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Full text of "Compendium der Neurologie und Psychiatrie"

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Compendium 



der 



Neurologie und Psychiatrie 



von 



Dr. Hermann ]Mayor. 



Dritte bis fünfte, vermehrte und verbesserte Auflage. 

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Freiburg I. B. u. Leipzig. 

^ Speyer & Kaer^er 
^ ' • Universitätsbuchhandlung. 

1113 




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Alle Rechte vorbehalten. 

Eine spanische Übersetzung erschien im Verlage 
Gustavo Gill in Barcelona. 



Copyright b y S p e y e r \ K u e r u e r. 
Univer.sitätsbuclihaiidluug 
Freibur;; iu Baden 
Li) 16. 



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Dtwk T<m A. Bonz' £rtMn ia Stuttgart. 



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Vorwort. 



Alle diejenigen, welche das vorliegende Oompendium 
zum Studium oder zur zeitweiligen Orientierung benutzen 
wollen, muß ich auf zwei Dinge aufmerksam machen. 

Zunächst war es mir unmöglich, bei der Größe des 
hier in Angriff genommenen Gebietes die in Betracht 
kommenden Verhältnisse der normalen Anatomie nnd 
Physiologie darzustellen. Ich empfehle es jedem Un- 
kundigen dringend, die diesbezüglichen Kapitel in einem 
Lehrbuche der Anatomie, eventuell auch der Physiologie, 
nachzulesen. 

Des Weiteren mnfi ich nachdrücklich betonen, daß 
nur derjenige den speziellen Teil sowohl der Neurologie 

als auch der Psychiatrie verstehen kann, welcher zuvor 
den allgemeinen Teil studiert hat. Es sind in den 
speziellen Teilen stets Hinweise auf die allgemeinen Teile 
(in Klammem) gegeben, Hinweise, deren ausgiebige Be- 
nutzung ich angelegentlichst anraten möchte. 

Wer in diesem Sinne das Buch in Gebrauch nimmt, 
wird, so hoife ich, manchen Nutzen davon haben. 

Berlin, im Juni 1906. 

Der Terfftsser. 



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.Inhalts-Ubersicht. 

I. Neurologie* 

Sftite 



Allgemeine Diagnostik der Nervenkrankheiten 1 

A. Einleitung 1, 

B. Störungen der Motilität 4 

C. Störongen der Senafbilität IG 

D. Störungen der Reflexe 21 

£. Diagnostischo Vorwortung der Störungen der Motilität, 

der Sensil)ilität und der Reflexe 26 

P. Störungen der Koordination *. . 28 

G. BUwen-, Mastdarm- und Genitalstöroiigen 30 

H. Stönmgen des Sehoiganes 32 

I. Lumbalpunktion • 39 

K. Allgemeine Ätiologie 40 

Im Gang der UntezsiMshiuig 43 

Die Krankhetten iei BidLeHmarks 45 

Einleitung 45 

A. Systemerkraukungen des Rückenmarkes 46 

Tabes dorsalis 46 

Die horoditäre Ataxie 62 

Die spasiische Spinal paralvHe 53 

Die progressiven Muskelatrophien 54 

Die amyotrophische Lateralsklerofle 59 

PolioinycHtis anterior acuta 61 

Akute Spinalparalyse 63 

B. Die diffusen Erkrankungen des Rückenmarkes .... 64 

Die Syringomyelie 64 

Myelitis acuta 66 

Spondylitis tuberculosa 68 

Sclerosis multiplex 71 



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— VI — 

Meningomyelitifl sjrphilitioa 78 

Pachymeningitis cwrioaUs hypertiophioa 76 

Spina bifida 77 

Die Krankheiten des Gehirns 78 

A- Allgemeiner Teil ^ 78 

I. Zentren 78 

II. Allgemeinerscheinungen 80 

III. Sprachstörungen 82 

IV. StSrungen der Sohnffe 87 

B. Spezieller Teil 88 

Zirkulationsstörungen im Gehirn 88 

Apoplexia cerebri ÖO 

Tumor cerebri 9* 

Hirnabszeß ^ 

Hydrocephalns 98 

Hemiplegia spastica infantilis 99 

Diplegia spastio» infantilis 101 

IMe progressive BnlbÜrparalyae 101 

Lues cerebri 1^*^ 

Pachymeningitis liaemorrhagica interna 105 

Lieptomeningitis acuta 106 

Oommotio cerebri 109 

Die Kranltheiten der peripheren Nerven III 

L Neuritis Hl 

PolyneuritiB alooholioa 114 

Bleineuritis 

Polyneuritis postdiphtherica HO 

II. Neuralgien 116 

III. Facialis-Lähmung 121 

IV. Plexufl-Lahmungen 124 

a. Erbsche Lähmung 124 

b. Klumpkesche Lälunung 124 

V. Facialis-Krampf 124 

Die luulitiouolien Neurosen 126 

Einleitung 126 

Epilepsie 126 

Chorea minor 131 

Fftralyns agitans 133 



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— VII — 



Seit« 

Morbus B asedowii 136 

Myxödem 138 

Tctatiip 138 

Akiüiiiegalie 140 

Ht'Miikiiinip ( Mij^iiiuti) . '. ^ ^ . '. '. . '■ '■ ■ '. ■ '. '■ '■ Iii 
Vasomotoriache Neurosen 143 

a. Akroparäatheaien 143 

b. Oedema cutis circumHcriptum 143 

c. Symmetrisclie Gangracn 144 

dTErythrotnelaltrie 144 

ei Heiiiiutrophia faeialia 144 



Slcl.Mmlftrmifi 144 

Myasthenia gravi» paeudoparalytica 145 

Myotonia congenita . . . . 145 

Tio 14ft 



II. Psychiatrie. 

A. AMsrouK'iner Toll 151 



Funktionelle und organische Psychosen 151 

Foriiion der psycliischen Störung 151 



1. Störungen der Empfindung 152 

IL Störungen de,s Denkens 155 

III. Affekt Störungen 161 

IV. Störungen de.s Handelns 163 



Degenerationszeiclien 164 

Gang der psyclii.selien Untcrauchung 166 

l-'.inteiliing der Psychosen 167 



B. Sppzlellpr Teil 169 



I. Psychosen ohne lntelligen>^delekt 169 



a. Einfache Psychosen 169 



Melancholie 169 

Manie 123 

Anienlia 175 

Parapoia chronica halluciiiatoria 178 

Paranoia clironica Simplex 179 

Alkoholpaychosen 182 

Dämmerzustände 186 

Psycbopathiache Koii&ütmiuiien 188 



vin 



Seit« 

I. Psychasthenie 188 

11. XeÄirasthenie 193 

m. Hysterie 200 

ly. Epileptische psychopathisclie Koiit^titution 207 

V. Kl blich degenerative psychopatiiische Kon - 

stitution 208 

VI. Tra\imati:>che psychopathiache Konstitution 209 

b. Zusammengesetzte Psychosen 209 

Katatonie 209 

Pei iodirtohe Manie 210 

Periodisehe Melanoholit; 211 

Zirkuläres Tncseiii , .. , , .. .. 212 

Periodische impulsive Zuatäude 212 

II. Psychosen mit Intelligenzdefekt 213 

A. Angeborene Defektpsychoaen 213 

Idiotie 215 

l»nl)0(-illitiii 21ß 

Debilität 217 

B. Erworbene Defektpsychosen 219 

Dementia paralytica 219 

Denumtia s(>uilis 225 

Dementifl. aeenndaria 222 

Demenfifl. art<>rin.anlpiint.if.a . . . 222 

Dementia praecox 228 

ptMuentia cpileptica 230 

Dcnicutia alcoholica 231 



Ätiologische Übersicht über die Psychosen 234 

Die für dir Psychiatrie wichtigsten Paragrapiicii der deulüchün 

Gesetzgebung ~ 235 

Register 237 



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AUgemeiae Diagnostik der Nerveakraakheiten, 

A. Einleitung. 



Organische und funktionelle Nervenkrankheiten. 

Eine Erkrankung dos Nervensystems kann or- 
ganisch oder funktionell sein. Organisch ist sie, wenn 
sie auf anatomisch nachweisbarer Grundlage beruht; 
funktionell ist sie, wenn sich anatomische Verände- 
rungen nicht nachweisen lassen. Man muß jedoch an- 
nehmen, daß den funktionellen Erkrankungen eben- 
falls materielle Veränderungen des Nervensystems zu- 
grunde liegen ; nur sind dieselben, sei es durch die 
Mangelhaftigkeit der Methoden oder aus anderen Grün- 
den, nicht zu erkennen. Daher wird wohl vieles, was 
heutzutage für funktionell gilt, in Zukunft unter die 
organischen Erkrankungen einzureihen sein. 

Eine funktionelle Neurose darf nur diagnostiziert 

worden : 

1. wenn sich jede organische Nervenkrankheit aus- 
schließen läßt, 

2. wenn die krankhaften Symptome keinen Bestand 
haben, sondern häufigem Wechsel unterworfen 
sind oder bald völlig schwinden, 

3. wenn keine Symptome vorliegen, die <^ine funk- 
tionelle Neurose überhaupt ausschließen (z. B. Ent- 
artungsreaktion der Muskeln, reflektorische Pu- 
pillenstarre etc.). 

Mayer, Compendiam der Neurologie. S.- 5. Aufl. 1 



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— 2 — 



Direkte und indirekte Herdsymptome. 

Die direkten Herdsymptome entstehen durch die 
Zerstörung, welche der eigentliche Krankheitsherd be- 
wirkt; sie sind daher stets dauernd. Die indirekten 

Herdsymptome entstehen durch die Schädigungen, 
welche der Krankheitsherd auf das Gewebe der Um- 
gebung ausübt (,,Forn Wirkung"). Sie sind meist 
. vorübergehender Natur und können bald ganz oder . . 
teilweise zurückgehen; jedoch können sie auch zu blei- 
benden, also direkten lierdsyniptonien werden, wie das 
z. B. bei dem allmählichen Wachstum eines Tumors 
vorkommt. 

Wesen und Sitz der Erkrankung. 

In der neurologischen Diagnostik ist es von ganz 
besonderer Wichtigkeit, nicht nur das Wesen der Krank- 
heit, sondern auch möglichst genau ihren Sitz zu be- 
stimmen. 

1. Das Wesen der Krankheit geht hervor aus ver- 
schiedenen Momenten: Entstehung und Verlauf 
des Leidens (ob plötzlich oder schleichend), Be- 
ruf des Erkrankten (Bleilähmung, AlkohoUsmus 
etc.), Vorausgehen von Infektionskrankheiten oder 
Bestehen von konstitutioneUen Erkrankungen (be-. 
sonders Syphilis), und selbstverständlich aus den 
sonstigen objektiven Symptomen. Oft genügt 
jedoch schon allein die Diagnose des Sitzes , um 
das esen der Krankheit mit Wahrscheinlichkeit 
zu bestimmen, da erfahrungsgemäß gewisse Herd- 
erkrankungen bestimmte Gebiete des Zentralner- 
vensystems bevorzugen (z. B. größere Tuberkel 
im Kleinhirn). 

2. Den Sitz der Krankheit zu bestimmen, ist wich- 
tig, weil, je nachdem ein wichtigeres oder unwich- 
tigeres Gebiet des Nervensystems von der Er- 
krankung betroffen ist, der betreffende Krank- 



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— 3 — 



heitsherd von größerer oder geringerer Bedeutnng 
für den Organismus ist. Es kann z. B. ein recht 
großer Teil des Stirnhirns zerstört werden, ohne 
daß besondere Funktionsstörungen auftreten. 

Zum Verständnis der meisten Nervenkrank- 
heiten ist es wichtig zu wissen, daß die das Nerven- 
system aufbauenden Neurone (Ganglienzelle mit Neurit 
und Dendriten) nutritive Einheiten bilden; d. h. nur 
der mit der Nervenzelle in Verbindung stehende Nerv 
erhält sich, während der abgetrennte Teil sekundär de- 
generiert. Für den Muskel bilden die Ganglienzellen 
des Vorderhorns (resp. der MeduUa oblongata und Pons) 
nutritive Zentren. 

Für die Lokalisation eines Krankheitsherdes sind 
folgende Momente maßgebend, welche sich aus den 
anatomischen Eigentümlichkeiten des Nervensystems 
ergeben : 

. 1. Die Kreuzungsverhältnisse gewisser Bahnen. 

Z. B. bedingt eine Verletzung der Pyramidenbahn 
oberhalb ihrer Kreuzung eine Lähmung der 
entgegengesetzten Körperhälfte, unterhalb 
ihrer Kreuzung eine gleichseitige Lähmung. 

2. Die Zusammensetzung gewisser Bahnen aus zwei 
oder mehr Nerveneinheiten (Neuronen). Z. B. be- 
dingt eine Zerstörung der Pyraniidenbahn, welche 
bekanntlich das zentrale Neuron der gesamten 
motorischen Leitungsbahn vorstellt, eine Degene- 
ration derselben bis zu den Ganglienzellen im 
grauen Vorderhorn des Rückenmarks. Sitzt da- 
gegen der zerstörende Herd im peripheren, mo- 
torischen Neuron, also im Vorderhorn oder im 
peripheren Nerven, so degenerieren Nerv und Mus- 
kel unter den Zelcheii der degenerativen Atrophie: 
Schlaffe Lähmung, elektrische Entartungsreak- 
tion, Volumsverminderung des Muskels. 

3. Die Größe der Enttemimg zwischen verschiedenen 
Bahnen und zwischen Fasern derselben Bahn. 



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— 4 — 



Ein Herd, der in der Capsula interna die gesamte 
motorische Pyramidenbahn zerstört, weil hier die 
Fasern sehr dicht beieinander liegen, bedingt die 
Lähmung der ganzen anderseitigen Körperhälfte. 
Ein gleichgroßer Herd in der Rinde würde viel- 
leicht, weil hier die nervösen Elemente weiter aus- 
einander liegen, nur die Lähmung einer Gesichts- 
hälfte, eines Beines oder eines Armes bedingen. 

Lähmungs- und Reizerscheinungen. 

Die Funktion der nervösen Elemente kann krank- 
haft gesteigert oder krankhaft vermindert, bezieliungs- 
weise völlig aufgehoben sein. In ersterem Falle haben 
wir es mit Reiz-, im letzteren Falle mit Lähmungsor- 
scheinungen zu tun. Reiz- und Lähmungserscheinungen 
können die motorischen, die sensiblen, die sekretori- 
schen, kurz alle vei schiedonen nervösen Funktionen l)e- 
treffen. Wir werden daher in folgendem betrachten: 

1. Die Störungen der Motilität. 

2. Die Störungen der Sonsibilität. 

3. Die Störungen der Roilexe. 

4. Die Störungen der Koordination. 



B. Störungen der Hotilität 



L Motorische ßekerscheinungen. 

A. Krämpfe (Hyperkinesis).' 

Man unterscheidet tonische und klonische Krämpfe. 
Die tonischen Krämpfe beruhen auf lange, gleich- 
mäßig andauernden, unwillkürlichen Muskelkontrak- 
tionen, sie können von Minuten bis Wochen dauern. 
Die klonischen beruhen auf kurzdauernden, schnell 



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— 5 — 



aufeinanderfolgenden Muskelkontraktionen. Klonische 
Krämpfe von großer Ausbreitung und Intensität heißen 
Konvulsionen. 

Vorkommen: 

a. Klonische: Bei Epilepsie, cerebralen Herderkran- 
kungen, Myelitis transversa und Urämie. 

b. Tonische: Bei Epilepsie (Beginn des Anfalls), bei 
Hysterie, bei Tetanus etc. 

Arten der tonigehen Krämpfe: 

1. Tetanus = Krampf der gesamten Körpermusku- 
latur. 

2. Opisthotonus = Krampf der Streckmuskeln des 
Rückens und Nackens. 

3. Trismus= Krampf der Kaumuskulatur. 

4. Crampus= Krampf einzelner Muskelgruppen. 

B. Choreatischc und athetotische Bewegungen 
werden im speziellen Teil beschrieben (S. 92, 131). 

C. Tremor (Zittern). 

Der Tremor besteht aus rhytmischen, schnell auf- 
einander folgenden Zuckungen von geringer Exkursion. 
Man kann einen statischen Tremor (in rler Ruhe) 
und einen Bewegungstremor (bei aktiven Bewe- 
gungen) unterscheiden. Der Tremor kann fein- und 
grobschlägig sein. 

Vorkommen: Physiologisch als Tremor senilis; pa- 
thologisch als Tremor alcoholicus, ferner als Tremor 
saturninus (chronische Bleivergiftung), hei Morphinis- 
mus, hei Neurasthenischen und Hysterischen, ferner bei 
Morbus Basedowii. Das Zittern bei Paralysis agi- 
tans ist außer durch eine charakteristische Haltung 
der Hand (Pillfridrchen) dadurch ausgezeichnet, daß 
es bei willkürlichen größeren Bewegungen aufhört. Um- 



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— 6 — 



gekehrt tritt der sogenannte Intentionstremor ge- 
rade nur bei willkürlicher Bewegung auf, und zwar 
gegen Ende der Bewegung; er kommt vor bei mul- 
tipler Sklerose, seltener bei Quecksilbervergiftung. 

D. Fibrilläre Muskelzuckungen 

sind Zuckungen einzelner gröberer oder feinerer Muskel- 
bimdel ohne Bewegungseffekt. Sie haben Ähnlichkeit 
mit dem Muskelflimmern beim Frieren (Untersuchung 
im warmen Räume!); sie beruhen meist auf degenera- 
tiven Veränderungen der Muskulatur. 

Yorkammen: Besonders bei der spinalen progres- 
siven Muskelatrophie, gelegentlich bei Neurasthenie. 

IL Motorisehe Lähmungserscheiniiiigen. 

Unter Lähmung versteht man einen Zustand, bei 
dem die willkürliche Muskulatur durch den Willen nur 
in vermindertem Grade oder gar nicht mehr zur Kon- 
traktion gebracht W(M'<len kann. Verminderung der 
willkürlichen Kontraktion heißt Parese, völlige Auf- 
hebung derselben Paralyse. 

Der Sitz des Krankheitsherdes, welcher die moto- 
rische Lähmung bewirkt, kann sich selbstverständlich 
an den verschiedensten Stellen der motorischen Lei- 
tungsbahn befinden: 

1. In der Gehirnrinde = Kortikale Lähmung. 

2. In der Pyramiden bahn. 

3. a. Im grauen Vorderhorn des Rückenmarks. 

b. Im Kern eines llirnnerven = A'ukleäi'e Läh- 
mung. 

4. Im peripheren Nerv. 

5. Im Muskel = Myopathisehe Lähmung. 

Im Gebiete des Hirnnerven nennt man eine Läli- 
mung nuklear, wenn der Kern betroffen ist, supra- 
nnkleär, wenn das zentrale motorische Neuron (von der 



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— 7 — 



Hirnrinde bis zum Kern), und infhmvkleär, wenn der 
peripherische motorische Neurit (im peripherischen 
Nerven) betroffen ist. 

Ist kein Krankheitsherd vorhanden, so ist die 
Lähmung funktionell (Hysterie etc.). 

Verbreitung der Lähmungr. 

1. Hemiplegie = Lähmung einer Körperhälfte. 

2. Monoplegie = Lähmung einer Extremität oder 
einer Gesichtshälfte; man unterscheidet Mono- 
plegia facialis, brachialis, cruralis. 

3. Paraplegie oder Diplegie = Lähiiuing beider Arme 
oder beider Beine oder beider Gesicbtshälften. 

4. Hemiplegia crueiata s. altemans = Lähmung der 
Extremitäten der einen Seite mit gleichzeitiger 
Lähmung des N. facialis oder N. oculomotorius 
der anderen Seite. 

5. Lähmung einzelner 3Iuskelgebiete. 

Ähnlich unterscheidet man auch: 
Hemiparese, Paraparese etc. 

Bingnostische Verwertung des Ausbreitungsgebietes. 

1. Die Lähmung einzelner Muskelgruppen, welche von 
demselben Nerven versorgt werden, spricht für 
eine Läsion des betreffenden peripheren Nerven; 
ebenso werden bei der Zerstörung eines Plexus nur 
einzelne Muskelgruppen gelähmt. 

2. Monoplegie spricht für eine Affektion der Hirn- 
rinde, da hier die Zentren für Arm, Bein, Gesicht 
etc. isoliert liegen; bei Monoplcgia cruralis denken 
wir an einen Herd im obersten Teil der vorderen 
Zentralwindung, bei Monoplegia brachialis im 
mittleren Teil derselben, bei Monoplegia facialis 
und Monoplegia facio-linguaiis im untersten Teil 
derselben. 

3. Hemiplegie spricht für den Sitz des Herdes in der 
Capsula interna, da hier die Fasern der gesamten 



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Pyramidenbahn sehr eng beieinander liegen; in 
der Rhide würde ein erheblich größerer Herd nötig 
sein, um Hemiplegie zu veranlassen. 

4. Paraplegie spricht für Sitz des Herdes im Rücken- 
mark, weil hier die beiden grauen VorderhÖrner 
resp. die beiden P^amidenbahnen nahe beieinan- 
der liegen. Totale Lähmung beider Gesichtshälften 
spricht für Erkrankung beider Facialiskerne in der 
Medulla oblongata. 

5. Hemiplegia altemans ist dadurch möglich, daß der 
Herd an einer Stelle sitzt, wo sich die zentrale 
Bahn des Himnerven bereits gekreuzt hat, während 
die übrige Pyramidenbahn noch ungekreuzt ver- 
läuft. Gekreuzte Oculomotoriuslähmung spricht 
für Erkrankung eines Hirnschenkels (z. B. rechts- 
seitige Oculomotoriuslähmung mit linksseitiger 
Extremitätenlähmung bei Erkrankung des rechten 
Hirnschenkols) ; gekreuzte Facialislähmung spricht 
für eine Läsion des hinteren Pons. 

Entstehung und Verlauf • 

der Lähmung geben Anhaltspunkte über die Art des 
Krankheitsherdes : 

1. Akute Entstehung: Hirnblutung, Embolie, Throm- 
bose, Trauma. 

2. Progressive Entstehung: Tumor, Abszeß, multiple 
Sklerose, gummöse Hirnsyphilis, Solitärtuberkel. 

3. Transitorischer Verlauf: Dementia paralytica, Hy- 
sterie etc. 

Prüfung der Muskeln auf aktive Bewegungen. 

Man fordert den Patienten auf, die Extremität resp. 
die Gesichtsmuskeln (durch Pfeifen, Stirnrunzeln etc.) 

zu bewegen. Bei Extremitätenlähmungen ist es sehr 
wichtig, die grobe motorische Kraft zu prüfen, indem der 
Arzt der Bewegung einen Widerstand entgegensetzt. 



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— 9 — 



Bei völliger Paralyse fallen die Extremitäten, wenn man 
sie emporhebt und wieder losläßt, wie leblos herab. 

Die Art der Lähmung 

gibt uns zuverlässigere Aiifsrhlüssc über den Sitz der 
Erkrankung als ihr Ausbreitungsgebiet. Die Lähmung 
kann entweder spastisch oder schlaff (atrophisch) sein. 

a. Spastisch ist die Lähmung, wenn die passive Be- 
weglichkeit der Muskeln vermindert, der Muskel- 
tonus erhöht ist, die Sehnenreflexe vorhanden und 
gesteigert sind. Bei spastischer Lähmung sitzt die 
Erkrankung im zentrahni motorisclxen Neuron 
(Rinde, Pyramidi^nhalm). 

-. b. Schlaff ist die Lähmung, wenn die Muskeln Vo- 
lumsvenninderung (Atrophie), elektrische Entai-- 
tungsreaktion zeigen und schlaff sind (verminder- 
ter Tonus). Die Sehnenreflexe sind dabei auf- 
gehoben. Bei atrophischer Lähmung sitzt die Er- 
krankung im peripheren motorischen Neuron, also 
entweder im grauen Vorderhorn des Rückenmarks 
(resp. im Kerne des Hirnnerven) oder im peripheren 
Nerven. 

Was die Hirnnerven betrifft, so ist eine supra- 
nukleäre Lähmung stets spastisch, die nukleare so- 
wie die infranukleäre atrophisch. 

Eine spastische Paraplegie spricht für Er- 
krankung der Pyramidonbahnen im Rückenmark, eine 
atrophische Paraplegie dagegen für Erkrankung 
der grauen Vorderhörner des Rückenmarks. Sitzt ein 
Herd in der Intumescentia cervicalis, so kann er eine 
atrophische Lähmung beider Arme und zugleich eine 
spastische Lähmung beider Beine bedingen. 

Bei Lähmung der Beine bildet sich ein charak- 
teristischer Gang aus. 

a. Der paretiselie Gang: Gehbewegungen verlangsamt 
und mühsam, Schrittlänge verkürzt; beim Erheben 
des Fußes sinkt die Fußspitze herab. Da das 



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- 10 — 



Bein dadurch verlängert wird, beugt der Patient 
dasselbe übertrieben in Hüfte und Kniegelenk. 
Das Aufsetzen des Fußes verursacht zwei Ge- 
räusche. 

Der spastische Gang: Kleine, hüpfende Schritte; die 
Fußspitze klebt am Boden, das Knie ist meistens 
steif; dafür hebt der Patient gewöhnlich das 

Becken auf der Seite des schwingenden Beines, 

er beschreibt mit demselben einen kleinen Bo^en. 
Überwiegt an den Oberschenkeln der Spasmus der 
Adduktoren, so werden die Schenkel beim Gehen 
gekreuzt. 

III. Störungen des Tonus nnd der Ernährung der 

Muskulatur. 

a. Störungen des Tonus äußern sich entweder in 
Hypertonie (Steigerung des Muskeltoniis) oder 
in Hypotonie (Abschwächung) desselben. 

1. Hypertonie oder Spasmus des Muskels kommt 
zustande, wenn das I. oder zentrale motorische 
Neuron beschädigt ist. Man nimmt an, daß bei 
Spasmen gewisse reflexhemmende Fasern zer- 
stört sind, weil sich neben dem erhöhten Tonus 
gesteigerte Reliexe linden. 

Prüfung auf Spasmus. Der Untersncher 
fühlt, wenn er mit den Muskeln des Patienten 
passive Bewegungen ausführen will, infolge der 
Rigidität der Muskulatur einen deutlichen Wi- 
derstand. 

2. Hypotonie kommt zustande, wenn das II. oder 
})eriphere motorische Neuron geschädigt ist. Sie 
geht daher stets mit einer llerahs»4zung oder 
Aufhebung der Sehnenreflexe einher. Die Glie- 
der zeigen infolge der Hypotonie eine abnorm 
große, passive Beweglichkeit. In seltenen Fällen 



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findet man auch bei cerebralen Lähmungen auf- 
fallende Schlaffheit der Muskulatur. 

Kontrakturen können sich bei länger dauern- 
den spastischen sowie atrophischen Lähmungen 
entwickeln. Sie bestehen in einer dauernden 
Verkürzung des Muskels, welche durch eine ana- 
tomische Veränderung desselben (bindegewe- 
bige Entartung) entsteht. Bei spastischen Läh- 
mungen verfallen meist die gelähmten Muskeln 
der Kontraktur^ bei atrophischen dagegen die 
Antagonisten der gelähmten Muskeln (^^para- 
lytische Kontraktur*'). Durch Kontrakturen 
erhält das gelähmte Glied eine fixierte Stel- 
lung; so entsteht oft nach Hemiplegien eine 
Beugekontraktur im Arm, eine Streck- 
kontraktur im Bein; Lähmung des N. ulnaris 
führt durch Kontraktur im Muskelgebiete des 
N. radialis zur Kl auenh and Stellung, Läh- 
mung des N. ulnaris und medianus führt zur 
Predigerhand, atrophische Lähmung der 
Daumenmuskeln des Medianusgebiets zur Af- 
fenhand, Lähmung des N. peroneus zu Spitz- 
fußstellung durch Kontraktur der Waden- 
muskulatur, umgekehrt Tibialislähmung zu 
Krallen- und Hackenfußstellung. 

b. StOrungeB der Emähnmg äußern sich entweder in 
Hypertrophie (Zunahme der Muskelfasern) oder in 
Atrophie. 

1. Hypertrophie der Muskeln findet sich bei Myo- 
tonia congenita, femer in dem einen gesunden 
Bein, wenn das andere Bein gelähmt ist. 

Prüfung auf Hypertrophie: Vermehr- 
tes Volumen der Muskulatur (Messung, Ver- 
gleich mit der anderen Seite), vermehrte grobe 
Kraft, große Härte. 

Nicht zu verwechseln mit echter Hyper- 
trophie ist die Psendohypertrophie» bei welcher 



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— 12 — 



zwar das Muskelvolumen vermehrt ist, dagegen 
die grobe Kraft vermindert ist, weil hier das 
größere Muskelvolumen in Wirklichkeit auf 
Fetteinlagerunor boriiht. Pseudohypertrophie 
kommt bei Dystrophia musculorum pro- 
gressiva vor. 

2. Die Atropbie zeigt mehrere Abarten: 

a. Die Inaktivitätsatrophie besteht in 
einer sehr langsam eintreteiiden Volumsver- 
niinderung, welche bei allen lange untatigen 
Muskeln eintritt; die elektrische Erregbar- 
keit ist dabei nicht verändert. 

ß. Die degencrative Atrophie besteht in 
einer erheblichen histologischen Veränderung 

■ . des Muskels. Der hochgradige Schwund des 
Muskels tritt sehr rasch ein, selbst wenn die 
Muskeln noch tätig sind. Die elektrische Er- 
regbarkeit ist dabei verändert (Entartungs- 
reaktion; s. unten). Degenerative Atrophie 
findet sich bei allen Erkrankungen des peri- 
pheren Neurons, sie geht daher mit Auf- 
hebung der Reflexe und Hypotonie einher; 
oft befällt sie einzelne Muskeln für sich (z. ß. 
Daumenballen etc.). 

y. Die myopathischo Atrophie findet sich 
bei Erkrankung des Muskels ohne jegliche 
Erkrankung des Nervensystems. Der Muskel 
hat zwar geringeres Volumen, zeigt aber keine 
elektrische Entartungsreaktion. Sie tritt auf 
bei der Dystrophia musculorum progressiva 
(in späteren Stadien) und bei schweren Ge- 
lenkallektionen (z. B. Atrophie des M. quad- 
riceps bei schweren Kniegelenksentzün- 
dungen). 



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— 13 — 



IV. Elektrische Eutartuugsreaktion. 

Die elektrische Entartungsreaktion (Ea. R.) ist das 
zuverlässigste Zeichen der degenerativen Atrophie; sie 
äußert sich darin, daß 

1. der Grad der Erregbarkeit des Nerven bzw. 
des Muskels, 

2. die Qualität der Reaktion 

verändert sind. 

ad 1. Die olektrischo Krregbarkcit des Nerven ist 
sowohl für den faradischen als auch für den galvanischen 
Strom aufgehoben. Am Muskel dagegen schwindet nur 
die Erregbarkeit für den faradisclien Strom; die Er- 
regbarkeit für den galvanischen Strom jedoch ist ge- 
steigert, so daß viel geringere Stromstärken, als für einen 
normalen Muskel nötig wären, schon zur Kontraktion 
führen. 

ad 2. Die durch den galvanischen Strom erzeugten 
Kontraktionen sind qualitativ verändert. Die Zuckung 
ist nämlich träge (wurmförmig). Ferner trifft das so- 
genannte Zuekvmgsgesetz, wie man es für den normalen 
Muskel aufgestellt hat, für den degenerierten Muskel 
nicht mehr zu. 

Das Zuckungsgesetz für den normalen Muskel 
lautet: 

Die geringste Stromstärke, welche geeignet ist, eine 
Zuckung zu erzielen, brauchen wir dann, wenn war bei 
der Schließung des galvanischen Stromes mit der 
Katode reizen (KatodenschUeßungszuckung = KSZ). 
Größere Stromstärken sind erforderlich zur Anoden- 
schließungszuckung {ASZ), noch größere zur Anoden- 
öffnungszuckung (A O Z), die größten endlich zur Ka- 
todenöffnungszuckung (KOZ), Also gilt für den nor- 
malen Muskel das Schema: K8Z> (größer als) A8Z 
> AOZ > KOZ. Dieses Zuckungsgesetz ist für den 
degenerierten Muskel derart verändert, daß sich A8Z 



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mit gleicher oder sogar geringerer Stromstärke erhalten 
läßt, als K8Z, also A 8 Z =^ oder > K S Z. Ebenso, 
was aber unwichtiger ist, KOZ — oder > AOZ. 

Die beschriebene Form der Entartungsreaktion 
heißt komplette Entartungsreaktion; sie findet sich in 
den prognostisch ungünstigeren Fällen. In günstigeren 
Fällen findet sich die sogenannte partielle Entartungs- 
reaktion, bei welcher die Erregbarkeit des Nerven für 
faradischen und galvanischen Strom und die des Mus- 
kels für den faradischen Strom nicht aufgehoben, son- 
dern nur herabgesetzt sind, die Erregbarkeit fflr den 
galvanischen Strom jedoch sich ebenso verhält, wie bei 
der kompletten Entartungsreaktion. Wir haben also 
folgendes Schemata: 



1. Komplette EaR. 





Faradische Eriegb. 


Qalvanisohe Eneigb» 


Nerv 






Umkal 


IL Partielle 


träge Zuckung; 
Ä8Z^K8Z 

EaR. 




Faradische Erregb. 


Galvanische Erregb. 


Nerv 


herabgesetzt 


herabgesetzt 


Muskel 


herabgesetzt 


träge Zuokimg; 
ASZ'^KaZ 



Vorkommen: Elektrische Entartungsreaktion findet 
sich bei allen Erkrankungen des peripheren motorischen 
Neurons, also bei allen Erkrankungen der Vorderhömer, 
der vorderen Wurzeln und des peripheren Nerven, Sie 
geht deshalb einher mit den übrigen Zeichen der de- 
generativen Atrophie: Hypotonie und Volumensver- 
minderung des Muskels. 



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- 15 — 



Wir lassen hier eine Übersicht über die Erkran- 
kungen des peripheren motorischen Neurons folgen: 

a. Erkrankungen der Vorderhömer. 

1. Poliomyelitis anterior. 

2. Spinale progressive Muskekitrophie. 

3. Amyotrophische Lateralsklerose. 

4. Syringomyelie. 

5. Mvelilis 

6. Progressive Bulbärparalyse. (Die Nervenkerne 
der Med Ulla oblongata entsprechen den Vorder- 
hörnern). 

b. Erkrankungen der vorderen Wurzeln: 

1. Geschwülste der Wirbel. 

2. Meningitis chronica (bei Syphilis). 

c. Erkrankungen der peripheren Nerven: 

1. Traumatische 



2* Rheumatische 

3. Toxische 

4. Infektiöse 



Neuritis. 



Y. Slechanisclie Erregbarkeit der Muskeln uud 

Nerven. 

a. Muskeln. 

1. Beim Beklopfen eines Muskels mit dem Perkus- 
sionshammer sieht man beim gesunden Menschen 
eine kurze Kontraktion. Diese mechanische Erreg- 
barkeitist gesteigert bei allen Nervenkrankheiten, 
bei denen eine allgemeine Erhöhung der Erregbarkeit 
des Nervensystems vorhanden ist: Neurasthenie, 
Hysterie, traumatische Neurose, Alkoholismus etc. 

2. Gesteigerte Kontraktionen von trägem Charakter 
erhält man durch Beklopfen solcher Muskeln, 
welche elektrische Entartungsreaktion zeigen. (Me* 
chanische Entartungsreaktion.) 



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3. Erhöhte mechanische Erregbarkeit der Muskehi mit 
energisch eintretender, aher langsam absinken* 
der Kontraktion findet sich Bei der Afyotonia 
congenita. 

4. Idiomuskuläre Kontraktionen sind quere Wül- 
ste, welche rein lokal an der beklopften Stelle des 
Muskels auftreten ohne pathognomonische Bedeu- 
tung, desgl. die wellenförmige Wulstbildung. 

b. Nerven. 

Klopft man mit dem Perkussionshammer auf einen 
Nerven (z. B. N. nlnaris), so kann man bei vielen Per- 
sonen eine loiehlc Zuckung der entsprechenden Muskeln 
erzielen. Diese mechanisclio Erregbarkeit der Nerven, 
nicht aber der Muskeln, ist hochgradig gesteigert bei 
dvY Tetanie, Bei dieser Krankheit ruft das Beklopfen 
der Facialisäste eine ZAickung der mimischen Muskeln 
hervor (Faciaiisphänomen.) 



C. Störungen der Sensibilität 

Die Sensibiütät des Menschen weist bekanntlich 
zwei große Unterarten auf: Die Hautsensibilität und die 
tiefe Sensibilität (Muskel- und Gelenksensibilität). 

L Die Haatsensibilität. 

Die Hautsensibilität zerfällt in mehrere Qualitäten: 

1. Tastempfindung oder Berührungsempfindlich- 

keit. 

2. Schmerzempfindung. 

3. Temperaturempfindung. 

4. Ortssinn oder Lokalisationsvermögen. 



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— 17 — 



1. Tastempfindung. Man prüft dieselbe, indem man 
die Haut an verschiedenen Stellen mit der Finger- 
spitze oder einem Pinsel leicht bestreicht; der Pa- 
tient hat dabei die Augen geschlossen und jede 
Berührung mit jetzt" zu beantworten. Die Stö- 
rungen der Tastempfindung sind: 

a. Die Anästhesie = völlige Unempfindlichkeit 
gegen Berührung. 

b. Hypästhesie = Herabsetzung der Berührungs- 
empfindlichkeit. 

c. Hyperästhesie = Steigerung der Berührungs- 
empfindlichkeit. 

Nach dem örtlichen Verhalten der Störung 
der Tastempfindung unterscheidet man 

a. Totale Anästhesie (des ganzen Körpers); 

ist enorm selten. 

ß. Hemianästhesie = Anästhesie einer Kör- 
perhälfte; sie grenzt sich scharf in der Me- 
dianlinie des Körpers ab und beteiligt meist 
die Schleimhäute in gleicher Weise. Sie 
kommt vor bei gewissen Herden der Capsula 
interna (am hinteren Ende ihres hinteren 
Schenkels) und bei Hysterie, ferner bei 
halbseitigen Affektionen des Rückenmarks 
(Halbseitenläsion). 

y. Paraanästhesie — Anästhesie beider Arme 
oder beider Beine. Sie findet sich unter den- 
selben Bedingungen wie die Paraplegie, also 
hauptsächlich bei Rückenmarkserkrankungen; 
aus dem Ausbreitungsgebiet von Paraanäs- 
thesien kann man ziemlich genau auf den 
Sitz des Herdes schließen. 

6. Anästhesie des Gebietes eines einzelnen 
peripheren Nerven spricht für eine iso- 
üeite Erkrankung desselben. 

e. Anästhesie einzelner Extremitäten oder Ab- 
schnitte derselben ohne motorische Lähmung 

Kayer,Coaqwiidlumderireiifologie. S.— 5. Anfl. 2 



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— 18 — 



spricht für Hysterie; bei dieser Erkrankung 
findet sich die Anästhesie oft in Form geo- 
metrischer Figuren (z. B. Manche ttenform). 
f. Anästhesia dolorosa; subjektiv wird an irgend 
einer Stelle Schmerz empfunden, während 
objektiv Unempfindlichkeit besteht. 

2. Die Sehmerzempfiiidimg; man prüft dieselbe durch 
leichtes Stechen mit einer Nadel. Dem Grade der 
Störung nach unterscheidet man Analgesie, Hyp- 
algesie und Hyperalgesie. 

Die Störungen der Schmerzempfindimg haben 
im großen Ganzen dieselbe diagnostische Bedeu- 
tung "wie diejenigen des Tastsinns; wir verweisen 
daher auf das oben Gesagte. 

3. Temperatiirempfuidnng; man prüft dieselbe, in- 
dem man die Haut abwechselnd mit zwei Reagenz- 
gläsern berührt, von denen das eine mit heißem, 
das andere mit kaltem Wasser gefüllt ist. Läh- 
mung des Temperatursinnes nennt man Therm- 
anästhesie. 

4. Der Ortssinn oder das Lokalisationsyermögen wird 
geprüft, indem man den Kranken angeben läßt, 
an welcher Stelle er berührt worden ist. 

Partielle oder dissoziierte Empfindungslähmunj? be- 
steht darin, daß nicht alle, sondern nur einzehic Enip- 
findungsqualitäten erloschen sind. So besteht z. B. bei 
der Hysterie oft Analgesie für sich allein; bei der Sy- 
ringomyelie findet sich Analgesie und Thermanästhesie 
bei erhaltener Berührungseinpfindung. 

Verlangsamung der Empfindungsleitung findet sie h 
hauptsächlich bei der Sclunerzempfindung. Sie besteht 
darin, daß zwischen dem Heiz (Nadelstich) und der 
Schmerzenipfindung eine abnorm lange Zeit vergeht; 
mitunter fühlt der Patif^it die Berührung mit der Nadel 
sofort, den Schmerz dagegen erst nach einiger Zeit 
(Doppelempfindung). Sie kommt vor bei Tabes, sel- 



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- 19 — 



tenor boi Neuritis. Perverse Empfindung besteht darin, 
daß z. B. kalt als warm und umgekehrt empfunden wird. 

Polyästhesie besteht darin, daß bei Berührung 
mit einer Spitze zwei oder mehr tri fühlt werden. 

Allocheirie besteht darin, daß ein Reiz, den man 
an einer Extremität appliziert, an entsprechender Stelle 
der anderen Extremität empfunden wird. Die Er- 
scheinung findet sieh sehr selten bei Tabes, Myelitis, 
Hysterie und multipler Sklerose. 

IL Die tiefe Sensibilität. 

1. Die Lageempfindun^ und die Empfindung passiver 
Bewegungen wird geprüft, indem man z. B. die 
große Zehe zwis(*hen Daumen und Zeigefinger 
nimmt und nun ])Iantarwärts oder dorsalwärts flek- 
tiert, wobei der Kranke anzutjeben hat. welche 
Bewegung der Untersucher ausgeführt hat, resp. 
welche Lage er dem Gliede gegei)en hat. Störung 
der Lageempfindung kommt hauptsächlich bei 
Tabes vor. 

2. Die Stereognose (Sinn für (la> l\urperliche) wird 
gepriift, indem n>an dem Patienten stcreometiisclu» 
Körper (Kugel, Würfel, Pyramiden etc.) oder leicht 
erkennbare Gegenstände (Schlüssel, Knopf etc.) in 
die Hand gibt und ihn die Natur des Körpers be- 
stimmen läßt. Selbstverständlich konkurrieren 
hierbei verschiedene Empfindungsqualitüten, be- 
sonders der Drucksinn, die Lage- und Bewegungs- 
empfindung. Das stereognostische Zentrum liegt 
in der hinteren Zentralwindung. 

Vorkommen: Erkrankungen der Kinde, Ataxie etc. 

111. Subjektive Stömngen der Empflndang. 

Die subjektiven Störungen der b^mpfindung kann 
man auch als sensible Keizurscheinung bezeichnen. Sie 



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— 20 — 

finden sich meist bei Erkrankung peripherer Nerven 
und der hinteren Rückenmarkswurzeln. Dagegen ver- 
laufen Gehirn- und Rückenmarksaffektionen meistens 
ohne sensible Rcizorscheinungen (schmerzlos), wofern 
nicht die Meningen in Mitleidenschaft gezogen sind. 

1. Parästhesien treten als Gefühl von Taubsein, Pel- 
zigsein, Kribbeln, Ameisenlaufen, Stechen, Kälte, 
Hitze etc. auf. Eine besondere Art von Parästhesie 
ist das sogenannte Gürtelgefühl; es ist ein Gefühl 
von Spannung um die Brust, welches sich bis zum 
Schmerz steigern kann. £s findet sich besonders 
bei Tabes, Erkrankungen des Rückenmarks durch 
Kompression etc. 

2. Spontane Schmerzen. 

a. Der neuralgische Schmerz tritt anfallsweise auf, 
mit ktlrzeren oder längeren schmersfreien Inter- 
vallen; er befällt das Gebiet eines oder mehrerer 
bestimmter Nerven. 

b. Die lanzin ierenden Schmerzen bei Tabes 
fahren „blitzartig** durch den Körper, beson- 
ders durch die unteren Extremitäten. 

c. Rückenschmerzen können beruhen auf 

a. Affektionon der Wirbelsäule (Garies etc.) 
[]. Muskelrhoumatismus. 

y. Affektiuneii des Rückenmarks (Tumoren, 

Tabes etc.). 
6. Neurasthenie (Spinalirritation). 

d. Kopfschmerzen (Cephaläa). 

1. Der meningitische Kopfsclimerz ; bei der 
luetischen Meningitis haben wir nächtlich 
exazerbierende Kopfschmerzen. 

2. Der neurasthenische Kopfschmerz, be- 
sonders in Form des Kopfdruckes". 

3. Der hysterische Kopfschmerz, manchmal 
umschrieben auf dem Scheitel (Glavus hy- 
stericus). 



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— 21 — 

4. Migräne. 

5. Neuralgische. 

6. Der toxische (Vergiftung mit Blei^ Alkohol, 
Nikotin etc. ; bei Autointoxikationen : Urämie, 
Diabetes, Obstipation). 

7. Der anämische und hyperämische Kopf- 
schmerz. 

8. Der habituelle Kopfschmerz, beruhend auf 

erblicher Disposition. 

9. Der Kopfschmerz bei Erkrankungen benach- 
barter Organe (Nase, Ohr, Kieferhöhlen). 

e. Physiologisehe Yorgänge (Herzaktion, Darm- 
peristaltik etc.) können bei Neurosen als Schmer- 
zen wahrgenommen werden. 



D. Störungen der Reflexe. 



I. Sehnenreflexe. 

Unter Sehnenreflcxen verstehen wir Mnskelzuckungen, 
Hie durch einen die Sehne treffenden niechanisrhen Heiz 
erzeugt werden. Der Rcflexbop^cn, von dessen Inti'grität 
das Zustandekommen des Reflexes abhängt, besteht aus: 

1. Dem sensiblen (centripetalen) Nerven 
mit dem Spinalganglion. 
. 2. Der hinteren Wurzel des Rückenmarks. 

3. Der Reflexkollateralen. 

4. Der Ganglienzelle des grauen Vorder- ^ 

horns (Reflexzentrum). | 

5. Dem motorischen iNerven. j 

6. Muskel. J 

Die wichtigsten Sehnenreflexe sind; 

a. Der Patellarreflex (Kniephänomen). Man erzeug 
ihn, indem man mit dem Perkussionshammer die 



Centri- 
peialer 
Weg. 

Centri- 
fu galer 
Weg. 



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— 22 — 



Patellarsehne beklopft; es tritt dann normaler- 
weise eine kurze Zuckung des M. quadriceps ein. 
Sehr wichtig ist bei der Prüfung die völlige Ent- 
spannung der Muskulatur. Man erreicht sie, indem 
man das Bein des in Rückenlage befindlichen Pa- 
tienten in stumpfen Winkel bringt und mit der 
linken Hand unterstützt, wobei man dem Patienten 
aufträgt, völlig locker zu lassen; tut er das nicht, 
so lenke man ihn ab durch Gespräch oder durch 
den Jendrassikschen Handgriff: 

Man läßt den Patienten die Hände ineinander 
falten und dann auf Kommando kräftig ausein- 
anderziehen. Günstig ist auch die Untersuchung, 
bei welcher der Patient, auf einem Tische sitzend, 
die Beine frei herabhängen läßt. 

Der Patellarreflex kann aufgehoben, herab- 
gesetzt oder gesteigert sein. 

1. Aufhebung (Westpbalsches Zeichen) bzw. Herab- 
setzung des Patellarreflexes findet sich bei jeder 
Unterbrechung des Reflexbogens, also: 

a. Bei einer Läsion des sensiblen Teils des 
Reflexbogens: Neuritis des N. femoralis, Er- 
krankung der hinteren Wurzeln und der 
Hinterstränge (Tabes). 

ß. Bei Erkrankung des Reflexzentrums 
(graues Vorderhom: in der Höhe des 2.-4. 
Lumbalsegmentes): bei Myelitis, progressiver 
Muskelatrophie, Poliomyelitis anterior. 

y. Bei Erkrankung des peripheren, motori- 
schen Teils des Reflexbogens, also: Neuritis 
imd Erkrankun^x (\ot vorderen Wurzeln (Kom- 
pression durch Tumoren). 

^. Im tiefen Schlaf, Coma, Narkose, bei Druck- 
steigerung im Wirbelkanal. 

2. Steigerung des Patellarreflexes gibt sich da- 
durch kund, daß die Kontraktion des M. qua- 
driceps sehr lebhaft ist. Bei hochgradiger Stei- 



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— 23 - 

gerung kann man den sogenannten Patellar- 
klonus, eine Reihe rhymischer Zuckungen des 
M. quadriceps, erzielen, wenn man von oben 
her die Patella mit Daumen und Zeigefinger 
umfaßt, sie plötzlich nach abwärts drängt und in 
dieser Stellung unter leichtem Nachgeben erhält. 

Steigerung des Patellarreflexes findet sich 
hauptsäcmich bei allen Erkrankungen ober- 
halb des zugehörigen Reflexbogens (oberhalb 
des 2. Lumbaisegmentes), weil, wie man an- 
nimmt, die reflexhemmenden Fasern in der 
Pyramidenbahn in solchen Fällen zerstört sind. 
Sie findet sich ferner bei erhöhter Erregbarkeit 
des Rückenmarks und des Nervensystems über- 
haupt. 

Der Patellarreflex ist also gesteigert: 

o. Durch Reizzustände in den Vorderiiömem 
des Rückenmarks: Strychninvergiftung, Te- 
tanus etc. 

ß. Bei Erkrankungen oberhalb des Reflex- 
bogens: Läsion der Hirnrinde, der Pyrami- 
denbahn, bei spastischer Spinalparalyse, bei 
multipler Sklerose etc. 

y. Bei funktionellen Neurosen, besonders bei 
Hysterie. 

b. Der Achillessehneureflex wird geprüft, indem man 
den Fuß des Patienten bei mäßiger Beugung des 
Beines im Kniegelenk ergreift, die Fußspitze nach 
oben drängt und nun die Achillessehne beklopft. 
Es erfolgt dann eine Plantarflexion des Fußes. 
Steigerung dieses Reflexes äußert sich dadurch, 
daß das einmalige Beklopfen nicht eine Zuckung, 
sondern klonische Zuckungen erzeugt: Fußklonus. 
Diesen erzielt man am leichtesten, wenn man den 
Fuß mit einer brüsken Bewegung dorsal flektiert. 
Diagnostisch ist der Achillessehnenreflex nicht so 
wichtig wie der Patellarreflex, weil er auch bei 



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Gesunden fehlen kann. Im übrigen gelten für ihn 
dieselben diagnostischen Gesichtspunkte wie für 
den Patellarreflex, nur daß sein Reflexzentrum 
tiefer liegt, nämlich im 1. — 2. Sakralsegment. 

c. Der Tricepssehnenreflex wird ausgelöst, wenn man 
bei rechtwinkeliger Armhaltung die Tricepssehne 
beklopft. 

II. Haut- und SeUeinhautreflexe. 

A. Unter Hautreflexen versteht man Muskelkontrak- 
tionen, welche durch einen auf der Haut ange- 
brachten Reiz hervorgerufen werden. Als Reiz 
dient Kitzeln oder Sireichen mit dem stumpfen 
Ende eines Bleistiftes. Sie sind von geringerer 
diagnostischer Bedeutung als die Sehnenreflexe, 
weil ihr Vorkommen schon beim Gesunden sehr 
inkonstant ist. Für ihre Aufhebung und ihre Stei- 
gerung gelten im großen und ganzen dieselben Ge- 
setze, wie für die Sehnenreflexe. 

1. Erloschen sind die Hautreflexe: 

a. Bei Unempfindlichkeit der Haut (Schwielen etc.). 
- ß. Bei Unterbrechung des Reflexbogens an irgend 

einer Stelle, 
y. Bei myopathischer Lähmung, 
d. Bei organischer Hemiplegie schwinden der Bauch- 

und der Cremasterreflex auf der gelähmten Seite. 

2. Gesteigert sind sie: 

a. Bei Hyperästhesie der Haut. 

ß. Bei Steigerung der Erregbarkeit der Vorder- 

hörner. 

y. Bei Läsion oberhalb des Reflexbogens. 

a. Der Flantamflex vrird durch Bestreichen der 

Fußsohle hervorgerufen; er besteht gewöhn- 
lich in einer Dorsalflexion des Fußes, bei 
stärkeren Reizen sogar in einer Beugung des 



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— 25 — 



Beines in Hüfte und Kniegelenk (Flucht- 
bewegung). An den Zehen erfolgt gleich- 
zeitig normalerweise eine Plantarreflexion. 

Dagegen erfolgt eine langsame Dor- 
salflexion der großen Zehe bei Läsionen 
der Pyramidenbahn: Babinskisches Phäno- 
men; dieses läßt sich am besten auslösen, 
wenn man die laterale Seite der Fußsohle 
von hinten nach vorne bestreicht. 

Das Oppenheimsche Zeichen findet sich 
nur unter pathologischen Verhältnissen, und 
zwar ebenfalls bei Läsionen der Pyramiden- 
bahn; streicht man kräftig über die Innen- 
fläche des Unterschenkels hinweg, so erfolgt 
eine Dorsalflexion des Fußes und der 
Zehen. 

Das Bechterew-Mendelsche Zeichen: 

Beklopft man den lateralen Teil des Fuß- 
rückens (Gegend des 3. und 4. Metakarpale), 
so erfolgt beim Gesunden eine Dorsal - 
flexion der Zehen, bei Läsion der Pyraiiii- 
denbahn erfolgt jedoch Plantarflexion der 
Zehen. 

b. Der Abdominalreflex (Bauchreflex): Streicht 
man rasch über die Bauchliaut hinweg, so 
erfolgt eine Einziehung des Bauches durch 
Kontraktion der Bauchmuskeln ; diagnostisch 
hat der Reflex nur bei einseitigem Fehlen 
Bedeutung. 

c. Der Cremasterreflex wird bei Männern da- 
durch ausgelöst, daß man über die Innen- 
fläche des Oberschenkels hinwegstreicht; es 
erfolgt dann durch Kontraktion des M. cre- 
master eine brüske Aufwärtsbewegung des 
Hodens. Er darf nicht mit dem Skrotal- 
reflex verwechselt werden, wdcher auf euier 
trägen Kontraktion der Tunica dartos beruht. 



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— 26 — 

d. Analieflex; beim Bestreichen der Analhaut 
kommt es zur Anuseinziehung; er fehlt bei 
tabischer Mastdarmstörung. 

B. Schleimhautreflexe» fehlen besonders häufig bei 
Hysterie. 

a. Der Conjunctival- resp. der Corneaheflex: Lid- 
schluß bei Berührung der Gonjunctiva oder der 
Cornea mit einem Nadelkopf vom äußeren 
Augenwinkel her. 

b. Lidreflex: Lidschluß bei plötzlicher Annäherung. 

c. Der Würgreflex: Auf Reizung der hinteren 
Rachenwand entsteht eine Würgbewegung. 

d. Der Gaumenreflex: Berührt man die Uvula mit 
einem Löffelstiel, so erfolgt eine Hebung des 
weichen Gaumens. Der Reflex kann schon bei 
Gesunden fehlen, insbesondere aber bei Läh- 
mung der Gaumenmuskulatur. 



E. Diagnostische Verwertung der Störungen 
der Motilität» der Sensibilität und der Reflexe. 

1. Bei Fehlen der Patellarreflexe kommen vor allen 
Dingen Tabes, Neuritis und Myelitis lumbalis in 
Betracht. Die Differentialdiagnose wird mit Hilfe 
folgender Gesichtspunkte gestellt: Bei Tabes ist 
im Gegensatze zu den beiden anderen genannten 
Erkrankungen die grobe motorische Kraft 
erhalten, die Muskeln zeigen keine degenerative 
Atrophie. Bei Neuritis ist im Gegensatz zur Tabes 
die grobe motorische Kraft geschwächt oder auf- 
geholfen, im Gegensatz zur Myelitis fehlen Blasen- 
störungen. 

2. Bei atrophiseher Lähmimg an den oberen Extremi- 



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— 27 — 



täten kommen Neuritis eines oder mehrerer Arm- 
nerven, progressive spinale Muskelatrophie, Polio- 
myelitis anterior, Syrinj^omyelie und Kompression 
des Halsmarkes (durch Spondylitis, Tumoren etc.) 
in Betracht. Progressive iMuskolatrophic und Po- 
liomyelitis lassen sich ausschließen, wenn Scnsi- 
bilitätsstörungen vorhanden sind. Es bleiben dann 
noch Neuritis, Syringomyelie und RUckenmarks- 
kompressionen. Bei der Syringomyelie haben wir 
meist erhaltenen Tastsinn, dagegen Analgesie und 
Thermanftsthesie. Bei Neuritis entspricht die An- 
ästhesie und die Lähmung dem betreffenden Ner- 
vengebiete; die erkrankten Nerven sind meist sehr 
druckempfindlich. Bei Rückenmarkskompressionen 
bestehen meist Blasenstörungen und spastische 
Parese der Beine. 

3« Bei atrophischer Lähmung an den Beinen kommen 
Neuritis, Poliomyelitis und Myelitis lumbalis in 
Betracht. Bei Poliomyelitis fehlen Sensibilitäts- 
störungen, bei Neuritis fehlen Blasenstöningen. 

4. Die Halbseitenläsion des Rückenmarks (Brown- 
Sequardsche Lähruung) besteht darin, daß eine 
Querschnittshältt«' des Rückenmarks zerstört ist 
durch Verletzung, Entzündung oder Tumor. Es 
findet sich hierbei ein charaktt^ristischer Synip- 
tomenkomplex: Auf der Seite dos Krankheits- 
herdes motorische Lähmung, Störungen des Lage- 
sinns und Hyperästhesie der Haut, dagegen findet 
sich auf der entgegengesetzten Körperhält te Therm- 
anästhesic und Analgesie; also kurz, motorische 
Lähmung der einen Körperhälfte mit Sen- 
sibilitätsstörungen der anderen Körper- 
hälfte sprechen für Halbseitenläsion. Die 
Erklärung für diese Erscheinung liegt darin, daß 
die im Hinterstrang verlaufenden sensiblen Bahnen 
für den Lagesinn, zum Teil auch für den Tastsinn 
auf der gleichen Seite des Rückenmarks empor- 
steigen, auf welcher sie mit den hinteren Wurzeln 



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— 28 — 



eingetreten Bind und sich erst in der Medullä ob- 
lonsata kreuzen, wogegen die im Hinterhom ver« 
laufenden Bahnen für Temperatur- und Schmerz- 
empfindung sich erst innerhalb des Rückenmarks 
kreuzen, um dann auf der entgegengesetzten Seite 
emporzusteigen. 



F. Die Störungen der Koordination. 

Eine Bewegung ist koordiniert, wenn sie erfolgt 
mit richtiger Auswahl der Muskeln, richtiger Intensität 
und Reihenfolge der Innervation. Koordinierte Be- 
wegungen sind daher nur möglich, wenn wir während 
der Bewegung von der jeweiligen Lage unserer Glieder 
und dem in jedem Augenblick aufzuwendenden Maß von 
Muskeltätigkeit Kentnnis haben; diese Kenntnis ver- 
mitteln uns die tiefe und die Hautsensibilität, z. T. auch 
der Gesichtssinn und ein besonderes Gleirhgowichts- 
organ, welches in den Bogengängen des Labyrinthes 
seinen Sitz hat. 

Koordinationszentren sind auf der ganzm Groß- 
hirnrinde verteilt; das Zentrum für das statische Gleich- 
gewicht ist das Kleinhirn. 

Störungen der Koordination nennt man Ataxie. 
Sie äußert sich darin, daß die Bewegungen zu ausgiebig 
sind und daß das Ziel auf Umwegen erreicht wird: 
Schleudern der Beine beim Gehen, Danebengreifen beim 
Erfassen eines Gegenstandes. 

Da eine koordinierte Muskeltätigkeit sowohl zur 
Ausführung einer Bewegung als auch zur Festhaltung 
des Körpers oder der Gliedmaßen in einer bestimmten 
Stellung erforderlich ist, so unterscheidet man dem- 
entsprechend eine lokomotorisehe und eine statlBche 
Ataxie. 



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— 29 — 



Prüfungen auf Ataxie: 

1. Wir lassen den in Rückenlage befindlichen Patien- 
ten die Extremität einfach erheben. Bei Ataxie 
wird nun das Bein nicht in der Vertikalebene, son- 
dern unter mannigfachen, seitlichen Ablenkungen 
in die Höhe gebracht, um dann mit Wucht herab- 
geworfen zu werden. 

2. Wir lassen die Hacke des einen Beines auf das 
Knie des anderen setzen. Bei Ataxie wird das 
Knie erst nach einigem Uniherfahren gefunden. 

3. Man läßt mit der Hand nach einem Gegenstand 
oder an die eigene Nase etc. greifen, oder kom- 
plizierte Bewegungen ausführen (z. B. Schreiben 
lassen, Drehorgeldrehen, Soldatengruß etc.). Bei 
Ataxie fährt Patient daneben oder macht die Be- 
wegung unrichtig. 

4. Man läßt komplizierte Gangarten ausführen (Rück- 
wärtsgehen etc.). 

5. Rombergsches Phänomen: Läßt man den mit ge- 
schlossenen Füßen stehenden Patienten die Augen 
schließen und eventuell dazu den Kopf beugen, so 
tritt bei Ataxie starkes Schwanken des Körpers auf. 

6. Der ataküsehe Gang: Das Bein wird unnötig hoch 
emporgeschleudert und dann wieder mit solcher 
Wucht herabgeworfen, daß es mit der Hacke auf 
den Boden stampft, wobei das Knie stark durch- 
gedrückt wird. Der Gang ist breitbeinig und un- 
sicher. In höheren Graden der Ataxie gleicht der 
Gang einem Kriegstanz. 

Vorkommen der Ataxie. 

1. Affektionen der Rinde, des Gerebellum, des Pons, 
der Vierliügol: bei Rindonaffektionen haben wir 
außerdoin Spracli- und Schreibstörungen ( s. S. 00). 

2. Bei Erkrankung der hinteren Wurzeln und der 
Hinterstränge: Tabes, Querschnittsläsionen des 
Rückenmarks. 

3. Bei peripherer Neuritis (selten). 



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— 30 — 



Eine besondere Art von Ataxie ist die cerebellare 
Ataxie. Stehen und Gehen gleicht dem eines Betrun- 
kenen, dagegen sind die Bewegungen der Beine im Lie- 
gen ohne jede Koordinationsstörimg. Diese Form der 
Ataxie findet sich bei Erkrankung des Kleinhirns, be- 
sonders des Wurms. Dalier ist die Sensibilität bei der 
cerebellaren Ataxie meist intakt. 

Das regelmäßige Abweichen des Ganges oder das 
Fallen nach einer Seite weist auf Kleinliirnataxie hin. 
Die Folge dieser Ataxie ist die Unfähigkeit, antago- 
nistische Bewegungen hintereinander auszuführen (Adia- 
dochokinesis). 



G. Blasen-, Mastdarm- und Genitalstörungen. 

Im unteren Sakralmark liegen Refiexzentren für 
Blase, Mastdarm und Genitalorgan c. 

a. Blasenstörimgeii. Bei Füllung der Blase wird nor- 
malerweise ein Reiz durch die sensible Bahn auf 
das Reflexzentrum ausgeübt, und es erfolgt, wenn 
nicht der Willen (durch die Pyramidenbahn) den 
Reflex unterdrückt, eine Kontraktion des M. de- 
trusor vesicae, während der M. sphinctcr 
vesicae seinen gewöhnlich bestehenden Tonus 
verliert. Der Reflex kann willkürlich verstärkt 
und unterth'ückt werden. 

1, Leitungsunterbrechung oberhalb des 
Reflex Zentrums bewirkt Fehlen des Blasen- 
dranges (des Gefühls der Blasenfüllung) und 
Ausschaltung des Willens, kurz, rein refl(^ktori- . 
sehe, unwillkürliche Harnentleerung: Intermit- 
tierende Incontinentia urinae. Sie kommt vor . 
bei Querschnittsläsionen des Rückenmarks, 
Myelitis, i>ei Kompression des Rückenmarks; 
bei Tabes, wenn hier die sensible Bahn nach 
dem Gehirn zu beschädigt ist. 



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— 31 — 



2. Zerstörung der Reflexzentren selbst (Mye- 
litis etc.) bedingt dauernde Erschlaffung des M. 
sphincter und dauernde Unerrei,d)arkeit des M. 
detrusor, daher beständiges 1 1 arnträufebi : Kon« 
tinuierliche Incontinentia urinae. 

3. Ist der sensible Teil des Reflexbogens zer- 
stört (Tabes), so kann der Reflex nicht aus- 
gelöst werden, irifolcredessen Harnverhaltung: 
Retentiü urinae. l)iesell)e Wirkung hat die Läh- 
mung des M. deti'usor ohne gleichzeitige Sphinc- 
terläliniung. Infolge^ der Retention kann (Jie 
Blase so stark ausgedehnt werden, daß der Harn 
bei gefüllter Blase mechanisch abtraufelt: Iscliu- 
ria paradoxa. 

4. Enuresis nocturna: das Bettnässen ist eine 
funktionelle Erkrankung. Es findet sich bei 
Kindern mit nervöser Disposition oder beim 
Erwachsenen bei nächtlicher Epilepsie. 

Bei Tabes könn(Mi alle mögliclHMi Formen der Bla- 
senstörungen vorkommen; bei Myelitis findet sich In- 
kontinenz, wenn der mvelitisclie Herd oberhalb des 
Rcflexzenlruuis sitzt, dagegen Retention, wenn er das 
Refiexzentrum selbst ergreift. Differentialdiagnostisch 
ist mehlig, daß bei Neuritis Blasenstörungen stets 
fehlen, desgleichen bei reinen Vorderhomerkrankungen 
(Poliomyelitis etc.)- Bei Hysterie kann sich Retentio 
urinae, aber niemals Inkontinenz finden. Bei dem echten 
epileptischen Anfall kommt unwillkürliche Harnent- 
leerung vor, dagegen nicht bei hysterischen Anfällen. 

b. Mastdarnistörungen äußern sich hauptsächlich in 
der Incontinentia alvi, welche sich bei Tabes, Mye- 
litis und Querschnittsläsionen des Rückenmarks 
findet. 

c. Genitaistörungen äußern sich hauptsächlich in der 
Impotentia coenndi, welche auf einer Störung der 
Erektionsfähigkeit beruht. Sie findet sich bei Zer- 
störung des Erektionszentrums selbst, ferner bei 



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Zerstörung der sensiblen Bahnen in den Hinter- 
strängen, welche das Erektionszentrum mit dem 
Großhirn verbinden (Tabes). Reizung des Erek- 
tionszentrums bewirkt krankhaft andauernde Erek- 
tionen: Priapismus. Penis- und Clitoriskrisen tre- 
ten anfallsweise bei Tabes auf. 

Vaginismus besteht in schmerzhafter Kon- 
traktion des Constrictor cunni bei Hysterie. 



H. Störungen des Sehorganes. 
L Fapillenstörangen« 

Wir untersuchen an den Pupillen: 

1. Die Weite: Die PupiUen können abnorm eng oder 
abnorm weit sein. 

a. Miosis, abnorme Enge der Pupilie: Sie kann 
beruhen auf Reizung des M. sphincter (versorgt 
vom N. oculomotorius), aber auch auf Lähmung 
des M. (lilatator (versorgt vom Sympathicus). 
Sie findet sich bei Tabes, progressiver Paralyse, 
Meningitis, Morphium Vergiftung, Sympathicus- 
lähmung, starken Rauchern und im tiefen Schlaf. 

b. 3Iydriasis, abnorme Weite der Pupille: Kann 
beruhen auf Lähmung des M. sphincter oder 
Reizung des M. dilatator. Sie findet sich bei 
Lähmung des N. oculomotorius, bei Glaukom, 
bei großen Schmerzen und großer Angst, im 
Görna, bei Gocainwirkung, im epileptischen An- 
falL 

c. Springende Pupillen zeigen wechselweise 
auftretende Erweiterung bald der einen, bald 
der anderen Pupille (progressive Paralyse etc.). 

2. Die Gleichheit beider Pupillen ist von geringer 
Wichtigkeit für die Diagnose, da schon bei Gesun- 



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— 38 

den Pupillendifferenz bestehen kann. Häufig be- 
ruht ungleiche Weite der Pupillen (Anisokorie) 
auf Refraktionaanomalie eines Auges; als krank- 
hafte Veränderung findet sie sich bei einseitigen 

Gehirnaffektionen aller Art, bei Tabes, Paralyse, 
Läsion des Halssympatliicus; ferner bei ein- 
seitiger Oculomotoriuslähmung; im Migräneanfall 
auf der Seite des Kopfschmerzes weitere oder engere 
Pupille. 

3. Die Form der Pupillen. Die Pupillen sind normaler- 
weise rund. Ver Ziehungen der Pupillen kommen 
hauptsächlich bei Tabes und Paralyse vor, abge- 
sehen von Augenkrankheiten. 

4. Die Beakttott der Pupillen hat die grdfite diagno- 
stische Bedeutung, da ihr Fehlen stets auf schwere 
Veränderung^ des Nervensystems hinweist. Nor- 
malerweise verengert sich die Pupille auf: 

a. Lichteinfall. Dieser Reflex hat folgende 
Bahn: Von der Retina wird der Reiz im N. 
opticus fortgeleitet und gelangt durch das 
Gniasma (partielle Kreuzung) und den Tractus 
opticus zu den vorderen Vierhfigeln etc.^ wird 
dann auf bisher noch unbekannter Balm auf 
den Oculomotoriuskem übertragen, von wo der 
Reiz in der Bahn des N. oculomotorius zum 
M. sphincter pupillae gelangt. Da zwischen bei- 
den Ooulomotoriuskemen. Verbindungen be- 
stehen und die Opticusfasem im Chiasma nur 
eine partielle Kreuzung eingehen, so verengern 
sich normalerweise die Pupillen beider Augen 
selbst dann, wenn nur in das eine Auge Licht 
einfällt: Konsensuelle Reaktion. Prüfung des 
Lichtreflexes: Man hält das eine Auge des 
Patienten mit dem Finger gsechlossen, das andere 
wird zunächst mit der Hand beschattet und 
dann plötzlich durch schnelles Wegziehen der- 
selben beleuchtet. Die konsensueUe Reaktion 

Siayer, Compendlam dor N«Qiolo>gie. 3.— 5. Aufl« 3 



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- 34 - 

prüft man, indem man die Pupille des einen 
Auges beobachtet, während man das andere ab- 
wechselnd belichtet und beschattet. Bei beiden 
Prüfungen muß der Patient in die Feme sehen, 
weil auch die Akkomodation eine Verengerung 
der Pupille bewirkt. 

Fehlt der Lichtreflex auch bei starker Beleuchtung, 
so besteht reflektorische PnpiUenstam oder kurz lieht- 
starre (Argyll-Robertsonsches Symptom). 

Yorkommen: Bei Lichtstarre denken wir vor allem 
an drei Krankheiten: Tabes, progressive Paralyse, Hirn- 
Syphilis. Die beginnende Erkrankung kann sich statt 
in Lichtstarre, auch in träger Reaktion dokumen- 
tieren. Die Lichtstarre ist stets ein organisches Syiiii)- 
tom, sie findet sich also nie bei Hysterie, Neurasthenie;, 
femer nie bei multipler Neuritis etc. m 

Einseitige reflektorische Pupillenstarre 
findet sich bei einseitiger Erkrankung des N. opticus 
oder des N. oculomotonus. Reagiert die rechte Pupille 
normal, die linke jedoch nicht, so prüfen wir die kon- 
sensuelle Reaktion, indem wir die reagierende rechte 
Pupille belichten; kontrahiert sich nun die linke, so 
ist ihre motorische Bahn intakt, der N. oculomotorius 
kommt also nicht in Betracht; kontrahiert sich die linke 
nicht, während sich gleichzeitig die rechte auf Belichtung 
der linken kontrahiert, so besteht eine linksseitige Er- 
krankung des N. oculomotorius. Einseitige Erkrankung 
des N. opticus (Opticusatrophie) findet sich hauptsäch- 
lich bei multipler Sklerose. 

b. Akkomodation (M. ciliaris versorgt vom N. 
oculomotorius) des Auges für die Nähe und 
Konvergenzbewegung der Augen bewirkt 
ebenfalls Verengerung der Pupille; diese Re- 
aktion ist oft erhalten, wenn der Lirhtreflex 
fehlt. Man irmB daher bei der Untersuchung 
der Lichtreaktion Akkommodation imd Kon- 
vergenz des Auges ausschalten. Akkommoda- 



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— 35 - 



tion und Verengerung der Pupille bei Konvergenz 
fehlen meist bei Lues cerebri. 

II. Yerändernngen an der Lidspalte^ 

1. Im 8. Gervical- und 1. Dorsalsegment des Rücken- 
marks liegt das Centrum ^o-spinale. Von diesem 
verlaufen Fasern im Sympathicus zum Auge, 
wo sie drei glatte Muskeln versorgen: Den M. dila- 
tator pupillae, den M. palpebralis superior, welcher 
das obere Augenlid verkürzt, und den M. orbitalis 
inferior, welcher über die Fissura orbitalis inferior 
hinwegzicht und den Augapfel nach vorn bewegt, 
Zerstörung des Centrum cilio-spinalc bewirkt daher 
Verengerung der Pupille, Verengerung der Lid- 
spalte und Zurücksinken (Kelaps) des Bulbus; 
Reizung des Zentrums bewirkt Erweiterung der 
Pupille, Erweiterung der Lidspalte und stärkere 
Prominenz des Bulbus (Oculopupilläre Phänomene) 

2. Verengerung der Lidspalte durch schlaffes Herab- 
hängen des oberen Augenlides, Ptosis, findet sich 
bei Lähmung des M. levator palpebrae superioris, 

. welcher vom N. oculomotorius innerviert wird, also 
vor allem bei Läsionen dieses Nerven oder seines 
Kernes. Verengerung der Lidspalte kann auch 
auf Krampf des M. orbicularis oculi (N. fa- 
cialis) beruhen. 

3. Erweiterung der Lidspalte, Lagaplitiialmas» findet 
sich bei Lähmung des M. orbicularis oculi (N. 
facialis). Der Ausdruck Lagophthalmus (Hasen- 
auge) kommt daher, daß der Patient auch im 
Schlafe das Auge nicht ganz schließt. 

ni. Die Augenbewegnngen. 

Lähmung der Augenmuskeln bewirkt: 
1. Ausfall oder Beschränkung bestimmter Augen- 
bewegungen* 



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- 36 — 



2. Doppelsehen, Diplopie. 

3. Strabismus. 

4. Abnorme Haltung des Kopfes. 

Zur Prüfung der Augenbewegungen lassen wir 
den Patienten nach oben, nach unten und nach beiden 
Seiten blicken. 

Angenrnnskelifthmungen haben je nach ihrer Aus- 
breitung eine verschiedene Bedeutung: 

1. Lähmung mehrerer Muskeln eines Auges deutet 
auf die Basis cerebri hin (luetische Meningitis, 
Sch&delbrache). 

2. Totale Lähmung der Muskeln an beiden Augen 
deutet auf Kernlähmung (Ophthalmoplegia pro- 
gressiva) hin. 

3. Konjugierte Deviation, welche auf Lähmung 
solcher Muskehi beruht, die konjugierte Augen- 
bewegungen besorgen (z. B. Lähmung des rechten 
Rectus internus und gleichzeitig des linken Rectus 
extemus), findet sich besonders bei frischen Herd- 
erkrankungen des Gehirns („der Kranke sieht 
seinen Herd an"). 

4. Oculomotoriuslähmung der einen und Extremi- 
tätenlähmung der anderen Seite deutet auf Läsion 
des Hirnschenkels (vgl. S. 8). 

5. Lähmung einzelner Muskeln: bei Tabes, progres- 
siver Paralyse, luetischer Meningitis; nach Diph- 
therie. 

Doppelbilder können gleichnamig oder gekreuzt 

sein; gleichnamige Doppelbilder finden sich bei Strabis- 
mus convergens, gekreuzte bei Strabismus divergens. 
Monoculäre Diplopie (Doppelsehen auf einem Auge) 
findet sich abgesehen, von inneren Augenerkrankungen, 
nur bei Hvsterie. 

Abnorme Haltung des Kopfes soll dem Patienten 
zum Ersatz für die mangelnde Funktion des betroffenen 
Muskels dienen; so dreht z. B. ein Patient mit rechts- 
seitiger Abducensiähmung den Kopf nach rechts, um 



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37 — 



Gegenstände, welche sich rechts auflen befinden^ zu 
sehen. Lähmung aller Augenmuskeln bewirkt Exoph- 
thalmus paralyticusy bei welchem der Bulbus aus 
der Augenhöhle prominiert. Exophthalmus findet 
sich außerdem vor allem bei Morbus Basedowii, ferner 
bei Geschwülsten hinter dem Augapfel, bei Hydro- 
cephalus etc. 

Nystagmus (Augenzittem) besteht in schnellen, 
klonischen Bewegungen dar Bulbi; er ist am deutlichsten 
beim Fixieren eines Gegenstandes. Man unterscheidet 
horizontalen, vertikalen und Rotationsnystagmus. Er 
findet sich bei multipler Sklerose, hereditärer Ataxie, 
Herderkrankungen des Gehirns und Albinos (abgesehen 
von Augenerkrankungen). 

IV. Sehstörimgeii. 

1. Störungen der Sehschärfe äußern sich in Amblyopie 
(Schwachsichtigkeit) und Amaurose (Blindheit). 
Diese Sehstörungen können beruhen auf Affektion 
des Sehnerven, des Chiasma opticum, des Tractus 
opticus und des optischen Gehirnrindenbezirks 
(Seh Zentrum). Die Pupillenreaktion ist hier na- 
türlich auch gestört. 

Vorkommen: Hysterie (funktionell), Tabes 
(Sehnervenatrophie); bei Lues cerebri, bei chroni- 
scher Blei-, chronischer Nikotin- und Alkoholver- 
giftung (Neuritis optica); Urämie und Chininver- 
giftung (toxische Lähmung des Sehsentrums). 

2. Gesichtsfeldeinengung. 

a. Konzentrische Gesichtsfeldeinengung 
findet sich bei Hysterie und Sehnervenatrophie 

(Tabes etc.). 

b. Zentrales Skotom findet sich bei multipler 
Sklerose und Intoxikationsamblyopie (Nikotin, 
Alkohol). 



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— 38 — 

c. Hemianopsie (halbseitiger Gesichtsfelddefekt 
auf jedem Auge). Sie bedingt hemianopisohe 
Pupillenstarre. 

a. Homonyme Hemianopsie besteht in 
einem Gesichtsfelddefekt, der beiderseits 
identische Netzhautstellen betrifft, also z. B. 
auf dem rechten Auge die temporale, auf dem 
linken Auge die nasale Hälfte des Gesichts- 
feldes. Sic beruht, da hinter dem Chiasma 
sich die Fasern von identischen Netzhaut- 
stellen zu je einem Tractus opticus vereinigen, 
auf Läsionen, welche die Sehbahn zwischen 
Chiasma und Rinde treffen (Erkrankung des 
Tractus opticus, der vorderen Vierhügel, der 
Sehstrahlung oder der Rinde des Hinter- 
hauptlappens). 
ß» Hetoronyme Hemianopsie hotritfl stets 
die temporalen Gesichtsfeldhälften, deren 
Fasern sich im Chiasma kreuzen; daher 
findet sich diese bitemporale Hemianopsie 
bei Erkrankungen des Chiasma (hietische 
Meningitis, Geschwülste der Hypophysis). 

V. Verindernngen des AngenhintergraBdes. 

1. Die Stauungspapille äußert sich in einer Promi- 
nenz und Rötung der Papille mit Verwaschung 
ihrer Grenzen ; in den leichteren Graden bezeichnet 
man die Veränderung als Neuritis optica; das 
Sehvermögen kann dabei intakt sein, aber auch 
bis zu den höchsten Graden gestört sein. Die 
Stauimgspapille ist das Cardinalsy mp tom der 
Erhöhung des Hirndrucks (Tumor ccrebri, 
Meningitis, Gehirnabszeß und Hydrocephalus). 

2. Die Sehnerrenatrophie ist entweder eine sekundäre, 

d. h. aus Neuritis optica oder Stauungspapille her- 
vorgegangene, oder eine primäre. Die primäre 



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- 39 - 

■ 

Atrophie äußert sich in einer porzellan weißen Ver- 
färbung der Papille, deren Grenzen sich scharf ab- 
heben. Sie findet sich vor allem bei Tabes, De- 
mentia paralytica, seltener bei multipler Sklerose. 

3. Die retrobulbäre Keuritis äußert sich in der Ab- 
blassung einer PapiUenhälfte (meist temporale Ab- 
blassung). Sie findet sich bei multipler Sklerose 
und Intozikationsamblyopie (Nikotin). 



L Die Lumbalpunktion/) 

Indikationen zur Ausführung: der Lumbalpunktion: 

Die Lumbalpunktion zu diagnostischen Zwecken 
ist indiziert bei allen Erkrankungen des Nerven- 
systems, bei denen Meningitis, Lues oder Tumoren 
als ätiologische Faktoren in Frage kommen. Sie 
bedeutet keinen schwerwiegenden Eingriff, wenn 
sie sachgemäß ausgeführt wird. 

Technik der Lumbalpunktion: 

1. Der Patient liegt auf der rechten oder der linken 
Seite, die Beine dicht an den Körper angezogen, 
so daß der Rücken stark gekrümmt ist. 

2. Desinfektion der Lendengegend. 

3. Einstich mit der (durch Mandrin gestützten) 
langen Nadel zwischen 3. und 4. Lendenwirbel- 
dornfortsatz; die Nadel muß dabei etwas kra- 
nialwärts gerichtet sein. 

4. Man läßt höchstens 4 ccm Liquor ab, bei ge- 
ringem Drucke noch weniger. 

Der Patient muß nach dem Eingriff min- 
destens 12 Stunden lang strenge Bettruhe ein- 
halten. 

* Näheres siehe H. Mayer: Die nouea Methodeo der Syphilisdiaguose uml 
SyphUlitliei»plt (Teriiig Bpeyw u. KMnwr). 



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- 40 — 



Man prüft auf: 

1. detk Druck, unter dem die Flüssigkeit ausläuft; 
erhöht bei Meningitis, Tumor, Lues cerebrospi- 
nalis, progressiver Paralyse ; der normale Druck 
beträgt 60—150 mm Wasser. 

2. Pleocytose, Vermehrung der Lymphozyten. 

3. Globulinreaktion (Nonne -Apelt): Eiweiß- 
fällung durch Ammoniumsulfat. 

4. Wassermanns che Reaktion: meist positiv 
bei Lues cerebrospinalis, Tabes, progressiver Pa- 
ralyse. 



K. Allgemeine Aetiologie der Nerven- 
krankheiten. 

I. Das Trauma 

spielt eine große Rolle bei der Entstehung von Nerven- 
krankheiten. 

a. Verletzung peripherer Nerven führt zu deren vor- 
übergehender oder dauernder Lfthmung. 

b. Verletzung des Zentralnervensystems durch Schä- 
delbrüche, Wirbelbrüche etc. 

c. Funktionelle Beschädigung des Nervensystems im 
aDgemeinen: Gehirnerschütterung, Nervenschock 
und als Folgezustand traumatische Neu- 
rose. 

II. Heredität. 

Die Vererbung kann gleichartig oder ungleich- 
artig sein; gleichartig ist sie, wenn die Vorfahren an 
derselben Krankheit gelitten haben. Gleichartige Here- 
dität findet sich hauptsächlich bei der hereditären 
Ataxie, der infantilen Muskelatrophie, der Myotonia 



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- 41 — 



congenita und bei einigen Psychosen (s. Psychiatrie). 
Ungleichartige Heredität findet sich den Neurosen: 
EpUepsie, Hysterie, Neurasthenie, Migräne (bei Epi- 
lepsie und Migräne oft gleichartige Heredität). Alkoho- 
lismus, Bleivergiftung und Blutsverwandtschaft der 
Eltern bilden oft ein schwer belastendes Moment für 
die Kinder. 

m. Die SyphUig 

kann verursachen: 

a. Gefäßerkrankungen mit deren Folgen: Ge- 
fäßzerreißung mit Blutungen, Thrombose etc. Die 
Folgen hiervon sind: Erweichungsherde etc. 

b. Meningitis gummosa bedingt oft Kompression 
von Himnerven und Erkrankung des Ghiasma 
opticum. 

c. Gummata im Gehirn machen die Erscheinungen 
eines Gehirntumors. 

d. Metasyphilitische oder besser parasyphili- 
tische Erkrankungen sind solche, welche zweifel- 
los mit Syphilis in Zusammenhang stehen, aber 
nicht auf den durch Syphilis bedingten spezifischen 
anatomischen Veränderungen beruhen: Tabes, 
progressive Paralyse. Man nimmt an, daß 
die Syphilis ein Toxin produziere, das elektiv das 
Zentralnervensystem schädige. 

lY. Die Tuberkulose 

kann verursachen: 

a. Tuberkulöse Basilarmoningitis. 

b. Tuberkel im Gehirn, besonders im Kleinhirn (Er- 
scheinungen wie beim Hirntumor). 

c. Wirbelerkrankungen (Spondylitis tuberculosa) mit 
Kompression des Rückenmarks. 



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- 4ä - 
V. Infektionskrankheiten 

können venirsachen: 

a. Meningitis (Typhus, Erysipel). 

h. Encephalitis (Influenza, Masern, Typhus etc.). 

c. Myelitis (Typhus. Gonorrhoe). 

d. Neuritis (Diphtherie etc.). 

e. Chorea (hei Rlieumatismus). 

Die Diphtherie inshesonrlere bedingt als postdiph- 
therische Lähmungen besonders Akkommodationsläh- 
mung des Auges, Lähmung äußerer Augenmuskeln, 
Gaumensegellähmung und Lähmung des ?s'. femoralis. 
Ähnliche Erscheinungen am Auge macht der BotuUsmus 
(Wurstvergiftung). 

VI. Konstitntionskrankheiten (Diabetes, Gicht) 

hediugen häufig Neuritiden und Neuralgien, besonders 
doppelseitige Ischias durch Autointoxikation. 

VII. Intoxikationen 

durch metallische Gifte (Blei, Arsen, Quecksilber etc.), 
durch Alkohol etc. be\Ndrken hauptsächlich Neuritiden 
und geistige Störungen. 

VIII. Neoplasmen, 

Narben, Embolien und sonstige Kompressionen bewirken 
sekundäre Lähmungen etc. 



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43 - 



L. Gang der Untersuchung. 

A. Anamnese. 

Die Ananinosc hat zu berücksichtigen: 

1. Heredität (Nervenkrankheiten der Eltern). 

2. Frühere Krankheiten des Patienten (besonders Sy- 
philis. Frage nacli Aborten der Frau des Patienten 
resp. der Patientin selbst). 

3. Exzesse (Alkoholismus, Morphinismus, Onanie etc.). 

4. Beruf (Blei, Arsen, Schreiben etc.). 

5. Beginn und Verlauf der jetzigen Krankheit. 

6. Die zurzeit bestehenden subjektiven Beschwerden. 

B. Status präsens. 

I. Körperliche Erscheinung des Patienten: 
Größe, Knochenbau, Schädelkonfiguraticm, Muskelent- 
wicklung, Fettpolster, Haarwuchs, äußeres Ohr (De- 
generationszeichen), Gaumen (desgl.), Zähne (desgl.); 
Zunge (Belag, Narben); Haut (Elastizität, Narben, 
Exantheme, Leukoderma syphiliticum etc.). 

IL Vegetative Organe : Zirkulations-, Atmungs-, 
Verdauungs-, (jeschlechtsorgane; Knochen (Rauhig- 
keiten der Tibia bei Lues). 

IIL Augen: Pupillen (Weite, Gleichheit, Form, 
Reflexe), Augenbewegungen (N. III., IV. und VI.), 
Doppelbilder, Lidspalte; Sehvermögen (N. opticus). 

IV. Kopf: Beklopfen des Schädels (lokale Schmerz- 
haftigkeit), (jeruch (N. olfactorius), Sensibilität des Ge- 
sichtes (N. trigeminus), Druckpunkte der Nervenaus- 
tritte (N. supraorbitalis, infraorbitalis, mentalis), Mus- 
kulatur des Gesichtes (N. facialis), Gehör (N. acusticus), 
Geschmack (N. glossopharyngeus ; süß, sauer, salzig, 
bitter), Zungen vorstrecken (N. hypoglossus; ob gerade 
vorgestreckt, ob ruhig oder zitternd etc.); Sprache 
(Spontansprechen, Nachsprechen, Bezeichnen von Ge- 



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Motilität.' 



— 44 — 

genstftnden vgl. S. 84); im Zusamm^hang hiermit 
Schriftprobe (Diktat, wüIkOrliches Schreiben, Lesen- 
lassen). 

V. Obere Extremität: 

1. Muskelvolumen 

2. Aktive und passive Beweglichkeit 

3. Grobe motorische Kraft 

4. Sensibilität (Bertthrung, Schmerz/ Temperatur, 
Ortssinn, Lagesinn). 

5. Druckpunkte der Nervenstämme (besonders im 
Sulcus bicipitalis internus). 

6. Reflexe. 

7. Koordination. 

8. Tremor der Hände. 

Tl. Rumpf: 

1. Bauchreflexe. 

2. Druckpunkte der Iliakalgegend („Ovarie" bei 
Hysterie). 

3. Beklopfen der Wirbeldomfortsätze (S. 69). 

VII. Untere Extremität: 

1. — 5. wie bei der oberen Extremität. 

6. Reflexe (Patellarreflex, Achillessehnenreflex, Plan- 
tarrel'lex, Babinski, Fußklonus; Cremasterreflex). 

7. Gang (spastisch, paretisch, ataktisch). 

8. Rombergsches Schwanken. 

VIII. Elektrische Untersuchung der Mus- 
keln und Nerven: Faradische, galvaniscbe Erreg- 
barkeit. 

IX. Untersuchung des Blutes, eventuell 
der Cerebrospinalflüssigkeit. 

X. Angaben des Patienten über: 

1. Spontane Schmerzen und Parästhesien. 

2. Schlaf, Hunger, Durst. 

3. Blasen-, Mastdarm- und Genitalfunktionen. 



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Kraokheitea des Rückeamarks. 



Einleitung. 

LokattsatioB im Rückenmark: Das Rückenmark 
wird in ebenso viele Segmente eingeteilt, wie es Wurzel- 
gebiete hat. Wir führen hier die wichtigsten Segmente 
an, welche für Sensibilität, Reflexe und Muskeltätigkeit 
in Betracht kommen. 

a. Die Segmentbezüge der sensiblen Nerven 
werden am besten aus Abbildungen größerer At- 
lanten ersehen. Bemerkt sei nur, daß der Me- 
dianus das 5. — 1, Gervicalsegment, der Ulnaris das 
8. Gervical- und das 1. Dorsalsegment in Anspruch 
nimmt. Am Rumpf sind die Segmentbezirke 
(1. — i2. Dorsalsegment) gürtelförmig angeordnet, 
während sie an den Extremitäten im allgemeinen 
Längsrichtung annehmen. 

b. Segmentbezüge der Muskeln: Zwerchfell: 
4. Uervicalsegment. Oberarmmuskulatur: 5. Ger- 
vical- bis 1. Dorsalsegment. Rücken- und Bauch- 
muskeln: 2. — 12. Dorsalsegment. Beinmuskulatur: 
1. Lumbal- bis 2. Sakralsegment. Dammuskulatur: 
3. — 5. Sakralsegment. 

c. Segmentbezüge der Rückenmarksreflexe: 
Gentrum cilio-spinale (s. S. 35): 8. Gervical- und 
1. Dorsalsegment. Bauchreflexe: 8. — 12. Dorsal- 
segment. Cremasterreflex: 1. und 2. Lumbalseg- 
ment. Patellarreflex: 2. — 4. Lumbaisegment. Plan- 
tar- und Achillessehnenreflex : 1 . und 2. Sakral- 
segment. Babinski: 1. und 2. Sakralsegment. 
Blasen- und Mastdarmreflex : 3. — ^5. Sakralsegment. 



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— 46 - 



Einteilungr der Rüekenmapkskranklielteii. 

Man teilt die Rückenmarkskrankheiten ein in: 

1. Systemerkrankungen: ergreifen gleichmäßig 
nur anatomisch und funktionell zusammengehörige 
Bahnen^ Stränge oder Zentren. 

2. Diffuse Erkrankungen: ergreifen einen Teil 
des Rückenmarksquerschnittes oder den ganzen 
Rückenmarksquerschnitt. Sie beruhen auf Ent- 
zündung, Kompression, Tumor etc. 

3. Erkrankungen der Rückenmarkshäute 
(Meningitis, Lues, Tuberkulose, Tumor etc.). Bei 
diesen Erkrankungen kommen infolge der Reizung 
der vorderen und hinteren Wurzeln meistens Reiz- 
erscheinungen zustande (Schmerzen, Muskelsteifig- 
keit, Krämpfe). 

A. Die Systemerkrankungen des Rückenmarks. 

Tabes dorsalis. 
Ätiologie. 

Syphilis ist immer die Ursache der Tabes (vgl. 
S. 40). Zwischen der syphilitischen Infektion und dem 
Ausbruch der Tabes pflegen meist mehrere Jahre zu 
vergehen (5—15 Jahre)*. 

. Yorkommen: Hauptsächlich im männlichen Ge- 
schlecht, weniger häufiger beim weiblichen; meist im 
Alter von 30—^5 Jahren; jedoch auch bei Greisen und 
Kindern, bei letzteren als Folge von angeborener Sy- 
philis. 

Pathologisehe Anatomie. 

1. Graue Degeneration der Hinterstränge. 
Verschont bleiben von dieser Degeneration meist 
die ventralen Teile der Hinterstränge. In den 

• üfach meinen eigenen Exfahrnngen mQ«aea meist SyphiUi und dMteae- 
iftttT» Konstitution bei demielben Indlyldnnm suMnuueatnfieo« dunlt Tabee 
eatifeeht. 



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- 47 - 



unteren Teilen des Rückenmarks findet sich meist 
eine Degeneration der Bur dachschen Stränge, 
in den oberen Teilen eine Degeneration der GoU- 
schen Stränge. Dies beruht wohl darauf, daß die im 
Lendenmark mit den hinteren Wurzeln lateral 
eingetretenen Fasern der Burdachschen Stränge 
nach oben zu medianwärts konvergieren. 

2. Die Degeneration der hinteren Wurzeln: wd von 
manchen Autoren als die primäre anatomische 
Veränderung aufgefaßt. Das Spinalganglion bleibt 
relativ lange erhalten. 

3. Faserschwund in der grauen Substanz des Rücken- 
marks (Clarkesche Säulen, Hinterhömer) beruht 

. auf Degeneration derjenigen Fasern, welche, aus 
den hinteren Wurzeln stammend, als Reflexkolla- 
teralen nach dem Vorderhom und den Strangzellen 
des Hinterhorns ziehen, ferner aber auch um die 
Zellen der Garkeschen Säulen enden. 

4. Degeneration von Himnerven. 

a. Opticus-Atrophie. 

b. Augenmuskelnerven. 

5. Degeneration sensibler Hautnerven. 

Im großen und ganzon kann man sagen, daß das 
erste sensible (peripherische) Neuron erkrankt ist. Den 
Ausgangspunkt bildet meist das Lumbaimark. 

Symptome. 

Die Gardinalsymptome der Tabes sind: Die 
reflektorische PupUlenstarre, das Fehlen des Patellar- 
reflexes und die lanzinierenden Schmerzen. 

I. Objektive Symptome. 

1. Keflektorische Pupillenstarre; daneben findet sich 
oft Miosis, Pupillondiffercnz, Verziohung der Pu- 
pillen; die Konvergenzrcaktioii der Pupillen ist 
meist erhalten. Die reflektorische Pupiiienstarre 



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beruht auf einer Unterbrechung des ReUexbogens 
an bisher noch unbekannter Stelle. 

2. Fehlen des Plitdlamflexes; vor dem Patellarreflez 
verschwindet sehr oft der Achillessehnenre- 
flex. 

3. Sensibilitätsstörungen: 

a. Analgesie tritt besonders an den unteren Ex- 
tremitäten sehr früh auf. 

b. Einerseits Anästhesie und Hypästhesie, beson- 
ders auf der Brust in der Höhe der Brust- 
warzen (Hitzigsche Zone), andererseits Üälte- 
hyperästhesie. 

c. Verlangsamung der Schnierzempfindung. 

d. Störung des Lagesinns ; tritt gewöhnlich erst in 
späteren Stadien ein (vgl. S. 19). 

e. Unenipfindlichkeit peripherer Nerven gegen 
Druck; besonders N. ulnaris am EUbogenge- 
lenk: Ulnarisphänomen. 

4. Koordinationsstörungen: . 

a. Ataktischer Gang (vgl. S. 29). 

b. Rombergsches Schwanken (vgl. S. 29). 

Die fehlende Lageempfindung kann durch 
die Augenkontrolle kompensiert werden. 

5. Lähmungen: 

a. Augenmuskellähmungen ; meist ist der Abdu- 
cens, oft aber auch der Oculomotorius gelähmt ; 
in letzterem Falle häufig Ptosis. Die Folge 
der Augenmuskeiiähmung sind meist Doppel^ 
bilder. 

b. Lähmung von Kehlkopfmuskeln; am häufigsten 
ist die Lähmung des M. crico-ary tae- 
noideus posticus. Die Folgen dieser Läh- 
mung sind: Inspiratorische Dyspnoe, geräusch- 
volle Inspiration. Bei der Spiegeluntersuchung 
findet man das gelähmte Stimmband, resp. die 



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gelähmten Stimmbänder unbeweglich, nahe der 
Medianlinie, 

6. Blasen*, * Mastdarm- und Genitalstö- 
rungen. 

a. Blasenstörungen: Retentio urinae (im Beginn 
der Krankheit), Incontinentia urinae (in spä- 
teren Stadien) (vgl. S. 30). 

b. Incontinentia alvi, nicht sehr häufig. 

c. Impotentia coeundi, meist in späteren Stadien. 

7. Störungen der Sinnesorgane; am wichtig- 
sten ist hier die Atrophia N. optici, die zu 
Amblyopie und Amaurose führt. Die Atrophie 
stellt sich oft frühzeitig ein. 

8. Tropliische Störungen. 

a. Arthropathien: Sie beruhen auf serösen Ge- 
. lenkergüssen mit atrophischen oder hypertrophi- 
schen Veränderungen der Gelenke. Die Schwel- 
lung entsteht plötzlich und schmerzlos; am mei- 
sten werden die Kniee bevorzugt. Die Folgen der 
Arthropathie sind oft Spontanluxationen, 
ferner Deformitäten der Extremitäten, wie das 
Genu recurvatum. 

b. Das Malum perforans (Mal perforant du 
pied): ein tiefgreifendes Geschwür, meist an 
der Fußsohle. 

c. Die Osteoporose führt zu meist schmerz- 
losen Spontanfrakturen des Schenkels, der 
Arme etc. 

d. Störungen im Trigeminusgebiet: Schwund des 
Fettpolsters der Orbita, Keratitis neuropara- 
lytica, spontaner Zahnausf aU, abnorme Brüchig- 
keit des Unterkiefers. 

9. Tabische Krisen: 

a. Gastrische Krisen: Anfälle von heftigen 
Magensciinierzen mit stai'kem Erbrechen, das 
tagelang dauern kann. 

>tft)'erj Compeadlum der Neurologie. 3.-5. Aufl. 4 



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b. Kehlkop f- Krisen: Heftige Atemnot mit 
krampfhaften Hustenanfällen. 

c. Darmkrisen: Kolikanfälle mit diarrhoischen 
Entleerungen. 

10. Tonus und motorische Kraft: Meist besteht 
Hypotonie der Muskeln der befallenen Extremi- 
täten mit Erschlaf fung der Bänder; daher abnorme 
passive Beweglichkeit. 

II. Subjektive Symptome. 

1. Parästhesien : Taubsein, Kribbeln etc. in den Hän- 
den oder Füßen. 

2. Spontane Schmerzen: 

a. Lanzinierende Sehmerzen: sind meistens ein 
Frühsymptom der Tabes; sie sind: heftig, blitz- 
artig, von anfallsweisem Auftreten ; sie können 
im ganzen Körper auftreten, bevorzugen aber 
meistens die Beine. 

b. Gürtelschmerz um die Brust (vgl. S. 20). 

c. Schmerzen bei Krisen. 

3. Doppelbilder; Amblyopie, Amaurose. 

4. „Schwindel" (wie sich die Patienten meistens aus- 
drücken) beruht auf der Ataxie beim Gehen' und 
Stehen. 

Verlauf: sehr chronisch (10—30 Jahre). Man unter- 
scheidet: 

1. Ein neuralgif orm es (präataktisches) Stadium 
(mit lanzinierenden Schmerzen). Es beruht auf 
Reizerscheinungen der hinteren Wurzeln. Die 
Reflexe sind hierbei meist erhöht. 

2. FAn ataktisches Stadium. 

3. Ein pseudoparalytisches, in dem der Kranke 
infolge seiner Schwäche dauernd ans Bett gefesselt 
ist; eine echte Paralyse besteht jedoch nicht. 

Statt der lanzinierenden SchnnTzen kann auch 
jedes andere Symptom zuerst aultreten, z. B, 



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— 51 — 



gastrische Krisen, Opticusatrophie etc. Die spi> 
nalen Symptome setzen meist an den Beinen ein 
(Tabes inferior), seltener an den Armen mit erhal- 
tenem PateJlarreflex (Tabes superior). 

Die häufigste Komplikation der Tabes ist die 
mit progressiver Paralyse (Ta bo p a ralyse); häufig 
findet sich auch eine Komplikation mit Aorten- 
insuffizienz oder Aortcnskleroso mit Aneurysma. 

Der Tod erfolgt an Marasmus oder an Sepsis 
im Anschluß an Cystitis und Pyelo- Nephritis. 

DifterentialdiagnoM: 

1. Gegen Polyneuritis, besonders die alkoholische 
(Pseudotabes alcoholica); diese hat mit der Tabes 
das Fehlen des Patellarreflexes und die Ataxie 
gemein. Bei der Neuritis ist jedoch eine moto- 
rische Parese vorhanden, bei der Tabes nicht. 
Gegen Neuritis sprechen stets Blasenstörungen 
und Pupillenstarre. 

2. Gegen Dementia paralytica; diese hat mit der 
Tabes die Pupillenstarre und das Fehlendes Patel- 
larreflexes gemein. Für Dementia paralytica ent- 
scheiden Intelligenzdefekt und Sprachstörung. 

3. Gegen Friedreichsche Krankheit; diese hat 
weder Pupillenstarre noch Sensibilitätsstörungen, 
sonst ähnliche Symptome. 

Diagnostische Stützen: 

1. Cytodiagnose; es findet sich nämlich bei Tabes, 
Dementia paralytica und Lues cerebrospinalis in 
dem durch Lumbalpunktion gewonnenen Liquor 
cerebrospinalis eine mehr oder weniger hochgradige 
Ly m p lu) c y tose. 

2. Positive Globulinreaktion des Liquors (vgl. S. 39)' 

3. Einenwichti^pnAulialtspunkt gibt auch die Wasser- 
mannsche Reaktion, die bei Tabes fast immer 
positiv (70% der Fälle), sowohl im Serum wie im 
Liquor, ausfällt. 



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- 62 ~ 



Prognose: ungünstig. Heilung ausgeschlossen; 
langjähriger Stillstand ist möglich. 

Therapie: rein symptomatisch. Bei Tahes ineipiens 
versuche man eine vorsichtige Quecksilber- und Jod- 
behandlung. Ob Saly^irsan nützt, ist noch fraglich. 

Das Fortschreiten des Krankheitsprozesses sucht 
man zu verhindern durch kräftige Ernährung, Vermei- 
dung von körperlichen, geistigen Anstrengungen, Auf- 
regungen und Exzessen in baccho et venere. 

Die Ataxie wd wirksam durch die Frenkeische 
Übungsbehandlung bekämpft; man übt mit dem 
Patienten die einzehien zum Gehen, Treppensteigen etc. 
nötigen Bewegungen sorgfältig ein. , . 

Ge^en die Schmerzen verwendet man Antineural- 

fica und Narcotica; bei heftigen Ma^nkrisen eventuell 
'örstersche Operation (Durchschneidung der hinteren 
Wurzeln). 

Eine geringe Rolle spielen die elektrische Behand- 
lung, die mechanische Behandlung (Suspension und 
Massage), die Hydrotherapie und die Balneotherapie 
(Oeynhausen, Nauheim, WUdbad). 

Die hereditäre Ataxie. 
(Friedreichsche Krankheit.) 

Ätiologie: Die Heredität kommt als Hauptmoment 
in Betracht; die Krankheit befällt meist mehrere Ge- 
schwister. 

Beginn: sehr schleichend in der Kindheit und in der 
Pubertät. 

Pathologische Anatomie: Das Rückenmark ist im 
ganzen aiiffallond klein; oft wurde auch eine Entwick- 
lungshemmung des Kleinhirns konstatiert. Degeneriert 
sind die Hinterstränge, die Kleinhirnseitenstrangbahn 
(mit dem iNucleus dorsaiis) und Pyraraidenseitenstrang- 
bahn. 



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— 53 — 



Symptom«: 

1. Ataxie der Beine, der Arme (beruhend auf der 
Erkrankung der Hinterstränge). Die Sprache ist 
skandierend, verlangsamt und undeutlich. 

2. Fehlen der Sehnenreflexe (Unterbrechung des Re- 
flexbogens im centripetalen Teile). 

3. Choreiforme Zuckungen des Kopfes, Nystagmus 
der Augen. Der Gang ist unsicherer als bei Tabes. 
Hypotonie der Extremitäten. 

4. Deformitäten des Körpers: Kyphoskoliose der 
Wirbelsäule, Pes varo-equinus. 

Verlauf: sehr chronisch (30—40 Jahre). Die Ataxie 
ergreift zuerst die Beine. 

Prognose: ungünstig. Heilung ausgeschlossen. Tod 
durch interkurrente Leiden. 

Theriq^ie: symptomatisch. Behandlung der Ataxie 
wie bei der Tabes dorsalis. 

Die spastisehe Spinalparalyse« 

Ätiologie: unsicher. Verantwortlich wurden Trau- 
ma, Puerperium, Syphilis, Bleivergiftung etc. gemacht. 
Heredität findet sich bei der sog. hereditären spa- 
stischen Spinalparalyse (v. Strümpell). 

Pathologische Anatomie : Degeneration d e r P y - 
ramidenseitenstrangbahnen, also des zentralen 
motorischen Neurons. Bei der hereditären Form findet 
sich außerdem noch eine Degeneration der Kleinhirn- 
seitenstrangbahnen und der Gollschen Stränge. 

Die Symptome sind diejenigen der Erkrankung des 
zentralen motorischen Neurons. 

1. Spastische Paraplegie, resp. Paraparese der 
Beine, in späteren Stadien auch der Arme; in- 
folgedessen spastischer Gang (s. S. 10). 

2. Rigidität (Hypertonie) der Muskulatur: daher 
Erschwerung passiver imd aktiver Bewegungen. 



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3. Steigerung der Sehnenreflexe: Patellap- 
klonus, Fußklonus; das Babinskische Zehenphä- 
nomen ist meist vorhanden. 

Die Muskulatur behält normales Volumen und 
normale elektrische Erregbarkeit; keine Sensibili- 
täts-, Blasen- oder Mastdarmstörungen. Nur bei 
der hereditären Form finden sich in späteren Sta- 
dien geringe Gefühls- und Blasenstörungen. 

Entstehung und Verlauf: Das Leiden tritt im 20. 
bis 40. Lebensjahre auf und schreitet sehr langsam vor- 
wärts; es kann 3^4 Decennien bestehen. 

Difterentialdiagnose: 

1. Gegen Herderkrankungen des Rückenmarks und 
des Gehirns: Myelitis, Rückenmarkskompression, 
multiple Sklerose, luetische Meningomyelitis; Hy- 
drocephalus und spastische Gerebraiparalyse. Bei 
allen diesen Erkrankungen finden sich neben den 
Symptomen der spastischen Lähmung meist noch 
andere, bei den erstgenannten besonders Blasen- 
störungen. 

2. Gegen Hysterie: Bei dieser entstehen die Läh- 
mungen in akuter Weise, Babinski ist nie vorhan- 
den; im Übrigen vgl. Hysterie. 

Prognose: vgl. Verlauf. 

Therapie: Da Lues diagnostisch schwer auszu- 
schließen ist, versuche man Jodkalium. Sonst ist die 
Therapie rein symptomatisch. Warme Bäder und sanfte 
Massage lindern die Spasmen. 

Die progressiven Muskelatrophien. 

Die progressiven Muskelatrophien haben die ge- 
meinsame Eigentümlichkeit, daß sie auf einer Degene- 
ration des peripheren motorischen Neurons beruhen. 
Es sind also entweder die Ganglienzellen im grauen Vor- 
derhorn des Rückenmarks (spinale Form der progres- 
siven Muskelatrophie) oder die motorischen Fasern der 



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peripheren Nerven (neurotische Form) oder die Muskeln 
seU>8t (primftre Myopathie) erkrankt. . 

I. Die spinale Form der progressiven Muskel- 
atr«phie (Type Duchenne-Aran). 

Ätiologie: unsicher. Man nininit eine kongenitale 
Schwäche der später degenerierenden Bahnen an. 
Männer erkranken häufiger als Frauen. 

Pathologische Anatomie: Degeneration der 
grauen Vordersäulen (Atrophie der Ganglienzellen) 
hauptsächlich im Cervikalmark. Sekundär degenerieren 
die vorderen Wurzehi, die Muskelnerven und die Mus- 
keln selbst. Die Muskelatrophie ist degenerativer Na- 
tur, d. h. die Muskelsubstanz zerfällt in eine körnige 
und verfettete Masse (trübe Schwt'llnng und Verfettung). 

Die Symptome: sind diejenigen der Erkrankung 
des peripheren motorischen Neurons, also diejenigen der 
degenerativen Atrophie (vgl. S. 12). 

1. Atrophie der Körpermuskulatur: 

a. Atrophie der kleinen Handmuskeln: Abflachung 
des Thenars (Daumenballen), Einsinken der 
Spatia interossea, Abflachung des Hypothenars« 
(Kleinfingerballen); schwaclior Händedruck; 
Krallen bandst eilung, welche durch die Läh- 
mung der Mm. intorossei zustande kommt (Wir- 
kung der Mm. interossei: Spreizen der Finger, 
Beugung an der Grundphalange, Streckung der 
Mittel- und Endphalange). 

b. Atrophie des M. deltoideus. 

c. Atrophie der übrigen Körpermuskeln, am spä- 
testen an den Beinen. 

2. Fibrilläres Zittern auch in noch nicht atro- 
phischen Muskeln. 

3. Die Reflexe sind an den Armen aufgehoben. 

4. Elektrische Entartungsreaktion. 



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Terlauf : sehr schleichend. Beginn nicht vor dem 
20. Lebensjahr. Der Muskelatrophie geht keine Läh- 
mung voraus; die Muskelleistung ist proportional der 
Atrophie. Zuerst erkranken meist der Opponens polUcis 

und der Interosseus primus, und zwar der rechten Hand. 
Dann wird allmählich die Muskulatur des Schulter- 
gürtels, besonders der M. deltoideus ergriffen. Später 
schließen sich die Vorderarmmuskeln und die Nacken- 
muskeln an. 

Der Tod erfolgt nach jahrelangem Bestehen der 
Krankheit durch Atmungslähmung (Erkrankung der 
Interkostalmuskeln und des Zwerchfells) oder durch die 
Komplikation mit progressiver Bulbärparalyse (vgl. 
S. 102). 

Differentialdiagnose : 

1. Gegen andere Erkrankungen des Rückenmarks: 
Syringomyelie, Pachymeningitis cervicalis hyper- 
trophica, Spondylitis der unteren Halswirbel; bei 
diesen Affektionen finden sich Störungen der Sen- 
sibilität, bei der Syringomyelie meist auch tro- 
phische Störungen, bei der Spondylitis Blasen- 
störungen und spastische Paresen der Beine. 

• 2. Gegen die einfachen (nicht progressiven) Be- 
schäftigungsatrophien, z. B. Atrophie des 
Daumonballens bei Wäscherinnen. Diese Atrophie 
ist meist einseitig (rechtsseitig) und von leichten 
subjektiven (Parästhesien) und objektiven Sen- 
sibilitätsstörungeu begleitet; es fehlt die Pro- 
gression. 

Prognose; ungOnstig. 

Therapie: machtlos. Elektrizität, methodische 

Massage. 

Die hereditäre, resp. familiäre Form der spinalen 
progressiven Muskelatrophie (Werdnig- Hoffmann) zeich- 
net sich von der soeben beschriebenen aus: 



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1. Durch ihr familiäres Auftreten: oft bei mehreren 
Geschwistern, 

2. durch den Beginn: im 1. oder 2. Lebensjahre, 

3. durch den Verlauf: die Atrophie ergreift zuerst die 
Oberschenkel-, Becken- und Rückenmuskulatur, 
erst später die Extremitäten, 

4. durch ungünstigere Prognose: schnellere Progres- 
sion, Tod in 1— Jahren. 

II. Die neurotische Form der progressiven Muskel- 
atrophie (Peronealtypus, Charcot-Marie). 

Ätiologie: Heredität. Männer erkranken häufiger 
als Frauen. Beginn im 2. Dezennium. 

Pathologische Anatomie: Degeneration der peri- 
pheren Nerven. Daneben wurden jedoch auch Degene- 
rationen der Spinalganglien, der vorderen Wurzeki, der 
grauen Vordersäulen etc. beobachtet. 

Symptome und Terlauf: Die Atrophie beginnt 
symmetrisch an den Mm. peronei, extensor digitorum 
communis und den kleinen Fußmuskeln. Es bildet sich 
infolgedessen ein Klumpfuß (Pes equino-varus) aus. 
Nach einigen Jahren werden die oberen Extremitäten 
ergriffen: zuerst die kleinen Handmuskeln, dann die 
Vorderarmmuskulatur. Fibrilläres Zittern. Die Pa- 
tellarreflexe fehlen. Elektrische Entartungsreaktion. 
Sehsiblitätsstörungen (Schmerzen, Hypästhosie) sind 
vorhanden. Die Dauer des Leidens erstreckt sich über 
Dezennien. 

Therapie: Der Klumpfuß ist orthopädisch oder 
chirurgisch zu behandehi. 

lU. Die primKre Myopathie, Dystrophia mnsealonim 

progressiva (Erb). 

Ätiologie. Familiäres Auftreten. Das männliche 
Geschlecht erkrankt häufiger als das weibliche; die 



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Krankheit befällt fast ausschließlich Kinder und jugend- 
liche Personen. 

Pafliologisebe Anatonie: Reine Muskelerkrankung; 
das Nervensystem ist intakt. Mikroskopisch findet man : 
Atrophie und teilweise Hypertrophie der einzelnen Mus- 
kelfasern, Vermehrung der Kerne des Sarkolemms, 
Wucherung von Fettgewebe in den bindegewebigen 
Interstitien des Muskels (Pseudohypertrophia lipo- 
matosa). 

Die Querstreifung bleibt bis zuletzt erhalten. 

Die Symptome: 

1. Einfache, nicht degenerative Atrophie der Körper- 
muskulatur (vgl. S. 12). 

2. Hypertrophie und Pseudohypertrophie (be- 
ruhend auf Fettwucherung) einiger Muskeln. 

3. Motorische Parese der befall^en Muskeln. Die 
noch erhaltene Kraft entspricht der Menge der 
Muskelreste. 

4. Sehnenreflexe herabgesetsrt oder erloschen. 

5. Quantitative Herabsetzung der elektrischen Er- 
regbarkeit, keine Entartungsreaktion. 

6. Ausbreitungsgebiete der Erkrankung: 

a. Rücken-, Ghitaeal-, Oberschenkel- und Waden- 
rnuskeln; infolgedessen Lordose der Lenden- 
wirbelsäule mit vorgestrecktem Bauch (Frosch- 
bauch), watschelnder Gang, Schwierigkeit, sich 
aulzurichten (Emporklettern mit den Hän- 
den an den eigenen Beinen). 

ß, Schultermuskulatur: lose Schultern; sie können 
bis zu den Ohren hinaufgezogen werden. 

y, Gesichtsmuakulatur (selten M. orbicularis oris 
und ocuii. 

Verschont bleiben also die distalen Teile 
der Extremitäten, des M. deltoideus und der 
Mm. spinales. 



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Teriaiit: seiur langsam (10—^ Jahre). Stillstand 
kommt vor. Tod an Atmungslähmung. Nach dem Ver- 
lauf unterscheidet man: 

1. Die Pseudohypertrophie: beginnt im 4. — 10. Le- 
bensjahre. Zuerst atrophieren die Rückenstrecker, 
die Glutaei und der Quadriceps ; die Waden werd^ 
pseudohypertrophisch, manchmal auch die Glutaei 
und die Deltoidei. 

2. Die infantile Form: ebenfalls im frühen Kindes- 
alter; primäre Beteiligung der Gesichtsmuskeln. 

3. Die jurenile Form: im JOnglingsalter; primäre Be- 
teiligung der Schultermu^ulatur. 

Ditferentlaldiagnose: Von der spinalen Form der 
progressiven Muskelatrophie unterscheidet sich diese 
Form durch: 

1. Das familiäre Auftreten. 

2. Den Beginn im Kindes- und Jünglingsalter. 

3. Die Kombination von Atrophie mit Hypertrophie 
und Pseudohypertrophie. 

4. Das Ausbreitungsgebiet: Freibleiben der Hände 
und Füße. 

5. Fehlen der elektrischen Entartungsreaktion und 
der fibrillären Zuckungen. 

Prognose: vgl. Verlauf. 

Therapie: Elektrizität, vorsichtige aktive Gym- 
nastik, Hydrotherapie. 

Die amyotrophische Lateralsklerose. 

Ätiologie: unbekannt. Kongenitale Anlage (Strüm- 
pell). Beginn im mittleren Lebensalter. 

Pathologische Anatomie: Degeneration sowohl des 
zentralen als auch des peripheren motorischen 
Neurons, also der Pyramidenbahnen und der Gang- 
lienzellen der Vorderhörner mit den von ihnen aus- 
gehenden motorischen Fasern, Entsprechend findet 
man im verlängerten Marke und der Brücke ebenfalls 



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Atrophie der Pyramidenbahnen sowie der motorischen 
Himnervenkeme (ygl. S. 102). 

Die Symptome sind entsprechend dem anatomi- 
schen Befunde diejenigen der spastischen Parese (Er- 
krankung des zentralen Neurons) und der degenera- 
tiven Atrophie (Erkrankung des peripheren Neurons), 
also: 

1. Parese der Muskulatur der Arme und der Beine. 

2. Atrophie der Muskulatur, besonders der 

Arme. 

3. Rigidität der Muskehl, besonders an den Beinen; 

spastischer Gang. 

4. Sehnenrefiexe gesteigert: Fußkionus; Ba- 
binski. 

5. Elektrische Entartungsreaktion, besonders an den 
Armen. 

6. Fibrilläres Zittern. 

7. Freies Sensorium. 

Verlauf: Dauer 2 — 10 Jahre. Die atrophische Läh- 
mung befällt zuerst die ol)err'n Extremitäten, besonders 
die Hände (Klauenhandstellung). An den Beinen ist 
die Lähmung anfangs rein spastisch, erst später gesellt 
sich die degenerative Atrophie hinzu. Die Refiexstei- 
gerung ist solange erhalten, als Muskelsubstanz erhalten 
ist. In dritter Linie stellen sich bulbäre Lähmungen 
(vgl. S. 102) ein: spastisch-atrophisehe Lähmungen der 
Lippen-, Zungen-, Gaumen-, Schling- und Kehlkopf- 
muskulatur. 

Prof^nose: ungünstig. Tod durch Atmungslähmung, 
Schlinglähmung (Schluckpneumonie) oder Erschöpfung. 

Therapie: machtlos. Gegen die Spasmen protra- 
hierte, warme Bäder; gegen beginnende Schlingläh- 
mung elektrische (galv.) Auslösung von Schluck- 
bewegungen. Im Notfälle Ernährung durch den Magen* 
schlauch. 



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61 — 



Poliomyelitis anterior acuta. 

Spinale Kinderlähmung (Heine-Medinsche 

Krankheit). 

Ätiologie: wahrscheinlich eine Infektion unbekann- 
ter Natur: dafür spricht das gelegentlich epidemische 
Auftreten. Beginn meist im 2. — 4. Lebensjahre. 

Pathologische Anatomie: Akute hämorrhagi- 
sche Entzündung der grauen Vorderhörner 
des Rückenmarks {jioXi6g = grau, fivFX6g= Mark), die 
vielleicht auf embolischem Wege von der Art. spinalis 
anterior aus zustande kommt. Nach Ablauf der Ent- 
zündung zeigt sich Atrophie der Vorderhörner mit se- 
kundärer Wucherung der Neuroglia; das Vorderhorn 
erscheint makroskopisch geschrumpft. Die vorderen 
Wurzeln und die zugehörige Muskulatur sind ebenfalls 
atrophisch. Die Entzündung hinterläßt jedoch nicht 
überall bldbende Veränderungen, sondern meist nur in 
der Hals- und Lendenanschwellung (Kerngebiete der 
Ann- und Beinmuskulatur). Ausnahmswdse können 
auch die Kerne motorischer Himnerven erkrankt sein, 

Symptome: 

a. Akutes Stadium (Dauer: Stunden bis einige 

. Tage): 

1. Hohes Fieber, Appetitlosigkeit, Erbrechen, Be- 
nommenheit. 

2. Häufige Krämpfe. 

3. Manchmal Schmerzen infolge Beteiligung der 

Meningen. 

4. Die Wassermannsche Reaktion im Serum ist 
positiv, im Liquor cerebrospinalis negativ. 

b. Stadium nach Ablauf der Entzündung: 
. Schlaffe Lähmung und degenerative Atrophie der 

befallenen Muskeln (Fehlen der Reflexe, Entar- 
tungsreaktion etc.); meist einseitig. 

c. Bleibender Zustand (der sich nach Monaten 
.. manifestiert):. 



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1. Sehr selten ganze» häufiger teilweise Rückkehr 
zur Norm. 

2. Restierende Lähmungen: fast durchweg mono- 
plegisch (vgl. S. 7); am Beine meist Lähmung 
der Mm. peronei einerseits oder des M. tibialis 
anterior andererseits; am Arme meist der M. 
deltoideus, der M. biceps, brachialis» brachio- 
radialis. 

3. Sekundäre Kontrakturen : z. B. ist der Pes equi- 
novarus paralyticus (Lähmung der Peronei und 
der Extensoren) meist durch sekundäre Kon- 
traktur der Wadenmuskeln fixiert, während der 
Pes valgus paralyticus (Lähmung des Tibialis 
anticus) meist nicht fixiert ist. 

4. Wachstumshemmung der betroffenen Glied- 
maßen. 

5. Deformitäten der Wirbelsäule (Skoliose^ Lor- 
dose) und der Gelenke (Schlottergdenke). 

Verlauf: Die Erkrankung setzt plötzlich, meist aus 
voller Gesundheit heraus, mit Schüttelfrost, hohem 
Fieber, Kopf- und Gliederschmerz ein. Dieses fieber- 
hafte Stadium dauert Stunden bis Tage. Erst nach 
dessen Ablauf treten die Lähmungen auf. Diese haben 
anfangs ein sehr großes Ausbreitungsgebiet ; nach eini- 
ger Zeit erfolgt Besserung; diejenigen Muskeln jedoch, 
welche noch nach 1 Jahr gelähmt sind, bleiben meist 
dauernd gelähmt. 

Differentialdiagnose : 

1. Gegen fieberhafte Knochenerkrankungen : Osteo- 
myelitis, syphilitische Pseudoparalyse (Kj)iphy- 
senlösung); hier sind die Bewegungen durch die 
Schmerzen gehemmt, gegen passive Bewegungen 
wird durch Muskelspannung Widci'stand gesetzt; 
es besteht starke Drucksehnierzhalligkeit; Reflexe 
und elektrische Reaktion sind normal. 

2. Gegen multiple Neuritis^ welche ebenfalls schnell 



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zu degenerativen Lähmungen führt; jedoch finden 
sich hier:' 

a. ein langsameres Eintreten der Lahmungen, 
ß, Druckschmerzhaftigkeit der Nerven und Mus- 
keln, größere Schmerzen bei Bewegung. 

y. Gefühlsstörungen. 

d. das Ausbreitungsgebiet entspricht der periphe- 
rischen Innervation, nicht der spinalen (radi- 
kulären). 

3. Gegen die spinale, progressive Muskelatrophie 
spricht der plötzliche Beginn mit der sich schnell 
entwickelnden Lähmung. 

Prognose: quoad vitam günstig; quoad sanationem 
weniger günstig. Muskeln, in denen am Ende der ersten 
Woche komplette Entartungsreaktion hervortritt, blei- 
ben meist dauernd betroffen. 

Therapie: 

a. Im akuten Stadium: Bettruhe, AUeitung auf den 
Darm, Diaphorese (Darreichung heißer Getränke 
etc.), Salicylpräparate. 

b. In späteren Stadien: Elektrizität, Gymnastik, 
Massage, Solbäder; orthopädische und chirui gische 
Maßnahmen (Tenotomie, Sehnentransplantation; 
Schienenapparate). 

Eine seltenere Form der Erkrankung ist die Polio- 
myelitis anterior acuta der Erwachsenen (Be- 
ginn bis zum 35. Lebensjahr) mit relativ günstigerer 
Prognose quoad sanationem. 

Akute anüsteigende Spinalparalyse 

(Landrysche Krankheit). 

Ätiologie: Inl'ektion eines noch unbekannten Er- 
regers. Beginn meist im mittleren Lebensalter. 

Symptome: 

1. Starkos Unbehagen, Fieber, Kopfweh, Rücken- 
«chniserzen, Albuminurie und Milztumorr 



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2. Schlaffe Lähmung: erst des einen, dann des an- 
deren Beines. Aufhebung der Reflexe etc. (vgl. 
S. 9). Spätere Lähmung der Rumpfmuskulatur. 

Verlauf: Dauer 1 — 2 Wochen. Beginn mit allge- 
meinen Symptomen; dann schlaffe Lähmungen, äl- 
mählich von unten nach oben ziehend. Tod durch Re- 
spirationsstillstand und bulbäre Erscheinungen (vgl. 
S. 102). 

Prognose: ungünstig; in seltenen Fällen Stillstand 
und Heilung. 

Differenfialdiagnose: 

Gegen Polyneuritis: hierbei Sensibilitätsstörungen. 

Therapie: Salicylpräparate, Schmierkur, Elektri- 
zität. 

B. Die diffusen Erkrankungen des Rückenmarks. 

Die Syrlngorayelie. 

Ätiologie: fehlerhafte kongenitale Anlage. Beginn 
meist im mittleren Lebensalter. 

Pafhalogisehe Anatomie: Röhrenartige Höhlen- 
bildung {avQiy^ Röhre) im Rückenmark; bevorzugt 
sind Hals- und Brustmark, und zwar meist ein oder 
beide Hinterhömer, seltener die Hinterstränge und die 
Vorderhömer; auch die Medulla oblongata kann er- 
griffen werden. Den Ausgangspunkt bildet öfters das 
Halsniark. Die Höhlen sind von gewuchertem Glia- 
gewebe umgeben. Die primäre Veränderung besteht 
nämlich in einer soliden Wucherung des Glia^<^webes: 
Gliosis spinalis; innerhalb des gliösen Tumors er- 
folgt später durch Gewebseinschmelzung die Höhlen- 
bildung. Nicht zu verwechseln ist die Syringomyelie 
mit der klinisch meist bedeutungslosen, einfachen Er- 
weiterung des Zentralkanals: der Hydromyeiie, 



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- 65 - 



Symptome: 

1. Die partielle (dissoziierte) Empfindungsläh- 
mung (vgl. S. 18) an den oberen Extremitäten, 
in der Hals- und Rumpfgegend: Schmerz- und 
Temperaturempfindung sind erloschen, während 
Berührungs- und Lageempfindung meist erhalten 
sind. Die Erscheinung beruht wohl darauf, daß 
die Schmerz- und Temperatursinnesbahnen das 
Hinterhom durchziehen. 

2. Langsam fortschreitende, de generative Mus- 
kelatrophien (vgl. S. 12) der oberen Extremi- 
täten; nioist nicht symmetrisch. Ergriffen werden 
meist und zuerst die kleinen Handmuskeln; es 
entwickelt sich Krallenhandsteilung (vgl. S. 
55). In vorgeschrittenon Fällen troscllt sich noch 
spastische Paraparese der Beine hinzu. 

3. Trophische und vasomotorische Stör- 
ungen: 

a. Veränderungen der Haut: Glanzhaut = glossy- 
skin; Blasenbildung, Geschwüre, Panaritien und 
Phlegmonen, welche zum Teil auf Verletzungen 
und Verbrennungen, infolge der Analgesie ver- 

nachlässit;:t. zurückzuführen sind. 
ß. Vci änderungcn der KnoclK^i urul der Gelenke: 
S[)üntanfrakturen, Artiu opat hieu (vgl. S. 49), 
Ivyphüskoliüse der Wirbelsäule durch einseiti- 
gen Schwund der Rückenmuskulatur. 

4. Häufig findet sich das oculo-pupillare Phae- 
nonien [v^]. S. 35), infolge der Zerstörung des 
Centrum cilio-spinale. 

Verlauf: sehr chronisch; er erstreckt sich über 
Jahrzehnte. Meist machen sich zuerst die sensiblen und 
trophischen Störungen der Haut geltend. Die Muskel- 
atrophien beginnen meist an den Händen. Der Tod 
erfolgt durch Decnilütus mit anscliließendei' Sepsis, 
Atmungslähmuni; oder Mitbeteilii^ung der Mediilla 
oblongata infoli^e bulhärer Erscheinungen (vgl. S. 101). 

Mayer, Coiupeudium der 2ieuroiogie. 3.— 5. Aufl. 5 



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Differentialdiagnase: 

1. Gegen progressive Muskelatrophie und 
amyotrophische Lateralsklerose; bei diesen 
fehlen die Sensibilitätsstörungen. 

2. Gegen Spondylitis mit Kompression des Rücken- 
marks ; hier ist die Empfindungslähmung meist nicht 
partiell; außerdem finden sich spastische Paraplegie 
der Beine und frühzeitige Blasenstörungen. 

3. Gegen Neuritis der Armnerven; hier treten 
Schmerzen in den Vordergrund; die Anästhesie 
ist nicht partiell, sie entspricht dem Innervations- 
gebiote des peripheren Nerven. 

4. Gegen Hysterie; hier fehlen die deofenerativen Mus- 
kolatrophien; die Sinnesfunktionen sind an den An- 
ästhesien meist beteiligt. Im übrigen vgl. Hysterie. 

5. Gegen Lepra (mutilans): die Unterscheidung ist 
besonders schwierig von einer besonderen Form 
der Syringomyelie, dersog. Morvanschen Krank- 
heit, bei welcher die Panaritien und die Ver- 
stümmelungen der Hände das Bild beherrschen. 
Entseheidond ist der Nachweis von Lepraknoten 
und Leprabazillen ; ferner positive Wassermannsche 
Reaktion und positive Komplementbindungsrc- 
aktion mit Lepromextrakten. 

6. Gegen Raynaudsche Krankheit (vgl. S. 144), 

Prognose: ungünstig. Heilung ausgeschlossen. Still- 
stand kommt vor. 

Therapie: symptomatisch. Vermeidung von Ver- 
letzungen und Verbrennungen. 

Myelitis acuta. 

Ätiologie: Infektionen und Intoxikationen: Typhus, 
Intluenza, Erysipel. Gonorrhoe. Pneumonie, Scarlatina 
etc. : Kohlenoxyd-, Leuchtgas-, Chloroforrnvergiftungu.a. 

Patholofirische Anatomie: Entzündung des 
R ii f k e n rn a r k s. Es kann sich um einen einzigen Ent- 
zündungsherd oder um mehrere Herde (Myelitis disse- 



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minata) handeln; der Entzündungsherd nimmt den 
ganzen Querschnitt des Rückenmarks (Myelitis trans- 
versa) oder nur einen Teil desselben ein. Makroskopisch 
zeigt sich die Rückenmarksubstanz gelblich rot ver- 
färbt und mit diffusen kleinen Haemorrhagien durch- 
setzt; die weiße Substanz ist von der grauen nicht 
deutlich zu trennen; die Konsistenz ist weicher. Mi- 
kroskopisch zeigt sich Zerfall der nervösen Substanz 
(Quellung der Achsenzylinder und der Markscheiden, 
Auftreten von Körnchenzellen etc.). Sekundär stellt 
sich eine Wucherung der Neuroglia (Narbenbildung) und 
auf- und absteigende Degeneration ein (vgl. S. 3). 

Bakterienbefund: in verschiedenen Fällen ver- 
schieden; Streptokokken, Staphylokokken, Pneumo- 
kokken, Spirocbat'l cn (Lues); auch scheinen die Toxine 
an sich Myelitiden erzeugen zu können. 

Symptome: 

a. Wir nehmen an, es handle sich um eine Myelitis 
transversa mit dem Sitz im Brustmark, Myelitis 
dorsalis; wir finden: 

1. Spastische Paraplegie der Beine (vgl. S. 9); 
Babinski, Patellar- und Fußklonus; häufig spon- 
tane Zuckungen. 

2. Anästhesie für alle Reizqualitäten an den 

Beinen und am Rumpfe bis zu verschiedener 

Höhe; daher öfters Ataxie. An der oberen Be- 
grenzung des anästhetischen Gebietes häufig 
Hyperästhesie und Gürtelschmerz. Im übrigen 
fehlen Schmerzen (vgl. S. 20). 

3. Incontinentia urinae et alvi (vgl. S. 30). 

4. Decubitus infolge der Anästhesie, vielleicht 
auch durch trophische Störungen. 

b. Myelitis lumbalis: 

1. Schlaffe, degenerativ-atrophische Pa- 
raplegie der Beine (vgl. S. 26). 

2. Die Anästhesie reicht nur bis zur Leistengegend; 
im übrigen ist alles wie bei Myelitis dorsalis. 



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c. Myelitis eerviealis: 

1. Degenerativ-atrophische Paraplcgie der Arme. 

2. Spastische Paraplcgie der Beine. 

3. Anästhesie an Rumpf, Armen und Beinen. 

4. Eventuell das oculo-pupillare Phänomen (vgl. 

S. 35). 

5. Respirationsnot (durch Beteiligung der Intor- 
costalmuskeln); im übrigen wie bei Myelitis 
dorsalis. 

Yerlauf: Die Entstehung ist in der Regel akut; die 
Erkrankung erreicht innerhalb weniger Tage, während 
deren Fieber besteht, ihren Höhepunkt. Beginn mit 
sensiblen und motorischen Reizerscheinungen. Aus- 
gangin Heilung, chronische Myelitis oder Tod durch 
Sepsb im Anschluß an Decubitus oder Pyelo-Nephritis. 

Differentialdiagiiose: 

1. Gegen Kompression des Rückenmarks durch 
Spondylitis, Tumoren etc.; hier bestehen meist 
Schmerzen; bei der ersteren die Zeichen derWirbel- 
erkrankungen (vgl. S. 69). 

2. Gegen gummöse Meningitis (vgl. S. 73). 

Prognose: zweifelhaft. Bei Gonorrhoe ist sie günstig; 
je akuter die Entwicklung, desto günstiger ist meist 
der Verlauf; eine schlechte Vorbedeutung haben früh- 
zeitiger Decubitus und Blasenstörung. 

Therapie: Bettruhe: wenn Lues trotz negativen 
Wassermanns nicht auszuschließen, Jodkali und Schmier- 
kur; Saivarsan; Salizylpräparate ; zur Vermeidung des 
Decubitus Luft- und Wasserkissen; im übrigen eben- 
falls symptomatische Behandlung. 

Spondylitis tuberoulosa und Kompression des 

Rückenmarks. 

Atiolo^jie: Ali^esdien von der Spondylitis tu- 
luM'culüsa (Wirbel k aries, Malum Pottii) können 
in selteneren Fällen andere Affektionen der Wirbel 



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[Carcinom (meist sekundär), Sarkom (meist prim&r), 
Lues] oder der Meningen (Tumoren etc.) eine Kom- 
pression des Rückenmarks herbeiführen. Von der Wir- 
belkaries werden am häufigsten Kinder, aber auch 
ältere Personen befallen. 

Pathologische Anatomie: Tuberkulöse Karies eines 
oder mehrerer Wirbelkörper. Lieblingssitz: Dorsal- 
wirbel. Dieser kann zusammenbrechen; so entsteht 
eine spitzwinklige Kyphose: Gibbus, Pott scher 
Buckel. Zunächst werden die Rückenmarkswurzeln 
(Reizorscheinungen), später das Rückenmark selbst dem 
Drucke ausgesetzt. Die Folge ist der allmähliche Unter- 
gang der nervösen Substanz. Oft wird jedoch nur ein 
Staiiungsödem oder eine. Ischämie hervorgerufen, die 
sich schließlich wieder zurückbilden können. Auch 
käsiger Eiter kann die Kompression bewirken. 

Symptome: 

a. Symptome der Wirbelerkraiikung: 

1. Dio Deformität der Wirbelsäule, der Gibbus, 
braucht jiMloch nicht iiuiuor zu bestehen. 

2. LokaU' Seil III erzen . ^vol(•ll(' den Patient ni 
zwingen, bei allni Bewc^untjen dit* \\ ii belsäulc 
steif zu halten: daher der vorsichtige Gang und 
das charakteristische Aufstehen. 

3. Druckemyjfindlichkeit des erkrankten Wir- 
bels (Perkussion); dio Schmerzhaftigkeit läßt 
sich aiich feststellen, wenn man mit einem heißen 
Sciiwamme über die Wirbelsäule liinweglälul 
oder dem sitzenden Patienten auf den Kopf 
drückt. 

4. Veränderung im Röntgenbild (Struktur- und 
Form Veränderung). 

b. Sym[)t()nie vor» Seiten der Rückenmarkswurzeln: 
1. A u SS t ra h 1 (Ml (1 c Schmerzen infolge der Af- 
fektion der hinteren W'ur'zeln: l)ei Kompression 
des Halsmarkes in beiden Armen, des Brust- 



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markes Gürtelschmerz, des Lendenmarkes in 
beiden Beinen (ischiadische Schmerzen). 

2. Hypästhesie und Anästhesie, stellen sich später 
ein. 

3. Die Kompression der vorderen Wurzeln führt zu 
degenerativ-atrophisohen Lähmungen. 

c. Symptom« von seilen des Rückenmarkes seihst: 
diese sind nach dem Niveau der Erkrankung ver- 
schieden; wir nehmen als Beispiel eine Garies 
dorsalis (also eines Brustwirbels): 

1. Spastische Paraplegie der Beine; Babiuski 
etc. positiv (vgl. S. 00). 

2. Anästhesie an den Beineii und am Kunipfe 
bis zu verschiedener Höhe; kann jedoch fehlen. 

3. Gürtelschmerz. 

1. Blasen- und Mastdarmstörungen. 
5. Trophische Störungen: Decubitus etc. 

Bei Karies der unteren Brustwirbelsäule (Kom- 
pression des Lendenmarks) findet sich selbstverständlich 
degenerativ-atrophische Lähmung der Beine, kein 
Gürtelschmerz; bei Karies der unteren Halswirbel: 
spastische Paraplegie der Beine und degenerativ-atro- 
phische der Arme; bei Karies der oberen Halswirbel: 
s[)astisc]ic Paraplegie der Arme und Beine, Karies am 
Kreuzbein kommt nicht vor. 

Verlauf: sehr chronisch. Ausgang manchmal in 
Heilung; der Zustand kann stationär bleiben; Tod 
dui'ch Dociihitus mit anschlif^ßender Sepsis, Cystitis, 
Pyelo-No|)htitis. allg»Mneine Miliartubcrkulüsc F^M Ka- 
ries der oberen Halswirbel kann der Tod plützlich durcli 
Kompression der Medulla oblongata (Atmungszentrum) 
oder des Zentrums für den N. phrenicus (4. Gervicai- 
segment) eintreten. 

Differenfialdiagnose: hat zu berücksichtigen die 
Myelitis, die gummöse Myelomeningitis, die multiple 
Sklerose; iNeurasthenie und Hysterie (s. diese): gegen 



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diese beiden letzteren ist das Babinskische Zeichen be- 
sonders wertvoll. 

Prognose: nicht ungünstig in jugendlichem Alter. 

Theiapie: Ruhigstellung (Bettruhe) und Extension 
der Wirbelsäule (Glissonsche Schwebe, Gipskorsett etc.). 
Von chirurgischen Methoden seien erwähnt: die Lami- 
nektomie; das gewaltsame Redressement nach Calot. 

Selerosis multiplex cerebrospinalis. 

Die multiple Sklerose, disseminierte Sklerose. 

Ätiologie: unbekannt. 

Pathologische Anatomie: Sklerotisch«' Herde 
(,, Solerose on plaqiios'*)im ganzen Zentralnervensystem : 
Großhirn, Pons, Medulla oblongata und Rückenmark. 
Bevorzugt ist die weiße Substanz, aber auch die graue 
bleibt nicht verschont. In den Herden selbst sind die 
Markscheiden der Nervenfasern geschwunden, die Ach- 
senzylinder jedoch meist erhalten, die Glia ist ge- 
wuchert. Da die Achsenzylinder und die Ganglienzellen 
meist erhalten bleiben, so fehlt auch die sekundäre 
(auf- oder absteigende) Degeneration der Nervenfasern. 

Symptome: Die Kardinalsymptonie der mul- 
tiplen Sklerose sind: der Nystagmus, die skandie- 
rende Sprache, der Intentionstremor und die 
spastische Paraparese der Beine. 

1. Der Nystagmus (vg. S. 37) tritt besunders beim 
Blick nach der Seite in Form horizontaler Zuckun- 
gen des Auges auf. 

2. Die skandierende Sprache besteht darin, daß 
die Wortsilben durch Pausen von einander ge- 
trennt werden; sie beruht wohl auf Herden in der 
zentralen Hypoglossusbahn (Pons, Medulla ob- 
longata). 

3. Der Intentionstremor (vgl. S. 6) hat als cha- 
rakteristische Merkmale, daß er: 



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a. in der Ruho fehlt, 

ß. nur am Endo einer aktiven Bewegung eintritt, 
y. aus großen Schwankungen besteht. 

4. Die spastische Paraparese der Beine (vgl. 
S. 9) beruht auf Herden in den Pyramidenseiten - 
strangbahnen. Babinski, Oppenheim oft positiv. 

5. Sehstörungen (vgl. S. 37), beruhen auf Herden 
im N. opticus: 

a. Temporale Abblassung der Papille. 
ß, Amblyopie. 

y. Zentrales Skotom und häufig Einengung des 
Gesichtsfeldes mit Störungen des Farbensehens. 

6. Einseitiges Fehlen des Bauchreflexes. 

Weniger häufige Symptome sind: Ataxie (Herde in 
den Hintersträngen), cerebellare Ataxie (Herde in den 
KJeinhimseitenstrangbahnen), apoplektiforme Anfälle 
(vgl. S. 91), Sensibilitätsstörungen, Blasenstörungen, 
Zwangslachen, Intelligenzdefekte. 

Verlauf: srhleichend, von Jahrzehnte langer Dauer. 
Remissionen sind häufig. Der Tod erfolgt durch andere, 
interkurrente Erkrankungen, manchmal durch Maras- 
mus, Cystitis, Pyelonephritis, Decubitus. 

Differcntialdiaj?nose: Die multipl«' Sklerose kann 
(ähnlich wie die progressive Paralyse und die Hysterie) 
fast alle Erkrankungen des Nervensystems nachahmen. 

1. Die pi'ogressive Paralyse hat mit d(*r mul- 
tiplen Sklerose die S|)rachst()rung, die apoplektifor- 
men Anfälle, den Intelligenzdefekt und die spa- 
stische Paraparese gemein. Jedocli ist bei pro- 
gressiver Paralyse die Sprache nicht skandierend, 
der Intelligenzdefekt meist größer und von anderen 
psychischen Störungen (Wahnvorstellungen etc.) 
begleitet. Pupillenstörungen, positive Serodia- 
gnose sprechen für progressive Paralyse. 

2. Die Pseudo- Sklerose (Westplial). eine Neurose 
ohne anatomischen Befund, kann der multiplen 



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Sklerose fast aufs Haar gleichen. Jedoch finden 
sich bei ihr meist schwerere psychische Störungen, 
kein Nystagmus, keine ophthalmoskopisch nach- 
weisbare Veränderung des Opticus. 

Im übrigen berücksichtige man Tabes, Hysterie, 
spastische Si)inal})Mialyse, chronische Myelitis, mul- 
tiple Gummata, Blutungen. 

Prognose: Heilung ausgeschlossen, Stillstand und 
zeitweise Besserung möglich. 

Therapie: Vermeidung körperlicher Anstreiiguiigen, 
im übrigi ii Massage etc., aber mit Vorsicht. 

Heningo-myelltis syphilitica; Meningitis chronica 
syphilitica gummosa; Lues spinalis. 

Ätiologie: Kongenitalf^ oder acquirierte Syphilis; 
Beginn meist innci hall) dfr- ersten sechs Jahre nach der 
Infektion. Die Er krankungen gehören dem sekundären 
oder tertiären Stadiuni an. 

Pathologisehe Anatomie: 

1. Die weichen Rückenmarkshäute sind teils von 
• speckigem, gallertigem, teils von fibrösem Gewebe 

durchsetzt, teils durch gefäßreiches Granulations- 
gewebe verdickt, teils miteinander verwachsen; an 
einzelnen Stellen findon sich Gummiknoten. Die 
in diese Bildung<Mi cius^ebetteten Rückenmarks- 
wurzeln sind häufig atrophisch. 

2. In das HtickfMimark hinein sendet das syphilitische 
GranulationsLrewebe seine Ausläufer, Gummikno- 
ten verschiedentM' Form und Größe. 

3. An den Gefäßen findet sich Verdickung der Wan- 
dung oder völlige Obliteration (Arteriitis oblite- 
rans). Infolge davon entstehen Erweicliungsherdc 
im Rückenmark. 

Symptome: 

1. Schmerzen im Rücken, Naeken und Kreuz; 
pflegen nachts zu exacerbieren ; ferner Gürtel- 



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schmerz, neuralgiforme Schmerzen in den Extremi- 
täten ; sie beruhen alle auf der Reizung der hinteren 
Wurzeln durch die Meningitis. 

2. Atrophische Lähmungen, jedoch nur ein- 
zelner Muskeln, da meist nur einzelne vordere 
Wurzelbündel geschädigt werden. 

3. Spastische Paresen der Extremitäten (vgl. 
S. 9) mit den verschiedensten Ausbreitungsgebie- 
ten: Paraparesen oder Hemiplegien oder andere. 

4. Blasen- und Mastdarmstörungen. 

5. Sensibilitätsstörungen; häufig Parästliesieu. 

6. Ataxie, nicht selten (Pseudotabes syphilitica). 

Yerlaiit: chronisch. Heilung, Besserung und Stili- 
st and kommon vor. Die wichtigste und häufigste Kom- 
plikation ist die mit Lues ce'rebri (vgl. S. 103). 

Digerentialdiagnostlsch ist wichtig, daß die Symp- 
tome der Lues spinalis sehr unbeständig sind, ver- 
schwinden und bald wieder auftreten können, und daß 
sie meist auf mehrere Herde zurückzuführen sind. Zu 
berücksichtigen sind die Myelitis, multiple Sklerose, 
Rückenmarkskompressionen etc. 

Von Bedeutung sind: 

1. liesiduen einer erworlH'iicn Lues, z.B. Leukoderma 
des Halses, Zerklüftung der Tonsillen, Knoehen- 
verdickungen, Erkrankungen der Aorta etc. 

2. Residuen einer coMgenitalen Lues: Iveratitis inter- 
stitialis, Sehwerhörigkeit, Zahndeformitäten (Hut- 
eliinsonsche Trias). 

3. rntersuchung des Serums und des Liquor cere- 
brospinalis. 

a. Im Serum findet sich in 99% der Fälle posi- 
tive Wasserniannsche Reaktion, wenn es sich 
um einen nifnnals spezifisch behandelten Syphi- 
litiker handelt. Bei behandelten Syphilitikern 
ergibt sich trotz der manifesten Myelitis nur in 



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VAX. 70% Fälle positive Wassermannsche 
Reaktion. 

({. Im Liquor cerebrospinalis ergibt sich in 
ca. 90% der Fälle positive Wassermannsche 
Reaktion, positive Globiilinreaktion (Nonne- 
Apelt), positive Pleozytose. 

Prognose: nicht ungünstig. Manclimal Heilung. 
Haben die Erscheinungen längere Zeit (viele Monate) 
bestanden, so sind die Aussichten ungünstiger. Rück- 
fälle sind häufig. In manchen Fällen ist der Verlauf 
progressiv und fühit nach einigen Monaten zum Tode 
(galoppierende Syphilis). 

Therapie: antisyphilitisch; Scluiiierkur (tgl. 3--5 g 
unguent. hvdrarg. cinerei) und Jodkali innerlich (10,0 — 
15,0 : 200,(j; 3 x tgl. 1 Eßlöffel) oder subkutane Injek- 
tionen von Jodipin. Bäder: Aachen, Tölz, Wiesbaden. 

Die Salvarsantherapie leistet hervorragende 
Dienste, nur existiert noch kein aligemein anerkannter 
Behandiungsmodus. Zu verwerfen sind subkutane und 
intramuskuläre Injektionen von Salvarsan. Bei Lues 
Spinalis gebe man zuerst 0,2 g Salvarsan oder 0,3 g 
Neosalvarsan intravenös. Nach 14 Tagen wieder- 
hole man die intravenöse Infusion mit 0,4 g Salvarsan 
(= 0,6 g Neosalvarsan). Dann gebe man noch in 
weilor(Mi , 14tägigen Abständen 2 — 3 intravenöse In- 
fusionen zu 0,4 — 0,6 g. Nach 14tägiger Pause wäre 
dann eine Quecksilberkur am Platze. 

Eine besondere Form der Lues spinalis ist die 
Erbsche syphilitische Spinalparalyse. 

Die Symptome ähneln denen der spastischen Spi- 
nalparalyse. 

Yerlanf : Es entwickeln sich langsam Schwäche und 
Steifigkeit der Beine, spastischer Gang, Fußklonus, 
Blasenstörungen. Nicht befallen werden obere Extre- 
mitäten und Hirnnerven. 



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Pachymeningritis eerviealis hypertrophiea. 

Ätiologie: meistens Syphilis; vielleicht auch Al- 
koholismus. 

Pathologisehe Anatomie: Verdickung der Dura 
mater im Gebiete des Halsmarkes; Kompression der 
Wurzeln und des Rückenmarkes selbst. 

Symptome: 

1. Sensible Reizerscheinungen (Kompression der hin- 
teren Wurzeln): Schmerzen, Parästhesien und 
Hyperästhesien im Nacken, Hinterkopf und an den 
Armen, hauptsächlich im Gebiet des N. ulnaris 
und medianus. Ferner Herpeseruptionen, wie bei 
vielen Reizerscheinungen der hinteren Wurzeln. 
Motorische Reizerscheinungen: Zuckungen, Mus- 
kelspannungen etc. 

2. Hypästhesie und Anästhesie in den nämlichen Be- 
zirken. 

3. Degenerativ-atrophische Lähmungen im Gebiet des 
N. medianus und ulnaris: an den kleinen Hand- 
muskeln, den Finger- und Handbeugern. Infolge- 
dessen pathognomonische Handstellung: Dorsal- 
flexion im Handgelenk, Streckung der Grund-, 
Beugung der Mittel- und Endphalangen (Lähmung 
der Interossei): „Predigerhand''. 

4. In späteren Stadien kommen Symptome von selten 
des Rückenmarks hinzu: spastische Paresen, Bla- 
senstörungen etc. 

Yerlaaf: sehr langsam; jahrelange Dauer. Still- 
stand kommt vor. 

Differentialdiagnoge: Spondylitis (vgl. S. 68), Mye- 
litis etc. 

Prognose: ernst. Heilung nicht ausgeschlossen. 

Therapie: Warme Heider; galvanischer Strom; Jod- 
pinselungen im Nacken. 



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— 77 — 



Spina bifida. 

Pathologische Anatomie: Angeborene Spaltbildung 
der hinteren Wirbelbogen, hauptsächlich der Lenden- 
wirbel und des Kreuzbeines mit heniienartiger Vortrei- 
bung des Inhalts des Wirbelkanals. Häufigster Inhalt 
Arachnoidea und Cerbroepinalflüssigkeit. Uber die ver- 
schiedenen Abarten siehe die Lehrbficher der Pathologie. 

KrankheitsTerlauf: Die Geschwulst, die anfänglich ' 
ohne Symptome besteht, wächst langsam und bewirkt 
Motilitäts- und Sensibilitätsstörungen der unteren Ex- 
tremität, femer Blasenstörungen und Decubitus. Durch 
Platzen des Sackes und sekundäre Meningitis kann der 
Tod eintreten. 

• 

Therapie: Chirurgische Behandlung. 



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Die Kraaklieiten des Gehirns. 



A. Allgemeiner Teil. 
L Lokalisatioii und Zentren im fieliirn* 

a. Oentra der Hirnrinde: 

1. Centra für willkürliche Bewegung sind Zentral- 
und Parazentralwindungon : Fat ialisgebiet im 
unteren Drittel, Arm in der Mitte, Bein im 
oberen Teil. Beugung und Streckung einer Ex- 
tremität haben getrennte Zentren. 

2. Motorisches Sprachzentrum (Broca) : bei Rechts- 
händern in der 3. linken Stimwindung; bei 
Linkshändern umgekehrt. 

3. Sensible Zentren fallen wahrscheinlich mit den 
motorischen zusammen. Sie sind zugleich Sitz 
des Muskelsinus und der Stereognose. 

4. Sensorielles Sprachzentriini (Wernicke): linke 
obero Schlälciiwindung bei Rechtshändern. 

5. Zentrum für assoziierte Augen bewegung (De- 
viation conjugee): Gyrus angularis. 

6. Sebzentrum : mediale Seite des Occipitallappens 
in der Umgebung der Fissura calcarina und dos 
Cuneus; bei Zerstörung: Homonyme Hemian- 
opsie (vgl. S. 38). 

7. Hörzentrum: oberste Schläfenwindung. 



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— 79 — 



b. Stirnhirn. Es ist wahrscheinlich Sitz der affektiven 
Sphäre. Bei Zerstörung: psychische Verände- 
rungen, Witzelsucht (Moria) etc. 

c. Zentrum semiovale enthält Associationsfasern zur 
gegenüberliegenden Rinde und die zur Capsula 
interna ziehenden Bahnen (Stabkranz); bei Affek- 
tionen ähnliche Erscheinungen wie an der Rinde, 
jedoch ohne Konvulsionen. 

d. Capsula interna besitzt: 

1. einen vorderen Schenkel (zwischen Nucleus len- 
tiformis und Nucleus candatus). 

2. einen hinteren Schenkel (zwischen Nucleus 
lentiformis und Thalamus opticus). 

Die wichtigsten Bahnen verlaufen im hinteren 
Schenkel und zwar von vorn nach hinten gesehen : 
Facialis, Hypoglossus, Pyramidenbahn (Arm vorn, 
Bein hinten), sensible und sensorielle Halmen. 

c. Hirnschenkel: Die Haube enthält die ungekreuz- 
ten, sensiblen Bahnen, der Fuß medial die Hirn- 
nerven (Oculomotorius schon gekreuzt, Facialis 
ungekreuzt), lateral die ungekreuzte Pyramiden- 
bahn; bei Zerstörung: Hemiplegia alternans su- 
perior. 

f. Pons: dorsal in der Haube liegen die Kerne und 
Wurzelfasern der Gehirrmerven III -VII; A^entral 
davon die ungekreuzte sensorische Bahn, davon 
ventral die ungekreuzte motorische Bahn. Fa- 
cialis, Abducens, Trigeminus sind schon gekreuzt: 
bei Ponserkrankong Hemiplegia alternans inferior 
ev. mit sensiblen Störungen etc. 

g. Meduila oblougata; sie enthält dorsal die Renn» 
der Gehirnnerven VIII — XII, ventral und lateral 
die ungekreuzten Bahnen zwischen Gehirn und 
Peripherie. Wichtige Zentren sind: das Vagus- 
zentrum (für Herz und Atmung), das Brech- und 
Schluckzentrum, das Regulierungszentrum für 
Hamsekretion und Zuckerstoffwechsel (Glaude- 



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— 80 



Beriiard); hei Krkraiikung kann plötzlicher Tod 
eintreten: Tumoren etc. bewirken bulbäre Er- 
scheinungen (vgl. S. 101). 

h. Kleinhirn; es ist das Zentrum für Gieichi^^ewii hts- 
erhaltunpr. daher steht es mit allen zur Erlialtung 
des Gleichgewichts nötigen Organen (Labyrinth^ 
Auge etc.) in Verbindung. 

IL Allgemeinerseheiniuigen bei Hirnkraakheiten. 

1. Bewulttseinsstöi^iiiigeii; man unterscheidet verschie- 
dene Grade: 

a. Apathie: der Kranke nimmt keinen Anteil an 
den Vorgängen in seiner Umgebung. 

b. Somnolenz (Benommenheit): der Kranke ist 
leicht zu erwecken. 

c. Sopor: der Kranke ist nur durch starke Sinnes- 
reize zu erwecken. 

d. Koma: der Kranke ist gar nicht zu erwecken; 
die Reflexe sind dabei meist aufgehoben. 

In den höheren Graden der Bewußtseinsstörungen 
läßt der Kranke oft Harn und Kot unter sich. 

Bewußtseinsstörungen kommen vor: 

a. als plötzlich eintret« n d c: bei Haemor- 
rhagia cerebri (Apoplexie), bei Embolie einer 
Himarterie, nach Traumen (Gommotio cerebri), 

im epileptischen Anfall; 

b. als allmählich eintretende: bei Hirntu- 
moren, Meningitis, bei schweren Infektionen, 
Intoxikationen und Autointoxikationen (urämi- 
sches, diabetisches Koma); bei Auaemia cerebri 
(durch große Blutverluste). 

2. Psychische Störungen: Stupor, Delirien etc. (vgl. 
S. 151). 

3. Kopfschmerz (vgl. S. 20). Bei Gehirnaffektionen 



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— 81 — 



entsteht der Kopfschmerz dureh Reizung der sen- 
siblen Nerven der Hirnhäute infolge von: 

a. akuter oder chronischer Meningitis, 

b. erhöhtem Hirndruck: Tumor cerebri, Hirn- 
abszeß, Hydrocephalus, 

c. Zirkulationsstörungen: Anaemia und Uyper- 
aemia cerebri. 

4. Cerebrales Erbrechen: ist häufig mit dem Kopf- 
schmerz verbunden. Um es diagnostisch zu ver- 
werten, muß man selbstverständlich erst alle an- 
deren Krankheiten (Magenkatarrh, Infektions- 
krankheiten etc.), welche von Erbreclien begleitet 
sind, ausschließen. Das cerebrale Erbrechen ist 
meist ein Symptom des erhöhten Hirndrucks: 
bei akuter Meningitis, Tumor cerebri, Hirnabszeß, 
Commotio cerebri. Es ist charakterisiert: 

a. durch die Leichtigkeit, mit der es erfolgt; 

b. durch den Mangel von Begleiterscheinungen 
(Magenschmerzen, Übelkeit etc.); 

c. durch seine Unabhängigkeit von der Nahrungs- 
aufnahme. 

5. Sehwindel, Vertigo: stellt eine Störung des Gleich- 
gewichtsgefühles dar. Er findet sich: 

a. bei Augenmuskeilähniungen infolge der Dip- 
lopie: 

b. bei Ohrenaffektionen (Vertigo ex aure luesa); 
bei Magenerkrankungen (Vertigo e stomacho 

laesü); 

c. bei Neurosen ( Hysterie, Epilepsie, Neurasthenie) ; 

d. bei Großhirnaffeklionen : Tnnior, Abszeß, Ar- 
terioslderose der Hirnarterien; 

e. bei Kleinhimaf f ektionen : cerebellarer Schwindel. 

6. Teränderangen der Herztätigkeit entstehen durch 
Beteiligung des Vaguszentrums durch lokale Er- 
krankung der Medulla oblongata (progressive Bul- 

M y e r, Oompendtoiii der Kouiologle. 8^. Aufl. 6 



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— 82 — 



bftrparalyse etc.) oder durch eine Steigerung des 
Himdrucks. 

a. Pulsverlangsamung: entsteht durch Reizung 
des Vaguszentrums infolge Himdrucksteigerung 
(Meningitis, Tumor, Hydrocephalus etc.). 

b. Pulsbeschleunigung: bei schwerer Schädi- 
gung des Vaguszentrums (Endstadium der Me- 
ningitis etc.; progressive Bulbärparalyse). 

7. Schlaflosigkeit (Agrypnie): findet sich 

1. bei Schmerzen, quälendem Husten etc. 

2. bei Neurasthenie, traumatischen Neurosen, 

Dementia senilis etc. 

3. bei geistiger Überanstrengung. 

8. Der Meni^resche Symptomenkomplex tritt anfalls- 
weise auf bei Affektionen des Ohrlabyrinthes 

(Haemorrhagien, Fraktur etc.), bei Lues, akuten 
Infektionskrankheiten, Chininintoxikationen etc. 

Er besteht aus: 

1. Vertigo ex aure laesa (ev. vestibuläre Ataxie), 

2. Ohrensausen, oft mit Schwerhörigkeit, 

3. Kopfschmerz und Übelkeit. 

III. Die SpraehstSrangen. 

a. Artikulatorische Sprachstörungen. 

Ursache: Parese. Paralyse, Zittern, Krampf, Ataxie 
der Sprachmuskulatur (d. h. Lippen-, Zungen-, Kehl- 

kopfmuskelii). 

Anarthrie heißt die Störung, wenn die Sprache 
völlig aufgehoben ist oder nur in einem unverständlichen 
Lallen besteht (meist doppelseitige Sprachmuskelläh- 
mung); Dysarthrie, wenn die Sprache infolge mangel- 
hafter Lautbildung undeutlich ist. 

imnseitige Lähmung der Sprachmuskulatur bedingt 



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- 83 — 



nur im Anfans Störungen, welche später wieder aus- 
geglichen werden; sie finden sich bei: 

1. einseitigen Affektionen der Pyramidenbahn ober- 
halb der MeduUa oblongata; 

2. einseitigen Affektionen der Sprachmuskelzentren 
der Hirnrinde; 

3. peripherer Facialis- und Hypoglossuslähmung. 

Doppelseitige Lähmung der Sprachmuskulatur be- 
ruht meistens auf Erkrankung der Medulla oblongata 
(= Bulbus) und des Pons; sie heißen daher auch ,,bul- 
bäre" Sprachstörungen. Sind die motorischen Hirn- 
nervenkerne betroffen, so ist die Lähmung der Sprach- 
muskeln degenerativ-atrophisch: progressive Bulbär- 
paralyse, amyotrophische Lateralsklerose; seltener ist 
spastische Lähmung durch beiderseitige Läsionen der 
Rinde oder der Pyramidenbahn : Pseudobulbärparalyse. 

Formen der artikulatorischen Sprachstörung: 

1. Skandierende Sprache: bei multipler Skle- 
rose (S. 71). 

2. Näselnde Sprache (Rhinolalia aperta): bei Gau- 
mensegeliähmung (postdiphth^ische Lähmung, 
Bulbärparalyse etc.). 

3. Bulbäre Sprache: je nachdem Lippen, Zunge oder 
Gaumen gelähmt sind, ist die Lautbildung der L, 
II. oder III. Artikulationsstelle gestört. 

4. Das Stottefn ist eine rein funktionelle Störung; 
beruht auf kiampfiiafteu Muskelkontraktionen, 
welche die Sprachwerkzeuge in einer zur Bildung 
eines Lautes erforderlichen Stellung festhalten. 

5. Stammeln (Dysarthria litteralis): Störung der 
Lautbildung infolge iNachlässigkeit oder Erkran- 
kung des Gehirns etc. 

6. Die hysterische Stummheit (Mutismus), mit nor- 
maler Beweglichkeit der Zungen- und Lippenmus- 
kulatur. 



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^ 84 — 

Prüfung der Sprache: 

1. Man läßt schwere Worte nachsprechen, z. B. dritte 
reitende Artilleriebrigade» Armeereorganisation, 
Dampfschiffschleppschiffahrtsgesellschaft etc. Oder 
man läßt den Patienten ein Gedicht hersagen 
(skandierende Sprache). 

2. Man prüft systematisch die einzelnen Buchstaben 
durch. 

b. Die a phasischen Störungen. 

Aphasie ist der Verlust der Fähigkeit, den Begriff 
in Wort und Sclirift oder das Gesprochene und Ge- 
schriebene in den Begriff umzusetzen. Bei aphasischen 
Störungen sind im großen und ganzen nur diese höhe- 
ren Sprachfunktionen gestört; sie finden sich aus- 
schließlich bei Erkrankungen des Großhirns. 

Zur Sprachbildung kommen folgende Zentren in 
Betracht. 

1. Das motorische Sprachzentrum; seine Zerstörung 
bewirkt motorische Aphasie bei erhaltenem Sprach- 
verständnis. 

2. Das sensorische Sprachzentrum, Zentrum für das 
VVortverständnis und Wortklangbilder; seine Zer- 
störung bewirkt sensorische Aphasie. Die Worte 
werden gehört, aber nicht verstanden (Wort- 
taubheit). 

3. Das Zentrum für die optische Objektvorstellung: 

im Occipitallappen ; seine Zerstörung bewirkt Sec- 
hen blindheit. Gegenstände winden gesehen, aber* 
nicht erkannt, trotz Kenntnis der Wortbezeich- 
nung. Alexie nennt man den Verlust der Fähigkeit, 
das Geschriebene zu lesen (Wortblindheit). 

Prüfung auf Aphasie; man hat zu prüfen: 
1. Das Wortverständnis: Aufforderung, sich an 
die Nase zu fassen, einen Gegenstand aus meh- 
reren herauszusuchen etc. 



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— 85 — 



2. Das Objektbezeichnen, willkürliche Spra- 
che: Benennung vorgehaltener Gegenstände, An- 
gabe von Alter etc. 

3. Das Nachsprechen. 

4. Das Objekterkennen: Andeutung, welchen 
Zweck ein Gegenstand hat, durch Gebärden etc., 
z. B. Bleistift. 

5. Prüfung der Schrift: Spontanes Schreiben, 
Kopieren und Diktatschreiben. 

Formen der Aphasie: Je nach dem Sitz des Krank- 
heitsherdes gibt es verschiedene Formen der Aphasie; 

es können die Zentren selbst (kortikale Aphasie) oder 
die verbindenden Bahnen (transkortikale Aphasie) zer- 
stört sein. 

a. Kortikale, motorische Aphasie: 

1. Wortverstäiidnis: erhalten. 

2. Willkürliche Sprache: gestört. 

3. Nachsprechen: gestört. 

4. Objekterkennen: erhalten. 

5. Sjpontanes Schreiben: meist gestört. 

6. Diktatschreiben: meist gestört. 

b. Kortikale, sensorische Aphasie: 

1. Wort Verständnis: gestört. 

2. Willkürliche Sprache: erhalten. 

3. Nachsprechen: gestört. 

4. Objekterkennen: erhalten. 

5. Spontanes Schreiben: gestört. 

6. Diktatschreiben: gestört. 

Alltägliches (mechanisch!) kann spontan gut ge- 
sprochen werden; eine Unterhaltung ist jedoch schwer 
möglich. Die erhaltene, willkürliche Sprache leidet da- 
durch, daß die sensorische Kontrolle fehlt; die Folgen 
hiervon smd: 

a. Verbale Paraphasie (sensorisch): der Ge- 
brauch klangverwandter, aber falscher Worte ; 



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— 86 — 



ß. litterale Paraphasie (motorisch): SUhen- 
stolpein: Entstdlung richtiger Worte durch 
verkehrte Lauthildung (,,benser" statt 
„besser"). 

c. Transkortikale, motorische Aphasie: beruht auf 
Zerstörung der Verbindungsbalin zwischen Hör- 
oder Seherinnerungsspbäre (also Begriffszentrum) 
und motorischem Sprachzentrum (von eüiigen 
Autoren nicht anerkannt: Bonhdffer u. a.I). 

1. Wortverständnis: erhalten. 

2. Willkürliche Sprache: gestört. 

3. Nachsprechen: erhalten. 

4. Objekterkennen: erhalten oder gestört; wenn 
erhalten, so ist die verbindende Bahn von der 
Hörerinnerungssphäre zum motorischen Sprach- 
zentrum zerstört. 

5. Spontanes Schreiben: gestört. 

6. Diktatschreiben: erhalten. 

d. Transkortikale, sensorische Aphasie: beruht auf 
Zerstörung der Verbindungsbahn zwischen Seh- 
erinnerungssphäre und Hörerinnerungssphäre. 

1. Wortverständnis: gestört. 

2. Willkürliche Sprache: erhalten; aber Paraphasie. 

3. Nachsprechen: erhalten. 

4. Objekterkennen: erhalten. 

5. Spontanes Schreiben: erhalten, aber Paragra- 
phie. 

6. Diktatschreiben: erhalten, aber verständnislos. 

Ätiologie der Aphasien: 

a. Funktioneile: Schreck (Hysterie), reflektorisch 
(Würmer bei Kindern), Migräne, Erschöpfungs- 

zustände. 

b. Toxische: akute Infektionskrankheiten (Pneu- 
monie, Typhus, Scarlatina), Urämie, Carcinoma- 

tose, Santoninvergiftung. 

c. Organische: Blutung, thrombotische oder em- 



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~ 87 — 

bolische Erweichung, Abszeß, Tumor, Encepha- 
litis, Meningitis tuberculosa, Trauma. 

Verlauf: Ist die Schädigung der Zentren nicht zu 
groß, dann bilden sich die Aphasien zurück ; der Wort- 
schatz bleibt meist gestört. Viele Kranken haben trotz 
Sprachunfähigkeit: .Sprechdrang. Sie wiederholen per- 
severatorisch die noch erhaltenen Laute und Sätze (Lo- 
gorrhoe). 

IV. Störmigeii der Schrift. 

1. Unter Af^raphie versteht man die Unfähigkeit zu 
schreiben hei erhaltener Beweglichkeit des Armes. 
Sie findet sich bei den verschiedenen Aphasien. 

2. Man unterscheidet bei Störungen der Schreibbe- 
wegung: 

a. die ataktische Schrift: Die Buchstaben sind 
verschieden groß, Rundung und Richtung sind 
gestört: bei allen Koordinationsstürungen des 
Armes, 

b. die Zitterschrift: bei Tremor, 

c. die paralytische Sehrift (bei progressiver Para- 
lyse). Die Schriftzüge sind un(3rdentlich, zit- 
ternd und unsicher; Wörter und Buchstaben 
werden ausgelassen; im späten Stadium nur 
noch unleserliches Gekritzel. 

d. Graphospasmus (Schreibkrampf) ; es ist die Un- 
fähigkeit länger zu schreiben. Die Schrift ist 
ausfahrend, zeigt Zitterbewegung und krampf- 
hafte Rundung. 

Prognose: richtet sich nach dem Grundleiden. Bei 
jugendlichen Personen kann die rechte Hemisphäre für 
die zerstörte linke allmählich die zentralen Sprach- 
funktionen übernehmen. 

Therapie: richtet sich nacli dem Grundleiden; im 
übrigen methodische Sprachübungen. 



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B. Spezieller Teil 



Die ZlrknlaflonsstSnuigeii im OeUriL 

a. Die akute Hirnanämie, Synkope 
(Ohnmachtsanfall) . 

Ätiolos^e: 

1. Schnell eintretende Blutleere des Gehirns: Blut- 
verluste, Ableitung des Blutes nach anderen Or- 
ganen (Sturzgeburten, plötzliche Entleerung eines 
Ascites). 

2. Hemmung der Blutzufuhr zum Gehirn : durch akute 

Herzschwäche. 

3. Krampf der kleinen Hirnarterien: durch Schreck, 
Schmerz, schlechte Luft etc. 

Symptome: 

1. Anfänglich Bewußtseinstrübung Schwarzwerden 
vor den Augen*'), dann Bewußtlosigkeit. 

2. Haut blaß und kalt, oft schweißbedeckt. 

3. Puls klein, beschleunigt. 

4. Häufig Erbrechen. 

Dauer: von einigen Minuten bis zu einer Stundo. 

Prognose: im allgemeinen günstig. Ein ungünstiges 
Zeichen sind allgemeine Konvulsionen, Lichtstarre der 
Pupillen bei völliger Erweiterung. Selten Tod bei hoch- 
gradiger psychischer Erregung. 

Therapie: 

1. Sofortige Horizontallagerung des Patienten mit 
tiefliegendem Kopfe. 



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— 89 — 

Bei höheren Graden: 

2. Ein Wicklung der Extremitäten von unten nach 
oben. 

3. Hautreize: Besprengen mit kaltem Wasser, Fara- 
disation etc. 

4. Excitantien: Kognak, Äther, Kampfer. 

5. Einatmung von Amylnitrit, Essig etc. 

b. Die chronische Hirnanämie. 

Ätiologie: Chlorose, perniziöse Anämie, Leuk- 
ämie etc. 

Symptome: Kopfschmerz, Schläfrigkeit mit häufi- 
gem Gähnen, rasche Ermüdbarkeit, Ohrensausen, 
Schwindelanfälle, manchmal Schlaflosigkeit. Oft tre- 
ten die Symptome besonders morgens nach dem Auf- 
stehen auf. 

Prognose: richtet sich nach dem Grundleiden. 
Therapie: richtet sich nach dem Grundleiden. 

c. Die akute Gehirnhyperämie. 

Ätiologie: 

1. Psychische Erregungen: Zorn etc. 

2. Klimakterium: klimakterische Wallungen. 

3. Neurosen: Hysterie, Neurasthenie. 

4. Enge Halsbekleidung. 

Symptome: Plötzliches Hoißwerdon des Gesichtes, 
Gesiclit und Hals stark gerötet, Kopfschmerz, Schwin- 
del, seltener Erbrechen, in schweren Fällen Bewußtseins- 
störungen. 

Prognose: günstig. Dauer Y2 — ^ Stunde. Sehr 
selten Tod. 

Therapie: 

1. Hochlagerung des Oberkörpers. 

2. Eisblase auf den Kopf. 



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- 90 - 



3. Ableitung auf die Haut (heiße Hand- und Fuß- 
bäder, Senfteig). 

4. Ableitung auf den Darm (Kalomel, Bitterwässer 

etc.). 

5. Blutentziehung: Schröpiköpfe, Aderlaß. 

Haemorrhagla (Apoplexia) cerebri» Hirnblutung. 

Ätiologie: Ruptur eines Gefäßes infolge Erkranlcung 
seiner Wand durch Arteriosklerose oder syphili- 
tische Endarteriitis. Der Ruptur geht eine miliare 
Aneurysmenbildung voraus. Als auslösendes Moment 
wirkt oft eine vorübergehende Blutdrucksteigerung 
durch Muskelanstrengun^, opulente Mahlzeit, Defä- 
kation etc. Begünstigt wird die Entstehung einer Hirn- 
blutung durch dauernde Blutdrucksteigerung infolge 
Hypertrophie des linken Ventrikels bei chro- 
nischer Nephritis. Bevorzugt sind ältere Leute 
männlichen Geschlechts. Bei vereinzelten Apoplexien 
bei jugendlichen PfM'sorien handelt es sich nach den mo- 
dernsten Anschauungen um eine primäre, angeborene 
Blutdriicksteigerung (Hypertonie) mit sekundärer Ver- 
änderung kleinster Gefäße. 

Traumen können eine Apoplexie veranlassen, 
ohne den Schädel selbst zu verletzen. 

Pathologische Anatomie: Der Blutherd sieht je 
nach dem Alter verschieden aus; frisch ist er dunkelrot, 
er geht erst später in schwarz, braun und gelb bis blaß- 
gelb über. Mikroskopisch sieht man zahlreiche rote 
Blutkörperchen und einen Detritus zerfallener Ner- 
venelemente. Dieser Detritus wird allmählich von 
Körnchen Zellen aufgenommen. Schließlich bleibt eine 
Narbe aus gewuchertem Gliagewebc oder eine apo- 
plektisclie Cyste mit serösem Inhalt und gliöser Wan- 
dung zurück. 

Sits des Blutherdes: Bevorzugt ist das Corpus 
striatum, speziell die Capsula interna. In Betracht 



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91 - 

kommt hier ein Ast der Arteria fossae Sylvii, die 
Arteria strio-lenticularis, welche Streifenkörper und 
Linsenkern versorgt. Begünstigt wird die Blutung 
durch den rechtwinkligen Ursprung der Arterie und 
dadurch, daß sie Endarterie ist. 

Symptome: 

a. Der apoplektische Insult (Schlaganfall): Die frische 
Hemiplegie zeigt schlaffe L&hmung mit Aufhe- 
bung aller Reflexe (Spasmen entwickeln sich 
später). 

1. Der Kranke stürzt plötzlich bewußtlos zu Boden. 

2. Das apoplektische Koma: Bewußtlosigkeit; 
willkOrliche Bewegungen sowie alle Empfin- 
dungen sind aufgehoben; Harn und Kot werden 
unwillkürlich entleert; der Puls ist gespannt 
und voll. Oft findet sich konjugierte De- 
viation (S. 36). Der Mundwinkel hängt herab. 
Dieser Zustand dauert einige Stunden bis zwei 
Tage. 

b. ResMerender Zustand: 

1. Spastische Hemiplegie der Extremitäten, 
des Facialis und Hypoglossus der dem Blut- 
herde entgegengesetzten Körperhälfte: Steige- 
rung der Sehnenphänomene. Von der Läh- 
mung wird nur der untere Teil der Facialismus- 
kulatur betroffen (verstrichene Gesichtsfalten). 
Die Zunge weicht beim Hervorstrecken nach 
der gelahmten Seite ab. Die Hautreflexe 
sind eigentümlicherweise meist aufgehoben; 
häufig Babinski und Oppenheim. 

2. Sekundäre Kontrakturen: Beugekontrak- 
tur des Armes und der Finger, Streckkontrak- 
tur des Beines; Spitzfußstellung. Infolge der- 
selben beschreibt der Patient beim Gehen meist 
mit dem Fuße einen Halbbogen: Girkumduk- 
tion (S. 10). 



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— 92 — 



c. Begleiterscheinungen: Sitzt der Herd nahe 
der Binde» so zeigen sich meist motorische 
Reizerscheinungen, und zwar sowohl während 
des Insultes als auch während der Narhenbildung 
(postapoplektisch) : 

1. Die Jacksonsche Epilepsie: Beginn mit Par- 
ästhesien, dann halbseitige tonische und klo- 
nische Krämpfe, welche jedoch nicht gleich- 
zeitig die gelähmte Körperhälfte befallen, son- 
dern hintereinander erst die Facialis-, dann die 
Arm- und zuletzt die Beinmuskulatur oder auch 
in umgekehrter Reihenfolge, gemäfi der Lokali- 
sation in der Zentralwindung. Diese postapo- 
plektische Rindenepilepsie verläuft meist ohne 
Bewußtseinsverlust. Sprachstörung bei rechts- 
seitigem Sitz. 

2. Die Hemichorca postapoplcctica: tritt besonders 
auf, wenn außer der Rinde auch die Verbin- 

^ dungsbahn zwischen Cerebellum und Thalamus 
opticus beteiligt ist. Es handelt sich um un- 
willkürliche, schleudernde und 'zappelnde Be- 
wegungen in den Gliedmaßen der betroffenen 
Körperhälfte. 

3. Die Hemiathetosis postapoplcctica: unwillkür- 
liche, langsame Bewegungen (Knetbewegungen) 
der Finger und Zehen. Auch die Hemiathetosis 
deutet auf Erkrankung des oben erwähnten 
Faser zuges. 

Verlauf: Der apoplektische Insult kann tödlich 
enden, so daß der Patient aus dorn bewußtlosen Zu- 
stande nie melir erwacht. Oft kehrt das Bewußtsein 
wieder, schwindet aber wieder durch eine erneute Blu- 
tung. 

Die Lähmung besitzt anfangs stets einen größeren 
Umfang als später, vielleicht, weil die unverletzte Hemi- 
sphäre teilweise vikariierend eintritt. Defekte, welche 



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— 93 — 



sich nach dreiviertel Jahren noch nicht ausgeglichen 
haben, bleiben meist dauernd bestehen. 

Bifferentialdiagnmie: 

1. Gegen Embolie einer Hirnarterie: es besteht 
meist ein Herzfehler. 

2. Gegen Thrombose: Hier erfolgt der Eintritt 
des Insultes mehr subakut, vorübergehende Schwä- 
chezustände gehen voraus. Die Grundlage der 
Thrombose ist meist syphilitische Endarteriitis. 

3. Gegen die apoplektiformen Anfälle bei multip- 
ler Sklerose (S. 71) und Dementia para- 
Ivtica: hier müssen die Anamnese und der wei- 
tere Verlauf entscheiden. 

4. Gegen akute Morphium Intoxikation: die Pu- 
pillen sind ad maximum verengt. 

0. Gegen das urämische Koma: bei beiden Affek- 
tionen ist Albuminurie vorhanden. Diese ent- 
scheidet also nicht. Für Urämie sprechen Üdeme, 
Konvulsionen, Amaurose, Erbrechen etc. 

6. Gegen hysterische Schlaf zustände: die Re- 
flexe sind erhalten, Babinski fehlt. Die hysteri- 
sche Hemiplegie verschont das Facialis- und 
Hypoglossusgebiet, C^remaster- und Bauchrefiex 
sind meist erhalten, beim Gehen wird das Bein 
einfach (ohne Zirkumduktion) nachgezogen. Außer- 
dem finden sich meist noch andere hysterische 
Zeichen. 

Prognose: Eine ungünstige Vorbedeutung haljca 
laiigdauerndes Koma, beträchtliches Absinken oder 
Steigerung der Temperatur. Im übrigen vgl. Verlauf. 

Therapie: Im Insult wird der Kranke vorsichtig in 
horizontale Lage mit leicht erhöhtem Kopfe gebracht 
unter Vermeidung eines längeren Transportes. Bei 
kräftigem Pulse Aderlaß. Eisblase. Sorge für regel- 
mäßige Stuhlentleerung; Verhütung von Decubitus. 

Gegen die restierende Hemiplegie: nach Ab- 



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— 94 — 

lauf einiger Wochen passive Bewegungen, Elektrizität, 
Massage etc. 

Tumor cerebri. 

Ätiologie: unbekannt. Das Trauma soll eine Rolle 
spielen. 

Pathologische Anatomie: Die häufigsten Geschwulst- 
arten des Gehirns sind: 

1. das Gliom: langsames, infiltratives Wachstum; 
meist in der Einzahl; 

2. das Sarkom: entwickelt sich meist von den Me- 
ningen und vom Schädel aus; es wächst rasch; 
meist in der Einzahl; 

3. das Syphilom (Gummigeschwulst): geht meist 
von den weichen Hirnhäuten aus; sprunghaftes 
Wachstum mit regressiven Metamorphosen; meist 
in der Mehrzahl. 

4. der Solitärtuberkel: bevorzugt Hirnrinde, 
Brücke und Kleinhirn; meist in der Mehrzahl; 
Wachstum verschieden rasch; 

5. das metastatische Garcinom (primäres Gar- 
einem meist in der Mamma, den Lungen): wächst 
sehr schnell; oft multipel; 

6. Gysticerken und Echinokokken. 

7. Hypophysengeschwülste. Meist Adenome. 

Einfluß des Tumors auf das Gehirn: Die 
Gyri werden abgeplattet, die Sulci verstreichen. Tu- 
moren des Ivleinliirns und der Vierhügelgegend bewirken 
Kompression tler Vena magna Galeni, dadurch ve- 
nöse Stauung und vermehrte Transsudation in die Ven- 
trikel: Hydrocephalus internus acquisitus.. 

Symptome: 

a. Die Symptome der allgemeinen Himdraeksteige- 
ning: 

1. Kopfschmerz: Äußerst heftig und anhaltend; 



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— 95 — 

manchmal ist der Schädel in der Gegend des 
Tumors beim Beklopfen empfindlich. 

2. Stauungspapille: meist doppelseitig; oft geht 

ihr eine Neuritis optica voraus. 

3. Druckempfindlichkeit der Trigeminus- 
austrittsstellen. 

4. Erbrechen und Schwindel: besonders bei 
Tumoren der hinteren Schädelgrube. 

5. Bradykardie (Pulsverlangsamung). 

6. Benommenheit und psychische Stö- 
rungen. 

7. Echte epileptische Anfälle. 

b. Herdsymptome: 

1. Jacksonsche Rindenepilepsie: bei Tu- 
moren, welche die Hirnrinde beteiligen. 

2. Monoplegien: bei ebensolchen Tumoren. 

3. Hemiplegie: bei Beteiligung der Capsula in- 
terna. 

4. Hemiplegia alternans: bei Beteiligung eines 

Hirnschenkels. 

5. Aphasion: bei Beteiligung des linken Stirn- 
resp. Schläfenlappens. 

6. Störungen der Stereognose: bei Beteili- 
gung der hinteren Zentralwindung. 

7. CJerebellare Ataxie: bei Sitz im Kleinhirn. 

8. Hemichorea und Hemiathetose: bei Be- 
teiligung der großen Gehirnganglien. 

d. Nackenstarre und Genickschmerzen: bei 
Kleinhimtumor. 

10. Beteiligung der Gehirnnerven: bei ba- 
salem Sitz. 

Verlauf: chronisch, Dauer 1—4 Jahre. Oft bleiben 
die Tumoren lange latent, besonders bei Sitz im Stirn- 



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— 96 — 



läppen. Durch Blutung in den Tumor (Ix.'sonders bei 
Gliom) kann eine apoplexieähnliche Verschlimmerung 
eintreten. Alhnählich nimmt die Somnoienz bis zum 
tödlichen Koma zu. 

Differentialdiagnose hat zu berücksichtigen: De- 
mentia paralytica, multiple Sklerose, Hirnabszeß, um- 
schriebene Meningitis. Die Unterscheidung ist meist 
leicht. Wassermannsche Reaktion! 

Prognose: ungünstig; nur bei den syphilitischen 
Geschwülsten relativ günstig. Spontanheilung ist bei 
Echinokokkus möglich. 

Therapie: In jedem Falle antisyphilitische The- 
rapie: Schmierkur (4 — 6 g pro die) und Jodkalium; 
bei negativem Erfolge und peripherem Sitze ist eine 
Operation in Erwägung zu ziehen. Zur Druckent- 
lastung bei inoperablen Tumoren: 

1. Lumbalpunktion kann lebensgefährlich werden bei 
gering dauerndem Erfolg; desgl. Ventrikelpunk- 
tion. 

2. ßalkenstich nach Anton-Bramann bewirkt 
vorübergehende Milderung der Himdruckerschei- 

nungen. 

3. Entlastungstrepanation unter dem M. temporalis 
oder unterhalb des Kleinhirns. 

Gegen den Kopfschmerz Narkotika (Morphium etc.), 
Ableitung auf den Darm, heiße Fußbäder etc. 

Der Hirnabsceß. 

Ätiologie: 

1. traumatisch: von einer infizierten Schädel- 
wunde aus. 

2. otitisch: im Anschluß an Mittelohreiterung oder 
an Eiterung (Karies) im Warzenfortsatz des Schlä- 
fenbeins; die Verschleppung der Eitererreger nach 
dem Gehirn vermittem Lymphbahnen, throm- 



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97 — 



bosierte Venen oder die Scheiden der basalen Hirn- 
nerven. 

3. rhinogen: bei Eiterung in der Nasenhöhle^ oder 
deren Nebenhöhlen; die Verischleppiing geschieht 
ebenso wie bei der otitischen Genese. 

4. metastatische (embolisch^ durch die arterielle 
Blutbahn): bei putrider Bronchitis, Lungenabszeß, 
Endocarditis ulcerosa. 

Pathologische Anatomie: 

1. Zahl und Größe der Eiterherde: die traumatisclien,' 
otitischen und rhinogenen Abszesse sind meist soli- 
tär und groß; die metastatischen multipel und 
klein. 

2. Sitz der Eiterherde : die traumatischen sitzen meist 
in der Nähe der Verletzung, die otitischen im 
Schläfen läppen oder im Kleinhirn, die rhinogenen 
im Stirnlappen, die metastatischen im Gebiet der 
Arteria fossae Sylvii. 

3. Beschaffenheit der Eiterherde: Im Eiter findet sich 
der Streptococcus und Staphyloccoccus })yogcnes, 
der Tuberkelbazilhis, der Pneumococcus und an- 
dere. In der Umgebung frischer Herde findet sich 
gelbes Ödem, ältere Herde können sich ab- 
kapseln. 

Symptome: 

a. Allgemeinsymptome: 

1. Fieber: in vielen, besonders akuten Fällen. 

2. Schüttelfröste. 

b. Hirndrucksymptome (vgl. S. 94): Kopf- 
schmerz, Erbrechen, wirkliche Stauungspapille 
selten etc. 

c. Herdsymptome (vgl. S. 95). 

Verlauf: sehr verschieden ; manchmal in kurzer Zeit 
tödlich; oft findet sich ein monate- oder jahrelanges 
Latenzstadium : schließlich erfolgt der todbringende 

Mayer, Com^udium 4e( Keiuologie. 3.-5. Aufl. 7 



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- 98 - 



Durchbrach in die Gehirnventrikel oder in die Me- 
ningen. 

Differentlaldia^ose : 

1. Gegen Hirntumor: Für Abszeß sprechen Fieber, 
Schüttelfröste und das Bestehen der besagten 
ätiologischen Momente (Otitis etc.); Stauungs- 
papille seltener als bei Tumor. 

2. Gegen Meningitis purulenta (vgl. S 106). 

Prognose: im ganzen ungünstig. Nicht selten 
bringt die Operation (Trepanation) Heilung; sonst töd- 
licher Ausgang. 

Therapie: Wenn möglich, Entleerung des Eiters 
durch chirurgische Maßnahmen; sonst wie beim Hirn- 
tumor (vgl. S 94). 

Der idiopathische Hydrocephalus. 

Der Wasserkopf. 

Ätiologie: unbekannt; meist angeboren. Syphilis 
und Alkoholismus der Eltern spielen vielleicht eine Rolle. 

Pafhologisehe Anatomie: 

1. Ansammlung zu großer Mengen von Cerebrospinal- 
flüssigkeit in den Himventrikeln (Hydrocephalus * 
internus) und im Subarachnoidalraum (Hydroce- 
phalus externus). 

2. Infolge des Drucks starke Verdünnung der Hirn- 
Substanz, Abplattung der Gyri und Sulci. 

3. Schädelumfang enorm vermehrt; Schädelknochen 
verdünnt. Nähte und Fontanellen erweitert und 
abnorm lange offen. Prominenz der Stirn- und 
Scheitelbeine, Herabdrängung des Orbitaldaches 
und der Augen. 

Symptome: 

1. Perkussion: Schettern. Druckempfindlichkeit der 

Nähte. 

2, Die Veränderungen des Schädels (s. oben). 



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— 99 — 



3. Cerebrale Symptome: geistige Schwäche (Idiotie, 
Imbecülitftt); spastische Lähmungen; manchmal 
Stauungspapille oder Neuritis optica; seltener Er- 
brechen und Konvulsionen. 

4. Sonstige körperliche Symptome: Stillstand des 
Wachstums, Fettsucht, Zurückbleiben der Geni- 
talentwicklung; sie alle sind bedingt durch Hypo- 
physenpressung. 

Verlauf: Der Hydrocephalus kann schon intra- 
uterin bestehen und dann ein schweres Geburtshindernis 
abgeben. Oder er entwickelt sich in den ersten Wochen 
und Monaten nach der Geburt. Der Tod erfolgt in der 
frühesten Kindheit, es kann aber auch ein ^ter von 
2 — 3 Dezennien erreicht werden. 

Diff erentialdiaguose : 

1. gegen Rachitis: hier fehlen Hirnsymptoine ; 

2. gegen sog. erworbenen Hydrocephalus (durch Tu- 
mor, Meningitis etc.). 

Prognose; schlecht. 

Therapie: Punktion der Hirnventrikel und Lumbal- 
punktion bringen vorübergehenden Erfolg. Im übrigen 
Ableitung auf die Haut (Jodtinktur) und auf den Darm 
(Kalomel). 

Hemiplesria siiastica infantilis. 
Cerebrale Kinderlähmung. 

Ätiologie: 

1. Kongenital: intrauterin bestehend oder durch Ge- 
burtstrauma herbeigeführt. 

2. Infektionskrankheiten: besonders Masern und 
Scharlach; in diesen Fällen entsteht die Affektion 
durch Encephalitis (Gehirnentzündung), nieist im 
1. — 4. Lebensjahre. 

Pathologische Anatomie: 
a. In frischen Fällen (Sitz in der motorischen Zone): 

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100 — 



1. Hämorrhagien (nach Geburtstraumen). 

2. Embolische und thrombotische Erweichungen. 

3. Encephalitische Herde der Rinde. 

b. In älteren Fällen (Restierende Veränderungen): 

1. Narben aus Gliagewebe. 

2. Cysten (vgl. S. 90). 

3. Poren cep ha lie: lochartige Rindendefekte. 

4. Diffuse lob äre Sklerose: Atrophie und gliöse 
Induration einer ganzen Gehirnhemisphäre oder 
mehrerer Gyri. 

5. Absteigende Degeneration der Pyramidenbahn. 

Symptome: 

a. Initialstadium bei infektiöser Grundlage 
(Dauer: ein bis mehrere Tage): Fieber, Erbrechen, 
Konvulsionen. 

b. Bleibender Zustand: 

1. Hemiplegie: anfangs schlaff, später spa- 
stisch; in Gesicht, Arm und Bein. 

2. Motorische Reizerscheinungen: Kloni- 
sche Zuckungen, athetotische Bewegungen in 
Fingern und Zehen (vgl. S. 92). 

3. Intelligenzdefekte (ImbecilUtät etc;). 

4. Echte Epilepsie (vgl. S. 126) und Rinden - 
epilepsie (vgl. S. 92). 

Verlauf: Nachdem die Konvulsionen einige Tage 
gedauert haben, bildet sich die halbseitige Lähmung aus; 
nach einigen Wochen kann die Beweglichkeit im Bein 
bis zu gewissem Grade wiederkehren. Später stellen 
sich häufig Kontrakturen ein, verbunden mit Wachs- 
tumsstörungen. Die epileptischen Anfälle schließen sich 
gewöhnlich nach einem Jahre an. 

Dif f erentialdiaguose : 

1. Gegen Poliomyelitis anterior acuta: hier 
ist die Lähmung nicht spastisrh, sondern degene- 
rativ-atrophisch; der Facialis ist nie beteiligt. 



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— 101 — 



2. Gegen andere Hemiplegien (apoplektische etc.): 
durch die Anamnese. 

Prognose: nicht ungünstig. Es kann ein sehr hohes 
Alter erreicht werden. 

Therapie: Im Initialstadium Eisblase auf den Kopf, 
Antipyretica; später Elektrizität, passive Bewegungen, 
Massage, Übungstherapie. 

Diplegia spastica infantilis, 
Ätiologie: 

1. Frühgeburt mit fortdauernder Entwicklungshem- 
mung der Pyramidenbahnen: Littlesche Krankheit. 

2. Geburtstraumen, welche doppelseitige Meningeal- 
bhitungen verursachen: Gowerssche Lähmung« 

3. Doppelseitige encephalitische Prozesse. 

Pathologische Anatomie: wie hei der Hemiplegia 
spastica infantilis, nur doppelseitig. 

Symptome: 

1. Spastische Paraparese oder Paraplegie der Beine 
und der Arme, manchmal nur der Beine. Charak- 
teristische Beinstellung: Spitzfußstellung, an- 
einander adduzierte Oberschenkel. 

2. Choreatische und athetotische Bewegungen. 

3. Intelligenzdefekte. 

Differentialdiagnose, Prognose, Therapie vgl. spa- 
stische Spinalparalyse. Eventuell kann die Durch- 
schneidung hinterer Rücken markswurzeln versucht 
werden (Foerstersche Operation). 

Die progressive Bulbärparalyse. 

Ätiologie: unbekannt; Beginn im 5. und 6. De- 
zennium. 

Pathologische Anatomie: Degeneration der bei- 
derseitigen motorischen Hirnnervenkerne in 
der MeduUa oblongata (= Bulbus) und im Pens, 



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— 102 — 

also der Kerne des Facialb^ Glossopharyngeus, Vago- 
accessorius und des Hypoglossus, seltener des motori- 
schen Trigeminus. Die Erkrankung ist demnach das 
Analogon zur progressiven spinalen Muskel- 
atrophie (vgl. S. 54), yrie ja auch die Hirnnervenkerne 
den Vorderhornganglien entsprechen. 

Die Symptome: sind diejenigen einer symmetrischen 
degenerativ-atrophischen Lähmung der Zungen-, 
Gaumen-, Schlund-, Kehlkopf- und Lippenmuskulatur. 

a. Die Lähmung der Zungenmuskulatur be- 
wirkt : 

1. Atrophie und mangelhafte Beweglichkeit der 

Zunge. 

2. Sprachstörung (Dysarthrie und schließlich An- 
arthrie): die Worte werden undeutlich und ver- 
waschen ausgesprochen, da die Zungenlaute (r, 
g, t etc.) k^iden. 

3. Mangelhaftes Schlucken und Kauen. 

b. Die Lähmung des Gaumensegels bewirkt: 

1. Herabhängen des Gaumensegels und dadurch 
mangelhaften Abschluß des Nasenrachenrau- 
mes; daher regurgitieren Flfissigkeiten beim 
Schlucken durch die Nase. 

2. Näselnde Sprache. 

c. Die Lähmung der Schlundmuskulatur be- 
wirkt: Schlingbeschwerden (Dysphagie), es kann 
zu Fehlschlucken und in dessen Gefolge zuSchluck- 
pneumonie konnnen. 

d. Die Lähmung der Kehlkopfmuskulatur be- 
wirkt: Stimmbandlähmung und dadurch Heiser- 
keit und Aphonie; durcli Unfähigkeit des Glottis- 
verschlusses Störungen beim kräftigen Husten; 
Aspiriertes kann nicht ausgeworfen werden. 

e. Die Lähmung der Facialismuskulatur, und 
zwar meist nur der unteren, bewirkt: 



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- 103 - 



1. Atrophie der Lippen. 

2. Maskenartigen Gesichtsausdruck. 

3. Unmöglichkeit des Pfeifens, Mündspitzens etc. 

4. Abfließen des Mundspeichels. 

5. Mangelhafte Bildung der Labiallaute (p, f und 
0, e, u etc.). 

f. Zunahme der Pulsfrequenz (vgl. S. 82). 

Verlauf: langsam progressiv; Dauer 1 — 3 Jahre. 
Beginn mit Artikulationsstörungen. Tod durch Inani- 
tion, Schluckpneumonie oder Asphyxie (terminale Va- 
guslähmung). 

Ditterentialdiagnose: 

1. Hämorrhagien, »Thrombosen etc. der Medulla füh- 
ren auch zu bulbären Erscheinungen, beginnen 
jedoch akut und befallen die langen Bahnen. 

2. Tumoren machen meist außer Sensibilitätsstö- 
rungen, Augenmuskel- und Extremitätenläh- 
mungen. 

Prognose: ungünstig. 
Therapie : 

1. Gegen den Spoichelfluß Atropin (0,0005 g); 

2. gegen die Schlinglähmiing galvanische Aiishksung 
von Schluekbewegungen ; eventuell Ernährung 
durch die Schlundsonde. 

Lues eerebrl. 

M e Ii i ü g o e n r e p h a 1 i t i s syphilitica. 

Ätiologie: konstitutionelle Syphilis: Auftreten meist 
innerhalb der ersten fünf Jahre nach der Infektion. 

Pathologische Anatomie: 

1. Endarteriitis syphilitica, besonders an den 
basalen Hirnarterien; als Folgeerscheinung Er- 
weichungen in der Hirnsubstanz (Encephaloma- 

lacie). 

2. Syphilome (Gummigeschwülste) im Hemisphä- 
renmarke. 



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- 104 



3. Gummöse Meningitis, meist an der Basis 
cerebri, manchmal aber auch an der Konvexität. 
Die sulzigen Schwarten ziehen mit Vorliebe das 
Chiasma opticum und die Augenmuskelneryen in 
Mitleidenschaft; öfters Übergreifen der Entzün- 
dung auf das Gehirn. 

Die Symptome sind durch ihre Unbeständigkeit 
ausgezeichnet. 

a. Allgemeinsymptome (Driicksymptome): 

1. Kopfschmerz mit nächtlicher Exacerbation, 

2. Erbrechen, Schwindel und Bewußtseinsstö- 
rungen. 

b. Herdsymptome: 

1. bei basaler gummöser Meningitis: Lähmung ba- 
saler Himnerven, besonders der Augenmuskel- 
nerven (vgl. S. 35—37): Pupillenstörungen, Pu- 
pillenstarre auf lichteinfall und Konvergenz, 
bitemporale Hemianopsie (Ghiasmaer- 
krankung), Strabismus, Amblyopie etc. Oph- 
thalmoskopisch häufig Neuritis optica und 
Stauungspapille. 

2. Bei Ergriffensein der Gehirnkonvexität : Rinden- 
epilepsie, Monopl^e, Hemiplegie, Aphasie etc. 

3. bei Endarteriitis syphUitica: häufige Insulte mit 
Hemiplegien (plötzliche Gefäßverstopfung). 

c. Psychische Symptome sind meist vorhanden: In 
telligenzdefekte, Unlust und Unfähigkeit zu an- 
strengender Denktätigkeit, Reizbarkeit. 

Verlauf: Chronisch; mit Remissionen und Exacer- 
bationen. Manchmal plötzliche Verschlimmerung, die 
zu Koma und Tod führt. Meist besteht Komplikation 
mit Myelomeningitis luetica (vgl. S. 73). 

Ditferentialdiagnose: Der Nachweis von Luesre- 
siduen und der Ausfall der serologischen Untersuchung 
(vgl. S. 74) sind wichtig. 



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105 - 



1. Gegen echte Tumoren; hierbei sind die Symptome 
konstant, meist Stauungspapille. 

2. Gegen progressive Paralyse. Sie führt zum voll- 
ständigen Zerfall der Persönlichkeit. Die Lues 
cerebri hat keine Sprachstörungen. 

Prognose: nicht ungünstig, besonders bei recht- 
zeitiger Therapie. Bestehen nur spezifische Verände- 
rungen und noch keine Folgezustände (Atrophie, Er- 
weichung etc.), so ist völlige Heilung möglich. Die Nei- 
gung des Leidens zu Rückfällen trübt die Prognose. 

Therapie: antisyphilitisch; Jodkali und Schmierkur. 
Im übrigen Elektrizität, Massage, Hydro-, Balneothera- 
pie etc. Über Salvarsantherapie vgl. S. 75. 

Pachymenlngitis haemorrhagrica interna. 

Ätiologie: Alcoholismus chronicus, Dementia 
paralytica und senilis, haeniorrhagische Diathese, chro- 
nische Herz- und Nierenaffektionen. Männer erkranken 
häufiger als Frauen. 

Pathologische Anatomie: Auf der Innenfläche der 
Dura befinden sich geschichtete Membranen, die 
jüngsten (zu innerst) sind noch fibrinös, de älteren 
aus derbem Bindegewebe. Zwischen den Lamellen be- 
finden sich Bhitsäcke, Durhaematome, wx^che die 
Größe einer Faust erreichen können; sie sitzen meist 
an der Konvexität. Das Gehirn ist komprimiert. 

Symptome: 

1. Apoplektischer Insult: bei raschem Bluterguß. 

2. Motorische Reizerscheinungen: bei langsamem 
Bluterguß; epile{)tische Krämpfe etc. 

3. Lähmungen: Hemiparesen, Deviation conjuguee 
etc. 

4. Drucksymptome: Kopfschmerz, Schwindel, Er- 
brechen. 

Verlauf: Das Koma kann plötzlich oder allmählirli 
eintreten ; oft hellt es sich auf, um sich bald wieder zu 



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- 106 - 

vertiefen. Der Tod tritt in kurzer Zeit oder auch nach 
längerem Bestehen ein; er kann in jedem Anfall er- 
fol^n. Rezidive sind häufig. 

Difterentialdiagnose: gegen Apoplexie (vgl. S. 90) 
häufig unmöglich; nur die Wiederholung der Anfälle 
spricht für Pachymeningitis. 

Prognose: vgl. Verlauf. 

Therapie: wie bei Apoplexie (vgl. S. 93); eventuell 
operative Entfernung des Hämatoms. 

Leptomeningitis acuta. 
Die akute Entzündung der weichen Hirnhäute. 

Wir müssen drei Formen unterscheiden: 

1. Leptomeningitis acuta purulenta. 

2. Meningitis cerebrospinalis epidemica. 

3. Meningitis tuberculosa. 

Ätiologie: 

a. Entzündungsherde der Nachbarschaft; die Ver- 
schleppung der Infektionserreger erfolgt direkt, 
durch die Lymphbahn oder die venöse 
Blut bahn (Thrombophlebitis und Sinusthrom- 
bose) : 

1. infizierte S( hädoKvunden; 

2. Erysipel der Kopfhaut; 

3. Otitis purulenta und Karies des Felsenbeins; 

4. Eiterungen in den Nasen-, Augen- und Stirn- 
höhlen; 

5. Hirnabszeß (vgl. S. 96). 

b. Metastatische (arterielle) Verschleppung der 
Entzündungserreger : 

1. Tuberkulose: 

2. akute Infekliün>krankheiten : Pneumonie, Ty- 
phus, ulceröse Endokarditis, Influenza, Pyäniie 
etc. 



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~ 107 - 



c. Primäre Infektion der Meningen: bei der epi- 
demischen Cerebrospinalismeningitis. Die Ein- 
gangspforte bildet meist die Rachentonsille. 

Patbologigehe Anatomie: 

a. Bakterienbefund: In dem Liquor cerebrospinalis 
und dem Exsudat der Meningen finden sich Strep- 
tokokken, Staphylokokken, Pneumokokken, der 
Meningoeoccus intracellularis (besonders bei der 
epidemischen Form) und der Tuberkelbazillus. 

b. Anatomische Veränderungen: 

1. Die tuberkulöse Meningitis:bevor2ugt die 
Gehirnbasis; es findet sich: 

a. Serös-f ibrinöses Exsudat in den weichen Hirn- 
häuten ; 

ß, miliare Tuberkel in der Umgebung der ba- 
salen Hirnarterien und der Arteria fossae 
Sylvii; 

y, entzündlicher Hydrocephalus internus (vgl. 
S. 98) durch Exsudation in die Hirnventrikel. 

(5. öfters zeigt das Gehirn Tuberkel, Hundzellen- 
infiltration, kapillare Blutungen. 

2. Die übrigen Meningitiden : bevorzugen die Kon- 
vexität; es finden sich: 

a. eitriges Exsudat in den weichen Hirnhäuten; 
ß, entzündlicher Hydrocephalus internus. 
y. Ergriffensein der Rückenmarkshäute bei der 
epidemischen Form. 

Symptome: 

a. Initiale Reizerscheinungen (Hirndrucksymp- 
tome) : 

1. Kopfsohmerz und Nackenschruerz. 

2. Bewußtseinstrübung (Delirien etc.). 

3. Erbrechen und Schwindel. 

4. Puls: im Beginn verlangsamt (Vagusreizung), 
später beschleunigt (Vaguslähmung). 



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— 108 — 



5. Die Nackßnstarre und die Starre der übrigen 
Körpermuskulatur (Opisthotonus); Kernig- 
sches Symptom: die gebeugten Unterschenkel 
leisten der passiven Streckung Widerstand. 
Das Abdomen ist ,,kahnförmig eingezogen". 

6. Steigerung der Roflexe. 

7. Hyperästhesie der Haut. 

8. Zuckungen und Konvulsionen (Rindenreizung): 
Tr Ismus (vgl. S. 5), Gesichtszuckungen etc. 

b. Lähmungserscheinungen: 

1. Lähmung basaler Hirnnerven (besonders bei der 
tuberkulösen Form): Augenmuskellähmungen 
{Ptosis, Strabismus, Pupillenstörungen), Fa- 
cialislähmung. 

2. Rindenlähmung: Monoplegien, Hemiplegien, 
Aphasie, Hemianopsie. 

3. Retentio oder Incontinentia urinae et alvi. 

c. Fieber: meist remittierend. 

d. Ophthalmoskopischer Befund: häufig Neu- 
ritis optica; Ghorioidealtuberkel bei tuberkulöser 
Meningitis. 

e. „Cri hydrenc^phalique": plötzliches Aufschreien 
in der Somnolenz bei der kindlichen, tuberkulösen 
Form. 

Verlauf: 

a. Tuberkulöse Meningitis: Beginn meist schiei- 
chend; tagelanges Prodomalstadiiim mit Kopf- 
sciiinerz, Schwindel etc.; später BewuBtseinstrü- 
bung; Dauer meist 2 Wochen; Ausgang fast immer 
tödlich durch Vaguslälimung und Lähmung des 
Atmungszentrums. 

b. Die übrigen Formen: Beginn plötzlich; auf die 
Beiz- folgen schnell die Lähmungserscheinungen. 
Der Tod kann schon nach einigen Stunden ein- 
treten; häufig dauert die Erkrankung zwei Wochen 



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— 109 — 



und länger; besonders die epidemische Form kann 
sich über Monate erstrecken. 

Differentialdiagnose: Für die Differentialdiagnoso 
ist die Lumbalpunktion (Quincke) von besonderer 
Wichtigkeit (vgl. S. 39), da sich in dem durch sie ge- 
wonnenen Liquor cerebrospinalis bei Meningitis reich- 
liche Leukocyten und Bakterien finden. 

a. Unterscheidung von anderen Erkrankungen: 

1. Hirnabszeß; 

2. Typhus und Pneumonie; 

3. Otitis acuta purulenia; 

4. Urämie: hier bestehen Albuminurie, Ödeme etc. 

b. Unterscheidung der einzelnen iMeningitisformen : 

1. Für die epidemische Form sprechen: das Be- 
stehen einer Epidemie, Herpes labialis, früh- 
zeitiges Eintreten der Nackenstarre. 

2. Für die tuberkulöse Form sprechen: schleichen- 
der Beginn, kindliches Alter, basale Hirnnerven- 
lähmung, Chorioidealtuberkel, Tuberkulose an- 
derer Organe. 

3. Für die anderen (sekundären) Formen spricht 
das Bestehen von Entzundu ngsherden ( vgLÄtio- 
logie). 

Prognose: schlecht bei der tuberkulösen und sekun- 
dären Form; bei der epidemischen Form ist Heilung 
nicht selten (50% der Fälle); jedoch bleiben häufig Sch- 
und Hörstörungen, Lähmungen, Intelligenzdefekte etc. 
zurück. 

Therapie: Eisblase auf den Rupf: Ableitung auf 
den Darm; Einreibung von grauer Salbe in die Nacken- 
gegend; Narkotika. Lumbalpunktion schafft vorüber- 
gehende Erleichterung. 

Commotio cerebri. 

Ätiologie: Trauma (Fall auf den Kopf etc.). 
fatholo^che Anatomie: Meist negativer Befund; 



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110 - 



die wichtigsten Theorien zur Erklärung der Erschei- 
nungen sind: 

1. Molekulare Alterationen der Gehimsubstanz. 

2. Mikroskopische Blutungen und Erweichungen in 
der Richtung des Stoßes. 

3. Mäßige Vermehrung des Liquor cerebrospinalis. 

Symptome: 

1. Bewußtlosigkeit. 

2. Erbrechen. 

3. Spontaner Urin- und Stuhlabgang. 

4. Zirkulations- und Respirationsstörungen. 

5. Nach Rückkehr des Bewußtseins: völlige Amnesie 
für die Vorgänge vor (retrograd) und während des 
UnfaUs. 

6. Öfters Albuminurie und Glykosurie. 

Verlauf: Dauer des Komas einige Stunden bis 
2 Tage; in anderen Fällen Tod im Koma. Die Symptome 
klingen allmählich ab. Recht häufig schließen sich 
Kommotionspsychosen und Lähmungen an. 

Differentialdiagnose : 

1. Gegen Gommotio spinalis: hierbei keine Bewußt- 
seinsstörung, häufig Anästhesien und Paraplegien. 

2. Gegen Contusio cerebri (Hirnquetschung): hier 
stehen die Symptome einer lokalen Hirnläsion im 
Vordergrund. 

3. Gegen Chok: man versteht darunter die durch 
heftige Erregung des Nervensystems hervorge- 
brachte Hemmung der Organ- und Gewebsfunktion 
(Gefäßsystem, Atmung etc.) infolge eines mehr 
oder minder heftigen Traumas. Die Erinnerung an 
den Unfall ist erhalten. 

Prognose: Langdauerndes Koma ist ein signum 
mali ominis; sonst quoad vitam nicht ungünstig. 

Therapie: Ruhe, heiße Kataplasmen an die Füße; 
eventuell Kampfer etc. 



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Die Krankheiten der peripiieren Nerven. 



I. Die Neuritis. 
NerrenentzOnduiisr* 

Ätiologie: 

1. Idiopathische oder rheumatische Neuritis: durch 
sogen. Erkältung*'. 

2. Seiiundäre Neuritiden: 

a. Traumatische Neuritis: Direkte Verwundung 
des Nerven, Druck auf den Nerven durch Ge- 
schwülste, Knochenkallus, Halsrippen, Ope- 
rationstisch hei Narkosen, dislozierte Gelenk- 
und Knochcnteilo bei Frakturen und Luxatio- 
nen, wiederholte Komprossion dos Nerven 
(Krückenlähmung, professionelle Paresen hei 
Büglerinnen etc.). 

h. Toxische: 

a. chronische Intoxikationen durch exogene 
Gifte: Blei, Alkohol, Arsenik etc.; hierher ge- 
hört auch die akute Fleischvergiftung (Bo- 
tulismus) : 

ß. Autointoxikationen: Diabetes, Gicht, Ka- 
chexie. 

c. Infektiöse: Diphtherie, Typhus, Influenza, 
Puerperalfieber; die Syphilis erzeugt gummöse 
Infiltration des Nerven. 

Pathologische Anatomie: Die Entzündung kann 
das Peruieurium (Perineuritis)^ das interstitielle Gewebe 



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— 112 — 



(interstitielle Neuritis) und die Nervenfasern selbst 
(parenchymatöse Neuritis) ergreifen. 

a. Perineuritis: Erst Rötung und Schwellung, 
später seröse Transsudation und entzündliche In- 
filtration des Perineuriums. Schließlich erfolgt 
fibröse Induration des Perineuriums, welche zu 
knotenförmigen Auftreibungen des Nerven,- Neu- 
ritis nodosa, führen kann. 

b. Neuritis interstitialis: dieselben Verände- 
rungen im Zwischengewebe des Nerven. 

c. Neuritis parenchymatosa: Degenerative Atro- 
phie des Nerven; sie erfolgt sekundär durch den 
Druck und die Ernährungsstörungen, -welche von 
der Perineuritis und der interstitiellen Neuritis be- 
dingt sind, oder primär. Die Veränderungen sind 
dieselben wie bei der Durchschneidung eines Ner- 
ven: die Markscheide zerfällt in Schollen und Ku- 
geln ; dann quillt uiid zerfällt der Achsenzylinder, 
während die Kerne des Neurilemms sich vermehren. 

Als Regol ist anzusehen: Der motorische Nerv 
erkrankt leichter als der sensible. 

Lokalisation: 

a. Mononeuritis: Neuritis eines einzelnen Nerven. 

b. Polyneuritis oder multiple Neuritis: Neuritis 
melurerer Nerven; je nach der Natur der Noxe 
werd^ verschiedene Nervengebiete betroffen; so 
bevorzugt die Bleilähmung das Radialisgebiet, 
ebenso die Schlaflähmung (beim Rausch oder har- 
ter Unterlage) durch Druck des Nerven gegen den 
Humerus, die Diphtherielähmung die Augenmus- 
keln, die Typhuslähmimg den N. ulnaris etc. 

Symptome: 

a. Sensibilitätsstörungen: 

1. Schmerzen im Verlaufe des Nerven: infolge 
der Erkrankung der Nervi nerygrum im intei"' 
stitieilen Gewebe, 



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— 113 — 

2. Druckemp find lieh keit des Nervenstammes; 
spindelförmige Anschwellungen dos Ner- 
ven sind bei Neuritis nodosa zu palpieren. * 

3. Parästhesien: nur im Beginn. 

4. Hyperästhesien: nur im Beginn. 

5. Hypästhesien und Anästhesien: im wei- 
teren Verlauf; fehlen jedoeli häufig. 

b. Motilitätsstörungen mit den Zeichen der degene- 
rativ - a 1 1' o p h i s c h e n Lähmung: 

1. Paresen und Paralysen mit Muskt^lalropliie. 

2. Sehnen reflexe herabgesetzt oder aufgehuben. 

3. Elektrische Entartungsreaktion. 

c. Trophische Störuns^en der Haut: Herpes zoster, 
Ausfall oder Ergrauen der Haare, Glanzhaut (glossy 
skin), Haarausfall, Nagelveränderungen etc.; je- 
doch nicht häufig. 

d. Koordinationsstörungen (Ataxie): besonders bei 
Polyneuritis. 

e. Selten Respirationsstörungen etc. durch Affek- 
tionen des N. vagus oder phrenicus. 

Verlauf: Die akute Neuritis kann in wenigen Wo- 
chen abheilen ; häufig jedoch geht sie in eine cl^onische 
Neuritis über. 

Prognose: günstig bei akuter Entstehung, rheuma- 
tischer und infektiöser oder toxischer Ätiologie. Ein 
wichtiger Anhaltspunkt für die Prognose ist "der Aus- 
fall der Entartungsreaktion 8 — 14 Tage nach dem 
Krankheitsbeginn: Tritt keine Entartungsreaktion auf, 
so geht die Lähmung sirlier bald zurück; tritt nur par- 
tiello Eutartungsreaktion auf, so dauert die Heilung 
mehrere Wochen; tritt aber komplette Entartungs- 
reaktion auf, so tritt entweder gar keine Heilung ein 
oder sie dauert Monate. 

Therapie: 
a. Kausale Indikationen: 

1. Behebung eines auf den Nerven wirkenden Drucks ; 

Kayor, Crnnpendtiiin def Neniolailo. 8.-4. AvfL 8 



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2. bei toxischer Neuritis : Entziehung des Alkohols, 
Fernhaltung von Blei; 

3. bei rheumatischer Neuritis: Schwitzprodezuren, 
Salizylpräparate. 

4. Bei Diabetes, Gicht: diätetische Maßnahmen. 

b. Allgemeine Maßnahmen: 

1. Ruhigstellung der erkrankten Glieder; 

2. gegen die Schmerzen: Antineuralgica und Mor- 
phium; Galvanisation mit der Anode; 

3. nach einigen Wochen elektrische Behandlung: 
faradische und galvanische Reizung; 

4. Massage, Gymnastik etc. in späteren Stadien; 

5. operative Nervendehnung in ganz veralteten 
Fällen. 

Polyneuritis aleoholica. 

Ätiologie: Chronische Alkoholintoxikation; die 
Neuritis entsteht akut oder subakut im Anschluß an 
ein Delirium tremens oder an eine Erkältung oder In- 
fektionskrankheit des Alkoholikers. 

Symptome : 

a. Sensibilitätsstörungen. 

b. Motilitätsstörungen: 

1. Die Paresen bevorzugen die Beine, seltener die 
Arme; die Füße sind oft in Spitzfufistellung 
(Lähmung der Nervi peronei); an den Armen 
wird meist nur das Radialisgebiet betroffen; 

2. Patellar- und Achillessehnenrefiex herabgesetzt 
oder erloschen; 

3. Eutartungsreaktion. 

c. Koordinationsstörungon : häufig Ataxie Y/ie 
bei Tabes (Pseudotabes alcoholica). 

d. Trophische Störungen: Hyperhidrosis und 
Ödeme an den Beinen sind nicht selten. 

Begleiterscheinungen des Alcoholismus chroni- 
cus; Tr^nior der Hfinde, psychische Störungen, 



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- 115 - 



Verlust der Merkfähigkeit für Begebenheiten der 
allerjüngsten Vergangenheit (polyneuritische Psy- 
chose oder chronischeB Delir), Vomitus matutinus 
etc. 

Terlauf: akut oder subakut; Dauer Wochen bis 
Monate. 

Differentialdiagnose : 

1. gegen Tabes: mit der Tabes hat die alkoholische 
Polyneuritis die Sensibilitätsstörungen, das Fehlen 
der Reflexe und die Ataxie gemein; gegen Tabes 
spricht die motorische Parese, für Tabes 
sprechen Pupillen- und Blasenstörungen ; 

2. gegen Myelitis: hier meist Blasenstörungen. 

Prognose: günstig; meist Heilung, wenn auch 
manchmal mit bleibenden Defekten; Rezidive kommen 
vor ; selten Tod durch Zwerchfellslähmung bei stürmisch 
verlaufenden Ffillen (Landrysche Paralyse). 

Therapie: Entziehung des Alkohols. Elektrizität, 
warme Bäder, Massage etc. 

Blelnenritis. 

Ätiologie: Chronische Bleivergiftung, hauptsächlich 
durch berufliche Tätigkeit (Schriftsetzer, Lackierer etc.). 

Symptome: 

1. Die Sensibilität ist nicht gestört. 

2. Degenerativ-atrophische Lähmungen: 

a. im Gebiet des N. radialis; verschont bleiben 
jedoch die Mm. brachioradialis, supinator und 

triceps; 

b. viel seltener auch an den Beinen (Gebiet des 
N. peroneus). 

3. Begleiterscheinungen: Bleisaum, Bleikolik. 

4. Getüpfelte Erythrocyten im Blut. 

Prognose: günstig. 

Therapie: Jodkali innerlich (1 — 2 g pro die); Schwe- 
lelbäder; Elektrizität, warme Packungen etc. 



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~ 116 - 



Polyneuritis postdiphtlieFica. 

Ätiologie: Diphtherie; die Polyneuritis tritt 2 — 3 
Wochen nach Ablauf der Krankheit auf. 

Symptome: 

1. Sensibilitätsstörungen pflegen zu fehlen. 

2. Motorische Störungen: 

a. Gaumensegellähmung mit ihren Folgeerschei- 
nungen: näselnde Sprache etc. 

b. Augenmuskellähmungen : 

a. Akkommodationslähmung: durch Läh- 
mung des M. ciliaris; Nahesehen erschwert. 

ß. Lähmung äußerer Augenmuskeln, meist nur 
des N. abducens. 

c. Seltener Lähmung der Schlundmuskulatur: 
Schlingbeschwerden. 

b. Extremitätenlähmung, besonders der unteren. 

3. Störungen der Reflexe: der Patellarreflex erlischt 
häufig, ohne daß Lähmung im Gebiet des N. femo- 
ralis zu bestehen braucht. 

Der Botulismus (Wurstvergiftung) kann die- 
selben Erscheinungen machen. 

Prognose: günstig. 

IL Die Neuralgien. 

Ätiologie: fast dieselbe wie bei der Neuritis: 

1. Primär oder rheumatisch. 

2. Sekundär: 

a. Mechanisch: Narben, Periostitis^ Geschwülste» 

Amputationsneurome etc. 

b. Infektiös: besonders Influenza und Malaria; " 
die Syphilis wirkt durch syphilitische Neuritis 
oder durch periostitische Verdickungen in den 
Knochenkanälen, in denen der Nerv verläuft, 
oder durch gummöse Geschwülste. 



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- 117 — 



c. Toxisch: Blei, Quecksilber, Arsenik, Alkohol 

etc. 

d. Konstitutionell: noiiropatliische Konstistu- 
tion (Hysterie etc.), Anämie, Diabetes, Gicht, 
Puerperium etc. 

e. Reflektorisch: bei Retroflexio uteri, Wan- 
derniere, Zahnaffektionen etc. 

Neuralgien treten meistens im mittleren Lebens- 
alter auf. 

Pathologis^e Anatomie: Die Neuralgie ist keine 
funktionelle Erkrankung, wie man früher annahm. Rein 

anatomisch ist eine Grenze zwischen Neuritis und Neu- 
ralgie nicht zu ziehen. Die Neuralgie beruht auf leichter 
Neuritis oder Perineuritis, manchmal wohl auch auf 
Zirkulationsstörungen in einem sensiblen oder gemisch- 
ten Nerven. 

Symptome: 

1. Der neuralgische Schmerz ist ausgezeichnet: 
a, durch sein anfallsweises Auftreten; 

ß, durch seine Heftigkeit; 
y, durch seine Ausbreitung längs eines peripheren 
Nerven. 

2. Die erhöhte Druckempfindlichkeit des Ner- 
ven: besonders an der Austrittsstelle eines Nerven- 
zweiges aus einem Knochenkanal oder einer Fascie, 
Yalleixsche Dmekpmikte. 

3. Reflektorische Begleiterscheinungen: 

a. vasomotorbche (Röte, Blässe der Haut); 
ß. sekretorische (Tränenfluß, Schweißausbruch 
etc.); 

y. motorische (Krämpfe etc.). 

4. Trophische Störungen. 

Verlauf: selten akut, oft monatelang und jahrelang 
mit schmerzfreien Intervallen. 

Differentialdiagnose: 
1. gegen Neuritis: hier findet sich meist degene- 



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-r 118 — 

rative Muskelatrophie, Parese, Hypästhesie, Feh- 
len der Reflexe; der neuritische Schmerz ist kon- 
tinuierlich, nicht anfallsweise; die Druckempfind- 
lichkeit besteht im ganzen Verlauf des Nerven, 
nicht an besonderen Punkten; der Verlauf der 
Neuritis ist akut, nicht chronisch; 

2. gegen hysterische Pseudoneuralgien: diese sind 
psychisch leicht beeinflußbar und halten sich nicht 
so genau an die Nervenbahn. 

Prognose: richtet sich nach dem Grundleiden, Be- 
sonders hartnAckig sind Neuralgien im höheren Alter 
und hei neuropathischer Konstitution. 

Therapie: 

1. Kausale Indikationen: Syphilis, mechanische 
Ursachen etc. ; bei Malaria Chinin (1 — 2 g vor dem 
.\nfall). 

2. Symptomatische Behandlung: Ruhigstel- 
lung, Hydrotherapie, Antipyretika. Narkotika, 
Anodengalvanisation (Anode auf den erkrankten 
Nerven, Kathode auf einen indifferenten Punkt). 

3. Chirurgische Behandlung: 

a. Neurektomie: Ausschneidung von Nerven- 
stücken; 

ß, Nervendehnung (blutig oder unblutig). 

y. Langesche Injektion von Eukain- Kochsalz, 
Kochsalz allein oder Stovain in den erkrankten 
Nerven. (15 — 20 ccm für den Trigeminus, 
65 — ^90 — 100 ccm für den Ischiadicus). 

Verschiedene Formen der Neuralgien: 

Vorbemerkung: Jeder sensible Nerv kann neural- 
gisch werden. 

a. Trigeminusneoralgie: 

1. Ätiologie: Man achte außer auf oben gesagte 
Momente noch auf Erkrankungen der Zähne, 



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der Nobenhöhlen der Nase, der Augen und des 
Mittelohres. 

2. Ausbreitungsgebiet: 

a. Neuralgia ophtbalmica (Ramus I), Draek- 
punkt am Foramen supraorbitale; 

ß. Neuralgia supramaxillaris ( Ramus II), Druck- 
punkt am Foramen infraorbitale; 

y. Neuralgia infrainaxillaris( Ramus III), Druck- 
punkt am Foramen mentale. 

3. Symptomatisch ist die Einseitigkeit der Af- 
fektion ^chtig, 

4. Therapeutisch ist neben oben Gesagtem in 
hartnäckigen FAllen dieintrakranielle Resektion 
des Ganglion semilunare Gasseri in Be* 
tracht zu ziehen. 

b. OeeipitalneQralgie Iftngs des M. occipitalis maj. 

c. Brachialneuralgie: Druckpunkte in der Fossa 
supraclavicularis, auf der Medialseite der Mitte des 
Oberarms, am Siilcus ulnaris des Ellbogens etc. 

d. Intercostalneuralgie : Druckpunkte sind der Ver te- 
bralpunkt (dicht neben der Wirbelsäule), der La- 
teralpunkt (in der Axillarlinie) und der Sternal- 
punkt (am Sternalrande). Häufig Herpes zoster. 
Die Affektion ist meist einseitig. 

Differentialdiagnostisch kommen Pleuritis und 
Muskelrheumatismus in Betracht. 

e. Neuralgia ischiadica, Ischias: 

1. Ätiologisch denke man außer obigem be- 
sonders an Koprostase, Beckentumoren etc. 
Doppelseitige Ischias beruht oft auf Diabetes^ 
Tabes, Lues, Gicht, Gonorrhoe etc. 

2. Druckpunkte: 

a. Am Rande des Os sacrum oder der unteren 

LendenwbeL 
ß. Austrittsstelle aus dem Foramen ischiadicum 



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— 120 — 



majüs (zwischen Tuber ischii und Trochanter 
major). 

y. am unteren Rande des Glutaeus maximus; 

d. in der Kniekehle; 

e. am Capiiulum fibulae (N. peroneus). 

3. Das Isehiasphänomen (Laseguesches Symptom): 
Schmerz bei Beugung des Beines in der Hüfte 
mit gestrecktem Unterschenkel; beruht auf der 
Dehnung des Nerven; 

4. öfters Scoliosis ischiadica nach der ge- 
sunden Seite hin zur Entlastung der kranken. 

Differentialdiagnose: Gegen Coxitis, hierbei treten 
die Schmerzen hauptsächlich bei Abduktion des Beines 
auf. 

f. Mastodynie, Neuralgie der Brustdrüse. 

g. Coccygodynie. 

h. Die Podalgien: 

1. Achillodynie: Schmerzen am Ansatz der 
Achillessehne, beruhen oft auf Bursitis; bei Go- 
norrhoe, Malaria. Gicht; 

2. Tarsalgie: Schmerzen und Druckemplindlich- 
keit des Tarsus; 

3. Mctatarsalgie (Morton). 

Differentialdiagnostisch berücksichtige man 
den Podalgien gegenüber: 

1. Plattfuß (Fes planus); 

2. Neuritis; 

3. Hysterie und Neurasthenie. 
NeabildoBgen der peripheren Nerven (Nenrome). 

Ätiologie: unbekannt; oft im Anschluß an Traumen 
(Amputationen etc.). 

Pathologische Anatomie: 

1. Wahre Neurome: Neugebildete Nervenfasern (Am- 
putationsneurome). 



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- 121 — 



2. Falsche Neurome (besser Neurofibrom): Ausein- 
andersprengung der Nervenfasern durch Wuche- 
rung des äußeren und inneren Neurilemms. 

Symptome: Tumoren verschiedener Größe und An- 
zahl (bis 3000) längs der peripheren Nerven. In seltenen 
Fällen neuralgische Schmerzen, Druckempfindlichkeit 
(Tubercula dolorosa), Paresen etc. Indolente Neuro- 
fibrome der peripheren Enden sensibler Nerven mit 
Störungen des Knochenwachstums finden sich bei der 
Recklinghausenschen Krankheit. 

Prognose: quoad vitam günstig. 

Therapie: überflüssig, eventuell Exstirpation der 
Knoten. 

III. Die Facialis-Lähmuug : Prosopoplegie. 

1. Genuin: Rheumatisch (Erkältung, Durchnässung). 

2. Symptomatisch: 

a. durch Fortpflanzung einer Entzündung im 
Mittelohr auf den Nerven; 

b. durch Kompression des Nerven: 

a. An der Schädelbasis: Blutung , Tumor, gum- 
möse Meningitis; 

ß. im Felsenbein (Ganalis Fallopiae): tuberku- 
löse Garies, syphilitische Periostitis. 

c. Traumatisch: Zangengeburt, Schädelfrakturen 
etc. 

Bei a und b ist der N. acusticus fast stets mitbe- 
teiligt. 

Symptome: 

a. Die Lähmung des peripheren Nervus facialis (in- 
franukleäre Lähmung) zeichnet sich aus: 

1. Durch Einseitigkeit: Monoplegia facialis; 

2. durch das Ausbreitungsgebiet: es ist die 
ganze entsprechende Gesichtshälfte gelähmt; 

3. durch Entartungsreaktion. 



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b. Die xentrale oder sa^anukleäre Lfthmung (vgl. 
S. 6) zeichnet sich aus: 

1. Durch Doppelseitigkeit, aber nur, wenn der 
Ursprung in der Brücke oder der Medulla oblon- 
gata sitzt; 

2. durch das Ausbreitungsgebiet bei einsei- 
tiger, zentraler LAhmung; Stirn- und Augen- 
partie bleiben frei; nur die Lippen- und 
Wangenpartie sind gelähmt; 

3. durch Fehlen der Entartungsreakti<m. 

c. Symptome der peripheren Lähmung: 

1. Die gelähmte Stirnseite ist glatt und kann 

nicht gerunzelt werden; 

2. das Auge ist abnorm weit geöffnet und kann 
nicht geschlossen werden: Lagophthalmus 
(vgl. S. 35); da die Papilla lacrimalis nicht mehr 
durch den M. orbicularis oculi an das Auge an- 
gedrückt wird, so besteht Epiphora (Tränen- 
fluß). Beim Versuch, das Lid zu schließen, 
dreht sich der Bulbus nach oben (Bellsches 
Phänomen); 

3. Nase: die Nasenspitze w^eicht nach der gesunden 
Seite ab, die Nasolabialfalte ist auf der kranken 
Seite verstrichen; 

4. Mund: der Mundwinkel hängt herab; der 
Mund ist im ganzen nach der gesunden Seite 
hin verzogen. Pfeifen ist unmöglich. Ein Licht 
kann nur ausgeblasen werden, wenn es vor die 
gelähmte Seite gehalten wird; 

5. die Wange bläht sich beim Blasen stärker auL 

Diagnostische Lokalisation: 

1. die Unterscheidung der supranukleären von der 
peripheren Lähmung: Freibleiben des Stirnteüs, 
Entartungsreaktion (s. oben); 

2. Läsion unterhalb des Foramen stylomastoideum: 
Lähmung sämtlicher Gesichtsmuskeln; 



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— 123 ~ 



3. Lision zwischen N. auricularis posterior und Chorda 
tympani: wie bei 2, außerdem noch Lähmung der 
äußeren Ohrmuskeln; 

4. Läsion zwischen Chorda tympani undN.stapedius: 
wie bei 3, aber noch Speichels( kretions- und Ge- 
schmacksstörungy letztere auf den vorderen zwei 
Dritteln der Zunge; 

5. Läsion zwischen N. stapedius und Ganglion geni- 
culi: wie bei 4, aber noch Gehörstörung (Lähmung 
des M. stapedius); 

6. Läsion oberhalb des Ganglion geniculi: wie bei 5, 
es fehlt aber die Geschmacksstörung; außerdem 
findet sich häufig Störung der Tränensekretion; 

7. Läsion an der Gehirnhasis: L&hmung des N. facialis 
und des N. acusticus. 

Yerklif: Die Lähmung tritt meistens plötzlich ein; 
leichte Lähmungen bilden sich in einer oder einigen 
Wochen zurück, schwerere erst nach Monaten oder gar 
nicht. Bei schweren Lähmungen können sich später 
Kontrakturen ausbilden, derart, daß der Mund nach 
der gelähmten Seite verzogen erscheint; bei oberfläch- 
licher Betrachtung kann jetzt die gesunde Seite für die 
gelähmte gehalten werden. Begleiterscheinung diesor 
Kontrakturen sind häufig Krämpfe, Tic facial (vgl, 
S. 124) oder Mitbewegungen, z. B. beim Schließen 
des Auges übermäßige Verziehung des Mundwinkels. 

Fiogiiose: richtet sich nach dem Verhalten der 
EntariUDgsreaktion. 

Therapie: 

1. kausale Indikationen (Syphilis: Jod und Queck- 
silber; rheumatisch: Salizyl und Schwitzproze- 
duren; etc.); bei Lagophthalnuis Schutz des Auges; 

2. Elektrotherapie: erst nach Ablauf des akuten 
Stadiums. 

a. Galvanisch: konstant und labil; 

faradisch: aber nur, wenn die Muskeln durch 



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— 124 — 



den faradischen Strom überhaupt erregbar sind 
und keine Gefahr von Kontrakturen besteht. 

IV. Plexaslähmnngen. 

a. Die Erbsche Lähmung des Plexus brachialis: 

1. Ätiologie: Verletzung des sog. Erbsrhen 
Punktes, welcher ca. 2 cm oberhalb der Clavi- 
cula am hinteren Rande des M. sternocleido- 

- • mastoideus liegt; dadurch Läsion des 5. und 
6. Cervikalnerven ; meistens bei Entbindungen 
(Entwicklung der Arme), Clavicularfrakturen, 
durch Halsrippen etc.; 

2. Symptome: gelähmt sind die Alm. deltoideus, 
brachialis internus, biceps, brachioradialis, supi- 
nator longus und brevis und infraspinatus; also 
Muskeln, welche von verschiedenen Nerven, 
aber von gleichen Cervikalsegmenten ver- 
sorgt werden. 

b. Die Klumpkesche Lähmung: 

1. Ätiologie: meist Geschwülste der Wirbelsäule, 
welche den 8. Cervikal- und den 1. Thorakal- 
nerven zerstören; 

2. Symptome: gelähmt sind die kleinen Finger- 
und Handmuskeln; Anästhesie meist im Gebiet 
des N. ulnaris; häufig oculo-pupilläre 
Symptome (vgl. S. 35), aber nur bei Schädi- 
gung der Wurzeln. 

• • • f » 

V. Facialiskrampf (Tic convulsif; Tic facialj. 
Ätiologie: 

1. Reizung im Facialisgebiet (Rinden Zentrum, Kern 
oder peripherer Nerv) durch Erkältung, Affek- 
tionen des Ohres oder der Schädelbasis etc. 



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— 125 — 

2. Reflektorische Erregung bei Trigeminusneuralgie, 
Zahnkaries etc. 

3. Angewöhnung und Nachahmung bei neuropathi- 
scher Konstitution. 

4. Psychische Erregung. 

Symptome: Man unterscheidet 

1. Ausdrucksbewegungen (Tic) durch pathologische 
Angewohnheit. 

2. Reizbewegungen (Spasmus facialis). 

Die Bewegungen sind unwillkürlich, blitzartig; sie 
sind allgemein oder partiell. Häufig im Anschluß an 
willkürliche Bewegungen; bei Beteiligung des M. orbi- 
cularis palpebrarum: Blepharospasmus. 

Prognose: zweifelhaft. 

Therapie: Beseitigung des Grundieidens, Elektri- 
zität, Hydrotherapie etc. 



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Die fuaktionellen Neurosen. 



Elnleitangr. 

Zu den funktionellen Neurosen rechnet man: 

1. die Neurasthenie, 

2. die Hysterie, 

3. die Epilepsie, 

4. die Chorea minor, 

5. die Paralysis agitans, 

6. die Funktionsstörungen gewisser Blutgefäßdrüsen, 

7. die vasomotorischen Neurosen, 

8. die iMigräne, 

9. den Tic impulsif. 

Von diesen Krankheiten werde ich zwei, die Neur- 
asthenie und Hysterie, nicht in diesem Abschnitte, son- 
dern im psychiatrischen Teile dieses Buches be- 
sprechen. Wegen der Kombination von somatischen 
und psychischen Symptomen hat man diese beiden Neu- 
rosen auch als Psych oneurosen bezeichnet. 

Im Anschluß an die übrigen obengenannten Krank- 
heiten werde ich noch zwei Affektionen besprechen, 
deren anatomische Grundlage unsicher ist, die man aber 
andererseits auch nicht als Neurosen bezeichnen kann; 
diese sind: 

1. die Myotonia congenita, 

2. die Myasthenia gravis pseudoparalytica. 

Die Epilepsie. 

Ätiologie: 

1. Heredität, meist gleichartige Heredität; neuro- 
pathisohe Konstitution; 



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127 - 

2. AlkoholismuB der Eltern oder des Patienten selbst; 

3. chronische Bleivergiftung der Eltern; 

4. akute Infektionskrankheiten: Scarlatina, Typhus 
etc.-; 

5. Syphilis; 

6. reflektorisch: durch Traumon. Narben beUebigen 
Sitzes, welche einen Hautnerven reizen; Einge- 
weidewürmer etc.: 

7. auslösende Ursachen häufig: Menstruation, Puer- 
perium. 

Beginn meist vor dem 20. Lebensjahre; nach dem 
20. Lebensjahre gilt die Bezeichnung Epilepsia tarda; 
diese wird meist durch Alkoholismus hervorgerufen. 

Symptome: Die Epilepsie ist durch periodisch wie- 
derkehrende Anfälle gekennzeichnet; die anfalls- 
freien Intervalle können Jahre, Monate, Tage und 
Stunden dauern. Die Anfälle selbst können verschie- 
dener Natur sein; man unterscheidet: 

1. den großen Anfall oder die Epilepsia major; 

2. das „Petit Mal** oder die Epilepsia minor; 

3. die epileptischen Äquivalente. 

a. Der groBe Anteil: Er kann plötzlich einsetzen 
oder durch Vorboten (Schwindel, Kopf druck etc.) 
schon mehrere Stunden vorher angekündi^ wer- 
den. Oft geht jedoch dem Anfalle um einige Se- 
kunden oder Minuten eine Aura (Hauch) voraus. 

1. Die Aura kann sein: 

a. motorisch: Zuckungen einzelner Muskeln, 
Kreislaufen, Sprachstörungen ; 

ß, sensibel: Parasthesien in der Extremität 
oder am Rumpfe, Schmerzen im Epigastri- 
um; 

y, sensorisch: Hören eines Wortes, einer Melo- 
die; Sehen einer Landschaft, einer Tierge- 
stalt, Funkensehen; 



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— 128 — 



d. vasomotorisch-sekretorisch: plötzliches Er- 
blassen, Schweißausbruch; 

€, psychisch: Unruhe, Reizbarkeit. 

2. Der Krampfanfall: 

a. Plötzlich eintretende Bewußtlosigkeit; die- 
ses Symptom ist von hervorragender patho- 
gnomonischer Bedeutung; 

ß. tonischer Krampf der Muskulatur; der 
plötzliche Eintritt desselben auf dem Ge- 
biete der Respirationsmuskulatur kann zu 
einem kurzen Schrei führen. Die Pupillen 
sind erweitert und reaktionslos. Dieses to- 
nische Stadium dauert einige Sekunden; 

y. klonische Zuckungen der Muskulatur 
folgen den vorigen. Die klonischen Kr&mpfe 
der Kiefermuskeln führen häufig zum 
Zun genbiß, diejenigen der Extremitäten 
zu' Verletzungen an Händen und Füßen. 

In diesem Stadium tritt oft unwillkür- 
liche Harn- und Samenentleerung, Pulsbe- 
schleunigung ein ; der Mund ist mit Schaum 
bedeckt, das Gesicht cyanotisch durch Stau- 
ung, dadurch oft: konjunktivale SugiUa- 
tionen. 

Der Krampfanfall dauert eine halbe bis 
fünf Minuten. 

3. Postepileptisches Koma oder Schlaf. Nach 
dem Erwachen aus diesem häufig Kopf- 
schmerz und Erbrechen. Über postepilep- 
tische Geistesstörungen vgl. S. 187. 

4. Begleiterscheinungen des Anfalls: Sämtliche Re- 
flexe sind erloschen; Cyanose des Gesichtes. 

b. Bas Petit mal oder die Epilepsia minor: 

1. Die Bewußtseinsstörung ist häufig das ein- 
zige Symptom. Die Bewußtseinsstörung dauert 
nur einige Sekunden; das Individuum fällt 



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— 129 — 



nicht hin; der Zustand zeigt sich als eine mo- 
mentane Entrückthoit : das Gesicht ist blaß, 
der Blick starr, ins Leere gerichtet; 
2. manchmal geringe, klonische Zuckungen im Ge- 
sicht und den Extremitäten. 

c. Die Äquivalente des epileptischen Anfalls sind 
psychischer Natur (vgl. S« 187). 

d. Der Allgemeinsnstand des Epileptikers in anfalls- 
freier Zeit: ■ 

1. Charakteristisch ist die totale Amnesie für die 
Anfalle und die Vorgänge während derselben, 
welcher Art die Anfäle auch sein miVgen. Die 
Epileptiker wissen nur durch andere Personen 
von ihrer Krankheit; 

2. häufig finden sich Degenerationszeichen 
(Schädelmißbildungen, vgl. S. 164); 

3. die I n telligen z kann intakt sein ; häufig findet 
sich eine Abnahme der Intelligenz, wenn nicht 
gar Imbecillität; 

4. Myoklonie: findet sich in manchen Fällen von 
gleichartig-hereditärer, familiärer Epilepsie. Die 
Affektion besteht in klonischen Zuckungen, 
welche blitzartig erfolgen und sich nur auf ein- 
zelne Muskeln erstrecken; 

5. der Status epileptiens: kommt zustande, wenn 
sich die Anfälle in kurzer Zeit aufeinanderfol- 
gen (z. B. mehrere Anfälle in einer Nacht). Der 
Patient erlangt das Bewußtsein während dieses 
Zustandes nicht wieder. Im Urin finden sich 
manchmal Eiweiß und hyaline Zylinder. Be- 
trächtliche Temperatursteigerung. Der Tod 
tritt in der Hälfte dieser Fälle ein. 

Verlauf: chronisch. Bei längerem Bestehen der 
Krankheit pflegen sich die Anfälle in immer kürzerer 
Zeit zu wiederholen. Eine Epilepsia nocturna kann 
lange 2^it unbemerkt bleiben. 

M a jr e r , Compendlam der Zfeurologie. 3.— 5. Aufl. 0 



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— 130 — 



Bifterentiaidiagnose : 

1. gegen Ohnmacht (vgl. S. 88); 

2. gegen den hysterischen Anfall: Bei diesem ist 
die Lichtreaktion der Pupillen fast stets vorhanden; 
der Zungenbiß und sonstige Verletzungen kommen 
nicht vor; kein unwillkürlicher Harnabgang; die 
Dauer des Anfalls ist meist eine längere als die des 
epileptischen; manchmal läßt sich der hysterische 
Anfall durch bestimmte Eingriffe (Ovariaidruck) 
künstlich unterdrücken; 

3. gegen symptomatische Epilepsie: Hirntumor 
(vgl. S. 94), Rindenepilepsie (S. 92), Dementia para- 
lytica (S. 219). Der Epileptiker scheint in der an- 
fallsfreien Zeit normal zu sein, die anderen haben 
dauernde Symptome. An die symptomatische Epi- 
lepsie denke man besonders, wenn die Anfälle zum 
ersten Male in reiferem Alter auftreten; 

4. gegen Simulation: es fehlt hier die Pupillen- 
starre, der Zungenbiß, die postepileptische Ver- 
wirrtheit etc. 

5. gegen Adams- St okesche Krankheit: hier be- 
steht während des Anfalls starke Bradykardie 
(20 — 30 Schläge), zuweilen Herzstillstand. 

Prognose: Heilung ist selten. Bei sehr früh be- 
ginnenden Fällen ist die Prognose schlechter. Das Leben 
ist besonders im Status epilepticus bedroht; der Tod 
kann auch infolge schwerer Verletzungen, Erstickung 
etc. während des Anfalles eintreten. 

Therapie: 
a. Außerhalb des Anfalls: 

1. Nahrung: Verrnddung aller Reizmittel (Ge- 
würze, Kaffee, Alkohol etc.); Fleisch ist nur in 
mäßigen Quantitäten erlaubt; 

2. Medikamente: 

a. Bromsalze: 3^ g pro die (bei Kindern 
1-4 g); 



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- 131 — 



ß, Atropin: 1 — nig pro die; 
y. Opium: 0,1 — •0,2g pro Hio; oft läßt man 
der Opiumbeharidhmg oino Brombehandlung 
folgen (Flechsigsche Kur). 
3. Operative Behandlung nur bei symptomatischer, 
nie bei genuiner Epüepsie. 

b. Im Anfalle: 

1. Beim Auftreten der Aura kann in manchen 
Fällen der Anfall noch koupiert werden; zeigt 
sich z. B. die Aura in einer Extremität, so ge- 
lingt dies durch feste Umschnürung derselben; 
auch energische Hautreize sollen so wirken; 

2. im Anfalle ist der Patient vor Verletzungen zu 
schützen ; zwischen die Zähne Kork oder Gummi ; 

3. im Status epilepticus: Chloralhydrat 3 — 4 g in 
KI y stieren, Chloroform, Äther. 

Anhang. 

Pavop nocturnus. 

Er ist ein Symptom bei epileptischer, hysterischer, 
überhaupt neuropathischer Konstitution, zuweilen auch 
bei Tonsillarhyperplasie; die Erkrankung besteht in 
nächtlichem Aufschrecken bei völliger Bewußtseins- 
abwesenheit. Beginn 3. — 10. Jahr; verschwindet mit 
der Pubertät. Das hcäufige Schlafsprechen (Somnilo- 
qui) und Schlafwandeln sind auf das motorische Ge- 
biet übertragene Träume. 

Die Chorea minor sive infektiosa. 

Der Veitstanz. 

Ätiologie: 

1. Der aknte Gelenkrheumatismus, besonders wenn 
dieser auch eine Endocarditis herbeigeführt hat; 
er ist die häufigste, nach vielen die einzige Ur- 
sache des Leidens. (Man rechnet daher die Chorea 
zu den Rheumatosen.) 

2. Affektstöfie (Schreck etc.). 



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— 132 — 



3. Nachahmung: Chorea imitatoria; so können 
kleine Epidemien in Schulen entstehen; die Pa- 
tienten sind hysterisch (psychische Infektion). 

4. Schwangerschaft: Chorea gravidarum, besonders 
im 3. — 5. Monat; vermutlich Intoxikation. 

Beginn im 5. — 20, Lebensjahre; häufiger bei Mäd- 
chen als bei Knaben. 

Sitz der Erkrankung: Schädigung der vom Klein- 
hirn durch die Brachia co^junctiva zum Thalamus op- 
ticus ziehenden Bahn. 

Symptome: 

a. MotariBeheUnndie: ungewollte, schleudernde, zap- 
pelnde Bewegungen, die abwechselnd die ver- 
schiedensten Körpergegenden in Aktion versetzen; 
nimmt auch die Zung3 an den Bewegungen teil, 
so resultiert eine Behinderung der Sprache. 

Die Bewegungen sind: 

1. unwillkfirlich ; willkürlich nicht unterdrückbar 
(ausgenommen in chronischen Fällen); 

2. koordiniert; 

3. im Schlafe nicht vorhanden; 

4. bei willkürlichen Bewegungen stärker, des- 
gleichen bei Gemütsbewegungen; 

5. nicht anfallsweise (wie die epileptischen), 

b. Psychische Störungen: Labilität der Stim- 
mung, Reizbarkeit und geistige Ermüdbarkeit. Bei 
der Chorea der Erwachsenen bilden sich häufig 
Psychosen aus. 

Yerlant: Dauer 2->3 Monate; selten bis über 1 Jahr. 

Prognose: günstig. Meistens Heilung; in den 
schwersten Formen können die allzu heftigen Muskel- 
zuckungen durch ungenügende Nahrungsaufnahme und 
ungenügenden Schlaf tödliche Erschöpfung herbei- 
führen. Die Chorea gravidarum endet in dem vierten 
Teile aller Fälle tödlich, im allgemeinen überdauert sie 
die Entbindung nicht. Rezidive sind häufig. 



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— 133 — 

Differentialdiagnose: 

1. Gegen die symptomatische Chorea: 

a. die postapoplektische Hemichorea (vgl. S. 92); 
/J. bei Hirntumoren (vgl. S. 94); 
y. bei cerebraler Kinderlähmung (vgl. S. 99): hier 
finden sich stets Zeichen spastischer Parese. 

2. Gegen die hysterischen Formen: 

a. die Chorea major: unter diesem Namen 
werden die großen hysterischen Anfälle zusam- 
mengefaßt: 

j!?. die Chorea imitatoria: sie ist meist halb- 
seitig (Hemichorea); 

7. die . Chorea electrica: mit blitzartigen 
Zuckungen, wie bei elektrischer Reizung. 

3. Gegen die Chorea hereditaria sive chronica pro- 
gressiva: diese ist, wie der Name sagt, hereditär 
und progressiv; hauptsächlich bei Erwachsenen; 
die Intelligenz nimmt bis zur völligen Demenz ab; 
Dauer Jahrzehnte; Prognose schlecht. 

Therapie: 

1. Körperliche und geistige Ruhe; Isolierung; in 
schweren Fällen Bettruhe. 

2. Medikamente: 

a. Arsen : als Solutio Fowleri (dreimal täglich 3 bis 

lOTropf en,in allmählicher Steigerung) ; Salvarsan. 

Brom: bei gesteigerter Affekterre^arkeit; 
y. Scopolamin (0,0005) subkutan mit Morphium, 

eventuell Chloral und Chloralamid: in ^hweren 

Fallen. 

3. Milde Hydrotherapie. 

4. Bei Chorea gravidarum kommt die künstliche Früh- 
gehurt in Frage. 

Paralysis agitans. 
Schüttellähmung. 

Ätiologie: unbekannt. Einen Einfluß auf die Ent* 
stehunig sollen körperliche und psychische Traumen 



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- 134 - 



haben; nicht selten ist Heredität nachweisbar. Die 
Krankheit befällt meistens Männer nach dem 40. Lebens* 
jähre. 

Symptome: 

a. Der Tremor (vgl. S. 5): rhythmische Schwin- 
gungen, 4 — 5 in der Sekunde, von geringer Ex- 
kursion; der Tremor befällt zuerst die Hände und 
dann allmählich auch den ganzen Körper; er ist 
ausgezeichnet: 

1. durch sein Fortbestehen in der Ruhe; 

2. durch die Gleichmäßigkeit der Bewegung; 

3. durch das Aufhören bei aktiven Bewegungen; 
daher fühlen sich die Patienten beim Gehen 
meist wohler als bei ruhigem Sitzen oder Liegen ; 

4. durch seine Steigerung l>ei p&ychischer Er- 
regung; 

5. durch die Form der Bewegung (Pillendrehen, 

Münzenzählen); 

6. durch das AufhOren im Schlafe. 

b. Die permanente Muskelsteifigkeit (Kon- 
traktur in Beugestellung) ist oft das einzige Symp- 
tom (Paralysis agitans sine agitatione); sie 
gibt sich kund: 

1. durch die Haltung des Patienten: Kopf 
nach vorn geneigt, gebückte Rumpfhaltung; 

2. durch die maskenartige Starre des Ge- 
sichts; 

3. durch die Erschwerung der passiven 

und aktiven Bewegungen; 

4. durch die Veränderung des Ganges, 
welcher dem spastischen Gange sehr ähnlich ist: 

er. Propulsion: der Patient kann im Gehen 
nicht plötzlich haltmachen, weil er sonst 
vornüber stürzen würde; 

ß, Retropulsion: wenn man den Patienten 



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~ 186 - 

hinten zieht, so läuft er so lange rückwärts, 
bis er irgendwo Halt findet; 

y, Lateropulsion: entsprechend, aber selten; 

5. die Sehnenphänome sind meist nonnal; 

6. durch Veränderung der Sprache. 

Verlauf: sehr chronisch, aber progressiv; Dauer 
5 — 20 Jahre. Das erste Symptom ist meistens das 
Zittern, und zwar stellt sich dieses am häufigsten zuerst 
im rechten Arm ein. 

Difterentialdiagnose : 

1. Gegen symptomatische Schüttellähmung (Para- 
lysis agitans posthemiplegica): es besteht hierbei 
Muskelhypertonie mit gesteigerten Sehnenphä- 
nomen. 

2. Gegen Tremor senilis: Fehlen der charakteristi- 
schen Haltung, Verstärkung des Tremors bei 
aktiven Bewegungen. 

Prognose: gut. Heilung ist zwar ausgeschlossen, 
jedoch kann der Patient noch jahrelang ohne besondere 
Beschwerden leben. Der Tod erfolgt an interkurrenten 
Erkrankungen oder an Erschöpfung. 

Therapie: 

1. Medikamente: 
a. Arsen; 

ß> Scopolaminum (= Hyoscin) hydrobromicum 
und ebenso Duboisinum sulfuricum (4 dmg pro 
die subcutan) haben einen hervorragenden, wenn 
auch vorübergehenden Einfluß auf das Zittern 
und die Muskelsteifigkeit. 

2. Elektrische Bäder. 

3. Charcots Vibrationstherapie (Zitterstuhl). 



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— 136 — 



Erkrankungen der Drüsen mit innerer Sekretion. 

a« Morbus Basedowii. 
Graves Disease, Goitre exophthalmique. 

Ätiologie: Wahrscheinlich Hyperfunktion der 
Schilddrüse. Das Leiden entwickelt sich im Anschluß 
an heftige Gemütsbewegungen, schwächende Krank- 
heiten, besonders bei neuropathisch veranlagten Indi- 
viduen, durch Jodapplikation bei latentem Basedow, 
meist im mittleren Lebensalter; bei Frsiuen viel häufiger 
als bei Männern. 

Symptom^: Die Kardinalsymptome des Morbus 
Basedowii sind die Tachykardie, die Struma und der 
Exophthalmus. 

1. Die Tachykardie: ist meist das erste Symptom; 
Pulsfrequenz 100—180. 

2. Die Struma: sie ist weich, gefäßreich, pulsierend; 
die aufgelegte Hand fühlt manchmal ein Schwirren; 
sie beruht aui dauernder Erweiterung der Schild- 
drüsengefäße. 

3. Der Exophthalmus beruht auf Erweiterung der 
Gefäße der Orbita und einer Vermehrung des 
retrobulbären Fettgewebes; er ist meist doppel- 
seitig; der Exophthalmus fehlt in unvollkommen 
entwickelten Fällen (Formes frustes). 

4. Andere Augensyniptome: 

a. (las Graefesche Symptom: Beim Blick nach 
unten folgt das obere Augenlid nicht mit, so 
daß ein Teil der Sklera oberhalb der Kornea 
sichtbar wird; 

ß. das Möbiussche Symptom: Unmöglichkeit, 
einen nahen Gegenstand längere Zeit mit beiden 
Augen zu fixieren; 

y. das Stelhvagsche Symptom: der Lidschlag 
erfolgt abnorm selten. 



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— 137 



5. Der Treioaor der Hände: schnell und feinschlägig. 

6. Hyperhidrosis mit subjektivem Hitzegefühl. 

7. Durchfälle. 

8. Steigerung der C O,- Ausscheidung, also Erhöhimg 
der Oxydationsprozesse; trotz normal ausgenutzter 
und genügender Nahrung unnormales Stoff- und 

• • Körpergleichgewicht. 

9. Schlechter Schlaf und schlechte allgemeine Ernäh- 
rung trotz des häufigen Heißhungers (Bulimie). 

10. öfters alimentäre Glykosurie. 

11. Psychische Störungen: Labilität der Stim- 
mung, Reizbarkeit, Unruhe, Zerstreutheit etc., 
manchmal Psychosen (manisch-depressive Zu- 

• Standsbilder). 

Verlauf: chronisch; jahrelange Dauer; Remissionen 
und Intermissionen. 

Differentialdiagnose: Die Tachykardie kommt auch 
bei Neurasthenie und Hysterie vor, jedoch nicht dauernd, 
sondern nur vorübergehend. Sonstige Verwechslungen 
sind nicht gut möglich. 

Prognose: nicht ungünstig. In ganz frischen Fällen 
ist Heilung nicht ausgeschlossen. Der Tod kann durch 
zu starke Diarrhöen und Debilitas cordis erfolgen.' 

Therapie: 

1. Körperliche und geistige Ruhe. 

2. Verbot von Kaffee, Tee, Nikotin etc., Fleischein- 
schränkiing, dafür Pflanzenkost. 

3. Milde Hydrotherapie (feuchte Einpackungen etc.). 

4. Höhenluft. 

5. Elektrotherapie: 

«.stabile Galvanisation des S y ni p a t h i - 
cus: Kathode (kleine Elektrode) zwischen Un- 
terkieferrand und M. sternocleidomastoideus, 
Anode auf den Nacken; 

ß, Faradisation: große Elektrode im Nacken, 



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— 138 — 

kleine abwechseilnd Augengegend, Schäddrüse, 
Herzgegend. 

6. Antithyreoidin (s= Serum entkropfter Tiere). 

7. Operation: Strumektomie. 

b. Das Myxtfdm. 

Ätiologie: Hypofunktion resp. Fehlen der Schild- 
drüse. 

1. endemisch: das Schilddrüsengewebe bei bestehen- 
der Struma ist geschwunden (Kretinismus); 

2. angeborene Aplasie der Schilddrüse; 

3. sporadisch: Schilddrüsenaplasie; 

4. totale Strumektomie: Kachexie strumipriva. 

Symptome: Sie sind den Symptomen bei Basedow 
genau entgegengesetzt, also: Bradykardie, abnorme 
Trockenheit der Haut, Obstipation, Herabsetzung der 
Üxydationsprozesse etc. 

Besonders auffallend sind: 

1. das gedunsene Aussehen durch die myxödematöse 
Hautschwellung (Wachstumshemmung bei Kin- 
dern); 

2. die Makroglossie; 

3. die psychischen Veränderungen: 

a. Erwachsene: Intelligenzabnahme bis zu völli- 
ger Demenz; 

b. Kinder: Idiotie etc. (vgl. S. 215). 

Prognose: bei richtiger Therapie günstig. 

Tlimilo: Schilddrfksenprftparate wirken über- 
raschend: Thyreoidinum siccatum (Erw. 0,1 — 0,2, Kind 
0,03—0,05) etc. 

c« Die Tetanie. 

Ätiologie: Wahrscheinlich Schädigung der Epithel- 
körperchen (Glandula parathyreoideae) sei es: 

1. im Anschluß an akute Infektionskrankheiten (Ty- 



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— 139 — 



phus^ Cholera, Scharlach, Mas^m) oder an In- 
toxikatieaen (Ergotin, Chloroform, Alkohol u. a.); 

2. im Gefolge von Majgendarmaffektionen (Magen- 
darmkatarrhe der Kmder, Magenektasie Erwach- 
sener); 

3. gemeinschaftlich mit Laryngospasmus, Eklampsie 
oder Rachitis der Kinder; 

4. nach Exstirpation der Nehenschilddrttse (Tetanie 
parathyreopriva). 

In ^zelnen Ländern tritt die Krankheit epide- 
misch auf. Es erkranken meist Männer im Alter von 
15—25 Jahren. 

Symptome: 

a. Im Anfall: 

1. Tonische Miiskelkrämp fe: Oberarme addu- 
ziert, Vorderarme und Hände gebeugt; Finger 
in Geburtshelferstellung oder Schreibestel- 
lung, Beine gestreckt, Füße in Varoequinus- 
Stellung. 

Der l)ilatera!e Krampfanfall dauert von 
einigen Minuten bis zu mehreren Tagen. Das 
Bewußtsein ist meist erhalten. Prodromal:. 
Kopfschmerz, Übelkeit etc. 

2. Parästhesien, reißende Schmerzen. 

b. Zwischen den Anfällen (,,spasmophUer Zustand''): 

1. Das Trousseausche Phänomen: Durch 
Kompression auf die Nervenstämme (Suicus 
bicipitalis internus) kann man künstlich einen 

Anfall auslösen. 

2. Das Chvosteksche Symptom: Durch leich- 
tes Beklopfen von motorischen oder gemischten 
Nerven kann man Zuckungen auslösen; das 
Symptom beruht also auf gesteigerter mechani- 
scher Erregbarkeit des Nerven. Besonders läßt 
sich diese im Gebiet des N. facialis nachweisen: 
Facialis-Phänomen (vgl. S. 16). 



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— 140 — 



3. Das Erbsche Symptom: Steigerung der gal- 
vanischen Erregbarkeit der motorischen Nerven^ 
infolgedessen tritt Kathodenschließungszuckung 
schon bei sehr geringer Stromstärke auf und bei 
geringer Steigerung der Stromstärke Kathoden- 
schließungstetanus. 

4. Das Hoffmannsche Symptom: Steigerung 
der mechanischen und elektrischen Erregbar- 
keit sensibler Nerven. 

Terlaiif : Dauer Tage bis Monate; Rückfälle sind 
häufig. Es gibt chronische Fälle von jahrelanger Dauer 
mit intermittierendem Verlauf. 

Differentialdiagnose: gegen Hysterie: Hier sind die 
Ionischen Muskelspannungen meist einseitig, es fehlen 
das Trousseausche und das Erbsche Phänomen. 

Prognose: Günstig. Das Leben ist nur gefährdet 
bei Patienten, die an Magenektasie leiden, oder die 
eine Kropfexstirpation durchgemacht haben, und bei 
Kindern, welche an Darmkatarrh oder Rachitis leiden. 

Therapie: 

1. Behandlung der Grundkrankheit (Magen-^ Darm- 
affektionen, Rachitis etc.). 

2. Bei Tetania parathyreopriva Darreichung von 
Nebenschilddrüsenpräparaten oder Transplanl^a- 
tion normaler Nebenschilddrüsen. 

3. Narkotika. 

4. Kinder: Frauenmilch, keine Fleischnahrung. 

d. Die Akromegalie« 

Ätiologie: Wahrscheinlich Hypersekretion des glan- 
dulären Hypophysenabschnittes, meist als Folge einer 
adenomatösen Vergrößerung. 

Symptome: 

1. Vergrößerung distaler Teile (Hände, Füße, Nase, 
Kinn). 



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— 141 — 



2. Verdickung der Haut. 

3. Hypoplasie der Genitalien (Amenorrhoe, Impo- 
tenz). 

4. Erweiterung der Sella turcica im Röntgenbild. 

5. Glvkosurie. 

6. Zentrale Symptome: Kopfschmerz, Schwindel, bi- 
temporale Hemianopsie etc. (vgl. Hirntumor), In- 
telligenzdefekte. 

Verlauf: Dauer oft jahrzehntelang. Erstes Symp- 
tom meist Parästhesien und Gliederschmerzen; Tod 
öfters unter den Zeichen eines Tumor ccrebri. 

■ Tritt die Erkrankung vor der Verknöcherung der 
Epiphysenknorpel ein, so entsteht der Gigantismus, 
ferner Dystrophia adiposo-genitalis (vgl. S. 99). 

Differentialdiagnose: gegen partiellen Riesenwuchs, 

Arthritis deformans. 

Prognose: ungünstig, Heilung ausgeschlossen. 
Therapie: Versuch mit Hypophysenextrakt. 

Hemikranie. 
Migräne. 

Ätiologie: 

1. Heredität, meistens gleichartige. 

2. Überarbeitung, Exzesse, Masturbation, Wuche- 
rungen der Nasenschleimhaut sind wohl nur als 
Gelegenheitsursachen zu betrachten. 

Symptome : 

1. Kopfschmerz (vielleidii Gefäßkranipf durch Sym- 
pathicusreizung); dieser ist: 
a. meist halbseitig; 

ß. anfallsweise; meist nach wochenlangen Inter- 
vallen; 

y. von stunden- bis tagelanger Dauer; 
d. stechend (kein Druckschmerz wie bei Neur- 
asthenie) ; 

c. von Appetitlosigkeit und Erbrechen begleitet; 



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— 142 — 



f. gewöhnlich von einer Aura eingeleitet (hemi- 
kranische Aura: Schwindel, Schläfrigkeit, 

Heißhunger). 

2. Das Erbrechen kann auf der Höhe des Anfalls 
oder gegen Ende desselben eintreten. 

3. Überempfindlichkeit gegen Sinnesreize (Licht, Ge- 
räusche etc.)« 

4. Das Flimmerskotom (Hemikrania ophtha!- 
mica) ist gleichsam eine Aura; es entsteht erst 
Flimmern vor den Augen, dann eine lebhafte Licht- 
erscheinung mit zackigen Figuren; es dauert eönige 
Minuten. 

Besondere FormeD: 

1. Hemikrania spastica: Auf der befallenen Seite: 
blasse, kfihle Haut, vermehrte Salivation, Pupillen- 
erweiterung (Sympathicusreizung). 

2. Hemikrania paralytica: Auf der befallenen Seite: 
gerötete, warme Haut, Pupillen Verengung (Sym- 
pathicuslahmung). 

Komplikationen: Die Hemikranie ist sehr oft asso- 
ziiert mit Neurasthenie, Hysterie oder Epilepsie; der 
epileptische Anfall kann sogar durch einen hemikrani- 
sehen ersetzt werden. 

Bifterentialdiagnose: 

1. Gegen Tumor: hier besteht mebtens PulsTeriang- 
samung, Stauungspapille, andauernder Kopf- 
schmerz etc. 

2. Gegen Urämie: hier besteht Albuminurie etc. 

Prognose: quoad sanationem ungünstig; bei Frauen 
verschwindet die Hemikranie zuweilen im Klimak- 
terium. 

Therapie: 

1. Kausale Indikationen: gegen Neurasthoüe, Hy- 
sterie, Nasenaffektionen etc. 



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— 143 — 



2. Im Anfall Bettruhe, Verdunklung des Zimmers, 
Migränin, Anodengalvanisation des Kopfes. 

3. Arsenkuren, Levico-Roncegnowasser werden emp- 
fohlen. 

Vasomotorische Neurosen, 
a. Die Akroi»arftstbe«ieii. 

Ätiologie: 
1. Klimakterium. 

2« Häufiges Hantieren in kaltem Wasser (Wasch- 
frauen). 
3. Neuropathische Diathese. 

Beginn meist nach dem 30. Lebensjahr. Wahr- 
scheinlich beruht die Akroparästhesie auf Gefäßver- 
engerungen infolge eines Reizzustandes in den vaso- 
motiNrischen Zentren. 

Symptome: ausschließlich subjektiv; Parästhe- 
sien in Händen und Fingern. Häufig Schmerzen, 
welche andauernd bestehen. 

Yerlanf: chronisch. 

Prognose: quoad sanationem ungünstig; selten 
Spontanheilung. 

Differentialdiaguose: gegen symptomatische Par- 
ästhesien (Tabes, Hysterie, Raynaudsche Krankheit). 

Therapie: Arsen, Phosphor, Strychnin, Eisen, lokale 
faradische Pinselungen. 

b. Oedena ontls elreumseriptum (Qnlneke). 
AngionenrotlBohes Odem. 

Ätiologie: unbekannt; meistens bei jugendlichen 
Individuen. 

Symptome: Anfallsweise auftretende, ödeinatöse, 
circumscripte Anschwellungen, an den verschiedensten 
Stellen der Haut, manchmal auch der Schleimhäute. 
Das ödem verschwindet meist innerhalb einiger Stunden 
wieder. Manchmal Hnden sich gastro-intestinale StO- 



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— 144 — 

ningen (Erbrechen etc.). Befällt das Odem den Kehl- 
kopfj so kann es von gefährlicher Bedeutung werden. 

Therapie: 

1. Allgemeine Behandlung (Diätänderung etc.). 

2. GeuiBverengemde Mittel (Adrenalin, Atropin). 

e. Die symmetrlsehe Gangrän. 
Raynaudsohe Krankheit. 

Ätiologie: unbekannt; meistens bei jugendlichen 
Individuen weiblichen Gesclüechts. 

Symptome: Anfälle; man unterBcheidet 3 Etappen 
der Erkrankung: 

1. Lokale Ischämie der Finger mit Parästhesien und 
Schmerzen. 

2. Lokale Gyanose-Asphyxie. 

3. Lokale, symmetrische Gangrän; das tote Gewebe 
grenzt sich ab und wird im Laufe von einigen Mo- 
naten abgestoßen. 

BifferentialdlagiiOfle: gegen diabetische, tabische, 
arteriosklerotische Gangrän u. a. 

Therapie: Schutz vor Kälte, Fausthandschuhe. 

d. Erythromelalgie. 

Symptome: Dauernde Rötung und Schwellung djer 
I lande und Füße, verbunden mit starker Schmerz- 
haftigkeit. 

e. Heralatrophia facialis progressiva. 

Trophisehe Neurose. Symptome: langsam, fort- 
schreitende Atrophie der Knochen. Muskeln etc. einer 
Gesichtshälfte bei erhaltener Sensibilität. 

Sklerodermie. 

Ätiologie: unbekannt, meistens bei Frauen. 

S\ niptome: Sklerodermie kann die Haut des ganzen 
Körpers befallen (Sklerodermia universalis) oder sie be- 



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— 145 — 



fällt nur die distalen Teile der Extremitäten (Sklero- 
dermia distalis); femer kann sie fleckweise auftreten 
(en piaques). Die Haut ist weiß, oft bläulich, hart, 
schwer verschieblich, schwer faltbar; Beweglichkeit ge- 
hemmt. Oft tritt eine Verkrüppelung der Finger ein 
(Sklerodactylie). Die Sensibilität ist intakt, was zur 
Unterßcheidung von Syringomyelie wichtig ist. 

Prognose: ernst; Dauer: viele Jahre, bis mehrere 
Dezennien. 

Therapie: Massage, Ichthyolbäder; subkutane Thio- 
sinamin-Injektionen. 

Myasthenia gpavis pseadopapaljrtiea. 

Die Symptome dieser Affekt Ion entsprechen ganz 
dem Symptomenkomplex der progressiven Bnlbärpara- 
lyse (vgl. S. 102). Nur liandelt es sich nicht um Läh- 
mungen, sondern um vorübergeliende, hochgradige Er- 
müduiigszuslände der verschiech'nsttMi Körpermuskeln. 
Von besonderer Betieutung ist die elektrische Reaktion 
der Muskeln: myasthenische Reaktion; versetzt 
man einen Muskel durch den faradischen Strom in 
Tetanus, so werden die Muskelkontraktionen sehr bald 
schwächer, um schließlich ganz aufzuhören; nach 
längeren Pausen zeigt sich jedoch wieder normale Er- 
regbarkeit. 

Das Leiden ist ernst; der Tod kann plötzlich durch 
Atmungs- oder Schlinglähmung eintreten. 

Therapie: Vermeidung jeder Anstrengung. 
Myotonia eongrenita (Thomsensche Krankheit). 

Ätiologie: Heredität; meist bei mehreren Mitglie- 
(lern der Familie. Beginn meist in der ersten Kindheit. 

Symptome: 

1. Muskelsteifigkeit bei willkürlichen Bewe- 
gungeri, welclie jedoch bei längerer Tätigkeit des 
Muskels aufhört; 

Mftyer» Compendium der Neurologie. 3.-6. Aufl. 10 



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— 146 — 

2. hypervoluminöse Muskulatur; 

3. Steigerung der mechanischen Muskelerregbarkeit ; 

4. die mvo tonische Reaktion. Die direkte fara- 
dische Muskelerregbarkeit ist gesteigert; nach 
längerer Einwirkung des faradischen Stromes geht 
die Muskelerregbarkeit auf die Norm herab. 

Prognose: günstig. Heilung ausgeschlossen, jedoch 
besteht keine Progression. 

Therapie: nulia. 

Der Tic (impulsif). 

Ätiologie: Neuropathische Konstitution. Das 
Leiden beginnt meist in der Kindheit oder in der 
Pubertät. 

Symptome: 

1. Ruckartige Bewegungen, die an sich ganz wie 
zweckmäßige, willkürliche Bewegungen ablaufen, 
jedoch ohne adäquaten psychischen Vorgang des 
Individuums zwangsartig auftreten und sich in 
kürzeren oder längeren Intervallen immer in der- 
selben Weise wiederholen. 

2. Der Tic kann lokalisiert oder allgemein sein. 
Am häufigsten sind Zuckungen der Gesichtsmus- 
keln (Allgen blinzeln, Verziehen des Mundes), Dreh- 
bewegungen des Kopfes nach einer Seite hin, 
Schulterbewegungen. 

3. Willkürliche Bewegung und Fesselung der Auf- 
merksamkeit wirken meist beruhigend. 

Komplikation: Das Leid(»n ist oft mit Psych - 
asthenie (vgl. S. 188) vergesellschaftet. Auf die gleich- 
zeitig bestehende Psychasthenie führe ich die oft da- 
mit verbundene Echolalie (S. 229) und Koprolalie 
zurück. 

Prognose: quoad sanationem zweifelhaft. Oft 
bleibt das Leiden während des ganzen Lebens bestehen; 



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— 147 — 



manchmal tritt nach jahrelanger Dauer Genesung ein. 
Remissionen und Intermissionen icommen vor. 

Therapie: 

1. Hemmungsgymnastik (nach Oppenheim): 
Übungen im Ruhighalten des Körpers und der 
betroffenen Teile und in der Unterdrückung von 
Reflexbewegungen. 

2. Eventuell Bronipräparate. 



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Psychiatrie. 



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A. Allgemeiiier Tdl. 



Funktionelle und organische Psychosen. 

Man unterscheidet ebenso wie bei den Nervenkrank- 
heiten organische^ d. h. auf nachweisbarer anatomischer 
Grundlage beruhende Psychosen und funktionelle Psy- 
chosen, deren anatomische Grundlage festzustellen noch 
nicht gelungen ist. 

Das Hauptunterscheidungsmerknial, welches uns 
zwischen beiden Arten eine Entscheidung treffen läßt, 
ist der Intelligonzdofoki . Bei organischen Psychosen ist 
ein Intolligenzdcfekt vorhanden, bei funktionellen Psy- 
chosen fehlt der Intelligenzdefekt. 

Die Formen der psychischen Störung. 

Der normale Mensch empfindet, denkt und 
handelt. Jede dieser drei Tätigkeiten kann eine 
Störung erleiden. Begleitet sind diese Tätigkeiten nor- 
malerweise von einem Lust- oder IJnlustgef ühl. 
Dieses Gefühl kann pathologisch gesteigert oder herab- 
gesetzt sein; die Störungen bezeichnet man als Affekt- 
störungen. 

Wir haben also bei einem Patienten vor allem fünf 
Dinge zu prüfen: 

a. die Störungen der Empfindung, 

b. die Störungen des Denkens, 

c. die Störungen des Handelns, 

d. die Störungen des Affekts, 

e. die Störungen der Intelligenz. 



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— 152 — 



I. Die Störungen der Empfindung. 

Die Intensitätsstdnmgen der Empfindung (Hyper- 
ästhesien, Hypästhesien, Anftsthesien) sind bereits in 
der „Neurologie" besprochen (vgl. S. 16 u. f.). Wir 
haben hier zu betrachten die qualitatiTen Stönuigen 
der Empfindiing (Sinnestäuschungen). 

a. Halluzinationen. 

Halluzinationen sind Empfindungen, welche ohne 
äußeren Reiz (Licht-, Schallreiz etc.) auftreten. 

1. Qualität der Halluzinationen: Halluzina- 
tionen können auf allen Sinnesgebieten auftreten; 

man unterscheidet daher: 

a. Gesichtshalluzinationen oder Visionen: 
Funkensehen, Sehen von Landschaften, thea- 
tralischen Szenen etc; die gesehenen Gegen- 
stände haben meist natürliche Größe; sie 
können aber auch Riesengröße haben oder um- 
gekehrt auch Miniaturbilder sein. Die Zahl 
der gesehenen Gegenstände kann auch ver- 
schieden sein; z. B. l)t'i den alkoholistischen 
Psychosen (Delirium tremens etc.) ^^ird meist 
ein Gewimmel von kleinen Tieren (Käfern, 
Mäusen etc.) gesehen; 

ß. Gehörshalluzinationen: 

a. Akoasmen: der Patient hört ohne äußeren 
Reiz Geräusche, Läuten, Donnern; 

b. Phoneme: Worte und Sätze werden gehört; 
sehr oft handelt es sich um verschiedene 
Stimmen, welche zu dem Patienten reden; 
die Stimmen können ganz leise sein oder 
auch laut; 

y. Rhythmische Halluzinationen: z.-B. Du 
bist ein Narr, du bist ein Narr usf. 



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— 153 — 



G e s c h m a c k s h a 1 1 u z i r 1 a t i o n e n : Geschmack 
von Kot, Blut etr. im Munde; 

€. G 0 r u c Ii s h a 1 1 u z i n a t i ü n en : Geruch von Blu- 
men, Scliwefel, Pech etc.: 

Berührungs- oder ha p tische Halluzi- 
nationen: der Kranke empfindet einen Schl;»«^ 
oder einen Stich oder eine Umarmung, einen 
Koitus etc. Auch Empfindung(^n im Innern des 
Körpers können entstehen: vermeintliche Ver- 
lagerungen, Bewegungen der Eingeweide ge- 
hören dazu. 

tj. Kin ästhetische Halluzinationen (hall u - 
zinierte Bewegungsempfindungen): der 
Kranke glaubt plötzlich, sein Arm werde ge- 
hoben, sein Bein werde gestreckt; er glaubt zu 
sprechen, ohne daß er es wirklich tut; er glaubt^ 
irgendwo hinabzufallen etc. 

2. Lokalisation der Halluzinationen. Die 
halluzinierte Empfindung kann von dem Kranken 
in die Nähe oder in größere Entfernung projiziert 
werden. Visionen treten oft immer wieder an einer 
bestimmten Stelle des Gesichtsfeldes auf. Manch- 
mal werden die Halluzinationen in das Innere des 
eigenen Körpers verlegt, z. B. Stimmen im Leibe. 

3. Ents.tehu ngsbedingungen. Bei manclicn Pa- 
tienten ist es nötig, daß sie die Augen geschlossen 
halten, um Visionen zu bekommen, bei anderen 
wieder, daß sie sie geöffnet haben. Sehr wichtig 
ist für das Zustandekommen von Akoasmen oft 
die Aufmerksamkeit des Patienten; der Kranke 
hört Stimmen, sobald er hinhorcht. Blind Ge- 
borene haben niemals Visionen, taub Geborene 
niemals Akoasmen ; erworbene Blindheit und Taub- 
heit dagegen schließen Halluzinationen nicht aus. 
Nicht selten lassen sich Halluzinationen dem 
Kranken direkt suggerieren. 

4. Einfluß der Halluzinationen auf dasDen- 



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— 154 — 



ken: Es ist von prinzipieller Wichtigkeit, ob der 
Halluzinant an die Wirklichkeit der Halluzination 
glaubt oder nicht. Ist er von der Wirklichkeit 

der Halluzination überzeugt, so kann diese einen 
mächtigen Einfluß auf sein Denken und Handeln 
ausüben, z. B. kann eine Stimme, welche dem 
Patienten zu essen verbietet, ihn davon abhalten, 
Nahrung zu sich zu nehmen. Äußerlich beobachtet 
man oft: Gespanntes Hinhorchen, Ausspeien, Ab- 
wehrbewegungen etc. 

5. Vorkommen der Halluzinationen: 

a. Psychosen: besonders bei der Halluzinose; bei 
dieser finden sich häufig Visionen, während bei 
der chronischen Paranoia Akoasmen und andere 
Halluzinationen überwiegen; 

ß. Neurosen: Hysterie, Chorea und Epilepsie. Bei 
Hysterischen und Epileptischen handelt es sich 
oft um ganze Erlebnisse (wie im Traume des 
Gesunden); 

y. Fieberzustände: sogenannte Fieberdelirien; 

d, Intoxikationen: Opium, Alkohol (sensuum fal- 
lacia ebriosa), Blei, Belladonna etc.; 

e. Inanition, Erschöpfung, Schlaflosigkeit. 

b. Illusionen. 

Illusionen sind Empfindungen, die auf einem äuße- 
ren Reiz beruhen, diesem äußeren Reiz jedoch nicht 

entsprechen. 

1. Gesichtsiliusionen: Die Formen und die Far- 
ben eines Gegenstandes können dem Patienten 
verändert erscheinen ; so können ihm die Gesichter 

der umgebenden Personen als höhnische Gri- 
niasson erscheinen. Die Objekte können auch ver- 
^'rößcrt oder verkleinert erscheinen: illusionäre 
-Ntakropsie und Mikropsie; diese finden sich 
hauptsächlich bei Epileptikern. 



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155 — 



2. Gehörsillusionen: Unartikulierte Geräusche 
(Tritte, Scharren, Regen etc) werden als Melodien 
oder Reden gehört. 

3. Geruchs- und Geschmacksiii usionen : Die 
Speisen können nach Kot schmecken, Blütenduft 
erscheint als IJringeruch, etc. 

4. Berührungsillusionen: z. R. Empfindung einer 
Kohabitation durch den Druck einer Reitdecke. 

5. Kinetische Illusionen: Ruhende Objekte 
scheinen sich zu bewegen. 

6. Illusionäre Organempfindungen: Einfache 
Darmbewegungen werden als Kindsbewegungen 
aufgefaßt; einzelne Körperteile erscheinen dem 
Patienten schief oder verzogen. 

II. Die Störangen des Denkens. 

a. Die Störungen der Vorstellungen. 

1. Wahnvorstellungen: sind falsche Vorstellungen, 
welche unkorrigierbar sind und sich meist auf die 
eigene Person des Patienten beziehen. Man unter- 
scheidet hinsichtlich der Entstehung: 

a. primäre Wahnvorstellungen: tauelien nieist iui 
Anschluß an normale Empfindungen auf. 

ß. halluzinatorische \\ almvorstellungen : entstehen 
auf Grund von Halluzinationen; wenn z. R. dem 
Kranken eine Stimme sagt, im Essen sei Gift., 
so kann ihm dadurcli diese Wahnvorstellung 
a n f ge (1 r ä n gt we r d e n . 

y. logisch gefolgerte Wahnvorstellungen: schließen 
sich an andere Wahnvorstellungen oft mit 
großer Konsequenz an. 

Der Inhalt der Wahnvorstellungen kann verschie- 
den sein: 



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— 156 — 



c. Der Größenwahn: der Kranke hält sich für 
eine Genie, ein Werkzeug Gottes, einen l^ropheten^ 
einen zweiten Napoleon, einen Krösus usw. Größen- 
wahn findet sich liäutig bei progressiver Paralyse, 
Manie und Paranoia. Oft verrät sich in den 
Größenideen der Intelligenzdefekt, z. B. wenn sich 
die Größenideen vollständig widersprechen, der 
Kranke sich etwa kurz hintereinander für Gott, 
Gottes Sohn, Maria und andere hält 

ß. Der Versündigungsw^ahn : Der Kranke glaubt, 
eine Sünde begangen zu haben und macht sich 
deshalb Vorwürfe; er findet sich hauptsächlich bei 
der Melancholie. 

y. Die hypochondrische Wahnvorstellung: 
der Kranke glaubt, an einer unheilbaren Krank- 
heit zu leiden, an Schwindsucht, Rückenmarks- 
schwindsucht, Krebs usw ., oder der Kranke glauht, 
irgend ein Organ nicht mehr zu besitzen, keine 
Lunge, keinen Magen mehr zu haben, in seinen 
Adern fließe kein Blut mehr, sein Schlund sei ver- 
wachsen usw. Hypochondrische Wahnvorstel- 
lungen kommen hauptsächlich bei der Melancholie 
vor. 

S. Verarmungswahn: hauptsächlich bei Melan- 
cholie. 

e. Verfolgungswahn: schließt sich oft an andere 
Wahnideen an, so z. B. an den Größenwahn; der 
Kranke glaubt, von Feinden verfolgt zu werden, 

w-eil er sich für eine bedeutende Person hält. Bei 
Alkoholikern findet sich häufig der Eifersuchts- 
wahn. Verfolgungswahn findet sich hauptsächlich 
bei Paranoia. 

2. Zwangsvorstellungen sind ebenfalls falsche Vor- 
stellungen, die sich dem Kranken aufdrängen, 
trotzdem er selbst nicht an sie glaubt. Sie können 
zu Zwangshandlungen und Hemmungen führen; 
sie finden sich hauptsächlich bei der Neurasthenie 



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— 157 — 



und anderen psych upathischen Konstitutionen. 
Der Inhalt der Zwangsvorstellungen ist ein ganz 
verschiedener: 

a. Die Agoraphobie: Ein Kranker, der über 
einen freien Platz gehen will, hält diesen plötz- 
lich für ungeheuer groß und glaubt, nie über 
ihn hinüberkommen zu können. 

ß. Die Klaustrophobio: macht sich in ge- 
schlossenen Räumen geltend; z. B. glaubt der 
Kranke im Theater, ein Feuer könne aus- 
brechen und ihm der Ausweg versperrt werden, 
oder er fürchtet, plötzlich eine Notdurft ver- 
richten zu müssen usw. 

y. Die Grübelsucht (Folie du doute): Der 
Kranke fragt sich beim Anblick eines einfachen 
Gegenstandes: warum ist derselbe gerade so 
und nicht anders? 

d. Die Zweifelsucht: Der Kranke macht sich 
Gedanken, ob dieses oder jenes richtig getan 
ist (z. B. ob die Brief adresse richtig geschrieben 
etc.). 

b. Störungen der Ideenassoziationen. 

1. Krankhafte Besehlennigung der Ideenassoziatio- 
nen, Ideenflaeht: Die Kranken kommen beim 
Sprechen vom Hnndi itsten ins Tausendste (Lo- 
gorrhoe); ein zufällig fallendes Wort fangen sie 
sogleich auf und knüpfen daran die verschieden- 
sten Vorstellungen. Verknüpft mit dieser Ideen- 
flucht ist nieistons eine gesteigerte Aufmerksam- 
keit: Hyporvigilität oder Hyporprosexie. 
Ideen riucht findet sich hauptsächlicii bei der 
Manie. 

2. Krankhafte Verlangsamnng der Ideenassoziation, 
Denkhenimun^i:: der Kranke antwortet auf Fragen 
langsam oder gar nicht. Vergesellschaftet ist die 



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Denkhenmiung meist mit einem Mangel an Auf- 
merksamkeit, Aproscxie, und mit motorischer 
Hemmung. Die motorische Hemmung äußert 
sich in einer Verlangsamung aller Bewegungen, die 
entweder ihren Grund in einer Erschlaffung oder 
einer zu intensiven Spannung der Muskeln hat; 
im ersteren Falle begegnen passive Bewegungen 
keinem Widerstand, in letzterem Falle sind passive 
Bewegungen erschwert oder unmöglich: kata- 
tonische Spannung. 

Unter Stupor versteht man den Symptomen- 
komplex von Denkhemmung, Aprosexie und mo- 
torischer Hemmung. 

Die Denkhemmung kann sekundär oder pri- 
mär sein. Die sekundäre Denkhemmung ist mei- 
stens durch Halluzinationen bedingt. Der Kranke 
hört z. B. eine Stimme, welche ihm zuruft, er müsse 
in einer ganz bestimmten Stellung beharren, ohne 
sich zu rühren. Die primäre Denkhemmung 
kommt hauptsächlich bei der Melancholie vor. 

3. Die Störungen des Zusammenhanges der Ideen- 
assoziation, Dissoziation oder Inkohärenz: 
der Kranke gibt auf Fragen Antworten, die gar 
nicht passen, z. B. auf die Frage, wie alt er ist, 
gibt er seinen Beruf an. Dabei findet sich oft eine 
Störung des Wiedererkennens. Gegenstände und 
Personen werden verwechselt; der Kranke kann das 
Datum, seinen Aufenthaltsort, seine letzten Er- 
lebnisse nicht angeben. Dieser Zustand speziell 
wird als Unorientiertheit bezeichnet. Die In- 
kohärenz kann ebenfalls primär oder sekundär 
auftreten: 

o. die primäre Inkohärenz findet sich fast aus- 
schließlich bei der Halluzinose; 

ß. die sekundäre Inkohärenz kann bedingt sein 
durch hochgradige Ideenflucht, durch zu zahl- 
reiche Halluzinationen und Wahnvorstellungen, 



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— 159 — 



durch starke Affektsteigerungen und durch In- 
telligenzdefekt. 

c. Der Intelligenzdefekt. 

Der Intelligenzdefekt äußert sich: 

1. in einem abnormen Mangel an Erinnerungsbildern 

(Gedächtnisschwäche); 

2. in Urteilsschwäche; sie kann angeboren oder 
erworben sein. 

Der erworbene Intelligenzdefekt wird auch als De- 
menz bezeichnet. Um zu beurteilen, ob der Intelligenz- 
defekt angeboren oder erworben ist, muß man sich er- 
kundigen, ob der Schwachsinn erst im späteren Alter 
oder schon in der frühesten Kindheit sich geltend ge- 
macht hat. Zur Beurteilung der Größe des Intelligenz- 
defektes muß man sich darüber orientierten, welche Er- 
ziehung, Schulbildung usw. der Patient genossen hat. 

In schwereren Graden führt der Intelligenzdefekt 
infolge des Verlusts der Erinnerungsbilder zur Inko- 
härenz. Die Gedächtnisschwäche kann sich auf Er- ' 
lebnisse bis zu einem bestimmten Zeitpunkt (retrograd) 
erstrecken; zuerst schwindet das jüngst Erlebte. 

Größenwahn und Schwachsinn sind die psychischen 
Hauptsymptome der progressiven Paralyse. 

Inteiligenzprüfung. 

I. Gedächtnis (Retention): 

a. Schulwissen (Fragen aus der Geschichte, Re- 
ligionsgeschichte usw.). 

b. Er f ahm ngs wissen: Welche Farbe hat eine 5- 
Pf ennigmarke ? usw. 

c. Merkfähigkeit: 

1. Fragen nach jüngst Vergangenem: Was haben 



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— 160 — 

Sie gestern getan ? Wann haben wir uns zuletzt 

gesehen ? 

2. Zahlenprobe: Man gibt dem Patienten eine 
Rechenaufgabe (z. B. 5 x 9)^ dann läßt man 
ihn 6 einstellige Zahlen nachsprechen (z. B. 3^ 
5, 8, 1, 2, 6), dann richtet man an ihn irgend eine 
belanglose Frage und verlangt schließlich von 
ihm die Angabe der Rechenaufgabe und der 
vorgesprochenen Zahlen. 

Ii. YorstellungsinTentar: 

a. Konkrete Vorstellungen: 

1. Benennenlassen: Körperteile (Arm, Bein usw.), 
Nahrungsmittel (Milch, Tee usw.), Gebrauchs- 
gegenstände. 

2. Beschreibenlassen. 

3. Zeichnenlassen. 

b. Abstrakte Vorstellungen: 

1. Wiodorerkennen eines Begriffs in einem vor- 
erzälilton Beispiel (Dankbarkeit, Lüge usw.). 

2. Erfindonlassen eines Beispiels. 

3. Dofinicrcnlassen : Was ist Rache ? Was ist Lüge ? 

c. Unterscheidung von Vorstellungen: Was ist 
der Unterschied zwischen 

Ochs und Pferd ? 
Treppe und Leiter? 
Irrtum und Lüge? 

in. Kombination: 

a. Vorlegen zusammt^nhängcndor Abbildungen, 
z. B. Münchener Bilderbogen, Busch- Album usw. 

b. Nacherzählenlassen kleiner Erzählungen; 
FracTf» nach der Pointe (was kann man aus der Er- 
zählung lernen? usw.). 

c. Ergänzungsmethoden: Bei der Ebbinghaus- 
sehen Methode legt man dem Kranken einen Text 



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— 161 — 



vor, in welchem an verschiedenen Stellen Silben 
ausgelassen sind, die der Kranke zu ergänzen hat; 
z. B. Als ich mit — Mutter — die Stadt fuhr, 

da trafen — zwei usw. 

IV. Aufmerksamkeit (Tenazität): Abgesehen von 
der Beobachtung dos Patienten, wie er einer Erzählung 
folgt usw., ist von Wert die Bourdonsche Probe. Man 
legt dem Patienten einen sinnlosen Text vor und läßt 
ihn alle e oder i oder n ausstreichen. Dann gibt man 
ihm einen sinnvollen Text und stellt ihm die nämliche 
Aufgabe; hierbei kann man zugleich die Vigilität, 
d. h. die Ablenkbarkeit der Aufmerksamkeit (durch 
den Sinn des Textes) beobachten. 

III. Die Affektstörungen. 

1. Die DepresBion oder die krankhafte Traurigkeit 
kann primär oder sekundär auftreten. 

a. Die sekundäre Depression entsteht durch Hallu- 
zinationen oder Wahnvorstellungen, welche Un- 
lustgefühl (negative Gefühlstöne) erzeugen; z.B. 
kann die Depression eines Paranoikers durch 
den Verfolgungswahn hervorgerufen sein. 

/}. Primäre Depression stellt sich als eine gänzlich 
unmotivierte Traurigkeit dar. Ist die krank- 
hafte Traurigkeit im Anschluß an ein ent- 
sprechendes Ereignis entstanden, so steht den- 
noch ihvv Schwere und Dauer in einem Miß- 
verhältnis zu der Schwere des Unglücks; das 
ist z. B. der Fall, wenn jemand über den Tod 
einer ihm nahestehenden Person monatelang 
weint, die Nahrungsaufnahme versteigert usw. 

Die primäre Depression findet sich haupt- 
sächlich bei der Melancholie, ferner bei der 
hyp(H'lu)ndrischen Form der Neurasthenie, 
häufig bei der progressiven Paralyse, im Prodro- 
malstadium der Manie. 

Mayer, Compendium der Nearologie. 8.-5. Aufl. 11 



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— 162 — 

2. Die krankhafte Angst; sie ist liäufig mit eigen- 
tümlichen Sensationen verknüpft, z. B. Beklem- 
mungsgefühl in der Herzgegend (Präkordialangst), 
oder ein ähnliches Gefühl auf der Brust (Brust- 
angst), im Kopf (Kopfangst), im Unterleib (Unter- 
leibsangst). Kann der Kranke die Angst nicht lo- 
kalisieren, so äußert er gewöhnlich, die Angst sitze 
überall. 

Oft äußert sich die Angst in den sogenannten 
Angstbewegungen: der Patient ringt die Hände, 
reibt sich die Finger, manchmal entsteht sogar 
ein förmlicher Tremor einer oder mehrerer Ex- 
tremitäten. Einen solchen von Angstbewegungen 
begleiteten Zustand bezeichnet man auch als 
ängstliche Agitation. 

Die Depression sowohl wie die Angst bedingen 
nicht selten eine motorische Hemmung, entweder 
in Form einer völligen Schlaffheit (Resolution) der 
gesamten Körpermuskulatur oder in Form kata- 
tonischer Spannungen (Attonität). Hemmung und 
Agitation kOnnen sich gegenseitig ablösen; daher 
darf man z. B. der Hemmung des Melancholikers 
nie trauen, weil sie sich plötzlich in Agitation 
(Selbstmordversuch) verwandeln kann. 

3. Die krankhafte Heiterkeit oder Hyperthymie, Ex- 
altation: die primäre tritt unmotivit^ t auf, die se- 
kundäre infolge von Halluziiicitionen und Wahn- 
vorstellungen, die ein Lustgefühl (positive Gefühls- 
töne) erzeugen. 

Die Hvperthvmie führt meist zu einer motori- 
sehen Unruhe, in leichteren Graden Ubergeschäf- 
tigkeit, in schwereren Graden Tobsucht: Be- 
wegungsdrang oder hyperthy mische Agi- 
tation. Auf den Widerstand der Umgebung 
reagiert der Patient meist mit Zornausbrüchen. 

Die primäre Exaltation ist das Kardinalsynip- 
tom der Manie, sie findet sich aber auch im Ver- 



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— lea — 



• 

laufe der Dementia paralytica, in der Rekonvale- 
szenz der Melancholie (reaSctiveHyperthymie); bei 
den sogenannten zirkulären Psychosen wechseln 
Phasen primärer K x iltation und Phasen primärer 
Depression miteinander ab. 

4. Krankhafte Apathie: Der Kranke kann ttber nichts 
mehr froh, aber auch über nichts mehr traurig sein^ 
er hofft und fürchtet nichts mehr, das ganze Affekt- 
leben ist erloschen. Speziell bei dem erworbenen 
Schwachsinn äußert sich die Apathie in einer aus- 
gesprochenen Charaktorveränderung, indem der 
Kranke Schamgefühl, Wahrheitsliebe, Rechtsge- 
fühl verliert. 

IV. Die Störungen des Handelns. 

1. Krankhafte Ilandlung^en infolge von Empfindungs- 
störungen: Halluzinationen und Illusionen bestim- 
men die Handlungen des Patienten, besonders 
wenn sie in rascher Folge sich häufen. Eine un- 
vermittelte Halluzination kann plötzlich zu einer 
unerwarteten Gewalttätigkeit des Kranken gegen 
sich oder seine Umgebung führen. 

2. Krankhafte Handlungen infolge von Intelligenz- 
defekt: Z. B. kann ein Schwachsinniger ein schwe- 
res Verbrechen (Totschlag usw.) begehen. 

3. Krankhafte Handlungen infolge Yon Affektstö- 
rungen: 

a. die hyy)erthymische Agitation; 

ß. Zornausbrüche und Tobsuchtsanfälle; 

y. dio ängstliche Agitation; 
ö. die motorische Hommnng. 

Einen charakteristischen Einfluß haben die patho- 
logischen Affekte besonders auf die Ausdrucksbewe- 
gungen (das Mienenspiel, den Gesichtsausdruck, die 
Sprechweise usw.). 



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— 164 — 

Die Degenerationszeichen. 

Die Dpgenereitionszeichon sind körperliche Zeichen, 
welche eine Störung in der Anlage und Entwicklung des 
Individuunis verraten. Über ihre pathognonionische 
Bedeutung sind die Anscliauungen geteilt; nach meiner 
Ansicht läßt ihr Vorhandensein stets auf eine de- 
gcnerative Konstitution des Nei'ven Systems 
schlielien, selbst wenn es bei dem betreffenden Indi- 
viduum niemals zum Auftreten von Störungen des Ner- 
vensystems kommt. Wir unterscheiden: 

a. Anatomische Degeneratioiisseiehen (die besonders 
wichtigen sind durch den Druck hervorgehoben): 

1. Abnorme Schädelbildungen: Auffallende Asym- 
metrie des Schädels, Depressionen, Vorwöl- 
bungen usw. 

2. Abnorme Gaumenbildungen: Steiles Gaumen- 
gewölbc, gespaltene Uvula, Hasenscharte^ 

Wolfsrachen usw. 

3. Finger- und Zehenabnormitälrn : Syndaktylie 
(Verwachsung von Zehen), Polydaktylie (über- 
zählige Finger oder Zehen). 

4. Abnormitäten am Olir: Verkümniorung der 
Fossa helicis, ane:ewachsenes Ohrläppchen, 
Spitze am Helix (fälschlich Darwinsche Spitze), 
abstehende Ühren. 

5. Abnormitäten des llaarwiK'hses : Ineiiiander- 
übergehen der Augenbrauen, vordere Haargrenze 
kann weit in die Stirne hineinreichen, Verdop- 
pelung des Haarwirbels. H ypcrtrichosis ; Nacvi, 
i)esondcrs im Gesicht, Polymastie (rudimentäre, 
überzählige Brustwarzen). 

6. Unregelmäßiirc Stellung der Zähne, Persistieren 

des Milchgebisses. 

7. Abnormitäten der Genitalien: Epispadie, Hypo- 



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— 165 — 

spadie, Kryptorchismus, infantiler Uterus, ver- 
frühtes Auftreten der Menstruation, Phimose, 
konträr-geschlechtlicher Habitus. 

b. Funktionelle De^enerationszeichen: 

1. Verspätetes Geh(Mi- und Sprecheniernen. 

2. Enuresis nocturna. 

3. Neigung zu Exzessen und Perversitäten. 

4. Widerstand slosigkeit gegen Gifte, besonders 
gegen Alkohol. 

5. Eigentümliches, besonders inspiratorisches La- 
chen (das normale Lachen ist exspiratorisch). 

6. Neigung zu überwertigen Einfällen. 

c. Stoffwechselkrankheiten als Degenerationszeichen: 

1. Harnsaure Diathese (Gicht). 

2. Diabetes mellitus. 

3. Gallensteine. 

Als Ursache der Mehrzahl der Psychosen be- 

«,' 

trachtet man die angeborene Schwäche oder Degene- 
ration des Xervensvstems; das auslösende Moment 
bildet eine Infektion oder Intoxikation ir^i^end einer 
Art: der Sy])hilitiker erkrankt vorzugsweise dann an 
Tabes oder J)i'ni(M\tia paralytica. dpr Alkoholii<er dann 
am clironischen Delirium, wenn (^r gleichzeitig «'ine 
dogenerat i ve Konstitution besitzt. Auslösende 
Moniente smd: 

1. endogene Gifte: 

a. physiologische Stoffwechselprodukte (Gene- 
rationszeiten, Senium etc.); 

b. pathologische Stoffwechselprodukte (Diabetes, 
Gicht etc.); 

c. unbekannte Gifte (Epilepsie, Katatonie); 

2. exogene Gifte: Infektionen und Intoxikationen. 



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— 166 — 



Gang der psychischen Untersuchung. 

A. Anamnese. 

Die Anamnese hat man sowohl von dem Patienten 
selbst (subjektive Anamnese), als auch von dessen Um- 
gebung (objektive Anamnese) zu erheben; die Anamnese 
hat zu berttcksichtigen : 

1. Heredität: Psychosen, Nervenkrankheiten, Selbst- 
riiord, Syphilis, Trunksucht, Verbrechen, Ver- 
wandtschaftsehe der Eltern; 

2. körperliche Entwicklung: Zeitpunkt des Laufen- 
lernens, Schluß der Fontanellen, Dentitionsver* 
hältnisse; 

3. Schulbildung, Leistungen in der Schule; 

4. berufliche Tätigkeit; 

5. eheliche Verhftltnisse, sexueller Verkehr, bei Frauen 
Puerperien; 

6. Gemüt, Charakter, Neigungen; 

7. frühere Erkrankungen (besonders Syphilis); 

8. sonstige Schädlichkeiten: geistige oder körperliche 
Überanstrengungen, Gemütserschütterungen, Al- 
koholismus, Nikotinismus; 

8. Entwicklung der jetzt bestehenden Psychose. 

B. Psychischer Status praesens. 

I. Allgemeines Verhalten: 

1. Gesichtsausdruck, Mienenspiel, 

2. Sprechweise, 

3. Handlungen: 

a. Spontane Bewegungen, 

ß. aufgetragene Bewegungen, 

y. Reaktion auf passive Bewegungen. 

II. Empfindungen: Halluzinationen und Il- 
lusionen ; deren Form, Farbe, Größe usw. ; Feststellung, 



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— 167 — 

wie der Patient über die Wirklichkeit seiner Sinnes« 
tttuschunifen denkt. 

III. A ff ekte: Traurigkeit, Angst, Hoitorkeit, Reiz- 
barkeit; Frage, ob die Affektstörung dauernd besteht 
(Melancholie, Manie) oder nur mitunter auftritt (Neur- 
asthenie, Hysterie). 

IV. Vorstellungen: 

1. Prüfung auf Intelligenzdefekt: Schulkenntnisse, 
historische Fragen» Fragen nach Lebensschick- 
salen des Patienten; 

2. Prüfung der Merkfähigkeit: Fragen nach den jüng- 
sten Erlebnissen; Fähigkeit, sich mehrstellige Zah- 
len zu merken usw.; 

3. Wahnvorstellungen. 

V. Ideenassoziation: 

1. Aufmerksamkeit (Teilnahmslosigkeit, Neugier); 

2. Geschwindigkeit der Ideenassoziation; 

3. Orientiertheit : heutiges Datum, augenblicklicher 
Aufenthaltsort, Personen der Umgebung usw. 

Zur Klinik der Geisteskranken: Die Geistes- und 
Gemütskranken zeigen sich uns in einem bestimmten 
Zust an(lsl»il d : man versieht darunter die Summe der 
zu geg(^h(Mi('r' Zeit vorhandenen KrankheitssvFiiptome. 
Verschiedene Erkrankungen küiineii ähnliche 
Zust andsbilder aufweisen (z. B. Depression kommt 
bei .Melan< hnlie, Paralyse etc. vor); aus dem Wechsel 
der Symptome und anderen Befunden erst läßt sich 
die Krankheitsdiagnose stellen. 

Einteilung der Psychosen. 

Die große Zahl der Psychosen wird von verschie- 
denen Psychiatern ganz verschieden eingeteilt. Wir 
schließen uns in unserer Einteilung an Ziehen an. 



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— 168 — 



Zunächst teilen wir ein in Psychosen ohne Intelli- 
genzdefekt und Psychosen mit Intelligenz- 
defekt. Die Psychosen ohne Intelligenzdefekt teilen 
wir wieder ein in einfache Psychosen und zusam- 
mengesetzte oder periodische Psychosen. Die 
Psychosen mit Intelligenzdefekt teilen wir ein in Psy- 
chosen mit angeborenem Schwachsinn und Psy- 
chosen mit erworbenem Schwachsinn. 



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B. Spezieller Teil 



Psychosen ohne Intelligenzdefekt, 
a. Einfache Psychosen. 
Helaneholie*. 

Symptome: 

a. Psychisclie Symptome: 

1. Depression, manchmal mit Angst verbunden. 

2. Erschwerung des Vorstellungsablaufes. 

3. Motorische Hemmung: Abulie (Unschlüs- 
sigkeit). 

4. Wahnvorstellungen: sind bei der Melan- 
cholie Kleinheitsvorstellungen: 

a. Versiindigungswahn. 
ß. Verarmungswahn. 

y. Kraiikheits- oder Hypociiondrischer Wahn. 

b. Somatische Symptome: 

1. Mangelhafter Schlaf. 

2. Schlechte Ernährung; Salzsäuresekretion des 
Magens, Speichelsekretion, Tränensekretion 
(tränenloses Weinen) meist herabgesetzt. 

3. Respiration: meist verlangsamt, nur bei Angst- 
affekten beschleunigt. 

* Krtapelln ond leliw Schale kennen nur dne refaie MelanclioUe des Bttek- 
blldnngtttten; die anderen ]>m»reMloneii xeclmet er snm msniieh'depnsslvi»! Im - 
eefai, nementto pnweox» ^iteile ete. 



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— 170 — 

Ätiologie: Die Melancholie ist endogenen Ur- 
sprungs; sie kann ererbt sein: gleiohartige Vererbung 
(Vater oder Mutter hat meistens auch an Melancholie 
gelitten). 

Gelegenheitsursachen (auslösende Momente): 

1. Gencrationsvorgänge: Pubertät und Klimakterium 
werden am häufigsten befallen. 

2. Trauma. 

3. Affektstöße: hauptsächlich akute (Todesfälle, 
Geldverlust, Entlobung, Verlobung, plötzliche Ver- 
setzung in andere Verhältnisse); daneben kommen 
auch chronische Affektstöße in Betracht (Kummer, 
Heimweh usw.); dagegen fast gar nicht perakute 
(Schreck usw.). 

4. Gravidität (Furcht vor der Entbindung). 

5. Neurosen: Neurasthenie, Hysterie, Epilepsie. 

6. Chronischer Alkoholismus: führt zu schweren 
Formen der Melancholie. 

Varietäten: 

1. Hypochondrische Melancholie, von vielen 
Psychiatern auch einfach Hypochondrie ge- 
nannt: Überwiegen der hypochondrischen Vor- 
stellungen. 

2. Passive Melancholie: Depression ohne Angst. 

3. Aktive Melanrholie oder Melancholia 
agitata: D(»prossiuii mit Angst. 

4. Stuporöse Mf'laneholie oder Melancholia 
attonita: mit katatonischen Zuständen. 

5. Hypomplancholie oder Melancholia sim- 
plex: lei( hte Form der Melancholie, bei der nur 

Depression besteht. 

6. Apathische Melancholie: Mangel aller Affekte 
und Gefühl der Traurigkeit eben wegen dieses 
Mangels. 



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— 171 — 

7. Halluzinatorische Melancholie: selten; es 
bestehen Sinnestäuschungen von geringer Leb- 
haftigkeit. 

Yerlaof: Die Melancholie dauert 2 — 6-r-8 Monate. 
Prodromalstadium fehlt h&ufig^ manchmal gehen ga- 
strische Beschwerden, Reizbarkeit und Erechlaffung der 
Depression voraus. Häufig findet sich ein Nachstadium 
mit reaktiver Hyperthymie (Ausgelassenheit). 

Die Melancholie kann ausgehen: 

1. in Heilung: in den meisten Fällen; 

2. in chronische Melancholie; 

3. in Tod durch Selbstmord oder Nahrungsverwei- 
gerung; 

4. in sekundäre Demenz. 

Prognose: günstig; Rezidive sind ziemlich häufig; 
es gibt Fälle, in denen eine periodische Wiederholung 
der Melancholie vorkommt: periodische Melan- 
cholie^ oft mit jahrelangen Intervallen. 

Differentialdiagnose: 

1. gegen Neurasthenie: der Neurastheniker ist 
nur zeitweilig deprimiert, nicht kontinuierlich 
wie der Melancholiker; 

2. gegen Paranoia: 

a. die Depression und Angst sind bei den Para- 
noikern Folgezustände des Verfolgungswahn- 
sinns ; 

ß, der Paranoiker besrliwert sich über die Unge- 
rechtigkeit der Verfolgung, der Melancholiker 
dagegen fühlt sich schuldig; 

3. gegen Dementia paralytica, senilis, hebe- 
phrenica: bei diesen ist stets ein Intelligenzdefekt 
vorhanden; bei der Dementia paralytica außerdem 
noch somatische Symptome: Pupülenstarre, 
Sprachstörungen usw. 



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— 172 — 

Therapie: 

a. Behandlung der Melancholie mit Angst. 

1. Aufnahme in geschlossene Anstalt wegen der 
Suizidgefahr; vor der eventuellen Aufnahme ge- 
naue Aufsicht: 

a. Verwahrung der Fenster und Türen; 

ß, Fernhaltung von Instrumenten (Messer, 

Schere); 
y. Verhütung des Erhängens. 

2. Absolute Bettruhe. 

3. Opium: 3mal täglich 0,05 steigend bis auf 0,3; 
Opium hat bei Melancholie seiton Obstipation 
zur Folge; da das Opium die Salzsäurosokrotion 
des Magens herabsetzt, so gibt man am besten 
gleichzeitig von einer Lösung von Acid. hydro- 
chlor. 3,0 : 200,0 Va Stunde nach jeder Mahl- 
zeit einen Eßlöffel auf ein Glas Wasser. 

4. Hydropathisclie Einpackungon : abends 24° C. 
eine Stunde lang; bei Beschleunigung des Pulses 
muß die Einpaclvung abgebrochen werden. 

h. Melancholie ohne Angst: 

1. Bei ungünstiger Vermögenslage Einlieferung in 
eine geschlossene Anstalt, bei günstiger in eine 
offene Pri vat anstatt ; man vermeide mö|[lichst 
den Verbleib des Kranken in seiner eigenen 
Familie. 

2. Bettruhe an einem Teil des Tages. 

3. Leichte körperliche Beschäftigung. 

4. Lektüre, aber keine humoristische. 

Stets denke man an die Suizidgefahr, besonders 
bei den motorisch nicht gehemmten Kranken, und über- 
zeuge sich durch vorsichtiges Anfragen, ob der Kranke 
mit Selbstmordgedanken umgeht. 

Forensische Bedeutune: der Melancholie: Die Angst- 
zustände können zu krimineiiea Handlungen führen^ zu 



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— 173 — 

Brandstiftungen, Kindsmord usw., auch kommt es vor, 
daß Melancholische sich eines von einem anderen aus- 
geführten Verbrechens bezichtigen. Die Verbrechen des 

Melancholikers iint erliegen nicht dem Strafgesetz, weil 
die Melancholie als krankhafte Störung der Geistes- 
tätigkeit" zu betrachten ist. 

Manie*. 

Symptome: 

1. Hyperthymie, manchmal mit Zornaffekten; 

2. Ideenflucht (Ablenkbarkeit durch kleinste Ein- 
drücke) ; 

3. Bewegung« drang (Agitatio); Rededrang etc.; 

4. Wahnvorstellungen: Renommage, Größenideen; 
dabei bleibt meist ein geringes KrankheitsbewuBt- 
sein erhalten ; 

5. Hypervigilität (H yperprosexie); 

6. Schlaflosigkeit (Agrypnie). 

Ätiologie: 

1. Geschlecht: bei dem weiblichen häufiger als bei 
dem männlichen; 

2. Alter: bevorzugt ist die Pubertätszeit und das 
mittlere Lebensalter; 

3. Heredität in der Mehrzahl der Fälle. 

Gelegenheitsursaehen : Perakute Affektstöße 
(Schreck, Zorn); Generiitionszeiten, Eintritt in eine 
neue Bescliältigung; Schwäcliezustände nach erschöp- 
fenden KrankluMten (Entbindungen usw.). 

Varietäten : 

1. Mania levis oder Hypomanie: es besteht nur eine 
mäßige Ausgelassenheit ohne Ablenkbarkeit; 

2. Mania gravis: die motorische Agitation steigert 
sich zur Tobsucht (Mania furiosa). 

* Eraepelin kennt keine reine Mauie, sondurn nur ein manisches Stadium 
dM nwnlMh-depressiTen Imsefa». 



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— 174 — 

Yerlanf: zeigt gewöhnlich drei Stadien: 

1. ein depressives Vorstadium: Dauer 2 — 8 Wochen; 

2. das exaltierte Hauptstadium; 

3. ein depressives Nachstadium. 

Dauer der Manie durchschnittlich 5 Monate. 

Ausgang: 

1. Heilung: in 90 Vo der Fälle; 

2. Tod: durch Herzschwäche, Verletzungen im Tob- 

suchlsanfall usw.; 

3. sekundäre Demenz; 

4. chronische Manie. 

Prognose: günstig; die Krankheit neigt jedoch zu 
Rezidiven und insbesondere zu periodischem Verlauf. 

Dilf erentialdiagnose : 

1. gegen normale ähnliche Charakterverän- 
derungen: gegen diese spricht es, wenn sich der 
Symptomenkomplex ganz frisch entwickelt hat, 
und wenn Schlaflosigkeit besteht; 

2. gegen Dementia paralytica: liier bestehen In- 
telligenzdefekt und meist somatische Symptome; 

3. gegen Amentia: hier sind Ideenflucht, Bewe- 
gungsdrang und Exaltation sekundär bedingt und 
abhängig von den Halluzinationen; 

4. gegen epileptische Dämmerzustände: hier 
besteht nach dem Dämmerzustand Amnesie, wäh- 
rend bei dem maniakalischen die Erinnerung an 
die Erlebnisse während der Krankheit erhalten 
bleibt; 

5. gegen Dementia senilis und hebephrenica: 
hier besteht Intelligenzdefekt. 

Therapie: 

1. Einlieferung in eine geschlossene Anstalt bei den 
schweren Formen; in leichteren Fällen womöglich 
offene Anstalt; 

2. Bettruhe im Einzelzimmer; 



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— 175 — 



3. Einschrftnkung äußerer Sinnesreize: Verbot von 
Briefen und Besuchen; 

4. prolongierte Bäder; 

5. Medikamente: In schwereren Fällen. 

a. Bromsalze. 

ß. Hyoscin 0,6 — 0,8 mg subkutan, bis 3mal täglich. 
6. Sulfonal, Trional usw. gegen Schlaflosigkeit, 
y. Ernährung: Vermeidung von Alkohol, Kaffee 

oder Tee; man gibt Milch und feingeschnittene 

Speisen. 

Forensiche Bedeutung: Die häufigsten kriminellen 
Handlungen sind Körperverletzung, Beleidigung, Not- 
zucht, Widerstand gegen die Staatsgewalt usw. Der 
Kranke ist nicht verantwortüch im Sinne des Straf- 
gesetzes. 

Amentia. 

Paranoia hallucinatoria acuta. 

Symptome: 

1. Sinnrstäuschungen: Halluzinationen und Hlu- 
sionen; es überwiegen die Visionen. Das Krank- 
heitsbewußtsein fehlt. 

2. Affektlage: gemischt und sprunghaft 
wechselnd; abhängig von dem Inhalt der Hal- 
luzinationen. 

3. Motorisches Verhalten: ebenfalls verschie- 
den je nach dem Inhalt der Sinnestäuschungen, 
meist findet sich tobsüchtige Erregung und Agi- 
tation (Angst, Zorn, Fluchtversuche usw.); häufig 
ist auch motorische Hemmung, hauptsächlich in 
katatonischer Form. Manche Kranken machen 
wiederholt diesolbon Bowo^jungon infolge immer 
wiederkehrender gleicher Halluzinationen: Stereo* 
type Bewegungen. 

4. Unorientiertheit und Inkohärenz: beson- 
ders, wenn sich die Halluzinationen sehr häufen; 



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— 176 — 



5. Wahnvorstellungen: besonders Verfolgungs- 
ideen; zu einer logischen Systembildung kommt 
es nicht infolge des allzu häufigen Wechsels der 
Sinnestäuschungen. 

Ätiologie: 

1. Puerperium: in der zweiten Hälfte der ersten 
und in der ersten Hälfte der zweiten Woche; 

2. Erseliöj) i'un i^: Blutverlust, Kachexie; 

3. nach akuten Infektionskrankheiten; 

4. Intoxikationen. 

Verlauf: Die Halhizinationen treten plötzlich in 
zahlloser Monere auf (lawinenartiger Betjinn). Die Krank- 
heit daiKMt 3-4-6 Monate. Die Erinnerung an die 
Erlchiiisse während der Krankheit ist zwar erhalten, 
aber doch etwas lückenhaft. 

Ausgänge: 

1. Heilung: in 70% der Fälle; 

2. Tod: in fast 20% der Fälle infolge Erschöpfung 
durch Abstinenz, Selbstmord usw.; 

3. sekundäre Demenz: in ungefähr 10% der Fälle; 

4. Paranoia hallucinatoria chronica. 

Prognose: vgl. Verlauf; Rezidive sind ungemein 

häufig. 

Varietäten: 

1. Die ideen flüchtige Form: hier gesellt sich zu 
den Halluzinationen und Wahnvorstellungen 
dauernde primäre ldc(Mifliicht. 

2. Die st 11 poröse Form: hier gesellen sich zu den 
Halluzinationen imd Wahnvorstellungen dauernde 
primäre Deukheiniiiiiiiij: niid motorische Hemmung. 

3. Die inkohär(Mite Forin : hie?- gesellt sich dauernde 
primäre Inkohärenz und dauernde primäre Un- 
orientiertheit dazu. 

4. Die exaltierte Form: mit dauernder primärer 
Exaltation. 



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— 177 — 



5. Die depressive Form: mit dauernder primärer 
Depression. 

Differentialdiagnose : 

1. Gegen Manie: die Manie verläuft im all^n>meinen 
ohne Halluzinationen; wenn Halluzinationen bei 
ihr auftreten, so sind dennoch die manische Exal- 
tation, Ideenflucht usw. ganz unabhängig von den 
Halluzinationen; bei Beginn der Amentia bilden 
die Halluzinationen meist das erste Symptom, bei 
der Manie Exaltation und Ideenflucht. 

2. Gegen Melancholie: hier ist Depression primär; 
bei der seltenen Melancholia halhicinatoria sind 
die Halluzinationen erst später hinzugetreten. 

3. Gegen Dementia paralytica: bei dieser be- 
stehen meist somatische Symptome und stets der 
Intelligenzdefekt; die Anamnese ergibt meist das 
längere Vorausgehen von Zeichen der Urteils- 
schwäche. 

4. Gegen Dämmerzustände: hier besteht Anal- • 
gesie; nach Ablauf des Dämmerzustandes Am- 
nesie. 

Therapie : 

1. Einlief erung in eine Anstalt; 

2. Bettruhe; 

3. ständige Überw^achung: wegen der Selbstmord- 
gefahr und der Gemeingefährlichkeit; 

4. Überernährung; 

5. Medikamente: Opium und Ghloralamid; Hyoscin 
ist geradezu kontraindiziert, weil es leicht auch bei 
Gesunden Halluzinationen hervorruft, nur bei den 
äußersten Erregungszuständen ist es anzuwenden. 

Forensische Bedeutimg: Es kommen Körperver- 
letzung, Totschlag usw. vor; der Kranke ist natürlich 
unverantwortlich. 

Mayer, Compendium der Nenrologie. 3.— 5. Aufl. 12 



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— 178 — 



Paranoia ehronlea hallueinatoria. 

Symptome: 

1. Sinnestäuschungen;, Halluzinationen und Illu- 
sionen; CS überwiegen die Akoasmen. Die Hallu- 
zinationen stellen sich nicht lawinenartig auf ein- 
mal ein wie bei der Anientia, sondern ganz all- 
mählich, gleichsam tropfenweise. 

2. Wahnvorstellungen: Diese sind sekundär 
durch die Sinnestäuschungen bedingt; Verfolgungs- 
ideen überwiegen, da auch die Halluzinationen 
meist eine feindliche Beziehung zu dem Patienten 
zeigen. 

3. Affektstörungen: Die Affcktlage ist adäquat 
den Halluzinationen; sehr selten finden sich schwere 
sekundäre Affektstörungen. 

4. Die Handlungen des Paranoikers sind oft gar 
nicht auffällig, nur selten beobachtet man stupo- 
röse oder agitierte Zustände, je nachdem hemmende 
oder agitierende Halluzinationen vorherrschen. 

Ätiologie: 

1. Die erbliche Belastung: spielt eine sehr große 
Rolle. 

2. Exzessive Masturbation, 

3. Klimakterium. 

4. Kampf ums Dasein. 

5. Chronische Reizzustände: gynäkologische 
Erkrankungen, chronischer Paukenhöhlenkatanrh. 

6. Neurosen: Hysterie, Epilepsie. 

Verlauf: Die chronische halluzinatorische Paranoia 
kann sich aus einer Amentia entwickeln, meist jedoch 
entwickelt sie sich von Anfang an chronisch. In diesem 
Falle treten die Halluzinationen ganz allmählich auf, 
anfangs oft in monatelangen Pausen. Erst später treten 
dann Wahnvorstellungen des verschiedensten Inhalts 



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— 179 — 

dazu. Diese Wahnvorstellungen bleiben lange Zeit an- 
nähernd konstant und werden nur allmählich gemäß den 
neu hinzutr(^lenden Halluzinationen modifiziert. In- 
telligenzdefekte finden sich nicht. 

Remissionen von mehrmonatlicher Dauer sind häu- 
fig, aber noch häufiger sind akute Exazerbatiouen. 

Ausgänge : 

1. Heilung: sehr selten. 

2. Tödlicher Ausgang: ehenfalls selten. 

Prognose: quoad sanationem ungünstig. 

Bifferentialdiagnose : 
1- gegen Melancholie: vgl. S. 169; 

2. gegen Manie: vgl. S. 173; 

3. gegen Dementia paralytical j . 

4. gegen Dementia senilis J mtemgenzauekt. 

Therapie: 

1. Kausalindikutionen : Entziehung von Alkohol, Be- 
kämpfung von Masturbation, Behandlung gynäko- 
logischer Leiden usw. 

2. Beschäftigung mit körperlicher und geistiger Arbeit. 

3. Stets Anstaltsaufnahme. 

Forensische Bedeutung: Der Paranoiker kann in- 
folge der Sinnestäuschungen oder der Wahnvorstel- 
lungen Gewalttätigkeiten, Mord usw. begehen. Er ist 
selbstverständlich unzurechnungsfähig. 

Paranoia ehroniea •implex. 

Symptome: 

1. Wahnvorstellungen: diese sind stets pri- 
mär, also nicht durch Sinnestäuschungen her- 
vorgerufen; zuerst finden sich nur unbestimmte 
Wahnvorstellungen, diese nehmen allmählich be- 
stimmtere Gestalt an, und schließlich entsteht ein 
logisch geordnetes System von Wahnvorstellungen. 



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— 180 — 

Unter den Wahnvorstellungen überwiegen die Ver- 
folgungs- und Größenideen. 

2. AffektstOrungen: sind selten. 

3. Sinnestäuschungen: sind ebenfalls selten und 
spielen nur eine nebensächliche Rolle. 

4. Handlungen: infolge der Wahnvorstellungen 
begeht der Paranoiker die verschiedensten Hand- 
lungen; er strengt Prozesse gegen seine vermeint- 
lichen Verfolger an, denunziert sie, schreibt Briefe 
an Damen, von denen er sich fälschlich geliebt 
glaubt usw. 

Ätiologie: 

1. Heredität: insbesondere allgemeine schwere erb- 
liche Belastung findet sich in 90®/o der Fälle. 

2. Klimakterium. 

3. Chronische Affekteinflüsse: Kummer und 
Zurücksetzung. 

4. Hysterie. 
Verlauf: 

1. Prodromalstadium: mit unbestimmten Walm- 
Yorstellun2:on : das Benohmen der Umgebung fällt 
dem Kranken auf; er glaubt, man beobachte ihn 
schärfer usw. 

2. Das Stadium der bestimmten Wahnvor- 
stellungen: entwickelt sieh aus dem Prodromal- 
stadium bald allmählieh. bald plrdzlich ; er glaubt 
jetzt z. B., daß alle Menschen, auf der Straße, in 
Restaurants, kurz überall, ganz genau üImm- ihn 
Bescheid wissen und die Werkzeuge seiner Feinde 
sind. 

3. Das Stadium der Bildung eines Walin- 
svstems: zu den Verfolerun<'sideen treten nun 
meist auch (irößenideen ; der Kranke wirft sich 
die Frage auf, weshalb num ihn verfolgt, und 
kommt zu dem Schlüsse, daß er eine ganz beson- 



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— 181 — 

ders wichtige Person sein müsse. Er glaubt z. B., 
man möchte ihn aus dem Wege räumen, weil er 
eventuell einen großen VermOgensanspruch erheben 
könnte; er glaubt, man will seine Ehe mit einer 
Fürstin hintertreiben. 
4. Das Stadium der Pseudodemenz: die wahn- 
bildende Kraft ist erschöpft, der Kranke ist ganz 
apathisch geworden; dieses vierte Stadium ist 
selten. 

Prognose: quoad saiidtioiK iu ungünstig; Remis- 
sionen und Stillstände komnion vor. 

Differentialdiagnose: Wir wollen hier an einem 
Beispiel die Wahnvorstellungen bei einigen Psychosen 
vergleichen : 

a. Der Paranoikf>r sagt: ..Es lieij^t wie ein Stein 
vor in einem After, meine Feinde haben ihn irgend- 
wie daliiii gezaubert'*: 

b. der Melancholiker sagt: ,,E8 liegt wie ein Stein 
vor meinem After, aber ich habe dies Unglück 
mir durch meine Sünden selbst zugezogen": 

c. der Paralytiker sagt: ,,Es liegt wie ein Stein 
vor meinem After; ich glaube, es ist ein großer 
Diamant". 

Man muß diif erentialdiagnostisch abgrenzen gegen : 

1. Paranoia hallucinatoria chronica: Bei 
dieser bestehen von Anfang an Halluzinationen, 
welche erst sekundär die Wahnvorstellungen er- 
zeugen. 

2. Dementia paralytica: Hier bestehen Inteili- 
genzdefekt und somatische Symptome. 

3. Physiologisches Mißtrauen und physiolo- 
gischen 1 1 o c h m u t : 1) i ese sind korrigierbar, sie 
beruhen bloß auf Irrtum. 

Therapie: ist für die Heilung völlig aussichtslos: 

1. Stets Anstaltsaufnahme wegen der großen Gemein- 
gefährlichkeit der Kranken; 



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— 182 — 



2. die Walinvorstellungen ignoriere man völlig; z. B. 
wenn der Kranke glaubt, im Essen sei Gift, so 
esse man, ohne Worte zu verlieren, selbst von dem 
Essen ; 

3. körperliche Beschäftigung. 

Forensische Bedeutung: die gleiche wie bei Para- 
noia chronica liallucinatoria. 

Alkoholpsychosen. 

Der chronische Alkoholismus. 
Ätiologie: 

1. angeborene Trunksucht: psychopathische Konsti- 
tution; Heredität: Alkoholismus, Epilepsie etc. 
der Eltern; 

2. erworben: Beruf, Aufregungen, schlechtes Milieu 
etc. 

Symptome: Affektlage: Reizbarkeit, die sich bis 
zu Mißhandlungen und anderen Delikten steigern kann. 
Ethische Defekte: Arbeitsscheu, Vernachlässigung der 
Familie; Intelligenz- und Merkdefekte, Herabsetzung 
der Arbeitskraft. 

Somatisch: Vomitus matutinus, Tremor manuum, 
Arteriosklerose, Herzverfettung, Lebercirrhose etc. 

Therapie: Abstinenz, Eintritt in Abstinenzvereine, 
Anstaltsbehandlung. 

Die verschiedensten Quantitäten, oft ganz geringe 
Alkohol mengen schon kiinnen pathologische Erschei- 
nungen hervorrufen; man unterscheidet: 

1. den pathologischen Rausch, 

2. den alkoholischen Eifersuchtswahn, 

3. die Dipsomanie (vgl. S. 211), 

^. die akute Halluzinose der Trinker, 

5. das Delirium tremens, 

6. die Polyneuritis alkoholica (vgl. S. 114), 

7. die Korsakowsche Psychose (vgl. S. 232). 



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— 183 — 

Der pathologische Rausch. 

Ätiologie: psychopathische Konstitution. 

Auslösende Ursachen: Affekte (z. B. Erregung über 
Sistierung etc.); sexuelle Exzesse, Infektionskrank- 
heiten. 

Symptome: 

1. Orientierungsverliist : 

2. Situationsverkeiinung mit Bezieh iingswahn; 

3. Angstzustände (hierdurch oft Gewaltakte); 

\. Terminaler Schlaf; darauf Amnesie für den Zu- 
stand. 

Dauer: einige Minuten bis längstens eine Stunde. 

Der Eifersuchtswahn der Trinker. 

Der Alkoholist mißtraut (oft infolge eigener Im- 
potenz) seiner Frau (überall sieht er Spuren eines Neben- 
buhlers) und läßt sich zu Gewalttaten hinreißen. 

Prognose: günstig bei Alkoholentziehung und An- 
staltsbehandlung. 

Die akute Halluzinose der Trinker. 

Paranoia halluzinatoria acuta alkoholica. 

Symptome: 

1. Sinncstäusi^hungen : scharf lokalisierte, akustische 
Halluzinationen von taktmäßigem Charakter; In- 
halt: bedrohlieh. 

Visionen sind von untergeordneter Bedeutung. 

2. Affektlage: adäquat dem Inhalt der Halluzina- 
tionen. 

3. Motorisches Verhalten: entspricht den Bewußt- 
seinsstörungen (Zorn, Angst, Suizid etc.). 

4. Schlaf: gestört. 

5. örtliche Orientierung, Kombinations- und Merk- 
fähigkeit: intakt; Gedächtnis: gut. Der Kranke 
ist besonnen. 



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— 184 — 



6. WahnYorsteUung: Neigung zur Systematisierung. 

Verlauf: Dauer Tage bis 2 Monate. Prodromal 
häufig: Sausen, Kopfschmerz, Erschwerung dos Den- 
kens; plötzliches Einsetzen der Gehörstäuschungen. 
Die Erinnerung an die Halluzinationen ist bis in De- 
tails erhalten. 

Ausgänge:] 

1. Meist Heilung. 

2. Tod selten, meist durch Suizid. 

3. Ubergang zum Delirium tremens oder zur alko- 
holischen Demenz. 

Prognose: günstig bei Alkoholentziehung. 

Therapie: s. o.; Symptomatisch: Schlafmittel, Bä- 
der etc. 

Das Deliriam tFamens. 

Das Delirium tremens ist gleichsam eine perakute 
alkoholische Halluzlnose; es befällt ausschließlich chro- 
nische Alkoholisten. 

Symptome: 

1. Sinnestäuschungen: 

a. Halluzinationen : es überwiegen die optischen und 
taktilen. Die Visionen sind ausgezeichnet durch 
die zahllose Menge, die Bewoglichkoit und Klein- 
heit der visionären Figuren (Käfer. Mäuse usw.); 

b. Illusionen: Verkennung der Umgebung: der 
Kranke glaubt sich bei seiner Alltagsbeschäf- 
tigung, im Wirtshaus etc. 

2. Suggestibilität für Sinnestäuschungen: besonders 
Visionen lassen sich leicht erzeugen (Bulbusdruck); 

3. Merkfähigkeit: gestört; dafür Verlegenheitskon- 
fabulation. Gedächtnis: früher Erlebtes^ geistiger 

Besitzstand lückenlos; 

4. Desorientiertheit und Inkohärenz: besonders glaubt 
der Delirant überall. Bekannte zu erblicken; 



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5. Wahnvorstellungen : schließen sich meist sekundär 
an die Sinnestäuschungen an; 

6. Bewegungb- und Beschäftigungsdrang; Tremor der 
Hände, Füße und Zunge; 

7. profuse Hyperhidrosis, schwere Albuminurie, 
Schlaflosigkeit. 

Ätiologie: Chronisches Schnapstrinken von min- 
destens 7 Jahren. 

Gelegenheitsursachen : 

1. Somatische Erkrankungen: besonders Lungenent- 
zündung, Blutverluste, Phlegmonen, epileptische 

Anfälle etc.; 

2. plötzliche Änderung der Lebensweise: Entziehung 
des gewohnten Alkohols (durch Gefängniseinliefe- 
rung, Krankheit etr.), starker Alkoholexzeß. 

Man nimmt an, daß es sich um eine Autointoxi- 
kation handelt; das durch Alkohol veränderte Gewebe 
kann das Toxin nicht mehr ausscheiden. 

Yerlaof : Dem Delirium gehen meist prodromal un- 
ruhiger Schlaf mit ängstlichen Träumen, Paraphasie etc. 
voraus; die Desorientierung beginnt meist plötzlich, 
dauert im allgemeinen nicht länger als 4 Tage ; es endet 
kritisch mit einem längeren S( lilaf. Für die Vorgänge 
während der Erkrankung besteht volle Erinneriins^, die 
Wahnvorstellungen werden bald korrigiert; jedocli hält 
der Kranke oft noch lange Zeit an der Realität der 
Halluzinationen fest. 

Varietäten: Abortives Delirium; es bestehen nur 
die Prodromalerscheinungen. 

Ausgänge: 

1. Heilung in 90^0 d^i* Fälle ; jedoch meist mit Defekt. 

2. Tod in iO^/o der FdUe durch Herzschwäche, Ver- 
letzung oder durch die betreffende auslösende Er- 
krankung. Neuerkrankungen sind sehr häufig, da 
die Kranken meist der Trunksucht verfallen sind. 

3. Übergang in das chronische Delir (vgl. S. 231). 



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Prognose: vgl. Verlauf. 

Differentialdiagnose: 

1. gegen alkoholische Halluzinose: diese dauert be- 
trächtlich länger; es gibt jedoch protrahierte For- 
men des Deliriums, die mit kurzdauernden Fällen 
der Halluzinose leicht zu verwechseln sind. Bei 
letzterer bestehen: akustische Halluzinationen, 
Orientiertheit und Besonnenheit; 

2. gegen Dementia paralytica: hier entscheidet die 
Anamnese, die somatischen Symptome und der 
Lumhalhefund. 

Therapie: 

1. Aufnahme in ein Krankenhaus oder in eine Irren- 
anstalt; Entziehung des Alkohols; 

2. Bettruhe im Einzelzimmer unter Aufsicht; event. 
prolongierte Bäder; 

3. Medikamente: 

a. Opium; 

b. Hyoscin. Paraldehyd 2mal täglich 4 — 5 g; 

c. Triunal und Verona! (1—2). Chloral vermeide 
man wegen der Herabsetzung des Blutdrucks: 

4. gegen eventuelle Herzschwäche : Kaffee, Tee, Kam- 
pher. 

Forensische Bedeutung: p]s kommen bei den Al- 
koholpsychoscn Körperverletzung, Totschlag usw. vor; 
die Kranken sind unverantwortlich. 

Dämmerzustände. 

Ätiologie: Ätiologisch muß man verschiedene Däm- 
merzustände unterscheiden : 

1. Epileptische Dämmerzustände. 

2. Hysterische Dämmerzustände. 

3. Toxische Dämmerzustände: Kohlenoxyd, Me- 
talldämpfe. 



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— 187 — 

4. M igrän e- DänuiuTznstäiHle. 

5. Traumatische Dätiimorzuslände. 

Symptome: Wir wollen uns als Heispiel an den 
epileptisehen Däiimierzustand halten. Der epileptische 
Dämmerzustand tritt meist als Äquivalent des e})ilepti- 
schen Krampfanfalls auf; er kann aber auch präepilep- 
tisch oder postepileptisch sein. 

1. Örtliche und zeitliche Unorientiertheit und Inko- 
härenz; Mißdeutung der Situation durch ungenaue 
Auffassung; die Erinnerung an Vergangenes er- 
scheint vne abgeschnitten. 

2. Halluzinationen: finden sich häufig, sie. sind sehr 
lebhaft, zeigen aber eine gewisse Monotonie. Es 
überwiegen Visionen und Akoasmen. 

3. Wahnvorstellungen: hauptsächlich Verfolgungs- 
und Größenideen. 

4. Affektstörungen: häufig abn.orme Reizbarkeit, 
oft auch Angst. 

5. Völlige Analgesie. 

6. Einengung des Gesichtsfeldes. 

7. Haut- und S( hleimhautreflexe meist aufijehoben. 

8. Handlungen: es kann Hemmung oder Agitation 
(epileptisches Delir) bestelu^n. Zu letzterem ge- 
hören: der periodische W'atidcitrieb der Kinder, 
gewisse Desertionen der Soldaten, das planlose 
IJmherirren Erwachsener (Poriomanie), sexuelle 
perverse Akte. 

Verlauf: 

1. Jäher Ausbruch. 

2. Dauer: von Minuten bis zu einigen Tagen, aus- 
nahmsweise dauert der Dämmerzustand Wochen 
und Monate. 

3. Jähes Ende des Zustandes. 

4. Totale Amnesie für alle Vorgänge während des 
Dämmerzustandes. 



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Prognose: 

1. Heilung in den meisten Fällen. 

2. Tod: selten. 
Rezidive sind häufig. 

Therapie: 

1. Aufnahme in geschlossene Anstalt: wegen der Ge- 
meingefährlichkeit. 

2. Genaue Überwachung, womöglich durch zwei Per- 
sonen. 

3. Bei sehr starker Erregung Hyoscin. 

Forenslseho Bodentiing: Strafhandlungen sind sehr 
häufig, in Betracht kommen besonders: Desertion vom 
Militär, Diebstahl, Exhibition, Notzucht usw. Es be- 
steht Unzurechnungsfähigkeit, da ein Zustand der Be- 
wußtlosigkeit anzunehmen ist. 

Psychopathische Konstitutionen. Psychoneurosen. 

Unter psyehopathischen Konstitutionen oder Psy- 
choneurosen verstehen wir Krankheitszustände, welche 
zwar psyrhisehe Abnormitäten zeigen, im allgemeinen 
aber sich nicht zu ausgesprochenen l^sychosen ent- 
wickeln ; dabei finden sicli meist neuro-pathologische, 
körperliche B egleit Symptome. Die betroff enden 
Patienten sind daher auch fast immer für ihre etwaigen 
Straf handlungen verantwortlich zu machen. 

1. Psfekasthenie»! 

Die Berechtigung, dieses Leiden zu den Psycho- 
neurosen zu rechnen, leiten wir daraus her, daß: 

1. das K.rankheitsbewußtsein stets erhalten 
bleibt, 

2. körperliche Begleiterscheinungen manch- 
mal auftreten. 



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3. das Loidon meist mit Neurasthenie vergesell- 
schaftet ist. 

Symptome: 

a. BajeUsehe Symptome: bestehen m Zwangsvor- 
stellungen oder sind auf solche zurückzuführen 
(Zwangsneurose). 

1. Zwangsvorstellungen^ die häufigsten^^Furmen 
sind folgondo: 

a. Mysophobie oder Berührungsfurcht 
(Döliro du toucher); der Kranke glaubt, an 
seinem Körper oder an den ihn iini geben den 
Gegenständen hafte Schinutz: er wäscht sich 
daher fast alle paar Minuten aufs energischste 
und vermeidet ängstlich jede Berührung mit 
einem Gegenstand. 

ß. Agoraphobieoder Platzangst: ygl.S.157. 

y, Aichmophobie: beim Anblick eines spitzen 
Instrumentes (Messer usw.) glaubt der Pa- 
tient jeden Augenblick, es könne ein Unglück 
durch dasselbe entstehen. 
Erythrophobie, Furcht, zu erröten. 

f. Klaustrophobie vgl. S. 157. 

f. Grübel- und Zweifelsucht vgl. S. 157. 

2. Affektstönmgen: Die Zwangsvorstellung kann 
sekundär zu Angstaffekten führen; die 
meisten Zwangsvorstellungen sind mit mehr 
oder minder starken Angstzuständen verbunden 
und werden daher auch als Phobien (Klau- 
strophobie usw.) bezeichnet. 

Die Angst tritt auf: 

a. entweder durch die Zwangsvorstellung 
als solche, z. B. bei der Mysopliobie durch 
den Gedanken, der berührte Gegenstand 
könnte schmutzig gewesen sein; 

ß. oder durch die N ichtbef olgung dessen, 
was die Zwangsvorstellung dem Patienten 



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aufträgt; wenn z. B. der Patient die Vor- 
stellung hat, er müsse beim Spazierengehen 
sämtliche Straßenschilder zählen, so kann, 
wenn er dies unterläßt oder glaubt, ein 
Schild nicht mitgezählt zu haben, ein Un- 
lustgefühl auftreten, das sich zu einem 
Angstzustand steigern kann; 

y. oder schließlich volbtändig unabhängig, 
losgelöst von der Zwangsvorstellunff. Als 
Beispiel hierfür gelte folgender Fau: Der 
Patient, dessen Mutter übrigens an Sturm- 
angst litt (sie glaubte bei jedem Sturme, ster- 
ben zu müssen), hatte als Kind schon Ge- 
witlerangst, insbesondere Angst vor dem 
IMitz: in der Studentenzeit kam ihm beim 
Anblick jedes Hauses und jedes Baumes der 
Gedanke, wie schrecklich es wäre, wenn da 
plötzlich der Blitz einschlüge; er prüfte daher 
jedes Haus auf die Gegenwart eines Blitz- 
ableiters. Später genügte schon die bloße 
Vorstellung eines Gewitters, um einen schwe- 
ren Angstznstand auszulösen; ja sogar das 
Lesen von Worten, die an ,,Bhf5^" erinnern, 
wie z. B. Besitz", ,, Schlitz" usw., konnte 
einen Angstznstand hervorrnff^n. Sdilicß- 
lieh trat<Mi die Angstznstände ohne jegliche 
äußere \'t'r anlassung selbständig in Form von 
Bauchangst auf. 

3. Handlungen: 

a. Der Patient geht der Gelegenheit zum Ent- 
stehen der Zwangsvorstellung ängstlich aus 
dem Wege; der Klanstrophobe geht in kein 
Theater, in kein Konzert, wenn es im ge- 
schlossenen Baume stattfindet, der Aich- 
mophobe verbannt alle spitzen Gegenstände 
aus seinem Hause usw. 

j9. Die Zwangsvorstellungen führen zu Zwangs- 



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Impulsen und diese zu Zwangshandlungen; 
der Patient zählt in kurzen Zeitintervallen 
immer wieder seinen Bücherbestand, seine 
Kasse usw. Nur wenn die Zwangshandlung 
schwere Folgen haben wfirde (Tötung eines 
anderen, strafbare Handlungen usw.), dann 
wird sie gewöhnlich unterlassen. 

4. Das Krankheitsbewußtsein bleibt stets erhalten ; 
ider Kranke empfindet selbst die Zwangsvor- 
stellung ab etwas Fremdes, das sich in seinen 
Ideenkreis mit unwiderstehlicher Macht ein- 
zwängt. 

b. Körperliehe Symptome: begleiten nicht selten den 
Angstaffekt; manchmal wird gerade der gefürch- 
tete körperliche Zustand (Erröten, Durchfälle) 
durch die Zwangsvorstellung herbeigeführt. 

1. Vasomotorische Störungen: das Gesicht 
ist blaß oder stark gerötet; Schwoißausbruch; 
Kälte der Extremitäten; Schwindel; Übelkeit. 

2. Molorisclio Störungen: allgemeines Zittern ; 
Bewegungsdraug; manchmal versagen die Beine, 
so daß der Kranke umsinkt; Stuhidrang, Urin- 
drang, 

3. Sekretorische Störungen: Polyurie, Durch- 
fälle. 

Ätiologie: Die eigentliche Ursache ist erbliche 
Belastung; nicht selten entsteht die Störung auf dem 
Boden der Neurasthenie. 

Der Beginn fällt in die Kindheit, meist in die 
Pubertät, manchmal ins Klimakterium. 

Als auslösendes Moment für das Auftreten der 
allerersten Zwangsvorstellung kann irgend ein einschnei- 
dendes Erlebnis wirken, ein Examen, das erste Auftreten 
auf der Bühne usw. 

Yerlauf: chronisch mit Remissionen, manchmal 
auch Intermissionen ; meist wird der Patient während 



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des ganzen Lebens die Zwangsvorstellungen nicht melir 
los, selten ist das Leiden progressiv. 

Komplikationen: 

1. Neurasthenie; in der Mehrzahl der Fälle; 

2. Hysterie; 

3. Tic; 

4. Psychosen: Melancholie, Paranoia; Anfangssta- 
dium der Dementia paralytica. 

Differentialdiagnose: Die reine Psychasthenie ist 
nicht häufig; man fahnde stets nach neiirasthenischen 
Symptomen; das wichtigste Kriterium gegenüber den 
Wahnvorstellungen ist das Krankheitsbewußt- 
sein, welches ja bei diesen fehlt. 

Prognose: quoad sanationem ungünstig; Heilung 
selten: manche Kranken verfallen dem Alkoholismus 
oder Morphinismus. 

Therapie: 

1. Behandlung in einem offenen Sanatorium. 

2. Stundenplan mit geeigneter Beschäftigung, an die 
sich die Zwangsvorstellungen nicht anzuknüpfen 
pflegen. 

3. Später methodische Übungen, z. B. läßt man einen 
Patienten mit Agoraphobie erst kleine, dann immer 
größere, freie Plätze allein überschreiten, wobei der 
Arzt sich an das von dem Patienten- zu erreichende 
Ende stellt. 

4. Bei Angstanfällen täglich eine hydropathische Ein- 
packung; eventuell Brom innerlich. 

5. Viele Anhänger liat die psychoanalytische 
Methode Freuds. Freud glaubt, daß, wenn 
Vorstellungen, welche sich auf einen sexuellen Vor- 
gang oder eine sexuelle llaiidluiig der Kinderzeit 
beziehen, aus der Erinnerung des Individuums ver- 
drängt werden, eben diese Vorstellungen sich in 
Zwangsvorstellungen verwandeln können. Bs han- 



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delt sich also darum, die ursprüngliche, der Am- 
nesie anheimgefallene Vorstellung hervorzusuchen 
und von dieser Vorstellung den Patienten zu be- 
freien. Die Erfolge der Methode sind noch zwei- 
felhaft. 

II. Nenrastlienie. 

Wesen der Krankheit: Die Neurasthenie stellt 
gleichsam eine Bilanzstörung des Nervensystems 
dar; der Neurastheniker gibt mehr Kraft aus, als er 
einnimmt; infolgedessen resultieren als Hauptsymptome 
auf psychischem und körperlichem Gebiet: 

1. gesteigerte Reizbarkeit; 

2. gesteigerte Ermüdbarkeit; 

3. Hyperästhesie (als deren Folge Agrypnie, Pollu- 
tionen usw.); 

4. Schmerzen und Parästhesieen (Kopfdruck). 

Symptome: 

a. Körperliehe Symptome: 

1. Kopfschmerz. 

2. Schwindel. 

3. Schlaflosigkeit. 

4. Nervöse Dyspepsie: in einer grofien Anzahl von 
Fällen; häufig auch Obstipation. 

5. Störungen im Bereich der Sinnesorgane: 
Blendungsgefühl, Flimmern vor den Augen, 
leichtes Ermüden beim Lesen (Asthenopie), 
Überempfindlichkeit gegen Geräusche. 

6. Sensibilitätsstörungen: 

a. Hyperästhesie gegen Kälte, Hitze, taktile und 
schmerzhafte Reize. 

ß. Spontane Schmerzen an den verschiedensten 
Körperstellen: Topalgieen; hesonders häufig 
im Rücken mit Druckempfindlichkeit der 
Wirbelkörper (Spinalirritation); die neur- 

Mayer, Compendhunder Neurologie. 3.-5. Aufl. 13 



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— 194 — 



asthenischen Schmerzen sind aber niemals 
sehr heftig. 

y. Parfisthesien: besonders in den Füßen, Ge- 
fühl des Eingeschlafenseins, häufig findet 
sich Pruritus ani (Juckreiz am After), aber 
auch Pruritus an den verschiedensten Körper- 
stellen. 

7. Motilitätsstörungen: 

a. Schwäche (nicht Lähmung) und Ermüdbar- 
keit der gesamten Körpermuskulatur; sie 
äußert sich beim Stehen, Gehen, Schreiben, 
Sprechen. 

ß. Tremor : derselbe ist schnell- und [einschlägig, 
macht sich an der gespreizten Hand sowohl 
in der Ruhe als auch bei Bewegungen geltend, 
besonders findet sich Tremor manuum 
und Tremor palpebrarum beim Augen- 
schluß (Rosenbachsches Phänomen). 

y, Fibrilläre Zuckungen: besonders im M. orbi- 
cularis oculi und oris ; sie steigern sich bei 
psychischen Erregungen und unter dem Ein- 
fluß der Kälte. 

6. Steigerung der Sehnenphänomene ; dabei feh- 
len aber alle spastischen Zeichen. 

e. Steigerung der mechanischen Muskel- und 
Nervenerregbarkeit. 

8. Vasomotorische Störungen: 

a. Bhit andrang nach dem Kopfe, lästiges Er- 
röten; infolge dieses Symptoms bekommt der 
Neurastheniker oft eine förmliche Errötungs- 
angst. 

ß. Dermographie: Leichte Hautreize, z. B. 
Darüberfahren mit einem Stifte, bewirken 
eine intensive und lange bestehenbleibende 
Rötung der Haut; man kann auf diese Weise 
ganze Worte auf die Haut des ' Neurasthe- 
nikers schreiben. 



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— 195 — 



y. Beschw(>rdon am Herzen: Herzklopfen, 
Präkordialangst; häufig besteht auch wirk- 
lich eine abnorme Beschleunigung der Herz- 
tätigkeit, besonders bei Diät fehlem, geringen 
körperlichen Anstrengungen, seelischen An- 
strengungen, sexuellem Verkehr ; es gibt aber 
auch Anfälle von Tachykardie, welche ohne 
besonderen Anlaß auftreten (Neurasthenia 
cordis). 

6, Quälende Pulsationsgefahle: im Hinterkopf, 
im Epigastrium usw. 

e. Hyperhidrosis, besonders der Hände. 

f. Trophische Störungen: an den Haaren (vor- 
zeitiges Ergrauen, Ausfall). 

9. Blase: ist in manchen Fällen abnorm reizbar, so 
daß geringe Urinmengen in der Blase genügen, 
um Harndrang hervorzurufen; die Folge hier- 
von ist häufiges Urinieren: Poljakurie. Man- 
che Neurastheniker können unter gewissen Ver- 
hältnissen, z. B. in Gegenwart des Arztes, keinen 
Urin lassen: Harnstottern. 

10. Störungen auf sexuellem Gebiet: 

a. Tendenz zu sexuellen Phantasien. 

ß. Masturbation: ist bald eine Trsac he, bald 

eine Folgeerscheinung der Neurasthenie. 
y. Exzesse im Geschlechtsverkehr, 
d. Gehäufte Erektionen: sehr lang dauernde 

Erektionen nennt man Priapismen. 
£. Pollutionen: sowohl im Wachen als auch im 

Schlafe. 

f. Spermatorrhoe: Abgang von Samen im An- 
schluß an die Harnentleerung oder Defä- 
kation ohne begleitende Erektion und Or- 
gasmus. 

71, Impotenz: Sie äußert sich in mangelhafter 
Erektion, vorzeitiger oder ausbleibender Eja- 
kulation. 



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— 196 — 



^. Sexuelle Perversitäten: Befriedigung des 
Geschlechtstriebs auf unnatürlichem Wege: 
Päderastie, Sadismus (Grausamkeit gegen 
das geEebte Wesen), Exhibitionismus (Ent- 
blößung der Genitalien), Masochismus (Er- 
duldung von Grausamkeiten), Flagellantis- 
mus usw. 

b. Psychische Symptome: 

1. Af fektstörungon : krankhafte Heizbarkeit, 
welche sich in neurasl honischem Ärger und neur- 
asthenischom Zorn äußert. Der Unmut des 
Neurasthenikers richtet sich meist gegen die 
Personen seiner Umgebung und gegen die äuße- 
ren Objekte, also ganz im Gegensatz zu der 
Traurigkeit des Melancholikers, welcher nur sich 
selbst anklagt. Ferner ist die Traurigkeit des 
Neurasthenikers nicht kontinuierlich, sondern 
wechselt mit Zuständen fröhlicher Laune ab. 
Auch Angstanfälle kommen vor (Nosopho- 
bie, Agoraphobie usw.). 

2. Vorstellungsstöru ngen : 

a. Mangel an Konzentrationsfähigkeit: 
ZwischenvMirstellungen oder gleichzeitige 
Empfindungen stören die Aufmerksamkeit 
des Neurasthenikers. 

ß. Inkohärenz: Der Patient vermag keinen 
Gedanken zu Ende zu denken, er verliert 
den Faden. 

y. Bald überwiegt krau k Ii afte Beschleuni- 
gung, bald krankhafte Hemmung der 
I deen assoziation . 

d. Zwangsvorstellungen (vgl. S. 189). 

e. HypochondrischeWahnvorstellungen: 
er fürchtet, an Gehirnerweichung, Tabes, 
Herzfehler zu leiden ; diese hypochondrischen 
Vorstellungen können eine sekundäre De- 
pression und Angst herbeiführen. 



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— 197 — 

3. Handlungon. 

a. Entschlußunfähigkoit. 

ß, Suizidversuche infolge hypochondrischerVor- 

steliungen und Her Angst affekte. 
y. Herabsetzung (1( r Leistungsfähigkeit infolge 

der Ermüdbark(üt. 
ö. Wechsel in der Tätigkeit, Stellung, Beruf. 

4. Das Krankheitsbewußtsein bleibt stets 
erhalten. 

Ätiologie : 

1. Erblichkeit: häufig gleichartige. 

2. Angeborene Disposition. 

GelegenheitBorsacheii: 

1. Gemütsbewegungen. 

2. Geistige Überanstrengung. 

3. Schwere iM riährungsstörungci! : nach Blutverlust, 
schweren Infektionskrankheiltn nsw. 

4. Intoxikalionon : bcsoinlers chrunischer Alküholis- 
nius, Nikütinismus und Bleiintoxikation. 

5. Sexuelle Exzesse und Masturbation: ebenso auch 
abnormer geschlechtlicher Verkehr (Coitus inter- 
ruptus usw.). 

6. Trauma: besonders Eisenbahnunfälle. 

Die Neurasthenie ist häufiger bei Männern als bei 
Frauen. Sie kann in jedem Lebensalter auftreten. 

Terlanf: chronisch. Im Anfang überwiegen mei- 
stens die körperlichen Symptome und die krankhafte 
Reizbarkeit. Erst später treten dann die Assoziations- 
störungen, die Zwangs- und hypochondrischen Vor- 
stellungen dazu. 

Ausgänge: 

1. Heilung: in 20% der Fälle. 

2. Chronische Neurasthenie: in der Mehrzahl der 
Fälle. 



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— 198 — 



3. Hypochondrische iMelancholie. 

4. Hypochondrische Paranoia. 

Yarietftten: 

1. Übergangsform zur Hysterie: Hystero-Xeurasthe- 

nie; sehr häufig, besonders nach Traumen. 

2. Depressive Form (lionstitutionelle Depression) oder 
Übergangsform zur Melancholie. 

3. Paranoische Form oder Übergangslorm zur' Para- 
noia. 

4. Hypochondrische Form. 

Difterentialdiagnose: die Diagnose Neurasthenie 
sollte nur per exclusionem gestellt werden. Man hat 
stets genau zu prüfen, ob nicht ein organisches Leiden 
vorliegt. Man hat auf psychischem Gebiete abzugrenzen : 

1. Gegen hypochondrische Melancholie: hier ist die 
Depression prim&r und kontinuierlich, während der 
hypochondnsche Neurastheniker nur infolge seiner 
Vorstellungen deprimiert ist und gelegentlich beim 
Nachlassen derselben ausgelassen lustig sein kann ; 

gegen hypochondrische Paranoia: hier tiberwiegt 
von vornherein die wahnhafte Auslegung der Be- 
obachtung am eigenen Körper; 

3. gegen Dementia paralytica: hier bestehen meist 
schon früh somatische Symptome, das Krankheits- 
bewußtsein fehlt meistens, es besteht Intelligenz- 
defekt; Wassermannsche Reaktion im Serum und 
Lumbaiflüssigkeit positiv; 

4. gegen Hysterie: auf psychischem Gebiete besteht 
hier eine ^roße Labilität der Stimmung, große 
Suggestibiht&t; auf somatischem Gebiete bestehen 
Krampf anfftUe, Lfihmungen, Anästhesien usw.; 

5. gegen Simulation: diese Unterscheidung ist enorm 
schwer ; man muß zur Unterscheidung den ganzen 
Symptomenkomplex der Neurasthenie in Betracht 
ziehen. 



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— 199 — 

Pro^ose: Um so besser, je kräftiger die Konsti- 
tution, um so schlechter, je schwerer die erbliche Be- 
lastung, je weiter das Leiden vorgeschritten ist. Nur 
ausnahmsweise kommt es zum Selbstmord. 

Therapie: 

1. Die Psyehotherapie: ist bei weitem der wichtigste 
Faktor; man beachte dabei folgende Haupt- 
punkte: 

a. Man höre die Erzählung der Beschwerden mit 
Ruhe und Geduld an. 

b. Die objektive Untersuchung muß sehr eingehend 
sein, damit man das Vertrauen des Patienten 

gewinnt. 

c. Der Arzt bleibe der Schilderung unbegründeter 
Beschwerden oder hypochondrischer Ideen 
sesenüber stets ernst ; jedes ungläubige Lächeln, 
jeder Spott kann den Patienten tief verletzen. 
Auch spreche man nicht von ,, Einbildung" und 
verbiete auch den Angehörigen, von einer Ein- 
bildung der Beschwerden zu reden, ganz abge- 
sehen davon, daß ja auch in Wirklichkeit von 
Einbildung nicht die Rede sein kann. 

d. Man mache dem Patienten klar, daß auf Gi und 
der objektiven Untersuchung kein organisches 
Leiden vorliegt, sondern eine allgemeine, heil- 
bare Nervenschwäche. 

e. Im weiteren Verlauf der lieliaiidlung versuche 
man nicht, dem Patienten einzureden, es gehe 
ihm besser, wenn es ihm in der Tat nicht besser 
geht. 

2. Hebung dos Ernährungszustandes. 

3. Hydrotherapie. 

4. Elektrotherapie. 

5. Klimatische Kuren, Aufenthalt an der See. 

6. Symptomatische Behandlung der vSchlaflosigkeit. 
des Kopfschmerzes, der Dyspepsie, der Obstipa- 
tion, der Impotenz (Yohimbin) usw. 



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— 200 — 

Forensische Bedeutung:: Infolge der Erniüdbarkoit 
und des Mangels an Aufmerksamkeit kommen Fahr- 
lässigkeiten und Irrtümer im Dienste vor (Eisenbahn- 
unglücke usw.), die Reizbarkeit kann zu Disziplinarver- 
gehen gegen militärische Vorgesetzte und zu ähnlichen 
Vergehen führen. Der Neurastheniker ist zurech- 
nungsffthig, daher kommt f'Sl des Strafgesetzbuches 
nicht in Betracht; jedoch läßt sich die Zubilligung 
mildernder Umstände ermöglichen; in sehr seltenen | 
Fällen ist die Entmündigung wegen Geistesschwäche i 
zulässig. 

Iii. Ufsterie. 

Hysterische psychopathische Konstitution. 

Wesen der Krankheit: Alle bei der Hysterie auf- 
tretenden Erscheinungen sind psychogenen Ursprungs; ' 
daher sind sie sowohl durch die eigenen als auch durch ' 
fremde, suggerierte Vorstellungen zu beeinflussen, zu 
verändern und zu beseitigen. Daher sind die Haupt- 
symptome : 

1. Wechsel der Erscheinungen; 

2. Labilität d i Stimmung (Launenhaftigkeit); 

3. Zerstreutheit; 

4. Suggestibilität; 

5. Hyperphantasie. 

Symptome: 

a. Psychische Symptome: i 

1. Affektstörungen: Labiütat der Stininiung. 
ein gerin ^'füijiger Anlaß kann den sclnversten 
A f f e k t a u s b r u c h hervorrufen. A n fa 11 s weise 
Angstzustände. l)esonders mit Druck in der 
Herzgegend kommen vor. ^ 

2. Halluzinationen und Illusionen, beson- 
ders auf visionärem Gebiete, kommen manch- 
mal vor. Die Erinnerung an diese Sinnestäu- 
schungen bleibt meistens erhalten. 



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1 



— 201 — 



3. Assoziation SS törungen: 

a. Mangel an Konzen tiationslähigkeit (Zer- 
streutheit); 

ß. Hyperphantasie infolge von Erinnerungs- 
täuschiingen ; z. B. erzählt der Hysterische 
die eigenen Erlebnisse meist völlig trans- 
formiert (Pseudologia phantastica). 

4. Handinngen: jäh wechselnde, explosive Af- 
fekthandlungen überwiegen. Das Handeln des 
Hysterischen ist nur überlegt und planvoll, 
wenn es Vorteile für seine eigene Person bringt, 
sonst nicht. Die Hysterischen suchen, Aufmerk- 
samkeit zu erregen; sie fühlen sich leicht durch 
Eifersucht und fthnliche Momente gekränkt und 
zurückgesetzt. 

5. Suggestibilitftt: diese ist die Grundlage der 
somatischen Symptome, besonders bedingt die 
Autosuggestion psychogene Lähmungen, 
psychogene Anästhesien und andere Symptome. 
Die Folge dieser Suggestibilität ist die Wandel- 
barkeit aller somatischen Erscheinimgen ; sie 
können ebenso plötzlich verschwinden, wie sie 
entstanden sind. 

b. Körperliche Symptome (hysterische Stigmata): 

I. Sensibilitätsstör u n gen: 

1. Anästhesie der Haut und der Schleim- 
häute; diese kann die verschiedensten Aus- 
breil ungsgebiete haben : 

a. He m i a n ä s t h o s i e : Anästhesie einer gan- 
zen Körperhälfte: die Grenze schneidet 
scharf in der Mittellinie ab. 

ß. Geometrisch abgegrenzte Anästhe- 
sien: in Manschettenform, Handschuh- 
form, als sogenannte Kopfhaube; meist 
mit Grenzen, welche senkrecht zur Längs- 
achse der Extremität stehen (Amputa- 
tionsgrenzen). 



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— 202 — 



y. Anästhesie en plaques (ileckweise in 
runden Bezirken). 
Charakteristisch für die Anästhesie ist 
ihre Beweglichkeit; so kann sie nach ein- 
maliger Anwendung des faradischen Pinsels 
sofort verschwinden; durch Auflegen eines 
Metalls auf die anästhetische Hautpartie ge- 
lingt es manchmal^ die Anästhesie auf eine 
entsprechende Stelle der anderen Körper- 
hälfte zu übertragen: Trans f er t. Die 
Empfindungsstörung erstreckt sich auf alle 
Sinnesqualitäten; also es kann bloße 
Anästhesie, aber auch Analgesie, Therm- 
anästhesie und Lagesinnesstörung be- 
stehen. 

2. Hyperästhesie: sie beschränkt sich mei- 
stens auf umschriebene Bezirke (Druck- 
punkte : Inguinal- [fälschlich Ovarie genannt], 
Mammillarpimkt, Wirbelsäule [Spinalirrita- 
tion]). 

3. Parästhesien: der verschiedensten Natur; 
besonders das Gefühl eines Kloßes im Halse, 
Globus hystericus. 

4. Spontane Schmerzen: an den verschie- 
densten Stellen des Körpers, besonders cha- 
rakteristisch ist der hysterische Kopfschmerz, 
welcher an umschriebener Stelle der Scheitel- 
oder Schläfengegend auftritt: hysterischer 
G 1 a V u s ; charakteristisch für die hysterischen 
Schmerzen (hysterische Neuralgie) ist oft 
ihre Halbseitigkeit. 

II. Störungen im Bereich der Sinnesor- 
gane: 

1. Überempfindlichkeit gegen Lichtreiz. 

2. Idiosynkrasien (übertriebene Abneigung 
gegen sonst angenehme Geruchs- und Ge- 
schmackseuidrücke). 



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— 203 — 

3. Konzentrische Einengung des Ge- 
sicht sfold es. 

4. Hysterische Amaurose (Blindheit): 
dauert gewöhnlich nur kurze Zeit (Stunden 
bis Tage). 

5. Hysterische Taubheit. 

III. Störung der Reflexe: hängt mit der An- 
ästhesie zusammen; daher sind auch nur die 
Hautreflexe und Schleimhautreflexe 
gestört, während die Sehnenreflexe normal oder 
gesteigert sind. 

IV. Störungen der Motilität: 

1. Hysterische Krämpfe: 

a. Wein-, Lach- imd Schreikrämpfe. 

ß. Der Singultus: krampfhaftes Rülpsen. 

y. Stirn mritzenkranipf: kann zur Er- 
stickungsnot führen. 

d. üesophagismus beim Schluck versucli. 

2. Die großen hysterischen Krampfan fälle, die 
grande hyst^rie (Chorea major). 

a. Prodrome: Verstimmung, Angstgefühl, 
Globus usw. 

ß, Aura: folgt den Prodromen, Empfindung 
einer aus dem Magen oder dem Unterleib 
aufsteigenden Kugel. 

y. Stadium des tonischen Krampfes: der 
Kranke fällt zu Boden, ohne sich zu ver- 
letzen. 

d. Stadium der klonischen Zuckungen : Hier- 
mit verbinden sich Bewegungen großen 
Umfangs, Kontorsionen (Glownis- 
mus) ; meist werden dabei ganz bestimmte 
plastische Stellungen eingenommen: z. B. 
bildet der Kranke mit seinem Körper 



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— 204 — 



einen Bogen, bei dem nur ivopf und Fer- 
sen den Boden berühren : Are de cercle; 
oft werden auch leidenschaftliche Stel- 
lungen (attitudes pat^sionellcs) eingenom- 
men, die irgend einer starken psychischen 
Erregung (Verzückung, Wut) entsprechen ; 
kein Zungenbiß, erhaltene Pupillenreak- 
tion. Dauer bis eine Stunde. 

Die großen hysterischen Krampfan- 
fälle hinterlassen, besonders wenn sie sich 
häufen, Amnesie. 

Durch Druck auf gewisse Punkte 
lassen sich Anfälle auslösen: hysterogene 
Zonen; ebenso lassen sich Anfälle durch 
Druck auf iiestimmte Punkte kou[)ieren: 
hysterofrene Zonen; solche Zonen sind der 
Jugularpunkt, die Mammillarp unkte, die 
Inguinalpunkte u. a. 

3. Der hysterische Tremor: meistens 
schnellschlägig; er kann in der Ruhe und 
auch bei Bewegungen auftreten; meistens 
überdauert er die Bewegung; der Tremor 
kann so heftig sein, daß er in Schüttelkranipf 
übergeht. 

4. Hysterische Lähmungen. Sie beschrän- 
ken sich niemals auf einzelne Muskeln oder 
auf die von einem Nerven versorgten Mus- 
keln, sondern auf ganze Gliedmaßen oder 
Körperteile. Es besteht nie degenerative 
Atrophie (keine Entartungsreaktion), höch- 
stens nach längerem Bestehen Inaktivitäts- 
atrophie. Die LähFiumg geht manchmal 
plötzlich bei Schreckanläilen, Zornaus- 
briu luMi vorüb(M\ Häufig ist die Lähmung 
mit spastischen Erscheinungen verbunden, 
jedoch besteht nie echte Muskelrigidität, 
stets fehlt das Babinskische Zeichen. 



— 206 — 



Besondere Formen der Lähmung: 

a. die Astasie: Unfähigkeit zu stehen bei 
normaler Beweglichkeit der Beine in der 
Rückenlage; 

ß. die Abasie: Unfähigkeit zu gehen trotz 
normaler Beweglichkeit der Beine in der 
Rückenlage; 

y. I)ysl)asia hysterica: ein dem spasti- 
schen ähnlicher Gang, jedoch ohne Mus- 
kelsteifigkeit; 

d. hysterische Aphonie: Lähmung der 
. Stimmuskulatur ; 

f. der hysterische Mutismus: Lähmung 

des gesamten Sprechapparates; in ge- 
ringen Graden hysterisches Stottern. 

5. Hysterische Kontrakturen: eine oder 
mehrere Extremitäten sind in bestimmten 
Stellungen durch dauernde Muskelspan- 
nungen fixiert ; am Bein besteht meist Streck- 
kontraktur, zuweilen auch Beugekontraktur; 
in der Ghloroformnarkose entspannen sich 
die Muskeln sofort, und die Kontraktur läßt 
sich aufheben. Ebenso schwindet sie oft 
spontan nach psychischen Erregungen und 
durch Suggestion; charakteristisch ist, daß 
die Kontraktur willkürlich nachgeahmt wer- 
den kann. 

V. Vasomotorische Störungen sind im großen 
und ganzen dieselben wie bei der Neurasthenie. 

VI. Störungen der Geschlechtssphäre: Im- 
potenz, Verirrungen des Geschlechtstriebs usw. 
Häufig, besonders bei Frauen, findet sich ein 
Mangel an Libido sexualis. 

Blase: Ischurie, tagelang minimale Harn- 
mengen ; Polyurie häufig infolge von Polydipsie. 



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— 206 — 



c. Die hypnoiden hysterischen Zustände behandeln 
wir gesondert, weil sich bei ihnen psychische und 
körperliche Symptome innig gemischt finden. 

1. Die Katalepsie: entwckelt sich plötzlich 
infolge psychischer Erregung oder auch ohne 
solche in periodisclier Wiederkehr; es besteht 

a. Flexibilitas cerea: die Extremitäten be- 
halten die ihnen vom Arzt gegebenen Stel- 
lungen längere Zeit bei und bieten bei pas- 
siven Bewegungsversuchen einen geringen 

Widerstand ; 

ß, Sensibilität und Hautreflexe sind aufgehoben, 
ebenso die Schleimhautreflexe; 

y. das Bewußtsein ist erhalten, jedoch ist der 
Kranke weder der Sprache noch der Be- 
wegungen mächtig. 

2. Die Lethargie: Der Kranke gleicht einem 
tief Schlafenden, das Bewußtsein ist also auf- 
gehoben, die Sensibilität ist ebenfalls aufge- 
hoben, manchmal lassen sich jedoch Abwehr- 
bewegungen aiislösen; nach dem Anfall besteht 
totale Amnesie. 

3. Der hysterische Dämmerzustand oder 
Somnambulismus: vgl. bei den Dämmerzu- 
ständen S. 186. 

Ätiologie: 

1. Heredität, meistens f]^leichartig: 

2. angeborene oder erworbene Nervenschwäche. 

Auslösende Ursaehen: 

1. Starke Gemütsbewegungen; 

2. Erkrankungen, welche Erschöpfungszustände her- 
beiführen; 

3. Trauma. 

Der Heginn lallt meist in das jugendliche Alter und 
in die l\ii)ertätszeit ; das weibliche Geschlecht ist beson- 



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— 207 ~ 



dors bevorzugt : unter den Rassen stellt die jüdische 
Rasse das größte Kontingent. 

Verlauf: chronisch, mit großen Schwankungen. 

Prognose: quoad sanationem ungünstig, nur die 
einzelnen Symptome schwinden leicht. 

Differenfialdia^ose: Die Diagnose ist stets mir per 
exclusionem zu stellen; alle organischen Leiden müssen 
ausgeschlossen werden. Man hat hauptsächlich Hirn- 
tumor, multiple Sklerose, Epilepsie, Syringomyelie und 
noch viele andere zu berücksichtigen. Näheres über die 
Differentialdiagnose ist bei diesen Krankheiten nach- 
zulesen. 

Tlimpie: 

1. Psychotherapie: spielt die Hauptrolle, vgl. 

S. 199, 

2. kräftige Ernährung, 

. 3. Anstaltsbehandlung sehr empfehlenswert, 

4. passende Beschäftigung, 

5. elektrische, hydropathisohe, gymnastische The- 
rapie, 

6. symptomatische Therapie. 

Forensisdie Bedeutung: Infolge der Affektstd- 
rungen können Beleidigungen, Verleumdungen u. a. 
vorkommen. Es besteht Zurechnungsfälligkeit, jedoch 
läßt sich Zubilligung mildernder Umstände erm(^lichen. 

Zeugenaussagen und Denunziationen hysterischer 
Personen sind sehr vorsichtig aufzunehmen wegen der 
Erinnerungstäuschungen. 

IV. Die epileptische psycliopatliisclie KoDStitutiou. 

Die epileptische psychopathische Konstitution 
äußert sich in der Reizbarkeit und in der Xei^nm^ zu 
Zornausbrüchen; fast immer besteht ein fortschreiten- 
der Intelligenzdefekt, Dementia epileptica. 



— 208 — 



V. Die erblicli-degeneratiye psychopathisehe 

Eonstitation. 

Hier sind am ausgesprochensten die Gefühlsab- 
normitäten auf sexuellem Gebiet. Die Kranken ver- 
halten sich nicht wie andere Personen ihres Geschlechts; 
dies äußert sich 

. 1. in konträrem Sexualgefühl oder Homosexuali- 
tät. 

2. Sadismus: Das Wollustgefühl ist von der Vor- 
stellung der Züchtigungen oder Grausamkeiten 
gegen andere Personen abhängig; hierher gehören 
der Lustmord und die Leichenschändung (Ne- 
krophilie). 

3. Masochismus: ist das Gegenstück des Sadis- 
mus; das Wollustgefühl ist von der Vorstellung 
der Mißhandlung durch andere Personen abhängig; 
eine Abart ist die Koprolagnie: die Beleckung 
der Genitalien, Urintrinken, sich in den Mund 
urinieren, sich auf die Brust defäzieren lassen usw. 

4. Fetischismus: das Wollustgefühl ist nicht an 
den Anblick oder die Berührung der Genitalien des 
anderen Geschlechts gebunden, sondern an ge- 
wisse Körperteile, Kleidungsstücke usw. ; hierher 
gehören die sogenannten Zopfabschneider, die 
Schuh-, die Wäschefetischisten usw. 

Das Vorstellungsleben zeigt einen auffallenden 
Mangel an Ebenmaß: DesequiKbratton. Die Begabung 
ist meistens einseitig; häufig finden sich künstlerische 
Talente, hervorragendes GedächUiis, -während das lo- 
gische Denken mangelhaft ist. 

Das Handeln ist demgemäß durch völlige Unbe- 
rechenbarkeit ausgezeichnet: impulsives Han- 
deln (Augenblicksnatur); z. B. kann ein derartiger 
Patient ohne besonderes Motiv in irgend einer Gesell- 



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— 209 — 



srhaft jemanden eine Ohrfeige geben oder laut zu 
singen anfangen usw. Änderungen auf moralischem Ge- 
biet bestehen in: gemütlicher Stumpfheit, völliger 
Gleichgültigkeit usw. 

Häufig finden sich Degenerationszeichen und Into- 
leranz gegen Alkohol. 

Forensische Bedeatung: £s besteht für die meisten 
auf sexuellem Gebiete vorkommenden Strafhandlungen 
Zurechnungsfähigkeit. 

VI. Sie tranmatisehe psychopathisclie Eonstitiitiott. 

Traumatische Neurose. 

Diese zeitigt im großen und ganzen neurasthe- 
II i sehe, oft aber auch hysterische Symptome, die 
nicht durch das Trauma an und für sich, sondern durch 
GemütserschütttM'uncT bedingt sind (Eisenbahnunfälle 
[Railway-spineJ, Erdbeben etc.). 

Symptome: Depression, Angst, Zerstreutheit, Ener- 
gielosigkeit etc. 

b. Zusammengesetzte Psychosen. 

Die Katatonie.* 

Die Katatonie durchläuft in typischen Fällen yier 
Stadien : 

1. ein melancholisches, 

2. ein maniakalisciies (hyperkinetisches), 

3. ein stuporöses, 

4. ein Stadium sekundärer Demenz. 

Die Krankheit ist sehr selten. Meist liegt schwere 
erbliche Belastung vor. Die drei ersten Stadien dauern 
1 — 3 Jahre. In allen Stadien überwiegen bestimmte 
Symptome: 

* Kraepelin u. a. rechnen die Katatonie zur Dementia praecox. 
Mayer, Compendium der Neurologie. 3.-5. AufL 14 



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— 210 — 



1. Katatonische Haltungen. 

2. Stereotype Bewegungen. 

3. Negativismus: Widerstand ^egen jede Anre- 
gung zu Bewegungen oder zum Sprechen: der 
Patient führt weder aufgetragene Bewegungen aus, 
noch läßt er passive Bewegungen an sich vor- 
nehmen. 

4. Verbigeration: Der Kranke wiederholt stun- 
den- oder tagelang dieselben Worte oder Sätze. 
Ausgänge: Heilungen sind selten, meist Zerfall der 

Persönlichkeit (Schizophrenie) oder Tod. 

Die Dit'ferentialdiagnose hat die chronische halhi- 
zinatorische Paranoia, die Dementia ]>aralytica, >ciiilis 
und praecox, ferner die verschiedenen Dämmerzustände 
in Betracht zu ziehen. 

Die periodische Manie. 

Verlauf: Es wechseln maiiin kaiische Stadien ( + ) 
mit Tntei'vallen {{) al), scliematisch : H i -\- i -\- i usw. 

a. Die Anfälle können Wochen und Monate, sel- 
tener nur Tage dauern. Der maniakalische Anfall 
beginnt meist mit einem brüsken Ausbruch und 
endigt mit jähfMii Abschluß. Die verschiedenen 
Anfälle hal>en meist eine fast photogra|)hische Ähn- 
lichkeit, besonders in den ersten Symptomen: so 
begann z. B. bei einer Patientin der maniakalische 
Anfall mit einer l)ei ihr ganz imgewöhrdichen Frei- 
gebigkeit (Bezahlen der Arztrechnung usw.). 

b. Die Intervalle können von Wochen bis zu 
Jahren dauern. Sie sind meist lucid, d. h. frei 
von Krankheitssymptomen. In den späteren Sta- 
dien werden jedoch die IntervaUe getrübt durch 
Reizbarkeit, Labilität der Stimmung und Intelli- 
genzdefekt (Abstumpfung des Interesses, der ethi- 
schen und ästhetischen Gefühle). 

Die Symptome entsprechen denen der Mania gravis, 
häufiger der Hypomanie. 



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— 211 — 



Ätiologie : 

1. Erl)li(*he Belastung. 

2. Herderkrankungon des Gehirns (Hirnnarhen). 
Beginn meist in der Pubertät und im Klimakterium. 

Prognose: Heilung in 10% der Fälle; gewöhnlich 
besteht die Affektion bis ans Lebensende. 

Differentialdia^ose: gegen einfache Manie. Die pe- 
riodische Manie zeigt: 

1. Gleichmäßige Wiederkehr nach Intervallen von 

bestimmter Zeitdauer; 

2. Fehlen des depressiven Vorstadiiims; 

3. Brüsker Ausbruch und Ablbhluß. 

Therapie: 

1. Im Intervall: Vermeidung von Alkuhol, Tabak, 
Kaffee usw. 

2. Bei drohendem Anfall kann man versuchen, diesen 
zu koupieren, durch subkutane Injektionen von 
Hyoscin (0,5 — 0,8 mg, zwei- bis dreimal täglich), 
oder Atropin (0,1 — 0,3 mg, zwei- bis dreimal täglich), 
unter langsamer Steigerung der Dosis auf 1 mg; 
gleichzeitig Bettruhe. Man kann auch innerlich 
Natrium bromat. 6 — 10 g pro die geben; letzteres 
gibt man besonders bei der sog. periodischen 
menstrualen Manie, zwei Tage vor dem Ein- 
tritt der Menstruation. 

Forensisehe Bedentung: Im Anfall besteht Unzu- 
rechnungsfähigkeit, im Intervall nicht. 

Die periodische Helanoholie. 

Verlauf: Es wechseln melancholische Stadien ( — ) 
mit Intervallen (i) ab; also : — i — i — i usw. 

Die Symptome: sind diejenigen der Hypomelan- 
cholie oder der Melancholia gravis. In letzterem Falle 
kommen Suizidversuche, Desertionen vom Militär und 
ähnliche Angsthandlungen vor. Bei manchen Patienten 
zeigt sich periodische Dipsomanie („Quartalsäufer"), 



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— 212 — 

» 

indem sie ihre Angst durch Alkoholexzesse zu betäuben 
suchen. 

Ätiologie: erbliche Belaälung. Beginn meist im 
Klimakterium. 

Prognose: Heilung selten; Tod durch Selbstmord 
häufig. 

Bifferentialdiagnose: gegen einfache Melancholie 
läßt sich nur durch die Anamnese stellen. 

Therapie: im Anfall wie bei der einfachen Melan- 
cholie. 

Das maniseh-depreSsiTe oder ziFkaläre iFPesein. 

A'erlauf : Es wechseln melancholisches Stadium ( — ), 
manisches Stadium ( + ) und Intervall (i) miteinander 
ab; das Intervall kann auch fehlen; 

also : [- i [- i \- i usw. 

oder + — H i H i usw. 

oder r ■ H 1 usw. 

Die 1( ichteren Fälle werden auch als Zyklothymie 
bezeichnet. 

Ätiologie: Schwere erbliche Belastung. Beginn 
meist in der Pubertät. Die Erkrankung ist sehr häufig. 

Prognose: Heilung sehr selten. 

Differentialdiagnose : 

1. Gegen einfache Manie und Melancholie durch die 

Anamnese; 

2. gegen Dementia paralylica: bei dieser bestehen 
Intelligenzdefekt und körperliche Symptome; 

3. gegen Dementia praecox: hier besteht ebenfalls 
Intelligenzdefekt; es herrschen Stereotypien vor. 

Periodische impulsive Zustände. 

Formen: Hierher gehören die periodische Klep- 
tomanie, Dipsomanie u. a. 



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* — 213 — 

Verlauf lind Symptome: Wir wollen nur die Dipso- 
manen näher ins Auge fassen. Der Kranke begeht 
ganz unvorhergesehen die schwersten Alkoholexzesse, 
tage- bis wochenlang; der Anfall endet plötzlich mit 
einem kritischen Schlaf. Darauf folgt ein mehrtägiger 
Depressioiiszustand. Die Erinnerung für die Vorgänge 
während des Anfalls ist meist erhalten. 

Im Intervall verhält sich der Patient ganz normal. 

Die Differentialdiagnase hat die Dämmerzustände, 
die periodische Melancholie, die periodische Manie und 
die Defektpsychosen zu berücksichtigen. 

Ätiologie: Erbliche Belastung, epileptische Anlage. 

Prognose: qnoad sanationeni ungünstig; sekundär 
entsteht oft chronischer Alkoholisinus. 

Therapie: Im Anfall geschlossene Anstalt und Brom. 

II. Psychosen mit Intelligenzdefekt 
üefektpsychosen. 

Der Intelligenzdefekt ist charakterisiert durch 
Urteils- und Gedächtnisschwäche. Er kann an- 
geboren oder erworben sein ; Psychosen mit erworbenem 
Intelligenzdefekt bezeichnet man als Demenz. Die 
in den ersten Lebensjahren erworbenen Defektpsychosen 
rechnet man gewöhnlich zu den angeborenen. 

A. Angeborene Defektpsychosen. 

Man unterscheidet drei Grade des angeborenen 
Schwachsinns : 

1. die Idiotie, 

2. die Imbecillität, 

3. die Debilität. 

Ätiologie: 
1. erbliche Belastung, 



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— 214 — , 



2. chronischer Alkoholismus der Eltern, 

3. hereditäre Sypliilis. 

4. Kopftraumen: Verletzungen während der Geburt 
durch die Zange oder infolge abnormer Enge des 
mütterlichen Beckens, Fall auf den Kopf usw., 

5^ langdauernde Asphyxie während der Geburt, 

6. Frühgeburt; in diesen Fällen oft Komplikation 
mit der Littleschen Krankheit (vgl. S. 101), 

7. schwere Infektionskrankheiten (Masern usw.); be- 
sonders nach Herderkrankungen infolge dieser In- 
fektionskrankheiten, infolgedessen häufige Kom- 
plikation mit cerebraler Kinderlähmung 
{Vgl. S. 99), • 

8. die Meningitis in allen ihren Formen, besonders 
aber die chronische (Hydrocephalus extemus und 
internus), 

9. Rachitis. 

10. Erkrankungen der Schilddrüse: hierher gehören 
Myxoedera und der Kretinismus (Vergrößerung 
oder Fehlen der Schilddrüse, Zwergwuchs, Ver- 
dickung der Haut). 

Pathologische Anatomie: 

1. Mangelhafte Gehirnentwicklung: 

a. makroskopisch: Vorschiiiäloriing der Rinde, ab- 
norme Furchung der Hirnrinde, abnorme Klein- 
heit der Gyri (Mikrogyrie); \ erschmälerung der 
Marksubstanz ; 

b. mikroskopisch: Verminderung der Zahl der 
Ganglienzellen, abnorme Kleinheit der Gang- 

. lienzellen, mangelhafte Entwickelung der Asso- * 
ziationsf asem ; Neuroglia meist vermehrt. 

2. Meningitische Veränderungen, besonders bei Hy- 
drocephalus. 

3. Mikrencephalie (abnorme Kleinheit des Gehirns); 
Fehlen ganzer Hirnteile (z. B. des Balkens). 

4. Veränderungen infolge von Herderkrankungen : se- 
kundäre Sklerose, Porencephalie (vgl. S. 100) usw. 



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— 215 — 



5. Abnorme Schädelform: 

a. rachitis('h«^r Schädel: starkes \'ürsj)riiigen der 
Stirn- und Sclieitelhöcker, Verbreiterung der 
Nähte. Quadratforiii ; 

b. der hydrueeplialische Schädel (vgl. S. 98); 

c. der mikrocephale Schädel ( Azteken typus); 

d. Kretinen typus: aufgeworfene Nase, tiefliegende 
Nasenwurzel, weiter Abstand zwischen den 
Augen, starkes Vorspringen der Kiefer und der 
Jochbeine. 

Symptome: 
a. Idiotie: 

1. Vorstellungsstörungen: Mangel aller Er- 
innerungsbilder; der Farbensinn fehlt; es be- 
steht Unfähigkeit zu zählen; es fehlen alle 
sprachlichen Begriffe. 

2. Störungen der Ideenassoziation: die 
Idioten erkennen fast nichts wieder; es fehlen 
alle assoziativen Verknüpfungen; Aufmerksam- 
keit und Interesse an der äußeren Umgebung 
sind hochgradig gestört. 

3. Affektstörungen: das Schmerzgefühl fehlt 
häufig; nur der Hunger scheint Unlustgefühl 
auszulösen. Sättigung, das Sehen glänzender 
Gegenstände und xuclle Erregungen können 
von Lustgefühl begleitet sein. 

4. Störungen des Handelns: die Eßbewe- 
gungen sind fast die einzigen komplizierten 
Handlungen, die der Idiot ausübt; das Gehen 
erlernt er meist nie. Manchmal tritt recht früh- 
zeitig Masturbation auf. Häufig sind stereo- 
type Bewegungen. 

5. Körperliche Symptome: 

a. Degenerationszeichen (vgl. S. 164): sehr 
häufig sind Mißbildungen der Geschlechts- 
teile (Kryptorchismus,Hypospadie, Phimose). 



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— 216 — 



ß, die grobe motorische Kraft ist meist 

im allgemeinen' herabgesetzt: Hemiplegien 

oder Paraplegien werden häufig beobachtet, 
y. Blasen- und Mastdarminkontinenz 

finden sich fast stets als Folge der völligen 

Gleichgültigkeit. 
d. epileptische Anfälle: sind häufig; wenn 

Herderkrankungen vorausgegangen sind, 

manchmal auch Jacksonsche Epilepsie (vgl. 

S. 92). 

f. Selincnphänoniene: oft gesteigert. 

f. Vord aiuin^sstöriingcn: finden sich 
mancliiiial (vermehrte Speichelsekretion, Er- 
brechen, Wiederkäuen). 

b. ImbedUität: 

1. Vorstellungen: der Imbecille besitzt eine ■ 
große Zahl von Erinnerungsbildern; Personen 
erkennt er meist wieder; die Farben werden 
zum Teil erkannt, zum Teil jedoch nicht; das 
Zahlenverhältnis reicht selten über 6 oder 7 
hinaus. Feinere Unterscheidungen, z. B. ver- 
schiedener Hunderassen gelingt ihm nicht. 
AbstniM Torsteniiiigen fernen völlig (Ursache, 
Wirkung usw.). 

2. Ideenassoziation: Die Aufmerksamkeit ist 
ebenfalls gestört, besonders die dauernde Auf- 
merksamkeit. Das Rechnen wird nur mangel- 
haft gelernt, fast nie Subtrahieren und Multi- 
plizieren. 

3. Affekte: Nicht selten erfolgen ganz motiv- 
lüse Wutausbrüche; Steigerung der sexuellen 
Gefühlstöne; altruistisehe (ethische) Gefühle 
felilea vollständig : Dieser ethische Defekt wird 
von manchen Autoren als moral insanity 
bezeichnet; Mitleid, Dankbarkeit, Gerechtig- 
keitsgefühl verschwinden ganz neben dem Über- 
wiegen der Rachsucht und der Schadenfreude. 



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— 217 — 

4. Handlungen: Viele Imbecille sind imstande, 
einen Beruf zu ergreifen, jedoch nur in unselb- 
ständiger Stellung, da sich die Handlungen bloß 
auf Nachahmung der Handlungen anderer Per- 
sonen beschränken. Sexuelle Exzesse kommen 
nicht selten vor (Päderastie, Sodomie, Trihadie 
usw.)- Imbecille Mädchen ergeben sich manch- 
mal sehr früh der Prostitution. 

5. Körperliche Symptome: 

a. Mißbildungen: ähnlich wie bei der Idiotie. 
ß. Die Sprache: ist oft durch Stammeln 

gestört. Das Sprechen wird spät erlernt, 
y. Die motorische Kraft: ist meist normal; das 

Gehen wird ^spät erlernt. . 

c. Debilität: 

1. Vorstellungen: alle konkreten Begriffe sind 
normal erhalten; die Angaben über die eigenen 
Personalien werden ganz richtig gemächt. 

2. Ideenassoziation: Das Wiedererkennen von 
Personen und Gegenständen ist normal; 
dauernde Aufmerksamkeit und Konzentration 
sind jedoch gestört. Die Bildung eines eigenen 
Urteüs ist völlig ausgeschlossen, soweit ab- 
strakte Dinge in Betracht kommen; die Ur- 
teile sind meistens von anderen Personen ent- 
lehnt. Das Rechnen ist meist gut. Das Ge- 
dächtnis ist mangelhaft, daher ist die Repro- 
duktion von Erzählungen notdürftig. 

3. Affekte: sind im ganzen normal; nur die alt- 
ruistischen Gefühle sind dürftig vorhanden. 

4. Handlungen: sehr komplizierte Handlungen 
sind möglich; der ethische Defekt verrät sich 
meist schon sehr früh durch schamlose Onanie, 
Unordnung in allen Dingen, Vernachlässigung 
der Kleidung, Neigung zum Lügen und Stehlen, 
Unreinlichkeit usw. Die DebiHtät lenkt die 
Patienten oft auf die Verbrecherlaufbahn (durch 



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— 218 — 



Seh Iii den machen, Unterschlagungen, Vagabun- 
dage usw.). 

5. Körperliche Symptome: fehlen meist, die 
Sprache ist norinal. 

Verlauf: Zuerst fällt meist die Verspätung oder 
das Ausbleiben des Gehen- und Sprechenlernens auf; 
von Jahr zu Jahr wird das Zurückbleiben der Intelligenz- 
entwickelung deutlicher. Der Schulunterricht wird un- 
?n<jt,dicli, abgesehen von der Debilität. Kine Progression 
des Intelligenzdefektes ist nicht vorhanden. Sehr selten 
wird ein höheres Alter erreicht. 

Prognose: Besserung kann durch geeignete Be- 
handlung und Erziehung eintreten, besonders günstig 
ist die Prognose bei Schilddrüsendefekten (Kretinismus), 
hereditärer Syphilis, Rachitis und leichtem Hydroce- 
phalus; die ungünstigste Prognose geben diejenigen 
Fälle, welche mit epileptischen Anfällen oder mit Läh- 
mungen kompliziert sind, da sie häufig progressiv sind. 

DifferentialdiagBOBe: 

1. Gegen erworbene Defektpsychosen: durch An- 
amnese; 

2. Abgrenzung der drei Formen des angeborenen 
Schwachsinns untereinander: die Grenzen sind 
nicht scharf; Idiotie ist anzunehmen, wenn alle 
konkreten Erinnerungsbilder fehlen, Imbecillität, 
wenn die feinere Unterscheidung konkreter Erin- 
nerungsbilder unmöglich ist, Debilität, wenn nur 
die absti'akt( n und ethischen Vorstellungen un- 
entwickelt sind. 

Therapie: 

a. Kausale Indikationen: 

1. Bei syphilitischer Ätiologie: Salvarsan, 
Quecksill)er und Jod; 

2. bei rachitischer Ätiologie: entsprechende 
Diät; Phosphor-Lebertran: 

3. bei thy r e o g e n er Ätiolugi* ( ivretinismus, Myx- 



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— 219 — 



oedem): Schilddrüsenpräparate, man achte je- 
doch auf die Gefahr des Thyreoidismus. Die 

Erfolge sind meist glänzend; 
4. bei hydroceplialischer Ätiologie; vgl. S. 98. 

b. Pädagogische Behandlung: Anschauungs-, 
Aufmerksamkeits-, Bewegungs-, ethischer Un- 
terricht usw. Idioten und Imbecille bringt man 
am besten in einer Anstalt unter. Für debile Kin- 
der existieren die sogenannten ärztlichen l^ädaixu- 
gien". An manclien Schulen sogenannte „ Hilfs- 
ki as.sen**. 

c. Behandlung dei' körperlichen Erschei- 
nungen: Lähmungen duivh Massage, Elektrizität 
usw.; epileptische AnfäHe durch Brom usw. Die 
Diät hat Alkuhul. Kaffee, Tee und starke Ge- 
würze zu vermeiden. 

Forensische Bedeutung: 

Strafhandlungen sind besonders bei Imbecillen sehr 
häufig; es kommen Diebstähle, Sittlichkeitsverbrechen, 
Brandstiftungen, Totschlag u. a. vor; beim xMilitär Dis- 
ziplinarvergehen und Desertion. Die ' Debilität veran- 
laßt fast ebenso häufig Strafhandlungen. Imbecillität 
schließt die Zurechnungsfähigkeit stets aus, Debilität in 
vielen Fällen. 

Zeugenaussagen und Denunziationen schwachsin- 
niger Personen sind selbstverständlich mit Mißtrauen 
aufzunehmen. 

B. Erworbene Defektpsychosen. 
I. Dementia paralytiea. 

Progressive Paralyse. 

Ätiologie: Immer Syphilis. Der Ausbruch der 
Dementia paralytica beginnt mehrere Jahre nach der 
Infektion. Die progressive Paralyse ist als meta- oder 
besser parasyphilitische Krankheit aufzufassen. 



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— 220 — 



Neben der Syphilis kommen noch prädisponierende 
Momente in Betracht; 

1. erbliche Belastung, vgl. Degenerationszeichen 

S. 164. 

2. das männliche Geschlecht, 

3. chronischer Alkoholismus, 

4. geistige Überanstrengung. 

Der Beginn der Krankheit fällt entsprechend der 
syphilitischen Ursache meist in das vierte oder fünfte 
Dezennium des Lebens; bei hereditär Syphilitischen 
macht sich die Krankheit meist in der ersten Hälfte des 
zweiten Lebensdezenniums geltend. 

Pathologisehe Anatomie: 

1. Leptomoningitis chronica: die weiche Hirn- 
haut, besonders der Kon v(\\:ität, erscheint weiß- 
lich getrübt und verdickt, mit der Hirnrinde fester 
verwachsen als normal. 

2. Atrophie der Großhirnrindo: äußert sich 
makroskopisch durch Verschmälerung, mikrosko- 
pisch durch: 

a. Verminderung und Veränderung der 

Ganglienzellen: der Zellkern erscheint ge- 
schrumpft, die Nißlschen Trigoidkörper sind 
nicht mehr zu erkennen; auch Verkalkungen 
der Ganglienzellen kommen vor: 

ß. Schwund der Nervenfasern; 

y. Wucherung des Gliagewebes; 

ö. Kundzellen-Infiltration, teils diffus, teils 
in kleinen Herden: 

£. kleine, bis miliare hämorrhagische Herde; 
Veränderung der Blutgefäße: die Gefäßwand 
ist verdickt; der perivaskuläre Lymphraum voll- 
gepfropft mit Plasmazellen und Lymphocyten 
(,,Gefäßmanter'). 

3. Pachy m eningitis hämorrhagica interna: 
findet sich in der Hälfte der Fälle (vgl. S. 105). 



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— 221 — 



4. Erweiterung der Hirnventrikel (Hydroce- 
phalus internus.) 

5. Ependyniitis granularis. 

6. Schwund der äußeren Tangentialfasern, der Ra- 
dialfasern und Degeneration von Hirnnerven. 

Symptome: die Kardinalsymptome der pro- 
gressiven Paralyse sind Intelligenzdefekt, Sprach- 
störung und reflektorische Pupillenstarre. 

a. Psyehisehe Symptome: 

1. Der InteHigenzdefekt: sowohl die Zahl der 
konkreten als auch der abstrakten Erinnerungs- 
bilder nimmt stetig ab; diese zunehmende Ge- 
dächtnisschwäche ist meist das erste Zeichen 
des Intelligenzdefektes, /.unehmende Urteils- 
schwäche macht mit der Gedächtnisschwäche 
den Intelligenzdefekt aus. In den höheren Gra- 
den sind die leichtesten Rechnungen nicht mehr 
ausführbar. 

Die Merk f ähigkeit ist stark beeinträch- 
tigt; vorgesagte Zahlen, vorerzählte Geschich- 
ten und die jüngsten Erlebnisse werden rasch 
vergessen. Infolge des Intelligenzdefektes 
können Zustände eintreten, welche eine Denk- 
hemmung oder eine Ideenflucht vortäuschen. 

2. Wahnvorstellungen: meist auf der Höhe 
der Krankheit; in der Mehrzahl finden sicli 
Größenideen, weniger häufig hypocliundrische 
und Verarrnungsvorstellungen, manchmal auch 
Verfolgungswaiin. Für alle diese Wahnvorstel- 
lungen ist der schwachsinnige Inhalt charak- 
teristisch. Die Bildung von Wahnsystemen 
unterbleibt infolge des Intelligenzdefektes. 

3. Sinnestäuschungen: am häufigsten sind 
haptische Halluzinationen und Akoasmen, da- 
neben finden sich auch Visionen. 

4. Affektstörungen: das Schmerzgefühl ver- 
schwindet sehr früh: Hypalgesie und Analgesie. 



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— 222 — 



Die sexuelle Wollust ist meist gesteigert. Die 
ethischen und ästhetischen Gefühle erlöschen 
sehr friiii; im ührigcMi linden sich krankhafte 
Reizbarkeit, Kxaltation, Depression und Angst. 
Im Schlußstadium verschwinden die Affekt- 
störungen ; nur die Euphorie, eine unverhält- 
nismäßig heitere Zufriedenheit, bleibt bis zum 
Tode bestehen. Alle Affektstörungen sind durch 
ihre Labilität ausgezeichnet. 

b. Körperliche Symptome: 

1. Reflektorische Pupillenstarre: in man- 
chen Fällen findet sich nur träge Lichtreaktion. 
Verziehung und Ungleichheit der Pupillen ist 
häufig. 

2. Sprachstörung: ist ataktischer Natur; cha- 
rakteristisch ist die Hesitation (verzögertes 
Sprechen), das Silbenstolpem und das Weg- 
lassen von Silben: z. B. Dampfschiffschlepp- 
fahrt statt Dampfschiffschleppschiffahrt. In 
höheren Graden wird die Sprache zu einem un- 
verständlichen Lallen.1 

3. Die Sehnenreflexe sind oft gesteigert; bei 
Komplikation mit Tabes (Taboparalyse) sind die 
Sehnenreflexe auf beiden Seiten verschieden 
oder erloschen. 

4. Sensibilitätsstörungen: 

a. objektive: Analgesie und Hypalgesie; 

ß. subjektive : sehr häufig sind spontane Schmer- 
zen, besonders Kopfsehmerzen; bei Tabo- 
paralyse lanzinierende Schmerzen. 

5. Motilitätsstörungen: 

o. Augenmuskellähmungen : die Anamnese er- 
gibt infolge derselben oft Doppelsehen; 
am häufigsten dnd Lähmungen des Abdu- 
cens und des Oculomotorius; 

ß, Lähmungen der Gesichtsmuskulatur; Ptosis, 



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— 223 — 

Herabhängen eines Mundwinkels, Verstri- 
chensein der einen Nasohibialfalte; 

y. Hypoglossus-Lähmnngen : die YAiwis^o weicht 
oft nach (h^r cf'f'ichzeitig von Facialisparese 
betrc)tten(Mi Seilt» nh: 

ö. Vibrieren der Lippen l)eini Zähne zeigen; 

c. die grobe motorisclie Kraft der Extremitäten- 
niuskidatur ist fast stets herabgesetzt; be- 
sonders vorübergehende Hemiparesen sind 
nicht selten. 

Für aUe Lähiiinngen ist ihre geringe 
Intensität und ihre Flüchtigkeit charakte- 
ristisch. 

6. K 0 0 r d i n a t i o n s s t ö r u n g e n : finden sich meist 
erst in späteren Stadien. 

7. Apoplektif orme Anfälle (vgl. S. 90). 

8. Epileptiforme Anfälle haben meist den Ty- 
pus der Jaeksonschen Epilepsie (vgl. S. 92). 

9. Incontinentia alvi und urinae im Schlußstadium. 

10. Serum: positive Wassermannsche Reaktion 
in fast allen Fällen; durch Salvarsanbehandlung 
läßt sich negative Reaktion erreichen, ohne 
daß darum eine Besserung des klinischen Ver- 
laufes einzutreten braucht* 

11. Lumbaiflüssigkeit: 

a. Wassermannsche Reaktion fast stets positiv. 

b. Globulinreaktion (Nonne-Apelt) häufig po- 
sitiv. 

c. Stets Pleocytose. 

Verlauf: erstreckt sich über 3 — 6 Jalu*e; es gibt je- 
doch auch galoppierende Formen. 

Nicht selten lassen sich drei Stadien unterscheiden: 

i. ein Prodomalst adiu ni : der Krank«Mst abnorm' 
reizbar und auffaHend rührsehg: die geistige Ar- 
beit beginnt scliwer zu fallen; das Gedä( htnis läßt 
nach; der Charakter ändert sich; Gleichgültigiveit 
gegen höhere Interessen tritt hervor. Objektiv 



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— 224 — 



findet sich schon jetzt manchmal Pupillenstarre 
oder Hypalgesie oder leichte Sprachstörung. 

2. Das Höhestadium: Meist findet sich Exal- 
tation mit Ideenflucht und Bewegungsdrang; 
Größenideen und hochgradiger Schwachsinn sind 
deutlich ausgeprägt. Der Kranke macht sinnlose, 
große Wareneinkäufe, ungeheure Spekulationen, 
unternimmt große Reisen usw. Häufig stellen sich 
Tobsuchtsanfälle ein. Statt der Exaltation findet 
sich in manchen Fällen Depression mit Angst- 
affekten, Denkhemmung und motorischer Hem- 
mung; daneben finden sich hypochondrischeWahn- 
vorstellungen. Die Angstaffekte können zum 
Selbstmord führen. 

Sehr charakteristisch sind für das Höhesta- 
dium die Remissionen, welche Wochen und 
Monate dauern können. 

3. D a s S c h 1 u ß s t a d i u rn : ist durch die völlige De- 
menz charakterisiert; meist findet sich eine leichte 
Euphorie. Der Kranke ist an das Bett gefesselt, 
da die körperlichen Ausfallserscheinungen sehr 
entwickeit^sind. 

Prognose: ungünstig; Heilung ausgeschlossen. Der 
Tod erfolgt durch interkurrente Erkrankungen, Schluck- 
pneumonie, Cystitis, Pyelonephritis, Dekubitus mit an- 
schließender Sepsis oder durch allgemeinen Marasmus; 
manchmal erfolgt der Tod im apoplektiformen oder im 
epileptiformenAnfall. ' » 

Bifferentlaldiagiiose: Die Dementia paralytica kann 
fast jede Psychose nachahmen, daher ist die Feststellung 
des Intelligenzdefektes und der organischen 
Symptome von besonderer Wichtigkeit. Verwechs- 
-lungen sind insbesondere möglich mit: 

1. Neurasthenie. 

2. Manie. 

3. Melancholie. 

4. Paranoia. 



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— 226 — 



5. Multipler Sklerose. 

6. Herderkrankungen des Gehirns: Tumor cerebri, 
Apoplexie, Lues cerebri usw. 

7. Dementia senilis: Diese beginnt meist jenseits des 
60. Lebensjahres, nie finden sich bei ihr Pupillen- 
starre, hesitierende Sprache, Größenideen und 
Rückenmarkssy m p tome. 

8. Dementia alcoholica: hier fehlt der progressive 
Charakter des Verlaufs. 

Therapie: 

1. Überführung in geschlossene Anstalt. 

2. Im Prodromalstadium Vorsuch einer Quocksilber- 
kurmit gleichzeitiger J od behandlung, da Verwechs- 
lung mit Hirnsyphilis möglich ist. 

3. Analog der Beol)a( litunp', daß Besserungen bei 
gleichzeitigen fieberhaften Erkrankungen eintre- 
ten, versucht man jetzt künstlich Fieber zu er- 
zeugen. Man verwendet: Tuberkulin in steigender 
Dosis bis 0,5. 

4. Im übrigen symptomatische Therapie. 

Forensisehe Bedeatnng: Es kommen die verschie- 
densten Strafhandlungen vor, der Kranke ist selbst- 
verständlich unzurechnungsfähig, Entmündigung muß 
möglichst früh beantragt werden. 

II. Dementia senilis, Presbyophrenie. 

Ätiologie: 

1. Erbliche Belastung. 

2. Senile Involution: die Krankheit tritt meist erst 
nach dem 60. Lebensjahre auf. 

. 3. Arteriosklerose. 

Patholoijische Anatomie: Dipsclbe wie Wi <1< i ho- 
mcntia |)aralytica; nur fehlt die schwerere Degeneration 

von Hinincrven. 

Mayer, Compendiuu der 2<earologie. 3. — 3. Autl. 15 



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— 226 — 

Symptome: 

1. Intelligenzdefekt: Gedächtnisschwäche, be- 
sonders für das jüngst Vergangene; schwere Stö- 
rung der Merkfähigkeit; hocligradige Unorientiert- 
heit, nianclinial bei lebhafter Aufmerksamkeit. 

2. Walin Vorstellungen können fehlen, finden sich 
jedoch häufig. Es überwiegen Verfolgungs- und 
hypochondrische Vorstellungen. 

3. Sinnestäuschungen: Halluzinationen und Illu- 
sionen in der Hälfte der FäUe, besonders nachts. 
Ein mäßiges Krankheitsbewußtsein ist meist Tor* 
banden. 

4. Äffektstörungen: Die Stimmung ist sehr labil; 
besonders häufig sind Angstaffekte. Die ethischen 
Empfindungen sind abgestumpft. 

5. Handlungen: Die Kranken irren besonders 
nachts ruhelos umher; infolge des Mangels der 
ethischen Begriffe kommen Diebstähle, Sit^tlich- 
keitsvei'brechen u. a. vor. Häufig zeigt sich ein 
Sammeltrieb (Sammeln von Papierschnitzeln usw.). 

Yerlaof erstreckt sich über 3 — 10 Jahre; der Zu- 
stand entwickelt sich ganz allmählich. Remissionen 
kommen vor, aber nicht so häufig wie bei der Dementia 
paralytica. Die Alzheimersche Krankheit macht die 
gleichen Symptome, entsteht aber praesenil. 

Projjnose: unginistig; der Tod eifolgt an senilem 
Marasmus, Pneumonie, Selbstmord infolge der Angst- 
affektP. 

Dülereiitialdiagnose: Verwechslungen sind möglich 
mit fast allen Psychosen, besonders mit der Dementia 
parnlyt ica. 

Therapie: Genaue Überwachung; in s( hweren Fäl- 
len geschlossene Anstalt; symptomatische Behandlung» 

Forensiselie Bedeutung: Der Kranke ist für seine 
Straf handlungen unverantwortlich; Entmündigung ist 
indiziert. 



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— 227 — 



III. Dementia secundaria 

a. nach Horderkiaiikungen : 

1. Dementia ex apoplexia ciMebri, 

2. Dementia bei Tumor eeicbri, 

3. Dementia l)ei Hirnsy{)hilis, 

4. Dementia bei mnltipler Sklerose. 

I). nach Leptumciiiiiiritis acuta; 
c. nach funktionellen Psychosen. 

IV. Dementia arterio-sclerotica. 

Ätiologie: Arteriosklerose, besonders hereditäre Ar- 
teriosklerose. Die Krankheit tritt meist vor dem 60. 
Lebensjahre auf. 

Pathologisehe Anatomie: Ausgebreiteter Untergang 
des Nervengewebes infolge der arteriosklerotischen Ge- 
fäßerkrankung; besonders der kleinen Gefäße. Außer- 
dem finden sich kleine Blutungen und Erweichungen. 

Symptome e^leichen denen^der Dementia paialytica 
und senilis; der Intelligenzdefekt entwickelt sich jedoch 
mehr schubweise. Es kommen schwere Verwirrtheits- 
und Angstzustände vor. Die Urteilsschwäche und der 
ethische Defekt sind nicht so deutlich ausgeprägt. Die 
Merkfähigkeit ist erheblich gestört, das Krankheits- 
bewußtsein erhält sich sehr lange. 

Auf körperlichem Gebiet finden sich Tremor, Stei- 
gerung der Sehnenreflexe und Paresen; Sprachstörungen 
infolge der Erweichungsherde in den entsprechenden 
Gebieten (Pseudobulbärparalyse). 

Verlauf erstreckt sich über 6 — 12 Jahre; der Tod 
erfolgt häufig infolge eines hämorrhagischen Insults. 

Differentialdiagnose hat besonders Dementia pai^a- 
lytica und senilis zu berücksichtigen. 

Therapie: Nur bei schweren Fähen ist geschlossene 
Anstalt nötig, antiarteriosklerotisch, im übrigen wie bei 
Dementia senilis. 



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— 228 — 

V. Dementia iiraeeox. 

Dementia hebephrenica, Hebephienie. 

Ätiologie: Erbliche Belastung in 80% der Fälle. 
Die Krankheit kommt nur in der Pubertätszeit vor: 
häufiger bei männlichen Individuen als bei weiblichen. 

Pathologische Anatomie: Noch nicht genügend auf- 
geklärt; mikroskopisch finden sich geringfügige Verän- 
derungen der Ganglienzellen und der Fasern. 

Symptome: 

1. Intelligenzdefekt: Das Gedächtnis an sich ist 
gut. Legt man dem Kranken eine Rechenaufgabe 
vor, z. B. 3 X 4, so erhfilt man meist die richtige 
Antwort, auf jede folgende Frage jedoch, z. B. 
3x5, gibt der Patient immer wieder dieselbe 
Antwort: Perseveration. Ebenso gering wie 
der Gedächtnisdefekt ist der Defekt der Merk- 
fähigkeit. 

Dagegen ist di% Aufmerksamkeit beträcht- 
lich geschädigt. 

Die Idoenassoziationen sind hauptsäch- 
lich durch ihre Neigung zu Perseverationen und 
Stereot ypien gekennzeichnet. Alle mündlichen und 
schriftlichen Äußerungen strotzen von Wort- 
wiederholungen, Pleonasmen, sinnlosen Wortver- 
bindungen und verwirrten Vorstellungen; dabei ist 
drr Ph lasen kreis ein ganz beschränkter. Stets 
l)esteht Denkhemmung. 

2. W a h n v o t* s teil u n ^ o n : kom men häu f ig vor ; haupt- 
sächlich liypochondrisclK^ und Vorfolgungsvor- 
stcllungcn. s|)ätcr aucli sinnlose Größenideen. 

3. A f f c k t s t ö !■ u II gc II : srliworc A p athie; im Be- 
ginn der Ivraiiklieit oft 1 )f|ni'ssion. 

4. Siunestäuscliungt'n: kommen nur bei der 
|)aranois( lu'n X'arietät vor. 

5. Hand hingen: vr>r ;dlern fällt die sugenaiint»» 
hebephrene Abulie auf: die Kranken arbeiten 



— 229 — 



nichts aus eigener Initiative; auf Ermahnung hin 
arbeiten sie mit vielem Widerwillen mechanisch 

und kurze Zeit. 

Andere Kranken nelunen den ganzen Tag 
stereotype Handlungen vor, sie laufen stun- 
denlang im Kreise usw. Diese stereotypen Hand- 
lungen können jahrelang unverändert bestehen; 
ebenso häufig sind stereotype Haltungen. 

Bei sehwerer motorischer Hemmung befindet 
sieh der ganze Körper in katatonischer Span- 
nung, so daß passive» Ht^wegungen auf einen ener- 
gischen Widerstand stoßen. Dieser Negativis- 
mus (vgl. S. 210) drückt sich auch in dem Ver- 
kriechen unter der Bettdecke, in krampfhaftem 
Geschlossenhalten der Augen aus. 

Häufig ist 

Echolalie: der Kranke spricht irgendein zu- 
fällig fallendes Wort nach, das ihm besonders 
auffällt; 

ß. Echopraxie: der Kranke ahmt Bewegungen 
und Handlungen nach. 
Oft kommen auch impulsive Handlungen 
vor, die zu schweren Verbrechen, Körperver- 
letzungen usw. führen. 
6. Körperliche Symptome: Analgesie in den 
meisten Fällen. 

Terlanf: Im Anfang herrscht meist Depression vor; 
allmählich erlischt das Affektleben^ so daß völlige Apa- 
thie übrig bleibt; dagegen bleiben Auffassung, C^dächt- 
nis^ und Urteil relativ gut erhalten. In der Mehrzahl 
der Fälle wird der Intelligenzdefekt immer größer, in 
wenigen Fällen bleibt er stabil. Häufig finden sich Re- 
missionen. 

Varietäten: 

1. Die paranoisch*' Varietät: Es herrschen 
Wahnvorstellungen und Sinnestäuschungen vor; 
die Hemmungen usw. treten in den Hintergrund. 



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— 230 — 

2. Die katatonische Varietät: Die Ilemmunefen 
herrsclien vor; der Kranke spricht nicht und ver- 
weigert oft die Xahriinu'. 

3. Die ziikulare Varietät: Wechsel von Hem- 
iihimü: und Erregung; in der Phase der Hemmung 
nimmt der Kranke irgendeine stereotype Haltung 
ein. in der Phase der Erregung führt er stereotype 
Handlungen aus. 

Prognose: ungünstig: Heilung ausgeschlossen; Tod 
durch interkurrente Erkrankungen. 

Differentialdiagnose: hat zu berücksichtigen: Me- 
lancholie, Manie, Paranoia, Neurasthenie, Hysterie, 
periodische Psychosen, Katatonie, angeborene Defekt- 
psychosen, Dementia paralytica, Dementia secundaria 
und Dementia epileptica. 

Therapie: Aufnahme in geschlossene Anstalt; im 
übrigen symptomatisch. 

Forensisebe Bedeutung: Die Reizbarkeit und die 
Impulsivität des Hebephrenikers können zu Strafhand- 
lungen führen; der Patient ist unverantwortlich; Ent- 
mündigung ist anzuraten. 

VT. Dementia epileptica. 

Ätiologie: Die Dementia epileptiea entwickelt sich 
meist bei den in früher Jugend entstandenen Fällen von 
genuiner Epilepsie, besonders wenn die Anfälle gehäuft 
auftreten. 

Pathologische Anatomie: Makroskopisch findet man 
keine Veränderungen ; mikroskopisch sind besonders die 
Assoziationsfasem der Hirnrinde degeneriert, die Glia 
ist stark gewuchert, die Ganglienzellen sind zum Teil 
verändert. 

Symptome: 

1. Intelligcnzdt It'kt : (jcdärhtnis und Merkl'ähig- 
keit geschädigt; Urteilsschwäclie ausgeprägt. 



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— 231 — 

2. A l l't'ktstörunij:en: Neis^iiii<^ zu schweren Zorii- 
ausbiiU^hon. Furor epih^ptirus, die othisclieu 
und äslhr'tischr'n Gefühle sind abgestumpft; das 
^anze Verhalten ist brutal. 

3. H a n (1 1 u n Lren : Zornhandlungen luTrscIe n vor; 
die l.t'lx'Jiswt'ise zeigt im ül)rigen pedantix Ii.' He- 
gelniüßigkeit und Betonung von Außt'rlicliki'iten. 

4. K örperl iclie Symptom»': in späten'ii Stadien 
Vellern! der Ki-ank»' komplizierte Bewegungen, 
besonders geht die ( j«'läufigkeit der Sprachen ver- 
loren; hauiig findet sieh H y[)alg('sie. 

Verlauf: joognssiv; je häufiger die Anfällt, desto 
schneller nimmt die Ver blödung zu. Gewöhnlich ist die 
Dauer länger als ein Jahrzehnt. 

Prognose: ungünstig. Der Tod erfolgt im epilepti- 
schen Anfall, im Status epilepticus oder durch inter- 
kurrente Erkrankungen. 

Therapie: 

1. Bekämpfung der epileptischen Krampfanfälle (vgl. 
S. 130). 

2. Aufnahme in geschlossener Anstalt bei 'großer 
Neigung zu Zornaffekten. • 

Forensische Bedeutung: Stiiitliandluiigen sind häu- 
fig; der Kranke ist unverantwortlich. Die Zeugnisfähig- 
keit ist stark beeinträchtigt. 

VII. Korsakowsche Psychose. 

Chronisches Delirium. 

Ätiologie: Chroniseher Alkoholismus; die schwe- 
reren Formen kommen besonders bei Schnaps- und Ab- 
sinthtrinkern vor, meist sekundär nach den verschie- 
densten Alkoholpsychosen. 

Patholodsche Anatomie: In den leichten I'äMcn oft 
gar keine Veränderung; in schwereren Fällen chronische 
Leptomeningitis. 



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— 232 — 



Symptome: Dio Kardinalsyniptume: Merkdefekt, 
Unorientiertheit, Konfabulation (Ivorsakowscher Symp- 
tomonkomplex) koiniuen auch bei vielen anderen Psy- 
chosen vor, 

1. Intelligenzdefekt: Gedächtnis- nnd Urtoils- 
schwäche; besonders auffällig isl in vielen FälUn 
die Störung der Merk Fähigkeit: die allor- 
jüngsten Erlebnisse werden sofort wieder vergessen, 
retrograde Amnesie; daher resultiert meist völlige 
Unorientiertheit und Verlegenheitskonf a- 
bulation. Die Initiative ist herabgesetzt. J 

2. Affektstörungen gleichen denjenigen der epi- 
leptischen Demenz. 

3. Halluzinationen finden^sich sehr häufig. 

4. Wahnvorstellungen geben ihren schwachsinni- 
gen Charakter kund. 

5. Körperliche Symptome: können in den leich- 
teren Fällen fehlen; meist ist die Demenz in den 
schwereren Fällen besonders mit der alkoholisti- 
schen Polyneuritis (vgl. S. 114) kompliziert. Daher 
wurden diese Fälle auch als polyneuritische Psy- 
ehose oder Korsakowsche Psyehose bezeichnet. 

Yerlaiif: progressiv, solange die Alkoholexzesse 
stattfinden; bei Aufhören der Exzesse tritt meist Still- 
stand ein. 

Prognose: nicht ungünstig; Heilung mit bleibendem 
Inlelligenzdefekt ist möglicli ; der Tod kann durch an- 
dere Affektionen, w'elche der chronische Alkoliolismus 
herbeifiilirt, eintreten: Pachymeningitis hämorrhagira 
interna, Thrombose einer Hirnailerie, Hirnblutung, 
Lebercirrhose, chronische Nephritis, Myodegeneratio 
cordis. 

Differentialdiagnose hat besonders die Dementia 
paralytica zu berücksichtigen: für Dementia paralytiea 
sprechen : Pupillenstarre, Hesitation im Sprechen, Bla- 
sen- und Mastdarmstörungen, Lumbalflüssigkeitsbefund 



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— 233 — 

und der weitere Verlauf (bei Dementia alcoholica Still- 
stand infolge der Behandlung). 

Therapie: 

1. Vollständige Entziehung des Alkohols in geschlos- 
sener Anstalt; die Entziehung hat allmäüich zu 
geschehen unter peinlicher Kontrolle der Herz- 
tätigkeit. 

2. Nach Beendigung der Entziehung genaue Über- 
wachung während mindestens eines Jahres. 

Forensische Bedeutung: In den schwereren Fällten 
besteht Unzurechnungsfähigkeit und Geschäftsunfähig- 
keit. 



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— 234 - 



Aetiologische Ubersicht über die Psychosen. ) 

I. Erbliche Degeneration: 

1. Psychopathischo Konstitution. 

2. Angeborciior Schwachsinn. 

3. Dementia praecox. 
4 Paranoia chronica. 

5. Periodische Psychosen. 

II. Trauma: 

1 . Traumatische psyehopathischeKonstitution. 

2. Dämmerzustände. 

• 3. Traumatischo Xpurosen. 

4. Dementia Traumatica. 

in* Chroniseher AlkohoUsmns: 

1. Delirium tremens. 

2. Amentia. 

3. Dementia alcoholica. 

4. Polyneuritische Psychose. 

lY. Epilepsie: 

1. Epileptische {»sycliopathische Konstitution. 

2. Dämmerzuslände. 

3. Dementia epiieptica. 

¥• Hysterie: 

1. Hysterische psychopathische Konstitution. 

2. Dämmerzustände. 

3. Halluzinatorische Paranoia. 



•) Siehe auch 8. lfl.>. 



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- 235 - 



Die für die Psychiatrie 
wichtigsten Paragraphen der deutschen 

Gesetzgebung. 

I. Strafgesetzbuch: 

§ :)[. Eine strafbare Handlung ist nicht vürliaiideiL 
wenn der Täter zurzeit der Begehung der Hainihniy 
sieh in einem Zustande der Bewußtlosigkeit o<ler krank- 
hafter Störung der Geistestätigkeit befand, durch wel- 
chen seine freie Winensbcstininiung ausgeschlossen war. 

§ 176, Absatz 2. Alit Zurhthaus bis zu 10 Jahn'n 
wird bestraft, wci- eiiie in «'ineni w illenlosen oder bewußt- 
losen Zustand befiudliehe oder eine geisteskranke 
Frauensperson zum außerehelichen Beischlaf miß- 
braucht. 

II. Strafprozeßordnung: 

§ 56. Unbeeidigt sind zu vernehmen .... Per- 
sonen, welche wegen mangelnder Verstandesreife oder 
wegen Verstandesschwäche von dem Wesen und der Be- 
deutung des Eides keine Vorstellung haben. 

m. Militäratrafgesetzbuch: 

§ 49. Bei strnf hären Handlungen gegen die Pflieii- 
teri rfer militärisrle n I 'Uterurdnung sowie bei allen in 
Ausübung des Dienstes l^egaFigenen stiTifbju'en Ilaml- 
iungen bietet die selbstverschuldete Trunkenheit keinen 
Strafinilderungsgrund. 



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— 236 — 



IV. Bürgerliches Gesetzbuch: 

§ 6. Entmündigt kann werden: 1. wer infolge von 
Geisteskrankheit oder Geistesschwäche seine Angelegen^- 
heiten nicht zu besorgen vermag usw. 

§ 1569. Ein Ehegatte kann auf Scheidung klagen, 
wenn der andere Ehegatte in Geisteskrankheit verfallen 
ist, die Krankheit während der Ehe mindestens drei 
Jahre gedauert und einen solchen Grad erreicht hat, 
daß die geistige Gemeinschaft zwischen den Ehegatten 
aufgehoben, auch jede Aussicht auf Wiederherstellung 
dieser Gemeinschaft ausgeschlossen ist. 



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Register. 



Seite 

Abdominalreflex .... 25 

Achillessehnenreflex ... 2Ü 

Achillodynie 12ü 

Affektstörungen IQl 

Agoraphobie 157 

Akoasmen 152 

Akroparä.stheiiieu .... 143 

Allocheirie lÄ 

Amaurose 32 

Amblyopie 32 

Amentia 175 

Amnesie 129^ 182 

Anaemia cerebri .... 8S 

Anästhesie 12 

Analgesie ÜJ 

Anamnese 43 

Anartlirie 82 

Angioneurolisches Uedem 143 

Angst 162 

Apathie 1Ü3 

Aphasie M. 

Apoplexia cerebri .... 2Q 

Artliropathien 

Ataxie 20 

— cerebellare 3Ü 

— hereditäre 52 

Atrophie, degenerative . . 12 

— Inaktivitäts- 12 

— myopathische .... 12 
Atrophische Lähmung . . 22 
Augenliintergrund .... 2S 
Aura 122 



Babinskisches Pliänomen 



25 



Seite 

Bechterew-Mendel .... 25 

Beschäftigungsatropliien . 5fi 

Blasenstörungen .... 3Q 

Bleineuritis 115 

Botulismus IlÜ 

Brown- S^quai-dsche Läh- 
mung 22 

BulbärparalysL' 101 

Centrum cilio-spinale . . . 35 

Chorea minor • läl 

— major 203 

Circumduktion ül 

Conjunctivalreflex .... 2fi 

Cornea! reflex 2ß 

Creraasterreflex 25 

Cytodiagnose 51 

Dämmerzustände .... 186 

Degenerationszeichen . . . 164 

Delirium tremens .... 184 

Dementia paralytica . 174, 21Ü 

— praecox 228 

— senilis 225 

Demenz 150 

Dcnkhemmuug 157 

Depression Ifil 

Dermographie 194 

Dcsequilibration .... 208 

Deviation, konjugierte . . 36 

Diplegia spastica infantilis löl 

Dipsomanie 211 

Dissoziation 



y Google 



— 238 — 



Seite 

Dissoziierte Empfindunjra- 

lähmung 18 

Doppelbilder 3fi 

Durhämatoni 105 

Dysartlirie 82 

Dystrophia musculorum . 57 

Echolalie 220 

lintartungsreaktion , 

elektrische 13 

— meclianische lü 

Epilepsie, genuine .... 12ö 

— Jacksonsche Ö2 

Epileptische psychopa- 
thische Konstitution . 207 

Erbsche Lähmung . . . 14Q 

Erbscher Punkt ..... 121 
ErbUch degenerative . . 

Konstitution 208 

Erbrechen, cerebrales 81 

Erythromelalgie 144 

Euphorie 222 

Exaltation Ifi2 

Exhibitionismus 106 

FacialLslähmung 121 

Facialisphänomen . . 16^ IßS 

Fetischismus 208 

Fibrilläre Zuckungen. . . ^ 

Fleclisigsche Kur .... läl 

Flexibilitas cerea .... 206 

Flimmers kotom 142 

Frenkeische Übungsbe- 
handlung 52 

Friedreichsche Krankheit ö2 

Freudsche Methode . . . 1Q2 

Fußklonus 23_ 

Gang, ataktischor .... 2fi 

— paretischer 9 

— spastischer IQ 

Gibbus 69 

GUosis spinalis ß4 

GlobuUnreaktion .... 40 

Glossy-skin 65 

Gowerssche IJihmung . . 101 

Größenwahn 156 



Seite 

Grübelsucht Ifil 

Gürtelgefühl 20 

Haemorrhagia cerebri . . 90 

Halbseitenläsion .... 22 

Halluzinationen 152 

Halluzinoso 183 

Hautreflexe 24 

Heiiie-Medinsche Krank- 

lieit 61 

Heraianästhesie 12 

Hemianopsie 28 

Hemiatlietosis postapo- 

plectica Q2 

Hemichorea postapoplec- 

tica 02 

Hemikranie LH 

Hemiplegie 2 

Hemiplegia alternans . . 8 

— spastica infantilis . . 99 

Hemmungsgymnastik . . 147 

Herdsymptome 2 

Heredität 4Q. 

Hesitation 222 

Hirnabszeß 9fi 

Hirndrucksteigerung ... Q4 

Hydrocephalus 98 

HydrorayeUe 64 

Hypäathesie 12 

Hypalgesie 12 

Hyperaemia cerebri ... 89 

Hyperästhesie 12 

Hy{)cralgesie 18_ 

Hyperhidrosis 132 

Hyperthymie 162 

Hjrpertonie Iii 

Hypertroplüe 11 

Hypochondrie 170 

Hypochondrische Vor- 
stellungen 156 

Hypotonie lü 

Hysterie 21M1 

Jacksonsche Epilepsie . . 92 

Ideenflucht 157 

Idiomuskuläre Kontrak- 
tion Iß 



/ Google 



— 239 — 





Seite 




Seite 


Jeiidrassikscher Handgriff 


22 


Littlesche Krankheit . . 


101 


TU 

Illusionen 


IM 


Lues cerebn 


103 


Itnpotentia coeundi . . 


dl 




73 


Incontinentia am .... 




TP 1 1 1 j • 


39 




dl 






Infranukleäre Ijähmung . 


1 


Malum perforans . . . . 


12 




1 QU 


Mahim Pottii 


6S 




1 no 
loV< 


Manie 


113 


xniciJ i^enzpruiiinc .... 




Masochismus 


208 


invoiiiion^u oiuoi .... 


Ii 


Mastodynie 


120 




1 10 

IIH 


Melancholie 


IfiS 


Ischiasphänomon .... 


1 OA 


Meningitis acuta . . . . 


IDfi 




O 1 

dl 


— chronica 


23 






Meningomyelitis syphili- 




Katalepsie 


20fi 


tica 


23 


Katatonie 


2ÖÖ 


Merkfälligkeit 


152 


Katatonische Spannung . 


IM 


Metasyphilitische Kr- 




Kfrnigsclies Symptom . . 


108 


krankungen 


11 


Killderlähmung, spinale 


61 


Metataraalgie 


12Ö 


— cerebrale 


m 


Migräne 


14J 


Klaustrophobie 


151 


Monoplegie 


7 


Kleptomanie 


212 


Morbus Basedowii . . . . 


136 


Klumpfuß 




Morvansche Krankheit 


66 


Klumpkesolie Lähmung . 


m 


Multiple Sklerose . . . . 


21 




8Ö 


Muskelatropiiicn, pro- 




Kompression des Rückeii- 






51 




68 


— neurotische Form . . . 


55 


A 1 J 

Kontraktur 


11 


— spinale Form . . . . 


55 


1 VA n t ^A WA 






od 


wA ^A W V ftA S A ^ ^\ ^A VA 






^ AK 


Korsakoffschc Psychose 


O*} 1 


Myelitis acuta 


Üil 




an. 


Myoklonic 


1 Oft 


Krämpfe 






115 


Kretinismus 




Mvxoedem 


211 














21ß 


Lageempfindung .... 


12 


Neuralgien 


116 


LagophthalmuH 


35 




123 


liandrysche raralyse . . 


63 




III 

III 


Lanzinierende Sclimerzen . 


50 


— optica 


38 


Lateralsklerosc, amvotro- 




— retrobulbäre 


32 




äil 


Neurone 


3 




66 


Neurosen, funktionelle . . 


126 


I^ptomeningitis acuta . . 


1Ö6 


— vasomotorische . . . 


113 


Lethargie 


206 


Nukleare Lähmung . . . 


6 




34 


Nystagmus 


32 



— 240 ~- 



Seite 



Oculopupilläre Phäno- ' 

mene 35 

Oedema cutis circumscrip- 

tum IM 

Ohnmacht 88 

Opisthotonus IfiS 

Oppenheim 2ä 

Pachymeningitis cervicalis 2fi 

— haemorrhagica .... 1Ö3 

Paraanästhesien H 

Parästhesie 2ö 

Paralyse fi 

— progressive 21Ö 

Paralysis agitans .... 133 

Paranoia acuta 175 

— chronica 179 

Paraphasie 85 

Paraplegie 8 

• Para-syphiUtische Erkran- 
kungen AI 

Parese d 

Partielle Empfindungsläh- 
mung IS 

PatellarklonuL; 23 

Patellarreflex 21 

Periodische Psychosen . . 2Ö9 

Perseveration 228 

Perverse Empfindung . . IS 

Perversitäten 196 

Petit mal ....... 128 

Plantarreflex ...... 24 

Podalgien 12Ü 

Poliomyelitis anterior . . ül 

Polyästhesie lü 

Polyneuritis 1 14 

Polyneuritische Psychose 232 

Porencephalie 100 

Pottscher Buckel .... fiQ 

Predigerhand 11 

Pseudobulbärparalyse . . 222 

Pseudodemenz 181 

Pseudohypertrophic . . 11^ 59 

Pseudosklerose 72 

Pseudotabes alcoholica . 1 14 

— syphilitica 74 



Helte 

Psychasthenie 188 

Psychotherapie 1Q3 

Ptosis 35 

Pupillenstörungen .... 32 

Quinckesches Oedem . . 143 

Raynaudsche Krankheit . 144 

Reflexe 21 

Retentio urinae 31 

Rhinolalie 82 

Rombergsches Phänomen 20. 

Rückenschmerzen .... 20. 

Sadismus 2Ü8 

Schleimhautreflexe. ... 2fi 

Sehnenreflexe 21 

Simulation l.'^O 

Sklerodermie 144 

Sklerose, lobäre Ifiö 

— multiple II 

Skotom 31 

Somnolenz 8Ö 

Sopor 8Ü 

Spasmus Hl 

Spasti.sche Lähmung . . 9 

Spermatorrhoe 1Ö5 

Spinalparalyse, spastische 53 

Spondylitis tuberculosa . ÖS 

Sprache 82 

— skandi ronde .... H 

Status pnusens 43 

Stauungspapille 38 

Stereognostischer Sinn . . Iii 

Stereotype Bewegungen . 175 

Stottern 83 

Stupor 158 

Suggestion 2Ü1 

Supranukleäre Lähnumg . 6 

Symmetrische Gangrän 144 

Synkope SS 

Syphilis 41 

Syringomyclie 64 

Tal)es dorsal is 46 



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— 241 — 



Seite 

Taboparalvse 51 

Tarsalgie ' 12Ö 

Tetanie 13& 

Tic liü 

Transfert 202 

Trauma iö 

Traumatiache Konstitution 209 

Tremor 5^20^ 

Triam US 5 

Tuberkulose 41 

Tumor cerebri M 

Vnorientiertheit 158 



Seit« 



Valleixische Di'uckpunkte HI 

Verbigeration 210 

Vertigo 81 

Visionen 152 

Wahnvorstellungen . . . 155 

Wassermannsche Reaktion 51 

Würgreflex 2fi 

Zirkuläres Irresein . . . 212 

Zuckungsgesetz 12 

Zwangsvorstellungen . . . 156 

Zyklothymie 212 



Mayer, Compeudium der Neurologie. 3.-5. Aufl. 



16 



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Verlag Speyer & Kaerner, Freibiirg i. B. 



In nnberem Verlage erschien: 

Hugo Senheim 

ord. Professor der Geburtshilfe nnd Gynfikolojifie in Tübingen 

Sie gebBrtshil/licb-gynäkologiscbe ttntersachnng. 

1910. 

8. vermehrte und verbesserte Auflag^e. Mit 89 Abbildungen. 
Preis M. 8.—; gebunden M. 9.26. 

Aus den bisher vorlie^^enden Kritiken erwähnen wir: 

Professor Baisch (München) in der Münchner med. Wocheu- 
scla-ift 1910. Heft 10: 

„Aus täglicher, reicher Praxis am Krankenbett und im Hör- 
saal hervorgegangen, theoretisch tief nnd solid begründet, s.tellt 
diese Untersuchungslehre Seilheims ein Buch dar. das \\'ie 
wenige Wissenschaft und Erfahrung vereinigend, vor allem dem 
Studierenden nicht warm genug empfohlen werden kann. Es 
letaet ihn, was dem Lernenden so not tat^ dass die Untersuchung 
und Diagnostik nicht Sache handwerksmässiger Routine, sondern 
eine Kunst ist, deren Besitz nur durch Vertiefung und fort- 
währende Vervollkommnung zu erwerben ist. Die eingehende 
Sorgfalt, mit der unter diesem Gesichtspunkt alle HiBsmittel 
der Diagnose abgehandelt sind, wobei stets auf die gegenüber 
dem klinischen Unterricht primitiveren Verhältnisse der all- 
gemeinen ärztlichen Praxis Rücksicht genommen ist, wird das 
Buch auch dem praktischen Arzt zu einer auf jeder Seite fesseln- 
den und fruchtbringenden Lektüre machen.** 

PirofesBor Burekhaid (Wfirzborg) in der „Gynftkologiachen 
RnndBchaii<* 1910. Heft 1: 

„Das vorzügliche Buch von Sclllieini ist in dritter Auflage 
erschienen; es ist uns kein Fremdling mehr, denn viele von uns 
haben schon aus den ersten Auflagen Anregung und Belehrung 
geschöpft. Es ist unmöglich, auf die zahllosen wertvollen Einzel- 

lieiten einzugehen, man niüsste sonst den Text hier reproduzieren . . . 
An welclier Stelle man das Buch von Sellheim auch aufschlagen 
mag, man wird es nie oline Befriedigung aus der Hand legen . . 

Professor A. Martin (Greif swald) in der Monatsschrift für 
Oeburtsliilfe und Gynäkologie, 1910, Heft 1 : 

„ . . . Jeder Lehrer unserer Disziplin, sicher auch jeder dafür 
intensiver interessierte Praktiker liest darin mit Freude ; dieses 
früher in der Regel so wenig anziehend dargestellte Kapitel von 
der Untersuchungslehre ist unserem heutigen Geschmack in an- 
regender Form geboten. Mögen auch mo&me Studierende sich 
dadurch beeinflussen lassen; das kann man ihnen fflr ihre spätere 
Betätigung nur lebhaft wünschen!*" 



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In unserem Verlage erschien: 



Grundriss 



der 



Sektionstechnik 



von 



Professor Dr. Edgar von Gierke 



Mit 9 Abbildungen 



Preis: Mk. 2. — broscb.; Mk. 2.60 gebiiadea 
1912 ^ 



Speyer & Kaerner, 
Universitatsbuchhandlung, 
Freiburgr i. B. und Leipzig. 



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Verlag Speyer & Kaerner, Freiburg i. B. 



Vor kurzem erschien : 

Die Verhütung der Geschlechtskrankheiten 

von 

Privatdozenl Dr. Felix Pinkus 

1912. 

Preis Mk. 3. — gebunden in Leinwand Mk. 3.80. 

Blne TJnmeiige von Scbriften ezistieit fiber dieses Thema, aber 

^volll kaum eine aus 80 berufener Feder. Steht doch dem bekannten 
Berliner Dermatologen als leitendem Arzte der Geschlechtskranken- 
station des „Berliner Obdach'* ein Material zur Verfügung, wie nur 
noch ganz wenigen Ärzten. 

Dem Buche liegen P's Universitätisvorlesungen zugrunde. Er 
wendet sieh in erster Linie an Studierende* Setae ernsten t mah^ 
nenden Worte sollten gerade in diesen Kreisen die weiteste Vor- 
lireitang finden. 

Aus den bisher vorliefrenden Bespr« cliungen zitieren wir: 
Zeitschrift fär Balneologie, V. Jahrg. Nr. 1. 

.GeorK Ebers Rafft in der Einleitnn({ zur .Gred': ,Obzwar ich tausendfach 
gewahret, daü man iiiiUHT nur durch cigcnp und nimmermehr durch Anderer Erfah- 
rung kUig wird" — und ein epikritiücher AUckblick auf die eigene Jugend scheint uns 
dies zu bestätigen. Deshalb glaube ich auoh den Merkblättern, welche den Studenten 
bei der IminmtrikDlatiou ttberreiebt werdeo, nur bedingteik Wert zusprecben ni aoUen. 
9fcht viel «Uders sMit es mit Tersebiedcoen neaerllehen, sehr voblgemeinteii Murttten 
liber sexuelle Prophylaxe Von Ihnen hebt sich in Form und Inhalt bedeutend, un- 
gewöhnlich reichen WiHHcn-stuff mit Leichtigkeit bewältigend, dabei auf Historie und 
Aesthetik sinnvoll Bezug nehmend. <las I'.'schc Buch ab. Es macht den Eindiuck 
eines Eollegn für Studierende aller Fakultäten, erweist »ich aber für Jeden Gebildeten 
und Suchenden ohne weiteres verwendbar. Während die den Immatrikuianden ge- 
widmeten Schriften Glauben und Unterwerfung fordern, Ubeneugt dieses Buch. Und 
dem überzeugten jungen Manne gehen dann die Zfthmgebote fUr allzugroSe Trieb- 
freudigkeit nicht als mißliche Beschränkung des Eigenwillens ein, sondern als etwas 
Logisches, Seltist verstündliches. Das Wort des vielerfahrenen Ebers wird hier zu- 
sehanden. 

Dir Eflsis 'IMM BuehM ktitouttt sin Vorwirtstcbrtitm itr WstiriiaftifllwH, dit 
W»hltlands« und dsr Mttuno dir Natten.' 

Die „Hygiene" 1912, Nr. 1 schreibt: 

»,Aus Jeder Zeile spricht der erfahrene und mitfühlende Arxt, der dnreta seinMi 
BWttf und besonders als Leiter des Proatituiertenkraiiki-nliatiMes vdh Berlin tigUch 
Gelegenheit hat, die furchtbaren Folgen der Gcüchlechtsktaukheiten zu srhen." 

Professor Brandenburg schreibt in der Mediz. Klinik 1*)12 So. 19 u.a.: 

Der Daistcllungsart de^ Buelu'^ merkt man es an, daß liier nicht nur der 

bewährte iiixh.i nud kenntnisreiche Arzt, sondern auch der fUr dlÄ Lalileii nsliwr 
Patienten warmompfindende Mensch spricht. 

Das Übersichtlich disponierte und verständlich geschrieben« Buch etflUlt aus* 
geselehnet seinen Zweck, medizinische Wahrheiten dem Nichtfachmanne zu übennitteln. 
es bietet aber auch dem Arzte mannigfache Anregung und Belehrung, so in der inter- 
essanten Znsammenstvllung geschlehtHeher und gmetslleher Daten sur P t os ti tnierten« 
frage.'- 



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