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Compendium
der
Neurologie und Psychiatrie
von
Dr. Hermann ]Mayor.
Dritte bis fünfte, vermehrte und verbesserte Auflage.
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Freiburg I. B. u. Leipzig.
^ Speyer & Kaer^er
^ ' • Universitätsbuchhandlung.
1113
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Alle Rechte vorbehalten.
Eine spanische Übersetzung erschien im Verlage
Gustavo Gill in Barcelona.
Copyright b y S p e y e r \ K u e r u e r.
Univer.sitätsbuclihaiidluug
Freibur;; iu Baden
Li) 16.
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Dtwk T<m A. Bonz' £rtMn ia Stuttgart.
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Vorwort.
Alle diejenigen, welche das vorliegende Oompendium
zum Studium oder zur zeitweiligen Orientierung benutzen
wollen, muß ich auf zwei Dinge aufmerksam machen.
Zunächst war es mir unmöglich, bei der Größe des
hier in Angriff genommenen Gebietes die in Betracht
kommenden Verhältnisse der normalen Anatomie nnd
Physiologie darzustellen. Ich empfehle es jedem Un-
kundigen dringend, die diesbezüglichen Kapitel in einem
Lehrbuche der Anatomie, eventuell auch der Physiologie,
nachzulesen.
Des Weiteren mnfi ich nachdrücklich betonen, daß
nur derjenige den speziellen Teil sowohl der Neurologie
als auch der Psychiatrie verstehen kann, welcher zuvor
den allgemeinen Teil studiert hat. Es sind in den
speziellen Teilen stets Hinweise auf die allgemeinen Teile
(in Klammem) gegeben, Hinweise, deren ausgiebige Be-
nutzung ich angelegentlichst anraten möchte.
Wer in diesem Sinne das Buch in Gebrauch nimmt,
wird, so hoife ich, manchen Nutzen davon haben.
Berlin, im Juni 1906.
Der Terfftsser.
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.Inhalts-Ubersicht.
I. Neurologie*
Sftite
Allgemeine Diagnostik der Nervenkrankheiten 1
A. Einleitung 1,
B. Störungen der Motilität 4
C. Störongen der Senafbilität IG
D. Störungen der Reflexe 21
£. Diagnostischo Vorwortung der Störungen der Motilität,
der Sensil)ilität und der Reflexe 26
P. Störungen der Koordination *. . 28
G. BUwen-, Mastdarm- und Genitalstöroiigen 30
H. Stönmgen des Sehoiganes 32
I. Lumbalpunktion • 39
K. Allgemeine Ätiologie 40
Im Gang der UntezsiMshiuig 43
Die Krankhetten iei BidLeHmarks 45
Einleitung 45
A. Systemerkraukungen des Rückenmarkes 46
Tabes dorsalis 46
Die horoditäre Ataxie 62
Die spasiische Spinal paralvHe 53
Die progressiven Muskelatrophien 54
Die amyotrophische Lateralsklerofle 59
PolioinycHtis anterior acuta 61
Akute Spinalparalyse 63
B. Die diffusen Erkrankungen des Rückenmarkes .... 64
Die Syringomyelie 64
Myelitis acuta 66
Spondylitis tuberculosa 68
Sclerosis multiplex 71
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— VI —
Meningomyelitifl sjrphilitioa 78
Pachymeningitis cwrioaUs hypertiophioa 76
Spina bifida 77
Die Krankheiten des Gehirns 78
A- Allgemeiner Teil ^ 78
I. Zentren 78
II. Allgemeinerscheinungen 80
III. Sprachstörungen 82
IV. StSrungen der Sohnffe 87
B. Spezieller Teil 88
Zirkulationsstörungen im Gehirn 88
Apoplexia cerebri ÖO
Tumor cerebri 9*
Hirnabszeß ^
Hydrocephalns 98
Hemiplegia spastica infantilis 99
Diplegia spastio» infantilis 101
IMe progressive BnlbÜrparalyae 101
Lues cerebri 1^*^
Pachymeningitis liaemorrhagica interna 105
Lieptomeningitis acuta 106
Oommotio cerebri 109
Die Kranltheiten der peripheren Nerven III
L Neuritis Hl
PolyneuritiB alooholioa 114
Bleineuritis
Polyneuritis postdiphtherica HO
II. Neuralgien 116
III. Facialis-Lähmung 121
IV. Plexufl-Lahmungen 124
a. Erbsche Lähmung 124
b. Klumpkesche Lälunung 124
V. Facialis-Krampf 124
Die luulitiouolien Neurosen 126
Einleitung 126
Epilepsie 126
Chorea minor 131
Fftralyns agitans 133
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— VII —
Seit«
Morbus B asedowii 136
Myxödem 138
Tctatiip 138
Akiüiiiegalie 140
Ht'Miikiiinip ( Mij^iiiuti) . '. ^ ^ . '. '. . '■ '■ ■ '. ■ '. '■ '■ Iii
Vasomotoriache Neurosen 143
a. Akroparäatheaien 143
b. Oedema cutis circumHcriptum 143
c. Symmetrisclie Gangracn 144
dTErythrotnelaltrie 144
ei Heiiiiutrophia faeialia 144
Slcl.Mmlftrmifi 144
Myasthenia gravi» paeudoparalytica 145
Myotonia congenita . . . . 145
Tio 14ft
II. Psychiatrie.
A. AMsrouK'iner Toll 151
Funktionelle und organische Psychosen 151
Foriiion der psycliischen Störung 151
1. Störungen der Empfindung 152
IL Störungen de,s Denkens 155
III. Affekt Störungen 161
IV. Störungen de.s Handelns 163
Degenerationszeiclien 164
Gang der psyclii.selien Untcrauchung 166
l-'.inteiliing der Psychosen 167
B. Sppzlellpr Teil 169
I. Psychosen ohne lntelligen>^delekt 169
a. Einfache Psychosen 169
Melancholie 169
Manie 123
Anienlia 175
Parapoia chronica halluciiiatoria 178
Paranoia clironica Simplex 179
Alkoholpaychosen 182
Dämmerzustände 186
Psycbopathiache Koii&ütmiuiien 188
vin
Seit«
I. Psychasthenie 188
11. XeÄirasthenie 193
m. Hysterie 200
ly. Epileptische psychopathisclie Koiit^titution 207
V. Kl blich degenerative psychopatiiische Kon -
stitution 208
VI. Tra\imati:>che psychopathiache Konstitution 209
b. Zusammengesetzte Psychosen 209
Katatonie 209
Pei iodirtohe Manie 210
Periodisehe Melanoholit; 211
Zirkuläres Tncseiii , .. , , .. .. 212
Periodische impulsive Zuatäude 212
II. Psychosen mit Intelligenzdefekt 213
A. Angeborene Defektpsychoaen 213
Idiotie 215
l»nl)0(-illitiii 21ß
Debilität 217
B. Erworbene Defektpsychosen 219
Dementia paralytica 219
Denumtia s(>uilis 225
Dementifl. aeenndaria 222
Demenfifl. art<>rin.anlpiint.if.a . . . 222
Dementia praecox 228
ptMuentia cpileptica 230
Dcnicutia alcoholica 231
Ätiologische Übersicht über die Psychosen 234
Die für dir Psychiatrie wichtigsten Paragrapiicii der deulüchün
Gesetzgebung ~ 235
Register 237
Google
AUgemeiae Diagnostik der Nerveakraakheiten,
A. Einleitung.
Organische und funktionelle Nervenkrankheiten.
Eine Erkrankung dos Nervensystems kann or-
ganisch oder funktionell sein. Organisch ist sie, wenn
sie auf anatomisch nachweisbarer Grundlage beruht;
funktionell ist sie, wenn sich anatomische Verände-
rungen nicht nachweisen lassen. Man muß jedoch an-
nehmen, daß den funktionellen Erkrankungen eben-
falls materielle Veränderungen des Nervensystems zu-
grunde liegen ; nur sind dieselben, sei es durch die
Mangelhaftigkeit der Methoden oder aus anderen Grün-
den, nicht zu erkennen. Daher wird wohl vieles, was
heutzutage für funktionell gilt, in Zukunft unter die
organischen Erkrankungen einzureihen sein.
Eine funktionelle Neurose darf nur diagnostiziert
worden :
1. wenn sich jede organische Nervenkrankheit aus-
schließen läßt,
2. wenn die krankhaften Symptome keinen Bestand
haben, sondern häufigem Wechsel unterworfen
sind oder bald völlig schwinden,
3. wenn keine Symptome vorliegen, die <^ine funk-
tionelle Neurose überhaupt ausschließen (z. B. Ent-
artungsreaktion der Muskeln, reflektorische Pu-
pillenstarre etc.).
Mayer, Compendiam der Neurologie. S.- 5. Aufl. 1
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— 2 —
Direkte und indirekte Herdsymptome.
Die direkten Herdsymptome entstehen durch die
Zerstörung, welche der eigentliche Krankheitsherd be-
wirkt; sie sind daher stets dauernd. Die indirekten
Herdsymptome entstehen durch die Schädigungen,
welche der Krankheitsherd auf das Gewebe der Um-
gebung ausübt (,,Forn Wirkung"). Sie sind meist
. vorübergehender Natur und können bald ganz oder . .
teilweise zurückgehen; jedoch können sie auch zu blei-
benden, also direkten lierdsyniptonien werden, wie das
z. B. bei dem allmählichen Wachstum eines Tumors
vorkommt.
Wesen und Sitz der Erkrankung.
In der neurologischen Diagnostik ist es von ganz
besonderer Wichtigkeit, nicht nur das Wesen der Krank-
heit, sondern auch möglichst genau ihren Sitz zu be-
stimmen.
1. Das Wesen der Krankheit geht hervor aus ver-
schiedenen Momenten: Entstehung und Verlauf
des Leidens (ob plötzlich oder schleichend), Be-
ruf des Erkrankten (Bleilähmung, AlkohoUsmus
etc.), Vorausgehen von Infektionskrankheiten oder
Bestehen von konstitutioneUen Erkrankungen (be-.
sonders Syphilis), und selbstverständlich aus den
sonstigen objektiven Symptomen. Oft genügt
jedoch schon allein die Diagnose des Sitzes , um
das esen der Krankheit mit Wahrscheinlichkeit
zu bestimmen, da erfahrungsgemäß gewisse Herd-
erkrankungen bestimmte Gebiete des Zentralner-
vensystems bevorzugen (z. B. größere Tuberkel
im Kleinhirn).
2. Den Sitz der Krankheit zu bestimmen, ist wich-
tig, weil, je nachdem ein wichtigeres oder unwich-
tigeres Gebiet des Nervensystems von der Er-
krankung betroffen ist, der betreffende Krank-
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— 3 —
heitsherd von größerer oder geringerer Bedeutnng
für den Organismus ist. Es kann z. B. ein recht
großer Teil des Stirnhirns zerstört werden, ohne
daß besondere Funktionsstörungen auftreten.
Zum Verständnis der meisten Nervenkrank-
heiten ist es wichtig zu wissen, daß die das Nerven-
system aufbauenden Neurone (Ganglienzelle mit Neurit
und Dendriten) nutritive Einheiten bilden; d. h. nur
der mit der Nervenzelle in Verbindung stehende Nerv
erhält sich, während der abgetrennte Teil sekundär de-
generiert. Für den Muskel bilden die Ganglienzellen
des Vorderhorns (resp. der MeduUa oblongata und Pons)
nutritive Zentren.
Für die Lokalisation eines Krankheitsherdes sind
folgende Momente maßgebend, welche sich aus den
anatomischen Eigentümlichkeiten des Nervensystems
ergeben :
. 1. Die Kreuzungsverhältnisse gewisser Bahnen.
Z. B. bedingt eine Verletzung der Pyramidenbahn
oberhalb ihrer Kreuzung eine Lähmung der
entgegengesetzten Körperhälfte, unterhalb
ihrer Kreuzung eine gleichseitige Lähmung.
2. Die Zusammensetzung gewisser Bahnen aus zwei
oder mehr Nerveneinheiten (Neuronen). Z. B. be-
dingt eine Zerstörung der Pyraniidenbahn, welche
bekanntlich das zentrale Neuron der gesamten
motorischen Leitungsbahn vorstellt, eine Degene-
ration derselben bis zu den Ganglienzellen im
grauen Vorderhorn des Rückenmarks. Sitzt da-
gegen der zerstörende Herd im peripheren, mo-
torischen Neuron, also im Vorderhorn oder im
peripheren Nerven, so degenerieren Nerv und Mus-
kel unter den Zelcheii der degenerativen Atrophie:
Schlaffe Lähmung, elektrische Entartungsreak-
tion, Volumsverminderung des Muskels.
3. Die Größe der Enttemimg zwischen verschiedenen
Bahnen und zwischen Fasern derselben Bahn.
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— 4 —
Ein Herd, der in der Capsula interna die gesamte
motorische Pyramidenbahn zerstört, weil hier die
Fasern sehr dicht beieinander liegen, bedingt die
Lähmung der ganzen anderseitigen Körperhälfte.
Ein gleichgroßer Herd in der Rinde würde viel-
leicht, weil hier die nervösen Elemente weiter aus-
einander liegen, nur die Lähmung einer Gesichts-
hälfte, eines Beines oder eines Armes bedingen.
Lähmungs- und Reizerscheinungen.
Die Funktion der nervösen Elemente kann krank-
haft gesteigert oder krankhaft vermindert, bezieliungs-
weise völlig aufgehoben sein. In ersterem Falle haben
wir es mit Reiz-, im letzteren Falle mit Lähmungsor-
scheinungen zu tun. Reiz- und Lähmungserscheinungen
können die motorischen, die sensiblen, die sekretori-
schen, kurz alle vei schiedonen nervösen Funktionen l)e-
treffen. Wir werden daher in folgendem betrachten:
1. Die Störungen der Motilität.
2. Die Störungen der Sonsibilität.
3. Die Störungen der Roilexe.
4. Die Störungen der Koordination.
B. Störungen der Hotilität
L Motorische ßekerscheinungen.
A. Krämpfe (Hyperkinesis).'
Man unterscheidet tonische und klonische Krämpfe.
Die tonischen Krämpfe beruhen auf lange, gleich-
mäßig andauernden, unwillkürlichen Muskelkontrak-
tionen, sie können von Minuten bis Wochen dauern.
Die klonischen beruhen auf kurzdauernden, schnell
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— 5 —
aufeinanderfolgenden Muskelkontraktionen. Klonische
Krämpfe von großer Ausbreitung und Intensität heißen
Konvulsionen.
Vorkommen:
a. Klonische: Bei Epilepsie, cerebralen Herderkran-
kungen, Myelitis transversa und Urämie.
b. Tonische: Bei Epilepsie (Beginn des Anfalls), bei
Hysterie, bei Tetanus etc.
Arten der tonigehen Krämpfe:
1. Tetanus = Krampf der gesamten Körpermusku-
latur.
2. Opisthotonus = Krampf der Streckmuskeln des
Rückens und Nackens.
3. Trismus= Krampf der Kaumuskulatur.
4. Crampus= Krampf einzelner Muskelgruppen.
B. Choreatischc und athetotische Bewegungen
werden im speziellen Teil beschrieben (S. 92, 131).
C. Tremor (Zittern).
Der Tremor besteht aus rhytmischen, schnell auf-
einander folgenden Zuckungen von geringer Exkursion.
Man kann einen statischen Tremor (in rler Ruhe)
und einen Bewegungstremor (bei aktiven Bewe-
gungen) unterscheiden. Der Tremor kann fein- und
grobschlägig sein.
Vorkommen: Physiologisch als Tremor senilis; pa-
thologisch als Tremor alcoholicus, ferner als Tremor
saturninus (chronische Bleivergiftung), hei Morphinis-
mus, hei Neurasthenischen und Hysterischen, ferner bei
Morbus Basedowii. Das Zittern bei Paralysis agi-
tans ist außer durch eine charakteristische Haltung
der Hand (Pillfridrchen) dadurch ausgezeichnet, daß
es bei willkürlichen größeren Bewegungen aufhört. Um-
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— 6 —
gekehrt tritt der sogenannte Intentionstremor ge-
rade nur bei willkürlicher Bewegung auf, und zwar
gegen Ende der Bewegung; er kommt vor bei mul-
tipler Sklerose, seltener bei Quecksilbervergiftung.
D. Fibrilläre Muskelzuckungen
sind Zuckungen einzelner gröberer oder feinerer Muskel-
bimdel ohne Bewegungseffekt. Sie haben Ähnlichkeit
mit dem Muskelflimmern beim Frieren (Untersuchung
im warmen Räume!); sie beruhen meist auf degenera-
tiven Veränderungen der Muskulatur.
Yorkammen: Besonders bei der spinalen progres-
siven Muskelatrophie, gelegentlich bei Neurasthenie.
IL Motorisehe Lähmungserscheiniiiigen.
Unter Lähmung versteht man einen Zustand, bei
dem die willkürliche Muskulatur durch den Willen nur
in vermindertem Grade oder gar nicht mehr zur Kon-
traktion gebracht W(M'<len kann. Verminderung der
willkürlichen Kontraktion heißt Parese, völlige Auf-
hebung derselben Paralyse.
Der Sitz des Krankheitsherdes, welcher die moto-
rische Lähmung bewirkt, kann sich selbstverständlich
an den verschiedensten Stellen der motorischen Lei-
tungsbahn befinden:
1. In der Gehirnrinde = Kortikale Lähmung.
2. In der Pyramiden bahn.
3. a. Im grauen Vorderhorn des Rückenmarks.
b. Im Kern eines llirnnerven = A'ukleäi'e Läh-
mung.
4. Im peripheren Nerv.
5. Im Muskel = Myopathisehe Lähmung.
Im Gebiete des Hirnnerven nennt man eine Läli-
mung nuklear, wenn der Kern betroffen ist, supra-
nnkleär, wenn das zentrale motorische Neuron (von der
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Hirnrinde bis zum Kern), und infhmvkleär, wenn der
peripherische motorische Neurit (im peripherischen
Nerven) betroffen ist.
Ist kein Krankheitsherd vorhanden, so ist die
Lähmung funktionell (Hysterie etc.).
Verbreitung der Lähmungr.
1. Hemiplegie = Lähmung einer Körperhälfte.
2. Monoplegie = Lähmung einer Extremität oder
einer Gesichtshälfte; man unterscheidet Mono-
plegia facialis, brachialis, cruralis.
3. Paraplegie oder Diplegie = Lähiiuing beider Arme
oder beider Beine oder beider Gesicbtshälften.
4. Hemiplegia crueiata s. altemans = Lähmung der
Extremitäten der einen Seite mit gleichzeitiger
Lähmung des N. facialis oder N. oculomotorius
der anderen Seite.
5. Lähmung einzelner 3Iuskelgebiete.
Ähnlich unterscheidet man auch:
Hemiparese, Paraparese etc.
Bingnostische Verwertung des Ausbreitungsgebietes.
1. Die Lähmung einzelner Muskelgruppen, welche von
demselben Nerven versorgt werden, spricht für
eine Läsion des betreffenden peripheren Nerven;
ebenso werden bei der Zerstörung eines Plexus nur
einzelne Muskelgruppen gelähmt.
2. Monoplegie spricht für eine Affektion der Hirn-
rinde, da hier die Zentren für Arm, Bein, Gesicht
etc. isoliert liegen; bei Monoplcgia cruralis denken
wir an einen Herd im obersten Teil der vorderen
Zentralwindung, bei Monoplegia brachialis im
mittleren Teil derselben, bei Monoplegia facialis
und Monoplegia facio-linguaiis im untersten Teil
derselben.
3. Hemiplegie spricht für den Sitz des Herdes in der
Capsula interna, da hier die Fasern der gesamten
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- 8 -
Pyramidenbahn sehr eng beieinander liegen; in
der Rhide würde ein erheblich größerer Herd nötig
sein, um Hemiplegie zu veranlassen.
4. Paraplegie spricht für Sitz des Herdes im Rücken-
mark, weil hier die beiden grauen VorderhÖrner
resp. die beiden P^amidenbahnen nahe beieinan-
der liegen. Totale Lähmung beider Gesichtshälften
spricht für Erkrankung beider Facialiskerne in der
Medulla oblongata.
5. Hemiplegia altemans ist dadurch möglich, daß der
Herd an einer Stelle sitzt, wo sich die zentrale
Bahn des Himnerven bereits gekreuzt hat, während
die übrige Pyramidenbahn noch ungekreuzt ver-
läuft. Gekreuzte Oculomotoriuslähmung spricht
für Erkrankung eines Hirnschenkels (z. B. rechts-
seitige Oculomotoriuslähmung mit linksseitiger
Extremitätenlähmung bei Erkrankung des rechten
Hirnschenkols) ; gekreuzte Facialislähmung spricht
für eine Läsion des hinteren Pons.
Entstehung und Verlauf •
der Lähmung geben Anhaltspunkte über die Art des
Krankheitsherdes :
1. Akute Entstehung: Hirnblutung, Embolie, Throm-
bose, Trauma.
2. Progressive Entstehung: Tumor, Abszeß, multiple
Sklerose, gummöse Hirnsyphilis, Solitärtuberkel.
3. Transitorischer Verlauf: Dementia paralytica, Hy-
sterie etc.
Prüfung der Muskeln auf aktive Bewegungen.
Man fordert den Patienten auf, die Extremität resp.
die Gesichtsmuskeln (durch Pfeifen, Stirnrunzeln etc.)
zu bewegen. Bei Extremitätenlähmungen ist es sehr
wichtig, die grobe motorische Kraft zu prüfen, indem der
Arzt der Bewegung einen Widerstand entgegensetzt.
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— 9 —
Bei völliger Paralyse fallen die Extremitäten, wenn man
sie emporhebt und wieder losläßt, wie leblos herab.
Die Art der Lähmung
gibt uns zuverlässigere Aiifsrhlüssc über den Sitz der
Erkrankung als ihr Ausbreitungsgebiet. Die Lähmung
kann entweder spastisch oder schlaff (atrophisch) sein.
a. Spastisch ist die Lähmung, wenn die passive Be-
weglichkeit der Muskeln vermindert, der Muskel-
tonus erhöht ist, die Sehnenreflexe vorhanden und
gesteigert sind. Bei spastischer Lähmung sitzt die
Erkrankung im zentrahni motorisclxen Neuron
(Rinde, Pyramidi^nhalm).
-. b. Schlaff ist die Lähmung, wenn die Muskeln Vo-
lumsvenninderung (Atrophie), elektrische Entai--
tungsreaktion zeigen und schlaff sind (verminder-
ter Tonus). Die Sehnenreflexe sind dabei auf-
gehoben. Bei atrophischer Lähmung sitzt die Er-
krankung im peripheren motorischen Neuron, also
entweder im grauen Vorderhorn des Rückenmarks
(resp. im Kerne des Hirnnerven) oder im peripheren
Nerven.
Was die Hirnnerven betrifft, so ist eine supra-
nukleäre Lähmung stets spastisch, die nukleare so-
wie die infranukleäre atrophisch.
Eine spastische Paraplegie spricht für Er-
krankung der Pyramidonbahnen im Rückenmark, eine
atrophische Paraplegie dagegen für Erkrankung
der grauen Vorderhörner des Rückenmarks. Sitzt ein
Herd in der Intumescentia cervicalis, so kann er eine
atrophische Lähmung beider Arme und zugleich eine
spastische Lähmung beider Beine bedingen.
Bei Lähmung der Beine bildet sich ein charak-
teristischer Gang aus.
a. Der paretiselie Gang: Gehbewegungen verlangsamt
und mühsam, Schrittlänge verkürzt; beim Erheben
des Fußes sinkt die Fußspitze herab. Da das
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Bein dadurch verlängert wird, beugt der Patient
dasselbe übertrieben in Hüfte und Kniegelenk.
Das Aufsetzen des Fußes verursacht zwei Ge-
räusche.
Der spastische Gang: Kleine, hüpfende Schritte; die
Fußspitze klebt am Boden, das Knie ist meistens
steif; dafür hebt der Patient gewöhnlich das
Becken auf der Seite des schwingenden Beines,
er beschreibt mit demselben einen kleinen Bo^en.
Überwiegt an den Oberschenkeln der Spasmus der
Adduktoren, so werden die Schenkel beim Gehen
gekreuzt.
III. Störungen des Tonus nnd der Ernährung der
Muskulatur.
a. Störungen des Tonus äußern sich entweder in
Hypertonie (Steigerung des Muskeltoniis) oder
in Hypotonie (Abschwächung) desselben.
1. Hypertonie oder Spasmus des Muskels kommt
zustande, wenn das I. oder zentrale motorische
Neuron beschädigt ist. Man nimmt an, daß bei
Spasmen gewisse reflexhemmende Fasern zer-
stört sind, weil sich neben dem erhöhten Tonus
gesteigerte Reliexe linden.
Prüfung auf Spasmus. Der Untersncher
fühlt, wenn er mit den Muskeln des Patienten
passive Bewegungen ausführen will, infolge der
Rigidität der Muskulatur einen deutlichen Wi-
derstand.
2. Hypotonie kommt zustande, wenn das II. oder
})eriphere motorische Neuron geschädigt ist. Sie
geht daher stets mit einer llerahs»4zung oder
Aufhebung der Sehnenreflexe einher. Die Glie-
der zeigen infolge der Hypotonie eine abnorm
große, passive Beweglichkeit. In seltenen Fällen
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findet man auch bei cerebralen Lähmungen auf-
fallende Schlaffheit der Muskulatur.
Kontrakturen können sich bei länger dauern-
den spastischen sowie atrophischen Lähmungen
entwickeln. Sie bestehen in einer dauernden
Verkürzung des Muskels, welche durch eine ana-
tomische Veränderung desselben (bindegewe-
bige Entartung) entsteht. Bei spastischen Läh-
mungen verfallen meist die gelähmten Muskeln
der Kontraktur^ bei atrophischen dagegen die
Antagonisten der gelähmten Muskeln (^^para-
lytische Kontraktur*'). Durch Kontrakturen
erhält das gelähmte Glied eine fixierte Stel-
lung; so entsteht oft nach Hemiplegien eine
Beugekontraktur im Arm, eine Streck-
kontraktur im Bein; Lähmung des N. ulnaris
führt durch Kontraktur im Muskelgebiete des
N. radialis zur Kl auenh and Stellung, Läh-
mung des N. ulnaris und medianus führt zur
Predigerhand, atrophische Lähmung der
Daumenmuskeln des Medianusgebiets zur Af-
fenhand, Lähmung des N. peroneus zu Spitz-
fußstellung durch Kontraktur der Waden-
muskulatur, umgekehrt Tibialislähmung zu
Krallen- und Hackenfußstellung.
b. StOrungeB der Emähnmg äußern sich entweder in
Hypertrophie (Zunahme der Muskelfasern) oder in
Atrophie.
1. Hypertrophie der Muskeln findet sich bei Myo-
tonia congenita, femer in dem einen gesunden
Bein, wenn das andere Bein gelähmt ist.
Prüfung auf Hypertrophie: Vermehr-
tes Volumen der Muskulatur (Messung, Ver-
gleich mit der anderen Seite), vermehrte grobe
Kraft, große Härte.
Nicht zu verwechseln mit echter Hyper-
trophie ist die Psendohypertrophie» bei welcher
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zwar das Muskelvolumen vermehrt ist, dagegen
die grobe Kraft vermindert ist, weil hier das
größere Muskelvolumen in Wirklichkeit auf
Fetteinlagerunor boriiht. Pseudohypertrophie
kommt bei Dystrophia musculorum pro-
gressiva vor.
2. Die Atropbie zeigt mehrere Abarten:
a. Die Inaktivitätsatrophie besteht in
einer sehr langsam eintreteiiden Volumsver-
niinderung, welche bei allen lange untatigen
Muskeln eintritt; die elektrische Erregbar-
keit ist dabei nicht verändert.
ß. Die degencrative Atrophie besteht in
einer erheblichen histologischen Veränderung
■ . des Muskels. Der hochgradige Schwund des
Muskels tritt sehr rasch ein, selbst wenn die
Muskeln noch tätig sind. Die elektrische Er-
regbarkeit ist dabei verändert (Entartungs-
reaktion; s. unten). Degenerative Atrophie
findet sich bei allen Erkrankungen des peri-
pheren Neurons, sie geht daher mit Auf-
hebung der Reflexe und Hypotonie einher;
oft befällt sie einzelne Muskeln für sich (z. ß.
Daumenballen etc.).
y. Die myopathischo Atrophie findet sich
bei Erkrankung des Muskels ohne jegliche
Erkrankung des Nervensystems. Der Muskel
hat zwar geringeres Volumen, zeigt aber keine
elektrische Entartungsreaktion. Sie tritt auf
bei der Dystrophia musculorum progressiva
(in späteren Stadien) und bei schweren Ge-
lenkallektionen (z. B. Atrophie des M. quad-
riceps bei schweren Kniegelenksentzün-
dungen).
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— 13 —
IV. Elektrische Eutartuugsreaktion.
Die elektrische Entartungsreaktion (Ea. R.) ist das
zuverlässigste Zeichen der degenerativen Atrophie; sie
äußert sich darin, daß
1. der Grad der Erregbarkeit des Nerven bzw.
des Muskels,
2. die Qualität der Reaktion
verändert sind.
ad 1. Die olektrischo Krregbarkcit des Nerven ist
sowohl für den faradischen als auch für den galvanischen
Strom aufgehoben. Am Muskel dagegen schwindet nur
die Erregbarkeit für den faradisclien Strom; die Er-
regbarkeit für den galvanischen Strom jedoch ist ge-
steigert, so daß viel geringere Stromstärken, als für einen
normalen Muskel nötig wären, schon zur Kontraktion
führen.
ad 2. Die durch den galvanischen Strom erzeugten
Kontraktionen sind qualitativ verändert. Die Zuckung
ist nämlich träge (wurmförmig). Ferner trifft das so-
genannte Zuekvmgsgesetz, wie man es für den normalen
Muskel aufgestellt hat, für den degenerierten Muskel
nicht mehr zu.
Das Zuckungsgesetz für den normalen Muskel
lautet:
Die geringste Stromstärke, welche geeignet ist, eine
Zuckung zu erzielen, brauchen wir dann, wenn war bei
der Schließung des galvanischen Stromes mit der
Katode reizen (KatodenschUeßungszuckung = KSZ).
Größere Stromstärken sind erforderlich zur Anoden-
schließungszuckung {ASZ), noch größere zur Anoden-
öffnungszuckung (A O Z), die größten endlich zur Ka-
todenöffnungszuckung (KOZ), Also gilt für den nor-
malen Muskel das Schema: K8Z> (größer als) A8Z
> AOZ > KOZ. Dieses Zuckungsgesetz ist für den
degenerierten Muskel derart verändert, daß sich A8Z
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mit gleicher oder sogar geringerer Stromstärke erhalten
läßt, als K8Z, also A 8 Z =^ oder > K S Z. Ebenso,
was aber unwichtiger ist, KOZ — oder > AOZ.
Die beschriebene Form der Entartungsreaktion
heißt komplette Entartungsreaktion; sie findet sich in
den prognostisch ungünstigeren Fällen. In günstigeren
Fällen findet sich die sogenannte partielle Entartungs-
reaktion, bei welcher die Erregbarkeit des Nerven für
faradischen und galvanischen Strom und die des Mus-
kels für den faradischen Strom nicht aufgehoben, son-
dern nur herabgesetzt sind, die Erregbarkeit fflr den
galvanischen Strom jedoch sich ebenso verhält, wie bei
der kompletten Entartungsreaktion. Wir haben also
folgendes Schemata:
1. Komplette EaR.
Faradische Eriegb.
Qalvanisohe Eneigb»
Nerv
Umkal
IL Partielle
träge Zuckung;
Ä8Z^K8Z
EaR.
Faradische Erregb.
Galvanische Erregb.
Nerv
herabgesetzt
herabgesetzt
Muskel
herabgesetzt
träge Zuokimg;
ASZ'^KaZ
Vorkommen: Elektrische Entartungsreaktion findet
sich bei allen Erkrankungen des peripheren motorischen
Neurons, also bei allen Erkrankungen der Vorderhömer,
der vorderen Wurzeln und des peripheren Nerven, Sie
geht deshalb einher mit den übrigen Zeichen der de-
generativen Atrophie: Hypotonie und Volumensver-
minderung des Muskels.
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Wir lassen hier eine Übersicht über die Erkran-
kungen des peripheren motorischen Neurons folgen:
a. Erkrankungen der Vorderhömer.
1. Poliomyelitis anterior.
2. Spinale progressive Muskekitrophie.
3. Amyotrophische Lateralsklerose.
4. Syringomyelie.
5. Mvelilis
6. Progressive Bulbärparalyse. (Die Nervenkerne
der Med Ulla oblongata entsprechen den Vorder-
hörnern).
b. Erkrankungen der vorderen Wurzeln:
1. Geschwülste der Wirbel.
2. Meningitis chronica (bei Syphilis).
c. Erkrankungen der peripheren Nerven:
1. Traumatische
2* Rheumatische
3. Toxische
4. Infektiöse
Neuritis.
Y. Slechanisclie Erregbarkeit der Muskeln uud
Nerven.
a. Muskeln.
1. Beim Beklopfen eines Muskels mit dem Perkus-
sionshammer sieht man beim gesunden Menschen
eine kurze Kontraktion. Diese mechanische Erreg-
barkeitist gesteigert bei allen Nervenkrankheiten,
bei denen eine allgemeine Erhöhung der Erregbarkeit
des Nervensystems vorhanden ist: Neurasthenie,
Hysterie, traumatische Neurose, Alkoholismus etc.
2. Gesteigerte Kontraktionen von trägem Charakter
erhält man durch Beklopfen solcher Muskeln,
welche elektrische Entartungsreaktion zeigen. (Me*
chanische Entartungsreaktion.)
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3. Erhöhte mechanische Erregbarkeit der Muskehi mit
energisch eintretender, aher langsam absinken*
der Kontraktion findet sich Bei der Afyotonia
congenita.
4. Idiomuskuläre Kontraktionen sind quere Wül-
ste, welche rein lokal an der beklopften Stelle des
Muskels auftreten ohne pathognomonische Bedeu-
tung, desgl. die wellenförmige Wulstbildung.
b. Nerven.
Klopft man mit dem Perkussionshammer auf einen
Nerven (z. B. N. nlnaris), so kann man bei vielen Per-
sonen eine loiehlc Zuckung der entsprechenden Muskeln
erzielen. Diese mechanisclio Erregbarkeit der Nerven,
nicht aber der Muskeln, ist hochgradig gesteigert bei
dvY Tetanie, Bei dieser Krankheit ruft das Beklopfen
der Facialisäste eine ZAickung der mimischen Muskeln
hervor (Faciaiisphänomen.)
C. Störungen der Sensibilität
Die Sensibiütät des Menschen weist bekanntlich
zwei große Unterarten auf: Die Hautsensibilität und die
tiefe Sensibilität (Muskel- und Gelenksensibilität).
L Die Haatsensibilität.
Die Hautsensibilität zerfällt in mehrere Qualitäten:
1. Tastempfindung oder Berührungsempfindlich-
keit.
2. Schmerzempfindung.
3. Temperaturempfindung.
4. Ortssinn oder Lokalisationsvermögen.
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1. Tastempfindung. Man prüft dieselbe, indem man
die Haut an verschiedenen Stellen mit der Finger-
spitze oder einem Pinsel leicht bestreicht; der Pa-
tient hat dabei die Augen geschlossen und jede
Berührung mit jetzt" zu beantworten. Die Stö-
rungen der Tastempfindung sind:
a. Die Anästhesie = völlige Unempfindlichkeit
gegen Berührung.
b. Hypästhesie = Herabsetzung der Berührungs-
empfindlichkeit.
c. Hyperästhesie = Steigerung der Berührungs-
empfindlichkeit.
Nach dem örtlichen Verhalten der Störung
der Tastempfindung unterscheidet man
a. Totale Anästhesie (des ganzen Körpers);
ist enorm selten.
ß. Hemianästhesie = Anästhesie einer Kör-
perhälfte; sie grenzt sich scharf in der Me-
dianlinie des Körpers ab und beteiligt meist
die Schleimhäute in gleicher Weise. Sie
kommt vor bei gewissen Herden der Capsula
interna (am hinteren Ende ihres hinteren
Schenkels) und bei Hysterie, ferner bei
halbseitigen Affektionen des Rückenmarks
(Halbseitenläsion).
y. Paraanästhesie — Anästhesie beider Arme
oder beider Beine. Sie findet sich unter den-
selben Bedingungen wie die Paraplegie, also
hauptsächlich bei Rückenmarkserkrankungen;
aus dem Ausbreitungsgebiet von Paraanäs-
thesien kann man ziemlich genau auf den
Sitz des Herdes schließen.
6. Anästhesie des Gebietes eines einzelnen
peripheren Nerven spricht für eine iso-
üeite Erkrankung desselben.
e. Anästhesie einzelner Extremitäten oder Ab-
schnitte derselben ohne motorische Lähmung
Kayer,Coaqwiidlumderireiifologie. S.— 5. Anfl. 2
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spricht für Hysterie; bei dieser Erkrankung
findet sich die Anästhesie oft in Form geo-
metrischer Figuren (z. B. Manche ttenform).
f. Anästhesia dolorosa; subjektiv wird an irgend
einer Stelle Schmerz empfunden, während
objektiv Unempfindlichkeit besteht.
2. Die Sehmerzempfiiidimg; man prüft dieselbe durch
leichtes Stechen mit einer Nadel. Dem Grade der
Störung nach unterscheidet man Analgesie, Hyp-
algesie und Hyperalgesie.
Die Störungen der Schmerzempfindimg haben
im großen Ganzen dieselbe diagnostische Bedeu-
tung "wie diejenigen des Tastsinns; wir verweisen
daher auf das oben Gesagte.
3. Temperatiirempfuidnng; man prüft dieselbe, in-
dem man die Haut abwechselnd mit zwei Reagenz-
gläsern berührt, von denen das eine mit heißem,
das andere mit kaltem Wasser gefüllt ist. Läh-
mung des Temperatursinnes nennt man Therm-
anästhesie.
4. Der Ortssinn oder das Lokalisationsyermögen wird
geprüft, indem man den Kranken angeben läßt,
an welcher Stelle er berührt worden ist.
Partielle oder dissoziierte Empfindungslähmunj? be-
steht darin, daß nicht alle, sondern nur einzehic Enip-
findungsqualitäten erloschen sind. So besteht z. B. bei
der Hysterie oft Analgesie für sich allein; bei der Sy-
ringomyelie findet sich Analgesie und Thermanästhesie
bei erhaltener Berührungseinpfindung.
Verlangsamung der Empfindungsleitung findet sie h
hauptsächlich bei der Sclunerzempfindung. Sie besteht
darin, daß zwischen dem Heiz (Nadelstich) und der
Schmerzenipfindung eine abnorm lange Zeit vergeht;
mitunter fühlt der Patif^it die Berührung mit der Nadel
sofort, den Schmerz dagegen erst nach einiger Zeit
(Doppelempfindung). Sie kommt vor bei Tabes, sel-
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tenor boi Neuritis. Perverse Empfindung besteht darin,
daß z. B. kalt als warm und umgekehrt empfunden wird.
Polyästhesie besteht darin, daß bei Berührung
mit einer Spitze zwei oder mehr tri fühlt werden.
Allocheirie besteht darin, daß ein Reiz, den man
an einer Extremität appliziert, an entsprechender Stelle
der anderen Extremität empfunden wird. Die Er-
scheinung findet sieh sehr selten bei Tabes, Myelitis,
Hysterie und multipler Sklerose.
IL Die tiefe Sensibilität.
1. Die Lageempfindun^ und die Empfindung passiver
Bewegungen wird geprüft, indem man z. B. die
große Zehe zwis(*hen Daumen und Zeigefinger
nimmt und nun ])Iantarwärts oder dorsalwärts flek-
tiert, wobei der Kranke anzutjeben hat. welche
Bewegung der Untersucher ausgeführt hat, resp.
welche Lage er dem Gliede gegei)en hat. Störung
der Lageempfindung kommt hauptsächlich bei
Tabes vor.
2. Die Stereognose (Sinn für (la> l\urperliche) wird
gepriift, indem n>an dem Patienten stcreometiisclu»
Körper (Kugel, Würfel, Pyramiden etc.) oder leicht
erkennbare Gegenstände (Schlüssel, Knopf etc.) in
die Hand gibt und ihn die Natur des Körpers be-
stimmen läßt. Selbstverständlich konkurrieren
hierbei verschiedene Empfindungsqualitüten, be-
sonders der Drucksinn, die Lage- und Bewegungs-
empfindung. Das stereognostische Zentrum liegt
in der hinteren Zentralwindung.
Vorkommen: Erkrankungen der Kinde, Ataxie etc.
111. Subjektive Stömngen der Empflndang.
Die subjektiven Störungen der b^mpfindung kann
man auch als sensible Keizurscheinung bezeichnen. Sie
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finden sich meist bei Erkrankung peripherer Nerven
und der hinteren Rückenmarkswurzeln. Dagegen ver-
laufen Gehirn- und Rückenmarksaffektionen meistens
ohne sensible Rcizorscheinungen (schmerzlos), wofern
nicht die Meningen in Mitleidenschaft gezogen sind.
1. Parästhesien treten als Gefühl von Taubsein, Pel-
zigsein, Kribbeln, Ameisenlaufen, Stechen, Kälte,
Hitze etc. auf. Eine besondere Art von Parästhesie
ist das sogenannte Gürtelgefühl; es ist ein Gefühl
von Spannung um die Brust, welches sich bis zum
Schmerz steigern kann. £s findet sich besonders
bei Tabes, Erkrankungen des Rückenmarks durch
Kompression etc.
2. Spontane Schmerzen.
a. Der neuralgische Schmerz tritt anfallsweise auf,
mit ktlrzeren oder längeren schmersfreien Inter-
vallen; er befällt das Gebiet eines oder mehrerer
bestimmter Nerven.
b. Die lanzin ierenden Schmerzen bei Tabes
fahren „blitzartig** durch den Körper, beson-
ders durch die unteren Extremitäten.
c. Rückenschmerzen können beruhen auf
a. Affektionon der Wirbelsäule (Garies etc.)
[]. Muskelrhoumatismus.
y. Affektiuneii des Rückenmarks (Tumoren,
Tabes etc.).
6. Neurasthenie (Spinalirritation).
d. Kopfschmerzen (Cephaläa).
1. Der meningitische Kopfsclimerz ; bei der
luetischen Meningitis haben wir nächtlich
exazerbierende Kopfschmerzen.
2. Der neurasthenische Kopfschmerz, be-
sonders in Form des Kopfdruckes".
3. Der hysterische Kopfschmerz, manchmal
umschrieben auf dem Scheitel (Glavus hy-
stericus).
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4. Migräne.
5. Neuralgische.
6. Der toxische (Vergiftung mit Blei^ Alkohol,
Nikotin etc. ; bei Autointoxikationen : Urämie,
Diabetes, Obstipation).
7. Der anämische und hyperämische Kopf-
schmerz.
8. Der habituelle Kopfschmerz, beruhend auf
erblicher Disposition.
9. Der Kopfschmerz bei Erkrankungen benach-
barter Organe (Nase, Ohr, Kieferhöhlen).
e. Physiologisehe Yorgänge (Herzaktion, Darm-
peristaltik etc.) können bei Neurosen als Schmer-
zen wahrgenommen werden.
D. Störungen der Reflexe.
I. Sehnenreflexe.
Unter Sehnenreflcxen verstehen wir Mnskelzuckungen,
Hie durch einen die Sehne treffenden niechanisrhen Heiz
erzeugt werden. Der Rcflexbop^cn, von dessen Inti'grität
das Zustandekommen des Reflexes abhängt, besteht aus:
1. Dem sensiblen (centripetalen) Nerven
mit dem Spinalganglion.
. 2. Der hinteren Wurzel des Rückenmarks.
3. Der Reflexkollateralen.
4. Der Ganglienzelle des grauen Vorder- ^
horns (Reflexzentrum). |
5. Dem motorischen iNerven. j
6. Muskel. J
Die wichtigsten Sehnenreflexe sind;
a. Der Patellarreflex (Kniephänomen). Man erzeug
ihn, indem man mit dem Perkussionshammer die
Centri-
peialer
Weg.
Centri-
fu galer
Weg.
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Patellarsehne beklopft; es tritt dann normaler-
weise eine kurze Zuckung des M. quadriceps ein.
Sehr wichtig ist bei der Prüfung die völlige Ent-
spannung der Muskulatur. Man erreicht sie, indem
man das Bein des in Rückenlage befindlichen Pa-
tienten in stumpfen Winkel bringt und mit der
linken Hand unterstützt, wobei man dem Patienten
aufträgt, völlig locker zu lassen; tut er das nicht,
so lenke man ihn ab durch Gespräch oder durch
den Jendrassikschen Handgriff:
Man läßt den Patienten die Hände ineinander
falten und dann auf Kommando kräftig ausein-
anderziehen. Günstig ist auch die Untersuchung,
bei welcher der Patient, auf einem Tische sitzend,
die Beine frei herabhängen läßt.
Der Patellarreflex kann aufgehoben, herab-
gesetzt oder gesteigert sein.
1. Aufhebung (Westpbalsches Zeichen) bzw. Herab-
setzung des Patellarreflexes findet sich bei jeder
Unterbrechung des Reflexbogens, also:
a. Bei einer Läsion des sensiblen Teils des
Reflexbogens: Neuritis des N. femoralis, Er-
krankung der hinteren Wurzeln und der
Hinterstränge (Tabes).
ß. Bei Erkrankung des Reflexzentrums
(graues Vorderhom: in der Höhe des 2.-4.
Lumbalsegmentes): bei Myelitis, progressiver
Muskelatrophie, Poliomyelitis anterior.
y. Bei Erkrankung des peripheren, motori-
schen Teils des Reflexbogens, also: Neuritis
imd Erkrankun^x (\ot vorderen Wurzeln (Kom-
pression durch Tumoren).
^. Im tiefen Schlaf, Coma, Narkose, bei Druck-
steigerung im Wirbelkanal.
2. Steigerung des Patellarreflexes gibt sich da-
durch kund, daß die Kontraktion des M. qua-
driceps sehr lebhaft ist. Bei hochgradiger Stei-
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gerung kann man den sogenannten Patellar-
klonus, eine Reihe rhymischer Zuckungen des
M. quadriceps, erzielen, wenn man von oben
her die Patella mit Daumen und Zeigefinger
umfaßt, sie plötzlich nach abwärts drängt und in
dieser Stellung unter leichtem Nachgeben erhält.
Steigerung des Patellarreflexes findet sich
hauptsäcmich bei allen Erkrankungen ober-
halb des zugehörigen Reflexbogens (oberhalb
des 2. Lumbaisegmentes), weil, wie man an-
nimmt, die reflexhemmenden Fasern in der
Pyramidenbahn in solchen Fällen zerstört sind.
Sie findet sich ferner bei erhöhter Erregbarkeit
des Rückenmarks und des Nervensystems über-
haupt.
Der Patellarreflex ist also gesteigert:
o. Durch Reizzustände in den Vorderiiömem
des Rückenmarks: Strychninvergiftung, Te-
tanus etc.
ß. Bei Erkrankungen oberhalb des Reflex-
bogens: Läsion der Hirnrinde, der Pyrami-
denbahn, bei spastischer Spinalparalyse, bei
multipler Sklerose etc.
y. Bei funktionellen Neurosen, besonders bei
Hysterie.
b. Der Achillessehneureflex wird geprüft, indem man
den Fuß des Patienten bei mäßiger Beugung des
Beines im Kniegelenk ergreift, die Fußspitze nach
oben drängt und nun die Achillessehne beklopft.
Es erfolgt dann eine Plantarflexion des Fußes.
Steigerung dieses Reflexes äußert sich dadurch,
daß das einmalige Beklopfen nicht eine Zuckung,
sondern klonische Zuckungen erzeugt: Fußklonus.
Diesen erzielt man am leichtesten, wenn man den
Fuß mit einer brüsken Bewegung dorsal flektiert.
Diagnostisch ist der Achillessehnenreflex nicht so
wichtig wie der Patellarreflex, weil er auch bei
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Gesunden fehlen kann. Im übrigen gelten für ihn
dieselben diagnostischen Gesichtspunkte wie für
den Patellarreflex, nur daß sein Reflexzentrum
tiefer liegt, nämlich im 1. — 2. Sakralsegment.
c. Der Tricepssehnenreflex wird ausgelöst, wenn man
bei rechtwinkeliger Armhaltung die Tricepssehne
beklopft.
II. Haut- und SeUeinhautreflexe.
A. Unter Hautreflexen versteht man Muskelkontrak-
tionen, welche durch einen auf der Haut ange-
brachten Reiz hervorgerufen werden. Als Reiz
dient Kitzeln oder Sireichen mit dem stumpfen
Ende eines Bleistiftes. Sie sind von geringerer
diagnostischer Bedeutung als die Sehnenreflexe,
weil ihr Vorkommen schon beim Gesunden sehr
inkonstant ist. Für ihre Aufhebung und ihre Stei-
gerung gelten im großen und ganzen dieselben Ge-
setze, wie für die Sehnenreflexe.
1. Erloschen sind die Hautreflexe:
a. Bei Unempfindlichkeit der Haut (Schwielen etc.).
- ß. Bei Unterbrechung des Reflexbogens an irgend
einer Stelle,
y. Bei myopathischer Lähmung,
d. Bei organischer Hemiplegie schwinden der Bauch-
und der Cremasterreflex auf der gelähmten Seite.
2. Gesteigert sind sie:
a. Bei Hyperästhesie der Haut.
ß. Bei Steigerung der Erregbarkeit der Vorder-
hörner.
y. Bei Läsion oberhalb des Reflexbogens.
a. Der Flantamflex vrird durch Bestreichen der
Fußsohle hervorgerufen; er besteht gewöhn-
lich in einer Dorsalflexion des Fußes, bei
stärkeren Reizen sogar in einer Beugung des
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Beines in Hüfte und Kniegelenk (Flucht-
bewegung). An den Zehen erfolgt gleich-
zeitig normalerweise eine Plantarreflexion.
Dagegen erfolgt eine langsame Dor-
salflexion der großen Zehe bei Läsionen
der Pyramidenbahn: Babinskisches Phäno-
men; dieses läßt sich am besten auslösen,
wenn man die laterale Seite der Fußsohle
von hinten nach vorne bestreicht.
Das Oppenheimsche Zeichen findet sich
nur unter pathologischen Verhältnissen, und
zwar ebenfalls bei Läsionen der Pyramiden-
bahn; streicht man kräftig über die Innen-
fläche des Unterschenkels hinweg, so erfolgt
eine Dorsalflexion des Fußes und der
Zehen.
Das Bechterew-Mendelsche Zeichen:
Beklopft man den lateralen Teil des Fuß-
rückens (Gegend des 3. und 4. Metakarpale),
so erfolgt beim Gesunden eine Dorsal -
flexion der Zehen, bei Läsion der Pyraiiii-
denbahn erfolgt jedoch Plantarflexion der
Zehen.
b. Der Abdominalreflex (Bauchreflex): Streicht
man rasch über die Bauchliaut hinweg, so
erfolgt eine Einziehung des Bauches durch
Kontraktion der Bauchmuskeln ; diagnostisch
hat der Reflex nur bei einseitigem Fehlen
Bedeutung.
c. Der Cremasterreflex wird bei Männern da-
durch ausgelöst, daß man über die Innen-
fläche des Oberschenkels hinwegstreicht; es
erfolgt dann durch Kontraktion des M. cre-
master eine brüske Aufwärtsbewegung des
Hodens. Er darf nicht mit dem Skrotal-
reflex verwechselt werden, wdcher auf euier
trägen Kontraktion der Tunica dartos beruht.
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d. Analieflex; beim Bestreichen der Analhaut
kommt es zur Anuseinziehung; er fehlt bei
tabischer Mastdarmstörung.
B. Schleimhautreflexe» fehlen besonders häufig bei
Hysterie.
a. Der Conjunctival- resp. der Corneaheflex: Lid-
schluß bei Berührung der Gonjunctiva oder der
Cornea mit einem Nadelkopf vom äußeren
Augenwinkel her.
b. Lidreflex: Lidschluß bei plötzlicher Annäherung.
c. Der Würgreflex: Auf Reizung der hinteren
Rachenwand entsteht eine Würgbewegung.
d. Der Gaumenreflex: Berührt man die Uvula mit
einem Löffelstiel, so erfolgt eine Hebung des
weichen Gaumens. Der Reflex kann schon bei
Gesunden fehlen, insbesondere aber bei Läh-
mung der Gaumenmuskulatur.
E. Diagnostische Verwertung der Störungen
der Motilität» der Sensibilität und der Reflexe.
1. Bei Fehlen der Patellarreflexe kommen vor allen
Dingen Tabes, Neuritis und Myelitis lumbalis in
Betracht. Die Differentialdiagnose wird mit Hilfe
folgender Gesichtspunkte gestellt: Bei Tabes ist
im Gegensatze zu den beiden anderen genannten
Erkrankungen die grobe motorische Kraft
erhalten, die Muskeln zeigen keine degenerative
Atrophie. Bei Neuritis ist im Gegensatz zur Tabes
die grobe motorische Kraft geschwächt oder auf-
geholfen, im Gegensatz zur Myelitis fehlen Blasen-
störungen.
2. Bei atrophiseher Lähmimg an den oberen Extremi-
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täten kommen Neuritis eines oder mehrerer Arm-
nerven, progressive spinale Muskelatrophie, Polio-
myelitis anterior, Syrinj^omyelie und Kompression
des Halsmarkes (durch Spondylitis, Tumoren etc.)
in Betracht. Progressive iMuskolatrophic und Po-
liomyelitis lassen sich ausschließen, wenn Scnsi-
bilitätsstörungen vorhanden sind. Es bleiben dann
noch Neuritis, Syringomyelie und RUckenmarks-
kompressionen. Bei der Syringomyelie haben wir
meist erhaltenen Tastsinn, dagegen Analgesie und
Thermanftsthesie. Bei Neuritis entspricht die An-
ästhesie und die Lähmung dem betreffenden Ner-
vengebiete; die erkrankten Nerven sind meist sehr
druckempfindlich. Bei Rückenmarkskompressionen
bestehen meist Blasenstörungen und spastische
Parese der Beine.
3« Bei atrophischer Lähmung an den Beinen kommen
Neuritis, Poliomyelitis und Myelitis lumbalis in
Betracht. Bei Poliomyelitis fehlen Sensibilitäts-
störungen, bei Neuritis fehlen Blasenstöningen.
4. Die Halbseitenläsion des Rückenmarks (Brown-
Sequardsche Lähruung) besteht darin, daß eine
Querschnittshältt«' des Rückenmarks zerstört ist
durch Verletzung, Entzündung oder Tumor. Es
findet sich hierbei ein charaktt^ristischer Synip-
tomenkomplex: Auf der Seite dos Krankheits-
herdes motorische Lähmung, Störungen des Lage-
sinns und Hyperästhesie der Haut, dagegen findet
sich auf der entgegengesetzten Körperhält te Therm-
anästhesic und Analgesie; also kurz, motorische
Lähmung der einen Körperhälfte mit Sen-
sibilitätsstörungen der anderen Körper-
hälfte sprechen für Halbseitenläsion. Die
Erklärung für diese Erscheinung liegt darin, daß
die im Hinterstrang verlaufenden sensiblen Bahnen
für den Lagesinn, zum Teil auch für den Tastsinn
auf der gleichen Seite des Rückenmarks empor-
steigen, auf welcher sie mit den hinteren Wurzeln
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eingetreten Bind und sich erst in der Medullä ob-
lonsata kreuzen, wogegen die im Hinterhom ver«
laufenden Bahnen für Temperatur- und Schmerz-
empfindung sich erst innerhalb des Rückenmarks
kreuzen, um dann auf der entgegengesetzten Seite
emporzusteigen.
F. Die Störungen der Koordination.
Eine Bewegung ist koordiniert, wenn sie erfolgt
mit richtiger Auswahl der Muskeln, richtiger Intensität
und Reihenfolge der Innervation. Koordinierte Be-
wegungen sind daher nur möglich, wenn wir während
der Bewegung von der jeweiligen Lage unserer Glieder
und dem in jedem Augenblick aufzuwendenden Maß von
Muskeltätigkeit Kentnnis haben; diese Kenntnis ver-
mitteln uns die tiefe und die Hautsensibilität, z. T. auch
der Gesichtssinn und ein besonderes Gleirhgowichts-
organ, welches in den Bogengängen des Labyrinthes
seinen Sitz hat.
Koordinationszentren sind auf der ganzm Groß-
hirnrinde verteilt; das Zentrum für das statische Gleich-
gewicht ist das Kleinhirn.
Störungen der Koordination nennt man Ataxie.
Sie äußert sich darin, daß die Bewegungen zu ausgiebig
sind und daß das Ziel auf Umwegen erreicht wird:
Schleudern der Beine beim Gehen, Danebengreifen beim
Erfassen eines Gegenstandes.
Da eine koordinierte Muskeltätigkeit sowohl zur
Ausführung einer Bewegung als auch zur Festhaltung
des Körpers oder der Gliedmaßen in einer bestimmten
Stellung erforderlich ist, so unterscheidet man dem-
entsprechend eine lokomotorisehe und eine statlBche
Ataxie.
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Prüfungen auf Ataxie:
1. Wir lassen den in Rückenlage befindlichen Patien-
ten die Extremität einfach erheben. Bei Ataxie
wird nun das Bein nicht in der Vertikalebene, son-
dern unter mannigfachen, seitlichen Ablenkungen
in die Höhe gebracht, um dann mit Wucht herab-
geworfen zu werden.
2. Wir lassen die Hacke des einen Beines auf das
Knie des anderen setzen. Bei Ataxie wird das
Knie erst nach einigem Uniherfahren gefunden.
3. Man läßt mit der Hand nach einem Gegenstand
oder an die eigene Nase etc. greifen, oder kom-
plizierte Bewegungen ausführen (z. B. Schreiben
lassen, Drehorgeldrehen, Soldatengruß etc.). Bei
Ataxie fährt Patient daneben oder macht die Be-
wegung unrichtig.
4. Man läßt komplizierte Gangarten ausführen (Rück-
wärtsgehen etc.).
5. Rombergsches Phänomen: Läßt man den mit ge-
schlossenen Füßen stehenden Patienten die Augen
schließen und eventuell dazu den Kopf beugen, so
tritt bei Ataxie starkes Schwanken des Körpers auf.
6. Der ataküsehe Gang: Das Bein wird unnötig hoch
emporgeschleudert und dann wieder mit solcher
Wucht herabgeworfen, daß es mit der Hacke auf
den Boden stampft, wobei das Knie stark durch-
gedrückt wird. Der Gang ist breitbeinig und un-
sicher. In höheren Graden der Ataxie gleicht der
Gang einem Kriegstanz.
Vorkommen der Ataxie.
1. Affektionen der Rinde, des Gerebellum, des Pons,
der Vierliügol: bei Rindonaffektionen haben wir
außerdoin Spracli- und Schreibstörungen ( s. S. 00).
2. Bei Erkrankung der hinteren Wurzeln und der
Hinterstränge: Tabes, Querschnittsläsionen des
Rückenmarks.
3. Bei peripherer Neuritis (selten).
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Eine besondere Art von Ataxie ist die cerebellare
Ataxie. Stehen und Gehen gleicht dem eines Betrun-
kenen, dagegen sind die Bewegungen der Beine im Lie-
gen ohne jede Koordinationsstörimg. Diese Form der
Ataxie findet sich bei Erkrankung des Kleinhirns, be-
sonders des Wurms. Dalier ist die Sensibilität bei der
cerebellaren Ataxie meist intakt.
Das regelmäßige Abweichen des Ganges oder das
Fallen nach einer Seite weist auf Kleinliirnataxie hin.
Die Folge dieser Ataxie ist die Unfähigkeit, antago-
nistische Bewegungen hintereinander auszuführen (Adia-
dochokinesis).
G. Blasen-, Mastdarm- und Genitalstörungen.
Im unteren Sakralmark liegen Refiexzentren für
Blase, Mastdarm und Genitalorgan c.
a. Blasenstörimgeii. Bei Füllung der Blase wird nor-
malerweise ein Reiz durch die sensible Bahn auf
das Reflexzentrum ausgeübt, und es erfolgt, wenn
nicht der Willen (durch die Pyramidenbahn) den
Reflex unterdrückt, eine Kontraktion des M. de-
trusor vesicae, während der M. sphinctcr
vesicae seinen gewöhnlich bestehenden Tonus
verliert. Der Reflex kann willkürlich verstärkt
und unterth'ückt werden.
1, Leitungsunterbrechung oberhalb des
Reflex Zentrums bewirkt Fehlen des Blasen-
dranges (des Gefühls der Blasenfüllung) und
Ausschaltung des Willens, kurz, rein refl(^ktori- .
sehe, unwillkürliche Harnentleerung: Intermit-
tierende Incontinentia urinae. Sie kommt vor .
bei Querschnittsläsionen des Rückenmarks,
Myelitis, i>ei Kompression des Rückenmarks;
bei Tabes, wenn hier die sensible Bahn nach
dem Gehirn zu beschädigt ist.
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2. Zerstörung der Reflexzentren selbst (Mye-
litis etc.) bedingt dauernde Erschlaffung des M.
sphincter und dauernde Unerrei,d)arkeit des M.
detrusor, daher beständiges 1 1 arnträufebi : Kon«
tinuierliche Incontinentia urinae.
3. Ist der sensible Teil des Reflexbogens zer-
stört (Tabes), so kann der Reflex nicht aus-
gelöst werden, irifolcredessen Harnverhaltung:
Retentiü urinae. l)iesell)e Wirkung hat die Läh-
mung des M. deti'usor ohne gleichzeitige Sphinc-
terläliniung. Infolge^ der Retention kann (Jie
Blase so stark ausgedehnt werden, daß der Harn
bei gefüllter Blase mechanisch abtraufelt: Iscliu-
ria paradoxa.
4. Enuresis nocturna: das Bettnässen ist eine
funktionelle Erkrankung. Es findet sich bei
Kindern mit nervöser Disposition oder beim
Erwachsenen bei nächtlicher Epilepsie.
Bei Tabes könn(Mi alle mögliclHMi Formen der Bla-
senstörungen vorkommen; bei Myelitis findet sich In-
kontinenz, wenn der mvelitisclie Herd oberhalb des
Rcflexzenlruuis sitzt, dagegen Retention, wenn er das
Refiexzentrum selbst ergreift. Differentialdiagnostisch
ist mehlig, daß bei Neuritis Blasenstörungen stets
fehlen, desgleichen bei reinen Vorderhomerkrankungen
(Poliomyelitis etc.)- Bei Hysterie kann sich Retentio
urinae, aber niemals Inkontinenz finden. Bei dem echten
epileptischen Anfall kommt unwillkürliche Harnent-
leerung vor, dagegen nicht bei hysterischen Anfällen.
b. Mastdarnistörungen äußern sich hauptsächlich in
der Incontinentia alvi, welche sich bei Tabes, Mye-
litis und Querschnittsläsionen des Rückenmarks
findet.
c. Genitaistörungen äußern sich hauptsächlich in der
Impotentia coenndi, welche auf einer Störung der
Erektionsfähigkeit beruht. Sie findet sich bei Zer-
störung des Erektionszentrums selbst, ferner bei
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Zerstörung der sensiblen Bahnen in den Hinter-
strängen, welche das Erektionszentrum mit dem
Großhirn verbinden (Tabes). Reizung des Erek-
tionszentrums bewirkt krankhaft andauernde Erek-
tionen: Priapismus. Penis- und Clitoriskrisen tre-
ten anfallsweise bei Tabes auf.
Vaginismus besteht in schmerzhafter Kon-
traktion des Constrictor cunni bei Hysterie.
H. Störungen des Sehorganes.
L Fapillenstörangen«
Wir untersuchen an den Pupillen:
1. Die Weite: Die PupiUen können abnorm eng oder
abnorm weit sein.
a. Miosis, abnorme Enge der Pupilie: Sie kann
beruhen auf Reizung des M. sphincter (versorgt
vom N. oculomotorius), aber auch auf Lähmung
des M. (lilatator (versorgt vom Sympathicus).
Sie findet sich bei Tabes, progressiver Paralyse,
Meningitis, Morphium Vergiftung, Sympathicus-
lähmung, starken Rauchern und im tiefen Schlaf.
b. 3Iydriasis, abnorme Weite der Pupille: Kann
beruhen auf Lähmung des M. sphincter oder
Reizung des M. dilatator. Sie findet sich bei
Lähmung des N. oculomotorius, bei Glaukom,
bei großen Schmerzen und großer Angst, im
Görna, bei Gocainwirkung, im epileptischen An-
falL
c. Springende Pupillen zeigen wechselweise
auftretende Erweiterung bald der einen, bald
der anderen Pupille (progressive Paralyse etc.).
2. Die Gleichheit beider Pupillen ist von geringer
Wichtigkeit für die Diagnose, da schon bei Gesun-
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— 38
den Pupillendifferenz bestehen kann. Häufig be-
ruht ungleiche Weite der Pupillen (Anisokorie)
auf Refraktionaanomalie eines Auges; als krank-
hafte Veränderung findet sie sich bei einseitigen
Gehirnaffektionen aller Art, bei Tabes, Paralyse,
Läsion des Halssympatliicus; ferner bei ein-
seitiger Oculomotoriuslähmung; im Migräneanfall
auf der Seite des Kopfschmerzes weitere oder engere
Pupille.
3. Die Form der Pupillen. Die Pupillen sind normaler-
weise rund. Ver Ziehungen der Pupillen kommen
hauptsächlich bei Tabes und Paralyse vor, abge-
sehen von Augenkrankheiten.
4. Die Beakttott der Pupillen hat die grdfite diagno-
stische Bedeutung, da ihr Fehlen stets auf schwere
Veränderung^ des Nervensystems hinweist. Nor-
malerweise verengert sich die Pupille auf:
a. Lichteinfall. Dieser Reflex hat folgende
Bahn: Von der Retina wird der Reiz im N.
opticus fortgeleitet und gelangt durch das
Gniasma (partielle Kreuzung) und den Tractus
opticus zu den vorderen Vierhfigeln etc.^ wird
dann auf bisher noch unbekannter Balm auf
den Oculomotoriuskem übertragen, von wo der
Reiz in der Bahn des N. oculomotorius zum
M. sphincter pupillae gelangt. Da zwischen bei-
den Ooulomotoriuskemen. Verbindungen be-
stehen und die Opticusfasem im Chiasma nur
eine partielle Kreuzung eingehen, so verengern
sich normalerweise die Pupillen beider Augen
selbst dann, wenn nur in das eine Auge Licht
einfällt: Konsensuelle Reaktion. Prüfung des
Lichtreflexes: Man hält das eine Auge des
Patienten mit dem Finger gsechlossen, das andere
wird zunächst mit der Hand beschattet und
dann plötzlich durch schnelles Wegziehen der-
selben beleuchtet. Die konsensueUe Reaktion
Siayer, Compendlam dor N«Qiolo>gie. 3.— 5. Aufl« 3
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- 34 -
prüft man, indem man die Pupille des einen
Auges beobachtet, während man das andere ab-
wechselnd belichtet und beschattet. Bei beiden
Prüfungen muß der Patient in die Feme sehen,
weil auch die Akkomodation eine Verengerung
der Pupille bewirkt.
Fehlt der Lichtreflex auch bei starker Beleuchtung,
so besteht reflektorische PnpiUenstam oder kurz lieht-
starre (Argyll-Robertsonsches Symptom).
Yorkommen: Bei Lichtstarre denken wir vor allem
an drei Krankheiten: Tabes, progressive Paralyse, Hirn-
Syphilis. Die beginnende Erkrankung kann sich statt
in Lichtstarre, auch in träger Reaktion dokumen-
tieren. Die Lichtstarre ist stets ein organisches Syiiii)-
tom, sie findet sich also nie bei Hysterie, Neurasthenie;,
femer nie bei multipler Neuritis etc. m
Einseitige reflektorische Pupillenstarre
findet sich bei einseitiger Erkrankung des N. opticus
oder des N. oculomotonus. Reagiert die rechte Pupille
normal, die linke jedoch nicht, so prüfen wir die kon-
sensuelle Reaktion, indem wir die reagierende rechte
Pupille belichten; kontrahiert sich nun die linke, so
ist ihre motorische Bahn intakt, der N. oculomotorius
kommt also nicht in Betracht; kontrahiert sich die linke
nicht, während sich gleichzeitig die rechte auf Belichtung
der linken kontrahiert, so besteht eine linksseitige Er-
krankung des N. oculomotorius. Einseitige Erkrankung
des N. opticus (Opticusatrophie) findet sich hauptsäch-
lich bei multipler Sklerose.
b. Akkomodation (M. ciliaris versorgt vom N.
oculomotorius) des Auges für die Nähe und
Konvergenzbewegung der Augen bewirkt
ebenfalls Verengerung der Pupille; diese Re-
aktion ist oft erhalten, wenn der Lirhtreflex
fehlt. Man irmB daher bei der Untersuchung
der Lichtreaktion Akkommodation imd Kon-
vergenz des Auges ausschalten. Akkommoda-
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— 35 -
tion und Verengerung der Pupille bei Konvergenz
fehlen meist bei Lues cerebri.
II. Yerändernngen an der Lidspalte^
1. Im 8. Gervical- und 1. Dorsalsegment des Rücken-
marks liegt das Centrum ^o-spinale. Von diesem
verlaufen Fasern im Sympathicus zum Auge,
wo sie drei glatte Muskeln versorgen: Den M. dila-
tator pupillae, den M. palpebralis superior, welcher
das obere Augenlid verkürzt, und den M. orbitalis
inferior, welcher über die Fissura orbitalis inferior
hinwegzicht und den Augapfel nach vorn bewegt,
Zerstörung des Centrum cilio-spinalc bewirkt daher
Verengerung der Pupille, Verengerung der Lid-
spalte und Zurücksinken (Kelaps) des Bulbus;
Reizung des Zentrums bewirkt Erweiterung der
Pupille, Erweiterung der Lidspalte und stärkere
Prominenz des Bulbus (Oculopupilläre Phänomene)
2. Verengerung der Lidspalte durch schlaffes Herab-
hängen des oberen Augenlides, Ptosis, findet sich
bei Lähmung des M. levator palpebrae superioris,
. welcher vom N. oculomotorius innerviert wird, also
vor allem bei Läsionen dieses Nerven oder seines
Kernes. Verengerung der Lidspalte kann auch
auf Krampf des M. orbicularis oculi (N. fa-
cialis) beruhen.
3. Erweiterung der Lidspalte, Lagaplitiialmas» findet
sich bei Lähmung des M. orbicularis oculi (N.
facialis). Der Ausdruck Lagophthalmus (Hasen-
auge) kommt daher, daß der Patient auch im
Schlafe das Auge nicht ganz schließt.
ni. Die Augenbewegnngen.
Lähmung der Augenmuskeln bewirkt:
1. Ausfall oder Beschränkung bestimmter Augen-
bewegungen*
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- 36 —
2. Doppelsehen, Diplopie.
3. Strabismus.
4. Abnorme Haltung des Kopfes.
Zur Prüfung der Augenbewegungen lassen wir
den Patienten nach oben, nach unten und nach beiden
Seiten blicken.
Angenrnnskelifthmungen haben je nach ihrer Aus-
breitung eine verschiedene Bedeutung:
1. Lähmung mehrerer Muskeln eines Auges deutet
auf die Basis cerebri hin (luetische Meningitis,
Sch&delbrache).
2. Totale Lähmung der Muskeln an beiden Augen
deutet auf Kernlähmung (Ophthalmoplegia pro-
gressiva) hin.
3. Konjugierte Deviation, welche auf Lähmung
solcher Muskehi beruht, die konjugierte Augen-
bewegungen besorgen (z. B. Lähmung des rechten
Rectus internus und gleichzeitig des linken Rectus
extemus), findet sich besonders bei frischen Herd-
erkrankungen des Gehirns („der Kranke sieht
seinen Herd an").
4. Oculomotoriuslähmung der einen und Extremi-
tätenlähmung der anderen Seite deutet auf Läsion
des Hirnschenkels (vgl. S. 8).
5. Lähmung einzelner Muskeln: bei Tabes, progres-
siver Paralyse, luetischer Meningitis; nach Diph-
therie.
Doppelbilder können gleichnamig oder gekreuzt
sein; gleichnamige Doppelbilder finden sich bei Strabis-
mus convergens, gekreuzte bei Strabismus divergens.
Monoculäre Diplopie (Doppelsehen auf einem Auge)
findet sich abgesehen, von inneren Augenerkrankungen,
nur bei Hvsterie.
Abnorme Haltung des Kopfes soll dem Patienten
zum Ersatz für die mangelnde Funktion des betroffenen
Muskels dienen; so dreht z. B. ein Patient mit rechts-
seitiger Abducensiähmung den Kopf nach rechts, um
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37 —
Gegenstände, welche sich rechts auflen befinden^ zu
sehen. Lähmung aller Augenmuskeln bewirkt Exoph-
thalmus paralyticusy bei welchem der Bulbus aus
der Augenhöhle prominiert. Exophthalmus findet
sich außerdem vor allem bei Morbus Basedowii, ferner
bei Geschwülsten hinter dem Augapfel, bei Hydro-
cephalus etc.
Nystagmus (Augenzittem) besteht in schnellen,
klonischen Bewegungen dar Bulbi; er ist am deutlichsten
beim Fixieren eines Gegenstandes. Man unterscheidet
horizontalen, vertikalen und Rotationsnystagmus. Er
findet sich bei multipler Sklerose, hereditärer Ataxie,
Herderkrankungen des Gehirns und Albinos (abgesehen
von Augenerkrankungen).
IV. Sehstörimgeii.
1. Störungen der Sehschärfe äußern sich in Amblyopie
(Schwachsichtigkeit) und Amaurose (Blindheit).
Diese Sehstörungen können beruhen auf Affektion
des Sehnerven, des Chiasma opticum, des Tractus
opticus und des optischen Gehirnrindenbezirks
(Seh Zentrum). Die Pupillenreaktion ist hier na-
türlich auch gestört.
Vorkommen: Hysterie (funktionell), Tabes
(Sehnervenatrophie); bei Lues cerebri, bei chroni-
scher Blei-, chronischer Nikotin- und Alkoholver-
giftung (Neuritis optica); Urämie und Chininver-
giftung (toxische Lähmung des Sehsentrums).
2. Gesichtsfeldeinengung.
a. Konzentrische Gesichtsfeldeinengung
findet sich bei Hysterie und Sehnervenatrophie
(Tabes etc.).
b. Zentrales Skotom findet sich bei multipler
Sklerose und Intoxikationsamblyopie (Nikotin,
Alkohol).
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— 38 —
c. Hemianopsie (halbseitiger Gesichtsfelddefekt
auf jedem Auge). Sie bedingt hemianopisohe
Pupillenstarre.
a. Homonyme Hemianopsie besteht in
einem Gesichtsfelddefekt, der beiderseits
identische Netzhautstellen betrifft, also z. B.
auf dem rechten Auge die temporale, auf dem
linken Auge die nasale Hälfte des Gesichts-
feldes. Sic beruht, da hinter dem Chiasma
sich die Fasern von identischen Netzhaut-
stellen zu je einem Tractus opticus vereinigen,
auf Läsionen, welche die Sehbahn zwischen
Chiasma und Rinde treffen (Erkrankung des
Tractus opticus, der vorderen Vierhügel, der
Sehstrahlung oder der Rinde des Hinter-
hauptlappens).
ß» Hetoronyme Hemianopsie hotritfl stets
die temporalen Gesichtsfeldhälften, deren
Fasern sich im Chiasma kreuzen; daher
findet sich diese bitemporale Hemianopsie
bei Erkrankungen des Chiasma (hietische
Meningitis, Geschwülste der Hypophysis).
V. Verindernngen des AngenhintergraBdes.
1. Die Stauungspapille äußert sich in einer Promi-
nenz und Rötung der Papille mit Verwaschung
ihrer Grenzen ; in den leichteren Graden bezeichnet
man die Veränderung als Neuritis optica; das
Sehvermögen kann dabei intakt sein, aber auch
bis zu den höchsten Graden gestört sein. Die
Stauimgspapille ist das Cardinalsy mp tom der
Erhöhung des Hirndrucks (Tumor ccrebri,
Meningitis, Gehirnabszeß und Hydrocephalus).
2. Die Sehnerrenatrophie ist entweder eine sekundäre,
d. h. aus Neuritis optica oder Stauungspapille her-
vorgegangene, oder eine primäre. Die primäre
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■
Atrophie äußert sich in einer porzellan weißen Ver-
färbung der Papille, deren Grenzen sich scharf ab-
heben. Sie findet sich vor allem bei Tabes, De-
mentia paralytica, seltener bei multipler Sklerose.
3. Die retrobulbäre Keuritis äußert sich in der Ab-
blassung einer PapiUenhälfte (meist temporale Ab-
blassung). Sie findet sich bei multipler Sklerose
und Intozikationsamblyopie (Nikotin).
L Die Lumbalpunktion/)
Indikationen zur Ausführung: der Lumbalpunktion:
Die Lumbalpunktion zu diagnostischen Zwecken
ist indiziert bei allen Erkrankungen des Nerven-
systems, bei denen Meningitis, Lues oder Tumoren
als ätiologische Faktoren in Frage kommen. Sie
bedeutet keinen schwerwiegenden Eingriff, wenn
sie sachgemäß ausgeführt wird.
Technik der Lumbalpunktion:
1. Der Patient liegt auf der rechten oder der linken
Seite, die Beine dicht an den Körper angezogen,
so daß der Rücken stark gekrümmt ist.
2. Desinfektion der Lendengegend.
3. Einstich mit der (durch Mandrin gestützten)
langen Nadel zwischen 3. und 4. Lendenwirbel-
dornfortsatz; die Nadel muß dabei etwas kra-
nialwärts gerichtet sein.
4. Man läßt höchstens 4 ccm Liquor ab, bei ge-
ringem Drucke noch weniger.
Der Patient muß nach dem Eingriff min-
destens 12 Stunden lang strenge Bettruhe ein-
halten.
* Näheres siehe H. Mayer: Die nouea Methodeo der Syphilisdiaguose uml
SyphUlitliei»plt (Teriiig Bpeyw u. KMnwr).
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- 40 —
Man prüft auf:
1. detk Druck, unter dem die Flüssigkeit ausläuft;
erhöht bei Meningitis, Tumor, Lues cerebrospi-
nalis, progressiver Paralyse ; der normale Druck
beträgt 60—150 mm Wasser.
2. Pleocytose, Vermehrung der Lymphozyten.
3. Globulinreaktion (Nonne -Apelt): Eiweiß-
fällung durch Ammoniumsulfat.
4. Wassermanns che Reaktion: meist positiv
bei Lues cerebrospinalis, Tabes, progressiver Pa-
ralyse.
K. Allgemeine Aetiologie der Nerven-
krankheiten.
I. Das Trauma
spielt eine große Rolle bei der Entstehung von Nerven-
krankheiten.
a. Verletzung peripherer Nerven führt zu deren vor-
übergehender oder dauernder Lfthmung.
b. Verletzung des Zentralnervensystems durch Schä-
delbrüche, Wirbelbrüche etc.
c. Funktionelle Beschädigung des Nervensystems im
aDgemeinen: Gehirnerschütterung, Nervenschock
und als Folgezustand traumatische Neu-
rose.
II. Heredität.
Die Vererbung kann gleichartig oder ungleich-
artig sein; gleichartig ist sie, wenn die Vorfahren an
derselben Krankheit gelitten haben. Gleichartige Here-
dität findet sich hauptsächlich bei der hereditären
Ataxie, der infantilen Muskelatrophie, der Myotonia
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- 41 —
congenita und bei einigen Psychosen (s. Psychiatrie).
Ungleichartige Heredität findet sich den Neurosen:
EpUepsie, Hysterie, Neurasthenie, Migräne (bei Epi-
lepsie und Migräne oft gleichartige Heredität). Alkoho-
lismus, Bleivergiftung und Blutsverwandtschaft der
Eltern bilden oft ein schwer belastendes Moment für
die Kinder.
m. Die SyphUig
kann verursachen:
a. Gefäßerkrankungen mit deren Folgen: Ge-
fäßzerreißung mit Blutungen, Thrombose etc. Die
Folgen hiervon sind: Erweichungsherde etc.
b. Meningitis gummosa bedingt oft Kompression
von Himnerven und Erkrankung des Ghiasma
opticum.
c. Gummata im Gehirn machen die Erscheinungen
eines Gehirntumors.
d. Metasyphilitische oder besser parasyphili-
tische Erkrankungen sind solche, welche zweifel-
los mit Syphilis in Zusammenhang stehen, aber
nicht auf den durch Syphilis bedingten spezifischen
anatomischen Veränderungen beruhen: Tabes,
progressive Paralyse. Man nimmt an, daß
die Syphilis ein Toxin produziere, das elektiv das
Zentralnervensystem schädige.
lY. Die Tuberkulose
kann verursachen:
a. Tuberkulöse Basilarmoningitis.
b. Tuberkel im Gehirn, besonders im Kleinhirn (Er-
scheinungen wie beim Hirntumor).
c. Wirbelerkrankungen (Spondylitis tuberculosa) mit
Kompression des Rückenmarks.
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- 4ä -
V. Infektionskrankheiten
können venirsachen:
a. Meningitis (Typhus, Erysipel).
h. Encephalitis (Influenza, Masern, Typhus etc.).
c. Myelitis (Typhus. Gonorrhoe).
d. Neuritis (Diphtherie etc.).
e. Chorea (hei Rlieumatismus).
Die Diphtherie inshesonrlere bedingt als postdiph-
therische Lähmungen besonders Akkommodationsläh-
mung des Auges, Lähmung äußerer Augenmuskeln,
Gaumensegellähmung und Lähmung des ?s'. femoralis.
Ähnliche Erscheinungen am Auge macht der BotuUsmus
(Wurstvergiftung).
VI. Konstitntionskrankheiten (Diabetes, Gicht)
hediugen häufig Neuritiden und Neuralgien, besonders
doppelseitige Ischias durch Autointoxikation.
VII. Intoxikationen
durch metallische Gifte (Blei, Arsen, Quecksilber etc.),
durch Alkohol etc. be\Ndrken hauptsächlich Neuritiden
und geistige Störungen.
VIII. Neoplasmen,
Narben, Embolien und sonstige Kompressionen bewirken
sekundäre Lähmungen etc.
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43 -
L. Gang der Untersuchung.
A. Anamnese.
Die Ananinosc hat zu berücksichtigen:
1. Heredität (Nervenkrankheiten der Eltern).
2. Frühere Krankheiten des Patienten (besonders Sy-
philis. Frage nacli Aborten der Frau des Patienten
resp. der Patientin selbst).
3. Exzesse (Alkoholismus, Morphinismus, Onanie etc.).
4. Beruf (Blei, Arsen, Schreiben etc.).
5. Beginn und Verlauf der jetzigen Krankheit.
6. Die zurzeit bestehenden subjektiven Beschwerden.
B. Status präsens.
I. Körperliche Erscheinung des Patienten:
Größe, Knochenbau, Schädelkonfiguraticm, Muskelent-
wicklung, Fettpolster, Haarwuchs, äußeres Ohr (De-
generationszeichen), Gaumen (desgl.), Zähne (desgl.);
Zunge (Belag, Narben); Haut (Elastizität, Narben,
Exantheme, Leukoderma syphiliticum etc.).
IL Vegetative Organe : Zirkulations-, Atmungs-,
Verdauungs-, (jeschlechtsorgane; Knochen (Rauhig-
keiten der Tibia bei Lues).
IIL Augen: Pupillen (Weite, Gleichheit, Form,
Reflexe), Augenbewegungen (N. III., IV. und VI.),
Doppelbilder, Lidspalte; Sehvermögen (N. opticus).
IV. Kopf: Beklopfen des Schädels (lokale Schmerz-
haftigkeit), (jeruch (N. olfactorius), Sensibilität des Ge-
sichtes (N. trigeminus), Druckpunkte der Nervenaus-
tritte (N. supraorbitalis, infraorbitalis, mentalis), Mus-
kulatur des Gesichtes (N. facialis), Gehör (N. acusticus),
Geschmack (N. glossopharyngeus ; süß, sauer, salzig,
bitter), Zungen vorstrecken (N. hypoglossus; ob gerade
vorgestreckt, ob ruhig oder zitternd etc.); Sprache
(Spontansprechen, Nachsprechen, Bezeichnen von Ge-
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Motilität.'
— 44 —
genstftnden vgl. S. 84); im Zusamm^hang hiermit
Schriftprobe (Diktat, wüIkOrliches Schreiben, Lesen-
lassen).
V. Obere Extremität:
1. Muskelvolumen
2. Aktive und passive Beweglichkeit
3. Grobe motorische Kraft
4. Sensibilität (Bertthrung, Schmerz/ Temperatur,
Ortssinn, Lagesinn).
5. Druckpunkte der Nervenstämme (besonders im
Sulcus bicipitalis internus).
6. Reflexe.
7. Koordination.
8. Tremor der Hände.
Tl. Rumpf:
1. Bauchreflexe.
2. Druckpunkte der Iliakalgegend („Ovarie" bei
Hysterie).
3. Beklopfen der Wirbeldomfortsätze (S. 69).
VII. Untere Extremität:
1. — 5. wie bei der oberen Extremität.
6. Reflexe (Patellarreflex, Achillessehnenreflex, Plan-
tarrel'lex, Babinski, Fußklonus; Cremasterreflex).
7. Gang (spastisch, paretisch, ataktisch).
8. Rombergsches Schwanken.
VIII. Elektrische Untersuchung der Mus-
keln und Nerven: Faradische, galvaniscbe Erreg-
barkeit.
IX. Untersuchung des Blutes, eventuell
der Cerebrospinalflüssigkeit.
X. Angaben des Patienten über:
1. Spontane Schmerzen und Parästhesien.
2. Schlaf, Hunger, Durst.
3. Blasen-, Mastdarm- und Genitalfunktionen.
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Kraokheitea des Rückeamarks.
Einleitung.
LokattsatioB im Rückenmark: Das Rückenmark
wird in ebenso viele Segmente eingeteilt, wie es Wurzel-
gebiete hat. Wir führen hier die wichtigsten Segmente
an, welche für Sensibilität, Reflexe und Muskeltätigkeit
in Betracht kommen.
a. Die Segmentbezüge der sensiblen Nerven
werden am besten aus Abbildungen größerer At-
lanten ersehen. Bemerkt sei nur, daß der Me-
dianus das 5. — 1, Gervicalsegment, der Ulnaris das
8. Gervical- und das 1. Dorsalsegment in Anspruch
nimmt. Am Rumpf sind die Segmentbezirke
(1. — i2. Dorsalsegment) gürtelförmig angeordnet,
während sie an den Extremitäten im allgemeinen
Längsrichtung annehmen.
b. Segmentbezüge der Muskeln: Zwerchfell:
4. Uervicalsegment. Oberarmmuskulatur: 5. Ger-
vical- bis 1. Dorsalsegment. Rücken- und Bauch-
muskeln: 2. — 12. Dorsalsegment. Beinmuskulatur:
1. Lumbal- bis 2. Sakralsegment. Dammuskulatur:
3. — 5. Sakralsegment.
c. Segmentbezüge der Rückenmarksreflexe:
Gentrum cilio-spinale (s. S. 35): 8. Gervical- und
1. Dorsalsegment. Bauchreflexe: 8. — 12. Dorsal-
segment. Cremasterreflex: 1. und 2. Lumbalseg-
ment. Patellarreflex: 2. — 4. Lumbaisegment. Plan-
tar- und Achillessehnenreflex : 1 . und 2. Sakral-
segment. Babinski: 1. und 2. Sakralsegment.
Blasen- und Mastdarmreflex : 3. — ^5. Sakralsegment.
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— 46 -
Einteilungr der Rüekenmapkskranklielteii.
Man teilt die Rückenmarkskrankheiten ein in:
1. Systemerkrankungen: ergreifen gleichmäßig
nur anatomisch und funktionell zusammengehörige
Bahnen^ Stränge oder Zentren.
2. Diffuse Erkrankungen: ergreifen einen Teil
des Rückenmarksquerschnittes oder den ganzen
Rückenmarksquerschnitt. Sie beruhen auf Ent-
zündung, Kompression, Tumor etc.
3. Erkrankungen der Rückenmarkshäute
(Meningitis, Lues, Tuberkulose, Tumor etc.). Bei
diesen Erkrankungen kommen infolge der Reizung
der vorderen und hinteren Wurzeln meistens Reiz-
erscheinungen zustande (Schmerzen, Muskelsteifig-
keit, Krämpfe).
A. Die Systemerkrankungen des Rückenmarks.
Tabes dorsalis.
Ätiologie.
Syphilis ist immer die Ursache der Tabes (vgl.
S. 40). Zwischen der syphilitischen Infektion und dem
Ausbruch der Tabes pflegen meist mehrere Jahre zu
vergehen (5—15 Jahre)*.
. Yorkommen: Hauptsächlich im männlichen Ge-
schlecht, weniger häufiger beim weiblichen; meist im
Alter von 30—^5 Jahren; jedoch auch bei Greisen und
Kindern, bei letzteren als Folge von angeborener Sy-
philis.
Pathologisehe Anatomie.
1. Graue Degeneration der Hinterstränge.
Verschont bleiben von dieser Degeneration meist
die ventralen Teile der Hinterstränge. In den
• üfach meinen eigenen Exfahrnngen mQ«aea meist SyphiUi und dMteae-
iftttT» Konstitution bei demielben Indlyldnnm suMnuueatnfieo« dunlt Tabee
eatifeeht.
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- 47 -
unteren Teilen des Rückenmarks findet sich meist
eine Degeneration der Bur dachschen Stränge,
in den oberen Teilen eine Degeneration der GoU-
schen Stränge. Dies beruht wohl darauf, daß die im
Lendenmark mit den hinteren Wurzeln lateral
eingetretenen Fasern der Burdachschen Stränge
nach oben zu medianwärts konvergieren.
2. Die Degeneration der hinteren Wurzeln: wd von
manchen Autoren als die primäre anatomische
Veränderung aufgefaßt. Das Spinalganglion bleibt
relativ lange erhalten.
3. Faserschwund in der grauen Substanz des Rücken-
marks (Clarkesche Säulen, Hinterhömer) beruht
. auf Degeneration derjenigen Fasern, welche, aus
den hinteren Wurzeln stammend, als Reflexkolla-
teralen nach dem Vorderhom und den Strangzellen
des Hinterhorns ziehen, ferner aber auch um die
Zellen der Garkeschen Säulen enden.
4. Degeneration von Himnerven.
a. Opticus-Atrophie.
b. Augenmuskelnerven.
5. Degeneration sensibler Hautnerven.
Im großen und ganzon kann man sagen, daß das
erste sensible (peripherische) Neuron erkrankt ist. Den
Ausgangspunkt bildet meist das Lumbaimark.
Symptome.
Die Gardinalsymptome der Tabes sind: Die
reflektorische PupUlenstarre, das Fehlen des Patellar-
reflexes und die lanzinierenden Schmerzen.
I. Objektive Symptome.
1. Keflektorische Pupillenstarre; daneben findet sich
oft Miosis, Pupillondiffercnz, Verziohung der Pu-
pillen; die Konvergenzrcaktioii der Pupillen ist
meist erhalten. Die reflektorische Pupiiienstarre
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— 48 —
beruht auf einer Unterbrechung des ReUexbogens
an bisher noch unbekannter Stelle.
2. Fehlen des Plitdlamflexes; vor dem Patellarreflez
verschwindet sehr oft der Achillessehnenre-
flex.
3. Sensibilitätsstörungen:
a. Analgesie tritt besonders an den unteren Ex-
tremitäten sehr früh auf.
b. Einerseits Anästhesie und Hypästhesie, beson-
ders auf der Brust in der Höhe der Brust-
warzen (Hitzigsche Zone), andererseits Üälte-
hyperästhesie.
c. Verlangsamung der Schnierzempfindung.
d. Störung des Lagesinns ; tritt gewöhnlich erst in
späteren Stadien ein (vgl. S. 19).
e. Unenipfindlichkeit peripherer Nerven gegen
Druck; besonders N. ulnaris am EUbogenge-
lenk: Ulnarisphänomen.
4. Koordinationsstörungen: .
a. Ataktischer Gang (vgl. S. 29).
b. Rombergsches Schwanken (vgl. S. 29).
Die fehlende Lageempfindung kann durch
die Augenkontrolle kompensiert werden.
5. Lähmungen:
a. Augenmuskellähmungen ; meist ist der Abdu-
cens, oft aber auch der Oculomotorius gelähmt ;
in letzterem Falle häufig Ptosis. Die Folge
der Augenmuskeiiähmung sind meist Doppel^
bilder.
b. Lähmung von Kehlkopfmuskeln; am häufigsten
ist die Lähmung des M. crico-ary tae-
noideus posticus. Die Folgen dieser Läh-
mung sind: Inspiratorische Dyspnoe, geräusch-
volle Inspiration. Bei der Spiegeluntersuchung
findet man das gelähmte Stimmband, resp. die
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gelähmten Stimmbänder unbeweglich, nahe der
Medianlinie,
6. Blasen*, * Mastdarm- und Genitalstö-
rungen.
a. Blasenstörungen: Retentio urinae (im Beginn
der Krankheit), Incontinentia urinae (in spä-
teren Stadien) (vgl. S. 30).
b. Incontinentia alvi, nicht sehr häufig.
c. Impotentia coeundi, meist in späteren Stadien.
7. Störungen der Sinnesorgane; am wichtig-
sten ist hier die Atrophia N. optici, die zu
Amblyopie und Amaurose führt. Die Atrophie
stellt sich oft frühzeitig ein.
8. Tropliische Störungen.
a. Arthropathien: Sie beruhen auf serösen Ge-
. lenkergüssen mit atrophischen oder hypertrophi-
schen Veränderungen der Gelenke. Die Schwel-
lung entsteht plötzlich und schmerzlos; am mei-
sten werden die Kniee bevorzugt. Die Folgen der
Arthropathie sind oft Spontanluxationen,
ferner Deformitäten der Extremitäten, wie das
Genu recurvatum.
b. Das Malum perforans (Mal perforant du
pied): ein tiefgreifendes Geschwür, meist an
der Fußsohle.
c. Die Osteoporose führt zu meist schmerz-
losen Spontanfrakturen des Schenkels, der
Arme etc.
d. Störungen im Trigeminusgebiet: Schwund des
Fettpolsters der Orbita, Keratitis neuropara-
lytica, spontaner Zahnausf aU, abnorme Brüchig-
keit des Unterkiefers.
9. Tabische Krisen:
a. Gastrische Krisen: Anfälle von heftigen
Magensciinierzen mit stai'kem Erbrechen, das
tagelang dauern kann.
>tft)'erj Compeadlum der Neurologie. 3.-5. Aufl. 4
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b. Kehlkop f- Krisen: Heftige Atemnot mit
krampfhaften Hustenanfällen.
c. Darmkrisen: Kolikanfälle mit diarrhoischen
Entleerungen.
10. Tonus und motorische Kraft: Meist besteht
Hypotonie der Muskeln der befallenen Extremi-
täten mit Erschlaf fung der Bänder; daher abnorme
passive Beweglichkeit.
II. Subjektive Symptome.
1. Parästhesien : Taubsein, Kribbeln etc. in den Hän-
den oder Füßen.
2. Spontane Schmerzen:
a. Lanzinierende Sehmerzen: sind meistens ein
Frühsymptom der Tabes; sie sind: heftig, blitz-
artig, von anfallsweisem Auftreten ; sie können
im ganzen Körper auftreten, bevorzugen aber
meistens die Beine.
b. Gürtelschmerz um die Brust (vgl. S. 20).
c. Schmerzen bei Krisen.
3. Doppelbilder; Amblyopie, Amaurose.
4. „Schwindel" (wie sich die Patienten meistens aus-
drücken) beruht auf der Ataxie beim Gehen' und
Stehen.
Verlauf: sehr chronisch (10—30 Jahre). Man unter-
scheidet:
1. Ein neuralgif orm es (präataktisches) Stadium
(mit lanzinierenden Schmerzen). Es beruht auf
Reizerscheinungen der hinteren Wurzeln. Die
Reflexe sind hierbei meist erhöht.
2. FAn ataktisches Stadium.
3. Ein pseudoparalytisches, in dem der Kranke
infolge seiner Schwäche dauernd ans Bett gefesselt
ist; eine echte Paralyse besteht jedoch nicht.
Statt der lanzinierenden SchnnTzen kann auch
jedes andere Symptom zuerst aultreten, z. B,
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— 51 —
gastrische Krisen, Opticusatrophie etc. Die spi>
nalen Symptome setzen meist an den Beinen ein
(Tabes inferior), seltener an den Armen mit erhal-
tenem PateJlarreflex (Tabes superior).
Die häufigste Komplikation der Tabes ist die
mit progressiver Paralyse (Ta bo p a ralyse); häufig
findet sich auch eine Komplikation mit Aorten-
insuffizienz oder Aortcnskleroso mit Aneurysma.
Der Tod erfolgt an Marasmus oder an Sepsis
im Anschluß an Cystitis und Pyelo- Nephritis.
DifterentialdiagnoM:
1. Gegen Polyneuritis, besonders die alkoholische
(Pseudotabes alcoholica); diese hat mit der Tabes
das Fehlen des Patellarreflexes und die Ataxie
gemein. Bei der Neuritis ist jedoch eine moto-
rische Parese vorhanden, bei der Tabes nicht.
Gegen Neuritis sprechen stets Blasenstörungen
und Pupillenstarre.
2. Gegen Dementia paralytica; diese hat mit der
Tabes die Pupillenstarre und das Fehlendes Patel-
larreflexes gemein. Für Dementia paralytica ent-
scheiden Intelligenzdefekt und Sprachstörung.
3. Gegen Friedreichsche Krankheit; diese hat
weder Pupillenstarre noch Sensibilitätsstörungen,
sonst ähnliche Symptome.
Diagnostische Stützen:
1. Cytodiagnose; es findet sich nämlich bei Tabes,
Dementia paralytica und Lues cerebrospinalis in
dem durch Lumbalpunktion gewonnenen Liquor
cerebrospinalis eine mehr oder weniger hochgradige
Ly m p lu) c y tose.
2. Positive Globulinreaktion des Liquors (vgl. S. 39)'
3. Einenwichti^pnAulialtspunkt gibt auch die Wasser-
mannsche Reaktion, die bei Tabes fast immer
positiv (70% der Fälle), sowohl im Serum wie im
Liquor, ausfällt.
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- 62 ~
Prognose: ungünstig. Heilung ausgeschlossen;
langjähriger Stillstand ist möglich.
Therapie: rein symptomatisch. Bei Tahes ineipiens
versuche man eine vorsichtige Quecksilber- und Jod-
behandlung. Ob Saly^irsan nützt, ist noch fraglich.
Das Fortschreiten des Krankheitsprozesses sucht
man zu verhindern durch kräftige Ernährung, Vermei-
dung von körperlichen, geistigen Anstrengungen, Auf-
regungen und Exzessen in baccho et venere.
Die Ataxie wd wirksam durch die Frenkeische
Übungsbehandlung bekämpft; man übt mit dem
Patienten die einzehien zum Gehen, Treppensteigen etc.
nötigen Bewegungen sorgfältig ein. , .
Ge^en die Schmerzen verwendet man Antineural-
fica und Narcotica; bei heftigen Ma^nkrisen eventuell
'örstersche Operation (Durchschneidung der hinteren
Wurzeln).
Eine geringe Rolle spielen die elektrische Behand-
lung, die mechanische Behandlung (Suspension und
Massage), die Hydrotherapie und die Balneotherapie
(Oeynhausen, Nauheim, WUdbad).
Die hereditäre Ataxie.
(Friedreichsche Krankheit.)
Ätiologie: Die Heredität kommt als Hauptmoment
in Betracht; die Krankheit befällt meist mehrere Ge-
schwister.
Beginn: sehr schleichend in der Kindheit und in der
Pubertät.
Pathologische Anatomie: Das Rückenmark ist im
ganzen aiiffallond klein; oft wurde auch eine Entwick-
lungshemmung des Kleinhirns konstatiert. Degeneriert
sind die Hinterstränge, die Kleinhirnseitenstrangbahn
(mit dem iNucleus dorsaiis) und Pyraraidenseitenstrang-
bahn.
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— 53 —
Symptom«:
1. Ataxie der Beine, der Arme (beruhend auf der
Erkrankung der Hinterstränge). Die Sprache ist
skandierend, verlangsamt und undeutlich.
2. Fehlen der Sehnenreflexe (Unterbrechung des Re-
flexbogens im centripetalen Teile).
3. Choreiforme Zuckungen des Kopfes, Nystagmus
der Augen. Der Gang ist unsicherer als bei Tabes.
Hypotonie der Extremitäten.
4. Deformitäten des Körpers: Kyphoskoliose der
Wirbelsäule, Pes varo-equinus.
Verlauf: sehr chronisch (30—40 Jahre). Die Ataxie
ergreift zuerst die Beine.
Prognose: ungünstig. Heilung ausgeschlossen. Tod
durch interkurrente Leiden.
Theriq^ie: symptomatisch. Behandlung der Ataxie
wie bei der Tabes dorsalis.
Die spastisehe Spinalparalyse«
Ätiologie: unsicher. Verantwortlich wurden Trau-
ma, Puerperium, Syphilis, Bleivergiftung etc. gemacht.
Heredität findet sich bei der sog. hereditären spa-
stischen Spinalparalyse (v. Strümpell).
Pathologische Anatomie : Degeneration d e r P y -
ramidenseitenstrangbahnen, also des zentralen
motorischen Neurons. Bei der hereditären Form findet
sich außerdem noch eine Degeneration der Kleinhirn-
seitenstrangbahnen und der Gollschen Stränge.
Die Symptome sind diejenigen der Erkrankung des
zentralen motorischen Neurons.
1. Spastische Paraplegie, resp. Paraparese der
Beine, in späteren Stadien auch der Arme; in-
folgedessen spastischer Gang (s. S. 10).
2. Rigidität (Hypertonie) der Muskulatur: daher
Erschwerung passiver imd aktiver Bewegungen.
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— 54 -
3. Steigerung der Sehnenreflexe: Patellap-
klonus, Fußklonus; das Babinskische Zehenphä-
nomen ist meist vorhanden.
Die Muskulatur behält normales Volumen und
normale elektrische Erregbarkeit; keine Sensibili-
täts-, Blasen- oder Mastdarmstörungen. Nur bei
der hereditären Form finden sich in späteren Sta-
dien geringe Gefühls- und Blasenstörungen.
Entstehung und Verlauf: Das Leiden tritt im 20.
bis 40. Lebensjahre auf und schreitet sehr langsam vor-
wärts; es kann 3^4 Decennien bestehen.
Difterentialdiagnose:
1. Gegen Herderkrankungen des Rückenmarks und
des Gehirns: Myelitis, Rückenmarkskompression,
multiple Sklerose, luetische Meningomyelitis; Hy-
drocephalus und spastische Gerebraiparalyse. Bei
allen diesen Erkrankungen finden sich neben den
Symptomen der spastischen Lähmung meist noch
andere, bei den erstgenannten besonders Blasen-
störungen.
2. Gegen Hysterie: Bei dieser entstehen die Läh-
mungen in akuter Weise, Babinski ist nie vorhan-
den; im Übrigen vgl. Hysterie.
Prognose: vgl. Verlauf.
Therapie: Da Lues diagnostisch schwer auszu-
schließen ist, versuche man Jodkalium. Sonst ist die
Therapie rein symptomatisch. Warme Bäder und sanfte
Massage lindern die Spasmen.
Die progressiven Muskelatrophien.
Die progressiven Muskelatrophien haben die ge-
meinsame Eigentümlichkeit, daß sie auf einer Degene-
ration des peripheren motorischen Neurons beruhen.
Es sind also entweder die Ganglienzellen im grauen Vor-
derhorn des Rückenmarks (spinale Form der progres-
siven Muskelatrophie) oder die motorischen Fasern der
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— 56
peripheren Nerven (neurotische Form) oder die Muskeln
seU>8t (primftre Myopathie) erkrankt. .
I. Die spinale Form der progressiven Muskel-
atr«phie (Type Duchenne-Aran).
Ätiologie: unsicher. Man nininit eine kongenitale
Schwäche der später degenerierenden Bahnen an.
Männer erkranken häufiger als Frauen.
Pathologische Anatomie: Degeneration der
grauen Vordersäulen (Atrophie der Ganglienzellen)
hauptsächlich im Cervikalmark. Sekundär degenerieren
die vorderen Wurzehi, die Muskelnerven und die Mus-
keln selbst. Die Muskelatrophie ist degenerativer Na-
tur, d. h. die Muskelsubstanz zerfällt in eine körnige
und verfettete Masse (trübe Schwt'llnng und Verfettung).
Die Symptome: sind diejenigen der Erkrankung
des peripheren motorischen Neurons, also diejenigen der
degenerativen Atrophie (vgl. S. 12).
1. Atrophie der Körpermuskulatur:
a. Atrophie der kleinen Handmuskeln: Abflachung
des Thenars (Daumenballen), Einsinken der
Spatia interossea, Abflachung des Hypothenars«
(Kleinfingerballen); schwaclior Händedruck;
Krallen bandst eilung, welche durch die Läh-
mung der Mm. intorossei zustande kommt (Wir-
kung der Mm. interossei: Spreizen der Finger,
Beugung an der Grundphalange, Streckung der
Mittel- und Endphalange).
b. Atrophie des M. deltoideus.
c. Atrophie der übrigen Körpermuskeln, am spä-
testen an den Beinen.
2. Fibrilläres Zittern auch in noch nicht atro-
phischen Muskeln.
3. Die Reflexe sind an den Armen aufgehoben.
4. Elektrische Entartungsreaktion.
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— 56 -
Terlauf : sehr schleichend. Beginn nicht vor dem
20. Lebensjahr. Der Muskelatrophie geht keine Läh-
mung voraus; die Muskelleistung ist proportional der
Atrophie. Zuerst erkranken meist der Opponens polUcis
und der Interosseus primus, und zwar der rechten Hand.
Dann wird allmählich die Muskulatur des Schulter-
gürtels, besonders der M. deltoideus ergriffen. Später
schließen sich die Vorderarmmuskeln und die Nacken-
muskeln an.
Der Tod erfolgt nach jahrelangem Bestehen der
Krankheit durch Atmungslähmung (Erkrankung der
Interkostalmuskeln und des Zwerchfells) oder durch die
Komplikation mit progressiver Bulbärparalyse (vgl.
S. 102).
Differentialdiagnose :
1. Gegen andere Erkrankungen des Rückenmarks:
Syringomyelie, Pachymeningitis cervicalis hyper-
trophica, Spondylitis der unteren Halswirbel; bei
diesen Affektionen finden sich Störungen der Sen-
sibilität, bei der Syringomyelie meist auch tro-
phische Störungen, bei der Spondylitis Blasen-
störungen und spastische Paresen der Beine.
• 2. Gegen die einfachen (nicht progressiven) Be-
schäftigungsatrophien, z. B. Atrophie des
Daumonballens bei Wäscherinnen. Diese Atrophie
ist meist einseitig (rechtsseitig) und von leichten
subjektiven (Parästhesien) und objektiven Sen-
sibilitätsstörungeu begleitet; es fehlt die Pro-
gression.
Prognose; ungOnstig.
Therapie: machtlos. Elektrizität, methodische
Massage.
Die hereditäre, resp. familiäre Form der spinalen
progressiven Muskelatrophie (Werdnig- Hoffmann) zeich-
net sich von der soeben beschriebenen aus:
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- 57 -
1. Durch ihr familiäres Auftreten: oft bei mehreren
Geschwistern,
2. durch den Beginn: im 1. oder 2. Lebensjahre,
3. durch den Verlauf: die Atrophie ergreift zuerst die
Oberschenkel-, Becken- und Rückenmuskulatur,
erst später die Extremitäten,
4. durch ungünstigere Prognose: schnellere Progres-
sion, Tod in 1— Jahren.
II. Die neurotische Form der progressiven Muskel-
atrophie (Peronealtypus, Charcot-Marie).
Ätiologie: Heredität. Männer erkranken häufiger
als Frauen. Beginn im 2. Dezennium.
Pathologische Anatomie: Degeneration der peri-
pheren Nerven. Daneben wurden jedoch auch Degene-
rationen der Spinalganglien, der vorderen Wurzeki, der
grauen Vordersäulen etc. beobachtet.
Symptome und Terlauf: Die Atrophie beginnt
symmetrisch an den Mm. peronei, extensor digitorum
communis und den kleinen Fußmuskeln. Es bildet sich
infolgedessen ein Klumpfuß (Pes equino-varus) aus.
Nach einigen Jahren werden die oberen Extremitäten
ergriffen: zuerst die kleinen Handmuskeln, dann die
Vorderarmmuskulatur. Fibrilläres Zittern. Die Pa-
tellarreflexe fehlen. Elektrische Entartungsreaktion.
Sehsiblitätsstörungen (Schmerzen, Hypästhosie) sind
vorhanden. Die Dauer des Leidens erstreckt sich über
Dezennien.
Therapie: Der Klumpfuß ist orthopädisch oder
chirurgisch zu behandehi.
lU. Die primKre Myopathie, Dystrophia mnsealonim
progressiva (Erb).
Ätiologie. Familiäres Auftreten. Das männliche
Geschlecht erkrankt häufiger als das weibliche; die
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- 58 -
Krankheit befällt fast ausschließlich Kinder und jugend-
liche Personen.
Pafliologisebe Anatonie: Reine Muskelerkrankung;
das Nervensystem ist intakt. Mikroskopisch findet man :
Atrophie und teilweise Hypertrophie der einzelnen Mus-
kelfasern, Vermehrung der Kerne des Sarkolemms,
Wucherung von Fettgewebe in den bindegewebigen
Interstitien des Muskels (Pseudohypertrophia lipo-
matosa).
Die Querstreifung bleibt bis zuletzt erhalten.
Die Symptome:
1. Einfache, nicht degenerative Atrophie der Körper-
muskulatur (vgl. S. 12).
2. Hypertrophie und Pseudohypertrophie (be-
ruhend auf Fettwucherung) einiger Muskeln.
3. Motorische Parese der befall^en Muskeln. Die
noch erhaltene Kraft entspricht der Menge der
Muskelreste.
4. Sehnenreflexe herabgesetsrt oder erloschen.
5. Quantitative Herabsetzung der elektrischen Er-
regbarkeit, keine Entartungsreaktion.
6. Ausbreitungsgebiete der Erkrankung:
a. Rücken-, Ghitaeal-, Oberschenkel- und Waden-
rnuskeln; infolgedessen Lordose der Lenden-
wirbelsäule mit vorgestrecktem Bauch (Frosch-
bauch), watschelnder Gang, Schwierigkeit, sich
aulzurichten (Emporklettern mit den Hän-
den an den eigenen Beinen).
ß, Schultermuskulatur: lose Schultern; sie können
bis zu den Ohren hinaufgezogen werden.
y, Gesichtsmuakulatur (selten M. orbicularis oris
und ocuii.
Verschont bleiben also die distalen Teile
der Extremitäten, des M. deltoideus und der
Mm. spinales.
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— 59 —
Teriaiit: seiur langsam (10—^ Jahre). Stillstand
kommt vor. Tod an Atmungslähmung. Nach dem Ver-
lauf unterscheidet man:
1. Die Pseudohypertrophie: beginnt im 4. — 10. Le-
bensjahre. Zuerst atrophieren die Rückenstrecker,
die Glutaei und der Quadriceps ; die Waden werd^
pseudohypertrophisch, manchmal auch die Glutaei
und die Deltoidei.
2. Die infantile Form: ebenfalls im frühen Kindes-
alter; primäre Beteiligung der Gesichtsmuskeln.
3. Die jurenile Form: im JOnglingsalter; primäre Be-
teiligung der Schultermu^ulatur.
Ditferentlaldiagnose: Von der spinalen Form der
progressiven Muskelatrophie unterscheidet sich diese
Form durch:
1. Das familiäre Auftreten.
2. Den Beginn im Kindes- und Jünglingsalter.
3. Die Kombination von Atrophie mit Hypertrophie
und Pseudohypertrophie.
4. Das Ausbreitungsgebiet: Freibleiben der Hände
und Füße.
5. Fehlen der elektrischen Entartungsreaktion und
der fibrillären Zuckungen.
Prognose: vgl. Verlauf.
Therapie: Elektrizität, vorsichtige aktive Gym-
nastik, Hydrotherapie.
Die amyotrophische Lateralsklerose.
Ätiologie: unbekannt. Kongenitale Anlage (Strüm-
pell). Beginn im mittleren Lebensalter.
Pathologische Anatomie: Degeneration sowohl des
zentralen als auch des peripheren motorischen
Neurons, also der Pyramidenbahnen und der Gang-
lienzellen der Vorderhörner mit den von ihnen aus-
gehenden motorischen Fasern, Entsprechend findet
man im verlängerten Marke und der Brücke ebenfalls
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— 60 —
Atrophie der Pyramidenbahnen sowie der motorischen
Himnervenkeme (ygl. S. 102).
Die Symptome sind entsprechend dem anatomi-
schen Befunde diejenigen der spastischen Parese (Er-
krankung des zentralen Neurons) und der degenera-
tiven Atrophie (Erkrankung des peripheren Neurons),
also:
1. Parese der Muskulatur der Arme und der Beine.
2. Atrophie der Muskulatur, besonders der
Arme.
3. Rigidität der Muskehl, besonders an den Beinen;
spastischer Gang.
4. Sehnenrefiexe gesteigert: Fußkionus; Ba-
binski.
5. Elektrische Entartungsreaktion, besonders an den
Armen.
6. Fibrilläres Zittern.
7. Freies Sensorium.
Verlauf: Dauer 2 — 10 Jahre. Die atrophische Läh-
mung befällt zuerst die ol)err'n Extremitäten, besonders
die Hände (Klauenhandstellung). An den Beinen ist
die Lähmung anfangs rein spastisch, erst später gesellt
sich die degenerative Atrophie hinzu. Die Refiexstei-
gerung ist solange erhalten, als Muskelsubstanz erhalten
ist. In dritter Linie stellen sich bulbäre Lähmungen
(vgl. S. 102) ein: spastisch-atrophisehe Lähmungen der
Lippen-, Zungen-, Gaumen-, Schling- und Kehlkopf-
muskulatur.
Prof^nose: ungünstig. Tod durch Atmungslähmung,
Schlinglähmung (Schluckpneumonie) oder Erschöpfung.
Therapie: machtlos. Gegen die Spasmen protra-
hierte, warme Bäder; gegen beginnende Schlingläh-
mung elektrische (galv.) Auslösung von Schluck-
bewegungen. Im Notfälle Ernährung durch den Magen*
schlauch.
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61 —
Poliomyelitis anterior acuta.
Spinale Kinderlähmung (Heine-Medinsche
Krankheit).
Ätiologie: wahrscheinlich eine Infektion unbekann-
ter Natur: dafür spricht das gelegentlich epidemische
Auftreten. Beginn meist im 2. — 4. Lebensjahre.
Pathologische Anatomie: Akute hämorrhagi-
sche Entzündung der grauen Vorderhörner
des Rückenmarks {jioXi6g = grau, fivFX6g= Mark), die
vielleicht auf embolischem Wege von der Art. spinalis
anterior aus zustande kommt. Nach Ablauf der Ent-
zündung zeigt sich Atrophie der Vorderhörner mit se-
kundärer Wucherung der Neuroglia; das Vorderhorn
erscheint makroskopisch geschrumpft. Die vorderen
Wurzeln und die zugehörige Muskulatur sind ebenfalls
atrophisch. Die Entzündung hinterläßt jedoch nicht
überall bldbende Veränderungen, sondern meist nur in
der Hals- und Lendenanschwellung (Kerngebiete der
Ann- und Beinmuskulatur). Ausnahmswdse können
auch die Kerne motorischer Himnerven erkrankt sein,
Symptome:
a. Akutes Stadium (Dauer: Stunden bis einige
. Tage):
1. Hohes Fieber, Appetitlosigkeit, Erbrechen, Be-
nommenheit.
2. Häufige Krämpfe.
3. Manchmal Schmerzen infolge Beteiligung der
Meningen.
4. Die Wassermannsche Reaktion im Serum ist
positiv, im Liquor cerebrospinalis negativ.
b. Stadium nach Ablauf der Entzündung:
. Schlaffe Lähmung und degenerative Atrophie der
befallenen Muskeln (Fehlen der Reflexe, Entar-
tungsreaktion etc.); meist einseitig.
c. Bleibender Zustand (der sich nach Monaten
.. manifestiert):.
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— 62 —
1. Sehr selten ganze» häufiger teilweise Rückkehr
zur Norm.
2. Restierende Lähmungen: fast durchweg mono-
plegisch (vgl. S. 7); am Beine meist Lähmung
der Mm. peronei einerseits oder des M. tibialis
anterior andererseits; am Arme meist der M.
deltoideus, der M. biceps, brachialis» brachio-
radialis.
3. Sekundäre Kontrakturen : z. B. ist der Pes equi-
novarus paralyticus (Lähmung der Peronei und
der Extensoren) meist durch sekundäre Kon-
traktur der Wadenmuskeln fixiert, während der
Pes valgus paralyticus (Lähmung des Tibialis
anticus) meist nicht fixiert ist.
4. Wachstumshemmung der betroffenen Glied-
maßen.
5. Deformitäten der Wirbelsäule (Skoliose^ Lor-
dose) und der Gelenke (Schlottergdenke).
Verlauf: Die Erkrankung setzt plötzlich, meist aus
voller Gesundheit heraus, mit Schüttelfrost, hohem
Fieber, Kopf- und Gliederschmerz ein. Dieses fieber-
hafte Stadium dauert Stunden bis Tage. Erst nach
dessen Ablauf treten die Lähmungen auf. Diese haben
anfangs ein sehr großes Ausbreitungsgebiet ; nach eini-
ger Zeit erfolgt Besserung; diejenigen Muskeln jedoch,
welche noch nach 1 Jahr gelähmt sind, bleiben meist
dauernd gelähmt.
Differentialdiagnose :
1. Gegen fieberhafte Knochenerkrankungen : Osteo-
myelitis, syphilitische Pseudoparalyse (Kj)iphy-
senlösung); hier sind die Bewegungen durch die
Schmerzen gehemmt, gegen passive Bewegungen
wird durch Muskelspannung Widci'stand gesetzt;
es besteht starke Drucksehnierzhalligkeit; Reflexe
und elektrische Reaktion sind normal.
2. Gegen multiple Neuritis^ welche ebenfalls schnell
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— 63 —
zu degenerativen Lähmungen führt; jedoch finden
sich hier:'
a. ein langsameres Eintreten der Lahmungen,
ß, Druckschmerzhaftigkeit der Nerven und Mus-
keln, größere Schmerzen bei Bewegung.
y. Gefühlsstörungen.
d. das Ausbreitungsgebiet entspricht der periphe-
rischen Innervation, nicht der spinalen (radi-
kulären).
3. Gegen die spinale, progressive Muskelatrophie
spricht der plötzliche Beginn mit der sich schnell
entwickelnden Lähmung.
Prognose: quoad vitam günstig; quoad sanationem
weniger günstig. Muskeln, in denen am Ende der ersten
Woche komplette Entartungsreaktion hervortritt, blei-
ben meist dauernd betroffen.
Therapie:
a. Im akuten Stadium: Bettruhe, AUeitung auf den
Darm, Diaphorese (Darreichung heißer Getränke
etc.), Salicylpräparate.
b. In späteren Stadien: Elektrizität, Gymnastik,
Massage, Solbäder; orthopädische und chirui gische
Maßnahmen (Tenotomie, Sehnentransplantation;
Schienenapparate).
Eine seltenere Form der Erkrankung ist die Polio-
myelitis anterior acuta der Erwachsenen (Be-
ginn bis zum 35. Lebensjahr) mit relativ günstigerer
Prognose quoad sanationem.
Akute anüsteigende Spinalparalyse
(Landrysche Krankheit).
Ätiologie: Inl'ektion eines noch unbekannten Er-
regers. Beginn meist im mittleren Lebensalter.
Symptome:
1. Starkos Unbehagen, Fieber, Kopfweh, Rücken-
«chniserzen, Albuminurie und Milztumorr
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2. Schlaffe Lähmung: erst des einen, dann des an-
deren Beines. Aufhebung der Reflexe etc. (vgl.
S. 9). Spätere Lähmung der Rumpfmuskulatur.
Verlauf: Dauer 1 — 2 Wochen. Beginn mit allge-
meinen Symptomen; dann schlaffe Lähmungen, äl-
mählich von unten nach oben ziehend. Tod durch Re-
spirationsstillstand und bulbäre Erscheinungen (vgl.
S. 102).
Prognose: ungünstig; in seltenen Fällen Stillstand
und Heilung.
Differenfialdiagnose:
Gegen Polyneuritis: hierbei Sensibilitätsstörungen.
Therapie: Salicylpräparate, Schmierkur, Elektri-
zität.
B. Die diffusen Erkrankungen des Rückenmarks.
Die Syrlngorayelie.
Ätiologie: fehlerhafte kongenitale Anlage. Beginn
meist im mittleren Lebensalter.
Pafhalogisehe Anatomie: Röhrenartige Höhlen-
bildung {avQiy^ Röhre) im Rückenmark; bevorzugt
sind Hals- und Brustmark, und zwar meist ein oder
beide Hinterhömer, seltener die Hinterstränge und die
Vorderhömer; auch die Medulla oblongata kann er-
griffen werden. Den Ausgangspunkt bildet öfters das
Halsniark. Die Höhlen sind von gewuchertem Glia-
gewebe umgeben. Die primäre Veränderung besteht
nämlich in einer soliden Wucherung des Glia^<^webes:
Gliosis spinalis; innerhalb des gliösen Tumors er-
folgt später durch Gewebseinschmelzung die Höhlen-
bildung. Nicht zu verwechseln ist die Syringomyelie
mit der klinisch meist bedeutungslosen, einfachen Er-
weiterung des Zentralkanals: der Hydromyeiie,
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- 65 -
Symptome:
1. Die partielle (dissoziierte) Empfindungsläh-
mung (vgl. S. 18) an den oberen Extremitäten,
in der Hals- und Rumpfgegend: Schmerz- und
Temperaturempfindung sind erloschen, während
Berührungs- und Lageempfindung meist erhalten
sind. Die Erscheinung beruht wohl darauf, daß
die Schmerz- und Temperatursinnesbahnen das
Hinterhom durchziehen.
2. Langsam fortschreitende, de generative Mus-
kelatrophien (vgl. S. 12) der oberen Extremi-
täten; nioist nicht symmetrisch. Ergriffen werden
meist und zuerst die kleinen Handmuskeln; es
entwickelt sich Krallenhandsteilung (vgl. S.
55). In vorgeschrittenon Fällen troscllt sich noch
spastische Paraparese der Beine hinzu.
3. Trophische und vasomotorische Stör-
ungen:
a. Veränderungen der Haut: Glanzhaut = glossy-
skin; Blasenbildung, Geschwüre, Panaritien und
Phlegmonen, welche zum Teil auf Verletzungen
und Verbrennungen, infolge der Analgesie ver-
nachlässit;:t. zurückzuführen sind.
ß. Vci änderungcn der KnoclK^i urul der Gelenke:
S[)üntanfrakturen, Artiu opat hieu (vgl. S. 49),
Ivyphüskoliüse der Wirbelsäule durch einseiti-
gen Schwund der Rückenmuskulatur.
4. Häufig findet sich das oculo-pupillare Phae-
nonien [v^]. S. 35), infolge der Zerstörung des
Centrum cilio-spinale.
Verlauf: sehr chronisch; er erstreckt sich über
Jahrzehnte. Meist machen sich zuerst die sensiblen und
trophischen Störungen der Haut geltend. Die Muskel-
atrophien beginnen meist an den Händen. Der Tod
erfolgt durch Decnilütus mit anscliließendei' Sepsis,
Atmungslähmuni; oder Mitbeteilii^ung der Mediilla
oblongata infoli^e bulhärer Erscheinungen (vgl. S. 101).
Mayer, Coiupeudium der 2ieuroiogie. 3.— 5. Aufl. 5
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Differentialdiagnase:
1. Gegen progressive Muskelatrophie und
amyotrophische Lateralsklerose; bei diesen
fehlen die Sensibilitätsstörungen.
2. Gegen Spondylitis mit Kompression des Rücken-
marks ; hier ist die Empfindungslähmung meist nicht
partiell; außerdem finden sich spastische Paraplegie
der Beine und frühzeitige Blasenstörungen.
3. Gegen Neuritis der Armnerven; hier treten
Schmerzen in den Vordergrund; die Anästhesie
ist nicht partiell, sie entspricht dem Innervations-
gebiote des peripheren Nerven.
4. Gegen Hysterie; hier fehlen die deofenerativen Mus-
kolatrophien; die Sinnesfunktionen sind an den An-
ästhesien meist beteiligt. Im übrigen vgl. Hysterie.
5. Gegen Lepra (mutilans): die Unterscheidung ist
besonders schwierig von einer besonderen Form
der Syringomyelie, dersog. Morvanschen Krank-
heit, bei welcher die Panaritien und die Ver-
stümmelungen der Hände das Bild beherrschen.
Entseheidond ist der Nachweis von Lepraknoten
und Leprabazillen ; ferner positive Wassermannsche
Reaktion und positive Komplementbindungsrc-
aktion mit Lepromextrakten.
6. Gegen Raynaudsche Krankheit (vgl. S. 144),
Prognose: ungünstig. Heilung ausgeschlossen. Still-
stand kommt vor.
Therapie: symptomatisch. Vermeidung von Ver-
letzungen und Verbrennungen.
Myelitis acuta.
Ätiologie: Infektionen und Intoxikationen: Typhus,
Intluenza, Erysipel. Gonorrhoe. Pneumonie, Scarlatina
etc. : Kohlenoxyd-, Leuchtgas-, Chloroforrnvergiftungu.a.
Patholofirische Anatomie: Entzündung des
R ii f k e n rn a r k s. Es kann sich um einen einzigen Ent-
zündungsherd oder um mehrere Herde (Myelitis disse-
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— 67
minata) handeln; der Entzündungsherd nimmt den
ganzen Querschnitt des Rückenmarks (Myelitis trans-
versa) oder nur einen Teil desselben ein. Makroskopisch
zeigt sich die Rückenmarksubstanz gelblich rot ver-
färbt und mit diffusen kleinen Haemorrhagien durch-
setzt; die weiße Substanz ist von der grauen nicht
deutlich zu trennen; die Konsistenz ist weicher. Mi-
kroskopisch zeigt sich Zerfall der nervösen Substanz
(Quellung der Achsenzylinder und der Markscheiden,
Auftreten von Körnchenzellen etc.). Sekundär stellt
sich eine Wucherung der Neuroglia (Narbenbildung) und
auf- und absteigende Degeneration ein (vgl. S. 3).
Bakterienbefund: in verschiedenen Fällen ver-
schieden; Streptokokken, Staphylokokken, Pneumo-
kokken, Spirocbat'l cn (Lues); auch scheinen die Toxine
an sich Myelitiden erzeugen zu können.
Symptome:
a. Wir nehmen an, es handle sich um eine Myelitis
transversa mit dem Sitz im Brustmark, Myelitis
dorsalis; wir finden:
1. Spastische Paraplegie der Beine (vgl. S. 9);
Babinski, Patellar- und Fußklonus; häufig spon-
tane Zuckungen.
2. Anästhesie für alle Reizqualitäten an den
Beinen und am Rumpfe bis zu verschiedener
Höhe; daher öfters Ataxie. An der oberen Be-
grenzung des anästhetischen Gebietes häufig
Hyperästhesie und Gürtelschmerz. Im übrigen
fehlen Schmerzen (vgl. S. 20).
3. Incontinentia urinae et alvi (vgl. S. 30).
4. Decubitus infolge der Anästhesie, vielleicht
auch durch trophische Störungen.
b. Myelitis lumbalis:
1. Schlaffe, degenerativ-atrophische Pa-
raplegie der Beine (vgl. S. 26).
2. Die Anästhesie reicht nur bis zur Leistengegend;
im übrigen ist alles wie bei Myelitis dorsalis.
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— 68 —
c. Myelitis eerviealis:
1. Degenerativ-atrophische Paraplcgie der Arme.
2. Spastische Paraplcgie der Beine.
3. Anästhesie an Rumpf, Armen und Beinen.
4. Eventuell das oculo-pupillare Phänomen (vgl.
S. 35).
5. Respirationsnot (durch Beteiligung der Intor-
costalmuskeln); im übrigen wie bei Myelitis
dorsalis.
Yerlauf: Die Entstehung ist in der Regel akut; die
Erkrankung erreicht innerhalb weniger Tage, während
deren Fieber besteht, ihren Höhepunkt. Beginn mit
sensiblen und motorischen Reizerscheinungen. Aus-
gangin Heilung, chronische Myelitis oder Tod durch
Sepsb im Anschluß an Decubitus oder Pyelo-Nephritis.
Differentialdiagiiose:
1. Gegen Kompression des Rückenmarks durch
Spondylitis, Tumoren etc.; hier bestehen meist
Schmerzen; bei der ersteren die Zeichen derWirbel-
erkrankungen (vgl. S. 69).
2. Gegen gummöse Meningitis (vgl. S. 73).
Prognose: zweifelhaft. Bei Gonorrhoe ist sie günstig;
je akuter die Entwicklung, desto günstiger ist meist
der Verlauf; eine schlechte Vorbedeutung haben früh-
zeitiger Decubitus und Blasenstörung.
Therapie: Bettruhe: wenn Lues trotz negativen
Wassermanns nicht auszuschließen, Jodkali und Schmier-
kur; Saivarsan; Salizylpräparate ; zur Vermeidung des
Decubitus Luft- und Wasserkissen; im übrigen eben-
falls symptomatische Behandlung.
Spondylitis tuberoulosa und Kompression des
Rückenmarks.
Atiolo^jie: Ali^esdien von der Spondylitis tu-
luM'culüsa (Wirbel k aries, Malum Pottii) können
in selteneren Fällen andere Affektionen der Wirbel
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— 69 —
[Carcinom (meist sekundär), Sarkom (meist prim&r),
Lues] oder der Meningen (Tumoren etc.) eine Kom-
pression des Rückenmarks herbeiführen. Von der Wir-
belkaries werden am häufigsten Kinder, aber auch
ältere Personen befallen.
Pathologische Anatomie: Tuberkulöse Karies eines
oder mehrerer Wirbelkörper. Lieblingssitz: Dorsal-
wirbel. Dieser kann zusammenbrechen; so entsteht
eine spitzwinklige Kyphose: Gibbus, Pott scher
Buckel. Zunächst werden die Rückenmarkswurzeln
(Reizorscheinungen), später das Rückenmark selbst dem
Drucke ausgesetzt. Die Folge ist der allmähliche Unter-
gang der nervösen Substanz. Oft wird jedoch nur ein
Staiiungsödem oder eine. Ischämie hervorgerufen, die
sich schließlich wieder zurückbilden können. Auch
käsiger Eiter kann die Kompression bewirken.
Symptome:
a. Symptome der Wirbelerkraiikung:
1. Dio Deformität der Wirbelsäule, der Gibbus,
braucht jiMloch nicht iiuiuor zu bestehen.
2. LokaU' Seil III erzen . ^vol(•ll(' den Patient ni
zwingen, bei allni Bewc^untjen dit* \\ ii belsäulc
steif zu halten: daher der vorsichtige Gang und
das charakteristische Aufstehen.
3. Druckemyjfindlichkeit des erkrankten Wir-
bels (Perkussion); dio Schmerzhaftigkeit läßt
sich aiich feststellen, wenn man mit einem heißen
Sciiwamme über die Wirbelsäule liinweglälul
oder dem sitzenden Patienten auf den Kopf
drückt.
4. Veränderung im Röntgenbild (Struktur- und
Form Veränderung).
b. Sym[)t()nie vor» Seiten der Rückenmarkswurzeln:
1. A u SS t ra h 1 (Ml (1 c Schmerzen infolge der Af-
fektion der hinteren W'ur'zeln: l)ei Kompression
des Halsmarkes in beiden Armen, des Brust-
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— 70 —
markes Gürtelschmerz, des Lendenmarkes in
beiden Beinen (ischiadische Schmerzen).
2. Hypästhesie und Anästhesie, stellen sich später
ein.
3. Die Kompression der vorderen Wurzeln führt zu
degenerativ-atrophisohen Lähmungen.
c. Symptom« von seilen des Rückenmarkes seihst:
diese sind nach dem Niveau der Erkrankung ver-
schieden; wir nehmen als Beispiel eine Garies
dorsalis (also eines Brustwirbels):
1. Spastische Paraplegie der Beine; Babiuski
etc. positiv (vgl. S. 00).
2. Anästhesie an den Beineii und am Kunipfe
bis zu verschiedener Höhe; kann jedoch fehlen.
3. Gürtelschmerz.
1. Blasen- und Mastdarmstörungen.
5. Trophische Störungen: Decubitus etc.
Bei Karies der unteren Brustwirbelsäule (Kom-
pression des Lendenmarks) findet sich selbstverständlich
degenerativ-atrophische Lähmung der Beine, kein
Gürtelschmerz; bei Karies der unteren Halswirbel:
spastische Paraplegie der Beine und degenerativ-atro-
phische der Arme; bei Karies der oberen Halswirbel:
s[)astisc]ic Paraplegie der Arme und Beine, Karies am
Kreuzbein kommt nicht vor.
Verlauf: sehr chronisch. Ausgang manchmal in
Heilung; der Zustand kann stationär bleiben; Tod
dui'ch Dociihitus mit anschlif^ßender Sepsis, Cystitis,
Pyelo-No|)htitis. allg»Mneine Miliartubcrkulüsc F^M Ka-
ries der oberen Halswirbel kann der Tod plützlich durcli
Kompression der Medulla oblongata (Atmungszentrum)
oder des Zentrums für den N. phrenicus (4. Gervicai-
segment) eintreten.
Differenfialdiagnose: hat zu berücksichtigen die
Myelitis, die gummöse Myelomeningitis, die multiple
Sklerose; iNeurasthenie und Hysterie (s. diese): gegen
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— 71 —
diese beiden letzteren ist das Babinskische Zeichen be-
sonders wertvoll.
Prognose: nicht ungünstig in jugendlichem Alter.
Theiapie: Ruhigstellung (Bettruhe) und Extension
der Wirbelsäule (Glissonsche Schwebe, Gipskorsett etc.).
Von chirurgischen Methoden seien erwähnt: die Lami-
nektomie; das gewaltsame Redressement nach Calot.
Selerosis multiplex cerebrospinalis.
Die multiple Sklerose, disseminierte Sklerose.
Ätiologie: unbekannt.
Pathologische Anatomie: Sklerotisch«' Herde
(,, Solerose on plaqiios'*)im ganzen Zentralnervensystem :
Großhirn, Pons, Medulla oblongata und Rückenmark.
Bevorzugt ist die weiße Substanz, aber auch die graue
bleibt nicht verschont. In den Herden selbst sind die
Markscheiden der Nervenfasern geschwunden, die Ach-
senzylinder jedoch meist erhalten, die Glia ist ge-
wuchert. Da die Achsenzylinder und die Ganglienzellen
meist erhalten bleiben, so fehlt auch die sekundäre
(auf- oder absteigende) Degeneration der Nervenfasern.
Symptome: Die Kardinalsymptonie der mul-
tiplen Sklerose sind: der Nystagmus, die skandie-
rende Sprache, der Intentionstremor und die
spastische Paraparese der Beine.
1. Der Nystagmus (vg. S. 37) tritt besunders beim
Blick nach der Seite in Form horizontaler Zuckun-
gen des Auges auf.
2. Die skandierende Sprache besteht darin, daß
die Wortsilben durch Pausen von einander ge-
trennt werden; sie beruht wohl auf Herden in der
zentralen Hypoglossusbahn (Pons, Medulla ob-
longata).
3. Der Intentionstremor (vgl. S. 6) hat als cha-
rakteristische Merkmale, daß er:
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— 72 —
a. in der Ruho fehlt,
ß. nur am Endo einer aktiven Bewegung eintritt,
y. aus großen Schwankungen besteht.
4. Die spastische Paraparese der Beine (vgl.
S. 9) beruht auf Herden in den Pyramidenseiten -
strangbahnen. Babinski, Oppenheim oft positiv.
5. Sehstörungen (vgl. S. 37), beruhen auf Herden
im N. opticus:
a. Temporale Abblassung der Papille.
ß, Amblyopie.
y. Zentrales Skotom und häufig Einengung des
Gesichtsfeldes mit Störungen des Farbensehens.
6. Einseitiges Fehlen des Bauchreflexes.
Weniger häufige Symptome sind: Ataxie (Herde in
den Hintersträngen), cerebellare Ataxie (Herde in den
KJeinhimseitenstrangbahnen), apoplektiforme Anfälle
(vgl. S. 91), Sensibilitätsstörungen, Blasenstörungen,
Zwangslachen, Intelligenzdefekte.
Verlauf: srhleichend, von Jahrzehnte langer Dauer.
Remissionen sind häufig. Der Tod erfolgt durch andere,
interkurrente Erkrankungen, manchmal durch Maras-
mus, Cystitis, Pyelonephritis, Decubitus.
Differcntialdiaj?nose: Die multipl«' Sklerose kann
(ähnlich wie die progressive Paralyse und die Hysterie)
fast alle Erkrankungen des Nervensystems nachahmen.
1. Die pi'ogressive Paralyse hat mit d(*r mul-
tiplen Sklerose die S|)rachst()rung, die apoplektifor-
men Anfälle, den Intelligenzdefekt und die spa-
stische Paraparese gemein. Jedocli ist bei pro-
gressiver Paralyse die Sprache nicht skandierend,
der Intelligenzdefekt meist größer und von anderen
psychischen Störungen (Wahnvorstellungen etc.)
begleitet. Pupillenstörungen, positive Serodia-
gnose sprechen für progressive Paralyse.
2. Die Pseudo- Sklerose (Westplial). eine Neurose
ohne anatomischen Befund, kann der multiplen
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— 73 —
Sklerose fast aufs Haar gleichen. Jedoch finden
sich bei ihr meist schwerere psychische Störungen,
kein Nystagmus, keine ophthalmoskopisch nach-
weisbare Veränderung des Opticus.
Im übrigen berücksichtige man Tabes, Hysterie,
spastische Si)inal})Mialyse, chronische Myelitis, mul-
tiple Gummata, Blutungen.
Prognose: Heilung ausgeschlossen, Stillstand und
zeitweise Besserung möglich.
Therapie: Vermeidung körperlicher Anstreiiguiigen,
im übrigi ii Massage etc., aber mit Vorsicht.
Heningo-myelltis syphilitica; Meningitis chronica
syphilitica gummosa; Lues spinalis.
Ätiologie: Kongenitalf^ oder acquirierte Syphilis;
Beginn meist innci hall) dfr- ersten sechs Jahre nach der
Infektion. Die Er krankungen gehören dem sekundären
oder tertiären Stadiuni an.
Pathologisehe Anatomie:
1. Die weichen Rückenmarkshäute sind teils von
• speckigem, gallertigem, teils von fibrösem Gewebe
durchsetzt, teils durch gefäßreiches Granulations-
gewebe verdickt, teils miteinander verwachsen; an
einzelnen Stellen findon sich Gummiknoten. Die
in diese Bildung<Mi cius^ebetteten Rückenmarks-
wurzeln sind häufig atrophisch.
2. In das HtickfMimark hinein sendet das syphilitische
GranulationsLrewebe seine Ausläufer, Gummikno-
ten verschiedentM' Form und Größe.
3. An den Gefäßen findet sich Verdickung der Wan-
dung oder völlige Obliteration (Arteriitis oblite-
rans). Infolge davon entstehen Erweicliungsherdc
im Rückenmark.
Symptome:
1. Schmerzen im Rücken, Naeken und Kreuz;
pflegen nachts zu exacerbieren ; ferner Gürtel-
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— 74 —
schmerz, neuralgiforme Schmerzen in den Extremi-
täten ; sie beruhen alle auf der Reizung der hinteren
Wurzeln durch die Meningitis.
2. Atrophische Lähmungen, jedoch nur ein-
zelner Muskeln, da meist nur einzelne vordere
Wurzelbündel geschädigt werden.
3. Spastische Paresen der Extremitäten (vgl.
S. 9) mit den verschiedensten Ausbreitungsgebie-
ten: Paraparesen oder Hemiplegien oder andere.
4. Blasen- und Mastdarmstörungen.
5. Sensibilitätsstörungen; häufig Parästliesieu.
6. Ataxie, nicht selten (Pseudotabes syphilitica).
Yerlaiit: chronisch. Heilung, Besserung und Stili-
st and kommon vor. Die wichtigste und häufigste Kom-
plikation ist die mit Lues ce'rebri (vgl. S. 103).
Digerentialdiagnostlsch ist wichtig, daß die Symp-
tome der Lues spinalis sehr unbeständig sind, ver-
schwinden und bald wieder auftreten können, und daß
sie meist auf mehrere Herde zurückzuführen sind. Zu
berücksichtigen sind die Myelitis, multiple Sklerose,
Rückenmarkskompressionen etc.
Von Bedeutung sind:
1. liesiduen einer erworlH'iicn Lues, z.B. Leukoderma
des Halses, Zerklüftung der Tonsillen, Knoehen-
verdickungen, Erkrankungen der Aorta etc.
2. Residuen einer coMgenitalen Lues: Iveratitis inter-
stitialis, Sehwerhörigkeit, Zahndeformitäten (Hut-
eliinsonsche Trias).
3. rntersuchung des Serums und des Liquor cere-
brospinalis.
a. Im Serum findet sich in 99% der Fälle posi-
tive Wasserniannsche Reaktion, wenn es sich
um einen nifnnals spezifisch behandelten Syphi-
litiker handelt. Bei behandelten Syphilitikern
ergibt sich trotz der manifesten Myelitis nur in
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— 75 —
VAX. 70% Fälle positive Wassermannsche
Reaktion.
({. Im Liquor cerebrospinalis ergibt sich in
ca. 90% der Fälle positive Wassermannsche
Reaktion, positive Globiilinreaktion (Nonne-
Apelt), positive Pleozytose.
Prognose: nicht ungünstig. Manclimal Heilung.
Haben die Erscheinungen längere Zeit (viele Monate)
bestanden, so sind die Aussichten ungünstiger. Rück-
fälle sind häufig. In manchen Fällen ist der Verlauf
progressiv und fühit nach einigen Monaten zum Tode
(galoppierende Syphilis).
Therapie: antisyphilitisch; Scluiiierkur (tgl. 3--5 g
unguent. hvdrarg. cinerei) und Jodkali innerlich (10,0 —
15,0 : 200,(j; 3 x tgl. 1 Eßlöffel) oder subkutane Injek-
tionen von Jodipin. Bäder: Aachen, Tölz, Wiesbaden.
Die Salvarsantherapie leistet hervorragende
Dienste, nur existiert noch kein aligemein anerkannter
Behandiungsmodus. Zu verwerfen sind subkutane und
intramuskuläre Injektionen von Salvarsan. Bei Lues
Spinalis gebe man zuerst 0,2 g Salvarsan oder 0,3 g
Neosalvarsan intravenös. Nach 14 Tagen wieder-
hole man die intravenöse Infusion mit 0,4 g Salvarsan
(= 0,6 g Neosalvarsan). Dann gebe man noch in
weilor(Mi , 14tägigen Abständen 2 — 3 intravenöse In-
fusionen zu 0,4 — 0,6 g. Nach 14tägiger Pause wäre
dann eine Quecksilberkur am Platze.
Eine besondere Form der Lues spinalis ist die
Erbsche syphilitische Spinalparalyse.
Die Symptome ähneln denen der spastischen Spi-
nalparalyse.
Yerlanf : Es entwickeln sich langsam Schwäche und
Steifigkeit der Beine, spastischer Gang, Fußklonus,
Blasenstörungen. Nicht befallen werden obere Extre-
mitäten und Hirnnerven.
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— 76 —
Pachymeningritis eerviealis hypertrophiea.
Ätiologie: meistens Syphilis; vielleicht auch Al-
koholismus.
Pathologisehe Anatomie: Verdickung der Dura
mater im Gebiete des Halsmarkes; Kompression der
Wurzeln und des Rückenmarkes selbst.
Symptome:
1. Sensible Reizerscheinungen (Kompression der hin-
teren Wurzeln): Schmerzen, Parästhesien und
Hyperästhesien im Nacken, Hinterkopf und an den
Armen, hauptsächlich im Gebiet des N. ulnaris
und medianus. Ferner Herpeseruptionen, wie bei
vielen Reizerscheinungen der hinteren Wurzeln.
Motorische Reizerscheinungen: Zuckungen, Mus-
kelspannungen etc.
2. Hypästhesie und Anästhesie in den nämlichen Be-
zirken.
3. Degenerativ-atrophische Lähmungen im Gebiet des
N. medianus und ulnaris: an den kleinen Hand-
muskeln, den Finger- und Handbeugern. Infolge-
dessen pathognomonische Handstellung: Dorsal-
flexion im Handgelenk, Streckung der Grund-,
Beugung der Mittel- und Endphalangen (Lähmung
der Interossei): „Predigerhand''.
4. In späteren Stadien kommen Symptome von selten
des Rückenmarks hinzu: spastische Paresen, Bla-
senstörungen etc.
Yerlaaf: sehr langsam; jahrelange Dauer. Still-
stand kommt vor.
Differentialdiagnoge: Spondylitis (vgl. S. 68), Mye-
litis etc.
Prognose: ernst. Heilung nicht ausgeschlossen.
Therapie: Warme Heider; galvanischer Strom; Jod-
pinselungen im Nacken.
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— 77 —
Spina bifida.
Pathologische Anatomie: Angeborene Spaltbildung
der hinteren Wirbelbogen, hauptsächlich der Lenden-
wirbel und des Kreuzbeines mit heniienartiger Vortrei-
bung des Inhalts des Wirbelkanals. Häufigster Inhalt
Arachnoidea und Cerbroepinalflüssigkeit. Uber die ver-
schiedenen Abarten siehe die Lehrbficher der Pathologie.
KrankheitsTerlauf: Die Geschwulst, die anfänglich '
ohne Symptome besteht, wächst langsam und bewirkt
Motilitäts- und Sensibilitätsstörungen der unteren Ex-
tremität, femer Blasenstörungen und Decubitus. Durch
Platzen des Sackes und sekundäre Meningitis kann der
Tod eintreten.
•
Therapie: Chirurgische Behandlung.
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Die Kraaklieiten des Gehirns.
A. Allgemeiner Teil.
L Lokalisatioii und Zentren im fieliirn*
a. Oentra der Hirnrinde:
1. Centra für willkürliche Bewegung sind Zentral-
und Parazentralwindungon : Fat ialisgebiet im
unteren Drittel, Arm in der Mitte, Bein im
oberen Teil. Beugung und Streckung einer Ex-
tremität haben getrennte Zentren.
2. Motorisches Sprachzentrum (Broca) : bei Rechts-
händern in der 3. linken Stimwindung; bei
Linkshändern umgekehrt.
3. Sensible Zentren fallen wahrscheinlich mit den
motorischen zusammen. Sie sind zugleich Sitz
des Muskelsinus und der Stereognose.
4. Sensorielles Sprachzentriini (Wernicke): linke
obero Schlälciiwindung bei Rechtshändern.
5. Zentrum für assoziierte Augen bewegung (De-
viation conjugee): Gyrus angularis.
6. Sebzentrum : mediale Seite des Occipitallappens
in der Umgebung der Fissura calcarina und dos
Cuneus; bei Zerstörung: Homonyme Hemian-
opsie (vgl. S. 38).
7. Hörzentrum: oberste Schläfenwindung.
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— 79 —
b. Stirnhirn. Es ist wahrscheinlich Sitz der affektiven
Sphäre. Bei Zerstörung: psychische Verände-
rungen, Witzelsucht (Moria) etc.
c. Zentrum semiovale enthält Associationsfasern zur
gegenüberliegenden Rinde und die zur Capsula
interna ziehenden Bahnen (Stabkranz); bei Affek-
tionen ähnliche Erscheinungen wie an der Rinde,
jedoch ohne Konvulsionen.
d. Capsula interna besitzt:
1. einen vorderen Schenkel (zwischen Nucleus len-
tiformis und Nucleus candatus).
2. einen hinteren Schenkel (zwischen Nucleus
lentiformis und Thalamus opticus).
Die wichtigsten Bahnen verlaufen im hinteren
Schenkel und zwar von vorn nach hinten gesehen :
Facialis, Hypoglossus, Pyramidenbahn (Arm vorn,
Bein hinten), sensible und sensorielle Halmen.
c. Hirnschenkel: Die Haube enthält die ungekreuz-
ten, sensiblen Bahnen, der Fuß medial die Hirn-
nerven (Oculomotorius schon gekreuzt, Facialis
ungekreuzt), lateral die ungekreuzte Pyramiden-
bahn; bei Zerstörung: Hemiplegia alternans su-
perior.
f. Pons: dorsal in der Haube liegen die Kerne und
Wurzelfasern der Gehirrmerven III -VII; A^entral
davon die ungekreuzte sensorische Bahn, davon
ventral die ungekreuzte motorische Bahn. Fa-
cialis, Abducens, Trigeminus sind schon gekreuzt:
bei Ponserkrankong Hemiplegia alternans inferior
ev. mit sensiblen Störungen etc.
g. Meduila oblougata; sie enthält dorsal die Renn»
der Gehirnnerven VIII — XII, ventral und lateral
die ungekreuzten Bahnen zwischen Gehirn und
Peripherie. Wichtige Zentren sind: das Vagus-
zentrum (für Herz und Atmung), das Brech- und
Schluckzentrum, das Regulierungszentrum für
Hamsekretion und Zuckerstoffwechsel (Glaude-
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— 80
Beriiard); hei Krkraiikung kann plötzlicher Tod
eintreten: Tumoren etc. bewirken bulbäre Er-
scheinungen (vgl. S. 101).
h. Kleinhirn; es ist das Zentrum für Gieichi^^ewii hts-
erhaltunpr. daher steht es mit allen zur Erlialtung
des Gleichgewichts nötigen Organen (Labyrinth^
Auge etc.) in Verbindung.
IL Allgemeinerseheiniuigen bei Hirnkraakheiten.
1. Bewulttseinsstöi^iiiigeii; man unterscheidet verschie-
dene Grade:
a. Apathie: der Kranke nimmt keinen Anteil an
den Vorgängen in seiner Umgebung.
b. Somnolenz (Benommenheit): der Kranke ist
leicht zu erwecken.
c. Sopor: der Kranke ist nur durch starke Sinnes-
reize zu erwecken.
d. Koma: der Kranke ist gar nicht zu erwecken;
die Reflexe sind dabei meist aufgehoben.
In den höheren Graden der Bewußtseinsstörungen
läßt der Kranke oft Harn und Kot unter sich.
Bewußtseinsstörungen kommen vor:
a. als plötzlich eintret« n d c: bei Haemor-
rhagia cerebri (Apoplexie), bei Embolie einer
Himarterie, nach Traumen (Gommotio cerebri),
im epileptischen Anfall;
b. als allmählich eintretende: bei Hirntu-
moren, Meningitis, bei schweren Infektionen,
Intoxikationen und Autointoxikationen (urämi-
sches, diabetisches Koma); bei Auaemia cerebri
(durch große Blutverluste).
2. Psychische Störungen: Stupor, Delirien etc. (vgl.
S. 151).
3. Kopfschmerz (vgl. S. 20). Bei Gehirnaffektionen
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— 81 —
entsteht der Kopfschmerz dureh Reizung der sen-
siblen Nerven der Hirnhäute infolge von:
a. akuter oder chronischer Meningitis,
b. erhöhtem Hirndruck: Tumor cerebri, Hirn-
abszeß, Hydrocephalus,
c. Zirkulationsstörungen: Anaemia und Uyper-
aemia cerebri.
4. Cerebrales Erbrechen: ist häufig mit dem Kopf-
schmerz verbunden. Um es diagnostisch zu ver-
werten, muß man selbstverständlich erst alle an-
deren Krankheiten (Magenkatarrh, Infektions-
krankheiten etc.), welche von Erbreclien begleitet
sind, ausschließen. Das cerebrale Erbrechen ist
meist ein Symptom des erhöhten Hirndrucks:
bei akuter Meningitis, Tumor cerebri, Hirnabszeß,
Commotio cerebri. Es ist charakterisiert:
a. durch die Leichtigkeit, mit der es erfolgt;
b. durch den Mangel von Begleiterscheinungen
(Magenschmerzen, Übelkeit etc.);
c. durch seine Unabhängigkeit von der Nahrungs-
aufnahme.
5. Sehwindel, Vertigo: stellt eine Störung des Gleich-
gewichtsgefühles dar. Er findet sich:
a. bei Augenmuskeilähniungen infolge der Dip-
lopie:
b. bei Ohrenaffektionen (Vertigo ex aure luesa);
bei Magenerkrankungen (Vertigo e stomacho
laesü);
c. bei Neurosen ( Hysterie, Epilepsie, Neurasthenie) ;
d. bei Großhirnaffeklionen : Tnnior, Abszeß, Ar-
terioslderose der Hirnarterien;
e. bei Kleinhimaf f ektionen : cerebellarer Schwindel.
6. Teränderangen der Herztätigkeit entstehen durch
Beteiligung des Vaguszentrums durch lokale Er-
krankung der Medulla oblongata (progressive Bul-
M y e r, Oompendtoiii der Kouiologle. 8^. Aufl. 6
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— 82 —
bftrparalyse etc.) oder durch eine Steigerung des
Himdrucks.
a. Pulsverlangsamung: entsteht durch Reizung
des Vaguszentrums infolge Himdrucksteigerung
(Meningitis, Tumor, Hydrocephalus etc.).
b. Pulsbeschleunigung: bei schwerer Schädi-
gung des Vaguszentrums (Endstadium der Me-
ningitis etc.; progressive Bulbärparalyse).
7. Schlaflosigkeit (Agrypnie): findet sich
1. bei Schmerzen, quälendem Husten etc.
2. bei Neurasthenie, traumatischen Neurosen,
Dementia senilis etc.
3. bei geistiger Überanstrengung.
8. Der Meni^resche Symptomenkomplex tritt anfalls-
weise auf bei Affektionen des Ohrlabyrinthes
(Haemorrhagien, Fraktur etc.), bei Lues, akuten
Infektionskrankheiten, Chininintoxikationen etc.
Er besteht aus:
1. Vertigo ex aure laesa (ev. vestibuläre Ataxie),
2. Ohrensausen, oft mit Schwerhörigkeit,
3. Kopfschmerz und Übelkeit.
III. Die SpraehstSrangen.
a. Artikulatorische Sprachstörungen.
Ursache: Parese. Paralyse, Zittern, Krampf, Ataxie
der Sprachmuskulatur (d. h. Lippen-, Zungen-, Kehl-
kopfmuskelii).
Anarthrie heißt die Störung, wenn die Sprache
völlig aufgehoben ist oder nur in einem unverständlichen
Lallen besteht (meist doppelseitige Sprachmuskelläh-
mung); Dysarthrie, wenn die Sprache infolge mangel-
hafter Lautbildung undeutlich ist.
imnseitige Lähmung der Sprachmuskulatur bedingt
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- 83 —
nur im Anfans Störungen, welche später wieder aus-
geglichen werden; sie finden sich bei:
1. einseitigen Affektionen der Pyramidenbahn ober-
halb der MeduUa oblongata;
2. einseitigen Affektionen der Sprachmuskelzentren
der Hirnrinde;
3. peripherer Facialis- und Hypoglossuslähmung.
Doppelseitige Lähmung der Sprachmuskulatur be-
ruht meistens auf Erkrankung der Medulla oblongata
(= Bulbus) und des Pons; sie heißen daher auch ,,bul-
bäre" Sprachstörungen. Sind die motorischen Hirn-
nervenkerne betroffen, so ist die Lähmung der Sprach-
muskeln degenerativ-atrophisch: progressive Bulbär-
paralyse, amyotrophische Lateralsklerose; seltener ist
spastische Lähmung durch beiderseitige Läsionen der
Rinde oder der Pyramidenbahn : Pseudobulbärparalyse.
Formen der artikulatorischen Sprachstörung:
1. Skandierende Sprache: bei multipler Skle-
rose (S. 71).
2. Näselnde Sprache (Rhinolalia aperta): bei Gau-
mensegeliähmung (postdiphth^ische Lähmung,
Bulbärparalyse etc.).
3. Bulbäre Sprache: je nachdem Lippen, Zunge oder
Gaumen gelähmt sind, ist die Lautbildung der L,
II. oder III. Artikulationsstelle gestört.
4. Das Stottefn ist eine rein funktionelle Störung;
beruht auf kiampfiiafteu Muskelkontraktionen,
welche die Sprachwerkzeuge in einer zur Bildung
eines Lautes erforderlichen Stellung festhalten.
5. Stammeln (Dysarthria litteralis): Störung der
Lautbildung infolge iNachlässigkeit oder Erkran-
kung des Gehirns etc.
6. Die hysterische Stummheit (Mutismus), mit nor-
maler Beweglichkeit der Zungen- und Lippenmus-
kulatur.
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^ 84 —
Prüfung der Sprache:
1. Man läßt schwere Worte nachsprechen, z. B. dritte
reitende Artilleriebrigade» Armeereorganisation,
Dampfschiffschleppschiffahrtsgesellschaft etc. Oder
man läßt den Patienten ein Gedicht hersagen
(skandierende Sprache).
2. Man prüft systematisch die einzelnen Buchstaben
durch.
b. Die a phasischen Störungen.
Aphasie ist der Verlust der Fähigkeit, den Begriff
in Wort und Sclirift oder das Gesprochene und Ge-
schriebene in den Begriff umzusetzen. Bei aphasischen
Störungen sind im großen und ganzen nur diese höhe-
ren Sprachfunktionen gestört; sie finden sich aus-
schließlich bei Erkrankungen des Großhirns.
Zur Sprachbildung kommen folgende Zentren in
Betracht.
1. Das motorische Sprachzentrum; seine Zerstörung
bewirkt motorische Aphasie bei erhaltenem Sprach-
verständnis.
2. Das sensorische Sprachzentrum, Zentrum für das
VVortverständnis und Wortklangbilder; seine Zer-
störung bewirkt sensorische Aphasie. Die Worte
werden gehört, aber nicht verstanden (Wort-
taubheit).
3. Das Zentrum für die optische Objektvorstellung:
im Occipitallappen ; seine Zerstörung bewirkt Sec-
hen blindheit. Gegenstände winden gesehen, aber*
nicht erkannt, trotz Kenntnis der Wortbezeich-
nung. Alexie nennt man den Verlust der Fähigkeit,
das Geschriebene zu lesen (Wortblindheit).
Prüfung auf Aphasie; man hat zu prüfen:
1. Das Wortverständnis: Aufforderung, sich an
die Nase zu fassen, einen Gegenstand aus meh-
reren herauszusuchen etc.
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— 85 —
2. Das Objektbezeichnen, willkürliche Spra-
che: Benennung vorgehaltener Gegenstände, An-
gabe von Alter etc.
3. Das Nachsprechen.
4. Das Objekterkennen: Andeutung, welchen
Zweck ein Gegenstand hat, durch Gebärden etc.,
z. B. Bleistift.
5. Prüfung der Schrift: Spontanes Schreiben,
Kopieren und Diktatschreiben.
Formen der Aphasie: Je nach dem Sitz des Krank-
heitsherdes gibt es verschiedene Formen der Aphasie;
es können die Zentren selbst (kortikale Aphasie) oder
die verbindenden Bahnen (transkortikale Aphasie) zer-
stört sein.
a. Kortikale, motorische Aphasie:
1. Wortverstäiidnis: erhalten.
2. Willkürliche Sprache: gestört.
3. Nachsprechen: gestört.
4. Objekterkennen: erhalten.
5. Sjpontanes Schreiben: meist gestört.
6. Diktatschreiben: meist gestört.
b. Kortikale, sensorische Aphasie:
1. Wort Verständnis: gestört.
2. Willkürliche Sprache: erhalten.
3. Nachsprechen: gestört.
4. Objekterkennen: erhalten.
5. Spontanes Schreiben: gestört.
6. Diktatschreiben: gestört.
Alltägliches (mechanisch!) kann spontan gut ge-
sprochen werden; eine Unterhaltung ist jedoch schwer
möglich. Die erhaltene, willkürliche Sprache leidet da-
durch, daß die sensorische Kontrolle fehlt; die Folgen
hiervon smd:
a. Verbale Paraphasie (sensorisch): der Ge-
brauch klangverwandter, aber falscher Worte ;
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— 86 —
ß. litterale Paraphasie (motorisch): SUhen-
stolpein: Entstdlung richtiger Worte durch
verkehrte Lauthildung (,,benser" statt
„besser").
c. Transkortikale, motorische Aphasie: beruht auf
Zerstörung der Verbindungsbalin zwischen Hör-
oder Seherinnerungsspbäre (also Begriffszentrum)
und motorischem Sprachzentrum (von eüiigen
Autoren nicht anerkannt: Bonhdffer u. a.I).
1. Wortverständnis: erhalten.
2. Willkürliche Sprache: gestört.
3. Nachsprechen: erhalten.
4. Objekterkennen: erhalten oder gestört; wenn
erhalten, so ist die verbindende Bahn von der
Hörerinnerungssphäre zum motorischen Sprach-
zentrum zerstört.
5. Spontanes Schreiben: gestört.
6. Diktatschreiben: erhalten.
d. Transkortikale, sensorische Aphasie: beruht auf
Zerstörung der Verbindungsbahn zwischen Seh-
erinnerungssphäre und Hörerinnerungssphäre.
1. Wortverständnis: gestört.
2. Willkürliche Sprache: erhalten; aber Paraphasie.
3. Nachsprechen: erhalten.
4. Objekterkennen: erhalten.
5. Spontanes Schreiben: erhalten, aber Paragra-
phie.
6. Diktatschreiben: erhalten, aber verständnislos.
Ätiologie der Aphasien:
a. Funktioneile: Schreck (Hysterie), reflektorisch
(Würmer bei Kindern), Migräne, Erschöpfungs-
zustände.
b. Toxische: akute Infektionskrankheiten (Pneu-
monie, Typhus, Scarlatina), Urämie, Carcinoma-
tose, Santoninvergiftung.
c. Organische: Blutung, thrombotische oder em-
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~ 87 —
bolische Erweichung, Abszeß, Tumor, Encepha-
litis, Meningitis tuberculosa, Trauma.
Verlauf: Ist die Schädigung der Zentren nicht zu
groß, dann bilden sich die Aphasien zurück ; der Wort-
schatz bleibt meist gestört. Viele Kranken haben trotz
Sprachunfähigkeit: .Sprechdrang. Sie wiederholen per-
severatorisch die noch erhaltenen Laute und Sätze (Lo-
gorrhoe).
IV. Störmigeii der Schrift.
1. Unter Af^raphie versteht man die Unfähigkeit zu
schreiben hei erhaltener Beweglichkeit des Armes.
Sie findet sich bei den verschiedenen Aphasien.
2. Man unterscheidet bei Störungen der Schreibbe-
wegung:
a. die ataktische Schrift: Die Buchstaben sind
verschieden groß, Rundung und Richtung sind
gestört: bei allen Koordinationsstürungen des
Armes,
b. die Zitterschrift: bei Tremor,
c. die paralytische Sehrift (bei progressiver Para-
lyse). Die Schriftzüge sind un(3rdentlich, zit-
ternd und unsicher; Wörter und Buchstaben
werden ausgelassen; im späten Stadium nur
noch unleserliches Gekritzel.
d. Graphospasmus (Schreibkrampf) ; es ist die Un-
fähigkeit länger zu schreiben. Die Schrift ist
ausfahrend, zeigt Zitterbewegung und krampf-
hafte Rundung.
Prognose: richtet sich nach dem Grundleiden. Bei
jugendlichen Personen kann die rechte Hemisphäre für
die zerstörte linke allmählich die zentralen Sprach-
funktionen übernehmen.
Therapie: richtet sich nacli dem Grundleiden; im
übrigen methodische Sprachübungen.
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B. Spezieller Teil
Die ZlrknlaflonsstSnuigeii im OeUriL
a. Die akute Hirnanämie, Synkope
(Ohnmachtsanfall) .
Ätiolos^e:
1. Schnell eintretende Blutleere des Gehirns: Blut-
verluste, Ableitung des Blutes nach anderen Or-
ganen (Sturzgeburten, plötzliche Entleerung eines
Ascites).
2. Hemmung der Blutzufuhr zum Gehirn : durch akute
Herzschwäche.
3. Krampf der kleinen Hirnarterien: durch Schreck,
Schmerz, schlechte Luft etc.
Symptome:
1. Anfänglich Bewußtseinstrübung Schwarzwerden
vor den Augen*'), dann Bewußtlosigkeit.
2. Haut blaß und kalt, oft schweißbedeckt.
3. Puls klein, beschleunigt.
4. Häufig Erbrechen.
Dauer: von einigen Minuten bis zu einer Stundo.
Prognose: im allgemeinen günstig. Ein ungünstiges
Zeichen sind allgemeine Konvulsionen, Lichtstarre der
Pupillen bei völliger Erweiterung. Selten Tod bei hoch-
gradiger psychischer Erregung.
Therapie:
1. Sofortige Horizontallagerung des Patienten mit
tiefliegendem Kopfe.
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— 89 —
Bei höheren Graden:
2. Ein Wicklung der Extremitäten von unten nach
oben.
3. Hautreize: Besprengen mit kaltem Wasser, Fara-
disation etc.
4. Excitantien: Kognak, Äther, Kampfer.
5. Einatmung von Amylnitrit, Essig etc.
b. Die chronische Hirnanämie.
Ätiologie: Chlorose, perniziöse Anämie, Leuk-
ämie etc.
Symptome: Kopfschmerz, Schläfrigkeit mit häufi-
gem Gähnen, rasche Ermüdbarkeit, Ohrensausen,
Schwindelanfälle, manchmal Schlaflosigkeit. Oft tre-
ten die Symptome besonders morgens nach dem Auf-
stehen auf.
Prognose: richtet sich nach dem Grundleiden.
Therapie: richtet sich nach dem Grundleiden.
c. Die akute Gehirnhyperämie.
Ätiologie:
1. Psychische Erregungen: Zorn etc.
2. Klimakterium: klimakterische Wallungen.
3. Neurosen: Hysterie, Neurasthenie.
4. Enge Halsbekleidung.
Symptome: Plötzliches Hoißwerdon des Gesichtes,
Gesiclit und Hals stark gerötet, Kopfschmerz, Schwin-
del, seltener Erbrechen, in schweren Fällen Bewußtseins-
störungen.
Prognose: günstig. Dauer Y2 — ^ Stunde. Sehr
selten Tod.
Therapie:
1. Hochlagerung des Oberkörpers.
2. Eisblase auf den Kopf.
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- 90 -
3. Ableitung auf die Haut (heiße Hand- und Fuß-
bäder, Senfteig).
4. Ableitung auf den Darm (Kalomel, Bitterwässer
etc.).
5. Blutentziehung: Schröpiköpfe, Aderlaß.
Haemorrhagla (Apoplexia) cerebri» Hirnblutung.
Ätiologie: Ruptur eines Gefäßes infolge Erkranlcung
seiner Wand durch Arteriosklerose oder syphili-
tische Endarteriitis. Der Ruptur geht eine miliare
Aneurysmenbildung voraus. Als auslösendes Moment
wirkt oft eine vorübergehende Blutdrucksteigerung
durch Muskelanstrengun^, opulente Mahlzeit, Defä-
kation etc. Begünstigt wird die Entstehung einer Hirn-
blutung durch dauernde Blutdrucksteigerung infolge
Hypertrophie des linken Ventrikels bei chro-
nischer Nephritis. Bevorzugt sind ältere Leute
männlichen Geschlechts. Bei vereinzelten Apoplexien
bei jugendlichen PfM'sorien handelt es sich nach den mo-
dernsten Anschauungen um eine primäre, angeborene
Blutdriicksteigerung (Hypertonie) mit sekundärer Ver-
änderung kleinster Gefäße.
Traumen können eine Apoplexie veranlassen,
ohne den Schädel selbst zu verletzen.
Pathologische Anatomie: Der Blutherd sieht je
nach dem Alter verschieden aus; frisch ist er dunkelrot,
er geht erst später in schwarz, braun und gelb bis blaß-
gelb über. Mikroskopisch sieht man zahlreiche rote
Blutkörperchen und einen Detritus zerfallener Ner-
venelemente. Dieser Detritus wird allmählich von
Körnchen Zellen aufgenommen. Schließlich bleibt eine
Narbe aus gewuchertem Gliagewebc oder eine apo-
plektisclie Cyste mit serösem Inhalt und gliöser Wan-
dung zurück.
Sits des Blutherdes: Bevorzugt ist das Corpus
striatum, speziell die Capsula interna. In Betracht
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91 -
kommt hier ein Ast der Arteria fossae Sylvii, die
Arteria strio-lenticularis, welche Streifenkörper und
Linsenkern versorgt. Begünstigt wird die Blutung
durch den rechtwinkligen Ursprung der Arterie und
dadurch, daß sie Endarterie ist.
Symptome:
a. Der apoplektische Insult (Schlaganfall): Die frische
Hemiplegie zeigt schlaffe L&hmung mit Aufhe-
bung aller Reflexe (Spasmen entwickeln sich
später).
1. Der Kranke stürzt plötzlich bewußtlos zu Boden.
2. Das apoplektische Koma: Bewußtlosigkeit;
willkOrliche Bewegungen sowie alle Empfin-
dungen sind aufgehoben; Harn und Kot werden
unwillkürlich entleert; der Puls ist gespannt
und voll. Oft findet sich konjugierte De-
viation (S. 36). Der Mundwinkel hängt herab.
Dieser Zustand dauert einige Stunden bis zwei
Tage.
b. ResMerender Zustand:
1. Spastische Hemiplegie der Extremitäten,
des Facialis und Hypoglossus der dem Blut-
herde entgegengesetzten Körperhälfte: Steige-
rung der Sehnenphänomene. Von der Läh-
mung wird nur der untere Teil der Facialismus-
kulatur betroffen (verstrichene Gesichtsfalten).
Die Zunge weicht beim Hervorstrecken nach
der gelahmten Seite ab. Die Hautreflexe
sind eigentümlicherweise meist aufgehoben;
häufig Babinski und Oppenheim.
2. Sekundäre Kontrakturen: Beugekontrak-
tur des Armes und der Finger, Streckkontrak-
tur des Beines; Spitzfußstellung. Infolge der-
selben beschreibt der Patient beim Gehen meist
mit dem Fuße einen Halbbogen: Girkumduk-
tion (S. 10).
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— 92 —
c. Begleiterscheinungen: Sitzt der Herd nahe
der Binde» so zeigen sich meist motorische
Reizerscheinungen, und zwar sowohl während
des Insultes als auch während der Narhenbildung
(postapoplektisch) :
1. Die Jacksonsche Epilepsie: Beginn mit Par-
ästhesien, dann halbseitige tonische und klo-
nische Krämpfe, welche jedoch nicht gleich-
zeitig die gelähmte Körperhälfte befallen, son-
dern hintereinander erst die Facialis-, dann die
Arm- und zuletzt die Beinmuskulatur oder auch
in umgekehrter Reihenfolge, gemäfi der Lokali-
sation in der Zentralwindung. Diese postapo-
plektische Rindenepilepsie verläuft meist ohne
Bewußtseinsverlust. Sprachstörung bei rechts-
seitigem Sitz.
2. Die Hemichorca postapoplcctica: tritt besonders
auf, wenn außer der Rinde auch die Verbin-
^ dungsbahn zwischen Cerebellum und Thalamus
opticus beteiligt ist. Es handelt sich um un-
willkürliche, schleudernde und 'zappelnde Be-
wegungen in den Gliedmaßen der betroffenen
Körperhälfte.
3. Die Hemiathetosis postapoplcctica: unwillkür-
liche, langsame Bewegungen (Knetbewegungen)
der Finger und Zehen. Auch die Hemiathetosis
deutet auf Erkrankung des oben erwähnten
Faser zuges.
Verlauf: Der apoplektische Insult kann tödlich
enden, so daß der Patient aus dorn bewußtlosen Zu-
stande nie melir erwacht. Oft kehrt das Bewußtsein
wieder, schwindet aber wieder durch eine erneute Blu-
tung.
Die Lähmung besitzt anfangs stets einen größeren
Umfang als später, vielleicht, weil die unverletzte Hemi-
sphäre teilweise vikariierend eintritt. Defekte, welche
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— 93 —
sich nach dreiviertel Jahren noch nicht ausgeglichen
haben, bleiben meist dauernd bestehen.
Bifferentialdiagnmie:
1. Gegen Embolie einer Hirnarterie: es besteht
meist ein Herzfehler.
2. Gegen Thrombose: Hier erfolgt der Eintritt
des Insultes mehr subakut, vorübergehende Schwä-
chezustände gehen voraus. Die Grundlage der
Thrombose ist meist syphilitische Endarteriitis.
3. Gegen die apoplektiformen Anfälle bei multip-
ler Sklerose (S. 71) und Dementia para-
Ivtica: hier müssen die Anamnese und der wei-
tere Verlauf entscheiden.
4. Gegen akute Morphium Intoxikation: die Pu-
pillen sind ad maximum verengt.
0. Gegen das urämische Koma: bei beiden Affek-
tionen ist Albuminurie vorhanden. Diese ent-
scheidet also nicht. Für Urämie sprechen Üdeme,
Konvulsionen, Amaurose, Erbrechen etc.
6. Gegen hysterische Schlaf zustände: die Re-
flexe sind erhalten, Babinski fehlt. Die hysteri-
sche Hemiplegie verschont das Facialis- und
Hypoglossusgebiet, C^remaster- und Bauchrefiex
sind meist erhalten, beim Gehen wird das Bein
einfach (ohne Zirkumduktion) nachgezogen. Außer-
dem finden sich meist noch andere hysterische
Zeichen.
Prognose: Eine ungünstige Vorbedeutung haljca
laiigdauerndes Koma, beträchtliches Absinken oder
Steigerung der Temperatur. Im übrigen vgl. Verlauf.
Therapie: Im Insult wird der Kranke vorsichtig in
horizontale Lage mit leicht erhöhtem Kopfe gebracht
unter Vermeidung eines längeren Transportes. Bei
kräftigem Pulse Aderlaß. Eisblase. Sorge für regel-
mäßige Stuhlentleerung; Verhütung von Decubitus.
Gegen die restierende Hemiplegie: nach Ab-
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— 94 —
lauf einiger Wochen passive Bewegungen, Elektrizität,
Massage etc.
Tumor cerebri.
Ätiologie: unbekannt. Das Trauma soll eine Rolle
spielen.
Pathologische Anatomie: Die häufigsten Geschwulst-
arten des Gehirns sind:
1. das Gliom: langsames, infiltratives Wachstum;
meist in der Einzahl;
2. das Sarkom: entwickelt sich meist von den Me-
ningen und vom Schädel aus; es wächst rasch;
meist in der Einzahl;
3. das Syphilom (Gummigeschwulst): geht meist
von den weichen Hirnhäuten aus; sprunghaftes
Wachstum mit regressiven Metamorphosen; meist
in der Mehrzahl.
4. der Solitärtuberkel: bevorzugt Hirnrinde,
Brücke und Kleinhirn; meist in der Mehrzahl;
Wachstum verschieden rasch;
5. das metastatische Garcinom (primäres Gar-
einem meist in der Mamma, den Lungen): wächst
sehr schnell; oft multipel;
6. Gysticerken und Echinokokken.
7. Hypophysengeschwülste. Meist Adenome.
Einfluß des Tumors auf das Gehirn: Die
Gyri werden abgeplattet, die Sulci verstreichen. Tu-
moren des Ivleinliirns und der Vierhügelgegend bewirken
Kompression tler Vena magna Galeni, dadurch ve-
nöse Stauung und vermehrte Transsudation in die Ven-
trikel: Hydrocephalus internus acquisitus..
Symptome:
a. Die Symptome der allgemeinen Himdraeksteige-
ning:
1. Kopfschmerz: Äußerst heftig und anhaltend;
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— 95 —
manchmal ist der Schädel in der Gegend des
Tumors beim Beklopfen empfindlich.
2. Stauungspapille: meist doppelseitig; oft geht
ihr eine Neuritis optica voraus.
3. Druckempfindlichkeit der Trigeminus-
austrittsstellen.
4. Erbrechen und Schwindel: besonders bei
Tumoren der hinteren Schädelgrube.
5. Bradykardie (Pulsverlangsamung).
6. Benommenheit und psychische Stö-
rungen.
7. Echte epileptische Anfälle.
b. Herdsymptome:
1. Jacksonsche Rindenepilepsie: bei Tu-
moren, welche die Hirnrinde beteiligen.
2. Monoplegien: bei ebensolchen Tumoren.
3. Hemiplegie: bei Beteiligung der Capsula in-
terna.
4. Hemiplegia alternans: bei Beteiligung eines
Hirnschenkels.
5. Aphasion: bei Beteiligung des linken Stirn-
resp. Schläfenlappens.
6. Störungen der Stereognose: bei Beteili-
gung der hinteren Zentralwindung.
7. CJerebellare Ataxie: bei Sitz im Kleinhirn.
8. Hemichorea und Hemiathetose: bei Be-
teiligung der großen Gehirnganglien.
d. Nackenstarre und Genickschmerzen: bei
Kleinhimtumor.
10. Beteiligung der Gehirnnerven: bei ba-
salem Sitz.
Verlauf: chronisch, Dauer 1—4 Jahre. Oft bleiben
die Tumoren lange latent, besonders bei Sitz im Stirn-
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— 96 —
läppen. Durch Blutung in den Tumor (Ix.'sonders bei
Gliom) kann eine apoplexieähnliche Verschlimmerung
eintreten. Alhnählich nimmt die Somnoienz bis zum
tödlichen Koma zu.
Differentialdiagnose hat zu berücksichtigen: De-
mentia paralytica, multiple Sklerose, Hirnabszeß, um-
schriebene Meningitis. Die Unterscheidung ist meist
leicht. Wassermannsche Reaktion!
Prognose: ungünstig; nur bei den syphilitischen
Geschwülsten relativ günstig. Spontanheilung ist bei
Echinokokkus möglich.
Therapie: In jedem Falle antisyphilitische The-
rapie: Schmierkur (4 — 6 g pro die) und Jodkalium;
bei negativem Erfolge und peripherem Sitze ist eine
Operation in Erwägung zu ziehen. Zur Druckent-
lastung bei inoperablen Tumoren:
1. Lumbalpunktion kann lebensgefährlich werden bei
gering dauerndem Erfolg; desgl. Ventrikelpunk-
tion.
2. ßalkenstich nach Anton-Bramann bewirkt
vorübergehende Milderung der Himdruckerschei-
nungen.
3. Entlastungstrepanation unter dem M. temporalis
oder unterhalb des Kleinhirns.
Gegen den Kopfschmerz Narkotika (Morphium etc.),
Ableitung auf den Darm, heiße Fußbäder etc.
Der Hirnabsceß.
Ätiologie:
1. traumatisch: von einer infizierten Schädel-
wunde aus.
2. otitisch: im Anschluß an Mittelohreiterung oder
an Eiterung (Karies) im Warzenfortsatz des Schlä-
fenbeins; die Verschleppung der Eitererreger nach
dem Gehirn vermittem Lymphbahnen, throm-
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97 —
bosierte Venen oder die Scheiden der basalen Hirn-
nerven.
3. rhinogen: bei Eiterung in der Nasenhöhle^ oder
deren Nebenhöhlen; die Verischleppiing geschieht
ebenso wie bei der otitischen Genese.
4. metastatische (embolisch^ durch die arterielle
Blutbahn): bei putrider Bronchitis, Lungenabszeß,
Endocarditis ulcerosa.
Pathologische Anatomie:
1. Zahl und Größe der Eiterherde: die traumatisclien,'
otitischen und rhinogenen Abszesse sind meist soli-
tär und groß; die metastatischen multipel und
klein.
2. Sitz der Eiterherde : die traumatischen sitzen meist
in der Nähe der Verletzung, die otitischen im
Schläfen läppen oder im Kleinhirn, die rhinogenen
im Stirnlappen, die metastatischen im Gebiet der
Arteria fossae Sylvii.
3. Beschaffenheit der Eiterherde: Im Eiter findet sich
der Streptococcus und Staphyloccoccus })yogcnes,
der Tuberkelbazilhis, der Pneumococcus und an-
dere. In der Umgebung frischer Herde findet sich
gelbes Ödem, ältere Herde können sich ab-
kapseln.
Symptome:
a. Allgemeinsymptome:
1. Fieber: in vielen, besonders akuten Fällen.
2. Schüttelfröste.
b. Hirndrucksymptome (vgl. S. 94): Kopf-
schmerz, Erbrechen, wirkliche Stauungspapille
selten etc.
c. Herdsymptome (vgl. S. 95).
Verlauf: sehr verschieden ; manchmal in kurzer Zeit
tödlich; oft findet sich ein monate- oder jahrelanges
Latenzstadium : schließlich erfolgt der todbringende
Mayer, Com^udium 4e( Keiuologie. 3.-5. Aufl. 7
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- 98 -
Durchbrach in die Gehirnventrikel oder in die Me-
ningen.
Differentlaldia^ose :
1. Gegen Hirntumor: Für Abszeß sprechen Fieber,
Schüttelfröste und das Bestehen der besagten
ätiologischen Momente (Otitis etc.); Stauungs-
papille seltener als bei Tumor.
2. Gegen Meningitis purulenta (vgl. S 106).
Prognose: im ganzen ungünstig. Nicht selten
bringt die Operation (Trepanation) Heilung; sonst töd-
licher Ausgang.
Therapie: Wenn möglich, Entleerung des Eiters
durch chirurgische Maßnahmen; sonst wie beim Hirn-
tumor (vgl. S 94).
Der idiopathische Hydrocephalus.
Der Wasserkopf.
Ätiologie: unbekannt; meist angeboren. Syphilis
und Alkoholismus der Eltern spielen vielleicht eine Rolle.
Pafhologisehe Anatomie:
1. Ansammlung zu großer Mengen von Cerebrospinal-
flüssigkeit in den Himventrikeln (Hydrocephalus *
internus) und im Subarachnoidalraum (Hydroce-
phalus externus).
2. Infolge des Drucks starke Verdünnung der Hirn-
Substanz, Abplattung der Gyri und Sulci.
3. Schädelumfang enorm vermehrt; Schädelknochen
verdünnt. Nähte und Fontanellen erweitert und
abnorm lange offen. Prominenz der Stirn- und
Scheitelbeine, Herabdrängung des Orbitaldaches
und der Augen.
Symptome:
1. Perkussion: Schettern. Druckempfindlichkeit der
Nähte.
2, Die Veränderungen des Schädels (s. oben).
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— 99 —
3. Cerebrale Symptome: geistige Schwäche (Idiotie,
Imbecülitftt); spastische Lähmungen; manchmal
Stauungspapille oder Neuritis optica; seltener Er-
brechen und Konvulsionen.
4. Sonstige körperliche Symptome: Stillstand des
Wachstums, Fettsucht, Zurückbleiben der Geni-
talentwicklung; sie alle sind bedingt durch Hypo-
physenpressung.
Verlauf: Der Hydrocephalus kann schon intra-
uterin bestehen und dann ein schweres Geburtshindernis
abgeben. Oder er entwickelt sich in den ersten Wochen
und Monaten nach der Geburt. Der Tod erfolgt in der
frühesten Kindheit, es kann aber auch ein ^ter von
2 — 3 Dezennien erreicht werden.
Diff erentialdiaguose :
1. gegen Rachitis: hier fehlen Hirnsymptoine ;
2. gegen sog. erworbenen Hydrocephalus (durch Tu-
mor, Meningitis etc.).
Prognose; schlecht.
Therapie: Punktion der Hirnventrikel und Lumbal-
punktion bringen vorübergehenden Erfolg. Im übrigen
Ableitung auf die Haut (Jodtinktur) und auf den Darm
(Kalomel).
Hemiplesria siiastica infantilis.
Cerebrale Kinderlähmung.
Ätiologie:
1. Kongenital: intrauterin bestehend oder durch Ge-
burtstrauma herbeigeführt.
2. Infektionskrankheiten: besonders Masern und
Scharlach; in diesen Fällen entsteht die Affektion
durch Encephalitis (Gehirnentzündung), nieist im
1. — 4. Lebensjahre.
Pathologische Anatomie:
a. In frischen Fällen (Sitz in der motorischen Zone):
• «'•••t ' ••••'* rf', * * • tu»
»••' > J»>
Digiiizea by CjOO^lc
100 —
1. Hämorrhagien (nach Geburtstraumen).
2. Embolische und thrombotische Erweichungen.
3. Encephalitische Herde der Rinde.
b. In älteren Fällen (Restierende Veränderungen):
1. Narben aus Gliagewebe.
2. Cysten (vgl. S. 90).
3. Poren cep ha lie: lochartige Rindendefekte.
4. Diffuse lob äre Sklerose: Atrophie und gliöse
Induration einer ganzen Gehirnhemisphäre oder
mehrerer Gyri.
5. Absteigende Degeneration der Pyramidenbahn.
Symptome:
a. Initialstadium bei infektiöser Grundlage
(Dauer: ein bis mehrere Tage): Fieber, Erbrechen,
Konvulsionen.
b. Bleibender Zustand:
1. Hemiplegie: anfangs schlaff, später spa-
stisch; in Gesicht, Arm und Bein.
2. Motorische Reizerscheinungen: Kloni-
sche Zuckungen, athetotische Bewegungen in
Fingern und Zehen (vgl. S. 92).
3. Intelligenzdefekte (ImbecilUtät etc;).
4. Echte Epilepsie (vgl. S. 126) und Rinden -
epilepsie (vgl. S. 92).
Verlauf: Nachdem die Konvulsionen einige Tage
gedauert haben, bildet sich die halbseitige Lähmung aus;
nach einigen Wochen kann die Beweglichkeit im Bein
bis zu gewissem Grade wiederkehren. Später stellen
sich häufig Kontrakturen ein, verbunden mit Wachs-
tumsstörungen. Die epileptischen Anfälle schließen sich
gewöhnlich nach einem Jahre an.
Dif f erentialdiaguose :
1. Gegen Poliomyelitis anterior acuta: hier
ist die Lähmung nicht spastisrh, sondern degene-
rativ-atrophisch; der Facialis ist nie beteiligt.
: - - •
Digiiizea by Google
— 101 —
2. Gegen andere Hemiplegien (apoplektische etc.):
durch die Anamnese.
Prognose: nicht ungünstig. Es kann ein sehr hohes
Alter erreicht werden.
Therapie: Im Initialstadium Eisblase auf den Kopf,
Antipyretica; später Elektrizität, passive Bewegungen,
Massage, Übungstherapie.
Diplegia spastica infantilis,
Ätiologie:
1. Frühgeburt mit fortdauernder Entwicklungshem-
mung der Pyramidenbahnen: Littlesche Krankheit.
2. Geburtstraumen, welche doppelseitige Meningeal-
bhitungen verursachen: Gowerssche Lähmung«
3. Doppelseitige encephalitische Prozesse.
Pathologische Anatomie: wie hei der Hemiplegia
spastica infantilis, nur doppelseitig.
Symptome:
1. Spastische Paraparese oder Paraplegie der Beine
und der Arme, manchmal nur der Beine. Charak-
teristische Beinstellung: Spitzfußstellung, an-
einander adduzierte Oberschenkel.
2. Choreatische und athetotische Bewegungen.
3. Intelligenzdefekte.
Differentialdiagnose, Prognose, Therapie vgl. spa-
stische Spinalparalyse. Eventuell kann die Durch-
schneidung hinterer Rücken markswurzeln versucht
werden (Foerstersche Operation).
Die progressive Bulbärparalyse.
Ätiologie: unbekannt; Beginn im 5. und 6. De-
zennium.
Pathologische Anatomie: Degeneration der bei-
derseitigen motorischen Hirnnervenkerne in
der MeduUa oblongata (= Bulbus) und im Pens,
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also der Kerne des Facialb^ Glossopharyngeus, Vago-
accessorius und des Hypoglossus, seltener des motori-
schen Trigeminus. Die Erkrankung ist demnach das
Analogon zur progressiven spinalen Muskel-
atrophie (vgl. S. 54), yrie ja auch die Hirnnervenkerne
den Vorderhornganglien entsprechen.
Die Symptome: sind diejenigen einer symmetrischen
degenerativ-atrophischen Lähmung der Zungen-,
Gaumen-, Schlund-, Kehlkopf- und Lippenmuskulatur.
a. Die Lähmung der Zungenmuskulatur be-
wirkt :
1. Atrophie und mangelhafte Beweglichkeit der
Zunge.
2. Sprachstörung (Dysarthrie und schließlich An-
arthrie): die Worte werden undeutlich und ver-
waschen ausgesprochen, da die Zungenlaute (r,
g, t etc.) k^iden.
3. Mangelhaftes Schlucken und Kauen.
b. Die Lähmung des Gaumensegels bewirkt:
1. Herabhängen des Gaumensegels und dadurch
mangelhaften Abschluß des Nasenrachenrau-
mes; daher regurgitieren Flfissigkeiten beim
Schlucken durch die Nase.
2. Näselnde Sprache.
c. Die Lähmung der Schlundmuskulatur be-
wirkt: Schlingbeschwerden (Dysphagie), es kann
zu Fehlschlucken und in dessen Gefolge zuSchluck-
pneumonie konnnen.
d. Die Lähmung der Kehlkopfmuskulatur be-
wirkt: Stimmbandlähmung und dadurch Heiser-
keit und Aphonie; durcli Unfähigkeit des Glottis-
verschlusses Störungen beim kräftigen Husten;
Aspiriertes kann nicht ausgeworfen werden.
e. Die Lähmung der Facialismuskulatur, und
zwar meist nur der unteren, bewirkt:
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1. Atrophie der Lippen.
2. Maskenartigen Gesichtsausdruck.
3. Unmöglichkeit des Pfeifens, Mündspitzens etc.
4. Abfließen des Mundspeichels.
5. Mangelhafte Bildung der Labiallaute (p, f und
0, e, u etc.).
f. Zunahme der Pulsfrequenz (vgl. S. 82).
Verlauf: langsam progressiv; Dauer 1 — 3 Jahre.
Beginn mit Artikulationsstörungen. Tod durch Inani-
tion, Schluckpneumonie oder Asphyxie (terminale Va-
guslähmung).
Ditterentialdiagnose:
1. Hämorrhagien, »Thrombosen etc. der Medulla füh-
ren auch zu bulbären Erscheinungen, beginnen
jedoch akut und befallen die langen Bahnen.
2. Tumoren machen meist außer Sensibilitätsstö-
rungen, Augenmuskel- und Extremitätenläh-
mungen.
Prognose: ungünstig.
Therapie :
1. Gegen den Spoichelfluß Atropin (0,0005 g);
2. gegen die Schlinglähmiing galvanische Aiishksung
von Schluekbewegungen ; eventuell Ernährung
durch die Schlundsonde.
Lues eerebrl.
M e Ii i ü g o e n r e p h a 1 i t i s syphilitica.
Ätiologie: konstitutionelle Syphilis: Auftreten meist
innerhalb der ersten fünf Jahre nach der Infektion.
Pathologische Anatomie:
1. Endarteriitis syphilitica, besonders an den
basalen Hirnarterien; als Folgeerscheinung Er-
weichungen in der Hirnsubstanz (Encephaloma-
lacie).
2. Syphilome (Gummigeschwülste) im Hemisphä-
renmarke.
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3. Gummöse Meningitis, meist an der Basis
cerebri, manchmal aber auch an der Konvexität.
Die sulzigen Schwarten ziehen mit Vorliebe das
Chiasma opticum und die Augenmuskelneryen in
Mitleidenschaft; öfters Übergreifen der Entzün-
dung auf das Gehirn.
Die Symptome sind durch ihre Unbeständigkeit
ausgezeichnet.
a. Allgemeinsymptome (Driicksymptome):
1. Kopfschmerz mit nächtlicher Exacerbation,
2. Erbrechen, Schwindel und Bewußtseinsstö-
rungen.
b. Herdsymptome:
1. bei basaler gummöser Meningitis: Lähmung ba-
saler Himnerven, besonders der Augenmuskel-
nerven (vgl. S. 35—37): Pupillenstörungen, Pu-
pillenstarre auf lichteinfall und Konvergenz,
bitemporale Hemianopsie (Ghiasmaer-
krankung), Strabismus, Amblyopie etc. Oph-
thalmoskopisch häufig Neuritis optica und
Stauungspapille.
2. Bei Ergriffensein der Gehirnkonvexität : Rinden-
epilepsie, Monopl^e, Hemiplegie, Aphasie etc.
3. bei Endarteriitis syphUitica: häufige Insulte mit
Hemiplegien (plötzliche Gefäßverstopfung).
c. Psychische Symptome sind meist vorhanden: In
telligenzdefekte, Unlust und Unfähigkeit zu an-
strengender Denktätigkeit, Reizbarkeit.
Verlauf: Chronisch; mit Remissionen und Exacer-
bationen. Manchmal plötzliche Verschlimmerung, die
zu Koma und Tod führt. Meist besteht Komplikation
mit Myelomeningitis luetica (vgl. S. 73).
Ditferentialdiagnose: Der Nachweis von Luesre-
siduen und der Ausfall der serologischen Untersuchung
(vgl. S. 74) sind wichtig.
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105 -
1. Gegen echte Tumoren; hierbei sind die Symptome
konstant, meist Stauungspapille.
2. Gegen progressive Paralyse. Sie führt zum voll-
ständigen Zerfall der Persönlichkeit. Die Lues
cerebri hat keine Sprachstörungen.
Prognose: nicht ungünstig, besonders bei recht-
zeitiger Therapie. Bestehen nur spezifische Verände-
rungen und noch keine Folgezustände (Atrophie, Er-
weichung etc.), so ist völlige Heilung möglich. Die Nei-
gung des Leidens zu Rückfällen trübt die Prognose.
Therapie: antisyphilitisch; Jodkali und Schmierkur.
Im übrigen Elektrizität, Massage, Hydro-, Balneothera-
pie etc. Über Salvarsantherapie vgl. S. 75.
Pachymenlngitis haemorrhagrica interna.
Ätiologie: Alcoholismus chronicus, Dementia
paralytica und senilis, haeniorrhagische Diathese, chro-
nische Herz- und Nierenaffektionen. Männer erkranken
häufiger als Frauen.
Pathologische Anatomie: Auf der Innenfläche der
Dura befinden sich geschichtete Membranen, die
jüngsten (zu innerst) sind noch fibrinös, de älteren
aus derbem Bindegewebe. Zwischen den Lamellen be-
finden sich Bhitsäcke, Durhaematome, wx^che die
Größe einer Faust erreichen können; sie sitzen meist
an der Konvexität. Das Gehirn ist komprimiert.
Symptome:
1. Apoplektischer Insult: bei raschem Bluterguß.
2. Motorische Reizerscheinungen: bei langsamem
Bluterguß; epile{)tische Krämpfe etc.
3. Lähmungen: Hemiparesen, Deviation conjuguee
etc.
4. Drucksymptome: Kopfschmerz, Schwindel, Er-
brechen.
Verlauf: Das Koma kann plötzlich oder allmählirli
eintreten ; oft hellt es sich auf, um sich bald wieder zu
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vertiefen. Der Tod tritt in kurzer Zeit oder auch nach
längerem Bestehen ein; er kann in jedem Anfall er-
fol^n. Rezidive sind häufig.
Difterentialdiagnose: gegen Apoplexie (vgl. S. 90)
häufig unmöglich; nur die Wiederholung der Anfälle
spricht für Pachymeningitis.
Prognose: vgl. Verlauf.
Therapie: wie bei Apoplexie (vgl. S. 93); eventuell
operative Entfernung des Hämatoms.
Leptomeningitis acuta.
Die akute Entzündung der weichen Hirnhäute.
Wir müssen drei Formen unterscheiden:
1. Leptomeningitis acuta purulenta.
2. Meningitis cerebrospinalis epidemica.
3. Meningitis tuberculosa.
Ätiologie:
a. Entzündungsherde der Nachbarschaft; die Ver-
schleppung der Infektionserreger erfolgt direkt,
durch die Lymphbahn oder die venöse
Blut bahn (Thrombophlebitis und Sinusthrom-
bose) :
1. infizierte S( hädoKvunden;
2. Erysipel der Kopfhaut;
3. Otitis purulenta und Karies des Felsenbeins;
4. Eiterungen in den Nasen-, Augen- und Stirn-
höhlen;
5. Hirnabszeß (vgl. S. 96).
b. Metastatische (arterielle) Verschleppung der
Entzündungserreger :
1. Tuberkulose:
2. akute Infekliün>krankheiten : Pneumonie, Ty-
phus, ulceröse Endokarditis, Influenza, Pyäniie
etc.
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~ 107 -
c. Primäre Infektion der Meningen: bei der epi-
demischen Cerebrospinalismeningitis. Die Ein-
gangspforte bildet meist die Rachentonsille.
Patbologigehe Anatomie:
a. Bakterienbefund: In dem Liquor cerebrospinalis
und dem Exsudat der Meningen finden sich Strep-
tokokken, Staphylokokken, Pneumokokken, der
Meningoeoccus intracellularis (besonders bei der
epidemischen Form) und der Tuberkelbazillus.
b. Anatomische Veränderungen:
1. Die tuberkulöse Meningitis:bevor2ugt die
Gehirnbasis; es findet sich:
a. Serös-f ibrinöses Exsudat in den weichen Hirn-
häuten ;
ß, miliare Tuberkel in der Umgebung der ba-
salen Hirnarterien und der Arteria fossae
Sylvii;
y, entzündlicher Hydrocephalus internus (vgl.
S. 98) durch Exsudation in die Hirnventrikel.
(5. öfters zeigt das Gehirn Tuberkel, Hundzellen-
infiltration, kapillare Blutungen.
2. Die übrigen Meningitiden : bevorzugen die Kon-
vexität; es finden sich:
a. eitriges Exsudat in den weichen Hirnhäuten;
ß, entzündlicher Hydrocephalus internus.
y. Ergriffensein der Rückenmarkshäute bei der
epidemischen Form.
Symptome:
a. Initiale Reizerscheinungen (Hirndrucksymp-
tome) :
1. Kopfsohmerz und Nackenschruerz.
2. Bewußtseinstrübung (Delirien etc.).
3. Erbrechen und Schwindel.
4. Puls: im Beginn verlangsamt (Vagusreizung),
später beschleunigt (Vaguslähmung).
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5. Die Nackßnstarre und die Starre der übrigen
Körpermuskulatur (Opisthotonus); Kernig-
sches Symptom: die gebeugten Unterschenkel
leisten der passiven Streckung Widerstand.
Das Abdomen ist ,,kahnförmig eingezogen".
6. Steigerung der Roflexe.
7. Hyperästhesie der Haut.
8. Zuckungen und Konvulsionen (Rindenreizung):
Tr Ismus (vgl. S. 5), Gesichtszuckungen etc.
b. Lähmungserscheinungen:
1. Lähmung basaler Hirnnerven (besonders bei der
tuberkulösen Form): Augenmuskellähmungen
{Ptosis, Strabismus, Pupillenstörungen), Fa-
cialislähmung.
2. Rindenlähmung: Monoplegien, Hemiplegien,
Aphasie, Hemianopsie.
3. Retentio oder Incontinentia urinae et alvi.
c. Fieber: meist remittierend.
d. Ophthalmoskopischer Befund: häufig Neu-
ritis optica; Ghorioidealtuberkel bei tuberkulöser
Meningitis.
e. „Cri hydrenc^phalique": plötzliches Aufschreien
in der Somnolenz bei der kindlichen, tuberkulösen
Form.
Verlauf:
a. Tuberkulöse Meningitis: Beginn meist schiei-
chend; tagelanges Prodomalstadiiim mit Kopf-
sciiinerz, Schwindel etc.; später BewuBtseinstrü-
bung; Dauer meist 2 Wochen; Ausgang fast immer
tödlich durch Vaguslälimung und Lähmung des
Atmungszentrums.
b. Die übrigen Formen: Beginn plötzlich; auf die
Beiz- folgen schnell die Lähmungserscheinungen.
Der Tod kann schon nach einigen Stunden ein-
treten; häufig dauert die Erkrankung zwei Wochen
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und länger; besonders die epidemische Form kann
sich über Monate erstrecken.
Differentialdiagnose: Für die Differentialdiagnoso
ist die Lumbalpunktion (Quincke) von besonderer
Wichtigkeit (vgl. S. 39), da sich in dem durch sie ge-
wonnenen Liquor cerebrospinalis bei Meningitis reich-
liche Leukocyten und Bakterien finden.
a. Unterscheidung von anderen Erkrankungen:
1. Hirnabszeß;
2. Typhus und Pneumonie;
3. Otitis acuta purulenia;
4. Urämie: hier bestehen Albuminurie, Ödeme etc.
b. Unterscheidung der einzelnen iMeningitisformen :
1. Für die epidemische Form sprechen: das Be-
stehen einer Epidemie, Herpes labialis, früh-
zeitiges Eintreten der Nackenstarre.
2. Für die tuberkulöse Form sprechen: schleichen-
der Beginn, kindliches Alter, basale Hirnnerven-
lähmung, Chorioidealtuberkel, Tuberkulose an-
derer Organe.
3. Für die anderen (sekundären) Formen spricht
das Bestehen von Entzundu ngsherden ( vgLÄtio-
logie).
Prognose: schlecht bei der tuberkulösen und sekun-
dären Form; bei der epidemischen Form ist Heilung
nicht selten (50% der Fälle); jedoch bleiben häufig Sch-
und Hörstörungen, Lähmungen, Intelligenzdefekte etc.
zurück.
Therapie: Eisblase auf den Rupf: Ableitung auf
den Darm; Einreibung von grauer Salbe in die Nacken-
gegend; Narkotika. Lumbalpunktion schafft vorüber-
gehende Erleichterung.
Commotio cerebri.
Ätiologie: Trauma (Fall auf den Kopf etc.).
fatholo^che Anatomie: Meist negativer Befund;
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110 -
die wichtigsten Theorien zur Erklärung der Erschei-
nungen sind:
1. Molekulare Alterationen der Gehimsubstanz.
2. Mikroskopische Blutungen und Erweichungen in
der Richtung des Stoßes.
3. Mäßige Vermehrung des Liquor cerebrospinalis.
Symptome:
1. Bewußtlosigkeit.
2. Erbrechen.
3. Spontaner Urin- und Stuhlabgang.
4. Zirkulations- und Respirationsstörungen.
5. Nach Rückkehr des Bewußtseins: völlige Amnesie
für die Vorgänge vor (retrograd) und während des
UnfaUs.
6. Öfters Albuminurie und Glykosurie.
Verlauf: Dauer des Komas einige Stunden bis
2 Tage; in anderen Fällen Tod im Koma. Die Symptome
klingen allmählich ab. Recht häufig schließen sich
Kommotionspsychosen und Lähmungen an.
Differentialdiagnose :
1. Gegen Gommotio spinalis: hierbei keine Bewußt-
seinsstörung, häufig Anästhesien und Paraplegien.
2. Gegen Contusio cerebri (Hirnquetschung): hier
stehen die Symptome einer lokalen Hirnläsion im
Vordergrund.
3. Gegen Chok: man versteht darunter die durch
heftige Erregung des Nervensystems hervorge-
brachte Hemmung der Organ- und Gewebsfunktion
(Gefäßsystem, Atmung etc.) infolge eines mehr
oder minder heftigen Traumas. Die Erinnerung an
den Unfall ist erhalten.
Prognose: Langdauerndes Koma ist ein signum
mali ominis; sonst quoad vitam nicht ungünstig.
Therapie: Ruhe, heiße Kataplasmen an die Füße;
eventuell Kampfer etc.
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Die Krankheiten der peripiieren Nerven.
I. Die Neuritis.
NerrenentzOnduiisr*
Ätiologie:
1. Idiopathische oder rheumatische Neuritis: durch
sogen. Erkältung*'.
2. Seiiundäre Neuritiden:
a. Traumatische Neuritis: Direkte Verwundung
des Nerven, Druck auf den Nerven durch Ge-
schwülste, Knochenkallus, Halsrippen, Ope-
rationstisch hei Narkosen, dislozierte Gelenk-
und Knochcnteilo bei Frakturen und Luxatio-
nen, wiederholte Komprossion dos Nerven
(Krückenlähmung, professionelle Paresen hei
Büglerinnen etc.).
h. Toxische:
a. chronische Intoxikationen durch exogene
Gifte: Blei, Alkohol, Arsenik etc.; hierher ge-
hört auch die akute Fleischvergiftung (Bo-
tulismus) :
ß. Autointoxikationen: Diabetes, Gicht, Ka-
chexie.
c. Infektiöse: Diphtherie, Typhus, Influenza,
Puerperalfieber; die Syphilis erzeugt gummöse
Infiltration des Nerven.
Pathologische Anatomie: Die Entzündung kann
das Peruieurium (Perineuritis)^ das interstitielle Gewebe
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(interstitielle Neuritis) und die Nervenfasern selbst
(parenchymatöse Neuritis) ergreifen.
a. Perineuritis: Erst Rötung und Schwellung,
später seröse Transsudation und entzündliche In-
filtration des Perineuriums. Schließlich erfolgt
fibröse Induration des Perineuriums, welche zu
knotenförmigen Auftreibungen des Nerven,- Neu-
ritis nodosa, führen kann.
b. Neuritis interstitialis: dieselben Verände-
rungen im Zwischengewebe des Nerven.
c. Neuritis parenchymatosa: Degenerative Atro-
phie des Nerven; sie erfolgt sekundär durch den
Druck und die Ernährungsstörungen, -welche von
der Perineuritis und der interstitiellen Neuritis be-
dingt sind, oder primär. Die Veränderungen sind
dieselben wie bei der Durchschneidung eines Ner-
ven: die Markscheide zerfällt in Schollen und Ku-
geln ; dann quillt uiid zerfällt der Achsenzylinder,
während die Kerne des Neurilemms sich vermehren.
Als Regol ist anzusehen: Der motorische Nerv
erkrankt leichter als der sensible.
Lokalisation:
a. Mononeuritis: Neuritis eines einzelnen Nerven.
b. Polyneuritis oder multiple Neuritis: Neuritis
melurerer Nerven; je nach der Natur der Noxe
werd^ verschiedene Nervengebiete betroffen; so
bevorzugt die Bleilähmung das Radialisgebiet,
ebenso die Schlaflähmung (beim Rausch oder har-
ter Unterlage) durch Druck des Nerven gegen den
Humerus, die Diphtherielähmung die Augenmus-
keln, die Typhuslähmimg den N. ulnaris etc.
Symptome:
a. Sensibilitätsstörungen:
1. Schmerzen im Verlaufe des Nerven: infolge
der Erkrankung der Nervi nerygrum im intei"'
stitieilen Gewebe,
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2. Druckemp find lieh keit des Nervenstammes;
spindelförmige Anschwellungen dos Ner-
ven sind bei Neuritis nodosa zu palpieren. *
3. Parästhesien: nur im Beginn.
4. Hyperästhesien: nur im Beginn.
5. Hypästhesien und Anästhesien: im wei-
teren Verlauf; fehlen jedoeli häufig.
b. Motilitätsstörungen mit den Zeichen der degene-
rativ - a 1 1' o p h i s c h e n Lähmung:
1. Paresen und Paralysen mit Muskt^lalropliie.
2. Sehnen reflexe herabgesetzt oder aufgehuben.
3. Elektrische Entartungsreaktion.
c. Trophische Störuns^en der Haut: Herpes zoster,
Ausfall oder Ergrauen der Haare, Glanzhaut (glossy
skin), Haarausfall, Nagelveränderungen etc.; je-
doch nicht häufig.
d. Koordinationsstörungen (Ataxie): besonders bei
Polyneuritis.
e. Selten Respirationsstörungen etc. durch Affek-
tionen des N. vagus oder phrenicus.
Verlauf: Die akute Neuritis kann in wenigen Wo-
chen abheilen ; häufig jedoch geht sie in eine cl^onische
Neuritis über.
Prognose: günstig bei akuter Entstehung, rheuma-
tischer und infektiöser oder toxischer Ätiologie. Ein
wichtiger Anhaltspunkt für die Prognose ist "der Aus-
fall der Entartungsreaktion 8 — 14 Tage nach dem
Krankheitsbeginn: Tritt keine Entartungsreaktion auf,
so geht die Lähmung sirlier bald zurück; tritt nur par-
tiello Eutartungsreaktion auf, so dauert die Heilung
mehrere Wochen; tritt aber komplette Entartungs-
reaktion auf, so tritt entweder gar keine Heilung ein
oder sie dauert Monate.
Therapie:
a. Kausale Indikationen:
1. Behebung eines auf den Nerven wirkenden Drucks ;
Kayor, Crnnpendtiiin def Neniolailo. 8.-4. AvfL 8
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2. bei toxischer Neuritis : Entziehung des Alkohols,
Fernhaltung von Blei;
3. bei rheumatischer Neuritis: Schwitzprodezuren,
Salizylpräparate.
4. Bei Diabetes, Gicht: diätetische Maßnahmen.
b. Allgemeine Maßnahmen:
1. Ruhigstellung der erkrankten Glieder;
2. gegen die Schmerzen: Antineuralgica und Mor-
phium; Galvanisation mit der Anode;
3. nach einigen Wochen elektrische Behandlung:
faradische und galvanische Reizung;
4. Massage, Gymnastik etc. in späteren Stadien;
5. operative Nervendehnung in ganz veralteten
Fällen.
Polyneuritis aleoholica.
Ätiologie: Chronische Alkoholintoxikation; die
Neuritis entsteht akut oder subakut im Anschluß an
ein Delirium tremens oder an eine Erkältung oder In-
fektionskrankheit des Alkoholikers.
Symptome :
a. Sensibilitätsstörungen.
b. Motilitätsstörungen:
1. Die Paresen bevorzugen die Beine, seltener die
Arme; die Füße sind oft in Spitzfufistellung
(Lähmung der Nervi peronei); an den Armen
wird meist nur das Radialisgebiet betroffen;
2. Patellar- und Achillessehnenrefiex herabgesetzt
oder erloschen;
3. Eutartungsreaktion.
c. Koordinationsstörungon : häufig Ataxie Y/ie
bei Tabes (Pseudotabes alcoholica).
d. Trophische Störungen: Hyperhidrosis und
Ödeme an den Beinen sind nicht selten.
Begleiterscheinungen des Alcoholismus chroni-
cus; Tr^nior der Hfinde, psychische Störungen,
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- 115 -
Verlust der Merkfähigkeit für Begebenheiten der
allerjüngsten Vergangenheit (polyneuritische Psy-
chose oder chronischeB Delir), Vomitus matutinus
etc.
Terlauf: akut oder subakut; Dauer Wochen bis
Monate.
Differentialdiagnose :
1. gegen Tabes: mit der Tabes hat die alkoholische
Polyneuritis die Sensibilitätsstörungen, das Fehlen
der Reflexe und die Ataxie gemein; gegen Tabes
spricht die motorische Parese, für Tabes
sprechen Pupillen- und Blasenstörungen ;
2. gegen Myelitis: hier meist Blasenstörungen.
Prognose: günstig; meist Heilung, wenn auch
manchmal mit bleibenden Defekten; Rezidive kommen
vor ; selten Tod durch Zwerchfellslähmung bei stürmisch
verlaufenden Ffillen (Landrysche Paralyse).
Therapie: Entziehung des Alkohols. Elektrizität,
warme Bäder, Massage etc.
Blelnenritis.
Ätiologie: Chronische Bleivergiftung, hauptsächlich
durch berufliche Tätigkeit (Schriftsetzer, Lackierer etc.).
Symptome:
1. Die Sensibilität ist nicht gestört.
2. Degenerativ-atrophische Lähmungen:
a. im Gebiet des N. radialis; verschont bleiben
jedoch die Mm. brachioradialis, supinator und
triceps;
b. viel seltener auch an den Beinen (Gebiet des
N. peroneus).
3. Begleiterscheinungen: Bleisaum, Bleikolik.
4. Getüpfelte Erythrocyten im Blut.
Prognose: günstig.
Therapie: Jodkali innerlich (1 — 2 g pro die); Schwe-
lelbäder; Elektrizität, warme Packungen etc.
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Polyneuritis postdiphtlieFica.
Ätiologie: Diphtherie; die Polyneuritis tritt 2 — 3
Wochen nach Ablauf der Krankheit auf.
Symptome:
1. Sensibilitätsstörungen pflegen zu fehlen.
2. Motorische Störungen:
a. Gaumensegellähmung mit ihren Folgeerschei-
nungen: näselnde Sprache etc.
b. Augenmuskellähmungen :
a. Akkommodationslähmung: durch Läh-
mung des M. ciliaris; Nahesehen erschwert.
ß. Lähmung äußerer Augenmuskeln, meist nur
des N. abducens.
c. Seltener Lähmung der Schlundmuskulatur:
Schlingbeschwerden.
b. Extremitätenlähmung, besonders der unteren.
3. Störungen der Reflexe: der Patellarreflex erlischt
häufig, ohne daß Lähmung im Gebiet des N. femo-
ralis zu bestehen braucht.
Der Botulismus (Wurstvergiftung) kann die-
selben Erscheinungen machen.
Prognose: günstig.
IL Die Neuralgien.
Ätiologie: fast dieselbe wie bei der Neuritis:
1. Primär oder rheumatisch.
2. Sekundär:
a. Mechanisch: Narben, Periostitis^ Geschwülste»
Amputationsneurome etc.
b. Infektiös: besonders Influenza und Malaria; "
die Syphilis wirkt durch syphilitische Neuritis
oder durch periostitische Verdickungen in den
Knochenkanälen, in denen der Nerv verläuft,
oder durch gummöse Geschwülste.
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c. Toxisch: Blei, Quecksilber, Arsenik, Alkohol
etc.
d. Konstitutionell: noiiropatliische Konstistu-
tion (Hysterie etc.), Anämie, Diabetes, Gicht,
Puerperium etc.
e. Reflektorisch: bei Retroflexio uteri, Wan-
derniere, Zahnaffektionen etc.
Neuralgien treten meistens im mittleren Lebens-
alter auf.
Pathologis^e Anatomie: Die Neuralgie ist keine
funktionelle Erkrankung, wie man früher annahm. Rein
anatomisch ist eine Grenze zwischen Neuritis und Neu-
ralgie nicht zu ziehen. Die Neuralgie beruht auf leichter
Neuritis oder Perineuritis, manchmal wohl auch auf
Zirkulationsstörungen in einem sensiblen oder gemisch-
ten Nerven.
Symptome:
1. Der neuralgische Schmerz ist ausgezeichnet:
a, durch sein anfallsweises Auftreten;
ß, durch seine Heftigkeit;
y, durch seine Ausbreitung längs eines peripheren
Nerven.
2. Die erhöhte Druckempfindlichkeit des Ner-
ven: besonders an der Austrittsstelle eines Nerven-
zweiges aus einem Knochenkanal oder einer Fascie,
Yalleixsche Dmekpmikte.
3. Reflektorische Begleiterscheinungen:
a. vasomotorbche (Röte, Blässe der Haut);
ß. sekretorische (Tränenfluß, Schweißausbruch
etc.);
y. motorische (Krämpfe etc.).
4. Trophische Störungen.
Verlauf: selten akut, oft monatelang und jahrelang
mit schmerzfreien Intervallen.
Differentialdiagnose:
1. gegen Neuritis: hier findet sich meist degene-
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-r 118 —
rative Muskelatrophie, Parese, Hypästhesie, Feh-
len der Reflexe; der neuritische Schmerz ist kon-
tinuierlich, nicht anfallsweise; die Druckempfind-
lichkeit besteht im ganzen Verlauf des Nerven,
nicht an besonderen Punkten; der Verlauf der
Neuritis ist akut, nicht chronisch;
2. gegen hysterische Pseudoneuralgien: diese sind
psychisch leicht beeinflußbar und halten sich nicht
so genau an die Nervenbahn.
Prognose: richtet sich nach dem Grundleiden, Be-
sonders hartnAckig sind Neuralgien im höheren Alter
und hei neuropathischer Konstitution.
Therapie:
1. Kausale Indikationen: Syphilis, mechanische
Ursachen etc. ; bei Malaria Chinin (1 — 2 g vor dem
.\nfall).
2. Symptomatische Behandlung: Ruhigstel-
lung, Hydrotherapie, Antipyretika. Narkotika,
Anodengalvanisation (Anode auf den erkrankten
Nerven, Kathode auf einen indifferenten Punkt).
3. Chirurgische Behandlung:
a. Neurektomie: Ausschneidung von Nerven-
stücken;
ß, Nervendehnung (blutig oder unblutig).
y. Langesche Injektion von Eukain- Kochsalz,
Kochsalz allein oder Stovain in den erkrankten
Nerven. (15 — 20 ccm für den Trigeminus,
65 — ^90 — 100 ccm für den Ischiadicus).
Verschiedene Formen der Neuralgien:
Vorbemerkung: Jeder sensible Nerv kann neural-
gisch werden.
a. Trigeminusneoralgie:
1. Ätiologie: Man achte außer auf oben gesagte
Momente noch auf Erkrankungen der Zähne,
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der Nobenhöhlen der Nase, der Augen und des
Mittelohres.
2. Ausbreitungsgebiet:
a. Neuralgia ophtbalmica (Ramus I), Draek-
punkt am Foramen supraorbitale;
ß. Neuralgia supramaxillaris ( Ramus II), Druck-
punkt am Foramen infraorbitale;
y. Neuralgia infrainaxillaris( Ramus III), Druck-
punkt am Foramen mentale.
3. Symptomatisch ist die Einseitigkeit der Af-
fektion ^chtig,
4. Therapeutisch ist neben oben Gesagtem in
hartnäckigen FAllen dieintrakranielle Resektion
des Ganglion semilunare Gasseri in Be*
tracht zu ziehen.
b. OeeipitalneQralgie Iftngs des M. occipitalis maj.
c. Brachialneuralgie: Druckpunkte in der Fossa
supraclavicularis, auf der Medialseite der Mitte des
Oberarms, am Siilcus ulnaris des Ellbogens etc.
d. Intercostalneuralgie : Druckpunkte sind der Ver te-
bralpunkt (dicht neben der Wirbelsäule), der La-
teralpunkt (in der Axillarlinie) und der Sternal-
punkt (am Sternalrande). Häufig Herpes zoster.
Die Affektion ist meist einseitig.
Differentialdiagnostisch kommen Pleuritis und
Muskelrheumatismus in Betracht.
e. Neuralgia ischiadica, Ischias:
1. Ätiologisch denke man außer obigem be-
sonders an Koprostase, Beckentumoren etc.
Doppelseitige Ischias beruht oft auf Diabetes^
Tabes, Lues, Gicht, Gonorrhoe etc.
2. Druckpunkte:
a. Am Rande des Os sacrum oder der unteren
LendenwbeL
ß. Austrittsstelle aus dem Foramen ischiadicum
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— 120 —
majüs (zwischen Tuber ischii und Trochanter
major).
y. am unteren Rande des Glutaeus maximus;
d. in der Kniekehle;
e. am Capiiulum fibulae (N. peroneus).
3. Das Isehiasphänomen (Laseguesches Symptom):
Schmerz bei Beugung des Beines in der Hüfte
mit gestrecktem Unterschenkel; beruht auf der
Dehnung des Nerven;
4. öfters Scoliosis ischiadica nach der ge-
sunden Seite hin zur Entlastung der kranken.
Differentialdiagnose: Gegen Coxitis, hierbei treten
die Schmerzen hauptsächlich bei Abduktion des Beines
auf.
f. Mastodynie, Neuralgie der Brustdrüse.
g. Coccygodynie.
h. Die Podalgien:
1. Achillodynie: Schmerzen am Ansatz der
Achillessehne, beruhen oft auf Bursitis; bei Go-
norrhoe, Malaria. Gicht;
2. Tarsalgie: Schmerzen und Druckemplindlich-
keit des Tarsus;
3. Mctatarsalgie (Morton).
Differentialdiagnostisch berücksichtige man
den Podalgien gegenüber:
1. Plattfuß (Fes planus);
2. Neuritis;
3. Hysterie und Neurasthenie.
NeabildoBgen der peripheren Nerven (Nenrome).
Ätiologie: unbekannt; oft im Anschluß an Traumen
(Amputationen etc.).
Pathologische Anatomie:
1. Wahre Neurome: Neugebildete Nervenfasern (Am-
putationsneurome).
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- 121 —
2. Falsche Neurome (besser Neurofibrom): Ausein-
andersprengung der Nervenfasern durch Wuche-
rung des äußeren und inneren Neurilemms.
Symptome: Tumoren verschiedener Größe und An-
zahl (bis 3000) längs der peripheren Nerven. In seltenen
Fällen neuralgische Schmerzen, Druckempfindlichkeit
(Tubercula dolorosa), Paresen etc. Indolente Neuro-
fibrome der peripheren Enden sensibler Nerven mit
Störungen des Knochenwachstums finden sich bei der
Recklinghausenschen Krankheit.
Prognose: quoad vitam günstig.
Therapie: überflüssig, eventuell Exstirpation der
Knoten.
III. Die Facialis-Lähmuug : Prosopoplegie.
1. Genuin: Rheumatisch (Erkältung, Durchnässung).
2. Symptomatisch:
a. durch Fortpflanzung einer Entzündung im
Mittelohr auf den Nerven;
b. durch Kompression des Nerven:
a. An der Schädelbasis: Blutung , Tumor, gum-
möse Meningitis;
ß. im Felsenbein (Ganalis Fallopiae): tuberku-
löse Garies, syphilitische Periostitis.
c. Traumatisch: Zangengeburt, Schädelfrakturen
etc.
Bei a und b ist der N. acusticus fast stets mitbe-
teiligt.
Symptome:
a. Die Lähmung des peripheren Nervus facialis (in-
franukleäre Lähmung) zeichnet sich aus:
1. Durch Einseitigkeit: Monoplegia facialis;
2. durch das Ausbreitungsgebiet: es ist die
ganze entsprechende Gesichtshälfte gelähmt;
3. durch Entartungsreaktion.
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— 122 —
b. Die xentrale oder sa^anukleäre Lfthmung (vgl.
S. 6) zeichnet sich aus:
1. Durch Doppelseitigkeit, aber nur, wenn der
Ursprung in der Brücke oder der Medulla oblon-
gata sitzt;
2. durch das Ausbreitungsgebiet bei einsei-
tiger, zentraler LAhmung; Stirn- und Augen-
partie bleiben frei; nur die Lippen- und
Wangenpartie sind gelähmt;
3. durch Fehlen der Entartungsreakti<m.
c. Symptome der peripheren Lähmung:
1. Die gelähmte Stirnseite ist glatt und kann
nicht gerunzelt werden;
2. das Auge ist abnorm weit geöffnet und kann
nicht geschlossen werden: Lagophthalmus
(vgl. S. 35); da die Papilla lacrimalis nicht mehr
durch den M. orbicularis oculi an das Auge an-
gedrückt wird, so besteht Epiphora (Tränen-
fluß). Beim Versuch, das Lid zu schließen,
dreht sich der Bulbus nach oben (Bellsches
Phänomen);
3. Nase: die Nasenspitze w^eicht nach der gesunden
Seite ab, die Nasolabialfalte ist auf der kranken
Seite verstrichen;
4. Mund: der Mundwinkel hängt herab; der
Mund ist im ganzen nach der gesunden Seite
hin verzogen. Pfeifen ist unmöglich. Ein Licht
kann nur ausgeblasen werden, wenn es vor die
gelähmte Seite gehalten wird;
5. die Wange bläht sich beim Blasen stärker auL
Diagnostische Lokalisation:
1. die Unterscheidung der supranukleären von der
peripheren Lähmung: Freibleiben des Stirnteüs,
Entartungsreaktion (s. oben);
2. Läsion unterhalb des Foramen stylomastoideum:
Lähmung sämtlicher Gesichtsmuskeln;
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— 123 ~
3. Lision zwischen N. auricularis posterior und Chorda
tympani: wie bei 2, außerdem noch Lähmung der
äußeren Ohrmuskeln;
4. Läsion zwischen Chorda tympani undN.stapedius:
wie bei 3, aber noch Speichels( kretions- und Ge-
schmacksstörungy letztere auf den vorderen zwei
Dritteln der Zunge;
5. Läsion zwischen N. stapedius und Ganglion geni-
culi: wie bei 4, aber noch Gehörstörung (Lähmung
des M. stapedius);
6. Läsion oberhalb des Ganglion geniculi: wie bei 5,
es fehlt aber die Geschmacksstörung; außerdem
findet sich häufig Störung der Tränensekretion;
7. Läsion an der Gehirnhasis: L&hmung des N. facialis
und des N. acusticus.
Yerklif: Die Lähmung tritt meistens plötzlich ein;
leichte Lähmungen bilden sich in einer oder einigen
Wochen zurück, schwerere erst nach Monaten oder gar
nicht. Bei schweren Lähmungen können sich später
Kontrakturen ausbilden, derart, daß der Mund nach
der gelähmten Seite verzogen erscheint; bei oberfläch-
licher Betrachtung kann jetzt die gesunde Seite für die
gelähmte gehalten werden. Begleiterscheinung diesor
Kontrakturen sind häufig Krämpfe, Tic facial (vgl,
S. 124) oder Mitbewegungen, z. B. beim Schließen
des Auges übermäßige Verziehung des Mundwinkels.
Fiogiiose: richtet sich nach dem Verhalten der
EntariUDgsreaktion.
Therapie:
1. kausale Indikationen (Syphilis: Jod und Queck-
silber; rheumatisch: Salizyl und Schwitzproze-
duren; etc.); bei Lagophthalnuis Schutz des Auges;
2. Elektrotherapie: erst nach Ablauf des akuten
Stadiums.
a. Galvanisch: konstant und labil;
faradisch: aber nur, wenn die Muskeln durch
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— 124 —
den faradischen Strom überhaupt erregbar sind
und keine Gefahr von Kontrakturen besteht.
IV. Plexaslähmnngen.
a. Die Erbsche Lähmung des Plexus brachialis:
1. Ätiologie: Verletzung des sog. Erbsrhen
Punktes, welcher ca. 2 cm oberhalb der Clavi-
cula am hinteren Rande des M. sternocleido-
- • mastoideus liegt; dadurch Läsion des 5. und
6. Cervikalnerven ; meistens bei Entbindungen
(Entwicklung der Arme), Clavicularfrakturen,
durch Halsrippen etc.;
2. Symptome: gelähmt sind die Alm. deltoideus,
brachialis internus, biceps, brachioradialis, supi-
nator longus und brevis und infraspinatus; also
Muskeln, welche von verschiedenen Nerven,
aber von gleichen Cervikalsegmenten ver-
sorgt werden.
b. Die Klumpkesche Lähmung:
1. Ätiologie: meist Geschwülste der Wirbelsäule,
welche den 8. Cervikal- und den 1. Thorakal-
nerven zerstören;
2. Symptome: gelähmt sind die kleinen Finger-
und Handmuskeln; Anästhesie meist im Gebiet
des N. ulnaris; häufig oculo-pupilläre
Symptome (vgl. S. 35), aber nur bei Schädi-
gung der Wurzeln.
• • • f »
V. Facialiskrampf (Tic convulsif; Tic facialj.
Ätiologie:
1. Reizung im Facialisgebiet (Rinden Zentrum, Kern
oder peripherer Nerv) durch Erkältung, Affek-
tionen des Ohres oder der Schädelbasis etc.
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— 125 —
2. Reflektorische Erregung bei Trigeminusneuralgie,
Zahnkaries etc.
3. Angewöhnung und Nachahmung bei neuropathi-
scher Konstitution.
4. Psychische Erregung.
Symptome: Man unterscheidet
1. Ausdrucksbewegungen (Tic) durch pathologische
Angewohnheit.
2. Reizbewegungen (Spasmus facialis).
Die Bewegungen sind unwillkürlich, blitzartig; sie
sind allgemein oder partiell. Häufig im Anschluß an
willkürliche Bewegungen; bei Beteiligung des M. orbi-
cularis palpebrarum: Blepharospasmus.
Prognose: zweifelhaft.
Therapie: Beseitigung des Grundieidens, Elektri-
zität, Hydrotherapie etc.
Digiiizea by CjOO^lc
Die fuaktionellen Neurosen.
Elnleitangr.
Zu den funktionellen Neurosen rechnet man:
1. die Neurasthenie,
2. die Hysterie,
3. die Epilepsie,
4. die Chorea minor,
5. die Paralysis agitans,
6. die Funktionsstörungen gewisser Blutgefäßdrüsen,
7. die vasomotorischen Neurosen,
8. die iMigräne,
9. den Tic impulsif.
Von diesen Krankheiten werde ich zwei, die Neur-
asthenie und Hysterie, nicht in diesem Abschnitte, son-
dern im psychiatrischen Teile dieses Buches be-
sprechen. Wegen der Kombination von somatischen
und psychischen Symptomen hat man diese beiden Neu-
rosen auch als Psych oneurosen bezeichnet.
Im Anschluß an die übrigen obengenannten Krank-
heiten werde ich noch zwei Affektionen besprechen,
deren anatomische Grundlage unsicher ist, die man aber
andererseits auch nicht als Neurosen bezeichnen kann;
diese sind:
1. die Myotonia congenita,
2. die Myasthenia gravis pseudoparalytica.
Die Epilepsie.
Ätiologie:
1. Heredität, meist gleichartige Heredität; neuro-
pathisohe Konstitution;
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127 -
2. AlkoholismuB der Eltern oder des Patienten selbst;
3. chronische Bleivergiftung der Eltern;
4. akute Infektionskrankheiten: Scarlatina, Typhus
etc.-;
5. Syphilis;
6. reflektorisch: durch Traumon. Narben beUebigen
Sitzes, welche einen Hautnerven reizen; Einge-
weidewürmer etc.:
7. auslösende Ursachen häufig: Menstruation, Puer-
perium.
Beginn meist vor dem 20. Lebensjahre; nach dem
20. Lebensjahre gilt die Bezeichnung Epilepsia tarda;
diese wird meist durch Alkoholismus hervorgerufen.
Symptome: Die Epilepsie ist durch periodisch wie-
derkehrende Anfälle gekennzeichnet; die anfalls-
freien Intervalle können Jahre, Monate, Tage und
Stunden dauern. Die Anfälle selbst können verschie-
dener Natur sein; man unterscheidet:
1. den großen Anfall oder die Epilepsia major;
2. das „Petit Mal** oder die Epilepsia minor;
3. die epileptischen Äquivalente.
a. Der groBe Anteil: Er kann plötzlich einsetzen
oder durch Vorboten (Schwindel, Kopf druck etc.)
schon mehrere Stunden vorher angekündi^ wer-
den. Oft geht jedoch dem Anfalle um einige Se-
kunden oder Minuten eine Aura (Hauch) voraus.
1. Die Aura kann sein:
a. motorisch: Zuckungen einzelner Muskeln,
Kreislaufen, Sprachstörungen ;
ß, sensibel: Parasthesien in der Extremität
oder am Rumpfe, Schmerzen im Epigastri-
um;
y, sensorisch: Hören eines Wortes, einer Melo-
die; Sehen einer Landschaft, einer Tierge-
stalt, Funkensehen;
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— 128 —
d. vasomotorisch-sekretorisch: plötzliches Er-
blassen, Schweißausbruch;
€, psychisch: Unruhe, Reizbarkeit.
2. Der Krampfanfall:
a. Plötzlich eintretende Bewußtlosigkeit; die-
ses Symptom ist von hervorragender patho-
gnomonischer Bedeutung;
ß. tonischer Krampf der Muskulatur; der
plötzliche Eintritt desselben auf dem Ge-
biete der Respirationsmuskulatur kann zu
einem kurzen Schrei führen. Die Pupillen
sind erweitert und reaktionslos. Dieses to-
nische Stadium dauert einige Sekunden;
y. klonische Zuckungen der Muskulatur
folgen den vorigen. Die klonischen Kr&mpfe
der Kiefermuskeln führen häufig zum
Zun genbiß, diejenigen der Extremitäten
zu' Verletzungen an Händen und Füßen.
In diesem Stadium tritt oft unwillkür-
liche Harn- und Samenentleerung, Pulsbe-
schleunigung ein ; der Mund ist mit Schaum
bedeckt, das Gesicht cyanotisch durch Stau-
ung, dadurch oft: konjunktivale SugiUa-
tionen.
Der Krampfanfall dauert eine halbe bis
fünf Minuten.
3. Postepileptisches Koma oder Schlaf. Nach
dem Erwachen aus diesem häufig Kopf-
schmerz und Erbrechen. Über postepilep-
tische Geistesstörungen vgl. S. 187.
4. Begleiterscheinungen des Anfalls: Sämtliche Re-
flexe sind erloschen; Cyanose des Gesichtes.
b. Bas Petit mal oder die Epilepsia minor:
1. Die Bewußtseinsstörung ist häufig das ein-
zige Symptom. Die Bewußtseinsstörung dauert
nur einige Sekunden; das Individuum fällt
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— 129 —
nicht hin; der Zustand zeigt sich als eine mo-
mentane Entrückthoit : das Gesicht ist blaß,
der Blick starr, ins Leere gerichtet;
2. manchmal geringe, klonische Zuckungen im Ge-
sicht und den Extremitäten.
c. Die Äquivalente des epileptischen Anfalls sind
psychischer Natur (vgl. S« 187).
d. Der Allgemeinsnstand des Epileptikers in anfalls-
freier Zeit: ■
1. Charakteristisch ist die totale Amnesie für die
Anfalle und die Vorgänge während derselben,
welcher Art die Anfäle auch sein miVgen. Die
Epileptiker wissen nur durch andere Personen
von ihrer Krankheit;
2. häufig finden sich Degenerationszeichen
(Schädelmißbildungen, vgl. S. 164);
3. die I n telligen z kann intakt sein ; häufig findet
sich eine Abnahme der Intelligenz, wenn nicht
gar Imbecillität;
4. Myoklonie: findet sich in manchen Fällen von
gleichartig-hereditärer, familiärer Epilepsie. Die
Affektion besteht in klonischen Zuckungen,
welche blitzartig erfolgen und sich nur auf ein-
zelne Muskeln erstrecken;
5. der Status epileptiens: kommt zustande, wenn
sich die Anfälle in kurzer Zeit aufeinanderfol-
gen (z. B. mehrere Anfälle in einer Nacht). Der
Patient erlangt das Bewußtsein während dieses
Zustandes nicht wieder. Im Urin finden sich
manchmal Eiweiß und hyaline Zylinder. Be-
trächtliche Temperatursteigerung. Der Tod
tritt in der Hälfte dieser Fälle ein.
Verlauf: chronisch. Bei längerem Bestehen der
Krankheit pflegen sich die Anfälle in immer kürzerer
Zeit zu wiederholen. Eine Epilepsia nocturna kann
lange 2^it unbemerkt bleiben.
M a jr e r , Compendlam der Zfeurologie. 3.— 5. Aufl. 0
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— 130 —
Bifterentiaidiagnose :
1. gegen Ohnmacht (vgl. S. 88);
2. gegen den hysterischen Anfall: Bei diesem ist
die Lichtreaktion der Pupillen fast stets vorhanden;
der Zungenbiß und sonstige Verletzungen kommen
nicht vor; kein unwillkürlicher Harnabgang; die
Dauer des Anfalls ist meist eine längere als die des
epileptischen; manchmal läßt sich der hysterische
Anfall durch bestimmte Eingriffe (Ovariaidruck)
künstlich unterdrücken;
3. gegen symptomatische Epilepsie: Hirntumor
(vgl. S. 94), Rindenepilepsie (S. 92), Dementia para-
lytica (S. 219). Der Epileptiker scheint in der an-
fallsfreien Zeit normal zu sein, die anderen haben
dauernde Symptome. An die symptomatische Epi-
lepsie denke man besonders, wenn die Anfälle zum
ersten Male in reiferem Alter auftreten;
4. gegen Simulation: es fehlt hier die Pupillen-
starre, der Zungenbiß, die postepileptische Ver-
wirrtheit etc.
5. gegen Adams- St okesche Krankheit: hier be-
steht während des Anfalls starke Bradykardie
(20 — 30 Schläge), zuweilen Herzstillstand.
Prognose: Heilung ist selten. Bei sehr früh be-
ginnenden Fällen ist die Prognose schlechter. Das Leben
ist besonders im Status epilepticus bedroht; der Tod
kann auch infolge schwerer Verletzungen, Erstickung
etc. während des Anfalles eintreten.
Therapie:
a. Außerhalb des Anfalls:
1. Nahrung: Verrnddung aller Reizmittel (Ge-
würze, Kaffee, Alkohol etc.); Fleisch ist nur in
mäßigen Quantitäten erlaubt;
2. Medikamente:
a. Bromsalze: 3^ g pro die (bei Kindern
1-4 g);
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- 131 —
ß, Atropin: 1 — nig pro die;
y. Opium: 0,1 — •0,2g pro Hio; oft läßt man
der Opiumbeharidhmg oino Brombehandlung
folgen (Flechsigsche Kur).
3. Operative Behandlung nur bei symptomatischer,
nie bei genuiner Epüepsie.
b. Im Anfalle:
1. Beim Auftreten der Aura kann in manchen
Fällen der Anfall noch koupiert werden; zeigt
sich z. B. die Aura in einer Extremität, so ge-
lingt dies durch feste Umschnürung derselben;
auch energische Hautreize sollen so wirken;
2. im Anfalle ist der Patient vor Verletzungen zu
schützen ; zwischen die Zähne Kork oder Gummi ;
3. im Status epilepticus: Chloralhydrat 3 — 4 g in
KI y stieren, Chloroform, Äther.
Anhang.
Pavop nocturnus.
Er ist ein Symptom bei epileptischer, hysterischer,
überhaupt neuropathischer Konstitution, zuweilen auch
bei Tonsillarhyperplasie; die Erkrankung besteht in
nächtlichem Aufschrecken bei völliger Bewußtseins-
abwesenheit. Beginn 3. — 10. Jahr; verschwindet mit
der Pubertät. Das hcäufige Schlafsprechen (Somnilo-
qui) und Schlafwandeln sind auf das motorische Ge-
biet übertragene Träume.
Die Chorea minor sive infektiosa.
Der Veitstanz.
Ätiologie:
1. Der aknte Gelenkrheumatismus, besonders wenn
dieser auch eine Endocarditis herbeigeführt hat;
er ist die häufigste, nach vielen die einzige Ur-
sache des Leidens. (Man rechnet daher die Chorea
zu den Rheumatosen.)
2. Affektstöfie (Schreck etc.).
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— 132 —
3. Nachahmung: Chorea imitatoria; so können
kleine Epidemien in Schulen entstehen; die Pa-
tienten sind hysterisch (psychische Infektion).
4. Schwangerschaft: Chorea gravidarum, besonders
im 3. — 5. Monat; vermutlich Intoxikation.
Beginn im 5. — 20, Lebensjahre; häufiger bei Mäd-
chen als bei Knaben.
Sitz der Erkrankung: Schädigung der vom Klein-
hirn durch die Brachia co^junctiva zum Thalamus op-
ticus ziehenden Bahn.
Symptome:
a. MotariBeheUnndie: ungewollte, schleudernde, zap-
pelnde Bewegungen, die abwechselnd die ver-
schiedensten Körpergegenden in Aktion versetzen;
nimmt auch die Zung3 an den Bewegungen teil,
so resultiert eine Behinderung der Sprache.
Die Bewegungen sind:
1. unwillkfirlich ; willkürlich nicht unterdrückbar
(ausgenommen in chronischen Fällen);
2. koordiniert;
3. im Schlafe nicht vorhanden;
4. bei willkürlichen Bewegungen stärker, des-
gleichen bei Gemütsbewegungen;
5. nicht anfallsweise (wie die epileptischen),
b. Psychische Störungen: Labilität der Stim-
mung, Reizbarkeit und geistige Ermüdbarkeit. Bei
der Chorea der Erwachsenen bilden sich häufig
Psychosen aus.
Yerlant: Dauer 2->3 Monate; selten bis über 1 Jahr.
Prognose: günstig. Meistens Heilung; in den
schwersten Formen können die allzu heftigen Muskel-
zuckungen durch ungenügende Nahrungsaufnahme und
ungenügenden Schlaf tödliche Erschöpfung herbei-
führen. Die Chorea gravidarum endet in dem vierten
Teile aller Fälle tödlich, im allgemeinen überdauert sie
die Entbindung nicht. Rezidive sind häufig.
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— 133 —
Differentialdiagnose:
1. Gegen die symptomatische Chorea:
a. die postapoplektische Hemichorea (vgl. S. 92);
/J. bei Hirntumoren (vgl. S. 94);
y. bei cerebraler Kinderlähmung (vgl. S. 99): hier
finden sich stets Zeichen spastischer Parese.
2. Gegen die hysterischen Formen:
a. die Chorea major: unter diesem Namen
werden die großen hysterischen Anfälle zusam-
mengefaßt:
j!?. die Chorea imitatoria: sie ist meist halb-
seitig (Hemichorea);
7. die . Chorea electrica: mit blitzartigen
Zuckungen, wie bei elektrischer Reizung.
3. Gegen die Chorea hereditaria sive chronica pro-
gressiva: diese ist, wie der Name sagt, hereditär
und progressiv; hauptsächlich bei Erwachsenen;
die Intelligenz nimmt bis zur völligen Demenz ab;
Dauer Jahrzehnte; Prognose schlecht.
Therapie:
1. Körperliche und geistige Ruhe; Isolierung; in
schweren Fällen Bettruhe.
2. Medikamente:
a. Arsen : als Solutio Fowleri (dreimal täglich 3 bis
lOTropf en,in allmählicher Steigerung) ; Salvarsan.
Brom: bei gesteigerter Affekterre^arkeit;
y. Scopolamin (0,0005) subkutan mit Morphium,
eventuell Chloral und Chloralamid: in ^hweren
Fallen.
3. Milde Hydrotherapie.
4. Bei Chorea gravidarum kommt die künstliche Früh-
gehurt in Frage.
Paralysis agitans.
Schüttellähmung.
Ätiologie: unbekannt. Einen Einfluß auf die Ent*
stehunig sollen körperliche und psychische Traumen
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- 134 -
haben; nicht selten ist Heredität nachweisbar. Die
Krankheit befällt meistens Männer nach dem 40. Lebens*
jähre.
Symptome:
a. Der Tremor (vgl. S. 5): rhythmische Schwin-
gungen, 4 — 5 in der Sekunde, von geringer Ex-
kursion; der Tremor befällt zuerst die Hände und
dann allmählich auch den ganzen Körper; er ist
ausgezeichnet:
1. durch sein Fortbestehen in der Ruhe;
2. durch die Gleichmäßigkeit der Bewegung;
3. durch das Aufhören bei aktiven Bewegungen;
daher fühlen sich die Patienten beim Gehen
meist wohler als bei ruhigem Sitzen oder Liegen ;
4. durch seine Steigerung l>ei p&ychischer Er-
regung;
5. durch die Form der Bewegung (Pillendrehen,
Münzenzählen);
6. durch das AufhOren im Schlafe.
b. Die permanente Muskelsteifigkeit (Kon-
traktur in Beugestellung) ist oft das einzige Symp-
tom (Paralysis agitans sine agitatione); sie
gibt sich kund:
1. durch die Haltung des Patienten: Kopf
nach vorn geneigt, gebückte Rumpfhaltung;
2. durch die maskenartige Starre des Ge-
sichts;
3. durch die Erschwerung der passiven
und aktiven Bewegungen;
4. durch die Veränderung des Ganges,
welcher dem spastischen Gange sehr ähnlich ist:
er. Propulsion: der Patient kann im Gehen
nicht plötzlich haltmachen, weil er sonst
vornüber stürzen würde;
ß, Retropulsion: wenn man den Patienten
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~ 186 -
hinten zieht, so läuft er so lange rückwärts,
bis er irgendwo Halt findet;
y, Lateropulsion: entsprechend, aber selten;
5. die Sehnenphänome sind meist nonnal;
6. durch Veränderung der Sprache.
Verlauf: sehr chronisch, aber progressiv; Dauer
5 — 20 Jahre. Das erste Symptom ist meistens das
Zittern, und zwar stellt sich dieses am häufigsten zuerst
im rechten Arm ein.
Difterentialdiagnose :
1. Gegen symptomatische Schüttellähmung (Para-
lysis agitans posthemiplegica): es besteht hierbei
Muskelhypertonie mit gesteigerten Sehnenphä-
nomen.
2. Gegen Tremor senilis: Fehlen der charakteristi-
schen Haltung, Verstärkung des Tremors bei
aktiven Bewegungen.
Prognose: gut. Heilung ist zwar ausgeschlossen,
jedoch kann der Patient noch jahrelang ohne besondere
Beschwerden leben. Der Tod erfolgt an interkurrenten
Erkrankungen oder an Erschöpfung.
Therapie:
1. Medikamente:
a. Arsen;
ß> Scopolaminum (= Hyoscin) hydrobromicum
und ebenso Duboisinum sulfuricum (4 dmg pro
die subcutan) haben einen hervorragenden, wenn
auch vorübergehenden Einfluß auf das Zittern
und die Muskelsteifigkeit.
2. Elektrische Bäder.
3. Charcots Vibrationstherapie (Zitterstuhl).
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— 136 —
Erkrankungen der Drüsen mit innerer Sekretion.
a« Morbus Basedowii.
Graves Disease, Goitre exophthalmique.
Ätiologie: Wahrscheinlich Hyperfunktion der
Schilddrüse. Das Leiden entwickelt sich im Anschluß
an heftige Gemütsbewegungen, schwächende Krank-
heiten, besonders bei neuropathisch veranlagten Indi-
viduen, durch Jodapplikation bei latentem Basedow,
meist im mittleren Lebensalter; bei Frsiuen viel häufiger
als bei Männern.
Symptom^: Die Kardinalsymptome des Morbus
Basedowii sind die Tachykardie, die Struma und der
Exophthalmus.
1. Die Tachykardie: ist meist das erste Symptom;
Pulsfrequenz 100—180.
2. Die Struma: sie ist weich, gefäßreich, pulsierend;
die aufgelegte Hand fühlt manchmal ein Schwirren;
sie beruht aui dauernder Erweiterung der Schild-
drüsengefäße.
3. Der Exophthalmus beruht auf Erweiterung der
Gefäße der Orbita und einer Vermehrung des
retrobulbären Fettgewebes; er ist meist doppel-
seitig; der Exophthalmus fehlt in unvollkommen
entwickelten Fällen (Formes frustes).
4. Andere Augensyniptome:
a. (las Graefesche Symptom: Beim Blick nach
unten folgt das obere Augenlid nicht mit, so
daß ein Teil der Sklera oberhalb der Kornea
sichtbar wird;
ß. das Möbiussche Symptom: Unmöglichkeit,
einen nahen Gegenstand längere Zeit mit beiden
Augen zu fixieren;
y. das Stelhvagsche Symptom: der Lidschlag
erfolgt abnorm selten.
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— 137
5. Der Treioaor der Hände: schnell und feinschlägig.
6. Hyperhidrosis mit subjektivem Hitzegefühl.
7. Durchfälle.
8. Steigerung der C O,- Ausscheidung, also Erhöhimg
der Oxydationsprozesse; trotz normal ausgenutzter
und genügender Nahrung unnormales Stoff- und
• • Körpergleichgewicht.
9. Schlechter Schlaf und schlechte allgemeine Ernäh-
rung trotz des häufigen Heißhungers (Bulimie).
10. öfters alimentäre Glykosurie.
11. Psychische Störungen: Labilität der Stim-
mung, Reizbarkeit, Unruhe, Zerstreutheit etc.,
manchmal Psychosen (manisch-depressive Zu-
• Standsbilder).
Verlauf: chronisch; jahrelange Dauer; Remissionen
und Intermissionen.
Differentialdiagnose: Die Tachykardie kommt auch
bei Neurasthenie und Hysterie vor, jedoch nicht dauernd,
sondern nur vorübergehend. Sonstige Verwechslungen
sind nicht gut möglich.
Prognose: nicht ungünstig. In ganz frischen Fällen
ist Heilung nicht ausgeschlossen. Der Tod kann durch
zu starke Diarrhöen und Debilitas cordis erfolgen.'
Therapie:
1. Körperliche und geistige Ruhe.
2. Verbot von Kaffee, Tee, Nikotin etc., Fleischein-
schränkiing, dafür Pflanzenkost.
3. Milde Hydrotherapie (feuchte Einpackungen etc.).
4. Höhenluft.
5. Elektrotherapie:
«.stabile Galvanisation des S y ni p a t h i -
cus: Kathode (kleine Elektrode) zwischen Un-
terkieferrand und M. sternocleidomastoideus,
Anode auf den Nacken;
ß, Faradisation: große Elektrode im Nacken,
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— 138 —
kleine abwechseilnd Augengegend, Schäddrüse,
Herzgegend.
6. Antithyreoidin (s= Serum entkropfter Tiere).
7. Operation: Strumektomie.
b. Das Myxtfdm.
Ätiologie: Hypofunktion resp. Fehlen der Schild-
drüse.
1. endemisch: das Schilddrüsengewebe bei bestehen-
der Struma ist geschwunden (Kretinismus);
2. angeborene Aplasie der Schilddrüse;
3. sporadisch: Schilddrüsenaplasie;
4. totale Strumektomie: Kachexie strumipriva.
Symptome: Sie sind den Symptomen bei Basedow
genau entgegengesetzt, also: Bradykardie, abnorme
Trockenheit der Haut, Obstipation, Herabsetzung der
Üxydationsprozesse etc.
Besonders auffallend sind:
1. das gedunsene Aussehen durch die myxödematöse
Hautschwellung (Wachstumshemmung bei Kin-
dern);
2. die Makroglossie;
3. die psychischen Veränderungen:
a. Erwachsene: Intelligenzabnahme bis zu völli-
ger Demenz;
b. Kinder: Idiotie etc. (vgl. S. 215).
Prognose: bei richtiger Therapie günstig.
Tlimilo: Schilddrfksenprftparate wirken über-
raschend: Thyreoidinum siccatum (Erw. 0,1 — 0,2, Kind
0,03—0,05) etc.
c« Die Tetanie.
Ätiologie: Wahrscheinlich Schädigung der Epithel-
körperchen (Glandula parathyreoideae) sei es:
1. im Anschluß an akute Infektionskrankheiten (Ty-
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— 139 —
phus^ Cholera, Scharlach, Mas^m) oder an In-
toxikatieaen (Ergotin, Chloroform, Alkohol u. a.);
2. im Gefolge von Majgendarmaffektionen (Magen-
darmkatarrhe der Kmder, Magenektasie Erwach-
sener);
3. gemeinschaftlich mit Laryngospasmus, Eklampsie
oder Rachitis der Kinder;
4. nach Exstirpation der Nehenschilddrttse (Tetanie
parathyreopriva).
In ^zelnen Ländern tritt die Krankheit epide-
misch auf. Es erkranken meist Männer im Alter von
15—25 Jahren.
Symptome:
a. Im Anfall:
1. Tonische Miiskelkrämp fe: Oberarme addu-
ziert, Vorderarme und Hände gebeugt; Finger
in Geburtshelferstellung oder Schreibestel-
lung, Beine gestreckt, Füße in Varoequinus-
Stellung.
Der l)ilatera!e Krampfanfall dauert von
einigen Minuten bis zu mehreren Tagen. Das
Bewußtsein ist meist erhalten. Prodromal:.
Kopfschmerz, Übelkeit etc.
2. Parästhesien, reißende Schmerzen.
b. Zwischen den Anfällen (,,spasmophUer Zustand''):
1. Das Trousseausche Phänomen: Durch
Kompression auf die Nervenstämme (Suicus
bicipitalis internus) kann man künstlich einen
Anfall auslösen.
2. Das Chvosteksche Symptom: Durch leich-
tes Beklopfen von motorischen oder gemischten
Nerven kann man Zuckungen auslösen; das
Symptom beruht also auf gesteigerter mechani-
scher Erregbarkeit des Nerven. Besonders läßt
sich diese im Gebiet des N. facialis nachweisen:
Facialis-Phänomen (vgl. S. 16).
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— 140 —
3. Das Erbsche Symptom: Steigerung der gal-
vanischen Erregbarkeit der motorischen Nerven^
infolgedessen tritt Kathodenschließungszuckung
schon bei sehr geringer Stromstärke auf und bei
geringer Steigerung der Stromstärke Kathoden-
schließungstetanus.
4. Das Hoffmannsche Symptom: Steigerung
der mechanischen und elektrischen Erregbar-
keit sensibler Nerven.
Terlaiif : Dauer Tage bis Monate; Rückfälle sind
häufig. Es gibt chronische Fälle von jahrelanger Dauer
mit intermittierendem Verlauf.
Differentialdiagnose: gegen Hysterie: Hier sind die
Ionischen Muskelspannungen meist einseitig, es fehlen
das Trousseausche und das Erbsche Phänomen.
Prognose: Günstig. Das Leben ist nur gefährdet
bei Patienten, die an Magenektasie leiden, oder die
eine Kropfexstirpation durchgemacht haben, und bei
Kindern, welche an Darmkatarrh oder Rachitis leiden.
Therapie:
1. Behandlung der Grundkrankheit (Magen-^ Darm-
affektionen, Rachitis etc.).
2. Bei Tetania parathyreopriva Darreichung von
Nebenschilddrüsenpräparaten oder Transplanl^a-
tion normaler Nebenschilddrüsen.
3. Narkotika.
4. Kinder: Frauenmilch, keine Fleischnahrung.
d. Die Akromegalie«
Ätiologie: Wahrscheinlich Hypersekretion des glan-
dulären Hypophysenabschnittes, meist als Folge einer
adenomatösen Vergrößerung.
Symptome:
1. Vergrößerung distaler Teile (Hände, Füße, Nase,
Kinn).
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— 141 —
2. Verdickung der Haut.
3. Hypoplasie der Genitalien (Amenorrhoe, Impo-
tenz).
4. Erweiterung der Sella turcica im Röntgenbild.
5. Glvkosurie.
6. Zentrale Symptome: Kopfschmerz, Schwindel, bi-
temporale Hemianopsie etc. (vgl. Hirntumor), In-
telligenzdefekte.
Verlauf: Dauer oft jahrzehntelang. Erstes Symp-
tom meist Parästhesien und Gliederschmerzen; Tod
öfters unter den Zeichen eines Tumor ccrebri.
■ Tritt die Erkrankung vor der Verknöcherung der
Epiphysenknorpel ein, so entsteht der Gigantismus,
ferner Dystrophia adiposo-genitalis (vgl. S. 99).
Differentialdiagnose: gegen partiellen Riesenwuchs,
Arthritis deformans.
Prognose: ungünstig, Heilung ausgeschlossen.
Therapie: Versuch mit Hypophysenextrakt.
Hemikranie.
Migräne.
Ätiologie:
1. Heredität, meistens gleichartige.
2. Überarbeitung, Exzesse, Masturbation, Wuche-
rungen der Nasenschleimhaut sind wohl nur als
Gelegenheitsursachen zu betrachten.
Symptome :
1. Kopfschmerz (vielleidii Gefäßkranipf durch Sym-
pathicusreizung); dieser ist:
a. meist halbseitig;
ß. anfallsweise; meist nach wochenlangen Inter-
vallen;
y. von stunden- bis tagelanger Dauer;
d. stechend (kein Druckschmerz wie bei Neur-
asthenie) ;
c. von Appetitlosigkeit und Erbrechen begleitet;
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f. gewöhnlich von einer Aura eingeleitet (hemi-
kranische Aura: Schwindel, Schläfrigkeit,
Heißhunger).
2. Das Erbrechen kann auf der Höhe des Anfalls
oder gegen Ende desselben eintreten.
3. Überempfindlichkeit gegen Sinnesreize (Licht, Ge-
räusche etc.)«
4. Das Flimmerskotom (Hemikrania ophtha!-
mica) ist gleichsam eine Aura; es entsteht erst
Flimmern vor den Augen, dann eine lebhafte Licht-
erscheinung mit zackigen Figuren; es dauert eönige
Minuten.
Besondere FormeD:
1. Hemikrania spastica: Auf der befallenen Seite:
blasse, kfihle Haut, vermehrte Salivation, Pupillen-
erweiterung (Sympathicusreizung).
2. Hemikrania paralytica: Auf der befallenen Seite:
gerötete, warme Haut, Pupillen Verengung (Sym-
pathicuslahmung).
Komplikationen: Die Hemikranie ist sehr oft asso-
ziiert mit Neurasthenie, Hysterie oder Epilepsie; der
epileptische Anfall kann sogar durch einen hemikrani-
sehen ersetzt werden.
Bifterentialdiagnose:
1. Gegen Tumor: hier besteht mebtens PulsTeriang-
samung, Stauungspapille, andauernder Kopf-
schmerz etc.
2. Gegen Urämie: hier besteht Albuminurie etc.
Prognose: quoad sanationem ungünstig; bei Frauen
verschwindet die Hemikranie zuweilen im Klimak-
terium.
Therapie:
1. Kausale Indikationen: gegen Neurasthoüe, Hy-
sterie, Nasenaffektionen etc.
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2. Im Anfall Bettruhe, Verdunklung des Zimmers,
Migränin, Anodengalvanisation des Kopfes.
3. Arsenkuren, Levico-Roncegnowasser werden emp-
fohlen.
Vasomotorische Neurosen,
a. Die Akroi»arftstbe«ieii.
Ätiologie:
1. Klimakterium.
2« Häufiges Hantieren in kaltem Wasser (Wasch-
frauen).
3. Neuropathische Diathese.
Beginn meist nach dem 30. Lebensjahr. Wahr-
scheinlich beruht die Akroparästhesie auf Gefäßver-
engerungen infolge eines Reizzustandes in den vaso-
motiNrischen Zentren.
Symptome: ausschließlich subjektiv; Parästhe-
sien in Händen und Fingern. Häufig Schmerzen,
welche andauernd bestehen.
Yerlanf: chronisch.
Prognose: quoad sanationem ungünstig; selten
Spontanheilung.
Differentialdiaguose: gegen symptomatische Par-
ästhesien (Tabes, Hysterie, Raynaudsche Krankheit).
Therapie: Arsen, Phosphor, Strychnin, Eisen, lokale
faradische Pinselungen.
b. Oedena ontls elreumseriptum (Qnlneke).
AngionenrotlBohes Odem.
Ätiologie: unbekannt; meistens bei jugendlichen
Individuen.
Symptome: Anfallsweise auftretende, ödeinatöse,
circumscripte Anschwellungen, an den verschiedensten
Stellen der Haut, manchmal auch der Schleimhäute.
Das ödem verschwindet meist innerhalb einiger Stunden
wieder. Manchmal Hnden sich gastro-intestinale StO-
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ningen (Erbrechen etc.). Befällt das Odem den Kehl-
kopfj so kann es von gefährlicher Bedeutung werden.
Therapie:
1. Allgemeine Behandlung (Diätänderung etc.).
2. GeuiBverengemde Mittel (Adrenalin, Atropin).
e. Die symmetrlsehe Gangrän.
Raynaudsohe Krankheit.
Ätiologie: unbekannt; meistens bei jugendlichen
Individuen weiblichen Gesclüechts.
Symptome: Anfälle; man unterBcheidet 3 Etappen
der Erkrankung:
1. Lokale Ischämie der Finger mit Parästhesien und
Schmerzen.
2. Lokale Gyanose-Asphyxie.
3. Lokale, symmetrische Gangrän; das tote Gewebe
grenzt sich ab und wird im Laufe von einigen Mo-
naten abgestoßen.
BifferentialdlagiiOfle: gegen diabetische, tabische,
arteriosklerotische Gangrän u. a.
Therapie: Schutz vor Kälte, Fausthandschuhe.
d. Erythromelalgie.
Symptome: Dauernde Rötung und Schwellung djer
I lande und Füße, verbunden mit starker Schmerz-
haftigkeit.
e. Heralatrophia facialis progressiva.
Trophisehe Neurose. Symptome: langsam, fort-
schreitende Atrophie der Knochen. Muskeln etc. einer
Gesichtshälfte bei erhaltener Sensibilität.
Sklerodermie.
Ätiologie: unbekannt, meistens bei Frauen.
S\ niptome: Sklerodermie kann die Haut des ganzen
Körpers befallen (Sklerodermia universalis) oder sie be-
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fällt nur die distalen Teile der Extremitäten (Sklero-
dermia distalis); femer kann sie fleckweise auftreten
(en piaques). Die Haut ist weiß, oft bläulich, hart,
schwer verschieblich, schwer faltbar; Beweglichkeit ge-
hemmt. Oft tritt eine Verkrüppelung der Finger ein
(Sklerodactylie). Die Sensibilität ist intakt, was zur
Unterßcheidung von Syringomyelie wichtig ist.
Prognose: ernst; Dauer: viele Jahre, bis mehrere
Dezennien.
Therapie: Massage, Ichthyolbäder; subkutane Thio-
sinamin-Injektionen.
Myasthenia gpavis pseadopapaljrtiea.
Die Symptome dieser Affekt Ion entsprechen ganz
dem Symptomenkomplex der progressiven Bnlbärpara-
lyse (vgl. S. 102). Nur liandelt es sich nicht um Läh-
mungen, sondern um vorübergeliende, hochgradige Er-
müduiigszuslände der verschiech'nsttMi Körpermuskeln.
Von besonderer Betieutung ist die elektrische Reaktion
der Muskeln: myasthenische Reaktion; versetzt
man einen Muskel durch den faradischen Strom in
Tetanus, so werden die Muskelkontraktionen sehr bald
schwächer, um schließlich ganz aufzuhören; nach
längeren Pausen zeigt sich jedoch wieder normale Er-
regbarkeit.
Das Leiden ist ernst; der Tod kann plötzlich durch
Atmungs- oder Schlinglähmung eintreten.
Therapie: Vermeidung jeder Anstrengung.
Myotonia eongrenita (Thomsensche Krankheit).
Ätiologie: Heredität; meist bei mehreren Mitglie-
(lern der Familie. Beginn meist in der ersten Kindheit.
Symptome:
1. Muskelsteifigkeit bei willkürlichen Bewe-
gungeri, welclie jedoch bei längerer Tätigkeit des
Muskels aufhört;
Mftyer» Compendium der Neurologie. 3.-6. Aufl. 10
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2. hypervoluminöse Muskulatur;
3. Steigerung der mechanischen Muskelerregbarkeit ;
4. die mvo tonische Reaktion. Die direkte fara-
dische Muskelerregbarkeit ist gesteigert; nach
längerer Einwirkung des faradischen Stromes geht
die Muskelerregbarkeit auf die Norm herab.
Prognose: günstig. Heilung ausgeschlossen, jedoch
besteht keine Progression.
Therapie: nulia.
Der Tic (impulsif).
Ätiologie: Neuropathische Konstitution. Das
Leiden beginnt meist in der Kindheit oder in der
Pubertät.
Symptome:
1. Ruckartige Bewegungen, die an sich ganz wie
zweckmäßige, willkürliche Bewegungen ablaufen,
jedoch ohne adäquaten psychischen Vorgang des
Individuums zwangsartig auftreten und sich in
kürzeren oder längeren Intervallen immer in der-
selben Weise wiederholen.
2. Der Tic kann lokalisiert oder allgemein sein.
Am häufigsten sind Zuckungen der Gesichtsmus-
keln (Allgen blinzeln, Verziehen des Mundes), Dreh-
bewegungen des Kopfes nach einer Seite hin,
Schulterbewegungen.
3. Willkürliche Bewegung und Fesselung der Auf-
merksamkeit wirken meist beruhigend.
Komplikation: Das Leid(»n ist oft mit Psych -
asthenie (vgl. S. 188) vergesellschaftet. Auf die gleich-
zeitig bestehende Psychasthenie führe ich die oft da-
mit verbundene Echolalie (S. 229) und Koprolalie
zurück.
Prognose: quoad sanationem zweifelhaft. Oft
bleibt das Leiden während des ganzen Lebens bestehen;
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manchmal tritt nach jahrelanger Dauer Genesung ein.
Remissionen und Intermissionen icommen vor.
Therapie:
1. Hemmungsgymnastik (nach Oppenheim):
Übungen im Ruhighalten des Körpers und der
betroffenen Teile und in der Unterdrückung von
Reflexbewegungen.
2. Eventuell Bronipräparate.
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Psychiatrie.
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A. Allgemeiiier Tdl.
Funktionelle und organische Psychosen.
Man unterscheidet ebenso wie bei den Nervenkrank-
heiten organische^ d. h. auf nachweisbarer anatomischer
Grundlage beruhende Psychosen und funktionelle Psy-
chosen, deren anatomische Grundlage festzustellen noch
nicht gelungen ist.
Das Hauptunterscheidungsmerknial, welches uns
zwischen beiden Arten eine Entscheidung treffen läßt,
ist der Intelligonzdofoki . Bei organischen Psychosen ist
ein Intolligenzdcfekt vorhanden, bei funktionellen Psy-
chosen fehlt der Intelligenzdefekt.
Die Formen der psychischen Störung.
Der normale Mensch empfindet, denkt und
handelt. Jede dieser drei Tätigkeiten kann eine
Störung erleiden. Begleitet sind diese Tätigkeiten nor-
malerweise von einem Lust- oder IJnlustgef ühl.
Dieses Gefühl kann pathologisch gesteigert oder herab-
gesetzt sein; die Störungen bezeichnet man als Affekt-
störungen.
Wir haben also bei einem Patienten vor allem fünf
Dinge zu prüfen:
a. die Störungen der Empfindung,
b. die Störungen des Denkens,
c. die Störungen des Handelns,
d. die Störungen des Affekts,
e. die Störungen der Intelligenz.
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— 152 —
I. Die Störungen der Empfindung.
Die Intensitätsstdnmgen der Empfindung (Hyper-
ästhesien, Hypästhesien, Anftsthesien) sind bereits in
der „Neurologie" besprochen (vgl. S. 16 u. f.). Wir
haben hier zu betrachten die qualitatiTen Stönuigen
der Empfindiing (Sinnestäuschungen).
a. Halluzinationen.
Halluzinationen sind Empfindungen, welche ohne
äußeren Reiz (Licht-, Schallreiz etc.) auftreten.
1. Qualität der Halluzinationen: Halluzina-
tionen können auf allen Sinnesgebieten auftreten;
man unterscheidet daher:
a. Gesichtshalluzinationen oder Visionen:
Funkensehen, Sehen von Landschaften, thea-
tralischen Szenen etc; die gesehenen Gegen-
stände haben meist natürliche Größe; sie
können aber auch Riesengröße haben oder um-
gekehrt auch Miniaturbilder sein. Die Zahl
der gesehenen Gegenstände kann auch ver-
schieden sein; z. B. l)t'i den alkoholistischen
Psychosen (Delirium tremens etc.) ^^ird meist
ein Gewimmel von kleinen Tieren (Käfern,
Mäusen etc.) gesehen;
ß. Gehörshalluzinationen:
a. Akoasmen: der Patient hört ohne äußeren
Reiz Geräusche, Läuten, Donnern;
b. Phoneme: Worte und Sätze werden gehört;
sehr oft handelt es sich um verschiedene
Stimmen, welche zu dem Patienten reden;
die Stimmen können ganz leise sein oder
auch laut;
y. Rhythmische Halluzinationen: z.-B. Du
bist ein Narr, du bist ein Narr usf.
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— 153 —
G e s c h m a c k s h a 1 1 u z i r 1 a t i o n e n : Geschmack
von Kot, Blut etr. im Munde;
€. G 0 r u c Ii s h a 1 1 u z i n a t i ü n en : Geruch von Blu-
men, Scliwefel, Pech etc.:
Berührungs- oder ha p tische Halluzi-
nationen: der Kranke empfindet einen Schl;»«^
oder einen Stich oder eine Umarmung, einen
Koitus etc. Auch Empfindung(^n im Innern des
Körpers können entstehen: vermeintliche Ver-
lagerungen, Bewegungen der Eingeweide ge-
hören dazu.
tj. Kin ästhetische Halluzinationen (hall u -
zinierte Bewegungsempfindungen): der
Kranke glaubt plötzlich, sein Arm werde ge-
hoben, sein Bein werde gestreckt; er glaubt zu
sprechen, ohne daß er es wirklich tut; er glaubt^
irgendwo hinabzufallen etc.
2. Lokalisation der Halluzinationen. Die
halluzinierte Empfindung kann von dem Kranken
in die Nähe oder in größere Entfernung projiziert
werden. Visionen treten oft immer wieder an einer
bestimmten Stelle des Gesichtsfeldes auf. Manch-
mal werden die Halluzinationen in das Innere des
eigenen Körpers verlegt, z. B. Stimmen im Leibe.
3. Ents.tehu ngsbedingungen. Bei manclicn Pa-
tienten ist es nötig, daß sie die Augen geschlossen
halten, um Visionen zu bekommen, bei anderen
wieder, daß sie sie geöffnet haben. Sehr wichtig
ist für das Zustandekommen von Akoasmen oft
die Aufmerksamkeit des Patienten; der Kranke
hört Stimmen, sobald er hinhorcht. Blind Ge-
borene haben niemals Visionen, taub Geborene
niemals Akoasmen ; erworbene Blindheit und Taub-
heit dagegen schließen Halluzinationen nicht aus.
Nicht selten lassen sich Halluzinationen dem
Kranken direkt suggerieren.
4. Einfluß der Halluzinationen auf dasDen-
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— 154 —
ken: Es ist von prinzipieller Wichtigkeit, ob der
Halluzinant an die Wirklichkeit der Halluzination
glaubt oder nicht. Ist er von der Wirklichkeit
der Halluzination überzeugt, so kann diese einen
mächtigen Einfluß auf sein Denken und Handeln
ausüben, z. B. kann eine Stimme, welche dem
Patienten zu essen verbietet, ihn davon abhalten,
Nahrung zu sich zu nehmen. Äußerlich beobachtet
man oft: Gespanntes Hinhorchen, Ausspeien, Ab-
wehrbewegungen etc.
5. Vorkommen der Halluzinationen:
a. Psychosen: besonders bei der Halluzinose; bei
dieser finden sich häufig Visionen, während bei
der chronischen Paranoia Akoasmen und andere
Halluzinationen überwiegen;
ß. Neurosen: Hysterie, Chorea und Epilepsie. Bei
Hysterischen und Epileptischen handelt es sich
oft um ganze Erlebnisse (wie im Traume des
Gesunden);
y. Fieberzustände: sogenannte Fieberdelirien;
d, Intoxikationen: Opium, Alkohol (sensuum fal-
lacia ebriosa), Blei, Belladonna etc.;
e. Inanition, Erschöpfung, Schlaflosigkeit.
b. Illusionen.
Illusionen sind Empfindungen, die auf einem äuße-
ren Reiz beruhen, diesem äußeren Reiz jedoch nicht
entsprechen.
1. Gesichtsiliusionen: Die Formen und die Far-
ben eines Gegenstandes können dem Patienten
verändert erscheinen ; so können ihm die Gesichter
der umgebenden Personen als höhnische Gri-
niasson erscheinen. Die Objekte können auch ver-
^'rößcrt oder verkleinert erscheinen: illusionäre
-Ntakropsie und Mikropsie; diese finden sich
hauptsächlich bei Epileptikern.
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155 —
2. Gehörsillusionen: Unartikulierte Geräusche
(Tritte, Scharren, Regen etc) werden als Melodien
oder Reden gehört.
3. Geruchs- und Geschmacksiii usionen : Die
Speisen können nach Kot schmecken, Blütenduft
erscheint als IJringeruch, etc.
4. Berührungsillusionen: z. R. Empfindung einer
Kohabitation durch den Druck einer Reitdecke.
5. Kinetische Illusionen: Ruhende Objekte
scheinen sich zu bewegen.
6. Illusionäre Organempfindungen: Einfache
Darmbewegungen werden als Kindsbewegungen
aufgefaßt; einzelne Körperteile erscheinen dem
Patienten schief oder verzogen.
II. Die Störangen des Denkens.
a. Die Störungen der Vorstellungen.
1. Wahnvorstellungen: sind falsche Vorstellungen,
welche unkorrigierbar sind und sich meist auf die
eigene Person des Patienten beziehen. Man unter-
scheidet hinsichtlich der Entstehung:
a. primäre Wahnvorstellungen: tauelien nieist iui
Anschluß an normale Empfindungen auf.
ß. halluzinatorische \\ almvorstellungen : entstehen
auf Grund von Halluzinationen; wenn z. R. dem
Kranken eine Stimme sagt, im Essen sei Gift.,
so kann ihm dadurcli diese Wahnvorstellung
a n f ge (1 r ä n gt we r d e n .
y. logisch gefolgerte Wahnvorstellungen: schließen
sich an andere Wahnvorstellungen oft mit
großer Konsequenz an.
Der Inhalt der Wahnvorstellungen kann verschie-
den sein:
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— 156 —
c. Der Größenwahn: der Kranke hält sich für
eine Genie, ein Werkzeug Gottes, einen l^ropheten^
einen zweiten Napoleon, einen Krösus usw. Größen-
wahn findet sich liäutig bei progressiver Paralyse,
Manie und Paranoia. Oft verrät sich in den
Größenideen der Intelligenzdefekt, z. B. wenn sich
die Größenideen vollständig widersprechen, der
Kranke sich etwa kurz hintereinander für Gott,
Gottes Sohn, Maria und andere hält
ß. Der Versündigungsw^ahn : Der Kranke glaubt,
eine Sünde begangen zu haben und macht sich
deshalb Vorwürfe; er findet sich hauptsächlich bei
der Melancholie.
y. Die hypochondrische Wahnvorstellung:
der Kranke glaubt, an einer unheilbaren Krank-
heit zu leiden, an Schwindsucht, Rückenmarks-
schwindsucht, Krebs usw ., oder der Kranke glauht,
irgend ein Organ nicht mehr zu besitzen, keine
Lunge, keinen Magen mehr zu haben, in seinen
Adern fließe kein Blut mehr, sein Schlund sei ver-
wachsen usw. Hypochondrische Wahnvorstel-
lungen kommen hauptsächlich bei der Melancholie
vor.
S. Verarmungswahn: hauptsächlich bei Melan-
cholie.
e. Verfolgungswahn: schließt sich oft an andere
Wahnideen an, so z. B. an den Größenwahn; der
Kranke glaubt, von Feinden verfolgt zu werden,
w-eil er sich für eine bedeutende Person hält. Bei
Alkoholikern findet sich häufig der Eifersuchts-
wahn. Verfolgungswahn findet sich hauptsächlich
bei Paranoia.
2. Zwangsvorstellungen sind ebenfalls falsche Vor-
stellungen, die sich dem Kranken aufdrängen,
trotzdem er selbst nicht an sie glaubt. Sie können
zu Zwangshandlungen und Hemmungen führen;
sie finden sich hauptsächlich bei der Neurasthenie
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— 157 —
und anderen psych upathischen Konstitutionen.
Der Inhalt der Zwangsvorstellungen ist ein ganz
verschiedener:
a. Die Agoraphobie: Ein Kranker, der über
einen freien Platz gehen will, hält diesen plötz-
lich für ungeheuer groß und glaubt, nie über
ihn hinüberkommen zu können.
ß. Die Klaustrophobio: macht sich in ge-
schlossenen Räumen geltend; z. B. glaubt der
Kranke im Theater, ein Feuer könne aus-
brechen und ihm der Ausweg versperrt werden,
oder er fürchtet, plötzlich eine Notdurft ver-
richten zu müssen usw.
y. Die Grübelsucht (Folie du doute): Der
Kranke fragt sich beim Anblick eines einfachen
Gegenstandes: warum ist derselbe gerade so
und nicht anders?
d. Die Zweifelsucht: Der Kranke macht sich
Gedanken, ob dieses oder jenes richtig getan
ist (z. B. ob die Brief adresse richtig geschrieben
etc.).
b. Störungen der Ideenassoziationen.
1. Krankhafte Besehlennigung der Ideenassoziatio-
nen, Ideenflaeht: Die Kranken kommen beim
Sprechen vom Hnndi itsten ins Tausendste (Lo-
gorrhoe); ein zufällig fallendes Wort fangen sie
sogleich auf und knüpfen daran die verschieden-
sten Vorstellungen. Verknüpft mit dieser Ideen-
flucht ist nieistons eine gesteigerte Aufmerksam-
keit: Hyporvigilität oder Hyporprosexie.
Ideen riucht findet sich hauptsächlicii bei der
Manie.
2. Krankhafte Verlangsamnng der Ideenassoziation,
Denkhenimun^i:: der Kranke antwortet auf Fragen
langsam oder gar nicht. Vergesellschaftet ist die
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— 158 —
Denkhenmiung meist mit einem Mangel an Auf-
merksamkeit, Aproscxie, und mit motorischer
Hemmung. Die motorische Hemmung äußert
sich in einer Verlangsamung aller Bewegungen, die
entweder ihren Grund in einer Erschlaffung oder
einer zu intensiven Spannung der Muskeln hat;
im ersteren Falle begegnen passive Bewegungen
keinem Widerstand, in letzterem Falle sind passive
Bewegungen erschwert oder unmöglich: kata-
tonische Spannung.
Unter Stupor versteht man den Symptomen-
komplex von Denkhemmung, Aprosexie und mo-
torischer Hemmung.
Die Denkhemmung kann sekundär oder pri-
mär sein. Die sekundäre Denkhemmung ist mei-
stens durch Halluzinationen bedingt. Der Kranke
hört z. B. eine Stimme, welche ihm zuruft, er müsse
in einer ganz bestimmten Stellung beharren, ohne
sich zu rühren. Die primäre Denkhemmung
kommt hauptsächlich bei der Melancholie vor.
3. Die Störungen des Zusammenhanges der Ideen-
assoziation, Dissoziation oder Inkohärenz:
der Kranke gibt auf Fragen Antworten, die gar
nicht passen, z. B. auf die Frage, wie alt er ist,
gibt er seinen Beruf an. Dabei findet sich oft eine
Störung des Wiedererkennens. Gegenstände und
Personen werden verwechselt; der Kranke kann das
Datum, seinen Aufenthaltsort, seine letzten Er-
lebnisse nicht angeben. Dieser Zustand speziell
wird als Unorientiertheit bezeichnet. Die In-
kohärenz kann ebenfalls primär oder sekundär
auftreten:
o. die primäre Inkohärenz findet sich fast aus-
schließlich bei der Halluzinose;
ß. die sekundäre Inkohärenz kann bedingt sein
durch hochgradige Ideenflucht, durch zu zahl-
reiche Halluzinationen und Wahnvorstellungen,
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— 159 —
durch starke Affektsteigerungen und durch In-
telligenzdefekt.
c. Der Intelligenzdefekt.
Der Intelligenzdefekt äußert sich:
1. in einem abnormen Mangel an Erinnerungsbildern
(Gedächtnisschwäche);
2. in Urteilsschwäche; sie kann angeboren oder
erworben sein.
Der erworbene Intelligenzdefekt wird auch als De-
menz bezeichnet. Um zu beurteilen, ob der Intelligenz-
defekt angeboren oder erworben ist, muß man sich er-
kundigen, ob der Schwachsinn erst im späteren Alter
oder schon in der frühesten Kindheit sich geltend ge-
macht hat. Zur Beurteilung der Größe des Intelligenz-
defektes muß man sich darüber orientierten, welche Er-
ziehung, Schulbildung usw. der Patient genossen hat.
In schwereren Graden führt der Intelligenzdefekt
infolge des Verlusts der Erinnerungsbilder zur Inko-
härenz. Die Gedächtnisschwäche kann sich auf Er- '
lebnisse bis zu einem bestimmten Zeitpunkt (retrograd)
erstrecken; zuerst schwindet das jüngst Erlebte.
Größenwahn und Schwachsinn sind die psychischen
Hauptsymptome der progressiven Paralyse.
Inteiligenzprüfung.
I. Gedächtnis (Retention):
a. Schulwissen (Fragen aus der Geschichte, Re-
ligionsgeschichte usw.).
b. Er f ahm ngs wissen: Welche Farbe hat eine 5-
Pf ennigmarke ? usw.
c. Merkfähigkeit:
1. Fragen nach jüngst Vergangenem: Was haben
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Sie gestern getan ? Wann haben wir uns zuletzt
gesehen ?
2. Zahlenprobe: Man gibt dem Patienten eine
Rechenaufgabe (z. B. 5 x 9)^ dann läßt man
ihn 6 einstellige Zahlen nachsprechen (z. B. 3^
5, 8, 1, 2, 6), dann richtet man an ihn irgend eine
belanglose Frage und verlangt schließlich von
ihm die Angabe der Rechenaufgabe und der
vorgesprochenen Zahlen.
Ii. YorstellungsinTentar:
a. Konkrete Vorstellungen:
1. Benennenlassen: Körperteile (Arm, Bein usw.),
Nahrungsmittel (Milch, Tee usw.), Gebrauchs-
gegenstände.
2. Beschreibenlassen.
3. Zeichnenlassen.
b. Abstrakte Vorstellungen:
1. Wiodorerkennen eines Begriffs in einem vor-
erzälilton Beispiel (Dankbarkeit, Lüge usw.).
2. Erfindonlassen eines Beispiels.
3. Dofinicrcnlassen : Was ist Rache ? Was ist Lüge ?
c. Unterscheidung von Vorstellungen: Was ist
der Unterschied zwischen
Ochs und Pferd ?
Treppe und Leiter?
Irrtum und Lüge?
in. Kombination:
a. Vorlegen zusammt^nhängcndor Abbildungen,
z. B. Münchener Bilderbogen, Busch- Album usw.
b. Nacherzählenlassen kleiner Erzählungen;
FracTf» nach der Pointe (was kann man aus der Er-
zählung lernen? usw.).
c. Ergänzungsmethoden: Bei der Ebbinghaus-
sehen Methode legt man dem Kranken einen Text
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vor, in welchem an verschiedenen Stellen Silben
ausgelassen sind, die der Kranke zu ergänzen hat;
z. B. Als ich mit — Mutter — die Stadt fuhr,
da trafen — zwei usw.
IV. Aufmerksamkeit (Tenazität): Abgesehen von
der Beobachtung dos Patienten, wie er einer Erzählung
folgt usw., ist von Wert die Bourdonsche Probe. Man
legt dem Patienten einen sinnlosen Text vor und läßt
ihn alle e oder i oder n ausstreichen. Dann gibt man
ihm einen sinnvollen Text und stellt ihm die nämliche
Aufgabe; hierbei kann man zugleich die Vigilität,
d. h. die Ablenkbarkeit der Aufmerksamkeit (durch
den Sinn des Textes) beobachten.
III. Die Affektstörungen.
1. Die DepresBion oder die krankhafte Traurigkeit
kann primär oder sekundär auftreten.
a. Die sekundäre Depression entsteht durch Hallu-
zinationen oder Wahnvorstellungen, welche Un-
lustgefühl (negative Gefühlstöne) erzeugen; z.B.
kann die Depression eines Paranoikers durch
den Verfolgungswahn hervorgerufen sein.
/}. Primäre Depression stellt sich als eine gänzlich
unmotivierte Traurigkeit dar. Ist die krank-
hafte Traurigkeit im Anschluß an ein ent-
sprechendes Ereignis entstanden, so steht den-
noch ihvv Schwere und Dauer in einem Miß-
verhältnis zu der Schwere des Unglücks; das
ist z. B. der Fall, wenn jemand über den Tod
einer ihm nahestehenden Person monatelang
weint, die Nahrungsaufnahme versteigert usw.
Die primäre Depression findet sich haupt-
sächlich bei der Melancholie, ferner bei der
hyp(H'lu)ndrischen Form der Neurasthenie,
häufig bei der progressiven Paralyse, im Prodro-
malstadium der Manie.
Mayer, Compendium der Nearologie. 8.-5. Aufl. 11
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— 162 —
2. Die krankhafte Angst; sie ist liäufig mit eigen-
tümlichen Sensationen verknüpft, z. B. Beklem-
mungsgefühl in der Herzgegend (Präkordialangst),
oder ein ähnliches Gefühl auf der Brust (Brust-
angst), im Kopf (Kopfangst), im Unterleib (Unter-
leibsangst). Kann der Kranke die Angst nicht lo-
kalisieren, so äußert er gewöhnlich, die Angst sitze
überall.
Oft äußert sich die Angst in den sogenannten
Angstbewegungen: der Patient ringt die Hände,
reibt sich die Finger, manchmal entsteht sogar
ein förmlicher Tremor einer oder mehrerer Ex-
tremitäten. Einen solchen von Angstbewegungen
begleiteten Zustand bezeichnet man auch als
ängstliche Agitation.
Die Depression sowohl wie die Angst bedingen
nicht selten eine motorische Hemmung, entweder
in Form einer völligen Schlaffheit (Resolution) der
gesamten Körpermuskulatur oder in Form kata-
tonischer Spannungen (Attonität). Hemmung und
Agitation kOnnen sich gegenseitig ablösen; daher
darf man z. B. der Hemmung des Melancholikers
nie trauen, weil sie sich plötzlich in Agitation
(Selbstmordversuch) verwandeln kann.
3. Die krankhafte Heiterkeit oder Hyperthymie, Ex-
altation: die primäre tritt unmotivit^ t auf, die se-
kundäre infolge von Halluziiicitionen und Wahn-
vorstellungen, die ein Lustgefühl (positive Gefühls-
töne) erzeugen.
Die Hvperthvmie führt meist zu einer motori-
sehen Unruhe, in leichteren Graden Ubergeschäf-
tigkeit, in schwereren Graden Tobsucht: Be-
wegungsdrang oder hyperthy mische Agi-
tation. Auf den Widerstand der Umgebung
reagiert der Patient meist mit Zornausbrüchen.
Die primäre Exaltation ist das Kardinalsynip-
tom der Manie, sie findet sich aber auch im Ver-
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— lea —
•
laufe der Dementia paralytica, in der Rekonvale-
szenz der Melancholie (reaSctiveHyperthymie); bei
den sogenannten zirkulären Psychosen wechseln
Phasen primärer K x iltation und Phasen primärer
Depression miteinander ab.
4. Krankhafte Apathie: Der Kranke kann ttber nichts
mehr froh, aber auch über nichts mehr traurig sein^
er hofft und fürchtet nichts mehr, das ganze Affekt-
leben ist erloschen. Speziell bei dem erworbenen
Schwachsinn äußert sich die Apathie in einer aus-
gesprochenen Charaktorveränderung, indem der
Kranke Schamgefühl, Wahrheitsliebe, Rechtsge-
fühl verliert.
IV. Die Störungen des Handelns.
1. Krankhafte Ilandlung^en infolge von Empfindungs-
störungen: Halluzinationen und Illusionen bestim-
men die Handlungen des Patienten, besonders
wenn sie in rascher Folge sich häufen. Eine un-
vermittelte Halluzination kann plötzlich zu einer
unerwarteten Gewalttätigkeit des Kranken gegen
sich oder seine Umgebung führen.
2. Krankhafte Handlungen infolge von Intelligenz-
defekt: Z. B. kann ein Schwachsinniger ein schwe-
res Verbrechen (Totschlag usw.) begehen.
3. Krankhafte Handlungen infolge Yon Affektstö-
rungen:
a. die hyy)erthymische Agitation;
ß. Zornausbrüche und Tobsuchtsanfälle;
y. dio ängstliche Agitation;
ö. die motorische Hommnng.
Einen charakteristischen Einfluß haben die patho-
logischen Affekte besonders auf die Ausdrucksbewe-
gungen (das Mienenspiel, den Gesichtsausdruck, die
Sprechweise usw.).
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— 164 —
Die Degenerationszeichen.
Die Dpgenereitionszeichon sind körperliche Zeichen,
welche eine Störung in der Anlage und Entwicklung des
Individuunis verraten. Über ihre pathognonionische
Bedeutung sind die Anscliauungen geteilt; nach meiner
Ansicht läßt ihr Vorhandensein stets auf eine de-
gcnerative Konstitution des Nei'ven Systems
schlielien, selbst wenn es bei dem betreffenden Indi-
viduum niemals zum Auftreten von Störungen des Ner-
vensystems kommt. Wir unterscheiden:
a. Anatomische Degeneratioiisseiehen (die besonders
wichtigen sind durch den Druck hervorgehoben):
1. Abnorme Schädelbildungen: Auffallende Asym-
metrie des Schädels, Depressionen, Vorwöl-
bungen usw.
2. Abnorme Gaumenbildungen: Steiles Gaumen-
gewölbc, gespaltene Uvula, Hasenscharte^
Wolfsrachen usw.
3. Finger- und Zehenabnormitälrn : Syndaktylie
(Verwachsung von Zehen), Polydaktylie (über-
zählige Finger oder Zehen).
4. Abnormitäten am Olir: Verkümniorung der
Fossa helicis, ane:ewachsenes Ohrläppchen,
Spitze am Helix (fälschlich Darwinsche Spitze),
abstehende Ühren.
5. Abnormitäten des llaarwiK'hses : Ineiiiander-
übergehen der Augenbrauen, vordere Haargrenze
kann weit in die Stirne hineinreichen, Verdop-
pelung des Haarwirbels. H ypcrtrichosis ; Nacvi,
i)esondcrs im Gesicht, Polymastie (rudimentäre,
überzählige Brustwarzen).
6. Unregelmäßiirc Stellung der Zähne, Persistieren
des Milchgebisses.
7. Abnormitäten der Genitalien: Epispadie, Hypo-
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— 165 —
spadie, Kryptorchismus, infantiler Uterus, ver-
frühtes Auftreten der Menstruation, Phimose,
konträr-geschlechtlicher Habitus.
b. Funktionelle De^enerationszeichen:
1. Verspätetes Geh(Mi- und Sprecheniernen.
2. Enuresis nocturna.
3. Neigung zu Exzessen und Perversitäten.
4. Widerstand slosigkeit gegen Gifte, besonders
gegen Alkohol.
5. Eigentümliches, besonders inspiratorisches La-
chen (das normale Lachen ist exspiratorisch).
6. Neigung zu überwertigen Einfällen.
c. Stoffwechselkrankheiten als Degenerationszeichen:
1. Harnsaure Diathese (Gicht).
2. Diabetes mellitus.
3. Gallensteine.
Als Ursache der Mehrzahl der Psychosen be-
«,'
trachtet man die angeborene Schwäche oder Degene-
ration des Xervensvstems; das auslösende Moment
bildet eine Infektion oder Intoxikation ir^i^end einer
Art: der Sy])hilitiker erkrankt vorzugsweise dann an
Tabes oder J)i'ni(M\tia paralytica. dpr Alkoholii<er dann
am clironischen Delirium, wenn (^r gleichzeitig «'ine
dogenerat i ve Konstitution besitzt. Auslösende
Moniente smd:
1. endogene Gifte:
a. physiologische Stoffwechselprodukte (Gene-
rationszeiten, Senium etc.);
b. pathologische Stoffwechselprodukte (Diabetes,
Gicht etc.);
c. unbekannte Gifte (Epilepsie, Katatonie);
2. exogene Gifte: Infektionen und Intoxikationen.
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— 166 —
Gang der psychischen Untersuchung.
A. Anamnese.
Die Anamnese hat man sowohl von dem Patienten
selbst (subjektive Anamnese), als auch von dessen Um-
gebung (objektive Anamnese) zu erheben; die Anamnese
hat zu berttcksichtigen :
1. Heredität: Psychosen, Nervenkrankheiten, Selbst-
riiord, Syphilis, Trunksucht, Verbrechen, Ver-
wandtschaftsehe der Eltern;
2. körperliche Entwicklung: Zeitpunkt des Laufen-
lernens, Schluß der Fontanellen, Dentitionsver*
hältnisse;
3. Schulbildung, Leistungen in der Schule;
4. berufliche Tätigkeit;
5. eheliche Verhftltnisse, sexueller Verkehr, bei Frauen
Puerperien;
6. Gemüt, Charakter, Neigungen;
7. frühere Erkrankungen (besonders Syphilis);
8. sonstige Schädlichkeiten: geistige oder körperliche
Überanstrengungen, Gemütserschütterungen, Al-
koholismus, Nikotinismus;
8. Entwicklung der jetzt bestehenden Psychose.
B. Psychischer Status praesens.
I. Allgemeines Verhalten:
1. Gesichtsausdruck, Mienenspiel,
2. Sprechweise,
3. Handlungen:
a. Spontane Bewegungen,
ß. aufgetragene Bewegungen,
y. Reaktion auf passive Bewegungen.
II. Empfindungen: Halluzinationen und Il-
lusionen ; deren Form, Farbe, Größe usw. ; Feststellung,
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wie der Patient über die Wirklichkeit seiner Sinnes«
tttuschunifen denkt.
III. A ff ekte: Traurigkeit, Angst, Hoitorkeit, Reiz-
barkeit; Frage, ob die Affektstörung dauernd besteht
(Melancholie, Manie) oder nur mitunter auftritt (Neur-
asthenie, Hysterie).
IV. Vorstellungen:
1. Prüfung auf Intelligenzdefekt: Schulkenntnisse,
historische Fragen» Fragen nach Lebensschick-
salen des Patienten;
2. Prüfung der Merkfähigkeit: Fragen nach den jüng-
sten Erlebnissen; Fähigkeit, sich mehrstellige Zah-
len zu merken usw.;
3. Wahnvorstellungen.
V. Ideenassoziation:
1. Aufmerksamkeit (Teilnahmslosigkeit, Neugier);
2. Geschwindigkeit der Ideenassoziation;
3. Orientiertheit : heutiges Datum, augenblicklicher
Aufenthaltsort, Personen der Umgebung usw.
Zur Klinik der Geisteskranken: Die Geistes- und
Gemütskranken zeigen sich uns in einem bestimmten
Zust an(lsl»il d : man versieht darunter die Summe der
zu geg(^h(Mi('r' Zeit vorhandenen KrankheitssvFiiptome.
Verschiedene Erkrankungen küiineii ähnliche
Zust andsbilder aufweisen (z. B. Depression kommt
bei .Melan< hnlie, Paralyse etc. vor); aus dem Wechsel
der Symptome und anderen Befunden erst läßt sich
die Krankheitsdiagnose stellen.
Einteilung der Psychosen.
Die große Zahl der Psychosen wird von verschie-
denen Psychiatern ganz verschieden eingeteilt. Wir
schließen uns in unserer Einteilung an Ziehen an.
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— 168 —
Zunächst teilen wir ein in Psychosen ohne Intelli-
genzdefekt und Psychosen mit Intelligenz-
defekt. Die Psychosen ohne Intelligenzdefekt teilen
wir wieder ein in einfache Psychosen und zusam-
mengesetzte oder periodische Psychosen. Die
Psychosen mit Intelligenzdefekt teilen wir ein in Psy-
chosen mit angeborenem Schwachsinn und Psy-
chosen mit erworbenem Schwachsinn.
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B. Spezieller Teil
Psychosen ohne Intelligenzdefekt,
a. Einfache Psychosen.
Helaneholie*.
Symptome:
a. Psychisclie Symptome:
1. Depression, manchmal mit Angst verbunden.
2. Erschwerung des Vorstellungsablaufes.
3. Motorische Hemmung: Abulie (Unschlüs-
sigkeit).
4. Wahnvorstellungen: sind bei der Melan-
cholie Kleinheitsvorstellungen:
a. Versiindigungswahn.
ß. Verarmungswahn.
y. Kraiikheits- oder Hypociiondrischer Wahn.
b. Somatische Symptome:
1. Mangelhafter Schlaf.
2. Schlechte Ernährung; Salzsäuresekretion des
Magens, Speichelsekretion, Tränensekretion
(tränenloses Weinen) meist herabgesetzt.
3. Respiration: meist verlangsamt, nur bei Angst-
affekten beschleunigt.
* Krtapelln ond leliw Schale kennen nur dne refaie MelanclioUe des Bttek-
blldnngtttten; die anderen ]>m»reMloneii xeclmet er snm msniieh'depnsslvi»! Im -
eefai, nementto pnweox» ^iteile ete.
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— 170 —
Ätiologie: Die Melancholie ist endogenen Ur-
sprungs; sie kann ererbt sein: gleiohartige Vererbung
(Vater oder Mutter hat meistens auch an Melancholie
gelitten).
Gelegenheitsursachen (auslösende Momente):
1. Gencrationsvorgänge: Pubertät und Klimakterium
werden am häufigsten befallen.
2. Trauma.
3. Affektstöße: hauptsächlich akute (Todesfälle,
Geldverlust, Entlobung, Verlobung, plötzliche Ver-
setzung in andere Verhältnisse); daneben kommen
auch chronische Affektstöße in Betracht (Kummer,
Heimweh usw.); dagegen fast gar nicht perakute
(Schreck usw.).
4. Gravidität (Furcht vor der Entbindung).
5. Neurosen: Neurasthenie, Hysterie, Epilepsie.
6. Chronischer Alkoholismus: führt zu schweren
Formen der Melancholie.
Varietäten:
1. Hypochondrische Melancholie, von vielen
Psychiatern auch einfach Hypochondrie ge-
nannt: Überwiegen der hypochondrischen Vor-
stellungen.
2. Passive Melancholie: Depression ohne Angst.
3. Aktive Melanrholie oder Melancholia
agitata: D(»prossiuii mit Angst.
4. Stuporöse Mf'laneholie oder Melancholia
attonita: mit katatonischen Zuständen.
5. Hypomplancholie oder Melancholia sim-
plex: lei( hte Form der Melancholie, bei der nur
Depression besteht.
6. Apathische Melancholie: Mangel aller Affekte
und Gefühl der Traurigkeit eben wegen dieses
Mangels.
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— 171 —
7. Halluzinatorische Melancholie: selten; es
bestehen Sinnestäuschungen von geringer Leb-
haftigkeit.
Yerlaof: Die Melancholie dauert 2 — 6-r-8 Monate.
Prodromalstadium fehlt h&ufig^ manchmal gehen ga-
strische Beschwerden, Reizbarkeit und Erechlaffung der
Depression voraus. Häufig findet sich ein Nachstadium
mit reaktiver Hyperthymie (Ausgelassenheit).
Die Melancholie kann ausgehen:
1. in Heilung: in den meisten Fällen;
2. in chronische Melancholie;
3. in Tod durch Selbstmord oder Nahrungsverwei-
gerung;
4. in sekundäre Demenz.
Prognose: günstig; Rezidive sind ziemlich häufig;
es gibt Fälle, in denen eine periodische Wiederholung
der Melancholie vorkommt: periodische Melan-
cholie^ oft mit jahrelangen Intervallen.
Differentialdiagnose:
1. gegen Neurasthenie: der Neurastheniker ist
nur zeitweilig deprimiert, nicht kontinuierlich
wie der Melancholiker;
2. gegen Paranoia:
a. die Depression und Angst sind bei den Para-
noikern Folgezustände des Verfolgungswahn-
sinns ;
ß, der Paranoiker besrliwert sich über die Unge-
rechtigkeit der Verfolgung, der Melancholiker
dagegen fühlt sich schuldig;
3. gegen Dementia paralytica, senilis, hebe-
phrenica: bei diesen ist stets ein Intelligenzdefekt
vorhanden; bei der Dementia paralytica außerdem
noch somatische Symptome: Pupülenstarre,
Sprachstörungen usw.
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— 172 —
Therapie:
a. Behandlung der Melancholie mit Angst.
1. Aufnahme in geschlossene Anstalt wegen der
Suizidgefahr; vor der eventuellen Aufnahme ge-
naue Aufsicht:
a. Verwahrung der Fenster und Türen;
ß, Fernhaltung von Instrumenten (Messer,
Schere);
y. Verhütung des Erhängens.
2. Absolute Bettruhe.
3. Opium: 3mal täglich 0,05 steigend bis auf 0,3;
Opium hat bei Melancholie seiton Obstipation
zur Folge; da das Opium die Salzsäurosokrotion
des Magens herabsetzt, so gibt man am besten
gleichzeitig von einer Lösung von Acid. hydro-
chlor. 3,0 : 200,0 Va Stunde nach jeder Mahl-
zeit einen Eßlöffel auf ein Glas Wasser.
4. Hydropathisclie Einpackungon : abends 24° C.
eine Stunde lang; bei Beschleunigung des Pulses
muß die Einpaclvung abgebrochen werden.
h. Melancholie ohne Angst:
1. Bei ungünstiger Vermögenslage Einlieferung in
eine geschlossene Anstalt, bei günstiger in eine
offene Pri vat anstatt ; man vermeide mö|[lichst
den Verbleib des Kranken in seiner eigenen
Familie.
2. Bettruhe an einem Teil des Tages.
3. Leichte körperliche Beschäftigung.
4. Lektüre, aber keine humoristische.
Stets denke man an die Suizidgefahr, besonders
bei den motorisch nicht gehemmten Kranken, und über-
zeuge sich durch vorsichtiges Anfragen, ob der Kranke
mit Selbstmordgedanken umgeht.
Forensische Bedeutune: der Melancholie: Die Angst-
zustände können zu krimineiiea Handlungen führen^ zu
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— 173 —
Brandstiftungen, Kindsmord usw., auch kommt es vor,
daß Melancholische sich eines von einem anderen aus-
geführten Verbrechens bezichtigen. Die Verbrechen des
Melancholikers iint erliegen nicht dem Strafgesetz, weil
die Melancholie als krankhafte Störung der Geistes-
tätigkeit" zu betrachten ist.
Manie*.
Symptome:
1. Hyperthymie, manchmal mit Zornaffekten;
2. Ideenflucht (Ablenkbarkeit durch kleinste Ein-
drücke) ;
3. Bewegung« drang (Agitatio); Rededrang etc.;
4. Wahnvorstellungen: Renommage, Größenideen;
dabei bleibt meist ein geringes KrankheitsbewuBt-
sein erhalten ;
5. Hypervigilität (H yperprosexie);
6. Schlaflosigkeit (Agrypnie).
Ätiologie:
1. Geschlecht: bei dem weiblichen häufiger als bei
dem männlichen;
2. Alter: bevorzugt ist die Pubertätszeit und das
mittlere Lebensalter;
3. Heredität in der Mehrzahl der Fälle.
Gelegenheitsursaehen : Perakute Affektstöße
(Schreck, Zorn); Generiitionszeiten, Eintritt in eine
neue Bescliältigung; Schwäcliezustände nach erschöp-
fenden KrankluMten (Entbindungen usw.).
Varietäten :
1. Mania levis oder Hypomanie: es besteht nur eine
mäßige Ausgelassenheit ohne Ablenkbarkeit;
2. Mania gravis: die motorische Agitation steigert
sich zur Tobsucht (Mania furiosa).
* Eraepelin kennt keine reine Mauie, sondurn nur ein manisches Stadium
dM nwnlMh-depressiTen Imsefa».
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— 174 —
Yerlanf: zeigt gewöhnlich drei Stadien:
1. ein depressives Vorstadium: Dauer 2 — 8 Wochen;
2. das exaltierte Hauptstadium;
3. ein depressives Nachstadium.
Dauer der Manie durchschnittlich 5 Monate.
Ausgang:
1. Heilung: in 90 Vo der Fälle;
2. Tod: durch Herzschwäche, Verletzungen im Tob-
suchlsanfall usw.;
3. sekundäre Demenz;
4. chronische Manie.
Prognose: günstig; die Krankheit neigt jedoch zu
Rezidiven und insbesondere zu periodischem Verlauf.
Dilf erentialdiagnose :
1. gegen normale ähnliche Charakterverän-
derungen: gegen diese spricht es, wenn sich der
Symptomenkomplex ganz frisch entwickelt hat,
und wenn Schlaflosigkeit besteht;
2. gegen Dementia paralytica: liier bestehen In-
telligenzdefekt und meist somatische Symptome;
3. gegen Amentia: hier sind Ideenflucht, Bewe-
gungsdrang und Exaltation sekundär bedingt und
abhängig von den Halluzinationen;
4. gegen epileptische Dämmerzustände: hier
besteht nach dem Dämmerzustand Amnesie, wäh-
rend bei dem maniakalischen die Erinnerung an
die Erlebnisse während der Krankheit erhalten
bleibt;
5. gegen Dementia senilis und hebephrenica:
hier besteht Intelligenzdefekt.
Therapie:
1. Einlieferung in eine geschlossene Anstalt bei den
schweren Formen; in leichteren Fällen womöglich
offene Anstalt;
2. Bettruhe im Einzelzimmer;
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— 175 —
3. Einschrftnkung äußerer Sinnesreize: Verbot von
Briefen und Besuchen;
4. prolongierte Bäder;
5. Medikamente: In schwereren Fällen.
a. Bromsalze.
ß. Hyoscin 0,6 — 0,8 mg subkutan, bis 3mal täglich.
6. Sulfonal, Trional usw. gegen Schlaflosigkeit,
y. Ernährung: Vermeidung von Alkohol, Kaffee
oder Tee; man gibt Milch und feingeschnittene
Speisen.
Forensiche Bedeutung: Die häufigsten kriminellen
Handlungen sind Körperverletzung, Beleidigung, Not-
zucht, Widerstand gegen die Staatsgewalt usw. Der
Kranke ist nicht verantwortüch im Sinne des Straf-
gesetzes.
Amentia.
Paranoia hallucinatoria acuta.
Symptome:
1. Sinnrstäuschungen: Halluzinationen und Hlu-
sionen; es überwiegen die Visionen. Das Krank-
heitsbewußtsein fehlt.
2. Affektlage: gemischt und sprunghaft
wechselnd; abhängig von dem Inhalt der Hal-
luzinationen.
3. Motorisches Verhalten: ebenfalls verschie-
den je nach dem Inhalt der Sinnestäuschungen,
meist findet sich tobsüchtige Erregung und Agi-
tation (Angst, Zorn, Fluchtversuche usw.); häufig
ist auch motorische Hemmung, hauptsächlich in
katatonischer Form. Manche Kranken machen
wiederholt diesolbon Bowo^jungon infolge immer
wiederkehrender gleicher Halluzinationen: Stereo*
type Bewegungen.
4. Unorientiertheit und Inkohärenz: beson-
ders, wenn sich die Halluzinationen sehr häufen;
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— 176 —
5. Wahnvorstellungen: besonders Verfolgungs-
ideen; zu einer logischen Systembildung kommt
es nicht infolge des allzu häufigen Wechsels der
Sinnestäuschungen.
Ätiologie:
1. Puerperium: in der zweiten Hälfte der ersten
und in der ersten Hälfte der zweiten Woche;
2. Erseliöj) i'un i^: Blutverlust, Kachexie;
3. nach akuten Infektionskrankheiten;
4. Intoxikationen.
Verlauf: Die Halhizinationen treten plötzlich in
zahlloser Monere auf (lawinenartiger Betjinn). Die Krank-
heit daiKMt 3-4-6 Monate. Die Erinnerung an die
Erlchiiisse während der Krankheit ist zwar erhalten,
aber doch etwas lückenhaft.
Ausgänge:
1. Heilung: in 70% der Fälle;
2. Tod: in fast 20% der Fälle infolge Erschöpfung
durch Abstinenz, Selbstmord usw.;
3. sekundäre Demenz: in ungefähr 10% der Fälle;
4. Paranoia hallucinatoria chronica.
Prognose: vgl. Verlauf; Rezidive sind ungemein
häufig.
Varietäten:
1. Die ideen flüchtige Form: hier gesellt sich zu
den Halluzinationen und Wahnvorstellungen
dauernde primäre ldc(Mifliicht.
2. Die st 11 poröse Form: hier gesellen sich zu den
Halluzinationen imd Wahnvorstellungen dauernde
primäre Deukheiniiiiiiiij: niid motorische Hemmung.
3. Die inkohär(Mite Forin : hie?- gesellt sich dauernde
primäre Inkohärenz und dauernde primäre Un-
orientiertheit dazu.
4. Die exaltierte Form: mit dauernder primärer
Exaltation.
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5. Die depressive Form: mit dauernder primärer
Depression.
Differentialdiagnose :
1. Gegen Manie: die Manie verläuft im all^n>meinen
ohne Halluzinationen; wenn Halluzinationen bei
ihr auftreten, so sind dennoch die manische Exal-
tation, Ideenflucht usw. ganz unabhängig von den
Halluzinationen; bei Beginn der Amentia bilden
die Halluzinationen meist das erste Symptom, bei
der Manie Exaltation und Ideenflucht.
2. Gegen Melancholie: hier ist Depression primär;
bei der seltenen Melancholia halhicinatoria sind
die Halluzinationen erst später hinzugetreten.
3. Gegen Dementia paralytica: bei dieser be-
stehen meist somatische Symptome und stets der
Intelligenzdefekt; die Anamnese ergibt meist das
längere Vorausgehen von Zeichen der Urteils-
schwäche.
4. Gegen Dämmerzustände: hier besteht Anal- •
gesie; nach Ablauf des Dämmerzustandes Am-
nesie.
Therapie :
1. Einlief erung in eine Anstalt;
2. Bettruhe;
3. ständige Überw^achung: wegen der Selbstmord-
gefahr und der Gemeingefährlichkeit;
4. Überernährung;
5. Medikamente: Opium und Ghloralamid; Hyoscin
ist geradezu kontraindiziert, weil es leicht auch bei
Gesunden Halluzinationen hervorruft, nur bei den
äußersten Erregungszuständen ist es anzuwenden.
Forensische Bedeutimg: Es kommen Körperver-
letzung, Totschlag usw. vor; der Kranke ist natürlich
unverantwortlich.
Mayer, Compendium der Nenrologie. 3.— 5. Aufl. 12
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Paranoia ehronlea hallueinatoria.
Symptome:
1. Sinnestäuschungen;, Halluzinationen und Illu-
sionen; CS überwiegen die Akoasmen. Die Hallu-
zinationen stellen sich nicht lawinenartig auf ein-
mal ein wie bei der Anientia, sondern ganz all-
mählich, gleichsam tropfenweise.
2. Wahnvorstellungen: Diese sind sekundär
durch die Sinnestäuschungen bedingt; Verfolgungs-
ideen überwiegen, da auch die Halluzinationen
meist eine feindliche Beziehung zu dem Patienten
zeigen.
3. Affektstörungen: Die Affcktlage ist adäquat
den Halluzinationen; sehr selten finden sich schwere
sekundäre Affektstörungen.
4. Die Handlungen des Paranoikers sind oft gar
nicht auffällig, nur selten beobachtet man stupo-
röse oder agitierte Zustände, je nachdem hemmende
oder agitierende Halluzinationen vorherrschen.
Ätiologie:
1. Die erbliche Belastung: spielt eine sehr große
Rolle.
2. Exzessive Masturbation,
3. Klimakterium.
4. Kampf ums Dasein.
5. Chronische Reizzustände: gynäkologische
Erkrankungen, chronischer Paukenhöhlenkatanrh.
6. Neurosen: Hysterie, Epilepsie.
Verlauf: Die chronische halluzinatorische Paranoia
kann sich aus einer Amentia entwickeln, meist jedoch
entwickelt sie sich von Anfang an chronisch. In diesem
Falle treten die Halluzinationen ganz allmählich auf,
anfangs oft in monatelangen Pausen. Erst später treten
dann Wahnvorstellungen des verschiedensten Inhalts
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dazu. Diese Wahnvorstellungen bleiben lange Zeit an-
nähernd konstant und werden nur allmählich gemäß den
neu hinzutr(^lenden Halluzinationen modifiziert. In-
telligenzdefekte finden sich nicht.
Remissionen von mehrmonatlicher Dauer sind häu-
fig, aber noch häufiger sind akute Exazerbatiouen.
Ausgänge :
1. Heilung: sehr selten.
2. Tödlicher Ausgang: ehenfalls selten.
Prognose: quoad sanationem ungünstig.
Bifferentialdiagnose :
1- gegen Melancholie: vgl. S. 169;
2. gegen Manie: vgl. S. 173;
3. gegen Dementia paralytical j .
4. gegen Dementia senilis J mtemgenzauekt.
Therapie:
1. Kausalindikutionen : Entziehung von Alkohol, Be-
kämpfung von Masturbation, Behandlung gynäko-
logischer Leiden usw.
2. Beschäftigung mit körperlicher und geistiger Arbeit.
3. Stets Anstaltsaufnahme.
Forensische Bedeutung: Der Paranoiker kann in-
folge der Sinnestäuschungen oder der Wahnvorstel-
lungen Gewalttätigkeiten, Mord usw. begehen. Er ist
selbstverständlich unzurechnungsfähig.
Paranoia ehroniea •implex.
Symptome:
1. Wahnvorstellungen: diese sind stets pri-
mär, also nicht durch Sinnestäuschungen her-
vorgerufen; zuerst finden sich nur unbestimmte
Wahnvorstellungen, diese nehmen allmählich be-
stimmtere Gestalt an, und schließlich entsteht ein
logisch geordnetes System von Wahnvorstellungen.
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Unter den Wahnvorstellungen überwiegen die Ver-
folgungs- und Größenideen.
2. AffektstOrungen: sind selten.
3. Sinnestäuschungen: sind ebenfalls selten und
spielen nur eine nebensächliche Rolle.
4. Handlungen: infolge der Wahnvorstellungen
begeht der Paranoiker die verschiedensten Hand-
lungen; er strengt Prozesse gegen seine vermeint-
lichen Verfolger an, denunziert sie, schreibt Briefe
an Damen, von denen er sich fälschlich geliebt
glaubt usw.
Ätiologie:
1. Heredität: insbesondere allgemeine schwere erb-
liche Belastung findet sich in 90®/o der Fälle.
2. Klimakterium.
3. Chronische Affekteinflüsse: Kummer und
Zurücksetzung.
4. Hysterie.
Verlauf:
1. Prodromalstadium: mit unbestimmten Walm-
Yorstellun2:on : das Benohmen der Umgebung fällt
dem Kranken auf; er glaubt, man beobachte ihn
schärfer usw.
2. Das Stadium der bestimmten Wahnvor-
stellungen: entwickelt sieh aus dem Prodromal-
stadium bald allmählieh. bald plrdzlich ; er glaubt
jetzt z. B., daß alle Menschen, auf der Straße, in
Restaurants, kurz überall, ganz genau üImm- ihn
Bescheid wissen und die Werkzeuge seiner Feinde
sind.
3. Das Stadium der Bildung eines Walin-
svstems: zu den Verfolerun<'sideen treten nun
meist auch (irößenideen ; der Kranke wirft sich
die Frage auf, weshalb num ihn verfolgt, und
kommt zu dem Schlüsse, daß er eine ganz beson-
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ders wichtige Person sein müsse. Er glaubt z. B.,
man möchte ihn aus dem Wege räumen, weil er
eventuell einen großen VermOgensanspruch erheben
könnte; er glaubt, man will seine Ehe mit einer
Fürstin hintertreiben.
4. Das Stadium der Pseudodemenz: die wahn-
bildende Kraft ist erschöpft, der Kranke ist ganz
apathisch geworden; dieses vierte Stadium ist
selten.
Prognose: quoad saiidtioiK iu ungünstig; Remis-
sionen und Stillstände komnion vor.
Differentialdiagnose: Wir wollen hier an einem
Beispiel die Wahnvorstellungen bei einigen Psychosen
vergleichen :
a. Der Paranoikf>r sagt: ..Es lieij^t wie ein Stein
vor in einem After, meine Feinde haben ihn irgend-
wie daliiii gezaubert'*:
b. der Melancholiker sagt: ,,E8 liegt wie ein Stein
vor meinem After, aber ich habe dies Unglück
mir durch meine Sünden selbst zugezogen":
c. der Paralytiker sagt: ,,Es liegt wie ein Stein
vor meinem After; ich glaube, es ist ein großer
Diamant".
Man muß diif erentialdiagnostisch abgrenzen gegen :
1. Paranoia hallucinatoria chronica: Bei
dieser bestehen von Anfang an Halluzinationen,
welche erst sekundär die Wahnvorstellungen er-
zeugen.
2. Dementia paralytica: Hier bestehen Inteili-
genzdefekt und somatische Symptome.
3. Physiologisches Mißtrauen und physiolo-
gischen 1 1 o c h m u t : 1) i ese sind korrigierbar, sie
beruhen bloß auf Irrtum.
Therapie: ist für die Heilung völlig aussichtslos:
1. Stets Anstaltsaufnahme wegen der großen Gemein-
gefährlichkeit der Kranken;
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2. die Walinvorstellungen ignoriere man völlig; z. B.
wenn der Kranke glaubt, im Essen sei Gift, so
esse man, ohne Worte zu verlieren, selbst von dem
Essen ;
3. körperliche Beschäftigung.
Forensische Bedeutung: die gleiche wie bei Para-
noia chronica liallucinatoria.
Alkoholpsychosen.
Der chronische Alkoholismus.
Ätiologie:
1. angeborene Trunksucht: psychopathische Konsti-
tution; Heredität: Alkoholismus, Epilepsie etc.
der Eltern;
2. erworben: Beruf, Aufregungen, schlechtes Milieu
etc.
Symptome: Affektlage: Reizbarkeit, die sich bis
zu Mißhandlungen und anderen Delikten steigern kann.
Ethische Defekte: Arbeitsscheu, Vernachlässigung der
Familie; Intelligenz- und Merkdefekte, Herabsetzung
der Arbeitskraft.
Somatisch: Vomitus matutinus, Tremor manuum,
Arteriosklerose, Herzverfettung, Lebercirrhose etc.
Therapie: Abstinenz, Eintritt in Abstinenzvereine,
Anstaltsbehandlung.
Die verschiedensten Quantitäten, oft ganz geringe
Alkohol mengen schon kiinnen pathologische Erschei-
nungen hervorrufen; man unterscheidet:
1. den pathologischen Rausch,
2. den alkoholischen Eifersuchtswahn,
3. die Dipsomanie (vgl. S. 211),
^. die akute Halluzinose der Trinker,
5. das Delirium tremens,
6. die Polyneuritis alkoholica (vgl. S. 114),
7. die Korsakowsche Psychose (vgl. S. 232).
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Der pathologische Rausch.
Ätiologie: psychopathische Konstitution.
Auslösende Ursachen: Affekte (z. B. Erregung über
Sistierung etc.); sexuelle Exzesse, Infektionskrank-
heiten.
Symptome:
1. Orientierungsverliist :
2. Situationsverkeiinung mit Bezieh iingswahn;
3. Angstzustände (hierdurch oft Gewaltakte);
\. Terminaler Schlaf; darauf Amnesie für den Zu-
stand.
Dauer: einige Minuten bis längstens eine Stunde.
Der Eifersuchtswahn der Trinker.
Der Alkoholist mißtraut (oft infolge eigener Im-
potenz) seiner Frau (überall sieht er Spuren eines Neben-
buhlers) und läßt sich zu Gewalttaten hinreißen.
Prognose: günstig bei Alkoholentziehung und An-
staltsbehandlung.
Die akute Halluzinose der Trinker.
Paranoia halluzinatoria acuta alkoholica.
Symptome:
1. Sinncstäusi^hungen : scharf lokalisierte, akustische
Halluzinationen von taktmäßigem Charakter; In-
halt: bedrohlieh.
Visionen sind von untergeordneter Bedeutung.
2. Affektlage: adäquat dem Inhalt der Halluzina-
tionen.
3. Motorisches Verhalten: entspricht den Bewußt-
seinsstörungen (Zorn, Angst, Suizid etc.).
4. Schlaf: gestört.
5. örtliche Orientierung, Kombinations- und Merk-
fähigkeit: intakt; Gedächtnis: gut. Der Kranke
ist besonnen.
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6. WahnYorsteUung: Neigung zur Systematisierung.
Verlauf: Dauer Tage bis 2 Monate. Prodromal
häufig: Sausen, Kopfschmerz, Erschwerung dos Den-
kens; plötzliches Einsetzen der Gehörstäuschungen.
Die Erinnerung an die Halluzinationen ist bis in De-
tails erhalten.
Ausgänge:]
1. Meist Heilung.
2. Tod selten, meist durch Suizid.
3. Ubergang zum Delirium tremens oder zur alko-
holischen Demenz.
Prognose: günstig bei Alkoholentziehung.
Therapie: s. o.; Symptomatisch: Schlafmittel, Bä-
der etc.
Das Deliriam tFamens.
Das Delirium tremens ist gleichsam eine perakute
alkoholische Halluzlnose; es befällt ausschließlich chro-
nische Alkoholisten.
Symptome:
1. Sinnestäuschungen:
a. Halluzinationen : es überwiegen die optischen und
taktilen. Die Visionen sind ausgezeichnet durch
die zahllose Menge, die Bewoglichkoit und Klein-
heit der visionären Figuren (Käfer. Mäuse usw.);
b. Illusionen: Verkennung der Umgebung: der
Kranke glaubt sich bei seiner Alltagsbeschäf-
tigung, im Wirtshaus etc.
2. Suggestibilität für Sinnestäuschungen: besonders
Visionen lassen sich leicht erzeugen (Bulbusdruck);
3. Merkfähigkeit: gestört; dafür Verlegenheitskon-
fabulation. Gedächtnis: früher Erlebtes^ geistiger
Besitzstand lückenlos;
4. Desorientiertheit und Inkohärenz: besonders glaubt
der Delirant überall. Bekannte zu erblicken;
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5. Wahnvorstellungen : schließen sich meist sekundär
an die Sinnestäuschungen an;
6. Bewegungb- und Beschäftigungsdrang; Tremor der
Hände, Füße und Zunge;
7. profuse Hyperhidrosis, schwere Albuminurie,
Schlaflosigkeit.
Ätiologie: Chronisches Schnapstrinken von min-
destens 7 Jahren.
Gelegenheitsursachen :
1. Somatische Erkrankungen: besonders Lungenent-
zündung, Blutverluste, Phlegmonen, epileptische
Anfälle etc.;
2. plötzliche Änderung der Lebensweise: Entziehung
des gewohnten Alkohols (durch Gefängniseinliefe-
rung, Krankheit etr.), starker Alkoholexzeß.
Man nimmt an, daß es sich um eine Autointoxi-
kation handelt; das durch Alkohol veränderte Gewebe
kann das Toxin nicht mehr ausscheiden.
Yerlaof : Dem Delirium gehen meist prodromal un-
ruhiger Schlaf mit ängstlichen Träumen, Paraphasie etc.
voraus; die Desorientierung beginnt meist plötzlich,
dauert im allgemeinen nicht länger als 4 Tage ; es endet
kritisch mit einem längeren S( lilaf. Für die Vorgänge
während der Erkrankung besteht volle Erinneriins^, die
Wahnvorstellungen werden bald korrigiert; jedocli hält
der Kranke oft noch lange Zeit an der Realität der
Halluzinationen fest.
Varietäten: Abortives Delirium; es bestehen nur
die Prodromalerscheinungen.
Ausgänge:
1. Heilung in 90^0 d^i* Fälle ; jedoch meist mit Defekt.
2. Tod in iO^/o der FdUe durch Herzschwäche, Ver-
letzung oder durch die betreffende auslösende Er-
krankung. Neuerkrankungen sind sehr häufig, da
die Kranken meist der Trunksucht verfallen sind.
3. Übergang in das chronische Delir (vgl. S. 231).
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Prognose: vgl. Verlauf.
Differentialdiagnose:
1. gegen alkoholische Halluzinose: diese dauert be-
trächtlich länger; es gibt jedoch protrahierte For-
men des Deliriums, die mit kurzdauernden Fällen
der Halluzinose leicht zu verwechseln sind. Bei
letzterer bestehen: akustische Halluzinationen,
Orientiertheit und Besonnenheit;
2. gegen Dementia paralytica: hier entscheidet die
Anamnese, die somatischen Symptome und der
Lumhalhefund.
Therapie:
1. Aufnahme in ein Krankenhaus oder in eine Irren-
anstalt; Entziehung des Alkohols;
2. Bettruhe im Einzelzimmer unter Aufsicht; event.
prolongierte Bäder;
3. Medikamente:
a. Opium;
b. Hyoscin. Paraldehyd 2mal täglich 4 — 5 g;
c. Triunal und Verona! (1—2). Chloral vermeide
man wegen der Herabsetzung des Blutdrucks:
4. gegen eventuelle Herzschwäche : Kaffee, Tee, Kam-
pher.
Forensische Bedeutung: p]s kommen bei den Al-
koholpsychoscn Körperverletzung, Totschlag usw. vor;
die Kranken sind unverantwortlich.
Dämmerzustände.
Ätiologie: Ätiologisch muß man verschiedene Däm-
merzustände unterscheiden :
1. Epileptische Dämmerzustände.
2. Hysterische Dämmerzustände.
3. Toxische Dämmerzustände: Kohlenoxyd, Me-
talldämpfe.
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4. M igrän e- DänuiuTznstäiHle.
5. Traumatische Dätiimorzuslände.
Symptome: Wir wollen uns als Heispiel an den
epileptisehen Däiimierzustand halten. Der epileptische
Dämmerzustand tritt meist als Äquivalent des e})ilepti-
schen Krampfanfalls auf; er kann aber auch präepilep-
tisch oder postepileptisch sein.
1. Örtliche und zeitliche Unorientiertheit und Inko-
härenz; Mißdeutung der Situation durch ungenaue
Auffassung; die Erinnerung an Vergangenes er-
scheint vne abgeschnitten.
2. Halluzinationen: finden sich häufig, sie. sind sehr
lebhaft, zeigen aber eine gewisse Monotonie. Es
überwiegen Visionen und Akoasmen.
3. Wahnvorstellungen: hauptsächlich Verfolgungs-
und Größenideen.
4. Affektstörungen: häufig abn.orme Reizbarkeit,
oft auch Angst.
5. Völlige Analgesie.
6. Einengung des Gesichtsfeldes.
7. Haut- und S( hleimhautreflexe meist aufijehoben.
8. Handlungen: es kann Hemmung oder Agitation
(epileptisches Delir) bestelu^n. Zu letzterem ge-
hören: der periodische W'atidcitrieb der Kinder,
gewisse Desertionen der Soldaten, das planlose
IJmherirren Erwachsener (Poriomanie), sexuelle
perverse Akte.
Verlauf:
1. Jäher Ausbruch.
2. Dauer: von Minuten bis zu einigen Tagen, aus-
nahmsweise dauert der Dämmerzustand Wochen
und Monate.
3. Jähes Ende des Zustandes.
4. Totale Amnesie für alle Vorgänge während des
Dämmerzustandes.
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Prognose:
1. Heilung in den meisten Fällen.
2. Tod: selten.
Rezidive sind häufig.
Therapie:
1. Aufnahme in geschlossene Anstalt: wegen der Ge-
meingefährlichkeit.
2. Genaue Überwachung, womöglich durch zwei Per-
sonen.
3. Bei sehr starker Erregung Hyoscin.
Forenslseho Bodentiing: Strafhandlungen sind sehr
häufig, in Betracht kommen besonders: Desertion vom
Militär, Diebstahl, Exhibition, Notzucht usw. Es be-
steht Unzurechnungsfähigkeit, da ein Zustand der Be-
wußtlosigkeit anzunehmen ist.
Psychopathische Konstitutionen. Psychoneurosen.
Unter psyehopathischen Konstitutionen oder Psy-
choneurosen verstehen wir Krankheitszustände, welche
zwar psyrhisehe Abnormitäten zeigen, im allgemeinen
aber sich nicht zu ausgesprochenen l^sychosen ent-
wickeln ; dabei finden sicli meist neuro-pathologische,
körperliche B egleit Symptome. Die betroff enden
Patienten sind daher auch fast immer für ihre etwaigen
Straf handlungen verantwortlich zu machen.
1. Psfekasthenie»!
Die Berechtigung, dieses Leiden zu den Psycho-
neurosen zu rechnen, leiten wir daraus her, daß:
1. das K.rankheitsbewußtsein stets erhalten
bleibt,
2. körperliche Begleiterscheinungen manch-
mal auftreten.
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3. das Loidon meist mit Neurasthenie vergesell-
schaftet ist.
Symptome:
a. BajeUsehe Symptome: bestehen m Zwangsvor-
stellungen oder sind auf solche zurückzuführen
(Zwangsneurose).
1. Zwangsvorstellungen^ die häufigsten^^Furmen
sind folgondo:
a. Mysophobie oder Berührungsfurcht
(Döliro du toucher); der Kranke glaubt, an
seinem Körper oder an den ihn iini geben den
Gegenständen hafte Schinutz: er wäscht sich
daher fast alle paar Minuten aufs energischste
und vermeidet ängstlich jede Berührung mit
einem Gegenstand.
ß. Agoraphobieoder Platzangst: ygl.S.157.
y, Aichmophobie: beim Anblick eines spitzen
Instrumentes (Messer usw.) glaubt der Pa-
tient jeden Augenblick, es könne ein Unglück
durch dasselbe entstehen.
Erythrophobie, Furcht, zu erröten.
f. Klaustrophobie vgl. S. 157.
f. Grübel- und Zweifelsucht vgl. S. 157.
2. Affektstönmgen: Die Zwangsvorstellung kann
sekundär zu Angstaffekten führen; die
meisten Zwangsvorstellungen sind mit mehr
oder minder starken Angstzuständen verbunden
und werden daher auch als Phobien (Klau-
strophobie usw.) bezeichnet.
Die Angst tritt auf:
a. entweder durch die Zwangsvorstellung
als solche, z. B. bei der Mysopliobie durch
den Gedanken, der berührte Gegenstand
könnte schmutzig gewesen sein;
ß. oder durch die N ichtbef olgung dessen,
was die Zwangsvorstellung dem Patienten
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aufträgt; wenn z. B. der Patient die Vor-
stellung hat, er müsse beim Spazierengehen
sämtliche Straßenschilder zählen, so kann,
wenn er dies unterläßt oder glaubt, ein
Schild nicht mitgezählt zu haben, ein Un-
lustgefühl auftreten, das sich zu einem
Angstzustand steigern kann;
y. oder schließlich volbtändig unabhängig,
losgelöst von der Zwangsvorstellunff. Als
Beispiel hierfür gelte folgender Fau: Der
Patient, dessen Mutter übrigens an Sturm-
angst litt (sie glaubte bei jedem Sturme, ster-
ben zu müssen), hatte als Kind schon Ge-
witlerangst, insbesondere Angst vor dem
IMitz: in der Studentenzeit kam ihm beim
Anblick jedes Hauses und jedes Baumes der
Gedanke, wie schrecklich es wäre, wenn da
plötzlich der Blitz einschlüge; er prüfte daher
jedes Haus auf die Gegenwart eines Blitz-
ableiters. Später genügte schon die bloße
Vorstellung eines Gewitters, um einen schwe-
ren Angstznstand auszulösen; ja sogar das
Lesen von Worten, die an ,,Bhf5^" erinnern,
wie z. B. Besitz", ,, Schlitz" usw., konnte
einen Angstznstand hervorrnff^n. Sdilicß-
lieh trat<Mi die Angstznstände ohne jegliche
äußere \'t'r anlassung selbständig in Form von
Bauchangst auf.
3. Handlungen:
a. Der Patient geht der Gelegenheit zum Ent-
stehen der Zwangsvorstellung ängstlich aus
dem Wege; der Klanstrophobe geht in kein
Theater, in kein Konzert, wenn es im ge-
schlossenen Baume stattfindet, der Aich-
mophobe verbannt alle spitzen Gegenstände
aus seinem Hause usw.
j9. Die Zwangsvorstellungen führen zu Zwangs-
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Impulsen und diese zu Zwangshandlungen;
der Patient zählt in kurzen Zeitintervallen
immer wieder seinen Bücherbestand, seine
Kasse usw. Nur wenn die Zwangshandlung
schwere Folgen haben wfirde (Tötung eines
anderen, strafbare Handlungen usw.), dann
wird sie gewöhnlich unterlassen.
4. Das Krankheitsbewußtsein bleibt stets erhalten ;
ider Kranke empfindet selbst die Zwangsvor-
stellung ab etwas Fremdes, das sich in seinen
Ideenkreis mit unwiderstehlicher Macht ein-
zwängt.
b. Körperliehe Symptome: begleiten nicht selten den
Angstaffekt; manchmal wird gerade der gefürch-
tete körperliche Zustand (Erröten, Durchfälle)
durch die Zwangsvorstellung herbeigeführt.
1. Vasomotorische Störungen: das Gesicht
ist blaß oder stark gerötet; Schwoißausbruch;
Kälte der Extremitäten; Schwindel; Übelkeit.
2. Molorisclio Störungen: allgemeines Zittern ;
Bewegungsdraug; manchmal versagen die Beine,
so daß der Kranke umsinkt; Stuhidrang, Urin-
drang,
3. Sekretorische Störungen: Polyurie, Durch-
fälle.
Ätiologie: Die eigentliche Ursache ist erbliche
Belastung; nicht selten entsteht die Störung auf dem
Boden der Neurasthenie.
Der Beginn fällt in die Kindheit, meist in die
Pubertät, manchmal ins Klimakterium.
Als auslösendes Moment für das Auftreten der
allerersten Zwangsvorstellung kann irgend ein einschnei-
dendes Erlebnis wirken, ein Examen, das erste Auftreten
auf der Bühne usw.
Yerlauf: chronisch mit Remissionen, manchmal
auch Intermissionen ; meist wird der Patient während
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des ganzen Lebens die Zwangsvorstellungen nicht melir
los, selten ist das Leiden progressiv.
Komplikationen:
1. Neurasthenie; in der Mehrzahl der Fälle;
2. Hysterie;
3. Tic;
4. Psychosen: Melancholie, Paranoia; Anfangssta-
dium der Dementia paralytica.
Differentialdiagnose: Die reine Psychasthenie ist
nicht häufig; man fahnde stets nach neiirasthenischen
Symptomen; das wichtigste Kriterium gegenüber den
Wahnvorstellungen ist das Krankheitsbewußt-
sein, welches ja bei diesen fehlt.
Prognose: quoad sanationem ungünstig; Heilung
selten: manche Kranken verfallen dem Alkoholismus
oder Morphinismus.
Therapie:
1. Behandlung in einem offenen Sanatorium.
2. Stundenplan mit geeigneter Beschäftigung, an die
sich die Zwangsvorstellungen nicht anzuknüpfen
pflegen.
3. Später methodische Übungen, z. B. läßt man einen
Patienten mit Agoraphobie erst kleine, dann immer
größere, freie Plätze allein überschreiten, wobei der
Arzt sich an das von dem Patienten- zu erreichende
Ende stellt.
4. Bei Angstanfällen täglich eine hydropathische Ein-
packung; eventuell Brom innerlich.
5. Viele Anhänger liat die psychoanalytische
Methode Freuds. Freud glaubt, daß, wenn
Vorstellungen, welche sich auf einen sexuellen Vor-
gang oder eine sexuelle llaiidluiig der Kinderzeit
beziehen, aus der Erinnerung des Individuums ver-
drängt werden, eben diese Vorstellungen sich in
Zwangsvorstellungen verwandeln können. Bs han-
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delt sich also darum, die ursprüngliche, der Am-
nesie anheimgefallene Vorstellung hervorzusuchen
und von dieser Vorstellung den Patienten zu be-
freien. Die Erfolge der Methode sind noch zwei-
felhaft.
II. Nenrastlienie.
Wesen der Krankheit: Die Neurasthenie stellt
gleichsam eine Bilanzstörung des Nervensystems
dar; der Neurastheniker gibt mehr Kraft aus, als er
einnimmt; infolgedessen resultieren als Hauptsymptome
auf psychischem und körperlichem Gebiet:
1. gesteigerte Reizbarkeit;
2. gesteigerte Ermüdbarkeit;
3. Hyperästhesie (als deren Folge Agrypnie, Pollu-
tionen usw.);
4. Schmerzen und Parästhesieen (Kopfdruck).
Symptome:
a. Körperliehe Symptome:
1. Kopfschmerz.
2. Schwindel.
3. Schlaflosigkeit.
4. Nervöse Dyspepsie: in einer grofien Anzahl von
Fällen; häufig auch Obstipation.
5. Störungen im Bereich der Sinnesorgane:
Blendungsgefühl, Flimmern vor den Augen,
leichtes Ermüden beim Lesen (Asthenopie),
Überempfindlichkeit gegen Geräusche.
6. Sensibilitätsstörungen:
a. Hyperästhesie gegen Kälte, Hitze, taktile und
schmerzhafte Reize.
ß. Spontane Schmerzen an den verschiedensten
Körperstellen: Topalgieen; hesonders häufig
im Rücken mit Druckempfindlichkeit der
Wirbelkörper (Spinalirritation); die neur-
Mayer, Compendhunder Neurologie. 3.-5. Aufl. 13
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— 194 —
asthenischen Schmerzen sind aber niemals
sehr heftig.
y. Parfisthesien: besonders in den Füßen, Ge-
fühl des Eingeschlafenseins, häufig findet
sich Pruritus ani (Juckreiz am After), aber
auch Pruritus an den verschiedensten Körper-
stellen.
7. Motilitätsstörungen:
a. Schwäche (nicht Lähmung) und Ermüdbar-
keit der gesamten Körpermuskulatur; sie
äußert sich beim Stehen, Gehen, Schreiben,
Sprechen.
ß. Tremor : derselbe ist schnell- und [einschlägig,
macht sich an der gespreizten Hand sowohl
in der Ruhe als auch bei Bewegungen geltend,
besonders findet sich Tremor manuum
und Tremor palpebrarum beim Augen-
schluß (Rosenbachsches Phänomen).
y, Fibrilläre Zuckungen: besonders im M. orbi-
cularis oculi und oris ; sie steigern sich bei
psychischen Erregungen und unter dem Ein-
fluß der Kälte.
6. Steigerung der Sehnenphänomene ; dabei feh-
len aber alle spastischen Zeichen.
e. Steigerung der mechanischen Muskel- und
Nervenerregbarkeit.
8. Vasomotorische Störungen:
a. Bhit andrang nach dem Kopfe, lästiges Er-
röten; infolge dieses Symptoms bekommt der
Neurastheniker oft eine förmliche Errötungs-
angst.
ß. Dermographie: Leichte Hautreize, z. B.
Darüberfahren mit einem Stifte, bewirken
eine intensive und lange bestehenbleibende
Rötung der Haut; man kann auf diese Weise
ganze Worte auf die Haut des ' Neurasthe-
nikers schreiben.
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— 195 —
y. Beschw(>rdon am Herzen: Herzklopfen,
Präkordialangst; häufig besteht auch wirk-
lich eine abnorme Beschleunigung der Herz-
tätigkeit, besonders bei Diät fehlem, geringen
körperlichen Anstrengungen, seelischen An-
strengungen, sexuellem Verkehr ; es gibt aber
auch Anfälle von Tachykardie, welche ohne
besonderen Anlaß auftreten (Neurasthenia
cordis).
6, Quälende Pulsationsgefahle: im Hinterkopf,
im Epigastrium usw.
e. Hyperhidrosis, besonders der Hände.
f. Trophische Störungen: an den Haaren (vor-
zeitiges Ergrauen, Ausfall).
9. Blase: ist in manchen Fällen abnorm reizbar, so
daß geringe Urinmengen in der Blase genügen,
um Harndrang hervorzurufen; die Folge hier-
von ist häufiges Urinieren: Poljakurie. Man-
che Neurastheniker können unter gewissen Ver-
hältnissen, z. B. in Gegenwart des Arztes, keinen
Urin lassen: Harnstottern.
10. Störungen auf sexuellem Gebiet:
a. Tendenz zu sexuellen Phantasien.
ß. Masturbation: ist bald eine Trsac he, bald
eine Folgeerscheinung der Neurasthenie.
y. Exzesse im Geschlechtsverkehr,
d. Gehäufte Erektionen: sehr lang dauernde
Erektionen nennt man Priapismen.
£. Pollutionen: sowohl im Wachen als auch im
Schlafe.
f. Spermatorrhoe: Abgang von Samen im An-
schluß an die Harnentleerung oder Defä-
kation ohne begleitende Erektion und Or-
gasmus.
71, Impotenz: Sie äußert sich in mangelhafter
Erektion, vorzeitiger oder ausbleibender Eja-
kulation.
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— 196 —
^. Sexuelle Perversitäten: Befriedigung des
Geschlechtstriebs auf unnatürlichem Wege:
Päderastie, Sadismus (Grausamkeit gegen
das geEebte Wesen), Exhibitionismus (Ent-
blößung der Genitalien), Masochismus (Er-
duldung von Grausamkeiten), Flagellantis-
mus usw.
b. Psychische Symptome:
1. Af fektstörungon : krankhafte Heizbarkeit,
welche sich in neurasl honischem Ärger und neur-
asthenischom Zorn äußert. Der Unmut des
Neurasthenikers richtet sich meist gegen die
Personen seiner Umgebung und gegen die äuße-
ren Objekte, also ganz im Gegensatz zu der
Traurigkeit des Melancholikers, welcher nur sich
selbst anklagt. Ferner ist die Traurigkeit des
Neurasthenikers nicht kontinuierlich, sondern
wechselt mit Zuständen fröhlicher Laune ab.
Auch Angstanfälle kommen vor (Nosopho-
bie, Agoraphobie usw.).
2. Vorstellungsstöru ngen :
a. Mangel an Konzentrationsfähigkeit:
ZwischenvMirstellungen oder gleichzeitige
Empfindungen stören die Aufmerksamkeit
des Neurasthenikers.
ß. Inkohärenz: Der Patient vermag keinen
Gedanken zu Ende zu denken, er verliert
den Faden.
y. Bald überwiegt krau k Ii afte Beschleuni-
gung, bald krankhafte Hemmung der
I deen assoziation .
d. Zwangsvorstellungen (vgl. S. 189).
e. HypochondrischeWahnvorstellungen:
er fürchtet, an Gehirnerweichung, Tabes,
Herzfehler zu leiden ; diese hypochondrischen
Vorstellungen können eine sekundäre De-
pression und Angst herbeiführen.
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3. Handlungon.
a. Entschlußunfähigkoit.
ß, Suizidversuche infolge hypochondrischerVor-
steliungen und Her Angst affekte.
y. Herabsetzung (1( r Leistungsfähigkeit infolge
der Ermüdbark(üt.
ö. Wechsel in der Tätigkeit, Stellung, Beruf.
4. Das Krankheitsbewußtsein bleibt stets
erhalten.
Ätiologie :
1. Erblichkeit: häufig gleichartige.
2. Angeborene Disposition.
GelegenheitBorsacheii:
1. Gemütsbewegungen.
2. Geistige Überanstrengung.
3. Schwere iM riährungsstörungci! : nach Blutverlust,
schweren Infektionskrankheiltn nsw.
4. Intoxikalionon : bcsoinlers chrunischer Alküholis-
nius, Nikütinismus und Bleiintoxikation.
5. Sexuelle Exzesse und Masturbation: ebenso auch
abnormer geschlechtlicher Verkehr (Coitus inter-
ruptus usw.).
6. Trauma: besonders Eisenbahnunfälle.
Die Neurasthenie ist häufiger bei Männern als bei
Frauen. Sie kann in jedem Lebensalter auftreten.
Terlanf: chronisch. Im Anfang überwiegen mei-
stens die körperlichen Symptome und die krankhafte
Reizbarkeit. Erst später treten dann die Assoziations-
störungen, die Zwangs- und hypochondrischen Vor-
stellungen dazu.
Ausgänge:
1. Heilung: in 20% der Fälle.
2. Chronische Neurasthenie: in der Mehrzahl der
Fälle.
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— 198 —
3. Hypochondrische iMelancholie.
4. Hypochondrische Paranoia.
Yarietftten:
1. Übergangsform zur Hysterie: Hystero-Xeurasthe-
nie; sehr häufig, besonders nach Traumen.
2. Depressive Form (lionstitutionelle Depression) oder
Übergangsform zur Melancholie.
3. Paranoische Form oder Übergangslorm zur' Para-
noia.
4. Hypochondrische Form.
Difterentialdiagnose: die Diagnose Neurasthenie
sollte nur per exclusionem gestellt werden. Man hat
stets genau zu prüfen, ob nicht ein organisches Leiden
vorliegt. Man hat auf psychischem Gebiete abzugrenzen :
1. Gegen hypochondrische Melancholie: hier ist die
Depression prim&r und kontinuierlich, während der
hypochondnsche Neurastheniker nur infolge seiner
Vorstellungen deprimiert ist und gelegentlich beim
Nachlassen derselben ausgelassen lustig sein kann ;
gegen hypochondrische Paranoia: hier tiberwiegt
von vornherein die wahnhafte Auslegung der Be-
obachtung am eigenen Körper;
3. gegen Dementia paralytica: hier bestehen meist
schon früh somatische Symptome, das Krankheits-
bewußtsein fehlt meistens, es besteht Intelligenz-
defekt; Wassermannsche Reaktion im Serum und
Lumbaiflüssigkeit positiv;
4. gegen Hysterie: auf psychischem Gebiete besteht
hier eine ^roße Labilität der Stimmung, große
Suggestibiht&t; auf somatischem Gebiete bestehen
Krampf anfftUe, Lfihmungen, Anästhesien usw.;
5. gegen Simulation: diese Unterscheidung ist enorm
schwer ; man muß zur Unterscheidung den ganzen
Symptomenkomplex der Neurasthenie in Betracht
ziehen.
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— 199 —
Pro^ose: Um so besser, je kräftiger die Konsti-
tution, um so schlechter, je schwerer die erbliche Be-
lastung, je weiter das Leiden vorgeschritten ist. Nur
ausnahmsweise kommt es zum Selbstmord.
Therapie:
1. Die Psyehotherapie: ist bei weitem der wichtigste
Faktor; man beachte dabei folgende Haupt-
punkte:
a. Man höre die Erzählung der Beschwerden mit
Ruhe und Geduld an.
b. Die objektive Untersuchung muß sehr eingehend
sein, damit man das Vertrauen des Patienten
gewinnt.
c. Der Arzt bleibe der Schilderung unbegründeter
Beschwerden oder hypochondrischer Ideen
sesenüber stets ernst ; jedes ungläubige Lächeln,
jeder Spott kann den Patienten tief verletzen.
Auch spreche man nicht von ,, Einbildung" und
verbiete auch den Angehörigen, von einer Ein-
bildung der Beschwerden zu reden, ganz abge-
sehen davon, daß ja auch in Wirklichkeit von
Einbildung nicht die Rede sein kann.
d. Man mache dem Patienten klar, daß auf Gi und
der objektiven Untersuchung kein organisches
Leiden vorliegt, sondern eine allgemeine, heil-
bare Nervenschwäche.
e. Im weiteren Verlauf der lieliaiidlung versuche
man nicht, dem Patienten einzureden, es gehe
ihm besser, wenn es ihm in der Tat nicht besser
geht.
2. Hebung dos Ernährungszustandes.
3. Hydrotherapie.
4. Elektrotherapie.
5. Klimatische Kuren, Aufenthalt an der See.
6. Symptomatische Behandlung der vSchlaflosigkeit.
des Kopfschmerzes, der Dyspepsie, der Obstipa-
tion, der Impotenz (Yohimbin) usw.
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— 200 —
Forensische Bedeutung:: Infolge der Erniüdbarkoit
und des Mangels an Aufmerksamkeit kommen Fahr-
lässigkeiten und Irrtümer im Dienste vor (Eisenbahn-
unglücke usw.), die Reizbarkeit kann zu Disziplinarver-
gehen gegen militärische Vorgesetzte und zu ähnlichen
Vergehen führen. Der Neurastheniker ist zurech-
nungsffthig, daher kommt f'Sl des Strafgesetzbuches
nicht in Betracht; jedoch läßt sich die Zubilligung
mildernder Umstände ermöglichen; in sehr seltenen |
Fällen ist die Entmündigung wegen Geistesschwäche i
zulässig.
Iii. Ufsterie.
Hysterische psychopathische Konstitution.
Wesen der Krankheit: Alle bei der Hysterie auf-
tretenden Erscheinungen sind psychogenen Ursprungs; '
daher sind sie sowohl durch die eigenen als auch durch '
fremde, suggerierte Vorstellungen zu beeinflussen, zu
verändern und zu beseitigen. Daher sind die Haupt-
symptome :
1. Wechsel der Erscheinungen;
2. Labilität d i Stimmung (Launenhaftigkeit);
3. Zerstreutheit;
4. Suggestibilität;
5. Hyperphantasie.
Symptome:
a. Psychische Symptome: i
1. Affektstörungen: Labiütat der Stininiung.
ein gerin ^'füijiger Anlaß kann den sclnversten
A f f e k t a u s b r u c h hervorrufen. A n fa 11 s weise
Angstzustände. l)esonders mit Druck in der
Herzgegend kommen vor. ^
2. Halluzinationen und Illusionen, beson-
ders auf visionärem Gebiete, kommen manch-
mal vor. Die Erinnerung an diese Sinnestäu-
schungen bleibt meistens erhalten.
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1
— 201 —
3. Assoziation SS törungen:
a. Mangel an Konzen tiationslähigkeit (Zer-
streutheit);
ß. Hyperphantasie infolge von Erinnerungs-
täuschiingen ; z. B. erzählt der Hysterische
die eigenen Erlebnisse meist völlig trans-
formiert (Pseudologia phantastica).
4. Handinngen: jäh wechselnde, explosive Af-
fekthandlungen überwiegen. Das Handeln des
Hysterischen ist nur überlegt und planvoll,
wenn es Vorteile für seine eigene Person bringt,
sonst nicht. Die Hysterischen suchen, Aufmerk-
samkeit zu erregen; sie fühlen sich leicht durch
Eifersucht und fthnliche Momente gekränkt und
zurückgesetzt.
5. Suggestibilitftt: diese ist die Grundlage der
somatischen Symptome, besonders bedingt die
Autosuggestion psychogene Lähmungen,
psychogene Anästhesien und andere Symptome.
Die Folge dieser Suggestibilität ist die Wandel-
barkeit aller somatischen Erscheinimgen ; sie
können ebenso plötzlich verschwinden, wie sie
entstanden sind.
b. Körperliche Symptome (hysterische Stigmata):
I. Sensibilitätsstör u n gen:
1. Anästhesie der Haut und der Schleim-
häute; diese kann die verschiedensten Aus-
breil ungsgebiete haben :
a. He m i a n ä s t h o s i e : Anästhesie einer gan-
zen Körperhälfte: die Grenze schneidet
scharf in der Mittellinie ab.
ß. Geometrisch abgegrenzte Anästhe-
sien: in Manschettenform, Handschuh-
form, als sogenannte Kopfhaube; meist
mit Grenzen, welche senkrecht zur Längs-
achse der Extremität stehen (Amputa-
tionsgrenzen).
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— 202 —
y. Anästhesie en plaques (ileckweise in
runden Bezirken).
Charakteristisch für die Anästhesie ist
ihre Beweglichkeit; so kann sie nach ein-
maliger Anwendung des faradischen Pinsels
sofort verschwinden; durch Auflegen eines
Metalls auf die anästhetische Hautpartie ge-
lingt es manchmal^ die Anästhesie auf eine
entsprechende Stelle der anderen Körper-
hälfte zu übertragen: Trans f er t. Die
Empfindungsstörung erstreckt sich auf alle
Sinnesqualitäten; also es kann bloße
Anästhesie, aber auch Analgesie, Therm-
anästhesie und Lagesinnesstörung be-
stehen.
2. Hyperästhesie: sie beschränkt sich mei-
stens auf umschriebene Bezirke (Druck-
punkte : Inguinal- [fälschlich Ovarie genannt],
Mammillarpimkt, Wirbelsäule [Spinalirrita-
tion]).
3. Parästhesien: der verschiedensten Natur;
besonders das Gefühl eines Kloßes im Halse,
Globus hystericus.
4. Spontane Schmerzen: an den verschie-
densten Stellen des Körpers, besonders cha-
rakteristisch ist der hysterische Kopfschmerz,
welcher an umschriebener Stelle der Scheitel-
oder Schläfengegend auftritt: hysterischer
G 1 a V u s ; charakteristisch für die hysterischen
Schmerzen (hysterische Neuralgie) ist oft
ihre Halbseitigkeit.
II. Störungen im Bereich der Sinnesor-
gane:
1. Überempfindlichkeit gegen Lichtreiz.
2. Idiosynkrasien (übertriebene Abneigung
gegen sonst angenehme Geruchs- und Ge-
schmackseuidrücke).
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— 203 —
3. Konzentrische Einengung des Ge-
sicht sfold es.
4. Hysterische Amaurose (Blindheit):
dauert gewöhnlich nur kurze Zeit (Stunden
bis Tage).
5. Hysterische Taubheit.
III. Störung der Reflexe: hängt mit der An-
ästhesie zusammen; daher sind auch nur die
Hautreflexe und Schleimhautreflexe
gestört, während die Sehnenreflexe normal oder
gesteigert sind.
IV. Störungen der Motilität:
1. Hysterische Krämpfe:
a. Wein-, Lach- imd Schreikrämpfe.
ß. Der Singultus: krampfhaftes Rülpsen.
y. Stirn mritzenkranipf: kann zur Er-
stickungsnot führen.
d. üesophagismus beim Schluck versucli.
2. Die großen hysterischen Krampfan fälle, die
grande hyst^rie (Chorea major).
a. Prodrome: Verstimmung, Angstgefühl,
Globus usw.
ß, Aura: folgt den Prodromen, Empfindung
einer aus dem Magen oder dem Unterleib
aufsteigenden Kugel.
y. Stadium des tonischen Krampfes: der
Kranke fällt zu Boden, ohne sich zu ver-
letzen.
d. Stadium der klonischen Zuckungen : Hier-
mit verbinden sich Bewegungen großen
Umfangs, Kontorsionen (Glownis-
mus) ; meist werden dabei ganz bestimmte
plastische Stellungen eingenommen: z. B.
bildet der Kranke mit seinem Körper
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— 204 —
einen Bogen, bei dem nur ivopf und Fer-
sen den Boden berühren : Are de cercle;
oft werden auch leidenschaftliche Stel-
lungen (attitudes pat^sionellcs) eingenom-
men, die irgend einer starken psychischen
Erregung (Verzückung, Wut) entsprechen ;
kein Zungenbiß, erhaltene Pupillenreak-
tion. Dauer bis eine Stunde.
Die großen hysterischen Krampfan-
fälle hinterlassen, besonders wenn sie sich
häufen, Amnesie.
Durch Druck auf gewisse Punkte
lassen sich Anfälle auslösen: hysterogene
Zonen; ebenso lassen sich Anfälle durch
Druck auf iiestimmte Punkte kou[)ieren:
hysterofrene Zonen; solche Zonen sind der
Jugularpunkt, die Mammillarp unkte, die
Inguinalpunkte u. a.
3. Der hysterische Tremor: meistens
schnellschlägig; er kann in der Ruhe und
auch bei Bewegungen auftreten; meistens
überdauert er die Bewegung; der Tremor
kann so heftig sein, daß er in Schüttelkranipf
übergeht.
4. Hysterische Lähmungen. Sie beschrän-
ken sich niemals auf einzelne Muskeln oder
auf die von einem Nerven versorgten Mus-
keln, sondern auf ganze Gliedmaßen oder
Körperteile. Es besteht nie degenerative
Atrophie (keine Entartungsreaktion), höch-
stens nach längerem Bestehen Inaktivitäts-
atrophie. Die LähFiumg geht manchmal
plötzlich bei Schreckanläilen, Zornaus-
briu luMi vorüb(M\ Häufig ist die Lähmung
mit spastischen Erscheinungen verbunden,
jedoch besteht nie echte Muskelrigidität,
stets fehlt das Babinskische Zeichen.
— 206 —
Besondere Formen der Lähmung:
a. die Astasie: Unfähigkeit zu stehen bei
normaler Beweglichkeit der Beine in der
Rückenlage;
ß. die Abasie: Unfähigkeit zu gehen trotz
normaler Beweglichkeit der Beine in der
Rückenlage;
y. I)ysl)asia hysterica: ein dem spasti-
schen ähnlicher Gang, jedoch ohne Mus-
kelsteifigkeit;
d. hysterische Aphonie: Lähmung der
. Stimmuskulatur ;
f. der hysterische Mutismus: Lähmung
des gesamten Sprechapparates; in ge-
ringen Graden hysterisches Stottern.
5. Hysterische Kontrakturen: eine oder
mehrere Extremitäten sind in bestimmten
Stellungen durch dauernde Muskelspan-
nungen fixiert ; am Bein besteht meist Streck-
kontraktur, zuweilen auch Beugekontraktur;
in der Ghloroformnarkose entspannen sich
die Muskeln sofort, und die Kontraktur läßt
sich aufheben. Ebenso schwindet sie oft
spontan nach psychischen Erregungen und
durch Suggestion; charakteristisch ist, daß
die Kontraktur willkürlich nachgeahmt wer-
den kann.
V. Vasomotorische Störungen sind im großen
und ganzen dieselben wie bei der Neurasthenie.
VI. Störungen der Geschlechtssphäre: Im-
potenz, Verirrungen des Geschlechtstriebs usw.
Häufig, besonders bei Frauen, findet sich ein
Mangel an Libido sexualis.
Blase: Ischurie, tagelang minimale Harn-
mengen ; Polyurie häufig infolge von Polydipsie.
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— 206 —
c. Die hypnoiden hysterischen Zustände behandeln
wir gesondert, weil sich bei ihnen psychische und
körperliche Symptome innig gemischt finden.
1. Die Katalepsie: entwckelt sich plötzlich
infolge psychischer Erregung oder auch ohne
solche in periodisclier Wiederkehr; es besteht
a. Flexibilitas cerea: die Extremitäten be-
halten die ihnen vom Arzt gegebenen Stel-
lungen längere Zeit bei und bieten bei pas-
siven Bewegungsversuchen einen geringen
Widerstand ;
ß, Sensibilität und Hautreflexe sind aufgehoben,
ebenso die Schleimhautreflexe;
y. das Bewußtsein ist erhalten, jedoch ist der
Kranke weder der Sprache noch der Be-
wegungen mächtig.
2. Die Lethargie: Der Kranke gleicht einem
tief Schlafenden, das Bewußtsein ist also auf-
gehoben, die Sensibilität ist ebenfalls aufge-
hoben, manchmal lassen sich jedoch Abwehr-
bewegungen aiislösen; nach dem Anfall besteht
totale Amnesie.
3. Der hysterische Dämmerzustand oder
Somnambulismus: vgl. bei den Dämmerzu-
ständen S. 186.
Ätiologie:
1. Heredität, meistens f]^leichartig:
2. angeborene oder erworbene Nervenschwäche.
Auslösende Ursaehen:
1. Starke Gemütsbewegungen;
2. Erkrankungen, welche Erschöpfungszustände her-
beiführen;
3. Trauma.
Der Heginn lallt meist in das jugendliche Alter und
in die l\ii)ertätszeit ; das weibliche Geschlecht ist beson-
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— 207 ~
dors bevorzugt : unter den Rassen stellt die jüdische
Rasse das größte Kontingent.
Verlauf: chronisch, mit großen Schwankungen.
Prognose: quoad sanationem ungünstig, nur die
einzelnen Symptome schwinden leicht.
Differenfialdia^ose: Die Diagnose ist stets mir per
exclusionem zu stellen; alle organischen Leiden müssen
ausgeschlossen werden. Man hat hauptsächlich Hirn-
tumor, multiple Sklerose, Epilepsie, Syringomyelie und
noch viele andere zu berücksichtigen. Näheres über die
Differentialdiagnose ist bei diesen Krankheiten nach-
zulesen.
Tlimpie:
1. Psychotherapie: spielt die Hauptrolle, vgl.
S. 199,
2. kräftige Ernährung,
. 3. Anstaltsbehandlung sehr empfehlenswert,
4. passende Beschäftigung,
5. elektrische, hydropathisohe, gymnastische The-
rapie,
6. symptomatische Therapie.
Forensisdie Bedeutung: Infolge der Affektstd-
rungen können Beleidigungen, Verleumdungen u. a.
vorkommen. Es besteht Zurechnungsfälligkeit, jedoch
läßt sich Zubilligung mildernder Umstände erm(^lichen.
Zeugenaussagen und Denunziationen hysterischer
Personen sind sehr vorsichtig aufzunehmen wegen der
Erinnerungstäuschungen.
IV. Die epileptische psycliopatliisclie KoDStitutiou.
Die epileptische psychopathische Konstitution
äußert sich in der Reizbarkeit und in der Xei^nm^ zu
Zornausbrüchen; fast immer besteht ein fortschreiten-
der Intelligenzdefekt, Dementia epileptica.
— 208 —
V. Die erblicli-degeneratiye psychopathisehe
Eonstitation.
Hier sind am ausgesprochensten die Gefühlsab-
normitäten auf sexuellem Gebiet. Die Kranken ver-
halten sich nicht wie andere Personen ihres Geschlechts;
dies äußert sich
. 1. in konträrem Sexualgefühl oder Homosexuali-
tät.
2. Sadismus: Das Wollustgefühl ist von der Vor-
stellung der Züchtigungen oder Grausamkeiten
gegen andere Personen abhängig; hierher gehören
der Lustmord und die Leichenschändung (Ne-
krophilie).
3. Masochismus: ist das Gegenstück des Sadis-
mus; das Wollustgefühl ist von der Vorstellung
der Mißhandlung durch andere Personen abhängig;
eine Abart ist die Koprolagnie: die Beleckung
der Genitalien, Urintrinken, sich in den Mund
urinieren, sich auf die Brust defäzieren lassen usw.
4. Fetischismus: das Wollustgefühl ist nicht an
den Anblick oder die Berührung der Genitalien des
anderen Geschlechts gebunden, sondern an ge-
wisse Körperteile, Kleidungsstücke usw. ; hierher
gehören die sogenannten Zopfabschneider, die
Schuh-, die Wäschefetischisten usw.
Das Vorstellungsleben zeigt einen auffallenden
Mangel an Ebenmaß: DesequiKbratton. Die Begabung
ist meistens einseitig; häufig finden sich künstlerische
Talente, hervorragendes GedächUiis, -während das lo-
gische Denken mangelhaft ist.
Das Handeln ist demgemäß durch völlige Unbe-
rechenbarkeit ausgezeichnet: impulsives Han-
deln (Augenblicksnatur); z. B. kann ein derartiger
Patient ohne besonderes Motiv in irgend einer Gesell-
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— 209 —
srhaft jemanden eine Ohrfeige geben oder laut zu
singen anfangen usw. Änderungen auf moralischem Ge-
biet bestehen in: gemütlicher Stumpfheit, völliger
Gleichgültigkeit usw.
Häufig finden sich Degenerationszeichen und Into-
leranz gegen Alkohol.
Forensische Bedeatung: £s besteht für die meisten
auf sexuellem Gebiete vorkommenden Strafhandlungen
Zurechnungsfähigkeit.
VI. Sie tranmatisehe psychopathisclie Eonstitiitiott.
Traumatische Neurose.
Diese zeitigt im großen und ganzen neurasthe-
II i sehe, oft aber auch hysterische Symptome, die
nicht durch das Trauma an und für sich, sondern durch
GemütserschütttM'uncT bedingt sind (Eisenbahnunfälle
[Railway-spineJ, Erdbeben etc.).
Symptome: Depression, Angst, Zerstreutheit, Ener-
gielosigkeit etc.
b. Zusammengesetzte Psychosen.
Die Katatonie.*
Die Katatonie durchläuft in typischen Fällen yier
Stadien :
1. ein melancholisches,
2. ein maniakalisciies (hyperkinetisches),
3. ein stuporöses,
4. ein Stadium sekundärer Demenz.
Die Krankheit ist sehr selten. Meist liegt schwere
erbliche Belastung vor. Die drei ersten Stadien dauern
1 — 3 Jahre. In allen Stadien überwiegen bestimmte
Symptome:
* Kraepelin u. a. rechnen die Katatonie zur Dementia praecox.
Mayer, Compendium der Neurologie. 3.-5. AufL 14
Digitized by Qv
— 210 —
1. Katatonische Haltungen.
2. Stereotype Bewegungen.
3. Negativismus: Widerstand ^egen jede Anre-
gung zu Bewegungen oder zum Sprechen: der
Patient führt weder aufgetragene Bewegungen aus,
noch läßt er passive Bewegungen an sich vor-
nehmen.
4. Verbigeration: Der Kranke wiederholt stun-
den- oder tagelang dieselben Worte oder Sätze.
Ausgänge: Heilungen sind selten, meist Zerfall der
Persönlichkeit (Schizophrenie) oder Tod.
Die Dit'ferentialdiagnose hat die chronische halhi-
zinatorische Paranoia, die Dementia ]>aralytica, >ciiilis
und praecox, ferner die verschiedenen Dämmerzustände
in Betracht zu ziehen.
Die periodische Manie.
Verlauf: Es wechseln maiiin kaiische Stadien ( + )
mit Tntei'vallen {{) al), scliematisch : H i -\- i -\- i usw.
a. Die Anfälle können Wochen und Monate, sel-
tener nur Tage dauern. Der maniakalische Anfall
beginnt meist mit einem brüsken Ausbruch und
endigt mit jähfMii Abschluß. Die verschiedenen
Anfälle hal>en meist eine fast photogra|)hische Ähn-
lichkeit, besonders in den ersten Symptomen: so
begann z. B. bei einer Patientin der maniakalische
Anfall mit einer l)ei ihr ganz imgewöhrdichen Frei-
gebigkeit (Bezahlen der Arztrechnung usw.).
b. Die Intervalle können von Wochen bis zu
Jahren dauern. Sie sind meist lucid, d. h. frei
von Krankheitssymptomen. In den späteren Sta-
dien werden jedoch die IntervaUe getrübt durch
Reizbarkeit, Labilität der Stimmung und Intelli-
genzdefekt (Abstumpfung des Interesses, der ethi-
schen und ästhetischen Gefühle).
Die Symptome entsprechen denen der Mania gravis,
häufiger der Hypomanie.
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— 211 —
Ätiologie :
1. Erl)li(*he Belastung.
2. Herderkrankungon des Gehirns (Hirnnarhen).
Beginn meist in der Pubertät und im Klimakterium.
Prognose: Heilung in 10% der Fälle; gewöhnlich
besteht die Affektion bis ans Lebensende.
Differentialdia^ose: gegen einfache Manie. Die pe-
riodische Manie zeigt:
1. Gleichmäßige Wiederkehr nach Intervallen von
bestimmter Zeitdauer;
2. Fehlen des depressiven Vorstadiiims;
3. Brüsker Ausbruch und Ablbhluß.
Therapie:
1. Im Intervall: Vermeidung von Alkuhol, Tabak,
Kaffee usw.
2. Bei drohendem Anfall kann man versuchen, diesen
zu koupieren, durch subkutane Injektionen von
Hyoscin (0,5 — 0,8 mg, zwei- bis dreimal täglich),
oder Atropin (0,1 — 0,3 mg, zwei- bis dreimal täglich),
unter langsamer Steigerung der Dosis auf 1 mg;
gleichzeitig Bettruhe. Man kann auch innerlich
Natrium bromat. 6 — 10 g pro die geben; letzteres
gibt man besonders bei der sog. periodischen
menstrualen Manie, zwei Tage vor dem Ein-
tritt der Menstruation.
Forensisehe Bedentung: Im Anfall besteht Unzu-
rechnungsfähigkeit, im Intervall nicht.
Die periodische Helanoholie.
Verlauf: Es wechseln melancholische Stadien ( — )
mit Intervallen (i) ab; also : — i — i — i usw.
Die Symptome: sind diejenigen der Hypomelan-
cholie oder der Melancholia gravis. In letzterem Falle
kommen Suizidversuche, Desertionen vom Militär und
ähnliche Angsthandlungen vor. Bei manchen Patienten
zeigt sich periodische Dipsomanie („Quartalsäufer"),
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— 212 —
»
indem sie ihre Angst durch Alkoholexzesse zu betäuben
suchen.
Ätiologie: erbliche Belaälung. Beginn meist im
Klimakterium.
Prognose: Heilung selten; Tod durch Selbstmord
häufig.
Bifferentialdiagnose: gegen einfache Melancholie
läßt sich nur durch die Anamnese stellen.
Therapie: im Anfall wie bei der einfachen Melan-
cholie.
Das maniseh-depreSsiTe oder ziFkaläre iFPesein.
A'erlauf : Es wechseln melancholisches Stadium ( — ),
manisches Stadium ( + ) und Intervall (i) miteinander
ab; das Intervall kann auch fehlen;
also : [- i [- i \- i usw.
oder + — H i H i usw.
oder r ■ H 1 usw.
Die 1( ichteren Fälle werden auch als Zyklothymie
bezeichnet.
Ätiologie: Schwere erbliche Belastung. Beginn
meist in der Pubertät. Die Erkrankung ist sehr häufig.
Prognose: Heilung sehr selten.
Differentialdiagnose :
1. Gegen einfache Manie und Melancholie durch die
Anamnese;
2. gegen Dementia paralylica: bei dieser bestehen
Intelligenzdefekt und körperliche Symptome;
3. gegen Dementia praecox: hier besteht ebenfalls
Intelligenzdefekt; es herrschen Stereotypien vor.
Periodische impulsive Zustände.
Formen: Hierher gehören die periodische Klep-
tomanie, Dipsomanie u. a.
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* — 213 —
Verlauf lind Symptome: Wir wollen nur die Dipso-
manen näher ins Auge fassen. Der Kranke begeht
ganz unvorhergesehen die schwersten Alkoholexzesse,
tage- bis wochenlang; der Anfall endet plötzlich mit
einem kritischen Schlaf. Darauf folgt ein mehrtägiger
Depressioiiszustand. Die Erinnerung für die Vorgänge
während des Anfalls ist meist erhalten.
Im Intervall verhält sich der Patient ganz normal.
Die Differentialdiagnase hat die Dämmerzustände,
die periodische Melancholie, die periodische Manie und
die Defektpsychosen zu berücksichtigen.
Ätiologie: Erbliche Belastung, epileptische Anlage.
Prognose: qnoad sanationeni ungünstig; sekundär
entsteht oft chronischer Alkoholisinus.
Therapie: Im Anfall geschlossene Anstalt und Brom.
II. Psychosen mit Intelligenzdefekt
üefektpsychosen.
Der Intelligenzdefekt ist charakterisiert durch
Urteils- und Gedächtnisschwäche. Er kann an-
geboren oder erworben sein ; Psychosen mit erworbenem
Intelligenzdefekt bezeichnet man als Demenz. Die
in den ersten Lebensjahren erworbenen Defektpsychosen
rechnet man gewöhnlich zu den angeborenen.
A. Angeborene Defektpsychosen.
Man unterscheidet drei Grade des angeborenen
Schwachsinns :
1. die Idiotie,
2. die Imbecillität,
3. die Debilität.
Ätiologie:
1. erbliche Belastung,
Digitized by Google
— 214 — ,
2. chronischer Alkoholismus der Eltern,
3. hereditäre Sypliilis.
4. Kopftraumen: Verletzungen während der Geburt
durch die Zange oder infolge abnormer Enge des
mütterlichen Beckens, Fall auf den Kopf usw.,
5^ langdauernde Asphyxie während der Geburt,
6. Frühgeburt; in diesen Fällen oft Komplikation
mit der Littleschen Krankheit (vgl. S. 101),
7. schwere Infektionskrankheiten (Masern usw.); be-
sonders nach Herderkrankungen infolge dieser In-
fektionskrankheiten, infolgedessen häufige Kom-
plikation mit cerebraler Kinderlähmung
{Vgl. S. 99), •
8. die Meningitis in allen ihren Formen, besonders
aber die chronische (Hydrocephalus extemus und
internus),
9. Rachitis.
10. Erkrankungen der Schilddrüse: hierher gehören
Myxoedera und der Kretinismus (Vergrößerung
oder Fehlen der Schilddrüse, Zwergwuchs, Ver-
dickung der Haut).
Pathologische Anatomie:
1. Mangelhafte Gehirnentwicklung:
a. makroskopisch: Vorschiiiäloriing der Rinde, ab-
norme Furchung der Hirnrinde, abnorme Klein-
heit der Gyri (Mikrogyrie); \ erschmälerung der
Marksubstanz ;
b. mikroskopisch: Verminderung der Zahl der
Ganglienzellen, abnorme Kleinheit der Gang-
. lienzellen, mangelhafte Entwickelung der Asso- *
ziationsf asem ; Neuroglia meist vermehrt.
2. Meningitische Veränderungen, besonders bei Hy-
drocephalus.
3. Mikrencephalie (abnorme Kleinheit des Gehirns);
Fehlen ganzer Hirnteile (z. B. des Balkens).
4. Veränderungen infolge von Herderkrankungen : se-
kundäre Sklerose, Porencephalie (vgl. S. 100) usw.
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— 215 —
5. Abnorme Schädelform:
a. rachitis('h«^r Schädel: starkes \'ürsj)riiigen der
Stirn- und Sclieitelhöcker, Verbreiterung der
Nähte. Quadratforiii ;
b. der hydrueeplialische Schädel (vgl. S. 98);
c. der mikrocephale Schädel ( Azteken typus);
d. Kretinen typus: aufgeworfene Nase, tiefliegende
Nasenwurzel, weiter Abstand zwischen den
Augen, starkes Vorspringen der Kiefer und der
Jochbeine.
Symptome:
a. Idiotie:
1. Vorstellungsstörungen: Mangel aller Er-
innerungsbilder; der Farbensinn fehlt; es be-
steht Unfähigkeit zu zählen; es fehlen alle
sprachlichen Begriffe.
2. Störungen der Ideenassoziation: die
Idioten erkennen fast nichts wieder; es fehlen
alle assoziativen Verknüpfungen; Aufmerksam-
keit und Interesse an der äußeren Umgebung
sind hochgradig gestört.
3. Affektstörungen: das Schmerzgefühl fehlt
häufig; nur der Hunger scheint Unlustgefühl
auszulösen. Sättigung, das Sehen glänzender
Gegenstände und xuclle Erregungen können
von Lustgefühl begleitet sein.
4. Störungen des Handelns: die Eßbewe-
gungen sind fast die einzigen komplizierten
Handlungen, die der Idiot ausübt; das Gehen
erlernt er meist nie. Manchmal tritt recht früh-
zeitig Masturbation auf. Häufig sind stereo-
type Bewegungen.
5. Körperliche Symptome:
a. Degenerationszeichen (vgl. S. 164): sehr
häufig sind Mißbildungen der Geschlechts-
teile (Kryptorchismus,Hypospadie, Phimose).
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— 216 —
ß, die grobe motorische Kraft ist meist
im allgemeinen' herabgesetzt: Hemiplegien
oder Paraplegien werden häufig beobachtet,
y. Blasen- und Mastdarminkontinenz
finden sich fast stets als Folge der völligen
Gleichgültigkeit.
d. epileptische Anfälle: sind häufig; wenn
Herderkrankungen vorausgegangen sind,
manchmal auch Jacksonsche Epilepsie (vgl.
S. 92).
f. Selincnphänoniene: oft gesteigert.
f. Vord aiuin^sstöriingcn: finden sich
mancliiiial (vermehrte Speichelsekretion, Er-
brechen, Wiederkäuen).
b. ImbedUität:
1. Vorstellungen: der Imbecille besitzt eine ■
große Zahl von Erinnerungsbildern; Personen
erkennt er meist wieder; die Farben werden
zum Teil erkannt, zum Teil jedoch nicht; das
Zahlenverhältnis reicht selten über 6 oder 7
hinaus. Feinere Unterscheidungen, z. B. ver-
schiedener Hunderassen gelingt ihm nicht.
AbstniM Torsteniiiigen fernen völlig (Ursache,
Wirkung usw.).
2. Ideenassoziation: Die Aufmerksamkeit ist
ebenfalls gestört, besonders die dauernde Auf-
merksamkeit. Das Rechnen wird nur mangel-
haft gelernt, fast nie Subtrahieren und Multi-
plizieren.
3. Affekte: Nicht selten erfolgen ganz motiv-
lüse Wutausbrüche; Steigerung der sexuellen
Gefühlstöne; altruistisehe (ethische) Gefühle
felilea vollständig : Dieser ethische Defekt wird
von manchen Autoren als moral insanity
bezeichnet; Mitleid, Dankbarkeit, Gerechtig-
keitsgefühl verschwinden ganz neben dem Über-
wiegen der Rachsucht und der Schadenfreude.
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— 217 —
4. Handlungen: Viele Imbecille sind imstande,
einen Beruf zu ergreifen, jedoch nur in unselb-
ständiger Stellung, da sich die Handlungen bloß
auf Nachahmung der Handlungen anderer Per-
sonen beschränken. Sexuelle Exzesse kommen
nicht selten vor (Päderastie, Sodomie, Trihadie
usw.)- Imbecille Mädchen ergeben sich manch-
mal sehr früh der Prostitution.
5. Körperliche Symptome:
a. Mißbildungen: ähnlich wie bei der Idiotie.
ß. Die Sprache: ist oft durch Stammeln
gestört. Das Sprechen wird spät erlernt,
y. Die motorische Kraft: ist meist normal; das
Gehen wird ^spät erlernt. .
c. Debilität:
1. Vorstellungen: alle konkreten Begriffe sind
normal erhalten; die Angaben über die eigenen
Personalien werden ganz richtig gemächt.
2. Ideenassoziation: Das Wiedererkennen von
Personen und Gegenständen ist normal;
dauernde Aufmerksamkeit und Konzentration
sind jedoch gestört. Die Bildung eines eigenen
Urteüs ist völlig ausgeschlossen, soweit ab-
strakte Dinge in Betracht kommen; die Ur-
teile sind meistens von anderen Personen ent-
lehnt. Das Rechnen ist meist gut. Das Ge-
dächtnis ist mangelhaft, daher ist die Repro-
duktion von Erzählungen notdürftig.
3. Affekte: sind im ganzen normal; nur die alt-
ruistischen Gefühle sind dürftig vorhanden.
4. Handlungen: sehr komplizierte Handlungen
sind möglich; der ethische Defekt verrät sich
meist schon sehr früh durch schamlose Onanie,
Unordnung in allen Dingen, Vernachlässigung
der Kleidung, Neigung zum Lügen und Stehlen,
Unreinlichkeit usw. Die DebiHtät lenkt die
Patienten oft auf die Verbrecherlaufbahn (durch
L.iyu,^cci by Google
— 218 —
Seh Iii den machen, Unterschlagungen, Vagabun-
dage usw.).
5. Körperliche Symptome: fehlen meist, die
Sprache ist norinal.
Verlauf: Zuerst fällt meist die Verspätung oder
das Ausbleiben des Gehen- und Sprechenlernens auf;
von Jahr zu Jahr wird das Zurückbleiben der Intelligenz-
entwickelung deutlicher. Der Schulunterricht wird un-
?n<jt,dicli, abgesehen von der Debilität. Kine Progression
des Intelligenzdefektes ist nicht vorhanden. Sehr selten
wird ein höheres Alter erreicht.
Prognose: Besserung kann durch geeignete Be-
handlung und Erziehung eintreten, besonders günstig
ist die Prognose bei Schilddrüsendefekten (Kretinismus),
hereditärer Syphilis, Rachitis und leichtem Hydroce-
phalus; die ungünstigste Prognose geben diejenigen
Fälle, welche mit epileptischen Anfällen oder mit Läh-
mungen kompliziert sind, da sie häufig progressiv sind.
DifferentialdiagBOBe:
1. Gegen erworbene Defektpsychosen: durch An-
amnese;
2. Abgrenzung der drei Formen des angeborenen
Schwachsinns untereinander: die Grenzen sind
nicht scharf; Idiotie ist anzunehmen, wenn alle
konkreten Erinnerungsbilder fehlen, Imbecillität,
wenn die feinere Unterscheidung konkreter Erin-
nerungsbilder unmöglich ist, Debilität, wenn nur
die absti'akt( n und ethischen Vorstellungen un-
entwickelt sind.
Therapie:
a. Kausale Indikationen:
1. Bei syphilitischer Ätiologie: Salvarsan,
Quecksill)er und Jod;
2. bei rachitischer Ätiologie: entsprechende
Diät; Phosphor-Lebertran:
3. bei thy r e o g e n er Ätiolugi* ( ivretinismus, Myx-
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— 219 —
oedem): Schilddrüsenpräparate, man achte je-
doch auf die Gefahr des Thyreoidismus. Die
Erfolge sind meist glänzend;
4. bei hydroceplialischer Ätiologie; vgl. S. 98.
b. Pädagogische Behandlung: Anschauungs-,
Aufmerksamkeits-, Bewegungs-, ethischer Un-
terricht usw. Idioten und Imbecille bringt man
am besten in einer Anstalt unter. Für debile Kin-
der existieren die sogenannten ärztlichen l^ädaixu-
gien". An manclien Schulen sogenannte „ Hilfs-
ki as.sen**.
c. Behandlung dei' körperlichen Erschei-
nungen: Lähmungen duivh Massage, Elektrizität
usw.; epileptische AnfäHe durch Brom usw. Die
Diät hat Alkuhul. Kaffee, Tee und starke Ge-
würze zu vermeiden.
Forensische Bedeutung:
Strafhandlungen sind besonders bei Imbecillen sehr
häufig; es kommen Diebstähle, Sittlichkeitsverbrechen,
Brandstiftungen, Totschlag u. a. vor; beim xMilitär Dis-
ziplinarvergehen und Desertion. Die ' Debilität veran-
laßt fast ebenso häufig Strafhandlungen. Imbecillität
schließt die Zurechnungsfähigkeit stets aus, Debilität in
vielen Fällen.
Zeugenaussagen und Denunziationen schwachsin-
niger Personen sind selbstverständlich mit Mißtrauen
aufzunehmen.
B. Erworbene Defektpsychosen.
I. Dementia paralytiea.
Progressive Paralyse.
Ätiologie: Immer Syphilis. Der Ausbruch der
Dementia paralytica beginnt mehrere Jahre nach der
Infektion. Die progressive Paralyse ist als meta- oder
besser parasyphilitische Krankheit aufzufassen.
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— 220 —
Neben der Syphilis kommen noch prädisponierende
Momente in Betracht;
1. erbliche Belastung, vgl. Degenerationszeichen
S. 164.
2. das männliche Geschlecht,
3. chronischer Alkoholismus,
4. geistige Überanstrengung.
Der Beginn der Krankheit fällt entsprechend der
syphilitischen Ursache meist in das vierte oder fünfte
Dezennium des Lebens; bei hereditär Syphilitischen
macht sich die Krankheit meist in der ersten Hälfte des
zweiten Lebensdezenniums geltend.
Pathologisehe Anatomie:
1. Leptomoningitis chronica: die weiche Hirn-
haut, besonders der Kon v(\\:ität, erscheint weiß-
lich getrübt und verdickt, mit der Hirnrinde fester
verwachsen als normal.
2. Atrophie der Großhirnrindo: äußert sich
makroskopisch durch Verschmälerung, mikrosko-
pisch durch:
a. Verminderung und Veränderung der
Ganglienzellen: der Zellkern erscheint ge-
schrumpft, die Nißlschen Trigoidkörper sind
nicht mehr zu erkennen; auch Verkalkungen
der Ganglienzellen kommen vor:
ß. Schwund der Nervenfasern;
y. Wucherung des Gliagewebes;
ö. Kundzellen-Infiltration, teils diffus, teils
in kleinen Herden:
£. kleine, bis miliare hämorrhagische Herde;
Veränderung der Blutgefäße: die Gefäßwand
ist verdickt; der perivaskuläre Lymphraum voll-
gepfropft mit Plasmazellen und Lymphocyten
(,,Gefäßmanter').
3. Pachy m eningitis hämorrhagica interna:
findet sich in der Hälfte der Fälle (vgl. S. 105).
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— 221 —
4. Erweiterung der Hirnventrikel (Hydroce-
phalus internus.)
5. Ependyniitis granularis.
6. Schwund der äußeren Tangentialfasern, der Ra-
dialfasern und Degeneration von Hirnnerven.
Symptome: die Kardinalsymptome der pro-
gressiven Paralyse sind Intelligenzdefekt, Sprach-
störung und reflektorische Pupillenstarre.
a. Psyehisehe Symptome:
1. Der InteHigenzdefekt: sowohl die Zahl der
konkreten als auch der abstrakten Erinnerungs-
bilder nimmt stetig ab; diese zunehmende Ge-
dächtnisschwäche ist meist das erste Zeichen
des Intelligenzdefektes, /.unehmende Urteils-
schwäche macht mit der Gedächtnisschwäche
den Intelligenzdefekt aus. In den höheren Gra-
den sind die leichtesten Rechnungen nicht mehr
ausführbar.
Die Merk f ähigkeit ist stark beeinträch-
tigt; vorgesagte Zahlen, vorerzählte Geschich-
ten und die jüngsten Erlebnisse werden rasch
vergessen. Infolge des Intelligenzdefektes
können Zustände eintreten, welche eine Denk-
hemmung oder eine Ideenflucht vortäuschen.
2. Wahnvorstellungen: meist auf der Höhe
der Krankheit; in der Mehrzahl finden sicli
Größenideen, weniger häufig hypocliundrische
und Verarrnungsvorstellungen, manchmal auch
Verfolgungswaiin. Für alle diese Wahnvorstel-
lungen ist der schwachsinnige Inhalt charak-
teristisch. Die Bildung von Wahnsystemen
unterbleibt infolge des Intelligenzdefektes.
3. Sinnestäuschungen: am häufigsten sind
haptische Halluzinationen und Akoasmen, da-
neben finden sich auch Visionen.
4. Affektstörungen: das Schmerzgefühl ver-
schwindet sehr früh: Hypalgesie und Analgesie.
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— 222 —
Die sexuelle Wollust ist meist gesteigert. Die
ethischen und ästhetischen Gefühle erlöschen
sehr friiii; im ührigcMi linden sich krankhafte
Reizbarkeit, Kxaltation, Depression und Angst.
Im Schlußstadium verschwinden die Affekt-
störungen ; nur die Euphorie, eine unverhält-
nismäßig heitere Zufriedenheit, bleibt bis zum
Tode bestehen. Alle Affektstörungen sind durch
ihre Labilität ausgezeichnet.
b. Körperliche Symptome:
1. Reflektorische Pupillenstarre: in man-
chen Fällen findet sich nur träge Lichtreaktion.
Verziehung und Ungleichheit der Pupillen ist
häufig.
2. Sprachstörung: ist ataktischer Natur; cha-
rakteristisch ist die Hesitation (verzögertes
Sprechen), das Silbenstolpem und das Weg-
lassen von Silben: z. B. Dampfschiffschlepp-
fahrt statt Dampfschiffschleppschiffahrt. In
höheren Graden wird die Sprache zu einem un-
verständlichen Lallen.1
3. Die Sehnenreflexe sind oft gesteigert; bei
Komplikation mit Tabes (Taboparalyse) sind die
Sehnenreflexe auf beiden Seiten verschieden
oder erloschen.
4. Sensibilitätsstörungen:
a. objektive: Analgesie und Hypalgesie;
ß. subjektive : sehr häufig sind spontane Schmer-
zen, besonders Kopfsehmerzen; bei Tabo-
paralyse lanzinierende Schmerzen.
5. Motilitätsstörungen:
o. Augenmuskellähmungen : die Anamnese er-
gibt infolge derselben oft Doppelsehen;
am häufigsten dnd Lähmungen des Abdu-
cens und des Oculomotorius;
ß, Lähmungen der Gesichtsmuskulatur; Ptosis,
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— 223 —
Herabhängen eines Mundwinkels, Verstri-
chensein der einen Nasohibialfalte;
y. Hypoglossus-Lähmnngen : die YAiwis^o weicht
oft nach (h^r cf'f'ichzeitig von Facialisparese
betrc)tten(Mi Seilt» nh:
ö. Vibrieren der Lippen l)eini Zähne zeigen;
c. die grobe motorisclie Kraft der Extremitäten-
niuskidatur ist fast stets herabgesetzt; be-
sonders vorübergehende Hemiparesen sind
nicht selten.
Für aUe Lähiiinngen ist ihre geringe
Intensität und ihre Flüchtigkeit charakte-
ristisch.
6. K 0 0 r d i n a t i o n s s t ö r u n g e n : finden sich meist
erst in späteren Stadien.
7. Apoplektif orme Anfälle (vgl. S. 90).
8. Epileptiforme Anfälle haben meist den Ty-
pus der Jaeksonschen Epilepsie (vgl. S. 92).
9. Incontinentia alvi und urinae im Schlußstadium.
10. Serum: positive Wassermannsche Reaktion
in fast allen Fällen; durch Salvarsanbehandlung
läßt sich negative Reaktion erreichen, ohne
daß darum eine Besserung des klinischen Ver-
laufes einzutreten braucht*
11. Lumbaiflüssigkeit:
a. Wassermannsche Reaktion fast stets positiv.
b. Globulinreaktion (Nonne-Apelt) häufig po-
sitiv.
c. Stets Pleocytose.
Verlauf: erstreckt sich über 3 — 6 Jalu*e; es gibt je-
doch auch galoppierende Formen.
Nicht selten lassen sich drei Stadien unterscheiden:
i. ein Prodomalst adiu ni : der Krank«Mst abnorm'
reizbar und auffaHend rührsehg: die geistige Ar-
beit beginnt scliwer zu fallen; das Gedä( htnis läßt
nach; der Charakter ändert sich; Gleichgültigiveit
gegen höhere Interessen tritt hervor. Objektiv
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— 224 —
findet sich schon jetzt manchmal Pupillenstarre
oder Hypalgesie oder leichte Sprachstörung.
2. Das Höhestadium: Meist findet sich Exal-
tation mit Ideenflucht und Bewegungsdrang;
Größenideen und hochgradiger Schwachsinn sind
deutlich ausgeprägt. Der Kranke macht sinnlose,
große Wareneinkäufe, ungeheure Spekulationen,
unternimmt große Reisen usw. Häufig stellen sich
Tobsuchtsanfälle ein. Statt der Exaltation findet
sich in manchen Fällen Depression mit Angst-
affekten, Denkhemmung und motorischer Hem-
mung; daneben finden sich hypochondrischeWahn-
vorstellungen. Die Angstaffekte können zum
Selbstmord führen.
Sehr charakteristisch sind für das Höhesta-
dium die Remissionen, welche Wochen und
Monate dauern können.
3. D a s S c h 1 u ß s t a d i u rn : ist durch die völlige De-
menz charakterisiert; meist findet sich eine leichte
Euphorie. Der Kranke ist an das Bett gefesselt,
da die körperlichen Ausfallserscheinungen sehr
entwickeit^sind.
Prognose: ungünstig; Heilung ausgeschlossen. Der
Tod erfolgt durch interkurrente Erkrankungen, Schluck-
pneumonie, Cystitis, Pyelonephritis, Dekubitus mit an-
schließender Sepsis oder durch allgemeinen Marasmus;
manchmal erfolgt der Tod im apoplektiformen oder im
epileptiformenAnfall. ' »
Bifferentlaldiagiiose: Die Dementia paralytica kann
fast jede Psychose nachahmen, daher ist die Feststellung
des Intelligenzdefektes und der organischen
Symptome von besonderer Wichtigkeit. Verwechs-
-lungen sind insbesondere möglich mit:
1. Neurasthenie.
2. Manie.
3. Melancholie.
4. Paranoia.
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— 226 —
5. Multipler Sklerose.
6. Herderkrankungen des Gehirns: Tumor cerebri,
Apoplexie, Lues cerebri usw.
7. Dementia senilis: Diese beginnt meist jenseits des
60. Lebensjahres, nie finden sich bei ihr Pupillen-
starre, hesitierende Sprache, Größenideen und
Rückenmarkssy m p tome.
8. Dementia alcoholica: hier fehlt der progressive
Charakter des Verlaufs.
Therapie:
1. Überführung in geschlossene Anstalt.
2. Im Prodromalstadium Vorsuch einer Quocksilber-
kurmit gleichzeitiger J od behandlung, da Verwechs-
lung mit Hirnsyphilis möglich ist.
3. Analog der Beol)a( litunp', daß Besserungen bei
gleichzeitigen fieberhaften Erkrankungen eintre-
ten, versucht man jetzt künstlich Fieber zu er-
zeugen. Man verwendet: Tuberkulin in steigender
Dosis bis 0,5.
4. Im übrigen symptomatische Therapie.
Forensisehe Bedeatnng: Es kommen die verschie-
densten Strafhandlungen vor, der Kranke ist selbst-
verständlich unzurechnungsfähig, Entmündigung muß
möglichst früh beantragt werden.
II. Dementia senilis, Presbyophrenie.
Ätiologie:
1. Erbliche Belastung.
2. Senile Involution: die Krankheit tritt meist erst
nach dem 60. Lebensjahre auf.
. 3. Arteriosklerose.
Patholoijische Anatomie: Dipsclbe wie Wi <1< i ho-
mcntia |)aralytica; nur fehlt die schwerere Degeneration
von Hinincrven.
Mayer, Compendiuu der 2<earologie. 3. — 3. Autl. 15
Digitizeu l> ^oogle
— 226 —
Symptome:
1. Intelligenzdefekt: Gedächtnisschwäche, be-
sonders für das jüngst Vergangene; schwere Stö-
rung der Merkfähigkeit; hocligradige Unorientiert-
heit, nianclinial bei lebhafter Aufmerksamkeit.
2. Walin Vorstellungen können fehlen, finden sich
jedoch häufig. Es überwiegen Verfolgungs- und
hypochondrische Vorstellungen.
3. Sinnestäuschungen: Halluzinationen und Illu-
sionen in der Hälfte der FäUe, besonders nachts.
Ein mäßiges Krankheitsbewußtsein ist meist Tor*
banden.
4. Äffektstörungen: Die Stimmung ist sehr labil;
besonders häufig sind Angstaffekte. Die ethischen
Empfindungen sind abgestumpft.
5. Handlungen: Die Kranken irren besonders
nachts ruhelos umher; infolge des Mangels der
ethischen Begriffe kommen Diebstähle, Sit^tlich-
keitsvei'brechen u. a. vor. Häufig zeigt sich ein
Sammeltrieb (Sammeln von Papierschnitzeln usw.).
Yerlaof erstreckt sich über 3 — 10 Jahre; der Zu-
stand entwickelt sich ganz allmählich. Remissionen
kommen vor, aber nicht so häufig wie bei der Dementia
paralytica. Die Alzheimersche Krankheit macht die
gleichen Symptome, entsteht aber praesenil.
Projjnose: unginistig; der Tod eifolgt an senilem
Marasmus, Pneumonie, Selbstmord infolge der Angst-
affektP.
Dülereiitialdiagnose: Verwechslungen sind möglich
mit fast allen Psychosen, besonders mit der Dementia
parnlyt ica.
Therapie: Genaue Überwachung; in s( hweren Fäl-
len geschlossene Anstalt; symptomatische Behandlung»
Forensiselie Bedeutung: Der Kranke ist für seine
Straf handlungen unverantwortlich; Entmündigung ist
indiziert.
Digitized by Google
— 227 —
III. Dementia secundaria
a. nach Horderkiaiikungen :
1. Dementia ex apoplexia ciMebri,
2. Dementia bei Tumor eeicbri,
3. Dementia l)ei Hirnsy{)hilis,
4. Dementia bei mnltipler Sklerose.
I). nach Leptumciiiiiiritis acuta;
c. nach funktionellen Psychosen.
IV. Dementia arterio-sclerotica.
Ätiologie: Arteriosklerose, besonders hereditäre Ar-
teriosklerose. Die Krankheit tritt meist vor dem 60.
Lebensjahre auf.
Pathologisehe Anatomie: Ausgebreiteter Untergang
des Nervengewebes infolge der arteriosklerotischen Ge-
fäßerkrankung; besonders der kleinen Gefäße. Außer-
dem finden sich kleine Blutungen und Erweichungen.
Symptome e^leichen denen^der Dementia paialytica
und senilis; der Intelligenzdefekt entwickelt sich jedoch
mehr schubweise. Es kommen schwere Verwirrtheits-
und Angstzustände vor. Die Urteilsschwäche und der
ethische Defekt sind nicht so deutlich ausgeprägt. Die
Merkfähigkeit ist erheblich gestört, das Krankheits-
bewußtsein erhält sich sehr lange.
Auf körperlichem Gebiet finden sich Tremor, Stei-
gerung der Sehnenreflexe und Paresen; Sprachstörungen
infolge der Erweichungsherde in den entsprechenden
Gebieten (Pseudobulbärparalyse).
Verlauf erstreckt sich über 6 — 12 Jahre; der Tod
erfolgt häufig infolge eines hämorrhagischen Insults.
Differentialdiagnose hat besonders Dementia pai^a-
lytica und senilis zu berücksichtigen.
Therapie: Nur bei schweren Fähen ist geschlossene
Anstalt nötig, antiarteriosklerotisch, im übrigen wie bei
Dementia senilis.
L.i^u,^cci by Google
— 228 —
V. Dementia iiraeeox.
Dementia hebephrenica, Hebephienie.
Ätiologie: Erbliche Belastung in 80% der Fälle.
Die Krankheit kommt nur in der Pubertätszeit vor:
häufiger bei männlichen Individuen als bei weiblichen.
Pathologische Anatomie: Noch nicht genügend auf-
geklärt; mikroskopisch finden sich geringfügige Verän-
derungen der Ganglienzellen und der Fasern.
Symptome:
1. Intelligenzdefekt: Das Gedächtnis an sich ist
gut. Legt man dem Kranken eine Rechenaufgabe
vor, z. B. 3 X 4, so erhfilt man meist die richtige
Antwort, auf jede folgende Frage jedoch, z. B.
3x5, gibt der Patient immer wieder dieselbe
Antwort: Perseveration. Ebenso gering wie
der Gedächtnisdefekt ist der Defekt der Merk-
fähigkeit.
Dagegen ist di% Aufmerksamkeit beträcht-
lich geschädigt.
Die Idoenassoziationen sind hauptsäch-
lich durch ihre Neigung zu Perseverationen und
Stereot ypien gekennzeichnet. Alle mündlichen und
schriftlichen Äußerungen strotzen von Wort-
wiederholungen, Pleonasmen, sinnlosen Wortver-
bindungen und verwirrten Vorstellungen; dabei ist
drr Ph lasen kreis ein ganz beschränkter. Stets
l)esteht Denkhemmung.
2. W a h n v o t* s teil u n ^ o n : kom men häu f ig vor ; haupt-
sächlich liypochondrisclK^ und Vorfolgungsvor-
stcllungcn. s|)ätcr aucli sinnlose Größenideen.
3. A f f c k t s t ö !■ u II gc II : srliworc A p athie; im Be-
ginn der Ivraiiklieit oft 1 )f|ni'ssion.
4. Siunestäuscliungt'n: kommen nur bei der
|)aranois( lu'n X'arietät vor.
5. Hand hingen: vr>r ;dlern fällt die sugenaiint»»
hebephrene Abulie auf: die Kranken arbeiten
— 229 —
nichts aus eigener Initiative; auf Ermahnung hin
arbeiten sie mit vielem Widerwillen mechanisch
und kurze Zeit.
Andere Kranken nelunen den ganzen Tag
stereotype Handlungen vor, sie laufen stun-
denlang im Kreise usw. Diese stereotypen Hand-
lungen können jahrelang unverändert bestehen;
ebenso häufig sind stereotype Haltungen.
Bei sehwerer motorischer Hemmung befindet
sieh der ganze Körper in katatonischer Span-
nung, so daß passive» Ht^wegungen auf einen ener-
gischen Widerstand stoßen. Dieser Negativis-
mus (vgl. S. 210) drückt sich auch in dem Ver-
kriechen unter der Bettdecke, in krampfhaftem
Geschlossenhalten der Augen aus.
Häufig ist
Echolalie: der Kranke spricht irgendein zu-
fällig fallendes Wort nach, das ihm besonders
auffällt;
ß. Echopraxie: der Kranke ahmt Bewegungen
und Handlungen nach.
Oft kommen auch impulsive Handlungen
vor, die zu schweren Verbrechen, Körperver-
letzungen usw. führen.
6. Körperliche Symptome: Analgesie in den
meisten Fällen.
Terlanf: Im Anfang herrscht meist Depression vor;
allmählich erlischt das Affektleben^ so daß völlige Apa-
thie übrig bleibt; dagegen bleiben Auffassung, C^dächt-
nis^ und Urteil relativ gut erhalten. In der Mehrzahl
der Fälle wird der Intelligenzdefekt immer größer, in
wenigen Fällen bleibt er stabil. Häufig finden sich Re-
missionen.
Varietäten:
1. Die paranoisch*' Varietät: Es herrschen
Wahnvorstellungen und Sinnestäuschungen vor;
die Hemmungen usw. treten in den Hintergrund.
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— 230 —
2. Die katatonische Varietät: Die Ilemmunefen
herrsclien vor; der Kranke spricht nicht und ver-
weigert oft die Xahriinu'.
3. Die ziikulare Varietät: Wechsel von Hem-
iihimü: und Erregung; in der Phase der Hemmung
nimmt der Kranke irgendeine stereotype Haltung
ein. in der Phase der Erregung führt er stereotype
Handlungen aus.
Prognose: ungünstig: Heilung ausgeschlossen; Tod
durch interkurrente Erkrankungen.
Differentialdiagnose: hat zu berücksichtigen: Me-
lancholie, Manie, Paranoia, Neurasthenie, Hysterie,
periodische Psychosen, Katatonie, angeborene Defekt-
psychosen, Dementia paralytica, Dementia secundaria
und Dementia epileptica.
Therapie: Aufnahme in geschlossene Anstalt; im
übrigen symptomatisch.
Forensisebe Bedeutung: Die Reizbarkeit und die
Impulsivität des Hebephrenikers können zu Strafhand-
lungen führen; der Patient ist unverantwortlich; Ent-
mündigung ist anzuraten.
VT. Dementia epileptica.
Ätiologie: Die Dementia epileptiea entwickelt sich
meist bei den in früher Jugend entstandenen Fällen von
genuiner Epilepsie, besonders wenn die Anfälle gehäuft
auftreten.
Pathologische Anatomie: Makroskopisch findet man
keine Veränderungen ; mikroskopisch sind besonders die
Assoziationsfasem der Hirnrinde degeneriert, die Glia
ist stark gewuchert, die Ganglienzellen sind zum Teil
verändert.
Symptome:
1. Intelligcnzdt It'kt : (jcdärhtnis und Merkl'ähig-
keit geschädigt; Urteilsschwäclie ausgeprägt.
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— 231 —
2. A l l't'ktstörunij:en: Neis^iiii<^ zu schweren Zorii-
ausbiiU^hon. Furor epih^ptirus, die othisclieu
und äslhr'tischr'n Gefühle sind abgestumpft; das
^anze Verhalten ist brutal.
3. H a n (1 1 u n Lren : Zornhandlungen luTrscIe n vor;
die l.t'lx'Jiswt'ise zeigt im ül)rigen pedantix Ii.' He-
gelniüßigkeit und Betonung von Außt'rlicliki'iten.
4. K örperl iclie Symptom»': in späten'ii Stadien
Vellern! der Ki-ank»' komplizierte Bewegungen,
besonders geht die ( j«'läufigkeit der Sprachen ver-
loren; hauiig findet sieh H y[)alg('sie.
Verlauf: joognssiv; je häufiger die Anfällt, desto
schneller nimmt die Ver blödung zu. Gewöhnlich ist die
Dauer länger als ein Jahrzehnt.
Prognose: ungünstig. Der Tod erfolgt im epilepti-
schen Anfall, im Status epilepticus oder durch inter-
kurrente Erkrankungen.
Therapie:
1. Bekämpfung der epileptischen Krampfanfälle (vgl.
S. 130).
2. Aufnahme in geschlossener Anstalt bei 'großer
Neigung zu Zornaffekten. •
Forensische Bedeutung: Stiiitliandluiigen sind häu-
fig; der Kranke ist unverantwortlich. Die Zeugnisfähig-
keit ist stark beeinträchtigt.
VII. Korsakowsche Psychose.
Chronisches Delirium.
Ätiologie: Chroniseher Alkoholismus; die schwe-
reren Formen kommen besonders bei Schnaps- und Ab-
sinthtrinkern vor, meist sekundär nach den verschie-
densten Alkoholpsychosen.
Patholodsche Anatomie: In den leichten I'äMcn oft
gar keine Veränderung; in schwereren Fällen chronische
Leptomeningitis.
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— 232 —
Symptome: Dio Kardinalsyniptume: Merkdefekt,
Unorientiertheit, Konfabulation (Ivorsakowscher Symp-
tomonkomplex) koiniuen auch bei vielen anderen Psy-
chosen vor,
1. Intelligenzdefekt: Gedächtnis- nnd Urtoils-
schwäche; besonders auffällig isl in vielen FälUn
die Störung der Merk Fähigkeit: die allor-
jüngsten Erlebnisse werden sofort wieder vergessen,
retrograde Amnesie; daher resultiert meist völlige
Unorientiertheit und Verlegenheitskonf a-
bulation. Die Initiative ist herabgesetzt. J
2. Affektstörungen gleichen denjenigen der epi-
leptischen Demenz.
3. Halluzinationen finden^sich sehr häufig.
4. Wahnvorstellungen geben ihren schwachsinni-
gen Charakter kund.
5. Körperliche Symptome: können in den leich-
teren Fällen fehlen; meist ist die Demenz in den
schwereren Fällen besonders mit der alkoholisti-
schen Polyneuritis (vgl. S. 114) kompliziert. Daher
wurden diese Fälle auch als polyneuritische Psy-
ehose oder Korsakowsche Psyehose bezeichnet.
Yerlaiif: progressiv, solange die Alkoholexzesse
stattfinden; bei Aufhören der Exzesse tritt meist Still-
stand ein.
Prognose: nicht ungünstig; Heilung mit bleibendem
Inlelligenzdefekt ist möglicli ; der Tod kann durch an-
dere Affektionen, w'elche der chronische Alkoliolismus
herbeifiilirt, eintreten: Pachymeningitis hämorrhagira
interna, Thrombose einer Hirnailerie, Hirnblutung,
Lebercirrhose, chronische Nephritis, Myodegeneratio
cordis.
Differentialdiagnose hat besonders die Dementia
paralytica zu berücksichtigen: für Dementia paralytiea
sprechen : Pupillenstarre, Hesitation im Sprechen, Bla-
sen- und Mastdarmstörungen, Lumbalflüssigkeitsbefund
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— 233 —
und der weitere Verlauf (bei Dementia alcoholica Still-
stand infolge der Behandlung).
Therapie:
1. Vollständige Entziehung des Alkohols in geschlos-
sener Anstalt; die Entziehung hat allmäüich zu
geschehen unter peinlicher Kontrolle der Herz-
tätigkeit.
2. Nach Beendigung der Entziehung genaue Über-
wachung während mindestens eines Jahres.
Forensische Bedeutung: In den schwereren Fällten
besteht Unzurechnungsfähigkeit und Geschäftsunfähig-
keit.
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— 234 -
Aetiologische Ubersicht über die Psychosen. )
I. Erbliche Degeneration:
1. Psychopathischo Konstitution.
2. Angeborciior Schwachsinn.
3. Dementia praecox.
4 Paranoia chronica.
5. Periodische Psychosen.
II. Trauma:
1 . Traumatische psyehopathischeKonstitution.
2. Dämmerzustände.
• 3. Traumatischo Xpurosen.
4. Dementia Traumatica.
in* Chroniseher AlkohoUsmns:
1. Delirium tremens.
2. Amentia.
3. Dementia alcoholica.
4. Polyneuritische Psychose.
lY. Epilepsie:
1. Epileptische {»sycliopathische Konstitution.
2. Dämmerzuslände.
3. Dementia epiieptica.
¥• Hysterie:
1. Hysterische psychopathische Konstitution.
2. Dämmerzustände.
3. Halluzinatorische Paranoia.
•) Siehe auch 8. lfl.>.
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- 235 -
Die für die Psychiatrie
wichtigsten Paragraphen der deutschen
Gesetzgebung.
I. Strafgesetzbuch:
§ :)[. Eine strafbare Handlung ist nicht vürliaiideiL
wenn der Täter zurzeit der Begehung der Hainihniy
sieh in einem Zustande der Bewußtlosigkeit o<ler krank-
hafter Störung der Geistestätigkeit befand, durch wel-
chen seine freie Winensbcstininiung ausgeschlossen war.
§ 176, Absatz 2. Alit Zurhthaus bis zu 10 Jahn'n
wird bestraft, wci- eiiie in «'ineni w illenlosen oder bewußt-
losen Zustand befiudliehe oder eine geisteskranke
Frauensperson zum außerehelichen Beischlaf miß-
braucht.
II. Strafprozeßordnung:
§ 56. Unbeeidigt sind zu vernehmen .... Per-
sonen, welche wegen mangelnder Verstandesreife oder
wegen Verstandesschwäche von dem Wesen und der Be-
deutung des Eides keine Vorstellung haben.
m. Militäratrafgesetzbuch:
§ 49. Bei strnf hären Handlungen gegen die Pflieii-
teri rfer militärisrle n I 'Uterurdnung sowie bei allen in
Ausübung des Dienstes l^egaFigenen stiTifbju'en Ilaml-
iungen bietet die selbstverschuldete Trunkenheit keinen
Strafinilderungsgrund.
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— 236 —
IV. Bürgerliches Gesetzbuch:
§ 6. Entmündigt kann werden: 1. wer infolge von
Geisteskrankheit oder Geistesschwäche seine Angelegen^-
heiten nicht zu besorgen vermag usw.
§ 1569. Ein Ehegatte kann auf Scheidung klagen,
wenn der andere Ehegatte in Geisteskrankheit verfallen
ist, die Krankheit während der Ehe mindestens drei
Jahre gedauert und einen solchen Grad erreicht hat,
daß die geistige Gemeinschaft zwischen den Ehegatten
aufgehoben, auch jede Aussicht auf Wiederherstellung
dieser Gemeinschaft ausgeschlossen ist.
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Register.
Seite
Abdominalreflex .... 25
Achillessehnenreflex ... 2Ü
Achillodynie 12ü
Affektstörungen IQl
Agoraphobie 157
Akoasmen 152
Akroparä.stheiiieu .... 143
Allocheirie lÄ
Amaurose 32
Amblyopie 32
Amentia 175
Amnesie 129^ 182
Anaemia cerebri .... 8S
Anästhesie 12
Analgesie ÜJ
Anamnese 43
Anartlirie 82
Angioneurolisches Uedem 143
Angst 162
Apathie 1Ü3
Aphasie M.
Apoplexia cerebri .... 2Q
Artliropathien
Ataxie 20
— cerebellare 3Ü
— hereditäre 52
Atrophie, degenerative . . 12
— Inaktivitäts- 12
— myopathische .... 12
Atrophische Lähmung . . 22
Augenliintergrund .... 2S
Aura 122
Babinskisches Pliänomen
25
Seite
Bechterew-Mendel .... 25
Beschäftigungsatropliien . 5fi
Blasenstörungen .... 3Q
Bleineuritis 115
Botulismus IlÜ
Brown- S^quai-dsche Läh-
mung 22
BulbärparalysL' 101
Centrum cilio-spinale . . . 35
Chorea minor • läl
— major 203
Circumduktion ül
Conjunctivalreflex .... 2fi
Cornea! reflex 2ß
Creraasterreflex 25
Cytodiagnose 51
Dämmerzustände .... 186
Degenerationszeichen . . . 164
Delirium tremens .... 184
Dementia paralytica . 174, 21Ü
— praecox 228
— senilis 225
Demenz 150
Dcnkhemmuug 157
Depression Ifil
Dermographie 194
Dcsequilibration .... 208
Deviation, konjugierte . . 36
Diplegia spastica infantilis löl
Dipsomanie 211
Dissoziation
y Google
— 238 —
Seite
Dissoziierte Empfindunjra-
lähmung 18
Doppelbilder 3fi
Durhämatoni 105
Dysartlirie 82
Dystrophia musculorum . 57
Echolalie 220
lintartungsreaktion ,
elektrische 13
— meclianische lü
Epilepsie, genuine .... 12ö
— Jacksonsche Ö2
Epileptische psychopa-
thische Konstitution . 207
Erbsche Lähmung . . . 14Q
Erbscher Punkt ..... 121
ErbUch degenerative . .
Konstitution 208
Erbrechen, cerebrales 81
Erythromelalgie 144
Euphorie 222
Exaltation Ifi2
Exhibitionismus 106
FacialLslähmung 121
Facialisphänomen . . 16^ IßS
Fetischismus 208
Fibrilläre Zuckungen. . . ^
Fleclisigsche Kur .... läl
Flexibilitas cerea .... 206
Flimmers kotom 142
Frenkeische Übungsbe-
handlung 52
Friedreichsche Krankheit ö2
Freudsche Methode . . . 1Q2
Fußklonus 23_
Gang, ataktischor .... 2fi
— paretischer 9
— spastischer IQ
Gibbus 69
GUosis spinalis ß4
GlobuUnreaktion .... 40
Glossy-skin 65
Gowerssche IJihmung . . 101
Größenwahn 156
Seite
Grübelsucht Ifil
Gürtelgefühl 20
Haemorrhagia cerebri . . 90
Halbseitenläsion .... 22
Halluzinationen 152
Halluzinoso 183
Hautreflexe 24
Heiiie-Medinsche Krank-
lieit 61
Heraianästhesie 12
Hemianopsie 28
Hemiatlietosis postapo-
plectica Q2
Hemichorea postapoplec-
tica 02
Hemikranie LH
Hemiplegie 2
Hemiplegia alternans . . 8
— spastica infantilis . . 99
Hemmungsgymnastik . . 147
Herdsymptome 2
Heredität 4Q.
Hesitation 222
Hirnabszeß 9fi
Hirndrucksteigerung ... Q4
Hydrocephalus 98
HydrorayeUe 64
Hypäathesie 12
Hypalgesie 12
Hyperaemia cerebri ... 89
Hyperästhesie 12
Hy{)cralgesie 18_
Hyperhidrosis 132
Hyperthymie 162
Hjrpertonie Iii
Hypertroplüe 11
Hypochondrie 170
Hypochondrische Vor-
stellungen 156
Hypotonie lü
Hysterie 21M1
Jacksonsche Epilepsie . . 92
Ideenflucht 157
Idiomuskuläre Kontrak-
tion Iß
/ Google
— 239 —
Seite
Seite
Jeiidrassikscher Handgriff
22
Littlesche Krankheit . .
101
TU
Illusionen
IM
Lues cerebn
103
Itnpotentia coeundi . .
dl
73
Incontinentia am ....
TP 1 1 1 j •
39
dl
Infranukleäre Ijähmung .
1
Malum perforans . . . .
12
1 QU
Mahim Pottii
6S
1 no
loV<
Manie
113
xniciJ i^enzpruiiinc ....
Masochismus
208
invoiiiion^u oiuoi ....
Ii
Mastodynie
120
1 10
IIH
Melancholie
IfiS
Ischiasphänomon ....
1 OA
Meningitis acuta . . . .
IDfi
O 1
dl
— chronica
23
Meningomyelitis syphili-
Katalepsie
20fi
tica
23
Katatonie
2ÖÖ
Merkfälligkeit
152
Katatonische Spannung .
IM
Metasyphilitische Kr-
Kfrnigsclies Symptom . .
108
krankungen
11
Killderlähmung, spinale
61
Metataraalgie
12Ö
— cerebrale
m
Migräne
14J
Klaustrophobie
151
Monoplegie
7
Kleptomanie
212
Morbus Basedowii . . . .
136
Klumpfuß
Morvansche Krankheit
66
Klumpkesolie Lähmung .
m
Multiple Sklerose . . . .
21
8Ö
Muskelatropiiicn, pro-
Kompression des Rückeii-
51
68
— neurotische Form . . .
55
A 1 J
Kontraktur
11
— spinale Form . . . .
55
1 VA n t ^A WA
od
wA ^A W V ftA S A ^ ^\ ^A VA
^ AK
Korsakoffschc Psychose
O*} 1
Myelitis acuta
Üil
an.
Myoklonic
1 Oft
Krämpfe
115
Kretinismus
Mvxoedem
211
21ß
Lageempfindung ....
12
Neuralgien
116
LagophthalmuH
35
123
liandrysche raralyse . .
63
III
III
Lanzinierende Sclimerzen .
50
— optica
38
Lateralsklerosc, amvotro-
— retrobulbäre
32
äil
Neurone
3
66
Neurosen, funktionelle . .
126
I^ptomeningitis acuta . .
1Ö6
— vasomotorische . . .
113
Lethargie
206
Nukleare Lähmung . . .
6
34
Nystagmus
32
— 240 ~-
Seite
Oculopupilläre Phäno- '
mene 35
Oedema cutis circumscrip-
tum IM
Ohnmacht 88
Opisthotonus IfiS
Oppenheim 2ä
Pachymeningitis cervicalis 2fi
— haemorrhagica .... 1Ö3
Paraanästhesien H
Parästhesie 2ö
Paralyse fi
— progressive 21Ö
Paralysis agitans .... 133
Paranoia acuta 175
— chronica 179
Paraphasie 85
Paraplegie 8
• Para-syphiUtische Erkran-
kungen AI
Parese d
Partielle Empfindungsläh-
mung IS
PatellarklonuL; 23
Patellarreflex 21
Periodische Psychosen . . 2Ö9
Perseveration 228
Perverse Empfindung . . IS
Perversitäten 196
Petit mal ....... 128
Plantarreflex ...... 24
Podalgien 12Ü
Poliomyelitis anterior . . ül
Polyästhesie lü
Polyneuritis 1 14
Polyneuritische Psychose 232
Porencephalie 100
Pottscher Buckel .... fiQ
Predigerhand 11
Pseudobulbärparalyse . . 222
Pseudodemenz 181
Pseudohypertrophic . . 11^ 59
Pseudosklerose 72
Pseudotabes alcoholica . 1 14
— syphilitica 74
Helte
Psychasthenie 188
Psychotherapie 1Q3
Ptosis 35
Pupillenstörungen .... 32
Quinckesches Oedem . . 143
Raynaudsche Krankheit . 144
Reflexe 21
Retentio urinae 31
Rhinolalie 82
Rombergsches Phänomen 20.
Rückenschmerzen .... 20.
Sadismus 2Ü8
Schleimhautreflexe. ... 2fi
Sehnenreflexe 21
Simulation l.'^O
Sklerodermie 144
Sklerose, lobäre Ifiö
— multiple II
Skotom 31
Somnolenz 8Ö
Sopor 8Ü
Spasmus Hl
Spasti.sche Lähmung . . 9
Spermatorrhoe 1Ö5
Spinalparalyse, spastische 53
Spondylitis tuberculosa . ÖS
Sprache 82
— skandi ronde .... H
Status pnusens 43
Stauungspapille 38
Stereognostischer Sinn . . Iii
Stereotype Bewegungen . 175
Stottern 83
Stupor 158
Suggestion 2Ü1
Supranukleäre Lähnumg . 6
Symmetrische Gangrän 144
Synkope SS
Syphilis 41
Syringomyclie 64
Tal)es dorsal is 46
d by Google
— 241 —
Seite
Taboparalvse 51
Tarsalgie ' 12Ö
Tetanie 13&
Tic liü
Transfert 202
Trauma iö
Traumatiache Konstitution 209
Tremor 5^20^
Triam US 5
Tuberkulose 41
Tumor cerebri M
Vnorientiertheit 158
Seit«
Valleixische Di'uckpunkte HI
Verbigeration 210
Vertigo 81
Visionen 152
Wahnvorstellungen . . . 155
Wassermannsche Reaktion 51
Würgreflex 2fi
Zirkuläres Irresein . . . 212
Zuckungsgesetz 12
Zwangsvorstellungen . . . 156
Zyklothymie 212
Mayer, Compeudium der Neurologie. 3.-5. Aufl.
16
j Google
Verlag Speyer & Kaerner, Freibiirg i. B.
In nnberem Verlage erschien:
Hugo Senheim
ord. Professor der Geburtshilfe nnd Gynfikolojifie in Tübingen
Sie gebBrtshil/licb-gynäkologiscbe ttntersachnng.
1910.
8. vermehrte und verbesserte Auflag^e. Mit 89 Abbildungen.
Preis M. 8.—; gebunden M. 9.26.
Aus den bisher vorlie^^enden Kritiken erwähnen wir:
Professor Baisch (München) in der Münchner med. Wocheu-
scla-ift 1910. Heft 10:
„Aus täglicher, reicher Praxis am Krankenbett und im Hör-
saal hervorgegangen, theoretisch tief nnd solid begründet, s.tellt
diese Untersuchungslehre Seilheims ein Buch dar. das \\'ie
wenige Wissenschaft und Erfahrung vereinigend, vor allem dem
Studierenden nicht warm genug empfohlen werden kann. Es
letaet ihn, was dem Lernenden so not tat^ dass die Untersuchung
und Diagnostik nicht Sache handwerksmässiger Routine, sondern
eine Kunst ist, deren Besitz nur durch Vertiefung und fort-
währende Vervollkommnung zu erwerben ist. Die eingehende
Sorgfalt, mit der unter diesem Gesichtspunkt alle HiBsmittel
der Diagnose abgehandelt sind, wobei stets auf die gegenüber
dem klinischen Unterricht primitiveren Verhältnisse der all-
gemeinen ärztlichen Praxis Rücksicht genommen ist, wird das
Buch auch dem praktischen Arzt zu einer auf jeder Seite fesseln-
den und fruchtbringenden Lektüre machen.**
PirofesBor Burekhaid (Wfirzborg) in der „Gynftkologiachen
RnndBchaii<* 1910. Heft 1:
„Das vorzügliche Buch von Sclllieini ist in dritter Auflage
erschienen; es ist uns kein Fremdling mehr, denn viele von uns
haben schon aus den ersten Auflagen Anregung und Belehrung
geschöpft. Es ist unmöglich, auf die zahllosen wertvollen Einzel-
lieiten einzugehen, man niüsste sonst den Text hier reproduzieren . . .
An welclier Stelle man das Buch von Sellheim auch aufschlagen
mag, man wird es nie oline Befriedigung aus der Hand legen . .
Professor A. Martin (Greif swald) in der Monatsschrift für
Oeburtsliilfe und Gynäkologie, 1910, Heft 1 :
„ . . . Jeder Lehrer unserer Disziplin, sicher auch jeder dafür
intensiver interessierte Praktiker liest darin mit Freude ; dieses
früher in der Regel so wenig anziehend dargestellte Kapitel von
der Untersuchungslehre ist unserem heutigen Geschmack in an-
regender Form geboten. Mögen auch mo&me Studierende sich
dadurch beeinflussen lassen; das kann man ihnen fflr ihre spätere
Betätigung nur lebhaft wünschen!*"
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In unserem Verlage erschien:
Grundriss
der
Sektionstechnik
von
Professor Dr. Edgar von Gierke
Mit 9 Abbildungen
Preis: Mk. 2. — broscb.; Mk. 2.60 gebiiadea
1912 ^
Speyer & Kaerner,
Universitatsbuchhandlung,
Freiburgr i. B. und Leipzig.
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Verlag Speyer & Kaerner, Freiburg i. B.
Vor kurzem erschien :
Die Verhütung der Geschlechtskrankheiten
von
Privatdozenl Dr. Felix Pinkus
1912.
Preis Mk. 3. — gebunden in Leinwand Mk. 3.80.
Blne TJnmeiige von Scbriften ezistieit fiber dieses Thema, aber
^volll kaum eine aus 80 berufener Feder. Steht doch dem bekannten
Berliner Dermatologen als leitendem Arzte der Geschlechtskranken-
station des „Berliner Obdach'* ein Material zur Verfügung, wie nur
noch ganz wenigen Ärzten.
Dem Buche liegen P's Universitätisvorlesungen zugrunde. Er
wendet sieh in erster Linie an Studierende* Setae ernsten t mah^
nenden Worte sollten gerade in diesen Kreisen die weiteste Vor-
lireitang finden.
Aus den bisher vorliefrenden Bespr« cliungen zitieren wir:
Zeitschrift fär Balneologie, V. Jahrg. Nr. 1.
.GeorK Ebers Rafft in der Einleitnn({ zur .Gred': ,Obzwar ich tausendfach
gewahret, daü man iiiiUHT nur durch cigcnp und nimmermehr durch Anderer Erfah-
rung kUig wird" — und ein epikritiücher AUckblick auf die eigene Jugend scheint uns
dies zu bestätigen. Deshalb glaube ich auoh den Merkblättern, welche den Studenten
bei der IminmtrikDlatiou ttberreiebt werdeo, nur bedingteik Wert zusprecben ni aoUen.
9fcht viel «Uders sMit es mit Tersebiedcoen neaerllehen, sehr voblgemeinteii Murttten
liber sexuelle Prophylaxe Von Ihnen hebt sich in Form und Inhalt bedeutend, un-
gewöhnlich reichen WiHHcn-stuff mit Leichtigkeit bewältigend, dabei auf Historie und
Aesthetik sinnvoll Bezug nehmend. <las I'.'schc Buch ab. Es macht den Eindiuck
eines Eollegn für Studierende aller Fakultäten, erweist »ich aber für Jeden Gebildeten
und Suchenden ohne weiteres verwendbar. Während die den Immatrikuianden ge-
widmeten Schriften Glauben und Unterwerfung fordern, Ubeneugt dieses Buch. Und
dem überzeugten jungen Manne gehen dann die Zfthmgebote fUr allzugroSe Trieb-
freudigkeit nicht als mißliche Beschränkung des Eigenwillens ein, sondern als etwas
Logisches, Seltist verstündliches. Das Wort des vielerfahrenen Ebers wird hier zu-
sehanden.
Dir Eflsis 'IMM BuehM ktitouttt sin Vorwirtstcbrtitm itr WstiriiaftifllwH, dit
W»hltlands« und dsr Mttuno dir Natten.'
Die „Hygiene" 1912, Nr. 1 schreibt:
»,Aus Jeder Zeile spricht der erfahrene und mitfühlende Arxt, der dnreta seinMi
BWttf und besonders als Leiter des Proatituiertenkraiiki-nliatiMes vdh Berlin tigUch
Gelegenheit hat, die furchtbaren Folgen der Gcüchlechtsktaukheiten zu srhen."
Professor Brandenburg schreibt in der Mediz. Klinik 1*)12 So. 19 u.a.:
Der Daistcllungsart de^ Buelu'^ merkt man es an, daß liier nicht nur der
bewährte iiixh.i nud kenntnisreiche Arzt, sondern auch der fUr dlÄ Lalileii nsliwr
Patienten warmompfindende Mensch spricht.
Das Übersichtlich disponierte und verständlich geschrieben« Buch etflUlt aus*
geselehnet seinen Zweck, medizinische Wahrheiten dem Nichtfachmanne zu übennitteln.
es bietet aber auch dem Arzte mannigfache Anregung und Belehrung, so in der inter-
essanten Znsammenstvllung geschlehtHeher und gmetslleher Daten sur P t os ti tnierten«
frage.'-
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