch  nur 
für  einen  Akt  der  Gerechtigkeit,  wenn  sie  die  Rückgabe  des  natio- 
nalen Bodens  an  seine  Bebauer  m.  a.  W.  eine  Aufteilung  der  Felder 
verlangen.  Zu  dieser  Theorie,  welche  thatsächlich  aus  der  magy- 
arischen und  deutschen  Rcchtsgeschichte  begründet  werden  kann, 
bekennen  sich  auch  eine  Menge  Bauern , die  nicht  zur  Klasse  der 
Taglöhner  degradiert  worden  sind.  Diese  wollen  sich  beizeiten 
vor  dem  Schicksale  der  Landarbeiter  bewahren  und  weder  ihre 
Familien,  noch  ihren  Stand  untergehen  lassen.“  Bezüglich  der  Detail- 
forderungen gehen  die  Ansichten  natürlich  noch  mehr  auseinander. 

1 ) Natürlich  haben  sich  auch  die  Feldarbeiterinnen  stellenweise  bereits  der  Be- 
rgung angeschlossen  und  waren  nach  der  Soc.  Praxis  vom  6.  Januar  1898  auch 
einige  derselben  bereits  als  Delegierte  am  Pester  Parteikongresse  anwesend. 

*)  A.  a.  O.  S.  6.  Dortselbsl  wird  auch  bemerkt,  dafs  gerade  diese  Bauern  als 
die  Elendsten  der  Armen  erklärt  werden  müssen.  „Wenn  sie  nach  der  Ernte  die 
fälligen  Schulden  und  Steuerlasten  beglichen  haben,  erübrigt  ihnen  gewöhnlich  nichts, 
nicht  einmal  soviel  als  sich  der  Taglöhner  für  den  Winter  zu  erübrigen  vermag. 
Wenn  das  Frühjahr  heranbricht,  bearbeiten  sie  ihr  Feld,  dessen  Frucht  abermals  die 
Schuldlastcn  verschlingen,  hungernd.“ 

*)  Vgl.  die  agrarischen  Unruhen  in  Ungarn  von  Anton  Memminger  in  der 
Monatsschrift  für  christliche  Sozialreform,  Jahrg.  1898,  3.  Heft. 

24* 


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3^4 


Julius  Hunzel, 


Der  zu  Weihnachten  1897  in  Budapest  abgehaltene  Feldarbeiter- 
kongrefs  z.  B.  forderte  den  zvvölfstiindigen  Arbeitstag  bei  Erstrebung 
des  Achtstundentages  und  Entlohnung  der  Ueberzeit  nach  Stunden, 
Abschaffung  der  Akkordarbeit  und  aller  Art  unbezahlter  Arbeit 
und  statt  dessen  Einführung  des  Taglohnes,  wobei  die  Barzahlung 
als  Grundsatz  aufgestellt  wurde.  Die  Verträge,  namentlich  über 
gröfsere  Arbeiten,  sollten  nur  durch  Vermittlung  des  Zentralsckre- 
tariates  abgeschlossen  werden,  die  Frauen  gleichen  Lohn  wie  die 
Männer  erhalten  und  Kinder  unter  14  Jahren  zur  Arbeit  nicht  zu- 
gelassen werden.  Aufscrdem  wurde  die  Schaffung  von  Arbciter- 
schutzgcsetzen  (die  Ausdehnung  des  Krankenversicherungsgesetzes 
auf  die  landwirtschaftlichen  Arbeiter,  die  Siechen-  und  Invaliden- 
unterstützung und  die  Ernennung  von  durch  Arbeiter  gewählte 
Inspektoren  für  die  Landwirtschaft)  und  endlich  das  allgemeine 
gleiche  geheime  und  direkte  Wahlrecht,  vollständige  Vereins-,  Ver- 
sammlungs-  und  Verbindungsfreiheit,  Aufhebung  der  die  Schubie- 
rungen  und  Ausweisungen  regelnden  Bestimmungen  und  Freiheit 
der  Kolportage  gefordert.  In  den  Szabolczer  Gemeinden  wieder 
wurde  Ueberlassung  der  Hälfte  (statt  des  Drittels)  des  Ertrages  an 
die  Arbeiter,  Abschaffung  des  „Wuchers“,  d.  h.  der  Abgaben  an 
Eiern , Hühnern  u.  dgl.,  Verbot  der  Aufnahme  von  Arbeitern  aus 
fremden  Gegenden,  Rückgabe  der  früheren  gemeinsamen  Getreide- 
stapelplätze, Einhaltung  der  Sonn-  und  Feiertagsruhe,  Einführung 
der  progressiven  Steuer  und  Abschaffung  der  Wasserschutzge- 
büren  und  einer  dort  üblichen  Art  von  Robot  gefordert.  Auf  dem 
in  Temcswar  im  Januar  1898  abgehaltenen  Feldarbeiterkongresse 
wurde  überdies  das  Recht  des  freien  Tabakbaues  und  Tabakhandels 
und  die  Abschaffung  des  Tabakmonopoles  und  auf  dem  im  Oktober 
I898  abgehaltencn  Komitatskongresse  in  Szegedin  die  gesetzliche 
Fcstseilung  eines  Lohnminimums  gefordert. 

Die  Erreichung  ihrer  Wünsche  aber  erhoffen  die  Sozialdemo- 
kraten von  einem  Erntestrikc,  andere  Parteien  wieder  glauben,  durch 
gewaltsames  Vorgehen  etwas  erreichen  zu  können.  Einstweilen 
schlugen  jedoch  beide  Mittel  fehl.  Die  „Revolten"  wurden  von  der 
Regierung  blutig  unterdrückt1)  und  diese  Gelegenheit,  wie  bereits 
erwähnt,  gleichzeitig  dazu  benützt,  um  Malsnahmen  zu  treffen,  durch 
welche  auch  ein  Erntestrikc  unmöglich  gemacht  wurde. 

')  Wie  sehr  man  dabei  trachtete  das  Volk  zu  beruhigen,  gebt  aus  einer  Mel- 
dung des  Budapesti  Xaplü  hervor,  nach  welcher  bei  einem  Kleinbauern  15 — 20  Sol- 
daten eimpiartiert  worden  waren,  die  demselben  seine  einzige  Kuh  niederstachen. 


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Die  Lage  der  ungarischen  Landarbeiter. 


365 


Zunächst  wurde  eine  Zirkularverordnung  an  sämtliche  Muni- 
zipien  erlassen,  in  welcher  diesen  in  Erinnerung  gebracht  wurde, 
dafs  auf  Grund  älterer  Regierungsverordnungen  und  der  infolge- 
dessen ausgebildeten  Praxis  die  Abhaltung  von  Volksversammlungen 
nur  dann  zu  gestatten  sei,  wenn  die  Anmeldung  24  Stunden  vorher 
bei  der  kompetenten  Behörde  erfolgt  ist  und  von  der  Behörde  die 
Erlaubnis  zur  Abhaltung  erteilt  wurde.  Um  diesen  Verordnungen 
Nachdruck  zu  verschaffen,  wurde  aufserdem  verfugt,  dafs  die  Ver- 
anstaltung von  Volksversammlungen  ohne  Beobachtung  der  Vor- 
schriften und  die  Teilnahme  an  denselben,  sowie  die  Fortsetzung 
von  Volksversammlungen,  welche  durch  die  Behörde  aufgelöst 
wurde,  als  Uebertretung  qualifiziert  und  mit  14  Tagen  Arrest  und 
100  Fl.  Geldstrafe  geahndet  wird.  *)  — Und  nun  wurden  einfach 
alle  Versammlungen  oft  mit  den  sonderbarsten  Begründungen,  oft 
auch  ohne  Angabe  von  Gründen,  verboten.  So  verbot  z.  B.  der 
Stadthauptmann  von  Czegled  eine  auf  den  12.  Juni  einberufene 
Versammlung  durch  folgenden  Bescheid:  „Die  Versammlung 

wird  nicht  zur  Kenntnis  genommen,  weil  die  bereits  eingetretene 
grol'se  Arbeitsgelegenheit  nicht  geeignet  erscheint,  dafs  die  Ar- 
beiter sich  mit  für  sie  von  keinerlei  Vorteil  bietenden  Fragen 
befassen  und  in  öffentlichen  Versammlungen  in  Aufregung  gebracht 
werden.“ 

Nachdem  dann  so  das  Versammlungsrecht  neu  „geregelt"  worden 
war,  wurde  unter  dem  26.  Februar  ein  zweiter  Erlafs  an  die  Muni- 
zipien  gerichtet,  in  welchem  in  Erinnerung  gebracht  wurde,  dafs  im 
Sinne  des  Ministerialerlasses  vom  2.  Mai  1875  jeder  Verein  vor 
seiner  Konstituierung  verpflichtet  sei,  den  Entwurf  seiner  Statuten 
der  königlichen  Regierung  zu  unterbreiten.  Wenn  hinsichtlich  dieses 
solcherweise  unterbreiteten  Statutenentwurfes  innerhalb  40  Tagen 
ein  Bescheid  nicht  erflossen  ist  oder  eine  Erinnerung  nicht  gemacht 
wurde,  könne  der  Verein  seine  Thätigkeit  zeitweilig  allerdings  be- 
ginnen, sich  aber  endgiltig  nur  dann  konstituieren,  wenn  seine  Sta- 
tuten mit  dem  Visum  der  königlichen  Regierung  versehen  würden. 
Um  dieser  Verordnung  Nachdruck  zu  verschaffen,  wurde  überdies 
die  Konstituierung  beziehungsweise  Bildung  eines  Vereines  entgegen 
den  erwähnten  Regeln,  desgleichen  die  Teilnahme  an  der  Leitung, 
an  den  Beratungen  oder  sonstigen  Punktionen  eines  aufgelösten  oder 
suspendierten  Vereines  als  Uebertretung  qualifiziert  und  mit  Arrest 


*)  Citiert  nach  der  Neuen  Freien  Presse. 


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366 


Julius  Hunzel, 


bis  zu  15  Tagen  und  einer  Geldbufse  bis  zu  100  Fl.  bestraft.1) 
Und  nun  wurde  — wieder  aus  den  sonderbarsten  Gründen  — jede 
Vereinsbildung  unmöglich  gemacht.  — So  wurde  die  Gründung 
mehrerer  Feldarbeiter  - Bildungsvereine  im  Bacser  und  Torontaler 
Komitate  nicht  genehmigt  „weil  es  auf  dem  Gebiet  der  Städte 
genug  Vereine  gäbe,  welche  ganz  analoge  Zwecke  verfolgen,  weshalb 
jene,  welche  den  Verein  zu  gründen  wünschen,  auch  im  Rahmen 
der  bereits  bestehenden  Vereine  ihren  Wunsch  nach  weiterer  Selbst- 
bildung befriedigen  können.  Auch  würden  durch  die  Bildung  neuer 
Vereine  die  Kräfte  der  bereits  bestehenden  geschwächt  ’)  Von  den 
bestehenden  Vereinen  wurden  28  aufgelöst,  davon  2 in  Czcgled  mit 
3742  Mitgliedern.  Im  Szatmärer  Komitate  berief  der  Richter  die 
Führer  eines  aus  300  Mitgliedern  bestehenden  Vereines  zu  sich  und 
erklärte  den  Verein  als  aufgelöst.  Als  weitere  Versammlungen  ab- 
gehalten wurden,  drangen  Gendarmen  in  das  Lokal  ein  und  einer 
der  Teilnehmer  wurde  getötet.2) 

So  war  denn  auch  das  Vereinsrecht  neu  geregelt  und  nun  „mufste“, 
nachdem  „das  Parlament  ohne  Unterschied  der  Parteien  in  überwiegen- 
der Majorität  der  Verschärfung  des  Prefsgesetzes  sehr  geneigt 
war",  nur  noch  eine  Verordnung  erlassen  werden,  nach  der  sofort  nach 
dem  Erscheinen  des  Blattes  der  Staatsanwaltschaft  ein  Exemplar  zur 
Durchsicht  zu  übermitteln  ist.  Da  aber  trotzdem  angeblich  aufreizende 
Druckschriften  in  Warenmustern  oder  anderen  Zeitungen  versteckt, 
entweder  unter  Kreuzband  oder  in  verschlossenen  Packeten  zur  Post 
gegeben  wurden,  erhielten  durch  einen  Erlafs  des  Justizministers 
vom  6.  März  die  Staatsanwaltschaften  die  Weisung,  eventuell  die 
Postämter  zu  ersuchen,  durch  eine  gründliche  Untersuchung  der 
unter  Kreuzband  verschickten  Sendungen  nach  den  bestehenden  Ver- 
ordnungen vorzugehen,  inbezug  auf  die  geschlossenen  Postpacketc 
aber  die  nach  Mafsgabe  der  äufseren  Umstände  und  der  lokalen 
Verhältnisse  geschöpften  Daten  hinsichtlich  der  verbotenen  Natur 
dieser  Sendungen  unverzüglich  den  Herren  Staatsanwälten  zur 
Kenntnis  zu  bringen.  Und  nun  wurden  die  Arbeiterblätter  fast 
rcgelmäfsig,  die  „Volksstimme"  vom  25.  Februar  sogar  zweimal  kon- 


*1  Citicrt  nach  der  Neuen  Freien  Presse. 

*)  Cilierl  nach  dem  P.  L.  Seit  Herr  von  Szell  Ministerpräsident  in  Ungarn 
ist  wird  ein  derartiges  gewaltsames  Vorgehen  nach  Möglichkeit  vermieden.  Das 
System  ist  jedoch  dasselbe  geblieben  und  stehen  auch  all’  die  angeführten  Verord- 
nungen noch  in  Kraft. 


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Die  Lage  der  ungarischen  Landarbeiter. 


367 


fisziert,  ja  die  in  Städten,  in  denen  sich  kein  Untersuchungsrichter 
befand,  erscheinenden  Blätter  wurden  auf  telegraphischem  Wege  kon- 
fisziert, ehe  der  Richter  den  betreffenden  Artikel  noch  gelesen  hatte. 
Das  magyarische  Feldarbeiterblatt  „Weltfreiheit"  mufste  infolge  der 
Verfolgungen  auch  das  Erscheinen  einstellen. 

Nun  galt  es  aber  noch  die  persönliche  Freiheit  der  Arbeiter  einzu- 
schränken. Zunächst  wurden  bei  den  bekannten  sozialdemokratischen 
Führern  Hausdurchsuchungen  vorgenommen,  welche  den  Abg. 
Boda  veranlafsten,  an  den  Minister  des  Innern  folgende  Interpellation  zu 
richten:  Besitzt  der  Herr  Minister  Kenntnis  davon,  dafs  die  haupt- 
städtische Staatspolizei  *)  in  den  Wohnungen  der  Führer  der  sozial- 
demokratischen Bewegung  Hausdurchsuchungen  abgehalten  hat  und  die 
dort  Vorgefundenen  Geldbeträge  ohne  Rücksicht  auf  deren  Ursprung 
einfach  konfiszierte ; besitzt  der  Herr  Minister  ferner  Kenntnis  davon 
dafs  Angestellte  der  hauptstädtischen  Polizei  unter  dem  Vorwände 
der  Uebergabe  einer  Vorladung  in  der  Wohnung  einer  Dame  er- 
schienen und  dieselbe  in  ihrer  Gegenwart  nötigten,  das  Bett  zu  ver- 
lassen und  ihnen  zu  folgen;  hat  der  Herr  Minister  Kenntnis  davon, 
dafs  infolge  dieses  Vorfalles  der  Konsul  von  Nordamerika  Ungarn 
als  einen  Polizeistaat  bezeichnete  und  sich  zu  einer  Intervention  ver- 
anlafst  fand,  und  wenn  er  von  diesen  Vorfällen  Kenntnis  besitzt,  hat 
er  die  Absicht  ....  die  . . Handlungen  zu  ahnden  ?"  — Ja  man 
trieb  es  so  arg,  dafs  sogar  die  „Neue  Freie  Presse“  meinte,  dafs  mit 
der  persönlichen  Freiheit  umgesprungen  werde,  als  befände  man 
sich  in  einem  Polizeistaate.  — Die  bei  den  Hausdurchsuchungen 
neben  Privatbriefen,  Schriften  u.  dgl.  konfiszierten  Gelder  wurden 
vielfach  mit  der  Begründung,  sie  seien  durch  eine  verbotene  Samm- 
lung in  den  Besitz  des  Betreffenden  gekommen,  von  der  Polizei 
zurückbehalten,  ohne  dafs  auch  nur  der  mindeste  Beweis  für  die 
Vornahme  einer  solchen  Sammlung  geliefert  worden  wäre,  ja  Varkonyi 
wurde  sogar  noch  zu  150  Fl.  Strafe  wegen  dieser  Sammlung  ver- 
urteilt, nachdem  die  Abonnementslisten,  die  den  dokumentarischen 
Beweis  der  groben  Lügen  bezüglich  der  „Sammlungen"  darstellten 
vernichtet  worden  waren. s)  — Nach  Vornahme  dieser  Hausdurch- 
suchungen, welche  in  5 1 Städten  bei  mehreren  Hundert  Arbeitern 

')  In  der  Provinz  ging  es  natürlich  noch  viel  ärger  zu.  Bekannte  Sozialisten 
erhielten  fast  täglich  Besuche  von  der  Polizei,  so  dafs  einige  von  ihren  Familien 
wegziehen  mufsten,  weil  auch  diese  sonst  Tag  und  Nacht  gestört  worden  wären. 

*)  Vgl.  die  „Neue  Revue"  vom  I.  Mai  1898. 


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368 


Julius  ßunzel, 


vorgenommen  wurden , ging  man  dann  an  das  zwangsweise 
Photographieren  der  oft  gänzlich  unbescholtenen  Sozialdemo- 
kraten für  das  Verbrecheralbum.  Auf  die  Frage  des  Verteidigers 
eines  der  zu  Photographierenden,  auf  Grund  welchen  Gesetzes  die 
zwangsweise  Aufnahme  stattfinde,  antwortete  der  Pester  Oberstadt- 
hauptmann, dafs  die  photographische  Aufnahme  der  Sozialisten  sich 
als  zweckmäfsig  erwiesen  habe  und  deshalb  vorgenommen  werde.  ’)  — 
So  wurden  77  Sozialisten  photographiert  und  dann  das  Album  in 
IOO  Exemplaren  verbreitet.  Schliefslich  kamen  die  Massenaus- 
weisungen, welche  mit  der  gröfsten  Rücksichtslosigkeit  durch- 
geführt wurden,  an  die  Reihe.  Im  ganzen  wurden  216  Arbeiter 
aus  32  Städten  und  Gemeinden  ausgewiesen  und  abgeschoben.  Vor 
und  während  der  Ernte  war  die  Freizügigkeit  überhaupt  so  gut 
wie  aufgehoben.  Jedem,  der  durch  die  „vom  Sozialismus  ver- 
seuchten Gegenden“  fuhr,  fiel  es  auf,  dafs  auf  jedem  Bahnhofe  zwei 
Gendarmen  postiert  waren  und  sich  beim  Billettschalter  ein  Polizist 
befand,  der  sich  sehr  lebhaft  für  das  Reiseziel  der  einzelnen  Personen 
interessierte.  Man  liefs  Bauern  selbst  in  benachbarte  Gegenden 
nicht  reisen  und  in  der  Hauptstadt  wurden  60  Feldarbeiter  nur  aus 
dem  Grunde  verhaftet,  weil  sie  (im  Inlande!)  ohne  Pafs  waren.  In 
Szegedin  wurde  sogar  ein  Detektiv  mehrere  Stunden  als  verdächtig 
in  Haft  behalten. 8)  Natürlich  mufste  unter  solchen  Umständen  der 
Stand  der  Gendarmerie  bedeutend  verstärkt  werden  und  im  1898  er 
Budget  waren  auch  schon  über  7 Millionen  für  „Ausgaben  für  die 
öffentliche  Sicherheit"  (davon  mehr  als  5 Millionen  als  „Erfordernis 
für  die  Gendarmerie  und  über  ls/4  Millionen  als  Erfordernis  für  die 
hauptstädtische  Polizei3)  veranschlagt.  Im  J.  1899  wurden  dann 
noch  400  neue  Gendarmen  und  200  neue  Polizisten  eingestellt.  — 
Nach  Möglichkeit  wurden  aber  die  Führer  der  Bewegung  durch  Ver- 
urteilungen wegen  Prefsvergehen,  aufreizender  Reden,  detnon- 

')  Citiert  nach  der  „Neuen  Freien  Presse". 

*)  Citiert  nach  dem  Pester  Lloyd. 

5)  Wie  aber  trotzdem  die  SicherheitSzuständc  in  der  Hauptstadt  beschallen 
waren,  geht  aus  einem  Artikel  des  P.  L.  hervor,  in  welchem  gesagt  wird : „Die  Ro- 
mantik der  Pufsta  feiert  ihre  Auferstehung.  Nicht  etwa  in  der  Tiefebene  Ungarns. . . 
auch  im  ßakonyer  Walde  nicht . . . , die  Pufsten-Romantik  hat  einen  Domizilwechsel 
vorgenommen  und  unsere  gute  Hauptstadt  Budapest  zum  Domizil  gemacht."  Die 
Rubrik  „Unsere  Messerhelden",  unter  der  von  räuberischen  Ueberfallen  in  den  Strafsen 
Pest*  berichtet  wurde,  vermifste  man  denn  auch  selten  in  den  Spalten  der  haupt- 
städtischen Zeitungen. 


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Die  Lage  der  ungarischen  I Handarbeiter. 


369 

strati ven  Lesens  einer  Zeitung,  Tragen  eines  breiten  Hutes  u.  dgl.  für 
längere  oder  kürzere  Zeit  unschädlich  gemacht.  Nach  dem  „Berichte  der 
sozialdemokratischen  Parteileitung  über  das  Wirken  der  Partei  vom 
13.  Juni  1897  bis  31.  Dezember  1898  wurden  in  diesem  Zeiträume  gegen 
die  Sozialisten  Freiheitsstrafen  in  der  Dauer  von  171  Jahren  und 
80  Tagen  und  Geldstrafen  in  der  Höhe  von  16752  Fl.  verhängt  und 
aufserdem  259  Arbeiter  verhaftet  und  längere  Zeit  in  Untersuchung 
gehalten. 

Alle  diese  Mafsnahmen  scheinen  aber  der  Regierung  zur  Ver- 
hinderung der  Organisation  der  F'eldarbeiter  und  eines  etwaigen 
Erntestrikes  noch  nicht  genügt  zu  haben.  Um  nämlich,  wie  es  in 
dem  Motivenberichte  heilst,  „die  ungestörte  Abwicklung  der  land- 
wirtschaftlichen Arbeiten  zu  sichern“,  wurde  der  II.  G.-A.  vom 
Jahre  1898  „über  die  Regelung  d^r  Rechtsverhältnisse  zwischen 
den  Arbeitgebern  und  den  landwirtschaftlichen  Arbeitern“  geschaffen, 
der  im  übrigen  nichts  anderes  ist  als  eine  zweite  vermehrte  und 
verschlechterte  Auflage  des  V.  Abschnittes  des  XIII.  G.-Art.  vom 
Jahre  1876.1)  — Schon  in  diesem  vor  22  Jahren  abgefafsten  Gesetze 
fand  sich  die  Vorschrift,  dal’s  Arbeiter,  welche  Feldarbeiten  ver- 
tragsmäfsig,  d.  h.  nicht  in  der  Eigenschaft  als  Dienstboten  über- 
nehmen wollen,  mit  einer  Legitimationskarte  oder  einem  Gemeindezeug- 
nisse versehen  sein  müssen  und  dafs  der  betreffende  Vertrag  schrift- 
lich abgeschlossen  und  vom  Richter  vidimiert  sein  mufs. s)  Auch 
findet  sich  in  dem  alten  Gesetze  bereits  die  Bestimmung,  dafs  Ar- 
beiter, welche  die  Ausführung  der  übernommenen  Arbeit  verweigern, 
hiezu  auch  durch  Anwendung  von  Zwangsmafsregeln  zu  verhalten 
seien  und  dafs  zu  gemeinsamer  Arbeit  aufgenommene  Arbeiter  für  die 
Vertragserfüllung  zu  ungeteilter  Hand  haften.  Diese  juristischen  Kurio- 
sitäten der  „Ergänzung  des  Obligationenrechtes  durch  Gendarmen“ 
und  der  Haftung  für  eine  fremde  persönliche  Dienstleistung  bilden 
also  keine  neue  Errungenschaft.  Dagegen  haben  jene  Verfügungen 
den  Reiz  der  Neuheit  für  sich,  welche  bestimmen,  dafs  der  Arbeiter, 
der  auf  dem  Arbeitsplätze  nicht  freiwillig  erscheint  oder  die  Arbeit 

*)  Aehnlichc  Gesetze  wurden  bald  darauf  auch  gegen  die  bei  Flufsregulierungen, 
Strafsen-  und  Eisenbahnbauten  beschäftigten  Erdarbeiter,  gegen  die  Tabak-  und  Forst- 
arbeiter sowie  gegen  die  landwirtschaftlichen  Subunternehmer  und  Hilfsarbeiter  er- 
lassen. 

*)  Jetzt  mufs  der  Gemeinuenotär  den  Vertrag  auch  noch  den  Parteien  verlesen 
und  dieselben  auch  auf  ihre  Rechte  und  Pflichten  sowie  auf  die  gesetzlichen  Folgen 
des  Vertragsbruches  aufmerksam  machen. 


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37° 


Julius  Bunzcl, 


nicht  beginnt,  nicht  ununterbrochen  fortsetzt,  dieselbe  absichtlich 
schlecht  ausfuhrt  oder  auf  dem  Arbeitsplätze  entgegen  dem  Ver- 
trage ohne  Arbeitsrequisiten  oder  Hilfsarbeiter  erscheint,  eine  Ueber- 
tretung  begeht  und  mit  Haft  bis  zu  60  Tagen  bestraft  wird.  Auch 
die  Bestimmungen,  nach  welchen  jene,  die  irgendwie  (z.  B.  durch 
Ueberlassung  eines  Lokales  zu  Versammlungen),  zum  Zustande- 
kommen eines  Strikes  beitragen  mit  Haft  bis  zu  60  Tagen  und 
einer  innerhalb  48  Stunden  zu  zahlenden  Geldstrafe  bis  zu  400  Kronen 
bestraft  werden,  waren  im  alten  Gesetze  noch  nicht  enthalten  und 
ist  so  immerhin  die  Sicherheit  „der  ungestörten  Abwicklung  der 
landwirtschaftlichen  Arbeiten“  noch  wesentlich  erhöht  wurden.  — 
Dagegen  wurden  allerdings  auch  zwei  der  schreiendsten  Mifsstände 
— auf  dem  Papiere  wenigstens  — beseitigt.  §32  des  neuen  Ge- 
setzes verbietet,  den  Arbeitslohn  oder  das  Verköstigungsdeputat  durch 
geistige  Getränke  oder  Waren  abzulösen,  mit  irgend  einer  Anwei- 
sung zu  bezahlen,  die  Arbeiter  zu  verpflichten,  dafs  sie  ihre  Nahrungs-, 
Genufs-,  Kleidungsartikel,  ihre  Requisiten  bei  dem  Arbeitgeber  oder 
bei  einem  durch  diesen  bezeichneten  Individuum  kaufen,  von  dem 
den  Arbeitern  gegebenen  Vorschufs  Zinsen  einzuheben,  über  den 
Wert  des  Vorschusses  einen  Wechsel  zu  nehmen,  die  Versicherungs- 
prämie nach  der  Fassung  vom  Lohne  der  Arbeiter  abzuziehen,  und 
§ 10  bestimmt,  dafs  bei  Feststellung  des  Arbeitslohnes  in  einer  be- 
stimmten Quantität  der  anzuhoffenden  Ernte,  in  dem  Vertrage  der 
Arbeitslohn  alternativ  auch  in  einer  nach  Gewicht  zu  bestimmenden 
Menge  des  Produktes  oder  aber  in  barem  Geldc  festgestellt  werde. 
Ebenso  mul's  der  Geldwert  einer  etwa  vereinbarten  Verköstigung 
angegeben  werden.  — Allein  trotzdem  wurde  das  neue  Gesetz  in 
den  volkswirtschaftlichen  Zeitschriften  mit  einer  seltenen  Einmütig- 
keit verurteilt.  — So  schrieb  Krcjcsi  in  diesem  Archiv:1)  „In 
der  That  genügt  eine  flüchtige  Durchsicht  der  Bestimmungen  des 
Entwurfes,  um  die  Ueberzeugung  zu  gewinnen,  dals  er  sehr  weit 
davon  entfernt  ist,  auch  nur  jenem  geringen  Mafse  von  sozialrefor- 
matorischem  Inhalt  zu  entsprechen,  das  in  anderen  Staaten  die  Re- 
gierungsvorlagen soziapolitischer  Natur  enthalten.“  Auch  I.ocw  schrieb 
in  die  „Soziale  Praxis“:*)  „Durch  das  Gesetz  weht  nicht  der  leiseste 

')  Vgl.  Dr.  E.  R.  J.  Krcjcsi,  „Gesetzentwurf  über  die  Regelung  der  Rechts- 
verhältnisse zwischen  den  Arbeitgebern  und  den  landwirtschaftlichen  Arbeitern'*, 
im  Archiv  für  soz.  Gesetzgebung  u.  Stat.  1897. 

*)  Vgl.  die  Regelung  der  landwirtschaftlichen  Arbeitsverhältnisse  in  Ungarn 
von  Pr.  Loew  in  der  Sozialen  Praxis  vom  23.  Dezember  1897,  Sp.  298. 


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Die  Lage  der  ungarischen  Landarbeiter. 


371 


Hauch  moderner  Sozialpolitik,  es  ist  nicht  vielmehr  als  eine  reine 
Polizeiverordnung,  die  nicht  mit  Unrecht  ein  „Knebelgesetz“  ge- 
nannt wurde.“  — Und  Krassei  schrieb  in  der  „Monatsschrift  fiir 
christliche  Sozialreform" : ')  Niemand  wird  sich  des  Gedankens  er- 
wehren können,  dafs  dieses  Gesetz  zu  den  barbarischesten  gehört,  die 
je  ein  menschliches  Gehirn  zur  Unterdrückung  von  Mitmenschen 
ersonnen  hat.  Mit  wahrhaft  asiatischer  Brutalität  tritt  der  Gesetz- 
geber als  Polizeimann  auf.  Ein  solches  Gesetz  kann  nur  Hafs  und 
Wut  säen.“  -) 

Aber  auch  mit  dem  Vollzüge  dieses  Gesetzes  waren  die  Mafs- 
nahmen  der  ungarischen  Regierung  noch  nicht  erschöpft.  Im  § 77 
hatte  sich  nämlich  der  Ackerbauminister  ermächtigen  lassen,  das 
landwirtschaftliche  Arbeitervermittlungswesen  durch  eine 
Verordnung  zu  regeln.  Wie  die  Agrarier  sich  diese  Regelung  des 
Arbeitervermittlungswescns  dachten , ging  aber  aus  einer  Rede 
des  Grafen  Karolyi  hervor,  in  welcher  dieser  sagte:  „Die  Sanierung 
der  Eage  läfst  sich  nicht  von  einzelnen  Gesetzen,  sondern  blofs  von 
der  Hebung  der  Konkurrenz  erwarten.  Wenn  die  Arbeiter  im  Al- 
föld  nicht  arbeiten  wollen,  möge  man  einfach  aus  anderen  Landes- 
gegenden oder,  wenn  es  sein  mufs,  selbst  aus  dem  Auslande  (11) 
Arbeiter  herbeischaffen.  Der  Regierung  obliegt  blofs  die  Pflicht, 
dafür  zu  sorgen,  dafs  diese  Arbeiter  ruhig  arbeiten  können.“  — 
Der  Ackerbauininister  erklärte  also  zunächst,  aus  anderen  Landes- 
gegenden Arbeiter  herbeischaffen  und  eine  slovakische  Arbeiter- 
reserve in  Mezöhegyes  für  das  grofse  Alföld  (die  Tiefebene),  eine 
zweite  in  Kisber  und  Bäbolna  (für  die  Gegenden  jenseits  der  Donau) 
und  eine  dritte  im  Bercger  Komitatc  zusammenziehen  zu  wollen. 
Aufserdem  gedachte  die  Regierung  auch  die  Sträflinge  in  gröfserem 
Umfange  für  Landarbeiten  zu  verwenden  3)  und  zu  diesem  Zweck  ein 

')  Vgl.  L)r.  F,  W.  Krassei,  Die  Lage  der  ungarischen  Feldarbeiter  und  das 
Fcldarbeitergcsctz  in  der  Monatsschrift  dir  Christi.  Sozialref.  Jahrg.  1898  .S.  203  ff. 

*)  Vgl.  auch : „Ungarisches  Standrecht“  in  der  Zeitschrift  für  Staats-  und  Volks- 
wirtschaft, Jahrg.  1897,  Grimöry,  Der  Ungar.  Gesetzentwurf,  betr.  die  Regelung  der 
Rechtsverhältnisse  zwischen  Arbeitgebern  und  landwirtschaftlichen  Arbeitern  in  der 
Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Sozialpolitik  und  Verwaltung,  VII.  Jahrgang  S.  75  ff. 
und  J.  Hunzel,  „Ein  ungarischer  Feldarbeitergesctzentwurf ' in  den  Jahrbüchern  für 
Nationalökonomie  und  Statistik,  III.  Folge.  XV.  Hand  S.  338  ff. 

*)  Seit  neuester  Zeit  scheinen  auch  Soldaten  zur  Feldarbeit  herangezogen  zu 
werden.  Wenigstens  berichtet  die  sozialdem.  „Volksstimme“  vom  27.  Juni  1901, 
dafs  der  Staat  auf  seinen  Domänen  bei  Felsö-Görzsony  statt  der  bisher  dort  bcschäf- 


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372 


Julius  Hunzel, 


eigenes  Sammelgcfängnis  im  Tiefland  anzulegen.  Diese  Anlegung 
von  Arbeiterreserven  hat  nun  aber  — natürlich  abgesehen  davon, 
dafs  „eine  solche  Verfügung  ebensoviel  Arbeiter  ins  Elend  wirft  als 
aus  der  Ferne  ins  Alföld  geschickt  werden  ')  — auch  ihre  Schatten- 
seiten. Zunächst  ist  sie  sehr  kostspielig,  *)  da  die  Arbeiter  längere 
Zeit  auf  Staatskosten  unterhalten  werden  und  eventuell  bei  der 
Arbeit  dann  gegen  die  Strikenden  geschützt  werden  müssen  und 
dann  haben  „die  armen  schlechtgenährten  Slovaken  nicht  die  gleich- 
starken Nerven  und  Muskeln  wie  ihre  magyarischen  Leidensgenossen, 
welche  von  altershcr  gewohnt  sind,  in  rasender  Eile  die  reife  Ernte 
bei  tropischer  Hitze  innerhalb  zweier  Wochen  bei  endloser  Arbeits- 
zeit einzuheimsen.“  Ueberdies  jammerten  die  Grundbesitzer  in  den 
nördlichen  Komitatcn  darüber,  dafs  durch  solche  Mafsnahmen  in 
ihren  Gegenden  die  Arbeitslöhne  gesteigert  würden.  Allein  trotz- 
dem wurde  mit  grofsen  Kosten  eine  aus  40000  Mann  bestehende 
Arbeiterreserve  in  Mezöhegyes  organisiert,  ohne  allerdings  in  gröfserem 
Mafse  in  Anspruch  genommen  zu  werden.  Aufserdcm  bestand  im 
Ackerbauministerium  als  Arbeitervermittlungsstelle  eine  „Arbeiter- 
abteilung". Bei  dieser  suchten  nach  einer  anfangs  1897  durchgeführten 
Konskription  angeblich  167031  Individuen  Arbeit,  hingegen  wurden 
von  den  Grundbesitzern  und  Pächtern  181 088  Arbeiter  gesucht,  so 
dafs  sich  ein  Defizit  von  14057  Arbeitern  zeigt,  „vielleicht  weil  sich 
die  Institution  bei  den  I^andwirten  mehr  eingebürgert  hat  als  bei 
den  Arbeitern".*)  Dafs  dies  der  Fall  ist,  erscheint  allerdings  keines- 
wegs ausgeschlossen  und  wäre  bei  der  aus  einer  amtlichen  Mit- 
teilung4) hervorgehenden  Tendenz  dieses  „Arbeitsvermittlungsbu- 
reaux"  auch  nur  natürlich.  Diese  Mitteilung  lautet  nämlich:  „Seit 
dem  Inslebentreten  des  neuen  Gesetzes  wurden  bereits  viele  Ernte- 
verträge abgeschlossen  . . . An  manchen  Orten  aber  stellen  die 
Arbeiter  noch  immer  alizuhohe  Forderungen,  demzufolge  aus  den 
Munizipien  der  oberen  Gegenden  bereits  sehr  viele  Arbeiter  in  die 
Komitate  des  Alföld  und  jenseits  der  Donau  gedungen  wurden. 
Der  Ackerbauminister  hält  auch  jene  Arbeiter  in  Evidenz,  die  Ar- 

tigten  Fcldarbeiter  Soldaten  verwendete , welche  nebst  Kost  einen  Tagelohn  von 
6 Kr.  erhielten. 

l)  Aus  der  dt.  Rede  des  Abgeordneten  Makfalvay. 

*J  Für  das  Jahr  1899  wurden  zur  Hintanhaltung  eines  Strikes  1 80000  Fl.  votiert. 

s>  Vgl.  Ungarische  statistische  Mitteilungen,  Neue  Folge,  15.  Band,  S.  103. 

) Citiert  nach  der  Sozialen  Praxis  vom  14.  April  1898. 


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Die  Lage  der  ungarischen  Landarbeiter. 


373 


beiten  auch  in  entfernteren  Gegenden  zu  unternehmen  geneigt  sind, 
und  erteilt  die  Arbeiterabteilung  des  Ministeriums  Arbeitgebern,  die 
aufser  eigenem  Verschulden  mit  den  Arbeitern  des  betreffenden 
Ortes  keine  Vereinbarungen  erzielen  können,  über  solche  fremde 
Arbeiter  auf  Anfrage  in  kurzem  Wege  Aufklärung“.  Selbstredend 
„können"  die  Grundbesitzer  mit  sozialistischen  Arbeitern  nie  zu 
einer  Vereinbarung  gelangen  und  „müssen“  sich  daher  durch  das 
Ministerium  fremde  Arbeiter  beschaffen  lassen,  wodurch  die  hei- 
mischen Arbeiter  oft  gezwungen  werden,  für  30  Kr.  in  Taglohn  zu 
gehen.  — 

Durch  all’  diese  Mittel  gelang  cs  dann  scheinbar  auch  wirklich, 
die  sozialistische  Bewegung  zu  unterdrücken.  Selbst  auf  dem  zu 
Ostern  des  Jahres  1900  abgehaltenen  Parteitage  der  sozialdemo- 
kratischen Feldarbeiter  wurde  von  vielen  Delegierten  zugestanden, 
dals  infolge  des  brutalen  Vorgehens  der  Behörden  — insbesondere 
der  Stuiilrichtcr  — die  Zahl  der  Parteiangehörigen  abnahm  und 
dafs  bis  auf  Weiteres  nicht  einmal  mehr  an  die  Gründung 
eines  neuen  Fachblattes  für  die  Feldarbeiter  gedacht  werden  könne. 
Ob  allerdings  hieran  nicht  auch  die  schlechte  Leitung  der  Partei 
mitschuldig  ist,  mag  dahingestellt  bleiben.  ’)  Die  Thatsache,  dafs  die 
Bewegung  einstweilen  lahmgelegt  wurde,  steht  jedesfalls  fest,  wenn 
auch  die  Kadres  der  grolsen  Feldarbeiterbewegung  — wie  die 
Arbeiterzeitung  meint  — noch  intakt  sein  sollten  und  damit  be- 
gnügt sich  die  Regierung  und  die  herrschende  „liberale"  Partei. 
Dafs  cs  unter  der  Asche  weiter  fortglimmt  und  dafs  es  über  kurz 
oder  lang  wieder  zu  Unruhen  und  Revolten  kommen  wird  und 
mufs,  das  macht  den  leitenden  Kreisen  weiter  keine  Sorge.  Auch 
der  Umstand,  dafs  gerade  in  den  kernmagyarischen  Gegenden  des 
Alföld  die  Bevölkerungszunahme  seit  Hilde  der  achtziger  Jahre 
konstant  sinkt  und  das  ohnehin  dünn  bevölkerte  Land  über- 
dies in  den  letzten  11  Jahren  (1888 — 1899)  weit  über  eine  viertel 
Million  Arbeiter  durch  die  Auswanderung  verloren  hat,l * 3)  stört  die 

l)  Auf  dem  vorletzten  Kongresse  (Ostern  1900)  wurde  übrigens  ein  Feldarbeiter- 
sekretariat  gegründet  und  ein  neunköpfiges  Feldarbeit«  komite  gewählt,  wodurch  die 
Organisation  gekräftigt  werden  sollte.  Trotzdem  mufste  jedoch  dem  nächsten  Partei- 
tage  (Pfingsten  1901)  berichtet  werden,  dafs  die  Arbcits-  und  Existenzbedingungen 
der  landwirtschaftlichen  Arbeiter  immer  düstere  werden  und  dafs  die  Organisation 

nicht  in  dem  gewünschten  Mafse  vorgeschritten  sei. 

*)  Im  Jahre  1900  sind  allein  38888  Personen  ausgewandert,  davon  20169  am* 
Oberungarn. 


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374 


Julius  Bunzcl, 


„Patrioten"  nicht  in  ihrer  Ruhe.  Ist  doch  die  Arbeiterbewegung 
niedergerungen  und  „der  ungestörte  Verlauf  der  Ernte  gesichert“. 


IV.  Die  Mafs nahmen  der  Regierung  zur  Besserung  der 
Lage  der  ungarischen  F eidarbeite r. 

Ganz  nutzlos  scheint  im  übrigen  die  Feldarbeiterbewegung 
nicht  geblieben  zu  sein.  Nachdem  sich  nämlich  die  Annahme:  die 
ganze  Bewegung  sei  nur  ein  Werk  weniger  Hetzer,  denn  doch  nicht 
mehr  halten  liefs,  fing  man  wenigstens  auch  in  Regierungskreisen 
an,  über  die  Ursachen  der  bald  als  wahren  Grund  der  Bewegung 
erkannten  schlechten  Lage  der  I Handarbeiter  nachzudenken.  Schwer 
zu  finden  waren  diese  Ursachen  ja  nicht. 

Schon  die  in  früheren  Jahrhunderten  erfolgte  Gründung  reiner 
Arbeiterkolonieen,  in  denen  landwirtschaftliche  Taglöhner  in  grofser 
Zahl  angesiedelt  wurden,  ohne  dafs  ihnen  Grund  und  Boden  ver- 
liehen worden  wäre,  war  ja  der  Schaffung  besitzlosen  landwirtschaft- 
lichen Proletariats  sehr  günstig  gewesen  und  als  dann  später  die 
feudalistische  Gesellschaft  in  eine  modern-bürgerliche  umgestaltet 
wurde,  expropriierte  man  für  den  Bauer  einen  völlig  ungenügenden 
Anteil,  so  dafs  auch  der  Bauernstand  auf  die  Dauer  sich  nicht  halten 
konnte  und  immer  mehr  und  mehr  der  Proletarisierung  anheim- 
fiel.1)  Dieser  Proletarisierungsprozcfs  wurde  natürlich  nur  be- 
schleunigt durch  die  Veränderung  in  der  landwirtschaftlichen  Pro- 
duktionsweise, den  Uebergang  zur  intensiven  Wirtschaft,  der  sich 
seitdem  vollzogen  hat  und  den  der  Kleinbauer  aus  Mangel  an  Kapital 
nicht  mitmachen  konnte.  Auch  hat  das  Schwinden  der  patriarcha- 
lischen Verhältnisse,  welche  früher  den  Besitzer  mit  dem  Arbeiter 
verbanden,  den  Gegensatz  zwischen  den  begüterten  Grundbesitzern 
und  den  proletarisierten  Arbeitern  und  Kleingrundbesitzern  noch 
schärfer  in  die  Erscheinung  treten  lassen. 

Dazu  kam  nun  noch,  dafs  das  Erträgnis  der  landwirtschaftlichen 
Arbeit  nicht  mehr  so  ergiebig  war  wie  früher.  Denn  der  Grundbesitzer, 
dessen  Einkommen  infolge  der  in  Ungarn  ziemlich  verbreiteten 


')  Vgl.  Dr.  E.  H.  Schmitt  a.  a.  O.  und  ür.  J.  Deutsch,  „Agrarsozialismus 
in  Ungarn“  in  der  „Zeit“  vom  z.  Mai  1896. 

*)  Nach  der  statistischen  Konskription  vom  Jahre  1895  entfielen  von  der  Flüche 
der  Wirtschaften  beim  Zwcrgbesilz  2,38  Pro*.,  beim  Kleingrundbesitx  1,97  Proz., 
beim  Mittelgrundbesitz  19,37  Proz.  and  beim  Grofsgrundbesitz  16,43  Proz.  auf  die 


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I)ic  Lage  der  ungarischen  I-andarbeiter. 


375 


Pachtvvirtschaft  und  der  landwirtschaftlichen  Krise  ein  immer  ge- 
ringeres wurde,  mufste  seine  Ausgaben,  um  mit  der  neu  entstehen- 
den Plutokratie  im  Luxus  konkurrieren  zu  können,  erhöhen  und 
konnte  somit  seinen  Arbeiten  nicht  mehr  die  alten  oder  gar  höhere 
Löhne  bewilligen.  Er  zog  es  daher  vor,  landwirtschaftliche  Ma- 
schinen anzuschaffen,  welche  die  menschliche  Arbeitskraft  vielfach 
entbehrlich  machten.  Dadurch  wurde  einerseits  die  Nachfrage  nach 
Arbeitshänden  vermindert  und  somit  der  Arbeitslohn  immer  tiefer 
herabgedrückt  und  andererseits  konnte  auch  die  landwirtschaftliche 
Arbeit  in  viel  kürzerer  Zeit  bewältigt  werden,  so  dafs  selbst  bei 
gleichbleibenden  oder  steigenden  Löhnen  das  Jahreseinkommen  des 
Taglöhners  ein  immer  geringeres  wurde.  Und  hatten  sich  die  Ar- 
beiter für  einen  Anteil  am  Hrntccrtrag  verdungen,  so  schmälerten 
wieder  die  schlechten  Ernteergebnisse  ihr  Einkommen , welche 
Schmälerung  sich  natürlich  dort  in  verstärktem  Mafse  fühlbar 
machte,  wo  — wie  im  Alfold  — die  Arbeiter  früher  infolge  der 
Stromregulierungsarbeiten  ein  erhöhtes  Jahreseinkommen  bezogen 
hatten  und  wo  jene  die  bisher  — wie  der  Abgeordnete  Rohoncy 
bemerkte  — ein  Einkommen  von  300  Fl.  bezogen,  sich  nun  mit 
einem  Verdienste  von  60  Fl.  begnügen  sollten. 

Dazu  kommt  noch,  dafs  sich  dem  Arbeiter  auch  gar  keine 
Aussicht  bietet,  jemals  in  eine  bessere  Lage  zu  gelangen.  Bei  der 
grofsen  Ausdehnung  des  gebundenen  oder  doch  in  festen  Händen 
befindlichen  Besitzes  und  dem  in  Ungarn  herrschenden  Landhunger, 
der  in  den  hier  inbetracht  kommenden  Gegenden  herrscht,  wird,  wenn 
ja  einmal  ein  Streifen  Landes  zur  Veräusserung  gelangt,  der  Preis  so 
in  die  Höhe  getrieben,  dafs  es  dem  Kleinbauern  oder  Arbeiter  ganz 
unmöglich  ist,  denselben  zu  erschwingen.  ET  kann  also  durch 
eigene  Hilfe  sich  nie  eine  bessere  Lage  erringen  und  giebt  sich  da- 
her um  so  eher  der  Verzweiflung  und  dem  allgemeinen  Aus- 
wanderungsfieber hin,  als  sich  ihm  nirgends  eine  rettende  Hand 
zeigt,  welche  ihn  aus  seinem  Elende  erretten  könnte. 

Denn  die  Regierung  — welche  wohl  hierzu  zunächst  berufen 
gewesen  wäre  — forschte  zwar  den  Ursachen  der  schlechten  Lage 
der  Feldarbciter  eifrigst  nach,  unterdrückte  jedoch  mit  Gendarmen 
und  Militär  jede  geringste,  auf  die  Verbesserung  der  Arbeitsver- 
hältnisse gerichtete  Bewegung  und  konnte  sich  zu  selbständigen 

Pacht  wirtschaften.  (Vgl.  landwirtschaftliche  Statistik  der  Länder  der  ung.  Krone 
111.  Teil  (L'ng.  stat.  Mitteilungen  N.  F.  XXIV.  Bd.)  Pest  1900  S.  43). 


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376 


Julius  Hunzd, 


Mafsregeln,  durch  welche  die  Lage  der  Arbeiter  hätte  gebessert 
werden  können,  selbstredend  schon  garnicht  entschliefsen.  Nur  das 
Trucksystem  hatte  man  zu  beseitigen  versucht  und  von  dem  Land- 
wirten verlangt,  dafs  er  beim  Tcilschnitt  dem  Arbeiter  einen  Ertrag  als 
Minimum  garantiere,  da  ja  der  Arbeiter  sich  nicht  gegen  Hagel- 
schlag und  Brandschaden  versichern  konnte,  aber  etwa  aus  diesen  Ele- 
mcntarcreignissen  entstehenden  Schaden  mittragen  mufste.  Das 
war  aber  auch  alles.  Von  der  Einführung  einer  Arbeiterschutz- 
gesetzgebung war  nicht  die  Rede,  obzwar  z.  B.  namentlich  ein  Verbot 
der  Kinderarbeit,  ')  sei  cs  auch  nur  für  Kinder  unter  io  Jahren,  ge- 
wifs  am  Platze  gewesen  wäre  und  auch  die  Bestimmungen  des 
Sonntagsruhegesetzes  wohl  auf  die  landwirtschaftlichen  Arbeiter 
hätten  ausgedehnt  werden  können.  Noch  weniger  wurde  natürlich 
an  die  Einführung  einer  Arbeiterversichcrung  gedacht,  obzwar 
die  Bestimmung,  welche  verfügt,  dafs  der  Landwirt  den  Arbeiter 
im  Krankheitsfalle  acht  Tage  lang  verpflegen  müsse,  für  den  Arbeiter 
völlig  wertlos  ist,  da  der  Landwirt  die  Verpflegungskosten  als  ihm 
entstandenen  Schaden  ja  wieder  vom  Lohne  abziehen  kann.2)  — Da- 
für versuchte  allerdings  der  Ackerbauminister  die  Gründung 
„gesunder"  Feldarbeitervcreinc  in  die  Hand  zu  nehmen, 
um  durch  populäre  Vorträge  Aufklärung  in  die  breiten  Schichten 
der  arbeitenden  Bevölkerung  zu  tragen.  Der  erste  derartige  Verein 
wurde  in  Mezöbereny  gegründet  und  erklärte  der  Präsident  in  der 
konstituierenden  Versammlrng,  dafs  der  Verein  den  Hals  gegen 
die  Bourgeoisie  nicht  kenne,  keinen  sozialen  Krieg  wünsche,  sondern 
blols  Gelegenheit  zur  Ausbildung  geben  wolle.  Es  sollen  diesem 
Vereine  auch  sogleich  500  Arbeiter  beigetreten  sein.  Von  der 
Thätigkeit  dieses  Vereines  und  von  einer  gröfseren  Zahl  weiterer 
Gründungen  hat  man  jedoch  nichts  gehört,  obzwar  in  das  1898er 
Budget  150000  Fl.  zur  Unterstützung  solcher  Vereine  und  einzelner 
„braver"  Arbeiter  eingestellt  wurden.  Auch  mit  einigen  schüchternen 
Versuchen  der  Einbürgerung  der  hausindustriellen  Beschäftigung  bei 
den  landwirtschaftlichen  Arbeitern  während  der  Winterszeit  machte 
man  Fiasko,  da  es  an  dem  Absätze  der  fertigen  Erzeugnisse  fehlte, 


')  lieber  die  Kinderarbeit  vgl.  die  „Arbeiterzeitung“  vom  I.  Januar  1S98  S.  II. 
*i  Auch  die  Hilfskasse  für  landwirtschaftliche  Arbeiter  und  Dienstboten  führte 
keine  obligatorische  Versicherung  für  die  Handarbeiter  ein.  Näheres  vgl.  in  meiner 
Besprechung  dieses  Zusatzes  in  den  Conradschen  Jahrb.  für  Nat.  und  Stat.  III.  F. 
XX.  Band  S.  663  ff. 


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Die  Lage  der  ungarischen  Landarbeiter. 


377 


und  mit  einzelnen  Kolonisationsversuchen  machte  man  noch 
schlechtere  Erfahrungen.  • — So  blieb  denn  im  grofsen  ganzen  alles 
beim  Alten,  zumal  auch  die  Grundbesitzer  und  Pächter  sich  im 
allgemeinen  nicht  veranlafst  fühlten , die  wirtschaftliche  Lage  ihrer 
Arbeiter  zu  verbessern.  Baron  Edelsheim,  Erzherzog  Josef,  Mark- 
graf Pallavicini  und  Graf  L.  Tisza,  welche  einen  Teil  ihrer  Güter 
parzellierten  und  an  Bauern  verpachteten,  um  so  deren  Lage  zu 
verbessern,  fanden  sehr  wenig  Nachahmer.  Man  dachte  nicht  daran, 
dafs  „die  Technik  und  die  Ausbreitung  der  Fachkenntnisse  die  Mög- 
lichkeit bieten , durch  rationelles  Vorgehen , durch  vollkommenere 
Ausnutzung  der  Naturkräfte  die  Arbeit  produktiver,  die  Erzeugung 
wohlfeiler  zu  gestalten,  dafs  die  grofse  Umwandlung,  welche  die 
ungarische  Landwirtschaft  während  der  letzten  zwanzig  Jahre  er- 
fuhr, die  Produktionsdurchschnitte  wesentlich  erhöhte,  in  der  Vieh- 
zucht ein  produktiveres  Verfahren  einbürgerte  und  so  die  Her- 
stellungskosten eines  Meterzentners  Getreides  oder  eines  Kilogrammes 
Fleisch  zweifellos  wesentlich  verringerte,  *)  dafs  sich  daher  auch  die 
Landwirte  eher  dazu  entschliefsen  können,  den  Arbeitern  höheren 
Lohn  oder  bessere  Arbeitsbedingungen  zu  bewilligen,  selbst  wenn 
sich  infolge  der  verschlechterten  Absatzverhältnisse  der  Reinertrag 
bei  den  grofsen  landwirtschaftlichen  Betrieben  etwas  verringert 
haben  sollte.  Der  weitaus  gröfste  Teil  der  Grundbesitzer  und 
Pächter  suchte  nach  wie  vor  den  Arbeitern  eine  möglichst  grofse 
Zahl  von  Robottagen  abzupressen  und  ihnen  einen  möglichst  ge- 
ringen Lohn  zu  gewähren.  Derartige,  von  den  Arbeitern  ge- 
wünschte Verhandlungen  wurden  meist  schroff  zurückgewiesen, 
wozu  die  Bemerkung  des  Ackerbauministers, s)  dafs  „die  Guts- 
besitzer dort  am  meisten  mit  den  Arbeitern  zu  schaffen  hatten,  wo 
sie  diesen  gegenüber  nicht  genug  Konsequenz  und  nicht  genug 
Entschiedenheit  an  den  Tag  gelegt  haben"  nicht  wenig  beigetragen 
haben  mag. 

Es  liegt  nun  auf  der  Hand,  dafs  ein  solches  Vorgehen  der 
Regierung  und  der  Landwirte  von  den  schlimmsten  Folgen  begleitet 
sein  mufs.  Schon  hat  nach  der  „glatt“  verlaufenen  Ernte  die  Re- 
gierung sich  genötigt  gesehen , Notstandsarbeiten  ausführen  und 
Unterstützungen  verteilen  zu  lassen,  weil  in  einigen  Gegenden 
Hungersnot  ausgebrochen  war.  Und  wenn  auch  damit  vielleicht  die 

')  Vgl.  Stefan  von  Tisza,  „Ungarische  Agrarpolitik“.  Leipzig  1897  S.  26. 

*)  Citier»  nach  dem  Tester  Lloyd. 

Archiv  für  soz,  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVII.  25 


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37« 


Julius  Runzel, 


dringendste  Not  beseitigt  wurde,  so  blieb  doch  die  Erbitterung  im 
Volke,  das  selbst  in  der  Opferwilligkeit  nicht  die  Aktion  des  wohl- 
thätigen,  sondern  des  eingeschüchterten  Vermögens  erblickte,1)  zu- 
rück und  man  wird  sich  nicht  wundern  dürfen,  wenn  sich  diese 
Erbitterung  immer  wieder  in  Gewaltthätigkeiten  Luft  macht,  denn 
man  kann  von  der  Bevölkerung  nicht  die  Respektierung  der  Gesetze 
verlangen , wenn  sich  die  Regierung  selbst  bei  Ausführung  ihrer 
Mafenahmen  über  jedes  Recht  und  Gesetz  hinwegsetzt.  Wenn  der 
Oberstadthauptmann  der  Hauptstadt  sagen  kann,  er  pfeife  auf  die 
persönliche  Freiheit,  wenn  ein  Ministerpräsident  erklärt,  mit  dem 
Sozialismus  in  der  Hauptstadt  müsse  man  rechnen , den  ganz 
dummen  Wünschen  am  Lande  gegenüber  könne  man  aber  nur  mit 
Kugeln  und  Bajonetten  auftreten  und  wenn  jeder  Versuch  der 
Landarbeiter  zur  Besserung  ihrer  wirtschaftlichen  Lage  mit  Gewalt 
unterdrückt  wird,  dann  „entsteht  die  Gefahr,  dafs  die  aller  Rechte 
beraubten  Landleute  zur  Geheimbündelei  und  Verschwörung  ge- 
trieben und  nach  italienischem  Muster  Carbonari  werden,  die  un- 
heimliche Maffia  oder  Camorra  organisieren  oder  nach  dem  Bei- 
spiel der  irischen  Mondscheinbanden  „arbeiten“  gehen".*)  — Dann 
wird  schliefslich  auch  noch  Schmitt ä)  Recht  behalten  und  durch 
den  schrankenlosen  Nihilismus  der  Regierung  wird  die  ungarische 
Rechtsordnung  selbst  völlig  zerstört  werden. 

Will  man  das  vermeiden , so  wird  die  Regierung  die  schroffe 
Parteinahme  für  die  Grundbesitzer  aufgeben  müssen,  den  auf 
Besserung  ihrer  wirtschaftlichen  Lage  gerichteten  Bestrebungen  der 
[.andarbeiter  keinen  prinzipiellen  Widerstand  entgegenstellen  und 
vor  allem  deren  Organisation  nicht  verhindern  dürfen. 
Auch  in  England  war  die  landwirtschaftliche  Bevölkerung  zu  Be- 
ginn der  dreifsiger  Jahre  dermal'sen  aufgeregt  worden,  „dafs  sie  zu 
dem  bekannten  tückischen,  bei  der  I .andbe vöikerung  allgemein  be- 
liebten Mittel  der  Brandstiftung  (deren  Fälle  sich  auch  in  Ungarn 
schon  mehren)4)  griff.  Im  Winter  1830 — 31  wurde  dasselbe  ganz 
allgemein  und  . . . die  Agrarverbrechen  verschwanden  auch  nicht 

')  Vgl.  I,.  v.  Ndvay  jun.,  „Die  Arbeiterfrage  im  Alfold  mit  besonderer  Rück- 
sicht auf  die  Verhältnisse  im  Komitatc  Csongrad“  in  der  Zeitschr.  für  Volksw., 
Sozialpol.  und  Vcrw.  Jabrg.  1897,  S.  IOO  ff. 

*)  Vgl.  M emm i ng e r a.  a.  O. 

*)  In  der  „Neuen  Revue“  a.  a.  O. 

4)  Vgl.  Tomii  a.  a.  O.  S.  34.  Im  Jahre  1896  (1895)  betrug  die  Zahl  der 
erwiesenen  Brandlegungen  937  (894),  der  gemutmafsten  2764  (2805),  die  Zahl  der 


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Die  Lage  der  ungarischen  Landarbeiter. 


379 


früher  von  der  Tagesordnung,  bis  die  ländlichen  Arbeiter  aus  dem 
Stumpfsinn  erwachten  und  zu  einer  Organisation  gelangten."  Nach 
der  durch  Arch  in  Angriff  genommenen  Gründung  des  Bundes  der 
Landarbeiter  aber  ist  trotz  des  wütenden  Klassenkampfes  zwischen 
Pächtern  und  Arbeitern  nicht  ein  einziger  Fall  vorgekommen , der 
an  die  bekannten  Verbrechen  früherer  Jahre  erinnert  hätte.1)  Und 
so  thut  man  denn  auch  in  Ungarn  gewifs  sehr  unrecht,  wenn  man 
die  Organisation  der  Arbeiter  verhindert  und  so  die  Bewegung  ge- 
waltsam in  ungesetzliche  Bahnen  drängt.  — Dafs  man  auf  diesem 
Wege  jedenfalls  nicht  zu  den  wünschenswerten  guten  Beziehungen 
zwischen  Landwirten  und  Arbeitern,  wie  sic  in  patriarchalischeren 
Zeiten  bestanden , gelangen  wird , kann  man  sich  doch  wohl  auch 
in  Ungarn  nicht  verhehlen.  — In  dieser  Hinsicht  kann  eigentlich 
nur  ein  Entgegenkommen  von  Seite  der  Landwirte  den 
Arbeitern  gegenüber  einen  Erfolg  haben.  — Die  Vorschläge,  die 
Buchenberger4)  da  macht,  wie  Verabreichung  des  Naturaldeputates 
in  guter  Qualität,  Einführung  des  Stücklohnes  in  möglichst  grolsem 
Umfange,  Verkürzung  der  Arbeitszeit,  Beteiligung  der  Arbeiter  am 
Gutsertrag,  Handhabung  einer  milden  Behandlungsweise,  Fürsorge 
gegen  Bewucherung  durch  den  Krämer,  *)  Schaffung  einer  insbe- 
sondere in  Rücksicht  auf  das  Sparkassen-  und  Versicherungswesen 
verständigen  Gemeindeverwaltung  und  Gründung  landwirtschaftlicher 
Fachvereine  verdienen  es  jedenfalls  auch  von  den  ungarischen  Land- 
wirten in  Berücksichtigung  gezogen  zu  werden.  — Hat  doch  auch 
der  Vorstand  des  deutschen  Landwirtschaftsrats  die  unerschütter- 
liche Meinung,  dafs  ein  ansässiger  fleifsiger,  treuer  und  zufriedener 
Arbeiterstamm  nicht  nur  die  beste  Grundlage  für  den  landwirt- 
schaftlichen Betrieb,  sondern  auch  für  das  gesamte  Volksleben  und 
die  nationale  Wehrkraft  ist.4)  — Soweit  aber  die  Landwirte  zu 


Brände  aus  unbekannten  Ursachen  2951  (2541),  die  Zahl  der  Brände  überhaupt 
8003  (7506). 

*)  Vgl.  Kablukow,  „Die  ländliche  Arbeiterfrage“.  Stuttgart  1S88,  S.  1 1 1 ff . 
*)  Vgl.  B 11  c h c n b e r g e r , „Agrarwesen  und  Agrarpolitik“  in  Wagners  Lehr- 
und  Handbuch  der  politischen  Oekonomie  III». 

*)  ln  Ungarn  arbeiten  sich  bekanntlich  Grundbesitzer  und  Krämer  insofern  in 
die  Hände  als  letzterer  dem  Arbeiter  nur  dann  Kredit  gewährt,  wenn  dieser  mit 
ersterem  den  Emtevertrag  abgeschlossen  hat. 

4)  Der  Vorstand  des  Deutschen  Landwirtschaftsrats  hat  beiläufig  bemerkt  als 
Mittel  zur  Besserung  der  Arbeiterverhältnisse  insbesondere  empfohlen: 

l)  Gründung  von  Konsumvereinen,  Lebensbedarfsanstalten  für  die  Arbeiter. 

25* 


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380 


Julius  Dunzcl, 


einem  Entgegenkommen  nicht  bereit  sein  sollten,  wird  es  Aufgabe 
der  Regierung  sein , auf  gesetzlichem  Wege  zum  mindesten  die 
schreiendsten  Uebelstände  zu  beseitigen.  So  wird  sich  vor  allem 
ein  durch  Arreststrafen  sanktioniertes  Verbot  der  Ausbeding- 
ung von  Robot-  oder  „diskretionären“  Arbeiten  als  not- 
wendig erweisen.  *)  Eine  etwa  hierdurch  eintretende  Herabsetzung 
der  Erntelöhne  wird  durch  die  für  solche  Robotarbeiten  zu  leistenden 
Löhne  gewifs  wettgemacht  werden.  Ferner  wird  eine  Regelung 
der  Arbeitszeit  erfolgen  müssen.  Die  Bestimmung  des  neuen 
Feldarbeitergesetzes,  dafs  die  Arbeit  von  Sonnenaufgang  bis  Sonnen- 
untergang, d.  i.  ausschliefslich  der  Arbeitspausen  oft  15  Stunden,  zu 
dauern  habe,  wird  sich  gewifs  nicht  aufrecht  erhalten  lassen,  -)  ganz 
abgesehen  davon,  dafs  es  — wie  ein  Abgeordneter  bemerkte  — 
wirklich  Tage  giebt,  an  denen  die  Sonne  überhaupt  nicht  aufgeht 
und  man  doch  den  Arbeiter  nicht  verpflichten  kann , immer  einen 
Kalender  mit  sich  herumzutragen.  — Dafs  auch  ein  V e r b o t der 
Arbeit  von  Kindern  unter  10  Jahren  — der  Abgeordnete 
Baron  Podmanicky  sprach  im  Magnatenhause  sogar  davon,  dafs 
Kinder  unter  14  Jahren  zu  keiner  oder  wenigstens  zu  keiner 
schweren  Arbeit  zugelassen  werden  sollten  — am  Platze  wäre  — 


2)  Errichtung  von  Kuh-  und  Schweinekassen. 

3)  Verbesserung  der  Arbeiterwohnungen. 

4)  Einführung  von  Fortbildungsschulen,  Ilaushaltungsschulcn,  Näh-  und  Strick- 
schulen, Beförderung  des  Hausfleifses  und  Handfertigkeitsunterrichtes. 

5)  Gründung  von  Sparkassen  (Guts-,  Post-  und  Pfennigsparkassen). 

6)  Auszahlung  des  Lohnes  in  steigenden  Quartalsraten. 

71  Gewährung  von  Gratifikationen  am  Schlüsse  des  Dienstjahres. 

8)  Prämien  in  Geld,  Abzeichen  oder  Sparbüchern  für  treue  Dienstleistungen. 

*)  Selbstredend  wird  man  auch  den  Gebrauch,  nach  dem  sich  die  Landwirte 
von  ihren  Arbeitern  Naturalienabgaben  (Eier,  Hühner  u.  dgl.)  ausbedingen,  beseitigen 
müssen. 

*)  Dr.  P lötzmann  bemerkte  diesbezüglich  in  einem  über  ,,die  Krisis  am 
landwirtschaftlichen  Arbeitsmarktc“  in  der  ökonomischen  Gesellschaft  im  Königreiche 
Sachsen  am  4.  März  1S98  gehaltenen  Vortrage  (Dresden  1898,  S.  36):  Das  zu  lange 
Fortarbeiten  bringt  überhaupt  keinen  Vorteil  sondern  nicht  selten  empfindliche  Nach- 
teile. Die  tägliche  Erfahrung  zeigt,  dafs  solche  Landwirte,  die  ihre  Dienstboten  zu 
lange  fortarbeiten  lassen,  mit  ihren  Arbeiten  durchaus  nicht  früher  fertig  werden 
als  die,  welche  ihren  Dienstboten  bei  Zeiten  Feierabend  geben.  Zu  seinem  eigenen 
Nutzen  raten  wir  jedem  Landwirt,  er  möge  seinen  Leuten  zur  rechten  Zeit  Feier- 
abend geben. 


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Die  Lage  der  ungarischen  Landarbeiter. 


3«i 


wurde  bereits  erwähnt.  Dagegen  soll  dem  ebenfalls  vielfach  ge- 
forderten Verbote  der  Naturalentlohnung  nicht  das  Wort  geredet 
werden.  Wenn  die  gewährten  Naturalien  von  guter  Qualität  sind 
und  auch  die  zu  leistende  Quantität  fixiert  ist,  wird  sich  kaum  etwas 
ernstliches  gegen  die  Naturalentlohnung,  natürlich  falls  der  betreffende 
Gegenstand  vom  Arbeiter  zu  seinem  Lebensunterhalt  benötigt  wird, 
sagen  lassen.  — Der  Arbeiter  ist  doch  wenigstens  von  den  Preis- 
schwankungen, die  in  dem  betrefferden  Artikel  Vorkommen  können, 
unabhängig  und  hat  zum  mindesten  einen  Teil  seines  Lebensunter- 
haltes gesichert,  während  er  beim  Geldlohne  im  Falle  schlechten 
Wirtschaftens  in  das  allergrölste  Elend  geraten  kann.  — Ebenso 
ist  die  vom  Abgeordneten  Rakovsky  im  Abgeordnetenhause  erhobene 
Forderung  nach  Einsetzung  von  Kommissionen,  welche  die  Gegen- 
sätze zwischen  den  Grundbesitzern  und  Arbeitern  ausgleichen  und 
auch  auf  die  Bildung  der  Arbeitslöhne  einwirken  sollten,  zum  min- 
desten verfrüht.  Bei  den  derzeit  zwischen  den  Parteien  herrschen- 
den Verhältnissen  ist  an  ein  gedeihliches  Wirken  solcher  Kommis- 
sionen leider  nicht  zu  denken.  Allein  unter  allen  Umständen  wird 
für  die  Einführung  der  obligatorischen  Kranken-,  In- 
validitäts-  und  Altersversorgung  der  landwirtschaftlichen 
Arbeiter  gesorgt  werden  müssen.  Auch  mit  der  in  Aussicht  ge- 
stellten Inangriffnahme  einer  Steuerreform,  welche  den  land- 
, wirtschaftlichen  Taglöhner  und  Kleinbauer  von  den  bisherigen 
keineswegs  unbeträchtlichen  Steuerlasten  befreien  würde,  ‘)  sollte 
nicht  länger  gezögert  werden. 

Das  Unterlassen  des  Unterdrückens  der  Bestrebungen  der  Ar- 
beiter zur  Erreichung  ihrer  berechtigten  Forderungen,  die  Schaffung 
von  Arbeiterschutz-  und  Versicherungsgesetzen  und  die  Durchführung 
einer  vernünftigen  Steuerreform  sind  die  Aufgaben,  deren  Erfüllung 
der  Augenblick  von  der  Regierung  fordert.  In  weiterer  Folge 
wird  allerdings  auch  an  die  Schaffung  einer  Arbeitsgelegen- 
heit für  die  Landarbeiter  aufserhalb  der  Erntezeit 
und  an  die  Ueberlassung  von  Grund  und  Boden  — in  Pacht  oder  als 
Eigentum  — an  das  landwirtschaftliche  Proletariat  gedacht  werden 
müssen.  Man  hat  auch  schon  daran  gedacht,  ein  Netz  von  Kanälen 
im  Alföld  zu  bauen,  um  so  vielen  Arbeitern  Gelegenheit  zum  Ver- 


l)  Gegenwärtig  zahlt  (nach  S c h m i 1 1 a.  a.  O.)  ein  Arbeiter  mit  einem  Jahres- 
einkommen von  150  Fl.  an  Staatssteuern  8 Fl.,  an  Gemeindesteuern  5 Fl.  und  an 
Kirchensteuer  3 Fl. 


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382 


Julius  Bunzel, 


dienst  zu  geben,  allein  es  ist  fraglich,  ob  die  verfügbaren  Mittel  zur 
Ausführung  dieses  Planes  reichen  werden.  Dafs  die  ebenfalls  beab- 
sichtigte Einbürgerung  der  Hausindustrie  wenig  Erfolg  verspricht, 
wurde  bereits  erwähnt  und  die  Errichtung  von  Fabriken,  die  man 
ins  Auge  fafste,  wird  sich  einesteils  deshalb  nicht  empfehlen,  weil 
sich  der  landwirtschaftliche  Arbeiter  zur  industriellen  Arbeit  nicht 
eignet,  andererseits  wäre  es  aber  auch  gefährlich,  die  Arbeitermassen 
vom  Feldbau  zur  Industrie  zu  lenken,  da  dann  zur  Erntezeit  ein 
empfindlicher  Arbeitermangel  eintreten  könnte.  Auch  wenn  man 
glaubt,  dafs  durch  das  Verhindern  des  Einströmens  fremder  Arbeiter 
die  inländischen  mehr  Gelegenheit  zum  Arbeiten  erhalten  werden, 
dürfte  man  sich  täuschen,  denn  man  hat  ja  auch  bisher  nur  aus- 
ländische Arbeiter  herbeigezogen,  wenn  man  sie  zu  Arbeiten  brauchte, 
welche  der  inländische  Arbeiter  nicht  leisten  konnte  oder  wollte. 
Es  wird  hier  vielmehr  wohl  nur  durch  eine  Aenderung  in  der  Be- 
wirtschaftung der  Güter,  durch  welche  die  landwirtschaftlichen  Ar- 
beiter gleichmäfsiger  auf  die  verschiedenen  Jahreszeiten  verteilt 
würden,  Abhilfe  zu  schaffen  sein. 

Um  aberden  Arbeitern  Grund  u nd  Boden  verschaffen 
zu  können,  wird  man  — falls  sich  nich't  mehr  Latifundienbesitzer 
für  Parzellierung  ihrer  Güter  entschliefscn  — die  Staats-  und  Ge- 
meindebesitzungen parzellieren  müssen  und  die  Parzellen  an  die 
Arbeiter  entweder  gegen  langsichtige  Kaufschillingsraten  verkaufen 
oder  sie  auf  längere  Zeit  verpachten.’)  Allerdings  wird  man  darauf 
achten  müssen,  dafs  das  zugewiesene  Land  nur  so  grofs  ist,  dafs  der 
Arbeiter  selbst  nebenher  noch  auf  Taglohn  gehen  kann.4)  Am 
besten  wäre  es  wohl , wenn  die  Grundbesitzer  sich  entschliefsen 
könnten,  den  Arbeitern  einen  Teil  des  Lohnes  in  Form  von  Ueber- 
weisung  kleiner  Ackerparzellen  zu  gewähren  und  diesen  dadurch  die 
Haltung  eigenen  Viehs  zu  ermöglichen,  doch  dürfte  in  Ungarn  hie- 
zu wenig  Neigung  vorhanden  sein. 

Und  doch  wäre  gewifs  auch  vom  Standpunkte  der  Landwirte 
eine  Aenderung  der  bestehenden  Arbeiterverhältnisse  höchst  wün- 
schenswert. Denn  wenn  auch  in  Ungarn  auf  ioo  ha  durchschnittlich 
noch  30  Arbeiter  entfallen,  herrscht,  während  im  nördlichen  Ober- 

*)  Vgl.  Dr.  Deutsch  a.  a.  O. 

*)  Es  ist  hier  selbstredend  nur  von  der  Beiteilung  landwirtschaftlicher  Ar- 
beiter mit  Grund  und  Boden  die  Rede;  bezüglich  der  Kolonisierung  der  Klein- 
bauern gelten  wesentlich  verschiedene  Grundsätze. 


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Die  Lage  der  ungarischen  Landarbeiter. 


3»3 


land  Arbeiter  im  Ueberflufs  vorhanden  sind,  im  Alföld  zur  Zeit  der 
Ernte  Mangel.  Als  Ursache  für  diese  chronische  Arbeiternot  wird 
allerdings  angegeben,  dalls  die  Arbeiter  überall  zu  der  gleichen,  kurzen, 
durch  die  klimatischen  Verhältnisse  reduzierten  Zeit  stark  gesucht 
werden  und  man  glaubt  daher  nur  durch  die  bereits  erwähnte  Ver- 
teilung der  Arbeit  auf  einen  gröfseren  Zeitraum  — die  sich  durch  die 
erhöhte  Pflege  des  Anbaues  von  Handelspflanzen  erreichen  liefse  — 
hier  Abhilfe  schaffen  zu  können.  Allein  es  ist  doch  wohl  klar,  dafs 
auch  bei  der  jetzigen  Art  der  Bewirtschaftung  der  Güter  dem  Ar- 
beitermangel abgeholfen  werden  könnte,  wenn  es  gelänge,  die  Ar- 
beitermassen, welche  zur  Erntezeit  aus  den  nördlichen  Landesteilen 
herbeigezogen  werden  müssen  und  die  infolge  ihrer  mangelhaften 
Ernährung  doch  nicht  so  arbeitstüchtig  sind,  im  Tieflande  anzu- 
siedeln und  durch  Verbesserung  ihrer  Lebensverhältnisse  kräftiger 
und  zur  Arbeit  tauglicher  zu  machen.  Durch  die  Ansiedlung  kleinerer 
Gruppen,  in  den  rein  magyarischen  Gegenden  würden  diese  Slaven 
natürlich  unausweichlich  der  Magyarisierung  verfallen  und  entspräche 
dieser  Vorgang  also  auch  der  magyarisch-nationalen  Politik,1)  welche 
jede  ungarische  Regierung  verfolgen  zu  müssen  glaubt. 

Allein  wie  immer  Grundbesitzer  und  Regierung  sich  auch  die 
Lösung  der  landwirtschaftlichen  Arbeiterfrage  denken  mögen,  eine 
Besserung  der  wirtschaftlichen  Lage  der  Feldarbeiter  und  Klein- 
bauern wird  sie  immer  bringen  müssen.  Denn  ein  Staat,  in  welchem 
mehr  als  ein  Drittel  der  Bevölkerung  in  solchen  Verhältnissen  lebt 
wie  das  ungarische  Bauernproletariat,  kann  den  von  Ungarn  doch 
in  Anspruch  genommenen  Namen  eines  Kulturstaates  nicht  mit 
Recht  führen. 

Graz,  Sylvester  1901. 

*)  Bis  non  hinderte  diese  Politik  allerdings  die  Regierung  nicht,  aus  Slovaken, 
Serben  und  Kroaten  „Arbeiterrcserven"  zu  bilden,  um  die  magyarischen  Arbeiter 
im  Tieflande  in  Schach  halten  und  eine  Verbesserung  der  L.age  dieser  ..staats- 
erhaltenden  Kieme nte“  verhindern  xu  können. 


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Weibliche  Fabrikinspektoren  in  der  Schweiz. 

Von 

Dr.  F.  SCHÜLER, 

eidgenössischem  Fabrikinspektor. 


Schon  seit  Jahren  wird  in  der  Schweiz  die  in  verschiedenen 
Ländern  erfolgte  Anstellung  weiblicher  Fabrikinspektoren  ebenfalls 
empfohlen,  ja  als  ein  Bedürfnis  hingestellt.  Es  ist  insbesondere  die 
sozialdemokratische  Partei,  welche  mit  aller  Lebhaftigkeit  dafür  ein- 
tritt.  Sonderbarerweise  bemüht  sie  sich  darum  mehr  auf  eidge- 
nössischem, als  auf  kantonalem  Boden.  Und  doch  läge  ein  Versuch 
mit  dieser  neuen  Einrichtung  in  einem  derjenigen  Kantone,  welche 
spezielle  Arbeiterinnenschutzgesetze  besitzen,  so  nahe.  Eis  fehlt  hier 
an  einer  gehörig  organisierten,  nur  diesem  Zweck  dienenden  In- 
spektion, ohne  welche  doch  diese  Gesetze  nie  zu  rechter  Wirksam- 
keit werden  gelangen  können.  Die  Aufsicht  mufs  bis  anhin  durch 
Beamte  geübt  werden,  welche  mit  einer  Menge  anderer,  teilweise 
ganz  heterogener  Dinge  zu  thun  haben. 

Diese  Arbeiterinnenschutzgesetze  gelten  für  Betriebe,  in  welchen 
nur  weibliche  Personen  beschäftigt  sind,  für  Berufsarten,  in  welchen 
nur  E'rauen  angestellt  werden  und  die  von  den  Frauen  am  ge- 
nauesten gekannt  sind.  Die  dadurch  geschützten  Personen  werden 
am  häufigsten,  ja  fast  durchaus  in  Städten  und  grofsen  Ortschaften 
beschäftigt;  sie  sind  daher  ohne  grofse  Unbequemlichkeit,  jedenfalls 
ohne  alle  besonderen  Anstrengungen  zu  besuchen.  Dies  alles  hätte 
auf  den  Gedanken  bringen  sollen,  den  Versuch  mit  Inspektorinnen 
zuerst  im  engeren  Gebiet  der  Kantone  zu  machen  und  das  umso- 
mehr, als  gerade  die  Uebelständc  in  diesen,  bisher  dem  Einflufe 
der  eidgenössischen  Gesetzgebung  entzogenen  Betrieben  am  meisten 
dem  Wunsch  nach  weiblichem  Aufsichtspersonal  gerufen  haben. 


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Weibliche  Kabrikinspektoren  in  der  Schweiz. 


385 


Dann  wäre  ein  Fortschreiten  vom  kantonalen  zum  Bundes- 
gesetz, die  Verpflanzung  einer  bewährten  kantonalen  Institution  auf 
das  Gebiet  des  ganzen  Bundes  ein  gewohnter  und  als  praktisch 
erprobter  Vorgang  gewesen.  So  wurde  das  schweizerische  Fabrik- 
gesetz geschaffen ; so  werden  vermutlich  die  kantonalen  Arbeiterinnen- 
schutzgesetze die  Vorläufer  und  Vorbilder  einer  ausgedehnteren 
Arbeiterschutzgesetzgebung  des  Bundes  sein.  Wäre  der  Versuch 
mit  der  Einführung  weiblicher  Inspektoren  in  den  Kantonen  be- 
friedigend ausgefallen,  hätte  alle  Wahrscheinlichkeit  für  das  gleiche 
Vorgehen  von  Seite  des  Bundes  bestanden.  Ein  solcher  Entwick- 
lungsgang der  Gesetzgebung  bietet  grofse  Vorteile.  Im  einzelnen 
Kanton  liegen  die  Verhältnisse  einfacher;  es  ist  leichter,  einen  Ein- 
blick in  die  Wirkungen  eines  Gesetzes,  in  die  Vor-  und  Nachteile 
dieser  oder  jener  Bestimmung  zu  gewinnen.  Es  ist  leichter,  Aende- 
rungen  vorzunehmen,  zu  beseitigen,  was  sich  nicht  bewährt,  alles 
den  Bedürfnissen  der  Gesamtheit  anzupassen.  Der  Kanton  kann 
sich  mit  viel  geringerer  Gefahr  als  Versuchsfeld  für  eine  neue  Ein- 
richtung hergeben. 

Ein  solches  allmähliches  Vorgehen  vermochte  die  Ungeduld 
vieler  nicht  zu  befriedigen;  sie  wollten  ein  Gesetz,  das  vom  Bund 
ausgehe  und  gelangten  mit  ihren  Wünschen  und  Begehren  an  die 
Bundesbehörden.  Diese  beauftragten  die  Fabrikinspektoren,  ihre 
Ansichten  über  die  beantragte  Neuerung  in  motiviertem  Gutachten 
mitzuteilen.  Es  lautete  nicht  zustimmend,  was  den  Inspektoren 
auch  sofort  und  ohne  dafs  die  Begründung  ihrer  Meinung  zuerst 
abgewartet  worden  wäre,  den  Vorwurf  der  „Zopfigkeit“  zuzog  und 
den  Hohn,  dafs  sie  nicht  über  den  Kirchturm  hinaus  zu  blicken 
vermögen. 

Wer  ein  richtiges  Urteil  in  dieser  Frage  abgeben  will,  mufs 
zuerst  die  Aufgabe  kennen,  welche  das  schweizerische  Fabrikgesetz 
den  Inspektoren  stellt.  Dieses  Gesetz  umfafst  nicht  die  ganze  In- 
dustrie, wie  verschiedene  andere  Gesetzgebungen  es  thun.  An  Be- 
strebungen, ein  eigentliches,  umfassendes  Gewerbegesetz  an  seine 
Stelle  zu  setzen,  fehlt  es  nicht.  Das  Ziel  wird  aber  nur  allmählich, 
Schritt  um  Schritt,  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  erreicht  werden, 
denn  der  sich  von  den  verschiedensten  Seiten  erhebende  Wider- 
stand ist  ein  sehr  intensiver.  Noch  nicht  einmal  eine  Revision  des 
„Fabrik‘‘gesetzes  ist  trotz  mancher  Anläufe  erreicht.  So  sind  denn 
die  Behörden  einstweilen  verpflichtet,  sich  an  das  bestehende 
Fabrikgesetz  zu  halten,  bis  eine,  hoffentlich  baldige,  Revision  des- 


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386 


F.  Scliulcr, 


selben  auch  Aenderungen  in  der  Organisation  des  Aulsichtsdienstes 
bringt. 

Die  heute  von  den  Inspektoren  des  Bundes  zu  überwachenden 
Betriebe  sind  nur  zum  geringeren  Teil  in  grofsen  Städten  konzen- 
triert. Die  zahlreichen  kleinen  Etablissements  der  Konfektion  und 
verschiedener  Zweige  der  Textilindustrie  unterstehen  nur  zum  ge- 
ringsten Teil  der  eidgenössischen  Gesetzgebung.  Die  grofse  Mehr- 
zahl der  „Fabriken“  befindet  sich  auf  dem  Lande,  nicht  wenige  sehr 
vereinzelt  in  verkehrsarmen  Gegenden,  oft  in  entfernten  Berg- 
gegenden zerstreut.  Um  von  einem  Betrieb  zum  anderen  zu  ge- 
langen, bedarf  es  zuweilen  einer  ganzen  mühsamen  Tagereise. 

Die  Ueberwachung  ist  nach  dem  Wortlaut  des  Gesetzes  Sache 
der  Kantone.  Diese  überlassen  sie  gröfstenteils  der  Ortspolizei  oder 
den  Lokalbehörden.  Nur  wenige  besitzen  besondere  Beamte  hier- 
für. Dafs  sie  vielfach  mangelhaft  ausfallt,  ist  sehr  begreiflich.  Der 
den  Vollzug  überwachende  eidgenössische  Beamte  hat  zur  Abstellung 
der  Mängel  vielfach  mit  den  kantonalen,  Bezirks-  und  Ortsbehörden 
zu  verkehren.  Sein  Gutachten  wird  aber  auch  über  alle  möglichen 
Dinge,  Baupläne,  Fabrikordnungen,  Statuten  für  Wohlfahrtseinrich- 
tungen eingeholt.  Die  richtige  Ausführung  der  Haftpflichtgesetze 
hat  er  zu  kontrollieren.  Zu  alledem  hat  er  seinen  Vorgesetzten 
Berichte  und  Gutachten  zu  erstatten. 

Diese  höchst  komplizierte  Aufgabe  kann  nicht  leicht  geteilt 
werden.  Mit  dem  Zerfallen  des  Inspektionsgebiets  in  zahlreiche 
Kreise  ginge  alle  Einheitlichkeit  in  der  Ausführung  des  Gesetzes 
verloren,  die  man  jetzt  schon  durch  Veranstaltung  häufiger  Kon- 
ferenzen der  Inspektoren  zu  sichern  nötig  fand.  Eine  Teilung  der 
Arbeit  nach  Arbeitszweigen  würde  eine  übermäfsige  Vermehrung 
des  Personals  und  seiner  Reisen  erheischen.  So  haben  denn  sowohl 
die  drei  Inspektoren,  als  ihre  sechs  Assistenten  sich  mit  allen  Ge- 
bieten zu  beschäftigen , über  welche  sich  die  amtliche  Aufsicht 
erstreckt. 

Ist  nun  von  Frauen  zu  erwarten,  dafs  sie  allen  diesen  An- 
forderungen gerecht  zu  werden  vermögen? 

Die  Erfahrungen  mit  dem  bisherigen  männlichen  Personal 
haben  gezeigt,  dals  nur  sehr  ausdauernde,  zähe  Naturen  den  An- 
forderungen dieses  Berufes  gewachsen  sind.  Einzelne  waren  zum 
Verzicht  gezwungen.  Sollte  dies  nicht  auch  bei  den  Angehörigen 
des  „schwachen“  Geschlechts  befürchtet  werden  müssen?  Dafs  sie 
zeitweise,  Ehefrauen  oft  während  langer  Monate,  nicht  reisefahig 


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Weibliche  Fabrikinspektoren  in  der  Schweiz. 


387 


sein  werden,  braucht  nicht  erst  erwähnt  zu  werden.  Es  kommt 
noch  hinzu,  dals  manche  der  erforderlichen  Reisen,  der  Aufent- 
halt in  manchen  unvermeidlichen  Nachtquartieren  alleinreisende 
Frauen  in  Berührung  mit  wenig  angemessener  Gesellschaft  bringen. 
Solche  Gründe  bedingen  es  wohl,  dafs  man  Frauen  so  selten  als 
Geschäftsreisende  auftreten  sieht.  Es  werden  aber  auch  die  Pflichten 
der  Hausfrau,  der  Hausmutter,  mit  der  Aufgabe  eines  zu  so  häufiger 
Wanderschaft  gezwungenen  Beamten  wenig  vereinbar  sein.  Und 
doch  wären  gerade  Frauen  reiferen  Alters,  vertraut  mit  allen  Ver- 
hältnissen des  Lebens,  am  ehesten  zu  einer  solchen  Beamtenstellung 
geeignet.  Es  darf  deshalb  wohl  behauptet  werden,  dafs  mit  Rück- 
sicht auf  die  angeführten  Ciründe  Frauen  nur  dann  für  ein  In- 
spektorat  passen  würden,  wenn  ihnen  ein  Wirkungskreis  in  Städten 
oder  Industriezentren  angewiesen  werden  könnte,  wo  es  sich  nur 
um  Touren  in  der  nächsten  Umgebung  handeln  könnte,  oder  wenn 
die  zu  beaufsichtigenden  Betriebe  wenigstens  ohne  alle  Strapazen, 
geschützt  vor  aller  Unbill  der  Witterung  zu  erreichen  wären. 

Von  manchen  Seiten  wird  auch  die  Eignung  der  Frauen  für 
Inspektorenstellen  bezweifelt,  weil  sie  der  nötigen  Kenntnisse  und 
der  Veranlagung  für  ihre  Erwerbung  entbehren.  Man  glaubt  dies 
mit  gemachten  Erfahrungen  beweisen  zu  können.  Aber  wenn  auch 
solche  vorliegen,  ist  nicht  aufeer  acht  zu  lassen,  dafe  die  Geistes- 
kräfte des  weiblichen  Geschlechts  in  ganz  anderer  Richtung  ent- 
wickelt werden.  Eine  Vergleichung  der  Leistungen  bei  so  un- 
gleichen Vorbedingungen  ist  unzulässig.  Wo  Frauen  der  gleiche 
Bildungsgang  wie  den  Männern  ermöglicht  wurde,  haben  sie  auf 
den  verschiedensten  wissenschaftlichen  und  praktischen  Gebieten 
Vorzügliches  geleistet.  Sie  haben  deshalb  in  der  Schweiz  schon 
längst  in  den  verschiedenartigsten  amtlichen  Stellungen  Verwendung 
gefunden.  Wohl  giebt  es  wenig  Frauen,  welche  jetzt  die  Kennt- 
nisse besitzen,  welche  für  einen  Fabrikinspektor  nötig  sind;  die  Zahl 
der  brauchbaren  Kandidatinnen  für  eine  solche  Stelle  wäre  eine 
aufserordentlich  kleine.  Aber  dals  Frauen  das  erforderliche  Wissen 
leicht  sich  aneignen  könnten,  wird  wohl  von  wenigen  bezweifelt. 

Es  scheint  übrigens  der  angebliche  Mangel  an  Wissen  und 
Können  bei  vielen  nur  ein  Scheingrund  zu  sein,  warum  sie  sich 
gegen  die  Anstellung  von  Frauen  als  Inspektorinnen  sträuben, 
während  in  Wirklichkeit  eine  ganz  andere  Befürchtung  den  Aus- 
schlag  giebt  Diese  soll  hier  unumwunden  ausgesprochen  werden. 
Sie  gründet  sich  auf  die  Charakterverschiedenheit  der  beiden  Ge- 


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schlechter,  eine  Verschiedenheit,  die  auch  bei  gleicher  Erziehung 
und  gleichem  Bildungsgang  doch  bestehen  bleiben  dürfte,  da  sie 
zum  Teil  in  körperlichen  Unterschieden  ihren  Grund  hat.  Die 
Frau  ist  durchschnittlich  leichter  erregbar,  die  Eindrücke  übersetzen 
sich  leichter  in  Aeufserungen,  in  Handlungen.  Der  Verstand  hat 
weniger  Zeit,  seinen  Einflufs  auf  das  Handeln  geltend  zu  machen. 
Das  Gefühl  spielt  bei  der  Frau  die  gröfsere  Rolle.  Die  Frau  ist 
gefühlvoller  und  auf  diesem  lebhafteren  Empfinden,  dem  tieferen 
Gemüt  beruhen  ihre  schönsten  Vorzüge,  Die  brau  ist  aufopferungs- 
fahiger,  was  sich  tausendfach  im  Dienst  der  Kranken,  der  Armen 
und  Elenden  bewährt.  Verletzt  etwas,  das  sie  für  schlecht  und 
niedrig  hält,  ihr  Gefühl,  ist  sie  rascher,  lebhafter  in  der  Verurteilung, 
eifriger,  begeisterter,  mutiger,  rücksichtsloser,  ja  leidenschaftlicher  in 
dessen  Bekämpfung.  Ihre  gemütliche  Beanspruchung  macht  sie 
weniger  geneigt  zu  kühlem  Erwägen.  Ebenso  macht  das  Aeufsere, 
die  Form,  der  Ausdruck,  in  welchem  das  als  unrecht  Empfundene 
zu  Tage  tritt,  mehr  Eindruck  auf  die  Frau,  als  auf  den  Mann.  Die 
Empfindungen,  die  erregt  werden,  das  Mitleid,  der  Zorn,  die  Ver- 
achtung etc.  sind  oft  so  lebhaft,  dals  die  kalte,  ruhige  Ucberlegung 
nicht  dagegen  aufkotnmen  kann.  Die  lebhafte  Erregung  läfst  jede 
Einwendung,  je  Entschuldigung  als  eine  Parteinahme  für  den  Un- 
rechtthuenden  auffassen.  Solche  Erfahrungen  macht  jeder  Inspektor 
in  den  zahlreichen  Fällen,  wo  Frauen  aus  dem  Arbeiterstand  für 
sich  oder  andere  klagend  bei  ihm  auftreten.  Sie  bleiben  aber  auch 
nicht  aus  bei  gebildeten  Frauen,  die  an  ernstes  Nachdenken  ge- 
wöhnt sind;  ja  gerade  bei  denjenigen,  welche  am  leichtesten  für 
alles  Gute  und  Schöne  begeistert  sind,  besteht  am  meisten  Gefahr, 
dals  sie  sich  zu  unbedachten  Aeufserungen  oder  Handlungen  hin- 
reifsen  lassen,  wenn  auf  ihr  lebhaftes  Empfinden  spekuliert  wird. 
Und  diesem  Bestreben  ist  niemand  mehr  ausgesetzt,  als  gerade  ein 
Fabrikinspektor,  zumal  da,  wo  sich  der  Arbeiter  ohne  Scheu  und 
ohne  langes  Besinnen  an  den  Inspektor  wendet,  wo  er  glaubt,  dals 
ihm  unrecht  geschehen  sei.  Dies  ist  vielleicht  in  keinem  anderen 
I.and  so  häufig  der  Fall,  wie  in  der  Schweiz.  Fast  täglich  wird 
versucht,  sei  es  von  Arbeitern,  sei  es  von  Arbeitgebern,  Dinge  als 
schweres  Unrecht  hinzustellen,  die  bei  ruhiger  Untersuchung  fast 
in  nichts  zerfallen,  den  Handlungen  der  Gegenpart  schlechte  Motive 
unterzuschieben  und  sich  selbst  bei  allen  gemeinen  Handlungen  als 
wohlmeinenden  Biedermann  hinzustellen.  Man  rechnet  auf  die  Leicht- 
gläubigkeit des  Beamten,  sucht  sein  Mifstrauen,  seinen  Widerwillen 


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Weibliche  Fabrikinspektoren  in  der  Schwei/. 


389 


zu  erwecken.  Kaltes  Blut  ist  in  diesen  Fällen  die  erste  Eigenschaft, 
welche  vom  Inspektor  verlangt  werden  mufs.  Dafs  sie  sich  bei 
den  Frauen  ebenso  oft  finden  lasse  wie  bei  den  Männern,  wird 
von  sehr  vielen  bezweifelt,  und  dies  ist  der  Grund,  warum  sie  gegen 
die  Anstellung  von  Frauen  stimmen. 

Ob  diese  Besorgnis  begründet  sei  oder  nicht,  kann  freilich  erst 
die  Erfahrung  beweisen.  Leider  ist  den  Berichten,  die  über  die 
Thätigkeit  der  Frauen  im  Fabrikinspektorat  vorliegen,  nichts  darüber 
zu  entnehmen.  Versuche,  welche  ein  Urteil  ermöglichen,  sind 
wünschbar.  Ist  doch  auch  so  manchem  tüchtigen,  aber  hcifsblütigen 
Mann  mit  dem  Amt  und  der  damit  verbundenen  Verantwortlichkeit 
eine  ruhigere  Auffassung  der  Dinge  gekommen! 

Mag  nun  aber  die  gleiche  Qualifikation  der  Frau  für  die 
Stellung  als  Fabrikinspektor  zugegeben  werden,  drängt  sich  doch 
die  Frage  auf,  warum  diese  Stellen  mit  solchem  Nachdruck  für  die 
Frauen  verlangt  werden.  Es  geschieht  vornehmlich  in  der  Voraus- 
setzung, dafs  die  weibliche  Arbeiterschaft  einer  Inspektorin  ein 
gröfseres  Zutrauen  entgegenbringe,  offener  sich  äufsere,  als  gegen- 
über einem  männlichen  Beamten.  Nach  den  übereinstimmenden 
Erfahrungen  der  schweizerischen  Inspektoren  besteht  aber  diese  an- 
gebliche Scheu,  sich  über  Dinge  zu  äufsern,  welche  sie  für  unrecht 
oder  gar  unsittlich  halten,  bei  den  Arbeiterinnen  gar  nicht.  Aus 
der  nächsten  Umgebung  der  Inspektionssitze  kommen  relativ  ebenso 
viele  Frauen,  als  Männer,  um  Beschwerden  anzubringen  und  von 
Prüderie  ist  keine  Spur  zu  entdecken.  Wird  in  dezenter  Weise 
gefragt,  erhält  man  auch  von  den  schüchternsten  Personen  unum- 
wundene Antwort.  Sie  vertrauen  auf  die  Verschwiegenheit  des 
befragenden  Mannes.  Uebrigens  sind  Verletzungen  der  Sittlichkeit 
innerhalb  der  Fabriken  höchst  selten  und  auf  das,  was  aufserhalb 
vorgeht,  hat  der  Inspektor  so  viel  wie  keinen,  der  Arbeitgeber 
wenig  Einflufs.  Die  sittlichen  Zustände  sind  allerdings  in  den 
Fabriken  gröfserer  Städte  mit  ihrer  zahlreichen  flottanten  und  zum 
Teil  sehr  minderwertigen  fremden  Arbeiterinnenbevölkerung  oft 
sehr  mifsliche;  sonst  aber  nicht  etwa  viel  schlimmer,  als  in  land- 
wirtschaftlichen Kreisen.  So  ergab  im  Kanton  Zürich  eine  Zu- 
sammenstellung der  unehelichen  Geburten  in  einigen  hochindustriellen 
und  in  mehreren  vornehmlich  Landwirtschaft  treibenden  Bezirken  (alles 
mit  Ausschlufs  der  Stadt)  dafs  die  ersteren  3 1/i,  die  letzteren  3 I’roz. 
illegitime  Kinder  hatten,  ein  Verhältnis,  das  gewifs  nicht  sehr  zu 
Ungunsten  der  Fabrikarbeiterinnen  spricht. 


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390 


F.  Schüler, 


Man  scheint  übrigens  auch  im  Ausland  die  gleichen  Krfahrungen 
gemacht  zu  haben,  wie  in  der  Schweiz.  Dafür  zeugt  eine  Aeufserung 
einer  unanfechtbaren  Autorität,  der  nordamerikanischen  Ober- 
inspektorin und  eifrigen  Verfechterin  der  Anstellung  von  Frauen 
im  Inspektorat,  Florence  Kelley.  Sie  sagt,  auf  siebenjährige  Er- 
fahrung sich  stützend,  dafs  die  Arbeiterinnen  keinen  Unterschied 
machen  zwischen  männlichen  und  weiblichen  Inspektoren  und 
dal's  die  zahlreichen  Beschwerdebriefe  der  Arbeiterinnen  nicht  mora- 
lische Verfehlungen  betreffen  und  ebenso  gut  wie  an  Frauen,  an 
Männer  gerichtet  sein  könnten.  Aus  den  deutschen  Berichten  er- 
giebt  sich,  dafe  die  weiblichen  Vertrauenspersonen,  welche  in  ver- 
schiedenen Teilen  Deutschlands  bezeichnet  wurden,  gar  nicht  stark 
beansprucht  werden.  Aus  Bayern  vernimmt  man  (1898er  In- 
spektionsber.),  dafs  die  Arbeiterinnen  vom  Institut  der  weiblichen 
Inspektorinnen  fast  keinen  Gebrauch  gemacht  haben,  die  Sprech- 
stunden gar  nicht  benutzten.  Die  zwei  hessischen  Assistentinnen 
erhielten,  „trotz  der  persönlichen  Beziehungen  beider,  die  unter  den 
älteren  Arbeiterinnen  mehrfach  Bekannte  trafen,"  nur  in  drei  Fällen 
Mitteilungen  über  Mifsstände. 

In  den  Berichten  der  englischen  Inspektorinnen,  wenigstens 
soweit  sie  mir  zur  Verfügung  standen,  finden  sich  fast  ausschliels- 
lich  Gegenstände  berührt,  welche  auch  von  den  Männern  zum  Gegen- 
stand der  Berichterstattung  gemacht  werden,  während  ich  Beobach- 
tungen über  den  Einflufs  der  gewerblichen  Arbeit  auf  die  Frau  zur 
Zeit  der  Periode,  der  Schwangerschaft,  des  Wochenbetts,  des  Kinder- 
nährens  reichlich  zu  finden  hoffte.  Dafs  die  deutschen  und,  soviel 
mir  bekannt,  auch  die  französischen  Inspektorinnen  in  der  kurzen 
Zeit  ihrer  Amtsführung  noch  nicht  dem  Studium  solcher  Details 
sich  widmeten,  finde  ich  begreiflich.  Aber  gerade  in  dieser  Rich- 
tung fiele  es  der  Frau  gewifs  leichter,  zu  zuverlässigen  Resultaten 
zu  gelangen. 

Die  amtlichen  Berichte  geben  allerdings  wenig  Auskunft  über 
das  kleine  Detail  auf  denjenigen  Gebieten,  wo  der  Frau  unbedingt 
eine  Ueberlegenheit  über  den  Mann  zugestanden  werden  mufs.  Sie 
hat  den  schärferen  Blick,  ein  rascheres  Urteil  und  wohl  auch  mehr 
praktische  Gewandtheit,  wo  es  sich  um  Reinlichkeit  und  Ordnung, 
um  richtige  Ernährung  und  Komfort,  um  Anstand  und  Sitte  handelt. 
Dafs  sie  die  Thätigkeit  des  Mannes  in  mancher  Beziehung  ergänzen 
kann,  kann  wohl  nicht  bestritten  werden. 

Diese  Mitwirkung  der  Frau  wäre  am  wertvollsten,  wo  es  sich 


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Weibliche  Fabrikinspektoren  in  der  Schwei/.. 


391 


um  Betriebe  handelt,  in  welchen  nur  Frauen  und  Kinder  beschäftigt 
werden,  wo  technische  Kenntnisse  nicht  oder  in  geringem  Mafs  er- 
forderlich sind,  wo  vor  allem  lur  richtige  hygieinische  Zustände  zu 
sorgen,  der  Vollzug  der  Frauen  und  Kinder  betreffenden  Gesetzes- 
bestimmungen genau  zu  überwachen  sind  und  Fragen  des  Rechts 
u.  dergl.  selten  an  den  Inspektor  herantreten.  Dieser  Wirkungskreis 
scheint  aber  nur  in  beschränktem  Mafs  sich  darzubieten.  Denn 
auch  in  den  Ländern,  wo  Inspektorinnen  seit  vielen  Jahren  amten, 
ist  ihre  Zahl  nicht  sehr  bedeutend  in  Vergleichung  mit  der  sonstigen 
Zunahme  des  Inspektionspcrsonals  gestiegen.  In  England  machten 
die  Frauen  1899  erst  5 Proz.  des  gesamten  Personals  aus  und  aus 
Amerika  berichtet  die  bereits  citierte  Dame,  dafs  die  Vermehrung 
der  weiblichen  Inspektoren  nicht  Schritt  halte  mit  derjenigen  der 
männlichen.  So  betrug  im  Jahr  1897  die  Zahl  der  männlichen  In- 
spektoren 137,  die  der  weiblichen  23.  In  Staaten,  wo  deren  An- 
stellung neu  ist,  wird  selbstverständlich  mit  grofser  Vorsicht  und 
allmählich  vorgegangen,  denn  die  nötigen  Erfahrungen  lassen  sich 
nicht  in  einem  oder  zwei  Jahren  machen. 

Aus  allem  Angeführten  dürfte  sich  ergeben,  dafs  das  Urteil 
über  die  Zweckmäfsigkeit  der  Einführung  von  Inspektorinnen  all- 
gemein noch  ein  unsicheres  ist.  Dies  empfanden  auch  die  schweize- 
rischen Behörden.  Sogar  die  Denkschrift,  welche  der  schweizerische 
Frauenverein  in  sehr  ruhiger  und  wohlüberlegter  Weise  abgefafst, 
den  Kantonsregierungen  zustellte,  hat  bis  anhin  noch  kaum  prak- 
tische Resultate  gezeitigt.  Was  den  Bund  anbetrifft,  mag  die  Schwierig- 
keit, einer  Inspektorin  einen  genügenden  Wirkungskreis  anzuweisen, 
in  hohem  Mafs  von  einem  Versuch  abgehalten  haben.  Die  Zahl 
der  nur  weibliche  Personen  beschäftigenden,  unter  dem  Fabrikgesetz 
stehenden  Etablissemente  ist  sehr  gering.  Sie  beträgt  nur  214  Be- 
triebe mit  3487  Arbeiterinnen.  In  einzelnen  Inspektionskreisen 
fallen  diese  Zahlen  besonders  niedrig  aus.  Sogar  der  erste,  in 
welchem  die  Zahl  der  in  Frage  kommenden  Betriebe  vielleicht  am 
gröfsten  ist,  hat  nur  80  mit  1 536  Personen  aufzuweisen.  Für  diese  kleine  1 
Prozentzahl  der  Fabriken  (3,5)  und  Arbeiter  (1,44)  besondere  Be- 
amtinnen anzustellen,  würde  als  eine  ungerechtfertigte  Vermehrung 
eines  Beamtcnpersonals  betrachtet,  dessen  Vergröfserung  sonst  schon 
scheel  genug  angesehen  wird.  Nur  eine  Aenderung  des  Fabrik- 
gesetzes, eine  weitere  Ausdehnung  seines  Wirkungsgebiets,  vielleicht 
ein  Erlafs  eines  eidgenössischen  Arbeiterinnenschutzgesetzes  an  Stelle 


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392 


K.  Schüler,  Weibliche  Fabrikinspcklorcn  in  der  Schweiz. 


der  vielgestaltigen  und  ziemlich  zahlreichen  kantonalen  dürfte  den 
Anstofs  zum  V ersuch  mit  Inspektorinnen  geben. 

Ganz  anders  würde  sich  die  Sache  gestalten,  wenn  ein  Kanton 
mit  zahlreichen  Kleinbetrieben,  die  jetzt  schon  gesetzlicher  Aufsicht 
unterstehen,  diesen  Schritt  unternehmen  wollte.  Zürich  hatte  z.  R. 
schon  1899  die  Zahl  von  745  Geschäften  mit  2057  Arbeiterinnen 
aufzuvveisen  und  diese  Zahlen  würden  sich  ohne  Zweifel  bedeutend 
erhöhen,  wenn  eine  ständige  Inspektion  auch  auf  dem  Land  und  in 
den  kleineren  Ortschaften  genaue  Nachschau  hielte.  So  hat  ja  auch 
mit  der  Einführung  der  Inspektion  die  Zahl  der  zu  unterstellenden 
Fabriken  sofort  sich  gewaltig  vermehrt.  Eine  Beamtin  fände  ge- 
nügende Beschäftigung,  könnte  zugleich  die  Amtsstellc  für  Fabrik- 
wesen wesentlich  entlasten  und  den  Schutz  der  Arbeiterinnen  in 
hohem  Mafs  fördern.  Das  Gebiet  ihrer  Thätigkeit  wäre  zudem  so 
beschaffen,  dafs  alle  wegen  der  körperlichen  Leistungsfähigkeit  der 
Frauen  geäufserten  Bedenken  zum  gröfsten  Teil  hinfällig  würden. 
Auch  in  anderen  Kantonen  würde  Aehnliches  möglich  sein. 

Es  ist  sehr  zu  wünschen,  dafs  in  solcher  Weise  durch  einen 
praktischen  Versuch  auch  in  der  Schweiz  die  schwebende  F'rage 
der  Einführung  weiblicher  Inspektorinnen  zur  Entscheidung  ge- 
bracht werde. 


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Sozialpolitik  und  Rassenhygiene  in  ihrem 
prinzipiellen  Verhältnis. 

Von 

Dr.  ALFRED  PLOETZ, 

in  Bcrlin-Schlachtcnsec. 

Das  Wort  „Sozialpolitik“  wird  in  einem  allgemeinen  und  in 
einem  besonderen  Sinne  gebraucht.  Allgemein  bedeutet  es  nichts 
als  eine  Politik,  die  sich  auf  soziale  Verhältnisse  bezieht.  So  würde 
z.  B.  die  Einrichtung  der  Kasten,  durch  welche  die  in  Indien  ein- 
gewanderten Arier  ihre  Rasse  zu  schützen  suchten,  unter  diesen 
allgemeinen  Begriff  fallen.  Nicht  aber  unter  den  speziellen , der 
heute  vorherrscht.  Denn  im  speziellen  Sinne  verbindet  man  mit 
dem  Wort  Sozialpolitik  den  Begriff  einer  sozialisierenden  Politik, 
d.  h.  einer  solchen,  welche  die  gesellschaftlichen  und  speziell  wirt- 
schaftlichen Beziehungen  unter  den  Individuen  so  auszugestalten 
sucht,  dafs  sie  sich  in  ihren  Interessen  weniger  getrennt  oder  gar 
feindlich,  sondern  mehr  als  Genossen  gegenüberstehen , gleichbe- 
rechtigter und  einander  hilfreicher.  Das  erhellt  sofort,  sobald 
man  sich  die  Einzelbestrebungen  der  modernen  Sozialpolitik  ver- 
gegenwärtigt, als  da  sind : Verminderung  der  Arbeitslosigkeit,  der 
Unfälle,  der  Krankheiten ; Versicherung  gegen  Arbeitslosigkeit,  Un- 
fälle, Krankheiten  und  Alter;  Verringerung  der  Arbeitszeit;  Er- 
leichterung der  Arbeiterkoalierung ; Erhöhung  der  Löhne,  Anteil  am 
Gewinn;  Erleichterung  der  Frauenarbeit;  Abschaffung  der  Kinder- 
arbeit, freie  Schulbildung  für  arme  Kinder;  freie  ärztliche  Behand- 
lung für  Alle;  Verstaatlichung  oder  Kommunisierung  wirtschaftlicher 
Betriebe;  Einkommen-  und  Vermögensteuer  mit  starker  Progression; 
Abschaffung  der  indirekten  Steuern  auf  allgemein  notwendige  Konsum- 
artikel; progressive  Erbschaftssteuer  bis  zur  Aufhebung  des  Erb- 
rechts ; bessere  Pflege  der  unehelichen  und  Waisenkinder  u.  s.  w. 

Archiv  für  soz.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVIi.  26 


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394 


Alfred  P 1 o c t z , 


Alle  diese  Einzelbestrebungen  haben  das  Gemeinsame,  dafs  sie 
hinzielen  erstens  auf  die  Gleichmachung  der  äufseren  Entwicklungs- 
und Erhaltungsbedingungcn  für  alle  Individuen,  d.  h.  also  auf  das 
Ideal  der  Demokratie,  und  zweitens  auf  den  Schutz  derjenigen 
Individuen,  die  nicht  durch  eigene  innere  Kraft  die  Fähigkeit  haben, 
sich  diese  gleichen  äufseren  Bedingungen  nun  auch  zu  Nutze  zu 
machen,  d.  h.  also  auf  den  Schutz  der  Schwachen  als  Inhalt  des 
humanitären  Ideals.  Beide  Bestrebungen  sind  uralt.  Der  Kampf 
zwischen  Demokratie  und  Aristokratie  erfüllt  die  Weltgeschichte 
beinahe  so  lange,  wie  wir  sie  kennen,  und  ist  heute  so  heftig  als 
je.  Und  der  humanitäre  Geist,  erwacht  schon  vor  Jahrtausenden, 
hat  sich  von  kleinen  Anfängen  bis  zu  der  gewaltigen  Macht  ent- 
wickelt, die  heute  in  beinahe  allen  gesellschaftlichen  Verhältnissen 
ein  mitbestimmender  Faktor  ist. 

Da  somit  die  Sozialpolitik  nichts  will  als  das  gröfstc  Wohl 
aller  Lebenden,  so  erscheint  es  auf  den  ersten  Blick  unsinnig,  wenn 
noch  andere  Menschen  als  gerade  die  Privilegierten  ihr  rasches 
Vordringen  mit  Sorge  verfolgen.  Und  doch  hat  sich  der  Wider- 
stand erhoben,  und  glänzende  Geister  sind  es,  die  hier  das  Wort 
ergriffen  haben,  Männer,  die  himmelweit  über  den  Verdacht  erhaben 
sind,  Anw'älte  der  Privilegierten  zu  sein.  Ich  nenne  Namen  wie 
Darwin,  Wa llace,  Huxley,  Häckel,  Nietzsche.  Weitaus 
die  Mehrzahl  aller  Biologen  steht  auf  ihrer  Seite.  Diese  Männer 
sind  der  Meinung,  der  Schutz  der  Schwachen  würde  schliefslich 
durch  ihre  Erhaltung  und  Mischung  mit  den  Starken  das  Niveau 
der  allgemeinen  Tüchtigkeit  herabdrücken  und  der  Weiterentwick- 
lung der  menschlichen  Anlagen  einen  ewigen  Riegel  vorschieben. 

Von  der  Partei  der  Privilegierten  ist  dieser  Einwand  stark  be- 
nutzt worden,  um  gegen  die  moderne  Sozialpolitik  Propaganda  zu 
machen,  und  Viele,  die  frisch  entschlossen  ihren  Weg  gingen,  sind 
dadurch  zu  Zweiflern  geworden  und  haben  gelähmt  die  Hände  in 
den  Schofs  gelegt.  Wir  sehen , wir  haben  den  stärksten  Anlafs 
zu  untersuchen,  ob  und  wie  weit  dieser  Widerspruch  berechtigt  ist. 

Das  Leben  erschöpft  sich  nicht  mit  dem  einfachen  Ausleben 
der  Individuen,  es  gehört  dazu  die  Erzeugung  neuen  Lebens.  Ueber 
und  nach  dem  Einzelnen  lebt  durch  Generationen  die  Rasse.  Auf 
den  ersten  Blick  könnte  man  denken,  das  Interesse  aller  Individuen 
und  das  Interesse  der  Gesamtheit,  zu  der  sie  gehören,  sei  gleich- 
bedeutend. Aber  der  Einspruch  jener  vorher  angeführten  Männer, 
die  die  Interessen  der  Rasse  vertreten  und  sie  als  teilweise  gegen- 


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Sozialpolitik  und  Rassenhygiene  in  ihren)  prinzipiellen  Verhältnis. 


395 


sätzlich  zu  denen  der  Individuen  erkennen,  mufs  uns  vorsichtig 
machen  und  fordert  uns  auf,  die  Erhaltungsbedingungen  der  Rasse 
für  sich  zu  betrachten  und  dann  zu  untersuchen,  wie  weit  die  Be- 
strebungen der  Sozialpolitik  mit  ihnen  vereinbar  sind. 

Das  Wort  „Rasse“,  das  so  vielerlei  bezeichnet,  wollen  wir  hier 
irr  einem  ganz  allgemeinen  Sinne  brauchen,  nämlich  als  eine  durch 
Generationen  lebende  Gesamtheit  von  Menschen  in  bezug  auf 
ihre  körperlichen  und  geistigen  Eigenschaften.  Die 
Lehre  von  den  optimalen  Bedingungen  der  Erhaltung  und  Entwick- 
lung einer  Rasse  wollen  wir  Rassenhygiene  nennen,  gerade  so  wie 
wir  die  Lehre  von  den  optimalen  Erhaltungsbedingungen  des  Indivi- 
duums als  Individualhygiene  bezeichnen. 

Welches  sind  nun  die  Elemente  der  Rassenhygiene  r 

Eine  Rasse  wird  sich  zuvörderst  um  so  eher  erhalten,  je  gröfser 
die  Zahl  ihrer  Mitglieder  ist,  da  im  Kampf  ums  Dasein  der  Rassen 
untereinander  die  Zahl  ihrer  Individuen  ein  entscheidendes  Moment 
ist.  Die  Vermehrung  steht  in  geradem  Verhältnis  zum  Ueberschufs 
der  Geburten  über  die  Todesfälle.  Dieser  Ueberschufs  wird  nun 
natürlich  um  so  gröfser  sein,  je  höher  die  Geburtenrate  und  je 
niedriger  die  Sterberate  ist.  Jedoch  besteht  eine  gegenseitige  Be- 
einflussung dieser  Raten  insofern,  als  die  steigende  Geburtenrate 
direkt  eine  progressiv  höhere  Sterblichkeit  hervorruft,  wie  die 
niedrige  Geburtenrate  eine  niedrige  Sterblichkeit,  so  dafs  die  Zu- 
nahme des  Geburtenüberschusses  um  so  kleiner  wird,  je  höher  die 
( ieburtenrate  steigt.  Dazu  kommt  noch,  dafs  die  höheren  Nummern 
in  der  Geburtenreihenfolge  einer  Mutter  eine  stetig  wachsende  Lebens- 
schwäche zeigen,  so  dafs  ihr  eventuelles  Ueberleben  nur  das  Tüchtig- 
keitsniveau der  späteren  Generation  herabdrücken  würde.  Das  rassen- 
hygienische Optimum  der  Fruchtbarkeit  einer  Mutter  dürfte  aus 
diesen  Gründen  mit  der  Erzeugung  von  4,  höchstens  5 Kindern 
gegeben  sein.  Alle  sozialpolitischen  Mafsregeln , die  indirekt  dazu 
beitragen,  hohe  Kinderzahlen  in  der  Ehe  zu  verhüten,  wie  die 
Hebung  der  Lebenshaltung  der  Aermeren  überhaupt,  stehen  also 
in  keinem  Gegensatz  zur  Rassenhygiene,  wenn  sie  nicht  bis  zu  so 
schweren  Konsequenzen  geführt  werden,  dafs  die  Geburtenrate,  wie 
in  Frankreich  z.  B.,  stetig  sinkt,  und  dadurch  eine  Verdrängung  der 
Rasse  in  die  Wege  geleitet  wird. 

Die  Sterberate  wird  um  so  niedriger  sein,  je  günstiger  die 
äufsere  Umgebung  für  die  Individuen  ist.  Je  reichlicher  und  gleich- 
mäfsiger  eine  Volkswirtschaft  die  gesamten  Unterhaltsmittcl  liefert, 

26* 


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Alfred  I*  1 o e X i . 


yß 

desto  mehr  Individuen  werden  erhalten  bleiben,  und  desto  länger 
wird  ihr  Leben  dauern.  Dasselbe  wird  der  Fall  sein,  wenn  die 
konstitutionelle  Kraft  der  Individuen  steigt,  sich  gegen  ihre  Um- 
gebung zu  erhalten.  Da  wir  viele  Umgebungseinflüsse  auf  absehbare 
Zeit  nicht  ändern  können,  oder  ihre  Aenderung  einen  ungebührlich 
hohen  Teil  unserer  Thatkraft  absorbieren  würde,  ist  die  Vor- 
bedingung einer  dauern  d niedrigen  Sterberate  die  Erhaltung  und 
wenn  möglich  Verstärkung  der  individuellen  Konstitutionskraft. 

Und  das  leitet  uns  über  zur  zweiten  Hauptbedingung  der 
optimalen  Erhaltung  und  Entwicklung  einer  Rasse,  d.  i.  die  Erhal- 
tung und  wenn  möglich  Vervollkommnung  der  körperlichen  und 
geistigen  Anlagen  ihrer  Mitglieder.  Um  diese  zweite  Bedingung  in 
ihre  einzelnen  Komponenten  zerlegen  zu  können,  müssen  wir  auf 
die  durch  Darwin  begründete  biologische  Entwicklungslehre  zurück- 
greifen, deren  allgemeine  Grundsätze  auch  für  den  Menschen  volle 
Gültigkeit  haben.  Das  mufs  immer  wieder  betont  werden  gegen- 
über den  mancherlei  unzureichenden  Versuchen  von  nicht  natur- 
wissenschaftlicher Seite,  die  Unterschiede  in  Einzelheiten  und  in 
Graden  zu  prinzipiellen  Unterschieden  aufzubauschen. 

Der  Entwicklungsmechanismus  ist  kurz1)  folgender:  Die  er- 
zeugten Nachkommen  sind  in  ihren  Eigenschaften  und  dadurch  in 
ihrer  Gesamttüchtigkeit  verschieden  von  den  Eltern  und  unter- 
einander: Variation. 

Die  erzeugten  Varianten  nun  treten  in  ein  verschiedenes 
Verhältnis  zu  ihrer  Umgebung:  Kampf  ums  Dasein  in  weiterem 
Sinne.  Ein  grofser  Teil  von  ihnen  wird  durch  übermächtige 
Schädlichkeiten  "Betroffen  in  einer  Weise,  dafs  cs  für  das  blofse 
BetrofTcnsein  sowie  für  das  Unterliegen  ganz  gleich  ist , ob 
die  Varianten  tüchtig  oder  untüchtig  sind.  Die  übermächtigen 
Einflüsse  vernichten  sic  oder  verhindern  sonst  ihre  Fortpflanzung 
entweder  gleich  völlig  oder  sie  schädigen  die  betroffenen  Varianten 
so,  dafs  sie  geschwächt  werden  und  dadurch  auch  weniger  mächtigen 
Einflüssen  zum  Opfer  fallen.  Das  Wirken  dieser  übermächtigen 
Einflüsse,  welche  die  Varianten  betreffen  und  schädigen,  gleich,  ob 
sie  tüchtig  oder  untüchtig  sind,  nennt  man  die  wahllose  Aus- 
schaltung oder  die  nonselektorischc  Elimination  der  Vari- 
anten aus  dem  Lebensprozefs  der  Art. 

Ein  zweiter  Teil  der  Nachkommen  wird  durch  nicht  so  mach- 

*}  ( icmtucrcs  in  Ploctz:  Tüchtigkeit  unserer  Rasse  etc.  Berlin  1895. 


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Sozialpolitik  untl  Kassenhypcoc  in  ihrem  prinzipiellen  Verhältnis. 


tige  Kinflüsse  vernichtet  oder  sonst  an  der  Fortpflanzung  verhindert, 
durch  Einflüsse,  welche  den  dritten  noch  übrigbleibenden  Teil  der 
Nachkommen  nicht  schädigen  können,  weil  er  stark  genug  ist,  sie 
zu  überwinden.  Zu  diesem  zweiten  Teil  der  Nachkommen  gehören 
auch  die,  welche  auf  Grund  ihrer  Schwäche  übermächtigen  Schäd- 
lichkeiten leichter  exponiert  werden  als  die  Starken.  Diese  ganze 
Elimination  des  zweiten  Teiles  der  Nachkommen  ist  somit  eine 
auswählende,  da  sie  nur  die  Individuen  mit  schwachen  Anlagen 
trifft,  aber  die  Starken  schont.  Wir  nennen  sie  deshalb  die  selek- 
torische  Elimination  oder  kurz  die  Ausmerzung  oder  Aus- 
jätung.  Den  übrigbleibendcn  dritten  Teil  der  Nachkommen,  der 
erhalten  wird  und  zur  Fortpflanzung  kommt,  nennen  wir  die  Aus- 
gelesenen und  den  Prozefs  der  Schonung  auf  Grund  ihrer  Stärke 
die  Auslese  oder  Selektion.  Das  auf  Grund  ihrer  verschiedenen 
Eigenschaften  verschiedene  Verhalten  der  Individuen  zu  der  selek- 
torischen  Umgebung,  d.  h.  zu  den  Umgebungsbestandteilen,  die  nur 
für  einen  Teil  der  Individuen  eine  Schädlichkeit  bedingen,  nennen 
wir  im  engeren  und  eigentlichen  Sinne  den  Kampf  ums  Dasein, 
den  wir  auch  definieren  können  als  den  bewulsten  und  unbewufsten 
Wettbewerb  unter  den  Individuen  bei  Erstrebung  günstiger  und 
Vermeidung  ungünstiger  Einflüsse  der  Umgebung.  Eingeschlossen 
in  den  Kampf  ums  Dasein  ist,  das  wird  immer  wieder  vergessen, 
nicht  nur  die  Erhaltung  des  Individuums,  sondern  auch  die  Er- 
zeugung lebenskräftiger  Nachkommenschaft.  Man 
mufs  sich  eben  denken,  dals  die  Nachkommen  zum  Sein  der  Eltern 
hinzugehören.  f 

Je  nachdem  die  Umgebungseinflüsse  nur  der  äulsercn  Natur 
angehören  oder  von  den  anderen  Individuen  derselben  Art  her- 
kommen,  spricht  man  von  einer  cxtralen  und  einer  sozialen  Um- 
gebung und  demgemäfs  auch  von  einem  extralen  und  sozialen 
Kampf  ums  Dasein,  sowie  von  einer  extralen  und  sozialen  Aus- 
jätung  und  Auslese,  von  welch  letzterer  der  Teil,  der  sich  auf  die 
Gewinnung  eines  Gatten  bezieht,  als  geschlechtliche  Auslese  be- 
zeichnet wird. 

Ein  anderer  wichtiger  Fall  des  Sozialkampfes  ist  iler  Kampt 
von  ganzen  Gruppen  von  Individuen  gegeneinander,  etwas,  was 
man  Sozietätenkampf  genannt  hat.  Dieser  Sozietätenkampf  ist  be- 
sonders wichtig,  weil  er  es  neben  dem  Wettbewerb  der  Familien 
ist,  der  die  sozialen  Tugenden  herangezüchtet  hat.  indem  die  Ge- 
meinschaften, bei  deren  Mitgliedern  die  Variationen  des  Altruismus 


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39» 


Alfred  l’loetz 


und  der  Aufopferung  häufiger  vorkamen,  im  Kampf  ums  Dasein 
gegen  die  anderen  Gemeinschaften  einen  Vorteil  besafsen,  da  sie 
bei  verminderter  innerer  Reibung  mehr  Kraft  nach  aufsen  entfalten 
konnten. 

Aller  Sozietätenkampf,  auch  der  der  Familien  untereinander, 
züchtet  nach  einer  anderen  Richtung  als  die  Finzelkonkurrenz  in- 
sofern, als  ein  Teil  der  gezüchteten  sozialen  Tugenden,  besonders 
ein  hoher  Grad  von  Altruismus,  seinem  Träger  oft  zum  Schaden 
im  Kinzelkampf  gereicht.  Das  ist  ein  Zwiespalt  in  der  Richtung 
der  Zuchtwahl,  der  sich  nicht  blofs  beim  Menschen,  sondern  bei 
allen  gesellig  lebenden  Tieren  findet,  ein  Zwiespalt,  hervorgebracht 
durch  den  Umstand,  dafs  eine  dem  Individuum  schädliche  Eigen- 
schaft, die  sonst  ausgejätet  worden  wäre,  wie  oft  ein  sehr  hoher 
Grad  von  Altruismus,  der  Gesellschaft  in  ihrem  Kampf  ums  Dasein 
von  Vorteil  ist,  und  dafs  andererseits  Eigenschaften,  die  dem  Besitzer 
im  Einzclkampf  oft  von  Vorteil  sind,  wie  z.  B.  ein  hoher  Grad  von 
Egoismus,  bei  denjenigen  Gesellschaften  zum  Untergang  fuhren 
mufste,  bei  denen  diese  Individuen  zu  zahlreich  gezüchtet  waren. 
Daraus  erklärt  sich  die  oft  erstaunlich  vorteilhafte  Balancierung 
zwischen  altruistischen  und  egoistischen  Anlagen  der  Individuen. 

Die  im  Kampf  ums  Dasein  Ausgelesenen  nun  werden  die 
Eltern  der  neuen  Generation  und  haben  die  Tendenz,  die  tüchtigen 
Eigensclfaften.  auf  Grund  deren  sie  obsiegten,  ihren  Nachkommen 
durch  die  Vererbung  zu  übertragen.  Durch  die  Thatsache,  dafs 
tüchtige  Eltern  durchschnittlich  einen  gröfseren  Prozentsatz  von 
tüchtigen  Nachkommen  erzeugen,  als  untüchtige  Eltern,  hat  die 
Selektion  einen  verbessernden  Einflufs  auf  die  Qualität  der  nächsten 
Generation.  Allerdings  nicht  hinaus  über  die  Darbietungen  der 
Variabilität,  denn  tüchtige  Varianten  können  nur  dann  im  Kampf 
ums  Dasein  ausgelesen  werden,  wenn  sie  vorher  erzeugt  worden 
sind.  Wird  die  Umgebung  rauher  und  der  Kampf  ums  Dasein 
schärfer,  d.  h.  gehört  eine  höhere  Tüchtigkeit  des  Individuums 
dazu,  sich  zu  erhalten  und  fortzupflanzen,  so  wird  zwar  durch  die 
engere  Auslese  der  Tüchtigsten  das  Niveau  der  Art  gehoben,  allein 
nur  bis  zu  dem  Durchschnitt  der  schon  vorher  bestandenen  Varia- 
bilität der  Tüchtigeren.  Erst  wenn  diese  Variabilität  selbst  einen 
fortschrittlichen  Charakter  annimmt,  ist  die  wirkliche  Grundlage 
einer  Weiterentwicklung  gegeben.  Kampf  ums  Dasein  und  Ver- 
erbung konservieren  also  nur,  das  eigentlich  schöpferische  Element 
der  Entwicklung  ist  und  bleibt  die  Variation. 


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Sozialpolitik  und  Rasscnhygiene  in  ihrem  prinzipiellen  Verhältnis. 


Kinc  um  so  gröfsere  Bedeutung  hat  aber  der  Kampf  ums  Da- 
sein, wenn  er  resp.  die  Umgebung  milder  wird.  Dann  kommen 
mehr  Untüchtige  zur  Krhaltung  und  Fortpflanzung,  mischen  sich 
infolgedessen  mit  Tüchtigeren  und  drücken  nun  kraft  der  Vererbung 
das  Niveau  der  Nachkommenschaft  herab.  Da  von  dieser  jetzt 
wiederum  eine  gegen  früher  erhöhte  Zahl  von  Untüchtigen  in  der 
milderen  Umgebung  erhalten  bleibt,  so  ist  bei  sonst  gleichen  Um- 
ständen der  Rückgang  der  Art  unvermeidlich.  Der  Kampf  ums 
Dasein  oder  die  Ausjätung  der  Schwachen  ist  also  in  jedem  Fall 
der  Bewahrer  der  Art  vor  Kntartung. 

Soviel  über  die  allgemeine  Bedeutung  der  biologischen  Ent- 
wicklungsfaktoren. Wir  wollen  nun  sehen,  wie  sich  das  im  einzelnen 
bei  uns  Menschen  macht. 

Was  die  Variation  der  Kinder  von  den  Eltern  anlangt,  so  giebt 
es  kein  Kind,  welches  nicht  in  seinen  körperlichen  oder  geistigen 
Anlagen  von  den  Eltern  oder  ihrent  Durchschnitt  abwiche.  Die 
einen  sind  kleiner,  die  anderen  sind  gröfser  als  die  Eltern,  die  einen 
dunkler  an  Haut,  Haaren  und  Augen,  die  anderen  heller,  die  einen 
egoistischer,  die  anderen  altruistischer,  die  einen  klüger,  die  anderen 
dümmer.  Die  Variationen  von  den  Eltern  sind  also  reichlich  vor- 
handen. Sie  gehen  in  einigen  P'ällen  so  weit,  dals  anscheinend 
ganz  verschiedene  Typen  herauskommen,  selbst  da,  wo  eine 
Fälschung  der  Stammtafel  sicher  ausgeschlossen  war. 

Ebenso  in  die  Augen  springend  ist  die  Variation  der  Menschen 
unter  einander,  selbst  in  den  engsten  Abstammungskreisen.  Ganz 
abgesehen  davon , dafs  ein  germanischer  Norweger  ein  total 
anderes  Ding  ist,  als  ein  Kuli  oder  ein  Kaffer,  sind  die  Variationen 
z.  B.  innerhalb  der  europäischen  Rasse  selbst  aufserordentlich  ver- 
schieden. Wir  haben  alle  Gröfsen  vom  hohen  breitschulterigen 
Kürassier  bis  zum  zarten  Schneiderlein,  alle  Kopfgröfsen  von  unter 
50  bis  zu  den  62  cm  Umfang  eines  Bismarck  oder  Eugen  Richter. 
Wir  haben  alle  l-ang-  und  Rundkopfarten  von  70 — 100 */„,  die  die 
Breite  von  der  Länge  ausmacht.  Wir  haben  alle  Grade  von  In- 
telligenz vom  Idioten  bis  Kant,  alle  Grade  des  Selbstbewufstseins 
vom  bescheidenen  Darwin  bis  zum  Kaffeehaus-Uebermenschen,  alle 
Grade  des  Muts  von  den  Pariser  Salonhelden,  die  bei  dem  be- 
kannten Bazarbrande  schwache  Frauen  niederschlugen,  um  besser 
fliehen  zu  können,  bis  zu  dem  Arzt,  der  sich  mit  seinem  Pest- 
kranken einschlielst,  und  alle  Grade  von  Egoismus  und  Altruismus, 
von  der  Gemütsroheit  des  moralisch  Blödsinnigen  bis  zu  dem  Helden, 


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400 


Alfred  Ploetz, 


der  sich  für  andere  hinopfert.  Also  die  Darbietungen  der  Ver- 
änderlichkeit, auch  nach  der  Richtung  der  aufsteigenden  Entwick- 
lung, sind  in  reichster  Verschiedenheit  vorhanden. 

Wir  kommen  zur  nonselektorischen  Elimination.  Wenn  ein 
Erdbeben  auf  Ischia  oder  Kratakoa  Tausende  und  Zehntausende  von 
Menschen  hinrafft,  oder  wenn  ein  Ziegel  vom  Dach  einen  Vorüber- 
gehenden erschlägt,  oder  wenn  ein  Dienstbote  ein  kleines  Mädchen 
verbrüht,  so  dafs  entstellende  Brandnarben  es  an  der  späteren 
Heirat  hindern,  so  sind  das  alles  Beispiele  einer  wahllosen  Elimi- 
nation. 

Dals  eine  extrale  Ausjätung  stattfindet,  ist  nie  bestritten  worden. 
Hitze,  Kälte,  Nässe  z.  B.  sind  Faktoren,  gegen  die  sich  die  Menschen 
je  nach  ihrer  Konstitution  verschieden  verhalten.  Wenn  sich  heute 
beinahe  jeder  der  Einatmung  von  Tuberkelbazillen  aussetzt,  und 
sich  auch  über  drei  Viertel  wirklich  infizieren,  jedoch  nur  ein  be- 
deutend geringerer  Prozentsatz  ernsthaft  an  der  Tuberkulose  erkrankt 
und  stirbt,  so  heilst  das  soviel,  dafs  der  Tubcrkelbazill  eine  äufserc 
Schädlichkeit  ist,  die  sich  den  betroffenen  Individuen  gegenüber  ver- 
schieden verhält  und  einen  Teil  ausjätet,  den  anderen  verschont. 

Viel  mehr  Meinungsdifferenzen  bestehen  über  die  soziale  Aus- 
jätung. Und  doch  ist  ihr  ^tatsächliches  Feld  noch  gröfser  als  das 
der  extralen,  da  sie  cs  ist,  die  sehr  häufig  den  äufseren  Schädlich- 
keiten erst  den  Boden  vorbereitet.  Wenn  ein  Verbrecher  durch 
seine  Mitbürger  auf  längere  Zeit  ins  Gefängnis  gesetzt  wird,  so  be- 
deutet das  für  ihn  eine  so  grofse  Schädlichkeit,  dafs  sie  meistens 
einer  Ausmerzung  gleichkommt.  Bedeutet  das  Verbrechen,  wie 
sehr  oft,  wenn  auch  nicht  immer,  eine  Schädigung  anderer  Menschen, 
so  liegt  eine  soziale  Ausjätung  derjenigen  Individuen  vor,  deren 
Intelligenz  oder  Organ  für  sittliche  Hemmungen  nicht  besonders 
ausgebildet  sind. 

Ein  weiteres  Beispiel  der  sozialen  Ausjätung  ist  die  geschlecht- 
liche oder  sexuelle.  Die  Frauen,  die  auf  Grund  ihrer  minderwertigen 
Eigenschaften  kein  Mann  wählte,  oder  die  einen  so  gearteten  Charakter 
hatten,  dafs  sie  sich  von  keinem  Mann  wählen  liefsen,  sind  völlig 
ausgejätet.  Analog  bei  den  Männern.  Da  der  Prozentsatz  der  un- 
verheirateten F rauen  und  Männer  sehr  grofs  ist,  oft  bis  zu  25  und 
30  Proz.,  und  da  der  gröfse  Teil  dieser  Unverheirateten  auf  Grund 
von  Eigenschaften  unverheiratet  blieb,  die  von  denen  der  ver- 
heirateten Individuen  verschieden  sind,  so  ist  die  sexuelle  Aus- 
jätung ein  bedeutender  Teil  der  sozialen  Ausjätung  überhaupt. 


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401 


Sozialpolitik  und  KasM'nhygient  in  ihrem  prinzipiellen  Verhältnis. 

Als  eine  andere  wichtige  Form  der  letzteren  erkannten  wir  die 
Sozietäten- Ausjätung.  Der  Kampf  ums  Dasein  der  Sozietäten,  von 
kleinsten  Gruppen  bis  zu  grofsen  Gesellschaften,  nimmt  bei  den 
Menschen  ein  noch  ganz  bedeutend  gröfseres  Feld  ein  als  bei  den 
anderen  Herdentieren.  Einfache  und  erweiterte  Familien  haben 
miteinander  gekämpft  sowie  ganze  Stämme  und  Völker,  und  zwar 
nicht  blofs  um  Herrschaft,  was  unwesentlicher  ist,  sondern  auch  im 
Sinne  der  Darwinschen  Zuchtwahl  um  Ausbreitung  ihrer  Nach- 
kommenschaft. Wie  wir  schon  vorher  konstatierten,  ist  die  Rich- 
tung dieser  Art  des  sozialen  Kampfes  neben  der  Verstärkung  aller 
möglichen  tüchtigen  Eigenschaften  noch  ganz  besonders  auf  die 
Heranzüchtung  der  sozialen  Tugenden  gerichtet,  vor  allem  auf  die 
Willigkeit,  die  anderen  Mitglieder  der  Gemeinschaft  zu  unterstützen 
durch  direkte  physische  Hilfsleistungen  sowie  durch  Ehrlichkeit  und 
(ierechtigkeit,  d.  h.  ganz  im  allgemeinen  auf  Altruismus  aller  Art 
bis  zur  Aufopferung  des  eigenen  Lebens.  Denn  nicht  blofs  die 
Gesellschaften,  die  viele  körperlich  und  geistig  kräftige  Individuen 
zählten,  hatten  mehr  Aussicht  im  Kampf  ums  Dasein  mit  anderen 
Gesellschaften,  sondern  vor  allem  die  Gesellschaften,  bei  denen  dazu 
noch  eine  grolsc  Menge  sittlich  hochstehender  Individuen  kamen, 
d.  h.  solcher,  in  derem  Hirn  die  organischen  Anlagen  für  altruistische 
Bethätigung  gut  ausgebildet  waren.  Der  schon  berührte  Zwiespalt 
in  den  Richtungen  der  Züchtung  beim  Gruppenkampf  und  beim 
Einzelkampf  erklärt  übrigens,  weshalb  ein  so  lebhafter  Streit  um 
die  Frage  geführt  wird,  ob  wirklich  der  Kampf  ums  Dasein  das 
hat  hervorbringen  helfen , was  wir  unsere  Sittlichkeit , das  gute 
ethische  Verhalten,  nennen,  denn  er  lielsc  nur  den  Angepal'sten, 
nicht  den  Besten  überleben.  Wenn  wir  den  erwähnten  Zwiespalt 
der  Zuchtwahl  im  Auge  behalten,  löst  sich  dieser  Streit  leicht,  denn 
im  Kampf  ums  Dasein  der  Gruppen  sind  unsere  hohen  ethischen 
Eigenschaften  erworben  als  echte  Anpassungen  dieser  Gruppen. 

Noch  eine  wichtige  Art  der  sozialen  Auslese  und  Ausjätung 
ist  zu  betrachten,  die  wirtschaftliche.  Es  giebt  Bettler  und  Millionäre 
und  dazwischen  alle  Stufen  der  Lebenshaltung.  Da  die  Menschen 
um  so  eher  erkranken  und  sterben,  je  ärmer  sie  sind,  und  um  so 
weniger  leicht  erkranken  und  um  so  später  sterben,  je  wohlhabender 
sie  sind,  und  da  die  Zahl  der  Armen  sehr  grofs  ist  im  Verhältnis 
zu  der  der  Wohlhabenden,  so  ist  der  Mangel  an  wirtschaftlichen 
Gütern  ein  eliminierendes  Element  ersten  Ranges,  das  allerdings 
weniger  direkt  als  indirekt  wirkt,  indem  cs  den  extralen  Schädlich- 


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402 


Alfred  P 1 o e 1 1 , 


keiten,  besonders  den  Bakterien,  die  Wege . öffnet.  Nur  bei  den 
höchsten  Einkommen  schlägt  die  Wirkung  um.  Zwar  ist  auch  hier 
noch  die  Sterblichkeit  aufserordentlich  gering,  allein  die  Fruchtbar- 
keit sinkt  unter  den  notwendigen  Ersatz  der  Zahl  herab.  Deshalb 
besteht  in  diesen  Kreisen  der  Reichsten  eine  äufserst  scharfe  Aus- 
jäte der  Unfruchtbaren,  und  nur  ein  verhäitnismäfsig  kleiner  Teil, 
der  gegenüber  den  Einflüssen  des  Reichtums  seine  Fruchtbarkeit  zu 
erhalten  weifs,  wird  ausgelesen.  Nach  den  mittleren  Einkommen 
zu  wird  die  Fruchtbarkeit  stetig  normaler,  bei  den  Arbeitern  ist 
sie  oft  übermäfsig  grofs,  um  beim  Lumpenproletariat  wieder  zu 
sinken.  Infolge  dieses  Verhaltens  der  Geburten-  und  Sterberate  bei 
den  verschiedenen  sozialen  Schichten  befinden  sich  die  obersten  und 
untersten  Schichten  im  Vergleich  zu  den  breiten  mittleren  im  Zu- 
stande des  Ausgejätetwerdens,  und  nur  die  mittlere  Hälfte  bildet 
auf  die  Dauer  den  Ersatz  der  Nation.  Auf  dem  Niveau  dieser  Ein- 
kommenschichten, auch  in  den  mittleren,  ist  nun  überall  bei  gleichen 
Tendenzen  der  Fruchtbarkeit  die  Elimination  um  so  stärker  je  ge- 
ringer das  Einkommen. 

Die  Frage  ist  nur,  wirkt  diese  Elimination  selektorisch  oder 
nonselektorisch,  d.  h.  wird  oder  bleibt  jemand  arm  infolge  seiner 
L'ntüchtigkeit,  oder  ist  und  bleibt  der  Arme  deshalb  arm,  weil  er 
unter  übermächtigen  Einflüssen  steht,  denen  gegenüber  es  ganz 
gleich  ist,  ob  er  tüchtig  oder  untüchtig  ist  ? Beides  ist  der  Fall. 
Die  Armut  ist  sowohl  nonselektorischer  als  selektorischer  Art.  Um 
die  Rolle  des  Einkommens  im  Kampf  ums  Dasein  richtig  zu  würdigen, 
müssen  wir  uns  vergegenwärtigen,  dals  Armut  zum  grofsen  Teil  ein 
relativer  Begriff  ist  je  nach  der  gesellschaftlichen  Schicht,  zu  der 
jemand  gehört,  und  dafs  deshalb  die  Auslese  und  Ausjäte  durch 
Einkommensunterschiede  hauptsächlich  innerhalb  der  Individuen  des- 
selben Niveaus  statt  hat,  daneben  allerdings  auch  in  geringerem 
Grade  unter  den  einzelnen  Schichten  selbst.  Wenn  bei  einem  An- 
gehörigen der  oberen  Zehntausend  das  Einkommen  auf  2000  Mk. 
gesunken  ist,  so  kann  das  für  ihn  ein  Grund  sein,  sich  durch  nicht 
genügende  Reduzierung  seiner  äul'seren  Repräsentation  mangelhaft 
zu  ernähren  oder  nicht  zu  heiraten,  so  dafs  er  der  Ausjätung  ver- 
fallt. Ein  Arbeiter  dagegen,  dessen  Einkommen  sich  auf  2000  Mk. 
erhöht,  hat  vor  seinen  Genossen  eine  gesteigerte  Fähigkeit,  un- 
günstige Lebensbedingungen  von  seinen  Kindern  fern  zu  halten,  und 
ist  so  ein  Ausgelesener  seiner  Schicht. 

Doch  nun  im  speziellen  zu  der  Frage,  ob  und  wie  weit  Armut 


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Sozialpolitik  und  Kassenhygiene  in  ihrem  prinzipiellen  Verhältnis. 


selektorisch  und  nonselektorisch  zustande  kommt.  Wenn  ein  Fabrik- 
herr  bei  einer  allgemeinen  wirtschaftlichen  Krise  einen  Teil  seiner 
Arbeiter  entlassen  mufs,  so  wählt  er  dazu  mit  Vorliebe  die  faulen, 
dummen,  trunksüchtigen,  schwächlichen,  unbotmäfsigen  oder  ihm 
sonst  unbequemen  aus.  Sowenig  die  Unbotmäfsigkeit  auf  einer 
Minderwertigkeit  des  Arbeiters  zu  beruhen  braucht,  so  häufig  wird 
dies  der  Fall  sein  bei  der  Faulheit,  Dummheit,  Trunksucht  und 
Schwächlichkeit.  Die  Armut,  in  welche  die  entlassenen  Arbeiter 
geraten,  wäre  also  zum  gröfsten  Teil  wenigstens  selektorischer  Art. 
Dasselbe  findet  in  ähnlicher  Weise  auch  bei  den  kleineren  Arbeit- 
gebern statt  bis  herunter  zum  Handwerker,  der  nur  einen  Lehrling 
beschäftigt.  Sie  stellen  minderwertige  Arbeiter  entweder  gar  nicht 
ein,  so  dais  diese  Aermsten  dem  Lumpenproletariat  verfallen,  oder  sie 
entlassen  sie  wieder,  wenn  die  Zeiten  schlecht  gehen,  und  degra- 
dieren so  den  Arbeiter  zum  Mitglied  der  industriellen  Reservearmee. 
Aehnliches  findet  bei  Beamten  statt.  Entlassungen  und  Beförderungen 
richten  sich  nicht  immer,  aber  vielfach  nach  der  Qualität  der  An- 
gestellten. In  der  Klasse  der  liberalen  Berufe  hängt  ebenfalls  die 
Höhe  des  Einkommens  oft  genug  ab  von  den  persönlich  bedeutenden 
Qualitäten  des  Individuums.  Ebenso  auch  bei  den  Unternehmern. 
Selbst  bei  den  Rentiers  trifft  es  zu,  denn  nur  der  wirtschaftlich 
Beanlagte  unter  ihnen  bleibt  oben,  der  Versclnvender  wird  arm. 

Gegenüber  allen  diesen  Fällen,  in  denen  die  Armut  eine  Folge 
minderwertiger  Eigenschaften  ist,  giebt  es  aber  auch  ein  grofecs 
Feld  nonselektorisch  bedingter  Armut,  die  ihrem  Opfer  anhängt, 
gleich,  ob  es  tüchtig  ist  oder  nicht  Zur  Erzeugung  von  Gütern 
gehören  nämlich  nicht  nur  Arbeitswille  und  Arbeitskraft,  sondern 
auch  Naturstoffe,  aus  denen  ja  erst  mit  Hilfe  der  Arbeit  die  ge- 
wünschten Güter  entstehen  können.  Wenn  nun  einzig  einem  Bruch- 
teil von  Menschen  bereits  die  Produktionsmittel  gehören  allein 
durch  das  Vorrecht  ihrer  Geburt,  und  sie  das  durch  die  Allgemein- 
heit verteidigte  Recht  besitzen,  jeden  anderen  von  der  Benutzung 
abzuhalten,  so  wird  dadurch  für  den  grofeen  Rest  der  Menschen 
eine  Zwangslage  geschaffen,  die  ihn  verhindert,  ohne  weitere  Um- 
stände Güter  zu  produzieren.  Diese  rechtliche  Enterbung  eines 
grofsen  Teils  unserer  Mitbürger  hat  zur  Folge,  dafs  sie  um  jeden 
Preis  ihre  Arbeitskraft  den  Besitzenden  anbieten  müssen,  und  des- 
halb auf  bekannte  Weise  daran  verhindert  werden,  genügend  wirt- 
schaftliche Güter  zu  erwerben.  Da  dieser  rechtliche  Zustand  durch 
die  Waffengewalt  des  Staates  aufrecht  erhalten  wird,  ist  die  allein 


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Alfred  P I o e 1 1 , 


404 

daraus  entspringende  Armut  der  blofs  Arbeitskraft  Besitzenden  be- 
dingt durcli  übermächtige  Schädlichkeiten  und  also  nonselekto- 
rischer  Art. 

jedoch  durch  folgende  Umstände  ist  die  kapitallose  Geburt 
nicht  ein  rein  nonselektorisches  Phänomen  für  die  davon  Betroffenen. 
Schon  die  Geschichte  der  ursprünglichen  Erlangung  von  l'rivelegien 
in  Bezug  auf  den  Besitz  von  Produktionsmittel  zeigt  uns,  dafs  ein 
grofser  Teil  der  Erwerber  derselben  zwar  in  Bezug  auf  rücksichts- 
losen Egoismus,  aber  auch  auf  Thatkraft,  Umsicht  und  Intelligenz 
hervorragend  waren.  Ihre  Nachkommen  waren  durch  Vererbung 
häufiger  tüchtig  als  untüchtig.  Soweit  sie  tüchtig  waren,  hielten 
sic  oft  das  ererbte  Gut  beisammen  oder  vermehrten  cs;  soweit  sie 
untüchtig  waren,  verschwand  es  oft  wieder  aus  ihren  Händen,  und 
sie  versanken  in  tiefere  Stufen  der  Lebenshaltung.  Dieser  Prozefs 
ist  bis  heute  fortgegangen,  und  die  heutigen  Besitzer  sind  thatsäch- 
lich  zu  einem  Teil  eine  Auslese  ganz  bestimmter  Charaktere,  die 
neben  einem  scharfen  Erwerbssinn,  Fleil's,  Sparsamkeit,  Thatkraft 
und  Intelligenz  besitzen,  zu  einem  anderen  Teil  die  schlechten 
Varianten  der  früheren  tüchtigen  Besitzer.  Diese  schlechten  Vari- 
anten sinken  früher  oder  später  in  niedrigere  Lebenshaltungen. 
Dazu  kommt  ein  permanentes,  wenn  auch  wenig  zahlreiches  Auf- 
steigen besonders  tüchtiger  Varianten  aus  tieferen  Schichten  bis  zu 
grolsem  Besitz,  so  dafs  man  im  allgemeinen  sagen  kann,  dafs  die 
Nachkommen  der  heutigen  grölseren  Besitzer,  auch  bei  Berück- 
sichtigung der  Quote  mit  zu  stark  betontem  wirtschaftlichen  Egois- 
mus, doch  prozentisch  bedeutend  mehr  Tüchtige  unter  sich  zählen, 
als  die  der  Armen.  Dadurch  ist  bei  diesen  letzteren  die  That- 
sache,  dafs  sie  enterbt  geboren  werden,  oft  der  Ausdruck  der  Ver- 
erbung der  Eigenschaften  selektorisch  Armer,  also  oft  nur  ein  Glied 
in  der  sich  häufig  genug  durch  Generationen  hinziehenden  wirt- 
schaftlichen Ausjätung.  Aber  damit  wird  die  Thatsache  natürlich 
nicht  aus  der  Welt  geschafft,  dafs  es  unter  den  Armen  eine  ganze 
Reihe  tüchtiger  Varianten  giebt,  tüchtig  besonders  auf  allen  mög- 
lichen anderen  Gebieten  als  gerade  dem  Erwerbsleben,  deren  Ent- 
erbung bei  der  Geburt  eine  rein  nonselektorisehe  Schädlichkeit  für 
sie  und  eine  Vergeudung  von  Kraft  für  die  Kasse  bildet. 

Ueber  den  letzten  der  Entwicklungsfaktoren,  die  Vererbung, 
brauchen  wir  uns  nicht  weiter  auszulassen.  Die  Thatsache  ist  all- 
gemein bekannt,  dafs  durchschnittlich  tüchtige  Eltern  unter  ihren 


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Sozialpolitik  und  Hassenhygiene  in  ihrem  prinzipiellen  Verhältnis.  405 

Nachkommen  einen  grölseren  Prozentsatz  von  Tüchtigen  aufweisen 
als  untüchtige  Eltern. 

Diese  Skizzierung  des  Lebensprozesses  unserer  Rasse  wäre 
jedoch  nicht  vollständig  ohne  die  Erwähnung,  der  auch  bei  den 
Tieren  beobachteten  sogenannten  Kontraselektion,  d.  h.  der  Schädi- 
gung von  Tüchtigen,  gerade  weil  sie  tüchtig  sind,  und  der  Förde- 
rung von  Schwachen,  gerade  weil  sie  schwach  sind.  Wenn  wir 
mehrere  Male  im  Jahrhundert  die  Blüte  unserer  Völker  auf  die 
Schlachtfelder  schicken,  um  sie  durch  Waffen  und  Krankheiten 
dezimieren  zu  lassen,  während  der  Rest  zu  Hause  bleibt  und  der- 
weilen Kinder  zeugt,  so  ist  das  ein  Ausmerzen  von  Starken,  weil 
sie  stark  sind.  Und  wenn  das  auch  zum  Kampf  ums  Dasein 
der  Rassen  untereinander  gehört,  so  bleibt  deshalb  die  Bedeutung 
des  Krieges  für  die  Rasse  selbst  doch  immer  eine  kontraselek- 
torische.  Wenn  andererseits  ein  Kranker  irgend  einer  sozialen  Schicht 
sorgfältig  verpflegt  wird,  viel  sorgfältiger  als  irgend  ein  Gesunder 
derselben  Schicht,  so  bedeutet  das  oft  ein  Erhaltenwerden  durch 
günstige  Pflege,  während  vielleicht  ein  Tüchtiger  in  unverschuldeter 
Armut  der  Elimination  verfallt. 

Gegen  diese  Anwendung  darwinistischer  Prinzipien  auf  die 
Erhaltung  und  Weiterentwicklung  unserer  menschlichen  Rasse  wird 
noch  häufig  folgender  Einwand  erhoben.  Es  wird  zwar  zugegeben, 
dals  der  ganze  Mechanismus  zu  einer  feinen  Anpassung  der  mensch- 
lichen Rasse  an  ihre  Umgebung  führt,  aber  nicht  zu  einer  Vervoll- 
kommnung. Allein  wir  können  uns  bei  näherer  Ueberlegung  leicht 
davon  überzeugen,  dafs  im  Falle  der  Menschen  die  bessere  An- 
passung zugleich  ein  höherer  Grad  von  Vollkommenheit  ist.  Denn 
es  findet  nicht  nur  eine  günstige  Variation  inbezug  auf  einfache 
Konstitutionskraft  und  eine  extrale  Ausjäte  der  hierin  ungünstigen 
Varianten  statt,  die  zur  Anpassung  der  Rasse  an  die  äufsere  Natur- 
umgebung führt,  sondern  es  findet  auch  eine  günstige  Variation 
statt  inbezug  auf  die  soziale  Konstitutionskraft,  d.  h.  inbezug  auf 
die  Eigenschaften,  welche  die  soziale  Umgebung,  bestehend  aus 
den  anderen  Individuen,  zu  einer  günstigen  machen,  und  eine  soziale 
Ausjätung  der  hierin  unpassenden  Varianten,  wodurch  die  An- 
passung der  Individuen  an  ihre  soziale  Umgebung  bewirkt  wird.  Die 
extrale  Anpassung  erzeugt  zwar  nur  das,  was  wir  Gesundheit  und  körper- 
liche Konstitutionskraft  im  engeren  Sinne  nennen,  allein  die  soziale  An- 
passung erzeugt,  und  zwar  besonders  durch  die  sexuelle  und  Socie- 
täten-Auslese,  wenigstens  einen  grofsen  Teil  derjenigen  Eigenschaften, 


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4ö6 


Alfred  P I o c t z , • 


die  wir  gewöhnlich  als  Konstituenten  der  Vollkommenheit  ansehen, 
wie  Schönheit,  Anmut,  Liebenswürdigkeit,  Altruismus,  ja  sogar 
Heldentum.  Das  im  Einzelnen  alles  nachzuweisen  pafst  nicht  in 
dem  engen  Rahmen  dieser  Erörterung. 

Die  Kombination : Variabilität,  Kampf  ums  Dasein,  Vererbung, 
erscheint  also  als  wirksam  für  Erhaltung  wie  Vervollkommnung. 
Aber  wie  langsam  und  umständlich  und  vor  allem  wie  grausam 
arbeitet  dieser  Prozefs!  Im  I .aufe  der  Hunderttausende  von  Genera- 
tionen, die  das  Menschengeschlecht  wohl  schon  existiert,  sind  Milli- 
onen blühender  Leben  nutzlos  durch  übermächtige  Einflüsse  ver- 
nichtet worden,  sind  abermals  Millionen  im  .Kampf  ums  Dasein 
niedergetreten  worden  oder  in  elendem  Siechtum  verkommen,  und 
endloser  Jammer  ist  der  Preis  gewesen  für  jeden  kleinen  Fortschritt 
des  Menschen  in  seiner  Anpassung  an  die  Erde  und  an  seine  eigene 
Gesellschaft.  Noch  heute  ist  es  nicht  anders.  Erst  in  neuester 
Zeit  ist  unserer  Rasse  ein  Selbstbcwufstsein  ihrer  Entwicklung  ge- 
wachsen, und  sie  geht  an  den  Versuch,  sich  den  Gang  dieser  Ent- 
wicklung selbst  zu  gestalten  und  ihn  in  mildere  und  doch  wirk- 
samere Formen  zu  lenken. 

Hiermit  gelangen  wir  zur  Rassenhygiene.  Ihr  Gegenstand  ist 
die  Frage:  wie  werden  die  Faktoren  der  Erhaltung  und  Entwicklung 
optimal  gestaltet,  damit  die  Erhaltung  möglichst  gesichert  und  die 
Entwicklung  möglichst  rasch  gefördert  wird?  Betrachten  wir  erst 
die  Optima  der  einzelnen  Faktoren  für  sich  und  dann  ihr  Zu- 
sammenwirken. 

Was  zunächst  das  eigentlich  schöpferische  Moment  der  Ent- 
wicklung anlangt,  die  Variabilität,  so  wäre  das  Optimum  natürlich 
die  F>zeugung  möglichst  vieler  Variationen,  die  tüchtige  und  hoch- 
entwickelte  Individuen  darstellen,  und  die  Erzeugung  möglichst 
weniger  untüchtiger  Variationen.  Die  Ursachen  der  besonders 
guten  oder  gar  progressiven  Variationen  kennt  man  noch  nicht. 
Dagegen  kennt  man  eine  Anzahl  von  Ursachen  der  schlechten 
Variation,  auf  die  wir  später  noch  zurückzukommen  haben.  Hier 
würde  also  die  Rassenhygiene  die  Vermeidung  aller  dieser  Ur- 
sachen fordern. 

Inbezug  auf  die  nonselektorische  Elimination  wäre  das  Optimum 
ihre  Reduzierung  auf  Null.  Denn  diese  Elimination  ist  eine  pure 
Vergeudung  der  Zeugungskraft  der  Rasse  und  vermindert  nur  ihre 
Widerstandskraft  im  Kampf  ums  Dasein. 

Das  Optimum  der  sclektorischen  Elimination  wäre  eine  solche 


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Sozialpolitik  und  Rassenhygiene  in  ihrem  prinzipiellen  Verhältnis. 


Verschärfung,  resp.  eine  solche  Erhöhung  der  Ungunst  der  Um- 
gebung, dafs  nur  so  viel  der  tüchtigsten  Varianten  jedesmal  zur 
Nachzucht  übrig  bleiben,  dafs  der  Bestand  der  Rasse  nicht  gefährdet 
wird.  Da  manche  der  ausmerzenden  Faktoren  sich  über  mehrere 
Generationen  hinziehen,  ehe  sie  ihre  völlig  abschliefsende  Wirkung 
erzielt  haben  und  mittlerweile  die  Glieder  der  zuerst  noch  nicht 
gleich  bis  zum  Tode  oder  bis  zur  Fortpflanzungs-Unfähigkeit  ge- 
schädigten Nachkommenschaft  Zeit  haben,  sich  mit  Tüchtigeren  zu 
paaren,  so  sind  unter  den  ausjätenden  Faktoren  diejenigen  die 
rassen hygienisch  günstigsten,  die  ihr  Werk  möglichst  rasch  beenden. 
Einer  der  kräftigsten  Ausjäter  heute  ist  der  Alkohol.  Aber  er 
braucht  gewöhnlich  viel  Zeit  dazu.  Ein  starker  Trinker,  der  zudem 
manchmal  in  seinen  zwanziger  Jahren  noch  nicht  viel  trinkt,  wird 
selten  gleich  sexuell  ausgemerzt  dadurch,  dafs  er  keine  Frau  be- 
kommt. Oft  genug  verheiratet  er  sich  und  bekommt  nun  zwar 
nachgewiesenermafsen  durchschnittlich  weniger  Kinder  als  die 
Nichttrinker,  allein  er  bekommt  doch  welche.  Die  taugen  nun 
allerdings  meistens  nicht  viel,  sind  kleiner,  schwächlicher  und  haben 
eine  grofse  Sterblichkeit.  Allein  ein  gewisser  Teil  von  ihnen  kommt 
doch  zur  Verheiratung  und  vererbt  nun  seine  Schwächen  in  er- 
höhtem Mafse,  wenn  er  eine  untüchtige  F'rau  bekommt,  oder  vererbt 
sie  in  geringerem  Mafse,  wenn  er  eine  kräftige  Frau  bekommt.  Im 
ersteren  Falle  geht  die  Degeneration  weiter  vorwärts,  im  zweiten 
Fall  kann  bei  ihm  zwar  eine  geringe  Regeneration  eintreten,  aber  nur 
auf  Kosten  seiner  tüchtigen  Frau,  deren  gute  Variations-  und  Ver- 
erbungsmöglichkeiten er  verdirbt.  Auch  dieser  Nachwuchs  ist  also 
noch  immer  minderwertig  und  verfällt  deshalb  leichter  der  Ausjäte, 
kann  aber  seinerseits  auch  wieder  tüchtige  Varianten  von  ihrer 
Höhe  herabzichen.  Wenn  somit  der  Alkohol  auch  schliefslich  neben 
vielfacher  nonselektorischen  Schädigung  eine  starke  ausjätende  Funk- 
tion denen  gegenüber  vollführt,  die  durch  Leichtsinn,  durch  Mangel 
an  sittlichen  Hemmungen  und  vor  allem  durch  eine  Sucht,  sich  zu 
berauschen,  zu  den  Untüchtigen  gezählt  werden  müssen,  so  führt 
er  doch  seine  Rolle  so  langsam  aus  und  wälzt  sich  so  überflüssig 
breit  und  zermalmend  über  eine  Masse  Menschen,  die  gar  nicht 
einmal  nach  ihm  süchtig  sind,  sondern  ihm  nur  indirekt  ihre 
Schwäche  verdanken,  dafs  man  gerade  bei  diesem  Beispiel  leicht 
einsieht,  wie  viel  vorteilhafter  es  für  die  Rasse  ist,  wenn  an  Stelle 
eines  solchen  umständlichen  und  kostspieligen  Faktors  der  Aus- 
jätung  ein  anderer  tritt,  der  seine  Arbeit  rasch  und  mit  viel  weniger 


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A I fre  d 1* lo et z. 


408 

Schmerzen  besorgt.  Ganz  ähnlich  verhält  es  sich  mit  der  Syphilis 
und  mit  der  Tuberkulose. 

Eine  günstigere  Art  der  Ausjäte  ist  die  der  Unerwacbsenen 
bis  zur  Zeit  der  Reife,  also  hauptsächlich  die  der  Kinder.  Man 
weifs,  dafs  die  Mortalität  der  Kinder  in  den  ersten  Lebensjahren 
sehr  hoch  ist,  dafs  bis  zum  fünften  Jahr  oft  ein  Drittel  der  Ge- 
borenen bereits  wieder  gestorben  ist.  Diese  Sterblichkeit  ist  zwar 
zu  einem  gewissen  Teil  nonselektorisch  als  Folge  nonselektorischer 
Armut  der  Eltern,  allein  der  grölste  Teil  ist  selektorischer  Art  und 
ist  die  Folge  einer  geringeren  Widerstandskraft  gegen  die  gewöhn- 
lichen Schädlichkeiten  des  Lebens,  speziell  der  Ernährung. 

Am  mildesten  und  dabei  doch  am  raschesten  und  wirksamsten 
erscheint  die  sexuelle  Ausjäte.  Ein  Mann  oder  eine  Frau  können 
noch  so  kräftig  sein,  wenn  sie  keine  Kinder  haben,  kommen  sie  für 
das  Fortleben  der  Rasse  nicht  in  Betracht.  Die  Ausmerzung  ist 
glatt  und  vollständig,  ohne  dafs  erst  schwache  Varianten  in  die 
Welt  gesetzt  werden,  die  sich  ein  paar  Generationen  hindurch  mit 
dem  Leben  abquälen  und  schließlich  doch  zu  Grunde  gehen.  Des- 
halb ist  die  sexuelle  die  Idealausjäte  unter  den  Individuen.  Die 
Frage  ist  nur,  kann  sie  alle  anderen  Arten  der  Ausjäte  insofern 
vertreten,  als  sie  nach  derselben  Richtung  hin  züchtet,  d.  h.  die 
Träger  derselben  Eigenschaften  ausjätet,  wie  die  anderen  Arten. 
Zu  einem  Teil  ist  das  sicher  der  Fall,  besonders  soweit  Heiraten 
ein  auch  im  biologischen  Sinne  auslcsender  Prozefs  ist.  was  be- 
kanntlich keineswegs  immer  zutrifft  aus  ähnlichen  Gründen  der 
Rücksicht  auf  Privilegien  der  Geburt,  die  wir  bereits  vorher  er- 
wähnten. Soweit  jedoch  eine  Heirat  selektorisch  ist,  erfolgt  die 
Wahl  meistens  auf  Grund  der  Ueberzeugung  von  irgend  einer 
biologischen  Wertigkeit,  von  stattlichem  Wuchs,  von  Gesundheit, 
Schönheit,  Kraft,  Güte,  Intelligenz,  Lebhaftigkeit  etc.,  alles  Dinge, 
die  entweder  im  extralen  oder  sozialen  Kampf  ums  Dasein  von 
Bedeutung  sind  und  Errungenschaften  der  bisherigen  menschlichen 
Entwicklung  darstellen. 

Das  Optimum  der  Kontraselektion  wäre  natürlich  ihre  Redu- 
zierung auf  Null.  Die  Bewegung,  die  gegen  die  Kriege  wenigstens 
unter  den  höchststehenden  Völkern  gerichtet  ist,  ist  deshalb  emi- 
nent im  Sinne  der  Rassenhygiene,  um  so  mehr  als  sie  gerade  bei 
uns  in  Europa  eine  höchst,  entwickelte  Rasse,  die  der  blonden 
N'ordeuropäer,  vor  der  kontraselektorischen  Abbröckelung  besonders 
beschützen  würde,  denn  gerade  diese  Rasscnelemente  sind  es,  die 


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Sozialpolitik  und  Raucnliygicnc  in  ihrem  prinzipiellen  Verhältnis. 


4°9 

durch  ihre  Körpergröße  und  militärisclien  Tugenden  hauptsächlich 
in  den  Kriegen  leiden.  Nur  etwa  */a  der  jungen  Leute  ist  tauglich, 
und  unter  diesen  Tauglichen  bilden  die  Individuen  der  germanischen 
Rasse  einen  bei  weitem  gröfseren  Bruchteil  als  die  der  anderen 
Rassen. 

Man  braucht  nicht  so  weit  zu  gehen,  wie  Darwin,  Gobi- 
neau,  Nietzsche,  Ammon  undChambcrlain,  und  die  germa- 
nische Rasse  ohne  Beweis,  aus  der  blofsen  Anschauung  heraus,  für 
die  weitaus  beste  zu  erklären,  deren  Reinerhaltung  eine  der  ersten 
rassenhygienischen  Forderungen  sei.  Man  kann  sogar  der  Meinung 
sein,  die  auch  nicht  zu  beweisen  ist,  dafs  erst  aus  der  Mischung 
der  Germanen  mit  ähnlich  hochstehenden,  aber  verschiedenen  Rassen, 
die  besten  Typen  entspringen.  Es  genügt  auf  jeden  Fall  voll- 
kommen, in  der  hochgewachsenen  weifsen  Rasse  mit  dem  steilen 
Profil  und  dem  grölsten  Schädelinnenraum  einen  sehr  wertvollen 
und  hochstehenden  Typ  zu  erkennen,  dessen  Abschmelzung  durch 
kontraselektorische  Einflüsse  mit  allen  Kräften  zu  bekämpfen  ist. 
Was  die  Kontraselektion  der  Schwachen  anlangt,  so  erscheint  ihre 
Beseitigung  auf  den  ersten  Blick  im  strengen  Sinne  der  Rassen- 
hygiene als  selbstverständlich,  allein  wir  werden  weiterhin  sehen, 
dafs  das  durchaus  nicht  so  einfach  zu  entscheiden  ist. 

Wenn  wir  nämlich  nach  dem  Optimum  des  Verhaltens  einer 
Rasse  im  Kampf  ums  Dasein  mit  anderen  Rassen  fragen,  so  stofsen 
wir  zuerst  wieder  auf  die  schon  früher  erwähnte  Forderung  der 
Ermöglichung  eines  möglichst  hohen  Geburtenüberschusses  durch 
quantitative  Vermehrung  der  günstigen  Umgebung,  also  z.  B.  für 
uns  durch  Kolonien  in  den  gemäfsigten  Landstrichen.  So  ge- 
wannen die  70  Millionen  Nordeuropäer  Raum  in  Amerika  und 
Australien  und  entschieden  dadurch  wahrscheinlich  ein  für  allemal 
■das  Uebergewicht  der  nordarischen  Rasse.  Sodann  stofsen  wir 
aber  auf  eine  zweite  Hauptforderung,  die  der  möglichsten  Redu- 
zierung der  inneren  Reibung,  um  Kraft  nach  aufsen  zu  gewinnen. 
Gerade  wie  unter  sonst  gleichen  Umständen  eine  Familie  um  so 
stärker  nach  aufsen  dasteht,  je  weniger  innere  Reibung  in  ihr  ist, 
d.  h.  je  mehr  Altruismus  die  einzelnen  Glieder  gegeneinander  be- 
thätigen,  standen  auch  die  Stämme  und  gröfseren  Gemeinschaften 
um  so  stärker  da,  je  mehr  der  Altruismus  im  weitesten  Sinne  des 
Wortes,  d.  h.  je  mehr  Respektierung  und  Förderung  des  anderen 
Individuums  unter  ihnen  zur  Uebung  gelangte.  Und  bei  dieser 
rassenhygienischen  Forderung  des  Altruismus  stofsen  wir  auf  den 

Archiv  für  *oz.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVII.  27 


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4io 


Alfred  IMoetz, 


Widerspruch  gegen  die  Kontraselektion  der  Schwachen,  aber  auch 
gegen  alle  selektorischen  und  nonselektorischen  Schädigungen  von 
Individuen,  die  von  anderen  Individuen  ausgehen,  also  auf  einen 
Widerspruch  auch  gegen  den  sozialen  Kampf  ums  Dasein.  Da,  wie 
wir  sahen,  auch  die  moderne  Sozialpolitik  in  ihrer  einen  Hälfte 
nichts  ist  als  eine  Dokumentation  des  Altruismus  und  eine  Milderung 
des  Kampfes  ums  Dasein,  so  führt  uns  dieser  Konflikt  innerhalb 
der  Rassenhygiene  auf  die  Sozialpolitik  zurück,  und  wir  wollen  des- 
halb die  Erläuterung  dieses  Konfliktes  zugleich  betrachten  mit  der 
rassenhygienischen  Bedeutung  der  Sozialpolitik  und  ihrer  einzelnen 
Bestrebungen. 

Von  den  beiden  Hauptrichtungen  der  modernen  Sozialpolitik, 
der  demokratischen  und  humanitären,  hat  die  demokratische,  d.  h. 
die  Abschaffung  aller  Vorrechte  der  Geburt,  also  auch  des  Erbrechts 
an  Produktionsmitteln,  rassenhygienisch  sehr  verschiedene  Be- 
deutungen. Erstens  eine  starke  Verringerung  der  nonselektorischen 
Armut,  da  nun  auch  die  bisher  enterbten  tüchtigen  Varianten  mit 
den  nötigen  Produktionsbedingungen  ausgerüstet  werden.  Zweitens 
bedeutet  sie  ein  verzögerndes  Eingreifen  in  die  Auslese,  da  sie  die 
Erben  der  guten  wirtschaftlichen  Anlagen  der  besitzenden  Eltern 
der  Mittel  beraubt,  den  Sieg  der  Eltern  auch  für  die  erwachsenen 
Kinder  weiter  wirken  zu  lassen.  Drittens  bedeutet  sie  ein  ver- 
zögerndes Eingreifen  in  die  Ausjätc,  da  sie  den  Untergang  der 
Nachkommen  von  selektorisch  Armen  verzögert,  die  durch  Ver- 
erbung überwiegend  untüchtig  sind  und  kapitallos  rascher  unter- 
liegen würden.  Viertens  aber  bedeutet  sie  eine  Beschleunigung  der 
Ausjäte  derjenigen  schlechten  Varianten,  die  trotzdem  sie  Kinder 
der  Besitzenden  sind , die  tüchtigen  Eigenschaften  nicht  geerbt 
haben,  sondern  degeneriert  sind.  Solche  schlechten  Varianten  werden 
heute  oft  genug  erhalten  durch  die  grossen  Einkommen,  die  sie 
mühelos  von  ihren  Eltern  ererben,  und  würden  einen  sehr  zweifel- 
haften Erfolg  im  Kampf  ums  Dasein  haben,  wenn  sie  mit  keiner 
anderen  Hülfe  bestehen  sollten,  als  mit  demselben  Recht  an  der 
Benutzung  der  Produktionsmittel  wie  alle  anderen  auch. 

Eine  rassenhygienische  Schädlichkeit  durch  demokratische 
Forderungen  erwächst  also  höchstens  durch  eine  Verzögerung  der 
Auslese  der  tüchtigen  Kinder  tüchtiger  Besitzender  und  der  Aus- 
jäte der  untüchtigen  Kinder  untüchtiger  Armer.  Da  jedoch  dem 
Siege  dieser  tüchtigen  Kinder  und  dem  Niedergang  der  untüchtigen 
auf  die  Dauer  nichts  im  Wege  steht,  so  ist  diese  Schädlichkeit  nur 


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Sozialpolitik  und  Rassrnhygienc  in  ihrem  prinzipiellen  Verhältnis.  } i j 

sehr  gering  anzuschlagen,  gerade  so  gering  wie  der  Vorteil  der 
Beschleunigung  der  Ausjätung  untüchtiger  Erbsöhne.  Um  so  mehr 
springt  der  grofse  Nutzen  der  starken  Verminderung  der  non- 
selektorischen  Armut  ins  Auge. 

Dazu  kommt,  dafe  der  Streit  zwischen  Privilegierten  und  Unter- 
drückten um  die  aristokratischen  Vorrechte  zu  gewissen  Zeiten  solche 
Dimensionen  angenommen  hat,  dafs  die  betreffende  Gemeinschaft, 
innerhalb  deren  der  Streit  bestand,  oft  die  gröfsten  Erschütterungen 
erlitt  zum  Schaden  ihrer  Kraft  im  Kampf  ums  Dasein  mit  anderen 
Gemeinschaften.  Auch  heute  noch  besteht  diese  Gefahr  fort,  gerade 
für  unsere  am  weitesten  entwickelten  Staaten  am  meisten.  Soweit 
also  die  moderne  Sozialpolitik  auf  die  demokratischen  Forderungen 
der  Abschaffung  aller  Vorrechte  der  Geburt  hindrängt,  hat  sie  die 
Kassenhygiene  als  kräftigen  Anwalt  neben  sich. 

Wie  verhält  es  sich  nun  mit  der  humanitären  Seite  der  Sozial- 
j>olitik?  Die  humanitäre  Bethätigung  bedeutet  stets  eine  Unter- 
stützung ganz  im  allgemeinen  Sinne  von  Menschen,  die  einer  Unter- 
stützung bedürfen.  Das  sind  entweder  die  Tüchtigen  oder  die  Un- 
tüchtigen. Insofern  als  die  Tüchtigen  unterstützt  werden,  besonders 
wenn  sie  sich  im  Zustande  nonselektorischer  Armut  befinden  und 
vorübergehend,  durch  Krankheiten  z.  B.  geschwächt  sind,  kommt 
natürlich  kein  Konflikt  mit  rassenhygienischen  Forderungen  zustande. 
Wohl  aber,  sobald  es  sich  um  die  Unterstützung  von  Untüchtigen 
handelt,  um  den  Schutz  der  schwach  beanlagten  Individuen.  Hier- 
mit greift  die  humanitäre  Bethätigung  ein  in  den  Kampf  ums  Da- 
sein durch  Verzögerung  oder  gänzliche  Verhinderung  der  Ausjäte 
von  Untüchtigen. 

Auf  der  anderen  Seite  jedoch  liegt  die  humanitäre  Bethätigung 
ganz  in  der  Richtung  der  rassenhygienischen  Forderungen  des 
Altruismus  unter  den  Mitgliedern  einer  Rasse,  um  durch  Vermin- 
derung der  inneren  Reibung  mehr  Kraft  nach  aufsen  entfalten  zu 
können.  Insofern  ist  also  dieser  Teil  der  Sozialpolitik  identisch  mit 
einer  rassenhygienischen  Forderung  selbst,  und  wir  stehen  vor  einem 
Zwiespalt  im  eigenen  Lager,  den  wir  näher  betrachten  wollen,  nach- 
dem wir  uns  noch  vorher  davon  überzeugt  haben,  wie  die  Einzel- 
bestrebungen der  Sozialpolitik  sich  dem  eben  skizzierten  allgemeinen 
Verhalten  der  Sozialpolitik  in  rassenhygienischer  Beziehung  fügen. 

Die  Altersversicherung  ist  gleichbedeutend  mit  einem  Schutz 
von  Individuen,  die  nur  noch  indirekt  mit  dem  I.ebensprozels  der 
Rasse  zu  thun  haben.  Schwache  und  Starke  haben  ihr  Leben  hin- 

27* 


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412 


Alfred  P 1 o c t z , 


durch  dafür  gesteuert,  dal's  den  überlebenden  Kräftigeren  in  ihrem 
Alter  geholfen  wird.  Ks  handelt  sich  also  eher  um  eine  Mehrbe- 
lastung von  Schwachen.  Bei  der  Krankenversicherung  ist  es  eher 
umgekehrt.  Alle,  die  Kräftigen  und  die  Schwachen,  zahlen,  aber 
ganz  überwiegend  ist  es  der  Schwache,  der  die  Leistungen  bean- 
sprucht. Da  die  Schwachen  aber  immer  die  beiden  Arten  der 
nonselektorisch  Geschädigten  und  der  schwach  Beanlagten  umfassen, 
so  ist  es  nur  der  letztere  Teil,  dessen  Schutz  gegen  eine  rassen- 
hygienische Bedingung  verstöfst,  während  er  einer  anderen,  der  Bc- 
thätigung  des  Altruismus  konform  ist.  Die  Unfallversicherung  ver- 
hält sich  genau  so  wie  die  Krankenversicherung,  nur  dafs  hier  die 
Begünstigung  nonselektorisch  Geschädigter  viel  umfangreicher  ist 
als  die  der  selektorisch  Geschädigten.  Dafs  die  letztere  Klasse 
überhaupt  vorhanden  ist,  d.  h.  dafs  viele  Menschen  Unfälle  erleiden 
auf  Grund  ihrer  minderwertigen  Eigenschaften,  ist  jedem  Arzte 
wohlbekannt.  Schlaffheit,  Langsamkeit,  mangelhafte  Seh-  und  Hör- 
schärfe, Dummheit,  Trunksucht  etc.  disponieren  ihre  Träger  eher 
zu  Unfällen  als  Raschheit,  gutes  Gehör  und  Gesicht,  Intelligenz, 
Geistesgegenwart  und  Nüchternheit.  Natürlich  giebt  es  auch  eine 
Masse  Unfälle,  vor  denen  kein  noch  so  tüchtiger  Arbeiter  sicher 
ist.  Also  auch  hier  Ausgleichung  nonselektorischer  Schädlichkeiten 
und  Schutz  der  Untüchtigen. 

Bei  der  Versicherung  gegen  Arbeitslosigkeit  dagegen  würde  die 
Begünstigung  nonselektorisch  Armer  zwar  auch  bei  Krisen  z.  B.  und 
bei  Entlassung  selbständiger  Charaktere  in  Aktion  treten,  allein  sie 
würde  doch  nur  eine  geringe  Rolle  spielen  gegenüber  der  Be- 
günstigung Minderwertiger,  die  keine  Arbeit  erhalten  konnten  oder 
wieder  entlassen  wurden,  weil  sie  eine  schlechte  Qualität  Arbeiter 
repräsentieren.  Also  hier  ganz  überwiegend  Schutz  der  schwach 
Beanlagten. 

Der  Schutz  der  Schwangeren  und  Mütter  ist  ein  Schutz  non- 
selektorisch und  selektorisch  Armer,  die  nicht  genügend  Einkommen 
erwerben  können,  um  ihre  Frauen  vor  den  Arbeitsunbilden  zu 
sichern.  Dasselbe  gilt  für  die  Einschränkung  der  Kinderarbeit. 

Die  Antialkohol-Bestrebungen  befinden  sich  durch  Verminderung 
nonselektorischer  Keimvergiftung  mit  der  Rassenhygiene  im  Ein- 
klang, nicht  so  ohne  weiteres  jedoch  durch  ihre  Verminderung  der 
Ausjäte  Untüchtiger.  Es  liegt  zwar  auch  im  Interesse  der  Rassen- 
hygiene, an  Stelle  der  langsamen  und  übermäfsig  breitspurigen  Al- 
koholausjäte  eine  andere,  rascher  wirkende  Ausjäte  zu  setzen,  und 


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Sozialpolitik  uml  Kassenhygiene  in  ihrem  prinzipiellen  Verhältnis. 


4«  3 


zwar  die  sexuelle.  Aber  soweit  das  nicht  gelingt,  liegt  in  Bezug 
auf  seine  selektorische  Wirkung  immer  derselbe  Konflikt  vor  wie 
sonst  beim  Schutz  der  Schwachen. 

Was  die  industriellen  Keimgifte,  Quecksilber,  Blei,  Phosphor 
anlangt,  so  gilt  für  sie  bei  genauerem  Zusehen  ähnliches  wie  für 
den  Alkohol. 

Bei  der  Verringerung  der  Arbeitszeit,  sowie  bei  der  Aufbesserung 
der  Löhne  handelt  es  sich  stets  wieder  um  die  Aufhebung  nonse- 
lektorischer  Schädlichkeiten  auf  der  einen  Seite  und  den  Schutz 
der  Schwachen  auf  der  anderen.  Dasselbe  gilt  für  die  freie  ärzt- 
liche Behandlung. 

Wir  ersehen  aus  alledem,  was  wir  schon  vorher  konstatierten : 
die  humanitäre  Seite  der  Sozialpolitik  hat  rassenhygienisch  zwei  Be- 
deutungen: sie  hebt  nonselektorischc  Schädlichkeiten  auf  und  sie 
schützt  die  Schwachen.  Durch  den  Schutz  der  Schwachen  ist  sie  im 
Einklang  mit  der  rassenhygienischen  Forderung  der  möglichsten  Ver- 
stärkung altruistischer  Bethätigung,  aber  gerade  hierdurch  auch  im 
Gegensatz  zu  einer  anderen  äufserst  wichtigen  rassenhygienischen 
Forderung,  nämlich  der  Erhaltung  des  Kampfes  ums  Dasein  und 
der  Ausjätung. 

Damit  sind  wir  nun  endlich  zu  der  Notwendigkeit  gedrängt, 
diesen  Widerspruch,  der  sich  somit  zu  einem  solchen  innerhalb  der 
Rassenhygienie  selbst  zugespitzt  hat,  zu  prüfen  und  womöglich  zu 
heben. 

Der  Konflikt  ist  von  vielen  Männern  empfunden  worden,  bc-’ 
sonders  auch  von  Darwin,  dem  wir  für  das  erste  Aufdecken  der  Ent- 
wicklungsfaktoren tief  verschuldet  sind. ')  Darwin  hielt  den  Kampf 
ums  Dasein  für  so  notwendig,  dafs  er  klar  aussprach : „Wenn  der 
Mensch  noch  höher  fortschreiten  soll,  ist  cs  zu  furchten,  dafs  er 
einem  strengen  Kampf  ums  Dasein  unterworfen  bleiben  mufs.“ 

Auch  Huxley  und  Spencer  wissen  keinen  andern  Rat,  ebenso 
wenig  Haeckel,  Oskar  Schmidt,  Ziegler,  Ammon  und  die  meisten 
Naturwissenschaftler,  die  sich  mit  dem  Entwicklungsproblem  der 
Menschheit  beschäftigt  haben. 

Andere,  wie  Broca,  erhoffen  alles  von  der  Vererbung  der 
im  Laufe  des  Individuallebens  erworbenen  Eigenschaften  auf  die 


*)  Dir  neuerlichen  Angriffe  gegen  Darwin  hnl  I’latc  in  vortrefflicher  Weise 
rurtickgewiesen  in  seiner  Schrift:  Leber  Bedeutung  und  Tragweite  des  Darwinschen 
Sclektionsprinzips.  Leipzig  1900. 


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414 


Alfred  Ploeti, 


Nachkommenschaft.  Sie  glauben,  durch  die  hohe  Uebung  unserer 
guten  Eigenschaften  es  dahin  zu  bringen,  dafs  die  Uebungsresultate 
in  Form  von  verstärkten  Anlagen  auf  die  Kinder  übertragen  werden, 
und  so  direkt  das  Menschengeschlecht  zu  vervollkommen.  Darwin, 
der  die  Möglichkeit  dieses  Vorganges  noch  wie  alle  damaligen 
Biologen  ohne  weiteres  annahm,  hielt  ihn  jedoch  nicht  für  wirksam 
genug,  um  die  Ausjätung  entbehrlich  zu  machen.  Neuerdings  hat 
Weismann  diese  Lehre  der  Vererbung  erworbener  Eigenschaften 
so  zweifelhaft  zu  machen  gewufst,  dafs  bei  genauer  Nachforschung 
wenigstens  bei  den  höheren  Tieren  auch  nicht  ein  einziger  zweifel- 
loser Fall  zu  konstatieren  war.  Also  diese  Hoffnung  ist  vorläufig 
unsicher. 

Ich  kann  hier  nicht  alle  die  vielen  unzureichenden  Vorschläge 
anführen,  die  besonders  in  England  gemacht  worden  sind,  ich  will 
nur  den  von  Alfred  W a 1 1 a c e erwähnen , weil  er  der  mit 
Darwin  gleichzeitige  Begründer  der  Selektionstheorie  war  und  zu- 
gleich als  Sozialist  und  englischer  Fabier  eine  führende  Stellung  in 
seiner  Heimat  einnahm.  Wallace  hält  den  Sozialismus  für  die  zu- 
künftige Wirtschaftsform  und  glaubt,  dafs  durch  ihn  die  Frauen 
wieder  die  volle  sexuelle  Wahlfreiheit  bekommen  würden,  die  sie 
heute  zum  gröfeten  Teil  verloren  haben  durch  die  Notwendigkeit, 
eine  Versorgung  zu  suchen.  Er  meint,  in  einer  Gesellschaft,  in  der 
alle  F'rauen  in  der  Geldfrage  unabhängig  wären,  würde  die  Anzahl 
derer,  die  aus  eigener  Wahl  unverheiratet  bleiben  würden,  stark 
wachsen,  weil  es  eine  grofse  Anzahl  Frauen  gäbe,  die  überhaupt  nicht 
so  sehr  zur  Ehe  drängten.  Andererseits  sei  die  leidenschaftliche  Liebe 
beim  Mann  allgemeiner  und  gewöhnlich  stärker.  Und  da  sich  in 
einer  sozialistischen  Gesellschaft  aufser  der  Ehe  kaum  ein  anderer 
Weg  finden  würde,  ihr  zu  genügen,  so  würde  fast  jedes  Weib  An- 
träge und  damit  wieder  eine  auslesende  Funktion  in  die  Hände 
bekommen.  Unter  dem  Druck  einer  geeigneten  Erziehungswei.se 
würde  diese  Funktion  auch  thatsächlich  ausgeübt  werden,  und  Ar- 
beitsscheue, Kranke,  geistig  Schwache  oder  Selbstsüchtige  würden 
in  der  Regel  ehelos  bleiben. 

Man  kann  zugestehen,  dafs  Vorgänge  ähnlicher  Tendenz  sich 
in  einer  reformierten  Gesellschaft  einstellen  würden,  aber  es  ist 
schwer,  zu  der  Ueberzeugung  zu  gelangen,  dafs  die  so  verbesserte 
und  verschärfte  sexuelle  Auslese  genügend  wirksam  sein  wird,  das 
starke  Manquo  der  fortgefallenen  extralen  und  sozialen  Ausjätc  zu 
ersetzen. 


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Sozialpolitik  und  Rassenhygiene  in  ihrem  prinzipiellen  Verhältnis. 


415 


Ein  Vortlieil  wäre  es  ja  immer,  und  wie  wir  schon  vorher 
sahen,  ist  eine  verschärfte  sexuelle  Ausjäte  überhaupt,  auch  ohne 
Rücksicht  auf  den  uns  beschäftigenden  rassenhygienischen  Konflikt, 
den  anderen  Arten  der  Ausjäte  vorzuziehen,  aber  genügen  wird 
sie  nicht. 

Denn  erstens  sehen  wir,  dafs  es  genug  minderwertige  Indivi- 
duen beiderlei  Geschlechts  giebt,  die  ganz  gut  wissen,  dafs  sie  nicht 
so  begehrenswert  sind,  und  die  bei  Abwesenheit  ökonomischer 
Schwierigkeiten  ruhig  zur  Ehe  schreiten  mit  Individuen  des  anderen 
Geschlechts,  die  gleich  minderwertig  sind.  Man  sieht  doch  die 
merkwürdigsten,  ja  geradezu  widerwärtige  Personen  eine  Ehe  ein- 
gehen.  Dieses  Heiraten  von  minderwertigen  Personen  untereinander, 
das  heute  verhältnismäfsig  geringe  Bedeutung  hat,  würde  von  um 
so  gröfserer  Bedeutung  werden,  als  dem  ehelosen  Manne  die  Ent- 
schädigung durch  die  Prostitution  nicht  mehr  in  dem  Mafse  möglich 
sein  wird,  wie  heute.  Er  wird  viel  häufiger  in  die  Lage  kommen, 
entweder  auf  jeden  geschlechtlichen  Verkehr  verzichten  oder  eine 
Frau  heiraten  zu  müssen,  die  zwar  nicht  zu  den  besten  und 
schönsten  gehört,  die  aber  doch  ein  Weib  ist,  das  ihm  Liehe  und 
Kinder  geben  kann. 

Zweitens,  und  das  ist  ausschlaggebend,  hat  die  sexuelle  Aus- 
merze nur  einen  verhältnismäfsig  beschränkten  Spielraum,  über  eine 
gewisse  Schärfe  hinaus  beginnt  sie  die  Vermehrung  der  Rasse  zu 
verhindern. 

Die  Abwälzung  der  gesamten  Ausjätung  auf  die  sexuelle  trifft 
also  auf  feste  Hindernisse  und  ist  deshalb  nicht  fähig,  den  Konflikt 
zu  lösen.  Zudem  ist  auch  die  sexuelle  Ausjäfe  nicht  frei  von 
Schmerzen  und  es  gellt  dabei  nicht  ohne  Schädigung  der  Individuen 
ab.  Also  selbst  bei  vorausgesetztem  quantitativen  Genügen  kein  prin- 
zipieller Ausgleich.  Inbezug  auf  die  Schädigung  durch  die  sexuelle 
Ausjätung  ist  es  nicht  nur  die  gesellschaftliche  Stellung  der  alten 
Jungfer,  die  viele  ältere  Mädchen  quält,  es  sind  nicht  nur  ihre  all- 
mählich eintretenden  psychischen  Verschiedenheiten  von  den  ver- 
heirateten Frauen,  sondern  vor  allem  das  bei  liebebedürftigen 
Naturen  stark  ausgeprägte  Verlangen  nach  einer  innigen  Lebens- 
gemeinschaft, wie  sie  eben  nur  mit  einem  Manne,  selten  mit  Frauen 
möglich  ist,  und  wohl  ebenso  sehr  die  Sehnsucht  nach  einem  Kinde, 
das  mit  Mutterlust  gehegt  und  gepflegt,  und  das  auch  dem  ein- 
samsten Weibe  Zweck  und  Inhalt  seines  I xbens  werden  kann. 

Es  giebt  meiner  Meinung  nach  nur  einen  Weg,  den  Konflikt 


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4i6 


Alfred  1*  1 o e t z , 


zwischen  der  Notwendigkeit  des  Kampfes  ums  Dasein  und  der  Not- 
wendigkeit der  Bethätigung  des  Altruismus  zu  lösen. 

Dieser  Weg  besteht  in  der  Abwälzung  des  Kampfes 
ums  Dasein  und  der  Ausjäte  auf  die  Variabilität,  d.  h. 
in  dem  Bestreben,  die  bisher  so  wenig  bekannten  Gesetze  der 
Variabilität  zu  erforschen  und  sie  bewufst  auf  die  Verbesserung  des 
Nachwuchses  anzuwenden.  Denn  je  mehr  wir  im  stände  sind,  die 
Erzeugung  schlechter  Varianten  zu  verhindern,  desto  weniger 
brauchen  wir  natürlich  den  Kampf  ums  Dasein,  um  sie  wieder  aus- 
zujäten. Wir  würden  ihn  gar  nicht  mehr  brauchen,  wenn  wir  es 
in  unsere  Macht  bekämen,  in  jeder  Generation  der  Gesamtheit  der 
geborenen  Varianten  einen  etwas  höheren  Durchschnitt  zu  geben,  als 
die  Eltern  ihn  bereits  hatten. 

Wir  hatten  ja  schon  früher  konstatiert,  dal's  allein  die  Variation 
ein  schöpferischer  Entwicklungsfaktor  ist,  und  dafs  der  Kampf  ums 
Dasein  nur  eine  regulierende  und  präservierende,  aber  selbst  keine 
schöpferische  Funktion  ausübt.  Nur  das  Geheimnilsvolle,  das  über 
der  Variabilität  schwebte,  weil  man  ihr  näheres  Geschehen  nicht 
kannte,  kann  erklären,  dafs  selbst  Männer  wie  Darwin,  nicht  auf 
die  einfache  Idee  kamen,  die  Variabilität  unter  die  menschliche 
Herrschaft  zu  nehmen  und  so  dem  Kampf  ums  Dasein  das  Terrain 
abzugraben.  Aber  ich  sehe  keinen  Grund,  weshalb  wir  nicht 
diesem  Geheimnis  erfolgreich  auf  den  Leib  rücken  könnten,  denn 
wir  beobachten  in  der  Natur  und  beim  Menschen  alle  Tage,  dafs 
tüchtige  und  sogar  fortschreitende  Variationen  immerfort  erzeugt 
werden,  — aus  aflfenähnlichen  Wesen  sind  ja  thatsächlich  alle  Varia- 
tionen eines  Göthe,  Beethoven  allmählich  hervorgekrochen  — und 
da  die  Zeugung  ein  natürlicher  Vorgang  ist,  der  in  der  Kette  der 
chemisch-physikalischen  Abhängigkeiten  steht,  so  ist  nicht  abzusehen, 
weshalb  wir  diese  Abhängigkeiten  nicht  allmählich  aufdecken  sollten. 
Es  ist  ja  bis  heute  fast  noch  keine  Arbeit  darauf  verwendet  worden, 
und  es  ist  auch  gar  nicht  nötig,  die  Vorgänge  bis  zu  den  feinsten 
Einzelheiten  zu  erforschen,  es  genügt,  die  gröberen  empirischen  Ab- 
hängigkeiten und  Korrelationen  festzustcllen.  Dazu  kommt,  dal's 
wir,  wie  jeder  aufmerksame  Leser  aus  dem  Vorhergehenden  leicht 
ersehen  wird,  gar  keine  Wahl  haben,  ob  wir  diesen  Weg  betreten 
wollen  oder  nicht,  wir  müssen  einfach,  denn  es  giebt  keinen  anderen 
bei  Strafe  der  Degeneration  unserer  Rasse. 

Sehen  wir  nun,  was  wir  etwa  über  die  Ursachen  und  die  Be- 
herrschung der  Variationen  bereits  heute  feststellen  können. 


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Sozialpolitik  und  Kasscnlivgicnc  in  ihrem  prinzipiellen  Verhältnis.  jiy 

Die  Variation  geht  entweder  über  den  Durchschnitt  der  Eltern 
hinaus,  dann  sprechen  wir  von  Regeneration,  wenn  die  Eltern  un- 
tüchtig waren,  von  fortschreitender  Variation,  wenn  die  Eltern  be- 
reits selbst  tüchtige  Typen  repräsentierten.  Oder  die  Variation  geht 
unter  den  Durchschnitt  der  Eltern  herab,  dann  spricht  man  von 
Degeneration  oder  rückschrcitender  Variation.  Ein  Punkt  in  der  Mitte 
fortschreitender  und  rückschreitender  Variation  bildet  die  Vererbung, 
die  in  Wirklichkeit  nie  völlig  rein  in  die  Erscheinung  tritt,  sondern 
stets  eine  Tendenz  bleibt. 

Dafs  sich  allerlei  Krankheitsanlagen  und  sonstige  Schwächen, 
körperliche  und  geistige,  vererben,  weifs  man  sehr  gut,  einiges  wenige 
weifs  man  über  die  Ursachen  des  noch  tiefer  unter  die  Eltern  her- 
absteigenden Variierens,  der  Degeneration,  und  so  gut  wie  nichts 
über  das  fortschreitende  Variieren. 

Eine  I lauptursache  rückschreitender  Variation  ist  das  Zusammen- 
treffen zweier  nach  derselben  Richtung  schwacher  Keimzellen.  Wenn 
zwei  psychopathisch  Belastete  sich  heiraten,  geht  fast  immer  der 
Nachwuchs  in  der  Degeneration  noch  ein  Stück  unter  die  Eltern, 
ebenso  z.  B.  in  Bezug  auf  Anlage  zur  Tuberkulose.  Hier  könnte 
viel  durch  Aufklärung  der  Eltern  geschehen  nach  der  Richtung  der 
Vermeidung  zahlreicher  Nachkommenschaft. 

Eine  zweite  mächtig  wirkende  Ursache  der  Degeneration  ist 
die  Vergiftung  der  Keimzellen  auch  tüchtiger  Eltern  durch  Chemi- 
kalien, besonders  durch  Alkohol.  Hier  vor  allem  hat  meiner  Meinung 
nach  die  Propaganda  gegen  den  Alkohol  einzusetzen,  denn  keine 
Dcgencrationsursache  scheint  so  leicht  vermeidbar  wie  diese.  Wenn 
erst  der  anfänglich  durch  die  Wissenschaft,  heute  aber  nur  noch 
durch  die  Produzenten  von  Wein,  Schnaps  und  Bier  in  die  Welt 
gesetzte  Schwindel  von  der  nährenden,  stärkenden  Kraft  des  Alkohols 
vernichtet  sein  wird,  wird  es  den  Leuten  nicht  mehr  einfallen,  wie 
es  noch  immer  geschieht,  zur  Erzeugung  tüchtiger  Kinder  sich  durch 
Wein  anzufeuern,  und  viele  ernste  Menschen  werden  es  sich  ange- 
legen sein  lassen,  die  Zeiten  der  Zeugung  von  denen  des  Alkohol- 
genusses zu  trennen. 

Eine  weitere  beherrschbare  Degenerationsursachc  ist  die  Zeugung 
durch  zu  junge  oder  zu  alte  Eltern.  Der  Tierzüchter  weifs  genau, 
dafs  die  Nachkommenschaft  noch  nicht  völlig  erwachsener  Tiere 
nicht  nur  schwächlicher  ist  als  die  ganz  gereifter  Tiere,  sondern 
auch  gerade  die  zuletzt  erworbenen  Rassecharaktere  weniger  gut 
ausgeprägt  zeigt.  Aber  die  Menschen  verheiraten  ihre  Töchter 


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4 1 8 


Alfred  Ploctz 


manchmal  schon  mit  l6,  ja  mit  14  Jahren,  zu  einer  Zeit,  wo  bei 
unserer  Rasse  wenigstens  von  einer  Reife  keine  Rede  sein  kann. 
Unter  21  Jahren  sollte  keine  Frau  und  unter  24  Jahren  kein  Mann 
Kinder  erzeugen.  Fraglich  ist,  ob  es  je  dahin  kommen  wird,  aber 
jede  Annäherung  ist  von  Vorteil.  Was  die  Zeugung  durch  zu  alte 
Eltern  betrifft,  so  scheint  sie  bei  der  Frau  weniger  eine  Rolle  zu 
spielen,  weil  schon  in  relativ  jungen  Jahren  ihre  Zeugungskraft  auf- 
hört, wohl  aber  beim  Manne.  Wo  hier  die  Grenze  liegt,  ist  schwer 
zu  sagen,  nach  50  wird  durchschnittlich  nicht  mehr  die  volle  Kraft 
auf  die  Nachkommen  vererbt,  ln  engem  Zusammenhänge  mit  dem 
Alter  steht  der  Einflufs  der  Nummer  in  der  Geburtenreihenfolge. 
Die  ersten  vier  Kinder  einer  Mutter,  auch  einer  bereits  älteren  Mutter, 
sind  die  lebenskräftigsten,  dann  geht  es  herunter  zuerst  in  lang- 
samem, dann  in  immer  schnellerem  Tempo,  bis  z.  B.  von  den 
zwölften  Kindern  bereits  die  Hälfte  im  ersten  Lebensjahr  zu  Grunde 
geht.  Dr.  H.  Brehmer,  der  bekannte  frühere  Leiter  von  Görbersdorf, 
machte  die  Beobachtung,  dafs  unter  seinen  Schwindsüchtigen  die 
sechst-  und  später  Geborenen  besonders  zahlreich  vertreten  waren. 
Auch  bei  Zwischenräumen  zwischen  den  einzelnen  Geburten,  die 
weniger  als  2 Jahre  betragen,  zeigt  sich  eine  Tendenz,  nach  der 
schlechten  Seite  zu  variieren. 

F'ernere  Quellen  der  Degeneration  sind  Inzucht,  schlechte  Rassen- 
mischungen etc.  Man  sieht,  es  giebt  auch  bei  tüchtigen  Eltern  eine 
ganze  Reihe  von  Ursachen,  die  zur  Erzeugung  von  schwachen 
Varianten  führen  können,  und  deren  Vermeidbarkeit  auf  der  Hand 
liegt. 

Nun  noch  ein  Wort  über  aufsteigende  Variation.  Hier  ist  vor- 
läufig noch  so  gut  wie  nichts  bekannt.  Man  kann  zwar  erwarten, 
dafs  gerade  so  wie  beim  zeugenden  Zusammentreffen  zweier  schlechten 
Anlagen  desselben  Organs  leicht  eine  Degeneration  unter  ihren 
Durchschnitt  cintritt,  so  auch  beim  Zusammentreffen  zweier  be- 
sonders guter  Anlagen  die  Möglichkeit  einer  aufsteigenden  Variation 
cintritt,  allein  bekannt  darüber  ist  noch  nichts.  So  wenig  wie  über 
die  aufsteigenden  Variationen  in  das  Gebiet  neuer  Entwicklungs- 
möglichkeiten, weifs  man  bis  jetzt  exaktes  über  die  Regeneration 
untüchtiger  Anlagen  durch  die  Zeugung  hindurch  zu  den  normalen 
tüchtigen.  Dafs  dies  in  Wirklichkeit  öfter  vorkommt,  erscheint  sicher, 
ist  auch  biologisch  gar  nicht  sehr  unwahrscheinlich,  denn  bei  ein- 
zelligen Wesen  kann  man  Regenerationsvorgänge,  gerade  wie  auch 
bei  unseren  Körperzellen  l>eobachtcn,  warum  sollten  nicht  auch  die 


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Sozialpolitik  und  Rassonhygiene  in  ihrem  prinzipiellen  Verhältnis. 


419 


Keimzellen  sich  unter  gewissen  Bedingungen  regenerieren  können  ? 
Wenn  wir  die  Kinder  zweier  Eltern  betrachten,  so  sehen  wir,  dafs 
einige  mehr  dem  Vater  ähnlich  sind,  andere  mehr  der  Mutter.  Das 
kann  manchmal  so  weit  gehen,  dafs  ein  Kind  geradezu  das  Eben- 
bild seines  Vaters  oder  seiner  Mutter  genannt  wird.  Die  Ver- 
erbungskräftc  von  Vater  und  Mutter  sind  also  verschieden  unter 
verschiedenen  Umständen.  Wenn  es  gelingt,  diese  Ursachen  der 
temporären  Verschiedenheit  der  Vererbungskraft  zu  erforschen  und 
zu  beherrschen,  so  wäre  uns  damit  ein  direktes  Mittel  der  Regeneration 
in  die  Hand  gegeben.  Denn  der  kräftigere  der  Eltern  hätte  dann 
die  Möglichkeit  bekommen,  seine  bessere  Konstitution  öfter  und  mit 
mehr  Nachdruck  zu  vererben  und  so  die  Durchschnittsqualität  des 
Nachwuchses  über  den  Elterndurchschnitt  zu  erheben.  Doch  wie 
gesagt,  das  ist  Zukunftsmusik,  denn  gearbeitet  worden  ist  bisher 
noch  nicht  auf  diesem  Gebiet. 

Zwar  kommt  cs  vorläufig  hauptsächlich  auf  die  Erforschung, 
womöglich  sämtlicher  Quellen  der  schlechten  Variationen  an,  denn 
gerade  sie  sind  es  ja,  die  den  Kampf  ums  Dasein  und  die  Ausjäte 
nötig  machen.  Zudem  würden  ja  auch  die  Ursachen  der  bisherigen 
vortrefflichen  Variationen  weiterbestehen.  Allein  s ä m 1 1 i c h c Quellen 
der  schlechten  Variationen  sind  wohl  noch  für  lange  Zeit  nicht  zu 
verstopfen,  und  so  ist  als  Gegengewicht  auch  noch  eine  Verbesserung 
der  bisherigen  guten  Variation  notwendig.  Aber  nicht  nur  als 
Gegengewicht  ist  diese  Verbesserung  nötig,  sondern  sie  ist  zugleich, 
ob  mit  oder  ohne  Ausjäte,  der  Schlüssel  für  das  weite,  unabsehbare 
Feld  der  menschlichen  Vervollkommnung.  Alles,  was  unser  Menschen- 
geschlecht an  Idealen  kennt,  ist  nie  erreicht  gewesen  in  der  Ver- 
gangenheit, kein  goldenes  Zeitalter  hat  uns  je  gelächelt,  nur  die 
Zukunft  kann  es  bringen,  wenn  es  überhaupt  je  gebracht  werden 
kann,  und  nur  die  weiter  fortschreitende  biologische  Vervollkommung 
des  Menschen  selbst  ist  der  Weg  dazu. 

Ich  will  zum  Schlufs  meine  Ausführungen  kurz  zusammen- 
fassen: Die  modernen  sozialpolitischen  Bestrebungen  sind,  soweit  sie 
demokratischer  Natur  sind,  mit  der  Rassenhygiene  wohl  verträglich; 
soweit  sie  den  Schutz  betreffen  von  Geschädigten,  die  unter  über- 
mächtigen wahllosen  oder  kontraselektorischen  Einflüssen  stehen, 
ebenfalls;  soweit  sie  den  Schutz  von  Menschen  betreffen,  die  geistig, 
körperlich  oder  sittlich  minderwertig  sind,  gefährden  sie  das  Tüchtig- 
keitsniveau der  Nachkommenschaft.  Daher  ist  es  nötig,  Gegen- 
gewichte zu  schaffen.  Von  einiger  Bedeutung  ist  bereits  die  Ver- 


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420  A.  l'loctz,  Sozialpolitik  und  Kassenhygiene  in  ihrem  prinzipiellen  Verhältnis. 

schärfun^  der  sexuellen  Ausjäte  besonders  durch  blofse  Ehezeug- 
nisse oder  durch  Eheverbote  bei  Belasteten  oder  bei  Kranken,  die 
ihre  Schwächen  vererben  würden.  Hauptsache  ist  und  bleibt  jedoch 
die  Verbesserung  der  Variationen,  und  zwar  nicht  nur  die  Ver- 
meidung der  Erzeugung  schlechter  Varianten,  sondern  auch  die* 
Erforschung  und  Bewirkung  der  Erzeugung  tüchtiger  und  fort- 
schreitender Varianten. 

Diese  Forderungen  müssen  mit  grolsem  Ernst  und  Nachdruck 
geltend  gemacht  werden,  denn  auf  dem  Spiele  steht  die  Organi- 
sationshöhe, die  das  Menschengeschlecht  allmählich  erklommen  hat, 
und  der  ungeheuere  Preis  von  Elend , den  es  durch  die  grauen 
Jahrtausende  hindurch  dafür  bezahlt  hat.  Und  andererseits  steht 
als  Gewinn  dagegen  das  ungehemmte  Fortschreiten  zu  Höhen  der 
Entwicklung,  die  wir  heute  kaum  erst  ahnen  können. 


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GESETZGEBUNG. 


DEUTSCHES  REICH. 

Die  Novelle 

zum  Gewerbegerichtsgesetz  und  der  preufsische 
Ministerialerlafs  vom  23.  Dezember  1901. 

Von 

Dr.  KARL  FLESCH, 

Stadtrat  in  Frankfurt  a.  M. 

Durch  Erlals  vom  23.  Dezember  1901  hat  der  Minister  für 
Handel  und  Gewerbe  Vorschläge  zur  Aufstellung  von  Orts-(Kreis-) 
Statuten  für  Gewerbegerichte  auf  Grund  des  Gewerbegerichtsgesetzes 
vom  30.  Juni  1901  an  die  zuständigen  Stellen  versandt.  Im  Ministerial- 
Blatt  der  Handels-  und  Gewerbe-Verwaltung  vom  11.  Januar  1902 
ist  der  Erlals  und  die  Vorschläge  veröffentlicht. 

Die  Vorschläge  hier  abzudrucken,  ist  nicht  erfordert.  Sie  leiden 
unseres  Erachtens  an  dem  Mangel,  dafs  sie  das  gesamte  Gesetz,  — 
natürlich  mit  Ausnahme  der  lediglich  auf  das  Verfahren  bezüglichen 
Bestimmungen  in  das  Statut  aufnehmen.  Dadurch  wird  dies  un- 
gemein lang  (91  Paragraphen!),  und  das  Mifsverständnis,  als  ob 
zwingende  Bestimmungen  des  Gesetzes  nur  statutarischer  Natur 
wären,  ist  gar  nicht  auszuschliefsen.  Dem  gegenüber  enthält  z.  B. 
das  in  Frankfurt  a.  M.  ausgearbeitete  Statut  — veröffentlicht  im  „Ge- 
werbegericht“ Nr.  3 vom  i.  Dezember  1901,  das  sich  streng  auf 
die  Bestimmungen  beschränkt,  die  statutarisch  beordnet  werden 
müssen,  weil  sie  im  Gesetz  nicht  entschieden  sind,  — nur  37  Para- 
graphen, und  die  ebenda  Nr.  4 veröffentlichte  sogen,  „märkische 
Fassung“  eines  Statuts  nur  50  Paragraphen,  die  überdies  muster- 
gültig kurz  und  klar  gefafst  sind.  Was  die  Redaktion  der  „Vor- 


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422 


Gesetzgebung : Deutsches  Reich. 


schlage“  angeht,  so  wäre  es  vielleicht  besser  gewesen,  wenn  nicht 
die  verschiedenen  bei  einzelnen  Materien  vom  Gesetz  offengelassenen 
Alternativen  nebeneinander  gestellt  worden  wären,  sondern  wenn 
einfach  ein  für  bestimmte  Verhältnisse,  — z.  B.  für  die  einer  Mittel- 
stadt, berechneter  Entwurf  aufgestellt  worden  wäre,  und  die  mög- 
lichen Vorarbeiten  oder  die  für  besondere  örtliche  oder  industrielle 
Verhältnisse  wünschenswerten  Abweichungen  als  Anmerkungen  zum 
Abdruck  gelangt  wären.  Jetzt  wird  es  den  mit  der  Materie  nicht 
vertrauten  Behörden  und  Interessenten  recht  schwer  gemacht,  sich 
über  die  verschiedenen,  in  die  Wahl  gestellten  Alternativvorschlägen 
klar  zu  werden. 

Weit  bedenklicher  als  diese  relativ  untergeordneten  Dinge, 
sind  aber  einige  Ausführungen  des  Erlasses,  mit  welchem  die 
Vorschläge  zur  Versendung  an  die  Oberpräsidenten  und  Regierungs- 
präsidenten gelangt  sind.  Dieser  Erlafs  lautet: 

In  der  Anlage  übersende  ich  Ihnen  . . . Druckexemplare  der  auf  meine  An- 
ordnung  zusammcngcstelltcn  Vorschläge  für  die  Fassung  von  Orts-i  Kreis- »Statuten, 
durch  welche  Gcwerbegcrichtc  auf  (»rund  des  Gewerbegerichtsgesetzes  in  der  Fassung 
vom  29.  September  d.  Js.  (R.G.BI.  S.  553)  errichtet  werden,  mit  dem  Bemerken, 
dafs  weitere  F.xemplare  von  dem  Verlagsbuchhändler  Fr.  K ortkampf,  Berlin  W.  62, 
Witlcnbergplatz  3 a bezogen  werden  können. 

Ich  hebe  dabei  hervor,  dafs  für  die  Auslegung  des  § 2 des  Gewerbegerichts- 
gesetzes Folgendes  zu  berücksichtigen  ist : Durch  die  Fassung  der  Eingangsworte : 
„Für  Gemeinden“  hat  zum  Ausdruck  gebracht  werden  sollen,  dafs  jede  Gemeinde 
mit  mehr  als  zwanzigtausend  Einwohnern  zu  einem  Gewerbegerichtsbezirke  gehören 
mufs;  in  der  Absicht  des  Gesetzgebers  hat  es  also  nicht  gelegen,  dafs  für  jede 
derartige  Gemeinde  ein  beso  nd  er  es,  auf  den  Bezirk  dieser  Gemeinde  beschränktes 
Gewerbegericht  zu  errichten  ist.  Der  Vorschrift  ist  auch  genügt,  wenn  die  sachliche 
Zuständigkeit  eines  bereits  bestehenden  Gewerbegerichts  auf  bestimmte  Arten  von 
< lewerbe  oder  Fabrikbetrieben  oder  die  örtliche  Zuständigkeit  auf  bestimmte  Teile 
eines  solchen  Gcmeindcbczirks  beschränkt  (§  7 Abs.  1 des  Gesetzes)  oder  in  dem 
Orte  eine  besondere  Kammer  (§  10,  Abs.  2 a.  a.  O.)  oder  ein  Bcrggewcrbegericht 
(§  82  Abs.  I a.  a.  O.)  vorhanden  ist. 

Die  bestehenden  Statuten  sind  thunlichst  dem  übersandten  Muster  entsprechend 
umzugcstalten ; auch  für  die  neu  zu  errichtenden  Gewerbegerichte  empfiehlt  sich  die 
Anlehnung  an  die  Vorschläge. 

Für  die  Regelung  des  Wahl  Verfahrens  nach  den  Grundsätzen  der  Verhältnis- 
wahl (§  1 5 Abs.  I des  Gesetzes)  werden  besondere  Vorschläge  nach  Beendigung 
der  hierüber  eingeleiteten  Erörterungen  übersandt  werden. 

Wir  legen  weniger  Gewicht  auf  die  Worte,  „dafs  die  bestehenden 
Statuten  thunlichst  dem  übersandten  Muster  entsprechend 


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Karl  Flesch,  Die  Novelle  zum  Gcwerbcgcrichtsgesctz  eic. 


423 


timzugestalten  sind“;  — denn  diese  besagen  ja  nicht,  dafs  die  Städte 
gehindert  sind,  ihrem  Statut  anstatt  der  erschöpfenden  Form  der 
„Vorschläge“  die  kürzere  zu  geben,  die  unseres  Erachtens  mit  Recht 
von  Jastrow  („Gewerbegericht"  vom  1.  Januar  1902)  empfohlen 
wird.  Wir  halten  aber  für  sehr  anzweifelbar  de  lege  lata  und,  was 
ebenso  wichtig  oder  wichtiger  ist,  für  nicht  gedeihlich  de  lege 
ferenda  die  Auffassung  des  § 2 des  Gewerbegerichtsgesetzes,  welche 
in  dem  Erlasse  vorgetragen  wird. 

§ 2 schreibt  vor:  Für  Gemeinden,  welche  nach  der  jeweilig 
letzten  Volkszählung  mehr  als  20000  Einwohner  haben,  m u fs 
ein  Gewerbegericht  errichtet  werden.  Der  Erlals  erklärt 
nun,  es  habe  durch  diese  Fassung  zum  Ausdruck  gebracht  werden 
sollen,  dafs  jede  derartige  Gemeinde  zu  einem  Gewerbegerichts- 
bezirk gehören  müsse,  und  folgert  hieraus  zunächst,  dafs  hiernach 
nicht  erfordert  sei,  dafs  für  jede  solche  Gemeinde  ein  besonderes, 
auf  ihren  Bezirk  beschränktes  Gewerbegericht  zu  errichten  sei.  Dies 
ist  zweifellos  richtig;  cs  genügt  auch,  wenn  sie  sich  mit  anderen 
Gemeinden  vereinigt,  wie  ich  dies  z.  B.  bereits  auf  dem  Verbands- 
tag der  deutschen  Gewerbegerichtc  zu  Lübeck  im  September  1901 
ausgeführt  habe  (Beilage  zu  Nr.  2 des  Gewerbegerichts  vom 
I.  November  1901).  Wenn  aber  der  Erlafs  dann  fortfährt,  „dafs 
es  zur  Erfüllung  des  Gesetzes  Vorschrift  auch  genüge,  wenn  die 
sachliche  Zuständigkeit  eines  bereits  bestehenden  Gewerbegerichts 
auf  bestimmte  Arten  von  Betrieben,  oder  die  örtliche  auf  bestimmte 
Teile  des  Bezirkes  beschränkt  sei,  oder  wenn  ein  Berggewerbe- 
gericht vorhanden  sei"  — so  dürfte  es  schwer  sein,  diese  Inter- 
pretation mit  Wortlaut  und  Sinn  des  Gesetzes  in  Einklang  zu 
bringen.  Sie  wäre  nur  zutreffend,  wenn  wirklich,  um  mit  dem 
Erlasse  zu  sprechen , das  Gesetz  nichts  anderes  zum  Ausdruck 
brächte,  als  dafs  jede  Gemeinde  von  mehr  als  20000  Einwohner  „zu 
einem  Gewerbegerichtsbezirk  gehören  müsse“.  Aber  das  Gesetz 
verlangt  ja  mehr,  als  dies:  Für  jede  solche  Gemeinde  muls  ein 
Gcwcrbcgericht  errichtet  werden,  — also  nach  gegebener  Zeit 
vorhanden  sein;  der  Nachdruck  liegt  nicht  auf  dem  Zahl- 
wort „ein  Gewerbegericht“;  es  können  sehr  wohl  für  eine  Ge- 
meinde auch  mehrere  Gewerbegerichte  in  Betracht  kommen, 
wie  der  Erlafs  — Anmerkung  4 zu  den  Vorschlägen  — ganz  richtig 
feststellt.  Der  Nachdruck  liegt  vielmehr  auf  den  Anfangsworten: 
„Für  jede  Gemeinde“  von  mehr  als  20000  Einwohner  etc.  Ein 
Gewerbegericht,  das  sich  nur  auf  die  Maschinenindustrie  oder  auf 


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4-4 


Gesetzgebung:  Deutsches  Reich. 


die  Bandweberei  bezieht,  oder  das  nur  ein  räumlich  abgegrenztes 
Stück  der  Gemarkung  umfafst,  besteht  eben  nur  für  die  Angehörigen 
einer  Industriegruppe,  eines  Stadtteils;  cs  besteht  zwar  „in“  der 
Gemeinde  aber  nicht  für  sie.  Es  ist  freilich  gleichgültig,  wo  das 
Gewerbegericht  seinen  Sitz  hat;  derselbe  mag  aufserhalb  der  Ge- 
meinde liegen;  das  Gesetz  fordert  nicht,  dafs  es  „in  der  Gemeinde“ 
errichtet  sei.  Es  ist  auch  gleichgültig,  ob  eins  oder  mehrere  Ge- 
werbegerichte vorhanden  sind;  das  Gesetz  erklärt  nicht,  dals  „nur 
e i n“,  höchstens  e i n Gewerbegericht  errichtet  werden  dürfe.  Aber 
für  die  ganze  Gemeinde,  und  mithin  für  alle  zur  Gemeinde 
gehörigen  dem  Gewerbegerichtsgesetz  unterstehenden  Betriebe  und 
Betriebsangehörige  mufs  (mindestens)  ein  Gewerbegericht  zur  Ver- 
fügung gestellt  werden.  Insoweit  gemäfs  § 7 des  Gewerbegerichts- 
gesetzes die  örtliche  Zuständigkeit  des  Gewerbegerichts  auf  be- 
stimmte Teile  des  Gemeindebezirks  eingeschränkt  ist,  oder,  — bei- 
erster  Errichtung  eines  neuen  Gewerbegerichts  eingeschränkt  wird, 
besteht  für  die  anderen  Teile  des  Gemeindebezirks 
kein  Ge werbegericht,  und  mufs  eventuell  für  diese  die  Lücke 
ausgefüllt  werden. 

Diese  Auffassung  entspricht  zunächst  dem  Wortlaut  des  Ge- 
setzes; sie  entspricht  aber  auch  allein  dem  alten  Grundsatz,  dafs 
lex  posterior  derogat  legi  priori.  Der  jetzige  § 2 ist  Art.  1 Nr.  1 
des  „Gesetzes  vom  30.  Juni  1901  zur  Abänderung  des  Gesetzes 
betreffend  die  Gewerbegerichte  vom  29.  Juli  1890";  der  jetzige  § 7 
ist  einfach  der  § 6 jenes  früheren  Gesetzes.  Es  geht  nicht  an,  die 
älteren  Vorschrift  zur  Einengung  des  Inhalts  der  neueren  zu  be- 
nutzen. Im  Gegenteil  versteht  sich  ganz  von  selbst,  dafs  die  Vor- 
schrift, welche  eine  Beschränkung  der  sachlichen  oder  örtlichen 
Zuständigkeit  eines  Gewerbegerichts  erlaubt,  nicht  zur  Anwendung 
kommen  kann,  um  die  neue  Vorschrift,  dafs  für  Gemeinden  von 
bestimmter  Gröfse  zu  einem  bestimmten  Zeitpunkt  ein  Gewerbe- 
gericht errichtet  sein  mufs,  wieder  teilweise  aufzuheben.  Der  Um- 
stand, dafs  der  Reichskanzler  durch  Art.  3 des  Gesetzes  vom  30.  Juni 
1901  die  Ermächtigung  — nicht  die  Verpfiichtuhg  — erhielt, 
„den  T ext  des  Gewerbegerichts,  wie  er  sich  aus  den  in  Art.  I vor- 
gesehenen Aenderungen  ergiebt“  durch  das  Reichsgesetzblatt  be- 
kannt zu  machen,  bewirkt  nicht,  dafs  nunmehr  die  Entstehungszeit 
der  einzelnen  Bestimmungen  völlig  gleichgültig  geworden  ist. 

Endlich  dürfte  aber  auch  nur  die  hier  vorgetragene  Auffassung 
der  Absicht  des  Gesetzgebers  entsprechen,  welcher  doch  offensicht- 


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Karl  Flcsch,  Die  Novelle  /.um  Gcwerbegerichlsgcsctz  etc. 


425 


lieh  in  den  Gewerbegerichten  eine  Institution  sah,  welche  zur  Milderung 
der  Gegensätze  zwischen  Arbeitern  und  Arbeitgebern  beitragen 
kann,  und  der  die  Existenz  dieser  Institution  da,  wo  diese  Gegen- 
sätze am  häufigsten  und  schärfsten  sind,  also  in  den  gröfseren 
Städten,  sicher  und  von  dem  Belieben  der  Gemeindebehörden 
(§  1 Abs.  2 des  Gewerbegerichtsgesetzes)  unabhängig  stellen  wollte. 

Die  Zweifel,  welche  zuerst  Cuno  (Gewerbegericht  vom  1.  Februar 
1902)  ausgesprochen  hat,  ob  der  Erlafs  sich  mit  dem  Gesetz  in  Ein- 
klang befinde,  dürften  hiernach  durchaus  berechtigt  sein. 

Inzwischen  hat  allerdings  in  der  Reichstagssitzung  vom  IO.  März 
1902  Herr  Staatssekretär  v.  Posadowsky  Anlal's  genommen,  mit- 
zuteilen, dals  der  preufsische  Handelsminister  am  4.  März  ein  neues 
Reskript  erlassen  habe,  welches  die  an  den  Erlals  vom  23.  De- 
zember geknüpften  Befürchtungen  zu  zerstreuen  bestimmt  ist.  Dieser 
neue  Erlafs  weist,  „in  Hinblick  auf  den  wesentlichsten  Zweck  der 
Novelle,  nämlich  die  obligatorische  Errichtung  von  Gewerbegerichten 
in  Gemeinden  von  mehr  als  20000  Einwohnern",  insbes.  den  Be- 
hörden, welchen  die  Bestätigung  der  von  den  Gemeinden  beab- 
sichtigten Gewerbegerichtsstatute  zusteht,  den  Bezirksausschüssen  A 
und  Provinzialräten,  die  Pflicht  zu,  „ein  in  sachlicher  oder  örtlicher 
Beziehung  beschränktes  Gewerbegericht  nur  dann  gutzuheifsen, 
wenn  die  getroffenen  Bestimmungen  durch  überwiegende  Zweck- 
mäfsigkeitsgründe  gerechtfertigt  scheinen“.  Ohne  die  gute  Absicht 
des  Erlasses  zu  verkennen,  soll  doch  darauf  aufmerksam  gemacht 
werden,  dafs,  wenn  § 2 Gewerbegerichtsgesetzes  wirklich,  wie  wir 
glauben,  vorschreibt,  dafs  „für  die  Gemeinden",  welche  mehr 
als  20000  Einwohner  haben,  „Gewerbegerichte  errichtet  werden 
sollen",  ein  sachlich  oder  räumlich  beschränktes  Gewerbegericht 
dieser  absoluten  Vorschrift  nicht  genügt.  Vom  5;  7 kann  seitens 
solcher  Gemeinden  nur  insofern  Gebrauch  gemacht  werden,  als 
sie  neben  dem  „für  die  Gemeinde"  bestimmten  Gewerbegerichte 
auch  noch  für  einzelne  Gewerbebetriebe  oder  Ortsteile  be- 
stimmte Gewerbegerichte  errichten  können.  Es  giebt  aber  keine 
Zweckmäfsigkeitsgründe , die  gestatteten , dafs  man  sich  auf  ein 
Gewerbegericht  der  letzteren  Art  beschränkt. 


Archiv  für  soz.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVII 


2S 


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VEREINIGTE  STAATEN  VON  AMERIKA 

Die  amerikanische  Arbeitergesetzgebung  des 
Jahres  1901. 

Von 

Dr.  jur.  CHARLES  HENRY  HUBERICH, 

Dozent  der  Rechte  an  der  Universität  von  Texas  (Austin). 

Die  in  dem  letzten  Jahrzehnt  zur  Geltung  gelangten  Tendenzen 
der  amerikanischen  Arbeitergesetzgebung  — Beschränkung  des  Ver- 
tragsrechts und  der  Arbeit  von  Frauen  und  Kindern,  und  die  Zu- 
riiekdrängung  der  Lehre  vom  laissez-faire  — finden  auch  in  den 
Gesetzen  des  vergangenen  Jahres  ihren  Ausdruck.  Im  ganzen  ge- 
nommen bietet  die  Gesetzgebung  des  Jahres  1901  wenig  neues. 
Zumeist  sind  die  Gesetze  Nachbildungen  bestehender  Kodifizierungen 
des  gemeinen  Rechts.  Die  älteren  Industriestaaten  zeigen  nur  eine 
geringe  gesetzgeberische  Thätigkeit ; einige,  wie  z.  B.  New  Jersey 
und  Maryland  erlielsen  überhaupt  keine  Arbeitergesetze,  während 
die  meisten  sich  auf  unwesentliche  Veränderungen  des  bestehenden 
Rechts  beschränkten.  Am  fruchtbarsten  waren  die  Gesetzgebungen 
der  westlichen  und  südlichen  Staaten. 


’)  ln  diesem  Bericht  sind  die  Gesetze  folgender  Staaten  und  Territorien  be- 
rücksichtigt : Alabama,  Arizona,  California,  Colorado,  Connecticut,  Idaho,  Illinois, 
Indiana,  Kansas,  Massachusetts,  Michigan,  Minnesota,  Missouri,  Montana,  New  Hamp- 
shire, New  York,  North  Carolina,  Pennsylvania,  South  Carolina,  Tennessee,  Texas, 
Washington,  West  Virginia  und  der  Distrikt  of  Columbia. 

In  den  Staaten  Iowa,  Kentucky,  Louisiana,  Maine,  Mississippi,  Ohio  und 
Vermont  tagten  die  gesetzgebenden  Körperschaften  nicht  während  des  vergangenen 
Jahres.  Nichts  von  Interesse  bieten  die  Gesetzgebungen  von  Maryland,  Nebraska, 
New  Jersey  und  Rhode  Island.  Unberücksichtigt  blieben  die  Staaten  Arkansas, 


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Ch,  II.  Hubcrich,  Die  amerikanische  Arbeitergesetzgebung  des  Jahres  1901.  42/ 

Die  neue  Gesetzgebung  über  die  Verantwortlichkeit  des  Ar- 
beitgebers gegenüber  seinen  Angestellten  zeigt  Einiges  von  Inter- 
esse. Gesetze  über  diesen  Gegenstand  sind  jetzt  in  ungefähr  25 
Staaten  erlassen,  zumeist  auf  die  sogen.  Lehre  von  den  Dienst- 
genossen (doctrine  of  fellow-servants)  begründet.  Aus  diesem  Grund 
ist  folgendes  Gesetz  von  Colorado,  welches  diese  Lehre  völlig 
verwirft,  von  Interesse: 

„Jede  Korporation,  Gesellschaft  oder  Einzelperson,  welche  Geschäftsträger, 
Dienstleute  oder  Arbeiter  anstellt,  soll  für  die  durch  ihre  eigene  culpa  oder  durch 
die  culpa  eines  Dienstgenossen  verursachten  Körperverletzungen  oder  den  Tod 
eines  solchen  Geschäftsträgers,  Dientboten  oder  Arbeiters,  verantwortlich  sein . . 

Ein  neues  Gesetz  von  Connecticut,  welches  noch  die  alte 
Anschauung  darstellt,  lautet  wie  folgt : 

„Es  soll  tlii!  l'Hicht  des  Arbeitgebers  sein,  gehörige  (reasonablc)  Vorsicht  zu 
eben  in  der  Wahl  einer  gehörig  sicheren  Arbeitsstätte  für  seine  Arbeiter,  gehörig 
sicherer  Ausstattungen  und  Werkzeuge  für  deren  Arbeit,  und  geeigneter  und  fähiger 
Personen  als  deren  Dienstgenossen.  Es  soll  (ferner)  die  Pflicht  des  Arbeitgebers 
sein,  vorsichtig  in  der  Ernennung  oder  Bezeichnung  des  Vizeprinzipals  (vicc-principal) 
sich  zu  verhalten,  und  eine  geeignete  und  fähige  Person  als  solchen  Vizeprinzipal 
zu  wählen.  Die  Nichterfüllung  einer  Pflicht,  welche  gesetzlich  dem  Arbeitgeber 
auferlegt  ist,  seitens  des  Vizeprinzipals,  soll  als  Nichterfüllung  seitens  des  Arbeit- 
gebers angesehen  werden.“ 

Im  ganzen  genommen  ist  dieses  letzte  Gesetz  nur  eine  Wieder- 
gabe der  Regeln  des  gemeinen  Rechts. 

In  New  York  wurde  ein  Gesetz,  welches  berechnet  war,  die 
Verantwortlichkeit  der  Arbeitgeber  beträchtlich  zu  erweitern  vom 
Parlament  angenommen,  jedoch  von  dem  Gouverneur  mit  dem 
Veto  belegt,  weil  seines  Erachtens  „keine  neuen  wesentlichen  Rechte 
den  .Angestellten  dadurch  erwuchsen"  und  das  Gesetz  ferner  die 
Zeit,  in  welcher  Klage  auf  Schadenersatz  für  Körperverletzung  er- 
hoben werden  müsste,  bedeutend  einschränkte. 

Im  wesentlichen  die  Sätze  des  gemeinen  Rechts  kodifizierend, 
verordnet  ein  neues  Statut  von  Indiana,  dafs  alle  Verträge,  worin 
der  Arbeitgeber  sich  der  Verantwortlichkeit  gegenüber  seinen  An- 
gestellten oder  im  Todesfall  der  letzteren,  deren  Erben  für  die 
durch  die  culpa  des  Arbeitgebers  verursachten  Schaden,  zu  ent- 
ziehen sucht,  als  gesetzwidrig  betrachtet  werden  sollen.  Ferner 


Delaware,  Florida,  Georgia,  Nevada,  North  Dakola,  Oregon,  South  Dakota,  Utah, 
Virginia,  Wisconsin  und  Wyoming. 

28* 


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428 


CJcseligcbunf; : Vereinigte  Staaten  von  Amerika. 


sind  Verträge  zwischen  Arbeitgeber  und  Arbeitnehmer,  welche 
darauf  gerichtet  sind,  Dritte  für  den  durch  sic  dem  Arbeitnehmer 
zugefügten  Schaden  nicht  verantwortlich  zu  machen,  verboten.  Das 
Gesetz  verbietet  ferner  Verträge  zwischen  dem  Arbeitnehmer  und 
Dritten,  wenn  solche  Verträge  berechnet  sind,  die  Verantwortlich- 
keit des  Arbeitgebers  dir  den  durch  seine  culpa  dem  Angestellten 
verursachten  Schaden  zu  verringern.  Dieses  Gesetz  soll  jedoch 
keine  Anwendung  finden  auf  freiwillige  Unterstützungsvereine  oder 
auf  Arbeiterversicherungsgesellschaften , ebensowenig  soll  es  mit 
Bezug  auf  schwebende  Prozesse  oder  auf  Verträge,  die  vor  dem 
Erlafs  dieses  Gesetzes  abgeschlossen  wurden , rückwirkend  sein. 
Auch  ist  das  Gesetz  nicht  darauf  berechnet , Vergleiche  wegen 
schon  stattgefundenen  Schadens  zwischen  dem  Arbeitgeber  und 
dem  Arbeitnehmer  oder  im  Todesfall  des  letzteren,  dessen  Erben 
auszuschliefsen. 

Die  Gesetzgebung  des  vergangenen  Jahres  zeigt  keine  radikalen 
Versuche,  die  Arbeitszeit  in  allen  Gewerben  festzustellen,  wie 
der  nicht  angenommene  Gesetzentwurf  von  Colorado  des  Jahres 
1895  versuchte.  Der  I .and tag  des  letztgenannten  Staates  hat  jedoch 
beschlossen,  die  folgende  Aenderung  der  Staatsverfassung  den 
Wählern  des  Staates  zu  unterbreiten: 

„Der  Landtag  soll  die  Arbeitszeit  fiir  Personen,  die  in  Bergwerken  oder  anderen 
unterirdischen  Arbeiten,  oder  bei  Hochöfen,  Schmelzöfen  oder  anderen  Erzreduzier- 
werken, oder  die  in  irgend  einer  anderen  Industrie  oder  Arbeit,  welche  nach  Ansicht 
des  Landtages  der  Gesundheit  schädlich  ist  oder  dem  Leben  oder  den  Gliedern 
der  Angestellten  Gefahren  aussetzt,  thätig  sind,  auf  8 Stunden  pro  Tag  feststellen 
(ausgenommen  in  Fällen,  wo  Leben  oder  Eigentum  in  augenscheinlicher  Gefahr  sind) 
und  solche  Verordnung  durch  angemessene  Strafen  durchsetzen.“ 

Interessant  ist  die  Geschichte  dieser  Gesetzgebung.  Im  Jahre  1895 
wurde  ein  Gesetzentwurf  dem  Landtag  vorgelegt,  welcher  vor- 
schrieb, dafs  8 Stunden  Arbeit  als  ein  gesetzliches  Tagewerk  fiir 
alle  Gewerbetreibende  und  Arbeiter  angesehen  werden  sollte.  Diesem 
ersten  Entwurf  wurde  sodann  eine  Aenderung  beigefiigt,  wodurch 
die  Anwendung  des  Gesetzes  auf  Arbeiter,  die  in  Fabriken,  Berg- 
und  Schmclzwerken  angestellt  sind,  beschränkt  werden  sollte.  Der 
oberste  Gerichtshof  des  Staates  wurde  aufgefordert,  sein  Urteil  über 
die  Verfassungsmäfsigkeit  eines  solchen  Gesetzes  abzugeben,  und 
entschied  „es  sei  nicht  innerhalb  der  Kompetenz  des  Landtags, 
solche  Gesetzesbestimmungen  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Minen-, 
Fabrik-  und  Schmclzindustricen  zu  beschränken  und  diese  Industrieen 


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Cli.  II.  II  über  ich,  Die  amerikanische  Arbeitergesetzgebung  des  Jahres  1901.  429 

Einschränkungen  inbezug  auf  die  Arbeit  ihrer  Angestellten  zu 
unterwerfen,  von  welchen  andere  Unternehmer  befreit  sind.  Hin 
( resetz,  wie  das  vorliegende,  würde  offenbar  im  Konflikt  mit  dem 
Verfassungsverbot  gegen  Klassengesetzgebung  und  im  Widerspruch 
stehen  mit  dem  freien  Vertragsrecht,  welches  durch  die  Staatsver- 
fassung garantiert  und  durch  das  14.  „amendment“  der  Bundes- 
verfassung geschützt  ist.“ 

Sollte  das  obige  Verfassungsgesetz  angenommen  werden,  so 
kann  keine  Frage  über  die  Verfassungsmäfsigkeit  solcher  Gesetz- 
gebung entstehen,  soweit  sie  die  Staatsverfassung  betrifft.  Ob 
solche  Gesetze  mit  den  Bestimmungen  der  Bundesverfassung  ver- 
einbar sind,  ist  natürlich  eine  Frage,  die  in  letzter  Instanz  durch 
das  oberste  Bundesgericht  entschieden  werden  muls. 

Die  Arbeitsstunden  unil  der  Lohn  der  an  öffentlichen  Arbeiten 
Beschäftigten  sind  der  Gegenstand  der  Gesetzgebung  in  einigen 
Staaten  gewesen.  Ein  achtstündiger  Arbeitstag  ist  durch  neue  Gesetze 
festgesetzt,  oder  von  neuem  verordnet  für  die  Arbeiter  an  öffentlichen 
Arbeiten  der  Bundesregierung  des  Distrikt  of  Columbia  und  der 
Staaten  California  und  Minnessota.  Der  Staat  Indiana 
hat  den  Lohn  der  an  öffentlichen  Arbeiten  Be-.chäftigten  auf  ein 
Minimum  von  20  Cts.  (80  Pfennige)  pro  Stunde  angesetzt.  Ein 
gleich  lautendes  Gesetz  wurde  in  New-York  beantragt,  jedoch 
nicht  angenommen. 

Missouri  hat  ein  Gesetz  erlassen,  wodurch  die  Arbeitszeit 
der  beim.  Graben  von  Erz,  Kohlen  oder  anderen  wertvollen  Stoffen 
Angestellten  auf  8 Stunden  pro  Tag  beschränkt  ist.  Colorado  (das 
Gesetz  von  1891  abändernd)  verordnet,  dafs  es  keiner  Eisenbahn- 
gesellschaft erlaubt  sei,  von  ihren  Zugführern,  Lokomotivenführern, 
Heizern,  Schaffnern,  Telegraphenbeamten  oder  anderen  Dienst- 
personen, die  in  ihrem  Beruf  16  (früher  18)  aufeinanderfolgende 
Stunden  thätig  waren,  zu  verlangen,  dafs  diese  Personen  die  Arbeit 
von  neuem  aufnehmen,  oder  denselben  zu  erlauben,  dieses  zu  thun, 
ohne  dafs  sie  mindestens  10  (früher  8)  Stunden  Ruhe  gehabt  haben, 
Unfälle  ausgenommen. 

Montana  hat  die  Arbeitszeit  in  Minen,  Schmelz-  und  Konzen- 
trierwerken auf  8 Stunden  pro  Tag  festgesetzt,  ausgenommen  in 
Fällen,  wo  Leben  oder  Eigentum  in  Gefahr  sind. 

Aehnliche  Einschränkungen  des  Arbeitsvertragsrechts  zeigen  die 
Gesetzgebungen  von  Missouri,  Arizona,  Montana,  South 
Carolina  und  Pennsylvania.  Der  Staat  Missouri  hat  eine 


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430 


Gesetzgebung:  Vereinigte  Staaten  von  Amerika. 


1 5 tägige  Lohnzahlungsperiode  vorgeschrieben : dieses  Gesetz  zwingt 
alle  Fabrikbesitzer,  selbst,  wo  ein  anderslautendes  Uebereinkommen 
getroffen  ist,  ihre  Arbeiter  wenigstens  alle  1 5 Tage  voll  zu  be- 
zahlen , und  verbietet  unter  Drohung  einer  Zivilklage  auf  den 
doppelten  Betrag  der  fälligen  Summe,  dem  Arbeitgeber  mehr  als 
den  Betrag  des  Ixihns  für  die  5 vorhergehenden  Tage  einzubehalten. 
Arizona  setzt  in  der  Revision  der  Gesetze  von  1901  fest, 
dafs  fälliger  Lohn  dem  Arbeitet;  bei  seinem  Abgang  ausgezahlt 
werden  mufs.  Die  Staaten  Montana  und  South  Carolina 
haben  verordnet,  dafs  Lohnzahlungen  in  barem  Geld  oder  durch 
auf  Sicht  (Montana)  oder  nach  30  Tagen  (South  Carolina)  in  Geld 
zahlbaren  Anweisungen  erfolgen  müssen.  Indiana  hat  die  An- 
nahme von  Ueberweisungen  jetzt  fälliger  oder  nicht  fälliger  Lohn- 
summen, und  die  Ausgabe  von  Anweisungen,  die  nicht  ohne  Ab- 
zug in  gesetzliche  Münze  umgcwandelt  werden  können,  verboten. 
Pennsylvania  hat  eine  Steuer  im  Betrage  von  */4  des  Nenn- 
wertes auf  alle  Anweisungen,  die  als  Zahlung  von  Lohngeldern 
verausgabt  wurden,  und  die  nicht  innerhalb  30  Tagen  vom  Tage 
ihrer  Ausgabe  in  barem  Geld  ohne  Abzug  zahlbar  sind  oder  ge- 
zahlt werden,  eingeführt. 

Die  Gesetzgebung  inbezug  auf  die  Frauen-  und  Kinderarbeit 
zeigt  deutlich  die  in  dem  letzten  Jahrzehnt  wahrnehmbare  Tendenz, 
die  Arbeitsstunden,  und  die  Anzahl  der  Gewerbe,  in  welchen  solche 
Personen  beschäftigt  sein  können,  einzuschränken,  und  das  Alter, 
in  welchem  Kinder  verwendet  werden  dürfen,  zu  erhöhen. 

Das  Kinderarbeitsgesetz  von  New  H a m s h i r e wurde 
einer  durchgreifenden  Revision  unterworfen.  Unter  dem  alten  Ge- 
setz war  die  Beschäftigung  in  Fabriken  von  Kindern  im  Alter  von 
weniger  als  10  Jahren  untersagt.  Das  gegenwärtige  Gesetz  ver- 
bietet solche  Anstellung  von  Kindern  unter  12  Jahren,  und  ferner 
-die  Beschäftigung  von  Kindern  unter  14  Jahren  in  irgend  einem 
Gewerbe,  aufser,  während  der  gesetzlichen  Ferienzeit.  Auch  ist  es 
verboten,  Kinder  unter  16  Jahren  während  der  gesetzlichen  Schul- 
zeit in  einem  Gewerbe  zu  beschäftigen,  ohne  amtliche  Bescheinigung 
des  Alters  des  zu  beschäftigenden  Kindes  und  eines  Certifikats  des 
Bezirksschulsupcrintendentcn,  dafs  das  Kind  englisch  lesen  und 
schreiben  kann.  Das  Gesetz  verbietet  weiter  die  Anstellung  eines 
Minderjährigen,  der  nicht  lesen  und  schreiben  kann,  es  sei  denn, 
dafs  er  die  Abendschule  oder  eine  Tagschule  besucht  und  ein  Arzt 
bescheinigt,  dafs  für  den  physischen  Zustand  des  Minderjährigen 


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Ch.  H.  Hube  rieh,  Die  amerikanische  Arbeitergesetzgebung  des  Jahres  1901.  4 3 j 

der  Schulbesuch  neben  seiner  Beschäftigung  nicht  gesundheits- 
schädlich sei. 

Ein  Gesetz  von  Michigan  verordnet,  dafs  keine  männliche 
Person  unter  18  Jahren,  und  keine  weibliche  Person  unter  21  Jahren 
länger  als  60  Stunden  pro  Woche  in  irgend  einer  Fabrik  beschäftigt 
werden  soll,  ausgenommen,  wo  die  darüber  hinausgehende  Arbeit 
dazu  dient,  notwendige  Reparaturen  an  den  Maschinen  zu  machen, 
um  Unterbrechung  des  regelmäfsigen  Betriebes  zu  vermeiden.  Ferner 
soll  keine  der  obenerwähnten  Personen  eine  längere  Zeit  als 
60  Stunden  pro  Woche  oder  io  Stunden  pro  Tag,  es  sei  denn, 
dafs  dadurch  der  letzte  Tag  der  Woche  um  so  viel  kürzer  werden 
soll,  in  irgend  einem  Verkaufslokal,  in  welchem  mehr  als  io  Per- 
sonen angestellt  sind,  beschäftigt  werden.  Kein  Kind  unter  14  Jahren 
darf  in  einer  Fabrik,  einem  Hotel,  einer  Werkstätte  oder  einem 
Verkaufslokal  zwischen  6 Uhr  abends  und  7 Uhr  morgens  be- 
schäftigt werden.  Arbeitgeber  von  Kindern  unter  16  Jahren  sind 
gehalten,  ein  beschworenes  Certifikat,  worin  der  N.tme,  das  Alter, 
der  Geburtsort  und  der  Wohnsitz  solcher  Kinder  angegeben  sind, 
zur  amtlichen  Einsicht  auszulegen.  Kein  Kind  unter  16  Jahren 
darf  in  irgend  einer  Beschäftigung  verwendet  werden,  in  welcher 
dessen  Leben  oder  körperliche  Sicherheit  Gefahren  ausgesetzt  sind, 
oder  dessen  Gesundheit  oder  Sittlichkeit  geschädigt  werden  könnte. 
Keine  männliche  Person  unter  18  Jahren  und  keine  weibliche  Person 
unter  21  Jahren  darf  zur  Reinigung  von  Maschinen,  während  sie 
in  Bewegung  sind,  angestellt  werden. 

Das  Strafgesetz  von  California,  welches  die  Beschäftigung 
eines  Kindes  unter  14  Jahren  in  einem  Beruf,  welcher  der  Gesund- 
heit des  Kindes  schädlich  ist,  oder  dessen  Leben  und  körperliche 
Sicherheit  Gefahren  aussetzt,  und  die  Verwendung  eines  solchen 
Kindes  als  Seiltänzer,  Musikant,  Bettler,  oder  zu  unsittlichen  Zwecken, 
verbietet,  ist  dahin  geändert  worden,  dafs  jetzt  das  Alter  auf  16  Jahre 
erhöht  ist.  Durch  ein  anderes  Gesetz  ist  es  Packetfahrtgesell- 
schaftcn  untersagt,  sich  Minderjähriger  zur  Ablieferung  von  Briefen, 
Depeschen  und  Packeten  an  einem  Platz  von  zweifelhaftem  Ruf 
oder  an  eine  Person,  die  mit  einem  solchen  Platz  in  Verbindung 
steht,  zu  bedienen.  Die  Arbeit  von  Minderjährigen  unter  18  Jahren 
in  Fabriken,  Werkstätten  und  Verkaufslokalen  darf  in  Zukunft 
9 Stunden  pro  Tag,  oder  54  Stunden  (früher  10  bzw.  60  Stunden) 
pro  Woche  nicht  übersteigen,  aufser  in  Fällen,  wo  Ueberstunden 
notwendig  sind,  um  Reparaturen  an  der  Maschinerie  vorzunehmen 


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432 


Gesetzgebung:  Vereinigte  Staaten  von  Amerika. 


und  dadurch  eine  Unterbrechung  des  gewöhnlichen  Betriebes  zu 
vermeiden,  oder  wo  eine  andere  Stundeneinteilung  stattfindet,  um 
einen  kürzeren  Arbeitstag  aus  einem  Tag  der  Woche  zu  machen. 
Das  Alter,  in  welchem  Kinder  überhaupt  angestellt  werden  dürfen, 
ist  von  io  auf  12  Jahre  erhöht. 

Der  Staat  Massachusetts  hat  sein  Gesetz  von  1894,  welches 
die  Beschäftigung  von  Minderjährigen  in  einem  Handelsgewerbe 
für  längere  Zeit  als  58  Stunden  wöchentlich  verbot,  dahin  geändert, 
dafs  diese  Verordnung  im  Monat  Dezember  für  die  in  Lokalen  zum 
Detailverkauf  Angestellten  keine  Anwendung  finden  soll.  Dieser 
Staat  hat  ferner  die  Verwendung  von  Personen  unter  18  Jahren 
bei  der  Herstellung  von  Säuren,  wo  die  Beschäftigung  gefährlich, 
oder  der  Gesundheit  nachteilig  ist,  verboten. 

Missouri  hat  ein  neues  Verbot  gegen  die  Anstellung  von 
Knaben  unter  12  Jahren,  bzw.  14  Jahren,  wenn  dieselben  nicht 
lesen  und  schreiben  können,  erlassen.  Pennsylvania  hat  die 
Arbeit  von  Kindern  unter  13  Jahren  in  Bäckereien,  Wäschereien. 
Reinigungsanstalten,  Druckereien,  Fabriken,  Werkstätten  und  Ver- 
kaufslokalen untersagt  und  verlangt  die  Vorlegung  einer  Bescheinigung 
über  das  Alter  von  Arbeitern  zwischen  13  und  16  Jahren.  Dieser 
Staat  verbietet  weiter  eine  längere  Arbeitszeit  als  60  Stunden  pro 
Woche  oder  1 2 Stunden  pro  Tag  für  alle  Personen  unter  2 1 Jahren 
in  den  ebenerwähnten  Beschäftigungen. 

In  Tennessee  wurde  das  Alter,  in  welchem  Kinder  in  Werk- 
stätten, Fabriken  und  Bergwerken  angestellt  werden  dürfen,  von 
12  auf  14  Jahre  erhöht;  und  in  Connecticut  die  Vorzeigung 
eines  Scheines  seitens  der  Arbeitgeber,  dafs  die  von  ihm  ange- 
stellten  Kinder  unter  16  Jahren  über  14  Jahre  alt  sind. 

Der  Staat  Washington  hat  die  Arbeit  von  Frauen  in  Fabriken. 
Verkaufsläden,  Wäschereien,  Hotels  und  Restaurants  auf  10  Stunden 
pro  Tag  beschränkt,  jedoch  können  die  Arbeitsstunden  so  verteilt 
werden,  dafs  die  Arbeit  zu  irgend  einer  Zeit  des  Tages  oder  der 
Nacht  verrichtet  werden  darf.  Pennsylvania  verbietet  die  An- 
stellung von  Frauen  in  Bäckereien.  Wasch-  und  Reinigungsanstalten, 
Druckereien,  Fabriken,  Werkstätten  und  Vcrkaufslokalen  auf  eine 
längere  Zeit  als  12  Stunden  pro  Tag,  oder  60  Stunden  pro  Woche. 
Missouri  verordnet  von  neuem  das  Verbot  von  Frauenarbeit 
in  Bergwerken. 

Die  jetzt  fast  universell  angenommene  Forderung,  dafs  Arbeit- 
geber weiblichen  Angestellten  Sitzgelegenheiten  zur  Verfügung 


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Cli.  H.  Hu  her  ich,  Die  amerikanische  Arbeitergesetzgebung  des  Jahres  190 1.  433 


stellen  und  ihren  Gebrauch  während  der  Zeit,  in  welcher  diese 
Angestellten  nicht  beschäftigt  sind , denselben  gestatten , ist  in 
die  Gesetze  eingereiht,  von  neuem  verordnet  oder  in  ihrer  An- 
wendung erweitert  in  den  Staaten  Washington,  WestVirginia, 
Kansas,  Illinois  und  Pennsylvania. 

Ausführliche  Bestimmungen  über  den  Ausgleich  von 
Arbeiterstreitigkeiten  enthalten  die  Gesetzgebungen  von 
Idaho  und  Missouri.  Das  Gesetz  von  Missouri1)  sorgt  für  die 
Ernennung  eines  staatlichen  Vermittlungs-  und  Schiedrichteratnts 
(State  Board  of  Mediation  and  Arbhration)  bestehend  aus  drei 
Personen,  wovon  eine  ein  Arbeitgeber,  die  zweite  ein  Arbeitnehmer, 
und  die  dritte  weder  ein  Arbeitgeber  noch  ein  Arbeitnehmer  sein 
soll.  Die  Mitglieder  dieser  Kommission  sollen  auf  3 Jahre  ernannt 
werden  und  sind  vereidigt.  Sie  erwählen  ihren  Vorsitzenden  und 
sind  ermächtigt,  Regeln  für  die  Führung  von  Prozessen  aufzustellen. 
Zwei  Mitglieder  sind  handlungs-  und  beschlußfähig.  Inbezug  auf 
die  Pflichten  und  Befugnisse  der  Kommission  verordnet  das  Gesetz 
wie  folgt : 

„Sobald  die  Kommission  in  Kenntnis  gesetzt  ist,  dal's  in  irgend  einem  Teil 
des  Staates  eine  Arbeitseinstellung  oder  Aussperrung,  wodurch  io  oder  mehr  Per- 
sonen betroffen  werden,  stattfinden  wird  oder  ernsthaft  droht,  soll  es  die  Pflicht 
der  genannten  Kommission  sein,  sich  nach  dem  Ort  des  Strikes,  der  Aussperrung 
oder  Streitigkeit  zu  begeben,  sich  mit  den  interessierten  Parteien  in  Verbindung  zu 
setzen,  und  sich  zu  bemühen,  durch  Vermittlung  einen  Vergleich  zu  treffen.  Sollten 
alle  Vermittlungsbcmühungcn  felilschlagen,  so  soll  cs  die  Pflicht  der  Kommission 
sein,  sich  über  die  Ursachen  der  Beschwerden  und  Streitigkeiten  genau  zu  unter- 
richten, und  zu  diesem  /weck  ist  die  Kommission  befugt,  Zeugen  unter  Straf- 
androhung zu  citieren  und  zu  verhören,  das  Erscheinen  derselben  zu  erzwingen  und 
Geschäftsbücher  und  Dokumente  vorlegen  zu  lassen,  mit  derselben  Machtbefugnis 
wie  sie  den  höheren  Gerichten  dieses  Staates  oder  den  Richtern  derselben  zustehen. 
Citationen  können  unterzeichnet  und  Eide  zugeschoben  werden  durch  irgend  ein 
Mitglied  der  Kommission.  Besagte  Kommission  ist  ferner  befugt,  irgend  jemand, 
der  in  demselben  Geschäftszweig  beschäftigt  ist,  oder  der  ihres  Erachtens  Kenntnis 
der  in  Kontroverse  liegenden  Sachverhältnissc  hat,  oder  der  in  dem  betreffenden 
Geschäftszweig  die  Lohnbücher  führt,  als  Zeugen  vorzuladen  und  unter  Eid  zu  ver- 
nehmen und  die  Herbeiführung  von  Büchern  und  Papieren,  die  als  Lohnzahlungs- 
listen dienen,  zu  verlangen. ...  % 

In  allen  Fällen  von  Beschwerden  und  Streitigkeiten  zwischen  Arbeitgebern 


*)  Dieses  Gesetz  ersetzt  das  in  den  Rcvised  Statutes,  1899,  Kap.  121,  Art.  3 
enthaltene. 


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434 


Gesetzgebung : Vereinigte  Staaten  von  Amerika. 


und  Arbeitnehmern,  wo  solcher  Streit  io  oder  mehr  Angestellte  betriftt,  soll  es  die 
Pflicht  der  streitenden  Parteien  sein,  den  Streit  der  Kommission  zur  Untersuchung 
zu  überweisen.  Innerhalb  io  Tagen  nach  Vollendung  der  durch  dieses  Gesetz 
autorisierten  Untersuchungen  sollen  die  Mitglieder  der  Kommission  oder  eine 
Stimmenmehrheit  derselben  eine  Entscheidung  lallen,  worin  eine  ausführliche  Schil- 
derung der  Kontroverse,  und  eine  Darlegung  der  von  ihnen  entschiedenen  Streit- 
punkte enthalten  ist,  einen  schriftlichen  Bericht  Über  ihre  Entscheidungen  und  Rat- 
schläge machen,  und  eine  genaue  Abschrift  des  Berichts  dem  Gouverneur  und  den 
beiden  beteiligten  Parteien  zustellen  und  ferner  denselben  in  einer  Zeitung  am  Orte 
veröffentlichen. 

In  allen  Fällen  wo  das  Ersuchen  um  das  schiedsrichterliche  Verfahren  ein 
beiderseitiges  ist,  oder  wo  beide  Parteien  sich  verpflichten,  sich  der  Entscheidung 
der  Kommission  zu  unterwerfen,  soll  die  Entscheidung  endgültig  und  für  beide  an 
der  Streitigkeit  beteiligten  Parteien  bindend  sein.  In  allen  Fällen,  wo  eine  oder  die 
andere  Partei  in  dem  Streit  sich  weigert,  sich  einem  schiedsrichterlichen  Verfahren 
zu  unterwerfen,  soll  die  Entscheidung  der  Kommission  eine  endgültige  und  beide 
Parteien  bindende  sein,  es  sei  denn,  dafs  eine  Einrede  dagegen  bei  dem  Schrift- 
führer der  Kommission  innerhalb  5 Tagen  nach  gemachter  und  gekündigter  Ent- 
scheidung eingebracht  wird.“ 

Zuwiderhandlungen  gegen  das  obige  Gesetz  sollen  als  Ver- 
gehen betrachtet  werden  und  dem  Schuldigen  eine  Geldstrafe  von 
50  bis  100  Dollar  oder  eine  6 Monate  nicht  übersteigende  Haft 
oder  beide  Strafen  zuziehen. 

In  Idaho  soll  eine  Arbeitskommission  aus  zwei  durch  den 
Gouverneur  auf  2 Jahre  zu  ernennenden  und  von  dem  Senat  zu  be- 
stätigenden Personen  eingesetzt  werden.  Einer  der  Ernannten  soll 
während  der  Dauer  von  6 Jahren  ein  Lohnarbeiter  in  einer  Industrie, 
in  welcher  gewöhnlich  eine  Anzahl  von  Personen  unter  Leitung 
und  Kontrolle  einer  einzigen  stehen,  gewesen  sein,  und  zur  Zeit 
seiner  Ernennung  mit  dem  Interesse  der  Arbeiter  im  Gegensatz 
zu  dem  der  Kapitalisten  verknüpft  sein.  Der  andere  Ernannte  soll 
während  eines  gleichen  Zeitraumes  Arbeitgeber  in  einer  solchen 
Industrie  gewesen  sein,  und  das  Kapitalisteninteresse  vertreten. 
Ueberdies  müssen  die  beiden  Mitglieder  verschiedenen  politischen 
Parteien  angehören.  *) 


1 1 Es  ist  zu  bemerken,  dafs  dieses  Gesetz  die  Bestimmungen,  denen  das  Ge- 
setz von  New  York  als  Vorbild  dient,  und  welches  Ernennungen  aus  verschiedenen 
politischen  Parteien  verlangt,  mit  den  Vorschriften  solcher,  welche  nach  dem  Muster 
des  Gesetzes  von  Massachusetts  fordern,  dafs  sowohl  das  Kapitalisten-  als  das  Ar- 
beiterintcrcsse  vertreten  sei,  zu  verschmelzen  sucht. 


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Cb.  II.  Huberich,  Die  amerikanische  Arbeitergesetzgebung  des  Jahres  1901.  435 

Die  Pflicht  dieser  Kommission  in  Streitfällen  zwischen  Arbeitern 
und  Unternehmern  ist  in  dem  Gesetz  folgendermafsen  festgestellt: 

„Nach  Empfang  zuverlässiger  Nachricht  über  das  Vorhandensein  einer  Arbeitsein- 
stellung oder  Arbeitsaussperrung  oder  einer  anderen  Streitigkeit,  wodurch  die  Arbeit 
oder  Beschäftigung  von  50  oder  mehr  Personen  betroffen  ist,  soll  es  die  Pllieht  der 
genannten  Kommission  sein,  sich  nach  dem  Ort  der  Streitigkeit  zu  begeben  und 
ihre  Dienste  als  Vermittler  den  Parteien  anzubieten.  Vorgesehen  jedoch  wird,  dafs 
in  allen  Fällen,  wo  weniger  als  50  Personen  an  dem  Streit  beteiligt  sind,  die  Kom- 
mission nach  Belieben  das  Hecht  hat,  in  derselben  Weise  zu  verfahren,  als  ob  50 
oder  mehr  Personen  betroffen  wären.  Kalls  die  Kommission  nicht  den  Erfolg  hat, 
eine  friedliche  Beilegung  des  Streites  zu  dieser  Weise  zu  erlangen,  soll  sic  sich  be- 
mühen, die  streitenden  Parteien  zu  überreden,  ihre  Streitsache  einem  Schiedsgericht 
zu  überweisen.  Das  Schiedsgericht  kann  in  der,  in  diesem  Gesetz  entsprechenden 
oder  auf  andere  den  Parteien  beliebende  Weise  eingesetzt  werden.“ 

Das  vorgeschriebene  Schiedsgericht  soll  aus  der  obenerwähnten 
Kommission  und  dem  Kreisrichter  (distrikt  judge)  der  Gegend,  in 
der  der  Streit  seinen  Ursprung  hatte,  bestehen.  Diesen  können 
noch  zwei  andere  Personen  als  Beisitzer  beigefügt  werden , in 
welchem  Fall  jede  der  Parteien  eine  ernennt.  Den  Vorsitz  führt 
der  Kreisrichter.  Dieses  Gericht  hat  das  Recht,  Zeugen  vorzuladen 
und  unter  Eid  zu  befragen,  und,  im  allgemeinen,  wie  andere  Ge- 
richte zu  verfahren.  Die  Sitzungen  müssen  öffentlich  sein.  Zwecks 
Beschleunigung  der  Entscheidung  erhalten  die  Schiedsrichter  Be- 
soldung nur  für  die  ersten  1 5 Tage  ihrer  Sitzung  in  jedem  Streit- 
fall. Zur  Fällung  des  Urteils  genügt  Stimmenmehrheit. 

Das  Gesetz  von  Illinois  von  1895  ist  dahin  abgeäridert 
worden,  dafs,  wenn  eine  Arbeitseinstellung  oder  Arbeitsaussperrung 
vorhanden  ist,  welche  nach  der  Auffassung  des  staatlichen  Einigungs- 
amts (State  Board  of  Arbitration)  das  Gemeinwohl  gefährdet,  und 
die  streitenden  Parteien  sich  weigern,  ihre  Streitigkeiten  einem 
Schiedsgericht  zu  überweisen,  das  staatliche  Einigungsamt  ermächtigt 
ist,  eine  Untersuchung  der  Verhältnisse  vorzunehmen  und  ihr  Urteil 
darüber  mit  den  ihres  Erachtens  notwendigen  Mafsregeln  zu  ver- 
öffentlichen. 

Zum  Schutz  der  Unternehmer  sollen  folgende  Gesetze  vonM  innes- 
sota.  North  Carolina  und  Alabama  dienen.  Im  erstgenannten 
Staat  gilt  es  als  ein  strafbares  Vergehen,  einen  Lohnvorschufs.  der 
in  Arbeit  abgezahlt  werden  soll,  anzunehmen  und  dann  sich  zu 
weigern,  die  verabredete  Arbeit  zu  verrichten  oder  den  Vorschuls 
in  Geld  zurückzuzahlcn.  Das  Gesetz  von  North  Carolina,  welches 


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436 


Gesetzgebung : Vereinigte  Staaten  von  Amerika. 


in  der  Anwendung  auf  gewisse  Grafschaften  beschränkt  ist.  lautet 
wie  folgt: 

„Jede  Korporation,  Gesellschaft  oder  Privatperson,  die  vorsätzlich  den  Diener, 
Angestellten,  oder  Tagelöhner  einer  anderen  Korporation,  Gesellschaft  oder  Privat» 
person,  der  schriftlich  oder  mündlich  einen  Vertrag,  wonach  er  im  Dienste  seines 
Arbeitsgebers  eine  bestimmte  /eit  verbleiben  mufs,  abgeschlossen  und  dann  den 
Dienst  seines  Arbeitgebers  unter  Verletzung  seines  Vertrags,  verlassen  hat,  be- 
schäftigt, beherbergt,  oder  zu  eigenem  Dienste  zurUckhält , soll  eines  Vergehens 
schuldig  befunden  werden  und  mit  einer  Geld-  oder  Haftstrafc,  oder  mit  beiden 
Strafen  nach  Ermessen  des  Gerichts  bestraft  werden  und  überdies  einer  Civilklage 
auf  Schadensersatz  zu  Gunsten  der  beschädigten  Partei  unterliegen.“ 

Der  Staat  Alabama  hat  einige  unwesentliche  Veränderungen 
in  seinem  Gesetz  von  1896,  welches  eine  ähnlich  lautende  Be- 
stimmung enthält,  gemacht.  Dem  ( leset/,  von  North  Carolina  ähn- 
liche Bestimmungen  sind  in  den  Gesetzgebungen  der  meisten  süd- 
lichen Staaten  der  amerikanischen  Union  zu  finden,  und  augen- 
scheinlich gegen  das  unzuverlässige  Element  der  Neger  gerichtet. 

In  dem  Gebiet  der  Arbeiterschutzgesetzgebung  zeigt  das 
Jahr  1901  nur  wenig  Neues.  Im  Staat  Tennessee  gilt  es  als 
ein  Vergehen,  Arbeiter  durch  falsche  Vorspiegelungen  inbezug 
auf  die  zu  verrichtende  Arbeit,  den  dafür  zu  erhaltenden  Lohn, 
oder  andere  Bedingungen  der  Beschäftigung,  oder  inbetreff  des 
Vorhandenseins  oder  Nichtvorhandenseins  einer  Arbeitseinstellung 
oder  anderer  Arbeitstörungen  zu  veranlassen,  ihren  Wohnsitz  zu 
ändern  und  verleiht  aufserdem  den  so  geschädigten  Arbeitern  das 
Recht  einer  Zivilklage  auf  Schadenersatz. 

Ein  neues  Gesetz  des  Staates  Michigan  schreibt  vor,  dafs 
Fabrikaufseher  ermächtigt  sind,  ein  ärztliches  Attest  über  die  körper- 
liche Fähigkeit  derjenigen  Arbeiter  zu  verlangen,  die  nach  dem 
Urteil  der  Aufseher  physisch  aufscr  stände  sind , die  ihnen  auf- 
getragenen Arbeiten  zu  leisten  und  denjenigen  die  weitere  Arbeit 
zu  verbieten,  die  körperlich  dazu  unfähig  sind. 

Die  Gesetzgebung  von  Pennsylvania  verordnet,  dafs  Eigen- 
tümer von  Anthracitkohlenininen,  in  welchem  10  oder  mehr 
Personen  angcstellt  sind,  verpflichtet  sein  sollen,  in  jeder  Minen- 
grube ein  Zimmer  in  der  Gröfse  von  nicht  weniger  als  8 zu  12  Fufs, 
welches  als  ein  provisorisches  Hospital  bei  Unglücksfällen  dienen 
soll,  einzurichten  und  sowohl  eine  genügende  Quantität  von  Lein- 
oder  Olivenöl,  Verbände,  Schienen  und  wollene  und  wasserdichte 


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Ch.  H.  II  uh  er  ich  f Die  amerikanische  Arbeitergesetzgebung  des  Jahres  1901.  437 

Deeken  bereit  zu  halten,  widrigenfalls  sie  sich  sowohl  einer  Strafe 
wie  einer  Zivilklage  aussetzen. 

Connecticut  hat  den  Gebrauch  von  gefärbten  oder  gerippten 
Fensterglas  in  Fabriken,  das  dem  Augenlicht  der  Angestellten 
schädlich  ist,  verboten.  Dieser  Staat  hat  ferner  eine  Verordnung 
erlassen  über  die  Aufsicht  von  Arbeiterherbergen,  und  ein  Verbot 
gegen  die  Uebervortcilung  beim  Verkauf  von  Waren  seitens  der 
Arbeitgeber  an  ihre  Arbeiter,  als  auch  die  Annahme  von  Geld 
seitens  der  Arbeitgeber  als  Belohnung  für  Anstellung  von  Arbeitern. 

Der  Staat  Kansas  erliefs  ein  Gesetz,  wodurch  es  Eisenhahn- 
angestellten und  anderen  bestimmten  Personen  unter  vorgeschriebenen 
Bedingungen  erlaubt  ist , an  dem  Wahltage  ihre  Stimmzettel  in 
einem  beliebigen  Teil  des  Staats  abzugeben.  California  machte 
unwesentliche  Veränderungen  in  seinem  Gesetz  von  1893.  welches 
die  Beeinflussung  oder  den  Zwang  auf  die  Angestellten,  eine  be- 
sondere politische  Partei  oder  einen  besonderen  Kandidaten  zu 
unterstützen,  den  Unternehmern  verbietet. 

Die  Staaten  We st  Virginia  und  Tennessee,  dem  Beispiel 
der  meisten  nördlichen  Staaten  folgend,  verordnen,  dafs  die  Vor- 
plätze der  Strafsenbahnwaggons,  während  der  Wintermonate,  gegen 
Wind  und  Wetter  geschützt  seien. 

West  Virginia  hat  ferner  die  Art  und  die  Qualität  des  in  Berg- 
fackeln (nimeris  toretes)  zu  gebrauchenden  Oels  festgestellt,  und  das 
Gesetz  von  1897,  inbezug  auf  die  Pflichten  des  Staatsberg- 
werkaufsehers dahinlautcnd  verändert:  I.  dafs  Bergwerksunter- 
nehmer verpflichtet  sind,  eine  genaue  Karte  der  unter  ihnen  im 
Betrieb  stehenden  Minen,  anzufertigen,  oder  anfertigen  zu  lassen; 
2.  dafs  sie  eine  gehörige  Wetterversorgung  vorsehen;  3.  dafs  die 
Quantität  von  Sprengstoffen,  die  in  die  Mine  genommen  werden 
darf,  das  in  dem  Gesetz  festgestellte  Maximum  nicht  übersteigen 
darf;  4.  dafs  der  in  diesem  Gesetz  vorgeschriebene  Signalkodex 
angewandt  werde;  5.  dafs  Fördcrgestellc  nach  der  in  diesem  Gesetz 
vorgeschriebenen  Weise  gebaut  werden,  und  das  gesetzliche  Maximum 
von  Schnelligkeit  nicht  übersteigen. 

Tennessee  hat  die  Qualität  von  Oel,  das  in  Kohlenminen 
gebraucht  werden  soll,  festgestellt,  und  hat  die  gesetzliche  Wetter- 
versorgung von  Kohlenminen  genau  bestimmt.  Dieser  Staat  macht 
es  zu  einem  Vergehen,  sich  als  Minen  Werkführer,  oder  als  Minen- 
werkführer-Assistcnt  auszugeben,  ohne  ein  Examen  vor  einer  für 


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Gesetzgebung : Vereinigte  Staaten  von  Amerika. 


diesen  Zweck  eingesetzten  Kommission  bestanden  zu  haben,  und 
ohne  Nachweis  eines  5 jährigen  Dienstes  als  Bergmann. 

Das  Gesetz  von  1894  des  Staates  Missouri,  bezüglich  des 
Sprengens  in  Kohlen-,  Blei-,  Zink-,  Eisen-  und  Kupferminen  und 
Steinbrüchen  erfuhr  einige  Abänderungen.  Das  Gesetz  fordert  jetzt 
die  Anstellung  von  besonderen  Sprengarbeiten»,  die  allein  befugt 
sind,  die  Sprengschüssearbeiten  vorzunehmen,  und  welche  nach 
jedem  Schufs  eine  genaue  Untersuchung  aller  Sprengbohrlöcher  zu 
machen  und  die  in  der  Nähe  von  nicht  abgeschossenen  Bohrlöchern 
Beschäftigten  zu  benachrichtigen  haben. 

Ausführliche  Bestimmungen  über  den  Bau  oder  der  Sicher- 
stellung von  Aufzügen,  Schachten  und  Maschinen  enthalten  noch 
die  neuen  Gesetze  von  Pennsylvania,  Michigan,  West 
Virginia  und  Missouri.  Letztgenannter  Staat  hat  auch  einen 
Signalkodex  für  Bergarbeiten  angenommen.  Alabama 
und  Illinois  haben  die  Qualität  von  dem  in  Bergwerken  zu  ge- 
brauchenden Oel  festgestellt.  Kansas  hat  eine  We  1 1 e r Ver- 
sorgung nach  den  im  Gesetze  festgesetzten  Regeln  verordnet, 
und  Pennsylvania  für  eine  gehörige  Ventilierung  von 
Bäckereien  gesorgt.  New -York  hat  noch  die  Inspektion  von 
Waschanstalten  vorgeschrieben. 

Die  Staaten  California  und  Michigan  haben  den  Ge- 
brauch von  Erschöpfungsapparaten  (exhaust-fans)  in  be- 
stimmten Beschäftigungen  verordnet. 

Texas  hat  sich  den  Gesetzgebungen  der  anderen  Staaten  an- 
geschlossen durch  den  Erlafs  eines  Gesetzes,  welches  das  black- 
listing  (Eintragung  in  die  schwarze  Liste)  eines  früher  Angestellten, 
mit  der  Absicht  eine  Anstellung  des  so  Eingetragenen  in  ähnlicher 
Beschäftigung  zu  verhindern  oder  zu  erschweren,  verbietet. 

Der  Staat  Indiana  hat  im  wesentlichen  das  Gesetz  von  1 895 
inbezug  auf  die  Anfertigung  und  den  Verkauf  von  Produkten  der 
Gelangnisarbeit  von  neuem  verordnet.  Das  Gesetz  fordert,  dafs 
Händler  von  Sträflingen  verfertigter  Waren  sich  ein  Privilegium 
vom  Staatssekretär,  wofür  eine  jährliche  Abgabe  von  500  Dollar 
zu  entrichten  ist,  verschaffen  müssen.  Ferner  ist  es  zur  Pflicht 
solcher  Händler  gemacht,  jährlich  Bericht  zu  erstatten,  und  diesen 
beim  Staatsministerium  zu  hinterlegcn,  worin  die  Namen  derjenigen, 
von  welchen  die  Waren  gekauft  und  an  welche  sie  verkauft  worden 
sind,  die  Art  der  Waren  und  der  dafür  bezahlte  Preis  anzufuhren 
ist.  Ferner  sollen  alle  Waren  dieser  Herkunft  mit  der  Aufschrift 


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Ch.  H.  Hubcrich,  Die  amerikanische  Arbeitsgesetzgebung  des  Jahres  1901.  4^9 

„convict-made“  versehen  werden.  In  California  ist  es  durch  ein 
Gesetz  des  Jahres  1901  zu  einem  Vergehen  gemacht,  Waren,  die 
ganz  oder  zum  Teil  durch  Sträflinge  fabriziert  sind,  zu  verkaufen 
oder  zum  Verkauf  anzubieten,  aufser  in  Fällen  wo  der  Verkauf  der 
betreffenden  Warenklasse  durch  Gesetz  erlaubt  ist.  Durch  ein 
weiteres  Gesetz  ist  es  Gefängnisaufsehern  verboten,  Verbrecher  bei 
Steinarbeit,  ausgenommen  in  Fällen,  wo  solche  unmittelbar  für 
Staatsbauten  verwertet  werden  soll,  zu  verwenden. 

Die  Errichtung  und  Erhaltung  von  freien  staatlichen  Arbcits- 
nachweisungsbureaus  wurde  verordnet  in  den  Staaten  West 
Virginia,  Kansas  (für  Städte  ersten  und  zweiten  Ranges),  und 
Connecticut  (für  die  Städte  New  Haven,  Hartfod,  Bridgeport, 
Xorwich  und  Waterbury).  Die  Staaten  Idaho  und  Connecticut 
haben  die  Errichtung  von  Arbeitsnachweisungsbureaus  seitens  Privater 
unter  Einschränkungen  gestellt : der  Staat  Idaho  erfordert  die  Er- 
langung eines  Erlaubnisscheines  von  den  Grafschaftkommissären, 
und  eine  Kaution  im  Betrage  von  5000  Dollar,  während  der  Staat 
Connecticut  die  Ausstellung  eines  solchen  Scheines  seitens  des 
Arbeitskommissärs  und  eine  Kaution  von  500  Dollar,  als  Vorbedingung 
zu  dem  Betrieb  eines  solchen  Geschäftes  verlangt. 


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MISZELLEN. 

Ein  Arbeiterwohnungsviertel  in  einer  süddeutschen 
Provinzstadt  (Bayreuth). 

Von 

Dr.  ernst  cahn, 

in  Bayreuth. 


Einleitung. 

Während  bereits  lange  in  den  Rheinlanden , in  Westfalen,  in 
Berlin,  Frankfurt  a.  M.  und  anderen  grofsen  Städten  eine  verhältnis- 
inäfsig  reiche  baugenossenschaftliche  Thätigkeit  entfaltet  wurde , ein- 
zelne deutsche  Staaten  und  viele  gröfsere  deutsche  Verwaltungsbezirke 
oder  Städte  eine  allgemeine  gesetzliche  Regelung  der  Wohnungs- 
mifsstände,  zumeist  der  Mifsstände  im  Schlafstellenwesen,  anstrebten, 
in  einzelnen  parlamentarischen  Körperschaften,  Vereinen  und  Versamm- 
lungen, in  wissenschaftlichen  Arbeiten  und  Broschüren  die  Wohnungsfrage 
der  arbeitenden  Klassen  diskutiert  und  behandelt  wurde,  herrschte  in 
Bayern  in  dieser  Frage  wenigstens  in  der  breiten  Oeffentlichkeit  nahezu 
eine  idyllische  Ruhe.  Die  bürgerlichen  Kreise  und  Parteien  rührten  sich 
in  dieser  Sache  nur  sehr  wenig  und  den  organisatorisch  zumeist  nur 
wenig  geschulten  bayerischen  Arbeitermassen  fehlte  Initiative  und  Fähig- 
keit, die  Reformsache  selbständig  in  die  Hand  zu  nehmen.  Es  ist  von 
sozialdemokratischer  Seite  selbst  zugegeben  worden,')  dafs  die  relativ 
selbständige  Bedeutung  der  Wohnungsfrage  gegenüber  anderen  sozialen 
Fragen  früher  von  der  Sozialdemokratie  unterschätzt,  wenn  nicht  über- 
sehen wurde,  dafs  die  Bekämpfung  des  Wohnungselends  durch  Erhöhung 

')  Vgl.  Nr.  276  und  279  *K-r  sozialdemokratischen  „Münchener  Post",  Jahr- 
gang 12  { I Sq8  , das  wachsende  selbständige  Interesse  der  Sozialdemokratie  gegen- 
über der  Wohnungsfrage  Uifst  auch  erkennen : Louis  Cohn,  T>ie  Wohnungsfrage  und 
die  Sozialdemokratie,  München  1900. 


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£.  l'alin.  Ein  Arbcitcrwohnungsviertcl  in  einer  südil.  I’rnvinzsladt  (Bayreuth).  ^ i 

■der  Lohne  nicht  allein  ermöglicht  werden  könne,  und  dafs  zur  Be- 
kämpfung der  Wohnungsmifsstände  selbständige  Mafsnahmen  getroffen 
werden  miifsten. 

Erst  langsam  und  allmählich  drang  das  Verständnis  für  die  Be- 
deutung der  Wohnungsfrage  der  breiten  Massen  der  Bevölkerung  in 
weitere  Kreise.  Es  ist  insbesondere  in  den  letzten  Jahren  das  Verdienst 
des  bekannten  Universitätslehrers  für  Hygiene,  des  Münchener  Professors 
Dr.  Hans  Büchner,  das  Augenmerk  weiterer  Schichten,  besonders  auch 
der  obersten  Staatsbehörden  in  Bayern,  auf  die  grofse  hygienische  Be- 
deutung der  Wohnungsfrage  gelenkt,  sie  auf  deren  Bedeutung  immer 
und  immer  wieder  hingewiesen  zu  haben. 

Was  bis  in  tlie  Mitte  der  neunziger  Jahre  von  Staat,  Gemeinde  und 
Gesellschaft  für  Erkenntnis  und  Besserung  der  Wohnungsmifsstände  in 
Bayern  geleistet  wurde,  war,  wie  bereits  gesagt,  nicht  viel,  ln  München 
fanden  seit  den  achtziger  Jahren  immer  nach  Ablauf  von  fünf  Jahren 
in  Verbindung  mit  den  Volkszählungen  Wohnungszählungen  statt,  von 
denen  die  Wohnungszählung  von  1890  immerhin  eine  Fülle  beachtens- 
werten Materials  beibrachte,  wälirend  die  Wohnungszählung  von  1895  nur 
ungenügende  Resultate  zu  'Page  förderte.  In  München  und  in  einigen 
anderen  Städten  entfalteten  Baugenossenschaften  und  gemeinnützige 
Vereine  einige  Thätigkeit;  auch  mit  Staatsmitteln  wurden  eine  Reihe 
von  Wohnungen  für  staatliche  Arbeiter  gebaut;  Fabrikbesitzer  schufen 
in  einzelnen  Bezirken,  besonders  in  der  Stadt  Nürnberg  und  Umgegend, 
gesunde  und  billige  Arbeiterwohnungen ; aber  im  ganzen  war  all  diese 
anerkennenswerte  Thätigkeit  gegenüber  dem  ungeheuren  Umfang  des 
Wohnungselends  völlig  unzureichend. 

Seit  1896  etwa  macht  sich  ein  gewisser  Umschwung  bemerkbar. 
Die  Zahl  der  privaten  und  öffentlichen  Wohnungszählungen  und  Stich- 
probenenquöten  nimmt  zu,  die  Zahl  der  Baugenossenschaften  mehrt  sich ; 
das  Interesse  des  Staates  an  der  Wohnungsfrage  wächst;  auch  einzelne 
Stadtgemeinden  beginnen  sich  zu  rühren.  In  München  freilich  gelang 
es  zweimal,  im  Jahre  1898  und  im  Jahre  1900,  den  im  Kollegium  der 
Gemeindebevollmächtigten  nahezu  die  Mehrheit  bildenden  organisierten 
Hausbesitzern,  die  nach  Baseler  Muster  geplanten  Wohnungsenqufiten, 
deren  erste  einzelne  Stadtteile  und  deren  zweite  die  ganze  Stadt  um- 
fassen sollte,  zu  Fall  zu  bringen ; doch  ist  jetzt  durch  den  dortigen 
Wohnungsreformverein  ein  frischer  Zug  in  die  Thätigkeit  der  Erbauung 
von  billigen  und  gesunden  Arbeiterwohnungen  gekommen. 

Die  allgemeine  Steigerung  des  Interesses  für  die  Verbesserung  der 
Wohnungsmifsstände  fand  auch  in  der  bayerischen  Kammer  der  Ab- 
geordneten ihren  Ausdruck.  Im  letzten  Winter  wurde  dort  verschiedene 
Male  über  die  Wohnungsnot,  insbesondere  in  den  gröfseren  Städten,  in 
Verhandlung  getreten  und  von  den  Vertretern  verschiedener  Parteien 
-die  Schaffung  eines  Wohnungsgesetzes  verlangt.  Wohl  hauptsächlich  auf 

Archiv  für  tot.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVII.  29 


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442 


Miszellen. 


diese  Verhandlungen  hin  und  zugleich,  um  die  notwendigen  statistischen 
Grundlagen  für  die  Schaffung  der  neuen  gesetzlichen  Bestimmungen  zu 
erhalten,  ordnete  das  kgl.  Staatsministerium  des  Innern  in  allen  gröfseren 
Städten  die  Vornahme  von  Wohnungsenquätcn  an,  die  denn  auch  in 
einer  Reihe  dieser  Städte  am  Knde  des  Jahres  189g  und  zu  Anfang  des 
Jahres  1900  statthatten.  Ueber  die  Art  und  Weise  der  Vornahme  dieser 
Enqueten  sind  nähere  Angaben  nicht  in  die  Oeffentlichkeit  gedrungen. 
Anläfslich  der  Plenarwrhandlungen  in  der  Kammer  der  Abgeordneten 
über  die  Novelle  zum  Polizeistrafgesetzbuch,  durch  die  eine  gesetzliche 
Grundlage  für  verordnungsmäfsige  Bestimmungen  über  das  polizeiliche 
Einschreiten  beim  Vorhandensein  von  Wohnungsmifsständen  geschaffen 
wurde,  äufserte  der  Minister  des  Innern,  Freiherr  v.  Feilitzsch,  auf  eine 
Anfrage  bezüglich  der  Ergebnisse  dieser  Enqueten,  die  wichtigsten  Re- 
sultate dieser  Enqueten  seien  in  dem  neugebildeten  Wohnungsausschufs 
der  Kammer  der  Abgeordneten  mitgeteilt  und  im  Protokoll  des  Aus- 
schusses niedergelegt  worden;  den  Abgeordneten,  die  sich  für  die  Er- 
gebnisse der  betr.  F.nquSten  interessierten,  stehe  es  frei,  sich  durch  Ein- 
sichtnahme des  betreffenden  Protokolls  Aufschlufs  über  jene  Resultate 
zu  verschaffen. 

Der  gleichfalls  bei  jenen  Kammerverhandlungen  gegebenen  Anregung, 
die  Ergebnisse  der  Enqueten  auch  weiteren  Kreisen  durch  entsprechende 
Veröffentlichung  zugänglich  zu  machen,  ist  bis  jetzt  nicht  nachgekommen 
worden.  Fast  scheint  es,  als  ob  die  Ergebnisse  dieser  EnquSten  un- 
genützt in  den  Akten  verschwinden  werden;  das  wäre  im  Interesse  der 
Wichtigkeit  der  Sache  und  angesichts  des  wertvollen  Materials  zu  bedauern. 
Von  diesem  Gesichtspunkt  ausgehend,  entschlofs  sich  der  Verfasser  der 
vorstehenden  Abhandlung,  das  Material  der  in  der  Stadt  Bayreuth  vor- 
genonunenen  Wohnungsenquete,  an  dessen  Gewinnung  er  selbst  beteiligt 
war,  zu  verarbeiten  und  als  Beitrag  zur  Erkenntnis  der  Wohnungszustände 
der  ärmeren  Bevölkerungsklassen  weiteren  Kreisen  zugänglich  zu  machen. 
Dem  kgl.  Staatsministerium  des  Innern  sind  seinerzeit  nur  die  wichtigsten 
Ergebnisse  dieser  Enqufite  mitgeteilt  worden;  hier  soll  versucht  werden, 
die  Untersuchung  mehr  ins  einzelne  zu  führen. 

Ueber  die  äufseren  Umstände  bei  Vornahme  dieser  Enquete  ist 
nur  wenig  zu  berichten.  Die  Stadt  Bayreuth  zählt  gegenwärtig  etwa 
29000  Einwohner.  Die  beiden  letzten  Jahrzehnte  brachten  eine  lebhafte, 
industrielle  Entwicklung,  die  einen  starken  Zuzug  von  Arbeitern  und 
eine  erhebliche  Bevölkerungszunahme  zur  Folge  Iralten.  Auch  die  Bau- 
tätigkeit war  zweifellos  während  dieser  Zeit  eine  lebhafte;  doch  er- 
streckte sich  dieselbe  nur  verhältnismäfsig  wenig  auf  die  Herstellung 
kleinerer  Wohnungen.  Allmählich  entwickelte  sich  ein  grofser  Mangel 
an  kleinen  Wohnungen,  der  vor  etwa  4 — 5 Jahren  auch  zu  Erörterungen 
in  der  hiesigen  Lokalpresse  Anlafs  gab.  ln  der  letzten  Zeit  sind 
Klagen  über  den  Mangel  an  kleinen  Wohnungen  wenigstens  nicht  mehr 


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E.  C a li  n , Ein  Arbntrrwolinungs viertel  in  einer  siiild.  Provinzsladt  (Bayreuth).  4 a j 


in  die  Lokalpresse  gedrungen.  Ebenfalls  vor  einigen  Jahren  sind  auch 
vereinzelte  Mitteilungen  über  schlimme  sanitäre  Zustände  in  den  Arbeiter- 
wohnungen und  hohe  Wohnungspreise  in  der  nunmehr  eingegangenen 
Bayreuther  Abendzeitung  veröffentlicht  worden. 

Man  wufste  wohl,  dafs  die  Wohnungszustände  in  den  Arbeitervierteln 
vielfach  sehr  schlechte  waren ; aber  über  den  Umfang  der  Wohnungsnot 
war  man  nicht  unterrichtet.  Freilich  an  Hinweisen  auf  das  Wohnungs- 
elend fehlte  es  nicht,  so  heifst  es  noch  in  dem  Jahresbericht  des  ober- 
fränkischen Fabriken-  und  Gewerbeinspektors  für  1899  (S.  264  fr.  des 
Auszugs  aus  den  Berichten  der  bayerischen  Fabrik-  und  Gewerbe- 
inspektoren): „Die  Wohnungsverhältnisse  der  Arbeiter  haben  im  Berichts- 
jahr bezüglich  Privatwohnungen  keine  sehr  wesentliche  Besserung  er- 
fahren. Die  Herstellung  kleiner  und  billiger  Arbeiterwohnungen  durch 
private  Bauunternehmer  schreitet  nur  ganz  langsam  vorwärts."  — 

Die  Bayreuther  Wohnungsenquäte  erstreckte  sich  auf  einen  Stadt- 
distrikt von  den  18  Stadtdistrikten  der  Stadt  Bayreuth,  den  XI.  Distrikt 
sog.  neuer  Weg,  bestehend  aus  Blumenstrafse,  Brunnengasse,  Am  Main, 
Mainstrafse,  Mittelstrafse,  Peuntgasse,  Schulstrafse,  Wiesenstrafse. 

Bei  der  Enquete  wurden  die  wenigen  Teile  des  Viertels  ausgeschieden, 
die  noch  von  bürgerlichen  Kreisen  bewohnt  sind;  auch  die  Wohnungen 
der  Hauseigentümer,  die  bei  der  Enquüte  zum  Teil  mitgezählt  worden 
waren,  wurden  bei  der  Verarbeitung  des  Materials  nicht  weiter  berück- 
sichtigt. Gegenstand  der  EnquSte  waren  also  nur  Mieterwohnungen. 

Als  Mittel  zur  Gewinnung  der  Ergebnisse  der  Enquete  diente  der  bei 
der  Heidelberger  Enquete  vom  Winter  1895  96  und  189697  benutzte,  nach 
Baseler  Muster  gestaltete  Haushaltungsbogen.  Auf  die  Beschaffenheit  der 
Häuser  überhaupt  und  andere  Punkte,  die  vom  Interesse  gewesen  wären, 
wurde  die  Enquete  nicht  erstreckt.  Im  ganzen  wurden  von  der  Enquete 
235  Wohnungen  mit  insgesamt  1043  Inwohnern  = 3,6  Proz.  der  Ein- 
wohnerschaft Bayreuths  umfafst.  Die  Enquete,  deren  Vornahme  vom 
Magistrat  zu  Ende  des  Jahres  1899  beschlossen  worden  war,  wurde  am 
25.  Februar  1900  vorgenommen.  in  der  Weise,  dafs  8 Schutzleute,  auf 
deren  jeden  ca.  30  Wohnungen  trafen,  die  notwendigen  Erhebungen 
pflogen  und  sodann  die  Bögen,  deren  jeder  bereits  nach  dein  Adrefs- 
buch  mit  den  Namen  des  Haushaltungsvorstandes  bezeichnet  worden  war, 
ausfüllten. 

Die  Bögen  wurden  beinahe  alle  sorgfältig  ausgefüllt;  die  Be- 
völkerung der  untersuchten  Wohnungen  verhielt  sich  nach  den  mir  zu- 
gekommenen Mitteilungen  fast  durchweg  entgegenkommend. 

Der  Distrikt,  der  den  Gegenstand  der  Enquete  bildete  und  wie  be- 
reits bemerkt,  fast  nur  von  den  Angehörigen  der  Arbeiterklasse  und 
gleichstehenden  sozialen  Schichten  bewohnt  ist,  gehört  zu  den  Distrikten 
mit  den  schlimmsten  Wohnungsverhäitnissen  in  Bayreuth ; diese  Fest- 
stellung ist  nötig,  um  der  Ansicht  vorzubeugen,  als  dürften  aus  den  in 

29* 


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444 


Miszellen. 


diesen  Bezirk  gewonnenen  Ergebnissen  verallgemeinernde  Schlüsse  auf  die 
Wohnungsverhaltnisse  in  anderen  Stadtbezirken  -oder  auch  nur  in  allen 
Arbeiterbezirken  gezogen  werden.  Immerhin  bietet  die  Beschränkung 
der  Enquete  auf  einen  Arbeiterbezirk  den  Vorteil,  einen  neuen  Einblick 
in  die  Lebensverhältnisse  des  Arbeiterstandes  zu  ermöglichen  und  dadurch 
einen  Beitrag  zur  Erkenntnis  unser  sozialen  Zustände  zu  liefern.  Auch 
dieser  Gesichtspunkt  hat  den  Verfasser  bewogen,  die  vorstehende  Arbeit 
zu  unternehmen. 

Die  Verarbeitung  des  gewonnenen  Materials  bot  manche  Schwierig- 
keiten; von  den  Schutzleuten  war  nur  der  Kubikinhalt  der  einzelnen 
Räume  aus  den  Angaben  über  Höhe,  Breite  und  Länge  berechnet 
worden;  alle  übrigen  rechnerischen  Manipulationen  mufsten  vom  Ver- 
fasser selbst  ausgeführt  werden.  Die  Gefahr,  Rechenfehler  zu  machen, 
lag  da  sehr  nahe.  Doch  wurde  dem  durch  möglichst  sorgfältige  Be- 
rechnung, durch  vollständige  Reodierung  der  vom  Verfasser  selbst  vor- 
genommenen Berechnungen,  durch  Gegenüberstellung  geeigneter  Resultate 
und  durch  Proben,  soweit  überhaupt  möglich,  vorgebeugt.  Freilich 
steigerte  sich  dadurch  auch  die  Arbeitslast  bedeutend. 

Den  städtischen  Behörden  sei  für  ihr  Entgegenkommen  durch 
L'eberlassung  des  Materials  der  herzlichste  Dank  ausgesprochen. 


Das  Material. 

Die  Enquäte  erstreckte  sich,  wie  schon  bemerkt,  auf  235  Miet- 
wohnungen mit  1043  Inwohnern;  die  235  ausgefüllten  Haushaltungs- 
bogen waren  sämtlich  zur  Verarbeitung  benutzbar. 


I.  Räumezahl  und  Wohngenossenzahl. 

Eine  bis  zur  Vornahme  der  bekannten  Baseler  Wohnungsenquete 
allgemein  und  ausschliefslich  übliche  Methode,  das  Vorhandensein  einer 
Wohnungsnot  festzustellen,  war  die,  den  Prozentsatz  zu  berechnen,  mit 
dem  die  verschiedenen  Gröfsenktassen  (Wohnungen  mit  i,  2,  3 etc. 
Räumen,  bezw.  heizbaren  Zimmern)  an  der  Gesamtzahl  der  untersuchten 
Wohnungen  beteiligt  waren  und  wieviel  Wohngenossen  auf  einen  Raum 
bezw.  ein  heizbares  Zimmer  trafen.  Diente  die  Beantwortung  der  ersten 
Frage  dazu,  das  Mafs  der  Wohnbequemlichkeit  bezw.  Wohnlichkeit  der 
untersuchten  Wohnungen  ersehen  zu  lassen,  so  wollte  man  aus  der  Be- 
antwortung der  zweiten  Frage  Schlüsse  auf  die  Ueberfüllung  der  Woh- 
nungen ziehen.  Beide  Zwecke  werden  jetzt  besser  erreicht,  ersterer 
indem  man  die  f rage  nach  der  Räumezahl  und  die  Frage  nach  der  Art 
und  Weise  der  Benützung  der  Räume  mit  einander  kombiniert,  letzterer, 
indem  man  die  Grösse  des  Wohn-  bezw.  Schlafraumcs  berechnet,  der 


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E.  Cahn,  Ein  Arheitcrwohnungsvicrtcl  in  einer  südd.  Provinzstadt  Bayreuth). 


in  den  einzelnen  Wohnungen  auf  den  Wohngenossen  bezw.  Schläfer  trifft. 
Aber  trotzdem  behalten  die  erstgenannten  Methoden  noch  ihren  selb- 
ständigen Wert,  besonders  auch  im  Hinblick  auf  die  Beschaffenheit  des 
Bayreuther  Materials.  Denn  die  in  den  Fragebögen  enthaltenen  Fragen 
liber  die  Benutzungsweise  der  Räume  waren  nur  zum  Teile  in  zufrieden- 
stellender Weise  beantwortet  und  infolgedessen  war  auch  die  Kombi- 
nation von  Räumezahl  und  Benutzungsweise  nicht  durchführbar  und 
aufserdem  kann  speziell  aus  der  Zahl  der  Wohngenossen  pro  Raum 
bezw.  heizbares  Zimmer  einer  Wohnung  auf  die  Ueberflillung  der  betr, 
Wohnung  wenigstens  cinigermafsen  sicher  geschlossen  werden,  weil  für 
die  Frage,  ob  Ueberflillung  vorliegt,  nicht  blofs  der  auf  den  einzelnen 
Inwohner  entfallende  Kubikraum  Luft,  sondern  auch  die  eine  Ueber- 
tragung  von  Krankheiten  leichter  ermöglichende  und  das  allgemeine 
Unbehagen  der  Inwohner  steigernde  grofse  Wohngenossenzahl  in  Betracht 
kommt. 

Im  einzelnen  ergab  die  Enqu£te  in  Bayreuth: 


Es  gab  in  den  untersuchten  Distrikten  aufgenommenc  Woh- 
nungen mit 


Es  hatten  sonach  je  t Raum  35  = 14,9  Proz.  der  untersuchten  Wohnungen 

,,  ,,  ,,  ,,  2 Räume  1 1 7 — SO, 6 ,,  ,,  ,,  ,, 

o h 11  •.  3 11  73  = 3L1  1»  *1  n *’ 

4 „ 8 = 3.4  ..  .. 


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44<J 


Miszellen. 


Nimmt  man  an,  dafs  eine  Wohnung  mit  drei  und  mehr  Wohn- 
genossen  pro  Raum  als  überfüllt,  eine  Wohnung  mit  zwei  und  mehr 
Wohngenossen  pro  Raum  als  stark  bewohnt  anzusehen  ist,  so  ergiebt 
sich : 

Es  waren  überfüllt:  66  = 23,8  Proz.  der  untersuchten  Wohnungen. 

Es  waren  stark  bewohnt1)  (einschliefslich  der  überfüllten  Wohnungen) 
130  = 55,3  Proz.  der  untersuchten  Wohnungen. 

Wir  werden  später  sehen,  dafs,  wenn  man  eine  Wohnung  mit 
weniger  als  10  cbm  Luftraum  auf  den  Inwohner  als  überfüllt  ansieht, 
ungefähr  die  gleiche  Anzahl  der  untersuchten  Wohnungen  als  überfüllt 
anzusehen  sind  als  bei  Anwendung  der  oben  angewandten  Methode. 

Forscht  man  weiter  nach,  wie  grofs  die  Anzahl  der  in  jenen  über- 
füllten bezw.  stark  bewohnten  Wohnungen  gezählten  Inwohnern  im  Ver- 
hältnis zur  Gesamtzahl  der  Inwohner  der  untersuchten  Wohnungen  war, 
so  ergiebt  sich: 


Es  wurden  insgesamt  gezählt : 


in  den  untersuchten  Wohnungen:  1043  Wohngenossen 
in  den  überfüllten  Wohnungen:  426  — - 41  Proz. 
in  den  stark  bewohnten  Widmungen  : 716  = 68,8  Proz .( 


der  Gesamtzahl  der  in  den 
untersuchten  Wohnungen  ge- 
zählten Inwohner. 


Die  Zahl  der  in  den  überfüllten  Wohnungen  gezahlten  Inwohner 
war  sonach  bei  Anwendung  obiger  Methode  eine  sehr  beträchtliche; 
sie  betrug  ca.  2 5 der  Gesamtzahl  der  Inwohner  in  den  untersuchten 
Wohnungen. 


II.  Die  heizbaren  Zimmer  und  deren  Wohngenossenzahl. 

Die  bisher  hauptsächlich  von  den  deutschen  Städtestatistikem  ange- 
wandte Methode,  die  Wohnungsnot  festzustellen,  war  die,  Wohnungen 
mit  einer  gewissen  Zahl  von  Wohngenossen  auf  das  heizbare  Zimmer 
als  überfüllt  zu  erklären.  Die  Mängel,  die  dieser  Methode  anhaften, 
soweit  sie  ausschliefslich  aus  der  Kombination  von  Räumen  und  Wohn- 
genossenzahl auf  das  Mafs  der  Ueberfüllung  schliefsen  will,  wurden 
bereits  oben  dargethan ; allein  diese  Methode  hat  noch  den  weiteren 
Nachteil,  dafs  sie  alle  unheizbaren  Räume  bei  Beurteilung  der  Frage, 
ob  Ueberfüllung  vorliegt,  nicht  weiter  in  Erwägung  zieht.  Auf  diese 
Weise  bleiben  oft  2 und  3 gröfsere  Räume  bei  Beurteilung  jener  Frage 
aufser  Ansatz;  die  Meinung,  dafs  es  sich  bei  den  unheizbaren  Räumen 
immer  um  kleine  nebensächliche  Räume  handelt,  die  für  die  Frage,  ob 
Ueberfüllung  vorliegt,  nur  nebensächlich  in  Betracht  kommen,  dafs  etwa 

*)  Unter  den  stark  bewohnten  Wohnungen  werden  im  folgenden  die  über- 
füllten Wohnungen  überall  immer  wieder  mitgezählt. 


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F.  Calin,  Ein  Arbeitcrwohnungs viertel  in  einer  südd.  Provinz-Stadt  (Bayreuth).  447 

alle  Wohnungen  mit  einer  gew  issen  Anzahl  von  heizbaren  Zimmern  sich 
auch  durchschnittlich  innerhalb  gewisser  Raumgröfsen  (Zahl  von  cbm 
Luftraum)  halten,  wird  jedenfalls  durch  die  Bayreuther  Enquete  nicht 
bestätigt.  Trotzdem  werden  die  Resultate  der  Bayreuther  Enquöte  über 
das  Verhältnis  von  Zahl  der  heizbaren  Zimmer  und  Wohngenossenzahl 
auch  hier  mitgeteilt,  um  eine  Grundlage  zur  Vergleichung  mit  den  Er- 
gebnissen in  anderen  Städten  zu  gewinnen.  Hierbei  wurden,  wie  meist 
üblich,  die  Küchen  nicht  zu  den  heizbaren  Zimmern  gerechnet,  sondern 
wurde  zwischen  Wohnungen  mit  r,  2 heizbaren  Zimmern  ohne  Küche 
und  mit  Küche  geschieden.  Bemerkt  wird  hierbei,  dafs  in  einigen 
wenigen  Fällen  die  Küchen  auch  als  Schlafräume  benutzt  wurden. 

In  dem  untersuchten  Bezirk  gab  es  aufgenommene  Wohnungen  mit 


I heizb. 

I heizb. 

I heizb. 

2 heizb. 

2 heizb. 

2 heizb. 

4 heizb. 

Woh- 

Zim- 

Zim- 

Zim- 

Zim- 

Zim- 

Zim- 

Zim- 

nun- 

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Küche 

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Küche 

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Wohngenossen 

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3 

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2 

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überhaupt 

>75 

39 

214 

11 

9 

20 

I 

*35 

Fs  hatten  demgemäfs  je 

1 heizbares  Zimmer 

ohne 

Küche : 

>75  = 

74,4  Proz.  der  untersuchten  Wohnungen 

I „ 

mit 

,, 

39  = 

16,6  „ 

s, 

44 

2 heizbare  „ 

ohne 

tt 

11  = 

4.7  .. 

.4 

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2 t,  „ 

mit 

„ 

9 = 

3 9 .. 

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4. 

t. 

4 

mit 

M 

1 = 

0,4 

.4 

4. 

Es  hatten  sonach  je 

1 heizbares  Zimmer:  214  = 9t  Pruz.  der  aufgenommenen  Wohnungen 

2 und  mehr  heizbare  Zimmer:  21  = 9 „ „ „ 

Somit  hatten  ca.  3 \ der  aufgenomraenen  Wohnungen  nur  je  1 heizbares 
Zimmer  ohne  Küche  und  mehr  als  " derselben  nur  je  ein  heizbares 
Zimmer  überhaupt. 


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448 


Miszellen. 


Nimmt  man  nach  der  Methode  der  deutschen  Städtestatistiker  an, 
dafs  eine  Wohnung  mit  je  6 und  mehr  Wohngenossen  pro  heizbares 
Zimmer  als  überfüllt  anzusehen  ist,  so  würden  in  Bayreuth  63  der 
untersuchten  Mitwohnungen  oder  26,9  Proz.  derselben  als  überfüllt  an- 
zusehen sein.  Bei  Anwendung  dieser  Methode  .würde  also,  wie  später 
zu  zeigen  sein  wird,  ungefähr  dieselbe  Anzahl  Wohnungen  als  überfüllt 
zu  bezeichnen  sein,  wie  dann,  wenn  man  eine  Wohnung  mit  weniger 
als  10  cbm  Luftraum  pro  Wohngenosse  als  überfüllt  ansieht. 

Nimmt  man  ferner  an,  dafs  eine  Wohnung  mit  vier  und  mehr 
Wohngenossen  pro  heizbares  Zimmer  als  stark  besetzt  zu  bezeichnen  ist, 
so  würden  133  der  untersuchten  Bayreuther  Wohnungen  oder  56,6  Proz. 
derselben  als  „stark  besetzt"  anzuschen  sein. 

Fragt  man  weiter,  wie  sich  die  Zahl  der  Wohngenossen  in  jenen 
als  überfüllt  bezw.  als  stark  besetzt  bezeichnten  Wohnungen  zu  der 
Gesamtzahl  der  Wohngenossen  ihn  den  untersuchten  Wohnungen  verhält, 
so  ergiebt  sich: 

Die  Gesamtzahl  der  Wohngenossen  in  den  untersuchten  Wohnungen 
betrug  1043. 

Hiervon  wohnten  in  überfüllten  Wohnungen  452  = 43,4  Proz. 

Hiervon  wohnten  in  stark  besetzten  Wohnungen  762  = 73,5  Proz. 

Die  Zahl  der  Wohngenossen,  die  in  jenen  von  uns  als  i^berfüllt 
bezeichneten  Wohnungen  gezählt  wurden,  war  demnach  eine  sehr  be- 
trächtliche. Sie  erreicht  fast  die  Hälfte  der  Zahl  der  Wohngenossen  in 
den  gezählten  Wohnungen  überhaupt. 

Vergleicht  man  die  Resultate  der  Bayreuther  Enquete  bezüglich 
der  Frage  der  Ueberfüllung  mit  den  Resultaten  der  Wohnungunter- 
suchungen in  anderen  deutschen  Städten,  so  fallt  das  Ergebnis  dieser 
Vergleichung  nicht  eben  zu  gunsten  Bayreuths  aus.  Im  folgenden  soll 
eine  Vergleichung,  soweit  möglich,  nur  mit  den  dem  Verfasser  näher 
bekannten  Münchener  Arbeiterwohnungsverhältnissen  versucht  werden. 

Nach  der  am  2.  Dezember  1895  in  München  vorgenommenen  An- 
wesens- und  Wohnungszählung,  gab  es  im  XVIII.  Stadtbezirk  (Giesing), 


einem  Arbeiterbezirke  und  zugleich  einem  der  Bezirke  mit  den  schlech- 
testen Wohnungsverhältnissen  in  München  ') 

besetzte  Wohnungen  überhaupt 3884 

besetzte  Wohnungen  mit  keinem  oder  einem  heizbaren  Zimmer : 2691  ==  69.3  Proz. 
„ „ mit  zwei  oder  mehr  heizbaren  /.immern:  M93  — 30,7  „ 

,.  „ mit  6 u.  mehr  Wohngenossen  p.  heizb.  Zimmer : 366  3=  9,5  „ 

..  ..  ..  4 ..  .1  ..  ..  ..  1«4  = 31,6  .. 

der  besetzten  Wohnungen  des  Bezirks. 


1 Bezüglich  der  nachstehenden  Zahlen  vgl.  Mitteilungen  des  statistischen 
Amtes  der  Stadt  München,  XV.  Bd.,  6.  Heft,  Tabellen  S.  41*,  München  1897. 


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I-  Cab»,  Kin  Arbcitcrwohnungsvicrtel  in  rincr  südti.  Provinzstadt  (Bayreuth)-  449 


Bemerkt  wird,  dals  hierbei  die  sehr  geringe  Anzahl  Wohnungen 
mit  keinem  heizbaren  Zimmer  und  6 und  mehr  bezw.  4 und  mehr 
Wohngenossen  den  Wohnungen  mit  6 und  mehr  bezw.  4 und  mehr 
Wohngenossen  pro  1 heizbares  Zimmer  bereits  zugezählt  wurden. 

Weiter  gab  es  nach  der  genannten  Zählung  im  XVIII.  Stadtliezirk : 


von  Angehörigen  der  Arbeiterklasse  besetzte  Wohnungen: 
überhaupt  2358 

mit  o oder  i licirb.  Zimmer:  1848=78,3 l'roz.)  d'T  ,von  Angehörigen  der 

' J Arbeiterklasse  besetzten 

mit  2 oder  mehr  heizb.  Zimmern:  510  = 21,7  „ Wohnungen  des  Bezirks. 


von  Angehörigen  der  Arbeiterklasse  | 
besetzte  Wohnungen  mit  6 und  mehr  J 251 
Wohngenossen  pro  heizbares  /immer  J 
von  .Angehörigen  der  Arbeiterklasse  j 
besetzte  Wohnungen  mit  4 und  mehr  ! 1036 
Wohngenossen  pro  heizbares  /immer  ) 


10.7  Pro/.. 


43,9  Proz. 


der  von  Angehörigen  der 
Arbeiterklasse  besetzten 
Wohnungen  des  Bezirks. 


Bemerkt  wird  auch  hier,  dafs  die  sehr  geringe  Zahl  der  von  An- 
gehörigen der  Arbeiterklasse  besetzten  Wohnungen  mit  keinem  heizbaren 
Zimmer  und  6 und  mehr  bezw.  4 und  mehr  Wohngenossen  den  von 
Angehörigen  der  Arbeiterklasse  besetzten  Wohnungen  mit  6 und  mehr 
bezw.  4 und  mehr  Wohngenossen  pro  heizbares  Zimmer  zugezählt 
wurde. 

Stellt  man  nun  die  Zahlen,  die  bei  der  Bayreuther  Enquete  und 
der  Münchener  Zahlung  gefunden  wurden,  einander  gegenüber,  so  er- 
giebt  sielt : 

Von  den  Arbeiter-  Von  den  untersuchten 


Wohnungen  des  XVIII.  Stadt- 
bezirks in  München 

hatten  je  I heizbares  Zimmer  78.3  Proz. 

waren  überfüllt  10,7  ,, 

waren  stark  besetzt  43.9  „ 


Wohnungen  des 
XI.  Distrikts  in  Bayreuth 
91  Pro/. 

26.9  „ 

56,6  „ 


Sollte  also  nicht  etwa  die  Zahl  der  auf  ein  heizbares  Zimmer  einer 
Wohnung  durchschnittlich  entfallenden  unheizbaren  Räume  oder  die 
durchschnittliche  Gröfse  der  Räume  in  Bayreuth  in  den  untersuchten 
Wohnungen  gröfser  sein  als  bei  den  Giesinger  Arbeiterwohnungen,  so 
wäre  das  Bild,  das  uns  die  Bayreuther  Enquete  bietet,  als  ein  recht  uner- 
freuliches zu  bezeichnen. 


III.  Luftraum  und  Schlafraum. 

Die  Einsicht  in  die  Unzulänglichkeit  der  beiden  oben  angewandten 
Methoden  zur  Erzielung  exakter,  ftir  Wissenschaft  wie  Praxis  gleich  ver- 


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450 


Miszellen. 


wertbarer  Resultate  bezüglich  des  Prozentsatzes  der  überfüllten  Wohnungen 
und  des  Mafses  der  Ueberfüllung  in  denselben  hat  zur  Anwendung  einer 
anderen  Methode  geführt.  Hierbei  wird  das  Vorhandensein  und  Mafs 
der  Ueberfüllung  nach  dem  auf  den  einzelnen  Inwohner  einer  Wohnung 
entfallenden  Luftraum  bezw.  Schlafraum  bemessen.  Diese  Methode  ist 
in  gröfserem  Stile  bisher  nur  bei  den  grofsen  Wohnungsenqußten  in 
Basel1)  und  Bern*),  sodann  in  kleinerem  Mafsstabe  auch  in  verschiedenen 
deutschen  Städten  angewandt  worden.  Die  Resultate  der  bei  der  grofsen 
Enquete  im  schlesisch-mährischen  Kohlrcnrevier  vorgenommenen  Er- 
hebungen sind  meines  Wissens  bis  auf  den  heutigen  Tag  nicht  ver- 
öffentlicht worden. 

Der  obengenannten  Methode  liegen  Thatsachen  der  hygienischen 
Wissenschaft  zu  Grunde.3)  Nach  den  Untersuchungen  von  Pettenkofer 
und  Voit  atmet  ein  Erwachsener  stündlich  durchschnittlich  etwas  über 
22  1 Kohlensäure  aus.  Nun  dürfen  aber,  ebenfalls  nach  Pettenkoferschen 
Untersuchungen,  in  einem  Kubikmeter  Luft  bewohnter  Räume,  wenn  sie 
noch  ganz  gut  sein  soll,  nicht  mehr  als  ’/io  1 Kohlensäure  enthalten 
sein.  Soll  nun  die  Luft  einer  bewohnten  Wohnung  nicht  mehr  als  das 
genannte  Quantum  Kohlensäure  pro  cbm  enthalten,  so  rnufs  angesichts 
des  oben  genannten  Ausatmungsquantums  Kohlensäure  die  Kohlensäure- 
menge  der  Luft  so  verdünnt  werden,  dafs  sie  eben  nicht  mehr  als 
7, „ 1 auf  den  cbm  enthält;  um  diese  Verdünnung  zu  bewerkstelligen, 
bedarf  es  sehr  vieler  Frischluft.  Aber  auch  die  Luft  im  Freien  enthält 
schon  Kohlensäure  und  zwar  3/i auf  tooo  Teile.  Es  können  also  einem 
cbm  Frischluft  nur  noch  4/m  1 Kohlensäure  aufgebiirdet  werden.  Da 
nun  der  Erwachsene  in  der  Stunde  21  1 Kohlensäure  ausatmet,  so  ergiebt 
sich  für  einen  Erwachsenen  ein  Bedarf  von  55 — 60  cbm  frischer 
Luft  in  der  Stunde. 

Nimmt  man  nun  an,  dafs  sich  die  Luft  infolge  der  zahlreichen 
kleinen  Oeffnungen  in  den  Wohnungen  und  infolge  der  Wärmeunter- 
schiede auch  ohne  V’entilation  in  der  Stunde  2 — 3 mal  erneuert,  so 
müssen  für  einen  Erwachsenen  30  - 20  cbm  Luftraum  zur  Verfügung 
stehen. 

Eine  Ausmessung  des  Luftraums  der  Wohnungen  würde  nun  freilich 
in  den  meisten  unserer  Grofs-  und  Mittelstädte  zeigen,  dafs  jenes  hygienisch 
geforderte  Minimum  bei  einem  grofsen  Prozentsatz  der  Wohnungen 
bezw.  Inwohner  derselben  nicht,  oft  nicht  einmal  entfernt,  erreicht  ist. 

')  Vgl.  K.  Itiicher:  Die  Wohnungsenquetc  in  der  Stadt  Basel.  Basel  1891. 

*)  Vgl.  Carl  Landolt:  Die  Wohnungserhebung  in  der  Stadt  Bern.  Bern  1899. 

*)  Die  nachfolgenden  Ausführungen  hygienischer  Natur  sind,  zum  Teil  wört- 
lich, dem  treftlichen  Büchlein  von  l*rof.  Dr.  11.  Büchner-München  ..Acht  Vorträge 
aus  der  Gesundheilsichre11,  Leipzig.  Teuhncr,  1898,  entnommen. 


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K.  ('nhn,  Hin  Arhriterwohnungsviertel  in  einer  silüü.  Provinzstadt  (Bayreuth).  4 - 1 

Eine  Wohnungsgesetzgebung,  die  vorschreiben  würde,  dafs  Wohnungen 
mit  weniger  als  20  cbm  Luftraum  pro  Inwohner  geräumt  oder  schwächer 
belegt  werden  müssen,  würde  unfehlbar  Fiasko  machen.  Es  haben  des- 
halb auch  die  meisten  gesetzlichen  und  verordnungsmäfsigen  Bestimmungen 
über  das  Wohnungswesen  geringere  Anforderungen  gestellt.  So  müssen 
nach  dem  Hamburger  Gesetz  betr.  die  Wohnungspflege  in  Schlafräumen, 
welche  an  Aftermieter  ödes  Einlogierer  abgegeben  oder  an  Dienstboten, 
Arbeiter  und  Gewerbegehülfen  des  Haushaltungsvorstandes  überwiesen 
werden,  für  jedes  Kind  unter  1 5 Jahren  mindestens  5 cbm  und  für 
jede  ältere  Person  mindestens  10  cbm  Luftraum  vorhanden  sein  (§11 
Abs.  2).  Aehnliche  Bestimmungen  über  Mindestluftraum,  bald  mit  Aus- 
dehnung auf  sämtliche  Inwohner  von  Wohnungen  überhaupt,  bald  wie 
in  Hamburg,  mit  Beschränkung  auf  Wohnungen,  in  denen  neben  Fa- 
milienangehörigen auch  Nichtfamilienangehörige  sich  aufhalten,  oder  auf 
Räume,  in  denen  Schlafgängcr  sich  aufhalten,  bestehen  in  Hessen- 
Darmstadt,  den  Regierungsbezirken  Düsseldorf  und  Arnsberg,  in  Braun- 
schweig, Oldenburg,  Berlin  und  einer  grofsen  Reihe  sonstiger  deutscher 
Einzelstaaten  und  gröfserer  staatlicher  Verwaltungsbezirke  t>ezw.  Städte. 
Ein  gröfserer  Mindestluftraum  als  10  cbm  pro  Inwohner  wird  aber 
nirgends  gefordert.  In  der  Praxis  freilich  ist  die  Durchführung  selbst 
dieser  Minimalforderungen  auf  Schwierigkeiten  gestofsen;  es  zeigte  sich, 
dafs  bei  dem  in  vielen  Städten  vorhandenen  Mangel  an  kleinen  Wohnungen 
eine  strikte  Durchführung  der  betreffenden  gesetzlichen  Bestimmungen, 
ein  unbedingtes  Festhalten  an  einen  Mindestluftraum  von  10  cbm  pro 
Inwohner  eine  sehr  beträchtliche  Anzahl  von  Familien  einfach  obdachlos 
gemacht  hätte;  die  Masse  des  Wohnungselends  ist  eben  zu  grofs,  utn  in 
absehbarer  Zeit  die  Durchführung  auch  bescheidener  hygienischer  Be- 
stimmungen allgemein  zu  gestatten. 

Sehen  wir  nun  zu,  wie  sich  nach  der  Bayreuther  Enquete  die 
Wohnungsverhältnisse  in  dem  untersuchten  Distrikt  hinsichtlich  der  Luft- 
raumgröfse  gestalteten.  Es  wurde  in  vorliegender  Arbeit  eine  Scheidung 
nach  Gröfse  des  Wohnraums  überhaupt  und  Gröfse  des  Schlafraums  pro 
Wohngenosse  bezw.  Schläfer  vorgenommen,  sodann  auch  berücksichtigt, 
ob  es  sich  bei  den  Inwohnern  um  erwachsene  oder  jugendliche  Personen 
(Personen  im  Alter  von  über  oder  unter  14  Jahren)  handelte. 

Von  den  235  bei  der  Verarbeitung  benutzten  Fragebogen  enthielten 
234  zur  Verarbeitung  geeignete  Angaben  über  den  Kubikraum  der  Woh- 
nungen. Nach  Kubikraum  und  Wohngenossen  ausgeschieden,  ergab  sich 
in  den  untersuchten  Wohnungen  folgendes  Resultat : 


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452 


Miszellen. 


Es  hatten  je  niebr  als  ') 


T'l 

tn  V 

r»  r 

! i 

IT)  U 

O _ 

II 

IO — 12 
cbm 

TI 

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•.  x 
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c 

X 

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O 

rf 

Woh- 

nungen 

insgesamt 

Luttraum  pro 

Wohngenosse 

und 

l Wohn- 
genossen 

~ 

- 

_ 

2 

4 

4 

* 

14 

2 „ 

— 

1 

2 

' 

2 

7 

7 

4 

3 

4 

31 

3 1» 

— 

1 

3 

6 

9 

7 

3 

6 

6 

1 

42 

4 .. 

1 

2 

3 

9 

6 

14 

9 

1 

I 

— 

46 

s .. 

1 

1 

5 

3 

6 

9 

4 

* 

' 

1 

33 

6 „ 

I 

6 

1 1 

4 

7 

1 

— 

3° 

7 .. 

— 

2 

8 

I 

5 

— 

— 

— 

— 

16 

8 „ 

2 

4 

I 

— 

— 

— 

— 

9 

9 0 

4 

3 

— 

1 

1 

— 

— 

— 

— 

9 

10  u.  mehr 

Wohngcn. 

3 

4 

Wohnung. 

insgesamt 

3 

19 

42 

27 

37 

40 

27 

'3 

.6 

10 

234 

nthicltcn  sonach  je 

3 — 5 cbm 

3 

— 

1,3  Proz. 

der 

untersuchten  Wohnungen 

je  mehr  als 

5-7  m 

19 

= 

8,1  „ 

.. 

T.  „ 

7—10  t« 

4* 

= 

18  „ 

tt  M 

10—12  „ 

27 

= 

■ i-5  .. 

M 4. 

12-15  « 

37 

=■ 

15.8  0 

•1  .. 

15—20  M 

40 

= 

17.5  •. 

20—25  4, 

*7 

= 

11,5  „ 

25-30  „ 

Es  hatten  je  mehr  als 

'3 

5-S  .. 

” 

**  *’ 

30 — 40  cbm  pro  Inwohner  16  = 6,8  Proz.  der  untersuchten  Wohnungen 


40 10  = 4.3 

Unter  den  untersuchten  Wohnungen  gab  es  eine , die  ihren  In- 
wohnern genau  10  cbm,  3 die  ihren  Inwohnern  genau  12  cbm  und  eine, 
die  ihren  Inwohnern  genau  15  rbm  Luftraum  boten. 

Je  nachdem  man  eine  Wohnung  mit  weniger  als  20  cbm  oder 
1 5 cbm  oder  1 2 cbm  oder  1 o cbm  Luftraum  pro  Inwohner  als  über- 
füllt ansieht,  würden  in  Bayreuth  im  XI.  Distrikt 

*)  Bei  der  Enquete  wurde  ein  Abzug  an  cbm  Luftraum  wegen  der  in  den 
Wohnungen  befindlichen  Schränke,  Betten,  Kommoden  etc.  nicht  gemacht,  so  dafs 
das  hier  gebotene  Ergebnis  noch  etwas  günstiger  ist,  als  den  Thatsachen  entsprechen 
würde. 


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E.  Cabn,  Ein  Arbeitcrwohnungsvicrtel  in  einer  südd.  Provinzstadt  (Bayreuth).  45^ 


168  oder  71.8  Proz.  der  untersuchten  Wohnungen  (bei  Annahme  eines  Mindest- 


oder  117  ,.  54,3  ,.  „ 

luftraums  von  20  chm) 

„ (bei  Annahme  eines  Mindest- 

*8 ..  377 

luftraums  von  15  cbm) 

..  (hei  Annalirtie  eines  Mindcst- 

„ 63  „ 27.4  „ 

luftraums  von  1 2 cbm) 

„ (hei  Annahme  eines  Mindest- 

als  überfüllt  anzusehen  sein. 

luftraums  von  10  chm) 

Würde  also  die  bayerische  Wolmungsgesetzgebung  die  Räumung 
aller  Wohnungen,  die  ihren  Inwohnern  noch  nicht  io  cbm  Luftraum 
pro  Person  gewähren,  vorschreiben,  so  würden  von  den  aufgenommenen 
Wohnungen  des  untersuchten  Bayreuther  Bezirks  allein  63  Wohnungen 
oder  mehr  als  1 , derselben  zu  räumen  sein  und  es  wäre  fraglich,  ob 
alle  diese  Haushaltungen  in  kurzer  Zeit  überhaupt  wieder  Unterkommen 
finden  würden. 

Es  wird  also,  zum  mindesten  in  der  ersten  Zeit  der  Handhabung 
der  neuen  bayerischen  wohnungsgesetzlichen  Bestimmungen,  mögen  diese 
inhaltlich  lauten  wie  sie  wollen,  unmöglich  sein,  in  Städten  mit  schlechten 
Wohnungsverhältnissen  einen  höheren  Mindestluftraum  als  7 cbm  pro 
Inwohner  allgemein  unbedingt  zu  fordern,  und  etwa  nur  die  Räumung 
aller  Wohnungen  mit  einem  geringeren  Mindestluftraum  als  7 cbm  pro 
Inwohner  zu  erzwingen,  will  man  nicht  andere  erhebliche  Nachteile  für 
die  betroffenen  Inwohner,  herbeifuhren.  Dieser  Unterschied  zwischen 
dem  hygienischen  Ideal  und  der  Möglichkeit  seiner  praktischen  Durch- 
führbarkeit unter  den  gegenwärtigen  Verhältnissen  mag  betrübend  sein ; 
allein  eine  Gesetzgebung,  die  sich  das  Ziel  setzt  mit  weitverbreiteten 
Mifsständen  aufzuräumen,  wird,  wenn  sie  ernstlich  bestrebt  ist,  eine  wirk- 
liche Besserung  der  Wohnungsverhältnisse  herbeizuführen,  zunächst  daran 
gehen  müssen,  die  krassesten  Mifsstände  zu  beseitigen. 

Vergleichbare  Resultate  aus  den  Wohnungsenqufiten  in  anderen 
Städten  liegen  dem  Verfasser  nur  wenige  vor.  Am  besten  dürften  sich 
zur  Vergleichung  noch  die  Ergebnisse  der  zu  Anfang  der  neunziger  Jahre 
von  der  Berliner  Arbeiter  - Sanitäts- Kommission  in  Berlin  vorgenom- 
menen Wohnungsenquete  eignen.  *)  Denn  die  Wohnungen  in  der 
Sorauerstrafse  in  Berlin,  deren  Verhältnisse  damals  genauer  unter- 
sucht wurden,  waren  überwiegend  von  Angehörigen  der  Arbeiterklasse 
besetzt. 

Stellt  man  die  Ergebnisse  der  Berliner  und  Bayreuther  Enquete  ein- 
ander gegenüber,  so  ergiebt  sich: 


■)  Vgl.  darüber  näher:  Berliner  Wohnungsvcrhällnissc.  Denkschrift  der  Ber- 
liner Arbeilcr-Sanitätskomniission,  Berlin  1893,  hier  speziell  S.  56. 


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454 


Miszellen, 


Angaben  über  den  Luftraum  enthielten  in  Berlin  748,  in  Bayreuth 
234  untersuchte  Wohnungen. 

Davon  enthielten: 

a)  In  Hcrlin  (Soraucrstratse)  b)  In  Bayreuth  1 XI. Distrikt! 
der  unters.  Wohnungen  der  unters.  Wohnungen 


weniger  als  io  cbm 

pro  Inwohner 

20 

= 

2,5  Proz. 

63 

= 

27  Proz. 

lo — 12  „ 

(excl.)  „ 

43 

= 

5-3  .. 

a5 

= 

10,7 

I2-15  11 

87 

= 

in.9  „ 

39 

= 

16,7  .- 

15—2'»  M 

♦♦  0 

192 

= 

24  ., 

4> 

= 

175  - 

20—25  „ 

152 

= 

19 

27 

= 

1 ti5  .• 

25—30  »» 

85 

= 

10,6  „ 

'3 

— 

5-5 

3«. — 40 

129 

- 

16.1  „ 

16 

— 

6.8  .. 

40 — 50  M 

40 

= 

S 

6 

= 

2-5 

50  und  mehr  „ 

35 

= 

43 

4 

1,8  „ 

Es  enthielten  demnach  in  Berlin  weniger  als  10  cbm  Luftraum  pro 
Inwohner:  2,5  Proz.  der  untersuchten  Wohnungen;  in  Bayreuth  weniger 
als  10  cbm  pro  Inwohner  27  Proz.  der  untersuchten  Wohnungen;  es 
enthielten  demnach  weiter  in  Berlin  weniger  als  15  cbm  Luftraum  pro 
Inwohner:  18,7  Proz.  der  untersuchten  Wohnungen,  in  Bayreuth  weniger 
als  15  cbm  Luftraum  pro  Inwohner:  54,4  Proz.  der  untersuchten  Woh- 
nungen; es  enthielten  demnach  endlich  in  Berlin  weniger  als  20  cbm 
Luftraum  pro  Inwohner  42,7  Proz.  der  untersuchten  Wohnungen,  in 
Bayreuth  weniger  als  20  cbm  Luftraum  pro  Inwohner  71,9  Proz.  der 
untersuchten  Wohnungen.  Der  angestcllte  Vergleich  fällt  also  sehr  zu 
Ungunsten  der  untersuchten  Bayreuther  Arbeiterwohnungen  aus. 

Sieht  man  weiter  zu,  wie  sich  die  Zahl  der  Inwohner,  die  in 
jenen  einzelnen  Klassen  der  Wohndichtigkeit  gezahlt  wurden,  zur  Ge- 
samtzahl der  in  den  untersuchten  Wohnungen  gezählten  Inwohner  ver- 
hält, so  ergiebt  sich: 

Die  Zahl  der  Inwohner  der  untersuchten  Wohnungen,  deren  Kubik- 
raum  und  Inwohnerzahl  angegelren  war,  l>etrug  insgesamt  1039. 


Davon  lebten  in  Wohnungen 


mit  höchstens 

7 

cbm : 

135  Inwohner 

= 

1 3 Proz. 

-liier  Inwohner 

mehr 

ils  7 bis  cinschl. 

10 

265 

«= 

25.5  .. 

..  io  „ „ 

12 

■32 

= 

12.7  „ 

M 12  „ „ 

15 

179 

= 

17.2  .. 

••  15  « »• 

2o 

■47 

14.0  .. 

m 2o  „ 

25 

83 

= 

8 

••  25  ,,  „ 

3« 

35 

= 

3.4  ■. 

•>  ..  .» 

40 

43 

= 

4,2  „ 

•>  n 

„ 4“ 

20  „ 

1,9  „ 

.. 

Von 

diesen  1039  Inwohnern 

lebten  nun 

wiederum  in 

Wohnungen 

genau 

10  cbin  Luftraum 

pro 

Inwohner  6 

Personen,  in 

Wohnungen 

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E.  Cahn,  Ein  Arbciterwohnungsvicrtcl  in  einer  südd.  Provinzstadt  (Bayreuth).  4^ 

mit  genau  12  cbm  Luftraum  pro  Inwohner  11  Personen  und  in  Woh- 
nungen mit  genau  1 5 cbm  Luftraum  pro  Inwohner  3 Personen,  so  dafs 
in  den  Wohnungen 

mit  weniger  als  10  cbm  Luftraum:  394  Inw.  od.  38  fror,  aller  Inw.  der  unters.  Wuhn. 
„ ••  .1  12  „ n 521  „ „ 50,1  „ „ „ „ „ „ 

„ „ „15  „ 7118  „ „ 68,1  „ „ „ 

1,  » 20  „ „ 859  „ 82.3  „ „ 

gezählt  wurden. 

Bei  Berücksichtigung  der  Zahl  der  betroffenen  Personen  verschiebt 
sich  also  das  Bild  noch  bedeutend  zu  Ungunsten  der  gesundheitlich 
einigermafsen  erträglichen  Wohnungen»  während  noch  ca.  1'3  aller  unter- 
suchten Wohnungen  ihren-  Inwohnern  mindestens  20  cbm  Luftraum  pro 
Person  boten,  lebten  in  jenen  Wohnungen  mit  mindestens  20  cbm  pro 
Inwohner  noch  nicht  1 5 der  Inwohner  der  untersuchten  Wohnungen: 
ähnlich  ist  das  Verhältnis  bei  Vergleichung  anderer  Wo'nndichtigkeits- 
gruppen. 

Eine  Reihe  von  Gesetzen  und  Verordnungen  ülter  das  Wohnungs- 
wesen verlangt  für  Kinder  unter  14  Jahren  einen  geringeren  Mindest- 
luftraum als  für  Erwachsene  (Personen  von  14  Jahren  und  darüber). 
Diese  ungleichartige  Behandlung  hat  ihre  Grundlage  in  der  wissenschaft- 
lich beobachteten  Thatsache,  dafs  Kinder  weit  weniger  Kohlensäure  aus- 
atmen als  Erwachsene,  ihr  Bedarf  an  frischer  Luft  deshalb  auch  ein  ge- 
ringerer ist  als  bei  Erwachsenen  und  nach  den  oben  angestellten  Er- 
wägungen auch  der  für  Kinder  zu  berechnende  Mindestluftraum  geringer 
bemessen  werden  kann  als  der  für  Erwachsene  zu  berechnende. 

Um  nun  zu  untersuchen,  wie  grofs  der  Prozentsatz  der  überfüllten 
Wohnungen  bezw.  der  verschiedenen  Wohndichtigkeitsgruppen  bei  An- 
wendung dieser  oben  berührten  individualisierenden  Methode  sich  ge- 
staltet, wurde  angenommen,  dafs  für  Kinder  unter  14  Jahren  die  Hälfte 
des  für  Erwachsene  erforderlichen  Mindestluftraums  durchschnitt- 
lich genüge,  allerdings  eine  sehr  bescheidene  Anforderung. 

Hiervon  ausgehend  würden  als  überfüllt  anzusehen  sein: 

hei  Annahme  eines  Mindcstluflraums 

von  7 cbm  für  Erwachsene  und  3la  cbm  für  Kinder:  l Wohnung 


10  .1  0 

ii  11  ; 

t, 

11 

31  Wohnungen 

12  „ 

„ ..  6 

11 

1, 

56 

15  1.  0 

..  7'/i  .. 

" 

.. 

95 

20  „ 

„ ..  ■*>  » 

»1 

„ 

147 

Bei  Anwendung  dieser  Methode  der  Feststellung  der  Ueberfüllung 
würde  sich  die  Zahl  der  überfüllten  Wohnungen  bedeutend  vermindern; 
sie  würde  betragen: 


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4-6  Miszellen. 

beim  Verlangen  eines  Mindestluftraums 

sun  Io  bezw.  5 cbm.:  13,3  Proz.  der  unterMirhten  Wohnungen 
,.  12  6 23,8  .. 

..  Ij  7 '/,  4», 8 ..  ..  ..  „ 

..  20  „ Io  „ 62.8  „ „ „ „ 

Berechnet  man  nun  nach  dieser  Methode  der  Feststellung  der  Ueber- 
fiillung  wiederum  die  Zahl  der  in  den  einzelnen  Wohndiclitigkeitsklassen 
wohnenden  Personen,  so  ergiebt  sich: 
bei  Annahme  eines  Mindestluftraums  von 

Io  bezw.  5 cbm  lebten  in  überfüllten  Wohnungen : 1 78  Personen  oder  17.1  Proz. 

12  6 ..  354  ..  34 

15  7*  * ..  53«  ..  ..  5' 

20  ..  764  ..  ..  73.5  .. 

der  Inhalier  der  untersuchten  Wohnungen. 

Auch  hier  ist  also  der  Prozentsatz  der  in  den  als  überfüllt  ange- 
nommenen Wohnungen  lebenden  Inwohner  erheblich  gröfser  als  der 
Prozentsatz  der  als  überfüllt  angenommenen  Wohnungen , sofern  man 
natürlich  l>ei  der  Vergleichung  jedesmal  die  gleichen  Merkmale  für  die 
Feststellung  der  Ueberfüllung  zu  Grunde  legt. 

F.s  ist  oben  davon  die  Rede  gewesen,  dafs  bei  Vorhandensein  von 
gesetzlichen  und  verordnungsmäfsigen  Bestimmungen  über  das  Woh- 
nungswesen etwa  eine  liehördliche  Räumung  aller  Wohnungen  ohne  den 
gesetzlich  geforderten  Mindestluftraum  pro  Inwohner  nur  dann  thatsach- 
lich  durchgeführt  werden  könne,  wenn  dieser  Mindestluftraum  sehr 
niedrig  gegriffen  würde.  Setzt  man  nun  den  Mindestluftraum  für  Er- 
wachsene und  Kinder  verschieden  fest,  so  kann  man  unter  Umständen 
auch  bei  etwas  höherer  Fixierung  desselben  wenigstens  für  Erwachsene 
noch  auf  eine  ^tatsächliche  Durchführung  der  Bestimmungen  über 
Mindestluftrauin  rechnen.  Denn  bei  Annahme  eines  allgemeinen  Mindest- 
luftraums  von  10  cbm  wären  63  Wohnungen,  bei  Annahme  eines  all- 
gemeinen Mindestluftraums  von  7 cbm  wären  22  Wohnungen,  bei  An- 
nahme eines  Mindestluftraums  von  10  cbm  für  Erwachsene  und  5 cbm 
für  Kinder  31  Wohnungen  des  untersuchten  Distrikts  als  überfüllt  an- 
zuseben.  Bei  Anwendung  eines  verschiedenen  Mindestluftraums  für 
Kinder  und  Erwachsene  scheint  aber  auch  angesichts  der  oben  ange- 
führten wissenschaftlichen  Thatsachen  eine  gröfsere  Garantie  dafür  ge- 
geben zu  sein,  dafs  von  den  überfüllten  Wohnungen  gerade  die  sanitär 
bedenklichsten  mit  Sicherheit  dem  behördlichen  Räumungsgebot  ver- 
fallen, wobei  gleichzeitig  zugegeben  werden  mag,  dafs  mit  den  oben  an- 
geführten Merkmalen  noch  nicht  alle  Merkmale  einer  sanitär  bedenklichen 
Wohnung  erschöpft  sind,  vielmehr  zweifellos  unter  Umständen  auch  eine 
Wohnung  mit  dem  gesetzlichen  Mindestluftraum  pro  Inwohner  wird  ge- 
räumt werden  müssen. 


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K.  (.'ahn,  Ein  Arbeitcrwohnungsvicrtcl  in  einer  sUdd.  Provinzstadl  (Bayreuth).  4J7 

Einen  Mafsstab  für  die  Wohnbcquemlichkeit  und  zugleich  für  das 
Mafs  der  Ueberfiillung  der  Wohnungen  giebt  auch  die  Gröfse  des  auf 
die  einzelnen  Bewohner  entfallenden  Schlafraums.  Denn  die  Schlafzeit 
macht  bei  den  meisten  Familien  den  gröfsten  Theil  der  Zeit  aus,  während 
der  alle  Familienmitglieder  oder  der  grofscre  Teil  derselben  in  der 
gleichen  Wohnung  innerhalb  24  Stunden  gleichzeitig  vereinigt  sind,  da 
tagsüber  der  Vater  zumeist  in  Fabrik,  Werkstatt  oder  Laden,  die  Kinder 
zum  Teil  in  der  Schule  festgehalten  werden.  Allerdings  ist  zuzugeben, 
dafs  geringer  Luftraum  pro  Schläfer  in  den  Schlafräuracn  und  geringer 
Luftraum  pro  Bewohner  innerhalb  der  gesamten  Wohnung  überhaupt  sich 
nicht  notwendig  decken.  Denn  nicht  selten  werden  die  gröfseren  Räume 
tagsüber  als  Wohnräumc  und  die  kleineren  Raume  nachts  zu  Schlaf- 
zwecken benützt,  so  dafs  eine  rationellere  Verwendung  der  Räume 
manchen  Uebelstand  beseitigen  könnte.  Allein  für  den  untersuchten  Be- 
zirk hat  diese  Erscheinung  offensichtlich  nur  nebensächliche  Bedeutung; 
hier  ist  enges  Schlafen  ein  Ausdruck  engen  Wohnens  überhaupt. 

Eine  Ausscheidung  von  F'rwachsenen  und  Kindern  war  nach  dem 
vorliegenden  Material  bei  der  Untersuchung  der  Gröfse  der  Schlaf- 
räume nicht  möglich.  Auch  wurde  als  Grundlage  der  Berechnung 
nicht  „die  Wohnung"  in  Betracht  gezogen.  Denn  der  auf  die  einzelnen 
Schläfer  einer  Wohnung  entfallende  Schlafraum  war  innerhalb  sehr 
vieler  Wohnungen  wiederum  ein  verschiedener  und  es  hätte  erst  in- 
direkt der  in  einer  Wohnung  durchschnittlich  auf  den  Schläfer  ent- 
fallende Luftraum  berechnet  werden  müssen , ein  Resultat , das  aber 
keinen  besonderen  Wert  hätte;  vielmehr  wurde  allein  der  faktisch  auf 
den  einzelnen  Schläfer  entfallende  Schlafraum  berücksichtigt. 

Insgesamt  wurden  in  den  untersuchten  Wohnungen  965  Personen 
gezählt,  bei  denen  die  Gröfse  des  Schlafraums  festgestellt  worden  war. 

Von  diesen  965  Personen  halten 


je  bis  3 cbm  Schlafraum  39  Personen  oder  4 Pro/. 


je  mehr  als  3 — 5 

13  t 

1.  1 3-7 

1»  »1  n 5 7 

i6u  „ 

„ 16.6 

«I  11  »1  7 

233 

24.1 

»1  •!  ii  lO“ “12 

99 

..  Io. 2 

12  — 15 

1 16 

..  12 

»t  *•  ii  15 — 2° 

96 

.1  9-9 

11  »1  n 20  — 25 

ii  11 

45 

1,  47 

C 

1 

ir» 

1*  11 

16 

1.7 

1,  ,,  3°— 4° 

• 1 1* 

25 

11  2,6 

0 

V/“l 

1 

ii  n 

3 

..  0.3 

5° 

2 

1.  0,3 

Berücksichtigt  man 

weiter,  dafs 

auf  1 2 Personen  je  ein 

Schlafraum 

von  genau  5 cbm,  auf  13  Personen  je  ein  Schlafraum  von  genau  7 cbm, 

Archiv  für  soz.  Gesetzgebung  u.  Statistik,  XVII.  3° 


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458 


Miszellen. 


auf  8 Personen  je  ein  Schlafraum  von  genau  io  chm,  auf  3 Personen 
je  ein  Schlafraum  von  genau  12  cbm,  auf  6 Personen  je  ein  Schlaf- 
raum von  genau  1 5 cbm,  auf  3 Personen  je  ein  Schlafraum  von  genau 
20  cbm  entfiel,  so  ergab  sich,  dafs  insgesamt 

16,4  Pros,  aller  Personen,  bei  denen  die  Gröfsc  des 
Schlafraums  ermittelt  wurde,  einen  Schlaf- 
raum von  weniger  als 5 cbm 


*94  n 

desgl. 

7 

54 

desgl. 

Io 

64.7  .. 

desgl. 

12 

76,4  .. 

desgl. 

*5 

86,6  „ 

desgl. 

20 

besafsen. 

Es  ergab  sich  also  das  betrübende  Resultat,  dafs  mehr  als  die 
Hälfte  der  Personen,  deren  Schlafraum  ermittelt  wurde,  einen  Schlaf- 
raum von  weniger  als  je  10  cbm,  fast  zwei  Drittel  einen 
Sclilafraum  von  weniger  als  je  12  cbm  und  mehr  als  drei 
Viertel  einen  Schlafraum  von  weniger  als  je  15  cbm  be- 
safsen. 


Benützung  der  Räume  und  Betten  zahl. 

Wenn  der  Satz  Schmollers  in  seinem  Grundrifs  der  allgemeinen 
Volkswirtschaftslehre  (in  dem  Kapitel  über  die  Bedürfnisse)  richtig  ist: 
„Ohne  die  Trennung  von  Wohn-,  Schlaf-  und  Arbeitszimmer  kein  edleres, 
höheres  Familienleben";  dann  wiese  das  Familienleben  in  den  unter- 
suchten Wohnungen  des  XI.  Stadtdistrikts  in  Bayreuth  nur  wenige  er- 
freuliche Erscheinungen  auf.  Denn  die  Zahl  der  Wohnungen,  in  denen 
ein  besonderer  nicht  auch  zum  Schlafen  benützter  Wohnraum  vorhan- 
den war,  war  eine  sehr  geringe ; ihre  Zahl  betrug  ca.  40  (eine  ganz  ge- 
naue Angabe  ist  nicht  möglich) ; in  allen  übrigen  Wohnungen  wurden 
die  tagsüber  zum  Wohnen  benützten  Räume  nachts  zum  Schlafen  be- 
nützt. Im  ganzen  war  also  eine  vollkommene  Trennung  von  Wohn-  und 
Schlafraum  nur  in  etwa  ‘ — */„  der  untersuchten  Wohnungen  durch- 
geführt ; in  einem  grofsen  Teile  dieser  begünstigten  Wohnungen  diente 
aber  der  Wohnraum  zugleich  als  Küche.  Eine  weiter  ins  einzelne 
gehende  Darstellung  der  Art  und  Weise  der  Verwendung  der  einzelnen 
Räume  der  Wohnungen  konnte  mit  Rücksicht  auf  die  Unzulänglichkeit 
des  Materials  in  dieser  Hinsicht  nicht  versucht  werden ; sie  hätte  zudem 
nur  geringen  Wert  für  die  Erkenntnis  der  Wohnungszustände.  Nur  das 
sei  noch  erwähnt,  dafs  in  ca.  30  Fällen  je  ein  Raum  zugleich  als  Wohn- 
raum, Schlafraum  und  Küche  für  sämtliche  Mitglieder  der  Haushaltung, 
die  allerdings  in  Fällen  dieser  Art  sehr  häufig  nur  aus  je  einem  Mit- 
glied bestand,  gedient  hat. 


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E.  Cahn,  Ein  Arbcitcrwohnungsviertcl  in  einer  südd.  Provinzstadt  (Bayreuth).  45g 

Gewerbliche  Mitbenutzung  wurde  in  9 von  den  untersuchten  Woh- 
nungen festgestellt;  sie  waren  zumeist  von  kleinen  Schneidern  und  Schuh- 
machern besetzt.  Nur  in  einem  Falle  diente  der  gewerblich  benutzte 

Raum  gleichzeitig  keinem  anderen  Zwecke;  in  3 Fällen  diente  der  ge- 
werblich benutzte  Raum  zugleich  als  VV'ohnraum  und  Küche,  in  4 Fällen 
gleichzeitig  als  Wohn-  und  Schlafraum  und  in  einem  Falle  gleichzeitig 
als  Schlafraum  und  Küche. 

Als  ein  weiteres  Merkmal  für  die  in  einer  Wohnung  herrschende 
Bequemlichkeit  und  Behaglichkeit  und  gleichzeitig  als  wertvolles  Mittel 
zur  Gewinnung  eines  Einblicks  in  das  ganze  soziale  Niveau  der  be- 
troffenen Volkskreise  kann  das  Verhältnis  der  Zahl  der  einer  Haushaltung  zur 
Verfügung  stehenden  Betten  und  der  Zahl  der  sie  benützenden  Personen 
gelten.  Wie  gesundheitlich  und  sittlich  bedenklich  unter  Umständen  das 
Zusammenschlafen  mehrerer  Personen  in  einem  Bett  wirkt,  ist  ander- 
wärts vielfach  behandelt  worden.  Dafs  es  zumeist  ein  Ausflufs  ungün- 
stiger Lebens-  und  Einkommensverhältnisse  ist,  ist  ebenfalls  bekannt. 
Es  mag  zugegeben  werden,  dafs  es  zuweilen  auch  bei  günstigeren  Ein- 
kommensverhältnissen  an  der  nötigen  Anzahl  verfügbarer  Betten  fehlt, 
weil  in  den  betreffenden  Fällen  mehr  Geld  ins  Wirtshaus  und  in  die 
Schenke  wandert,  als  ökonomisch  zweckmäfsig  und  wohl  auch  gesundheit- 
lich zuträglich  ist.  Für  die  iibergrofse  Mehrzahl  der  Fälle  dürfte  die 
Ursache  des  Mangels  an  einer  genügenden  Anzahl  von  Betten  in  sozialer 
Not,  in  der  Notwendigkeit,  alle  Einnahmen  für  Nahrung,  Kleidung  und 
Mietzins  auszugeben,  bestehen. 

In  232  untersuchten  Wohnungen,  deren  jede  je  eine  Haushaltung') 
barg,  wurden  gezählt: 

67  Haushaltungen,  in  denen  für  jede  Person  ein  eigenes  Bett  vorhanden  war, 

03  Haushaltungen,  in  denen  für  je  2 Personen  mehr  als  1 Bett,  aber  nicht  je 
2 Betten  vorhan  den  waren ; 
von  diesen  103  Haushaltungen  waren  wieder: 

30  Haushaltungen,  in  denen  auf  je  3 Personen  je  2 Betten  trafen 
25  ,,  ,,  „ „ „ 4 »•  11  3 »»  »» 

>5  it  n « 0 t*  5 m n 4 »1  1» 

13  ,1  n n o t,  5 t»  -*  3 tt  *1 

41  Haushaltungen,  in  denen  auf  je  2 Personen  je  I Bett  traf 
16  „ „ „ für  „ 6 „ mehr  als  je  2 aber  weniger 

als  je  3 Betten  vorhanden  waren 

S „ in  denen  auf  je  3 Personen  je  1 Bett  vorhanden  war 

1 Haushaltung  „ der  „ „ 4 „ „1  „ „ » 

')  Bemerkt  wird  hier,  dafs  jede  der  untersuchten  235  Wohnungen  nur  je 
einen  Haushalt  barg,  so  dafs  eine  Glcichsetzung  von  Wohnung  und  Haushaltung 
zulässig  ist  und  im  folgenden  öfter  vorgenommen  wurde. 

3°* 


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Miszellen. 


460 


Es  herrschte  also  nur  in  etwas  mehr  als  ein  Viertel  der  hier 
in  Betracht  kommenden  Haushaltungen  der  normale  Zustand,  dafs  auf 
jede  zur  Haushaltung  gehörige  Person  je  ein  Bett  traf,  während  in  ein 
Viertel  der  hier  in  Betracht  kommenden  Haushaltungen  auf  2 und 
mehr  Personen  nur  je  ein  Bett  traf  und  in  nahezu  der  Hälfte  dieser 
Haushaltungen  auf  je  2 Personen  durchschnittlich  mehr  als  ein  und 
weniger  als  2 Betten  trafen. 

Abortverhältnisse. 

Es  ist  im  Interesse  von  Hygiene  und  Sauberkeit,  dafs  auf  jede  Haus- 
haltung bezw.  Wohnung  mindestens  ein  eigener  Abort  kommt.  Ange- 
sichts dessen  schreibt  eine  Reihe  von  Bauordnungen  deutscher  Einzel- 
staaten, so  u.  a.  das  neue  sächsische  Baugesetz  vom  1 . Juli  1900  (§  133) 
vor,  dafs  für  jede  selbständige  Wohnung  ein  eigener  Abort  vorhanden  sein 
mufs.  Freilich  gelten  diese  Bestimmungen  nur  iur  Neubauten  und  auch 
hier  können  sie  dadurch  umgangen  werden,  dafs  — wie  nicht  selten 
vorkommt  — eine  Wohnung  an  mehrere  Parteien  zimmerweise  oder 
sonst  geteilt  vermietet  wird,  ln  Bayreuth  scheint  der  wünschenswerte 
Zustand,  dafs  auf  jede  Wohnung  ein  eigener  Abort  kommt,  bei  weitem 
nicht  erreicht  zu  sein. 

Bei  232  untersuchten  Wohnungen,  die  je  eine  Haushaltung  um- 
fafsten,  waren  Angaben  über  die  Abortverhältnisse  vorhanden. 

Von  diesen  232  Haushaltungen  hatten : 

19  je  einen  eigenen  Abort  für  sicli 

55  den  Abort  mit  noch  einer  anderen  Haushaltung  gemeinsam 


n tt  »»  »» 

3 

„ I laushaltungen 

36  »1  »i  »*  t* 

3 

35  *»  " tt  »» 

4 

5 

•t  tt 

7 t.  ..  „ 

6 

8 ..  „ 

7 

8 

9 tt  tt  tt 

9 

Es  hatten  also  nur  ca.  8 Proz.  der  oben  bezeichncten  232  Haus- 
haltungen je  einen  eigenen  Abort  für  sich,  während  mehr  als  die  Hälfte 
mit  1 — 3 anderen  Haushaltungen  und  ca.  38  Proz.  mit  4 — 9 anderen 
Haushaltungen  den  Abort  gemeinsam  hatten,  gewifs  ein  sehr  wenig  er- 
freuliches Resultat. 

Mietpreise. 

Ein  bedeutsames  Mittel  zur  Beurteilung  der  Lebenshaltung  der 
Arbeiterklasse  wie  zur  Erkenntnis  des  Wesens  und  der  Tragweite  der 


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E.  Cahn,  Ein  Arbeitcrwohnungsvicrtrl  in  einer  sfldd.  Provinzstadt  (Bayreuth).  ^(3 1 

Bodenfrage  in  den  Städten  bildet  die  Mietpreisstatistik.  Für  Bayreuth 
sind  einer  weiteren  Verwertung  der  Ergebnisse  dieser  Statistik  enge 
Grenzen  um  deswillen  gezogen,  weil  es  an  allen  vergleichbaren  Zahlen 
für  frühere  Jahre  oder  andere  Stadtdistrikte  fehlt;  soweit  möglich  und 
zulässig,  wurde  eine  Vergleichung  mit  den  Resultaten  der  Statistik  anderer 
Städte  versucht ; aber  auch  abgesehen  hiervon  können  aus  den  nackten 
Zahlen,  die  in  dem  untersuchten  Distrikts  selbst  gefunden  wurden,  einzelne 
wertvolle  Schlüsse  gezogen  werden. 

Im  ganzen  waren  in  dem  untersuchten  Distrikts  die  Mietpreise  von 
234  aufgenommenen  Wohnungen  angegeben. 


Hiervon  wurden  gezählt: 


12  Wohnungen  zu  einem 

jährlichen  Mietzins  von 

höchstens 

. 50  Mk. 

53  ii  11  ?i 

>1  M 9V 

mehr  als 

5° 

*is  73  .. 

81 

M 91  99 

99  99 

75 

,,  100  „ 

32  11  »>  1» 

11  11  99 

99  91 

100 

- US  .. 

31  «i  n «t 

11  91 

*25 

0 >5°  .. 

18  „ „ „ 

11  91  19 

99  91 

*5° 

„ 200  „ 

7 ..  .. 

11  *9 

200 

Mk. 

Eine  Wohnung  von 

den  letzgenannten  7 

kostete 

3°°. 

eine  350  Mk 

jährlichen  Mietzins. 

Es  gab  also : 

5.1  l*roz.  Wohnungen  zu  einem  jährlichen  Mietzins  von  höchstens  ...  50  .Mk. 


57.3 

91 

11  it 

11 

n 11  mehr 

als 

50 

bis  100 

26,0  „ 

11 

91  1t  11 

91 

IOO 

»5° 

'7.7  .. 

.1 

tt  11 

H 

11  11  11 

.1 

l$° 

„ 2oo 

2.1  „ 

11 

..  .. 

11  1t  11 

99 

200 

>1  250 

0.9 

91 

25O 

11  350 

Vergleicht  man  mit  diesen  Zahlen  die  Ergebnisse  der  Münchener 
Wohnungszählung  vom  2.  Dezember  1895  für  den  XVIII.  Münchener  Stadt- 
bezirk (Giesing),  so  ergiebt  sich  für  letzteren  allerdings  bei  Berücksichtigung 
auch  der  Mietpreise  der  leerstehenden  Wohnungen,  folgendes  Resultat : 

Wohnungen  zum  Preise  von : 

höchstens  ...  50  Mk.  gab  es  2 Proz.  unter  den  Wohnungen  mit  Preisangatie 


mehr  als 

50  bis 

IOO  „ 

11  99  25  || 

1, 

11  9| 

100  „ 

150  „ 

tt  11  37»4  it 

11 

91  9t 

150  »1 

200  „ 

..  9»  *5»9  11 

91 

19 

200  „ 

250  .. 

91  91  6,9  „ 

19 

11  11 

11  11 

250  „ 

35°  .. 

it  11  5t^  1» 

11  11 

Da  es  sich  im  XVIII.  Münchener  Stadtbezirk  wie  im  XI.  Bayreuther 
Stadtdistrikt  um  Arbeiterdistrikte  handelt,  die  beide  die  schlimmsten  Woh- 
nungsverhältnisse ihrer  Stadt  aufweisen,  so  kann  aus  der  Gegenüber- 


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4Ö2 


Miszellen. 


Stellung  der  Mietpreise  in  den  oben  genannten  Stadtdistrikten  der  beiden 
Städte  ein  neuer  Beleg  für  die  allerdings  nur  mit  Einschränkungen  gel- 
tende Thatsache  entnommen  werden,  dafs  der  Arbeiter  in  der  deutschen 
Mittelstadt  billiger  wohnt  als  der  Arbeiter  in  der  deutschen  Grofsstadt. 
Doch  darf  deswegen  aus  verschiedenen  Gründen,  die  hier  nicht  näher 
zu  erörtern  sind,  aus  dieser  Thatsache  nicht  etwa  der  Schlufs  gezogen 
werden,  dafs  die  Lebenshaltung  des  Arbeiters  in  der  deutschen  Mittel- 
stadt allgemein  eine  höhere  ist  als  in  der  deutschen  Grofsstadt. 

Untersucht  man  die  Höhe  der  Mietpreise  in  den  verschiedenen 


Raumzahlgruppen 

der  Wohnungen,  so 

ergiebt  sich 

Von  den  Wohnungen 
zum  Preise  hatten  je 

hatten  je 

enthielten  je 

enthielten  je 

gab  es 

von 

1 Raum 

2 Räume 

3 Räume 

4 od.  5 Räume 

insgesamt 

höchstens  50  Mk. 

1 1 

— 

1 

— 

12 

über  50  bis  75  ,, 

14 

36 

2 

I 

53 

„ 75  „ 100  „ 

9 

53 

18 

1 

81 

„ 100  „ 125  „ 

— 

17 

15 

— 

32 

„ 115  ii  150  .. 

— 

9 

21 

I 

31 

„ 150  „ 200  „ 

— 

2 

12 

4 

18 

„ 200  „ 250  „ 

— 

— 

2 

3 

5 

über  250  „ 

— 

— 

2 

— 

2 

insgesamt:  34 

117 

73 

io 

234 

Aus  diesen  Zahlen  kann  der  eigentlich  selbstverständliche  Schlufs 
gezogen  werden,  dafs  die  Höhe  des  Mietpreises  mit  der  Zahl  der  Räume 
einer  Wohnung  wächst.  Uebrigens  ergiebt  sich  dasselbe  Resultat,  wenn 
man  die  Höhe  des  Mietpreises  pro  Raum  einer  Wohnung  in  den  verschie- 
denen Raumzahlklassen  einander  gegcniibergestellt. 


Es  gab  nämlich  Wohnungen  zum  Preise  von : 


mit  je 
I Raum 

mit  je 
2 Räumen 

mit  je 
3 Räumen 

mit  je 

4 u.  5 Räumen 

insges. 

höchstens  30  Mk. 
pro  Raum 



»9 

12 

2 

33 

mehr  als  30 — 40  Mk. 
pro  Raum 

2 

33 

17 

3 

55 

mehr  als  40 — 50  Mk. 
pro  Raum 

9 

37 

2S 

4 

73 

mehr  als  50 — 60  Mk. 
pro  Raum 

8 

16 

9 

1 

34 

mehr  als  60  — 70  Mk. 
pro  Raum 

5 

9 

4 

— 

18 

mehr  als  70 — So  Mk. 
pro  Raum 

6 

2 

I 

— 

9 

mehr  als  80 — IOO  Mk. 
pro  Raum 

4 

1 

2 

— 

7 

mehr  als  100  Mk. 
pro  Raum 



— 

— 

— 

— 

Wohnungen  insgesamt : 

34 

117 

73 

lo 

234 

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E.  C'alin,  Ein  Arbeiterwohnungsviertel  in  einer  stidd.  I’rovinzstadt  (Bayreuth).  463 

Aus  diesen  Zahlen  ergiebt  sich  aber  auch,  dafs  das  Wachsen  der 
Mietpreise  mit  dem  Wachsen  der  Räumezahl  nicht  etwa  proportional 
geht,  sondern  viel  langsamer  voranschreitet ; während  bei  den  Wohnungen 
mit  1 Raume  nur  ca.  32  Proz.  mit  Mietpreisen  von  höchstens  50  Mk. 
vorhanden  waren,  gab  es  unter  den  Wohnungen  mit  2 Räumen  ca. 
76  Proz.  zum  Preise  von  höchstens  50  Mk.  pro  Raum,  unter  den  Wohnungen 
mit  3 Räumen  ca.  78  Proz.  zum  Preise  von  höchstens  50  Mk.  pro  Raum 
und  endlich  unter  den  Wohnungen  mit  4 und  5 Räumen  sogar  90  Proz. 
zum  Preise  von  höchstens  50  Mk.  pro  Raum.  Aus  diesen  Ziffern  darf 
nun  etwa  nicht  der  Schlufs  gezogen  werden,  dafs  die  kleinste  Wohnung 
die  relativ  teuerste  ist;  denn  während  die  Wohnungen  mit  einem  Raum 
meist  aus  gröfseren  Zimmern  bestanden,  befanden  sich  unter  Wohnungen 
mit  2 — 4 Räumen  viele  mit  1 oder  mehreren  kleineren  Nebenräumen 
(Kammern). 

Die  Möglichkeit  der  Vergleichung  mit  den  Ergebnissen  anderer 
Städte  tritt  wieder  ein,  sobald  man  untersucht,  wie  stark  die  verschiedenen 
Mietpreisklassen  unter  den  Wohnungen  mit  1 bezw.  2 bezw.  4 heizbaren 
Zimmern  (wobei  die  Küche  nicht  als  heizbares  Zimmer  gerechnet  wird), 
vertreten  sind. 


Es  gab : 

Wohnungen 

Wohnungen 

Wohnungen 

Wohnungen 

zum 

mit 

mit 

mit 

ins- 

Mietzins von 

1 heizb.  Zimm.  2 heizb.  Zimm. 

4 heizb.  Zimm. 

gesamt 

höchstens  50  Mk. 

12 

— 

— 

12 

mehr  als  50  bis  75  „ 

52 

t 

- 

53 

„ „ 75  „ 100  „ 

77 

4 

— 

81 

„ „ 100  125  „ 

3° 

a 

— 

32 

»1  »♦  t25  ..  150  tt 

»4 

7 

— 

3* 

„ „ KO  „ 200  „ 

>s 

3 

— 

18 

mehr  als  200  „ 

3 

3 

I 

7 

insgesamt : 

213 

20 

I 

234 

Vergleicht  man 

die  Mietpreise 

in  den  Wohnungen  mit 

je  1 und  2 

heizbaren  Zimmern  im  Münchener  Ostend  (XIV. — XVIII.  Stadtbezirk)1) 
einem  vorwiegend  von  Arbeitern  bewohnten  Stadtviertel,  und  in  den 
untersuchten  Wohnungen  mit  je  1 und  2 heizbaren  Zimmern  im 
XI.  Bayreuther  Stadtdistrikt,  so  ergiebt  sich: 


’)  Vgl.  hierüber  Mitteilungen  des  Statist  Amtes  der  Stadt  München,  XV.  ßd. 
6.  Heit.  Anwesens-  und  Wohnungszählung  v.  2.  Dezember  1895,  Tabellen  S.  24*, 
München  1897. 


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464 


Miszellen 


Es  waren  vorhanden  Wohnungen : 


Zum  Mietzinse 
von 

Mit  I heizbarem  Zimmer 

Mit  2 heizbaren  Zimmern 

in  München  . .. 

(besetzte  u.  leere)  ,n  Kayreuth 

in  München 
ibesetrte  u.  leere;  . 

in  Bayreulli 

höchstens  50  Mk. 

l8z(  2,3 Proz.)  12 ( 5,6Proz.) 

9(  0,4  Proz.) 

— 

mehr  als  50  bis  100  „ 

2561(32.5  ..  ) 129  (60,6  „ ) 

■01  ( 2,7  , 

’ } 

5 (25  Proz.) 

„ „ 100  „ 150  „ 

3080(39,1  „ ).  54(25,4  „ ) 

627(16,8  , 

• i 

9(45  ) 

„ „ I SO  „ 200  „ 

1561  (19,8  „ ) 15  ( 7,0  „ ) 

1205(32.4  , 

• i 

3(15  - ) 

mehr  als  200  ,, 

496  ,62,9  „ ) 3(  1,4  „ ) 

1774(47,7  ■ 

. )! 

3(15  - ) 

insgesamt : 

7880  2 1 3 

3716 

1 

20 

Aus  diesen  Zahlen  ergiebt  sich  wieder  die  gröfsere  Billigkeit  der 
Arbeiterwohnungen  Bayreuths  in  dem  untersuchten  Distrikt  und,  da  die 
Mietpreise  in  den  übrigen  Bayreuther  Arbeitervierteln  annähernd  die 
gleichen  sein  dürften,  der  Arbeiterwohnungen  Bayreuths  überhaupt  gegen- 
über den  Münchener  Arbeiterwohnungen,  nur  dafs  hier  diese  Thatsache 
durch  Vergleichung  von  Wohnungen  mit  der  gleichen  Anzahl  heizbarer 
Zimmer  noch  klarer  und  einwandfreier  zu  Tage  tritt  als  bei  Vorführung 
des  oben  beigebrachten  Zahlenmaterials;  denn  dort  konnte  ja  die 
Möglichkeit,  dafs  etwa  die  betr.  Münchener  Arbeiterwohnungen  durch- 
schnittlich entsprechend  gröfser  und  darum  teurer  seien,  nicht  weiter 
berücksichtigt  werden. 

Bereits  oben  wurde  festgestellt,  dafs  die  Kostspieligkeit  der  Wohnungen 
pro  Raum  mit  dem  Wachsen  der  Zahl  der  Räume  in  dem  untersuchten 
Distrikt  abnimmt.  Dieselbe  Thatsache  kann  durch  Vergleichung  der 
Preise  pro  heizbares  Zimmer  in  den  Wohnungen  mit  1 heizbarem 
Zimmer  und  mit  2 heizbaren  Zimmern  festgestellt  werden. 


Es  gab  nämlich : 


Zum  Preise 
von 

Wohnungen 
1 mit  t heizb.  Zimmer 

Wohnungen 
t mit  2 heizb.  Zimmern  , 

überhaupt 

höchstens  50  Mk  pro 
heizbares  Zimmer  . . ' 

12  (=  5,6  Proz.) 

5 (=  25  Proz.) 

17  (=  7.3  Pr°z.) 

mehr  als  50 — 75  Mk. 
pro  heizbares  Zimmer 

52  (=  24,4  „ ) i 

9 (=45  » ) 

61  (=  26,2  ) 

mehr  als  75 — 100  Mk. 
pro  heizbares  Zimmer 

77  <=  36,2  „ ) | 

3(=  >5  ) 

80  1 = 34.3  ..  ) 

mehr  als  100  Mk.  pro 
heizbares  Zimmer  . . 

72  («  33,8  „ ) 

3 (=  '5  ..  ) 

i 

75  (=32,2  „ ) 

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E,  Cahn,  Ein  Arbciterwolmungsviertel  in  einer  südd.  Provinzsladt  (Bayreuth).  465 

Auch  hier  wiederum  wird  man  aus  den  angeführten  Zahlen  nicht 
ohne  weiteres  auf  die  relativ  gröfsere  Billigkeit  der  Wohnungen  mit 
mehreren  heizbaren  Zimmern  einen  Schlufs  ziehen  können ; Ursache  der 
relativ  gröfseren  Kostspieligkeit  der  Wohnungen  mit  i heizbarem  Zimmer 
ist  u.  a.  auch  der  Umstand,  dafs  sich  unter  dieser  Gruppe  eine  gröfsere 
Anzahl  von  Wohnungen  mit  mehreren  unheizbaren  Nebenräumen  befand, 
die  den  Mietpreis  der  Wohnungen  verteuerten,  während  bei  den 
Wohnungen  mit  2 heizbaren  Zimmern  die  Zahl  der  unheizbaren  Neben- 
raumen gegenüber  den  heizbaren  Zimmern  nicht  so  erheblich  ins  Ge- 
wicht fiel. 

Eine  exakte  Feststellung  über  die  verschiedene  Höhe  der  Mietpreise 
in  Wohnungen  von  gleicher  Gröfse,  ater  in  verschiedenen  Städten  läfst 
sich  nur  erzielen,  wenn  man  die  Höhe  der  Mietpreise  pro  cbm  Luft- 
raum einer  Wohnung  berechnet.  Eine  Vorführung  der  diesbezüglichen 
Bayreuther  Zahlen  mufs  an  dieser  Stelle  unterbleiben,  weil  es  dem  Ver- 
fasser an  vergleichbaren  Zahlen  anderer  Städte  auf  diesem  Gebiete  fehlt 
und  eine  Vorführung  der  Bayreuther  Zahlen  allein  wertlos  sein  würde. 
Dagegen  ist  es  von  nicht  zu  unterschätzender  Wichtigkeit,  die  Höhe  der 
Mietpreise  pro  cbm -Luftraum  einer  Wohnung  je  nach  dem  Grade  der 
Ueberfüllung  der  Wohnungen  zu  gruppieren.  Die  ersten  bezüglichen 
Berechnungen  sind  erst  vor  einigen  Jahren  erfolgt.  Es  zeigte  sich  da 
das  seltsame  Resultat,  dafs  der  cbm  Luftraum  einer  überfüllten  Wohnung 
in  sehr  vielen  Fällen  teurer  zu  stehen  kommt  als  der  cbm  einer  weniger 
stark  tesetzten  Wohnung,  dafs  „schlecht  wohnen“,  sehr  häufig  auch 
„teuer  wohnen“  heifst,  dafs  ein  grofser  Teil  der  breiten  Bevölkerungs- 
schichten nicht  nur  in  elenden  Wohnungen  zusammengepfercht  wohnt, 
sondern  diese  Wohnungen  auch  noch  relativ  teurer  bezahlen  mufs.  So 
wurde  beispielsweise  festgestellt,  dafs  in  den  Wohnungen  der  Bergarbeiter 
im  mährisch-schlesischen  Kohlentezirk  der  cbm  Luftraum  teurer  zu  stehen 
kommt  als  in  den  schönen,  grofsen  Wohnungen  in  der  Wiener  Ring- 
strafse.  Untersuchungen  dieser  Art  auf  breiterer  Grundlage  wurden 
zuerst  bei  der  schon  früher  behandelten  Baseler  Wohnungsenquete  von  1889 
vorgenommen,  ln  dem  untersuchten  Bayreuther  Bezirk  haben  wir  hier 
insofern  weniger  gut  verwertbare  Zahlen  vor  uns,  als  es  sich  fast  nur 
um  Arbeiterwohnungen  handelt.  Allein  auch  hier  ist  zu  untersuchen, 
inwieweit  die  oben  erwähnten  Erfahrungen  auch  für  die  einzelnen 
Gruppen  der  Arbeiterwohnungen  untereinander  gelten , und  dann  wird 
zu  untersuchen  sein,  welche  Ergebnisse  eine  Vergleichung  der  in  Bayreuth 
gefundenen  Zahlen  mit  den  vergleichbaren  Resultaten  anderer 
Städte  zu  Tage  fördert. 

Im  XI.  Bayreuther  Distrikt  lieferte  die  Untersuchung  folgendes  Er- 
gebnis: 


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mehr  als  3 Mk. 

pro  cbm  Luftraum  I — ! 1 ( 5,2  M ) 4 ( 9,8 


466 


Miszellen. 


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E.  Ca hn,  Ein  Arbeiterwohnungs viertel  in  einer  sttdd.  Provinzstadt  (Bayreuth).  46  j 

Aus  diesen  Zahlen  ergiebt  sich,  dafs  von  den  untersuchten  Wohnungen 
die  überfiilltesten  zugleich  die  teuersten  waren. 

Denn  es  gab  Wohnungen  zum  Preise  von  höchstens  1,6  Mk.  pro 
cbm  Luftraum: 

überfüllte  Wohnungen  überhaupt:  16  = 26,2  Proz.  der  überfüllten  Wohnungen 
und  zwar  Wohnungen  mit: 
o bis  5 cbm  Luftraum  pro  Inwohner:  — Proz. 

mehr  als  5 „ 7 „ „ t,  „ — „ 

„ t,  7 ..  *0  » „ „ 39  .. 

stark  besetzte  Wohnungen  überhaupt:  43  = 41,3  Proz.  der  stark  besetzten  Wohnungen 
und  zwar  Wohnungen  mit: 

mehr  als  IO  bis  12  cbm  Luftraum  pro  Inwohner:  33,3  Proz. 

•»  t,  12  „ 15  „ „ „ „ 59,4  „ 

>.  11  15  ..  20  .»  n ..  .1  30 

genügende  Wohnungen  überhaupt : 38  = 57,6  Proz.  der  genügenden  Wohnungen 
und  zwar  Wohnungen  mit: 

mehr  als  20  bis  30  cbm  Luftraum  pro  Inwohner:  47,5  Proz. 

„ „ 30  „ 40  „ „ „ 58 


Weiter  gab  es  Wohnungen  zum  Preise  von  mehr  als  2 Mk.  pro 
cbm  Luftraum. 

überfüllte  Wohnungen  überhaupt:  27=42,9  Proz.  der  überfüllten  Wohnungen 
und  zwar  Wohnungen  mit: 
o bis  5 cbm  Luftraum  pro  Inwohner:  100  Proz. 
mehr  als  5 „ 7 „ „ „ „ 52,6  „ 

11  1*  7 1.  10 34.I  „ 

stark  besetzte  Wohnungen  überhaupt:  24=23  Proz.  der  stark  besetzten  Wohnungen 
und  zwar  Wohnungen  mit: 

mehr  als  10 — 12  cbm  Luftraum  pro  Inwohner:  37  Proz. 

„ „ 1 2 — K 5 » ti  it  t.  10.8  „ 


genügende  Wohnungen  überhaupt : 6 = 8,8  Proz.  der  genügenden  Wohnungen 
und  zwar  Wohnungen  mit: 

mehr  als  20  bis  30  cbm  Luftraum  pro  Inwohner:  12,  5 Proz. 

„ „ 30  40  „ „ „ „ 6,25  „ 


Vergleicht  man  die  Mietpreise  pro  cbm  Luftraum  der  Wohnung  in 
den  untersuchten  Wohnungen  Bayreuths  mit  den  Mietpreisen  in  den  Arbeiter- 


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468 


Mis/cUrn. 


Wohnungen  anderer  Städte,  so  ergiebt  sich  das  bereits  oben  besprochene 
Resultat,  dafs  die  Arlieiterwohnungen  in  der  Provinzstadt  Bayreuth  billiger 
sind  als  etwa  die  Arbeiterwohnungen  in  Grofsstädten,  wobei  allerdings 
mit  der  zweifellos  zutreffenden  Voraussetzung  gerechnet  wird,  dafs  die 
Mietpreise  in  den  untersuchten  Bayreuther  Arbeiterwohnungen  den  üb- 
lichen Mietpreisen  der  Arbeiterwohnungen  in  Bayreuth  sich  annähern 
und  die  Wohnungen  mit  höchstens  20  cbm  Luftraum  pro  Inwohner 
bezw.  mit  1 oder  2 Räumen  in  den  zum  Vergleich  herangezogenen 
Städten  zumeist  von  Angehörigen  der  arbeitenden  Klassen  bewohnt  sind. 

ln  Bayreuth  gab  es  unter  den  untersuchten  Wohnungen  mit  höchstens 
10  cbm  Luftraum  pro  Inwohner:  17,5  Proz.,  die  Mietpreise  mit  über 

2,5  Mit.  pro  cbm  Luftraum  aufweisen  und  unter  den  untersuchten  Woh- 
nungen mit  über  10 — 20  cbm  Luftraum  pro  Inwohner:  4,8  Proz.,  die 
Mietpreise  mit  über  2,5  Mk.  pro  cbm  Luftraum  aufwiesen. 

In  Basel  wurde  bei  der  im  Februar  1 88  9 vorgenommenen  Wohnungs- 
enquete als  Durchschnittsmietpreis  pro  cbm  Luftraum  in  den  Wohnungen 
mit  höchstens  10  chm  Luftraum  pro  Inwohner:  4,59  fr.  = 3,67  Mk. 
und  in  den  Wohnungen  mit  mehr  als  10  — 20  cbm  Luftraum  pro  In- 
wohner: 3,95  fr.  = 3,16  Mk.  ermittelt.1) 

Ferner  wurde  in  Heidelberg  bei  der  in  den  Wintermonaten  1895  96 
und  1896/97  vorgenommenen  Wohnungsenquete  als  Durchschnittsmietpreis 
pro  cbm  Luftraum  in  den  Wohnungen  mit  1 Raum  2,57  Mk.  und  in 
den  Wohnungen  mit  2 Räumen  2,31  Mk.  festgestellt.-’') 

Endlich  wurde  anläfslich  der  von  der  Berliner-Sanitätskommission 
im  Jahre  1893  vorgenommenen  Enquete  ermittelt,  dafs  in  der  nahezu 
ausschliefslich  von  Arbeitern  bewohnten  Wohnungen  in  der  Sorauerstrafse 
in  Berlin  zumeist  der  cbm  Luftraum  2 Mk. — 31.,  Mk.  Miete  kostete, 
wahrend  der  Mietpreis  pro  cbm  Luftraum  in  den  untersuchten  Wohnungen 
Bayreuths  zumeist  1,2 — 2,5  Mk.  betrug.*) 

Die  Zusammensetzung  der  Haushaltungen. 

Einen  bedeutsamen  Einblick  in  die  mit  dem  Wohnungswesen  in 
Zusammenhang  stehenden  sozialen  und  sittlichen  Zustände  gewährt  unter 
L'mständen  eine  Untersuchung  der  Wohnungen  je  nach  der  Zusammen- 
setzung der  einzelnen  in  denselben  befindlichen  Haushaltungen.  Die 
Wohnungszustände  der  Haushaltungen  mit  Zimmermietern  oder  Gewerbe- 
gehilfen können  ersehen  lassen,  welches  Mafs  von  Wohnbequemlichkeit 

')  Vgl.  Bücher,  Die  Wohnungscnquetc  in  der  Stadt  Basel.  Basel  1891. 

*)  Vgl.  Bericht  über  die  Ergebnisse  der  Untersuchung  und  Aufnahme  aller 
Wohnungm  der  Stadt  Heidelberg.  Heidelberg.  S.  II. 

*)  Vgl.  Berliner  Wohnungsverhältnissc.  Denkschrift  der  Berliner  Arbeiter- 
Sanitätskommission.  Bearbeitet  von  Adolf  Braun.  Berlin  1893.  S.  64. 


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E.  Calin,  Ein  Arbciterwohnungsvintcl  in  einer  siiilcl.  Prnviiustadt  (Bayreuth).  4ÖQ 

den  alleinstehenden,  fern  von  der  elterlichen  Familie  in  Arbeit  stehenden 
jugendlichen  Personen  beschieden  ist,  und  welche  Folgen  sich  daraus 
für  die  Verwendung  der  freien  Zeit  der  betreffenden  Personen,  evtl,  auch 
für  deren  sittliches  Verhalten  mutmafslich  ergehen.  Dafs  unter  Umständen 
starker  Wirtshausbesuch  und  ehebrecherische  Verhältnisse  mit  dem  W0I1- 
nungselcnd  Zusammenhängen  und  von  ihm  abhängen,  ist  eine  sicher  be- 
zeugte Thatsache.  Aus  den  Wohnungszuständen  der  Haushaltungen  mit 
Pflegekindern  können  Schlüsse  auf  die  sanitären  Bedingungen , unter 
denen  diese  Kinder  aufwachsen,  unter  Umständen  auch  auf  die  sittlichen 
Einflüsse,  die  in  ihrer  Jugend  auf  sie  einwirken,  gezogen  werden.  Dafs 
das  Hineindringen  von  fremden  Elementen  in  den  Familienverband  be- 
sonders unter  ungünstigen  Wohnungsverhältnissen  schlimme  F'olgen  sitt- 
licher Art  mit  sich  bringen  kann,  ist  bereits  oben  berührt. 

Von  den  untersuchten  235  Wohnungen  ira  XI.  Bayreuther  Stadt- 
distrikten 

gab  cs  30  mit  Haushaltungen  mit  Schlafgangern,  davon  2 mit  Haus- 
haltungen mit  je  2 Schlafgängern,  5 mit  Haushaltungen  mit 
je  3 Schlafgängern  und  eine  mit  einer  Haushaltung  mit 
5 Schlafgängern ; 

gab  cs  1 1 mit  Haushaltungen  mit  Pflegekindern,  davon  2 Wohnungen 
mit  Haushaltungen  mit  je  2 Pflegekindern; 
gab  es  <)  mit  Haushaltungen  mit  Schlafgängern  u n d Pflegekindern,  davon 
eine  mit  1 Haushaltung  mit  3,  eine  mit  einer  Haushaltung  mit 
4 und  eine  mit  1 Haushaltung  mit  5 Pflegekindern  und  Schlaf- 
gängem. 

Von  den  verschiedenen  bisher  berührten  Gesichtspunkten,  die  zu- 
sammen einen  Einblick  in  die  thatsächlichen  Wohnungsverhältnisse  der 
untersuchten  Wohnungen  zu  geben  geeignet  sind,  sollen  bei  Darstellung 
der  Verhältnisse  der  Wohnungen  mit  Haushaltungen,  in  denen  Schlaf- 
gänger aufgenommen  sind,  nur  diejenigen  berücksichtigt  werden,  die 
einen  Einblick  in  die  gerade  hier  sich  aufdrängenden  Fragen  geben 
können.  Als  solche  Gesichtspunkte  kommen  u.  U,  Räumezahl  einer 
Wohnung,  Wohngenossenzahl,  Zahl  der  Schläfer  in  den  einzelnen  Räumen 
einer  Wohnung,  Gröfse  des  Luftraums  pro  Inwohner,  Grofse  des  Schlaf- 
raums pro  Schläfer  in  den  einzelnen  Wohnungen,  evtl,  auch  Höhe  des 
Mietpreises  in  Betracht.. 

Von  den  30  Wohnungen  mit  Schlafgängern  war  unter  den  unter- 
suchten Wohnungen  in  Bayreuth  nur  eine,  in  der  die  sämtlichen  Wohn- 
genossen  einer  Wohnung  (t  Haushaltungsvorstand  und  1 Schlafgänger) 
zum  Wohnen,  Kochen  und  Schlafen  nur  einen  Raum  zusammen  inne- 
hatten, alle  übrigen  29  Wohnungen  enthielten  je  2 — 5 Räume. 

Die  Wohnungen  mit  Schlafgängern  waren  zumeist  von  einer  gröfseren 
Anzahl  von  Wohngenossen  besetzt ; unter  den  30  Wohnungen  mit 


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470 


Miszellen. 


Schlafgängem  hatten  1 5 je  6 und  mehr  Schlafgänger  und  hiervon  wieder 
6 je  9 und  mehr  Schlafgänger. 

Da  gesetzliche  und  verordnungsmäfsige  Bestimmungen  über  das 
Wohnungswesen  sich  vielfach  darauf  beschränken,  bei  Wohnungen  mit 
Schlafgängern  für  jeden  Inwohner  einen  Mindestluftraum  (von  gewöhnlich 
io  cbm)  vorzuschreiben  oder  anzuordnen,  dafs  in  den  Räumen,  in  denen 
Schlafgängcr  untergebracht  sind,  für  jeden  Schlafgänger  ein  gewisser 
Mindestluftraum  (gewöhnlich  ebenfalls  10  cbm)  vorhanden  sein  mufs, 
überhaupt  die  Zahl  der  Verordnungen  über  Schlafstellenwesen  im  Gebiete 
des  deutschen  Reiches  Legion  ist,  erscheint  es  angebracht,  zu  berechnen, 
wie  grofs  die  Zahl  der  untersuchten  Bayreuther  Wohnungen  mit  Schlaf- 
gängem und  weniger  als  10  cbm  Luftraum  pro  Inwohner  ist.  Da  ergab 
sich,  dafs  1 2 oder  40  Proz.  der  Wohnungen  mit  Schlafgängem  weniger 
als  10  cbm  Luftraum  pro  Inwohner  besafsen,  also  ein  weit  gTöfserer 
Prozentsatz  als  der  Prozentsatz  der  Wohnungen  mit  weniger  als  xo  cbm 
Luftraum  pro  Inwohner  gegenüber  den  untersuchten  Wohnungen  über- 
haupt betrug;  aufserdem  konnten  3 Wohnungen  gefunden  werden,  in 
denen  sicher  ein  oder  mehret e Schlafgänger  einen  Schlafraum  von 
weniger  als  10  cbm  besafsen,  während  die  Zahl  der  aufserdem  noch 
vorhandenen  Wohnungen  mit  weniger  als  10  cbm  Schlafraum  für  einen 
oder  mehrere  oder  alle  zugehörigen  Schlafgänger  augesichts  der  be- 
sonderen Gestaltung  des  vorliegenden  Materials  nicht  ermittelt  werden 
konnte. 

ln  14  von  den  30  Wohnungen  mit  Schlafgängern  schliefen  der 
oder  die  Schlafgänger  mit  Mitgliedern  der  Familie  in  demselben  Raume 
aufserdem  trafen  in  7 Wohnungen  mit  Schlafgängem  auf  2 oder  mehr  Inwohner 
nur  je  1 Bett ; in  einem  dieser  Fälle  hatte  mit  Sicherheit  der  Haus- 
haltungsvorstand und  der  Schlafgänger  nur  ein  Bett  zusammen,  in  einem 
der  Fälle  trafen  auf  6 Haushaltungsmitglieder,  einschliefslich  3 Schlaf- 
gänger 2 Betten;  in  wieviel  Fällen  sonst  noch  ein  Zusammenschlafen 
von  Familienmitgliedern  und  Schlafgängem  in  einem  und  demselben  Bett 
stattfand,  kann  hier  nicht  näher  angegeben  werden,  doch  erscheint  es 
nach  dem  vorliegenden  Material  zweifellos,  dafs  es  noch  in  einer  ganzen 
Reihe  von  Fallen  statthatte.  Dafs  diese  Zustände  sittlich  nicht  un- 
bedenklich sind,  steht  aufser  allein  Zweifel;  doch  kann  ein  zahlenmäfsig  ge- 
nauer Nachweis  gerade  über  die  Tragweite  dieses  Punktes  bei  der  Be- 
schaffenheit des  Materials  nicht  erbracht  werden. 

Ebensowenig  können  genaue  und  zuverlässige  Angaben  über  die 
Gründe  des  Abvermietcns  einzelner  Wohnungsteile  oder  Schlafstellen  an 
Schlafgänger  gemacht  werden.  Dafs  hierfür  ein  Bedürfnis  angesichts  des 
Vorhandenseins  einer  grofsen  Zahl  unverheirateter,  von  ihren  Eltern  ent- 
fernter, erwachsener  Personen  vorliegt,  liegt  auf  der  Hand.  Doch  scheint 
die  Absicht,  mit  der  Abvennietung  einen  Gewinn  zu  machen,  die  Haupt- 
ursache zu  sein;  wenigstens  scheint  die  grofse  Anzahl  von  Wohnungen 


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E.  Cahn,  Ein  Arbcilerwohnungsviertel  in  rincr  siidd.  Provinzstadt  (Hayrcuth).  47  I 

mit  3 und  mehr  Räumen  (15  oder  50  Proz.  der  Wohnungen  mit  Schlaf- 
gängern, während  die  Wohnungen  mit  3 und  mehr  Räumen  nur  ca. 
35  Proz.  der  untersuchten  Wohnungen  überhaupt  ausmachten)  und  mit 
hohen  Mietpreisen  (5  oder  16,6  Proz.  der  Wohnungen  mit  Schlafgängern 
kosteten  über  150  Mk.,  während  nur  etwas  mehr  als  10  Proz.  der 
untersuchten  Wohnungen  überhaupt  mehr  als  150  Mk.  Miete  kosteten), 
auf  diese  Ursache  hinzudeuten.  Aufserdem  scheint  starke  wirtschaftliche 
Bedrängnis  den  Anstofs  zum  Abvermieten  zu  geben;  denn  die  auffallend 
grofse  Anzahl  überfüllter  Wohnungen  mit  Schlafgängern,  die  grofse  An- 
zahl der  Wohnungen  mit  Schlafgängern,  in  denen  auf  2 und  mehr  In- 
wohner nur  je  ein  Bett  traf,  scheinen  mir  in  diesem  Sinne  verwertet 
werden  zu  können. 

Angesichts  der  im  ganzen  deutschen  Reich  gegenwärtig  wirksamen 
Bestrebungen  behufs  Verbesserung  der  Lage  der  aufserehelichen  Kinder 
durch  Staat  upd  Gesellschaft  erscheint  ein  Blick  in  die  Wohnungen  von 
einigem  Werte,  in  denen  Pflegekinder,  die  wohl  meist  mit  aufserehelichen 
Kindern  identifiziert  werden  können,  untergebracht  sind. 

Es  wurden  5—45  Proz.  Wohnungen  mit  Pflegekindern  unter  den 
1 1 Wohnungen  mit  Pflegekindern  überhaupt  gezählt,  in  denen  auf  den 
Inwohner  weniger  als  10  cbm  Luftraum  trafen,  ebenso  viele,  in  denen 
mit  Sicherheit  auf  die  Pflegekinder  ein  Schlafraum  von  weniger  als 
10  cbm  traf,  und  gerade  so  viele,  in  denen  auf  je  2 oder  mehr  In- 
wohner nur  je  ein  Bett  entfiel.  Diese  Prozentsätze  sind  abgesehen  von 
der  Frage  nach  der  Grofse  des  Schlafraums,  wo  eine  sichere  vollständige 
Beantwortung  nach  dem  vorliegenden  Material  nicht  möglich  ist,  bedeutend 
höher  als  die  bezüglichen  Prozentsätze  gegenüber  der  Zahl  der  unter- 
suchten Wohnungen  überhaupt.  In  einem  Fall,  in  dem  ein  Pflegekind 
in  einer  Haushaltung  untergebracht  war,  traf  auf  jeden  Schläfer  der 
betr.  Wohnung  lediglich  ein  Schlafraum  von  1,9  cbm,  in  einem  anderen 
Fall,  in  dem  2 Pflegekinder  in  einer  Haushaltung  untergebracht  waren, 
traf  auf  3 Schläfer  der  betr.  Wohnung  ein  Schlafraum  von  je  7 cbm 
und  auf  4 Schläfer  ein  solcher  von  je  4,2  cbm. 

Eine  verhältnismäfsig  starke  UeberfUUung  ist  auch  in  den  Wohnungen 
zu  verzeichnen,  in  denen  sich  Haushaltungen  mit  Pflegekindern  und 
Schlafgängern  zugleich  befanden,  (4  von  9 Wohnungen  dieser  Art  ent- 
hielten weniger  als  je  8,5  cbm  Luftraum  pro  Inwohner). 


Die  Wohnungen  der  staatlichen  Arbeiter  und  Unter- 
beamten. 

Seit  mehreren  Jahren  sind  in  den  Etats  einzelner  deutscher  Staaten 
u.  a.  auch  Bayerns  nicht  unbeträchtliche  Summen  für  die  Erbauung  von 
Wohnungen  von  staatlichen  Arbeitern  und  Unterbeamten,  besonders  von 
Post-  und  Bahnarbeitern  und  Unterbeamten  ausgeworfen.  Dadurch  sind 


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472 


Miszellen. 


auf  diesem  Gebiete  eine  Reihe  erfreulicher  Resultate  erzielt  worden. 
Gegen  ein  F.ingreifen  des  Staates  auf  diesem  Gebiete  sind  selbst  von 
seiten  derer , die  gegen  eine  direkte  produzierende  Thätigkeil  des 
Staates  und  der  Gemeinde  auf  dem  Gebiete  der  Wohnungsfrage  prin- 
zipielle Einwendungen  zu  erheben  pflegen,  keinerlei  Bedenken  vor- 
gebracht worden.  Angesichts  dieser  Bestrebungen  lag  es  nahe,  zu 
untersuchen,  von  welcher  Beschaffenheit  die  Wohnungen  der  staatlichen 
Arbeiter  und  Unterbeamten  in  dem  untersuchten  Bezirk  waren. 

Im  ganzen  wurden  14  solcher  Wohnungen  gezählt  Die  Wohnungs- 
verhältnisse derselben  sollen  im  folgenden  detailliert  dargestellt  werden. 

(Siehe  die  Uebersicht  auf  S.  473.) 

Vergleicht  man  diese  Zahlen  mit  den  Ergebnissen  der  Enquete 
überhaupt,  so  ergiebt  sich,  dafs  die  Wohnungen  mit  staatlichen  Ar- 
beitern und  Unterbeamten  durchweg  bessere  Zustände  und  Verhältnisse 
aufwiesen  als  die  übrigen  untersuchten  Wohnungen  im  Durchschnitt.  Es 
gab  hier  verhältnismäfsig  weniger  überfüllte  und  weniger  stark  besetzte 
Wohnungen,  weniger  überfüllte  Schlafräume,  weniger  Bettenmangel,  da- 
gegen verhältnismäfsig  mehr  Wohnungen  mit  3 und  mehr  Räumen  und 
2 und  mehr  heizbaren  Zimmern  als  bei  den  untersuchten  Wohnungen 
überhaupt.  Die  bessere  wirtschaftliche  Lage  der  staatlichen  Arbeiter 
und  Unterbeamten  zeigt  sich  darin,  dafs  diese  mehr  für  ihre  Wohnungen 
aufzuwenden  imstande  sind  als  die  übrigen  Inhaber  der  untersuchten 
Wohnungen ; Wohnungen  zum  Mietpreise  von  über  1 50  Mk.,  deren  es 
unter  den  untersuchten  Wohnungen  nur  25  gab,  gehören  hier  nicht  zu 
den  Seltenheiten.  Wohnungen  der  allcrschlechtesten  Sorte  (Wohnungen 
mit  weniger  als  7 cbm  Luftraum  pro  Inwohner)  wurden  hier  überhaupt 
nicht  gezählt.  Die  Wohnungen  mit  mehr  als  20  cbm  Luftraum,  pro 
Inwohner,  die  bei  den  untersuchten  Wohnungen  überhaupt  nur  etwas 
mehr  als  ein  Viertel  ausmachten,  bildeten  hier  die  Hälfte.  Uebcrhaupt 
lieferten  die  Wohnungen  der  staatlichen  Unterbeamten  und  Arbeiter 
eines  der  wenigen  erfreulicheren  Bilder  der  ganzen  Enquete,  obgleich 
es  auch  hier  nicht  an  vielen  Mifsständen  im  einzelnen  fehlt,  die  es  noch 
zu  beseitigen  gilt,  und  ein  idealer  Zustand  auch  hier  noch  keineswegs 
herrscht. 


Die  schlechtesten  Wohnungen. 

Am  Schlüsse  unserer  gesamten  Darstellung  wollen  wir  uns  noch 
eingehender  mit  den  Wohnungsverhältnissen  der  schlechtesten  Wohnungen 
befassen.  Als  solche  bezeichnen  wir  die,  in  denen  für  den  einzelnen 
Inwohner  höchstens  7 cbm  Luftraum  vorhanden  sind  und  deren  polizei- 
liche Räumung  unter  allen  Umständen  gefordert  werden  mufs.  Bereits 
oben  war  davon  die  Rede,  dafs  22  Wohnungen  oder  9,4  Proz.  der 
untersuchten  Wohnungen  höchstens  7 cbm  Luftraum  enthielten.  Jetzt 
sollen  diese  22  Wohnungen  etwas  genauer  ins  Auge  gefafst  werden. 


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E.  Calin,  F.in  Arbeitcrwohnungsvicrtcl  in  einer  sttdd.  Provinzstadt  (Bayreuth).  473 


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Archiv  für  so*.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVII. 


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474 


Miszellen. 


Von  diesen  22  Wohnungen  enthielten  3 je  4,5 — 4,6  cbm  Luftraum 
pro  Inwohner,  6 je  5,4 — 6 cbm  Luftraum  pro  Inwohner,  7 je  mehr  als 
6 — 6,5  cbm  Luftraum  pro  Inwohner  und  6 je  mehr  als  6,5 — 7 cbm 
Luftraum  pro  Inwohner.  Diese  22  Wohnungen  waren  von  135  Wohn- 
genossen  bewohnt,  von  denen  45  einen  Schlafraum  von  je  höchstens 
4 cbm,  35  einen  Schlafraum  von  je  mehr  als  4 — 5 cbm,  26  einen 
Schlafraum  von  je  mehr  als  5 — 7 cbm,  16  einen  Schlafraum  von  je 
mehr  als  7 — 10  cbm,  10  einen  Schlafraum  von  mehr  als  10  cbm  be- 
safsen.  Der  Räumezahl  nach  enthielten  6 dieser  Wohnungen  je  1 Raum, 
15  je  2 Räume  und  1 3 Räume.  Sämtliche  22  Wohnungen  hatten 
nur  je  1 heizbares  Zimmer.  Die  Zahl  der  Schläfer  in  den  einzelnen 
Räumen  dieser  Wohnungen  schwankte  zwischen  1 und  8;  doch  schliefen 
in  1 8 von  den  40  Räumen  dieser  2 2 Wohnungen  je  mehr  als  4 Schläfer. 
In  1 7 von  den  2 2 Wohnungen  trafen  auf  2 oder  mehr  Inwohner  nur 
je  1 Bett.  Der  Mietpreis  ging  nur  in  einer  dieser  Wohnungen  unter 
50  Mk.  herunter,  er  betrug  zumeist  zwischen  50  und  100  Mk.  und  ging 
in  einem  Pall  bis  auf  1 20  Mk.  Auffallend  ist  der  hohe  Preis  eines 
cbm  Luftraums  in  diesen  Wohnungen;  er  überstieg  in  13  Fällen  den 
Preis  von  2 Mk.  und  betrug  in  einem  Falle  3 und  in  einem  Falle 
4 Mk.  Dabei  befanden  sich  noch  in  9 dieser  Wohnungen  Haushaltungen, 
die  ein  oder  mehrere  Pflegekinder  oder  Schlafgänger  oder  beide  zu- 
gleich enthielten.  Fragen  wir  nach  dem  Berufe  der  Haushaltungs- 
vorstände in  diesen  Wohnungen,  so  erfahren  wir,  dafs  in  123  dieser 
Wohnungen  Taglöhner,  Dienstleute,  Witwen  oder  alleinstehende  Frauen 
Haushaltungsvorstände  waren.  Fis  sind  also  unständige  und  ungelernte 
Arbeiter  und  hilflose  Witwen  oder  P'rauen.  die  mit  den  schlechtesten 
Wohnungen  vorlieb  nehmen  müssen.  In  den  übrigen  8 P'ällen  scheint 
eine  besonders  grofse  Familie  des  Haushaltungsvorstands  u.  a.  die  Ur- 
sache der  Ueberfüllung  zu  sein,  da  hier  die  Zahl  der  Wohngenossen 
eine  besonders  hohe  und  auch  eine  grofse  Anzahl  von  Ziinmermietern 
oder  Pflegekindern  nicht  vorhanden  war. 

Fis  läfst  sich  nicht  sagen , welche  Unsumme  von  Schmutz , Un- 
bequemlichkeit , Anreiz  zum  Wirtshausbesuch  diese  Zahlen  bedeuten, 
wieviel  sittlich  bedenkliche  F.rscheinungen  sich  in  diesen  Wohnungen 
zeigen,  inwieweit  sie  Herde  oder  Verbreiter  von  ansteckenden  Krank- 
heiten sind,  wie  das  F'amilienleben  und  die  Kindererziehung  in  diesen 
Wohnungen  beschaffen  sind.  Jedenfalls  haben  die  Hygieniker  wie  der 
Sozialpolitiker,  der  Philanthrop  wie  derjenige,  der  lediglich  sich  und 
die  Seinen  von  der  Gefahr  ansteckender  Krankheiten  bewahrt  zu  sehen 
wünscht,  an  der  Beseitigung  solcher  Wohnungen  das  erheblichste  Inter- 
esse. Gerade  !>ei  der  Wohnungsfrage  zeigt  es  sich,  ähnlich  wie  bei 
manchen  anderen  sozialen  Problemen,  dafs  man  soziale  Reformen  auch 
vom  Standpunkt  des  „vernünftigen  Egoismus“  aus  begründen  kann,  nur 
schade,  dafs  es  hier  weiten  bürgerlichen  Kreisen,  ähnlich  wie  etwa  bei 


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E.  Valin,  Ein  Arbeiterwohnungsvicrtcl  in  einer  sUdd.  Provinzsladt  (Bayreuth).  - 

der  freiwilligen  Versicherung,  vielfach  an  der  nötigen  Weitsicht  fehlt, 
wie  überhaupt  der  weitsichtige  Egoismus  bezeichnenderweise  der  sel- 
tenere ist. 


S c hlu  fs. 

Wir  stehen  am  Schlüsse  unserer  Darstellung.  Ein  erfreuliches  Bild 
war  es  nicht,  das  sich  unseren  Blicken  darbot.  Sind  auch  die  hygie- 
nischen Verhältnisse  in  den  untersuchten  Bayreuther  Arbeiterwohnungen 
nicht  schlechter  oder  jedenfalls  nicht  viel  schlechter  als  die  Wohnungs- 
verhältnisse in  den  Arbeitervierteln  der  meisten  Mittel-  und  Grofsstädte 
— besser  sind  sie  keinesfalls  — so  trat  uns  doch  die  Wohnungsnot  in 
ihren  verschiedenen  Seiten  nur  zu  deutlich  in  den  mannigfachen  Zahlen- 
reihen entgegen. 

Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  den  Ursachen  der  Wohnungsnot  nach- 
zugehen und  die  Reformmafsregcln  zu  ihrer  Bekämpfung  darzulegen. 
Das  ist  von  anderer  Seite  und  besser,  als  es  der  Verfasser  zu  thun  ver- 
möchte, bereits  vielfach  geschehen.  Nur  eine  Krage  taucht  unwillkürlich 
auf  und  verlangt  ihre  Beantwortung:  Wird  die  zur  Zeit  in  Bayern  in 
Vorbereitung  befindliche  Regelung  des  Wohnungswesens  auf  dem  Wege 
der  Verordnung  an  den  Verhältnissen  der  Bayreuther  Arbeiterwohnungen 
wie  überhaupt  den  Wohnungen  der  breiten  Massen  in  den  bayerischen 
Städten  etwas  ändern? 

Ich  liezweifle  keinen  Augenblick,  dafs  die  allerärgsten  Mifsstände 
im  Wohnungswesen  durch  die  neuen  Verordnungen  werden  beseitigt 
werden. 

Derselbe  Ernst  und  Eifer  in  der  Bekämpfung  von  Mifsständen,  der 
den  bayerischen  Fabriken-  und  Gewerbeinspektoren  so  oft  nachgerühmt 
worden  ist,  wird  vermutlich  bei  den  neuen  Wohnungsinspektoren,  sofern 
sie  unabhängige  staatliche  Beamte  sind,  zu  finden  sein. 

Aber  eine  irgendwie  durchgreifende  und  weitergreifende  Besserung 
der  Wohnungsverhältnisse  wird  durch  diese  Verordnungen  nicht  herbei- 
geführt werden  können.  Es  ist  in  dieser  Zeitschrift ')  vor  nicht  langer 
Zeit  mit  Recht  hervorgehoben  worden,  dafs  in  neuerer  Zeit  „der  Sinn 
für  Perspektive  und  Proportionen  im  Bereich  der  gesellschaftlichen 
Probleme  sich  mehr  und  mehr  entwickelt  hat“,  „dafs  eine  nüchternere 
und  klarere  Abschätzung  sozialer  Mafsregeln“  und,  wie  hinzugefugt  werden 
darf,  auch  bezüglich  der  Leistungsfähigkeit  solcher  Mafsnahmen  gegenwärtig 
Platz  gegriffen  hat.  Es  wäre  zu  wünschen,  dafs  sich  diese  Vertiefung 
sozialer  Einsicht  auch  bei  den  Befürwortern  der  Verbesserung  der  Woh- 
nungsverhältnisse immer  mehr  einbürgern  mochte. Bei  der  gegenwärtigen 
Verteilung  der  politischen  und  sozialen  Macht,  bei  der  gegenwärtigen 

*)  Vgl.  XV.  Band,  S.  761,  Berlin  1900, 

3i* 


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476 


Miszellen. 


Stärke  der  sich  widerstreitenden  reformfreundlichen  und  reformfeindlichen 
Strömungen  in  der  Wohnungsfrage,  die  sich  in  Parlamenten,  städtischen 
Vertretungskörpern  und  in  der  Presse  regen,  kann  überhaupt  in  ab- 
sehbarer Zeit  selbst  bei  Anwendung  weitgreifender  Mittel  von  einer 
„Lösung"  der  Wohnungsfrage,  die  so  oft  pomphaft  verkündet  wird,  keine 
Rede  sein,  da  es  ja  nicht  blofs  auf  den  Inhalt  der  Refonnvorschläge, 
sondern  auch  auf  die  Art  und  Weise  der  Ausführung  derselben  ankommt. 
Man  wird  auch  in  der  Wohnungsfrage,  angesichts  der  geschilderten 
Sachlage,  sich  daran  gewöhnen  müssen,  von  den  gegenwärtig  in  Vor- 
schlag gebrachten  Reformvorschlägen  etwas  bescheidenere  Wirkungen  zu 
erhoffen,  für  das  erstrebte  Ziel  aber  dann  um  so  energischer  und  syste- 
matischer zu  arbeiten. 

Zu  den  Mitteln,  die  zu  diesen  vorläufig  etwas  enger  begrenzten 
Zielen  zu  fuhren  bestimmt  sind,  gehört  unstreitig  eine  gut  organisierte 
Wohnungsinspektion ; ihr  Ziel  ist  Schlicfsung  der  schlechtesten  Wohnungen. 
Aber  auch  diese  Wohnungsinspektion  setzt  zu  ihrer  Durchführbarkeit, 
will  sie  nicht  von  vornherein  ganz  niedrige  Anforderungen  an  Wohnungen 
stellen,  voraus,  dafs  die  Zahl  der  für  die  breiten  Massen  nach  ihrer 
Preislage  in  Betracht  kommenden  Wohnungen  eine  entsprechend  grofse 
ist,  dafs  ein  gewisser,  nicht  zu  karg  bemessener,  Ueberschufs  an  solchen 
Wohnungen  vorhanden  ist,  dafs  beim  Erlahmen  der  Privatspekulation  in 
Herstellung  von  Wohnungen  für  „kleine  Leute",  Staat,  Gemeinde  und 
gesellschaftlich  - genossenschaftliche  Unternehmungen  solche  Wohnungen 
beschaffen. 

Geschieht  dies  nicht,  so  schafft  man  bei  energischer  Durchführung 
einer  nicht  ganz  niedrige  Anforderungen  stellenden  Wohnungsinspektion 
nur  Obdachlosigkeit  für  eine  Anzahl  kinderreicher  Familien.  Auch  in 
Bayern  stände  zu  befürchten,  dafs  bei  einer  Wohnungsinspektion  der 
gekennzeichneten  Art  angesichts  des  Umstandes,  dafs  die  Zahl  der 
leerstehenden  Wohnungen  zu  niedrigen  Preisen  in  vielen  bayerischen 
Städten  eine  sehr  geringe  ist,  dieselbe  Wirkung  erzielt  würde.  Aber 
nur  in  selteneren  Fällen  hat  man  sich  nicht  gescheut,  die  Wohnungs- 
inspektion der  oben  bezeichnten  Art  so  straff  durchzuführen,  dafs  jene 
Wirkung  thatsächlich  eintrat.  Entweder  man  hat  seine  Anforderungen 
an  die  Wohnungen  von  vornherein  oder  später  herabgesetzt  oder  man 
hat,  um  Härten  zu  vermeiden,  die  Wohnungsinspektion  etwas  laxer 
gehandhabt. ')  In  beiden  Fällen  wurde  dann  also  das  ursprünglich  er- 
strebte Ziel  nicht  voll  erreicht.  Ich  glaube,  dafs  man  auch  in  Bayern 
über  kurz  oder  lang,  sofern  man  etwa  von  vornherein  sich  nicht  ganz 
enge  Ziele  bei  der  Wohnungsinspektion  setzt,  einen  der  beiden  Wege 
wird  gehen  müssen ; die  Folge  davon  wird  sein,  dafs  durch  die  Wohnungs- 

')  Vgl.  Protokoll  der  59.  Sitzung  der  2.  Kammer  der  grofsherzogl.  hessischen 
Landstände  (Verhandlung  vom  31.  März  1898  S.  1380 — 1384;. 


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E.  Cahn,  Ein  Arbeiterwohnungsviertel  in  einer  südd.  Provinzstadt  (Bayreuth).  477 

inspektion  allein  eine  irgendwie  weitergehendere  Besserung  der  Wohnungs- 
verhältnisse in  Bayern  nicht  erzielt  werden  wird.  Ueberhaupt  kann  die 
Wohnungsinspektion  wie  überhaupt  die  repressive  Thätigkeit  allein  nur 
sehr  wenig  zur  Verbesserung  der  Wohnungsverhältnisse  wirken.  Sie 
kann  wirksam  werden  erst,  wenn  ihr  eine  positive  Thätigkeit,  die  Er- 
bauung billiger  und  einigermalsen  ausreichender  Wohnungen  für  die  breiten 
Massen  der  Bevölkerung,  zur  Seite  tritt.  Die  letztere  Thätigkeit  bleibt 
überhaupt  immer  die  Hauptsache  in  der  ganzen  Wohnungsreformthätig- 
keit.  Aber  leider  hat  der  objektiv  und  kritisch  Urteilende  nur  zu  sehr 
Grund  zu  derAnnahme,  dafs  es  auch  hiermit  in  Bayern  wie  anderwärts 
nicht  allzurasch  vorwärts  gehen  wird. 


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Die  österreichische  Gewerbeinspektion  im  Jahre  1900.') 

Von 

Prof.  Dr.  ERNST  MISCHLER, 

in  Graz. 

In  organisatorischer  Hinsicht  ist  als  Errungenschaft  des  Jahres  1900 
nur  die  Errichtung  Eines  neuen  Sprengels  (Leoben)  namhaft  zu  machen; 
es  bestehen  derzeit  sonach  21  territoriale  und  2 nach  sachlichen  Ge- 
sichtspunkten angeordnete  Inspektorate  (Wiener  Verkehrsanlagen  ; Binnen- 
schiffahrt). Zweifelsohne  ist  dem  Zentralgewerbeinspektor  zuzustimmen, 
wenn  er  als  Bedingung  der  Erreichung  des  dieser  Institution  vor- 
schwebenden Zieles  die  „systematische  Weiterausgcstaltung  der  Ge- 
werbeinspektion, vor  allem  aber . . . eine  ausgiebige  Erhöhung  des  Personal- 
standes desselben“  hinstellt.  Die  Frage  ist  dabei  nur,  was  unter  dieser 
„systematischen  Weiterausgestaltung“  zu  verstehen  sein  soll.  Nach  den 
bisherigen,  insbesondere  durch  den  Organisationsplan  des  vormaligen 
Zentralinspektors  Klein  vorgezeichneten  Gestaltungstendenzen  scheint  nur 
die  Vermehrung  und  damit  Verkleinerung  der  Sprengel  nebst  der 
Personalvermehrung  als  „systematische  Weitergestaltung“  in  Betracht  zu 
kommen.  Hierin  würde  ich  einen  entschiedenen  Mangel  erblicken. 
Ausschliefslich  extensive  Anordnung  zu  pflegen,  genügt  nicht  mehr ; es 
handelt  sich  darum,  den  Anforderungen  an  den  inneren  Ausbau  der 
Organe  gerecht  zu  werden  und  insbesondere  Stellung  zu  den  beiden 
anderwärts  als  gestaltend  wirkenden  Momenten  zu  nehmen : zu  der 
Verwendung  von  Arbeitern  und  Frauen  als  Inspektionsorgane. 

Dabei  dürfte  es  gar  nicht  schwer  fallen,  in  Uebereinstiinmung  mit 
den  österreichischen  Einrichtungen  einen  Weg  zu  finden  um  — wenigstens 
dem  einen  dieser  beiden  Momente  — diese  hier  zum  Gegenstand  einer 


1 1 Bericht  der  k.  k.  Gewerbeinspektoren  über  ihre  Amtsthätigkeit  im  Jahre  1900. 
Wien  1901.  Hof-  und  Staatsdruckerei,  LXXV  und  417  Seiten. 


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Ernst  Mise  hl  er,  Die  österreichische  Gewerbeinspektion  im  Jahre  1900.  479 

durchgreifenden  Erörterung  zu  machen,  würde  den  Rahmen  dieser  Mit- 
theilung weit  überschreiten  — nämlich  der  Forderung  nach  Vertretung 
der  Arbeiter  in  der  Organisation  der  lnspektion,  ein  grolses  Stück  ent- 
gegengckomnien.  Der  Weg,  den  ich  da  im  Auge  habe,  ist  die  Schaffung 
eines  Beirates  für  dieGewcrbeinspcktionim  Handelsministerium 
nach  dem  Muster  der  bereits  bestehenden  zahlreichen  Beiräte.  Ein  An- 
satz hierzu  ist  bereits  gegeben,  nämlich  die  mit  6.  Januar  1899  vom 
Kaiser  genehmigte  „Unfallverhütungskommission“,  die  sich  administrativ 
an  die  Gewerbeinspektion  anlehnt.  Gewifs  ist  der  Gedanke  einer  solchen 
Kommission  richtig  ; aber  eine  Kommission  resp.  ein  Beirat  flir  alle  An- 
gelegenheiten der  Gewerbesinspektion  vermöchte  nach  allen  Seiten  hin 
höchst  erspriefslich  zu  wirken.  F-s  wäre  zutreffend,  denselben  nach  dem 
Vurbilde  des  Arbeitsbeirates  aus  Kurien  zusammenzusetzen  und  zwar 
hätte  er  etwa  zu  umfassen  1)  Vertreter  der  durch  die  Gewerbeinspektion 
zu  schützenden  Arbeiterbevölkerung,  2)  Vertreter  der  der  Gewerbeinspektion 
unterliegenden  Industrieen,  3)  Fachmänner  aus  dem  Gebiete  der  Sozial- 
politik, Technik  und  Hygiene,  endlich  4)  Regierungsorgane  und  zwar  Ver- 
treter der  Gewerbeinspektion  sowie  der  an  dieser  Verwaltung  interessierten 
Ressorts.  Mit  Rücksicht  auf  die  Knappheit  des  Raumes  sei  es  gestattet 
diesen  Gedanken  hier  nur  einfach  hinzustcllen,  wobei  ich  mir  eine  Aus- 
führung an  anderer  Stelle  Vorbehalte. 

ln  der  äufseren  Anordnung  zeigt  der  diesjährige  Bericht  nur  geringe 
Veränderungen  gegenüber  seinen  Vorgängern : Abschnitte  über  die  1899 
und  1900  neu  errichteten  Sprengel  Komotau,  Krakau,  Czcrnowitz,  Leoben, 
sodann  einen  S|iezialbericht  ül>er  die  Arbeit  in  den  Tabakfabriken,  und  bei 
einem  Berichte  eine  kleine  Monographie:  die  Malzerzeugnisse  imOlmützer 
Aufsichtsbezirke.  Auch  der  lnspektion  des  Binnenschiffahrtsgewcrbes  soll 
wieder  mehr  Spielraum  gegeben  werden;  wenn  es  einmal  zum  Ausbau 
des  projektierten  Kanalnetzes  gekommen  sein  wird , dann  wird  dieser 
sachlich  begrenzte  Teil  der  österreichischen  Gewerbeinspektion  ohnehin 
eine  durchgreifende  Umgestaltung  erfahren  müssen,  und  aus  dem  mehr 
provisorischen  Stadium  von  heute  heraustreten. 

Auch  die  innere  Anordnung  der  Einzelberichte  sowie  des  allge- 
meinen Berichtes  zeigt  keine  Veränderung.  Dennoch  durfte  es  erforder- 
lich sein,  den  neu  auftretenden  Gestaltungstendenzen  durch  Aufnahme  in 
die  Berichterstattung  gerecht  zu  werden.  So  erscheint  die  besondere 
plamnäfsige  Berücksichtigung  der  Errichtungen  und  Wirkungen  der 
Arbeitsvermittlungsansalten  erforderlich  gegenüber  den  wenigen  ver- 
einzelten und  verstreuten  diesbezüglichen  Bemerkungen.  Auch  die  Frage 
des  Alkoholismus  könnte  zu  eingehender  Erörterung  gelangen.  Der  einen 
eisernen  Bestand  der  heutigen  Anordnung  bildende  Abschnitt  über  die 
wirtschaftliche  Lage  der  Arbeiter  ist  gut  gedacht  und  enthält  hie  und 
da  auch  viel  Zutreffendes,  schweift  aber  doch  zu  häufig  von  seiner  Auf- 
gabe ab,  und  enthält  mehr  die  Schilderung  der  Lage  der  Industrie. 


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480 


Miszellen. 


Auch  müfsle  dieser  Abschnitt  über  die  wirtschaftliche  Lage  der  Arbeiter 
innerlich  etwas  genauer  disponiert  werden.  — Für  die  Bekanntgabe  der 
Resultate  der  Heimarbeiterenquete,  welche  die  Gewerbeinspektoren  durch- 
geführt halten,  wurde  der  Weg  einer  gesonderten  Publikation  gewählt. ') 

Die  Thätigkeit  der  Inspektion,  sowie  ihr  Pcrsonalstand  im  Be- 
richterstattungsjahre ist  aus  der  folgenden  Tabelle  zu  entnehmen,  welche 
den  ganzen  Zeitraum  seit  der  Begründung  dieser  Institution  umfafst. 


1884 

1886 

1890 

1893 

1898 

1899 

1900 

I.  Inspektionsth  äti  gkeit. 

Besuchte  Betriebe 

2 SS4 

3 SO 

5 892 

9 666 

1 1 057 

■ '383 

>5  393 

Davon  ohne  Motoren  . . 

Arbeiter  in  den  besc  hü  fügten 

979 

l 223 

2494 

3835 

4832 

449S 

6411 

Betrieben  in  1000  .... 
Arbeiter  im  Durchschnitt  per 

228 

274 

343 

337 

562 

629 

703 

Betrieb 

89 

78 

58 

42 

s* 

55 

46 

II.  Sonstige  Amts- 

geschäftc. 

Einladungen  zu  Kommissionen 

104 

671 

2 786 

10  760 

12  022 

12  606 

12464 

Fälle  persönlicher  Anteilnahme 
Abgegebene  schriftliche  Gut- 

104 

442 

8S7 

2 617 

2 669 

2623 

2994 

achten 

Entgegengenommene  Beschwer- 

1 IOO 

3 

? 

6 070 

9075 

9 263 

10372 

den  der  Arbeiter  .... 

IOO 

> 359 

5023 

5817 

8040 

6 ^08 

6 29s 

Erfolgreich  interveniert  in  Proz. 
Fälle  der  Inanspruchnahme  sei- 

3 

75 

41 

35 

? 

} 

3 

tens  der  Unternehmer  . . . 

? 

400 

3 

2 704 

2489 

2 615 

3078 

III.  Personale. 

1 

1 

Bei  der  Zentrale 

I 

1 

I 

2 

3 

4 

4 

Amtsvorstände 

Zugeteilte  Inspektoren  u.  Kom- 

9 

12 

16 

18 

■8 

21 

22 

missäre 

— 

8 

20 

3> 

29 

3* 

Zusammen 

IO 

13 

25 

40 

52 

54  | 

57 

Die  Zahl  der  besuchten  Betriebe  ist  erheblich  gestiegen , jedoch 
sind  es  diesmal  wieder  in  gröfserem  Mafse  kleine  Betrielte  gewesen. 
Die  Zahl  der  Kinladungen  zu  Kommissionen,  welche  bis  zum  Vorjahre 
in  stetem  Steigen  begriffen  war,  scheint  nunmehr  auf  einem  Niveaustand 
angelangt  zu  sein;  die  Fälle  der  persönlichen  Anteilnahme  an  diesen 
Kommissionen  vermochten  sich  zwar,  zufolge  der  Personalvermehrungen 


1 ) Bericht  der  k.  k.  Gewerbeinspektoren  über  die  Heimarbeit  in  Oesterreich. 
Herausgcgchen  vom  k.  k.  Handelsministerium.  Wien,  Holder.  3 Bände,  1900 
and  1901.  , 


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Ernst  Mischlcr,  Die  österreichische  Gewerbeinspektiun  im  Jahre  1900.  48 1 


etwas  zu  lieben,  die  schriftliche  Erledigung  ist  jedoch  in  weit  stärkerer 
Zunahme  begriffen ; letztere  nimmt  Dimensionen  an,  die  für  den  Grund- 
charakter und  Hauptzweck  der  Gewerbeinspektion  anfangen  gefährlich 
zu  werden.  Die  Zahl  der  Fälle  von  Inanspruchnahme  durch  die  Arbeiter 
ist  neuerlich  in  Abnahme  begriffen,  als  Folge  der  Thätigkeit  der  Ge- 
werbegerichte; letzte  darf  nicht  gering  veranschlagt  werden,  wenn  die 
Inanspruchnahme  der  Gewerbeinspektoren  durch  Arbeiter  von  1898  bis 
1900  von  8040  Fällen  auf  6295  zu  sinken  vermochte;  dabei  steigt  die 
Inanspruchnahme  durch  die  Unternehmer  ziemlich  an  und  nähert  sich 
dem  Umfange  der  Inanspruchnahme  durch  den  Arbeiter  schon  ganz  merk- 
lich, während  durch  lange  Jahre  hindurch  eine  grofse  Differenz  bestand. 
Dabei  kämpft  aller  die  Institution  der  Gewerbegerichte,  wie  der  allge- 
meine Bericht  (S.  LXVIII)  bemerkt,  in  zunehmendem  Mafse  mit  der 
Schwierigkeit,  „dafs  Gewerbegerichtsbeisitzer  aus  dem  Arbeiterstande  von 
ihren  Arbeitgebern  entlassen  wurden,  zwar  nicht  mit  ausdrücklichem 
Hinweise  auf  die  erwähnte  Funktion,  doch  aber  unter  derartigen  Um- 
ständen, dafs  die  Betroffenen  sowie  ihre  Genossen  nur  darin  den  Grund 
suchen  konnten.“  Nun  ist  dieser  Thatsache  gegenüberzuhalten,  dafs  die 
gewählten  Arbeitervertreter  gesetzlich  verhalten  sind,  die  Berufung  anzu- 
nehmen; also  auf  der  einen  Seite  der  gesetzliche  Zwang  zur  Annahme 
der  Wahl,  auf  der  anderen  Seite  die  Entlassung  im  Falle  derselben,  d.  h. 
im  Falle  der  Erfüllung  einer  staatlich  auferlegten  Pflicht.  Es  genügt 
nicht,  wie  es  der  allgemeine  Bericht  an  dieser  Stelle  thut,  diese  Sachlage 
nur  zu  beklage» ; hier  niufs  die  logische  Konsequenz  aus  derselben  ge- 
gezogen  werden  und  diese  kann  keine  andere  sein  als  die  Schaffung 
eines  gesetzlichen  Schutzes  der  gewählten  Arbeitervertreter  im  Wege 
einer  Gesetzesnovelle,  welche  an  der  Entlassung  eines  Arbeiters  — falls 
diese  aus  keinem  anderen  nachweisbaren  Grunde  erfolgte  und  als  Folge 
der  Wahl  angenommen  werden  müfstc  — den  Eintritt  einer  hin- 
reichenden Entschädigung  knüpft,  oder  die  Entlafsbarkeit  des  Arbeiters 
während  der  Dauer  seines  Mandates  auf  gewisse  gesetzlich  bestimmte 
Fälle  beschränkt.  — 

Die  Beobachtungen  über  die  Verwendung  von  Kindern,  Jugend- 
lichen und  Frauen  haben  schon  seit  Jahren  einen  Niveaustand  der  Ziffern 
dieser  Personen  ergeben;  auch  im  Berichterstattungsjahr  halten  sich  die 
Ziffern  auf  dieser  Höhe. 

Es  entfallen  auf  1000  Hilfsarbeiter  der  besuchten  Unternehmungen: 


1884 

1893 

1 *897 

1898 

1899 ! 

1900 

Frauenspersonen  

323 

297 

291 

278 

307 

294 

Unter  16  Jahre  alte  Personen  . . . 

85 

75 

61  [ 

i 

60 

6z 

60 

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482 


Miszellen. 


Was  die  Fälle  von  gesetzwidriger  Verwendung  von  Jugendlichen 
und  Frauen  anbelangt,  so  hat  schon  das  Vorjahr,  in  welchem  eine  ge- 
nauere Beobachtung  vorgeschrieben  war,  den  Beweis  erbracht,  dafs  diese 
Ziffern,  welche  sich  nur  auf  die  inspizierten  Betriebe  beziehen,  von  der 
Genauigkeit  des  Beobachtungsvorganges  beeintlufst,  erheblichen  Schwan- 
kungen unterliegen.  So  auch  diesmal.  Die  Berichte  selbst  neigen  auch 
(z.  B.  S.  1 8 1 ) zu  der  in  unserem  vorjährigen  Berichte  ausgesprochenen 
Ansicht,  dafs  die  vorgeführten  Ziffern  überhaupt  zu  klein  seien ; von 
diesem  Standpunkte  aus  ist  die  nachstehende  Uebersicht  zu  beurteilen  : 


Widergesetzliche 

1896 

1893 

1899 

1900 

Verwendungsfälle 

c 

c 

£ 

S 

Zus. 

miinnl. 

v 

's 

Zus. 

c 

c 

£ 

weibl. 

Zus. 

miinnl. 

'S 

Zu*. 

1.  Nichtfabrik- 
mäfsigcBctriebc 

Kinder  unt.  12  Jahren 

3 

3 

20 

75 

95 

'4 

4 

18 

26 

1 

27 

Kinder  von  12 — 14 
Jahren  .... 

89 

4 

93 

106 

12 

1 18 

■59 

'5 

«74 

48 

17 

65 

Zur  Nachtzeit,  dann 
zu  gefährlichen  Ar- 
beiten etc.  verwen- 
dete Jugendliche  . 

365 

365 

134 

33 

167 

99 

56 

•55 

233 

12 

245 

Zusammen 

457 

4 

461 

260 

120 

380 

272 

75 

347 

307 

30 

337 

11.  Fabr  i k mäfsige 
Betriebe 

Kinder  unt.  12  Jahren 

27 

62 

89 

21 

23 

44 

'7 

I 1 

2$ 

Kinder  von  12 — 14 
Jahren  .... 

78 

48 

126 

228 

165 

393 

182 

'34 

316 

245 

172 

417 

Jugendliche  Hilfsar- 
beiter bei  Nacht  . 

16 

6 

22 

48 

■9 

67 

28 

73 

101 

82 

7 

89 

Zur  Nachtzeit,  zu  gc- 
fährl.  Arbeiten  etc. 
verwendetejugend- 
liche  und  Frauen  . 

4 

>5» 

155 

5a 

267 

3*9 

52 

627 

679 

«3» 

503 

641 

Zusammen 

9S 

205 

3°3 

355 

5>3 

868 

283  857 

1 140 

482 

<>93 

"75 

Totale 

555 

209 

764 

615 

633 

1248 

555 

932 

1487 

789 

723 

1512 

Die  Beobachtung  der  Arbeitszcitdauer  bei  6315  fabrikmäfsigen  Be- 
trieben ergiebt  im  Zusammenhang  mit  den  Ziffern  der  vergangenen  Jahre 
die  Tendenz  nach  Verkürzung  des  Normalarbeitstages : Im  Jahre  1897 
wurde  in  42  Prozent  aller  besuchten  fabrikmäfsigen  Betriebe  durch 


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Ernst  Mi  sc  hier,  Die' österreichische  Gewerheinspeklion  im  Jahre  1 9.  jo.  483 

weniger  als  11  Stunden  gearbeitet,  im  Jahre  1898  in  46,6,  1899  in 
48,5  und  1900  in  53,3  Prozent.  Dabei  sind  die  einzelnen  Gewerbe- 
klassen allerdings  sehr  ungleichmäfsig  an  der  Bewegung  beteiligt ; während 
bei  den  graphischen  Gewerben  schon  fast  alle  (dabei  bei  30  Proz.  der 
9 Stundentag  in  Kraft),  bei  der  Maschinenindustrie  85,1  Proz.  und  bei 
den  metallverarbeitenden  Gewerben  78  Prozent  aller  besuchten  fabrik- 
mäfsigen  Betriebe  im  Jahre  1900  eine  Arbeitszeit  von  weniger  als  11 
Stunden  haben,  betragen  diese  Ziffern  bei  der  Nahrungs-  und  Genufs- 
mittelindustrie  nur  23  Proz.,  bei  der  Papierindustrie  44  Proz.  und  bei 
der  Textilindustrie  50,4  Proz.  Die  nachstehende  Tabelle  enthält  hierzu 
die  Ziffern  für  die  letzten  4 Jahre: 

Effektive  Arbeitszeit  in  den  besuchten  fabriktnäfsigen 

Betrieben. 


Arbeitszeit 

in  Stunden 

Jahr 

Betriebe 

8 

»V. 

9 

91* 

IO 

IO1  4 

IO', 

1 

io1 4 1 I 

1 1 2 

12 

/.US. 

l 897 

17 

6 

110 

>25 

901 

627 

! 

33  2002 

432 

I56 

4423 

überhaupt  | 

1S9S 

8 

6 

202 

183 

1017 

— 

787 

— >974 

458 

QO 

4723 

1899 

7 

1 

182 

164 

1216 

34 

86.8 

— 2165 

291 

17« 

5104 

( 

19t» 

18 

8 

235 

22« 

1550 

27 

1302 

2518  301 

130  0315 

1807 

1 

_ 

8 

5 

74 

2 

92 

48  MM 

— 

S 

1042 

Textil- 

1S9S 

2 

— 

5 

10 

109 

156 

— 73' 

2 

1015 

Industrie  ) 

1899 

— 

— 

4 

3 

2 >6 

3S 

192 

— ; 68l 



1169 

l 

1900 

— 

4 

12 

20« 

24 

311 

— ' 599 

1 

6 

1223 

Industrie  in  1 

1897 

1 

I 

5 

61 

47 

2 231 

429 

1 

778 

Nahrungs-  u.J 
Gcnufsmitteln  1 

1898 

1 

— 

13 

— 

63 

— 

67 

— 271 

337 

— 

752 

1899 

2 

-- 

14 

>4 

81 

94 

— 362  276 

1 844 

1900 

3 

— 

23 

21 

107 



12» 

— 514 

281 

2 

10S0 

Industrie  in  1 

1897 

n 

1 

7 

16 

119 

1 

122 

— 3>o 

13 

600 

Steinen, Erden, ' 

1898 

2 



12 

>4 

114 

— 

123 

— 1 227, 

9 

25 

526 

Thon,  Glas  1 

1899 

1 

1 

8 

23 

>3<> 

— 

1 2 1 

— 302 

1 

11 

59 

652 

1900 

3 

2 

10 

2« 

16» 

171 

— 40» 

27 

828 

Erzeugung  von  i 

1897 

1 

2 

4 

32 

216 

1 

5*1 

3 1 »3 

— 

— 

4°3 

Maschinen,  | 

189S 

— 

— 

5 

38 

210 

— 

5S 

- 54 

— 

— 

365 

Apparaten  u.l 

1899 

— 

— 

7 

34 

21 ; 

— 

5' 

— 73 

— 

— 

3S0 

Trans  portmitt.  ( 

1900 

3 

— 

17 

40 

2«2 

”, 

— 66 

I | 

- 

— 

445 

1897 

— 



3 

22 

>53 

4 

70 

16  89 

2 

42 

401 

Metall- 

1898 

— 

— 

» 

43 

206 

112 

— j 140 

31 

16 

557 

industrie  | 

1899 

2 

— 

8 

33 

217 

10S 

- 14» 

1 

35 

553 

1 

I900 

4 

— 

8 

.3« 

325 

— 

I8S 

- 1 127! 

— 

37 

745 

Die  bisher  üblich- 

gewesene  „Ueberstundentabelle“  ist 

diesmal 

aus- 

geblieben,  gewifs  wird  sie  stark  vermifst  werden ; ein  Grund  des  Aus- 


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484 


Miszellen. 


bleibens  ist  nicht  angegeben  und  nicht  leicht  erfindlich.  Auch  fehlt 
noch  immer  eine  Spezialisierung  und  genaue  Statistik  der  Ueberschrei- 
tungen  der  Arbeitszeit ; es  soll  nicht  unterlassen  werden,  die  Forderung 
danach  neuerdings  zu  erheben. 

Hinsichtlich  der  abnehmenden  Bedeutung  der  Ruhepausen  und  des 
unbefriedigenden  Zustandes  des  Ersatzruhetages  ist  im  Berichterstattungs- 
jahre Neues  nicht  zu  bemerken.  Auf  dem  Gebiete  der  Sonntagsruhe 
machen  sich  die  seltsamsten  Strömungen  geltend : während  hier  die  Hand- 
werksgehilfen am  Sonntag  f Lohnauszahlungstag)  arbeiten,  dafür  Montag 
und  Dienstag  blau  machen,  und,  während  anderwärts  Fabrikarlieiter  die 
Sonntagsarbeit  sogar  mittels  Strike  erzwingen  wollen,  rotten  die  Buch- 
drucker die  Sonntagsarbeit  in  radikalster  Weise  aus  und  führen  die 
Handelsgehilfen  verschiedenenorts  einen  heftigen  Kampf  um  die  Sonntags- 
ruhe namentlich  im  Sommer.  Hier  wird  es  noch  geraume  Zeit  bedürfen, 
bis  eine  gewisse  Stabilität  der  Verhältnisse  eingetreten  sein  wird. 

Während  diese  Zustände  auf  die  Verschiedenheit  von  Bedürfnis  und 
Sitte  zuriiekzuführen  sind,  basieren  die  zahlreichen  Unklarheiten,  Schwierig- 
keiten und  Mifsstände  in  der  Praxis  der  Arbeitsbücher  auf  direkten  Lücken 
in  der  Gesetzgebung  und  widersprechender  Praxis  der  Behörden;  hier 
thut  energischer  Wandel  not,  sollen  die  Arbeitsbücher,  die  heute  beinahe 
mehr  schaden  als  nützen,  nicht  überhaupt  jedes  Ansehen  eines  offiziellen 
Dokuments  verlieren.  Ungünstig  lauten  auch  die  Wahrnehmungen  be- 
treffend die  Arbeiterverzeichnisse.  Angesichts  des  vollkommen  unbe- 
friedigenden Zustandes  der  Befolgung  der  Vorschriften  macht  ein  Be- 
richterstatter (Leoben)  den  Vorschlag  an  Stelle  der  Arbeiterverzeichnisse 
sowie  des  Strafgelder-  und  Sonntagsverzeichnisses  die  Führung  von  Lohn- 
listen vorzuschreiben ; die  Zentralinspektion  scheint  diesem  Vorschläge 
zuzustimmen. 

Hinsichtlich  der  Praxis  der  Arbeitsordnungen  bringt  die  Tendenz, 
gemeinsame  Arbeitsordnungen  für  ganze  Betriebszweige,  einzelne  Lander 
oder  Orte  zu  schaffen,  etwas  Klarheit  in  die  Sache.  Im  Berichterstattungs- 
jahre kommen  zu  den  bereits  bestehenden  Entwürfen  noch  jene  für  die 
Warnsdorfer,  die  Zwickauer  und  die  Jägerndorfer  Textilindustriellen, 
sowie  für  die  Bauunternehmer  in  Teplitz  hinzu.  Selbstverständlich  setzt 
ein  solchen  Vorgang  eine  gewisse  Zcntralisiemng , sei  es  auf  Seite  der 
Unternehmer  oder  auch  auf  Seite  der  Arbeiter  voraus.  Gegenüber  einer 
derartigen  Sachlage  ist  eine  sachliche  Behandlung  von  Arbeitsordnungen 
resp.  deren  Entwürfen  möglich ; gegenüber  der  Hochflut  von  diver- 
gierenden Ordnungen  für  einzelne  kleine  Betriebe,  seien  diese  auch 
derselben  Art,  mufs  aber  die  Kraft  des  Inspektionsorganes  bald  erlahmen. 

Die  Angaben  über  Arbeiterausschüsse  lauten  ebenso  negativ  wie 
bisher. 

Dringend  der  Regelung  bedürftig  ist  auch  die  Angelegenheit  der 
Lohnauszahlungsperioden  (z  B.  S.  132).  Die  Frage  ist  nach  zwei  Rich- 


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Ernst  Miscbler,  Die  österreichische  Gewerbeinspektion  im  Jahre  1900. 

tunken  hin  ins  Auge  zu  fassen : einerseits  mit  Rücksicht  auf  die  Termine 
für  die  Berechnung  der  ins  Verdienen  geltrachten  und  sonach  auszu- 
zahlenden Lohne,  und  andererseits  mit  Rücksicht  auf  die  Verlängerung 
dieser  Berechnungstennine  um  einen  Zeitraum  z.  B.  die  „Stehwoche", 
wodurch  die  faktische  Auszahlung  der  Löhne  gegenüber  den  Abrechnungs- 
terminen hinausgeschoben  wird,  damit  stets  eine  Kautionssumme  bereit 
liege.  In  erstgenannter  Hinsicht  handelt  es  sich  zunächst  darum,  allzu- 
lange Lohnabrechnungstermine  zu  beseitigen  und  dem  Arbeiter  die  Mög- 
lichkeit zu  eröffnen,  Teilbeträge  des  Lohnes  innerhalb  der  Berechnungs- 
jteriode  zu  beheben ; mit  Rücksicht  auf  die  sogen.  Stehwoche  jedoch 
resp.  rücksichtlich  ähnlicher  Hinrichtungen  entsteht  die  Frage  über  deren 
Berechtigung  überhaupt,  und  im  Falle  der  Zulässigkeit  die  Frage  der 
Regelung  dieses  Kautionsverhältnisses  hinsichtlich  Verzinsung,  Rück- 
zahlung etc. 

Hiermit  im  engsten  Zusammenhänge  stehen  die  gesetzwidrigen  Lohn- 
abzüge zum  Zwecke  eigenmächtiger  Schätzung  des  durch  Produktions- 
fehler dem  Arlreitgeber  angeblich  verursachten  Schadens  und  dessen 
Deckung  durch  Heranziehung  der  zurückbehaltenen  Kaution,  eventuell 
auch  noch  des  fälligen  Lohnes,  eine  namentlich  in  der  Textilindustrie 
verbreitete  Gepflogenheit. 

Da  gerade  von  Lohnabzügen  die  Rede  ist,  sei  eines  Kuriosums  ge- 
dacht, welches  zeigt,  wohin  man  kommt,  wenn  die  sozialpolitischen  Ge- 
setze silbenstechend  ausgelegt  werden.  Gemäfs  78  der  Gewerbeordnung 
ist  der  Gewerbeinhaber  berechtigt,  den  Arbeitern  „Wohnung,  Feuerungs- 
material" etc.  bei  der  Lohnauszahlung  nach  vorhergehende!  Vereinbarung 
zuzuwenden,  d.  h.  Ixrhnabzüge  für  z.  B.  beigestelltes  Feuerungsmaterial, 
also  etwa  Petroleumbeleuchtung  zu  machen  — dagegen,  wie  ein  Mi- 
nisterialerlafs  besagt  (S.  LXIX)  für  die  beigestellte  elektrische  Beleuch- 
tung nicht,  weil  die  Beleuchtung  unter  den  im  }j  78  taxativ  aufge- 
zählten Gegenständen  nicht  vorkomme.  Man  wird  diese  Sachlage  nicht 
leicht  verstehen.  Denn  wenn  der  Ministerialerlafs  besagt,  die  Beleuch- 
tung sei  im  $ 78  nicht  inbegriffen,  dann  sind  auch  Lohnabzüge  wegen 
beigestellter  Petroleumbeleuchtung  durch  40  Jahre  ungesetzlich  gewesen, 
denn  diese  ist  ja  auch  eine  Beleuchtung.  Vermutlich  fällt  aber  das  Pe- 
troleum unter  den  im  $ 78  enthaltenen  Begriff  „Feuerungsmaterial"  und 
demzufolge  sei  auch  eine  beigestellte  Petroleumbeleuchtung  abzugsfähig, 
d.  h.  wer  mit  Petroleum  beleuchtet,  kann  — Vereinbarung  vorausgesetzt  — 
hiefür  Lohnabzüge  machen,  wer  aber  elektrisch  beleuchtet,  darf  hiefür 
überhaupt  keine  vornehmen.  Das  wird  allerdings  dem  Laienverstand 
schwer  einleuchten.  Ueberdies  bildet  dies  gerade  keine  Aufmunterung 
für  die  Unternehmer,  von  den  minderwertigen  Beleuchtungssystemen  zum 
elektrischen  Lichte  überzugehen.  Richtig  und  wichtig  wäre  es,  von  der 
ergangenen  Entscheidung  des  Ministeriums  Gebrauch  zu  machen,  um 
eine  neuerliche  Entscheidung  hervorzurufen,  welche  generell  klarstellt,  ob 


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486 


Miszellen. 


überhaupt  entgeltliche  Beistellung  von  Beleuchtungsgegenständen  verein- 
bart, d.  h.  Lohnabzüge  hieftir  vorgenommen  werden  dürfen. 

Gegenüber  den  Klagen  über  die  aus  Arbeitsunterbrechungen  den  Ar- 
beitern erwachsenden  Verluste,  wie  sie  z.  B.  in  Betrieben  mit  Wasserkraft 
zu  Zeiten  von  Wassermangel  oder  dadurch  entstehen,  dafs  es  z.  B.  in 
Hüttenwerken  oder  in  Welrereien  an  vorbereitetem  Materiale  fehlt,  finden 
wir  in  einem  Inspektoratsberichte  (Graz)  den  Hinweis  darauf,  dass  ein- 
zelne Unternehmungen  den  Arbeitern  für  solche  Fälle  das  Recht  auf 
einen  Minimallohn  zuerkennen. 

Die  Revisionen  der  Arbeits-  und  Wohnräume  ergaben  dieselbe 
Situation  wie  bisher  und  den  Satz,  dafs  die  Verhältnisse  im  Kleingewerbe 
eine  entscheidende  Wendung  zum  Besseren  noch  nicht  erfahren  haben, 
während  sich  in  der  Großindustrie  allmählich  ein  Umschwung  zuin 
Besseren  vollzieht.  Die  Berichterstattung  erwähnt  neuerdings  der  in 
Böhmen  und  zwar  diesmal  auf  Grund  der  Statthaltereierlässe  vom 
23.  August  1899  Z.  107766  und  1.  September  1900  Z.  112  743  durch- 
geführten systematischen  Revisionen  unter  Mitwirkung  der  politischen 
Behörden,  der  Amtsärzte,  ( ienossenschaftsvorsteher  und  Gewerbeinspek- 
toren. Allerdings  wird  mitgeteilt,  dafs  die  Zahl  dieser  Revisionen  in 
manchem  Aufsichtssprengel  300 — 400  gewesen  sei  und  in  zahlreichen 
Fällen  zur  Abstellung  von  Uebelständen  ja  mitunter  zur  „Schliefsung" 
der  betreffenden  Betriebe  geführt  habe.  Diese  allgemeinen  Angaben 
genügen  jedoch  nicht,  um  das  Bedenken,  welches  gegen  diesen  kompli- 
zierten Revisionsvorgang  von  vornherein  obwalten  mufs,  durch  Beob- 
achtung von  dessen  praktischen  Erfolgen  zu  zerstreuen.  Insbesondere 
wäre  es  wichtig  zu  wissen,  ob  eine  fortgesetzte  fernere  Ueberwachung 
jener  Betriebe  besteht,  in  denen  Uebelstände  konstatiert  worden  sind, 
sodann  ob  überhaupt  die  Befolgung  der  „Abstellungsbefehle“  kontrolliert 
wird,  was  mit  dem  Personale  und  den  Räumlichkeiten  jener  Betriebe 
geschieht,  welche  wegen  Mifsständen  geschlossen  wurden  etc. 

Eine  besondere  ständige  Beachtung  hatten  die  Inspektoren  im  Be- 
‘richterstattungsjahre  den  Buchdruckereien  zuzuwenden. 

Ueberhaupt  ist  die  ganze  Berichterstattung  dieses  Abschnittes 
(II.  Beschaffenheit  und  Einrichtung  der  Arbeits-  und  Wohnstätten)  eine 
besonders  gute  und  plantnäfsige,  wenngleich  zufolge  der  Materie  vor- 
wiegend technische:  die  Verhältnisse  der  Decken,  Stiegen,  Aborte, 
Raumdimensionen,  Durchgänge,  Beleuchtungssysteme,  Temperatur,  Ven- 
tilation, Staub,  Dampfkessel  und  -Apparate  sowie  Kesselhäuser,  Trocken- 
räume, Wohn-  und  Schlafstätten  werden  mit  kräftigen  Strichen  dem 
Leser  plastisch  vorgeführt.  Auch  die  Einzelfklle  aus  dem  Gebiete  der 
Wohn-  und  Schlafstätten  auf  S.  XLVII1  f.  lassen  an  Kraft  des  Kolorits 
nichts  zu  wünschen  übrig. 

Solche  Einzelmitteilungen  müssen  jedoch  mit  der  nötigen  Vorsicht 
aufgenommen  werden.  Auf  der  einen  Seite  werden  Fälle  ganz  be- 


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I'rnst  Mischler,  i >i<-  iistmcichischf  (icwcrbcinspcktion  im  Jalirc  1900,  487 


sonders  krasser  Art  von  W ohn-  und  Schlafstätten  und  auf  der  anderen 
Seite  wieder  Fälle  günstiger  Einrichtungen  hervorgehoben.  So  lange  die 
Bedeutung  solcher  F.inzelangaben  richtig  erfasst  wird,  sind  sie  nur  zu 
begriifsen.  Ihr  Sinn  liegt  niemals  darin,  einen  Schlufs  auf  den  Umfang 
des  Vorkommens  solcher  Uebclstände  resp,  derartiger  guter  Einrichtungen 
oder  auch  die  Vergleichung  des  einen  mit  dem  anderen  zu  ermöglichen; 
dies  wäre  grundfalsch,  denn  es  liegt  in  der  Hand  der  Beobachter,  mehrere 
oder  weniger  Fälle  heranszugreifen.  Richtig  ist  es,  eine  möglichst  grofse 
Zahl  von  Fällen  zu  sammeln  und  damit  die  Kenntnis  zu  bereichern;  in 
welchem  Verhältnisse  die  Zahl  der  mitgeteilten  Fälle  zu  den  Gesamt- 
erscheinungen  liegt,  müfstc  erst  besonders  konstatiert  werden,  falls  dies 
überhaupt  möglich  ist.  Die  Mitteilung  solcher  Einzclfälle  hat  offenbar 
nur  die  Bedeutung,  dafs  wir  in  die  Eigenart  und  Verschiedenartigkeit 
des  Vorkommens  einer  besonderen  Thatsache,  z.  15.  hier  des  Wohnens 
einen  genauen  Einblick  gewinnen,  wobei  die  Annahme  von  vornherein 
berechtigt  ist,  dafs  jeder  der  angegebenen  Fälle  nur  als  Typus  einer 
grüfseren  Anzahl  ähnlicher  in  Betracht  komme.  — 

Der  Bericht  des  Inspektors  der  Wiener  Vcrkehrsanlagen  bringt  auch 
heuer  wieder  eine  gröfsere  Anzahl  von  sehr  dankenswerten  Notizen  einer- 
seits über  Lohne  und  andererseits  über  Wohnverhältnisse,  aus  welchen  wir, 
in  Fortsetzung  der  in  den  bisherigen  Berichten  eingehaltenen  Gepflogen- 
heit die  nachstehenden  Lohndaten  entnehmen  resp.  berechnen.  Die  Mit- 
teilungen der  Notizen  aus  der  Wohnstatistik  mufs  diesmal  aus  Raumruck- 
sichten  unterbleiben. 

Die  erste  Gruppe  von  Daten  bezieht  sich  auf  das  Verhältnis  von 
Tngclohn  zu  Akkordlohn  resp.  zu  Wochenlohn  in  denselben  Beschäf- 
tigungen ; 


ragelohn 

Akkordlohn 

Jahr 

u, 

rt  C 

Si  — v 

£ 

v 3 s 

.c  > 2 
■<  ^ 

1 h' 

von  | bis 

Gulden 

<9  d 

2 c-o 

2*1 
ä-  ■/. 

von  bis 

1 

Gulden 

Maurer  bei  Ziegelwerken  . . 

1 1 

2,— 

2,20 

IO  u.  1 I 

2,— 

2,20 

Maurer  bei  Steinmauern  . . 

1 1 

1.80 

2.70 

IOU.  1! 

2,20 

3 — 

Stcinmetze 

1 1 

2,1* 

2,80 

1 t 

2,40 

35c 

Zimmerleule 

1 1 

1.8s 

2,50 

1 I 

2,50 

j- 

1899 

Tischler 

1 1 

i,6o 

2,20 

2,20 

2,*0 

Schlosser,  Schmiede 

1 ] 

1,60 

2,60 

IO 

1.70 

3.— 

Erdarbeiter 

Handlanger  bei  schwerer  Ar- 

1 1 

1.30 

1,6* 

( 1 

>-75 

2, — 

beit 

11 

1,30 

'.55 

I I 

'.75 

2, — 

I 

Maurer  bei  Steinmauern  . . 

1 1 

1 So 

2.00 

IO,  11 

2,20 

3.— 

1 

1900  \ 

Steinmetz« 

Handlanger  bei  schwerer  Ar- 

1 1 

2,00 

| 

2,50 

1 1 1 

2,20 

3,— 

beit 

IO,  1 I 

1.30 

t,6o 

io'/j.i  > 

1 ,60 

2. — 

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488 


Miszellen. 


Beruf 

für  6 Tage  berech- 
neter Tagelohn 
(Gulden) 

eigentlicher 

Wochcnlohn 

(Gulden) 

von 

bis 

von 

bis 

Aufseher 

10,80 

3°.— 

IO,— 

35.— 

Bauschreiber 

9,6° 

12,60 

12, — 

»4.— 

1900 

Ilauptgeriister 

10,80 

13,20 

12» — 

22,50 

Wächter 

7.5® 

10,20 

9.— 

14.— 

Kutscher 

7,80 

9,60 

9,- 

11,— 

Schon  diese  wenigen  Daten  lassen  nicht  unwichtige  Aufschlüsse 
über  die  Beziehung  zwischen  Lohnhöhe  und  Lohnform  ahnen ; konkretere 
Auseinandersetzungen  hierüber  setzen  eine  gröfsere  Anzahl  vou  Beob- 
achtungen voraus. 


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Der  Vollzug  des  schweizerischen  Fabrikgesetzes. 

Von 

Dr.  EMIL  HOFMANN, 

Nationalral  in  Fraucnfcld. 

Die  bekannte  Doppelspurigkeit  der  Berichterstattung  über  den  Voll- 
zug des  schweizerischen  Fabrikgesetzes  hat  wenigstens  das  Gute,  dafs  die 
Berichte  der  Kantonsregierungen ')  aus  oder  zwischen  den  Zeilen  die 
Stellung  der  verschiedenen  Obrigkeiten  zum  Fabrikgesetz  deutlich  heraus- 
lesen lassen.  Sie  lehren  so  manche  Andeutung  und  Klage  der  Berichte 
der  Fabrikinspektoren  *)  erst  recht  verstehen  und  im  vollen  Umfange 
würdigen.  Sie  sind  einerseits  ein  Selbstzeugnis,  das  die  einzelnen 
Kantonsregierungen  der  Durchführung  des  Fabrikgesetzes  in  ihrem  Kanton 
ausstellen  und  andererseits  ein  beredter  Beweis  für  die  mannigfachen 
Schwierigkeiten,  welche  sich  daraus  ergeben  müssen,  dafs  dem  Bund  blofs 
die  Kontrolle  über  den  Vollzug,  den  Kantonen  dagegen  die  eigentliche 
Durchführung  des  Fabrikgesetzes  obliegt.  So  manchem  äufserst  knappen 
Bericht  merkt  man  es  ohne  weiteres  an,  dafs  bei  seiner  Abfassung  Liebe 
zum  Gesetz  kaum  die  Feder  geführt  hat.  Nicht  selten  stüfst  man  auf 
Bemerkungen,  die  den  Neid  der  LTntemehmer  anderer  Kantone  über  andern- 
orts geübte  Laxheit  im  Gesetzesvollzug  begreiflich  erscheinen  lassen.  Diese 
Berichte  sind  somit  erst  in  der  Vergleichung  mit  den  Berichten  der  Fabrik- 
inspektoren wertvoll,  die  jeweils  interessantes  Material  auch  über  die  Wir- 
kungen der  Arbeiterschutzgesetzgebung  etc.  enthalten.  In  diesem  Jahre  er- 
hielten dieselben  eine  wertvolle  Ergänzung  in  der  Neubearbeitung  des  offi- 

*)  Berichte  der  Kalttonsregierungen  Uber  die  Ausführung  des  Bundesgesetzes 
betreffend  die  Arbeit  in  den  Fabriken  1897  und  1898.  Veröffentlicht  vom  schwei- 
zerischen Industriedepartement.  Aarau,  Druck  und  Verlag  von  H.  R.  Sauerlander 
u.  Cie.  1899. 

*)  Berichte  der  eidgenössischen  Fabrik-  und  Bergwerkinspektoren  über  ihre 
Amtsthätigkcit  in  den  Jahren  1898  u.  1899.  Veröffentlicht  vom  schweizerischen  In- 
dustriedepartement. Aarau,  Druck  und  Verlag  von  FI.  R.  Sauerlander  u.  Cie.  1900. 

Archiv  für  sox,  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVII.  32 


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490 


Miszellen. 


ziellen  Kommentars  vom  Jahre  1 888, ')  welche  das  schweizerische  Industrie- 
departement herausgab.  Behielt  auch  dieser  letztere  den  Charakter  des 
früheren  bei  und  bilden  wiederum  die  Erlasse  der  Bundesbehörden  den 
Kommentar  selbst,  so  dient  er  doch  wesentlich  zur  Abrundung  des  durch 
die  Inspektoratsberichte  vermittelten  Bildes,  das  sich  auf  einem  20  jährigen 
Hintergrund  viel  deutlicher  abhebt.  Dazu  kommen  in  neuerer  Zeit  die 
Berichte  verschiedener  städtischer  Arbeitersekretariate  etc.,  sowie  die 
allerdings  noch  nicht  bearbeitete  EnquSte  des  schweizerischen  Grütli- 
vereins  betr.  die  Revision  des  Fabrikgesetzes,  welche  immermehr  wert- 
volle Beiträge  zur  Erkenntnis  des  Vollzuges  des  eidgenössischen  Fabrik- 
gesetzes liefern.  *) 

Die  Berichte  der  Kantonsregierungen  wie  diejenigen  der  Fabrik- 
inspektoren werden  ungefähr  nach  demselben  Schema  erstattet.  Bei  den 
ersteren  begnügt  sich  das  Industriedepartement  mit  einer  blofsen  Anein- 
anderreihung, während  es  bei  den  letzteren  ein  übersichtliches  Inhalts- 
verzeichnis beifügt,  welches  das  Studium  dieser  ziemlich  weitläufigen  Be- 
richte wesentlich  erleichtert.  Die  Kantonsregierungen  befleifsigen  sich 
in  ihrer  Berichterstattung  mit  wenigen  lobenswerten  Ausnahmen  einer  oft 
auffälligen  Kürze.  Diese  ist  begreiflich  in  allen  Kantonen,  in  denen 
die  Zahl  der  dem  Gesetze  unterstellten  Etablissementc  und  Arbeiter 
gering  ist.  Es  wird  daher  beispielsweise  niemand  sich  stark  darüber 
aufhalten  wollen,  dafs  Appenzell  i./Rh.  mit  seinen  10  Etablissements 
und  235  Arbeitern,  Uri  mit  11  Etablissements  und  361  Arbeitern  und 
Nidwalden  mit  13  Etablissements  und  219  Arbeitern  sich  ihrer  Pflicht 
zur  Berichterstattung  auf  je  einer  Druckseite  entledigen , während 
der  Halbkanton  Obwalden  einen  recht  sorgfältigen  und  umfassenden 
Bericht  über  den  Votlzug  des  Fabrikgesetzes  in  seinen  1 3 Etablissements 
mit  221  Arbeitern  erstattet.  Dagegen  mufs  die  fragmentarische  Kürze 
z.  B.  des  Berichts  von  Bern  mit  762  dem  Gesetz  unterstellten  Geschäften 
doch  etwas  auffallen,  namentlich  auch  angesichts  der  überaus  einläfslichen 
und  sehr  instruktiven  Berichterstattung  z.  B.  des  Kantons  St.  Gallen,  die 
sich  von  der  üblichen  trockenen  Aufzählung  einer  leider  nicht  immer 
lückenlosen  Reihe  von  Thatsachen  sehr  zu  ihrem  Vorteil  unterscheidet. 

Die  Berichte  der  Fabrikinspektoren  weisen  naturgemäfs  keine  so 
grofsen  Verschiedenartigkeiten  auf  wie  die  Berichte  der  Kantonsregie- 
rungen. Immerhin  sind  auch  hier  im  einzelnen  verschiedene  Nuancie- 
rungen der  Berichterstattung  zu  konstatieren,  die  sich  unter  anderem  auch 


')  Das  Bundesgesetz  betreffend  die  Arbeit  in  den  Fabriken  vom  23.  Marz  1877. 
Kommentiert  durch  seine  Ausführungen  in  den  Jahren  1878 — 1899.  Bern  (Schmid 
u.  Franke)  1900. 

*)  Vgl.  z.  B.  hierzu:  Otto  Lang,  Das  schweizerische  Fabrikgesetz,  erläutert 
unter  besonderer  Bezugnahme  auf  die  Notwendigkeit  seiner  Revision.  Zürich,  Ver- 
lag der  Buchhandlung  des  schweizerischen  Grütlivcreins.  1899. 


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Emil  Hofmann,  Der  Vollzug  des  schweizerischen  Fabrikgesetzes.  49 1 

darin  zeigen,  dafs  der  eine  den  Wohlfahrtseinrichlungen  (vgl.  z.  Beilagen 
A und  B zum  Bericht  des  ersten  Inspektionskreises),  der  andere  der 
Verhütung  der  Unfälle  und  Gewerbekrankheiten  gröfsere  Aufmerksamkeit 
in  seinem  Berichte  widmet.  Doch  ist  dies  nicht  etwa  ein  Fehler,  sondern 
geradezu  ein  Vorzug  der  Berichterstattung.  Gerade  die  Verschiedenheit 
der  Bildung  und  des  früheren  Bemfs  der  Fabrikinspektoren  läfst  jeweils 
diese  Berichte  zu  einem  wohlabgerundeten  Ganzen  werden,  an  dem  man 
nur  ungern  auch  einen  einzigen  Zug  vermissen  würde. 

Allerdings  hat  man  schon  mehrfach  der  F.infügung  ausführlicher 
Abhandlungen  nachgeredet,  dafs  sie  einerseits  den  Preis  der  Publikation 
verteuern  und  dadurch  den  Arbeitern  als  den  zunächst  Interessierten 
schwer  zugänglich  werden,  sowie  dafs  andererseits  die  Untersuchungen  etc. 
immer  nur  eine  bestimmte  Kategorie  von  Unternehmern  angehen  und 
durch  ihre  Einschaltung  in  einen  kostspieligen  Band  leicht  ihre  Adresse 
verfehlen.  Allein  das  Bedenken  hinsichtlich  des  Kostenpunktes  liefse 
sich  leicht  dadurch  beseitigen,  dafs  den  Arbeitern  und  ihren  Organisationen, 
soweit  dies  gewünscht  würde,  die  Berichte  unentgeltlich  oder  dann  doch 
zu  bedeutend  reduziertem  Preise  überlassen  würden.  Der  zweite  Ein- 
wand ist  eher  berechtigt,  besonders  wenn  der  Bergwerksinspektor  jeweils 
auch  derartige  Abhandlungen  seiner  Berichterstattung  einfiigen  wollte. 

Doch  ist  dies  vorderhand  nicht  zu  befürchten.  Zudem  ist  der 

Kreis  der  Unternehmer,  der  durch  derartige  Abhandlungen  berührt 

wird,  meistens  ziemlich  grofs  und  darf  denn  doch  nicht  vergessen 

werden,  dafs  aufser  den  direkt  berührten  Unternehmern  und  Arbeitern 
auch  die  Behörden  und  eine  ganze  Anzahl  weitere  Interessenten  hiervon 
Kenntnis  nehmen.  Zum  Beweise  hierfür  führen  wir  gerade  die  Inspek- 
tionsberichte pro  1898  und  1899  an.  Der  Bergwerksinspektor  publiziert 
als  Anhang  ein  Zirkular,  das  „Anhaltspunkte  für  den  Verkehr  zwischen 
den  kantonalen  Behörden,  beziehungsweise  den  bergwerklichen  Betriebs- 
inhabem  und  der  eidgenössischen  Bergwerkins|>ektion“  enthält.  Dem 
Berichte  der  drei  F'abrikinspektorate  ist  beigegeben  die  „Anleitung  für 
den  Rangierdienst  auf  Fabrik-Anschlufsgeleisen  und  Bahnanlagen“,  welche 
vom  F'abrikinspektorat  als  Auszug  aus  den  „Vorschriften  über  den  Ran- 
gierdienst auf  den  schweizerischen  Normalbahnen“  verfafst  wurde.  Fabrik- 
inspektor Dr.  Schüler  giebt  zu  seinem  Berichte  als  Beilage  Pläne  und 
Baubeschreibung  eines  billigen  und  komfortablen  Arbeiterhauses,  sowie 
die  Darstellung  der  ganz  musterhaften  Wasch-  und  Badeeinrichtung  in 
der  züricherischen  Gasfabrik  Schlieren.  Diese  sowie  die  Darstellung 
eines  schweren  Vergiftungsfalles  in  einer  chemischen  Fabrik  etc.  durch  den 
Bericht  des  III.  Kreises  entbehren  gewifs  nicht  des  allgemeinen  Interesses. 

Nach  diesen  allgemeinen  Bemerkungen  folgen  wir  den  Berichten 
der  Fabrikinspektoren,  welche  folgendermafsen  gegliedert  sind:  I.  Allge- 
meines. II.  Die  Arbeitsräume.  III.  Unfälle  und  Krankheiten,  Mafs 
regeln  zu  ihrer  Verhütung.  Haftpflicht  und  Unfallverhütung.  IV.  Ar- 

32* 


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492 


Miszellen. 


beiterlisteu,  Fabrikordnungen,  Lohnzahlung,  Arbeitszeit.  V.  Kinder-  und 
Frauenarbeit.  VI.  Vollzug  des  Gesetzes  durch  die  Behörden.  Mithilfe 
durch  Arbeiter  und  Arbeitgeber.  VII.  Wohlfahrtseinrichtungen. 

Die  Zahl  der  dem  Fabrikgesetz  unterstellten  Betriebe  belief  sich  ain 
31.  Dezember  1899  auf  5917  mit  214871  Arbeitern,  während  sie  zehn 
Jahre  früher  blofs  4223  mit  169999  Arbeitern  betrug.  Die  Zunahme 
im  Jahre  1899  betrug  19  F.tablisseroents  mit  2253  Arbeitern.  Diese 
Vermehrung  rührt  vor  allem  von  der  überaus  günstigen  Geschäftslage 
der  meisten  Industrieen  her,  welche  noch  eine  gröfsere  industrielle  Weiter- 
entwicklung ermöglicht  hätte,  wenn  nicht  trotz  der  Zuziehung  ausländi- 
scher Arbeitskräfte  Mangel  an  Arbeitern  bestanden  hätte.  Andererseits 
trägt  an  dieser  Vennehrung  die  Unterstellungspraxis  sowie  die  zunehmende 
Intensität  der  Kontrolle  einen  Teil  der  Schuld.  Hinsichtlich  des  ersteren 
Grundes  ist  namentlich  an  den  üundesratsbeschlufs  betreffend  Vollziehung 
von  Art.  1 des  Gesetzes  vom  3.  Juni  1891  zu  erinnern.  Dieser  bis  auf 
den  heutigen  Tag  namentlich  auch  vom  schweizerischen  Gewerbeverein 
angefochtene  Bundesratsbeschlufs  ist  seither  konsequent  ausgebaut  worden. 
Die  Behörden  haben  in  dieser  Hinsicht  aus  ihren  Erfahrungen  die  richtigen 
Konsequenzen  zu  ziehen  gewufst.  Sie  verstehen  es  immer  besser,  den 
Versuchen,  sich  der  Unterstellung  unter  das  Gesetz  zu  entziehen,  prinzi- 
piell die  Wege  zu  verlegen.  Die  im  bereits  erwähnten  Kommentar  ent- 
haltenen Rekursentscheide  und  Bundesratsbeschlüsse  zu  Art.  1 des  Ge- 
setzes sind  ein  sprechender  Beweis  hierfür.  Anders  verhält  es  sich  mit 
der  Kontrolle.  Dieselbe  läfst,  trotzdem  ihre  Intensität  von  Jahr  zu  Jahr 
zunimmt,  immer  noch  zu  wünschen  übrig.  Namentlich  in  der  Westschweiz 
sind  immer  noch  eine  ganze  Anzahl  von  Betrieben,  welche  sich  Dank 
der  Lässigkeit  der  inbetracht  fallenden  Unterbehörden  der  Unterstellung 
unter  das  Fabrikgesetz  zu  entziehen  verstehen. 

Als  bestes  Mittel  gegen  diese  I-ässigkeit,  welche  zudem  sogar  bei 
Kantonsregierungen  zu  treffen  ist,  erscheint  uns  die  Vermehrung  der 
Inspektionsbesuchc  durch  das  Fabrikinspcktorat  und  die  Steigerung  des 
Interesses  der  Arbeiterschaft  an  diesem  Gesetze  und  seinem  Vollzug. 
Allerdings  scheinen  die  Inspektoren  geteilter  Meinung  zu  sein  über  den 
Wert  der  Inspektionsbesuche.  Der  Inspektor  des  I.  Kreises,  Dr.  Schüler, 
nennt  es  eine  völlige  Verkennung  der  Stellung  der  Inspektoren,  wenn 
man  von  ihnen  häufigere  Inspektionen  wünsche.  „Unsere  Thätigkeit  soll 
nicht  die  eines  Polizisten  sein,  der  von  Haus  zu  Haus  eilt,  um  Ueber- 
tretungen  nachzuspüren.  Diese  rein  polizeilichen  Funktionen  sollen  nach 
dem  Gesetz  von  den  Organen  der  Kantone  ausgeführt  werden,  die  ihrer- 
seits von  den  zunächst  Beteiligten,  den  Arbeitern  selbst,  in  dieser  Auf- 
gabe unterstützt  werden  sollten.  Schon  die  kleine  Zahl  der  Inspektoren 
sollte  darauf  hinweisen,  dafs  es  nicht  viel  helfen  könnte,  wenn  wir  Tag 
für  Tag  Fabriken  besuchen  wollten.  Und  was  sollte  dies  fruchten,  wenn 
man  nicht  auch  die  Mittel  zur  Beseitigung  der  gefundenen  Ucbelstände 


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Emil  Hofmann,  Der  Vollzug  dos  schweizerischen  Kabrikgesrtzrs.  493 

studiert,  wenn  man  nicht  in  stetem  engen  Kontakt  mit  den  Amtsstellen 
bleibt,  welche  uns  bei  der  Durchführung  der  gestellten  Postulate  zur 
Seite  stehen,  uns  in  der  Aufsicht  zu  unterstützen  haben?  Was  hilft  es, 
wenn  man  sich  nicht  auch  Zeit  nimmt,  sich  mit  den  Verhältnissen  und 
Bedürfnissen,  mit  der  gesamten  I-age  der  Arbeiter  vertraut  zu  machen, 
der  Arbeitergesetzgebung  und  den  auf  sie  bezüglichen  Bestrebungen  sein 
Augenmerk  zuzuwenden?  Campiche,  der  Inspektor  des  II.  Kreises,  da- 
gegen scheint  den  mehrmaligen  Inspektionsitesuchen  einen  gröfseren  Wert 
beizumessen,  wenn  er  schreibt:  „N’otre  ardent  ddsir  d’arriver  ä inspecter 
au  moins  une  fois  par  annc'e  chaque  fabrique  a pu  se  rdaliser.  En  effet, 
en  1899,  tous  les  etablissements  industriels  du  IIme  arrondissement  ont 
fetb  inspectes ; 88  l'ont  fete  2 fois  et  6 trois  fois.  Voilä  donc  un  progrds 
realise.  car  ce  n’est  que  par  des  visites  frequentes  que  1’inspecteur  peut 
ariver  faire  respecter  les  lois  et  h reprimer  les  abus  qui  se  commettcnt 
dans  les  usines  et  les  ateliers.“ 

Wir  unsererseits  teilen  die  letztere  Ansicht  und  sind  darum  stets 
für  eine  Vermehrung  der  Fabrikinspektionskreise  eingetreten.  Gewifs 
stehen  derselben  eine  Anzahl  von  Bedenken  entgegen,  die  von  Fabrik- 
inspektor Dr.  Schüler  schon  oft  erschöpfend  dargestcllt  wurden.  Aber 
auf  der  anderen  Seite  werden  diese  auch  von  mir  zum  Teil  zugegebenen 
Nachteile  durch  eine  ganze  Anzahl  gewichtiger  Vorteile  mehr  als  aufge- 
wogen. Durch  Vermehrung  der  Inspektionskreise  wird  das  Inspcktions- 
personal  in  engeren  Kontakt  mit  Unternehmern,  Arbeitern  und  Behörden 
gerückt.  Vor  allem  wird  es  dadurch  noch  weit  seltener  Vorkommen,  dafs 
Etablissemente,  welche  unter  das  Fabrikgesetz  fallen,  sich  der  Unter- 
stellung zu  entziehen  wissen.  Je  öfter  der  Inspektor  die  inbetracht 
fallenden  Behörden  auf  derartige  Unterlassungen  aufmerksam  machen 
mufs,  um  so  gröfser  der  Eifer  derselben,  die  Wiederholung  derartiger 
Vorkommnisse  zu  vermeiden.  Je  näher  Unternehmer,  kantonale  und 
lokale  Behörden  den  Fabrikinspektor  wissen,  um  so  eifriger  der  Vollzug 
des  Gesetzes,  um  so  rascher  und  gründlicher  die  Abstellung  von  Mifs- 
bräuchen.  Wie  nötig  dies  wäre,  geht  unter  anderem  auch  daraus  hervor, 
dafs  gute  Geschäftsfreunde  einander  die  Ankunft  oder  die  bedrohliche 
Nähe  des  Fabrikinspektors  durchs  Telephon  oder  mündlich  mitteilen. 
Hätten  dieselben  nichts  zu  verbergen,  so  wäre  solche  Mitteilung  grund- 
los. Unmöglich  oder  unnütz  aber  wäre  sie,  wenn  der  Besuch  des 
Inspektors  sozusagen  alle  Tage  ins  Bereich  des  Möglichen  gehörte. 
Ferner  könnte  es  dadurch  vermieden  werden,  dafs  jüngere  Beamten  zu 
Inspektoren  verwendet  werden  müssen.  Dem  älteren  Fabrikinspektor 
gegenüber  werden  sich  Betriebsleiter  schwerlich  „ein  geradezu  unanstän- 
diges Benehmen  zu  Schulden  kommen  lassen",  wie  dies  gegenüber  einem 
Assistenten  geschah.  Auch  würden  „die  Versuche,  namentlich  die  jüngeren 
Beamten  etwas  von  oben  herab  zu  behandeln",  dann  wohl  von  selbst 
unterbleiben. 


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494 


Miszellen. 


Uebrigens  ist  die  Differenz  in  der  Intensität  der  Kontrolle  trotz 
dieser  geteilten  Ansicht  nicht  sehr  hedeuteed,  wie  aus  beistchender  Ueber- 
sicht  ersichtlich  ist. 

Waren  ja  z.  B.  im  Jahre  1899  zu  verzeichnen : 


im  I.  Kreise 


I» 

It 


II. 

III. 


Fabrik  besuche 
2209 
2062 
2 560 


Etablissemenle 

2077 

1 648 

2 168 


Arbeiter 

85010 

483*1 

97  5*7 


Die  Zahl  der  Besuche  übersteigt  somit  in  allen  Inspektionsbezirken 
die  der  dem  Gesetze  unterstellten  Betriebe  und  läfst  sich  die  steigende 
Intensität  der  Kontrolle  nicht  in  Abrede  stellen.  So  wurden  beispiels- 
weise 1899  417  Besuche  mehr  verzeichnet  als  im  vorhergehenden 

Jahre  und  belief  sich  1890  die  Zahl  der  Besuche  bei  4223  dem  Gesetze 
unterstellten  Etablissements  mit  109999  Arbeitern  blofs  auf  3866. 

Das  Interesse  der  Arbeiterschaft  am  richtigen  Gesetzesvollzug  ist 
entschieden  im  Wachstum  begriffen.  Das  zeigt  sich  einmal  in  der  Be- 
stellung von  Kommissionen  seitens  der  Arbeiterorganisationen  zur  Ucber- 
wachung  des  Vollzugs  des  Fabrikgesetzes,  sowie  in  der  Häufigkeit,  mit 
welcher  die  Arbeitersekretariate,  Arbeitskammem  sowie  die  Fabrikins|jck- 
torate  in  dieser  Richtung  in  Anspruch  genommen  werden.  Allerdings 
zeigt  sich  dies  mehr  in  den  Industriezentren,  während  in  den  entlegenen 
Gebieten  noch  häufig  grofse  Unwissenheit  nach  dieser  Seite  hin  herrscht. 
Hierüber  wird  sich  niemand  wundem  angesichts  des  Vorwurfs  des  In- 
spektors des  111.  Kreises  gegenüber  verschiedenen  Arbeiterorganisationen, 
die  sich  doch  sonst  bemühen,  die  an  sie  gelangenden  Klagen  in  vorur- 
teilsloser Weise  zu  prüfen,  dafs  sie  oft  nicht  wissen,  was  das  Gesetz  ver- 
bietet und  was  es  gestattet.  Aehnlichen  Vorwurf  richtet  der  Inspektor 
des  II.  Kreises  an  die  Adresse  der  Arbeiter.  Er  ermahnt  sie,  sich  mit 
ihren  Klagen  zuerst  an  die  Präsidenten  der  Arbeiterorganisationen,  die 
im  allgemeinen  hinsichtlich  dieser  Materie  auf  dem  Laufenden  seien,  zu 
wenden,  während  der  Bericht  des  III.  Kreises  einzelne  Arbeiterorganisa- 
tionen ermahnt,  das  Gesetz  selbst  etwas  näher  anzuschen,  wenn  über 
dessen  Verletzung  geklagt  wird.  Hier  wie  dort  könnte  auf  die  angegebene 
Art  viel  unnötige  Schererei  und  mancher  Aergcr  erspart  werden. 

Der  Zustand  der  Arbeitsräume  in  neueren  Etablissements  ist 
durchschnittlich  ein  recht  befriedigender.  Die  Sorgfalt  der  Inspektoren 
in  der  Begutachtung  der  Baupläne  sowie  die  Vorschriften  des  Bundes- 
rates, betreffend  den  Neu-  und  Umbau  von  Fabrikanlagen,  vom  13.  De- 
zember 1897  tragen  zweifelsohne  gute  Früchte.  Hand  in  Hand  mit  der 
gröfseren  Rücksicht  auf  Gesundheit  und  Sicherheit  der  Arbeiter  geht  die 
Verwendung  besserer  Materialien  zu  den  Bauten.  Granit  findet  immer 
mehr  Eingang  zu  den  Böden  in  Färbereien  und  Bleichereien.  Als 
Bodenmaterial  kommt  häufig  Pitchpineholz  in  Aufnahme,  ebenso  das 


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Emil  Ilofmann,  Der  Volllug  des  schweizerischen  KabrikgcscUcs.  qgj 

gegen  Feuer  widerstandsfähige  warme  Xylolith.  Das  Petroleumlicht  ver- 
schwindet immer  mehr.  An  seine  Stelle  tritt  das  elektrische  Licht,  die 
Gasbeleuchtung,  bei  der  Auerbrenner  immer  allgemeiner  Eingang  finden, 
sowie  das  Acetylen  und  andere  moderne  Beleuchtungsmittel.  Für  Ven- 
tilation und  Staubbeseitigung  werden  oft  die  besten  Einrichtungen  ge- 
schaffen. Während  beispielsweise  vor  8 Jahren  noch  im  III.  Inspektions- 
kreise keine  einzige  Späneabsaugungsanlage  vorhanden  war,  stehen  heute 
eine  grofse  Anzahl  derselben  im  Betriebe;  aber  auch  an  Schmirgel- 
und  anderen  Schleifapparaten,  an  Poliermaschinen,  Gasiemiaschinen,  in 
Hecheleien,  Schiefertafel-  und  Carbidfabriken  findet  man  heute  Absorp- 
tionsanlagen. Es  verschwinden  allmählich  die  gewöhnlichen  Heizungs- 
anlagen vom  Schauplatze,  um  neueren  zweckdienlicheren  und  ökono- 
mischen Apparaten  Platz  zu  machen.  Namentlich  wird  die  immer  all- 
gemeinere Verbreitung  der  Niedcrdruck-Damplheizung  sehr  begrüfst,  weil 
dieses  Heizungssystem  am  meisten,  sowohl  den  hygienischen  Anforde- 
rungen, als  auch  denen  eines  bequemen  und  billigen  Betriebes  Rech- 
nung trägt. 

Weniger  erfreulich  klingt  die  Berichterstattung  ülrer  die  Anwendung 
derartiger  Einrichtungen  und  niufs  unter  anderem  konstatiert  werden, 
dafs  die  Schuld  an  der  abscheulichen  Luft  in  manchem  Arbeitsraum  bald 
auf  Prinzipale,  bald  auf  Arbeiter,  am  öftersten  auf  beide  zusammen  ent- 
falle. Nur  so  ist  es  erklärlich,  dafs  die  Ventilation  selbst  da  noch 
mangelhaft  ist,  wo  die  besten  Einrichtungen  dafür  vorhandeu  sind,  sowie 
dafs  die  Beseitigung  der  Luftverpestung  durch  Rauchen  seitens  der 
Arbeiter  sehr  schwer  gelingt. 

In  älteren  Betrieben  ist  naturgemäfs  über  die  Arbeitsräume  metir 
Anstofs  zur  Klage  vorhanden.  Es  wird  über  zu  grofse  Hitze  und  Kälte 
geklagt.  Das  mag  begreiflich  erscheinen  angesichts  der  Thatsache,  dafs 
man  immer  noch  Lokale  ohne  jede  Heizungseinrichtung  trifft,  sowie  dafs 
nicht  selten  in  überheizten  Lokalen  seitens  der  Arbeiter  oder  Arbeit- 
geber gegen  Luftcmeuerung  protestiert  wird.  Leider  wird  auch  das 
Tünchen  schwarzer  Decken  und  Wände  von  einzelnen  Prinzipalen  und 
sogar  Beamten  als  ein  Luxus  betrachtet.  Schlimm  steht  cs  auch  oft  in 
alten  Abtritten,  unter  denen  noch  mehrsitzige  vorhanden  sind.  Der  In- 
spektor des  III.  Kreises  zählt  diese  zu  den  am  häufigsten  zu  bemängeln- 
den Einrichtungen  der  Fabriken,  die  nicht  nur  sehr  oft  wegen  mangelnder 
Reinlichkeit,  sondern  auch  wegen  ihrer  Einrichtung  überhaupt  beanstandet 
werden  müssen.  Er  führt  dies  auf  mangelndes  Verständnis  zurück, 
während  sein  Kollege  aus  dem  I.  Kreis  die  mangelnde  Neigung  zu  Ver- 
besserungen oft  darauf  zurückführt,  dafs  die  Arbeiter  zuweilen  die  besten 
Einrichtungen  aus  blofsem  Mutwillen  demolieren. 

Zur  Illustrierung  der  schweren  Aufgabe,  welche  den  Inspektoren 
durch  die  Ausführung  der  Vorschriften  des  Bundesrates  betreffend  den 
Neu-  oder  Umbau  von  Fabrikanlagen  vom  13.  Dezember  1897  er- 


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496 


Miszellen. 


wachsen  ist,  sowie  des  industriellen  Aufschwungs  fugen  wir  noch  bei, 
dafs  in  der  Berichtsperiode  927  Baupläne  begutachtet  wurden  und 
zwar  im: 

I.  Kreis  ....  294 

II  

III  4S4 

Von  zwei  Seiten  her  wird  diese  Aufgabe  noch  erschwert  Einerseits 
giebt  es  Bauherren,  die  alle  Schliche  und  Ränke  anwenden,  die  Gesetzes- 
vorschriften zu  umgehen,  und  andererseits  scheint  die  Prüfung  der 
Baupläne  durch  kantonale  Instanzen  hier  und  da  verschleppt  zu  werden. 

Aehnliches  ist  leider  über  die  Unfallmeldung  zu  berichten. 
Allerdings  decken  sich  auch  hierin  Erfahrungen  und  Anschauungen  der 
Fabrikinspektoren  nicht  ganz.  Der  Inspektor  des  III.  Kreises  ist  davon 
überzeugt,  dafs  die  überwiegende  Zahl  der  Unfälle  zur  Kenntnis  der  Be- 
hörden gelangt.  Als  Beweis  hierfür  führt  er  die  stete  Vermehrung  der 
Unfallanzeigen  bei  sich  annähernd  gleichbleibender  Unfallfrcquenz  im 
Verhältnis  zur  Arbeiterzahl  sowie  die  zahlreichen  Eingänge  von  Unfall- 
anzeigen aus  nicht  haftpflichtigen  Betrieben  an.  Die  beiden  anderen  In- 
spektoren dagegen  klagen  Uber  Mängel  im  Anzeigewesen.  Manchmal 
unterbleiben  in  ihren  Inspektionskreisen  die  Meldungen  der  Unfälle  aus 
Unkenntnis  der  Gesetze,  manchmal  aus  bösem  Willen  und  manchmal 
aus  Lässigkeit  der  Amtsstellen,  bei  denen  hier  und  da  Meldungen  liegen 
bleiben  oder  geradezu  verloren  gehen.  Namentlich  auch  aus  dem  letz- 
teren Grunde  wird  es  sogar  von  Jahr  zu  Jahr  schwieriger,  auch  nur  die 
Anzeigen  des  ersten  Jahres  der  zweijährigen  Berichtsperiode  vollständig 
zu  erhalten.  Vielleicht  sorgt  der  vom  Inspektor  des  I.  Kreises  einge- 
schlagcne  Weg  für  Abhilfe,  welcher  statt  einer  allgemeinen  Klage  über 
die  Lässigkeit  der  Behörden  die  schuldigen  Amtsstellen  in  seinem  Be- 
richte folgendermafsen  apostrophiert:  „So  bekam  ich  aus  Zug  Ende 
Januar  1899  drei  Anzeigen  von  1895,  deren  letzte  am  17.  Dezember 
desselben  Jahres  cingcgangen  war,  7 von  1896,  ebenfalls  im  gleichen 
Jahr  eingesandt,  und  26  von  1897,  von  denen  die  letzte  das  Eingangs- 
datum 1.  März  1898  tmg.  Es  waren  also  36  Anzeigen  10 — 12  Monate 
liegen  geblieben.  In  Chur  hatten  im  Jahre  1898  fünf  Firmen  zusammen 
35  Unfälle  angezeigt;  dem  Inspektorat  gingen  18  Anzeigen  nicht  zu, 
selbst  solche  von  schweren  Fällen,  wie  der  Verlust  eines  Armes.  Aehn- 
liches kommt  übrigens,  nur  in  geringerem  Mafs,  auch  in  anderen  Kan- 
tonen vor,  am  öftersten  durch  die  Bezirks-  oder  Ortsbeamten  verschuldet 
und  leider  in  keiner  auch  nur  irgendwie  wirksamen  Weise  geahndet." 

Die  stete  Vermehrung  der  Unfälle  kann  somit  nur  zum  Teil  auf 
die  immer  genauer  und  vollständiger  werdende  Unfallmeldung  zurück- 
geflihrt  werden.  Die  Vermehrung  der  Zahl  der  Betriebe  und  Arbeiter, 
sowie  die  Ausdehnung  des  Maschinenbetriebes  tragen  hieran  wohl  die 


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I' ni i 1 llofmann,  Der  Vollzug  des  schweizerischen  Fahrikgesetzes. 


Hauptschuld.  Daneben  wirken  noch  eine  ganze  Anzahl  von  Begleit- 
ursachen mit.  So  soll  namentlich  in  einzelnen  Industriezweigen  ein 
aufserordentlicher  Leichtsinn  in  Bezug  auf  Beschaffung  und  Anwendung 
von  Schutzvorrichtungen  bei  Prinzipalen  wie  bei  Arbeitern  überhand 
genommen  haben.  Auch  denken  manche  Arbeitgeber  immer  noch  zu 
wenig  daran,  wie  sehr  die  Entstehung  von  Unfällen  durch  Ueberfüllung 
der  Arbeitslokale  mit  Leuten,  Material  und  Maschinen,  durch  den  Zu- 
stand des  Fufsbodens  und  die  Helligkeit  der  Beleuchtung  beeinflufst  wird. 
Ebenso  ist  immer  noch  eine  häutige  Unfallursache  die  Anstellung  un- 
kundiger Arbeiter  an  gefährlichen  Maschinen  und  Apparaten  oder  auch 
das  Antreiben  und  Hetzen  bei  der  Akkordarbeit,  wie  es  nach  verschie- 
denen schlimmen  Erfahrungen  nicht  selten  bei  sog.  Gruppenakkorden 
oder  auch  da  vorzukommen  scheint,  wo  die  Aufseher  eine  Tantieme  für 
die  von  ihren  Untergebenen  abgelieferte  Arbeit  erhalten. 

Auch  der  häufige  Arbeiterwechsel  ist  eine  Ursache  vermehrter  Un- 
fälle, namentlich  dort,  wo  es  sich  um  die  Bedienung  gefährlicher  Mxschinen 
handelt.  Bei  der  genannten  Stellung  eines  Teils  der  Arbeiter  und  Prin- 
zipale gegenüber  den  Schutzvorrichtungen  ist  es  geradezu  ein  Trost,  dafe 
blofs  etwa  2 t Proz.  der  Unfälle  durch  Maschinen  und  Apparate  verur- 
sacht wurden,  während  die  übrigen  zum  Maschinenbetrieb  nicht  in 
direkter  Beziehung  standen  und  somit  auch  in  den  seltensten  Fällen 
durch  Schutzvorkehrungen  hätten  vermieden  werden  können.  Die  Haupt- 
sache ist  schliefslich  die  Thatsache,  dafs  trotz  der  übereinstimmend 
konstatierten  vielfachen  Abneigung  der  Arbeiter  gegen  Schutzvorrich- 
tungen die  Unfälle  maschineller  Natur  eine  abermalige  Abnahme  der 
Verhältniszahl  aufweisen.  Ira  ersten  Kreis  ist  dielbe  von  23,26  Proz.  in 
den  Jahren  1888  — 89  und  21,61  Proz.  in  den  Jahren  1895  — 96  auf 
20,88  Proz.  herabgesunken.  Im  II.  Kreis  vollzog  sich  diese  Abnahme 
noch  schneller  und  in  höherem  Grade.  Dort  machten  1893 — 94  die 
maschinellen  Unfälle  24  Proz.,  1895—96  19  Proz.  und  1897 — 98  blofs 
noch  17,11  Proz.  aller  Unfälle  aus. 

Die  Vermehrung  der  Zahl  der  Unfälle  gegenüber  dem  letzten  Bi- 
ennium  beträgt  rund  1 1 Proz.  Im  ersten  Kreis  wird  dieselbe  haupt- 
sächlich den  Fabrikunfällen,  welche  um  16,35  I>roz-  zugenommen  haben, 
zugeschrieben,  während  sie  in  den  beiden  anderen  Kreisen  zu  Lasten  des 
Baugewerbes  fallen.  Dafür  ist  die  Heilungsdauer  annähernd  dieselbe  ge- 
blieben oder  eher  etwas  niedriger  geworden,  was  für  etwelche  Vermin- 
derung der  schweren  Unfälle  spricht.  Bei  den  Fabrikunfällen  des 
III.  Kreises  schwankte  beispielsweise  von  1889—1898  die  auf  einen 
Unfall  entfallende  Heilungsdauer  zwischen  18  Tagen  in  den  Jahren  1889 
und  1S91  und  21  Tagen  im  Jahre  1893.  1897  betrug  sie  18,8  und 

1898  18,5  Tage.  Bei  den  Unfällen  in  Nichtfabriken  finden  wir  das 
Maximum  der  Heilurigsdauer  mit  21  Tagen  in  den  Jahren  1890,  1893 


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Miszellen. 


und  1895,  das  Minimum  mit  iS  Tagen  18S9  und  1891.  1897  betrug 

die  Heilungsdauer  20,4  und  1898  19,7  Tage. 

Die  Zahl  der  Todesfälle  hat  wiederum  eine  Steigerung  erfahren.  Sie 
betrug  in  der  Berichtsperiode  265  gegenüber  240  in  den  Jahren  1895 — 96 
und  21 1 in  der  Zeit  von  1893 — 94.  Der  Umstand,  dafs  mehr  als  ein 
Vierteil  der  Getöteten  des  III.  Kreises  Hilfsarbeiter  waren,  ist  sehr  be- 
merkenswert. Derselbe  giebt  Veranlassung  zu  der  immer  und  immer 
wieder  erneuten  Ermahnung  der  Fabrikinspektoren  an  die  Unternehmer, 
zu  gefährlichen  .Arbeiten  nur  gelernte,  mit  der  Gefahr  vertraute  Arbeiter 
zu  verwenden.  Uebrigens  ist  es  merkwürdig,  dafs  nicht  noch  mehr 
Todesfälle  entstehen  angesichts  der  Thatsache,  dafs  einzelne  Elektrizitäts- 
werke ihren  Angestellten  eine  dermafsen  lange  Arbeitsdauer  zumuten, 
dafs  ein  Nachlassen  der  erforderlichen  Aufmerksamkeit  fast  notwendiger- 
weise eintreten  und  zur  Gefährdung  der  Leute  führen  mufs,  sowie  in 
Berücksichtigung  des  Umstandes,  dafs  im  Baugewerbe  oft  mit  namen- 
losem Leichtsinn  vorgegangen  wird. 

Diese  Beobachtung  ist  es  denn  auch  gewesen,  welche  die  sog.  Ge- 
rüstkontrolle zu  einem  Postulat  der  Arbeiterschaft  werden  liefs,  dessen 
Erfüllung  sie  mit  aller  Kraft  erstrebt  und  auch  schon  vielfach  erreicht 
hat.  So  wirken  in  Zürich  ')  zwei  Fachleute  als  ständige  Gcriistkontrollcure 
und  ist  dort  der  günstige  Einflufs  der  „Verordnung  zur  Verhütung  von 
Unfällen  bei  Bauten  vom  27.  Februar  1895"  unverkennbar.  Einzig  im 
Jahre  1898  wurden  in  10  Fällen  durch  eine  sichere  Gerüstung  der 
Sturz  von  Arbeitern  in  die  ganze  Tiefe  des  Baues  und  damit  schweres 
Unglück  verhütet,  während  in  1 3 anderen  Fällen,  wo  der  Kontrolle  Gefahr 
in  Verzug  schien,  durch  sofortige  Einstellung  der  Bauten  Unglücksfälle 
vermieden  wurden.  In  Basel  besteht  seit  dem  12.  Februar  dieses  Jahres 
eine  Verordnung  betr.  Unfallverhütung  bei  Bauten  in  Kraft,  deren  Revi- 
sion jedoch  schon  jetzt  hauptsächlich  aus  dem  Grunde  erstrebt  wird, 
weil  dort  statt  Fachleuten  die  Polizei  als  Gerüstkontrolleur  zu  funktionieren 
hat.  Dieselbe  Forderung  stellt  die  Arbeiterschaft  der  Stadt  Luzern  an 
den  bezüglichen  Entwurf  des  Stadtrates.  In  anderen  Kantonen,  wie  z.  B. 
in  Bern  wurde  durch  Erlafs  eines  kantonalen  Gesetzes  den  Gemeinden 
das  Recht  zum  Erlafs  von  Verordnungen  betr.  Unfallverhütung  bei 
Bauten  gegeben.  Aber  überall  regt  sich  die  Frage  des  Bauarbeiter- 
schutzes und  werden  wahrscheinlich  nächstens  eine  gröfsere  Zahl  kan- 
tonaler und  städtischer  Behörden  sich  hiermit  zu  befassen  haben.  Uebri- 
gens besteht  auch  eine  von  den  Fabrikinspektoren  aufgestellte  „Anleitung 
zur  Verhütung  von  Unfällen  im  Baugewerbe“  und  sollten  die  Behörden, 
in  deren  Gebiet  eine  spezielle  Gerustkontrolle  nicht  gut  durchführbar 
ist,  wenigstens  die  Anwendung  dieser  Anleitung  strikte  vorschreiben. 


*1  Vgl.  hierzu : Geschäftsbericht  des  Stadtrates  und  der  Zenlralschulpflcge  der 
Stadt  Zürich  vom  Jahre  1899.  Zürich,  Buchdruckerei  Berichthaus.  1900.  S.  79. 


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K m i l Ilofmann,  Der  Vollzug  des  schweizerischen  Fabrikgesetzes. 


Die  Summe  der  ausgerichteten  Entschädigungen  ist  im  gleichen  Ver- 
hältnis zur  Zahl  der  Unfälle  gewachsen,  sie  beträgt  in  der  Beriehts- 
periode  6683878,07  Frs.  Dazu  hat  der  Durchschnittsbetrag  der  ein- 
zelnen Entschädigung  gleichfalls  zugenommen.  Derselbe  belief  sich  im 
I.  Inspektionskreis 


tS97 

1898 

in  beiden  Jahren 
zusammen 

Frs. 

Krs. 

Frs. 

in  Fabriken  auf  . . . . 

1 44» 1 4 

169.32 

162,02 

in  anderen  Betrieben  auf  . 

1 35**5 

>4'. 55 

138.45 

Gewachsen  sind  ferner  die  Heilungskosten.  Dieselben  betrugen  per 
Fall  1897  2 1 -3^  Frs.,  1898  22,93  Frs.  oder  per  Tag  0,98  Frs.  im  ersten 
Jahre  der  Berichtsperiode  und  1,07  Frs.  im  zweiten.  Gewachsen  sind 
namentlich  auch  die  Entschädigungssummen  fiir  bleibenden  Nachteil  in- 
folge immer  höherer  Ansprüche  der  Geschädigten  sowohl  als  höherer 
Taxation  des  Schadens  durch  die  Gerichte.  Immer  öfter  wird  in  gra- 
vierenden Fällen  Klage  wegen  Fahrlässigkeit  erhoben  und  l>ei  nach- 
gewiesenem Verschulden  des  Arbeitgebers  das  beschränkende  Maximum 
von  6000  Frs.  beseitigt. 

Es  ist  begreiflich,  dafs  bei  dem  soeben  nachgewiesenen  beständigen 
Steigen  der  Auslagen  für  Unfallversicherung  das  Streben  der  Industriellen 
auf  Verminderung  der  Kosten  gerichtet  ist.  Dafür  sprechen  die  öftern 
Austritte  kleiner,  ökonomisch  schwacher  Arbeitgeber  aus  den  Unfall- 
versicherungsanstaltcn.  Dafür  spricht  aber  auch  die  Thatsache,  dafs  viele 
Betriebsinhaber  die  Arbeiter  zu  einer  Leistung  an  die  Versicherungs- 
prämie mit  heranziehen,  ohne  dafs  die  Arbeiter  ihrer  Rückversicherung 
bei  einer  Unfallversicherungsgesellschaft  in  allen  Fällen  sicher  sind.  Das 
Inspektorat  des  III.  Kreises  berichtet  über  ein  Strafurteil,  welches  aus 
diesem  Grunde  über  eine  Bahnunternehmerfirma  verhängt  wurde.  Der 
111.  Jahresliericht  der  Arbeitskammer  der  Stadt  Zürich  führt  folgenden 
sprechenden  Fall  für  die  Konsequenzen  derartiger  Unterlassung  an: 

„Ein  Maurer  erlitt  bei  einem  haftpflichtigen  Bauunternehmer  in  Zürich 
eine  schwere  Verletzung  des  linken  Beines.  Während  vieler  Monate 
wurde  er  im  Kantonsspital  verpflegt.  Das  Bein  wurde  im  Oberschenkel 
amputiert  und  der  Arbeitgeber  zahlte  nach  vielem  Drängen  unsererseits 
die  Spitalrechnung  und  die  Kosten  eines  künstlichen  Beines.  Wir  traten 
mit  der  Versicherungsgesellschaft,  bei  der  fraglicher  Meister  versichert 
war,  behufs  Entschädigung  des  Verletzten  in  Verbindung.  Derselbe  hatte 
Anspruch  auf  cirka  5000  Frs.  Die  Versicherungsgesellschaft  erklärte,  die 
Verantwortlichkeit  für  diesen  Fall  ablehnen  zu  müssen.  Weitere  Nach- 
forschungen ergaben,  dafs  der  Meister  wegen  Nichtbezahlung  der  Prämien 
ausgeschlossen  wurde,  bevor  sich  der  Unfall  ereignet  hatte.  Der  Ver- 
letzte hat  nun  den  Rechtsweg  betreten  und  wird  zweifelsohne  5000  Frs. 


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500 


Miszellen. 


zugesprochen  erhalten.  Allein  was  nützt  ihm  das  Gerichtsurteil,  wenn  der 
Beklagte  zahlungsunfähig  ist?“ 

Es  sollten  diese  und  ähnliche  Erfahrungen  für  die  Arbeiterschaft  ein 
weiterer  Ansporn  sein,  auf  Beobachtung  der  Anleitungen  der  Fabrik- 
inspektoren strikte  zu  dringen.  Es  sind  dies,  soweit  Art.  2 des  Gesetzes 
inbetracht  kommt,  die  folgenden:  „Anleitung  für  die  Einrichtung  und 
den  Betrieb  von  Zigarren-  und  Tabakfabriken,  vom  10.  August  1896; 
Belehrung  für  die  Arbeiter  in  denjenigen  Betrieben,  in  welchen  Blei  und 
dessen  Verbindungen  verarbeitet  oder  verwendet  werden,  vom  13.  August 
1897;  Anleitung  zur  Verhütung  von  Unfällen  in  Holzbearbeitungswerk- 
stätten,  vom  12.  Oktober  1897;  Anleitung  zur  Verhütung  von  gesund- 
heitlichen Gefahren  in  Buchdruckereien  und  Schriftgiefsereien,  vom  1 2. 
Februar  1898;  Anleitung  zur  Verhütung  von  Unfällen  beim  Betriebe  von 
Bahnen  für  Materialtransport,  vom  12.  Februar  1898.  Ebenso  würde  es 
sich  sehr  empfehlen,  wenn  von  Arbeitern  und  Arbeitgebern,  der  ge- 
werbehygienischen Sammlung  im  eidgenössischen  Polytechnikum  eine 
gröfsere  Aufmerksamkeit  geschenkt  würde.  Dieselbe  umfafst  eine  grofse 
Zahl  von  Apparaten  und  Modellen  zu  Vorrichtungen,  welche  zum  Schutze 
von  Leben  und  Gesundheit  der  Arbeiter  bestimmt  sind,  sowie  Pläne  von 
Arbeiterwohnungeu  und  für  hygienische  Einrichtungen  in  Fabriken. 

Die  Klage  über  mangelhafte  Führung  der  Arbeiterlisten  klingt 
wiederum  auch  aus  diesen  Berichten  heraus.  Dieselbe  wird  nicht  ver- 
stummen, bis  die  Polizei  zu  jährlich  mehrmaliger  Kontrolle  derselben 
verpflichtet  und  jede  Unterlassung  der  Eintragungen  mit  Bufse  belegt 
wird.  Diese  Arbeiterlisten  gewinnen  durch  das  Ueberhandnehmen  aus- 
ländischer Arbeiter  erhöhtes  Interesse.  Schon  heute  zeigen  sie,  wie 
unsere  einheimische  Arbeiterschaft  immer  mehr  auf  gewisse  mit  An- 
strengung oder  Unannehmlichkeiten  verbundene  Berufsarten  verzichtet 
und  auch  fast  in  allen  anderen  Industrieen  Ausländer  sich  Eingang  ver- 
schaffen. Und  dann  mufs  die  fremde  Nationalität  sehr  oft  als  Ausrede 
für  den  Mangel  der  Altersausweisc  dienen.  Bei  der  aufserordentlichen 
Begehrtheit  der  Kinderarbeit  ist  es  ja  ganz  begreiflich,  dafs  namentlich 
junge  Italiener  sehr  häufig  zur  Fabrikarbeit  zugezogen  werden,  bei  denen 
die  Beibringung  zuverlässiger  Altersattcstc  sehr  schwer  sein  soll.  Die 
schweizerischen  Zivilstandsämter  befördern  die  Uebertretung  des  Kinder- 
artikels dadurch  indirekt,  dafs  sie  auch  solchen  Kindern  dann  und  wann 
die  bekannten  F'abrikaltersausweise  ausstellen,  welche  noch  nicht  14  Jahre 
alt  sind.  Hält  inan  damit  die  I-axheit  einzelner  Behörden  zusammen,  die 
z.  B.  Polizeidirektionen  Klagen  wegen  Anstellung  zu  junger  Personen  nur 
durch  einen  Verweis  erledigen  läfst , so  begreift  man  es  vollständig, 
dafs  die  Ueliertrctungen  des  Kinderartikels  stetsfort  zahlreich  sind. 
Allerdings  läfst  sich  auch  infolge  der  gesteigerten  Nachfrage  nach  Kinder- 
arbeit das  Bestreben  konstatieren,  durch  maschinelle  Einrichtungen 
Kinderarbeit  zu  ersparen,  wie  z.  B.  in  Buchdruckereien  durch  Falzmaschinen 


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Emil  Hofmann.  Der  Vollzug  des  schweizerischen  Fabrikgcsclzcs. 


501 


die  Falzer,  in  Ziegeleien  durch  Hängebahnen  und  Transporteurs  die 
Ziegelträger.  Aber  dies  genügt  nicht,  um  die  Lücke  auszufullen  und 
der  namentlich  in  der  Ziegelei  und  Stickerei  häufigen  Verwendung  von 
Kindern  unter  dem  gesetzlichen  Alter  zu  steuern.  Neben  den  arbeitenden 
Kindern  werden  in  Fabriken  auch  spielende  Kinder  angetrofl'en.  Dadurch 
werden  Kinder  in  zartestem  Alter  allen  Betriebsgefahren,  allen  Gefahren, 
die  der  blofse  Aufenthalt  in  einer  Fabrik  mit  sich  bringt,  schonungslos 
ausgesetzt,  ohne  dafs  die  Mehrzahl  der  Behörden  gegen  diesen  Unfug 
einzuschreiten  wagt.  Zur  Belebung  des  Mutes  auf  dieser  Seite  wäre  ein 
interpretierender  Bundesratsbeschlufs  das  beste  Mittel. 

Die  Führung  der  Wöchnerinnenlisten  läfst  gleichfalls  viel  zu 
wünschen  übrig.  In  vielen  Betrieben  denkt  man  kaum  an  diese  Aufgabe, 
in  anderen,  namentlich  kleineren,  hält  es  oft  schwer,  das  Zeugnis  über 
das  Niederkunftsdatum  zu  erhalten.  Aber  auch  da,  wo  man  das  Gesetz 
gewissenhaft  halten  will,  gehen  oft  Wöchnerinnen  während  der  Ausschluß.* 
zeit  in  einen  anderen,  oft  viel  nachteiligeren  Betrieb  über,  wo  sie  fremd 
sind.  Hierin  Wandel  zu  schäften,  wird  die  Ausrichtung  einer  Entschä- 
digung der  Wöchnerinnen  während  der  Ausschlufszeit  sowie  die  Bestra- 
fung auch  der  Wöchnerinnen  für  Umgehung  des  Gesetzes  vorgeschlagen. 
Die  Auszahlung  einer  Entschädigung  liefse  den  Ausschlufs  auch  deijenigen 
Frauen,  deren  Kinder  bei  oder  gleich  nach  der  Geburt  gestorben  sind  und 
die  sich  selbst  ganz  wohl  fühlen,  weniger  als  Härte  erscheinen. 

Die  Auszahlung  des  Lohnes  scheint  sich  den  gesetzlichen 
Bestimmungen  immer  mehr  anzupassen.  Ueber  die  Bezahlung  mit  aus- 
ländischem Geld  gehen  merkwürdigerweise  wenig  Beschwerden  ein, 
obschon  sie  in  Betrieben,  die  hart  an  der  Grenze  liegen,  gewifs  nicht 
selten  vorkommt.  Selbst  im  Kanton  Tessin  ist  hier  ein  Wandel  zum 
Besseren  zu  melden,  seit  der  dortige  Staatsrat  vom  r.  Januar  1900  ab 
jegliche  Ausnahme  von  Al.  1 des  Artikels  10  des  Fabrikgesetzes  unter- 
sagt hat.  Hinsichtlich  der  Zahltagsfristen  ist  im  allgemeinen  die  Tendenz 
vorhanden,  die  für  die  Arbeiter  äufserst  lästigen  und  unangenehmen 
langen  Fristen  durch  kürzere  zu  ersetzen.  Organisierte  Arbeiterschaft 
und  Fabrikinspektorat  unterstützen  sich  gegenseitig  in  diesem  Bestreben. 
Die  Erfolge  desselben  soll  beistehende  Zusammenstellung  der  Zahlungs- 
fristen veranschaulichen. 


I. 

Kreis 

11. 

Kreis 

111. 

Kreis 

Zahltage 

Arbeiter 

Etablissem. 

Arbeiter 

Etablissem. 

Arbeiter 

Etablissem 

Proz. 

Proz. 

Proz. 

Proz. 

Proz. 

Proz. 

bis  zu  8 Tagen 

10,1 

16,1 

*5.4 

22,1 

94 

*3,5 

14  tägige.  . . 

759 

7*,5 

44.1 

48,8 

79,2 

76,3 

monatliche  . . 

14,0 

H,4 

30,5 

29,1 

1 1,2 

9,6 

Die  achttägige  Löhnung  ist  vorab  in  der  Industrie  der  polygraphischen 
Gewerbe  vorwiegend.  Am  nächsten  steht  dieser  die  Stickerei  und  die 


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502 


Miszellen. 


chemische  Industrie.  Hei  der  Holz-  und  Maschinenindustrie  sowie  der 
Industrie  der  Steine  und  Erden  ist  die  14  tägige  Zahlung  als  Regel  an- 
zusehen. Zwischen  den  einzelnen  Kantonen  bestehen  keine  grofsen 
Unterschiede.  Im  allgemeinen  sind  die  langen  Fristen  mehr  üblich  im 
westlichen  und  zentralen  Teil  des  Landes.  Doch  haben  auch  in  Glarus 
6044  Arbeiter  in  */„  aller  Etablissements  monatlichen  Zahltag.  Merk- 
würdigerweise sind  die  Ansichten  der  Arbeiter  über  die  VVünschbarkeit 
dieser  oder  jener  Zahlungsfrist  sehr  verschieden.  Während  die  organi- 
sierten Arbeiter  zumeist  mit  allem  Nachdruck  auf  Zahlung  in  möglichst 
kurzen  Intervallen  dringen,  betrachten  andere  Arbeiter  dies  als  ein  Mittel 
zum  Antreiben  zu  überrascher  Arbeit,  oder  als  eine  Erschwerung  des 
Kredits  bei  den  Krämern  oder  als  ein  Anreiz  zur  Vermehrung  der  Zahl 
der  Wirtshausbesuche. 

Als  Zahltag  figuriert  immer  noch  hauptsächlich  der  Samstag.  So 
findet  die  Lohnzahlung  im  III.  Kreis  in  87  Proz.  der  Etablissements  am 
Samstage  statt,  während  13  Proz.  derselben  an  anderen  Wochentagen 
bezahlen.  Diese  Verlegung  des  Zahltags  erfreut  sich  namentlich  auch 
bei  den  Frauen  grofser  Beliebtheit  und  haben  beispielsweise  die  Frauen 
von  St.  Gallen  und  Umgebung  bei  ihren  Arbeitgebern  um  die  Verlegung 
des  Zahltags  auf  Mittwoch  oder  Freitag  petitioniert. 

Wenn  über  unregelmäfsige  Zahlung  Klage  geführt  wird,  so  stellt 
sich  bei  näherem  Zusehen  heraus,  dafs  Mangel  am  nötigen  Betriebsfond, 
überhaupt  Geldmangel  die  Ursache  der  Unregelmäfsigkeiten  ist.  Sie 
kommen  daher  am  häufigsten  in  den  Industriezweigen  und  Betrieben  vor, 
die  nach  Art  und  Betriebsweise  dem  Handwerk  am  nächsten  stehen, 
dessen  Gewohnheiten  und  Anschauungen  am  meisten  bcibehalten  haben. 

Die  Bestrebungen  zur  Verkürzung  des  Arbeitstages  haben 
ebenfalls  in  der  Berichtsperiode  in  den  meisten  Zweigen  der  Industrie 
etwelche  Erfolge  gehabt.  Allerdings  werden  dieselben  verschieden  taxiert. 
Aus  dem  III.  Kreis  wird  berichtet,  dafs  die  Reduktion  der  täglichen 
Arbeitszeit  seit  dem  Jahre  1895  nur  unbedeutende  Fortschritte  gemacht 
habe,  während  die  beiden  anderen  Berichterstatter  mit  den  Fortschritten 
auf  diesem  Gebiete  eher  zufrieden  zu  sein  scheinen.  Im  ersten  Ins|>ek- 
tionskreis  haben  nunmehr  blofs  noch  55,9  Proz.  aller  Arbeiter  eine  io1, 
bis  1 1 ständige  Arbeitszeit,  während  die  übrigen  eine  kürzere  Arbeitszeit 
haben.  Das  ist  doch  gewifs  ein  Fortschritt  gegenüber  1895,  wo  noch 
67,4  Proz.  der  Arbeiter  den  Elfstunden-Tag  hatten.  Uebrigens  haben  auch 
im  111.  Kreis  52,6  Proz.  weniger  als  täglich  n Stunden  zu  arbeiten. 
Leider  läfst  sich  der  Fortschritt  in  der  Reduktion  der  Arbeitszeit  seit 
1895  für  den  III.  Inspektionskreis  nicht  feststellen,  da  im  Bericht  sich 
die  Zahl  der  Etablissements  mit  einer  kürzeren  Arbeitszeit  im  Jahre 
1895  neben  die  Zahl  der  Arbeiter,  die  in  der  Berichtsperiode  weniger 
als  1 1 Stunden  arbeiteten,  gestellt  finden.  Aber  auch  die  Vergleichbar- 
keit der  Inspektoratsberichte  unter  einander  läfst  zu  wünschen  übrig, 


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Emil  Hof  mann,  Der  Vollzug  des  schweizerischen  Fabrikgosetzes. 


was  wir  hier  beiläufig  bemerken.  Wird  auch  kein  Mensch  von  ihnen 
verlangen,  dafs  sie  sich  in  ihrer  Berichterstattung  möglichster  Gleich- 
artigkeit befleifsigen,  so  wird  man  andererseits  doch  den  Wunsch  nach 
möglichster  Vergleichbarkeit  der  übermittelten  Zahlen  begreifen  und 
völlig  gerechtfertigt  finden.  Auch  dürfte  es  sich  empfehlen,  dafs  z.  B.  die 
Relativzahlen,  soweit  sie  vom  eingehendensten  Bericht  berechnet  wurden, 
auch  von  den  anderen  Berichterstattern  berechnet  und  mitgeteilt  würden. 

Neben  den  Bestrebungen  zur  Reduktion  der  Arbeitszeit  läuft  der 
Kampf  gegen  die  häufige  und  umfangreiche  Gestaltung  von  Ueberzei  t. 
Auch  hier  haben  wir  neben  Fabrikinspektoren  und  organisierten  Ar- 
beitern immer  öfter  auch  Industrielle  im  Bunde,  welch  letztere  die 
Ueberzeit  als  unrentabel  erklären  und  darauf  verzichten.  Vor  allem 
wird  gröfsere  Zurückhaltung  in  den  Gestattungen  gefordert,  sowie  für 
die  Gewährung  derselben  die  gleichen  Grundsätze.  Ein  Fortschritt  ist  hier 
wenigstens  insofern  zu  verzeichnen,  als  ein  Kanton  nach  dem  anderen  gewisse 
Grenzen  flir  die  Gesamtzahl  der  Ueberstunden  festzusetzen  beginnt,  die 
im  gleichen  Jahr  bewilligt  werden  dürfen,  sowie  gewisse  Intervalle  zwischen 
den  einzelnen  Perioden  der  Ueberzeit  fordert. 

Die  Notwendigkeit  derartiger  Einschränkung  zeigt  sich  vor  allen  an 
den  Ueberzeitbewilligungen  von  unverhältnismäfsig  langer  Dauer.  Es  ist 
doch  gewifs  des  Guten  zu  viel,  wenn  z.  B.  einem  Baugeschäft  im  Kanton 
Bern  bewilligt  wurde,  an  70  Tagen  mit  4 Mann  1 '/„  Stunden  länger 
arbeiten  zu  dürfen,  oder  wenn  Appenzell  A./Rh.  einer  Ziegelei  für  67 
Arbeitstage  mit  6 Arbeitern  1 '/,  Stunden  tägliche  Ueberzeit  bewilligte. 
Ferner  sollten  durch  diese  Mafsregeln  allzu  zahlreiche  Bewilligungen  an 
einzelne  Geschäfte  verhindert  werden.  Erhielten  ja  beispielsweise  im 
UI.  Inspektionskreis  15  Betriebe  per  Jahr  5 und  mehr  Ueberzeitbewilli- 
gungen, während  30  Betriebe  mit  4 Bewilligungen  und  46  mit  3 Ucber- 
zeitbewilligungen  sich  begnügten.  Welch  grofser  Unterschied  in  dieser 
Hinsicht  zwischen  den  einzelnen  Kantonen  noch  herrscht,  zeigt  beistehende 
Zustammenstellung. 

Eis  wurden  Ueberzeitbewilligungen  erteilt  in 


Ueberstunden  p.  Arbeiter 


Zürich 

für 

13,6  Proz,  der 

Arbeiter 

9,7  Stunden 

Schwyz 

9,4  .. 

„ 

38,6  „ 

Glarus 

4,8  „ „ 

„ 

30,8 

Zug 

2.2  ,,  „ 

„ 

'4.7 

St.  Gallen 

11 

26.5  ..  .. 

ti 

23.9 

Graubünden 

ti 

9 

„ 

'8,8  „ 

Dieser  Unterschied  hängt  selbstredend  nicht  blofs  von  der  Ver- 
schiedenheit der  Bcwilligungspraxis  ab,  sondern  auch  von  der  Verschie- 
denheit der  Industriezweige  der  einzelnen  Gegenden.  Unter  den  ver- 


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504 


Miszellen. 


schiedenen  Industriegruppen  zeichnet  sich  die  Stickerei  durch  die  höchsten 
Ziffern  aus.  Die  Schifflistickerei  war  1898  dazu  gelangt,  mehr  als 
ihrer  Arbeiter  zur  Ueber/.eit  anzuhalten  und  es  entfiel  auf  jeden  Ueber- 
zeitarbeiter  eine  Stundenzahl  von  etwas  über  19.  Die  gewöhnliche 
Stickerei  brachte  cs  sogar  auf  die  hohe  Zahl  von  27,5  Ucberstunden 
per  Kopf  der  beanspruchten  Arbeiter. 

lieber  die  Begründung  dieser  Bewilligungen  viele  Worte  zu  ver- 
lieren, lohnt  sich  kaum  der  Mühe.  Mehr  als  die  Hälfte  derselben  wird 
mit  „pressanten  Arbeiten“  begründet.  Unter  diesen  verbirgt  sich  oft 
ganz  einfach  das  Bestreben  der  Fabrikanten,  mitunter  auch  der  Arbeiter, 
mehr  zu  verdienen.  Dies  fuhrt  dann  in  zweiter  Linie  zu  unerlaubten 
Ueberschreitungen  der  Arbeitszeit,  die  wiederum  am  meisten  in  der  Hand- 
stickerei Vorkommen,  wo  namentlich  Vor-  und  Nachmittagspausen  zur  Ver- 
deckung der  Gesetzesübertretung  dienen  müssen. 

Der  Gesetzesvollzug  läfst  immer  noch  sehr  viel  zu  wünschen  übrig. 
Allerdings  konstatieren  die  l'äbrikinspektoren  mit  Befriedigung,  dafs  die 
Kantonsregierungen  durchweg  den  guten  Willen  haben,  dafür  zu  sorgen, 
dafs  dem  Fabrikgesetz  nachgclebt  werde.  Allein  es  stehen  denselben 
nicht  überall,  wie  z.  B.  in  Zürich  und  St.  Gallen,  besondere  Beamtungen 
für  die  Durchführung  des  Fabrikgesetzes  zur  Verfügung,  welche  mit  Ver- 
ständnis und  Geschick  ihrer  Aufgabe  nachleben.  Im  Gegenteil  haben 
sie  es  oft  mit  untergeordneten  Beamten  zu  thun,  welche  als  eigentliche 
Hemmschuhe  funktionieren.  Solchen  für  den  Vollzug  des  Fabrikgesetzes 
geradezu  unheilvollen  Beamten  gegenüber  fehlt  bei  den  Vorgesetzten 
oft  die  Energie  zu  strenger  Ahndung  der  Nachlässigkeit,  der  offen- 
kundigen Duldung  und  der  absichtlichen  Unterstützung  von  Gesetzes- 
übertretungen. 

Mit  diesen  untergeordneten  Beamten  arbeiten  vielfach  auch  die 
unteren  Gerichtsinstanzen  Hand  in  Hand,  indem  sie  Uebertretungen  des 
Fabrikgesetzes  mit  einer  Milde  beurteilen,  die  fast  einer  Aufmunterung 
dazu  gleich  sieht.  Wir  verzichten  darauf,  aus  der  grofsen  Zahl  frappanter 
Urteile  einige  der  sprechendsten  hier  hervorzuheben  und  begnügen  uns 
damit,  die  in  der  Berichtsperiode  wegen  Gesetzesübertretungen  verfallten 
Bufsen  anzuführen.  Dieselben  betrugen  für  541  Uebertretungen  blofs 
10  768,95  Frs.  Diese  von  früheren  Erfahrungen  nicht  stark  abweichenden 
Ergebnisse  rufen  immer  aufs  neue  den  Wunsch,  dafs  ein  revidiertes 
Fabrikgesetz  Bufscnminima  für  die  einzelnen  Arten  der  Uebertretungen 
und  Abstufungen  nach  Umfang  und  Dauer  der  Zuwiderhandlung  vor- 
schreibe. Auf  diese  Weise  wäre  der  unfreundlichen  Gesinnung,  die  bei 
manchen  Mitgliedern  der  unteren  Gerichte  gegen  das  Fabrikgesetz  herrscht, 
einigermafsen  ein  Riegel  gesteckt  und  könnte  der  Unlust  der  zahlreichen 
Industriellen,  welche  in  den  Gerichten  sitzen,  mit  Strenge  gegen  die 
Berufsgenossen  vorzugehen,  das  Wirkungsfeld  etwas  eingeengt  werden. 

Die  grofse  Inkonsequenz,  die  sich  in  der  Bemessung  der  Bufsen 


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K m i I Hnfnmin,  Der  Vollzug  des  schweizerischen  Kabrikgesetzes. 


kund  giebt,  wird  die  Richter,  welche  geneigt  wären,  strengere  Saiten  auf- 
zuziehen, eher  zur  Milde  veranlassen.  Den  Klagen  Uber  ungleichen 
Gesetzesvollzug  in  den  einzelnen  Kantonen  und  in  den  einzelnen  Gegenden 
derselben  können  sie  ihr  Ohr  nicht  ganz  verschliefsen.  Zur  Illustration 
der  Begründetheit  dieser  Klage  fuhren  wir  aus  den  Berichten  der  Kantons- 
regierungen die  Zahl  der  StraffUlle  samt  dem  Bufsenbetrag  an.  In  den 
Jahren  1897  und  1898  waren  in 


Strafft  llc 

Bufsc 

Zürich 

76 

785 

Bern  . . 

64 

850 

Glarus 

5 

190 

Baselsladt 

29 

435 

Baseliand 

4 

] 10 

St.  Gallen 

• 3* 

645 

Aargau 

11 

635 

Thurgau  . 

44 

629 

Zum  L'ebertlufs  gesellt  sich  hierzu  noch  der  Umstand,  dafs  aus  den 
Kantonen  Unterwalden,  Graubünden,  Appenzell  I.  Rh.  für  die  Berichts- 
periode keine  Bestrafungen  gemeldet  wurden  und  dafs  sich  in  der  Zeit 
von  1897  und  1898  die  Kantone  Schwyz,  Unterwalden  und  andere  in 
der  gleichen  I«age  befanden.  Leider  spricht  dies  aber  nicht  dafür, 
dafs  in  diesen  Kantonen  L’ebertretungen  seltener  seien,  sondern  ebenfalls 
wieder  blofs  für  ungleiche  Handhabung  des  Gesetzes. 

Der  Bericht  über  die  Wohlfahrtseinrichtungen  zeigt  unge- 
fähr das  gleiche  Bild  wie  die  vorhergehenden.  Kine  Menge  von  Arbeiter- 
wohnungen sind  von  den  verschiedenen  firmen  neu  gebaut  worden. 
Doch  damit  ist  die  brennende  Arbeiterwohnungsfrage  immer  noch  nicht 
gelöst.  Thatsächlich  sitzen  die  Arlieiter  mit  ihren  Familien  überall  noch 
oder  doch  mit  geringen  Ausnahmen  viel  zu  teuer.  In  Stadt  und 
Land  sind  die  Mietzinse  häufig  fast  unerschwinglich,  weil  eben  neben 
rühmlichen  Ausnahmen  viele  Fabrikanten  sich  nicht  darum  bekümmern, 
wie  und  wo  ihre  Arbeiter  wohnen. 

Die  Zahl  der  Arbeiter,  welche  Kost  und  Logis  beim  Arbeitgeber 

haben,  nimmt  immer  mehr  ab,  trotzdem  ökonomisch  sich  der  Arbeiter 

in  häuslicher  Gemeinschaft  mit  dem  Prinzipal  oft  weit  besser  stellt. 

Dafür  suchen  sich  die  Arbeiter  selber  zu  helfen,  oder  die  Fabrikanten 

errichten  Speiseanstalten,  wo  die  Arbeiter  zu  reduzierten  Preisen  eine  ge- 
sunde und  kräftige  Nahrung  bekommen  können.  Immerhin  können  nicht 
alle  diese  Einrichtungen  Anspruch  auf  den  Titel  Wohlfahrtsanstalten 
machen;  denn  oft  wird  der  Betrieb  derselben  dem  Aufsichtspersonal  als 
lukrativer  Nebenerwerb  überlassen,  statt  dafs  der  Gewinn  der  Arbeiter- 
schaft zufällt,  wie  dies  da  und  dort  immer  mehr  in  Uebung  kommt. 

Archiv  für  sor.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVII.  33 


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5o6 


Miszellon. 


Auf  der  anderen  Seite  denken  die  Konsumvereine  auch  nicht  immer 
daran,  den  günstigen  Einflufs  zu  benützen,  den  sie  auf  eine  vernünftige 
Ernährung  ausüben  könnten,  sondern  bilden  eine  dem  zuziehenden  armen 
Arbeiter  schwer  zugängliche  Erwerbsgenossenschaft. 

Der  Bericht  über  die  eidgenössische  Bergwerksinspektion  in  den 
Jahren  1897  und  1898  ist  wesentlich  kürzer  als  der  erste  Amtsbericht. 
Die  Anzahl  der  dem  Bergwerksinspektor  unterstellten  Betriebe  und 
Arbeiter  hat  sich  im  grofsen  und  ganzen  nicht  wesentlich  verändert.  Es 
waren  22  Bergwerke  im  engeren  Sinne  mit  40S  Arbeitern  und  115  meist 
unterirdische  Steinbrüche  mit  1472  Arbeitern.  Auffällig  ist  nur  das  ver- 
hältnismäfsig  häufige  Vorkommen  des  Wechsels  der  Firmen  sowie  die 
zahlreichen  Einstellungen  bisheriger  und  Eröffnungen  neuer  Betriebe. 
Die  Erklärung  dieser  Erscheinung  liegt  in  den  schädlichen  bergwerk- 
lichen  Zuständen,  namentlich  der  durch  kurze  Pachtdauer  und  schlechte 
Besitzverhältnisse  hervorgerufenen  irrationellen  Aufschliefsung  und  Aus- 
beutung sowie  dem  Mangel  an  Fachkenntnissen  und  Zutrauen  seitens 
seriöser  kapitalistischer  Kreise. 

Dies  ist  dann  andererseits  wiederum  der  Grund  für  die  mifslichen 
Unfallverhältnisse,  deren  Beobachtung  und  Sanierung  eine  der  wichtigsten 
Aufgaben  des  Bergwerksinspektors  ist.  Bei  einem  Mannschaftsbestand 
von  1877  Mann  waren  in  der  Berichtsperiode  nicht  weniger  als  281  Un- 
fälle zu  verzeichnen,  wovon  nicht  weniger  als  1 1 7 auf  die  Arbeiter  der 
Bergwerke  im  engeren  Sinne  entfallen.  An  der  76980  Frs.  betragenden 
Entschädigungssumme  nehmen  die  Bergwcrksunfälle  mit  38573,1  Frs., 
also  mit  etwas  mehr  als  der  Hälfte,  teil.  Erfreulich  ist  einzig  die  Ab- 
nahme der  tödlichen  Unfälle  von  16  auf  9.  Doch  hindert  dies  nicht, 
dafs  die  betreffenden  Verhältniszahlen  immer  noch  sehr  hohe  sind.  Die- 


selben betrugen  im  Jahresdurchschnitt 

für  Hcrgwerke  für  Steinbrüche 
pro  Mille  pro  Mille 

in  der  Schweiz  pro  189899  2,47  2,38 

in  England  pro  1896  ...  1.47  1,1 

in  Italien  pro  1897  2.3 1 I.27 


Unter  diesen  Umständen  sind  die  Klagen  über  die  ,, Praktiken  der 
meisten  Unfallversicherungsgesellschaften  mit  unseren  Bergwerken"  be- 
greiflich. F.s  wird  denselben  vorgeworfen,  dafs  sie  Schwierigkeiten  bei 
der  Liquidierung  der  bedeutenden  Entschädigungen  bereiten,  sowie  dafs 
sie  durch  übermäfsige  Ansetzung  der  Prämien  vielen  Betriebsinhabern  die 
Versicherung  erschweren,  ja  oft  verunmöglichen. 

Die  Untersuchung  der  Unfälle,  dieses  nächst  den  direkten  Schutz- 
mafsnahmen  wichtigste  Mittel  der  Unfallverhütung,  sowie  die  Unfall- 
meldung wird  immer  noch  in  hohem  Mafse  vernachlässigt.  Aehnlich  ver- 


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Rmil  Holniann.  Der  Vollzug  des  schweizerischen  FalmiigcseUcs. 


hält  es  sich  wohl  mit  den  Mafsnahmen  zur  Verhütung  von  Unfällen,  wie 
überhaupt  der  ganze  Vollzug  des  Gesetzes  an  allen  Ecken  und  Enden 
erst  im  Werden  begriffen  ist.  Der  Bergwerksinsi>ektor  mufs  und  will 
zuerst  Erfahrungen  sammeln ; den  Kantonen  mangeln  oft  derartige  be- 
triebskundige Personen  zur  Berichterstattung  etc.  und  schliefslich  mufs 
bei  Behörden  und  Arbeitern  erst  das  richtige  Interesse  an  dieser  ln- 
spektion geweckt  werden. 


33* 


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LITTERATUR. 


Zur  Litteratur  über  die  Wohnungsfrage. 

Von 

Dr.  h.  lindemann. 

in  Stuttgart. 

1.  Neue  Untersuchungen  über  die  Wohnungsfrage  in  Deutschland 
und  im  Ausland.  Herausgegeben  vom  Verein  für  Sozialpolitik. 

2.  v.  Philippovich  und  Schwarz,  Wohnungsverhältnisse  in  öster- 
reichischen Städten.  Wien  1900.  In  „Soziale  Verwaltung  in  Oester- 
reich". 1.  Heft  7. 

3.  Die  Wohnungs-  und  Gesundheitsverhältnisse  der  Heimarbeiter  in 
der  Kleider-  und  Wäschekonfektion.  Herausgegeben  vom  k.  k.  Arbeits- 
statistischen Amte  im  Handelsministerium. 

4.  Die  Wohnungsenquete  in  der  Stadt  Winterthur.  Bearbeitet  von 
C.  Landolt  1901. 

5.  Die  Wohnungsenquete  in  der  Stadt  St.  Gallen.  Bearbeitet  von 
C.  Landolt  1901. 

6.  Die  Wohnungsverhältnisse  der  Arbeiter  in  Halle  a.  S.  bearbeitet 
von  W.  Swienty.  Halle  a.  S.  1901. 

7.  P.  Voigt,  Grundrente  und  Wohnungsfrage  in  Berlin  und  seinen 
Vororten.  Jena  1901. 

8.  Stier -Somlo,  Unser  Mietrechtverhältnis  und  seine  Reform. 
Göttingen  1901. 

9.  v.  Oppenheimer,  Die  Wohnungsnot  und  Wohnungsreform  in 
England.  Leipzig  igoi. 

1 o.  A.  Kurelia,  Wohnungsnot  und  Wohnungsjammer.  Frank  f.  a.  M.  1900. 

11.  1..  Sinzheimer,  Die  Arbeitenvohnungsfrage.  Stuttgart  1901. 

1 2.  H.  Bingner,  Wohnungsfrage  und  Wohnungspolitik  in  ihren  Be- 
ziehungen zur  allgemeinen  Sozialreform.  Berlin  1901. 

Die  Wohnungsfrage  ruckt  erfreulicherweise  in  den  Vordergrund  des 
öffentlichen  Interesses.  Eine  Reihe  von  Kongressen  hat  sich  im  Jahre 


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Zur  Littcratur  über  die  Wohnungsfrage. 


509 


1901  mit  ihr  in  mehr  oder  weniger  ausführlicher  Weise  auseinandergesetzt: 
wir  erwähnen  nur  die  Kongresse  zweier  politischer  Parteien,  der  Sozial- 
demokratie und  der  süddeutschen  Volkspartei,  auf  denen  man  sich  mit 
dem  Anhören  eines  Referates  begnügte,  und  die  Generalversammlung 
des  Vereins  für  Sozial]>olitik,  auf  der  allein  das  Problem  eine  seiner  Be- 
deutung entsprechende  Behandlung  fand.  Der  Verein  für  Sozialpolitik 
hatte  die  Verhandlungen  seiner  Generalversammlung  entsprechend  seiner 
Tradition  durch  eine  umfassende  litterarische  Behandlung  der  Wohnungs- 
frage vorbereitet.  Seine  „Neuen  Untersuchungen  über  die  Wohnungs- 
frage in  Deutschland  und  im  Ausland"  müssen  als  die  wichtigste  Publi- 
kation auf  diesem  Gebiete  bezeichnet  werden  — nicht  allein  auf  Grund 
ihres  Umfanges,  sondern  ebenso  auch  mit  Rücksicht  auf  den  VS'ert  der 
gebotenen  Leistungen.  Danelien  hat  uns  das  vergangene  Jahr  eine  ganze 
Fülle  von  Werken,  Schriften.  Broschüren  gebracht,  die  einesteils  das  ganze 
Problem,  zum  anderen  nur  Teile  desselben  behandeln,  wissenschaftlich 
bedeutsame  Arbeiten  und  wertloses  Geschwätz  sozialer  Quacksalber  und 
Amateure  im  bunten  Wechsel.  Wir  werden  aus  dem  grofsen  Haufen 
einige  Schriften  zur  kritischen  Besprechung  herausgreifen,  nicht  nur  das 
wissenschaftlich  Bedeutsame,  auch  solches,  das  durch  das  Ziel,  durch  die 
Bestrebungen,  die  darin  hervortreten,  die  Aufmerksamkeit  verdient.  Bei 
unserer  Darstellung  werden  wir  jeweils  von  den  Untersuchungen  des 
„Vereins  für  Sozialpolitik“  den  Ausgang  nehmen , an  die  einzelnen 
Schriften  des  Sammelwerkes  das  Zusammengehörige  angliedern. 

Wir  beginnen  mit  der  Wohnungsstatistik.  Die  Untersuchungen 
des  Vereins  für  Sozialpolitik  enthalten  aufser  der  grofseren  Arbeit  des 
Referenten,  die  sich  mit  der  deutschen  Wohnungsstatistik  bescliäftigt,  noch 
eine  Reihe  kleinerer  Beiträge  zur  Wohnungsstatistik  im  Auslande.  So 
giebt  C.  Horäcek  im  Anhänge  zu  seiner  Schrift  „Die  Bodenwertbewegung 
in  Prag  und  Vororten“  einen  kurzen  Ueberblick  über  die  Wohnver- 
hältnisse in  Prag  und  Vororten,  der  die  Resultate  der  Volkszählung  vom 
31.  Dezember  1800  enthält.  Für  Oesterreich  sind  wir  leider  immer 
noch  ausschliefslich  auf  diese  Volkszählung  angewiesen.  In  Verbindung 
mit  ihr  haben  nämlich  in  19  hervorragenden  Städten  Erhebungen  über 
die  Wohnungsverhältnisse  stattgefunden,  die  natürlich  nach  jeder  Rich- 
tung hin  veraltet  sind,  aber  in  Ermangelung  neueren  Materiales  immer 
noch  als  Grundlage  für  alle  Darstellungen  österreichischer  Wohmmgsver- 
hältnissc  dienen.  Das  gilt  auch  für  die  von  Prof.  v.  Phiüppovich  und 
Dr.  P.  Schwarz  bearbeitete  Zusammenstellung  „Die  Wohnungsverhällnisse 
in  österreichischen  Städten,  insbesondere  in  Wien“,  die  in  dem  Sammel- 
werke „Soziale  Verwaltung  in  Oesterreich  am  Ende  des  19.  Jahrhunderts" 
veröffentlicht  worden  ist.  Unsere  deutschen  Wohnungszustände  sind  gewils 
nicht  glänzend,  gegenüber  den  österreichischen  sind  sie  es.  Für  diese  ist, 
in  noch  höherem  Grade  als  für  jene,  der  charakteristische  Zug  das  stets 
wachsende  Zusammendrängen  der  Bevölkerung.  Die  Bchausungsziffer 


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5io 


Littcralur. 


wächst  (Prag  Vororte  1880  37,4,  1890  44,3  Personen;  Reichenberg  Vor- 
orte 14,5  bc/.w.  16,5  Personen).  In  den  Häusern  werden  immer  mehr 
früher  unbewohnte  Räume  zu  Wohnzwecken  adaptiert,  d.  h.  die  Keller-  und 
Dachwohnungen  nehmen  zu.  In  Wien  stieg  die  Zahl  der  Kellerwohnungen 
im  Jahrzehnt  1880  — 1890  von  0,3  auf  1,2  l’roz.,  in  Graz  von  3,8  auf 
6,9  Proz.  In  Reichenberg  sind  24,5  Proz.  aller  Wohnungen  Dach- 
wohnungen, in  Reichenberg  Vororte  53,3  Proz.  Hier  hausen  28,9  Proz. 
der  Bevölkerung  in  Dachwohnungen ! Je  grüfser  der  Prozentsatz  der 
kleinsten,  einräumigen  Wohnungen,  desto  gröfser  der  Prozentsatz  der  in 
ihnen  hausenden  Bevölkerung,  desto  dichter  die  Belegung  dieser  Woh- 
nungen, desto  elender  die  Wohnungszustände.  I11  Reichenlierg  Vororte 
sind  62  Proz.  aller  Wohnungen  cinräutnige,  in  Innsbruck  nur  24  Proz. 
Daher  sind  denn  auch  bewohnt  unter  den  einräumigen  Wohnungen: 

von  1 2 3 — 5 6 — 10  11 — 20  Pers. 

in  Innsbruck.  . . .55,1  l’roz.  25,6  Proz.  17,3  I’roc.  2 Proz.  — Proz. 

in  Rciclienbcrg  Vororte  6,2  „ 19,7  „ 56,7  ,.  17,2  „ 0,2  „ 

Dieselbe  Erscheinung  läfst  sich  auch  für  die  verschiedenen  Bezirke 
Wiens  nachwciscn.  Wie  zu  erwarten  begegnen  wir  in  den  kleineren  Woh- 
nungen der  weitgehendsten  Ucberfüllutig.  Nicht  nur,  dass  die  Wolin- 
räumc  derselben  nach  Bodenfläche  und  Luftinhalt  kleiner  sind,  als  die 
grüfseren  Wohnungen,  sind  sie  auch  viel  dichter  belegt  Unter  Berück- 
sichtigung der  Bodenfläche  und  des  Luftinhaltes  wurden  sich  die  Woh- 
nungszustände in  den  kleinen  und  kleinsten  Wohnungen  noch  viel 
schauderhafter  darstellen,  als  dies  bei  der  Beziehung  der  Bewohnerzahl 
auf  die  Zimmerzahl  der  Fall  ist.  Das  beweisen  die  Untersuchungen  Prof, 
v.  Philippovichs  deutlich  genug,  die  derselbe  1893  in  diesem  Archive 
veröffentlicht  hat.  Wenn  also  die  vorliegende  Schrift  die  Zahl  der  m 
Wien  in  überfüllten  Wohnungen  hausenden  Bevölkerung  auf  r 1 9 688  ^ 
8,91  Proz.  der  Gesamtbevölkerung  angiebt  und  in  den  in  Untersuchung 
gezogenen  Städten  auf  560000  Menschen  21,9  Proz.,  der  Gesamt- 
bevolkerung  berechnet,  so  sind  das  nur  Minimalzahlen,  die  uns  die 
Gröfse  des  Wohnungselendes  höchstens  ahnen  lassen.  Ebenso  be- 
stimmend für  die  Höhe  des  Wohnniveaus,  wie  die  Wohndichtigkeit,  ist 
die  Ausstattung  der  Wohnungen  mit  Küche  und  Nebenräumlichkeiten. 
Damit  sieht  es  in  Oesterreich  über  die  Mafsen  kläglich  aus.  In  L'rfahr 
waren  52,3  Proz.,  in  Maxglan  65,5  Proz.,  in  Reichenberg  57,5  Proz.,  in 
Reichenberg  Vororte  sogar  79,2  Proz.  der  Wohnungen  küchenlos.  Fassen 
wir  nur  die  Dach-  und  Kellerwohnungen  ins  Auge,  l>ei  denen  der 
Mangel  einer  Küche  am  häufigsten  ist,  so  steigen  die  Prozentsätze  (so 
in  Reichenberg  Vororte)  bis  auf  91,7  bezw.  92,3  Proz.!  Und  dann  die 
Abortzustände,  die  durch  den  Mangel  jeder  Kanalisation , jeder  Des- 
infektion, jeder  Wasserspülung,  durch  die  Lage  der  Aborte  im  Keller, 
die  Benutzung  derselben  durch  eine  tibergrofse  Zahl  von  Bewohnern  ge- 


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Zur  Litteratur  üIkt  die  Woliiningafragr. 


511 

kennzeichnet  sind ! Zur  Vervollständigung  des  Mildes  seien  noch  die 
ausgedehnte  Benutzung  der  Wohnräume  zu  (lewerbezwecken,  die  weit- 
gehende Durchsetzung  der  Familien  mit  Aftermietem  und  Mettgehern,  die 
geringe  Stabilität  des  Wohnens  erwähnt,  womit  denn  auch  die  wichtigsten 
l’unkte  genannt  wären,  über  die  die  österreichische  Statistik  Aufschlufs 
giebt. 

Tiefer  führt  uns  in  die  Wohnungsverhältnise  eines  allerdings  nur 
beschränkten  Teiles  der  österreichischen  Bevölkerung  die  Wohnungs- 
untersuchung ein,  die  der  ständige  Arbeitsbeirat  mit  seiner  mündlichen 
Enquete  über  die  Lage  der  Heimarbeiter  in  der  Konfektionsindustrie 
verbunden  hat.  F.s  wurdeit  im  ganzen  409  Wohnungen  von  Heimarbeitern 
besichtigt.  Die  Erhebungen  erstreckten  sich  auf  Wien  (247  Wohnungen), 
Prag  (45  Wohnungen),  Profsnilz  und  Umgebung  (51),  Boskotvitz  und 
Umgebung  (31),  Lemberg  (30)  und  Rozdol  f5  Wohnungen),  also  nicht 
nur  auf  städtische,  sondern  auch  auf  ländliche  Wohnungen.  Der  Unter- 
suchung lag  ein  sehr  ausführlicher  Fragebogen  zu  (Irunde  und  die  Yer- 
arlieitung  ist  in  vortrefflicher  Weise  ausgeführt,  so  dafs  ihre  Resultate 
als  recht  wertvolle  bezeichnet  werden  dürfen.  Allerdings  nur  in  be- 
stimmten (irenzen.  Die  Wohnungsbenutzung  der  Heimarbeiter  unter- 
scheidet sich  von  der  der  nicht  heimarbeitenden  Klassen  eben  durch 
das  hinzukommeude  Moment  der  Heimarbeit.  So  decken  sich  z.  M.  bei 
den  Heimarbeitern  Wohnzimmer  und  Arbeitsräume ; besondere  Wohn- 
zimmer. die  ausschliefslich  zum  Wohnen  dienen,  giebt  es  nicht  und 
kann  es  auch  bei  dem  geringen  Umfang  der  Wohnungen  nicht  geben, 
der  in  Prag,  Profsnitz  und  Boskowitz  mit  Umgebung,  sowie  Lemberg  im 
allgemeinen  nicht  über  zwei  Räume,  in  Wien  nicht  über  3 hinaus- 
geht. Von  den  1038  besichtigten  Wohnräumen  waren  445  Arbeits- 
räume, d.  h.  Räume,  in  denen  gearbeitet  wurde,  auch  wenn  sie  aufserdem 
noch  eine  andere  Verwendung  hatten,  742  waren  Schlafräume.  Von 
den  Schlafräumen  dienten  35,6  Pro/..  = 264  nur  als  Schlafzimmer, 
14,6  Proz.  auch  als  Kuchen,  42,7  Pro/..  = 317  auch  als  Arbeitsräume, 
und  7,1  Proz.  zugleich  auch  als  Küchen  und  Arbeitsräume.  Die  Ver- 
hältnisse der  Schlafräume  sind  von  der  Enquete  sehr  sorgfältig  be- 
handelt und  dabei  auch  die  Bettverhältnisse  berücksichtigt  worden.  I11  den 
sämtlichen  742  Schlafräumen  schliefen  im  ganzen  2493  Personen.  Am 
stärksten  ist  die  Belegung  in  Profsnitz  und  Boskowitz  und  Umgebung, 
in  Lemberg  und  Rozdol,  dann  in  W ien  und  Prag.  Nur  iu  136  Fällen 
beträgt  sie  1 Person  per  Schlafraum  und  nur  in  157  Fallen  je  2 Per- 
sonen per  Raum ; sie  steigt  in  99  Fällen  auf  je  4,  in  90  Fällen  auf  je 
5,  in  61  Fällen  auf  je  6,  in  25  Fällen  auf  je  7,  in  13  Fallen  auf  je  8, 
in  6 Füllen  auf  je  o,  in  1 Falle  auf  je  10  und  in  3 Fällen  auf  mehr 
als  je  10  Personen.  Das  sind  Dichtigkeitsverhältnisse,  die  den  elenden 
sozialen  Zuständen  dieser  Arbeitergruppe  vollkommen  entsprechen.  Einen 
noch  tieferen  Blick  in  dieselben  gewähren  uns  die  F.rhebungen  über  die 


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512 


l.ittcratur. 


Belegstärke  der  Schlafstellen  (Betten,  Sophas,  Wiegen  etc).  Zunächst 
läfst  sich  in  den  Bettverhältnissen  ein  deutlicher  Unterschied  zwischen 
Stadt  und  Land  feststellen,  ln  der  Stadt  kommen  ausschliefslich  Bett- 
stellen vor,  Bänke  werden  höchst  selten  als  Schlafstellen  gebraucht.  Auf 
dem  lande  sind  Bettstellen  eine  Seltenheit  und  dienen  zumeist  nur  dem 
Familienhaupt  und  dessen  Frau;  in  grofser  Ausdehnung  werden  sie 
durch  Bänke  oder  auf  den  Fufsboden  gelegte  Strohsäcke  ersetzt.  Auch 
der  hinter  dem  grofsen  Küchenherd  oder  Backofen  befindliche  freie 
Raum  dient  häufig  als  Schlafstätte.  Nur  876  Schlafstättcn  dienten  einer 
Person  als  Ruhestätte,  637  wurden  von  je  2,  103  von  je  3,  6 von  je 
4 und  2 von  mehr  als  je  4 Personen  benutzt.  Die  richtige  Bedeutung 
gewinnen  diese  Ziffern  erst  dann,  wenn  wir  das  Hausstandsverhältnis 
der  Personen  ins  Auge  fassen,  die  einen  Schlafraum  oder  eine  Schlaf- 
stelle miteinander  teilen.  Auch  darüber  giebt  uns  die  Enquete  einigen 
Aufschlufs.  Von  den  742  Schlafräumen  wurden  434  nur  von  Familien- 
mitgliedern benutzt.  Leider  hat  die  Bearbeitung  diese  Gruppe  von  Fa- 
milienangehörigen nicht  weiter  z.  B.  nach  Alter  und  Geschlecht  zerlegt, 
obschon  eine  solche  Unterscheidung  für  die  Beurteilung  der  üblichen 
Sittlichkeitsanschauungen  nicht  ohne  Bedeutung  gewesen  wäre.  2 r 2 
Schlafräume  wurden  ausschliefslich  von  fremden  Personen  benutzt,  die 
nicht  Mitglieder  der  Familie  sind,  also  von  Gehilfen,  Lehrlingen,  Dienstboten 
und  Schlafgängern,  ln  qö  Schlafräumen  schliefen  Familienangehörige 
mit  fremden  Personen  zusammen  und  zwar  in  69  Fällen  gehörten  die 
Schläfer  verschiedenen  Geschlechtern  an.  Dagegen  waren  unter  den 
2 1 2 F'ällcn,  wo  ausschliefslich  Fremde  das  Schlafgemach  mit  einander 
teilten,  nur  4 Falle,  in  denen  Verschiedenheit  der  Geschlechter  bestand. 

Die  Enquete  hat  sich  natürlich  nicht  mit  der  Auszählung  der  Wohn- 
räunie  und  der  sie  benutzenden  Personen  begnügt,  sondern  hat  durch  die 
Ausmessung  der  Raum-  und  Flächenverhältnisse,  sowie  der  F’ensterfläche 
zu  genaueren  Resultaten  über  die  Wohndichtigkeit  und  die  Beleuchtungs- 
Verhältnisse  der  Wohnungen  zu  kommen  gesucht  Als  normal  galt 
eine  Kopfquote  von  4 qm  Bodenfläche  und  10  cbm  Luftraum,  also  sehr 
geringe  Grofsen.  In  richtiger  und  zur  Nachahmung  empfohlener  Weise 
schied  die  Enquete  die  Tag-  und  Naeht-Wohndichtigkeit,  die  gerade  bei 
den  Arbeiterwohnungen  häufig  sehr  verschiedene  Grofsen  sind.  Hier 
tritt  wieder  der  besondere  Charakter  der  Wohnungsbenutzung  durch  die 
Heimarbeiter  in  die  Erscheinung.  In  ihren  Wohnungen  ist  die  Tages- 
quote der  Bodenflächc  und  des  Luftraumes  kleiner  als  die  Nachtquote, 
während  bei  den  anderen  Arbeitcrwohnungen  wohl  das  umgekehrte 
meist  der  F'all  sein  wird.  Von  den  409  Wohnungen  waren  nun  303 
solche  mit  übernormaler  Tagesquote  der  Bodenfläche,  dagegen  330  mit 
übcrnomialcr  Nachtquote,  und  335  mit  übernormaler  Tagesquote  des 
Luftraumes  gegen  353  mit  übernormaler  Nachtquote.  Die  Verhältnisse 
waren  auf  dem  Lande  viel  schlechtere  als  in  den  Grofsstädten  Prag  und 


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Zur  Littcratur  über  die  Wohnungsfrage. 


5*3 


Wien.  Audi  eine  Illustration  zu  der  Behauptung  der  Agrarier,  dafs  es 
auf  dem  Lande  keine  W ohnungsfrage  gäbe.  Ks  standen  mit  Bezug  auf  die 
Bodentläche  {Tagesquote)  inProfsnitz  und  Umgebung  27  übcrnormale  gegen 
24  unternormale  Wohnungen,  in  Boskowitz  und  Umgebung  16  gegen  15; 
dagegen  in  Prag  36  gegen  9,  in  Wien  205  gegen  42;  mit  Bezug  auf 
Luftraum  (Tagesquote)  in  Prossnitz  und  Umgebung  29  gegen  22,  in 
Boskowitz  und  Umgebung  14  gegen  17;  dagegen  in  Prag  40  gegen  5. 
in  Wien  230  gegen  17.  Ebenso  wurden  die  ungünstigsten  Extreme 
0,5  bis  2,5  qm  Bodenfläche  und  3 — 6 cbm  Luftraum  pro  Kopf  aus- 
schliefslich  in  ländlichen  Wohnorten  beobachtet.  Auch  die  Beleuchtungs- 
Verhältnisse  der  Arbeitsrüuine  waren  auf  dem  I .ande  am  schlechtesten. 

In  ausführlicher  Weise  kommen  in  der  Bearbeitung  noch  die  Miet- 
zinse und  die  allgemeine  Beschaffenheit  der  Wohnungen  (Art  der  Fufs- 
lkklen,  der  Ventilation,  der  Wasserbezugsverhältnisse,  der  Ableitung  des 
Küchenwassers,  die  Beschaffenheit  der  Aborte)  zur  Darstellung.  Leider 
verbietet  es  uns  der  beschränkte  Raum,  noch  einige  dieser  Punkte  zu 
1 «rühren.  W ir  verweisen  deshalb  auf  die  Publikation  selbst.  Ehe  wir 
dieselbe  aber  ganz  verlassen,  sei  noch  auf  die  5 1 Individualbeschrei- 
bungen besonders  schlechter  Wohnungen  hingewiesen,  die  uns  ein 
besseres,  leliendigeres  Bild  von  den  Zuständen  in  denselben  gelien,  als 
alle  die  sorgfältig  gearbeiteten  statistischen  Tabellen. 

Kehren  wir  zu  den  Untersuchungen  des  Vereins  für  Sozialpolitik 
zurück.  Der  IV.  Band  bringt  uns  in  der  Arbeit  des  Dr.  E.  Vcr-ecs  (Brüssel) 
einige  Daten  über  die  W ohnungszustände  in  Belgien  (pag.  190 — 194’) 
und  in  der  Arbeit  des  Dr.  F.  Mangold  (Basel)  „Untersuchung  über  die 
Wohnungsfrage  in  der  deutschen  Schweiz“  eine  ausführlichere  Dar- 
stellung der  Resultate  der  schweizerischen  Wohnungsenqueten  von  1889 
bis  1897,  nämlich  der  von  Basel,  Zürich,  Luzern,  Bern;  von  Winterthur, 
St.  Gallen,  Aarau  nur  die  vorläufigen  Resultate.  Am  ausführlichsten  ist 
die  Baseler  Enquete  behandelt  worden,  die  ja  auch  das  Vorbild  für  die 
anderen  schweizerischen  Städte  war.  Eine  etwas  eingehendere  Darstellung 
hätte  wohl  die  Berner  Enquete  von  C.  Landolt  verdient,  die  uns  be- 
deutsame und  interessante  Weiterbildungen  der  Wohnungsstatistik  ge- 
bracht hat.  W ir  erwähnen  nur  die  durchgehende  Berücksichtigung  der 
wirtschaftlichen  Berufsstellung  der  Wohnungsinhaber  mit  ihren  höchst 
wichtigen  Resultaten  und  die  Untersuchungen  über  die  Bodenrente  der 
normal  bewohnten  Grundstücke.  Der  erforderliche  Platz  hätte  durch 
eine  zusammenfassende  Verarbeitung  der  verschiedenen  Statistiken  sich 
gut  ersparen  lassen,  ganz  abgesehen  davon,  dafs  die  Darstellung  dadurch 
entschieden  an  Ucbersichtlichkeit  gewonnen  hätte,  das  Gemeinsame  und 
das  Besondere  in  den  Wohnungsverhältnissen  der  schweizerischen  Städte 
schärfer  hervorgetreten  wäre.  Seit  der  Veröffentlichung  der  Dr.  Mangold- 
schen  Arbeit  sind  die  Bearbeitungen  der  Wohnungsenqueten  der  Städte 
Winterthur  und  St.  Gallen,  beide  von  C.  Landolt  verfafst,  erschienen. 


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514 


l.itti*ratur. 


Sie  schliefscn  sich  eng  an  die  der  Iterner  Enquete  an,  die  als 
Muster  gedient  hat.  Neu,  soweit  schweizerische  Wohnungsuntersuchungen 
jeder  Art  und  in  anderen  ländern  allgemeine  Wohnungsuntersuchungen 
ganzer  Städte  in  betracht  kommen,  ist  die  Feststellung  der  natürlichen 
Helichtungsverhältnisse  der  Zimmer  durch  direkte  Messungen  in  der 
Wintcrthurer  Enquete.  Als  Mindestforderung  galt  das  Verhältnis 
von  Fensterfläche  zu  Hodenfläche  wie  i : io.  Es  ermangelten  nun  in 
Winterthur  von  den  17440  natürlich  beleuchteten  Zimmern  2751  Zimmer 
= 1 5,7  l’roz.  des  geforderten  Mindesimafses  der  Beleuchtung.  Dabei 
ist  Winterthur  durchaus  keine  Stadt  mit  besonders  schlechten  Belich- 
tungsverhältnissen. — Auch  in  der  Nürnberger  Wohnungsaufnahme  ist 
die  Feststellung  der  natürlichen  Belichtungsverhältnisse  durch  Messungen 
der  Fenstergröfse  vorgesehen.  Die  Resultate  werden  gerade  in  Nürnberg 
sehr  interessante  sein  uncl  voraussichtlich  sehr  schlagend  nachweisen,  wie 
notwendig  int  Intere-se  der  hygienisch  und  wirtschaftlich  so  notwendigen 
ausreichenden  Belichtung  eine  weiträumige  Bauweise  ist.  — 

Die  Bearbeitung  der  von  den  deutschen  Städ'en  in  Verbindung  mit 
der  Volkszählung  vom  1.  Dezember  1900  veranstalteten  Wohnungsauf- 
nahmen ist  leider  noch  sehr  im  Rückstand  geblieben.  Unseres  Wissens 
haben  bis  jetzt  nur  die  statistischen  Aemter  von  Mannheim  und  München 
die  Ergebnisse  dieser  Wohnungszählung  in  ziemlich  ausführlicher  Weise 
veröffentlicht.  Es  empfiehlt  sich  daher  die  Besprechung  aufzuschieben, 
bis  eine  gröfsere  Zahl  von  Bearbeitungen  vorliegt  und  es  möglich  wird, 
die  Entwicklung  der  Wohnungsverhältnisse  in  den  deutschen  Gressstädten 
auf  einem  gröfseren  Gebiete  zu  überschauen.  So  möge  denn  zum  Ab- 
schlufs  dieser  wohnungsstatistischen  l'ebersicht  noch  mit  einigen  Worten 
einer  Privatenquete  gedacht  sein,  die  der  sozialdemokratische 
Verein  in  Halle  a S.  am  31.  August  und  2.  September  1900  veran- 
staltet hat  und  die  \on  W.  Swienty  bearbeitet  worden  ist  Die  Auf- 
nahme beschränkt  sich  auf  7 Stiafsen,  aus  jedem  Polizeibezirke  eine,  die 
man  mit  Rücksicht  auf  das  Vorwiegen  durchschnittlicher  Arbeiter- 
wohnungszustände  ausgewählt  hatte.  Im  ganzen  wurden  720  Wohnungen 
mit  3 1 7 1 Personen  in  die  Erhebung  einbezogen.  Es  wäre  höchst  un- 
gerecht, an  eine  derartige  mit  den  geringen  Mitteln  eines  sozial- 
demokratischen Vereins  unternommene  Enquete  den  Mafsstab  anzulegen, 
mit  dem  inan  offizielle  Wohnungsaufnahmen  zu  messen  gewohnt  ist.  Bei 
derartigen  Aufnahmen  heifst  es  sich  beschränken,  das  Ziel  nicht  höher 
stecken,  als  die  Kräfte  reichen.  Und  eine  solche  Beschränkung  ist  sehr 
schwierig ! Dann  aber  gilt  es,  den  eng  begrenzten  Rahmen  nur  mit 
Wichtigem,  Wichtigstem  auszufüllen.  Das  ist  eine  Kunst,  die  eine  weit- 
gehende Beherrschung  des  ganzen  Gebietes  der  Wohnungsstalisl  ik  vor- 
aussetzt. Und  jede  Frage  mufs  so  scharf,  wie  nur  möglich  gefafst  sein. 
Sehen  wir  uns  den  Fragebogen  auf  die  Beachtung  dieser  Grundsätze  hin 
an,  so  werden  wir  finden,  dafs  er  oft  genug  gegen  sie  verstöfst.  So  ent- 


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Zur  Liltcrutur  über  die  Wohnungsfrage. 


5'5 


liält  der  Fragebogen  z.  B.  Fragen  nach  dem  jährlichen  Gesamtmictzins 
inkl.  Wassergeld,  nacli  der  Höhe  des  Wassergeldes,  nach  anderen  Ab- 
gaben, die  ev.  für  die  Benutzung  der  Waschküche,  des  Trockenbodens  etc. 
zu  zahlen  sind,  und  nach  den  Kosten  der  Renovierung,  wer  dieselben 
zu  tragen  hat.  Das  sind  nicht  weniger  als  vier  Fragen,  von  denen  drei 
doch  verhält nismäfsig  wenig  wichtige  l’unkte  betreffen.  Dagegen  wird 
das  so  aufserordentlich  wichtige  Altermieter-  und  Schlafgängerwesen  mit 
je  einer  Frage  nach  der  Zahl  der  abvermieteten  möblierten  Zimmer  und 
der  Zahl  der  Schlafleute  erledigt.  Keine  Frage  danach,  wie  sich  die 
Schlafgänger  in  die  Wohnungs-  und  Haushaltungsverhältnisse  ihrer  Mietgeber 
einschielten.  So  um  ollständig  der  Fragebogen,  so  unbestimmt  die  Fragen. 
Iss  wird  nach  den  Wohnräumcn  der  Wohnung  gefragt  und  dabei  werden 
Stuben,  Kammern  und  Küche  unterschieden.  Worin  besteht  der  Unter- 
schied zwischen  Kammer  und  Stube:  Ist  die  Kammer  ein  nichtlieiz- 

bares  Zimmer?  Wie  ist  dann  die  nächste  Frage  zu  verstehen:  „Wie 

viel  Räume  sind  davon  heizbar?“  Welchen  Wert  bat  ferner  die  Frage 
nach  der  Kopfzahl  der  Familie,  wenn  nicht  die  einzelnen  licstandteilc 
der  Familien  geschieden  werden  können?  Gleich  mangelhaft  ist  auch 
die  Methode,  nach  der  das  Material  bearbeitet  worden  ist.  Der  Ver- 
fasser scheint  keine  andere  Methode  als  die  der  Durchschnitte  zu  kennen, 
die  ja  überhaupt  in  Enqueten  der  Arbeiterschaft  die  bevorzugte,  häufig 
die  allein  angewandte  ist.  So  heifst  es  pag.  iöff. : Von  den  Wohnungen 
bestanden  5 aus  1 Raum  mit  7 Personen,  31  aus  2 Räumen  mit  102  Per- 
sonen etc.;  ferner:  heizbare  Räume  waren  vorhanden  in  23  Wohnungen 
mit  67  Bewohnern  je  1,  98  Wohnungen  mit  434  Bewohnern  je  2 etc.; 
ferner:  der  Rauminhalt  sämtlicher  Wohnungen  beträgt  17622,5  chm, 
im  Durchschnitt  also  pro  Wohnung  102,45  cbm,  pro  Kopf  der  Bewohner 
21,9  cbm  etc.;  ferner:  der  Flächeninhalt  der  172  Wohnungen  betrug 
6269  qm,  im  Durchschnitt  pro  Wohnung  36,4  qm,  pro  Person  7,7  qm  etc.; 
ferner:  Mietzins  wurde  gezahlt  pro  Jahr  für  5 Wohnungen  mit  1 Raum 
insgesamt  377,80  Mk.,  im  Durchschnitt  pro  Wohnung  75,56  Mk.,  pro 
Person  53,97  Mk.,  pro  chm  2,20  Mk.,  pro  qm  5,94  Mk.  etc.  Auf  diese 
stets  gleich  bleibende  Weise  wird  Strafsc  nach  Strafse  abgehandelt  und 
dann  das  Gesamtergebnis  zusammengestellt.  In  dieser  Zusammenfassung 
begegnen  wir  dann  statistischen  Ungeheuerlichkeiten,  wie  einer  Tafel 
(pag.  54)  über  das  Verhältnis  des  Mietpreises  zu  den  Wohnungen,  den 
Bewohnern,  d,jm  Rauminhalt  und  der  Grundfläche,  von  der  wir  die  ersten 
beiden  Reihen  folgen  lassen:  Miete-  (inkl.  Wassergeld)  wurde  bezahlt  pro 
Jahr  für  Wohnungen:  29  mit  je  1 Raum,  53  Bewohnern,  857,50  cbm, 
306,50  qm  insgesamt  1794,30  Mk.,  pro  Wohnung  61,87  Mk.,  pro 
Person  33,85,  pro  cbm  2,09  Mk.,  pro  qm  5,85  im  Durchschnitt;  118  mit 
je  2 Räumen,  423  Bewohnern,  6775,05  chm,  2769,80  qm  insgesamt 
12922,24  Mk.,  pro  Wohnung  109,51  Mk.,  pro  Person  30,52,  pro  chm  1,90, 
pro  qm  4,66  Mk.  im  Durchsvlmittt  etc.  Wer  kann  mit  einer  derartigen 


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5*6 


Litteratur. 


Tabelle  etwas  anfangen  ? Inwiefern  hilft  sie  uns  dazu,  ein  klares  Bijd 
von  den  Wohnungsverhältnissen  zu  erhalten,  wenn  innerhalb  der  Wohnungs- 
klassen alles  Besondere  in  das  graue  Einerlei  des  Durchschnittes  aufgelöst 
wird  ? Die  statistische  Bearbeitung  der  Wohnungsaufnahrae  ist  vollständig 
wertlos,  das  ist  das  scharfe  Urteil,  zu  dem  uns  eine  vorurteilslose  Prüfung 
führen  mufs.  Glücklicherweise  macht  sie  nicht  das  ganze  Buch  aus. 
Wir  können  sie  getrost  beiseite  schieben  und  bekommen  trotzdem  oder, 
besser  gesagt,  gerade  dann  ein  viel  besseres  Bild  von  den  geradezu 
erschreckenden  Wohnungszustanden,  unter  denen  die  Arbeiterschaft  Halles 
zu  leiden  hat.  Diese  beschreibenden  Partieen  des  Buches,  in  denen  wir 
die  oft  leidenschaftliche  Wärme  des  Verfassers  in  jeder  Zeile  spüren, 
sind  vortrefflich.  Strafse  auf  Strafse,  Wohnung  auf  Wohnung  durch- 
wandern wir  so  an  der  Hand  unseres  Führers,  hören  dabei  die  kurze, 
stets  traurige,  oft  trostlose  Geschichte  ihrer  Insassen  und  steigen  schliefs- 
lich  in  das  Inferno  Halles,  die  Feldstrafse,  hinab,  wo  die  Elendesten  der 
Elenden  für  die  hohen  Renten  ihrer  erbärmlichen  Löcher  fronden. 
„Schweineställe  sind  wahre  Salons  dagegen"  — mit  diesem  kräftigen 
Ausspruch  schliefst  die  Beschreibung  der  Feldstrafse.  Und  wir  sind 
wieder  um  ein  Bild  der  Not  und  des  Jammers  reicher.  Mag  es  unsere 
Nation  in  ihren  Kultursalon  stellen,  um  sich  zu  Zeiten  daran  zu  erinnern, 
dafs  unsere  Kulturaufgaben  nicht  auf  dem  Wasser,  sondern  auf  dem 
Lande  liegen.  Noch  eine  Lehre  predigen  uns  diese  Schilderungen  mit 
feurigen  Zungen.  Wer  kann  hier  helfen?  — tönt  die  Frage,  und  sie 
antworten:  nur  die  Gemeinde.  Sie  allein  hat  die  Kraft  dazu,  und 
ihre  Pflicht  ist  es  vor  allen.  Die  Bewohner  der  Feldstrafse,  um  bei 
diesem  Beispiel  zu  bleiben,  sind  zu  arm,  als  dafs  sie  bessere  Wohnungen 
bezahlen  könnten,  die  von  der  privaten  Bauuntemehmung  errichtet  sind. 
Sie  müssen  in  Höhlen  hausen,  damit  der  Privatkapitalist  auch  aus  ihnen 
seinen  Profit  hcrausholen  kann.  Ihnen  kann  nur  die  Gemeinde  Hilfe 
bringen.  Und  selbst  abgesehen  von  der  Pflicht  der  Wohnungsfürsorge 
darf  sie  derartige  Slums,  die  in  Epidemiezeiten  die  gefährlichsten  An- 
steckungsherde bilden,  schon  aus  volkshygienischen  Gründen  nicht  dulden. 
Diese  hygienische  Aufgabe  kann  sic  nicht  auf  private  Unternehmer  ab- 
wälzen. — 

Rapide  ist  die  Entwicklung  der  deutschen  Städte  in  den  letzten 
Jahren  der  industriellen  Blüte  gewesen  und  ebenso  rapide  hat  sich  die 
Steigerung  der  Grundwerte  und  Mieten  durch  den  Bevölkerungszuwachs 
bewirkt,  vollzogen.  Damit  ist  denn  auch  der  ganze  Problemkomplex, 
der  sich  an  die  städtische  Grundrente  und  ihre  Bedeutung  für  die 
Miethöhe  knüpft,  Gegenstand  lebhaftester  wissenschaftlicher  Aufmerksam- 
keit geworden.  Nicht  weniger  als  drei  Arbeiten  in  den  „Untersuchungen“ 
des  Vereins  für  Sozialpolitik  beschäftigen  sich  mit  ihm:  Dr.  C.  Horäcek 
(Prag),  Die  Bodenwertbewegung  in  Prag  und  Vororten, 
Dr.  P.  Schwarz  (Wien),  Die  Entwicklung  der  städtischen 


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Zur  Litteratur  über  die  Wohnungsfrage. 


5*7 


Grundrente  in  Wien,  und  Dr.  A.  Voigt  (Frankfurt  a/M.),  Wie 
Bodenbesitzverhältnisse,  das  Bau-  und  Wohnungswesen 
in  Berlin  und  seinen  Vororten.  Leider  ist  es  uns  bei  der  Be- 
schränktheit des  Raumes  nicht  möglich,  auf  die  beiden  ersten  Arbeiten 
näher  einzugehen;  wir  müssen  uns  mit  einer  Besprechung  der  umfang- 
reicheren Schrift  Dr.  A.  Voigts  begnügen.  Diese  Studie  ist  aus  einer 
ursprünglich  beabsichtigten  Zusammenfassung  der  Resultate  hervorge- 
wachseu,  zu  denen  P.  Voigt  in  seinem  unvollendeten  Buche  Grund- 
rente und  Wohnungsfrage  in  Berlin  und  seinen  Vororten 
gekommen  war.  Anfänglich  nur  Referat  wurde  sie  im  Laufe  der  Dar- 
stellung zur  kritischen  Besprechung  und  endete  schliefslich  in  scharfem 
Gegensätze  zu  dem  P.  Voigtschen  Buche.  Es  wird  sich  daher  empfehlen, 
zunächst  in  Kürze  den  Inhalt  des  P.  Voigtschen  Buches  zu  skizzieren 
und  dann  mit  der  A.  Voigtschen  Schrift  die  Ergebnisse  desselben  zu 
würdigen. 

Die  von  dem  Institut  für  Gemeinwohl  gestellte  Aufgabe,  die  Krage 
der  grofsstadtischen  Grundrentenbildung  zu  untersuchen  wurde  von 
P.  Voigt,  der  die  Bearbeitung  derselben  übernommen  hatte,  auf  die 
Untersuchung  der  Bodenverhältnisse  in  Berlin  und  seinen  Vororten  be- 
schränkt. Für  die  Stadt  Berlin  sollte  in  erster  Linie  die  Entwicklung 
der  Verhältnisse  des  bebauten  Grund  und  Bodens  dargestellt  werden, 
während  für  die  Vororte  als  Hauptaufgabe  betrachtet  wurde,  den  gegen- 
wärtigen Wert  des  unbebauten  Bodens  für  ein  möglichst  grofses  Gebiet 
festzustellen.  Dadurch  sollten  die  Unterlagen  für  etwaige  wohnungs- 
jiolitische  Mafsrcgeln,  namentlich  für  eine  weitere  Verschärfung  der  bau- 
polizeilichen Bestimmungen  beschafft  werden.  Die  Feststellung  der  Preise 
für  unbebauten  Boden  ist  eine  verhältnismäfsig  leichte  Aufgabe;  die 
Schwierigkeiten  beginnen  da,  wo  es  sich  utn  bebauten  Boden  handelt, 
dessen  Bebauung  vielleicht  schon  Jahrzehnte  zurückliegt.  P.  Voigt  wandte 
nun  für  die  Berechnung  des  Gesamtwertes  und  des  Bodenwertes  der 
Grundstücke  die  folgende  Methode  an.  Für  die  Gegenwart  wurde  der 
„gemeine  Wert“  der  Krgänzungssteuer  angenommen,  der  durch  Kapitali- 
sierung des  Gebäudesteuer-Nutzungswertes  berechnet  wird.  Der  Faktor 
ist  nach  den  Stadtteilen  verschieden  und  schwankt  zwischen  1 6 — 1 8 und 
20  22.  Durch  Abzug  der  um  io  20  I’roz.  gekürzten  F'euertaxe,  die 

den  Gebäudewert  darstellen  soll,  wurde  der  Bodenwert  gefunden.  Für 
die  Jahre  1865  und  1880,  für  die  amtliche  Schätzungen  nicht  Vorlagen, 
wurde  ein  besonderes  Verfahren  dem  amtlichen  nachgebildct.  Dal>ei 
wurde  einmal  die  wechselnde  Höhe  des  Zinsfufses  berücksichtigt  und  die 
vorliegenden  Kaufpreise  mit  den  Nutzungs-  und  Mieterträgen,  die  gleich- 
falls zur  Verfügung  standen,  verglichen.  Die  auf  diese  W eise  durch 
Schätzung  ermittelten  Gesamtwerte  wurden  dann  zur  Ermittlung  des 
Bodenwertcs  um  die  dem  Alter  des  Hauses  entsprechend  reduzierte 
F'euertaxe  gekürzt.  Diese  auch  von  anderen  Schriftstellern  angewandte 


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Litteratur. 


518 

Methode  der  Üodenwertberechnung  ist  nun,  wie  A.  Voigt  pag.  198  ff. 
ausfuhrt,  aufserordentlich  mangelliaft.  Man  sucht  Gebäude  und  Boden 
zu  trennen  und  berechnet  den  Gebäudewert  aus  dein  Feuerkassenwert, 
der  durch  Airschreibung  einer  mit  dem  Alter  steigenden  Quote  von  den 
ursprünglichen  Baukosten  gefunden  wird.  Die  Einwendungen,  die  A.  Voigt 
erhebt,  sind  durchaus  begründet.  Die  Feuertaxe  will  gar  nicht  den  Wert 
des  Gebäudes  darstcllen,  sondern  nur  einen  Mafsstab  für  die  Ent- 
schädigung des  Eigentümers  in  Brandfällen  abgeben.  Sie  soll  bei  neuen 
Gebäuden  mit  dem  Kostenpreise  übereinstimmen ; bei  älteren  wird  eine 
mehr  oder  weniger  starke  Amortisation  zu  Grunde  gelegt.  Nun  kann 
z.  B.  die  Feuertaxe  steigen,  weil  die  Baukosten  im  Laufe  der  Jahre 
zugenommen  haben.  Das  ist  eine  ganz  allgemeine  Erscheinung.  So 
schreibt  I.andolt,  Die  Wohnungscnquetc  in  der  Stadt  Bern  pag.  64811.: 
„In  Bern  findet  nämlich  fortwährend  ein  starkes  Steigen  des  Assekuranz- 
wertes,  den  wir  hier  dem  Bauwert-Maximum  als  relativ  analog  voraus- 
setzen, statt.  Wie  man  aus  dem  alljährlichen  Ausweis  der  kantonalen 
Brandversicherungsanstalt  ersieht,  steigt  der  durchschnittliche  Assekuranz- 
wert  pro  Gebäude  von  Jahr  zu  Jahr.  Und  zwar  ist  dieses  Steigen  im  all- 
gemeinen nicht  etwa  auf  eine  wesentlich  veränderte  Bauart  oder  auf  eine 
Grofsenzunahme  der  Wohnhäuser  zurückzuführen,  sondern  der  allbekannten 
Thatsachc  der  stets  steigenden  Preise  der  Produktionsmittel  zuzuschreiben.“ 
Bleibt  nun  der  Gebäudesteuer-Nutzungswert  der  gleiche,  so  wird  durch 
Subtraktion  der  Feuertaxe  vom  Gesamtwerte  ein  sinkender  Bodenpreis 
herausgerechnet  werden,  obschon  vielleicht  der  Bodenpreis  der  gleiche 
geblielren,  vielleicht  sogar  gestiegen  ist.  A.  Voigt  bespricht  einige  andere 
Beispiele,  die  zeigen,  wie  die  von  P.  Voigt  benutzte  Methode  unter  Um- 
ständen zu  absurden  Resultaten  führt,  und  beschränkt  die  Bedeutung  der 
nach  dieser  Methode  errechneten  Tabellen  der  durchschnittlichen  Haus- 
grundstücks-, Gebäude  und  Bodenwerte  darauf,  dafs  sic  „wenigstens  die 
relative  Abstufung  der  Werte  nach  den  verschiedenen  Stadtteilen  einiger- 
mafsen  wiedergeben  und  daher  nicht  ganz  wertlos  sind“. 

Das  P.  Voigtsche  Buch  giebt  uns  in  den  ersten  zwei  Kapiteln  eine 
Uelrersicht  Uber  die  bauliche  Entwicklung  Berlins  bis  zum  Tode  Friedrichs 
des  Grofscn,  die  mit  einem  Panegytikus  auf  die  Baupolitik  der  hohen- 
zollcrnschen  Fürsten  im  besonderen  und  auf  ihre  Staatspolitik  im  all- 
gemeinen endigt.  Mit  dem  dritten  Kapitel  beginnt  dann  die  Dar- 
stellung der  Entwicklung  der  Umgegend  von  Berlin,  die  den  Rest  deä 
Buches  ausfüllt.  Kapitel  IV  stellt  die  erste  Periode  der  modernen  Ent- 
wicklung der  Berliner  Vororte  dar,  die  Zeit  von  1871  — 1887.  Es  ist 
das  die  Periode  der  Griinderjahrc,  die  zum  ersten  Male  das  vorstädtische 
Areal  in  den  Bereich  der  grofscn  Grund-  und  Bauspekulation  zog.  Ein 
grofser  Teil  des  Grund  und  Bodens  kam  in  die  Hände  gewerbsmäfsiger 
Terrainspekulanten.  Die  Bodenpreisbildung  vollzieht  sich  nunmehr  unter 
Rücksicht  auf  die  Möglichkeit  der  zukünftigen  Verwertung  als  Bau 


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Zur  l.ilU-rntur  UImt  ili*'  Wohnung-fragr*.  -jo 

land.  Mit  besonderem  Nachdruck  hebt  dabei  P.  Voigt  hervor,  dafs  die 
Terrainspekulation  der  Gründerjahre  die  Verpflanzung  der  Mietkaserne 
in  die  Vororte  nicht  einmal  versucht,  sondern  stets  an  ihrem  ursprüng- 
lichen Programm,  I-andhauskoloniecn  zu  errichten,  festgehalten  habe.  Der 
Ucberspekulation  der  Grimderjahre  folgte  eine  bis  zu  Anfang  der  Soer  Jahre 
dauernde  schwere  wirtschaftliche  Depression,  dieser  dann  in  dem  neuen 
Jahrzehnt  ein  langsamer  Aufschwung.  Der  alte  bauliche  Charakter  der 
Vororte  (Landhaus  und  kleines  Miethaus)  und  mit  ihm  die  entsprechend 
niedrigen  Hodenpreise  erhielten  sich  auch  in  dieser  Periode.  Nur  in 
den  direkt  an  Berlin  anstofsenden  Strafsenziigen  von  Schöneberg,  Kis- 
dorf, Charlottenburg  etc.  sah  man  die  Berliner  Mietkasernc.  Die  Gründe 
für  diese  Erscheinung  siebt  P.  Voigt  in  dem  Vorhandensein  noch  grofserer 
unbebauter  Gebiete  innerhalb  des  Berliner  Weichbildes,  dem  Mangel 
einer  regulären  Kanalisation  und  Wasserzuführung,  in  den  überkommenen 
Hau-  und  \\  ohnsitten  und  endlich  in  dem  Kmtlufs  des  geltenden  Baurechtes. 
„Eine  einzige  unglückliche  Verwallungsmafsrcgel,  so  schliefst  er  dies 
Kapitel,  lenkte  aber  die  ganze  Entwicklung  mit  einem  Schlage  in  andere 
Bahnen.“  Diese  Yerwaltutlgsmafsregel  ist  nach  P.  Voigt  die  Ausdehnung 
der  Berliner  Bauordnung  von  1X87  auf  fast  sämtliche  Vororte  des  Pots- 
damer Regierungsbezirkes,  wodurch  die  fünfstöckige  Mietkasernc  zur 
Norm  wurde.  An  dieser  Darstellung  übt  nun  A.  Voigt  eine  in  manchen 
Punkten  berechtigte  Kritik.  Er  weist  darauf  hin,  dafs  die  alte  Bau- 
polizeiordnung für  das  platte  Land  des  Regierungsbezirkes  Potsdam  von 
1872  durchaus  nicht  das  Hindernis  für  den  Hochbau  nach  Berliner  Muster 
bedeutete,  wie  P.  Voigt  anzunehmen  geneigt  ist.  Von  dem  Bauwich  von 
5 m,  der  für  Gebäude  mit  feuersicherer  Bedachung  vorgeschrieben  war, 
konnte  dispensiert  werden,  wenn  das  eine  Gebäude  eine  Brandmauer 
hatte.  Dieser  Dispens  wurde  auch  vor  r887  regelmäfsig  erteilt,  so  in 
Teilen  von  Schöneberg,  Rixdorf  und  Charlottcnhurg,  die  ganz  Berliner 
Bauverhältnisse  aufwiesen.  Die  Mietkaseme  war  also  schon  in  das  neue 
< '.ebiet  eingedrungen,  wo  ihr  thatsächlu  h keine  baupolizeilichen  Hinder- 
nisse im  Wege  standen.  Der  Druck  der  rapid  anwachsenden  Be- 
völkerung, die  sich  natürlich  am  leichtesten  und  einfachsten  durch  die 
Mietkasernc  unterbringen  liefs,  förderte  ganz  beträchtlich  die  siegreiche 
Ausdehnung  der  Mietkaserne  in  den  neuen  Gebieten,  die  noch  durch 
ein  stets  dichter  werdendes  Vorortseisenhahn-  und  Strafsenbahnnetz  mit 
dem  Berliner  Weichbild  in  engste  Verbindung  gebracht  wurden.  Die 
Potsdamer  Regierung  zog  also  thatsächlich  viel  mehr  die  rechtlichen 
Konsequenzen  aus  den  bereits  bestehenden  Verhältnissen,  als  dafs  sie  das 
System  des  Massenmiethauses  octroyierte.  Derartige  Venvaltungsmafs- 
regeln,  deren  Bedeutung  P.  Voigt  ganz  beträchtlich  überschätzt,  lassen 
sich  überhaupt  nicht  erfolgreich  octroyiercn ; die  wirtschaftliche  Ent- 
wicklung setzt  sich  gegen  sic  am  Ende  doch  durch.  Wenn  aber 
A.  Voigt  die  Ansicht  ausspricht,  dafs  allein  der  baugewerbliche  Grofs- 


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520 


I.ittcratur. 


betrieb  und  die  diesem  Grofsbetrieb  adäquate  Baufortn,  das  Massenntiet- 
haus,  im  Stande  gewesen  wären,  den  Bevölkerungszuwachs  in  den  Vororten 
billig  und  zureichend  unterzubringen,  und  dafs  auch  aus  diesem  Grunde 
sich  die  Mietkaserne  stets  durchgesetzt  haben  würde,  so  ist  daran  nur 
soviel  richtig,  dafs  allerdings  in  Berlin  und  ebenso  in  den  meisten 
deutschen  Städten  der  baugewerbliche  Grofsbetrieb  gar  keine  andere 
Bauform  kannte  als  eben  das  Miethaus  mit  vielen  Etagen.  Er  fand  das- 
selbe bereits  in  allgemeinem  Gebrauche  vor,  als  er  auf  der  Szene  seiner 
Wirksamkeit  erschien,  die  ihm  die  rapide  wirtschaftliche  Entwicklung  der 
Grofsstadt  mit  ihrer  Ansaugung  grofser  Bevölkerungsmasse»  geschaffen 
hatte.  Allerdings  hat  er  dann  das  Miethaus  zu  seinen  Zwecken  aus- 
gestaltet und  die  so  vollendete  Bauform  überall  da  angewandt,  wo  er 
es  ungehindert  thun  konnte.  Ein  Blick  auf  England  genügt  aber,  um  zu 
zeigen,  dafs  baugewerblicher  Grofsbetrieb  und  Kleinbau  sich  durchaus 
nicht  ausschliefsen.  Hier  ist  der  Kleinbau  durchaus  nicht  dem  klein- 
gewerblichen Eigenbau  überlassen;  er  liegt  vielmehr  in  den  Grofsstädten 
ebenso  in  den  Händen  des  Großbetriebes,  wie  in  deutschen  Grofsstädten 
der  Massenbau  der  Mietkasernen.  Das  Entscheidende  ist  unserer  An- 
sicht nach,  dafs  der  sich  entwickelnde  Grofsbetrieb  das  Etagenmiethaus 
bereits  als  tief  eingewurzelte  Bausitte  vorfand,  und  diese  Bauform  seinen 
Zwecken  entsprechend  ausgestaltet  hat.  Für  die  von  ihm  ausgebildete 
Bauform  hat  der  Grofsbetrieb  sich  dann  in  der  Bauordnung  die  ge- 
eignete rechtliche  Grundlage  ebenso  geschaffen  wie  in  den  modernen 
Hypothekenbanken  die  erforderliche  Kreditorganisation.  Das  ist  die 
Reihenfolge  der  Ereignisse,  wie  sie  A.  Voigt  fpag.  1 86  u.  a.  m.)  richtig  ge- 
stellt hat.  Auch  darin  stimmen  sie  A.  Voigt  vollständig  bei,  dafs  durch  eine 
blofse  Aenderung  der  Bauordnung  der  Bau  kleiner  Wohnhäuser  nicht 
erzwungen  werden  kann.  Gegenüber  dem  kapitalistischen  Grofsbetrieb 
mit  seiner  Mietkaserne  ist  begreiflicherweise  „der  Kleinbetrieb  mit  selbst 
bauendem  Bauherrn  und  ersparten  Kapitälchen  und  die  Baugenossenschaft 
mit  el>euso  mühsam  zusammengebrachten  Kapital“  konkurrenzunfähig. 
Soll  der  Bau  kleiner  Wohnhäuser  in  erfolgreichen  Wettbewerb  mit  dem 
Grofsbetrieb  und  seiner  Mietkaserne  treten,  so  bedarf  es  dazu  der  gleichen 
wirtschaftlichen  Machtmittel,  wie  sie  diesem  zur  Verfügung  stehen  — 
und  fügen  wir  noch  hinzu,  einer  gründlichen  Revolution  unserer  Wohn- 
sitten,  an  der  der  kapitalistische  Grofsbetrieb  gar  kein  Interesse  hat.  So- 
lange es  die  grofsen  Massen  der  Bevölkerung  vorziehen,  sich  in  den 
ungesunden  Mietkasernen  zusammenzupferchen,  anstatt  in  den  kleinen 
Häusern  der  Vororte  hygienisch  zu  wohnen,  solange  mufs  der  Kampf 
gegen  die  Mietkaserne  ein  vergeblicher  bleiben.  Diese  Erziehung  der 
Massen  zu  besseren  Wohnsitten,  zu  höheren  Wohnansprüchen  ist  eine 
ungeheure,  langwierige  Aufgabe,  deren  Losung  noch  dadurch  erschwert 
wird,  dafs  sie  in  weitgehendstem  Mafse  durch  die  allgemeine  Hebung 
der  Lebenshaltung  dieser  Bevölkerungsmassen  und  damit  indirekt  durch 


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Zur  Litlcratur  über  die  Wohnungsfrage.  r 2 1 

alle  diese  Hebung  fördernden  oder  hemmenden  Faktoren  der  sozialen 
Bewegung  bedingt  ist. 

Das  6.  Kapitel  des  P.  Voigtsehen  Ruches  stellt  die  Entwicklung 
der  Verkehrsmittel,  namentlich  der  Vorortbahnen  dar,  mit  dem  7.  Kapitel 
wird  die  Darstellung  der  Bodenpreisbewegung  in  den  einzelnen  Vororten 
aufgenommen.  Die  Untersuchung  Ireginnt  mit  Charlottenburg,  daran 
schliefsen  sich  der  Kurfürstendamm  und  die  Villenkolonie  Grunewald. 
Ks  ist  uns  natürlich  nicht  möglich,  auf  den  wenigen  z.ur  Verfügung  stehenden 
Seiten  diese  aufserordentlich  wertvollen  Untersuchungen  ausführlich  zu 
würdigen.  Wir  müssen  deshalb  den  l.cser  auf  das  Buch  selbst  verweisen 
und  uns  darauf  beschränken,  einmal  solche  Punkte  hcrauszugreifen,  die 
uns  einer  Kritik  bedürftig  scheinen,  dann  al>er  vor  allem  die  allgemein 
gültigen  Resultate  kurz  zu  skizzieren.  Im  Kapitel  „Charlottenburg“  be- 
schäftigt sich  P.  Voigt  auch  mit  den  Mietpreisen  in  Charlottenburg, 
wobei  er  die  von  Dr.  Hirschberg  bearbeitete  Wohnungsstatistik  von  1805 
zu  Grunde  legt,  und  untersucht,  wie  sich  die  Mietpreisbildung  in  den 
verschiedenen  Stadtteilen  im  Verhältnis  zur  Wohlhabenheit  ihrer  Bewohner 
gestaltet.  Seiner  Ansicht  nach  giebt  die  Grofse  der  Wohnungen  in  Ver- 
bindung mit  ihrer  räumlichen  Ausdehnung  eine  genaue  Stufenleiter  der 
Wohlhabenheit.  Das  ist  ja  ohne  weiteres  richtig.  Je  gröfser  die  Woh- 
nungen und  je  geringer  die  Zahl  der  Bewohner  per  Zimmer,  desto  gröfser 
die  Wohlhabenheit'  der  Mieter.  Khenso  richtig  ist,  dafs  sieh  die  Miet- 
preisquoten, die  im  Durchschnitt  auf  jede  Wohnung,  jedes  Zimmer  und 
jeden  Bewohner  entfallen,  ganz  genau  der  Wohlhabenheit  entsprechend 
abstufen.  Ganz  und  gar  nicht  richtig  ist  es  aber,  wenn  er  ausruft:  „Die 
Tabelle  zeigt  mit  wahrhaft  schlagender  Deutlichkeit,  wie  gänzlich  haltlos 
die  populäre  Ansicht  ist,  dafs  die  ärmeren  Klassen  relativ  teurer  als  die 
besitzenden  Klassen  wohnten.  Der  Mietpreis  eines  Zimmers  stellt  sich 
im  reichsten  Bezirke  um  156  Proz.  teurer  als  im  ärmsten,  die  Kopf- 
belastung im  Vorderhause  um  das  sechsfache,  überhaupt  um  das  fünf- 
fache höher."  Ks  ist  durchaus  keine  populäre  Ansicht,  dafs  die  ärmeren 
Klassen  relativ  teuerer  wohnen,  als  die  besitzenden  Klassen,  sondern 
eine  Thatsache,  die  durch  reichhaltiges  statistisches  Material  bewiesen 
ist.  Freilich  wenn  man  sich  die  Sache  so  bequem  macht,  wie  P.  Voigt, 
und  die  Mietpreise  auf  die  Zahl  der  Zimmer  bezieht,  kommt  man  zu 
dem  entgegengesetzten  Resultat.  Aber  auch  P.  Voigt  wird  nicht  so 
kühn  gewesen  sein,  die  Zimmer  einer  hochherrschaftlichen  Wohnung 
mit  den  Zimmern  einer  Proletarierwohnung  oder  mit  den  Kochstuben 
gleichwertig  zu  setzen.  Jeder,  der  Wohnungsstatistik  getrieben  hat,  weifs, 
was  er  von  den  Begriff  Zimmer  zu  halten  hat.  Beziehen  wir  dagegen 
die  Mietpreise  auf  den  Kubikmeter  Wohnraunt  eine  ganz  bestimmte 
Gröfse  — so  kommen  wir  überall  zu  dem  Resultat,  dafs  die  oberen 
sozialen  Schichten  weniger  dafür  bezahlen  als  die  ärmsten.  Nach  Lundolt 
tBemer  Enquete  pag.  609)  zahlt  die  obere  soziale  Schicht  in  Bern  für 

Archiv  für  so*.  GeteUscbung  u.  Statistik.  XVII.  34 


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522 


Littcralur. 


den  Kubikmeter  Wohnraum  3 fr.  84,  die  mittlere  3 fr.  90  und  die 
untere  4 fr.  14.  In  Winterthur  zahlt  die  obere  soziale  Schicht  3 fr.  28. 
die  mittlere  3,21,  die  untere  3,29  und  die  unterste  3,44  fr.  Wir  greifen 
diese  Zahlen  aufs  Geratewohl  heraus,  um  die  vollständige  Haltlosigkeit 
der  P.  Voigt’schen  Behauptung  nachzuweisen. 

Von  grofsem  Interesse  sind  die  Untersuchungen  Uber  die  hypothe- 
karische Belastung  der  Grundstücke  in  Charlottenburg.  Es  erwiesen  sich 
die  älteren  Strafsen  als  viel  weniger  verschuldet;  die  Verschuldung  blieb 
unter  #/4  des  gemeinen  Wertes  der  belasteten  Grundstücke.  In  den 
neueren  Strafsen  erreichte  dagegen  die  hypothekarische  Belastung  96  Proz. 
des  Wertes  der  belasteten  Grundstücke.  Diese  eigentümliche  Erscheinung 
erklärt  sich  in  doppelter  Weise:  einmal  drückt  die  bis  zur  Wertgrenzc 
gehende  hypothekarische  Belastung  nur  das  faktische  Eigentumsverhältnis 
in  einer  besonderen  Form  aus  oder,  aber  der  Spekulant  sucht  den  Er- 
trag seiner  Spekulation  nicht  erst  durch  Verkauf,  sondern  bereits  durch 
die  Hypothekenvaluta  zu  realisieren.  In  beiden  Fällen  mufs  die  iilrer- 
mäfsige  Beleihung  zur  Steigerung  der  Mieten  führen.  Auch  hinsichtlich 
der  Kreditgeber  waltete  zwischen  den  älteren  und  neueren  Strafsen  ein 
grofser  Unterschied.  Dort  waren  die  meisten  ersten  Hypotheken  int 
Besitz  von  Privatpersonen,  Stiftungen,  Sparkassen,  hier  im  Besitz  von 
Hypothekenbanken  und  Versicherungsgesellschaften.  Der  gleiche  Unter- 
schied bei  der  Verteilung  der  Hypothekensummen  auf  die  Rangklassen, 
ln  den  älteren  Strafsen  erreichten  die  ersten  Hypotheken  noch  nicht  die 
Hälfte,  in  den  neueren  Strafsen  dagegen  mehr  als  3 4,  in  einer  Strafsc 
sogar  fast  des  Gesamtwertes  der  Grundstücke. 

In  der  Entwicklung  der  Bodenpreise  heben  sich  zwei  Momente  als 
besonders  bedeutungsvolle  heraus.  Die  erste  grofse  Steigerung  des 
Bodenwertes  tritt  ein,  wenn  sich  das  Ackerland  in  Bauland  verwandelt. 
Die  Höhe  dieser  Steigerung  wird  natürlich  davon  abhängen,  ob  die  Be- 
bauung mit  der  Mietkaserne  oder  mit  Landhäusern  bezw.  Kleinbauten 
stattfindet.  In  den  Berliner  Vororten  sind  diese  Bebauungsarten  für 
einen  grol'sen  Teil  des  Gebietes,  wie  wir  sahen,  einander  gefolgt, 
ln  der  Gründerzeit  der  70  er  Jahre  stieg  der  Bodenwert  auf  das  10  bis 
40  fache  des  Ackerwertes ; hoher  konnte  er  nicht  steigen,  solange  an  der 
Bebauung  mit  kleinen  Häusern  festgehalten  wurde,  ln  den  80  er  Jahren 
trat  dann  der  Uebergang  zum  Hochbau  ein  und  damit  eine  weitere 
Steigerung  der  Bodenwerte  bis  annähernd  auf  die  Höhe  der  Berliner 
Preise  Da  wo  die  Mietkaserne  herrscht,  werden  die  Bodenpreise  natür- 
lich gleich  von  der  Spekulation  auf  die  Höhe  des  Hochbau- Bodenwertes 
hinaufgetrieben.  Die  zweite  grofse  Steigerung  der  Bodenwerte  tritt  dann 
ein,  wenn  die  Wohnhäuser,  -Strafsen  und  -Viertel  sich  in  Geschäftshäuser, 
-Strafsen  und  -Viertel  verwandeln,  mit  anderen  Worten  bei  der  Ver- 
wandlung des  Holmbodens  in  Geschäftsboden.  Scheiden  wir  diese  beiden 
Bodenklassen  mit  ihrer  stürmischen  Aufwärtsbewegung  der  Bodeupreise 


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Zur  Li tlcrat ur  über  die  Wohnungsfrage. 


523 


aus,  so  können  wir  bei  dein  Boden  der  dichtbesiedelten  Quartiere  mit 
festgewordener  Art  der  Benutzung  ein  allmählich  sich  vollziehendes  Wachs- 
tum seines  Wertes  konstatieren.  So  sind  in  Wien  in  der  Periode  von 
1 St)o — 1899  in  den  alten  zehn  Bezirken  der  Stadt  viele  Böden  zu  finden, 
die  nur  wenig  mehr  als  10  Proz.  an  Wert  zugenommen  haben;  dagegen 
bleiben  in  den  neueren  10  Bezirken,  wo  sich  eben  der  Uebergang  von 
Ackerboden  zu  Wobnboden  vollzieht,  nur  wenige  Böden  unter  einer  Zu- 
wachsquote von  1 00  Proz.  Hier  ist  die  Verdoppelung  des  Wertes  ebenso 
die  Regel  wie  in  den  Verkehrsstrafsen,  wo  sich  mit  der  Entwicklung  des 
Verkehrs  einmal  die  Pintwicklung  zu  Geschäfisstrafsen,  und  zweitens  der 
Uebergang  vom  kleinen  zum  grofsen  Geschäftsverkehr  vollzieht. ')  Die 
Thatsache,  dafs  nach  der  Bebauung  in  Wohnquartieren  eine  wesent- 
liche Wertsteigerung  des  Bodens  nicht  mehr  eingetreten  ist,  wird  auch 
von  P.  Voigt  zu  verschiedenen  Malen  hervorgehoben : „Die  Terrain- 
spekulation  versteht  es,  die  Bodenpreise  bis  zu  der  bei  der  gegebenen 
baulichen  Benutzung  überhaupt  noch  möglichen  Höhe  zu  treiben." 

Ein  wesentlicher  P'aktor  des  Bodenpreises  ist  also  die  Art  der  ge- 
gebenen baulichen  Benutzung,  mag  dieselbe  allein  durch  die  Sitte  oder 
durch  die  Bauordnung  vorgeschrieben  sein.  Dafs  daneben  andere  Fak- 
toren vorhanden  sind,  deren  Wirkungen  vielleicht  die  des  erstgenannten 
Faktors  übertreffen  können,  wie  I.age  zu  wirtschaftlich  oder  sozial  be- 
deutsamen Zentren  etc.,  sei  hier  nur  im  Vorbeigehen  erwähnt.  P.  Voigt 
stellt  nun  für  Teile  von  Grunewald  und  Halensee,  wo  Hochbau-,  Vorort- 
hochbau- und  Landhausgebiete  aneinander  grenzen,  folgende  Bodenpreise 
per  qm  fest: 

Hochbau  Vororthochbau  t.andhausbezirk 

Kurfürstendamm  bciw.  im  Grunewald 

Hauptstraßen  ....  80 — 120  Mk.  60—70  Mk.  35 — 45  Mk. 

Nebenslrafscn  ....  60 — 90  „ 40  — 55  „ 20 — 30  „ 

Diese  Zahlen  beweisen  aufs  deutlichste  den  Einflufs  bestimmter 
Bauformen  auf  die  Bodenpreise.  Da  nun  diese  Bauformen  sich  in  ge- 
wissen Grenzen  durch  die  Bauordnungen  für  die  einzelnen  Baugebiete 
festlegcn  lassen,  so  folgt,  dafs  durch  die  Bauordnung  eine  Einwirkung 
auf  die  Grenzen  ausgeiibt  werden  kann,  bis  zu  denen  von  der  Bau- 
und  Grundstücksspekulation  die  Bodenpreise  getrieben  werden  können. 
Die  Richtigkeit  dieses  Satzes  wird  durch  das  angeführte  und  anderes 
Material  des  P.  Voigtschen  Buches  in  zweifelloser  Weise  erhärtet.  Der 
Nachweis  ist  um  so  dankenswerter,  als  gerade  wieder  im  vergangenen 
Jahre  bei  den  Verhandlungen  über  die  Stuttgarter  Stadterweiterung 
und  in  der  Publikation  des  Stuttgarter  statistischen  Amtes  über  die- 

*)  Vgl.  Vhilippovich.  Wohnungs Verhältnisse  in  österreichischen  Studien.  2.  Boden- 
wert  und  Miet/ins. 

34* 


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524 


l.iltcrulur. 


selbe  ein  solcher  Kinllufs  der  Bauordnung,  speziell  der  weiträumigen  Be- 
bauungsweise, auf  die  Bodenpreise  bestritten  worden  ist. 

Mit  diesem  Nachweise  ist  aber  die  Frage  des  Zusammenhanges 
zwischen  Bodenpreisen  und  Mietpreisen,  wie  A.  Voigt  in  seiner  Kritik 
ausfuhrt,  noch  nicht  beantwortet.  Aus  der  Thatsaehe,  dafs  die  Preisunter- 
schiede des  Bodens  durch  die  Verschiedenheit  seiner  Ausnutzung  für  Bau- 
zwecke bedingt  sind,  folgerte  P.  Voigt  die  Notwendigkeit  möglichst 
weitgehender  Baubeschränkungen,  um  durch  diese  den  Bodenwert-  und 
damit  auch  die  Mietpreise  der  Wohnungen  herabzudrucken.  Wenn  er 
in  seinem  Werke  den  Nachweis  führte,  dafs  überall  in  Berlin  und  seinen 
Vororten  der  Hochbau  den  Bodenwert  gesteigert  habe,  glaubte  er  auch 
bewiesen  zu  haben,  dafs  der  Hochbau  für  die  Mietsteigerungen  verant- 
wortlich sei.  I Jabei  ging  er  von  der  Voraussetzung  aus,  dafs  steigende 
Bodenpreise  sich  auch  in  steigenden  Mietpreisen  ausdriieken  müssen, 
und  unterliefs  die  Untersuchung  des  Problems,  „ob  nicht  eine  intensivere 
Bebauung , die  durch  die  höheren  Bodenpreise  verursachte  Kosten- 
erhöhung auszugleichen  vermag".  Mit  diesem  Problem  beschäftigt  sich 
nun  A.  Voigt  in  dem  sehr  interessanten  VIII.  Kapitel  seines  Beitrages 
zu  den  „Untersuchungen"  des  Vereins  für  Sozialpolitik  in  ausführlicher 
Weise.  Er  geht  von  den  Baukostenberechnungen  des  „Deutschen  Bau- 
kalenders“ aus,  nach  denen  die  Kosten  des  Quadratmeters  der  bebauten 
Grundfläche  nicht  im  gleichen,  sondern  in  einem  beträchtlich  geringeren 
Verhältnisse  zu  der  Zahl  der  Geschosse  steigen.  Die  Folge  davon  ist, 
dafs  die  Baukosten  eines  Quadratmeters  Wohnfläche  mit  der  Zahl  der 
Geschosse  abnehmen.  Es  könnten  also  in  vielstöckigen  Gebäuden 
bei  gleichen  Bodenpreisen  die  Mietpreise  für  gleichen  Wohnraum 
billiger  sein,  als  in  ein-  und  zweistöckigen  Gebäuden  und  bei  verschie- 
denen Bodenpreisen  könnte  die  Mietkaserne  einen  bedeutend  höheren 
Bodenpreis  ohne  Mieterhöhung  tragen  als  die  kleinen  Wohnhäuser.  Die 
Richtigkeit  der  Zahlen,  auf  die  sich  das  Räsonnement  stützt,  voraus- 
gesetzt, würde  also  die  Konkurrenzfähigkeit  des  kleinen  Miethauses  von 
einer  bedeutenden  Hcrabdrückung  der  Bodenpreise  abhängen.  Denn 
wenn  auf  gleichem  Gelände  und  daher  auch  bei  gleichem  Bodenpreise 
sowohl  die  Mietkaserne  wie  das  kleine  Wohnhaus  baugesetzlich  erlaubt 
sind,  wird  und  tnufs  die  private  Bauunternehmung  nur  die  ersteren 
bauen.  Die  Gesetze  der  Konkurrenz  zwingen  zur  intensivsten  baulichen 
Ausnutzung  der  Grundstücke,  die  baugesetzlich  möglich  ist.  Soll  also 
der  Kleinbau  konkurrenzfähig  werden,  so  mufs  man  baugesetzlich  die 
Bodenpreise  für  den  Hochbau  möglichst  verteuern  (z.  B.  durch  Be- 
schränkung der  überbaubaren  Fläche  etc.)  und  die  für  den  Kleinbau 
möglichst  verbilligen,  zugleich  aber  Gebiete  abgrenzen,  in  denen  nur  der 
letztere  gestattet  ist. 

Die  Baukosten  stehen  nach  A.  Voigt  (Die  Bedeutung  der  Bau- 
kosten für  die  \V ohnungsprcisc)  noch  in  einem  anderen  Zu- 


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Zur  I.ittcrutur  über  «lie  Wohnungsfrage. 


525 


sammenhange  mit  dem  Hodenpreis.  Ihre  Steigerung,  die  in  dem  letzten 
Jahrhundert  ganz,  beträchtlich  ist,  hat  direkt  eine  Steigerung  der  Hoden- 
preise veranlafst.  Die  Rechnung  ergiebt  nätulich  nicht  nur,  dafs  bei  gleichen 
Preisen  für  1 qm  Wohnfläche  ein  < lehäude  einen  um  so  höheren  Hodenpreis 
zu  tragen  vermag,  je  gröfser  die  Zahl  seiner  Geschosse  ist,  sondern  ebenso 
auch,  dafs  diese  Fähigkeit  mit  dem  Preis  für  1 qm  Wohnfläche  wächst.  Hei 
einem  Preis  von  22  Mk.  für  1 qm  Wohnfläche  vermag  ein  zweistöckiges 
( iebäude  einen  Bodenpreis  von  1 2,  ein  dreistöckiges  einen  solchen  von  24  Mk. 
zu  tragen.  Steigt  der  Preis  auf  1 1 1 -151  Mk.,  so  können  die  Bodenpreise 
betragen  l>ei  2 Geschossen  58  — 72  Mk.,  I>ei  3 117 — 159,  liei  4 176  bis 
24S,  bei  5 Geschossen  240 — 335  Mk.  Es  können  also  die  mehr- 
stöckigan  Gebäude  bei  um  so  höheren  Hodenpreisen  konkurrenzfähig 
bleiben,  je  höher  sich  die  Baukosten  für  alle  Arten  Gebäude  stellen. 
Dazu  kommt  dann  ferner  noch,  dafs  bei  einem  teureren  Haue  die  Boden- 
kosten nicht  so  ins  Gewicht  fallen,  als  bei  kleineren  Bauten.  In  dem  Mafse, 
wie  also  die  Baukosten  steigen,  wird  es  der  Bodenspekulation  möglich, 
die  Hodenpreise  in  den  < lebieten  des  Hochbaues  noch  höher  zu  treilren, 
als  früher.  Will  man  nun  den  Kleinbau  gegenüber  der  Mietkaserne 
fördern,  ihn  wieder  konkurrenzfähig  machen,  so  ist  es,  wie  A.  Voigt 
aus  den  vorstehenden  Ausführungen  folgert,  unbedingt  notwendig,  die 
Baukosten  Irei  demselben  möglichst  herabzudrücken.  „Statt  dessen  uber- 
bieten sich,  in  bester  Absicht  natürlich,  Genossenschaften,  Gesellschaften, 
Kommunen  und  Private  in  der  möglichst  vollkommenen  äufseren  und 
inneren  Ausstattung  der  Kleinbauten  für  Arbeiter,  erleichtern  so  der 
Mietkaserne  die  Konkurrenz,  die  ihrerseits  mit  wirtschaftlicher  Not- 
wendigkeit die  Hodenpreise  in  die  Hohe  treibt,  und  beklagen  sich  dann 
über  die  ( leister,  die  sie  selbst  gerufen“  (png.  363).  In  der  Einfachheit 
und  Billigkeit  der  Arbeiterhäuser  in  Belgien  und  England  sieht  A.  Voigt 
daher  neben  der  Sitte  einen  der  Hauptgründe  für  die  Erhaltung  des 
Kleinwohnungsbaues. 

Suchen  wir  nun  kurz  die  Resultate  festzustellen,  die  sich  unserer 
Ansicht  nach  aus  den  im  Vorstehenden  skizzierten  Untersuchungen  er- 
geben. Als  die  rapide  Bevölkerungszunahme  Berlins  anfangs  der  60  er 
Jahre  und  dann  seiner  Vororte  anfangs  der  70er  Jahre  begann,  fand  die 
kapitalistische  Grofs-Bauunternehmung  das  Etagenhaus  als  die  verbreitetste 
Wolmform  \ or.  Bereits  1864  betrug  die  Zahl  der  Gebäude  mit  Erd- 
geschofs  und  3 Stockwerken  362  mit  4 und  mehr  1 52  Sie 

griff  diese  Wohuform  als  eine  ihr  äufserst  kongeniale  Hauform  auf  und 
bildete  dieselbe  weiter  aus.  So  ward  also  die  Mietkaserne,  deren  An- 
fänge bereits  in  vorkapitalistischer  Zeit  gelegt  waren , zum  Werk- 
zeuge, mit  dem  der  kapitalistische  Grofsbetrieb  die  Hausung  der  zu- 
strömenden Bevölkerungsmassen  in  Angriff  nahm  und,  wenn  wir  nur  die 
Thatsache,  nicht  aber  die  Art  der  Hausung  ins  Auge  fassen,  auch 
erfolgreich  bewerkstelligte.  Der  Siegeslauf  der  Mietkaserne  ist  ebenso 


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526 


Litteratur. 


in  den  wirtschaftlichen  Produktionsverhältnissen  begründet,  wie  ihre  Ent- 
stehung durch  die  wirtschaftliche  Entwicklung  der  mit  ihr  beglückten 
deutschen  Städte  bedingt  ist.  Es  sind  nun  die  Mieterträge,  welche  den 
Bodenwert  oder  besser  gesagt  die  Grenze  bestimmen,  bis  zu  der  von 
der  Bodenspekulation  die  Bodenpreise  mit  dauerndem  Erfolge  getrieben 
werden  können.  Wo  also  der  Hochbau  vorherrscht,  müssen  die  Boden- 
tlrcise  viel  höhere  sein,  als  in  Gebieten  des  Kleinbaues,  und  daraus 
folgt  dann  wieder,  dafs  der  Kleinbau  in  gemeinschaftlichen  Gebieten 
neben  dem  Hochbau  unmöglich  ist.  Das  Steigen  der  Mieten  wird  ver- 
anlafst  durch  den  Bevölkeningszuzug , der  das  Wohnungsangebot  auf- 
zehrt und  eine  gesteigerte  Wohnungsnachfrage  erzeugt.  Diese  Miet- 
steigerung, an  der  theoretisch  alle,  in  der  Praxis  wohl  die  Mehrzahl  der 
Wohnungen  teilnimmt,  ist  zunächst  gleichbedeutend  mit  einer  Wert- 
steigerung des  bebauten  Bodens,  wirkt  dann  aber  auch  weiter  preissteigernd 
auf  den  unbebauten  Boden.  Die  Chancen  der  Konjunktur  werden  natür- 
lich von  der  Spekulation  ausgeniitzt,  der  es  zeitweise  gelingen  mag,  den 
Bodenpreis  noch  über  seine  in  den  wirtschaftlichen  Verhältnissen  be- 
dingte Höhe  hinauszutreiben.  Ob  diese  spekulativ  erreichte  Höhe  be- 
hauptet wird,  hängt  davon  ab,  ob  die  wirtschaftliche  Konjunktur  fort- 
dauert oder  ein  Umschlag  eintritt.  Wenn  wir  gröfsere  Zeitabschnitte 
und  das  Gebiet  einer  ganzen  Stadt  ins  Auge  fassen,  können  wir  fest- 
stellen, dafs,  Gleichbleiben  des  Wirtschaftssystems  vorausgesetzt,  das 
Steigen  der  Bodenpreise  und  ebenso  der  Mieten  ein  stetiges  ist.  Die 
Kopfquote  des  Mietzinses  steigt  und  sie  bedeutet  zweifellos  eine  absolute 
Mehrbelastung  der  Wohnenden. 

Mit  der  Wohnungsinspektion  beschäftigen  sich  zwei  Beiträge 
zu  den  „Untersuchungen"  des  Vereins  für  Sozialpolitik  : ein  Beitrag  Dr. 
J.  J.  Reinekes,  Die  Beaufsichtigung  der  vorhandenen 
Wohnungen  und  einer  unter  gleichem  Titel  von  Oberbürgermeister 
Z w e i ge  r t - Essen.  Der  erste  Referent  giebt  uns  in  dem  ersten  Teile  seiner 
Schrift  eine  Uebersicht  über  die  gesetzliche  Regelung  der  Wohnungsinspek- 
tion in  den  deutschen  Bundesstaaten,  wobei  er  als  Hamburger  Medizinalrat 
begreiflicherweise  die  Hamburger  Wohnungsinspektion  ausführlicher  behan- 
delt. Die  Kritik,  die  er  an  dem  ehrenamtlichen  Charakter  des  Wohnungs- 
pflegeramtes übt,  deckt  sich  im  wesentlichen  mit  dem,  was  wir  in  unserer 
„Deutschen  Städteverwaltung"  (pag.  463)  über  die  Hamburger  Wohnungs- 
inspektion ausgeführt  haben.  Es  ist  nicht  unangebracht,  die  Hauptpunkte 
derselben  hier  hervorzuheben,  da  auch  andere  Städte,  z.  B.  Stuttgart,  das 
Hamburger  Vorbild  nachahmen  wollen.  Die  womöglich  tägliche  Arbeit 
der  eigentlichen  Wohnungsbesichtigung  hat  sich  für  den  ehrenamtlichen 
Wuhnungspfleger  als  zu  grofs  erwiesen.  Daher  auf  der  einen  Seite  das 
Bestreben,  sich  der  Ehrenpflicht  zu  entziehen,  auf  der  anderen  das  Ver- 
langen, eine  gröfsere  Zahl  von  technischen  Assistenten  anzustellen,  die 
die  eigentliche  Besichtigungsarbeit  thun.  Weitere  Mängel  sind  die  zu 


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Zur  Litteratur  über  die  Wohnungsfrage. 


527 


grofse  Kompliziertheit  der  Behörde  — bei  wichtigeren  Mafsregeln  ist 
ein  langer  Instanzenzug  möglich,  der  natürlich  die  besonders  wünschens- 
werte schnelle  Erledigung  der  Uebelständc  verhindert  — und  der 
nicht  genügende  Zusammenhang  mit  der  Baupolizei.  Dagegen  bezeichnet 
es  Dr.  Reineke  als  einen  Vorzug,  dafs  sich  die  Hamburger  Behörde 
ohne  weiteres  zu  einer  Zentralinstanz  für  das  gesamte  Wohnungswesen 
entwickeln  kann  — wozu  sie  aber  leider  nicht  die  geringste  Neigung 
gezeigt  hat.  Der  zweite  Teil  seiner  Arbeit  beschäftigt  sich  mit  den 
grofsen  Sanierungsplänen  in  Hamburg,  die  nun  endlich  Gesetz  geworden 
sind  und  deren  Durchführung  in  Angriff  genommen  ist.  I )ie  Sanierungen 
wurden  durch  die  Choleracpidemie  von  1892  veranlafst;  für  ihre  Yor- 
bereitung  wurde  damals  eine  Sanierungskommission  eingesetzt.  Diese 
Kommission  erstattete  ihre  Berichte  am  1.  März  1899  und  14.  Februar 
1900,  d.  h.  nach  7 bezw.  8 Jahren!  Sie  brauchte  also  noch  2 Jahre 
länger  für  ihren  Bericht  als  das  Wohnungspflegegesetz,  das  5 Jahre  bis 
zu  seinem  Zustandekommen  gebraucht  hatte.  Eile  mit  Weile  — scheint 
das  Motto  der  Hamburger  Stadtverwaltung  zu  sein,  wenigstens  wo  es 
sich  um  die  Hausung  der  arbeitenden  Klassen  handelt. 

Der  zweite  Referent  über  Wohnungsinspektion  ist  der  Olrerbtirger- 
meister  Zweigert,  der,  wie  es  scheint,  gewählt  worden  ist,  weil  er  als 
„erster  den  Versuch  gemacht  hat  in  einer  preufsischen  Stadt  einen  tech- 
nisch gebildeten  Wohnungsins[>ektor  anzustellen“.  Herr  Zweigert  hat 
allerdings  reaktionäre,  aber  doch  originale  Anschauungen  und  auch  den 
Mut,  ihnen  originellen  Ausdruck  zu  geben.  Das  Referat,  das  er  z.  B. 
vor  einigen  Jahren  auf  der  Versammlung  des  Deutschen  Vereins  für 
öffentliche  Gesundheitspflege  über  Desinfektion  hielt,  geifselte  in  zwar 
übertriebener,  aber  doch  nicht  ganz  unberechtigter  Weise  die  Bazillenjägerei 
der  Mediziner  und  erregte  in  ebenso  berechtigter  Weise  wegen  der  durchaus 
rückständigen  und  laienhaften  Anschauungen  über  Desinfektion  einen  gewal- 
tigen Sturm  unter  den  medizinischen  Fachgelehrten.  Noch  im  Jahre  1 89 1 
bezweifelte  Herr  Zweigert  sehr  stark,  dafs  es  eine  Wohnungsnot  gälte: 
jetzt  ist  er,  wie  er  angiebt,  aus  einem  Saulus  zum  Paulus  geworden. 
Kr  ist  jetzt  bereit,  das  Vorhandensein  einer  W ohnungsfrage  und  die  Not- 
wendigkeit des  Fangreifens  mit  gesetzlichen  und  polizeilichen  Mafsregeln 
zu  bezeugen  — sollte  vielleicht  dies  saulinisch-paulinischc  Zeugnis  die 
Herausgeber  der  Untersuchungen  mit  zu  ihrer  Wahl  bestimmt  haben? 
Aber  auch  heute  noch  hält  Herr  Zweigert  an  der  Ansicht  fest,  dafs  man 
im  allgemeinen  nicht  von  der  Ausbeutung  der  Wohnungsmictcr  durch 
die  Vermieter  zu  sprechen  berechtigt  sei.  Kr  verabscheut  das  Wort 
„ausbeutende  Hausbesitzer",  er  bedauert,  dafs  von  der  Goltz  in  seinem 
bekannten  Buche  von  Hausbesitzern  spricht,  die  in  „Hamburg  infolge 
der  plutokratischen  Wahlordnung  im  Bürgerausschufs  mit  Erfolg  den  Be- 
strebungen des  Senates  entgegengetreten  seien“,  was  doch  nur  die  ein- 
fache Konstatierung  der  Thatsachcn  ist,  und  er  giefst  die  Schale  seines 


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528 


Litte  rutur. 


Zornes  über  L Cohn  lind  seine  Schrift,  Die  Wohnungsfrage  und  die 
Sozialdemokratie  aus,  weil  er  von  Hausagrariern  redet,  das  Haugenossen- 
schaftswesen als  den  „bequemsten  Tummelplatz“  für  alle  sozialpolitischen 
Quacksalber"  bezeichnet  und  Überhaupt  ein  kräftiges  Wortlein  zu 
sprechen  sich  herausnimmt.  Wir  geben  die  Hoffnung  nicht  auf,  dafs 
Herr  Zweigert  auch  in  diesem  Punkte  zum  Paulus  werden  wird,  wenn 
er  ihn  einmal  vorurteilslos  studiert  hat.  Vielleicht  können  wir  ihm  ein 
wenig  zu  schnellerer  Erkenntnis  helfen.  Seite  57  sagt  er  selbst:  „Die 
Teuerkeit  wird  noch  dadurch  gesteigert,  dafs  die  Privatunternehmer,  wie 
wir  das  in  Essen  vielfach  zu  beobachten  (ielegenheit  haben,  bemüht 
sind,  das  ganze  Haus  an  eine  Mittelsperson  zu  vermieten  und  dieser 
die  Weitervermietung  der  einzelnen  W ohnungen  zu  überlassen.  Der  erste 
Mieter  ist  dann  naturgemäfs  bemüht,  soviel  wie  möglich  durch  die 
Weitervermietung  herauszuschlagen  und  verteuert  dadurch  auch  seiner- 
seits die  Wohnung.“  In  diesen  Fällen  ist  also  von  dem  patriarchalischen 
Verhältnis  zwischen  Hausbesitzer  und  Mieter,  das  die  Herren  Haus- 
Iresitzer  und  ihre  Verteidiger  nicht  genug  zu  rühmen  wissen,  überhaupt 
keine  Rede  mehr.  Hier  handelt  es  sich  um  den  nacktesten  Vcrwcrtungs- 
prozefs  des  Kapitals,  und  wo  in  diesem  Prozefs  die  wirtschaftliche  Ucber- 
macht  benutzt  wird,  um  die  höchsten  Erträge  aus  den  wirtschaftlich 
Schwächeren  herauszuwirtschaften,  da  spricht  man  von  Ausbeutung.  Und 
dafs  die  grofse  Masse  der  Arbeiterschaft  und  des  kleinen  Heaintenstandes 
den  Hausbesitzern  gegenüber  die  Schwächeren  sind,  wird  wohl  auch 
Herr  Zweigert  zugeben.  Ob  nun  die  Hausbesitzer  selber  zu  80  Proz. 
oder  mehr  verschuldet  sind,  kommt  dabei  gar  nicht  in  Frage. 

Um  dem  Gegensatz  zwischen  Hausbesitzer  und  Mieter  die  Schärfe 
zu  nehmen,  empfiehlt  Herr  Zweigert  bei  der  Erörterung  der  Wohnungs- 
trage, wenigstens  bei  dein  Teile  derselben,  der  von  dem  Eingreifen  der 
öffentlichen  Gewalt,  von  den  „gesetzlichen  und  polizeilichen  Mafsrcgcln 
/.ur  Verbesserung  der  Wohnungsverhältnisse  handelt,  soweit  angängig,  die 
sozialen  Gesichtspunkte  zurücktreten  zu  lassen  und  die  Wohnungsfrage 
in  erster  Linie  als  eine  Frage  der  Gesundheitspolizei  aufzufassen“.  Von 
diesem  Standpunkte  ist  es  allerdings  von  untergeordneter  Bedeutung,  ob 
staatliche  oder  Gemeindebehörde  die  \Vohnungsins|>ektion  ausüben,  „ob 
man  die  Wohnungsbeaufsichtigung  als  eine  kommunale  Wohlfahrtsein- 
richtung oder  als  eine  Aufgabe  rein  polizeilicher  Thätigkeit  bezeichnet". 
Herr  Zweigert  kann  es  daher  auch  gar  nicht  als  Fehler  ansehen,  dafs 
in  Preufsen  die  Wohnungslieaufsichtigung  der  Polizei  und  nicht  den 
Gemeindebehörden  übertragen  ist.  Er  ist  der  Ansicht,  dafs  in  diesem 
Staate  der  rechtliche  Zustand  nach  der  formellen  und  materiellen  Seite 
so  gut  geordnet  ist,  w ie  das  nur  immer  gewünscht  werden  kann.  Für 
ihn  ist  der  preufsische  Polizeiverwalter  der  geborene  Träger  der 
Wohnungsinspektion,  da  er  nicht  nur  seinem  Gewissen,  sondern  auch  der 
Vorgesetzten  Dicnslltchürde  und  ev.  dem  Zivil-  und  Strafrichter  verant- 


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Zur  Litteratur  Ul»cr  die  Wohnungsfrage. 


529 


wörtlich  ist.  Trotz  dieser  grofsen  Verantwortlichkeit  ist  von  seiten  der 
nach  Herrn  Zweigert  so  befähigten  Polizei  Verwaltungen,  wie  er  selbst 
zugeben  tnufs,  bis  zum  Jahre  1893  so  gut  wie  gar  nichts  geschehen 
und  wird  auch  heutigen  Tages  erstaunlich  wenig  geleistet.  Hat  sieh 
Herr  Zweigert  nicht  einmal  nach  dem  (irunde  dieser  Erscheinung  gefragt? 
Hatte  er  es  gethan,  so  wäre  ihm  vielleicht  der  Gedanke  gekommen,  ilafs 
diese  Unthätigkcit  gerade  in  dem  Wesen  »1er  Polizei  Verwaltungen  be- 
gründet ist,  »lafs  es  nicht  angeht,  eine  so  eminent  soziale  Einrichtung, 
wie  die  Wohnungsinspektion  auf  das  Niveau  polizeilicher  Schutzmafsregcln 
herabzudrücken  und  dafs  ohne  die  aktive  Teilnahme  nicht  nur  der  Ge- 
meindeverwaltung, sondern  auch  der  Bürgerschaft  derartig  lief  in  »las 
wirtschaftliche  l-eben  »1er  einzelnen  eingreifende  Mafsregeln  undurch- 
führbar sind. 

Die  Kapitel:  Stadt  er  Weiterung  und  Bauordnung  sind  von 
J.  Stubben  und  B.  Schilling  für  die  „Untersuchungen'-  des  Vereins  fm 
Sozialpolitik  bearbeitet  worden ; das  crstcrc  von  Stubben  allein,  das  zweite 
von  beiilen  gemeinsam.  Stubben  giebt  im  wesentlichen  einen  kurzen  Auszug 
aus  seinem  älteren  gröfseren  Werke,  Der  Städtebau,  und  berücksichtigt 
dabei  die  neuere  Gesetzgebung  und  Litteratur  in  ausreichender  Weise. 
Wesentlich  neue  Gesichtspunkte  werden  von  ihm  nicht  aufgcslellt:  «lie 
Schrift  hält  sit:h  in  »len  Grenzen  des  Berichtes.  Interessante  Daten  ent- 
hält der  Abschnitt  1Y,  in  dem  die  Resultate  einer  Ent)uete  in  den 
103  Städten  des  Deutschen  Reiches  mit  mehr  als  30000  Einwohnern 
dargestellt  sind.  Die  Schwierigkeiten,  die  den  Gemeinden  bei  der  Ein- 
stellung und  Durchführung  ihrer  Bebauungspläne  seitens  der  staatlichen 
Behörden  gemacht  werden,  treten  dabei  in  ein  sehr  helles  Lieht.  Auf 
diesem  Gebiete  feiert  der  Itcschränkte  Egoismus  der  staatlichen  Kessort- 
politik  gerailezu  Orgien.  Aus  der  von  Stubben  und  Schilling  gemeinsam 
verfafsten  Schrift,  Die  Bauordnung,  sei  zunächst  hervorgehoben,  dafs 
sich  die  Verfasser  mit  aller  Entschiedenheit  für  eine  „Reichsbauordnung" 
ausspreclu'n.  Eine  solche  Reichsbauordnung,  die  den  Rahmen  und  die 
Zielpunkte  der  örtlichen  Bauordnungen  zu  bestimmen  hätte,  halten  sie 
nicht  nur  für  möglich,  sondern  auch  für  höchst  nützlich  und  erstrebens- 
wert. In  neuerer  Zeit  hätte  das  Sächsische  Baugesetz  den  praktischen 
Beweis  dafür  erbracht,  dafs  sich  allgemein  leitende  Gesichtspunkte  für  ein 
gröfseres  Gebiet  sehr  gut  in  Gesetzesform  bringen  lassen.  Selbstver- 
ständlich müsse  dabei  der  Ortsgesetzgebung  das  Recht  weiterer  Aus- 
bildung gewahrt  bleiben.  Das  ist  allerdings  ein  sehr  wichtiger  Punkt, 
da  ja  bekanntlich  ein  Erkenntnis  des  prcufsischen  Oberverwaltungs- 
gerichtes eine  Verschärfung  der  Verordnungen  höherer  Instanz  für 
ebenso  ungesetzlich  erklärt  hat,  als  eine  Abschwächung  derselben.  In 
sehr  hübscher  Weise  stellen  die  Verfasser  neben  die  „territoriale“  Ab- 
stufung der  Bauortlnungen,  die  man  wohl  treffender  als  die  Abstufung 
nach  dem  Ueberbauungsgradc  bezeichnen  dürfte,  die  Abstufung  der  liau- 


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530 


Littcratur. 


Ordnung  nach  den  Gebäudegattungen.  Die  meisten  Bauordnungen  sind 
ja,  soweit  es  sich  um  Wohnhäuser  handelt,  geradezu  auf  die  Mietkasernen 
zugeschnitten  und  erschweren  durch  die  Uebertragung  der  zahlreichen 
für  diese  Hausgattung  unbedingt  notwendigen  Baupolizeivorschriften  den 
Kleinhau  in  ganz  unnötiger  Weise.  Will  man  also  den  hygienisch  und 
sittlich  viel  wünschenswerteren  Kleinbau  befördern,  so  raufs  man  sowohl  mit 
Rücksicht  auf  den  Ucberbauungsgrad  der  Grundstücke,  wie  auch  auf  die 
eigentliche  Bauausführung  demselben  wesentliche  Krleichterungen  zubilligen. 
Das  ist  al>er  bis  jetzt  nur  in  den  allerwenigsten  Städten  geschehen. 
Von  ioo  Städten  mit  mehr  als  30000  Einwohnern  mufsten  4/s  die 
Frage  verneinen,  ob  ihre  Bauordnung  durch  erleichternde  Bestimmungen 
den  Bau  von  kleinen  Häusern  begünstige.  Auch  dort,  wo  solche  Er- 
leichterungen bestehen,  sind  dieselben  höchst  bescheidener  Art,  wie 
Reihenbau  in  Gruppen  auf  dem  Gebiete  der  offenen  Bebauung,  geringerer 
Fensterabstand  von  der  Nachbargrenze,  kleinere  Hoffläche,  Verwendung 
von  Fachwerk,  weniger  scharfe  Bestimmungen  über  die  Anlage  von 
Treppen  und  Brandmauern  etc.  Anderseits  soll  die  Bauordnung  den 
Bau  von  Mietkasernen  ülrerhaupt  erschweren,  auf  jeden  Fall  aber 
ihre  anstöfsigsten  Zuge  aus  der  Welt  schäften.  Das  Z.usaminendrängen 
zahlreicher  Wohnungen  auf  eine  Eitage  und  Anweisen  derselben  auf 
eine  Treppe  z.  B.  läfst  sich  sehr  einfach  durch  ein  direktes  Verbot 
unmöglich  machen,  ln  Karlsruhe  und  im  Entwurf  der  neuen  Metzer 
Bauordnung  werden  für  je  zwei  Wohnungen  im  gleichen  Stockwerk  eine 
Treppe  verlangt.  Wie  rückständig  auf  diesem  Gebiete  unsere  Bau- 
ordnungen sind,  geht  auch  daraus  hervor,  dafs  keine  derselben  die  Ab- 
schliefsbarkeit  jeder  selbständigen  Wohnung  nach  aufsen  hin  fordert. 
Ausführlicher  l>ehandeln  die  Verfasser  die  wichtige  E’rage  der  Gebäude- 
abstände und  Gebäudehöhe  an  Höfen.  Mit  Recht  halten  sie.  wie  auch 
Baumeister  und  von  Grubcr  besondere  Vorschriften  über  Hofgröfsen  für 
entbehrlich,  sofern  man  nur  über  die  Gebäudeabstände  angemessene 
Vorschriften  erläfst.  Baumeister  verlangt  bekanntlich  solche  Gebäude- 
abstände,  dafs  durch  dieselben  ein  Lichteinfallswinkel  von  45”  garantiert 
wird.  Damit  würde  den  an  Höfen  belegenen  Wöhnräumen  inbezug 
auf  Licht-  und  Luftzufuhr  dieselbe  Lage  wie  den  strafsenwärts  ge- 
richteten Zimmern  gewährt  werden.  Wir  müssen  eine  Reihe  sehr 
interessanter  Abschnitte  über  die  Zahl  der  Geschosse  (Keller-  und  Dach- 
wohnungen , die  Be-  und  Entwässerung,  die  Aborte,  die  Rückwirkung 
feuerpolizeilicher  und  konstruktiver  Bestimmungen  auf  die  Wöhnweise  über- 
gehen und  heben  hier  nur  noch  den  Satz  hervor,  dafs  wir  hinsichtlich  der 
Berücksichtigung  sozialer  Gesichtspunkte  in  den  Bauordnungen  uns 
überhaupt  erst  in  den  Anfängen  befinden.  ,.I)ie  Bauordnung  ist  in  den 
letzten  Jahren  eine  E’rage  der  allgemeinen  sozialen  Wohlfahrt  ge- 
worden" — wir  unterschreiben  diesen  Satz  mit  all  seinen  Konsequenzen 
und  stellen  daher  an  unsere  Gemeindeverwaltungen  die  Forderung,  nun 


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Zur  Littcralur  über  <lic  Wohnungsfrage. 


53 1 

aucli  den  sozialen  Grundsätzen  in  den  Hauordnungen  zum  Siege  zu 
verhelfen. 

Die  Bedeutung  des  Mietrechtes  für  die  Wohnfrage  untersucht 
eine  Abhandlung  von  Dr.  F 1 e s c h und  Z i r n d o r f e r (in  Frankfurt  a M.\ 
die  diese  Frage  mit  Rücksicht  auf  die  deutsche  Gesetzgebung  behandeln, 
und  eine  solche  von  Prof.  P ferse  he  (Prag),  der  die  österreichischen 
Zustände  darstellt.  Wenn  wir  auch  den  beiden  erstgenannten  Verfassern 
darin  beistimmen,  dafs  die  Ausgestaltung  des  Mictrechtes  nach  sozialen 
Grundsätzen  gröfsere  Aufmerksamkeit,  als  bisher  ihr  zu  teil  geworden 
ist,  verdient,  so  schätzen  wir  doch  den  Kintlufs  desselben  auf  die 
Wohnungsfrage  nicht  so  hoch  ein,  als  sic  es  tliun.  Ihre  Vorschläge 
laufen  im  wesentlichen  auf  die  von  Dr.  Flesch  schon  früher  litterarisch 
vertretenen  Forderungen  hinaus.  Auf  der  einen  Seite  wird  eine  der- 
artige Umgestaltung  des  Mietrechtes  verlangt,  dafs  dem  Vermieter  durch 
schleunigen  und  billigen  Mietprozefs  und  rasche  Exekution  die  Rente 
gesichert  sei.  Anderseits  soll  durch  eine  Unterscheidung  zwischen 
grofsen  und  kleinen  Mietverhältnissen  der  Schutz  des  kleinen  wirtschaft- 
lich schwächeren  Mieters  erreicht  werden.  Zu  diesem  Zwecke  wäre  cs 
notwendig,  die  Bestimmung  der  Minimalleistungen,  die  der  Vermieter 
machen  mufs,  und  der  Minimalanforderungen,  die  der  Mieter  gegen  jeden 
Mitmieter  hat,  unter  den  Schutz  des  öffentlichen  Rechtes  zu  stellen. 
Gekünstelt  erscheint  uns  die  Art  und  Weise,  wie  das  Kahlpfändungs- 
recht und  der  Schutz  des  beweglichen  Eigentums  des  einen  Ehegatten 
gegenüber  dem  anderen  in  Beziehung  mit  der  Wohnungsfrage  gebracht 
werden.  Gcwifs  sind  Möbel  und  sonstiger  Hausrat  erforderlich,  um  eine 
Wohnung  wohnlich  zu  machen,  aber  ebensogut  kann  man  diesen  Satz 
auch  umdrehen.  Und  wenn  nun  Mieter  die  zum  Wohnen  notwendigen 
Mittel  durch  Zwangsvollstreckungen  verloren  oder  verkauft  bezw.  vergeudet 
haben,  so  können  wir  in  solchen  Fällen  keine  direkte  Beziehung  der 
Rechtsordnung  zur  Wohnungsfrage  entdecken,  wie  es  die  Verfasser  thun. 
Die  von  ihnen  vorgeschlagene  weitere  Ausdehnung  der  Pfandfreiheit 
nach  dem  Vorbilde  der  amerikanischen  exemtion  laws  und  ebenso 
der  Schutz  der  Frau  gegen  eine  Verschleuderung  des  zum  Wohnen  er- 
forderlichen Mobiliars  durch  den  Mann  sind  doch  in  erster  Linie  für 
die  soziale  Existenz  einer  Familie,  die  sich  allerdings  zum  guten  Teil, 
aber  doch  nur  zum  Teil  in  der  Wohnung  abspielt,  von  Bedeutung,  da- 
gegen eher  geeignet,  die  Wohnungsnot  zu  verschärfen,  soweit  sie  eine 
Folge  der  Ablehnung  bestimmter  Mieterklassen  durch  die  Vermieter  ist, 
als  zu  erleichtern 

Mit  dem  Mietrechtsverhältnis  und  seiner  Reform  be- 
schäftigt sich  gleichfalls  eine  Schrift  von  Dr.  Stier-Somlo,  die  in 
der  Sammlung  von  Abhandlungen  „Die  Wohnungsfrage  und  das  Reich", 
herausgegeben  vom  Verein  Reichs-Wohnungsgesetz,  erschienen  ist.  Der 
Verfasser  will  prüfen,  „wie  weit  das  bestehende  Mietrecht,  der  Miet- 


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532 


I.ittcratur. 


pro/efs  und  die  Zwangsvollstreckung  gegen  Mieter  einer  Sozialisierung  im 
Sinne  fortschreitender  gemäfsigter  Sozialpolitik  bedürfen".  Seine  all- 
gemeinen Resultate  decken  sich  im  wesentlichen  mit  den  Vorschlägen 
der  Ireiden  vorgenannten  Autoren.  Das  gilt  z.  B.  für  die  Beschleunigung 
des  Miet prozesses  und  die  Krrichtung  von  Mietschiedsgerichten,  für  die 
Sozialisierung  der  Zwangsvollstreckung  und  die  Berücksichtigung  der  Ver- 
schiedenheiten der  Mietverhältnisse.  Beachtenswert  ist  sein  Vorschlag, 
die  Räutnungsaufforderung  zunächst  durch  besondere  Wohnungsbeamte 
ergehen  zu  lassen  und  erst  bei  Widerstand  den  Gerichtsvollzieher  in 
Aktion  zu  setzen.  Im  einzelnen  unterwirft  den  Verfasser,  die  Be- 
stimmungen des  von  dem  Verband  der  deutschen  Hausbcsit/ervereine 
ausgearbeiteten  Mietvertragsentwurfes  einer  scharfen  Kritik  und  stellt  im 
Anschlufs  daran  eine  Reihe  von  Sätzen  auf,  die  über  das  Bürgerliche 
Gesetzbuch  hinaus  itn  Interesse  des  Mieters  notwendig  sind.  Ks  handelt 
sich  hier  um  die  Aufhebung  von  Parteiabreden  gegen  die  }JjJ  535  — 53S 
des  Bürgerlichen  Gesetzbuches,  die  Wirkung  nicht  vertragsmäfsiger  Be- 
nutzung der  gemieteten  Sache  auf  Kündigung  und  Schadenersatz,  das 
Aufrechnungsrecht  des  Mieters,  das  Räumungsrecht  und  den  Anspruch 
auf  Zahlung  fälliger  Mietraten,  den  Interessengegensatz  zwischen  Mieter 
und  Vermieter  bei  baulichen  Veränderungen  und  Verbesserungen,  das 
Kiindigungsrecht  des  Mieters  bei  Nichtgcnchmigung  der  Aftermiete,  die 
Einbeziehung  der  Hausordnung  in  den  Mietvertrag  und  den  Ausschluß 
der  Verzugsfolgen.  Den  Vorschlägen  des  Verfassers  wird  man  in  den 
Hauptpunkten  zustimmen  können.  „Utopistisch“  würden  dieselben  aller- 
dings nicht  nur  dem  Zweifler,  wie  der  Verfasser  meint,  sondern  auch 
dem  praktischen  Politiker  insofern  erscheinen,  als  eine  Verwirklichung 
derselben  nicht  nur  an  der  Thatsache  des  Bürgerlichen  Gesetzbuches, 
sondern  auch  an  dem  zähen  Widerstande  der  Hausbcsitzerklasse  für 
lange  Zeit  unüberwindbare  Hindernisse  finden  dürfte.  — 

Wir  kommen  nunmehr  zur  Besprechung  des  zweiten  Bandes  der 
Untersuchungen  des  Vereins  für  Sozialpolitik  „Die  Mafsnahmen  zur 
Kr  Stellung  und  zur  Forderung  des  Baues  gesunder  und 
billiger  k I e i 11er  Woh  n un  gen".  An  der  Spitze  dieses  Bandes  steht 
ein  Beitrag  des  Prof.  H.  Al  brecht,  Bau  von  kleinen  Wohnungen 
durch  Arbeitgeber,  Stiftungen,  gemeinnützige  Baugcscll- 
schaften  und  -Vereine,  Baugenossenschaften  und  in 
eigener  Regie  der  Gemeinden,  der  auf  Grund  einer  umfassenden 
Sachkenntnis  in  klarer,  nüchterner,  vorurteilsloser  Prüfung  das  Für  und 
Widct  der  Bauthätigkcit  der  Arbeitgeber  und  Korporationen  erwägt  und 
zu  sehr  beachtenswerten  Resultaten  kommt,  ln  der  Plage  des  Baues 
von  Wohnungen  durch  Arbeitgeber  nimmt  er  den  Standpunkt  ein,  der 
von  den  fortgeschritteneren  Sozialreforincrn  vertreten  wird.  Kr  hält  die 
Nachteile  für  so  grofs,  dafs  er  den  Arbeitgebern  empfiehlt,  in  anderer 
Weise  ihren  Arbeitern  Wohnungen  zu  verschallen.  P'.r  denkt  da  an  die 


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Zur  Litte  rat  ur  iiln-r  <lii*  Wohnungsfrage. 


533 


l'ebemahme  von  Aktien  gemeinnütziger  Ballgesellschaften,  von  Anteil- 
scheinen vier  Baugenossenschaften  gegen  die  Gewährung  des  Rechtes, 
eine  entsprechende  Zahl  der  von  solchen  Gesellschaften  hcrgestellten 
Wohnungen  für  ihre  Arbeiter  in  Anspruch  zu  nehmen.  Dabei  mufs 
aber  in  gleicher  Weise  wie  bei  den  Wohnungen  der  Arbeitgeber  selbst 
dafür  gesorgt  sein,  dafs  der  Arbeiter  nicht  nach  Losung  des  Arbeits- 
verhältnisses aus  seiner  Wohnung  auf  die  Strafse  gesetzt  wird  (wie  im 
Dresdener  Spar-  und  Bauverein  geschehen).  Auch  mit  seiner  Kritik  der 
„gemeinnützigen  Bauthütigkeit"  kann  man  im  wesentlichen  einverstanden 
sein,  ln  trefflicher  Weise  werden  die  Gründe  gegen  das  Eigenhaus- 
system entwickelt  und  darauf  hingewiesen,  dafs  besonders  in  den  Fällen, 
wo  sich  die  bauenden  Gesellschaften  ein  Vorkaufsrecht  ausbedingen,  < bis 
oft  in  raffinierter  Weise  verklausulierte  Eigentumsrecht  des  mit  einem 
Hause  beglückten  Käufers  kaum  noch  einen  Inhalt  hat.  Wozu  also 
dieser  ganze  Apparat,  wenn  man  das  Ziel  viel  einfacher  auf  dem  Wege 
des  Mielsystems  erreichen  kann?  Mit  dem  Mietsystem  sind  ja  Ein- 
und  Zweifamilienhäuser  ebensogut  möglich  als  des  Etagenhaus  fiir  das 
in  seiner  hygienischen  Form  Rrof.  Albrccht  in  berechtigter  Weise  ein- 
tritt.  Die  Zahl  der  Organisationsformen  auf  dem  Gebiete  der  gemein- 
nützigen Bauthätigkeit  ist  eine  sehr  grofse.  Davon  tragen  die  Aktien- 
gesellschaften, Gesellschaften  mit  beschränkter  Haftpflicht,  eine  Anzahl 
von  Vereinen  und  Stiftungen  den  Charakter  von  Veranstaltungen,  die 
auf  den  Wohlthätigkeitssinn  der  besitzenden  Klassen  basiert  sind,  daher 
auch  stets  nur  ein  sehr  beschränktes  Gebiet  bearbeiten  können.  Ihnen 
gegenüber  stehen  die  von  den  Wohnungsbedürftigen  selbst  organisierten 
( »enossenschaften,  die  ja  in  den  letzten  Jahren  in  den  Vordergrund  des 
allgemeinen  öffentlichen  Interesses  getreten  sind.  In  zutreffender  Weise 
wird  hcrvorgeholien,  dafs  das  Arbeitsfeld  der  Baugenossenschaften  gleichfalls 
ein  begrenztes  ist.  Sic  setzen  eine  besser  gelohnte,  sozial  höherstehende 
Arbeiterklasse  voraus,  für  die  d'e  erstgenannten  Organisationsformen 
wegen  ihres  Wohlthätigkeitscharakters  veraltet  sind.  Ueber  die  prak- 
tischen Resultate  nicht  nur  der  Genossenschaften,  sondern  der  gemein- 
nützigen Bauthätigkeit  iilrerhaupt  und  ebenso  über  ihre  Zukunftsaus- 
sichten urteilt  der  Verfasser  pessimistisch,  aber  durchaus  zutreffend  in 
folgender  Weise : „Wenn  wir  überblicken,  was  denn  nun  in  Summa  durch 
die  gesamte  gemeinnützige  Bauthätigkeit  geschaffen  ist,  so  werden  wir, 
wenn  wir  ehrlich  sein  wollen,  offen  eingestehen  müssen,  dafs  das  Ge- 
samtresultat  im  Vergleich  zu  dem  vorhandenen  Notstand  ein  traurig 
geringfügiges  ist,  und  das  wird  auch,  wenn  wir  uns  in  den  bisherigen 
Bahnen  weiter  bewegen,  in  absehbarer  Zeit  kaum  viel  anders  werden. 
Fiir  uns,  wie  für  die  meisten,  die  sich  mit  dieser  Frage  eingehend  be- 
schäftigt haben,  steht  fest,  dafs  ohne  eine  gründliche  Aenderung  der 
staatlichen  Wohnungspolitik  und  ohne  ein  tlmtkräftiges  Eingreifen  der 
Gemeinden,  zu  dem  ja  erfreulicherweise  bereits  die  Ansätze  vorhanden 


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534 


Litteralur. 


sind,  die  Wohnungsfrage  ungelöst  bleiben  wird.  Wir  betrachten  die 
gemeinnützigen  Ballgesellschaften  und  die  Baugenossenschaften  nur  als 
die  Pioniere,  die  zunächst  einmal  die  Erfahrungen  sammeln,  auf  denen 
eine  Wohnungsreform  in  gröfserem  Stile  weiter  bauen  kann,  die  durch 
das  Beispiel  anregend  wirken  und  den  Massen  der  Wohnungsbedürftigen, 
die  in  dem  jahrelangen  Wohnungselend  fast  schon  den  Mafsstab  dafür 
verloren  haben,  was  ein  gesundes  und  behagliches  Heim  für  die  ge- 
samte Lebenshaltung  bedeutet,  erst  wieder  zum  Bewufstsein  bringen, 
woran  sie  kranken.“  — 

Ein  thatkräftiges  Eingreifen  des  Staates  und  der  Gemeinden!  Mit 
der  gleichen  Forderung  schliefst  auch  Landes  rat  Brandts  seinen 
Beitrag,  der  die  „Beschaffung  der  Geldmittel  für  die  ge- 
meinnützige Bau t h ä t ig k e i t“  behandelt.  Das  freie  Walten  der 
Spekulation  in  der  Wohnungsfrage  kann  zu  keinem  guten  Ende  führen, 
oder,  wie  er  sich  an  anderer  Stelle  ausdrückt,  auf  dem  Wege  des  absolut 
freien  Spiels  der  wirtschaftlichen  Kräfte  kann  die  Wohnungsfrage  nicht 
gelost  werden,  sonst  müfste  sie  längst  gelöst  sein.  Wie  die  Anlage  und 
Erweiterung  der  Städte  mufs  auch  die  Schaffung  der  erforderlichen 
Wohnungen  zu  einer  öffentlichen  Angelegenheit  werden.  Als  Ziel  be- 
zeichnet Brandts  die  weitestgehende  Ausscheidung  der  spekulativen,  mit 
Boden-  und  Verkaufsspekulation  verbundenen  Bauthätigkeit  aus  der 
Wohnungsproduktion  und  ihren  Ersatz  durch  die  Bauthätigkeit  im  Auf- 
träge sei  es  des  einzelnen  Privatmannes,  sei  es  der  Konsumenten- 
genossenschaften. Um  das  zu  erreichen,  bedarf  es  aller  v iel  weitgehenderer 
Maßnahmen , als  der  Verfasser  annimmt.  Mit  der  Verbilligung  der 
Bodenpreise  durch  öffentliche  Eingriffe,  mit  der  Organisation  der 
Konsumenten,  ja  selbst  mit  der  öffentlichen  Regelung  des  Hypotheken- 
kredits, so  wertvoll  alle  diese  Maßnahmen  auch  sein  mögen,  ist  es 
da  nicht  gethan.  Dafür  ist  die  Vorbedingung  die  Heraussetzung  des 
Grund  und  Bodens  aus  dem  Getriebe  der  kapitalistischen  Wirtschaft,  dip 
Kommunalisierung  der  Grundrente.  — Landesrat  Brandts  geht  davon 
aus,  daß  die  Produktion  von  Arbeiterwohnungen  wesentlich  hinter  dem 
Bedürfnis  zurückgeblieben  ist  und  daher  eine  „behördliche  Anregung, 
ja  geradezu  eine  Prämiierung  derselben  erforderlich  ist".  Es  fragt  sich 
nur,  ob  die  behördliche  Nachhilfe  auch  dem  gewerblichen  Wohnungsbau 
oder  nur  dem  gemeinnützigen  Wohnungsbau  zugewandt  werden  solle? 
Mit  anderen  Worten  soll  auch  das  Baugewerbe,  wie  das  ja  stets  von  der 
Organisation  der  Hausbesitzer  gefordert  wird,  oder  sollen  nur  die  orga- 
nisierten Konsumenten,  denen  der  gemeinnützige  Wohnungsbau  zugute 
kommt,  subventioniert  werden  ? Eine  Reihe  von  Prämien  kommt  nun 
nach  Ansicht  des  Verfassers  auch  für  den  gewerbsmäßigen  Arbeiter- 
Wohnungsbau  und  -Besitz  in  Betracht,  nämlich  einmal  Mittel,  die,  wie 
der  Erlaß  von  Straßenbaukosten,  Stempelkosten,  Umsatzsteuer,  Abstufung 
der  Bauordnungen,  eine  Verbilligung  der  Herstellungskosten  bewirken, 


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Zur  Litteratur  über  die  Wohnungsfrage. 


535 


und  ferner  solche  Mittel,  die,  wie  die  Verminderung  der  Gebäudesteuer, 
Abstufung  der  Gebühren  etc.,  die  jährlichen  Abgaben  von  Arbeiter- 
häusern herabsetzen.  Eine  Verbilligung  der  Mieten  erwartet  auch 
Brandts  nicht  von  diesen  Mafsnahmcn,  sondern  nur  eine  Erhöhung  der 
Arbcitcrhausrcnte  und  von  dieser  Erhöhung  einen  lebhafteren  Bau  von 
Arbeiterwohnungen.  Irgend  welche  Gegenleistungen  mit  Bezug  auf  Höhe 
der  Mieten,  Maximalbelegung  etc.  will  er  nicht  verlangt  wissen,  da  sich  die 
allgemeine  Bauunternehmung  nicht  gern  auf  solche  Bedingungen  einläfst. 
Das  glauben  wir  gern ; denn,  würde  eine  Erhöhung  der  Mieten  ausge- 
schlossen, so  fiele  auch  jede  spekulative  Ausbeutung.  Welcher  Vorteil 
aber  den  Mietern  aus  dieser  ganzen  Subvention  erwachsen  soll,  ist  uns 
vollständig  unklar,  wenn  eine  Verbilligung  der  Mieten  ausgeschlossen 
ist.  Den  einzigen  Nutzen  hat  das  private  Bauunternehmertum  in  der 
gestiegenen  Arbeiterhausrentc.  Sehr  viel  scheint  sich  übrigens  der  Ver- 
fasser nicht  von  diesen  Subventionen  zu  versprechen;  es  bedarf  nach 
ihm  einer  noch  weitergehenden  Anregung,  um  die  nötige  Zahl  neuer 
Arbeiterwohnungen  zu  erhalten,  nämlich  „billiges  und  ausreichendes 
Geld“.  Für  die  Geldunterstützung  sollen  aber  auch  nach  Brandts  ge- 
wisse Gegenleistungen  übernommen  werden,  sie  sollen  nur  dem  „gemein- 
nützigen Wohnungsbau“  zugute  kommen.  Worin  besteht  nun  die  Ge- 
meinnützigkeit? Wir  können  die  von  dem  Verfasser  gegebene  Definition 
nicht  gerade  für  sehr  glücklich  halten.  Wesentliche  und  unwesentliche 
Merkmale  stehen  ohne  Ordnung  durcheinander,  vor  allem  aber  fehlt  es 
an  dem  konstituierenden  Merkmal.  Dafs  die  zu  bauenden  Häuser 
äufserlich  architektonische  Durchbildung  zeigen  müssen,  ist  doch  sehr 
nebensächlich.  Ein  mäfsiger  Gewinn  (was  ist  ein  solcher  mäfsiger  Ge- 
winn?) aus  Hausbau,  Hausmiete  und  Hausverkauf  soll  erlaubt  sein,  zu- 
gleich aber  die  Häuser  und  Grundstücke  möglichst  dauernd  der  Speku- 
lation entzogen  werden.  Jetier  Hausverkauf  auch  mit  mäfsigem  Gewinn 
bedeutet  aber  die  Ausnutzung  der  steigenden  Grundrente,  eine  Teilnahme 
an  den  Gewinnen,  die  zum  guten  Teil  durch  die  Thätigkeit  tlcr  Speku- 
lation erzielt  werden.  Unseres  Erachtens  mufs  das  Hauptmerkmal  der 
gemeinnützigen  Bauthätigkcit  gerade  der  dauernde  Verzicht  auf  die 
steigende  Grundrente  sein.  Die  Mieten  sollen  nach  den  Selbstkosten 
berechnet  und  nicht  in  Zeiten  günstiger  Konjunkturen  erhöht  werden. 
Damit  wird  das  allgemeine  Steigen  des  Mietniveaus,  das  eine  Folge  der- 
selben zu  sein  pflegt,  durchbrochen;  Inseln  billiger  Mieten  aus  der  Hoch- 
flut der  kapitalistischen  Ausbeutung  gerettet.  Wenn  dann  zunächst  ein- 
zelne Mietergruppen  infolgedessen  «len  Vorteil  besonders  billiger  Woh- 
nungen geniefsen,  so  können  wir  darin  kein  Unglück  sehen.  Wir  sehen 
den  Zweck  der  gemeinnützigen  Bauthätigkcit  nicht  wie  Brandts  darin, 
den  Arbeitern  für  den  sonst  üblichen  Aufwand  eine  geräumigere,  bessere 
Wohnung  zu  liefern.  Eine  geräumigere,  bessere  Wohnung  für  geringeren 
Aufwand  — das  ist  das  zu  erreichende  Ziel,  solange  nicht  das  Einkommen 


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536 


Literatur. 


der  Arbeiterschaft  derartig  gestiegen  ist,  dafs  der  heute  von  ihr  für 
W ohnung  aufzuwendende  Teil  desselben  in  das  richtige  Verhältnis  zum 
Ganzen  gebracht  ist. 

Der  zweite  gröfsere  Teil  der  Schrift  ist  der  Darstellung  der  der 
gemeinnützigen  liauthätigkeit  schon  heute  zur  Verfügung  stehenden  oder 
zu  erschließenden  Geldquellen  gewidmet.  Als  communis  opinio  be- 
zeichnet der  Verfasser  die  Notwendigkeit  der  Zentralisierung  der  dir 
den  gemeinnützigen  Wohnungsbau  erforderlichen  Geldmittel.  Eine  staat- 
liche oder  kommunale  Bank,  mit  dem  Hecht  der  Ausgabe  öffentlicher 
Obligationen  oder  staatlicher  Pfandbriefe,  in  denen  die  Versicherungs- 
anstalten, die  Stiftungen,  die  Sparkassen  u.  s.  f.  einen  Teil  ihres  Vermögens 
anzulegen  hatten,  wäre  geradezu  die  Bedingung  für  die  rüstige  Weiter- 
entwicklung der  gemeinnützigen  liauthätigkeit. 

Das  grofse  Gebiet  der  Mafsregeln,  die  von  den  Gemeinden 
zur  Unterstützung  des  Klcinwohnungsbaues  getroffen 
werden  können,  wird  von  Oberbürgermeister  Beck- Mannheim  in 
ausführlicher  Darstellung,  von  Oberbürgermeister  Ad  ick  es  mit  spezieller 
Bezugnahme  auf  die  Thätigkeit  der  Frankfurter  Stadtverwaltung  be- 
handelt. Beide  nehmen  in  dieser  Frage  ungefähr  denselben  Standpunkt 
ein.  Als  die  natürlichste  Form  der  Befriedigung  des  Wohnungsbedarfcs 
bezeichnet  der  ersten?  die  Erstellung  von  Gebäuden  mit  mehreren  Woh- 
nungen durch  Privatunternehmer  und  die  Vermietung  der  nicht  für  den 
eigenen  Bedarf  erforderlichen  Räume  zu  Erwerbszwecken.  Aus  dieser 
Auffassung  folgt  dann,  dafs  die  gesamte  „gemeinnützige  Bauthätigkeit“, 
um  diesen  Samtnelausdruck  hier  anzuwenden,  nur  als  Ergänzung  dienen 
darf  und  aulzuhören  hat,  sobald  die  private  Bauthätigkeit  gesunde  und 
billige  Kleinwohnungen  in  genügender  Zahl  liefert.  Sie  bestimmt  dann 
auch  die  Stellung,  die  die  Gemeinden  gegenüber  den  treidelt  Arten  von 
Bauthätigkeit  einzunchmen  haben.  Um  das  Privatkapital  wieder  für 
den  Kleinwohnungsbau  zu  interessieren,  will  er  demselben  aufser  der 
üblichen  Verzinsung  und  Amortisierung  und  dem  Ersatz  aller  Baraus- 
lagcn  (inkl.  Gebäudesteuer)  noch  einen  mäfsigen  Reingewinn  zugcstchen 
und  tritt  daher  entschieden  für  die  steuerliche  Begünstigung  des  Ar- 
beiterhauses ein,  ganz  ohne  Rücksicht  darauf,  ob  die  Häuser  von  der 
privaten  oder  gemeinnützigen  Bauthätigkeit  errichtet  sind.  Eine  Gegen- 
leistung für  diese  Steuerprivilegierung  privater  Unternehmer  oder  Haus- 
besitzer, die  doch  vor  allem  in  der  Festlegung  der  Mieten  zu  bestehen 
hätte,  lehnt  er  ebenso  ab,  wie  Brandts.  Seinen  Glauben,  dafs  vielleicht 
ein  Teil  der  Steuerprivilegierung  durch  die  Konkurrenz  auch  dem  Mieter 
zugute  kommen  würde,  teilen  wir  durchaus  nicht.  Bisher  hat  alle  Er- 
fahrung gezeigt,  dafs  die  errungenen  Miethöhen  bei  den  kleinen  Woh- 
nungen von  den  Hausbesitzern  selbst  in  Zeiten  schlechter  Konjunktur  mit 
Erfolg  verteidigt  werden.  Die  Verbilligung  der  Bauplatzprcise  durch  eine 
zielbewufste  Bodenpolitik  der  Gemeinde,  die  Beschränkung  des  Ueber- 


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Zur  Litn  ralur  über  die  Wohnungsfrage. 


537 


bauungsgrades  der  Grundstücke,  eine  zweckentsprechende  ( Gestaltung  der 
Bebauungspläne  und  Bauordnungen,  und  die  steuerliche  Beschränkung 
des  Boden wuchers  und  ebenso  die  Vereinfachung  der  Bauvorschriften 
gesteht  der  Verfasser  den  beiden  Arten  der  Bauthätigkcit  in  gleicher 
Weise  zu.  Baudarlehen  will  er  seitens  der  Gemeinden  nur  dann  ge- 
währt wissen,  wenn  sich  der  Grund  und  Boden  im  Obereigentum  der- 
selben Irefindet  und  im  Wege  des  Erbbaurechts  verliehen  wird;  weiter- 
gehender Kreditgewährung  durch  die  Gemeinden  steht  er  sehr  ab- 
lehnend gegenüber.  Die  Mafsnahraen,  mit  denen  die  gemeinnützige  liau- 
thätigkeit  ausschliefslich  gefordert  werden  soll,  beschranken  sich  daher 
auf  die  Anregung  zur  Entstehung  von  Bauvereinigungen,  Teilnahme  an 
der  Konstituierung  und  Verwaltung  derselben,  Ueberlassung  städtischer 
Grundstücke  als  Baugelände  und  Uebernahmc  der  Bürgschaft  für 
Kapital  und  Zinsen  solcher  Bauvereinigungen,  bei  denen  eine  Kontrolle 
durch  die  Gemeinde  möglich  erscheint.  Der  Eigenbau  von  Häusern 
durch  die  Gemeinden  oder  andere  öffentliche  Verbände  zur  Befriedigung 
des  allgemeinen  Wohnungsliedtirfnisses  begegnet  nacli  dem  Verfasser 
mannigfachen  Bedenken.  Wir  brauchen  kaum  zu  erwähnen,  dafs  wir 
der  Gemeinde  eine  ganz  andere  zentrale  Stellung  auf  dem  Gebiete  der 
Hausung  zunächst  der  arbeitenden  Klassen,  dann  aber  auch  der  ganzen 
Bevölkerung  zuweisen,  daher  ihre  positive  und  negative  Thätigkeit  in 
den  Vordergrund  stellen,  die  Unterstützung  der  gemeinnützigen  Bau- 
tätigkeit nur  als  subsidiäres  Hilfsmittel  betrachten,  eine  Subvention  der 
privaten  Unternehmung  aber  vollständig  ablehnen. 

Der  dritte  Band  der  Untersuchungen  des  Vereins  für 
Sozialpolitik  l>eschäftigt  sich  mit  dem  A U s 1 a n d e.  I )en  Beitrag 

über  die  Schweiz  halten  wir  bereits  vorhin  erwähnt.  Frankreich, 
Dänemark  und  Schweden  sind  von  Prof.  Al  brecht,  Belgien, 
Nordamerika,  Rufsland  und  Norwegen  von  ausländischen  Mit- 
arbeitern bearbeitet  worden.  Die  Wohnungsfrage  in  England  wurde  von 
Dr.  C.  Bö  t z o w - Hamburg  in  sachgemäfser  Weise  behandelt.  Es  würde 
sich  empfohlen  haben,  auch  die  Leistungen  der  schottischen  Städte,  vor 
allem  Glasgows,  dann  auch  Edinburghs  zu  besprechen.  Die  Sanierungs- 
arbeiten des  londoner  Grafschaftrates  finden  eine  eingehende  Würdigung. 
Eine  Aufzählung  derselben  findet  man  aufserdem  noch  in  einem  eng- 
lisch geschriebenen  Bericht  des  ersten  Architekten  des  Grafschaftsrates, 
M r.  R i i c y , der  im  Anhang  abgedruckt  ist.  Wer  sich  in  tiefer  ein- 
dringender Weise  mit  der  Sanierungs-  und  Hausungspolitik  und  -Arbeit 
des  Londoner  Grafschaftsrates  und  seines  Vorgängers,  des  Metropolitan 
Board  of  Works,  beschäftigen  will,  der  sei  auf  den  Ende  t <)oo  veröffent- 
lichten Bericht  des  Mr.  C.  J.  Stewart,  Clerk  of  the  Council,  T li  e 
Housing  Qucstion  in  London,  verwiesen,  der  das  Material  in 
außerordentlich  vollständiger  M'cisc  zusammenträgt  und  übersichtlich  ver- 
arbeitet. Mit  englischen  Zuständen  beschäftigt  sich  auch  das  Buch 

Archiv  für  so;.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVII.  35 


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53» 


Littcratur. 


v.  Opp e n h e ime  rs,  „Die  Wohnungsnot  «ndiVolinungsreforra 
in  England“,  das  in  fleifsiger  Weise  das  englische  Material  verwertet, 
ohne  im  wesentlichen  Neues  zu  bringen.  Als  ein  Vorzug  des  Buches  mufs 
es  bezeichnet  werden,  dafs  sich  der  Verfasser  nicht  darauf  beschränkt, 
eine  trockene  Aufzählung  der  Gesetze  und  eine  ebenso  trockene  Wieder- 
gabe ihres  Inhaltes  zu  geben,  sondern  bestrebt  ist,  durch  die  Schilderung  der 
praktischen  Anwendung  der  Gesetze  seiner  Darstellung  Leben  und  Inhalt 
zu  geben.  Man  vergleiche  z.  B.  die  Beschreibung  einer  public  inquiry 
(pag.  39  ff.)  und  man  wird  zugeben,  wie  notwendig  gerade  bei  den 
englischen  Zuständen  eine  solche  Ergänzung  des  trockenen  Gesetzes- 
textes ist.  Im  allgemeinen  hält  sich  der  Verfasser  an  der  Oberfläche 
der  Dinge ; ein  tieferes  Eindringen  wird  man  oft  vermissen.  Man  ver- 
gleiche nur  sein  Kapitel:  Die  Dezentralisation  und  die  Eisenbahnen  mit 
der  gründlichen  Behandlung,  die  der  gleiche  Gegenstand  in  dem  vor- 
trefflichen Buche  L.  Sinzheimers,  „Der  Londoner  Grafschaftsrat",  gefunden 
hat.  Seine  Urteile  sind  daher  unseres  Erachtens  häufig  anfechtbar;  so 
ist  das  über  die  Resultate  der  privaten  Baugesellschaften  zu  günstig  und 
die  Bedeutung  der  Mifs  Octavia  Hill  wie  ihrer  Bestrebungen  wird  von 
ihm  entschieden  überschätzt. 

An  die  Besprechung  der  bisher  behandelten  Schriften,  die  sich  mit 
den  einzelnen  Seiten  des  Wohnungsproblems  beschäftigen,  schliefsen  wir 
nun  die  einiger  Bücher  an,  die  einen  Ueberblick  über  die  gesamte 
Wohnungsfrage  zu  geben  versuchen.  Da  wäre  zunächst  die  von  K u - 
rella  veröffentlichte  Broschüre  Wohnungsnot  und  Wohnungs- 
jammer zu  nennen.  Kurella  ist  Arzt  und  als  Arzt  neigt  er,  wie  er 
selbst  sagt  (p.  31  Note),  dazu,  Krankheitsursachen  auf  dem  Wege  der 
Kasuistik,  nicht  auf  dem  der  Statistik  zu  demonstrieren.  In  dieser  Aus- 
sage ist  zugleich  der  Fehler  angegeben,  an  dem  seine  Darstellung  krankt : 
über  den  einzelnen  Erscheinungen,  ihrer  Beschreibung  und  Besprechung, 
kommt  das  allgemeine  in  den  Erscheinungen,  die  wirtschaftlichen  Gesetze, 
zu  kurz.  Bei  dieser  Ueberschätzung  der  Statistik  kann  es  nicht  wunder- 
nehmen, dafs  der  wohnungsstatistische  Teil  des  Buches  entschieden  der 
schwächste  ist.  Kurella  fordert  als  normales  Minimum  eine  Wohnung, 
die  aufser  einer  Küche  3 Zimmer  und  2 Kammern  mit  einem  Luftraum 
von  mindesten  zusammen  2 50  cbm  und  einer  Grundfläche  von  mindestens 
68  qm  besitzt.  Diese  weitgehende  Forderung  läfst  sich  ja  gewifs  mit 
Gründen  der  Ethik  und  Hygiene  ohne  weiteres  verteidigen,  für  die 
praktische  Wohnungspolitik  scheidet  sie  aber  ebenso  aus,  wie  die  Forde- 
rung der  Bodenreformer  nach  Expropriation  des  gesamten  städtischen 
Bodens.  Als  Idealen,  die  in  fernerer  Zukunft  ihre  Verwirklichung  finden, 
kommt  solcher  Forderungen  eine  gewisse  Berechtigung  zu;  sobald  man 
aber  dieselben  als  Mafsstab  der  Kritik  benutzt,  kommt  man  zu  leicht  zu 
Uebertreibungen,  die  nur  die  Sache,  der  man  dient,  gefährden  können. 
Was  der  Verfasser  gegen  die  Wohnungskalamität  vorschlägt,  erschöpft 


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Zur  Littcratur  über  die  Wohnungsfrage. 


539 


sich  in  den  zwei  Mitteln:  Aufhebung  der  Ungleichheit  des  kommunalen 
Wahlrechts  und  Recht  der  Städte  auf  unbeschränkte  Expropriation  des 
Grund  und  Hodens.  Da  beide  aber  bei  den  politischen  Verhältnissen  in 
Deutschland  den  Städten  sobald  nicht  zu  teil  werden  durften,  empfiehlt 
der  Verfasser  zunächst  eine  energische  sanitäre  Wohnungspolizei,  Ankauf 
von  Grund  und  Boden,  Erbauung  preiswürdiger  und  technisch  tadelloser 
Wohnungen,  bessere  Gestaltung  der  Bebauungspläne  durch  die  Ge- 
meinden — Vorschläge,  die  sich  mit  denen  anderer  Wohnungsreformer 
decken.  Die  Schrift  ist  lebendig  geschrieben;  das  beste  an  ihr  sind  die 
beschreibenden  Partien. 

Einen  vortrefflichen  Abrifs  der  Arbeitenvohnungsfrage  giebt  L.  Sinz- 
h e i m e r in  einem  Büchlein,  „Die  Arbeiterwohnungsfrage",  das  im  wesent- 
lichen eine  Wiederholung  einer  Reihe  von  Münchener  Volks-Hochschul- 
vorträgen ist.  Drei  Seiten  der  Arbeiterwohnungsfrage  sind  darin  in  ge- 
meinverständlicher Weise  von  dem  Verfasser  behandelt  worden : die 
Methoden  der  beschreibenden  Volkswirtschaft  in  ihrer  Anwendung  auf 
die  Wohnungsfrage,  die  Geschichte  der  Arbeiterwohnungsfrage  im  Zu- 
sammenhänge mit  der  Geschichte  der  sozialen  Bewegung  überhaupt  und 
endlich  die  praktisch  in  Betrarht  kommenden  Mittel  der  Abhilfe.  Am 
besten  hat  uns  das  Kapitel : Methoden  zur  Beurteilung  von  Wohnungs- 
zuständen gefallen.  Die  Art  und  Weise,  wie  hier  die  statistische  Methode 
dem  Verständnisse  der  Arbeiterschaft  näher  gebracht  wird,  wie  die 
durch  die  Statistik  zusamraengetragenen  allgemeinen  Thatsachen  gedeutet 
und  in  ihrem  Zusammenhänge  mit  der  Gesamtheit  der  Erscheinungen 
des  Wohnungswesens,  insbesondere  auch  der  statistisch  nicht  fafsbaren, 
dargestellt  werden,  ist  geradezu  musterhaft  und  vorbildlich.  Ein  aus- 
führliches Kapitel  macht  die  Arbeiter  mit  der  englischen  Wohnungspolitik 
bekannt.  Daran  schliefst  sich  das  Kapitel  Geschichte  der  Gesetzgebung 
und  Verwaltung  in  Deutschland,  das  der  Reihe  nach  die  Wohnungs- 
inspektion. die  Neuerungen  auf  dem  Gebiete  des  Enteignungsrechtes,  den 
Bau  kommunaler  und  staatlicher  Häuser,  die  Unterstützung  der  Bau- 
thätigkeit  aus  öffentlichen  Mitteln,  das  Eingreifen  des  Reiches  und  die 
Bestrebungen  des  Vereins  Reichswohnungsgesetz  in  kurzen  knappen 
Schilderungen  vorfuhrt.  Ein  besonderes  Kapitel  ist  den  Baugenossen- 
schaften gewidmet.  Das  Schlufskapitel  sucht  die  zukünftigen  Aufgaben 
in  Deutschland  zu  skizzieren.  Die  hohe  Wertschätzung  der  Wohnungs- 
inspektion,  die  aufs  engste  mit  dem  Wohnungsbau  verbunden  sein  mufs, 
teilen  wir  ebenso  mit  dem  Verfasser,  wie  w ir  davon  überzeugt  sind,  dafs 
die  Formen  der  deutschen  Wohnungsinspektion  von  Grund  aus  geändert 
werden  müssen.  Und  wenn  wir  auch  die  Bedeutung  der  Baugenossen- 
schaften für  die  zukünftige  Entwicklung  des  Wohnungswesens  nicht  so 
hoch  anschlagen,  so  stimmen  wir  um  so  mehr  seiner  Empfehlung  kommu- 
naler Logierhäuser  nach  englischem  Muster,  seiner  Verurteilung  jeder 
Unterstützung  des  Wohnungsbaues  der  Arbeitgeber  durch  öffentliche  Dar- 

35* 


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540 


Littcratur. 


lehen  und  seiner  scharfen  Abwehr  der  agrarischen  Angriffe  auf  die 
Freizügigkeit  zu. 

W ie  notwendig  aber  die  energische  Abwehr  aller  Angriffe  auf  die 
Freiziigigkeit  durch  alle  Freunde  sozialpolitischen  Fortschrittes  heutzutage 
ist,  das  beweist  aufs  schlagendste  die  Schrift  von  I)r.  H.  Bingner, 
„Wo  hnungsfragc  und  Wo  hnungspolitik  in  ihren  Be- 
ziehungen zur  allgemeinen  Sozial  re  form“,  deren  A und  O 
die  Beschränkung  der  Freizügigkeit  ist.  Inwieweit  die  Bingnerschen 
Vorschläge  sich  mit  den  Plänen  decken,  die  in  preufsischen  Regierungs- 
kreisen zur  Wohnungsfrage  ausgetiflelt  werden,  läfst  sich  natürlich  schwer 
feststellen ; wir  können  uns  aber  nicht  des  Verdachtes  erwehren,  dafs 
das  Elaborat  des  !)r.  Bingner  den  Zwecken  der  W ohnungsaktion  der 
königl.  preufsischen  Regierung  dient  Fhitrechtung  der  Arbeiterklasse  und 
Entrechtung  der  Gemeinden  sind  die  beiden  Grtindzüge  dieser  Spott- 
geburt einer  Wohnungsreform.  Zuziehende  müssen  von  den  Stadtgemeinden 
abgewiesen  werden,  wenn  sie  nicht  lieiin  Anzuge  nachweisen,  dafs  sie 
entweder  aus  der  Rente  ihres  Vermögens  sich  ihren  Lebensverhält- 
nissen angemessen  völlig  zu  erhalten  vermögen  oder  behufs  Antritts 
eines  bereits  vor  dem  Anzug  vertraglich  festgestellten  Arbeitsverhält- 
nisses zuziehen  — das  ist  die  Bingnersche  Reform  der  Freizügigkeit. 
Sie  bedeutet  für  die  vorwartsstrebende  Arbeiterschaft  die  Aussperrung 
von  der  Stadt.  Um  auch  den  Zuzug  gelernter  Arbeiter  im  Falle  eines 
nur  wechselnden  Bedürfnisses  auszuschliefsen,  soll  „das'  Arbeitsverhältnis 
von  Seiten  des  Arbeitgebers  nur  kündbar  sein  bei  Unbrauchbarkeit  des 
Arbeitnehmers  oder  dauernder  Einschränkung  des  Betriebes  mit  einer 
Karenzzeit  von  3 — 6 Monaten,  während  derer  bei  geminderter  Thätig- 
keit  ein  örtlich  verschieden  festzusetzender  Lohn  weiter  zu  zahlen  wäre, 
wenn  nicht  eine  für  die  Arbeitnehmer  kostenlose  Ueberführung  in  einen 
gleichartigen  Betrieb  mit  denselben  Durchschnittslöhnen  als  gleichwertige 
Flntsehädigung  erfolgt“  — das  ist  die  Bingnersche  Reform  der  Lohn- 
verträge. Sie  bedeutet  den  Ruin  unserer  Industrie,  für  die  Arbeiter  die 
Aussperrung  von  der  industriellen  Arbeit  ülrerhaupt.  Auf  gleicher  Höhe 
wirtschaftlicher  und  politischer  Reaktion  stehen  die  Bingnerschen  Vor- 
schläge für  die  F.rrichtung  von  Wohnungsämtern. 

Damit  nehmen  wir  Abschied  von  der  Wohnungslitteratur  von  Jahres 
1 <)o  1 , deren  Leistungen  alles  in  allein  einen  beträchtlichen  theoretischen 
Fortschritt  bedeuten.  Möge  der  gewonnenen  F'rkenntnis  die  praktische 
Bethätigung  folgen.  — 


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Edel  heim,  John,  Beiträge  zur  Geschichte  der  Sozial  Pädagogik  etc. 


Edelheim,  John,  Dr.t  Beiträge  sur  i Uschichte  der  Sozialpädagogik 
mit  besonderer  Berücksichtigung  des  französischen  Revolutions- 
zeitalters. Berlin  u.  Bern,  akad.  Verlag  dir  soziale  Wissen- 
schafteil. Dr.  John  Edelheim.  1902.  (223  S.)  8". 

Eine  „Geschichte  der  Sozialpädagogik“  wäre  eine  grofse  und  dank- 
bare Aufgabe.  Auch  diese  „Beiträge"  sind  dankenswert,  da  sie  wenigstens 
über  eine  wichtige  Epoche  neue  und  wertvolle  Aufschlüsse  bringen. 

Mifsgliickt  zwar  ist  der  erste  Abschnitt  der  historischen  Darstellung, 
der  „die  Sozialpädagogik  bis  zum  französischen  Revolutionszeitalter" 
behandelt.  Nach  einigen  eilig  hingeworfenen  Bemerkungen  (4  Seiten) 
über  „die  Sozialpädagogik  der  Naturvölker  und  'des  Orients"  folgt  ein 
.eingehenderer  Bericht  über  Plato,  wesentlich  nach  Pohlmanns  bekanntem 
Buche  und  meiner  (zuerst  in  dieser  Zeitschrift  erschienenen)  Abhandlung 
„Platos  Staat  und  die  Idee  der  Sozialpädagogik“.  Dann  geht  es  mit 
Siebenmeilenstiefcln  über  Aristoteles,  den  Hellenismus,  Rom,  das  Mittel- 
alter  (das  mit  zwei  summarischen  Urteilen  von  l.etourneau  und  Comte 
abgethan  wird),  die  Renaissance,  den  Jesuitismus  und  Jansenismus  zur  — 
Erziehung  Ludwigs  XIV.,  für  deren  trevorzugte  Behandlung  ein  tieferer 
Grund,  als  dafs  dem  Verfasser  gerade  ein  Buch  darüber  vorlag  (Lacour- 
Gayet,  L'education  politiipie  de  Eouis  XIV),  nicht  zu  erkennen  ist.  Rein 
Wort  dagegen  von  Morus,  von  Campanella,  oder  nur  von  Comenius, 
dessen  Grundsätze  schwerlich  ohne  Einflufs  auf  die  Theoretiker  des 
18.  Jahrhunderts  gewesen  sind.  34  Seiten  in  Summa  für  die  Sozial- 
padagogik  von  Urzeiten  bis  zur  Revolution  sind  gewifs  wenig ; aber  so 
gefüllt  sind  sie  noch  zu  viel.  Der  Leser  thut  daher  besser,  gleich  mit 
Abschnitt  11  zu  beginnen ; auch  im  Interesse  des  Verfassers,  damit 
er  an  dessen  eigentliche  Arbeit  nicht  mit  zu  ungünstigem  Vorurteil 
herantritt. 

Der  zweite  Abschnitt  behandelt  die  sozial  pädagogischen  Theoretiker 
vor  (d.  h.  am  Vorabend)  der  Revolution.  Leider  fallen  für  den  gröfsteu, 
Rousseau,  nur  ein  paar  Brocken  ab,  die  nicht  viel  Ahnung  davon  be- 
weisen, was  dieser  Mann  war.  Dafs  der  tiefe  Soziologe,  der  den  Grund- 
satz aufstellt,  „die  Gesellschaft  im  Menschen,  den  Menschen  in  der  Ge- 
sellschaft zu  studieren“,  der  den  Begriff  eines  Moi  commun,  einer 
volonte  genirale,  die  nicht  die  volonte  de  tous  sei,  geprägt  hat,  als  Päda- 
goge für  die  soziale  Seite  der  Erziehung  blind  gewesen  sein  sollte,  hätte 
sich  dem  Verfasser  von  Anfang  an  als  volle  Unmöglichkeit  aufdrängen 
müssen.  Hätte  er  dann  in  das  freilich  als  extrem  individualistisch  be- 
rufene Buch,  den  Emile,  einen  Blick  geworfen,  so  würde  er  gefunden 
haben,  dafs  Rousseau  die  soziale  Pädagogik  im  Grundsatz  anerkennt; 
dafs  er  Platos  Staat  die  beste  Erziehungsschrift  nennt,  die  je  geschrieben 
sei,  nicht  ohne  die  Möglichkeit  seines  Ideals  mit  Nachdruck  zu  verleb 


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Littcratur. 


digen;  dafs  er  also  die  blofs  individuale  Behandlung  der  Erziehung 
keineswegs  an  sich  für  ausreichend  halt,  sondern  sich  zu  ihr  nur  des- 
halb entschliefst,  weil  er  die  bevorstehende  Umwälzung  der  Gesellschaft 
mit  völliger  Sicherheit  voraussieht,  und  in  dieser  l.age  einerseits  nicht 
die  gegebene,  für  den  Untergang  reife  gesellschaftliche  Verfassung  zu 
Grunde  legen  mag,  andererseits  nicht  Utopist  genug  ist,  um  etwa  die 
voraussichtlich  kommende  zum  Fundament  seiner  Darstellung  zu  wählen. 
So  resigniert  er  sich  schliefslich  dahin : es  gebe  zur  Zeit  keine  bürger- 
liche Erziehung  und  könne  keine  geben,  denn  wo  kein  Vaterland,  da 
gebe  es  auch  keine  Bürger.  Selbst  so  verleugnet  seine  Pädagogik  nicht 
die  soziale  Richtung  seines  Denkens.  Sie  bricht  durch,  wenn  er  die 
allgemeine  Arbeitspflicht  behauptet  („Jeder  müfsige  Bürger  ist  ein  Be- 
trüger“ — ein  Ausbeuter,  würde  es  heute  lauten) ; wenn  er  das  Recht 
der  Standes-  und  Klassenunterschiede  in  der  Erziehung  uneingeschränkt, 
verneint  („Was  Menschen  geschaffen  haben,  können  Menschen  zerstören, 
nur  die  Natur  prägt  ihren  Geschöpfen  unauslöschliche  Charaktere  auf; 
die  Natur  aber  schafft  weder  Prinzen,  noch  Reiche,  noch  Vornehme  . . .“) ; 
wenn  er  „Menschheit"  schlechtweg  gleich  „Volk"  setzt  („Das  Volk  ist 
es,  welches  die  Menschheit  ausmacht;  man  nehme  Könige  und  Philo- 
sophen weg,  man  wird  nicht  viel  davon  merken;  es  wird  um  die 
Menschheit  deshalb  nicht  schlechter  stehen“);  und  wenn  er  als  Ab- 
schlufs  der  Erziehung,  wie  selbstverständlich,  einen  gründlichen  theoreti- 
schen und  praktischen  Kurs  in  Soziologie  fordert.  Man  mag  einwenden, 
das  sei  ein  blofs  s]>oradisches  Aufleuchten  besserer  Einsicht.  Aber 

frei  genialen  Menschen  sind  einzelne  Gedankenblitze  oft  wertvoller  als 
was  zu  breiter  Ausführung  gelangt.  Uebrigens  sehen  diese  Aeufserungen, 
die  über  das  sonstige  Niveau  seiner  pädagogischen  Erwägungen  gleich 
erratischen  Blöcken  emporragen,  nicht  nach  blofseti  vorübergehenden 
Einfällen  aus,  sondern  sie  weisen  auf  eine  wohlbedachte  Ueberzeugung 
des  für  radikale  Theorie  doch  einmal  hochbegabten  Mannes  hin.  Und 
das  Zeitalter  war  für  diese  Ueberzeugung  vorltereitet : diese  Blitze 
schlugen  ein.  — Auch  ein  Diderot  hatte  wohl  auf  etwas  mehr,  als 
3 Zeilen  in  einer  Anmerkung  (S.  5;),  Anspruch.  Desgleichen  war 
Turgot  nicht  zu  übergehen,  dessen,  wenn  auch  blofs  knapp  skizzierte 
Grundidee  der  Nationalerziehung  (s.  Neymarck,  Turgot,  Vol.  fl  p.  76) 
von  Condorcet  aufgenommen  und  bewunderungswürdig  durchgeführt  wurde. 

Eingehend  werden  dagegen  zuerst  Helvetius  und  Holbach  vorge- 
führt. Ersterer  hatte  den  mächtigen  Kinflufs  der  sozialen  Organisationen 
auf  die  geistige  Formung  des  Individuums  wohl  begriffen.  Diese  Er- 
kenntnis verleitet  ihn  freilich  zu  weit  übertriebenen  Hoffnungen  wegen 
der  pädagogischen  Wirkung  der  auch  von  ihm  erwarteten  demokrati- 
schen Verfassungsumwälzung.  Nicht  als  ob  er  den  Einflufs  der  öko- 
nomischen Bedingungen  rilierhaupt  verkannt  hätte,  aber  er  denkt  die 
ökonomische  Lage  sell>st  einseitig  abhängig  von  der  Staatsform,  ln 


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F. dclhcim,  John,  Beiträge  7 ur  Geschichte  <lcr  Sozialpiicjagogik  rtc.  - J ^ 

der  ganzen  Darstellung  des  Verfassers  ist  der  Doppelsinn  des  Sozialen 
(ökonomisch  — politisch)  nicht  genug  beachtet. 

Die  genaueste  Behandlung  finden  die  Theorieen  der  Physiokraten. 
Damit  kommen  wir  zu  dem  besten  Teil  der  Darstellung.  Zwar  über 
Quesnay  schliefst  er  sich  eng  an  Onckens  Artikel  im  Handwörterbuch 
der  Staatswissenschaften  an.  Ueber  den  älteren  Mirabeau  alrer  konnte 
er,  aufser  «lern  von  Knies  herausgegebenen  Briefwechsel  mit  Karl 
Friedrich  von  Baden,  einen  durch  Onckens  Vermittlung  ihm  zugänglich 
gewordenen  ungedruckten  Briefwechsel  mit  von  Schefer,  dem  Minister 
Gustavs  III.  von  Schweden  benutzen  und  so  ganz  Neues  bieten.  Be- 
deutsam ist  hier  schon  der  schlichte  Ausspruch  des  Prinzips,  auf  dem 
alle  soziale  Pädagogik  beruht:  „Der  Baum  wird  nur  von  seinen  Wurzeln 
gehalten.  Die  Wurzeln  des  Menschen  sind  seine  Beziehungen  zu  anderen 
Menschen.“  Die  auf  einen  gesunden  ökonomischen  Kreislauf  (Organi- 
sation der  gesellschaftlichen  Arbeit  und  des  Austausches  der  Arbeits- 
produkte) gegründete  Interessencinheit,  die  „aus  der  ganzen  Nation  eine 
einzige  Familie  macht",  ist  zugleich  der  wesentliche  Inhalt  und  das  reale 
Fundament  der  Bildung,  die  ihrerseits,  über  die  ganze  Nation  verbreitet, 
eine  Hauptstütze  der  gesellschaftlichen  Ordnung  ausmacht,  ja  die  allein 
„aus  einem  Volk  eine  Nation  macht".  Das  Bedeutsame  liegt  hier,  wie 
mir  scheint,  in  folgendem:  1)  der  fast  ausschliefslich  ökonomischen 
Auffassung  der  Gesellschaft  und  also  der  gesellschaftlichen  Bildung,  die, 
abgesehen  von  den  Fllementarfächern , rein  auf  die  Grundsätze  des 
Physiokratismus  beschränkt  wird;  womit  2)  in  einem  interessanten  Zu- 
sammenhang steht  die  Auffassung  des  sozialen  Lebens  ausschliefslich 
nach  dem  Vorbild  der  Familie ; ich  glaube  wenigstens  (in  meiner  Sozial- 
pädagogik) bewiesen  zu  haben,  dafs  die  Organisationsform  der  Familie, 
des  oikos,  mit  der  ökonomischen  Grundform  der  Gemeinschaft  Rege- 
lung des  sozialen  Trieblebens  d.  i.  der  sozialen  Arbeit  und  Verteilung 
des  Arbeitsertrags)  in  einer  tiefbegründeten  Beziehung  (nicht  blofs  nach 
Seiten  der  Erziehung)  steht;  3)  in  der  statischen,  nicht  dynamischen 
Vorstellung  des  sozialen  Lebens,  d.  h.  in  der  Meinung  von  einer  ewigen, 
unabänderlich  identischen  „Natur"  der  Gesellschaft,  die,  ähnlich  wie  bei 
Plato,  keine  Entwicklung  zu  höheren  und  höheren  d.  h.  mehr  differen- 
zierten und  wiederum  zentraler  geeinten  Organisationsformen,  sondern 
nur  Schwankungen  um  eine  Gleichgewichtslage,  zeitweilige  Störung  und 
Wiederherstellung  einer  normalen  Verfassung,  gleichsam  Erkrankung  und 
Wiedergesundung  des  sozialen  Körpers  kennt.  Auch  das  hängt  mit  der 
Einseitigkeit  des  Ausgehens  von  den  „natürlichen",  nämlich  blofs  öko- 
nomischen Grundlagen  der  Gesellschaft  zusammen.  Denn  schon  der 
soziale  „Wille",  die  selliständige  Ausprägung  der  „Form“  des  sozialen 
Lebens,  vollends  der  Standpunkt  der  sozialen  „Vernunft“,  welche  Wirt- 
schaft und  Recht  als  blofse  dienende  Mittel  auf  das  unendlich  ferne 
Ziel  der  geistigen,  sittlichen,  ja  ästhetischen  Vollendung  des  Menschen- 


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l.ittcratur. 


tums  in  der  Gemeinschaft  bezieht,  in  dieser  Unterordnung  aber  not- 
wendig als  umwandelbar  und  fort  und  fort  umwandlungsbedurftig  er- 
kennen lehrt,  führt  über  die  blofs  statische  Auffassung  zwingend  hinaus, 
zum  Sozialismus  der  „unendlichen  Aufgabe"  und  damit  zum  einzig  halt- 
baren Begriff  sozialer  Entwicklung.  Der  Physiokratismus  ist  daher  bc- 
deutsam  gerade  durch  die  unbeirrte  Verfolgung  seiner  Einseitigkeit,  die 
Iresonders  deutlich  nach  pädagogischer  Richtung  in  der  naiven  Konse- 
quenz zu  Tage  tritt,  dafs  nicht  nur  der  Inhalt  der  sozialen  Bildung  im 
physiokratischen  Katechismus  ein  für  allemal  festgelegt,  sondern  eine 
fortdauernde  soziale  Erziehung  geleistet  werden  soll  durch  eine  nach 
chinesischem  Muster  täglich  erscheinende  Zeitung,  die  „von  einem  Tri- 
bunal hoher  Mandarinen  redigiert  wird  und  für  deren  Richtigkeit  und 
Genauigkeit  die  Autoren  mit  ihrem  Kopf  bürgen“.  Ein  Quesnay  und 
Mirabeau  hätten  diese  Haftpflicht  treuherzig  übernommen.  Aber  solche 
Irrtumsfreiheit  ist  nicht  über-,  sondern  untermenschlich.  Irren  allein  ist 
menschlich. 

Kaum  minder  belehrend  ist  die  1775  für  den  König  von  Schweden 
aufgesetzte  Denkschrift  De  l'instruction  publique  von  Mercier  de  la 
Riviere,  deren  Inhalt  der  Verfasser  ebenfalls  genau  darlegt.  Er  will  darin 
nur  eine  verflachende  Popularisierung  der  Lehren  von  Quesnay  und 
Mirabeau  sehen.  Aber  sein  eigener  Bericht  beweist,  dafs  man  es  viel- 
mehr mit  einem  Versuch  zu  tliun  hat,  über  die  Einseitigkeit  des  Physio- 
kratismus durch  Aufnahme  Rousseauscher  Ideen  hinauszukommen. 
Mercier  lehrt  zunächst  mit  bemerkenswerter  Bestimmtheit  die  Wechsel- 
abhängigkeit der  „öffentlichen  Meinung",  d.  h.  der  in  einer  gegebenen 
Gesellschaft  vorwaltenden , insbesondere  ethischen  und  zwar  sozial- 
ethischen Denkrichtung  von  der  Gestaltung  der  sozialen  Organisationen, 
und  umgekehrt ; woraus  der  Verfasser  (freilich  ohne  deutlich  zu  machen, 
ob  er  auch  darin  die  eigenen  Formulierungen  seines  Autors  wiedergiebt 
oder  Eigenes  hinzuthut)  jedenfalls  sachlich  richtig  jene  Doppelseitigkeit 
der  sozialpädagogischen  Theorie  folgert  (S.  114),  die  ich  kurz  so  aus- 
gedrückt habe,  dafs  sie  zum  Gegenstand  habe  „die  sozialen  Bedingungen 
der  Bildung  und  die  Bildungsbedingungen  des  sozialen  Lebens“.  Wenn 
aber  Mercier  auf  dieser  Grundlage  den  Idealbegriff  der  Gemeinschaft 
definiert  als  die  Vereinigung  einer  Vielheit  von  Menschen,  der  zufolge 
sie  „einen  und  denselben  Willen“  habe  und  gewissermafsen  „ein  einziges 
Individuum"  ausmachc,  so  liegt,  wie  noch  in  einer  Reihe  weiterer  Mo- 
tive, der  Gedanke  an  Rousseau  so  aufserordentlich  nahe,  dafs  man  sich 
wundert,  beim  Verfasser  nirgends  auch  nur  die  Frage  seiner  Stellung 
zu  diesem  aufgeworfen  zu  finden.  Jedenfalls  führt  eine  so  ausdrückliche 
Anerkennung  des  Gemein  wi  I len  s über  die  blofse  „Int  er  esse  nein- 
heil" Mirabeaus  grundsätzlich  hinaus.  Die  Steigerung  des  Einheits- 
charakters  der  Gemeinschaft  von  der  „einzigen  Familie“  zum  „einzigen 
Individuum"  ist  ebenfalls  unwidersprechlich.  Und  nun  halte  man  daneben 


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Edel  he  im,  John,  Beiträge  zur  Geschichte  der  Sozialpädagogik  etc. 

Rousseaus  volontt  gintrale  und  Moi  commun : wer  kann  da  an  Zufall 
glauben  ? 

Viel  weniger  wichtig  sind  die  Ideen  des  Dupont  de  Nemours,  die 
der  Verfasser  ebenfalls  in  ziemlicher  Breite  vorfuhrt,  obgleich  er  selbst 
ihnen  „geringes  theoretisches  Interesse"  zuschreibt.  Sic  ergehen  sich 
mit  Vorliebe  in  phantasievoller  Ausmalung  von  Einzelheiten  äufserlichster 
Art,  wie  Nationalfeste,  Nationaltracht  u.  dgl. 

Abschnitt  III  hat  zum  Gegenstand  die  Sozialpädagogik  während  der 
Revolution.  Hier  verläfst  sich  der  Verfasser  wieder  fast  durchweg  auf 
seine,  im  allgemeinen  ja  gut  unterrichteten  Gewährsmänner:  Duruy, 
Compayre,  Hippeau  u.  a.  Er  berührt  kurz  die  Cahiers , die  mit  be- 
merkenswerter Einhelligkeit  die  (demokratische)  Organisation  der 
„Nationalerziehung“  fordern ; dann  den  ganz  liberalistischen  Entwurf  des 
jüngeren  Mirabeau  und  den  schon  radikaleren  Talleyrands.  Diesem 
wird  übertriebenes  Lob  gespendet.  Soll  einmal  die  „Tiefe“  der  sozialen 
Erfassung  der  Erziehungsaufgabe  den  Ausschlag  geben,  so  gebührt  dem 
nur  wenig  jüngeren  Entwurf  Condorcet  sicher  der  Vorrang.  Der  Ver- 
fasser scheint  von  diesem  nur  den  der  gesetzgebenden  Versammlung 
vorgelegten  Rapport , nicht  die  ausführliche  Abhandlung  Sur  Pinstruc- 
tion  publique  ( Oeuvres , Vol.  V/f)  zu  kennen,  den  ich  meiner  Dar- 
stellung (Monatshefte  der  Comcnius-Gesellschaft,  1894)  zu  Grunde  ge- 
legt halie.  (Dieser  Aufsatz  ist  dem  Verfasser  entgangen,  obwohl  er  z.  B. 
in  der  so  fleifsig  von  ihm  benutzten  Abhandlung  über  Plato  citiert  ist) 
Condorcet  kommt  bei  ihm  schon  dadurch  zu  kurz,  dafs  er,  nach  der 
Behandlung  des  jüngeren  Mirabeau  und  Talleyrands,  nicht  fortfahrt  die 
einzelnen  Entwürfe  vorzuführen,  sondern  unter  einer  Anzahl  sachlicher 
Rubriken  allemal  die  Auffassungen  sämtlicher  weiter  in  Betracht  kom- 
menden Theorieen  oder  Gesetzentwürfe  zusammenstelit;  ein  Verfahren, 
welches  er  schwerlich  auf  Condorcet  miterstreckt  hätte,  wenn  er  die 
grofse  Einheitlichkeit  gerade  seines  sozialen  Erziehungsplanes  sich  zum 
Bewufstsein  gebracht  hätte.  So  will  er  auch  den  „ersten  Plan  einer 
University-Extension“  bei  l.anthenas  finden  (S.  168),  während  gerade  in 
diesem  Punkte  Condorcet  mit  sehr  weitgehenden  Vorschlägen  voran- 
gegangen war. 

Soviel  vom  historischen  Inhalt  des  Buches.  In  theoretischer  Hin- 
sicht fordert  unsere  Aufmerksamkeit  zunächst  die  Einleitung,  wo  der 
Verfasser  sich,  in  der  Absicht  den  Begriff  der  Sozialpädagogik  genau 
zu  umgrenzen,  vorzugsweise  mit  meinen  darauf  bezüglichen  Aufstellungen 
auseinandersetzt.  Er  erkennt  meine  oben  schon  berührte  Bestimmung 
der  Aufgabe  der  Sozialpädagogik  als  „im  allgemeinen“  richtig  an,  findet 
aber  die  specielle  Durchführung  in  mehreren  Punkten  anfechtbar. 
1.  Wenn  ich  die  Schule  als  eine  eigene  Form  der  bildenden  Gemein- 
schaft behandle,  so  sei  das  Soziologie  der  Pädagogik,  nicht  Sozialpäda- 
gogik. (Aller,  wenn  die  allgemeine  Definition  gelten  soll,  so  gehört  die 


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546 


Kitleratur. 


Untersuchung  der  Organisationsformen  der  Bildung  und  des  Einflusses, 
den  sie  el>en  als  Organisationen  auf  die  individuelle  Entwicklung  üben, 
zweifellos  zur  Aufgabe  der  Sozialpädagogik,  besonders,  sofern  diese  Or- 
ganisationen als  eingegliedert  in  die  gesamte  soziale  Organisation  und 
als  deren  Ausflufs  und  Ausdruck  ins  Auge  gefafst  werden,  wie  ich  es 
that.)  2.  Ich  behandle  die  Pädagogik  des  sittlichen  Willens  unter  Vor- 
aussetzung der  Gemeinschaft ; das  sei  vielmehr  Sozialethik.  (Ich  habe 
im  zweiten  Teil  meines  Buches  die  Sozialethik  als  Voraussetzung  der 
Sozialpädagogik,  nicht  direkt  als  solche  behandelt;  die  Pädagogik  des 
sittlichen  Willens  aber,  sofern  sie  als  hauptsächlich  erziehende  Macht 
die  Gemeinschaft  erweist,  fällt  direkt  unter  den  vom  Verfasser  aner- 
kannten allgemeinen  Begriff.)  Besonders  aber  3.  findet  er  auszusetzen, 
dafs  ich  überhaupt  die  ganze  Pädagogik  in  Sozialpädagogik  aufgehen 
lasse,  eine  individuelle  Pädagogik  mit  eigenen,  nicht  blofs  abgeleiteten 
Rechten  neben  der  sozialen  nicht  anerkenne.  Die  individuelle  und 
soziale  Pädagogik  stehen  nach  dem  Verfasser  sich  ergänzend  nebenein- 
ander. (Aber  gegen  diese  dualistische  Ansicht  glaube  ich  entscheidende 
Gründe  in  meinem  Buche  geltend  gemacht  zu  haben.  Meine,  sagen 
wir  monistische  Auffassung  folgt,  wenn  nicht  direkt  aus  meiner  Defi- 
nition der  Sozialpädagogik  selbst,  dann  aus  den  wesentlichen  Voraus- 
setzungen, aus  welchen  sie  hergeleitet  wurde.!  Der  Verfasser  weist 
seinerseits  (S.  19)  der  sozialen  Pädagogik  folgende  Aufgaben  zu:  1.  Die 
Bedeutung  der  Erziehung,  der  individuellen  wie  der  sozialen,  für  Be- 
stand und  Fortschritt  der  Gesellschaft.  2.  Die  Beziehung  der  Gesell- 
schaft zu  dem  Problem  der  individuellen  Erziehung  im  Hinblick  a)  auf 
die  Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staates  und  der  Gesellschaft  auf 
diesem  Gebiet,  b)  die  quantitative  und  qualitative  Verbreitung  der  Er- 
ziehung auf  die  Massen.  3.  Das  Problem  des  unbewussten  erziehlichen 
Einflusses  des  gesellschaftlichen  Milieus  auf  die  Erwachsenen.  4.  Die 
Beziehung  der  Gesellschaft  zum  Problem  der  sozialen  Erziehung,  d.  h. 
der  Erziehung  für  eine  bestimmte  Gesellschaftsordnung,  mit  entsprechen- 
der Untereinteilung  wie  unter  2.  Mir  will  die  Logik  dieser  Einteilung 
nicht  klar  werden.  Zwar  nur  ein  etwas  undeutlicher  Ausdruck  ist  „indi- 
viduelle“ und  „soziale“  Erziehung  für  Erziehung  in  individueller,  in 
sozialer  Absicht.  (Man  ist  geneigt  zu  verstehen:  Erziehung  auf  dem 
Wege  individueller  bezw.  sozialer  Einwirkung.)  Aber  jedenfalls  zu  eng 
wird  die  „soziale"  Erziehung  verstanden  als  „Erziehung  für  eine  be- 
stimmte Gesellschaftsordnung",  der  dann  wohl  als  individuelle  Erziehung 
gegenüberstände  die  Erziehung  des  Individuums  nur  für  sich  selbst. 
Ist  das  die  Meinung,  so  versteht  man  nicht,  welche  Bedeutung  die 
individuelle  Erziehung  für  Bestand  und  Fortschritt  der  Gesellschaft  haben 
soll,  und  inwiefern  sie,  umgekehrt,  die  Gesellschaft  als  solche  angeht. 
Andererseits  erscheint  die  Bedeutung  der  „sozialen"  Erziehung  für-  die 
Gesellschaft  nach  dieser  Fassung  des  Begriffs  dermafsen  selbstverständ- 


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Kd el heim,  John,  Beiträge  /ur  Geschichte  der  Sozia) pädagogik  rtc.  5^7 

lieh,  dafs  man  zweifelhaft  wird,  wieso  sie  überhaupt  noch  ein  Problem 
bilde.  Man  versteht  ebenfalls  nicht,  inwiefern  auf  dem  Gebiete  der  so 
verstandenen  sozialen  Erziehung  dem  Einflufs  der  Gesellschaft  Grenzen 
zu  setzen  seien;  die  Erziehung  für  die  Gesellschaft,  sollte  man  denken, 
gehe  die  Gesellschaft  auch  ganz  an.  Demnach  wollen  Nr.  1 und  2 
sowie  die  Untereinteilung  unter  4.  nicht  verständlich  werden.  Vollends 
unglücklich  steht  zwischen  den  einander  parallel  gedachten  Hauptnurn- 
mern  2 und  4 das  Problem  des  unbewufsten  erziehlichen  Einflusses  des 
Milieus  auf  die  Erwachsenen;  wobei  nicht  einleuchtet,  weshalb  der  un- 
bewufste  vom  bewufsten  Einflufs,  und  der  unbewufste  Einflufs  auf  die 
Erwachsenen  von  dem  auf  die  Kinder  (oder  werden  diese  etwa  nur 
bewufst  erzogen?)  getrennt  werden  soll. 

Aber  vielleicht  verstehen  wir  uns  nur  nicht  über  die  Ausdrücke. 
Ich  versuche  datier  lieber  in  Kürze  meine  Auffassung  zu  präzisieren. 
Unmittelbar  sind  es  jedenfalls  Individuen,  die  erzogen  werden,  und  un- 
mittelbar geschieht  auch  die  erziehende  Einwirkung  durch  Individuen. 
Auch  baut  sich  im  Bewufstsein  des  Einzelnen  aller  Inhalt  seiner  Bildung 
zunächst  als  seine  eigentümliche,  individuelle  Welt  auf.  In  allen  diesen 
Bedeutungen  ist  überhaupt  jede  Erziehung  individuell.  Nun  aber  wird 
behauptet:  da  Cs  aller  Inhalt  der  humanen  Bildung  der  Individuen  zuletzt 
der  Gemeinschaft  entstammt;  dafs  alle  erziehende  Einwirkung  auf  die 
Individuen  zuletzt  unter  dem  entscheidenden  Einflufs  der  Gemeinschaft 
steht;  dafs  schliefslich  auch  das  Bewufstsein  des  Individuums,  sofern  es 
zu  seiner  normalen  Entfaltung  gelangt,  sich  über  die  Enge  der  blofs 
individuellen  Ansicht  notwendig  erhebt.  Insofern  ist  wiederum  alle  Er- 
ziehung der  Idee  nach,  aber  auch  faktisch  in  verschiedenen  Graden  der 
Annäherung,  sozial.  Also  kann  von  keinem  blofsen  Nebeneinander  der 
individuellen  und  sozialen  Pädagogik  die  Rede  sein,  sondern  die  indi- 
viduelle Ansicht  der  Erziehung  beruht  ganz  und  gar  nur  auf  einer  in 
ihren  Grenzen  zulässigen  und  nützlichen,  aber  schliefslich  zu  über- 
windenden Abstraktion ; die  komplete  Ansicht  der  Erziehung  ist  die 
soziale.  Von  diesem  Standpunkt  würde  aber  die  Einteilung  der  Sozial- 
pädagogik schwerlich  so  ausfallen  können  wie  bei  dem  Verfasser. 

Ueber  dessen  .sozialpädagogische  Denkrichtung  geben  weiteren  Auf- 
schlufs  die  „Schlufsbetrachtungen".  Ein  kritischer  Rückblick  auf  die 
liochsinnigen  Entwürfe  des  Revolutionszeitalters  führt  zu  dem  Ergebnis, 
dafs  der  Erziehung  ein  mächtiger  Einflufs  auf  ganze  Völker  zwar  an 
sich  wohl  zukommt,  aber  nur  die  durch  viele  Generationen  fortdauernde 
Einwirkung  eines  und  desselben  Erziehungssystems  grofse  Erfolge  er- 
warten läfst.  Die  Hoffnung,  durch  verbesserte  Erziehung  sozusagen  von 
heute  auf  morgen  eine  neue  Gesellschaft  bilden  zu  können,  hat  sich 
trüglich  erwiesen.  Noch  heute  liegt  die  Hauptschwierigkeit  in  der 
Indifferenz  der  Massen  in  Erziehungssachen,  der  durch  unermüdliche 
Popularisierung  der  Pädagogik  entgegenzuwirken  ist.  Einseitig  ist  auch 


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548 


Littcratur. 


die  Meinung,  dafs  Staatszwang  in  der  Erziehung  alles  vermöge.  Eine 
gewisse  Freiheit  mufs  der  Privaterziehung  bleiben,  schon  weil  sonst  Re- 
formideen sich  nicht  erproben  könnten.  (Das  will  auch  nicht  einleuchten. 
Mit  dem  Prinzip  der  Staatsschule  ist  Erprobung  von  Reformideen  an  sich 
wohl  vereinbar.  Ist  Verstaatlichung  z.  B.  der  Verkehrsmittel  notwendig 
ein  Hemmnis  des  Fortschritts?  Verstaatlichung  mufs  nicht  Uniformierung 
oder  einseitige  Zentralisation  bedeuten.  Dezentralisation  ist  kein 
Widerspruch  gegen  Oeffentlichkeit.)  Der  Revolutions-Grundsatz  der  All- 
gemeinheit der  Elementarbildung  ist  durchgedrungen.  Es  bleibt  eine 
ähnlich  allgemeine  Verbreitung  der  mittleren  (und  selbst  der  höheren! 
Bildung  zu  erstreben.  Hier  verweist  der  Verfasser  auf  die  Volkshoch- 
schulbewcgung.  Er  leugnet  nicht,  dafs  die  entscheidende  Vorbedingung 
die  Umwandlung  der  sozialen  Ordnungen  wäre,  in  welcher  Beziehung 
er,  aufser  auf  meine  Sozialpädagogik,  auf  Diesterweg  hinweist,  und  von 
diesem  das  Wort  citiert:  „Teilnehmende  Sorgftdt  für  die  leiblichen  Be- 
dürfnisse der  unteren  Klassen,  aus  freiem  Antriebe,  aus  Gerechtigkeit 
und  Humanität:  Für  den  braven  Mann  giebt  es  kein  Privatglück  mehr 
ohne  öffentliches  Wohl“  (Beiträge  zur  l^ösung  der  Lebensfrage  der 
Civilisation,  1837).  Nur  hält  der  Verfasser  auch  hier  seinen  Einwand 
aufrecht,  dafs  das  zur  Sozialpolitik,  nicht  zur  Sozialpädagogik  gehöre.  — 
Zum  Schlufs  behandelt  er  noch  die  Frage:  Moral-  oder  Religionsunter- 
richt? Er  entscheidet  sich  wesentlich  im  Sinne  meiner  Aufstellungen. 
Moraldogmen  sind  nicht  besser  als  religiöse;  auf  unparteiische  sozial- 
politische Belehrung  kommt  es  an,  auf  Grund  deren  der  Lernende  dann 
seine  Wahl  selbst  zu  treffen  hat.  Wozu  ich  nur  hinzuzusetzen  finde, 
dafs  auch  eine  genügend  tiefe  sozialwissenschaftliche  Belehrung  den 
religiösen  Faktor  nicht  umgehen  kann,  aber  auch  nicht  dogmatisch 
Partei  nehmen,  sondern  nur  unbefangen  die  Thatsachen  vorfuhren,  für 
die  darin  liegenden  Probleme  das  Verständnis  öffnen,  und  die  metho- 
dischen Handhaben  zu  ihrer  dereinstigen  selbständigen  Entscheidung 
vorbereiten  wird. 

Im  ganzen  läfst  das  Buch  viel  guten  Eifer  und  Verständnis  für  die 
Bedeutung  der  Aufgabe  erkennen.  Und  wenn  allerdings  weder  die 
historische  Untersuchung  gründlich  genug  geführt,  noch  die  theoretische 
Vertiefung  der  Schwere  der  Probleme  ganz  gewachsen  ist,  so  ist  immer- 
hin einige  nützliche  Vorarbeit  geleistet,  und  für  den  Weiterstrebenden 
Ansätze  und  Anregungen  genug  in  dem  Buche  zu  finden.  Es  verlohnt 
also  woltl  der  Mühe,  es  zu  lesen. 

Marburg. 

P.  NATORP. 


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Der  Stahlarbeiterstrike  vom  Sommer  1901  und 
seine  Lehren. 

Ein  Beitrag  zum  Verständnis  des  amerikanischen 
Kapitalismus. 

Von 

HEINRICH  WAENTIG. 


Motto: 


A pnnciplc  is  a jguod  thing  to  hght  for. 


not  to  live  on. 


Ellen  Glasgow. 


1 . Einleitung. 

Wer  von  Philadelphia  durch  den  „Garten  Pennsylvanias"  west- 
wärts streifend,  die  Alleghenies  überschreitet,  kommt  in  ein  Land, 
das  im  Volksmunde  den  bezeichnenden  Namen  „the  black  country“ 
führt.  Ueber  waldige  Höhenzüge,  entlang  an  Kohlengruben  und 
Kokereien,  Hochöfen  und  Stahlwerken  führt  ihn  sein  Weg,  bis  er 
endlich  da,  wo  Monongahela  und  Allegheny  sich  zum  Ohio  ver- 
einigen, das  Zentrum  dieses  Gebietes  erreicht.  Hier  war  es,  wo 
1704  französische  Kanadier  Fort  Duquesne  errichteten,  das  wenige 
Jahre  später  ihren  Rivalen  zum  Opfer  fiel;  hier,  wo  1765  dann  eng- 
lische Kolonisten  Pitt  zu  Ehren  eine  Stadt  seines  Namens  grün- 
deten, die,  zunächst  der  Stapelplatz  eines  ausgebreiteten  Indianer- 
handels, bald  zu  einer  gewissen  Wohlhabenheit,  als  „Iron  City"  zu 
unermefslichem  Reichtume  aber  erst  dann  gelangte,  als  sich  heraus- 
stellte, dafs  sie  im  Herzen  eines  der  mächtigsten  Kohlenbecken  der 
Welt  gelegen  sei.  Ein  Reichtum,  von  dem  man  sich  übrigens  heute 
auch  durch  den  Augenschein  überzeugen  kann,  wenn  man,  den  Lärm 
und  Schmutz  der  in  ewig  undurchdringlichen  Qualm  gehüllten  Thal- 
sohle des  träge  dahin  schleichenden  Monongahela  hinter  sich  lassend, 
zu  den  villenbedeckten,  luftigen  Uferhöhen  emporklimmt. 

Archir  Tür  soi.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVII.  3** 


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550 


Heinrich  Waentig, 


Der  grofse  Stahlarbeitcrstrike,  der  damals  im  ganzen  Osten  die 
Gemüter  erregte,  war  schon  im  vollen  Gange,  als  ich  nach  langer 
Fahrt  an  einem  heifsen  Juliabende  des  vergangenen  Jahres  unter 
dem  grellen  Scheine  lohender  Bessemer  Converter,  die  gleich  riesigen 
Fackeln  in  die  Nacht  hinaus  leuchteten,  in  Pittsburg  meinen  Einzug 
hielt.  Doch  wie  wenig  glich  das  Bild,  das  sich  mir  darbot,  dem- 
jenigen, das  ich  im  stillen  erwartet  hatte!  Auf  Strafsen  und  Plätzen 
eine  lustige,  zuversichtliche,  sonntäglich  gekleidete  Menge,  ruhelos 
auf  und  ab  wogend;  vor  den  Bars  und  Zeitungsredaktionen  lachende 
Gruppen,  die  neuesten  Ereignisse  vom  Kriegsschauplätze  diskutierend 
und  neugierig  nach  den  Extrablättern  haschend,  die  in  nie  ver- 
siegender Flut  von  heiseren  Newsboys  ausgeboten  werden  ; draufsen 
vor  der  Stadt  aber,  an  den  Flufsufern  und  auf  den  Höhen  weifse 
Zeltreihen,  die  camps  feiernder  Strikcr,  die  sich  mit  Weib  und  Kind 
aus  der  schwülen  Enge  sonnendurchglühter  Stahlwerke  hinaus  in 
die  freie  Natur  geflüchtet  haben ! •)  Später  sind  dann  freilich  trübe 
und  ernste  Tage  gefolgt,  die  ich  nicht  mehr  mit  erlebt  habe.  Und 
.als  ich  ein  halb  Jahr  später  nach  Pittsburg  zurückkehrte,  um  jetzt 
in  eisigem  Schneegestöber  forschend  von  VV'erk  zu  Werk  zu  wan- 
dern , da  war  die  Pintscheidung  längst  gefallen  und  fast  nichts  ge- 
mahnte mehr  an  die  heifsen  Sommertage  mit  ihrem  Glauben  und 
Hoffen. 

Dennoch  wäre  es  zu  bedauern,  wenn  die  Ereignisse  jener  Zeit 
ungenützt  der  Vergessenheit  anheimfallen  sollten.  Nicht  halb  so 
dramatisch  wie  der  oft  citierte  Homesteadstrike  von  1892,  der  in- 
folge des  unglückseligen  Eingreifens  gemieteter  Söldlinge  zu  einer 
blutigen  Schlacht  ausartete;  viel  begrenzter  auch  als  der  grofse 
Pullmanstrike  von  1894,  der  infolge  der  Beteiligung  der  American 
Railway  Union  über  weite  Bezirke  einen  völligen  Stillstand  von 
Handel  und  Wandel  herbeiführte;  überragt  der  Stahlarbeitcrstrike 
von  1901  doch  beide  bei  weitem  an  wissenschaftlichem  Interesse. 
Denn  die  Ursachen,  aus  denen  er  hervorging,  das  Objekt,  das  auf 
dem  Spiele  stand,  die  Bedingungen,  unter  denen  er  verlief,  und  die 
Gründe,  aus  denen  er  schliefslich  verloren  wurde,  gewähren  einen 
tiefen  Piinblick  in  das  Wesen,  die  Triebkräfte  und  die  Entwicklungs- 
tendenzen des  amerikanischen  Kapitalismus,  dessen  genauere  Erfor- 
schung trotz  seiner  Bedeutung  bisher  fast  ganz  vernachlässigt  worden 

rj  Vgl.  dazu  die  Schilderung  Gilson  Willct’s  in  Collicr’s  Weekly  vom  3.  August 
1901,  p.  7,  1 7 f . : The  strikt*  of  the  Steel  Workers. 


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Der  Slahlarbeiterstrike  vom  Sommer  1901  und  seine  Lehren. 


551 

ist.  Vielleicht  gelingt  es  mir,  im  Folgenden  ein  Weniges  zur  Aus- 
füllung dieser  Lücke  beizutragen. 

2.  Die  Vorgeschichte. 

Daß  auch  der  Stahlarbeiterstrike  von  1892,  der  sog.  Home- 
steadstrike , 1 ) im  letzten  Grunde  ein  l’rinzipienstreit , kein  blofser 
Lohnkampf  gewesen  sei,  hat  Ca  roll  D.  W right  jüngst  wieder 
betont.  „Der  Kampf“,  bemerkt  er,  „wurde  thatsächlich  durch- 
geführt, weit  mehr  um  Anerkennung  zu  erzwingen,  als  um  irgend 
einer  anderen  Ursache  willen.  Gewifs,  die  Lohn-  und  Preisfrage 
existierte;  aber  sie  war  untergeordnet.  Und  der  Entschluß  auf  der 
einen  Seite,  den  Einflufs  der  Amalgamated  Association  zu  brechen, 
und  auf  der  anderen,  ihn  zu  kristallisieren  und  zu  erhalten,  war  der 
wirkliche  Streitpunkt."  *)  Das  ist  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
richtig  und  deshalb  bildet  der  Ausstand  von  1901  halb  und  halb 
die  Fortsetzung  des  früheren  Kampfes,  wenn  auch  natürlich  unter 
veränderten  Verhältnissen  und  auf  höherer  Stufenleiter.  Denn  klar 
und  völlig  unvcrhüllt  wird  diesmal  die  grol'sc  Prinzipienfrage  in  den 
Vordergrund  gestellt. 3)  Und  dennoch  standen,  allem  äußeren 
Scheine  zum  Trotz,  in  diesem  wie  in  jenem  früheren  Falle,  sehr 
vitale  Interessen  zur  Entscheidung.  Ja,  der  schliefslichc  Konflikt 
war  von  seiten  der  Arbeiter  so  wenig  um  eines  leeren  Prinzipcs 

*)  Ueber  diesen  vgl.  besonders  Annual  Report  of  the  Secretary  of  Internal 
Affairs  of  the  Commonwealth  of  Pennsylvania,  Part  III,  Industrial  Statistics,  Vol.  XX,. 
1892.  Harrisburg  1S93,  I),  p.  I ff.  — CaroII  D.  Wrigbt.  The  Industrial  Evolution 
of  the  United  States,  London  1S96,  p.  309  tf.  — Derselbe,  The  National  Amalgamated 
Association  of  Iron,  Steel  and  Tin  Workers  1892 — 1001  in  The  Quarterly  Journal  of 
Economics,  Vol.  XVI,  Nov.  1901,  p.  ll  ff.  fSep.-Abdr.)  und  die  daselbst  citierte 
Littcratur. 

*)  Wright,  The  National  Amalgamated  Association,  p.  25. 

a)  „We  arc  fighting  for  a principle,“  heilst  cs  im  Amalgamated  Journal,  dem 
ofti/.iellcn  Organ  der  Amalgamated  Association  of  Iron,  Steel  and  Tin  Workers,  „for 
the  cause  of  humanity  pure  and  simple.**  Ja,  gelegentlich  wird  die  Stellungnahme 
des  Verbandes  und  seines  Leiters  sogar  mit  derjenigen  des  amerikanischen  Volkes 
und  seines  Präsidenten  in  dem  spanisch  - amerikanischen  Konflikte  verglichen  (vgl. 
The  Amalgamated  Journal  (Pittsburg)  vom  II.  7.  1901,  p.  I,  vom  18.  7.  Ol,  p.  1, 
vom  1.  8.  01,  p.  I u.  s.  w.).  Später  freilich  hat  Präsident  Shaffer  in  öffentlicher 
Rede  betont,  dafs  „the  strike  was  a matter  of  wages  and  labor  condition®,  not- 
withstanding  the  efforts  of  the  representatives  of  the  Opposition  to  prejudice  the 
labor  cause  by  allegations  to  the  contrary“  (New  York  Tribüne  vom  11.  8.  01,  p.  2). 

36* 


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552 


Heinrich  Wacntig, 


willen  vom  Zaune  gebrochen  worden,  wie  manche  dies  haben  dar- 
stellen wollen,1)  dafs  er  sich  vielmehr  mit  innerer  Notwendigkeit 
früher  oder  später  aus  der  Logik  der  Thatsachen  hätte  ergeben 
müssen,  weil  in  entwickelter  kapitalistischer  Produktionsordnung 
bei  Abschlufs  des  Arbeitsvertrages  die  freie  Selbstbestimmung  des 
Kontrahenten  Arbeit  dauernd  nur  auf  kollektiver  Basis  gesichert 
erscheint.  Diese  Erkenntnis  eben  war  es,  die  sich  zunächst  in 
dunklem  Drange,  später  zielbcwufst  zu  verwirklichen  strebte.  Ein 
kurzer  Rückblick  auf  die  Geschichte  der  Amalgamated  Association 
of  Iron,  Steel  and  Tin  Workers  in  ihren  wechselnden  Beziehungen 
zu  den  Unternehmern  der  Stahlbranche  wird  die  Richtigkeit  dieser 
Behauptung  erweisen. 

Die  National  Amalgamated  Association  of  Iron,  Steel  and  Tin 
Workers,  so  nannte  sich  der  Verband,  nachdem  er  Mitte  der  90er 
Jahre  auch  die  Arbeiter  der  neu  aufstrebenden  Weifsblechindustrie 
in  sich  aufgenommen  hatte,  ging  aus  einer  im  August  1876  zu 
Pittsburg  erfolgten  Verschmelzung  mehrerer  von  einander  unab- 
hängiger Vereine  hervor.  -)  Es  waren  die  United  Sons  of  Vulcan, 
ausschliefslich  bestehend  aus  „boilers  and  puddlers“;  weiter  die 
Associated  brotherhood  of  Iron  and  Steel  Heaters,  Rollers  and 

’)  So  heifst  cs  im  Commcrcial  and  Financial  Chronicle  vom  20.  4.  1901,  p.  747: 
„No  public  svmpathy  wouhl  follow  the  action  of  the  men,  if  they  were  to  sinke 
for  no  better  reason  than  to  get  the  heads  of  their  unions  recognized  . . . over  a 
mere  question  of  method  for  niaking  known  gricvances  to  one's  employer.“ 

2i  Zur  Geschichte  der  Amalgamated  Association  of  Iron,  Steel  and  Tin  Workers 
vgl.  Annual  Report  of  the  Secretary  of  Internal  Affairs  of  the  Commonwealth  of 
Pennsylvania,  Part  III,  Industrial  Statistics.  Vol.  XV.  Harrisburg  1887.  Offieial 
Document  No.  12.  G.,  p.  I ff. : The  Amalgamated  Association  of  Iron  and  Steel 

Workers,  skctch  of  its  history  with  referenccs  to  the  rise  and  progress  of  methodical 
conciliation  and  the  sliding  scale  of  wages  and  their  rcsults  in  combination  with 
Organisation.  — Caroll  D.  W right,  The  Amalgamated  Association  of  Iron  and  Steel 
Workers  im  Quarterly  Journal  of  Economics,  July  1893  (Sep.-Abdr.).  — Derselbe, 
The  National  Amalgamated  Association  of  Iron,  Steel  and  Tin  Workers  1892 — 1901 
im  Quarterly  Journal  of  Economics,  Nov.  1901  (Sep.-Abdr.)  und  die  dort  erwähnte 
Litteratur.  Endlich  Report  of  the  Industrial  Commission  on  Labor  Organisations, 
Labor  Disputes  and  Arbitration,  Vol.  XVII,  Washington  1901.  p.  212  ff.  Die  obige 
Darstellung  beabsichtigt  keineswegs  den  Gegenstand  zu  erschöpfen.  Es  wird  nur 
so  viel  mitgetcilt  werden,  als  zum  Verständnis  des  Strikes  von  1901  unbedingt  er- 
forderlich ist.  Doch  wird  das  Versäumte  in  einer  später  zu  veröffentlichenden  so- 
zialen Entwicklungsgeschichte  der  nordamerikanischen  Stahl-  und  Eisenindustrie  gründ- 
lich nachgeholt  werden. 


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Der  Stahlarbciterstrike  vom  Sommer  1901  und  seine  Lehren. 


553 


Roughers  of  the  United  States,  gebildet  von  Arbeitern,  die  in  Hoch- 
öfen und  Walzwerken  thätig  waren;  endlich  die  Iron  and  Steel  Roll 
Hands  Union,  zusammengesetzt  aus  „Catchers,  hookers,  helpers  and 
others  engaged  about  the  trains  of  work."  Der  älteste  und  wich- 
tigste unter  ihnen  war  der  Verband  der  United  Sons  of  Vulcan, 
der,  zunächst  als  rein  lokaler  Geheimbund  unter  dem  Namen  Iron 
City  Forge  am  17.  April  1858  zu  Pittsburg  gegründet,  sich  mit  dem 
Aufleben  des  Eisengewerbes  zu  Beginn  der  60  er  Jahre  von  dort 
über  die  umliegenden  Städte  und  Staaten  ausbreitete  und  am  8. 
September  1862  zum  ersten  Male  auch  öffentlich  hervortrat.  Der 
wichtigste  nicht  nur,  weil  er  der  stärkste  Verband  war,  sondern 
namentlich  auch,  weil  sich  in  seinem  Scholse,  und  zwar  ziemlich 
lange  vor  der  erwähnten  Verschmelzung,  diejenige  Politik  ausbildete, 
die  nachmals  für  die  Amalgamatcd  Association  vorbildlich  werden 
sollte.  Kr  nämlich  war  es,  der  sich  nach  langen  Kämpfen  auf 
Anraten  des  weitblickenden  Seniorpartners  B.  F.  Jones  der  noch 
heute  hochbedeutenden  Pittsburger  Firma  Jones  and  I.aughlins 
Limited  zum  ersten  Male  im  ganzen  Bereiche  der  Vereinigten  Staaten 
bewegen  liefs,  am  13.  Mai  1865  zwecks  Vermeidung  der  von  beiden 
Seiten  gleich  unangenehm  empfundenen  Produktionsstörungen  ein 
zu  gleichen  Teilen  von  Unternehmern  und  Arbeitern  beschicktes 
Kommittee  mit  Verabredung  einer  sliding  scale  zu  betrauen,  der 
entsprechend  sich  für  bestimmte  Frist  die  Löhne  der  Arbeiter 
automatisch  den  Schwankungen  der  Produktmarktpreise  anpassen 
sollten. 

Durch  dieses  System,1)  das  1876  von  der  Amalgamatcd  Asso- 
ciation übernommen  und  weiter  ausgebildet  wurde,  schien  die  Rege- 
lung der  Lohnfrage  gewissermafsen  auf  eine  ganz  neue  Grundlage 
gestellt,  woraus  sich  bedeutsame  Folgen  allgemeiner  Natur  für  das 
Verhältnis  der  Unternehmer  der  Stahlbranche  zu  ihren  Arbeitern 

*)  Ein  genaueres  Kingehen  auf  die  sehr  interessante,  aber  auch  höchst  kompli- 
zierte Entwicklungsgeschichte  dieses  Sliding  scalc-Systcms  ist  für  das  Verständnis  des 
Folgenden  nicht  notwendig.  Ich  werde  an  einem  anderen  Orte  ausführlich  darauf 
zurückkommen.  Im  übrigen  verweise  ich  aul  die  soeben  citierlc  Litteratur  und 
weiter  auf  Reports  of  the  Industrial  Commission  on  The  Relations  and  Conditions 
of  Capital  and  Labor,  employed  in  manufacturcs  and  general  business,  Vol.  VII, 
Washington  190t,  p.  85  ff.,  383  IT.  und  Reports  on  Labor  Organisation,  Labor 
Disputes  and  Arbitration,  Vol.  XVII,  p.  339  ff.  Endlich  vgl.  Western  Scale  of  prices, 
governing  wages  in  rolling  mills  for  the  year  ending  June  30,  1002.  Published  by 
Nat.  Lodge,  Am.  Assoc.’  of  J.  St.  and  T.  W.  1901/2.  Pittsburgh  Pa. 


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554 


Heinrich  W a e n t i g , 


ergaben.  Zunächst  wurde  allen  Streitereien  der  interessierten  Par- 
teien über  Lohnhöhe,  Lohnform  u.  s.  w. , für  eine  bestimmte 
Zeit  wenigstens,  der  Boden  entzogen.  Nicht,  dafs  fortan  Konflikte 
überhaupt  vermieden  worden  wären.  Wurden  doch  allein  in  der 
Zeit  von  1876 — 85  von  der  Amalgamated  Association  nicht  weniger 
als  93  „legalisierte"  Strikes,  darunter  17  „in  defense  of  unionism" 
und  3 „to  compel  the  signing  of  the  scale“  ausgefochten.  Wohl 
aber  ward  damit  der  anhaltende  latente  Kriegszustand  durch  ein 
System  periodischer  Friedensschlüsse  ersetzt,  namentlich  seitdem 
das  zuerst  übliche  Eingehen  der  kollektiven  Lohnverträge  auf  un- 
bestimmte F'rist  mit  90  tägiger  Kündigung  der  Vereinbarung  eines 
festen  Jahrestermines  von  Juni  zu  Juni  hatte  weichen  müssen. 
„Zum  ersten  Male  in  der  Geschichte  dieser  Industrie",  heilst  es  in 
dem  erwähnten  Berichte  des  Secretary  of  Internal  Affairs  of  the 
Commonwealth  of  Pennsylvania,  „war  eine  gewisse  Wahrschein- 
lichkeit dafür  vorhanden,  dafs  die  Arbeit  ohne  Unterbrechung  durch 
eine  zwölfmonatliche  Periode  andauern  werde."  Und  so  stark  war 
seitdem  die  selbstbewufste  Vertragstreue  der  Arbeiter,  dafs  sie  bei- 
spielsweise eine  ihnen  während  des  Geschäftsaufschwunges  von  1880 
seitens  der  Unternehmer  unter  der  Hand  angebotene  Lohnerhöhung 
über  das  vereinbarte  Maximum  der  Scale  hinaus  ziemlich  kühl 
behandelten , mit  dem  Bemerken . dafs  die  Amalgamated  Asso- 
ciation die  einmal  eingegangene  Verpflichtung  unter  allen  Um- 
ständen einhalten  werde,  wie  hoch  auch  immer  die  Produktpreise 
im  weiteren  Verlaufe  noch  steigen  sollten.  ’) 

Die  zweite  nicht  minder  wichtige  Folge  jener  gemeinsamen 
Verhandlungen  war,  dafs  sich  itn  Anschluls  daran  gewisse  mehr 
oder  weniger  anerkannte  Einflufssphären  der  Amalgamated  Asso- 
ciation herausbildeten,  innerhalb  deren  sie  ihre  allgemeinen  An- 
schauungen über  die  zweckmäfsige  Organisation  des  Arbeitsver- 
hältnisses zu  verwirklichen  sich  für  berechtigt  halten  durfte.  War 
es  doch  kaum  angängig,  dem  für  den  Abschluls  kollektiver  Lohn- 
verträge unentbehrlichen  Arbeiterverband  lediglich  ad  hoc  gelten 
zu  lassen,  ohne  ihm  auch  sonst  eine  gewisse  Vertrauensstellung  in 
den  einzelnen  Werken  einzuräumen.  F'reilich,  das  Mals  dieses  Ein- 
flusses bildete  seither  den  Gegenstand  immer  erneuter  Kämpfe.  Denn 
besonders  die  differenziellc  Behandlung  der  sog.  non-union  men 


■)  Annu.il  Report  of  the  Secretary  of  Internal  Affairs  of  the  < Commonwealth 
of  Pennsylvania,  Part  III,  Vol.  XV,  p.  15  ff..  25. 


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Der  Stahlarbeitcrstrike  vom  Sommer  1901  und  seine  Lehren. 


555 


seitens  der  Verbandsmitglieder,  ')  ferner  die  zuerst  1887  eingeführte 
„one  job  rule“  *)  und  andere  weitergeltende  Hingriffe 3)  waren  den 
Unternehmern  aus  leicht  begreiflichen  Gründen  ein  Dorn  im  Auge. 
Auch  auf  diesem  Gebiete  aber  gelangte  man  aus  einem  Zustande 
unaufhörlichen  Kleinkrieges  zu  einer  Art  periodischen  Waffenstill- 
standes in  der  Form,  dafs  das  Unterzeichnen  der  vereinbarten  neuen 
Scale  für  ein  bestimmtes  Werk  und  bestimmte  Frist  zugleich  die 
stillschweigende  Anerkennung  des  V'erbandes  samt  seinen  den 
Unternehmern  bekannten  Tendenzen  bedeutete,  so  dafs  jener  feier- 
liche Akt  eine  doppelte  Wichtigkeit  erhielt. 

In  eine  neue  Phase  trat  die  Entwicklung,  als  sich  mit  dem 
Beginn  der  achtziger  Jahre  auch  auf  dem  Gebiete  der  Eisen-  und 


*)  So  bestimmt  die  Konstitution  der  Amalgamated  Association  in  Art.  XXXIV 
Scction  6:  „that  in  euch  works  the  Mill  Committee  sball  wait  on  eacb  new  work- 
man,  when  emploved,  and  ask  bim  for  bis  withdrawa!  card.  But  il‘  he  bas  not 
gol  a withdrawal  card  and  is  not  a member  ot‘  this  association,  Steps  sball  be 
taken  to  persuade  himtojoin  it.“;  in  Art.  XXXVI  Sect.  3:  dafs  alle  den 
im  Verbände  vertretenen  Branchen  zugehörigen  Ankömmlinge  „shall  producc  a wor- 
king card,  beforc  they  be  allowed  to  work;  and  thosc  not  members,  who 
have  situations,  sball  be  given  four  wecks’  time  to  join“;  endlich  in  Art  XVII 
Scct.  5 : „that  no  member  in  any  works  »hall  render  any  assistance  or  loan  his 
tools  to  any  workman  who  persistentley  refuses  to  bccome  a member  of  this  asso- 
ciation.“ Vgl.  auch  Reports  of  the  Industrial  Commission,  Vol.  XVII,  p.  215. 

r)  In  Art.  XVII  Scct.  8 der  Konstitution  heilst  cs:  „This  association  will  not 
tolcratc  any  man  holding  morc  than  onc  job.  One  furnace  single  turn, 
one  train  of  rolls  double  turn,  one  Steel  melting  gas  furnace  onc  turn,  to  constitute 
onc  job,  and  all  arc  expcctcd  to  enforcc  this  rule.  Any  man,  holding  two  or  more 
separate  jobs  in  violation  of  this  section,  shall  be  stigmatized  as  a „blacksheep“  etc. 

*)  „The  Constitution  provides  an  claborate  series  of  provisions  as  to  the  size 
of  charges  in  fiimaccs  of  various  sorts  and  as  to  the  number  of  heats  which  shall 
constitute  a day’s  work.  The  output  of  tinplatc  rolling  mills  is  strictly  limited, 
and  if  any  crew  is  lound  to  have  surpassed  the  limit,  the  lodge  is  to  collect  the 
equivalcnt  of  the  overweight  or  surplus  eaming  and  an  additional  fine,  for  each 
offense,  of  25  cents  from  the  roller  and  from  the  doubler“  (Reports  of  the  In- 
dustrial Commission,  Vol.  XVII,  p.  217).  Vgl.  auch  Constitution  of  the  Amalgamated 
Association,  Art.  XVIII  ff.  Charles  M.  Schwab  behauptet  sogar  vor  der  Industrial 
Commission,  dafs  vor  1892  in  den  Homcstead  Steel  Works  „at  one  time  the  labor 
associations  took  it  upon  themselves  to  select  their  own  foremen  and  to  select  the 
men  who  should  succeed  them  in  case  of  a vacancy.“  (Reports  of  the  Industrial 
Commission,  Vol.  XIII.  On  Trusts  and  Industrial  Combinations.  Washington  IQOI, 
p.  461). 


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556 


Heinrich  Wacntig, 


Stahlindustrie  jene  Konsolidationsbewegung  geltend  zu  machen  be- 
gann, die  das  ungeordnete  Nebeneinander  heftig  konkurrierender 
und  nur  durch  lose  Interessenverbände  verknüpfter  Unternehmungen 
schrittweise  durch  planvolle  Neubildungen  zu  ersetzen  suchte  und 
zwanzig  Jahre  später  mit  der  Begründung  der  United  States  Steel 
Corporation  ihren  vorläufigen  Abschlufs  finden  sollte.  Der  wachsende 
Umfang  wie  die  Vielgestaltigkeit  der  neuen  Unternehmungen  er- 
höhten die  Verantwortung  ihrer  Leiter  und  erschwerten  die  richtige 
Kalkulation  bei  wechselnden  Konjunkturen.  Souveräne  Beherrschung 
der  Produktionsfaktoren  ward  mehr  denn  je  die  unentbehrliche  Vor- 
aussetzung erfolgreicher  Leitung,  eine  Forderung,  mit  deren  Verwirk- 
lichung ein  machtvoller,  in  seiner  Politik  oft  unberechenbarer  Ar- 
beiterverband bei  seinem  Einflufs  auf  die  Gestaltung  der  Arbeits- 
bedingungen, wenn  nicht  gar  auf  die  innere  Einrichtung  des  Betriebes 
sich  schlecht  zu  vertragen  schien. ')  Kein  Wunder,  dafs  man  sich 
auf  seiten  der  Unternehmer  im  Geheimen  mit  dem  Gedanken  ver- 
traut machte,  diese  Selbstbestimmung  einzudämmen.  Verdächtig  ist 
es  jedenfalls,  dafs  die  allen  ihren  Rivalen  auf  dem  bezeichneten 
Wege  weit  vorausgeeilte  Carnegie  Co.  es  war,  welche  unter  dem 
Drucke  der  zu  Beginn  der  neunziger  Jahre  eintretenden  Depression 
die  Theorie  zuerst  in  die  Praxis  umsetzte.  Der  Homesteadstrike 
von  1892  mit  seinen  blutigen  Ereignissen  wäre  ein  nichtswürdiger 
Frevel  gewesen,  wenn  es  sich  dabei  wirklich  nur  um  ein  paar 
lumpige  Lohngroschen  gehandelt  hätte.  Er  endete  bekanntlich  mit 
der  Vernichtung  des  Einflusses  der  Amalgamated  Association  in  den 
Werken  der  Carnegie  Co.,  deren  gelernte  Arbeiter  bis  1 892  zu  etwa 
80  °/0  organisiert  gewesen  waren. !)  Jeder  Versuch,  den  alten  Zu- 

’)  Welch  grofse  Bedeutung  bei  der  Berechnung  der  Produktionskosten  des  Stahls 
gerade  dem  Faktor  Arbeit  zukommt,  hat  Charles  M.  Schwab  vor  der  Industrial 
Commission  zu  erläutern  gesucht.  „You  ought  to  bcar  in  mmd,“  erklärte  er,  „that  the 
cost  of  making  steel  is  very  large  ly  onc  of  labor,  no  matter  from  whicb  point 
you  takc  it.  After  you  fix  a price  on  your  raw  matcrials  that  you  think  is  fair, 
everything  eise  entering  into  it  is  labor.  People  say,  labor  docs  not  form  a very 
considcrablc  part.  Here  is  $ 5 for  steel  and  the  labor  is  50  Cents.  But  everything 
that  gocs  into  the  finished  product,  has  had  labor  expended  on  it  at  somc  time 
and  labor  is  by  all  odds  tlic  one  real  ly  important  item  of  cost;  labor  in  the  nickel 
mines  that  give  us  the  nickel;  it  may  bc  in  the  mangancsc  mincs  that  adds  to  the 
cost  of  the  manganese  ore ; it  is  the  cost  ol  labor  to  the  railroads  that  adds  to 
your  freight;  and  so  on  all  along  the  linc  — it  is  labor,  labor,  labor  cvcrywhere.M 
(Reports  of  the  Industrial  Commission,  Vol.  XIII,  p.  466). 

*)  Nach  Charles  M.  Schwab,  a.  a.  O.  p.  460. 


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Der  Stahlarbeitcrstrike  vom  Sommer  1901  und  seine  Lehren. 


55  7 

stand  allmählich  wiederherzustellen,  wurde  fortan  mit  eiserner  Hand 
im  Keime  erstickt. ') 

Es  war  ein  harter  Schlag  und  die  Amalgamated  Association 
hat  sich  von  dieser  Erschütterung  bis  auf  den  heutigen  Tag  nicht 
ganz  wieder  erholen  können,  *)  obwohl  sie  für  ihre  Verluste  in  der 
Arbeiterschaft  der  etwa  um  dieselbe  Zeit  aufkommenden  und  unter 
dem  Schutze  hoher  Zolle  rasch  emporblühenden  Weifsblech- 
industrie einen  gewissen  Ersatz  fand.  Der  immer  zunehmenden 
Konzentration  auf  den  verschiedenen  Gebieten  der  Stahl-  und  Eisen- 
industrie, die  besonders  zu  Ende  der  90  er  Jahre  aufs  neue  grofse 
Fortschritte  machte  — die  Federal  Steel  Co.,  die  American  Tin 
Plate  Co.,  die  National  Steel  Co.,  die  American  Steel  Hoop  Co., 
die  American  Steel  and  VV’ire  Co.  u.  s.  w.  wurden  in  den  Jahren 
189899  organisiert  — stand  man  gleichwohl  nicht  feindselig  gegen- 
über, da  das  Sliding  scale- System  darunter  vorläufig  nicht  zu  leiden 
hatte.8)  Ja,  es  konnte  der  Präsident  des  Verbandes  Theodore 
J.  Shaffer  am  23.  September  1899  bei  seiner  Vernehmung  durch 
die  Industrial  Commission  die  Frage:  „Welchen  Einflufs  wird  die 
industrielle  Konzentration  auf  die  Löhne  und  die  Zahl  der  An- 
gestellten in  Ihrem  Gewerbe  und  in  anderen  voraussichtlich  aus- 
üben ?“  mit  den  Worten  beantworten : „Sie  hat  soweit  einen  wohl-* 


’)  Jeder  Versuch  der  Organisation  zog  sofortige  Entlassung  nach  sich  (Theo- 
dore J.  Shaffer,  Präsident  der  Amalgamated  Association,  vor  der  Industrial  (’otn* 
mission  in  Reports  of  the  Industrial  Commission,  Vol.  VII,  p.  385  . 

a)  NachCaroll  D.  Wright's  verläfslicher  Darstellung  erreichte  der  Verband 
den  Höhepunkt  seiner  Entwicklung  i.  J.  1891  mit  24  06S  Mitgliedern.  Diese  Zahl 
sank  dann  rasch  auf  10000  (1894)  und  hat  sich  nicht  mehr  viel  Uber  14000  er- 
hoben The  National  Amalgamated  Association,  p.  6). 

*)  Präsident  Shaffer  konnte  im  September  1899  vor  der  Industrial  Commission 
erklären,  dals  sein  Verband  etwa  „70  aller  Arbeiter  in  den  organisierten  Ge- 
werben kontrolliere.“  Zur  Erläuterung  fügte  er  dann  hinzu : „I  think  that  in 
what  are  organized  as  regulär  Steel  plants  wc  have  about  one  half,  not  less  than 
one  half.  In  an  other  part  of  the  Steel  business,  called  the  sheet-iron  and  platc 
trades,  wc  are  almost  solidly  organized  to-day.  Wc  have  about  *,0  of  the 
iron  workers  organized.  We  have  about  * 9 of  the  tin  workers“.  (Reports  of  the 
Industrial  Commission,  Vol.  VII,  p.  3831.  Letztere  sind  die  sog.  „hot  mül  men“.  Die 
andere  Hälfte,  die  „lin-house  men“,  sind  ebenfalls  sämtlich  organisiert,  gehören  je- 
doch einem  besonderen  Verbände,  der  International  Protective  Tin  Workers’  Asso- 
ciation, an.  Vgl.  zu  alledem  auch  die  Erklärung  des  früheren  Präsidenten  der  Amal- 
gamatrd  Association,  Mahlon  M.  Garland,  ebenda  p.  85,  97. 


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Heinrich  Waentig, 


thätigen  t.influfs  gehabt  und  ich  glaube,  die  Mehrzahl  unserer  Mit- 
glieder dürfte  lieber  mit  diesen  grolsen  Korporationen,  Syndikaten, 
Trusts  und  Kartellen  zu  tliun  haben,  als  mit  den  kleineren 
Werken  zu  verhandeln.“1)  Daher  man  denn  die  im  Jahre  1899  in  die 
Konstitution  der  Amalgamated  Association  eingeführte  Bestimmung 
des  Art.  XVII  Sec.  23:  „Sollte  ein  einzelnes  Werk  eines  Trust  oder 
Kartells  Schwierigkeiten  machen,  so  sollen  alle  diesem  Trust  oder 
Kartell  zugehörigen  Werke  die  Arbeit  einstellcn,  bis  dafs  die  Be- 
schwerde behoben  ist,"  welche  späterhin  eine  so  verhängnisvolle 
Rolle  gespielt,  lediglich  als  einen  Versuch  zu  betrachten  hat, 
die  Verbandsverfassung  den  veränderten  l’roduktionsbedingungen 
anzupassen.  Diese  durchaus  friedliche  Haltung 4)  machte  jedoch 
sofort  feindseligem  Mifstrauen  Platz,  als  unter  der  Patenschaft 
J.  Pierpont  M organs  die  unerwartete  Verschmelzung  einer 
gröi'scrcn  Zahl  der  vorhandenen  Trusts  einschlicfslich  der  Carnegie  Co. 
zu  einem  einzigen  Riesenunternehmen  erfolgte  und  an  dessen  Spitze 
ein  Mann  trat,  der,  ein  Organisator  von  unzweifelhafter  Genialität, 
obwohl  aus  Arbeiterkreisen  hervorgegangen,  sich  doch  bisher  in 
Wort  und  That  als  erklärter  Gegner  von  Arbeiterverbänden  be- 
währt hatte : Charles  M.  Schwab.  *) 


')  Reports  of  the  Industrial  Commission,  Vol.  VJIT  p.  395. 

')  Bezeichnend  die  Worte,  mit  denen  Shaffcr  sein  Zeugnis  vor  der  Industrial 
Commission  .schliefst:  ,,As  I said.  I do  i^ot  bclicve  in  strikes  or  the  vie- 
le nee  consequent  upon  them.  1 bclicve  that  our  people  can  be  edueated  up 
to  a conservative  coursc,  a prudent  and  intelligent  action,  and  that  if  wc  are  per- 
mitted  to  follow  the  coursc  wc  have  followed  for  the  past  two  years,  it  will  bc  a 
comparatively  short  time  only  when  our  Organisation  will  convincc  the 
skcptical  outsidc  that  working  people  ought  to  bc  organised“  (Re- 
ports of  the  Industrial  Commission,  Vol.  VII.  p.  398). 

*)  Diese  Anschauungen  hatte  Schwab  vor  allem  als  Leiter  der  Cargenie  Works 
bethatigt,  ihnen  aber  auch  öffentlich  Ausdruck  verliehen  vor  der  Industrial  Com- 
mission in  den  Worten:  „If  I were  a workingman  — as  1 was  — if  1 were  a working- 
man  now  in  one  of  these  mills,  espccially  if  managed  under  the  broad  policy 
under  which  I hopc  the  stcel  manufacturc  is  administcred,  1 would  not  want  to 
bclong  to  a labor  Organisation.  It  puts  all  men,  no  matter  what  their  ability,  in 
the  same  dass  of  work  on  cxactly  the  samt  levcl...  The  lcvcl  is  that  of  the 
poorcst  man  in  that  department.  As  a working  man,  I would  not  advancc  and 
I would  not  be  able  to  show  superior  ability  over  any  olher,  if  I were  in  an  Orga- 
nisation.“ Charakteristisch  auch  der  Artikel  Sch  wabs  in  der  North  American  Review, 
Vol.  CLXXII,  1901,  p.  655  fr.,  bes.  660  f.  Wie  unbeliebt  Schwab  im  Gegensatz 
zu  Morgan  in  Arbeiterkreisen  vielfach  damals  war,  hat  sich  während  des  Strikes 


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Der  StahlarheiUTstrikc  vom  Sommer  1901  und  seine  Lehren. 


559 


Edward  S.  Me  ade  schliefst  eine  lehrreiche  Untersuchung 
über  die  Genesis  der  United  States  Steel  Corporation  mit  der, 
soweit  ich  urteilen  kann,  zutreffenden  Bemerkung,  dafs  die  bei  der 
Bildung  jenes  Trust  gesuchten  Vorteile  in  erster  Linie  gewesen 
„die  Vermeidung  des  Wettbewerbes  und  die  Sicherung  dauernder 
Stabilität  und  Harmonie  des  Stahlgewcrbes  im  mittleren  Westen.“1) 
Für  den  Einsichtigen  nämlich  war  es  ein  offenes  Geheimnis,  dafs 
die  in  den  Jahren  1898 — 1900  gegründeten  Stahltrusts,  fast  aus- 
nahmslos hochgradig  spekulativen  Charakters,  auf  sehr  unsicherer 
Basis  ruhten,  da  sic  infolge  schwerer  Uberkapitalisation  und  des 
Mangels  ausreichender  Reservefonds'-’)  einem  etwaigen  Konkurrenz- 
kämpfe zwar  technisch,  aber  nicht  finanziell  gewachsen  waren.  Dafs 
ein  solcher  zunächst  nicht  eingetreten,  war  einem  besonderen  Um- 
stande zu  verdanken,  dem  wirtschaftlichen  Gleichgewichte  nämlich, 
in  welchem  sich  die  in  Betracht  kommenden  Unternehmungen  bei 
ihrer  Gründung  befanden.  I latten  doch  die  Carnegie  Co. , die 
Federal  Steel  Co.  und  die  National  Steel  Co.  als  Produzenten  von 
Halbfabrikaten  auf  der  einen,  die  National  Tube  Co.,  American  Steel 
and  Wire  Co.,  American  Tin  Plate  Co.,  American  Steel  Hoop  Co. 
und  American  Sheet  Steel  Co.  als  Produzenten  gebrauchsfertiger 
Waren  auf  der  anderen  Seite  einander  gewissermalsen  ergänzt,  wäh- 
rend die  einzelnen  Glieder  jeder  der  beiden  Gruppen,  teils  geo- 


deutlich  gezeigt.  Vgl.  z.  B.  New  York  Tribüne  v.  5.  8.  1901,  p.  2 und  v.  6.  8.  01.  p.  2. 
„Charles  M.  Schwab  is  a labor  crusher“,  hiefs  es.  „YVith  that  pupil  of  Carnegie  out  of 
the  way,  we  would  have  a smooth  sailing44.  (Chicago  Record  Ilerald  v.  23.  8.  01.  p.  2.) 
Solche  und  ähnliche  Aeufscrungcn  wurden  in  der  Presse  öfters  den  Leitern  der  Amal- 
gamated  Association  in  den  Mund  gelegt.  Naiv  verlangte  man  geradezu  seinen 
Rücktritt : „The  Amalgamated  Association  is  not  making  a light  upon  any  minor 

official  of  the  stcel  combine,  but  on  Mr.  Schwab.  The  fight  is  against  him.  Hc 
has  stood  and  still  Stands  in  the  wav  of  a Settlement44. 

*)  The  Quarterly  Journal  of  Economics,  Vol.  XV,  Aug.  1901,  p.  517  ff. 

*)  Der  Verfasser  erörtert  diese  Frage  mit  besonderer  Rücksicht  auf  die  Fede- 
ral Stcel,  American  Steel  and  Wire,  National  Tube,  National  Steel,  American  Tin  Plate 
und  American  Steel  Hoop  Co.’s  und  schliefst  seine  Betrachtungen  mit  den  Worten : 
„The  preferred  stock  represented  value  in  existcnce  and  the  common  stock  v a I u e 
in  prospcct.  And  when  we  consider  that  5 215484000,  or  53  per  Cent.,  out  of 
the  total  stock  capitalization  of  $ 408  065  000,  was  common  stock,  w’hose  value  w'as 
yct  to  be  demonstrated,  the  security  offered  to  an  investor  in  the  stcel  Stocks  by  a 
surplus  reserve  of  $ 32686000  can  bc  estimated  at  its  true  value  as  con- 
siderably  less  than  nothing44  (a.  a.  O.  p.  527  ff.). 


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560 


Heinrich  VV  a c n t i g , 


graphisch,  teils  gewerblich-technisch  gegeneinander  abgegrenzt,  jedes 
für  sich  sein  eigenes  Sondergebiet  ungestört  beherrschte.  Dieses  nun 
änderte  sich  im  Herbste  1900,  als  sinkende  Konjunkturen  alle  jene 
Kompagnieen,  deren  Kapitalisation  ohne  genügende  Vorsichtsmafs- 
regeln  der  günstigen  Geschäftslage  von  1899  angepafst  worden  war, 
und  damit  zugleich  ihre  Gründer,  Leiter  und  Aktionäre  mit  fallenden 
Preisen,  reduzierten  Profiten,  schwindenden  Dividenden  und  empfind- 
lichen Wcrtverlusten  auf  dem  Effektenmärkte  bedrohten,  wenn  es  nicht 
gelang,  dieser  Gefahr  auszuweichen.  Als  nächstes  und  geeignetstes 
Mittel  zu  deren  Abwendung  ergab  sich  für  die  Bedrängten  die 
Herabsetzung  der  Produktionskosten,  die  für  die  Produzenten  ge- 
brauchsfertiger Waren  am  wirksamsten  durch  Emanzipation  von 
den  Lieferanten  des  Rohmateriales  zu  bewerkstelligen  war.  Suchten 
so  die  Glieder  der  zweiten  Gruppe  sich  von  denen  der  ersten  un- 
abhängig zu  machen,  so  erklärten  letztere,  besonders  die  best- 
gerüstete Carnegie  Co., ')  in  ihrem  Absätze  bedroht,  sich  durch 
künftige  Fabrikation  des  Endproduktes  schadlos  halten  zu  wollen. 
Kurz,  ein  wütender  Krieg  aller  gegen  alle  war  im  Ausbrechen,  wo- 
bei Vernichtung  der  Schwächeren,  unabsehbare  Verluste  aller  un- 
vermeidlich schienen.  Durch  die  am  25.  Februar  1901  erfolgte 
Gründung  der  United  States  Steel  Corporation,  die  am  1.  April  ihre 
praktische  Thätigkeit  begann,  gelang  es,  diese  Gefahr  zu  beschwören, 
und  so  grofs  war  der  Glaube  an  die  „economies  of  combination“ 
bei  diesem  gewaltigen  L'nternehmen,  dafs  man  es  wagen  durfte, 
ihre  „anticipated  profits"  durch  416  Millionen  Dollar  im  Ueberschufe 
über  die  teilweise  schon  stark  verwässerten  Fonds  der  verschmol- 
zenen Finzelkompagnicen  zu  kapitalisieren.  *) 

Freilich,  bildete  nicht  gerade  diese  immense  Ueberkapitalisation 
eine  neue  Gefahr?  War  sie  nicht  erst  recht  ganz  abnorm  günstigen 
finanziellen  wie  industriellen  Konjunkturen,  insbesondere  einem  Hoch- 


*)  Näheres  a.  a.  O.  p.  532  ff.,  539  ff. 

3)  A.  a.  ().  p.  550.  Näheres  in  The  Commercial  and  Financial  Chronicle 
v.  2.  3.  1901,  p.  408  h In  die  Kombination  wurden  aul'scr  den  im  Text  genannten 
Unternehmungen  noch  die  American  Bridge  Co.  sowie  die  Rockcfeller  ore  and  trans- 
portation  intcrcsts  cinbezogcn.  Hin  Syndikat  unter  Leitung  J.  Pierpont  Morgan* 
hatte  zur  Durchführung  des  Planes  $ 200  Mill.  gezeichnet.  Vgl.  ferner  The  Iron 
Age  v.  11.  4.  1901,  p.  14  f.,  v.  13.  2.  1902,  p.  27  b,  v.  6.  2.  1902,  p.  16  ff.;  end- 
lich das  Zeugnis  von  Charles  M.  Schwab  vor  der  Industrial  Commission  die 
United  States  Steel  Corporation  betreffend  in  Reports  of  the  Industrial  Commission, 
Vol.  XIII,  p.  450  ff.,  475  ff. 


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Der  Slahlarbcitersirike  vom  Sommer  1901  uud  seine  Lehren. 


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Schutzzollsysteme  angepafst,  das  nicht  von  ewiger  Dauer  sein  konnte  ? 
Wie,  wenn  es  unter  dein  Drucke  einer  übermächtigen  Volksbewegung 
ins  Wanken  kommen  sollte  ? Lag  es  dann,  nachdem  im  übrigen 
alles  Denkbare  zur  Verminderung  der  Produktionskosten  schon  früher 
geschehen,  nicht  nahe,  bei  sinkenden  Preisen  schwindende  Profite 
durch  gedrückte  Löhne  hochzuhalten?  Hatte  es  doch  Charles 
M.  Schwab  vor  der  Industrial  Commission  offen  ausgesprochen, 
dafs  die  einzigen,  die  von  einer  Aufhebung  oder  Erniedrigung  der 
Stahl-  und  Eisenzölle  benachteiligt  werden  würden , die  Arbeiter 
seien ! ') 

Gedanken  wie  diese  müssen  den  Leitern  der  Amalgamated 
Association  im  vergangenen  Jahre  oft  durch  den  Kopf  gegangen 
sein,  und  wenn  sie  sich  die  machtvolle  Gröfse  des  Gegners  vor 
Augen  führten,  *)  schweiften  ihre  Blicke  wohl  besorgt  über  die  bedenk- 
liche Lückenhaftigkeit  ihrer  Organisation  im  Rahmen  des  „Billion- 
dollartrust" dahin.  Lag  cs  doch  auf  der  Hand,  dafs  nur  eine  wohl* 
gerüstetc  und  straff  organisierte  Arbeiterschaft  etwaigen  Vorstül'sen 
des  Unternehmertums  genügenden  Widerstand  würde  entgegensetzen 
können.  Völlig  unorganisiert  waren  die  Leute  der  Carnegie-Werke  und 
die  der  American  Steel  and  Wire  Co. ; teilweise  organisiert  die  der 
National  Tube  Co.  und  der  National  Steel  Co.  Als  streng  „union“ 
galten  die  Arbeiter  der  Steel  Hoop  Co.,  Sheet  Steel  Co.,  Tin  Plate 
Co.  und  Eederal  Steel  Co.  Aber  selbst  im  Bereiche  dieser  vier  letzt- 
genannten Kompagnieen  waren  keineswegs  alle  zugehörigen  Be- 
triebe als  „union“  offiziell  anerkannt.  *)  Ja,  bei  dem  Nebeneinander- 

*)  Reports  of  the  Industrial  Commission,  Vol,  XIII,  p.  466:  „It  would  not  hurt 
anybody  in  those  lincs  where  we  did  not  need  a tariff,  and  tlic  only  persons 
it  would  hurt  in  those  lines  wherc  wc  do,  are  the  working  peopl c.“ 

*)  Nach  einem  „unofficial,  though  said  to  bc  trustworthy  Statement*1,  das  zu 
Anfang  Marz  in  der  Presse  erschien,  eignete  oder  „kontrollierte“  der  Trust  damals  78 
Hochöfen,  149  Stahlwerke  und  6 sog.  „finishing  plants“  mit  einer  Jahreskapazität  in 
fertigem  Produkt  von  ca.  9 Mül.  tons.  „The  Company,“  hiefs  cs  weiter,  „will  own 
Lake  Superior  iron  mines  which  produced  last  ycar  nearly  1 1 mill.  tons  of  ore.  It 
has  18  300  coke  ovens,  70830  acs.  of  coal  lands  and  about  30000  acs.  of  surface 
land  in  the  coke  regions.  Its  lake  flcet  will  number  66  vessels.  When  the  Rockefeller 
ore  and  vessel  interests  arc  absorbed,  which  it  is  said,  will  probably  come  later, 
the  iron  ore  capacity  will  be  increascd  about  2 mill.  tons  a year  and  the  numbers 
of  lake  vessels  by  59,  making  125  large  ore-carriers  in  all.  A conservative  esti* 
mate  of  the  number  of  men  employed  by  the  company’s  various  interests  puts  it  at 
125000“  (The  Commercial  and  Financial  Chronicle  v.  2.  3.  1901,  p.  441). 

*)  Vgl.  dazu  Collier’s  VVcekly  v.  3.  8.  1901,  p.  17  und  eine  im  New  York 


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Heinrich  \V  a e n t i g 


bestehen  von  Union  und  non-union  plant«  innerhalb  derselben  Unter- 
nehmung war  zu  befürchten,  dals  man  versuchen  werde,  letztere 
auf  Kosten  der  ersteren  allmählich  auszudehnen,  um  im  Falle  kri- 
tischer Verwicklungen  mit  den  genügsameren  und  jedenfalls  weniger 
widerstandsfähigen  non-union  men  ‘)  in  Zukunft  ein  um  so  leichteres 
Spiel  zu  haben.  Und  da  es  keineswegs  an  Thatsachcn  fehlte,  die 
sich  als  erste  Aeufserungen  einer  koalitionsfcindlichen  Politik 
deuten  liefsen,4)  so  beschlols  die  Amalgamated  Association  in  ihrer 
Ende  Mai  und  Anfang  Juni  1901  zu  Milwaukee  abgehaltenen  Jahres- 
versammlung einer  solchen  dadurch  vorzubeugen,  dafs  sie  nach  und 
nach  ihre  Anerkennung  als  Vertreterin  der  Arbeiterschaft  in  allen 
der  United  States  Steel  Corporation  zugehörigen  Betrieben  fordere 
und,  wenn  nötig,  erzwinge. 

Zum  Ausbruch  kam  der  Konflikt  Ende  Juni  1901.  Schon  war 
es  gelungen,  den  üblichen  Jahresvertrag  über  die  Scale  mit  den  Ver- 
tretern der  Tin  Plate  Co.,  allerdings  unter  vorläufiger  Ausschaltung 
einer  wichtigen  Frage,5)  in  Cleveland  abzuschliefsen,  als  die  daran 

Tribüne  v.  6.  8.  Ol.  p.  2 mitgetcilte  Statistik.  Danach  wären  z.  B.  von  den  Be- 
trieben der  Steel  Hoop  Co.  1 1 organisiert,  1 unorganisiert,  von  denen  der  Tin  Plate 
Co.  27  organisiert,  I unorganisiert,  von  denen  der  Sheet  Steel  Co.  17  organisiert 
und  4 unorganisiert  gewesen  u.  s.  w. 

')  Nach  Shaffer  (Reports  of  the  Industrial  Commission,  Vol.  VII,  p.  384  f.) 
gilt  von  dem  größeren  Teile  der  non-union  men,  dafs  sie  nicht  annähernd  das- 
selbe erhalten,  wie  die  union  men.  Und  zwar  beträgt  die  Lohndifferenz  gelegent- 
lich 20,  ja  40  Proz.  Auch  sind  die  übrigen  Arbeitsbedingungen  vielfach  ungünstiger. 
Vgl.  Shaffer  in  Leslic's  Weekly  v.  24.  8.  1901.  p.  158,  163. 

*)  Insbesondere  wird  von  den  Vertretern  der  Amalgamated  Association  öffent- 
lich behauptet,  dafs  die  Unternehmer  darauf  ausgegangen  seien,  die  Arbeiterver- 
bände systematisch  austu  rotten,  dafs  „by  keeping  the  men  idle  while  non-union 
mills  werc  operated,  they  succceded  in  creating  discontcnt  and  the  men  suffering  for 
want  of  employment  wert  prcvailcd  upon  to  violate  their  Obligation  to  the  union 
and  go  to  work  for  less  than  seale  rates,  at  the  samc  time  agrccing  to  sever  Con- 
nection with  the  Amalgamated  Association  and  refrain  from  uniting  with  any  labor  Or- 
ganisation“ (Shaffer  in  Lcslie’s  Weekly  v.  24.  8.  1901,  p.  158).  Genauere  An- 
gaben hierüber  mit  besonderer  Rücksicht  auf  die  American  Sheet  Steel  Co.  sind  von 
demselben  Gewährsmann  auf  der  Jahresversammlung  der  Amalgamated  Association 
v.  1901  gegeben  worden,  Daten,  die  durch  eine  Indiskretion  aus  den  Geheimakten 
des  Verbandes  in  die  Presse  gedrungen  sind  (Chicago  Daily  Tribüne  v.  24.  8.  1901, 
p.  3)*  Vgl.  auch  Shaffer ’s  Statement  v.  1.  7.  1901  im  Amalgamated  Journal  v.  4.  7. 
1901,  p.  1. 

Die  Einbeziehung  des  Werkes  Monessen  wurde  seitens  der  Unternehmer 


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Der  Stall  larbciterstrike  vom  Sommer  1901  und  seine  Lehren. 


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sich  anknüpfenden  Verhandlungen  mit  der  American  Sheet  £teel 
Co.  nach  längeren)  Hin  und  Her  ins  Stocken  kamen,  da  letztere 
sich  standhaft  weigerte,  einen  von  der  Amalgamated  Association 
geforderten,  fiir  alle  ihre  Werke  ohne  Ausnahme  gültigen  Kollektiv- 
vertrag zu  unterzeichnen,  wobei  sic  neben  gewissen  anderen  sogar 
zwei  im  vergangenen  Jahre  unter  die  Union  mills  gerechnete  Betriebe 
ausnehmen  wollte.1)  Dies  war  um  so  wichtiger,  als  die  Tin  Plate  Co. 
ihre  Zustimmung  in  dem  kritischen  Punkte  ausdrücklich  von  dem  Vor- 
gehen der  Sheet  Steel  Co.  abhängig  gemacht  hatte.  Da  nun  weiter  auch 
die  Steel  Hoop  Co.,  trotz  der  Versicherung,  dals  alle  ihre  Betriebe 
thatsächlich  organisiert  seien,  dem  Beispiele  der  anderen  folgend, 
erklärte,  die  Kinflul'ssphärc  des  Arbeiterverbandes  unter  keinen  Um- 
ständen über  das  bisherige  Mals  ausdehnen  zu  wollen , während 
wiederum  dieser  auf  seinem  „Alles  oder  nichts!"  beharrte,  so  erliefs 
Präsident  Shaffer  am  t.  Juli  seinen  Strikebefchl,  indem  er  zunächst 
die  Werke  der  Steel  Hoop  Co.  und  Sheet  Steel  Co.,  die  über 
Pennsylvania,  Ohio,  Indiana  und  West  Virginia  verstreut  lagen,  für 
die  Mitglieder  der  Amalgamated  Association  sperrte.  i)  „Unser  Vor- 
schlag“, schrieb  Shaffer*)  einige  Wochen  später,  „wurde  in 
solcher  Form  zurückgewiesen,  dals  wir  uns  davon  überzeugten, 
nichts  als  die  Vernichtung  des  sheet  department  der  Amalgamated 
Association  werde  die  Gegenpartei  zufriedenstellen.  Offenbar  war 
cs  ihr  Plan,  die  Scale  in  jedem  Jahre  für  eine  immer  kleinere  Zahl 
von  Union  mills  zu  zeichnen , durch  Schliefsen  einiger  von  ihnen 
diese  noch  weiter  zu  verringern,  um  endlich  das  Gewerkschafts- 
wesen mit  Stumpf  und  Stiel  auszurotten.  Und  da  wir  sofortigen 
Tod  langen  Qualen  vorzogen,  stellten  wir  uns  zum  Kampfe." 

3.  Der  Strike verlauf. 

So  war  denn  der  Krieg  offiziell  erklärt,  doch  nahmen  vorder- 
hand beide  Parteien  den  Konflikt  nicht  allzu  tragisch,  da  man  auf 
baldige  Beilegung  hoffte.  In  der  That  wurden  abermals  Vergleichs- 
verhandlungen eingelcitet,  die  sich  durch  mehrere  Tage  hinzogen, 
alier  völlig  ergebnislos  verliefen.  Denn  die  drei  Kompagnieen  ver- 

von  dem  Verhallen  der  Sheet  Steel  Co.  abhängig  gemacht.  (Vgl.  Shaffers  Er- 
klärung v.  21.  9.  1901,  abgedr.  im  American  Federationist  v.  Oct.  1901,  p.  415O 

*)  Vgl.  die  Erklärung  Shaffers  im  Amalgamated  Journal  v.  4.  7.  1901,  p.  ;. 

*)  Strikebefchl  im  Amalgamated  Journal  v.  4.  7.  1901,  p.  I. 

*)  Shaffer  in  Lcslies  Wcekly  v.  24.  8.  1901,  p.  15S. 


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Heinrich  \V  a c n ti  g 


harrten  auf  ihrem  ablehnenden  Standpunkte,  mit  der  Begründung, 
dafs  man  entschieden  Bedenken  tragen  müsse,  durch  gleichmäfsige 
Anerkennung  des  Unionprinzips  für  alle  Betriebe  der  beteiligten 
Unternehmungen  das  bisherige  Gleichgewicht  der  Kräfte  (balance 
of  power)  in  unerträglicher  Weise  zu  Gunsten  der  Amalgamated 
Association  zu  verschieben,  wo  nicht  gar  freie  Arbeiter,  vielleicht  gegen 
ihren  Willen,  in  deren  Verband  hineinzuzwingen. *)  Jetzt  erst  machte 
man  Krnst.  Der  Ausstand  ward  am  15.  Juli  auf  den  Bereich  der 
Tin  Plate  Co.  ausgedehnt,  womit  denn  sämtliche  Betriebe  der 
American  Steel  Hoop  Co.  und  der  American  Tin  Plate  Co.  mit  Aus- 
nahme je  eines  (Duncansville  und  Monessen)  und  die  der  American 
Sheet  Steel  Co.  mit  Ausnahme  von  vier  (Vandergrift,  Leechburg, 
Scottdale  und  Saitsburg'  blockiert  und  etwa  46000  Mann  arbeitslos 
waren.  •)  So  hoffte  man,  den  Gegner  in  kürzester  Zeit  mürbe  zu 
machen. 

Wirklich  gestaltete  sich  die  Gesamtlage  zunächst  für  die 
Arbeiter  recht  günstig.  Die  fortdauernde  grolsc  Hitze,  die  den 
Ausständigen  eine  mehrwöchentliche  Ruhepause  nur  erwünscht  er- 
scheinen liel's,  und  weiter  der  Umstand,  dafs  die  Amalgamated 
Association  ihre  finanziellen  Kräfte  vorläufig  schonen  konnte,  da 
sie  nach  Art.  X Sect.  4 ihrer  Konstitution  *)  in  den  Monaten  Juli 
und  August  keine  Strikeuntcrstützungen  zu  zahlen  hatte,  die  That- 
sache  endlich,  dafs  die  Aufregung  des  Kampfes  ansteckend  wirkte 
und  viele  der  bisher  Säumigen  den  rührigen  Organisatoren  des 
Verbandes  in  die  Arme  trieb,  *)  das  alles  verbesserte  ihre  Chancen. 
Dazu  kam,  dafs  der  ganze  Kampf,  dessen  Auf-  und  Abwogen  sich, 
wenn  auch  wohl  nicht  in  dem  von  den  Arbeiterführern  erhofften 
Mafse,  in  den  Börsenkursen  reflektierte,  5j  der  United  States  Steel 


*)  Vgl.  Amalgamated  Journal  v.  18.  7.  1901,  p.  I,  und  Collier  s Wcekly  v.  3.  8. 
1901,  p.  17. 

Vgl.  Amalgamated  Journal  v.  18.  7.  1901,  p.  I,  und  New  York  Tribüne  v. 

6.  8.  1901,  p.  I.  Frühere  Schatzungen,  so  die  v.  16.  7.  190t.  p.  I,  sind  wohl  etwas 
übertrieben. 

3)  „Except  a strikc  has  been  legalizcd  3 months  prior  to  July  first,  no  benc- 
fits  shall  bc  paid  to  any  member  for  any  strike  during  the  months  of  July  and 
August",  heilst  es  daselbst 

4)  Vgl.  die  Strikcbcrichte  des  New  York  Tribüne  v.  18.  7.  1901,  p.  I f.,  v.  21. 

7.  01,  p.  1,  v.  22.  7.  Oi,  p.  I u.  s.  w. 

&)  Siehe  unten  S.  29  f.  u.  New  York  Tribüne  v.  16.  7.  1901,  p.  2,  v.  17.  7.  01, 
p.  io,  v.  21.  7.  01,  p.  4 u.  s.  w. 


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Der  Siahlarbeitcrstrike  vom  Sommer  iooi  and  seine  Lehren.  565 

Corporation  gerade  damals  sehr  unerwünscht  sein  mufste.  Denn 
zu  ihrem  noch  keineswegs  vollendeten  inneren  Ausbau  bedurfte  sie 
vor  allem  ungestörten  Friedens.  Sie  verhielt  sich  zunächst  ab- 
wartend und  war  in  der  Hauptsache  nur  darauf  bedacht,  die  Kx- 
pansionsbestrebungen  der  Amalgamated  Association  zu  vereiteln 
und  die  bei  ihr  Aushaltenden  durch  freiwillige  Konzessionen  mög- 
lichst an  sich  zu  fesseln.  1 

Unterdessen  suchten  unparteiische  Elemente  zu  vermitteln  und 
es  gelang,  gegen  Ende  Juli  in  New  York  glücklich  eine  Konferenz 
zustande  zu  bringen,  an  der  sich  als  Vertreter  der  United  States 
Steel  Corporation  insbesondere  die  Herren  Morgan  und  Schwab, 
für  die  Amalgamated  Association  Präsident  Shaffer  und  Sekretär 
Williams  beteiligten.  Aber  auch  diese  Verhandlungen  zerschlugen 
sich,  da  der  Executive  Board  des  Arbeiterverbandes,  den  man  nach 
allerhand  Zwischenfallen  schliefslich  in  corpore  hatte  von  Pittsburg 
nach  New  York  kommen  lassen,  sich  nicht  zur  Annahme  des  jetzt  von 
Mr.  Morgan  gestellten  Ultimatums  verstehen  wollte.  Um  des  lieben 
Friedens  willen,  wie  man  sagte,  war  man  zu  Konzessionen  bereit 
und  hatte  die  alte,  bekannte  Forderung  dahin  eingeschränkt,  dafs 
die  Scale  nur  für  jene  Betriebe  von  der  United  States  Steel  Cor- 
poration zu  zeichnen  sei,  deren  Arbeiter  thatsächlich  organi- 
siert und  durch  Befolgung  des  Strikebefehles  unmil'sverständlich 
zu  erkennen  gegeben,  dafs  sie  mit  der  Amalgamated  Association 
verbunden  zu  sein  wünschten.  Diesem  Verlangen  gegenüber  hatte 
sich  Morgan  nicht  grundsätzlich  ablehnend  verhalten,  wohl 
aber  seine  augenblicklich  e Erfüllung  verweigert.  Seine  eigenen 
Friedensbedingungen  waren: 

Aufrechterhaltung  des  Vertrages  vom  I.  Juli  1901  in  der  da- 
maligen Fassung  für  die  Tin  Plate  Co.; 

Unveränderte  Erneuerung  der  Scale  des  vergangenen  Jahres  für 
die  Steel  Hoop  Co.; 

Unterzeichnung  der  Scale  für  alle  im  Vorjahre  einbezogenen 
Betriebe  der  Sheet  Steel  Co.,  mit  Ausnahme  der  Werke  Old  Meadow 
und  Saitsburg,  die  von  der  Amalgamated  Association  offiziell  ab- 
gefallen seien. 

Doch  fanden  leider  diese  Vorschläge  wiederum  vor  den  Augen 
der  Arbeiter  keine  Gnade.  Da  nun  die  Steel  Corporation  schliefe- 
lich  erklärte,  dafs  sie  sich  fortan  auf  keine  weiteren  Verhandlungen 

*)  New  York  Tribüne  .v.  16.  7.  1901,  p.  2,  v.  27.  7.  01,  p.  l u.  s.  w. 

Archiv  für  *01  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVII.  37 


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Heinrich  W a e n t i g , 


mit  der  Amalgamated  Association  als  solcher  einlassen  werde,  so 
bedeutete  das  Scheitern  der  Konferenz  einen  definitiven  Bruch. ') 

Damit  war  man  an  einem  entscheidenden  Wendepunkte  ange- 
langt. Denn  hatte  sich  die  Steel  Corporation  bisher  rein  abwehrend 
verhalten,  so  ging  sie  nunmehr  zur  Offensive  über,  indem  sie  sich 
mit  allen  Kräften  bemühte,  ihre  durch  den  Strike  lahmgelegten 
Werke  mit  Hilfe  unorganisierter  Arbeiter  sobald  als  irgend  möglich 
wieder  in  Gang  zu  bringen.  Demgegenüber  blieb  der  in  die  De- 
fensive gedrängten  Amalgamated  Association  zur  Durchkreuzung 
der  Politik  ihres  Gegners  nichts  anderes  übrig,  als  ihre  oft  geäufserte 
Drohung  wahr  zu  machen,  d.  h.  für  den  ganzen  Bereich  der  United 
States  Steel  Corporation  den  Generalstrike  zu  erklären,  vor  allem 
auch,  um  den  etwa  in  Betrieb  gesetzten  Werken  dadurch  die  Zu- 
fuhr an  Rohmaterial  abzuschneiden.  I lierfur  kamen  aufser  der 
Carnegie  Co.,  auf  deren  Arbeiter  aus  früher  erwähnten  Gründen 
nicht  sicher  zu  rechnen  war,  die  Federal  Steel  Co.,  die  National 
Steel  Co.  und  die  National  Tube  Co.  inbetracht.  Würden  sich 
in  dieser  kritischen  Tage  die  einzelnen  Zweige  der  Amalgamated 
Association  als  solidarisch  bewähren  ? Würden  wenigstens  die  orga- 
nisierten Arbeiter  jener  Unternehmungen,  obwohl  sie  an  dem  Aus- 
gange des  Kampfes  nicht  unmittelbar  interessiert  waren,  dem  an 
sie  ergehenden  Rufe  zur  Hilfeleistung  vollzählig  Folge  leisten  ? Dafs 
man  in  Pittsburg  solange  zögerte,  den  Strikebefehl  zu  erlassen,  und, 
als  er  dann  endlich  am  6.  August  erfolgte,  den  Beginn  des  Aus- 
standes seltsam  genug  wieder  um  einige  weitere  Tage  bis  zum 
io.  August  hinausschob,*)  war  kein  gutes  Zeichen  und  die  Er- 
fahrung hat  gelehrt,  dafs  die  Skeptiker  Recht  behalten  sollten. 

Von  Anbeginn  nämlich  hatten  die  in  Chicago,  Milwaukee  und 
Joliet  konzentrierten  Arbeiter  der  Federal  Steel  Co.  sich  zwar  zu 
finanzieller  Beihilfe  erboten,  jedoch  die  Idee  des  Generalstrikes  be- 
kämpft, ohne  dafs  es  der  Zentralleitung,  die  von  dieser  Sachlage 
unterrichtet  sein  mufste,  gelungen  wäre,  ihre  Abneigung  zu  be- 
siegen. Als  dann  der  kritische  Tag  heran  kam,  versagten  sie  den 
Gehorsam,  mit  der  auch  in  einer  sehr  geschickt  abgefafsten  öffent- 


*)  Vgl.  zu  alledem  die  umfassenden  Strikeberichtc  des  New  York  Tribüne 
V.  28.  7.  1901,  p.  17,  V.  29.  7.  Ol,  p.  I f.,  v.  30.  7.  Ol,  p.  I f.,  V.  31.  7.  Ol,  p.  1 f., 
V.  1.  8.  Ol,  p.  I f.,  V.  2.  8.  oi,  p.  I f.,  v.  3.  8.  ol,  p.  I f-,  vor  allem  aber  das 
Statement  des  Kxecutivc  Board  im  New  York  Tribüne  v.  4.  8.  01,  p.  I. 

*)  Vgl.  New  York  Tribüne  v.  7.  8.  1901,  p.  I. 


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Der  Stahlarbeitcrstrike  vom  Sommer  1901  und  seine  Lehren. 


567 


liehen  Erklärung  1 ) niedergelcgtcn  Begründung,  dafs  sie  selbst  keinerlei 
Beschwerden  gegen  ihre  Arbeitgeber  hätten,  ein  Ausstand  ihrerseits 
überdies  unvereinbar  sein  würde  mit  ihrem  Arbeitsvertrage,  '-)  wenn 
nicht  gar  mit  der  Konstitution  der  Amalgamated  Association. 
„Man  wird  Euch  sagen,  dafs  Ihr  Verträge  unterschrieben  habt," 
hatte  Shaffer  den  Widerspenstigen  vorgehalten,  „aber  Ihr  seid  nie- 
mals übereingekommen,  die  United  States  Steel  Corporation  in  jene 
Verträge  eintreten  z. u lassen.  Ihre  Beamten  meinen , Ihr  wäret 
ihnen  mitsamt  den  Werken  verkauft,  mit  Verträgen  und  allem 
anderen.  Erinnert  Euch  aber,  dafs  Ihr  vor  Abschluls  jener  Ver- 
träge Verpflichtungen  gegenüber  der  Amalgamated  Association 
übernommen  habt.  Sie  ist  es,  die  Euch  jetzt  zu  Hilfe  ruft  in 
dieser  Stunde  der  Not !"  3j  Und  wirklich  gelang  es  der  Beredsam- 


')  Dieselbe  ist  ubgedruckt  im  Chicago  Kecord  Herahl  v.  21.  8.  1901,  p.  I f.  Sie 
schliefst  mit  den  bezeichnenden  Worten : „After  taking  legal  advicc,  wc  fecl  ccrtain 
that  President  ShatTer  s Claim  timt  our  contracts  arc  void,  becausc  the  Illinois 
Steel  Co.,  with  whom  our  agreement  was  madc,  had  been  absorbed  by  the  United 
States  Steel  Co.,  is  without  foundation.  The  principlcs  of  Union  labor  arc  as  dcar 
to  us  as  to  any  men  in  the  country  who  earn  their  living  by  honest  toil,  but  wc 
do  not  think  wc  should  be  expcctcd  to  violatc  every  rule  of 
business  integrity  and  personal  honor  for  a matter  of  sentiment, 
for  tbis  is  a time,  when  wc  must  not  lct  our  sympalhy  get  away  with  our  better 
judgment.“ 

*)  Die  Erklärung  bemerkt  diesbezüglich:  „The  merabers  of  our  Organisation 
work  under  a contract  with  our  cmploycrs  which  is  perpetual,  unlcss  terminated 
in  a manner,  provided  for  in  the  contract.  It  is  spccifically  provided  that  this 
contract  can  be  broken  under  no  circumstances  cxccpt  by  either  party  to  the  agree- 
ment,  giving  thrcc  month’s  notice  of  ils  intention,  the  notice  to  bc  given  previous 
to  Oct.  I.“  Diese  Behauptung  entspricht  dem  Inhalt  des  Vertrages  vom  Eebr.  1901, 
von  welchem  ich  eine  Abschrift  besitze.  Darin  wird  ausdrücklich  hervorgehoben, 
dass  beide  Parteien  „desire  to  avoid  the  annoyance  and  the  loss  of  time  incidcnt 
to  both  said  partics  by  reason  of  the  readjustment  of  wages  during  the  year  and 
[that  they  also  wish  to  avoid  strikes  and  the  attendant  loss  of  time.“ 
\ Memorandum  of  Agreement  madc  and  entcred  into  in  the  month  of  Fcbruary 
1901  by  and  between  the  Illinois  Steel  Co.  and  its  employees,  members  of  Lakeside 
Lodgc  So.  9 of  the  Amalgamated  Association  of  Iron  and  Steel  workers  of  the 
United  States  who  work  by  the  ton  in  the  rail  mill  at  the  south  works  of  the  said 
Company.) 

*)  Shaffer  bezog  sich  in  seinem  Vorgehen  natürlich  auf  den  berüchtigten  Art.  XVII 
Sect.  23:  „Should  one  mill  in  a combinc  or  trust  have  a difticulty,  all  mills  in 
said  combine  or  trust  shall  ceasc  work  until  such  grievance  is  settled.“ 

37* 


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568 


Heinrich  W a c n l i g , 


keit  M.  P.  Tighe’s  nach  langen  Bemühungen,  die  Arbeiter  von 
Joliet  und  Milwaukee  in  ihrem  Vorhaben  wankend  zu  machen. l) 
Um  so  halsstarriger  zeigten  sich  die  von  Chicago,  wobei  ich  dahin- 
gestellt lassen  will,  ob  wirklich  allein  strenger  Rechtlichkeitssinn 
oder  nicht  auch  weltkluger  Egoismus  -)  für  ihr  Verhalten  be- 
stimmend gewesen  ist.  Für  das  Ergebnis  bleibt  dies  gleichgültig 
und  der  ungünstige  Eindruck  jenes  Abfalles  im  eigenen  Lager  der 
Amalgamated  Association  war  um  so  tiefer,  als  auch  die  sonstige 
Beteiligung  hinter  den  gehegten  Erwartungen  zurückblieb.  3)  Schon 
damals  scheint,  wenngleich  man  das  nicht  eingestehen  mochte,  das 
Vertrauen  zu  ihrer  Sache  in  den  Massen  tief  erschüttert  gewesen 
zu  sein.  „Die  Frage,  die  zur  Entscheidung  stand,  war  nicht  populär 
genug,  um  soviele  in  den  Strike  zu  verwickeln,“  soll  ein  Mitglied 
der  Amalgamated  Association  nachdenklich  bemerkt  haben,  „und 
die  Leute  konnten  sich  nicht  für  diese  Sache  begeistern.  Nun 
folgen  sic  blind  ihren  Führern,  kritisieren  sie  aber  dabei  um  so 
mehr.“4)  In  New  York  dagegen  jubelte  man.  „Präsident  Shaffer 
hat  seine  letzte  Karte  ausgespielt  und  verloren",  hiefs  es  in  Wall- 
street. „Das  heutige  Fehlschlagen  des  Generalstrikes  ist  der  An- 
fang vom  Ende.  Die  Amalgamated  Association  hat  in  ihrem 

’)  Vgl.  New  York  Tribüne  v.  12.  S.  1901,  p.  I,  v.  14.  S.  01,  p.  2.  Chicago 
Daily  Tribüne  v.  17.  8.  Ol,  p.  4,  Chicago  Sunday  Tribüne  v.  18.  8.  01,  p.  t, 
Chicago  Kccord  Hcrald  v.  25.  S.  01,  p.  1 f. 

*)  Die  Arbeiter  der  South  Chicago  Works  nehmen  eine  Vorzugsstellung  ein, 
worauf  hier  nicht  naher  eingegangen  werden  kann.  Dafs  sie  angesichts  des  Schick- 
sals der  Arbeiter  in  den  Carnegie  Works  seit  1892  wenig  Verlangen  trugen,  jene 
aufs  Spiel  zu  setzen,  wird  man  begreiflich  finden.  Auch  im  übrigen  scheint  mir 
ihre  Stellungnahme  unanfechtbar.  Konstitution  und  Vertrag  befinden  sich  in  unlös- 
barem Widerspruch  und  da  der  Vertrag  der  Zentrallcitung  sicherlich  bekannt  war,  so 
trifft  sie  die  Verantwortung.  Präsident  Shaffers  Auffassung  ist  für  den,  der  das  Ver- 
hältnis der  United  States  Steel  Corporation  zu  ihren  konstituierenden  Kompagnieen 
näher  kennt,  unhaltbar.  Hatte  er  sic  aber,  so  hätte  sic  viel  eher  geltend  gemacht 
werden  müssen,  nicht  erst  bei  Bedarf.  Auch  glaube  ich  nicht  fehlzugehen,  wenn 
ich  annehmc , dafs  die  eventuelle  Anwendung  jener  Theorie  seitens  der  Illinois 
Steel  Co.  zu  ihren  Gunsten  von  den  Arbeitern  schwer  getadelt  worden  wäre.  Und 
mit  Recht. 

*)  Man  hatte  geglaubt,  die  Gesamtzahl  der  Strikenden  auf  etwa  125000  bringen 
zu  können  (New  York  Tribüne  v.  10.  8.  190t,  p.  2).  Thatsächlich  belief  sie  sich 
wohl  nicht  auf  viel  mehr  als  65000  Mann  (New  York  Tribüne  v.  13.  8.  Ol,  p.  1, 
v.  14.  8.  01,  p.  I,  v.  15.  8.  Ol,  p.  1,  3). 

4)  New  York  Tribüne  v.  6.  8.  1901,  p.  I. 


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Der  Stahlarbeiterstrikc  vom  Sommer  1901  und  seine  Lehren. 


sonderbaren  Kampfe  für  ihr  sogen.  Prinzip  den  kürzeren  gezogen. 
Nicht  lange,  so  werden  die  Leute  Prinzip  Prinzip  sein  lassen  und 
sich  wieder  den  Dollars  zuwenden."  ') 

Nur  zu  schnell  sollte  sich  diese  Voraussage  bewahrheiten,  denn 
auch  die  Steel  Corporation  war  unterdessen  nicht  müfsig  gewesen. 
Mit  ihren  Bemühungen,  die  gesperrten  Betriebe  auch  ohne  Zuthun 
der  Amalgamated  Association  wieder  in  Gang  zu  bringen,  hatte  sie 
überraschende  Erfolge  gehabt.  Zunächst  nur  sporadisch  mit  einigen 
wenigen  Arbeitern,  die  bei  Nacht  und  Nebel  in  die  blockierten 
Werke  hineingeschmuggclt  werden  mufsten.  Bald  aber  mehrten 
sich  die  Abtrünnigen,  so  dafs  ein  Bollwerk  der  Strikenden  nach 
dem  anderen  ins  Wanken  kam.  *) 

Dazu  nahte  jetzt  der  verhängnisvolle  I.  September.  Von  diesem 
Tage  ab  hatte  man  den  schon  längst  ins  Gedränge  geratenen  Aus- 
ständigen Strikeunterstülzungen  zu  gewähren,  die  den  keineswegs 
geldstrotzendcn  Verbandssäckcl  nur  zu  schnell  leeren  mufsten.  Und 
dabei  war  noch  immer  kein  Frieden  abzusehen,  denn  der  unter  der 
Hand  in  New  York  gemachte  Vorschlag,  die  Beilegung  des  Streites 
einem  Schiedsgericht  zu  überlassen,  war  von  dort  aus  schroff  ab- 
gelchnt  worden.  '*)  Nur  mit  grölster  Mühe  gelang  es  schliefslich 
einer  Gruppe  einflufsreicher  Männer  unter  Leitung  des  eben  so 
klugen  wie  geschäftsgewandten  Präsidenten  der  American  Federation 
of  Labor,  Samuel  Gompers,*)  zu  den  Vertretern  der  Steel  Cor- 
poration vorzudringen,  um  im  Aufträge  der  Amalgamated  Associa- 
tion neue  Friedensverhandlungcn  anzuknüpfen.  Unterzeichnung  der 
Scale  für  alle  Betriebe  des  vergangenen  Jahres,  Zusicherung  von 
Vereinslöhnen  für  die  Arbeiterschaft  aller  jetzt  gesperrten  Werke, 
endlich  das  Versprechen,  dafs  kein  Ausständiger  wegen  seiner  Ver- 
bindung mit  einer  Arbeiterorganisation  seine  Stelle  verlieren  bezw. 

*)  New  York  Tribüne  v.  13.  8.  1901,  p.  3. 

*)  Ygl.  New-  York  Tribüne  v.  8.  8.  1901 , p.  2,  v.  9.  8.  Ol,  p.  I f-,  v.  10.  8.  01, 

p.  2,  v.  15.  8.  01,  p.  1,3;  Chicago  Record  Herald  v.  23.  8.  Ol,  p.  2,  v.  25.  8.  Ol, 

p.  2 u.  s.  w. 

’|  New  York  Tribüne  v.  11.  8.  1901,  p.  2;  Chicago  Record  Hcrald  v.  29.  8. 
Ol,  p.  I,  und  v.  30.  8.  01,  p.  I. 

*)  Aufser  ihm  waren  Mitglieder  der  Kommission  John  Mitchell,  President 

of  the  Vnited  States  Mine  Workers  of  America,  Frank  P.  Sargent,  Grand 

Chief  of  the  Brotherhood  of  Locomotive  Fircmen,  Henry  White,  Secretary  of 
the  United  Garment  Workers  of  America,  Ralph  M.  Easlcy,  Secretary  of  the 
National  Civic  Federation,  und  Professor  J.  W.  Jenks  of  Cornell  Unieersity. 


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Heinrich  W a c n t i g , 


an  der  Zugehörigkeit  zu  einer  solchen  gehindert  werden  solle  — das 
war  alles,  was  man  auf  seiten  der  Amalgamated  Association  jetzt  ver- 
langte. *)  Den  Vertretern  der  Steel  Corporation  jedoch  erschien  unter 
den  veränderten  Bedingungen  auch  diese  Forderung  noch  zu  hoch 
und  es  wurde  eine  Beilegung  des  Streites  nur  auf  folgender  Basis 
in  Aussicht  gestellt:  Unterzeichnung  der  Scale  für  alle  im  ver- 
gangenen Jahre  offiziell  als  „Union“  anerkannt  gewesenen  Betriebe 
der  in  Frage  stehenden  drei  Kompagnien,  mit  Ausnahme  der  Werke 
Old  Meadow,  Saitsburg,  Hyde  Park,  Crescent,  Irondale,  Chester, 
Cambridge,  Star  und  Monessen;  jedoch  kein  Widerspruch  gegen  die 
Wiedcreinstellung  der  jetzt  Ausständigen  noch  gegen  die  künftige 
Zugehörigkeit  zu  irgend  welchen  Arbeiterorganisationen. 4)  Trotz 
dringlichen  Zuredens  der  Unterhändler,  mit  dem  energischen  Hin- 
weise auf  die  aus  den  Büchern  der  United  States  Steel  Corporation 
unwiderleglich  hervorgehende  milsliche  Lage  der  Gegenpartei, B) 
konnte  man  sich  in  Pittsburg  nicht  entschliefsen,  zuzugreifen.  Man 
wartete;  worauf?  ist  schwer  zu  sagen.  Ob  auf  das  helfende  Ein- 
greifen anderer  Arbeiterverbände:  Wenigstens  hat  sich  Sh  affe r 

später  auf  das  Bitterste  über  deren  Passivität  beklagt,  nachdem 
er  die  kostbare  Bedenkzeit  von  24  Stunden  ungenützt  hatte  ver- 
streichen lassen,  so  dafs  der  immer  hoffnungsloser  werdende  Kampf 
seinen  Fortgang  nehmen  mufste. 

Und  doch  war  nunmehr  der  Zusammenbruch  fast  unvermeid- 
lich. Denn  einer  nach  dem  anderen  kehrten  vor  allem  jene,  die 
dem  Strikegebote  nur  widerwillig  gefolgt  waren,  zu  den  Fleisch- 
töpfen der  Steel  Corporation  zurück;  und  wo  das  nicht  geschah, 
verstand  es  diese  mit  wachsendem  Glücke,  die  vakanten  Stellen 
mit  neuen  Arbeitskräften  zu  besetzen.  . Voll  Angst  sahen  die 
Strikenden  sich  aus  ihren  alten  Brotstellen  durch  Neulinge  ver- 
drängt, und  als  dann  der  grofse  Zahltag  wirklich  herankam  und  sich 


*)  Vgl.  American  Federationist,  Vol.  VIII,  Oct.  1901,  p.  416  (Abdruck  des 
Strikeberichts  Shaffcrs  v.  21.  9.  1901),  Chicago  Record  Herald  v.  6.9.01,  p.  I f. 
und  v.  7.  9.  ol,  p.  7. 

*)  American  Federationist,  Vol.  VIII,  OcU  1901,  p.  42t  II*.  (Strikebcricht  von 
Präsident  Gompcrs). 

*)  In  dem  nach  Pittsburg  gesandten  Telegramm  heilst  es:  „From  the  facts 
demonstrated  to  us  of  the  present  Situation  of  the  strike,  that  is  the  mills  already 
in  Operation  and  several  olhers  which  will  be  in  Operation  within  a day  or  two, 
wc  arc  strongly  of  the  opinion  that  the  interest  of  your  trade  and  your  Organisation 
demands  that  these  terms  bc  acccpted.“ 


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* 


Der  Stahlarheitcrstrike  vom  Summer  1901  und  seine  Lehren.  57  l 

herausstellte,  dafs  die  Amalgamatcd  Association  ihren  Kriegsfonds 
nahezu  erschöpft  hatte, ')  da  war  kein  Halten  mehr.  Gebieterisch 
verlangten  die  in  ihren  Hoffnungen  Getäuschten,  deren  Hallelujah ! 
über  Nacht  in  ein  Kreuzige!  umgeschlagen  war,  von  ihrem  schwer 
darniedergebeugten  Führer  die  schleunige  Beilegung  des  Zwistes, 
die  dann  auch  schliel'slich  am  14.  September  zu  New  York,  aller- 
dings unter  schweren  Opfern,  glücklich  gelang.  *)  Was  zunächst 
die  Steel  Hoop  Co.  betrifft,  so  sollte  der  Besitzstand  der  Amal- 
gamated  Association  vom  vergangenen  Jahre  ungeschmälert  gewahrt 
bleiben.  Gleiches  sollte  gelten  für  die  Scale  der  Sheet  Steel  Co., 
allerdings  mit  Ausnahme  der  schon  früher  streitig  gewesenen  Werke 
Old  Meadow  und  Saitsburg  und  der  jetzt  neu  hinzutretenden  Hyde 
Park  und  Canal  Dover.  Dagegen  verlor  man  im  Bereiche  der  Tin 
Plate  Co.,  die  man  früher  fast  ausnahmslos  beherrscht  hatte,  die 
Betriebe  Demmler,  Crescent,  Irondale,  Chester,  Cambridge,  Star  und 
Monessen,  da  die  Steel  Corporation  die  Anerkennung  der  Amal- 
gamatcd Association  für  irgend  ein  Werk,  das  sie  selbst  ohne  deren 
Beihilfe  wieder  in  Gang  gebracht,  entschieden  ablehnte,  indem  sie 
weiter  ausdrücklich  stipuliertc:  „non-union  mills  shall  be  represented 
as  such  — no  attempts  made  to  organise:  no  Charters  granted;  old 
Charters  retained  by  men,  if  they  desire,“  und  der  Kompagnie  das  Recht 
ausbedang,  „ohne  Rücksicht  auf  seine  Zugehörigkeit  zu  Arbeiter- 
organisationen jeden  Angestellten  zu  entlassen,  der  durch  seine  Da- 
zwischenkunft,  durch  Kränkung,  oder  Zwang  einen  andern  davon 
abhalten  sollte,  friedlich  seinem  Berufe  nachzugehen.“ 

Nicht  leichten  Herzens  wird  man  sich  zur  Annahme  dieser 
Bedingungen  entschlossen  haben,  die  einen  vollständigen  Verzicht 
auf  die  vorläufige  Verwirklichung  jenes  Prinzips  bedeuteten,  für  das 
man  gekämpft  und  gelitten  hatte.  In  bitteren  Schmähungen  machte 
sich  die  Entrüstung  der  Arbeiter  gegen  ihren  Führer  Luft,  der  so- 
eben erst  den  Bannstrahl  gegen  die  Männer  von  Chicago  ge- 
schleudert und  den  manche  jetzt  am  liebsten  selbst  in  Anklage- 

!)  Vgl.  Chicago  Daily  Tribüne  v.  24.  S.  1901,  p.  3;  Chicago  Record  Hcrald 
v.  12.  9.  01,  p.  4 und  C.  D.  \V right,  The  National  Amalgamated  Association,  p.  9. 
Die  Mitte  September  füllige  Summe  soll  sich  auf  $ 68000,  der  Kassenbestand 
Ende  Mai  auf  ca.  75000  $ belaufen  haben.  Die  Ausgabe  an  Strikcgeldern  beträgt 
bis  26.  Okt.  1901  nach  Wright  $ 125000. 

*)  American  Kederationist  Vol.  VIII,  Oct.  1901,  p.  417;  Chicago  Record  Herald 
v.  8.  9.  1901,  p.  8,  v.  9.  9.  01,  p.  8,  v.  10.  9.  01,  p.  13,  v.  13.  9.  01.  p.  I,  4*. 

v.  14.  9.  01,  p.  10,  v.  16.  9.  01,  p.  10  u.  s.  w. 


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Heinrich  Wa c n t i g , 


zustand  versetzt  hätten.  *)  Ja,  die  am  schwersten  betroffenen  An- 
gehörigen der  Weifsblechindustrie  erwogen  eine  Zeit  lang  ernstlich, 
ob  sie  ihre  Verbindung  mit  der  so  wenig  erfolgreichen  Amalgamated 
Association  nicht  besser  lösen  sollten.  *)  Aber  man  hatte  keine 
Wahl.  Denn  jener  Friedensvertrag  war  die  letzte  Planke,  auf  die 
man  sich  retten  konnte.  Weiteres  Zögern  würde  sichere  Ver- 
nichtung bedeutet  haben. 


4.  Die  Lehren. 

Ueber  die  Ursachen  des  für  manche  wohl  unerwarteten  Zusammen- 
bruches der  Amalgamated  Association  ist  viel  diskutiert  worden. 
War  vielleicht  die  von  ihr  verfochtene  Forderung  ihrer  Natur  nach 
so  unvernünftig,  dafs  ihre  Verteidigung  notwendig  mit  einem 
Fiasko  hätte  enden  müssen?  Fast  möchte  man  es  glauben,  wenn 
man  die  wegwerfenden  Bemerkungen  kapitalfreundlicher  Blätter  über 
„Shaffer's  ambitious  campaign  for  power“,  seinen  „reckless  and  un- 
reasonable  course“  liest,  „ln  der  That  scheint  ein  solches  Knde 
das  fast  unvermeidliche  Schicksal  grolser  Arbeiterverbände  zu  sein, 
wie  sie  nun  einmal  bisher  geleitet  worden  sind,“  bemerkt  melan- 
cholisch der  New  York  Tribüne.3)  „Eitle,  ehrgeizige  und  skrupel- 
lose Führer  benützen  sie  in  den  Tagen  der  Macht,  um  ungerechte 
und  extravagante  Forderungen  durchzusetzen.  Arbeitgeber,  die 
erst  Willens  gewesen , sie  in  ihrem  Einflüsse  wachsen  zu  sehen, 
werden  zu  ihrer  Selbsterhaltung  in  die  Opposition  gedrängt.  Und 
zum  Schlüsse  giebt's  eine  Katastrophe.“  Aber  ist  die  Sache  damit 
wirklich  abgethan?  Dafs  sich  hinter  dem  viel  bekrittelten  „Prinzipe" 
sehr  reale  Interessen  verbargen,  habe  ich  früher  klarzulegen  ver- 
sucht. Wer  aber,  so  mufs  man  sich  fragen,  kann  es  dem  Arbeiter 
verdenken,  wenn  er  jenen  mächtigen,  unter  Anwendung  von 
„douce  violence“  in  allen  erdenklichen  Formen  gegründeten  Ka- 
pitalverbänden zur  Vermeidung  der  in  Acht  und  Bann  gethanen 
„ruinous  individual  competition“  auf  dem  Warenmärkte  seiner- 
seits zur  Einschränkung  der  für  ihn  wahrlich  nicht  minder  fühlbaren 

l)  The  Dululh  News  Tribüne  v.  31.  S.  1901,  p.  1,  Chicago  Record  licrald 
v.  17.  9.  ol,  p.  14  und  Amalgamated  Journal  v.  5.  9.  ol,  p.  1. 

*)  Chicago  Record  Herald  v.  18.  9.  1901,  p.  II,  v.  21.  9.  01,  p.  5,  v.  22.  9. 
01,  p-  3- 

*1  New  York  Tribüne  v.  19.  9.  1901,  p.  8. 


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Oer  Stahlarbciterstrikc  vom  Sommer  1901  und  seine  Lehren. 


573 

„ruinous  individual  competition“  auf  dem  Arbeits markte  eine 
Zwangsverbrüderung  der  Arbeit  gegenüberstcllt? ') 

bedeutungsvoll  ist  es  jedenfalls,  dafs  ein  Amerikaner,  der  in  wirt- 
schaftlichen Dingen  sonst  das  blinde  Vertrauen  seiner  Mitbürger  ge- 
meist,  kein  anderer  nämlich  als  J.  Pier po nt  Morgan,  gerade  bei 
jenen  Strikekonferenzen  sich  wiederholt  dahin  geäulscrt  hat,  er  für 
seine  Person  sei  Arbeiterverbänden  keineswegs  feindlich  gesinnt,  ja, 
er  betrachte  sic  mit  Genugthuung.  Denn  er  ziehe,  wenn  es  sich  um 
Feststellung  der  Arbeitsbedingungen  handele,  den  „chaotischen  und 
unzuverlässigen  Ergebnissen"  der  Verhandlungen  mit  einzelnen  In- 
dividuen die  durch  Vermittelung  wohlorganisierter  und  wohlver- 
walteter Gewerkschaften  gewonnenen  vor.  Er  bitte  nur,  ihn  für 
den  Augenblick  nicht  weiter  zu  treiben,  als  er  vernünftigerweise 
gehen  könne:  versichere  dagegen,  dals  im  Laufe  der  Zeit,  etwa  in 
zwei  Jahren,  die  Steel  Corporation  bereit  sein  werde,  die  Scale  für 
alle  ihr  unterstellten  Werke  zu  zeichnen.  •)  Also,  nicht  eigentlich 
mehr  das  Prinzip  an  sich,  sondern  nur  noch  die  Form,  in  der 
seine  Verwirklichung  zu  ungelegener  Zeit  erzwungen  werden  sollte, 
wurde,  wenigstens  im  späteren  Teile  des  Kampfes,  als  Mr.  Morgan 
eingegriffen,  von  seitc  des  Trust  angcfochten.  Und  dafs  man  sich 
mit  dieser  grundsätzlichen  Anerkennung  und  den  verhcilsungsvollen 
Versprechungen  aus  so  machtvollem  Munde  nicht  wenigstens  als 
Abschlagszahlung  begnügen  wollte,  war  ein  schwerer  taktischer 
Fehler,  der  sich  bitter  gerächt  hat. 

Shaffer  selbst  hat  in  seiner  Erklärung  vom  21.  September 
1901  a)  den  „Mangel  an  Geld,  den  Verlust  der  öffentlichen  Zu- 
stimmung, den  Abfall  von  Hunderten  und  die  Vernachlässigung 
durch  andere  Organisationen“  als  die  Hauptursachen  seiner  Nieder- 

!)  Mit  Recht  hat  erst  neuerdings  wieder  auch  der  bekannte  Leiter  des  amerika- 
nischen Arbeitsamtes  betont:  „The  new  understanding  must  learn  also,  that  com- 
bination  is  the  inevitable  result  of  efforts  to  cscapc  suicidal  con* 
ditions  of  unregulated  competition  of  produccrs  comhating  against 
each  other  in  the  dark  for  custom,  or  the  hungry  competition  of 
work  men  combating  against  each  other  in  the  dark  for  the  custom  of  cm- 
ploycrs  — the  opportunitv  to  eam  the  daily  bread  of  life  for  seif  and  wife  and 
child“  (Caroll  D.  Wright,  Consolidated  Labor  in  North  American  Review,  Jan.  1902, 
P-  34). 

*i  American  Federationist,  Vol.  VIII,  Oct.  1901,  p.  428:  auch  C.  D.  Wright 
in  North  American  Review,  Jan.  1902,  p.  40. 

a)  Chicago  Record  Hcrald  v.  24.  9.  1901,  p.  II. 


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574 


Heinrich  \V  a e n t i g , 


läge  bezeichnet,  damit  aber  doch  nur  teilweise  das  Richtige  ge- 
troffen. *)  Wie  immer  in  solchen  Fällen,  haben  zahlreiche  Momente 
zusammengewirkt.  Ausschlaggebend  aber  war  die  Täuschung,  in 
der  man  sich  auf  seiten  der  Amalgamated  Association  über  die 
Tendenz  der  öffentlichen  Meinung  und  über  das  Stärke- 
verhältnis  der  streitenden  Parteien  befand.  Denn  eben 
diese  Täuschung  hat  es  vor  allen  Dingen  verschuldet,  dafs  man, 
anstatt  sich  mit  dem  zur  Zeit  Erreichbaren  abzufinden,  sich  solange 
von  trügerischen  Siegeshoffnungen  narren  liefs. 

Nur  wer  länger  in  den  Vereinigten  Staaten  gelebt,  wird  die 
Macht  der  öffentlichen  Meinung  in  diesem  Lande  richtig  ein- 
schätzcn.  Sie  mag  für  lange  schlummern,  sich  geweckt  zeitweilig 
neutral  verhalten;  hat  sie  aber  gesprochen,  so  giebt  sic  den  Aus- 
schlag, weil  in  allen  wichtigen  Fragen  ihr  Verdikt  sich  über  kurz 
oder  lang  in  ein  politisches  Strafgericht  über  die  Schuldigen  Um- 
setzen mufs.  Und  so  glaube  ich  denn  nicht,  dafs  ein  Strike,  von  welcher 
Seite  immer,  in  erklärtem  Widerspruche  zu  ihr  gewonnen  werden  kann. 
Kein  Wunder,  dafs  auch  in  diesem  Falle  jede  der  streitenden  Par- 
teien sich  bemühte,  das  Schwergewicht  der  öffentlichen  Meinung 
auf  ihre  Seite  herüber  zu  ziehen.  Dafs  dabei  zunächst  die  Amal- 
gamated Association  im  Vorteile  war,  lag  in  der  Natur  der  Dinge; 
nur  hatte  man  unklugerweise  den  taktisch  günstigen  Termin  zur 
Eröffnung  des  Kampfes  verpafst.  Das  war  die  Zeit,  als  in  den  Früh- 
lingstagen des  Jahres  1901  die  United  States  Steel  Corporation  soeben 
erst  ins  Leben  getreten  war  und  alle  Welt,  eine  rücksichtslose 
Raubpolitik  oder  doch  schwere  Erschütterungen  befürchtend,  dem 
Eindringling  mit  tiefem  Mifstraucn  gegenüberstand.  Man  hatte  sich 
getäuscht.  Keine  wüste  Preissteigerung,  kein  brutaler  Lohndruck, 
kein  Krach  war  erfolgt.  Und  mit  jener  dem  Amerikaner  eigen- 


*)  Gegen  den  Vorwurf  der  Vernachlässigung  der  Amalgamated  Association  hat 
sich  S.  Gompers.  der  Präsident  der  American  Federation  of  Labor,  auf  das  energischste 
verwahrt.  „No  request,  cither  written,  telegraphic  or  verbal,  was  ever  rcceivcd  during 
the  strike  at  the  office  of  the  American  Federation  of  Labor  from  Mr.  Shaffer  or 
from  any  other  representative  of  the  Amalgamated  Association,  asking  lor  financial 
assistance“,  heifst  es  in  einer  Gegenerklärung  und  weiter  an  anderer  Stelle:  „I  feit 
contident  that  the  executive  officers  of  the  trade  unions  of  America  ought  not 
and  would  not  violatc  or  break  tlicir  contracts  or  agreements  with 
their  cmploycrs  throughoul  the  country.  Hencc  there  would  not  and  ought 
not  to  be  a widc-spread  sympathctic  strike“  (American  Federation  ist,  Vol.  VIII, 
Oct.  1901,  p.  417  f.  u.  429). 


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Der  Stahlarbciterstrike  vom  Sommer  1901  und  seine  Lehren. 


575 


tiimlichen  Anpassungsfähigkeit  hatte  man  sich  längst  auch  an  die 
bis  dahin  unerhörten  Dimensionen  des  Rilliondollartrust  gewöhnt. 
Als  sich  daher  im  folgenden  Juni  nach  langer  Beratung  die  Arnal- 
gamated  Association  zum  Streite  rüstete,  erschien  sie  dem  Volke 
mit  nichtcn  als  ein  Ritter  Georg,  der  gegen  den  Drachen  Kapital 
zu  Felde  zog,  vielmehr  als  unwillkommener  Störenfried,  der  täppisch 
drohte,  die  mit  ihrem  goldenen  Füllhorn  über  die  Lande  schwebende 
liebliche  Fee  Prosperity  zu  verjagen. 

Und  noch  ein  .anderer  Umstand  darf  nicht  vergessen  werden. 
Als  ein  etwas  derber  und  rücksichtsloser,  im  ganzen  aber  doch  gut- 
mütiger und  unermüdlicher  Geselle,  der  lebt  und  leben  lälst,  gern 
mit  den  Dollars  in  seinen  weiten  Taschen  klimpert,  in  friedlichen 
Wettkämpfen  die  nationale  Ehre  verteidigt,  stets  hilfsbereit  Kirchen 
und  Krankenhäuser,  Schulen  und  Universitäten,  Bibliotheken  und 
Museen  baut,  schöne  Frauen  mit  Perlen  und  Diamanten  schmückt 
und  dem  nicht  minder  wohlgenährten  Bruder  Arbeit,  wenngleich 
man  sich  zuweilen  in  den  Haaren  liegt,  frei  von  dem  Hochmut 
stolzen  Herrentumes  die  schwieligen  Hände  drückt  — so  und  nicht 
anders  malt  sich  das  „Kapital“  im  Geiste  des  amerikanischen  Durch- 
schnittsbürgers. Nicht  dessen  anerkannte  Vorherrschaft,  nur  deren 
unvernünftige  Ueberspannung  erregt  zuweilen  seinen  Widerspruch.  *) 
Und  als  dann  gar  im  weiteren  Verlaufe  des  Strikes  der  Centralleitung 
der  Amalgamated  Association  mit  mehr  als  einem  Schein  des 
Rechtes  der  Vorwurf  gemacht  werden  konnte,  dafs  sie  deren  Mit- 
glieder zum  Kontraktbruche  verleite,  als  jener  Vorwurf  gegen  sie 
von  den  eigenen  Verbandsangehörigen  offen  erhoben  und  ihre 
Politik  von  diesen  vor  dem  ganzen  Lande  desavouiert  wurde,  da 
stellte  sich  die  öffentliche  Meinung  unverhüllt  auf  die  Seite  der 


*)  Sogar  in  Arbeiterkreisen  ist  dies  völlig  anerkannt.  Bezeichnend  ist  in 
dieser  Hinsicht  die  Einleitung  der  Konstitution  der  Amalgamated  Association.  Es 
heilst  dort  S.  5 : „In  all  countrics  and  all  times  Capital  has  been  used  by  some 
possessing  it  to  monopolizc  particular  branches  of  busincss , until  the  vast  and 
various  industrial  pursuits  of  the  world  are  centralizing  under  the  immediate  control 
of  a comparatively  small  portion  of  mankind.  Although  an  unequal  distribution  of 
the  worlds  wealth,  it  is,  perhaps,  necessary  that  it  should  be  so.  To  attain  the 
highest  degree  of  success  in  any  undertaking  it  is  necessary  to  have  the  most  per- 
fect and  systematic  arrangement  possible;  to  acquirc  such  a System  it  requires  the 
management  of  a busincss  to  be  placcd  as  ncar  as  possible  under  the 
control  of  one  mind;  thus  the  conccntration  of  wealth  and  business  tact  con- 
duces  to  the  most  perfect  working  of  the  vast  business  machinery  of  the  world.** 


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576 


1 1 e i n r i c li  W a c n t i g , 


Steel  Corporation,  und  zwar  um  so  entschiedener,  als  diese  sich 
während  des  ganzen  Kampfes  versöhnlich  gezeigt  und  kein  Mittel 
angewandt,  das  die  Kritik  hätte  zu  scheuen  brauchen. 

Der  entmutigende  Druck,  den  so  die  öffentliche  Meinung 
schliefslich  auf  die  Partei  der  Arbeiter  ausübte,  wurde  ihr  doppelt 
verhängnisvoll,  da  sich  mit  jedem  neuen  Tage  mehr  herausstellte, 
dafs  man  die  Stärke  des  Gegners  bei  weitem  unterschätzt  hatte. 
Wie  leicht  man  sich  die  Besiegung  des  Trust  gedacht,  geht  deut- 
lich aus  jenem  durch  eine  Indiskretion  nachmals  in  die  Oeffent- 
lichkeit  gedrungenen  Geheimberichte  hervor.  Vor  allem  glaubte 
man  an  die  finanzielle  Schwäche  der  Steel  Corporation 
und  berief  sich  zum  Beweise  dessen  auf  die  grofsc  Nachgiebigkeit, 
die  ihre  Leiter  gelegentlich  eines  nach  kurzen  Verhandlungen  den 
Wünschen  der  Arbeiter  entsprechend  beigelegten  Konfliktes  in 
Mc  Keesport  bei  Pittsburg  Mitte  April  des  Jahres  gezeigt  hatten. ') 
„Wir  gewannen  infolge  ihrer  Schwäche",  soll  Shaffer  geradezu 
erklärt  haben.  „Denn  die  United  States  Steel  Corporation  ist  heute 
nur  eine  lose  Zusammenfassung  von  Körpern  ohne  klare  Organi- 
sation, ohne  ausgeprägte  Regierungsformen,  ohne  systematische 
Operationspläne.  Dabei  entspricht  dem  Unterschied  zwischen  ihrem 
realen  Besitz  und  ihrer  nominellen  Kapitalisierung  keinerlei  Wert 
in  Anlagen  oder  sonstigen  Sicherheiten  irgend  welcher  Art.  Reali- 
sieren lassen  sich  jene  Scheinwerte  nur  durch  den  Verkauf  der 
verwässerten  Stocks  an  Outsiders,  die  dabei  von  den  Gründern, 
Maklern  und  Spekulanten  ausgebeutet  werden.  So  dumm  diese 
Käufer  auch  sind,  so  wissen  wir  doch,  dafs  sie  sich  weigern 
würden,  ihr  gutes  Geld  für  die  Aktien  einer  in  Strikes  verwickelten 
Unternehmung  herzugeben.  Deshalb  siegten  wir.  Denn  unsere 
blofsc  Erklärung,  die  Arbeit  cinstellen  zu  wollen,  beeinflufstc  den 
Vertrieb  ihrer  Papiere  in  wenigen  Tagen  bis  zu  einem  Betrage 
von-  einer  Million  Dollar  allein  in  Wall  Street  und  erschwerte 
überdies  ihren  Absatz  in  London."  In  der  That  wird  diese  Be- 
hauptung durch  den  Kurszettel  bestätigt.  Denn  es  notierten  die 
zum  ersten  Male  am  28.  März  1901  an  der  New  Yorker  Börse  ge- 
handelten Aktien  der  United  States  Steel  Corporation  folgender- 
malsen : 2) 

’)  Chicago  Record  Hcrald  v.  24.  8.  1901,  p.  1 f.  Vgl.  dazu  auch  The  Cummer- 
eial  and  F inancial  Chroniclc  v.  2o.  4.  1901,  p.  746  f. 

*)  Die  obigen  Ziffern  wurden  den  rcgrlmärsigen  Kursausweisen  des  Commercial 


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Der  Stahlarbeiterslrikc  vorn  Sommer  190J  und  seine  Lehren. 


577 


Common 

stock 

Preferred 

stock 

höchst 

niedrigst 

höchst  niedrigst 

13.  April 

46* , 

47*  , 

94'. 

95% 

15-  .. 

47'/, 

4S 

94*/- 

957. 

16.  ,. 

46 

47 

93*/. 

95 

17-  .. 

45'. 

46’'. 

93'. 

941 . 

18. 

453 . 

47’  . 

93’/. 

94*. 

19-  .. 

4»‘ , 

47'  . 

93  ";s 

95  «• *■ 

Und  der  äufserst  heftige  Kurssturz,  den,  wie  aus  den  folgenden 
Ziffern  sich  ergiebt,  die  Aktien  der  Steel  Corporation  zusammen 
mit  anderen  Werten  gelegentlich  der  in  der  zweiten  Maiwoche  in- 
folge des  Northern  Pacific  Corners  hercinbrechenden  Börsenkrise  er- 
litten, mag  die  I.eiter  der  Amalgamated  Association  vollends  in  ihrer 
Ueberzeugung  bestärkt  haben. 


Common 

stock 

Preferred  stock 

höchst 

niedrigst 

höchst 

niedrigst 

4- 

Mai  50  ljt 

53'. 

98' . 

ioo 

6. 

„ 52 1 , 

54 

100 

IOI*  H 

. 7- 

..  5*' . 

53 

98'. 

IOO5  ,, 

8. 

..  44 

5«’i 

87 

99 

9- 

..  24 

47 

69 

98 

10. 

„ 4> 

45 

90 

94 

'3- 

44 

46 

92 

93',4 

■4- 

„ 4 1 1 . 

44*  . 

89". 

92 

»5- 

..  39'  . 

43‘. 

88" , 

9« 

16. 

..  42 ' ■! 

44 

9°*s 

92 

«7- 

t»  43  ’ . 

45 

9t*, 

94  U.  5.  w. 

Schon  damals  aber  hatte 

das  Chronicle  die 

Arbeiter  vor  einem 

unüberlegten 

Strike  gewarnt : 

„Der 

Umstand, 

dafs  die  iron  and 

Steel  interests 

in  so  weitem  U 

mfange 

in  einer  Hand  vereinigt  sind, 

wurde  der  United  States  Steel  Corporation  eine  bisher  noch  nicht 
dagewesene  Widerstandskraft  gegenüber  einem  Ausstande  verleihen,“' 
bemerkte  das  Blatt  am  20.  April.  „Auch  wäre  es  völlig  irrig  an- 

and  Financial  Chronicle  entnommen.  Der  Wochenumsatz  „on  basis  of  ioo  share 
lots“  betrug  368804  bcz.  233882  gegenüber  564612  bcz.  236864  der  vorhergehenden 
und  669437  bez.  348571  der  folgenden  Woche,  die  zu  einer  am  30.  4.  kulmi- 
nierenden Haussebewegung  überleitete.  Das  Finanzblatt  beklagt  sich  über  ,,a  general 
selling  movement  of  Steel  Securities“  am  16.  4.  und  wirft  die  Frage  auf,  ob  nicht 
etwa  die  Strikeführcr  direkte  Verbindung  mit  der  Börse  unterhielten.  Am  17.  4. 
fanden  die  Ausglcichsvcrhandlungcn  statt. 


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5/8 


Heinrich  \V  a e n 1 i g , 


zunehmen , es  werde  die  Corporation  von  erheblichen  Verlusten 
betroffen  werden.  Sie  würde  doch  einen  Ausweg  finden,  um  die 
Produktion  innerhalb  gewisser  Grenzen  aufrecht  zu  erhalten,  und 
dazu  für  alle  Ware,  die  sie  auf  Lager  hat,  oder  sonstwie  auf  den 
Markt  bringen  könnte,  erheblich  gesteigerte  Preise  erzielen."  ’) 
Und  zum  Ueberflufs  war  Shaffer  vor  Eröffnung  der  Feindselig- 
keiten vertraulich  mitgeteilt  worden,  dal's  man  in  jeder  Hinsicht 
gerüstet  sei.  „Man  sagte  uns,"  erklärt  er  selbst  in  einer  zu 
Wellsville  gehaltenen  Rede,  „dafs  die  United  States  Steel  Corpora- 
tion einen  Kriegsfonds  von  200000000  Dollar  zur  Verfügung  habe, 
oder,  wie  man  sich  uns  gegenüber  ausdrückte,  eine  Reserve,  um 
im  Falle  von  Arbeitsstreitigkeiten  damit  ihre  Aktien  aufzupolstern 
(bolster  up).“  2)  Und  dafs  dies  keine  leere  Drohung  war,  hat  die  Er- 
fahrung gezeigt.  Denn  obwohl  sich  die  einzelnen  Phasen  des 
Kampfes,  wie  kaum  anders  zu  erwarten,  auf  das  genauste  in  den 
Kursschwankungen  wiederspiegelten,  auch  zeitweilig  immense 
Umsätze  stattfanden .,)  so  sind  die  vor  Beginn  des  Strikes  mit 
49'’’  s bezw.  99 :1 , notierten  common  bezw.  preferred  Stocks  der 
United  States  Steel  Corporation  doch  nur  ein  einziges  Mal,  Mitte  Juli 
nämlich,  auf  37  bezw.  86  herabgesunken,  um  sich  jedoch  alsbald 
wieder  zu  erholen.  Und  die  als  vernichtender  Hauptcoup  geplante 
Erklärung  des  Generalstrikes  hat  sie  eigentlich  kaum  noch  berührt. 

Wie  wenig  die  Amalgamated  Association  aber  auch  sonst  dem 
Trust  hat  anhaben  können , das  sollte  sich  noch  deutlicher 
aus  der  Veröffentlichung  seiner  Rechenschaftsberichte  im  Herbst 
und  zu  Neujahr  ergeben.  Gleich  bei  Beginn  des  Ausstandes  hatte 
man  in  Wallstreet  betont,  dafs,  selbst  wenn  die  Steel  Hoop  Co., 


M The  Commcrcial  and  Financial  Chronicle  v.  20.  4.  1901,  p.  747. 

2)  New  York  Tribüne  v.  19.  7.  1901,  p.  2.  Später  wurde  bekannt,  dafs  einer 
der  routiniertesten  Börscnlcute  von  New  York.  Mr.  James  K.  Kecnc,  den  beson- 
deren Auftrag  erhalten  halte,  die  finanzielle  Kampagne  gegen  die  Amalgamated 
Association  zu  führen  (vgl.  Duluth  Evening  Hcrald  v.  29.  8.  01  p.  9). 

3)  Fs  betrugen  die  Wochcnumsatze  „on  basis  of  loo  sharc  lots“  nach  Aus- 
weisen des  Commcrcial  and  Financial  Chronicle  in  United  States  Steel  Corporation 
Common  und  Preferred  Stocks,  gerechnet  ab  22.  6.  1901 : 


237822  und  103297 
192 258  „ 102326 

492512  „ 183396 

595915  „ 356112 
333175  ..  105947 


567595  und  242892 
376325  „ 182640 

167  770  „ 77  647 

118895  ..  63971 

( — 23.  8.  Ol)  u.  s.  w. 


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Der  Stahlarbeiterslrike  vom  Sommer  1901  und  seine  Lehren. 


579 


die  Sheet  Steel  Co.  die  Tin  Plate  Co.  und  eventuell  die  Federal 
Steel  Co.  lahmgelegt  werden  sollten,  dennoch  die  Lage  der  Steel 
Corporation  keineswegs  eine  bedrängte  sei,  und  diese  Behauptung 
folgendermafsen  begründet : „Die  American  Steel  and  Wire  Co.,  die 
eine  non-union  Compagnie  ist,  kann  für  sich  allein  die  Produktion 
der  Steel  Hoop  Co.,  die  Carnegie  Co.,  auch  eine  non-union  Com- 
pagnie, im  Verein  mit  mehreren  anderen,  die  der  Sheet  Steel  Co. 
mit  übernehmen.  Kurz,  die  einzige  Unternehmung,  deren  Geschäft 
durch  den  Strike  faktisch  zum  Stillstand  gebracht  werden  könnte, 
wäre  die  American  Tin  Plate  Co.“1)  ln  der  That  hat  die  Steel 
Corporation  nach  Vorwegnahme  der  zur  Verzinsung  der  5%,  igen 
Bonds  und  zur  Dotierung  des  Reservefonds  u.  s.  w.  erforderlichen 
Summen  am  1.  Oktober  wie  schon  vorher  am  2.  Juli  Vierteljahrs- 
dividenden von  1 3 , 0 „ auf  ihren  preferred  und  1 " „ auf  ihren  com- 
mon stock  verteilen  können  und  ihre  Reinerträge  haben  sich  von 
Beginn  der  Operationen  ab  bis  Fnde  des  Jahres  folgendermafsen 
gestaltet  * ) : 

April  $ 7 356  744 

Mai  „ 9612349 

Juni  „ 9394  747 

Juli  „ 95X0151 

August  „ 9810SS0 

„Die  Thatsache,  dafs  unsere  Gewinne  während  der  Strike- 
monate  so  grofse  waren,  mag  manche  Leute  mystifizieren,“  heifst 
es  in  dem  Oktoberbericht.  „Aber  allen  Ernstes,  der  Strike  war  für 
uns  in  keinem  Sinne  ein  empfindlicher  Schlag.  Ermöglichte  er  es 
uns  doch,  zu  Minimalkosten  viele  notwendige  Reparaturen 
durchzuführen,  die  stets  in  die  Mitte  des  Sommers  fallen, 
während  einige  der  von  den  Ausständigen  gesperrten  Werke  unter 
allen  Umständen  zu  dem  genannten  Zwecke  hätten  geschlossen 
werden  müssen.  Llcberdies  sind  jene  Zahlen  ein  deutlicher  Beweis 
vom  Werte  der  Konzentration.  Konnten  wir  doch  während  des 
Strikes,  solange  nur  noch  einige  von  unseren  Werken  im  Gange 
waren,  diesen  diejenige  Arbeit  übertragen,  die  sonst 

*)  New  York  Tribüne  v.  16.  7.  1901,  p.  I. 

*)  The  Commercial  and  Financial  Chronicle  v.  5.  10.  1901,  p.  722;  The  Iron 
Agc  v.  6.  2.  02.  p.  16.  Die  Verringerung  der  Reinerträge  im  Dezember  ist  auf  den 
durch  Zufrieren  der  Seen  hervorgerufenen  Stillstand  der  Eisenminen  und  Verkehrs- 
anstalten zurückzuführen. 


September  $ 9272812 

Oktober  „ 12205774 
November  „ 9795841 
Dezember  „ 7750000  {Schätzung). 


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5 So 


Heinrich  W a e n l i g , 


auf  die  geschlossenen  Etablissements  gefallen  war e.“ 
Die  Wahrheit  ist,  dafs  eine  Unternehmung  von  der  Vielseitigkeit, 
Einheitlichkeit  und  Elasticität ')  der  United  States  Steel  Corpora- 
tion, die,  begünstigt  von  einem  Hochschutzzolle,  in  ihrem  Lande 
etwa  75", 0 des  Gesamtproduktes  ihrer  Branche  *)  „kontroliert“,  zumal 
wenn  sie  von  einem  Finanzier  wie  Pierpont  Morgan  gesteuert  und 
von  einem  Industriellen  wie  Charles  Schwab  geleitet  wird,  fast 
einer  uneinnehmbaren  Feste  gleicht.  Gewifs  wird  sic  gerade  wegen 
der  wunderbaren  Kompliziertheit  ihrer  inneren  Organisation  Stö- 
rungen aller  Art  nach  Möglichkeit  aus  dem  Wege  gehen.  Einmal  zum 
Kampf  gezwungen  aber,  wird  sie  ihre  ganze  Stärke  erweisen.  Denn, 
da  sie  ihren  Gewinn  aus  den  mannigfachsten  Quellen  zieht,  ihre  Er- 
zeugung in  weitem  Spielräume  beliebig  verteilen,  augenblickliche 
Verluste  durch  spätere  Preiserhöhungen  wett  machen  kann  und  in- 
folge ihrer  Monopolstellung,  für  kürzere  Perioden  wenigstens,  eine 
Verdrängung  vom  Markte  nicht  zu  befürchten  hat,  so  wird  cs  sich 
für  sie  rcgelmäl'sig  mehr  um  zeitliche  bezw.  örtliche  Verschiebung 
ihrer  Produktion  und  ihrer  Einnahmen,  nicht  um  definitiven  Verlust 
ihres  Absatzes  handeln Und  nur  ein  gründlich  gerüsteter,  straff 
organisierter,  einheitlich  geleiteter  und  womöglich  über  ihren  ganzen 
Bereich  sich  erstreckender  Arbeiterverband,  wird  ihr  einigermalsen 
gefährlich  werden  können. 

*)  Wie  crot's  diese  Elastizität  ist,  zeigt  sich  daran,  dafs  man  während  des  Aus- 
Standes  z.  B.  allen  Ernstes  erwogen  zu  haben  scheint,  der  Arbeitskräfte  wegen  ein- 
zelne Etablissements  von  dem  einem  Orte  nach  dem  anderen  zu  verlegen.  Vgl.  New  York 
Tribüne  v.  27.  7.  1901,  p.  2,  v.  10.  S.  Ol,  p.  I,  v.  11.  8.  01,  p.  I,  v.  14.  8.  01,  p.  I 
und  The  Commcrcial  and  Financial  Chronicle  v.  17.  8.  01,  p.  310.  Es  zeige  sich 
dabei,  bemerkte  das  Finanzblatt,  „that  Capital  possesses  all  degrees  of  mobility“. 

*)  Nach  Charles  M.  Schwab  in  Reports  of  the  Industrial  Commission, 
Vol.  XIII,  p.  455. 

3)  „Reports  of  the  Cnited  States  Steel  Corporation  showed.“  heifst  es  im 
Engineering  and  Mining  Journal  v.  4.  I.  1902,  p.  17.  „that  the  carnings  for  the  month 
of  August  were  greater  than  any  previous  month.  There  is  no  doubt 
however,  that  the  profits  would  liavc  been  larger,  but  for  the  strike.“  Thatsächlich 
wurde  der  Ausfall,  wie  meine  Tabelle  zeigt,  im  Oktober  nach  geholt.  Ucber 
die  Preisgestaltung  unter  dem  Einflüsse  des  Strikes  vgl.  Engineering  and  Mining 
Journal  v.  4.  1.  02.  p.  17  ff.  und  Iron  Age  v.  2.  1.  02,  p.  7 ff.,  30  ff.  Das  Er- 
gebnis wird  zusammengefafst  in  den  Worten : „The  Suspension  of  the  stcel,  hoop, 
sheet,  tube  and  tinplate  mills  did  not  affect  the  prices  of  pig  iron  or 
finished  material  cxccpt  sheets.“ 


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Der  Stahlarbcitcrstrike  vom  Sommer  1901  und  seine  Lehren. 


581 


Die  Amalgamated  Association  nun  erfüllte,  streng  genommen, 
fast  keine  dieser  Bedingungen.  Schon  ihre  finanzielle  Lage  mufs, 
wie  sich  aus  den  unten  angeführten  Ziffern  ergiebt,  in  Anbetracht 
der  Gröl’se  ihres  Vorhabens  als  gänzlich  unzulänglich  bezeichnet 
werden. ')  Hs  betrugen  nämlich  ihre 


im 

Mitglieder- 

Gesamt- 

Gesamt- 

Ueber- 

Jahre 

zahl 

einnahme  $ 

ausgabe  5 

schüsse  8 

1895 

10000 

34  539 

2 1 O4S 

'3491 

1896 

1 1 000 

35781 

12525 

23255 

1897 

• I0500 

44426 

15962 

28  463 

180S 

IO  500 

52663 

25S3O 

26832 

1899 

1 1 050 

57070 

22  202 

34  868 

1900 

14035 

84307 

27  364 

56943 

1901 

13S93 

1 19659 

44  760 

74  89S 

Nun  konnten  die  74898  $,  die  sich  Ende  Mai  in  der  Verbands- 
kasse befanden , natürlich  durch  aufserordcntlichei  Beiträge  nicht 
strikender  Mitglieder  oder  anderer  Arbeiterverbände  ergänzt  werden. 
Doch  hatte  mit  Recht  schon  im  April  das  Commercial  and  Finan- 
cial Chronicle  es  als  „eine  närrische,  allerdings  weit  verbreitete 
Idee  bezeichnet,  dal's  ein  ausgedehnter,  sich  über  viele  verbündete 
( iewerbszweige  erstreckender  Ausstand  grölsere  Gewinnchancen  habe 
als  ein  auf  ein  einzelnes  Gewerbe  beschränkter.“  Denn  je  gröfser  die 
Zahl  der  Ausständigen,  desto  schwieriger  werde  ihre  Ernährung. sj 
Und  schliefslich  hat  sich  auch  herausgestellt,  dafs  man  die  zur  Fort- 
führung des  Strikes  unentbehrlichen  Geldmittel  nicht  flüssig  machen 
konnte.  Man  hatte  sich  leichten  Sinnes  auf  Art.  X Sec.  4 der  Kon- 
stitution und  die  Schwäche  des  Widersachers  verlassen. 

Immerhin  hätte  man  über  diese  finanziellen  Schwierigkeiten 
allenfalls  hinwegkommen  können,  wenn  die  Verbandsgenossen  durch 
eiserne  Selbstzucht  bei  der  gemeinsamen  Fahne  zusammengehalten 
worden  wären.  Wie  es  aber  gerade  damit  stand,  haben  unzählige 

*)  Vgl.  Chicago  Daily  Tribüne  v.  24.  8.  1901,  p.  3.  Die  im  Texte  mitgeteiiten, 
angeblich  jenem  Geheimberichte  entstammenden  Ziffern  stimmen  in  Kolumne  2 nicht 
mit  den  von  Caroll  D.  Wright  (The  National  Amalgamated  Association  u.  s.  w.t  p.  9) 
bei  der  Amalgamated  Association  ermittelten  überein,  welche  durchweg,  das  Jahr 
1901  ausgenommen,  niedriger  angegeben  sind.  Jedenfalls  stellen,  da  die  Ausgaben- 
summen identisch  sind,  die  „Uoberschüssc“  das  Maximum  der  am  Kndc  jedes  Finanz- 
jahres vorhandenen  Mittel  dar.  Die  jedesmaligen  Kcstbcstände  dürften  zu  Beginn 
der  neuen  Periode  unter  den  Einnahmen  gebucht  worden  sein. 

*)  The  Commercial  and  Financial  Chronicle  v.  20.  4.  1901,  p.  104  b 
Archiv  für  so/,  (»esetziccbunfj  u.  Statistik.  XVII.  3“ 


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582 


Heinrich  Waentig, 


Beispiele  beleuchtet.1)  Prophetischen  Geistes  hat  Gompers1)  in 
einem  Briefe  vom  15.  Mai  1901  Shaffer  davor  gewarnt,  „Unmög- 
liches zu  versuchen  oder  sich  für  eine  Sache  einzusetzen,  welche 
die  Masse  der  Arbeiter  in  ihrem  ruhigen  und  nüchternen 
Urteil  weder  billigen,  noch  vertreten"  wolle.  „Any  attempt  on  our 
part,“  hatte  er  hinzugefügt,  „to  go  farther  than  thc  workers  are 
prepared  to  support  by  their  action,  will  simply  lcave  the 
proposer  high  and  dry  and  will  wreck  the  movement 
for  which  we  have  given  so  many  years  to  build.“  Das  alles  trat 
jetzt  ein.  Bitter  beklagte  sich  am  Ende  des  Kampfes  das  Amalga- 
mated  Journal  3)  über  den  hervorgetretenen  Mangel  an  Solidaritäts- 
gefuhl  und  machte  ihn  geradezu  für  das  Scheitern  des  ganzen 
Unternehmens  verantwortlich.  „Niemals  zuvor,"  so  heifst  es  hier, 
„hat  die  Amalgamated  Association  so  grofsartige  Unterstützung 
von  Seite  verwandter  Gewerbe  erfahren,  nur  reichte  sie  nicht  weit 
genug,  um  wirksam  zu  sein.  Wenn  nur  die  Arbeiter  von  Duqucsne, 
Braddock  und  Homestead  das  glänzende  Beispiel  ihrer  Brüder  von 
Mc.  Keesport  nachgeahmt  hätten,  so  würde  ein  anderer  Frieden 
erlangt  worden  sein.  Hätten  die  Leute  von  Monessen  die  Arbeit 
eingestellt,  anstatt  dem  Trust  zu  helfen,  so  würde  die  Association 
heute  anders  dastehen.  Wenn  die  Männer  von  Vandergrift,  Leech- 
burg,  Scottdale  und  Saitsburg  sich  dem  Kampfe  um  Anerkennung 
angeschlosscn  hätten,  anstatt  dem  Trust  in  seinen  Bemühungen  bei- 
zustehen, unseren  Strike  zu  brechen,  der  doch  in  Scene  gesetzt  worden 
war,  gerade  um  ihnen  das  Koalitionsrecht  zu  erkämpfen,  so  würde 
der  Ausstand  von  der  Association  gewonnen  worden  sein.  Wären 
die  Männer  von  Chicago  loyal  geblieben  und  dem  Rufe  des  Präsi- 
denten gefolgt,  hätte  Bayview  bis  zum  Ende  ausgehalten  und  Joliet 
nicht  geschwankt,  so  würden  auch  andere  Orte,  die  eine  gewisse 
Unsicherheit  zeigten,  nicht  abgefallen  sein.  Hätten  die  Roller  in 
Painters  Mill  sich  tapfer  gezeigt,  anstatt  das  Hasenpanier  zu  er- 
greifen, ja  alle  unsere  Leute  nur  so  treu  zu  den  Interessen  unserer 
Organisation  gestanden,  wie  die  Glieder  des  Trust  zu  den  seinen, 
dann  würde  sich  der  Sieg  an  die  Fahne  der  Arbeit  geheftet  haben. 
Aber  das  alles  war  nicht  der  Fall.  Es  fehlte  an  der  nötigen  Ein- 
tracht. A house  divided  against  itself  must  fall!“ 

*)  New  York  Tribüne  v.  21.  7.  1901,  p.  I,  v.  23.  7.  01,  p.  2,  v.  7.  8.  01, 

p.  2 U.  S.  W. 

*)  American  Federationist,  Vol.  VIII,  Oct.  1901,  p.  427. 

*)  Amalgamated  Journal  v.  19.  9.  1901,  p.  I. 


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Der  Stahlarbciterstrikc  vom  Sommer  I90I  und  seine  Lehren. 


s«3 


Gewifs!  Und  zwar  war  dies  noch  in  einem  anderen  Sinne 
richtig.  Darf  man  doch  nicht  vergessen,  dafs  selbst  in  den  erklärten 
union-mills  ein  sehr  erheblicher  Teil  der  Arbeiterschaft  außerhalb 
der  Amalgamated  Association  stand : die  Ungelernten.1)  Zwar  ver- 
bot die  Konstitution  die  Aufnahme  solcher  „laborers"  nicht  geradezu, 
„the  latter  to  be  admitted  at  the  discretion  of  the  subordinate  lodge“, 
wie  sich  Art.  I charakteristisch  ausdrückt,  doch  hatte  man  gewifs 
nichts  gethan,  um  sie  zu  fördern,  oder  sonst  unter  jenen  Leuten 
moralische  Kroberungen  zu  machen.  War  doch  ihr  Anlernen  durch  Ver- 
bandsmitglicdcr  nach  Art.  XVII  Sect.  t<)  der  Konstitution  mit  Aus- 
schlufs  von  der  Gewerkschaft  bedroht.  “)  So  baute  man  denn,  und 
in  gewissem  Mafse  mit  Recht,  auf  die  Unentbehrlichkeit  der  or- 
ganisierten gelernten  Arbeiter  gerade  für  die  von  dem  Strikc  in 
erster  Linie  betroffenen  Betriebe  der  Sheet  Steel  Co.,  Steel  Hoop  Co. 
und  Tin  Plate  Co.,  *)  ohne  zu  bedenken,  dals  es  der  Steel  Corporation 

*)  Die  Ungelernten  wurden  natürlich  durch  den  Ausstand  der  (Jelernten  mit 
arbeitslos.  Hin  Berichterstatter  des  New  York  Tribüne  (v.  10.8.  1901,  p.  2)  schätzte 
vor  Frklähing  des  Generalstrikes  die  Zahl  der  in  den  Kampf  verwickelten  Arbeiter 
der  ersteren  Kategorie  auf  45000  gegenüber  etwa  20000  der  letzteren. 

*)  In  dem  Artikel  heifst  es:  „Slmuld  any  member  ol  this  association  undertake 
to  instruct  an  unskilled  workman  in  any  of  tbe  trades  represented  in  this  Asso- 
ciation, it ' shall  bc  the  duty  of  the  Mill  Committee  to  notify  hitn  that  this  asso- 
ciation  ca  11  not  toleratc  such  procecdings,  and  slmuld  he  still  persist  in 
doing  so,  Chargen  shall  bc  preferred  against  hitn,  and  he  shall  be  cx  pell  cd  or 
suspended,  as  the  lodge  may  determinc.“ 

*)  Sehr  lehrreich  ist  in  dieser  Hinsicht  ein  offenbar  sachverständiger  Artikel 
des  New  York  Tribüne  v.  6.  8.  1901,  p.  1,  in  dem  ausgefUhrt  wird,  dafs  hochmoderne 
Betriebe,  wie  z.  B.  die  der  Carnegie- Werke  zu  Homestcad,  Duquesne  und  Braddock, 
durch  Strikes  wohl  überhaupt  nicht  mehr  lahm  zu  legen  seien,  „as  the 
machincry  at  thcsc  plants  is  so  automatic  that  new  men  can  soon  bebroken 
i n , and  the  men  who  Step  out  will  be  out  for  good.  Every  heat  of  mctal  and 
every  lot  that  is  finished  are  tested  by  ehern  ists  and  experts  to  such  an  extent  that 
nothing  is  left  to  chance  in  thesc  inammoth  plants.  The  experts  are  not  sym- 
pathizers  with  the  strikers,  and  wilh  their  aid  the  plants  could  almost 
be  run  with  men  who  had  never  seen  a stcel  plant“.  Ganz  anders 
stehe  es  natürlich  in  jenen  altmodischen  Betrieben , die  man  ohne  gelernte  Arbeit 
nicht  in  Gang  erhalten  könne.  Zu  dieser  Kategorie  gehörten  über  */4  der  Steel 
hoop-Bctricbc  und  alle  Werke  der  Sheet  Stcel  Co.  mit  Ausnahme  von  I oder  2. 
„Tin  plate  making“,  heifst  cs  endlich,  „requires  a high  degree  of  proficiency,  and 
the  American  Tin  Plate  Co.  is  at  the  merey  of  the  strikers.“  Vgl.  dazu  auch 
Berichte  über  Handel  und  Industrie,  zusammengestellt  im  Reichsamt  des  Innern, 
Band  IV,  1902,  p.  107  f. 

3** 


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584 


Heinrich  W a e n t i g , 


auf  die  Dauer  gelingen  mufetc,  die  Geschicktesten  unter  jenen  Un- 
gelernten , die  der  Amalgamatcd  Association  gegenüber  durch 
keinerlei  Verpflichtungen  gebunden  waren,  für  sich  zu  gewinnen 
und  auszubilden.  Die  Schnelligkeit,  mit  der  es  itn  Laufe  des  Monats 
August  gelang,  ein  Werk  nach  dem  anderen,  wieder  in  Gang  zu 
bringen,  deutet  darauf  hin,  dafs  jene  Taktik  vom  Trust  mit  bestem 
Erfolge  zur  Anwendung  gebracht  worden  ist. 

So  konnte  für  den,  der  mit  den  Dingen  intimer  vertraut  war, 
der  Ausgang  des  Kampfes  kaum  zweifelhaft  sein,  obwohl  für  eine 
gute  Sache  von  einerrl  für  seine  Mission  begeisterten  Priester  ge- 
rungen wurde.  Denn  ein  solcher  war  es,  der  den  Arbeitern  das 
Banner  vorantrug. ')  Und  als  ein  unerschütterlicher  Glaubensheld 
hat  er  sich  auch  bethätigt.  Aber  betont  nicht  schon  die  Schrift, 
dafs  der  Glaube  wohl  selig  mache  „als  eine  gewisse  Zuversicht 
des,  das  man  hoffet,  und  nicht  zweifelt  an  dem,  das  man 
nicht  sichet“,  um  damit  stillschweigend  anzudeuten,  dafs  er 
nicht  irdische  Schlachten  gewinnen  kann  ? Die  Unfähigkeit,  sein 
heifscs  Sehnen  nüchterner  Abwägung  der  taktischen  Möglichkeiten 
unterzuordnen,  ist  Sh  affe r verhängnisvoll  geworden,  hast  rührend 
spricht  sich  diese  Zwiespältigkeit  seiner  gequälten  Seele  in  den 
von  dem  besonnenen  Gompers  mit  Recht  verspotteten  Worten 
aus:  „We  knew  our  cause  would  he  lost;  but  procedc'd,  fceling 
assured,  wc  could  win,  if  Support  could  he  secured  for  the 
faithful  strikers.“  '•)  Und  als  dann  der  rettende  Engel  ausblieb,  hat 
er  sich  in  diesem  verlorenen  Spiele  doch  nicht  eher  ergeben,  bis 
sich  mit  überwältigender  Klarheit  zeigte,  dafs  die  Trümpfe  samt 
und  sonders  in  der  1 land  des  lachenden  Gegners  safsen.  — 

5.  Das  Nachspiel. 

Ucbcr  die  Forderung  der  Amalgamatcd  Association  hat  der 
Ausgang  des  Strikcs  entschieden,  nicht  über  das  von  ihr  ver- 

M Präsident  I h.  J.  Sliaffcr,  gcb.  am  23.  4.  1S57  zu  Pittsburg  Pa.,  war  in  seiner 
Jugend  als  rollcr  ini  Stahlgcwebc  tliätig,  graduierte  später  an  der  Western  Universitv 
zu  Pitlsburg  mul  widmete  sich  von  da  ab  für  io  Jahre  dem  geistlichen  Stande  in 
der  Methodist  Kpiscopal  Churcli.  Seine  geschwächte  Gesundheit  zwang  ihn,  zu 
seinem  früheren  Berufe  zurückzukehren,  in  dem  er  am  9.  4.  1898  zum  Haupte  der 
Amalgamatcd  Association  of  Iron,  Steel  and  Tin  Workers  gewählt  wurde.  Wer  den 
hageren,  etwas  schwärmerischen  Mann  näher  kennt,  wird  an  der  Lauterkeit  seiner 
Absichten  nicht  zweifeln  können. 

*)  American  Federationist,  Vol.  VIII,  < >ct.  1901,  p.  415,  421. 


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Der  Stahlarbcitcrslrike  vom  Sommer  1901  und  seine  Lehren. 


585 


fochtenc  Prinzip.  „Ich  sage  Euch.“  hatte  einer  ihrer  Führer  drohend 
ausgerufen.  ’)  „die  Frage  mufs  noch  entschieden  werden,  auf  diese 
oder  jene  Weise.  Wenn  nicht  im  friedlichen  Strikc,  dann  durch  die 
Gesetzgebung;  versagt  diese,  inufs  man’s  mit  dem  Stimmzettel  ver- 
suchen. Geht's  auch  damit  nicht,  nun  so  fürchte  ich,  wird  nichts 
übrig  bleiben  als  an  das  Bajonett  zu  appellieren.  Ich  sage  Euch, 
die  I.age  ist  heute  eine  solche,  dafs  unser  Land  am 
Vorabend  einer  der  gröfsten  Revolutionen  steht,  die 
sich  jemals  in  der  Weltgeschichte  zu  getragen  haben.“ 
In  milderer  Form,  aber  nicht  minder  bestimmt,  hat  sich  Andrew 
Carnegie  ausgesprochen.  „Einige  Unternehmungen  haben  sich 
in  Amerika  geweigert,"  heilst  es  in  seiner  Gospel  of  wealth,  •) 
„die  Koalitionsfreiheit  ihrer  Leute  anzuerkennen.  Doch  kann  diese 
Politik  nur  als  eine  vorübergehende  Phase  der  Entwicklung  be- 
trachtet werden.  Ist  doch  das  Recht  des  Arbeiters,  sich  zu  ver- 
einigen und  Gewerkschaften  zu  gründen,  nicht  minder  heilig  als  das 
des  Fabrikanten,  mit  seinen  Genossen  Verabredungen  zu  treffen  und 
Bündnisse  einzugehen,  und  es  wird  früher  oder  später  eingeräumt 
werden  müssen.“  Es  würde,  in  einem  demokratischen  Lande 
wenigstens,  wo  grundsätzlich  allen  mit  gleichem  Mafse  zu  messen 
ist,  zugestanden  werden  müssen,  auch  wenn  die  oft  gehörten  Vor- 
würfe sich  bewahrheiteten , dafs  Gewerkvereine  der  technischen 
Vervollkommnung  und  dem  sozialen  Frieden  des  Gewerbes 
schädlich  seien.'1)  Aber  sind  sie  es  wirklich,  oder  besser,  müssen 
sie  es  notwendig  sein?  Wie  verträgt  sieh  z.  B.  mit  jener  Be- 
hauptung der  folgende  Absatz  des  im  Februar  190 1 zwischen  der 
Lakesidc  I.odge  No.  9 der  Amalgamated  Association  und  der 
Illinois  Steel  Co.  abgeschlossenen  Vertrages,  der  bekanntlich  im 
Ausstande  des  vergangenen  Sommers  jene  wichtige  Rolle  spielte? 
Er  lautet:  „die  Parteien  kommen  weiter  überein,  dafs,  falls  die 
eine  wirksamere  Maschinerie  einführen  oder  ihren  Betrieb  sonstwie 
vervollkommnen  sollte,  so  dafs  cs  möglich  würde,  die  Arbeit  in  ihrem 
Schienenwalzwerk  durch  eine  geringere  Zahl  oder  minder  gelernte 

New  York  Tribüne  v.  12.  8.  1901,  p.  2. 

2)  Andrew  Carnegie,  The  Gospel  of  Wealtli,  New  York  1900,  p.  114. 

*1  Diese  Befürchtung  ist  mit  besonderer  Schärte  wieder  gelegentlich  der  im 
Dezember  iqoi  von  der  National  Civic  Federation  zu  New  York  veranstalteten  Kon« 
ferenz.cn  durch  Charles  M.  Schwab  ausgesprochen  worden  (vgl.  National  Con- 
ference on  Industrial  Conciliation.  held  at  New  York,  Dccember  t6  and  17,  1901. 
New  York  1902,  p.  32  IT.]. 


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H c i n r i c h W a e n t i g , 


Arbeiter  verrichten  zu  lassen,  die  andere  alles  t h u n will,  was 
in  ihren  Kräften  steht,  um  die  genannten  Verbesse- 
rungen durchzuführen,  auch  bei  der  Vornahme  aller 
derjenigen  Modifikationen  beistehen  will,  die  solche 
Vervollkommnung,  hinsichtlich  der  Lohnsätze  oder 
der  Arbeiterzahl  mit  sich  bringen  sollte,  Modifika- 
tionen, über  die  sich  die  Parteien  später  zu  einigen  hätten.“  Und 
wie  verträgt  es  sich  damit  ferner,  dafs  nach  einem  am  29.  Juni 
1901  zwischen  der  Republic  Iron  and  Steel  Co.  und  der  Amal- 
gamated  Association  abgeschlossenen  Vertrage  alle  in  künftigen 
Jahren  bei  den  Verhandlungen  über  die  Scale  hervortretenden  un- 
löslichen Meinungsverschiedenheiten  durch  einen  von  beiden  Kon- 
trahenten einzusetzenden  board  of  concilation  von  3 Personen  bei- 
gelegt werden , sollen,  wobei  der  Arbeiterverband  sich  ausdrücklich 
verpflichtet,  unterdessen  alle  Betriebe  der  Gesellschaft  gegen  Fort- 
zahlung der  bisherigen  Löhne  in  Gang  zu  erhalten?1)  Sollte  es 
wirklich  nicht  möglich  sein,  bei  einigem  guten  Willen  auch  in 
anderen  P'ällen  einen  Ausweg  aus  dem  Dilemma  zu  finden  ? 

Wenn  irgend  wer,  so  schienen  freilich  von  solcher  Verständigung 
jene  himmelweit  entfernt,  die  sich  soeben  in  erbittertem  Kampfe 
gemessen  hatten.  Und  doch  hat  jener  Strike  schließlich  keine  Ent- 
fremdung,  sondern  eher  eine  Annäherung  der  Beteiligten  herbei- 
geführt. Das  kam  am  deutlichsten  zum  Ausdruck  auf  jenen  denk- 
würdigen, kurz  vor  Weihnachten  1901  von  der  National  Civic 
Federation  zu  New  York  veranstalteten  Konferenzen  zwecks  Be- 
ratung von  Maßnahmen  zur  Vermeidung  und  Beilegung  von  Arbeits- 
streitigkeiten, *)  an  denen  eine  Reihe  hervorragender  Männer  aus 

’)  Reports  of  the  Industrial  Commission,  Yol.  XVII,  p.  341. 

*)  Vgl.  darüber  New  York  Tribüne  v.  17.  12.  1901,  p.  1 und  v.  18.  12.  ci,  p.  1, 
auch  American  Federationist,  Vol.  IX,  Jan.  1902,  p.  22  ff.  Die  National  Civic 
Federation  ist  aus  einer  im  Juni  1900  durchgeführten  Erweiterung  der  1893  zwecks 
Anbahnung  munizipaler  Reformen  gegründeten  Chicago  Civic  Federation  hervor- 
grgangen.  Sic  hat  sich  um  weitere  Kreise  besonders  durch  Veranstaltung  einer 
Reihe  von  Konferenzen  verdient  gemacht,  die  das  Interesse  an  sozialen  Reformen 
zu  wecken  bestimmt  waren.  Ich  verweise  insbesondere  auf  die  folgenden  Be- 
richte: Congress  on  Industrial  Conciliation  and  Arbitration,  held  at  Chicago  Nov.  13 
and  14,  1894,  Chicago  1894;  National  Conference  on  Practical  Reform  of  Primary 
Fleetions,  held  at  New  York.  Jan.  20  and  21,  1898,  Chicago  189S;  Chicago  Con- 
ference on  Trusts,  held  September  13,  14,  1 5 and  16,  1899.  Chicago  1900;  National 
Conference  on  Taxation,  held  at  Buffalo,  May  23  and  24,  1901.  Die  Federation 


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Der  Stahlarbciterstrike  vom  Sommer  1901  und  seine  Lehren. 


587 


allen  Teilen  des  Gandes,  darunter  auch  die  Blüte  seiner  Unter- 
nehmer- und  Arbeiterschaft  teilnahmen.  Hier  trafen  sich  auch 
Schwab  und  Shaffer  wieder,  und  die  versöhnlichen  und  takt- 
vollen Worte  des  Siegers  zeugten  für  die  feine  Diplomatie  des 
amerikanischen  Arbeitgebers.  „Ich  bin  hier“1,  so  etwa  führte  er  aus, 
„bereit,  mich  überzeugen  zu  lassen,  begierig,  die  Kehrseite  der  Me- 
daille zu  sehen,  und  entschlossen,  zu  thun,  was  recht  ist.  Möglich, 
dafs  mein  Motiv  ein  selbstsüchtiges  ist.  Aber  ich  erkenne,  dals  von 
der  friedlichen  Schlichtung  jener  Streitigkeiten  zwischen  Kapital 
und  Arbeit  das  künftige  Glück  der  Vereinigten  Staaten  abhängt. 
Der  gewerbliche  Verfall  in  anderen  1 .andern  ist  auf  die  Feindselig- 
keit der  Gewerkvereine  zurückzuführen.  Nun  ich  leugne  nicht,  dafs 
das  Kapital  gelegentlich  willkürlich  und  radikal  vorgegangen  ist. 
Die  Arbeiterverbände  aber  haben  das  Gleiche  gethan.  Alles  in 
allem  sind  Reichtum  und  Wohlfahrt  der  Unternehmer  und  Arbeiter 
eng  mit  einander  verknüpft,  ihre  Interessen  sind  wechselseitige  und 
beide  sollten  Zusammenhalten.  Ich  bin  hierher  gekommen,  um  mich 
mit  all  meiner  praktischen  Erfahrung  in  den  Dienst  dieser  Sache 
zu  stellen,  und  hoffe,  dals  diese  Konferenz  zu  einem  guten  Ende 
führen  wird.“ ' ) 

Klingt  das  aber  nicht  wie  ein  vollkommener  Umschwung  in 
der  Arbeiterpolitik  der  Steel  Corporation  r .Sollte  ihr  Sieg  vielleicht 
doch  eine  — Niederlage  gewesen  sein?  Hat  man  sich  etwa  im 
geheimen  davon  überzeugt,  dafs  die  für  die  Frosperität  moderner 
Riesenunternehmungen  zweifellos  unentbehrliche  Verfügung  über 
die  Produktionsfaktoren,  insbesondere  die  Arbeit,  sich  am  Ende  noch 
auf  einem  anderen  und  zuverlässigeren  Wege  sichern  lasse,  als 
durch  Vernichtung  sprossenden  Lebens?  Fast  scheint  es  so.  Denn, 
bin  ich  recht  unterrichtet,  so  hat  der  Trust,  seine  friedliche  Ge- 
sinnung bethätigend,  den  Besiegten  zur  Vermeidung  künftiger 
Streitigkeiten  einen  dreijährigen  I.ohnvertrag  angeboten,  worüber 
die  Entscheidung  der  Gegenpartei  noch  ausstcht.  '•')  Wie  immer  sie 
ausfallen  möge,  so  bedeutet  jener  Schritt,  der  sich  übrigens  auch 


hat  ihren  Sitz  in  New  York,  dort  ein  Hurcau  unter  Leitung  von  Mr.  Ralph  M. 
Easley  und  hat  zur  Erfüllung  ihrer  Aufgaben  ein  Taxation  Department  und  ganz 
neuerdings  ein  Industrial  Department  organisiert. 

*)  National  Conference  on  Industrial  Concilalion,  p.  32  iT. 

*)  C.  D.  W right,  The  National  Amalgamaled  Association,  p.  34. 


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H.  Waentig,  Der  Stahlarbciterstrike  vom  Sommer  1901  und  seine  Lehren. 


auf  andere  Weise  bezahlt  machen  dürfte,')  doch  schon  an  und  für 
sich  ein  wichtiges  Symptom  für  das  unaufhaltsame  Reifen  sozial- 
politischer Erkenntnis. 

Das  gilt  natürlich  erst  recht  von  dem  in  jenen  Dezembertagen 
gegründeten  Industrial  Department  der  National  Civic  Federation. 
Seine  Aufgabe  ist  nach  dem  Wortlaute  eines  Mitte  Dezember  1901 
veröffentlichten  Programmes : ■)  „Alles  zu  thun,  um  den  industriellen 
Frieden  zu  fördern,  behilflich  zu  sein  bei  der  Herstellung  recht- 
licher Beziehungen  zwischen  den  Unternehmern  und  ihren  Ange- 
stellten, zu  versuchen,  durch  seine  guten  Dienste  Arbeitseinstellungen 
und  Aussperrungen  zu  verhüten  und,  wo  ein  Bruch  geschehen,  den 
Frieden  wieder  herbeizuführen,  auf  Antrag  als  unparteiisches  Forum 
Streitfragen  zwischen  Arbeitgebern  und  Arbeitern  zu  beurteilen  und 
zu  entscheiden,  als  Schiedsgericht  jedoch  nur  dann  zu  wirken,  wenn 
beide  Parteien  cs  mit  dieser  Funktion  freiwillig  betrauen.“  Ob  es  seinen 
hohen  Zweck  erfüllen,  das  heilst,  sich  als  gerechtes  Tribunal  einer 
geläuterten  öffentlichen  Meinung  bewähren  wird,  bleibt  a!  zuwarten. 
Sicherlich  werden  seine  Erfolge  wesentlich  abhängen  von  dem 
wachsenden  Verständnis  für  die  Natur  der  kapitalistischen  Produk- 
tionsordnung, die  zwar  nicht  eine  Interessenharmonie,  wohl  aber 
ein  Rcziprozitätsverhältnis  zwischen  Kapital  und  Arbeit  begründet, 
und  nicht  zuletzt  von  ernster,  geduldiger,  nüchterner  Arbeit.  Denn 
nicht  ist  zum  Schöpfer  neuer  Lebensordnungen  geschickt,  wer  dem 
Kinde  gleich  mit  zitternden  Händen  sehnsüchtig  nach  leuchtenden 
Sternen  langt,  sondern  der,  welcher  auf  festem  Grunde  mit  ner- 
vigem Arme  Stein  auf  Stein  türmend,  sich  Stufe  um  Stufe  in 
seinen  I liinmcl  hineinbaut. 

•j  Vor  allem  würden  die  Ilochschut/.zollner  einen  Vertrag,  der  die  Steel  Corpo- 
ration für  längere  Zeit  auf  gewisse  Lohnpositionen  festlcgt,  als  gewichtigen  Grund 
gegen  eine  Herabsetzung  der  Tarife  ins  Feld  führen  können. 

2)  New  York  Tribüne  v.  19.  12.  1901,  p.  I. 


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Koalitionsrecht  und  Erpressung. 

Voll 

WOLFGANG  HEINE, 

Mitglied  des  Reichstages,  in  Berlin. 

Die  rechtsbegriindencie  Thätigkeit  des  Gesetzgebers  vermag 
wenig  zu  schaffen,  wenn  nicht  dafür  gesorgt  wird,  dafs  das  Recht 
in  seinem  Sinne  gehandhäbt  werde.  Für  diese  alte  Erfahrung,  die 
in  der  Emsigkeit  parlamentarischer  Arbeit  nicht  selten  vergessen 
wird,  bietet  die  Geschichte  des  Koalitionsrechts  der  Arbeiter  in 
Deutschland  ein  sprechendes  Beispiel.  Als  im  Jahre  1899  die  Reichs- 
regierung durch  den  Entwurf  eines  „Gesetzes  zur  Regelung  des  ge- 
werblichen Arbeitsverhältnisses“  die  Ausübung  des  Koalitionsrcchts 
durch  gesetzliche  Schranken  erschweren  wollte,  konnten  die 
Gegner  des  Entwurfs  zur  Ueberräschung  aller,  die  nicht  zufällig  auf 
diesem  besonderen  Gebiete  beschlagen  waren,  nachweisen,  in  welchem 
Mal'se  auch  schon  ohne  das  Zuchthausgesetz  die  durch  die  Rcichs- 
gewerbcordnung  garantierte  Koalitionsfreiheit  der  Arbeiter  durch 
die  Rechtsprechung  in  Strafsachen  und  durch  die  Praxis  der 
Verwaltungsbehörden  eingeengt  wird,  und  welche  Fallstricke  den 
Arbeiter  bedrohen,  der  von  diesem  Grundrechte  des  gewerblichen 
Lebens  Gebrauch  machen  will.  Namentlich  die  treffliche,  in  diesem 
Archiv  Bd.  XIV',  S.  472  ff.  erschienene  Monographie  des  Professors 
Dr.  Löwenfeld  in  München  gab  eine  erschöpfende  und  übersicht- 
liche Darstellung  der  strafrechtlichen  Drangsalierungen,  denen  das 
Koalitionsrecht  der  deutschen  Arbeiter  unterworfen  ist. 

Damals  schon  wurde  wiederholt  darauf  hingewiesen,  dafs  wenn 
auch  das  Zuchthausgesetz  selbst  fiele,  man  alter  Erfahrung  gemäfs 
annehmen  könnte , dafs  die  Verwaltungspraxis  und  gerichtliche 
Judikatur,  die  schon  so  tüchtiges  auf  diesem  Gebiete  geleistet  hätten, 
nicht  säumen  würden,  durch  Polizeiverordnungen  und  durch  eine 


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Wolfgang  Heine, 


ausdehnende  Auslegung  bestehender  Gesetze,  thatsächlich  den  Zu- 
stand herbeizuführen , den  gesetzlich  zu  begründen  die  Reichs- 
regierung und  ihre  Hintermänner  nicht  vermocht  hätten.  Diese 
Voraussage  hat  sich  über  alle  Erwartung  hinaus  erfüllt,  und  zwar 
hat  man  verstanden  verschiedene  Wege  zu  finden  und  auszubauen, 
um  die  Zwecke,  die  mit  dem  Zuchthausgesetze  verfolgt  wurden,  zu 
erreichen.  Vor  allem  aber  ist  es  die  Anwendung  des  Er- 
pressungs paragraphen  gegen  Arbeiterkoalitionen,  die  eine  unge- 
ahnte Ausdehnung  gewonnen  hat , und  die  um  so  gehässiger 
empfunden  wird,  als  das,  was  das  Rechtsgefühl  des  Volkes  unter 
„Erpressung"  versteht,  ein  nichtswürdiges,  völlige  moralische  Ver- 
worfenheit verratendes  Delikt  ist,  und  weil,  wie  schon  Löwenfeld 
in  dem  citierten  Aufsatze  treffend  hervorgehoben  hat,  eine  Ver- 
urteilung wegen  Erpressung  vor  der  öffentlichen  Meinung  infamierend 
wirkt,  auch  wenn  die  Aberkennung  der  Ehrenrechte  ')  unterblieben  ist. 

Bei  der  Beratung  des  Zuchthausgesetzes  im  Reichstage  hatte  der 
nationalliberale  Abgeordnete  Dr.  Bassermann  seine  Bedenken  schon 
gegen  die  damalige  Anwendung  des  Erpressungsparagraphen  geäufsert 
und  hervorgehoben,  dals  wenn  diese  Judikatur  sich  weiter  entwickelte, 
ein  grofser  Teil  des  Koalitionsrechts  in  Frage  gestellt  sein  würde.*) 
Nun,  diese  Entwicklung  ist  eingetreten:  was  1899  immerhin 
noch  eine  Ausnahme  war,  so  dafs  der  Staatssekretär  Dr.  Nieberding 
bitten  konnte,  an  so  vereinzelte  Urteile  keine  allgemeinen  Folgerungen 
zu  knüpfen,  ist  heut  etwas  alltägliches,  so  dafs  keine  Woche  ver- 
geht, in  der  nicht  die  Arbeiterblätter  neue  Erpressungsprozesse  aus 
Anlafs  der  Ausübung  des  Koalitionsrechts  zu  melden  hätten.  Zu- 
gleich hat  eine  immer  subtiler  werdende  Auslegung  den  Kreis  der 
als  Erpressung  behandelten  Fälle  erheblich  erweitert. 

Deshalb  war,  als  im  Herbste  1901  die  Zeitungen  von  einer  Ministe- 
rialverordnung  erzählten,  die  den  Staatsanwaltschaften  die  Erhebung 
solcher  Anklagen  zur  Pflicht  machen  sollte,  und  die  von  der  Presse 
als  „das  Ende  des  Koalitionsrechts  der  Arbeiter“  bezeichnet  wurde, 
dies  für  die  Kenner  der  Rechtsprechung  nichts  überraschendes. 

Der  preufsische  Justizminister  hat  in  der  Sitzung  des  Ab- 

*1  Nur  die  3.  Strafkammer  des  Landgerichts  zu  Dresden  hat  einen  noch  nicht 
wegen  Vergehens  bestraften  Maurer  Duda,  der  unter  Androhung  der  Sperre  den 
üblichen  Stundenlohn  von  45  Pfennigen  gefordert  hatte,  während  der  Arbeitgeber 
nur  43  zahlen  wollte,  wegen  eines  Objekts  von  im  ganzen  60  Pfennigen,  zu  6 Mo- 
naten Gefängnis  und  3 Jahren  Ehrverlust  verurteilt.  (Urteil  vom  18.  Nov.  1898.1 
*)  Session  189800.  97.  Sitzung,  Sten.  Per.  S.  2669. 


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Koalitionsrecht  und  Erpressung. 


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geordneten  Hauses  vom  17.  Februar  1902  Aufklärung  darüber  gegeben. 
Danach  soll  es  sich  darum  gehandelt  haben,  dafs  Mitglieder  einer 
Arbeiterorganisation  sich  geweigert  hatten,  mit  einem  Arbeiter,  der 
von  der  Organisation  abfallen  wollte,  länger  zusammenzuarbeiten, 
und  dafs  sie  dessen  Hntlassung  gefordert  hatten.  Dieser  Fall  gab 
dem  Minister  Anlafs,  die  Staatsanwaltschaften  auf  die  Möglichkeit 
hinzuweisen,  die  Anklage  unter  dem  Gesichtspunkte  der  Erpressung 
zu  erheben  und  dadurch  den  Fall  in  der  Revisionsinstanz  zur 
Beurteilung  durch  das  Reichsgericht  zu  bringen. 

Das  Reskript  des  Justizministers  und  seine  Erörterung  im 
Reichstage  und  Landtage  scheinen  auf  die  Anklagebehörden  nicht 
ohne  Eindruck  geblieben  zu  sein,  denn  in  den  letzten  Monaten  hört 
man  noch  weit  mehr  von  derartigen  Erprcssungsanklagcn  als  früher. 
Deshalb  ist  es  wohl  gerechtfertigt,  den  Gegenstand  in  diesem 
Archiv  von  neuem  zu  behandeln,  die  Unvereinbarkeit  dieser  Recht- 
sprechung mit  dem  Bestehen  eines  wirksamen  Koalitionsrechts 
darzuthun,  den  Nachweis  zu  führen,  dafs  sie  juristisch  falsch  ist,  und 
die  Notwendigkeit  einer  gesetzgeberischen  Abhilfe  zu  betonen  und 
die  möglichen  Wege  dazu  anzudeuten. 

Der  in  Betracht  kommende  § 253  des  Strafgesetzbuchs  für  das 
deutsche  Reich  lautet: 

Wer,  um  sich  oder  einem  Dritten  einen  rechtswidrigen  Vermögens- 
vorteil zu  verschaffen,  einen  anderen  durch  Gewalt  oder  Drohung  zu  einer 
Handlung,  Duldung  oder  Unterlassung  nötigt,  ist  wegen  Erpressung  mit 
Gefängnis  nicht  unter  einem  Monat  zu  bestrafen. 

Der  Versuch  ist  strafbar. 

Dafs  der  Gesetzgeber  hierbei  an  ein  ganz  besonders  schweres 
und  unentschuldbares  Delikt  gedacht  hat,  geht  schon  aus  der 
Normierung  der  Minimalstrafc  von  einem  Monat  Gefängnis  hervor. 
Diebstahl,  Betrug,  ja  selbst  Urkundenfälschung  beim  Vorliegen 
mildernder  Umstände  lassen  weit  geringere  Strafen  zu. 

Wie  man  sieht,  setzt  das  Strafgesetzbuch  im  wesentlichen  zwei 
Thatbcstandsmomente  voraus,  den  auf  den  anderen  ausgeübten  Z w a n g 
und  das  Ziel  des  rechtswidrigen  Vermögens  Vorteils. 
Für  die  uns  interessierenden  Bälle  aus  dem  Gebiete  des  Koalitions- 
rechts kommt  der  Zwang  durch  Gewalt  (vis  absoluta)  nicht  in- 
betracht, sondern  nur  der  Willenszwang  durch  Drohung  (vis  com- 
pulsiva). Als  Drohung  betrachtet  unsere  Theorie  und  Recht- 
sprechung die  Ankündigung  eines  Uebels,  dessen  Verwirk- 
lichung mindestens  mittelbar  von  dem  Ankündigenden  abhängig 


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Wolfgang  Heine, 


ist.  Man  verlangt  aber  dabei  nicht,  dafs  ein  wirkliches  Uebel  vor- 
läge, sondern  begnügt  sich  mit  einem,  das  als  solches  von  dem  Be- 
drohten nur  „empfunden  wird".  Ebenso  hält  man  es  für  aus- 
reichend, wenn  der  Bedrohte  nur  an  die  Möglichkeit  der  Ver- 
wirklichung durch  den  Drohenden  glaubt. 

Für  die  Schädigung  des  Koalitionsrechts  mittels  § 253  Str.G.B. 
ist  ferner  ganz  besondere  wichtig  die  herrschende  Auffassung,  dafs 
eine  Drohung  im  Sinne  dieses  Gesetzes  keineswegs  die  An- 
kündigung unerlaubter  oder  unsittlicher  Handlungen  voraus- 
setze, sondern  dafs  jede,  auch  die  erlaubteste  und  befugteste  An- 
kündigung eines  Uebels  darunter  falle.  Hierbei  hat  die  Recht- 
sprechung allerdings  den  allgemeinen  Sprachgebrauch  auf  ihrer 
Seite,  der  von  Drohungen  auch  spricht,  wenn  der  Vorgesetzte  dem 
Untergebenen,  der  Lehrer  dem  Schüler,  das  Gesetz  dem  Verbrecher, 
befugterweise  Uebel  in  Aussicht  stellen.  Wichtiger  als  dieser 
Sprachgebrauch  erscheint  aber,  dafs  auch  einige  Fälle,  die  gerade 
das  Rechtsbewufstscin  des  Volkes  herkömmlicherweise  mit  dem 
Namen  „Erpressung“  belegt,  in  der  Ausnutzung  von  Bedrohungen 
bestehen,  die  unter  anderen  Umständen  durchaus  erlaubt  sein  würden. 
So  spricht  man  allgemein  von  „Erpressung“,  wenn  jemand  einen 
anderen  durch  Hinweis  auf  die  Möglichkeit  einer  Bestrafung  oder 
der  Herbeiführung  eines  öffentlichen  Skandals  zur  Hergabe  von  Geld 
nötigt,  während  es  keinen  Bedenken  unterliegen  würde,  die  straf- 
bare Handlung  oder  das  anstöfsige  Geheimnis  zum  Zwecke  legaler 
Rechtsverfolgung  oder  moralischer  Beurteilung  bekannt  zu  machen. 

Man  wird  also  wohl  zugeben  müssen,  dafs  unter  Umständen 
eine  Erpressung  verübt  werden  kann,  auch  durch  Androhungen,  die 
unter  anderen  Umständen  zulässig  wären,  das  berechtigt  aber 
noch  lange  nicht  zu  der  Behauptung,  die  Ankündigung  jeder 
Handlung,  möge  sie  noch  so  erlaubt  sein,  sei  eine  „Drohung",  wenn 
die  Handlung  als  Uebel  empfunden  werden  könne.  Man  mufs  jede 
Theorie  an  ihren  Konsequenzen  prüfen,  und  die  sind  hier  nament- 
lich für  das  K oal  i t i o n s rec  h t ganz  unleidlich.  Ein  Strikc  oder 
eine  Sperre  sind  für  den  Arbeitgeber  stets  Uebel,  also  ihre  An- 
kündigung eine  Drohung.  Es  ist  gar  nicht  mehr  möglich,  alle  die 
Einzclfälle  aufzuzählen,  in  denen  Arbeiter  wegen  Erpressung  ver- 
urteilt worden  sind,  die  nichts  gethan  hatten,  als  den  Arbeitgebern 
anzukündigen,  dafs  sie  von  dem  ihnen  durch  152  Gew.O.  ver- 
liehenen Koalitionsrecht  Gebrauch  machen  und  die  Arbeit  nieder- 
legen würden , wenn  ihnen  nicht  höhere  Löhne  oder  günstigere 


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Koalitionsrecht  und  Erpressung. 


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Arbeitsbedingungen  bewilligt  würden , oder  wenn  man  ihnen  zu- 
mutete, mit  Strikcbrechcrn  oder  Nichtorganisierten  zusammen  zu 
arbeiten.  Kin  besonderer  I 'all  sei  hier  kurz  erwähnt:  Der  Ver- 
trauensmann der  Tabakarbeiter  in  VVeifsenfels,  Normann,  hatte  einem 
Zigarrenfabrikanten,  der  besonders  niedrige  Löhne  zu  zahlen  pflegte, 
geschrieben,  er  werde  die  Löhne  in  den  Arbciterblättcrn  bekannt 
machen.  ln  dieser  Ankündigung  einer  sachlich  gerechtfertigten 
öffentlichen  Kritik,  die  durchaus  im  Rahmen  der  Wahrung  der  dem 
Angeklagten  anvertrauten  Interessen  lag,  hat  da.4  Landgericht  zu 
Naumburg  einen  Erpressungsversuch  gesehen,  und  Normann  zu  zwei 
Wochen  Gefängnis  verurteilt.1)  Hätte  er  rücksichtslos,  und  ohne  dem 
Fabrikanten  die  Möglichkeit  einer  Abänderung  zu  lassen,  die  Veröffent- 
lichung vorgenommen,  so  hätte  man  ihm  nichts  anhaben  können. 

So  hat  man  es  dahin  gebracht,  dal's  strenggenommen  Arbeiter, 
die  sich  vor  Verurteilung  schützen  wollen,  genötigt  sind,  jede  Verhand- 
lung, die  zur  Beilegung  der  Differenzen  führen  könnte,  zu  vermeiden, 
und  stets  ohne  weiteres  die  Arbeit  niederzulegen.  Damit  droht 
auch  der  Berichterstatter  des  letzten  Gewerkschaftskongresses  zu 
Stuttgart.  Fine  solche  Praxis  würde  sicherlich  für  die  Entwick- 
lung der  Gewerbe  sehr  .schädlich  sein  und  gerade  auch  dem  Arbeit- 
geber ungemein  lästig  werden,  besonders  aber  mufs  man  betonen, 
dals  bei  ihr  der  eigentliche  Wert  des  Koalitionsrechts  überhaupt 
verloren  gehen  würde,  denn  der  liegt  nicht  in  erster  Reihe  im 
Strike  selbst,  sondern  in  der  Möglichkeit,  durch  Aufstellung  einer 
organisierten  Macht  sich  die  Anwendung  dieses  letzten  Mittels 
wenn  möglich  zu  ersparen,  nach  dem  Grundsätze:  „si  vis  pacem 
para  bellum“. 

Das  alles  sind  Konsequenzen,  die  sich  aus  der  unmäfsigen 
Ausdehnung  des  Begriffs  der  ..Drohung“  ergeben. 

Wie  weit  die  Rechtsprechung  in  dieser  Richtung  geht,  und 
wie  die  einfache  Ausübung  des  Koalitionsrechts  dadurch  betroffen 
wird,  zeigt  der  folgende  Fall : 

Ein  Parlier  verhandelte  mit  einem  Maurergesellen  Domke  über 
die  Beilegung  eines  schon  ausgebrochenen  Strikes  und  dieser  er- 
klärte namens  der  Mitarbeiter,  dals  die  Arbeit  wieder  aufgenommen 
werden  würde,  wenn  der  entlassene  Maurer  Schulz  wieder  eingestellt 
würde.  Nach  dem  Arbeitsvertrage  waren  die  Arbeiter  zur  sofortigen 
Niederlegung  der  Arbeit  berechtigt  gewesen,  und  sie  hatten  keine 

l)  Mitjjelcilt  in»  Vorwärts  vom  7.  Juli  1901. 


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Wolfgang  Heine, 


Verpflichtung,  die  Arbeit  wieder  aufzunehmen.  Auf  Grund  dieser 
Feststellungen  hatte  das  Landgericht  den  D.  von  der  Anklage  der 
Erpressung  freigesprochen,  das  Reichsgericht ')  hat  aber  dieses  Ur- 
teil aufgehoben,  weil  nicht  nur  in  dem  Inaussichtstellen  von  Hand- 
lungen, sondern  auch  in  der  Ankündigung  von  Unterlassungen 
eine  Drohung  gefunden  werden  könne.  Diese  liege  hier  in  der 
Ankündigung  der  Nichtbeseitigung  des  bereits  vorhandenen  Uebels, 
des  Strikes. 

Das  Reicli^gericht  beruft  sich  zur  Begründung  seiner  Auf- 
fassung auf  ein  in  Bd.  14,  S.  264  der  Entscheidungen  in  Straf- 
sachen abgedrucktes  Urteil.  Sehr  zu  Unrecht,  denn  dort  wird  der 
Satz  aufgestellt,  dafs  die  Ankündigung  eines  Nichtthuns,  eines  Unter- 
lassens dann  als  Drohung  im  Sinne  des  tj  253  Str.G.B.  anzusehen  sei, 
wenn  „die  Unterlassung  zugleich  die  gewollte  Verletzung  einer  Pflicht 
zum  Handeln  enthält“.  Welche  Pflicht  zum  Handeln  aber  soll  im  vor- 
liegenden Falle  bestanden  haben,  wo  das  Gericht  ausdrücklich  fest- 
gestellt hatte,  dafs  die  Arbeiter  keine  Verpflichtung  hatten,  die  Arbeit 
wieder  aufzunehmen  ? — Aber  das  Reichsgericht  hat  so  gesprochen 
und  ein  ehrenwerter  Mann  ist  als  Erpresser  bestraft  worden. 

Aehnlich  im  Thatbestand,  wenn  auch  etwas  abweichend  in  der 
Begründung,  liegt  der  bekannte  Fall  aus  dem  Strike  in  den 
Mohrschen  Fabriken  zu  Altona  vom  Jahre  1896.  Nach  der  Fest- 
stellung des  Urteils  des  Landgerichts  Altona  vom  15.  Oktober  1896 
hatte  eine  Versammlung,  nachdem  Mohr  alle  Forderungen  der  Ar- 
beiter abgelehnt  hatte,  beschlossen,  die  Mohrschen  F'abrikate  zu 
Boykotten,  und  eine  Kommission  gewählt,  um  diesen  Beschlufs 
durchzuführen. 

Dies  war  bereits  durch  die  Zeitungen  zu  Mohrs  Kenntnis  ge- 
langt, als  die  Mitglieder  der  Kommission,  ehe  sie  den  Boykott 
proklamierten,  Mohr  noch  einmal  zum  Zwecke  einer  gütlichen  Bei- 
legung aufsuchten.  Wie  das  Urteil  zu  Gunsten  dieser  drei  Kom- 
missionsmitglieder annimmt,  hat  Mohr  selbst  die  Besprechung 
damit  eröffnet,  dafs  er  erklärte,  er  habe  aus  dem  „Echo“  Kenntnis 
des  Beschlusses,  sic  sollten  nur  ruhig  den  Boykott  über  ihn  ver-  » 
hängen.  Eins  der  Kommissionsmitglieder  hat  darauf  erwidert,  be- 
vor sie  das  thäten,  wollten  sie  noch  einmal  mit  Mohr  unterhandeln, 
und  bei  den  Verhandlungen  haben  alle  drei  auf  die  Folgen,  die 

’)  l'rtcil  des  II.  Strafsenat»  vom  7.  Juli  189g.  II.  2046.  99.  c/a  Schultz  und 
Gen.  ungcdruckt. 


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Koalitionsrccht  und  Erpressung. 


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der  Boykott  für  Mohr  haben  würde,  hingewiesen.  Die  Verhand- 
lungen sind  dabei  mit  gröfster  Höflichkeit  geführt  worden.  Trotz- 
dem hat  das  Gericht  in  dieser  blofsen  Hindeutung  auf  die 
Folgen  des  Versammlungsbeschlusses,  der  schon  bestand,  der  an 
sich  erlaubt  war,  und  den  zu  beseitigen  die  Kommissionsmitglieder 
nicht  die  geringste  Pflicht  hatten,  eine  Drohung  gesehen  und  cs 
hat  sie  wegen  versuchter  Erpressung  bestraft. 

Das  Reichsgericht1)  hat  diese  Deduktion  für  richtig  erklärt. 
Nur  eines  Formfehlers  wegen  ist  das  Urteil  aufgehoben  worden, 
und  die  nochmalige  Verhandlung  hat  dann  auf  Grund  anderer 
Feststellungen  zur  Freisprechung  der  Angeklagten  geführt. 

Gerade  wie  in  dem  vorher  angeführten  Falle  des  Maurers 
Dotnke  sind  hier  gutwillige  Bemühungen  zur  Beilegung  schon  be- 
stehender Differenzen  als  Erpressung  bestraft  worden.  Charakte- 
ristisch ist  auch  noch,  dal's  Mohr  selbst  die  Verhandlungen  nicht 
als  Bedrohung  aufgefafst  und  keinen  Strafantrag  gestellt  hatte,  son- 
dern dafs  die  Anklage  erhoben  worden  ist  auf  Grund  eines  Be- 
richts, den  die  Mitglieder  der  Kommission  selbst  in  voller  Harm- 
losigkeit vor  einer  Volkversammlung  erstattet  hatten.  Dafs  eine 
solche  Praxis  der  Anklagehehörden  und  Gerichte  Verständnis  für 
das  zeigte,  was  man  sozialen  Frieden  nennt,  kann  man  nicht  gerade 
behaupten. 

Die  Konsequenzen  dieser  Judikatur  liegen  auf  der  Hand : 
würden  sie  regelmäfsig  gezogen,  so  würde  es  keine  Verhandlung 
vor  einem  Einigungsamte  zur  Beilegung  eines  Streitfalles  geben, 
bei  der  nicht  Erpressungen  verübt  würden,  und  Vorsitzende,  die 
sich  bemühten  eine  Partei  zur  Nachgiebigkeit  gegen  die  Forderungen 
der  anderen  zu  bewegen,  würden  sich  der  Beihilfe  zur  Erpressung 
schuldig  machen. 

Fis  scheint,  dafs  den  Gerichten  doch  hier  und  da  Bedenken 
wegen  der  Konsequenzen  aus  ihrer  Auffassung  der  Drohung  ge- 
kommen sind,  und  sic  haben  sich  bemüht,  zwischen  „Verhand- 
lungen" und  „Drohungen"  einen. Unterschied  zu  finden.  Das  mufste 
von  vornherein  ein  aussichtsloses  Unternehmen  sein , weil  die 
grenzenlose  Begrenzung  — der  Widerspruch  bezeichnet  durchaus 
die  unsinnige  Sachlage  — des  Begriffs  Drohung  jede  tiefergehende 
Unterscheidung  ausschlofs.  So  sind  denn  diese  Versuche  auch  nicht 

*)  Urteil  des  IV.  Strafsenats  vom  22.  Januar  1897  c a Heine  und  Gen.  un- 
gedruckt. 


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Wölfgang  Heine, 


über  allgemeine  Redensarten  hinausgekommen  oder  an  völlig  äufser- 
liclien  Merkmalen  kleben  geblieben.  So  z.  H.  in  der  Entscheidung 
des  Reichsgerichts  in  Strafsachen  Bd.  21,  S.  114,  wo  behauptet 
wird,  die  „Drohun g“  sei  charakterisiert  durch  den  Willen,  durch 
Ankündigung  eines  Uebels  Zwang  auf  den  Willen  des  anderen 
auszuüben,  während  die  Auf. Stellung  einer  Vertragsposition 
dem  anderen  volle  Freiheit  lasse.  In  Wahrheit  ist  eine  solche 
Freiheit  im  wirtschaftlichen  Leben  nur  höchst  selten  vorhanden,  ja 
es  ist  geradezu  das  Wesen  des  Vertrags,  den  Willen  zu  binden, 
und  jede  Partei  sucht  dahin  zu  wirken,  dafs  der  fremde  Wille  sich 
dem  ihrigen  unter  ordne.  In  dem  Zwang  auf  den  Willen  kann 
also  das  Wesen  der  Drohung  nicht  liegen.  Noch  viel  oberfläch- 
licher ist  es,  wenn  dasselbe  Urteil  Wert  darauf  legt,  dals  die  ange- 
klagten  Mitglieder  der  Lohnkommission  mit  einer  „einseitigen" 
Forderung  aufgetreten  seien,  oder  wenn  in  ihm  und  anderen  Ent- 
scheidungen hervorgehoben  wird,  die  Angeklagten  seien  „höhnisch 
und  dreist“  aufgetreten.1)  In  dem  erwähnten  Mohrschcn  Falle 
wiederum  hat  den  Angeklagten  ihre  Höflichkeit  nichts  genützt,  weil 
sie  sich,  wie  das  Reichsgericht,  sagt  „nicht  bittend"  an  den  Arbeit- 
geber gewendet  haben.  Dies  letzte  Argument  ist  zu  charakteristisch 
für  die  Auffassung,  die  die  Rechtsprechung  beherrscht,  um  uner- 
wähnt bleiben  zu  können.  Man  kann  es  nur  recht  würdigen,  wenn 
man  die  Konsequenz  daraus  zieht,  dafs  danach  auch  jeder  Arbeit- 
geber eine  Bedrohung  und  Erpressung  begehen  würde,  der  seine 
Arbeiter  „nicht  bittet“  auf  eine  vorgeschlagene  Lohnherabsetzung 
einzugehen,  sondern  ihnen  kurz  eröffnet,  dafs  wer  nicht  damit  zu- 
frieden sei,  nicht  länger  bei  ihm  arbeiten  könne.  Wieviel  Arbeit- 
geber würde  es  danach  geben,  die  nicht  der  Erpressung  schuldig 
wären?  — Selbstverständlich  wird  kein  Gericht  diese  absurde 
Konsequenz  ziehen,  das  praktische  Ergebnis  ist  dann  aber,  dafs  dem 
Arbeiter  ein  ruhiges,  vertragsmäfsiges  aber  nicht  devotes  Ver- 
handeln, wie  es  sich  unter  gleichberechtigten  Vertragsparteien 
ziemt,  als  Erpressung  angerechnet  wird,  dem  Arbeitgeber  nicht. 
Dem  liegt  am  Ende  nichts  anderes  zu  Grunde  als  die  Abneigung 
der  bevorrechteten  Bevölkerungsschichten,  mit  der  von  der  Ver- 
fassung und  der  Gewerbeordnung  vorausgesetzten  Gleichberechtigung 
zwischen  Arbeitern  und  Arbeitgebern  Ernst  zu  machen. 

')  Diese  Beweisführungen  hat  schon  Löwenfeld  in  dem  zitierten  Aufsätze 
Koalitionsrerht  und  Strafrecht  S.  498  ff.  ausgezeichnet  abgefertigt. 


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Koalitionsrecht  und  Erpressung. 


597 


Noch  weit  verletzender  als  die  ausgedehnte  Auffassung  der 
„Drohung"  ist  für  ein  niehtverbildctcs  Rechtsgefuhi  die  Auslegung, 
die  unsere  Rechtsprechung  dem  Begriffe  des  rechtswidrigen 
Vermögens  Vorteils  gegeben  hat.  Dieser  Begriff  findet  sich 
gleichmäfsig  bei  den  Delikten  des  Betrugs  und  der  Erpressung,  und 
wird  von  Theorie  und  Praxis  auch  bei  beiden  völlig  gleich  behandelt. 

Die  herrschende  Definition  sagt,  dafs  Vermögens  vorteil 
jede  „günstigere  Gestaltung  der  Vermögenslage“  sei. 
Hiervon  ausgehend  hat  man  angenommen,  dafs  Arbeiter,  die  sich 
geweigert  hatten,  mit  einem  der  Organisation  nicht  angehörigen 
Kollegen  zusammen  zu  arbeiten,  dadurch  bezweckt  hätten,  der  Kasse 
des  Verbandes  den  Vermögensvorteil  der  Beiträge  zuzuwenden  und 
hat  sie  wegen  Erpressung  bestraft.  Dafs  die  Kasse  gleichzeitig  die 
Verpflichtung  zu  Gegenleistungen  übernimmt,  hat  man  aus- 
drücklich als  unerheblich  bezeichnet,  weil  diese  „künftigen"  Gegen- 
leistungen „völlig  ungewifs  und  unbestimmt"  seien.1)  Hieraus  müfste 
man  schliefsen,  dafs  derjenige,  der  bestimmte  und  gewisse 
Gegenleistungen  für  ebensolche  von  der  anderen  Seite  einzutauschen 
bereit  wäre,  z.  B.  der  Arbeiter,  der  für  einen  bestimmten  ange- 
messenen Lohn  arbeiten  will,  keinen  Vermögensvorteil  im  Sinne 
des  Strafgesetzes  erstrebte,  aber  in  anderen  Entscheidungen,  z.  B.  in 
dem  angeführten  Urteil  gegen  den  Maurer  Domkc  geht  die  Recht- 
sprechung viel  weiter,  und  sieht  Erstreben  eines  Vermögcnsvorteils 
schon  in  dem  Verlangen,  einen  Arbeiter  einzustellen 
oder  nicht  zu  entlassen.  Mit  Recht  erklärt  Merkel  eine 
solche  Auslegung  für  unzulässig,  und  er  verneint  das  Erstreben 
eines  Vermögcnsvorteils  im  Sinne  des  §'  253  Str.G.B.  in  allen 
Fällen , wo  „durch  die  Drohung  Vcräufscrungen  gegen  volle 
Aequivalente  herbeigeführt  werden,  wo  also  für  die  Werte,  welche 
der  Thätcr  sich  zuzuwenden  sucht,  Gegenwerte  entweder  bereits 
gegeben  wurden,  oder  bei  der  That  gegeben  werden  oder  zur 
Disposition  stehen".*) 

Interessant  ist,  dafs  das  Reichsgericht  in  einem  anderen  Falle, 
der  sich  nicht  auf  Arbeiter  bezog,  die  ihr  Koalitionsrecht  ausübten, 

l)  F.ntsch.  des  R.G.  in  Strafs.  BdL  32,  S.  336. 

*)  Merkel  in  v.  II  oltzendorffs  Handhuch  des  deutschen  Strafrechts  Bd.  3, 
S.  731.  M.  hat  seine  grundlegenden  Untersuchungen  über  den  Begriff  der  Erpressung 
bereis  in  den  1867  erschienenen  kriminalistischen  Abhandlungen  entwickelt,  es  em- 
pfiehlt sich  jedoch,  nach  dem  im  allgemeinen  Gebrauche  befindlichen  I landbuche 
zu  citieren. 

Archiv  für  s 01.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVII.  39 


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598 


W o 1 f g a n g Heine, 


sehr  wohl  die  richtigen  Grenzen  des  Begriffs  eines  „Vermögens- 
Vorteils"  zu  finden  gewufst  hat.  Es  hat  ausdrücklich  erklärt,  dafs 
das  Bestreben,  Mitglieder  für  eine  Versicherungsgesellschaft 
auf  Gegenseitigkeit  zu  gewinnen,  und  durch  die  von  ihnen  zu 
zahlenden  Prämien  und  N'achschüsse  die  Vermögenslage  der  Gesell- 
schaft zu  verbessern,  nicht  als  Verschaffen  eines  Vermögensvorteils 
anzusehen  sei,  weil  das  Interesse  der  Gesellschaft  iden- 
tisch sei  mit  dem  Interesse  der  gesamten  Gesell- 
schafter.1)  Das  ist  sehr  gut  gesagt,  und  trifft  Wort  für  Wort 
auf  die  Arbeiterverbände , Strikekassen  und  dgl.  zu , angewendet 
wird  es  aber  auf  sie  nicht. 

Den  eigentlich  anstöfsigen  Charakter  und  die  unerträglichsten 
Folgen  erhält  diese  Auslegung  jedoch  erst  durch  ihre  Verbindung 
mit  der  geradezu  unmöglichen  Ausdehnung  des  Begriffs  der  „Rechts- 
widrigkeit" eines  Vermögensvorteils. 

Anknüpfend  an  einen  Ausdruck  der  Motive  zum  Strafgesetzbuch 
nennt  die  Praxis  „rechtswidrig“  jeden  Vermögensvorteil,  auf  den  der 
Thäter  „kein  Recht  hat“.  Am  weitesten  geht  wohl  ein  Urteil 
des  preufsischen  Obertribunals  vom  13.  März  1872,*)  das  zwar  von 
einem  Betrugsfalle  handelt,  dessen  Grundsätze  aber  auch  für  das 
Gebiet  der  Erpressung  angewendet  werden.  Danach  wird  „die  auf 
Erlangung  eines  rechtswidrigen  Vorteils  gerichtete  Absicht  nur 
dann  für  ausgeschlossen  erachtet,  wenn  dem  Thäter  ein  sowohl 
seiner  Existenz  als  seinem  Umfange  nach  anerkannter  oder 
bereits  unzweifelhaft  festgcstellter  Anspruch  . . . zustand“. 

Pis  bedarf  keiner  langen  Ausführungen  darüber,  dafs  das  Sprach- 
gefühl und  das  natürliche  Rechtsgefühl  unter  „rechtswidrig“  nicht 
alles  verstehen  werden,  was  ohne  Recht  geschieht,  sondern  nur 
das,  was  gegen  das  Recht  unternommen  wird,  die  Rechtsprechung 
unserer  Gerichte  klammert  sich  aber  an  den  Ausdruck  der  Motive, 
obgleich  keineswegs  feststeht,  dafs  deren  Verfasser  und  der  Gesetz- 
geber sich  aller  Konsequenzen  des  unbestimmten  Ausdruckes  „ohne 
Recht"  bewufst  gewesen  wären. 

Merkel  hat  zuerst  darauf  hingewiesen,  dafs  diese  Definition  des 
Begriffs  rechtswidrig  „durchaus  unbrauchbar"  a)  sei  und  zu  „absurden 
Konsequenzen"  führen  müfstc.  Dies  war  zu  einer  Zeit,  wo  noch 


*)  Urteil  des  II.  Strafsenats  vom  2.  Oktober  1885.  F.ntsch.  Bd.  12,  S.  394. 
r)  Oppenhof,  Kcchtspr.  des  Obcrtribunals  Bd.  13,  S.  303. 

*)  Holt zendorffs  Handbuch  S.  732. 


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Koalitionsrccht  und  Erpressung. 


599 


kein  Mensch  an  die  Anwendung  des  Erpressungsbegriffs  auf  die 
Ausübung  des  Koalitionsrechts  denken  konnte.  Wie  richtig  er 
prophezeit  hat,  beweist  die  neuste  Rechtsprechung  auf  diesem  Gebiete. 

Es  ist  schon  erwähnt  worden,  dafs  man  es  für  Erpressung  er- 
klärt hat,  wenn  Arbeiter  die  Einstellung  eines  Kollegen  oder  seine 
Nichtentlassung  mit  den  Mitteln  der  Arbeitseinstellung  oder  Sperre 
durchzusetzen  suchten.  Hier  wurde  deduziert,  dafs  der  Betreffende 
kein  Recht  auf  Beschäftigung  oder  längere  Beschäftigung  gehabt 
hätte,  und  dafs  deshalb  in  der  Anstellung,  die  man  ihm  hätte  ver- 
schaffen wollen,  ein  „rechtswidriger  Vermögensvorteil“  läge.1)  Dieser 
das  Rechtsgefühl  verletzenden  Ansicht  ist  einmal  der  III.  Senat 
des  Reichsgerichts  mit  sehr  verständigen  Gründen  entgegengetreten. 
Von  der  Auffassung  des  Landgerichts,  die  Wiederannahme  zur 
Arbeit  stelle  sich  vom  Standpunkt  des  Angeklagten  als  ein  Ver- 
mögensvorteil dar,  auf  dessen  Verwirklichung  dieser  keinen  Anspruch 
habe,  sagt  der  Senat : 

, »Damit  kann  nur  gemeint  sein,  dafs  die  Wiederannahme  zur  Arbeit 
eine  Lohnforderung  zur  Folge  gehabt  haben  würde.  Diese  wäre  aber  keine 
unberechtigte  gewesen,  wenn,  wie  vorausgesetzt  werden  mufs,  die  Arbeits- 
leistung vorhergegangen  wäre.  Zunächst  handelt  es  sich  aber  nur  um 
die  Einstellung  als  Arbeiter;  dies  wäre  eine  Handlung  der  genannten 
Firma  gewesen , welche  zu  fordern  der  Angeklagte  kein  Recht  hatte. 
Einen  Vermögensvorteil  stellte  sie  unmittelbar  nicht  dar.“ 

Leider  ist  dies  den  Kern  der  Sache  treffende  Urteil  vereinzelt  ge- 
blieben. 

Man  hat  in  gleicher  Weise  Bestrebungen  auf  dauernde  Fest- 
setzung der  Löhne  mittels  Tarifvertrages  *)  oder  auf  Lohnerhöhung 4) 


*)  So  in  dem  citiertcn  Falle  c/a  Heine  und  Genossen  zu  Altona.  Ebenso  in 
dem  Urteil  gegen  den  verstorbenen  Reichstagsabgeordneten  Ocrtcl  aus  Nürnberg. 
Urteil  des  Reichsgerichts  I.  Strafsenat  vom  16.  Mai  1896  und  in  dem  citiertcn  Ur- 
teil gegen  den  Maurer  Domke,  des  II.  Strafsenats  vom  7.  Juli  1899. 

*)  Urteil  vom  22.  Juni  1896,  Jur.  Wochenschrift  Bd.  25,  S.  541  Nr.  24.  In 
Entsch.  in  Strafs.  Bd.  33,  S.  408  wird  wieder  der  entgegengesetzte  Standpunkt  ver- 
treten, und  es  ist  ergötzlich  zu  sehen,  wie  dort  der  IV.  Strafsenat  sich  windet,  um 
der  Notwendigkeit  einer  Plenarentscheidung  auszuweichen. 

*)  Reichsger.  II.  Strafsenat  vom  I.  April  1891  bei  Reger  Bd.  XI  S.  280. 
Ebenso  Urteil  des  III.  Strafsenats  vom  9.  Februar  1899,  Deutsche  Juristenzeitung 
1899,  S.  238. 

4)  Siehe  vorige  Note  und  das  oben  erwähnte  Urteil  des  Landgerichts  Naumburg 
gegen  Normann,  sowie  den  S.  590  Anm.  1 angeführten  Fall  des  Duda. 

39* 


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6oo 


Wolfgang  Heine, 


als  erpresserisches  Streben  nach  rechtswidrigen  Vermögensvorteilen 
bestraft.  Man  mufs  sich  danach  ernstlich  fragen , welches  An- 
wendungsgebiet für  die  nach  § 152  der  Gew.O.  erlaubten  Arbeits- 
einstellungen zum  Zwecke  der  Erlangung  besserer  Arbeitsbedingungen 
noch  bleibt. 

Die  Weigerung,  mit  Nichtorganisierten  zusammenzuarbeiten, 
hat  man,  wie  ebenfalls  schon  erwähnt,  als  eine  Erpressung  zu 
Gunsten  der  Verbandskasse  behandelt,  indem  man  von  der  ge- 
künstelten Deutung  ausgegangen  ist,  dies  geschähe,  um  die  Nicht- 
organisierten dadurch  zu  zwingen,  am  Verband  teilzunehmen  und 
um  diesen  durch  deren  Beiträge  zu  bereichern. *)  Ja  selbst  das 
an  ein  Verbandsmitglied  gerichtete  Verlangen,  seine  rückstän- 
digen Beiträge  zu  bezahlen,  ist  als  die  Forderung  eines  rechts- 
widrigen Vermögensvorteils  für  die  Verbandskasse  angesehen  und 
als  Erpressung  bestraft  worden,  *)  wobei  darauf  Wert  gelegt  wird, 
dafs  nach  § 152  Gew.O.  aus  Verabredungen  zur  Erlangung  gün- 
stigerer Arbeitsbedingungen  keine  Klage  stattfände.  # 

In  den  letzten  Fällen  zeigt  sich  die  ganze  Verkehrtheit  der 
Auffassung  besonders  in  der  Annahme,  dals  es  den  organisierten 
Arbeitern,  die  sich  weigerten,  mit  Strikcbrechern,  Nichtorganisierten 
oder  saumseligen  Beitragszahlern  zusammenzuarbeiten,  überhaupt 
darauf  ankämc,  dadurch  die  Verbandskasse  zu  bereichern. 
Ist  denn  die  Judikatur  so  blind  für  das,  was  das  Volk  thut  und 
fühlt,  dals  sie  nichts  davon  merkt,  wie  hier  moralische  Inter- 
essen, Pflichtgefühl  und  Standesehre  den  Ausschlag  geben  ? — Wenn 
ein  Offizierkorps  ein  Mitglied  ausstöfst,  das  seine  Ehrenscheine 
nicht  einlöst,  denkt  es  doch  wahrhaftig  nicht  daran,  dem  Gläubiger 
zu  seinem  Gelde  verhelfen  zu  wollen,  sondern  es  will  mit  dem 
Ehrenwortbrüchigen  nichts  zu  thun  haben.  Nun,  das  Solidaritäts- 
gcfiihl  im  wirtschaftlichen  Kampfe  ist  das  charakteristische  Standes- 
chrgefühl  des  Arbeiters.  In  einer  Zeit,  wo  man  sich  auf  allen  Ge- 
bieten bemüht,  die  „unlautere  Konkurrenz“  abzuschneiden,  sollte 
man  doch  einsehen,  dafs  die  Arbeiterklasse  sich  gegen  den  niedrigen 
Egoismus  schützen  mufs,  der  cs  zwar  sehr  angenehm  findet,  an  den 
Gewinnen  der  gewerblichen  Kämpfe,  höheren  Löhnen,  besseren 


,)  Aufser  der  schon  citicrten  Entscheidung  Bd.  32,  S.  336,  noch  in  der  Sache 
c a Gutzmcr.  Urteil  des  II.  Strafsenats  des  Reichsgerichts  vom  25.  April  1902. 

*)  I-andgericht  II  zu  Berlin  c a Richter  vom  6.  März  1902,  das  Urteil  ist  aus 
anderen  Gründen  vom  Reichsgericht  aufgehoben  worden. 


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Koalitionsrccht  und  Erpressung.  Coi 

Arbeitsbedingungen  u.  s.  w.  Anteil  zu  nehmen,  sich  aber  von  den 
dazu  nötigen  Opfern  zu  drucken,  ja  die  mutigen  und  opferfreudigen 
Klassengenossen  zu  unterbieten  sucht.  Und  besonders  sollte  eigent- 
lich die  Beamtenklasse,  die  im  höchsten  Mafse  nach  aufsen  die  un- 
erbittliche Geltung  des  Standesgeluhls  und  der  Standesehre  zur 
Schau  zu  tragen  pflegt,  ähnliche  moralische  Empfindungen  auch 
in  einer  anderen  Klasse  zu  würdigen  wissen. 

Es  läfst  sich  aber  leider  nicht  leugnen,  dafs  in  der  Recht- 
sprechung dem  Koalitionsrecht  der  Arbeiter  gegenüber  keinerlei 
Verständnis  für  die  wirtschaftlichen  Bedürfnisse  und  die  Standes- 
begrifie  der  Arbeiterklasse  zu  bemerken  ist,  dagegen  ein  hohes 
Mals  von  Sympathie  für  die  wirtschaftlichen  Interessen  und  die 
Machtgelüste  des  Unternehmertums. 

Diese  ganze  Rechtsprechung  nimmt  nicht  den  geringsten  An- 
stofs daran,  dafs  sie  das  Koalitionsrecht,  über  dessen  Wichtig- 
keit für  die  Gesundheit  des  gesellschaftlichen  Lebens  die  Gesetz- 
geber sich  völlig  klar  gewesen  sind,  in  der  Praxis  aufhebt.  Und 
doch  soll  die  Praxis  die  Probe  auf  die  Theorie  sein,  und  wenn 
theoretische  Definitionen  zu  Folgerungen  führen,  die  mit  der  Ver- 
nunft und  den  Gesetzen  unvereinbar  sind,  so  mufs  man  die  De- 
finitionen korrigieren,  nicht  Vernunft  und  Gesetz.  So  liegt  hier 
der  Fall:  wenn  die  Ankündigung  des  Strikes  und  der  Sperre  zum 
Zwecke  der  Erlangung  günstigerer  Lohnbedingungen  eine  straf- 
bare Erpressung  wäre,  dann  hätte  der  Gesetzgeber  nicht  das 
Koalitionsrecht  eingeführt  und  die  Verabredung  zu  solchen  Beein- 
flussungen des  Willens  des  Arbeitgebers  ausdrücklich  für  straffrei 
erklärt.  Umgekehrt,  weil  der  Gesetzgeber  in  der  Gewerbeordnung 
diese  Rechte  eingeführt  hat,  ist  es  ausgeschlossen,  dafs  er  ihre  An- 
wendung als  Erpressung  angesehen  hätte.  Man  kann  auch  nicht 
sagen,  dafs  das  Strafgesetzbuch  von  1871  die  Gewerbeordnung  von 
1869  insoweit  abgeändert  hätte,  denn  § 152  der  Gew.O.  ist  zum 
letzten  Male  bei  Beratung  der  Gewerbeordnungsnovelle  von  1892 
neu  beraten  und  ohne  welche  Beschränkungen  bestätigt  worden. 

Und  es  ist  Thatsache,  dafs  diese  ganze  Judikatur  sich,  wo  der 
wirtschaftliche  Streit  zwischen  Arbeitern  und  Arbeitgebern  in  Frage 
kommt,  einseitig  gegen  die  Arbeiter  wendet.  Wenn  die 
Ankündigung  eines  Strikes  durch  Arbeiter  eine  nach  § 253 
Str.G.B.  strafbare  Drohung  darstellt,  so  mufs  dasselbe  von  den  An- 
kündigungen der  Entlassung  oder  Aussperrung  gelten,  wodurch  die 
Arbeitgeber  ihre  Forderungen  nach  Lohnherabsetzungen,  Ver- 


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002 


Wolfgang  Ilcinc, 


längerungen  der  Arbeitszeit  u.  s.  w.  den  Arbeitern  aufzuzwingen 
suchen.  Fortwährend  berichten  die  Zeitungen  von  entsprechenden 
Drohungen  der  Arbeitgeber,  namentlich  von  ganz  offiziell  gefafsten 
und  verkündeten  Beschlüssen  ihrer  Verbände,  und  noch  kein  Staats- 
anwalt hat  sich  gerührt,  eine  Erpressungsanklage  darauf  zu  stützen, 
kein  Justizminister  hat  eine  Anregung  dazu  gegeben. 

Der  preufsischc  Justizministcr  Schönstädt  hat  geglaubt,  den 
Vorwurf  der  „Klassenjustiz“  damit  entkräften  zu  können,  dafs  er 
auf  eine  Verurteilung  eines  Unternehmers  hinwies,  der  einem 
anderen  Unternehmer  mit  Abbruch  der  Geschäftsverbindung  gedroht 
hatte,  er  wird  aber  niemanden  überzeugen,  solange  er  nicht  nach- 
weisen  kann,  dafs  Unternehmer,  die  ihren  Arbeitern  Entlassung 
oder  Aussperrung  ankündigen,  ebenso  angeklagt  werden,  wie  Ar- 
beiter, die  ihren  Arbeitgebern  das  gleiche  thun.  Uebrigens  hat 
es  auch  in  dem  vom  Justizminister  erwähnten  Falle  Schwierigkeit 
genug  gegeben,  ehe  die  Verurteilung  ausgesprochen  worden  ist, 
und  die  Begnadigung  hat  nicht  auf  sich  warten  lassen.  Das  Urteil 
selbst,  das  ebenso  falsch  ist,  wie  die  gegen  Arbeiter  gefällten  soll 
im  weiteren  Verlauf  dieser  Abhandlung  erörtert  werden.  *) 

Ebensowenig  wie  gegen  Arbeitgeber  in  ihrem  Verhältnis  zu 
Arbeitern  zieht  die  Praxis  die  Konsequenzen  ihrer  verkehrten  Be- 
griffsbestimmungen in  anderen  Fällen,  und  man  mufs  auch  offen 
sagen,  dafs  sie  sie  nicht  ziehen  könnte,  ohne  den  gesamten 
Handel  und  Verkehr  lahmzulcgen.  Wie  schon  bemerkt,  bezeichnet 
Merkel  die  übliche  Definition,  wonach  „rechtswidriger  Vermögens- 
vorteil" jeder  sei , „auf  den  noch  kein  unzweifelhaft  festge- 
stellter Anspruch  zusteht",  als  unbrauchbar  und  seine  Folgen  als 
absurd,  und  er  erläutert  dies  an  folgendem  Beispiel : ä)  Er  weist 
darauf  hin,  dafs  der  Hauswirt,  der  von  seinem  Mieter  bei  Ablauf 
des  Vertrages  höheren  Mietszins  fordert,  etwas  verlange,  worauf  er 
einen  Rechtsanspruch  nicht  habe,  und  dafs  die  Konsequenz  dieser 
Auffassung  sein  miifste,  auch  ihn  wegen  Erpressung  zu  bestrafen, 
wenn  der  Mieter,  was  leicht  der  Fall  sein  könnte,  die  für  den  Fall 
der  Nichtbewilligung  in  Aussicht  gestellte  Kündigung  als  Ucbel 
empfände. 

Das  Beispiel  ist  sehr  zutreffend,  und  es  liefsen  sich  tausend 
ähnliche  bilden.  Jeder  wirtschaftliche  Geschäftsbetrieb  beruht  auf 

*)  Siche  Seite  605. 

*)  a.  a.  O.  S.  732. 


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Koalitionsrccht  und  Erpressung. 


603 


dem  Streben  nach  Vermögensvorteilen,  die  einem  noch  nicht 
z u s t e h e n , sondern  auf  die  man  Rechte  erst  erwerben  will.  Er- 
strebt die  Putzmacherin,  die  der  um  einen  neuen  Hut  handelnden 
Kundin  den  Preis  nennt,  einen  rechtswidrigen  Vermögensvorteil  ? — 
So  thöricht  cs  klingt,  nach  der  von  der  Rechtsprechung  ange- 
nommenen Definition  müfste  man  die  Frage  bejahen,  da  die  Ver- 
käuferin vor  Abschlufe  des  Kaufes  noch  keinen  Anspruch  auf  den 
Kaufpreis  hat,  da  sic  jedenfalls  etwas  bei  dem  Geschäft  verdienen 
will,  und  da  es  auf  die  Gegenleistung  nicht  ankommen  soll.  Und 
wenn  die  Putzmacherin  bestimmt  erklärt,  nicht  unter  20  Mk.  im 
Preise  hinuntergehen  zu  wollen,  und  wenn  die  Käuferin,  die  nur 
15  Mk.  auszugeben  hat,  das  als  ein  Uebel  empfindet,  vielleicht  gar 
einige  Thränen  vergiefst,  so  ist  nach  der  Theorie,  dal's  jedes  In- 
aussichtstellen einer  als  Uebel  empfundenen  Handlung  oder  auch 
nur  Unterlassung  eine  Drohung  sei,  die  Erpressung  vollendet. 

Noch  grölser  wird  die  Gefahr  dieser  Rechtsprechung  erscheinen, 
wenn  man  sich  des  Müsbrauchs  erinnert,  der  in  der  Praxis  mit  dem 
Begriffe  des  Eventualdolus  üblich  geworden  ist.  Man  stelle 
sich  vor,  dafs  jemand  einen  Anspruch  gegen  einen  anderen  zu 
haben  meint,  dafs  sein  Rechtsanwalt  ihm  sagt,  die  Rechtsfrage  sei 
streitig,  und  die  Gerichte  würden  vielleicht  die  Klage  abweisen, 
dafs  aber  der  Gläubiger  trotzdem  dabei  beharrt,  den  Gegner  zu- 
nächst zur  Zahlung  aufzufordern,  und  wenn  nötig  zu  klagen.  Es 
ist  für  niemand  angenehm,  verklagt  zu  werden,  die  Klage  also  ein 
Uebel.  Die  Zahlungsaufforderung  unter  Hinweis  auf  die  Klage  ist 
die  Ankündigung  eines  Uebels,  also  eine  Drohung.  Dafs  die  Klage 
eine  gesetzlich  zugelassene  Handlung  ist,  soll  ja  nach  der  Meinung 
der  Judikatur  bedeutungslos  sein.  Der  Auffordernde  weifs,  dafs 
sein  Anspruch  vielleicht  nicht  juristisch  anerkannt  wird,  also  ihm 
möglicherweise  nicht  zusteht,  er  rechnet  mit  dieser  Möglichkeit  und 
nimmt  sie  in  seinen  Willen  auf;  er  ist  sich  bewufst,  die  Klage  an- 
zukündigen, auch  für  den  Fall,  dafs  sein  Anspruch  nicht  rechtlich 
bestehen  sollte,  er  will  also  mindestens  eventuell  durch  Drohung 
sich  einen  Vermögensvorteil  verschaffen,  auf  den  ihm  kein  Recht 
zustande , der  demnach  „rechtswidrig“  wäre,  kurz  er  ist  ein  Er- 
presser. Hat  Merkel  nicht  recht,  wenn  er  solche  Konsequenzen 
nach  denen  man  in  keinem  juristisch  zweifelhaften  Falle  zur  Klage 
schreiten  dürfte,  absurd  nennt? 

Dieser  Einsicht  hat  sich  denn  auch  die  Rechtsprechung  nicht 
ganz  verschliefsen  können,  und  sie  hat  hier  und  da  Anläufe  gemacht, 


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604 


W o 1 f g a n g Heine, 


den  Begriff  des  „rechtswidrigen  Vermögensvorteils"  und  damit  den 
der  Erpressung  schärfer  zu  umgrenzen,  freilich  ohne  rechten  Erfolg. 

Schon  das  Urteil  vom  6.  Oktober  18901)  sagt  — anscheinend, 
ohne  sich  dabei  des  Gegensatzes  zur  sonstigen  Rechtsprechung  be- 
wufst  zu  werden  — : 

„Der  Begriff  der  Rechts  Widrigkeit  des  Vermögcnsvorteils  auf 
dem  Gebiet  der  Erpressung  . . . erfordert  . . . weiter  nichts  als  das  Nicht- 
bcslehen  eines  Rechtes  ...  in  Verbindung  mit  dem  Um- 
stande, dafs  zu  dessen  Erreichung  ...  das  Mittel  des  Zwangs  durch 
Gewalt  oder  Drohung  angewendel  wird.“ 

Gegenüber  dieser  einseitigen  Betonung  des  Zwanges  hebt 
Frank,  der  das  Urteil  einer  Kritik  unterzogen  hat,1)  zutreffend 
hervor,  dafs  der  Geschäftsverkehr  eine  Menge  Fälle  kennt,  in  denen 
mittels  Drohung  ein  VVillenszwang  ausgeübt  werden  soll.  Ferner 
aber  enthält  die  Definition  dieses  Urteils  nur  scheinbar  eine 
Einengung  des  Begriffs  der  Rechtswidrigkeit.  Das  Gesetz  stellt  für 
die  Erpressung  zwei  Begriffsmerkmale  auf,  die  Drohung  und  den 
rechtswidrigen  Vermögensvorteil.  Wenn  nach  der  citiertcn  Ent- 
scheidung ein  an  sich  nicht  rechtswidriger  Vorteil  lediglich  durch 
das  Moment  der  Drohung  zum  rechtswidrigen  werden  könnte,  so 
wären  dadurch  die  positiven  Begriffsbestandteile  der  Erpressung  auf 
das  eine  der  Drohung  zurückgeführt,  und  die  kumulative  Fassung 
des  Gesetzes,  das  neben  der  Drohung  noch  Rechtswidrigkeit 
fordert,  wäre  ungeschickt  und  sinnlos.  Das  Gesetz  müfste  dann 
richtig  lauten : 

„wer  abgesehen  vom  Falle  eines  ihm  unzweifelhaft  zustehenden  Anspruchs 
sich  durch  Gewalt  oder  Drohung  einen  Vermögensvorteil  zu  verschaffen 
sucht  etc.“ 

Da  es  aber  anders  lautet,  sieht  man , dafs  diese  Auslegung 
nicht  nur  mit  dem  Geist,  sondern  auch  mit  dem  Wortlaut  des 
Gesetzes  unvereinbar  ist.  Und  die  praktischen  Ergebnisse  dieser 
Rechtsauffassung  müssen  völlig  unerträglich  werden,  da  die  Judikatur 
auch  die  erlaubteste  Ankündigung  einer  als  Uebel  empfundenen 
Handlung  oder  Unterlassung  als  Drohung  ansieht.  So  ist  es  er- 
klärlich, dafs  gerade  die  citierte  Entscheidung  als  erste  dazu  kommt, 
die  Ankündigung  eines  Strikes,  der  die  Wiedereinstellung  von 


')  Entsch.  Bel.  21,  S.  117. 

’)  Zeitschrift  für  die  gesamte  Strafrechtswissenschaft  Pd.  14,  S.  392  ff. 


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Koalitionsrccht  und  Erpressung.  ÖO$ 

Arbeitern  bezweckte,  die  ihrer  Wahlbeteiligung  wegen  entlassen 
worden  waren,  als  Erpressung  zu  bestrafen. 

Einen  erneuten  Versuch  zu  einer  schärferen  Begriffsbe- 
stimmung der  Rechtswidrigkeit  macht  das  Urteil  des  I.  Strafsenats 
vom  29.  November  1900,  ’)  das  interessant  ist,  weil  hier  zum  ersten 
Male  eine  Unternehmer  Organisation  unter  dem  Gesichtspunkte 
der  Erpressung  angefafst  worden  ist,  freilich  nicht  wegen  ihres  Vor- 
gehens gegen  Arbeiter,  sondern  gegen  andere  Unternehmer.  Es 
heilst  dort,  ähnlich  wie  in  der  vorher  zitierten  Entscheidung: 

„Ein  Gewinn  . . . kann  nicht  schon  wegen  seiner  durch  die  gewöhn- 
lichen Kalkulationen  vielleicht  nicht  gerechtfertigten  Höhe  als  rechts- 
widrig bezeichnet  werden,  wohl  aber  wenn  oder  soweit  er  auf  rechts- 
widrige Weise  durch  ...  Zwang,  Gewalt  oder  Drohung  erzielt  wird.“ 

Die  Fall  lag  folgendermafsen : Der  Direktor  eines  behufs 

Regelung  der  Preisverhältnisse  gebildeten  Verbandes  von  Munitions- 
fabriken hatte  einem  Kunden  mitgeteilt,  dafs  die  zur  Konvention 
gehörigen  Firmen  an  Kunden,  die  auch  von  Nichtverbandsfirmen 
Ware  bezögen,  nicht  liefern  würden,  und  hatte  den  Kunden 
unter  Hinweis  auf  seine  Bezüge  von  einer  aufsenstehenden  Firma 
zur  Stellungnahme  aufgefordert  und  schliefslich  mit  Einstellung  der 
Geschäftsverbindung  durch  die  Verbandsfirmen  bedroht.  Das  Reichs- 
gericht sieht  die  Rechtswidrigkeit  dieser  Drohung  darin,  dafs  das 
Kartell  dadurch  in  die  Verhältnisse  und  die  Gewerbeausübung 
Dritter  eingegriffen  und  die  unter  dem  Schutze  der  gesetzlich 
gewährleisteten  Gewerbefreiheit  stehende  Konkurrenz  unterbunden 
habe.*) 

Juristisch  ist  diese  Begründung  haltlos:  ein  Recht  auf  Kon- 
kurrenz ist  in  keinem  Gesetze  begründet  und  die  Berufung  auf 
die  Gewer  befrei  heit  ist  nichts  als  eine  Verlegenheitsredensart, 
weil  diese  nur  die  Freiheit  von  staatlichen  Beschränkungen  be- 
deutet, nicht  die  vertragsmäfsige  Bindung  ausschliefst.  Was  aber 
das  Kartell  wollte,  war  gerade  die  Heranziehung  des  Kunden  zu 
der  durchaus  zulässigen  Abrede  der  Beschränkung  seines  Bezugs 
auf  die  Konventionsfirmen.  Ebenso  unüberlegt  ist  die  Argumentation, 
dafs  Kartelle  nicht  in  die  Rechtssphäre  Dritter  eingreifen  dürften. 
Zieht  nicht  jede  zunächst  unter  den  Verbandsmitgliedern  selbst 
getroffene  Abrede,  z.  B.  die  Festsetzung  von  Produktionsbc- 


*)  Kntsch.  in  Strafs.  Bd.  34,  S.  16  ff. 
*)  Das.  S.  22  und  23. 


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6o 6 


W o 1 fgang  Itcine, 


Schränkungen  oder  Minimalpreisen  von  selbst  Wirkungen  auf  die 
Rcchtssphäre  Dritter  nach  sich?  Kann  nicht  jeder  gröfsere  Ab- 
schluß an  der  Börse,  auch  wenn  er  sich  auf  zwei  Kontrahenten 
beschränkt,  ebensolche  Folgen  für  Dritte  haben  ? 

Nicht  wertvoller  ist  das  Urteil  in  volkswirtschaftlicher  und 
sozialer  Beziehung.  Freilich  mufs  man  es  dem  Reichsgericht  lassen, 
dal's  es  das  feine  Verständnis,  das  es  für  die  „Strikebrecher“  unter 
den  Arbeitern  zu  haben  pflegt,  in  diesem  Falle  auch  dem  Kartell- 
brecher aus  dem  Unternehmerstande  nicht  versagt  hat,  desto 
geringer  ist  das  Verständnis  für  die  wichtigste  wirtschaftliche 
Tendenz  der  Gegenwart,  zum  Zusammen  sc  hlufs  der  zer- 
splitterten Einzelkräfte  zu  gemeinsamen  Wirken.  Unwillkürlich  wird 
man  an  die  öfter  citierten  Worte  erinnert,  mit  denen  der  Ver- 
fassungsausschufs  der  französischen  Nationalversammlung  sich  in 
einem  Bericht  vom  14.  Juni  1791  über  wirtschaftliche  Koalitionen 
ausläfst,  und  wo  es  heifst:  „es  darf  nicht  den  Mitgliedern  einer 
Profession  nachgelassen  werden,  sich  zu  vereinigen  zum  Schutz  ihrer 
vermeintlichen  gemeinsamen  Interessen.  Es  giebt  keine  Korporationen 
mehr  im  Staate,  es  giebt  nur  das  Sonderinteresse  eines  jeden 
Individuums  und  das  allgemeine  Interesse.“  Nur  dafs  dieser  über- 
schwängliche Individualismus  vom  Jahre  1701  der  Anfang  einer  Ent- 
wicklung gewesen  ist,  die  wir  heut  hinter  uns  haben. 

Sowohl  juristisch  als  volkswirtschaftlich  unterscheidet  sich  dies 
Urteil  des  Reichsgerichts  sehr  zu  seinem  Nachteil  von  dem  Urteil 
des  Obersten  Iandesgerichts  für  Bayern  vom  7.  April  1 888,  *)  wto 
namentlich  das  Argument  der  Unzulässigkeit  eines  Zwangs  auf 
Dritte  sehr  treffend  mit  der.  Bemerkung  abgefertigt  wird, 

„dafs  es  als  Existenzbedingung  des  Vereins,  welcher  einen  erlaubten  Zweck 
verfolgt,  erscheint,  womöglich  alle  Gewcrbsgenossen  in  sich  aufzunehmen, 
da  die  Aufsenbleibendcn  sich  der  durch  den  Verein  erzielten  Vorteile 
ohne  jedes  Opfer  ihrerseits  erfreuen  würden.“ 

Ohne  Zweifel  bietet  die  Frage  der  Bildung  industrieller  Kar- 
telle und  ihres  Vorgehens  Grund  genug  zu  ernsten  Erwägungen, 
diese  aber  fallen  der  Gesetzgebung  zu,  und  solange  die  Ge- 
setze solche  Kartelle  gestatten,  dürfen  die  Gerichte  nicht  diese 
politische  Frage  ersten  Ranges  so  nebenbei  dadurch  „lösen“  wollen, 
dafs  es  ihnen  einfällt,  auf  Grund  eines  für  ganz  andere  Zwecke  ge- 


*)  Sammlung  von  Knlschcidungen  in  Gegenständen  des  Zivilrechts  und  Zivil- 
prozesses  Hd.  12,  S.  67  tT. 


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Koalitionsrccht  und  Erpressung. 


607 


gebenen  Strafgesetzes  die  Thätigkeit  der  Kartelle  für  „verboten“  zu 
erklären.  Man  kann  nicht  umhin,  zu  sagen,  dafs  damit  die  Justiz 
die  Grenzen  ihrer  Befugnisse  verkennt.  Es  war  nötig,  auch  dies 
Urteil  hier  eingehender  zu  besprechen,  weil  die  Kartelle  der  Unter- 
nehmer die  dem  Zwecke  der  Preisbildung  den  Kunden  gegenüber 
dienen,  das  natürliche  Korrelat  der  Arbeitervereinigungen  sind,  die 
bessere  Lohn-  und  Arbeitsbedingungen  d.  h.  eine  bessere  Ver- 
wertung der  Ware  Arbeitskraft  herbeiführen  wollen,  und  weil  sehr 
vieles,  das  auf  die  einen  zutrifft,  auch  von  den  anderen  gilt. 

So  wenig  nun  die  verschiedenen  Versuche  des  Reichsgerichts, 
den  Begriff  des  „rechtswidrigen  Vermögcnsvortcils“  überhaupt  und 
bei  der  Erpressung  besonders  zu  definieren,  geglückt  sind,  und  so 
unerträglich  ihre  Folgerungen  für  die  Praxis  sind,  so  fehlt  es  der 
Theorie  doch  durchaus  nicht  an  einem  Auswege.  Wenn  der  Ge- 
setzgeber im  Strafrecht,  ohne  den  Begriff  näher  zu  definieren,  von 
einem  „rechtswidrigen  Vermögensvorteil“  spricht,  so  will  er  offen- 
bar, dafs  die  Frage  nach  der  Rechtmäfsigkeit  oder  Rechtsswidrigkeit 
nach  den  Rechtsquellen  beurteilt  werde,  die  für  Vermögens- 
rechte überhaupt  mafsgebend  sind , also  nach  dem  Zivilrecht.  *) 
Man  kann  aber  noch  weiter  gehen:  der  Begriff  des  rechtswidrigen 
Vermögensvorteils  findet  sich,  wie  schon  gesagt,  im  Strafgesetzbuch 
beim  Betrug  und  der  Erpressung,  und  diese  beiden  Strafgesetze 
entsprechen  genau  den  zivilrechtlichen  Fällen  der  „Täuschung"  und 
des  „Zwangs“,  die  man  als  „Willensfehler"  bezeichnet.  Offenbar 
hat  der  Gesetzgeber  das  Wort  „widerrechtlich“  nicht  in  einem 
ganz  allgemeinen  Sinne  gebraucht,  — wie  die  von  der  Judikatur 
angenommene  Definition  „ohne  Recht“  es  annimmt,  — sondern  er 
hat  an  diese  besonderen  Thatbestände  der  Täuschung  und  des 
Zwangs  gedacht  und  Rechtswidrigkeit  mit  Bezug  auf  diese 
Willcnsfehler  gemeint.  Das  entspricht  auch  durchaus  dem 
üblichen  Hergang  bei  der  Gesetzgebung,  bei  der  der  Gesetzgeber 
von  einem  Komplex  von  T hatbeständen  ausgeht,  die  er  so 
oder  so  regeln  will,  und  für  deren  Regelung  er  dann  die  gesetz- 
lichen Begriffsformulierungen  sucht,  so  gut  es  ihm  glücken  will. 

Danach  mufs  man  definieren:  „rechtswidrig“  ist  ein  Ver- 
mögensvorteil, den  der  Thäter  für  sich  oder  einen  anderen  vom 
Geschädigten  in  zivilrechtlich  anfechtbarer  Weise  erwirbt,  und  zwar 
im  Falle  des  Betrugs  (§  263  Str.G.B.),  wenn  die  Anfechtbarkeit  auf 

’)  Merkel  a.  a.  O.  S.  733.  Frank  a.  a.  O.  S.  398. 


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6o8 


W o 1 f g a n g Heine, 


Täuschung,  im  Falle  der  Erpressung  (§  253  Str.G.B.),  wenn  sie  auf 
Zwang  beruht,  entweder  auf  absolutem  Zwang  (Gewalt)  oder  auf 
Willenszwang  (Drohung). 

Dies  ist,  wenn  auch  in  etwas  anderer  Fassung,  die  Ansicht 
von  Merkel  und  Olshausen  *)  und  anscheinend  auch  von  Frank. 

Für  die  Notwendigkeit,  den  Begriff  des  rechtswidrigen  Ver- 
mögensvorteils in  strafrechtlichem  Sinne  auf  die  Bestimmungen  des 
Bürgerlichen  Rechts  über  Anfechtbarkeit  wegen  Täuschung  und 
Betruges  Zurückzufuhren  und  durch  sic  zu  beschränken,  sprechen 
auch  die  Motive  zum  B.G.B.  § 123.  Es  heifst  dort: 

„Das  B.G.B.  spricht  im  Anschlüsse  an  § 253  Str.G.B.  von  Drohung. 
Es  wird  nicht  nur  damit  der  richtige  Gedanke  in  zutreffender  Weise  zum 
Ausdruck  gebracht,  sondern  zugleich  die  Einheit  der  Behandlung 
auf  strafrechtlichem  und  privatrechtlich  cm  Gebiete  ge- 
wahrt.“ 

Also,  die  Verfasser  der  Motive,  und  wie  man  annehmen  mufs, 
auch  die  Gesetzgeber  des  B.G.B.  sind  der  Ansicht  gewesen,  dafs 
die  §§  123  B.G.B.  und  253  Str.G.B.  dieselbe  Materie  behandeln, 
und  dafs  die  Behandlung  einheitlich  sein  solle.  Die  Drohung,  die 
in  § 123  B.G.B.  zur  Unwirksamkeit  einer  Rechtshandlung  führt,  ist 
keine  andere  als  die,  die  nach  § 253  Str.G.B.  eine  Strafe  nach  sich 
zieht,  und  umgekehrt.  Daraus  ergiebt  sich  dann  die  diesseits  ver- 
tretene Ansicht,  dafs  auch  rechtswidrig  im  Sinne  des  § 253  Str.G.B. 
nur  der  Vermögensvorteil  sein  kann,  der  nach  § 123  B.G.B.  wegen 
vorgefallcncr  Drohung  nicht  als  rechtmäGsig  angesehen  werden 
könnte. 

Damit  wissen  wir  aber  noch  immer  nicht,  was  nach  bürger- 
lichem Rechte  ein  durch  Täuschung  oder  Zwang  erlangter,  also 
rechtswidriger  Vermögensvorteil  ist,  und  leider  ist  die  Beantwortung 
dieser  Frage  auch  nicht  mit  zwei  Worten  zu  geben.  Wir  wollen 
im  folgenden  uns  auf  die  Erörterung  des  Zwanges  beschränken. 

Das  I’reufsische  Allgemeine  Landrecht,  das  sich  nicht 
an  die  geschärfte  Logik  der  juristisch  Gebildeten,  sondern  an  den 
ordinären  Menschenverstand  wenden  wollte,  das  deshalb  auch  be- 
müht war,  sich  im  allgemein  verständlichen  Deutsch  auszudrücken, 
und  das  in  philiströser  Redseligkeit  keine  Skrupel  empfand,  ge- 
legentlich auch  einmal  Ueberflüssiges  zu  sagen  oder  Gesagtes  zu 


*)  Kommentar  z.  Strafgesetzbuch  § 263  Note  45,  § 253  Note  S. 


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Koalitionsrccht  und  Erpressung.  6o<) 

wiederholen , behandelte  den  Gegenstand  ziemlich  kasuistisch,  ’) 
immerhin  stellte  es  ausdrücklich  den  allgemeinen  Satz  auf: 

„Die  Drohung,  sich  seines  Rechtes  gesetzmäfsig  zu  bedienen,  kann 
niemals  als  Zwang  angesehen  werden“, 

und  machte  davon  nur  eine  Ausnahme  zu  Ungunsten  der  Drohung 
mit  Strafanzeige,  selbst  wenn  sie  mit  Grund  erfolgen  sollte.  Auf 
das  Koalitionsrecht  der  Arbeiter  angewendet,  zeigt  dieser  Satz  recht 
deutlich  die  Unhaltbarkeit  der  Auffassung,  die  in  der  Drohung  mit 
befugter  Arbeitseinstellung  nicht  nur  einen  Zwang,  sondern  sogar 
eine  strafbare  Erpressung  sehen  will. 

Das  Bürgerliche  Gesetzbuch  fafst  sich  wie  gewöhnlich  kürzer 
und  handelt  die  Materie  in  wenigen  Zeilen  ab : *) 

Wer  zur  Abgabe  ciuer  Willenserklärung  ...  widerrechtlich 
durch  Drohung  bestimmt  worden  ist,  kann  die  Erklärung  anfechten. 

Von  der  absoluten  Gewalt  spricht  das  Bürgerliche  Gesetz- 
buch nicht,  weil  es  in  diesem  Falle  überhaupt  keinen  Akt  des 
Willens  annimmt,  also  auch  eine  besondere  Anfechtung  nicht 
braucht.  Für  unsere  dem  Koalitionsrecht  gewidmete  Untersuchung 
kommen  solche  Fälle  auch  nicht  in  Betracht.  Was  den  Willens- 
zwang, die  Drohung  anlangt,  so  macht  nicht  jede  Drohung,  sondern 
nur  die  „widerrechtliche"  eine  Willenserklärung  zivilrechtlich  an- 
fechtbar. 

Also  ist  die  davon  abhängige  strafrechtliche  „Rechtswidrigkeit“ 
des  Vermögensvorteils  zu  erklären  durch  die  zivilrechtliche  „Wider- 
rechtlichkeit“ der  Drohung. 

Welche  Drohung  ist  nun  „widerrechtlich“  ? Das  Bürgerliche 
Gesetzbuch  und  die  Motive  schweigen  darüber.  Ziemlich  eingehend 
behandelt  dagegen  der  Kommentar  von  Rehbein  a)  zum  Bürgerlichen 
Gesetzbuch  diese  Fragen.  Er  sagt: 

„Widerrechtlich“  ist  die  Drohung  notwendig,  wenn  sic  eine  strafbare 
Handlung  darstellt.  Was  strafbar  ist,  kann  nicht  nicht  widerrecht- 
lich sein.  Widerrechtlich  ist  deshalb  die  Drohung,  die  den  Thatbestand 
des  § 253  Str.G.B.  enthält. 


*)  T.  1 Tit  5 §§  3i-5*- 
*)  § 1*3  B.G.n. 

3)  Das  Bürgerliche  Gesetzbuch  mit  Erläuterungen  von  Dr.  H.  Rehbein,  Reichs- 
gcrichtsrat.  t.  Aufl.  Bd.  I S.  143  ff. 


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6io 


Wolfgang  Heine, 


Sehr  wahr!  Was  sogar  vom  Strafgesetz  bedroht  ist,  mufs 
auch  im  Sinne  des  Privatrechts  widerrechtlich  sein,  nur  hilft  uns 
diese  Erwägung  leider  in  unserer  Untersuchung  nicht  weiter.  Mit 
demselben  Grunde  kann  man  sagen:  was  privatrechtlich  nicht 
widerrechtlich  ist,  kann  unmöglich  im  strafrechtlichen  Sinne 
„rechtswidrig"  sein  und  sogar  eine  entehrende  Kriminalstrafe  nach 
sich  ziehen.  Wenn  der  Kriminalist,  um  festzustellen,  was  „Er- 
pressung“ ist,  den  Zivilisten  fragt,  was  im  privatrechtlichen  Sinne 
„widerrechtlich“  sei , so  ist  ihm  nicht  damit  gedient , dafs  der 
Zivilist  ihm  antwortet:  widerrechtlich  ist,  was  strafrechtlich  „Er- 
pressung" genannt  wird. 

Ebensowenig  hilft  es  uns,  dafs  Rehbein,  den  Begriff  der  Er- 
pressung erläuternd,  fortfahrt: 

„d.  h.  sich  oder  einem  anderen  einen  rechtswidrigen  Vermögensvortcil  zu 
verschaffen  bezweckt;  rechtswidrig  ist  der  Vermögensvorteil,  auf  den  der 
Drohende  oder  Dritte  keinen  Rechtsanspruch  hat,  dessen  Erlangung  viel- 
mehr gegen  das  Recht  verstöfst. 

Wie  man  sicht,  steht  beiläufig  auch  Rehbein  auf  dem  Stand- 
punkt, dafs  im  Sinne  des  Strafgesetzes  rechtswidrig  nur  sei,  was 
gegen  das  Recht  sei,  aber  wenn  wir  uns  von  ihm  dem  Zivi- 
listen erklären  lassen  wollen,  welcher  Anspruch  gegen  das 
Recht  verstofse,  hilft  es  uns  nichts,  dals  es  uns  zur  Erklärung 
dasselbe  Wort  auftischt,  das  wir  eben  erklärt  haben  wollen.  Wir 
müssen  suchen,  aus  diesem  Kreise  herauszukommen. 

Völlig  freilich  läfst  uns  Rchbein  nicht  im  Stich,  er  fafst  seinen 
Standpunkt  in  den  folgenden  Sätzen  zusammen,  die  ich  ausführ- 
lich wiedergebe,  unter  Auslassung  nur  einiger  von  ihm  angeführter 
Beispiele,  die  von  der  uns  interessierenden  Frage  ablenken: 

Widerrechtlich  ist  die  Drohung,  die  Stellung  der 
Alternative,  zu  widerrechtlichem  Zwecke...  Nicht  wider- 
rechtlich ist  sic  zum  Zweck  erlaubter  Selbsthilfe.  Nicht  widerrecht- 
lich ist  die  Drohung  auch,  wenn  das  angedrohte  Ucbel  selbst  kein 
Unrecht,  der  Drohende  mit  der  Ausführung  dessen,  was  er 
droht,  nur  sein  Recht  ausüben  würde.  Darauf  beruhen  die 
38.  39.  40  I 4 A.L.R.,  wonach  die  Einrede  des  Zwanges  nicht  zu- 
gelassen wird  bei  Drohung,  sich  seines  Rechts  gesetzmäfsig  zu 
bedienen,  sein  Recht  gerichtlich  zu  verfolgen,  oder  einen 
zugedachten  noch  nicht  eingeräumten  Vorteil  zu  ent- 
ziehen. Drohung  mit  Klage  wegen  bestehender  Forderung,  berechtigter 
Zwangsvollstreckung , rechtmäfsiger  Kündigung,  Entlassung, 


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Koalitionsrccht  und  Erpressung.  6ll 

Rücktritt  von  einem  V ertrage,  rechtniälsigem  Widerruf,  N i c h t a b - 
sclilufs  eines  in  Aussicht  genommenen  Vertrages,  ist  selbst 
dann  nicht  widerrechtlich,  wenn  sie  den  anderen  vor  eine  lästige 
Alternative  stellt.  Das  im  Begriff  der  Drohung  liegende  Stellen  der 
Alternative  ist  nicht  widerrechtlich,  wenn  ein  Recht  auf  das  eine  oder 
andere  besteht.  Zahle  die  Schuld,  oder  ich  klage,  . . . verkaufe  zu  100, 
oder  ich  kaufe  nicht,  ...  bewillige  meine  Bedingungen,  oder 
ich  schliefse  nicht  ab,  ist  danach  jedenfalls  nicht  widerrechtlich. 
Ebensowenig  widerrechtlich  ist:  ...  g i c b mehr  Lohn,  oder  ich 
kündige  oder  klage.  Das  Stellen  der  Alternative  ist  auch  in  diesen 
Fällen  nicht  widerrechtlich,  obwohl  ein  Rechtsanspruch  auf  die 
Lohnerhöhung  nicht  besteht,  weil  ein  Recht  auf  Kündi- 
gung ...  besteht,  der  (legner  kein  Recht  auf  Nichtausübung  dieses 
Rechts  hat,  die  Stellung  der  Alternative  nichts  anderes  in  sich  schliefst, 
als  die  Proposition  des  Verzichts  auf  das  Recht  gegen  eine  Leistung 
seitens  des  anderen,  oder  die  Proposition  eines  Vergleichs  oder  neuen 
Vertrages.“ 

Das  alles  ist  im  Grunde  auch  mehr  Kasuistik  als  Prinzip, 
wofür  der  Vorwurf  aber  weniger  Rehbein  trifft,  als  den  Gesetz- 
geber, der  einen  so  verschiedener  Auffassung  und  Deutung  fähigen 
Ausdruck  wie  „widerrechtlich"  ohne  jede  Erläuterung  gelassen  hat. 

Eine  mehr  prinzipielle  Lösung  versucht  Endemann. ')  Er 
unterscheidet  zwei  Fälle  der  widerrechtlichen  Drohung  im  Sinne 
des  § 123  B.G.B. 

a)  Das  angedrohte  Uebel  selbst  kann  widerrechtlich  sein  (man 
droht  mit  Erschielsen)  oder 

b)  die  Drohung  bezieht  sich  zwar  auf  ein  an  sich  berechtigtes 
Vorgehen,  der  Erfolg,  den  man  bezweckt,  ist  aber  ein  „rechts- 
widrige r“. 

Viel  nützt  uns  das  freilich  auch  nicht,  denn  was  „rechtswidrig" 
sei,  sagt  uns  Endemann  an  dieser  Stelle  nicht. 

Immerhin  werden  wir  ihm  folgen  können,  wenn  er  die  Rechts- 
widrigkeit einer  Drohung  in  Fällen  annimmt,  wo  das  angedrohte 
Uebel  selbst  eine  strafbare  oder  gesetzwidrige  Handlung  ist,  und 
ebenso  lassen  sich  Fälle  denken,  wo  das  erstrebt?  Ziel  den  Aus- 
schlag giebt,  z.  B.  wenn  jemand  die  Drohung  mit  einer  an  sich 
zulässigen  Strafanzeige  benutzt,  um  Vermögensgewinne  herauszu- 
schlagen, wozu  der  Fall  der  Erwirkung  einer  Bufse  zu  einem  un- 
eigennützigen Zwecke  nicht  gerechnet  werden  kann. 4) 

')  Lehrbuch  des  Bürgerlichen  Rechts  Bd.  I S.  3 1 5 der  6.  Aufl. 

*)  Rehbein  a.  a.  O.  S.  144. 


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ÖI2 


Wo! fg an g Heine, 


Bei  dieser  Zurückführung  des  strafrechtlichen  Begriffs  der 
Rechtswidrigkeit  auf  die  zivilrechtlichen  Bestimmungen  über  An- 
fechtbarkeit wegen  Täuschung  oder  Zwanges  ist  nun  aber  festzu- 
halten, dafs  durchaus  nicht  jeder  sich  des  Betrugs  oder  der  Er- 
pressung schuldig  macht,  der  eine  Leistung  erstrebt,  die  der  Gegner 
wegen  Täuschung  oder  Zwanges  verweigern  oder  zurückfordern 
könnte.  Vielmehr  ist  die  kriminalrechtliche  Wirkung  von  Täuschung 
und  Zwang  enger,  als  die  zivilrechtliche.  Zunächst  setzen  der 
strafrechtliche  Betrug  und  Zwang  (Erpressung)  das  Bewufstsein 
der  Rechtswidrigkeit  des  Anspruchs  voraus,  was  bei  der 
zivilrechtlichen  Anfechtung  nicht  der  Fall  ist.  Ferner  aber  mufs 
in  den  strafrechtlichen  Fällen  ein  „Vermögens vorteil“  erstrebt 
worden  sein,  was  bei  einer  entsprechenden  Gegenleistung  des 
Thäters  vernünftigerweise  nicht  angenommen  werden  kann.  Zivil- 
rechtlich  dagegen  kann  jede  durch  Täuschung  erschlichene  oder 
durch  Zwang  abgenötigte  Vermögensleistung  zurückgefordert 
werden,  auch  wenn  ein  voller  Gegenwert  dafür  gegeben  worden 
war,  selbstverständlich  unter  Rückgewährung  des  Empfangenen. 

Ziehen  wir  nun  die  Konsequenzen  für  das  Koalitionsrecht,  so 
kommen  wir  zu  folgenden  Ergebnissen : 

I.  Wenn  Arbeiter  dem  Arbeitgeber  ankündigen,  dafs  sie  die 
Arbeit  niederlegen  oder  nicht  wieder  aufnehmen  würden,  so  ist, 
wenn  keine  Pflicht  zur  Arbeit  bestand,  also  nach  gehöriger 
Kündigung,  oder  wo  Kündigung  ausgeschlossen  war  auch  ohne 
solche , dies  nicht  widerrechtlich,  es  können  also  auch 
durch  diese  „Drohung"  die  erstrebten  Vermögensleistungen  nicht 
anfechtbar  werden. 

1.  Erfolgt  solche  Ankündigung  zum  Zwecke,  künftige  Ar- 
beitsverträge für  sich  oder  andere  abzuschliefsen  oder  ablaufcnde  zu 
verlängern,  Arbeitslöhne  oder  andere  Arbeitsbedingungen  bewilligt 
zu  erhalten,  so  ist  auch  der  Zweck  nicht  widerrechtlich,  selbst 
wenn  der  geforderte  Lohn  über  die  üblichen  Kalkulationen  hinaus- 
geht. ')  Es  mag  sein,  dafs  der  Arbeitgeber  dadurch  in  Schwierig- 
keiten kommen  kann,  aber  er  hat  es  ja  in  der  Hand,  sich  durch 
längere  Verträge  (Tarife)  vor  einer  solchen  Ausnutzung  der  Kon- 
junkturen zu  schützen,  wenn  er  sich  nur  selbst  in  gleicher  Weise 
bindet. 

2.  Erpressung  liegt  aufserdem  nicht  vor,  schon  weil  mit 


‘)  Vgl.  »las  cilicrlc  Kcielisgcrichtsurteil  Entsch.  Bd.  34,  S.  22. 


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Koalitionsrecht  und  Erpressung.  613 

Rücksicht  auf  die  Gegenleistungen  nicht  von  einem  Vermögens- 
vorteil die  Rede  sein  kann. 

3.  Manchmal  werden  unter  Ankündigung  der  Fortsetzung  eines 
Strikes  und  dgl.  Nebenforderungen  erhoben,  z.  B.  Schadens- 
ersatz für  Ausgesperrte,  auch  wo  die  Aussperrung  wegen  Aus- 
schlusses der  Kündigung  zulässig  war,  Entschädigung  der  Mitglieder 
der  Lohnkommission  ’)  u.  s.  w.  Auch  darin  wird  man  nicht  einen 
„widerrechtlichen  Zweck“  sehen  können,  obgleich  auf  die  fraglichen 
Leistungen  an  sich  kein  Anspruch  bestand , denn  sic  sind  als 
Gegenleistungen  für  die  Vorteile  anzusehen,  die  der  Arbeit- 
geber durch  die  Fortsetzung  oder  Wiederaufnahme  der  Arbeit, 
wozu  die  Arbeiter  ihrerseits  nicht  verpflichtet  waren,  gewinnt; 
unter  Umständen  werden  solche  Zahlungen  auch  als  Sühne  für 
zugefügtes  moralisches  oder  vertragliches  Unrecht  aufzufassen  sein. 

II.  Etwas  anders  gestaltet  sich  die  Sache,  wenn  die  Arbeiter 
dem  Arbeitgeber  die  sofortige  Arbeitsniederlegung  androhen,  wo 
eine  Kündigungsfrist  besteht,  ohne  dafs  einer  der  gesetzlichen 
Gründe  sofortiger  Lösung  des  Arbeitsvertrages  vorläge,  wo  sie  also 
kontraktbrüchig  werden.  Hier  ist  die  Drohung  offenbar 
widerrechtlich.  In  der  Anwendung  aber  ist  zu  unterscheiden : 

1.  Die  Drohung  wird  ausgesprochen,  um  den  Abschlufs 
künftiger  Arbeits vertrage  herbeizuführen,  z.  B.  einen  Tarif- 
vertrag zu  erlangen,  der  erst  künftig  in  Kraft  treten  soll,  oder  die 
Einstellung  anderer  Arbeiter  durchzusetzen,  die  noch  nicht  einge- 
stellt oder  die  entlassen  worden  waren  (Wiedereinstellung  Gemafs- 
regclter).  Hier  würde  der  Arbeitgeber  die  unter  dem  Drucke  einer 
widerrechtlichen  Drohung  gegebene  Versprechung  zivilrechtlich  an- 
fechten, die  Gültigkeit  des  Tarifs  bestreiten,  die  Einstellung  der 
Arbeiter  verweigern  oder  sie  entlassen  können.  Trotzdem  kann  von 
einer  Erpressung  nicht  die  Rede  sein,  wegen  der  angebotenen 
Gegenleistung,  die  den  Begriff  des  Vermögens  vor  teils  aus- 
schliefst (s.  zu  I 2). 

2.  Wenn  dagegen  die  Arbeiter  mit  Arbeitsniederlegung  unter 
Kontraktsbruch  drohen,  um  für  die  bereits  übernommene  Arbeit 
mehr  als  den  vereinbarten  Preis  oder  bei  Zeitlohn  schon  für  die 
Zeit  vor  Ablauf  des  Vertrages  höhere  Lohnsätze  zu  erzwingen,  so 
wird  sich  nach  dem  geltenden  Recht  nicht  bestreiten  lassen,  dafs 
auch  ein  Vermögensvorteil  erstrebt  wird,  der  als  „rechts- 


')  Z.  B.  in  dem  Falle  F.ntsch.  des  Rcichsg.  in  Strafs.  Bd.  ai,  S.  116. 
Archiv  für  sox,  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVII.  40 


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6i4 


Wolfgang  Heine, 


widrig“  angesehen  werden  mufs.  In  diesen  Fällen  liegt  Erpressung 
vor,  wenn  nämlich  die  sonstigen  Voraussetzungen,  namentlich  das 
Bewufstsein  der  Rechts  Widrigkeit  der  Forderung  nicht 
fehlen.  Auf  dies  Requisit  mufs  besonders  aufmerksam  gemacht 
werden,  weil  nicht  selten  Arbeitgeber  oder  deren  Stellvertreter  die 
Arbeiter  mit  Absicht  über  die  Höhe  des  Lohnes  oder  der  Accord- 
preise  im  unklaren  lassen.  Auch  in  dem  besprochenen  Falle  des 
Maurers  D u d a soll  es  so  gelegen  haben. 

In  Berlin  wurde  kürzlich  ein  Kellner  von  der  Anklage  der  Er- 
pressung freigesprochen,  dessen  Fall  folgendermafsen  lag:  Für  ein 
Vercinsfcst  waren  Aushilfskellner  zu  einem  Lohn  angenommen 
worden,  neben  dem  sie  auf  Trinkgelderverdienst  angewiesen  waren. 
Infolge  gewisser  Einrichtungen  beim  Feste  erhielten  die  Kellner 
nur  geringe  Gelegenheit,  von  den  einzelnen  Teilnehmern  Geld  ein- 
zukassieren und  so  Trinkgelder  zu  verdienen.  Sie  baten  den  Wirt 
um  Zulage,  er  gab  unbestimmte  Versprechungen,  und  schliefslich 
sollen  die  Kellner  unter  Drohung  der  Arbeitsniederlegung  eine  be- 
stimmte Versprechung  gefordert  haben.  Hier  wurde  auf  Grund 
der  Unklarheit  der  Abreden  das  Bewufstsein  der  Rechtswidrigkeit 
verneint. 

Andererseits  lassen  sich  wohl  Falle  denken,  in  denen  unter  der 
Drohung  einer  unberechtigten  Arbeitseinstellung  Forderungen  ge- 
stellt werden,  die  sich  als  erpresserisch  charakterisieren,  z.  B.  wenn 
sich  Arbeiter  weigern  sollten,  die  letzte  Hand  an  eine  Arbeit  zu 
legen,  von  der  sie  wissen,  dafs  sie  geliefert  werden  mufs,  und  wenn 
dies  geschähe,  um  irgend  eine  Zuwendung  zu  erlangen,  die  nicht 
mehr  als  Vergütung  für  besondere  Leistungen  angesehen  werden 
könnte.  In  der  Praxis  der  Gerichte  ist  übrigens  ein  solcher  Fall 
noch  nicht  bekannt  geworden. 

III.  Wenn  Drohungen  gegen  Mitarbeiter,  die  Arbeit 
nicderzulegen,  oder  nicht  mit  ihnen  zusammenzuarbeiten,  zu  dem 
Zwecke  erfolgen,  sic  zum  Beitritt  zu  Verbänden  oder  zur  Zahlung 
an  Strikefonds  zu  bewegen,  kann  es  nicht  darauf  ankommen,  ob 
die  Arbeitseinstellung  dem  Arbeitgeber  gegenüber  befugt  ist 
oder  nicht,  denn  dem  Mitarbeiter  gegenüber  wäre  die  Arbeits- 
einstellung jedenfalls  nicht  widerrechtlich.  Dagegen  dürfte  hier  die 
Widcrrechtlichkcit  der  Drohung  aus  § !53Gew.O.  zu  folgern  sein. 

Erpressung  liegt  auch  hier  nicht  vor,  weil,  wie  schon  ausge- 
führt, dabei  gar  nicht  der  Zweck  verfolgt  wird,  der  Organisation 
Vermögen  zuzuwenden,  sondern  lediglich  moralische  Motive  leitend 


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Koalilionsrccbt  und  Erpressung.  ßlj 

sind.  Aufserdem  auch,  weil  die  Organisation  keinen  Vermögens- 
vorteil erwirbt,  der  von  dem  des  Beisteuernden  getrennt  wäre,  wie 
das  in  dem  citierten  die  Versicherungsgesellschaften  auf  Gegenseitig- 
keit betreffenden  Urteile  des  Reichsgerichts  dargelegt  ist. 

Würde  die  Rechtsprechung  diesen  Darlegungen  folgen,  so 
würden  die  Gefahren,  mit  denen  die  Anwendung  des  Erpressungs- 
paragraphen heut  das  Koalitionsrecht  bedroht,  in  der  Hauptsache 
beseitigt  sein.  Aber  einmal  ist  darauf  nicht  zu  hoffen,  denn  die 
Judikatur  hält  auf  das  zäheste  an  ihren  Irrtümcrn  fest,  und  ferner 
würde  der  Rechtszustand  immer  noch  unbefriedigend  und 
gefährlich  sein.  Es  ist  ein  nicht  zu  billigender  Umweg,  wenn 
das  Strafrecht  den  weittragenden  Begriff  des  „rechtswidrigen" 
Vermögensvorteils  verwendet,  aber  ihn  nicht  selbst  zu  umgrenzen 
sucht,  sondern  seine  Auslegung  dem  Zivilrecht  überläl'st,  und  es  ist 
eine  Unklarheit  und  fast  ein  Zirkelweg,  wenn  das  Zivilrecht  uns 
wieder  auf  das  ebenso  unbegrenzte  Wort  „widerrechtlich"  ver- 
weist Es  kann  gar  nicht  ausbleiben,  dafs  die  Rechtsprechung  dabei 
immer  wieder  auf  Irrwege  gerät.  Eine  Abänderung  des  Ge- 
setzes ist  also  unbedingt  notwendig. 

Im  Jahre  1899  hat  die  sozialdemokratische  Reichstagsfraktion 
die  Einbringung  des  Zuchthausgesetzes  mit  einer  Gegenvorlage  von 
Bestimmungen  zum  Schutze  des  Koalitionsrechts  beantwortet,  die 
als  Zusätze  zu  der  damals  vom  Reichstage  beratenen  Gewcrbe- 
ordnungsnovelle  formuliert  waren.1)  Unter  diesen  Anträgen,  die  in 
der  Sitzung  vom  1.  Dezember  1899  abgelehnt  worden  sind,  befand 
sich  auch  folgender  Entwurf  eines  § 152c: 

Das  Verlangen,  einen  Arbeitsvertrag  zu  schlicfscn,  andere  in  Arbeit 
zu  nehmen , andere  Arbeitsbedingungen , insbesondere  höhere  Löhne, 
kürzere  Arbeitszeit  zu  gewähren,  oder  bestimmte  Bedingungen  als  Voraus- 
setzungen für  Fortsetzung  oder  Aufnahme  der  Arbeit  zu  erfüllen,  sowie 
das  Verlangen,  einer  Wohlthätigkeitsanstalt , einer  öffentlich-rechtlichen 
Korporation  oder  einer  politischen  gewerblichen  oder  gemeinnützigen 
Vereinigung  eine  Zuwendung  zu  machen,  ist  nicht  als  rechtswidrig  und 
der  dadurch  erstrebte  Vermögensvorteil  nicht  als  ein  rechtswidriger  im 
Sinne  irgend  eines  Gesetzes  zu  erachten. 

Dieser  Antrag  sollte  seiner  Entstehung  und  Absicht  nach  ein 
Notgesetz  darstellen,  das  ohne  den  Erpressungsbegriff  neu  zu 


*)  Drucks.  Nr.  45s,  X.  Legislaturper.  I.  Session, 


4°* 


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Wolfgang  Heine, 


formulieren,  lediglich  die  schlimmsten  Auswüchse  der  Judikatur  der 
Arbeiterklasse  gegenüber  beschneiden  wollte.  Es  ist  nicht  ganz 
ohne  Recht  eingewendet  worden,  dafs  für  diesen  Zweck  die  Fassung 
des  Entwurfs  teilweis  etwas  zu  allgemein  sei;  namentlich  würde 
danach  auch  der  nicht  wegen  Betruges  belangt  werden  können, 
der  sich  unter  falschen  Angaben  über  gewerbliche  Fähigkeiten,  die 
er  nicht  besäße,  Lohnvorschüsse  erschwindelte,  um  dann  die  Stellung 
gar  nicht  anzutreten. 

Eine  grundsätzliche  Besserung  kann  nur  in  Verbindung 
mit  der  Neubearbeitung  des  ganzen  Strafgesetzbuchs  durch  Aende- 
rung  des  § 253  selbst  en eicht  werden.  Solange  das  System  und 
die  Terminologie  des  neuen  Strafgesetzbuchs  nicht  einmal  in  den 
Umrissen  bekannt  sind,  hat  es  keinen  Zweck,  Formulierungen  zu 
entwerfen.  Nur  die  Gesichtspunkte  können  angeführt  werden,  die 
inbetracht  kommen  müssen. 

Nach  diesseitiger  Meinung  sollte  man  auf  den  wertlosen  Ruhm, 
eine  so  differenzierte  Materie  durch  eine  einzige  Norm  regeln  zu 
wollen,  verzichten  und  eine  Scheidung  vornehmen.  Etwa  nach  Vor- 
gang der  zivilrechtlichen  Bestimmungen  des  Allgemeinen  I .andrechts 
sollte  man  die  Drohung  mit  nicht  gesetzwidrigen  Hand- 
lungen grundsätzlich  aus  dem  Gebiete  dcrErpressung  aus- 
scheiden. 

Dies  allein  würde  jeden  Mifsbrauch  der  Judikatur  ausschliefsen, 
und  ist  im  Interesse  gerade  auch  des  anständigen  Geschäftsver- 
kehrs notwendig.  Daneben  müfste  man  durch  besondere  Be- 
stimmung die  wenigen  Fälle  wiederum  der  Erpressung  zuteilen, 
bei  denen  ein  Bedürfnis  dazu  vorliegt,  etwa  die  der  Drohung  mit 
Strafanzeige  oder  mit  Verlassen  in  hilfloser  I.age. 

Was  das  Vermögensziel  der  Erpressung  betrifft,  so  wird 
man  zum  Ausdruck  bringen  müssen,  dafs  die  Fälle,  in  denen  eine 
Gegenleistung  angeboten  wird , nicht  darunter  fallen , dafs 
andererseits  nicht  die  Fiktion  einer  Gegenleistung  vor  der  Be- 
strafung schützt.  Am  nächsten  liegt  hier  der  Gedanke  einer 
Regelung  wie  beim  Wucher,  wo  die  Strafbarkeit  eintritt,  wenn  der 
gewährte  oder  versprochene  Vermögensvorteil  den  Wert  der  Gegen- 
leistung dergestalt  übersteigt,  dafs  nach  den  Umständen  des  Falles 
die  Vermögensvorteile  in  auffälligem  Mißverhältnis  zu  der  Leistung 
stehen ; ')  nur  erhebt  sich  das  Bedenken,  dafs  damit  wieder  ein  der 


’)  §§  301a  und  30JC  St.C.B. 


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Koalitionsrccht  und  Strafrecht.  617 

richterlichen  Willkür  weiten  Spielraum  lassender  Begriff  ein  neues 
Anwendungsgebiet  erhalten  wurde.  Allerdings  hat  man  beim  Wucher 
bisher  nichts  von  unangemessener  Ausdehnung  des  Begriffs  des 
„auffälligen  Milsverhältnisses“  gehört,  aber  die  Erfahrungen  auf  den 
Gebieten  der  Rechtspflege,  die  von  den  sozialen  Kämpfen  und 
Leidenschaften  berührt  werden,  ermutigen  nicht  gerade  dazu,  auf 
ihnen  neue  dehnbare  Begriffe  zur  Anwendung  kommen  zu  lassen. 
Immerhin  wäre  die  Gefahr  bei  der  geforderten  Beschränkung  des 
Begriffs  der  Drohung  nicht  allzugrofs. 

Endlich  würden  die  Zuwendungen  an  Stiftungen  oder  Korpora- 
tionen aller  Art,  wenn  sie  zur  Sühne  eines  Unrechts,  oder  zur  Er- 
füllung einer  sittlichen  oder  Anstandspflicht  gefordert  werden,  von 
dem  Thatbestand  der  Erpressung  auszuschliefscn  sein. 

Eine  volle  Sicherheit  gegen  eine  Judikatur,  die  zu  so  ab- 
surden Konsequenzen  gelangt,  wie  die  heutige  über  Erpressung, 
kann  freilich  auch  ein  noch  so  sorgfältig  formuliertes  Strafgesetz 
nicht  schaffen,  denn  die  Formel  des  Gesetzes  hat  überhaupt  nicht 
den  Wert,  den  die  landläufige  Justizpflege  ihr  beimifst.  Schon  weiter 
vorn  war  darauf  hingewiesen  worden  wie  der  Gesetzgeber  arbeitet. 
Er  geht,  was  Theorie  und  Judikatur  immer  wieder  vergessen,  nicht 
vom  Allgemeinen  zum  Besondcrn , sondern  umgekehrt  vom  Be- 
sondern  zum  Allgemeinen  vor,  er  beurteilt  nicht  nach  den  juristischen 
Begriffen  die  Thatsachen  des  Lebens,  sondern  er  hat  einen  Komplex 
von  Thatbeständen  vor  Augen  und  eine  ihm  für  sie  passend 
dünkende  Regelung.  Diese  formuliert  er  zum  Gesetz,  und  das 
glückt  manchmal,  aber  manchmal  auch  nicht,  ln  jedem  Falle 
bleiben  die  gesetzlichen  Begriffe  nur  Mittel  des  Ausdrucks, 
und  nur  mit  Vorbehalt  können  aus  ihnen  Konsequenzen  abgeleitet 
werden,  die  nicht  ausdrücklich  ausgesprochen  sind.  Keinesfalls 
dürfen  die  Formeln  des  Gesetzes,  wie  es  die  heutige  Begriffsjuris- 
prudenz liebt,  nach  Art  mathematischer  Formeln  behandelt 
werden,  aus  denen  man  die  überraschendsten,  aber  — falls  man 
nur  richtig  gerechnet  hat  — unzweifelhaft  wahren  Dinge  ableitcn 
kann.  Aus  den  Gesetzen  kann  man  nicht  alles  folgern,  was  sich 
nach  Sprache  und  Logik  noch  aus  ihnen  deduzieren  läfst,  sondern 
ihre  Anwendung  ist  an  den  Willen  des  Gesetzgebers  gebunden, 
aus  dem  sie  stammen.  Nicht  nur  was  diesem  entgegen  steht,  darf 
man  aus  ihnen  nicht  folgern,  sondern  auch  das  nicht,  wovon  nicht 
fest  steht,  dafs  der  Gesetzgeber  es  sich  als  Konsequenz  vorgestellt 
hat.  Sicherlich  gilt  dies  von  der  Anwendung  des  Strafrechts,  das 


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Wolfgang  Heine,  Koalitionsrccht  und  Erpressung. 


seiner  Ausnahmenatur  wegen  nicht  ausdehnend  angewendet  werden 
darf,  und  bei  dem  sich  diese  Folge  schon  aus  dem  Grundsatz  nulla 
poena  sine  lege  ergiebt. 

Als  die  Judikatur  zuerst  vor  der  Frage  stand , ob  die  Er- 
pressungsnorm auf  Arbeiter  anzuwenden  sei,  die  ihr  Koalitionsrecht 
benutzten , um  Arbeit  oder  bessere  Bedingungen  zu  bekommen, 
hätte  sie  sich  fragen  müssen,  ob  der  Gesetzgeber  sich  eine  solche 
Möglichkeit  vorgestellt  hätte.  Man  mufs  annehinen,  dafs,  wenn  die 
Rechtsprechung  sich  durch  diese  Erwägung  hätte  leiten  lassen,  es 
nie  zu  so  falschen  und  die  Justiz  -blofsstellenden  Urteilen  gekommen 
wäre. 


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GESETZGEBUNG. 

DEUTSCHES  REICH. 

Die  neue  Seemannsordnung  und  ihre  Nebengesetze. 

Eingeleitet  von 

H.  MOLKENBUHR, 

Mitglied  d.  Reichstags. 


Nur  langsam  folgt  die  Gesetzgebung  der  wirtschaftlichen  Ent- 
wicklung auf  dem  Gebiete  der  Sozialpolitik.  Erst  dann  wenn 
auf  einem  Gebiete  die  Mifsstände  zu  grofs  werden,  entschliefst  sich 
der  Gesetzgeber,  mit  Reformen  die  gröbsten  zu  beseitigen.  Zu 
den  Fragen,  die  sich  ihm  förmlich  aufdrängten,  gehört  die  Reform 
der  Seemannsordnung  und  was  mit  ihr  zusammenhängt. 

Schon  die  Motive  weisen  in  ihrer  Einleitung  darauf  hin,  dafs 
in  der  Zeit,  in  der  die  jezt  geltende  Seemannsordnung  in  Kraft 
ist,  seit  dem  I.  Januar  1873,  eine  völlige  Umwälzung  in  der  See- 
schiffahrt eingetreten  ist,  und  die  für  ganz  andere  Verhältnisse  ge- 
schaffene Seemannsordnung  für  die  Gegenwart  nicht  mehr  pafst. 
Während  am  I.  Januar  1873  erst  216  Dampfschiffe  mit  6621  Mann 
Besatzung  unter  deutscher  Flagge  fuhren,  ist  deren  Zahl  bis  zum 
I.  Januar  1901  auf  1320  mit  36861  Mann  Besatzung  gestiegen. 
Im  gleichen  Zeitraum  ging  die  Zahl  der  Segelschiffe  von  43 1 1 mit 
33  103  Mann  auf  2493  mit  13689  Mann  Besatzung  zurück.  1873  fuhr 
83,5  Proz.  der  Seeleute  auf  Segelschiffen,  während  1901  nur  noch 
27  Proz.  der  Besatzung  auf  Segelschiffen,  also  von  50550  Mann 
der  Gesamtbesatzung  36861  auf  Dampfschiffen  beschäftigt  waren. 
Bei  der  Besitzung  der  Dampfschiffe  tritt  das  seemännische  Personal, 
welches  man  bei  Schaffung  der  Seemannsordnung  1872  vorwiegend 
im  Auge  hatte,  mehr  und  mehr  zurück.  Auf  grofsen  Passagier- 


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620 


Gesetzgebung:  Deutsches  Reich. 


dampfern,  wie  z.  B.  die  „Deutschland"  gehören  von  der  522  Mann 
starken  Besatzung  nur  57  zu  den  seemännischen,  246  zum  Maschinen- 
personal und  219  Personen  sind  in  Küchen,  Provianträumen  und 
mit  der  Bedienung  und  Verpflegung  der  Passagiere  beschäftigt. 
Aber  auch  auf  den  Frachtdampfern  gehört  wenig  mehr  als  ein 
Viertel  der  Besatzung  dem  eigentlichen  Seemannsberuf  an. 

Aber  fast  noch  gröfser,  als  im  SchifTsmaterial  und  der  Be- 
satzung, ist  die  Umwälzung  im  Rhedereigewerbe  gewesen.  Nimmt 
man  die  Leistung,  d.  h.  die  zurückgelegten  Seemeilen  und  die  Menge 
der  transportierten  Güter  und  beförderten  Personen  zum  Mafsstab, 
dann  giebt  es  wohl  kein  Gewerbe,  welches  in  den  letzten  30  Jahren, 
einen  ähnlichen  Aufschwung  zu  verzeichnen  hat,  wie  die  deutsche 
Rhederei.  Und  doch  giebt  es  wohl  kaum  ein  anderes,  in 
welchem  die  Zahl  der  selbständigen  Betriebe  in  ähnlichem  Ver- 
hältnis zuriiekgegangen  ist.  Von  der  rapiden  Abnahme  der  Be- 
triebe giebt  der  Kataster  der  See-Berufsgenosscnschaft  ein  anschau- 
liches Bild.  In  13  Jahren,  vom  I.  Januar  1888  bis  zum  I.  Januar 
1900,  ging  die  Zahl  der  registrierten  Schiffahrtsbetriebe  von  1790 
auf  1357  zurück.  Während  früher  bei  der  Mehrzahl  der  Schiffe 
Rheder  und  Kapitän  dieselbe  Person  war,  wodurch  es  den  Schiffs- 
leutcn  zu  jeder  Zeit  möglich  war,  mit  dem  Arbeitgeber  direkt  zu 
verhandeln,  ist  jetzt  der  gröfste  Teil  des  Rhedereigewerbes  an 
Aktiengesellschaften  übergegangen  und  dadurch  der  persönliche 
Verkehr  der  Schiffsleute  mit  dem  Rheder  fast  völlig  beseitigt. 

Aber  wenn  auch  nicht  die  technische  und  wirtschaftliche  Um- 
wälzung eingetreten  wäre,  so  wäre  eine  Reform  der  Seemanns- 
ordnung nicht  minder  nötig  gewesen.  Die  gegenwärtig  geltende 
Seemannsordnung  entstand  1872,  also  zu  einer  Zeit,  als  die  ödesten 
manchcst erlichen  Anschauungen  ungehemmt  in  der  deutschen  Ge- 
setzgebung zur  Geltung  kamen.  Die  Heiligkeit  der  Vertrags- 
freiheit wurde  überall  zum  Ausdruck  gebracht.  In  den  betreffen- 
den Paragraphen  der  Scemannsordnung,  wo  immer  dort  Rechte 
der  Schiffsleute  erwähnt  werden,  kehren  stereotyp  die  Worte 
wieder : „wenn  nicht  ein  anderes  vereinbart  ist".  Genau  genommen 
beruhten  die  Rechte  der  Seeleute  auf  freier  Vereinbarung.  Diese 
Worte  fehlen  aber  in  allen  Paragraphen,  in  denen  die  Pflichten  der 
Schiffsleute  festgesetzt  sind.  Die  Pflichterfüllung  der  Schiffsleute 
ist  der  freien  Vereinbarung  entzogen  und  hierüber  findet  man  Be- 
stimmungen in  der  Scemannsordnung,  die  den  Anschauungen  ent- 
sprungen sind,  die  iin  14.  bis  16.  Jahrhundert  in  England  die 


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H.  Molken  bulir,  Die  neue  Seemannsordnung  und  ihre  NebengcscUc.  621 

Arbeitergesetze  hervorriefen.  Ein  Schififsmann,  der  durch  Dienst- 
verweigerung den  Schilfer  zu  einer  Handlung  oder  Unterlassung 
nötigen  will,  kann  nach  § 89  der  Seemannsordnung  mit  Gefäng- 
nis bis  zu  zwei  Jahren  und  der  Rädelsführer  gar  mit  Zuchthaus  bis 
zu  fünf  Jahren  bestraft  werden.  Die  geltende  Seemannsordnung 
bringt  also  zwei  Grundgedanken  zum  Ausdruck,  die  beide  überlebt 
sind  und  in  modernen  Gesetzen  vermieden  werden  sollten.  Der 
Versuch,  die  Strafbestimmungen  der  Seemannsordnung  durch  das 
Zuchthausgesetz  auf  gewerbliche  Arbeiten  anzuwenden,  ist  kläglich 
gescheitert  und  ebenso  gehören  die  Grundsätze  der  absoluten  Ver- 
tragsfreiheit, wie  sie  in  der  geltenden  Seemannsordnung  zum  Aus- 
druck kommen,  der  Vergangenheit  an. 

Gesetze  mit  so  veralteten  Grundgedanken  lassen  sich  dem  See- 
mann gegenüber  auf  die  Dauer  nicht  aufrecht  erhalten,  weil  der 
Seemann  durch  seinen  Beruf  gezwungen  ist,  sich  einen  grofsen 
Theil  Gesetzeskenntnis  anzueignen.  In  dem  „Handbuch  für  die 
deutsche  Handelsmarine“  werden  nicht  weniger  als  139  Reichs- 
gesetze, Verordnungen  u.  s.  w.  erwähnt,  die  auf  die  Seeschiffahrt 
Bezug  haben.  Sicht  der  Seemann , dafs  aus  anderen  Gesetzen  der 
Grundgedanke,  welcher  in  der  Seemannsordnung  zum  Ausdruck 
kommt,  verschwunden  ist,  dann  wird  auch  er  darauf  dringen,  dafs 
er  in  derselben  Weise  berücksichtigt  werde. 

So  kam  aus  Seemannskreisen  das  Drängen  nach  einer  Reform 
der  Seemannsordnung.  Als  1890  für  die  gewerblichen  Arbeiter  die 
Gewerbegerichte  geschaffen  und  die  Gewerbeordnung  revidiert 
wurde , wobei  auch  durch  die  Bestimmungen  über  die  Arbeits- 
ordnung die  Vertragsfreiheit  eingeengt  wurde,  die  Sonntagsruhe  er- 
weitert und  einige  andere  Schutzbestimmungen  gegeben  wurden, 
da  verlangten  die  Seeleute  auch  Berücksichtigung.  Die  damals  aus- 
gesprochenen Wünsche  der  Seeleute  bewogen  den  Abgeordneten 
Schwartz-Lübeck  im  Februar  1893  seinen  Antrag  einzubringen,  in 
welchem  er  eine  Aenderung  der  für  die  Seeleute  ungünstigsten  Be- 
stimmungen der  Seemannsordnung  verlangte. 

Dieser  Antrag  brachte  die  Frage  der  Revision  in  Flufs.  Der 
Antrag  Schwanz  wurde  erweitert  und  im  Dezember  1895  von  der 
sozialdemokratischen  Fraktion  im  Reichstage  wieder  eingebracht. 
In  der  Zeit  vom  9.  bis  11.  März  1896  wurde  von  der  technischen 
Kommission  für  Seeschiffahrt  im  Reichsamt  des  Innern  eine  Anzahl 
von  Auskunftspersonen  aus  dem  Stande  der  Schiflfsleute  ver- 
nommen und  hierbei  brachte  die  Regierung  in  Erfahrung,  dafs  auch 


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622 


Gesetzgebung : Deutsches  Reich. 


nach  Ansicht  dieser  Personen  die  Seemannsordnung  dringend  einer 
Reform  bedürfe. 

Eine  Vorlage  wurde  dann  am  12.  März  1900  an  den  Reichs- 
tag  gebracht  und  nach  der  ersten  Beratung  an  eine  Kommission 
verwiesen.  Aber  bevor  die  Kommission  den  Entwurf  in  erster 
Lesung  durchberaten  hatte,  trat  der  Schlufs  der  Session  ein,  wo- 
durch die  Sache  vorläufig  wieder  zum  Stillstand  kam.  Bei  Er- 
öffnung der  Session  im  November  1900  ging  dem  Reichstage  der 
Entwurf  in  demselben  Wortlaut  wieder  zu,  und  dieser  ist  nun  ver- 
abschiedet und  Gesetz  geworden. 

Die  meisten  Hoffnungen,  die  in  Scemannskreisen  gehegt  wurden, 
sind  unerfüllt  geblieben.  Zwar  sind  eine  Anzahl  Verbesserungen 
geschaffen.  Eine  Anzahl  von  Rechten  der  Seeleute  sind  nicht  mehr 
durch  „freie  Vereinbarung“  zu  beseitigen,  sondern  zwingendes  Recht 
geworden.  Dem  Schiffsmann  mufs  jetzt  ein  von  dem  Rheder 
oder  dessen  Vertreter  unterschriebener  Ausweis  gegeben  werden, 
aus  welchem  er  den  Namen  des  Schiffes,  seine  Dienststellung,  An- 
gabe der  Reise  oder  Dauer  des  Vertrages,  die  Höhe  der  Heuer, 
sowie  Zeit  und  Ort  der  Anmusterung  ersehen  kann.  Für  die  Zeit, 
wenn  das  Schiff  im  Hafen  oder  auf  der  Rhede  liegt,  ist  die  täg- 
liche Arbeitszeit  auf  10  Stunden  und  in  den  Tropen  auf  8 Stunden 
beschränkt;  für  weitere  Arbeit  mufs  Ueberstundenlohn  gezahlt 
werden  und  kann  der  Ueberstundenlohn  nicht  mehr  durch  Vertrag 
ausgeschlossen  werden.  Das  Maschinenpersonal  auf  Dampfschiffen 
in  transatlantischer  Fahrt  mufs  in  drei  Wachen  eingeteilt  sein,  so 
dafs  in  24  Stunden  stets  nur  8 Stunden  Dienst  im  Maschinen-  oder 
Kesselraum  ist.  Der  achtstündige  Arbeitstag  wird  noch  um  die 
Zeit  verlängert,  die  zum  Ueberbordwerfen  der  Asche  und  Schlacken 
erforderlich  ist. 

Die  Sonn-  und  Festtagsarbeit  soll  soweit  als  möglich  einge- 
schränkt und  darf  die  Mannschaft  im  Reichsgebiet  nicht  mit  Löschen 
und  Laden  an  Sonn-  und  Festtagen  beschäftigt  werden.  Die 
Sonntagsruhe  war  für  die  geltende  Seemannsordnung  ein  völlig  un- 
bekannter Begriff.  Die  Heuerzahlung  mufs  jetzt  vom  Tage  der 
Anmusterung  und  wenn  der  Dienstantritt  früher  erfolgt,  von  diesem 
Tage  an  beginnen.  Auch  hier  darf  nicht  mehr  wie  nach  dem  be- 
stehenden Gesetz  durch  Vertrag  ein  späterer  Termin  angesetzt 
werden.  Auch  darf  die  Zahlung  für  Ueberarbeit,  die  die  Schiffs- 
leute machen  müssen,  wenn  die  Mannschaft  während  der  Reise  sich 
verringert,  nicht  mehr  durch  Vertrag  ausgeschlossen  werden.  Eben- 


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H.  Molkcnbulir,  Die  neue  Sccmannsordnung  und  ihre  Ncbcngcsctzc.  623 

falls  darf  der  in  •§  749  des  Handelsgesetzbuchs  vorgesehene  Anteil 
der  Mannschaft  an  Berge-  oder  Hilfslohn  nicht  durch  Vereinbarung 
beseitigt  werden.  Dieses  sind  die  wesentlichsten  Schranken , die 
der  „freien  Vereinbarung"  gesetzt  sind.  Nach  den  Erfahrungen 
war  die  Freiheit  der  Vereinbarung  immer  nur  auf  Seite  des 
Rheders. 

Inbezug  auf  Krankenflirsorge  ist  es,  soweit  die  Dauer  des 
Anspruchs  berührt  wird , bei  dem  bestehenden  Gesetz  geblieben, 
was  weniger  ist  als  früher  bereits  dem. Seemann  bewilligt  wurde. 
Nach  Art.  548  des  Handelsgesetzbuchs  vom  24.  Juni  1861  hatte  der 
Schiffsmann  Anspruch  auf  Krankenverpflegung  und  freie  Kur,  wenn 
er  vor  Antritt  der  Reise  erkrankte,  sowie  wenn  er  die  Reise  antrat 
und  mit  dem  Schiffe  nach  dem  Heimatshafen  oder  dem  Halen,  wo 
er  geheuert  worden  war,  zurückkehrte  bis  zum  Ablauf  von  drei 
Monaten  seit  der  Rückkehr  des  Schiffes;  und  wenn  er  die  Reise 
antrat  und  mit  dem  Schiffe  zurückkehrte,  die  Rückreise  des  Schiffes 
jedoch  nicht  in  dem  Heimatshafen  des  Schiffes  oder  dem  Hafen 
endete,  wo  der  Schiffsmann  geheuert  war,  bis  zum  Ablauf  von 
sechs  Monaten  seit  der  Rückkehr  des  Schiffes.  Da  man  auf  den 
kleinen  Schiffen  schwer  kranke  Seeleute  nicht  behalten  konnte,  so 
bildete  die  Heimschaffung  nach  dem  Heimatshafen  die  Ausnahme, 
also  war  der  Anspruch  auf  eine  Unterstützung  von  sechs  Monaten  die 
Regel.  1872  schränkte  man  den  Anspruch  der  Seeleute  ein,  indem  man 
die  Worte : „den  Heimatshafen,  oder  den  Hafen,  wo  der  Schiffsmann 
angeheuert  ist",  durch  die  Worte:  „einen  deutschen  Hafen"  ersetzte. 
Der  Anspruch  von  sechs  Monaten  blieb  nur  noch,  wenn  der  Kranke 
in  einem  ausländischen  Hafen  zurückgelassen  war.  Dieser  Fall  trat 
aber  1872  viel  häufiger  ein  als  jetzt.  Die  grofsen  Dampfschiffe,  auf 
welchen  jetzt  die  Mehrzahl  der  Schiffsleute  fahrt,  haben  viel  bessere 
Vorrichtungen,  einen  Kranken  an  Bord  zu  behalten,  als  cs  die 
Segelschiffe  haben.  Auch  kehren  die  Dampfschiffe  in  viel  kürzeren 
Zwischenräumen  nach  Deutschland  zurück  und  werden  daher  die 
Kranken  in  der  Regel  nach  einem  deutschen  Hafen  bringen,  so  dafs 
das  Recht  auf  drei  Monate  Unterstützung  die  Regel  sein  wird. 

Eine  Erweiterung  der  Rechte  ist  eingetreten,  indem  die  Unter- 
stützung nicht  mehr,  wie  es  der  Fall  war,  bei  Geschlechtskrank- 
heiten versagt  werden  darf.  Ferner  darin , dafs  die  Familie  der 
Kranken,  wenn  sie  überwiegend  von  dessen  Heuer  gelebt  hat,  An- 
spruch auf  ein  Viertel  der  Heuer  hat.  Hier  schliefst  sich  die  See- 
mannsordnung in  so  weit  dem  Gesetz  für  Krankenversicherung  an, 


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Gesetzgebung : Deutsches  Reich. 


als  man  der  Familie  des  besser  gelohnten  Seemanns  eine  Unter- 
stützung zukommen  läfst,  wie  sie  die  Familie  des  gegen  Krankheit 
versicherten  Arbeiters  auch  hat.  Auch  hier  beträgt  das  Kranken- 
geld die  Hälfte  des  Arbeitslohnes  und  die  Familienunterstützung, 
der  in  Heilanstalten  untergebrachten  Kanken,  die  Hälfte  des  Kranken- 
geldes. Die  Familie  des  Schiffsmannes  ist  aber  schon  dadurch  be- 
nachteiligt, dafs  nur  die  Heuer  bei  Berechnung  der  F'amilienunter- 
stützung  in  Anrechnung  kommt,  während  der  Sehiffsmann  neben 
seiner  Heuer  noch  Kost  und  Ueberstundcnlohn  hat.  Bei  der 
Krankenversicherung  müssen  die  Naturalbezüge  und  Tantiemen  bei 
Berechnung  der  Lohnhöhe  mit  in  Anrechnung  gebracht  werden. 
Ferner  werden  die  Familien  schlecht  gelohnter  Seeleute  gar  keine 
Familienunterstützung  erhalten , weil  die  Unterstützung  nur  dann 
gezahlt  wird,  wenn  der  Unterhalt  der  Familie  ganz  oder  über- 
wiegend aus  dem  Heuerverdienste  bestritten  ist.  In  der 
zweiten  Lesung  war  beschlossen,  dafs  die  Unterstützung  auch  dann 
gezahlt  werden  mufs,  wenn  die  Angehörigen  nur  teilweise  von 
dem  Heuerverdienst  gelebt  haben.  Das  Wort  „teilweise“  wurde 
durch  „überwiegend“  ersetzt,  weil,  wie  die  Antragsteller  behaupteten, 
dieses  Wort  auch  im  Seeunfallversicherungsgesetz  stehe.  Die  An- 
tragsteller haben  aber  offenbar  übersehen,  dafs  es  dort  nur  auf 
Aszendenten,  elternlose  Enkel  oder  Ehemänner,  die  von  ihren 
Frauen  ernährt  werden,  Bezug  hat.  Hier  verlieren  Ehefrauen  und 
Kinder  die  Unterstützung,  denen  im  Kranken-  und  Unfallversicherungs- 
gesetz  unter  allen  Umständen  ein  Anspruch  auf  Unterstützung  zu- 
gebilligt wird.  Bedenklich  ist  die  Fassung  für  die  Familien  der 
Schiffsleute,  bei  denen  die  Heuer  nur  einen  verschwindend  kleinen 
Bruchteil  des  Arbeitsverdienstes  ausmacht.  Bei  den  Stewards  der 
grofsen  Passagierdampfer  bildet  das  Trinkgeld  die  Haupteinnahme- 
quelle. Ein  Steward  kann  seine  Familie  ganz  aus  seinem  Arbeits- 
verdienst erhalten  haben,  und  doch  kann  man  ihm  nachweisen,  dafs 
aus  dem  Heuerverdienst  nur  ein  so  geringer  Bruchteil  zum  Unter- 
halt beigetragen  ist,  dafs  die  Familie  unmöglich  Anspruch  auf 
Familienunterstützung  machen  kann.  In  ähnliche  Notlage  werden 
die  Familien  der  kranken  Schiffsleute  der  unteren  Chargen  kommen. 
Wenn  diese  Schiffsleute  auch  mehr  als  die  Hälfte  ihrer  Heuer  an  die 
Familie  abgeben,  so  wird  man  in  den  grofsen  I Iafenstädtcn  doch 
leicht  nachweisen  können , dafs  damit  nicht  die  Hälfte  der  Aus- 
gaben der  Familie  bestritten  werden  kann  und  folglich  fallt  der 
Anspruch  fort.  Lückenhaft  ist  die  Bestimmung  auch,  weil  man 


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H.  Molkcnbuhr,  Die  neue  Seemannsordnung  und  ihre  Nebengesetze.  625 

keine  Mindestleistung  festgesetzt  hat.  Nach  dem  Krankenversiche- 
rungsgesetz mufs  mindestens  ein  Viertel  des  ortsüblichen  Tagelohns 
gewöhnlicher  Tagearbeiter  als  Familienunterstützung  gezahlt  werden. 
Diese  Summe  werden  die  Familien  der  Seeleute  in  Bremen  und 
Kiel  nur  erreichen,  wenn  die  Monatsheuer  87,50  Mark,  in  Hamburg, 
wenn  dieselbe  75  Mark  betragen  hat,  eine  Summe,  die  nur  an 
einen  geringen  Bruchteil  der  Schiffsleute  bezahlt  wird.  Die  Familien 
erkrankter  Seeleute  sind  also,  mit  wenigen  Ausnahmen , schlechter 
gestellt  als  die  Familien  auf  Grund  des  Krankenversicherungsgesetzes 
versicherter  Arbeiter. 

F-benfalls  hat  man  sich  nicht  entschlossen , die  Lücke  zu  be- 
seitigen , die  zwischen  Beendigung  der  Krankenunterstützung  und 
Beginn  der  Invalidenrente  besteht,  obwohl  Graf  Posadowsky  wieder- 
holt die  Beseitigung  dieser  Lücke  als  eine  der  vornehmsten  und 
nächsten  Aufgaben  der  Gesetzgebung  bezeichnet  hat.  Man  hätte 
hier  um  so  leichter  ein  Recht  auf  26  Wochen  Krankenunterstützung 
bewilligen  können,  weil,  wie  wir  oben  bereits  nachgewiesen  haben, 
dieses  Recht  in  der  Zeit  zwischen  1861  und  1873  die  Regel  War. 
Gegenwärtig  hat  der  kranke  Schiffsmann  nur  dann  Anspruch  auf 
sechs  Monate  Verpflegung,  wenn  er  in  einem  ausländischen  Hafen 
zurückgclassen  ist.  Der  kranke  Schiffsmann  kann  aber  jederzeit, 
auch  gegen  seinen  Willen,  nach  Deutschland  transportiert  werden, 
sobald  das  Seemannsamt,  in  dessen  Bezirk  er  sich  befindet,  und 
irgend  ein  Arzt  seine  Zustimmung  giebt.  Der  Arzt  braucht  den 
Kranken  gar  nicht  gesehen  zu  haben.  Nach  den  Beschlüssen  der 
zweiten  Lesung,  sollte  der  behandelnde  Arzt  seine  Zustimmung 
geben.  Das  Wort  „behandelnde"  wurde  durch  das  Wort  „ein"  er- 
setzt. Durch  den  Rücktransport  wird  dies  Recht  auf  dreimonat- 
liche Unterstützung  zur  Regel  werden.  Wenn  die  in  Aussicht  ge- 
stellte Reform  des  Krankenversicherungsgesetzes  kommt  und  dann 
die  Dauer  der  Krankenunterstützung  auf  sechs  Monate  ausgedehnt 
wird,  dann  wird  man  auch  diesen  Teil  der  Seemannsordnung 
ändern  oder  die  Krankenversicherung  auf  die  Seeleute  ausdehnen 
müssen.  Durch  die  Ausdehnung  der  Unterstützungsdauer  von  13  auf 
26  Wochen  wird  keine  übermäfsige  Belastung  der  Rhederei  ent- 
stehen. Denn  nach  Berechnungen  solcher  Krankenkassen,  die  hier 
länger  als  1 3 Wochen  Krankenunterstützung  zahlen , betragen  die 
Aufwendungen  für  Kranke  in  der  13.  bis  26.  Woche  8 bis  9 Proz. 
von  der  Summe,  die  an  Kranke  bezahlt  wird,  welche  weniger  als 
13  Wochen  krank  sind. 


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Gesetzgebung:  Deutsches  Reich. 


Eine  grundsätzliche  Aenderung  ist  in  der  Organisation  der  See- 
mannsämtcr  eingetreten,  sobald  diese  als  Strafgericht  zu  entscheiden 
haben.  Die  Organisation  der  Seemannsämter  im  Reichsgebiet  bleibt 
zwar  den  Landesregierungen  überlassen,  aber  dieselben  können  es 
nicht  ganz  so  machen,  wie  es  ihnen  beliebt.  Gegenwärtig  bestehen 
die  Seemannsämter  in  Hamburg  und  Bremen  aus  je  einer  Person. 
Diese  kann  bei  Uebertretungen,  die  mit  Gcldbufse  bis  zu  150  Mark 
oder  mit  Haft  bestraft  werden,  willkürlich  die  Strafen  festsetzen. 
Der  Verurteilte  hat  zwar  das  Recht,  gerichtliche  Entscheidung  zu 
verlangen,  da  er  aber  irt  den  meisten  Fällen  bald  wieder  den  1 lafen- 
platz  verläfst,  so  hat  diese  Bestimmung  fast  nur  einen  theoretischen 
Wert.  Jetzt  soll  das  Seemannsamt  im  Reichsgebiet  nur  Strafen  ver- 
hängen können , wenn  neben  den  Vorsitzenden  zwei  schiffahrts- 
kundige  Beisitzer  an  den  Verhandlungen  teilnehmcn.  Die  Ver- 
handlungen im  Strafverfahren  sind  öffentlich. 

Ein  recht  dunkles  Kapitel  sind  die  Disziplinär-  und  die  Straf- 
vorschriften. Hier  findet  man  alles  vereinigt , was  in  einem  mo- 
dernen Arbeitergesetz  nicht  stehen  sollte.  Die  Disziplinarvorschriften 
beginnen  zwar  mit  einer  Neuerung,  die  man  immer  als  Verschlech- 
terung ansehen  mufs,  man  mag  auf  einem  Standpunkt  stehen,  auf 
welchem  man  will.  Die  Anbeter  der  straffen  Subordination  müssen 
es  als  Verschlechterung  und  Lockerung  der  Disziplin  ansehen,  wenn 
die  Disziplinargewalt,  die  sonst  von  dem  Schiffer  allein  ausgeübt 
wurde,  nun  an  zwei  resp.  drei  Personen  übertragen  wird.  Jede  Zer- 
splitterung, und  die  daraus  herrührenden,  sich  wiedersprechenden 
Anordnungen,  müssen  die  Disziplin  lockern.  Solche  widersprechende 
Anordnungen  können  nicht  ausbleiben.  Sollen  sie  vermieden 
werden,  dann  mufs  der  Kapitän  sich  jeder  Einmischung  in  die  An- 
ordnungen des  ersten  Offiziers  auf  Deck,  und  in  die  Anordnungen 
des  Obermaschinisten  im  Maschinenraum  enthalten,  dann  wird  der 
Kapitän  zur  Repräsentationsfigur,  der  nur  noch  die  Herrschaft  über 
das  Küchen-  und  Aufwartepersonal  hat.  Die  Disziplinargewalt  über 
diesen  Teil  des  Personales  darf  er  nicht  auf  andere  übertragen.  Er 
ist  dann  Zeremonienmeister  und  Obermundschenk,  aber  nicht  mehr 
Kapitän. 

Das  Gesetz  zwingt  ihn  zwar  nicht,  die  in  § 84  erwähnte 
Uebertragung  vorzunehmen.  Macht  der  Kapitän  von  diesem  Rechte 
keinen  Gebrauch,  dann  wird  es  ihm  schwer  fallen,  mit  dem  ersten 
Offizier  und  Obermaschinisten  in  Frieden  zu  leben.  Jeder  Offizier, 
dem  man  ein  Recht  vorenthält,  was  seine  Kameraden  auf  anderen 


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H.  Molkenbuhr,  Die  neue  Sccmannsordnung  und  ihre  Nebengesetze.  627 

Schiffen  haben,  wird  sich  zurückgesetzt  fühlen.  Er  mufs  es  als  ein 
Mifstrauen,  welches  der  Kapitän  gegen  ihn  hat,  empfinden.  Wenn 
aber  die  Harmonie  in  der  obersten  Leitung  gestört  ist,  dann  wird 
der  ganze  Organismus  leiden. 

Schlimmer  wird  es  noch  für  die  Schifisleute.  Der  Kapitän 
kann  eine  generelle  Anordnung  treffen , die  der  Schiffsmann  sich 
zur  Richtschnur  nehmen  kann.  Wenn  nun  der  mit  Disziplinarge- 
walt ausgerüstete  Offizier  eine  entgegengesetzte  Anordnung  trifft, 
dann  ist  der  Konflikt  da.  An  solchen  Konflikten  wird  es  nicht 
fehlen  und  der  Schiffsmann  wird  der  leidende  Teil  sein,  weil  auch 
er  es  nicht  vermocht  hat,  was  schon  in  der  Bibel  als  Unmöglich- 
keit bezeichnet  wurde,  ln  den  Fällen,  wo  der  Kapitän  nicht  ganz 
zurücktritt,  soll  der  Schiffsmann  zwei  Herrn  dienen.  Die  §§  85 
bis  92  sind  eine  getreue  Kopie  der  Gesindeordnungen  und  dann 
folgen  die  Bestimmungen  mit  den  Strafandrohungen.  Hier  ist  nun 
das  ganze  Register  an  Strafthaten  vorhanden,  denen  man  schon  oft, 
aber  vergeblich  versucht  hat,  auch  für  den  gewerblichen  Arbeiter, 
Geltung  zu  verschaffen.  Es  beginnt  mit  der  kriminellen  Bestrafung 
des  Kontraktbruches,  der  zwangsweisen  Zurückbringung,  und  dann 
folgen  die  schweren  Strafen  wegen  Nachlässigkeit  bei  der  Arbeit 
oder  Gehorsamsverweigerung  gegen  Vorgesetzte. 

Man  sagt,  solch  schwere  Strafen  sind  nötig,  weil  im  Schiffs- 
dienst stramme  Disziplin  herrschen  mufs.  Die  Notwendigkeit  der 
strammen  Disziplin  ist  aber  keine  besondere  Eigentümlichkeit  des 
Schiffahrtsgewerbes,  stramme  Disziplin  ist  auch  in  jedem  Grofs- 
betrieb  nötig.  Kein  grofscs  Werk  kann  vollbracht  werden,  ohne 
dafs  viele  Kräfte  einheitlich  Zusammenwirken.  Im  Bergbau,  Eisen- 
bahnbetrieb, in  Hütten  und  Walzwerken , auf  Bauten  u.  s.  w.  ist 
überall  das  Zusammenwirken  in  demselben  Mafse  nötig,  wie  auf 
Schiffen  und  die  Erfahrung  lehrt,  dafs  man  im  Gewerbe  die  Straf- 
androhungen entbehren  kann,  die  man  bei  der  Schiffahrt  für 
dringend  erforderlich  hält.  Genau  genommen  sind  die  Straf- 
androhungen eine  Beleidigung  für  die  Kapitäne,  indem  man  es  so 
hinstellt,  als  sei  der  Kapitän  unfähig  Ordnung  zu  halten,  wenn  ihm 
nicht  der  Strafrichter  zur  Seite  stände.  So  unfähig  sind  unsere 
Kapitäne  aber  nicht  und  auf  den  Schiffen,  wo  die  beste  Ordnung 
und  Disziplin  herrscht,  sind  dieselben  nicht  die  Folge  der  Straf- 
gesetzgebung, sondern  das  Produkt  der  Thätigkcit  und  Tüchtigkeit 
des  Kapitäns.  Dem  tüchtigen  und  geistig  überlegenen  Kapitän 
folgt  jeder  Seemann  mit  förmlicher  Begeisterung,  da  bedarf  es  der 


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Gesetzgebung : Deutsches  Reich. 


Strafandrohung  für  Gehorsamsverweigerung  nicht.  Würde  eine 
Statistik  über  die  Strafanzeigen  der  Kapitäne  geführt,  dann  würde 
sich  wahrscheinlich  heraussteilen,  dafs  die  tüchtigsten  Kapitäne  am 
wenigsten  auf  dieser  Liste  zu  finden  sind.  Der  echte  Seemann 
würde  sich  schämen,  zum  Richter  zu  laufen  und  diesem  zu  erzählen, 
dafs  er  nicht  in  der  Lage  war,  die  Disziplin  -aufrecht  zu  erhalten. 

Um  so  häufiger  wird  der  unfähige  Kapitän  den  Strafrichter  an- 
rufen.  Wenn  Befehle  gegeben  werden,  die  jeder  erfahrene  Seemann 
für  eine  Dummheit  oder  die  Folge  von  Trunkenheit  hält,  werden 
dieselben  nur  unvollkommen  oder  gar  nicht  ausgeführt.  Nicht  weil 
der  Widerstrebende  ein  Raufbold  oder  Bösewicht  ist,  sondern  weil 
er  die  ihm  aufgetragene  Arbeit  für  überflüssig  oder  gar  schädlich 
hält.  Durch  unfähige  oder  dem  Trunk  ergebene  Schiffsführer 
werden  die  Strafvorschriften  zu  einer  Gefahr  für  die  Seeleute.  Der 
Untergebene  ist  dem  Vorgesetzten  auch  dann  unbedingten  Gehor- 
sam schuldig,  wenn  der  Vorgesetzte  total  betrunken  oder  sonst 
völlig  unfähig  ist,  seinen  Dienst  zu  versehen.  Wenn  der  Kapitän 
Manöver  anordnet , die  den  Untergang  des  Schiffes  herbeiführen 
müssen,  dann  entschliefsen  sich  die  Schiffsleute  nur  schwer  zum 
Ungehorsam  oder  Widerstand , weil  sie  immer  ihre  Freiheit  und 
ihr  Fortkommen  aufs  Spiel  setzen.  Könnte  genau  abgewogen 
werden,  wie  viel  Schaden  an  Gut  und  Menschenleben  der  er- 
zwungene blinde  Gehorsam  schon  angcrichtet  hat,  und  könnte  man 
ermessen,  was  dadurch  gewonnen  ist,  dann  würde  wahrscheinlich 
der  Verlust  den  Gewinn  stark  übersteigen.  Mancher  Kapitän 
würde  vorsichtiger  in  seinen  Anordnungen  werden,  wenn  die  dra- 
konischen Strafen  fehlen.  Die  Annahme,  dafs  die  hohen  Straf- 
bestimmungen nötig  sind,  weil  grofser  Schaden  angerichtet  werden 
kann,  ist  trügerisch.  Man  übersieht  dabei  geflissentlich,  dafs  mit 
dem  Gut  des  Kaufmanns  und  des  Rheders  auch  das  Leben  des 
Schiffsmannes  auf  dem  Spiele  steht.  Die  Lebensgefahr  nötigt  den 
Schiffsmann  zur  Vorsicht.  Der  Schiffsmann  aber,  der  in  seiner  Ver- 
blendung schon  sein  eignes  Leben  aufs  Spiel  setzt,  wird  sich  auch 
nicht  durch  die  Strafandrohungen  in  der  Seemannsordnung  vom 
Ungehorsam  abschrccken  lassen. 

Für  die  wirklichen  Vergehen  und  Verbrechen  gegen  Leben  und 
Eigentum  hat  das  Strafgesetzbuch  zahlreiche  und  schwere  Strafen. 
Die  Schiffsbesatzung  ist  im  Strafgesetz  schon  so  reichlich  mit  Straf- 
androhungen bedacht,  wie  kein  anderer  Berufszweig.  Nur  der,  welcher 
den  Beruf  des  Seemanns  und  das  Personal  nicht  kennt,  kann  zu  dem 


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H.  Molkcnbuhr,  Die  neue  Seemannsordnung  und  ihre  Ncbengcsctze. 

Entschlufs  kommen,  dafs  ein  weiteres  Strafregister  nötig  ist.  Die 
Strafen,  wie  sie  für  Dienstboten,  Landarbeiter  und  Seeleute  für 
Handlungen  und  Unterlassungen  bei  der  Arbeit  vorgesehen  sind, 
haben  auch  jeden  Schein  von  Berechtigung  verloren,  nachdem  die 
Ueberflüssigkeit  durch  das  Beispiel  der  gewerblichen  Arbeiter  er- 
wiesen ist.  Unsere  Schiffsführer  beweisen  auch  durch  die  That, 
dafs  sie  die  Bestimmungen  für  überflüssig  halten,  indem  sie  oft 
Schiffe  vollständig  mit  Farbigen  bemannen,  also  Leute  anstellen,  die 
die  Seemannsordnung  weder  lesen  noch  verstehen  können,  denen 
die  Ausdrücke  ivie  Haft,  Gefängnis  und  Zuchthaus  völlig  unfassbare 
Begriffe  sind.  Kann  man  mit  Chinesen  und  Malayen  Schiffahrt 
treiben,  dann  wird  man  es  erst  recht  mit  zivilisirten  Europäern 
können,  die  wissen,  dafs  sie  mit  jeder  Handlung,  durch  welche 
Leben  und  Eigentum  gefährdet  oder  geschädigt  wird,  eine  nach 
dem  allgemeinen  Strafrecht  verbotene  und  unter  Strafe  gestellte 
Handlung  begehen.  Mehr  als  die  Hälfte  der  in  der  Seemanns- 
ordnung angedrohten  Strafen  ist  überflüssig  und  unter  Umständen 
eine  Gefahr,  welcher  man  dem  Menschen  noch  aussetzt,  dessen  Be- 
ruf ein  ununterbrochener  Kampf  gegen  die  Gefahren  ist,  mit  welchen 
er  durch  Sturm,  Wellen  und  Klippen  bedroht  wird. 

Technisch  hat  man  jetzt  mit  der  früheren  Praxis  gebrochen, 
den  alten  Paragraphen  ihre  alten  Nummern  zu  lassen  und  zwischen- 
geschobcnc  Neuerungen  durch  Buchstaben  zu  bezeichnen.  Durch 
diese  Einrichtung  ist  die  Gewerbeordnung  ein  abschreckendes  Bei- 
spiel. Die  bestehende  Seemannsordnung  hatte  1 1 1 Paragraphen. 
Der  Regierungsentwurf  hatte  bereits  122  mit  fortlaufenden  Nummern 
versehene  Paragraphen,  deren  Zahl  durch  den  Reichstag  auf  138 
erhöht  wurde.  Soweit  Paragraphen  des  bestehenden  Gesetzes  in 
ihrem  Wortlaut  übernommen  sind,  sind  sie  jetzt  mit  anderen  Ziffern 
versehen. 

Die  Regelung  einer  wichtigen  und  spruchreifen  Materie  unter- 
liefs  die  Vorlage  und  der  Reichstag  begnügte  sich  mit  der  Annahme 
einer  Resolution,  in  welcher  die  Regelung  gefordert  wird.  Wir 
meinen  gesetzliche  Vorschriften  über  Seetüchtigkeit,  Tiefgang  und 
Bemannung  der  Schiffe.  In  einer  Anzahl  von  Gesetzen  wie  im 
Handelsgesetzbuch,  Auswanderergesetz,  Unfallverhütungsvorschriften 
der  Seeberufsgenossenschaft  u.  s.  w.  wird  gefordert,  dafs  die  Schiffe 
in  seetüchtigem  Zustand,  gehörig  bemannt  und  nicht  überladen  sein 
dürfen.  Aber  alle  Gesetze  vermeiden  es  anzugeben,  was  unter  den. 

Archiv  für  toi.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVII.  4* 


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Gesetzgebung : Deutsches  Reich. 


hier  genannten  Begriffen  zu  verstehen  ist.  Folglich  hat  der  Rheder 
nach  eigenem  Gutdünken  zu  entscheiden. 

lieber  die  Seetüchtigkeit  entscheiden  zwar  die  Schiffsklassi- 
fikationsgesellschaften. Aber  dieses  sind  Aktiengesellschaften , bei 
denen  auch  andere  Rücksichten  mitsprechen.  Ein  Schiff  wird  auch 
dann  nicht  von  der  Fahrt  ausgeschlossen,  wenn  es  gar  keine  Klasse 
mehr  hat.  In  den  letzten  Jahrzehnten  haben  die  Seeleute  freilich 
das  Glück  gehabt,  eine  gewaltige  Macht  wirken  zu  sehen,  die  unter 
den  alten  Schiffen  mehr  aufgeräumt  hat,  als  die  mächtigste  Ueber- 
wachungsgcsellschaft  je  vermocht  hätte.  Diese  Macht  war  die  fort- 
schreitende Technik.  Schiffe  mit  der  dreifachen  Ladefähigkeit,  wie 
vor  wenigen  Jahrzehnten  wurden  gebaut.  Diese  grofsen  Dampfer 
brauchen  nicht  mehr  Besatzung  und  nur  wenig  mehr  Kohlen  als 
die  vor  IO  bis  15  Jahren  gebauten  kleinen  Dampfer.  Die  grofsen 
Gesellschaften,  an  deren  Spitze  weitsichtige  Geschäftsleute  standen, 
ersetzten  die  alten  Schiffe  schnell  durch  grofsräumige,  neue  Schiffe. 
Die  Frachtsätze  pafsten  sich  der  erhöhten  Leistungsfähigkeit  der 
neuen  Schiffe  an  und  so  hörten  die  alten  Schiffe  auf,  rentabel  zu 
sein.  Manches  Schiff,  welches  sonst  vielleicht  trotz  Klassifikations- 
gesellschaften noch  länger  als  ein  Jahrzehnt  gelaufen  wäre,  bis  es 
die  Wellen  verschlungen  hätten,  wurde  zum  Abbruch  verkauft,  weil 
das  Weiterfahren  nicht  allein  nichts  cingcbracht,  sondern  Geld  gekostet 
haben  würde.  Solche  Revolutionen,  wie  der  Uebergang  vom  Holz- 
zum  Eisen-  und  vom  Eisen-  zum  Stahlschiff,  sowie  vom  kleinen  zum 
grofsräumigeu  Dampfer,  wiederholen  sich  nicht  in  kurzen  Zwischen- 
räumen, und  darum  werden  die  Perioden  wiederkommen,  in  denen 
das  Durchschnittsalter  der  Schiffe  erheblich  höher  ist  als  gegen- 
wärtig. Nachdem  die  Reichsgesetze  wiederholt  die  Seetüchtigkeit 
der  Schiffe  gebieten,  man  aber  nicht  in  der  Lage  ist,  den  Begriff 
der  Seetüchtigkeit  in  Gesetzen  festzulegen,  ist  die  behördliche  Kon- 
trolle direkt  geboten. 

Ebenso  ist  es  mit  dem  Verbot  der  Ueberladung.  Vielfach  ist' 
zwar  behauptet  worden,  es  lasse  sich  die  I-adegrcnze  nicht  genau, 
bestimmen.  Nachdem  aber  Grofsbritannien,  dessen  Schiffe  auf  allen 
Meeren  am  zahlreichsten  angetroffen  werden,  vorangegangen  und 
jedes  Schiff  mit  einer  Tieflademarke  versehen  hat,  und  die  beiden 
grüfsten  Gesellschaften,  die  Hamburg-Amerika-Linie  und  der  Nord- 
deutsche Lloyd,  dem  Beispiele  gefolgt  sind,  wird  man  nicht  be- 
haupten können,  dafs  es  unerfüllbare  Wünsche  sind,  die  ausge- 
sprochen werden.  Ebenso  verhält  es  sich  mit  der  Bemannungsskala. 


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II.  Molkenbuhr,  Die  neue  Scemannsordnnng  und  ihre  Nebengesetze.  63t 

Auch  liier  ist  Großbritannien  vorangegangen.  Auch  die  Schiffs- 
klassifikationsgesellschaften  setzen  die  Bemannungsskala  fest , aber 
kein  Rheder  ist  gezwungen,  sie  zu  beachten.  Wenn  ein  Schiff  ver- 
loren ist  und  die  Zahl  der  Geretteten  und  der  Ertrunkenen  genannt 
wird,  dann  findet  man  in  der  Regel,  dafs  die  dort  gegebene  Ziffer 
sich  nicht  deckt  mit  der  im  „Handbuch  für  die  deutschen  Handels- 
marine“ angegebenen  Zahl  der  Besatzung. 

Mit  der  Seemannsordnung  wurden  noch  drei  Nebengesetze  ver- 
abschiedet. Das  Gesetz  betreffend,  die  Verpflichtung 
der  Kauffahrteischiffe  zur  Mitnahme  heimzuschaffen* 
der  Seeleute,  wurde  dahin  erweitert,  dafs  die  Schiffe,  nicht  wie 
früher,  nur  verpflichtet  sind,  hülfsbedürftige  Seeleute  mitzunehmen, 
sondern  sie  sollen  jetzt  auch  verpflichtet  sein,  solche  Seeleute  mit- 
zunehmen, die  wegen  einer  strafbaren  Handlung  an  die  deutschen 
Behörden  abgeliefert  werden  sollen.  Die  Entschädigungssätze,  die 
der  Rheder  verlangen  kann  für  die  Heimschaffung  hilfsbedürftiger 
Seeleute,  wurden,  wenn  die  Heimschaffung  auf  einem  Dampfer  er- 
folgt, für  Schiffsoffiziere  von  4,50  Mark  auf  6 Mark  und  die  andern 
Seeleute  von  2 Mark  auf  3 Mark  pro  Tag  erhöht.  Bei  Heim- 
schaffung auf  Segelschiffen  liefs  man  es  bei  den  1872  festgesetzten 
Sätzen. 

Eine  ganz  neue  Materie  regelt  das  „Gesetz  betreffend  Stellen- 
vermittlung für  Schiffsleute".  Es  ist  eine  alte  Erfahrung,  dafs  Ar- 
beitslose sehr  oft  das  Opfer  gewissenloser  Ausbeuter  und  Betrüger 
werden.  Besonders  schlimm  waren  die  Seeleute  daran.  Sie  haben 
für  diese  Ausplünderer  den  charakteristischen  Namen  „Landhaifische" 
erfunden.  Zwar  hat  schon  mehrfach  die  Partikulargesetzgebung  den 
Versuch  gemacht,  hier  cinzuschreiten , aber  die  Versuche  hatten 
wenig  praktische  Erfolge.  Wenn  man  dem  Heuerbaas  den  Betrieb 
der  Wirtschaft  untersagte,  dann  verkaufte  er  die  Wirtschaft,  bevor- 
zugte aber  bei  der  Stellenvermittlung  die  Leute,  die  in  der  Wirt- 
schaft, wo  er  auch  verkehrt,  das  meiste  Geld  verzehrten.  Als 
dritter  im  Bunde  erscheint  noch  ein  Händler  mit  Ausrüstungsgegen- 
ständen. Wenn  ein  Seemann  von  langer  Reise  heimkehrt  und  bald 
die  nicht  unbedeutende  Summe  seines  verdienten  Lohnes  ausgegeben 
hat,  dann  entdeckt  er,  dafs  er  in  der  Regel  nur  sein  Geld  ausge- 
geben, aber  sehr  wenig  dafür  erhalten  hat.  Der  Mittelpunkt  solcher 
Ausplünderungskompagnien  ist  in  der  Regel  der  Heuerbaas. 

Eis  gab  Heuerbaase,  die  unter  den  Seeleuten  als  Landhaifische 
schlimmster  Sorte  bekannt  waren,  und  doch  hatten  sie  grofse  Kund- 

41* 


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632 


Gesetzgebung : Deutsches  Reich : 


schaft,  weil  sie  begehrenswerte  Stellen  zu  vergeben  hatten.  Es  sind 
das  dieselben  Mifsstände,  die  bei  der  gewerbsmäfsigen  Stellenver- 
mittlung bei  anderen  Gewerben  auch  beklagt  werden.  Der  See- 
mann wird  aber  öfter  noch  schlimmer  ausgeplündert,  weil  bei  ihm 
zu  der  Notlage  in  der  er  sich  als  Arbeitsloser  befindet,  noch  hinzu- 
kommt , dafs  er  in  der  Regel  unbeholfener  ist , und  sich  in  der 
Regel  schon  auf  See  befindet,  wenn  er  den  erlittenen  Schaden  ganz 
übersehen  kann.  Er  ist  fern  von  der  Heimat  und  kann  nicht  die 
Hilfe  von  Gerichten  und  Behörden  in  Anspruch  nehmen,  und  wenn 
er  heimkehrt,  hat  er  den  Schaden  schon  verschmerzt. 

Hier  hat  nun  die  Gesetzgebung  einen  energischeren  Schritt  unter- 
nommen, als  bei  derselben  Materie  in  der  Gewerbeordnung.  Das 
Verbot  des  Betriebs  von  Nebenbeschäftigung  resp.  der  Annahme 
von  Vergütungen  von  Gastwirten,  Händlern  und  Pfandleihern  wird 
nur  einen  problematischen  Wert  haben,  da  sich  die  stille  Teilhaber- 
schaft nie  kontrollieren  läfst.  Wer  will  schlicfslich  diese  Geschäfts- 
leute hindern,  dem  Heuerbaas  oder  dessen  Frau  Geschenke  zu 
machen.  Die  wirksamste  Mafsregel  liegt  in  § 4 Abs.  2,  durch 
welche  der  Rheder  gezwungen  wird,  mindestens  die  Hälfte  der  Ver- 
mittlungsgebühren zu  zahlen.  Da  werden  die  Rheder  bald  cinsehen, 
dafs  es  eine  viel  billigere  Form  der  Stellenvermittlung  giebt  als  das 
Heuerbaasw'esen.  Sehr  bald  wird  man  zu  der  Einsicht  kommen, 
dafs  grofse  Hcucrbüreaus  viel  billiger  arbeiten  können,  und  in  grofsen 
Hafenstädten  werden  bald  die  Heuerbaase  ausgeschaltet  und  durch 
Heuerbüreaus  ersetzt  sein. 

Wenn  diese  Heuerbüreaus  allein  von  den  Rhedern  eingerichtet 
und  verwaltet  werden,  werden  vielleicht  neue  Schattenseiten  für  den 
Schiffsmann  entstehen.  Die  trüben  Erfahrungen,  die  Arbeiter  anderer 
Erwerbszweige  mit  den  Arbeitsnachweisen  der  Unternehmer  gemacht 
haben,  werden  dem  Seemann  nicht  erspart  bleiben.  Dazu  kommt, 
dafs  die  Rheder  durch  die  Büreaus  eine  genaue  Uebersicht  über  die 
Lage  des  Arbeitsmarktes  haben  und  jede  für  den  Seemann  un- 
günstige Konjunktur  ausnützen  können. 

Also  auch  hier  winkt  dem  Seemann  keine  ungetrübte  Freude. 
Vielleicht  wird  es  ja  den  Seeleuten  gelingen,  durch  Stärkung  ihrer 
Organisation  die  hier  drohenden  Gefahren  zu  überwinden.  Die 
Organisationen  haben  nun  ein  gröfseres  Thätigkeitsfeld.  Mit  der  Be- 
freiung vom  Heuerbaas  wird  der  Seemann  auch  von  dem  Anhang 
und  Freunden  des  Heuerbaases  befreit.  Dann  können  die  Organi- 
sationen dazu  übergehen , die  Ausrüstungsgegenstände  genossen- 


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Gesell,  betreffend  eine  Seemannsordnung. 


633 


schaftlich  einzukaufen.  Der  billige  Bezug  notwendiger  Sachen  wird 
ein  Band  sein,  was  den  Seemann  mit  an  seine  Organisation  fesselt. 

Die  Abänderung  seerechtlicher  Vorschriften  des  Handelsgesetz- 
buchs war  eine  notwendige  Konsequenz  der  Abänderung  der  See- 
mannsordnung. 

Wir  lassen  nunmehr  den  Text  der  Seemannsordnung  und  der 
Nebengesetze  im  Wortlaut  folgen : 


Seemannsordnung. 

Vom  2.  Juni  1902. 

Wir  Wilhelm,  von  Gottes  Gnaden  Deutscher  Kaiser,  König  von  Preufsen  ctc. 
verordnen  im  Namen  des  Reichs , nach  erfolgter  Zustimmung  des  Bundesrats  und 
des  Reichstags,  was  folgt: 


Erster  Abschnitt. 

Einleitende  Vorschriften. 

§ I.  Die  Vorschriften  dieses  Gesetzes  finden  auf  alle  Kauffahrteischiffe  (Ge- 
setz vom  22.  Juni  1899  § 1,  Reichs-Gesetzbl.  18*9  S.  319,  Reichs-Gesetzbl.  1901 
S.  184)  Anwendung,  welche  das  Recht,  die  Reichsflagge  zu  führen,  ausüben  dürfen. 

Sic  sind  der  Abänderung  durch  Vertrag  entzogen,  soweit  nicht  eine  ander- 
weitige Vereinbarung  ausdrücklich  zugclasscn  ist. 

Durch  Kaiserliche  Verordnung  mit  Zustimmung  des  Bundesrats  kann  bestimmt 
werden,  inwieweit  die  Vorschriften  dieses  Gesetzes  auf  Binnenschiffe  Anwendung 
finden,  welche  das  Recht,  die  Reichsflagge  zu  führen,  ausüben  dürfen  (Gesetz  vom 
22.  Juni  1899  § 26  a). 

§ 2.  Kapitän  im  Sinne  dieses  Gesetzes  ist  der  Führer  des  Schiffes  (Schiffer), 
in  dessen  Ermangelung  oder  Verhinderung  sein  Stellvertreter. 

Schiffsoffiziere  im  Sinne  dieses  Gesetzes  sind  diejenigen  zur  Unterstützung  des 
Kapitäns  in  der  Führung  des  Schiffes  bestimmten  Angestellten,  welche  zur  Ausübung 
ihres  Dienstes  eines  staatlichen  Befähigungsnachw'cises  bedürfen.  Aulserdem  gelten 
als  Schiffsoffiziere  die  Ärzte,  Proviant-  und  Zahlmeister. 

Schiffsmann  im  Sinne  dieses  Gesetzes  ist  jede  sonstige  zum  Dienste  auf  dem 
Schiffe  während  der  Fahrt  für  Rechnung  des  Rheders  angcstelltc  Person,  ohne 
Unterschied,  ob  die  Anmusterung  (§  1.3)  erfolgt  ist,  oder  nicht.  Auch  die  weibliche 
Angestellte  hat  die  Rechte  und  Pflichten  des  Schiffsmanns.  Der  Lootse  gilt  nicht 
als  Schiffsmann.  Die  Gesamtheit  der  Schiffsleutc  bildet  die  Schiffsmannschaft. 

§ 3.  Der  Kapitän  ist  der  Dienstvorgesetzte  der  Schiffsoffizierc  und  Schiffs- 
lcute.  Seine  Stellvertretung  liegt,  soweit  nicht  vom  Rheder  oder  vom  Kapitän  hin- 
sichtlich der  Vertretung  in  einzelnen  Dienstzweigen  anderweitige  Anordnung  ge- 
troffen ist,  dem  Steuermann,  in  Ermangelung  eines  solchen  dem  Bestmann,  ob. 


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634 


Gesetzgebung : Deutsches  Reich. 


Die  Schiffsoffizicre  sind  Vorgesetzte  sämtlicher  Schiffsleute.  Auf  die  Schiffs- 
offiziere  finden  die  für  die  Schiffsmannschaft  oder  den  Schiffsmann  geltenden  Vor- 
schriften, soweit  nicht  ausdrücklich  ein  anderes  festgesetzt  ist,  Anwendung. 

Das  dienstliche  Verhältnis  der  Schiffsoffiziere  unter  einander,  insbesondere  das 
Verhältnis  zwischen  Offizieren  verschiedener  Dienstzweige,  bestimmt  sich  nach  den 
vom  Rheder  oder  vom  Kapitän  getroffenen  besonderen  Festsetzungen.  Auf  Dampf- 
schiffen ist  jedoch  während  der  Ausübung  des  Wachtdienstcs  der  wachthabende 
Maschinist  dem  wachthabenden  Steuermann  insofern  untergeordnet,  als  er  die  von 
diesem  nach  der  Maschine  gegeben  Befehle  auszuführen  hat. 

Die  aufser  den  Schiffsoffizieren  in  den  einzelnen  Dienstzweigen  als  Vorgesetzte 
geltenden  Schiffsleute  werden  vom  Kapitän  bestimmt  und  sind  der  Schiffsmannschaft 
durch  Aushang  bekannt  zu  geben. 

§ 4.  Der  Bundesrat  erläfst  Bestimmungen  über  Zahl  und  Art  der  Schiffs- 
offiziere, mit  welchen  die  Schiffe  zu  besetzen  sind,  sowie  über  den  Grad  des  Be- 
fähigungszeugnisses, das  der  Kapitän  und  die  Schiffsoffiziere  besitzen  müssen.  Die 
Bestimmungen  sind  dem  Reichstag  bei  seinem  nächsten  Zusammentritt  zur  Kenntnis- 
nahme vorzulegen. 

§ 5.  Seemannsämtcr  mit  den  durch  dieses  Gesetz  ihnen  zugewiesenen  Befug- 
nissen und  Obliegenheiten  sind  ira  Reichsgebiete  die  landesrechtlich,  in  den  Schutz- 
gebieten die  vom  Reichskanzler  bestellten  Behörden,  ira  Auslande  die  Konsulate 
des  Reichs  für  Mafenplätzc.  ^ 

Die  Einrichtung  der  Seemannsämtcr  im  Reichsgebiete  steht  den  Landes- 
regierungen nach  Mafsgabe  der  Landesgesetze  zu.  Ihre  Geschäftsführung  unterliegt 
der  Oberaufsicht  des  Reichs.  Bei  der  Entscheidung  in  den  im  § 122  bezeichncten 
Fällen  müssen  die  Seemannsämtcr  innerhalb  des  Reichsgebietes  mit  einem  Vor- 
sitzenden und  zwei  schiffahrtskundigen  Beisitzern  besetzt  sein. 

Ist  ein  Konsul  Mitinhaber  oder  Agent  der  Rhederei  des  Schiffes,  so  ist  er 
von  der  Wahrnehmung  der  im  § 58  bezeichncten  Geschäfte  eines  Seemannsamtes  in- 
bezug  auf  dieses  Schiff  ausgeschlossen,  wenn  von  dem  bcschwerdeführcnden  Schiffs- 
offizier oder  der  Mehrzahl  der  bcschw'erdcführenden  Schiffsleutc  gegen  seine  Mit- 
wirkung Widerspruch  erhoben  wird. 

§ 6.  Die  Schutzgebiete  gelten  im  Sinne  dieses  Gesetzes  als  Inland. 

Deutsche  Häfen  im  Sinne  dieses  Gesetzes  sind  nur  die  Häfen  des  Reichs- 
gebiets. 

Zweiter  Abschnitt. 

Sccfahrtsbücher  und  Musterung. 

§ 7.  Niemand  darf  im  Reichsgebiet  als  Schiflsmann  in  Dienst  treten,  bevor 
er  sich  über  Namen,  Geburtsort  und  Alter  vor  einem  Seemannsamt  ausgewiesen 
und  von  demselben  ein  Seefahrtsbuch  ausgefertigt  erhalten  hat. 

Ist  der  Schiffsmann  ein  Deutscher,  so  darf  er  vor  vollendetem  vierzehnten 
Lebensjahre  zur  Ucbcrnahme  von  Schiffsdiensten  nicht  zugclassen  wxrdcn ; auch  hat 
er  sich  über  seine  Militärvcrhältnissc,  sowie,  wenn  er  noch  minderjährig  ist,  darüber 
auszu weisen,  dafs  er  von  seinem  gesetzlichen  Vertreter  zur  Uebernahmc  von  Schiffs- 


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Gesetz,  betreffend  eine  Seemannsordnung.  635 

diensten  ermächtigt  worden  ist.  Der  Genehmigung  des  Vormundschaftsgetfchts  be- 
darf es  nicht. 

Mit  dem  Seefahrtsbuch  ist  dem  Schiffsmanne  zugleich  ein  Abdruck  der  See- 
mannsordnung, des  Gesetzes,  betreffend  die  Verpflichtung  der  Kauffahrteischiffe  zur 
Mitnahme  heimzuschaffender  Seeleute,  dt?s  Gesetzes,  betreffend  die  Stellenvermittelung 
für  Schiffsleute,  und  einer  amtlichen  Zusammenstellung  der  Bestimmungen  über  die 
Militärverhältnisse  der  seemännischen  und  halbseemännischen  Bevölkerung  auszu- 
händigen. 

Der  Bundesrat  bestimmt,  inwieweit  als  Schiffsleute  nur  solche  Personen  ange- 
mustert  werden  dürfen,  welche  nach  Untersuchung  ihres  körperlichen  Zustandes  für 
den  zu  übernehmenden  Dienst  geeignet  sind. 

§ 8.  Die  für  einen  einzelnen  Fall  erteilte  Ermächtigung  des  gesetzlichen  Ver- 
treters (§  7)  gilt  im  Zweifel  als  ein  für  allemal  erteilt. 

Kraft  derselben  ist  der  Minderjährige  für  solche  Rechtsgeschäfte  unbeschränkt 
geschäftsfähig,  welche  die  Eingehung  oder  Aufhebung  von  Heuerverträgen  oder  die 
Erfüllung  der  sich  aus  einem  solchen  Vertrag  ergebenden  Verpflichtungen  betreffen. 

§ 9.  Wer  bereits  ein  Seemannsbuch  ausgefertigt  erhalten  hat,  mufs  behufs 
Erlangung  eines  neuen  Seefahrtsbuchs  das  ältere  vorlegen,  oder  dessen  Verlust 
glaubhaft  machen.  Dafs  dies  geschehen,  wird  von  dem  Seemannsamt  in  dem  neuen 
Seefahrtsbuche  vermerkt. 

Wird  der  Verlust  glaubhaft  gemacht,  so  ist  diesem  Vermerke  zugleich  eine 
Bescheinigung  des  Seemannsamts  über  die  früheren  Rang-  und  Dienstverhältnisse, 
sowie  über  die  Dauer  der  Dienstzeit  und  über  die  dem  Schiffsmann  anzurechnenden 
Beitragswochen  für  die  Invalidenversicherung,  soweit  derselbe  sich  hierüber  ge- 
nügend ausweist,  beizufügen. 

§ 10.  Wer  nach  Inhalt  seines  Scefahrtsbuchs  angemustert  ist,  darf  nicht  von 
neuem  angemustert  werden,  bevor  er  sich  über  die  Beendigung  des  früheren  Dienst- 
verhältnisses durch  den  in  das  Scefahrtsbuch  cinzutragcnden  Vermerk  (g§  22,  25) 
ausgewiesen  hat  Kann  nach  dem  Ermessen  des  Seemannsamts  ein  solcher  Vermerk 
nicht  beigebracht  werden,  so  dient  statt  desselben,  sobald  die  Beendigung  des 
Dienstverhältnisses  auf  andere  Art  glaubhaft  gemacht  ist,  ein  vom  Scemannsamtc 
hierüber  cinzutragcndcr  Vermerk  im  Seefahrtsbuche. 

§ II.  Einrichtung  und  Preis  des  Scefahrtsbuchs  bestimmt  der  Bundesrat.  Die 
Ausfertigung  erfolgt  kosten-  und  stempelfrei. 

Das  Seefahrtsbuch  mufs  über  die  Militärverhältnisse  und  die  Invalidenver- 
sicherung des  Inhabers  Auskunft  geben. 

§ 12.  Der  Kapitän  hat  die  Musterung  (Anmusterung,  Abmusterung)  der 
Schiffsmannschaft  nach  Mafsgabc  der  folgenden  Bestimmungen  13  bis  26)  zu 
veranlassen. 

Der  Kapitän  oder  ein  zum  Abschlufs  von  Heuerverträgen  bevollmächtigter 
Vertreter  der  Rhcdcrei  und  der  Schiffsmann  müssen  bei  der  Musterung  zugegen 
sein ; gewerbsmäfsige  StcUcnvcrmiUlcr  für  Schiffsleute  dürfen  als  Vertreter  nicht  be- 
stellt werden. 


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636 


Gesetzgebung:  Deutsches  Reich. 


§ 13.  Die  Anmusterung  besteht  in  der  Verlautbarung  des  mit  dem  Schiffs- 
manne  geschlossenen  Heuervertrags  vor  einem  Seemannsamte.  Sie  mufs  vor  Antritt 
oder  Fortsetzung  der  Reise,  wenn  dies  aber  ohne  Verzögerung  der  Reise  unausführ- 
bar ist,  sobald  ein  Seemannsamt  angegangen  werden  kann,  erfolgen ; die  Gründe 
für  die  Verzögerung  oder  Unterlassung  der  Anmusterung  sind  in  das  Schiffstagebuch 
einzutragen.  Geschieht  die  Anmusterung  innerhalb  des  Reichsgebiets,  so  ist  dabei 
das  Sccfahrtsbuch  vorzulegcn. 

§ 14.  Die  Anmusterungsverhandlung  wird  vom  Seemannsamt  als  Musterrolle 
ausgefertigt.  Wenn  die  gesamte  Schiffsmannschaft  nicht  gleichzeitig  mittelst  Einer 
Verhandlung  angemustert  wird,  so  erfolgt  die  Ausfertigung  auf  Grund  der  ersten 
Verhandlung. 

Die  Musterrolle  mufs  enthalten:  Namen  und  Nationalität  des  Schiffes,  Namen 
und  Wohnort  des  Kapitäns,  Namen,  Wohnort  und  dienstliche  Stellung  jedes  Schiffs- 
manns, den  Hafen  der  Ausreise,  die  Bestimmungen  des  Heuervertrags,  namentlich 
auch  den  Ucberstundcnlohnsatz  (§  35  Abs.  3,  § 37  Abs.  3I  und  etwaige  besondere 
Verabredungen.  Insbesondere  mufs  aus  der  Musterrolle  erhellen,  was  dem  Schiffs- 
manne für  den  Tag  an  Speise  und  Trank  gebührt.  Bei  besonderen  Verabredungen 
mit  Schiffsolfiziercn  kann  die  Eintragung  auf  die  Wiedergabe  des  wesentlichen  In- 
halts beschränkt  werden.  Abreden,  welche  nach  § I Abs.  2 unzulässig  sind,  dürfen 
nicht  aufgenoramen  werden. 

Im  übrigen  wird  die  Einrichtung  der  Musterrolle  vom  Bundesrate  bestimmt. 

Die  Musterrolle  mufs  sich  während  der  Reise  an  Bord  befinden ; auf  Erfordern 
ist  sie  dem  Scemannsamtc  vorzulegcn. 

§ 15.  Wird  ein  Schiffsmann  erst  nach  Ausfertigung  der  Musterrolle  ange- 
mustert, so  hat  das  Seemannsamt  eine  solche  Musterung  in  die  Musterrolle  cinzutragen. 

§ 16.  Bei  jeder  innerhalb  des  Reichsgebiets  erfolgenden  Anmusterung  wird 
vom  Seemansamte  hierüber  und  über  die  Zeit  des  Dienstantritts  in  das  Sccfahrts- 
buch jedes  Schiffsmanns  ein  Vermerk  eingetragen,  welcher  zugleich  als  Ausgangs- 
oder Secpafs  dient.  Aufscrhalb  des  Reichsgebiets  erfolgt  eine  solche  Eintragung 
nur,  wenn  das  Sccfahrtsbuch  zu  diesem  Zwecke  vorgclcgt  wird. 

Das  Sccfahrtsbuch  ist  demnächst  vom  Kapitän  für  die  Dauer  des  Dienst- 
verhältnisses in  Verwahrung  zu  nehmen. 

§ 17.  Wird  ein  angemusterter  Schiffsmann  durch  ein  unabwendbares  Hindernis 
aufserstandc  gesetzt , den  Dienst  anzutreten , so  hat  er  sich  hierüber  sobald  wie 
möglich  gegen  den  Kapitän  und  das  Seemannsamt,  vor  welchem  die  Anmusterung 
erfolgt  ist,  auszuweisen.  Der  Kapitän  hat  das  Sccfahrtsbuch  dem  Schiffsmann  oder 
dem  Sccmannsamt,  vor  welchem  die  Anmusterung  erfolgt  ist,  sobald  als  thunlich  zu 
übersenden. 

§ 18.  Die  Abmusterung  besteht  in  der  Verlautbarung  der  Beendigung  des 
Dienstverhältnisses  seitens  des  Kapitäns  und  der  aus  diesem  Verhältnis  ausschcidcndcn 
Mannschaft  vor  einem  Scemannsamtc.  Sie  mufs,  sobald  das  Dienstverhältnis  be- 
endigt ist,  erfolgen,  und  zwar,  wenn  nicht  ein  anderes  vereinbart  wird,  vor  dem 
Scemannsamtc  desjenigen  Hafens,  wo  das  Schiff  liegt,  und  nach  Verlust  des  Schiffes 
vor  demjenigen  Scemannsamtc,  welches  zuerst  angegangen  werden  kann. 


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Gesetz,  betreffend  eine  Seemannsordnung. 


637 


§ 19.  Vor  der  Abmusterung  hat  der  Kapitän  dem  abzumusternden  Schiffs- 
mann  im  Scefahrtsbuchc  die  bisherigen  Rang-  und  Dienstverhältnisse  und  die  Dauer 
der  Dienstzeit  zu  bescheinigen,  auf  Verlangen  auch  ein  Führungszeugnis  zu  erteilen. 
Das  Zeugnis  darf  in  das  Seefahrtsbuch  nicht  eingetragen  werden.  Dasselbe  ist 
kosten«  und  slempelfrci. 

§ 20.  Die  Unterschriften  des  Kapitäns  unter  der  Bescheinigung  und  dem 
Zeugnisse  (§  19)  werden  von  dem  Sccmannsamte,  vor  welchem  die  Abmusterung 
stattfindet,  kosten-  und  stempelfrei  beglaubigt 

§ 21.  Verweigert  der  Kapitän  die  Ausstellung  des  Zeugnisses  (§  19),  oder 
enthält  dieses  oder  die  Bescheinigung  im  Seefahrtsbuche  (§  19)  Angaben,  deren 
Richtigkeit  der  Schiffsmann  bestreitet,  so  hat  auf  dessen  Antrag  das  Seemannsarat 
den  Sachverhalt  zu  untersuchen  und  das  Ergebnis  der  Untersuchung  dem  Schiffs- 
roannc  zu  bescheinigen. 

§ 22.  Die  erfolgte  Abmusterung  wird  vom  Sccmannsamt  in  dem  Scefahrts- 
buchc des  abgemusterten  Schiffsmanns  und  in  der  Musterrolle  vermerkt. 

§ 23.  Sind  seit  der  Ausfertigung  der  Mustcnrolle  mindestens  zwei  Jahre  ver- 
flossen, so  ist  auf  Antrag  des  Kapitäns  diesem  vom  Seemannsamt  ein  dem  gegen- 
wärtigen Bestände  der  Schiffsmannschaft  entsprechender  beglaubigter  Auszug  aus 
der  Musterrolle  zu  erteilen,  welcher  fernerhin  als  Musterrolle  zu  benutzen  ist. 

§ 24.  Die  Musterrolle  sowie  der  etwa  nach  § 23  erteilte  Auszug  sind  nach 
Beendigung  derjenigen  Reise  oder  derjenigen  Zeit,  auf  welche  die  als  Musterrolle 
ausgefertigte  Anmusterungsverhandlung  (§  14)  sich  bezieht,  dem  Seemannsamte,  vor 
welchem  abgemustert  wird,  zu  überliefern. 

Letzteres  übersendet  die  Schriftstücke  dem  Seemannsamte  des  Heimatshafens 
und  in  Ermangelung  eines  solchen  dem  Seemannsamte  des  Registerhafens. 

§ 25.  Erfährt  der  Bestand  der  Mannschaft  Acnderungcn,  bei  welchen  eine 
Musterung  (§  12)  nach  Mafsgabe  vorstehender  Bestimmungen  ohne  Verzögerung  der 
Reise  unausführbar  ist,  so  hat  der  Kapitän,  sobald  ein  Sccmannsamt  angegangen 
werden  kann,  bei  demselben  unter  Darlegung  der  Hinderungsgründc  die  Musterung 
nachzuholen,  oder,  sofern  auch  diese  nachträgliche  Musterung  nicht  mehr  möglich 
ist,  den  Sachverhalt  anzuzeigen.  Ein  Vermerk  über  die  Anzeige  ist  vom  Seemanns- 
amt in  die  Musterrolle  und  in  die  Seefahrtsbüchcr  der  beteiligten  Schiflslcutc  ein- 
zutragen. 

§ 26.  Die  Kosten  der  Musterungsvcrhandlungen , einschliefslich  der  Aus- 
fertigung der  Musterrolle  fallen  dem  Rheder  zur  Last. 

Die  Bestimmungen  über  die  in  gleicher  Höhe  für  alle  Seemannsämter  inner- 
halb des  Reichsgebiets  festzustel lenden  Kosten  erfolgen  durch  den  Bundesrat. 

Dritter  Abschnitt. 

Vertragsverhältnis. 

§ 27.  Die  Gültigkeit  des  Heuervertrages  ist  durch  schriftliche  Abfassung  und 
durch  den  nachfolgenden  Vollzug  der  Anmusterung  nicht  bedingt.  Jedoch  ist  dem 
Schiffsmann  bei  der  Anheuerung  ein  von  dem  Kapitän  oder  dem  Vertreter  der 


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Gesetzgebung : Deutsches  Reich. 


-Rhederei  (§  12  Abs.  2)  unterschriebener  Ausweis  (Heucrschcin)  zu  geben,  welcher 
enthält : 

Namen  des  Schiffes, 

Angabe  der  Dienststellung, 

Angabe  der  Reise  oder  Dauer  des  Vertrages, 

Höhe  der  Heuer, 

Zeit  und  Ort  der  Anmusterung. 

• Aulkündigungsfristen  und  sonstige  die  Lösung  des  Heuervertrags  betreffende 
Zeitbestimmungen  sollen  für  beide  vertragschliefsendc  Teile  gleich  sein.  Bei  ent- 
gegenstehender Vereinbarung  kann  der  Schiffsmann  die  dem  anderen  Teile  zuge- 
standene Frist  oder  Zeitbestimmung  für  sich  in  Anspruch  nehmen. 

§ 28.  Der  Heuervertrag  kann  für  eine  Reise  oder  auf  Zeit  abgeschlossen 
werden. 

Ist  bei  der  Anhcuerung  für  eine  Reise  deren  Endziel  nicht  angegeben,  so 
läuft  in  Ermangelung  anderweitiger  Vereinbarung,  unbeschadet  der  Vorschrift  des 
§ 69,  der  Heuervertrag  bis  zur  Rückkehr  in  den  Halen  der  Ausreise  (§  14). 

Bei  Anhcuerung  auf  unbestimmte  Zeit  soll  im  Heuervertrag  eine  Kündigungs- 
frist angegeben  oder  in  anderer  Weise  über  die  Beendigung  des  Dienstverhältnisses 
Bestimmung  getroffen  werden.  Ist  dies  nicht  geschehen,  so  kann  jeder  Teil  in 
jedem  Hafen,  welchen  das  Schiff  zum  Löschen  oder  Laden  anläuft,  vom  Vertrage 
unter  Einhaltung  einer  Kündigungsfrist  von  vierundzwanzig  Stunden  zurücktreten. 

§ 29.  Ist  bei  dem  Abschlüsse  des  Heuervertrags  die  Vereinbarung  über  den 
Betrag  der  Heuer  nicht  durch  ausdrückliche  Erklärung  getroffen  worden,  so  wird 
im  Zweifel  die  Heuer  als  vereinbart  angesehen,  die  das  Seemannsamt  des  Hafens, 
in  welchem  der  Schiffsmann  angemustert  wird,  für  die  daselbst  zur  Zeit  der  An- 
musterung übliche  geklärt. 

§ 30.  Hat  ein  Schi  fismann  sich  durch  mehrere  Verträge  Für  ein  und  dieselbe 
Zeit  verheuert,  so  geht,  falls  auf  Grund  eines  der  Verträge  eine  Anmusterung  statt- 
gefunden hat,  dieser,  sonst  der  zuerst  abgeschlossene  Vertrag  vor. 

§ 31.  Wird  ein  Schiffsmann  erst  nach  Anfertigung  der  Musterrolle  geheuert, 
so  gelten  für  ihn  in  Ermangelung  anderer  Vertragsbestimmungen  die  nach  Inhalt 
der  Musterrolle  mit  der  übrigen  Schiffsmannschaft  getroffenen  Abreden. 

§ 32.  Die  Verpflichtung  des  Schiffsmanns,  sich  mit  seinen  Sachen  an  Bord 
cinzufindcn  und  Schiffsdienste  zu  leisten,  beginnt,  wenn  nicht  ein  anderes  bedungen 
ist,  mit  der  Anmusterung.  Der  Zeitpunkt,  zu  welchem  der  Dienstantritt  erfolgen 
soll,  ist  dem  Schiffsmanne  bei  der  Anhcuerung,  der  Liegeplatz  oder  ein  Mcldcort 
ist  ihm  bei  der  Anmusterung  anzugeben. 

Wenn  der  Schiffsmann  den  Dienstantritt  länger  als  vicrundzwanzig  Stunden 
verzögert,  ist  der  Kapitän  oder  der  Rheder  zum  Rücktritt  von  dem  Heuervertrage 
befugt.  Die  Ansprüche  wegen  etwaiger  Mehrausgaben  für  einen  Ersatzmann  und 
wegen  sonstiger  aus  der  Verzögerung  erwachsener  Schäden  werden  hierdurch  nicht 
berührt. 

§ 33.  Der  Schiffsmann,  welcher  nach  der  Anmusterung,  ohne  einen  genügenden 
Entschuldigungsgrund,  dem  Antritt  oder  der  Fortsetzung  des  Dienstes  sich  entzieht, 


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Gesetz,  betreffend  eine  Seemannsordnung. 


639 


kann  auf  Antrag  des  Kapitäns  vom  Seemannsamte,  wo  aber  ein  solches  nicht  vor- 
handen ist,  von  der  Ortspolizeibehörde  zwangsweise  zur  Erfüllung  seiner  Pflicht  an- 
gehaltcn  werden. 

Die  daraus  erwachsenden  Kosten  hat  der  Schiffsmann  zu  ersetzen. 

§ 34.  Der  Schiffsmann  ist  verpflichtet,  in  Ansehung  des  Schiffsdienstes  den 
Anordnungen  des  Kapitäns  der  Schiffsoffizierc  und  seiner  sonstigen  Dienstvorgesetzten 
unweigerlich  Gehorsam  zu  leisten  und  zu  jeder  Zeit  alle  für  Schiff  und  Ladung  ihm 
übertragene  Arbeiten  zu  verrichten. 

Er  hat  diese  Verpflichtung  zu  erfüllen,  sowohl  an  Bord  des  Schiffes  und  in 
dessen  Booten»  als  auch  in  den  Leichterfahrzeugen  und  auf  dem  Lande,  sowohl 
unter  gewöhnlichen  Umständen,  als  auch  unter  Havarie. 

Ohne  Erlaubnis  des  Kapitäns  oder  eines  Schiffsoffiziers  darf  er  das  Schiff  bis 
zur  Abmusterung  nicht  verlassen,  doch  darf  ihm  in  einem  Hafen  des  Reichsgebietes 
in  seiner  dienstfreien  Zeit,  wenn  nicht  triftige  Gründe  vorlicgcn,  die  Erlaubnis  nicht 
verweigert  werden.  Ist  ihm  eine  solche  Erlaubnis  erteilt,  so  mufs  er  zur  festgesetzten 
Zeit  zurückkehren. 

§ 35.  Liegt  das  Schiff  im  Hafen  oder  auf  der  Rhede,  so  ist  der  Schiffsmann 
nur  in  dringenden  Fällen  schuldig,  länger  als  zehn  Stunden  täglich  zu  arbeiten.  In 
den  Tropen  wird  diese  Zeit,  soweit  es  sich  nicht  ausschliefslich  um  Aufsichtsdienst 
oder  Arbeiten  zur  Verpflegung  und  Bedienung  der  an  Bord  befindlichen  Personen 
handelt,  auf  acht  Stunden  beschränkt.  Bei  Berechnung  dieser  Arbeitsdauer  ist  der 
Wachtdienst  in  Rechnung  zu  bringen. 

Die  Vorschriften  des  Abs.  l finden  auf  Schiffsoffiziere  keine  Anwendung.  Den 
Schiffsoffizicrcn  »st  im  Hafen  oder  auf  der  Rhede  eine  Ruhezeit  von  mindestens  acht 
Stunden  innerhalb  jeder  vierundzwanzig  Stunden  zu  gewähren. 

Arbeit,  welche  über  die  im  Abs.  1 bestimmte  Dauer  von  zehn  oder  acht 
Stunden  geleistet  wird,  ist  als  Ueberstundenarbeit  zu  vergüten,  soweit  sie  nicht  zur 
Verpflegung  und  Bedienung  der  an  Bord  befindlichen  Personen,  oder  zur  Sicherung 
des  Schiffes  in  dringender  Gefahr  erforderlich  ist. 

§ 36.  Auf  Sec  geht  die  Mannschaft  des  Decks  und  Maschinendienstes  Wache 
um  Wache.  Die  abgelöste  Wache  darf  nur  in  dringenden  Fällen  zu  Schiffsdiensten 
verwendet  werden.  Auf  Dampfschiffen  ist  die  ablösende  Maschinenwachc  ver- 
pflichtet, das  vor  der  Ablösung  erforderliche  Aschehieven  zu  besorgen.  Diese  Vor- 
schriften gelten  nicht  für  Fahrten  von  nicht  mehr  als  zehnstündiger  Dauer. 

Auf  Dampfschiffen  ih  transatlantischer  Fahrt  wird  für  das  Maschinenpcrsonal 
der  Dienst  in  drei  Wachen  eingeteilb 

Unter  welchen  Umständen  im  übrigen  eine  Mannschaft  in  mehr  als  zwei 
Wachen  zu  gehen  hat,  bestimmt  der  Bundesrat. 

§ 37.  An  Sonn-  und  Festtagen  dürfen,  solange  das  Schiff  im  Hafen  oder  auf 
der  Rhede  liegt,  Arbeiten,  cinschlicfslich  des  Wachtdienstes  nur  gefordert  werden, 
soweit  sie  unumgänglich  oder  unaufschicblich  oder  durch  den  Personenverkehr  be- 
dingt sind. 

Mit  Löschen  und  Laden  dürfen,  solange  das  Schiff  innerhalb  des  Reichsgebiets 
im  Hafen  oder  auf  der  Rhede  liegt,  die  zur  Schitfsmannschafl  gehörigen  Personen 


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640 


Gesetzgebung : Deutsches  Reich. 


an  Sonn-  und  Festtagen  nicht  beschäftigt  werden.  Diese  Vorschrift  gilt  nicht  für 
die  Ladung  derjenigen  Dampfschiffe,  welche  in  regclmäfsigem  Fahrplane  die  Kaiser- 
lich deutsche  Post  befördern  und  fiir  die  rum  Löschen  und  Laden  dieser  Dampf- 
schiffe dienenden  Fahrzeuge,  sowie  für  das  Gepäck  der  Reisenden  und  für  leicht 
verderbende  Güter.  Aufserdcm  können  von  einer  durch  die  Zentralbehörde  des 
Bundesstaates  zu  bestimmenden  Behörde  in  Notfällen  Ausnahmen  von  dieser  Vorschrift 
auf  jedesmaligen  Antrag  gestattet  werden. 

Sonn-  und  Festtagsarbeit  (Abs.  I,  2)  ist  als  Ucbcrstundenarbeit  zu  vergüten, 
soweit  sie  nicht  zur  Verpflegung  und  Bedienung  der  an  Bord  befindlichen  Personen 
oder  zur  Sicherung  des  Schiffes  in  dringender  Gefahr  erforderlich  ist. 

Soweit  nicht  dringende  Gründe  cntgcgenstchcn,  ist  an  Sonn-  und  Festtagen 
im  Hafen  und  auf  der  Rhede  der  Schiffsmannschaft  Gelegenheit  zur  Teilnahme  am 
Gottesdienst  ihrer  Konfession  zu  geben  und  der  hierzu  erforderliche  Urlaub  zu 
erteilen. 

§ 38.  Auf  See  darf  an  Sonn-  und  Festtagen  über  das  hinaus,  was  zur  Sicher- 
heit und  zur  Fahrt  des  Schiffes  zur  Bedienung  der  Maschine,  zum  Segeltrocknen, 
Bootsdienst  und  zur  Verpflegung  und  Bedienung  der  an  Bord  befindlichen  Personen 
unbedingt  erforderlich  ist,  der  Schiffsmannschaft  Arbeit  nur  in  dringenden  Fällen 
auferlegt  werden.  • 

Die  Vorschrift  des  § 37  Abs.  4 findet  auf  See  entsprechende  Anwendung. 
Auch  ist  dem  Schiffsmann,  der  es  verlangt,  die  Teilnahme  an  gemeinschaftlichen 
Andachten  seiner  Konfession  zu  gestatten. 

§ 39.  Als  Festtage  im  Sinne  der  §§  37,  38  gelten  im  Inlandc  die  von  der 
Landesregierung  des  Liegeorts  bestimmten  Tage,  im  Ausland  und  auf  Sec  die  Fest- 
tage des  inländischen  Heimathafens;  in  Ermangelung  eines  solchen  werden  die  Fest- 
tage durch  Anordnung  des  Reichskanzlers  bestimmt.  Im  Sinne  des  § 37  Abs.  4 
gelten  als  Festtage  im  Auslande  auch  die  kirchlich  gebotenen  Festtage  des  Liegeorts. 

§ 40.  Die  Vorschriften  des  § 35  Abs.  3 und  des  § 37  Abs.  3 finden  auf 
Schiffsoffizicrc  keine  Anwendung,  sofern  nicht  ein  anderes  vereinbart  ist. 

§ 4!.  Bei  Seegefahr,  besonders  bei  drohendem  Schiffbruche,  sowie  bei  Ge- 
walt und  Angriff  gegen  Schiff  oder  Ladung  hat  der  Schiffsmann  alle  befohlene 
Hilfe  zur  Erhaltung  von  Schiff  und  Ladung  unweigerlich  zu  leisten  und  darf  ohne 
Einwilligung  des  Kapitäns,  solange  dieser  selbst  an  Bord  bleibt,  das  Schiff  nicht 
verlassen. 

Er  bleibt  verbunden , bei  Schiffbruch  für  Rettung  der  Personen  und  ihrer 
Sachen,  sowie  für  Sicherstellung  der  Schiffsteile,  der  Gerätschaften  und  der  Ladung, 
den  Anordnungen  des  Kapitäns  gemafs,  nach  besten  Kräften  zu  sorgen  und  bei  der 
Bergung  gegen  Fortbczug  der  Heuer  und  der  Verpflegung  Hülfe  zu  leisten. 

§ 42.  Der  Schiffsmann  ist,  auch  wenn  der  Heuervertrag  infolge  eines  Ver- 
lustes des  Schiffes  beendigt  ist  (§  69),  verpflichtet,  auf  Verlangen  bei  der  Verklarung 
mitzuwirken  und  seine  Aussage  eidlich  zu  bestärken. 

Dieser  Verpflichtung  hat  er  gegen  Zahlung  der  etwa  erwachsenden  Versäumnis-, 
Reise-  und  Verpflegungskosten,  deren  Höhe  im  Streitfälle  die  Verklarungsbehördc, 
im  Auslande  der  Konsul,  festzusetzen  hat,  nachzukommen.  Auf  Verlangen  des 


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Gesetz,  betreffend  eine  Seemannsordnung. 


641 


Schiffsmanns  ist  ihm  ftir  die  Versäumnis-,  Reise-  und  Verpflegungskosten  ein  an- 
gemessener Vorschufs  zu  zahlen. 

§ 43.  Stellt  sich  nach  Antritt  der  Reise  heraus,  dafs  der  Schiffsmann  zu  dem 
Dienste,  zu  welchem  er  sich  verheuert  hat,  untauglich  ist,  so  ist  der  Kapitän  befugt, 
ihn  im  Range  herabzusetzen  und  seine  Heuer  verhältnismäfsig  zu  verringern. 

Diese  Befugnis  besteht  nicht  gegenüber  Schiffsoffizicren. 

Wird  von  dieser  Befugnis  Gebrauch  gemacht,  so  hat  der  Kapitän  die  ge- 
troffene Anordnung  und  die  die  Anordnung  begründenden  Tbatsachen,  sobald  thun- 
lich,  in  das  Schiffstagebuch  cinzutragen,  die  Eintragung  dem  Schift’stnanne  vorzu- 
lesen  und  in  dem  Tagebuche  zu  vermerken,  dafs  und  wann  dies  geschehen  ist. 
Vor  der  Eröffnung  und  Eintragung  tritt  die  Verringerung  der  Heuer  nicht  in  Wirk- 
samkeit. 

Dem  Schiffsmann  ist  auf  Verlangen  eine  vom  Kapitän  Unterzeichnete  Abschrift 
der  Eintragung  auszuhändigen. 

Gegen  die  getroffene  Anordnung  kann  der  Schiffsmann  die  Entscheidung  des 
Seemannsamts  an  rufen,  welches  zuerst  angegangen  werden  kann.  Erst  nach  Ent- 
scheidung des  Seemannsamts,  falls  aber  ein  solches  nicht  angerufen  ist,  bei  der  Ab- 
musterung, dürfen  Eintragungen  über  den  Sachverhalt  in  das  Seefahrtsbuch,  und 
zwar  nur  durch  das  Seemannsamt,  vorgenommen  werden. 

§ 44.  Die  Heuer  ist  vom  Tage  der  Anmusterung,  falls  diese  dem  Dienst- 
antritt vorangcht,  sonst  vom  Tage  des  Dienstantrittes  an  zu  zahlen. 

Als  Dienstzeit  gilt  auch  die  zur  Erreichung  des  Meldcorts  (J$  32)  erforderliche 
Reisezeit 

§ 45.  Die  Heuer  hat  der  Schiffsmann,  sofern  keine  andere  Vereinbarung 
getroffen  ist,  erst  nach  Beendigung  der  Reise  oder  des  Dienstverhältnisses  zu  be- 
anspruchen. 

Der  Schiffsmann  kann  jedoch  in  einem  Hafen,  in  welchem  das  Schiff  ganz 
oder  zum  gröfseren  Teil  entlöscht  wird,  die  Auszahlung  der  Hälfte  der  bis  dahin 
verdienten  Heuer  (§  80)  verlangen,  sofern  bereits  drei  Monate  seit  der  Anmusterung 
verflossen  sind.  In  gleicher  Weise  ist  der  Schiffsmann  bei  Ablauf  je  weiterer  drei 
Monate  nach  der  früheren  Auszahlung  wiederum  die  Auszahlung  der  Hälfte  der 
seit  der  letzten  Auszahlung  verdienten  Heuer  zu  fordern  berechtigt. 

Ist  die  Anheucrung  auf  Zeit  erfolgt  (§  28),  so  kann  der  Schiffsmann  bei  Rück- 
kehr in  den  Hafen  der  Ausreise  die  bis  dahin  verdiente  Heuer  beanspruchen. 

§ 46.  Die  Auszahlung  des  dem  Schiffsmannc  bei  der  Beendigung  des  Dienst- 
verhältnisses zustchendcn  Heuerguthabens  mufs  an  ihn  persönlich  und,  soweit  nicht 
im  Auslände  die  dortigen  Gesetze  eine  andere  Behörde  bestimmen,  vor  dem  ab- 
mustemden  Seemannsamt  oder  durch  dessen  Vermittelung  geschehen  und  von  diesem 
in  der  Abmusterungsverhandlung  bescheinigt  werden.  Bei  Verhinderung  des  Schiffs- 
manns ist  mit  dessen  Zustimmung  die  Auszahlung  an  ein  Familienmitglied  zulässig, 
ln  einer  Gast-  oder  Schankwirtschaft  darf  die  Auszahlung  nicht  vorgenommen  werden. 

Von  der  Mitwirkung  des  Seemannsamts  darf  abgesehen  werden,  wenn  sie 
ohne  Verzögerung  der  Reise  nicht  herbeigeführt  werden  kann. 

Das  Seemannsamt  ist  verpflichtet,  bei  der  Abmusterung  die  dem  Schiffsmann 


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Gesetzgebung : Deutsches  Reich. 


auszuzahlende  Heuer  auf  dessen  Antrag  ganz  oder  teilweise  in  F.mpfang  zu  nehmen 
und  nach  Angabe  des  Schifismanns  an  auswärts  wohnende  Angehörige  desselben 
oder  an  Sparkassen  oder  sonstige  Verwahrungsstellen  gebührenfrei  zu  übermitteln. 
Die  durch  die  Ucbcrmittclung  entstehenden  baren  Auslagen  werden,  sofern  der 
Schiffsmann  ein  Deutscher  ist,  von  dem  Rheder  getragen. 

§ 47.  Inwieweit  vor  dem  Antritte  der  Reise  Vorschufszahlungen  auf  die 
Heuer  zu  leisten  oder  Handgelder  zu  zahlen  sind,  bestimmt  in  Ermangelung  einer 
Vereinbarung  der  Ortsgebrauch  des  Hafens,  in  welchem  der  Schiffsmann  ange- 
mustert wird. 

§ 48.  Alle  Zahlungen  an  Schiffslcute  müssen  nach  Wahl  derselben,  Vorschufs- 
zablungen  jedoch  nach  Wahl  des  Kapitäns,  entweder  in  baar  oder  mittels  einer 
auf  den  Rheder  ausgestellten  Anweisung  geleistet  werden.  Die  Zahlbarkeit  der  An- 
weisungen darf  bei  Vorschufszahlungen  an  die  Bedingung  geknüpft  werden,  dafs  der 
Schiffsmann  sich  bei  der  Abfahrt  des  Schiffes  an  Bord  befindet.  Im  übrigen  mufs 
die  Anweisung  unbedingt  und  auf  Sicht  gestellt  sein. 

§ 49.  Vor  Antritt  der  Reise  ist  ein  Abrechnungsbuch  anzulcgen,  in  welchem 
die  verdiente  Heuer  und  der  verdiente  Ucbcrstundenlobn  in  regelmäfsigcn  Zeit- 
abschnitten zu  berechnen,  sowie  alle  auf  die  Heuer  geleisteten  Vorschufs-  und  Ab- 
schlagszahlungen und  die  etwa  gegebenen  Handgelder,  bei  Zahlung  in  fremder 
Währung  auch  der  zu  Grunde  gelegte  Kurs,  einzutragen  sind.  In  dem  Abrechnungs- 
buch ist  von  dem  Schiffsmann  über  den  Empfang  jeder  Zahlung  zu  quittieren.  Die 
Zahl  der  geleisteten  Ueberstunden  sowie  der  danach  verdiente  Ueberstundenlohn  ist 
wöchentlich  und  spätestens  am  Tage  nach  dem  jedesmaligen  Verlassen  eines  Hafens 
in  dem  Abrechnungsbuche  zu  vermerken;  sodann  ist  dieser  Vermerk  dem  Schiffs- 
manne  zur  unterschriftlichen  Anerkennung  vorzulegen.  Verweigert  er  die  An- 
erkennung, so  ist  auch  dies  und  der  hierfür  angegebene  Grund  im  Abrcchnungs- 
buchc  zu  vermerken. 

Ferner  ist  jedem  Schiffsmanne,  der  cs  verlangt,  noch  ein  besonderes  Heuer- 
buch zu  übergeben  und  darin  ebenfalls  die  verdiente  Ilcuer,  der  verdiente  Ucber- 
stundenlohn  sowie  jede  auf  die  Heuer  des  Inhabers  geleistete  Zahlung,  bei  Zahlung 
in  fremder  Währung  auch  der  zu  Grunde  gelegte  Kurs,  einzutragen.  Vor  der  Ab- 
musterung ist  dem  Schilfsmann  in  diesem  Heuerbuche  sein  Gesamtguthaben  zu  be- 
rechnen. 

§ 50.  Wenn  die  Zahl  der  Mannschaft  des  Decks-  oder  Maschinendienstes 
sich  während  der  Reise  vermindert  und  der  weitere  Verlauf  der  Reise  eine  Ver- 
minderung der  Arbeitsanforderungen  nicht  in  Aussicht  stellt,  so  mufs  der  Kapitän 
die  Mannschaft  ergänzen,  soweit  die  Umstände  es  gestatten.  Solange  eine  Er- 
gänzung nicht  erfolgt,  sind  die  während  der  Fahrt  ersparten  Hcuergelder  unter  die- 
enigen  Schitfslcutc  desselben  Dienstzweigs,  welchen  dadurch  eine  Mehrarbeit  er- 
wachsen ist,  nach  Verhältnis  dieser  und  der  Heuer  zu  verteilen.  Ein  Anspruch  auf 
die  Verteilung  findet  jedoch  nicht  statt,  wenn  die  Verminderung  der  Mannschaft 
durch  Entw'cichung  herbeigeführt  ist  und  die  Sachen  des  entwichenen  Schilfsmanns 
nicht  an  Bord  zurückgeblieben  sind. 

§ 51.  Wird  ein  Schiffsmann  bei  Abfahrt  des  Schiffes  vermifst,  so  hat  der 


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Gesetz,  betreffend  eine  Seemannsordnung. 


643 


Kapitän  demjenigen  Seemannsamt,  in  dessen  Bezirk  zuerst  diese  Wahrnehmung  ge- 
macht wird,  behufs  Ermittelung  sobald  als  thunlich  Anzeige  zu  erstatten  und  das 
Seefahrtsbuch  des  Vermifsten  zu  übermitteln. 

§ 52.  In  allen  Fällen,  in  welchen  ein  Schiff  mehr  als  zwei  Jahre  auswärts 
verweilt,  tritt  flir  den  seit  zwei  Jahren  im  Dienste  befindlichen  Schiffsmann  eine  Er- 
höhung der  Heuer  ein,  wenn  diese  nach  Zeit  bedungen  ist. 

Diese  Erhöhung  wird,  wie  folgt,  bestimmt: 

1.  der  Schiffsjunge  tritt  mit  Beginn  des  dritten  Jahres  in  die  in  der  Muster- 
rolle bestimmte  oder  aus  derselben  als  Durchschnittsbetrag  sich  ergebende 
Heuer  der  Leichtmatrosen,  und  mit  Beginn  des  vierten  Jahres  in  die  in 
der  Musterrolle  bestimmte  Heuer  der  Vollmatrosen  ein; 

2.  der  Leichtmatrose  erhält  mit  Beginn  des  zweiten  Jahres  die  in  der  Muster-' 
rolle  bestimmte  Heuer  der  Vollmatrosen  und  mit  Beginn  des  vierten 
Jahres  ein  Fünftel  derselben  mehr  an  Heuer; 

3.  für  die  übrige  Schiffsmannschaft  steigt  die  in  der  Musterrolle  angegebene 
Heuer  mit  Beginn  des  dritten  Jahres  um  ein  Fünftel  und  mit  Beginn  des 
vierten  Jahres  um  ein  ferneres  Fünftel  ihres  ursprünglichen  Betrags. 

In  den  Fällen  des  Abs.  2 Nr.  I,  2 tritt  der  Schiffsmann  mit  der  Erhöhung  der 
Heuer  zugleich  in  die  entsprechende  Kangklassc  ein. 

§ 53.  Die  aus  den  Dienst-  und  Heuerverträgen  herrührenden  Forderungen 
des  Kapitäns  und  der  zur  Schiffsmannschaft  gehörigen  Personen,  welche  auf  einem 
nach  den  §§  862,  863  des  Handelsgesetzbuchs  als  verschollen  anzusehenden  Schiffe1 
sich  befunden  haben,  werden  fällig  mit  Ablauf  der  Verschollenheitsfrist.  Das  Dienst- 
verhältnis gilt  sodann  einen  halben  Monat  nach  dem  Tage  für  beendet,  bis  zu 
welchem  die  letzte  Nachricht  Uber  das  Schiff  reicht. 

Der  Betrag  der  Forderungen  ist  dem  Seemannsamte  des  Heimatshafens  und  in 
Ermangelung  eines  solchen  dem  Seemannsamte  des  Registerhafens  zu  übergeben. 
Das  Sccmannsamt  hat  die  Aushändigung  an  die  Empfangsberechtigten  zu  vermitteln. 

§ 54.  Dem  Schiffsmanne  gebührt  Beköstigung  für  Rechnung  des  Schiffes  von 
dem  Zeitpunkte  des  Dienstantritts  an  bis  zur  Abmusterung,  jedoch  wenn  diese  ohne 
Verzögerung  der  Reise  unausführbar  ist,  bis  zur  Beendigung  des  Dienstverhältnisses. 
Er  darf  die  verabreichten  Speisen  und  Getränke  nur  zu  seinem  eigenen  Bcdarfc  ver- 
wenden und  nichts  davon  veräufsern,  vergeuden  oder  sonst  bei  seitc  bringen.  An- 
statt der  Beköstigung  kann  auf  Grund  besonderer  Abrede  eine  entsprechende  Gcld- 
entschädigung  gewährt  werden. 

§ 55.  Die  Schiffsmannschaft  hat  an  Bord  des  Schiffes  vom  Zeitpunkt  des 
Dienstantritts  an  bis  zur  Abmusterung,  jedoch  wenn  diese  ohne  Verzögerung  der 
Reise  unausführbar  ist,  bis  zur  Beendigung  des  Dienstverhältnisses  Anspruch  auf 
einen,  ihrer  Zahl  und  der  Gröfsc  des  Schiffes  entsprechenden,  nur  für  sie  und  ihre 
Sachen  bestimmten  wohlverwahrten  und  genügend  zu  lüftenden  I.ogisraum. 

Kann  dem  Schiffsmann  infolge  eines  Unfalls  oder  aus  anderen  Gründen  zeit- 
weilig ein  Unterkommen  auf  dem  Schiffe  nicht  gewährt  werden,  so  ist  ihm  ein 
anderweitiges  angemessenes  Unterkommen  zu  verschaffen. 

§ 56.  Die  dem  Schiffsmanne  für  den  Tag  mindestens  zu  verabreichenden- 


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Gesetzgebung:  Deutsches  Reich. 


Speisen  und  Getränke  (§  54)  bestimmen  sich,  soweit  nicht  ein  anderes  vereinbart 
ist,  nach  dem  örtlichen  Rechte  des  Heimatshafens  und  in  Ermangelung  eines  solchen 
nach  dem  örtlichen  Rechte  des  Registerhafens.  Der  Erlafs  näherer  Bestimmungen 
steht  den  Landesregierungen  im  Verordnungswege  und,  sofern  es  an  einem  inlän- 
dischen Heimatshafen  oder  Registerhafen  fehlt,  dem  Reichskanzler  zu. 

lieber  Gröfse  und  Einrichtung  des  Logisraums  (§  55),  über  die  Einrichtung 
von  Wasch-  und  Uadcräumen  und  Aborten  an  Bord  der  Schiffe  und  die  mindestens 
mitzunchmcndcn  llcilmitttcl  beschliefst  der  Bundesrat.  Die  Beschlüsse  des  Bundes- 
rates sind  dem  Reichstage  bei  seinem  nächsten  Zusammentritt  zur  Kenntnisnahme 
vorzulcgen. 

§ 57.  Der  Kapitän  ist  berechtigt,  bei  ungewöhnlich  langer  Dauer  der  Reise, 
oder  wegen  eingetretener  Unfälle,  eine  Kürzung  der  Rationen  oder  eine  Acndcmng 
hinsichtlich  der  Wahl  der  Speisen  und  Getränke  eintreten  zu  lassen. 

Er  hat  im  Schiffstagebuche  zu  bemerken,  wann,  aus  welchem  Grunde  und  in 
welcher  Weise  eine  Kürzung  oder  Aenderung  eingetreten  ist. 

Dem  Schiffsmann  gebührt  eine  den  erlittenen  Entbehrungen  entsprechende 
Vergütung.  Uebcr  diesen  Anspruch  entscheidet  unter  Vorbehalt  des  Rechtsweges 
das  Seemansamt,  vor  welchem  abgemustert  wird. 

§ 58.  Wenn  ein  Schiffsoffizier  oder  nicht  weniger  als  drei  Schiffsleute  bei 
einem  Sccmannsamtc  Beschwerde  darüber  erheben,  dafs  das  Schiff,  für  welches  sie 
angemustert  sind,  nicht  seetüchtig  ist,  oder  dafs  die  Vorräte,  welche  das  Schiff  für 
den  Bedarf  der  Mannschaft  an  Speisen  und  Getränken  mit  sich  führt,  ungenügend 
oder  verdorben  sind,  so  hat  das  Seemannsamt  mit  möglichster  Beschleunigung  unter 
Hinzuziehung  von  erreichbaren  Sachverständigen  und  der  ortsanwesenden  Beschwerde- 
führer eine  Untersuchung  des  Schiffes  oder  der  Vorräte  zu  veranlassen,  und  das  Er- 
gebnis in  das  Schiffstagebuch  einzutragen.  Auch  hat  das  Seemannsamt,  falls  die 
Beschwerde  sich  als  begründet  erweist,  für  die  geeignete  Abhilfe  Sorge  zu  tragen. 

Kommt  der  Kapitän  den  zu  diesem  Bchufc  getroffenen  Anordnungen  nicht 
nach,  so  kann  jeder  Schiffsoflizier  und  jeder  Schiffsmann  seine  Entlassung  mit  der 
für  den  Fall  des  § 74  Nr.  l versehenen  Wirkung  (§  76)  fordern. 

§ 59.  Falls  der  Schiffsmann  nach  Antritt  des  Dienstes  oder  nach  der  An- 
musterung erkrankt  oder  eine  Verletzung  erleidet,  so  trägt  der  Rheder  die  Kosten 
der  Verpflegung  und  Heilbehandlung.  Diese  Verpflichtung  erstreckt  sich : 

1.  wenn  der  Schiffsmann  wegen  der  Krankheit  oder  Verletzung  die  Reise 
nicht  antritt,  bis  zum  Ablaufe  von  drei  Monaten  seit  der  Erkrankung  oder 
Verletzung ; 

2.  wenn  er  die  Reise  angetreten  hat,  bis  zum  Abläufe  von  drei  Monaten 
nach  dem  Verlassen  des  Schiffes  in  einem  deutschen  Hafen,  und  bis  zum 
Ablaufe  von  sechs  Monaten  nach  dem  Verlassen  des  Schiffes  in  einem 
anderen  Hafen. 

Im  Falle  einer  Verletzung  hört  die  Verpflichtung  des  Rheders  dem  Verletzten 
gegenüber  auf,  sobald  und  soweit  die  Berufsgenossenschaft  die  Fürsorge  übernimmt. 

Der  Rheder  ist  berechtigt,  die  Verpflegung  und  Heilbehandlung  dem  Schiffs- 
mann in  einer  Krankenanstalt  zu  gewähren. 


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Gesetz,  betreffend  eine  Seemannsordnung. 


645 


\ 

Ein  Schiffsmann,  der  wegen  Krankheit  oder  Verletzung  aufserhalb  des  Reichs- 
gebiet«  zurückgeblieben  ist,  kann  mit  seiner  Einwilligung  und  der  des  behandelnden 
Arztes  oder  des  Seemannsamts  nach  einem  deutschen  Hafen  in  eine  Krankenanstalt 
überführt  werden.  Ist  der  Schiffsmann  aufserstande , die  Zustimmung  zu  erteilen, 
oder  verweigert  er  sie  ohne  berechtigten  Grand,  so  kann  sie  nach  Anhörung  eines 
Arztes  durch  dasjenige  Seemannsamt  ersetzt  werden,  in  dessen  Bezirk  der  Schiffs- 
mann  sich  zur  Zeit  befindet  Findet  die  UeberfÜhrung  statt,  so  erstreckt  sich  die 
Verpflichtung  des  Rheders  stets  nur  bis  zum  Ablaufe  von  drei  Monaten  seit  der 
Aufnahme  in  die  Krankenanstalt  des  deutschen  Hafens. 

Der  Schiffsmann,  welcher  sich  der  Heilbehandlung  ohne  berechtigten  Grund 
entzieht  und  hierdurch  nach  ärztlichem  Gutachten  die  Heilung  vereitelt  oder  wesent- 
lich erschwert  hat,  verliert  den  Anspruch  auf  kostenfreie  Verpflegung  und  Heil- 
behandlung. Ueber  die  Berechtigung  des  Grundes,  sowie  über  Beginn  und  Dauer 
des  Verlustes  entscheidet  vorläufig  das  Seemannsamt. 

Dem  Schiffsmannc  gebührt,  falls  er  nicht  mit  dem  Schiffe  nach  dem  Hafen 
der  Ausreise  {§  14)  zurückkehrt,  freie  Zurückbeförderung  (§§  78,  79)  nach  diesem’ 
Hafen  oder  nach  Wahl  des  Kapitäns  eine  entsprechende,  im  Streitfälle  vom  See- 
mannsamte vorläufig  fcstzusetzcnde,  Vergütung. 

§ 60.  Liegt  der  Hafen  der  Ausreise  aufserhalb  des  Reichsgebiets,  so  kann 
der  in  einem  deutschen  Hafen  geheuerte  Schiffsmann  in  den  Fällen  des  § 59  Abs.  6, 
des  § b6  Abs.  3 und  der  §§  69,  71,  72,  79  die  Rückbeförderung  auch  nach  dem 
Hafen,  an  welchem  er  geheuert  ist,  verlangen.  Im  Übrigen  kann  vereinbart  werden, 
dafs  für  die  dem  Schiffsmann  in  den  vorbczcichncten  Fällen  zustehenden  Rückbe- 
förderungsansprüche an  Stelle  des  Hafens  der  Ausreise  ein  anderer  Hafen,  ins- 
besondere derjenige,  an  welchem  die  Heuerung  oder  die  Anmusterung  stattgefunden 
hat,  treten  soll. 

Unterlässt  es  der  Rheder  oder  sein  Vertreter,  dem  Ansprache  des  Schiffsmanns 
auf  freie  Zurückbeförderung  innerhalb  einer  vom  See  mann  tarnte  gestellten  Frist  zu 
genügen  oder  befindet  sich  der  Rheder  oder  sein  Vertreter  wegen  Abwesenheit 
nicht  in  der  Lage,  entsprechende  Vorkehrungen  zu  treffen,  so  kann  das  Seemanns- 
amt, sofern  dadurch  dem  Rheder  keine  höheren  Kosten  erwachsen,  auf  Antrag  des 
Schiffsmanns  anordnen,  dafs  an  die  Stelle  des  gesetzlich  oder  vertragsmäfsig  be- 
stimmten Rückbeförderangshafens  ein  anderer,  vom  Seemannsamte  zu  bezeichnender 
Hafen  tritt. 

§ 61.  Die  Heuer  bezieht  der  erkrankte  oder  verletzte  Schiffsmann: 

1.  wenn  er  die  Reise  nicht  antritt,  bis  zur  Einstellung  des  Dienstes; 

2.  wenn  er  die  Reise  angetreten  hat,  bis  zu  dem  Tage,  an  welchem  er  das 
Schiff  vcrläfsL 

Für  die  Dauer  des  Aufenthalts  in  einer  Krankenanstalt  gebührt  dem  Schiffs- 
manne keine  Heuer.  Hat  er  aber  Angehörige,  deren  Unterhalt  er  bisher  ganz  oder 
überwiegend  aus  seinem  Heuerverdienste  bestritten  hat,  so  ist  ein  Viertel  der  Heuer 
zu  zahlen.  Die  Zahlung  kann  unmittelbar  an  die  Angehörigen  erfolgen. 

Ist  der  Schiffsmann  bei  der  Verthcidigung  des  Schiffes  zu  Schaden  gekommenr 
Archiv  für  so*.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVII.  4^ 


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646 


Gesetzgebung:  Deutsches  Reich. 


so  hat  er  auf  eine  angemessene,  im  Streitfälle  vom  Seemannsamte  vorläufig  fcstzu- 
setzendc  Belohnung  Anspruch. 

§ 62.  Auf  den  Schiffsmann,  welcher  die  Krankheit  oder  Verletzung  durch 
eine  stratbare  Handlung  sich  zugezogen  oder  den  Dienst  ohne  einen  ihn  nach  $ 74 
dazu  berechtigenden  Grund  verlassen  hat,  finden  die  59  bis  61  keine  Anwendung» 

Ob  die  Voraussetzungen  des  Abs.  1 vorliegcn,  entscheidet  vorläufig  das  See- 
mannsamt. 

§ 63.  Mufs  der  Schiffsmann  wegen  Frkrankung  oder  Verletzung  am  Lande 
zuriickgclassen  werden,  so  hat,  soweit  der  SchitTsmann  nicht  ein  anderes  bestimmt* 
der  Kapitän  die  Sachen  und  das  Heuerguthaben  des  Schifismanns  behufs  Fürsorge 
fiir  deren  Aufbewahrung  dem  am  Orte  der  Zurücklassung  befindlichen  Seemanns- 
amte zu  überliefern.  Mit  Genehmigung  dieses  Seemannsamts  kann  die  Ueberlieterung 
an  eine  andere  geeignete  Stelle,  insbesondere  an  die  Verwaltung  der  Krankenanstalt* 
in  welche  der  Schifismann  aufgenommen  ist,  erfolgen.  Das  Gleiche  gilt,  wenn  sich 
am  Orte  der  Zurücklassung  kein  Seemannsamt  befindet.  In  diesem  Falle  hat  der 
Kapitän  dem  Scemannsamt,  in  dessen  Bezirke  die  Zurücklassung  erfolgt,  von  dem 
Sachverhalt  Anzeige  zu  machen. 

Der  Kapitän  hat  bei  Ucbcrlicferung  der  Sachen  eine  von  ihm  und  einem 
Schiffsoffizier,  in  Frmangclung  eines  solchen  von  einem  Schififsinanne , zu  unter- 
schreibende Aufzeichnung  der  Sachen  und  des  Betrags  des  Heuerguthabens  beizu- 
fügen und  ein  zweites  Exemplar  der  Aufzeichnung  unter  Vermerk  der  Aufbewahrungs- 
stelle dem  Schiflsmanne  zu  übergeben. 

Bei  Erkrankung  oder  Verletzung  des  Kapitäns  hat  der  Stellvertreter  mit  den. 
Sachen  des  Kapitäns  nach  den  Vorschriften  der  Abs.  1,  2 zu  verfahren. 

§ 64.  Stirbt  der  Schifismann  nach  Antritt  des  Dienstes,  so  hat  der  Rheder 
die  bis  zum  Todestage  verdiente  Heuer  (§  8oj  zu  zahlen  und,  sofern  der  Tod 
innerhalb  der  Zeit  der  Fürsorgepflicht  des  Rheders  (§  59)  erfolgt,  die  Bestattungs- 
kosten zu  tragen. 

Ist  anzunehmen,  dafs  das  Schiff  innerhalb  vierundzwanzig  Stunden  einen  Hafen 
erreicht,  so  ist,  falls  nicht  gesundheitliche  Bedenken  entgegenstehen,  die  Leiche  mit- 
zunehmen und  für  deren  Bestattung  am  I,ande  Sorge  zu  tragen. 

Die  Art  der  Bestattung  auf  See  mufs  den  Sccgebräuchen  entsprechen. 

Wird  der  Schiffsmann  bei  Verteidigung  des  Schiffes  getötet,  so  hat  der 
Rheder  eine  angemessene,  erforderlichenfalls  von  dem  Richter  zu  bestimmende  Be- 
lohnung zu  entrichten. 

§ 65.  Der  auf  dem  Schiffe  während  der  Reise  eintretende  Tod  des  Kapitäns 
oder  eines  Schiflsmanns  ist  gemäfs  SS  61  bis  64  des  Gesetzes  über  die  Beurkundung 
des  Personenstandes  und  die  Ehcscbliefsung  vom  6.  Februar  1875  (Reichs-GcsetzbL 
S.  23)  bei  Vermeidung  der  im  § 68  daselbst  angedrohten  Strafe  zu  beurkunden. 

Soweit  der  Xachlafs  eines  verstorbenen  Schiffsmanns  sich  an  Bord  befindet, 
hat  der  Kapitän  für  die  Aufzeichnung  und  sorgfältige  Aufbewahrung  sowie  erforder- 
lichenfalls für  den  Verkauf  des  Nachlasses  im  Wege  der  Versteigerung  Sorge  zu 
tragen.  Die  Aufzeichnung  ist  unter  Zuziehung  von  zwei  Schiffsoffizieren  oder  anderen 
glaubhaften  Personen  vorzunehmen. 


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Gesetz,  betreffend  eine  Seemannsordnung. 


647 


Die  Nachlafsgcgenstände  selbst,  der  etwaige  Erlös  aus  denselben  sowie  das 
etwaige  llcuerguthabcn  sind  nebst  der  erwähnten  Aufzeichnung  und  dem  Nachweis 
über  den  Todesfall  demjenigen  Scemannsamte,  bei  dem  es  zuerst  geschehen  kann, 
oder  mit  dessen  Genehmigung  dem  Scemannsamte  des  Ausreise-  oder  des  Heimats- 
hafens zu  übergeben. 

Für  den  Nachlafs  des  während  der  Reise  verstorbenen  Kapitäns  hat  der  Stell- 
vertreter nach  Mafsgabe  der  Vorschriften  der  Abs.  2,  3 Sorge  zu  tragen. 

§ 66.  Der  für  eine  Reise  geheuerte  Schiffsmann  ist  verpflichtet,  während  der 
ganzen  Reise,  cinschliefslich  etwaiger  Zwischenreisen,  bis  zur  Beendigung  der  Rück- 
reise im  Dienste  zu  verbleiben,  wenn  in  dem  Heuervertrage  nicht  ein  anderes  be- 
stimmt ist. 

Unter  Rückreise  im  Sinne  des  Abs.  1 ist  die  Reise  nach  dem  Hafen  zu  ver- 
stehen, von  welchem  das  Schiff  seine  Ausreise  angetreten  hat.  Wenn  jedoch  das 
Schiff  von  einem  nicht  europäischen  Hafen  (§  82)  kommt  und  seine  Ausreise  von 
einem  deutschen  Hafen  angetreten  hat,  so  gilt  auch  jede  Reise  nach  einem  Hafen 
Grofsbritanniens,  des  Kanals,  der  Nordsee,  des  Kattegats,  des  Sundes  oder  der 
Ostsee,  als  Rückreise,  falls  die  Reise  ^tatsächlich  in  dem  betreffenden  Hafen  endet, 
und  dies  der  Schiffsmannschaft  spätestens  alsbald  nach  der  Ankunft  vom  Kapitän 
erklärt  wird. 

Endet  die  Rückreise  nicht  in  dem  Hafen  der  Ausreise,  so  hat  der  Schiffsmann 
Anspruch  auf  freie  Zurückbeförderung  (§§  78,  79)  nach  diesem  Hafen  oder  nach 
Wahl  des  Kapitäns  auf  eine  entsprechende,  im  Streitfälle  vom  Scemannsamte  vor- 
läufig festzusetzendc  Vergütung;  aufserdem  gebührt  ihm  neben  der  verdienten  Heuer 
die  Heuer  für  die  Dauer  der  Zurückbeförderung  (§  73 i. 

§ 67.  Der  für  eine  bestimmte  Zeit  geheuerte  Schiffsmann  ist,  sofern  keine 
andere  Vereinbarung  getroffen  ist,  verpflichtet,  bis  zum  Ablaufe  dieser  Zeit  im 
Dienste  zu  verbleiben. 

Läuft  die  Dienstzeit  während  einer  Reise  ab,  so  kann  in  Ermangelung  einer 
anderen  Vereinbarung  der  Schiffsmann  seine  Entlassung  erst  im  nächsten  Hafen, 
welchen  das  Schiff  zum  Löschen  oder  Laden  anläufl,  verlangen.  Ist  es  nach  Be- 
scheinigung des  Seemannsamts  oder  in  E.rmangclung  eines  solchen  der  örtlichen  Be- 
hörde dem  Kapitän  nicht  möglich,  in  dem  Hafen  einen  Ersatzmann  anzuheuern,  so 
ist  der  Schiffsmann  verpflichtet,  gegen  eine  Erhöhung  der  Heuer  um  ein  Viertel, 
den  Dienst  bis  zu  einem  Hafen,  in  welchem  der  Ersatz  möglich  ist,  längstens  aber 
noch  drei  Monate  hindurch  fortzusrtzen.  Ist  der  Schiffsmann  in  einem  deutschen 
Hafen  geheuert , so  mufs  auf  sein  Verlangen  das  Dienstverhältnis  unter  den  bis- 
herigen Bedingungen  bis  zur  Rückkehr  nach  einem  deutschen  Hafen,  längstens  aber 
noch  drei  Monate  hindurch,  fortgesetzt  werden. 

§ 68.  Nach  beendigter  Reise  kann  der  Schiffsmann  seine  Entlassung  nicht 
früher  verlangen,  als  bis  die  Ladung  gelöscht,  das  Schiff  gereinigt  und  im  Hafen 
oder  an  einem  anderen  Orte  festgemacht,  auch  die  etwa  erforderliche  Verklarung 
abgelegt  ist 

§ 69.  Der  Heuervertrag  endet,  wenn  das  Schiff  durch  einen  Zufall  dem 
Rheder  verloren  geht,  insbesondere 

42* 


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648 


Gesetzgebung : Deutsches  Reich. 


1.  wenn  es  verunglückt; 

2.  wenn  es  als  reparaturunfähig  oder  reparaturunwürdig  kondemniert  (§  479 
des  Handelsgesetzbuchs)  und  in  dem  letzten  Falle  ohne  Verzug  öffent- 
lich verkauft  wird ; 

3.  wenn  es  geraubt  wird  ; 

4.  wenn  es  aufgebracht  oder  angehalten  und  für  gute  Prise  erklärt  wird. 

Der  Schiffsmann  hat  alsdann  Anspruch  auf  freie  Zurückbeförderung  (§§  78, 

79)  nach  dem  Hafen  der  Ausreise  oder  nach  Wahl  des  Kapitäns  auf  eine  ent- 
sprechende, im  Streitfälle  vom  Sccmannsamte  vorläufig  festzusetzende  Vergütung; 
aufserdem  ist  ihm  neben  der  verdienten  Heuer  noch  der  Betrag  der  halben  Heuer 
für  die  Dauer  der  Zurückbeförderung  (§  73)  zu  gewähren. 

§ 70.  Der  Kapitän  kann  den  SchitTsmann  vor  Ablauf  der  Dienstzeit  entlassen: 

1.  so  lange  die  Reise  noch  nicht  angetreten  ist,  wenn  der  Schiffsmann  zu 
dem  Dienste,  zu  welchem  er  sich  verheuert  hat,  untauglich  ist; 

2.  wenn  der  Schiffsmann  eines  groben  Dienstvergehens,  insbesondere  wieder- 
holten Ungehorsams,  fortgesetzter  Widerspenstigkeit,  wiederholter  Trunken- 
heit im  Dienste,  oder  der  Schmuggelei  sich  schuldig  macht; 

3.  wenn  der  Schiffsmann  des  Vergehens  des  Diebstahls,  Betrugs,  der  Un- 
treue, Unterschlagung,  Hehlerei  oder  Urkundenfälschung  oder  einer  mit 
Zuchthaus  bedrohten  Handlung  sich  schuldig  macht; 

4.  wenn  der  Schiffsmann  durch  eine  strafbare  Handlung  eine  Krankheit  oder 
Verletzung  sich  zuzicht,  welche  ihn  arbeitsunfähig  macht; 

5.  wenn  der  Schiffsmann  mit  einer  geschlechtlichen  Krankheit  behaftet  ist, 
die  den  übrigen  an  Bord  befindlichen  Personen  Gefahr  bringen  kann. 
Ob  dies  der  Fall  ist,  bestimmt  sich,  sofern  ein  Arzt  zu  erlangen  ist,  nach 
dessen  Gutachten ; 

6.  wenn  die  Reise,  für  welche  der  SchitTsmann  geheuert  war,  wegen  Krieg, 
Embargo  oder  Blokadc,  wegen  eines  Ausfuhr-  oder  Einfuhrverbots  oder 
wegen  eines  anderen,  Schiff  oder  Ladung  betreffenden  Zufalls  nicht  ange- 
treten  oder  fortgesetzt  werden  kann. 

Der  Kapitän  mufs  die  Entlassung,  sowie  deren  Grund,  sobald  es  geschehen 
kann,  dem  Schiffsmanne  mittcilcn  und  in  den  Fällen  des  Abs.  I Nr.  2 bis  5 späte- 
stens, bevor  dieser  das  Schiff  verläfst,  in  das  Schiffstagebuch  cintragcn.  Dem  Schiffs- 
mann  ist  auf  Verlangen  eine  vom  Kapitän  Unterzeichnete  Abschrift  der  Eintragung 
auszuhändigen. 

§ 71.  Dem  SchifTsmanne  gebührt  in  den  Fällen  des  § 70  Nr.  1 bis  4 nicht 
mehr  als  die  verdiente  Heuer  (§  80). 

Im  Falle  der  Nr.  5 bestimmen  sich  die  Ansprüche  des  SchitTsmanns  nach  den 
Vorschriften  der  §§  59  bis  61.  Dies  gilt  für  Angehörige  eines  auswärtigen  Staates 
nur  insoweit,  als  nach  einer  im  Reichs-Gesetzblatt  enthaltenen  Bekanntmachung 
Deutschen,  die  zum  Dienste  auf  einem  Schiffe  dieses  Staates  angcstcllt  sind,  durch 
die  dortige  Gesetzgebung  oder  durch  Staatsvertrag  eine  entsprechende  Fürsorge  ge- 
währleistet ist. 


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Gesetz,  betreffend  eine  Seemannsordnung.  649 

In  den  Fällen  der  Nr.  6 stehen  dem  Schiffsmanne,  wenn  die  Entlassung  nach 
Antritt  der  Reise  erfolgt,  die  im  § 69  Abs.  2 bezeichneten  Ansprüche  zu. 

§ 72.  Der  für  eine  Reise  geheuerte  Schiffsmann , welcher  aus  anderen  als 
aus  den  im  § 70  erwähnten  Gründen  vor  Ablauf  des  Heuervertrags  entlassen  wird, 
erhält  ah  Entschädigung  die  Heuer  für  einen  Monat  unter  Anrechnung  der  etwa 
empfangenen  Hand-  und  Vorschufsgeldcr. 

Ist  die  Entlassung  erst  nach  Antritt  der  Reise  erfolgt,  so  hat  er  aufserdem 
Anspruch  auf  freie  Zurückbeförderung  (§§  78,  79)  nach  dem  Hafen  der  Ausreise 
oder  nach  Wahl  des  Kapitäns  auf  eine  entsprechende,  im  Streitfälle  von  dem  See- 
mannsamte vorläufig  festzusetzende  Vergütung.  Auch  erhält  er  aufser  der  im  Abs.  I 
vorgesehenen  und  der  verdienten  Heuer  (§  80)  die  Heuer  für  die  nach  § 73  zu 
berechnende  voraussichtliche  Dauer  seiner  Reise  nach  dem  Rückbeförderungshafen. 

§ 73.  Ist  der  Rückbefordcrungshafen  ein  deutscher,  so  wird  in  Fällen  vor- 
zeitiger Entlassung  nach  Antritt  der  Reise  (§  72  Abs.  2)  behufs  Ermittelung  der 
dem  Schiffsmanne  für  die  Rückreise  gebührenden  Heuer  die  Dauer  der  Reise 
unter  Zugrundelegung  von  Dampfscbiffsbeförderung,  wie  folgt,  gerechnet : 


bei  Entlassung : -zu : 

a)  in  einem  Hafen  der  Nordsee  oder  des  englischen  Kanals, 

der  Ostsee  oder  der  an  diese  angrenzenden  Gewässer  . . */«  Monat, 

b)  in  einem  sonstigen  europäischen  Hafen  i§  82)  I „ 

c)  in  einem  aufsereuropäischcn  Hafen,  mit  Ausnahme  der  unter  d 

genannten O/t  ,» 

d)  in  einem  Hafen  des  Grofscn  Ozeans  oder  Australiens  . . 2 „ 


Mufs  die  Rückbeförderung  ganz  oder  teilweise  mittels  Segelschiffs  stattfinden, 
so  ist  für  die  mittels  Segelschiffs  zuriickzulcgcndc  Strecke  das  Doppelte  der  Dauer 
der  Dampfschiffsbeförderung  zu  rechnen. 

Erfolgt  in  den  Fällen  a und  b des  Abs.  1 die  Rückbeförderung  unter  aus- 
schlicfslicher  Benutzung  der  Eisenbahn,  so  wird  die  Dauer  der  Reise  nicht  in  An- 
satz gebracht. 

Die  Dauer  der  Rückreise  wird  nach  Mafsgabe  des  Vorstehenden,  bei  Rück- 
beförderung nach  einem  aufscrdeutschen  Hafen  unter  angemessener  Berücksichtigung 
der  Sätze  a bis  d,  im  Streitfälle  vom  Seemannsamtc  vorläufig  festgesetzt. 

§ 74.  Der  Schiffsmann  kann  seine  Entlassung  fordern : 

1.  wenn  sich  der  Kapitän  einer  schweren  Verletzung  seiner  Pflichten  gegen 
den  Schiffsmann,  insbesondere  durch  Mifshandlung  oder  durch  Duldung 
solcher  seitens  anderer  Personen  der  Schiffsbesatzung,  durch  grundlose 
Vorenthaltung  von  Speise  und  Trank  oder  durch  Verabreichung  ver- 
dorbenen Proviants,  schuldig  macht ; 

2.  wenn  das  Schiff  die  Flagge  wechselt; 

3.  wenn  nach  Beendigung  der  Ausreise  eine  Zwischcnrcisc  beschlossen,  oder 
wenn  eine  Zwischenrcisc  beendigt  ist,  sofern  seit  dem  Dienstantritte  ein 
oder  ein  und  ein  halbes  Jahr,  je  nachdem  das  Schiff  in  einem  euro- 
päischen (§  82)  oder  in  einem  nicht  europäischen  Hafen  sich  befindet, 
verflossen  ist; 


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650 


Gesetzgebung:  Deutsches  Reich. 


4.  wenn  das  Schiff  nach  einem  Hafen  bestimmt  ist,  oder  einen  Hafen  an- 
laufcn  soll,  der  schon  zur  Zeit  der  Anmusterung  durch  Pest,  Cholera, 
oder  Gelbfieber  verseucht  war,  sofern  nicht  dem  Schiffsmanne  bei  der 
Anmusterung  dieser  Hafen  und  die  Verseuchung  mitgeteilt  worden  ist. 
Als  verseucht  im  Sinne  dieser  Vorschrift  gilt  ein  Hafen,  in  dem  ein  Pest-, 
Cholera-  oder  Gclbficberlierd  vorhanden  ist  Der  Anspruch  auf  Ent- 
lassung fallt  fort,  sobald  die  Verseuchung  aufgehört  hat; 

5.  wenn  der  Schiffsmann  beabsichtigt,  sich  für  die  Maschinisten-,  Steuer- 
manns- oder  Sch iffer prüfung  vorzubereiten  oder  eine  ihm  nachweislich 
angebotene  Stellung  als  Kapitän  anzunehmen,  sofern  er  einen  geeigneten 
Ersatzmann  stellt  und  durch  den  Wechsel  dem  Schiffe  kein  Aufenthalt 
entsteht.  Ob  der  vorgeschlagene  Ersatzmann  geeignet  ist,  entscheidet  im 
Streitfall  das  nächste  Seemannsamt. 

Der  Wechsel  des  Rheders  oder  Kapitäns  giebt  dem  Schiffsmannc  kein  Recht, 
die  Entlassung  zu  fordern. 

§ 75.  Im  Falle  des  § 74  Nr.  3 kann  die  Entlassung  nicht  gefordert  werden: 

1.  wenn  der  Schiffsmann  für  eine  längere  als  die  daselbst  angegebene  Zeit 
sich  verheuert  hat.  Die  Verheuerung  auf  unbestimmte  Zeit  oder  mit  der 
allgemeinen  Bestimmung,  dafs  nach  Beendigung  der  Ausreise  der  Dienst 
für  alle  Reisen,  welche  noch  beschlossen  werden  möchten,  fortzusetzen 
sei,  wird  als  Verheuerung  auf  solche  Zeit  nicht  angesehen; 

2.  sobald  die  Rückreise  angeordnet  ist. 

§ 76.  Der  Schiffsmann  hat  in  den  Fällen  des  § 74  Nr.  I,  2 dieselben  An- 
sprüche, welche  für  den  Fall  des  § 72  bestimmt  sind. 

In  den  Fällen  des  § 74  Nr.  3 bis  5 gebührt  ihm  nicht  mehr,  als  die  ver- 
diente Heuer.  Jedoch  hat  er  im  Falle  der  Nr.  4 die  im  § 72  bestimmten  An- 
sprüche, sofern  bei  der  Anmusterung  im  licimatshafcn  der  Rheder,  sein  Vertreter 
(§12  Abs.  2)  oder  der  Kapitän,  bei  der  Anmusterung  in  einem  anderen  Hafen  der 
Kapitän  von  der  Verseuchung  Kenntnis  hatte. 

§ 77.  Im  Auslande  darf  der  Schiffsmann,  welcher  seine  Entlassung  fordert, 
aufser  in  dem  Falle  eines  Flaggen  Wechsels  gegen  den  Willen  des  Kapitäns  erst  auf 
Grund  einer  vorläufigen  Entscheidung  des  Sccmannsamts  (§  129)  den  Dienst  ver- 
lassen. 

§ 78.  Ist  nach  den  Bestimmungen  dieses  Gesetzes  ein  Anspruch  auf  freie 
Zurückbeförderung  begründet,  so  umfafst  er  auch  den  Unterhalt  während  der  Reise 
sowie  die  Beförderung  der  Sachen  des  Schiffsmanns.  Den  Schiffsoffizieren  ist  die 
Zurückbeförderung  und  der  Unterhalt  in  der  Kajüte  zu  gewähren. 

Im  Streitfall  entscheidet  über  die  Art  der  Zurückbeförderung  vorläufig  das 
abmustemde  Scemannsamt. 

§ 79.  Dem  Anspruch  auf  freie  Zurückbeförderung  und  auf  Fortbczug  von 
Heuer  für  die  Dauer  der  Zurückbeförderung  wird  genügt,  wenn  dem  Schiffsmannc, 
welcher  arbeitsfähig  ist,  mit  Genehmigung  des  Sccmannsamts  ein  seiner  früheren 
Stellung  entsprechender  und  durch  angemessene  Heuer  zu  vergütender  Dienst  auf 
einem  deutschen  Kauffahrteischiffe  nachgewiesen  wird,  welches  nach  dem  Rück- 


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Gesetz,  betreffend  eine  Seemannsordnung.  65  j 

beförderungsliafen  oder  einem  demselben  nahe  bclegencn  Hafen  geht;  im  letzteren 
Kalle  gebührt  dem  Schiffsmann  eine  entsprechende  Vergütung  für  die  weitere  freie 
Zurückbeförderung  ($  78)  bis  zu  dem  zuerst  bezeichncten  Hafen. 

Ist  der  Schiffsmann  kein  Deutscher,  so  wird  ein  Schiff  seiner  Nationalität 
einem  deutschen  Schiffe  gleichgeachtet. 

§ 80.  In  den  Fällen  der  §§  45,  53,  61,  64,  69,  71,  72,  76  wird  die  ver- 
diente Heuer,  sofern  die  Heuer  nicht  zeitweise,  sondern  in  Bausch  und  Bogen  für 
die  ganze  Reise  bedungen  ist,  mit  Rücksicht  auf  den  vollen  Heuerbetrag  nach 
Verhältnis  der  geleisteten  Dienste,  sowie  des  etw'a  zurückgelcgtcn  Teiles  der  Reise 
bestimmt.  Zur  Ermittelung  der  in  den  §§  72,  73  erwähnten  Heuer  für  einzelne 
Monate  wird  die  durchschnittliche  Dauer  der  Reise  cinschlicfslich  der  Ladungs- 
und Löschungszeit  unter  Berücksichtigung  der  Beschaffenheit  des  Schiffes  in  Ansatz 
gebracht  und  danach  die  Heuer  für  die  einzelnen  Monate  berechnet.  Bei  Berech- 
nung der  Heuer  für  einzelne  Tage  wird  der  Monat  zu  30  Tagen  gerechnet. 

§ 81.  Der  dem  Schiffsmann  als  Lohn  zugestandene  Anteil  an  der  Fracht 
oder  am  Gewinne  wird  als  Heuer  im  Sinne  dies  Gesetzes  nicht  angesehen. 

§ 82.  In  den  Fällen  der  $§  66,  73,  74  sind  die  nicht  europäischen  Häfen 
des  Mittelländischen  und  des  Schwarzen  Meeres  den  europäischen  Häfen  glcich- 
zustellen. 

§ 83.  Der  Kapitän  darf  einen  Schiffsmann  aufserhalb  des  Reichsgebiets  nicht 
ohne  Genehmigung  des  Seemannsamts  zurücklassen.  Wenn  für  den  Fall  der  Zurück- 
lassung eine  Hilfsbedürftigkeit  des  Schiffsmanns  zu  besorgen  ist,  so  kann  die  Er- 
teilung der  Genehmigung  davon  abhängig  gemacht  werden,  dafs  der  Kapitän  gegen 
den  Eintritt  der  Hilfsbedürftigkeit  für  einen  Zeitraum  bis  zu  drei  Monaten  Sicher- 
stellung leistet. 

Ist  der  Schiffsmann  mit  der  Zurücklassung  einverstanden  und  befindet  sich 
kein  Sccmannsamt  am  Platze  und  läfst  sich  auch  die  Genehmigung  eines  anderen 
Seemannsamts  ohne  Verzögerung  der  Reise  nicht  einholen,  so  ist  der  Kapitän  be- 
befugt, den  Schiffsmann  ohne  Genehmigung  zurückzulassen.  Der  Rheder  bleibt  in 
diesem  Falle  für  die  aus  einer  etwaigen  Hilfsbedürftigkeit  des  Schiffsmanns  während 
■der  nächsten  drei  Monate  erwachsenden  Kosten  haftbar. 

Die  Bestimmungen  des  § 127  werden  hierdurch  nicht  berührt 

Vierter  Abschnitt. 

Disziplinar-Vorschriften. 

§ 84.  Der  Schiffsmann  ist  der  Disziplinargewalt  des  Kapitäns  unterworfen. 
Die  Ausübung  der  Disziplinargewalt  des  Kapitäns  kann  nur  auf  den  ersten  Offizier 
des  Decksdienstes  und  den  ersten  Offizier  des  Maschinendienstes  innerhalb  ihres 
Dienstbereichs  übertragen  werden.  Dieselben  haben  jeden  Fall  der  Ausübung  der 
Disziplinargewalt  binnen  vierundzwanzig  Stunden  dem  Kapitän  anzuzeigen. 

§ 85.  Der  Schiffsmann  ist  verpflichtet,  sich  stets  nüchtern  zu  halten  und  gegen 
jedermann  ein  angemessenes  und  friedfertiges  Betragen  zu  beobachten. 

Dem  Kapitän,  den  Schiffsoffizieren  und  seinen  sonstigen  Vorgesetzten  hat  er 


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Gesetzgebung : Deutsches  Reich. 


mit  Achtung  zu  begegnen  und  ihren  dienstlichen  Befehlen  unweigerlich  Folge  zu 
leisten. 

§ 86.  Der  Schiffsmann  hat  dem  Kapitän  auf  Verlangen  wahrhcitsgemäfs  und 
vollständig  mitzuteilen,  was  ihm  über  die  den  Schiffsdienst  betreffenden  Angelegen- 
heiten bekannt  ist. 

§ 87.  Der  Schiffsmann  darf  ohne  Erlaubnis  des  Kapitäns  keine  Güter  an 
Bord  bringen  oder  bringen  lassen.  Für  die  gegen  dieses  Verbot  beförderten  eigenen 
oder  fremden  Güter  mufs  er  die  höchste  am  Abladungsortc  zur  Abladungszeit  für 
solche  Reisen  und  Güter  bedungene  Fracht  erstatten,  unbeschadet  der  Verpflichtung 
zum  Ersatz  eines  erweislich  höheren  Schadens. 

Der  Kapitän  ist  auch  befugt,  solche  Güter  über  Bord  zu  werfen,  wenn  ihr 
Verbleib  an  Bord  Schiff  oder  Ladung  oder  die  Gesundheit  der  an  Bord  befindlichen 
Personen  gefährden  oder  das  Einschreiten  einer  Behörde  zur  Folge  haben  kann. 

§ 88.  Die  Vorschriften  des  § 87  finden  auch  Anwendung,  wenn  der  Schiffs- 
mann ohne  Erlaubnis  des  Kapitäns  Waffen  oder  Munition,  Branntwein  oder  andere 
geistige  Getränke,  oder  mehr  an  Tabak  und  Tabakswaren,  als  er  zu  seinem  Ge- 
brauch auf  der  beabsichtigten  Reise  bedarf,  an  Bord  bringt  oder  bringen  läfst. 

Die  gegen  dieses  Verbot  mitgenommenen  Gegenstände  verfallen  dem  Schiffe. 

§ 89.  Der  Kapitän  hat  die  auf  Grund  der  Vorschriften  der  §§  87,  88  ge- 
troffenen Anordnungen,  sobald  es  geschehen  kann,  in  das  Schiffstagebuch  cinzu- 
tragen. 

§ 90.  Liegt  das  Schiff  im  Hafen  oder  auf  der  Rhede,  so  ist  der  Kapitän 
befugt,  wenn  nach  den  Umständen  eine  Entweichung  zu  befurchten  ist,  die  Sachen 
der  Schiffsleutc  bis  zur  Abreise  des  Schiffes  in  Verwahrung  zu  nehmen. 

§ 91.  Zur  Aufrechterhaltung  der  Ordnung  und  zur  Sicherung  der  Rcgel- 
mäfsigkeit  des  Dienstes  ist  der  Kapitän  befugt,  die  geeigneten  Mafsregeln  zu  er- 
greifen. Gcldbufscn,  Kostschmälcrung  von  mehr  als  dreitägiger  Dauer,  Einsperrung 
und  körperliche  Züchtigung  darf  er  jedoch  zu  diesem  Zwecke  weder  als  Strafe 
verhängen,  noch  als  Zwangsmittel  an  wenden. 

Bei  einer  Widersetzlichkeit  oder  bei  beharrlichem  Ungehorsam  ist  der  Kapitän 
zur  Anwendung  aller  Mittel  befugt,  welche  erforderlich  sind,  um  seinen  Befehlen 
Gehorsam  zu  verschaffen.  Zu  diesem  Zwecke  ist  ihm  auch  die  Anwendung  von 
körperlicher  Gewalt  in  dem  durch  die  Umstände  gebotenen  Mafsc  gestattet.  Er 
darf  ferner  gegen  die  Beteiligten  die  geeigneten  Sicherungsmafsregeln  ergreifen  und 
sie  nötigenfalls  während  der  Reise  fesseln. 

Jeder  Schiffsmann  mufs  dem  Kapitän  auf  Erfordern  Beistand  zur  Aufrecht- 
erhaltung der  Ordnung,  sowie  zur  Abwendung  oder  Unterdrückung  einer  Wider- 
setzlichkeit leisten. 

Im  Auslände  kann  der  Kapitän  in  dringenden  Fällen  die  Kommandanten  der 
ihm  zugänglichen  Schiffe  der  Kriegsmarine  des  Reichs  um  Beistand  zur  Aufrecht- 
crhaltung  der  Disziplin  angehen. 

§ 92.  Der  Kapitän  hat  jede  in  Gemäfsheit  der  Vorschriften  des  § 91  ge- 
troffene Mafsrcgel  mit  Angabe  der  Veranlassung,  sobald  es  geschehen  kann,  in  das 
Schiffstagebuch  cinzutragcn. 


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Gesetz,  betreffend  eine  Seemannsordnung. 


65 


Fünfter  Abschnitt. 

Strafvorschriften. 

§ 93-  Ein  Schiffsmann,  welcher  nach  Abschlufs  des  Heuervertrags  sich  ver- 
borgen halt,  um  sich  dem  Antritte  des  Dienstes  zu  entziehen,  wird  mit  Geldstrafe 
bis  zu  sechzig  Mark  bestraft. 

Wenn  ein  Schiffcmann,  um  sich  der  Fortsetzung  des  Dienstes  zu  entziehen, 
entweicht  oder  sich  verborgen  hält,  so  tritt  Geldstrafe  bis  zu  dreihundert  Mark  oder 
Gefängnisstrafe  bis  zu  drei  Monaten  ein. 

Ein  Schiffsmann,  welcher  mit  der  Heuer  entweicht  oder  sich  verborgen  hält, 
um  sich  dem  übernommenen  Dienste  zu  entziehen,  wird  mit  der  im  § 298  des 
Strafgesetzbuchs  angedrohten  Gefängnisstrafe  bis  zu  einem  Jahre  belegt.  Sind 
mildernde  Umstände  vorhanden,  so  kann  auf  Geldstrafe  bis  zu  dreihundert  Mark 
erkannt  werden. 

In  den  Fällen  der  Abs.  I,  2 tritt  die  Verfolgung  nur  auf  Antrag  des  Kapitäns 
ein.  Die  Zurücknahme  des  Antrags  ist  zulässig. 

§ 94.  In  den  Fällen  des  § 93  Abs.  2,  3 verliert  der  Schiffsmann,  wenn  er 
vor  Abgang  des  Schiffes  weder  zur  Fortsetzung  des  Dienstes  freiwillig  zurückkehrt, 
noch  zwangsweise  zurückgebracht  wird,  den  Anspruch  auf  die  bis  dahin  verdiente 
Heuer.  Die  Heuer  und,  sofern  diese  nicht  ausreicht,  auch  die  an  Bord  zurück- 
gelassenen Sachen  des  Schiffsmanns  können  von  dem  Rheder  zur  Deckung  seiner 
Schadensansprüche  aus  dem  Heuer-  oder  Dienstvertrag  in  Anspruch  genommen 
werden ; soweit  die  Heuer  hierzu  nicht  erforderlich  ist,  wird  mit  ihr  nach  Mafsgabe 
des  § 132  verfahren.  Dem  Seemannsamte,  bei  welchem  die  Meldung  von  der 
Entweichung  erfolgt  (§  25)  ist,  sobald  cs  geschehen  kann,  eine  Aufstellung  über 
den  Betrag  der  Schadensansprüche  und  des  Heuerguthabens  einzureichen,  widrigen- 
falls die  vorgedachte  Befugnis  erlischt. 

§ 95.  Hat  der  Schiffsmann  sich  im  Auslände  dem  Dienste  in  einem  der  Fälle 
des  § 74  Nr.  I,  3,  4,  5 der  Vorschrift  des  § 77  entgegen  entzogen,  so  tritt  Geld- 
strafe bis  zum  Betrag  einer  Monatsheuer  ein. 

§ 96.  Mit  Geldstrafe  bis  zum  Betrag  einer  Monatsheuer  wird  ein  Schiffsmann 
bestraft,  welcher  sich  einer  gröblichen  Verletzung  seiner  Dienstpflichten  schuldig 
macht. 

* Als  Verletzung  der  Dienstpflicht,  die,  wenn  sie  in  gröblicher  Weise  erfolgt, 
nach  Abs.  1 strafbar  ist,  wird  insbesondere  angesehen : 

1.  Nachlässigkeit  im  Wachtdicnste ; 

2.  Ungehorsam  gegen  den  Dienstbefehl  eines  Vorgesetzten; 

3.  ungebührliches  Betragen  gegen  Vorgesetzte,  gegen  andere  Mitglieder  der 
Schiffsmannschaft  oder  gegen  Reisende; 

4.  Verlassen  des  Schiffes  ohne  Erlaubnis  oder  Ausbleiben  über  die  fest- 
gesetzte Zeit; 

5.  Wegbringen  eigener  oder  fremder  Sachen  von  Bord  des  Schiffes  und  an 
Bord  bringen  oder  an  Bord  bringen  lassen  von  Gütern  oder  sonstigen 
Gegenständen  ohne  Erlaubnis ; 


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Gesetzgebung : Deutsches  Reich. 


6.  eigenmächtige  Zulassung  fremder  Personen  an  Bord  und  Gestattung  de» 
Anlegens  von  Fahrzeugen  an  das  Schiff; 

7.  Trunkenheit  im  SchifTsdienstc ; 

> 8.  Vergeudung,  unbefugte  Veräufserung  oder  beiseite  'bringen  von  Proviant. 

Gegen  Schiffsoffizicrc  kann  die  Strafe  bis  auf  den  Betrag  einer  zweimonatlichen 
Heuer  erhöht  werden. 

Die  Verfolgung  tritt  nur  auf  Antrag  des  Kapitäns  oder  eines  verletzten  Schiffs- 
manns  ein.  Der  Antrag  kann  bis  zur  Abmusterung  gestellt  werden.  Die  Zurück- 
nahme ist  bis  zur  rechtskräftigen  Entscheidung  zulässig. 

§ 97.  In  den  Fällen  der  §§  95,  96  wird,  wenn  der  Heuer  nicht  monatsweise 
bedungen  ist,  bei  der  Festsetzung  der  Geldstrafe  der  einer  Monatsheuer  ent* 
sprechende  Geldbetrag  nach  dem  Ermessen  des  Seemannsamtes  berechnet. 

§ 98.  Der  Kapitän  hat,  sobald  es  geschehen  kann,  jede  gröbliche  Verletzung 
der  Dienstpflicht  (§  96)  mit  genauer  Angabe  des  Sachverhalts  in  das  Schiffstagebuch 
einzutragen  und  dem  Schiffsmanne  von  dem  Inhalte  der  Eintragung  unter  ausdrück- 
licher Hinweisung  auf  die  Strafandrohung  des  § 96  Mitteilung  zu  machen,  auch 
demselben  auf  Verlangen  eine  Abschrift  der  Eintragung  auszuhändigen. 

Unterbleibt  die  Mitteilung,  so  sind  die  Gründe  der  Unterlassung  im  Tagebuch 
anzugeben.  Ist  die  Eintragung  versäumt,  so  tritt  keine  Verfolgung  ein,  soweit  nicht 
im  Falle  des  § 96  Abs.  2 Nr.  3 der  verletzte  Schiffsmann  darauf  anträgt. 

§ 99.  Beschwert  sich  ein  Schiffsmann  über  ungebührliches  Betragen  der  Vor- 
gesetzten oder  anderer  Mitglieder  der  Schiffsmannschaft  oder  darüber,  dafs  das 
Schiff,  für  welches  er  angeraustert  ist,  nicht  seetüchtig  ist,  oder  dafs  die  Vorräte, 
welche  das  Schiff  für  den  Bedarf  der  Mannschaft  an  Speisen  und  Getränken  mit 
sich  Führt,  ungenügend  oder  verdorben  sind,  so  hat  der  Kapitän  die  Beschwerde 
mit  genauer  Angabe  des  Sachverhaltes  in  das  Schiffstagebuch  einzutragen  und  dem 
Beschwerdeführer  auf  Verlangen  eine  Abschrift  der  Eintragung  auszuhändigen. 

§ loo.  Ein  Schiffsmann,  welcher  den  wiederholten  Befehlen  des  Kapitäns, 
eines  Schiffsoffiziers  oder  eines  anderen  Vorgesetzten  den  schuldigen  Gehorsam 
verweigert,  wird  mit  Gefängnis  bis  zu  drei  Monaten  oder  mit  Geldstrafe  bis  zu 
dreihundert  Mark  bestraft. 

§ 101.  Wenn  zwei  oder  mehrere  zur  Schiffsmannschaft  gehörige  Personen 
dem  Kapitän,  einem  Schiffsoftizicr  oder  einem  anderen  Vorgesetzten  den  schuldigen 
Gehorsam  auf  Verabredung  gemeinschaftlich  verweigern,  so  tritt  gegen  jeden  Be- 
teiligten Gefängnisstrafe  bis  zu  einem  Jahre  ein.  Der  Rädelsführer  wird  mit  Ge- 
fängnis bis  zu  drei  Jahren  bestraft. 

Sind  mildernde  Umstande  vorhanden,  so  kann  auf  Geldstrafe  bis  zu  sechs- 
hundert Mark  erkannt  werden.  Der  Rädelsführer  wird  in  diesem  Falle  mit  Gefäng- 
nis bis  zu  einem  Jahre  bestraft. 

§ 102.  Ein  Schiffsmann,  welcher  zwei  oder  mehrere  zur  Schiffsmannschaft 
gehörige  Personen  zur  Begehung  einer  nach  den  §§  toi,  I05  strafbaren  Handlung 
auffordert,  ist  gleich  dem  Anstifter  zu  bestrafen,  wenn  die  Aufforderung  die  straf- 
bare Handlung  oder  einen  strafbaren  Versuch  derselben  zur  Folge  gehabt  hat. 

Ist  die  Aufforderung  ohne  Erfolg  geblieben,  so  tritt  im  Falle  des  § 101 


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Gesetz,  betreffend  eine  Seemannsordnung.  655 

Geldstrafe  bis  zu  dreihundert  Mark,  im  Falle  des  § 105  Geldstrafe  bis  zu  sechs- 
hundert Mark  oder  Gefängnisstrafe  bis  zu  einem  Jahre  ein. 

§ 103.  Ein  Schiffsmann,  welcher  den  Kapitän,  einen  Schiffsoffizier  oder  einen 
anderen  Vorgesetzten  durch  Gewalt  oder  durch  Bedrohung  mit  Gewalt,  oder  durch 
Verweigerung  der  Dienste  zur  Vornahme  oder  zur  Unterlassung  einer  dienstlichen 
Verrichtung  nötigt,  wird  mit  Gefängnis  bis  zu  zwei  Jahren  bestraft.  Sind  mildernde 
Umstände  vorhanden,  so  kann  auf  Geldstrafe  bis  zu  sechshundert  Mark  erkannt 
werden.  Der  Versuch  ist  strafbar. 

§ 104.  Dieselben  Strafvorschriften  (§  103)  finden  auf  den  Schiffsmann  An- 
wendung, welcher  dem  Kapitän,  einem  Schiffsoffizicr  oder  einem  anderen  Vor- 
gesetzten in  Ausübung  seiner  Dienstbefugnissc  durch  Gewalt  oder  durch  Bedrohung 
mit  Gewalt  Widerstand  leistet  oder  den  Kapitän,  einen  Scbiffsoffizier  oder  einen 
anderen  Vorgesetzten  thätlich  angreift. 

§ 105.  Wird  eine  der  in  den  §§  103,  104  bezcichneten  Handlungen  von 
mehreren  Schiffslcutcn  auf  Verabredung  gemeinschaftlich  begangen , so  kann  die 
Strafe  bis  auf  das  Doppelte  des  angedrohten  Höchstbetrages  erhöht  werden. 

Der  Rädelsführer  sowie  diejenigen,  welche  gegen  den  Kapitän,  einen  Schiffs- 
offizicr oder  einen  anderen  Vorgesetzten  Gcw'altthäligkeitcn  verüben,  werden  mit 
Zuchthaus  bis  zu  fünf  Jahren  oder  mit  Gefängnis  von  gleicher  Dauer  bestraft;  auch 
kann  neben  der  Zuchthausstrafe  auf  Zulässigkeit  von  Polizeiaufsicht  erkannt  werden. 
Sind  mildernde  Umstände  vorhanden , so  tritt  Gefängnisstrafe  nicht  unter  drei 
Monaten  ein. 

§ 106.  Ein  Schiffsmann,  welcher  solchen  Befehlen  des  Kapitäns,  eines  Schiffs- 
offiziers oder  eines  anderen  Vorgesetzten  den  Gehorsam  verweigert,  welche  sich 
auf  die  Abwehr  oder  auf  die  Unterdrückung  der  in  den  §§  103,  104  bezcichneten 
Handlungen  beziehen,  würd  mit  Gefängnis  bis  zu  sechs  Monaten  oder  mit  Geldstrafe 
bis  zu  dreihundert  Mark  bestraft. 

§ 107.  Mit  Geldstrafe  bis  zu  sechzig  Mark  oder  mit  Haft  bis  zu  vierzehn 
Tagen  wird  bestraft  ein  Schiffsmann,  welcher 

1.  bei  Verhandlungen,  die  sich  auf  die  Erteilung  eines  Seefahrtsbuchs,  auf 
eine  Eintragung  in  dasselbe  oder  auf  eine  Musterung  beziehen,  wahre 
Thatsachen  entstellt  oder  unterdrückt  oder  falsche  vorspiegelt,  um  ein 
Seemannsamt  zu  täuschen; 

2.  es  unterläfst,  sich  gcmäfs  g 12  zur  Musterung  zu  stellen; 

3.  im  Falle  eines  dem  Dienstantritt  entgegenstehenden  Hindernisses  cs  unter- 
läfst, sich  hierüber  gcmäfs  g 1 7 gegen  das  Sceinannsamt  auszuweisen ; 

4.  w’ider  besseres  Wissens  eine  auf  unwahre  Behauptungen  gestützte  Be- 
schwerde gcmäfs  § 99  bei  dem  Kapitän  vorbringt ; 

5.  der  vorläufigen  Entscheidung  des  Seemannsamts  (§  129  Abs.  3)  zuwider- 
handelt. 

Durch  die  Bestimmung  des  Abs.  I Nr.  I wird  die  Vorschrift  des  § 271  des 
Strafgesetzbuchs  nicht  berührt. 

§ 108.  Wer  wider  besseres  Wissen  eine  auf  unwahre  Behauptungen  gestützte 
Beschwerde  über  Sccuntüchtigkcit  des  Schiffes  oder  Mangelhaftigkeit  des  Proviants 


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Gesetzgebung:  Deutsches  Reich. 


bei  einem  Seemannsamte  vorbringt  (§  58)  und  hierdurch  eine  Untersuchung  veran- 
lagt, wird  mit  Gefängnis  bis  zu  drei  Monaten  oder  mit  Geldstrafe  bis  zu  drei- 
hundert Mark  bestraf!. 

Wer  leichtfertig  eine  auf  unwahre  Behauptungen  gestützte  Beschwerde  über 
Seeuntüchtigkeit  des  Schiffes  oder  Mangelhaftigkeit  des  Proviants  bei  einem  See* 
mannsamte  vorbringt  und  hierdurch  eine  Untersuchung  veranlagst,  wird  mit  Geld- 
strafe bis  einhundert  Mark  bestraf!. 

§ 109.  Ein  Schiffsmann,  welcher  vorsätzlich  und  rechtswidrig  Teile  des 
Schiffskörpers,  der  Maschine,  der  Takelung  oder  Ausrüstungsgegenstände  oder  Ver- 
richtungen, welche  zur  Rettung  von  Menschenleben  dienen,  zerstört  oder  be- 
schädigt, wird  mit  Geldstrafe  bis  eintausend  Mark  oder  Gefängnis  bis  zu  zwei 
Jahren  bestraf!. 

Der  Versuch  ist  strafbar. 

Die  Verfolgung  tritt  nur  auf  Antrag  ein. 

§ 1 10.  Die  Verhängung  einer  in  diesem  Abschnitt  oder  durch  sonstige  straf- 
gesetzliche Vorschriften  angedrohten  Strafe  wird  dadurch  nicht  ausgeschlossen,  dafs 
der  Schuldige  aus  Anlafs  der  ihm  zur  Last  gelegten  That  bereits  disziplinarisch 
bestraft  worden  ist.  Jedoch  mufs  eine  Disziplinarstrafe,  sowohl  in  dem  Straf- 
bescheide des  Seemannsamts  (§  123),  wie  in  dem  gerichtlichen  Strafurteile  bei  Ab- 
messung der  Strafe  berücksichtigt  werden. 

§ 1 1 1.  Der  Kapitän,  Schiffsoffizicr  oder  sonstige  Vorgesetzte,  welcher  einem 
Schiffsmanne  gegenüber  seine  Disziplinargewalt  mifsbraucht,  wird  mit  Geldstrafe  bis 
zu  eintausend  Mark  oder  mit  Gefängnis  bis  zu  einem  Jahre  bestraft. 

§ 112.  Der  Kapitän,  welcher  die  gehörige  Verproviantierung  des  Schiffes  vor 
Antritt  oder  während  der  Reise  vorsätzlich  unterläfst,  wird  mit  Gefängnis  bestraft, 
neben  welchem  auf  Geldstrafe  bis  zu  eintausendfünfhundert  Mark  sowie  auf  Ver- 
lust der  bürgerlichen  Ehrenrechte  erkannt  werden  kann. 

Ist  die  Unterlassung  aus  Fahrlässigkeit  geschehen,  so  tritt,  wenn  infolge  dessen 
der  Schiffsmannschaft  die  gebührende  Kost  nicht  gewahrt  werden  kann,  Geldstrafe 
bis  zu  fünfhundert  Mark  oder  Gefängnis  bis  zu  einem  Jahre  ein. 

§ 113.  Mit  Geldstrafe  bis  zu  dreihundert  Mark,  mit  Haft  oder  mit  Gefängnis 
bis  zu  drei  Monaten  wird  bestraft  ein  Kapitän,  welcher 

1.  den  Verpflichtungen  zuwidcrhandclt,  welche  ihm  durch  die  gcmäfs  § 50 
Abs.  2 vom  Bundesrat  erlassenen  Vorschriften  aufcrlegt  werden; 

2.  den  Verpflichtungen  zuwiderhandelt  welche  ihm  durch  die  gcmäfs  § 4 
vom  Bundesrat  erlassenen  Vorschriften  über  die  Besetzung  der  Schiffe  mit 
Schiffsoffizieren  aufcrlegt  werden ; 

3.  einem  Schiffsmanne  grundlos  Speise  und  Trank  vorenthält  oder  ohne  Not 
verdorbenen  Proviant  verabreicht; 

4.  einen  Schiffsmann,  abgesehen  von  dem  Falle  des  § 83  Abs.  2,  im  Aus- 
land ohne  Genehmigung  des  Sceinannsamts  zurückläfsL 

§ 114.  Mit  Geldstrafe  bis  zu  cinhundcrtundfünzig  Mark  oder  mit  Haft  wird 
bestraft  ein  Kapitän,  welcher 


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Gesetz,  betreffend  eine  Seemannsordnung.  &$7 

1.  es  unterläfst,  für  die  Bekanntgabe  der  Vorgesetzten  durch  Aushang  (§  3 
Abs.  4)  Sorge  zu  tragen ; 

2.  es  unterläfst,  bei  der  Anheuerung  dem  Schiffsmanne  den  vorgeschriebenen 
Hcucrschcin  (§  27)  cinzuhändigcn ; 

3.  den  ihm  in  Ansehung  der  Musterung  obliegenden  Verpflichtungen  nicht 
genügt,  oder  unterläfst,  dafür  zu  sorgen,  dafs  die  Musterrolle  sich 
während  der  Reise  an  Bord  befindet; 

4.  bei  Verhandlungen,  welche  sich  auf  eine  Musterung  oder  eine  Eintragung 
in  ein  Seefahrtsbuch  beziehen,  wahre  Thatsachen  entstellt  oder  unter- 
drückt, oder  falsche  vorspiegelt,  um  ein  Scemannsamt  zu  täuschen ; 

5.  der  Vorschrift  des  § 34  Abs.  3 zuwider  dem  Schiffsinann  ohne  triftigen 
Grund  die  Erlaubnis  zum  Verlassen  des  Schiffes  verweigert;  die  Bestrafung 
tritt  nur  ein,  wenn  der  Schiffsmann  sie  binnen  drei  Tagen  nach  der  Ver- 
weigerung des  Urlaubs  beim  Seemannsamt  beantragt ; 

6.  den  Vorschriften  des  § 37  Abs.  2,  4 und  des  § 38  zuwiderhandclt ; 

7.  den  Vorschriften  der  §§  46,  48,  betreffend  die  Auszahlung  der  Heuer  und 
der  Vorschüsse,  zuwiderhandclt; 

8.  cs  unterläfst,  für  die  Erfüllung  der  im  § 49  vorgesehenen  Obliegenheiten 
Sorge  zu  tragen ; 

9.  den  Vorschriften  des  § 50  zuwider  die  Mannschaft  nicht  ergänzt; 

10.  die  ihm  obliegende  Fürsorge  für  das  Seefahrtsbuch  (g  17),  für  die  Sachen 
und  für  das  Heuerguthaben  des  erkrankten  oder  für  den  Nachlafs  des 
verstorbenen  Schiffsmanns  verabsäumt  (ä§  63, 65); 

11.  den  Vorschriften  des  § 64  Abs.  2,  3 zuwiderhandelt; 

12.  eine  der  in  den  §g  70,  89,  92,  99  vorgeschriebenen  Eintragungen  in  das 
Schiffstagebuch  unterläfst ; 

13.  den  ihm  bei  Vergehen  und  Verbrechen  nach  den  §§  126,  127  obliegenden 
Verpflichtungen  nicht  genügt; 

14.  dem  Schiffsmann  ohne  dringenden  Grund  die  Gelegenheit  versagt,  die 
Entscheidung  des  Scemannsamts  nachzusuchen  (gg  129,  130); 

15.  der  Anordnung  eines  Seemannsamts  wegen  Vollstreckung  eines  Straf- 
bescheids (§  125  Abs.  2)  nicht  Folge  leistet  oder  der  vorläufigen  Ent- 
scheidung eines  Scemannsamts  (§  129  Abs.  3)  zuwiderhandelt; 

16.  cs  unterläfst,  dafür  Sorge  zu  tragen,  dafs  die  im  § X 33  vorgeschriebenen 
Abdrücke  und  Schriftstücke  im  Volkslogis  zugänglich  sind. 

Durch  die  Vorschrift  des  Abs.  1 Nr.  4 wird  die  Vorschrift  des  § 271  des 
Strafgesetzbuchs  nicht  berührt 

§ II 5.  Mit  Geldstrafe  bis  zu  zehn  Mark  oder  mit  einem  Tage  Haft  wird  be- 
straft ein  Kapitän  oder  ein  Schiffsmann,  der  sich  vor  dem  Sccmannsamtc  ungebühr- 
lich benimmt 

§ 116.  Ein  Schiffsoffizier,  welcher  es  unterläfst,  geraäfs  § 84  von  der  Aus- 
übung der  Disziplinargewalt  binnen  vierundzwanzig  Stunden  dem  Kapitän  Mitteilung 
zu  machen,  wird  mit  Geldstrafe  bis  zu  einhundertfünfzig  Mark  oder  mit  Haft 
bestraft. 


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658 


Gesetzgebung : Deutsches  Reich. 


§ 117.  Wer  als  Rheder,  oder  als  Vertreter  eines  Rheders  vorsätzlich  den  ge- 
mäfs  § 56  Abs.  2 vom  Bundesrat  erlassenen  Vorschriften  zuwiderhandelt  oder  den 
Kapitän  aufser  Stand  setzt,  für  die  genügende  Verproviantierung  des  Schiffes  oder 
die  Mitnahme  der  vorschriftsmäfsigen  Heilmittel  zu  sorgen,  wird,  sofern  nicht  in 
den  letzteren  Fällen  nach  anderen  Vorschriften  eine  schwerere  Strafe  verwirkt  ist, 
mit  Geldstrafe  bis  zu  eintausend  Mark  oder  mit  Gefängnis  bis  zu  einem  Jahre 
bestraft. 

Gleiche  Strafe  verwirkt,  wer  in  der  im  Abs.  I bezeichnten  Eigenschaft  vor- 
sätzlich den  gemäfs  § 4 vom  Bundesrat  erlassenen  Vorschriften  über  die  Besetzung 
der  Schiffe  mit  Kapitänen  und  Schiffsoflizicrcn  zuwidcrhandclt. 

§ 118.  Wer  als  Rheder,  oder  als  Vertreter  eines  Rheders  durch  seine  Anord- 
nung den  Vorschriften  des  § 37  Abs.  2,  4 und  des  § 38  über  die  Sonntagsruhe 
zuwiderhandelt,  wird  mit  Geldstrafe  bis  zu  dreihundert  Mark  oder  mit  Haft  bestraft. 

§ 119.  Wer  als  Rheder  oder  als  Vertreter  eines  Rheders  es  unterläfst,  bei 
der  Anheuerung  dem  Schiffsmannc  den  vorgeschriebenen  Heuerschein  (§  27)  cinzu- 
händigen,  wird  mit  Geldstrafe  bis  zu  einhundertundfüntzig  Mark  oder  mit  Haft 
bestraft. 

§ 120.  Als  Rheder  im  Sinne  der  §§  u7  bis  119  gelten  auch  die  Vorstands- 
mitglieder von  Aktiengesellschaften  oder  sonstigen  durch  einen  Vorstand  vertretenen 
Handelsgesellschaften,  eingetragenen  Genossenschaften  und  juristischen  Personen, 
welche  Rhederei  betreiben. 

§ (21.  Die  Verfolgung  wegen  der  in  den  93  bis  119  bczcichnetcn  straf- 
baren Handlungen  findet  auch  dann  statt,  wenn  die  strafbaren  Handlungen  aufser- 
halb  des  Reichsgebiets  begangen  sind. 

Die  Verjährung  der  Strafverfolgung  beginnt  in  diesem  Falle  erst  mit  dem  Tage, 
an  welchem  das  Schiff,  dem  der  Thätcr  zur  Zeit  der  Begehung  angehörte,  zuerst 
ein  Secmannsarat  erreicht. 

Die  Verfolgung  wird  nicht  dadurch  ausgeschlossen,  dafs  der  Thäter  ein  Aus- 
länder ist. 

§ 122.  In  den  Fällen  des  § 93  Abs.  1,  2 und  der  §§  95,  96,  107,  114  bis 
116,  li  8,  1 19  erfolgt  die  Untersuchung  und  Entscheidung  durch  das  Seemannsamt, 
im  Falle  des  § 93  Abs.  2 jedoch  nur,  wenn  dieses  seinen  Sitz  aufscrhalb  des  Reichs- 
gebietes hat,  und  in  den  Fällen  der  §§  118,  119  nur,  wenn  cs  seinen  Sitz  im  In- 
landc  hat. 

§ 123.  Das  Seemannsamt  hat  den  Angcschuldigten  verantwortlich  zu  ver- 
nehmen und  den  Thatbestand  mit  möglichster  Beschleunigung  festzustellen.  Eine 
Vereidigung  von  Zeugen  findet  nicht  statt.  Nach  Abschlufs  der  Untersuchung  ist  ein 
mit  Gründen  versehener  Bescheid  zu  erteilen,  welcher  zu  verkünden  und  dem  An- 
gcschuldigten im  Falle  seiner  Abwesenheit  in  Ausfertigung  zuzustellen  ist  Wird 
eine  Strafe  festgesetzt,  so  ist  die  Dauer  der  für  den  Fall  des  Unvermögens  an  Stelle 
der  Geldstrafe  tretenden  Freiheitsstrafe  zu  bestimmen.  Der  Bescheid  wirkt  in  betreff 
der  Unterbrechung  der  Verjährung  wie  eine  richterliche  Handlung. 

Das  Verfahren  vor  dem  Seemannsamt  ist  gebührenfrei. 


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Gesetz,  betreffend  eine  Seemannsordnung.  &S9 

Im  Inlande  finden  auf  dasselbe  die  Vorschriften  der  §§  170,  173  bis  176  des 
Gerichtsverfassungsgesetzes  über  die  Oeffentlichkcit  entsprechende  Anwendung. 

Im  Ucbrigen  wird  das  Verfahren  vor  dem  Seemannsamt  durch  Verordnung 
des  Bundesrats  geregelt.  Die  Verordnung  ist  dem  Reichstage  bei  seinem  nächsten 
Zusammentritt  zur  Kenntnisnahme  vorzulegen. 

§ 1 24.  Gegen  den  Bescheid  des  Seemannsamls  kann  der  Beschuldigte  inner- 
halb  einer  zehntägigen  Frist  von  der  Verkündigung  oder  der  Zustellung  ab  auf  ge- 
richtliche Entscheidung  antragen.  Der  Antrag  ist  bei  dem  Seemannsamte  zu  Proto- 
koll oder  schriftlich  anzubringen.  Dasselbe  hat  dem  Antragsteller  auf  Verlangen 
eine  Bescheinigung  über  den  Antrag  zu  erteilen. 

Vcrläfst  das  Schiff  vor  Ablauf  der  Frist  den  Hafen,  so  kann  der  Schiffsmann 
auch  bei  dem  Kapitän  zu  Protokoll  oder  schriftlich  innerhalb  der  Frist  Einspruch 
einlegen.  Dem  Schiffsmann  ist  auf  Verlangen  eine  Bescheinigung  über  den  er- 
hobenen Einspruch  cinzuhändigcn.  Der  Kapitän  hat,  sobald  cs  geschehen  kann, 
den  Einspruch  in  das  Schiffstagebuch  einzutragen  und  den  Antrag  dem  Sccmanns- 
amte  zu  übersenden.  Die  Verjährung  ruht  von  der  Einlegung  des  Einspruchs  bis 
zum  Eingänge  des  Antrags  beim  Seemannsamte. 

Hat  das  Seemannsamt  seinen  Sitz  im  Iniande,  so  ist  für  das  weitere  Verfahren 
dasjenige  Gericht  örtlich  zuständig,  in  dessen  Bezirke  dieser  Sitz  belegen  ist  Hat 
cs  seinen  Sitz  im  Auslande,  so  .ist  dasjenige  Gericht  örtlich  zuständig,  in  dessen 
Bezirke  sich  der  inländische  Heimatshafen  oder  in  Ermangelung  eines  solchen  der 
Registerhafen  des  Schiffes  befindet ; fehlt  es  an  einem  hiernach  zuständigen  deutschen 
Gerichte,  so  wird  das  Gericht  von  dem  Reichsgericht  bestimmt. 

§ 125.  Der  Bescheid  des  Seemannsamts  ist  inbetreff  der  Beitreibung  der 
Geldstrafe  vorläufig  vollstreckbar. 

Die  Vollstreckung  der  Strafbescheide  der  inländischen  Secmannsamter  erfolgt 
durch  die  landesgesetzlich  hierzu  bestimmten  Behörden.  Die  Vollstreckung  der  von 
einem  Scemannsamt  im  Ausland  erlassenen  Strafbescheide  erfolgt  gebührenfrei  durch 
dieses  selbst,  wobei  der  Kapitän  den  auf  Beitreibung  der  Geldstrafe  gerichteten  An- 
ordnungen des  Seemannsamts  Folge  zu  leisten  hat;  die  Vorschriften  der  §§  811, 
850  der  Civilprozefsordnung  über  die  Unpfändbarkeit  von  Sachen  und  Ansprüchen 
finden  entsprechende  Anwendung. 

Die  im  Absatz  2 bezeichnten  inländischen  Vollstreckungsbehörden  haben  auf- 
Ersuchen  auch  die  von  einem  Seemannsamt  aufscrhalb  ihres  Amtsbereichs  erlassenen 
Strafbescheide  gegen  die  innerhalb  ihres  Amtsbereichs  befindlichen  Personen  zu  Voll- 
streckern Auf  die  Erledigung  des  Ersuchens  finden  die  Vorschriften  des  Gesetzes 
über  den  Beistand  bei  Einziehung  von  Abgaben  und  Vollstreckung  von  Vermögens- 
strafen vom  9.  Juni  1S95  (Rcichs-Gesetzbl.  S.  256)  entsprechende  Anwendung. 

§ 126.  Begeht  ein  Schiffsmann,  während  das  Schiff  sich  auf  der  See  oder  im 
Auslande  befindet,  ein  Vergehen  oder  Verbrechen,  so  hat  der  Kapitän  unter  Zu- 
ziehung von  Schiffsoffizieren  und  anderen  glaubhaften  Personen  alles  dasjenige  genau 
aufzuzeichnen,  was  auf  den  Beweis  der  Thal  und  auf  deren  Bestrafung  Einflufs 
haben  kann.  Insbesondere  ist  in  den  Fällen  der  Tötung  oder  schweren  Körperver- 
letzung  die  Beschaffenheit  der  Wunden  genau  zu  beschreiben,  auch  zu  vermerken. 


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66o 


Gesetzgebung : Deutsches  Reich. 


wie  lange  der  Verletzte  etwa  noch  gelebt  hat,  ob  und  welche  Heilmittel  angewendet 
sind  und  welche  Nahrung  der  Verletzte  zu  sich  genommen  hat. 

§ 127.  Der  Kapitän  ist  ermächtigt,  jederzeit  die  Sachen  der  Schiffsleute, 
welche  der  Beteiligung  an  einer  strafbaren  Handlung  verdächtig  sind,  zu  durch« 
suchen. 

Der  Kapitän  ist  ferner  ermächtigt,  denjenigen  Schiffsmann,  der  sich  einer  der 
im  § 70  Nr.  5 und  im  § 93  Abs.  2,  3 bezeichncten  strafbaren  Handlungen  schuldig 
macht,  festzunehmen,  ln  den  Fällen  des  § 70  Nr.  3 ist  er  hierzu  verpflichtet,  wenn 
das  Entweichen  des  Thätcrs  zu  besorgen  steht,  ln  den  Fällen  des  § 93  Abs.  2,  3 
ist  von  einer  Einsperrung  abzusehen,  sofern  sich  das  Schiff  auf  hoher  See  befindet. 

Der  Thäter  ist  unter  Mitteilung  der  aufgenommenen  Verhandlungen  an  das- 
jenige Seemannsamt,  bei  welchem  cs  zuerst  geschehen  kann,  abzuliefern.  Wenn  im 
Auslande  das  Seemannsamt  aus  besonderen  Gründen  die  Ucbcmahmc  ablehnt,  so 
bat  der  Kapitän  die  Ablieferung  bei  demjenigen  Seemannsamte  zu  bewirken,  bei 
welchem  es  anderweit  zuerst  geschehen  kann. 

In  dringenden  Fällen  ist  der  Kapitän,  wenn  im  Ausland  ein  Seemannsamt 
nicht  rechtzeitig  angegangen  werden  kann,  ermächtigt,  den  Thäter  der  fremden  Be- 
hörde behufs  dessen  Ucbcrmittelung  an  eine  zuständige  deutsche  Behörde  zu  über- 
geben. Hiervon  hat  er  bei  demjenigen  Seemannsamte,  bei  welchem  es  zuerst  ge- 
schehen kann,  Anzeige  zu  machen. 

Sechster  Abschnitt 
Allgemeine  Vorschriften. 

§ 128.  Jedes  Seemannsamt  ist  verpflichtet,  die  gütliche  Ausgleichung  der  zu 
seiner  Kenntnis  gebrachten , zwischen  dem  Kapitän  und  dem  Schiffsmannc  be- 
stehenden Streitigkeiten  zu  versuchen.  Insbesondere  bat  das  Seemannsamt,  vor 
welchem  die  Abmusterung  des  Schiffsmanns  erfolgt,  hinsichtlich  solcher  Streitig- 
keiten einen  Güteversuch  zu  veranstalten. 

§ 129.  Der  Schiffsmann  darf  den  Kapitän  vor  einem  ausländischen  Gerichte 
weder  strafrechtlich  noch  civilrcchtlich  belangen,  sofern  gegen  ihn  ein  Gerichtsstand 
im  Inlande  begründet  ist  Handelt  er  dieser  Bestimmung  zuwider,  so  ist  er  nicht 
allein  für  den  daraus  entstehenden  Schaden  verantwortlich,  sondern  er  wird  aufser- 
dem  der  bis  dahin  verdienten  Heuer  verlustig. 

Er  kann  in  den  Fällen,  die  keinen  Aufschub  leiden,  die  vorläufige  Entschei- 
dung des  Seemannsamts  nachsuchen.  Die  Gelegenheit  hierzu  darf  der  Kapitän  ohne 
dringenden  Grund  nicht  versagen.  Auch  dem  Kapitän  steht  unter  denselben  Vor- 
aussetzungen, wie  dem  Schiffsmanne,  die  Befugnis  zu,  die  Entscheidung  des  See- 
mannsamts nachzusuchen. 

Jeder  Teil  hat  die  Entscheidung  des  Seemannsamts  einstweilen  zu  befolgen, 
vorbehaltlich  der  Befugnis,  seine  Rechte  vor  der  zuständigen  Behörde  geltend  zu 
machen. 

Im  Falle  eines  Zwangsverkaufs  des  Schiffes  finden  die  Vorschriften  des  Abs.  1 
auf  die  Geltendmachung  der  Forderungen  des  Schiffsmanns  aus  dem  Ileucrvcrtrage 
keine  Anwendung. 


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Gesetz,  betreffend  eine  Seemannsordnung. 


66  r 


§ 130.  Im  Inlande  wird  der  Streit  zwischen  dem  Kapitän  und  dem  Schiffs- 
manne, welcher  nach  der  Anmusterung  über  den  Antritt  oder  die  Fortsetzung  des 
Dienstes  entsteht,  von  dem  Scemannsamt,  in  dessen  Bezirke  das  Schiff  liegt,  unter 
Vorbehalt  des  Rechtsweges  entschieden. 

§ 131.  Die  nach  den  £§  129,  130  getroffene  Entscheidung  des  Seemannsamts 
steht  einem  für  vorläufig  vollstreckbar  erklärten  Urteile  gleich.  Der  Erteilung  der 
Vollstreckungsklausel  bedarf  es  nicht  Ist  die  zuständige  Behörde  angerufen  oder 
der  Rechtsweg  beschritten,  so  findet  § der  Civilprozessordnung  entsprechende 
Anwendung. 

§ 132.  Die  nach  den  Vorschriften  des  fünften  Abschnitts  festgesetzten  oder 
erkannten  Geldstrafen  fliefsen  der  Seemannskasse  und  in  Ermangelung  einer  solchen 
der  Orts- Armenkasse  des  inländischen  Heimatshafens  des  Schiffes,  welchem  der 
Thäter  zur  Zeit  der  Begehung  der  strafbaren  Handlung  angehörte,  zu,  insofern  sie 
nicht  im  Wege  der  Iamdesgesctzgcbung  zu  anderen  ähnlichen  Zwecken  bestimmt 
werden.  In  Ermangelung  eines  inländischen  Hcimatsliafens  tritt  an  dessen  Stelle 
der  inländische  Registerhafen ; fehlt  cs  auch  hieran,  so  erfolgt  die  Bestimmung  durch 
den  Reichskanzler. 

g 133.  Ein  Abdruck  dieses  Gesetzes,  der  für  das  Schiff  Uber  Kost  und  Logis 
geltenden  Vorschriften  (§  56)  und  einer  amtlichen  Zusammenstellung  der  Be- 
stimmungen über  die  Militärvcrhältnisse  der  seemännischen  und  halbseemännischen 
Bevölkerung  (§  7)  sowie  eine  Abschrift  der  in  der  Musterrolle  enthaltenen  Be- 
stimmungen des  Heuervertrags  cinsehlicfslich  aller  N ebenbestimmungen  müssen  im 
Volkslogis  zur  jcderzcitigcn  Einsicht  der  Schiffsleute  vorhanden  sein. 

§ 134.  Die  Anwendung  des  § I Abs.  2,  des  zweiten  Abschnitts,  der  §§  36, 
45»  A4r  de»  § 49i  der  §§  59  bis  64,  des  § 65  Abs.  2,  3 und  des  § 133  auf  kleinere 
Fahrzeuge  (Küstenfahrer  u.  s.  w.)  kann  durch  Verordnung  des  Bundesrats  ganz  oder 
teilweise  ausgeschlossen  werden.  Die  Verordnung  ist  dem  Reichstag  bei  seinem 
nächsten  Zusammentritt  zur  Kenntnisnahme  vorzulcgen. 

§ 135.  Keine  Anwendung  finden: 

1.  auf  Sccschlcpper  der  § I Abs.  2 und  die  §§  35  bis  38; 

2.  auf  Bergungsfahrzeuge  der  § I Abs.  2 und  soweit  diese  Fahrzeuge  in 
Thätigkeit  sind,  die  §§  35  bis  38; 

3.  auf  Hochscefischereifahrzeuge  der  § 36,  der  § 37  Abs.  2 und  der  § 38 
Abs.  I und,  soweit  die  Mannschaft  vertragsmäfsig  am  Gewinn  beteiligt 
ist,  der  § 1 Abs.  2. 

§ 136.  Soweit  im  Auslände  nach  den  dortigen  Gesetzen  eine  Verlautbarung 
des  Dienstvertrages  oder  der  Beendigung  des  Dienstverhältnisses  für  die  Mannschaft 
deutscher  Schiffe  vor  der  ausländischen  Behörde  erfolgen  mufs,  kann  der  Reichs- 
kanzler bestimmen,  dafs  die  An-  und  Abmusterung  vor  dem  Seemannsamt  (§§  13, 
18)  durch  einen  von  diesem  in  die  Musterrolle  cinzutragenden  Hinweis  auf  die  Ver- 
lautbarung vor  der  ausländischen  Behörde  ersetzt  werden  darf. 

§ 137.  Dieses  Gesetz  tritt  am  I.  April  1903  in  Kraft.  Die  Seemannsord- 
nung vom  27.  Dezember  1872  tritt  mit  demselben  Tage  aufscr  Kraft 
Archiv  für  so*.  Geseugebuug  u.  Statistik.  XVII.  43 


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662 


Gesetzgebung:  Deutsches  Reich. 


§ 13S.  Wenn  in  anderen  Gesetzen  auf  Vorschriften  verwiesen  wird,  welche 
durch  dieses  Gesetz  aufscr  Kraft  gesetzt  sind,  so  treten  die  entsprechenden  Vor- 
schriften dieses  Gesetzes  an  deren  Stelle. 

Urkundlich  etc. 

Gegeben  Neues  Palais,  den  2.  Juni  1902. 


Gesetz,  betreffend  die  Verpflichtung  der  Kauffahrteischiffe  zur  Mitnahme 
heimzuschaffender  Seeleute. 

Vom  2.  Juni  1902. 

Wir  Wilhelm,  von  Gottes  Gnaden  Deutscher  Kaiser,  König  von  Preufsen  etc. 
verordnen  im  Namen  des  Reichs,  nach  erfolgter  Zustimmung  des  Rundesrats  und 
des  Reichstags,  was  folgt: 

§ I.  Jedes  deutsche  Kauffahrteischiff,  welches  von  einem  aufscrdcutschen 
Hafen  nach  einem  deutschen  Hafen  oder  nach  einem  Hafen  des  Kanals,  Grofs- 
britanniens,  des  Sundes  oder  des  Kattegats  oder  nach  einem  aufscrdcutschen  Hafen 
der  Nordsee  oder  der  Ostsee  bestimmt  ist,  ist  verpflichtet,  deutsche  Seeleute,  welche 
aufserhalb  des  Reichsgebiets  sich  in  hilfsbedürftigem  Zustande  befinden  oder  wegen 
einer  nach  den  Reichsgesetzen  strafbaren  Handlung  an  die  heimischen  Behörden 
abgcliefert  werden  sollen,  behufs  ihrer  Zurückbeförderung  nach  Deutschland  auf 
schriftliche  Anweisung  des  Seemannsamts  gegen  eine  Entschädigung  ({$  5)  nach 
seinem  Bestimmungshafen  mitzunehmen.  Das  Gleiche  gilt,  wenn  das  Schiff  nach 
einem  anderen  aufserdeutschen  Hafen  bestimmt  ist,  von  welchem  aus  die  Weiter- 
beförderung nach  einem  der  vorbezcichnetcn  Häfen  erfolgen  kann.  Deutsche  Häfen 
im  Sinne  dieses  Absatzes  sind  nur  die  Häfen  des  Reichsgebiets. 

ln  Ansehung  ausländischer  Seeleute,  welche  unmittelbar  nach  einem  Dienste 
auf  einem  deutschen  Kauffahrteischiff  aufserhalb  des  Reichsgebiets  sich  in  einem 
hilfsbedürftigen  Zustande  befinden,  liegt  den  nach  deren  Heimatslande  bestimmten 
deutschen  Kauffahrteischiffen  eine  gleiche  Verpflichtung  ob. 

Zur  Erfüllung  dieser  Verpflichtungen  kann  der  Kapitän  vom  Sccmannsamte 
zwangsweise  angehalten  werden. 

§ 2.  Bieten  mehrere  Schiffe  Gelegenheit  zur  Mitnahme,  so  sind  die  zu  be- 
fördernden Seeleute  durch  das  Seemannsamt  nach  Verhältnis  der  Gröfsc  der  Schiffe 
und  der  Zahl  ihrer  Mannschaften  auf  die  einzelnen  Schiffe  zu  verteilen. 

§ 3.  Die  Mitnahme  kann  verweigert  werden: 

1.  wenn  und  soweit  an  Bord  kein  angemessener  Platz  für  die  Mitzunchmcnden 
vorhanden  ist ; 

2.  wenn  der  Mitzuhehmcndc  bettlägerig  krank  oder  mit  einer  die  Gesund- 
heit oder  Sicherheit  der  an  Bord  befindlichen  Personen  gefährdenden  ge- 
schlechtlichen oder  sonstigen  Krankheit  behaftet  ist; 

3.  wenn  und  soweit  die  Zahl  der  Mitzunehmenden  bei  Hilfsbedürftigen  ein 
Vierteil,  bei  Straffälligen  ein  Sechstel  der  Schiffsmannschaft  übersteigt, 
oder  mehr  als  ein  Straffälliger  mitgenommen  werden  soll ; 


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Gesetz,  betr.  d.  Verpflichtung  d.  Kauffahrteischiffe  zur  Mitnahme  von  Seeleuten.  663 

4.  wenn  die  Mitnahme  nicht  mindestens  zwei  Tage  vor  dem  Zeitpunkte  ver- 
langt wird,  an  welchem  das  Schiff  zum  Abgehen  fertig  ist; 

5.  wenn  der  Hafen  von  einer  deutschen  Dampferlinie,  die  zur  Mitnahme 
vertragsmäfsig  verpflichtet  ist,  auf  der  Heimreise  nach  Deutschland  in 
regelmäfsiger  Fahrt  angelaufcn  wird. 

Die  Entscheidung  über  den  Grund  der  Weigerung  steht  dem  Seemanns- 
amte zu. 

§ 4.  Während  der  Reise  erhält  der  wegen  Hilfsbedürftigkeit  Mitgenommene 
seiner  Stellung  entsprechend  (§  5)  Kost  und  Logis  von  seiten  des  Schiffes. 

Der  wegen  einer  strafbaren  Handlung  Mitgenommene  ist  nach  den  vom  See- 
mannsamt zu  erteilenden  Weisungen  zu  behandeln.  Die  Bewachung  liegt  dem 
Kapitän  ob,  sofern  nicht  ein  besonderer  Begleiter  mitgegeben  wird. 

Der  Mitgenommene  ist  der  Disziplinargewalt  des  Kapitäns  unterworfen. 

§ 5.  Als  Entschädigung  (§  1)  ist,  in  Ermangelung  einer  anderweitigen  Verein- 
barung, zu  zahlen 

a)  bei  Mitnahme  Hilfsbedürftiger  für  jeden  Tag  des  Aufenthalts  an  Bord: 

1.  für  einen  Kapitän  oder  einen  Schiffsoffizicr  3 Mark  auf  Segelschiffen  und 
6 Mark  auf  Dampfschiffen ; 

2.  für  jeden  anderen  Seemann  1,50  Mark  auf  Segelschiffen  und  3 Mark  auf 
Dampfschiffen ; 

b)  bei  Mitnahme  Straffälliger  der  gewöhnliche  Ucbcrfahrtspreis  oder,  falls  ein 
solcher  nicht  zu  ermitteln  ist,  das  Doppelte  der  flir  die  Mitnahme  Hilfs- 
bedürftiger aufgestellten  Sätze  und  aufserdem,  wenn  ein  besonderer  Begleiter 
nicht  mitgegeben  wird,  eine  angemessene  von  dem  anweisenden  Seemanns- 
amte (§  1)  vorläufig  fcstzusetzende  Vergütung  für  die  Bewachung.  Für  die 
Bemessung  dieser  Vergütung  kann  der  Bundesrat  bestimmte  Sätze  aufstcllcn. 

§ 6.  Die  Entschädigung  wird  im  Bestimmungshafen  durch  das  Seemannsamt 
gegen  Auslieferung  der  wegen  der  Mitnahme  erteilten  Anweisung  (§  1)  für  Rechnung 
des  Reichs  ausgezahlt. 

§ 7.  Der  wegen  Hilfsbedürftigkeit  Mitgenommene  haftet  für  die  durch  die 
Zurückbeförderung  verursachten  Aufwendungen. 

Die  Vorschriften,  welche  den  Rheder  oder  andere  Personen  zur  F.rstattung 
solcher  Aufwendungen  verpflichten,  werden  durch  dieses  Gesetz  nicht  berührt. 

Bei  Mitnahme  eines  Straffälligen  bleibt  dem  Reiche  der  Rückgriff  an  den 
Bundesstaat  Vorbehalten,  dessen  Behörden  der  Mitgenommene  zur  Strafverfolgung 
oder  Strafvollstreckung  zugeführt  wird. 

§ 8.  Wer  sich  der  Erfüllung  einer  ihm  nach  § I obliegenden  Verpflichtung 
entzieht,  wird  mit  Geldstrafe  bis  zu  einhundertundfünfzig  Mark  oder  mit  Haft  be- 
straft. Für  die  Festsetzung  der  Strafe  und  für  das  weitere  Verfahren  kommen  die 
in  den  §§  5,  122  bis  125  der  Sccmannsordnung  enthaltenen  Vorschriften  zur  An- 
wendung. 

§ 9.  Dieses  Gesetz  tritt  am  I.  April  1903  in  Kraft.  An  demselben  Tage 
tritt  das  Gesetz,  betreffend  die  Verpflichtung  deutscher  Kauffahrteischiffe  zur  Mit- 

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Gesetzgebung : Deutsches  Reich. 


nähme  hilfsbedürftiger  Seeleute,  vom  27.  Dezember  1872  (Reichs-Gesetzbl.  S.  432 
aufser  Kraft. 

§ 10.  Soweit  in  anderen  Gesetzen  auf  Vorschriften  des  Gesetzes,  betreffend 
die  Verpflichtung  deutscher  Kauffahrteischiffe  zur  Mitnahme  hilfsbedürftiger  Seeleute, 
vom  27.  Dezember  1872,  verwiesen  ist,  treten  die  entsprechenden  Vorschriften  dieses 
Gesetzes  an  deren  Stelle. 

Urkundlich  etc. 

Gegeben  Neues  Palais,  den  2.  Juni  1902. 


Gesetz,  betreffend  die  Stellenvermittelung  für  Scbiffsleute. 

Vom  2.  Juni  1902. 

Wir  Wilhelm,  von  Gottes  Gnaden  Deutscher  Kaiser,  König  von  Prcufscn  etc. 

verordnen  im  Namen  des  Reichs  nach  erfolgter  Zustimmung  des  Bundesrats  und 
des  Reichstags,  was  folgt: 

§ l.  Auf  die  gewerbsmäfsige  Stellenvermittelung  für  Schifislcute  finden  die  Vor- 
schriften der  Gewerbeordnung  insoweit  Anwendung,  als  nicht  nachstehend  besondere 
Bestimmungen  getroffen  sind. 

§ 2.  Wer  die  Stellenvermittelung  für  Schiffsleute  gewerbsmäfsig  betreiben 
will,  bedarf  dazu  der  Erlaubnis  der  höheren  Verwaltungsbehörde. 

Die  Erlaubnis  ist  zu  versagen  : 

1.  wenn  Thatsachcn  vorliegen,  welche  die  Unzuverlässigkeit  des  Nach- 
suchcnden  inbezug  auf  den  beabsichtigten  Gewerbebetrieb  darthun ; 

2.  wenn  der  Nachsuchende  eines  der  im  § 3 Abs.  1 bezcichneten  Gewerbe 
betreibt  ; die  Landeszentralbchördcn  sind  befugt,  Ausnahmen  von  dieser 
Vorschrift  zuzulassen. 

§ 3.  Wer  die  Stellenvermittelung  für  Schiffsleute  gewerbsmäfsig  betreibt,  darf 
gewerbsmäfsige  Vermietung  von  Wohn-  und  Schlafstellen,  Gastwirtschaft,  Schank- 
wirtschaft, Kleinhandel  mit  geistigen  Getränken,  Handel  mit  Ausrüstungsgegenständen 
für  Schiffsleute  und  das  Geschäft  eines  Geldwechslers  oder  Pfandleihers  weder 
selbst  noch  durch  andere  betreiben.  Die  Landeszentralbchördcn  sind  befugt,  Aus- 
nahmen von  dieser  Vorschrift  zuzulassen. 

Der  Stcllcnvcrmittlcr  darf  ferner  mit  Gewerbetreibenden  der  vorbezeichncten 
Art  nicht  dergestalt  in  Geschäftsverbindungen  treten,  dafs  er  sich  ftir  die  Ausübung 
seiner  Vcrmitllcrthätigkeit  von  ihnen  Vergütungen  irgend  welcher  Art  gewähren  oder 
versprechen  läfst. 

§ 4.  Die  den  Stcllenvcrmittlcrn  für  Schiffsleutc  zukommenden  Gebühren 
werden  durch  Taxen  bestimmt,  welche  von  den  Landesregierungen  oder  den  von 
diesen  bezcichneten  Behörden  nach  Anhörung  von  Vertretern  der  Stellen  Vermittler, 
der  Rheder  und  der  Schifislcute  festgesetzt  werden. 

Die  Gebühr  ist  von  dem  Rheder  und  dem  Schiffsmannc  je  zur  Hälfte  zu 
zahlen ; eine  cntgcgenslehcndc  Vereinbarung  zu  Ungunsten  des  Schiffsmanns  ist 


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Gesetz,  betreffend  die  Stellenvermittelung  für  Schiffslcute. 


665 


nichtig.  Der  Anspruch  des  Stellenvermittlcrs  auf  die  vom  Rheder  zu  zahlende 
Hälfte  erlischt,  wenn  der  Schiffsmann  seinen  Dienst  nicht  zur  festgesetzten  Zeit 
Antritt. 

§ 5.  Die  Landesregierungen  erlassen  Vorschriften  darüber,  in  welcher  Weise 
•die  Stellenvermittler  für  Schiffsleute  ihre  Bücher  zu  führen  und  welcher  polizei- 
lichen Kontrolle  Uber  den  Umfang  und  die  Art  ihres  Geschäftsbetriebs  sic  sich  zu 
unterwerfen  haben. 

§ 6.  Die  Erlaubnis  zum  Gewerbebetriebe  mufs  zurückgenommen  werden, 
wenn  aus  Handlungen  oder  Unterlassungen  des  Inhabers  die  Unzuverlässigkeit  des- 
selben inbezug  auf  den  Gewerbebetrieb  klar  erhellt. 

Die  Unzuverlässigkeit  inbezug  auf  den  Gewerbebetrieb  ist  stets  anzunchmcn, 
wenn  der  Stellenvermittler  wiederholt  die  festgesetzte  Gebührentaxe  überschritten 
oder  sich  aufser  den  taxmäfsigen  Gebühren  Vergütungen  irgend  welcher  Art  von 
dem  Schiffsmanne  hat  gewähren  oder  versprechen  lassen,  oder  wenn  er  dem  Verbot 
des  § 3 zuwiderhandelt. 

Stellen  Vermittlern  für  Schiffsleute,  welche  vor  dem  Inkrafttreten  dieses  Gesetzes 
den  Gewerbebetrieb  begonnen  haben,  mufs  derselbe  untersagt  werden,  wenn  That- 
sachen  vorliegen,  welche  die  Unzuverlässigkeit  des  Gewerbetreibenden  inbezug  auf 
den  Gewerbetrieb  darthun. 

§ 7*  Wegen  des  Verfahrens  und  der  Behörden,  welche  inbezug  auf  die 
Zurücknahme  der  Erlaubnis  und  die  Untersagung  des  Gewerbebetriebs  mafsgebend 
sind,  gelten  die  Vorschriften  der  §§  20,  21  der  Gewerbeordnung. 

§ 8.  Mit  Geldstrafe  bis  zu  dreihundert  Mark  oder  mit  Haft  wird  bestraft: 

1.  wer  den  Gewerbebetrieb  eines  Stellenvermittlcrs  für  Schiffsleutc  ohne  die 
vorgeschriebene  Erlaubnis  unternimmt  oder  fortsetzt  oder  von  den  bei 
Erteilung  der  Erlaubnis  festgesetzten  Bedingungen  abwcicht; 

2.  ein  Stellenvermittler  für  Schiffsleute,  welcher 

a)  einen  nach  § 3 Abs.  I ihm  verbotenen  Gewerbebetrieb  unternimmt 
oder  forlsetzt,  oder  welcher  sich  von  Gewerbetreibenden  der  dort  be- 
zeichnten Art  für  die  Ausübung  seiner  Vermittlerthätigkeit  Vergütungen 
irgend  welcher  Art  gewähren  oder  versprechen  läfst; 

b)  die  von  der  Behörde  festgesetzte  Taxe  Überschreitet,  oder  sich  aufser 
den  taxmäfsigen  Gebühren  Vergütungen  anderer  Art  von  dem  Schiffs- 
manne  gewähren  oder  versprechen  läfst; 

c)  es  unternimmt,  einen  Schiffsmann  zum  Bruche  des  cingegangenen 
Heuervertrags  zu  verleiten ; 

3.  ein  Gewerbetreibender  der  im  § 3 Abs.  1 bezeichnten  Art,  welcher  es 
unternimmt,  einen  Stellenvermittler  für  Schiffsleute  durch  Gewährung  oder 
Versprechung  von  Vergütungen  irgend  welcher  Art  zu  einer  den  Interessen 
des  Schiffsmanns  widerstreitenden  Ausübung  der  Vermittlerthätigkeit  zu 
bestimmen. 

§ 9.  Mit  Geldstrafe  bis  zu  einhundertundfünfzig  Mark  oder  mit  Haff  wird 
bestraff. 


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Gesetzgebung : Deutsches  Reich. 


1.  ein  Stcllcnverraittler  fiir  Schiffsleute,  welcher  den  im  § 5 bezeichneten 
Vorschriften  zuwiderhandelt; 

2.  ein  Stellcnvermittler  für  Schiffslcute  oder  ein  Gewerbetreibender  der  im 
§ 3 Abs.  1 bezeichneten  Art,  welcher  im  Inlandc  den  von  einer  zu- 
ständigen Behörde  erlassenen  Vorschriften  zur  Verhinderung  des  vor- 
zeitigen Betretens  einlaufender  Schiffe  und  des  Anbordbringcns  von 
geistigen  Getränken  zuwiderhandelt ; 

3.  der  Kapitän,  der  im  Inlandc  den  Vorschriften  einer  zuständigen  Behörde, 
im  Auslände  den  Anordnungen  eines  Seemannsamts  zuwider  Stellenver- 
mittler für  Schiffslcute  oder  Gewerbetreibende  der  im  § 3 Abs.  1 be- 
zcichneten  Art  an  Bord  läfst  oder  an  Bord  duldet ; 

4.  der  Kapitän,  welcher  es  unterläfst,  dafür  zu  sorgen,  dafs  ein  Abdruck 
dieses  Gesetzes  im  Volkslogis  zugänglich  ist  (§  10). 

In  den  Fällen  des  Abs.  I Nr.  3,  4 kommen  im  Auslände  für  die  Festsetzung 
der  Strafe  und  fiir  das  weitere  Verfahren  die  in  den  §§  5,  122  bis  125  der  Sce- 
mannsordnung  enthaltenen  Vorschriften  zur  Anwendung. 

§ 10.  F.in  Abdruck  dieses  Gesetzes  mufs  auf  jedem  deutschen  Kauffahrteischiff 
im  Volkslogis  zur  jederzeitigen  Einsicht  der  Schiffslcute  vorhanden  sein. 

§ II.  Dieses  Gesetz  tritt  am  I.  April  1903  in  Kraft. 

Urkundlich  etc. 

Gegeben  Neues  Palais,  den  2.  Juni  1902. 


Gesetz,  betreffend  Abänderung  seerechtlicher  Vorschriften 
des  Handelsgesetzbuchs. 

Vom  2.  Juni  1902. 

Wir  Wilhelm , von  Gottes  Gnaden  Deutscher  Kaiser , König  von  Prcufscn  etc. 
verordnen  im  Namen  des  Reichs,  nach  erfolgter  Zustimmung  des  Bundesrats  und 
des  Reichstags,  was  folgt: 

Artikel  I. 

Die  §§  481,  547  bis  549,  553,  749  des  Handelsgesetzbuchs  werden  durch  die 
nachfolgend  unter  denselben  Ziffern  angeführten  Vorschriften  ersetzt.  Hinter  § 553 
werden  die  nachfolgend  als  §§  553a,  553b  bezeichneten  Vorschriften  eingeschaltet 
§ 481.  Zur  Schiffsbesatzung  werden  gerechnet  der  Schiffer,  die  Schiffsoffizicre, 
die  Schiffsmannschaft  sowie  alle  übrigen  auf  dem  Schiffe  angestellten  Personen. 

§ 547.  Wird  ein  Schiffer,  der  für  eine  bestimmte  Reise  angcstcllt  ist,  ent- 
lassen, weil  die  Reise  wegen  Krieg,  Embargo  oder  Blockade,  wegen  eines  Einfuhr- 
oder Ausfuhrverbots  oder  wegen  eines  anderen  Schiff  oder  Ladung  betreffenden 
Zufalls  nicht  angetreten  oder  fortgesetzt  werden  kann,  so  erhält  er  gleichfalls  nur 
dasjenige,  was  er  von  der  Heuer  einschlicfslich  aller  sonst  bedungenen  Vorteile  bis 
dahin  verdient  hat.  Dasselbe  gilt,  wenn  ein  auf  unbestimmte  Zeit  angcstclltcr  Schiffer 


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Gesetz,  betr.  Abänderung  seerechtlich  er  Vorschriften  des  Handelsgesetzbuchs.  667 

aus  einem  der  angeführten  Gründe  entlassen  wird,  nachdem  er  die  Ausführung  einer 
bestimmten  Reise  übernommen  hat. 

Erfolgt  in  diesen  Fällen  die  Entlassung  während  der  Reise,  so  kann  der 
Schiffer  aufserdem  nach  seiner  Wahl  entweder  freie  Rückbeförderung  nach  dem 
Hafen,  wo  er  geheuert  worden  ist,  oder  eine  entsprechende  Vergütung  beanspruchen. 

Ein  nach  den  Vorschriften  dieses  Gesetzbuchs  begründeter  Anspruch  auf  freie 
Rückbeförderung  umfafst  auch  den  Unterhalt  während  der  Reise  sowie  die  Beför- 
derung der  Sachen  des  Schiffers. 

§ 548.  Wird  ein  Schiffer,  der  auf  unbestimmte  Zeit  angcstcllt  ist,  aus  anderen 
als  den  in  den  88  546,  547  angeführten  Gründen  entlassen,  nachdem  er  die  Aus- 
führung einer  bestimmten  Reise  übernommen  hat,  so  erhält  er  aufser  demjenigen, 
was  ihm  nach  den  Vorschriften  des  § 547  gebührt,  als  Entschädigung  noch  die 
Heuer  für  einen  Monat  und  für  die  nach  § 73  der  Seemannsordnung  zu  berech- 
nende voraussichtliche  Dauer  seiner  Reise  nach  dem  Rückbeförderungshafen. 

§ 549.  War  die  Heuer  nicht  zeitweise,  sondern  in  Bausch  und  Bogen  für  die 
ganze  Reise  bedungen,  so  wird  in  den  Fällen  der  546  bis  548  die  verdiente 
Heuer  mit  Rücksicht  auf  den  vollen  Heuerbetrag  nach  dem  Verhältnisse  der  ge- 
leisteten Dienste  sowie  des  etwa  zurückgclegten  Teiles  der  Reise  bestimmt.  Zur 
Ermittelung  der  Heuer  für  einzelne  Monate  wird  die  durchschnittliche  Dauer  der 
Reise  einschliefslich  der  Ladungs-  und  Löschungszeit  unter  Berücksichtigung  der 
Beschaffenheit  des  Schiffes  in  Ansatz  gebracht  und  danach  die  Heuer  für  die  ein- 
zelnen Monate  berechnet.  Bei  Berechnung  der  Heuer  für  einzelne  Tage  wird  der 
Monat  zu  30  Tagen  gerechnet 

§ 553.  Falls  der  Schiffer  nach  Antritt  des  Dienstes  erkrankt  oder  eine  Ver- 
eisung erleidet,  so  trägt  der  Rheder  die  Kosten  der  Verpflegung  und  Heilbehand- 
lung. Diese  Verpflichtung  erstreckt  sich: 

1.  wenn  der  Schiffer  wegen  der  Krankheit  oder  Verletzung  die  Reise  nicht 
antritt,  bis  zum  Ablaufe  von  drei  Monaten  seit  der  Erkrankung  oder  Ver- 
letzung ; 

2.  wenn  er  die  Reise  angetreten  hat,  bis  zum  Ablaufe  von  drei  Monaten 
nach  dem  Verlassen  des  Schiffes  in  einem  deutschen  Hafen,  und  bis  zum 
Abläufe  von  sechs  Monaten  nach  dem  Verlassen  des  Schiffes  in  einem 
anderen  Hafen. 

Im  Falle  einer  Verletzung  hört  die  Verpflichtung  des  Rheders  dem  Verletzten 
gegenüber  auf,  sobald  und  soweit  die  Berufsgenossenschaft  die  Fürsorge  übernimmt. 

Der  Rheder  ist  berechtigt,  die  Verpflegung  und  Heilbehandlung  dem  Schiffer 
in  einer  Krankenanstalt  zu  gewähren.  Hat  der  Schiffer  seinen  Wohnsitz  an  dem 
Orte,  wo  er  das  Schiff  verlafst  oder  an  dem  Orte  der  Krankenanstalt,  in  welche  er 
aufgenommen  werden  soll,  so  kann  die  Aufnahme  nur  erfolgen: 

1,  für  den  Schiffer,  welcher  verheiratet  ist  oder  eine  eigene  Haushaltung  hat 
oder  Mitglied  der  Haushaltung  seiner  Familie  ist,  mit  seiner  Zustimmung, 
oder  unabhängig  von  derselben,  wenn  die  Art  der  Krankheit  Anfor- 
derungen an  die  Behandlung  oder  Verpflegung  stellt,  welchen  in  der 
Familie  des  Erkrankten  oder  Verletzten  nicht  genügt  werden  kann,  oder 


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Gesetzgebung : Deutsches  Reich. 


wenn  die  Krankheit  eine  ansteckende  ist,  oder  wenn  der  Zustand  oder 
das  Verhalten  des  Schiffers  eine  fortgesetzte  Beobachtung  erfordert; 

I.  in  sonstigen  Fällen  unbedingt. 

Ein  Schiffer,  der  wegen  Krankheit  oder  Verletzung  aufscrh&lb  des  Reichs- 
gebiets zurückgeblieben  ist,  kann  mit  seiner  Einwilligung  und  der  des  behandelnden 
Arztes  oder  des  Seemannsamtes  nach  einem  deutschen  Hafen  in  eine  Krankenanstalt 
überführt  werden.  Ist  der  Schiffer  aufserstande,  die  Zustimmung  zu  erteilen,  oder 
verweigert  er  sic  ohne  berechtigten  Grund,  so  kann  sie  nach  Anhörung  eines  Arztes 
durch  dasjenige  Seemannsamt  ersetzt  werden,  in  dessen  Bezirk  der  Schiffer  sich  zur 
Zeit  befindet.  Findet  die  Ueberführung  statt,  so  erstreckt  sich  die  Verpflichtung  de* 
Rheders  stets  nur  bis  zum  Abläufe  von  drei  Monaten  seit  der  Aufnahme  in  die 
Krankenanstalt  des  deutschen  Hafens. 

Der  Schiffer,  welcher  sich  der  Heilbehandlung  ohne  berechtigten  Grund  ent- 
zieht und  hierdurch  nach  ärztlichem  Gutachten  die  Heilung  vereitelt  oder  wesentlich 
erschwert  hat,  verliert  den  Anspruch  auf  kostenfreie  Verpflegung  und  Heilbehand- 
lung. Uebcr  die  Berechtigung  des  Grundes,  sowie  über  Beginn  und  Dauer  des 
Verlustes  entscheidet  vorläufig  das  Sccmannsamt. 

Falls  der  Schiffer  nicht  mit  dem  Schiffe  nach  dem  Heimatshafen,  oder  dem 
Hafen,  wo  er  geheuert  worden  ist,  zurückkehrt,  gebührt  ihm  ferner  freie  Zurückbe- 
förderung (§  547)  oder  nach  seiner  Wahl  eine  entsprechende  Vergütung. 

§ 553  a.  Die  Heuer,  einschlicfslich  aller  sonst  bedungenen  Vorteile,  bezieht 
der  erkrankte  oder  verletzte  Schiffer: 

wenn  er  die  Reise  nicht  antritt,  bis  zur  Einstellung  des  Dienstes; 
wenn  er  die  Reise  angetreten  hat,  bis  zu  dem  Tage,  an  welchem  er  ias 
Schiff  verlafst. 

Der  Bezug  der  Heuer  wird  während  des  Aufenthalts  in  einer  Krankenanstalt  \ 
nicht  gekürzt. 

Ist  der  Schiffer  bei  Verteidigung  des  Schiffes  zu  Schaden  gekommen,  so  hat 
er  überdies  auf  eine  angemessene , erforderlichenfalls  von  dem  Richter  zu  be- 
stimmende Belohnung  Anspruch. 

§ 553  b.  Auf  den  Schiffer,  welcher  die  Krankheit  oder  Verletzung  durch  eine 
strafbare  Handlung  sich  zugezogen  oder  den  Dienst  widerrechtlich  verlassen  hat, 
finden  die  §§  553,  553  a keine  Anwendung. 

§ 749-  Wird  ein  Schiff  oder  dessen  Ladung  ganz  oder  teilweise  von  einem 
anderen  Schiffe  geborgen  oder  gerettet,  so  wird  der  Berge-  oder  Hülfslohn  zwischen 
dem  Rheder,  dem  Schiffer  und  der  übrigen  Besatzung  des  anderen  Schiffes  in  der 
Weise  verteilt,  dafs  zunächst  dem  Rheder  die  Schäden  am  Schiffe  und  Betrieb*- 
mehrkosten  ersetzt  werden,  welche  durch  die  Bergung  oder  Rettung  entstanden  sind, 
und  dafs  von  dem  Reste  der  Rheder  eines  Dampfschiffes  zwei  Drittel,  eines  Segel- 
schiffes die  Hälfte,  der  Schiffer  und  die  übrige  Besatzung  eines  Dampfschiffes  je  ein 
Sechstel,  eines  Segelschiffes  je  ein  Viertel  erhält. 

Der  auf  die  Schiffsbesatzung  mit  Ausnahme  des  Schiffers  entfallende  Betrag 
wird  unter  alle  Mitglieder  derselben  mit  besonderer  Berücksichtigung  der  sachlichen 
und  persönlichen  Leistungen  eines  jeden  verteilt.  Die  Verteilung  erfolgt  durch  den 


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Gesetz,  betr.  Abänderung  seercchtlicher  Vorschriften  des  Handelsgesetzbuchs.  669 

Schiffer  mittels  eines  vor  Beendigung  der  Reise  der  Besatzung  bekannt  zu  gebenden 
Verteilungsplans,  der  den  jedem  Beteiligten  zukommenden  Bruchteil  festsetzt. 

Gegen  den  Vertcilungsplan  ist  Einspruch  bei  demjenigen  Seemannsamte  zu- 
lässig, welches  nach  Bekanntgabe  des  Planes  zuerst  angegangen  werden  kann.  Das 
Sccmannsamt  entscheidet  nach  Anhörung  der  Beteiligten  endgültig,  unter  Ausschlufs 
des  Rechtswegs,  Uber  den  Einspruch  und  eine  etwaige  andere  Verteilung.  Be- 
glaubigte Abschrift  der  Entscheidung  ist  dem  Rheder  vom  Scemannsamte  mit  thun- 
lichster  Beschleunigung  mitzuteilcn. 

Vereinbarungen,  welche  den  Vorschriften  der  Abs.  I,  2 zuwiderlaufen,  sind 
nichtig. 

Diese  Vorschriften  tinden  für  den  Fall  der  Bergung  oder  Rettung  durch  Ber- 
gungs-  oder  Schleppdampfer  keine  Anwendung. 

Artikel  2. 

Dieses  Gesetz  tritt  am  I.  April  1903  in  Kraft. 

Urkundlich  etc. 

Gegeben  Neues  Palais,  den  2.  Juni  1902. 


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GROSSBRITANNIEN. 


Die  englische  Fabrikgesetzgebung  in  den 
Jahren  1878—1901. 

Von 

HENRY  W.  MACROSTY,  B.  A„ 

in  London. 

Zwischen  den  beiden  Haupt-Fabrikgesetzen  von  1878  und  1901 
liegt  ein  Zeitraum  von  23  Jahren,  innerhalb  dessen  aufser  den 
beiden  Spezialgesetzen  betreffend  die  Baumwollfabriken  von  1889 
und  1897  drei  Nebengesetze,  1883,  1891  und  1895,  erlassen  wurden. 
Die  im  Laufe  fast  eines  Vicrteljahrhunderts  vollzogenen  Aende- 
rungen  in  Gesetzgebung  und  Verwaltung  lassen  sich  am  besten  auf 
der  Grundlage  des  Gesetzes  von  1878  ersichtlich  machen.  Nach- 
dem dieses  Gesetz  die  Verhältnisse  der  Fabriken  und  Werkstätten 
geregelt  hatte,  befafste  sich  das  Parlament  damit,  die  den  beiden 
genannten  Kategorien  nicht  zugehörenden  Arbeitsstätten  dem  Ge- 
setze zu  unterwerfen  und  einzelnen  Industrien  gegenüber  schärfere 
Malsnahmen  zu  treffen.  Das  Gesetz  von  1901,  welches  nicht  nur 
die  frühere  Gesetzgebung  neu  redigierte,  sondern  auch  Acnde- 
rungen  traf,  hat  insbesondere  die  Verkürzung  der  Samstagarbeit 
in  den  Textilfabriken  um  eine  Stunde,  die  Erhöhung  der  Alters- 
grenze beschäftigter  Kinder  auf  zwölf  Jahre,  und  neue  Bestimmungen 
bezüglich  gefährlicher  Betriebe  geschaffen;  es  liefert  aufserdem  den 
Beweis,  dafs  es  der  Gesetzgebung  nicht  gelungen  ist,  die  Wasch- 
anstalten und  die  Heimarbeit,  zwei  dunkle  Punkte  der  britischen  In- 
dustrie, wirksam  zu  regeln.  Wie  sehr  die  gesetzlichen  Vorschriften 
hierdurch  in  Einzelheiten  geändert  wurden,  läfst  sich  am  besten 
aus  der  Thatsache  entnehmen,  dafs  von  83  zur  Zeit  benutzten 
Formularen  60  neu  sind  oder  seit  dem  Gesetze  von  1878  Aende- 
rungen  erfuhren. 


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H.  VV.  Maerosty,  Die  engl.  Fabrikgesetzgebung  in  den  Jahren  1878—1901.  67 1 

Beginnen  wir  unsere  Uebersicht  mit  den  Bestimmungen  über 
Gesundheitsschutz  und  Sicherheit. 

Das  Gesetz  von  1891  rief  eine  Umwälzung  in  der  Zuständig- 
keit dadurch  hervor,  dafs  es  die  Aufsicht  über  die  sanitären  Ver- 
hältnisse der  Werkstätten  von  den  Fabrikinspektoren  auf  die  Orts- 
behörden übertrug  und  den  Staatssekretär  des  Innern  zum  Ein- 
schreiten ermächtigte,  falls  diese  versagten.  Das  Resultat  ist  nicht 
ganz  befriedigend,  denn  verschiedentlich  beklagen  sich  die  Fabrik- 
inspektoren darüber,  dafs  die  Ortsbehörden  ihrer  Aufgabe  nicht  ge- 
hörig nachkoinmen.  Während  nach  dem  Gesetze  von  1878  Ueber- 
füllung  und  schlechte  Ventilation  der  Arbeitsräume  allgemein  als 
Zuwiderhandlung  betrachtet  wurde,  setzte  das  Gesetz  von  1895 
ein  Raumminimum  von  250  Kubikfufs  pro  Person  und  von  400 
für  Ueberstunden  fest;  das  Gesetz  von  1901  ermächtigt  den  Staats- 
sekretär des  Innern,  für  jedwede  Klasse  von  Fabriken  oder  Werk- 
stätten ein  gewisses  Mals  von  Ventilation  anzuordnen ; auch  be- 
seitigt das  letztere  einen  bedenklichen  Mangel  des  1895  er  Gesetzes 
durch  die  Bestimmung,  dafs  in  den  Arbeitsräumen  eine  „verständige 
Temperatur“  nicht  nur  zu  erhalten  sei,  sondern  dafs  dies  auch 
durch  Mittel  geschehe,  welche  die  Luft  nicht  verschlechtern  ’). 
Aufserdem  trifft  es  Vorsorge  für  gehörige  Entwässerung  nasser 
Fufsböden.  Das  Gesetz  von  1891  ordnete  an,  dafs  in  allen  vom 

I.  Januar  1892  ab  erbauten  Fabriken  von  den  Sanitätsbehörden  ge- 
nehmigte Mafsnahmcn  zur  Rettung  aus  Feuersgefahr  vorhanden  sein 
müssen,  welche  Vorschrift  das  Gesetz  von  1895  auf  sämtliche  vom 
1.  Januar  1891  ab  erbaute  Werkstätten  ausdehnt;  vorausgesetzt 
ist  in  beiden  Fallen,  dafs  im  Betriebe  mehr  als  40  Arbeiter  be- 
schäftigt sind.  In  allen  übrigen  Fabriken  (und,  nach  dem  1895  er 
Gesetz,  Werkstätten)  soll  bezüglich  der  Anbringung  derartiger  Mafs- 
nahmen  im  Streitfälle  zwischen  der  Sanitätsbehörde  und  dem  Be- 
triebsinhaber schiedsrichterliche  Entscheidung  eintreten.  Nach  dem 
Gesetze  von  1891  müssen  sämtliche  Aufzüge,  nicht  nur  jene,  an 
welchen  jemand  „vorüberkommen  kann",  sowie  alle  gefährdenden 
Maschinenteile  mit  Schutzvorrichtungen  versehen  sein.  Das  Gesetz 
von  1895  regelte  die  Aufstellung  selbstthätiger  Maschinen,  und  das 
Gesetz  von  1901  schrieb  vor,  dafs  jeder  Dampfkessel  ein  Sicher- 
heitsventil, einen  Dampf-  und  einen  Wassermanometer  haben  müsse. 


')  Wo  nichts  anderes  bemerkt,  sind  im  folgenden  wörtliche  Anfuhrungen  dem 
Gesetze  von  190 1 entnommen. 


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672 


Gesetzgebung:  Grofsbritannien. 


auch  einmal  in  je  14  Monaten  von  einem  Sachverständigen  geprüft 
werden  soll.  Das  1895  er  Gesetz  verbot,  jugendliche  Personen 
(sowohl  wie  Kinder)  mit  der  Reinigung  im  Gange  befindlicher  ge- 
fährlicher Maschinen  zu  beschäftigen.  Ferner  ermächtigte  es  zur 
zwangsweisen  Betriebscinstellung  in  Fabriken  oder  Werkstätten, 
deren  Beschaffenheit  sich  als  der  Gesundheit,  dem  Leben  oder  Leib 
gefährlich  erwies,  desgleichen  zum  Verbot  der  Benutzung  einer 
ebenso  beschaffenen  Maschine.  Dasselbe  Gesetz  ordnete  an,  dals 
dem  Fabrikinspektor  von  jedem  Unfall  mit  tödlichem  Ausgange 
oder  mit  nachfolgender  Behinderung  des  Betroffenen,  an  einem  der 
nächsten  drei  Tage  fünf  Stunden  lang  in  seiner  gewöhnlichen  Be- 
schäftigung thätig  zu  sein,  Meldung  erstattet  werden  müsse.  Es 
unterwarf  dieser  Vorschrift  auch  Werkstätten,  in  denen  nur  männ- 
liche Erwachsene  beschäftigt  werden,  und  ermächtigte  den  Staats- 
sekretär des  Innern  zur  förmlichen  Untersuchung  jeden  Unfalls. 
Eingehendere  Bestimmungen  hierüber  trifft  das  Gesetz  von  1901. 

Was  alsdann  die  Arbeitszeit  anlangt,  so  ist  zunächst  zu 
bemerken,  dafs  jetzt  Frauen,  jugendliche  Personen  und  Kinder  in 
Textilfabriken  in  derselben  Weise  beschäftigt  werden  dürfen,  wie 
nach  dem  Gesetze  von  1878,  mit  der  Ausnahme,  dafs  die  Samstags- 
arbeit eine  Stunde  weniger  beträgt,  wodurch  die  gesamte  wöchent- 
liche Arbeitszeit  für  jugendliche  Personen  und  Frauen  auf  55  Stunden 
festgesetzt  wird.  Diese  Aenderung,  welche  das  Gesetz  von  190t 
einführt,  stiefs  bei  den  Unternehmern  auf  heftigen  Widerspruch, 
welche  vorgaben,  dafs  die  männlichen  Arbeiter,  — deren  Arbeits- 
zeit selbstverständlich  gleichzeitig  mit  der  ihrer  weiblichen  Arbeits- 
genossen verkürzt  werden  müsse  — lediglich  eine  Stunde  zum  Fufs- 
ballspiel  herausschlagen  wollten.  Demgegenüber  wurde  jedoch 
hervorgehoben,  dafs  viele  Frauen  an  Handwerker  in  anderen  Be- 
rufen verheiratet  seien,  die  sehr  darunter  litten,  dafs  ihre  Frauen 
am  Samstag  eine  Stunde  länger  als  sic  selbst  arbeiten  müfsten. 

In  Nicht-Textilfabriken  und  -Werkstätten  wurde  die  früher  ledig- 
lich als  Ausnahme  zugelassene  Arbeitszeit  von  8 Uhr  morgens  bis 
8 Uhr  abends  durch  das  1895  er  Gesetz  zur  Regel  erhoben.  Wurde 
eine  Frau  oder  eine  jugendliche  Person  an  irgend  einem  Tage  der 
Woche  nicht  über  acht  Stunden  beschäftigt,  und  ist  dem  Fabrik- 
inspektor Meldung  erstattet,  so  erlaubt  das  Gesetz  von  1891 
Samstagbeschäftigung  von  6 Uhr  morgens  bis  4 Uhr  nachmittags 
abzüglich  zweier  Stunden  Essenspause.  Für  Werkstätten,  in  denen 
nur  Erwachsene  beschäftigt  werden,  soll  nach  dem  Gesetze  von 


» 


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II.  W.  Macrosty,  Die  engl.  FabrikgeseUgebung  in  den  Jahren  1878 — 1901.  673 

1891  die  Arbeitszeit  der  Frauen  eine  näher  bestimmte  Periode  von 
12  Stunden  zwischen  6 Uhr  morgens  und  io  Uhr  abends,  abzüg- 
lich I ’/*  Stunden  Essenspause,  und  Samstags  eine  näher  bestimmte 
Periode  von  8 Stunden  zwischen  6 Uhr  morgens  und  4 Uhr  vor- 
mittags abzüglich  '/,  Stunde  Essenspause  betragen. 

Nach  dem  Gesetze  von  1895  darf  ein  Kind  an  einem  Tage, 
während  dessen  es  innerhalb  einer  Fabrik  oder  Werkstätte  be- 
schäftigt ist,  aufscrhalb  der  Fabrik  oder  Werkstätte  in  deren  Be- 
triebe nur  während  der  zulässigen  Arbeitszeit  beschäftigt  werden. 
Die  gleiche  Vorschrift  findet  Anwendung  auf  Frauen  und  jugend- 
liche Personen,  wenn  sie  in  Fabriken  oder  Werkstätten  sowohl  vor 
als  nach  dem  Mittagessen  beschäftigt  werden.  Hierunter  fällt  auch 
die  Beschäftigung  in  einem  Laden  und  das  Mitnehmen  von  Arbeit 
nach  Hause. 

Ueberstunden  zur  Bewältigung  dringender  Arbeit  sind  durch 
das  Gesetz  von  1895  jugendlichen  Personen  und  in  Textilfabriken 
beschäftigten  Frauen  nicht  mehr  gestattet;  auch  beträgt  nach 
demselben  Gesetz  die  höchste  Zahl  der  Ueberarbeitstagc  für  Frauen 
in  Nichttextilfabriken  und  -Werkstätten  gegen  früher  fünf  nur  noch 
drei  Tage  wöchentlich  und  gegen  48  nur  noch  30  Tage  jährlich. 
Von  diesem  Privileg  wird  nach  Aussage  der  Fabrikinspektoren  in 
ausgiebiger  Weise  Gebrauch  gemacht,  jedoch  selten  dort,  wo  es  für 
den  Fäll  des  Verderbs  von  Stoffen  durch  Wettcreinfliisse  zuge- 
lassen ist.  In  dem  Flachsschwingbctriebe  und  der  Türkischrot-Färberei 
kamen  nach  den  Berichten  während  der  sechs  Jahre  von  1895 — 1900 
keine  Ueberstunden  vor,  im  Seilereibetrieb  im  Freien  24  im  Jahre 
1895  und  4 in  den  Jahren  1896—1900,  in  der  Bleicherei  im  Freien 
168  im  Jahre  1895,  8 1896 — 1900.  Die  Gestattung  von  Ueber- 
stunden behufs  Fertigstellung  von  Arbeiten  im  Kattundruck,  im 
Eisenhüttenbetricbe,  in  Papierfabriken  und  Gielscrcien  ist  gleichfalls 
toter  Buchstabe.  Die  Ueberbeschäftigung  von  F'rauen  in  der  In- 
dustrie der  I'ruchtkonserven,  Fischkonserven  oder  -räucherei,  und 
in  der  Herstellung  kondensierter  Milch  wurde  durch  das  Gesetz 
von  1895  von  96  Tagen  auf  60,  und  durch  das  Gesetz  von  1901 
auf  wöchentlich  drei  Tage  und  insgesamt  50  Tage  herabgesetzt. 
Als  auffällig  verdient  hierbei  hervorgehoben  zu  werden,  dafs  sich 
die  Fabrikgesetze  mit  den  Arbeiten,  wie  sie  zum  Abbringen  von 
Fischen  aus  Booten  oder  bei  der  Ankunft  von  Früchten  in  der 
Fabrik  behufs  Verhinderung  deren  Verderbs  erforderlich  sind,  über- 
haupt nicht  befassen.  Die  Fabrikinspektoren  berichten,  dafs  grofse 


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674 


Gesetzgebung:  Großbritannien. 


Firmen  Ueberstunden  sogar  in  der  Marmcladefabrikation  vermeiden, 
wo  doch  das  Material  sehr  leicht  verderben  kann.  Man  hat  heraus- 
gefunden, dafs  Ueberstunden  die  Arbeitskräfte  des  Unternehmers 
schädigen,  und  dafs  beispielsweise  im  Schneidergewerbe  die  während 
der  Nachtstunden  verrichtete  Arbeit  am  nächsten  Morgen  nochmals 
gethan  werden  mufs.  Das  Gesetz  von  1901  ermächtigt  den  Staats- 
sekretär des  Innern,  für  die  Beschäftigung  von  Frauen  und  jugend- 
lichen Personen  in  Molkereien  besondere  Vorschriften  zu  erlassen 
und  ihre  Beschäftigung  an  Sonn-  und  Feiertagen  für  nicht  länger 
als  3 Stunden  zu  gestatten,  „vorausgesetzt,  dafs  diese  Regelung 
keine  Verlängerung  der  nach  dem  gegenwärtigen  Gesetze  zulässigen 
täglichen  oder  wöchentlichen  Höchstzahl  der  Beschäftigungsstunden 
einräumt.“  Eine  bezügliche  Sonderbestimmung  ist  in  Vorbereitung. 
Endlich  mufs  bemerkt  werden,  dafs  die  Bestimmung  des  Gesetzes 
von  1895,  nach  welcher  der  Staatssekretär  des  Innern  anordnen 
kann,  „dafs  verschiedene  Zweige  oder  Betriebsabteilungen,  welche 
in  derselben  Fabrik  oder  Werkstätte  eingerichtet  sind,  für  sämtliche 
oder  irgend  einen  der  Zwecke  der  Fabrikgesetze  so  behandelt 
werden  sollen,  als  seien  sie  verschiedene  Fabriken  oder  Werk- 
stätten“, dort,  wo  sie  Anwendung  fand,  die  Durchführung  des  Ge- 
setzes nur  erschwerte. 

Das  Beschäftigungsalter  für  Kinder  wurde  durch  das  Gesetz 
von  1901  auf  zwölf  Jahre  erhöht,  und  genügt  ein  13  jähriges  Kind 
den  vom  Staatssekretär  und  dem  Unterrichtsamt  festzustellenden 
Anforderungen  in  Bezug  auf  Kenntnisse  und  Schulbesuch,  so  kann 
es  volle  Zeit  beschäftigt  werden.  Diese  Anforderungen  sind  350 
Schulbesuche  jährlich  (wobei  Vormittag-  und  N’achmittagsbesuche 
besonders  berechnet  werden)  oder  das  Absolvieren  der  5.  Stufe. 
Auch  Ortsstatuten  lokaler  Behörden  sind  zu  beobachten,  und  weichen 
sic  von  den  allgemeinen  Vorschriften  ab,  so  gelten  die  schärferen 
Bestimmungen. 

Durch  Gesetz  von  1895  wurde  die  Beschäftigung  von  Frauen 
innerhalb  vier  Wochen  nach  ihrer  Niederkunft  verboten. 

Wir  gelangen  nunmehr  zur  Rubrik  der  „gefährlichen  und 
gesundheitsschädlichen  Industrien“.  §79  des  Gesetzes 
von  1901  bestimmt:  „Gewinnt  der  Staatssekretär  die  Ueberzeugung, 
dafs  irgend  eine  Industrie,  Maschineneinrichtung,  Betriebsanlage,  ein 
Verfahren,  oder  eine  Handarbeit,  welche  in  Fabriken  oder  Werk- 
stätten erforderlich  sind,  der  Gesundheit  gefährlich  oder  schädlich, 
oder  leibes-  oder  lebensgefährlich  ist,  entweder  überhaupt  oder 


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H.  W.  Macrosty,  Die  engl.  Fabrikgesetzgebung  in  den  Jahren  1878 — 1901.  675 

lediglich  für  Frauen,  Kinder  oder  eine  andere  Kategorie  von  Per- 
sonen, so  kann  er  diese  Industrie,  Maschincncinrichtung,  Betriebs- 
anlage, das  Verfahren  oder  die  Handarbeit  als  gefährlich  be- 
zeichnen, und  es  kann  alsdann  der  Staatssekretär  im  Rahmen  der 
Bestimmungen  des  gegenwärtigen  Gesetzes  Vorschriften  erlassen, 
welche  ihm  thunlich  erscheinen,  und  seines  Erachtens  zur  Be- 
seitigung der  vorliegenden  Mifsstände  geeignet  sind.“ 

„Sondervorschriften"  für  gefährliche  Industrien  wurden  erstmals 
durch  das  Gesetz  von  1891  eingeführt,  und  zwar  in  wesentlich  den 
gleichen  Ausdrücken,  wie  vorstehend  angeführt,  aber  mit  dem  Vor- 
behalt, dals  das  Gesetz  keine  Anwendung  finden  solle  auf  „Haus- 
werkstätten", oder  Werkstätten  in  einem  Wohnhause,  wo  lediglich 
Mitglieder  derselben  Familie  beschäftigt  sind.  Indessen  ist  das  Ver- 
fahren in  der  Aufstellung  von  Vorschriften  in  wesentlichen  Einzel- 
heiten geändert  worden.  Die  Vorschriften  sind  zu  veröffentlichen, 
es  besteht  eine  Einwendungsfrist  von  21  Tagen,  sodann  findet  unter 
Leitung  eines  vom  Sekretär  des  Innern  ernannten  Fachmanns  eine 
öffentliche  Untersuchung  statt.  Es  kann  Beweis  durch  Eid  er- 
hoben werden,  und  es  können  sich  die  Parteien  durch  Anwälte  ver- 
treten lassen.  Sind  die  Vorschriften  endgültig  festgestellt,  so  müssen 
sie  vierzig  Tage  lang  dem  Parlament  unterbreitet  werden,  innerhalb 
welcher  Zeit  jedes  Haus  sämtliche  oder  irgendwelche  einzelne  Vor- 
schriften durch  Beschlufs  beseitigen  kann.  Nach  dem  Gesetze  von 
1891  konnte  ein  P'abrikinhaber  verlangen,  dals  die  Vorschriften  der 
schiedsrichterlichen  Entscheidung  unterliegen  sollten;  der  Inhaber 
einerseits  und  der  Sekretär  des  Innern  andererseits  wählten  je  einen 
Schiedsrichter,  und  die  beiden  Schiedsrichter  einen  Obmann,  welcher 
für  den  Fall  ihrer  Uneinigkeit  zu  entscheiden  hatte.  Diese  Pint- 
scheidung des  Obmanns  war  eine  endgültige.  Auf  diese  Weise  blieb 
dem  Staatssekretär  unmittelbares  Einschreiten  und  Verantwortlichkeit 
erspart,  es  entstanden  Verzögerungen,  und  der  Obmann  erachtete 
es  in  der  Regel  als  seine  Pflicht,  einen  Vergleich  der  Parteien  zu- 
stande zu  bringen.  Jetzt  bleibt  dem  Staatssekretär  und  seinem 
technischen  Stab  volle  Gewalt  und  Verantwortlichkeit;  die  Ergeb- 
nisse der  öffentlichen  Untersuchung  dienen  ihm  als  Anhalt,  binden 
ihn  aber  nicht.  Die  Vorschriften  können  auf  sämtliche  Fabriken 
oder  Werkstätten  einer  Industrie  Anwendung  finden,  oder  sie  können 
eine  namentlich  bezeichnete  Gattung  ganz  oder  bedingungsweise 
ausnehmen.  Sie  können  ,,a)  die  Beschäftigung  aller  Personen  oder 
einer  Klasse  Personen  in  einer  Industrie,  Maschineneinrichtung,  Be- 


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Gesetzgebung:  Grofsbritannien. 


triebsanlage,  einein  Verfahren  oder  einer  Handarbeit,  die  als  ge- 
fährlich bezeichnet  sind,  verbieten,  oder  die  Beschäftigungszeit 
ändern  oder  beschränken,  und  b)  die  Benutzung  eines  Stoffes  oder 
Verfahrens  verbieten,  einschränken  oder  beaufsichtigen,  und  c)  irgend- 
welche in  diesem  Gesetze  (§  3)  enthaltene  Sondervorschriften  für 
irgend  eine  Gattung  von  Fabriken  oder  Werkstätten  abändern  oder 
ausdehnen.“  Diese  Ermächtigungen  sind  neu.  Die  Vorschriften 
sind  in  jeder  Fabrik  oder  Werkstätte  auszuhängen  und  jedem  Ar- 
beiter, der  darum  ersucht,  einzuhändigen.  Zuwiderhandlungen  seitens 
des  Inhabers,  Eigentümers  oder  Leiters  werden  mit  Geldstrafe  bis 
zu  £ IO,  und  bis  zu  £ 2 für  jeden  weiteren  Tag  der  Zuwider- 
handlung nach  erfolgter  Ueberführung  geahndet.  Andere  Personen 
unterliegen  einer  Geldstrafe  bis  zu  £ 2,  wobei  der  Inhaber  gleich- 
falls bis  zu  £ 10  bestraft  wird,  falls  er  nicht  beweist,  dafs  er  für 
die  Uebertretung  nicht  haftbar  ist.  Die  Vorschriften  können  auch 
Inhabern,  die  keine  Arbeiter  beschäftigen,  oder  Eigentümern  von 
Mietsfabriken  Verpflichtungen  auferlegen.  Aerzte,  welche  Patienten 
behandeln,  die  an  Blei-,  Phosphor-,  Arsenik-  oder  Quecksilberver- 
giftung, oder  Karbunkclgeschwüren  leiden,  und  sich  diese  Erkran- 
kungen in  einer  Fabrik  oder  Werkstätte  zugezogen  haben,  sind  ver- 
pflichtet, hiervon  Meldung  an  den  Ober-Fabrikinspektor  zu  erstatten. 
Desgleichen  hat  der  Inhaber  von  allen  derartigen,  in  Fabriken  oder 
Werkstätten  vorkommenden  Erkrankungen  dem  Bezirksinspektor 
und  Amtschirurgen  Anzeige  zu  machen.  Auch  für  andere  Krank- 
heiten kann  der  Staatssekretär  diese  Meldepflicht  anordnen.  Wo 
Blei,  Arsenik  oder  andere  giftige  Substanzen  verwendet  werden, 
sind  geeignete  Wascheinrichtungen  anzubringen.  Wo  „ein  Ver- 
fahren Anwendung  findet,  bei  welchem  Staub  oder  irgendwelche 
Gase,  Dämpfe,  oder  andere  Verunreinigungen  erzeugt,  und  von  den 
Arbeitern  in  nachteiligem  Mafse  eingeatmet  werden“,  kann  der  In- 
spektor das  Anbringen  von  Ventilationen  oder  anderen  mechani- 
schen Lüftungseinrichtungen  verlangen.  Diese  letzteren  Bestim- 
mungen sind  aus  dem  Gesetze  von  1895  übernommen.  § 75,  Abs.  2, 
welcher  vorschreibt,  dafs  sich  die  Arbeiter  in  den  Essenspausen 
nicht  in  Räumen  aufhalten  dürfen,  wo  Blei,  Arsenik  oder  andere 
giftige  Substanzen  derart  verwendet  werden,  dafs  sie  Staub  oder 
Dünste  erzeugen,  ist  teils  neu,  teils  entstammt  er  einer  Verfügung 
aus  dem  Jahre  1882. 

Sondervorschriften  gelten  jetzt  für  die  Herstellung  doppelchrom- 
saurer Salze,  chemische  Fabriken,  Töpfer-  und  Porzellanfabriken, 


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H.  W.  Macrosty,  Die  engl.  Fabrikgesetzgebung  in  den  Jahren  1878 — 1901.  677 

Fabriken  elektrischer  Akkumulatoren,  das  Emaillieren  von  eisernem 
Geschirr,  die  Herstellung  von  Explosivstoffen  (Schiefsbenzol),  Flachs- 
spinnereien und  -Webereien.  Bleiwerke  (Bleirot,  Bleiorange,  Bleivveifs 
und  Bleigelb),  Bleiarbeit,  Werke,  in  denen  chromsaures  Bleioxyd 
Verwendung  findet,  (Gclbphosphor-  oder  Wcifsphosphor-)Streichholz- 
fabriken,  Mal-  und  Farbwerke  und  Anstalten  fiir  Arsenikgewinnung, 
für  das  Verzinnen  und  Emaillieren  von  gufseisernem  Geschirr, 
Mctallgeschirr  und  Kochgerät,  die  Fabrikation  kohlensauren  Wassers, 
die  Feilenhauerei,  das  Wollkämmen  und  -sortieren  und  für  Wand- 
tapetenfabriken. 

Es  ist  hier  besonders  hervorzuheben,  dafs  der  Staatssekretär 
des  Innern  durch  das  Gesetz  unumschränkt  befugt  ist,  irgendwelche 
Betriebe  in  der  ihm  geeignet  erscheinenden  Weise  zu  regeln.  Sein 
Einschreiten  ist  allein  dadurch  bedingt,  dafs  das  Parlament  inner- 
halb einer  40  tägigen  Frist  sich  nicht  einmischt,  eine  Einschrän- 
kung, welche  die  grofsen  gesetzgebenden  Körpern  eigentümliche 
Schwerfälligkeit  in  der  Regel  hinfällig  macht. 

Ein  weiterer  Gegenstand  der  englischen  Fabrikgesetzgebung  sind 
die  M i e t s f a b r i k e n (tenement  factories).  Man  versteht  hierunter 
„eine  Fabrik,  in  welcher  Maschinentriebkraft  nach  verschiedenen 
Teilen  desselben  Gebäudes,  das  verschiedene  Personen  zwecks  Be- 
triebes eines  gewerblichen  Verfahrens  oder  eines  Handwerkes  inne- 
haben, dergestalt  geliefert  wird,  dafs  diese  Teile  nach  dem  Gesetze 
besondere  Fabriken  darstellen,  und  wobei  . . . sämtliche  innerhalb 
desselben  Grundstückes  oder  derselben  Umfriedigung  gelegene  Ge- 
bäude als  ein  Gebäude  behandelt  werden"  (149).  Derartige  Miets- 
fabriken kommen  namentlich  im  Sheffielder  Messerschmiedegcwcrbe 
vor,  wo  der  Eigentümer  eines  Gebäudes  seine  Räume  an  ver- 
schiedene Personen  vermietet  und  ihnen  Triebkraft  und  Triebwerk 
liefert.  Die  Mieter  sind  meist  ganz  arme  Leute,  welche  völlig  aufser- 
stände  sind,  die  in  ihrem  gefährlichen,  stauberzeugenden  Gewerbe 
erforderlichen  Schutzvorrichtungen  zu  beschaffen;  auch  hat  die  Er- 
fahrung gezeigt,  dafs  es  thöricht  wäre,  ihnen  gegenüber  die  Durch- 
führung der  gesetzlichen  Vorschriften  zu  versuchen.  Das  Gesetz 
von  1895  half  hier  dadurch,  dafs  es  den  Eigentümer  für  die  sani- 
tären Verhältnisse,  Lüftung  und  Ueberfullung  haftbar  machte,  des- 
gleichen für  das  Fehlen  von  Schutzvorrichtungen  an  Maschinen,  für 
das  Tünchen  und  Waschen  der  Räume,  ausgenommen  dort,  wo  diese 
einen  einzigen  Mieter  überlassen  sind,  für  „das  Vorhandensein  von 
Abzugsrohren  oder  anderer  Vorkehrungen,  wie  sie  für  die  Thätig- 

Archiv  für  soa.  Gesetzgebung  u.  Stattslik.  XVU.  44 


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6;8 


Gesetzgebung : Grofsbritannien. 


keit  des  Ventilators  oder  anderer  Mittel“  zur  Beseitigung  von  Gasen, 
Staub  u.  s.  w.  erforderlich  sind,  für  das  Anbringen  von  Bekannt- 
machungen bezüglich  der  Arbeitszeiten,  Essenspausen  und  der  Art 
der  Beschäftigung  von  Kindern.  Verfügungen,  betreffend  die 
Schliefsungen  gefahrdrohender  Räumlichkeiten,  sind  an  den  Eigen- 
tümer zu  erlassen.  Der  Eigentümer  einer  Mietsfabrik  mit  Schleiferei- 
betrieb haftet  für  gehörige  Instandhaltung  der  Ketten,  für  gehörige 
Schutzvorrichtungen  an  VVellentransmissionen,  Riemenscheiben  und 
Trommeln,  für  die  Beschaffung  von  Einrichtungen  zur  Beseitigung 
des  Schmutzes,  und,  in  nach  dem  I.  Januar  1896  erbauten  Räumen, 
für  das  Vorhandensein  des  vorschriftsmäfsigen  Abstandes  für  jeden 
Schleifstein.  Das  Gesetz  von  1901  hob  die  Bestimmung  auf,  dafs 
die  vorstehenden  Anordnungen  nicht  auf  solche  Inhaber  von  Teilen 
einer  Fabrik  Anwendung  finden  sollen,  die  jährlich  mehr  als  £ 200 
Miete  zahlen ; auch  ermächtigte  cs  den  Staatssekretär  des  Innern, 
zu  verfügen,  dafs  in  derartigen  Fabriken,  falls  sie  zur  Baumwoll- 
weberei benutzt  würden,  der  Eigentümer  für  die  Ventilation  und 
für  die  Befolgung  der  Vorschriften  über  die  Feuchtigkeit  der  Luft 
verantwortlich  sein  solle. 

Waschanstalten  waren  bis  zum  Jahre  1895  allein  den  sani- 
tären Vorschriften  des  Gesetzes  über  die  öffentliche  Gesundheits- 
pflege unterworfen.  In  diesem  Jahre  wurden  sie  zum  ersten  Male 
einem  Fabrik-  und  Werkstättengesetz  eingefügt,  jedoch  nur  als  eine 
besondere  Kategorie.  Da  dieser  Industriezweig  sich  in  einem 
Uebergangsstadium  von  der  Handarbeit  zur  Fabrikindustrie  befindet, 
und  in  grofsem  Umfange  von  Wohlthätigkeitsanstalten  und  armen, 
zu  Hause  arbeitenden  Frauen  ausgeübt  wird,  wurden  die  Versuche 
eines  staatlichen  Eingreifens  lebhaft  bekämpft.  In  der  That  haben 
die  Gegner  „staatlicher  Einmischung  in  die  Freiheit  des  Individuums“ 
hier  ihre  letzte  Schlacht  geschlagen  und  mit  Unterstützung  der  an 
der  Unabhängigkeit  der  Klosterwäschereien  interessierten  irischen 
römisch-katholischen  Mitglieder  des  Parlaments  bisher  ein  ernsthaftes 
Vorgehen  der  Gesetzgebung  verhindert.  Indessen  ist  auf  diesem 
Gebiete  eine  Regelung  dringend  nötig,  denn  in  London  allein  ar- 
beiten von  50537  beschäftigten  Personen  nur  23  Proz.  zu  Hause,  und 
Dutzende  kleiner  Wäschereien  befinden  sich  in  Wohnhäusern,  die 
zu  diesem  Zwecke  gänzlich  ungeeignet  und  die  mit  einem  Stabe 
der  Handhabung  von  Maschinen  unkundiger  Leute  besetzt  sind.  Der 
Gesetzentwurf  von  1 895  unterstellte  die  Waschanstalten  im  allgemeinen 
den  Fabrikgesetzen,  allein  der  oben  angedcutete  Koinpromifs  hin- 


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H.  W.  Macrosty,  Die  engl.  Fabrikgesetzgebung  in  den  Jahren  1878-1901.  679 

derte  eine  einschneidende  Regelung.  Im  Jahre  1901  stellte  die  Re- 
gierung wiederum  die  Forderung,  den  Staatssekretär  des  Innern 
zur  Anwendung  der  Fabrikgesetze  auf  die  Waschanstalten  mit  oder 
ohne  Abänderungen  zu  ermächtigen,  kam  aber  damit  nicht  vor- 
wärts. „Inbezug  auf  die  Vorschriften  über  den  Schutz  der  Gesund- 
heit und  die  Sicherheit,  Unfälle,  Schulunterricht  der  Kinder,  An- 
zeigen über  die  Eröffnung  einer  Fabrik  oder  Werkstätte,  das  An- 
bringen von  Auszügen  aus  den  Gesetzen  und  von  Bekanntmachun- 
gen, und  die  in  diesen  Bekanntmachungen  mitzuteilenden  Gegen- 
stände (soweit  sic  auf  Waschanstalten  zutreffen),  Zuständigkeiten 
der  Inspektoren,  Strafen  und  Strafverfahren"  gelten  Waschanstalten 
als  Fabriken  oder  als  Waschanstalten,  je  nachdem  eine  Triebkraft 
gebraucht  wird  oder  nicht.  Dagegen  treten  an  Stelle  der  Vor- 
schriften der  Fabrikgesetze  über  die  Arbeitszeiten  und  Essens- 
pausen folgende  Sonderbestimmungen : 

(1)  „Auf  jede  Waschanstalt,  die  in  gewerblicher  Weise  und  in 
Gewinnabsicht  betrieben  wird,  sollen  folgende  Vorschriften  An- 
wendung finden: 

a)  Die  Beschäftigungsdauer,  ausschließlich  der  Essenspausen  und  Niclflan- 
wcscnhcil  an  der  Arbeitsstätte , darf  innerhalb  24  aufeinanderfolgender 
Stunden  für  Frauen  vierzehn,  für  jugendliche  Personen  zwölf,  und  für 
Kinder  zehn  Stunden  nicht  überschreiten,  desgleichen  innerhalb  einer 
Woche  insgesamt  sechzig  Stunden  für  Frauen  und  jugendliche  Personen 
und  dreifsig  Stunden  für  Kinder,  abgesehen  von  l'cberstunden,  soweit  sic 
Frauen  gestattet  sind. 

b)  Frauen,  jugendliche  Personen  oder  Kinder  dürfen  ununterbrochen  hinter» 
einander  nicht  länger  als  fünf  Stunden  ohne  eine  F.ssenspause  von  min- 
destens einer  halben  Stunde  beschäftigt  werden. 

c)  Frauen,  jugendlichen  Personen  und  Kindern,  die  in  der  Waschanstalt  be- 
schäftigt werden,  sind  die  gleichen  Feiertage  zu  gestatten,  wie  sic  Frauen 
jugendlichen  Personen  und  Kindern,  welche  in  einer  Fabrik  oder  Wcrk- 
stattc  arbeiten,  nach  dem  gegenwärtigen  Gesetze  erlaubt  sind. 

d)  Die  in  der  Waschanstalt  anzubringendc  Bekanntmachung  soll  die  Arbeits- 
zeiten und  die  Fssenspauscn  genau  angeben,  jedoch  dürfen  die  Arbeits- 
zeiten und  die  Essenspausen  vor  Beginn  der  Beschäftigung  an  jedem  Tage 
anders  festgesetzt  werden.“ 

In  mit  Triebkraft  ausgestatteten  Waschanstalten  müssen  behufs 
Regelung  der  Temperatur  und  Beseitigung  der  Dämpfe  Ventilatoren 
oder  „andere  geeignet  beschaffene  Vorrichtungen“  im  Gebrauche 
sein;  ferner  dürfen  sich  die  Plättöfen  nicht  im  Plättraume  befinden, 
Gasöfen,  welche  schädliche  Ausdünstungen  ausstrahlen,  sind  ver- 

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68o 


Gesetzgebung : Grofsbritannien. 


boten,  auch  „sind  die  Fufsböden  in  guter  Verfassung  zu  erhalten 
und  mit  Entwässerungsvorrichtungen  zu  versehen,  welche  dem 
Wasser  freien  Ablauf  gestatten“.  Endlich  sind  Wohlthätigkeits- 
anstalten,  welche  aus  der  Arbeit  solcher  Frauen  Gewinn  ziehen, 
deren  sittliche  Eigenschaften  sic  bessern,  von  der  Beaufsichtigung 
durch  weibliche  Fabrikinspektoren  ausgenommen,  obwohl  sich  kein 
stichhaltiger  Grund  für  diese  Ausnahme  denken  läfst. 

(2)  „In  Ueberstunden  dürfen  in  Waschanstalten  arbeitende  Frauen 
unter  folgenden  Bedingungen  beschäftigt  werden: 

a)  Frauen  dürfen  nicht  über  vierzehn  Stunden  täglich  beschäftigt  werden,  und 

b)  Die  Ueberzeit  darf  an  einem  Tage  nicht  mehr  als  zwei  Stunden  be- 
tragen ; und 

c)  In  Ueberstunden  darf  an  nicht  mehr  als  drei  Tagen  wöchentlich,  oder 
mehr  als  dreifsig  Tagen  jährlich  gearbeitet  werden,  und 

d)  Ks  sind  die  Vorschriften  des  § 60  des  gegenwärtigen  Gesetzes  bezüglich 
der  Bekanntmachungen  zu  beobachten.  (D.  h.,  der  Unternehmer  hat  sieben 
Tage  vorher  dem  Inspektor  und  den  Angestellten  von  seiner  Absicht,  in 
Ueberstunden  arbeiten  zu  lassen,  Kenntnis  zu  geben.) 

„Das  Gesetz  findet  keinerlei  Anwendung  auf  Waschanstalten,  in  welchen  ledig- 
lich 'beschäftigt  werden : 

a)  Insassen  eines  Gefängnisses,  einer  X.wangserziehungs-  oder  Besserungs- 
anstalt oder  eines  anderen  Instituts,  welches  zur  Zeit  gesetzlich  einer  an- 
deren Aufsicht  untersteht,  als  jener  der  Fabrikinspektoren ; oder 

b)  Insassen  einer  Anstalt,  die  in  guter  Absicht  zu  frommen  oder  wobl- 
thätigen  Zwecken  betrieben  wird ; oder 

c)  Mitglieder  derselben  Familie,  die  in  der  Waschanstalt  wohnen,  oder  wenn 
daselbst  höchstens  zwei  anderwärts  wohnende  Personen  beschäftigt  werden.'4 

Die  dritte  Ausnahme  entzieht  einen  der  schlimmsten  Fälle  der 
Beaufsichtigung.  Es  ist  hier  keine  ärztliche  Bescheinigung  not- 
wendig, Sonntags-  und  Nächtarbeit  sind  gestattet,  die  Essenspausen 
brauchen  nicht  eingehalten  zu  werden,  die  Beschäftigungsdauer  kann 
sich  tagtäglich  und  für  jeden  Arbeiter  ändern.  Ohne  Ueberstunden 
darf  eine  Frau  oder  ein  13  oder  14 jähriges  Mädchen  unter  Hinzu- 
rechnung von  2 Stunden  Essenspausen  von  8 Uhr  früh  bis  Mitter- 
nacht an  zwei  Wochentagen,  von  8 Uhr  früh  bis  8 Uhr  abends  an 
zwei  anderen  Wochentagen,  und  an  Montagen  und  Samstagen  (die 
hergebrachten  kurzen  Arbeitstage)  von  10  Uhr  morgens  bis  8 Uhr 
abends  bezw.  von  8 Uhr  früh  bis  Nachmittag  arbeiten.  Wer  mit 
der  Geschichte  der  Fabrikgesetzgebung  vertraut  ist,  wird  erkennen, 
dafs  somit  eine  wirksame  Aufsicht  über  die  Waschanstalten  unmög- 
lich ist,  und  es  wird  dies  auch  alljährlich  durch  die  Berichte  de 


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H.  W.  Macrosty,  Die  engl.  Fabrikgesetzgebung  in  den  Jahren  1878 — 1901.  68l 

Fabrikinspektoren  seit  1895  bestätigt.  „Eine  68  ständige  Arbeits- 
zeit nach  Abzug  der  Essenspausen  ist  etwas  ganz  gewöhnliches, 
und  zwar  für  junge  14jährige  Mädchen“,  sagt  ein  Inspektor.1) 
Folgende  fachkundige  Kritik  des  Fräulein  Paterson,  einer  der  Lon- 
doner Fabrikinspektorinnen,  verdient  als  allgemeine  Würdigung  der 
Art  und  Weise,  wie  Gesetze  gemacht  werden,  besondere  Hervor- 
hebung an  dieser  Stelle.  *)  „Formulare  und  Bekanntmachungen  sind 
stets  wichtig,  ganz  besonders  aber  hier  weit  mehr  als  in  anderen 
Arbeitsstätten,  und  der  Inspektor  mufs  in  der  Lage  sein,  wenn  er 
gestattet,  die  Arbeitszeit  dem  jeweiligen  Bedürfnis  anzupassen,  auf 
strenge  Einhaltung  der  Vorschriften  über  die  Bekanntmachungen  in 
der  Arbeitsstätte  zu  bestehen.  Man  kann  mit  Sicherheit  behaupten, 
dafs  man  in  3 von  5 Handwäschereien  mit  Leuten  zu  thun  hat, 
welche  nicht  soweit  denken  können,  dafs  selbstverständlich  die 
schriftlichen  Festsetzungen  der  Arbeitszeiten  um  so  wichtiger  sind, 
je  öfter  diese  wechseln.  Fis  ist  doch  gewifs  selbst  für  eine  Person 
mit  beschränktem  Gesichtskreise  nicht  schwer,  einzusehen,  was  bei- 
spielsweise die  Vorschrift  bedeutet,  dafs  jemand  von  Montag  bis 
Freitag  nicht  vor  8 Uhr  morgens  oder  nach  8 Uhr  abends  arbeiten 
darf,  und  dafs  die  Arbeitszeit  an  Samstagen  nur  von  8 Uhr  morgens 
bis  4 Uhr  nachmittags  dauern  soll.  Indessen,  die  Bestimmungen  für 
Waschanstalten  mit  ihrer  Strenge  einerseits  und  ihrer  Nachgiebig- 
keit andererseits  werden  einfach  nicht  verstanden.  So  ist  z.  B.  für 
die  gehörige  Durchführung  des  Gesetzes  wesentlich,  dafs  die  in  der 
Arbeitsstätte  angebrachte  Bekanntmachung  nicht  nur  die  tägliche, 
sondern  auch  die  wöchentliche  Beschäftigungszeit  angeben  mufs, 
dafs,  wenn  zwei  Stunden,  sagen  wir,  die  von  .8 — 10  Uhr  abends, 
zur  Überstundenarbeit  bestimmt  werden,  diese  zwei  Stunden  nicht 
in  den  gewöhnlichen  Arbeitstag  mit  eingerechnet  werden  dürfen. 
Aber  es  ist  mir  bis  jetzt  noch  nicht  gelungen,  den  Inhabern  kleiner 
Wäschereien  dies  hinlänglich  klar  zu  machen.  Im  Drange,  schmutzige. 
Wäsche  herein-  und  gewaschene  hinauszubringen,  schreiben  sie  bei- 
spielsweise fortgesetzt  als  Arbeitsstunden  die  Zeit  von  9 Uhr  mor- 
gens bis  9 Uhr  abends  auf  die  Bekanntmachung,  beschäftigen  aber 
dabei  ihre  Arbeiter  von  8 Uhr  morgens  bis  1 1 Uhr  abends  oder 
an  Stunden,  wie  sie  ihnen  gerade  passend  erscheinen,  und  ihr  Ge- 
wissen ist  nicht  ruhig,  wenn  sie  am  Ende  der  Woche  nicht  über 
die  zulässige  Gesamtzahl  von  Arbeitsstunden  arbeiten  licfscn.“  — 

*)  Factorics  and  Workshops  Annual  Report  for  1901  (C.  1112)  p.  26. 

*)  A.  a.  O.,  p.  178. 


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682 


Gesetzgebung : Großbritannien. 


Durch  das  Gesetz  von  1895  wurden  die  Vorschriften  der 
Fabrikgesetze  betreffend  die  Zuständigkeit  einer  Behörde  mit  sum- 
marischer Gerichtsbarkeit,  auf  Antrag  eines  Inspektors  die  fernere 
Benutzung  gefahrdrohend  schadhafter  Maschinen  oder  Betriebs- 
anlagen zu  untersagen,  desgleichen  die  Bestimmungen  über  die  Mel- 
dung von  Unfällen,  Anordnungen  betreffs  gefährlicher  Betriebe,  die 
Berechtigung  der  Inspektoren  zum  Eintritt  und  zur  Ueberwachung, 
sowie  über  die  Geldbufsen  im  Falle  der  Tötung  oder  Körperver- 
letzung ausgedehnt  auf  „jedes  Dock,  jede  Werft,  jeden  Lager- 
platz und  Warenspeicher,  sowie  auf  alle  Maschinen  oder 
Anlagen,  die  beim  Entladen  oder  Beladen  von  Schiffen  oder  beim 
Einnehmen  von  Kohlen  auf  diesen  in  einem  Dock,  Hafen  oder 
Kanal“  Anwendung  finden,  ferner  auf  „alle  Grundstücke,  auf  denen 
durch  Dampf,  Wasser  oder  eine  andere  Triebkraft  getriebene 
Maschinen  zwecks  Errichtung  eines  Gebäudes  oder  Herstellung  an- 
derer, mit  einem  Gebäude  zusammenhängender  Bauten  vorüber- 
gehend benutzt  werden",  und  zwar  in  derselben  Weise,  als  ob  die 
genannten  Arbeitsstätten  Fabriken  seien.  Die  gleichen  Bestim- 
mungen finden  ferner  nach  dem  Gesetze  von  1901  Anwendung  auf 
jede  Eisenbahn  oder  Nebenlinie,  welche  nicht  zu  einer  öffentlichen 
Eisenbahn  gehört  und  „in  Verbindung  mit  einer  Fabrik  oder  Werk- 
stätte, oder  mit  einer  Arbeitsstätte  betrieben  wird,  auf  welche  irgend 
eine  Vorschrift  des  gegenwärtigen  Gesetzes  Anwendung  findet". 

Bäckereibetriebe  unterstanden  nach  dem  Gesetz  von  1878 
denselben  Bestimmungen  wie  andere  „Nicht-Textilfabriken“  und 
Werkstätten  hinsichtlich  der  Beschäftigung  von  Arbeitern ; für  Städte 
über  5000  Einwohner  bestanden  jedoch  besondere  Vorschriften  über 
Tünchen,  Anstrich  und  Aufwaschen  der  inneren  Bäckereiräume,  so- 
wie über  die  gehörige  Trennung  der  Schlafräume  von  den  Arbeits- 
räumen. Das  Gesetz  von  1895  beseitigte  die  Beschränkung  dieser 
.Vorschriften  auf  Städte  mit  der  angegebenen  Einwohnerzahl.  Durch 
Gesetz  von  1883  war  ferner  der  Bäckereibetrieb  untersagt  für  nicht 
vor  dem  I.  Juni  1883  in  Betrieb  genommenen  Räumlichkeiten,  falls 
Abtritte  etc.  mit  dem  Backraum  direkt  in  Verbindung  standen,  oder 
wenn  sich  irgendwelche  Abzugsrohren  nach  dem  Backraum  öffneten ; 
diese  Bestimmung  galt  von  1895  ab  allgemein.  Das  Gesetz  von 
1883  ermächtigte  ferner  eine  Behörde  mit  summarischer  Gerichts- 
barkeit, einen  Bäckereibetrieb  aus  sanitären  Gründen  zu  schliefsen; 
ferner  übertrug  es  die  Durchführung  der  Gesetze  von  1878  und  1883 
vom  Fabrikinspektor  auf  die  Ortsbehörden  bezüglich  der  kleinen 


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H.  W.  Macrosty,  Die  engl.  Fabrikgesetzgebung  in  den  Jahren  1878 — 1901.  683 

Bäckereien.  Das  Gesetz  von  1895  verbot  den  Betrieb  unterirdischer 
Bäckereien,  soweit  ihr  Betrieb  nicht  vor  dem  1.  Januar  1896  be- 
gonnen hatte.  Ferner  bestimmte  das  Gesetz  von  1901  an  Steile 
dieses  Termins  den  1.  Januar  1902  und  schrieb  vor,  dafs  alle 
übrigen,  vom  I.  Januar  1894  ab  betriebenen  unterirdischen  Bäckereien 
vom  Bezirksausschufs  als  geeignet  begutachtet  werden  müssen,  wo- 
bei dem  Inhaber  die  Berufung  an  eine  Behörde  mit  summarischer 
Gerichtsbarkeit  offen  steht,  falls  diese  Begutachtung  verweigert  wird. 

Inbetreff  der  Baumwollspinnereien  und  anderer  mit 
Feuchtigkeit  verbundener  Spinnereibetriebe  verordnete  ein  Sonder- 
gesetz von  1889,  dafs  in  sämtlichen  Schuppen,  Räumen  oder  Werk- 
stätten, in  denen  Baumwollwebereibetrieb  stattfindet  und  die  Luft 
durch  künstliche  Mittel  feucht  erhalten  wird,  der  Feuchtigkeitsgehalt 
der  Luft  die  Grade  nicht  übersteigen  dürfe,  wie  sie  in  der  dem  Ge- 
setze angehängten  Tabelle  angegeben  sind;  diese  Tabelle  konnte 
durch  Verfügung  des  Staatssekretärs  des  Innern  abgeändert  werden, 
welche  dem  Parlament  unterbreitet  werden  mufste  und  von  diesem 
innerhalb  einer  40tägigen  Frist  aufgehoben  werden  konnte.  Amt- 
lich geprüfte  Nässe-  und  Trockenheits-Kugelthcrinometer  inufsten 
in  jedem  Raum  behufs  Feststellung  der  Feuchtigkeit  vorhanden  sein. 
Das  Gesetz  von  1901  dehnte  diese  Bestimmungen  auf  andere  Textil- 
fabriken aus,  in  denen  die  Luft  künstlich  feucht  erhalten  wird,  und 
verordnete  ferner  speziell  für  Baumwollspinnereien,  dafs  zu  diesem 
Zwecke  nur  reines  Wasser  verwendet  werden  darf,  dafs  die  Dampf- 
leitungsröhren mit  nicht  durchlässigem  Stoffe  bekleidet  sein  müssen, 
dafs  vermittelst  geeigneter  Ventilationscinrichtungcn  der  Karbon- 
Dioxydgehalt  der  Luft  stets  höchstens  9 ; 10000  betragen  darf 
(anstatt  der  vordem  vorgeschriebenen  600  Kubikfufs  frischer  Luft 
pro  Stunde  für  jede  Person),  dafs  die  Aufsenseite  des  Daches  im 
Sommer  gestrichen  werden  mufs,  und  dafs  in  allen  nach  dem 
2.  Februar  1898  erbauten  Fabriken  geeignete  Räumlichkeiten  zur 
Aufbewahrung  der  Kleider  der  Arbeiter  vorhanden  sein  müssen. 
Diese  Ergänzungen  waren  durch  die  Sonderkommission  empfohlen 
worden,  welche  1896  behufs  Erhebungen  über  die  Wirkung  des 
Baumwoll-Fabrikgesetz.es  von  1889  eingesetzt  wurde.  Durch  das 
Gesetz  von  1897  wurde  der  Staatssekretär  des  Innern  ermächtigt, 
die  vorgeschlagenen  Mafsnahmen  zur  Anwendung  zu  bringen,  soweit 
sic  ihm  geeignet  erschienen.  Die  Kommission  sagte  aufserdem 
in  ihrem  Berichte,  das  Gesetz  von  1889  habe  in  den  Weberäumen 
vortrefflich  gewirkt. 


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684 


Gesetzgebung : Grofsbritannicn. 


Was  die  Hausindustrie  anlangt,  so  sind  auf  diesem  Gebiete 
folgende  gesetzliche  Bestimmungen  seit  1878  erlassen  worden.  Das 
Gesetz  von  1891  gab  dem  Inhaber  einer  Fabrik  oder  Werkstätte 
auf,  ein  Verzeichnis  zu  führen  mit  Angabe  sämtlicher  von  iiim  als 
Arbeiter  oder  Subunternehmer  aufserhalb  der  Fabrik  oder  Werk- 
stätte beschäftigten  Personen,  sowie  der  Orte,  an  welchen  sie  thätig 
seien,  und  nach  dem  Gesetze  von  1895  hatte  er  jährlich  zweimal 
dem  Fabrikinspektor  ein  Verzeichnis  seiner  Aufsenarbeiter  einzu- 
reichen. Das  Gesetz  von  1901  ordnete  an,  dafs  diese  Verzeichnisse 
dem  Bezirksausschufs  einzureichen  seien,  und  dem  Fabrikinspektor 
nur  auf  sein  Ersuchen.  Findet  der  Bezirksausschufs,  dafs  jemand 
in  ungesunden  Räumlichkeiten  beschäftigt  wird,  so  kann  er  sich  be- 
hufs Herbeiführung  eines  Verbotes  der  Beschäftigung  daselbst  an 
eine  Behörde  mit  summarischer  Gerichtsbarkeit  wenden,  eine  Auf- 
gabe, die  nach  dem  Gesetz  von  1895  dem  Fabrikinspektor  oblag. 
Durch  letzteres  Gesetz  wurde  bei  Strafe  verboten,  Kleidungsstücke 
in  Räumlichkeiten,  in  denen  ansteckende  Krankheiten  herrschen,  an- 
fertigen, reinigen  oder  ausbessern  zu  lassen,  und  das  Gesetz  von 
1901  ermächtigte  den  Bezirksausschufs  (oder  in  dringlichen  Fällen 
zwei  seiner  Mitglieder  nebst  dem  ärztlichen  Sanitätsbeamten)  zum 
Erlasse  eines  Verbots,  einem  Insassen  derartiger  Häuser  Arbeit  hin- 
auszugeben und  zum  Gebot  der  Desinfektion  dieser  Räumlichkeiten. 
Das  Gesetz  von  1895  dehnte  die  Vorschrift  der  Heimarbeiterlisten 
aus  auf  Inhaber  „einer  RäumlichKeit,  aus  welcher  irgendwelche 
Schneiderarbeit  nach  auswärts  verabfolgt  wird“,  sowie  auf  jeden  von 
ihm  beschäftigten  Subunternehmer.  Hierdurch  wurden  die  Kleider- 
läden dem  Gesetze  unterstellt,  und  das  Gesetz  von  1901  schlofs 
hierzu  die  Läden  aller  Gewerbszweige  ein,  auf  welche  die  Vor- 
schriften über  die  Hausindustrie  Anwendung  finden,  denn  es  kommt 
sehr  häufig  vor,  dafs  Ladengeschäfte  Kleidungsstücke  aufser  dem 
Hause  anfertigen  lassen.  Sämtliche  vorstehend  erwähnten  Vor- 
schriften finden  nur  Anwendung  auf  „diejenigen  Arbeitsgattungen, 
welche  von  Zeit  zu  Zeit  durch  besondere  Verfügungen  des  Staats- 
sekretärs bezeichnet  werden“.  Durch  solche  Verfügungen  sind  jenen 
Bestimmungen  unterstellt  worden  „das  Anfertigen,  Reinigen,  Waschen, 
Aendcrn,  Verzieren,  Zurichten  von  Spitzen  und  Spitzengardinen  und 
-netzen , die  Fabrikation  von  Alfenidewaren , Kunsttischler-  und 
Möbelarbciten,  sowie  Polsterarbeiten  und  die  Feilenfabrikation." 

Hinsichtlich  der  Hauswerkstätten  (Wohnräume,  in  denen  nur 
Mitglieder  der  eigenen  Familie  beschäftigt  werden)  bleibt  cs  nach  dem 


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H.  W.  Macrosty,  Die  engl.  Fabrikgesetzgebung  in  den  Jahren  1S78 — 1901.  685 

Gesetze  von  1901  bei  den  unzulänglichen  gesetzlichen  Bestimmungen 
des  Jahres  1 878,  ja,  cs  schwächt  fliese  sogar  noch  dadurch  ab,  dafs 
es  ausnimmt : die  Handarbeit  des  Strohflechtens , des  Klöppel- 
kissenmachens,  des  Handschuhmachens  und  andere  Heimarbeit, 
welche  der  Staatssekretär  infolge  ihres  „leichten  Charakters"  aus- 
nehmen darf,  desgleichen  die  Fälle,  „in  denen  nur  in  unregelmäfsigen 
Zwischenräumen  gearbeitet  wird",  und  wo  „die  Arbeit  der  Familie 
nicht  den  ganzen  oder  hauptsächlichen  Lebensunterhalt  gewährt". 
Andererseits  findet  das  Gesetz  von  1901  in  als  gefährlich  begut- 
achteten Gewerben  ebenso  Anwendung,  als  ob  die  Betriebsstätte 
eine  Fabrik  oder  Werkstätte  sei  — im  Gegensatz  zu  einer  Haus- 
werkstätte. 

Als  letzten  Gegenstand  unserer  Uebersicht  erwähnen  wir  noch 
die  Sondervorschriften  über  Lohnberechnungen.  Das  Gesetz 
von  1891  schrieb  vor,  dafs  jedem  Weber  im  Baumwoll-,  Kamm- 
garn-, Woll-  oder  Leinen-  oder  Jutegewerbe  und  jedem  nach  Stück 
bezahlten  Spuler,  Weber  oder  Haspler  im  Baumwollgcwerbe,  „hin- 
längliche Anhaltspunkte  an  die  Hand  zu  geben  sind,  damit  er  sich 
vergewissern  kann,  wieviel  Lohn  er  für  seine  Arbeit  zu  bean- 
spruchen hat".  Des  Näheren  bestimmte  das  Gesetz  von  1895,  dafs 
jedem  Stückarbeitcr  in  einer  Textilfabrik  die  Anhaltspunkte  bei 
Verabfolgung  der  Arbeit  einzuhändigen  und  diese  aufserdem  durch 
Plakat  bekannt  zu  geben  seien,  ferner  gab  es  Vorschriften  für  auto- 
matische Zähler  und  ermächtigte  den  Staatssekretär  des  Innern, 
diese  Regelung  auf  Nicht-Textilfabriken  oder  -Werkstätten  auszu- 
dehnen. Diese  Bestimmungen  sind  in  dem  Gesetze  von  1901  mit  dem 
Zusatze  übernommen  worden,  dafs  den  Baumwollwebern  „die  Unter- 
lagen und  die  Bedingungen"  bekannt  zu  geben  seien,  „durch  weiche 
die  Preise  geregelt  werden",  d.  h.  es  sind  die  festgesetzten  An- 
haltspunkte und  deren  Abänderungen  durch  Plakat  gehörig  kund 
zu  geben. 


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SCHWEIZ. 

Der  Gesetzesentwurf 

betr.  Arbeiterinnenschutz  des  Kantons  Bern. 

Von 

Dr.  EMIL  HOFMANN, 

Nationalrat  in  Frauenfcld. 


Die  kantonale  Arbeiterschutzgesetzgebung  hat  lange  nicht  die 
rasche  Entwicklung  erfahren,  die  man  anfänglich  erwartet  hatte. 
Während  der  ersten  zehn  Jahre  der  Wirksamkeit  des  eidg.  Fabrik- 
gesetzes hatte  sich  blofs  ein  Kanton  entschlossen,  die  von  demselben 
nicht  berührten  Arbeiter  oder  wenigstens  einen  Teil  derselben  zu 
schützen.  Dieses  Beispiel  des  Kantons  Baselstadt  blieb,  wenn  man 
von  dem  nach  Umfang  und  Tendenz  sehr  engbeschränkten  Arbeiter- 
schutzgesetz von  Nidwalden  absieht,  bis  anfangs  der  neunziger  Jahre 
ohne  Nachfolger.  Erst  als  der  Kanton  Glarus  im  Jahr  1892  mit 
seinem  Arbeiterschutzgesetz  den  Bann  gebrochen,  begann  sich  eine 
Reihe  von  Kantonen  ihrer  Pflicht  nach  dieser  Seite  hin  zu  erinnern. 
Leider  erlahmte  dieser  edle  Wetteifer  bald  wieder.  Nachdem  die 
Kantone  St.  Gallen,  Zürich,  Solothurn,  Luzern,  Neuenburg  sog. 
Arbeiterinnenschutzgesetze  erlassen  hatten,  trat  ein  gewisser  Still- 
stand ein.  Dieser  war  wohl  nicht  zuletzt  durch  die  Erfahrungen 
mit  dem  Vollzug  der  kantonalen  Arbeiterschutzgesetze  veranlafst, 
bei  dem  sich  allmählich  drei  Typen  herauszubilden  begannen.  Der 
eine  dieser  wird  durch  die  Kantone  repräsentiert,  wo  der  Vollzug 
entweder  vollständig  ruht  wie  im  Kanton  Glarus,  oder  blofs  bei 
gewissen  Anlässen  funktioniert,  wie  dies  im  Kanton  Nidwalden  mit 
dem  Gesetz  betr.  den  Arbeiterschutz  vom  29.  April  1888  der  Fall 
ist,  das  namentlich  wegen  der  Arbeiter  an  Strafsen,  Eisenbahnen, 
Plufskorrektionen,  Entsumpfungen  und  Steinbrüchen  erlassen  wurde. 


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E.  Hofmann,  Der  Gesetzesentwurf  belr.  Arbcitcrinncnschutz  d.  Kantons  Bern.  687 

Der  zweite,  zahlreichste  Typus  zeigt  sich  in  den  Kantonen,  in  denen 
sich  der  Arbeiterschutz  hauptsächlich  auf  die  Städte  beschränkt, 
während  der  dritte  Typus  mit  vollständigem  Vollzug  des  Gesetzes 
blofs  in  einem  einzigen  Kanton  zu  finden  ist. 

Diese  keineswegs  erfreulichen  Erfahrungen  spiegelten  sich  natur- 
gemäfs  in  der  Legiferierung  der  übrigen  Kantone.  Dieselben  wagten 
nicht  mehr,  einen  gröl'seren  Teil  der  vom  eidg.  Fabrikgesetz  nicht 
berührten  Arbeiterkatcgorieen  zu  schützen.  Selbst  die  Beschränkung 
des,  Schutzes  auf  die  Arbeiterinnen  ging  ihnen  noch  viel  zu  weit. 
Sie  versuchten  sich  daher  auf  dem  Gebiete  des  Lehrlings-  und 
Kinderschutzes,  schufen  Bestimmungen  zum  Schutze  des  Dienst- 
personals in  Wirtschaften  und  Hotels,  bemühten  sich  in  der  mo- 
dernen Sonntagsgesetzgebung  ein  neues  Surrogat  des  Arbeiter- 
schutzes zu  erhalten  oder  verbrämten  die  Gesetze  zur  Schlichtung 
von  Arbeitskonflikten  mit  Bestimmungen  des  Arbeiterschutzes. 
Natürlich  fällt  es  uns  nicht  ein,  die  Notwendigkeit  des  Lehrlings- 
und Kinderschutzes  etc.  zu  bestreiten.  Das  leider  sehr  dürftige 
Material,  das  wir  über  Kinderausbeutung,  Auswüchse  des  Lchrlings- 
wesens  etc.  besitzen,  spricht  so  sehr  für  die  Notwendigkeit  der 
Legiferierung  auf  diesem  Gebiete,  dals  dieselbe  allgemein  anerkannt 
wird.  Ebenso  unbestritten  ist  die  Notwendigkeit  des  Schutzes  des 
Dienstpersonals  in  Hotels  und  Wirtschaften  und  der  Fürsorge  für 
Sonntagsruhe  oder  entsprechenden  Ersatz  derselben  in  gewissen 
Erwerbszweigen  und  Betriebsarten.  Aber  über  dieser  Fürsorge  darf 
das  nicht  minder  wichtige  Gebiet  des  Arbeiterinnenschutzes  nicht 
vernachlässigt  werden.  Es  heilst  auch  hier:  das  eine  thun  und  das 
andere  nicht  lassen.  Wir  begrüfsen  es  daher  lebhaft,  dafs  sich 
wiederum  ein  Umschwung  zu  Gunsten  der  Arbcitcrinnenschutz- 
gesetzgebung  vollzogen  hat,  indem  neben  dem  Kanton  Aargau  mit 
seinem  bezüglichen  Gesetzesentwurf  nun  auch  noch  der  Kanton  Bern 
mit  einem  solchen  getreten  ist. 

Schon  die  Art  der  Entstehung  dieses  Entwurfes  ist  interessant. 
Den  Anstofs  zu  demselben  gab  der  Adjunkt  des  Schweiz.  Arbeiter- 
sekretariats durch  eine  Motion  im  Grofsen  Rat  des  Kantons  Bern,  in 
welcher  er  den  Erlafs  eines  kantonalen  Arbeiter-  und  Arbeiterinnen- 
schutzgesetzes verlangt.  Die  Direktion  des  Innern  veranstaltete 
hierauf  eine  Enquete  über  den  Erlafs  von  Gesetzesbestimmungen 
betreffend  Arbeiter-  und  Arbeiterinnenschutz,  bei  der  sie  sich  be- 
mühte, möglichst  alle  an  einem  solchen  Gesetz  interessierte  Kreise 
und  bei  der  Ausführung  desselben  in  Betracht  fallenden  Behörden 


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Gesetzgebung : Schweiz. 


zum  Worte  kommen  zu  lassen.  Diese  Art  des  Vorgehens,  welche 
sich  für  unsere  Verhältnisse  sehr  empfiehlt,  führte  zu  einem  durch 
das  Generalsekretariat  der  Bernischcn  Handels-  und  Gewerbekammer 
aufgestelltcn  Gesetzesentwurf  über  das  Lehrlingswesen,  welcher  dem- 
nächst vom  Grofsen  Rat  behandelt  wird. 

Hinsichtlich  des  Arbeiterschutzgesetzes  zeigte  sich  eine  gröfsere 
Verschiedenheit  der  Meinungen.  Dieselben  waren  geteilt,  indem 
sich  die  einen  mehr  dem  Ideal  einer  allgemeinen  Regelung  des 
Arbeiterschutzes  zuneigten,  die  anderen  wenigstens  vorläufig  einer 
Beschränkung  auf  den  Arbeiterinnenschutz  den  Vorzug  gaben.  Ent- 
sprechend diesen  zwei  Strömungen  wurden  von  der  bernischen 
Handels-  und  Gewerbekammer  einer  hierfür  eingesetzten  Kommission 
des  Grofsen  Rates  ein  Entwurf  für  allgemeine  Regelung  des  Arbeiter- 
schutzes und  ein  Spezialgesetz  betr.  Arbeiterinnenschutz  unterbreitet. 
Die  Kommission  gab  wohl  aus  taktischen  Gründen  diesen  letzteren 
den  Vorzug.  Der  Gesetzentwurf  zerfällt  in  folgende  Abschnitte: 
I.  Anwendung  des  Gesetzes;  2.  Allgemeiner  Schutz;  3.  Arbeitszeit; 
4.  Dienstvertrag,  Arbeitsordnung;  5.  Lohnzahlung,  Abzüge,  Schaden- 
ersatz; 6.  Straf-  und  Vollzugsbestimmungen. 

Hinsichtlich  des  Umfangs  oder  der  Anwendung  des  Ge- 
setzes ist  dreierlei  hervorzuheben.  Dasselbe  erstreckt  sich  nach  dem 
Vorbilde  des  Zürcher  Gesetzes  auf  alle  dem  eidg.  Fabrikgesetz 
nicht  unterstellten  Geschäfte,  in  denen  eine  oder  mehrere  der  Fa- 
milie nicht  angehörende  weibliche  Personen  zum  Zwecke  des  Er- 
werbs beschäftigt  werden,  während  in  Basel  die  Anwendung  des 
Gesetzes  an  ein  Minimum  von  drei  in  St.  Gallen  an  ein  solches  von 
zwei  Arbeiterinnen  oder  an  die  Beschäftigung  von  Arbeiterinnen 
oder  Lchrtöchtern  unter  18  Jahren  geknüpft  ist.  Es  kennt  blos  eine 
Ausnahme,  nämlich  die  landwirtschaftlichen  Betriebe  und  blos  eine 
Beschränkung  des  Schutzes  hinsichtlich  der  zur  Bedienung  von 
Käufern  in  Ladengeschäften  verwendeten  Bediensteten. 

Dadurch  unterscheidet  es  sich  sehr  zu  seinem  Vorteil  von 
seinen  Vorgängern,  indem  es  seinen  Kreis  weiter  ausdehnt  und 
unter  anderem  auch  das  kaufmännische  Hilfspersonal,  soweit  Frauens- 
personen inbetracht  fallen,  zu  schützen  sucht.  Allerdings  kommt 
es  dabei  diesem  Pintwurf  trefflich  zu  statten,  dafs  über  die  Sonn- 
tagsruhe, über  das  Wirtschaftswesen  und  über  die  Ruhetage  des 
Dienstpersonals  in  Wirtschaften  bereits  gesetzliche  Bestimmungen 
bestehen,  sowie  dafs  die  gesetzliche  Regelung  der  kaufmännischen 
und  gewerblichen  Berufslehre  bevorsteht.  Dadurch  wird  der  Ent- 


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E.  H ol'mann,  Der  Gcsctzcscntwurf  betr.  ArbciterinnenschuU  d.  Kantons  Bern.  689 

wurf  der  Schwierigkeit  enthoben,  allzu  verschiedenartige  Verhält- 
nisse unter  einen  Hut  bringen  zu  müssen. 

In  zweiter  Linie  verbietet  das  Gesetz  die  Verwendung  schul- 
pflichtiger Mädchen  zu  gewerblicher  Lohnarbeit.  Diese  Bestimmung 
ist  als  ein  grofser  Fortschritt  zu  bezeichnen,  der  berufen  ist,  einem 
längst  gefühlten  Uebelstand  abzuhelfen.  Lehrer,  Schulmänner, 
Hygieniker  etc.  beklagen  die  Ueberanstrengung  der  schulpflichtigen 
Kinder  bitter;  denn  es  ist  begreiflich,  dafs  ein  Schüler,  welcher  vor 
und  nach  der  täglichen  Schulzeit  noch  mehrere  Stunden  ins  Joch 
des  Erwerbs  gespannt  wird,  nicht  dieselbe  Frische,  Lernbegierde 
und  Arbeitslust  besitzt,  wie  seine  Mitschüler,  bei  denen  dies  nicht 
der  Fall  ist.  Wie  verschiedene  Erhebungen  z.  B.  in  der  Stadt 
Zürich,  den  Kantonen  St.  Gallen  und  Thurgau,  sowie  die  Enquete 
über  die  Fürsorge  für  Nahrung  und  Kleidung  armer  Schulkinder 
in  der  Schweiz  im  Jahre  1895  gezeigt  haben,  handelt  er  sich  dabei 
weniger  um  Beschäftigung  in  Fabriken  als  um  solche  in  kleineren 
Betrieben,  welche  dem  Fabrikgesetz  nicht  unterstellt  sind,  sowie 
in  der  Hausindustrie.  Die  gewerbliche  Beschäftigung  von  Schul- 
kindern kommt  sehr  wahrscheinlich  in  der  Hausindustrie  am 
häufigsten  %-or  und  ist  hier  zweifelsohne  am  verhängnisvollsten. 
Diese  Erscheinung  ist  nach  der  erwähnten  Enquete  besonders  in 
den  Teilen  unseres  Landes  zu  konstatieren,  wo  die  grolsen  schweize- 
rischen Export industrieen  ihre  Arbeiterschaft  rekrutieren,  aber  sie  ist 
auch  im  Kanton  Bern  zu  finden,  wie  aus  folgendem  Bericht  hervor- 
geht: „Es  ist  Thatsache,  dals  man  die  Kinder  der  Schule  so  viel 
wie  möglich  entzieht,  um  sie  daheim  zur  Arbeit  anzuhalten.  Zur 
Verfertigung  von  Zündholzschachteln  müssen  viele  Kinder  die  Zeit 
zwischen  der  Schule  opfern,  um  einige  wenige  Franken  zu  ver- 
dienen. Hinter  dieser  mechanischen  Arbeit  können  sich  die  Kinder 
weder  geistig  noch  körperlich  richtig  entwickeln.  Für  nichts  haben 
sie  Interesse  und  sind  abgestumpft  in  allem,  was  sich  auf  Lehre 
und  Schule  bezieht.“ 

Es  wäre  daher  sehr  zu  begrüfsen,  wenn  auch  der  hausindustriellen 
Ausbeutung  jugendlicher  Arbeitskräfte  auf  gesetzlichem  Wege  vor- 
gebeugt werden  könnte.  Doch  ist  es  sehr  begreiflich,  dafs  der  in 
Frage  stehende  Gesetzesentwurf  dies  unterlassen  hat.  Schon  in 
seiner  gegenwärtigen  Beschränkung  wird  derselbe  mit  einer  scharfen 
Opposition  zu  rechnen  haben.  Hätte  derselbe  seinen  Umfang  noch 
weiter  ausgedehnt,  wäre  seine  Annahme  überhaupt  sehr  fraglich 
geworden. 


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Gesetzgebung : Schweiz. 


In  dritter  Linie  gewährleistet  der  Entwurf  „jedermann“  das 
Recht,  bei  den  Vollzugsbchörden  die  Unterstellung  eines  Geschäfts 
unter  dieses  Gesetz  zu  beantragen.  Auch  das  ist  ein  Vorzug  dieses 
Gesetzes,  welcher  sich  auf  die  mifslichen  Erfahrungen  der  bisherigen 
Unterstellungspraxis  anderer  Kantone  stützt.  Die  Verpflichtung  der 
Geschäftsinhaber,  den  Behörden  von  ihrer  Unterstellungspflicht  An- 
zeige zu  machen,  genügt  nicht.  Selbst  die  Aufnahme  eines  Ver- 
zeichnisses sämtlicher  dem  Gesetze  unterstellten  Gewerbe  und  die 
Verpflichtung  der  Ortsbehörden  zur  Fortführung  desselben,  wie  dies 
in  Luzern  und  Neuenburg  geschah,  erwies  sich  als  ungenügend, 
indem  die  Einbeziehung  der  pflichtigen  Geschäfte  unter  das  Gesetz 
dort  wenigstens  auf  dem  L?ndc  trotzdem  noch  sehr  viel  zu  wün- 
schen übrig  läfst.  Dieser  grofsen  Schwierigkeit  begegnet  der  vor- 
liegende Entwurf  auf  die  denkbar  einfachste  Art  und  Weise.  Indem 
er  jedermann  das  Recht  einräumt,  auf  die  Unterstellungspflicht  auf- 
merksam zu  machen  und  die  Unterstellung  zu  beantragen,  statuiert 
er  in  gewissem  Sinne  auch  die  Pflicht  hierzu.  Arbeiterorganisationen, 
Arbeiterfreunde,  Frauenvereine,  Geistliche,  Lehrer  etc.  werden  sich 
nicht  leicht  über  dieselbe  hinwegsetzen  können,  besonders  wenn 
durch  periodische  Veröffentlichungen  in  den  Lokal-  und  Bczirks- 
blättcrn  die  unterstellten  Betriebe  der  betr.  Gegend  jedermann  be- 
kannt gegeben  werden.  Diese  in  der  Ausführungsverordnung  fest- 
zusetzende Publikation  würde  weitere  Kreise  auf  das  Gesetz  auf- 
merksam machen,  die  zunächst  in  Frage  kommenden  Kreise  an 
ihre  Rechte  und  Pflichten  erinnern  und  jeder  Ausrede  die  Wege 
verlegen. 

Der  zweite,  den  „allgemeinen  Schutz“  regelnde  Abschnitt  des 
Gesetzes  geht  weiter  als  seine  Vorbilder.  Dasselbe  verlangt  nicht 
blofs  wie  das  Zürcher  und  teilweise  auch  das  Ncuenburger  Gesetz 
Anwendung  aller  erfahrungsgemäls  und  nach  dem  Stande  der  je- 
weiligen Technik,  sowie  durch  die  gegebenen  Verhältnisse  er- 
möglichten Schutzmittel  zum  Schutze  der  Gesundheit  und  zur 
Sicherung  gegen  körperliche  Verletzungen  und  andere  Schädigungen, 
sondern  regelt  auch  die  Frage  der  Sitzgelegenheit  für  die  in  den 
offenen  Gcschäftslokalen,  sowie  in  den  dazu  gehörenden  Comptoirs 
beschäftigten  Arbeiterinnen  und  postuliert  für  die  Bedürfnisanstalten 
eine  den  Anforderungen  der  Gesundheitspflege,  der  Sitte  und  des 
Anstandes  entsprechende  Einrichtung. 

Ferner  verbietet  das  Gesetz  die  unterirdische  Beschäftigung 
von  Arbeiterinnen  in  eigentlichen  Bergwerken  und  Brüchen  und 


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K.  Mofmann,  Der  Gesetzesentwurf  betr.  Arbeiterinnenschutz  d.  Kantons  Bern.  69 1 

beschränkt  die  ununterbrochene  Arbeit  an  Tretmaschinen  für  Mäd- 
chen unter  <6  Jahren  auf  drei  Stunden.  Dieser  Passus  ist  seinem 
Wortlaut  nach  etwas  unklar.  Wahrscheinlich  soll  diese  dreistündige 
Beschäftigung  an  der  Tretmaschine  das  Maximum  für  einen  Tag 
bedeuten.  Trifft  dies  nicht  zu,  so  sollte  die  Pause  normiert  werden, 
welche  zwischen  den  Perioden  dreistündiger  Arbeit  an  der  Tret- 
maschine stattzufinden  hätte. 

Endlich  soll  es  anerkennend  hervorgehoben  werden,  dafs  der 
Entwurf  auch  hier  für  die  künftige  Entwicklung  der  Erwerbs-  und 
Betriebsverhältnisse  den  nötigen  Spielraum  nach  zwei  Seiten  hin 
offen  hält.  Derselbe  ermächtigt  den  Regierungsrat  nicht  nur  zur 
Ausführung  der  allgemeinen  Schutzbestimmungen  Weisungen  oder 
den  Sonderverhältnissen  einzelner  Gewerbe  Rechnung  tragende 
Vorschriften  zu  erlassen,  sondern  räumt  ihm  auch  die  Befugnis  ein, 
die  Verwendung  weiblicher  Personen  zu  bestimmten  gewerblichen 
Verrichtungen  zu  untersagen. 

Der  Abschnitt  über  die  Arbeitszeit  stellt  sich  auf  den  Roden 
des  in  dieser  Hinsicht  am  weitesten  gehenden  Zürcher  Gesetzes, 
das  es  in  manchen  Beziehungen  noch  übertrifft.  Es  normiert  wie 
das  genannte  Gesetz  die  tägliche  Arbeitszeit  auf  io  und  an 
Vorabenden  von  Sonn-  und  Festtagen  auf  9 Stunden  und  verlangt 
für  alle  Arbeiterinnen  eine  I ’/,  ständige  Mittagpause.  In  Ueberein- 
stimmung  mit  den  einschlägigen  Gesetzen  der  Kantone  St.  Gallen 
und  Luzern  schreibt  es  vor,  obligatorische  Schulstunden  in  den 
Maximalarbeitstag  einzurechnen  und  verbietet  Lohnabzüge  dieses 
Unterrichtsbesuches  wegen.  Diese  letztere  Bestimmung  kann  selbst- 
redend nur  durch  den  Ausbau  des  Schulwesens  zu  voller  Geltung 
gelangen,  wenn  auch  nicht  in  Abrede  zu  stellen  ist,  dafs  sie  schon 
heute  viel  Gutes  zu  wirken  imstande  ist.  Immerhin  wäre  zu 
wünschen , dafs  hier  den  heute  noch  bestehenden  Verhältnissen 
etwas  mehr  Rechnung  getragen  würde,  indem  vorgeschrieben  würde, 
auch  die  fakultativen  Unterrichtsstunden  in  den  Maximalarbeitstag 
einzurechnen,  allerdings  mit  entsprechendem  Lohnabzug  für  diesen 
Fall.  Solange  dies  nicht  geschieht,  wird  die  Einrichtung  von  Koch- 
und  Haushaltungskursen  etc.  immer  noch  nicht  in  vollem  Mafse  die 
Kreise  erreichen,  für  die  solche  von  Bund  und  Kantonen  subven- 
tionierten Kurse  in  erster  Linie  bestimmt  sind. 

Selbstverständlich  sorgt  auch  dieser  Entwurf  für  die  nötige 
Elastizität  und  Anpassung  an  die  vielgestaltigen  Anforderungen  des 
Lebens,  indem  er  den  Behörden  einen  ziemlichen  Spielraum  zur 


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692 


Gesetzgebung : Schweiz. 


Ueberzeit  Bewilligung  gewährt.  Allerdings  vergifst  derselbe  auch  die 
Kautelen  gegen  den  Mifsbrauch  dieser  Bewilligungen  nicht.  Die- 
selben bewegen  sich  nach  zwei  Seiten  hin.  Die  einen  liegen  in 
den  Händen  der  Arbeiterinnen,  die  anderen  in  denjenigen  der  Be- 
hörden. Die  ersteren  sind  unseres  Ermessens  die  wichtigeren.  Die 
wichtigste  derselben  ist  die  Bestimmung,  dafs  der  Lohn  für  Ueber- 
zeitarbeit  höher  sein  soll  als  der  gewöhnliche  Lohn.  Die  Erhöhung 
von  1 5 °/„,  welche  der  Berner  Entwurf  vorsieht,  scheint  uns  aller- 
dings etwas  zu  gering,  um  als  vorzüglichste  Kautele  gegen  Mifs- 
brauch zu  wirken.  Um  in  diesem  Sinne  zu  funktionieren,  müfste 
dieselbe  mindestens  25  °/0  betragen,  wie  dies  beispielsweise  in  den 
Gesetzen  der  Kantone  Zürich,  Luzern  und  Solothurn  gefordert  ist. 

Nicht  unwesentlich  ist  die  Bestimmung,  dafs  die  Ueberzeitbe- 
willigungen  im  Arbeitslokal  anzuschlagen  seien.  Dadurch  bekommen 
die  Arbeiterinnen  ein  Kontrollmittel  in  die  Hand  sowohl  über  die 
ungesetzliche  und  nicht  bewilligte  Arbeitszeitverlängerung  als  auch 
über  Art  und  Grad  der  Gesetzesüberwachung  sowie  der  Ueberzeit- 
bewilligung.  Gegenüber  diesen  Kautelen  ist  die  Forderung  des  Ein- 
verständnisses der  Arbeiterinnen  mit  der  Uebcrzeitarbeit  ziemlich 
gering  anzuschlagen. 

Leider  verzichtet  das  Gesetz  auf  die  Anführung  der  Gründe, 
aus  denen  eine  Ueberzeitbewilligung  bewilligt  werden  darf,  wie  dies 
z.  B.  im  Gesetze  von  Zürich  und  Luzern  geschehen  ist.  Es  be- 
schränkt sich  darauf,  die  Uebcrzeitbewilligungen  zur  Ausnahme  zu 
stempeln  und  an  dringende  Fälle  zu  knüpfen.  Dies  scheint  uns 
nicht  genügend.  Will  man  zu  einer  möglichst  gleichmäfsigen  Praxis 
kommen,  müssen  den  lokalen  Behörden  bestimmte  Normen  an  die 
Hand  gegeben  werden.  Ohne  solche  läuft  man  Gefahr,  dafs  ein 
starker  Prozentsatz  derselben  alles  als  dringende  Fälle  betrachtet, 
dadurch  zu  Ungerechtigkeiten  und  Unglcichmäfsigkeitcn  im  Gesetzes- 
vollzug Anlafs  gebend. 

Hinsichtlich  der  Beschränkung  der  Ueberzeit  nach  dem  Umfange 
ist  es  zu  bedauern,  dafs  der  Entwurf  blofs  die  Mädchen  unter  18 
Jahren  ausschliefst  und  dies  nicht  wie  das  St.  Galler  und  Luzerner 
Gesetz  auch  auf  die  Schwangeren  ausdehnt. 

Die  Beschränkung  der  Dauer  der  Ueberzeit  läfst  gleichfalls  zu 
wünschen  übrig.  Dieselbe  giebt  sich  mit  der  Bestimmung  zufrieden, 
dafs  dieselbe  nicht  länger  als  zwei  Monate  pro  Jahr  dauern  dürfe. 
Dafs  eine  solche  Bestimmung  völlig  ungenügend  ist,  zeigen  die  Er- 
fahrungen und  Mafsnahmen  des  Kantons  St.  Gallen  sowie  die  Bc- 


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F..  Hofmann,  Der  Gesetaesentwurf  bclr.  Arbciterinncnschutz  d.  Kantons  Bern.  693 

Stimmungen  neuerer  Arbeiterinnenschutzgesetze  deutlich.  Sah  sich 
doch  St.  Gallen  zur  Aufstellung  folgender  Regel  für  die  Einteilung 
der  Ueberzeitbewilligung  veranlal'st: 

Wenn  eine  erteilte  Arbeitsfrist  abgelaufen  ist,  so  soll  nicht  un- 
mittelbar an  dieselbe  anschliefsend  eine  neue  Arbeitszeit  gewährt 
werden,  sondern 

1.  wenn  ein  Geschäft  bis  auf  14  Tage  über  die  Zeit  gearbeitet 
hat,  so  soll  eine  neue  bezügliche  Bewilligung  erst  nach  Ablauf  von 
mindestens  6 Tagen  (Normalarbeitszeit)  erteilt  werden; 

2.  wenn  ein  Geschäft  gestützt  auf  regierungsrätlichc  Bewilligung 
bis  zu  3 Wochen  resp.  4 Wochen  über  die  Zeit  gearbeitet  hat,  so 
soll  eine  neue  (bezirksamtliche  oder  regierungsrätliche  Bewilligung) 
erst  nach  Ablauf  von  mindestens  8 — 10  Tagen  resp.  bei  4 Wochen 
erst  nach  Ablauf  von  mindestens  14  Tagen  erteilt  werden. 

Luzern  und  Neuenburg  beschränken  das  Maximum  der  Ueber- 
zeit  auf  täglich  2 Stunden,  während  Zürich  dazu  noch  ein  Maximum 
der-  in  einem  Jahr  zu  bewilligenden  Ueberstunden  aufstellt.  Ferner 
vermissen  wir  die  Festsetzung  einer  Taxe  für  die  Ueberzeitbe- 
willigungen,  welche  selbstverständlich  nach  der  Zahl  der  Arbeite- 
rinnen, für  welche  Ueberzeit  bewilligt  wird,  abzustufen  wäre.  Eine 
solche  Taxe  verbunden  mit  nennenswerter  Erhöhung  des  Lohnes 
für  Ueberstunden  ist  eines  der  besten  Mittel,  das  Verlangen  von 
Ueberzeitbewilligung  auf  das  berechtigte  Mals  zu  beschränken. 

Endlich  heben  wir  noch  hervor,  dafs  der  Entwurf  für  das  in 
Laden-  und  Kundengeschäften  in  der  offenen  Geschäftszeit  zur  Be- 
dienung der  Kunden  verwendete  Personal  neben  der  erforderlichen 
Zeit  für  die  Mahlzeiten  eine  ununterbrochene  Nachtruhe  von  min- 
destens 10  Stunden  verlangt. 

Der  Wöchnerinnenparagraph  des  Entwurfs  zieht  gewissermafsen 
das  Mittel  aus  den  bereits  bestehenden  Gesetzen.  Er  geht  nicht 
so  weit  wie  das  Gesetz  von  Baselstadt,  welches  Wöchnerinnen  vor 
und  nach  ihrer  Niederkunft  im  ganzen  während  8 Wochen  von  der 
Arbeit  in  Geschäften  ausschliefst,  aber  weiter  als  das  Gesetz  von 
Solothurn,  welches  dies  blofs  für  4 Wochen  thut  und  für  die  fol- 
genden 2 Wochen  die  Erlaubnis  zum  Wegbleiben  noch  offen  hält. 
Der  Berner  Entwurf  erlaubt  die  Beschäftigung  von  Frauen  in  der 
5.  und  6.  Woche  nach  ihrer  Niederkunft  erst  auf  Grund  des  Zeug- 
nisses eines  diplomierten  Arztes  und  stellt  den  Wiedereintritt  für 
die  zwei  folgenden  Wochen  ihrem  Belieben  anheim. 

Die  Regelung  des  Dienstvertrags  zeigt  teilweise  einen  Fort- 

Archiv  für  ioz.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVII.  45 


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Gesetzgebung : Schweiz. 


schritt  gegenüber  den  bisherigen  Gesetzen,  teils  läfst  diese  zu 
wünschen  übrig.  Das  letztere  ist  der  Fall  mit  Bezug  auf  die  Auf- 
stellung einer  Arbeitsordnung.  Es  ist  zu  bedauern,  dafs  der  Ent- 
wurf im  Einklang  mit  den  übrigen  bezüglichen  Gesetzen  den  Stand- 
punkt einnimmt,  dafs  es  weder  nötig  noch  praktisch  durchführbar 
sei,  die  Aufstellung  einer  Arbeitsordnung  auch  für  die  kleinsten  Be- 
triebe zu  verlangen.  Wir  halten  dafür,  dafs  gerade  für  diese  eine 
im  Geschäftslokal  an  sichtbarer  Stelle  angeschlagene  vom  Regierungs- 
rate genehmigte  Geschäftsordnung  sehr  notwendig  und  wohlthätig 
wäre;  denn  gerade  die  Einzelarbeiterin  ist  hinsichtlich  der  Bestim- 
mungen über  die  Arbeitszeit  und  deren  Einteilung,  die  Bedingungen 
des  Ein-  und  Austritts,  die  Art  der  Bezahlung,  allfällige  Bufsen  und 
die  mit  dem  Gesetzesvollzug  betrauten  Behörden  meistens  viel  mehr 
im  Unklaren,  als  Arbeiterinnen  in  gröfseren  Geschäften. 

Als  einen  Vorzug  des  Gesetzes  betrachten  wir  die  Bestimmungen 
über  die  den  Arbeiterinnen  auf  ihr  Verlangen  auszustellenden  Zeug- 
nisse. Dieselbe  verlegen  den  bei  der  Zeugnisausstellung  nicht  selten 
praktizierten  Chikanen  nach  Kräften  den  Weg,  indem  sie  den  Um- 
fang des  Zeugnisses  nicht  blofs  auf  Art  und  Dauer  der  Beschäfti- 
gung, sondern  auch  auf  Leistung  und  Aufführung  erstrecken  und 
das  Versehen  der  Zeugnisse  mit  Merkmalen,  welche  den  Zweck 
haben,  die  Arbeiterin  in  einer  aus  dem  Wortlaut  des  Zeugnisses 
nicht  ersichtlichen  Weise  zu  kennzeichnen,  verbieten.  Ferner  gehört 
hierher  die  Statuierung  des  Rechtes  für  Vater  oder  Vormund  einer 
minderjährigen  Arbeiterin,  das  Zeugnis  zu  verlangen,  sowie  die 
Möglichkeit,  für  die  letztere  auf  Gutheifsen  der  Vollziehungsbehörde 
das  Zeugnis  direkt  ausgehändigt  zu  bekommen  gegen  den  Willen 
des  Vaters  oder  Vormundes. 

Im  fünften  Abschnitt  scheint  es  uns  ein  Mangel  zu  sein,  dafs 
der  Entwurf,  welcher  auch  hier  sonst  dem  löblichen  Beispiel  der 
Gesetze  von  Zürich  und  Luzern  folgt,  neben  dem  Verbot  der  Lohn- 
abzüge für  Miete,  Reinigung,  Heizung  oder  Beleuchtung  des  Lokals 
sowie  für  Miete  und  Benutzung  der  Werkzxuge  nicht  auch  die  Be- 
rechnung des  Arbeitsmaterials  zu  einem  höheren  als  dem  Selbst- 
kostenpreis untersagt.  Die  Bestimmungen  über  Decompte  und 
Bufsen  bedeuten  gleichfalls  keinen  Fortschritt  und  machen  wir  dar- 
auf aufmerksam,  dafs  beispielsweise  das  Neuenburger  Gesetz  jedes 
Zurückbehalten  von  Lohn  verbietet.  Immerhin  mufs  anerkannt 
werden,  dafs  der  Entwurf  in  seiner  Ueberzeugung  von  der  Not- 
wendigkeit der  Bufsen  und  des  Decompte  wenigstens  den  Mifs- 


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E.  Hofmann,  Der  Gesetzesentwurf  betr.  Arbcitcrinncnschutz  d.  Kantons  Bern. 


brauchen  mit  diesen  beiden  Institutionen  nach  Kräften  zu  wehren 
sucht,  indem  er  zum  Beispiel  das  Zurückbehalten  von  Lohn  für 
Versicherungszwecke  von  dem  Einverständnifs  der  Arbeiterin  ab- 
hängig macht  und  über  den  Bezug  und  die  im  Interesse  der  Ar- 
beiterinnen zu  erfolgende  Verwendung  der  Bufsen  Buchführung  ver- 
langt. 

Die  Strafbestimmungen  des  Entwurfes  finden  unseren  Beifall 
nach  keiner  Richtung.  Das  Bufscnmaximum  von  200  Francs  ist  uns 
namentlich  auch  im  Hinblik  auf  die  in  diesem  Kanton  befolgte 
Praxis  gegenüber  den  Uebertretungen  des  eidg.  Fabrikgesetzes  viel 
zu  niedrig.  Wir  sehen  nicht  ein,  warum  derselbe  nicht  wie  im 
Kanton  Zürich  und  Neuenburg  auf  500  Francs  festgesetzt  wurde. 
Daran  ändert  die  Bestimmung  nichts,  welche  für  Wiederholungsfälle 
und  bei  erschwerendem  Thatbestand  Gefängnisstrafe  bis  auf  14  Tage 
in  Aussicht  nimmt;  denn  diese  ist  ein  Drohmittel,  das  seine  Schrecken 
wegen  konstanter  Nichtanwendung  bald  verlieren  dürfte.  Aber 
auch  noch  nach  einer  anderen  Richtung  müssen  wir  es  bedauern, 
dafs  der  Entwurf  dem  Vorbilde  des  Neuenburger  Gesetzes  nicht 
gefolgt  ist.  Dasselbe  berücksichtigt  bei  Uebertretungen  die  Anzahl 
der  Arbeiterinnen,  mit  denen  der  schuldige  Arbeitgeber  das  Gesetz 
verletzte.  Die  Bulse  von  5 bis  20  Francs  soll  mit  der  Anzahl 
dieser  Arbeiterinnen  multipliziert  werden.  Wir  erblicken  darin  ein  treff- 
liches Mittel  durch  richtiges  Anpassen  des  Strafmafscs  an  das  Ver- 
gehen, Gesetzcsverletzungen  einzuschränken  und  die  Klagen  der 
Arbeiterschaft,  dafs  die  Ucbertretung  des  Gesetzes  trotz  der  Bufsen 
für  die  Unternehmer  sehr  rentabel  seien,  verstummen  zu  lassen. 

Bei  der  genugsam  bekannten  Milde  gegen  derartige  Gesetzes- 
übertretungen ist  es  unbedingt  nötig,  von  anfang  an  bestimmte 
Normen  und  eine  feste  Praxis  cinzubürgcrn. 

Die  Vollzugsbesiimmungen  verdienen  dagegen  wieder  alles 
Lob.  Im  Gegensatz  zu  den  übrigen  Arbeiterinnenschutzgesetzen, 
mit  Ausnahme  desjenigen  von  Neuenburg,  sieht  der  Berner  Entwurf 
die  Schaffung  eines  kantonalen  Inspektorates  auf  dem  Dekretswege 
vor.  Derselbe  hat  damit  unseres  Ermessens  den  einzig  richtigen 
Weg  cingeschlagcn , um  zu  einem  richtigen  und  gleichmäfsigen 
Vollzug  des  Gesetzes  zu  gelangen.  Dafs  es  damit  im  grofsen  und 
ganzen  nicht  gut  bestellt  ist , dürfte  aus  dem  in  der  Einleitung 
Gesagten  zur  Genüge  hervorgehen.  Das  Widerstreben  der  Unter- 
nehmer gegen  die  Unterstellung  unter  derartige  Gesetze,  die  Lax- 
heit der  mit  dem  Vollzug  derselben  betrauten  unteren  Instanzen 

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Gesetzgebung:  Schweiz. 


sowie  die  allzu  milde  Gerichtspraxis  kann  nur  durch  die  Schaffung 
einer  besonderen  Amtsstelle  überwunden  werden.  Ebenso  ist  ein 
kantonales  Fabrikinspcktorat  berufen , das  Interesse  der  Arbeiter- 
schaft am  richtigen  Vollzug  und  rationellen  Ausbau  dieses  Gesetzes 
stets  wach  zu  halten.  Dasselbe  kann  bei  richtiger  Organisation 
auch  für  den  Vollzug  des  eidg.  Fabrikgesetzes  vorbildlich  wirken. 
Mit  weitem  Blick  vermeidet  der  Entwurf,  dieses  Inspektorat  mit 
anderen  Geschäften  zu  überladen , wie  dies  bei  dem  Bureau  für 
Fabrik-  und  Haftpflichtwesen  des  Kantons  Zürich  oder  dem  Lehrlings- 
inspektorat  des  Kantons  Neuenburg  der  Fall  ist,  dem  die  Uebcr- 
wachung  des  Arbeiterinnenschutzgesetzes  Überbunden  ist.  Ohne 
diesen  beiden  Institutionen,  deren  segensreiche  Wirksamkeit  nach 
bestimmten  Seiten  von  uns  übrigens  schon  mehrfach  anerkennend 
hervorgehoben  wurde,  zu  nahe  treten  zu  wollen,  scheinen  sie  uns 
für  den  Vollzug  des  Arbeiterinnenschutzes  nicht  besonders  qualifi- 
ziert zu  sein.  Diese  Funktion  wird  am  besten  weiblichen  In- 
spektoren übertragen.  In  Würdigung  dieses  Grundsatzes  läfst  der 
Berner  Entwurf  den  Spielraum  für  einen  solchen  Versuch  offen,  wie 
dem  Wortlaut  desselben  sowie  einem  Vortrag  des  Chefs  des  betr. 
Departements,  Nationalrat  Steiger,  in  der  Sektion  Bern  der  inter- 
nationalen Vereinigung  für  gesetzlichen  Arbeiterschutz  zu  ent- 
nehmen ist. 

Wir  konstatieren  dies  mit  hoher  Genugthuung,  wie  uns  über- 
haupt der  Entwurf  als  Ganzes  trotz  einiger  Aussetzungen  an  Einzel- 
heiten und  teilweise  Nebensächlichem  als  ein  bedeutsamer  Fort- 
schritt auf  dem  Gebiete  des  kantonalen  Arbeiterschutzes  erscheint. 
Auch  die  Arbeiterschaft  ist  derselben  Meinung  wie  wir.  Gelingt  es 
der  Vorberatung,  etliche  der  Hauptschwächen  des  Entwurfes  aus- 
zumerzen, woran  wir  keinen  Augenblick  zweifeln,  so  wird  sich  das 
Berner  Gesetz  als  ein  mustergültiges  präsentieren,  das  eine  neue 
Aera  auf  dem  Gebiete  des  kantonalen  Arbeiterschutzes  inauguriert. 

Wir  geben  im  folgenden  den  Wortlaut  des  besprochenen  Ent- 
wurfs wieder: 


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Gesetzentwurf  betreffend  Arbeiterinnenschutz. 


697 


Gesetzentwurf  betreffend  Arbeiterinnenschutz. 

Der  Grofse  Rat  des  Kantons  Bern 
in  Ausführung  von  Art.  82  der  Staalsvcrfassung,  soweit  er  den  Schutz  der  weib- 
lichen Arbeitskräfte  betrifft, 

auf  den  Antrag  des  Regicrungsrates 
beschlicfst : 

I.  Anwendung  des  Gesetzes. 

§ I.  Dieses  Gesetz  findet  Anwendung  auf  alle  dem  eidgenössischen  Fabrik- 
gesetz nicht  unterstellten  Geschäfte,  in  denen  eine  oder  mehrere,  der  Familie  nicht 
angehörende  weibliche  Personen  zum  Zwecke  des  F.rwcrbs  beschäftigt  werden. 

Ausgenommen  sind  die  landwirtschaftlichen  Betriebe. 

Für  die  Bediensteten  in  Ladengeschäften,  welche  nicht  zu  gewerblichen  Ar- 
beiten, sondern  zur  Bedienung  der  Käufer  verwendet  werden,  gelten  blofs  die  §§  2, 
4»  5»  *5.  t6,  22,  2fi,  27. 

Vorbehalten  bleiben  die  gesetzlichen  Bestimmungen  über  kaufmännische  und 
gewerbliche  Berufslehre,  über  Sonntagsruhe,  über  das  Wirtschaftswesen  und  über 
die  Ruhetage  des  Dienstpersonals  in  Wirtschaften. 

§ 2.  Schulpflichtige  Mädchen  dürfen  zu  gewerblicher  Lohnarbeit  nicht  ver- 
wendet werden. 

3.  Geschäftsinhaber,  die  Arbeiterinnen  beschäftigen,  haben  der  Ortspolizei 
hievon  Anzeige  zu  machen. 

Jedermann  ist  berechtigt,  bei  den  Vollzugsbehörden  die  Unterstellung  eines 
Geschäfts  unter  dieses  Gesetz  zu  beantragen.  Wenn  über  die  Unterstellung  Zweifel 
obwaltet,  so  entscheidet  die  Direktion  des  Innern,  wobei  jedoch  das  Rekursrecht 
an  den  Regierungsrat  Vorbehalten  bleibt. 

II.  Allgemeiner  Schutz. 

§ 4.  Keine  weibliche  Arbeitskraft  darf  in  übermäfsiger,  die  Gesundheit  ge- 
fährdender Weise  angestrengt  werden. 

Mädchen  unter  16  Jahren  können  nicht  mehr  als  drei  Stunden  zu  ununter- 
brochener Arbeit  an  Tretmaschinen  angehalten  werden.  In  eigentlichen  Bergwerken 
und  Brüchen  sollen  Arbeiterinnen  unterirdisch  nicht  beschäftigt  werden. 

Der  Regierungsrat  ist  befugt,  die  Verwendung  weiblicher  Personen  zu  be- 
stimmten gewerblichen  Verrichtungen,  welche  ihre  Kräfte  übersteigen  oder  welche 
von  besonderer  Gefahr  für  ihre  Gesundheit  oder  Moralität  sind,  zu  untersagen. 

§ 5.  Die  Arbeitsräumc  sollen  trocken,  hell,  gut  ventiliert  sein  und  nach 
Bodenfläche  und  Kubikinhalt  in  einem  richtigen  Verhältnis  zur  Zahl  der  darin  be- 
schäftigten Personen  stehen,  so  dafs  Gesundheit  und  Leben  nach  Möglichkeit  ge- 
sichert werden. 

In  den  offenen  Geschäftslokalen,  sowie  in  den  dazu  gehörenden  Comptoirs 
mufs  für  die  daselbst  beschäftigten  Arbeiterinnen  eine  geeignete  und  hinsichtlich  der 
Zahl  ausreichende  Sitzgelegenheit  vorhanden  sein,  deren  Benutzung  dem  Personal 


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698 


Gesetzgebung : Schweiz. 


während  der  Zeit,  in  welcher  es  durch  seine  Beschäftigung  nicht  daran  gehindert 
ist,  gestattet  werden  mufs.  Für  die  mit  der  Bedienung  der  Kundschaft  beschäftigten 
Personen  muss  die  Sitzgelegenheit  so  eingerichtet  sein,  dafs  sie  auch  während 
kürzerer  Arbeitsunterbrechung  benützt  werden  kann. 

Die  Bedürfnisanstalten  müssen  so  eingerichtet  sein,  dafs  den  Anforderungen 
der  Gesundheitspflege  entsprochen  wird,  und  dafs  ihre  Benützung  ohne  Verletzung 
von  Sitte  und  Anstand  erfolgen  kann. 

§ 6.  Zum  Schutze  der  Gesundheit  und  zur  Sicherung  gegen  körperliche  Ver- 
letzungen und  andere  Schädigungen  sollen  alle  erfahrungsgemäfs  und  durch  den 
jeweiligen  Stand  der  Technik,  sowie  durch  die  gegebenen  Verhältnisse  ermöglichten 
Schutzmittel  angewendet  werden. 

§ 7.  Der  Regierungsrat  ist  ermächtigt,  zur  nähern  Ausführung  dieser  allge- 
meinen Schutzbestimmungen  (§§  4 bis  6)  Weisungen  oder  den  Sonderverhältnissen 
einzelner  Gewerbe  Rechnung  tragende  Verordnungen  zu  erlassen. 

1IL  Arbeitszeit. 

§ 8.  Die  Dauer  der  regelmäfsigen  Arbeitszeit  darf  für  erwachsene  Arbeite- 
rinnen nicht  mehr  als  10,  an  den  Vorabenden  von  Sonn-  und  Festtagen  nicht  mehr 
als  9 Stunden  betragen.  Für  Arbeiterinnen  unter  18  Jahren  ist  nur  eine  um 
I Stunde  kürzere  Maximalarbeitszeit  zulässig. 

Obligatorische  Unterrichtsstunden  zählen  bei  Berechnung  dieser  zulässigen  Ar- 
beitszeit mit  Es  dürfen  dafür  keine  Lohnabzüge  gemacht  werden. 

§ 9.  Diese  Arbeitszeit  mufs  in  die  Zeit  zwischen  6 Uhr,  bezw.  in  den 
Sommermonaten  Juni,  Juli  und  August  zwischen  5 Uhr  morgens  und  8 Uhr  abends 
verlegt  werden. 

Ucber  die  Mittagszeit  sind  wenigstens  I1/*  Stunden  frei  zu  geben. 

Ruhepausen  können  von  der  Arbeitszeit  nur  insoweit  abgerechnet  werden,  als 
die  Arbeiterinnen  während  derselben  den  Arbeitsraum  verlassen  dürfen. 

Die  Arbeitsstunden  sind  nach  der  öffentlichen  Uhr  zu  richten. 

§ 10.  Es  ist  verboten,  den  Arbeiterinnen  über  die  gesetzliche  Arbeitszeit  des 
Geschäftes  hinaus  weitere  Arbeit  nach  Hause  mitzugeben. 

§11.  ln  dringenden  Fällen  und  ausnahmsweise  können  auf  begründetes  Ge- 
such bin  und  innerhalb  der  durch  § 9,  Alin.  I gezogenen  Grenzen  durch  den  Ge- 
meinderat vorübergehend  Verlängerungen  der  Arbeitszeit  bewilligt  oder  Ausnahmen 
von  § 10  gestattet  werden.  Für  Arbeiterinnen  unter  18  Jahren  jedoch  dürfen  keine 
Bewilligungen  zur  Ueberzcitarbcit  erteilt  werden. 

Bei  Verlängerungen  für  mehr  als  14  Tage  und  bei  periodisch  wiederholten 
Gesuchen  ist  immer  Bewilligung  durch  die  Direktion  des  Innern  erforderlich.  Die 
Gesamtdauer  solcher  Verlängerungen  darf  für  dasselbe  Geschäft,  vorbehaltlich  der 
Bestimmungen  des  folgenden  Artikels,  nicht  zwei  Monate  im  Jahr  übersteigen. 

Zur  Einholung  solcher  Bewilligungen  ist  das  Einverständnis  der  zu  den  be- 
treffenden Arbeiten  verwendeten  Arbeiterinnen  erforderlich. 

§ 12.  Der  Regierungsrat  ist  befugt,  auf  begründetes  Gesuch  hin,  ftir  Ge- 
werbe, welche  in  Bezug  auf  Fabrikationsart  oder  den  Eingang  von  Aufträgen  unter 


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Gesetzentwurf  betreffend  Arbeiterinnenschutz. 


699 


besondern  Verhältnissen  arbeiten,  vorübergehend  eine  abweichende,  immerhin  den 
Zweck  dieses  Gesetzes  nicht  verletzende  Arbeitszeit  zu  bewilligen.  Die  Bewilligung 
kann  indessen  abgeändert  oder  zurückgezogen  werden,  wenn  diese  besondern  Ver- 
hältnisse des  Gewerbes  nicht  mehr  bestehen. 

§ 13.  Jede  Bewilligung  zur  Ucberzeitarbeit  ist  schriftlich  zu  erteilen  und  im 
Arbeitsraum  anzuschlagen.  Die  Vollzugsbehörden  haben  sich  von  jeder  Bewilligung 
gegenseitig  Mitteilung  zu  machen. 

Bei  Mifsbrauch  einer  erteilten  Bewilligung  kann  dieselbe  einem  Geschäfte  ent- 
zogen werden. 

§ 14.  Alle  Ucberzeitarbeit  ist  besonders  zu  entschädigen.  Der  betreffende 
Lohn  soll  wenigstens  15  Prozent  höher  sein,  als  der  gewöhnliche  Lohn. 

§ 15.  Die  Angestellten  in  Laden-  und  Kundengeschäften  können  in  der 
offenen  Geschäftszeit  zur  Bedienung  der  Kunden  ohne  Beschränkung  verwendet 
werden,  aber  unter  der  Bedingung,  dafs  ihnen,  aufser  der  erforderlichen  Zeit  für 
die  Mahlzeiten,  eine  ununterbrochene  Nachtruhe  von  mindestens  10  Stunden  ge- 
währt w'ird. 

§ 16.  Wöchnerinnen  dürfen  nach  ihrer  Niederkunft  4 Wochen  lang  im  Ge- 
schäft überhaupt  nicht  und  während  der  folgenden  zwei  Wochen  nur  dann  be- 
schäftigt werden,  w*enn  das  Zeugnis  eines  diplomierten  Arztes  dies  für  zulässig 
erklärt.  Sic  sind  berechtigt,  bis  auf  8 Wochen  von  der  Arbeit  wcgzubleiben. 
Jfochschw'angcrn  Personen  ist  gestattet,  die  Arbeit  jederzeit  auf  blofsc  Anmeldung 
hin  nicderzulegen. 

IV.  Dienstvertrag,  Arbeitsordnung. 

§ 17.  Das  ArbeiLsvcrhältnis  kann,  wenn  nichts  anderes  verabredet  ist,  durch 
eine  jedem  Teile  freistehende,  14  Tage  vorher  erklärte  Kündigung,  jedoch  nur  auf 
den  Zahltag  oder  Samstag  gelöst  werden.  Werden  durch  besondere  Uebereinkunft 
oder  in  einer  Arbeitsordnung  andere  Kündigungsfristen  vereinbart,  so  müssen  sie 
für  beide  Teile  gleich  sein.  Vereinbarungen,  welche  dieser  Bestimmung  zuwider- 
laufen, sind  nichtig. 

Bei  Stückarbeit  geht  die  Kündigung  auf  den  Zeitpunkt  der  Vollendung  einer 
angefangenen  Arbeit,  sofern  dabei  die  ordentliche  Kündigungsfrist  nicht  um  mehr 
als  4 Tage  verkürzt  oder  verlängert  wird. 

Die  ersten  zwei  Wochen  von  der  Anstellung  an  gelten  als  Probezeit  in  dem 
Sinne,  dafs  es  bis  zum  Ablauf  derselben  jedem  Teile  freisteht,  das  Arbeitsverhältnis, 
unter  Einhaltung  einer  mindestens  dreitägigen  Kündigungsfrist,  aufzulösen. 

§ 18.  Aus  wuchtigen  Gründen  kann  (Art.  346  O.  R.)  die  Aufhebung  des 
Dienstvertrages  vor  Ablauf  der  Dienstzeit  von  jedem  Teile  verlangt  werden. 

Uebcr  das  Vorhandensein  solcher  Gründe  entscheidet  der  Richter  nach  freiem 
Ermessen. 

Liegen  dieselben  in  vertragswidrigem  Verhalten  des  einen  Teiles,  so  hat  dieser 
vollen  Schadenersatz  zu  leisten.  Im  übrigen  werden  die  ökonomischen  Folgen  einer 
vorzeitigen  Auflösung  vom  Richter  nach  freiem  Ermessen  bestimmt,  unter  Würdigung 
der  Umstände  und  des  Ortsgebrauches. 


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700 


Gesetzgebung : Schweiz. 


§ 19.  Jeder  Arbeiterin  ist  bei  ihrem  Austritt  auf  Verlangen  ein  Zeugnis  über 
Art  und  Dauer  der  Beschäftigung  auszustellen ; dieses  Zeugnis  ist  auf  Verlangen  der 
Arbeiterin  auch  auf  ihre  Aufführung  und  Leistungen  auszudehnen. 

Den  Arbeitgebern  ist  untersagt,  die  Zeugnisse  mit  Merkmalen  zu  versehen, 
welche  den  Zweck  haben,  die  Arbeiterin  in  einer  aus  dem  Wortlaut  des  Zeugnisses 
nicht  ersichtlichen  Weise  zu  kennzeichnen. 

Ist  die  Arbeiterin  minderjährig,  so  kann  das  Zeugnis  vom  Vater  oder  Vormund 
gefordert  und  bebändigt  werden.  Auf  Gutheifsen  der  Vollziehungsbehörde  hin  kann 
die  Aushändigung  auch  gegen  den  Willen  des  Vaters  oder  Vormundes  an  die  Ar- 
beiterin direkt  erfolgen. 

§ 20.  Arbeitsordnungen  und  deren  Abänderungen  bedürfen  der  Genehmigung 
des  Rcgicrungsrates  und  sind  mit  derselben  versehen  an  sichtbarer  Stelle  des  Ge- 
schäftslokales anzuschlagen.  Bevor  die  Genehmigung  einer  Arbeitsordnung  erteilt 
wird,  soll  den  betroffenen  Personen  Gelegenheit  geboten  werden,  sich  darüber  aus- 
zusprechen. 

§ 21.  Ein  diesem  Gesetz  unterstelltes  Geschäft  kann,  sofern  dessen  Umfang 
oder  Natur  es  rechtfertigen,  zum  Erlafs  einer  Arbeitsordnung  angehalten  werden. 
Eine  Arbeitsordnung  soll  jedenfalls  enthalten : die  Bestimmungen  über  die  Arbeitszeit 
und  deren  Einteilung,  die  Bedingungen  des  Ein-  und  Austritts,  die  Art  der  Lohn- 
zahlung, allfällige  Bestimmungen  über  Bufsen  und  die  Bezeichnung  derjenigen  Be- 
hörden, w’elche  den  Vollzug  dieses  Gesetzes  zu  überwachen  haben. 

Erzeigen  sich  bei  Anwendung  einer  Arbeitsordnung  Ucbclstände,  so  können 
die  Vollzugsbehörden  jederzeit  die  Revision  dieser  Arbeitsordnung  verfügen. 

V.  Lohnzahlung,  Abzüge,  Schadenersatz. 

§ 22.  Der  Lohn  ist,  sofern  nicht  Monats-  oder  Jahresanstcllung  vereinbart 
wurde,  mindestens  alle  14  Tage  und  zwar  an  einem  Werktage  während  der  Ar- 
beitszeit und  im  Geschäftslokale  in  den  gesetzlichen  Münzsorten  bar  auszubczahlcn. 

Lohnabzüge  für  Miete,  Reinigung,  Heizung  oder  Beleuchtung  des  Lokals, 
sowie  für  Miete  und  Benützung  der  Werkzeuge  sind  untersagt. 

§ 23.  Lohn  darf  nur  bei  vorausgegangener  gegenseitiger  Vereinbarung  und 
höchstens  bis  auf  die  Hälfte  eines  durchschnittlichen  Wochenlohnes  zurückbchalten 
werden  (Decoropte). 

Ebenso  ist  das  Zurückbehalten  von  Lohn  zu  Vcrsicherungszwccken  nur  bei 
gegenseitigem  Einverständnis  zulässig. 

§ 24.  Herabsetzungen  des  Lohnes  sind  den  beschäftigten  Arbeiterinnen  so 
rechtzeitig  anzuzeigen,  dafs  es  ihnen  möglich  ist,  zu  kündigen,  ohne  von  der  Herab- 
setzung betroffen  zu  werden. 

$ 25.  Bufsen  dürfen  nur  verhängt  werden,  w'enn  sie  in  einer  genehmigten 
Arbeitsordnung  angedroht  sind.  Eine  Bufse  darf  einen  Viertel  des  Taglohns  der 
gebüfsten  Person  nicht  übersteigen  und  ist  im  Interesse  der  beschäftigten  weiblichen 
Personen  und  unter  ihrer  Zustimmung  zu  verwenden.  Ucber  den  Bezug  solcher 
Bufsen  und  deren  Verwendung  ist  Buch  zu  führen. 


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Gesetzentwurf  betreffend  Arbeiterinnenschutz. 


701 


§ 26.  Giebt  der  Geschäftsinhaber«  Kost  und  Wohnung,  so  ist  dies  in  billiger 
Weise  in  Anrechnung  zu  bringen.  Hierbei  soll  den  Anforderungen  an  eine  aus- 
reichende und  gesundheitsgemäfse  Ernährung  und  Unterkunft  Genüge  geleistet  werden. 

§ 27.  Wer  die  gemäfs  Gesetz,  Arbeitsordnung  oder  in  besonderen  Verein- 
barungen bestehenden  Verpflichtungen  verletzt,  hat  dem  andern  Teile  den  verur- 
sachten Schaden  zu  ersetzen  (Art.  Hoff.  O.  R.).  Ueber  die  Höhe  der  Entschädigung 
entscheidet  der  zuständige  Richter,  unter  Würdigung  aller  Verhältnisse,  nach  freiem 
Ermessen. 

Lohnabzüge  für  verdorbene  Arbeit  dürfen  nur  gemacht  werden , wenn  der 
Schaden  aus  Vorsatz  oder  grober  Fahrlässigkeit  entstanden  ist. 

VI.  Straf-  und  Vollzugs bestimmungen. 

§ 28.  Der  Vollzug  dieses  Gesetzes  ist  Sache  der  Gemeindebehörden  und  der 
Rcgierungsstatthalter,  welche  unter  Aufsicht  und  Leitung  der  Direktion  des  Innern, 
bezw.  eines  besondern  kantonalen  Inspcktoratcs  das  Nötige  vorzukehren  haben. 

Die  Direktion  des  Innern  und  die  Gemeinderäte  führen  Verzeichnisse  der 
unter  dieses  Gesetz  fallenden  Geschälte.  Die  genannten  Behörden  haben  sich 
gegenseitig  Aenderungen  mitzuteilen. 

Die  Direktion  des  Innern  ist  gehalten,  im  Staatsvcrvealtungsbericht  regelmäfsig 
über  den  Vollzug  dieses  Gesetzes  Bericht  zu  erstatten  und  darin  die  erteilten  Be- 
willigungen zur  Ucbcrzeitarbeit  zu  verzeichnen. 

§ 29.  Die  Direktion  des  Innern  ist  befugt,  je  nach  Bedürfnis  durch  Sach- 
verständige periodisch  Inspektionen  vornehmen  zu  lassen. 

Abfällig  nötig  werdende  Aufstellung  eines  kantonalen  ständigen  Inspektorates 
bleibt  einem  Dekrete  des  Grofsen  Rates  Vorbehalten. 

Den  mit  dem  Vollzug  und  der  Ucbcrwachung  dieses  Gesetzes  beauftragten 
Organen  ist  auf  Verlangen  jederzeit  der  Eintritt  in  die  Arbeitsräume  und  Geschäfts- 
lokalc  zu  gestatten. 

§ 30.  Jedem  der  unter  dieses  Gesetz  fallenden  Geschäfte  ist  nach  Inkraft- 
treten desselben  je  ein  Exemplar  davon  zuzustellen.  Weitere  Exemplare  können 
jederzeit  bei  den  Gemeindebehörden  unentgeltlich  bezogen  werden. 

§ 31.  Der  Geschäftsinhaber  ist  dafür  verantwortlich,  dafs  in  seinem  Geschäfte 
den  Anforderungen  dieses  Gesetzes  genügt  wird. 

§ 32.  Uebcrtretungcn  der  §§2,  4 — 6,  8— tl,  13 — 16,  19 — 25,  31  seitens  der 
Geschäftsinhaber  oder  ihrer  Vertreter  werden  mit  Polizeibufse  von  Fr.  5 bis  200 
geahndet.  In  Wiederholungsfällen  und  bei  erschwerendem  Thatbcstand  kann  Ge- 
fängnisstrafe bis  auf  14  Tage  ansgesprochen  werden. 

§ 33-  Dieses  Gesetz  tritt  (nach  seiner  Annahme  durch  das  Volk)  auf  den 
in  Kraft. 


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MISZELLEN.  i 

Die  Lage  der  studentischen  Hauslehrer  an  den 
Wiener  Hochschulen. 

Von 

Dr.  FRITZ  WINTER, 

in  Wien. 

Die  Struktur  des  Hochschullebens  hat  sich  seit  einer  geraumen 
Zeit  sehr  verändert.  Die  »alte  Burschenherrlichkeit«  ist  längst  vorbei, 
an  ihre  Stelle  ist  eine  grofse  Zerklüftung  des  studentischen  Lebens  ge- 
treten. Auch  unter  den  Studenten  zeigen  sich  die  Gegensätze,  die  unser 
gesamtes  gesellschaftliches  Leben  beherrschen.  Die  einen  beziehen  die 
Hochschule,  unterstützt  von  den  grofsen  Geldmitteln  ihrer  Väter,  und 
die  Zeit  des  Studiums  ist  für  sie  eine  Zeit,  in  der  sie  sich  frei  von 
allen  drückenden  Verpflichtungen  auslcben  und  austoben  können , dabei 
die  Formen  des  Studentenlebens  aus  der  Mitte  des  vorigen  Jahr- 
hunderts karrikiert  bewahrend.  Die  anderen  aber  beziehen  die  Hoch- 
schule, ohne  jedes  Mittel  zum  Studium  oder  zum  Leben  während  der 
Studienjahre.  Sie  finden  keine  Stütze  an  ihrer  Familie,  ja  sie  selbst 
müssen  die  Rolle  des  Ernährers  dieser  Familie  übernehmen.  Die  ge- 
sellschaftlichen Traditionen  gewisser  Schichten  der  minder  bemittelten 
Kaufmannswelt,  der  unteren  Beamtenschaft,  die  sämtlich  in  einem  mehr 
oder  minder  glänzenden  Elend  leben,  zwingen  sie,  ihre  Söhne  studieren 
zu  lassen.  Die  Hoffnung,  durch  das  akademische  Studium  ihre  Kinder 
in  eine  höhere  Gesellschaftsschichte  aufsteigen  zu  lassen,  verführt  sie,  auf 
die  Erwerbskraft  ihrer  Söhne  auf  Jahre  hindurch  zu  verzichten.  Aber 
andererseits  müssen  diese  Söhne  selbst  darauf  sehen,  sich  die  Mittel  für 
das  Studium  durch  Arbeit  zu  verschaffen.  Für  sie  sind  die  Studenten- 
jahre nicht  Jahre  des  Austobens,  sondern  eine  Zeit  angestrengtester  Er- 
werbsart, um  so  angestrengter  als  sie  an  eine  erträgnisreiche  Arbeit 
nicht  denken  und  neben  einer  mühevollen,  wenig  einträglichen  Arbeit 
ihre  Pflichten  gegenüber  der  Wissenschaft,  ihrem  Studium  erfüllen  sollen. 


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F.  Winter,  Die  Lage  der  Student.  Hauslehrer  an  den  Wiener  Hochschulen.  703 

So  wächst  ein  geistiges  Proletariat  heran,  dem  jedes  Studienjahr  neue 
Rekruten  zuführt. 

Der  erwerbende  Student  ist  eine  ständige  Erscheinung  unserer  Hoch- 
schulen geworden.  Seine  Lage,  die  Bedingungen,  unter  denen  er  er- 
wirbt, unter  denen  er  studieren  mufs,  die  Art  seines  Erwerbs  sind  aber 
unseres  Wissens  bis  heute  noch  nicht  Gegenstand  einer  wissenschaftlichen 
Untersuchung  gewesen. 

Im  österreichischen  Abgeordnetenhaus  nun  wurde  im  Winter  ver- 
gangenen Jahres  ein  Gesetzentwurf  eingebracht,  der  »ergänzende  Vor- 
schriften über  den  Dienstvertrag  für  Krankenpflege,  Unterricht, 
Erziehung  und  andere  höhere  häusliche  und  persönliche  Dienstleistungen« 
schaffen  sollte.  Dieser  Gesetzentwurf,  der  sich  im  grofsen  und  ganzen 
mit  der  Festsetzung  von  Kündigungsfristen  und  Fristen  für  die  Gehalt- 
auszahlung beschäftigt,  nebenbei  für  gewisse  Kategorieen  eine  Regelung 
des  Dienstverhältnisses  im  Falle  der  Krankheit  des  Dienstnehmers  ver- 
sucht, war  die  Veranlassung  für  die  Durchführung  einer  Enquete  über 
die  Lage  des  studentischen  Hauslehrers.  Der  Nachhilfeunterricht  an 
Schüler  der  Volks-  und  Mittelschulen  ist  ja  der  Haupterwerbszweig  der 
erwerbenden  Studenten.  Die  Enquete  wurde  vom  »sozialwissenschaft- 
lichen Bildungsverein«  an  der  Wiener  Universität  veranstaltet.  Sie  war 
eine  schriftliche.  Die  Mitglieder  des  Vereines  sorgten  in  rührigster 
Weise  für  die  Verbreitung  der  Fragebogen  und  so  ist  es  trotz  der 
nationalen  und  politischen  Gegensätze  an  den  Wiener  Hochschulen  ge- 
lungen, eine  gröfsere  Anzahl  von  Studenten  zur  Darlegung  ihrer  Lebens- 
verhältnisse zu  bringen  Die  Enquete  war  ursprünglich  unternommen 
worden,  um  Material  für  eine  Verbesserung  des  erwähnten  Gesetzent- 
wurfes zu  schaffen,  der  gerade  an  den  für  die  studentischen  Hauslehrer 
entscheidenden  Stellen  versagt , sie  hat  sich  im  Laufe  der  Beratungen 
zu  einer  Erhebung  über  die  Lage  der  studentischen  Hauslehrer  über- 
haupt erweitert,  und  ihre  Ergebnisse  gewähren  einen  interessanten  Ein- 
blick in  dieses  Stück  Erwerbsarbeit,  das  nach  seinen  Vorbedingungen, 
wie  seinem  Endzweck  von  jeder  anderen  Enverbsthätigkeit  so  sehr  ver- 
schieden ist. 

Im  ganzen  sind  22t  Fragebogen  cingelaufen,  von  denen  196  der 
Bearbeitung  unterworfen  werden  konnten.  Hiervon  entfallen  t3o  Bogen 
auf  die  Wiener  Universität,  44  auf  die  technische  Hochschule,  2r  auf 
Besucher  des  Gymnasiums  und  ein  Bogen  auf  einen  Besucher  der  Handels- 
akademie. Die  ungleichmäfsige  Verteilung  auf  die  verschiedenen  Hoch- 
schulen ist  aber  durchaus  nicht  auf  eine  geringere  Beteiligung  der  Technik 
an  der  Enquete , sondern  wohl  hauptsächlich  auf  den  Umstand  zurück- 
zuführen, dafs  die  Besucher  der  Technik  infolge  der  Art  ihres  Studiums 
weniger  in  die  Lage  kommen,  häuslichen  Unterricht  zu  erteilen.  Im 
grofsen  und  ganzen  aber  ist  die  Beteiligung  an  der  Enquete  eine  schwache 
zu  nennen.  Die  Darlegung  der  Ergebnisse  wird  uns  zu  dem  Schlufs 


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704 


Miszellen. 


führen,  dafs  es  nicht  gelungen  ist,  in  alle  Schichten  der  erwerbenden 
Studenten  zu  dringen,  dafs  vielmehr  die  schlechtest  Gestellten  von  den 
Fragebogen  nicht  erreicht  wurden.  Die  Verteilung  der  Fragebogen 
konnte  nur  an  den  Hochschulen  vorgenommen  werden.  Diese  Studenten 
aber  sind  überhaupt  nicht  in  der  Lage,  die  Vorlesungen  zu  besuchen. 

Um  beurteilen  zu  können,  unter  welchen  Bedingungen  die  erwerbs- 
tätigen Studenten  die  schweren  Konflikte  zwischen  Broterwerb  und 
Studium  austragen , ist  es  notwendig  festzustellen , vor  allem  welcher 
Teil  ihres  Einkommens  durch  ihre  Erwerbsthätigkeit  ihnen  verschafft 
wird,  und  wie  weit  sie  inbezug  auf  Wohnung  und  Essen  auf  die  Unter- 
stützung ihrer  Angehörigen  rechnen  können , aber  es  wird  auch  nicht 
aufser  acht  gelassen  werden  dürfen,  wie  lange  Zeit  die  jungen  Leute  in 
Wien  wohnen,  weil  sich  aus  ihrem  kürzeren  oder  längeren  Aufenthalt  in 
Wien  ein  genauer  Schlufs  darauf  ziehen  läfst,  ob  sie  bereits  Ortsbekannt- 
schaft genug  haben,  um  auch  nur  die  Wege  zu  wissen,  auf  denen  sie 
sich  einen  Erwerb  verschaffen  können. 

Die  Ex|>erten  gehören  fast  durchwegs  den  jüngeren  Jahrgängen  der 
Studentenschaft  an.  5:  Proz.  derselben  besuchen  die  Hochschule  erst 
das  erste  und  zweite  Jahr,  34  Proz.  das  dritte  und  vierte  Jahr  und  nur 
10  Proz.  sind  bereits  mehr  als  vier  Jahre  an  der  Hochschule,  während 
5 Proz.  über  diesen  Umstand  keine  Angabe  machten.  Je  länger  die 
Studenten,  die  für  ihren  Lebensunterhalt  arbeiten  müssen,  an  der  Hoch- 
schule sind,  desto  mehr  werden  sie  ihr  entfremdet.  Sie  nennen  sich 
wohl  noch  Studenten,  aber  in  Wirklichkeit  hat  die  ständige  Erwerbs- 
thätigkeit ihnen  das  Bewufstsein  geraubt,  dafs  die  Studentenjahre  nur 
Jahre  des  Ueberganges  zu  einem  wirklichen  Beruf  sind.  Wir  finden  sie 
deshalb  auch  nicht  unter  den  Experten. 

Kategorieen  des  häuslichen  Unterrichtes  zu  unterscheiden , ist  aus 
der  Enquete  nicht  möglich.  Der  Privatunterricht  der  Studenten  hat 
erfahrungsgemäfs  seine  Abstufungen.  Von  dem  gewöhnlichen  Nachhilfe- 
unterricht, der  darin  besteht,  dafs  bei  einzelnen  Schülern  nur  wenige 
Stunden  in  der  Woche  eine  Wiederholung  des  in  der  Schule  Gelernten 
vorgenommen  wird,  dehnt  er  sich  über  die  Form  der  Beaufsichtigung 
der  Arbeit  des  Schülers  während  des  ganzen  Nachmittags  aus  auf  die 
Thätigkeit  der  Lehrer,  den  Schüler  länger  oder  kürzer  auf  Spazier- 
gängen zu  begleiten  bis  zu  einem  Dienstverhältnis,  das,  wie  der  Gesetz- 
entwurf sich  ausdrückt,  »seine  Erwerbsthätigkeit  vollständig  oder  haupt- 
sächlich in  Anspruch  nimmt«.  Aber  selbst  hier  bestehen  noch  Unter- 
schiede. Es  giebt  hier  Lehrer,  »Hofmeister«,  wie  sie  in  Wien  genannt 
werden,  die  in  die  Hausgemeinschaft  des  Dienstgebers  aufgenommen 
sind  und  solche,  die  aufserhalb  des  Hauses  wohnen.  Aber  ob  gerade 
die  letztere  Kategorie,  deren  ganze  Zeit  in  der  Erwerbsarbeit  aufgeht, 
unter  anderen,  schlechteren  Bedingungen  arbeitet,  läfst  sich  nach  der 
Enquete  nicht  feststellen,  da  auch  an  diese,  die  ebenfalls  nicht  in 


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F.  Winter,  Die  Lage  der  Student.  Hauslehrer  an  den  Wiener  Hochschulen. 

die  \ orlesungen  kommen,  die  Fragebogen  nicht  herangelangen  konnten. 
Es  haben  sich  an  der  Enquete  nur  6 Leute  beteiligt,  die  »Hofmeisters 
sind.  Die  Enquete  beleuchtet  also  vor  allem  die  gröfste  Kategorie  der 
studentischen  Hauslehrer,  der  Studenten,  die  in  mehreren  Familien  einzelne 
Lektionen  geben. 

Diese  Studenten  stammen  aus  ganz  bestimmten  Iterufskreisen.  Nach 
dem  Beruf  ihres  Vaters  bezw.  der  Mutter  verteilt,  entstammten  von  je 


100  Experten: 

der  I-and-  und  Forstwirtschaft 6,12 

der  Industrie  und  dem  Gewerbe 16,32 

dem  Handel 28.57 

den  freien  Berufen 27,05 

sonstigen 16,32 

ohne  Angabe  waren 5,62 


Von  je  100  Experten  hatten  nicht  weniger  wie  55,62  ihre  Väter 
in  dem  Berufszweig  des  Handels  und  in  den  freien  Berufen.  Nach  der 
Berufsstellung  des  Vaters  itn  Hauptberuf  aber  waren  von  je  100  Vätern 


der  Experten: 

Selbständige 36,77 

Angestellte 31,62 

Arbeiter 9,67 

Sonstige 16,32 

ohne  Angabe 5,62 


Vergleicht  man  beide  Zahlenreihen  miteinander,  so  ergiebt  sich, 
dafs  der  grüfste  Theil  der  Experten  aus  Familien  stammt,  die  der  kleinen 
Kaufmannswelt  und  der  niederen  Beamtenschaft  angehören,  jenen  Kreisen, 
die,  wie  schon  eingangs  erwähnt,  mit  allen  möglichen  Opfern  ihre  Söhne 
den  akademischen  Berufen  zuzuftihren  streben.  Die  Rubrik  »Sonstige«, 
die  auch  einen  ziemlichen  Prozentsatz  von  Hauslehrern  stellt,  rekrutiert 
sich  zum  allergröfsten  Teil  aus  Witwen  nach  Vätern  der  bereits  erwähnten 
Berufs/weige. 

Unter  welchen  Verhältnissen  diese  Familien  leben , die  ihre  Söhne 
dem  kostspieligen  und  zeitraubenden  Hochschulstudium  zuftihren,  das 
charakterisiert  wohl  am  besten  die  offenherzige  Angabe  eines  Experten, 
der  die  Rubrik  »Beruf  des  Vaters«  mit  den  Worten  ausfüllte:  »Vorstands- 
adjunkt der  . . . Bahn,  stark  verschuldet.«  Wir  finden  aber  auch  Familien, 
wo  der  Vater  gestorben  und  die  Mutter  mit  einer  Reihe  unversorgter 
Kinder  zurtickgelassen  wurde,  Familien,  deren  Väter  zu  alt  oder  zu  krank 
zum  Erwerb  sind.  Der  Student  wird  dann  der  Erhalter  der  Familie. 

Die  Enquete  hat  sich  nun  darauf  beschränkt  zu  erforschen,  welche 
Rolle  im  Gesamteinkommen  des  Studenten  sein  Einkommen  aus  der 
Lektionsthätigkeit  bildet,  da  wahrheitsgetreue  Angaben  über  die  Höhe 


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706 


Miszellen. 


und  Art  seines  Einkommens  nicht  zu  haben  gewesen  wären.  Es  wurde 
deshalb  gefragt,  ob  sein  Einkommen  aus  dem  Lektionengeben  sein  ganzes 
Einkommen  sei , ob  es  den  Hauptteil  seines  Einkommens  bilde , ob  es 
sich  lediglich  auf  einen  Zuschufs  zu  seinem  übrigen  Einkommen  be- 
schränke oder  ob  es  nur  ein  Taschengeld  zur  Befriedigung  seiner  aller- 
persönlichsten Bedürfnisse  bilde.  Das  Ergebnis  war,  dafs  von  je  100 
Hauslehrern  das  Einkommen  aus  dem  Lektionengeben  das  ganze  Ein- 
kommen bildete  bei  48,98,  den  Hauptteil  ihres  Einkommens  bei  32,14, 
einen  Zuschufs  dazu  bei  10,72  und  lediglich  ein  Taschengeld  bei  8,16. 
Bei  dem  gröfsten  Teil  der  Hauslehrer,  bei  81,12  Proz. , bedeutet  dem- 
nach ein  gänzlicher  oder  theilweiser  Ausfall  der  Lektionen  ein  mehr 
oder  minder  grofses  Elend  nicht  nur  für  den  Studenten  selbst,  sondern 
auch  für  seine  Familie. 

Die  Lebensverhältnisse  der  Studenten  sind  demnach  sehr  traurige. 
Es  haben  zwar  53,06  Proz.  von  ihnen  eine  Wohnung  bei  Eltern  oder 
Verwandten,  8,16  Proz.  eine  unentgeltliche  Wohnung  durch  einen 
Unterstützungsverein  ’)  und  nur  37,76  Proz.  wohnen  bei  fremden  Leuten, 
während  von  1,02  Proz.  hierüber  keine  Angaben  vorliegen.  Aber  trotz- 
dem müssen  60,21  Proz.  aller  Experten  für  ihre  Wohnung  bezahlen,  auch 
ein  grofser  Teil  derjenigen,  der  bei  den  Eltern  wohnt. 

Mit  der  Beköstigung  der  Lehrer  steht  es  noch  schlimmer,  wenn 
auch  die  mannigfaltigen  Formen  derselben  nicht  auf  eine  einfache 
Formel  zurückzuführen  sind.  Jedenfalls  speisen  52,04  Proz.  ganz  oder 
teilweise  bei  Eltern  oder  Verwandten,  aber  nicht  weniger  als  65,8t  Proz. 
haben  für  ihr  Essen  zu  zahlen.  Die  F'ragebogen  enthüllen  herzzerreifsende 
Details.  Da  giebt  es  eine  Reihe  von  Leuten,  welche  neben  dem  Essen, 
das  sie  von  ihren  Eltern  haben , noch  eine  Anzahl  von  Speisemarken, 
Anweisungen  auf  Verabreichung  von  Mittagskost  in  der  vom  Senat  der 
Universität  und  Technik  erhaltenen  Speiseanstalt  erhalten.  Man  kann 
sich  vorstellen,  wie  die  Beköstigung  bei  den  Filtern  beschaffen  ist,  wenn 
die  Studenten  zu  einem  solchen  Aushilfsmittel  greifen.  Nicht  weniger 
als  23  Proz.  verschaffen  sich  ihr  Mittagessen  überhaupt  nur  durch  diese 
Speisemarken.  Da  die  Unterst ützungsvereine  aber  nicht  für  alle  Tage 
der  Woche  an  einen  Petenten  diese  Marken  herausgeben,  so  ist  es  sehr 
fraglich,  ob  sie  an  den  anderen  Tagen  der  Woche  überhaupt  ein  Mittag- 
essen haben.  So  antwortet  z.  B.  ein  Experte  auf  die  Frage,  woher  er 
seine  Mahlzeiten  bezieht,  mit  dem  bezeichnenden  Wort  > nirgends«  und 
fügt  erklärend  hinzu  » Büffet  <.  Das  bedeutet,  dafs  er  zu  Mittag  kaum 
mehr  als  ein  Butterbrot  oder  ein  »paar  Würstel«  ifst.  Kin  anderer 
wieder  schreibt:  »Firnähre  mich  kärglich.' 


’)  Diese  verhiiltnismäfsig  bedeutende  Zahl  ist  nur  auf  den  7.ufal!  zurflckiu- 
tühren,  dafs  eine  gröfserc  Anzahl  der  Bewohner  des  in  Wien  bestehenden  Studenten- 
heims an  der  Enquete  sich  beteiligten. 


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F.  Winter,  Die  Lage  der  Student.  Hauslehrer  an  den  Wiener  Hochschulen, 


707 


Die  Lage  dieser  Studenten  ist  demnach  eine  solche,  dafs  sie  auf 
jede  Lektion,  die  sie  bekommen,  angewiesen  sind,  dafs  sie  ihre  Arbeits- 
kraft um  jeden  Preis,  auch  den  geringsten,  verkaufen. 

Von  den  196  Experten  werden  im  ganzen  348  Lektionen  gegeben, 
die  sich  aber  nicht  auf  alle  gleichmäfsig  verteilen.  Von  100  Experten 
wird  nur  je  eine,  von  59  je  2,  von  24  je  3,  von  9 je  4 und  von  je  2 
je  5 und  6 Lektionen  gegeben. 

Die  Lektionsthätigkeit  soll  nur  einen  Nebenerwerb  der  Studenten 
darstellen , sie  soll  ihm  ermöglichen  in  möglichst  kurzer  Zeit  möglichst 
viel  Geld  zu  verdienen  und  soviel  als  möglich  von  seiner  Zeit  für  die 
Studien  zu  ersparen.  Doch  hat  die  Lektionsthätigkeit  diesen  Charakter 
nicht  bei  allen  Studenten.  Bei  einem  grofsen  Theil  derselben  wächst 
sich  diese  Nebenbeschäftigung  direkt  zu  einem  Hauptberuf  heraus,  der 
den  Studenten  von  seiner  eigentlichen  Beschäftigung,  dem  Studium,  fern- 
hält. Von  je  100  Experten  gaben  in  einer  Woche 


I — 3 Stunden  demnach  jeden  zweiten  Tag  1 
4 — 6 Stunden  demnach  täglich  I Stunde 


Stunde 


7 — 12 
13—18 
19—24 
25—30 
31—36 
über  36 


1»  2 

»»  3 

..  4 

»»  5 

„ 6 
über  6 


11,63 
28,08 
28,61 
14,83 
8, 18 
5,61 
1,53 
1,53 


Wenn  man  inbetracht  zieht,  dafs  für  jede  Lektion  auch  noch  die 
Zeit  eingerechnet  werden  mufs,  die  auch  den  Hin-  und  Rückweg  ent- 
hält, so  hat  man  jedesmal  gering  gerechnet  eine  Stunde  zuzuschlagcn. 

Dazu  kommt  noch  der  Weg  von  einer  Lektion  zur  anderen.  Ein 
Student,  der  2 Stunden  täglich  giebt,  hat  den  Nachmittag  gerade  ausge- 
füllt, einer,  der  mehr  wie  2 Stunden  giebt,  ist  mit  Arbeit  schon  über- 
lastet. Mehr  wie  2 Stunden  täglich  geben  aber  31,68  Proz.,  beinahe 
ein  Drittel  der  Experten.  Die  Art  der  Arbeit  ist  dazu  eine  sehr  ab- 
spannende und  ermüdende  und  gestattet  nur  den  mit  besonderer  Energie 
Ausgestatteten  sich  nach  Absolvierung  der  Lektionen  noch  mit  ihrem 
Studium  zu  beschäftigen.  Natürlich  sind  gerade  die  am  meisten  mit 
Stunden  belastet,  für  die  das  l.ektionieren  Lebensnotwendigkeit  ist! 
Mehr  wie  2 Stunden  täglich  geben  von  je  too  Experten,  die  ihr 
ganzes  Einkommen  aus  der  Lektionsthätigkeit  ziehen,  39,58,  von  denen, 
bei  denen  es  den  Hauptteil  des  Einkommens  bildet  33,29 , während 
von  den  Experten,  für  die  die  Lektionsthätigkeit  einen  Zuschufs  zu  ihrem 
Einkommen  oder  nur  Taschengeld  abwerfen  soll,  nur  4,76  bezw.  12,50 
mehr  wie  2 Stunden  täglich  geben.  Die  Lektionsthätigkeit  bedeutet  so 
für  sehr  viele  Stutenden  eine  sehr  langwierige  und  angestrengte  Arbeit. 
Liefert  sie  nun  auch  den  entsprechenden  Ertrag? 


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708 


Miszellen. 


Das  monatliche  Einkommen  der  Experten  schwankt  aufserordentlich. 
Das  niedrigste,  das  zu  verzeichnen  ist,  erreicht  5 K.  nicht,  während  das 
höchste  bis  auf  1 70  K steigt.  Dazwischen  finden  sich  alle  möglichen 
Abstufungen.  Von  je  100  Experten  hatten  ein  Einkommen  von 


0 — 15  K. 

....  5,10 

16—50  „ 

....  47.44 

51  — 100  „ 

....  32.67 

über  100  „ 

....  14,28 

ohne  Angabe 

....  0,51 

Die  gröfsere  Hälfte  hat  also  ein  Einkommen , das  nicht  mehr  als 
50  Kronen  beträgt.  Untersuchen  wir  nun  die  einzelnen  Kategorieer,,  so 
hatten  von  je  100  Experten  derselben  Kategorie,  denen  das  Einkommen 


aus  der  Lektionsthätigkeit 

bildete 

ein 

das  Ganze  den  Ilauptteil 

einen 

ein 

Einkommen 

des  Einkommens 

Zuscliufs 

Taschengeld 

0—15 

3.*3 

3,‘S 

9*5 1 

18,75 

16—50 

36,46 

49.24 

85.72 

56,25 

51  — IOO 

39.57 

34,95 

4.77 

18,75 

über  ico 

20,84 

11.13 

— 

6,25 

ohne  Angabe 

— 

1,60 

— 

— 

Es  zeigt  sich  demnach,  dafs  die  Grenze  des  monatlichen  Einkommens 
von  50  K.,  die  wohl  als  das  Existenzminimum  angesehen  werden  kann, 
am  meisten  von  denen  überschritten  wird,  die  ihren  ganzen  I .ebens- 
unterhalt aus  der  I.ektionsthätigkeit  ziehen.  Diese  Leute  übernehmen 
eben  so  viele  Stunden  als  sie  erhalten  können. 

Allein  weder  aus  der  Anzahl  der  wöchentlich  gegebenen  Stunden 
noch  aus  dem  monatlichen  Gesamteinkommen  lassen  sich  die  Lohngesetze 
des  Stundengebens  feststellen.  Dazu  ist  es  notwendig,  den  auf  die 
einzelne  Lektionsstunde  entfallenden  Preis  mit  den  Umständen  in  Ver- 
bindung zu  setzen,  von  denen  der  Lohn  beeinflufst  werden  kann.  Fassen 
wir  die  auf  die  einzelnen  Stunden  entfallenden  Preissätze  nach  Kate- 
gorieen,  die  von  50  zu  50  Hellern  ansteigen,  zusammen,  so  halten  von  je 
100  Lektionen  einen  Preis  von 


0 — 50  H. 

2,87 

151 — 200  H. 

38.21 

301— 

-350  H. 

0,87 

51  — IOO  „ 

29,59 

201 — 250  „ 

6,03 

35*“ 

400  „ 

0,29 

101—150  „ 

19.59 

251—300  „ 

2,31 

über 

400  „ 

0,58 

Bei  dem  Preissatz  von  2 K.  für  die  Lektion  bricht  die  Steigerung 
plötzlich  ab;  die  Anzahl  der  Lektionen,  die  mehr  als  2 K.  trägt,  sind 
so  kleine,  dafs  sie  sich  als  Ausnahme  darstellen.  Es  zeigt  aber  von 
der  aufserordentlich  schlechten  Bezahlung  der  Lektionen,  dafs  mehr  als 
die  Hälfte  der  Lektionen  keinen  höheren  Lohnsatz  wie  1 5o  H.  haben, 


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F.  Winter,  Die  Lage  der  Student.  Hauslehrer  an  den  Wiener  Hochschulen.  709 

Immerhin  ater  finden  sich  doch  mehr  wie  38  Proz.  der  Lektionen,  die 
•einen  Preissatz  von  2 K.  haben,  was  als  ein  sehr  hohes  Honorar  be- 
zeichnet werden  mufs.  Gerade  an  diesem  Punkt  zeigt  sich  nämlich 
ziemlich  deutlich,  dafs  die  Enquete  an  die  schlechtestentlohnten  Studenten 
nicht  herangekommen  ist.  Durchblättert  man  nämlich  die  Fragebogen 
bei  jener  Frage,  in  der  die  Experten  aufgefordert  wurden,  die  schlechteste 
Lektion  anzugeben , die  sie  jemals  gehabt  haben , so  stöfst  man  auf 
ganz  wunderliche  Entlohnungen,  die  natürlich  auch  heute  noch  vorhanden 
sein  müssen,  um  so  mehr  da  die  Experten  ja  zum  gröfsten  Teil  den 
jüngeren  Jahrgängen  entstammen.  Da  wird  von  Lektionen  berichtet, 
für  die  bei  einer  Arbeitsleistung  von  6 Stunden  wöchentlich  ein  Monats- 
honorar von  8 Kronen,  für  7 Stunden  ein  solches  von  6 Kronen  oder 
von  10  Kronen  bezahlt  und  zwar  in  mehreren  Fällen,  so  dafs  wohl  von 
Ausnahmsfallen  nicht  die  Rede  sein  kann.  Die  in  jeder  Hinsicht 
■originellste  Lektion  hatte  jedenfalls  der  Experte,  der  eine  Lektion  von 
5 Uhr  früh  bis  8 l’hr  früh  und  von  12  Uhr  mittags  bis  9 Uhr  abends 
gab  und  als  Honorar  hierfür,  die  Wohnung  »ein  Hofkabinett,  in  dem 
man  sich  nicht  umdrehen  konnte»,  Frühstück,  20  K.  monatlich,  sowie  — 
ein  paar  sehr  deutliche  Liebcsanträge  seitens  der  Hausfrau  erhielt. 

Die  Höhe  des  Preissatzes  der  einzelnen  Lektion  variiert  nach  der 
Art  des  Unterrichtes,  nach  der  Ausdehnung  der  Lektion  und  nach  dem 
Beruf,  dem  der  Vater  des  Schülers  angehört. 

Setzt  .man  die  Prciskategorieen  einer  Lektionsstunde  in  Verbindung 
mit  der  Art  des  Unterrichtes,  der  zu  leisten  ist,  so  erhält  man 
folgendes  Bild.  Von  je  100  Lektionen,  die  zu  geben  waren,  kamen  in 
eine  Preislage  von 


O 

bis 

50  H. 

; 5* 
bis  ' 
100H.I 

101 

bis 

150H. 

151 

bis 

200II. 

201 

bis 

250H. 

251 

bis 

300H. 

301 

bis 

350H. 

35* 

bis 

400II.1 

über 

400H. 

Volks-  und  Bürgerschüler 

10,00 

60,00 

20,00 

10,00 

— 

— 

— 

— 

— 

Mittelschüler  (unt.  Klassen) 

o,5S 

31,20 

21,97 

39,25 

5.4° 

1,08 

- 

0,54 

— 

Mittelschüler  (ob.  Klassen) 

3.45 

",49; 

>4,94 

50,57 

8,05 

5,75 

i 3,45 

2,3° 

Spezialfächer 

— 

34,49 

17,25 

31,02 

13.29 

3,45 

— 

— 

ohne  Angabe  

33.33 

16,76 

j 

50,00 

— 

1 

— 

— 

Es  zeigt  sich  demnach  ein  gewisser  Unterschied  in  der  Bezahlung, 
je  nach  dem  Alter  des  Schülers.  Bei  dem  Unterricht  von  Volks-  und 
Bürgerschülern  fallen  90  Proz.  der  Lektionen  in  die  Preiskatagorieen  bis 
zu  150  Hellern,  bei  den  Mittelschülern  der  unteren  Klassen  und  den 

Archiv  für  *01.  Gesettgebung  u.  Statistik.  XVII.  ^ 4<> 


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7io 


Miszellen. 


Spezialfächern  (Klavier,  Stenographie  u.  dergl.)  sind  es  nur  mehr  54 
bezw.  52  Proz.),  während  der  Unterricht  von  Mittelschülern  der  oberen 
Klassen  zur  gröfseren  Hälfte  in  die  Preiskategorie  von  1 5 1 — 200 
Hellern  fällt. 

Vergleicht  man  nun  in  derselben  Weise  die  Anzahl  der  in  einer 
Woche  zu  absolvierenden  Stunden  einer  Lektion,  so  zeigt  sich  der  innige 
Zusammenhang,  der  da  besteht. 

Es  hatten  von  je  100  Lektionen  in  der  wöchentlichen  Anzahl  eine 
Entlohnung  von 


1—3 

4—6 

7—12 

13— 

19—24 

25 — 30  mehrwie3<> 

von 

0 — 50  H. 

0,65 

1.83 

6,52 

Stunden 

37.50 



50,00 

51  — 100  „ 

28,38 

17.43 

39,13 

60,00 

50,00 

75.00 

— 

IOI  — 150  „ 

17.42 

25.69 

15.15 

15,00 

12,50 

12,50 

— 

151—200  „ 

47.74 

39.45 

23,91 

20,00 

— 

— 

50,00 

201 — 250  „ 

3.23 

1 1,01 

8,7° 

— 

— 

— 

— 

251-  300  „ 

t.93 

1,83 

4,35 

5,00 

— 

— 

— 

301-350  „ 

0,65 

0,92 

2,17 

— 

— 

— 

— 

351-400  „ 

— 

0,92 

— 

— 

— 

— 

— 

mehr  wie  400  H. 

— 

0,92 

— 

— 

— 

12,50 

— 

100,00 

100,00 

100,00 

100,00 

100,00 

1 00,00 

100,00 

Von  den  Lektionen,  die  eine  wöchentliche  Anzahl  von  1 — 3 Stunden 
umfafsten,  liegen  die  meisten  in  der  Preislage  von  1S1  — 200  H.  Auch 
die  Lektion  mit  einer  Arbeitsleistung  von  4-6  Stunden  hat  die  Mehr- 
heit der  Fälle  in  derselben  Preislage,  doch  schon  eine  sehr  grofse  An- 
zahl in  der  nächstniedrigeren  Preislage  von  51  — 100  H.  Aber  bei  einer 
Dauer  der  Lektion  von  7 — 12  Stunden  die  Woche  rückt  die  Mehrheit 
der  Fälle  in  diese  Preiskategorie  und  bleibt  hier  auch  bei  den  übrigen 
Lektionen  von  noch  gröfserer  Ausdehnung.  Je  anstrengender  und  länger 
eine  Lektion  ist,  desto  schlechter  wird  sie  bezahlt  Der  Grund  ist  leicht 
erklärlich.  In  jeder  Familie,  die  einen  Hauslehrer  nimmt,  wird  nur  ein 
bestimmter  Geldbetrag  für  diese  immer  unangenehme  Ausgabe  einge- 
setzt, über  den  man  auch  dann  nicht  hinausgeht,  wenn  die  Anforde- 
rungen aufserordentlich  steigen.  Auf  der  anderen  Seite  aber  nehmen 
die  Studierenden  jede  Lektion  an,  die  ihnen  angeboten  wird,  wenn  sich 
bei  derselben  nur  der  Betrag  herausschlagen  läfst,  den  sic  zum  Leben 
brauchen,  mag  auch  die  Arbeitsleistung  eine  aufserordentlich  grofse  sein. 

Die  Bezahlung  variiert  aber  auch  nach  der  Berufsstellung,  die  der 
Vater  des  Schülers  einnimmt.  Während  die  Mehrheit  der  Fälle  (48,08  - 
Proz.)  in  der  Preislage  von  51  — 100  H.  liegt,  wenn  der  Vater  der  In- 
dustrie und  dem  Gewerbe  angehört,  so  liegt  die  Mehrheit  der  Fälle 
(51,82  Proz.)  in  der  Preislage  von  151  — 200  H.  wenn  der  Vater  einem 


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F.  Winter,  Die  Lage  der  Student.  Hauslehrer  an  den  Wiener  Hochschulen.  J 1 1 

freien  Beruf  angehört.  Es  scheint,  dafs  die  Angehörigen  der  akademischen 
Berufe  auch  die  Thätigkeit  der  Hauslehrer  besser  einschätzen. 

Die  Frage,  welche  Rolle  die  Naturalentlohnung  bei  dem  Honorar 
für  die  Lektionsthätigkeit  spielt,  läfst  sich  aus  der  Enquete  leider  nicht 
lösen,  da  ira  ganzen  nur  33  Fälle  von  Naturalentlohnung  vorkamen, 
von  denen  überdies  12  Fälle  sich  auf  das  Vesperbrot  beschränkten. 
Jedenfalls  ist  mit  der  Naturalentlohnung  eine  Reihe  von  Uebelständen 
verbunden,  da  die  Mahlzeiten  nicht  nur  hinsichtlich  der  Güte  und  Menge, 
sondern  besonders  deshalb  nicht  entsprechen,  weil  der  Lehrer,  der  sich 
nach  der  Zeiteinteilung  im  Hause  des  Schülers  richten  mufs,  oft  sehr 
viel  Zeit  mit  dem  Warten  auf  die  Mahlzeiten  versäumt. 

Der  Termin  der  Zahlung  ist  fast  durchwegs  monatlich.  Eine  andere 
Abmachung  kommt  äufserst  selten  vor.  Dafür  beklagt  sich  aber  eine 
gröfsere  Anzahl  von  Lehrern  über  Unpünktlichkeit  in  der  Einhaltung 
des  Zahlungstermines. 

Einen  grofsen  Raum  in  dem  Fragebogen  nahmen  die  Fragen  nach 
dem  Ausfall  von  Stunden  durch  Verhinderung  des  Schülers  oder  Lehrers, 
sowie  deren  Bezahlung  ein.  Der  Gesetzentwurf,  der  die  Veranlassung 
der  Enquete  war,  bestimmt  nämlich,  dafs  in  bestimmten  F'ällen,  wenn 
der  Dienstnehmer  durch  Krankheit  oder  einen  Unglücksfall  an  der 
Leistung  seiner  Dienste  verhindert  sei,  dennoch  ein  Entgelt  für  die  aus- 
gefallenen Stunden  verlangen  könne,  dies  allerdings  nur  dann,  wenn 
das  »Dienstverhältnis  seine  Erwerbsthätigkeit  vollständig  oder  haupt- 
sächlich in  Anspruch  nimmt«. 

Die  Enquete  fallt  nun  für  diese  Verhältnisse  in  eine  schlechte  Zeit, 
da  für  diese  Fragen  als  Stichzeit  die  Zeit  vom  1.  Dezember  bis 
10.  Januar  angegeben  war,  in  welche  die  Weihnachtsferien  fallen.  Da 
nun  viele  Studenten  um  diese  Zeit  in  die  Heimat  fahren,  so  mufste 
die  Zahl  der  durch  Verschulden  des  Lehrers  versäumten  Stunden  eine 
über  das  gewöhnliche  Mafs  hinausgehende  sein.  Dennoch  zeigt  sich, 
dafs  von  100  ausgefallenen  Stunden  66,61  durch  Verschulden  des 
Schülers  und  33,39  durch  Verschulden  des  Lehrers  entfielen.  Von  den 
letzteren  war  ein  Drittel  durch  Krankheit  des  Lehrers  versäumt  worden. 
Die  Absage  der  Stunde  durch  den  Schüler  ist  immer  für  den  Lehrer 
sehr  unangenehm,  selbst,  wenn  die  Absage  rechtzeitig  erfolgt.  Mit  der 
gewonnenen  freien  Zeit  läfst  sich  ja  gewöhnlich  nicht  viel  anfangen. 
Dazu  kommt  noch , dafs  beinahe  24  Proz.  der  durch  Verschulden  des 
Schülers  versäumten  Stunden  gar  nicht  rechtzeitig  abgesagt  wurden,  so- 
dafs  der  Lehrer  noch  den  Weg  in  das  Haus  des  Schülers  machen 
mufste,  und  dort  erst  erfuhr,  dafs  die  Lektion  nicht  abgehalten  werden 
sollte.  Ueberdies  aber  wurden  ihm  von  den  Stunden,  an  deren  Ver- 
säumnis der  Lehrer  gar  kein  Verschulden  trägt , nicht  weniger  als 
70  Proz.  gar  nicht  vergütet.  Dagegen  zeigt  sich  merkwürdigerweise, 

46* 


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712 


Miszellen. 


dafs  von  den  durch  Verschulden  des  Lehrers  versäumten  Stunden  die 
gröfsere  Hälfte  allerdings  entschädigt  wurde,  ein  Ergebnis,  das  um  so 
auffallender  ist,  als  es  nicht  nur  nicht  mit  den  allgemeinen  Erfahrungen, 
sondern  auch  nicht  mit  dem  Verhalten  bei  der  Absage  der  Stunde 
durch  den  Schüler  übereinstimmt.  • Es  scheint  dies  also  mehr  ein  Zu- 
fallsergebnis zu  sein  und  keinen  Schlufs  auf  eine  allgemeine  Regel  zu- 
zulassen. 

Es  erübrigt  uns  nur  noch  die  Verhältnisse  der  Lektionenvermittlung 
zu  besprechen. 

Die  Aufnahme  eines  Lehrers  ist  mehr  oder  minder  Vertrauens- 
sache. Die  meisten  Eltern  wünschen  für  ihre  Kinder  nur  den  Lehrer 
aufzunehmen,  der  ihnen  von  irgend  einer  Seite  empfohlen  wird.  Aber 
auch  hier  wie  ülierall  besteht  ein  weiter  Markt,  auf  dem  die  Stunden 
ausgeboten  werden.  Das  Annoncieren  der  Lehrer,  wie  der  Eltern  des 
Schülers  nimmt  einen  breiten  Raum  in  der  Lektionenvermittlung  ein. 
Dagegen  ist  die  Thätigkeit  der  verschiedenen  Studentenvereine,  die  sich 
mit  Lektionenvermittlung  beschäftigen,  eine  sehr  minimale.  Von  je 
too  in  die  Enquete  einbezogenen  Lektionen  waren  vermittelt  worden 


durch 

eine  Annonce  des  Lehrers *0,93 

„ „ „ Schülers 5,47 

Empfehlung  ehemaliger  Lehrer 24,42 

..  ..  Schüler 9,78 

„ Privater 38,19 

Untcrstützungsvcrcinc 1,74 

auf  andere  Weise 5,74 

ohne  Angabe  3,73 


Die  meisten  Stunden  werden  daher  durch  Empfehlungen  vermittelt. 

Es  ist  aber  vor  allem  für  das  Honorar,  das  man  für  die  Lektion 
erzielen  kann,  nicht  gleichgültig,  auf  welche  Weise  dieselbe  vermittelt 
wurde.  Während  bei  der  Vermittlung  durch  eine  Annonce  des  Schülers 
oder  des  Lehrers  der  gröfste  Teil  47,37  bezw.  39,48  Proz.  in  die 
Preislage  von  51  — 100  H per  Stunde  fällt,  rückt  die  Mehrheit  der  Fälle, 
wenn  irgend  eine  Empfehlung  vorliegt,  in  die  Preisstufe  von  151  — 200  H. 
Geschieht  nämlich  die  Vermittlung  durch  eine  Annonce,  so  zeigt  sich 
sofort  das  Ueberangebot  an  Arbeitskräften,  das  bei  dem  l.ektionieren 
immer  vorhanden  ist,  während  dann,  wenn  der  Lehrer  auf,  eine  Empfeh- 
lung hin  aufgenommen  wird,  er  nicht  nur  selbstbewufster  auftreten  kann, 
sondern  auch  die  Eltern  des  Schülers  in  Rücksicht  auf  den  Empfehlenden 
sich  scheuen  werden,  allzusehr  den  Preis  zu  drücken.  Eine  Empfehlung 
kann  sich  aber  nicht  jeder  verschaffen.  Namentlich  die  Ortsfremden  — 
und  von  den  Experten  hatten  nicht  weniger  als  58,04  Proz.  aufserhalb 
Wiens  maturiert  und  waren  39,28  Proz.  weniger  als  zwei  Jahre  in  Wien  — 


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F.  Winter,  Die  Lage  der  Student.  Hauslehrer  an  den  Wiener  Hochschulen,  jrjj 

entbehren  dieser  Unterstützung  ganz.  Daher  ist  es  erklärlich,  dafs  sehr 
häufig  zu  dem  bequemen  wenn  auch  unrationellen  Mittel  des  Inserates 
gegriffen  wird.  Von  den  Kxperten  hatten  35,71  Proz.  am  Beginn  des 
letzten  Wintersemesters  nicht  weniger  als  287  Annoncen  aufgegeben, 
für  die  sie  insgesamt  356  K.  auslegten.  In  den  zwei  gelcsensten  Wiener 
Tagesblättem  waren  in  der  Zeit  vom  15.  September  bis  15.  Oktober 
vorigen  Jahres,  also  in  der  Zeit  des  Schulbeginnes  nicht  weniger  als  wie 
rund  tausend  Inserate  über  Lektionen  zu  finden. 

So  ist  das  Lektionen  vermittlungswesen  ein  sehr  schlecht  organi- 
siertes. Leute,  die  in  Wien  nicht  bekannt  sind,  werden  bei  dem 
herrschenden  Ueberangebot  kaum  zu  einer  Lektion  kommen.  Ist  cs 
doch  charakteristisch,  dafs  von  den  Experten  nicht  weniger  als  47,44 
Proz.  erklärten,  dafs  sie  für  ihre  Bedürfnisse  nicht  genügend  Stunden 
haben.  Der  Wechsel  der  Lehrer  aber  ist  ein  sehr  häufiger.  Von  je 


100  Lektionen  hatten  begonnen 

vor  mehr  als  3 Jahren 8,35 

vor  weniger  als  3 aber  mehr  als  2 Jahren  . . 6.34 

vor  weniger  als  2 aber  mehr  als  I Jahr  . . . 16,38 

vor  weniger  als  einem  aber  mehr  als  ■/,  Jahr  . 5,77 

vor  weniger  als  ■/,  aber  mehr  als  */*  Jahr  . . 28,71 

vor  weniger  als  */4  Jahr 33,0° 

ohne  Angabe . 1,45 


Die  meisten  Lektionen  (61,71  Proz.)  hatten  die  Lehrer  also  erst 
am  Beginn  des  Schuljahres  übernommen.  Die  I .ektionenvermittlung  ist 
demnach  ein  Gebiet,  das  am  meisten  der  Reform  bedarf. 

Ueberblicken  wir  nun  das  Bild,  das  die  Enquete  uns  über  die 
Lage  der  studentischen  Hauslehrer  verschafft  hat,  so  wird  der  Gesamt- 
eindruck kein  günstiger  sein.  Die  jungen  Leute,  die  da  ohne  Mittel  die 
Hochschule  beziehen,  in  der  Hoffnung  durch  eine  angestrengte  Erwerbs- 
arbeit sich  die  Möglichkeit  zur  Vollendung  ihrer  Studien  zu  verschaffen, 
müssen  bald  bittere  Erfahrungen  machen.  Statt  ihr  Studium,  das  sie 
ihrem  Lebensberuf  zuführen  soll,  ernsthaft  zu  betreiben,  sind  sie  ge- 
zwungen eine  abspannende,  langweilige  und  schlechtbezahlte  Arbeit  zu 
leisten,  für  die  sie  in  ihrer  übergrofsen  Mehrzahl  nicht  einmal  geeignet 
sind.  Und  doch  ist  gerade  diese  Art  der  Erwerbsthätigkeit  unter  den 
heutigen  Studienverhältnissen  notwendig , will  man  weniger  bemittelten 
Leuten  nicht  jeden  Weg  zum  Hochschulstudium  versperren.  Irgend- 
welche Reformen  auf  diesem  Gebiete  vorzunehmen,  ist  äufserst  schwierig. 
An  eine  zusammenfassende  Organisierung  der  Studenten  ist  nicht  zu 
denken,  an  eine  gesetzliche  Festlegung  eines  Minimallohnsatzes,  wie  sie 
von  sehr  vielen  der  Experten  verlangt  wird,  ebensowenig.  Es  bleibt 
nichts  anderes  übrig,  als  einerseits  gesetzliche  Bestimmungen  zu  schaffen, 
die  schärfer  als  der  Entwurf  des  oft  erwähnten  Gesetzes  die  Rechte  der 


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Miszellen. 


Hauslehrer  wahren  und  Einrichtungen  zu  treffen,  die  das  Auffinden  von 
Erwerbsarbeit  erleichtern.  Andererseits  wird  man  bei  der  immer  wachsen- 
deren Zahl  der  zur  Erwerbsarbeit  gezwungenen  Studenten  darangehen 
müssen , Einrichtungen  zu  treffen , die  den  minder  Bemittelten  ermög- 
lichen, ihre  Studien  ohne  die  geschilderten  Hindernisse  zu  vollenden. 
Das  Problem,  das  sich  da  aufthut,  ist  kein  unwichtiges,  es  handelt 
sich  darum,  für  einen  kräftigen  und  unverdorbenen  Nachwuchs  der 
akademischen  Berufe  aus  den  Söhnen  des  Volkes  zu  sorgen. 


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Die  Aussichten  der  elektrischen  Landwirtschaft. 

Von 

DR.  OTTO  PRINGSHEIM, 

in  Breslau. 

Henry  van  de  Velde  schildert  den  Eindruck,  den  eine  in  Paris 
ausgestellte  Dynamomaschine  von  riesigen  Abmessungen  machte,  mit 
folgenden  Worten:  »Und  dann  die  Maschine  von  Siemens  & Halske. 
Epische  C.rofsartigkeit  und  Adel  der  Formen  verbinden  sich  in  ihr  mit 
der  Erhabenheit  und  Ruhe  einer  Landschaft.  Mehrere  tausend  Um- 
drehungen macht  das  riesige  Schwungrad  in  der  Minute  . . . Andächtig 
habe  ich  vor  der  Maschine  gestanden  und  in  ihr  inbrünstig  die  voll- 
kommenste Verkörperung  moderner  Schönheit  bewundert.« 

Sollte  der  Nationalökonom  der  Entwicklung  der  Elektrotechnik 
nicht  mindestens  das  gleiche  Interesse  entgegenbringen,  wie  der  Künstler? 

Vor  kurzem  hatte  es  den  Anschein,  als  ob  die  Elektrotechnik  ein 
neues  gewaltiges  Gebiet  erobern  würde.  Die  Zeit  schien  nicht  fern  zu 
sein,  wo  auch  das  platte  Land  sich  allgemein  des  Vorteils  elektrischer 
Anlagen  erfreuen  würde.  Durch  Vorträge,  Ausstellungen  und  schön  aus- 
gestattete Broschüren  wurde  seitens  der  elektrischen  Gesellschaften  leb- 
hafte Propaganda  gemacht,  um  die  Landwirte  für  den  elektrischen  Be- 
trieb zu  gewinnen.  Indessen  die  umfangreichen  Projektaufstellungen,  die 
Konzessionen  bei  99  Behörden,  die  schwierige  Finanzierung  und  andere 
Umstände  verzögerten  den  Bau  von  Uebcrlandzentralen,  — bis  der 
Krach  kam.  Dieser  hat  mehrere  Gesellschaften  vernichtet,  die  anderen 
in  ihrer  Aktionsfähigkeit  gehemmt.  So  sind  in  Deutschland  zwar  zahl- 
reiche elektrische  Einzelanlagcn  auf  Privatgütem  und  Staatsdomänen 
entstanden,  aber  nur  wenige  Zentralen  gebaut  worden.  Die  ganze  kul- 
turell so  wichtige  Bewegung,  die  Elektrizität  auf  dem  Lande  einzubürgern, 
ist  ins  Stocken  geraten. 

Hat  die  Elektrotechnik  erst  Vorposten  auf  das  Land  gesandt,  so 
ist  es  ihr  doch  gelungen,  in  wenigen  Jahren  bedeutende  Fortschritte  zu 
machen.  \\Tasser-  und  Windkraft,  Dampfmaschinen  und  was  besonders 


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Miszellen. 


interessant  in  einzelnen  Fällen  FJektromotoren  ')  werden  benutzt,  um  die 
Dynamos  anzutreiben,  die  Licht-  und  Kraftstrom  für  weite  Strecken  er- 
zeugen. — Der  wichtigste  Fortschritt  seit  1895  besteht  in  der  Möglich- 
keit, die  sog.  Hochspannungsmotoren  direkt  ohne  Transformator  mit 
Strom  zu  versehen.4)  Man  arbeitet  hierbei  mit  den  enormen  Spannungen 
von  15000  Volt  und  mehr.*) 

Ohne  bei  technischen  Einzelheiten  zu  verweilen,  gehen  wir  zu  der 
entscheidenden  ökonomischen  Frage  über:  >Hat  der  technische  Fort- 
schritt den  Preis  elektrischer  Energie  bereits  soweit  verbilligt,  dafs  ihre 
allgemeine  Verwendung  in  der  Landwirtschaft  ratsam  ist?«  Die  Frage 
dürfte,  soweit  sie  die  elektrischen  Einzelanlagen  betrifft,  zu  verneinen 
sein.  Hören  wir  darüber  die  Erklärung  eines  Sachverständigen,  des 
Reg.-llaumeisters  Fischer : »Hinsichtlich  der  wirtschaftlichen  Wirkung  der 
elektrischen  Kraftübertragung  bedauere  ich  manchem  Schwärmer,  der 
grofse  Hoffnungen  darauf  setzt,  Enttäuschungen  bereiten  zu  müssen.  Die 
bis  jetzt  ausgeführten  Anlagen  bleiben  meines  Erachtens  den  Nachweis 
ihrer  wirtschaftlichen  Berechtigung  schuldig,  wenigstens,  wenn  es  sich 
um  Anlage  einer  eigenen  Zentrale  handelt.  Sehr  dankenswert  ist  die 
Veröffentlichung  über  die  Anlagen  auf  den  königlichen  Domänen,  weil 
hier  wenigstens  teilweise  ausführliche  zahlenmäfsige  Grundlagen  gegeben 
sind  ...  Für  Rodenberg  werden  die  Kosten  bei  elektrischem  Betrieb 
auf  3582  Mk.  gegen  3600  Mk.  der  alten  Betriebsweise  angegeben,  das 
bedeutet  eine  Ersparnis  von  vollen  18  Mk.  Für  Sillium  beliefen  sich  die 
Kosten  früher  auf  4400  Mk.,  nach  Einführung  des  elektrischen  Betriebs 
auf  4012,52  Mk.,  sodafs  ein  Vorteil  von  388  Mk.  erwächst.  Wie  ist 
aber  gerechnet?  Die  Ausgaben  für  den  Umbau  der  Stauanlage,  des 
Grundwerks  und  der  umschliefsenden  Gebäudemauem  und  für  die  Tur- 
binen mit  zusammen  39740  Mk.  sind  ganz  aufser  Acht  geblieben  . . . 
Ferner  ist  die  Verzinsung  zu  3 Proz.  gerechnet,  ein  Zinsfufs,  der  bei 
Aufnahme  eines  Kapitals  für  Privatzwecke  natürlich  nicht  ausreicht.  Be- 
rücksichtigt man  diese  Umstände,  die  für  Rodenberg  in  gleicher  Weise 
zutreffen,  so  kann  von  einem  wirtschaftlichen  Vorteil  nicht  mehr  die 
Rede  sein  . . . »Erst  bei  einem  Preise  von  20  Pf.  für  die  elektrische 

*)  So  auf  der  Anlage  des  Grafen  Lajos  Balthydny  in  Ikervär  (Ungarn).  Der 
filr  den  Motor  notige  Strom  wird  in  meilcnwcitcr  Entfernung  durch  Wasserkräfte 
erzeugt.  Vgl.  Dalmady  Ödön,  Az  Ikerväri  villamos  rativek,  Budapest  1900  und 
Schuckert  & Co.,  Die  Elektrizität  im  Dienste  der  Uandwirtschnft  (1901)  S.  87. 

*)  Schuckert  & Co.  a.  a.  O.  S.  63. 

’)  In  Amerika  kommen  Spannungen  von  40 — 50 000  Volt  vor.  Uppenborn, 
Kalender  für  Elektrotechniker  19.  Jahrg.  (1902)  I,  S.  162.  Kilr  die  jüngst  pro- 
jektierte elektrische  Anlage,  durch  welche  die  Kraft  der  Stromschnellen  der  Mur 
nutzbar  gemacht  werden  soll,  ist  eine  Spannung  von  17  000  Volt  gewählt  worden. 
Eine  solche  Spannung  kam  noch  nirgends  in  Oesterreich  in  Anwendung. 


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Otto  Pringsheim,  Die  Aussichten  der  elektrischen  Landwirtschaft.  jij 

Pferdekraftstunde,  meint  der  erwähnte  Fachmann,  sind  Ersparnisse  gegen- 
über dem  Lokomobilbetrieb  möglich.  ’) 

Nun  setzen  die  Projekte  der  Gesellschaft  »Helios«  für  den  Kreis 
Samter,  der  A.  E.  G.  für  den  Kreis  Trebnitz  und  der  Finna  Gebr. 
Körting  für  denselben  Kreis  die  Kilowattstunde  für  Kraftbedarf  mit 
18  Pf.,  resp.  16  und  20  Pf.  an,  während  für  Beleuchtungszwecke 
50  und  60  Pf.  berechnet  werden.  Wir  sehen  also,  dafs  die  Tarife  der 
grofsen  Zentralen  sich  der  angegebenen  Norm  nähern,  wo  der  elektrische 
Betrieb  Ersparnisse  gewährt.  — Bei  grofsen  städtischen  Zentralen  rechnet 
man  noch  niedrigere  Sätze.  Für  das  zweite  Elektrizitätswerk  in  Breslau 
nimmt  die  Leitung  an,  dafs  zukünftig  die  Pferdekraftstunde  mit  10  Pf., 
höchstens  1 2 Pfg.  werde  verkauft  werden  können , wobei  noch  ein  be- 
trächtlicher Reingewinn  übrig  bleiben  werde. *)  Es  handelt  sich  aller- 
dings hier  um  eine  sehr  grofse  Anlage  von  mehr  als  4000  Pferde- 
kräften. *) 

Hs  ist  deutlich,  dafs  die  Zentrale  gegenüber  der  Einzelanlage  und  die 
grofse  Zentrale  gegenüber  der  kleineren  im  Vorteil  ist.  Je  gröfser  nun 
der  Absatz  von  Elektrizität  ist,  desto  gröfsere  Zentralen  können  gebaut 
werden.  Die  Frage  ist  nun  nicht  mehr,  woher  mit  der  Elektrizität, 
sondern  wohin  mit  der  Elektrizität. 

Ich  hatte  bereits  darauf  hingewiesen,  dafs  die  weitere  Entwicklung 
dazu  führen  werde,  alle  landwirtschaftlichen  Maschinen  elektrisch  zu 
betreiben.4)  Uebereinstimmend  damit  erklärte  Professor  Backhaus: 
»Ich  glaube,  das  20.  Jahrhundert  wird  in  der  Landwirtschaft  unter  dem 
Zeichen  der  Elektrizität  stehen , allerdings  nur  dann , wenn  sie  für  alle 
vorkommenden  Zwecke  Verwendung  finden  kann.  Wollte  man  sie  nur 
theilweise  verwenden,  so  wäre  das  nicht  richtig,  sofern  es  nicht  gelingt, 
die  wichtigsten  Feldarbeiten  elektrisch  auszuführen,  bleibt  die  Verwendung 
der  Elektrizität  eine  halbe  Malsregel.  < *)  — Merkwürdigerweise  heifst  es 
dagegen  in  einer  von  Siemens  & Halske  veranlafsten  Publikation:  »Die 
Bodenbearbeitung  durch  Eggen,  sowie  der  Betrieb  etwaiger  Drill-  und  Mäh- 
maschinen erfolgt  vorteilhafter  Weise  durch  Zugtiere,  da  diese  Arbeiten 
bei  einem  verhältnismäfsig  geringem  Kraftbedarf  infolge  beständigen 
Ortswechsels  den  maschinellen  Betrieb  sehr  komplizieren  würden.9) 


')  Jahrbuch  der  Deutschen  Landwirtschafts-Gesellschaft  Bd.  16  (1901)  S.  III. 
*)  Bericht  betr.  Erweiterung  der  städtischen  Elektrizitätswerke  (in  Breslau)  S.  4. 
*)  Die  Maschineneinheiten  der  Elektrizitätswerke  sind  in  stetem  Wachstum  be- 
griffen. Für  neuerdings  eingerichtete  Werke  wurden  Dampfmaschinen  von  6000 
Pferdekräften  bestellt. 

*)  ln  diesem  Archiv  Bd.  XV,  S.  412. 

y\  Jahrbuch  der  Deutschen  Landwirtschafts-Gesellschaft,  Bd.  167  (1901)  S.  63. 
•)  Siemens  & Halske  A.-G.,  Die  Elektrizität  in  der  Landwirtschaft  (1901' 
S.  47. 


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7*8 


Miszellen. 


Es  unterliegt  jedoch  keinem  Zweifel,  dafs  elektrischer  Betrieb  auch 
bei  den  erwähnten  Maschinen  möglich  ist.1)  Uebrigens  dürften,  wenn 
erst  die  Kraftquelle  da  ist,  flir  immer  neue  Zwecke  landwirtschaftliche 
Maschinen  konstruiert  werden,  darunter  solche  mit  grofsem  Kraftbedarf.*) 
Abgesehen  von  dem  elektrischen  Betrieb  aller  Maschinen  werden 
elektrische  Heizung  und  Beleuchtung  möglichst  vielseitig  anzuwenden 
und  das  Signalwesen  auszubilden  sein.  Für  die  elektrische  Beleuchtung 
ist  es  wesentlich,  dafs  sie  nicht  nur  in  Haus  und  Hof,  sondern  auch  auf 
dem  Feld  erfolgt.  Dies  wird  eine  ungemein  wichtige  soziale  Folge 
haben,  die  allgemeine  Einführung  der  Nachtarbeit  in  die  Landwirtschaft. 
Schon  vor  Jahren  hat  sich  ein  Mann , wie  Rudolf  Meyer  für  landwirt- 
schaftliche Nachtarbeit  ausgesprochen , als  das  einzige  Mittel , um  der 
überseeischen  Konkurrenz  zu  begegnen.  Heute,  wo  noch  mehr  die 
Ueberflutung  mit  amerikanischem,  sibirischem  und  bald  auch  babylonischem 
Getreide  droht s),  wo  die  Deroute  auf  dem  Zuckcnnarkt  den  Rübenbau 
gefährdet,  wird  man  aus  sozialen  Gründen  Nachtschichten  nicht  schlecht- 
weg verwerfen  können.  Man  wird  höchstens  verlangen  können,  dafs  die 
in  der  Industrie  eingeführten  gesetzlichen  Beschränkungen  auf  die  Land- 
wirtschaft übertragen  werden.  — Wo  elektrischer  Landwirtschaftsbetrieb 
besteht,  giebt  es  heute  schon  Nachtarbeit.  Dafs  diese  beim  Dreschen 
und  Einfahren  vorkommt,  ist  früher  gezeigt  worden.4)  Für  die  Pflug- 
arbeit genüge  folgendes  Beispiel:  »Auf  Domäne  Catlenburg  (Prov. 
Hannover)  ist  mit  gutem  Erfolge  versucht  worden,  des  Nachts  zu  pflügen, 
was  bei  dem  elektrischen  Pfluge  eher  möglich  ist,  als  beim  Dampfpfluge, 
weil  die  Arbeit  des  Maschinisten  eine  wesentlich  leichtere  ist.  Es  sind 
keine  Kohlen  einzuwerfen  und  kein  Wasserstand  zu  beobachten  und 
vor  allem  wird  der  Maschinist  durch  kein  Kesselfeuer  geblendet,  sodafs 
er  viel  besser  imstande  ist,  seine  Maschine  zu  bedienen,  als  der  Dampf- 
pflugmaschinist. ®) 

Bis  vor  kurzem  waren  die  erwähnten  Anwendungen  der  Elektrizität 
die  einzigen,  die  für  landwirtschaftliche  Zwecke  in  Frage  kamen.  In- 
zwischen ist  in  aller  Stille  ein  neuer  Zweig  elektrischer  Landwirtschaft 
entstanden,  die  Elcktrokultur.  Unter  diesem  Namen  fafst  man  alle 
Methoden  zusammen , das  Pflanzenwachstum  durch  direkte  elektrische 


*)  Vgl.  hierzu  Backhaus,  Das  Versuchsgut  Quednau  (1901)  S.  28. 

*)  In  Paris  war  eine  neu  erfundene  Drainicrmasehine  ausgestellt,  die  12  Pferde- 
kräfte beanspruchte.  Dr.  Albert  u.  Schiller,  Die  landwirtschaftlichen  Maschinen 
auf  der  Pariser  Weltausstellung  (1901)  S.  58  (Arbeiten  der  D.  L.  G.  H.  65.) 

*)  Vgl.  Uber  die  drohende  Konkurrenz  Babyloniens  P.  Kohrbach,  Di 
Bagdadbahn  (1902). 

4)  ln  diesem  Archiv  Bd.  XV,  S.  416. 

3)  Schuckcrt  & Co.  a.  a.  O.  S.  88 


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Otto  Pringshcim,  Die  Aussichten  der  elektrischen  Landwirtschaft  719 


Beeinflussung  zu  befördern.1)  Die  Bemühungen,  durch  elektrische  Kräfte 
Feld-  und  Gartenfrüchte  so  zu  behandeln,  dafs  höhere  Erträge  gewonnen 
werden,  haben  erst  im  letzten  Jahrzehnt  zu  bestimmteren  Resultaten  ge- 
führt. Im  Jahr  1891  begann  Paulin  seine  Versuche,  bald  darauf  folgte 
Jean  Fuchs  in  Clos  Buraccio  auf  Elba,  seit  1899  experimentiert  O’Sulli- 
van  in  Irland  erfolgreich,  1900  und  1901  brachte  Lemstrüm  in  Helsing- 
fors  seine  jahrelangen  Untersuchungen  zum  Abschlufs.  Heute  sind  be- 
reits drei  oder  vier  Systeme  der  Elektrokultur  vorhanden.  Eine  Anzahl 
Forscher  sucht  eine  Erhöhung  der  Bodenfruchtbarkeit  durch  elektro- 
lytische Wirkungen  zu  erreichen , zu  diesem  Beruf  läfst  man  Pflanzen 
zwischen  in  den  Boden  versenkten  Elektroden  wachsen , die  Elektrizität 
aus  einer  Gleichstromquelle  erhalten.  Diese  bereits  seit  einiger  Zeit  be- 
kannte Methode  ist  neuerdings  von  dem  Ingenieur  Heber  in  Rendsburg 
verbessert  und  mit  bedeutendem  Erfolge  angewandt  worden.  — Am 
zahlreichsten  sind  die  Versuche,  die  atmosphärische  Elektrizität  der  Ent- 
wicklung der  Vegetation  dienstbar  zu  machen.*)  »Welch  ungeheueres 
Arsenal  für  den  Ackerbau  nützlicher  Kräfte  beherbergt  nicht  der  den 
Erdball  umgebende  elektrische  Luftozean.  < (Barral.)  Leider  hängt  der 
Erfolg  dieser  Behandlungsweise  von  dem  wechselnden  Zustand  der 
Atmosphäre  ab  und  bleibt  bei  grofser  Trockenheit  auch  ganz  aus. 
Nichtsdestoweniger  sind  auch  hier  günstige  Resultate  erzielt  worden. 
Auch  die  statische  Elektrizität  ist  von  wohlthätigem  Einflufs  auf  das 
Pflanzenleben,  l.emström  hat  die  Wirkung  der  Influenz-Elektrizität  syste- 
matisch untersucht. s)  — Gleichviel,  welches  System  der  Elektrokultur  den 
Sieg  davonträgt,  die  hier  gewonnenen  Resultate  werden  der  Praxis  zu 


')  Die  LiUrratur  über  Elektrokultur  ist  bereits  recht  umfangreich.  Zu  er- 
wähnen ist  besonders:  E.  Wollny,  Leber  die  Anwendung  der  Elektrizität  bei  der 
Pflanzenkultur  (18831.  M.  O'Sullivan,  The  Potato  bligbt,  its  cause  and  preven- 
tion  (1876).  Camille  Pabst,  Electricite  agricole  (1894),  3.  Abschnitt.  Jean 
Fuchs,  C'ommunicatinn  presentee  aux  membres  de  la  VI.  section  du  IV.  congres 
international  d'agriculturc  (Lausanne)  le  16  septembre  1898.  S.  Lemström,  Ex- 
periences  sur  Pinfluencc  de  l’clectricite  sur  les  vegetaux  (1890)  und  Elektrokultur 
(1902).  A.  Daul,  Werdende  elektrische  Gärtnerei  (1902).  G.  Heber,  Eleklricität 
und  Pflanzenwachstum  (1902). 

*)  Uebcr  den  gegenwärtigen  Stand  der  Lehre  von  der  Luftclektrizilät.  Vgl. 
Exner,  Meteor.  Zeitsch.  1900,  H.  12  und  II.  Gcitel,  Ucber  die  Anwendung  der 
Lehre  von  den  Gasionen  auf  die  Erscheinungen  der  atmosphärischen  Elektrizität 
(1902'!. 

J)  Lemströms  Verdienste  um  die  Landwirtschatt  beschränken  sich  nicht  hierauf. 
Auch  seine  Methode,  die  durch  Nachtfröste  verursachten  Schädigungen  zu  verhüten, 
ist  beachtenswert.  Vgl.  Lemström,  On  Night-Frosts  and  the  means  of  preventing  their 
ravages,  llelsingfors  1893. 


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7 20 


Miszellen. 


Gute  kommen.  Für  die  Landwirtschaft  bedeutet  das  eine  Erhöhung 
ihrer  Erträge,  für  die  Elektrotechnik  ein  neues  Feld  der  Bethätigung. 

Aus  den  angeführten  Thatsachen  dürfte  hervorgehen,  dafs  die  Land- 
wirtschaft ein  reiches  sich  stets  erweiterndes  Absatzgebiet  für  Elektrizität 
bilden  wird.  Ob  dasselbe  in  vollem  Umfange  erschlossen  wird,  wird 
wesentlich  von  der  Haltung  der  Elektrizitäts-Gesellschaften  abhängen. 
Glauben  dieselben  sich  für  anderweitige  Verluste  an  der  Landwirtschaft 
entschädigen  zu  müssen , halten  sie  sogar  eine  Ringbildung  ’)  zur  Er- 
leichterung des  Publikums  geboten,  so  ist  es  nicht  ausgeschlossen,  dafs 
die  Landwirte  sich  dauernd  von  der  Elektrizität  abwenden  und  etwa  in 
Spiritusmotoren  ihr  Heil  suchen.  Wird  umgekehrt  den  Landwirten 
elektrischer  Strom  zu  einigermafsen  coulanten  Bedingungen  geliefert,  so 
wird  die  heute  noch  fehlende  Neigung  zu  Neueinrichtungen  sich  ein- 
stellen und  auch  kleinere  Besitzer  ergreifen.2)  — Aber  selbst  in  diesem 
Falle  bleibt  die  »Elektrisierung«  der  Landwirtschaft  eine  gewaltige, 
viele  Jahre  erfordernde  Aufgabe.  Rechnet  man  für  jeden  Kreis  nur 
2 Elektrizitätswerke  und  die  Anlagekosten  derselben  mit  je  einer 
Million  Mark,  so  würde  nahezu  eine  Milliarde  Kapital  erforderlich  sein, 
während  das  Gesamtkapital  der  deutschen  elektrischen  Gesellschaften  nur 
500  Millionen  betragen  soll. 

Wollen  wir  uns  die  ökonomischen  Folgen  des  elektrischen  Land- 
wirtschaftsbetriebes klar  vor  Augen  führen,  so  wird  die  Annahme  zweck- 
dienlich sein , der  jahrelange  L'mgestaltungsprozefs  sei  bereits  abge- 
schlossen und  der  elektrische  Betrieb  in  dem  überwiegenden  Teile  der 
Landwirtschaft  heimisch.  Dies  würde  notwendigerweise  die  Abschaffung 
eines  grofsen  Teils  der  Zugtiere  bedingen.  Nun  entsteht  ein  interessantes 
Problem.  Die  Notwendigkeit,  den  Dünger  der  Zugtiere  zu  ersetzen  und 
die  Stallungen  auszunützen,  wird  die  Aufstellung  von  entsprechend  mehr 
Nutzvieh,  in  erster  Reihe  von  Milchkühen  und  Mastochsen  veranlassen. 
Dazu  drängt  auf  der  anderen  Seite  die  Verringerung  der  städtischen 
Düngerzufuhr  infolge  der  Zunahme  der  elektrischen  Bahnen,  Automobile 
und  Fahrräder.  Wie  soll  nun  diese  Vermehrung  des  Nutzviehbestandes 
möglich  sein , ohne  Druck  auf  den  Milch  und  Fleischmarkt  auszuüben, 


*)  Vgl.  hierüber  die  Vorschläge  von  Hans  Sönnichscn,  Die  Vereinigung 
der  Elektrizitätstirmcn  (1902). 

a)  Wie  sehr  sich  auch  kleinere  Landwirte  mit  der  Elektrizität  befreunden, 
zeigt  folgender  Bericht  über  die  elektrische  Anlage  in  Jaad  (Ungarn).  ,,Dcr  überaus 
praktische  Wert  läfst  sich  am  besten  in  dem  Umstand  erkennen,  dafs  trotz  gleich- 
zeitigem Vorhandensein  einer  Dampfdreschmaschine,  sowie  mehrerer  Göpeldrcsch- 
maschinen  der  Besitzer  der  elektrischen  Garnitur  um  dieselbe  förmlich  bestürmt 
wird  und  auch  der  bisher  ungläubigste  Landwirt  gegenwärtig  keineu  höheren 
Wunsch  hat  als  mit  dieser  Garnitur  seinen  Drusch  besorgen  zu  können.“ 


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Otto  Pringsheim,  Die  Aussichten  der  elektrischen  Landwirtschaft.  72  1 

wenn  jetzt  schon  mäfsige  Erhöhungen  der  Milchpreise  kaum  durchzu- 
setzen sind? 

Um  welche  Umwälzungen  es  sich  handeln  kann,  mögen  folgende 
Ziffern  zeigen.  Die  Produktion  von  Fleisch  und  Milch  läfst  sich  in 
Deutschland  nicht  genau  feststellen.  Fine  neuerdings  aufgestellte  Schätzung 
nimmt  die  Produktion  von  Rindtieisch  zu  700000  Tonnen  jährlich  an.') 
10,5  Millionen  Kühe  würden  bei  Annahme  von  2000  I.iter  jährlichen 
Milchertrag  21  Milliarden  Liter  liefern.  Nun  waren  nach  der  Zählung 
von  1895  mit  Ackerarlteit  beschäftigt 

Pferde  Ochsen  und  Kühe 

2646603  3 358659*) 

Nimmt  man  an,  dafs  nur  je  eine  Million  Pferde  und  Ochsen  durch 
den  elektrischen  Betrieb  überflüssig  werden,  so  sind  zu  ersetzen  an  Dünger 
(180  Ctr.  pro  Pferd,  200  Ctr.  pro  Stück  Rindvieh) 

180  Millionen  Ctr.  Pferdedünger 
200  „ „ Rindviehdünger 

380  Millionen  Ctr.  Dünger. 

Um  diese  Düngermengen  zu  liefern,  müfsten  1,9  Millionen  Stück 
Rindvieh  neu  aufgcstcllt  werden.  F.rfolgt  eine  geringere  Zufuhr  städtischen 
Düngers,  so  würde  die  Vermehrung  des  Viehstapels  noch  gröfser  sein. 
Die  Vermehrung  der  Milchproduktion  würde  mindestens  10 — 20  Proz. 
betragen  und  ebenso  bedeutend  mehr  Fleisch  geliefert  werden.  Bei  der 
geringen  Milchkonsumtion  der  Arbeiterklasse  bedarf  cs  eines  beträcht- 
lichen Anwachsens  städtischer  Bevölkerung,  wenn  eine  Ueberproduktion 
vermieden  werden  soll.") 

Auch  die  heute  schon  vorhandenen  Schwierigkeiten,  Stroh  abzu- 
setzen , können  sich  nach  Verallgemeinerung  des  elektrischen  Betriebs 
steigern. 

Hand  in  Hand  mit  der  Veränderung  der  Viehhaltung,  wird  eine 
Verschiebung  der  Anbauflächen  gehen.  Der  Anbau  von  Hafer  wird 
abnehmen,  dagegen  Klee,  Futterrüben  und  ähnliche  Gewächse  mehr 
gebaut  werden.  Hierunter  kann  ein  Teil  der  Landwirte  zu  leiden  haben.4) 

')  Der  deutsche  Bauer  und  die  Getreidczölle  (1902)  S.  203  und  204.  Eine 
an  gleicher  Steile  mitgeteiltc  Berechnung  des  Deutschen  Landwirtschaftsralcs  nimmt 
754  425  Tonnen  an.  Ueber  die  Schwierigkeit,  die  deutsche  Flcischproduktion  zu 
berechnen.  Vgl.  die  deutsche  Volkswirtschaft  am  Schlüsse  des  19.  Jahrhunderts, 
S.  53  u.  54. 

*)  Statistisches  Jahrbuch  f.  d.  D.  Reich  1900  S.  28. 

•)  „Die  meisten  Arbeiterhaushalte  zeigen,  wenn  cs  hoch  kommt,  einen  täg- 
lichen Verbrauch  von  nur  1 Liter  Milch“.  H.  Kurei  la,  Der  neue  Zolltarif  und 
die  Lebenshaltung  des  Arbeiters  S.  13. 

4)  Nach  Alfred  Nossig,  Die  moderne  Agrarfrage  S.  434«  werden  hiervon 


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722 


Miszellen. 


Ob  nicht  der  Einflufs  des  elektrischen  Landwirtschaftsbetriebs  auf 
die  Arbeiterverhältnisse  ein  tiefeinschneidender  sein  wird,  verdient  jeden- 
falls eine  besondere  Untersuchung,  Hier  genüge  der  Hinweis,  dafs  die 
nächsten  Folgen  Steigerung  der  Intensität  der  Arbeit  und  häufigeres 
Vorkommen  der  Akkordarbeit ')  sein  müssen.  — Auch  die  Zusammen- 
setzung der  Arbeiterschaft  wird  eine  andere  werden.  Neben  den  neu 
auftretenden  Monteuren  und  Maschinisten  werden  die  bei  der  Wartung 
des  Viehs  beschäftigten  Personen,  meistens  Spezialarbeiter  an  Bedeutung 
gewinnen,  während  das  Gesinde  an  Wichtigkeit  verliert. 

Wie  die  Landarbeiter,  werden  auch  die  Landhandwerker  von  dem 
grofsen  Umwandlungsprozefs  der  Landwirtschaft  nicht  unberührt  bleiben.  *) 
Die  Möglichkeit,  mit  Hilfe  der  Elektrizität  eigene  Schmiede-  und  Stell- 
macherwerkstätten zu  betreiben,  wird  von  vielen  Landwirten  benutzt 
werden.  Wenn  auch  die  selbständigen  Handwerker  nicht  ganz  verdrängt 
werden,  so  werden  doch  die  Landwirte  mehr,  als  jetzt  in  der  Lage 
sein,  auf  die  Preisforderungen  derselben  mäfsigend  einzuwirken. 

Wir  brauchen  nicht  zu  erörtern,  wie  weit  die  Lage  der  Bauern 
sich  ändern  wird.  Die  obigen  Andeutungen  dürften  genügen,  um  den 
eingreifenden  Einflufs  des  elektrischen  Betriebes  zu  zeigen.  Es  scheint, 
dafs  auch  hier  die  moderne  Technik  neben  dem  Füllhorn  eine  Pandora- 
büchse trägt.  Deshalb  mag  mancher  bedenklich  werden  und  es  lieber 
sehen,  wenn  alles  beim  alten  bliebe.  Wer  aber  weifs,  dafs  jeder  tech- 
nische Fortschritt  den  Keim  weiterer  Fortschritte  in  sich  trägt,  der 
wird  sich  nie  damit  befreunden  können,  dafs  das  platte  Land  der  Elektro- 
technik verschlossen  bleiben  soll.  Flr  wird  jeden  Sieg  derselben  feiern 
als  ein  Mittel  zur  Erreichung  des  einzig  grofsen  Zieles,  der  j nicksichts- 
losen , in  geometrischer  Progression  vorangetriebenen  Entfaltung  der 
modernen  Produktivkräfte.« 


besonders  die  kleineren  Landwirte  betroffen.  „Die  fallende  Nachfrage  nach  Pferden 
bedeutet  einen  doppelten  Verlust  für  die  kleinen  landwirtschaftlichen  Produzenten“. 

*)  Heute  hindert  die  Furcht,  dafs  die  Zugtiere  überangestrengt  werden,  vielfach 
die  Ausdehnung  der  Akkordarbeit.  Leopold  Hübel,  Die  Gestaltung  des  land- 
wirtschaftlichen Betriebes  mit  Rücksicht  auf  den  herrschenden  Arbcitermhngcl  (1902) 

S.  53- 

9)  Ueber  die  Lage  und  Zukunft  des  Landhandwerks.  Vgl.  Sombart,  Der 
moderne  Kapitalismus,  besonders  I,  580  ff. 


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LITTERATUR. 

Lotmar,  Philipp,  Der  Arbeitsvertrag.  Nach  dem  Privatrecht  des 
Deutschen  Reiches.  — Erster  Band.  Leipzig,  Duncker  & 
Humblot  1902,  gr.  8°,  827  S. 

Als  Zweck  seines  Werkes  bezeichnet  der  Verfasser  auf  S.  1,  eine 
Darstellung  des  Privatrechtes  des  Arbeitsvertrages  zu  liefern  „auf  Grund 
der  deutschen  Reichsgesetze  und  an  derHand  der  wirtschaftlichen 
Thatsache n“.  Die  vorzügliche  Art,  in  der  er  insbesondere  den  letzten 
Teil  dieses  Versprechens  gelöst  hat,  ist  schon  als  reine  Arbeitsleistung 
betrachtet  des  höchsten  Lobes  sicher.  Der  Verfasser  hat  die  grofsen 
Knquöten  des  Vereins  für  Sozialpolitik,  das  in  der  „Sozialen  Praxis“,  dem 
„Gewerbegericht“  und  den  nationalökonomischen  Fachzeitschriften  und 
Monographien  zerstreute  Material  in  umfassender  Weise  systematisch  be- 
nutzt und  so  ein  Werk  geschaffen,  welches  — mag  das  Urteil  über 
seinen  sachlichen  Standpunkt  ausfallen  wie  immer  — jedenfalls  in  seiner 
Art  in  der  bisherigen  privatrechtlichen  Litteratur  nicht  viele  und  auf 
dem  Gebiet  des  Privatrechtes  der  modernen  Arbeit  überhaupt  nicht 
seines  Gleichen  hat.  — Es  ist  aber  grade  angesichts  der  umfassenden 
Beherrschung  der  ökonomischen  Thatsachen,  welche  sich  der  Verfasser 
zu  verschaffen  gewufst  hat,  nur  um  so  mehr  anzuerkennen,  dafs  er  der 
naheliegenden  Gefahr:  ökonomische  und  juristische  Betrachtungsweise 
zu  vermengen,  völlig  entgangen  ist.  Die  Berufung  auf  „wirtschaft- 
liche Gesichtspunkte“,  wie  wir  sie  gelegentlich  in  der  Judikatur  und  noch 
öfter  in  der  Litteratur  der  letzten  Jahrzehnte  finden,  stellt  sich  fast  immer 
dann  ein,  wenn  die  juristischen  Begriffe  fehlen.  — Die  prinzipielle  Be- 
schränkung des  Verfassers  auf  die  juristische  Behandlung  seines  Themas 
tritt  schon  in  dessen  Abgrenzung  zu  Tage,  welche  durch  den  zu 
Grunde  gelegten  rein  formalen  Begriff  des  „A  r be  i t s v e r t r a g e s“  ge- 
geben wird.  Die  Aufgabe  der  Feststellung  und  systematischen  Analyse 
des  Inhalts  dieses  Begriffs  füllt  fast  die  Hälfte  des  vorliegenden  Bandes 
(S.  32—344)- 


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7 24 


Litteratur. 


Eine  „ökonomisch“  orientierte  Begriffsbildung,  die  ihre  Systematik  der 
„Materie“  des  Wirtschaftslebens  entnehmen  wollte,  würde  vermutlich  die- 
jenigen Thatbestände,  welche  der  Verfasser  als  „proletarische  Arbeitsver- 
hältnisse“ bezeichnet,  zu  erfassen  suchen,  und  wenn  dieser  Versuch,  wie 
auf  dem  Gebiete  des  Rechtes  kaum  anders  möglich,  mifslänge,  sich 
genötigt  sehen,  die  Kategorie  „Arbeitsvertrag“  überhaupt  beiseite  zu  lassen 
und  die  einzelnen  von  der  Gesetzgebung  bisher  erfafsten  Typen  von 
Arbeitsverhältnissen  je  isoliert  als  untereinander  nicht  weiter  zusammen- 
hängende Gebilde  hinzunehmen  und  zu  analysieren.  Zersplitterung  und 
Prinzipienlosigkeit  der  wissenschaftlichen  Erfassung  des  Rechts  der  mo- 
dernen Arbeit,  insbesondere  die  Unfälligkeit,  für  nicht  von  der  Gesetz- 
gebung geregelte  Thatbestände,  wie  sie  das  Leben  täglich  neu  bietet, 
den  juristischen  Ort  zu  bestimmen,  wäre  die  thatsächlich  bereits  nur  zu 
oft  zu  beobachtende  Folge. 

Ferner  aller  läge  eine  entscheidende  formale  Schwierigkeit  fiir 
jeden  solchen  Versuch  in  dem  Umstand,  dafs,  im  Anschlufs  an  das 
römische  Recht , auch  das  Bürgerliche  Gesetzbuch  die  abstrakten  Kate- 
gorien „Dienstvertrag“  und  „Werkvertrag"  aufgestellt  und  rechtlich  ge- 
regelt hat.  Ihr  Bereich  durchschneidet  sich  mit  demjenigen  von  min- 
destens einem  Teil  der  anderweit  gesetzlich  geregelten  konkreten  That- 
bestände; die  rechtliche  Regelung  dieser  letzteren  durch  Spezialgcsetze  ist 
ferner  in  sehr  verschiedenem  Mafse  vollständig  ') ; und  schon  die  mangel- 
hafte Definition,  welche  das  Bürgerliche  Gesetzbuch  für  die  eine  seiner 
Kategorien : den  „Dienstvertrag",  giebt,  schliefst  endlich  auch  die  Möglich- 
keit aus,  alle  jene  Spezialtypen  gemeinsam  mit  denjenigen  ähnlichen 
Thatbeständen,  welche  sonst  das  Leben  bietet,  als  einfache  Abwandlungen 
jener  beiden  abstrakten  gesetzlichen  Typen  des  bürgerlichen  Gesetzbuchs 
zu  erfassen. 

Einen  grundsätzlichen  Ausweg  aus  dieser  vom  Verfasser  gründlich 
und  überzeugend  dargelegten  Situation  findet  er,  — im  Anschlufs  an 
eine  auch  von  anderen  geäufserte,  aber  nicht  erschöpfend  begründete  An- 
sicht, — allein  in  der  Herstellung  eines  rein  wissenschaftlich  zu  gewinnen- 
den juristischen  „Ueberbaus"  Uber  den  sämtlichen  einzelnen  abstrakten 
und  konkreten  gesetzlichen  Typen,  welche  als  solche  auf  den  so  zu  finden- 
den Gattungsbegriff  zu  reduzieren  sind.  Nur  auf  diese  Art  — darin 
kann  dem  Verfasser  nur  beigepflichtet  werden  — kommt  insbesondere 
auch  der  wissenschaftlich  und  gesetzgeberisch  gleich  sehr  als  Stiefkind 


')  Ks  ist  z.  B.  der  Vertrag  mit  Heimarbeitern  kein  gewerblicher  Arbeits- 
Vertrag  im  Sinne  der  G.O.  (S.  311),  dagegen  ist  er  „Arbeitsvcrlrag“  nach  des  Ver- 
fassers Terminologie  auch  wo  der  Arbeitnehmer  den  Stoff  beschafft  (S.  184.  185); 
problematisch  bleibt,  ob  er  als  liienstvcrtrag  oder  als  Werkvertrag  im  Sinne  des  B.G.B. 
zu  behandeln  ist  oder  keiner  dieser  Kategorien  untersteht,  worüber  der  Verf.  im 
2.  Band  sich  äufsern  will  (S.  31 1 unten). 


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Lotmar,  Philipp,  Der  Arbeitsvertrag.  725 

behandelte  gewerbliche  Arbeitsvertrag  systematisch  zu  seinem  Rechte. 
Dies,  obwohl  oder  vielmehr  gerade  weil  sich  der  so  gewonnene  Rechts- 
be griff  des  Arbeitsvertrages  gegen  die  Qualität  und  den  Preis  der  be- 
dungenen Arbeit  ebenso  indifferent  verhält,  wie  gegen  die  ökonomische 
und  soziale  Lage  der  beteiligten  Parteien  (S.  60  ff.).  „Arlteitnehmer“ 
im  Rechtssinn  und  „Arbeiter“  im  üblichen  sozialpolitischen  Sprachgebrauch 
sind  selbstverständlich  nicht  identisch:  im  Rechtssinn  ist  der  Norddeutsche 
Lloyd  ganz  ebenso  Arbeitnehmer  gegenüber  dem  Passagier  wie  der  Ver- 
leger gegenüber  dem  Atiftr ')  und  der  Fabrikarbeiter  gegenüber  dem 
Fabrikanten.  Wer,  wie  es  mifsverständlich  geschieht,  in  dem  darin  sich 
äufsernden  Formalismus  der  juristischen  Begriffsbildung  den  Grund 
des  vielbeklagten  „unsozialen“  Charakters  des  geltenden  Privatrechts  oder 
der  bestehenden  Rechtspflege  J)  sucht,  greift  weit  fehl.  Nicht  unformale, 
„positive“  B e g r i f f e , sondern  passend  spezialisierte  Rechts  normen 
und  unbefangene,  sich  streng  an  die  Norm  und  damit  auch  an  die  Form 
— „die  Zwillingssehwester  der  Freiheit“  — bindende  Rechtsprechung 
thun  not.*) 

Die  juristische  Wissenschaft  kann  dagegen  dem  Ziele  einer  zeitge- 
mäfsen  legislatorischen  und  jurisdiktionellen  Behandlung  der  Interessen  der 
Arbeiterklasse  dadurch  und  nur  dadurch  den  Weg  ebnen,  dafs  sie  1)  die 
Thatsachen  des  Lebens  und  damit  die  praktische  Bedeutung  der  Rechts- 
normen, sowohl  der  bestehenden  als  anderer  als  möglich  zu  konstruierender, 
unbefangen  und  unter  möglichster  Vermeidung  vorschneller  Werturteile 
erfafst,  und  2) die  einmal  bestehenden  Rechtsnormen  nach  ihrer  formalen 
Methode  logisch  bearbeitet  und  dadurch  ihre  Anwendung  der  Willkür 
entzieht,  auch  derjenigen  F'orm  der  Willkür,  welche  sich  in  das  Gewand 
sozialethischer  F.rwägungen  kleidet.  Mögen  solche  in  einem  einzelnen 
Fall  einmal  den  Interessen  der  Arbeiterschaft  zu  gute  kommen,  so  ist  — 
die  F.rfahrung  der  letzten  Jahre  hat  uns  das  genügend  gelehrt  — nichts 
sicherer,  als  dafs  sie  bei  dem  sozialen  Milieu,  welches  den  Berufsjuristen 
umgiebt  und  mit  dem  für  absehbare  Zeit  zu  rechnen  ist,  auf  die  Dauer 
ganz  anderen  Interessen  dienstbar  werden. 


*)  Ich  will  nicht  verhehlen,  dafs  mir  die  Auflassung  der  Uebcrtragung  des 
Vertriebs  seitens  des  Autors  (==  der  Erwerbsgelcgenheit)  als  Arbeitsentgelt  des 
Verlegers  der  Natur  des  Verhältnisses  Gewalt  anzuthun  scheint,  suspendiere  aber 
mein  definitives  Urteil  bis  zum  Erscheinen  des  zweiten  Bandes. 

*)  Die  Frage  der  Berechtigung  dieser  Beschwerde  bleibt  hier  ganz  dahingestellt 
Vergleiche  darüber  A.  Meng  er,  Das  bürgerliche  Recht  und  die  besitzlosen  Volks- 
klasscn. 

*)  Hiermit  scheint  im  Ergebnis  auch  Mengcr  a.  a.  O.  einverstanden,  trotz  mehr- 
facher im  Einzelnen  nicht  substanziierter  Bemerkungen  gegen  den  „Formalismus“  des 
geltenden  Privatrechts.  Vgl.  seine  Bemerkungen  über  die  Analogie,  a.  a.  O.  S.  25. 

Archiv  ftir  soz.  Gesetzgebung  u.  Statistik.  XVII.  47 


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726 


Litteratur. 


Der  vom  Verfasser  zugrunde  gelegte  privatrechtliche  Thatbestand 
des  Arbeitsvertrages  J)  — Zusage  von  Arbeit  gegen  Entgelt  — erscheint 
an  sich  recht  einfach.  Allein  der  Versuch,  die  positiven  Rechtsnormen, 
denen  er  untersteht,  systematisch  zu  entwickeln,  stöfst  auf  ein  unentwirr- 
bar scheinendes  Durcheinander  überall  hin  verzettelter  gesetzlicher  De- 
tails, welche  zunächst  einer  vom  Verfasser  mit  grofser  Sorgfalt  vor- 
genommenen Umschichtung  und  Neuanordnung  bedurften.  Der  Arbeits- 
vertragsbegriff  des  Verfassers  schneidet  dabei  gelegentlich  gesetzliche 
Typen  durch : so  den  Hinterlegungsvertrag  des  B.G.B.,  der  unter  die 
Arbeitsverträge  nur  im  Fall  der  (allerdings  gesetzlich  präsumierten]  Ent- 
geltlichkeit fällt.  Er  weist  ferner  die  unentgeltlichen  Arbeitsverhältnisse 
grundsätzlich  ab.  Die  praktische  Bedeutung  dieser  Scheidung  ist 
nicht  allzu  grofs.  5)  Der  systematische  Grund  liegt  für  den  Verfasser  in 

*)  Die  Bedeutung  der  Aufstellung  dieser  Kategorie  liegt  nicht  zuletzt  auch  in 
der  Beseitigung  der  Subsumtion  des  Arbeitsvertrages  unter  die  Miete.  Hier 
einige  Bemerkungen  zu  den  Ausführungen  des  Verfassers.  Dafs  die  prinzipielle 
Scheidung  von  der  Miete  sich  schon  dadurch  ergäbe,  dafs  die  Arbeit  durch  Ge- 
brauch „aufgebraucht“  werde  (S.  49)  und  nicht  zurückerstatlet  werden  könne,  die 
Miete  aber  auf  res  quae  usu  consumuntur  nicht  anwendbar  sei,  dieser  Ansicht  wird 
kaum  zugestimmt  werden  können.  Wenn  L.  als  Gegensatz  die  unzweifelhaft  ver- 
mietbare Wasserkraft  anführt,  so  liegt  die  Sache  hier  bezüglich  der  einmal  hinab  ge- 
laufenen Wassermengen  ebenso,  nicht  anders  auch  bezüglich  der  einmal  abgclaufencn 
Zeitspanne  beim  Vermieten  eines  Hauses.  Vielmehr  entscheidet  der  auch  vom  Ver- 
fasser hervorgehobene  Umstand,  dafs  die  „vermietete“  Arbeitskraft  nach  unsrer 
heutigen  Anschauung  nicht  in  Detcntion  und  usus  des  „Mieters“  derselben  über- 
geht. Dafs  die  Auffassung  des  antiken  Rechtes  hier  eine  andre  war,,  erklärt  sich 
aus  der  geschichtlichen  Herkunft  des  freien  Arbeitsvertrages.  Temporäre  Begründung 
von  Arbeitsverhältnissen  geschieht  in  der  ältesten  Zeit  — worüber  uns  die  Keil- 
schriften, die  indischen  Dramen  und  noch  der  rudimentäre  Rest,  der  im  römischen 
mancipium  in  die  historische  Zeit  hineinragt,  belehren  — entweder  als  Kauf  von 
Unfreien  (des  fremden  Kindes  oder  Sklaven),  oder  als  Miete  derselben,  also  von 
Sachen:  dergestalt,  dafs  z.  B.  in  den  Keilschriften  das  Mieten  eines  freien  Ar- 
beiters in  dem  Vertragsschema  der  Miete  eines  fremden  Sklaven  untergebracht  und 
als  Miete  des  Arbeiters  von  ihm  selbst  als  Vermieter  bezeichnet  und  als  tem- 
poräre Versklavung  rechtlich  behandelt  wird. 

*)  Es  fällt  nach  dem  Verfasser  z.  B.  das  Volontärvcrhältnis  mangels  Entgelt- 
lichkeit aus  dem  Bereich  des  Arbeitsertrages  heraus.  Ebenso  das  unentgeltliche 
Auftragsverhältnis  des  B.G.B.  Unterliegt  dies  keinen  wesentlichen  praktischen  Be- 
denken, so  wird  man  daran  zunächst  Anstofs  nehmen,  dafs  der  Aufbewahrungs- 
vertrag, je  nachdem  er  entgeltlich  oder  unentgeltlich  geschlossen  wird,  Arbeitsvertrag 
sein  soll  oder  nicht.  Indessen  ist  eine  solche  Scheidung,  welche  im  positiven 
deutschen  Recht  allerdings  wesentlich  nur  für  die  Bestimmung  der  pflichtmäfsigcn 
Sorgfalt  des  Verwahrers  Bedeutung  hat , an  sich  alt  und  in  den  verschiedensten 


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L otmar  Philipp,  Der  Arbeitsvertrag. 


727 

dem  Bedürfnis,  den  Arbeitsvertrag  ausschließlich  auf  dem  Gebiet  der 
synallagmatischen  Vetträge  zu  erhalten.  Es  ist  nun  dem  Verfasser  nicht  zu 
bestreiten,  dafs  das  juristische  Interesse  am  Arbeitsvertrag  wesentlich 
in  den  Beziehungen  von  Arbeit  und  Entgelt  zueinander  gipfelt.  Das  allein 
würde  aber  die  Ausschliefsung  der  unentgeltlichen  Arbeitsverhältnisse  viel- 
leicht noch  nicht  unbedingt  erzwingen.  Vielmehr  war  doch  wohl  entschei- 
dend, dafs  nach  der  Methode  des  Verfassers  auch  die  systematische 
Gliederung  des  Arbeitsvertrages  an  jene  Beziehung  allein  anknüpfen 
kann.  Der  formale  und  zu  scharfer  disjunktiver  Bcgriffsbildung  geneigte 
Standpunkt  des  Verfassers  macht  sich  nämlich  auch  bei  der  Frage  der 
Arteinteilung  des  Arbeitsvertrages  geltend.  Der  Verfasser  fragt  zu- 
nächst — und  das  mit  Recht  — auch  hier  (S.  342 — 43  cf.  auch  S.  323  f. 
insbes.  328'  lediglich  nach  den  im  logischen  Sinne  „reinen"  Thatbe- 
ständen,  wie  sie  „das  I.eben“  — d.  h.  hier:  nicht  die  Gesetze  — liefert 
und  gelangt  dabei  zu  völligem  Absehen  von  den,  für  die  Feststellung  des 
Begriffs  „Arbeitsvertrag“  von  ihm  lediglich  als  Erkenntnismittel  ver- 
werteten, gesetzlichen  Typen.  Er  ist  der  Ansicht,  dafs  als  artbildendes 
Merkmal  weder  die  Art  der  Arbeitsleistung  noch  die  Art  des  Entgelts, 
sondern  lediglich  die  Art  der  Beziehung  beider  zueinander  in  Frage  komme: 
Zeitlohn  oder  Akkord.  Es  versteht  sich,  dafs  über  den  wissenschaftlichen 
Wert  einer  Arteinteilung  nur  das  dadurch  erzielte  Ergebnis  an  wissen- 
schädlicher  Erkenntnis  entscheiden  kann.  Da  die  Ausführung  der  Konse- 
quenzen jener  vom  Verfasser  ausschliefslich  zugrunde  gelegten  Ein- 
teilung und  die  systematische  Erörterung  beider  Kategorien  dem  2.  Band 
überwiesen  ist,  auf  den  der  Verfasser  selbst  wiederholt  verweist,  so  wird 
erst,  wenn  dieser  vorliegt  und  der  Verfasser  die  Früchte  seiner  Syste- 
matik erntet,  ein  endgültiges  Urteil  möglich  sein.  Erst  dann  wird  ins- 
besondere sich  zeigen  müssen,  ob  thatsächlich  auch  bei  den  keineswegs 
vereinzelt  verkommenden  Kombinationen  von  Zeitlohn  und  Akkord 
sich  dennoch  immer  — wie  der  Verfasser  sich  nicht  ganz  klar  aus- 
drückt: — „das  Walten  der  einen  und  der  anderen  Form  aufz.eigen  läfst“ 
derart,  dafs  der  Artgegensatz  in  seiner  Reinheit  erhalten  bleibt. 

Auf  die  Einzelheiten  des  ersten  Abschnittes  einzugehen  ist  hier 
nicht  möglich,  und  auch  aus  dem  eben  erwähnten  Grunde  noch  nicht 
wünschenswert.  Hingewiesen  sei  daher  nur  noch  auf  die  vom  Verfasser 
schon  in  anderen  Arbeiten  vertretene  weite  Ausdehnung  des ' Begriffs  der 
Moral  Widrigkeit,  welche,  so  sehr  man  vielem  zuzustimmen  geneigt 
sein  wird,  kaum  durchweg  auf  den  Beifall  der  Rechtsprechung  wird 
zählen  dürfen.  Als  moralwidrig  und  daher  nichtig  sieht  er  — um 

Hechten  vollzogen  (vgl.  z.  B.  die  grofse  Tragweite  des  Unterschiedes  im  Talmud). 
. — Klar  und  zutreffend  ist  vom  Verfasser  die  Scheidung  zwischen  dem  Gesellschafts- 
Vertrag  und  partiarischen  Arbeitsverhältnissen  durchgefiihrt  iS.  401).  Fs  entscheidet 
das  Vorhandensein  oder  Fehlen  einer  Vermogcnsgemcinschaft  (B.G.B.  71S.  722). 

47* 


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Littcratur. 


Einzelnes  hervorzuheben  — nicht  nur  den  Vertrag  mit  Claqueurs  und 
Privatdetektivs  an  ('S.  109 — uo),  sondern  auch  das  kontraktliche  Ver- 
bot des  Beitritts  zu  Fachvereinen  und  die  Zumutung  eines  Arbeitgebers 
an  seine  Arbeiter,  Strikebrecherarbeit  zu  leisten  (S.  118 — 119)-  Danach 
niufs  aber  z.  B.  auch  der  Arbeitsvertrag  mit  „Arbeitswilligen"  im 
Strikefall,  ebenso  aber  auch  die  Arbeitsverträge  mit  einzelnen  Arbeit- 
gebern, welche  die  Forderungen  der  Strikenden  erfüllen,  während 
andere  sie  ablehnen,  und  das  Weiterarbeiten  der  von  einer  partiellen 
Sperre  nicht  betroffenen  Betriebe  moralwidrig  sein,  — Konsequenzen,  die 
Lot  mar  doch  kaum  wird  ziehen  können,  ’)  obwohl  er  z.  B.  nicht  vor 
der  Feststellung  zuriickschreckt,  dafs  ein  grofser  Teil  unserer  Produktion 
auf  nach  § 138  B.G.B.  (Wucherparagraph)  ausbeuterischen  und  daher 
nichtigen  Arbeitsverträgen  ruhe  (S.  171  und  172).-')  So  sympathisch 
L.'s  sozialpolitische  Gesinnung  in  solchen  Ansichten  zu  Tage  tritt,  so 
wird  er  sich  selbst  nicht  verhehlen,  dafs  zur  Uebertragung  seiner  Auf- 
fassungen in  das  Gebiet  der  Rechtspraxis  heute  grundstürzende 

*)  Wenn  aber  doch,  dann  wäre  es  wünschenswert  gewesen,  dafs  er  die  Konse- 
quenzen bis  aufs  letzte  ausdrücklich  gezogen  hätte.  Dieselben  sind  nämlich  keines- 
wegs an  sich  widersinnig,  sic  führen  nur  m.  E.  auf  Aufgaben  welche  die  Rechts- 
pflege nicht  lösen  kann.  Denn  die  praktische  Folge  jener  Anwendung  des  Begriffs 
der  Moralwidrigkcit  auf  Verletzung  von  Klasseninteressen  würde  sein  müssen:  dafs 
in  jedem  Fall  einer  Arbeitsstreitigkeit  gültige  Arbeitsverträge  weiterhin  nicht  einge- 
gangen und  die  Ausführung  der  noch  laufenden  nicht  erzwungen  werden  kann. 
Mit  anderen  Worten:  das  Zivilrecht  wird  gewissermafsen  wegen  Ausbruchs  eines 
sozialen  Kriegszustandes  auf  dessen  Dauer  in  seiner  Anwendbarkeit  auf  das  Ar- 
bcilsvcrhältnis  innerhalb  des  Gebiets  der  Arbeitseinstellung  sistirt,  ähnlich  wie 
etwa  die  Thätigkcit  des  Arbeitsnachweises.  Damit  entsteht  der  Zwang,  zur  Her- 
stellung des  Normalzustandes  von  Klasse  zu  Klasse  zu  verhandeln.  Das  Vorhanden- 
sein juristisch  legitimierter  Organisationen  wäre  aber  dann  offenbar  absolute 
Voraussetzung  dafür,  dafs  überhaupt  im  Rechtssinn  eine  Beendigung  dieses  Zustandes 
cintretcn  könnte.  Praktisch  kämen  wir  damit  nicht  etwa  nur  zur  gesetzlichen  An- 
erkennung der  Koalitionen  im  gewöhnlichen  Sinne  dieser  Forderung , sondern  bei 
konsequenter  Lösung  zur  Z wan  g s Organisation  der  beiden  beteiligten  Parteien.  Dies 
zeigt  m.  E.  deutlich  genug,  dafs  die  ethischen  Aufgaben,  welche  der  Verfasser  hier 
der  Rechtspflege  stellt,  thatsächlich  solche  der  Gesetzgebung  sind,  — einer 
Gesetzgebung,  die  in  weiter  Zukunft  liegt. 

*)  So  zweifellos  die  Anwendbarkeit  des  § 138  auf  das  Gebiet  des  Arbeits- 
vertrages ist,  so  zweifelhaft  ist  es,  welche  Früchte  seine  Verwertung  im  Sinne  des 
Vcrf.  tragen  würde.  Voraussetzung  ist,  dafs  die  Vcrmögcnsvorleile  des 
Arbeitgebers  im  auffälligen  Mifsvcrhältnis  zur  Leistung  des  Arbeiters  stehen. 
Grade  in  den  sozialpolitisch  bedenklichsten  Fällen  aber,  bei  Schmarotzer-Industrien 
mit  Heimarbeit,  zumal  wo  der  Zwischcnmcistcr  rechtlich  als  Arbeitgeber  erscheint* 
ist  dies  sehr  häutig  nicht  der  Fall. 


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!, otmar,  Philipp,  Der  Arbeitsvertrag. 


729 


Aenderungen  des  ganzen  Charakters  unserer  Rechtspflege,  namentlich  die 
Beseitigung  ihrer  formalistischen  Grundlage,  m.  a.  W.'Uebergang 
zur  „Kadijustiz"  vorausgesetzt  werden  tnüfsten.  Das  Richterpersonal 
unserer  ordentlichen  Gerichte  erscheint  für  eine  derartige  Aufgabe  nicht 
qualifiziert;  wo  es  sich,  freiwillig  oder  unter  dem  Zwang  schlechter  Re- 
daktion tler  Gesetze,  derselben  bemächtigt  hat,  ist  das  Ergebnis1)  bisher 
wenig  erfreulich  gewesen.  Selbst  die  Gewerbegerichte  aber  würden  bei 
so  weittragenden  Versuchen  nur  den  Ast  absägen,  auf  dem  sie  selbst 
sitzen.  Das  Problem  des  Minimallohns  ist  vermittelst  unserer  Rechts- 
pflege, und  wohl  auf  dem  Wege  der  Rechtspflege  überhaupt,  nicht  lösbar; 
und  richterliche  Instanzen,  die  es  dennoch  versuchten,  würden  augen- 
blicklich in  den  Strudel  des  Klassenkampfes  gerissen,  ihres  Charakters 
als  Instanz  über  den  Parteien  entkleidet  und  betreffs  ihrer  Zusammen- 
setzung und  Parteistellung  Gegenstand  des  politischen’ Machtkampfes.  Es  hat 
seinen  guten  Grund,  dafs  die  Funktion  des  Gewerbegerichtes  als  K ini- 
gungsamt  auf  die  Regelung  zuk  ünftiger  Arbeitsbedingungen  be- 
schränkt ist.  Die  Arbeiterschaft  hat  unter  unseren  Verhältnissen  m.  E. 
allen  Anlafs,  sich  zunächst  auf  die  auch  heute  noch  nicht  erfüllte 
Forderung  zu  beschränken,  dafs  ihr  formal  gleiches  Recht  unter  Bei- 
seitelassung  aller  Kautschukparagraphen  — auch  der  möglicherweise 
zu  ihren  Gunsten  verwertbaren  — zugemessen  werde  *) 


*)  Man  denke  an  die  unglaubliche  Judikatur  des  Reichsgerichts  in  Hörsen- 
angelegcnhcitcn. 

*)  Obige  Ausführungen  wollen  nicht  etwa  als  eine  „Widerlegung“  Lotmars  be- 
trachtet sein.  Es  ist  durchaus  zuzugeben,  dafs  wenn  man  mit  dem  $ 138  Absatz  2 
B.G.B.  in  auch  nur  annähernd  ähnlicher  Weise  „Ernst  macht“  wie  das  Reichsgericht 
mit  dem  Begriff  des  „groben  lTnfugs“  oder  wie  Reichsgericht  und  Oberverwaltungs- 
gericht mit  gewissen  anderen  Bestimmungen  unserer  Gesetze,  man  schliefslich 
zu  den  Konsequenzen  des  Verfassers  und,  wie  gezeigt,  noch  darüber  hinaus  ge- 
langen mufs.  Es  ist  nur  begreiflich,  wenn  der  Verfasser  hier  Einseitigkeit  der  Ein- 
seitigkeit rntgcgcnstellt.  Und  — um  auf  die  Erörterungen  der  vorigen  Anmerkung 
nochmals  zurückzugreifen  — nachdem  der  Gedanke  aufgetaucht  war,  den  psychischen 
Zwang  zum  Streik  mit  entehrenden  Strafen  zu  belegen,  »st  es  ein  ganz  natürlicher 
Rückschlag  hiergegen,  wenn  der  Verfasser  auf  die  ethischen  Grundlagen  auch 
der  so  viel  beklagten  „Ausschreitungen“  gegen  „Arbeitswillige“  zurückgreift. 
Sicherlich  mufs  cs  ja  den  Massen  der  Arbeiterschaft  unverständlich  sein,  wenn  an 
Stellen,  welche  mit  Recht  die  Pflege  von  „Ehre  und  Kameradschaft“  als  der  sitt- 
lichen Grundpfeiler  des  Heeres  unter  ihre  Obhut  nahmen,  das  Verständnis  dafür 
völlig  mangelt,  dafs  in  den  ökonomischen  Kämpfen  der  Gegenwart,  ungeachtet  ihrer 
oft  rohen  Können,  doch  auch  der  sittliche  Gedanke  der  Kameradschaft  der  Arbeits- 
genossen untereinander  als  einer  bindenden  Ehrenpflicht  sich  auswirkt.  — Allein,  es 
darf  schliefslich  nicht  verkannt  werden,  dafs  im  politischen  wie  im  ökonomischen 
Krieg  Empfindung  gegen  Empfindung  steht,  und  dafs,  wenn  einmal  der  rein  formale 


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730 


Litteratur. 


Es  mufs  hier  von  einer  eingehenderen  Besprechung  der  Abschnitte 
II,  III,  IV  ; — Zahlungszeit,  Arbeitszeit,  Vertragszeit  — abgesehen  werden, 
so  wertvoll  viele  der  Ausführungen  des  Verfassers  auch  sind  — z.  B.  S.  448  die 
Kritik  des  §1193  der  G.O.,  S.  465 — 66  die  prinzipielle  Erörterung  der  all- 
gemeinen Konsequenzen  der  Mittellosigkeit  als  normalen  Zustandes  des 
Arbeitsnehmers  für  die  legislatorische  Behandlung  des  proletarischen 
Arbeitsvertrages.  Hier  sollen  vielmehr  noch  einige  Bemerkungen  zu 
Abschnitt  V,  in  welchem  die  Naturalvergütung,  und  Abschnitt  VI,  in 
welchem  der  Tarifvertrag  exkursweise  eingehender  behandelt  sind,  gemacht 
werden. 

Dafs  der  Verfasser  die  Natural  Vergütung  zum  Gegenstand  einer 
selbständigen,  systematischen  Behandlung  gemacht  hat,  ist  sehr  dankens- 
wert. Allerdings  führt  die  hier  wohl  etwas  zu  weitgehende  Neigung 
des  Verfassers  zu  zweigliedrig-disjunktiver  Klassifikation  zu  manchen  nicht 
ohne  weiteres  anzunehmenden  terminologischen  Konsequenzen.  Da  er 
Naturalvergütung  und  Geldvergütung  als  erschöpfende  Gegensätze  be- 
handelt, gelangt  er  dazu,  auch  die  Gewährung  von  Erwerbsgelegenheit 
— z.  B.  zum  Trinkgeldverdienst  — als  Natural  Vergütung  aufzufassen,  da 
sie  keinen  Geldaufwand  des  Prinzipals  darstelle  (S.  700).  Nun  ist  aber 
der  Begriff  „Naturalien“  ökonomischen  Ursprungs  und,  soll  er  juristisch 

Standpunkt  des  Rechts  verlassen  wird,  aus  solchen  allgemeinen  Empfindungen  heraus 
je  nach  der  persönlichen  Wcltanschaung  auch  das  grade  Gegenteil  deduzierbar  ist. 
Es  ist  ein  Irrtum  der  „ethischen“  Nationalökonomen  und  Politiker,  zu  glauben,  dafs 
in  solchen  Fällen  ein  eindeutiger  sittenrichterlicher  Entscheid  möglich  sei.  — Den 
Beweis  für  das  Gesagte  kann  der  Verfasser  leicht  den,  in  sachlicher  Hinsicht  höchst 
verdienstlichen  und  scharfsinnigen  Ausführungen  von  G.  A.  Leist  über  die  Frage 
der  Zwangsgcwalt  der  Vereine.  [„Vereinsfreiheit  und  Vereinsherrschaft  in  Deutsch- 
land“, und:  „Die  Strafgcwalt  privater  Vereine“  in  Schmollcrs  Jahrbuch  1902]  ent- 
nehmen, über  welche  eine  Bemerkung  gestattet  sei,  da  auch  hier  über  ein  eng  ver- 
wandtes Thema  aus  vermeintlich  allgemeinen  Rechtsprinzipien  heraus,  ohne  ge- 
nügende Abwägung  der  praktischen  Konsequenzen  deduziert  wird.  Leist  bekämpft 
vom  Standpunkt  eines  dem  Lotmar'schcn  polar  entgegengesetzten  extremen  Indi- 
vidualismus aus  jeden  vom  Staat  nicht  ausdrücklich  sanktionierten  ökonomischen 
oder  sonstigen  psychischen  Zwang  gegen  das  einzelne  Vcreinsmitglicd  zum  unfrei- 
willigen Festhalten  am  Verein.  Er  berücksichigt  dabei  nicht,  dafs  auf  sozialem  Ge- 
biet damit  lediglich  die  volle  Anarchie  des  Klassenkampfes  mit  allen  ähren  aus  der 
Zeit  vor  Entstehung  der  Gcwcrkvcreinc  wohl  bekannten  Konsequenzen  erzwungen 
wird.  Vor  allem  aber  entgeht  ihm,  dafs  sein  Prinzip  nicht  die  geringste  Aussicht 
hat,  wirklich  allseitig,  gegenüber  j e d e r Art  von  Verbänden,  z.  B.  auch  den 
Orden  und  Kongregationen  der  katholischen  Kirche  durchgeführt  zu  werden,  obwohl 
diesen  letzteren  das  in  manchen  Gesetzgebungen  verpönte  Merkmal  anhaftet,  dafs 
sic  ihren  Mitgliedern  Gehorsam  — teilweise  sogar  unbedingten  Gehorsam  — 
gegenüber  auswärtigen  Obern  aufzuerlcgcn. 


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Lolmar,  Philipp,  Der  Arbeitsvertrag. 


731 


geprägt  werden,  so  ist  nicht  einzusehen,  warum  für  die  Rechtssprache 
cs  nelten  „Geld“  und  „Naturalien“  kein  drittes  und  eventuell  viertes 
Glied  in  der  Reihe  der  möglichen  Vergütungsformen  geben  sollte.  Nähme 
man  Lotmars  Sprachgebrauch  ganz  streng,  so  müfste  auch  in  der  Ueber- 
tragung  derjenigen  Chance  des  Gelderwerbs,  welche  sich  rechtlich  in 
dem  besitz  einer  in  Zukunft  fälligen  Geldforderung  ausdrückt,  eine 
Naturalleistung  erblickt  werden.  Aehnlich  ist  es  zu  beurteilen,  wenn  die 
Zusage  der  Lehrausbildung  seitens  des  Meisters  als  Gewährung  von 
„Konsumtibilien“  rubriziert  wird. 

Ist  hier  der  Begriff  der  Naturalvergütung  zu  weit  gefafst,  so  ge- 
legentlich zu  eng.  Beispielsweise,  wenn  der  Verfasser  S.  686  die  Zu- 
sage freier  ärztlicher  Behandlung  oder  freier  Lieferung  von  Schul- 
requisiten  überhaupt  nicht  als  Arbeitsvergütung,  sondern  als  Wohl- 
fahrtseinrichtung behandelt  wissen  will,  da  sie  nicht  nach  dem  Umfang 
der  Arbeitsleistung,  sondern  des  Bedürfnisses  bestimmt  sei.  Allein 
ersteres  ist  insofern  doch  der  Fall,  als  eben  nur  das  während  der  Dauer 
des  Arbeitsverhältnisses  eintretende  Bedürfnis  zu  decken  ist,  und  die  ver- 
blciliende  Unsicherheit  des  ob?  und  wieviel?  der  Leistung  ist  nichts 
prinzipiell  anderes,  als  z.  B.  die  Unsicherheit  des  F.rtrages  der  von  dem 
Instlandc  „im  Felde“  zu  erwartenden  Krträge. 

Können  diese  wesentlich  terminologischen  Fragen  nur  unter  be- 
sonderen Konstellationen  juristische  Bedeutung  gewinnen,  so  ist  dagegen 
von  erheblicher  rechtlicher  Tragweite  die  Frage  (S.  705  f,  715,  716), 
ob  das  Verhältnis  des  Oberkellners,  Zählkellners,  Büffetiers  und  ähnlicher 
Funktionäre  auch  dann  als  reines  Arbeitsvertragsverhältnis  anzusehen  ist, 
wenn  dieselben  Büffet,  Keller  etc.  für  eigene  Rechnung  gegen  feste  Ab- 
gaben an  den  Wirt  verwalten  oder  für  die  Trinkgeldeinnahme  an  den 
Wirt  „Pacht“  zahlen  und  so  ökonomisch  in  die  Reihe  der  „Unternehmer“ 
einrlicken. 

Wenn  der  Verfasser,  welcher  m.  E.  mit  Recht  auch  in  diesen  Fällen 
reines  Arbeitsverhältnis  annimmt , dafür  gellend  macht , dafs  die  „fak- 
tische“ *)  Stellung  eines  solchen  Funktionärs  zu  Wirt  und  Publikum  völlig 
die  gleiche  sei  wie  sonst,  so  ist  doch  jedenfalls,  so  weit  die  Rechtslage 
in  Betracht  kommt,  das  gleiche  nicht  zutreffend:  Je  nach  Lage  des  Falls 
erwirbt  nicht  der  Wirt,  sondern  der  Funktionär  und  11  u r er  die  Forde- 
rung gegen  den  Gast.  Dies  schliefst  nach  der  Definition  des  Ver- 
fassers die  Auffassung  als  Arbeitsverhältnis  nicht  aus;  für  dieselbe 
wird  aber  entscheidend  doch  nur  sein  können,  dafs  nach  der  objektiven 
Sachlage  die  Thätigkeit  des  betreffenden  Funktionärs:  Einziehung  von 
Schulden  der  Gäste , Verkauf  von  Speisen  und  Getränken , nicht  als 
dessen  aus  seiner  Pächterstellung  folgendes  Recht,  sondern , obwohl 
sie  auf  eigene  Rechnung  geschieht,  als  eine  dem  Prinzipal  ge  sc  hui- 

*)  Was  heilst  das  in  diesem  Fall? 


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732 


Litteratur. 


dete  Leistung  anzusehen  ist  (S.  706  und  707).  Erst  wo  dies  un- 
zweideutig anders  liegt,  beginnt  die  Grenze  des  Pachtverhältnisses,  denn 
darin,  dafs  man  die  fraglichen  Thatbestände  möglichst  als  einheitliche 
Rechtsverhältnisse,  nicht  als  Kombinationen  mehrerer,  konstruieren  sollte, 
wird  dem  Verfasser  zuzustimmen  sein. ')  — Die  ähnlichen  Konstruktions- 
schwierigkeiten auf  dem  Gebiete  der  ländlichen  Arbeitsverfassung  be- 
handelt der  Verfasser  S.  709  f.  Dafs  das  Heuerlings- Verhältnis  nicht 
wohl  als  einheitliches  Rechtsverhältnis  konstruierbar  ist , sondern  hier 
notgedrungen  eine  Kombination  von  Pacht  und  Arbeitsvertrag  ange- 
nommen werden  mufs,  nimmt  der  Verfasser  mit  Recht  an,  obwohl  auch 
in  diesem  Fall  das  Interesse  des  Bauern  meist  nicht  auf  Verwertung 
der  verpachteten  Parzelle,  sondern  auf  Sicherung  der  Emtearbeitskraft 
gerichtet  ist.  *)  Der  Übergang  zu  den  reinen  Arbeitsverhältnissen  mit 
— unter  Umständen  abgabepflichtiger s)  — Landanweisung  als  Entgelt 
ist  wohl  noch  flüssiger  als  die  Darstellung  des  Verfassers  erkennen  läfst.4) 
Dafs  die  Art  der  Gestaltung  des  Naturallohnes  der  Einteilung  des  Ver- 
fassers in:  entweder  Zeit-  oder  Akkordlohnverträge  erhebliche 
Schwierigkeiten  bereitet,  gesteht  er  S.  7 1 8 f.  selbst  zu.  Da  jedoch  erst 
der  2.  Band  sich  mit  der  Lösung  derselben  befassen  wird,  soll  ihm  hier 
nicht  vor  gegriffen  werden. 

Der  höchst  wertvolle  Schlufs  des  1.  Bandes,  die  F.rörterung  der 
juristischen  Natur  des  Tarifvertrages  (Abschnitt  VI),  ist  im  wesent- 
lichen ein  Auszug  aus  einem  Aufsatz  des  Verfassers  in  dieser  Zeitschrift 
(Band  15.  S.  1 f).  Da  auf  eine  eingehende  Analyse  aus  diesem  Grunde 


')  Die  Konsequenzen  der  Auffassung  des  Verf.  sind  keineswegs  überwiegend 
dem  Arbeitgeber  günstige.  Cf.  das  von  ihm  S.  707  Anm.  2 zitierte  Urteil,  des 
Karlsruher  Gewerbegerichts  in  Gew.Gcr.  I 71. 

*)  Geschichtlich  analog  ist  die  Zwiespältigkeit  und  Wandlung  im  ökonomischen 
und  rechtlichen  Charakter  des  antiken  Kolonats Verhältnisses:  Anfangs  Pacht  mit 
Ausbedingung  einiger  Erntefronden  neben  dem  Z. ins  als  Entgelt  für  da»  dem  Kolon 
cingeräumte  Hecht,  die  Früchte  des  Ackers  zu  geniefsen,  — schliefslich  Arbeits- 
verhältnis mit  abgabepflichtiger  Bodennutzung  als  Entgelt. 

3)  Dies  beachtet  den  Verfasser  S.  710  wohl  nicht  genügend  bei  seiner  sonst 
recht  befriedigenden  Formulierung. 

*)  Den  Ausführungen  des  Verfassers  auf  S.  711.  712  habe  ich  keinen  Grund 
entgegenzutreten,  glaube  vielmehr,  dafs  seine  juristische  Konstruktion  das  richtige 
trifft.  F'estzuhalten  ist,  als  eventuell  auch  rechtlich  erheblich,  trotzdem,  dafs  die 
Landanweisung,  welche  an  nicht  kontraktlich  gebundene  Tagelöhner  gewährt  wird, 
häutig  thatsächlich  nicht  als  einfache  Vergütung  für  die  Arbeit , sondern  für  einen 
gewissen  zeitlichen  Umfang  der  Arbcitsbercilschafl  gewährt  wird,  also  nur 
unter  der  auch  rechtlich  nicht  anfechtbaren  Bedingung,  dafs  die  Arbeitsleistungen  zeit- 
lich diesen  Umfang  erreichen.  Sie  korrespondiert  also  nicht  wie  die  ver- 
sprochenen Geldleistungen  den  einzelnen  Arbeitsleistungen. 


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I, otmar,  Philipp,  Der  Arbeitsvertrag. 


733 


verzichtet  werden  kann,  so  mag  nur  noch  in  Kürze  auf  die  Ausführungen 
S.  780  f.  eingegangen  werden,  durchweiche  L.  versucht,  dem  Tarifvertrag 
eine  derart  mafsgebende  Rechtswirkung  auf  die  gesamten  innerhalb  des 
von  ihm  betroffenen  Kreises  abgeschlossenen  Arbeitsverträge  zu  vindi-- 
zieren , dafs  dadurch  selbst  die  rechtliche  Möglichkeit  für  die  be- 
teiligten, abweichende  Verträge  abzuschliefsen,  aufgehoben  sei.  Die  Ana- 
logie der  — vom  Gesetz  als  nur  in  bestimmter  Form  derogierbar  an- 
erkannten — Arbeitsordnung  beweist  tn.  E.  doch  nichts  für  I’rivat- 
vereinbarungen , denen  eine  gesetzliche  Regelung  (leider!)  fehlt.  Die 
Berufung  darauf  aber,  dafs  der  Tarifvertrag  anderenfalls  seinen  begriff- 
lichen Zweck  nicht  erreichen  würde,  ist  „ontologischen“  Charakters,  — es 
fragt  sich  ja  el>en,  ob  das  Recht  dieses  Mittel  für  die  Erreichung  jenes 
Zwecks  gelten  läfst.  Der  Verfasser,  welcher  in  Folge  des  134"  Abs.  2 
G.O.  selbst  zugeben  rauls,  dafs  jene  angebliche  Wirkung  des  Tarifvertrages 
in  Form  der  Arbeitsordnung  einseitig  vom  Arbeitgeber  beseitigt  werden 
kann , darf  m.  E.  aus  allgemeinen  Rechtsgrundsätzen  heraus  auch  nicht 
die  rechtliche  Möglichkeit  der  zweiseitigen  Beseitigung  leugnen.  Dafs 
dadurch  die  Interessen  dritter  — der  tariftreuen  Arbeitgeber  und  Arbeit- 
nehmer — verletzt  werden,  ist  zutreffend.  Allein  oh  diese  Interessen 
rechtlich  geschützt  sind,  ist  eben  die  Frage.  ‘)  Es  ist  nun  allerdings 
höchst  beachtenswert,  dafs  auch  einzelne  Gewerbegerichte  begonnen  haben, 
dem  Tarifvertrag  eine  über  den  normalen  Wirkungsbereich  der  Privat- 
disposition hinausgehende  Bedeutung  zuzuschreiben ; aber  nur  auf  dem  Wege 
des  Nachweises  gewohnheitsrechtlicher  Entwicklung  könnte  diesem 
Gedanken  der  Recht  (im  objektiven  Sinn)  begründenden  Autonomie 
der  Interessentenverbände  rechtliche  Anerkennung  wissen- 
schaftlich und  nur  im  Wege  der  Gesetzgebung  auch  praktisch 
gesichert  werden.  Dafs  die  Rechtspflege  sich  ohne  einen  solchen 
Rückhalt  entschliefscn  sollte,  den  Tarifvertrag  als  m ehr  als  eine  lex 
contractus,  welcher  mangels  entgegenstehender  Vereinbarungen  gilt, 
anzusehen,  ist  mir  nicht  wahrscheinlich.  — 

Die  Stoffeinteilung  des  Werkes  ist  im  vorliegenden  Bande  nicht  ohne 
weiteres  durchsichtig  und  verständlich,  was  bei  der  logischen  Schärfe 
der  Begriffsgliederung  Lotmars  dem  Leser  doppelt  auffällt.  Die  Ein- 
schiebung des  Kapitel  über  die  Eingehung  des  Arbeitsvertrags  in  den 
ersten  Abschnitt  ist  kaum  gerechtfertigt,  und  ob  es  sich  nicht,  trotz  des 
grofsen  Umfangs  der  betreffenden  Partien,  doch  empfohlen  hätte  die 
Naturalvergütung  mit  der  Lehre  vom  Entgelt  und  den  Tarifvertrag  mit 

')  Der  Verfasser  gerät  S.  794  infolge  seiner  Konstruktion  auch  in  Schwierig- 
keiten gegenüber  der  Krage,  wann  ein  unbefristet  geschlossener  Tarifvertrag  erlösche. 
Nach  ihm  nach  der  „üblichen“  (?)  Zeit;  — m.  E.  gilt  für  derartige  Vereinbarungen 
stets  ipso  jure  die  Klausel  rebus  sic  stantibus,  und  das  entspricht  den  Thalsachen 
des  Lebens,  was  näher  auszuführen  hier  unmöglich  ist. 


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734 


Liltcratur. 


der  I,ehre  von  der  Eingehung  gemeinsam  zu  behandeln  kann  gleichfalls 
bezweifelt  werden. 

Ueber  die  einzelnen  juristischen  Aufstellungen  werden  die  Fach- 
juristen zu  urteilen  haben.1)  Dem  Grundgedanken  und  dem  Geist  seiner 
Durchführung  nach  aber  — das  darf  schon  jetzt  gesagt  werden  — ist 
es  unzweifelhaft  ein  grofser  Wurf,  der  Lotmar  gelungen  ist.  Das  Privat- 
recht eines  Vertrages,  mit  dem  — wie  der  Verfasser  mit  Recht  hervor- 
hebt — an  Häufigkeit  und  grundlegender  Bedeutung  nur  noch  der 
Kaufvertrag  konkurrieren  kann,  ist  hier  zum  ersten  Male  in  um- 
fassender Systematik  und  Kasuistik  vorgelegt.  Es  ist  dabei  zur  Evidenz 
dargethan,  das  die  Probleme,  welche  er  der  juristischen  Forschung  stellt, 
sich  an  Tiefe  und  Bedeutung  mit  denen  jedes  anderen  Gebiets  des 
Privatrechts  messen  können.  Und  die  Art,  wie  diese  Probleme  vom 
Verfasser  angegriffen  worden  sind,  niufs  als  eine  ebenso  eigenartige  wie 
glückliche  angesehen  werden,  eben  deshalb,  weil  sie  die  alte  Methode 
der  juristischen  Arbeit  sich  an  einem  bisher  vernachlässigten  Gebiete 
bewähren  läfst. 

Heidelberg. 

MAX  WEBER. 


Flesch , Dr.  jur.  Karl,  Zur  Kritik  des  Arheitsver träges.  Seine  volks- 
wirtschaftliche Funktion  und  sein  positives  Recht.  Sozial- 
rechtliche Erörterungen.  Jena,  Verlag  von  Gustav  Fischer 
1901.  36  S.  8°. 

„Die  Gerechtigkeit  ist  blind;  sie  soll  bei  Anwendung  des 
Gesetzes  nicht  nach  der  Person  sehen,  namentlich  nicht  den  Mächtigeren 
begünstigen.  Aber  der  Gesetzgeber  ist  sehend;  er  soll  gewahr 
werden,  ob  die  gleiche  Vorschrift  sich  für  alle  eignet;  und  dem  Gesetz- 
geber des  Arbeitsvertrages  ist  gerade  vorzuwerfen,  dafs  er  bisher 
nicht  gesehen,  nicht  beachtet  hat,  wie  die  Anwendung  der  gleichen 
Vorschriften  bezüglich  der  Lösbarkeit  des  Arbeitsvertrages  thatsächlich 
die  Freiheit  des  Arbeits Vertrages,  die  im  Interesse  der  F’rei- 
heit  der  Persönlichkeit,  der  staatsbürgerlichen  Gleichheit  geschützt  werden 
sollte,  für  den  schwächeren  Teil,  d.  h.  wenigstens  in  Grofsbetrieben : für 
den  Arbeiter  aufgehoben  hat“  {S.  20).  Der  in  diesen  beiden  Sätzen 
enthaltene  Gedanke  durchzieht  diese  ganze  mit  grofsem  Verständnis  für 
die  thatsächlichen  Zustände  des  industriellen  Lebens  und  mit  ebenso 

*)  Ich  halte  cs  wohl  für  möglich,  dafs  die  Ausdehnung  des  Arbeitsver- 
tragsbcgrifTcs  des  Verfassers  — z.  B.  auf  «len  Ycrlagsvcrtrag  — sich  nicht  wird 
halten  lassen.  Das  thut  dem  Wert  seines  Grundgedankens  aber  keinen  Abbruch. 


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Flcsch,  Karl,  Zur  Kritik  des  Arbeitsvertrages. 


735 


grofser  Wärme  für  die  Interessen  der  Arbeiter  wie  objektiver  Aner- 
kennung der  berechtigten  Ansprüche  der  Unternehmer  geschriebene 
sozialrechtliche  Studie.  Trotzdem  der  Arbeitsvertrag  einer  der  Grund- 
pfeiler ist,  auf  denen  unsere  heutige  Volkswirtschaft  ruht,  ist  er  von 
der  Rechtswissenschaft  und  Gesetzgebung  von  jeher  und  fast  bis  in  die 
letzte  Zeit  kümmerlich  und  nebensächlich  behandelt  worden. ')  Die 
älteren  Juristen  lernten  auf  der  Universität  fast  nichts  von  ihm;  sie 
halten  sämtlich  das  Wechsel-  und  Handelsrecht,  das  eheliche  Güterrecht 
— die  Verträge,  die  zwischen  den  Vermögenden,  den  Hausherren  im 
Staatsgebäude,  geschlossen  werden  — für  weit  wichtiger  als  die  Ab- 
machung, die  ein  kleiner  Schuhmacher  mit  seinem  Gesellen  oder  ein 
Fabrikant  mit  einem  seiner  Hunderte  von  Tagelöhnern  trifft.  Aber  auch 
das  Bürgerliche  Gesetzbuch  hat  tiefer  gehende  Fragen  des  Arbeitsrechts 
gar  nicht  berührt.  Einen  Vorwurf  kann  Fl e sch  den  Verfassern  des 
Gesetzbuchs  daraus  freilich  nicht  machen,  denn:  „Jedes  Gesetzbuch  hat 
stets  nur  in  Paragraphen  gebracht,  was  es  an  klarer  Rechtserkenntnis 
vorfindet.“ 

Den  Ausgangspunkt  der  Untersuchung  bildet  für  Flesch  die  nackte 
Thatsache,  dafs  der  Arbeitsvertrag  wichtige  Aufgaben  unserer  Volkswirt- 
schaft zu  erfüllen  hat  und  zugleich  den  besonderen  Interessen  der  Ar- 
beitgeber und  Arbeiter  dienen  soll. 

Was  leistet  nun  der  Arbeitsvertrag  den  Arbeitgebern?  F.r 
leistet  jedenfalls  für  die  Regel  alles,  was  der  Arbeitgeber  braucht:  er 
schafft  ihm  gehorsame,  willige  eifrige  Arbeiter,  die  im  Betrieb  wie 
aufser  dem  Betrieb  auf  den  „Arbeitgeber“,  d.  h.  auf  den,  der  so  gütig 
ist,  sie  zu  beschäftigen,  angewiesen  sind.  Der  freie  Arbeitsvertrag  er- 
möglicht aber  auch  jede  Anpassung  der  Produktion  an  die  Marktlage; 
er  erlaubt  dem  Arbeitgeber  ferner,  die  Arbeitskräfte  stets  so  zu  wählen, 
wie  es  der  zu  leistenden  Arl>eit  am  1 testen  entspricht  (Frauenarbeit  oder 
Kinderarbeit  anstatt  der  Männer;  polnische  oder  italienische  Saison- 
arbeiter anstatt  einheimischer  mit  Familien  behafteter  Leute  u.  s.  w.) 
„Kurzum , sowohl  vom  Standpunkt  des  praktischen  Bedürfnisses  des 
Kaufmannes  und  des  Handwerkers,  der  Hilfskräfte  sucht,  als  vom  Stand- 
punkt des  Herrengefühls  des  weithin  schaltenden  Gutsherrn  und  Fabrik- 
besitzers, oder  vom  Standpunkt  des  Marxistischen  Kapitalisten,  der  Mehr- 
wert und  nichts  als  Mehrwert  erzeugen  will,  leistet  der  Arbeitsvertrag 

')  Mit  dem  epochemachenden  Werke  Prof.  Pli,  Lotmars,  „Der  Arbeitsver- 
trag nach  dem  Privatrecht  des  Deutschen  Reiches"  (Leipzig,  Verlag  von  Duncker  'V 
Humblot  1002)  ist  ein  beachtenswerter  Umschwung  cingetreten.  Der  in  Doktri- 
narismus erstarrten  Jurisprudenz  wird  aus  den  Thatsachen  des  täglichen  Lebens 
neues  warm  pulsierendes  Itlut  zugeführt.  Das  Werk  räumt  gründlich  aut,  nicht  nur 
mit  der  Unkenntnis  der  Ergebnisse  der  Verwaltung,  sondern  sogar  der  Bestimmungen 
des  öffentlichen  Rechts,  die  sich  bei  unseren  Ziviljuristen  leider  allzu  häutig  lindet. 


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736 


Littcratur. 


in  fast  vollkommener  Art  alles,  was  nur  erwartet  und  verlangt  werden 
kann.“  Nur  in  einem  Ausnahmefall  versagt  der  Arbeitvertrag:  Wenn 
das  Mittel  der  sofortigen  Entlassung  versagt,  weil  der  Arbeitsgeber  nicht 
mehr  jeden  Augenblick  statt  des  Entlassenen  andere  Arbeiter  haben 
kann,  wenn  er  einer  Arbeiterorganisation  gegenübersteht,  wenn  sich  der 
individuelle  in  den  kollektiven  Arbeitsvertrag  verwandelt.  Jetzt, 
durch  die  Arbeiterkoalitionen  hat  sich  das  Bild  geändert;  der  Arbeits- 
vertrag ist  auch  für  den  Arbeitgeber  nicht  mehr  schrankenlos  „frei“; 
die  Koalition  bestimmt  die  Bedingungen,  unter  denen  Arbeiter  zu  haben 
sind,  und  sie  befindet  darüber,  ob  ein  Arbeiter  vom  Arbeitgeber  ent- 
lassen werden  darf.  Jetzt  hat  der  Arbeiter  zwar  kein  Recht,  aber 
doch  die  nicht  zu  leugnende  Möglichkeit,  die  Arbeit  jederzeit  und  nach 
Willkür  einzustellen  oder  sie  überhaupt  nicht  aufzunehmen.  Die  Koali- 
tion erlaubt  ihm , diese  Möglichkeit  wahrzunehmen  und  stellt  seine 
Macht  dar.  Macht  erzeugt  Mut,  Mut  führt  leicht  zu  Ucbermut.  Es 
soll  nicht  geleugnet  werden,  dafs  gar  manche  Strikes  ein  Ausflufs  dieses 
Uebermuts  sind  und  als  Regel  stellt  ihn  auch  Flesch  nicht  hin.  Nun 
hört  aber  auch  die  Zufriedenheit  der  Arbeitgeber  mit  dem  freien  Arbeits- 
vertrag auf.  „Die  Handwerker  wollen  durch  Wiederbelebung  der  Zünfte 
ihre  Autorität  über  den  Arbeiter  hersteilen;  die  Grofsindustricllen 
sprechen  vom  Schutz  der  Arbeitswilligen,  meinen  aber  den  Schutz 
ihrer  Herrschaft  über  die  Arbeiter.  Alle  sind  einig  über  die 
Verwerflichkeit  der  Arbeiterorganisationen  und  fordern  die  unbedingte 
Aufrechterhaltung  des  für  ihre  Sonderinteressen  bequemen  rein  indivi- 
duellen Arbeitsvertrages.  East  nirgends  innerhalb  der  Kreise  der  In- 
dustrie wird  eine  Stimme  laut,  welche  die  durch  den  individuellen  Ar- 
beitsvertrag in  seiner  jetzigen  Gestalt  vermittelte  Unterdrückung  des  Ar- 
beiters als  verwerflich  bezeichnete,  oder  die,  ohne  Berührung  der 
moralischen  Seite,  darauf  hinweist,  dafs  schlicfslich  die  Häufigkeit  der 
Kollektivstreitigkeiten,  die  ja  öfter  als  durch  Lolmfragen  durch  Macht- 
fragen veranlafst  sind,  ebenso  die  Unvollkommenheit  des  geltenden  Ar- 
beitsrechts beweist,  wie  die  Häufigkeit  der  Fehden  im  Mittelalter  die 
Unvollkommenheiten  des  damaligen  Rechtsschutzes  und  der  Gerichts- 
verfassung.“ 

Die  einzige  Bestimmung  des  geltenden  Rechts  über  Kollektivstreitig- 
keiten, diejenige  des  § 152  der  Gewerbeordnung,  steht  nach  Flesch 
juristisch  ungefähr  auf  der  Höhe  der  früheren  Rechtssätze,  die  den 
Nachdruck  von  Schriften  oder  die  Nuchbildung  von  Bildwerken  für 
straffrei  erklärten,  oder  den  Genossenschaften  die  juristische  Existenz 
absprachen.  Vor  allem  hätten  aber  jedenfalls  die  Arbeitgeber  ein  Inter- 
esse daran,  dafs  die  Arbeiterkoalitionen  vom  Rechte  anerkannt  und  Ver- 
mögens- und  damit  verantwortungsfähig  gemacht  würden. 

Welche  Wirkungen  hat  nun  aber  der  Arbeitsvertrag  für  den  Ar- 
beiter? Der  Arbeiter  „giebt  seine  Zeit  und  erhält  Geld.  Weigert 


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Fl c sch,  Karl,  Zur  Kritik  des  Arbeitsvertrages. 


737 


sich  der  „Arbeitgeber“  — in  Wahrheit  der  Eigentümer  der  Produktions- 
mittel, der  Arbeit  sucht  — ihm  seine  Arbeit,  d.  h.  seine  Zeit  abzu- 
nehmen, so  hungert  der  Arbeiter;  er  hat  aufser  dem  Arheitsvertrag  kein 
Mittel,  zu  Geld  zu  gelangen,  wie  ja  auch  der  sogen.  Arbeitgeber  kein 
anderes  Mittel  hat,  um  sich  die  Arbeitskräfte  zu  beschaffen,  ohne  die 
alle  Produktionsmittel,  über  die  er  verfügt,  zwecklos  sind.“  In  diesen 
Ausführungen  ist,  da  cs  sich  um  einfache  Arbeit  handelt,  überall  statt 
Arbeit  Zeit  gesetzt,  was  an  sich  bedenklich  erscheint.  Der  so  häufige 
Akkordlohn  z.  B.  kommt  dabei  nicht  zur  Geltung.  Indes  beschränken  sich 
Flcschs  Ausführungen  darauf,  festzustellcn,  was  unter  Berücksichtigung 
der  ^tatsächlichen  wirtschaftlichen  Machtverhältnisse  zu  postulieren  ist, 
damit  die  vom  Recht  zu  fordernde  Gleichheit  zwischen  Arbeitgeber 
und  Arbeiter  auch  thatsächlich  und  nicht  blofs  formell  verwirklicht 
werde.  Der  Präge,  welche  ökonomische  Schwierigkeiten  sich  einer 
solchen  rechtlichen  Regelung  entgcgcnstellcn,  tritt  Klesch  nur  insofern 
näher,  als  er  zwischen  Handwerkern  und  industriellen  Grofsbctrieben 
unterscheidet.  Dies  zeigt  sich  klar,  wenn  Klesch  im  unmittelbaren  An- 
schlufs  an  die  soelren  zitierten  Sätze  fortfährt:  „Giebt  der  Unternehmer 
— um  dies  Wort  anstatt  des,  wie  wir  sehen,  zweideutigen  Ausdrucks 
„Arbeitgeber"  zu  gebrauchen  — zu  wenig  Geld,“  so  leidet  der  Ar- 
beiter Mangel;  nimmt  er  zu  viel  Zeit  in  Anspruch,  so  leiden  die 
übrigen  Aufgaben  des  Arbeiters  — die  Pflichten,  die  er  gegen  sich 
selbst,  seine  Familie,  den  Staat  zu  erfüllen  hat.  Der  Arbeiter  müfste 
hiernach,  will  er  nicht  Not  leiden  oder  seine  außerhalb  des  Arbeits- 
vertrages belogenen  Pflichten  verletzen,  sich  vorsehen,  dafs  er  nach 
Inhalt  des  Arbeitsvertrages:  1.  Geld  genug  empfängt  und  2.  Zeit  genug 
für  sich  behält,  sowie  3.  dafs  kein  Arbeitsvertrag,  den  er  schliefst,  auf- 
hört, ohne  dafs  Gelegenheit  ist,  ihn  durch  einen  anderen  zu  ersetzen." 

Vom  Arbeitslohn  verlangt  nun  F'lcsch,  dafs  er  dem  Arbeiter 
gewähren  mufs,  was  er  braucht,  um  selbst  zu  leben  a)  während  der 
Arbeit,  b)  während  der  Zeit,  in  der  er  keinen  Arbeitsvertrag  schiiefsen 
kann,  also  der  Zeit  der  Ruhe,  der  Krankheit  und  sonstigen  unver- 
schuldeten Verhinderung;  und  dafs  er  dem  Arbeiter  weiter  gewähren 
mufs,  c)  was  dieser,  wenn  er  verheiratet  ist,  zum  Unterhalt  seiner  Fa- 
milie braucht. 

Man  würde  aber  irren , wenn  man  Klesch  nach  diesen  Postu- 
laten  zu  den  Anhängern  eines  weitgehenden  auf  das  Existenzminimum 
begründeten  Lohhminimums  rechnen  würde.  Denn  diese  Forderungen 
vermag  weder  der  individuelle  noch  der  kollektive  Arbeitsvertrag  zu  er- 
füllen. Zunächst  aus  einem  äufseren  Grund:  Jede  Arbeiterkoalition 
würde  zerfallen,  kaum  ein  Tarifvertrag  käme  zustande,  wenn  für  jüngere 
und  ledige  Arbeiter  ein  geringerer  Lohn  zugestanden  würde.  Sodann 
aber  aus  einem  inneren:  Worauf  es  ankommt,  ist,  dafs  der  Lohn  den 
objektiv  vorhandenen  Bedürfnissen  der  einzelnen  Arbeiter  sich  anpafst, 


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73« 


Littcratur. 


so  dafs  also  der  Arbeiter,  wenn  und  solange  er  gröfsere,  objektiv  nach- 
weisbare Bedürfnisse  hat  oder  zu  gröfseren  Ausgaben  genötigt  ist,  diesen 
gerecht  werden  kann,  obwohl  seine  Arbeitsleistung  nur  dieselbe,  viel- 
leicht zeitweise  eine  geringere  ist,  als  die  seiner  Kollegen,  welche  zur 
Zeit  jene  Ausgaben  nicht  haben.  Diese  Forderungen,  die  schon  einen 
stark  kommunistischen  Beigeschmack  haben , können  aber  nach  Flesch 
aus  dem  „Lohn“  begrifflich  nicht  befriedigt  werden.  Den  Anfang  einer 
Lohnregulierung,  die  diesen  Forderungen  gerecht  zu  werden  versucht, 
erblickt  er  in  der  Arheiterversirherung  und  in  dem  Arbeitsnachweis. 
Einen  weiteren  Ausbau  von  diesem  Zwecke  dienenden  Einrichtungen 
sieht  er  in  der  unentgeltlichen  Volksschule,  in  der  Wöchnerinnenpflege 
in  Frankreich,  in  der  unentgeltlichen  Beerdigung,  den  Ferienkolonien, 
der  F'rühstUcksspeisung  armer  Schulkinder,  den  öffentlichen  Lesehallen, 
den  Erholungsheimen  für  Erwachsene.  Alle  diese  Einrichtungen  er- 
scheinen ihm  im  rechten  Lichte  nur  dann  wenn  sie  nicht  als  Wohl- 
thaten  betrachtet  werden,  die  Begüterte  den  Armen  eines  bestimmten 
Ortes  erweisen,  sondern  als  Versuche  in  kleinem  Mafsstabe,  um  den  Ar- 
beitern zunächst  eines  kleineren  Kreises  die  Deckung  aufserordentlicher 
Ausgaben  zu  ermöglichen,  zu  denen  ihr  blofs  aus  dem  Arbeitslohn  ge- 
speistes Budget  nicht  hinreichen  würde.  Und  er  kommt  zu  dem  Schlüsse: 
„Wenn  der  Arbeitsvertrag  die  Arbeiter  nicht  in  den  Stand  setzt  — und 
nicht  instandsetzen  kann  — alle,  insbesondere  auch  alle  aufser- 
ordentlichen  Bedürfnisse  zu  bestreiten,  welche  an  den  einzelnen  heran- 
treten können,  so  mufs  dieser  Mangel  seine  Korrektur  nicht  allein  in, 
allerdings  denkbaren  positiven  Bestimmungen  über  die  Lohnhöhe,  son- 
dern mindestens  ebensosehr  in  der  Schaffung  von  öffentlichen  (staat- 
lichen oder  kommunalen)  Einrichtungen  finden,  welche  jedem  Unbe- 
mittelten zugute  kommen,  aber  auch  nur  solchen,  bei  denen  die 
betreffenden  Bedürfnisse  hervortreten.  Dafs  hiermit  — mit  der  Schaffung 
von  Gesetzen  über  die  Unterhaltung  von  Volksbibliotheken,  wie  in  Eng- 
land, über  Gewährung  von  Lehrmittelfreiheit,  unentgeltlichem  Begräbnis 
u.  s.  w.,  wie  in  der  Schweiz  — die  Fixierung  eines  Minimallohnes  für 
I leimarbeit,  Kinderarbeit,  Frauenarbeit  in  gewissen  Branchen,  die  schärfere 
gesetzliche  Beantwortung  der  Frage,  wann  Zahlung  zu  geringen  Lohnes 
als  Wucher  strafbar  ist,  bedarf  keiner  Ausführung.“ 

Dafs  all  diese  Wohlthätigkeitsanstalten  zusammengenommen  den 
von  Flesch  aufgestellten  Postulatcn  nicht  zu  genügen  vermögen , be- 
darf wohl  kaum  eines  Beweises.  Flesch  hat  also  das  Postulat  aufge- 
stellt, cs  aber  nicht  gelöst.  Er  hat  auch  nicht  ausgeführt,  wie  und  in 
welchem  Umfang  der  weitere  Ausbau  dieser  Einrichtungen  zu  verlangen 
sei,  um  seinen  Postulatcn  zu  genügen.  Aufserdem  ist  es  widerspruchs- 
voll, wenn  er  diese  Einrichtungen  des  Charakters  der  Wohlthätigkeit 
entkleidet  wissen,  ihrer  Benützung  aber  nur  Unbemittelten  einräumen 
will.  Die  grofse  Klarheit,  die  der  Verfasser  überall  bei  der  Kritik 


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Flesch,  Karl,  Zur  Kritik  des  Arbeitsvertrages. 


739 

juristischer  Fragen  zeigt,  verläfst  ihn,  sobald  es  sich  um  weiter  tragende 
volkswirtschaftliche  Probleme  handelt. 

Hinsichtlich  der  Arbeitszeit  ist  dem  Verfasser  das  Eintreten  ftir 
die  relativ  verschiedenen  hygienischen  Forderungen  selbstverständlich, 
ihm  stehen  soziale  Forderungen  im  Vordergrund  des  Interesses.  Der 
heutige  Zustand  läfst  dem  Arbeiter  keine  Zeit,  um  seinen  Verpflichtungen 
gegen  Staat,  Gemeinde  und  Familie  nachzukommen.  „Es  wird  nicht 
geleugnet  werden  können,  dafs  die  sogen.  Selbstverwaltung,  die  sogen. 
Herrschaft  von  Bildung  und  Besitz,  eine  Klassenherrschaft  war, 
welche  Staat,  Gemeinde  und  öffentliche  Korporationen  der  ausschliefs- 
lichen  Verfügung  einer  kleinen  Minderheit  überantwortete.“  In  den 
letzten  Jahrzehnten  hat  sich  das  ganze  Gebiet  der  sozialen  Verwaltung 
(Krankenkassen,  Altersversicherungsanstalten,  Zwangsinnungen,  Gewerbe- 
gerichte u.  s.  w.)  aufgethan,  an  deren  Verwaltung  die  Arbeiter  nach  dem 
Gesetze  teilnehmen  müssen. 

„Hat  der  Unternehmer  wirklich  (nicht  das  Recht,  aber)  die  Macht, 
die  Durchführung  aller  Gesetze  zu  vereiteln,  zu  deren 
Ausführung  die  Mitwirkung  der  Arbeiter  verlangt  wird?“  Flesch  ver- 
langt entsprechende  Ausdehnung  der  Vorschrift  des  § 1S0  des  Invaliden- 
versicherungsgesetzes und  Festsetzung  von  Strafe  .auf  jedes  Verhalten, 
das  geeignet  ist,  dem  Arbeiter  die  Erfüllung  öffentlicher  Verpflichtungen 
unmöglich  zu  machen,  sei  es  durch  Verweigerung  des  Urlaubs,  sei  es 
durch  Drohung  mit  Entlassung  u.  s.  w. 

Die  gröfste  Ungleichheit  erblickt  endlich  Flesch  in  der  gleichen 
vierzehntägigen  Kündigung.  Im  Verhältnis  zwischen  Handwerksmeister 
und  Geselle  entspricht  sie  zwar  allen  billigen  Anforderungen,  sie  wird 
aber  um  so  ungerechter,  je  gröfser  der  Betrieb  ist.  Im  gleichen  Mafse 
wird  sie  nämlich  für  den  Arbeitgeber  ein  nicht  ins  Gewicht  fallender 
Nachteil,  eine  ijuantite  negligcable,  während  sie  den  Arbeiter  vor  die 
Existenzfrage  stellt.  In  dieser  Beziehung  bedarf  es  nach  Flesch  der 
Ständigkeit  des  Arbeitsvertrages,  einerseits  durch  die,  auf  das  Gedeihen 
der  Produktion  im  allgemeinen  abzielenden  Mafsrcgeln  der  Volkswirt- 
schaft, sodann  durch  Organisierung  von  Anstalten,  welche  den  Abschlufs 
eines  anderen  Arbeitsvertrages  erleichtern  (öffentliche  Arbeitsvermittelungs- 
stellen)  oder  die  Nachteile  der  Vertragslosigkeit  mindern  (Arbeitslosen- 
versicherung), endlich  aber  auch  „zum  Schutz  der  Arbeitswilligen“  gegen 
willkürliche,  durch  den  Gang  des  Betriebes  nicht  geforderte  und  durch 
das  Verhalten  des  Arbeiters  nicht  notwendig  gemachte  Entlassung  einer 
entsprechenden  Aenderung  des  heute  gültigen  positiven  Rechts.  „Es 
mufs  ein  richterliches  Verfahren  — z.  B.  vor  dem  Gewerbegerichte  — 
über  die  Gründe  zulässig  sein,  aus  denen  der  Unternehmer  den  Arbeits- 
vertrag gelöst  hat,  und  zwar  auch  dann,  wenn  der  Auflösung  die  gesetz- 
liche oder  vertragsmäfsige  Kündigung  vorausging.  Gelangt  das  Gericht 
zu  der  Utberzeugung,  dafs  für  die  Lösung  Gründe  mafsgebend  waren, 


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740 


Liiteratur. 


die  mit  den  volkswirtschaftlichen  Zwecken  lind  Aufgaben  des  Arbeits- 
vertrages nichts  zu  thun  haben,  die  also  weder  Zusammenhängen  mit 
den  geschäftlichen  Dispositionen,  noch  mit  der  Geschäftslage  des  Unter- 
nehmers, noch  mit  den  Leistungen  des  Arbeiters,  so  müssen  sich  hieran 
wenigstens  im  Grofsbetrieb,  Nachteile  für  den  Arbeitgeber  knüpfen,  die 
sowohl  in  einer  ausgedehnten  Entschädigungspflicht  gegen  die  entlassenen 
Arbeiter,  als  unter  Umständen,  wenn  die  geschehene  Kündigung  sich 
als  Bestrafung  des  Arbeiters  für  dessen  politisches  Verhalten  u.  s.  w. 
darstellt,  in  Strafen  bestehen  können.“ 

Alle  Achtung  vor  dem  guten  Willen  des  Verfassers.  Aber  er  scheint 
uns,  obwohl  er  in  der  Abschätzung  der  Machtverhällnisse  zwischen  Ar- 
beiter und  Arbeitgeber  ein  so  richtiges  Urteil  zeigt,  die  Machtmittel  der 
Unternehmer  denn  doch  noch  zu  unterschätzen.  Durch  fortgesetzte  Chikane 
kann  man  jeden  Arbeiter  dazu  zwingen,  dafs  seine  Arbeitsleistung  keine 
entsprechende  mehr  ist.  Und  wer  will  einem  Arbeitgeber  nachweisen, 
dafs  er  eine,  etwa  vierzehntägige  Betriebseinschränkung  nur  vorgenommen 
hat,  um  eine  Anzahl  mifsliebiger  Arbeiter  entlassen  zu  können?  Es  liegt 
uns  fern,  die  Elesch'schen  Forderungen  vom  Standpunkt  des  Betriebs- 
leiters zu  bekämpfen,  aber  wir  müssen  hinter  ihre  praktische  Durch- 
führbarkeit ein  grofses  Fragezeichen  machen.  Dabei  müfste  eine  totale 
und  fundamentale  Umwandlung  der  Rechtsanschauungen  unserer  Zivil- 
juristen vorausgesetzt  werden.  Bei  der  ofiziellen  und  offiziösen  Förderung 
jedweder,  auch  der  ungerechtesten  Sozialistenverfolgung  ist  auch  in  ab- 
sehbarer Zeit  nicht  zu  erwarten,  dafs  die  Forderungen  des  Verfassers 
auch  nur  in  Erwägung  gezogen  werden.  Trotz  alledem  müssen  wir 
unser  Urteil  dahin  zusammenfassen : Eis  ist  eine  mutige  Schrift,  die  von 
warmem  Empfinden  für  das  Wohl  der  arbeitenden  Klassen  getragen, 
ihnen  auf  der  Grundlage  des  geltenden  Rechtes  zu  besseren  Daseins- 
bedingungen verhelfen  will.  Es  ist  ein  programmatischer  Entwurf  der 
Regelung  der  gesetzlichen  Bestimmungen  über  den  Arbeitsvertrag  von 
höheren  sozialen  Gesichtspunkten  aus. 

Berlin. 


CI.EMEINS  HEISS. 


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v.  Zwicdincck-Südenhorst,  Lohnpolitik  ctc. 


74 


/ 

von  Zwicdincck-Südenhorst , Dr.  Otto,  Lohnpolitik  und  Lohn- 
theorie mit  besonderer  Berücksichtigung  des  Minimallohnes. 
Leipzig,  Verlag  von  Duncker  & Humblot.  1902.  XIII  und 
410  S.  8°.  Preis  9 Mk. 

Der  Arbeiterschutz  bei  Vergebung  öffentlicher  Arbeiten  und  IJefe- 
rungen.  Bericht  des  k.  k.  arbeitsstatistischen  Amtes  über 
die  auf  diesem  Gebiete  in  den  europäischen  und  über- 
seeischen Industriestaaten  unternommenen  Versuche  und 
bestehende  Vorschriften.  Wien  1900.  Aus  der  k.  k.  Hof- 
und  Staatsdruckerei.  Xu.  163  S.  gr.  8°.  Preis  1 Kr.  20  h. 

Klien,  Dr.  Ernst,  Minimallohn  und  Arbeiterbeamtentum.  I.  Bd.  2.  H. 

der  Abhandlungen  des  staatswissenschaftlichen  Seminars  zu 
Jena,  herausgegeben  von  Prof.  Dr.  Pierstorff.  Verlag  von 
Gustav  Fischer  in  Jena.  1902.  232  S.  8°.  Preis  6 Mk. 

Zwei  Ziele  hat  sich  v.  Zwiedineck  bei  seinen  Untersuchungen  gesteckt : 
erstens  die  Darstellung  der  Wandlungen  in  der  Lohnpolitik  und  zweitens 
die  Erörterung  der  Grundlagen  und  Aufgaben  der  modernen  Lohn- 
politik überhaupt,  insbesondere  aber  des  aktuellsten  Mittels,  welches  sie 
in  Anwendung  bringt,  der  Mindestlohnfestsetzung. 

Mit  grofsem  Fleifs  hat  Verfasser  in  detn  ersten  Abschnitt  „Lohn- 
politik bis  zum  Ausgang  des  18.  Jahrhunderts"  alle  Nachrichten  über 
die  Wirksamkeit  autoritärer  I.ohnpolitik  gesammelt.  Bis  zum  Ausgang 
des  Mittelalters  galt  ■ für  die  lohnpolitischen  Mafsregeln  in  Deutschland 
das  Motto:  „Du  solt  nit  wuchern  mit  deiner  Hände  werck,  denn  die 
seel  get  darby  verloren“,  schrieb  der  heilige  Augustinus.  Die  Arbeit, 
auch  die  zu  Krwerbszwecken  unternommene,  sollte  nicht  den  Zweck 
haben,  „Gelt  und  Reichtumb  zu  scharren“,  denn  „wer  nur  suchet  Gelt 
und  Reichtumb  zu  scharren  mit  sin  Arbeit,  der  handelt  schlecht  und 
sin  arbeit  ist  wucher“.  Bei  der  Aufgabe  des  mittelalterlichen  Hand- 
werks, wie  dies  Werner  Sombart  in  seinem  grofs  angelegten  Werke  „Der 
moderne  Kapitalismus“  formuliert  hat.  dem  Manne  seine  Nahrung  zu 
schaffen,  griff  die  Lohn]x>litik  der  Behörden  ein,  indem  sie  einen  Maxi- 
mallohn schuf.  Der  Maximallohn  beherrscht  das  ganze  Mittelalter,  sei 
er  nun  als  Schutz  des  Konsumenten  oder  der  Meister  gegenüber  den 
Gesellen  gedacht.  Kr  verlor  übrigens  viel  an  seiner  scheinbaren  Härte 
durch  das  Vorherrschen  des  Naturallohnes. 

Auch  in  England  war  der  Maximallohn  bis  zum  Gesetz  5 Elisabeth 
c.  4 von  1563  vorherrschend  gewesen.  Dieses  Gesetz  versuchte  zum 

, Archiv  für  ftoz.  Gesetzgebung:  u.  Statistik.  XVII.  4^ 


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742 


Littcralur. 


erstenmal  Hinrichtungen  zu  schaffen,  die  den  Lohnarbeitern  einen  an- 
gemessenen Unterhalt  zu  sichern  bestimmt  waren.  Es  wurd^  nunmehr 
die  Feststellung  der  Löhne  den  örtlichen  Behörden  übertragen,  aber  die 
Lohnfestsetzung  blieb  Maximallohn.  Das  Gesetz,  i James  1 c.  6 (1603) 
ist  das  erste  Minimallohngesetz.  Im  18.  Jahrhundert  waren  aber  die 
Lohngesetze  völlig  in  Verfall  gekommen.  Formell  wurden  aber  die 
ältereren  Bestimmungen  über  die  Lohnfestsetz.ungen  durch  die  Friedens- 
richter erst  durch  das  Gesetz  53  George  111  c.  40  aufgehoben  und 
damit  die  Petitionen  um  Festsetzungen  von  Minimallohntarifen  aus  den 
Jahren  1795,  1800  und  1808  abgewiesen. 

Der  zweite  Abschnitt  „Lohntheorie  und  theoretische  Lohnpolitik“ 
beschäftigt  sich  mit  der  Theorie  der  Lehre  vom  Lohn.  Kr  zerfällt  nach 
einer  kurzen  Einleitung  über  „die  Gruppierung  der  zu  besprechenden 
Thcorieen“  in  folgende  Hauptabschnitte:  „Die  Lohnfrage  in  der  indivi- 
dualistischen Ockonomik";  „Die  Lohnfrage  im  Lichte  der  katholisch- 
sozialen  Litteratur“;  „Das  sozialistische  Arbeitsentgelt;  „Sozialethische 
Theorieen  zur  Lohnfrage“. 

Von  all  den  vorgetragenen  Lohntheorieen  können  wir  sagen,  dafs 
sie  Verfasser  klar  und  übersichtlich  wiedergegeben  hat  und  dafs  sie  so 
allgemein  bekannt  sind,  dafs  ein  weiteres  Eingehen  auf  sie  in  dieser 
Zeitschrift  erübrigt. 

Der  dritte  Abschnitt  „Thatsachen  der  modernen  Lohnpolitik“  giebt 
zunächst  einen  Ueberblick  über  die  Entwicklung  und  Wandlungen  in  der 
Lohnpolitik  der  Trade-Unions.  Es  ist  im  allgemeinen  ein  Auszug  aus 
den  bekannten  Werken  von  B.  und  S.  Webb  imter  Berücksichtigung  der 
Arbeiten  von  Brentano,  Held,  von  Schulz-Gävernitz  und  einiger  eng- 
lischer Autoren.  Hieran  schliefst  sich  eine  eingehende  Darstellung  und 
Kritik  der  Fair-wages-Klauseln  bei  Submissionen  in-  England.  Die  Aus- 
führungen des  Verfassers  sind  eingehender  als  diejenigen  in  der  Schrift 
des  k.  k.  arbeitsstatistischen  Amtes  und  durch  diese  keineswegs  überholt. 
So  sind  z.  B.  die  statistischen  Daten,  die  von  Z.-S.  giebt,  viel  eingehender 
und  brauchbarer.  Und  die  Bemerkung  auf  S.  6 der  Schrift  des  arbeits- 
statistischen Amtes:  „demgemäfs  wird  auch  von  Seite  der  Offerenten 
weder  gegen  die  Resolution  selbst,  noch  gegen  die  Art  ihrer  Hand- 
habung etwas  cingewendet“  steht  in  direktem  Widerspruch  zu  der  von 
v.  Z.-S.  (S.  254  oben)  aus  dem  Originalreport  edierten  Stelle. 

Für  die  übrigen  Staaten : Belgien,  Holland,  Frankreich,  Schweiz, 
Oesterreich,  Deutschland,  Vereinigten  Staaten  von  Nordamerika  beschränkt 
v.  Z.-S.  leider  seine  Untersuchungen  auf  die  Darstellung  und  Kritik  der 
anständigen  Lohnklausel.  Hieran  reiht  sich  die  Wiedergabe  und  Kritik 
der  eigenartigen  Gesetzgebung  von  Neuseeland  und  Viktoria,  das  den 
Minimallohn  für  eine  grofse  Zahl  von  Berufen  allgemein  obligatorisch 
eingeführt  hat. 


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v.  /.  w i c d i n cc  k - Sü  «1  e n h o rs  t , Lohnpolitik  etc. 


743 


Die  Lohnklauseln  lassen  sich  hiernach  in  drei  Gruppen  einteilen: 
i.  Ks  werden,  wie  vom  Londoner  Schulamt  und  Grafschaftsrat  direkt 
die  Stand  irdlöhne  der  Gewerkvereine  zu  Grunde  gelegt.  Hierher  ist 
auch  das  Vorgehen  einiger  deutschen  Reichsbehörden,  der  preufsischen, 
sächsischen  und  elsafs-lothringischen.  Staatsbehörden , durch  das  der 
liuchdiuckcrtarif  bei  der  Vergebung  staatlicher  Druckaufträge  anerkannt 
worden  ist,  zu  rechnen.  Die  bei  einigen  Provinzial  Verwaltungen  Belgiens 
übliche  Modalität  der  Lohnbestimmung,  wo  der  an  Ort  und  Stelle 
zwischen  Arbeitern  und  Unternehmern  kollektiv  vereinbarte  Lohn  als 
Minimallohn  erklärt  wird,  gehört  ebenfalls  zu  dieser  Gruppe,  wenn  sic 
sich  auch  der  englisclu-n  Lohnklausel:  „common  in  the  dislriet“  nähert. 
i.  Die  in  dem  betreffenden  Orte  und  Gewerbe  üblichen  oder  vor- 
herrschenden Löhne  sind  acceptiert  in  den  Lohnklauseln  der  englischen 
Staatsbehörden,  in  den  Gesetzen  von  Indiana,  Kansas  und  New  Vork  für 
die  Arbeiten  der  Staatsbehörden,  der  Bezirke  und  Gemeinden  sowie  in 
Frankreich.  3.  Ziffernmäßige  Löhne  und  Lohntarife  /.eit-  und  Stück- 
löhne) kommen  vor  in  Belgien,  namentlich  aber  bei  holländischen  Ge- 
meindeverwaltungen und  bei  den  Arbeitern  der  tistereichischen  Staats- 
balmverwaltung („Stabilisierung"  der  Löhne  . Daneben  sind  hier  und 
da  besondere  Lohnsätze  lür  ll.dbarbciter  vorgesehen;  es  findet  sich  in 
Amerika  häutig  die  Bestimmung,  dafs  amerikanische  Staatsbürger  und 
namentlich  die  ehemaligen  Land-  und  Marinesoldalen  und  Seeleute  aus 
den  Sezessionskriegen  zu  bevorzugen  sind. 

Der  vierte  Abschnitt  behandelt  die  „Voraussetzungen  und  Grund- 
lagen der  modernen  Lohnpolitik.“  Ks  hat  sich  gezeigt,  dafs  zur  Zeit  der 
Koalitionsverbote  r 7po  bis  iS’o  eine  Krhöhung  der  L'nternehmcr- 
gewinnc  fast  in  allen  Industriezweigen  vor  sich  ging,  auch  der  Kapital- 
zins stieg,  während  gleichzeitig  die  Arbeitslöhne  fast  allenthalben  fielen. 
Demgegenüber  ist  seit  der  Anerkennung  und  Verbreitung  der  Gewerk- 
vereine in  Knglaml.  wenn  man  gröbere  Perioden  ins  Auge  fafst,  ein 
stetiges  und  erhebliches  Steigen  der  Lohne  zu  beobachten.  Kin  Zurück- 
gehen der  Löhne  und  ihrer  eigenen  Organisation  vermochten  allerdings 
auch  die  englischen  Trude-Unions  während  der  Kri-en  nicht  zu  ver- 
hindern. Ks  besteht  jedoch  ein  ganz,  wesentlicher  Unterschied  zwischen 
der  Rückwirkung  von  Krisen  auf  die  Lohnhöhe  und  dem  Mafse.  sowie 
der  Art,  in  welchen  die  Gcrchäftsstockcngen  heute  und  überhaupt  in 
jüngerer  Zeit  auf  die  I ohngestaltiing  Kintlufs  üben.  Aufser  dem  Mittel 
der  Arbeitslosenunterstützung  hat  vor  allem  auch  die  Disziplinierung  der 
organisierten  Arbeiter  die  Gelähr  eines  zu  weitgehenden  ungerechtfertigten 
Lohndruckes  abweliren  geholfen. 

Kine  eingehende  Untersuchung  der  möglichen  Wirkungen  einer 
Lohnerhöhung  ergiebt,  dafs  diese  ebensowohl  die  Konsumenten  als  die 
Produzenten  treffen  können,  ln  letzterem  Kall  kann  die  Kapitalbildung 
gehemmt  oder  es  kann  die  Konsumkraft  der  Kapitalistenklasse  cinge- 

4S* 


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744 


Littcratur. 


schränkt  «erden.  Beides  ist  ohne  Nachteil  für  die  Volkswirtschaft,  da 
die  Kapitalbildung  und  daher  das  Kapitalanlagebedürfnis  in  weit  höherem 
Mafsc  steigen,  als  die  Volkswirtschaft  es  verlangt  und  da  eine  solche 
Verschiebung  des  Konsums  nur  eine  an  sich  wünschenswerte  Aus- 
gleichung der  Klassengegensätze  zur  Folge  haben  müfste.  Eine  nam- 
hafte Vermehrung  der  Arbeitslosigkeit  wegen  der  durch  die  Lohn- 
erhöhung unrentabel  gewordenen  und  daher  eingestellten  Betriebe  ist 
überhaupt  nicht  zu  befürchten. 

Wird  die  Lohnerhöhung  aber  auf  die  Warenpreise  abge«'älzt,  so 
müssen  die  Arbeiter  keineswegs  den  ganzen  erreichten  Vorteil  wieder 
in  erhöhten  Warenpreisen  abgeben,  sondern  ein  Teil  der  Mehrauslage 
an  Lohn  wird  von  den  übrigen  Bevölkenmgsklassen  aufgebracht.  Be- 
züglich der  Aufrechterhaltung  der  Konkurrenzfähigkeit  auf  dem  inter- 
nationalen Markt  durch  manche  Exportindustrieen  um  jeden  Preis  be- 
merkt v.  Z.-S.  unter  Hinweis  auf  die  Konfektionsindustrie  mit  vollem 
Recht:  „der  volkswirtschaftliche  Vorteil  davon,  dafs  die  einheimischen 
Arbeiter  um  Hungerlöhne  arbeiten,  damit  sich  die  Bevölkerung  des  Aus- 
landstaates, der  die  Waren  kauft,  besonders  billig  kleidet,  ist  nicht  ein- 
zusehen.“ Gilt  es  jedoch  den  Konkurrenzkampf  mit  einer  ausländischen 
Industrie,  die  niedrigere  Löhne  zahlt,  im  eigenen  Lande  aufzunehmen, 
dann  trifft  das  zu,  was  Brentano  als  Ergebnis  seiner  Untersuchung  fest- 
stellt, wenn  er  sagt:  „Lohnsteigerungen  auf  Kosten  der  Konsumenten 
sind  jedoch  nur  möglich,  insofern  die  Preise  dadurch  nicht  so  sehr 
erhöht  werden,  dafs  die  Nachfrage  der  Konsumenten  sich  der  aus- 
ländischen statt  der  einheimischen  Industrie  zuwendet.“  Jedoch  kann 
hier  eine  Zollschranke  abhelfen  und  unter  Umständen  gerechtfertigt  sein. 
Wird  aber  danach  getrachtet,  eine  Produktionsverteuerung  infolge  Er- 
höhung der  Löhne  durch  eine  technische  Produktionsverbilligung  wett 
zu  machen,  dann  ist  die  Förderung  der  Produktivität  durch  die  Lohn- 
erhöhung ganz  aufser  Zweifel  gestellt. 

Es  kann  aber  eine  Korrektur  der  freien  Lohnbiidung  aus  ethischen 
Gründen  zu  fordern  sein.  Und  zwar  ist  hierbei  unser  Gerechtigkeits- 
ideal und  ein  verfeinertes  Freiheitsempfinden  ausschlaggebend.  Die 
Forderung  der  Gerechtigkeit , die  v.  Z.  - S.  als  allgemein  anerkannte 
glaubt  bezeichnen  zu  dürfen,  geht  darauf  hinaus,  dafs  die  Arbeit  eines 
in  seiner  Vollkraft  stehenden  Menschen,  wenn  sie  ihn  ganz  in  Anspruch 
nimmt,  ihm  eine  angemessene  Lebensführung  schaffen  soll.  Und  das 
Freiheitsempfinden  verlangt,  dafs  die  Vertragsfreiheit  nicht  blofs'  eine 
formelle,  sondern  eine  materielle  sei.  Die  hauptsächlichste  hieraus  ab- 
zuleitende Folgerung  ist  die  Anerkennung  der  Koalitionsfreiheit  und  der 
rechtliche  Schutz  des  kollektiven  Arbeitsvertrages.  Ein  staatliches  Ein- 
greifen ist  dagegen  bei  den  Hausindustriellen  und  den  ungelernten  Tage- 
löhnern, die  nicht  organisationsfähig  sind,  angezeigt,  um  unter  Mitwirkung 
der  beiden  Arbeitsvertragsparteien  einen  Minimallohn  festzustellen,  der 


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v.  Zwiedincck-Südenhorst,  Lohnpolitik  etc. 


745 


jenem  Gerechtigkeitsidca!  entspricht,  und  so  ein  Herkommen  in  der 
Lohnfestsetzung  zu  brechen,  wo  cs  zu  wirklich  ungesunden  und  unhalt- 
baren Verhältnissen  geführt  hat. 

Die  ganze  Lohntheorie  des  Verfassers  leidet  an  dem  grofsen  Mangel, 
dafs  sie  die  Lohne  der  landwirtschaftlichen  Arbeiter  unberücksichtigt 
lafst.  Die  Lohne  aller  Berufsklasscn  sind  in  ihrem  Verhältnis  zu  einander 
relative  Grofsen.  Alle  höheren  Löhne  sind  gewissermafsen  eine  Funktion 
der  niedrigsten  Löhne,  d.  h.  der  Löhne  der  landwirtschaftlichen  Arbeiter. 
Gelingt  es  diese  dauernd  zu  heben,  so  müssen  mit  Notwendigkeit  die 
Löhne  aller  gelernten  Arbeiter  steigen.  Das  ganze  Problem  der  sozialen 
F'rage,  will  mir  scheinen,  kann  mit  Erfolg  nur  von  der  Produktion  der 
notwendigsten  Bedarfsgegenstände  d.  h.  von  der  landwirtschaftlichen  Pro- 
duktion aus  in  Angriff  genommen  werden.  Im  einzelnen  auf  dieses 
Problem  näher  einzugehen,  ist  hier  nicht  der  Ort. 

Der  Bericht  des  k.  k.  arbeitsstatistischen  Amtes  bildet  in  mancher 
Hinsicht  eine  F'.rgänzung  der  angezeigten  Schrift.  F'.r  behandelt  den  Ar- 
betlerschutz.  bei  Vergebung  öffentlicher  Arbeiten  und  Lieferungen  in 
folgenden  Staaten:  Grofsbritannien,  Belgien,  den  Niederlanden,  Frankreich, 
den  Vereinigten  Staaten  von  Amerika,  im  Deutschen  Reich,  in  der 
Schweiz,  in  Norwegen,  Oesterreich,  Ungarn,  Bosnien  und  in  der  Herze- 
gowina. In  einem  Anhang  wird  die  Heranziehung  von  Arbeiterassozia- 
tionen zu  öffentlichen  Arbeiten,  wie  sie  namentlich  in  England  und 
Italien  versucht  worden  ist,  auf  Grund  eines  Berichts  des  englischen 
Arbeitsamtes  dargestellt.  Hinsichtlich  des  Minimallohnes  kommen  die 
gleichen  Thatsachen  wie  in  dem  soeben  besprochenen  Werke  zur  Dar- 
stellung und  finden  namentlich  hinsichtlich  der  deutschen  Gemeinde- 
verwaltungen weitgehende  F'.rgänzung.  Daneben  sind  noch  andere  Ar- 
beiterschutzbestimmungen , wie  die , welche  die  Sicherung  der  Lohn- 
zahlung überhaupt  zum  Zwecke  hat.  hygienische  Unfallverhütungsmafs- 
regeln  u.  dergl.  berücksichtigt.  Eine  Durchsicht  der  Submissionsklauseln 
ergiebt,  dafs  sie  in  ihrer  grofsen  Mehrzahl  nur  einer  Berufsklassc,  der 
der  Bauarbeiter  zu  gute  kommen.  Der  amtliche  Bericht  zeichnet  sich 
durch  eine  gewissenhafte  Sammlung  des  Materials,  genaue  Quellenangabe 
und  übersichtliche  objektive  Darstellung  aus. 

Die  Schrift  von  Klien  bietet,  namentlich  für  die  deutschen  Verhält- 
nisse eine  willkommene  F'.rgänzung  derjenigen  von  v.  Zwiedineck-Südenhorst. 
Sie  zerfällt  in  einen  theoretischen,  einen  praktischen  und  einen  speziellen 
Teil.  Der  theoretische  Teil  bietet  im  wesentlichen  kaum  etwas  neues; 
Verf.  folgt  hier  den  Ansichten  Brentanos  und  der  österreichischen  Schule. 
Das  über  den  Minimallohn  vorliegende  Thatsachenmaterial  gliedert  Klien 
in  seinem  praktischen  Teil  in  i.  obrigkeitlichen  Minimallohn  und  zwar 
a)  staatlichen,  b)  kommunalen;  2.  korporativen  und  3.  singulären  Minimal- 
lohn. Durch  diese  Fanteilung  wird  ganz  unnötigerweise  organisch  Zu- 
sammengehöriges willkürlich  auseinandergerissen.  Der  von  v.  Zwicdineck- 


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746 


.ittcratur. 


Siidenhorst  und  vom  k.  k.  österreichischen  arbeitsstatistischen  Amt  ge- 
wählten Darstellung  nach  Landern  gebührt  entschieden  der  Vorzug.  Der 
staatliche  Minimallohn  ist  zu  dem  nur  von  prinzipieller  Bedeutung  für 
das  Vorgehen  Australiens,  wo  er  kraft  Kompetenzhoheit  eingeführt  wurde. 
Im  übrigen  unterscheidet  sich  der  staatliche  Minimallohn  nur  für  Genf, 
Indiana,  (Kansas,  New  York  und  Frankreich,  wo  der  Staat  durch  Gesetz 
als  Arbeitgeber  an  die  Einhaltung  des  Minimallohnes  gebunden  ist,  vom 
kommunalen,  während  in  allen  übrigen  Staaten  zwischen  staatlichem  und 
kommunalem  Minimallohn  aufser  in  der  Person  des  Arbeitgebers  kein 
wesentlicher  Unterschied  besteht.  Logischerweise  wären  diese  letzteren 
Minimallöhne,  sofern  sie  von  Staat  und  Gemeinde  einseitig  festgesetzt 
werden  und  hierzu  keine  gesetzliche  Bindung  besteht,  unter  Kliens  sin- 
guläre Minimallöhne  zu  rechnen.  Auch  von  korporativem  Minimallohn 
zu  sprechen  und  darunter  den  von  den  Gewerkschaften  verlangten  oder 
im  Wege  des  kollektiven  Arbeitsvertrags  mit  den  Unternehmern  verein- 
barten Minimallohn  zu  verstehen,  ist  geradezu  irreführend,  solange  die 
Gewerkvereine  und  der  kollektive  Arbeitsvertrag  in  den  meisten  Staaten 
der  rechtlichen  Anerkennung  entbehren.  Es  handelt  sich  hier  i.  um 
von  den  Arbeitgeber-  und  Arbeiterverbänden  gemeinschaftlich  festge- 
setzte Minimallöhne,  2.  um  einseitig  a)  von  den  Arbeitern,  b)  von  den 
Unternehmern  (Kliens  „singuläre  Minimallöhne“)  festgesetzte  Minimal- 
löhne. 

Es  hätte  sich  umsomehr  empfohlen,  bei  der  Darstellung  des  That- 
sachcninaterials  die  geographische  Einteilung,  die  wiederum  geschicht- 
liche Zusammenhänge  ins  richtige  Licht  zu  setzen  vermag,  beizubchalten, 
als  Klien  in  seiner  „analytischen  Darstellung  der  Lebenserscheinungen 
des  .Minimallohnes“,  in  der  er  Umfang,  Inhalt  tmd  Rechtscharakter  der 
Minimallohnbestimmung  liehamieh,  zu  zahlreichen  Wiederholungen  ge- 
nötigt ist. 

Wenn  wir  von  Deutschland  absehen,  ist  Klien  in  seiner  Darstellung 
des  Thatsar.hemnaterials  über  diejenige  von  v.  Zwiedineck  Siidenhorst  und 
des  österreichischen  arbeitsstatistischen  Amtes  nicht  hinausgekomtnen, 
sondern  im  Gegenteil  durch  Auseinandcrreifsung  von  Zusammengehörigem 
weit  dahinter  zurückgeblieben.  Kr  hätte  besser  gethan,  sich  hier  auf 
einen  kurzen  Auszug  zu  beschränken  und  dafür  seine  zahlreichen  No- 
tizen über  die  Minimallohn-  bezw.  Tarifbestrebungen  deutscher  Gewerk- 
vereine und  Arbeitgeberverbände  zu  einer  Geschichte  dieser  Bestrebungen 
auszuarbeiten.  Klien  hat  hier  allerdings  eine  Menge  Material  aus  der 
„Sozialen  Praxis“  zusanimcngclragen,  aber  die  Ausführlichkeit  der  Dar- 
stellung ist  zu  verschieden,  je  nachdem  eben  diese  (Quelle  reichlicher 
oder  spärlicher  Hofs.  Es  fehlt  eben  leider  immer  noch  eine  systematische 
Geschuhte  der  deutschen  Gewerk  vereine. 

Wesentlich  günstiger  mufs  das  Urteil  über  den  dritten  wertvollsten 
Teil  des  Buches  lauten,  der  als  eine  „Monographie  des  Minimallohnes  in 


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v.  /.  w i c d i nec k -S(l  de n li  i> r st , Lohnpolitik  etc. 


747 


der  deutschen  Kommunalverwnltung"  bezeichnet  werden  kann.  Klien  hat 
hier  mit  grofsem  Fleifs  alle  statutarischen  Regelungen  des  Arbeitsver- 
hältnisses  der  städtischen  Arbeiter  gesammelt.  Leider  reifst  er  hier 
wiederum  um  gekünstelter  Unterscheidungen  willen  Zusammengehöriges 
auseinander.  Der  ziemlich  klare  Sachverhalt  ist  doch  der,  dafs  von  den 
von  Klien  bearbeiteten  Städten  München  am  weitesten  in  der  Fürsorge 
für  seine  Arbeiter  gegangen  ist,  indem  es  ihnen  einen  Rechtsanspruch 
auf  Invaliden-,  Alters-,  Witwen-  und  Waisenpension  gegeben  und  die 
Bestimmung  getroffen  hat,  dafs  künftighin  der  einmal  erreichte  Lohn 
niemals,  also  auch  nicht  bei  eintretender  Minderung  der  Arbeitsleistung, 
herabgesetzt  werden  darf.  Am  äufsersten  Knde  auf  der  prinzipiellen 
Auffassung  der  Frage  steht  Berlin,  das  die  Arbeiterftirsorge  als  reinen 
Gnadenakt  angesehen  wissen  will.  An  München  schliefsen  sich  an  die 
Städte  Mannheim,  Karlsruhe,  Frankfurt  a.  M.,  Stuttgart,  Freiburg  i.  Br. 
K.s  folgen  mit  mehr  oder  weniger  ausgiebiger  Arbeiterftirsorge  für  ihre 
städtischen  Arbeiter  Cannstatt,  Baden-Baden,  Ulm,  Worms.  Darmstadt, 
Düsseldorf,  Kssen,  Köln,  Mainz,  (liefsen,  Fürth,  Dresden,  Charlottenburg, 
Spandau,  Hamburg,  Breslau,  Braunschweig  und  •Kassel.  Bei  all  diesen 
Städten  handelt  es  sich  um  den  weiteren  Ausbau  der  Arbeiterversiche- 
rung, den  Klien  in  willkürlicher  theoretischer  Konstruktion  als  Vorstufe 
des  Mintmallohnes  behandelt.  Sodann  berichtet  er  über  sechs  süd- 
deutsche Städte,  tiie  den  .Minimallohn  prinzipiell  anerkannt  und  durch- 
geführt haben:  Frankfurt  a.  M„  Mannheim.  Karlsruhe,  Stuttgart,  Frei- 
burg i.  Br.,  München.  Zu  diesen  Städten  sind  inzwischen  noch  solche 
gekommen  — Klien  erwähnt  von  einigen  die  schwebenden  Verhand- 
lungen — , wo.  für  die  bei  Submissionsaufträgen  lteschäftigten  Arbeiter 
in  irgend  einer  Form  Mindestlöhne  gesichert  sind,  wie  in  Braunschweig, 
Cannstatt,  Dresden,  Frankfurt  a.  M.,  Stettin,  Strafsburg,  Wiesbaden,  Mar- 
kirch  i.  E.  und  teilweise  in  Charlottenburg.  Dazu  kommen  von  Städten 
dieser  Gruppe  die  von  Klien  erwähnten : Kassel,  Mengen  und  Gleiwitz. 
Ferner  gehören  hierher  noch  die  Städte,  die  den  Buchdruckertarif  an- 
genommen haben,  nämlich:  Leipzig,  Mannheim,  Gotha,  Rudolstadt, 
Heidelberg,  Karlsruhe,  Tilsit,  Hannover,  Nördlingen,  Ansbarh,  Ulm  a.  D. 
und  Frankfurt  a.  M. 

Merkwürdigerweise  behandelt  nun  aber  Klien  die  Arbeiterstatute 
der  oben  erwähnten  süddeutschen  Städte  nicht  etwa  an  der  Spitze  des 
über  den  weiteren  Ausbau  der  deutschen  Arbeiterversicherung  handelnden 
Kapitel,  sondern  in  dem  Kapitel  über  den  prinzipiell  durchgeführten 
Minimallohn.  Wiederholungen  und  Unklarheiten  sind  die  Folge  solch 
verfehlter  Systematik.  Das  Kapitet  aber,  das  Klien  in  seiner  Entdecker- 
freude  überschreibt : „Eine  Neuschöpfung  auf  Grund  des  kommunalen 
Minitnallohnes  in  Deutschland  — der  Arbeiterbeamte“  hätten  wir  ihm 
am  liebsten  ganz  geschenkt.  Seine  breiten  staatsrechtlichen  Ausführungen 


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Litteratur. 


sind  juristisch  gegenstandslos  und  volkswirtschaftlich  wertlos.  Der  einzig 
richtige  Gedanke  mag  dabei  sein,  dafs  die  städtischen  Arbeiter  durch 
solche  „Systematisierung“  oder  „Stabilisierung“  von  der  übrigen  Arbeiter- 
schaft abgedrängt  werden.  Kliens  Buch  bietet  eine  Fülle  von  Material 
und  Anregung  und  ist  daher  trotz  der  Mängel  im  systematischen  Aufbau 
sehr  wertvoll. 

Berlin. 

CLEMENS  HEISS. 


Lipprrt  & Co.  (G.  PitU'sche  KuchJr.),  Naumburg  a.  S. 


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