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Full text of "Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, Geschichte und deutsche Literatur und für Pädagogik"

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Neue 

jahrbücher  für 

das  klassische 
altertum, 

geschichte ... 


ich  ii  ico  nuciy, 

Paul  Cauer 


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1 

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NEUE  JAHRBÜCHER 

FÜR 

DAS  KLASSISCHE  ALTERTUM 
GESCHICHTE  UND  DEUTSCHE  LITTERATUR 

UND  FÜR 

PÄDAGOGIK 

HERAUSGEGEBEN  VON 
JOHANNES  ILBERG  und  RICHARD  RICHTER 

VIERTER  BAND 


LEIPZIG 

DRUCK  UND  VERLAG  VON  B.  G.  TEUBNER 

1899 


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NEUE  JAHRBÜCHER 

FÜR 

PÄDAGOGIK 

HERAUSGEGEBEN 

VON 

RICHARD  RICHTER 


ZWEITER  JAHRGANG  1899 


LEIPZIG 

DRUCK  UND  VERLAG  VON  B.  G.  TEÜBNER 

1899 


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URRARY  OF  THE 

LEIAMD  Sl^FüRO  JR.  UMVEBM 


SEP  4  1900 


VERZEICHNIS  DER  MITARBEITER  DER  JAHRGÄNGE  1898  (I) 

UND  1899  (II) 


Alfred  Balpamis  in  Leipzig   [  283  307)  Hebmann  Peter  in  Meifsen  (I  295) 


ALfMP  Bim«  in  Koblenz  (I  56  II  86  361  397 
Al  .vs  B-mkk  in  Münster  i.Wwt.   II  12'J  204) 
Kam.  Bokthkk  in  Thorn    I  370 
Anton  Ciii-EnowsKi  in  Braimsberg   I  >>3H  i 
Otto  ('lkmln  in  Zwickau  'II  117  236  öl" 
Harry  Dkm«  kk  in  Berlin    I  36 
Gustav  D im tkl  in  Dresden  (II  398) 
Akmln  Diitmak  in  Grimma    II  142 
Vm  l  Dökwai.p  in  Ohlau    I  48  106  550 1 
Otto  Dobt  in  Pöbeln  (II  429) 
Kesst  Fahian  in  Zwickau  (II  24  65  i 
Gcstav  Fastbbpik»  in  Westerburg  (II  896) 
Fkjutz  Fauth  in  Höxter  i.  Westf.  (I  151  484 
n  151) 

Erbst  Gabt  in  Dessau  (I  863) 

Bernhard  Geissleb  in  Köln  a.  Rh.  (II  456) 

Paul  Glä*seu  in  Leipzig  (I  26) 

Heinrich  Geossmabb  in  Saargemflnd  (H  398) 

Rcpolf  Hanbceb  in  KOslin  i.  P,  (II  882) 

WoLomtR  Hatmbl  in  Emden  i.  Qgti'riesland 

(H  221  241) 
Kam.  Hbjbemann  in  Leipzig  (II  298) 
FiiiEpgicH  vah  Hopfs  in  Koblenz  (I  495) 
Ferdinand  II"i;.nkm\nn  in  Hannover  il  545  i 
Karl  H Ca li ch  in  Leipzig  (II  46) 
Johanne»  Imblmabw  in  Berlin  (II  63  116) 
Otto  Immis<  ii  in  Leipzig   I  241) 
'  'skah  Jaokk  in  Köln  a   Rh   il  262 
Otto  Kämmel  in  Leipzig  (I  15  126) 

WtLHKLM    KoPPTLMANX    in    LctT   I  II  141 

K.\Kr.  Lampue<  ift  in  Leipzig   I  Iis 

Karl  Landmann  in  I>arm*tadt  (I  204  II  162) 

Julius  Lkt  in  Kreuznach   II  287) 

Va>vauu  L'h  h  jr  in  Königsberg  i  Pr  (II  452' 

Albert  Löbchhobe  in  Wöllstein  (I  448) 

Theodor  Matthias  in  Zittau    I  496) 

Ecnst  M.vsmKi-  in  Schneeberg  i.  S.  (II  5ü(> ■ 

Richard  Muster  in  Leipzig  (II  268  312) 

iitME«;  Mkktz  in  Bahlingen  in  Baden ■  II  400  48n . 

Xvai  kt  Messer  in  Oiefscn  (IT  489) 

Wilhelm  Minch  in  Berlin    I  177  II  513, 

Wilhelm  Nestle  in  I  lm    II  177 

Kmii.  Oehlky  in  Köln  a.  Rh.  (IT  121) 

Fkik.urk'H  Faclseb  in  Berlin   I  12'J 


Robert  Pktehskm  in  Wilhelmshaven  (I  818) 
Heinrich  Piook  in  Aschendorf  in  Hannover 
(I  443) 

Theodor  Preubb  in  Friedenau  (II  298  394) 
Alfred  Rai  m  h  in  Halle  a  S   il  457  1 
Karl  Rbichardt  in  Wildungen  (I  449  II  76) 
Johabnkb  Reinhard  in  Sachgendorf  b.  Würzen 
(n  345) 

Albrecht  Rbum  in  Dresden  (II  326) 

Otto  Richter  in  Leipzig  (I  238) 

Richard  Richter  in  Leipzig  (l  95  164  883  610 

II  63.  119  266  398) 
Hermann  Rose  in  Lüneburg  (II  106) 
Emil  Robrnbbro  in  Hirschberg  i.  Schi.  (II  94) 
F.  W.  E.  Roth  in  Wiesbaden  (n  168) 
Wilhelm  Rüdiger  in  Frankfurt  a.  M.  (I  885 

464  497) 

Walther  Ruqb  in  Leipzig  (1  227  428) 
Gotthold  Sachse  in  Bartenstein  (II  669) 
Otto  Eduard  Schmidt  in  Meifsen  (H  318) 
Max  Schneide  win  in  Hameln  (I  537) 
Hermann  Schiller  in  Plauen  i.  V.  (I  379) 
Gerhard  Schultz  in  Steglitz  b.  Berlin  (H  649) 
Otto  Schulze  in  Gera  (I  360) 
Ernst  Schwabe  in  Meifsen  (I  1  401  H  305 

465  524) 

Konrad  Skelioeb  in  Zittau  (I  79) 
Max  Sikbouro  in  Bonn  (I  416  H  601). 
Theodor  Sorornfrby    in  Neuhaidensieben 
(I  217) 

Alfred  SriTzxxit  in  Leipzig   II  536) 
Alwin  Sterz  in  Göthen  (I  381) 
■To hanxks  Tki  kek  in  Leipzig  (II  416) 
Pai  l  Vogel  in  Sthneeberg   I  271  II  271; 
Johannes  Volkelt  in  Leipzig  (I  66 
Wilhelm  Volhihkuit  in  Altona  (I  143  194) 
Kkhakp  W,u;nkh  in  Dresden    I  518 
Ai.e-w.ndku  Wkknicke  in  Braunschweig  II  1) 
Alexander  Weinberg  in  Trautenau  i  B  (II  55) 
Martin  WniiLKAu  in  Dresden  (II  86; 
Ulrich  Zerwiai.  in  Berlin  (l  447) 
Theqhaed  Zieoler  in  Strasburg  i,  E.  (I  28'J) 
Jt  i.n  b  Ziehen   in  Frankfurt  a  M    I  138  328 
II  448 1 


INHALT 


Die    Errichtung   eines   Alumnat«    an    der   Zwickaucr   Schule   (1544).     Von  Ernst 


Lernen  und  Leben  auf  nVn  Huruanistenschulcn  im  Spiegel  der  lateinischen  Schüler- 
dialoge    Von  Aloys  Börner  129  204 

Aim  dftm  mittAlrhpiniarliftn  Humanist  enln-ftia«     Von  F  W  E  Rnth   1«B 

Nachträgliches  zu  Veit  Werler.   Von  Otto  Clemen   117 

Xsticampians  Leipziger  AbschicdBrede     Von  Otto  Giemen   236 

Stegreifdistichen  aus  der  Humanistenzeit     Von  Otto  Clemen   510 

Die  Pädagogik  der  Jesuiten  und  der  Pietisten.    Von  Qeorg  Mertz  400  480 

Die  älteste  deutsche  Zeitschrift  für  höheres  Schulwesen  Von  Ernst,  Schwahe  4fift  fig4 

Geliert«  j>Udagogische  Wirksamkeit.    Von  Woldemar  Haynel                            221  241 

Briefe  von  Wolf  und  Papencordt  an  Lina  Klindworth.    Von  Theodor  Preufs       29»  394 

Ludwig  von  Strümpell.    Von  Alfred  Spitzner   636 

Wege  und  Ziele  für  die  Abfassung  einer  Geschichte  des  sächsischen  Oelehi-tcnschul- 

wesens     Von  Ernst .Srhwn.be  ftflfi 

Zur  pädagogischen  Psychologie  und  Physiologie.    Von  Franz  Fauth   161 

Zur  Physiologie  und  Psychologie  in  der  Pädagogik.    Von  Wilhelm  Koppel  mann  441 

Individualgeist  und  Gesamtgeist.    Von  August  Messer   489 

Ästhetische  und  ethische  Bildung  in  der  Gegenwart.    Von  Wilhelm  Münch.  .  .  .  513 

Die  Phantasie.   Eine  psychologisch-ästhetische  Studie.   Von  Alfred  Biese   .  .  .  .  861 

Soll  die  Schule  erziehen?   Von  Carl  Eeichardt   76 

Die  Organisation  des  höheren  Schulwesens  in  Preufsen.  Von  Alexander  Wernicke  1 

Die  Gesundheitspflege  beim  Mittelschulunterrichte.  Von  Alexander  Weinberg  65 
Ziegler,  Der  Kampf  gegen  die  Unmafsigkeit  auf  Schule  und  Universität.  Von  Richard 

Richter   63 

Über  die  Erteilung  der  wissenschaftlichen  Hauptzensur  bei  der  Reifeprüfung.  Von 

Richard  Meister   312 

Zu  Richard  Meister,  Über  die  wissenschaftliche  Hauptzensur  für  das  Reifezeugnis. 

Von  Richard  Richter   898 

Zu  der  neuen  preußischen  Prüfungsordnung  für  Kandidaten  des  höheren  Lehramts. 

Von  N.  N   256 

Über  klassische  Studienreisen.   Von  Johannes  Teufer   416 

Zukunftsgymnasium  und  Oberlehrerstand.    Von  einem  Schulmann.   Von  Richard 

Richter   119 

Knöpfel,  Die  Überbürdung  der  Lehrer.    Von  Richard  Richter   510 

Bericht  über  die  fflnfunddreifsigste  Versammlung  des  Vereins  rheinischer  Schul- 
manner (1898).    Von  Emil  Oehley   121 

Bericht  über  die  sechsunddreifsigste  Versammlung  des  Vereins  rheinischer  Schul- 
männer (1899).    Von  Bernhard  Geifsler   456 

Die  Aufgaben  der  Literaturgeschichte.   Von  Alfred  Biese   36 

Hilfsbücher  für  den  deutschen  Unterricht.  Von  PaulVogel   271 


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Inhalt  VII 

Seite 

Bartels.  Die  deutsche  Dichtung  der  Gegenwart.    Die  Alten  und  die  Jungen.    2.  Aufl 

Von  Alfred  Biese    3ül 

Ein  Herderbuch  als  Schulausgabe.    Von  Carl  Land  mann   1C2 

Die  Entlohnung  in  Goethe«  Iphigenie  auf  Tauris.    Von  Martin  Wohlrah   86 

Zu  Goethes  Iphigenie.   Von  Johannes  Imelmann  63  116 

Zn  Goethe»  Iphigenie.   Von  Karl  Heinemann   306 

Karl  Brenel,  Iphigenie  auf  Tauris  von  Goethe  für  Engländer.   Von  Ernst  Mäschel  660 

Moderne  Schulausgaben.   Von  Max  Siebourg   601 

Grammattci  militantes.   Von  Armin  Dittmar   142 

Die  Gestaltung  des  lateinischen  Unterrichts  im  Oberbau  des  Realgymnasiums  nach 

Frankfurter  Lehrplan.    Von  Julius  Ziehen   448 

Zur  Aussprache  des  Lateinischen.    Von  Gustav  Fasterding   896 

Ein  Jahr  lateinischen  Unterrichts  nach  Ostermann -Bahnsch.  Von  Eduard  Loch  .  .  462 
H.  J.  Müller,  Ostermanns  lateinisches  Übungsbuch.   6.  Teil :  Obersekunda  und  Prima. 

Von  Gotthold  Sachse   669 

Der  griechische  Unterricht  (Dettweiler).    Von  Richard  Meister   263 

Xenophona  Metnorabilien  Cap.  I  und  II  in  ihren  Beziehungen  zur  Gegenwart.  Von 

Emil  Roh enberg  .   'J4 

Die  Entwicklung  der  griechischen  Aufklärung  bis  auf  Sokrates.  Von  WilhelmNestle.  177 
Ist  es  die  Aufgabe  des  Gymnasiums,  den  französischen  Aufsatz  zu  pflegen?  Von 

Albrecht  Reum   886 

Der  neusprachliche  Unterricht  im  Königreich  Sachsen.    Von  Otto  Dost   -129 

Makedonien  und  Preuisen.     Ein  schulmiU'siger  geschichtlicher  Vergleich   als  Kon- 

zentrationsprobe.    Von  Hermann  Rose   106 

Schleiermacher  als  deutscher  Patriot.    Für  die  höhere  Schule  dargestellt.  Von 

Johannes  Reinhard   846 

Kaemmel,  Grundzüge  der  sächsischen  Geschichte  für  Lehrer  und  Schüler  höherer 

Schulen.    Von  Gustav  Diestel   398 

Koch,  Kömische  Geschichte.    2.  Aufl.    Von  Heinrich  Grofsinann   :ttfK 

Aus  der  Praxis  des  geschichtlichen  und  kunstgeschichtlichen  Anschauungsunterrichte. 

Von  Ottft  Eduard  SrhmiiU.  älfi 

Bemerkungen  zum  Anschauunga-  und  Knnstunterricht  auf  dem  Gymnasium.  Von 

Gerhard  Schnitz    ÖAfi 

Materialien  zu  einer  RepeÜtion  über  Afrika.   Von  Rudolf  Hanncke   382 

Die  Einführung  der  Kraftlinien  in  den  Physikunterricht  der  Gymnasien.   Von  Karl 

HAnlich   46 

Die  Kunstgestaltung  des  Buches  Hiob.    Von  Julius  Ley   287 


REGISTER 

DER  IM  JAHRGANG  1899  BESPROCHENEN  SCHRIFTEN 


O.  Altenburg,  Die  Kunst  deB  psychologischen  Beobachtern?  ■;  Herlin  18'.*8)   159 

Fr.  Buh  tisch,  Lese-  und  Übungsbuch  für  den  lat.  Anfangsunterricht  in  Kefurmschulen 

i,  Leipzig  lH'Jrt)                                   .    452 

J.  M.  Buldwin,  Die  Entwickelung  des  Geiste«  beim  Kinde  und  bei  der  Basse  (über- 
setzt von  A.  E.  Ostermann.    Berlin  1898)   444 

A.  Bartels,  Die  deutsche  Dichtung  der  Gegenwart  (2.  Aufl.    Leipzig  1899)   ■  397 

Fr.  Bindseil,  Der  deutsche  Aufsatz  in  Prima  (2.  Aufl.  von  Br.  Zielonka.  Berlin  1899)  278 
K.  Breuel,  Iphigenie  auf  Tauris  von  Goethe.    Edited  with  introduction,  notes  and 

appendices  (Cambridge  1899)   560 

P.  Cauer,  Grammatica  militans  (Berlin  1898)   142 

(i.  Cordt»,  Psychologische  Analyse  der  Thataache  der  Selbaterziehung  'Berlin  1*'JS.   .  151 

().  Dnhnhurdt,  Xaturgeschichtliche  Volksmärchen  'Leipzig  lK'JH'i   .    .    •JHÜ 

P.  Dettweiler,  Der  griechische  Unterricht  {Baumeisters  Hundbuch.    München  1899)  .   .  263 
L.  Gurlitt,  Lat.  Fibel  für  Sexta.    Lat.  Lesebuch  für  Quinta  (Berlin  1897.  1899)  .  .  .  551 
U.  Heidelberg,  Elementargrammatik  der  deutschen  Sprache  für  höhere  Unterrichts- 
anstalten (Berlin  1898)   282 

O.  Kämmet,  Grundzuge  der  Büchsischen  Geschichte  für  höhere  Schulen  (Dresden  1898)  398 

F.  Knustes,  Arbeitshygiene  der  Schule  auf  Grund  von  Ermüdunpsmessungen  Herlin  lH'JH)  161 
F.  Kern,  Leitfaden  für  den  Anfangsunterricht  in  der  deutschen  Grammatik  (2.  Aufl. 

Berlin  1898)   288 

J.Koch,  Römische  Geschichte  \  >.  Aull.    Leipzig  18lm)   898 

/..  Knüpft! ,  Zur  Überbiirdungsfragc  der  akademisch  gebildeten  Lehrer  Deutschlands 

(Schalke  1899)   510 

K.  Laus,    Der    deutsche   Aufsatz   in   den   oberen   Gyuinasialklassen    I   (■'!    AuH  von 

J.  Imelmann.    Berlin  1898)   271 

<).  Lehmann  und   K.  Doretitcell ,  Deutsches  Sprach-  und   trbungsbncli  .Hannover  und 

Herl  in  liS'JH;   -Js.l 

B.  Lehmann,  Übersicht  über  die  Entwickelung  der  deutschen  Sprache  und  Litteratur 

(2.  Aufl.    Berlin  1898)   279 

B.  Liebidt,  Die  Wortfamilien  der  lebenden  hochdeutschen  Sprache  als  Grundlage  für 

ein  System  der  Bedeutungslehre  (Breslau  1898)   282 

J.  Lober,  Herderbuch  (Leipzig  und  Dresden  1898)   162 

H.  J.  Müller,  Lat  Stilistik  von  E.  Berger  (8.  Aufl.    Berlin  1898)   149 

H.  J.  Müller,  Ostermanns  Lat.  Übungsbuch.  Teil  5 :  Obersekunda  und  Prima  (Leipzig  1899)  569 

R.  Schäfer,  Die  Vererbung  (Berlin  1898)   441 

/.  H.  Schmalz  und  C.  Wagner,  Lat.  Schulgrammatik  (4.  Aufl.  Bielefeld  und  Leipzig)  147 
U.  Schrohe,  Über  die  Verbindung  des  lat.  und  deutschen  Unterrichts  auf  der  Unter- 

und  Mittelstufo  des  Gymnasiums.    Teil  U  (Bensheim  1898)   284 

F.  Schultz,  Meditationen  (Dessau  1884  1886  1898)   274 

E.  Schtctihe,  Aufgaben  zur  Einübung  der  lat  Syntax    Leipzig  lw'.iüi   148 

E.  Wagner  und  G.  v.  Kotnlinski,  Leitfaden  der  griech.  und  röm.  Altertümer  (Berlin  1897)  662 
P.  Wessel,  Geschichte  der  deutschen  Dichtung  bis  zur  Mefonnation.   Für  Obersekunda 

(Gotha  18US)     -260 

P.  Wessel,  Mittelhochdeutsches  Lesebuch  (Gotha  1S9K)   281 

Th.  Ziegler,  Der  Kampf  gegen  die  UnmiU'sigkeit  auf  Schule  und  Universität  (Heidel- 
berg 1898)   63 

Zukunftsgymnamum  und  Oberlehrerstand.   Von  einem  Schulmanne  (Wolfenbüttel  1899)  119 


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JAHRGANG  1899.    ZWEITE  ABTEILUNG.    ERSTES  HEPT. 


DIE  ORGANISATION  DES  HÖHEREN  SCHULWESENS 

IN  PREUSSEN 

Von  Alexander  Wbrnicke 

Mit  der  Veröffentlichung  der  neuen  Prüfungsordnung  für  das  Lehramt 
(12.  IX.  1898)  ist  die  Neuordnung  des  höheren  Schulwesens  in  Preufsen,  welche 
der  Berliner  Dezemberkonferenz  (1890)  folgte,  zum  Abschlüsse  gebracht,  ab- 
gesehen von  den  Versuchen  mit  den  Reformschulen. 

Dafs  diese  Neuordnung,  namentlich  auch  das  zuletzt  veröffentlichte  Prüfungs- 
Reglement,  die  höhere  Lehrerschaft  Preufsens,  was  die  verschiedenen  Fragen 
der  Standesinteressen  (Rang,  Gehalt  u.  s.  w.)  anlangt,  ein  grofses  Stück  auf 
der  Bahn  ihrer  berechtigten  Wünsche  und  Hoffhungen  vorwärts  gebracht  hat, 
wird  allseitig  mit  Befriedigung  anerkannt. 

Dagegen  klagt  man,  und  zwar  von  Jahr  zu  Jahr  mit  immer  gröfserer 
Stimmenzahl  und  immer  dringlicher,  dafs  die  Mafsregeln  gegen  eine  Über- 
bürdung  der  Schüler  und  manche  andere  Dinge,  welche  die  neue  Ordnung 
gebracht  oder  erhalten  hat,  zu  einer  Überbürdung  der  Direktoren  und  Lehrer1) 
zu  führen  geeignet  sind,  ohne  doch  die  Überbürdung  der  Schüler  völlig  zu  be- 
seitigen. 

Soweit  sich,  die  Berechtigung  dieser  Klagen  vorausgesetzt,  hier  inner- 
halb der  einmal  gegebenen  Organisation  des  höheren  Schulwesens  Ab- 
hilfe schaffen  läfst,  wird  ohne  Zweifel  mit  der  Zeit  eine  Wendung  zum  Besseren 
eintreten. 

So  liefse  sich  z.  B.  die  Einführung  von  Schulsekretären,  welche  den  Direktor, 
die  Klassenlehrer  und  die  Vorstände  der  Sammlungen  von  einem  grofsen  Teile 
der  Verwaltungsarbeit  befreien,  ohne  weiteres  bewerkstelligen,  sie  ist  ledig- 
lich eine  Finanzfrage. 

So  liefse  sich  auch  die  Maximalzahl  der  Stunden  wieder  herabsetzen,  ohne 
dafs  damit  tiefgreifende  Änderungen  verbunden  werden  müfsten. 

Anders  steht  es  mit  Forderungen  der  gedachten  Art,  für  deren  Erfüllung 
ein  Eingriff  in  die  einmal  gegebene  Organisation  notwendig  ist. 

Behauptet  man  z.  B.  mit  Recht,  dafs  die  gleichmäfsige  Ausbildung  nach 
der  fremdsprachlichen  und  nach  der  mathematisch-naturwissenschaftlichen  Seite, 


*)  Vgl.  die  Verhandlungen  auf  der  letzten  Versammlung  (1898)  deutscher  Naturforscher 
und  Ärzte  in  Düsseldorf. 

Nene  Jahrbttcher.   im.   II.  1 


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2 


A.  Wernicke:  Die  Organisation  de«  höheren  Schulwesens  in  Preufsen 


welche  die  preufsischen  Lehrpläne  von  allen  Anstalten  fordern,  für  das  Mittel- 
gut unserer  Schüler  eine  allzu  schwere  Belastung  ist,  so  liefse  sich  zwar 
durch  erweiterte  Kompensationen  der  Prüfungsordnung  einige  Abhilfe  schallen, 
eine  gründliche  Heilung  würde  aber  den  Aufbau  des  ganzen  Schulwesens 
verändern. 

Gerade  weil  die  Frage  der  Überbürdung  von  Lehrern  und  Schülern  mit 
der  Frage  der  Organisation  des  gesamten  Schulwesens  in  einem  gewissen  Zu- 
sammenhange steht,  wird  man  dieser  Organisation  eine  noch  breitere  und  tiefere 
Teilnahme  entgegenbringen  müssen,  als  es  bisher  geschehen  ist. 

Man  hat  sich  mit  ihr  schon  viel  beschäftigt,  auch  aufserhalb  des  Gebietes 
der  preufsischen  Lehrpläne,  deren  Geltung  sich  bekanntlich  nicht  blofs  auf  das 
Königreich  Preufsen  erstreckt. 

Die  Erörterungen  über  die  Organisation  des  höheren  Schulwesens  in 
Preufsen  bilden  eine  gewaltige  Masse  von  Kritik,  das  Wort  in  gutem  und  in 
bösem  Sinne  genommen,  aber  man  kann  dieser  Kritik  nicht  den  Vorwurf  ersparen, 
dafs  sie  nur  selten  versucht  hat,  sich  zu  einer  Kritik  grofsen  Stiles  zu  erheben. 

Dem  gegenüber  steht  die  Aufgabe,  vor  aller  Anerkennung  oder  Ver- 
urteilung das  Prinzip  des  gesamten  Aufbaus  jenes  höheren  Schulwesens 
zur  Anschauung  zu  bringen  und  alles  Einzelne  in  Bezug  auf  seine  Überein- 
stimmung mit  diesem  Prinzip  zu  prüfen. 

Dafs  die  Lehrpläne  vom  6.  Januar  1892  und  die  entsprechende  Prüfungs- 
ordnung der  Kritik  hie  und  da  gewisse  Blöfsen  geben,  ist  nicht  zu  leugnen; 
man  hat  wohl  allgemein  den  Eindruck,  dafs  es  zweckmäfsiger  gewesen  wäre, 
sie  vor  ihrer  Drucklegung  noch  einmal  einer  genaueren  Durchsicht  zu  unter- 
ziehen. Von  solchen  Einzelheiten,  welche  eine  sorgsame  Hand  leicht  bessern 
könnte,  soll  im  folgenden  nicht  die  Rede  sein,  es  soll  vielmehr  versucht  werden, 
lediglich  das  Prinzip  des  Aufbaus  darzulegen,  welches  in  dem  höheren 
Schulwesen  Preufsens  zur  Geltung  kommt,  und  damit  echte  Kritik  zu  fördern. 

Dazu  ist  es  freilich  nötig,  den  Blick  von  der  Gegenwart  aus  rückwärts  zu 
lenken  und  auch  hier  das  Verständnis  des  augenblicklich  Gegebenen  in  der 
Vergangenheit  zu  suchen. 

Auf  diese  Notwendigkeit  weist  die  preufsische  Unterrichtsverwaltung  Belbst 
hin,  wenn  sie  ihre  Vorschläge  für  die  Neuordnung  (vgl.  Denkschrift  1892,  Ein- 
leitung) als  *das  Ergebnis  einer  Jahre  lang  fortgesetzten  Sammlung  und  Prüfung 
des  in  der  betreffenden  Litteratur  angehäuften  Materials'  bezeichnet. 

Echte  Kritik  am  geschichtlich  Gegebenen  d.  h.  eine  Kritik,  welche 
hier  für  die  Arbeit  der  Zukunft  wirken  will,  kann  nur  genetisch  sein. 

Es  handelt  sich  darum,  auf  Grund  eines  vorurteilslosen  Studiums  des 
breiten  Gebietes  des  Tatsächlichen  in  dessen  geschichtlicher  Folge  Ent- 
wickelungen  d.  h.  zielstrebige  Reihen  von  Veränderungen  zu  sehen 
und  zu  bestimmen. 

Aus  dem  Gesetze  einer  solchen  Reihe  (^Zug  der  Entwickelung  oder  Ent- 
wickelungateudenz),  das  man  aus  deren  geschichtlich  vorliegendem  Teile  abliest, 
schliefst  man  auf  die  Fortsetzung  der  Reihe,  welche  in  der  Gegenwart  lebendig 


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A.  Wernicke:  Die  Organisation  des  höheren  Schulwesens  in  Preufsen 


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ist,  und  auf  deren  weitere  Fortsetzungen,  welche  noch  im  Schofse  der  Zukunft 
schlummern.1) 

So  gewinnt  man  das  Verständnis  der  Gegenwart  aus  der  Vergangenheit 
und  gelangt  dazu,  die  Zukunft,  wie  Schleiermacher  gelegentlich  sagt,  zu  rkal- 
%  kulieren'. 

So  vermag  man  zwischen  den  ausgedehnten  Geländen  der  Reaktion  und 
der  Revolution  den  schmalen  Pfad  reformatorischen  Schaffens  zu  finden.  Nur 
wer  auf  diesem  Pfade  wandelt,  ist  im  stände,  dem  Zuge  der  Entwickelung 
zu  dienen. 

Könnten  wir  das  viel  verschlungene  Gewebe  des  geschichtlichen  Bestandes 
mit  Sicherheit  in  Reihen  von  zielstrebigen  Veränderungen  auflösen  und  ver- 
möchten wir  die  Gesetze  dieser  Reihen  zu  bestimmen,  ohne  dem  lrrtume  zu 
verfallen,  so  lägen  auch  die  Pfade  reformatorischen  Schaffens  klar  vor  uns  da. 

Die  Grenzen,  welche  allen  menschlichen  Bestrebungen  gesetzt  sind,  hindern 
uns  daran,  und  darum  wird  auch  bei  dem  reinsten  Wollen  der  Kampf  um 
die  Gestaltung  der  Zukunft  niemals  ein  Ende  finden. 

Trotzdem  bleibt  die  genetisch-kritische  Betrachtung9)  das  einzige 
Mittel,  den  grofsen  Bereich  aller  überflüssigen  Erörterungen  über  das  Kommende 
möglichst  einzuschränken  und  die  oft  so  erhöhte  Temperatur  der  Debatten  auf 
ihr  normales  Mafs  zurückzuführen. 

(Unda  fert,  nec  regitur'  —  so  schrieb  Fürst  Bismarck  einmal  unter 
sein  Bildnis.  In  demselben  Sinne  hat  er  sich  sehr  oft  geäufsert,  gelegentlich 
auch  ausführlicher,  und  damit  eine  scharf  bestimmte  Geschichtsauffassung 
bekannt,  von  der  er  sich  thatsächlich  bei  seinem  Wirken  durchaus  leiten  liefs. 
Gerade  weil  er  die  Gebundenheit  des  Einzelnen  gegenüber  dem  Ent- 
wickelungszuge  des  geschichtlich  Gegebenen')  klar  erkannt  hatte,  ver- 
mochte er  auch  diesem  Zuge  zu  folgen,  und  dadurch  wurde  er  der  grofse  Real- 
politiker. Die  Lehre,  welche  uns  sein  Leben  und  Wirken  giebt,  sollte  man 
nicht  ungenutzt  lassen,  sie  gilt  für  alle  Gebiete  des  geschichtlich  Gegebenen. 

Im  folgenden  soll  nun  versucht  werden,  die  gegenwärtige  Organisation 
des  höheren  Schulwesens  in  Preufsen  einer  solchen  genetisch-kriti- 
schen Betrachtung  zu  unterwerfen,  natürlich  soweit  es  in  dem  Rahmen 
einer  kurzen  Abhandlung  möglich  ist. 

Die  preufsische  Neuordnung  vom  1.  April  1892  ist  nicht  zu  verstehen  ohne 
genauere  Berücksichtigung  der  entsprechenden  Neuordnung  vom  1.  April  1882. 
Mit  letzterer  kam  für  Preuisen  eine  prinzipielle  Frage  von  weittragender  Be- 


')  Vgl.  dam  meine  Abhandlangen  in  der  Vierteüahrsschrift  für  wissenschaftliche  Philo- 
sophie 1886/87  'Die  asymptotische  Funktion  des  Bewufstseins'. 

*)  Ihr  gegenüber  steht  Hegels  genetisch-konstruktive  Betrachtung.    Hier  wird 
der  Begriff  'Entwickelung*  nach  Umfang  und  Inhalt  dogmatisch  bestimmt  und  dann  dem 
Thataächlichen  aufgezwungen, 
t  *)  Diese  Gebundenheit  zeigen  uns  auch  die  Lebensgeschichten  der  Pädagogen,  be- 

sonders der  Pädagogen,  welche  in  der  Schulverwaltung  thätig  waren.  Hier  mag  etwa  an 
Wiese  und  Bonitz  erinnert  werden. 

1* 


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4  A.  Wernicke:  Die  Organisation  de«  höheren  Schulwesens  in  Preufsen 

deutung  zum  Entscheide,  deren  Beantwortung  noch  heute  die  Grundbedingung 
für  die  Stellung  der  Einzelnen  im  Schulkampfe  bildet,  es  handelte  sich  um 
die  Bestimmung  des  Begriffes  der  Allgemeinbildung  und  um  die  damit 
gegebenen  Folgerungen  für  die  Organisation  des  höheren  Schulwesens. 

Die  preufsischc  Ordnung  vom  1.  April  1882  fafst  zum  ersten  male  Gymnasium, 
Realgymnasium  und  Oberrealschule  als  neunstufige  Anstalten  für  All- 
gemeinbildung äufserlich  zusammen,  die  preufsische  Ordnung  vom  1.  April  1892 
fügt  dieser  äufseren  Verbindung  die  innere  Verkettung  hinzu. 

Der  äufseren  Verbindung  von  Gymnasium  und  Realgymnasium  dienten 
bereits  die  Verfügungen  des  Kultusministeriums  vom  12.  Januar  1856  für  die 
Gymnasien  und  vom  G.  Oktober  1859  für  die  (Latein  führenden)  Realschulen1) 
als  geschichtlich  gegebene  Stützpunkte,  während  das  Auftreten  der  Oberreal- 
schule neben  jenen  beiden  Anstalten  in  weiten  Kreisen  als  etwas  ganz  Neues 
empfunden  wurde.  Thatsächlich  war  dieses  Neue  in  langsamer  und  zielbewufster 
Arbeit  vorbereitet  worden,  aber  diese  Arbeit  entzog  sich  und  entzieht  sich 
noch  heute  vielfach  den  Blicken,  weil  sie  nicht  unter  dem  preufsischen  Kultus- 
ministerium, sondern  unter  dem  preufsischen  Handelsministerium  geleistet 
worden  war. 

Es  wird  deshalb  nötig  sein,  zunächst  diesem  Punkte  einige  Worte  zu  widmen. 

Als  der  Wiener  Kongrefs  den  armen  deutschen  Ländern  endlich  den  er- 
sehnten Frieden  gebracht  hatte,  da  wandte  man  sich  überall  mit  Fleifs  und 
Geschick  den  wirtschaftlichen  Aufgaben  zu,  welche  ihrer  Lösung  harrten. 
Diese  Arbeit,  welche  auch  für  die  Entwickelung  des  gesamten  Schulwesens  von 
hoher  Bedeutung  war,  wurde  bald  ein  gemeinsames  Band  für  die  einzelnen 
deutschen  Staaten.  Schon  1828  konnte  Goethe8)  vorausschauenden  Blickes 
sagen:  'Mir  ist  nicht  bange,  dafs  Deutschland  nicht  eins  werde;  unsere  guten 
Chausseen  und  künftigen  Eisenbahnen  werden  schon  das  Ihrige  thun  .  .  . 
Gymnasien  und  Schulen  für  Technik  und  Industrie  sind  im  Überflufs 
da  u.  8.  w.'  Bald  begann  der  deutsche  Zollverein  das  Prophetenwort  Goethes 
wahr  zu  machen.  Der  geistigen  Einigung  des  Deutschtums,  welche  sich  in 
der  Kant-Goethe-Schillerschen  Zeit  vollzogen  hatte,  folgte  der  wirtschaftliche 
Zusammenschlufs,  und  damit  rückte  auch  das  Ziel  der  politischen  Sehnsucht 
in  greifbare  Nähe. 

Für  die  Epoche  des  wirtschaftlichen  Aufschwunges  ist  das  Entstehen  von 
Fachschulen  mancherlei  Art  bezeichnend.  Sie  entwickelten  sich  mit  dem 
steigenden  Bedürfnisse  zu  höheren  und  höheren  Formen;  neben  die  alten  Uni- 
versitäten traten  die  technischen  Hochschulen  und  andere  akademische  Anstalten, 
deren  Kette  erst  in  allerjüngster  Zeit  durch  die  kaufmännische  Hochschule 
(Leipzig,  Ostern  1898;  Aachen  und  Wien,  Herbst  1898)  geschlossen  worden  ist. 

Innerhalb  dieser  Fachschulentwickelung  wurde  in  Preufsen  und  in  ge- 
wissem Sinne  auch  in  Württemberg  und  in  Österreich  sozusagen  als  Neben- 

')  Zur  Geschichte  der  Realgymnasien  vgl.  Steinbarts  Artikel  in  Beins  encyklopädischem 
Handbuche  und  den  betreffenden  Abschnitt  in  Paulsens  Geschichte  des  gel.  Unterr. 
*>  Bei  Eckermann,  23.  Oktober  1828. 


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A.  Wcrnicke:  Die  Organisation  des  höheren  Schulwesens  in  Preuftcn 


5 


produkt  eine  Anstalt  für  Allgemeinbildung  gewonnen,  welche  zu  dem  modernen 
Gymnasium  Frankreichs  in  Parallele  steht.1) 

Die  preufsische  Oberrealschule,  welche  eigentlich  als  neusprachliches  Gym- 
nasium bezeichnet  werden  müfste,  hat  sich  aus  einer  kleinen  gewerblichen 
Fachschule  stetig,  unter  Abscheidung  von  Fachschulen  niederer  und  mittlerer 
Art,  zu  einer  Anstalt  für  Allgemeinbildung  entwickelt,  deren  Lehrplan  mit  dem 
des  Gymnasiums  nahezu  übereinstimmt,  wenn  man  in  diesem  Lateinisch  durch 
Franzosisch  und  Griechisch  durch  Englisch  ersetzt  denkt.8) 

Für  Preufsen,  welches  dem  Kreise  W.  v.  Humboldts  die  erste  feste  Organi- 
sation seiner  Gymnasien  (1816)  verdankt,  war  es  Kunth,  der  Erzieher  der 
Gebrüder  v.  Humboldt,  gewesen,  welcher  in  der  geringen  allgemeinen  und 
fachlichen  Bildung  der  Gewerbetreibenden  die  Hauptursache  für  das  Darnieder- 
liegen der  Gewerbethätigkeit  in  Preufsen  gesehen  und  demgemäfs  auf  eine  Be- 
seitigung dieser  Übelstände  hingewirkt  hatte.  In  seinem  Gutachten  an  den 
Minister  v.  Altenstein  vom  22.  August  1818  heifst  es:  'Die  Leiter  eines  gewerb- 
lichen Geschäftes  in  engeren  und  weiteren  Sphären  müfsten  einsehen  lernen, 
dafs  und  auf  welchen  wissenschaftlichen  Gründen  ihr  Geschäft  oder 
Gewerbe  beruht,  und  welche  Veränderungen  Verarbeitung  und  Handel  in  ver- 
schiedenen Ländern  von  jeher  erfahren  haben,  und  zwar  beides  wenigstens  so 
weit,  dafs  sie,  wenn  sie  künftig  ein  Buch  über  ihr  besonderes  Geschäft  oder 
Gewerbe,  dessen  innere  und  äufsere  Gestaltung  im  Fortschritt  der  Zeit,  zu 
lesen  wünschen,  es  verstehen,  auch  sonstige  Gelegenheiten,  sich  für  ihr  be- 
sonderes Fach  weiter  auszubilden,  gern  und  verständig  benutzen,  überhaupt  das 
Bedürfnis  eines  erhöhten  geistigen  Lebens  und  Wirkens  fühlen  mögen/ 

Schon  war  auch  für  Preufsen  der  Mann  erstanden,  welcher  diesem  Be- 
dürfhisse der  Zeit  in  praktischer  Weise  zu  genügen  wufste,  der  geniale  und 
thatkräftige  Beuth.  Der  Verein  zur  Beförderung  des  Gewerbefleifses  in  Preufsen 
und  das  technische  Institut  (1827)  in  Berlin  verdanken  ihm  ihre  Entstehung, 
ebenso  in  den  Provinzen  die  Handwerker-  (1817)  und  Gewerbevereine  (1821), 
sowie  die  Provinzialgewerbeschulen. 

Während  sich  das  Technische  Institut  zu  Berlin  (1827  Gewerbeinstitut, 
1866  Gewerbeakademie  genannt)  langsam  zu  einer  akademischen  Anstalt  ent- 
wickelte, um  schliefslich  im  Verein  mit  der  Bauakademie  die  technische  Hoch- 
schule Berlin-Charlottenburg  (1.  April  1879)  zu  bilden,  entwickelten  sich  zu- 
gleich die  Provinzialgewerbeschulen,  welche  zunächst  lediglich  niedere  Fachschulen 
gewesen  waren,  Schritt  für  Schritt  weiter  als  Vorschulen  des  Technischen 
Institutes  (höhere  Technik)  und  als  selbständige  Fachschulen  für  die  mittlere 
Technik. 

Dieser  Doppelbestimmung  entsprechend  suchten  sie  einerseits  Schulen  für 

*}  In  Sachsen  ist  man  bei  der  Staatsgewerbescbule  (Chemnitz),  in  Bayern  bei  den 
Industrieschulen  stehen  geblieben,  während  die  Reichslande  ebenso  wie  Baden,  Oldenburg 
und  Braunschweig  die  preufsische  Oberrealechule  nachgebildet  haben. 

*)  Eine  ausführlichere  Darstellung  findet  man  in  meiner  Programmabhandlung,  Braun- 
schweig, 1896:  'Die  Oberrealschule  vom  Jahre  18»2.' 


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A.  Wernicke:  Die  Organisation  des  höheren  Schulwesen»  in  Preufsen 


Allgemeinbildung  zu  werden  und  anderseits  Schulen  für  Fachbildung  zu  bleiben, 
ein  innerer  Zwiespalt,  dessen  Lösung  allmählich  immer  dringlicher  wurde. 

Als  nun  der  schulmäfsige  Betrieb  auf  dem  Gewerbeinstitute  schrittweise  durch 
die  Verfügungen  vom  23.  August  1860,  23.  November  1860  und  1.  Oktober  1864 
beseitigt  und  dieser  Anstalt  infolgedessen  auch  der  Name  'Gewerbeakademie' 
beigelegt  worden  war,  liefs  sich  die  Erörterung  der  geeigneten  Vorbildung  für 
die  höhere  Technik  nicht  länger  hinausschieben.  So  kam  es  im  preufsischen 
Ministerium  für  Handel,  Gewerbe  und  öffentliche  Arbeiten  im  Januar  1869  zu 
der  denkwürdigen  Schulkonferenz,  durch  welche  die  Provinzialgewerbeschulen 
mit  Entschiedenheit  auf  die  Bahn  der  Allgemeinbildung  gedrängt  wurden. 

Nach  den  Vorschlägen  Nottebohms,  welcher  das  Gewerbeinstitut  oder  die 
Gewerbeakademie  bis  zum  Jahre  1868  geleitet  hatte,  sollte  jener  innere  Zwie- 
spalt im  Leben  der  Provinzialgewerbeschule  dadurch  ausgeglichen  werden,  dafs 
die  Fachbildung  für  die  Technik  auf  die  oberste  Klasse  beschränkt  und  dafs 
daneben  eine  oberste  Klasse  für  Allgemeinbildung  geschaffen  würde,  welche 
im  Verein  mit  den  darunterstehenden  Klassen  eine  geeignete  Vorschule  für  die 
Studierenden  der  höheren  Technik  bilden  müfste. 

Dazu  sollten  neben  dem  längst  eingeführten  und  stark  betonten  Unterricht 
im  Deutschen  noch  Geschichte  und  neuere  Fremdsprachen  in  den  Lehr- 
plan aufgenommen  werden. 

Der  Gedanke  an  eine  Allgemeinbildung  für  akademische  Studien, 
bei  welcher  Französisch  und  Englisch  die  Rolle  von  Lateinisch  und 
Griechisch  übernehmen  sollen,  ringt  hier  zum  erstenmale  in  Preufsen  nach 
praktischer  Gestaltung,  allerdings  unterstützt  durch  die  Erwägung,  dafs  dem 
Techniker  die  Kenntnis  moderner  Fremdsprachen  von  besonderem  Werte,  ja 
fast  unentbehrlich  ist. 

Die  Vorschläge  Nottebohms  wurden  im  Prinzip  von  der  Konfereuz  (1869) 
angenommen  und  erhielten  durch  die  Verfügung  vom  21.  März  1870  ihre  amt- 
liche Bestätigung. 

So  entstanden  in  Preufsen  lateinlose  Schulen  von  8  Jahresstufen,  deren 
drei  oberste  Klassen  (Untersekunda,  Obersekunda  und  einjährige  Prima)  die 
staatliche  'Reorganisierte  Provinzialgewerbeschule'  bildeten,  während 
der  Unterbau  von  Fall  zu  Fall  als  städtische  Anstalt  eingerichtet  wurde. 

Neben  der  Prima  mit  allgemeinbildenden  Fächern  (A)  bestanden  besondere 
Primen  für  Bauhandwerker  (B),  Maschinenbauer  (C)  und  technische  Chemiker  (D), 
so  dafs  also  vor  der  obersten  Klasse  eine  vierfache  Gabelung  eintrat. 

Während  die  Abiturienten  der  Fachprimen  unmittelbar  in  die  Praxis  über- 
gingen, stand  den  Abiturienten  der  Abteilung  A,  von  denen  in  der  Reife- 
prüfung u.  a.  ein  französischer  und  ein  englischer  Aufsatz  (oder  auch  ein  Diktat) 
aus  dem  Gebiete  der  Technik  gefordert  wurde,  vor  allem  das  rechtmäfsige 
Studium  auf  der  technischen  Hochschule  offen  und  ferner  der  Zugang 
zu  dem  Lehramte  an  den  Schulen,  aus  denen  sie  hervorgegangen  waren  (ab- 
gesehen von  der  Lehrbefähigung  für  Geschichte  und  neuere  Sprachen). 

Unter  dem  10.  August  1871  erschien  ein  besonderes  Prüfungsreglement  für 


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A.  Wernicke:  Die  Organisation  des  höheren  Schulwesens  in  Preufsen 


7 


dieses  Lehramt,  dessen  Kandidaten  ihre  Studien  nicht  auf  der  Universität, 
sondern  auf  der  technischen  Hochschule  machen  sollten.  Am  1.  Januar  1874 
erfolgte  die  Gleichstellung  der  Lehrer  an  den  'Reorganisierten  Gewerbeschulen' 
im  Gehalte  mit  den  Lehrern  an  den  Gymnasien  und  Realgymnasien,  und  zwar 
durch  eine  Allerhöchste  Kabinetsordre,  die  folgenden  Jahre  brachten  auch  die 
Gleichstellung  in  Bezug  auf  den  Wohnungsgeldzuschufs. 

Diese  neuen  Schöpfungen  des  preufsischen  Handelsministeriums  hatten  so- 
fort im  preufsischen  Kultusministerium  die  gebührende  Beachtung  gefunden. 
Als  nun  von  diesem  im  Jahre  1873  zur  Vorbereitung  eines  allgemeinen  Unter- 
richtsgesetzes nach  Berlin  eine  Konferenz  (Oktoberkonferenz)  berufen  wurde, 
bildete  naturgemäfs  die  veränderte  Lage  der  lateinlosen  Realschulen  den  Mittel- 
punkt der  Erörterungen.  Eine  unmittelbare  Folge  dieser  Konferenz  war,  dafs 
jetzt  das  Kultusministerium  von  seiner  Seite  (13.  April  1874)  eine  lateinlose, 
neunstufige  Realanstalt  (mit  Französisch  und  Englisch)  neben  der  Latein  führenden 
Realanstalt1)  im  Prinzip  anerkannte  und  sich  überdies  (allerdings  erfolglos) 
bemühte,  die  beiden  Realanstalten  sofort  in  jeder  Beziehung  gleichzustellen. 

Im  Hinblick  auf  diese  Wendung  waren  bereits  am  1.  April  1874  in  Berlin 
zwei  lateinlose  Realschulen  zum  neunstufigen  Aufbau  übergegangen;  sie  erhielten 
am  24.  April  1876  das  Recht,  ihren  Schülern  bei  der  Versetzung  nach  Ober- 
sekunda den  Berechtigungsschein  für  den  einjährig  freiwilligen  Militärdienst  zu  er- 
teilen und  erlangten  am  30.  Juni  1876  die  Gleichstellung  ihrer  Reifezeugnisse  mit  den 
Reifezeugnissen  der  Realgymnasien  auf  Grund  einer  Nachprüfung  im  Lateinischen. 

Es  war  klar,  dafs  die  Schulen  des  Handelsministeriums  entweder  dem 
Vorgange  der  beiden  Berliner  Anstalten  folgen  oder  eine  Rückbildung  nach 
der  fachlichen  Seite  vornehmen  mufsten. 

Vor  denselben  Aufgaben  standen  auch  zu  gleicher  Zeit  die  entsprechenden 
Anstalten  im  Königreich  Württemberg,  aber  in  Zukunft  gingen  die  Wege  im 
Norden  und  im  Süden  auseinander. 

Im  August  1878  trat  im  preufsischen  Handelsministerium  eine  Schul- 
konferenz zusammen,  an  welcher  u.  a.  auch  Vertreter  des  Kultusministeriums 
teilnahmen.  Die  Frucht  war  der  Erlafs  des  Handelsministeriums  vom  1.  November 
1878,  dessen  wesentlicher  Inhalt  folgender  ist: 

1.  Die  allgemeinbildende  Anstalt  wird  neunklassig  mit  einem  Schnitte  (Ein- 
jährigfreiwilligenschein) zwischen  Unter-  und  Obersekunda. 

2.  Die  technische  Fachschule,  deren  Lehrgang  auf  zwei  Jahre  ausgedehnt 
wird,  schliefst  an  die  Untersekunda  an  (mittlere  Fachschule). 

3.  Es  ist  gestattet,  die  neunklassige  Anstalt  ohne  Fachschule  einzurichten 
(höhere  Gewerbeschule);  es  ist  gestattet,  den  sechsklasaigen  Unterbau 
selbständig  zu  machen  und  ihn  mit  einer  Fachschule  zu  verbinden  (niedere 
Gewerbeschule);  es  ist  gestattet,  beide  Schulen  mit  Gabelung  hinter  Unter- 
sekunda zu  vereinigen. 

*)  Die  Abiturienten  der  Realgymnasien  hatten  unter  dem  7.  Dezember  1870  auch  das 
Recht  erhalten,  Mathematik,  Naturwissenschaften  und  neuere  Sprachen  zu  studieren  und 
die  entsprechende  Staatsprüfung  abzulegen. 


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8  A.  Wernicke:  Die  Organisation  des  höheren  Schulwesens  in  Preufsen 

Am  1.  April  1879  übernahm  das  Kultusministerium  die  technische  Hoch- 
schule, welche  aus  der  Vereinigung  von  Bauakademie  und  Gewerbeakademie 
hervorgegangen  war,  und  auch  die  Gewerbeschulen. 

Die  ministerielle  Denkschrift,  welche  über  die  neunstufigen  lateinlosen 
Anstalten  für  Allgemeinbildung  Auskunft  giebt,  sagt  u.  a.:  Es  ist  'nicht  an- 
zuerkennen, dafs  zum  Kennzeichen  höherer  allgemeiner  Bildung  die  Beherrschung 
der  toten  klassischen  Sprachen  unbedingt  gehöre,  und  dafs  daher  eine  Schule 
eine  höhere  allgemeine  Bildungsanstalt  nur  dann  sein  könne,  wenn  wenigstens 
eine  der  beiden  toten  Sprachen  auf  ihrem  Lektionsplane  steht  Eine  solche 
Ansicht  verwechselt  den  Begriff  der  Bildung  mit  dem  der  gelehrten,  sprach- 
lichen und  historischen  Forschung  und  beruht  thatsächlich  auf  einer  durch  die 
Einseitigkeit  der  älteren  Einrichtungen  des  deutschen  Unterrichtswesens  zu 
entschuldigenden  Uberhebung  über  einen  grofsen  Teil  der  gebildeten  Klassen 
der  Nation.  Zum  Wesen  höherer  allgemeiner  Bildung  wird  überall  gerechnet 
werden  müssen,  dafs  beide  Gebiete  menschlichen  Erkennens,  die  Geistes-  und 
die  Naturwissenschaft,  das  sprachlich-historische  und  das  mathematisch- 
physikalische Element  gepflegt  werden;  aber  es  gehört  nicht  zum 
charakteristischen  Merkmal  einer  allgemeinen  Bildungsanstalt,  dafs 
auf  ihr  die  toten  statt  der  lebenden,  modernen  Sprachen  gelehrt 
werden.' 

In  diesem  Sinne  verteidigte  ein  Bonitz  als  Vertreter  des  preufsischen 
Unterrichtswesens  im  Abgeordnetenhause  (1879)  den  neuen  Begriff  der 
Allgemeinbildung.  Nachdem  er  die  historisch-philologische  und  die  mathe- 
matisch-naturwissenschaftliche Bildung  als  die  beiden  Seiten  der  Allgemein- 
bildung charakterisiert  hatte,  erklärte  er  u.a.:  'Das  aber  kann  man  nimmermehr 
sagen,  dafs,  um  der  historisch -philologischen  Seite  der  Vorbildung  ebensowohl 
nach  ihrer  logisch-formalen  Bedeutung  als  nach  der  ethisch-ästhetischen  Ein- 
wirkung der  Beschäftigung  mit  der  Litteratur  gerecht  zu  werden,  die  Kennt- 
nis der  alten  Sprachen  nicht  blofs  ein  höchst  wertvolles  Mittel, 
sondern  das  unbedingt  unerläßliche  Erfordernis  sei.  Eine  solche 
Ansicht  würde  schon  durch  die  Erfahrung  widerlegt.  Wir  müfsten  einen 
grofsen  Teil  aus  dem  Bereiche  der  Gebildeten  unserer  Naüon  ausstreichen, 
wenn  wir  durchaus  von  der  Kenntnis  der  beiden  alten  Sprachen  das  Wesen 
der  Bildung  abhängig  machten.' 

Demgemäfs  wurden  auch  die  'höheren  Gewerbeschulen',  für  welche  übrigens 
bei  den  Verhandlungen  mit  den  Städten  der  Name  'Technisches  Gymnasium' 
üblich  geworden  war1),  den  Gymnasien  und  Realschulen  in  jeder  Hinsicht 
gleichgestellt,  abgesehen  von  der  Berechtigung  ihrer  Zeugnisse. 

Auf  Grund  dieser  Sachlage  erwuchs  die  preufsische  Neuordnung  vom 
1.  April  1882. 

Mit  ihr  erhielten  die  'Höheren  Gewerbeschulen',  welche  gemäfs  der 
ministeriellen  Denkschrift  vom  Jahre  1878  etwa  als  'Neusprachliche  Gymnasien' 


')  Vgl.  i.  B.  B.  Nieteche,  Geschichte  der  Stadt  GleiwiU,  1886,  S.  431. 


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A.  Wernicke:  Die  Organisation  des  höheren  Schulwesens  in  Preußen 


9 


zu  bezeichnen  gewesen  wären,  den  durchaus  irreleitenden  und  auch  an  und  für 
sich  falsch1)  gebildeten  Namen  'Oberrealschulen',  ein  Verlegenheitstitel,  dessen 
Ursprung*)  völlig  unklar  ist. 

Sieht  man  von  der  Einführung  dieser  Bezeichnung  ab,  welche  in  der  Folge 
die  Veranlassung  zu  einer  grofsen  Menge  von  unnützen  Mifsverständnissen  ge- 
worden ist,  so  entsprechen  die  Lehrplane  vom  1.  April  1882  durchaus  den 
Ausfuhrungen  der  ministeriellen  Denkschrift  vom  Jahre  1878,  soweit  eB  im 
Hinblick  auf  die  notwendige  Schonung  des  geschichtlich  Gegebenen  zu  er- 
warten war. 

Die  entsprechende  CirkularverfÜgung  weist  zunächst  darauf  hin,  dafs  die 
Konferenz  vom  Oktober  1873  'wesentlich  dazu  beigetragen  habe,  die  allgemein 
gültigen  Erfahrungen  von  den  zufälligen  Beobachtungen  beschränkter  Bedeutung 
zu  unterscheiden'.  Auf  dieser  Konferenz  hatten  auch  die  Klagen  der  Universitäts- 
lehrer über  die  Vorbildung  der  Studierenden  eine  offizielle  Bestätigung  erhalten, 
hier  wurde  anerkannt,  'dafs  der  wissenschaftliche  Sinn  bei  der  studierenden 
Jugend  abnehme,  dafs  sie  im  allgemeinen  weder  ausdauerndes  Interesse  noch 
genug  positives  Wissen  zum  Studium  mitbringe*. 

Bedenkt  man,  dafs  die  Gymnasien  mit  dem  Lehrplane  vom  Jahre  1856 
die  Universität  noch  vollkommen  beherrschten,  als  jene  Klagen  erschollen,  so 
wird  man  es  begreiflich  finden,  dafs  auch  der  Lehrplan  des  Gymnasiums  einigen 
Änderungen  unterzogen  wurde:  das  fremdsprachliche  Gebiet  verlor  7  Stunden, 
während  das  mathematisch -naturwissenschaftliche  Gebiet  6  Stunden  gewann. 
Dafs  innerhalb  des  fremdsprachlichen  Gebietes  das  Franzosische  auf  Kosten  des 
Lateinischen  und  des  Griechischen  verstärkt  wurde,  sollte  der  Satz  (S.  5) 
rechtfertigen:  'Das  Gymnasium  ist  allen  seinen  Schülern,  nicht  blofs  denen, 
welche  etwa  schon  aus  den  mittleren  Klassen  abgehen,  die  zeitigere  Einführung 
in  diese  für  unsere  gesamten  bürgerlichen  und  wissenschaftlichen  Verhältnisse 
wichtige  Sprache  unbedingt  schuldig.' 

Im  Gegensatze  zu  dieser  Änderung  wurde  am  Realgymnasium,  dessen  Abi- 
turienten ja  unter  dem  7.  Dezember  1870  ein  Teil  der  philosophischen  Fakultät 
eröffnet  worden  war,  das  Lateinische  um  10  Stunden  verstärkt,  während  das 
mathematisch-naturwissenschaftliche  Gebiet  hier  7  Stunden  verlor. 

Die  Oberrealschule  unterschied  sich  von  der  höheren  Gewerbeschule  fast 
nur  durch  einen  etwas  stärkeren  Ansatz  (4  Stunden)  des  Französischen  und 
durch  die  Aufhebung  der  Verbindlichkeit  des  Unterrichtes  im  Linearzeichnen. 

Bezeichnend  für  den  Geist  der  Lehrpläne  ist  die  Erläuterung  (S.  33): 
Französisch  und  Englisch  sind  für  die  Realanstalten  'in  ein  ähnliches  Ver- 
hältnis zu  einander  gebracht  wie  das  Lateinische  und  Griechische  im  Lehrplane 

l)  Die  geschichtlich  bekannten  Worte  'Obergymnasium'  und  'Untergymnasium '  be- 
zeichnen Teile  des  Gesamtgymnasiums,  nach  dieser  Analogie  hätte  der  Oberbau  der  neueren 
Anstalten  (Obersekunda,  Unterprima,  Oberprima)  allenfalls  als  Oberrealschule,  die  ganze 
Anstalt  als  Realschule  bezeichnet  werden  können. 

*)  Die  entsprechenden  Anstalten  Württembergs  heifsen  heute  noch  'Realanstalten.'  Die 
österreichische  Bezeichnung  'Oberrealschule'  bietet  auch  keine  Analogie. 


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10  A.  Wernicke:  Die  Organisation  des  höheren  Schulwesens  in  Preufsen 


der  Gymnasien,  d.  h.  im  Französischen  wird  ein  gröfserer  Umfang  grammatischer 
Kenntnisse  sowie  die  Befähigung  zum  freien  schriftlichen  Gebrauche  der  Sprache 
gefordert,  während  im  Englischen  davon  Abstand  genommen  ist*.  'Die  Auf- 
gabe, durch  den  grammatischen  Unterricht  in  einer  fremden  Sprache  die  Grund- 
lage sprachlich-formaler  Bildung  bei  den  Schülern  herzustellen,  ist  an  den  Real- 
gymnasien im  wesentlichen  durch  den  lateinischen  Unterricht  zu  erfüllen,  an 
den  Oberrealschulen  fällt  diese  Aufgabe  dem  Unterrichte  im  Französischen  zu. 
Die  Stellung  der  Oberrealschulen  als  Lehranstalten  allgemeiner  Bildung  ist 
wesentlich  dadurch  bedingt,  dafs  für  die  Methodik  des  franzosischen  Unter- 
richtes, insbesondere  in  den  drei  untersten  Klassen,  dieser  Gesichtspunkt  volle 
Berücksichtigung  finde/ 

Im  übrigen  wird  den  Oberrealschulen,  welche  sich  'eine  steigende  Anerkennung 
als  Schulen  allgemeiner  Bildung'  erworben  haben  (S.  4),  geraten,  die  Hinneigung 
zur  mathematisch-naturwissenschaftlichen  Fachschule  zu  überwinden  (S.  6),  weil 
sie  ja  den  Beweis  liefern,  sollen,  dafs  auch  unter  Beschränkung  auf  moderne 
Sprachen  der  Aufgabe  der  sprachlich-formalen  und  der  ethischen  Bildung  voll- 
ständig Genüge  geschieht. 

Ebenso  wird  den  Gymnasien  (S.  8)  eindringlich  eingeschärft,  die  Bahn  der 
philologischen  Fachschule  zu  meiden. 

Die  Ergänzung  eines  Reifezeugnisses  des  Realgymnasiums  oder  der  Ober- 
realschule zu  einem  Reifezeugnisse  des  Gymnasiums  erfordert  bei  ausreichenden 
Censuren  im  Deutschen,  im  Französischen  und  in  der  Mathematik  lediglich  das 
Bestehen  einer  Prüfung  im  Lateinischen,  im  Griechischen  und  in  der  alten 
Geschichte. 

Damit  ist  das  sogenannte  Gymnasialmonopol1)  in  theoretischer  Hinsicht 
völlig  überwunden.  Dafs  in  dieser  Nachprüfung  nicht  eine  neunjährige  sprachlich- 
gymnasiale  Arbeit  nachgewiesen  werden  kann,  ist  ja  selbstverständlich,  also 
handelt  es  sich  blofs  um  eine  äufsere  Ergänzung  bei  gleicher  Schätzung  des 
inneren  Wertes  der  Allgemeinbildung  des  Gymnasiums  und  der  anderen 
Anstalten. 

Die  Ergänzung  eines  Reifezeugnisses  der  Oberrealschule  zu  einem  Reife- 
zeugnisse des  Realgymnasiums  erfordert  bei  ausreichenden  Censuren  im  Deutschen 
und  Französischen  das  Bestehen  einer  Prüfung  im  Lateinischen. 

Ferner  mufs  noch  hervorgehoben  werden,  dafs  die  Neuordnung  vom  1.  Aprill882 
die  sechsstufige  lateinloso  Anstalt  (höhere  Bürgerschule)  als  ein  durchaus 
selbständiges  Gebilde  anerkennt  und  der  Bildung,  welche  hier  erworben 
wird,  das  Gepräge  einer  in  sich  geschlossenen,  wenn  auch  natürlich  nach 
Umfang  und  Tiefe  der  Allgemeinbildung  der  neunstufigen  Anstalten  nicht 
gleichstehenden,  Allgemeinbildung  zugesteht. 

Endlich  ist  noch  zu  bemerken,  dafs  in  jener  Neuordnung  die  Bestrebungen 

')  Dafs  erat  in  den  dreifeiger  Jahren  unseres  Jahrhundert«  das  Reifezeugnis  dee 
Gymnasiums  für  Preufcen  zur  Bedingung  eines  rechtmäfsigen  Studiums  gemacht  wurde,  ist 
vielfach  unbekannt.  Im  Herzogtum  Braunschweig  konnten  bis  zum  Jahre  1861  Theologen 
und  Juristen  ohne  Eeifeseugnis  ihrem  Studium  obliegen. 


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A  Wernicke:  Die  Organisation  des  höheren  Schulwesens  in  Preufsen 


11 


auf  eine  völlige  Verschmelzung  von  Gymnasium  und  Realschule,  wie  sie  auch 
auf  der  Oktoberkonferenz  (1873)  hervorgetreten1)  waren,  zurückgewiesen  wurden, 
nicht  aus  prinzipiellen  Gründen,  sondern  weil  sie  bei  der  gegebenen  Eulturlage 
aussichtslos  seien.  Dagegen  wird  auf  den  neu  geschaffenen,  dreistufigen,  gemein- 
samen Unterbau  für  Gymnasium  und  Realgymnasium  mit  einer  gewissen  Be- 
friedigung hingewiesen. 

Das  Jahrzehnt  von  1882 — 1892  brachte  eine  Reihe  von  mehr  oder  minder 
lebhaften  Bewegungen  für  eine  weiter  gehende  Reform  des  höheren  Schulwesens. 

Von  amtlichen  Vorgängen  ist  daraus  zunächst  die  Regelung  des  Berechtigungs- 
wesens der  Oberrealschule  hervorzuheben.  Als  'Reorganisierte  Provinzialgewerbe- 
schulen'  hatten  diese  Anstalten  noch  den  Zugang  zum  Staatsdienst  im  Maschinen- 
baufach (27.  Juni  1876)  erhalten,  als  'Höhere  Gewerbeschulen*  sogar  den  Zugang 
zum  Staatsdienste  im  gesamten  Baufache  (Hochbau,  Bauingenieurwesen,  Maschinen- 
baufach); als  'Oberrealschulen'  sollte  ihnen  aufaerdem  noch  das  Berg-,  Forst-, 
Post-  und  Steuerfach  eröffnet  werden. 

Da  die  geplante  Erweiterung  aber  an  dem  Widerstande  der  betreffenden 
Ressortminister  oder  an  den  hinter  diesen  stehenden  Beamtenkreisen  scheiterte, 
so  wurden  auch  die  früher  gewahrten  Rechte  zurückgezogen.*)  Unter  warmer 
und  uneingeschränkter  Anerkennung  der  Leistungen  der  Anstalten  gab  der  Kultus- 
minister sein  Bedauern  über  diesen  Vorgang  kund,  dem  er  bei  den  bestehenden 
Rechten  der  Einzelministerien  machtlos  gegenüberstand. 

Dieser  in  der  Geschichte  des  deutseben  Schulwesens  wohl  einzig  da- 
stehende Vorgang  war  das  Zeichen  für  eine  äufserst  lebhafte  Verstärkung  der 
S  chulreformbe  wegung. 

Zunächst  erreichten  die  Direktoren  der  schwer  getroffenen  Anstalten,  deren 
Abiturienten  auch  der  Zugang  zum  Lehramte  nach  Aufhebung  des  betreffenden 
Reglements  vom  10.  August  1871  verschlossen  worden  war,  mit  Unterstützung 
der  gleichfalls  stark  in  Mitleidenschaft  gezogenen  Kommunen  nur  das  Eine,  dafs 
in  Zukunft  das  gesamte  Berechtigungswesen  dem  Gesamtministerium  unter- 
stellt wurde. 

Dafür  aber  nahmen  sich  die  deutschen  Ingenieure  der  gefährdeten 
Anstalten  zielbewufst  und  energisch  an  und  stellten  mit  anderen  Kreisen  zu- 
sammen die  Gegenforderung  eines  gemeinsamen  sechsstufigen  latein- 
losen Unterbaus  für  alle  höheren  Schulen. 

Der  Gegensatz  der  Meinungen  kam  in  den  bekannten  beiden  Petitionen, 
welche  weit  über  die  Grenzen  Preufsens  hinausgriffen,  zur  Darstellung. 

Von  besonderem  Werte  war  es,  dafs  einer  der  Unterzeichner  der  Heidel- 
berger Erklärung,  und  zwar  kein  Geringerer  als  der  Altmeister  der  römischen 
Geschichtsforschung,  Th.  Mommsen,  bei  dieser  Gelegenheit*)  in  -längerer  Be- 

')  Hier  entwickelte  auch  Ostendorf  seinen  Plan,  den  fremdsprachlichen  Unterricht  mit 
dem  Französischen  beginnen  zu  lassen. 

*)  Vorschriften  Ober  die  Ausbildung  und  Prüfung  für  den  Staatsdienst  im  Baufache 
vom  6.  Juli  1886. 

*)  Brief  an  Jonas,  Weidmanns  Schulkalender  für  1889/90. 


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A.  Wernicke:  Die  Organisation  des  höheren  Schulwesens  in  Preufsen 


gründung  für  ein  neusprachliches  Gymnasium  neben  dem  altsprach- 
lichen Gymnasium  eintrat. 

Die  ganze  Bewegung  führte  zu  der  Berliner  Dezemberkonferenz  (1890),  deren 
Ergebnisse  die  unmittelbare  Grundlage  für  die  Neuordnung  vom  1.  April  1892 
bildeten. 

Auf  jener  Konferenz  siegte  das  Prinzip  der  Arbeitsteilung  zwischen 
Gymnasium  und  Oberrealschule  und  demgemäfs  erklärte  man  das  Real- 
gymnasium für  überflüssig. 

Die  Annahme  dieses  Prinzips  von  Seiten  der  preufsischen  Schulverwaltung 
hatte  einen  Bruch  mit  ihrer  Vergangenheit  bedeutet;  denn  die  ministerielle 
Denkschrift  vom  Jahre  1878  und  die  Neuordnung  vom  Jahre  1882  erkannten 
einen  bestimmten  Begriff  der  Allgemeinbildung  an,  der  durch  die  drei  An- 
stalten Gymnasium,  Realgymnasium  und  Oberrealschule,  unbeschadet  der  Ver- 
schiedenheit ihrer  Lehrpläne,  verwirklicht  werden  sollte. 

Die  preufsische  Schulverwaltung  blieb  ihrer  Vergangenheit  getreu:  die 
Ordnung  vom  Jahre  1892  stellt  sich  durchaus  als  eine  weitere  Entwickelung 
der  Ordnung  vom  Jahre  1882  dar,  obwohl  sie  im  einzelnen  durch  die  Ver- 
handlungen der  Dezemberkonferenz  bestimmt  wurde. 

Für  ein  geübtes  Auge  zeigt  schon  die  Verschiedenheit  der  äufseren  An- 
ordnung in  den  Lehrplänen  vom  Jahre  1882  und  in  den  Lehrplänen  vom 
Jahre  1892  die  weitere  Entwickelung  deutlich  an. 

Die  Lehrpläne  vom  Jahre  1882  haben  die  Einteilung: 
I.  A.  Gymnasium,  B.  Progymnasium. 

II.  A.  Realgymnasium,  B.  Oberrealechule,  C.  Realprogymnasium,  D.  Real- 
schule. 

III.  Höhere  Bürgerschulen. 

Dagegen  gilt  für  die  Lehrpläne  vom  Jahre  1892: 

A.  Gymnasium  und  ProgymnaBium. 

B.  Realgymnasium  und  Realprogymnasium. 

C.  Oberrealschule  und  Realschule. 

D.  Varianten  für  den  Lehrplan  der  Realschule. 

Wahrend  femer  im  Jahre  1882  die  Einteilung  der  Lehraufgaben  an  eine 
Einteilung  nach  den  Anstalten  angeknüpft  wurde,  wurde  im  Jahre  1892 
eine  Einteilung  nach  den  Lehrfächern  zu  Grunde  gelegt,  innerhalb  welcher 
die  Varianten  für  die  einzelnen  Anstalten  zur  Sprache  kommen. 

In  der  neuen  Ordnung  tritt  also  die  Gleichstellung  der  einzelnen 
Anstalten  und  die  Gemeinsamkeit  ihrer  Lehraufgaben  in  den 
Vordergrund. 

Derselbe  Gesichtspunkt  kam  auch  in  der  Prüfungsordnung  voll  zur  Geltung, 
obwohl  in  ihr  die  äufsere  Anordnung  selbstverständlich  der  Einteilung  nach 
den  Anstalten  folgen  mufs.1) 

')  Es  wird  sogar  in  der  Praxis  allgemein  als  Übelstand  empfanden,  dafs  hier  Ver- 
weisungen von  einer  Anstalt  auf  die  andere  vorkommen.  Die  Ordnung  sollte  in  sechs  von- 
einander völlig  unabhängige  Abschnitte  (Gymnasium,  Progymnasium;  Realgymnasium, 


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A.  Wemicke:  Die  Organisation  des  höheren  Schulwesens  in  Preufsen 


13 


Was  nun  die  Einzelheiten  anlangt,  so  liegt  zunächst  ein  Fortschritt  der 
neuen  Ordnung  darin,  dafs  den  gemeinsamen  Gebieten  in  den  Lehrplänen 
der  drei  Anstalten  auch  wirklich  die  gebührende  Aufmerksamkeit  geschenkt 
wird.  Sind  die  Anstalten  nach  einem  Prinzip  der  Allgemeinbildung  auf- 
*  gebaut,  so  mufs  das  gemeinsame  Gebiet  der  Lehrpläne  für  diese  auch  eine 
ganz  besondere  Bedeutung  haben. 

Demgemäfs  werden  auch  ^Religion,  Deutsch  und  Geschichte'  in  den  Lehr- 
plänen als  die  ethisch  bedeutsamsten  Lehrgegenstande  in  dem  Organismus 
der  höheren  Schulen  bezeichnet  (S.  18)  und  auch  die  entsprechende  Denkschrift 
weist  unter  Nr.  8  nachdrücklich  auf  die  Sicherung  der  'gemeinsamen  ethischen 
Grundlage'  für  alle  Anstalten  hin. 

Dafs  die  'ethisch  bedeutsamsten'  Gegenstände  das  'humanistische  Kern- 
stück' des  ganzen  Unterrichtsbetriebes  für  alle  Anstalten  bilden,  ist  selbst- 
verständlich. v) 

Der  nationale  Humanismus,  welcher  ursprünglich  von  der  deutschen 
Volksschule  gepflegt  wurde,  hat  zunächst  die  Realanstalten  erobert  und  dann 
auch  das  Gymnasium  wieder  in  Besitz  genommen.8)  Nun  ist  die  Grundlage 
der  Menschenbildung  dieselbe  für  die  Volksschule,  für  die  sechsstufigen  An- 
stalten aller  Arten  und  für  die  neunstufigen  Anstalten  aller  Arten,  wenn  auch 
jede  dieser  drei  Gruppen  dabei  nach  Umfang  und  nach  Tiefe  ihr  besonderes 
Ziel  hat.  Die  Bildung  der  Persönlichkeit  auf  Grund  dieses  nationalen  Humanis- 
mus beruht  auf  dem  einheitlichen  Zusammenschlüsse  von  religiösem  Empfinden, 
nationaler  Gesinnung  und  kulturgeschichtlicher  Einsicht. 

Der  hohen  Bedeutung  des  Deutschen,  welche  überdies  durch  die  Prüfungs- 
ordnung gesichert  wird,  giebt  die  Mahnung  (S.  18)  Ausdruck:  'Die  empfäng- 
lichen Herzen  unserer  Jugend  für  deutsche  Sprache,  deutsches  Volkstum  und 
deutsche  Geistesgröfse  zu  erwärmen.' 

Ferner  ist  die  Frage  der  sprachlich- logischen  Schulung  durch  die  Fremd- 
sprachen in  der  neuen  Ordnung  weiter  herausgearbeitet. 

Es  wird  bestimmt,  dafs  nur  eine  Fremdsprache  in  den  Dienst  der  sprach- 
lich-logischen Schulung  gestellt  werden  soll8)  und  dafs  die  anderen  Fremd- 
sprachen lediglich  der  Erschließung  der  betreffenden  Litteratur  oder  Kultur 
iu  dienen  haben. 

Diese  eine  Fremdsprache  ist  entweder  Lateinisch  oder  Französisch.  'An 
den  lateinlosen  Schulen  hat  das  Französische  bezüglich  der  sprachlich-logischen 
Schulung  dieselbe  Aufgabe  zu  lösen  wie  an  Latein  lehrenden  das  Latei- 
nische' (S.  34). 


Proreaigvrauasiuni;  Oberrealschule,  Realschule)  zerfallen.  Ebenso  wird  es  übrigens  in  der 
Praxis  als  Übelstand  empfunden,  dafs  in  den  Lehrplanen  nicht  Französisch  und  Englisch 
zunächst  für  die  Oberrealschulen  in  geschlossener  Form  bearbeitet  worden  sind. 

*)  Bei  der  Ordnung  vom  Jahre  1882  war  vor  allem  den  Fremdsprachen  die  ethische 
Büdung  zugewiesen. 

*)  Vgl  den  Lehrplan  des  Humboldtechen  Kreises. 

*}  Vgl.  Mommsens  Brief  an  Jonas  a.  a.  0. 


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A.  Weraicke:  Die  Organisation  des  höheren  Schulwesens  in  Preufsen 


Damit  wird  eine  Äquivalenz  der  Fremdsprachen  behufs  sprachlich- 
logischer Schulung  anerkannt,  während  anderseits  dem  deutschen  Unterricht 
der  stoffliche  Ausgleich  zugewiesen  wird,  welcher  in  Bezug  auf  die  fremd- 
sprachliche Variante  der  einzelnen  Anstalten  notwendig  erscheint.  Im  deutschen 
Unterrichte  soll  das  Gymnasium  Shakespeare  kennen  lernen,  die  Realanstalten  1* 
Homer  und  Sophokles. 

Endlich  ist  noch  darauf  hinzuweisen,  dafs  die  Lehraufgaben  der  einzelnen 
Anstalten  auf  dem  mathematisch-naturwissenschaftlichen  Gebiete  und 
auch  im  Zeichnen  einander  so  weit  angenähert  Bind,  als  es  bei  der  geschicht- 
lich gegebenen  Zersplitterung  unseres  höheren  Schulwesens  zur  Zeit  möglich 
erscheint. 

Die  Herabsetzung  der  Gesamtstundenzahl  und  die.  Vermehrung  der  Stunden 
für  körperliche  Übungen,  welche  in  der  neuen  Ordnung  durchgeführt  ist,  ver- 
anlafste  einen  Ausfall  an  anderer  Stelle.  Dieser  Ausfall  traf  auf  allen  An- 
stalten in  erster  Linie  das  fremdsprachliche  Gebiet.  Das  Gymnasium  verlor1) 
hier  18  (zuerst  sogar  21),  das  Realgymnasium  13  (zuerst  sogar  16),  die  Ober- 
realschule 10  Stunden.  Das  mathematisch-naturwissenschaftliche  Gebiet  behielt 
auf  dem  Gymnasium  genau  den  alten  Bestand  und  erlitt  auf  den  Realanstalten 
eine  geringe  Einschränkung,  das  Zeichnen  wurde  auf  dem  Gymnasium  um 
2  Stunden  vermehrt,  auf  dem  Realgymnasium  um  2  Stunden  vermindert  und 
auf  den  Oberrealschulen  wesentlich  eingeschränkt. 

Auch  diese  Änderungen  entsprechen,  ebenso  wie  geringe  Verstärkungen 
des  Deutschen,  genau  dem  Bestreben,  zwischen  den  Wegen  der  historisch- 
philologischen und  der  mathematisch-naturwissenschaftlichen  Fachschule  überall 
einen  Mittelpfad  einzuschlagen. 

An  das  humanistische  Kernstück,  welches  die  Fächer  'Religion, 
Deutsch  und  Geschichte'  bezeichnet,  schliefsen  sich  überall  als  Flügelstücke 
die  fremdsprachliche  Gruppe  und  das  mathematisch-naturwissenschaftliche  Gebiet*), 
während  der  Erdkunde  und  dem  Zeichnen  eine  gewisse  vermittelnde  Rolle  zufällt. 

Der  Begriff  der  Allgemeinbildung,  welcher  hier  zur  Geltung  kommt,  fordert 
in  objektiver  Hinsicht,  'fremdsprachliche  und  mathematisch-naturwissen- 
schaftliche Bildungselemente  auf  kulturgeschichtlicher  Grundlage 
in  einer  ethisch-religiösen  Weltanschauung  zu  vereinen',  und  in  sub- 
jektiver Hinsicht,  'selbstlose  Persönlichkeiten  von  nationaler  Prägung 
zu  erziehen,  die  ihre  Zeit  verstehen,  weil  sie  die  Vergangenheit 
kennen,  und  darum  für  die  Zukunft  zu  wirken  wissen'. 

Dafs  durch  die  Neuordnungen  vom  Jahre  1882  und  vom  Jahre  1892  im 


*)  Zum  Teil  aber,  um  Platz  für  wahlfreien  Unterricht  im  Englischen  zu  schaffen 
*)  Schon  in  den  Lehrplänen  von  1882  heifst  es  (8.  6):  Die  'Beeinträchtigung  der  natur- 
wissenschaftlichen Elementarbildung  trifft  diejenigen,  welche  dem  naturwissenschaftlichen 
oder  einem  damit  zusammenhangenden  Studium  sich  später  widmen,  noch  nicht  einmal 
so  nachteilig  als  alle  die  anderen,  deren  Berufsstudium  keinen  Anlafs  giebt  zur  Ausfüllung 
dieser  Lücken.'  In  ähnlichem  Sinne  äufsern  sich  auch  andere  Verfügungen  der  Schul- 
verwaltung. 


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A.  Wernicke:  Die  Organisation  de«  höheren  Schulwesens  in  Preufsen 


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Gegensatz  zu  früheren  Tagen  ein  Gymnasium  neuen  Stiles  geschaffen  worden 
ist,  unterliegt  keinem  Zweifel.  Ferner  Stehende  sehen  hier  deutlicher  als  die 
ranächst  Beteiligten.1) 

Freilich  ist  das  Gymnasium  neuen  Stiles  fast  ganz  und  gar  das 
alte  preufsische  Gymnasium,  welches  durch  Wilhelm  v.  Humboldt 
und  seinen  Kreis  geschaffen  wurde  (1816). 

Dieses  war  im  Laufe  der  Zeit  auf  die  Bahn  der  altsprachlich-historischen 
Fachschule  gedrängt  worden,  weil  die  altsprachlichen  Philologen  die  alte 
Gemeinsamkeit  zwischen  Universitätsphilologie  und  Schulphilologie  festhalten 
wollten;  es  hat  seine  natürliche  Rückbildung  (1882  und  1892)  erfahren,  als 
sich  mit  der  Entwickelung  der  Universitätsphilologie  der  Bruch  zwischen  dieser 
and  der  Schulphilologie  als  unheilbar  erwies. 

In  einem  Punkte  ist  allerdings  der  Humboldtsche  Plan  nicht  wieder  er- 
reicht worden:  dort  wird  das  fremdsprachliche  Gebiet  des  Gymnasiums  lediglich 
durch  Lateinisch  und  Griechisch  ausgefüllt,  heute  ist  in  ihm  (abgesehen  von 
dem  Hebräischen)  auch  Französisch  eingedrungen  und  wahlfreies  Englisch. 

Könnte  man  das  altsprachliche  Gymnasium  wieder,  seinem  Prinzipe  ent- 
sprechend, von  dem  verbindlichen  Unterrichte  in  modernen  Fremdsprachen  be- 
freien, so  würde  es  auch  die  alte  Kraft  wiedergewinnen,  die  es  bis  in  die 
dreifsiger  Jahre  unseres  Jahrhunderts  hinein  und  auch  darüber  hinaus  gehabt  hat. 

In  dem  preufsischen  Gymnasialplan  vom  12.  Januar  1816  sind  dem 
Deutschen,  das  den  Mittelpunkt  des  Unterrichts  bilden  soll,  von  Sexta  bis 
Ohe  rprima  6  bis  4  Stunden,  dem  mathematisch-naturwissenschaftlichen  Gebiete 
in  allen  Klassen  je  8  Stunden,  dem  Zeichnen  von  Sexta  bis  Obertertia  3  bis 
2  Stunden  wöchentlich  zugewiesen,  und  die  alten  Sprachen  sind  reichlich  angesetzt. 

In  dem  neuen  preufsischen  Gymnasialplane  (1892)  sind  dem  mathematisch- 
naturwissenschaftlichen Gebiete  ebenso  wie  im  Jahre  1882  in  allen  Klassen 
5  bis  6  Stunden  zugewiesen,  d.  h.  für  dieses  Gebiet,  dessen  Stundenansatz  selbst 
Bonitz  an  einzelnen  Stellen  (Unter-  und  Obertertia)  als  einen  Notbehelf  be- 
zeichnet hat,  ist  die  alte  Ausdehnung  noch  nicht  wieder  erreicht  worden.1) 

Indem  man  dem  Gymnasium  ungefähr  sein  altes  Gepräge  zurückgab,  fand 
man  auch  die  Möglichkeit,  ihm  die  neuen  Schöpfungen  als  gleichberechtigte 
Glieder  des  höheren  Schulwesens  zur  Seite  zu  stellen. 

Demgemäß*  beruht  die  innere  Verkettung  der  einzelnen  Anstalten  in  der 
Ordnung  vom  1.  April  1892  auf  folgender  Grundlage: 

1.  Religion,  Deutsch  und  Geschichte  bilden  auf  allen  Anstalten  das  huma- 
nistische Kernstück  des  ganzen  Unterrichtsbetriebes. 

2.  Die  Ausbildung  auf  dem  mathematisch-naturwissenschaftlichen  Gebiete  und 
im  Zeichnen  ist,  soweit  es  die  geschichtlich  gegebene  Zersplitterung  des 
höheren  Schulwesens  zulafst,  auf  allen  Anstalten  dieselbe. 

')  Vgl.  Wendts  Artikel  'Gymnasium'  in  Reins  encyklopadjachem  Handbuche  oder 
v.  Dillmanus  Schrift  'Das  Realgymnasium  u.  8.  w.',  1896. 

*)  Die  Mitte  von  durchschnittlich  7  Stunden  dürfte  heute  für  alle  Anstalten  daa  richtige 
Hafs  bezeichnen.    Vgl.  meine  Pläne  in  'Kultur  und  Schule',  S.  197  f 


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A.  Wernicke:  Die  Organisation  de«  höheren  Schulwesens  in  Preufsen 


3.  Der  Unterschied  von  Gymnasium,  Realgymnasium  und  Oberrealschule, 
welcher  durch  die  fremdsprachliche  Variante  bestimmt  wird,  ist  wegen  der 
Äquivalenz  des  Lateinischen  und  Franzosischen  behufs  sprachlich-logischer 
Bildung  und  wegen  des  stofflichen  Ausgleichs  im  deutschen  Unterricht 
nicht  von  wesentlicher  Bedeutung. 

Demgemäfs  sind  auch  die  Anforderungen  der  Prüfungsordnung  für  die 
einzelnen  Anstalten  im  Prinzip  durchaus  analog  gebildet:  Lateinisch  und 
Griechisch  stehen  hier  stets  zu  Französisch  und  Englisch  in  Parallele,  während 
Deutsch  überall  die  Führung  hat;  das  Französisch  des  Gymnasiums  entspricht 
aufserdem  etwa  der  Naturwissenschaft  der  Realanstalten. 

Nur  bei  den  Oberrealschulen  ist  ein  rudimentäres  Element1)  stehen  ge- 
blieben: ungenügende  Leistungen  in  der  Mathematik  können  hier  nur  durch 
mindestens  gute  Leistungen  in  Physik  und  Chemie  ausgeglichen  werden,  d.  h. 
sie  können  in  praxi  überhaupt  nicht  ausgeglichen  werden,  denn  ein  'Gut'  in 
Physik  und  ein  'Ungenügend'  in  Mathematik  sind  bei  demselben  Schüler  un- 
möglich.8) 

Kleine  Härten  sind  natürlich  zu  verzeichnen.  So  ist  die  Abschlußprüfung 
für  das  Gymnasium  entschieden  schwerer  als  für  die  Oberrealschule,  die  Reife- 
prüfung an  den  Gymnasien  etwas  leichter  als  die  an  den  Oberrealschulen  und 
diese  wiederum  etwas  leichter  als  die  an  den  Realgymnasien.  Dafs  die  Real- 
anstalten in  der  Reifeprüfung  mit  einem  fremdsprachlichen  Aufsatz  und  mit 
einer  Übersetzung  in  die  Fremdsprache  abschliefaen,  während  das  Gymnasium 
nur  eine  Übersetzung  in  die  Fremdsprache  verlangt,  verdient  vielleicht  besonders 
hervorgehoben  zu  werden,  und  zwar  im  Hinblick  auf  die  lange  verteidigte  (und 
unserer  Ansicht  nach  sehr  berechtigte)  Ansicht,  dafs  erst  ein  freier  Aufsatz 
(natürlich  nicht  ein  Phrasenkonglomerat)  den  richtigen  Mafsstab  für  die  Aus- 
bildung in  einer  Fremdsprache  giebt. 

Die  stärkere  Belastung  des  Realgymnasiums  in  der  Reifeprüfung  hängt 
damit  zusammen,  dafs  die  Anordnung  der  Fremdsprachen  für  diese  Anstalt 
überhaupt  nicht  sachgemäfs  durchgeführt  ist.  Da  es  zu  den  Latein  lehrenden 
Anstalten  gehört,  so  soll  das  Lateinische  nach  den  allgemeinen  Vorschriften 
der  Lehrpläne  die  sprachlich -logische  Schulung  übernehmen,  während  doch 
anderseits  im  Französischen  ein  freier  Aufsatz  als  Abschlufs  gefordert  wird. 
Soll  hier  Lateinisch  die  führende  Fremdsprache  sein  wie  auf  dem  Gymnasium, 
so  mufs  auch  die  Stundenzahl  im  Lateinischen  beider  Anstalten  dieselbe  sein, 
und  der  französische  Aufsatz  mufs  fallen;  macht  man  Französisch  zur  führenden 
Fremdsprache,  so  genügt  es,  von  Obersekunda  an  Latein  zu  treiben,  da  es  sich 
dann  nur  um  den  kulturellen  Anschlufs  der  Vergangenheit  an  die  Gegenwart  handelt. 

*)  Ein  anderes  rudimentäres  Element  ist  die  Weisung,  auf  den  Realanstalten  in  den 
Fremdsprachen  den  Wortschatz  auch  nach  der  technischen  und  kommerziellen  Seite  aus- 
zubilden.   Wo  sollen  unsere  Neusprachler  die  dazu  nötige  sachliche  Einsicht  gewinnen? 

*)  Wegen  der  Abänderung  dieser  Bestimmung  ist  der  Verein  zur  Förderung  des  latein- 
losen höheren  Schulwesens  bereits  beim  preufsischen  Ministerium  vorstellig  geworden, 
bisher  allerdings  vergeblich. 


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A.  Wernicke:  Die  Organisation  des  höheren  Schulwesens  in  Preufcen 


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Die  Ergänzung  der  Reifezeugnisse  der  Realanstalten  zu  einem  Reife- 
zeugnisse des  Gymnasiums  ist  ohne  jede  weitere  Bedingung  auf  die  Fächer 
Lateinisch  und  Griechisch  beschränkt,  und  zwar  unter  verhältnismäfsig  leichten 
Anforderungen. 

Überhaupt  sind  alle  drei  Anstalten,  abgesehen  von  den  Berechtigungen 
ihrer  Zeugnisse,  einander  genau  gleich  gestellt. 

An  den  unmittelbaren  Berechtigungen  des  Gymnasiums  und  des  Real- 
gymnasiums wurde  nichts  geändert,  den  Abiturienten  der  Oberrealschule  wurden 
alle  Rechte,  die  sie  vor  1886  besafsen  und  die,  welche  sie  damals  erhalten 
sollten,  zuerkannt,  aufserdem  wurde  ihnen  das  Lehramt  für  die  mathematisch- 
naturwissenschaftlichen  Fächer  eröffnet. 

Einer  eigenen  Betrachtung  bedürfen  noch  die  Beziehungen,  welche  die  Ordnung 
vom  Jahre  1802  zwischen  den  neunstufigen  und  den  sechsstufigen  Anstalten  fest- 
gestellt hat,  zumal  da  ihnen  die  Schulverwaltung  eine  besondere  Bedeutung  beilegt. 

Nachdem  die  Ordnung  vom  Jahre  1882  die  Allgemeinbildung  der  sechs- 
stufigen lateinlosen  Schule  als  eine  in  sich  geschlossene  Allgemeinbildung 
zweiter  Stufe  anerkannt  hatte,  lag  es  nahe,  auch  für  die  Progymnasien  eine 
ähnliche  Anordnung  zu  ermöglichen.  Da  aber  die  Progymnasien  lediglich  un- 
vollständig entwickelte  Gymnasien  waren,  so  konnte  diese  Anerkennung  nur 
erfolgen,  wenn  auch  für  die  sechs  unteren  Klassen  der  Gymnasien  ein  in  sich 
abgeschlossener  Lehrplan  eingeführt  wurde. 

Im  preußischen  Abgeordnetenhause  hatte  der  Minister  v.  Gofsler  bereits 
am  6.  März  1889  und  am  18.  März  1890  den  Plan  eines  sechsstufigen  Unter- 
gvmnasiums  entwickelt,  und  diesen  Anregungen  entsprechend  wurde  dann 
1892  der  Schnitt  zwischen  Untersekunda  und  Obersekunda  ausgeführt,  während 
zugleich  die  früheren  siebenstufigen  Progymnasien  in  sechsstufige  Anstalten 
verwandelt  wurden. 

Man  hat  gegen  diesen  Schnitt  im  Lehrplane  vielfach  Bedenken  geäufsert 
und  vor  allem  die  Sache  so  darzustellen  beliebt,  als  wenn  hier  ein  unberechtigter 
Eingriff  der  Militärverwaltung  vorläge. 

Tbatsächlich  handelt  es  sich  aber  bei  jenem  Schnitte  um  eine  allgemeine 
wirtschaftliche  Forderung,  welche  von  Landwirtschaft,  Handel  und  Industrie 
ebenso  zielbewufst  vertreten  worden  ist,  wie  von  Heer  und  Marine,  bei  deren 
Durchführung  aber  der  an  Einflufs  reichste  Faktor  allerdings  auch  am  deut- 
lichsten sichtbar  wurde. 

Unsere  Zeit,  die  nun  einmal  unter  dem  Zeichen  des  Kampfes  um  den 
Weltmarkt  steht,  bedarf  im  Gegensatz  zu  früheren  Tagen  einer  Masse  von 
Leuten,  die  ihre  fachliche  Ausbildung  auf  Grund  eines  sechsstufigen  allgemein- 
bildenden Lehrgangs  erhalten. 

Solange  man  dem  Sextaner  nicht  ansehen  kann,  wohin  ihn  später  Neigung 
und  Fähigkeit  weisen,  solange  wird  man  auch  darauf  dringen  müssen,  dafs 
ihm  auf  jeder  Anstalt,  die  er  besucht,  in  den  ersten  sechs  Schuljahren  eine 
abgeschlossene  Bildung  gegeben  wird.  Der  Oberstufe  kommt  es  zu,  die  nötige 
wissenschaftliche  Erweiterung  und  Vertiefung  vorzunehmen. 

Xeuc  J»hrbnchcr.    1S99    II  2 


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A.  Wernicke:  Die  Organisation  des  höheren  Schulwesens  in  Preußen 


Die  Anerkennung  des  Schnittes  zwischen  Unter-  und  Obersekunda  ist  eine 
Notwendigkeit,  weil  wir  als  Nation  mit  unserem  lebenden  Kapitale  so  sparsam 
als  möglich  wirtschaften  müssen,  in  einer  Zeit,  wo  das  Wohl  und  Wehe  eines 
Volkes  in  äufserer  Beziehung  fast  ganz  von  seiner  Stellung  auf  dem  Welt- 
markte abhängt.  Diese  Stellung  bestimmt  aber  auch  das  innere  Leben  in 
mehr  als  einer  Hinsicht;  denn  die  Nation,  welche  im  Kampfe  um  den  Welt- 
markt unterliegt,  vermag  auch  nicht  auf  die  Dauer  einer  Minderheit  ihrer 
Glieder  die  freie  Mufse  zu  gewähren,  welche  Wissenschaft  und  Kunst  und  das 
Patenkind  beider,  die  Philosophie,  für  sich  fordern. 

Unter  den  Rechten,  die  jetzt  an  die  Versetzung  von  Untersekunda  nach 
Obersekunda  oder  an  die  Abgangsprüfung  unserer  sechsstufigen  Anstalten  ge- 
knüpft sind,  spielt  die  Feststellung  der  wissenschaftlichen  Befähigung  zum  ein- 
jährig-freiwilligen Dienste,  namentlich  nach  Einführung  der  zweijährigen  Dienst- 
zeit, erfahrungsmäfsig  eine  verhältnismäfsig  geringe  Rolle. 

Auch  die  höheren  Mädchenschulen  Preufsens  sind,  abgesehen  von  der  drei- 
stufigen Vorschule,  sechsstufige  Anstalten  für  Allgemeinbildung.1) 

Für  die  Folge  ist  nicht  jener  Schnitt  auf  Grund  des  Lehrplans  zu  be- 
kämpfen, sondern  der  Lehrplan,  falls  es  nötig  ist,  dem  Schnitte  anzupassen. 

Ob  es  zweckmäfsig  war,  diesen  Schnitt  nach  aufsen  hin  durch  die  Ab- 
schlufsprüfung  weithin  sichtbar  zu  machen,  ist  eine  Frage  für  sich. 

Jedenfalls  ist  die  Polemik  gegen  die  Abschlufsprüfung*)  von  der  Erörterung 
über  die  Einführung  des  Schnittes  im  Lehrplane  völlig  zu  trennen. 

Persönlich  halte  ich  die  Abschlufsprüfung  in  unserem  Zeitalter  der  Reglements 
und  der  Examina  für  ein  notwendiges  Übel,  das  erst  beseitigt  werden  kann, 
wenn  die  Einführung  des  Schnittes  von  keiner  Seite  mehr  beanstandet  wird. 

Dafs  die  Abschlufsprüfung  aus  Gesundheitsrücksichten  (Pubertät  u.  s.  w.) 
beseitigt  werden  müfste,  wird  man  nur  dann  behaupten  dürfen,  wenn  man 
zugleich  für  den  Fortfall  der  Abgangsprüfung  der  sechsstufigen  Anstalten  ein- 
zutreten bereit  ist. 

Mit  jenem  Schnitte  ist  die  preufsische  Schulverwaltung  zu  der  Über- 
lieferung jener  Zeiten  zurückgekehrt,  in  denen  Deutschland  in  der  Welt  etwas 
bedeutete  und  im  besonderen  auch  eine  Stellung  auf  dem  Markte  der  Völker 
hatte.  In  den  Tagen  von  Albrecht  Dürer  und  Hans  Sachs  war  die  Latein- 
schule sowohl  höhere  Bürgerschule  als  auch  Vorbereitungsanstalt  für  die 
Artistenfakultät. 

Die  geschichtliche  Entwickelung  unseres  Schulwesens,  welche  von  diesem 
Zustand  ausgeht,  ist  bestimmt  durch  die  unseligen  Kriege  und  Wirren,  in  denen 
das  deutsche  Bürgertum  seiner  alten  Macht  entkleidet  wurde. 

Mit  dem  neuen  Aufschwünge  unseres  wirtschaftlichen  Lebens,  in  den  der 
grof8e  Krieg  mitten  hinein  gefallen  ist,  haben  sich  auch  ähnliche  Verhältnisse 
gebildet,  wie  sie  sich  einst,  etwa  seit  der  Mitte  des  dreizehnten  Jahrhunderts, 
allmählich  herausgebildet  hatten. 

')  Vormals  waren  sie  siebenstufig  wie  die  älteren  Progymnasien  u.  8.  w. 

*)  Vgl.  dazu  die  Verhandlungen  der  letzten  Direktorenkonferenz  der  Provinz  Haunovcr. 


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A.  Wernicke:  Die  Organisation  de«  höheren  Schulwesen»  in  Preufseu  19 


Die  alte  Lateinschule  ist  heute  in  dreifacher  Form  vorhanden,  als  Pro- 
gymnasium, als  Prorealgymnasium  und  als  Realschule,  während  die  alte  Artisten- 
fakultät durch  die  Oberbauten  des  Gymnasiums,  des  Realgymnasiums  und  der 
Oberrealschule  ersetzt  wird. 

Kein  Wunder,  dafs  man  den  Gedanken  an  eine  Verschmelzung  aller  sechs- 
shifigen  Anstalten  gefafst  und  verteidigt  hat. 

Von  den  verschiedenen  Plänen  für  eine  solche  Verschmelzung  hat  zur 
Zeit  nur  der  Plan  des  'Vereins  für  Schulreform'  in  praktischer  Hinsicht  eine 
gewisse  Bedeutung. 

Schon  die  Lehrpläne  vom  Jahre  1892  erkennen  das  Altonaer  System 
(S.  8)  mit  seinem  dreistufigen,  gemeinsamen,  lateinlosen  Unterbau  für  Real- 
gymnasium und  Realschule  an,  und  die  entsprechende  Denkschrift  (vgl.  Nr.  2) 
stellt  weitere  Versuche  mit  einem  solchen  gemeinsamen  Unterbau  für  alle 
Anstalten  in  Aussicht,  und  zwar  'in  Erwägung  der  unverkennbaren  praktischen 
Vorteile,  die  mit  dem  Gelingen  dieses  Planes  verbunden  wären*. 

Dementsprechend  ist  in  Preufsen  eine  verhältnismäfsig  grofse  Anzahl  von 
Reformschulen  entstanden,  auf  denen  praktisch  erprobt  werden  soll,  ob  sich 
der  Unterricht  im  Lateinischen  auf  den  Gymnasien  und  Realgymnasien  ohne 
Gefahrdung  der  Lehrziele  von  Sexta  aus  oder  der  Unterricht  im  Griechi- 
schen auf  dem  Gymnasium  von  Untertertia  aus  um  einige  Stufen  herauf- 
schieben lälst. 

Dafs  man  auch  mit  diesen  Versuchen,  denen  noch  die  grofsen  Humanisten 
an  der  Wende  des  vorigen  und  dieses  Jahrhunderts  fraglos  zugestimmt  hätten, 
lediglich  auf  ältere  Schuleinrichtungen  zurückgreift,  ist  bekannt. 

Dafs  diese  Versuche  im  Falle  ihres  Gelingens  eine  gewisse  Bedeutung 
hatten,  kann  nicht  bestritten  werden. 

Abgesehen  von  der  Losung  der  Schulfrage  für  kleine  und  mittlere  Städte 
würde  Eins  erreicht:  bei  einem  gemeinsamen  Lehrplane  von  Sexta  bis  Unter- 
tertia kann  gleichmäfsig  entschieden  werden,  nicht  etwa,  ob  ein  Schüler  auf 
das  Gymnasium,  das  Realgymnasium  oder  auf  die  Oberrealschule  gehört,  wohl 
aber,  ob  er  sich  überhaupt  für  eine  höhere  Schule  eignet  oder  nicht.  In  diesem 
Sinne  ist  der  gemeinsame  dreistufige  Unterbau  eine  Bedingung  einer  zweck- 
mäßigen Sichtung  des  Schülermaterials. 

Abgesehen  von  diesen  Punkten  stellen  jene  Versuche  nur  eine  interessante 
Phase  dar  in  dem  'struggle  for  üfe'  unter  den  Fremdsprachen. 

Es  wurde  schon  hervorgehoben,  dafs  der  Lehrplan  des  preufsischen  Gym- 
nasiums seit  den  Tagen  W.  v.  Humboldts  nicht  etwa  durch  eine  Verstärkung 
von  Mathematik  und  Naturwissenschaften  ruiniert  worden  ist,  wie  man  zu 
sagen  pflegt,  sondern  durch  das  Eindringen  der  modernen  Fremdsprachen, 
welches  sich  schrittweise  verfolgen  läfst. 

Vermag  das  Gymnasium  die  modernen  Fremdsprachen  nicht  wieder  aus- 
zuscheiden1), so  bieten  sich  ihm  zwei  Wege  zur  Rettung.    Entweder  mufs  es 


l>  Wenigstens  aua  dem  Unterbau  d.  h.  bis  cinachlicfolich  Untersekunda. 


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A.  Wernicke:  Die  Organisation  des  höheren  Schulwesens  in  Preufsen 


zu  einem  vierstufigen  Oberbau  übergehen,  wie  ihn  übrigens  auch  der  Plan 
des  Humboldtschen  Kreises  vorsah,  oder  es  mufs  in  die  Bahn  der  philologisch- 
historischen Fachschule  einlenken,  d.  h.  in  seinem  Lehrplane  ein  Mischsystem 
von  Allgemeinbildung  und  philologischer  Berufsbildung  zur  Geltung  bringen. 

Im  letzteren  Falle  würde  die  Oberrealschule  gezwungen  sein,  für  sich  ein 
Mischsystem  von  Allgemeinbildung  und  mathematisch -naturwissenschaftlicher 
Berufsbildung  anzunehmen. 

Bei  diesem  Zustande,  der  z.  B.  in  Württemberg  besteht1),  würde  eine 
Arbeitsteilung  zwischen  Gymnasium  und  Oberrealschule,  wie  sie  der  Mehrheit 
der  Berliner  Dezemberkonferenz  vorschwebte,  eintreten  können. 

Dafs  diese  Arbeitsteilung  nach  einer  gewissen  Zeit  bei  der  mehr  und 
mehr  fortschreitenden  Auflösung  der  festen  Standesunterschiede  zu  einem 
gemeinsamen  Unterbau  für  Gymnasium  und  Oberrealschule  führen  mufs,  und 
dafs  dieser  Unterbau  kein  gymnasiales  Gepräge  erhalten  kann,  unterliegt  keinem 
Zweifel. 

Die  preufsische  Schulverwaltung  hat  den  Standpunkt  der  Arbeitsteilung 
nicht  eingenommen,  getreu  ihrem  Begriffe  von  Allgemeinbildung. 

Eine  folgerichtige  Entwickelung  gemäfs  den  Ansätzen  vom  Jahre  1882 
und  vom  Jahre  1892  mufs  hier  in  Zukunft  von  den  drei  Vollanstalten  zu 
einem  Gymnasium  mit  bestimmten  fremdsprachlichen  Varianten  führen.*) 

Das  humanistische  Kernstück  des  Lehrplans  'Religion,  Deutsch  und  Ge- 
schichte' und  das  mathematisch-naturwissenschaftliche  Gebiet  lassen  neben  Erd- 
kunde und  Zeichnen  einen  gewissen  Raum  frei,  welcher  im  Unterbau  für  den 
energischen  Betrieb  einer  Fremdsprache  und  aufserdem  für  eine  zweite  völlig 
Platz  bietet,  im  Oberbau  allenfalls  auch  noch  für  eine  dritte.8) 

Würde  man  in  Bezug  auf  die  Wahl  dieser  Fremdsprachen  eine  gewisse 
Freiheit  lassen,  ohne  dabei  die  Berechtigungen  der  Anstalten  von  der  Wahl 


l)  Abgesehen  von  dem  Realgymnasium  v.  Dülmanns  und  den  wenigen  Anstalten,  welche 
diesem  folgen. 

*)  Dabei  mag  auf  die  Wandlung  in  der  Zweckbestimmung  des  fremdsprachlichen 
Unterrichtes  von  1856  bis  1892  hingewiesen  werden.  Die  Lehrplane  von  1882,  welche  in 
der  Mitte  stehen,  sprechen  noch  von  'formaler  Bildung',  beschranken  sie  aber  nicht  mehr 
auf  da«  Lateinische  und  Griechische.  Die  Lehrpläne  von  1802  kennen  nur  noch  eine 
'sprachlich-logische  Schulung',  welche  durch  Lateinisch  und  Französisch  in  gleichem  Mafse 
zu  erreichen  ist.  In  Zukunft  wird  man  nur  noch  von  'sprachlicher  Schulung'  durch  den 
Unterricht  in  der  Muttersprache  und  in  den  Fremdsprachen  hören,  da  der  hohe  Wert  der 
Beschäftigung  mit  den  Sprachen  gerade  durch  deren  alogischen  Charakter  mitbedingt  ist. 
Vgl.  dazu  auch  Cauers  Aufsatz  über  formale  Bildung  in  den  preußischen  Jahrbüchern, 
Bd.  64.  Dafs  der  Ausdruck  'Klassische  Bildung',  welcher  in  den  Lehrplänen  von  1882  noch 
gelegentlich  (S.  10)  vorkommt,  in  den  Lehrplänen  von  1802  verschwunden  ist,  mag  auch 
noch  angedeutet  werden.  Hier  giebt  es  nur  noch  'klassische  Schriftsteller'  der  verschiedenen 
Nationen. 

■)  Von  Obersekunda  an  könnte  auch  das  nensprachliche  Gymnasium  (Oberrealschule) 
Lateinisch  treiben,  um  den  kulturellen  Anschluß  der  Gegenwart  an  die  Vergangenheit  zu 
erreichen.  Das  altsprachliche  Gymnasium  lehrt  auch  jetzt  Französisch!  Vgl.  dazu  meine 
Pläne  in  'Kultur  und  Schule',  S.  197  ff. 


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A  Wernicke:  Die  Organiaation  des  höheren  Schulwesens  in  Preufsen  21 

dieser  Fremdsprachen  abhangig  zu  machen,  so  könnten  ein  altsprachliches,  ein 
neusprachliches  und  ein  gemischtsprachliches  Gymnasium  friedlich  nebenein- 
ander wirken. 

Dieser  Frieden  könnte  auch  bei  den  augenblicklich  geltenden  Lehrplanen  her- 
*  gestellt  werden  und  dann  eine  gesunde  Grundlage  für  eine  sachgemaTse,  durch  keine 
äufseren  Rücksichten  gehemmte  Entwickelung  der  einzelnen  Schularten  werden. 

Man  brauchte  dazu  nur  eine  Reihe  von  Beschlüssen  der  Dezemberkonferenz, 
welche  ja  doch  durch  die  Vertreter  des  altsprachlichen  Gymnasiums  beherrscht 
wurde,  etwa  auf  folgende  Form  zu  bringen: 

1.  Die  Reifezeugnisse  von  Gymnasium,  Realgymnasium  und  Oberrealschule 
werden  einander  genau  gleich  gestellt. 

2.  Kenntnisse  und  Fertigkeiten,  deren  Nachweis  im  Hinblick  auf  die  Unter- 
schiede der  Schulbildung  für  diesen  oder  jenen  Beruf  als  nötig  erachtet 
wird,  sind  in  der  Berufsprüfung  (Staatsexamen)  darzulegen. 

3.  An  den  Universitäten  und  an  den  anderen  Hochschulen  oder  wenigstens 
an  einzelnen  von  ihnen  sind  Anfangs-  und  Übergangsvorlesungen  für  den 
Ausgleich  der  Unterschiede  in  der  Schulbildung  einzurichten.1) 

Diese  Festsetzungen  würden  durchaus  dem  Begriffe  der  Allgemeinbildung 
entsprechen,  gemäfs  welchem  die  preufsischen  Anstalten  eingerichtet  sind. 

Dafs  sie  nicht  einseitig  von  der  preufsischen  Regierung  getroffen  werden 
können,  sondern  nur  auf  Grund  von  Verhandlungen  mit  den  anderen  Regierungen 
und  zum  Teil  mit  den  Reichsbehörden,  und  dafs  analoge  Verhaltnisse  natürlich 
für  die  anderen  Regierungen  gelten,  erschwert  hier  jede  Lösung. 

Wären  diese  Festsetzungen  getroffen  worden,  so  würde  die  preufsische 
Regierung  auch  keine  Enttäuschung  in  Bezug  auf  die  Verminderung  des  so- 
genannten Gelehrtenproletariats  erlitten  haben,  auf  welche  ja  die  neue  Ordnung 
des  Schulwesens  ganz  besonders  hinwirken  sollte. 

Diese  Enttäuschung  wird  bereits  amtlich  offen  zugegeben.  Wo  der  Fehler 
im  Ansätze  liegt,  ist  aber  durchaus  klar:  eine  strenge  und  gleichmäßige 
Sichtung  des  Schülermater iales  auf  den  höheren  Schulen  ist  für  Preufsen 
nur  möglich,  wenn  kein  Monopol  mehr  die  Wahl  der  Anstalt  beeinflufst,  und 
wenn  die  Lehrpläne  der  einzelnen  Anstalten  den  Schülern,  welche  an  der 
Grenze  von  Quarta  und  Untertertia,  vor  allem  aber  an  der  Grenze  von  Unter- 
sekunda und  Obersekunda  abgehen  wollen,  den  Weg  ins  Leben  erleichtern. 

Dafs  in  Bayern,  Sachsen  und  Württemberg  schon  längst  ein  kräftiges, 
lateinloses  Schulwesen  emporgeblüht  ist,  auf  das  man  in  Preufsen  bei  der 
Neuordnung  (vgl  z.  B.  in  der  Denkschrift  Nr.  1)  mit  gewissen  Hoffnungen 
blickte,  ist  eine  Sache  für  sich. 

Norddeutschland,  einschliefslich  Badens,  und  Süddeutschland,  einschliefslich 
Sachsens,  zeigen  nun  einmal  in  vielfacher  Hinsicht  verschiedene  Gepräge,  die 
für  das  Gebiet  des  Schulwesens  schon  durch  Namen  wie  Joh.  Schulze  und 
'>        Fr.  Thiersch  hinlänglich  bezeichnet  werden. 


')  Vgl.  die  Einrichtungen  der  technischen  Hochschule  in  Stuttgart 


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A.  Wernicke:  Die  Organisation  de«  höheren  Schulwesens  in  Prcufsen 


Die  glänzende  Entwicklung  des  Fortbildungsschulwesens  und  des  niederen 
und  mittleren  Fachschulwesens  auf  der  einen  Seite  jener  Grenze  und  der  Still 
stand1)  auf  diesen  Gebieten  in  Preufsen  (abgesehen  von  den  Schulen  für  die 
Landwirtschaft)  geben  eine  weitere  Charakteristik. 

Dort  hat  man  ein  offenes  Auge  für  die  Bedürfnisse  aller  Berufe  und  ist 
deshalb  auch  geneigt,  dem  Gymnasium  eine  Hinneigung  zur  philologisch- 
historischen  Fachschule  zu  gestatten  und  daneben  vielleicht  ihm  entsprechende 
Anstalten  mit  einer  Hinneigung  zur  mathematisch-naturwissenschaftlichen  Fach- 
schule zuzulassen,  hier  stellt  man  einen  bestimmten  Begriff  der  Allgemein- 
bildung in  den  Mittelpunkt  aller  Erörterungen. 

Ein  Beispiel  mag  den  Unterschied  verdeutlichen:  die  Realanstalten  Württem- 
bergs, welche  den  preufsischen  Oberrealschulen  annähernd  entsprechen,  geben 
ihren  Abiturienten  soviel  mathematisch-zeichnerische  Fachbildung  mit,  dafs  sie 
das  Studium  der  Maschinentechnik  mit  7  Semestern  beenden,  während  die 
Abiturienten  der  Gymnasien  Württembergs  dazu  9  Semester  brauchen,  in 
Preufsen  dagegen  ist  die  Studienzeit  auf  den  technischen  Hochschulen  für  die 
Abiturienten  der  Gymnasien  und  der  Oberrealschulen  genau  dieselbe,  weil  hier 
der  Unterschied  der  Anstalten  fast  nur  in  der  fremdsprachlichen  Variante  liegt. 

Die  Stellung,  welche  die  Majorität  der  Dezemberkonferenz  in  der  Be- 
rechtigungsfrage einnahm,  entsprach  den  Verhältnissen  Württembergs,  welche 
sich  dort  durchaus  bewahrt  haben,  stand  aber  im  Widerspruch  zu  der  Über- 
lieferung des  preufsischen  Schulwesens. 

Gegenüber  dem  Drängen  nach  einer  Arbeitsteilung  zwischen  Gymnasium 
und  Oberrealschule  griff  die  preufsische  Schulverwaltung  zurück  auf  den 
Begriff  der  Allgemeinbildung,  welchen  sie  bei  der  Übernahme  der  lateinlosen 
Anstalten  des  Handelsministeriums  geprägt  und  verteidigt  hatte,  und  gestaltete 
ihn  weiter  aus. 

Nachdem  nun  der  Unterschied  zwischen  Gymnasium,  Realgymnasium  und 
Oberrealschule  in  Preufsen  im  wesentlichen  auf  die  fremdsprachliche  Variante 
beschränkt  worden  ist,  welche  bei  der  anerkannten  Äquivalenz  der  Fremd- 
sprachen behufs  sprachlich -logischer  Schulung  und  bei  dem  vorgeschriebenen 
stofflichen  Ausgleiche  im  deutschen  Unterrichte  als  durchaus  unerheblich  an- 
gesehen werden  mufs,  ergiebt  sich  für  die  preufsische  Schulverwaltung  als 
zwingende  Folgerung  die  völlige  Gleichstellung  der  Reifezeugnisse  der  drei  Voll- 
anstalten8), d.  h.  die  Ausdehnung  des  alten  Gymnasialmonopoles  auf  alle  gleich- 
stufigen Anstalten. 

Dem  gegenüber  steht  die  Forderung  einer  Arbeitsteilung,  wie  sie  sich  für 
Württemberg   bewährt   hat,   gemafs   den   Bedürfnissen    bestimmter  Berufs- 


')  In  den  allerletzten  Jahren  echeint  allerdings  auch  hier  die  Entwickelang,  die  in  den 
siebziger  Jahren  zu  stocken  begann,  wieder  in  Flufs  zu  kommen. 

*)  Vgl.  den  Vortrag  von  Matthias  in  Düsseldorf  (.jetzt  Provinzial-Schulrat  in  Coblenz)  auf 
der  letzten  Hauptversammlung  (1897)  des  Vereins  zur  Förderung  des  lateinlosen  höheren 
Schulwesens:  Die  Gleichwertigkeit  der  Oberrealschul-  und  Gymnasialbildung  Vgl.  ferner 
Lentz  zu  'Kultur  und  Schule'  in  der  Zeitschrift  für  Reform  der  höheren  Schulen,  1897,  Nr.  2. 


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A  Wernicke:  Die  Organisation  des  höheren  Schulwesens  in  PreufBen 


23 


gruppen1),  sie  führt  zu  einer  Zerlegung  des  alten  Gymnasialmonopoles  in  Unter- 
monopole für  die  einzelnen  Anstalten. 

Je  schärfer  die  Teilung  nach  Berufsgruppen  in  den  Lehrplänen  der  einzelnen 
Anstalten  hervortritt,  um  so  gröfser  wird  auch  die  Aussicht  eines  gemeinsamen 
Unterbaues,  in  dem  die  modernen  Fremdsprachen  gegen  die  alten  Fremdsprachen 
siegreich  vorrücken. 

Innerhalb  der  preußischen  Organisation  ist  ein  kräftiges  altsprachliches 
Gymnasium  möglich,  gerade  auf  der  Grundlage  der  Äquivalenz  der 
Fremdsprachen  behufs  sprachlicher  Schulung,  freilich  nur  unter  Auf- 
gabe des  sogenannten  Monopoles. 

Welcher  Weg  ist  für  unser  Volk  bei  dem  schweren  Ringen  um  seine 
Stellung  auf  dem  Weltmarkte  der  richtige? 

Unda  fert,  nec  regitur. 

*      •  * 

Zu  vorstehender  Abhandlung  vgl.  Wernicke  'Kultur  und  Schule',  Oster- 
wieck  a./Harz,  1896,  und  den  gleichnamigen  Artikel  in  Heins  encyklopädischem 
Handbuche,  ferner  den  Vortrag  *  Allgemeinbildung  und  Berufsbildung* 
auf  der  Naturforscherversammlung  von  1897,  'Meister  Jakob  Böhme,  ein 
Beitrag  zur  Frage  des  nationalen  Humanismus',  Braunschweig,  Pro- 
gramm 1898,  'Aus  dem  Gebiete  des  mathematisch-naturwissenschaft- 
lichen Gymnasialunterrichts'  in  den  Hallischen  Lehrproben,  Heft  42  u.  f. 
und  'Die  mathematisch-naturwissenschaftliche  Forschung  in  ihrer 
Stellung  zum  modernen  Humanismus',  Berlin  1898. 

Vgl.  ferner  Wernicke  'Deutsche  Handelshochschulen'  in  Heins  Zeit- 
schrift für  Philosophie  und  Pädagogik,  1898,  und  'Die  Bewegung  für  das 
kaufmännische  Unterrichtswesen  Deutschlands'  im  Braunschweiger 
Magazin,  1897,  Nr.  10. 

*)  Im  Norden  wird  sie  neuerdings  durch  die  Hamburger  Schulverwaltung  vertreten. 


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DIE  ERRICHTUNG 
EINES  ALUMNATS  AN  DER  ZWICKAUER  SCHULE  (1544) 

Von  Ernst  Fabian 

Mag  auch  einerseits  die  von  verschiedenen  Seiten  aufgestellte  Behauptung, 
dafs  die  Reformation  eine  zerstörende  Wirkung  auf  die  Universitäten  und 
Schulen  ausgeübt  habe,  einer  gewissen  Berechtigung  nicht  entbehren,  so  kann 
anderseits  doch  auch  nicht  energisch  genug  immer  und  immer  wieder  darauf 
hingewiesen  werden,  dafs  der  Schaden,  den  das  deutsche  höhere  Schulwesen 
durch  den  Eintritt  der  Kirchenspaltung  erlitt,  denn  doch  nur  vorübergehend 
war,  und  dafs  die  Ratsherrn  der  der  Reformation  zugewandten  deutschen 
Städte,  dem  thatkräftigen  Eintreten  Luthers  und  Melanchthons  für  die  Schulen 
nachfolgend,  mit  anerkennenswertem  Eifer  teils  für  die  Reorganisation  der  be- 
stehenden Stadtschulen,  teils  für  die  Gründung  neuer  eintraten,  so  dafs  in  ver- 
hältnismäfsig  kurzer  Zeit  der  entstandene  Schaden  nicht  nur  beseitigt,  sondern 
auch  das  ganze  höhere  Schulwesen  auf  neuer,  humanistisch -protestantischer 
Grundlage  fest  begründet  war. 

Auch  die  Stadt  Zwickau,  die  es  sich  zum  Ruhme  anrechnen  kann,  dafs 
sie  von  jeher,  und  zwar  schon  in  sehr  früher  Zeit,  dem  Schulwesen  eine  Auf- 
merksamkeit zugewendet  habe,  wie  nur  wenige  Städte  neben  ihr  im  deutschen 
Vaterlande,  und  deren  weithin  berühmte  Schule,  eine  der  ältesten1)  in  den 
sächsischen  Landen,  am  Ausgange  des  15.  Jahrhunderts  unter  dem  Rektorate 
des  M.  Valentin  Strödel  (1476—90)  nach  der  Angabe  des  Zwickauer  Chronisten 
Peter  Schumann')  900  einheimische  und  auswärtige  Schüler  zählte,  hat  es  sich 
unter  dem  Einflüsse  der  Reformation  und  des  innerlich  mit  ihr  verbundenen 
Humanismus  angelegen  sein  lassen,  für  ihr  Schulwesen  in  ausgiebigster  Weise 
zu  sorgen.  Errichtete  man  doch  sogar  1519  unter  dem  Eindrucke  der  ersten 
frischen  Begeisterung  für  die  griechischen  Studien  neben  der  unter  der  Leitung 
M.  Stephan  Roths  stehenden  lateinischen  Stadtschule  eine  griechische  Schule, 
die,  geleitet  von  dem  berühmten  M.  Georgius  Agricola  von  Glauchau,  einem 
Schüler  Mosellans,  in  ihrer  Art  dazumal  geradezu  einzig  dastand  und  allent- 

»)  Die  ersten  Anfange  der  Zwickauer  Schule  lassen  Bich  big  an  das  Ende  des  13.  Jahr 
hunderte  zurückverfolgen:  schon  1291  erscheint  in  einer  Kirchenurkunde  nach  einigen  als 
Zeugen  namhaft  gemachten  Zwickauer  Priestern  auch  ein  Schulmeister  Heinrich  (Heinricus, 
rector  scholae).  8.  Herzog,  Qesch.  des  Zwickauer  Gymnasiums,  S.  1  f.  Joh.  Müller,  Die 
Anfange  des  sachs.  Schulwesens  im  Neuen  Archiv  für  Sachs.  Gesch.  VHI  S.  32. 

*)  P.  Schumanns  hdschr.  Annal.  I  ao.  1490  (Zwick.  Ratsschulbibliothek). 


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E.  Fabian:  Die  Errichtung  eines  Alumnat«  an  der  Zwickauer  Schule  (1544) 


25 


halben  eine  derartige  Aufmerksamkeit  erregte,  dafa  selbst  'Doktores  und 
Magistri'  herbeiströmten.    Als  dann  der  treffliche  Stephan  Roth  1521  die 
Vaterstadt  verliefs,  um  die  Schule  zu  Joachimsthal  im  Erzgebirge  zu  reorgani- 
A  sieren,  wurden  beide  Gelehrtenschulen  unter  Agricolas  Leitung  vereinigt.  Leider 

verliefs  dieser  bereits  1522  seine  Stellung,  um  in  Leipzig  seine  Studien  fort- 
zusetzen. Es  darf  wohl  ferner  auch  als  ein  Ausflufs  des  lebhaften  Interesses, 
das  die  leitenden  Männer  der  Stadt  für  die  Schule  hegten,  betrachtet  werden, 
wenn  man  den  Nachfolger  Agricolas,  den  neuen  Rektor  M.  Leonhard  Nather 
oder  Natter  von  Lauingen  a.  d.  Donau,  wenige  Wochen  nach  Antritt  seines 
neuen  Amts  beauftragte,  eine  neue  Schulordnung  aufzurichten1),  die  denn  auch 
im  folgenden  Jahre  unter  dem  Titel  'Ordnung  defs  Na  wen  Studij  vnd  yetzt 
aufgerichten  Collegij  yn  fürstlicher  Stadt  Zwickaw.  Auf  drey  Hauptsprachen 
Hebraysch  Orichisch  Lateinisch  gestelt*  in  der  eben  erst  errichteten  Druckerei 
von  J.  Schönsperger  in  Druck  erschien..  Freilich  wird  man  wohl  annehmen 
müssen,  dafs  diese  Schulordnung,  wiewohl  sie  später  durch  den  damals  an  der 
Zwickauer  Schule  wirkenden  Joh.  Rivius  auch  die  Schulen  von  Annaberg, 
Freiberg  und  Meifsen  beeinflufste*),  mehr  ein  Prunkstück")  war,  weil  sie  mehr 
versprach,  als  sie  halten  konnte.  Denn  wir  sehen,  wie  die  Schule  trotz  aller 
Fürsorge  des  Rats,  trotz  der  trefflichen  Lehrer,  infolge  der  Ungunst  innerer 
and  äufserer  Verhaltnisse  unter  Nather  und  seinem  Nachfolger  M.  Georg 
Neumann  (Neander)  von  Zwickau  mehr  und  mehr  in  Verfall  geriet.4)  Eine 
Änderung  in  diesen  unerquicklichen  Verhältnissen  trat  erst  ein,  als  der  Hat 
nach  dem  Weggänge  Neumanns  auf  die  warme  Fürsprache  Georg  Agricolas 
den  Belgier  M.  Petrus  Plateanus  einen  ausgezeichneten  Gelehrten  und  einen 
Pädagogen  von  Gottes  Gnaden,  zum  Rektor  wählte,  der  den  Unterricht  der 
berühmten  Hieronymianerschule  zu  Lüttich  genossen  und  in  Wittenberg  zu  den 
Füfsen  Melanchthons  gesessen  hatte.  In  diesem  trefflichen  Gelehrten  und 
Pädagogen  war  endlich  der  Mann  gefunden,  der  die  Schule  wieder  aus  ihrem 
Verfalle  emporhob  und  ihr  eine  Blüte  und  einen  Glanz  verlieh,  dafs  sie  weit 

')  Vgl.  über  diese  Verhältnisse  die  ausführlichere  Darstellung  in  meiner  Abhandlung 
Aber  'M.  Petrus  PlateanuB,  Rektor  der  Zwickauer  Schule  von  1586—1646',  im  Zwickauer 
Gymnasialprogramm  1878,  S.  1  ff. 

*)  S.  Hartfelder,  Philipp  Melanchthon  als  Praeceptor  Germaniae  (Monum.  Germ.  Paedag. 
Bd.  VII):  S.  429  Anm.  2.  Vgl.  J.  Müller,  Die  Zwickauer  Schulordnung  von  1623,  Neue 
Jahrb.  für  Philologie  u.  Pädagogik  120.  Bd.  (1879)  S.  476  ff. 

*)  S.  Paulsen,  Gesch.  des  gel.  Unterrichts,  Leipzig  1886,  S.  121.  Sollten  doch  sogar 
die  Schüler  der  zweiten  Klasse  unterrichtet  werden  über  den  Ackerbau,  die  Baukunst,  die 
Rechte  und  Arzneikunst.    S.  Weller,  Altes  aus  allen  Teilen  der  Gesch.  u.  s.  w.  II  S.  686. 

«)  Bemerkenswert  ist  es,  wie  sich  gerade  in  dieser  Zeit  des  Verfalls  der  Gelehrten- 
schule in  den  bürgerlichen  Kreisen,  insbesondere  unter  den  Handwerkern,  eine  Bewegung 
geltend  machte,  die  darauf  abzielte,  den  Knaben  einen  einfacheren,  den  Bedürfnissen  des 
praktischen  Lebens  mehr  entsprechenden  Unterricht  zu  gewähren,  eine  Bewegung,  der  sich 
der  Rat  auf  die  Dauer  nicht  widersetzen  konnte.  Vgl.  darüber  sowie  über  die  damals  er- 
*  richtete  'Maydleinschule'  meinen  Aufsatz  'Die  Anfange  des  Zwickauer  Volksschulwesens' 

in  der  Festschrift  zur  X.  Generalvers.  des  Allgem.  Sächs.  Lehrervereins,  Zwickau  1894, 
S.  86—108 


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E.  Fabian:  Die  Errichtung  eines  Alumnats  an  der  Zwickauer  Schule  (1644) 


und  breit  alle  anderen  Schulen  in  den  Schatten  stellte.1)  Sein  ganzes  Leben 
war  der  Schule  geweiht,  in  treuem  Schuldienste  erkannte  er  eine  Haupt- 
verpflichtung gegen  Kirche  und  Staat.  Seine  zahlreichen  Schüler  erkannten 
mit  Dank,  wie  er  sie  auf  klar  bestimmten  Wegen  sicher  und  methodisch  vor- 
wärts brachte,  mit  begeisterten  Worten  rühmen  sie  sein  wunderbares  päda- 
gogisches Geschick,  die  gewaltige  Energie  in  der  Aufrechterhaltung  der  Disziplin.8) 
Ein  besonderes  Verdienst  nicht  nur  um  die  Schule,  sondern  um  die  ganze  Stadt 
erwarb  er  sich  dadurch,  dafs  er,  um  dem  wissenschaftlichen  Streben  seiner 
Schüler  Gelegenheit  zu  weiterer  Befriedigung  zu  geben,  Anregung  zur  Errich- 
tung der  Schulbibliothek  gab.8)  Erfolg  und  Anerkennung  wurden  seinem 
Wirken  in  reichstem  Mafse  zu  teil,  Kat  und  Bürgerschaft  sowie  die  Gelehrten 
in  Wittenberg  hielten  ihn  in  hohen  Ehren  und  unterstützten  ihn  auf  jede 
Weise  in  seiner  Thätigkeit.  Sein  Name  wurde  bald  in  den  weitesten  Kreisen 
bekannt,  und  die  Zwickauer  Schule  erlangte  unter  seiner  Leitung  nicht  nur  in 
Sachsen  und  Deutschland,  sondern  auch  bei  den  auswärtigen  Nationen  einen 
solchen  Ruf,  dafs  ganze  Scharen  von  wissensdurstigen  Jünglingen,  zum  Teil 
den  vornehmsten  adligen  Familien  angehörend,  nach  Zwickau  strömten.  Gerade 
diese  ausserordentliche,  mit  jedem  Jahre  sich  steigernde  Frequenz,  deren  sich 
die  Schule  unter  dem  Regimente  des  Plateanus  erfreute,  bewirkte  aber,  dafs 
sich  die  vorhandenen  Schulräumlichkeiten,  die  sich  in  der  Hauptsache  in  dem 
1479  von  dem  berühmten  Zwickauer  Patrizier  Martin  Römer*)  erbauten,  später 
unter  dem  Namen  der  alten  Kantorei  bekannten  und  1878  abgebrochenen 
Schulgebäude5)  befanden,  gar  bald  als  völlig  unzureichend  erwiesen.  Da  galt 
es  denn,  neue,  geeignete  Räumlichkeiten  zu  beschaffen.  Schon  seit  langer  Zeit 
hatte  der  Rat  mit  Rücksicht  auf  das  stete  Anwachsen  der  Schülerzahl  sein 
Augenmerk  auf  den  geräumigen  Wirtschaftshof  des  Grünhainer  Klosters  in  der 
'langen  Gasse'  (jetzt  Schulstrafse)  gerichtet,  wo  der  klösterliche  Hofmeister  oder 
Amtmann  für  die  in  der  Nähe  von  Zwickau  gelegenen  ansehnlichen6)  Be- 
sitzungen des  Klosters  seine  Wohnung  und  seine  Geschäftsräume  hatte.  Die 
bereits  1528 7)  vom  Rate  mit  dem  Kurfürsten  betreffs  der  Überlassung  des 


')  8.  meine  Abhandlung  über  Plateanus  S.  6  f. 

*)  Dieser  straffen  Disziplin  verdankte  damals  die  Zwickauer  Schule  den  weitverbreiteten 
Spitznamen  'Zwickauer  Schleifmühle'.    S.  meinen  Plateanus,  S.  16.  20  f. 

*)  Wiewohl  diese  erst  durch  die  ihr  später  testamentarisch  vermachte  reichhaltige 
Bibliothek  Stephan  Roths  ihre  eigentliche  Bedeutung  erhielt,  so  wird  doch  Plateanus  aus- 
drücklich in  verschiedenen  Aktenstücken  als  'primus  fundator'  der  Bibliothek  bezeichnet. 

*)  Vgl.  Herzogs  Biographie  von  diesem  um  Zwickau  hochverdienten  Mann,  der  von 
1476—83  die  Stellung  eines  kurfürstlichen  Amtshauptmanns  bekleidete;  im  Zw.  Wochenbl. 
1856,  Nr.  78  79.  81  und  im  14.  Heft  der  Mittcil.  des  Kgl.  Sachs.  Altertums  Vereins  (1866) 
S.  49—68. 

•)  Aufser  diesem  Schulgcbäude  ist  noch  von  einem  'Schulheuselein'  die  Bede,  über 
das  nicht*  weiter  bekannt  ist.  S.  Zwickauer  Ratsprotokoll  (R.  P)  Mich.  1642  —  eben- 
dahin 1544,  Bl.  19b. 

•)  Das  Kloster  verfügt«  über  einen  Besitz  von  6  Städten  und  etwa  40  Dörfern. 

r)  Zw.  Copeybuch  1627/28,  Bl.  207»-.  247. 


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E.  Fabian:  Die  Errichtung  eines  Alumnate  an  der  Zwickauer  Schule  (1644)  27 


geräumigen  Gebäudes  zu  Schulzwecken  angeknüpften  Unterhandlungen  zer- 
schlugen sich  zwar,  als  dann  aber  1536  das  Kloster  selbst  säkularisiert  wurde, 
erneuerte  der  Rat  seine  Bemühungen,  den  Kurfürsten  Johann  Friedrich  den  •> 
Grofsmütigen  zur  Überlassung  des  dem  Fiskus  anheimgefallenen  Klosterhofes 
zu  bewegen.  Der  Landesherr  war  zwar  für  seine  Person  nicht  abgeneigt,  dem 
Bittgesuche  des  Rates  zu  willfahren,  und  genehmigte  in  einem  Schreiben1)  vom 
4.  Juli  die  Überlassung  des  Hofes  unter  der  Bedingung,  dafs  ihm  der  Rat  eine 
1498  für  die  Befreiung  des  Grünhainer  Klosters  von  allen  bürgerlichen  Ab- 
gaben vom  Abte  erhaltene  Abfindungssumme  im  Betrage  von  400  mfl.')  wieder- 
erstatte und  aufserdem  300  mfl.  zum  Baue  eines  neuen  aufserhalb  der  Stadt 
gelegenen  Vorwerks  für  die  Bewirtschaftung  der  Klostergrundstücke  entrichte. 
Auch  sollte  sich  der  Rat  mit  dem  damaligen  Klostervogt  oder  Amtmann 
Anselm  v.  Thumshirn,  dem  auf  eine  Reihe  von  Jahren  der  Hof  übertragen 
worden  war,  ins  Einvernehmen  setzen  und  ihm  für  die  Zeit  seiner  Amtsführung 
eine  andere  'bequeme'  Wohnung  in  der  Stadt  anweisen,  da  sonst  kaum  an- 
zunehmen sei,  dafs  er  gutwillig  den  Hof  räumen  werde.  Sei  es  nun  aber,  dafs 
der  Amtmann  nicht  weichen  wollte,  sei  es,  dafs  man  gewisse  Rücksichten  auf 
ihn  nehmen  zu  müssen  glaubte,  kurz,  die  Räumung  unterblieb  zunächst,  und 
die  Schule  mufste  sich  mit  den  bisherigen  Räumlichkeiten  begnügen.  Erst  der 
am  24.  November  1541  erfolgte  Tod  des  Klostervogts  brachte  die  Stadt  der 
Möglichkeit,  den  Grünhainer  Hof  zu  gewinnen,  näher,  und  der  Rat  liefs  sich 
keine  Mühe  verdriefsen,  das  längst  ersehnte  Ziel  zu  erreichen  und  damit  den 
geradezu  unhaltbar  gewordenen  Zustanden  in  der  Schule  ein  für  allemal  ein 
Ende  zu  machen.  Jedes  neue  Jahr  brachte  neue  Schüler,  die  Lehrzimmer  ver- 
mochten die  Menge  der  Schüler  nicht  mehr  zu  fassen.  Mit  Rücksicht  darauf, 
dafs  eine  grofse  Anzahl  fremder  Schüler  nur  schwer  unterzubringen  war, 
kam  man,  wie  sich  auf  Grund  wichtiger,  bisher  unbekannt  gebliebener  Akten- 
stücke des  'Ernestinischen  Gesamtarchivs  zu  Weimar")  ergiebt,  auf  den  Ge- 
danken, mit  der  Schule  ein  Alumnat  oder  Pädagogium,  wie  man  der- 
artige Anstalten  damals  zu  nennen  pflegte4),  zu  verbinden.  Selbstverständ- 
lich erforderte  ein  so  bedeutendes  Unternehmen,  wie  es  die  Umwandlung  des 
Grünhainer  Hofes  zu  Schulraumen  sowie  die  Errichtung  eines  Alumnats  war, 
einen  ganz  ungewöhnlichen  Kostenaufwand.    Infolgedessen  beschlofs  man,  den 

•)  S.  Zwickauer  Rateprotokoll  (Z.  E.  F.),  Montags  nach  Chiliani  [10.  Juli],  Datiert  ist 
die  Urkunde:  Torgaw,  Dinstags  nach  Visitationis  Mariae  [4.  Juli]  Anno  XXXVj0. 

*)  Vgl.  Herzog,  Chronik  der  Kreisstadt  Zwickau  I  S.  160  und  II  S.  160. 

*)  Das  betreffende  Aktenkonvolut  (Reg.  0,  1642,  Nr.  652)  umfafst  1.  einen  Bericht  des 
Bürgermeisters  Osw.  Lasan,  2.  einen  meines  Wissens  noch  nicht  veröffentlichten  Brief 
Melanchthons,  3.  ein  Schreiben  de«  Schulrektors  M.  Petrus  Plateanus,  alle  an  den  Kur- 
fürsten gerichtet,  und  4.  die  eigenhändig  in  lateinischer  Sprache  geschriebene  Hausordnung 
für  das  ku  errichtende  Alumnat  nebst  zwei  deutschen  Exemplaren  derselben. 

«)  Vgl.  R.  Menge,  Art.  'Alumnat'  in  Reins  'Encyklop.  Hdbch.  d.  Pädagogik'  I  60  ff. 
Schinimelpfeng :  'über  Internatserziehung',  im  Hdbch.  der  Erziehung«-  und  Unterrichtslehre 
für  höhere  Schulen,  berausgeg.  v.  Baumeister  H  2  S.  226  ff.  Koldewey,  Braunschweigischc 
Schulordnungen,  Mon.  Germ.  Paed.  Bd.  VDJ  S.  602  (Anm.  z.  8.  26»1)- 


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28       E-  Fabian:  Die  Errichtung  eines  Alumnate  an  der  Zwickauer  Schule  (1644) 

Kurfürsten  um  Unterstützung  bei  dem  grofsen  Werke  zu  bitten  und  zugleich 
auch  Luther  und  Melanchthon  um  ihre  Vermittelung  in  dieser  Angelegenheit 
anzugehen,  wozu  sich  denn  auch  beide  gern  bereit  finden  liefsen.  Der  für  die 
Sache  begeisterte  Bürgermeister  M.  Oswald  Lasan,  der  beim  Kurfürsten  Johann 
Friedrich  in  grofsem  Ansehen  stand,  unternahm  es,  den  Landesherrn  selbst  für 
das  Unternehmen  zu  interessieren,  und  begab  sich  zu  Anfang  des  Jahres  1542 
in  eigner  Person  an  den  Hof,  wo  er  dem  Kurfürsten  die  Gesichtspunkte,  nach 
denen  die  neue  Anstalt  errichtet  werden  sollte,  in  einem  schriftlichen  Gut- 
achten1) vorlegte  und  zugleich  auch  mit  eindringlichen  Worten  die  nachdrück- 
liche Unterstützung  des  Landesherrn  erbat,  damit  durch  dessen  Vorgehen  dann 
auch  die  wohlhabenden  Adligen  und  Bürger  in  der  Unterstützung  der  neuen 
Anstalt  durch  Errichtung  von  Stipendien  und  Legaten  zur  Nacheiferung  an- 
gespornt würden.  Vier  Punkte  waren  es  hauptsachlich,  auf  die  der  Bürger- 
meister das  Interesse  des  Kurfürsten  hinzulenken  suchte.  Erstens  bat  er,  dafs 
die  Unterstützung,  die  der  dermalige  Rektor  Plateanus  für  seine  Person  vom 
Altenburger  St.  Georgenstifte  bezöge,  für  alle  Zeiten  dem  Inhaber  des  Rektorats 
zugesprochen  würde.  Zweitens  suchte  er  zur  Unterstützung  der  armen  Knaben, 
'die  da  gemeyniglich  treffliche  feine  Ingenia  haben',  um  Überlassung  von 
jährlich  60  Scheffeln  Korn  und  Weizen  aus  den  Einkünften  der  von  dem 
reichen  Zwickauer  Patrizier  Hans  Federangel9),  dem  Freunde  Martin  Römers, 
seinerzeit  gestifteten  Kartause  bei  Crimmitschau  nach.  Drittens  begehrte  er 
mit  Rücksicht  auf  die  hohe  Schülerzahl  —  600  —  und  die  sich  dadurch  stetig 
steigernde  Arbeitslast  der  Schuldiener,  d.  h.  der  neben  dem  Rektor  amtierenden 
Lehrer,  zu  ihrer  bisherigen  Besoldung  eine  Gesamtzulage  von  100  Gulden  aus 
dem  'Gemeinen  Kasten*.  Viertens  bat  Lasan  den  Kurfürsten  darum,  dem  Rate 
die  Summe  von  300  Gulden8)  aus  dem  Kaufpreise  für  den  Grünhainer  Hof  als 
Grundstock  für  die  Errichtung  der  neuen  Schulanstalt  gegen  5%  Zinsen 
gnädigst  zu  überlassen. 

Auch  die  beiden  Reformatoren  Luther  und  Melanchthon  nahmen  Gelegen 
heit,  in  eigenhändigen  Schreiben  vom  1.  und  2.  Januar  1542,  worin  sie  ihrer 
Freude  und  Teilnahme  an  dem  Vorgehen  der  Zwickauer  Behörden  Ausdruck 
gaben,  bei  dem  Kurfürsten  ein  gutes  Wort  einzulegen.  Erst  durch  die  in 
Weimar  vorgefundenen  Aktenstücke  erhält  der  vielberufene  Brief*)  Luthers  an 
den  Kurfürsten,  worin  er  die  beiden  Schulen  Zwickau  und  Torgau  'für  andern 
zwey  treffliche  kostliche  und  edle  Kleinoder*  nennt,  seine  eigentliche  Erklärung. 
Wenn  Luther  in  dem  erwähnten  Briefe  ferner  schreibt:  'Vnd  mir  sehr  herzlich 
gefallen  hat,  dafs  die  zu  Zwickau  von  sich  selbs  solcher  Sachen  sich  so  ernst- 
lich und  tapferlich  annehmen  und  treiben,  da  sonst  in  andern  Städten  und 
Oberkeiten  solch  Lundtrosse  und  Schlungel  oder  gottlose  Geizhälse  regieren, 

•)  8.  Beil.  A. 

«)  Vgl.  Ober  ihn  Heraog,  Hanns  Federangel,  ein  mittelalterliche«  Lebensbüd.  Webers 
Archiv  f.  sächs.  Gesch.  N.  F.  Bd.  I  (1875)  S.  260  ff. 

*)  D.  h.  die  zum  Bau  des  neuen  Vorwerks  ursprünglich  bestimmte  Summe. 
*)  8.  de  Wette,  Dr.  Martin  Luthers  Briefe  u.  s.  w.  Bd.  V  S.  481  f. 


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E.  Fabian:  Die  Errichtung  eines  Alumnat«  an  der  Zwickauer  Schule  (1644)  29 

die  wohl  so  viel  weltlicher  Andacht  haben,  daüs  sie  wollten,  Christus  mit 
Kirchen  und  Schulen  wären,  da  der  Leviathan  regiert',  bo  konnte  Zwickau  mit 
diesem  übrigens  wohlverdienten  Kompliment  um  so  zufriedener  sein,  als  sich 
daraus  erkennen  läfst,  dafs  sich  der  langjährige  Groll,  den  der  grofse  Refor- 
mator wegen  früherer  Kompetenzstreitigkeiten  mit  dem  Rate  betreffs  der  Wahl 
und  Entlassung  von  Geistlichen  gegen  die  Stadt  gefafst  hatte,  völlig  gelegt  zu 
haben  scheint.  Von  Wichtigkeit  ist  übrigens  der  Brief  auch  insofern,  weil  er 
allein  die  Bemerkung  enthält,  dafs  der  Rat  die  kurfürstliche  Unterstützung 
nicht  für  immer,  sondern  nur  für  einen  Zeitraum  von  sechs  Jahren  begehre. 
Melanchthon1)  begründet  in  seinem  vom  2.  Januar  datierten  Briefe  sein  Unter- 
stützungsgesuch zunächst  mit  der  Unzulänglichkeit  der  Schulräume,  die  so  eng 
seien,  dafs  ein  grofser  Haufe  der  Schüler  vor  den  Stuben  stehen  müsse,  sowie 
mit  der  betrübenden  Thatsache,  dafs  bei  der  grofsen  Schülerzahl  die  fremden 
armen  Schüler  keine  Wohnung  finden  könnten.  Von  der  Hoffnung  ausgehend, 
dafs  die  bewährte  Opferfreudigkeit  der  Zwickauer  Bürger  sich  auch  jetzt  der 
Schule  gegenüber  nicht  verleugnen  werde,  richtet  er  zugleich  auch  an  den 
Kurfürsten  die  Bitte,  die  Stadt  bei  dem  bevorstehenden  Werke  gnädig  zu 
unterstützen,  zumal  da  sich  ein  grofser  Mangel  an  Gelehrten  bemerkbar  zu 
machen  beginne.  Was  den  in  dem  Aktenkonvolut  ebenfalls  befindlichen  Brief8) 
des  Schulrektors  M.  Petrus  Plateanas  anlangt,  so  beschäftigt  er  sich  haupt- 
sächlich mit  den  persönlichen  Angelegenheiten  und  speziell  mit  der  Zukunft 
des  trefflichen  Gelehrten.  Indem  Plateanus  mit  aller  Bescheidenheit,  aber  zu- 
gleich auch  nicht  ohne  ein  gewisses  Selbstgefühl  auf  seine  bisherige  Thätig- 
keit  als  Schulmann  hinweist,  bittet  er,  um  auch  für  die  Zeit,  wo  er  nicht  mehr 
dienstfähig  sein  werde,  für  sich  und  seine  Familie  eine  Versorgung  zu  haben, 
um  eine  Präbende  am  Stifte  Altenburg.  Welchen  Erfolg  die  Verwendung  der 
Wittenberger  Herren,  namentlich  aber  die  Sendung  des  Bürgermeisters  Lasan 
an  den  Hof  gehabt  habe,  läfst  sich  im  einzelnen  nicht  nachweisen.  Nur 
soviel  wissen  wir,  dafs  trotz  der  vielfachen  und  eindringlichen  Fürsprache  erat 
unter  dem  2.  Oktober  1542  durch  einen  kurfürstlichen  Erlafs8)  an  den  Schösser 
Wolf  Böham  (Böhme)  die  endgültige  Überweisung  des  Grünhainer  Hofes  an 
den  Rat  gegen  Zahlung  der  festgesetzten  Summe  von  400  fl.  erfolgte.  Dem 
von  Michaelis  genannten  Jahres  an  als  Klosteramtmann  in  Aussicht  genommenen 
Martin  Scharfenstein  wurde  bedeutet,  er  'möchte  sich  anderswo  vnterbringen', 
der  Schösser  aber  sollte  die  400  fl.  vorläufig  in  seiner  Verwahrung  im  Amte 
behalten.  Da  in  diesem  Schreiben  des  Kurfürsten  nur  von  der  Übergabe  der 
400  fl.,  die  der  Rat  früher  vom  Abte  erhalten  hatte,  an  den  Schösser,  nicht 
aber  von  der  Bezahlung  der  aufserdem  zum  Bau  eines  neuen  Vorwerks  ge- 
forderten 300  fl.  die  Rede  ist,  so  ist  wohl  die  Vermutung  gerechtfertigt,  dafs 

')  S.  Beil.  B.      ')  S.  BeU.  C. 

■)  Zw.  Rataarchiv  (Z.  R.  A.)  1.  Alme,  18.  Schubk.  Nr.  12.  Eine  Abschrift  davon  im 
Rateprotokoll.  Die  Auszahlung  der  400  fl.  an  den  kurfürstlichen  Schosser  erfolgte  nach 
Ausweis  des  'Chammerbucha'  Auggabeteil  Mich.  1542  —  ebendahin  1648,  S.  6.  Dornatags 
nach  Dionysij  1 10.  Okt.J  1542. 


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30       E  Fabian:  Die  Errichtung  eines  Alumnats  an  der  Zwickauer  Schule  (1644) 

der  Kurfürst  den  Bitten  des  Bürgermeisters  Lasan  entsprechend  diese  Summe 
der  Stadt  für  die  Einrichtung  des  Grünhainer  Hofes  überlassen  haben  werde. 

Die  Übergabe  des  Hofes  erfolgte  am  10.  Oktober  unter  grofsen  Feierlich- 
keiten1) durch  den  Schösser  an  den  Rektor  Plateanus.  Die  Kosten  aber,  die 
der  Stadt  durch  die  Einrichtung  des  neuen  Pädagogiums  und  namentlich  wohl 
auch  durch  einen  ausgedehnten  Umbau  des  Grünhainer  Hofes  erwuchsen,  waren 
so  bedeutend,  dafs  der  Rat  im  Vertrauen  auf  die  Zuneigung,  die  die  Ernestiner 
von  jeher8),  und  ganz  besonders  auch  der  damals  regierende  Kurfürst  Johann 
Friedrich,  der  Stadt  bewiesen  hatten,  auf  den  Vorschlag  des  Rektors  Plateanus 
und  einiger  anderen  Herren  den  Versuch  zu  machen  beschlofs3),  von  dem 
Kurfürsten  auch  die  400  fl.,  die  sich  noch  in  der  Verwahrung  des  Schössers 
befanden,  wenn  nicht  ganz  so  doch  wenigstens  zu  einem  guten  Teil  zu  be- 
kommen. Sei  es  nun  aber,  dafs  man  gleich  von  Anfang  an  der  Erfüllung 
dieser  Bitte  nicht  allzukühne  Hoffnungen  entgegenbrachte,  sei  es,  dafs  man  in 
dem  Umbau  keino  Verzögerung  eintreten  lassen  wollte,  man  beschlofs4)  bald 
nachher  auf  Ansuchen  des  Bürgermeisters  Lasan,  des  Ratsherrn  und  Schul- 
inspektors Dr.  Nather  und  des  Rektors  Plateanus  zum  Umbau  des  Grünhainer 
Hofes  eine  Anleihe  vom  'gemeinen  Gut'  d.  h.  aus  der  Stadtkasse  zu  bewilligen, 
bis  so  lange,  'dafs  man  die  alte  Schul  und  das  Schulhäuselein'  verkaufen 
könne,  aus  deren  Erlös  dann  die  Anleihe  zurückerstattet  werden  sollte.  Da 
nun  aber  der  völlige  Umbau  offenbar  mit  gröfseren  Kosten  verknüpft  war,  als 
man  ursprünglich  angenommen  haben  mochte,  so  fafste  man,  jedenfalls  um 
auch  vor  allen  Dingen  für  die  Unterbringung  der  fremden  Schüler  Raum  zu 
gewinnen,  Mittwoch  nach  Conversion.  Pauli  [31.  Januar]  15436)  den  Beschlufs, 
'erstlich  die  zwo  grossen  stuben  nach  aller  notdurfft  zu  bawen  vnd  zurichten 
zu  lassen',  während  die  übrigen  baulichen  Veränderungen  auf  die  folgenden 
Jahre  verteilt  werden  sollten.  Wie  die  Ratsrechnungen  ('Chammerbücher')  der 
folgenden  Jahre  ausweisen,  wurde  denn  auch  jedes  Jahr  eine  gröfsere  oder 
geringere  Summe  zum  Ausbau  der  Gebäude  verwendet.  Der  Umstand,  dafs 
die  Ausgaben  für  den  Schulbau  in  der  ersten  Bauperiode  1542/43  115  g/3o 
36  gr.  7  a  (ca.  330  fl.),  in  der  zweiten  Periode  1543/44  31  gßo  48  gr.  3  \ 


')  Vgl.  meinen  Plateanus  im  Zw.  Gymnaaialprogramm  v.  1878,  S.  22  f. 

*)  So  insbesondere  Kurfürst  Friedrich  der  Weise,  der  nach  einer  Mitteilung  des  kur- 
fürstlichen Diplomaten  und  ehemaligen  Zwickauer  Ratsherrn  Dr.  Georg  v.  Komerstadt 
einigen  Räten  gegenüber,  die  ihn  gegen  Zw.  einzunehmen  Buchten,  bemerkt«,  'er  wolle  Zw. 
vnuerderbet  haben,  Zwickaw  wahre  sein  klein  Venedig  (mit  Bez.  auf  die  die  Strafsen  der 
Stadt  damals  durchschneidenden  kleinen  Kanäle),  sie  Bollten  Zwickaw  zufrieden  lassen'. 
S.  meinen  Aufsatz:  'Die  Stadt  Zwickau  unter  den  Einwirkungen  des  Schmalkald.  Kriegs* 
in  Heft  I  d.  Mitteil,  des  Altertumsvercins  f.  Zwickau  u.  Umg.,  1887,  S.  2. 

s)  R  P.  v.  Sonnabend  nach  üalli  [21.  Okt.]  1642:   'Diewoil  ...  der  Schulmeister 
Mgr.  Plateanus  neben  etlichen  Herren  es  dafür  achten,  das  diese  vierhundert  Gulden  bei 
hochgedachtem,  vnserm  gnädigsten  Herren,  wo  nicht  gar,  jhe  etwas  auszubringen  sein  , 
solten,  Als  ist  beschlossen'  u.  s.  w. 

«)  R.  P.  v.  1542/48,  Bl.  19b.    'Dornstags  nach  Catharine  [30.  Nov.]  1542'. 

6,  R.  P.  v.  1542/43,  Bl.  31 b. 


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E  Fabian:  Die  Errichtung  eines  Alumnat*  an  der  Zwickauer  Schule  (1644)  31 

(ca.  90  fl.)  betrugen,  in  der  dritten  1544/45  aber,  wahrend  deren  dem  Rektor 
Plateanus  die  Rechnungsführung  über  den  Bau  obgelegen  zu  haben  scheint, 
auf  15  gßo  18  gr.  7  .\  (ca.  43  fl.)  herabgingen1),  deutet  darauf  hin,  dals  in 
dem  letztgenannten  Jahre  die  Arbeiten  sich  ihrem  Abschlüsse  näherten.  Es 
war  dies  um  so  notwendiger,  als  die  Zahl  der  Schüler  in  geradezu  erstaun- 
licher Weise  zunahm.  War  dies  auch  einerseits  höchst  ehrenvoll  für  die  Stadt 
und  ihre  Schule,  so  wurden  ihr  doch  dadurch  anderseits  auch  wieder  ganz  er- 
hebliche Opfer  auferlegt,  und  als  im  Jahre  1544  die  Schülerzahl  auf  800, 
darunter  485  Bürgerskinder,  stieg  und  sich  noch  stetig  mehrte,  so  wandte  sich 
der  Rat  wiederum  vertrauensvoll  an  den  Kurfürsten  und  entsendete  den  Bürger- 
meister Lasan  und  den  Rektor  Plateanus  an  den  Hof8)  mit  einem  Begleit- 
schreiben5), worin  die  Schulverhältnisse  der  Stadt  eingehend  dargelegt  waren. 
Ebenso  überbrachten  die  beiden  Abgesandten  des  Rats  dem  Landesherrn  ein 
Exemplar  der  Schulordnung  von  1537,  sowie  der  Hausordnung  für  das  Päda- 
gogium. Ihre  Aufgabe,  den  Kurfürsten  dazu  zu  bewegen,  der  Stadt  eine  Unter- 
stützung für  Lehrer  und  arme  Schüler  sowie  einige  Stipendia  für  das  neue 
Pädagogium  zuzuwenden,  war  nicht  ohne  allen  Erfolg.  Während  nun  zwar 
der  Kurfürst  durch  ein  Schreiben  vom  1.  November  die  Bitte  um  Verleihung 
einiger  Stipendien  ohne  weiteres  genehmigte4),  verlautet  dagegen  von  einer 
Unterstützung  der  Lehrer  nichts.  In  seinem  Dankschreiben5)  für  die  beiden 
gewährten  Stipendia,  die  für  angehende  Theologen  bestimmt  waren,  legt  der 
Rat  aufs  neue  dem  Kurfürsten  die  Lage  der  Schule  ans  Herz,  indem  er  nament- 
lich darauf  hinweist,  dafs  die  Anzahl  der  Bürgerskinder,  'so  in  die  schule 
gehen,  itziger  zceit  jn  die  vjC  ohne  die  frembden'  betrage. 

So  war  denn  unter  der  Leitung  eines  mit  aufserordentlichen  Lehrgaben 
und  einem  ganz  ungewöhnlichen  organisatorischen  Talent  ausgestatteten  Schul- 

l)  'Chammerbuch'  v.  1542/43,  Ausgabeteil,  S.  7,  ebenda  1548/44,  S.  7.  Im  Chammcr- 
buch  von  1644/45,  Ausgabeteil,  8.  7  heifBt  es:  xv  gute  fio  (Schock)  xviij  gr.  vij  hat  der 
Schulmeister  Mgr.  Petrus  Plateanue  verrechent,  ausgegeben  zu  notdurfft  des  Schulbaws  in 
Griinhayner  Hoff,  an  einem  priuet  vnd  anderm'  —  — .  In  den  beiden  Vorjahren  war  'Er 
Lorentz  Schnabel  verordenter  vorwalter  des  Schulbawes  jm  Grünhayner  Hoff*. 

*)  Von  dieser  Reise  berichtet  uns  nur  das  sogenannte  'Chammerbuch'  (Ratsrechnung) 
von  Mich.  1643  bis  ebendahin  1544,  Ausgabeteil,  8.  17: 

'Sonnabend  nach  Sebaldj 
iiij  gßo  vnd  xxxüj  gr.  haben  der  Burgermeister  Er  Oswald  Lasan  vnd  Magister  Petrus 
Plateanus  selbdritt  mit  zweyen  pferden  zwelff  tage  verzert,  als  sie  dor  Stipendien  halben 
zum  Newen  padagogio  vnd  vmb  einen  Schulgehülffen  ann  Magister  Nicolaen  Rudolphi  stat 
nach  Torgaw  vnd  Wittenbergk  abgeferttiget  seind  worden.    Das  fürlohn  mitgerechnet. ' 

*)  S.  meinen  Plateanue  S.  32,  Beil.  H.  Gleichzeitig  verwendete  sich  auch  der  Rat 
für  seine  Jungfrauschule,  'drinnc  eine  grofse  antzal  Jungkfreulein  oder  Meidloin  stets  sein, 
Christlich  vnd  wol  geleret  vnd  ertzogen  werden'.  —  Die  Hausordnung  für  das  Pädagogium 
wird  im  nächsten  Hefte  folgen. 

*)  Vgl.  meine  Veröffentlichung  'Zwei  kurfurstl.  Begnadungen'  u.  a.  w.  in  den  Mitteil, 
des  Altertums  Vereins  für  Zw.  u.  U. ,  Heft  III,  wo  Seite  44  die  betreffende  Urkunde  ab- 
gedruckt ist. 

•)  Dat.  Mitwochs  am  Tage  Elisabethao  [19.  Nov.J  1544.  Abschrift  im  Copeybuch 
Nr.  19  (R.-A ,). 


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32       E.  Fabian:  Die  Errichtung  eine«  Alumnats  an  der  Zwickauer  Schule  (1644) 


marines1),  wie  es  Petrus  Plateanus  nach  allen  uns  üHcrlit'fcrtcn  Züuinussen  un- 
streitig gewesen  sein  mufs,  die  Zwickauer  Schule  au  einer  Blüte  und  zu  einem 
Ansehen  gelangt,  dafs  sie  den  Vergleich  mit  keiner  andern  Schule  weit  und 
breit  zu  scheuen  brauchte. 


Bericht  des  Bürgermeisters  Osw.  Lasar»  an  den  Kurfürsten  Joh.  Friedrich 

Durchlauchtigster  vnd  Durchlauchter,  Hochgeborne  Fürsten  vnd  Herren.  Inn  kurtz- 
verschiener  zeit  jst  E.  Chur.  vnd  f.  g.  zu  derselben  eignen  banden,  eine  schrillt  von  mir 
zugestellet,  darjnnen  allerley  notwendige  Artickel  vermeldet,  dadurch  e.  Chur  vnd  f.  g. 
gemeyner  Stad  Zwickaw,  meinem  Vaterland,  viel  nutzes  zuentepringen  verhoffende,  wo 
von  e.  Chur  vnd  f.  g.  dieselbigen  Artickel  gnediglich  bewogen  vnd  denen  nachgesatzt  würde, 
wie  mir  gar  nicht  zweiffei,  E.  Chur  vnd  f.  g.  werden  darob  ein  gnediges  bedencken  haben 
vnd  gnediglich  verschaffen,  daB  es  zu  guttem  ende  gereiche.  Dieweil  ich  aber  eigentlich 
weifs,  das  dieselbige  e.  Chur  vnd  f.  g.  aus  sonderlicher  Gütlicher  Verleihung  zu  forderung 
gemeynes  nutzes  der  Schulen  vnd  Gottesdienste  geneigt,  hab  ichs  nicht  vnterlasaen  sollen 
vnd  wollen,  E.  Chur  vnd  f.  g.  nach  einen  Artickel,  der  jhe  so  notwendig  als  die  andern 
zuuermelden,  neinlich  wie  die  weitberuffene  Schule  e.  Chur  vnd  f.  g.  Stad  Zwickaw  jnn 
ein  gröfser  auffnehmen,  denselben  e.  Chur  vnd  f.  g.  zu  hohen  ehren,  ewigem  rühm  vnd 
preils,  mochte  gebracht  werden,  Vnd  do  e.  Chur  vnd  fürst,  g.  jhne  diese  sache  auff  meine 
anzeige  zu  gemute  gehen  lassen  wurden,  wie  ich  zu  dem  ewigen  barmbertzigen  Gotte  ver- 
hoffe, geschehen  soll,  wüste  ich  nicht,  was  ich  auff  erden  besseres  hette  ausrichten  mügen, 
Dann  ich  mich  schuldig  erkenne,  aUes  das,  was  zu  wolfart  meines  Vaterlandes  thut  ge- 
reichen, nichtes  zu  vnterlasaen,  Demütig»  vnterthenigs  vleisses  bittende  E.  Chur  vnd  f.  g. 
wolten  darob  kein  vngnedigs  misfaUen  tragen,  Sondern  jnn  gnaden  denselbigen  folgende 
Artickel  auch  gnediglich  zu  gemut  füren  vnd  ernstlich  bedencken. 

Nachdem  auff  schierstkomend  Michaelis  aus  gnediger  E.  Chur  vnd  f.  Durchlauchtig- 
keiten  Verschaffung  der  Grünhayner  Hoff  alhie  zu  Zwickaw,  dem  Radth  heymfaUen 
wirdet,  denselbigen  zur  Schulen  zugebrauchen,  vnd  vnser  Schulmeister  Magister  Petrus 
Plateanus  mit  zeitigem  Radthe  der  ernwirdigen  hochgelarten  herren  Martini  Luthers, 
der  heiligen  Schrifft  Doctoris,  vnd  Magistrj  Philippj  Melanchthonis  jhme  furgenommen 
hat,  den  jungen  knaben  zum  besten  vnd  sonderlich  für  arme  Stadkinder  vnd  andere,  so  zu 
Studiren  geschickt,  ein  Pedagogium  anzurichten,  wie  er  dann  solches  begrieffen  hat,  vnd 
auffs  papir  etlicher  masse,  wie  beiliegend  zu  befinden,  entworffen  vnd  zum  anheben  solches 
notigen  ehrlichen  wercks,  welchs  vnser  lieber  Gott  fördern  wolte,  etwas  fürhanden  sein 
mufs,  Als  ist  an  Ewer  Chur  vnd  f.  g.  mein  vnterthenigst  bitten,  dieselben  wolten  gnedigst 
erscheinen,  vnd  dis  Gütliche  lobliche  werck  gnediglich  auff  folgende  wege  helffen  fördern, 
Ihnen  auch  gnedigst  gefallen  lassen,  vnd  hieran  dem  ewigen  Gotte  zu  ehren,  lob  vnd 
preifs,  Landen  vnd  leuten  zu  ewigem  nutz,  gedeyen  vnd  auffnehmen,  ein  sonderlich  ruhm- 
lich gestifft  vnd  Schulen  anrichten.  Denn  wo  derselben  e.  Chur  vnd  f.  g.  vnterthanen,  die 
vom  Adel,  Bürgere  vnd  andere,  derselben  Ihrer  Chur  vnd  f.  g.  zu  solchem  wercke  gneigten 
willen  vermercken,  werden  sonder  zweiffei  jhr  viel  sein,  die  ihre  almosen  vnd  Testament 
auch  hierzumachen  werden,  Vntertheniger  tröstlicher  zuueraicht,  E.  Chur  vnd  fürstliche 
Durchlauchtigkeit  werden  sich  hierauff  gnedigst  erzeigen  vnd  folgende  Artickel  jnn  gnaden 
vermercken.    Erstlich  Nachdem  E.  Chur  vnd  f.  g.  obgnantem  vnserm  Schulmeister  eine 


')  S.  meinen  Plateanus,  S.  16  f.  Von  den  zahlreichen  daselbst  vorgebrachten  Zeug- 
nissen sei  nur  das  von  Balthas.  Menk  angeführt:  'Laudem  et  celebritatem  scholae  Cygnensis 
non  tantum  tutatus  fuit,  sed  etiam  amplifieavit  .  .  .  M.  Petrus  Plateanus,  pietate  et  doc- 
trina  praestantissimus  vir,  quo  viro  illis  temporibus  hae  terrae  non  habuerunt 
inagistrum  et  artificem  magis  industrium  et  feliciorem  in  educatione  puerili 
ueque  inutruetiorem  omnibus  iis,  quibus  ad  haue  opus  est.' 


A 


E  Fabian:  Die  Errichtung  eine«  Alumnat«  an  der  Zwickauer  Schule  (1644)  33 

Thumerey  jm  Stießt  Aldenburgk  alle  dieweil  er  alhie  die  Schule  regirt,  gnediglich  folgen 
lauen,  das  das  einkomen  derselbeu  Thumerey,  wie  es  dieser  itzige  hat,  für  den  Schul- 
meister möchte  perpetuirt  werden. 

Zum  Andern,  Dieweil  dis  rurhaben  am  meisten  armen  knaben,  die  da  gemeyniglich 
|  treffliche  feine  Ingenia  haben,  au«  not  oder  gebrechen  der  narung  jemmerlich  verterben 
müssen,  Das  E.  Chur  vnd  f.  g.  zum  anfange  gnediglich  verschaffen  w ölten,  das  von  dem 
getreydewachs  der  Carthausen,  bey  Cry mm itzschaw  gelegen,  jherlich  Sechtzigk  scheffel 
kora  vnd  waitz  hierzu  gereicht  wurden.  Dann  dieselbige  Carthause,  wie  E.  Chur  vnd 
f.  g.  sich  gnediglich  suerjnnern  haben,  von  einem  Bürger  alhie  Federangel  gnant,  ge- 
stifftet,  erbawet  vnd  mit  grossen  zinsen  vnd  einkomen  von  dem  seinen  auffgericht  vnd  ver- 
sehen worden. 

Zum  Dritten,  Nachdem  vnaere  vorfaren  alhie  jnn  E.  Chur  vnd  f.  g.  Stad  Zwickaw 
mgefehrlich  jnn  die  Sechtzigk  lehen  gestifftet,  welcher  einkommen  itzo  jnn  Gemeynen 
kästen  geschlagen  vnd  die  Reseruat  etzlicher  belehnter  Priester  jherlich  widder  anheym 
fallen,  Das  Ewer  Chur  vnd  f.  g.  gnedigst  verschaffen  wolten,  das  zu  solchem  wercke,  do 
jnn  die  sechshundert  Schuler  bey  handen,  vber  die  geordente  besoldung  der  Schulendiener 
noch  jerlich  Einhundert  gülden  aus  dem  Gemeynen  kästen  möchten  gereicht  werden.  Dann, 
Gotte  sey  lobe,  solches  ohne  abbruch  der  besoldung  der  kirchen-  vnd  Schulendiener,  auch 
des  Armuta  wohl  mag  geschehen,  jnn  sonderlichem  bedencken,  das  dieselbigen  Stiefftere 
jhr  ahnosen  furnehmlich  den  einwohnern  dieser  Ewer  Chur  vnd  f.  g.  Stad  zum  besten  ver- 
ordenet  haben,  Wie  solches  jhre  stifftbrieffe  vnd  Confirmationes  klar  ausweisen  vnd  mit- 
bringen. 

Zum  Vierden,  Nachdem  der  Grunbayner  Hoff  auff  niderlegung  der  dreyhundert  gülden 
Gemeyner  Stad  zur  Schulen  folgen  solle,  wie  solches  E.  Chur  vnd  f.  g.  gnedigste  befehle 
anzeigen  vnd  vermelden,  Das  E.  Chur  vnd  f.  g.  so  gnedigst  erscheinen  wolten  vnd  dieselben 
dreyhundert  gülden  als  zun  grundstein  der  Stiefftung  gnediglich  folgen  lassen,  Also  das 
der  Radth  vnd  Gemeyne  Stad  alhie,  dieselbigen  dreyhundert  gülden  haubtsum  jherlich 
mit  funffzehen  gülden  verzinsen  mochten,  Dann  es  gewis  andern  vom  Adel  vnd  sonderlich 
wolhabenden  Burgern  anleytung  vnd  reytzung  geben  wurde,  jhr  almosen  auch  hierzu  zu 
verschaffen  vnd  die  Schulen  jnn  jhren  Testamenten  zu  bedencken. 

Ewer  Chur  vnd  f.  g.  wolten  dis  alles  gnedigst  erwegen  vnd  auch  gnedigst  fördern  jnn 
ansehung  vnd  betrachtung  des  nutzes,  der  hieraus  Landen  vnd  leuten  vnd  furnehmlich  der 
armen  vnuersorgten  jugend  folgen  mufs  vnd  aus  Verleihung  Gottes  gnaden  itzo  vnd  zu 
ewigen  zeitten  folgen  wirdet. 

E.  Chur  vnd  f.  g. 

vntertheniger 
gehorsamer 

Oswald  Lasan  zu 
Zwickaw  Burger. 

B 

Schreiben  Philipp  Melanchthons  an  den  Kurfürsten 

(2.  Januar  1542) 

Gottes  gnad  durch  vnsern  heim  Jhesum  Christum  zu  uor,  Durchleuchtister  Hoch- 
geborner  gnedigster  churfurst  vnd  herr,  E  c  f  g  wort  die  notturfft  der  Schul  zu  Zwicka 
vntertherüglich  furbracht  vnd  das  eB  notturfft  sey,  habe  ich  solchs  Belb  gesehen,  nemlich 
du  die  gemach  jn  der  ietzigen  Schul  so  eng  Bind ,  das  ein  grosser  hauff  vor  den  stuben 
bleiben  mufs,  welches  jm  winter  dem  jungen  volk  an  der  gesnntheit  schaden  bringet,  so 
macht  eB  auch  sunst  Verhinderung.  Denn  es  sind  bey  sechfshundert  knaben,  jtem  die 
4        frembden  armen  knaben  haben  nit  wohnung. 

Vnd  so  jung  volk  jn  einer  behausung  beysamen  wohnen  soll,  ifs  zum  hohisten  von 
toten,  das  es  ein  vff  sehen  vnd  Regiment  habe,  solch  gesind  jn  zucht  vnd  jn  einer  Ordnung 
«i  balden.  Nu  habe  ich  das  bedencken  von  solcher  Schulordnung,  bo  an  E  c  f  g  jn  vnter- 
X«m  JaLrbftcbm-    189«.   II.  3 


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34        E.  Fabian:  Die  Errichtung  eines  Alumnat*  an  der  Zwickauer  Schule  (1644) 


thenikeit  gelanget,  besehen  vnd  ist  so  viel  ich  verstehe  notturfftiglich  bewogen.  Diweil 
denn  E  c  f  g  als  ein  hochloblicher  vnd  christlicher  churfurst  wissen,  das  zu  erhaltung 
christlicher  lahr  rechte  bestellung  der  Schulen  von  nödten  ist,  wissen  auch  gelegenheit  der 
ehrlichen  Stat  Zwicka,  vnd  zu  hoffen,  das  ertlich  Burger  yhr  Elemosynen  an  dises  werk 
wenden  werden,  Bitt  ich  auch  in  vnterthenikeit  E  c  f  g  wollen  sich  hierin  gnediglich  gegen  £i 
bemelter  Stadt  erzeigen.  Es  wollen  sunst  die  Schulen  jn  allen  landen  dünn  vnd  swach  i 
werden,  vnd  sind  vns  ictzund  leider  viel  gelarter  vnd  gottforchtiger  menner  vnd  gesellen 
am  Rhein  gestorben,  da  man  nit  der  gleichen  hatt  nach  zu  setzen,  vnd  wirt  seer  viel  jn 
E  c  f  g  land  vmb  personen  geschriben.  Darumb  bitt  ich  vntertheniglich  E  c  f  g  wolle 
gemeiner  Christenheit  zu  gut  yhrer  vnterthanen  schuler  des  gnediger  furderung  erzeigen, 
welches  gott  reichlich  belohnen  wirt.  Gott  bewar  E  c  f  g  allezeit.  Dat.  Witeberg 
2  Januarij  1642 

E  c  f  g  vntertheniger 
Diener 

Philippus  Melanthon. 

Dem  durchleuchtisten,  hochgebornen  fursten  vnd  herrn,  herrn  Johansfridrich, 
Churfursten,  hertzogen  zu  Sachsen,  Landgrauen  jn  Duringen  Marggrauen  zu  meisten 
vnd  Burggrauen  zu  Magdeburg,  meinem  gnedigsten  herrn. 

C 

Schreiben  des  M.  Petrus  Plateanus  an  den  Kurfürsten 

Durchlauchtigister  Hochgeborner  Churfurst,  Gnedigister  her.  Was  vnd  wieviel  gmeiner 
Christenhait  an  dem,  das  die  Jugent  baydes  in  der  gotaelikeyt  vnd  guten  künsten  recht- 
schaffen auffertzogen  vnd  vnderweiBet  werde,  gelegen,  Ist  E.  Churf.  G.  Got  lobe  vnuerporgen. 
Als  wil  meines  wenigen  Verstandes  der  Obrikayt  vnther  andern  ires  Ampts  befohlen, 
rhumlicb  sein  die  bestellung  tzu  thucn,  dormit  die  ihenen,  die  mit  solchem  wergk  beladen 
vnd  des  mit  vleys  apwarten,  nicht  allein  die  tzeit  vber  vnd  diweil  sie  demselben  wergk  ob- 
liegen, Sonder  auch,  wen  sie  nhun  dem  von  wegen  ires  altere  ader  schwacheit  nicht  mehr 
fursein  können,  mit  tzitnüchem  vnterhalt  vorsehen  werden.  Diweil  mich  dan  der  Almecbtige, 
vnnser  her  vnd  Got,  in  dieso  mühe  gesteckt  vnd  dem  nhun  etliche  Jahr  in  andern  Stetten 
vnd  alhier  in  E.  Churf.  G.  stadt  Zuicka  obgelegen,  wil  mir  nicht  gepüren,  mit  was  ge- 
trewem  vleis  vnd  rhum,  auch  mit  was  gedeihe  das  geschehn,  zu  melden,  Sonder  ich  wila 
andere  der  Bachen  vorstendige,  ja  auch  das  wergk  selbst  besagen  lassen,  vnd  were  noch 
wol  gnaigt,  mich  darjnnen  furder,  solang  es  Got  gefellig  vnd  mir  möglich,  mit  allem  ge- 
purenden  vleis  alhier  geprauchen  tzu  lassen,  wen  ich  allein  vff  tzeit,  so  ich  der  arbeit 
nicht  mehr  fürsein  könte,  ein  tzimliche  ratterhalt  für  mich,  mein  weib  vnd  kinderlein 
haben  möchte.  Die  aber  tzu  erlangen,  weis  ich  kaine  andere  tzuflucht  dan  zu  E.  Churf.  G. 
tzu  haben.  Vnd  biete  derowegen  zum  demütigistcn,  E.  Churf.  G.  wolten  mich  ans  sondern 
gnaden  mit  einer  prebend  im  Stiefft  Aldenburg  vff  mein  leben  vorsehen.  Darkegen  bin 
ich  erpötig,  bey  der  Schuel  alhier,  solang  es  Got  gefellig  vnd  ich  die  arbayt  vormagk,  tzu 
pleiben,  alle  meinen  vleis  darauff  tzu  wenden,  darmit  die  Jugent,  so  mir  befolen  (vnther 
denen,  Got  lobe,  Grafen,  hern,  Ritter  vnd  Edelleut  kinder  seint)  Christlich  vnd  wol,  So 
viel  Got  gnade  verleihet,  mögen  ertzogen  werden.  Das  wirdt  E.  Churf.  G.  rhumlicb  sein.  So 
wil  ichs  in  aller  vnderthenikeit  zuuordieveu  nicht  vorgessen,  Gnedigister  antwort  gewartent 

E.  Churf.  G. 

gantzwilligister 
Diener 

Petrus  Plateanus  Schul- 
meister alhie  tzu  Zuicka. 
iSchlufs  folgt.)  \ 


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DIE  AUFGABEN  DER  LITTERATÜRGESCfflCHTE 

Von  Alfred  Biese 

Vor  langen  Jahren  safs  ich  als  grüner  Student  zu  den  Füfsen  eines  be- 
geisterten Hegelianers;  er  gehörte  zu  den  letzten  Säulen;  'und  diese,  schon  ge- 
borsten, kann  stürzen  über  Nacht',  lautete  der  Refrain  manches  ketzerischen 
Jüngers,  so  sehr  wir  auch  mit  Liebe  zu  dem  ehrlichen,  von  Idealen  erfüllten 
Manne  aufschauten.  Der  trug  uns  also  Wesen  und  Bedeutung  einer  'Encyklo- 
pädie  der  philosophischen  Wissenschaften*  vor.  Diese  —  so  hiefs  es  im 
zweiten  Kapitel  des  diktierten  Heftes  —  'befriedigt  allein  die  Grundnatur  des 
Studierenden,  nämlich  das  systematische  Bewufstsein;  dieses  Kapitel  eröffnet 
uns  in  überraschender  Weise  neue  Blicke  in  die  innere  Natur  des  Menschen, 
in  die  Geschichte  der  Menschheit,  in  das  Wesen  der  Philosophie,  in  unsere 
Muttersprache,  und  ist  vor  allem  begründet  auf  dem  Verständnis  eines  einzigen 
Wortes,  welches  Entwickelung  heifst'.  Noch  heute  steht  vor  mir  in  der 
Erinnerung  der  edle  Mann  mit  dem  feinen,  von  weifsem  Bart  umrahmten 
Gesicht,  wie  er  mit  dem  Kneifer  beim  Vortrage  tändelt  und  dann  in  lebhafter 
Bewegung  die  Kreide  ergreift,  um  die  Wichtigkeit  dieses  Begriffes  in  Kurven, 
die  vom  Nichtsein  durch  das  Werden  hindurch  zum  Sein  führen,  in  des  Wortes 
eigenstem  Sinne  uns  anschaulich  zu  machen.  Bald  aber  galt  es  wieder,  die 
Feder  ergreifen  und  nachschreiben:  'Dieser  Begriff  der  Entwickelung  ist  so 
reich,  dafs  sich  ergeben  wird,  dafs  folgende  Ausdrücke  sämtlich  in  ihm  ent- 
halten  sind  und  nur  durch  ihn  und  mit  ihm  verstanden  werden  können.'  Ein 
leiser  Schwindel  fafste  uns,  als  nun  aufmarschierten  in  geschlossenen  Kolonnen 
die  stolzen  Begriffe:  'Abstrakt,  konkret,  Möglichkeit,  Wirklichkeit,  potentia, 
actu,  prius,  das  Ansichsein,  das  Fürsichsein,  Anfang,  Ende,  das  Werden,  Moment, 
Negation,  Position,  Negativität,  das  Unvollkommene,  Vollkommene,  Dialektik, 
immanente  Bewegung,  Verstand,  Vernunft',  und  so  ging  es  noch  eine  Weile 
weiter,  bis  schliefslich  das  systematische  Bewufstsein  den  gewaltigen  Bau 
krönte,  über  den  ab  Kuppel  sich  wölbte  der  Allerweltsbegriff,  das  Zauber- 
schlagwort Entwickelung.  Schon  damals  schmerzte  den  an  Ideen  reichen  Mann 
das  Schwinden  des  systematischen  Bewufstseins,  d.  h.  nicht  nur  der  Verfall  der 
Philosophie,  die  für  ihn  in  Hegel  ihren  Gipfel  gefunden  hatte,  sondern  auch 
^  da«  Vorherrschen  geistloser  Spezialstudien,  besonders  auf  dem  Gebiete  der 

Literaturgeschichte.  Aber  was  würde  er  erst  in  dem  späteren  Jahrzehnt 
gesagt  haben,  als  die  Flut  der  Zeitschriften  ins  Ungemessene  wuchs,  als  immer 

'69 


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3G 


A.  Biese:  Die  Aufgaben  der  Litterftturgeachichte 


lauter  der  Ruf  nach  Arbeitsteilung,  nach  Detail,  nach  Notizen,  nach  Samm- 
lungen erscholl,  als  man  sich  mühte,  naturwissenschaftliche  Begriffe  auf  die 
Geisteswissenschaften  mit  gewisser  Koketterie  zu  übertragen,  als  man  die 
Zauberformel  Entwicklung  in  eine  mechanische  Evolution  umschmolz,  Darwinsche 
und  Spencersche  Gedanken  bei  der  Maulwurfsarbeit  als  Richtschnur  wählend, 
als  die  Aufgabe  der  Literaturgeschichte  immer  mehr  in  der  Einbalsamierung 
längst  verwester  Leiber,  in  der  'Rettung*  kleiner  und  kleinster  Geister  gesucht 
wurde,  als  das  Cliquen-  und  Koterienwesen  immer  mehr  wuchs  und  gerade  die 
trennte,  welche  auf  demselben  Geistesboden  Schulter  an  Schulter  hätten  streiten 
sollen.  Und  auch  heute,  wo  freilich  manches  auf  bessere  Zeiten  schon  hin- 
deutet, würde  er  am  Ende  in  die  Worte  ausbrechen:  'Meine  Herren!  Unserer 
Zeit  fehlt  vor  allem  das  systematische  Bewufstsein,  der  hohe,  adlergleiche  Flug, 
der  sich  über  die  Einzelerscheinungen  emporhebt  zum  Allgemeinen,  zu  Ideen! 
Vor  lauter  Bäumen  sieht  man  den  Wald  nicht;  man  verrennt  sich  im  Dickicht; 
kein  Lichtstrahl  dringt  von  oben  erhellend  und  erwärmend  hinein.  Die  physische 
Atmosphäre  ist  von  Bazillen  erfüllt,  die  wir  endlich  erkannt  haben  und  nun 
bekämpfen,  die  geistige  aber  wird  nicht  minder  von  schlimmen  kleinen 
Bazillen  beherrscht,  die  wir  selten  erkennen  und  noch  seltener  bekämpfen;  ich 
kann  sie  unter  einem  Sammelnamen  zusammenfassen,  als  die  —  Seuche  des 
Spezialismus.'  Und  er  würde  wieder  zur  Kreide  greifen  und  Kurven  zeichnen, 
die  vom  Sein  durch  den  Begriff  der  geistesarmen  Langeweile  und  der  Ver- 
wesung zum  Nichtsein  führten,  und  würde  wieder  eine  Unsumme  von  Wörtern 
diktieren,  die  alle  unter  jenen  unheilvollen  Begriff  des  Speziabsmus  fallen,  wie: 
konkret,  aber  unwirklich,  fleifsig,  aber  beschränkt,  anmafsend,  eingebildet, 
GrÖfsen Wahnsinn ,  Eifersucht,  Neid,  Bosheit,  Götzendienst,  Buchstabenklauberei, 
Kritikasterei ,  Banausentum,  Epigonentum  und  andere  Ungetüme,  Alexandrinis- 
mus,  Byzantinismus,  Scholastizismus,  Gottschedianismus,  Doktrinarismus  und 
andere  -ismusse,  Homero-,  Shakespeare-,  Goethe-,  Heine-Manie  u.  s.  w.  'Alles 
das  liegt,  m.  H.,  im  Keime  im  Spezialismus  begründet,  in  dem  Mangel  an 
systematischem  Bewufstsein/ 

Und  ist  es  nicht  wahr,  dafs  bei  all  dem  Anwachsen  der  Detailkenntnis, 
bei  der  überwuchernden,  anatomisierenden  Induktion  die  zusammenfassende 
Synthese  nur  selten  sich  findet,  natürlich  auch  deshalb  schon,  weil  sie  durch 
die  Fülle  des  Stoffes  erschwert  ist,  aber  vor  allem  doch,  weil  unserer  ganzen 
Zeit  der  Charakter  der  Empirie,  des  Eklektischen,  des  Haftens  an  Einzelnem, 
des  Mangels  an  wahrhaft  befreienden  Ideen  geschlossener  Systeme  fehlt? 

Wir  haben  eine  Fülle  von  Literaturgeschichten  über  die  modernen  und 
die  antiken  Volker.  Aber  bei  der  grofsen  Mehrzahl  fehlt  eben  'das  systematische 
Bewufstsein',  fehlt  das  philosophische  Grundprinzip.  Und  dieses  kann  die 
Literaturgeschichte  eines  Volkes  nur  als  einen  Teil  seiner  gesamten  Geistes- 
geschichte auffassen,  den  einzelnen  schaffenden  Geist  nur  als  Sohn  seiner  Zeit 
und  zugleich  als  eine  sich  entwickelnde  individuelle  Persönlichkeit.  Daher  ist 
es  nicht  gethan  mit  Daten  und  Titeln,  mit  Inhaltsangaben,  mit  biographischem 
Detail;  sondern  Verstehen  ist  im  höchsten  Sinne  Nachschaffen,  Nachempfinden, 


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A.  Biene:  Die  Aufgaben  der  Literaturgeschichte  37 

sich  in  eine  Seele  mit  eigener  Selbstaufopferung,  mit  Selbstvergessen  versenken. 
So  mufs  ein  Literarhistoriker  die  Seele  des  Volkes,  das  er  behandelt,  in  ihrem 
allmählichen  Erwachen,  in  der  Fülle  ihres  Lebens  belauschen,  mufs  sich  in  die 
Seele  dos  Einzelnen  vertiefen,  ihre  Wandlungen  aufspüren;  er  mufs  den  psycho- 
logischen Stimmungen,  Gefühlen,  Motiven,  soweit  sie  einen  Niederschlag  finden 
in  Poesie  und  Prosa,  nachgehen,  mufs  die  Verschlingungen  religiöser,  ethischer, 
sozialer  Regungen  der  Volksseele  mit  den  ästhetischen  aufweisen,  und  das  alles 
nicht  von  der  'Froschperspektive'  eines  Volkes,  einer  Einzelepoche  aus,  sondern 
von  dem  umfassenden  Gesichtspunkte  der  Weltliteratur,  der  vergleichenden 
Litteraturge8chichte. 

Eine  Litteraturgeschichte  mufs  auf  Völkerpsychologie  sich  gründen,  mufs 
einen  Teil  der  vergleichenden  Poetik  bilden;  sie  mufs  das  Werden  der  sprach- 
lichen und  metrischen  Formen  und  ihre  Verkettung  mit  dem  Gedanken-  und 
Gefiihlsgehalt  schildern;  sie  mufs  die  Einzelerscheinung  unter  den  Gesichts- 
punkt des  Allgemeinen  rücken,  sei  diese  eine  linguistische  oder  ästhetische;  sie 
mufs  den  Mikrokosmus  der  einzelnen  Individualität  nur  als  ein  Glied  des 
Mikrokosmus,  d.  h.  jener  unendlichen  Kette,  welche  Vergangenheit  und  Gegen- 
wart verbindet,  und  zugleich  als  Spiegelbild  seiner  Zeit  verstehen.  Erst  sub 
ffpecie  aetemitatis  gewinnt  die  Litteraturgeschichte  ihre  Aufgaben,  die  ihr  als 
Wissenschaft  des  geistigen  Menschen  gebühren. 

Wir  stehen  zumeist  noch,  wie  die  Literaturgeschichten  zeigen,  unter  dem 
Baiine  einer  Philologie,  die  Buchstabendienst  bedeutete;  sie  ist  nur  bei  wenigen 
Auserwahlten  frei  von  diesem  und  von  Notizenkram  und  hat  nur  Belten  zu 
jener  Höhe  geführt,  welche  die  Wechselwirkung  von  Stoff  und  Individuum, 
▼on  Allgemeinem  und  Einzelnem  überschaut,  welche  die  einzelne  Dichtung  als 
Bruchstück  eines  ganzen  reichen  Innenlebens  und  dieses  selbst  wieder  als  Glied 
der  grofsen  Kette,  die  da  Volk,  die  da  Menschheit  heilst,  betrachtet.  Die 
Wissenschaft  der  modernen  Literaturen  verlor  in  ten  Brink  den  berufensten 
Darsteller,  die  der  antiken,  besonders  der  griechischen,  jüngst  in  Erwin  Rohde, 
dessen  Geschichte  des  griechischen  Romans  und  dessen  (in  2.  Auflage  er- 
schienenes) Werk  'Psyche'  Musterleistungen  sind;  weit  hervor  ragen  ferner  in 
der  griechischen  Litteraturforschung  die  leuchtenden  Namen  Ulrich  von 
Wilamowitz-Möllendorff  und  Hermann  Usener;  ich  nenne  von  diesem 
nur  die  'Religionsgeschichtlichen  Untersuchungen',  von  jenem  den  Herakles 
und  den  Hippolytos  des  Euripides.  Dies  sind  wegweisende  Einzelarbeiten,  in 
denen  die  Sprachkenntnis  eines  Gottfried  Hermann  mit  dem  ideenreichen 
Geiste  eines  Welcker  und  Otto  Jahn  sich  vermählt. 

Um  aber  im  Sinne  dieser  Grofsen  eine  Gesamtdarstellung  der  Litteratur- 
geschichte der  Griechen  zu  schreiben,  dazu  bedarf  es  zunächst  der  Sichtung 
des  Riesenstoffes,  den  der  Forschungseifer  der  letzten  Jahrzehnte  zusammen - 
getragen  hat,  es  bedarf  der  Handbücher.  Ein  solches  haben  in  streng 
philologischer  Weise  und  in  dieser  Beschränkung  mustergültig  Wilh.  Christ 
für  die  griechische  und  Martin  Schanz  für  die  römische  Literatur  geliefert 
in  dem  grofsen  von  Iwan  v.  Müller  geleiteten  Unternehmen  (Beck,  München); 


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38 


A.  Biese:  Die  Aufgaben  der  Lilierat  Urgeschichte 


dafs  sie  dem  Jünger  der  Wissenschaft  zuverlässige  Führer  durch  die  Fülle 
von  Thatsachon,  Daten,  Notizen  geworden  sind,  beweisen  die  neuen  Auf- 
lagen. Doch  den  höheren  und  höchsten  Anforderungen  der  vergleichenden, 
der  psychologisch-ästhetischen  Litteraturbetrachtung  fühlen  auch  sie  sich  nicht 
gewachsen. 

Doch  was  heifst  vergleichende  Litteraturbetrachtung?  Goethe  war  der 
erste,  der  den  Begriff  und  das  Wort  *  Weltliteratur'  entdeckte;  ihm  ist  Litteratur 
'das  Fragment  der  Fragmente:  das  Wenigste  dessen,  was  geschah  und  ge- 
sprochen worden,  ward  geschrieben;  vom  Geschriebenen  ist  das  Wenigste  übrig 
geblieben;  und  doch  bei  aller  Unvollstandigkeit  des  Litterarwesens  finden  wir 
tausendfältige  Wiederholung,  woraus  hervorgeht,  wie  beschrankt  des  Menschen 
Geist  und  Schicksal  sei'. 

Dies  weist  uns  hin  auf  eine  vergleichende  Literaturgeschichte,  auf  die 
'Vogelperspektive',  von  der  aus  wir  die  verschiedenen  Litteraturen  verschiedener 
Zeiten  überschauen  und  die  Einzelfragen  unter  den  Gesichtspunkt  des  All- 
gemeinen rücken.  Wie  es  keine  wissenschaftliche  Geschichte  der  Philosophie, 
der  Ethik  oder  Soziologie  u.  s.  w.  geben  kann  ohne  den  Gesichtspunkt  der 
Vergleichung,  wie  wir  schlicfslich  in  unserem  Denken  und  Urteilen  bei  der 
Betrachtung  vergangener  Begebenheiten  und  Zustande,  entschwundener  Bräuche, 
Sitten,  Anschauungen  stets  den  Mafsstab  eigener  Erfahrung,  eigenen  Erlebens, 
eigener  Geistesrichtung  anlegen  müssen,  d.  h.  also  wie  wir  nur  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  objektiv,  mit  Selbstvergessen,  Fremdes  beurteilen  können,  so 
stellt  auch  jede  Litteraturbetrachtung  uns  vor  die  Aufgabe,  die  Zusammen- 
hänge mit  anderen  Litteraturen,  ihre  Wechselwirkung,  die  gegenseitige  Be- 
fruchtung mit  Ideen,  Motiven,  Anschauungen  aufzudecken. 

Die  griechische  Litteratur  weist  uns  auf  die  Wechselbeziehung  von  Asien 
und  Europa,  speziell  von  Kleinasien  und  Griechenland;  ja  die  Fabel  weist  wohl 
nach  Ägypten  und  Indien  zurück.  Aber  die  griechische  Litteratur  ward  früh 
selbständig  und  somit  das  Ideal  einer  nach  inneren  Gesetzen,  'in  immanenter 
Bewegung'  —  sagt  der  Hegelianer  —  sich  entwickelnden  Litteratur;  so  originell 
wie  diese  ist  niemals  wieder  eine  andere  gewesen.  Sie  ist  vorbildlich  in  ihrem 
stufenweisen  Übergange  vom  Epos  zur  Elegie,  von  der  Elegie  zum  Liede,  vom 
Dithyrambus  zum  Drama,  von  der  Poesie  zur  Prosa,  vom  Naiven  zum  Idyllischen 
und  Sentimentalischen,  wovon  Epigramm,  Idylle  und  Roman  Zeugnis  geben. 
Welche  Fülle  von  Problemen  thut  sich  da  auf,  wenn  wir  das  homerische  Epos 
mit  dem  Nibelungenliede,  mit  esthnischen,  finnischen  u.  a.  Epen  und  Volks- 
liedern, wenn  wir  die  Tragik  in  den  Dramen  der  drei  grofsen  Griechen  mit 
jener  bei  Shakespeare  und  unseren  Klassikern,  wenn  wir  die  Behandlung  des- 
selben oder  des  verwandten  Stoffes  bei  antiken  und  modernen  Dichtern  ver- 
gleichen. 

Die  römische  Litteratur  war  die  erste,  welche,  befruchtet  von  hellenischem 
Geiste,  an  den  unerreichten  Muatem  sich  bildete,  um  von  direkter  Übersetzung 
und  Entlehnung  zu  selbständigerer  Nachbildung  fortzuschreiten  und  in  helle- 
nische Versform  national-römischen  Geist  zu  giefsen.   Dieser  Prozefs  setzt  sich 


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A.  Biese:  Die  Aufgaben  der  Literaturgeschichte 


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im  Mittelalter  fort,  indem  seine  lateinische  Dichtung  wieder  die  Spätlinge  der 
römischen  Litteratur  sich  zu  Mustern  wählt,  so  dafs  z.  B.  für  die  Idylle  sich 
jene  Stufenfolge  ergiebt  von  Theokritos,  Vergilius,  Calpurnius,  Nemesianus  zu 
Naso  Muadovinus,  Beda  und  Alkuin. 

Für  die  deutsche  Litteratur  ist  keine  Frage  wichtiger  als  die  nach  der 
Entlehnung,  nach  der  Umschmelzung  der  fremden  Vorlage  mit  höherer  oder 
geringerer  Selbständigkeit.  Es  ist  nichts  bezeichnender,  als  dafs  unser  erstes 
Denkmal  der  Litteraturgeschichte  eine  Ubersetzung,  eine  Bibelübersetzung  ist, 
dafs  germanische  Dichtungen  ganz  spärlich  Überliefert  sind,  da  der  undeutsche 
(kirchliche)  Inhalt  alles  überwucherte  und  das  Lateinische  im  Zeitalter  der 
Ottonen  zur  Herrschaft  gelangte;  die  lateinische  Litteratur  ruht  aber  auf  antiker 
Kultur  und  Mischung  dieser  mit  christlichen  Elementen.  So  haben  wir  schon 
früh  eine  Art  Renaissance.  Und  so  ist  denn  auch  die  deutsche  Dichtung  des 
Mittelalters  mit  mancherlei  antiken  Bestandteilen  zersetzt;  der  trojanische  Krieg 
und  die  Heldensage  Alexanders  des  Grofsen  finden  Bearbeiter,  aber  die  Brücke 
schlägt  der  Einflufs  des  westlichen  Nachbarn.  Und  so  ist  denn  für  die  Blüte- 
zeit des  höfischen  Epos  und  der  höfischen  Lyrik  nichts  interessanter,  aber  auch 
nichts  schwieriger  als  die  Frage  nach  der  äufseren  und  inneren  Abhängigkeit 
unserer  mittelalterlichen  Sänger  von  ihren  französischen  Vorlagen  und  ferner 
nach  dem  Ursprünge  dieser  Vorlagen  selbst.  Und  wie  in  Italien  die  Wieder- 
erweckung der  Antike  eine  neue  Kulturwelt  heraufführt,  wie  der  Humanismus 
in  Deutschland  folgt,  so  entnehmen  auch  die  gefeiertsten  Dichter  des  15.  und 
16.  Jahrhunderts  in  England  und  Deutschland,  Hans  Sachs  und  Shakespeare, 
manche  Stoffe  dem  Boccaccio,  der  selbst  in  seinem  Dekameron  nicht  blofs 
aus  antiken,  sondern  aus  uralten  Motiven  geschöpft  hat.  Im  18.  Jahrhundert 
spielte  man  gerne  mit  den  Ehrennamen  der  Vergangenheit,  die  man  auf  die 
kleinen  Tagesgröfsen  übertrug,  den  Vater  Gleim  zu  einem  Tyrtaios,  die  Karschin 
zu  einer  Sappho  stempelnd,  doch  auch  England  und  Frankreich  machen  ihren 
Einflufs  geltend,  bis  Winckelmann,  Lessing,  Herder,  Goethe  und  Schiller  eine 
neue  Wiedergeburt  der  Antike  im  deutschen  Geiste  heraufTühren.  Doch  diese 
Schranken  werden  den  Romantikern  zu  eng;  sie  flüchten  sich  nicht  nur  ins 
romantische  Mittelalter,  sondern  auch  in  den  Orient  zurück,  und  die  modernen 
Litteraturströmungen  schwanken  hin  und  her  zwischen  märchenhafter  Symbolik, 
wie  sie  bald  der  ferne  Osten  bietet,  bald  die  eigene  Heimatsage,  und  krasser 
Wirklichkeitszeichnung  nach  dem  Muster  der  Norweger  oder  Russen  oder 
Franzosen.  So  laufen  überall  die  Fäden  alter  und  neuer  Dichtung  zusammen, 
und  eine  Litteraturgeschichte  darf  heute  nicht  mehr  für  wissenschaftlich  gelten, 
die  diesen  Gesichtspunkt  der  Vergleichung,  d.  h.  eben  der  Quellenuntersuchung, 
nicht  vorwalten  läfst;  in  der  kleinen  deutschen  Litteraturgeschichte  von  Max 
Koch  (Göschen)  bildet  dieser  den  eigentlichen  Vorzug;  ging  Koch,  als  Schüler 
CarriereB,  doch  auch  darin  mutig  ans  Werk,  dafs  er  eine  eigene  'Zeitschrift  für 
vergleichende  Litteraturgeschichte'  gründete,  die  es  trotz  aller  Gegenströmungen 
siegreich  zum  12.  Bande  gebracht  hat,  aber  noch  viel  weiterer  und  regerer 
Förderung  bedürfte. 


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A.  BieHC:  Die  Aufgaben  der  Litteraturgeachichte 


Aber  die  vergleichende  Literaturgeschichte  hat  noch  viel  weitere  Auf- 
gaben als  die  bereits  angedeuteten.  Sie  will  nicht  blofs  die  direkten  Ein- 
wirkungen, Nachbildungen  und  Stoffwandlungen  bei  den  europäischen  Kultur- 
volkern aufspüren,  sondern  sie  geht  darauf  aus,  die  zahllosen,  Überall  in  Nord 
und  Sud,  im  fernen  Afrika  ebensogut  wie  in  China  immer  wieder-  und  wieder- 
kehrenden uralten  Motive  der  Volks-  und  Kunstdichtung  aufzudecken  und  in 
Parallele  zu  setzen.  Sie  folgt  jenen  breiten  grofsen  Kanälen  der  arischen, 
semitischen  und  ostasiatischen  (chinesisch -mongolischen)  Völkergruppen  und 
sucht  das  Ewig- Gleiche  zu  gruppieren  und  das  wechselseitige  Geben  und 
Empfangen  darzuthun.  Es  gehört  aber  in  der  That  zu  den  fesselndsten  Auf- 
gaben der  Literaturgeschichte,  dieselben  Motive  durch  die  Jahrhunderte  in 
ihrem  Wandel  bei  den  verschiedenen  Nationen  zu  verfolgen,  jenen  breiten 
Kanälen  nachzugehen,  die  sich  wieder  teilen  und  begegnen  und  zusammenrinnen, 
und  die  überraschendsten  Analogien  in  Hindostan  und  Europa  und  Afrika  zu 
entdecken  und  aus  unscheinbaren  Keimen  die  mannigfachsten,  bedeutsamsten 
Gebilde  entstehen  zu  sehen.  Bald  belauscht  man  den  Übergang  vom  Mythos 
zur  Sage  und  zum  Märchen,  bald  erkennt  man  in  der  Verschiedenartigkeit,  in 
der  Völker  und  Zeiten  derselben  Empfindung  Ausdruck  leihen,  gerade  das 
Charakteristische,  das  sie  kennzeichnet,  bald  wird  man  gewahr,  dafs  der  Dichter 
recht  hat,  der  da  singt:  'Eins  ist  die  Menschheit,  Ein  Herz,  Über  Meere  hin 
den  Riesenpulsschlag  schleudernd;  Ein  Geist,  In  Millionen  Geistern  Ringend 
zur  Kraft,  In  Millionen  Nervenfasern  Fühlend  Unrecht  und  Gerechtigkeit  — 
Ein  Mensch  ist  die  Menschheit/ 

Aber  eine  solche  Betrachtung  lehrt  auch,  dafs  auch  die  psychischen  Äufserungs- 
formen  einen  bestimmten  Entwickelungsgang  nehmen,  dafs  namentlich  die 
ästhetischen  Gefühle  einen  langen  Prozefs  durchlaufen,  ehe  sie  einen  hohen 
Grad  von  Feinheit  erreichen.  Dies  habe  ich  hinsichtlich  des  Naturgefühls  ge- 
zeigt, und  es  freut  mich,  dafs  im  Anschlufs  daran  Ludwig  Stein  in  seinem 
Werke  'die  soziale  Frage  im  Lichte  der  Philosophie*  (Stuttgart,  Enke  1897) 
mehrfach  (S.  CO.  143.  495)  fordert,  man  müsse  Ahnliches  in  eingehender  Durch- 
musterung der  Literaturen  auch  für  alle  anderen  ästhetischen  oder  sittigenden 
Gefühle,  wie  Kunstsinn,  Freundschaft,  Wohlthätigkeitssinn,  Liebe,  Furcht, 
Rache,  Reue,  Mitleid,  Aufopferungsfähigkeit  u.  s.  w.  aufweisen. 

Doch  eine  solche  vergleichende  Betrachtung  der  Weltliteratur ,  die  in 
psychogenetischer  Methode  die  Entwickelung  verfolgt,  ist  noch  jungen  Datums; 
das  'systematische  Bewufsteein'  ist  zumeist  noch  von  der  Engherzigkeit  des 
Spezialiamus  dicht  ummauert,  und  schon  mancher  Jüngling,  der,  auf  dem 
Gymnasium  vielseitig  angeregt,  auf  der  Universität  auch  in  dieser  Hinsicht 
Gewinn  hoffte,  kehrte  enttäuscht  wieder  heim,  weil  er  gefunden,  wie  jeder 
einzelne  Spezialist  nur  seinen  eigensten,  eng  umgrenzten  Acker  pflügte,  wie  kein 
inneres  Band  das  eine  mit  dem  anderen  verknüpfte;  ja,  das  Fachstudium  nimmt 
mit  erdrückender  Detailfülle  den  einzelnen  so  sehr  in  Beschlag,  dafs  für  die 
weiteren,  allgemeineren,  und  das  ist  wahrhaft  wissenschaftlichen,  weil  philo- 
sophischen, Fragen  keine  Zeit  und  kein  Interesse  mehr  übrig  bleibt.  Macht 


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A.  Biese:  Die  Aufgaben  der  Litteraturgeschichte  41 

doch  mancher  Dozent  die  traurige  Erfahrung  bei  Behandlung  eines  weit- 
schichtigeren,  mehrere  Sprachen  umfassenden  Themas,  dafs  die  Belege  aus  den 
alten  Sprachen  dem  Neuphilologen,  aus  den  neuen  dem  Altphilologen  gleich- 
göltig  und  überflüssig  erscheinen  —  weil  eben  für  ihr  Examen  kein  Bedarf 
vorliegt.    So  züchtet  Spezialistentum  Banausentum  auch  heute  noch. 

Unsere  Zeit  steht  eben  unter  dem  Zeichen  der  Zersplitterung  und  Zer- 
klüftung-, die  ideenreiche  Synthese  fehlt;  man  häuft  in  der  Litteraturgeschichte 
die  Daten,  die  Notizen;  man  sucht  in  der  Poetik  das  Ewig  Wandelbare  und 
doch  ewig  Bestandige,  das  in  der  Wurzel  Inkommensurable,  nämlich  das  innere 
Leben  und  Weben  des  menschlichen  Geistes,  auf  nüchterne  Schemata,  Formeln 
und  Normen  zurückzuführen;  man  zergliedert  lediglich  verstandesmäfsig,  zer- 
pflückt —  und  so  geht  die  Seele  der  Kunst  verloren;  man  borgt  sich  naturwissen- 
schaftliche Begriffe  und  verwendet  diese,  ohne  das  Flittergold  solcher  Metaphern 
zu  erkennen,  an  Stelle  psychischer  Erklärung.  Aber  jedenfalls:  man  sucht, 
man  spürt  doch  nach  neuen  Wegen,  freilich  oft  in  trügerischem  Wahne  hin- 
sichtlich der  Neuheit.  Es  kann  aber  keinem  Zweifel  unterliegen,  dafs  der  ver- 
gleichenden Poetik l),  der  vergleichenden  Litteraturgeschichte  die  Zukunft  gehört. 

Auch  die  Schule  hat  mit  ihr  zu  rechnen;  ja,  eine  tiefere  Behandlung  der 
alten  Schriftsteller  ist  ohne  sie  undenkbar,  wenigstens  in  den  elementareren 
Grundzügen.  Wer  kann  die  Weisheit  des  Sokrates  in  Xenophons  Memorabilien, 
in  Piatons  Dialogen8),  wer  Ciceros  Tuskulanen  oder  Officien  deuten,  ohne 
Hellenisches,  ohne  Kömisches  mit  verwandten  Gedankenkreisen  des  Christen- 
tums überhaupt  oder  der  Gegenwart  insbesondere  zu  vergleichen?  Wer  kann 
das  antike  Epos,  das  antike  Drama  erklären  ohne  stete  Beziehung  zu  unseren 
eigenen  Meisterwerken,  wer  in  die  Tragik,  in  die  Auffassung  von  Schuld  und 
Schicksal  und  Sühne  einführen,  ohne  Parallelen  zu  ziehen  zwischen  Sophokles, 
EuripLdes  und  Shakespeare,  Goethe,  Schiller?  Wer  vermag  Horaz  seinen 
Schülern  näher  zu  bringen,  ohne  auf  moderne  Blüten  der  Lyrik,  auf  verwandte 
Stimmungen  und  Anschauungen  und  auf  die  grofsen  und  tiefen  Unterschiede 

*)  Freilich  nicht  in  der  Form,  wie  sie  der  mifsglückt«  Versuch  Kurt  Bruchmanns 
Berlin,  W.  Hertz  1898)  zeigt;  vgl.  m.  Anz  in  d.  Ztechr.  f.  G.  W. 

r>  Es  sei  hier  von  neuem  auf  das  schöne  Werkchen  von  Gustav  Schneider  'Hellenische 
Welt-  und  Lebensanschauungen  für  den  gymnasialen  Unterricht'  (Gera  1893)  hingewiesen 
und  hinzugefugt,  dafs  der  treffliche  Verfasser  jüngst  ein  Buch  hat  erscheinen  lassen,  das 
den  Titel  fahrt:  'Die  Weltanschauung  Piatons,  dargestellt  im  Anschlüsse  an  den  Dialog 
Phädon'  (Berlin,  Weidmann  1898).  Es  bietet  eine  treffliche,  philologisch  und  philosophisch 
eindringende  Inhaltsanalyse  und  stellt  den  Dialog,  der  bisher  meist  nur  bruchstückweise, 
d  h.  Anfang  und  Schlufs,  gelesen  zu  werden  pflegt,  in  den  Dienst  der  philosophischen 
Propädeutik,  d.  h.  der  Unterweisung  über  die  wichtigsten  philosophischen  Grundbegriffe, 
wie  Kreislauf  des  Werdens,  a  priori,  Geist  und  Materie,  Substanz  und  Accidens,  Materialis- 
mus, mechanische  Erklärung  der  Welt,  Sensualismus,  a  posteriori,  Ideenassoziation,  Idee, 
Idealismus,  Zweck  (Teleologie),  organische  Welterkl&rung  u.  s.  w.  Hoffentlich  findet  da« 
Bach  weite  Verbreitung  zur  Belebung  des  klassischen  Unterrichtes,  sei  es  als  Pensum  der 
Klassenlektüre  selbst  oder  als  Privatlektüre  im  engeren  Schülerkreise,  wozu  es  sich  be- 
sonders gut  eignen  dürfte.  Aber  auch  Studierenden  ist  es  dringend  zu  empfehlen,  und  die 
Plato- Kenner  selbst  werden  vieles  mit  Genufs  und  Belehrung  aufnehmen. 


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A.  Biese:  Die  Aufgaben  der  Literaturgeschichte 


in  lyrischer  Begabung  und  in  der  lyrischen  EmpfindungBwelt  bei  Antiken  und 
Modernen  hinzuweisen?  Erinnert  sich  doch  gewifs  mancher  heutige  Lehrer 
noch  mit  Schauder,  wie  er  nach  Dillenburgers  Vorgang  den  Inhalt  der  Horaz- 
Oden  in  lateinische  Prosa  umsetzen  muTste,  und  mit  Entzücken  der  Stunden, 
als  er  plötzlich  z.  B.  durch  Naucks  Kommentar  inne  wurde,  wie  vieles  bei  Horaz 
an  ganz  ähnliche  moderne  Dichteraussprüche  erinnere,  und  vor  allem,  wie  ein 
antikes  Gedicht  rein  menschlich,  seinem  GefühLsgehalte  nach,  aufgefafst  werden 
müsse  und  so  gedeutet  werden  könne,  ohne  dafs  man  im  Sprachlichen  und 
Metrischen  hangen  bleibe.  So  wird  z.  B.  die  Art,  wie  Horaz  den  Frühling 
betrachtet1),  wie  er  den  kalten  Tod  in  das  lebenswarme  Bild  hineinzieht,  wie 
er  trotz  des  Werdens  und  Blühens  den  Gedanken  an  den  Wechsel  der  Zeiten 
und  an  die  Wandelbarkeit  und  Nichtigkeit  des  menschlichen  Daseins  nicht  los 
werden  kann  (Pulvis  et  umbra  sumus),  wie  er  die  Frage  aufwirft:  Quis  seit  an 
adiciant  hodiernae  crastina  summae  Tempora  di  superi?  prächtig  illustriert  und 
unserem  eigenen  Empfinden  so  viel  näher  gebracht  durch  die  Parallele  des 
Lenauschen  Verses:  *  Welkt  die  Rose,  kehrt  sie  wieder;  Mit  den  lauen  Frühlings- 
winden kehren  auch  die  Nachtigallen:  Werden  sie  dich  wiederfinden?*  Doch 
es  leuchtet  auch  ein,  wie  viel  individueller  und  inniger  der  moderne  Ausdruck 
ist,  und  wie  langatmig  das  Verweilen  bei  dem  Todesgedanken  im  römischen 
Gedichte,  noch  dazu,  da  Horaz  ihn  auch  sonst  so  häufig  variiert. 

Ein  lehrreiches  Beispiel,  wie  verwandt  und  doch  wieder  verschieden  die 
Stimmung  und  der  Ausdruck  bei  antiken  und  modernen  Lyrikern  sein  können, 
scheinen  mir  die  13.  Epode  und  Theodor  Storms  Oktoberlied  zu  bieten.  Der 
Anlafs  beider  ist  derselbe:  draußen  ist  es  gar  unwirtlich,  um  so  behaglicher 
wollen  wir  es  uns  drinnen  machen,  indem  wir  zechen  und  mit  frohen  Sinnen 
nicht  nur  die  Gegenwart  geniefsen,  soweit  sie  zu  geniefsen  und  zu  nutzen  ist, 
sondern  auch  den  Blick  in  die  Zukunft  richten.  —  Was  ähnlich  ist,  was  aneinander 
anklingt  oder  auch  nur  ungefähr  entspricht  in  der  Horazischen  Epode,  will  ich 
dem  Stormschen  Gedichte  beifügen,  dessen  Wortlaut  —  leider  —  nur  wenigen 
unserer  Philologen  geläufig  sein  dürfte: 


Der  Nebel  steigt,  es  fällt  das  Laub, 
Schenk  ein  den  Wein,  den  holden, 

Wir  wollen  uns  den  grauen  Tag 
Vergolden,  ja  vergolden. 

Und  geht  es  draufsen  noch  so  toll, 
Unchristlich  oder  christlich, 

Ist  doch  die  Welt,  die  schöne  Welt, 
So  gänzlich  unverwüstlich. 


Horrida  tempestas  caelum  contraxit,  et 
imbres 

Nivesque  dedueunt  Jovem  .  . 
Tu  vina  Torquato  move  consule  pressa  meo . . 
rapiamus  amici  occasionem  de  die  .  . 
.  .  nunc  et  Achaemenio 
Perfundi  nardo  iuvat  et  fide  Cyllenea 
Levare  diris  pectora  sollicitudinibus  . . 

.  .  nunc  mare,  nunc  siluae 
Threicio  Aquilone  sonant  .  . 


»)  Vgl.  über  das  Naturgcfuhl  des  Horaz  meine  'Entw  d.  Naturgefühls  bei  d.  Gr.  u 
Köm.'  II  8.  79—88  und  die  ebenso  ansprechend  wie  ausführlich  alleB  Einschlagende  be- 
handelnde Darstellung  von  Franz  Hawrlant  'Horaz  als  Freund  der  Natur'  Landskron 
frogr.  1805  u.  96. 


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A.  Biese:  Die  Aufgaben  der  Literaturgeschichte 


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Und  wimmert  auch  einmal  das  Herz, 
Stöfs  an  und  laCs  es  klingen; 

Wir  wissen's  doch,  ein  rechtes  Herz 
Ist  gar  nicht  umzubringen  . . . 

Der  Nebel  steigt  u.  s.  w. 

Wohl  ist  es  Herbst,  doch  warte  nur, 
Doch  warte  nur  ein  Weilchen, 

Der  Frühling  kommt,  der  Himmel  lacht, 
Es  steht  die  Welt  in  Veilchen. 


.  .  omne  mal  um  vino  cantuque  levato, 
Deformis  aegrimoniae  dulcibus  alloquiis. 

.  .  dumque  virent  genua 
Et  decet,  obducta  solvatur  fronte  senectus. 


Cetera  mitte  loqui:  deus  haec  fortasse 

benigna 
Reducet  in  sedem  vice  .  . 


Die  blauen  Tage  brechen  an, 

Und  ehe  sie  verfliefsen, 
Wir  wollen  sie,  mein  wackrer  Freund, 

Geniefsen,  ja  geniefsen. 

Wie  charakteristisch  ist  für  Horaz  der  so  allgemein  gehaltene  Ausdruck 
der  Hoffnung  auf  die  Zukunft,  in  der  die  Gottheit  alles  wieder  ins  rechte  Gleis 
bringen  wird,  wenn  auch  einmal  die  Stirn  von  Sorgen  umwölkt  ist,  wenn 
auch  einmal  'das  Herz  wimmert'.  Wie  charakteristisch  ferner  die  Einkleidung 
der  Reflexion,  welche  das  sonst  so  hübsche  Gelegenheitsgedicht  wieder  all- 
beherrschend schliefslich  erfüllt,  in  die  immerhin  doch  frostige  Reminiszenz 
aus  dem  mythischen  Altertum,  indem  er  den  biederen  Chiron  als  Zeugen  dafür 
aufruft,  dafs  Gesang  und  Wein  gut  sind  gegen  alle  Grillen  und  Sorgen,  ja 
gegen  die  Gedanken  an  den  allen,  selbst  dem  Sohne  der  Göttin  sicheren  Tod. 
Wie  prächtig  dagegen  ist  der  sieghafte  Humor  bei  unserem  modernen  Dichter, 
die  volkstümliche  Sprache  ('unchristlich  oder  christlich . .  ganzlich  unverwüstlich . 
'ist  gar  nicht  umzubringen*),  die  kernige,  unbezwingliche  Lebensfreude  und  der 
frohe  Ausblick  auf  den  sicher  wiederkehrenden  Frühling;  wie  fein,  dafs  in 
diese  Lenzessehnsucht  und  Lenzesgewifsheit  sich  harmonisch  auflösen  sowohl 
die  Stürme,  die  da  draufsen  toben,  als  auch  die  schweren  Gedanken,  die  ins 
wimmernde  Herz  Unruhe  bringen;  'es  mufs  doch  Frühling  werden*  singt  auch 
Ehland,  Frühling  da  draufsen  und  Frühling  mit  Jubel  und  Glück  im  Menschen- 
herzen! Wie  viel  freier  und  unbefangener  ist  es,  dafs  Storm  die  Schönheit 
der  Welt  zum  Beweggrunde  des  Lebensgenusses  macht,  während  Horaz  das 
Schreckbild  des  Todes  heraufbeschwört! 

Solche  Vergleiche,  bei  denen  ja  freilich  ebensovieles  verschieden  wie 
ähnlich  erscheinen  wird,  haben  jedenfalls  das  Gute,  den  Blick  für  alle  Einzel- 
heiten zu  schärfen  und  zugleich  an  einem  konkreten  Beispiele,  wenn  auch  nur 
im  engen  Bereiche,  zu  zeigen,  dafs  trotz  aller  Einheitlichkeit  und  gewissen 
Einförmigkeit  des  menschlichen  Fühlens,  trotz  all  der  gleichen  Töne,  die  antike 
und  moderne  Dichter  anschlagen,  uns  doch  wieder  etwas  begegnet,  was 
spezifisch  antik,  was  spezifisch  modern  ist,  was  also  in  den  Kern  des  Wesens 
hineinführt,  was  uns  die  Eigenart  des  Volkes  und  der  Zeit,  sowie  der  einzelnen 
Persönlichkeit  erschliefst.  Der  antike  Mensch  verrät  sich  auch  hier  beinahe  in 
jeder  Zeile,  ob  wir  nun  an  Juppiter,  an  Torquatus,  an  die  Achämenische  Salbe, 


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A.  Biene:  Die  Aufgabe«  der  Litteraturgeschichte 


an  die  Cylleneische  Leier,  an  den  Thracischen  Nordwind  denken  —  freilich  ist 
vieleB  von  diesem  ebensowenig  national  römisch  wie  der  Mythus,  auf  den  das 
Lied  anspielt  — ;  aber  auch  das  Moderne  sprüht  und  glüht  in  jedem  Verse  — 
sei  es  nun  die  glückliche  Antithese  von  'steigen*  und  'fallen',  von  'grau*  und 
'golden',  sei  es  die  'Unverwüstlichkeit'  der  schonen  Welt,  sei  es  das  Hers,  das 
nicht  'umzubringen'  —  alles  das  lafst  sich  in  keiner  Sprache  deckend  wieder- 
geben — ,  sei  es  der  Zauber  der  Melodie  des  Verses,  die  prachtige  Wirkung 
der  Wiederholung  —  'vergolden,  ja  vergolden',  'die  Welt,  die  schone  Welt', 
'doch  warte  nur,  doch  warte  nur',  'geniefsen,  ja  geniefsen'. 

Was  sich  so  im  einzelnen,  im  kleinen  darthun  lälst,  das  stellt  eine  ver- 
gleichende Literaturgeschichte  im  grofaen  dar.  Ohne  deren  Grundgedanken  ist 
die  Betrachtung  der  Poesie  und  Prosa  eines  Volkes  unvollständig,  unphilo- 
sophisch.  Mit  ihr  müssen  Bich  aufs  engste  die  philologisch-historische  und  die 
psychologisch-ästhetische  Betrachtung1)  verschmelzen.  Wie  jene  den  Zusammen- 
hang mit  der  weiten  Welt,  so  stellen  diese  den  Zusammenhang  mit  der  engeren 
Welt,  mit  Zeit  und  Volk  dar  und  verfolgen  nicht  nur  die  Entwicklung,  die 
Höhepunkte  und  Niederungen,  nicht  nur  das  psychische  Werden  der  Dichter 
und  ihrer  Kunstwerke,  sondern  auch  das  wechselseitige  Verhältnis  von  Stoff 
und  Form,  von  Innerem  und  Aufserem,  die  Entfaltung  des  Stils,  der  Sprache, 
des  Verses  und  versenken  sich  in  das  allgemeine  Gefühlsleben,  das  die  Seele 
aller  Kunst,  aller  Poesie  ist,  spüren  seinen  Wandlungen  im  ganzen  und  im 
einzelnen  nach,  immer  bedacht  auf  den  Zusammenhang  mit  der  Kulturgeschichte 
und  mit  der  Völkerpsychologie,  und  weisen  in  den  einzelnen  Offenbarungen 
der  Poesie  ihr  ewiges  Wesen  und  zugleich  ihre  mannigfach  wechselnden  Formen 
nach.  Erat  sub  specie  aetemitatis  —  ich  wiederhole  es  —  gewinnt  die  Lite- 
raturgeschichte ihre  Aufgaben,  die  ihr  als  Wissenschaft  des  geistigen  Menschen 
gebühren. 

Ob  diesem  Ideal  unsere  heutigen  griechisch-römischen  und  deutschen 
Literaturgeschichten  in  jeder  Hinsicht  und  in  allen  ihren  Teilen  schon  ent- 
sprechen? Ich  glaube,  kaum.  Unsere  neuesten  Darstellungen  der  deutschen 
sind  an  dieser  Stelle  erst  kürzlich  charakterisiert  worden,  und  so  will  ich  nicht 
auf  sie  und  alle  die  zahllosen  zum  Teil  ja  ganz  wertvollen,  zum  Teil  wertlosen, 
eich  im  grofsen  und  ganzen  hinsichtlich  des  Stoffes  recht  sehr  ähnelnden  Leit- 
fäden eingehen.  Nur  eine  Schlufsfolgerung  sei  aus  dem  Gesagten  gezogen: 
unsere  Literaturgeschichten  Bind  noch  überreich  an  völlig  unfruchtbarem 
Detail,  sie  sind  überladen  mit  einem  Wust  von  Daten  und  Titeln;  und  doch 
müfste,  was  nicht  selbst  entscheidend  den  Gang  der  Literatur  beeinflufst  hat, 
was  nicht  ein  wichtiges  Moment  in  der  Entwickelung  gewesen  ist,  was  nicht 
ein  bedeutsames  Spiegelbild  der  Zeit  bietet,  als  tot  am  Wege  liegen  bleiben; 
unsere  Darstellungen  bieten  des  Unwesentlichen  —  namentlich,  wenn  sie  ans 


')  Vgl.  Emst  Elster,  Prinzipien  der  Litteraturwissenschaft  (Halle,  Niem.  1897);  Ober 
da«  jedenfalls  bemerkenswerte  Buch  habe  ich  mich  ausführlich  in  der  Ztschr  f.  d.  Philol. 
ausgesprochen. 


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A.  Biege:  Die  Aufgaben  der  Litteraturgeachichte 


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deutsche  Hans,  an  den  gebildeten  Mann  sich  richten  — ,  eine  wahrhaft  er- 
drückende und  beklemmende  Fülle,  je  näher  sie  der  Gegenwart  rücken,  und 
entraten  des  Wesentlichen  in  so  vielen  Stücken,  d.  h.  der  Betonung  der  grofsen 
Grundzüge,  des  wahrhaft  Keimfähigen,  des  wahrhaft  Charakteristischen.  Und 
warum?  Weil  die  Gelehrsamkeit  das  ästhetische  Urteil,  den  psychologischen 
Scharfblick  trübt  und  die  historisch-philosophische  Methode  überwuchert,  weil 
in  falschem  Spezialistenwahn  die  Beschrankung  auf  das  Wesentliche  als  Mangel 
an  Vollständigkeit  und  somit  als  unwissenschaftlich  aufgefafst  wird.  Wie  aber 
unsere  Litteratur  selbst  einem  gewaltigen  Kunstgebilde,  einem  machtigen  Dome 
vergleichbar  ist,  der  festgegründet  auf  heimatlichem  Boden  seine  Türme  zu 
dem  Himmel  und  seinen  Wolken  emporhebt,  in  dem  stolz  und  breit  der  Haupt- 
gang und  die  Seitenschiffe  sich  dehnen,  während  Nischen  und  Kapellen  und 
Neben kammern  sie  umgeben,  so  mufs  auch  eine  Litteraturgeachichte  ein  fest 
gefügtes  Kunstwerk  sein,  von  einheitlichem  Plane  und  von  einem  Geiste  er- 
füllt, der  das  Einzelne  nur  betrachtet  unter  dem  Gesichtspunkte  des  Allgemeinen, 
und  sie  mufs  in  ihrem  Stil  getragen  sein  von  einer  kernhaften,  begeisterten 
und  begeisternden  Persönlichkeit. 


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DIE  EINFÜHRUNG  DER  KRAFTLINIEN 
IN  DEN  PHYSIKUNTERRICHT  DER  GYMNASIEN 

Von  Karl  Hünlich 

Die  folgenden  Erörterungen  über  die  Kraftlinienfrage  wüfste  ich  nicht 
besser  einzuleiten  als  durch  die  Erinnerung  an  einen  Physiker,  der  sein  Leben 
vor  etwas  mehr  als  30  Jahren  beschlofs,  hochbetagt,  aber  auch  hochgeehrt  in 
aller  Welt  und  ausgezeichnet  durch  alle  nur  denkbaren  Ehrentitel  und  Ehren- 
bezeugungen. Er  hatte  seinen  Lebensweg  als  einfacher  Laufbursche  begonnen 
und  starb  als  der  gröfste  Experimentalphysiker  vielleicht  aller  Zeit.  Ganz  und 
gar  Autodidakt,  ist  er  der  Begründer  der  neueren  Elektrizitätslehre  geworden, 
und  seinen  Untersuchungen  verdanken  wir  den  so  mächtigen  Aufschwung,  den 
die  Elektrotechnik  in  unseren  Tagen  genommen  hat.  Ich  meine  selbstverständ- 
lich Michael  Faraday,  der  vom  Buchbindergehilfen  zum  Assistenten  Davys 
im  Laboratorium  der  Royal  Institution  erwählt  wurde  und  12  Jahre  später 
zum  Direktor  desselben  aufrückte.  Von  der  Natur  mit  den  reichsten  Gaben 
des  Geistes  ausgerüstet,  war  er  dazu  berufen,  durch  seine  geradezu  bewunderns- 
werte Fähigkeit  für  experimentelle  Kombinationen  und  durch  fast  instinktartig 
zweckmäfsige  Verknüpfung  der  Grundbedingungen  von  Erscheinungen  unsere 
Kenntnisse  der  magnetischen  und  elektrischen  Vorgänge  in  solchem  Mafse  zu 
erweitern,  wie  es  vor  ihm  und  nach  ihm  einem  einzelnen  Forscher  nicht  mehr 
gelungen  ist  und  wie  es  nur  vielleicht  einem  Heinrich  Hertz  wieder  möglich 
gewesen  wäre,  wenn  er  das  Alter  eines  Faraday  erreicht  hätte.  Von  den 
Arbeiten  Faradays,  wie  er  sie  in  30  Reihen  mit  mehr  als  3%  Tausend  §§ 
hinterlassen  hat,  sind  besonders  die  von  hohem  Interesse,  in  denen  er  sich  mit 
dem  Versuche  befafst,  an  Stelle  der  alten,  für  ihn  unannehmbaren  Ansichten 
über  die  Fernwirkung  neue  Grundvorstellungen  über  magnetische  und  elektrische 
Erscheinungen  zu  entwickeln,  und  die  insbesondere  durch  die  Einführung  der 
Kraftlinien  so  bahnbrechend  gewirkt  haben.  Wie  die  Kraftlinien  eines  leuchten- 
den Körpers  die  von  ihm  ausgehenden  Lichtstrahlen  sind,  wie  ein  heifser 
Körper  Wärmestrahlen  aussendet,  so  fafst  Faraday  die  magnetischen 
Kraftlinien  auf  als  den  Ausdruck  des  magnetischen  Zustandes,  als  die 
Repräsentanten  der  magnetischen  Kraft,  und  zwar  nicht  nur  hinsichtlich  der 
Qualität  und  Richtung,  sondern  auch  der  Quantität.  Denn  da  Faraday  das 
mächtige  Hilfsmittel  der  Mathematik  nicht  zu  Gebote  stand,  war  er  auch  zur 
Bestimmung  der  Kraftintensität  darauf  angewiesen,  sich  der  anschaulichen 
Konstruktion  der  Kraftlinien  zu  bedienen. 


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K.  Hflnlich:  Die  Einführung  der  Kraftlinien  in  den  Phyaikunterricht  der  Gymnasien  47 

Dabei  ist  es  selbstverständlich,  dafs  ihm  die  Kraftlinien  nicht  mehr  als 
Symbole  sind,  und  dafs  für  ihn  die  Bedeutung  des  Ausdruckes  keinerlei  Vor- 
stellung über  die  physikalischen  Ursachen  der  Erscheinungen  in  sich  schliefst. 
Er  Iäfet  ausdrücklich  dahingestellt,  wie  sich  die  magnetische  Kraft  durch  die 
Korper  oder  durch  den  Raum  fortpflanze,  aber  er  läfst  auch  deutlich  durch- 
blicken, dafs  er  den  Äther  für  das  vermittelnde  Medium  halt. 

So  sehr  nun  die  glänzenden  experimentellen  Entdeckungen  Faradays,  die 
Induktionswirkungen,  die  Gesetze  der  Elektrolyse,  die  Einwirkung  des  Magnetis- 
mus auf  das  Licht,  der  Diamagnetismus  u.  s.  f.  begeisterte  Aufnahme  bei  seinen 
Zeitgenossen  fanden  und  seinen  Ruhm  weithin  verbreiteten,  so  wenig  fanden 
seine  Ideen  über  diese  Erscheinungen  Beifall  und  Verständnis;  ja  es  läfst  sich 
nicht  leugnen,  dafs  er  hier  viel  mehr  Gegner  als  Anhänger  hatte.  So  hat 
Faraday  nicht  in  dem  eigentlichen  Sinne  des  Wortes  Schule  gemacht;  seine 
Anschauungen  sind  vielmehr  erst  in  der  neueren  Zeit  durch  Männer  wie 
Thomson,  Tyndall  und  namentlich  Maxwell  mehr  zu  Ehren  gekommen.  Einen 
Tollständigen  Umschwung  hat  freilich  erst  die  Elektrotechnik  zu  Wege  ge- 
bracht. In  ihrer  Hand  sind  die  Faradayschen  Kraftlinien,  in  enger  Verknüpfung 
mit  dem  Potential,  zu  dem  so  überaus  wirksamen  Rüstzeuge  geworden,  das  sie 
zu  den  glänzendsten  Entdeckungen  und  Fortschritten  geführt  hat.  Seitdem 
erst  kann  man  von  einem  wirklichen  Siege  der  Faradayschen  Ideen  sprechen. 

Bis  in  die  Schulen  freilich  sind  die  Faradayschen  Kraftlinien  wohl  noch 
nicht  allgemein  vorgedrungen.  Und  im  Hinblick  auf  die  üblichen  Lehrbücher, 
die  zwar  meist  Andeutungen  und  Fingerzeige,  aber  keine  tiefer  gehenden  Aus- 
führungen  darüber  enthalten,  könnte  man  zu  der  Ansicht  kommen,  dafs  die 
Faradaysche  Behandlung  der  magnetischen  Erscheinungen  für  die  Schule  über- 
haupt ungeeignet  sei.  Nur  wenige  der  neueren  Lehrbücher  gehen  vollständig 
auf  diese  Materie  ein,  so  unter  anderen  die  sehr  empfehlenswerten  Elemente 
des  Magnetismus  und  der  Elektrizität  von  Jamieson,  übersetzt  und  ergänzt 
von  Kollert,  das  Lehrbuch  der  Physik  von  dem  Jesuitenpater  Dressel,  die 
Physik  von  Borner,  Maxwells  Elektrizität  in  elementarer  Behandlung,  die 
Elektrizitätslehre  von  Kolbe  und  besonders  Eberts  Magnetische  Kraftfelder, 
ein  Buch,  so  recht  für  den  Studenten  und  Lehrer  zur  Orientierung  geeignet. 

In  den  physikalisch -pädagogischen  Zeitschriften  begegnet  man  fast  in 
jeder  Nummer  Aufforderungen  und  Anweisungen  zur  Einführung  von  Kraft- 
linien und  Potential,  und  besonders  eifrige  Reformatoren  gehen  soweit,  dafs 
sie  Magnetismus  und  Elektrizität  in  der  Schule  ganz  und  gar  im  Sinne  der 
Elektrotechniker  betreiben,  d.  h.  dafs  sie  nicht  nur  die  Kraftlinien  überall 
verwenden,  sondern  auch  das  Potential.  Dem  gegenüber  fehlt  es  nicht  an 
Stimmen,  die  insbesondere  vor  der  Einführung  des  Potentialbegriffes  warnen 
und  die,  mehr  eine  konservative  Haltung  bewahrend,  nur  langsam  und  all- 
mählich reformieren  mochten.  Zu  ihnen  zählt  offenbar  auch  Prof.  Weinhold 
in  Chemnitz.  In  seiner  neuesten  Auflage  der  Vorschule  von  1897  hat  auch 
er  die  Kraftlinien  aufgenommen,  aber  in  weiser  Beschränkung  bringt  er  davon 
nur  das  Einfachste  und  Notwendigste.    Und  in  diesem  Weinholdschen  Sinne 


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48    K.  Hünlich:  Die  Einführung  der  Kraftlinien  in  den  Phyaikunterricht  der  Gymnasien 

möchte  auch  ich  nun  meine  Hauptfrage  behandeln,  die  Frage:  In  welcher  Weise 
und  in  welchem  Umfange  empfiehlt  es  sich,  die  Kraftlinien  in  den  Physik- 
unterricht der  Gymnasien  aufzunehmen? 

Wir  haben  Magnetismus  und  Elektrizität  resp.  Galvaniamus  in  Klasse  Ilb 
und  II'  zu  behandeln,  haben  also,  zumal  bei  Besprechung  des  Magnetismus, 
Anfänger  vor  uns,  die  kaum  über  die  elementarsten  Unterweisungen  hinaus  sind. 
Für  solche  Schüler  aber  kann  der  Unterricht  im  neuen  Lehrstoff  nicht  einfach 
genug  sein,  und  das  vornehmste  Erfordernis  scheint  mir  die  Anschaulichkeit 
zu  sein.  In  dieser  Beziehung  ist  aber  die  Lehre  von  den  Kraftlinien  der  alten 
Methode  ganz  ausserordentlich  überlegen.  Das  alte  Verfahren  beginnt  mit  der 
Fernwirkung.  Die  Schüler  sehen  sich  sogleich  einer  rätselhaften,  geheimnis- 
vollen Erscheinung  gegenübergestellt;  sie  erkennen  wohl  die  Wirkung,  aber  die 
Verbindung  von  Ursache  und  Wirkung  bleibt  unerklärt. 

Man  könnte  mir  einwenden,  dafs  hier  die  Geheimnisse  der  Natur  nicht 
gröfser  sind,  als  wenn  ein  Apfel  vom  Baume  fällt.  Gewifs,  der  Unterschied 
ist  nur  der,  dafs  der  Schüler  nach  einem  Erklärungsgrund  für  eine  ihm  durch 
tägliche  Erfahrung  geläufige  Fallerscheinung  sicher  nicht  fragt,  so  sicher  wie 
er  im  anderen  Falle  die  Frage  stellen  wird.  Wie  ganz  anders  aber  sieht  die 
Sache  aus,  wenn  man  durch  den  einfachsten  Versuch  mit  Eisenfeilspänen  dem 
Schüler  eine  Darstellung  des  magnetischen  Feldes  als  des  Wirkungsbereiches 
eines  Magneten  vor  Augen  führt,  wenn  man  ihm  zeigt,  wie  die  Natur  selbst 
die  Kraftlinien  aufzeichnet,  und  wie  eine  kleine,  leicht  bewegliche  Magnetnadel 
stets  eine  mit  den  Kraftlinien  übereinstimmende  Lage  annimmt. 

Auf  solche  Weise  wird  zugleich  Verständnis  und  Interesse  geweckt.  Und 
wenn  auch  durch  die  Kraftlinien  die  Wirkung  in  die  Ferne  noch  keineswegs 
erklärt  ist,  wie  wir  sie  ja  überhaupt  nicht  zu  erklären  vermögen,  so  tritt  doch 
durch  sie  das  Walten  der  Naturkräfte  anschaulich  zu  Tage,  und  alles  Unbegreif- 
liche fällt  weg,  weil  ein  sichtbares  Etwas  da  ist,  das  die  Wirkung  von  einer 
Stelle  zur  anderen  vermittelt. 

Wenn  der  Schüler  ferner  die  Kraftlinienbilder  zweier  gleichnamiger  oder 
zweier  ungleichnamiger  Pole  sieht,  mufs  er  da  nicht  ganz  von  selber,  ich  möchte 
sagen,  aus  der  Figur  ablesen,  wie  in  der  Richtung  der  Kraftlinien  ein  Zug, 
ein  Streben  nach  Vereinigung  herrscht,  als  ob  die  Kraftlinien  Gummifäden 
wären,  und  wie  senkrecht  zu  jener  Richtung  ein  Druck,  eine  Abstofsungs 
Wirkung  statt  hat,  wie  sich  die  Kraftlinien  gleichnamiger  Pole  gegeneinander 
aufbäumen  und  dadurch  die  ihnen  innewohnende  Gegensätzlichkeit  der  Richtung 
auschaulich  machen. 

Mit  welchem  Interesse  wird  weiter  die  Änderung  des  Kraftlinienbildes 
verfolgt,  wenn  man  ein  Stück  Eisen  in  das  Feld  legt  und  dessen  förmliche 
Saugwirkung  auf  die  Kraftlinien  zur  Darstellung  bringt,  oder  wenn  man  zeigt, 
wie  im  Hohlraum  eines  Eisenringes  keine  Kraftlinien  sichtbar  sind,  wie  das 
Eisen  also  die  Möglichkeit  bietet,  einerseits  die  Kraftlinien  nach  einer  be- 
stimmten Stelle  des  Feldes  hinzulenken,  wie  es  ja  durch  die  Polschuhe  der 
Magnete  geschieht,  oder  wie  man  anderseits  durch  die  Schirmwirkung  des 


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K.  Hfinlich:  Die  Einführung  der  Kraftlinien  in  den  Physikunterricht  der  Gymnasien  49 


Eisens  gewisse  Gebiete  des  Feldes  gegen  das  Eindringen  der  Kraftlinien 
schützen  kann.  Ein  guter  Leiter,  wie  Eisen  oder  allenfalls  Stahl,  sucht  eine 
solche  Lage  im  Felde  anzunehmen,  dafs  er  möglichst  viel  Kraftlinien  des  Feldes 
aufnehmen  und  fortführen  kann,  und  er  wird  sich  durch  Richten  oder  Annähern 
möglichst  nach  dem  Orte  der  stärksten  Wirkung,  d.  h.  der  dichtesten  Kraft- 
linien begeben;  ebenso  wie  sich  jede  bewegliche  Magnetnadel  unter  Einwirkung 
eines  anderen  Magneten  so  stellt,  dafs  die  aus  dem  Nordpol  des  letzteren  aus- 
tretenden Kraftlinien  möglichst  zahlreich  vom  Südpol  der  beweglichen  Nadel 
aufgenommen  und  durchgeleitet  werden  können.  Ist  durch  wiederholtes  Zer- 
brechen einer  magnetischen  Stricknadel  gezeigt  worden,  dafs  wir  ein  Recht 
haben,  schon  den  Molekülen  magnetische  Eigenschaften  zuzuschreiben,  so  ist  es 
leicht,  diese  Anschauung  auch  auf  Eisen  und  Stahl  auszudehnen  und  damit 
die  Erläuterung  und  Begründung  der  Induktions-  oder  Influenzwirkungen  ein- 
zuleiten. Wenn  man  den  Schülern  den  Verlauf  der  Kraftlinien  bei  einem 
Tollständigen  Magneten  gezeigt  und  sie  darauf  aufmerksam  gemacht  hat, 
wie  man  bräuchlicherweise  die  Richtung  der  Kraftlinien  als  vom  Nordpol  aus 
gehend  definiert,  wie  die  am  Nordpol  austretenden  Kraftlinien  sich  umbiegen 
und  schliefslich  im  Südpole  wieder  eintreten,  so  läfst  sich  darlegen,  dafs  eigent- 
lich alle  Kraftlinien  geschlossene  Kurven  sind,  dafs  ihrer  ebensoviel  am  Nordpol 
austreten  wie  am  Südpol  eintreten,  und  dafs  die  Zahl  der  Kraftlinien,  die  das 
Innere  des  Magneten  durchsetzen,  genau  dieselbe  ist,  wie  die  aufserhalb.  Aus 
der  Art  und  Weise  aber,  wie  die  Kraftlinien  aufserhalb  des  Magneten  sich 
voneinander  entfernen,  läfst  sich  auf  die  Intensität  des  Feldes  an  irgend  einer 
Stelle  schliefsen.  Berücksichtigt  man  dazu  nur  einen  einzeln  gedachten 
Pol,  von  dem  dann  ja  die  Kraftlinien  radial  nach  allen  Seiten  gleichförmig 
und  geradlinig  ausgehen,  so  ergiebt  sich,  dafs  die  Anzahl  der  Kraftlinien,  die 
in  beliebigem  Abstände  auf  die  Flächeneinheit  kommt,  umgekehrt  proportional 
zum  Quadrat  der  Entfernung  sein  muls.  Denkt  man  sich  nun  um  jenen  Pol 
eine  Kugel  vom  Radius  1  cm,  also  mit  4ar  qcm  Oberfläche,  beschrieben  und 
setzt  man  fest,  dafs  ein  Einheitspol  durch  jedes  Quadratcentimeter  nur  eine  Kraft- 
linie senden  soll,  so  ist  auch  leicht  ersichtlich,  dafs  ein  Einheitspol  4;r, 
ein  Pol  von  der  Stärke  m  4»  m  Kraftlinien  aussendet  und  dafs  damit  der 
ganze  Raum  in  4*  resp.  4»  m  Kraftröhren  zerlegt  wird.  Minder  einfach  ist 
freilich  die  Einheit  der  Polstärke  zu  definieren,  die  ja  bekanntlich  dann  vor- 
handen ist,  wenn  zwei  gleich  starke  Pole  einander  mit  der  Kraft  von  einer 
Dyne  abstofsen.  Die  Untersekundaner  kennen  die  Beziehungen  von  Kraft, 
Masse  und  Beschleunigung  noch  nicht,  und  man  wird  ihnen  den  Begriff  der 
Dyne  wohl  nur  so  verständlich  zu  machen  vermögen,  dafs  man  ihnen  vergleichs- 
weise angiebt,  dafs  die  in  1  g  Wasser  enthaltene  Masse  von  der  Erde  mit 
981  Dynen  angezogen  wird.  Etwaige  Bedenken  dagegen,  dafs  sich  ja  die 
Einheitspolstärke  in  Wirklichkeit  nicht  herstellen  läfst,  können  durch  Hinweis 
"laravif  zerstreut  werden,  dafs  ja  auch  Flächen  und  Körper  nie  so  gemessen 
werden,  wie  es  der  ursprünglichen  Erklärung  entsprechend  sein  müfste. 

Die  Definition  der  Feldstärke  in  irgend  einem  Punkte  durch  die  Anzahl 

X«n«  Jahrbücher    1890    n.  4 


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50   K.  Hflnlich:  Die  Einführung  der  Kraftlinien  in  den  Phy«ikunterricht  der  Gymnasien 


von  Kraftlinien,  die  dort  durch  die  Flächeneinheit  gehen,  ist  einfach.  Gehen 
n  Kraftlinien  durch  dae  Quadratcentimeter,  so  heifst  das  ehen,  die  Wirkung  an 
jener  Stelle  ist  dieselbe,  wie  sie  ein  Pol  von  der  Starke  n  in  der  Entfernung  1 
ausübt.  —  Die  Besprechung  des  Erdmagnetismus  und  der  zugehörigen 
Kraftlinien,  sowie  die  richtende  Wirkung  auf  die  Magnetnadel,  die  sich  im 
Sinne  der  Kraftlinie  einstellt,  bietet  keinerlei  Schwierigkeit  dar. 

Erwähnen  wird  man  hier,  dafs  das  magnetische  Feld  der  Erde  für  kleinere 
Gebiete  als  homogen  anzusehen  ist. 

Soweit  ungefähr  wird  man  mit  den  Untersekundanern  gehen  dürfen,  wenn 
man  nicht  vielleicht  noch  vorzieht,  die  zuletzt  angegebenen  Definitionen  über 
Polstarke  und  Feldstärke  wegzulassen.  Darüber  hinauszugehen  .aber  würde 
mir  sehr  bedenklich  erscheinen. 

In  Obersekunda  kann  nun  an  passender  Stelle  das  durch  den  galvanischen 
Strom  hervorgerufene  Kraftfeld  zum  Gegenstand  der  Untersuchung  gemacht 
werden.  Sind  die  Schüler  mit  der  Thatsache  bekannt  geworden,  dafs  ein 
stromdurchflossener  Draht  seiner  ganzen  Länge  nach  im  stände  ist,  Eisenfeile 
anzuziehen  und  die  Teilchen  senkrecht  gegen  seine  Längsrichtung  zu  stellen, 
so  wird  man  zunächst  eine  genauere  Darstellung  des  Kraftfeldes  eines  solchen 
geradlinigen  Leiters  geben,  indem  man  diesen  mitten  durch  starkes  Papier 
oder  Pappe  führt  und  zeigt,  wie  die  Eisenfeilspäne  den  Leiter  in  konzentrischen 
Kreisen  umschliefsen.  Die  Richtung  der  Kraftlinien  läfst  sich  leicht  nach 
Weinhold  mit  der  kleinen  Probenadel  feststellen.  Ein  kleiner  isolierter  Nord- 
pol müfste  sich  im  Sinne  der  Kraftlinien  um  den  Stromleiter  herum  bewegen, 
ein  Südpol  im  entgegengesetzten  Sinne.  Für  jemanden,  der  etwa  einem  guten 
Schülerjahrgange  etwas  Besonderes  darbieten  will,  wäre  hier  die  Möglichkeit 
gegeben,  Faradays  Apparate  zum  Nachweis  der  Drehung  eines  Stromes  um 
einen  Pol  und  umgekehrt  zu  erläutern. 

An  zweiter  Stelle  würden  die  Kraftlinien  eines  kreisförmigen  Leiters 
herzustellen  sein.  Dabei  zeigt  sich,  dafs  beim  aufsteigenden  Stromteile  die 
Kraftlinien  entgegengesetzt  der  Uhrzeigerrichtung  laufen,  beim  absteigenden 
Leiterteile  mit  dem  Uhrzeiger.  Um  hier  eine  klare  Vorstellung  von  den  räum- 
lichen Verhältnissen  des  Feldes  zu  gewinnen,  empfiehlt  es  sich,  das  ganze  Feld 
einer  Stromschlinge  zu  zeichnen,  womit  ja  auch  sofort  die  anschaulichste  Dar- 
stellung der  Wirkung  des  Stromes  auf  die  Magnetnadel  gewonnen  ist. 

Der  nächste  Schritt  führt  zu  den  Kraftlinien  einer  Gruppe  von  mehreren 
parallelen  Drahtringen,  die  alle  im  gleichen  Sinne  vom  Strome  durchflössen 
sind,  zum  Solen oi'd.  Überall  da,  wo  der  Strom  durch  zwei  parallele  Ringe 
in  demselben  Sinne  fliefst,  werden  zwischen  den  Ringen  entgegengesetzte  Kraft- 
linienrichtungen  vorherrschen,  deren  Wirkungen  einander  aufheben,  so  dafs 
schliefslich  nur  die  äufseren,  umfassenden  Teile  übrig  bleiben  und  sich  ver- 
schmelzen, derart,  dafs  sich  für  das  ganze  Solenoid  als  Wirkungssumme  genau 
das  Kraftlinienbild  eines  Magneten  ergiebt. 

Das  Solenoid  besitzt  also  selbstverständlich  Polarität  wie  jeder  Magnet. 
Bringt  man  nun  noch  Eisen  in  den  Hohlraum  des  Solenoides,  so  werden  die 


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K.  Hanlich:  Die  Einführung  der  Kraftlinien  in  den  Physikunterricht  der  Gymnasien  51 


Moleküle  desselben  gleichgerichtet,  und  ihre  Kraftlinien  addieren  sich  zu  denen 
des  Solenoi'des.  Da  ein  freibewegliches  Eisenstück  sich  nach  den  Stellen 
der  dichtesten  Kraftlinien  hinbewegt,  mufs  ein  Eisenstab  in  die  Spule  hinein- 
gezogen werden,  eine  Erscheinung,  die  ja  bekanntlich  für  die  Erklärung  der 
Bogenlampe  wichtig  ist. 

Es  liegt  auf  der  Hand,  dafs  nun  der  Lehre  vom  Elektromagnetismus  Thür 
und  Thor  geöffnet  ist,  und  ebenso  bequem  läfst  sich  nun  die  Besprechung  der 
Ampereschen  Gesetze  angliedern.  Es  lehrt  ja  schon  der  blofse  Anblick  der 
beiden  Kraftlinienfelder  bei  parallelen  gleichgerichteten  und  parallelen  entgegen- 
gesetzt gerichteten  Strömen,  dafs  im  ersten  Falle  Anziehung,  im  zweiten  Ab- 
stofsung  vorhanden  sein  mufs.  Zu  beachten  dürfte  sein,  dafs  sich  der  übliche 
Wortlaut  der  Ampereschen  Gesetze  umkehrt,  wenn  man  die  Wirkungen  durch 
das  Verhalten  der  Kraftlinien  ausdrücken  will,  da  ja  zwischen  parallelen  gleich- 
gerichteten Kraftlinien  Abstofsung  besteht,  und  umgekehrt. 

Ich  komme  nun  zum  wichtigsten,  aber  zugleich  schwierigsten  Kapitel  der 
Kraftlinienfrage,  zur  Induktionswirkung.  Aber  gerade  hier  tritt  auch  die 
Überlegenheit  der  Kraftlinienmethode  deutlich  hervor,  da  sie  die  Voltainduktion, 
Magnetinduktion  und  unipolare  Induktion  aus  einheitlichem  Gesichtspunkte  zu 
erklären  vermag,  wie  durch  sie  ja  auch  die  Übereinstimmung  der  magnetischen 
und  elektrischen  Erscheinungen  von  einer  zufälligen  zu  einer  notwendigen  ge- 
worden ist  Das  Ziel,  auf  das  ich  hier  ganz  direkt  zusteuern  will,  ist  die 
Erklärung  der  Dynamomaschine.  Die  Berechnung  ihrer  Wirkung  liegt  wohl 
jenseits  der  Grenzen  des  Gymnasialunterrichts  und  ist  Sache  des  Elektro- 
technikers. Die  Erklärung  aber  der  Dynamomaschine  vereinfacht  sich  durch  die 
Kraftlinien  gegenüber  der  alten  Erklärungsweise  so  sehr,  dafs  ich  gerade 
darin  eine  der  Hauptveranlassungen  erblicke,  die  Kraftlinien  im  Gymnasium 
zur  Besprechung  zu  bringen,  denn  wir  stellen  thatsächlich  damit  nicht  etwa 
eine  neue  Zumutung  an  die  Schüler,  sondern  bieten  ihnen  eine  Erleichterung. 

In  der  Umgebung  eines  stromdurchflossenen  Leiters  herrscht  ein  Spannungs- 
znstand, der  durch  einen  Leiter,  der  sich  dort  bewegt,  gestört  werden  mufs, 
ähnlich  wie  durch  Bewegung  eines  Stabes  in  der  Luft  oder  im  Wasser  Ver- 
dichtungen vor,  Verdünnungen  hinter  dem  Stabe  entstehen,  während  ein 
ruhender  Stab  keinerlei  Veränderungen  veranlagst.  Durch  solche  Veränderungen 
im  Felde  entstehen  nun  die  Induktionswirkungen.  Für  unseren  Zweck  wollen 
wir  zwei  Hauptfälle  unterscheiden:  1.  Induktion  in  einem,  im  Felde  bewegten, 
geradlinigen  Leiter  und  2.  Induktion  in  einem  geschlossenen  Stromkreise, 
in  einer  Stromschleife.    Für  diese  beiden  Fälle  gelten  folgende  Sätze: 

I.  Wenn  ein  geradliniger  Leiter  sich  im  magnetischen  Felde  so 
bewegt,  dafs  er  Kraftlinien  schneidet,  so  wird  in  ihm  ein  Strom 
induziert.  Die  Gröfse  der  E.  M.  K.  hängt  ab  von  der  Anzahl  der  Kraftlinien, 
die  in  der  Sekunde  geschnitten  werden.  Über  die  Richtung  des  Induktions- 
stromes orientiert  man  sich  hier  nach  der  Faraday sehen  Schwimmregel  oder 
besser  nach  der  Flemingschen  Dreifingerregel:  Man  halte  den  Zeigefinger 
der  rechten  Hand  in  die  Richtung  der  Kraftlinien,  den  Daumen  in  die  Richtung 


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52    K.  Hünlich:  Die  Einfahrung  der  Kraftlinien  in  den  Physikunterricht  der  Gymnasien 

der  Bewegung,  dann  wird  der  Mittelfinger  die  Stromrichtung  angeben,  voraus- 
gesetzt, dafs  alle  drei  Finger  senkrecht  zueinander  stehen. 

Und  für  den  Ball  der  bewegten  Stromschleife  hat  man  den  Satz: 
II.  Bewegt  sich  ein  geschlossener  Leiter  im  magnetischen  Felde, 
so  wird  immer  dann  ein  Strom  induziert,  wenn  die  Anzahl  der  Kraft- 
linien, die  durch  das  vom  geschlossenen  Leiter  umspannte  Flachen- 
stück geht,  sich  ändert. 

Und  hier  gilt  für  die  Stromrichtung  die  Maxwellsche  Regel:  Man 
blicke  in  der  Richtung  der  Kraftlinien  durch  den  Stromkreis,  dann  wird  ein 
Strom  in  der  Richtung  des  Uhrzeigers  (Zeigerstrom)  induziert  werden,  wenn 
bei  der  Bewegung  des  Leiters  die  durch  ihn  gehende  Zahl  der  Kraftlinien 
abnimmt.  Bei  zunehmender  Kraftlinienzahl  kommt  ein  Gegenzeigerstrom 
zu  stände. 

Zum  experimentellen  Beweise  des  ersten  Satzes  kann  man  sich  eines 
geradlinigen  metallischen  Gleitstückes  bedienen,  das  an  zwei  festen,  mit  einem 
empfindlichen  Galvanometer  verbundenen  Metallstäben  rasch  hingleitet.  Schneidet 
es  dabei  die  Kraftlinien  eines  starken  Feldes,  dann  läfst  sich  am  Galvanometer 
die  Richtigkeit  des  Satzes  samt  der  Regel  konstatieren.  Um  umgekehrt  zu 
zeigen,  dafs  kein  Strom  im  Gleitstück  induziert  wird,  falls  bei  der  Bewegung 
keine  Kraftlinien  geschnitten  werden,  hat  Grimsehl  in  seiner  Cuxhavener 
Programmarbeit  von  1893  das  Feld  zweier  gleichnamiger  Pole  benutzt  und  die 
Gleitschienen  parallel  zu  den  sich  gegeneinander  aufbäumenden  Kraftlinien 
gestellt.  Ein  anderes  Verfahren  ist  von  Szymanski  aus  Berlin  im  7.  Bande 
der  Zeitschrift  f.  phys.  u.  ehem.  Unterricht  angegeben  worden.  Er  stellt  mit 
dem  räumlichen  Verlaufe  der  Kraftlinien  ganz  übereinstimmende  Kupferschienen 
her,  befestigt  sie  an  den  Poleu  seines  Magneten  und  läfst  nun  diesen  Kraft- 
linienschienen  entlang  das  Gleitstück  sieh  bewegen.  Auf  diese  Weise  wird 
auch  kein  Induktionsstrom  zu  stände  kommen.  Für  den  Nachweis  des  quanti- 
tativen Teiles  des  ersten  Satzes  möchte  ich  auf  die  Szymanskischen  Angaben 
im  schon  genannten  7.  Bande  der  Zeitschr.  f.  phys.  u.  ehem.  Unterricht  ver- 
weisen; hier  würden  die  Darlegungen  zu  zeitraubend  sein. 

Die  Begründung  des  II.  Hauptsatzes,  resp.  der  Maxwellschen  Regel  leitet 
Grimsehl,  dessen  Arbeit  übrigens  auch  auszugsweise  im  6.  Band  der  genannten 
Zeitschrift  enthalten  ist,  so  ein,  dafs  er  ein  mehrmals  rechtwinklig  gebogenes 
Drahtstück,  das  ein  einseitig  geöffnetes  Rechteck  darstellt,  um  eine  Achse,  die 
der  fehlenden  Seite  entspricht,  innerhalb  der  Kraftlinien  eines  homogenen 
Feldes  dreht. 

Bei  jeder  halben  Umdrehung  des  Drahtes  wird  das  Galvanometer  einen 
Stromstofs  anzeigen,  aber  so,  dafs  die  Stromrichtung  jedesmal  wechselt,  wenn 
der  Leiter  die  höchste  oder  tiefste  Stelle  erreicht  hat,  da  ja  in  diesem  Augen- 
blicke die  Bewegung  parallel  zu  den  Kraftlinien  erfolgt.  Am  raschesten  werden 
die  Kraftlinien  geschnitten,  wenn  der  Leiter  in  halber  Höhe  steht,  so  dafs  da 
der  gröfste  Stromstofs  zu  erwarten  ist. 

An  zweiter  Stelle  verwendet  nun  Grimsehl  ein  vollständig  geschlossenes 


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K.  Hünlich:  Die  Einführung  der  Kraftlinien  in  den  Physikunterricht  der  Gymnasien  53 

Rechteck,  bei  dessen  Drehung  um  die  Mittellinie  in  den  gegenüberliegenden 
Leiterteilen  entgegengesetzt  gerichtete  Ströme  erzeugt  werden,  so  aber,  dafs 
der  ganze  Leiter  in  einheitlichem  Sinne  vom  Strome  durchflössen  wird.  Auch 
hier  tritt  naturlich  mit  jeder  halben  Umdrehung  ein  Stromwechsel  ein  und 
zwar  in  dem  Augenblicke,  wenn  die  beiden  Hauptleiterteile  die  höchste  und 
niedrigste  Stellung  haben,  wenn  also  die  Rechtecksfläche  senkrecht  gegen  die 
Kraftlinien  steht.  Das  ist  aber  der  Moment,  in  dem  die  gröfste  Zahl  der  Kraft- 
linien durch  die  Stromfläche  geht.  Bei  horizontaler  Lage  der  Rechtecksfläche 
können  keine  Kraftlinien  durch  sie  hindurchgehen;  ehe  aber  diese  Lage  erreicht 
wird,  hat  die  Zahl  der  Kraftlinien  abgenommen,  wie  sie  nachher  wieder  wächst. 
Beachtet  man  noch,  dafs  wir  vor  und  nach  der  horizontalen  Stellung  die 
Rechtecksfläche  von  verschiedenen  Seiten  sehen,  so  erkennt  man  sofort  die 
Richtigkeit  der  Maxwellschen  Regel.  Bei  fortgesetzter  Drehung  liefert  das 
Rechteck  natürlich  einen  Wechselstrom,  der  sich  aber  leicht  durch  eine 
Kommutatoreinrichtung  in  einen  Gleichstrom  umwandeln  Iäfst.  Um  noch  zu 
zeigen,  dafs  bei  Verschiebung  eines  Rechteckes  im  homogenen  Felde,  wo  zwar 
Kraftlinien  geschnitten  werden,  aber  so,  dafs  die  Zahl  der  durch  die  Fläche 
gehenden  Linien  sich  nicht  ändert,  kein  Induktionsstrom  zu  stände  kommt, 
genügt  es  darauf  hinzuweisen,  dafs  in  je  zwei  gegenüberliegenden  Leiterteilen 
gleichsinnige  Induktionsströme  entstehen,  die  sich  im  geschlossenen  Leiter 
natürlich  wegen  ihres  entgegengesetzten  Laufes  aufheben. 

Die  Erzeugung  von  Induktionsströmen  erfolgt  übrigens  ebenso,  wenn  an 
Stelle  des  Leiters  die  Kraftlinien  oder  ihre  Träger  sich  bewegen.  So  entstehen 
Induktionswirkungen  durch  Öffnen  und  Schliefsen  oder  durch  Änderung  in  der 
Starke  des  Stromes,  durch  Bewegungen  von  Magneten  oder  auch  wenn,  wie 
beim  Telephon,  Eisenmassen  im  Felde  bewegt  werden. 

Nun  schliefst  sich  sehr  einfach  die  Erläuterung  des  Siemensschen  Cylinder- 
induktors  an.  Man  läfst  nur  an  Stelle  des  einen  oben  besprochenen  Rechteckes 
mehrere  solcher  Windungen  sich  bewegen,  dann  wird  die  Wirkung  verstärkt, 
da  ja  die  einzelnen  Windungen  einander  unterstützen.  Wenn  dann  endlich 
der  Raum  innerhalb  der  Drahtwindungen  mit  Eisen  ausgefüllt  wird,  so  saugt 
dies  die  Kraftlinien  des  Feldes  ein,  und  nun  können  viel  mehr  Kraftlinien 
durch  das  Rechteck  hindurchgehen  als  ohne  das  Eisen.  Damit  ist  in  einfacher 
und  anschaulicher  Form  diese  Maschine  erklärt.  Die  Erklärung  des  Grammeschen 
Ringankers  läfst  sich  zweckmäfsig  an  eine  Zeichnung,  wie  die  Sennewaldschen, 
angliedern.  Taf.  IV  derselben  zeigt  die  beliebige  Bewegung  einer  Stromschleife 
im  homogenen  Felde,  Taf.  V  stellt  die  Induktionsströme  eines  kreisförmigen 
Leiters  dar,  der  im  Felde  rotiert,  und  wenn  man  diesen  Vorgang  überträgt 
auf  ein  Feld,  wie  die  zweite  Figur  auf  Taf.  I  es  aufweist,  so  erkennt  man 
unter  Berücksichtigung  der  Maxwellschen  Regel  klar,  dafs  die  über  dem  Eisen- 
ringe bewegte  Stromschleife  von  der  Stellung  0  bis  180°  Strom  in  dem  einen, 
von  180  bis  360°  Strom  im  entgegengesetzten  Sinne  liefert.  Zur  Gleichrichtung 
wäre  wieder  ein  Kommutator  zu  verwenden.  Nun  wird  die  eine  Drahtwindung 
durch  eine  Gruppe  nahe  beisammen  liegender  Windungen  ersetzt  und  damit  eine 


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54    K  Hünlich:  Die  Einführung  der  Kraftlinien  in  den  Physikunterricht  der  Gymnasien 


Steigerung  der  Wirkung  herbeigeführt.  Ferner  ist  leicht  ersichtlich,  dafs  der 
Eisenring  sein«  Aufgabe  des  Kraftlinienaufsaugens  ebensogut  erfüllen  kann, 
wenn  er  gedreht  wird,  wie  wenn  er  ruht. 

Man  könnte  also,  wie  Grimsehl  es  thut,  einen  teil  weisen  Ringanker  mit 
nur  einer  Windungsgruppe  herstellen  und  zwischen  den  Polen  eines  kraftigen 
Magneten  rotieren  lassen.  In  den  höchsten  und  tiefsten  Stellungen  der  Windungs- 
gruppe ist  dann  die  Stromstarke  0,  und  sie  hat  ihren  gröfsten  Wert  in  der 
Stellung  senkrecht  dagegen.  Brachte  man  jetzt  eine  zweite  Windungsgruppe  an, 
um  90°  gegen  die  erste  verschoben,  dann  würde  diese  das  Maximum  der  Strom- 
starke liefern  im  Augenblicke,  wo  die  andere  keinen  Strom  giebt,.und  damit  einen 
Ausgleich  herbeiführen,  indem  sie  das  Herabsinken  des  Stromes  auf  den  Null- 
wert hindert.  Noch  besser  ist  es,  vier  symmetrische  Windungsgruppen  mit  vier 
Kommutatorsektoren  zu  benutzen,  und  nun  liegt  es  auf  der  Hand,  dafs  zur 
Vollendung  des  Grammeschen  Ringes  lediglich  noch  eine  Vermehrung  der 
Windungsgruppen  und  der  Sektoren  vorzunehmen  ist. 

Das  ungefähr  ist  das  Ziel,  dem  ich  mit  der  Einführung  der  Kraftlinien 
in  unseren  Physikunterricht  zustreben  möchte.  Es  kann  wohl  kein  Zweifel  be- 
stehen, dafs  der  von  mir  flüchtig  angedeutete  Weg  den  Vorzug  gröfserer  Ein- 
heitlichkeit, grösserer  Anschaulichkeit  und  gröfserer  Einfachheit  gegen- 
über dem  alten  Verfahren  hat;  und  ich  meine,  wir  dürfen  nicht  mehr  zögern, 
den  Schritt,  den  die  Technik  gebieterisch  fordert,  zu  thun,  auch  wenn  wir 
noch  so  weit  davon  entfernt  sind  und  bleiben  müssen,  eine  Art  Vorschule  für 
Elektrotechniker  zu  sein. 

Dafs  innerhalb  der  von  mir  gezeichneten  Umrisse  der  individuellen  Be- 
handlung der  freiste  Spielraum  bleibt,  leuchtet  ein.  Ich  habe  ja  nur  andeuten 
wollen,  dafs  und  wie  es  möglich  ist,  die  Kraftlinien  in  der  Schule  zu  be- 
handeln. Und  wie  ich  mir  sehr  wohl  bewufst  bin,  absolut  nichts  Neues 
geboten  zu  haben,  bitte  ich  meine  Darlegungen  nur  auffassen  zu  wollen  als 
eine  Anregung  zum  Nachdenken  über  die  zweckmäfsige  Praxis  auf  diesem  Gebiete. 

So  sehr  ich  nun  der  Einführung  der  Kraftlinien  in  unseren  Physikunter- 
richt das  Wort  reden  möchte,  so  zweifelhaft  erscheint  es  mir,  ob  mit  der 
Heranziehung  des  Potentiales  ein  richtiger  und  nützlicher  Schritte  gethan  würde. 

Es  mag  sich  vielleicht  bei  Anstalten,  die  den  Physikunterricht  in  konzen- 
trischen Kursen  erteilen,  die  Behandlung  des  Potentiales  auf  der  Oberstufe 
rechtfertigen  lassen;  dafs  wir  in  Sachsen  aber  unseren  Untersekundanern  mit 
dem  Potentiale  unter  die  Augen  gingen,  will  mir  unthunlich  erscheinen.  Es 
kann  niemand  leugnen,  dafs  der  Potentialbegriff  für  Schüler  seine  ganz  erheb- 
lichen Schwierigkeiten  hat,  und  sie  bleiben  auch  bestehen,  mag  man  nun  das 
Potential  als  Arbeit  oder  Elektrizitätsgrad,  als  Ladungsgrad  oder  Zustand  im 
Felde  definieren.  Und  in  meiner  Auffassung  bestärkt  mich  auch  der  Gedanke, 
dafs  wir  doch  der  Universität  auch  noch  einigen  Lehrstoff  in  der  Physik  übrig 
lassen  müssen,  und  die  Lehre  vom  Potential  ist  nach  meiner  Überzeugung  der 
Hochschule  viel  mehr  angemessen  als  der  Sekunda  des  Gymnasiums. 


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I 


DIE  GESUNDHEITSPFLEGE  BEIM  MITTELSCHULUNTERRICHTE 


Von  Alexander  Weinberg 


Grofse  Anforderungen  stellt  in  unserer  Zeit  das  Leben  an  die  geistige 
Kraft  des  Einzelnen.  Mit  vielseitigen  und  gründlichen  Kenntnissen  mufs  der 
Mann  ausgestattet  sein,  um  es  zu  einer  entsprechenden  Lebensstellung  zu 
bringen  und  hernach  im  Berufe  den  Wettbewerb  der  Existenz  siegreich  be- 
stehen zu  können.  Diesen  Anforderungen  der  Zeit  an  die  Intelligenz  des 
Einzelnen  sollen  und  müssen  die  Erziehung  und  die  Schule  gerecht  werden. 

Aber  nicht  nur  die  Pflege  des  Geistes  und  die  Erziehung  in  den  Grenzen 
der  Sitte  und  Religion  sind  die  ernsten  Ziele  der  Schule,  auch  für  die  körper- 
liche Entwicklung  mufs  sie  Sorge  tragen.  Die  Jugend  ist  das  kostbare 
Gut  der  Familie  und  damit  ein  wohl  zu  hütendes  Kapital  des  Staates. 
Und  die  Aufgabe  des  Staates  ist  es,  darauf  zu  sehen,  dafs  die  Heranbildung 
unserer  Kinder  keine  einseitig  geistige  sei,  sondern  in  harmonischer  Weise 
Geistes-  und  Körperbildung  sich  vereinigen,  damit  einst  dem  Staate  tüchtige, 
gesunde,  wehrhafte  Männer  erwachsen. 

Die  Ansicht,  dafs  es  Pflicht  der  Schule  sei,  für  die  körperliche  Entwicke- 
lung  der  Jugend  zu  sorgen,  ging  von  England  aus,  wo  schon  lange  in  den 
Colleges  und  Schulen  der  Pflege  des  Körpers  das  gröfste  Gewicht  beigelegt 
wurde.  Dort  waren  und  sind  es  in  erster  Linie  die  Jugend  spiele,  welche 
während  des  elementaren  Unterrichts,  in  der  Mittelschule  und  auf  den  Hoch- 
schulen gepflegt  und  geübt  werden.  Daneben  ist  es  der  Wassersport  und 
andere  Körperübungen,  die  mit  ihren  Wettspielen  zu  wahren  Festlichkeiten 
werden.  In  Deutschland  und  Osterreich  bot  zuerst  der  Unterricht  im  Turnen 
Gelegenheit,  diese  Seite  im  Gesamtunterrichte  der  Jugend  zu  üben.  An  den 
Realschulen  Österreichs  ist  der  Turnunterricht  ein  obligatorisches  Lehrfach,  und 
die  Turnlehrer  sind  zumeist  akademisch  gebildet.  Die  Gymnasien  Österreichs 
dürften  auch  bald  das  Turnen  allgemein  als  Unterrichtsgegenstand  einführen, 
nachdem  es  bisher  nur  als  freier  Lehrgegenstand  gegolten  hat. 

Erst  seit  wenigen  Jahren  wird  nun  auch  den  Jugendspielen  und  manchen 
sportlichen  Übungen,  wie  Schlittschuhlaufen,  Skielaufen,  Schwimmen  besondere 
Aufmerksamkeit  zugewendet.  Es  ist  nur  natürlich,  dafs  die  in  der  Jugend  ge- 
pflegten Spiele  auch  noch  später  im  Mannesalter  zu  vielen  Zerstreuungen  Ver- 
anlassung geben;  an  die  Stelle  der  Jugendspiele  treten  dann  die  Volksspiele, 
als  sportliche  Vergnügungen  aller  Art,  wie  dies  in  England  heute  der  Fall 
ist  und  wie  es  in  Belgien  und  den  Niederlanden  schon  vor  Jahrhunderten  ge- 
wesen, was  uns  die  Bilder  eines  Brueghel,  Teniers,  Snyders  u.  s.  w.  in  so  schöner 
Weise  zur  Anschauung  bringen. 

Die  Jugendspiele  sollten  daher  ein  integrierender  Teil  der  Erziehung 
unserer  Jugend  in  den  Mittelschulen  sein;  sie  mögen  dem  Turnunterrichte  an- 


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5G  A.  Weinberg:  Die  Gesundheitspflege  beim  Mittelschulunterricht« 

gegliedert  werden.  Es  ist  eine  gerechte  Forderung,  dafs  die  Städte  und  der 
Staat  genügend  greise  Spielplätze  der  Jugend  zur  Verfügung  stellen  und  dafs 
beim  Umbau  oder  der  Neuerrichtung  der  Schulen  auf  einen  beim  Schul- 
gebäude gelegenen  Spielplatz  genügend  Rücksicht  genommen  werde. 

Die  Fürsorge  des  Staates  für  die  Gesundheit  der  heranwachsenden  Jugend 
äufsert  sich  aber  auch  in  den  hygienischen  Einrichtungen  im  Schulgebäude  selbst. 

Auf  all  die  Einzelheiten  und  Vorschläge,  die  in  dieser  Richtung  gemacht 
wurden,  näher  einzugehen,  würde  zu  weit  führen.  Nur  über  Ventilation 
und  Beleuchtung  möchte  ich  einige  kurze  Bemerkungen  machen. 

Bezüglich  der  Ventilation  seien  in  den  Schulen  die  besten  Systeme,  die 
geräuschlos  funktionieren,  in  Anwendung  gebracht.  Im  Notfalle  müfste  von 
der  einfachsten  Ventilation,  bestehend  im  Öffnen  von  Thüren  und  Fenstern, 
Gebrauch  gemacht  werden.  An  vielen  Anstalten  besteht  der  Zwang,  während 
der  Respirien  die  Klassen  von  den  Schülern  zu  evakuieren  und  alle  Fenster  zu 
öffnen,  desgleichen  stets  nach  Schulschlufs  durch  öffnen  der  Fenster  für  den 
genügenden  Luftwechsel  Sorge  zu  tragen.  Wie  notwendig  die  Ventilation 
ist,  haben  mich  vielfache  Kohlensäurebestimmungen  in  Schulzimmern  gelehrt 
und  beweisen  auch  die  mafsgebenden  Versuche  Pettenkofers.  Nach  Petten- 
kofer  wirkt  die  Luft  schon  bei  einem  Kohlensäuregehalt  von  0,1  Volum- 
prozenten auf  die  Geruchsorgane  und  macht  sich  das  Bedürfnis  nach  Erneuerung 
der  Luft  fühlbar.  Es  erzeugt  Wohnungsluft  mit  1 — 5%  per  Mille  Kohlen- 
säure bei  vielen  Menschen  Kopfschmerzen,  Schwindel  und  Übelkeit  Petten- 
kofer  hat  daher  den  Kohlensäuregehalt  von  1  per  Mille  als  den  Grenzwert  für 
gute  Luft  festgesetzt.  Die  Störungen  des  Allgemeinbefindens  sind  indessen 
durchaus  nicht  der  Kohlensäure  selbst  zuzuschreiben,  sondern  vielmehr  anderen, 
gleichzeitig  der  Luft  zugeführten  Produkten  der  Respiration  und  Perspiration, 
die  noch  nicht  genau  bestimmt  sind  und  schlechter  Zimmerluft  den  unan- 
genehmen Geruch  geben.  Die  Kohlensäure  dient  daher  nur  als  Mafsstab  für 
die  Luftverschlechterung.  Der  Grenzwert  von  1  %  läfst  sich  aber  nicht  ein- 
halten; wir  müssen  zufrieden  sein,  wenn  der  Kohlensäuregehalt  2 — 3  per  Mille 
nicht  übersteigt.  3 — 6%o  Kohlen  Säuregehalt  sind  indessen  entschieden  als  un- 
zulässig zu  bezeichnen.  Und  trotzdem  liefs  sich  in  gefüllten  Klassen  bei  ge- 
schlossenen Thüren  und  Fenstern  sowie  mangelnden  Ventilationseinrichtungen  eine 
Kohlensauremenge  von  8 — 10  %o  nachweisen.  Im  Friedrich- Wilhelms-Gymnasium 
in  Berlin,  welches  Kachelofenheizung  besafs  und  wo  keine  Ventilation  vorhanden 
war,  betrug  der  Kohlensäuregehalt  der  Klasse  Sexta  A  am  19.  Februar  1883: 


Temperatur 

Kohlensaure 

Luftffebalt 

Zeit 

der  tuTeeren 

der  Zimmer- 

per  Mille 

M 

Luft 

Infi 

in  der  Klane 

Durchschnitt 

Kohlensaure 

..   - 

8" 

—  6,0 

+  io.o 

» 

9 

—  4,26 

+  12,25 

3,6 

10 

—  3 

+  13,5 

6,6 

5,5 

0,1 

11 

-1,5 

-f  l*.ß 

6,8 

12 

0,0 

4- 14.5 

7.3 

1 

1,0 

+  16,25 

S.3 

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A.  Weinberg:  Die  GeaundheitepHege  beim  Mittelschulunterrichte 


57 


Der  Kohlensäuregehalt  stieg  also  in  dieser  nicht  ventilierten  Klasse  vom 
Beginne  des  Unterrichts  bis  zum  Schlüsse  unausgesetzt  und  erreichte  am  Ende 
der  Unterrichtszeit  eine  Höhe  von  8,3%,  wahrend  die  Aufsenluft  einen  Gehalt 
von  nur  0,5  hatte  und  die  Grenzwerte  einer  Zimmerluft  2 — 3%  betragen. 
Heute  dürften  auch  an  dieser  Lehranstalt  die  Verhältnisse  günstiger  liegen. 

Interessant  ist  auch  der  Umstand,  dafs  nach  den  Unterrichtspausen  bei 
offen  gehaltenen  Fenstern  und  Thüren  der  Kohlensäuregehalt  aufserordentlich 
niedrig  ist,  um  nach  Unterrichtsbeginn  gleich  wieder  zu  steigen. 

Fast  Aber  alle  sanitären  Verhältnisse  der  Schulen  liegen  bereits  Unter- 
suchungen vor.  So  hat  unter  anderen  Cohn  in  Breslau,  der  bekannte 
Botaniker,  mittelst  eines  Photometers  verschiedene  zu  Vorhängen  benutzte 
Stoffe  auf  ihre  Lichtdurchlässigkeit  und  daraus  folgende  Brauchbarkeit  für 
Schulen  untersucht  Zu  den  guten  Vorhängen  zählt  er  solche,  die  44 — 50% 
rotes  und  21 — 45%  grünes  Licht  durchlassen.  Es  sollen  nur  jene  Stoffe  ge- 
wählt werden,  die  diesen  Bedingungen  genügen;  das  sind  weifser,  feinfädiger 
Shirting,  Garn  oder  cremefarbiger  Köper  und  weifser  Dowlas.1) 

Ruebe  in  München  untersuchte  die  Luft  der  Schulzimmer  auf  Bakterien. 
Die  Prüfungen  fanden  immer  nachmittags  um  2Y3h  statt  und  ergaben  auf 
1  cm3  Luft  zwischen  1500  und  3  Mill.  Bakterien.  Darunter  fand  er  auch 
einen  neuen  Bacillus,  der  für  Mäuse,  Meerschweine  und  Kaninchen  totlich  wirkte.9) 

Mit  der  Beleuchtung  werde  in  Schulräumen,  namentlich  solchen,  wo 
gezeichnet  oder  geschrieben  wird,  ja  nicht  gespart.  Ein  grofser  Teil  der 
Studenten  holt  sich  seine  Kurzsichtigkeit  in  der  Schule.  In  grofsen  Klassen, 
bei  weiter  Entfernung  der  Schultafel,  erscheint  im  Dämmerlicht  das  An- 
geschriebene oft  so  undeutlich,  dafs  die  Schüler  durch  zu  scharfes  Sehen 
sich  die  Augen  Oberanstrengen.  Indem  die  Schüler  dann  in  das  Heft  ihres 
Nachbars  blicken,  wird  das  Auge  durch  den  seitlichen  Blick  noch  mehr  gereizt. 

In  den  Schulen  mufs  für  eine  ausgiebige  Tafelbeleuchtung  gesorgt  sein. 
Unter  den  künstlichen  Lichtquellen  verdient  das  elektrische  Bogen-  und 
Olühlicht  an  erster  Stelle  genannt  zu  werden.  Bei  Gaslicht  scheue  man 
nicht  die  guten  und  sparsamen  Auerschen  Brenner.  Ferner  lenke  man 
beute  schon  die  Aufmerksamkeit  dem  Acetylen  zu,  das  eine  ruhige,  rein 
weifse  Flamme  giebt  und  dessen  Herstellung  in  jedem  Schulgebäude  für  sich 
allein  durchgeführt  werden  kann. 

Wenden  wir  uns  nun  der  Hygiene  beim  Unterrichte  zu.  Die  Hygiene 
oder  Gesundheitslehre  sollte  dem  Lehrplane  einer  jeden  Lehranstalt  eingefügt 
werden.  Da  dies  bis  jetzt  an  unseren  Mittelschulen  nicht  gut  durchführbar  war, 
möge  sich  jeder  Lehrer  das  Moment  der  Gesundheitspflege  vor  Augen  halten 
and  in  diesem  Sinne  auf  seine  Schüler  Einflufs  zu  gewinnen  suchen.  Es  ge- 
schieht dies  ja  in  sehr  vielen  Fällen.  So  sehen  z.  B.  die  Fachlehrer  jener 
Gegenstände,  in  denen  an  der  Tafel  geschrieben  wird,  seit  jeher  darauf,  dafs 


'>  Deutsche  med.  Wochenschrift  1896,  Nr.  17. 
*>  Münch,  med.  Wochenschrift  1896,  Nr.  17. 


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58 


A.  Weinberg:  Die  Gesundheitspflege  beim  Mittelscbulunterrichte 


auf  der  sauberen  Tafel  nur  mit  dicken  Kreidestrichen  gearbeitet  werde.  Bei 
dem  Entwerfen  von  geometrischen  Zeichnungen  an  der  Tafel,  wo  oft  viele 
Linien  auftreten,  wird  sich  für  Hilfslinien  die  Anwendung  farbiger  Stifte 
empfehlen.  Man  achte  beim  Unterrichte  in  allen  Gegenständen  darauf,  dafs 
die  in  der  Bank  schreibenden  Schüler  eine  korrekte  Haltung  bewahren.  Zahl- 
reich Bind  die  Winke,  die  man  den  Schülern  heim  Unterrichte  im  Turnen,  bei 
den  Jugendspielen,  gelegentlich  der  Schfilerausflüge  u.  s.  w.  zu  geben  vermag. 
So  kann  jeder  Lehrer  in  hygienischem  Sinne  auf  seine  Schüler  Einflufa  ausüben. 

Ganz  besonders  ist  aber  der  Fachlehrer  der  Naturgeschichte, 
Physik  und  Chemie  in  der  Lage,  durch  die  dem  Unterrichte  ein- 
gestreuten Bemerkungen  über  die  Pflege  der  Gesundheit  belehrend 
auf  seine  Schüler  einzuwirken. 

Schon  während  des  elementaren  naturgeschichtlichen  Unterrichts 
vermag  man  beim  Beschreiben  und  Vergleichen  verschiedener  Tierformen  diese 
Vergleichung  auf  den  Menschen  auszudehnen,  wodurch  Gelegenheit  geboten 
wird,  bereits  auf  der  Unterstufe  einzelne  Organe  dos  Menschen  in  den  Kreis  der 
Betrachtung  zu  ziehen.  Die  Betrachtung  der  Gliedmafsen  und  Körperbedeckung 
lenkt  die  Aufmerksamkeit  auf  die  Haut  und  Nägel  hin.  Man  beleuchte  deren 
Zweck,  ihre  Pflege,  und  füge  einige  Worte  über  die  Reinlichkeit  der  Hand, 
das  Waschen  und  Baden  des  Körpers  an.  Das  Gebifs  der  Tiere  führt  zu  den 
Zähnen  des  Menschen.  Es  läfst  sich  vom  Zahnwechsel,  der  Reinigung  und 
Pflege  der  Zähne  sprechen.  Die  grofse  Muskelkraft  der  Raubtiere  gestattet 
einen  Seitenblick  auf  die  Muskeln  des  Menschen,  und  man  wird  nicht  umhin 
können,  auf  die  Kräftigung  der  Muskulatur  durch  das  Turnen,  Schwimmen, 
Eislaufen,  Spielen  u.  s.  w.  aufmerksam  zu  machen.  Ebenso  bietet  diese  Tier- 
gruppe Gelegenheit,  über  das  Auge  und  Ohr  einiges  zu  sagen.  Es  wird  der 
Jugend  einzuschärfen  sein,  nicht  bei  Dämmerlicht  zu  lesen  oder  zu  schreiben  und 
das  Studium  zur  Nachtzeit  zu  unterlassen.  Bemerkungen  über  die  Bedeutung 
des  Ohres,  dessen  Pflege,  Reinigung  u.  s.  w.  werden  ebenfalls  von  Nutzen  sein. 

Die  Beobachtung  der  im  Wasser  lebenden  Säuger  lehrt  die  Jugend,  dafs 
diese  Tiere  nicht  durch  den  Mund,  sondern  durch  die  Nase  atmen.  Man  er- 
weitere diese  Beobachtung  auf  den  Menschen.  Der  Lehrer  weise  die  Jugend 
darauf  hin,  dafs  auch  der  MenBch  durch  die  Nase  zu  atmen  habe,  um  die  Luft 
vorzuwärmen  und  vom  Staube  zu  reinigen.  Daran  lassen  sich  leicht  einige 
Bemerkungen  über  die  Respiration  und  die  Pflege  der  Lungen  knüpfen. 

Die  Wolle  des  Schafes  giebt  Gelegenheit,  vom  Tuche  und  der  mensch- 
lichen Kleidung  zu  reden:  'Kopf  kühl,  Füfse  warm!'  ist  auch  für  die  Jugend 
beherzigenswert.  Man  trete  der  Neigung  der  Knaben  für  allzuleichte  Be- 
kleidung im  Winter  entgegen  und  rate  von  der  Benützung  der  Halstücher, 
Ohrlappen  u.s.  w.  ab.  Solche  Besprechungen  nehmen  nur  aufserordent- 
lich  geringe  Zeit  in  Anspruch,  fesseln  aber  die  Aufmerksamkeit  der 
Schüler,  erweitern  ihre  Kenntnisse  und  tragen  zur  Gesundheits- 
pflege bei. 

Die  Botanik  giebt  Veranlassung,  von  den  efsbaren  und  giftigen  Schwämmen, 


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A.  Weinberg:  Die  Gesundhei topflege  beim  Mittelacbulunterrichte 


50 


Ton  Gift-,  Nähr-  und  Arzeneipflanzen  zu  sprechen.  Der  eifrige  Lehrer  wird 
von  Zeit  zu  Zeit  landschaftliche  Schilderungen  an  der  Hand  guter  Bilder  den 
Schülern  entwerfen,  um  deren  Phantasie  anzuregen  und  die  abgehandelten 

ganz  gut 

Bemerkungen  über  den  Nutzen  des  Waldes,  die  Schädlichkeit  der  Sümpfe,  den 
Vorteil  der  Hochgebirgsluft  u.  dgl.  einflechten.  Auf  botanischen  Spaziergängen, 
wo  ein  innigerer  Verkehr  des  Lehrers  mit  den  Schülern  möglich  ist,  kann  auf 
diese  Verhaltnisse  besonders  gut  eingegangen  werden. 

Ganz  ähnliche  Betrachtungen  vermag  man  auch  beim  naturgeschichtlichen 
Unterrichte  auf  der  Oberstufe,  allerdings  in  ausführlicherem,  dem  entwickelten 
Verstände  der  Schüler  angepafsten  Mafse  anzustellen.  In  der  Zoologie  bietet 
die  eingehende  Betrachtung  des  menschlichen  Baues  Gelegenheit,  auf  die 
Pflege  der  Organe  im  gesunden  und  kranken  Zustande  näher  einzugehen.  Die 
Botanik  veranlagst  den  Lehrer,  sich  über  die  Bakterien  und  die  Hygiene  der 
Infektionskrankheiten  zu  verbreiten.  Es  läfst  sich  über  den  Nährwert  der 
Cerealien  und  Hülsenfrüchte  sprechen,  und  werden  auch  manche  ausländische 
Kulturpflanzen,  wie  Gewürze,  Kaffee,  Tb.ee  nach  ihrer  Verfälschung,  ihrem 
Nutzen  und  Schaden  betrachtet  werden  können.  In  der  Pflanzenphysiologie 
kann  über  den  Nutzen  der  Pflanzen  im  Haushalte  der  Natur,  den  Kreislauf 
d«  Stoffes,  die  Düngung  und  andere  mehr  oder  weniger  hygienische  Momente 
berichtet  werden. 

Reichliche  Gelegenheit  zu  hygienischen  Betrachtungen  bietet 
der  Unterricht  in  der  Naturlehre.  Beim  Studium  der  Luft,  des  Sauer- 
stoffes und  Ozons  weise  man  auf  die  Bedeutung  dieser  Körper  für  die  menschliche 
Gesundheit  hin.  Die  Diffusionserscheinungen  regen  zu  lehrreichen  Betrachtungen 
der  Ventilation  an.  Eventuelle  Kohlensäurebestimmungen  im  Schulzimmer  bei 
geschlossenen  und  offenen  Fenstern  führen  den  Schülern  recht  anschaulich  die 
Notwendigkeit  der  Ventilation  und  Lüftung  vor  Augen,  so  dafs  sie  in  ihrem 
späteren  Berufe  gewifs  diesem  wichtigen  hygienischen  Umstände  Rechnung  zu 
tragen  sich  bemühen  werden.  Es  wird  sich  empfehlen,  die  Hygiene  des 
Trinkwssers  in  ausführlicher  Weise  zu  behandeln  und  auch  auf  die  Be- 
deutung des  Grundwassers  näher  einzugehen.  Die  Elektrizität,  der  Kohlen- 
stoff und  das  Leuchtgas  veranlassen  die  Besprechung  der  Beleuchtung  und 
Heizung  vom  hygienischen  Gesichtspunkte  aus  und  belehren  die  Jugend,  wie 
bei  Leuchtgas-  und  Kohlenoxydgasausströmungen  vorgegangen  werden  mufs, 
um  Unglücksfälle  zu  verhüten.  Die  giftigen  Metalle  und  Metallver- 
bindungen in  Bezug  auf  ihren  Heilwert  und  ihre  Schädlichkeit  fallen  eben- 
falls in  diesen  hygienischen  Teil  des  naturkundlichen  Unterrichtes.  Der  Alkohol 
und  die  geistigen  Getränke  lenken  auf  deren  Nutzen  und  Schaden  in  Bezug 
auf  die  Gesundheit  hin,  woran  sich  Vorsichtsmafsregeln  beim  Aufbewahren  des 
Weingeistes  knüpfen  lassen. 

Bei  manchen  Chemikalien  läfst  sich  die  Verwendung  als  Desinfektions- 
mittel angeben,  woran  man  eine  kurze  zusammenhängende  Schilderung  der 
Desinfektion  und  Antisepsis  schliefsen  kann,  mit  spezieller  Belehrung  des 


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A.  Weinberg:  Die  Gesundheitspflege  beim  Mittelschulunterrichte 


Vorgehens  bei  Epidemien,  Verwundungen  und  Verbrennungen.  Den  Heilwert 
der  AlkaloTde  lasse  man  bei  der  Behandlung  dieses  Teiles  der  organischen 
Chemie  nicht  unerwähnt,  und  stelle  ihre  Schädlichkeit  bei  stärkerem  Genüsse 
ins  rechte  Licht.  Hierbei  kann  auch  vom  Tabake  gesprochen  und  auf  seine 
gesundheitsschädliche  Wirkung  beim  Rauchen  im  jugendlichen  Alter  eingegangen 
werden.  Solche  vom  Fachlehrer  an  die  Schüler  gerichteten  Worte  wirken  oft 
mehr  als  Schulgesetze  und  Verordnungen  und  unterstützen  diese  sehr  häufig 
aufs  kräftigste. 

Die  Eiweifsstoffe  führen  den  Lehrer  zur  Nahrung  und  Besprechung 
der  rationellen  Ernährung  des  menschlichen  Körpers.  Einige  Worte  über 
unsere  wichtigsten  Nahrungsmittel,  wie  Fleisch,  Milch,  Butter,  Käse,  ihre 
Eigenschaften  im  guten  Zustande,  ihre  Verfälschungen  und  die  leichtere  Nach- 
weisung der  letzteren  werden  hier  am  Platze  sein. 

So  wie  es  hier  in  einzelnen  Fällen  angedeutet  wurde,  lassen  sich  manche 
hygienischen  Betrachtungen  in  den  naturwissenschaftlichen  Unterricht  einstreuen. 
Die  darauf  verwendete  Zeit  ist  kaum  nennenswert,  so  dafs  der  übrige  Unter- 
richt darunter  niemals  leiden  wird.  Die  dem  Lehrer  erwachsene  Mühe  wird 
reichlich  aufgewogen  durch  das  grofse  Interesse,  mit  dem  die  Jugend  diesen 
Erörterungen  folgt.  Die  Schüler  erkennen,  welche  praktische  Nutzanwendung 
naturwissenschaftliche  Kenntnisse  für  die  Gesundheit  des  Menschen  haben;  der 
Lerneifer  für  die  solche  Kenntnisse  vermittelnden  Gegenstände  wird  bedeutend 
gehoben.  Indem  der  Lehrer  auf  den  Nutzen  der  Reinlichkeit,  die  Mäfsigkeit 
im  Essen  und  Trinken,  die  Pflege  und  Schonung  der  Nerven  aufmerksam 
macht,  wirkt  er  in  hohem  Grade  ethisch  auf  die  Schüler  ein  und  fördert  so 
auch  ihre  sittliche  Erziehung. 

Durch  die  Erteilung  hygienischer  Winke  erhalten  Lehrer  und 
Schule  einen  wirksamen  Einflufs  auf  die  Gesundung  und  Erstarkung 
der  ihnen  anvertrauten  Jugend. 

Wir  erziehen  aber  unsere  Jugend  auch  zur  Gesundheit,  indem  wir  ihr 
Gelegenheit  bieten,  möglichst  oft  sich  im  Freien  zu  ergehen. 

Alle  diese  Umstände  bringen  es  mit  sich,  dafs  man  heute  der  Methodik 
des  Unterrichtes  jene  sorgfältige  Ausgestaltung  angodeihen  läfst,  die  notwendig 
ist,  um  der  Jugend  soweit  als  möglich  in  der  Schule  die  notwendigen  Kenni- 
nisse einzuprägen,  ohne  dafs  zur  Erreichung  dieses  Zieles  die  jungen  Leute 
stundenlang  und  des  Abends  ihren  Arbeiten  für  die  Schule  obliegen  müssen. 
Um  nun  diese  hygienischen  Anforderungen  mit  den  Bedingungen  des  Unter- 
richtes in  Einklang  zu  bringen,  liegt  der  Gedanke  nahe,  ob  man  nicht 
einen  wenn  auch  sehr  geringen  Teil  des  Unterrichtes  ganz  ins  Freie 
verlegen  sollte.  Dieser  Unterricht  im  Freien  könnte  an  die  Stelle  einzelner 
Unterrichtsstunden  treten,  oder  an  manchen  freien  Nachmittagen  stattfinden. 
Er  bestände  in  kleineren  oder  gröfseren  Studiengängen  ins  Freie, 
aber  nicht  nur  zur  Förderung  des  Unterrichtes  in  der  Naturgeschichte  und 
Chemie,  wie  schon  lange  üblich,  sondern  zur  Ausgestaltung  und  Vertiefung  des 
physikalischen,  geographischen,  historischen  und  Zeichenunterrichtes. 


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i 


A.  Weinberg:  Die  GegundheitspHege  beim  Mittelachulunterrichte 


61 


Solche  Studiengnnge  ins  Freie  haben,  wenn  auch  in  sehr  bescheidenem 
Mafse  unternommen,  doch  einen  bedeutenden  Wert.  Sie  verfolgen  ein  dem 
Unterrichte  direkt  zu  gute  kommendes  Ziel,  indem  die  Schaler  auf  den  Exkursionen 
Dinge  und  Vorgänge  zu  Gesicht  bekommen,  die  in  der  engen  Schulstube  nicht 
geboten  werden  können  und  den  Kreis  der  Anschauung  bedeutend  vergröfsern. 
Aus  diesem  erweiterten,  praktischen  Anschauungsunterrichte  folgen  aber  be- 
deutende Vorteile  für  die  formale  und  praktische  Heranbildung  unserer  Jugend. 
Bei  den  wissenschaftlichen  Landpartien  tritt  der  Lehrer  mit  seinen  Schülern 
in  innigen  Kontakt,  er  vermag  erläuternd  und  belehrend  in  jeder  Richtung 
Einflufs  zu  üben.  Die  Exkursionen  tragen  zur  Konzentration  des  Unter- 
richtes aufserordentlich  bei,  und  auf  einem  einzigen  derartigen  Ausfluge  kann 
praktisch  mehr  gelehrt  werden  als  in  vielen  Unterrichtsstunden.  Die  Zahl  der 
Unterrichtsstunden  könnte  infolgedessen  eingeschränkt  werden  und  doch  dasselbe 
Lehrziel  erreichen.  Wer  jemals  einen  solchen  Schulausflug  unternommen  hat, 
weifs,  mit  welchem  Jubel  und  welcher  Freude  sich  die  Schüler  daran  beteiligen. 
Der  eifrige  Lehrer  wird  als  wahrer  Freund  der  Jugend  auf  diesen  wichtigen, 
den  Schulunterricht  unterstützenden,  aber  auch  entlastenden  Lehrbehelf  gewifs 
nicht  verzichten,  zumal  da  hierdurch  die  Liebe  der  Schüler  zu  dem  Gegenstande 
und  ihrem  Lehrer  mächtig  gefördert  und  durch  den  Aufenthalt  im  Freien  der 
Jugend  Gelegenheit  zur  Erholung  geboten  wird. 

Möge  zum  Schlüsse  noch  darauf  hingewiesen  werden,  dafs  auch  an 
den  Volks-  und  Bürgerschulen,  sowie  an  allen  Bildungsstätten  für 
die  weibliche  Jugend  die  Hygiene  einen  Teil  des  Unterrichtes  bilden 
sollte.  Der  oft  nur  elementaren  Unterricht  geniefsende  Handwerker  und 
Gewerbsmann  wird  die  Lehren  der  Gesundheitspflege  nutzbringend  verwerten 
können  und  der  Gewerbehygiene,  dieser  aufserordentlich  humanen  Institution, 
das  richtige,  fördernde  Interesse  entgegenbringen.  Und  die  Mädchen  haben  in 
ihrem  künftigen  Berufe  als  Frauen  und  Mütter  die  Pflicht,  Kenntnisse  in  der 
Gesundheitslehre  und  dem  Samariterdienst  zu  besitzen,  um  ihren  Kindern  im 
kranken  und  gesunden  Zustande  hilfreich  zur  Seite  zu  stehen. 


I 


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ANZEIGEN  UND  MITTEILUNGEN 


ZU  GOETHES  IPHIGENIE 
I.  Goethe  und  Racine 
Im  neunton  Bande  des  Goethe-Jahrbuchs 
S.  238  hat  E.  v.  Lippmann  mit  Goethes  'Zwei 
Seelen  wohnen  ach  in  meiner  Brust'  Racines 
'Je  trouve  deux  hommes  en  moi' ')  zusammen- 
gestellt, und  ebenso  im  zwölfton  Bande  S.  2&8 
J.  Schneider  mit  dem  Liede  'Wer  nie  sein 
Brot  mit  Thränen  afs'  den  Monolog  Jocastes 
in  der  Thlbaide  des  französischen  Tragikers 
und  besonders  die  Verse: 

Voilä  de  ces  grands  dieux  la  supreme 

justice! 

Jusques  au  bord  du  crime  ils  conduisent 

nos  pas, 

IIb  nous  le  font  commettre  et  ne  l'excusent 

pas.  *) 

Ich  möchte  zu  diesen  beiden  Parallelen  eine 
dritte  fügen.  In  Racines  Phedre  Akt  8  Sc.  2 
sagt  Hippolyte: 

Quelques  crimes  toujours  pre*cedent  les 

grands  crimes; 
Quiconquc  a  pu  franchir  lex  bornes  legi- 
times , 

Peut  violer  enfin  les  droitB  les  plus  sacres, 
Et  jamais  on  n'a  vu  la  timide  innocence 
Passer  subitement  ä  l'extreme  licence. 
Der  Gedanke  —  ein  moralisches  'natura 
nihil  facit  per  saltum'  —  die  allmähliche 
Steigerung  des  Guten  wie  des  Bösen,  kehrt, 
selber  grandios  zu  der  Idee  einer  durch 
Generationen  sich  fortsetzenden  und  poten- 
zierenden ethischen  Reihe  gesteigert,  in 
Goethes  Iphigenie  wieder.  Den  Bericht  der 
Priesterin  von  den  Greueln  ihres  Hauses 
unterbrechend,  sagt  Thoas  in  der  ältesten 
Fassung  des  Stückes  Akt  I  Sc.  3:  'Es  wälzet 
böse  That  vermehrend  sich  ab  in  dem  Ge- 
schlecht', und  Iphigeuie  antwortet  mit  dem 

')  Ein  neuerer  Biograph  Racines,  P.  Mon- 
ceaux  (Paris  1892)  beginnt  seine  Darstellung 
mit  diesem  Gesänge,  einem  der  vier  für 
Saint-Cyr  gedichteten,  und  erzählt,  Louis  XIV. 
habe,  als  er  die  Strophen  Bingen  hörte,  zu 
Frau  von  Haintenon  gesagt:  'Madame,  voilä 
deux  hommes  que  je  connais  bien.' 
*)  Es  folgen  die  Worte: 
Prennent-us  donc  plaisir  ä  faire  des  cou- 

pables; 

Afin  d'en  faire,  apres,  d'illustres  miserables  ? 


Hinweis  auf  die  Allgemeinheit  der  Erscheinung, 
auf  das  sittliche  Entwicklungsgesetz:  'Ein 
Haus  erzeuget  nicht  gleich  den  Halbgott 
noch  das  Ungeheuer,  eine  Reihe  von  Edlen 
oder  Bösen  bringt  zuletzt  die  Freude  oder 
da«  Entsetzen  der  Welt  hervor.'  —  In  der 
letzten  Redaktion  hat  diese  Stelle  bekannt- 
lich unter  der  vollendenden  Hand  des  Dichten 
eine  bemerkenswerte  Umgestaltung  erfahren. 
Der  Gedanke  Belbst  ist  geblieben,  aber  er 
ist  anders  eingeführt  und  anders  verwendet, 
er  ist  direkt  auf  Iphigenie  selbst  bezogen. 
Entsetzt  bei  der  Vorstellung  ihrer  Zugehörig- 
keit zu  dem  unseligen  Stamm,  hält  sie  inne 
und  schickt  dann,  zum  Fortfahren  aufgefordert, 
der  weiteren  Erzählung  von  ihrer  Ahnen 
Schicksalen  die  schmerzliche  Betrachtung 
voraus : 

Wohl  dem,  der  seiner  Väter  gern  gedenkt. 
Der  froh  von  ihren  Thaten,  ihrer  Gröfse 
Den  Hörer  unterhält  und,  still  sich  freuend. 
Ans  Ende  dieser  schönen  Reihe  sich 
Geschlossen  sieht.    Denn  es  erzeugt  nicht 

gleich 

Ein  Haus  den  Halbgott  noch  das  Ungeheuer, 
Erst  eine  Reihe  Böser  oder  Guter 
Bringt  endlich  das  Entsetzen,  bringt  die 

Freude 

Der  Welt  hervor. 
Die  dramatische  Absicht  der  Änderung  ist 
leicht  erkennbar,  und  die  Erreichung  dieser 
Absicht  ist  unzweifelhaft.  Eine  leise,  nur 
aus  der  Geschichte  der  Stelle  sich  erklärende 
Unebenheit  läfst  sich  indessen  nicht  wohl 
leugnen,  und  es  ist  kein  Zufall,  und  philo- 
logisch nicht  uninteressant,  dafs  gerade  da, 
wo  die  aus  den  früheren  Fassungen  über- 
nommenen Worte  an  neugedichtete  angefügt 
sind,  dem  Interpreten  eine  gewisse  Schwierig- 
keit entsteht  und  darüber  gestritten  werden 
konnte  und  kann,  wohin  das  begründende 
'Denn'  zielt.  Die  ursprüngliche  Anknüpfung 
der  erklärenden  Erwiderung  Iphigenien»  — 
die  Befremdung  des  Königs  darüber,  daf« 
böse  That  vermehrend  sich  weiter  wälzt  — 
ist  weggefallen,  und  so  bleibt  die  Partikel 
undeutlich;  sie  kann  nur  auf  den,  für  eine 
so  gewichtige  Betrachtung  aber  zu  schwach 
accentuierten,  Ausdruck  'Schöne Reihe'  gehen. 
Zuzugeben  ist  freilich,  dafa  das  Gefühl  für 


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03 


die  bezeichnete  gelinde  Diskontinuität  durch 
die  Vergleichung  mit  der  ursprünglichen 
Form  der  Stelle  geschärft  wird. 

Um  auf  Racine  zurückzukommen,  so  hat, 
wie  Paul  Stapfer,  Goethe,  Paris  1880  S.  130, 
erwähnt,  G.  A.  Heinrich,  der  französische  Ver- 
fasser einer  Geschichte  der  deutschen  Litte- 
ratur,  auf  eine  Analogie  zwischen  Goethes 
Iphigenie  und  Racines  Blränice  hingewiesen: 
rLa  Situation  est  aemblable,  puisque,  dann 
les  deux  tragädies,  l'amour  s'immole  et  quo 
Titus  consent  au  dlpart  de  la  reine,  comme 
Thoas  a  celui  de  la  prgtresse.'  Stapfer  selbst 
fügt  hinzu:  'L'harmonie  generale  des  deux 
pieces  se  re*sume  dans  le  mot  de  la  fin  de 
chacune  d'elles:  le  dernier  mot  de  Bäränice 
est  un  triste  et  profond  soupir;  le  dernier 
mot  d'Iph  ig£nie  est  un  adieu  viril  etre'sigut?.' 
Vgl.  jetzt  auch  Herman  Grimm,  Deutsche 
Rundschau  1897  Bd.  »1  S.  124. 

(Nr.  II  folgt  im  nächsten  Hefte.) 

J.  IllEUtAKN. 


Theobald  Ziegleb,  Des  Kampf  gegen  die 

ÜXMASSIOEKIT   AUF  .ScHULE    UND  UnIVEBSITÄT 

(,  Vortrag,    gehalten    in    Heidelberg  am 

27.  Juli  1898) 
ist  mir,  der  ich  dabei  zunächst  nur  an  die 
Schule  als  das  Hauptgebiet  meiner  Thätig- 
keit  denke,  durchaus  sympathisch  bis  auf 
weniges.  Zu  diesen  Differenzpunkten  gehört 
der  Satz  bei  Ziegler,  dafs  'die  Pflege  von 
allerlei  Sport  in  Schülerkreisen  dem  Zwecke 
jenes  Kampfes  nicht  förderlich  sein  dürfte'. 
Darüber  urteile  ich  'anders,  und  ich  be- 
greife es  nicht  recht,  warum  Ziegler  dieses 
Hilfsmittel  für  die  Schule  verwirft,  während 
er  es  für  die  Studentenschaft  angelegent- 
lich empfiehlt  (S.  8).  Was  ist  es  denn 
hauptsächlich,  das  Gj  lunasiasten  zu  der  Ver- 
irrung  wüster  Kneiperei  verlockt?  Jugend - 
lust  und  Jugendmut,  die  »ich  auswirken 
wollen;  das  Bedürfnis  der  Geselligkeit;  die 
GrofamannsBucht ,  die  sich  gern  als  freies 
and  erwachsenes  Wesen  fühlen  möchte; 
endlich  der  Wetteifer,  der  sich  irgendwie 
unter  den  Altersgenossen  hervorzuthun  und 
eine  Überlegenheit  zu  bekunden  strebt.  Diese 
natürlichen  Triebe,  die  kein  vernünftiger 
Erzieher  gewaltsam  zu  unterdrücken  sucht, 
selbstverständlich  auch  der  praktische  und 
allem  Extremen  abgeneigte  Ziegler  nicht, 
müssen  von  stumpfsinnigem  Commentreiten 
und  ekelhafter  Völlerei  abgelenkt  werden 
zu  etwas  Besserem  und  Gesünderem.  Für  eine 
solche  pädagogisch  wichtige  Ablenkung 
ist  mir  schliefslich  jeder  Sport  gut  genug, 
sei  es  Radeln  oder  Rudern,  Fufsball  oder 


Faustball,  oder  was  sonst  unsere  Sach- 
verständigen Brauchbares  erfinden  mögen. 
Dabei  kann  die  Schule  anregend  und 
fördernd,  anderseits  auch,  wenn  die  Gymnastik 
zur  Athletik  auszuarten  droht,  einhemmend 
wirken.  Neben  dem  gymnischen  aber  können 
wir  doch  auch  mancherlei  für  den  fraglichen 
Zweck  Behr  nützlichen  musischen  Sport 
pflegen:  ich  meine  die  Ausbildung  des 
Kränzchen-  und  Vereinswesens  in  den  Ober- 
klassen für  musikalische  und  schöngeistige 
Betätigungen  verschiedener  Art;  neuerdings 
empfehlen  sich  dafür  besonders  auch  archäo- 
logische und  sonst  kunstwissenschaftliche 
Unterhaltungen.  Und  der  alte  Lateinschul- 
sport des  Komödiespielens  ist  ebenfalls  eine 
sehr  wirksame  Ableitung  in  dem  oben  an- 
gedeuteten Sinne.  Lehrer  von  Geist  und 
gutem  Geschmack,  denen  eine  über  die  un- 
mittelbaren Pflichten  des  Amtes  hinaus- 
gehende Opferwilligkeit  und  gegenüber 
etwaigen  burschikosen  Anwandlungen  ihrer 
Primaner  Unbefangenheit,  Takt  und  Libera- 
lität nicht  fehlen,  werden  als  Leiter  und 
Hüter  derartiger  Schülergeselügkeit  auch  für 
das  torquere  ab  obscenis  einen  recht  wohl- 
thätigen  Einflufs  ausüben. 

Was  Ziegler  über  die  zweifelhafte  Wirkung 
etwaiger  Drakonismen  der  Schulordnungen 
gegen  den  WirtshausbeBuch  sagt,  ferner  über 
die  grofse  Bedeutung  einer  strengen  Arbeits- 
zucht im  Gegensätze  zu  weichlichen  Ent- 
bürdungsbestrebungen ,  endlich  über  den 
hohen  Wert  des  guten  Vorbildes  der  Er- 
wachsenen und  darüber,  dafs  in  Sachen  der 
Temperenz  die  häusliche  Erziehung  mars- 
gebend sei  und  die  Schulerziehung  daneben 
oder  dagegen  wenig  leisten  könne,  das  unter- 
schreibe ich  alles  mit  voller  Zustimmung. 
Über  das  Unwesen  der  geheimen  Schüler- 
verbindungen drängt  es  mich  zu  den  Ziegler- 
schen  Andeutungen  ergänzend  noch  etwas 
hinzuzufügen.  Wenn  eine  Schülerverbindung 
entdeckt  wird,  ergiebt  sich  nicht  selten,  dafs 
sie  ihre  eigenen  sogenannten  alten  Herren 
hat,  die  durch  den  Besuch  der  Sitzungen 
dieser  grünen  Neo  -  Alemannia  und  durch 
andere  Formen  der  persönlichen  Teilnahme 
den  groben  Unfug  sanktionieren  und  fördern, 
und  das  sind  nicht  etwa  nur  adulescentuli, 
die  selbst  eben  noch  auf  der  Schulbank  ge- 
sessen haben,  sondern  auch  reifere  Leute, 
Männer  in  Amt  und  Würden,  die  das  Un- 
verantwortliche und  Sündhafte  einer  solchen 
Begünstigung  erkennen  müfsten.  Die  obersten 
Schulbehörden  haben  scharfe  Verordnungen 
gegen  die  Schülerverbindungen  erlassen: 
sollten  sie  nicht  auch  Mittel  und  Wege 
finden   können,  um  jenen  gedanken-  und 


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gewissenlosen  Verführern  der  Jugend  ihr 
Treiben  zu  verleiden  und  zu  erschweren? 

Nicht  einverstanden  bin  ich  damit,  dafs 
Ziegler,  wo  er  von  der  Schule  spricht,  neben 
der  sinnlichen  Genufssucht  als  einen  anderen 
ebenbürtigen  Feind  de«  Idealismus  ausdrück- 
lich das  Strebertum  nennt.  Was  wäre 
denn  ein  verwerflicher  Streber  in  der  Schule? 
Ich  lasse  diesen  mir  tiefverhafsten  Ausdruck, 
den  zunächst  doch  nur  der  giftige  Neid  der 
Dummheit  und  der  Faulheit  gegen  das  Talent, 
den  Pflichteifer  und  den  Fleifs  gemünzt  hat, 
als  pädagogischen  Begriff  schlechterdings 
nicht  gelten,  obgleich  ihm  wunderlicher 
Weise  die  pädagogische  Encyklopädie  von 
Rein  einen  besonderen  Artikel,  freilich  auch 
mit  einer  sehr  unsicheren  Darstellung  der 
Sache  gewidmet  hat. 

Beiläufig  möchte  ich  hier  noch  den  armen 
Victor  von  Scheffel  gegen  Ziegler  in 
Schutz  nehmen,  der  mit  ihm  nicht  nur  in 
der  geschichtlichen  Einleitung  seines  Heidel- 
berger Vortrags,  sondern  auch  in  seinem 
neuen  Werke  über  die  geistigen  und 
sozialen  Strömungen  des  neunzehnten 
Jahrhunderts  (S.  840  f.)  in  einer  nach 
meiner  Auffassung  unbilligen  Weise  ins 
Gericht  geht.  Er  spricht  davon,  dafs  die 
Keaktäon  der  fünfziger  Jahre  einem  öden, 
in  Ii  altsleeren  und  begeisterungsloBen  Kneip  - 
leben  in  der  deutschen  Studentenschaft 
förderlich  gewesen  sei.  Das  ist  gewifs  richtig, 
schon  der  Natur  der  Sache  nach;  aus  per- 
sönlicher Erfahrung  kann  ich  es  allerding* 
nicht  bestätigen,  da  meine  Studentenzeit  erst 
an  das  Ende  dieser  Periode  fällt  (1869—1862), 
wo  schon  ein  ganz  anderer  frischer  Wind 
wehte.  Wenn  nun  aber  Z.  den  Beweis  für 
das  fade  und  völlerische  Treiben  aus  der 
damals  bei  den  Studenten  beliebten  Poesie 
geben  will  und  als  solche  lediglich  Scheffeische 
Lieder  anführt,  so  ist  das  zunächst  chrono- 
logisch nicht  richtig;  denn  die  bewufsten 
Durstlieder  Scheffels  sind  bekanntlich  weit- 
aus zum  gröfsten  Teile  überhaupt  erst  Mitte 


der  fünfziger  Jahre  entstanden,  wo  die 
schlimmste  Reaktion  schon  vorüber  war, 
und  als  Kommerslieder  verbreitet  haben  sie 
sich  noch  später;  als  ich  studierte,  waren 
erst  einige  wenige  von  den  naturgeschicht- 
lieben  Scherzen  aus  den  Fliegenden  Blättern 
in  die  Kommersbücher  übergegangen;  die 
Blütezeit  dieser  Poesie  fällt  in  das  der 
Reaktion  folgende  Jahrzehnt  des  erneuten 
politischen  Aufschwungs.  Aber  auch  ab- 
gesehen davon:  in  dieser  scheinbaren  Ver- 
herrlichung des  unersättlichen  Durstes  und 
unermüdlichen  Saufens  ist  doch  die  Ironie  zu 
handgreiflich,  und  die  komische  Resignation, 
mit  der  die  darin  verewigten  gänzlich  ver- 
bummelten Helden  schliefslich  sich  hinaus- 
werfen oder  auspfänden  oder  vom  Zipperlein 
plagen  lassen  oder  sonstwie  verkommen,  bat 
doch  bei  allem  Ulk  der  Behandlung  einen 
zu  kräftigen  Zusatz  von  dem  Gefühle  wohl- 
verdienter Nemesis,  als  dafs  man  dem  Dichter 
vorwerfen  könnte,  der  Studentenschaft  seiner 
Zeit  mafslose  Zechlust  suggeriert  zu  haben 
In  dieser  Beziehung  dürfte  der  Herr  von 
Rodenstein  nicht  verführerischer  sein  als 
Falstaff  oder  Siebel,  Brander  und  Genossen. 
Und  was  endlich  den  Humor  dieser  anspruchs- 
losen Bierzeitungspoesie  anlangt,  so  empfehle 
ich  zu  richtiger  Abschätzung  in  dem  all- 
gemeinen Reichskommersbuch  für  deutsche 
Studenten,  von  dem  mir  die  achte  Auflage 
zur  Hand  ist,  die  Seiten  416—630  durch- 
zuprüfen. Auch  das  Schmollis  S.  392  'Brüder, 
was  jubelt  ihr  lustig  daher*  eignet  sich  zu 
einer  Vergleichung,  namentlich  die  ge- 
schmackvolle zweite  Strophe: 
Schwangere  Fässer  mit  blutendem  Mund 
Thun  die  Entbindung  durch  Seufzen  uns  kund. 
Und  ihre  Kinder  mit  dumpfem  Gebrumm 
Laufen  als  Kater  dann  morgen  herum. 
Ziegler  nennt  den*  Scheffeischen  Humor  'dünn' ; 
ja,  der  übrige  Humor  in  dem  bezeichneten  Ab- 
schnitte ist  allerdings  gröfsten  teils  dicker  oder, 
lateinisch  ausgedrückt,  crassior  vel  pinguior. 

RichjlBD  Richter. 


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IUR  DEUTSCHEN  GESCHICHTE  • 
KD  LITTERATUR  AUS  DEM  VERLAGE 
PN-  B.  G.  TEUBNER  fN  LEIPZIG. 

ISMARCKS  REDEN  UND  BRIEFE .  ■ 


SERE  MUTTERSPRACHE  

URGESCHICHTLICHE  VOLKS- 
CHEN  AUS  NAH  UND  FERN  

gab.  b-  -A  i .  — 

HILDEBRAND   


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iparen,  andareraclta  ihnen  au  ermöglichen ,  In 
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*(  tat  ao  grofi  gewählt,  data  ein  ordnunga- 
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Tta  AbaekBlUen  «u  erhalten, 
ng  der  gamwlaag  hat  Baktor  Dr.  Trenbar 
iWuouimen 


TEÜBNERS  S  C HÜLE  RAUS  GABE  N  ffi  GRIECH.U.  LAT.  SCHRIFTSTELJ 


>repot»'  Lebensbeschreibungen  i.  Auaw.  8 
2-  Aofl-  Vqd  0ber1'  Dr  FQK°or  (Hann 

1.  Text.    M.  S  Karten    Mb.  Ji  1.— 

2.  DIIMcft.  M.  Abb.  geb.  .*  I  — 1  ir/3.  Krkllra 
.1.  Kommentar,   erb.  Jt  —  .00.        j      Mb.  1. 

Cmhäit*  (JalHHcher  Krieg.  8.  bez.  S.  Aull. 
Oberl.  Dr.  Fugner  (Hanno t er).   

I.  Teil.    M  Karten,  Planen  u.  Abb.  geb.  1.A0 


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von  a^ 


JAHRGANG  1899.    ZWEITE  ABTEILUNG.    ZWEITES  HEFT 


DIE  ERRICHTUNG 
EINES  ALUMNATS  AN  DER  ZWICKAUER  SCHULE  (1544) 

Von  Ernst  Fadian 

L 

(Schlufs) 

Über  die  innere  Einrichtung  des  in  Verbindung  mit  der  Schule  stehenden 
Pädagogiums  oder  Alumnats  giebt  uns  die  Haus-  und  Schulordnung1),  die 
Plateanus  selbst  für  die  neue  Anstalt  in  lateinischer  Sprache  verfafst  hatte, 
Anfschlufs.    Auch  hier,  wie  bei  seiner  Schulordnung,  schwebte  ihm  wohl  das 
Beispiel  der  Hieronymianer'),  aus  deren  Schule  er  ja  gleich  seinem  berühmten 
Zeitgenossen  Johannes  Sturm  hervorgegangen  war3),  als  Vorbild  vor,  da  sonst 
wenigstens  weit  und  breit  von  einem  Alumnat,  abgesehen  von  dem  seit  1539 
an  der  Kreuzschule  zu  Dresden  errichteten,  aber  einen  ganz  andern  Zweck  ver- 
folgenden, noch  keine  Rede  war.    Der  Verfasser  erachtet  es  in  der  Vorrede4) 
als  eine  Hauptaufgabe  der  Regierungen,  für  eine  tüchtige  Jugenderziehung  zu 
sorgen,  und  beruft  sich  dabei  auf  unsere  Vorfahren,  die  namentlich  in  der  Er- 
richtung von  Klosterschulen  (xoiv6ßiu)  das  Ziel,  tüchtige  Männer  für  Staat 
nnd  Kirche  zu  erziehen,  zu  erreichen  gesucht  hätten.    Wenn  dieses  Bestreben 
nicht  von  dem  wünschenswerten  Erfolge  bogleitet  gewesen  sei,  so  dürfe  man 
sich  doch  durch  diesen  Mifserfolg  nicht  von  weiteren  Versuchen  in  dieser 
jf Richtung  abschrecken  lassen.    So  hoffe  man  denn  auch  in  Zwickau,  nachdem 
EMer  Stadt  durch  das  Entgegenkommen  des  Kurfürsten  die  Möglichkeit  zur  Er- 
P  fichtung  eines  Alumnats  gewahrt  worden  sei,  auf  Grund  der  folgenden  Ord- 
Kjtrmg,  reiche  Frucht  für  den  Staat  zu  ernten.    Die  Zahl  der  Lehrer  beträgt 
■:ftnf,  den  Schulmeister  nebst  vier  Gehülfen,  die  auf  Kosten  der  Stadt  besoldet 

«)  8.  Beil.  D. 

*)  Kümmel,  Gesch.  des  deutschen  Schulwesens  im  Übergänge  vom  Mittelalter  zur  Neu- 
"/    Mit,  Leipzig  1882,  S.  219.  222.   Ders.,  Art.  Hieronymianer  in  Schmida  Encyklopädie,  Bd.  HI 
K  >  B.  640  f.    Wildenhahn,  Die  Schulen  der  Brüder  vom  gemeinsamen  Leben  mit  einem  Hin- 
blick auf  unsere  Realschulen,  Annaberger  Realschulprogr.  1867,  S.  6.  30.  32.  Raumer, 
«fesch,  d.  Pädagogik,  Stuttgart  1847,  Bd.  I  66  ff.    Vgl.  meinen  Plateanus  S.  7.  18. 
*)  8.  meinen  Plateanus  S.  13. 
■>.  4     *)  Der  Titel  der  Haus-  und  Schulordnung  für  das  Pädagogium  fehlt  und  ist  wabr- 
rfe  »    schemlich  beim  Einheften  derselben  in  das  Aktenfascikel  verloren  gegangen.    Die  beiden 
jjr        deutschen  Exemplare,  die  allerding»  nicht  eine  wörtliche  Übersetzung  bieten,  führen  den 
{Biel:  TCurtaer  ausczugk  von  auffrichtung  eines  neuen  Pädagogij  jm  Grunhaincr  Hoff  zu 
Zwickuw.' 

He«*  Jahrbücher.   1999.  II  0 


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66       E.  Fabiao:  Die  Errichtung  eines  Alumnats  an  der  Zwickauer  Schule  (1544) 


werden.  Diese  sollen  auf  Grund  der  bestehenden  Schulordnung1)  die  Knaben 
täglich  mit  gröfstem  Fleifs  unterrichten,  und  zwar  in  der  Weise,  dafs  jeder 
Knabe  taglich  drei  Stunden  habe.  Ausgenommen  ist  dabei  die  Musik,  das 
Aufsagen  des  in  den  Stunden  Gelernten,  ferner  Deklamationen  und  Disputationen. 
Weil  nun  aber  die  Jugend  nicht  auf  eigenen  Füfsen  zu  stehen  und  das,  was 
ihr  als  nützlich  vorgetragen  werde,  fttr  sich  selbst  nicht  recht  zu  würdigen 
verstehe,  dagegen  aber  nur  gar  zu  gern  geneigt  sei,  sich,  sobald  sie  sich  dem 
Auge  des  Lehrers  entrückt  sehe,  mit  andern  ihr  mehr  zusagenden  Dingen  zu 
beschäftigen,  so  soll  ein  besonders  grofses  Gemach  eingerichtet  werden,  wo 
sich  alle  Knaben  nach  gehörten  Lektionen  versammeln  und  beständig  unier 
der  Aufsicht  ihrer  besonderen  Lehrer  leben  sollen,  denen  ihrerseits  die  Aufgabe 
obliegt,  die  Sitten  und  Studien  der  ihnen  untergebenen  Schüler  fleifsig  zu 
überwachen.  Das  Gemach  soll  geräumig  und  entsprechend  hoch  sein;  die 
Knaben  sollen  daselbst  die  gehörten  Lektionen  ihren  Lehrern  aufsagen,  schreiben 
und  den  Worten  der  Lehrer  lauschen.8)  Auch  sollen  die  Knaben,  denen  Kost 
gewährt  wird,  daselbst  ihre  Mahlzeiten  einnehmen.  Die  Schlafzimmer  zu  je 
10  Betten  sollen  guten  Raum  und  gesunde  Luft  haben  und  nach  der  günstigen 
Himmelsrichtung  gelegen  sein.  Neben  jedem  solchen  Schlafsaal  ist  ein  kleineres 
Schlafzimmer  für  den  die  Aufsicht  führenden  Lehrer  mit  nur  einer,  nach  dem 
Schlafgemach  der  Knaben  führenden,  Thüre  vorgesehen.  In  jedem  Schlaftmal 
soll  während  der  Nacht  ein  Licht  brennen,  auch  sollen  einige  arme  Knaben 
darin  schlafen,  um  für  etwa  als  notwendig  sich  erweisende  Dienstleistungen  zu 
Gebote  zu  stehen.9)  Wollen  Edelleute  oder  reiche  Bürger  für  ihre  Kinder  ein 
eigenes  Zimmer  mit  Schlafstube  haben,  so  soll  ihnen  das  gestattet  sein  unter 
der  Bedingung,  dafs  ihre  Knaben  ihre  eigenen  Lehrer  bei  sich  haben.  Auch 
Küche  und  Speise-  oder  Vorratskammern  sowie  abgesonderte  Krankenzimmer 
sind  vorgesehen. 

Ein  besonderer  Abschnitt  handelt  von  den  Lehrern.  Es  sollen  nur  be- 
kannte und  bewährte  Männer  angestellt  werden,  namentlich  aber  solche,  welche 
aus  der  Zwickauer  Schule  selbst  hervorgegangen4)  sind  und  sich  in  Wittenberg 


x)  Offenbar  ist  unter  dem  praescriptum-ludimagistri  die  Schulordnung  des  Plateanus 
vom  J.  1537  zu  verstehen,  man  müßte  denn  gerade  annehmen,  dafs  es  sich  dabei  ganz  im 
allgemeinen  um  die  Oberaufsicht  des  Schulmeisters  im  Pädagogium  handele.  Auf  seine 
Schulordnung  und  zwar  auf  Kap.  VII  derselben  de  ratione  docondi  weist  Plat.  die  Lehrer 
noch  besonders  hin. 

*)  Nach  der  Natherschen  Schulordnung  speiste  der  Rektor  mit  seinen  KoHltfängern 
vormittags  um  9  Uhr  und  nachmittags  um  2  Uhr  in  der  Schule,  und  dabei  konnten  auch 
diejenigen,  welche  die  Kost  nicht  bei  dem  Rektor  hatten,  zugegen  sein  und  zuhören,  was 
hierbei  von  dem  Rektor  mit  seinen  Kostgängern  gesprochen  wurde.  S.  Weller,  Altes  aus 
allen  Teilen  der  Geschichte,  Bd.  II  S.  682. 

*)  VgL  die  Famuli  auf  den  Fürstenschulen.  Flathe,  Sankt  Afra,  Gesch.  d.  kgl.  sächs. 
Fflrstenschule  zu  Meifsen,  Leipzig  1879,  S.  115. 

*)  Namentlich  bei  der  Wahl  eines  Schulmeisters  war  es  eine  althergebrachte  Sitte, 
von  der  nur  selten  abgewichen  wurde,  'ein  statt-  oder  burgerskindt'  (s.  Peter  Schumann 
in  s.  hdschr.  Annal.  ad  a.  1622)  zu  wählen. 


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E.  Fabian:  Die  Errichtung  eine«  Alumnats  an  der  Zwickauer  Schule  (1544)  G7 


die  Magisterwürde  erworben  haben.1)  Sie  sollen  die  ihrer  Obhut  anvertrauten 
Knaben  mit  gutem  Beispiel  und  durch  rechte  Lehre  zu  Frömmigkeit,  guter 
Sitte  und  wissenschaftlicher  Thätigkeit  anhalten,  mit  ihnen  speisen,  neben 
ihrem  Schlafsaal  in  einem  besonderen  Schlafzimmer  schlafen  (s.  o.),  nicht 
schwelgen  noch  schlemmen  und  die  Knaben  weder  bei  Tage  noch  bei  Nacht 
ohne  Aufsicht  lassen.  Wenn  aber  etwa  einer  von  einem  Bürger  zu  Tische  ge- 
laden werden  sollte,  so  hat  er  einen  andern  Lehrer  einstweilen  mit  seiner  Stell- 
vertretung zu  betrauen.  Dem  Schulmeister,  als  demjenigen,  dem  die  Ober- 
aufsicht über  die  ganze  Schule  wie  über  das  Pädagogium  anvertraut  ist,  sollen 
sie  in  allen  Stücken  gehorsam  sein. 

Ein  weiterer  Abschnitt  beschäftigt  sich  mit  den  Knaben,  bei  denen  hin- 
sichtlich der  Beköstigung  je  nach  dem  Stande  ihrer  Eltern  ein  Unterschied  in 
Aussicht  genommen  ist,  während  im  Unterrichte  der  Standpunkt  völliger 
Gleichheit  gewahrt  werden  soll.  Nur  Knaben,  die  das  siebente  oder  achte 
Jahr  zurückgelegt  haben,  sollen  im  Pädagogium  Aufnahme  finden  und  darin 
Tag  und  Nacht,  natürlich  mit  Ausnahme  der  Erholungsstunden*),  weilen.  Die 
Knaben  aber,  die  im  Pädagogium  beköstigt  werden,  dürfen  ohne  Erlaubnis 
überhaupt  nicht  herausgehen.  Früh  5  Uhr  sollen  sie  auf  ein  gegebenes 
Zeichen  rasch  aufstehen,  sich  ruhig  ankleiden  und  dann  auf  ein  abermals  ge- 
gebenes Zeichen  sich  zum  Gebete  versammeln,  wobei  einer  der  Lehrer  zunächst 
eine  Ermahnung  an  die  Knaben  richtet,  sich  und  ihre  Studien  Gott  zu  empfehlen 
und  den  Tag  nicht  unnütz  zu  verbringen.  Nach  dem  Gebete  hat  ein  jeder  sich  v 
zu  seinem  Lehrer  in  die  Stunde  zu  begeben.  Um  7  Uhr  nach  Schlufs 
der  Lektion  soll  für  die  Kostgänger  des  Pädagogiums  das  Frühstück  (jenta- 
culum*)  bereit  gehalten  werden,  diejenigen  aber,  die  auswärts  essen,  sollen  sich 
ihr  Frühstück  von  den  Eltern  oder  Quartiergebern  hereinbringen  lassen,  da  es 
um  diese  Zeit  keinem  erlaubt  ist,  das  Schulgebäude  zu  verlassen.  Nach  dem 
Frühstück  sollen  die  Schüler  die  gehörten  Lektionen  bis  zum  Wiederbeginn  des 
Unterrichts  repetieren  oder  schreiben.  Um  9  Uhr  haben  sie  dann  nach 
Schlufs  der  Lektionen  das  soeben  Gehörte  ihren  Lehrern  herzusagen.  Um 
10  Uhr  findet  die  Mittagsmahlzeit  statt,  nach  der  es  dann  erlaubt  sein  soll, 
im  Hofe  sich  zu  ergehen,  zu  plaudern  oder  zu  singen,  um  sich  dann  wieder 
um  12  Uhr  auf  ein  gegebenes  Zeichen  zum  Musik-  (wohl  Gesangs-)unterricht, 
zum  Aufsagen  der  gehörten  Lektionen,  zu  Deklamationen  und  Disputationen  zu 

*)  Von  dem  Nachfolger  de»  Plateanus,  dem  in  Zwickau  geborenen  Georg  Thiem,  Ver- 
lan #te  der  Rat  ausdrücklich,  er  solle  vor  Antritt  seiner  neuen  Stellung  erst  in  Wittenberg 
promovieren  'einem  Erbaren  Radt  zu  gefallen,  gemeyner  Stadt  zu  ehren  vnnd  weil  es 
von  alters  hehr  also  gehalten  worden'.  Vgl.  m.  Plateanus  S.  3  u.  Not.  17,  8.  25 
Not.  142,  ferner  meinen  Aufs.  'Die  Wiederau frichtung  der  Zwickauer  Schule  nach  dem 
Schmalkaldischen  Kriege'  im  2.  Hefte  der  Mitteil,  des  Zw.  Altertumsvereins  S.  6.  23.  (Schreiben 
des  Zw.  Rata  an  den  von  Zerbst  Nr.  VI)  25  (Schreiben  des  Zw.  Rata  an  G.  Thiem  Xr.  VIII). 

*)  Die  Stelle  'exceptis  duntaxat  horis,  quibus  corporibus  reficiendis  spatium  detur' 
giebt  der  'ausezugk'  mit  den  Worten  wieder:  'Allein  die  stunden  des  mittages  vnnd 
abentmals  ausgeschlossene ' 

*)  Im  'ausezugk'  wiedergegeben  mit:  'Frühauppen.' 

5* 


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G8        E.  Fabian:  Die  Errichtung  eine«  Alumnat«  an  der  Zwickauer  Schule  (1544) 

versammeln.  Um  2  Uhr  erhält  jeder  Schüler  sein  Vesperbrod.  Um  3  Uhr 
sollen  sie  eine  Lektion  hören,  sei  es  bei  ihren  Privatlehrern,  sei  es  bei  den 
Lehrern  der  Anstalt.  Nach  4  Uhr  findet  wie  nach  dem  Frühstück  eine  gleiche 
einstündige  Pause  statt,  während  deren  sich  die  Schüler  im  Hofe  bei  allerhand 
Kurzweil  vergnügen  können.  Um  5  Uhr  wird  die  Abendmahlzeit  eingenommen. 
Nach  dieser  sollen  sich  dann  die  Schüler  im  Komödiespielen,  Hersagen  von 
Fabeln  und  Versen  oder  im  Redewettkampf  üben.  Um  7  Uhr  soll  sich  jeder 
auf  das,  was  er  folgenden  Tages  zu  hören  hat,  vorbereiten,  und  wenn  ihm  dabei 
etwas  unklar  ist,  die  Lehrer  um  Bat  fragen.  Um  8  Uhr  versammeln  sich  alle 
^  Knaben  zum  Gebet,  um  dann  sofort  zu  Bette  zu  gehen.  Keiner  darf  ohne  be- 
sondere Erlaubnis  aufbleiben.  In  den  Schlafzimmern  soll  es  anständig  und 
ruhig  zugehen.  In  jedem  Schlafgemache  sollen  sich  einige  arme  Knaben  be- 
finden, deren  Aufgabe  es  ist,  die  Zimmer  rein  zu  halten  und  darauf  zu  sehen, 
dafs  die  Sachen  eines  jeden  an  ihrem  bestimmten  Platze  seien.  Wenn  einer 
der  Knaben  sich  genötigt  sieht,  des  Nachts  aufzustehen,  so  soll  ihm  einer  der 
armen  Schüler  mit  einer  Laterne  das  Geleit  geben  und  ihn  wieder  zurück- 
führen. Zur  Sommerszeit  ist  es  jedem  Schüler  gestattet,  ein  Tischchen  im 
Schlafzimmer  zu  haben,  um  daran  in  der  freien  Zeit  zu  arbeiten. 

Im  Schlafgemach  soll  keiner  des  andern  Kleider,  Bücher  oder  sonstigen 
Dinge  gegen  den  Willen  des  Besitzers  anrühren.  Im  Schlafzimmer  zu  spielen 
oder  Unfug  zu  treiben,  ist  streng  verboten,  ebensowenig  ist  es  erlaubt,  da- 
selbst zu  essen  oder  zu  trinken.  Untersagt  ist  den  Schülern  auch  das  Kaufen 
und  Verkaufen,  das  Schenken  und  Annehmen  von  irgend  welchen  Gegenständen 
ohne  Wissen  der  Lehrer. 

Der  nächste  Abschnitt  behandelt  die  Pauperes,  die  armen  Knaben. 

Eine  Anzahl  armer,  aber  gut  beanlagter  Knaben  soll  im  Pädagogium  freie 
Verpflegung  finden.  An  erster  Stelle  sind  dazu  bestimmt  geeignete  Bürgers- 
söhne, an  zweiter  Söhne  kurfürstlicher  Unterthanen  Überhaupi  Jeder  hat  vor 
der  Aufnahme  eine  Prüfung  zu  bestehen,  und  keiner  soll  Aufnahme  finden,  der 
nicht  ordentlich  deklinieren  und  konjugieren  kann.  Es  können  sogar  nach  ihrer 
Zulassung  diejenigen,  welche  den  auf  sie  gesetzten  Erwartungen  nicht  entsprechen, 
wieder  entfernt  werden.  Den  übrigen  Alumnen  gegenüber  sind  sie  zu  kleinen 
Dienstleistungen  verpflichtet.  Auch  soll  ihnen  mit  Rücksicht  auf  den  zu- 
nehmenden Mangel  an  Theologen  bei  ihrer  Aufnahme  das  Versprechen  ab- 
genommen werden,  sich  dem  Studium  der  Theologie  zu  widmen.  Wenn  sie 
<  dann  in  die  zweite  Klasse  aufgerückt  sind,  sollen  sie  täglich  eine  Lektion  über 
die  heilige  Schrift  hören.  Auch  soll  an  den  Sonntagen  einer  von  ihnen  nach 
dem  Gesänge  der  Vesperhymnen  vor  versammeltem  Schülercötus  eine  ihm  vom 
Lehrer  zuvor  bezeichnete  Stelle  aus  den  Evangelien  oder  den  Paulinischen 
Briefen  in  deutscher  Sprache  erklären.  Ebenso  sollen  auch  andere.  Knaben  der 
ersten  beiden  Klassen  an  derartigen  Übungen  sich  beteiligen.  Auch  soll  den 
Schülern  dieser  Klassen  dann  und  wann  die  Gelegenheit  geboten  werden,  zu 
ihrer  eigenen  Übung  Unterricht  in  den  unteren  Klassen  zu  erteilen. 

Ein  besonderer  Abschnitt  behandelt  die  Pflichten  des  Ökonomen  oder 


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E.  Fabian:  Die  Errichtung  eines  Alumnat«  an  der  Zwickauer  Schule  (1544)  69 

Hausvaters,  der  ein  Mann  von  makellosem  Wandel  und  Ruf  und  entweder 
ein  Witwer  oder  doch  wenigstens  nicht  mit  Kindern  beladen  sein  soll.  Dieser 
hat  mit  dem  Beirate  der  Anstaltsvorsteher  alle  Lebensbedürfnisse  rechtzeitig 
einzukaufen.  Das  dazu  notige  Geld  bekommt  er  durch  Vermittelung  der 
Lehrer  von  den  Vorstehern.  Er  sowie  die  Lehrer  haben  darüber  genau  Buch 
zu  führen  und  jeden  Monat  über  Einnahme  und  Ausgabe  Rechnung  abzulegen, 
aufserdem  aber  sich  jedes  Jahr  zweimal  im  Beisein  des  Rates  und  anderer 
Bürger  einer  öffentlichen  Rechnungsprüfung  zu  unterziehen.  Um  zu  vermeiden, 
dafs  das  Geld  in  Verwahrung  einer  Person  sei,  sollen  es  die  vom  Rate  ver- 
ordneten Vorsteher  im  Verein  mit  dem  Schulmeister  sofort  nach  Empfang  in 
einen  mit  drei  Schlössern  verwahrten  Kasten  schliefsen,  wozu  der  Rat  den 
einen  Schlüssel,  den  zweiten  der  Schulmeister  und  den  dritten  ein  Edelmann 
'verständigs  vnd  zimlichs  alters'1)  haben  sollen.  Diese  drei  haben  wöchentlich 
das  für  die  Bedürfhisse  der  Anstalt  nötige  Geld  daraus  zu  entnehmen  und  den 
Lehrern  zu  übergeben,  von  denen  es  dann  der  Hausvater  empfangt. 

In  engstem  Zusammenhange  mit  diesem  Abschnitt  über  den  Hausvater 
stehen  die  Verfügungen  über  'die  Bestellung  der  kost  vnd  trangks' 
(de  mensa).  Es  wird  genau  vorgeschrieben,  was  den  Knaben  an  Speise  und 
Trank  zu  gewähren  sei.  Die  Kost  soll  reichlich  und  gut  sein.  Gespeist  wird 
an  zwei  Tafeln.  An  der  einen  sitzen  die  Reichen  und  die  Edelleute,  die  auch 
in  Speise  und  Trank  vor  den  Armeren  bevorzugt  werden  sollen,  die  ihrerseits 
an  der  zweiten  Tafel  sitzen.  An  der  ersten  Tafel  giebt  es  zu  Mittag  vier, 
abends  drei  Gerichte  (missus)  nebst  Butter  und  Käse,  dreimal  in  der  Woche 
Gebratenes,  auch  'alte  Hennen  vnnd  junge  Hüner  oder  fogel  zwier,  Fisch  frische 
und  gesaltzene'  oder  trockene  'auch  zwier*. 8)  Der  Hausverwalter  soll  nur  das 
beste  Fleisch  und  die  besten  Fische  kaufen,  Wildpret  aber  und  teure  grüne 
Fische  soll  er  ohne  besonderen  Auftrag  nicht  anschaffen.  An  jedem  Tische 
hat  ein  Lehrer  den  Vorsitz.  Falls  Eltern  ihren  Kindern  Wildpret  oder  etwas 
anderes  schicken,  so  soll  es  ihnen  der  Hausvater  sorgfältig  zurichten  und  auf- 
tragen, worauf  sie  es  dann  mit  ihren  Lehrern  oder  andern  guten  Freunden, 
die  sie  etwa  einladen  wollen*),  verzehren  können.  An  der  zweiten  Tafel  giebt 
es  zu  Mittag  und  Abend  je  drei  Gerichte,  alles  aber  gut  und  wohl  zubereitet. 
Gebratenes  bekommt  diese  Tafel  nur  Sonntags.  Das  Brot  soll  jedesmal  auf 
eine  Woche  neubacken  eingekauft  werden.  Als  Getränk  wird  Bier  in  zweierloi 
Güte  verabreicht,  die  erste  Tafel  bekommt  das  beste,  die  zweite  eine  geringere 
Sorte;  beide  Biere  aber  sollen  gesund  und  unverfälscht  sein.  Ebenso  bekommen 
zum  Vesperbrod  und  vor  dem  Schlafengehen  alle  ohne  Unterschied  Bier.  Auf- 
gabe der  Lehrer  ist  es,  die  Knaben  bei  Tische  auf  gute  Sitte  und  Höflichkeit 
aufmerksam  zu  machen.  Damit  nun  aber  nicht  blofs  für  den  Leib,  sondern 
auch  für  den  Geist  gesorgt  werde,  soll  einer  der  Schüler  von  Anfang  bis  zum 

*)  80  giebt  der  Auszug  die  Worte  'nobili  alicui  adolescenti  et  grandiusculo'  wiodcr. 
*)  Auazug. 

*)  Auszug:  'Darzu  mögen  sie  jre  Magiatros  vnnd  andere  guthe  freunde,  so  jhnen  ge- 
fellig, bitten.' 


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70       E.  Fabian:  Die  Errichtung  eines  Alumnats  an  der  Zwickauer  8chule  (1544) 


Ende  des  Mahls  eine  geistliche  Lektion  vorlesen,  und  die  Lehrer  sollen  die 
Schüler  daran  gewöhnen,  aufmerksam  zuzuhören  und  sich  über  die  Bedeutung 
des  Vorgelesenen  durch  Fragen  zu  unterrichten. 

Wie  man  sieht,  zeichnen  sich  diese  Anordnungen  durch  Einfachheit,  Klar- 
heit und  bündige  Kürze  aus,  Vorzüge,  die  auch  den  Schulgesetzen1)  des 
Plateanus  eigen  sind  und  in  auffallendem  Gegensatz  stehen  zu  den  ausführ- 
lichen Bestimmungen  anderer  Anstalten,  wie  z.  B.  der  sachsischen  Fürsten- 
schulen8) oder  des  Pädagogiums  zu  Gandersheim.8)  Plateanus  selbst  weist  am 
Schlüsse  seiner  Alumnatsordnung  ganz  ausdrücklich  darauf  hin,  dafs  er  es  für 
seine  Pflicht  gehalten  habe,  nicht  zu  viel  Worte  zu  machen,  vor  allem  aber 
nicht  zu  viel  zu  versprechen,  damit  man  ihm  nicht  den  Vorwurf  der  Prahlerei 
machen  könne.  Bei  aller  Kürze  der  getroffenen  Anordnungen  aber  zeigt  sich 
doch,  dafs  für  alle  Bedürfnisse  der  neuen  Anstalt  in  trefflicher  Weise  gesorgt 
ist.  Die  Beschäftigung  der  Knaben  ist  für  die  einzelnen  Tagesstunden  streng 
geregelt,  wobei  auch  der  Erholung  genügend  Rechnung  getragen  ist.  Wohl- 
thuend  berührt  insbesondere  auch  die  Fürsorge  für  die  Gesundheit  der  Zög- 
linge, für  die  Beschaffung  hoher,  gesunder  und  luftiger  Räume.  Ganz  beson- 
dere Anerkennung  aber  verdient  es,  dafs  sogar  schon  auf  eigene  Kranken- 
zimmer Bedacht  genommen  ist,  zumal  wenn  man  bedenkt,  dafs  z.  B.  für  die 
Fürstenschule  in  Meifsen4)  erst  durch  die  Schulordnung  von  1588  eine  der 
artige  Einrichtung  getroffen  wurde.  Die  Kost  ist  gut  und  reichlich.  Dafs  auf 
die  Wahrung  der  strengsten  Zucht  grofses  Gewicht  gelegt  war,  ist  bei  einem 
so  gottbegnadeten  Pädagogen,  wie  es  Plateanus  war,  ganz  selbstverständlich. 

Was  die  Schicksale  des  Pädagogiums  anlangt,  so  sind  wir  darüber  leider 
nur  unvollkommen  unterrichtet.  Schon  in  Bezug  auf  die  Frage,  wann  die  An- 
stalt ins  Leben  getreten  sei,  läfst  sich  etwas  Bestimmtes  nicht  feststellen. 

In  dem  Bittschreiben5)  des  Rats  an  den  Kurfürsten  vom  Mittwoch  nach 
Assumptionis  Mariae  (20.  August)  1544,  worin  er  den  Landesherrn  um  Unter- 
stützung für  sein  Schulwesen  angeht,  heifst  es  unter  anderm:  'So  vbersenden 
E.  C.  f.  G.  wir  hiebei  eine  abschrifft  vnserer  Schulen  Ordnung,  vnd  daneben 
auch  einen  begreiff,  wie  das  paedagogium  alhie  möchte  anzurichten 
vnd  in  guth  werck  vnd  wesen  zu  bringen  sein.'  Daraus  geht  klar  her- 
vor, dafs  um  jene  Zeit  das  Alumnat  noch  nicht  bestanden  haben  kann.  Dafs 
es  aber  thatsächlich  in  Gang  gekommen  ist,  beweist  ein  Brief6),  den  der  spätere 
Nachfolger  des  Plateanus,  Georg  Thiem,  nach  seiner  Berufung  zum  Zwickauer 
Rektorat  an  den  Rat  am  25.  November  1547  von  Weimar  aus  richtete.  Darin 
heifst  es  nämlich:  'Wenn  E.  a.  w.  die  Schuhl  mit  dem  Pädagogio  also 
wolten  bestellet  haben,  wie  vormals  unter  dem  plateano  gewesen 

l)  Vgl.  meinen  PlateanuB  8  31. 

*)  Flathe,  a.  a.  0.  S.  13  ff.  70  ff.  88  ff.  101  ff.  115  ff.  123  ff. 
*)  Koldewey,  a.  a.  0.  8.  79  ff.      «)  Flathe,  a.  a.  O.  8.  115. 
a)  S.  meinen  Plateanus  8.  82,  Beil.  H.    Vgl.  Not.  32. 

•)  8.  meinen  Aufsatz  'Die  Wiederaufrichtung  der  Zwickauer  Schule  nach  dem  Schmal- 
kaldischen  Kriege'  in  den  Mitteil,  des  Altertumsvereins  f.  Zw.  u.  ü.  Heft  D,  S.  24. 


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E.  Fabian:  Die  Errichtung  eine«  Alumnate  an  der  Zwickauer  8chule  (1544)  71 


Tnd  ich  genzliches  vorhoffens  bin,  ein  Erbar  Radt  wirdt  es  darzu  widerkomen 

vnd  gereichenn  lassen  Wie  lange  das  Pädagogium  neben  der  Schule 

bestanden  habe,  läfst  sich  mit  voller  Sicherheit  ebenfalls  nicht  mehr  feststellen. 
Denn  wenn  auch  Georg  Thiem,  wie  oben  erwähnt,  der  sichern  Erwartung  Aus- 
druck giebt,  dafs  es  der  Rat  mit  deT  Schule  und  dem  Pädagogium  ebenso 
bleiben  lassen  werde,  wie  es  vordem  unter  dem  Plateanus  gewesen  sei,  so  kann 
man  doch  daraus  noch  keineswegs  den  festen  Schlufs  ziehen,  dafs  der  Rat  auch 
wirklich  das  Pädagogium  neben  der  Schule  wieder  eingerichtet  habe,  und  zwar 
um  so  weniger,  als  in  den  sämtlichen  die  Schule  betreffenden  Ratsbeschlüssen 
aus  jener  Zeit  auch  nicht  ein  einziges  Mal  der  Wiederaufrichtung  des  Päda- 
gogiums gedacht  wird.  Auch  der  Umstand,  dafs  in  der  umfangreichen  neuen 
Schulordnung,  die  der  treffliche  M.  Esrom  Rüdinger,  der  verdienstvolle  Nach- 
folger Thiem8,  erliefe,  nirgends  das  Pädagogitim  besonders  erwähnt  wird,  läfst 
doch  mit  ziemlicher  Bestimmtheit  vermuten,  dafs  mit  dem  Weggänge  des 
Plateanns  und  unter  den  Schrecknissen  des  Schmalkaldi sehen  Krieges  auch  das  ' 
Pädagogium  zusammengebrochen  ist.  Die  Zeitverbaltnis.se  waren  der  Wieder- 
aufrichtung  einer  solchen  Anstalt  so  ungünstig  wie  nur  möglich.  Schon  mit 
Rücksicht  auf  die  ungeheuren  Geldopfer1),  die  der  Krieg  der  Stadt  auferlegt 
hatte,  konnte  der  Rat  einem  solchen  Gedanken  überhaupt  nicht  auch  nur  nahe 
treten.  Dazu  kam,  dafs  mit  dem  Wechsel  der  Landesherrschaft  auch  die  der 
Stadt  von  den  Ernestinern  bisher  in  so  reichem  Mafse  gewährten  Vergünstigungen 
naturgemäfs  in  Wegfall  kamen.  Der  neue  Landesherr,  Kurfürst  Moritz,  hatte 
um  so  weniger  Veranlassung,  sich  den  Zwickauern  besonders  gefällig  zu 
erzeigen,  da  diese  keine  Gelegenheit  vorübergehen  liefsen,  ihm  ihre  Abneigung 
zu  erkennen  zu  geben  und  ihre  Liebe  zu  dem  alten  Landesherrn  ganz  offen- 
kundig zu  bezeugen.*)  Auch  lag  ihm  ja  gerade  damals  ganz  besonders  das 
Gedeihen  seiner  eigenen  Schöpfungen,  der  neuerrichteten  Fürstenschulen  viel 
zu  sehr  am  Herzen,  als  dafs  er  sein  Interesse  dem  Schulwesen  einer  einzelnen, 
ihm  noch  dazu  entschieden  feindselig  gesinnten  Stadt  hätte  zuwenden  sollen. 
War  nun  aber  auch  die  Stadt  infolge  der  damit  verbundenen  allzugrofsen  Geld- 
opfer nicht  im  stände,  das  Pädagogium  oder  Alumnat  wieder  aufzurichten,  so 
sorgte  sie  doch  mit  rührendem  Eifer  für  die  Wiederaufrichtung9)  der  durch 
den  Weggang  des  Plateanus  und  die  Schrecken  des  Krieges  völlig  zum  Er- 
liegen gekommenen  Schule,  und  wenn  man  auch  mit  der  Wahl  des  M.  Georg 
Thiem4)  zum  Nachfolger  eines  Plateanus  einen  entschiedenen  Mifsgriff  machte, 

')  S.  meine  Abhandlung  'Die  Stadt  Zwickau  unter  den  Einwirkungen  des  Schmal- 
kalditchen  Kriege*'  in  den  Hitteil,  des  Altertumsvereins  f.  Zw.  u.  U.  Heft  I,  S.  62.  Dazu 
kam  dann  noch  die  vom  Kurfarsten  Moritz  der  Stadt  wegen  ihrer  Widerspenstigkeit  auf- 
erlegte Kriegssteuer  im  Betrage  von  24000  fl.   S.  ebenda  S.  78  ff. 

*)  S.  ebenda  8.  71  ff. 

*)  8.  ebenda  S.  86  und  meinen  Aufsatz  'Die  Wiederaufrichtung  der  Zwickauer  Schule 
nach  dem  Schmalkaldischen  Kriege'  in  den  Mitteil,  des  Altertumsvereins  f.  Zw.  u.  U. 
Heft  II,  S.  1  ff. 

*)  Unter  ihm  erfolgte  am  10.  April  1648  die  Übersiedelung  des  gesamten  Schulcötus  in  den 
nunmehr  völlig  umgebauten  Grfinhainer  Hof.  Vgl.  darüber  'Die  Wideraufr.  d.  Zw.  8chule'  8.  9  f. 


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72       E.  Fabian:  Die  Errichtung  ©inet»  Alumnats  an  der  Zwickauer  Schule  (1544) 


so  wufste  man  doch  bald  genug  durch  energische  Beseitigung  des  zu  schwachen 
Mannes  den  Schaden  wieder  gut  zu  machen.  Der  auf  Empfehlung  Melanchthons1) 
an  Stelle  Thiems  berufene  M.  Esrom  Rüdinger,  der  Schwiegersohn  des  Joachim 
Camerariu8,  ein  tüchtiger  Gelehrter  und  Schulmann,  wirkte  ganz  im  Geiste  des 
Plateanus  und  erweckte  gar  bald  die  völlig  in  Verfall  geratene  Schule  zu 
neuem,  frischem  Leben. 

D 

Praefatio. 

Quoniam  vere  dictum  est,  felices  fore  Resp:  tri  aut  sapientes  ei»  praefuerint,  aut  qui 
praesunt,  sapientiae  studuerint,  praeclare  eos  de  patria  mereri  necesse  est,  qui  in  hoc 
operam  curamque  suam  ponunt,  ut  optima  disciplina  instituta  pueritia  non  rectores  tantum 
Reip:  sapientes,  sed  cives  etiam  optimos  quam  plurimoe  relinquant  Nec  aliter  sensisse 
viri  sapientes,  qui  de  Reip:  institutione  conscriptos  libros  ad  posteros  transmiserunt,  existi- 
mandi  sunt;  praecipua  enim  cura  hanc  partem  cob  executos  esse  testantur  etiam,  quae 
bodie  extant  Piatonis,  Xenophontia  et  Aristotelis  de  eadem  re  monumenta.  Et  nostri  etiam 
majores  in  eadem  fuisse  sententia  satis  perspicuum  fit  ex  tot  passim  institutis  xoivoßiois, 
tot  collegiis,  ut  loca  essent,  in  quibus  optimis  artibus  et  inprimis  pia  de  religione  doctrina 
imbuti  adolescentes  postca  ecclesiae  praeficerentur,  essent  etiam,  qui  ad  regum  et  prin- 
cipum  adbiberentur  consilia.  Quamquam  autem  borum  consüium  partim  imperitia  partim 
scelere  quorundam  male  cesserit,  tarnen  votum  repraebendi  non  debet.  Nec  nos  despera- 
tione  melioris  eventus  vel  odio  eornm,  quibus  optima  quaeque  depravare  Studium  est,  a 
sentiendo  ac  facicndo,  quae  recta  sunt,  absterreri  oportet.  Semper  enim  posterior  dies  est 
prioris  discipulus  (ut  est  in  proverbio)  et  saepe  priorum  ducum  temeritas  prudentia  sequen- 
tium  est  correcta,  ac  inclinata  acies  vel  ex  iniquo  loco  nonnunquam  restdtuta  vicisse 
legitur.  Quid  quod  post  naufragia  etiam  maria  repeti  videmus.  Quamobrem  optima 
conantibus  nunquam  est  cessandum,  in  quibus  etiamsi  effectus  fefellerit,  tarnen  voluntas 
meretur  laudem.  Et  in  DEI  iudicio  cogitationum  maior  quam  factorum  est  aeetimatio 
Quando  igitur  benignitate  illustrissimorum  principum  aedes  monachorum  Cistertiensium 
scholae  nostrae  donatae  sunt,  cogitavimus  pium  principum  donum  etiam  nostro  studio 
cumulare  et  casdem  Scholas  sie  instituere,  ut  quam  maxime  uberea  fruetus  ex  eis  Resp: 
poesit  capere.    Id  autem  ea,  quae  sequitur;  ratione  nos  conaecuturos  speramus. 

Et  prineipio  quidem  ludimagistrum  habemus  cum  quatuor  hypodidascalis  publico  salario 
conduetum,  bi  summa  fide  et  industria  iuxta  praescriptum  eiusdem  ludimagistri  pueros 
quotidie  erudient  curabuntque,  ut  omnes  pueri  tres  horas  singuli  quotidie  praeeeptorem 
publice  audiant  praeter  Musicam,  recitationes,  declamationeB  et  disputationes.  Qua  de  re 
qui  velit  plura  cognoscere  libellum  legat  de  ratione  docendi  pueros  a  ludimagistro  nostro 
conscriptum.  8ed  quia  imbecillus  puerorum  animus  nec  prospicere  per  se  satis  potest, 
quae  ipsis  sunt  profutura,  nec  ab  aliis  commonstrata  constanter  retinere  potiusque,  ubi 
conspectum  efFugerint  praeeeptorum ,  ad  ea  cogitationem  et  studium  transferunt,  quae  in 
praesentia  magis  blandiuntur,  quam  quae  a  magistris  meditanda  aeeeperint,  providebitur 
a  nobis,  ut  locus  sit  in  ipso  ludo,  ad  quem  a  publicis  magistris  digressi  conveniant  et  ubi 
dies  ac  noctes  K\ib  imperio  privatorum  paedagogorum  degenteB  semper  babeant  et  morum 
et  studiorum  suorum  praeeentes  censores.  Locus  hic  amplum  et  iustae  altitudinis  habebit 
hypocaustum,  in  quo  pueri  reddere  praeeeptoribus  ea,  quae  audierunt,  recitare,  scribere  et 
audire  magiatroa  possunt,  prandere  etiam  ac  coenare  illi,  quibus  eibus  praeberi  debet, 
Cubicula  similiter  ampla  ac  perflabilia,  et  quantum  fieri  potest,  salubri  coeli  regioni  obversa, 
quomm  singula  decem  lectorum  facillime  sint  capatia  (!).    Singula  cubicula  unius  Magistri 


')  Vgl  meine  Abhandlung  'Die  Beziehungen  Ph.  Melanchthons  zur  Stadt  Zwickau' 
im  Neuen  Archiv  f.  sächs.  Gesch.  (Dresden  1890)  Bd.  XI,  S.  52  ff. 


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K.  Fabian:  Dio  Errichtung  eines  Alumnat*  an  der  Zwickauer  8chule  (1544)  73 

habebunt  adjunctum  cubiculum,  in  quod  tarnen  nullus  sit  niBi  per  puerorum  cubilia  aditus 
Causa  autem  tantae  cubiculorum  magnitudini«,  nt  omnea  posaunt  habere  et  vitae  et  morum 
Buorum  perpetuoB  cuatodes  et  teates.  Quamobrem  et  pernox  in  singulis  cubiculis  ardebit 
lucerna  et  pauperes  aliquot  in  uno  quoque  eorum  eubabunt,  ut  praesto  sint  ad  miniaterium, 
8j  quid  forte  opus  fuerit.  Quod  si  quis  nobilium  aut  divitum  proprium  velit  habere  liberis 
»nie  hypocaustum  ac  cubiculum,  id  ita  licebit,  dum  Magistrum  aliquem  aut  paedagogum 
probatum  habeat  adiunetum. 

Culina  etiam  stet  et  cellae  condendis  et  promendis  rebus  ad  victum  necessariis  idonea. 
Hypocaustum  etiam  cum  adjunetis  cubiculis  seorsum  ab  aliia  habitaculis,  quo  reeipi  possint 
pueri,  8i  qui  gravius  aegrotare  ceperint  nec  statim  remitti  ad  parentee  possint. 

De  Magistria. 

Magiatros  praeficiemus  huic  paedagogio  iuvenes  cognitos  ac  probatoß,  maxime  cos, 
qui  ex  schola  nostra  profecti  Magistern  tituloa  Vuitebergae  fuerint  adepti.  Hi  summo 
studio  curaque  advigil  abunt ,  ut  pueros  suae  fidei  commendatos  exemplo  et  doctrina  primo 
ad  pie  colendam  religionem  forment,  doinde  literis  ac  moribus  optimis  iuxta  hoc  prae- 
scriptum  noatrum  ac  ludimagiatri  imbuant.  Nullius  non  eaneti,  non  caati  exempli  pueris 
autores  erunt.  Cibum  cum  ipsis  capient.  Cubicula  habebunt  puerorum  cubiculis  adiuneta. 
Non  compotationes,  non  convivia  agitabunt.  Nunquam  pueros  soloa  nec  interdiu  nec  noctu 
retinquent.  Quod  si  quis  eorum  a  civibus  ad  caenam  fuerit  vocatus,  curabit,  ut  intcrim 
*uam  vicem  collegarum  aliquis  expleat.  Ludimagiatri  dicto  in  Omnibus  audientes  erunt. 
Huic  enim  prima  ut  totius  ludi  ita  et  paedagogii  huius  cura  ineumbet. 

De  Pueris 

Etsi  puerorum,  qui  in  hoc  paedagogium  reeipientur,  non  eadem  potost  esse  conditio, 
alii  enim  cives,  alii  peregrini,  alii  item  divites,  alii  tenues,  nonnulli  inopes  sint  necesse 
est,  quidam  etiam  cibum  in  co  cum  praeeeptoribus  capient,  qui  dam  apud  parentes  vel 
cives  alentur.  Quod  tarnen  ad  disciplinam  et  mores  pertinet,  eadem  omnium  habebitur 
ratio,  nisi  quod  a  pauperibua  maior  et  virtutis  et  literarum  exigetur  diligentia.  Nemo 
autem  reeipietur,  nisi  qui  iam  septimum  vel  octavum  annum  egreasus  sit  quique  dies  ac 
noctes  exceptia  duntaxat  horis,  quibus  corporibus  reficiendis  spatium  datur,  nolit  in  eo 
exigere.  Qui  autem  hic  non  erudientur  modo,  sed  alentur  etiam,  nusquam  digredi  nisi 
impetrata  a  praeeeptoribus  copia  audebunt.  Mane  hora  quinta  signo  facto  statim  omnes 
alacriter  consurgent  ac  vestem  quisque  cum  silentio  induet,  mox  iterum  signo  ad  preces 
convocati  ad  erunt,  ubi  prius  brevia  fiet  ab  aliquo  praoeeptorum  exhortatiuneula ,  ut  se 
»uaque  atudia  attente  Deo  commendent,  ut  cogitent,  ne  praesentem  diem  inanem  sibi 
efflucre  patiantur.  Idem  deinde  preces  auspicabitur,  quibus  absolutis  unuBquisque  ad 
audiendum  praeeeptorem  se  comparabit.  Hora  septima  finita  praelectione  in  paedagogio 
quidem  ientaculum  erit  parat  um.  Qui  autem  fori«  cibum  capiunt  a  parentibus  vel  hospi- 
tibus  allatum  aeeipient.  Neque  enim  tum  exire  licebit.  Post  ientaculum  repetentur,  quac 
sunt  audita,  donec  iterum  ad  praeeeptorem  audiendum  convocentur,  aut  scribetur.  Hora 
nona  similiter  finitis  praelectionibus  easdem  privatis  magistris  exponent.  Hora  deeima 
signo  facto  statim  omnes  dimittentur  ad  prandendum.  A  prandio  in  interiore  atrio  aedium 
licebit  ambulare,  confabulari,  canere,  donec  hora  duodeeima  signo  facto  ad  audiendam 
Musicam  vel  recitationem ,  declamationem  aut  disputationem  sit  conveniendum.  Hora 
»ecunda  merendam  aeeipient  quemadmodum  mane  ientaculum  nec  quisquam  foras  dimit- 
tetur.  Tertia  vel  publicos  vel  privatos  audient  praeeeptores.  Paulo  post  quartam  signo 
facto  dimittentur  omnes  a  Magistris  licebitque  quemadmodum  a  prandio  obambulare,  canere 
aut  ludere,  donec  hora  quinta  ad  caenam  abeant.  Post  caenam  hilariores  erunt  exercita- 
tionea  veluti  recitationes  comoediarum,  fabularum  aut  epigrammatum  vel  concertabunt 
dicendo.  Hora  septima  quisque,  quae  postridie  sunt  discenda,  ipRe  secum  meditabitur  et 
si  quid  parum  aucceaserit,  magistros  consulet.    Hora  octava  signo  facto  ad  Gratiarum 


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E.  Fabian:  Die  Errichtung  eine«  Alumnats  an  der  Zwickauer  Schule  (1644) 


actiones  ac  preces  convenietur  ac  mox  discedetur  cubitum  nec  licebit  diutius  manere  nisi 
a  magistris  poteetate  impetrata.  In  cubiculo  nihil  inverecunde,  nihil  cum  strepitu  geretnr. 
PaupereB,  qui  in  unoquoque  erunt,  curabunt,  ut  munda  sint  cubicula  et  nt  quiBque  res 
suas  buo  loco  habeat  compositas.  Si  cui  necesse  crit  Bürgere  ac  cubiculum  egredi,  eum 
paupernm  aliqnis  cum  laterna  deducet  ac  reducet.  Aestivis  etiam  diebus  licebit  in  cubi- 
culis  mensulaB  habere  et  ad  eas  studere  horis,  quibus  a  praeceptoribus  est  otium,  sed 
eilentio.  Vestem,  librum  aut  quicquid  id  fuerit,  nemo  invito  domino  contingere  audebit. 
Ludere  in  cubiculo  aut  turbare  aliquid  qui  ausus  fuerit,  graviter  plectetur.  Nec  edere  nec 
bibere  in  eo  cuiquam  permittetur.  Nec  rem  ullam  ab  alio  emerc  aut  vendere  vel  dono 
dare  vel  accipere  nisi  consciis  praeceptoribus  fas  erit. 

De  PauperibuB. 

Quoniam  saepe  usu  venire  solet,  ut  eximia  ingenia  fortunis  destituta  ob  inopiam 
a  literarum  studio  desciscere  cogantur,  dabitur  opera,  ut  in  hoc  nostro  paedagogio  pau- 
peres  aliquot  adolescentes  gratis  alantur.  Hi  primum  ex  civibus  nostris,  si  idonei  fuerint 
reperti,  deligentur,  mox  ex  eis,  qui  sub  ditione  illustrissimorum  prinripum  nostrorum  nati 
fuerint.  Nemo  autem  admittetur,  nisi  cuius  indoles  ante  a  praeceptoribus  fuerit  explorata, 
quique  iara  ante  declinare  nomina  et  verba  probe  sciverit,  hoc  est,  quintam  in  nostro 
classem  obtinuerit.  Quin  etiam  iam  admissi  nisi  virtutis  et  literarum  studio  se  prae- 
ceptoribus probaverint,  iterum  excludentur.  Hi  miniBteria  obibunt  paedagogii.  Et  quando 
hodie  temporum  vitio  plerique  in  ea  studia  incumbunt,  ex  quibus  magnas  opes  et  amplos 
honores  expectant,  fit,  ut  sacrarum  literarum  perpauci  studiosi  reperiantur,  cui  malo  occur- 
rendo  cavebitur,  ut,  quotquot  huc  pauperes  adolescentes  recipientur,  promittant,  se  iuxta 
consilium  praeoeptorum  ac  suorum  studiorum  progressum  operam  daturos  discendis  sacris 
literis.  Itaque  ubi  in  secundam  pervenerint  classem,  quotidie  praelectdonem  unam  audient 
divinarum  scripturarum.  Quin  et  diebus  singulis  dominicis  unus  ex  hoc  ordine  decantatis 
vespertinis  hjmnis  in  coetu  scholastico  locum  aliquem  ex  Evangeliis  aut  Paulinis  epistolis 
a  praeceptoribus  praescriptum  sine  ostentatione  quidem,  sed  diligentcr  tarnen  meditatum 
germanice  explicabit.  Nec  prohibendi  sunt  ab  hoc  exercitii  genere  et  alii  secundae  vel 
primae  classis  adolescentes.  Quin  et  alias  licebit,  ut  praeceptores  hisce  interim  aliquid 
muneris  in  docendis  inferiorum  classium  pueris  tradant.  Ita  enim  fiet,  ut  ad  docendum 
magis  reddantur  idonei 

De  Oeconomo. 

Virum  aliquem  vitae  et  famae  probatae,  qui  aut  iam  matrimonio  sit  defunctus  aut 
liberis  non  impeditus,  deligemus,  qui  rem  domesticam  curet.  Is  igitur  ex  consilio  eorum, 
quibus  paedagogii  cura  mandata  est,  omnia,  quae  adolescentibus  ad  usum  vitae  sunt 
necessaria,  in  tempore,  ut  proviBa  sint,  advigilabit  In  eam  rem  pecuniam  a  Magistris 
accipiet.  Magistri  porro  a  praefectis  paedagogii  conficientque  utrique  Magistri  scilicet  et 
oeconomus  diligentissime  tabulas  aeeepti  et  expensi,  ex  quibus  singulis  mensibus  putari 
rationes  possin  t.  Quotannis  voro  bis  et  cum  praefectis  et  cum  magistris  atque  oeconomo 
publice  pracsente  senatu  ac  caeteris  etiam,  qui  adesse  voluerint,  rationes  conferentur.  Hoc 
inprimis  cavebitur,  ne  tractatio  pecuniarum  in  unius  alicuius  manu  sit  posita.  Sed  prae- 
fecti  a  senatu  dati  cum  ludimagistro  pecuniam  aeeeptam  in  aerarium  conferent.  Cuius  una 
clavis  penea  senatum,  altera  penes  ludimagistrum  sit,  tertia  vero  nobili  alicui  adolescenti 
et  grandiusculo  committatur.  Idem  denuo  ex  aerario  depromptam  pecuniam  in  usus  neces- 
sarios  singulis  hebdomadibus  magistris  paedagogii  tradent,  a  quibus  deinde  oeconomus 
eam  accipiet. 

De  Mensa. 

Duplicem  mensam  instruet  oeconomus,  unam  quidem  pro  nobilibus  ac  divitibus,  alteram 
pro  tenuibus  ac  pauperibus.  In  priore  quotidie  in  prandio  quidem  quattuor  dabuntur 
missus  cum  butiro  et  casco.   Vesperi  tres.    Magistri  videbunt,  ut  iusta  singulorum  sit 


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E.  Fabian:  Die  Errichtung  eines  Alumnats  an  der  Zwickauer  Schule  (1544)  75 


copia.  Assa  ter  in  hebdomade  dabitur.  Gallin ae  etiam  aut  pulli  vel  aves  bis  dabuntur. 
Pisces  similiter  bis  recentes  et  salsi  aut  sicci.  Emet  vero  oeconomus  optimas  tum  carnes 
tum  piaces  etiam  niei  quod  ferinam  aut  preciosos  recentes  piBces,  nisi  nominatim  ad  eam 
rem  pecuniam  aeeeperit,  non  emet.  Si  una  mensa  omnes  capere  non  potent,  singulis  unus 
■altem  magistrorum  accumbet  Quod  si  parentes  liberis  suis  aliquid  vel  ferinae  vel  aliarum 
rerum  miserint,  oeconomi  opera  paratum  fideliter  eis  offeretur  eoque  cum  magistris  suis  et 
si  quos  alios  ad  mensam  suam  vocare  volucrint  vescentur.  Posterior  mensa  tres  habebit 
missus  tarn  in  prandio  quam  in  coena.  Nihil  tarnen  ne  huc  quidem  nisi  bonum  et  bene 
paratum  inferetur.  Assa  dominioo  tantum  die  dabitur.  Panes  singulis  hebdomadibus 
recentes  dabuntur.  Cerevisia  in  priori  quidem  mensa  optima  dabitur,  medioeris  in  posteriore, 
sed  salubris  ntraque  et  incorrupta.  Haec  ad  merendam  et  vesperi,  antequam  eubitum 
discedatur,  omnibus  promiscue  dabitur.  Magistri  morum  et  civilitatis  in  mensa  admonebunt 
pneros.  Periniquum  etiam  cum  sit,  ut  corpora  enrentur  et  negligantur  animi,  adolescentum 
aliquis  a  prineipio  convivii  ad  finem  usque  sacram  lectionem  recitabit  assuefacientque 
inügistri  pueros,  ut  ad  eam  auscultent  interrogantes  nonnunquam  nunc  hos  nunc  illos  quid 
sit  id,  qnod  lectum  est 

Haec  sie  ruditer  adumbraase  nunc  Bit  satis;  cavendum  enim  duximus,  ne  inani  verbo 
ex  apparatu  ac  promissorum  splendore  vanitatis  notam  merito  subire  possimus.  Ipsa  re 
modo  CHRISTVS  suo  praesenti  numine  conatus  nostros  prosequatur,  praestabimus,  ut  omnia 
sint  proruissis  pleniora. 


SOLL  DIE  SCHULE  ERZIEHEN? 


Von  Carl  Reichardt 

Ein  franzosischer  Beobachter  hat  den  gegenwärtigen  Zustand  der  Pädagogik 
in  Deutschland  ein  Chaos  genannt.  Das  Wort  mag  gelten,  insofern  es  die  An- 
schauung eines  wogenden  Wettstreites  und  Widerstreites  der  Stimmungen, 
Gedanken  und  Willenstriebe  zum  Bilde  verdichtet.  In  seinem  Grunde  aber 
ruht  eine  Vorstellung,  die  dem  wirklichen  Wesen  unserer  Tage  fremd  ist.  Das 
Chaos  steht  am  Anfang  der  Dinge,  vor  dem  ersten  Gewordenen:  keimender 
Urgrund  und  dämmernde  Ahnung  des  noch  Namenlosen.  Hier  aber  will  nicht 
Neues  aus  dem  Nichts  entstehen,  sondern  Altes  zum  Neuen  sich  umbilden:  die 
deutsche  Schule,  die  deutsche  Jugend-  und  Volkserziehung  strebt  nach  neuer, 
eigenartiger  organischer  Gestaltung.  Hier  ist  —  um  Bild  für  Bild  zu  setzen  — 
nicht  Chaos,  sondern  Gärung. 

Die  brausende  Erregung  der  Gegenwart  ist  nur  der  Abschlufs  der  lang- 
samen Zersetzung,  welche  seit  dem  Anfange  des  Jahrhunderts  die  altpreufsische 
Landschule  von  innen  heraus  mehr  und  mehr  durchdrungen  und  in  ihrem 
Wesen  aufgelöst  hat,  so  dafs  nun  die  Frage  nicht  mehr  abzuweisen  ist:  was 
will  werden?  Der  Keim  aber,  welcher  diese  Gärung  wirkte?  Ich  finde  ihn 
in  dem  Gedanken  der  Erziehung,  der  absichtsvollen,  den  ganzen  Menschen  er- 
fassenden Erziehung,  den  das  vorige  Jahrhundert  zuerst  zur  vollen  Klarheit 
erhob  und  den  die  Zeit  der  Freiheitskriege  der  preufsischen  Volksschule  ein- 
pflanzte. 

Der  Gedanke  einer  bewufsten,  menschengestaltenden  Erziehung  ist  ein 
echter  Funke  aus  dem  Geiste  der  Aufklärung.  Die  Zeit,  welche  alles  Gegebene 
beiseite  schob,  alle  historische  Gebundenheit  leugnete,  welcher  die  Welt  tabula 
rasa  war,  bestimmt,  durch  die  Vernunft  des  Menschen  einen  neuen  Inhalt  zu 
empfangen  —  sie  mufste  auch  am  ehesten  den  Mut  finden,  den  Menschen 
selbst  nach  ihrer  souveränen  Willkür  zu  bilden:  den  Willen  zum  homunculus! 
Die  Überspannung  des  Gedankens  konnte  seine  treibende  Kraft  nur  steigern. 
Zu  jeder  grofsen  Wirkung  ist  eine  geniale  Einseitigkeit  des  Denkens  und 
Wollens  Vorbedingung.  So  ergriff  denn  der  hoffnungsreiche  Gedanke  idealer 
Menschenbildung  gerade  die  Besten.  Pestalozzi  fafste  ihn  mit  seinem  ganzen 
warmen  Herzen,  Herbart  mit  scharfem,  ordnendem  Verstände  —  jener  das  un- 
erreichte Vorbild  der  Erziehungskunst,  dieser  der  gefeierte  Begründer  der  Er- 
ziehungswissenschaft. 


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C.  Ifcichardt:  Soll  die  Schule  erziehen? 


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Neue  Strömungen  im  Geistesleben  der  Nation  dringen  niemals  leicht,  bei 
uns  in  Deutschland  vielleicht  schwerer  als  anderswo,  durch  die  festen  Schranken 
der  politischen  und  sozialen  Institutionen.  So  lag  denn  auch  zwischen  jenen 
idealen  Bestrebungen  und  der  Wirklichkeit  der  damaligen  Fridericianischen 
Schule  eine  Kluft,  welche  überbrücken  zu  wollen  wohl  niemandem  ernsthaft 
einfiel.  Aber  ungeahnte  Geschehnisse  liefsen  bald  das  bisher  kaum  Gedachte 
möglich,  ja  notwendig  erscheinen.  In  den  Stürmen  der  Franzosenzeit  brachen 
alle  festen  Gefüge  des  alten  Staates  zusammen.  Jetzt  fielen  auch  die  Schranken, 
welche  die  Statten  des  Jugendunterrichts  bislang  von  der  Aufsenwelt  geschieden 
hatten.  Neue  Ideen  sollten  eine  völlige  Wiedergeburt  des  Staates,  der  Gesell- 
schaft, des  Volkes  herbeiführen  helfen,  neue  Ideen  sollten  vor  allem  auch  in  der 
.Jugendbildung  wirksam  werden.  Fichte  forderte  eine  Erziehung  des  künftigen 
Geschlechtes  nach  den  Grundsätzen  des  grofsen  Schweizers.  Der  Boden  war 
gelockert,  um  den  Keim  eines  Neuen  willig  in  sich  aufzunehmen.  So  trat  der 
Gedanke  der  Erziehung  in  die  preufsische,  die  deutsche  Schule  ein. 

Geschlechter  vergehen,  ehe  ein  neuer  Gedanke,  den  die  Grofsen  im  Geiste 
zuerst  erfafsten  und  in  die  Mitwelt  warfen,  von  den  breiteren  Schichten  willig 
aufgenommen,  apperzipiert  wird.  Zuerst  packt  jede  neue  Offenbarung  die  Ge- 
müter. Denn  die  unmittelbarste  und  machtigste  Wirkung  geht  von  der 
lebendigen  und  vollen  Persönlichkeit  aus,  in  welcher  der  Gedanke  selbst 
Mensch  wurde,  und  darum  ergreift  sie  auch  den  ganzen  Menschen.  So  mufste 
zunächst  Pestalozzis  Herzenswärme  und  sein  kindlich  fester  Glaube  an  die  sieg- 
reiche Macht  des  Guten  Tausende  erheben  und  zur  Nachfolge  begeistern.  In 
sich  Pestalozzi  darzustellen,  blieb  lange  Zeit  das  stille,  aber  alle  Kräfte  des 
Willens  weckende  Ideal  der  besten  deutschen  Lehrer.  In  dieser  Nachfolge 
fühlte  der  Lehrer  mit  bescheidenem  Stolze  sich  gehoben,  geadelt  zum  Erzieher. 
Die  Schule  war  —  in  diesem  Glauben  atmete  die  Zeit,  ohne  sich  dessen  immer 
voll  bewußt  zu  werden  —  zur  Statte  der  Erziehung  geworden. 

Dem  Glauben  ist  zu  ihrer  Zeit  noch  immer  die  Reflexion  gefolgt,  das 
Aufleuchten  des  Bewufstseins  von  dem  eigenen  Stand  und  Wesen,  das  Streben 
nach  verstandesmäfsiger  Erkenntnis  und  systematischer  Betrachtung  des  eigenen 
Wirkens.  Was  ist  eigentlich  die  Erziehung?  worauf  gründet  sie  sich?  wodurch 
wirkt  sie?  wohin  zielt  sie?  Diese  Fragen  traten  immer  deutlicher  in  das 
Gemeinbewufstsein  der  Lehrerschaft.  Es  war  natürlich,  dafs  diese  theoretischen 
Erwägungen  auf  Herbart  zurückgriffen,  den  Vater  der  spekulativen  und  syste- 
matischen Pädagogik.  Denen  um  Ziller  ist  das  Verdienst  nicht  abzustreiten, 
dafs  sie  zuerst  versucht  haben,  eine  wissenschaftliche  Pädagogik  auf  breiter 
Grundlage  zu  schaffen.  Der  Versuch  darf  heute  als  gescheitert  gelten,  soweit 
man  den  Aufbau  ihrer  Lehren  als  ein  Ganzes  nimmt.  Soll  ein  neues  Unter- 
fangen zu  besserem  Gelingen  führen,  so  gilt  es,  den  Ursachen  des  Mifserfolgos 
nachzufragen. 

Ich  nebe  zwei  Umständen  die  Schuld.  Zum  ersten:  die  neue  Wissenschaft 
baute  auf  zu  schwankendem  Grunde.  Die  Jünger  Herbarts  haben  selber  klar 
erkannt  und  aufe  entschiedenste  erklärt,  dafs  eine  wahrhaft  wissenschaftliche 


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C.  Reichardt:  Soll  die  Schule  erziehen? 


Pädagogik  nur  auf  dem  Grunde  einer  zuverlässigen  Psychologie  aufgebaut 
werden  kann.  Diesen  aber  nahmen  sie  als  gegeben.  Die  Gegenwart  ist  anderer 
Meinung.  Sie  bemüht  sich  erst,  auf  physiologischen  Voraussetzungen  und 
durch  fleifsige  Beobachtung  und  scharfsinnige  Kombination  der  einzelnen 
psychischen  Thatsachen  eine  empirische  Psychologie  nach  und  nach  aufzubauen.  ^ 
Gerade  das  rege  Schaffen  aber,  welches  diese  junge  Wissenschaft  rühmlich  aus- 
zeichnet, beweist,  dafs  wir  auf  diesem  Gebiete  menschlichen  Forschens  noch 
weiter  als  sonstwo  von  dem  Ideal  einer  befriedigenden  und  allgemein  an- 
erkannten Theorie  der  vorhandenen  Erscheinungen  entfernt  sind.  Alle  die 
Schwankungen  und  Erschütterungen  aber,  welchen  das  Gebäude  der  modernen 
Psychologie  noch  immer  ausgesetzt  ist,  müssen  in  der  Wissenschaft  der  Päda- 
gogik, welche  sich  auf  diesem  Unterbau  erheben  soll,  natürlich  doppelt  fühlbar 
werden  und  ihre  ruhige  Fortentwickelung  mit  schweren  Störungen  bedrohen. 
Man  darf  darum  wohl  fragen,  ob  überhaupt  schon  die  Zeit  für  eine  exakte 
Wissenschaft  der  Pädagogik  gekommen  ist. 

Zum  anderen:  die  Spekulation  der  sogenannten  Herbartischen  Schule,  die 
mit  solchem  Eifer  das  Wesen  der  Erziehung  zu  ergründen  und  in  ein  er- 
schöpfendes System  zu  bringen  bemüht  war,  machte  seltsamer  Weise  vor  einer 
Frage  Halt,  die  unbedingt  zunächst  ihre  Lösung  erheischte:  vor  der  Frage  nach 
dem  inneren  Verhältnisse  von  Schule  und  Erziehung.  Es  ist  wohl  nicht  zu 
viel  behauptet,  wenn  ich  sage,  man  nahm  die  herkömmliche  Verquickung  beider 
Hegriffe  einfach  als  etwas  Gegebenes.  Man  schien  ganz  zu  vergessen,  dafs 
Herbart  seine  Theorie  nicht  aus  den  Verhältnissen  der  öffentlichen  Schule, 
sondern  aus  den  Erfahrungen  der  häuslichen  Erziehung  abgeleitet  hat  und 
mithin  solche  Theorie  auch  nur  auf  diese  unmittelbar  und  ohne  Einschränkungen 
angewendet  werden  kann.  In  dem  durchaus  zu  billigenden  Streben,  alle  Formen 
der  Einwirkung  auf  das  jüngere  Geschlecht  dem  einen  Hauptziele  der  Erziehung, 
der  Charakterbildung  dienstbar  zu  machen,  kam  Herbart  zu  der  Überzeugung: 
Unterricht  ist  Erziehung!  Aber  man  darf  sich  nicht  auf  ihn  berufen,  wenn 
man  diesen  Satz  umkehrt  und  behauptet:  Erziehung  ist  Unterricht!  Und  eben 
diesen  Unterschied  nicht  klar  genug  erkannt,  ja  bisweilen  geradezu  verwischt 
zu  haben,  das,  scheint  mir,  mufs  man  denen,  die  sich  mit  Herbarts  Namen 
decken,  zum  Vorwurfe  machen. 

Das  Kind  erziehen  —  was  gehört  nicht  alles  dazu!  Es  heifst  dem  Leibe 
Nahrung  zufuhren,  den  Körper  stählen,  die  Kräfte  und  Fähigkeiten  der  Glied- 
mafsen  entwickeln,  die  Sinne  schärfen,  die  Anschauung  wecken,  das  Wissen 
bereichern,  das  Denken  aufrufen,  die  Phantasie  beflügeln,  den  Willen  anregen, 
leiten  und  üben,  das  Selbstbewufstsein  mit  der  Erkenntnis  der  Abhängigkeit 
auf  der  einen,  der  vielfältigen  Verpflichtung  auf  der  anderen  Seite  in  Einklang 
setzen,  alle  Wesensäufserungen  zusammenfassen  zur  Einheit  des  Charakters.  Zu 
solchem  vielseitigen  Geschäfte  müssen  natürlich  Wirkungen  der  verschiedensten 
Art  ineinandergreifen.  Und  mannigfaltigsten  Wesens  sind  denn  auch  die  er-  ) 
ziehenden  Kräfte,  welche  'in  munterm  Bunde'  den  werdenden  Menschen  zu 
bilden  beflissen  sind.    Da  wirken  Haus  und  Hof,  Feld  und  Wald,  Wind  und 


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C  Reichardt:  Soll  die  Schule  erziehen? 


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Wetter.  Dazu  helfen  die  Bäume  im  väter1;chen  Garten  und  das  Bad  am  Erlen- 
busche; der  Raubvogel,  der  in  blauer  Höhe  seine  Kreise  zieht,  rnd  der  muntere 
Schlag  des  Finken.  Da  hat  der  Beuer  hinterin  Pfluge  seine  Bedeutung  so  gut 
wie  die  lärmenden  Zigeunerbuben  um  den  schmutzigen  Karren.  Da  bringen 
Erzählungen  des  Bruders,  den  die  Tropensonne  verbrannt  hat,  die  Kupferstiche 
in  den  alten  Folianten  der  grofsen  Bibliothek  zu  lebhafter  Wirkung.  Da  wölbt 
sich  das  sternenfunkelnde  Firmament  über  der  Dämmerwelt  des  Märchens,  und 
die  verhallenden  Klange  eines  fernen  Liedes  tragen  die  Seele  weit  übers  offene 
Feld.  Da  legt  die  Freundschaft  den  Arm  um  die  Schulter,  und  das  spöttische 
Wort  des  überlegenen  Kameraden  reizt  zur  Selbstzucht.  Da  weckt  der  prüfende 
Blick  des  Vaters,  die  leise  Hand  der  Mutter  auf  den  braunen  Locken  die  erste 
Ahnung  des  Selbstbewufstseins  in  der  jungen  Brust. 

Und  nun  kommt  die  Schule,  nimmt  die  jungen  Menschenkinder,  in  denen 
schon  eine  Welt  im  kleinen  sich  zu  gestalten  trachtet,  vier  Stunden  taglich  in 
ihre  Obhut  und  spricht:  Sitzt  fein  stille!  jetzt  will  ich  euch  erziehen!  —  Wie 
ganz  anders  ist  diese  Schulwelt  als  die  da  aufsen!  Da  ist  Ruhe  und  feier- 
licher Ernst.  Da  sind  vier  Wände,  die  den  Blick  beschranken  und  in  sich 
kehren.  Da  sind  allenfalls  Bilder,  die  doch  aber  nur  die  Abstraktion  einer 
Anschauung  geben.  Da  ist  ein  einseitiger  Ehrgeiz  des  Intellekts.  Da  sind  vor 
allen  Dingen  Worte  und  wieder  Worte,  aus  denen  sich  eine  innere  Welt  durch 
die  Vermittelung  des  Denkens  aufbauen  soll. 

Ich  will  nicht  ungerecht  sein.  Ich  erkenne  ausdrücklich  an,  dafs  gerade 
die  Schule,  welche  ich  hier  zunächst  im  Auge  habe,  redlich  bemüht  ist,  eine 
Spaltung  des  Bewufstseins,  die  Bildung  einer  Schul  weit  neben  der  wirklichen, 
zu  vermeiden.  Man  setzt  sich  zur  Aufgabe,  den  Anschauungskreis  und  die 
Gedankenwelt,  welche  die  einzelnen  Kinder  mit  in  die  Schule  bringen,  kennen 
zu  lernen;  an  das  Bekannte  anzuknüpfen;  die  Eindrücke,  welche  die  Aufsen- 
welt  fortlaufend  den  Kindern  bietet,  im  Unterrichte  zu  verwerten.  Man  will 
ja  nichts  Gegebenes  verwerfen;  man  will  den  Kreis  der  Vorstellungen  nur 
ordnen,  erweitern,  zum  System  gestalten.  Das  alles  verdient  sicher  Zustimmung 
und  Nacheiferung.  Freilich  ist  die  Aufgabe,  welche  damit  dem  Lehrer  gestellt 
wird,  sehr  schwer  —  viel  schwerer  jedenfalls,  als  wohl  die  meisten  sich  dessen 
bewufst  sind,  wenn  sie  frohen  Mutes  sich  auf  dieses  Programm  verpflichten. 

Doch  das  wäre  an  sich  kein  hinreichender  Grund  zu  prinzipiellem  Wider- 
spruche. Man  darf  also  wohl  den  Theoretikern  der  Zillerischen  Schule  im 
wesentlichen  zustimmen,  so  lange  nur  die  Bereicherung  des  Wissens  und  die 
Entwickelung  des  Denkens,  kurz  die  Bildung  des  Intellektes  in  Frago  steht. 
Denn  für  die  Belehrung  und  für  die  Übung  des  Verstandes  ist  das  gesprochene 
und  geschriebene  Wort  das  natürliche  Mittel.  Hier  ist  also  die  Schule  in 
ihrem  eigentlichen  Elemente;  das  ist  es  ja,  was  ihr  von  jeher  und  ehedem  aus- 
schliefslich  zur  Aufgabe  gestellt  wurde:  der  Unterricht.  Dafs  man  darunter 
jetzt  wohl  nirgends  mehr  Mitteilung  von  Wissen  allein  versteht,  sondern  An- 
leitung zum  eigenen  Erwerb  und  zur  nutzbringenden  Verwertung  des  Wissens 
—  auch  das  soll  dankbar  als  wesentlicher  Fortschritt  anerkannt  werden,  wenn- 


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C.  Iteichardt:  Soll  die  Schule  erziehen? 


gleich  es  wohl  zu  keiner  Zeit  an  Lehrern  gefehlt  hat,  denen  diese  Anschauung 
Prinzip  ihres  Wirkens  war. 

Um  so  entschiedener  aber  mufs  man  es  ablehnen,  wenn  nun  an  Stelle  des 
Unterrichts  die  Erziehung  schlechthin  als  die  eigentliche  Aufgabe  der  Schule 
bezeichnet  wird.  —  Fassen  wir  das  Wesen  unserer  allgemeinen  öffentlichen 
Schule  scharf  ins  Auge:  in  regelmäfsigen,  aber  kurzen  Fristen  werden  eine 
Schar  von  Kindern  verschiedenster  Herkunft  und  Beanlagung  in  geschlossenem 
Räume  und  unter  fester  Disziplin  zu  gemeinsamem  Unterrichte  vereinigt.  Wie 
soll  diese  Institution  befähigt  sein,  die  vielerlei  Aufgaben  einer  allseitigen  und 
abschliefsenden  Erziehung  zu  erfüllen? 

Auf  die  Ausbildung  des  Körpers  hat  diese  Schule  zunächst  kaum  irgend 
welchen  Einflufs.  Zur  Schärf ung  der  Sinne  kann  sie  schon  der  Ungunst  des 
Raumes  wegen  nicht  allzuviel  beitragen.  Für  die  Anschauung  mufs  sie  zurück- 
greifen auf  die  Erinnerungsbilder,  welche  die  Kinder  von  aufsen  mitbringen, 
oder  sie  mufs  zur  mittelbaren  Anschauung  durch  Abbildungen  ihre  Zuflucht 
nehmen;  nur  weniges  läfst  sich  in  eigenster  Gestalt  und  Erscheinung  in  der 
Klasse  vor  die  Augen  führen.  Damit  aber  entfallen  auch  die  stärksten  An- 
triebe zur  Entfaltung  der  Phantasie.  Die  Willensbildung  endlich,  die  Achse 
aller  wirklichen  Erziehung,  kann  höchstens  erleichtert  und  gefördert  werden 
durch  angemessene  Einwirkung  auf  den  Vorstellungsverlauf,  während  die  bei 
weitem  stärkeren  und  zuverlässigeren  Einflüsse  der  Übung  und  Gewöhnung 
sich  nur  in  sehr  beschränkter  Weise  zur  Anwendung  bringen  lassen. 

Wir  sehen:  wo  immer  die  Schule  die  Grenzen  des  eigentlichen  Unterrichts 
überschreitet,  begiebt  sie  sich  auf  fremden  Boden,  verliert  sie  die  Möglichkeit 
unmittelbarer  Wirkung  und  kann  also  keine  einigermafsen  sichere  Gewähr 
mehr  bieten  für  den  Erfolg  ihrer  Bestrebungen.  Mit  einem  Worte:  die  Schule, 
heute  ist,  kann  wohl  erziehen  helfen  —  und  dafs  sie  dies  den  Lehrern 
aufs  neue  ins  Gewissen  gerufen  haben,  soll  den  Verehrern  Herbarts  ebenfalls 
unvergessen  sein!  —  aber  sie  kann  nicht  im  vollen  Sinne  des  Wortes  selbst 
erziehen.  Proklamiert  sie  an  Stelle  des  Unterrichts  die  Erziehung  als  ihre 
eigenste  Aufgabe,  so  unternimmt  sie  eine  Arbeit,  die  weit  über  ihre  Kräfte 
geht.  Will  man  dennoch  Ernst  machen  mit  der  Erfüllung  dieser  weiteren 
Aufgabe,  so  mufs  man  notwendig  auch  das  Wirkungsgebiet  der  Schule  und 
ihre  Wirkungsmittel  weit  über  die  altgewohnten  Grenzen  erweitern.  Kurz,  der 
Gedanke  der  Erziehung  durch  die  Schule  mufs,  wenn  er  nicht  eine  Phrase 
bleiben  soll,  das  überlieferte  Gefüge  der  öffentlichen  Schule  von  innen  heraus 
sprengen  und  zum  Aufbau  eines  ganz  neuartigen  und  weit  umfassenderen 
Gebäudes  führen. 

Es  fehlt  nicht  an  Antrieben  und  Kräften,  welche  die  Entwicklung  unserer 
Schule  in  solche  neuen  Bahnen  drängen  möchten.  Ja,  dies  scheint  mir  gerade 
das  Losungswort  für  die  Phase  der  pädagogischen  Entwickelung,  in  der  wir 
uns  eben  jetzt  befinden:  des  Chaos,  von  dem  unsere  Betrachtung  ausging. 
Der  Unterricht  allein  —  das  fühlte  man  denn  doch  bald  —  kann  den  viel- 
seitigen und  vielartigen  Aufgaben  der  Erziehungsschule  nicht  genügen.  So 


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galt  es  denn,  andere  Mittel  und  Wege  zu  finden,  um  allen  Forderungen,  welehe 
aus  der  veränderten  Grundanschauung  von  Wesen  und  Beruf  der  Schule  sich 
notwendig  ergeben  mufsten,  einigermafsen  zu  entsprechen:  um  den  Körper  zu 
bilden  und  die  Hände  zu  üben,  um  Auge  und  Ohr  zu  schulen  und  lebendige 
Anschauungen  zu  vermitteln,  um  ästhetisches  Empfinden  zu  wecken  und  die 
Phantasie  in  aussichtsreiche  Bahnen  zu  leiten,  um  Mut  und  Thatkraft,  Ent- 
schlossenheit und  Selbstbeherrschung  zu  kräftigen,  um  Kameradschaft  und 
Gemeinsinn  zu  pflegen  —  kurz,  um  ganze  Menschen,  feste  Charaktere,  echte 
Bürger  zu  erziehen.  Zuerst  hatte  —  das  einzige  Überlcbsel  aus  dem  Schiff- 
bruch der  Ideale  von  anno  13  —  das  Turnen  sich  den  Eintritt  in  die  Schulen 
ertrotzt  Dafs  es  organisch  in  den  Rahmen  der  bestehenden  Schule  eingefügt 
sei,  wird  wohl  bis  heute  niemand  behaupten.  Dafs  es  sich  als  fremdartiges 
Anhängsel  der  Unterrichtsschule  dennoch  standhaft  behauptete,  verdankt  es 
wohl,  neben  der  wachsenden  Einsicht  in  seine  Bedeutung  für  den  Wehrdienst, 
hauptsächlich  dem  Umstände,  dafs  man  darin  das  einzige  bequeme  Gegenmittel 
sah,  der  drohenden  Hypertrophie  auf  Seiten  der  geistigen  Entwicklung  vor- 
zubeugen und  die  mancherlei  hygienischen  Bedenken,  zu  denen  der  herkömm- 
liche Schulbetrieb  Ursache  gab,  zum  Schweigen  zu  bringen.  Seit  nun  aber 
nicht  mehr  der  Unterricht  allein  oder  doch  vorwiegend,  sondern  die  allseitige 
Menschenbildung  ab  Aufgabe  der  Schule  ausgerufen  wurde,  begannen  bald 
immer  neue  Bestrebungen  Einlafs  in  die  Hallen  der  Erziehungsanstalt  zu  be- 
gehren. Da  kam  —  ich  greife  auf  gut  Glück  in  den  Strudel  —  das  Jugend- 
spiel und  der  Rudersport,  das  Modellieren  und  Kartenzeichnen,  die  Handfertig- 
keits-  und  Haushaltungslehre,  die  Beschäftigung  in  Schulgärten  und  der  Unterricht 
im  Freien,  Vogelschutz  und  Schulreisen,  der  Besuch  von  Museen  und  Theatern 
—  ganz  zu  geschweigen  von  den  Disziplinen,  die  in  den  Unterricht  selbst  Auf- 
nahme heischten:  Geologie  und  Klimakunde,  Biologie,  Verkehrsgeographie, 
Kulturgeschichte,  Volkswirtschaftslehre  und  Gesetzeskunde  —  und  zu  dem 
allem  noch  wahrhaft  grundstürzende  Forderungen  an  die  Unterrichtsmethode 
und  das  Lehrverfahren  in  jedem  einzelnen  Wissensgebiete  —  wahrlich  ein  Chaos! 

Wenn  wir  dieser  Flut  von  Vorschlägen  und  Zumutungen  nicht  ratlos 
gegenüber  stehen  wollen,  so  müssen  wir  uns  zunächst  eine  klare  und  bestimmte 
Antwort  geben  auf  die  Frage:  Was  wollen  wir  eigentlich  in  Zukunft?  Will 
und  soll  die  Schule  wirklich  erziehen,  volle  Menschen  bilden?  Bejahen  wir  diese 
Frage  —  gut,  dann  haben  alle  jene  Bestrebungen  ihren  guten  Sinn  und,  mehr 
oder  weniger,  Anspruch  auf  Beachtung  und  Verwirklichung.  Ja,  dann  wird 
noch  gar  manches  andere,  was  Mb  jetzt  noch  nicht  zu  dem  Schlagworte 
einer  Reform  ausgeprägt  wurde,  sich  notwendig  erweisen.  Dann  aber  gilt  es, 
mit  dem  Wirkungsgebiete  auch  den  Machtbereich  und  die  Machtvollkommen- 
heit der  Schule  viel  weiter  abzustecken.  Sollen  wir  ganze  Menschen  bilden, 
so  müssen  wir  auch  die  ganze  Erziehung  ausschliefslich  in  Händen  haben. 
Eine  völlig  einheitliche  und  planmäfsige  Erziehung  ist  überhaupt,  wie  mir 
scheint,  nur  in  drei  Formen  denkbar,  und  welche  von  den  dreien  man  vorzieht, 
wird  einzig  von  der  sozialen  Färbung  abhängen,  in  welcher  der  Einzelne  die 

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C.  Reichardt:  Soll  die  Schule  erziehen? 


Dinge  dieser  Welt  anschaut.  Dem  aristokratischen  Individualismus  des  acht- 
zehnten Jahrhunderts  entsprach  das  Hofmeister-  und  Hauslehrerwesen,  der 
klassenmäfsig  gegliederten  Gesellschaft  des  neunzehnten  die  Fürstenschulen, 

Kadettenhäuser,  Priesterseminarien   dem  konsequenten  Staatssozialismus  | 

aber,  der  das  nächste  Jahrhundert  zu  beherrschen  hofft,  kann  nur  die  sparta- 
nische Massenerziehung  genügen. 

Die  Staatserziehung!  Der  Gedanke  liegt  offenbar  genau  in  jener  Richtung, 
nach  welcher  die  thatsächliche  Entwickelung  unserer  sozialen  Verhältnisse 
schon  seit  Jahrzehnten  hinzudrangen  scheint.  Schritt  für  Schritt  hat  sich  der 
Begriff  des  Staates  als  Hauptträgers  Öffentlich-rechtlicher  Funktionen  erweitert 
und  vertieft.  Immer  fester  durchwurzelt  die  Staatsgewalt  mit  tausend  feinen, 
aber  energisch  ansaugenden  Organen  den  ganzen  Boden  unseres  Kulturlebens. 
Es  ist  verständlich,  wenn  radikale  Schwärmer  hier  und  ängstliche  Gemüter 
dort  den  baldigen  Sieg  der  Staatsomnipotenz  mit  Sicherheit  erwarten.  Aber 
die  Konsequenz  einer  historischen  Entwickelung  liegt  selten  in  der  geraden 
Linie.  Denn  jeder  noch  so  starke  Antrieb  wird  bald  gekreuzt  und  abgelenkt 
durch  Kräfte  anderen  Ursprungs  und  abweichender  Richtung.  Vor  allem  aber 
findet  jedes  Gewordene  und  Wachsende  die  Grenzen  seiner  Entfaltung  in  den 
Grundbedingungen,  in  denen  sein  Wachstum  wurzelt.  Wollte  seine  eigene  Ent- 
wickelung zur  Vernichtung  jener  Voraussetzungen  führen,  so  würde  damit  die 
Axt  an  seine  Wurzel  gelegt  sein.  Ich  wecke  ein  einfaches  und  grofses  Bei- 
spiel: das  römische  Reich!  Aus  einem  kerngesunden  Volkstume  und  einer 
festgefügten  Staatsordnung  erwachsen,  strebte  es  mächtig  empor,  solange  dieser 
Mutterboden  sich  annähernd  in  seinem  alten  Wesen  erhielt.  Von  der  Zeit- 
wende aber,  wo  die  Entwickelung  des  Reiches  selbst  rückwirkend  jene  Grund- 
lagen zu  zersetzen  begann,  hebt  auch  die  innere  Auflösung  des  Kolosses  an, 
wenn  er  auch  dank  seinem  Schwergewichte  erst  um  Jahrhunderte  später  dem 
zertrümmernden  Stofse  von  aufsen  erlag.  Was  an  diesem  welthistorischen 
Exempel  in  die  Augen  leuchtet,  das  gilt  nun  aber  im  weiteren  von  dem  Staate 
schlechthin.  Er  lebt  und  gedeiht,  solange  er  sich  den  Nährboden  seines 
Wachstums  und  Gedeihens  zu  erhalten  weifs.  Die  Grundbedingungen  aber  für 
die  gedeihliche  Entwickelung  jedes  Staates  möchte  ich  in  der  freien  Selbst- 
bestimmung des  Individuums  und  dem  Eigenrechte  der  Familie  erblicken.  Sie 
scheinen  mir  geradezu  das  männliche  und  weibliche  Prinzip  der  Staaten- 
schöpfung, aus  denen  jeder  Staat,  so  lange  er  lebendig  fortbestehen  will,  immer 
aufs  neue  wiedergeboren  werden  mufs.  Mit  ihrem  Absterben  oder  ihrer  gewalt 
samen  Vernichtung  welken  die  Wurzeln  des  ganzen  Staatswesens  hin.  Denn 
nur  Individuen,  denen  die  Möglichkeit  der  freien  Selbstbestimmung  nicht  allzu- 
sehr beschränkt  wird,  können  in  der  Befriedigung  der  ihnen  eigenen  Willens- 
triebe und  besonderen  Anlagen,  in  der  Umsetzung  ihrer  dvvuuig  in  ivf'qyeta, 
den  stets  erneuten  Antrieb  finden  zu  kräftigem  und  fruchtbarem  Handeln, 
nicht  nur  zum  eigenen  Vorteil,  sondern  damit  zugleich  auch  zum  Besten  der 
Gesamtheit,  des  Staates.  Und  nur  im  Schofse  der  festgeschlossenen  Familie, 
die  durch  ihre  natürliche  und  enge  Verbindung  immer  die  stärksten  Ströme 


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sympathischen  Empfindens  von  Mensch  zu  Mensch  erwecken  wird,  kann  der 
Mensch  sich  mit  jener  gleichbleibenden  Wärme  des  Gefühls  erfüllen,  welche 
die  Voraussetzung  für  alle  wahre  altruistische  und  soziale  Gesinnung  und  damit 
zugleich  das  festeste  Band  der  Staaten  bildet.  Darum  hat  es  mit  dem  Siege 
der  Staatserziehung  gute  Wege.  Denn  eine  solche  würde  nichts  weniger  be- 
deuten als  die  Entmündigung  des  Individuums  und  die  Entrechtung  der  Familie. 
Es  mögen  aber  eher  willensfreie  Einzelmenschen  den  Kampf  ums  Dasein  durch- 
fuhren, als  ein  Staat,  dessen  Einzelglieder  keiner  eigenen  Entschüefsung  mehr 
fähig  sind,  und  es  können  leichter  Familien  ohne  einen  Staat  bestehen  als  ein 
Staat  ohne  Familien.  Deshalb  wird  die  Ausdehnung  der  Staatsgewalt  stets 
ihre  Grenze  finden  an  den  altererbten  Rechten  der  Familien,  und  unter  diesen 
unTeraufserlichen  Rechten  ist  das  älteste,  natürlichste  und  notwendigste  das 
Recht  auf  die  Erziehung.  Gewisse  Einschränkungen  und  genauere  Begrenzungen 
auch  dieses  Familienrechtes  sind  unvermeidlich  und  im  Begriffe  des  Staates 
als  einer  organischen  Vereinigung  von  Familien  gegeben.  Aber  das  nächste 
and  wichtigste  Anrecht,  freilich  auch  die  nächste  und  stärkste  Pflicht  zur  Er- 
ziehung ihrer  jugendlichen  Glieder,  wird  immer  der  Familie  verbleiben. 

Doch  halt:  diese  Position  ist  nicht  so  leicht  gewonnen.  Denn  hier  empfängt 
ans  ein  vernichtendes  Feuer  von  einer  anderen  Seite  her.  Wo  sind  denn  die 
Familien,  so  wirft  man  uns  mit  bitterem  Hohne  entgegen,  in  deren  sicherem 
und  warmem  Schofse  die  junge  Brut  sorglich  herangezogen  wird,  bis  sie 
selber  den  ersten  Flug  wagt?  Das  ist  ein  Traum  der  guten  alten  Zeit,  der 
allenfalls  noch  hie  und  da  in  der  beschränkten  Sphäre  kleinbürgerlichen  Lebens 
nachgeträumt  wird.  Die  oberen  Zehntansend  gehen  im  Genufs  des  Tages  oder 
im  Fieber  des  Erwerbens  auf  und  müssen  ihre  Kinder  die  längste  Zeit  fremden 
Personen  überlassen,  die  höchstens  zur  familia  im  Sinne  der  Alten  gehören. 
Und  die  unteren  Hunderttausende  und  aber  Hunderttausende?  Dafs  Gott 
erbarm!  Der  Mann  und  die  Frau  gehen  zur  Arbeit  und  sehen  sich,  wenns 
gut  geht,  einmal  zur  Mittagspause  auf  dem  Bau  oder  im  Fabrikhofe,  und  die 
Kinder  —  die  finden  im  günstigsten  Falle  in  einem  jener  humanen  Institute 
eine  Zuflucht,  welche  solchen  kleinen  verlassenen  Wesen  die  Familie  zu  er- 
setzen versuchen  und  die  doch  bei  edelstem  Bemühen  nur  freundliche  Kasernen 
sein  können.  Wenn  also  die  Erziehung  durch  eigens  dazu  bestellte  Persönlich- 
keiten, ja  wenn  die  Massenerziehung  für  einen  grofsen  Bruchteil  aller  deutschen 
Kinder  schon  Wirklichkeit  geworden  ist,  wenn  thatsächlich  die  deutsche  Familie 
in  zahllosen  Fullen  schon  abgedankt  und  sich  selbst  ihrer  edelsten  Pflichten 
und  Rechte  zugleich,  sei  es  freiwillig  oder  unter  dem  Drucke  zwingender  Ver- 
hältnisse, entschlagen  hat,  warum  sträubt  man  sich  dann  gegen  die  unaus- 
weichliche Konsequenz  dieser  Entwickelung:  die  Mediatisierung  der  Familie 
und  die  Verstaatlichung  ihrer  wichtigsten  Funktionen,  vor  allem  also  der  Er- 
ziehung? 

Warum?  —  Es  mag  ein  Gleichnis  für  mich  reden!  Man  weifs,  dafs  viele 
Taugende  unserer  Volksgenossen  dem  schleichenden  Übel  der  Lungenschwind- 
sucht verfallen  sind,  dafs  das  furchtbare  Leiden  langsam,  aber  unerbittlich 


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C.  Reichardt:  Soll  die  Schule  erziehen? 


weiter  um  sich  greift,  dafs  bisher  aller  Scharfsinn  und  Opfermut  der  Gelehrten, 
Arzte  und  Pfleger  dem  stillen,  aber  rastlos  wirkenden  Feinde  kaum  Einhalt  zu 
gebieten,  geschweige  irgend  welchen  wesentlichen  Abbruch  zu  thun  vermocht 
hat.  Hat  man  aber  schon  gehört,  dafs  darum  jemand  geraten,  ja  gefordert 
habe,  man  solle  so  rasch  als  möglich  die  unausweichliche  Konsequenz  dieser 
Entwickelung  ziehen,  für  möglichst  schnelle  Infizierung  aller  noch  von  der 
Krankheit  nicht  berührten  Individuen  sorgen,  weil  nach  völliger  Durchseuchung 
des  ganzen  Volkes  keine  Gefahr  mehr  zu  befürchten  sei? 

Nun  denn:  so  wäre  auch  mit  dem  allgemeinen  Siege  der  Staatserziehung 
die  gleichmäfsige  und  gleich  sorgliche  Erziehung  aller  Kinder  unseres  Volkes 
vielleicht  sichergestellt  —  ich  hege  allerdings  diese  Erwartung  keineswegs  — 
aber  der  Staat  selbst,  der  mit  der  Durchfuhrung  einer  solchen  Mafsregel  die 
Auflösung  der  Familien  vollendete,  wäre  sicher  in  absehbarer  Zeit,  wie  ich 
vorhin  schon  nachzuweisen  versuchte,  selbst  der  Auflösung  verfallen.  Nein, 
man  bekämpft  ein  Übel  nicht,  indem  man  Beine  Symptome  unterdrückt,  sondern 
indem  man  das  Übel  selbst  in  seinem  Herde  und  Hauptsitze  aufsucht  und  an- 
greift, indem  man  die  Ursachen  seines  Wachstums  zu  beseitigen  und  die  er- 
regenden Keime  selbst  zu  vernichten  strebt.  Es  gilt  nicht,  die  Erziehung  der 
Jugend,  mit  der  es  freilich  in  vielen  tausend  Familien  von  heute  recht  übel 
bestellt  ist,  kurzerhand  dem  Staate,  der  öffentlichen  Schule  zu  übertragen, 
sondern  es  gilt,  diejenigen,  denen  von  Gottes  und  Rechts  wegen  diese  Er- 
ziehung zu  allernächst  obliegt,  die  Familien  wieder  in  den  Stand  zu  setzen, 
dafs  sie  dieser  Aufgabe  einigermafsen  gerecht  zu  werden  vermögen. 

Alles  verständige  und  fruchtbringende  Wirken  setzt  Kompromisse  voraus; 
denn  es  fordert  stets  eine  Vereinigung  von  Kräften,  die  niemals  ganz  parallel 
gerichtet  sind:  in  ihrer  Diagonale  also  liegt  das  erreichbare  Ziel.  Legen  wir 
also  die  Waffen  nieder  und  erklären:  die  Schule  von  heute  kann  in  den  ihr 
gesetzten  Schranken  die  Erziehung  schlechthin  nicht  ausüben,  und  eine  wesent- 
liche Erweiterung  dieser  Schranken  würde  folgerichtig  zur  Staatserziehung 
führen,  damit  aber  nach  unserer  Uberzeugung  zum  Untergänge  des  Staates 
selbst.  Die  Familie  von  heute  aber  kann  in  tausenden  von  Fällen  die  Er- 
ziehung ebensowenig  ausüben,  weil  ihr  dazu  alle  Voraussetzungen  fehlen:  die 
Einsicht,  die  Kräfte,  die  Mittel  und  die  Zeit.  Wo  die  Familie  dazu  im  stände 
ist,  kommt  ihr  zunächst  und  vorwiegend  das  Recht  und  die  Pflicht  der  Er- 
ziehung zu;  wo  sie  dazu  nicht  im  stände  ist,  mufs  sie  wieder  in  den  Stand 
gesetzt  werden.  Das  heifst  freilich  nichts  weniger  als  die  soziale  Frage  lösen. 
Aber  wir  sind  nicht  bange.  Was  wir  heute  mit  diesem  Namen  nennen,  ist  nur 
ein  Übergang,  der  mit  Sicherheit  und  vielleicht  in  gar  nicht  allzuferner  Zeit 
zu  eiuer  neuen  und  doch  ähnlichen  Gruppierung  und  Organisierung  der  Gesell- 
schaft führen  wird,  wie  diejenige  war,  deren  Zersetzung  wir  mit  ansehen.  Denn, 
wenn  anders  wir  die  Erfahrungen  der  Geschichte  richtig  deuten,  scheint  eine 
derartige  soziale  Organisation  in  der  menschlichen  Natur  selbst  begründet  und 
darum  zu  steter  Wiederauferstehung,  wenn  auch  in  mannigfaltig  wechselnden 
Formen,  bestimmt.   Es  wird  und  mufs  also,  wenn  unser  Volk  seine  alte  Lebens- 


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Fähigkeit  noch  weiter  beweist  —  und  dafür  sprechen  alle  Anzeichen  —  es 
wird  und  mufs  ein  neuer  Mittelstand,  freilich  in  wesentlich  veränderter  Be- 
grenzung und  Erscheinung,  sich  bilden,  und  damit  auch  der  kräftige  und  breite 
Boden  für  das  Wachstum  und  Gedeihen  von  tausenden  deutscher  Familien, 
welche  dann  auch  mit  neuer  Freudigkeit  und  Frische  der  alten  Haupt-  und 
Ehrenpflicht  der  Familie  sich  unterziehen  werden,  der  Erziehung  der  Kinder. 

Solange  freilich  diese  Zeit  noch  nicht  erreicht  ist  —  und  damit  reichen 
wir  die  Hand  zum  Kompromisse  —  solange  wird  die  Schule,  wie  sie  jetzt  ist, 
und  deren  nächste  und  Hauptaufgabe  immer  der  Unterricht  bleiben  wird, 
manches  wichtige  Stück  Erziehung,  das  eigentlich  den  Organen  des  Eltern- 
hauses zufiele,  vicarie  übernehmen  und,  so  gut  es  angeht,  selbst  verrichten 
müssen.  So  gut  es  angeht!  Pestalozzi  wufste  am  besten,  wie  schwer  dieses 
Wort  wiegt.  Wann  und  wo  solche  Stellvertretung  sich  notwendig  erweist, 
wie  weit  sie  ihre  Wirksamkeit  auszudehnen  hat,  welches  Verfahren  sie  dabei 
Terfolgen  soll,  inwiefern  vielleicht  auch  besondere  Organe  und  Institutionen 
neben  der  Schule  vom  Staate  für  diese  Aufgaben  zu  schaffen  sein  werden  — 
das  alles  wird  nur  von  Fall  zu  Fall  entschieden  werden  können  und  mit  dem 
Wechsel  der  Verhältnisse  selbst  dem  Wechsel  unterliegen.  In  jedem  Falle 
aber  soll  der  Staat  und  die  Staatsschule  gern  und  willig  dem  Elternhause 
alles  überlassen,  was  dieses  nach  seinen  wirtschaftlichen  und  intellektuellen 
Qualitäten  irgend  leisten  will  und  kann,  und  die  Schule  soll  nur  nicht  ver- 
gessen, dafs  auch  der  Unterricht,  der  ihre  eigentliche  Aufgabe  ist  und  bleiben 
wird,  ein  Stück  Erziehung  ist  —  ein  Stück  nur  freilich,  nimmer  die  Erziehung! 

Damit  wir  aber  bald  wieder  aus  diesem  Provisorium,  dem  alle  Mängel 
eines  solchen  Zustandes  notwendig  anhaften,  herausgelangen,  damit  bald  wieder 
überall  in  deutschen  Landen  das  Hauptstück  der  Erziehung  in  den  Händen  liegt, 
denen  es  nie  hätte  entgleiten  sollen,  dazu  mag  jeder  helfen,  den  Einsicht  und 
Fähigkeiten  zur  Sorge  für  die  Zukunft  unseres  Volkes  berufen,  indem  er  die 
Hände  mitanlegt  zu  dem  notwendigsten  Werke  der  nächsten  Jahrzehnte,  dem 
Wiederaufbau  der  deutschen  Familie. 


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DIE  ENTSÜHNUNG  IN  GOETHES  IPHIGENIE  AUF  TAURIS 

Von  Martin  Wohlrab 

Goethe  hat  den  Gesichtspunkt,  unter  dem  er  seine  Iphigenie  aufgefafst 
wissen  will,  in  den  Versen  angedeutet,  die  er  am  31.  März  1827  dem  Schau- 
spieler Krüger  nach  einer  vortrefflichen  Darstellung  des  Orest  in  ein  Dedikations- 
exemplar  des  Stückes  schrieb: 

Was  der  Dichter  diesem  Bande  So  im  Handeln,  so  im  Sprechen 

Glaubend,  hoffend  anvertraut,  Liebevoll  verkünd'  es  weit: 

Werd'  im  Kreise  deutscher  Lande  Alle  menschlichen  Gebrechen 

Durch  des  Künstlers  Wirken  laut!  Sühnet  reine  Menschlichkeit. 

Wunderbarerweise  haben  aber  diese  Verse  statt  einer  Erleichterung  des 
Verständnisses  neue  Schwierigkeiten  geschaffen.  Ja,  Frick  geht  in  seinem  Weg- 
weiser durch  die  klassischen  Schuldramen  1.  Abt.  S.  420  f.  bo  weit,  dafs  er  sie 
als  eine  mehr  gelegentliche  und  mehr  Äufserliches  treffende  Bemerkung  ansieht, 
die  um  so  weniger  zum  Losungswort  der  gesamten  Auslegung  gemacht  werden 
könne,  als  sie  der  alternde  Dichter  fast  50  Jahre  nach  der  Entstehung  der 
Dichtung  niedergeschrieben  habe.  Aber  wem  ist  das  glaublich,  dafs  Goethe, 
nachdem  er  einer  Aufführung  seines  Stückes  beigewohnt  hatte,  sich  nicht  mehr 
darüber  klar  gewesen  sei,  was  er  eigentlich  mit  demselben  gewollt  habe,  und 
infolgedessen  etwas  nur  Nebensächliches  hervorgehoben  habe,  Goethe,  der  sich 
bis  in  die  letzten  Jahre  seines  Lebens  voller  geistiger  Klarheit  erfreute? 

Auch  die  Erklärung,  die  Frick  von  diesen  Versen  giebt,  ist  nicht  möglich. 
Wenn  er  für  'Gebrechen  sühnen'  'Wirren  lösen*  setzt,  so  ändert  das  die  Sache 
wesentlich.  Und  diese  Wirren  sollen  gelöst  sein  nicht  nur  durch  die  reine 
Menschlichkeit  Iphigeniens,  sondern  auch  durch  ihre  priesterliche  Hoheit.  Aber 
schliefsen  die  Goethischen  Verse  die  priesterliche  Seite  nicht  geradezu  aus? 
Andere  Erklärungen  sind  wohl  noch  versucht  worden;  befriedigend  ist  schwer- 
lich eine. 

Sehr  nahe  scheint  es  zu  liegen,  als  die  Vertreterin  der  reinen  Menschlich- 
keit Iphigenie  selbst  zu  nehmen.  Man  hat  sich  die  erdenklichste  Mühe  ge- 
geben, unter  dieser  Voraussetzung  den  Vorgang  der  Entsühnung  des  Orest 
einigermafsen  begreiflich  zu  machen.  Aber  wenn  man  auch  Iphigeniens  Un- 
aufrichtigkeit  gegen  ihren  Wohlthäter  Thoas  übersehen  wollte,  so  hat  doch 
noch  niemand  überzeugend  nachgewiesen,  wie  ein  schuldloser  Mensch  als  solcher 
einem  andern  das  Bewufstsein  seiner  Schuld  abnehmen  kann. 

Diesolbe  Schwierigkeit  ergiebt  sich,  wenn  man  Iphigenie  als  Priesterin 


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M.  Wohlrab:  Die  EntBÜhnung  in  Goethe»  Iphigenie  auf  TauriB  87 

nehmen  will.  Man  hat  sie  zu  lösen  gesucht,  indem  man  auch  vor  der  Annahme 
nicht  zurückschreckte,  Goethe  habe  nicht  umhin  gekonnt,  christliche  Vor- 
stellungen in  den  antiken  Stoff  hineinzutragen,  ja  sogar  Vorstellungen,  die 
sonst  bei  ihm  nicht  nachweisbar  sind.  Aber  kann  eine  priesterliche  Person 
jemandem  im  Zustande  der  Bewufstlosigkeit,  also  ohne  seine  persönliche  Be- 
teiligung, seine  Sünden  vergeben?  Das  inttfste  doch  der  Fall  sein,  wenn  die 
Entsühnung  des  Orest  nach  Iphigeniens  Gebet  (III  3)  erfolgte,  wie  man  ge- 
wöhnlich annimmt. 

Hiernach  ist  klar,  dafs  die  Entsühnung  des  Orest,  wenn  sie  durch  Iphigenie 
geschieht,  durch  eine  Art  Wunder,  auf  eine  magische,  also  unerklärliche  Weise 
geschieht,  und  bei  dieser  Annahme  scheinen  sich  jetzt  die  meisten  zu  beruhigen. 
In  diesem  Falle  leidet  freilich  die  Dichtung  unzweifelhaft  an  einem  Fehler, 
der,  da  er  sich  an  einem  so  wesentlichen  Punkte  findet,  kaum  als  kleiner  be- 
zeichnet werden  kann,  als  eine  Lösung  durch  den  deus  ex  machina.  Aber  darf 
man  Goethen  einen  solchen  Fehler  zutrauen?  In  den  Gesprächen  mit  Ecker- 
mann (I  S.  153)  sagt  er:  'Glaube  und  Unglaube  sind  nicht  diejenigen  Organe, 
mit  welchen  ein  Kunstwerk  aufzufassen  ist;  vielmehr  gehören  dazu  ganz  andere 
menschliche  Kräfte  und  Fähigkeiten.  Ein  religiöser  Stoff  kann^in  guter  Gegen- 
stand für  die  Kunst  nur  in  dem  Falle  sein,  wenn  er  allgemein  menschlich 
ist.'  Dafs  dies  immer  Goethes  Meinung  war,  hat  Kanzow  im  Programm  des 
Kneiphöfischen  Gymnasiums  zu  Königsberg  von  1887  über  die  Entsühnung  des 
Orestes  in  Goethes  Iphigenie  S.  3  ff.  gut  nachgewiesen. 

Nach  alledem  darf  man  wohl  die  Frage  aufwerfen:  was  berechtigt  denn 
zu  der  Annahme,  Goethe  habe  die  Entsühnung  des  Orest  durch  die  Heldin  des 
Stückes,  durch  seine  priesterliche  Schwester  Iphigenie  herbeiführen  wollen? 
Fassen  wir  zunächst  das  Orakel  ins  Auge!    Begünstigt  es  diese  Auffassung? 

Der  Wortlaut  des  Orakels  ist  an  den  verschiedenen  Stellen  verschieden. 
Das  darf  nicht  wunder  nehmen.  Je  nachdem  die  augenblickliche  Lage  die  eine 
oder  die  andere  Auffassung  begünstigt,  die  Erfüllung  möglich  erscheinen  läfst 
oder  nicht,  wird  es  durch  Weglassungen  oder  Zusätze  modifiziert.  Als  Orest 
im  Haine  der  Diana  dem  Opfertode  verfallen  ist,  glaubt  er,  auf  diese  Weise 
erfülle  sich  eben  das  Orakel. 

Als  ich  Apollen  bat,  das  gräfslichc 

Geleit  der  Rachegeister  von  der  Seite 

Mir  abzunehmen,  schien  er  Hilf  und  Rettung 

Im  Tempel  seiner  vielgeliebten  Schwester, 

Die  über  Tauris  herrscht,  mit  hoffnungsreichen, 

Gewissen  Götterworten  zu  versprechen; 

Und  nun  erfüllet  sichs,  dafs  alle  Not 

Mit  meinem  Leben  völlig  enden  soll.    (II  1,  563  —  70.) 

Pylades  korrigiert  ihn;  nicht  den  Tod  stelle  das  Orakel  in  Aussicht,  sondern  Hilfe. 

Apoll 

Gab  uns  das  Wort,  im  Heiligtum  der  Schwester 

Sei  Trost  und  Hüf  und  Rückkehr  dir  bereitet.   (H  1,  610—12.) 


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88 


M.  Wohlrab:  Die  Eutsühnunf?  in  GoetheB  Iphigenie  auf  Tauri» 


Und  in  dieser  Fassung  citiert  er  das  Orakel  auch  in  der  erdichteten  Erzählung 
II  2,  838 — 41.  Sie  genügte  hier  für  Beinen  augenblicklichen  Zweck,  Iphigenie 
auf  den  Zustand  des  Orcst  vorzubereiten. 

Als  Pylades  aber  von  der  Aufgabe  spricht,  die  der  Götter  Wille  dem  Orest 
gestellt  habe,  da  verlangt  das  Orakel  mehr  als  die  Reise  nach  Tauris. 

Bringst  du  die  Schwester  zu  Apollen  hin, 

Und  wohnen  beide  dann  vereint  in  Delphi, 

Verehrt  von  einem  Volk,  das  edel  denkt; 

So  wird  für  diese  That  das  hohe  Paar 

Dir  gnädig  sein,  sie  werden  aus  der  Hand 

Der  Unterirdsohen  dich  erretten.    (U  1,  722  —  27.) 

In  dieser  Fassung  teilt  Iphigenie  dem  König  Thoas  das  Orakel  mit  (V  3. 
1928 — 33).  Aber  sie  beruhte  auf  einer  Interpretation  des  Orest  und  PyladeF, 
die  ja  nicht  ahnen  konnten,  dafs  sie  in  Tauris  Iphigenie  antreffen  würden,  und 
deshalb  nur  an  die  Schwester  des  Apollo  denken  konnten.  Auch  eine  an- 
sprechende Motivierung  ersann  Pylade9;  er  meinte,  das  rauhe  Volk  der  Scythen 
sei  eines  solchen  heiligen  Schatzes  nicht  würdig  (IV  4,  1602  f.). 

Und  so  kommt  erst  durch  Orest  volle  Klarheit  in  das  Orakel;  erst  durch 
ihn  erfahren  wir  die  authentische  Fassung. 

Jetzt  kennen  wir  den  Irrtum,  den  ein  Gott 
Wie  einen  Schleier  um  das  Haupt  uns  legte, 
Da  er  den  Weg  hieher  uns  wandern  hiefs. 
Um  Rat  und  um  Befreiung  bat  ich  ihn 
Von  dem  Geleit  der  Furien.    Er  sprach: 
'Bringst  du  die  Schwester,  die  an  Tauris'  Ufer 
Iin  Heiligtume  wider  Willen  bleibt, 
Nach  Griechenland,  so  löset  sich  der  Fluch.* 
Wir  legtens  von  Apollens  Schwester  aus, 
Und  er  gedachte  dich.    (V  6,  2108  —  17.) 

Hiergegen  regt  sich  nur  ein  Bedenken.  Man  hat  zunächst  den  Eindruck,  als 
werde  die  Entsühnung  des  Orest  erst  in  Aussicht  gestellt,  und  doch  ist  sie, 
wie  die  folgenden  Worte  beweisen,  bereits  erfolgt. 

Von  dir  berührt, 

War  ich  geheilt. 

Dieses  Bedenken  hebt  sich,  wenn  man  den  abgekürzten  Satz:  'Bringst  du  die 
Schwester'  u.  s.  w.  nicht  hypothetisch,  sondern  temporal  auffafst:  der  Fluch 
löst  sich  zu  der  Zeit,  wo  du  die  Schwester  nach  Griechenland  bringst.  Und 
so  enthält  das  Orakel  zwei  Zweideutigkeiten:  der  Begriff  Schwester  und  der 
Vordersatz  lassen  eine  doppelte  Auffassung  zu. 

Sonach  bringt  das  Orakel  die  Entsühnung  des  Orest  nur  mit  der  Heim- 
kehr der  Iphigenie  in  Verbindung,  aber  in  keiner  Fassung  ist  etwas  davon 
gesagt,  dafs  die  Entsühnung  durch  sie  erfolgen  werde. 

Ja  noch  mehr.    Iphigenie  weifs  selbst  nichts  davon,  dafs  sie  ihren  Bruder 


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31.  Wohlrab:  Die  Enteuhnung  in  Goethes  Iphigenie  auf  Tauri« 


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entsühnt  habe.  Das  möfste  aber  doch  der  Fall  sein,  wenn  sie  die  Göttin 
darum  gebeten  hätte;  denn  dessen,  worum  man  bittet,  ist  man  sich  doch  be- 
wirfst. Sie  spricht  allerdings  von  einer  Entsühnung,  aber  nur  von  der  Ent- 
aübnung  ihres  Hauses,  die  nach  ihrer  Rückkehr  erfolgen  sollte. 

So  hofft*  ich  denn  vergebens,  hier  verwahrt, 

Dereinst  mit  reiner  Hand  und  reinem  Herzen 

Die  schwerbefleckte  Wohnung  zu  entsühnen.    (IV  5,  1699  f.) 

Ebenso  V  3,  1967  f.  Die  Entsühnung  des  Orest  war  aber  schon  am  Ende  des 
dritten  Aufzuges  erfolgt.  Hatte  Iphigenie  sie  herbeigeführt,  so  bliebe  es  un- 
verständlich, wie  sie  in  dem  Monologe,  mit  dem  der  vierte  Aufzug  anhebt, 
die  Befürchtung  aussprechen  könnte,  Orest  könne  von  den  Furien  wieder  ver- 
folgt werden. 

Sorg*  auf  Sorge  schwankt 
Mir  durch  die  Brust    Es  greift  die  Furie 
Vielleicht  den  Bruder  auf  dem  Boden  wieder 
Des  unge weihten  Ufers  grimmig  an.    (IV  1,  1411  — 15.) 

Als  Iphigenie  dem  König  Thoas  den  Betrug  entdeckt  und  die  volle  Wahr- 
heit sagt,  teilt  sie  ihm  auch  den  Inhalt  des  Orakels  mit. 

Apoll  schickt  sie  von  Delphi  diesem  Ufer 

Mit  göttlichen  Befehlen  zu,  das  Bild 

Dianens  wegzurauben  und  zu  ihm  r 

Die  Schwester  hinzubringen,  und  dafür 

Verspricht  er  dem  von  Furien  Verfolgten, 

Des  Mutterblutes  Schuldigen  Befreiung.    (V  3,  1928  —  33.) 

Hiernach  glaubt  Iphigenie  noch  gar  nicht,  dafs  Orest  entsühnt  sei,  obwohl 
Pylades  es  ihr  versichert  hatte  (IV  4,  1535  f.).  Sie  hält  sich  an  den  Wortr 
laut  des  Orakels,  wie  er  ihr  bekannt  war,  und  meint,  dafs  eine  Rückkehr  des 
Übels  noch  möglich  sei,  da  der  Befehl  des  Gottes  noch  nicht  ausgeführt  war. 
Und  so  können  auch  die  Verse  III  1,  1164— 67 

0  wenn  vergossnen  Mutterblutes  Stimme 
Zur  Höll'  hinab  mit  dumpfen  Tönen  ruft, 
Soll  nicht  der  reinen  Schwester  Segenswort 
Hilfreiche  Götter  vom  Olympus  rufen? 

nur  in  dem  Sinne  aufgefafst  werden,  dafs  Iphigenie  durch  den  Hinweis  auf  der 
Götter  Hilfe  Orest  trösten  und  ermutigen  will. 

Wenn  somit  der  Nachweis  erbracht  ist,  dafs  Iphigenie  ihren  Bruder  nicht 
entsühnt  hat,  so  ist  jede  Notwendigkeit,  ein  Wunder  anzunehmen,  beseitigt, 
zugleich  aber  auch  die  Möglichkeit  gegeben,  den  Goethischen  Schlüssel  zum 
Verständnis  des  Stückes  anzuwenden: 


Alle  menschlichen  Gebrechen 
Sühnet  reine  Menschlichkeit. 


90 


M.  Wohlrab:  Die  Entsühnung  in  Goethe»  Iphigenie  auf  TauriH 


Wenn  die  reine  Menschlichkeit  genügt,  um  menschliche  Gebrechen  zu  sühnen, 
so  ist  jede  priesterliche  Einmischung  ausgeschlossen.  Fragt  man,  wie  mensch- 
liche Gebrechen  in  rein  menschlicher  Weise  gesühnt  werden,  so  darf  die 
Antwort  wohl  so  lauten:  man  hat  offen  und  unumwunden  das  Bekenntnis 
der  Schuld  abzulegen,  man  hat  aufrichtige  Reue  darüber  zu  empfinden, 
man  hat  die  entsprechende  Sühne  zu  geben.  Ist  das  alles  erfolgt,  so  kann 
die  Schuld  als  gesühnt  gelten.  Selbst  der  Mord  gilt  als  gesühnt,  wenn  der 
Mörder  die  genannten  Voraussetzungen  erfüllt  und  als  Sühne  sein  Leben  ge- 
lassen hat. 

Wie  steht  es  nun  mit  Orest?  Iphigenien  zur  Opferung  übergeben,  erkennt 
er  aus  ihren  teilnahmsvollen  Fragen  ihre  nahen  Beziehungen  zu  Beinern  Hause. 
Er  wird  von  ihr  gedrangt,  eingehend  zu  erzählen,  wie  er,  um  den  Tod  des 
Vaters  zu  rächen,  seine  eigene  Mutter  getötet  hat.  Es  hatte  ihm  dabei  durchaus 
nicht  das  Bewufstsein  gefehlt,  dafs  sein  Vorhaben  widernatürlich  sei.  Als  er 
zum  ersten  Male  wieder  seiner  Mutter  gegenüberstand,  da  regten  sich  die  heiligen 
Gefühle  wieder,  die  auf  dem  Verhältnis  zwischen  Mutter  und  Sohn  beruhen. 
Die  schreckliche  That  wäre  vielleicht  ungethan  geblieben,  hätte  nicht  Elektra 
so  sehr  dazu  getrieben.  So  hatte  Iphigenio  dem  Orest  die  direkte  Veranlassung 
gegeben,  ein  volles  Bekenntnis  seiner  Schuld  abzulegen. 

Sie  ist  es  auch,  die  ihn  nötigt  weiter  zu  erzählen,  wie  er  seit  jener  ver- 
hängnisvollen That  von  den  Erinyen  verfolgt  wird,  wie  der  Zweifel,  der  ihn 
sehon  vor  der  That  erfafste,  ihm  nach  derselben  keine  Ruhe  mehr  läfst,  wie 
die  Reue  jeden  andern  Gedanken  als  den  an  sein  Verbrechen  von  ihm  fern 
hält.  So  hat  Iphigenie  auch  diesen  erschütternden  Ausdruck  der  Reue  bei 
Orest  hervorgerufen. 

Nachdem  Orest  alles  noch  einmal  innerlich  durchlebt  hat,  beherrscht  ihn 
ganz  das  Gefühl,  dafs  er  ein  dem  Tode  verfallener  Verbrecher  sei,  und  in 
diesem  Gefühle  der  äufsersten  Schmach,  die  auf  ihm  liegt,  vermag  er  es  gar 
nicht  zu  fassen,  dafs  die  Jungfrau,  die  in  priesterlicher  Reinheit  und  Hoheit 
vor  ihm  steht,  seine  Schwester  sei;  durch  die  Äufserung  ihrer  innigsten  Teil- 
nahme föhlt  er  sich  nur  noch  mehr  von  ihr  geschieden.  Ja,  er  kommt  schliefs- 
lich  zu  der  Vorstellung,  dafs  durch  das  in  seinem  Hause  waltende  Verhängnis 
die  Schwester  bestimmt  sei,  ihn  am  Altare  zu  opfern.  Dieser  Wahn  erlangt 
eine  solche  Macht  über  ihn,  dafs  er  den  Todesstreich  zu  erleiden  glaubt,  der 
ihm  Erlösung  bringt  von  den  entsetzlichen  Seelenqualen. 

Hätte  nach  des  Dichters  Intention  die  Entsühnung  des  Orest  durch  Iphigenie 
erfolgen  sollen,  bo  mufste  das  an  dieser  Stelle  geschehen.  Alle  Voraussetzungen 
dazu  waren  gegeben:  Bekenntnis,  Reue,  Bufse.  Iphigenie  mufste  nun  das  ent- 
sühnende Wort  aussprechen  oder  die  entsühnende  Handlung  vornehmen.  Aber 
ganz  das  Gegenteil  geschieht.  In  völliger  Ratlosigkeit  verläfst  sie  den  Bruder 
und  sucht  bei  Pylades  Hilfe. 

Orest  selbst  ist  also  von  der  Wahnvorstellung  beherrscht,  dafs  er  von  der 
Schwester  geopfert  sei,  dafs  er  in  den  Hades  eingehe.  Dort  findet  er  seine 
Ahnen,  die  sich  auf  Erden  das  Schlimmste  angethan  hatten,  alle  versöhnt.  So 


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M.  Wohlrab:  Die  Enteühnung  in  Goethes  Iphigenie  auf  Tanna  91 

darf  er  sich  zu  ihnen  gesellen  und  sich  der  Verzeihung  seiner  Mutter  versichert 
halten,  wie  dieser  sein  Vater  verziehen  hatte. 

So  ist  denn  in  dieser  Szene  dargestellt,  wie  sich  die  Entsühnung  des  Orest 
in  rein  menschlicher  Weise  vollzogen  hat:  er  hat  seine  Schuld  bekannt,  er  hat 
sie  bereut,  er  hat  die  Qualen  des  Todes  innerlich  erlebt,  er  hat  der  Unterwelt 
angehört  und  dort  Verzeihung  gefunden.  Man  könnte  fragen,  warum  der 
Dichter  alles  das  so  ausführlich  behandelt,  wenn  es  nicht  die  Entsühnung 
selbst  darstellen  soll.  Diese  ist  also  thatsächlich  schon  vor  der  Szene  erfolgt, 
in  die  man  sie  gewöhnlich  verlegt.  Iphigenie  und  Pylades  finden  Orest  noch 
in  der  Wahnvorstellung  befangen,  als  sei  er  in  der  Unterwelt.  Darum  kann 
Iphigenie  auch  nur  beten,  dafs  Diana  ihn  von  der  Finsternis  des  Wahnsinns, 
von  den  Banden  des  auf  ihm  lastenden  Fluches  erlöse.  Ihre  Bitte  geht  also 
auf  den  Zustand  der  Betäubung,  in  dem  sie  ihn  vorfindet.  Diesem  möchte 
die  Göttin  ein  Ende  machen,  damit  die  Rettung  möglich  werde.  Das  ist 
doch  etwas  ganz  anderes  als  Entsühnung,  Befreiung  von  der  Schuld,  die  auf 
ihm  lastet. 

Und  wäre  Iphigeniens  Gebet  von  solcher  Wirkung,  dafs  es  dem  Bruder 
Entsühnung  brächte,  so  begreift  man  nicht,  warum  sie  nicht  unmittelbar  nach 
demselben  eintreten  sollte.  Handelt  es  sich  aber  darum,  Orest  dem  Leben 
wiederzugeben,  dann  wird  es  vollkommen  verständlich,  wie  nach  Iphigenie  der 
thatkraftige  Pylades  nach  Art  eines  Irrenarztes  eingreift  und  so,  was  sie  be- 
gonnen hat,  zu  Ende  führt,  die  Rückgabe  des  Orest  an  die  Wirklichkeit,  die 
denn  auch  nach  Beinen  verständigen  Vorstellungen  sich  vollzieht.  Nur  hierauf 
können  die  Worte  Iphigeniens  gehen: 

Kaum  wird  in  meinen  Armen  mir  ein  Bruder 
Vom  grimm'gen  Übel  wundervoll  und  schnell 
Geheilt  u.  s.  w.    (IV  5,  1704  f.) 

Orestes  aber  kann  nun,  nachdem  er  aus  seiner  Betäubung  erwacht  ist,  das 
Gefühl  haben,  befreit,  entsühnt  zu  sein. 

So  hatte  also  Iphigenie  keinen  Anteil  an  der  Entsühnung  des  Orest?  Wer 
das  behaupten  wollte,  dem  könnte  man  mit  Recht  entgegenhalten*,  was  Orest 
sagt  V  6,  2119—24: 

Von  dir  berührt, 
War  ich  geheilt;  in  deinen  Armen  faßte 
Das  Übel  mich  mit  allen  seinen  Klauen 
Zum  letzten  Mal,  und  schüttelte  das  Mark 
Entsetzlich  mir  zusammen.    Dann  entflob's 
Wie  eine  Schlange  zu  der  Höhle. 

Hiernach  ist  klar,  dafs  Orest  ohne  das  Zusammentreffen  mit  seiner  Schwester 
nicht  entsühnt  worden  wäre.  Sie  war  es,  die  ihm  das  Bekenntnis  seiner  Schuld 
entlockte;  im  Gegensatz  zu  ihrer  priesterlichen  Reinheit  fühlte  er  sich  um  so 
mehr  als  Verbrecher.  Nur  sie  konnte  in  ihm  die  Vorstellung  erwecken,  dafs 
er  durch  sie  den  Opfertod  zu  erleiden  habe.    Alle  Voraussetzungen  der  Ent- 


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92  M.  Wohlrab:  Die  Entsiibnnng  in  Goethes  Iphigenie  auf  Tauris 

sühnung  werden  also  von  Iphigenie  herbeigeführt,  ohne  dafs  sie  den  Zusammen- 
hang auch  nur  ahnt. 

Aber  die  Goethische  Anweisung  zum  Verständnis  der  Iphigenie  erstreckt 
sich  noch  weiter.  In  eine  ähnliche  Lage,  wie  die  des  Orest  war,  geriet  auch 
seine  Schwester;  auch  sie  fiel  einem  menschlichen  Gebrechen  anheim.  Nicht 
in  ihrer  Seele  wurde  ihre  Versündigung  geboren,  sowenig  wie  die  des  Orest  in 
feiner  Seele.  Beide  wurden  von  aufsen  bestimmt,  Orest  durch  eine  Verpflich- 
tung, die  auf  ihm  lag  und  zu  deren  Erfüllung  er  grofs  gezogen  war,  Iphigenie 
durch  die  Notwendigkeit,  den  Bruder  und  seinen  Freund  vom  Tode  zu  retten, 
und  durch  die  Sehnsucht  nach  der  Heimkehr.  Beide  waren  sich  vollkommen 
klar  über  das,  was  sie  vorhatten.    Sie  spricht  es  selbst  offen  aus: 

So  legt  die  taube  Not  ein  doppelt  Laster 

Mit  ehrW  Hand  mir  auf:  das  heilige, 

Mir  anvertraute,  vielverehrte  Bild 

Zu  rauben  und  den  Mann  zu  hintergehn, 

Dem  ich  mein  Leben  und  mein  Schicksal  danke. 

(IV  5,  1707  —  11.) 

Wie  Orest  durch  Elektro  zum  Morde  angereizt  wurde,  so  wurde  Iphigenie 
durch  den  ihr  an  Klugheit,  Thatkraft  und  Ruhe  überlegenen  Freund  ihres 
Bruders,  Pylades,  zum  Treubruch  durch  Überredung  gewonnen.  Wie  Orest  nach 
vollbrachter  That  von  Reue  gefoltert  wurde,  so  Iphigenie  vom  Zweifel  vor 
der  That. 

In  welch  entsetzliche  Qualen  Iphigenie  durch  die  ihr  von  Pylades  über- 
tragene, ihrer  innersten  Natur  widerstrebende  Rolle  versetzt  wird,  das  ersehen 
wir  aus  dem  Schlüsse  deB  vierten  Aktes.  In  den  höchsten  Nöten  des  Lebens 
hat  sie  das  Gefühl  der  Gottverlassenheit,  und  das  führt  sie  zur  Gottentfremdung. 
Die  Priesterin  fürchtet,  der  Titanenhafs  möge  in  ihr  wieder  aufleben,  der  in  den 
(iöttern  willkürliche,  sogar  gegen  ihre  Günstlinge  ungerechte,  unbarmherzige, 
peinliche  Erinnerungen  meidende,  unbegreifliche  und  deshalb  zu  fürchtende 
Wesen  sieht    Die  Verzweiflung  legt  ihr  die  Worte  auf  die  Lippen: 

Rettet  mich 
Und  rettet  euer  Bild  in  meiner  Seele! 

Nach  dieser  KrisiB  erfolgt  Iphigeniens  Befreiung  in  anderer  Weiae  als  die 
des  Orest,  sie  erfolgt,  als  sie  vor  den  Mann  tritt,  an  dem  sie  sich  versündigen 
sollte.  Orest  stand  einer  todes würdigen  Verbrecherin  gegenüber,  Iphigenie 
einem  Manne,  so  gut,  so  wahr,  wie  sie  selbst  war.  Das  war  ihre  Rettung. 
Dem  Arkas  gegenüber  konnte  sie  eine  kurze  Zeit  die  Künste  der  Verstellung 
üben,  dem  Thoas  gegenüber  gehen  trügerische  Worte  kaum  über  ihre  Lippen; 
sie  versucht  es  mit  Vorstellungen,  mit  Bitten,  und  wird,  als  alles  wirkungslos 
ist,  zur  Heldin;  sie  wagt  auf  die  Gefahr  hin,  ihre  Freunde  und  sich  zu  ver- 
derben, das  Äufserste.  Und  in  diesem  Heldenmut  gewinnt  sie  auch  das  Gott- 
vertrauen wieder,  in  dem  sie  betet: 


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M.  Wohlrab:  Die  Entlohnung  in  Goethes  Iphigenie  auf  Tauria 


93 


Allein  euch  leg  ichs  auf  die  Kniee.  Wenn 
Ihr  wahrhaft  seid,  wie  ihr  gepriesen  werdet, 
So  zeigte  durch  euren  Beistand  und  verherrlicht 
Durch  mich  die  Wahrheit!    (V  3,  1917  —  20.) 

So  überwindet  sie  die  Versuchung  zur  Sünde  und  findet  sich  9elbst,  ihr  besseres 
Selbst  wieder.  Es  war  ein  entsetzlicher  Kampf,  den  sie  durchzukämpfen  hatte. 
Diesem  Kampf  entsprach  der  Siegespreis:  die  Rettung  des  Orest  und  Pylades 
und  ihre  Heimkehr  mit  ihnen  unter  Aufrechterhaltung  der  freundschaftlichen 
Beziehungen  zum  Scythenvolk  und  Scythenkönig. 

So  war  Iphigenie  durch  übermächtige  Verhältnisse  in  menschliche  Ge- 
brechen verstrickt  worden.  Niemand  war  ihr  in  ihren  Nöten  zu  Hilfe  ge- 
kommen. Die  Rücksicht  auf  die,  die  ihr  am  nächsten  standen,  trieb  sie  immer 
mehr  in  die  Schuld  hinein.  Schliefslich  war  es  die  reine  Menschlichkeit  in  ihr, 
die  allen  drohenden  Gefahren  zum  Trotz  zum  Durchbruch  kam  und  sie  von 
dem  Gebrechen  befreite,  das  sie  ergriffen  hatte. 

So  kann  die  reine  Menschlichkeit,  d.  h.  die  Summe  aller  der  guten  Eigen- 
schaften, auf  denen  des  Menschen  Gottähnlichkeit  beruht,  die  ihm  verliehene 
Würde  getrübt  werden,  aber  sie  hat  die  Kraft  in  sich,  sich  von  der  tiefsten 
Erschütterung  wieder  zu  erholen,  sich  in  ihrer  Reinheit  wieder  herzustellen. 
Diese  Denkart  findet  sich  auch  sonst  bei  Goethe.  Im  Prometheus  giebt  er  ihr 
den  verwegensten  Ausdruck: 

Hast  du  nicht  alles  selbst  vollendet, 
Heilig  glühend  Herz? 

Auch  die  Äufserung  in  seinem  Tagebuche  vom  13.  Mai  1780  bringt  Verwandtes. 
'Die  menschlichen  Gebrechen  sind  rechte  Bandwürmer.  Man  reifst  wohl  ein- 
mal ein  Stück  ab,  aber  der  Stock  bleibt.    Ich  will  doch  Herr  werden/ 

Wenn  diese  Denkart  der  Iphigenie  zu  Grunde  liegt,  so  wird  freilich  die 
christliche  Tendenz,  die  manchem  das  Stück  lieb  gemacht  haben  wird,  völlig 
beseitigt.  Aber  dafs  gerade  ein  Goethe  an  einem  antiken  Stoffe  christliche 
Anschauungen  zur  Darstellung  gebracht  haben  soll,  hat  wohl  von  vornherein 
wenig  Wahrscheinlichkeit. 

Ist  aber  die  hier  gegebene  Auffassung  richtig,  so  empfiehlt  sie  sich  auch 
dadurch,  dafs  sie  das  Verständnis  des  ganzen  Stückes  eröffnet,  nicht  blofs  das 
Verständnis  des  Teiles,  der  die  Entsühnung  des  Orest  behandelt,  wie  man  daraus 
folgern  wollte,  dafs  die  dasselbe  erschliefsenden  Verse  in  ein  dem  Darsteller 
dieser  Rolle  gewidmetes  Exemplar  der  Iphigenie  geschrieben  waren. 


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XENOPHONS  MEMORABIL1EN  CAP.  I  UND  II  IN  IHREN 
BEZIEHUNGEN  ZUR  GEGENWART 

Von  Emil  Rosenberg 

Xenophon  hat  den  eigentlichen  Denkwürdigkeiten  oder  besser  Erinnerungen 
an  Sokrates  zwei  Kapitel  vorausgeschickt,  in  denen  er  auf  eigene  Hand  den 
Sokrates  zu  entlasten  sucht.  Die  Sokratesfrage  bat  nämlich  nicht  mit  dem 
Tode  des  Sokrates  ihr  Ende  gefunden.  Die  Erörterung,  ob  die  Verurteilung 
gerecht  war  oder  nicht,  ging  weiter,  und  noch  im  Jahre  393  hatte  der 
Sophist  Polykrates  eine  Anklage  de9  Sokrates  geschrieben,  in  welcher  die 
Athener  in  ihrem  Beschlufs  gerechtfertigt  wurden.  Das  gab  dem  braven 
Xenophon  Veranlassung,  jetzt,  wo  er  in  Skillus  von  den  Kriegsstürmen  und 
Wanderungen  ausruhte,  zu  der  Frage  das  Wort  zu  ergreifen;  hatte  er  doch 
selbst  zu  den  Schülern  des  Sokrates  gehört,  ihm  auch  in  seiner  Hinneigung 
zu  Sparta  nahe  gestanden.  Nun  opfere  ich  diesen  beiden  ersten  Kapiteln, 
welche  doch  eigentlich  keine  philosophischen  Erörterungen  in  der  Somatischen 
Frageform  enthalten,  die  ganze  Zeit  von  Michaelis  bis  Weihnachten,  ja,  es  ist 
mir  einmal,  wo  die  Generation  im  Griechischen  im  Sommer  nicht  weit  genug 
gefordert  war,  passiert,  dafs  ich  noch  den  halben  Januar  hinzunehmen  mufste. 
Ist  das  berechtigt?  Verdienen  die  beiden  Kapitel  einen  so  langen  Zeit- 
raum? Diese  Frage  ist  wichtig.  Denn  für  die  Schule  ist  das  Beste  gerade 
gut  genug,  oder,  sagen  wir  lieber,  das  Geeignetste.  Nun  ist  aber  nach  meiner 
Überzeugung  die  Frage  zu  bejahen.  Xenophons  Memorabilien  sind  in  der  Ein- 
leitung wie  in  der  Durchführung  litterarisch  kein  Meisterwerk,  die  gut  gemeinte 
Arbeit  eines  mittelmäfsig  beanlagten  Menschen,  sie  sind  aber  für  die  Sekunda 
von  grofsem  Wert.  Es  würde  mir  immer  das  Herz  bluten  bei  dem  Gedanken, 
es  könnte  eine  Generation  nach  Prima  kommen,  die  nicht  diesen  Elementar- 
unterricht in  der  Philosophie  genossen  und  sich  nicht  an  allen  diesen  damals 
wie  heute  modernen  Fragen  gebildet  hätte.  Das  ist  es  nämlich  gerade,  weswegen 
ich  diese  Schullektüre  besonders  liebe,  weil  sich  hierbei  die  Fragen  des  Frickschen 
didaktischen  Katechismus  so  gut  beantworten  lassen,  z.  B.  sogleich  die  erste: 

Welches  innere  Verhältnis  hat  der  Schüler  nach  seiner  Individualität  und 
Bildungsstufe  von  vorneherein  zu  dem  Unterrichtsobjekt,  und  wie  kann  ich 
ein  solches  Verhältnis  befestigen? 

Dann  die  vierte:  Wie  kann  ich  durch  anschauliche  und  wiederholte  Dar- 
bietung des  Stoffes  bewirken,  dafs  die  geordneten  und  gesichteten  Wahr- 
nehmungen des  Schülers  sich  zu  inhaltsreichen  Anschauungen  verbinden  und 
befestigen,  und  dafs  als  Niederschlag  und  Frucht  der  gewonnenen  Anschauungen 
klare  und  inhaltsreiche  Vorstellungen  zurückbleiben? 


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E.  Rosenberg:  Xenophons  Memorabilien  cap.  I  und  II  in  ihren  Beziehungen  nur  Gegenwart  95 

Und  endlich:  Wie  kann  ich  auf  das  gesamte  Erkenntnisvermögen  und 
dadurch  indirekt  auch  auf  das  Willensvermögen  des  Schülers  einwirken  durch 
Weckung  und  Pflege:  des  empirisch-ästhetischen,  des  spekulativen,  des  ethischen, 
endlich  des  sympathetischen,  des  sozialen  und  religiösen  Interesses? 

Kurz,  die  in  den  beiden  ersten  Kapiteln  behandelten  Fragen  sind  teils  so 
wichtig,  teils  so  einfach,  teils  den  Schülern  so  naheliegend,  dafs  es  von  Seiten 
des  Lehrers  wahrlich  keiner  Kunst  bedarf,  um  das  Interesse  wachzuhalten  und 
dauernden  Gewinn  für  Gemüt  und  Verstand  der  Schüler  für  alle  Zeit  zu  er- 
zielen. Von  dem  zweiten  Kapitel  gilt  das  Gesagte  noch  mehr  als  von  dem 
ersten. 

C.  I 

Das  erste  Kapitel  ist  bestimmt,  die  Anklage  zu  widerlegen,  dafs  Sokrates 
nicht  an  die  Staatsgötter  glaube,  sondern  neue  Gottheiten  einzuführen  suche. 
Das  will  der  gute  Feldhauptmann  nicht  zugeben.  Wir  werden  es  aber  doch 
wohl  müssen.  Freilich  Xenophon  meint,  sein  Meister  opfere  nicht  nur  zu  Hause, 
sondern  auch  auf  den  gemeinsamen  Altaren  der  Stadt.  Ein  Philosoph  wie  Sokrates 
konnte  das,  denn  in  der  Unterordnung  des  Menschen  unter  Gott,  in  der  Be- 
schäftigung mit  göttlichen  Dingen,  der  Einkehr  der  Seele  in  sich  lagen  für 
ihn  so  viele  Wahrheiten,  dafs  er  ihnen  auch  den  volkstümlichen  Ausdruck 
geben  konnte  und  durfte,  wenn  er  freilich  auch  mit  einem  ganz  andern  Gottes- 
begriff vor  dem  Altar  stand,  als  der  gewöhnliche  Grieche.  Am  Schlüsse  des 
Kapitels  aber  wird  Xenophons  geringer  Scharfsinn  selbst  von  dem  ungeübten 
philosophischen  Sinn  des  Schülers  deutlich  erkannt.  Hat  er  denn  nicht,  so 
ruft  er  ungefähr  aus,  als  istiötarrjg  der  Stadt  lieber  den  Zorn  des  Volkes  auf 
sich  laden  und  selbst  sein  Leben  preisgeben  wollen,  als  dafs  er  sich  an  dem 
Eide  vergangen  hätte,  den  er  den  Staatsgöttern  geleistet  hatte?  Hatte  Sokrates 
mit  dem  feinen  daifiövtov  einen  Eid  geleistet  —  wem  auch  immer  —  dann 
mufste  er  ihn  in  dem  gemeinten  Sinne  halten.  Eine  reservatio  mentalis,  ein 
Klügeln  und  Sophistereitreiben  war  dem,  welcher  die  Sophistik  vernichten,  d.  h. 
überwinden  wollte,  nicht  zuzutrauen.  Ein  Beweis  also  war  das  nicht.  Eher 
hatte  Xenophon  sagen  müssen:  hätte  Sokrates  nicht  an  die  Staatsgötter  ge- 
glaubt, dann  hätte  er  den  Eid  nicht  geleistet.  Wenn  er  nun  gar  hinzufügt, 
dafs  Sokrates  auch  nie  eine  Gotteslästerung  gesagt  habe,  so  ist  Xenophon  ent- 
weder zu  wenig  scharfsinnig,  wenn  er  dies  als  Gegenbeweis  gegen  die  Stants- 
anklage  vorbringen  zu  können  meint,  oder  er  hat  als  geschickter  Sophist  uns 
unter  den  Händen  das  Richtige  weggenommen  und  etwas  ihm  Passenderes 
dafür  eingeschoben.  Denn  er  beweist  ja,  dafs  Sokrates  kein  Atheist  war,  aber 
das  hatte  ja  keiner  behauptet.  Was  war  nun  Xenophon?  Ein  Irrender  oder 
ein  Täuschender? 

Aber  ich  habe  ja  das  Hauptargument  übergangen  dafür,  dafs  Sokrates  an 
die  Staatsgötter  geglaubt  haben  soll:  er  war  ein  eifriger  Anhänger  der  Mantik, 
glaubte  also  an  die  Vorhersagung  der  Zukunft  durch  die  Götter,  mufs  also 
einen  festen  Glauben  an  diese  gehabt  haben.    Auch  dieser  Beweis  ist  kein  Be- 


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96   E-  Rosenberg.  Xenophona  Memorabilicn  cap.  I  und  II  in  ihren  Beziehungen  zur  Gegenwart 


weis.  Was  hat  es  aber  auf  sich  mit  der  Mantik?  Wir  erfahren  von  Zeichen- 
vögeln oltovot,  tpt}(iai  Stimmen,  CvfißoXu  Begegnungen.  Da  ist  die  geeignete 
Stelle,  vom  arischen  Wahrsagewesen  zu  sprechen,  von  all  dem  germanischen 
Heidentum,  dafs  sich  durch  die  Tausende  von  Jahren  erhalten  hat,  von  den  ^ 
Auguren  u.  a.  Da  kommt  dann  die  schwere  Frage  vom  datfiöviov  zur  Ent- 
scheidung, die  gewifs  dazu  beigetragen  haben  kann,  den  Sokrates  in  den  Ver- 
dacht zu  bringen,  als  versuche  er  neue  Gottheiten  einzuführen.  Was  das  dai- 
Ltöviov  eigentlich  sei,  hat  Xenophon  sicherlich  nicht  klar  erkannt,  sonst  hätte 
er  nicht  so  unklar  darüber  geschrieben,  dafs  wir  die  verschiedensten  Meinungen 
darüber  bis  in  die  allerneueste  Zeit  finden.  Selbst  Plato  scheint  nicht  mit  der 
sonstigen  Klarheit  diese  Besonderheit  des  Sokrates  erkannt,  wenigstens  be- 
schrieben zu  haben.  Ich  will  nur  das  neueste  Resultat  anführen.  Danach  ist 
es  nicht  etwas  Dämonisches,  sondern  nichts  anderes,  als  sein  eigenes  sittliches 
Bewufstsein,  sein  eigenes,  nur  durch  die  Gottheit  vermitteltes  Wissen,  d.  h.  sein 
Gewissen  oder  die  warnende  Stimme  seines  unverfälschten  sittlichen  Gefühls, 
eine  den  Sokrates  stets  begleitende,  wie  von  den  Göttern  kommende  Mahnung, 
nichts  zu  thun,  was  seinem  besseren  und  höheren  Ich  nicht  entsprechen  würde, 
etwa  das,  was  Goethe  sagt: 

Ganz  leise  spricht  ein  Gott  in  unsrer  Brust, 
Ganz  leise,  ganz  vernehmlich,  zeigt  uns  an, 
Was  zu  ergreifen  ist  und  was  zu  fliehn. 

Will  man  dabei  an  eine  Einwirkung  von  aufscn  denken,  an  eine  wirkliche 
göttliche  Stimme ,  so  nimmt  man  ihm  die  sittliche  Selbstbestimmung  und  ent- 
zieht so  seiner  Lehre  den  eigentlichen  Pfeiler,  auf  dem  sie  ruht.  Nimmt  man 
aber  das  Daimonion  als  einen  in  Sokrates  unbewufst  wirkenden  Trieb  oder 
Takt,  so  macht  man  den  verstandesklarsten  Menschen,  den  es  je  gegeben  hat, 
der  alles  Thun  und  Handeln  auf  ein  bestimmtes  Wissen  und  alles  Wissen  auf 
bestimmte  Begriffe  zurückführte,  zu  einem  Träumer  oder  Ekstatiker.  Phantastisch 
und  mystisch  war  nichts  an  Sokrates.  Wenn  ihn  aber  Xenophon  in  Bezug 
auf  diese  Stimme  nicht  begriffen  hat,  so  wollen  wir  ihm  dies  nicht  allzusehr 
anrechnen.  Sokrates  hat  diese  Frage  seinen  Freunden  gegenüber  nie  beant- 
wortet. Wer  von  seiner  Zeit  in  seinem  innersten  Wesen  nicht  begriffen  wird, 
kann  die  Motive,  aus  denen  er  handelt,  nicht  immer  bei  dem  eigentlichen 
Namen  nennen.  Grofse  Männer  behalten  immer  etwas  Rätselhaftes.  —  Von 
dieser  Frage  will  ich  offen  gestehen,  dafs  ich  sie  in  Obersekunda  immer  nur 
gestreift  habe.  Für  die  Köpfe  dieser  Klasse  ist  sie  zu  schwer,  und  es  bleibt 
dessen,  was  ihr  Interesse  findet  und  leicht  begriffen  wird,  übergenug.  So  kann 
Xenophon  das  Kapitel  von  der  Mantik  nicht  beendigen,  ohne  des  Sokrates 
richtige  Beurteilung  der  Frage:  Wann  allein  ist  sie  zulässig?  anzuführen.  Man 
darf  das  Orakel  nicht  mit  jeder  Frage  beholligen;  alle,  welche  von  der  mensch- 
lichen Vernunft,  wenn  man  sie  recht  benutzt,  selbst  gefunden  werden  können, 
sind  von  dieser  auch  zu  beantworten.  Nur  in  das  geheimnisvolle  Dunkel  des 
Erfolges  aller,  auch  der  besten  menschlichen  Thätigkeit  dürfe  die  Gottheit 


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E.  Rodenberg:  Xenophon»  Memorabilien  cap.  I  und  II  in  ihren  Beziehungen  zur  Gegenwart  97 

hineinleuchten.  Dem,  der  Bein  Ackerland  gut  besäe,  sei  es  nicht  offenbar,  wer 
die  Früchte  ernten,  dem,  der  sich  ein  Haus  in  edlem  Baustil  erbaue,  nicht,  wer 
darin  wohnen  werde,  dem  Feldherrn  nicht  möglich  zu  wissen,  ob  seine  Thätig- 
keit  der  Erfolg  krönen  werde,  noch  dem  Politiker,  ob  spätere  Geschlechter  ihn 
segnen  würden;  auch  dem,  der  sich  eine  Schöne  geheiratet  habe,  ihrer  sich  zu 
erfreuen,  nicht,  ob  er  nicht  ihretwegen  sich  ärgern  werde,  endlich  dem  nicht, 
der  sich  in  der  Stadt  einflufsreiche  Schwäger  erkoren  habe,  ob  er  nicht  gerade 
dieser  wegen  einst  werde  verbannt  werden.  Welch  schöner  religiöser  Sinn 
liegt  nicht  in  dem  allen!  'Doch  der  Segen  kommt  von  oben!'  Welche  Be- 
scheidung der  Gottheit  gegenüber!  Da  ist  keine  vßQig,  eher  'Demut'.  Wie 
ist  aber  dieser  tiefe  Gedanke  spafshaft  und  breit  von  Xenophon  ausgedrückt! 

Ich  schlief8e  diesen  Abschnitt  mit  einem  der  letzten  Gründe,  welche 
Xenophon  gegen  die  Anklage  des  Sokrates,  als  glaube  er  nicht  an  die  Staats- 
gotter,  vorbringt.  Sokrates  sei  auch  gar  nicht  erst  in  Versuchung  gekommen, 
sich  unfromm  oder  unheilig  zu  äufsern,  weil  er  sich  mit  Naturphilosophie 
nicht  beschäftigt  habe.  Er  habe  solche  Grübler  über  die  Entstehung  des 
xööfios,  Aber  d*e  Naturgesetze  der  am  Himmel  stattfindenden  Veränderungen 
für  Narren  erklärt.  Erst  habe  man  bei  sich,  bei  dem  Menschen  Einkehr  zu 
halten,  erst,  wenn  man  den  Menschen  kenne,  könne  man  aufser  sich  blicken. 
Kenne  man  denn  das  Wesen  des  Menschen?  Und  dann?  Es  sei  ja  für 
Menschen  ganz  unmöglich,  Fragen  der  Naturphilosophie  zu  lösen.  Seht  doch 
einmal  die  Resultate  an,  zu  denen  diese  Philosophen  kommen.  Entgegengesetzt 
sind  sie  wie  die  Erscheinungsformen  des  Wahnsinnes.  Den  einen  scheint  tö  öv, 
die  Welt,  eine  untrennbare  Einheit,  den  andern  eine  Zusammensetzung  aus  un- 
zahligen Dingen.  Die  einen  glauben  an  eine  ewige  Bewegung,  die  andern  an 
fortwährend  unveränderliche  Ruhe.  Die  lassen  das  All  entstanden  sein  und 
vergehen,  das  Gegenteil  sagen  ihre  Gegner.  Ja,  und  wenn  noch  solche  Unter- 
suchungen etwas  nützten,  durch  sie  etwas  erreicht  würde.  Lernst  du  die 
Schusterei,  kannst  du  dir  und  anderen  Schuhe  machen.  Aber  können  sie  je, 
wann  sie  auch  wollen,  Winde,  Wasser,  Jahreszeiten,  oder  wessen  sie  sonst  be- 
dürfen, machen?  Hoffen  sie  das  auch  nur?  Nein,  die  Erforschung  der  Natur- 
gesetze ist  ihnen  genug.    Und  was  ist  dies? 

Xenophon  hat  die  Glocken  läuten  hören.  Sokrates  war  es  in  der  That, 
der  primus  philosophiam  de  caelo  devocauit.  Der  Mensch  war  in  der  That  das 
Objekt  seiner  Studien.  Aber  weiter  ist  auch  nichts  an  der  Deduktion  des 
guten  Xenophon  wahr;  das  andere  gehört  ihm  an,  ist  ein  Ragout  ans  wirklich 
Gehörtem,  halb  Verstandenem  und  einseitig  Ergänztem.  Hätte  Sokrates  gar 
nicht  Naturphilosophie  getrieben,  gar  nicht  das  Haupt  grübelnd  zum  Himmel 
erhoben,  gar  nicht  auf  den  Schultern  seiner  grofsen  Vorgänger  gestanden:  wie 
hatte  er  dann  jenen  unbeschreiblichen  Einflufs  auf  alle  spätere  Philosophie  ge- 
winnen können,  jenes  göttliche  Ansehen,  das  ihn  bei  allen  folgenden  Philo- 
|  sophenschulen  geradezu  verklärte?  Nein,  wir  wissen  aus  Plato,  dafs  auch  solche 
Fragen  von  ihm  behandelt  wurden,  wenn  auch  mit  der  Beschränkung  eines 
Meisters,  der  seine  Kraft  für  Gröfseres  spart.  Also  die  Nichtbeschäftigung  mit 

K«m  JftfcrbOchcr.    im.  11  7 


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98    E.  Rosenberg:  Xenophon«  Memorabilien  cap.  I  und  II  in  ihren  Beziehungen  zur  Gegenwart 


der  Naturphilosophie  hätte  ihn  nicht  vor  feindlichen  Zusammen atofsen  mit  der 
Gotteslehre  bewahrt.  Schon  die  Erwähnung  der  verschiedenen  damals  wie 
noch  jetzt  vorhandenen  Systeme  zeigt,  dafs  er  sie  kannte  und  begriff.  Hier 
läfst  sich  einsetzen  und  den  Schülern  nach  dem  kurzen  Kompendium  von 
Weifsenfeis  ein  Überblick  über  die  vorsokratische  Philosophie  geben.  Da 
kommen  so  viele  noch  heute  die  Aufmerksamkeit  fesselnde  Fragen  zur  Er- 
wähnung: Giebt  es  einen  Urstoff?  Die  Elemente,  Sonnen-  und  Mondfinster- 
nisse, das  Werden,  die  Atome,  Moleküle,  Gnomon  u.  s.  w.  Nun  soll  Sokrates 
ferner  gesagt  haben,  die  Philosophie  über  die  Kräfte  schaffe  keinen  Nutzen, 
und  die  Fortschritte  unserer  Zeit  sind  eine  Illustration  zu  dem  Satz,  dafs  das 
Leben  der  Menschen  sich  erleichtere  und  verschöne,  je  mehr  es  ihm  gelinge, 
in  das  Innere  der  Natur  zu  dringen  und  jene  ctvdyxcci  zu  finden,  durch  welche 
sich  alles  ereigne.  Dafs  wir  Winde  machen  könnten,  dafs  wir  Wasser  sogar 
aus  Luft  gewinnen,  ist  den  Schülern  bekannt,  und  dafs  die  Forschung,  auch 
wenn  sie  zu  einem  praktischen  Erfolge  nicht  führt,  darum  doch  an  und  für 
sich  wertvoll  ist,  schon  weil  sie  den  Geist  mit  göttlichen  Dingen  beschäftig 
und  mit  Andacht  erfüllt,  ist  ihnen  bekannt  zu  geben.  Das  ist  ja  überhaupt 
ein  Haupte  und  Kernpunkt,  der  für  die  Erklärung  des  Xenophon  immer  und 
immer  wieder  betont  werden  mufs:  dieses  Utilitätsprinzip,  diese  ewige  Frage: 
*ist  etwas  nützlich?'  ist  die  Xenophontische  platte,  wenn  auch  naheliegende 
und  durchaus  nicht  immer  abzuweisende  Auffassung  des  Sokratischen:  'Ist  es 
menschenwürdig?'  Diese  Frage,  die  uns  so  oft  entgegentönt  und  ärgert: 
'Wozu  hat  er  das  nötig?  Was  nützt  es  ihm?'  ist  Sokratisch  und  insofern 
hat  Xenophon  recht,  und  ist  es  auch  nicht;  sie  ist  eine  plebeisch  aussehende 
Verwandte  des  idealen  Sokratischen,  von  Plato  zu  drastisch  hervorgehobenen: 
Ist  es  deinem  Wesen,  deinem  Begriffe  entsprechend?  Die  Jünger  des  Herrn 
fragten  noch  nach  seiner  Auferstehung  nach  dem  Reiche,  das  der  Herr  aufrichten 
werde,  die  Schüler  des  Sokrates,  von  der  Art  des  Xenophon,  hatten  nur  ver- 
standen, dafs  alle  Schönheit  und  alle  Idealitat  sich  auf  dem  Nutzen  aufbaue. 

Es  gilt  hier  noch  ein  soziales  Interesse  anzuregen:  Sokrates  hatte  die 
Gegensätzlichkeit  in  den  Resultaten  der  Philosophen  mit  den  Erscheinungs- 
formen des  Wahnsinnes  verglichen  und  diese  dabei  angegeben.  Drei  Gruppen 
der  Wahnsinnigen  zu  je  zwei  Gegensätzen:  die  Tobsüchtigen  und  am  Ver- 
folgungswahnsinn Leidenden  —  die  Schamlosen  und  Blöden  —  die  Religions- 
losen und  Fetischdiener.  Giebt  es  noch  heute  diese  Formen  des  Wahnsinnes? 
Fehlt  eine  Klasse?  Gelten  alle  diese  Erscheinungsformen  bei  uns  für  Wahn- 
sinn? Die  Manie!  Hatten  die  Alten  Irrenhäuser?  Die  Humanität  des  Alter- 
tums. Das  giebt  eine  Menge  von  Gesichtspunkten,  deren  Besprechung  den 
Gesichtskreis  erweitert  und  den  Blick  für  die  Gegenwart  schärft.  So  ist  im 
ersten  Kapitel  ein  vielseitiges  Interesse  erregt  und  befriedigt:  Das  empirische: 
Abweichungen  von  der  religiösen  Ansicht  der  Menge  erzeugen  Mifsverständnisse 
und  Verfolgung.  Luthers  Lehre  von  der  Freiheit  des  Christenmenschen  —  die 
Bauernkriege.  —  Das  spekulative:  Genesis  der  Verurteilung  des  Sokrates.  — 
Das  ethische:  Sokrates  will  alles  auf  Wissen  und  Klarheit  zurückfuhren  und 


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E.  Rosenberg:  Xenophons  Memorabilion  cap.  I  und  II  in  ihren  Beziehungen  zur  Gegenwart  99 

hört  in  sich  eine  Stimme  des  Gefühls.  —  Das  sympathetische:  Xenophon  er- 
scheint uns  als  ein  etwas  banausischer,  aber  durch  seine  Wahrheitsliebe  und 
beredte  Dankbarkeit  uns  nähertretender  Schriftsteller.  Von  dem  sozialen  und 
religiösen  Interesse  habe  ich  schon  gesprochen. 

c.  n 

Das  zweite  Kapitel  handelt  von  Pädagogik.  Man  könnte  es  überschreiben: 
Lehrer  und  Schüler.  Fragen  werden  behandelt,  die  ein  geradezu  aktuelles 
Interesse  haben  für  junge  Leute,  die  10  Jahre  lang  Lehrer  gehabt  haben  und 
Schüler  gewesen  sind.  Sie  wirken  klärend,  verständigend  für  das  Verhältnis 
des  Lehrers  zum  Schüler,  sie  können  ein  inneres  gegenseitiges  Verstehen  an- 
bahnen. Es  dreht  sich  um  die  Anklage:  UcoxQärr^  roi)$  viovg  duy&UQtv. 
Sokrates  suchte  die  jungen  Leute  zu  —  ja,  wie  soll  ich  nun  übersetzen?  nicht 
'verderben',  noch  weniger  'verführen',  sondern  'verwirren',  er  hat  das  pro  und 
contra  zu  oft  herausgesucht,  er  hat  sie  gelehrt,  dafs  tont  comprendre  heifse 
tout  pardonner.  Er  hat  die  sittlichen  Grundlagen  erschüttert,  ihnen  manche 
Stütze  als  haltlos  nachgewiesen  und  sie  von  den  herkömmlichen  Ansichten  zu 
solchen  geführt,  die  bei  der  Mitwelt  sittliche  Bedenken  erregten.  Wie  konnte 
Sokrates  das?  urteilt  Xenophon,  da  er  in  Liebes-  und  Leibesgenüssen  eine  selten 
wieder  erreichte  Müfsi^keit  zeigte,  in  allen  Unannehmlichkeiten  eine  heroische 
Standhaft igkeit  bewies  und  sich  zu  jener  Selbstbescheidung  erzogen  hatte,  die 
ihn  materielle  Sorgen  vergessen  liefs.  Das  ist  verständig  von  Xenophon.  Das 
Vorbild  des  Lehrers  in  Pünktlichkeit,  Sorgsamkeit,  Überwindung  körperlichen 
Unbehagens,  Zufriedenheit  ist  von  einer  grofsen,  allerdings  unbewufsten, 
geradezu  mystischen  Einwirkung  auf  die  Schüler,  welche  noch  gröfser  sein 
würde,  wenn  die  Vielzahl  der  Lehrer,  das  Zerstreuende  des  Lebens,  Einflüsse 
anderer  nicht  störend  wirkten.  'Predigen'  und  'ermahnen'  sind  pädagogisch 
verbrauchte  Mittel,  Wassersuppen,  die  keine  Änderung  hervorrufen.  Durch  die 
Persönlichkeit  suggerierend  einwirken  —  ist  die  einzige  pädagogische  Allkunst, 
wenn  nur  die  Persönlichkeit  des  Lehrers  immer  die  gefestigte,  gestählte, 
leidenschaftunterdrückende  des  Sokrates  wäre.  Er  war  aber  auch  darin,  nach 
Xenophons  Ansicht,  ein  grofser  Pädagoge,  dafs  er  dem  Körper  sein  gebührendes 
Recht  wahrte.  Nicht  einmal  die  Speise  der  Schüler  war  ihm  gleichgültig.  Zu 
viel  Gange  beim  Mittagbrot,  ein  allzureichliches  Abendbrot  hätte  er  als  die 
Sorge  für  die  Seele  hindernd  an  seiner  Anstalt  verboten.  Wenn  er  aber  nicht 
einmal  Geld  für  seine  Unterweisung  haben  wollte,  geht  er  uns  in  den  Gründen 
wie  in  der  Thatsache  selbst  doch  über  Menschliches  hinaus  in  eine  Idealwelt, 
in  die  ihm  nur  wenige  folgen  können.  Nicht  einmal  Paulus,  dieser  göttlich- 
starke, impulsive  Vertreter  des  Christentums,  hat  sich  immer  durch  seine  Zelt- 
weberei ernähren  können;  er  dankt  den  Philippern  für  ihre  Gaben.  Und  wir, 
denen  Erziehung  ein  Beruf  ist,  können  darin  dem  Sokrates  nicht  folgen,  ebenso- 
wenig wie  die  Ärzte  mit  dem  Gotteslohn  zufrieden  sein  würden  für  ihre  auch 
noch  so  gern  erwiesene  Hilfe.  Wir  brauchen  aber  auch  nicht  ihm  darin  zu  folgen ; 
denn  wir  können  die  Gründe  nicht  anerkennen,  die  Sokrates  —  Xenophon  dafür 

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100   E.  Kosenberg:  Xenophons  Memorabilien  cap.  I  und  II  in  ihren  Beziehungen  zur  Gegenwart 


anführt.  Sklavenhändler,  Leute,  die  sich  selbst,  ihre  Seele,  verkaufen,  ihre  Frei- 
heit darangeben,  nennt  er  solche,  die  für  pädagogische  Unterweisung  Geld  be- 
anspruchen. Die  Alten  waren  in  Bezug  auf  ihre  Freiheit  zu  ängstlich;  dazu 
waren  die  Lebensverhältnisse  zu  einfach;  sie  kannten  den  Kampf  ums  Dasein 
nicht.  Wir  können  es  also  begreifen,  wenn  Sokrates  als  den  schönsten  Lohn 
etwas  Höheres  erstrebte,  als  Geld,  nämlich  die  Freundschaft  seiner  Schüler,  die 
da  gleichwertig  sei  einer  steten  Übung  in  der  Tugend.  Wenn  wir  dem  Staate 
unsere  Kraft  verkaufen,  so  wuchern  wir  mit  einem  in  uns  gelegten  Pfunde,  so 
zerreiben  wir  die  eigene  Kraft,  um  ihm  immer  bessere,  immer  harmonischer 
ausgestaltete  Mitglieder  zuzuführen,  ihn  selbst  zu  starken  und  das  Niveau  zu 
heben;  und  wenn  wir  dieser  grofsen,  schönen  Aufgabe  nicht  als  bezahlte 
Knechte  dienen,  die  nur  schematisch  ihre  Pflicht  thun,  denen  Schüler  Nummern 
sind,  die  im  Unterricht  keine  Freude,  keinen  Schmerz  kennen,  wenn  wir  in 
unserem  Berufe  aufgehen,  dann  glauben  wir  uns  dennoch  auch  unsere  Schüler 
zu  Freunden  zu  machen,  auch  wenn  wir  uns  bezahlen  lassen.  Das  schöne  Band, 
das  Schulen  mit  ihren  Schülern  für  das  Leben  verknüpft,  ist  ein  sprechender 
Beleg  hierfür.  Aber  die  Sokratische  Lehre  ist  doch  ein  pädagogischer  Wink, 
ein  Wegweiser  zu  einer  idealeren  Auffassung  des  Lehrerberufs. 

Nun  treibt  aber  den  Xenophon,  der  sicherlich  ein  vortrefflicher  Pädagoge 
gewesen  ist  und  in  diesem  Kapitel  uns  in  einer  viel  vorteilhafteren  Beleuchtung 
entgegentritt,  die  Begründung  dieser  Anklage  seitens  der  Gegner  sichtlich  in 
die  Enge.  Es  war  in  der  That  ein  schwerbelastendes  Moment  für  Sokrates, 
dafs  gerade  die  Männer,  die  man  wegen  ihrer  Mafs-  und  Sittenlosigkeit  und 
ihrer  eines  Atheners  unwürdigen  Eigenschaften  hafste,  dafs  Kritias  und  Alkibiades 
seine  Schüler  gewesen  waren.  Denken  wir  uns  diese  Beweisführung  auf  eine 
moderne  Erziehungsanstalt  angewendet  und  deren  Wert  gemessen  nach  solchen 
einzelnen  fragwürdigen  Erziehungsprodukten.  Die  Gründe,  die  man  dagegen 
vorbringen  könnte,  hat  Xenophon  schon  mit  rührender  Peinlichkeit  hervor- 
gehoben, um  seinen  geliebten  Meister  zu  entlasten. 

Zunächst  macht  Xenophon  geltend,  beide,  Kritias  wie  Alkibiades,  seien 
eigentlich  nicht  Schüler  des  Sokrates  gewesen.  Sie  hätten  gesehen,  dafs  er  mit 
außerordentlich  geringen  Mitteln  zufrieden  wie  ein  König  lebe,  dafs  er  mit 
einer  souveränen  Gewalt  seine  Leidenschaften  beherrsche  und  dafs  er  alle,  die 
sich  mit  ihm  unterredeten,  zu  jedem  von  ihm  gewollten  Ziele  führe.  Das  habe 
sie  dazu  geführt,  seinen  Unte nicht  für  die  geeignetste  Vorschule  zu  ihrer 
staatsmännischen  Thätigkeit  anzusehen  und  ihn  aufzusuchen.  Seine  Weisheit, 
seine  Lebensführung  sei  ihnen  kein  Gegenstand  ihres  Strebens  gewesen.  Darum 
seien  sie,  sobald  sie  das  Gewünschte  gelernt  zu  haben  glaubten,  vom  Sokrates 
abgesprungen  und  direkt  auf  ihr  eigentliches  Ziel  losgegangen.  Dieser  Einwand 
ist  eine  Fundgrube  köstlicher  Gedanken.  Er  führt  auf  die  Frage,  ob  Vermitte- 
lung  von  Kenntnissen  Sache  der  Schule  sei  oder  Erziehung,  auf  das  Verhältnis 
der  sogenannten  Presse  zur  Schule  u.  s.  w.  Xenophon  fühlt  taktvoll  heraus,  dafs 
diejenigen,  welchen  als  Ziel  nur  die  Erwerbung  einiger  Kunstgriffe  und  der 
nacktesten  Kenntnisse  vorschwebt,  die  iu  der  Schule  nur  die  Verzögerung  ihrer 


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£.  Rosenberg :  Xenophons  Mcmorabilien  csp.  I  und  II  in  ihren  Beziehungen  zur  Gegenwart  101 

Laufbahn  sehen,  die  kein  persönliches  Gefühl  für  den  Lehrer  gewinnen,  nicht 
die  rechten  Schüler  sind,  dafs  das  Anfüllen  mit  Kenntnissen  kein  Erziehen  sei 
und  kein  Pietätsverhältnis  begründe. 

Die  aweite  Entschuldigung  des  Xenophon:  Kritias  und  Alkibiades  gaben 
in  ihrem  sittlichen  Verhalten  keinen  Anlafs  zum  Tadel,  "so  lange  sie  bei 
Sokrates  waren,  und  nicht  etwa,  weil  sie  Furcht  vor  Scheltworten  und  körper- 
licher Strafe  hatten,  sondern  weil  sie  dies  für  das  Beste  hielten.    Freilich,  sie 
seien  ja  nicht  so  geblieben.    Aber  auch  zur  Tugend  gehöre  Übung,  wie  zu 
körperlicher  Gewandtheit;  und  durch  schlechten  Umgang  gehe  die  Tugend  zu 
Grunde.    'Sage  mir,  mit  wem  du  umgehst,  und  ich  will  dir  sagen,  wer  du 
bist.'    Kneipereien  und  Liebeshändel  wären  geeignet,  den  anfänglich  guten 
Sinn  völlig  zu  verderben.    Der  Sparsamste  werde  zum  Verschwender.  Die 
Seele  stände  auf  einer  Feldwacht;  sie  habe  keinen  Augenblick  ihre  Wachsam- 
keit den  Leidenschaften  gegenüber  aufzugeben.    Das  seien  Narren,  die  da 
meinten,  ein  Gerechter  könne  nicht  ungerecht,  ein  sittlicher  Mensch  kein 
Frevler  werden;  man  könne  überhaupt  verlernen,  was  man  einmal  gelernt 
habe.  —  Es  macht  den  Schülern  stets  Freude,  wenn  man  ihnen  nachweist, 
dafs  der  Einwand  an  und  für  sich  nicht  so  unsinnig  ist.  Wer  einmal  schwimmen, 
tanzen,  Schlittschuhlaufen  gelernt  hat,  verlernt  es  nie  ganz  wieder.  Wer  einmal 
Grammatik  gelernt  hat,  verlernt  wohl  die  Formen,  aber  nicht  das  grammatische 
Denken.    Ja,  kamen  unsere  Schüler  so  sittlich  gefestigt  von  der  Schule,  wie 
es  wohl  wünschenswert  wäre,  aber  nicht  durchführbar  ist,  dann  könnten  jene, 
die  dem  Sokrates  die  Unsittlichkeit  jener  beiden  Schüler  zurechnen  wollen, 
wohl  recht  haben.    Aber  die  menschliche  Natur  ist  schwach  —  und  es  giebt 
niemand,  der  nicht  beten  müfste:  'Führe  mich  nicht  in  Versuchung.'    In  wie 
viel  Dramen,  in  wie  viel  Romanen  sehen  wir  nicht  mit  Mitleid  im  Herzen,  wie 
die  Versuchung  schliefslich  auch  die  festeste  Mauer  untergräbt  und  die  Erb- 
schaft des  Blutes  so  oft  die  kluge  Arbeit  des  Kopfes  vereitelt.    Es  giebt  also 
keine  absolute  sittliche  Reife,  die  nicht  an  Kautelen  gebunden  wäre,  und 
die  Eltern  werden  alle  Zeit,  wie  die  zu  Sokrates'  Zeit,  auf  den  Umgang  zu 
achten  und  jene  Störenfriede  der  Ruhe,  <pikono6la  und  igoateg,  fernzuhalten 
haben.  Ich  pflege  dabei  den  Schülern  immer  das  ixxvliaftivrtg  klar  zu  machen; 
es  ist  ein  so  treffendes  Bild,  dafs  sie  durch  alle  solche  Leidenschaften  gewisser- 
mafsen  aus  der  rechten  Strafse,  aus  dem  Wagen  gestürzt  werden,  Verunglückten 
gleichen.  Schon  damals  waren  es  dieselben  Verhältnisse,  die  begabte  und  vom 
Schicksal  äufserlich  begünstigte  junge  Menschen  vom  rechten  Wege  abzudrängen 
Buchten.    Xenophon  nennt  diese  Verführungen:  Thessalien  war  das  Paris  der 
damaligen  Griechen,  Schönheit  des  Körpers  sogar  für  vornehme  Frauen  ein 
Grund,  Jagdnetze  zu  stellen,  Einflufs,  Name,  Adel,  Reichtum,  Ehre  erschwerende 
Momente  für  die  fortdauernde  Übung  in  der  Tugend.    Übrigens  waren  die 
Athener  auch  vernünftig  genug,  die  Väter  nicht  verantwortlich  zu  machen,  wenn 
die  Söhne  etwas  versahen,  so  lange  sie  selbst  für  vernünftig  und  ordentlich  galten. 

Noch  eine  pädagogische  Wahrheit,  zu  der  Xenophon  durch  seine  Studien 
gelangt  ist,  will  ich  erwähnen:  er  ist  der  Meinung,  dafs  eine  xcadevöig  nicht 


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102    E.  Rosenberg:  Xcnophons  Mcmorabilien  cap.  I  und  II  in  ihren  Beziehungen  zur  Gegenwart 

stattgefunden  habe,  sondern  nur  eine  avvovaia.  Eine  xcudevtfig  könne  über- 
haupt nicht  von  einem  /nj  ägfoxav  ausgehen,  d.  h.  von  einem,  der  dem 
anderen  nicht  sympathisch  sei.  Die  Persönlichkeit  des  Sokrates  war  beiden, 
nur  von  Ehrgeiz  beseelten,  mit  ihren  Gedanken  nur  einseitig  auf  den  Staat 
gerichteten  jungen  Männern  antipathisch  gewesen;  die  Erziehung  konnte  daher 
tiefere  Wurzein  nicht  fassen.  Es  steckt  etwas  Richtiges  darin;  den  ver- 
schiedenen Temperamenten  der  Schüler  sind  die  Lehrer  nicht  alle  und  nicht 
gleichmäfsig  angenehm.  Die  Hauslehrertheorie  kann  daher  für  manche  Kinder 
geradezu  verhängnisvoll  werden.  Der  Lehrerwechsel  ist,  wenn  er  nicht  zu  oft 
stattfindet,  ein  Segen  für  die  Schüler.  Wie  die  Pflanzen  sich  oft  bei  einer 
Änderung  der  Pflege  wunderbar  erholen,  wenn  sie  schon  nahe  dem  Ersterben 
waren,  so  wachen  auch  manche  Schüler  bei  einem  anderen  Lehrer  aus  der 
Lethargie  auf.  Vor  allem  aber  mufs  sich  ein  inneres  Verhältnis  herausbilden, 
wenn  es  vor  Verkennung  bewahren  soll.  Dort,  wo  der  Schüler  schon  mit 
den  Gedanken  mitten  im  Leben  steht,  ist  die  Bildung  eines  solchen  kaum 
noch  möglich;  darum  predigt  auch  Xenophon  den  Eltern,  dafs  sie  ihre  Söhne 
nicht  allzu  oft  und  tief  in  ihre  eigenen  Gedankenkreise  einfuhren  sollen. 

Übrigens  konnte  Sokrates  auch  zuweilen  recht  scharf  werden,  und  Xenophon 
findet  das  recht.  Als  Kritias  Päderastie  trieb,  nannte  Sokrates  ihn  ein  'Schwein'. 
Aber  dieses  Schimpfwort  mufs  doch  ein  seltenes  gewesen  sein,  sonst  hatte  es 
ihm  Kritias  nicht  noch  nach  langer  Zeit  zu  vergelten  gesucht.  Und  nun  folgt 
jene  köstliche  Geschichte:  Sokrates  vor  seinen  Schülern  vor  Gericht,  eine 
Geschichte,  welche  stets  eitel  Freude  erregt  und  aufserordentlich  nutzbar  ge- 
macht werden  kann.  Aus  Rache  hatte  ihm  sein  früherer  Schüler  Kritias  die 
Konzession,  junge  Leute  zu  unterrichten,  entzogen. 

Nun  setzt  Sokrates  in  seiner  ironischen  Art  den  Machthabern  auseinander, 
dafs  sie  gar  keine  Gesetze  zu  machen  verständen.  Ganz  thörichter  Weise 
nähmen  sie  relative  Begriffe,  wie  'jung',  und  unbestimmte  wie  Öiaktytö&ta  in 
den  Wortlaut  auf,  und  an  drastischen  Beispielen  aus  dem  Leben  weist  er  nach, 
zu  welchen  unsinnigen  Konsequenzen  man  dabei  gelange.  Aber  er  hat  ihnen 
auch  in  ernster  Weise  seine  Meinung  nicht  vorenthalten.  Wie  mufste  es  ihn 
sclimerzen,  von  seinen  eigenen  Schülern  in  jene  Klasse  der  Sophisten  ein- 
gereiht zu  werden,  denen  nicht  Wahrheit  das  Ziel  ihres  Strebens  war,  sondern 
Schein,  gerade  der  Sophisten,  die  er  durch  seine  Methode  hatte  überwinden 
wollen.  Darum  weifs  er  im  Beginn  seines  Gespräches  mit  den  Machthabern 
ihnen  die  Pille  zu  geben,  dafs  sie  nicht  einmal  wüfsten,  dafs  es  auch  eine 
Kunst  der  Rede  gäbe,  welche  der  Wahrheit  zum  Siege  verhelfe.  Hierbei  er- 
fahren die  Schuler,  wie  schwer  es  ist,  Gesetze  zu  machen.  Dieser  lebhafte 
Dialog  mit  Hm!  Hm!,  mit  'auf  die  Schulter  klopfen'  und  mancher  andern 
stummen  Handlung  wird  in  seinem  Eindruck  auf  die  Schüler  fast  noch  über- 
troffen durch  die  Vorführung  eines  Gesprächs  des  ganz  jungen  Alkibiades  mit 
seinem  Vormund,  dem  berühmten  Perikles.  Alkibiades  möchte  gerne  wissen, 
wie  man  'Gesetz*  definiert,  denn  als  Sokratiker  weifs  er,  dafs  er  niemals  mit 
Recht  ein  'gesetzlicher  Mann*  genannt  werden  würde,  wenn  sein  gesetzliches 


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E.  Rettenberg :  Xenophon«  Memorabilien  cap.  I  und  II  in  ihren  Beziehungen  zur  Gegenwart  103 

Handeln  nicht  auf  Wissen  beruhe;  und  als  Sokratiker  weifs  er  auch  genau, 
wonach  er  fragt.  Es  ist  also  ein  Versuch,  den  Perikles  aufs  Glatteis  z«  führen, 
und  in  der  That  strauchelt  der  Staatsmann  und  mufs  sich  mit  süfssaurem 
Gesicht  und  der  Verlegenheitsphrase:  Ja,  es  gab  auch  für  mich  eine  Zeit,  in 
der  ich  in  solchen  dialektischen  Fragen  grofs  war,  heraushelfen.  Die  Schüler 
aber  haben  dabei  die  Schwierigkeit  des  Definierens  gelernt,  dafs  die  Definition 
nicht  zu  weit,  nicht  zu  eng  sei.  Wie  unterscheidet  sich  Gewalt  von  Gesetz? 
Mufs  ich  dem  Feinde  gehorchen,  wenn  er  sich  meines  Landes  bemächtigt  und 
mir  Gesetze  vorschreibt?  Wie  ist  es  mit  der  Geschichte  aus  dem  Leben  Jesu 
vom  Zinsgroschen?  u.  s.  w. 

Der  Inhalt  des  zweiten  Kapitels  ist  noch  lange  nicht  erschöpft;  und  auch 
über  das  Verhältnis  der  Kinder  zu  den  Eltern,  über  körperliche  und  geistige 
Verwandtschaft  weifs  der  gute  Pädagoge  Xenophon  in  der  Verteidigung  seines 
Lehrers  noch  manches  Schöne  und  Interessante  vorzubringen:  man  hat  dabei 
Gelegenheit,  an  das  ähnlich  zunächst  hart  erscheinende  Wort  Jesu  zu  erinnern: 
Lasset  die  Toten  ihre  Toten  begraben.  —  Auch  gegen  das  Citieren  aus  dem 
Zusammenhang  heraus,  das  schon  viel  Unglück  angestiftet  hat,  und  das  edlen 
und  gebildeten  Menschen  so  häfslich  ansteht,  weifs  er  eine  Lanze  einzulegen. 
Welches  Interesse  wachgerufen  wird,  wenn  man  an  der  Hand  der  Memorabilien 
untersucht:  Wer  ist  ein  Arbeiter?  Etwa  auch  der  Würfelspieler  oder  der 
Dieb?  lafst  sich  leicht  denken. 

So  hat  sich  uns  unter  den  Händen  das  Bild  des  Xenophon  verändert.  Er, 
der  schwache,  banausische  Philosoph,  hat  sich  als  ein  tüchtiger  Erzieher,  ein 
anerkennenswerter  Pädagog  zu  erkennen  gegeben.  Wächst  der  Schüler  dabei 
aber  auch  genügend  in  die  Persönlichkeit  und  die  Bedeutung  deB  Sokrates 
hinein?  Denn  Sokrates  ist  es  doch,  um  dessentwillen  die  Memorabilien  gelesen 
werden.  Ist  der  Sokrates  des  Xenophon  der  echte,  rechte?  Darüber  herrscht 
Streit  unter  Leuten,  die  mehr  davon  verstehen  als  ich,  und  ich  mufs  den  Aus- 
gang erwarten.  Aber  so  viel  kann  ich  versichern,  dafs  sie  schon  aus  diesen 
beiden  ersten  Kapiteln  so  viel  über  Sokrates  lernen  und  ihn  so  weit  begreifen, 
dafs  er  keine  Philister-  oder  Utilitätsmoral  lehre,  dafs  die  Memorabilien  keine 
stroherne  Epistel  seien,  wenn  auch  kein  Johannesevangelium  für  Sokrates, 
sondern  wenigstens  nur  insoweit  eine  stroherne  Epistel,  wie  der  Jakobusbrief 
es  nach  Luther  sein  soll,  aber  nicht  ist.  Dafs  das  &ccv^d^eiv  des  Sokrates  aus 
dem  Vergleich  der  natürlichsten,  in  ihrem  Grunde  so  leicht  zu  erfassenden 
Verhaltnisse  mit  anderen  zunächst  weniger  klaren  entsteht,  dafs  auf  solche 
Verhältnisse  ein  aufklärendes  Schlaglicht  geworfen  wird,  und  die  Beispiele  der 
Zimmerleute,  Flötenspieler  und  Schuster  nicht  umsonst  von  ihm  so  abgegriffen 
werden,  dafs  der  Nutzen  zwar  ein  Motor  für  Handlungen  sein  mufs,  dafs 
es  aber  einen  höheren  Gesichtspunkt  für  alle  Handlungen  giebt  —  den,  dem 
Ideal  gemäfs  zu  handeln,  dafs  man  die  Eltern  z.  B.  nicht  deshalb  liebe,  'auf 
dafs  es  einem  wohl  gehe  und  man  lange  lebe  auf  Erden',  sondern  weil  Liebe 
des  Menschen  gröfste  und  wahrste  Kunst  ist,  —  das  alles,  und  wie  er  seine 
Zeit  überragte  und  an  dem  Mangel  an  Verständnis  scheiterte,  das  können 


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104   E.  Keyenberg :  Xenophon*  Mcmorabilien  cap.  I  und  II  in  ihren  Beziehungen  xur  Gegenwart 

die  Schüler  schon  an  den  beiden  ersten  Kapiteln  fühlen  und  begreifen  und  zu- 
weilen auch  aussprechen,  und  mit  Lebhaftigkeit  werden  sie  an  der  Erörterung 
teil  nehmen,  ob  Sokrates'  Gegner  wirklich  blutdürstige,  schlechte  Männer  waren, 
oder  ob  auch  Liebe  zum  Staate,  Politik  sie  bewogen  haben  kann.  Freilich 
giebt  es  auch  Sophismen  genug  bei  Xenophon  —  und  ganz  werden  sie  auch 
beim  Sokrates  wohl  nicht  gefehlt  haben  —  aber  der  Lehrer  ist  ja  da,  diese 
aufzudecken  und  zu  überwinden.  Wenn  Xenophon  z.  B.  den  Vorwurf,  dafs 
Sokrates  seine  Schüler  zu  Verächtern  der  Staatsverfassung  mache,  dadurch  zu 
entkräften  sucht,  dafs  seine  Schüler  gewifs  immer  nur  auf  dem  Wege  der 
Überredung  versucht  haben  würden,  die  staatlichen  Zustande  zu  ändern,  so  er- 
innert das  sehr  an  die  'unblutige  Revolution',  von  der  moderne  Weltverbesserer 
träumen.  Junge  Männer  über  Fehler  der  Staatsverfassung  aufzuklären,  ist 
immer  ein  bedenkliches  Unternehmen;  und  wenn  Sokrates  es  gethan  hat,  ist 
es  nicht  zu  verwundern,  wenn  es  auch  in  Athen  Männer  gegeben  hat,  welche 
ihn  mundtot  machen  wollten. 

So  eng  verschlungen  ist  mit  Fragen  der  Gegenwart  der  Anfang  der 
Memorabilien,  und  wer  sie  behandelt,  wirkt  klärend,  lehrend,  interessierend  auf 
junge  Gemüter.  , 


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MAKEDONIEN  UND  PEEÜSSEN 


Ein  schulmäfsiger  geschichtlicher  Vergleich  als  Konzentrationsprobe 

Von  Hermann  Rose 

Wenn  man  von  den  Männern  und  Verhältnissen,  die  die  Gründung  des 
brandenburgisch  -  preufsiseken  Staates  und  die  Einigung  Deutschlands  durch 
Preufsen  unter  Kaiser  Wilhelm  herbeigeführt  haben,  seine  Blicke  zurücklenkt 
auf  die  Entstehung  des  makedonischen  Reiches,  auf  die  Einigung  Griechen- 
lands und  die  Unterwerfung  Persiens  durch  Philipp  und  seinen  grofsen  Sohn, 
«o  fühlt  man  sich  überrascht  durch  so  manche  der  preufsisch-deutschen  Geschichte 
ähnliche  Züge  des  Bildes,  welches  die  damalige  Entwickelung  uns  darbietet. 
Ich  weifs  wohl,  dafs  geschichtliche  Vergleiche  nicht  zu  sehr  ins  einzelne  aus- 
gesponnen und  nicht  zu  falschen  Schlüssen  auf  die  Zukunft  miTsbraucht  werden 
dürfen,  aber  anderseits  liegt  ein  Hauptinteresse  der  geschichtlichen  Forschung 
in  dem  Vergleiche  verschiedener  Zeiten;  ich  bin  mir  ferner  wohl  bewufst, 
dafs  manche  diesen  Vergleich  'despektierlich'  finden,  aber  was  brauchen  wir 
preufsischer  zu  sein,  als  der  preufsische  König,  der  seinen  Staat  zu  einer 
europäischen  Grofsmacht  erhob.  Denn  kein  Geringerer  als  Friedrich  II.  hat 
jenen  Vergleich  zuerst  aufgestellt  und  damit  für  die  Beurteilung  der  Zeit  nach 
dem  Sturze  des  attischen  Reiches  den  richtigen  Gesichtspunkt  angegeben.  Er 
schrieb  nämlich  an  den  Rand  seines  Handexemplars  von  Montesquieus  Con- 
Biderations  fces  rois  de  Macldoine  e*taient  ce  qu'est  un  roi  de  Prasse  et  un  roi 
de  Sardaigne  de  nos  jours'. 

Die  griechische  Halbinsel  ist  ein  wunderbar  gegliedertes  Land.  Im  Innern 
ist  sie  nach  allen  Richtungen  von  Gebirgen  durchzogen,  und  von  aufsen  dringen 
Meerbusen  tief  in  dieselbe  ein.  So  entstehen  viele  streng  von  einander  ge- 
trennte Landschaften,  und  wenn  man  dabei  den  Unterschied  in  der  Abstammung 
und  der  Verfassung  bei  den  alten  Griechen  berücksichtigt,  so  darf  man  sich 
nicht  wundern,  dafs  ihnen  der  Partikularismus  angeboren  war.  Dabei  waren 
jene  Landschaften,  wenigstens  nach  unseren  Begriffen,  nur  klein,  ihre  Gröfse 
schwankte  zwischen  4  und  87  Quadratmeilcn.  So  konnte  keine  von  ihnen  den 
Anspruch,  die  Führerin  der  andern  zu  sein,  durch  ihre  Gröfse  begründen. 
Selbst  als  Sparta  durch  den  Besitz  von  Messenien  %  des  Peloponnes  besafB, 
gehorchte  ihm  nicht  der  ganze  Peloponnes,  und  als  es  im  Perserkriege  ganz 
Griechenland  um  sich  geschart  hatte,  war  diese  Unterwerfung  nur  eine  frei- 
willige, nach  dem  peloponnesischen  Kriege  aber  und  erst  recht  nach  dem 
antalkidischen  Frieden  nur  durch  Persiens  Hilfe  erreicht  und  behauptet.  Im 


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H.  Rose:  Makedonien  und  Preufsen 


Norden  von  Griechenland  lag  der  Staat,  der  durch  seine  Gröfse  berechtigt  war, 
Griechenland  zu  einen  und  zu  leiten.  Dies  war  Makedonien.  Denn  es  hatte  eine 
Gröfse  von  1200  Quadratmcilen,  und,  was  das  Wichtigste  war,  es  bildete  einen 
einheitlichen  Staat.  Gewifs  gab  es  Unterschiede  zwischen  den  reichen,  am 
Meere  gelegenen  Fruchtebenen  Untermakedoniens  und  den  Berglandschaften 
Obermakedoniens,  aber  das  Ganze  war  ein  einheitliches  Reich. 

Doch  waren  die  Makedonier  wirklich  Griechen?  Waren  es  nicht  vielmehr 
Barbaren?  Die  Verteidiger  der  alten  hellenischen  Freiheit  haben  oft  über 
diese  Frage  gestritten,  und  ihr  grofster  Wortführer  Demosthenes  geht  so  weit 
zu  sagen,  die  Makedonier  seien  weder  Griechen  noch  mit  den  Griechen  ver- 
wandt, sondern  Barbaren,  die  nicht  einmal  zu  Sklaven  taugten,  wenn  sie 
auch  etwas  hellenische  Kultur  angenommen  hätten.  Also  nicht  barbarisierte 
Hellenen,  sondern  hellenisierte  Barbaren.  Aber  so  hoch  man  Demosthenes  auch 
stellen  mufs,  er  ist  zu  sehr  Parteimann,  um  ein  ein  wandsfreier  Gewahrsmann 
zu  sein,  und  die  älteren  Quellen,  die  noch  nichts  von  den  Kämpfen  zwischen 
Philipp  und  Athen  wissen,  geben  eine  andere  Auffassung.  Aeschylos  und 
Herodot  erklären  die  Makedonier  für  Griechen,  und  dafs  deren  Ansicht  die 
richtige  ist,  bezeugt  die  Religion,  die  Sitte  und  noch  mehr  die  Sprache  der 
Makedonier.  Denn  diese  stand  den  älteren  Dialekten  des  Griechischen  recht 
nahe.  Ein  Blick  auf  die  Karte  bestätigt  dies  auch.  Denn  die  Lage  des 
Landes  bringt  es  mit  sich,  dafs  die  ältesten  Volkerzüge  ihren  Weg  durch  das- 
selbe nehmen  mufsten,  und  sicher  sind  Splitter  derselben  zurückgeblieben,  aber 
anderseits  mufs  man  zugeben,  dafs  an  den  Grenzen  Vermischungen  mit  illyri- 
schen und  thrakischen  Stämmen  stattgefunden  haben,  und  wenn  man  endlich 
bedenkt,  dafs  wenigstens  die  Bewohner  Obermakedoniens  auch  später  in  dem 
ursprünglichen  Kulturzustande  verharrten,  da  sie  fast  gar  nicht  mit  den  Griechen 
in  Berührung  kamen,  so  darf  man  sich  nicht  wundern,  wenn  die  Makedonier 
später  den  Griechen  als  Barbaren  oder  wenigstens  als  Halbbarbaren  erschienen. 

Ähnlich  liegt  die  Sache  in  Deutschland.  Das  Gebiet  der  Alpen  und  des 
Mittelgebirges  ist  in  den  verschiedensten  Richtungen  von  Gebirgen  durchzogen. 
Das  bunte  Relief  dieses  Gebirgslandes  findet  sein  Abbild  in  der  politischen 
Zersplitterung  dieses  Gebietes,  in  welchem  sich  nur  wenige  gröfsere  Territorien, 
so  Böhmen  und  Bayern,  bilden  konnten.  Dazu  kommt  noch,  dafs  die  Bevölke- 
rung aus  verschiedenen  Stämmen  besteht,  die  durch  Sitte  und  Dialekt  wohl 
geschieden  sind,  so  Rheinländer,  Hessen,  Thüringer,  Franken,  Schwaben  und 
Bayern.  Dafs  diese  Zersplitterung  günstig  einwirkte  auf  die  Entwickelung 
dieser  Landschaften,  unterliegt  keinem  Zweifel  Daher  finden  sich  hier  auch 
schon  im  frühen  Mittelalter  zahlreiche  Städte  mit  vielfachen  Industrien,  und 
auf  diesem  Boden  spielt  sich  wesentlich  die  Geschichte  des  Mittelalters  ab, 
aber  ebenso  leuchtet  ein,  dafs  keines  von  diesen  Staatengebilden  die  Führung 
Deutschlands  übernehmen  konnte.  Dazu  sind  sie  viel  zu  klein.  Ganz  anders 
ist  aber  der  Norden  beschaffen.  Er  besteht  aus  Tiefland,  und  auf  so  ein- 
förmigem Boden  sind  auch  die  Lebensverhältnisse  und  Interessen  der  Bewohner 
gleichartiger,  und  so  konnten  sich  schon  im  Mittelalter  hier  gröfsere  politische 


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H.  Rose:  Makedonien  und  Preufsen 


107 


Territorien  bilden.  So  lange  das  Mittelmeer  das  Zentrum  des  Weltverkehrs 
war,  lagen  diese  Lander  auf  der  Peripherie,  aber  seit  den  Entdeckungen  änderte 
sich  dies  Verhältnis.  Sie  sind,  begünstigt  durch  die  grofsen  natürlichen  Wasser- 
strafsen,  die  dem  gebirgigen  Süden  fast  ganz  fehlen,  mehr  in  den  Mittelpunkt 
des  Seeverkehrs  getreten,  und  deshalb  liegt  hier  jetzt  der  Schwerpunkt  von 
Deutschlands  Macht.  Hier  konnte  sich  ein  Staat  bilden,  der  stark  genug  war, 
die  nationale  Sache  zu  vertreten. 

Doch  wie  steht  es  um  die  Bewohner  dieser  weiten  Landstriche?  Sind  sie 
Deutsche  oder  nur  ein  Mischvolk  aus  Deutschen  und  Slaven?  Im  Jahre  1866 
ward  diese  Frage  oft  in  leidenschaftlicher  Weise  erörtert,  selbst  in  Schüler- 
kreisen, und  je  nach  dem  politischen  Standpunkte  des  Redenden  oder  seiner 
Eltern  entweder  die  Preufsen,  wie  man  kurz  sagte,  für  Deutsche  erklärt  oder 
nicht  Diejenigen,  welche  für  die  Losung  waren,  die  das  Jahr  66  gebracht 
hatte,  erklärten  die  Preufsen  für  gute  Deutsche,  die  Gegner  unterliefsen  nicht, 
darauf  hinzuweisen,  dafs  der  gröfste  Teil  des  preufsischen  Staates  früher  von 
Slaven  bewohnt  gewesen  war,  ja  dafs  noch  heute  viele  Slaven  im  Gebiete  des- 
selben wohnen,  und  nannten  kurzweg  alle  Preufsen  Wasserpolacken.  Wer  von 
den  beiden  hat  nun  recht?  Die  Geschichte  bestätigt,  dafs  die  östlich  der  Elbe 
gelegenen  Provinzen  Preufsens  —  denn  um  diese  handelt  es  sich,  da  sie  der 
Kern  von  Preufsens  Macht  sind  —  bei  der  Völkerwanderung,  als  die  Germanen 
auswanderten,  von  Slaven  besiedelt  wurden.  Diese  blieben  nicht  an  der  Elbe 
stehen,  sondern  drangen  auch  über  dieselbe  vor,  aber  in  Jahrhunderte  langen 
Kämpfen  sind  diese  von  den  Deutschen  bekämpft  und  endlich  besiegt.  Viele 
Slaven  sind  in  diesen  gefallen,  aber  die  Mehrzahl  der  Bevölkerung  blieb  und 
verschmolz  mit  den  zahlreich  einwandernden  Deutschen,  indem  sie  deren 
Sprache,  Glauben  und  Recht  annehmen  mufste.  Bis  in  die  Gegenwart  haben 
sich  allerdings  wendische  Sprachinseln  erhalten,  so  im  Spreewald,  und  an  den 
Rändern  dieses  weiten  Gebietes  vollzieht  sich  noch  heutigen  Tages,  wenn  auch 
in  friedlicherer  Weise,  der  Kampf  zwischen  Slaven  und  Deutschen,  ja  der 
Ethnograph  wird  noch  an  vielen  Eigentümlichkeiten  in  Aberglauben,  Sitte 
Bauart  der  Dörfer,  einzelnen  Wörtern  und  in  der  Körperbeschaffenheit  auf 
slavischen  Ursprung  schliefsen  können,  aber  es  würde  thöricht  sein,  wenn  man 
die  Bevölkerung  dieser  Provinzen  nicht  für  deutsch  halten  wollte.  Das  Ent- 
scheidende ist  der  Besitz  der  deutschen  Kultur,  und  seit  Jahrhunderten  haben 
sich  diese  Provinzen  an  dem  gesamten  Leben  des  deutschen  VolkeB  beteiligt. 
Will  man  sie  aber  trotzdem  ausschliefsen,  so  müfste  man  die  Bewohner 
Sachsens  und  Mecklenburgs,  dessen  Fürstengeschlecht  sogar  slavischen  Ursprungs 
ist,  und  erst  recht  Österreichs  ausschliefsen,  aber  das  that  man  1866  nicht; 
diese  hielt  man  für  gute  Deutsche. 

Ganz  im  Gegensatze  zu  der  Bevölkerung  galt  das  Fürstengeschlecht, 
welches  in  Makedonien  regierte,  unbestritten  für  gut  griechisch.  Der  Über- 
lieferung nach  war  es  aus  Argos  eingewandert  und  leitete  seinen  Ursprung  von 
dem  hellenischen  Nationalheros  Herakles  ab.  Darum  wurden  sie  auch  zu  den 
olympischen  Spielen  zugelassen  und  beschickten  diese  öfter,  um  ihre  Zugehörig- 


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H.  Rose:  Makedonien  und  PreuUcn 


keit  zu  den  Griechen  zu  beweisen,  ja  als  sie  den  Persern  sich  anschliefsen 
mufsten,  gehörten  ihre  Sympathien  den  Griechen,  wie  das  Auftreten  Alexanders 
am  Vorabend  der  Schlacht  bei  Plataa  beweist,  aber  den  freien  Bauern  und 
dem  trotzigen  Adel  gegenüber  war  das  Königtum  lange  Zeit  machtlos  und 
ohne  Bedeutung  nach  aufsen  hin.  Doch  mit  einem  Schlage  sollte  sich  dies 
ändern,  als  359  Philipp  den  Thron  bestieg.  Man  hat  bisweilen  von  ihm  nur 
zu  berichten  gewufst,  er  sei  der  Vater  des  grofsen  Alexander  gewesen,  höchstens 
erscheint  Bein  Gold  als  das  einzige  Mittel,  mit  dem  er  Erfolge  erzielte,  und 
alles  Lob  und  allen  Ruhm  hat  man  auf  den  Sohn  gehäuft.  In  der  That,  es 
giebt  für  die  Sage  und  für  die  Dichtung  keine  anziehendere  Persönlichkeit  als 
diesen  Mann,  der  in  jungen  Jahren  einer  der  gröfsten  Eroberer  der  Welt- 
geschichte ward  und  nach  wahrhaft  wunderbaren  Erfolgen,  gerade  als  er  sieb 
bemühte,  als  Regent  noch  Gröfseres  zu  leisten,  durch  einen  jähen  Tod  in  ein 
frühes  Grab  sank.  Es  ist  der  reine  Märchenprinz,  aber  die  Geschichte  wird 
urteilen,  dafs  auch  der  Vater  ein  grofser  Mann  war,  ja  dafs  ihm  die  schwerere 
und  undankbarere  Aufgabe  zufiel.  Er  zerbrach  die  alten  Formen  der  helleni- 
schen Welt;  der  Heldengestalt  seines  Sohnes  war  es  beschieden,  eine  neue  Zeit 
zu  begründen,  den  Hellenismus  zu  einer  neuen  den  Osten  beherrschenden 
Macht  zu  erheben.  Sicherlich  siegte  Philipp  oft  durch  schlechte  Mittel,  aber 
viel  ist  auch  von  Demosthenes  übertrieben,  und  die  Griechen  waren  ebenso 
schlecht  wie  er.  Dabei  inufste  er  erst  die  Grundlage  schaffen,  auf  der  sich 
weiterbauen  liefs,  und  man  weifs  nicht,  ob  er  gröfser  ist  als  Organisator, 
Feldherr  oder  Diplomat.  Auf  allen  Gebieten  leistet  er  Bedeutendes,  und 
das,  was  den  Sohn  so  berühmt  macht,  die  Eroberung  des  Perserreiches,  war 
vom  Vater  schon  von  langer  Hand  vorbereitet,  ja  Philipp  schickte  sich 
selbst  schon  an,  den  Zug  zu  unternehmen,  da  traf  ihn  der  Dolch  des  Mörders. 
So  wie  sein  Sohn  würde  er  sicher  nicht  die  Eroberung  vollzogen  haben,  dies 
Vorwärtsstürmen  in  die  unermefsliche  Ferne  konnte  nur  ein  jugendlicher  Held, 
aber  erobert  hätte  er  das  Perserreich  auch. 

Mit  wunderbarer  Klarheit  weifs  dieser  Mann  sein  Ziel  ins  Auge  zu  fassen, 
und  mit  rücksichtsloser  Energie  erreicht  er  es.  An  der  Küste  von  Makedonien 
lagen  reiche  griechische  Kolonien.  So  lange  diese  selbständig  waren,  war 
Philipp  nicht  Herr  in  seinem  Lande.  Er  mufste  sie  unterwerfen,  und  die  Un- 
einigkeit der  Städte  erleichterte  ihm  den  Sieg,  aber  wenn  er  sie  behaupten 
wollte,  mufste  er  Griechenland  selbst  besiegen.  Doch  auch  diese  Erwerbung 
wieder  hatte  nur  Bestand,  wenn  er  Persien  bezwang.  Denn  die  Griechen  hatten 
an  den  Persern  einen  Rückhalt,  und  um  jenen  diesen  zu  nehmen,  mufste  er 
die  Perser  wenigstens  aus  Kleinasien  drängen.  Das  ist  der  Gang  seiner  Politik, 
und  mit  genialem  Blick  erkannte  er  gleich  bei  seinem  Regierungsantritte  den 
Punkt,  wo  er  einzusetzen  hatte.  Es  war  das  Heerwesen.  Die  Griechen  kannten 
nur  Söldner  oder  das  Bürgeraufgebot,  und  wenn  die  Bürger  in  den  damaligen 
Gymnasien  auch  gut  geschult  waren,  ein  stehendes  Heer  waren  sie  nicht. 
Philipp  schuf  sich  ein  solches  aus  dem  Adel  und  den  freien  Bauern  seines 
Landes.   Die  Adligen  fesselte  er  an  seine  Person,  indem  er  sie  in  der  Jugend 


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H.  Rose:  Makedonien  und  Preußen 


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in  sein  Pagenkorps  nahm;  aus  ihm  nahm  er  seine  Offiziere  und  diese  nannte 
er  seine  Hetären  d.  h.  seine  Kameraden.  Für  das  gemeine  Fufsvolk  aber  gab 
das  Bauern volk  seines  Landes,  das  sich  die  alte  Frische  bewahrt  hatte,  ein 
vorzügliches  Material.  Aber  Philipp  that  noch  mehr.  Unter  Benutzung  der 
von  den  Griechen  ausgebildeten  Kriegskunst  schuf  er  auch  eine  neue  Taktik, 
es  ist  die  Phalangen taktik,  deren  zermalmendem  Stofse  kein  Soldner-  oder 
Bürgerheer  gewachsen  war.  Diesem  Kriegskörper  flofste  Philipp  durch  sein 
Beispiel  Leben  und  Thatkraft  ein.  Denn  er  war  immer  voran,  sein  Beispiel 
rifs  alle  fort.  Es  ein  war  Heer  ohnegleichen,  im  Winter  und  Sommer  gleich  mobil 
und  von  vorzüglicher  Disziplin.  So  bekam  das  ganze  makedonische  Volk  das 
Selbstgefühl  kriegerischer  Kraft  und  eine  feste  Ordnung,  deren  Spitze  der 
Konig  selbst  war. 

So  gerüstet  und  im  Besitze  der  zum  Kriege  nötigen  Geldmittel  konnte  Philipp 
daran  denken,  seine  Pläne  auszuführen.  Zwanzig  Jahre  dauerte  dieser  Kampf, 
in  dem  Philipp  ebenso  sehr  Gelegenheit  hatte,  sein  Talent  als  Diplomat  wie  als 
Feldherr  zu  zeigen  und  seine  Heeresorganisation  zu  erproben.  Vielleicht  hatte 
er  auf  einen  kürzeren  Kampf  gerechnet,  aber  er  dauerte  so  lange,  weil  er  einen 
Gegner  wie  Demosthenes  hatte,  aber  der  Ausgang  war,  wie  zu  erwarten  war, 
für  ihn  günstig.  In  der  Schlacht  bei  Chäronea  fielen  die  entscheidenden  Würfel. 
Philipp  siegte,  aber  in  dem  Siege  zeigte  er  seinen  staatsmännischen  Blick.  Er 
dachte  nicht  daran,  die  Griechen  zu  seinen  Unterthanen  zu  machen.  Makedonier 
und  Griechen  wären  nie  verschmolzen,  weil  ihr  politisches  Leben  auf  durchaus 
verschiedener  Grundlage  beruhte;  er  war  zufrieden,  die  freie  Hilfe  der  Griechen 
zu  haben,  und  diese  sicherte  er  sich  dadurch,  dafs  er  in  den  einzelnen  Städten  seine 
Partei  ans  Ruder  brachte.  So  nahm  er  den  Griechen  zwar  ihre  bisherige 
Autonomie,  aber  wenn  man  bedenkt,  dafs  dies  nichts  weiter  war,  als  das  Recht 
sich  selbst  zu  zerfleischen,  dann  mufs  man  sagen,  es  war  ein  Segen  für  das 
ganze  Land.  Und  es  gab  auch  damals  Leute,  welche  diese  Ansicht  hatten. 
Es  ist  Übertreibung  oder  Selbsttäuschung,  wenn  Demosthenes  bei  allen  seinen 
Feinden  nur  philippisches  Gold  und  vaterlandslose  Bösartigkeit  sehen  wollte. 
Diese  Männer,  ein  Hauptvertreter  derselben  ist  Isokrates,  wollten  alle  Griechen 
einen  zum  Rachezuge  gegen  Persien.  Denn  noch  lebte  die  Erinnerung  an  das, 
was  die  Vorfahren  unter  Xerxes  erlitten  hatten,  noch  fehlte  das,  was  nach 
antiker  Anschauung  für  den  Menschen  notwendiger  ist,  als  die  Freiheit,  es 
fehlte  die  Rache,  und  diese  Idee  benutzte  Philipp  in  kluger  Weise.  Auf  der 
Synode  zu  Korinth  ward  er  zum  Oberfeldherrn  in  dem  Zuge  gegen  Persien 
ernannt.  So  hatte  er  alles  zum  letzten  Schlage  vorbereitet.  Da  griff  eine 
höhere  Macht  ein.  Der  delphische  Gott  hatte  ihm  auf  seine  Frage,  ob  er 
Persien  besiegen  werde,  geantwortet:  'Siehe,  der  Stier  ist  geschmückt,  das  Ende 
da,  nahe  der  Opfrer.'  Nun  war  er  selbst  das  Opfer,  aber  er  hatte  nicht  ver- 
gebens gelebt,  sein  Sohn  war  der  Erbe  seiner  Pläne. 
I  Auch   in  Deutschland  galt  das  Fürstengeschlecht,  welches  in  Preufsen 

regiert,  stets  für  echt  deutsch.  Es  stammte  aus  Schwaben  und  war  1415  in 
die  Marken  gekommen,  um  hier  seine  Kultunuission  zu  erfüllen.    Zwar  war 


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H.  Rose:  Makedonien  und  Preufoen 


die  Aufnahme,  die  es  hier  zuerst  fand,  nicht  die  beste,  aber  gleich  der  erste 
Höh  enzoller  verstand  es,  anders  als  Philipps  Ahnen,  sein  Fürstenrecht  zu 
wahren,  indem  er  den  Widerstand  des  trotzigen  Adels  brach;  immerhin  fühlten 
sich  die  ersten  Hohenzollern  nicht  recht  wohl  in  der  Mark,  und  erst  in  der 
dritten  Generation  zeigte  sich  jener  Herzensbund  zwischen  Fürst  und  Volk, 
der  noch  heute  die  Bewohner  der  östlichen  Provinzen,  besonders  die  Branden- 
burger auszeichnet,  jene  Königstreue,  wie  sie  auch  die  Makedonier  besafsen 
und  dem  Geschlechte  Philipps  bis  in  seine  letzten  unglücklichen  Sprossen  be- 
wahrten. Doch  für  die  allgemeine  Geschichte  sind  diese  ersten  Kurfürsten 
ohne  grofse  Bedeutung.  Diese  beginnt  erst  mit  Johann  Sigismund.  Bis  dahin 
sitzen  sie  schlecht  und  recht  in  ihrem  Lande  und  unterscheiden  sich  in  nichts 
von  den  andern  grofsen  Fürstengeschlechtern,  den  Wettinern,  Weifen  und 
Wittelsbachern.  Das  ändert  sich  mit  Johann  Sigismund.  Denn  dieser  erwarb 
als  Erbe  seiner  Frau  weite  Gebiete  im  Osten  und  Westen  und  deutete  dadurch 
gleichsam  die  spätere  Ausdehnung  des  preufsischen  Staates  an.  Dadurch  mufste 
sich  die  Politik  der  Hohenzollern  ändern.  Denn  bisher  hatten  sie  ein  Land 
regiert,  welches,  ziemlich  abgerundet,  gleiche  Interessen  hatte.  Jetzt  besafsen 
sie  Gebiete,  die  weit  voneinander  lagen,  ja  zu  verschiedenen  Reichen  gehörten, 
die  endlich  nach  Konfession  und  Lebensinteressen  ganz  verschieden  waren. 

Zuerst  kam  es  also  darauf  an,  an  die  Stelle  der  Personalunion  die  Real- 
union zu  setzen,  und  je  mehr  der  Staat  dadurch  erstarkte,  konnte  und  mufste 
er  sich  um  seiner  verschiedenen  Teile  willen  an  der  europäischen  Politik  be- 
teiligen. Bei  den  dadurch  bedingten  Kämpfen  gegen  Frankreich,  Schweden 
und  Polen  stellte  es  sich  heraus,  dafs  zwischen  dem  Staate  der  Hohenzollern 
einerseits  und  Deutschland  anderseits  eine  völlige  Interessengemeinschaft  be- 
stand, aber  je  mehr  sie  dadurch  unter  den  deutschen  Fürstengeschlechtern  in 
den  Vordergrund  traten,  um  so  mehr  erregten  sie  die  Eifersucht  Österreichs, 
und  diese  Spannung  mufste  noch  zunehmen,  weil  Osterreich  streng  katholische 
Politik  trieb,  die  Hohenzollern  aber  in  ihrem  Staate  zuerst  Toleranz  übten, 
nach  aufsen  hin  aber  die  Führung  des  evangelischen  Deutschlands  übernahmen, 
als  die  Wettiner  um  der  polnischen  Krone  willen  katholisch  wurden.  So 
wurde  der  Staat  der  Hohenzollern  der  Grundstein  einer  neuen  Ordnung,  und 
um  die  Frage,  ob  und  in  welcher  Weise  sich  die  andern  reindeutschen  Lander 
diesem  Staate  anschliefsen,  und  wie  Österreich  sich  dazu  stellt,  dreht  sich  in 
den  beiden  letzten  Jahrhunderten  die  deutsche  Geschichte.  Es  handelte  sich 
dabei  um  die  Einigung  des  deutschen  Volkes  und  um  seine  Befreiung  vom 
Einflufs  fremder  Mächte.  Denn  die  Einigung  hatte  nur  Bestand,  wenn  der 
Einflufs  der  fremden  Mächte  gebrochen  ward,  ebenso  wie  die  Einigung  Make- 
doniens und  Griechenlands  nur  Bestand  hatte,  wenn  der  Einflufs  Persiens  ge- 
brochen ward.  Noch  lebte  ja  in  Sage  und  Dichtung  eine  Erinnerung  an  des 
alten  deutschen  Reiches  Herrlichkeit,  noch  lebte  die  Erinnerung  an  die  von 
den  Franzosen  erlittene  Schmach,  noch  lebte  der  Wunsch,  wieder  einen  Kaiser 
zu  haben,  dem  alle  Deutschen  gehorchten,  noch  lebte  der  Wunsch,  die  ver- 
lorenen Provinzen  wiederzugewinnen,  aber  erst  in  unsern  Tagen  erstand  der 


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H.  Rose:  Makedonien  und  Preufaen 


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Mann,  der  diese  Wünsche  erfüllte.  Das  ist  der  Gang  der  Politik,  aber  fast 
250  Jahre  dauerte  es,  bis  wir  dies  Ziel  erreichten,  bis  der  Staat  der  Hohenzollern 
aus  einem  kleinen  deutschen  Territorium  eine  europäische  Grofsmacht,  ja  nach 
Besiegung  Österreichs  und  Frankreichs  die  führende  Macht  Deutschlands  ward. 
Bei  den  Makedoniern  dauerte  es  25  Jahre,  bis  alles  vollbracht  war.  Hier  sagt 
Alexander  zu  seinen  meuternden  Soldaten:  'Mein  Vater  hat  euch  zu  dem 
gemacht,  was  ihr  seid.'  Das  konnte  keiner  von  den  Hohenzollern  von  sich 
sagen,  aber  wohl  könnten  sie  alle,  wenn  sie  vor  uns  hinträten,  sprechen:  'Wir 
haben  euch  zu  dem  gemacht,  was  ihr  seid.'  Dabei  zeigt  sich  nun  die  eigen- 
tümliche Erscheinung,  dafs  der  Nachfolger  seinem  Vorgänger  meist  sehr  un- 
ähnlich ist.  Infolgedessen  vermifst  man  oft  eine  ruhige  Entwicklung,  diese 
geht  im  Gegenteil  oft  sprunghaft  vor  sich,  aber  sie  hat  den  Vorzug,  dafs 
nichts  vergessen  wird,  da  jeder  Regent  nach  seiner  Eigenart  die  Ziele  sich 
setzt.  Nur  in  einem  Punkte  kann  man  von  einer  Ubereinstimmung  aller 
sprechen,  es  ist  die  Sorge  um  das  Heer.  Allerdings  sind  nicht  alle  Hohen- 
zollern in  gleicher  Weise  militärisch  beanlagt  oder  in  gleicher  Weise  für  die 
Verbesserung  des  Heeres  besorgt.  Es  kommen  auch  auf  diesem  Gebiete  Zeiten 
des  Stillstands  vor,  aber  an  diesem  Punkte  setzen  alle  Nachfolger  stets  wieder 
ein,  und  diesem  Umstände  verdanken  wir  alles,  was  unser  Volk  erreichte. 

In  der  That,  es  ist  eine  eigenartige  Schöpfung,  dieses  Heer.  Es  ist  ganz 
wie  bei  den  Makedoniem  aus  der  Eigenart  des  Landes  hervorgewachsen,  und 
man  hat  es  auch,  wie  das  makedonische  im  Altertum,  bald  bespöttelt,  bald 
hat  man  es  bewundert,  bald  bitter  gehafst  und  dennoch  wieder  nachgeahmt, 
aber  es  gedeiht  nirgends  anders,  wie  auch  der  rechte  Parlamentarismus 
nur  in  England  gedeiht.  Der  Schöpfer  dieses  Heeres  aber  ist  der  grofse 
Kurfürst.  Als  er  1640  zur  Regierung  kam,  drohten  seine  Besitzungen  aus- 
einander zu  fallen.  Zuerst  galt  es  also,  diese  zu  behaupten,  und  zu  dem  Zwecke 
schuf  er  sich  ein  stehendes  Heer,  aber  dadurch  ist  er  auch  der  Begründer  des 
brandenburgisch  preufsischen  Staates  geworden.  Denn  der  Ruhm,  den  sich  sein 
Heer  in  vielen  Kriegen  erwarb,  kam  allen  Teilen  der  Monarchie  zu  gute  und 
trug  sehr  dazu  bei,  sie  zu  einigen,  aber  dadurch  bewirkte  er  auch,  dafs  sich 
schon  damals  die  Augen  vieler  Patrioten  auf  diesen  kleinen  Staat  mit  froher 
Hoffnung  richteten.  Auf  dieser  Grundlage  bauten  seine  Nachfolger  weiter, 
und  wenn  es  auch  nur  ein  Titel  war,  den  sein  Sohn  erwarb,  so  konnte  doch 
einst  der  Tag  kommen,  an  dem  ein  König  in  Preufsen  dem  Titel  den  Inhalt 
verlieh  und  die  Devise  des  preufsischen  Adlers  'nec  cedit  soli'  wahr  machte 
und  diesen  durch  den  Äther  der  Sonne  zuführte.  Noch  mehr  aber  that  sein 
Enkel  Friedrich  Wilhelm  L  Denn  indem  dieser  sich  in  der  Verwaltung  und 
dem  Heerwesen  als  ein  organisatorisches  Talent  ersten  Ranges  erwies  und 
diesen  beiden  Zweigen  des  Staatswesens  den  Stempel  seines  Geistes  aufdrückte, 
ebnete  er  einem  Mächtigern  den  Weg,  um  Gröfseres  zu  vollbringen,  ganz  wie 
)  Philipp  seinem  Sohne  den  Weg  ebnete.  Doch  so  ähnlich  beide  Männer  sich 
in  dieser  Beziehung  auch  sind,  man  darf  den  Vergleich  nicht  weiter  durch- 
führen, da  sonst  Philipp  und  Friedrich  der  Grofse  zu  kurz  kommen.  Denn 


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H.  Rose:  Makedonien  und  Preufsen 


das,  was  Alexander  vollbrachte,  hatte  Philipp  schon  vorbereitet,  aber  das,  was 
Friedrich  vollbrachte,  hatte  sein  Vater  nicht  geplant,  geschweige  denn,  dafs  er 
es  gewagt  hätte.  Sehen  wir  aber  hiervon  ab,  so  ergiebt  sich  eine  eigenartige 
Parallele.  Die  Kriegsmacht  des  grofsen  Kurfürsten  war  ein  stehendes  Heer  W 
und  hatte  oft  die  Gröfse  von  40000  Mann,  aber  es  bestand  aus  geworbenen 
Söldnern.  Sein  Enkel  brachte  es  auf  80000  Mann,  und  da  das  kleine  Und 
eine  solche  Zahl  Soldaten  nicht  stellen  konnte,  mufste  er  Werbeoffiziere  aus- 
senden, aber  dadurch,  dafs  er  den  Grundsatz  aufstellte  *  Jeder  Preufse  ist  für 
die  Waffen  geboren'  und  jedem  Regiment  seinen  Ergänzungsbezirk  zuwies,  in 
dem  es  die  Diensttauglichen  aushob  und  für  den  Fall  eines  Krieges  über- 
wachte, hat  er,  seiner  Zeit  weit  vorauseilend,  die  allgemeine  Wehrpflicht  ein- 
geführt, allerdings  nur  im  Prinzip,  da  viele  Klassen  der  Bevölkerung  dienstfrei 
waren.  Die  Offiziere  aber  nahm  er  meistens  aus  den  Söhnen  seines  Adels, 
und  während  in  den  andern  evangelischen  Ländern  der  Adel  klagte,  er  müsse 
sich  um  das  Fortkommen  der  Söhne  sorgen,  und  meinte,  der  katholische  Adel 
habe  es  besser,  da  diesem  die  Pfründen  seiner  Kirche  offen  ständen,  brauchte 
in  Preufsen  kein  Edelmann  um  die  Zukunft  seiner  Söhne  zu  sorgen.  Der 
König  that  es  für  ihn.  Er  nahm  sie  in  frühester  Jugend  in  seine  Ka«letten- 
anstalt,  und  sie  kamen  gern,  wenn  sie  auch  wufsten,  dafs  sie  es  meist  nicht 
hoch  brachten  und  erst  recht  nicht  daran  denken  konnten,  Reichtum  dabei  zu 
gewinnen.  Schon  als  Knaben  trugen  sie  denselben  blauen  Rock  wie  der  König 
und  seine  Prinzen.  Denn  jeder  Hohenzoller  mufste  dienen,  und  dafs  in  der 
Schlacht  bei  Mollwitz  10  Prinzen  gewesen  waren,  ward  wohl  bemerkt.  Ja, 
das  war  noch  nie  dagewesen,  dafs  die  Könige  sich  als  Offiziere  und  diese  als 
ihre  Kameraden  betrachteten,  mit  Ausnahme  von  den  Makedoniens  Dadurch 
ward  ein  Offizierkorps  geschaffen,  wie  es  noch  kein  Volk  gehabt  hatte.  Aber 
der  König  that  noch  mehr.  Unterstützt  von  Leopold  von  Dessau  schuf  er 
eine  neue  Taktik,  die  Lineartaktik,  in  der  Verwendung  der  geschlossenen 
Massen  der  makedonischen  Phalanx  wohl  vergleichbar.  Die  Infanterie  ward  in 
zwei  Treffen  aufgestellt  und  marschierte,  die  Reiterei  auf  den  Flügeln,  in 
langen  Linien,  im  Gleichtritt,  unter  dem  Klange  riesiger  Trommeln,  gegen  den 
Feind  und  überschüttete  ihn,  indem  die  vorderen  Glieder  niederknieten,  mit 
einem  furchtbaren  Salvenfeuer,  und  dies  war  um  so  wirkungsvoller,  als  die 
Preufsen,  nachdem  der  alte  Dessauer  den  eisernen  Ladestock  erfunden  hatte, 
4 — 5mal  in  der  Minute  schössen.  Zuletzt  brachte  ein  Bajonettangriff  die  Ent- 
scheidung. So  war  die  Armee  beschaffen,  die  Friedrich  Wilhelm  I.  schuf. 
Gewifs,  sie  hatte  viele  Fehler,  aber  in  ihr  ward  der  Gedanke,  dafs  der  Mann 
sein  Leben  dem  Vaterlande  schulde,  zuerst  lebendig,  und  aus  ihr  entstand 
jenes  Heer,  mit  dem  Friedrich  der  Grofse  seine  Schlachten  schlug,  und  welches 
den  preufsischen  Staat  des  vorigen  Jahrhunderts  so  gefürchtet  machte.  Da- 
durch bekam  das  ganze  Volk,  wie  das  makedonische,  das  Selbstgefühl  kriege- 
rischer Tüchtigkeit  und  den  Geist  fester  Ordnung,  deren  Spitze  der  König  war,  (j 
anderseits  bekam  das  Heer  etwas  Volkstümliches,  es  ward  immer  mehr  das 
Volk  in  Waffen. 


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H.  Rotte:  Makedonien  und  Preufsen 


So  gerüstet  und  durch  die  ebenso  sparsame  wie  kluge  Verwaltung  seines 
Vaters  im  Besitze  der  zu  einem  Kriege  nötigen  Geldmittel,  konnte  Friedrich 
es  wagen,  das  Wort  seines  Urgrofsvaters  'exoriare  aliquis  nostris  ex  ossibus 
ultor'  und  das  Wort  seines  Vaters  'da  steht  einer,  der  mich  rächen  wird' 
wahr  zu  machen  und  mit  Osterreich  für  die  vielen  Kränkungen,  die  die  Hohen- 
zollern  erlitten  hatten,  abzurechnen.  Diese  Abrechnung  erfolgte  in  den  drei 
schlesischen  Kriegen.  Sie  war  noch  keine  endgültige,  aber  Friedrich  erwarb 
nicht  nur  die  Provinz  Schlesien,  nein,  er  bewies  auch  im  Kampfe  mit  halb 
Europa,  dafs  seinen  Preufsen  eine  besondere  Kraft  innewohne,  und  aus  dem 
Staat  zweiten  Ranges  ward  eine  europäische  Grofsmacht.  Noch  Gröfseres  aber 
leistete  er  in  den  letzten  Jahren  seiner  reichgesegneten  Regierung,  wenn  es 
auch  damals  ganz  unbeachtet  blieb.  Es  handelt  sich  dabei  um  die  Vergröfserungs- 
plane  Kaiser  Josephs  II.  Dieser  wollte  Bayern  gegen  Belgien  eintauschen. 
Es  ist  klar,  dafs,  wenn  dieser  Plan  ausgeführt  worden  wäre,  der  Süden  Deutsch- 
lands an  Österreich  gefallen  wäre,  und  welche  Entwickelung  dann  die  deutsche 
Geschichte  genommen  hätte,  ist  gar  nicht  zu  sagen.  Dem  gegenüber  war  es  sehr 
wichtig,  dafs  Osterreich  nicht  weiter  in  Deutschland  sich  ausdehnte,  und  zu 
diesem  Zwecke  schlofs  Friedrich  den  Fürstenbund.  Zum  erstenmale  stand 
Preufsen  an  der  Spitze  des  aufserösterreichischen  Deutschlands,  und  der  öster- 
reichische Staatskanzler  Kaunitz  sagte,  als  Joseph  seine  Pläne  aufgab,  wenn 
die  Schwerter  Österreichs  und  Preufsens  nochmals  aufeinander  schlügen,  würden 
sie  nicht  eher  in  die  Scheide  fahren,  als  bis  die  Entscheidung  vollkommen  ge- 
fallen sei.  Bis  dahin  hatte  es  allerdings  noch  gute  Weile.  Es  kamen  viel- 
mehr noch  Zeiten,  in  denen  der  Besitz  des  Erworbenen  völlig  in  Zweifel  gestellt 
ward.  In  der  Schlacht  bei  Jena  erlag  die  Lineartaktik  mit  ihren  geschlossenen 
Massen  und  ihrem  Salvenfeuer  der  neuen  französischen  Kampfesweise  mit 
ihrem  zerstreuten  Gefecht  und  ihrem  Schützenfeuer,  wie  auch  die  Phalanx 
später  trotz  und  doch  wieder  wegen  ihrer  wuchtigen  Geschlossenheit  der 
römischen  Kohortentaktik  und  ihrer  beweglicheren  Kampfesweise  erlag,  und  in 
dem  Tilsiter  Frieden  schien  der  Staat  Friedrichs  des  Grofsen  zusammenbrechen 
zu  sollen,  aber  diese  Jahre  des  Niedergangs  sind  zugleich  auch  die  Jahre  der 
Wiedergeburt,  und  den  späteren  Sieg  verdanken  wir  der  Neuordnung  des  Heer- 
wesens, die  Scharnhorst  durchführte.  Als  Vorsitzender  der  Militärreorganisations- 
kommission griff  er  auf  die  alte  Idee  Friedrich  Wilhelms  I.  von  der  allgemeinen 
Dienstpflicht  zurück  und  stellte  den  Grundsatz  auf:  'Alle  Bewohner  des  Staates 
sind  geborene  Verteidiger  desselben.'  Denn  er  erkannte,  dafs  blofs  die  alte 
Armee  gebrochen  war,  aber  nicht  die  Kraft  des  Volks,  und  dafs  es  darauf  an- 
komme, auf  dem  Grunde  dieser  elementaren  Kraft  mit  neuen  Formen  den 
Staat  wieder  wehrhaft  zu  machen.  Wie  richtig  seine  Gedanken  sind,  beweist 
am  besten  die  Thatsache,  dafs  man  immer  wieder  auf  sie  zurückgreift.  Nur 
die  Kostenfrage  setzt  der  völligen  Durchführung  der  'Scharnhorstschen  Ideen* 
eine  Schranke. 

So  konnte  Preufsen  in  die  Befreiungskriege  treten  mit  einem  Heere,  welches 
nach  Zahl  und  Güte  die  gröfste  Bewunderung  erregte,  und  die  Erfolge  waren 

X«w  Jahrbuch«.   IWtf    II  Ö 


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114 


H.  Rose:  Makedonien  und  Preuf^n 


dem  entsprechend.  Allerdings  erlangte  es  nicht  alles  wieder,  was  es  1806  be- 
sessen hatte,  und  die  Lander,  die  es  als  Entschädigung  bekam,  waren  ungleich- 
artig und  weit  getrennt,  aber  das  alles  ward  dadurch  aufgewogen,  dafs  es 
jetzt  ein  rein  deutscher  Staat  blieb  und  die  Wacht  am  Rhein  übernehmen  g 
mufste.  So  ward  das,  was  zur  Schwächung  Preufsens  dienen  sollte,  ein  Mittel 
zu  seiner  Stärkung.  Denn  es  kam  dadurch  in  die  Lage,  ganz  mit  Deutschland 
verwachsen  zu  müssen,  ja  die  Kräftigung  Deutschlands  war  eine  Bedingung 
seiner  eigenen  GrÖfse.  Vorlaufig  war  es  allerdings  nur  ein  Wechsel  auf  die 
Zukunft.  Denn  unter  den  damaligen  Staatsmännern  gab  es  keinen,  der  für 
Preufsen  die  führende  Rolle  in  Deutschland  beanspruchte,  selbst  Stein  hielt  an 
der  Kaiserwürde  Österreichs  fest.  Kein  Patriot  sah  damals  ein,  was  diesen 
Staat  von  Deutschland  schied.  So  entstand  der  deutsche  Bund  traurigen  An- 
gedenkens, aber  die  nächsten  Jahrzehnte  brachten  Klarheit  in  diese  Verhält- 
nisse. Das  deutsche  Volk  sah  ein,  dafs  es  um  seine  Hoffhungen  betrogen  war, 
und  immer  stärker  ward  die  Sehnsucht  nach  einem  deutschen  Reich,  immer 
lauter  erscholl  dieser  Ruf  in  der  Presse  und  in  Reden.  Ja,  das  Jahr  1848 
schien  die  Erfüllung  der  Wünsche  bringen  zu  sollen.  Nach  erbitterten  Kämpfen 
zwischen  den  'Grofsdeutschen',  die  für  Österreich  schwärmten,  und  den  'Klein- 
deutschen', der  preußischen  Partei,  siegte  diese,  und  Friedrich  Wilhelm  IV. 
ward  zum  Kaiser  gewählt,  aber  er  lehnte  die  Krone  ab,  indem  er  die  propheti- 
schen Worte  sprach:  'Eine  Kaiserkrone  kann  nur  auf  dem  Schlachtfelde  ge- 
wonnen werden.'  Es  war  ein  'Scheitern  im  Hafen',  aber  es  war  ein  Glück, 
dafs  er  ablehnte.  Denn  für  Preufsen  wäre  die  Krone  damals  ein  Danaer- 
geschenk gewesen.  Es  fehlten  ihm  alle  Bedingungen,  um  dieselbe  behaupten 
zu  können.  Doch  die  Vorsehung  hatte  schon  den  Mann  bestimmt,  der  die 
Wünsche  der  Deutschen  erfüllen  sollte.    Es  war  Wilhelm  I. 

In  einem  Alter,  welches  für  viele  Menschen  die  Grenze  ihrer  Wirksamkeit 
ist,  bestieg  er  den  Thron,  und  ausgestattet  mit  einem  natürlichen  Scharfblick 
für  Menschen  und  Dinge  erkannte  er  sofort,  welche  Männer  er  in  den  Rat  der 
Krone  berufen  und  wo  er  einsetzen  müsse,  um  PreufBen  die  ihm  gebührende 
Stellung  zu  geben.  Das  Heerwesen  bedurfte  einer  gründlichen  Umänderung. 
Denn  während  die  Bevölkerung  sich  fast  verdoppelt  hatte,  war  die  Zahl  der 
Rekruten  dieselbe  wie  1820,  und  bei  einer  Mobilmachung  mufste  man  sofort 
auf  die  Familienväter  zurückgreifen.  Die  allgemeine  Dienstpflicht  war  also 
beseitigt.  Dem  gegenüber  forderte  Kaiser  Wilhelm  —  der  Entwurf  ist  sein 
eigenstes  Werk  —  die  Vermehrung  und  Verjüngung  des  Heeres,  und  trotz 
des  erbittertsten  Widerstandes  seitens  des  Abgeordnetenhauses  führte  er  seine 
Pläne  aus,  und  der  Lauf  der  Ereignisse  gab  ihm  recht.  In  dem  Kriege  von 
1864  wurden  die  Elbherzogtümer  zurückgewonnen,  in  dem  von  1866  ward  mit 
Österreich  endgültig  abgerechnet.  Dies  Land  schied  aus  Deutschland  aus  und 
erkannte  die  führende  Stellung  PreufBens  in  Deutschland  an,  aber  alle  diese 
Erfolge  übertraf  der  Krieg  von  1870.  Alldeutschland  nach  Frankreich  hinein,  I 
das  war  die  Losung.  Galt  es  doch  Rache  zu  nehmen  für  die  vielen  Kränkungen, 
die  wir  von  Frankreich  erlitten  hatten,  und  der  Erfolg  war  ein  Gottesgericht. 


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H.  Rose:  Makedonien  und  Preuffjen 


11» 


Beispiellos  sind  die  Siege,  durch  die  die  französische  Heeresmacht  nieder- 
geworfen ward.  Nur  Alexanders  Siege  lassen  sich  mit  diesen  Siegen  vergleichen, 
wie  auch  die  Schlacht  bei  Issos  eine  auffallende  Ähnlichkeit  in  der  Stellung 
der  Truppen  mit  den  Schlachten  bei  Metz  am  16.  und  18.  August  besitzt.  So 
ward  der  Grund  gelegt  zu  einem  Frieden,  der  Deutschland  nicht  nur  die  ihm 
vor  alters  geraubten  Provinzen  wiedergab,  nein,  auch  die  langersehnte  Einigung. 
Im  Spiegelsaale  des  französischen  Eönigsschlosses  zu  Versailles,  der  allen 
Ruhmesthaten  Prankreichs  gewidmet  ist,  ward  Köuig  Wilhelm  zum  Kaiser  er- 
klärt, und  nirgends  hat  er  seinen  staatsmännischen  Blick  mehr  bewährt  als 
bei  diesem  glänzendsten  Erfolge  seines  gottgesegneten  Lebens.  Er  dachte  nicht 
daran,  die  deutschen  Fürsten  zu  beseitigen  und  alle  Deutschen  zu  seinen  Unter- 
thanen  zu  machen,  ebensowenig  wie  Philipp  nach  der  Schlacht  bei  Chäronea 
alle  Griechen  zu  Makedoniern  machen  wollte.  Denn  Kaiser  Wilhelm  sah  recht 
gut  ein,  dafs  zwischen  den  einzelnen  deutschen  Stämmen  grofse  Gegensätze  be- 
stehen; er  liefe  also  den  einzelnen  Staaten  manche  und  wichtige  Rechte  und 
war  es  zufrieden,  ihre  freie  Hilfe  zu  haben,  indem  er  mehr  auf  die  Gesinnung 
aU  auf  die  Form  vertraute.  Das  war  das  Ende  einer  fast  250jährigen  Ent- 
wickelung,  und  so  entstand  das  Deutsche  Reich. 


•  i 


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ANZEIGEN  UND  MITTEILUNGEN 


ZU  GOETHES  IPHIGENIE 
II.  Delphi  oder  Delos? 

Der  Ort,  wohin  Orest  'die  Schwester'  aus 
dem  Exil  zurückbringen  soll,  wird  an  zwei 
Stellen  de«  Stückes  genannt,  an  einer  dritten 
umschrieben.  Akt  2  Sc.  1  sagt  Pylades: 
Bringst  du  die  Schwester  zu  Apollen  hin 
Und  wohnen  beide  dann  vereint  zu  Delphi  - 
Akt  8  Sc.  3  Iphigenie : 

Apoll  schickt  sie  von  Delphi  diesem  Ufer 
Mit  göttlichen  Befohlen  zu,  das  Bild 
Dianens  wegzuruuben  und  zu  ihm 
Die  Schwester  hinzubringen  — 
Akt  4  Sc.  4  Pylades: 

Mit  dem  Befreiten 
O  führet  uns  hinüber,  günst'ge  Winde, 
Zur  Felseninsel,  die  der  Gott  bewohnt! 
Dann  nach  Mycen  - 
Denn  dafs  auch  mit  der  Felseninsel,  die  der 
Gott  bewohnt,  das  Ziel,  Ausgangs-  und  End- 
punkt der  Wallfahrt  Orests  bezeichnet  sein 
mufs,  darüber  kann  kein  Zweifel  bestehen, 
und  es  ist  schwer  begreiflich,  wie  0.  Frick 
(Wegweiser  durch  die  klassischen  Schul- 
dramen I  S.  393)  hat  meinen  können,  es  sei 
hier  nur  'eine  natürlich  Bich  darbietende 
Station  auf  der  Seefahrt  von  Tauris  nach 
Mykene'  gemeint.  Zur  Erwähnung  eines 
solchen  ersten  Reiseziels  ist  dies  sicherlich 
nicht  der  Moment,  wo  nur  die  Vollendung 
des  Unternehmens,  die  Erfüllung  des  —  ver- 
meintlichen —  göttlichen  Auftrages  in  Frage 
ist.  Die  Notwendigkeit,  die  drei  Stellen  von 
demselben  Orte,  derselben  apollinischen  Kult- 
stätte  zu  verstehen,  ist,  sollte  man  denken, 
evident.  Aber  eben  daraus  ergiebt  sich  ein 
kleines  Problem,  das  den  Erklärern  zu 
schaffen  macht  und  eine  befriedigende  Lösung 
noch  nicht  gefunden  hat.  rThis  line',  heifst 
es  z.  B.  in  dem  Kommentare  C.  A.  Buch- 
heims  (Oxford,  Clarendon  Press  Series)1)  zu 
dem  Vers<e  Zur  Felseninsel,  die  der  Gott 
bewohnt,  'offers  conBiderable  difficulty,  and 
has  given  rise  to  various  interpretationn. 

')  Ich  eitlere  nach  der  zweiten  Ausgabe, 
von  1883;  18'Jö  ist  die  vierte  erschienen. 


The  expression  Felseninsel  can  only  point 
to  Delos  —  the  central  island  of  the  Cycladei 
in  the  Grecian  Archipelago  whieb  was 
the  most  holy  seat  of  the  worship  of  Apollo; 
but  on  the  other  band,  the  image  of  Diana 
was,  aecording  to  II,  722—723,  to  be  brought 
to  Delphi,  and  the  first  version  had  here 
actually  Delphos  instead  of  Felseninsel.  It 
cannot,  of  course,  be  assumed  that  Goethe 
mistook  Delphi  for  an  island;  besides,  tbe 
expression  hinüber  shows  that  he  thought 
here  of  Delos'.  Buchheim  läfst  die  Schwierig- 
keit, wie  man  sieht,  unerledigt.  Die  deutschen 
Erklärer  —  soviel  ich  weifs,  nur  Frick  aus- 
genommen —  nehmen  einen  Flüchtigkeits- 
fehler Goethes  an.  So  sagt  St.  Wätzoldt 
'Goethe  hat  Delphi  mit  der  Insel  Delos  ver- 
wechselt. Dieselbe  Verwechselung  lag  vor, 
als  er  am  18  Oktober  1786  aus  Bologna  an 
Frau  von  Stein  schrieb:  'Heute  früh  hatte 
ich  das  Gluck,  von  Cento  herüberfahrend, 
zwischen  Schlaf  und  Wachen  den  Plan  zur 
Iphigenie  auf  Delphos  rein  zu  finden'.  Schon 
in  der  ersten  Bearbeitung  steht:  dafs  wir 
die  Schwester  ihm  nach  Delphos  bringen. 
Auch  in  der  letzten  Bearbeitung  hatte 
Oocthe  II,  1,  163  geschrieben  'zu  Delphos', 
was  Herder1)  in  'zu  Delphis'  änderte. 

Eine  Verwechselung  allerdings  liegt  vor, 
aber  nicht  in  dem  Sinne,  dafs  Delphi  ge- 
meint und  Delos  gesagt  ist,  vielmehr  hat 
der  Dichter  umgekehrt  die  Insel  gemeint, 
und  sie  an  den  beiden  anderen  Stellen  eben- 
falls gemeint,  und  Delphi  (Delphos)  genannt. 
Einen  persönlichen,  zufälligen  Irrtum  des 
Dichters  jedoch  hat  man  darum  nicht  an- 
zunehmen. Auf  ein  älteres  Beispiel  derselben 
Benennung  der  Insel  hat  vor  kurzem  - 
worauf  mich  ein  archäologischer  Freund, 
Herr  Professor  F.  Köpp  in  Münster,  auf- 
merksam machte  —  Solomon  Reinach  hin- 
gewiesen. Eb  findet  sich  in  dem  Atlas  Blaeu 
der  Kaiserl.  Bibliothek  zu  Wien,  im  34.  Band 
dieser  geographischen  Riesenkollcktion,  deren 


l)  Vgl.  jetzt  B.  Litzmann  in  der  Weimarer 
Ausgabe,  Werke  Bd.  X  S.  390. 


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Anzeigen  und  Mitteilungen 


117 


Kern  die  von  dem  Holländer  Blaeu  1662 
herausgegebenen  11  Folianten  des  Atlas 
major  oder  Cosmographia  Blaviana  bilden. 
Einer  Ansicht  von  Delos  ist  da  beigeschrieben : 
'Het  e.vland  Delphos'  und  ebenso  der  von 
Rheneia:  'Klein-Delphos'.  Reinach  bemerkt 
darüber  im  Bulletin  de  corresp.  hellenique 
Bd.  17  (1893)  S.  128,  die  Verwechselung  der 
Namen  Delos  und  Delphi  könne  nicht  ledig- 
lich dem  Verfasser  der  Beischrift  zugeschrieben 
werden;  man  finde  Spuren  einer  populären 
Verwechselung  der  Insel  mit  Delphi  schon 
in  der  Beschreibung  von  Delos  von  Bondel- 
monte  im  Liber  insularum  Archipelapi, 
worüber  Revue  archeologique  1883  I  S.  82  zu 
vergleichen  sei.  —  Dafs  die  Konfusion  von 
Delphi  und  Delos  bei  den  Spätlateinern  eine 
■ehr  gewöhnliche  ist,  bemerkt  H.  Pomtow 
im  Rheinischen  Museum  1896  S.  368.  Eine 
Insel  ist  'Delphos'  auch  in  Robert  Greenes 
Novelle  Pandosto  (1688),  der  Quelle  von 
Shakespeares  Wintermärchen. 

Somit  wflrde  sich  der  Name  Delphi  für 
Delos  bei  Goethe  aus  einem  alten  Quiproquo 
der  Volksgeographie  herleiten  lassen  und 
ein  neues  —  da*  letzte  und  jedenfalls  be- 
rühmteste -    Beispiel  dafür  sein. 

J.  Imblmaxn. 


NACHTRÄGLICHES  ZU  VEIT  WERLER 

Im  rheinischen  Museum  für  Philologie 
Band  XXVII  (1872)  S.  38  ff.  und  Band  XXVni 
(1873)8. 161  ff.  publizierteFriedrich  Ritsehl 
die  Resultate  seiner  ersten  Untersuchungen 
über  die  Lebensschicksale  des  Humanisten 
Veit  Werler,  für  den  er  sich  interessierte, 
weil  dieser  eine  Zeit  lang  den  Vetus  Codex 
des  Plautus  besafs;  er  erhielt  ihn  1612  in 
Wittenberg  von  dem  trefflichen  Martin 
Pollich  aus  Mellrichstadt  geschenkt,  1626 
kam  dann  die  Handschrift  in  Camerarius' 
Hände.  Noch  1873  revidierte  Ritsehl  jene 
Bemerkungen  für  den  Wiederabdruck  im 
3.  Bande  seiner  Opuscula  philologica  (S.  78 
—116).  Er  war  sich  jedoch  wohl  bewufst, 
noch  nichts  Abschliefsendes  geleistet,  ins- 
besondere für  die  Leipziger  Docenten-  und 
Kditorenthätigkeit  Werlers  noch  nicht  allen 
erreichbaren  Stoff  zusammengetragen  zu 
haben.  Mit  dem  vorbildlich-unverdrossenen 
Eifer,  'mit  dem  er  bis  in  die  letzten  Lebens- 
jahre hinein  alles  verfolgte,  was  einmal  sein 
Interesse  erweckt  hatte' '),  setete  er  seine 
Nachforschungen  besonders  in  dieser  Rich- 
tung fort,  mit  einer  Umfrage  bei  mehr  als 
»echzig  Bibliotheken  des  In-  und  Auslandes 

Wachsmuth   in   den  Opera  philo- 
logica V  S.  41. 


beginnend.  Die  Ergebnisse  teilte  er  in  einem 
Vortrage  mit,  den  er  zur  Feier  des  227.  Geburts- 
tages Leibniz'  in  der  kgl.  sächs.  Gesellschaft 
der  Wissenschaften  am  12.  Juli  1873  hielt 
Leider  unterblieb  die  Drucklegung  desselben. 
Jedoch  hat  ihn  ans  Ritschis  Nachlafs  Curt 
Wachsmuth  1879  im  6.  Bande  der  Opera 
philologica  (S.  44—69)  herausgegeben  und 
ein  Widmungsschreiben  Werlers,  die  zwei 
bereits  bekannten  Briefe  von  ihm  an  Wilibald 
Pirkheimer,  19  Gedichte  von  ihm  und  end- 
lich drei  Proben  der  Exegetica  Werlers  in 
Leipzig  beigefügt.  Dazu  füge  ich  nun  im 
folgenden  aus  Drucken  der  Zwickauer  Rats- 
schulbibliothek noch  ein  Gedicht  Werlers 
zu  der  von  Ästicampian  veranstalteten  Aus- 
gabe der  Germania  des  Tacitus,  Leipzig, 
Melchior  Lotter  1609  hinzu,  ein  Gedicht  von 
ihm,  zur  Einführung  in  ein  Carmen  heroi- 
cum  Hermanns  von  dem  Busche  aus  einer 
in  seinem  Besitze  gewesenen  Handschrift 
herausgegeben,  und  drittens  ein  Widmungs- 
schreiben Werlers  an  einen  Jugendfreund 
und  Studiengenossen  aus  demselben  Buche. ') 
Vorher  sei  noch  die  Bemerkung  gestattet, 
dal's  die  Zwickauer  Ratsschulbibliothek  auch 
noch  ein  Buch  aus  Werlers  Büchersammlung 
besitzt»):  CONRADI  CELTIS  |  Protucij,  primi 
in  Germania  |  poete  coronati,  libri  Odar^  | 
quatuor,  cum  Epodo,  &  j  saeculari  carmine, 
dili-geter  &  accurate  impraessi,  &  hoc 
pri|mü  typo  in  stu|diosor^  emo[lumentü  editi.  | 
Titelbordüre.  Vorletzte  Seite:  Argentorati, 
ex  officina  Schureriana,  |  duetu  Leonhard!  & 
Luce  Alantsee  |  fratrum,  ANN.  M.  D.  XIII.  | 
MENSE  MAIO.  |  —  Auf  der  Innenseite  des 
Einbandrückdeckels  steht  ganz  oben:  Vitus 
Verlerus  SultzueldienBis  Mantuae  emit  Anno 
rc  vigesimo.  Damit  ist  ein  neues  will- 
kommenes Datum  für  Werl  er«  italienische 
Reise  (Opera  philologica  in  S.  108)  ge- 
wonnen. ') 

Cornelij  Taciti  il-|lustrissimi  hvstorici 
de  situ.  mori-(bus.  ot  populis  Germanie.  | 
Aureus  libellus.  j 


'  )  Orthographie  und  Interpunktion  ist  die 
der  Originale,  nur  letztere  ist  in  dem  8.  Stücke 
sinngemäfs  modernisiert. 

*)  Jetzige  Signatur:  VI.  VII.  26. 

»)  Vgl.  über  Werler  noch  Matrikel  der 
Universität  Leipzig,  herauBgeg.  von  Erler  I  437. 
II  385.  484.  Kr  äfft,  Briefe  und  Dokumente 
aus  der  Refonnationszeit  (1875)  S.  137.  148. 
Krause,  Helius  Eobanus  Hessus  (1879) 
I  117.  264  f.  Böcking,  Opera  Hutteni  II  419. 
Allgemeine  deutsche  Biographie  42,  14.  — 
Zur  Schreibweise  Berler  vgl.  Weinhold 
Bairische  Grammatik  (1867)  §124.  Paul, 
Mittelhochdeutsche  Grammatik4  (1894)  §  115. 


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118 


Anzeigen  und  Mitteilungen 


26  ff.  4.  26 b  weif».  26»  unten  :  |  Impressum 
est  hoc  Cor.  Taciti  aureü  opnsculn  |  Lips  in 
edibuß  Melchior  Lotten.  Annojdomini.  M.  D. 
Noao.    Vltimo  |  die  Decembris.  | 

fol.  4b-BV- 

Viti  Vuerleri  Sutsueldij  (!)  Ode  Dicolon 
Tetrastrophos  ad  Germanos  Iuuenes. 
Letus  sanguineas,  cum  vioÜB,  rowae 
Qui  vult:  lacteolis:  pollice  carpere 
Campos,  gramineo  flore,  perambulat 
Molli  flaute  Fauonio. 
Largo:  Bi  labor  est:  membra  liquamine 
Perfundi:  et  varijs,  pascere,  odoribus 
Nares:  Assyrios,  hie  petit,  hortulos 
Et  suaues  Arabnm  sinus. 
BeryUus  viridis:  quem  iuuat:  ac  suiB 
Inflammans  animum:  Gemma:  nitoribuB 
Ule  exercet  aquas  monstra  per  omnia 
Rostratis:  vaga:  nauibus. 
Quem  vini  retinent  dulcia  pocula 
Rorantes  Cyathi:  et  Bacchica  munera 
Optat  Gnofliacam  nectare  nobilem 
Terram:  et  compos  erit  aui. 
At  vob:  o  Iuuenes :  quis  grauis  artium 
Virtutißque  amor  est  (Sunt  alia  omnia 
Baccarum  precium:  sie  decu»  vnguinis 
Famam  tendere  nescia) 
Huc  huc  preeipiti  ferte  gradum  pede 
Se  quo  cuneta  cohore  Delphica  tranrtulit 
Musarumque  chorus:  pulchra:  recentibue 
ComptuB:  tempora:  frondibuB. 
Nam  Vates  veterum  laudibus  emulus 
Aestivo  celebri  nomine  cognitus 
Scriptorum  lepidis:  sensa:  laboribus 
Abstrusa:  ezplicat  eruens. 
Librum  iam  Taciti  quam  ecleberrimi 
Romanique  equitiaque  historiographi 
Hlustris,  Boboli:  Principis:  optime 
Scriptum:  publicitus  leget. 
Hunc  ergo:  Iuuenes:  sensibus  intimis 
Audite:  hunc  manibus,  voluite,  aeduli 
Si  mores  patrie:  noscere:  sobrios 
Vrbes  si  populos  iuuat. 
Vel  rura  et  placido  murmure  flumina 
Valles:  ac  nemorum  lustra  patentia 
Vel  vastis  solitas:  paacua:  saltibus 
Vaccaa:  florea:  querere. 
Aut  vultis  Galeas,  arte  micantibus 
Cum  conis:  Clypeos:  tela  emoribus 
Infecta:  et  valido,  corpora,  brachio 
In  rebus  magis  arduis. 
Reges  cum  Ducibus  puluere  sordidis 
AsBuetos  pluinjs  atque  laboribus 
Nec  tantum  pelagus  rumpere  cerulum 
Scd  terrae,  quibus  ardor  est. 
Vestro  quinetiam  dicite  Rhagio 
Landes  perpetuas:  oreuo:  pectore 
Nec  non  liuor  edaz  carpere  desinat 
Quas  tot  delitias.-  hoc  duce:  sumitur. 


Carmen  Heroicum  in  landem  |  Gebehardi 
&  Alberti  Generosissimorü ,  Clarissi-|moräq; 
Comitä   De   Mansfelt,   &   Schrappelei  ac 
Hel|drunch\j  dhorü,  ab  Hermanno,  Buachio, 
Pasiphilo  |  poeta  &  Rhetore  elegatissimo 
Lipsi  olim  eöpoeitü  | 
10  ff.  4.  10b  weife. 
Auf  dem  Titel: 
Vitus  Vuerlerus  Lectori  Autoris  nomen  indicat. 
Lector  noscere  si  vole«: 
Quisnam  hunc  attulerit  librum 
Tarn  doctuin:  lepidum  simul, 
Multum  vt  sensibus  affluat: 
Tarn  tersis  nitidum  sui. 
Kffectum  domini  vnguibus, 
Vt  non  hic  habeat  parem: 
Quo  laudes  Comitum  bouo, 
Clarorum  canit  optimo, 
Cura  sie  vigili:  ut  nihil. 
Rebus  deesse  putaueris: 
Obseruantia  ea:  &  modo, 
Vt  nil  sit  vaeuum  super. 
Vis  inquam  hoc  tibi  dicier? 
Die  quaeso  absqne  mora  mihi, 
Te  voti  cito  compotem, 
Reddam:  sed  quid  ego  exigo: 
Velle  id  te  quasi  nesciam, 
Dicam:  Buschius  en  mens: 
Sacris  tempora  frondibus 
CinctuB:  Diisqne  sororibus, 
Hunc  olim  studio  fauens 
Foelice  dedit  omine. 
fol.  lb  — Aiij*:  M.  Vitus  Vuerlerus.  Sulta- 
ueltiensis,  Eruditissimo  ac  humauissimo  viro, 
Gaspari,  MeysteroLiberalium  artium  Magistro. 
ludique  litterarij  in  Kitzingen  praefecto,  mu- 
nieipi  suo,  atque  amico  Charisaimo,  S.  P.  D. 

Si  est  aliquid  in  tota  illa  vniuersitati» 
machina,  quod  meritissimo  praeconio  extolli 
debeat,  Gaspar  mi  Humanissime,  Id  procol 
dubio  Amicitiae  sanetum  ac  venerabile 
nomen  est,  Quam  siue  natura,  omnium  rerum 
proereatrix  et  mater,  Sine  potiua  Deus  ipse, 
humani  generis  coiiBtantissimus  reparator  ac 
auetor  amplissimus,  vt  reliqua  omnia  pro 
sua  Diuina  dementia  orbi  terrarnm  im- 
miserit,  vt  existeret  vinculum  aliquod,  quo 
humanae  vitac  societas  aretisaimo  nexu  co- 
pularetur  ac  copulata  perpetuo  conservaretur. 
Nam  si  homines,  vt  M.  Tull.  Cicero  rede 
asserit,  naturali  quadam  inclinatione  ac 
motu  congregantur,  Num  est  aliud,  quod 
huic  rei  aecomodatius  et  idoneum  magis 
videri  aut  esse  possit,  quam  Amicitiae  vis 
admirabilis  atque  summa  illius  poteatas?  . . . 
Sed  quorsus  iste  tuus  de  Amicitia  tarn  longe 
accersitus  sermo?  inquiee,  Gaspar.  En  eo 
spectat,  vt  luce  clarius  intelligas  in  omni 
vita  ciuili  nihil  eBBe  honestius  amicitia,  nihil 


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119 


vtilius,  nihil  iucundiua.   Qua  si'quiB  careat, 
tarnet«  cuncta  alia  poaaideat  bona,  omni 
tarnen     pnlcherrima    hereditatis  portione 
existimatur  esse  priuatua.  Eam  autem  aancte 
cnltam  ac  diligenter  obeeruatam  inter  n08 
ftriaae,  cmn  in  teneriore  adhoc  aetate,  tum 
molto  tnagis  ad  prouectiorem  iam  paulo 
perducti,  argumentis  osU'ndiinoa  non  obacuris 
nec  omnino  contemnendis.  Memoria  namque 
adhuc  teneo,  et  tu  quoque  meminiase  debea, 
suauiaaimam  illam  conauetudinem,  qua  in 
landatiaaimo  Lipeenei  Gymnaaio  adeo  de- 
uincti  eramu8,  rt  ego  omnia  tua  causa  fac- 
turmn  me  libenter  et  vitro  prompterem,  Tu 
item  contra  omnia  tua  studia  et  officia  mihi 
bis  liberalisaime  pollieitus.   Quare  effectum 
est,  rt,  quia  domi  freqnena  mecum  esse  per- 
seuerasti  preterque  morum  tuorum  elegantiam 
ac  aingularem  quandam  modeatiam  patrij 
quoque  aermonia  vrbanitate  recreasti,  Nullius 
vnquam  conauetudine  aim  magia  delectatua. 
Nemo  te  voo  iucundior,  Nemo  gratior  mihi 
vnquam  fuit  aut  eaae  potuit.  Et  boc  quidem 
preaentea.    Postea  vero  quam  tanta  locorum 
diatantia  —  patrium  enim  aolum  te,  me 
autem  Lipaica  adhuc  vrba  tenet  —  ne  anti- 
quae  neceaeitudinia  et  humanitatia  fructuB 
studiorum  etiam  communitate  conditus  aliqua 
ex  parte  intermitteretur,  eum  ita  crcbria 
litte  ramm  miaaionibua  et  mutuia  ecriptorum 
concuraionibus  inntaurauimua,  vt  hoc  toto 
triennio,  quo  fere  abea,  non  abesse,  aed 
mecum  viuere  humaniter,  conueraari  iucunde, 
et  blanditer  colloqui  mihi  visua  sis.   Et  iam 
quoque  hoc  noui  anni  initio,  quod  bonum, 
fanatum,  felix  fortunatumque  Bit,  ne  Musarum 
humanitaa  omnino  obmuteaceret,  haa  litteraa 
ad  te  scripsi,  nactua  vel  ea  sola  re  scribendi 
oecasionem  opportunissimam ,  Quod,  quum 
nuper  Hermanni  Buacmj  Faaipbili,  optima- 
litterarum  antiquitatiaque  conaultiesimi 
(liceat  mihi  hoc  de  praeceptore  doctissimo 
dicere),  Hymettio  melle  atque  omni  nectare 
longe  dulciorem  libellum  de  laudibua  Gebe- 
hardi  et  Alberti  Clariasimorum  Generosissi- 
morumque  Comitum  de  Manafelt,  Schrappelei 
ac  Heldrunchij  dominorum  heroico  carmine 
olim  Lipsie  concinnatum  intra  Bupellectilem 
meam  chartaceam  deliteacentem,  aliud  tunc 
forte  agena,  ex  inaperato  reperiseem.  Volui 
hunc,  ne  situ  puluereo,  quo  erat  totus  fere 
obrutua,   omnino   abaumeretur,  impressori 
nouis  förmig  exprimendum  illico  tradere.  ita 
enim  et  rem  mihi  honeatam  et  acholaaticia 
ooatri8  Lipaenaibua  admodum  gratam  me  fac- 
1         turum  sperabam,  ai  in  quingenta  exemplaria 
ille  transcriptus  a  me  in  publico  auditorio 
periegeretur    nomenque    Auctoris  alioquin 
sali*  celebre  longe  lateque  secum  traheret. 


Sed  cui  potiaBimum  Poematicon  hoc  .  .  . 
nominatim  dedicarem?  Tu  in  primis  occnr- 
risti,  mi  Suauissime  Gaapar  .  .  .  Quamobrem, 
vt  lepidiaaimi  poetae  verbis  vtar,  habe  tibi 
hoc  quicquid  eat  libelli,  et,  si  aliquando 
discipulis  tuia,  quoa  erudia  recte  et  instituia 
fideliter,  in  hoc  ludo  tuo  litterario,  vt  fit, 
auctorea  enarrandos  proponie,  fac,  age,  te 
oro,  hoc  Buachij  mei  Carmen  panegyricum . . . 
horam  auam  ac  locum  .  .  .  habere  poaait. 
Spero  tibi  multum  placiturum  .  .  .  Vale 
quam  faeliciasime  .  .  .  Date  Lipai. 

Otto  Clemen. 


ZrammaoraKAaiuM  und  Obeklshksr stand.  Von 
einem  Schulmann.    Wolfenbüttel  1899 

In  dem  kurzen  Scbriftchen  (41  Oktav- 
seiten), das  in  der  Hauptsache  auf  eine  Em- 
pfehlung der  Einheitsschule  hinausläuft  und 
daneben  eine  Reihe  skrupelloser  Vorschläge 
füT  angeblich  notwendige  Entbfirdungen  und 
angeblich  zweckmässige  Veränderungen  in 
der  Methodik  des  höheren  Unterrichtes  bietet, 
findet  sich  8.  16  folgender  Säte: 

'Selbst  die  wenigen  Schulstunden  stellen 
allein  schon  eine  aufreibende  Thlltigkeit  dar: 
stetes  Sprechen,  beständiges  Nachdenken 
Ober  den  aachlich  und  pädagogisch  richtigen 
Ausdruck,  volle  Beherrschung  und  stetes  er- 
neutes Durchdenken  des  Stoffes  bis  in  die 
kleinsten  Winkel,  Wappnung  gegen  alle 
Einwände,  Eingehen  auf  alle  Irrgänge  der 
Schüler,  unaufhörliche  Beaufsichtigung  der 
Schülermassen,  der  Mienen,  Hände,  Haltung, 
um  Verständnis  oder  Abwesenheit  zu  er- 
kennen, unendliche  Geduld  bei  stets  er- 
neuten Mifserfolgen  im  einzelnen  trotz  ewig 
erneuter  Bemühungen,  dauerndes  Einatmen 
trockner,  das  Sprechen  erschwerender  Luft 
und  so  vieles  andere  mehr:  das  ist  in  der 
That  Bchon  für  sich  allein  eine  Leistung, 
die  weit  mehr  anstrengt  als  das  stille,  be- 
friedigende Forschen  des  Gelehrten,  die  Aus- 
übung der  Verwaltung  und  der  Rechtspflege, 
abgesehen  von  besonderen  Fällen ,  als  die 
Thätigkeit  eines  Baumeisters,  Forstmannes 
und  noch  vieler  anderen  Beamten.' 

Gott  bewahre  mich  vor  meinen  Freunden, 
vor  meinen  Feinden  will  ich  mich  schon 
selber  schützen.  Wann  endlich  wird  in 
unserem  Stande  der  grobe  Unfug  aufhören, 
dafs  einzelne  seiner  Mitglieder  durch  der- 
artige handgreifliche  Übertreibungen  und 
unverantwortliche ,  weil  der  erforderlichen 
Erfahrung  und  Sachkenntnis  entbehrende 
Vergleichungen  uns  dem  allgemeinen  Hohn- 
gelächter preisgeben!  Warum  ertrinkt  der 
Fisch  nicht  im  Wasser  und  warum  stürzt 
der  Vogel  nicht  aus  der  Luft?  Wenn  freilich 


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120 


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ein  Lehrer  beim  Lehren  so  wenig  in  seinem 
Elemente  ist,  dafs  er  die  natürliche  Lebens- 
äufserung  seines  BerufeH  so  sich  in  einzelne 
Anstrengungen  zu  differenzieren  und  so  kläg- 
lich zu  bewinseln  Anlafs  hat,  dann  ist  er 
eben  Forelle  in  der  Luft  und  Lerche  im 
Wasser. 

Ganz  besonderen  Eindruck  hat  mir  'die 
Wappnung  gegen  alle  Einwände'  gemacht. 
Mir  sind  dabei  in  der  Erinnerung  liebe  Ge- 
fliehter einstiger  Schüler  aufgetaucht,  die 
mich  dazumal  bei  unvorsichtigen  Wendungen 
meines  Unterrichts  mit  klugen  Augen  fragend 
angesehen  oder  mit  klugem  Einwände  auch 
wirklich  gefragt  haben  —  verehrter  anonymer 
Herr  Kollege,  sollten  solche  Leute  nicht  auch 
Ihnen  die  liebsten  gewesen  sein  und  Ihre 
Kraft  vielmehr  belebt  als  aufgerieben  haben? 

Auch  ich  bin  selbstverständlich  gegen 
Menschenopfer  im  Gymnasialwesen,  also  gegen 
barbarische  Überfällung  von  Schnlklassen 
und  Überlastung  von  Lehrern;  aber  für 
den  berechtigten  Widerstand  gegen  diese 
Barbarei  müssen  doch  wir,  die  wir  jeden 
Stoff  'bis  in  die  kleinsten  Winkel  zu  durch- 
denken' gewöhnt  sind,  wahrhaftigere,  wür- 
digere und  wirksamere  Methoden  zu  finden 
wissen  als  die  völlig  haltlose,  den  ersten 


Regeln  eines  vernünftigen  Vergleichs  wider- 
sprechende Behauptung,  dafs  der  Dienst  des 
Baumeisters  oder  der  des  Foratmannes  minder 
anstrengend  sei,  eine  Behauptung,  die  an 
den  kleinen  Neidhammel  in  der  Kinderstube 
erinnert:  'Mama,  Erwin  und  Hubert  haben 
ein  süfseres  Stück  Kuchen  als  ich.'  Da 
setzen  wir  uns  hin  und  interpretieren  Horas 
'mit  voller  Beherrschung  des  Stoffes  und 
mit  beständigem  Nachdenken  über  den  sach- 
lich und  pädagogisch  richtigen  Ausdruck', 
und  gesellen  uhb  doch  zugleich  zu  den  All- 
tagsthoren, die  der  Spott  des  ersten  Satzes 
der  ersten  Satire  trifft.  Und  wie  heifst  ea 
am  Schlüsse  der  Kreuzschau? 

Und  nun  gewahrt'  er,  früher  übersehen. 
Ein  Kreuz,  das  leidlicher  ihm  schien  zu  sein, 
Und  bei  dem  einen  blieb  er  endlich  Btehen. 
Ein  schlichtes  Marterholz,  nicht  leicht,  allein 
Ihm  paf Blich  und  gerecht  nach  Kraft  und 

Mafs: 

'Herr',  rief  er,  'so  du  willst,  die«  Kreuz 

sei  mein.' 

Und  wie  er's  prüfend  mit  den  Augen  mafs  — 
Es  war  dasselbe,  was  er  sonst  getragen, 
Wogegen  er  zu  murren  sich  vergafs. 
Er  lud  es  auf  und  trug's  nun  sonder  Klagen. 

Richard  Richter. 


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BERICHT  ÜBER  DIE  FÜNFUNDUREISSIQSTE  VERSAMMLUNG 
DES  VEREINS  RHEINISCHER  SCHULMÄNNER  (1898) 


Die  85.  Versammlung  rheinischer  Schulmänner  fand  zu  Köln  am  Sonnabend  den  2.  April 
1898  in  der  Aula  des  Marzellengymnasiums  statt;  140  Teilnehmer  zeichneten  sich  in  die 
Liste  ein.    Die  Tagesordnung  wies  folgende  Punkte  auf: 

1)  Vortrag  von  Direktor  Poppelreuter  (Oberhausen):  MuBterlehrer  und  Musterstunde. 

2)  Thesen  zu  einem  Referat  Ober  die  Vorbildung  der  Oeechichtslehrer  an  Mittel- 
schulen (für  den  diesjährigen  Historikertag  zu  Nürnberg),  Direktor  Jäger-Köln. 

3)  Oberlehrer  Dr.  M.  Siebourg-Krefeld:  Über  eine  halbjährige  Studienreise  in  Italien. 

4)  Finanzielles:  Verwendung  des  Kassenüberschusses. 

Nachdem  der  Vorsitzende  Direktor  Jäger- Köln  die  Versammlung  willkommen  geheifsen 
hatte,  begrüfste 

Geheimrat  Dr.  Deiters- Coblenz  die  Versammlung  im  Namen  des  Oberpräsidenten  der 
Provinz,  der  mit  unermüdlicher  Arbeit  und  Sachkenntnis  unsere  Bestrebungen  begleite,  ebenso 
im  Namen  seiner  Kollegen,  die  infolge  Arbeitslast  verhindert  seien,  persönlich  zu  erscheinen. 

Nachdem  der  Vorsitzende  mit  einigen  Worten  gedankt  hat,  heifst 

Direktor  Milz- Köln  zum  zweitenmal  auf  seinem  Territorium,  der  Aula  des  Marzellen- 
gymnasiuma,  die  uns  zu  Ehren  einigen  Schmuck  angelegt  habe,  willkommen.  Eine  Bitte 
habe  er  noch  in  Hinsicht  auf  das  460jährige  Jubiläum  seiner  Anstalt:  dafs  die  Herren,  die 
an  der  Anstalt  gewirkt  hätten,  ihm  Nachricht  davon  gäben  und  ihm  behilflich  seien  in  der 
Beschaffung  von  Material  für  die  Geschichte  des  Gymnasiums. 

Der  Vorsitzende:  Indem  er  von  dem  traditionellen  Rechte,  an  diese  stattliche  Ver- 
sammlung ein  paar  einleitende  Worte  zu  richten,  Gebrauch  mache,  könne  er  sich  nicht 
auf  irgend  ein  besonders  weittragendes  Ereignis  auf  unserem  Schulgebiet  beziehen;  doch 
sei  für  unsere  Provinz  nicht  Unwichtiges  geschehen  durch  den  Rücktritt  des  Geheimrats 
Münch  und  seine  Ersetzung  durch  Provinzialschulrat  Matthias.  Von  Geheimrat  Münch  habe 
er  aus  einem  Briefe  mitzuteilen:  er  bäte  ihn,  falls  er  zufällig  daran  denke  und  es  der 
Mühe  wert  finde,  die  Versammlung  zu  grüfsen;  den  Wunsch  einer  gedeihlichen  Verhand- 
lung füge  er  nicht  hinzu,  da  es  Phrase  sei,  wohl  aber  wünsche  er  ein  vergnügtes 
Zusammensein;  unter  dem  hiesigen  Meridian  lebe  es  sich  leichter  als  in  Berlin.  Die 
Thätigkeit  Münchs  sei  auch  diesen  Verhandlungen  lebhaft  zugewandt  gewesen;  oftmals 
habe  er  sie  durch  einen  gehaltvollen  Vortrag  belebt,  und  stet«  sei  ihm  ein  wirksames  Ein- 
treten in  die  Debatte  zu  danken  gewesen.  Seine  Wirksamkeit  als  Schulrat  Bei  keine  un- 
getrübte gewesen,  sondern  durch  zum  Teil  recht  schwere  Erkrankungen  gestört  worden. 
Um  so  bemerkenswerter  sei,  dafs  er  sich  in  dieser  Zeit  einen  sehr  bedeutenden  Namen  in 
der  pädagogischen  Welt  gemacht  habe,  einen  Ruf,  der  doch  in  gewissem  Sinne  auf  die 
Provinz  zurückstrahle;  ein  Eigentümliches  sei,  dafs  er  sich  diesen  Namen  nicht  etwa  durch 
ein  greises  Werk  erworben  habe,  sondern  durch  dem  Umfang  nach  kleinere  Arbeiten, 
Schriften,  die  zum  Teil  über  das  unmittelbare  Schulgebiet  hinausreichten,  in  denen  er 
aber  immer  pädagogische  Fragen  in  einer  feinen,  durchaus  originalen,  geistvollen  Weise 
beleuchtet  habe,  in  einer  Weise,  die  auch  weitere  Kreise  darauf  gelenkt  hätte.  In  dieser 
Beziehung  habe  er  ein  neues  Blatt  in  unserem  pädagogischen  Lebensbuch  aufgeschlagen; 


Von  Emil  Oeuley 


122   E.  Ochley:  Bericht  über  die  36.  Versammlung  des  Vereins  rheinischer  Schulmanner 


er  erinnere  nur  an  die  Rede  auf  der  letzten  allgemeinen  Philologenversammlung.  Aber  für 
uns  sei  vor  allem  die  ganze  Persönlichkeit  eines  Schulrats  bedeutungsvoll,  und  in  dieser 
Beziehung  möchte  er  doch  darauf  aufmerksam  machen,  dafs  Mönch  als  Schulmann  und 
Schulrat,  als  einer,  der  auf  den  Höhen  unseres  Berges  gestanden  habe,  ein  selbstgemachter 
Mann  sei,  und  dafs  er  den  jüngeren  Fachgenossen,  die  ihn  mit  ihren  Sorgen  und  Schmerzen 
aufsuchten,  sagen  konnte,  dafs  auch  für  ihn  der  Weg  zu  einer  befriedigenden  Wirksamkeit 
ungemein  schwer  gewesen  sei,  und  ihnen  dann  den  mannhaften  Rat  gegeben  habe:  'Machen 
Sie  sich  Dire  Lage  klar,  ohne  etwas  zu  verschleiern',  ein  Rat,  der  doch  nur  einem  starken 
Manneabewufstsein  entspringen  könne.  In  einer  Beziehung  sei  ihm  der  Weg  besonders 
schwer  gemacht  worden;  es  sei  die  Würdigung  und  Wertschätzung  der  alten  Sprachen  und 
ihrer  Bedeutung  für  unser  Schulwesen.  Münchs  Verdienst  liege  überwiegend  auf  anderem 
Gebiete;  er  habe  dem  französischen  Unterricht  seine  Aufmerksamkeit  und  die  ganze  Scharfe 
und  Feinheit  seines  Geistee  gewidmet,  und  in  dieser  Beziehung  dürfe  man  wohl  getrost 
jeden  jüngeren  Lehrer  auf  seine  Schriften  verweisen.  Was  ihm  einigermafsen  im  Wege 
gestanden  hätte,  der  altsprachlichen  Seite  des  Unterrichts  dieselbe  Aufmerksamkeit  und 
Sympathie  zu  widmen,  sei  das  gewesen,  dafs  er  selbst  in  den  alten  Sprachen  keinen  Unter- 
richt an  sich  erlebt  habe,  den  man  in  irgend  einer  Weise  einen  vorbildlichen  hatte  nennen 
können.  Seiner,  des  Redners,  Freundschaft  mit  demselben  —  dieser  sei  in  Wetzlar  sein 
Schüler  gewesen,  und  zwar  der  beste  —  habe  das  keinen  Eintrag  gethan,  und  es  sei  immer 
erfreulich  gewesen,  mit  einem  Manne,  wie  Münch  es  sei,  sich  auszusprechen.  Gelernt  habe 
er  recht  viel  auf  dem  von  demselben  gewählten  Gebiete.  Indes  er  laufe  Gefahr,  eine  Art 
Nekrolog  zu  halten,  und  er  habe  im  Gegenteil  zu  konstatieren,  dafs  Mönch  zu  einem 
neuen  freudigen  Schaffen  sich  anschicke.  Er  glaube  im  Sinne  aller  zu  sprechen,  wenn  er 
Münch  einen  freundlichen  und  dankbaren  Grufs  übermittele. 

Zu  Punkt  4  der  Tagesordnung  'Finanzielles'  möchte  er  bittet,  dafs  die  Versammlung 
«ich  darüber  schlüssig  werden  wolle,  ob  in  Zukunft  statt  der  statutenmäfsigen  Mark  nur 
noch  50  Pfennige  bezahlt  werden  und  der  Oberschufs  zu  irgend  einem  Zwecke  ver- 
wandt werden  solle;  er  bitte  für  heute  um  Indemnität  wegen  'Unterschreitung  des  statu- 
tarischen Satzes'. 

Erster  Punkt  der  Tagesordnung 

Direktor  Poppelreuter-Oberhausen:  Er  ziehe  weder  ein  dünnes  noch  ein  dickes 
Manuskript  hervor,  was  allerdings  nicht  immer  ein  Mafsstab  für  eine  Rede  sei.  Er  bitte 
die  Versammlung,  recht  kritisch  dreinzuschauen.  Er  wisse,  dafs  er  nichts  Neues  bieten 
könne.  Man  möge  seinen  Vortrag  nehmen,  wie  etwa  ein  altbekanntes  Liedchen,  das  miin 
ab  und  zu  doch  gern  einmal  wieder  höre.  In  letzterer  Zeit  sei  auf  unserem  Gebiet  «ehr 
viel  gearbeitet  worden  und  wir  würden  damit  einverstanden  sein,  dafs  wir  von  grofsen  Er- 
folgen sprechen  könnten,  aber  ebenso  damit,  dafs  die  Befriedigung  de«  Publikums,  der 
grofsen  Welt,  nicht  in  dem  richtigen  Verhältnis  zu  unserer  Arbeit  stände.  Woran  liege 
das?  Eine  Befriedigung  entstehe  durch  Erfüllung  von  Forderungen.  Die  Antwort  sei  also 
kurz  die:  weil  die  Forderungen  nicht  erfüllt  würden.  Weshalb  nicht?  Antwort:  Deshalb, 
weil  der  Beruf  sehr  schwierig  sei,  nicht  alle  Forderungen  erfüllt  werden  könnten; 
vielleicht  liege  es  auch  an  den  Stoffen  oder  daran,  dafs  die  Schüler  nicht  gut  seien.  Er 
wolle  die  Aufmerksamkeit  nur  der  ersten  Frage  zuwenden  und  damit  gewissermafsen  eine 
Selbstkritik  üben.  Die  Forderungen,  die  an  den  Lehrer  gestellt  würden,  seien  sehr  hohe: 
wir  wüTsten  selbst,  wenn  wir  ein  Urteil  über  andere  Menschen  fällten,  denkend  oder 
sprechend,  wie  scharf  diese  Kritik  sei. 

Der  Lehrer  solle  heute  ein  vollendeter  Mensch  sein ;  er  solle  stets  die  rechte  Mitte  finden, 
solle  ernst  sein,  aber  nicht  schwermütig;  tausend  Dinge  würden  von  ihm  verlangt,  die  beim 
Unterrichten  nicht  so  leicht  geliefert  werden  könnten,  wie  man  sie  aufzählen  könne.  Von 
dem  Musterlohrer  fordere  man,  dafs  er  stets  die  rechte  Mitte  treffe  nach  der  negativen  und 
nach  der  positiven  Seite:  er  solle  gerecht  sein,  aber  nicht  hart,  Kinderfreund,  aber  nicht 
kindisch  u.  s.  w. 


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E.  Oehley:  Bericht  über  die  36.  Versammlung  des  Vereins  rheinischer  Schulmänner  123 

Der  Lehrer  aber  bleibe  nicht  wie  er  sei,  er  werde  sich  z.  B.  entsprechend  seinem  ver- 
schiedenen Alter  umwandeln;  so  sei  ein  junger  Lehrer  anders  wie  ein  im  Manne« alter 
stehender,  und  dieser  wieder  anders  wie  ein  alter  Lehrer.  Darüber  könne  man  sich  keinen 
Illusionen  hingeben:  es  könne  kein  Mensch  und  Vorgesetzter  von  einem  verlangen,  dafH 
man  Instig  sei,  wenn  man  traurig  gestimmt  wäre. 

Nun  komme  die  andere  Seite:  das  seien  unsere  Schüler;  gewifs,  wir  sagten  den  ganzen 
Tag,  diese  sollten  so  und  so  sein,  aber  sie  seien  wie  sie  seien;  wir  mühten  uns  also  nach 
ihnen  richten,  wenn  auch  nicht  wie  eine  Bonne  oder  ein  Diener.  Aber  ein  Ziel  mühten 
wir  ins  Auge  fassen:  wir  sollten  wirken,  und  wenn  wir  das  wollten,  mühten  wir  die 
Schüler  nehmen,  wie  sie  seien:  zuerst  sei  der  Schüler  klein,  dann  Alter,  dann  beinahe 
erwachsen;  auch  sei  der  Schüler  wie  der  Lehrer  manchmal  nicht  in  der  Arbeitslaune,  in 
der  er  sein  solle.  Dazu  komme  dann  die  grofso  und  weitgehende  Forderung,  dafs  wir  den 
Individualitäten  gerecht  würden. 

Ein  grofses  Gebiet  liefere  uns  fortwährend  seine  besonderen  Forderungen:  das  seien 
die  Stoffe.  Er  spreche  nur  von  den  Stoffen,  die  jetzt  in  den  höheren  Schulen  behandelt 
würden,  nicht  von  denen,  die  etwa  noch  behandelt  werden  könnten.  Jedes  einzelne  Fach 
verlange  seinen  besonderen  Ton:  das  Deutache,  die  Mathematik  u.  b.  w.;  auch  die  Stoffe 
im  einzelnen  hatten  ihre  Besonderheiten;  ja  er  gehe  so  weit  zu  sagen,  die  gewöhnlichsten 
Dinge,  die  unregelmäßigen  Verba,  verlangten  ihre  Färbung.  Über  solche  graue,  öde 
Gebiete  könne  nur  durch  den  Lehrer  der  Frühlingshauch  kommen. 

Beim  Unterricht  bedürfe  es,  was  er  selbst  erfahren  habe,  manchmal  nur  einer  kleinen 
Abweichung  im  Tone,  um  bei  der  Besprechung  eines  ernsten  Gegenstandes  die  Klasse  zum 
Lachen  zu  bringen,  und  damit  sei  das  Ganze  des  Unterrichts  hin.  Die  Schüler  seien 
empfindlicher  als  eine  Photographieplatte.  Den  Unterricht  so  zu  gestalten ,  dafs  man  voll- 
ständig davon  befriedigt  sei,  sei  schwer,  fast  unmöglich ;  denn  ungeheuer  grofs  sei  die  Zahl 
der  Forderungen,  die  sich  dabei  herausstelle.  Das  ideal  Beste  erhebe  eich  zu  einer  Höhe, 
dafs  einem  schwindele;  aber  man  habe  auch  wieder  Freude  eben  dadurch,  dafs  das  Gebiet 
unerschöpflich  sei. 

Dafs  wir  nicht  erreicht  hätten,  was  wir  hätten  erreichen  wollen,  habe  darin  seinen 
Ausdruck  gefunden,  dafs  man  nach  Methoden  gerufen  habe;  und  es  sei  plötzlich  durch  die 
höheren  Schulen  der  Gedanke  gegangen,  dafs  man  mit  Methoden  alles  erreichen  könne; 
aber,  wie  natürlich,  habe  sich  gezeigt,  dafs  man  doch  nicht  alles  erreichen  könne.  Ohne 
Frajjt»  sei  die  Stoffbehandlung,  die  Kenntnis  des  Lehrers  die  Hauptsache;  man  dürfe  auch 
die  Methode  nicht  verachten.  Unsere  Wirksamkeit  sei  mit  der  Forderung,  dafs  wir  das 
feinste  Gefühl  für  die  Gestaltung  des  Wortes  haben  sollten,  als  eine  Kunst  charakterisiert. 
Die  Thätigkeit  an  und  für  sich,  Stoff  und  Behandlung  in  künstlerischer  Gestaltung,  sei  die 
Hauptsache.  Ein  Lehrer  ohne  Methode  sei  nicht  denkbar,  aber  man  solle  sie  nicht  über- 
schätzen. Jede  Methode  habe  nur  soweit  Wert,  als  ihr  Gehrauch  schneller  zum  Ziele  führe 
als  ihr  Nichtgebrauch.  Er  habe  vor  einigen  Tagen  Gelegenheit  gehabt,  dem  Unterricht 
eines  Elementarlehrers  beizuwohnen,  und  zwar  einer  deutschen  Stunde.  Diese  Herren 
sprächen  sich  den  Vorzug  zu,  die  Methode  besser  behandeln  zu  können  als  wir;  das  sei 
richtig.  #Aher  sie  erreichten  nicht  das,  was  man  wolle.  In  der  erwähnten  Stunde  sei  die 
Fragestellung  eine  sehr  geschickte  geweaeu,  die  Antworten  wären  glatt  erfolgt.  Er  frage 
sich  aber,  ob  diese  Methode  den  Zweck  erreicht  habe;  er  müsse  sagen:  nein.  Der  Lehrer 
habe  schön  unterrichtet,  die  Knaben  schön  geantwortet,  aber  von  Begeisterung,  von  Ver- 
ständnis für  den  Gegenstand,  die  Größe  des  Vaterlandes,  habe  er  nicht«  bemerkt. 

Wenn  er  stets  so  unterrichten  solle,  wie  er  schon  unterrichtet  habe,  dann  wolle  er 
lieber  nicht  unterrichten.  Wenn  er  z.  B.  eine  Einleitung  in  Goethes  'Hermann  und  Dorothea' 
geben  solle,  und  er  sei  in  ärgerlicher  Stimmung,  dann  suche  er  Wege,  dem  auszuweichen, 
bis  er  in  richtigere  Stimmung  gekommen  sei. 

Die  Rettung,  die  der  Dichter  uns  vor  Augen  führe,  sei  die  Rückkehr  zur  Natur.  Auch 
in  der  'Macht  des  Gesanges'  spreche  er  davon,  dafs  die  höchste  Wirkung  darin  bestehe, 


124    E-  Oehley:  Bericht  über  die  85.  Versammlung  des  Vereine  rheinischer  Schulmänner 

dafs  man  die  Maske  abwerfe  und  ans  Hera  der  Matter  Natur  zurückkehre:  darin  liege 
Wink  und  Weisheit  auch  für  unser  Gebiet. 

Der  Vorsitzende:  Da  keine  bestimmten  Sätze  vorgeführt  seien,  gebe  er  eine  General- 
debatte anheim. 

Nach  kurzer  Auseinandersetzung  zwischen  Professor  Kohl  (Kreuznach)  und  dem  Vor- 
tragenden über  den  Begriff  'Ideal  des  Lehrers'  Direktor  Meyer -Langenberg:  Er  suche  in 
seinem  Unterricht  ein  Harmonisches  zu  erreichen.  Es  werde  dem  Lehrer  niemals  gelingen, 
alles  zu  erreichen.  Pflichttreue  wirke  besonders  auf  den  Schüler;  wer  selbstlose  Liebe 
besitze,  der  habe  den  Schüler  gewonnen;  einem  solchen  Lehrer  verzeihe  der  Schüler  viel. 
Was  nun  die  Lehrkunst  betreffe,  so  habe  ihm  ein  Wort  von  Direktor  Jäger  imponiert: 
lebe  in  und  mit  deiner  Schule;  darauf  komme  es  an;  man  solle  alle  seine  Mühe  der  Schule 
zuwenden;  dann  habe  man  alles  erreicht. 

Professor  Prenzel- Moers:  Zum  Teil  sei  das,  was  er  sagen  wolle,  eben  gesagt  worden. 
Kr  hätte  dieselbe  Empfindung,  dafs  der  eine  Punkt  nicht  genügend  gewürdigt  worden  sei. 
Das  köstliche  Amt,  Lehrer  der  Jugend  zu  sein,  bringe  neben  der  Wertschätzung  der 
Methode  von  selbst  dazu,  auch  in  die  Individualitäten  der  einzelnen  Schüler  sich  hinein- 
zufinden. Es  sei  ein  vielfach  mif6  verstandenes  Wort:  für  die  Jugend  sei  das  Beste  gerade 
gut  genug.  Und  doch  sei  er  davon  überzeugt,  dafs  jeder  von  uns  dem  zustimme.  Für  die 
Wahrhaftigkeit  hrfbe  die  Jugend  das  feine  Empfinden,  das  von  dem  Vortragenden  erwähnt 
sei,  und  dann  werde  der  Lehrer  finden,  dafs  er  durch  die  Liebe,  die  er  zur  Jugend  habe, 
auf  das  Rechte  geführt  werde. 

Direktor  Goldschei der- Mühlheim:  Es  seien  ihm  Einzelheiten  aufgefallen,  gegen  die 
er  sich  wenden  möchte,  in  denen  der  Redner  die  Sache  zu  stark  ausgedrückt  habe.  Es 
sei  gesagt  worden,  vom  Erhabenen  zum  Lächerlichen  sei  nur  ein  Schritt.  Er  habe  eine  ganz 
andere  Auffassung.  Die  Persönlichkeit  des  Lehrers  stehe  so  da  und  müsse  so  dastehen,  dafs 
Kleinigkeiten,  Äufserlichcs  gar  nicht  auffallen  dürfe;  das  müsse  in  dem  Unterricht  mit 
aufgehen.  Auch  das  sei  nicht  richtig,  dafs  der  Ort  auf  den  Unterricht  einen  Einflufs 
haben  müsse. 

Dann  Bei  vom  Redner  gesagt  worden,  er  habe  bei  dem  Unterricht,  dem  er  beigewohnt, 
das  Gefühl  der  Begeisterung  u.  s.  w.  vermifst.  Dafs  aber  das  Gefühl  der  Wärme  nur  sehr 
schwer  eintreten  könne,  wo  Zeugen  seien,  gebe  jeder  zu;  das  Beste  komme  nicht  heraus, 
wenn  man  von  anderen  beobachtet  werde.  Die  gesamte  Frage  lasse  sich  so  erledigen,  wie 
sie  erledigt  werden  müsse;  er  erinnere  an  das  Wort  Lessings,  einem  Lahmen  stehe  es  nicht 
wohl,  auf  die  Krücke  zu  schmähen.  Dafs  die  Methode  eingeführt  sei,  sei  notwendig  für 
den  jungen  Anfänger,  und  wenn  er  ein  Genie  sei.  Das  hätte  man  in  der  Kunst  doch  am 
meisten  erfahren. 

Poppelreuter:  Er  glaube  nicht,  dafs  seine  Darlegungen  im  Widerspruche  mit  den 
Forderungen  Meyers  und  Prenzels  ständen;  harmonische  Ausbildung  der  Persönlichkeit  und 
hingebende  Liebe  an  den  Beruf  und  die  Schüler  seien  gewifs  Dinge,  deren  Bedeutung  er 
nicht  verkenne,  und  die  zweifellos  auch  in  seinen  Aufstellungen  mitgemeint  seien. 

Zu  den  Worten  Goldscheiders  bemerke  er,  dafs  doch  ohne  Frage  der  Ort  auf  den 
Unterricht  einwirke,  und  dafs  doch  z.  B.  in  der  Geschichte  die  historischen  Denkmäler  von 
Städten  wie  Berlin  und  Köln  mit  verwertet  worden  müfsten  und  hier  einen  ganz  anderen 
Unterricht  ermöglichten  als  in  einer  kleinen  Stadt,  wie  z.  B.  Oberhausen. 

Dafs  das  Ansehen  der  Lehrerpersönlichkeit  diese  und  ihre  Wirkung  völlig  vor  der 
Lachlust  der  Schüler  sichern  müsse,  sei  gewifs  eine  schöne  und  vertrauensvolle  Annahme, 
treffe  aber  bei  der  Natur  unserer  Buben,  wie  sie  nun  einmal  seien,  nicht  zu,  wie  die  Er- 
fahrung lehre.  Die  Autorität  des  sonst  geachteten  Lehrers  werde  allerdings  dadurch  nicht 
gemindert,  wohl  aber  der  augenblickliche  Erfolg. 

Was  dann  die  Äufserung  betreffs  der  Methode  betreffe,  bo  bitte  er  zu  beachten,  dafs 
er  nur  gegen  die  Überschätzung  der  Methode  gesprochen  habe,  die  nachteilig  wirken  könne, 
während  das  begeisterte  Festhalten  an  der  Sache  selbst  unter  allen  Umständen  —  auch  in 
Gegenwart  fremder  Zeugen  —  wirksam  bleibe. 


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E.  Oehley:  Bericht  über  die  86.  Versammlung  des  Vereins  rheinischer  Schulmanner  125 


Geheimrat  Deiters-Coblenz:  Er  hätte  sich  vorgenommen,  nach  dem  Vortrag  einige 
Worte  zu  sagen,  aber  er  sei  in  die  Lage  gekommen,  dafs  manche  seiner  Bedenken  schon 
vorweggenommen  seien  durch  Direktor  öoldscheider.  Gefreut  habe  ihn  der  ideale  Ton  des 
Redners,  aber  er  hätte  gedacht,  dafs  derselbe  vorzugsweise  von  dem  jungen  Lehrer,  dem 
Anfänger  im  Amte,  sprechen  würde.  Zwei  Dinge  seien  sehr  gefährlich.  Erstens  nütze  es 
dem  jungen  Lehrer  sehr  wenig,  wenn  man  ihm  das  Ideal  vorhalte.  Es  nütze  ihm  viel  mehr, 
wenn  er  auf  das,  was  er  wissen  solle,  hingewiesen  und  darüber  aufgeklärt  werde,  dafs  er 
seinen  Beruf  mit  Begeisterung  erfassen  und  seine  Schüler  mit  Liebe  behandeln  solle.  Damit 
hänge  eigentlich  das  andere  zusammen,  womit  der  Redner  geschlossen  hätte:  Rückkehr 
zur  Natur;  auch  das  halte  er  für  gefährlich.  Diesen  Gegensatz  von  Kunst-  und  Natur- 
methode halte  er  für  einen  ganz  unrichtigen;  er  verstehe  ihn  nicht  In  diesen  vielfach 
behandelten  methodischen  Fragen  gebe  es  sehr  vieleB,  was  wir  schon  gewufst  hätten,  vieles 
aber  auch,  worauf  jetzt  erst  aufmerksam  gemacht  worden  sei;  z.  B.  sei  über  die  Art  des 
Anfangs  in  der  Geschichte,  im  Griechischen  nichts  Bestimmtes  gesagt  gewesen.  Noch  eins 
falle  ihm  ein:  der  Redner  habe  im  Anfange  gesagt,  auch  der  Schüler  habe  seine  Arbeits- 
laune;  auch  das  könne  er  nicht  zugeben. 

Poppelreuter:  Er  habe  nur  gesagt,  dafs  der  Pädagoge  wissen  müsse,  dafs  zur  Indi- 
vidualität der  Jugend  auch  die  und  die  Fehler  gehörten;  selbstredend  seien  diese  in  ent- 
sprechend individueller  Behandlung  zu  bekämpfen.  Betreffs  der  Methode  wiederhole  er, 
dafs  sein  Vortrag  nicht  gegen  die  Methode  schlechthin,  sondern  gegen  Übertreibung  und 
Einseitigkeit  in  ihrer  Anwendung  gerichtet  sei,  und  dafs  die  Methode,  soweit  sie  der  Natur 
gemäfs  bleibe  und  rascher  zum  Ziele  führe,  auch  von  ihm  geschätzt  werde  und  im  Vortrag 
auch  gefordert  worden  sei. 

Kohl:  Wenn  gesagt  worden  sei,  die  größten  Künstler  seien  die,  die  nach  der  Methode 
lebten,  so  sei  das  nicht  ganz  richtig.  Die  genialen  Männer  hielten  die  Methode  nur  soweit, 
als  sie  sie  nötig  hätten. 

Hierauf  wurden  an  Stelle  der  satzungsgemäfs  aus  dem  Ausschufs  ausscheidenden  Mit- 
glieder, Direktor  Thome*  und  Professor  Moldenhauer,  gewählt  Direktor  Milz -Köln  und 
Oberlehrer  Theod.  Meyer- Köln  (Realgymnasium). 

Zweiter  Punkt  der  Tagesordnung 

Der  Vorsitzende:  Dafs  er  hier  die  Thesen  vorgelegt  habe,  habe  zunächst  einen  sehr 
egoistischen  Grund;  man  habe  ihm  nämlich  ein  Referat  über  die  Vorbildung  und  Fach- 
prüfung der  Geschichtslehrer  an  den  Mittelschulen  für  die  Historikerversammlung 
in  Nürnberg  aufgegeben.  Es  sei  nun  im  Interesse  der  Suche  von  Wichtigkeit,  dafs  ein 
Gegenstand,  der  einen  allgemeinen  Tag,  der  von  grofsem  Werte  sei,  beschäftigen  werde, 
einer  Provinzialversammlung  vorgelegt  werde,  einer  Versammlung  von  Schulmännern,  die 
zum  Teil  nicht  Historiker  vom  Fach  seien.  Es  sei  wertvoll,  dafs  solche  Versammlungen 
nicht  schlechthin  isoliert  seien,  sondern  voneinander  Notiz  nähmen,  ganz  besonders  wert- 
voll auf  dem  Gebiet,  von  dem  hier  die  Rede  sei. 

Aus  dem  ganzen  Tenor  der  Thesen  werde  man  etwas  entnommen  haben;  das  wolle  er 
hier  ganz  unumwunden  aussprechen.  Eine  Gefahr  bedrohe  uns;  es  sei  die  Überwucherung 
des  Spezialistentums,  wie  die  Geographen,  die  Herren  Neusprachler  —  er  bitte  es  nicht 
übel  zu  nehmen,  er  meine  nur  einige  —  und  die  Turnlehrer  in  Vertretung  ihres  besonderen 
Fachs  allzugrofses  verlangten.  Es  sei  dringend  nötig,  dafs  wir  die  allgemeine  Idee  der 
höheren  Schulen  aufrecht  erhielten,  dafs  jeder  besondere  Fachlehrer  daran  denke,  dafs  er 
ein  Glied  eines  Organismus  sei,  dafs  er  aber  nicht  beanspruchen  dürfe,  das  Centrum  zu  sein. 

Er  wolle  nun  die  einzelnen  Thesen  zur  Diskussion  stellen  und  auf  dem  Historikertag 
erklären,  dafs  er  dieselben  dieser  Versammlung  vorgelegt  habe. 

These  1.  Die  Vorbildung  deB  Geschichtslehrers  an  Mittelschulen 
(gymnasialen  oder  realistischen  Charakters)  vollzieht  sich  iu  drei 
Stufen:  Gymnasium,  Universität,  pädagogisches  Seminar  (Probejahr). 

Diese  könne  er  ganz  übergehen,  da  sie  nur  Thutsuckliches  enthalte. 


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126    K  Oehley:  Bericht  über  die  35.  Versammlung  des  Verein»  rheinischer  Schuldner 


These  2.  Als  das  Gewöhnliche  und  Wünschenswerte  für  den 
künftigen  Geschichtslehrer  ist  der  gymnasiale  Bildungsgang  zu 
bezeichnen,  die  lateinlose  Schule  kann  diese  Vorbereitung  nicht, 
das  Realgymnasium  nach  preufsischer  Organisation  nur  ausnahms- 
weise und  mit  Vorbehalt  übernehmen. 

Über  diese  These  könnte  eine  grofse  Debatte  entstehen,  wenn  nämlich  das  gemeint 
sein  sollte,  dafs  die  ganze  gymnasiale,  realgymnasiale,  Realschul-  und  Reforrnschulfrage 
hier  aufgerollt  werden  sollte;  das  wolle  er  nicht.  Er  wolle  zunächst  nur  bemerken,  dafa 
diese  Fragen  seiner  Ansicht  nach  in  der  Regel  falsch  gestellt  werden.  Hätte  man  sie  so 
gestellt:  Kann  die  so  und  so  organisierte  Anstalt  die  Verpflichtung  übernehmen,  zum 
Universitätsstudiuin  vorzubereiten,  kann  etwa  das  Gymnasium  die  Verpflichtung  übernehmen, 
für  die  technische  Hochschule  vorzubereiten?  dann  wäre  es  richtiger  und  für  die  Erörterung 
förderlicher  gewesen.  Es  solle  mit  These  S  nichts  anderes  gesagt  sein  als  das,  dafs  das 
Gymnasium  in  sehr  intensiver  Weise  Quellenlektüre  treibe,  dafs  es  ceteris  paribus  die 
richtigere  Vorbildungsschule  für  künftige  Geschichtslehrer  sei,  nicht  aber,  dafs  nicht  auch 
aus  anderen  Anstalten  Geschichtslehrer  erstehen  könnten. 

Direktor  Poppelreuter:  Er  glaube,  dafs  tüchtige  OberrealBchüler,  wenn  sie  Latein 
lernten,  auch  tüchtige  Geschichtslehrer  werden  könnten. 

These  3.  Ihn  wissenschaftlich  auszurüsten  durch  Vorlesungen, 
Übungen  im  historischen  Seminar,  litterarische  und  andere  An- 
regungen sei  Aufgabe  und  zwar  einzige  Aufgabe  der  Universität. 

Früher  sei  die  Forderung  erhoben  worden,  dafs  die  Universität  stetige  und  unmittel- 
bare Rücksicht  nehme  auf  den  künftigen  Beruf,  also  darauf,  dafs  der  Student  künftig  auf 
Mittelschulen  Geschichte  zu  lehren  habe.  Seine  Meinung  und  auch  die  der  Bonner  Pro- 
fessoren —  in  einer  Versammlung  habe  man  früher  sich  darüber  geeinigt  —  sei  die,  dafs 
die  Universität  sich  auf  die  wissenschaftliche  Ausbildung  beschränke. 

Direktor  Thome'-Köln:  Die  letzte  Zeit  habe  noch  andere  Ziele. 

Direktor  Scheibe- Elberfeld:  Es  sei  doch  sehr  gut  zu  verstehen,  dafs  die  ausschließ- 
liche Aufgabe  der  Universität  die  sei,  den  Studenten  wissenschaftlich  auszubilden,  nicht 
praktisch. 

These  4.  Die  Übungen  der  historischen  Seminare  der  Universi- 
täten haben  den  Zweck,  den  künftigen  Geschichtslehrer  über  die 
Art  und  Weise,  wie  historische  Wahrheit  gefunden  wird,  zu  orien- 
tieren, —  ihn  historische  Wahrheit  finden  zu  lehren.  Im  einzelnen 
läfst  sich  ihre  Gestaltung  sehr  verschiedenartig  denken. 

Diese  These  sei  nach  Besprechung  der  dritten  eigentlich  erledigt.  Nur  möchte  er 
bitten,  wenn  jemand  Thatsächliches  oder  etwas  Besonderes  mitzuteilen  wisse  über  ein 
solches  historisches  Seminar,  uns  das  nicht  vorzuenthalten.  Er  habe  verschiedene  Mit- 
teilungen bekommen,  z.  B.  aus  Leipzig,  wo  ihm  eigentlich  die  Haut  geschaudert  habe  über 
den  nicht  zu  bewältigenden  Reichtum. 

These  6.  Über  die  Vorlesungen  für  denkünftigen  Geschichtslehrer 
läfst  sich  nichts  Allgemeines  festsetzen.  Wünschenswert  wären  zeit- 
gemäfs  erneuerte  Vorlesungen  über  'Philosophie  der  Geschichte'. 

Er  möchte  zwei  Wünsche  äufsern.  Der  erste  bestehe  darin,  dafs  im  Gegensatz  zur 
heutigen  überrealistiHchcn  Richtung  der  Geschichtswissenschaft  dasjenige  wieder  zum  Recht 
käme,  was  man  früher  Philosophie  der  Geschichte  genannt  habe,  was  sich  zeitgemäl's  sehr 
wohl  wieder  erneuern  liefse,  wobei  man  über  das  Detail  hinweggehe  und  über  die  be- 
wegenden Ideen  und  Kräfte  der  Menschengeschiohte  orientieren  könnte.  Er  verspreche  sich 
davon  das,  dafs  der  Geschichtsstudierende  nicht  so  ganz  im  Detail  hängen  bleibe,  wie  es 
jetzt  vielfach  der  Fall  sei. 

Und  zweitens  wünsche  er,  dafs  an  unseren  Universitäten  häufiger  Vorträge  gehalten 
würden  über  die  neuere  Geschichte  von  1816  —  71;  denn  das  werde  man  vom  künftigen 


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E.  Oehley:  Bericht  Ober  die  35.  Versammlung  des  Vereins  rheinischer  Schulmänner  127 


Geschichtslehrer  verlangen  müssen,  dafs  er  in  der  Geschichte  der  unserer  Zeit  unmittelbar 
voraufgehenden  Periode  gründlich  orientiert  sei. 

These  6.  Die  Fachprüfung  ist  zu  erleichtern.  Die  volle  Fakultas 
in  Latein  und  Griechisch  schliefst  von  selbst  die  Fakultas  für  alte 
Geschichte  in  sich. 

Bei  dieser  zeige  sich  das,  was  er  vorhin  gesagt  habe.  Sein  Herr  Korreferent  verlange 
ein  vierjähriges  Studium  der  Geschichtswissenschaft  und  einen  Nachweis  der  Befähigung 
durch  eine  doppelte  Prüfung.  Hier  hätten  wir  das  Spezialistentum  auf  frischer  That.  Es 
würde  ihm  sehr  zu  statten  kommen,  wenn  er  in  Nürnberg  sagen  könnte,  er  habe  seine 
These  einer  groben  Versammlung  von  Schulmännern  vorgelegt  und  dieser  hätte  er  erklärt, 
wir  sollten,  wo  wir  noch  ein  Fleckchen  examensfreier  Erde  hätten,  dies  sorgfältig  wahren. 
Er  frage,  ob  jemand  glaube,  dafs  der  Lehrer  der  Geschichte  am  Gymnasium  u.  s.  w.  ein 
vierjähriges  Studium  mit  Diplomatik,  Urkundenlehre  und  allen  möglichen  propädeutischen 
Wissenschaften  nötig  habe. 

Professor  Moldenhauer- Köln:  Er  könne  sich  da  durchaus  der  These  des  Vorsitzenden 
anschliefsen,  dafs  ein  solches  Examen  von  übel  sein  würde,  und  dafs  die  Fachprüfung 
durchaus  erleichtert  werden  müsse,  wie  es  auch  kommen  werde.  Dafs  aber  Latein  und 
Griechisch  für  alle  Klassen  die  Fakultas  für  alte  Geschichte  einschliefse,  könne  er  nicht 
zugeben;  diese  bedinge  doch  auch  für  den  Geschichtslehrer  eine  andere  Vorbildung  als  sie 
hier  verlangt  werde.  Sie  verlange  doch  ein  Geschichtsstudium,  welches  nicht  erreicht  werde 
durch  die  klaasische  Philologie.  Und  das,  was  vorhin  gesagt  sei,  man  solle  einen  nur 
sofort  ins  Wasser  werfen,  er  müsse  sehen,  wie  er  zurechtkomme,  das  gelte  besonders  für 
den  Geschichtsunterricht  Deswegen  sei  er  der  Ansicht,  dafs  die  Fakultas  in  der  alten 
Geschichte  besonders  erteilt  werde. 

Der  Vorsitzende:  Es  sei  keine  Gefahr  vorhanden,  dafs  diese  These  in  die  neue 
Prüfungsordnung  aufgenommen  werde.  Er  wolle  es  nur  als  fernes  und  schönes  Ideal  hin- 
stellen. Das  aber  müsse  doch  einleuchten,  dafs  ein  junger  Mann,  der  in  dieser  alten  Welt 
so  einheimisch  sei,  dafs  man  ihm  die  volle  Fakultas  geben  könne,  durch  die  stärkende  Luft 
des  Gymnasiums  auch  dahin  gebracht  werde,  dafs  er  alte  Geschichte  werde  vortragen 
können.  Es  werde  natürlich,  wie  der  Vorredner  gesagt  habe,  dazu  eine  gewisse  Geschick- 
lichkeit gehören,  dafs  man  den  Stoff  kürzer,  mit  Unterscheidung  der  ausführlicher  zu  be- 
handelnden Partien,  behandle  u.  s.  w.,  aber  dem  stehe  doch  gegenüber,  dafs  die  Philologie 
sich  als  ein  Teil  der  grofsen  Geschichtswissenschaft  erweise;  wir  hatten  an  unseren  An- 
stalten doch  eine  grofse  Zahl  von  Lehrern,  die  davon  ausgingen,  dafs  sie,  wenn  sie  Caesar, 
Horaz  u.  s.  w.  dozierten,  Geschichte  betrieben. 

Direktor  Poppelreuter:  Dann  könne  man  es  auch  dabin  ergänzen,  dafs  die,  die  volle 
Fakultas  für  alte  Geschichte  hätten,  sie  auch  für  alte  Sprachen  hätten. 

Professor  Didolff-Köln:  Er  stimme  Professor  Moldenhauer  vollkommen  zu.  Man 
könnte  sagen,  dafs  diejenigen,  die  volle  Fakultas  für  die  alten  Sprachen  hätten,  gegebenen- 
falls mit  dem  Unterricht  der  alten  Geschichte  betraut  werden  könnten. 

Direktor  T hörne" :  Was  er  Bage,  wolle  er  nur  bemerken,  weil  der  Redner  gesagt  habe, 
die  These  würde  der  Versammlung  vorgelegt,  und  er  wolle  sie  dort  vertreten.  Würde  mau 
einem  die  Fakultas  in  Latein  und  Griechisch  geben  und  er  genüge  nicht  in  der  Geschichte, 
würde  man  ihm  die  volle  Fakultas  versagen. 

Direktor  Wehrmann-Kreuznach:  Wenn  mit  der  vollen  Fakultas  in  den  alten  Sprachen 
die  in  der  alten  Geschichte  verbunden  wäre,  dann  wäre  die  Konsequenz  die,  dafs  die  volle 
Fakultas  im  Deutschen  und  in  den  neuen  Sprachen  die  in  der  neueren  Geschichte  in  sich 
schlösse.  Wir  müfsten  den  Unterschied  scharf  durchführen,  den  der  Redner  durchgeführt  habe, 
und  sagen,  dafs,  wenn  einer  Deutsch  und  die  neuen  Sprachen  studiere,  wie  der  Redner  das 
von  den  alten  Sprachen  verlange,  er  auch  im  stände  sein  werde,  neue  Geschichte  zu  lehren. 

Der  Vorsitzende:  Er  könne  dem  Vorredner  sagen,  dafs  er  das,  was  derselbe  gesagt 
habe,  auch  in  seinem  Bericht  berühre;  aber  er  wage  allerdings  nicht,  die  von  dem  Vor- 
redner angeregte  Frage  sofort  in  bejahendem  Sinne  zu  entscheiden. 


128    E  Oehley:  Bericht  über  die  35.  Versammlung  des  Vereins  rheinischer  Schulmänner 


Direktor  Scheibe:  Er  wage  es,  den  Worten  des  Direktor«  Wehrmann  entgegenzutreten. 
Er  freue  sich,  dafa  der  Vorsitzende  mit  der  weiten,  vielumfassenden  Kenntnis  ob  hier  ein- 
mal wieder  gründlich  betont  habe,  dafs  die  Kenntnis  der  ulten  Geschichte  sehr  nötig  sei 
für  allen  Geschichtsunterricht,  wie  wir  ihn  auf  der  Schule  betreiben  sollten.  Er  mochte 
sich  durchaus  dafür  erklären,  dafs  der  Redner  recht  habe,  wenn  er  sage,  die  volle  Fakultas 
in  den  alten  Sprachen  schliefsc  von  selbst  die  Fakultas  für  alte  Geschichte  in  sich.  Er 
frage  Professor  Moldenhauer,  welcher  Examinator  auf  den  Universitäten  die  volle  Fakultas 
in  den  alten  Sprachen  gebe,  ohne  sich  überzeugt  zu  haben,  dafs  der  Prüfling  in  vollem 
Umfang  Bescheid  wisse  in  der  alten  Geschichte. 

Direktor  Schweikert-M.-Gladbach:  Er  sei  der  Meinung,  dafs  der  sprachliche  und 
geschichtliche  Unterricht  in  einer  Hand  liege;  ferner,  dafs  der  Altphilologe  auch  in  der 
Geschichte  tüchtig  sei  und  dafs  nur  ein  solcher  das  Zeugnis  bekomme. 

Der  Vorsitzende:  An  diesem  Punkte  wolle  er  stehen  bleiben;  er  denke,  dafs  er  mit 
wertvollem  Material  ausgestattet  sei.  Über  die  weiteren  Thesen  hoffe  er  im  nächsten  Jahre 
umgekehrt  unserer  Versammlung  Bericht  erstatten  zu  können,  wie  sie  in  Nürnberg  von  den 
versammelten  Historikern  aufgefafst  und  behandelt  worden  seien. 

Dritter  Punkt  der  Tagesordnung 

Es  folgt  ein  Vortrag  von  Oberlehrer  Siebourg- Krefeld  über  seine  Studienreise  nach 
Italien.  Da  dieser  Vortrag  in  diesen  Blättern  vollständig  abgedruckt  worden  ist'),  glauben 
wir  nur  bemerken  zu  sollen,  dafs  er  bei  der  Versammlung  die  dankbarste  Anerkennung 
fand  und  den  Wunsch  rege  machte,  dafs  den  Verhandlungen  häufiger  als  geschieht  ein  so 
erfrischendes  Element  zugeführt  werden  möge. 

Professor  Hermes-Mörs:  Er  richte  an  die  vorgesetzte  Behörde  die  Bitte,  daran  denken 
zu  wollen,  dafs  es,  wie  für  den  Neuphilologen  England  und  Frankreich,  so  für  den  Alt- 
philologen im  höchsten  Grade  wünschenswert  sei,  Italien  und  Griechenland  kennen  zu 
lernen;  deshalb  möchte  die  Regierung  die  bisher  sehr  karg  bemessenen  Mittel  zu  solchen 
Studienreisen  in  gröfserer  Fülle  spenden  und  den  Lehrern  das  Studieren  der  Antike  auf 
deren  eigenem  Boden  zum  Nutzen  der  Schule  ermöglichen. 

Ein  gemeinsames  Mahl  und  am  Abend  die  gewohnte  Vereinigung  ergänzte  die  An- 
regungen der  Versammlung. 


•)  Jahrg.  1898  Heft  8  8.  415  ff. 


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M 


ushackes 


S toten.  |# 
chui-l\i 


B.  E.  Tertmr. 


deutscher  Ochu!- IXalender 

f.  d.  Schuljahr  1899/1900:  tSflff 

band  geb.  n.  Mi.  1.20. 


49.  Jahrgang. 


Inhalt: 
Genealogie,  Schuhe,  des  Reich* 

1  (Schulbeh.,  Besold-  u.  Pensionsverh., 

ifftfl    Jil ' "  !'t,:'""^y:''  •    /,,  f  'i  xortln .}.    I  Vr- 
'  eine  akad.geb. Lehrer, öffentl.  Hthltoth. 
(l'eraeichn.,  Henning.),  Anleite;,  cum 
Körrig.,  Post-  u.  Tclegr.-Geb.,  kirckl. 
astronotn.  Kai.,  tägl  Notiz  Kalender,  Stundenpläne,  Schiiter-  u.  Censurlisten,  Notizen 
eifs*&  u.  gewürfeltes  Papier  u.  s.  ml 


In  btegs.  Leinwc 


ZUM  DEUTSCHEN  UNTERRICHT: 
IDOLF  HILDEBRAND   


ZUM    DEt'TSC'HKN  f/XTkKRIC'H' 


Du  fluch  bildet  gewroeimafoen  ciorn  «weiten  tUml  cu 
r*nd&  Schrift  «am  deutsches  Sprachunterricht  and  er- 
t  berufen,  wie  diese  der  Pflege  de«  deutschen  Unterriehl» 
in  rtmifBTtigcr  iVeuM  iu  dienen. 

DIE  LEKTÜRE  ALS  GRUNDLAGE  •  . 


B.  G.  TEUBNER  IN  LEIPZIG. 


Allerhöchst«  AnMeichnmiKen: 
Orden,  Stnatnmedalllen  etc. 


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Verl ag  von  Jf.  C.  B.  Mohr  (Paul  Slebeok)  in  Freibarg  i.  B.,  Leipsig,  Tübingen. 

^escRicRfe  der  cxRilosopRie. 

Von 

Dr.  W.  Windelband. 

ProfoMor  »n  der  Unlruraltet  Stnutborg 

Zarelte,  vermehrte  und  Verbesserte  Auflas««  "W. 

Das  Werk  erscheint  in  4  Lieferungen  Lex. -8  s  M.  8. — . 
Erschienen:  Lieferung  1  und  2. 
Lieferung  3  and  4  befinden  sich  unter  der  Presse, 
ehes,  wunach  eine  Ue«c 


Die  Grundanlage  dea 
e&cnmfiaage  Darstellung  dei 
ch  in  der  neuen  Auflage  be 


:hichte  der  Probleme  und  der  Begriffe,  «ine 
sehen  Gesamtbewegung  des  Denken«  gegeben  werden  soll*  üt 
n.  Die  biographischen  Angaben  und  die  periOnliehe 
n  Philosophen  iat  erweitert,  der  Philosophie  det  19.  Jahr- 

erts  ein  breiterer  ttanm  gewann. 

t  der  Ausgabe  der  letzten  Lieferung  behalte  ich  mir  vor,  einen  erhöhten  Ladenpreis 

eintreten  zu  lassen. 

J.  C.  B.  Mohr  (Paul  Siebeck). 


SAMMLUNGEN  VON  AUSGABEN  LAT.  U.  GRIECH.  SCHRIFTSTELLER 
AUS  DEM  VERLAGE  VON  B.  G.  TEUBNER  IN  LEIPZIG  


I.   BchülerauBgaben    griechischer  und 
lateinischer  Schriftsteller. 

Diese  neue  Sammlung  «oll  wirkllcho  „Schaler- 
ausgaben"  briugen,  diü  nur  den  Bedürfnissen  der 
Schule  genügen  wollen,  diesen  aber  auch  nach  allen 
Richtungen,  in  Hinrichtung  und  Ausstattung, 
in  dor  Gestaltung  de»  „Texte»'",  wie  der  Passung  der 
„Erklärungen'',  die  sowohl  Anmerkungen  als 
Zusammenfassungen  bieten,  durch  das  Ver- 
ständnis fördernde  Beigaben,  wie  Karten  und 


Ziel  und  Zweck  der  Ausgaben  lind,  sowohl 
den  Fortschritt  der  Lektüre  durch  Wegraumung 
der  schraubenden  und  nuUloson  Hindorniiue  jru  er- 
leichtern, als  die  Erreichung  des  Endtieles 
durob  Einheitlichkeit  der  Methode  und  planmaftigo 
Verwertung  der  Ergebnisse  au  sichern. 

II.  Bohiütexte  der  „Bibliotheca  Teub- 
neriana". 
Dlo  „Schultexte"  bieten  In  denkbar  beater  Ana- 
in  wohlfelleui  Preise  den  Zwecken  der 
mdert  entsprechende,  in  keiner  Weise  aber 
dor  Thatigkeit  de«  Lehrer»  vorgreifende,  unrorkUrxte 
und  ausatxlose  Texte,  nnd  ewar  sowohl  ganzer  Werke 
als  auch  kleinerer  Teile  ron  umfangreicheren  Schrift- 
stellern, so  jedoch,  da/s  jedes  H lud oben  ein  b«c.  des 
Inhaltes  in  sich  geschlossenes  Gaar.es  bildet,  das  als 
Beigaben  Einleitungen  (in  abrlfsartiger  Form),  Inhalts- 
übersichten (keine  Dispositionen)  und  Namenrerseich- 


UJ.  Textausgaben  der  grieohisohen  und 
lateinischen  Klassiker.  IBibliotheca 
scrintoruni  Graecorum  et  Ronianorum 
Teubneriana.J 

Diese  Sammlung  von  Textsusgaben  enthalt  in 
immer  aufs  neue  rerbeaserten  Auf  lagen  all*  Autoren, 
welche  für  d»n  Schulgobrauch  nur  irgend  in  Frage 
kommen  können,  in  vollständigen ,  anf  kritischer 
Urnndlnge  beruhenden  Ausgaben  tn  aefserordeatllcfa 
niedrigen  Preisen. 

Bchülerpraparationen  zu  lateinischen  u. 
griechischen  Schriftstellern. 

Der  leitende  Gesichtspunkt  der  Schulerprapara- 
tionen  ist,  den  Schalern  einerseits  da*  Aufschlagen  der 
Vokabeln  su  ersparen,  andrerseits  ihnen  sn  ermöglichen, 
in  Ihrer  h.utliohen  Arbeit  durch  eigenes  Bomuben  ein 


liehe 
Erl 


IV.  Schulausgaben  griechischer  und  la- 
teinischer  Klassiker  mit  deutschen 


WÖRTERBÜCHER.  SCHULWÖRTERBÜCHER. 


Sonder -Wörterbücher 


,    TOB  B. 


Cäsar.    Von  H.  E  b  e  1  i  n  g     4 . 
Schneider.    1S99.    geh.  1  .K 

ComrUn»  Rrao».  Sott  £>.  fiiaatfr   is  Stufl  1*97 
Bfh.  l  JK,  —  Sltt  b  Xrite  b.  Repe*  l  .»  »  A 

Homer.   Von  O.  Autenrieth    8.  Aufl.  1897. 
danorhaft  gob.  S  .H  fiO  -\;  geh.  )l  M. 

Cnio*  «ttatnorpliejrn.  Bon  3  Slcbrli».  5  Huff  , 
oon  ftr.  $olle    i*f8.  gel),  s  .*  70  \ 

Xenophona  Anabasla.    Vi<n  F.  Vollbrccht. 
9  Aufl.    1894    geh.  1  ,4t  HO  \. 

Xenoahona  Hellenlka.    Von   K    T  hie  mann 

4.  Aurl     1S98.    gab.  1  .«  60 


Diese  Schulausgaben  aeichnon  sich  dadaroh  aae, 
da/s  sie  das  Bedürfnis  der  Schule  ins  Auge  fassen, 
ohne  dabei  die  Anspräche  der  Wissenschaft  unberück- 
sichtigt zu  ia»-.-n  Die  fortwährend  listigen  netten 
Auflagen  beweisen,  daf»  auch  diese  Ausgaben  «ich  der 
Anerkennung  zu 


Von  F. 


Lateinisches  Schulwörterbuch. 

A.  Heinichen.    2  Bändet 

I.  Lateinisch-Deutsch  6.  Aufl  von  C.  Wegenor 
geh  6  M  30  4,  in  Halbfranr  gob  7  M.  50  A 

n.  Dentsch-Latelniseh.  5,  Aufl  von  C.  Wagener 
geh.  5  M  25  -\i       Halbfranz  geb  6   H  50  .\ 

Qriechisohes    Schulwörterbuch.  Von 

Beuseler-Schenkl.    2  BHnde. 

I.  Orlochisch- Deutsch    Von  O.  E.  Benaoler 
10  Aufl.,  von  A.  Kaegi.   geh  R  Jt  75  -\.  ü» 
geb  8  JC 

II.  DeuUch-Oriechiscb.  Von  K.  Schenkt.  5. 
geh  9  .H, ,  in  Halbfranx  geh  10  .*  50  „V 


Verlag  von  B.  G.  TEUBNER  in  Leipzig. 


Hettner's  Geographische  Zeitschrift. 

Aus  dem  Inhalt  der  letzten  Hefte: 


Der  Mittelland  -  Kanal :  Major  z.  D.  V.  Kurs. 
Mit  einer  Karte. 


Bemerkungen  zur  Siedelungsgeographie: 

Or.  0.  SchlQter. 
Der  Mensch  a.  d.  Hochalpen:  Nacl 
von  Dr.  6.  Greim.   Mit  3  Tafeln. 


k 


Der  Oderstrom:  Prof.  Dr.  A.  Penck. 

Mittellungen  —  Geographische  Neuigkeiten  —  Bücherbesprechunoeq  — 
Eingesandte  Bücher,  Aufsätze  und  Karten  -  Zeltachrlftenacbai. 

Prospekte  und  Probehefte  gratis  und  franko 

von  der  Varlagabuchhandlung  B.  0.  Taub  na  r  In  Leipzig,  Pottitraisc.  S. 
Abonnements  nehmen  alle  Pottanstalten  und  Buchhandlungen  an. 


Hierzu  Beilen  von  (3.  Frevta*:  in  Leipzig  und  Friedrich  Jäger,  Tnchfabrikant  in  Cottbus. 


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JAHRGANG  1899.    ZWEITE  ABTEILUNG.    DRITTES  HEFT 


LERNEN  UND  LEBEN  AUF  DEN  HUMANISTENSCHULEN 
IM  SPIEGEL  DER  LATEINISCHEN  SCHÜLERDIALOGE 

Von  AI.OY8  BÜMKR 

Wenn  Gustav  Freytag  in  seinen  Bildern  aus  der  deutschen  Vergangenheit 
das  Schülerlehen  zu  Beginn  des  16.  Jahrhunderts  lebendig  veranschaulichen 
will,  ISfst  er  den  weit  in  der  Welt  urahergekommenen  Thomas  Platter  die 
merkwürdigsten  der  von  ihm  in  seiner  Selbstbiographie  verzeichneten  Erleb- 
nisse erzählen,  und  wo  Ludwig  Geiger  in  seiner  Darstellung  von  Renaissance 
und  Humanismus  über  die  Schulen  in  Deutschland  handelt,  giebt  er  einen 
längeren  Auszug  aus  dem  Wanderbüchlein  des  Johannes  Butzbach,  der  gleich- 
falls manche  Stadt  und  manche  Schule  gesehen  hatte,  bevor  er  in  den  sicheren 
Hafen  der  Klostermauern  einlief.  Obschon  wir  die  abenteuerlichen  Fahrten  dieser 
beiden  Humanistenschüler  wohl  keineswegs  mehr  als  typisch  anzusehen  haben 
für  das  Erziehungswesen  der  damaligen  Zeit,  wohnt  ihren  frisch  aus  dem  eigenen 
Leben  gegriffenen  Erzählungen  gleichwohl  ein  ganz  besonderer  Wert  und  Reiz 
inne  gegenüber  Schulordnungen,  Schulgesetzen  und  anderen  derartigen  Schrift- 
stücken theoretischer  Natur,  auf  welche  wir  in  vielen  Fällen  allein  angewiesen 
sind,  um  uns  ein  Bild  zu  machen  von  den  Lehranstalten  früherer  Zeiten.  Für 
die  Humanistenschulen  aber  sind  wir  in  der  glücklichen  Lage,  dazu  auch  noch 
aus  einer  anderen  in  ähnlicher  Weise  wie  die  Wanderberichte  die  wirklichen  Zu- 
stände widerspiegelnden  Quelle  schöpfen  zu  können,  nämlich  aus  den  zahlreichen 
Sammlungen  lateinischer  Schülerdialoge,  welche  die  Periode  der  wiederbelebten 
klassischen  Studien  gezeitigt  hat.  Zwar  sind  es  nicht  thatsächlich  von  den 
Knaben  geführte  und  aus  litterarischem  Interesse  aufgezeichnete  Unterhaltungen, 
sondern  von  Lehrern  zu  didaktischen  Zwecken  verfafste  Schriften,  Übungsbücher 
der  lateinischen  Sprache,  bestimmt,  den  Schülern  als  Muster  für  ihre  in  diesem 
fremden  Idiome  zu  haltenden  Gespräche  zu  dienen,  aber  die  Lehrer  haben  sich 
so  glücklich  in  den  Knabenton  herabgestimmt  und  die  kleinen  Genrebilder 
aus  dem  Schülerleben  mit  solcher  Naturwahrheit  gezeichnet,  dafs  wir  über  die 
Betrachtung  derselben  völlig  vergessen,  dafs  wir  künstliche  Erzeugnisse  vor 
uns  haben.  Die  Verfasser  haben  beispielsweise  nicht  nur  Musterknaben  vor- 
geführt mit  Betrachtungen  über  die  Vorzüglichkeit  der  Schule  und  die  Tüchtig- 
keit der  Lehrer,  sondern  ohne  Bedenken  auch  Taugenichtse  erzählen  lassen  von 
allen  möglichen  dummen  Streichen,  die  sie  schon  ausgeführt  hatten  oder  noch 
im  Schilde  führten.  Wenn  mit  solchen  ungeratenen  Schülern  brave  zusammen- 
gebracht wurden,  welche  jene  von  der  Ungehörigkeit  ihres  Treibens  überzeugten; 

X«.  Jabrtflchw.   1899.  II  y 


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130    A.  Börner:  Die  Humanistenschulen  im  Spiegel  der  lateinischen  Schülerdialoge 


so  war  damit  den  Regeln  der  praktischen  Pädagogik  genügt;  im  übrigen  war 
man  keineswegs  daran  gebunden,  nur  Knaben  sprechend  einzuführen,  sondern 
man  konnte  diese  auch  vor  ihren  Lehrern  oder  Eltern  erscheinen  und  Lob  oder 
Tadel  in  entsprechender  Weise  entgegennehmen  lassen.  In  wohlberechnetem 
Streben  nach  Mannigfaltigkeit  haben  die  Autoren  zuweilen  auch  den  Kreis  des 
Schülerlebens  ganz  verlassen  und  allgemein  interessierende  Themata  des  tag- 
lichen Verkehrs  oder  jeweilig  brennende  Zeit-  und  Streitfragen  behandelt.  Aus 
führungen  solcher  Art,  welche  an  sich  von  gröfstem  kulturgeschichtlichen  Werte 
sind,  kommen  für  unsere  Untersuchung  nicht  in  Betracht;  hier  soll  vielmehr 
lediglich  das  in  den  verschiedenen  Dialogsammlungen  aufgespeicherte,  bisher 
wenig  beachtete  und  zum  Teil  fast  gänzlich  unbekannte  Material  zur  Ermitte- 
lung der  Schulzustände  unter  sachlichen  Gesichtspunkten  vereinigt  und  für 
einen  künftigen  Darsteller  des  humanistischen  Erziehungswesens  bequem  ver- 
wendbar gemacht  werden.1)  Wenn  der  Leser  des  öfteren  Seiten  des  Schul- 
lebens behandelt  findet,  über  welche  ihn  seine  sonstigen  Quellen  im  Ungewissen 
lassen,  wenn  ihm  ein  neuer  Einblik  ermöglicht  wird  in  den  Geist,  der  unter 
den  Zöglingen'  der  Humanistenschulen  geherrscht  hat,  wird  der  Hauptzweck 
dieser  Arbeit  erfüllt  sein. 

Zunächst  einige  Worte  über  die  Goschichte  der  Schülerdialoge.  Sie  waren 
nicht  etwa  eine  völlig  neue  Schöpfung  des  Humanismus,  sondern  die  Humanisten 
haben  nur  die  Methode,  von  welcher  sie  im  Mittelalter  vereinzelte  Ansätze  vor- 
fanden, als  für  ihre  Zwecke  besonders  geeignet  erkannt  und  mit  einem  dieser 
Erkenntnis  entsprechenden  Eifer  gepflegt  und  sich  nutzbar  gemacht.  Für  ihre 
Schulen  ist  bekanntlich  gerade  das  den  mittelalterlichen  gegenüber  charakte- 
ristisch, dafs  nicht  mehr  Jahre  lang  ermüdende  und  abschreckende  Theorie  mit 
allen  möglichen  Regeln  und  Ausnahmen  der  lateinischen  Grammatik  getrieben, 
sondern  nur  in  möglichster  Kürze  die  Quintessenz  derselben  vorgenommen  und 
dafür  frühzeitig  zur  Lektüre  guter  Klassiker  und  zu  praktischer  Übung  der 
Sprache  geschritten  wird.  Der  praktischen  Anleitung  zum  Sprechen  waren  aber 
eben  die  Schülerdialoge  zu  dienen  bestimmt.  Dafs  man  in  unseren  Schulen, 
nachdem  im  Laufe  der  Jahrhunderte  immer  mehr  von  ihr  nbgewichen  war,  beim 
Unterrichte  in  den  fremden  Umgangssprachen  zur  Methode  der  Humanisten 
zurückgekehrt  ist  und  nach  Anordnung  der  neuen  Lehrpläne  wieder  frühzeitig 

')  An  anderer  Stelle  habe  ich  aus  sämtlichen  hergehörigen  Dialogsammlungen  kurze 
Auszüge  gegeben  und  bei  jedem  Werke  Nachrichten  über  seine  Entstehung  und  das  Leben 
seines  Verfasser«,  sowie  ein  Verzeichnis  aller  mir  bei  meinen  ausgedehnten  Nachforschungen 
bekannt  gewordenen  Ausgaben  mit  Vermerk  der  Bibliotheken,  welche  ein  Exemplar  be- 
sitzen, vorausgeschickt.  Auf  diese  Schrift  möge  hier  ein  für  allemal  verwiesen  sein.  Mit 
dem  ersten  Teile  derselben  sind  vor  einiger  Zeit  die  'Texte  und  Forschungen'  der  Gesell- 
schaft für  deutsche  Erziehungs-  und  Schulgeschichte  eröffnet  worden  (Die  lateinischen 
Schülergespräche  der  Humanisten.  Auszüge  mit  Einleitungen,  Anmerkungen  und  Namen- 
und  Sachregister.  Quellen  für  die  Schul-  und  Universitätsgeschichte  des  16.  und  16.  Jahr- 
hunderts. 1.  Teil.  Vom  Manuale  scholarium  bis  Hegcndorffinus  c.  1480—1520.  Berlin, 
J.  Harrwitx  Nachf.  1897).  Der  zweite  druckfertig  vorliegende  Teil  wird  voraussichtlich 
noch  in  diesem  Jahre  folgen. 


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A.  Börner:  Die  Humanistenschulen  im  Spiegel  der  lateinischen  Schülerdialoge  131 

mit  den  Schülern  'Sprechen  (Frage  und  Antwort)  im  Anschluß  an  Gelesenes  und 
Vorkommnisse  des  täglichen  Lehens*  übt,  ist  vielleicht  das  beste  Zeugnis  für 
die  Zweckniäfsigkeit  der  von  den  Humanisten  vorgenommenen  Reform  im  Be- 
triebe der  damaligen  universellen  Umgangssprache. 

Das  älteste  dem  Humanismus  angehörigo  Gesprächbuch  ist  das  um  1480 
verfafste,  über  damalige  Universitätsverhältnisse  sich  verbreitende,  unsere  Trivial- 
schulen aber  nicht  berührende  'Manuale  scholarium\  Sein  Verfasser  ist 
nicht  bekannt.  Man  hat  dafür  Paulus  Niavis,  eig.  Paul  Schneevogel,  aus- 
gegeben, jedoch  mit  Unrecht,  denn  dieser  praktische  Schulmann,  der  um  das 
Jahr  1486  die  Schule  zu  Chemnitz  auf  humanistische  Bahnen  leitete,  hat  nur 
eine  neue  Ausgabe  des  Buches  veranstaltet.  Wohl  aber  rühren  als  selbständige 
Schöpfungen  nicht  weniger  als  fünf  andere  Dialogsammlungen  von  ihm  her, 
welche  ihm  den  Ehrennamen  des  Vaters  solcher  Übungsbücher  unter  den 
Humanisten  sichern.  Eine  von  diesen  Sammlungen  kommt  für  uns  nicht  in 
Betracht,  da  sie  für  die  Novizen  eines  Klosters  bestimmt  ist,  die  vier  anderen 
aber  gehören  zu  den  wertvollsten  Arbeiten  auf  unserem  Gebiete.  Sie  fuhren 
die  Titel: 

1)  Dialogus  parvulis  scholaribus  ad  latinum  idioma  perutilissimus  oder 
Latinum  idioma  pro  parvulis  editum,  c.  1486  entstanden1), 

2)  Latinum  idioma  pro  scholaribus  adhuc  particularia  frequentantibus,  bald 
nach  Nr.  1  verfafst  und  mit  Nr.  3  und  der  Manuale-Ausgabe  zu  einem  Sammel- 
werke unter  dem  Titel  Latina  idiomata  vereinigt'), 

3)  Thesaurus  eloquentiae, 

4)  Dialogus,  in  quo  litterarum  studiosus  cum  beano  quarumvis  prae- 
ceptionum  imperito  loquitur.3) 

Niavis  ahmten  in  den  ersten  Jahren  des  16.  Jahrhunderts  zunächst  die 
beiden  Schlesier  Andreas  Huendern  und  Laurentius  Corvinus  nach. 
Das  Latinum  idioma  des  ersteren  erschien  1501 4),  das  des  letzteren  1503. 5) 
Corvinus  war  seit  1499  an  der  St.  Elisabeth-Schule  zu  Breslau  als  Lehrer 
thatig,  Huenderns  Wirkungsort  zu  ermitteln  ist  mir  einstweilen  nicht  gelungen. 
Um  die  Wende  des  Jahrhunderts  erschien  auch  als  Anhang  zu  einer  Hymnen- 
und  Sequenzenausgabe  von  Hermann  Torrentinus  ein  vereinzelter  Dialog,  bei 
welchem  dem  lateinischen  Texte  eine  deutsche  Übersetzung  gegenübersteht: 
Collocutiones  duorum  puerorum  de  rebus  puerilibus  ad  invicem 
loquentium.6)  Eine  Übertragung  in  die  Muttersprache,  durch  welche  die 
Gespräche  an  Brauchbarkeit  für  die  Schüler  nur  noch  gewinnen  konnten,  fügte 


v)  17  datierte  und  15  undatierte  Ausgaben.  Erste  datierte:  Basel  1489  (ßr.  Mus.  London, 
H.  o.  St.  B.  München,  (J.  B.  Strafsburg). 

*i  1  datierte  und  3  undatierte  Ausgaben.  Datierte:  Leipzig,  Cachelofen  1494  (U  B. 
Breslau,  K.  B.  Dresden,  ü.  B.  Göttingen,  Br.  Mus.  London,  H.  B.  Wien). 

*)  4  Auagaben  ohne  Jahr,  von  denen  eine  (ü.  B.  Leipzig)  bei  Hain  fehlt. 

*)  Olmütz,  Baumgarten  1601  (ü.  B.  Breslau). 

•)  33  Ausgaben.   Erste:  Breslau,  Baumgarten  1603  (U.  B.  Leipzig). 
•)  Ausgabe  ohne  Ort  und  Jahr  (K.  B.  Haag). 

9* 


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132    A.  Börner:  Die  Humanistenschulen  im  Spiegel  der  lateinischen  Schülerdialoge 


auch  der  Münsterische  Humanist  Johannes  Murmellius  den  Phrasen  bei, 
welche  er  im  2.  Kapitel  seiner  vielgebrauchten  Pappa  puerorum  (1513)  ver- 
einigte.1) Einen  ganz  bedeutenden  formellen  Fortschritt,  namentlich  den  ersten 
der  genannten  Werke  gegenüber,  bezeichnet  das  Gesprächbuch  des  Desiderius 
Erasmus,  welches  als  kleine  Phrasensammlung  (Familiarium  colloquiorum 
formulae)  wider  Willen  des  Autors  von  einem  Bekannten  1518  veröffentlicht, 
nach  zahlreichen  Umarbeitungen  und  Erweiterungen  im  Jahre  1533  als  eine 
umfangreiche  Sammlung  von  Dialogen  vorlag,  die  an  Feinheit,  Frische  und 
Lebendigkeit  der  Darstellung  seitdem  nicht  wieder  erreicht  worden  sind  (seit 
1526:  Familiarium  colloquiorum  opus).*)  Wahrend  die  Vorgänger  des  Erasmus 
nur  hier  und  da  das  Gebiet  des  Schullebens  verlassen  haben,  bilden  bei  diesem 
die  eigentlichen  Schülergesprache  nur  noch  einen  kleinen  Bestandteil  des  grofsen 
Werkes.  Dagegen  kehrt  Petrus  Mosellanus,  bekannt  als  Professor  der  grie- 
chischen Sprache  an  der  Leipziger  Hochschule,  in  seinen  unter  Anteilnahme 
von  Johannes  Poliander,  dem  Rektor  der  Thomasschule,  verfafsten  Paedologia 
(wohl  1517)*)  mit  Vorliebe  wieder  zum  Universitats-  und  Schulwesen  zurück, 
desgleichen  auch  sein  jüngerer  Leipziger  Kollege  Christophorus  Hegen- 
dorffinus  in  den  durch  die  Paedologia  angeregten  und  stark  beeinflufsten 
Dialogi  pueriles  (1520).4)  Eine  Mittelstellung  zwischen  Erasmus  und  Mosel- 
lanus nimmt  der  Flamländer  Hadrianus  Barlandus  ein,  dessen  Dialogi  ad 
profligandam  e  scholis  barbariem  utilissimi  1524  erschienen.6)  Der  Hesse 
Hermannus  Schottennius,  welcher  um  1525,  als  er  seino  Confabulationes 
tironum  litterariorum')  veröffentlichte,  Lehrer  in  Köln  war,  pflegt  wieder  die 
einfacheren,  natürlicheren  Formen  des  Schülergespräches.  Noch  weiter  als  er 
gingen  in  dieser  Beziehung  der  humanistische  Reformator  der  Sebaldusschnle 
in  Nürnberg,  SebalduB  Heyden,  und  sein  Nachfolger  Jacobus  Zovitius, 
Rektor  zu  Breda  und  Hertzogenbusch.  Die  Werke  beider,  von  denen  das 
erstere  Formulae  puerilium  colloquiorum  (1528) 7),  das  letztere  Colloquia8) 
betitelt  ist,  führen  wieder  eine  deutsche  Übersetzung  neben  dem  lateinischen 
Texte.    Von  den   Dialogi  des  wenig  bekannten  Jonas  Philologus  (vor 


')  40  Ausgaben.   Erste:  Köln,  Quentel  1513  (H.  B.  Wolfenbüttel). 

*)  Über  500  Ausgaben,  darunter  Übersetzungen  ins  Deutsche,  Englische,  Französische, 
Holländische  und  Italienische.  Erste  Ausgabe  der  Formeln:  Basel,  Frobcn  1618  (H.  u. St . B 
München),  erste  des  vollendeten  WerkeB  ebendaselbst  1583  (U.  B.  Freiburg,  U.  B.  Gtent, 
U.  B.  8trafsburg,  K.  B.  Stuttgart). 

■)  64  Ausgaben.  Erste  erhaltene  datierte:  Leipzig,  Lotter  1518  (St  B.  Augsburg, 
U.  B.  Breslau). 

*)  2  Ausgaben  von  1520:  Leipzig,  Schumann  (K.  B.  Berlin,  U.  B.  Erlangen,  ü.  B.  Jena, 
H.  B.  Wien)  und  Nürnberg,  Peipus  (II.  B.  Gotha,  H.  u.  St.  B.  München,  U.  B.  Strafsburg). 

•)  17  Ausgaben.  Erste:  Löwen,  Martinus  Alostensis  1624  (U.  B.  Gent,  ü.  B.  Greifswald), 
spätere  Drucke  mit  Zusätzen. 

•)  27  Ausgaben.   Erste:  Augsburg,  Ruft"  1526  (ü.  B.  München). 

*)  40  Ausgaben.   Erste:  Strafsburg,  Beck  1628  (B.  des  Germ.  Mus.  Nürnberg). 

*)  Erste  Ausgabe  wohl  verschollen;  verbesserter  Druck:  Antwerpen,  Silvius  1670  im  An- 
schluß an  Heydens  Werk  (U.  B.  Göttingen). 


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A.  Börner:  Die  Humanistenschulen  im  Spiegel  der  lateinischen  Scbülerdialoge  133 

1529)  *)  schildert  der  wichtigste  Schulverhältnisse  von  Deventer,  wo  der  Ver- 
fasser wohl  auch  studiert  hat.  Einen  neuen  Schritt  in  der  künstlerischen 
Manier  des  Erasmus  that  der  Spanier  Ludovicus  Vives  in  seiner  Latinae 
linguae  exercitatio  (abgeschlossen  1538).*)  Die  Dialogi  des  Neifser  Rektors 
Nicolaus  Winmannus  (1544)5)  sind  mehr  eine  Anleitung  zur  guten  Sitte, 
als  ein  Übungsbuch  zum  praktischen  Gebrauche.  Eine  ethische  Tendenz  ver- 
folgt auch  Martin us  Duncanus,  Pfarrer  und  Schulmeister  zu  Wormer,  in  der 
Praetextata  latine  loquendi  ratio  (1552).4)  Die  letzte  grofse  Schöpfung  des 
Humanismus  auf  unserem  Gebiete  sind  die  Colloquia  scholastica  des  greisen 
Genfer  Rektors  Mathurinus  Corderius  (1564)5),  unter  dessen  Händen  die 
Schalergespräche  noch  einmal  in  ihrer  alten  und  natürlichen  Gestalt  wieder- 
auflebten. 

Diese  kurzen  Angaben  mögen  genügen,  um  zu  zeigen,  welcher  Zeit  unsere 
verschiedenen  Quellen  angehören  und  von  welchen  Orten  sie  uns  erzählen;  denn 
die  Natur  der  Sache  brachte  es  mit  sich,  dafs  die  Verfasser  ihren  Aufzeich- 
nungen zunächst  die  Verhältnisse  der  Schulen  zu  Grunde  legten,  an  welchen 
sie  lehrten  —  und  die  meisten  von  ihnen  sind  ja  Schulmeister  —  oder  welche 
sie  aus  sonstigen  Erfahrungen,  etwa  von  ihrer  eigenen  Schülerzeit  her,  kannten. 
Sehen  wir  nunmehr  zu,  was  für  ein  Bild  wir  aus  den  Dialogen  von  den  Schul- 
zustanden der  damaligen  Zeit  gewinnen,  und  zwar  zunächst  von  den  Einrich- 
tuniren der  Schulen  im  engeren  Sinne:  vom  Lernen,  und  dann  vom  Verhalten 
der  Zöglinge  aufserhalb  der  Schule,  vom  Leben.  Schritt  für  Schritt  soll  dabei 
auf  die  jedesmalige  Quelle  verwiesen  und  hier  zuvor  einmal  ausdrücklich  betont 
werden,  dafs  nach  Zeit  und  Ort  vielfache  Veränderungen  in  den  verschiedenen 
Einrichtungen  vorgenommen  worden  sind  und  demgemäfs  grofste  Vorsicht  ge- 
boten ist  im  Verallgemeinern  von  Zuständen,  die  man  an  einer  einzelnen  Anstalt 
oder  in  einem  einzelnen  Jahre  angetroffen  hat. 

Wollte  ein  Knabe  in  eine  Schule  aufgenommen  werden,  so  hatte  er  sich 
beim  Rektor  derselben  zu  melden  und  sein  Anliegen  vorzubringen.  Die  kleinen 
Kandidaten,  deren  uns  namentlich  bei  Niavis  und  Huendern  eine  ganze  Anzahl 
begegnet,  nennen  Namen,  Geburtsort  und,  falls  sie  schon  auf  einer  anderen  Schule 
gewesen  sind,  den  Grund  ihres  Wechseins.  Dafs  die  meisten  über  den  letzten 
Punkt  Auskunft  zu  geben  haben,  ist  ein  Beweis  dafür,  dafs  sich  die  Wander- 
lust der  fahrenden  Scholaren  des  Mittelalters  bis  in  die  Zeit  des  Humanismus 
hinein  fortgeerbt  hat,  wenngleich  solche  Beispiele  der  Unstetigkeit,  wie  sie 


•)  7  Ausgaben.  Erste  mir  bekannte:  Mainz,  Schöffer  1529  (U.B.  Breslau,  U.  B.  Freiburg). 

*)  103  Ausgaben.  Originalausgabe,  Paris  1689,  wohl  verschollen,  noch  aus  demselben 
Jahre  Drucke  von  Basel,  Winter  (St.  B.  Augsburg,  K.  B.  Erfurt,  U.  B.  Freiburg,  U.  B.  Jena, 
ü.  B.  Königsberg,  K.  B.  Stuttgart,  H.  B.  Wolfenbüttel,  ü.  B.  Würzburg)  und  von  Lyon, 
J.  et  F.  Frellcei  (L.  B.  Cassel). 

*)  Ausgabe:  Breslau  1644  (St.  B.  Breslau,  U.  B.  Breslau). 

*)  2  Ausgaben.  Erste:  Antwerpen,  Latius  (1652)  (K.  B.  Antwerpen,  ü.  B.  Löwen,  H.  u. 
8t  B.  München). 

*)  106  Ausgaben.   Erste  von  H.  Stephanus  1664  (U.  B.  Jena). 


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134    A.  Börner:  Die  Humanistenschulen  im  ßpiegel  der  lateinischen  Schülerdialoge 

Thomas  Platter  und  Johannes  Butzbach  in  ihren  oben  erwähnten  Selbst- 
biographien geben,  doch  damals  jedenfalls  schon  zu  den  Ausnahmen  gehört 
haben.  Wenn  bei  Niavis  (II  2)  ein  Schüler  den  Lehrer  um  Entlassung  bittet 
und  als  Grund  angiebt,  er  habe  gehört,  dafs  es  für  einen  Knaben  von  Vorteil  J 
sei,  sich  in  der  Welt  umzusehen  und  verschiedene  Schulen  kennen  zu  lernen, 
warnt  der  Lehrer  ausdrücklich  vor  dieser  Übeln  Gewohnheit,  die  einem  soliden 
Studium  in  keiner  Weise  forderlich  sei,  möchten  auch  manche  für  dieselbe  ein- 
treten. Stand  der  Aufnahme  eines  Knaben  nichts  im  Wege,  so  machte  der 
Rektor  ihn  auf  seine  wichtigsten  Pflichten  aufmerksam,  und  er  hatte  Folgsam- 
keit in  allen  Dingen  zu  versprechen.  Der  Eintritt  fand  in  der  Regel  am 
Tage  des  hl.  Gregorius,  des  Patrons  der  Studierenden,  statt  (Schott.  74).  Für 
die  übrigen  Schüler  war  dieser  Aufnahmetag  ein  Festtag.  Martin  erzählt  bei 
Schottennius  (42)  seinem  Freunde  Nikolaus  voller  Freude,  dafs  bei  ihm  im 
Hause  ein  Knabe  wohnte,  der  sich  in  die  Schule  aufnehmen  lassen  wollte  und 
ihnen  durch  Zahlen  des  *introitus'  einen  freien  Nachmittag  verschaffen  würde. 
Für  die  Aufgenommenen,  welche  am  Orte  fremd  waren,  bestand  die  erste  Sorge 
darin,  sich  ein  passendes  Unterkommen  zu  verschaffen.  Ein  solches  konnten 
sie  entweder  beim  Rektor  oder  seinen  Gehilfen  in  der  Schule  oder  auch  bei 
anderen  Leuten  in  der  Stadt  finden.  Die  Bürger  müssen  zeitweilig  kein  be- 
sonderes Verlangen  nach  ihnen  gehabt  haben,  denn  Niavis  (a.  a.  0.)  läfst  einen 
Ankömmling  aufmerksam  darauf  machen,  dafs  er  sich  ja  seinen  Wirtsleuten 
gegenüber  recht  ordentlich  betragen  möchte,  da  dieselben  augenblicklich  einen 
gewissen  Widerwillen  gegen  die  Schüler  hätten  und  geneigter  wären,  sie  vor 
die  Thüre  zu  setzen  als  aufzunehmen.  Näheres  über  die  Wohnungs Verhält- 
nisse später. 

Über  die  Lehrkräfte  finden  sich  abermals  bei  Niavis  vereinzelte  be- 
merkenswerte Notizen.  An  der  Spitze  der  Schule  stand  der  Rektor,  der,  wie 
auch  schon  im  Mittelalter,  für  eine  bestimmte  Zeit,  meist  für  ein  Jahr,  vom 
Pfarrer  oder  vom  Stadtrate,  je  nach  dem  Charakter  der  Anstalt,  gemietet 
wurde.  Gefiel  er  nicht,  so  wurde  er  nach  Ablauf  seiner  Frist  einfach  nicht 
wieder  angenommen,  falls  er  nicht  so  gescheit  war  wie  Niavis,  der  in  Chemnitz, 
als  er  bemerkte,  dafs  er  Widersacher  im  Stadtrate  hatte,  sich  überhaupt  nicht 
wieder  zur  Wahl  stellte,  um  seinen  Feinden  keinen  Triumph  über  sich  zu  ver- 
gönnen. Konnexionen  thaten  auch  damals  schon  bei  Erlangung  der  Ämter  das 
Ihrige.  In  Beherzigung  dieses  Umstandes  erscheint  bei  Niavis  (III  7)  ein  Be- 
werber um  das  Rektorat  bei  einer  einflufsreichen  Persönlichkeit  des  Ortes  und 
bittet,  ein  gutes  Wort  für  ihn  einzulegen.  Er  ist  aus  Meifsen,  hat  die  Uni- 
versität Leipzig  besucht  und  dort  das  Baccalaureat  erlangt.  Zuletzt  ist  er 
Gehilfe  bei  einem  Rektor  gewesen.  Nachdem  der  Gönner  sich  vergewissert, 
dafs  er  auch  im  Gesänge  genügend  ausgebildet  sei,  rät  er  ihm,  am  folgenden 
Tage  im  Kapitel  sein  Anliegen  ferecta  fronte  et  liberali  voce'  vorzutragen,  dann  j 
könne  er  seiner  Fürsprache  sicher  sein.  An  einer  anderen  Stelle  bei  Niavis 
(III  10  u.  11)  bedankt  sich  ein  neu  angenommener  Rektor  in  einer  feierlichen 
Antrittsrede  beim  Pfarrer  und  den  weisen  Männern  vom  Stadtrate  —  beide 


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A.  Börner:  Die  HumanistenBchulen  im  Spiegel  der  lateinischen  Schülcrdialoge  135 

nennt  er  seine  Herren  —  für  seine  Anstellung  und  gelobt  ihnen  Gehorsam  in 
allen  Dingen.  Dann  hält  er  eine  noch  längere  Ansprache  an  seine  Schüler, 
gemahnt  sie  an  ihre  Pflichten  und  erklärt,  dafs  er  sich  in  üblicher  Weise  für 
seinen  Unterricht  Gehilfen  (collaterales)  auserlesen  werde.  Einen  tüchtigen 
Baccalaureus  habe  er  sich  bereits  gedungen,  dem  die  Schüler  denselben  Gehor- 
sam schuldig  wären,  wie  ihm  selbst.  Der  Baccalaureus  erhält  die  Befugnis 
'legendi,  exercendi  officium  praeeeptionemque  resumendi,  corrigere,  utcunque 
libuerit,  canendi  munus  .  . .  prospiciendique  chori  solemnitatem'  und  als  Symbole 
seiner  Gewalt  eine  Rute  und  einen  Stab.  Den  Chorgesang  der  Knaben  bei  den 
gottesdienstlichen  Handlungen,  dessen  Leitung  hier  dem  Baccalaureus  über- 
tragen wird,  dirigierte  sonst  gewöhnlich  ein  besonderer  Gehilfe,  der  Kantor, 
der  übrigens  nach  Bedarf  auch  am  Sprachunterrichte  teilnahm.  Wir  hören 
z.  B.  einen  Kantor  fin  parte  Donata  examinieren  (Niav.  I  4).  Aufserdem  pflegten 
auch  die  älteren  Schüler  als  Vorsteher  einzelner  Abteilungen  (loca)  —  daher 
wohl  ihr  Name  locati  —  den  Rektor  bei  seiner  Arbeit  zu  unterstützen. 

Von  den  Gegenständen  des  Unterrichts  wird  verhältnismässig  nur  wenig 
gesprochen.  Am  wichtigstell  sind  wieder  die  Nachrichten  bei  Niavis,  weil  seine 
Wirksamkeit  in  Chemnitz  gerade  in  die  Zeit  fallt,  da  der  Humanismus  in 
Deutschland  mit  der  hergebrachten  mittelalterlichen  Lehrmethode  in  den  Schulen 
um  die  Herrschaft  zu  ringen  begann.  Im  Mittelpunkte  des  Unterrichts  blieb 
die  lateinische  Sprache  stehen.  Als  Kriterium  für  den  Sieg  der  neuen  Rich- 
tung pflegt  man  mit  Recht  die  Abschaffung  des  Doctrinale  von  Alexander 
de  Villa  Dei  anzusehen,  der  bekannten  in  2645  leoninischen  Hexametern  ab- 
gefaßten Grammatik,  welche  seit  ihrer  Veröffentlichung  im  Jahre  1199  fast 
drei  Jahrhunderte  lang  die  Schulen  der  civiÜBierten  Welt  als  Hauptlehrbuch 
der  lateinischen  Sprache  nach  Absolvierung  der  Ars  minor  des  Douat  beherrscht 
hat.  D.  Reichling  giebt  in  der  Einleitung  zu  seiner  neuen  vorzüglichen  Aus- 
gabe des  Werkes  (Mon.  Germ.  Paed.  XII)  eine  Geschichte  desselben,  in  deren 
Verlauf  der  von  Italien  begonnene  Kampf  der  Humanisten  gegen  das  Produkt 
der  Scholastik  das  gröfste  Interesse  beansprucht.  Seine  umfangreichen  Unter- 
suchungen haben  Reichling  zu  dem  Resultate  geführt,  dafs  unter  den  Uni- 
versitäten des  damaligen  Deutschlands  zuerst  Wien  (1492),  unter  den  Partikular- 
schulen zuerst  die  Domschule  zu  Münster,  und  zwar  unter  dem  Einflüsse  des 
Murmellius  in  den  ersten  Jahren  des  16.  Jahrhunderts,  den  Bruch  vollzogen 
haben.  Dieses  Ergebnis  werfen  die  Nachrichten  bei  Niavis,  wenigstens  was 
den  zweiten  Teil  angeht,  völlig  über  den  Haufen.  Niavis  hat  bereits  am 
Schlüsse  der  achtziger  Jahre  des  15.  Jahrhunderts,  also  um  die  Zeit,  als  der 
alte  Hegius  gegen  gewisse  Kommentare  des  Doctrinale  zu  eifern  begann,  mit 
dem  ganzen  Werke  aufgeräumt.  Nachdem  er  schon  in  der  Vorrede  zu  seiner 
ersten  Dialogsammlung  vor  den  Ratsherren  von  Chemnitz  offen  ausgesprochen 
hat,  dafs  die  Knaben  bisher  viel  zu  lange  mit  der  Erlernung  der  Casus  und 
Tempora  hingehalten  worden  waren,  benutzt  er  später  in  den  Gesprächen  selbst 
jede  Gelegenheit,  um  die  mittelalterlichen  Lehrbücher  dem  Spotte  preiszugeben 
und  eine  praktische  Unterrichtsmethode  verfechten  zu  lassen.  Im  9.  Kapitel  des 


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* 


136    A.  Börner:  Die  Humanißtenachulen  im  Spiegel  der  lateinischen  Schülerdialoge 

Thesaurus  beweist  z.  B.  ein  humanistisch  gebildeter  Baccalaureus  einem  nach 
scholastischem  Brauche  angelernten  Locatus,  dafs  die  Modi  signüicandi  (die 
bekannte  philosophische  Grammatik  des  13.  Jahrhunderts),  Eberhardus  (der 
Verfasser  des  12  Jahre  nach  dem  Doctrinale  erschienenen  Graecismus)  und 
Alexanders  'compilatio'  die  Knaben  noch  dümmer  machten  als  sie  gewesen. 
Im  19.  Dialoge  desselben  Werkes  empfiehlt  derselbe  Baccalaureus  angelegent- 
lichst eine  aus  Italien  eingeführte  Grammatik,  aus  welcher  die  Schüler  kurz 
die  Grundzüge  der  Sprache  erlernten,  um  dann  gleich  die  Klassikerlektüre  zu 
beginnen.    Am  empfindlichsten  hat  Niavis  die  Vertreter  der  alten  Richtung  in 
seinem  'Dialogus,  in  quo  litterarum  studiosus  cum  beano  quarumvis  prae- 
ceptionum  imperito  loquitur*  gegeifselt,  indem  er  ihnen  bei  Verfechtung  ihres 
Unterrichtsprinzips  das  haarsträubendste  lateinische  Kauderwälsch  in  den  Mund 
legt,   während  er  seinen  Sprecher,  den  Baccalaureus  Florinus,  die  Sprache 
beherrschen  läfst,  so  gut  es  ihm  sein  eigenes  Können  nur  gestattete.  Im 
3.  Dialoge   des  genannten  Büchleins  beschreibt  der  unglückselige  Locatus 
Scaninder  seine  Lehrthätigkeit  mit  den  Worten:  Trimo  oportet  iuvenes  mihi 
supra  dicere,  tunc  ego  legi  registrum  et  absentes  corrigo  et  tunc,  quando  hoc 
est  finis,  ego  audio  in  partem  Donati  et  scribo  illud  parvum  latinum;  tunc 
quando  mihi  supra  dicunt,  ego  mitto  eos  domi.'  Als  ihn  Florinus  darauf  nach 
mehrfacher  Wechselredo  erbärmlich  abführt,  weifs  er  zu  seiner  Entschuldigung 
nichts  zu  sagen,  als:  'Haec  est  unum  simplex  schola;  putas,  quod  sit  in  alta 
schola,  in  quo  tu  studisti?'    Der  traurige  Held  des  ersten  Gespräches,  der 
Bacchant  Scoribal,  hat  zwei  Knaben,  denen  er  seine  Weisheit  mitteilt.  Diese 
sogenannten  'Schützen',  deren  armseliges  Los  uns  aus  Platters  und  Butzbachs 
Erzählungen  zur  Genüge  bekannt  ist,  erbetteln  für  ihn  den  Unterhalt,  und 
dafür  bringt  er  ihnen  die  Casus  und  Tempora  bei,  natürlich  im  Anschlüsse 
an  Alexander,  über  dessen  erstem  Teile  er  selbst  'nicht  lange',  d.  h.  nur 
15  Jahre  gesessen  hat.    Nach  dem  Unterrichte  geht  er  mit  biederen  Genossen 
zum  Biere  zu  Kuntz  Knoblach.    'Ille  libenter  propinat  bonum  cerevisiam,  et 
quando  modicum  bibimus,  tunc  venit  femina  et  portat  nobis  caseum  et  panem, 
et  quando  bibimus  per  totum  diem,  tunc  unus  vix  pertzechavit  quatuor  denarios.' 
Wenns  zur  Vesper  läutet,  mufs  er  zur  Kirche,  und  'quando  vesperae  sunt  ex', 
gehts  wieder  ins  Wirtshaus,  und  wenn  der  Abend  kommt,  zum  Rocken.  Dann 
beginnt  erst  das  rechte  Vergnügen.    'Quando  famulae  domus  exlaboraverunt, 
et  tunc  in  nocte  vadunt  ad  unum  domum  et  solent  nere,  hoc  vocant:  ad  colum. 
Et  veniunt  tunc  socii  ad  causerias  suas  et  aeeipiunt  ad  brachias  et  dant  sibi 
os  et  palpant  ad  mamillam.   Hoc  facit  uni  ita  bene,  quod  tu  non  credis.  Facitis 
hoc  etiam  in  magna  schola  vestra?'  —  Natürlich  sind  hier  die  Farben  recht 
dick  und  absichtlich  von  Niavis  aufgetragen,  aber  die  Stellen  beweisen  doch, 
wie  energisch  er  dem  alten  Schlendrian  auf  den  Leib  gegangen  ist  und  seine 
Reform  vertreten  hat.    Von  dem  Unterrichtsplan  seiner  eigenen  Schule  läfst 
er  im  3.  Kapitel  der  zweiten  Dialogsammlung  in  zwei  verschiedenen  Fassungen 
erzählen.    Das  erste  Mal  überredet  der  Schüler  Esculus  den  Albinus,  welcher 
von  Nürnberg  kommt  —  Esculus  macht  bei  dieser  Gelegenheit  eine  spöttische 


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A.  Börner:  Die  Huinaniatenschulen  im  Spiegel  der  lateinischen  Schülerdialoge  137 


Bemerkung  über  die  bekannte  Schlauheit  der  Nürnberger  Schüler  —  und  auf 
dem  Wege  nach  der  damals  weitberühraten  Zwickauer  Schule  ist,  bei  ihnen  in 
Chemnitz  zu  bleiben.  Sie  lernten  hier  zuerst  die  Deklination  und  lasen  dann 
neben  einigen  dialektischen  Traktaten  des  Petrus  Hispanus  und  dem  Kommentar 
des  Scotus  zu  den  Praedicabilia  des  Porphyrius  den  Laeüus  von  Cicero.  Nach 
der  Vesper  aber  studierten  sie  aus  dem  Latinum  idioma,  dem  Übungsbuche 
ihres  Lehrers.  In  der  zweiten  Fassung  hat  Albinus  wegen  der  Pest  die  Schule 
zu  Halle  verlassen,  die  er  nicht  genug  rühmen  kann.  Der  Lehrer  habe  ihnen 
dort  die  Dialektik  des  Petrus  Hispanus  von  Anfang  bis  zu  Ende  'sole  clarius' 
erklärt,  sodann  'parvulum  philosophiae  naturalis'  und  in  der  Grammatik  die 
'Modi  significandi'  und  einen  'moralis  autor  pro  declinatione'  (Cato).  Diesem 
Programme  gegenüber,  das  sich  noch  gänzlich  in  den  mittelalterlichen  Tra- 
ditionen bewegt,  preist  Esculus  diesmal  ausdrücklich  die  Humanitätsstudien, 
die  'ars,  quae  docet  epistolarem  rationem  et  bene  et  decore  loqui',  die  bei  ihnen 
am  Orte  blühte.  Sie  läsen  nämlich  den  Laelius  Ciceros,  des  Vaters  der  Bered- 
samkeit, erhielten  Unterricht  im  Briefschreiben  —  auch  für  diesen  Zweck  hat 
Niavis  praktische  Handbücher  geschaffen  —  und  übten  an  der  Hand  eines 
Schriftchens,  das  ihr  Lehrer  Latinum  idioma  nenne,  lateinische  Unterhaltung. 
Als  Albinus  das  Wort  Humanitätsstudien  hört,  preist  er  den  Tag  glücklich, 
der  ihn  hergeführt,  denn  er  hätte  schon  viele  Länder  durchwandert  und  ver- 
geblich nach  dem  Studium  gesucht,  das  er  hier  gefunden. 

Im  Vergleich  zu  diesen  Nachrichten  bei  Niavis  haben  die  gelegentlichen 
Bemerkungen  über  den  Sprachunterricht  in  den  Dialogbüchern  der  späteren 
Zeit,  nachdem  der  Humanismus  schon  überall  siegreich  durchgedrungen  war 
und  der  Schulunterricht  an  seinen  verschiedenen  Heimstätten  einheitlicher  ge- 
staltet zu  werden  begonnen  hatte-,  nur  untergeordnete  Bedeutung.  Aus  diesen 
späteren  Jahren  liegen  auch  in  Schulordnungen  u.  s.  w.  Urkunden  vor,  die  ein 
genaueres  Bild  von  den  Unterrichtsplänen  an  den  einzelnen  Orten  zu  geben 
vermögen.  Es  sei  deshalb  hier  nur  kurz  erwähnt,  dafs  Mosellanus  (9)  und 
Hegendorffinus  (10)  von  Leipziger  Schulen  erzählen  lassen  —  damals  war  zum 
lateinischen  Unterricht  natürlich  schon  der  griechische  hinzugetreten,  und  zwar 
wurden  die  Grundzüge  beider  Sprachen  nach  Quintilians  Vorschrift  zusammen 
gelehrt  — ,  Jonas  Philologus  (3)  von  der  Deventer,  Duncanus  (46)  von  der 
Wormer  und  Corderius  wiederholt  von  seiner  Genfer.  Beachtung  verdienen  ein 
paar  Notizen  über  Aufführungen  klassischer  Dramen  bei  Barlandus  (6/7  und 
Zusätze  von  1527,  1).  Im  Jahre  1506  ist  die  Hecuba  des  Euripides  in  latei- 
nischer Übersetzung  des  Erasmus  zu  Löwen  im  Gymnasium  Standonicum  von  den 
Schülern  aufgeführt  worden.  1524  hat,  ebenfalls  zu  Löwen,  eine  öffentliche  Dar- 
stellung der  Hecyra  des  Terenz  stattgefunden.  Wenn  Barlandus  sich  veranlagt 
sieht,  die  Auffuhrung  dieser  antiken  Stücke  als  ein  vorzügliches  Mittel  nicht  nur 
zur  Begeisterung  der  Jugend  für  das  Studium,  sondern  auch  zur  Anfeuerung  der 
Tugend  und  Verabscheuung  des  Lasters  zu  preisen,  so  ist  das  ein  Beweis  dafür, 
dafs  in  Löwen  ebensowenig  Widersacher  solcher  Darstellungen  gefehlt  haben  wie 
an  anderen  Orten.  Wo  vom  lateinischen  Unterrichte  die  Rede  ist,  möge  gleich 


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138     A.  Bömen  Die  HunianistcnHchulen  im  Spiegel  «1er  lateinischen  Schülerdialogc 

bemerkt  werden,  dafs  die  Einübung  der  Casus  und  Tempora  den  Schülern  oft 
furchtbare  Schläge  gekostet  hat.  Diese  Tradition  war  uralt,  jedenfalls  schon 
älter,  als  der  'schlaglustige*  Orbilius  im  alten  Rom.  Aus  dem  Mittelalter  sind 
Dutzende  von  Beispielen  für  die  Prügellust  der  Lehrer  auf  uns  gekommen,  und 
dafs  auch  die  humanistische  Reform,  welcher  es  zu  einem  besonderen  Lobe 
gereicht,  eine  freundlichere  Methode  des  Unterrichts  erstrebt  zu  haben,  nicht 
auf  einmal  alle  Mifsbräuche  beseitigt  hat,  beweist  der  Umstand,  dafs  auch  bei 
Niavis  noch,  obwohl  er  ausdrücklich  eine  humane  Behandlung  verteidigen  lafst 
(III  19),  in  den  Dialogen  ganz  unbarmherzig  darauf  losgeschlagen  wird.  Da 
hören  wir,  um  nur  ein  Beispiel  anzuführen,  dafs  ein  Locatus  den  Schüler 
Rudolf  bei  der  Erklärung  des  Donat  in  einer  Stunde  nicht  weniger  als  sechs- 
mal derartig  geprügelt  hat,  dafs  vom  Rücken  bis  auf  den  Knöchel  kein  heiles 
Fleckchen  mehr  zu  sehen  gewesen  ist  (III  19).  Ein  ähnliches  Liedlein  können 
viele  von  den  Knaben  singen.  Übrigens  beschränkten  sich  die  Schläge  natür- 
lich nicht  auf  die  Grammatikstunde.  Diese  war  nur  ganz  besonders  ver- 
hängnisvoll. Ein  Kantor  haut  nach  einem  verunglückten  Chorgesang  vor 
Wut  seinen  Stock  auf  den  Schülern  entzwei,  bei  welcher  Gelegenheit  Petrus 
de  Franckendorff  einen  Höcker  auf  dem  Kopfe,  Nikolaus,  der  Sohn  des  Richters, 
einen  geschwollenen  Rücken  davonträgt  (II  5).  Ausdrücklich  betont  wird,  dafs 
es  strenge  verboten  sei,  den  Eltern  Anzeige  von  den  Mifshandlungen  zu  machen 
(I  4).  Gänzlich  zu  entbehren  ist  die  körperliche  Züchtigung  beim  Unterrichte 
der  Kleinen  in  den  meisten  Fällen  nicht,  und  deshalb  hat  auch  der  Humanismus 
sie  nicht  völlig  aufgegeben.  Noch  bei  Erasmus  (Euntes  in  ludum  litt.)  klagt 
ein  Schüler,  dafs  der  Lehrer,  falls  er  seine  Lektion  nicht  könne,  seine  'nates' 
nicht  mehr  schone,  als  wenn  sie  von  Leder  wären,  und  als  sich  bei  Barlandus  (2) 
bei  einem  Spaziergange  ein  Knabe  darüber  wundert,  dafs  sein  Lehrer  nicht 
ordentlich  mehr  gehen  könne,  macht  sein  Freund  die  sehr  bezeichnende  Be- 
merkung, dafs  ein  alter  Schulmeister  mehr  Kraft  in  den  Händen  habe  als  in 
den  Beinen. 

Eine  besondere  Menge  von  Schlägen  setzten  auch  die  grofsen  Strafgerichte 
ab,  von  denen  wir  bei  Niavis  (I  G)  Zeuge  sind.  Einmal  oder  vielleicht  noch 
öfter  in  der  Woche  —  bei  Mosellanus  (16)  ist  der  Freitag  der  Unglückstag  — 
wurde  nämlich  vom  Lehrer  und  seinen  Gehilfen  zu  Gericht  gesessen  über  die 
Unarten  der  Schüler  aufserhalb  des  Unterrichts.  Als  ein  grofses  Verbrechen 
galt  bei  den  Humanisten  bekanntlich  der  Gebrauch  der  Muttersprache.  Es 
wurden  eigene  Wächter  unter  den  Knaben  ausgewählt,  die  streng  darauf  zu 
achten  hatten,  dafs  ihre  Mitschüler  überall,  selbst  bei  den  Spielen  und  Er- 
holungen, sich  der  lateinischen  Sprache  bedienten.  Wer  in  der  Muttersprache 
redete,  machte  sich  des  Barbarismus,  wer  ein  schlechtes  Latein  sprach,  des 
Soloecismus  schuldig  (Murm.  44;  Zov.  4).  Die  mit  dem  Aufpasseramte  be- 
trauten Schüler  hiefsen  'Corycäer'  —  der  Name  ist  von  den  Seeräubern  herüber- 
genommen, Erasmus  hat  ihn  in  seinen  Adagien  (I  2,  44)  ausführlich  erklärt  — 
(Mos.  16;  Hegend.  2;  Schott.  20;  Heyd.  10;  Dune.  1  u.  2)  oder  'Observatores' 
(Viv.  8;  Cord,  wiederholt)  oder  'Monitores*  (Phil.  3).    Corderius  wählte  diese 


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A.  Börner:  Die  HumanistenBchulen  im  Spiegel  der  lateinischen  Schülerdialoge  139 

jedesmal  für  einen  Monat  aus,  er  lafst  einmal  (III  6)  einen  Rektor  eine  grofse 
Ansprache  an  die  Aaserwählten  über  ihren  Beruf  halten.  Dafs  dieses  Denunzianten- 
wesen den  Schülern  gründlich  verhafst  war,  können  wir  ihnen  nicht  verargen, 
ja  wir  empfinden  sogar  im  stillen  eine  kleine  Freude  mit  ihnen,  wenn  es  ihnen 
einmal  gelungen  ist,  den  Spion  zu  überlisten.  Bei  Vives  (8)  haben  sich  ein  paar 
Knaben,  während  sie  studieren  sollten,  über  Stadtneuigkeiten  unterhalten,  da 
bemerken  sie  auf  einmal  in  allernächster  Nähe  den  Observator,  stellen  sich 
gleich,  als  hätten  sie  ein  wissenschaftliches  Gespräch  geführt,  und  befragen 
den  Aufpasser  über  eine  schwierige  Vergüstelle,  worauf  dieser,  ihren  Fleifs 
lobend,  die  gewünschte  Auskunft  aber,  wohl  aus  gutem  Grunde,  nicht  er- 
teilend, von  dannen  geht.  Bei  Duncanus  (2)  sind  die  Schüler  in  einer  ähn- 
lichen Situation  nicht  so  gewitzigt.  Sie  versichern  auch,  eine  gelehrte  Dis- 
putation gehabt  zu  haben',  wissen  aber,  als  der  Corycäer  nach  dem  Thema 
fragt,  nichts  zu  antworten.  Knaben  also,  welche  bei  solchen  Vergehen  ertappt 
waren  oder  bei  irgend  welchen  anderen  Unarten,  etwa  wenn  der  eine  dem 
anderen  das  Buch  fortgeschoben,  mit  dem  dieser  seinen  Platz  in  der  Schule 
hatte  belegen  wollen  (Niav.  I  3  u.  4;  Heyd.  20),  wenn  er  ihm  die  Schuhe  besudelt 
('calceos  comminxit'  Murm.  47),  die  Bücher  bespuckt  (Murm.  48),  das  Tinten- 
fafs  umgegossen  (Niav.  I  6)  u.  s.  w.,  hatten  sich  bei  den  Strafgerichten,  wie  sie 
Niavis  an  der  angeführten  Stelle  beschreibt,  zu  verantworten.  Hier  stand 
immer  ein  Knabe,  der  sogenannte  Custos,  mit  der  Rute  bereit,  um  sogleich 
die  Urteile  auszuführen.  Diese  lauten  meistens  sehr  lakonisch,  z.  B.  'Custos, 
flecte  eum!'  oder  'Custos,  ut  assis  viminibus!'  Beim  Prügeln  giebt  es  noch 
wieder  nach  der  Gröfse  des  Verbrechens  besondere  Abstufungen.  Das  eine  Mal 
werden  alte,  das  andere  Mal  frische  Ruten  verwendet,  hier  wird  ein  Sünder 
nur  ein  wenig,  dort  'ad  medium  usque  dorsi'  entkleidet.  Huendern  (4)  läfst 
das  Custodenamt  jede  Woche  und  zwar  am  Samstag  nach  der  Vesper  zu- 
sammen mit  den  sonstigen  kleinen  Geschäften,  z.  B.  der  Wache  über  die 
Gesangbücher,  unter  die  Knaben  verteilen.  Neben  dem  Verwalter  der  Rute 
werden  noch  zwei  Knaben  ausgewählt,  welche  die  Strafwerkzeuge  zu  prä- 
parieren haben. 

Aufser  den  Sprachen  bildeten  Lesen,  Schreiben  und  Singen  zunächst  noch 
die  einzigen  Unterrichtsgegenstände  der  Humanistenschulen,  erst  später  wurden  « 
auch  Rechnen,  Geschichte,  Geographie  u.  s.  w.  in  ihren  Lehrbereich  hineingezogen. 

Vom  Lesen  und  Schreiben,  das  auch  wieder  nur  als  eine  notwendige 
Vorübung  zum  Erlernen  der  Sprache  angesehen  wurde,  hören  wir  bei  Vives 
(5  u.  10),  freilich  sind  die  Schüler,  welche  er  uns  vorführt,  wie  es  scheint 
keine  kleinen  Knaben,  die  eben  in  die  Schule  kommen,  sondern  ältere,  die 
sich  privatim  in  den  genannten  Künsten  unterrichten  lassen  wollen.  Der  Lese- 
schüler mufs  die  A-B-C-Tafel  in  die  linke  Hand  nehmen  und  den  Griffel  in 
die  rechte.  Der  Lehrer  nennt  einen  Buchstaben,  diesen  hat  er  auf  der  Tafel 
zu  zeigen  und  dann  genau  so  nachzusprechen,  wie  der  Unterweiser  es  ihm  vor- 
gemacht hat.  Die  praktischen  Übungen  werden  von  theoretischen  Auseinander- 
setzungen über  den  Charakter  der  verschiedenen  Buchstaben,  ihre  Einteilung 


I 


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140    A.  Börner:  Die  Humaninienscholen  im  Spiegel  der  lateinischen  Schülerdialoge 


in  Vokale  und  Konsonanten  u.  s.  w.  begleitet.  —  Der  Schreibunterricht  beginnt 
mit  kurzen  Bemerkungen  über  die  Entwickelung  der  Schrift  von  den  ältesten 
Zeiten  an.    Dann  folgen  praktische  Unterweisungen  Ober  das  Anspitzen  der 
Feder  und  ihr  Halten  beim  Schreiben.    Will  man  schnell  schreiben,  so  fafst 
man  sie  nur  mit  dem  Daumen  und  dem  Zeigefinger,  nach  Sitte  der  Italiener, 
sonst,  namentlich  wenn  die  Züge  kraftiger  werden  sollen,  nimmt  man  noch 
den  Mittelfinger  dazu.    Bezüglich  der  Tinte  billigt  der  Lehrer  nur  bei  den 
trugbaren  Tintenfässern  das  Hineintauchen  eines  Schwämmchens,  bei  den  fest- 
stehenden sei  ein  solches  nicht  Tonnöten  und  füglich,  da  leicht  Fasern  an  der 
Feder  haften  blieben,  zu  widerraten.    Wenn  die  Tinte  trocken  geworden  war, 
mufs  es  unter  den  Knaben  eine  verbreitete  Unsitte  gewesen  sein,  Urin  hinein 
zu  lassen,  denn  nicht  nur  bei  Vires  empfiehlt  ein  Schüler  dieses  Mittel  als 
probat,  sondern  auch  bei  Erasmus,  wo  von  der  Vorbereitung  zum  Schreiben 
die  Rede  ist.    An  Papier  wird  für  den  gewöhnlichen  Gebrauch  Briefpapier 
empfohlen,  das  in  bester  Qualität  aus  Italien  und  in  schlechterer  auch  aus 
Frankreich,  das  Buch  zu  c.  8  Pfennigen,  eingeführt  werde.  Ein  oder  das  andere 
Stück  Löschpapier  gäbe  es  dazu  noch  gratis.    Zur  Übung  im  Schreiben  giebt 
der  Lehrer  zunächst  das  A-B-C  auf,  dann  silbenweise  abgeteilte  Wörter  und 
endlich  einen  ganzen  Satz.    Nachdem  die  Knaben  fünf-  oder  sechsmal  die  be- 
treffende Vorschrift  nachgeschrieben  haben,  zeigen  sie  dem  Lehrer  ihre  Arbeit, 
und  dieser  macht  sie  auf  die  Mängel  aufmerksam,  z.  B.,  um  nur  eins  hervorzuheben, 
dafs  sie  alle  Buchstaben  miteinander  verbunden  hätten,  was  nur  bei  den  ge- 
schwänzten o,  l  und  u  und  denen  mit  einem  Striche  f  und  /,  jedoch  nicht  bei 
den  gerundeten  p  und  o  erlaubt  sei.    Nach  der  Korrektur  giebt  es  eine  neue 
Vorschrift.  —  Unwesentliche  Ergänzungen  zu  diesem  zusammenhängenden  Unter- 
richte bei  Vives  bilden  die  zahlreichen  zerstreuten  Notizen  bei  Corderius,  der 
die  Gesprächsthemata  über  Tinte,  Feder  und  Papier  bis  zum  Überdrusse 
variiert.    Beachtenswerter  sind  ein  paar  Stellen  bei  Zovitius  (3),  wenn  sich 
z.  B.  Cornelius  darüber  verwundert,  dafs  Andreas  *teutonicam  scriptionem  = 
duyts  schrift*  oder  'litteras  senatorias  =  schepen  brieven'  lesen  kann.  Für 
die  neuen  'ductiles  litteras  =  treckletteren'  schwärmen  beide  nicht,  Cornelius 
erscheinen  sie  'labyrinthiacae'. 

Den  Gesang  leitete,  wo  ein  solcher  angestellt  war,  der  Kantor.  Gesungen 
-  wurde  bei  den  gottesdienstlichen  Handlungen.  Wenns  viele  Festtage  gab, 
namentlich  in  der  Weihnachtszeit,  häuften  sich  die  Singpflichten  so,  dafs  die 
Knaben  mit  Schrecken  an  die  Kirche  dachten  (Mos.  10  u.  24;  Hegend.  4).  Zeugen 
einer  verunglückten  Gesangprobe  sind  wir  bei  Corvinus  (7):  Ein  Kantor,  der 
bisher  immer  ein  einziges  abgedroschenes  Lied  hat  singen  lassen,  das  an 
gefangen  den  Leuten  zum  Gespötte  zu  dienen,  übt  auf  Befehl  und  in  Gegen- 
wart des  Rektors  mit  den  Schülern  ein  paar  neue  Antiphonen  und  Responsorien 
ein.  Mopsus  soll  Tenor  singen,  Euryalus  Diskant,  Amyntas  Bafs.  Die  andern 
haben  zu  schweigen.  Amyntas  hat  eine  lange  Pause,  die  hält  er  aber  nicht 
ein,  dazu  brummt  er  so  rauh  in  den  Bart,  dafs  ihn  kein  Mensch  verstehen 
kann.    Für  ihn  mufs  Davus  singen,  während  an  Mopsus  Stelle  Corydon  treten 


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A.  Börner:  Die  Humanistenschulen  im  Spiegel  der  lateinischen  Schülerdialoge  141 

■olL  Doch  der  singt,  als  wenn  er  unter  den  Ziegen  grofs  geworden  wäre,  auf 
der  Stelle  mufs  er  Dametas  Platz  machen.  Dametas  kennt  aber  das  Lied 
Oberhaupt  nicht,  er  hat  eine  Zeit  lang  in  der  Schule  gefehlt.  Auch  Meliboeus 
vermag  nicht  auszuhelfen.  Da  reifst  dem  Kantor  die  Geduld,  und  er  schickt 
den  Kustos  ab,  dafs  er  für  einen  Obolus  frische  saftige  Ruten  hole.  Sobald 
diese  da  sind,  mufs  der  Kustos  den  ersten  der  Schlingel  zwischen  die  Beine 
nehmen  und  solange  festhalten,  bis  der  Kantor  seine  Wut  an  ihm  gekühlt 
hat.  Erst  die  Dazwischenkunft  eines  Fremden  macht  der  furchtbaren  Prügelei 
ein  Ende.  Der  Gesang,  um  dessentwillen  der  oben  schon  erwähnte  Kantor 
(Niay.  II  5)  so  auf  die  Knaben  losgeschlagen  hat,  mufs  Übrigens  ebenso  jämmer- 
lich gewesen  sein,  denn  unter  dem  Volke  —  dieses  Mal  handelte  es  sich  also 
nicht  um  eine  blofse  Probe  —  hat  sich,  wie  es  an  der  betreffenden  Stelle  J 
heifst,  ein  unwilliges  Gemurmel  erhoben. 

(Schlufs  folgt.) 


GRAMMATICI  MILITANTES f) 

Von  Armin  Dittkar 

Ein  Buch  Uber  den  Unterricht  in  den  alten  Sprachen  aus  Paul  Cauers 
Feder  und  Oskar  Jäger  gewidmet,  ist  von  vornherein  der  Aufmerksamkeit  aller 
Lehrer  dieser  Sprachen  sicher.  Auch  über  die  allgemeine  Tendenz  eines  solchen 
Buches  kann  kein  Zweifel  sein,  zumal  wenn  schon  der  Titel  Graminatica 
Militans  in  seiner  durchsichtigen  Beziehung  zur  Ecclesia  Militans  die  Ver- 
mutung nahelegt,  dafs  wir  nicht  in  einen  Kampf  gegen  die  Grammatik  hinein- 
geführt werden,  sondern  dafs  es  sich  um  eine  energische  Verteidigung  dieser 
Wissenschaft  handelt. 

In  der  That,  auch  Cauers  Buch  ist  eine  begeisterte  Rede  Pro  Domo,  auch 
Cauer  kämpft,  Gelehrter  und  Schulmann  zugleich,  mit  scharfer  Klinge  für  seine 
Ideale,  jede  Blöfse  des  Gegners  ausspähend  und  jeden  Vorteil  der  eigenen 
Stellung  ausnützend.  Man  merkt  es  dem  gelehrten  Herrn  Verfasser  an,  dafs 
er  bei  den  Soldaten  manches  gelernt  hat,  vor  allem  auch  die  Kunst,  nie  den 
guten  Humor  zu  verlieren.  Es  thut  einem  wohl,  dafs  es  gegenüber  dem  viel- 
fach in  unseren  Kreisen  herrschenden  Pessimismus  doch  noch  Männer  giebt, 
welche  die  Ansicht  vertreten,  dafs  das  Sterbestündlein  der  Studia  humaniora 
noch  keineswegs  geschlagen  hat,  dafs  vielmehr  der  Unterricht  in  den  alten 
Sprachen  nach  wie  vor,  ja  mehr  noch  als  gegenwärtig,  einen  breiten  Raum  in 
der  Jugenderziehung  einnehmen  mufs. 

Das  Ziel  des  Buches  aber  ist  zu  zeigen,  dafs  es  die  Grammatik  ver- 
dient, aus  ihrer  niedrigen  Magdsstellung,  zu  der  sie  in  neuerer  Zeit  degradiert 
worden  ist,  wieder  emporgehoben  und  als  selbständiges  Glied  in  die  Reihe  der 
übrigen  Unterrichtszweige  aufgenommen  zu  werden,  dafs  der  grammatische 
Unterricht  eine  wichtige  Mission  innerhalb  des  geistigen  Lebens  unserer  Zeit 
zu  erfüllen  hat,  nämlich  zur  Kräftigung  und  Klärung,  zur  tieferen  und  feineren 

')  1)  Grammatica  militans.  Erfahrungen  und  Wünsche  im  Gebiet  des  lateinischen  und 
griechischen  Unterrichts.  Von  Paul  Cauer.  Berlin.  Weidmannsche  Buchhandlung.  1898. 
2)  Lateinische  Schulgrammatik.  Bearbeitet  von  J.  H.  Schmalz,  Gymnasialdirektor  in  Rastatt, 
und  C.  Wagener,  Gymnasiallehrer  in  Bremen.  Ausgabe  ß.  Vierte  Auflage.  Bielefeld  und 
Leipzig.  Verlag  von  Velhagen  und  Klasing.  1898.  3)  Aufgaben  zur  Einübung  der  latei- 
nischen Syntax  von  Ernst  Schwabe,  Oberlehrer  an  der  Fürsten-  und  Landesschule  zu  St.  Afra, 
Meilsen.  Heft  1.  Systematisch  geordneter  Teil.  Heft  2.  Freie  Aufgaben.  Leipzig.  Druck 
und  Verlag  von  B.  G.  Teubner.  1896.  4)  Stilistische  Übungen  der  lateinischen  Sprache 
von  Ernst  Berger.  Achte  Auflage,  neu  bearbeitet  von  Professor  Dr.  H.  J.  Müller,  Direktor 
des  Luisenstftdtischen  Gymnasium«  zu  Berlin.   Berlin.   Weidmannsche  Buchhandlung.  1898. 


Ä.  Dittmar:  Granmifttici  Militante» 


143 


Bildung  des  Geistes  zu  dienen.  Wenn  aber  dieses  Ziel  erreicht  werden  soll, 
so  mufs  der  grammatische  Unterricht  vertieft  werden,  und  zwar  vor  allem  mit 
Hilfe  der  Ergebnisse  der  modernen  Sprachwissenschaft. 

Weit  holt  der  Verfasser  aus,  vorsichtig  klärt  er  das  Gelände  auf.  Zunächst 
hält  er  eine  Musterung  über  das  grammatische  Handwerkszeug,  d.  h.  über  die 
grammatischen  termini  technici.  Schon  hierbei  zeigt  sich  der  im  ganzen  Buche 
torwaltende  gesunde  Konservativismus,  der  das  bewährte  Alto  beizubehalten 
und  zu  vertiefen  strebt,  ungestümen  Neuerungen  aber  abhold  ist.  So  wird 
z.  B.  die  vielfach  herrschende  Neigung  bekämpft  (siehe  die  Deeckische  Schul- 
grammatik!), die  grammatischen  Termini  zu  verdeutschen,  das  vielgescholtene 
Cum  inversum  dagegen  wird  mit  Geschick  verteidigt,  die  Begriffe  Logisches 
Subjekt  und  Prädikativ  werden  geklärt,  die  Ausdrücke  Effiziertes  und  Affiziertes 
Objekt  sowie  Wortstock  empfohlen. 

Ein  lebhaftes  Vorpostengefecht  entspinnt  sich  in  den  nächsten  Abschnitten, 
wo  der  Verfasser  mit  Humor  und  Satire  ein  paar  Schlagworten  der  modernen 
Pädagogik  zu  Leibe  geht.  Er  warnt  zunächst  vor  den  Gefahren  einer  allzu 
mechanischen  Anwendung  des  induktiven  Lehrverfahrens  und  zeigt,  dafs  auch 
die  Deduktion  ihr  Recht  hat.  Wer  bei  der  Induktion  nicht  vorsichtig  zu 
Werke  geht,  gleicht  jenem  Engländer,  der  mit  der  Uberzeugung  nach  Hause 
reiste,  dafs  es  in  Heidelberg  immer  regne,  weil  er  es  zweimal  so  gefunden 
hatte.  Wer  die  Deduktion  ganz  beiseite  läfst,  verkennt  den  Heifshunger  des 
Sextaners,  der  raubt  dem  Knaben  die  Genugthuung,  gelegentlich  einen  herz- 
haften logischen  Schlufs  durch  den  Erfolg  bestätigt  zu  sehen.  Wie  die  Deduk- 
tion so  wird  von  den  Neueren  auch  die  Synthese  als  unpädagogisch  über  Bord 
geworfen.  Cauer  hingegen  warnt  mit  Recht  nachdrücklich  davor,  die  Sprache 
immer  nur  von  einer  Seite  zu  betrachten,  vielmehr  soll  das  Bewufstsein  nie 
verloren  gehen,  dafs  es  hier  zwei  Pole  giebt,  die  auf  Schritt  und  Tritt  den 
Unterricht  begleiten,  der  Lehrer  soll  ebensogern  einmal  in  der  Erklärung 
eines  Textes  synthetisch,  wie  in  der  Grammatikstunde  analytisch  verfahren. 
Geradezu  schädlich  aber  ist  es,  einem  Quartaner  den  Accusativus  cum  infini- 
tivo  oder  den  Ablativus  absolutus  analytisch  zu  erklären.  Hier  mufs  nach  wie 
vor  vom  Deutschen  ausgegangen  und  die  Konstruktion  zunächst  nach  Zählen 
geöbt  werden,  wie  die  Griffe  auf  dem  Kasernenhof. 

Das  Gebiet  der  wissenschaftlichen  Grammatik  betreten  wir  in  den  nächsten 
Abschnitten.  In  dem  Kapitel  'Psychologie  und  Logik'  zeigt  der  Verfasser, 
welch  reichen  Gewinn  der  grammatische  Unterricht  aus  einer  stärkeren  Be- 
tonung  des  psychologischen  Moments  zu  ziehen  vermag.  Denn  obwohl  mit 
einem  gewissen  Recht  die  lateinische  Syntax  geradezu  als  angewandte  Logik 
bezeichnet  werden  kann,  so  geht  doch  hier  nicht  alles  wie  bei  der  Mathematik 
Null  für  Null  auf,  sondern  oft  liegt  —  und  dies  wird  an  verschiedenen  Bei- 
spielen verdeutlicht  —  gerade  in  den  Vorstellungen,  die  beim  Reden  und 
Schreiben  im  Hintergrunde  ruhen,  das  eigentlich  Entscheidende,  und  darum  ist 
oft  psychologische  Auffassung  und  lebendiges  Nachempfinden  notwendig.  Gerade 
hier  könnte  sich  die  Schule  vielfach  die  Ergebnisse  der  wissenschaftlichen 


144 


A.  Dittmar:  Grammatici  Militante» 


Grammatik  zu  nutze  machen,  wenn  der  lateinische  Unterricht  —  welch 
schreiender  Gegensatz!  —  nicht  immer  durch  äufsere  Rücksichten  eingeengt 
und  verkürzt  würde. 

Die  Ergebnisse  der  sogenannten  historischen  Grammatik  sind  dagegen,  | 
wie  im  folgenden  Abschnitt  gezeigt  wird,  mit  grofser  Vorsicht  zu  verwenden. 
Denn  im  allgemeinen  sind  die  Wege,  welche  die  Sprache  gegangen  ist  und  die 
Forschung  ihr  nun  nachgeht,  viel  zu  verschlungen,  als  dafs  man  versuchen 
könnte,  die  Gedanken  unreifer  Knaben  durch  dieses  ganze  Labyrinth  hindurch- 
zuführen. Insbesondere  ist  vor  einem  übermäfsigen  Operieren  mit  vorgriechi- 
schen Suffixen  und  Wurzeln  zu  warnen.  Anderseits  kann  die  Vergleichung 
zwischen  Homerischem  und  Attischem  Griechisch  zu  mancher  fruchtbaren  Er- 
kenntnis führen.  Das  Wesen  und  Wachsen  der  Sprache  wird  dem  Schüler 
nirgends  besser  anschaulich  als  in  dem  scheinbar  regellosen  Gemisch  der  Laut- 
und  Wortformen  bei  Homer.  In  der  Homerischen  Syntax  aber  lernt  der 
Schüler  die  einfacheren  und  ursprünglicheren  Denkformen  kennen,  aus  denen 
die  geläufigen  Konstruktionsweisen  der  Litteratursprachen  entstanden  sind. 
Auch  die  falsche  Analogie,  ebenfalls  ein  Kind  der  neueren  wissenschaftlichen 
Betrachtungsweise  der  Sprache,  ist  oft  mit  Nutzen  als  Erklärungsmittel  zo 
verwenden. 

So  hat  sich  der  Verfasser  nach  allen  Seiten  hin  seine  Stellung  gesichert, 
und  wohlvorbereitet  sind  wir  für  den  zweiten,  den  'besonderen'  Teil  des  Buches. 
Wir  verstehen  es  ohne  weiteres,  wenn  Cauer  im  nächsten  Abschnitt  davor 
warnt,  die  Kasuslehre  in  der  Schule  wissenschaftlich  zu  behandeln.  Sie  stellt 
zu  hohe  Anforderungen  an  den  Schüler,  ohne  dafs  dabei  viel  herauskommt. 
Vielfach  kann  man  durch  eine  einfache,  aus  der  Sache  selbst  geschöpfte,  auch 
dem  Schüler  verständliche  Überlegung  zeigen,  wie  ein  Sprachgebrauch  ent- 
standen ist.  Den  lateinischen  Accusativus  Graecus  z.  B.  wird  man  nicht  er- 
klären, indem  man  die  verschiedenen  Quellen  verfolgt  und  aufdeckt,  aus  denen 
der  griechische  Sprachgebrauch  geflossen  ist.  Die  verschiedenen  Gebrauchs- 
weisen des  Gerundivums  lassen  sich  leicht  erläutern,  wenn  man  bei  Erklärung 
des  Satzes  Epistula  est  mihi  scribenda  von  der  Übersetzung  ausgeht:  Der  Brief 
ist  ein  mir  zu  schreibender. 

Auch  in  dem  Abschnitt  über  die  Tempora  ist  Cauer  konservativ.  Die 
Lattmannsche  Lehre  vom  absoluten  Gebrauche  des  Plusquamperfektum  und 
Futurum  exactum  hat  ihn  —  wie  ich  glaube  mit  Recht  —  nicht  überzeugt, 
ebenso  nicht  die  Ansichten  Hoffmanns  über  die  Bedeutung  des  Konjunktivs 
und  Indikativs.  Ferner  verwirft  Cauer  die  allgemein  übliche  Lehre  —  und 
dabei  spricht  er  mir  aus  der  Seele  —  wonach  das  Imperfektum  die  Wieder- 
holung oder  Dauer  in  der  Vergangenheit  bedeutet.  Auch  den  Ansichten  Mute- 
bauerB,  dem  er  im  allgemeinen  beistimmt,  kann  er  sich  in  einigen  wichtigen 
Punkten,  z.  B.  in  der  Erklärung  des  gnomischen  Aoristes,  nicht  anschüefsen. 

Bei  der  Besprechung  der  Modi  vertritt  Cauer  die  Ansicht,  der  ich  freilich 
nicht  beistimmen  kann,  dafs  im  Lateinischen  das  Verständnis  des  Konjunktivs 
in  Nebensätzen  keine  grofse  Mühe  mache.    Er  erklärt  darum  nur  einige 


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A.  Dittmar:  Grammatici  Militantes 


145 


Schwierigkeiten  der  Modi  in  den  lateinischen  Hauptsätzen  und  giebt  dann  eine 
übersichtliche  schulmäfsige  Behandlung  der  Modi  in  griechischen  Haupt-  und 
Nebensätzen,  mit  Ausnahme  der  Bedingungssatze,  deren  Besprechung  einem 
späteren  Abschnitt  vorbehalten  bleibt.  Näher  wird  auf  das  Verhältnis  zwischen 
Parataxe  und  Hypotaxe  im  nächsten  Kapitel  eingegangen.  Auf  Grund  der 
Lehre,  dafs  sich  alle  Unterordnung  aus  der  Beiordnung  entwickelt  hat,  zeigt 
Cauer  an  zahlreichen  Beispielen,  wie  sich  der  untergeordnete  Satz  noch 
häufig  eine  gewisse  innere  Selbständigkeit  bewahrt  hat.  Die  wichtigste  und 
interessanteste  Gruppe  aller  Nebensätze,  die  Bedingungssätze,  enthält  ein  be- 
sonderes, das  letzte  Kapitel,  wo  Cauer  die  Quellen  aufzeigt,  aus  denen  die  ver- 
schiedenen Arten  dieser  Sätze  geflossen  sind. 

Dies  ist  in  kurzen  Zügen  der  reiche  Inhalt  des  Buches.  Rechnen  wir 
noch  die  Frische  und  Wärme  des  Tons,  die  Klarheit  und  Eleganz  des  Aus- 
drucks, die  vornehme  und  ruhige  Art  der  Polemik,  die  Selbständigkeit  und  den 
Freimut  gegenüber  Autoritäten  und  Behörden,  die  wohlthuende  pietas  gegen- 
über den  eigenen  Lehrern,  so  kommt  als  Resultat  das  Urteil  heraus,  dafs  die 
Lektüre  des  Buches  für  jeden  Freund  des  klassischen  Altertums  genufs-  und 
lehrreich  sein  wird. 

Dafs  bei  einem  so  vielseitigen  Inhalt  auch  häufig  der  Widerspruch  gereizt 
wird,  leuchtet  ein.  Vor  allem  ein  Bedenken  zu  äufsern  kann  ich  mich  nicht 
enthalten,  ein  Bedenken,  das  jedenfalls  auch  von  vielen  andern  praktischen 
Schulmännern  geteilt  werden  wird.  Mir  will  es  nämlich  scheinen,  als  ob  Cauer 
nicht  genügend  die  Thatsache  würdigte,  dafs  noch  sehr  vieles  in  der  wissen- 
schaftlichen Grammatik,  in  der  Tempus-  und  Moduslehre  zumal,  unklar  ist,  als 
ob  er  vielfach  eine  Erklärung  gäbe  oder  annähme,  deren  Richtigkeit  keines- 
wegs über  allem  Zweifel  erhaben  ist.  In  der  Tempus-  und  Moduslehre  herrscht 
gerade  heutzutage  ein  lebhafter  Kampf,  dessen  Ende  noch  gar  nicht  ab- 
zusehen ist.  Die  dicken  Abhandlungen  und  Bücher  von  Blase,  Elmer,  Haie, 
Hoffmann,  Lattmann,  Lübbert,  Morris  u.  s.  w.  zeigen  zur  Genüge,  wie  wenig 
noch  allgemeine  Übereinstimmung  über  die  einfachsten  Dinge  herrscht.  Ja,  es 
läfst  sich  leicht  nachweisen,  dafs  selbst  manches  von  dem  wenigen,  was  heute 
als  unanfechtbar  gilt  und  was  auch  Cauer  als  unanfechtbar  annimmt,  einer 
genaueren  Prüfung  nicht  standhalten  kann.  Es  kann  also  leicht  vorkommen, 
meine  ich,  dafs  bei  einem  wissenschaftlichen  Betrieb  der  Grammatik  im 
Cauerschen  Sinne  der  Ordinarius  von  Sekunda  vielfach  eine  andere  Ansicht 
den  Schülern  gegenüber  ausspricht  als  der  von  Prima,  dafs  also  eine  ziemliche 
Verwirrung  in  den  Köpfen  der  Schüler  entsteht. 

Das  erste,  was  uns  not  thut,  ist,  dafs  wir  uns  aus  unserer  Sicherheit  auf- 
rütteln, dafs  wir  uns  von  der  Vorstellung  frei  machen,  als  ob  in  der  Grammatik 
der  alten  Sprachen  alles  fest  und  sicher  wäre. 

So  lange  noch  die  Meinung  herrscht,  dafs  das  Präsens  ein  'Tempus'  sei, 
dafs  das  Plusquamperfektum  in  dem  Satze  Cum  domum  intrasset,  animadvertit 
die  Vorzeitigkeit  ausdrücke,  dafs  der  Infinitivus  Futuri  nach  den  Verben  des 
Versprechens,  Höffens  und  Drohens  weiter  nichts  als  die  Zukunft  bezeichen, 

Xew  Jahrbücher    1999    H  10 


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i4i; 


A.  Dittmar:  Grammatici  Militantes 


dafs  der  Konjunktiv  in  den  Temporalsätzen  ein  Zeichen  der  inneren  Abhängig 
keit,  einer  inneren  Beziehung  zum  regierenden  Satze  sei,  so  lange  noch  der 
reale,  potentiale  und  irreale  Fall  so  erklärt  werden,  wie  es  in  den  Grammatiken 
geschieht  und  wie  es  auch  Cauer  thut,  so  lange  die  Lehre  gilt,  dafs  nach 
Multi  sunt  im  Relativsatze  der  Indikativ  deswegen  stehen  könne,  weil  im 
Hauptsatz  ein  bestimmtes  Subjekt  stehe,  und  dafs  in  dem  Satze  Me  miserum 
qui  haec  non  viderim  der  Konjunktiv  den  Grund  bedeute,  so  lange  noch  an 
eine  'Entwicklung'  der  Modi  in  der  Zeit  zwischen  Plautus  und  Terenz  ge- 
glaubt und  die  Attractio  modorum  als  die  unfehlbare,  wunderbare  Panacee  an- 
gesehen wird,  —  so  lange  wollen  und  müssen  wir  unsere  Schüler  mit  einer 
'Erklärung*  dieser  und  noch  vieler  anderer  sprachlichen  Erscheinungen  ver- 
schonen. Wir  müssen  sie  vielmehr  darauf  aufmerksam  machen,  dafs  in  unseren 
Grammatiken  zwar  die  Regeln  an  sich  richtig  sind  (oft  genug  ist  freilich 
auch  dies  nicht  der  Fall),  dafs  aber  das,  was  zur  Erklärung  der  Regel  hinzu- 
gefügt wird,  sehr  oft  unrichtig  oder  wenigstens  nicht  allgemein  anerkannt  ist. 
Wir  müssen  ihnen  z.  B.  sagen:  Nach  sunt  qui  steht  im  allgemeinen  der  Kon- 
junktiv, manchmal  jedoch  auch  der  Indikativ;  der  Grund  für  diesen  Wechsel 
ist  gegenwärtig  noch  nicht  bekannt.  Oder:  Ihr  habt  die  Worte  Als  er  hörte 
zu  übersetzen  mit  Cum  audivisset,  wenn  ihr  aber  bei  Cicero  einmal  lest  Cum 
audiret,  so  ist  das  keine  'unklassische'  Ausdrucksweise,  sondern  wir  sind  heute 
noch  nicht  in  der  Lage,  den  Grund  dafür  anzugeben.  Und  so  in  vielen  Fällen. 

Dies  Verfahren  scheint  zwar  zunächst  niederschlagend  zu  sein  für  Lehrer 
und  Schüler;  aber  es  hat  doch  auch  seine  grofsen  Vorzüge.  Wir  sind  vor 
allem  im  edelsten  Sinne  wahrhaft  geblieben,  indem  wir  nicht  etwas  zu  wissen 
vorgeben,  was  wir  thatsächlich  nicht  wissen.  Wir  brauchen  ferner  nicht  fort- 
während die  Schriftsteller  in  den  Augen  der  Schüler  dadurch  herabzusetzen, 
dafs  wir  eine  bisher  noch  nicht  erklärte  Konstruktion  als  unklassisch  kenn- 
zeichnen. Was  in  dieser  Hinsicht  in  unseren  Kommentaren  gefehlt  wird,  ist 
wenig  erfreulich.  Der  Schüler  bekommt  aber  auch  einen  gröfseren  Respekt 
vor  der  Sprachwissenschaft.  Denn  er  wird  bald  merken,  dafs  die  Grammatik 
eine  echte  Wissenschaft  ist,  insofern  hier  nicht  alles  tot  und  starr,  sondern  im 
Gegenteil  alles  in  Bewegung  und  im  Flufs  ist. 

Hier  bin  ich  nun  wieder  in  erfreulicher  Ubereinstimmung  mit  Cauer.  Denn 
auch  er  spricht  im  letzten  Abschnitt  davon,  dafs  die  Thatsache,  dafs  heute  auf 
vielen  Gebieten  der  klassischen  Altertumswissenschaft  alte  Anschauungen  haben 
neueren  weichen  müssen,  nicht  ein  Nachteil,  sondern  ein  Vorteil  für  die  Schule 
ist;  dafs  unsere  Wissenschaft  gerade  auf  ihrer  gegenwärtigen  Stufe  vorzüglich 
geeignet  ist,  dafs  an  ihr  ein  Geschlecht  sich  bilde,  dem  auch  die  Wirklich- 
keit statt  gesicherter  Verhältnisse  einen  Reichtum  an  Fragen  bietet,  die  der 
Lösung  harren. 

Unter  den  heutigen  Verhältnissen  mufs  also  das  echt  wissenschaftliche 
Ignoramus  in  der  Schule  eine  grofsere  Rolle  spielen  als  bisher,  wir  müssen 
uns  bescheiden,  zum  Zweck  der  Einprägung  der  sprachlichen  Thatsachen 
unsere  Schulgrammatiken  durch  übersichtliche  Darstellung,  durch  zweckmäfsige 


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Gruppierung  u.  s.  w.  recht  praktisch  einzurichten.  Cauer  selbst  hat  dies  sehr 
gut  an  verschiedenen  Beispielen  gezeigt,  z.  6.  an  der  Darbietung  des  Accusativus 
cum  infinitivo,  des  Ablativus  absolutus,  der  Modi  in  den  griechischen  Haupt- 
und  Nebensätzen. 

Ein  Muster  aber  in  dieser  pädagogischen  Hinsicht  ist  die  Lateinische 
Schtilgrammatik  von  Schmalz  und  Wagener  (Ausgabe  B).  Sie  liegt  bereits 
in  vierter  Auflage  vor  und  hat  schon  dadurch  den  Beweis  ihrer  Tüchtigkeit 
erbracht.  Schon  die  übersichtliche  Anordnung  der  Paradigmata,  der  Vokabeln 
und  Redewendungen  in  Formenlehre  und  Syntax,  welche  durch  Anwendung  ver- 
schiedener Typen  ausgezeichnet  unterstützt  wird,  sticht  vorteilhaft  von  anderen 
Grammatiken  ab.  Überall  zeigt  sich  ein  erfreulicher  konservativer  Sinn:  Die 
Termini  sind  die  allgemein  üblichen,  wir  finden  noch  nach  Vätersitte  gereimte 
Genusregeln,  die  zweite  Deklination  ist  noch  die  zweite  und  die  dritte  Kon- 
jugation die  dritte,  in  der  Syntax  kommt  immer  erst  hübsch  die  Regel,  dann  die 
Beispiele.  Auch  die  Reichhaltigkeit  des  Stoffes  verdient  Anerkennung,  man  wird 
nicht  viel  vermissen,  weder  in  der  Formenlehre  noch  in  der  Syntax.  Dafs 
freilich  tantum  abest  hat  weichen  müssen,  ist  bedauerlich.  Der  Wortlaut  der 
Regeln  ist  klar  und  dem  Verständnis  des  Schülers  angemessen,  die  Beispiele 
reichlich  und  meist  Schriftstellern  entlehnt  Dafs  die  Grammatik  auch  durch 
und  durch  wissenschaftlich  ist,  bedarf  bei  dem  guten  Klange  der  Namen  der 
Herausgeber  kaum  der  Erwähnung.  Aber  diese  Wissenschaftlichkeit  drängt 
sich  nirgends  hervor,  sie  ist,  ich  möchte  sagen,  immanent,  man  fühlt  mehr,  als 
dafe  man  es  sähe,  wie  jede  Regel  von  Männern  niedergeschrieben  ist,  welche 
die  Litteratur  durchaus  beherrschen  und  welche  wissen,  was  dem  Schüler 
frommt.  So  hören  wir  nichts  von  Grundbedeutungen  der  Kasus  und  Modi, 
auch  Vergleichungen  mit  den  übrigen  italischen  Dialekten  oder  mit  dem 
Griechischen  fehlen.  Selbst  in  den  hübschen  Anhängen  zur  Formenlehre  (Über- 
sicht über  die  Bildung  der  Kasus,  über  die  Bildung  der  Präsens-,  Perfekt-  und 
Supinstämme  und  Wortbildungslehre)  begnügen  sich  die  Verfasser  mit  lateini- 
schem Sprachgut.  Könnte  übrigens  nicht  als  vierter  Anhang  ein  kurzer  Abrifs 
der  Geschichte  der  lateinischen  Sprache  sowie  ein  paar  Worte  über  das  Oskische 
und  Umbrische  folgen? 

Wenn  Cauer  gelegentlich  gegen  die  Darstellung  des  Ablativs  den  Vorwurf 
allzugrofser  Kompliziertheit  erhebt,  so  ist  zu  entgegnen,  dafs  in  Untertertia 
getrost  der  'schattenhafte  Begriff  des  Sociativus'  wegfallen  kann;  bei  späteren 
zusammenfassenden  Wiederholungen  auf  der  Oberstufe  wird  er  schon  seine 
Dienste  thun.  In  der  Tempus-  und  Moduslehre  ist  zu  billigen,  dafs  die 
indirekten  Fragen  und  die  Relativsätze  vor  den  eigentlichen  Konjunktional- 
sätzen behandelt  werden,  und  vor  allem,  dafs  vielfach  keine  Erklärung  gegeben 
wird,  wo  es  noch  keine  giebt.  So  wird  §  322  einfach  konstatiert,  dafs  auf 
die  Verba  des  Affekts  sowohl  ein  Quod-Satz  als  auch  ein  Accusativus  cum 
infinitivo  folgen  kann.  §  315  heifst  es:  'Jedoch  sagt  man  immer  repudiavit 
hoc,  cum  diceret,  adderet  mit  den  Worten,  dem  Zusätze/  Von  den  Konsekutiv- 
sätzen hat  der  Schüler  §  302  nur  zu  lernen,  dafs  sie  im  Konjunktiv  stehen. 

10* 


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A.  Dittmar:  Grammatici  Militantes 


Auch  die  Haiesche  Hypothese  Aber  den  Konjunktiv  in  Relativ-  und  Cum-Sätzen 
hat  glücklicherweise  keinen  Einflufs  auf  die  Darstellung  ausgeübt. 

Nicht  vermag  ich  es  jedoch  zu  billigen,  dafs  die  Lehre  von  der  bezogenen 
und  selbständigen  Zeitgebung,  von  der  Kongruenz  und  Koincidenz  der  Satze  f 
aufgenommen  worden  ist.  Ich  kann  nicht  finden,  dafs  das  Präsens  nach  Dum 
erklärt  ist,  wenn  es  heifst:  Nach  dum  tritt  immer  selbständige  Zeitgebung 
ein.  Auch  sonst  hätte  wohl  noch  öfter  jene  Entsagung  in  dem  oben  an- 
gedeuteten Sinne  geübt  werden  sollen.  So  in  der  Lehre  von  den  Relativsätzen, 
wo  die  Erklärung  des  Indikativs  nach  Sunt,  qui  unrichtig  ist.  Auch  die  An 
gäbe,  dafs  der  Konjunktiv  nach  dum,  donec,  quoad,  antequam  und  priusquam 
nur  final  oder  potential  sei,  stimmt  nicht,  ebensowenig  wie  die  Bemerkung, 
dafs  Cum  causale  nur  den  Erkenntnisgrund  einführe.  Unzureichend  ist  es, 
wenn  gesagt  wird,  dafs  durch  den  Konjunktiv  nach  Cum  historicum  die  Hand- 
lung des  Nebensatzes  in  engste,  gewissermafseu  ursächliche  Beziehung  zu  der 
des  Hauptsatzes  gesetzt  wird.  In  diesen  und  anderen  Fällen  wäre  ein  Non 
liquet  am  Platze  gewesen. 

Zur  Grammatik  gehört  das  Übungsbuch.  Unter  der  grofsen  Zahl  der  in 
den  letzten  Jahren  erschienenen  ragen  hervor  die  Aufgaben  zur  Einübung 
der  lateinischen  Syntax  von  Ernst  Schwabe. 

Auch  Schwabe  stellt  hohe  Anforderungen  an  Lehrer  und  Schüler;  auch  er 
ist  ein  echter  Grammaticus  Militans.  Er  verlangt  rüstige  Arbeit  und  von  der 
modernen  Verzärtelung  will  er  nichts  wissen.  Es  wird  gewifs  manchem 
Sekundaner  sauer  werden,  sein  Schifflein  durch  die  mancherlei  Klippen  und 
Riffe  ungefährdet  hindurch  zu  lenken.  Zu  schwer  jedoch  sind  die  Aufgaben 
nicht,  wenigstens  nicht  für  unsere  sächsischen  Verhältnisse.  Zudem  steht  ea 
ja  jedem  Lehrer  frei,  durch  entsprechende  Hilfen  seine  Schüler  vorm  Straucheln 
zu  behüten. 

Besondere  Anerkennung  verdient  das  gleich  von  den  ersten  Stücken  an 
hervortretende  Streben,  die  Schüler  an  Bildung  von  lateinischen  Perioden  zu 
gewöhnen.  Ich  erblicke  hierin  einen  Hauptvorzug  dieser  Aufgaben.  Auch  die 
phraseologischen  Verba  spielen  mit  vollem  Rechte  eine  wichtige  Rolle.  Grofser 
Wert  wird  —  was  ebenfalls  sehr  zu  billigen  ist  —  auf  die  Übersetzung  von 
Fremdwörtern  gelegt.  Von  hübschen  Wendungen  und  Üb  ersetzungen  erwähne 
ich  z.  B.:  Um  Gottes  Willen!  »  Di  meliora!  mit  klingendem  Spiel  =  tubis 
sonantibus,  alles  stehen  und  liegen  lassen  =  omnia  negligere,  bei  uns  zu 
Hause  =  nostras,  Quintilian  in  seiner  'Rednerschule'.  Überhaupt  verwendet 
der  Verfasser  grofse  Sorgfalt  auf  den  Ausdruck,  er  ist  mit  Erfolg  bestrebt, 
ein  möglichst  gutes  Deutsch  zu  bieten.  Aber  vielleicht  könnte  bei  einer 
wünschenswerten  zweiten  Auflage  gerade  in  diesem  Punkte  noch  etwas  mehr 
gethan  werden.  Über  den  jedes  'welcher*  und  'derselbe'  verponenden  Wust- 
mannianismus  läfst  sich  allenfalls  noch  streiten,  aber  von  einer  'steilen  < 
Aufgabe',  von  'Ehrgeiz  um  die  höchsten  Würden',  von  einer  'dort  befind- 
lichen Rhonebrücke'  darf  man  doch  wohl  nicht  reden.  Wendungen  wie  'Was 
nun  für  ein  Lärm  plötzlich  entstand,  läfst  sich  kaum  beschreiben',  welche 


A.  Dittmar:  Grammatici  Militantes 


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mit  Recht  sehr  häufig  sind,  könnten  wohl  noch  öfter  in  der  Form  gegeben 
werden:  'Der  Lärm,  der  plötzlich  entstand,  läfst  sich  kaum  beschreiben/  Das 
Latein,  das  bei  der  Übersetzung  des  Schülers  herauskommt,  ist  gut.  Indes 
könnte  wohl  auch  hier  manches  gebessert  werden.  In  dem  Satze  z.  B.:  'Denn 
ein  jeder  von  den  Germanen  verteidigte  sein  Leben  so,  dafs  er,  selbst  wenn  er 
schon  am  Boden  lag,  noch  kämpfte*  wird  der  Sekundaner  kaum  wissen,  dafs 
er  iacere  in  den  Konjunktiv  zu  setzen.  (Ähnlich  S.  59  Satz  1.)  Auch  wäre 
bei  dem  Satze:  'Gerade  damals  hatte  sich  aufserdem  das  grofse  Unglück  er- 
eignet, dafs  der  heilige  Stier  umgebracht  war'  ein  Hinweis  notwendig,  dafs  im 
Nebensatz  ut  mit  coni.  impf,  zu  stehen  hat 

Dals  alle  Regeln  zu  ihrem  Rechte  kommen,  dafür  sorgt  schon  die  An- 
ordnung der  Aufgaben.  Im  ersten  Hefte  nämlich  gehen  jedesmal  den  zusammen- 
hängenden Übungsstücken,  welche  den  Löwenanteil  erhalten  haben,  eine  be- 
trächtliche Anzahl  Einzelsätze  voraus,  in  denen  auch  seltenere  Konstruktionen 
genügend  geübt  werden.  Gröfsere  Beachtung  hätten  vielleicht  verdient:  cum 
identicum,  si  quis  est  qui  mit  Konj.,  eo  magis  quod,  nedum,  tanquam  si  und 
quasi,  fortis  et  qui  mit  Konj.,  das  Exemplum  fictum. 

Der  Inhalt  der  Übungsstücke  ist  dem  Verständnis  der  Sekundaner  durchaus 
angemessen.  Der  Verfasser  hütet  sich,  seichte  und  flache  Moral  zu  predigen 
oder  gelehrte  und  verstiegene  Abhandlungen  zu  bieten.  Nicht  nur  die  Er- 
innerung an  Nepos  und  Ovid,  Cäsar  und  Xenophon  wird  aufgefrischt,  sondern 
neles  ist  auch  Schriftstellern  entnommen,  die  dem  Schüler  wenig  oder  nicht 
bekannt  sind,  z.  B.  Älian,  Plutarch,  Joh.  Stobaeus,  Hygin,  Quintilian,  Gellius. 
Auch  Schriftsteller  des  Mittelalters  fehlen  nicht,  wie  z.  B.  Eginhard  und 
Widukind,  Erasmus  und  Melanchthon.  Stücke  aus  der  griechischen  und 
römischen  Heldensage  wechseln  ab  mit  angemessenen  philosophischen  Betrach- 
tungen, längere  geschichtliche  Erzählungen  mit  kurzen  Anekdoten,  die  Brief- 
form wird  ebensowenig  vernachlässigt  —  sogar  ein  Brief  Bismarcks  findet 
ach  —  wie  die  Volks-  und  Gerichtsrede.  Das  zweite  Heft,  welches  nur 
zusammenhängende  Stücke  enthält,  ist  nach  sachlichen  Gesichtspunkten  ge- 
ordnet: der  gröfste  Teil  besteht  in  chronologisch  geordneten  Darstellungen  aus 
der  alten  Geschichte,  dann  folgt  Biographisches,  Geographisches,  Kultur- 
historisches und  Philosophisches.  Auch  Mittelalter  und  neuere  Geschichte  sind 
in  einigen  Abschnitten  vertreten.  Den  Schlafs  bilden  einige  Stücke,  in  denen 
Gelegenheit  zum  Versemachen  gegeben  wird. 

So  ist  der  Inhalt  vorzüglich  geeignet,  den  Gesichtskreis  des  Schülers  zu 
erweitern,  sein  Wissen  zu  vertiefen,  seinen  Geist  zu  veredeln,  seinem  Gemüt 
und  seiner  Phantasie  gesunde  und  kräftige  Nahrung  zu  geben. 

Während  die  Schwabischen  Aufgaben  mehr  die  eigentliche  Grammatik  be- 
tonen, dient  das  Bnch,  dem  zum  Schlufs  noch  einige  Worte  gewidmet  sein 
mögen,  durchaus  der  Einübung  der  sogenannten  Stilistik. 

Ea  sind  dies  die  bekannten  Stilistischen  Übungen  der  Lateinischen 
Sprache  von  Berger,  neubearbeitet  von  H.  J.  Müller.  Das  Buch  bedarf 
kam  einer  Empfehlung,  da  es  bereits  in  achter  Auflage  vorliegt  und  der 


150 


A  Dittmar:  Grammatici  Militantes 


Bearbeiter  zumal  zu  den  wackersten  Streitern  der  Grammatica  inilitans  gehört 
Der  Inhalt  des  Buches  erhebt  sich  weit  über  die  üblichen  stilistischen  Anhängt 
in  unseren  Grammatiken,  ohne  doch  des  Guten  zu  viel  zu  bieten. 

Immerhin  möge  es  erlaubt  sein,  einige  bescheidene  Wünsche  auszusprechen. 
Bei  Abfassung  einer  Stilistik  mufs  man  sich  vor  allen  Dingen  klar  darüber 
sein,  ob  man  vom  Lateinischen  oder  vom  Deutschen  ausgehen  solL  Die  neueste 
Pädagogik  läfst  natürlich  auch  hier  nur  das  analytische  Verfahren  zu.  Mit 
Unrecht,  wie  mir  scheint  Wenn  einmal  stilistische  Übungen  angestellt  werden 
—  und  sie  sind  durchaus  notwendig  —  so  mufs  grundsätzlich  vom  Deutschen 
ausgegangen  werden.  Denn  bei  diesen  Übungen  kommt  es  weniger  darauf  an, 
dem  Schüler  zu  zeigen,  wie  er  aus  dem  Lateinischen  übersetzen  soll,  als  viel- 
mehr ihm  klar  zu  machen,  wie  er  beim  Übersetzen  ins  Lateinische  vorzugehen 
hat  Was  Romani  miserunt  legatos  oder  Dementis  est  heifst,  weifs  schon  der 
Quintaner,  ebenso  ist  es  nicht  falsch,  wenn  er  die  Worte  Numa,  qui  Romulo 
successit  übersetzt:  'Numa,  welcher  auf  Romulus  folgte*,  oder  Vereor  ne  hoc 
non  verum  sit  'ich  furchte,  dafs  dies  nicht  wahr  ist.'  Der  Sekundaner  hin- 
gegen soll  lernen,  dafs  es  in  dem  Satze:  'Rom  schickte  Gesandte'  nicht  Roma, 
in  dem  Satze:  'Numa,  der  Nachfolger  des  Romulus'  nicht  successor  und  in 
dem  Satze:  'Dies  ist  schwerlich  wahr'  nicht  difficilis  nehmen  darf. 

In  der  That  befolgt  auch  Müller,  konservativ  wie  er  ist,  im  allgemeinen 
diesen  Grundsatz.  Aber  ich  meine,  wenn  einmal  das  Prinzip  anerkannt  ist,  so 
darf  auch  nicht  ohne  Not  davon  abgewichen  werden.  So  gehört  meines  Er- 
achtens das  Hendiadyoin  zur  Lehre  vom  Adjektivum.  Denn  fides  ac  religio 
kann  ich  ganz  gut  übersetzen :  'Treue  und  Gewissenhaftigkeit',  aber  'die  gewissen- 
hafte Treue'  nicht  mit  fides  religiosa.  Wendungen  wie  vas  argenteum,  Miltiades 
Atheniensis  gehören  zur  Lehre  von  den  Präpositionen,  soleo  aliquid  facere  zum 
Abschnitt  über  die  Adverbia,  fortissime  pugnare  zum  Substantivum.  Ein 
solches  Verfahren  ist  nicht  nur  wissenschaftlich  —  insofern  die  möglichst 
strenge  Durchführung  eines  Grundsatzes  ein  Zeichen  echter  Wissenschaftlich- 
keit ist  —  sondern  es  hat  auch  seine  praktischen  Vorteile:  Man  findet  sich 
leichter  zurecht,  zumal  wenn  kein  besonderes  Inhaltsverzeichnis  beigegeben  ist. 

Noch  brauchbarer  würde  dar  Buch  werden,  wenn  die  ziemlich  umfaiiu- 
reichen  Regel-  und  Beispielkomplexe  in  kleinere  Abschnitte  zerlegt  würden. 
Die  ersten  Beispiele  über  die  Substantiv»  (S.  13)  kann  ich  erst  übersetzeu 
lassen,  wenn  zwanzig  zum  Teil  recht  lange  Paragraphen  durchgenommen  sind! 
Nach  einer  solchen  Zerlegung  könnten  auch  die  Ubersetzungshilfen  wegfallen 
oder  wenigstens  eingeschränkt  werden.  Häufig  sind  nämlich  die  Ausdrücke, 
in  denen  die  Regel  steckt,  durch  gesperrten  Druck  hervorgehoben  worden. 
Diese  Hilfen  sollten  höchstens  in  den  zusammenhängenden  Aufgaben  gelegent- 
,  lieh  einmal  und  vielleicht  dann  und  wann  in  den  späteren  Abschnitten,  wenn 
auf  eine  frühere  Regel  zurückgegriffen  wird,  angewendet  werden. 


ZUR  PÄDAGOGISCHEN  PSYCHOLOGIE  UND  PHYSIOLOGIE1) 

Von  Franz  Fauth 

Von  dem  zweiten  Bande  der  Schiller-Ziehenschen  Sammlung  besprechen 
wir  heute  die  drei  ersten  Hefte: 

Ente«  Heft.   Dr.  Ferdinand  Kern si es,  Arbeitshygiene  der  Schule  auf  Grund  von  Er- 
müdungamessungcn . 

Zweites  Heft  Dr.  G.  Cordes,  Psychologische  Analyse  der  Thatsache  der  Selbstenriehung. 
Drittes  Heft.    Dr.  Oskar  Altenburg,  Die  Kunst  de«  psychologischen  Beobachtens. 

I 

Kemsies  will  durch  seine  Untersuchungen  beitragen  zur  Losung  der  alten 
Streitfrage,  ob  der  Unterricht  an  unseren  öffentlichen  Lehranstalten  hygienischen 
Arbeitsgesetzen  entspreche  und  die  Tragfähigkeit  des  jugendlichen  Geistes  ge- 
bührend berücksichtige,  oder  ob  die  heranwachsende  Generation  durch  Über- 
lastung und  Uberhastung  an  Leib  und  Seele  geschädigt  werde.  Die  von  ihm 
angestellten  Versuche  haben  zum  Gegenstand  Qualität  und  Quantität  von 
Rechenleistungen,  Arbeitsgeschwindigkeit  sowie  Muskelleistung  zu 
verschiedenen  Zeitlagen  bei  einer  Anzahl  von  Volks-  und  Realschülern. 

Versuche  1 

Zweck  dieser  Versuche  war  die  Feststellung  der  Qualitätsänderung,  welche 
ein  kurzes  Arbeitsstück  bei  einer  bestimmten  Arbeitsgeschwindigkeit  in  ver- 
schiedenen Zeitlagen  des  SchulvormittagB  erfährt.  Eine  dem  methodischen 
Unterrichtsverfahren  nachgebildete  Versuchsanordnung  wird  sowohl  die  Arbeits- 
menge als  die  Arbeitsgeschwindigkeit  auf  ein  Optimum  beschränken  und  aus- 
schliefslich  die  Qualität  von  Arbeitsstücken  gleicher  Art  und  gleichen  Umfangs 
bei  hinreichender  Belastung  in  verschiedenen  Schulstunden  beobachten.  Auf 
diese  Weise  wird  der  Arbeitsgang  der  Schule  durch  das  Experiment  nicht 
wesentlich  alteriert,  wenn  schon  der  Arbeitsgegenstand  wechselt.  Die  Ver- 
suche, deren  Zweck  den  Schülern  nicht  bekannt  gegeben  wurde,  wurden  in 
der  4.  Klasse  einer  sechsklassigen  Volksschule  zu  Berlin  angestellt,  das  Durch- 
schnittsalter der  Knaben  war  10%  Jahre.  Zum  Versuch  erwiesen  sich  Rechen- 
stücke geeigneter  als  Diktate.    Die  Rechenaufgaben  wurden  aus  dem  Klassen- 


l)  H.  Schiller  und  Th.  Ziehen.  Sammlung  von  Abhandlungen  aus  dem  Gebiet  der 
pädagogischen  Psychologie  und  Physiologie.  Berlin.  Verlag  von  Reuther  und  Reichard.  1898. 


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152 


F.  Fauth:  Zur  pädagogischen  Psychologie  und  Physiologie 


pensum  für  Kopfrechnen  gewählt,  stellten  also  eine  starke  Belastung  dar.  Das 
Arbeitsstück  enthielt  12  gemischte  Exempel  aus  dem  Zahlenkreis  1  —  1000, 
die  Abwechselung  war  nach  dem  Verfahren  einer  Lehrstunde  gedacht.  Die 
ablaufenden  psychischen  Prozesse  bei  den  Schülern  waren  folgende:  1.  Auf- 
nahme der  vorgesprochenen  Zahlen  ins  Gedächtnis.  2.  Geistiges  Erfassen  der 
Zahlen.  3.  Rechenakt.  (Diese  drei  Prozesse  sind  zum  Teil  simultan.)  4.  Fest- 
halten des  Resultats.  5.  Motorischer  Akt  des  Niederschreibens.  6.  Ausruhen, 
teilweise  gestört  durch  die  Nachbilder  der  vorangegangenen  Prozesse.  Die 
Rechenstücke  wurden  mitten  in  die  verschiedenen  Lehrstunden  gerückt;  die 
einzelne  Versuchsdauer  betrug  12  Minuten,  für  jede  Einzelaufgabe  wurde 
1  Minute  Arbeitszeit  angesetzt.  Innerhalb  jeder  Aufgabe  folgten  aufeinander: 
1.  Vorsprechen  derselben  durch  den  Lehrer.  2.  Zweimaliges  Nachsprechen 
durch  die  Schüler  im  Chor.  Für  diese  beiden  Thätigkeiten  waren  10  Sekunden 
nötig.  3.  Lösung.  Durchschnittlich  etwa  20  Sekunden.  4.  Niederschrift  der 
Resultate.  5.  Arbeitspause.  Genau  nach  60  resp.  75  u.  s.  w.  Sekunden  geschah 
die  Nennung  des  folgenden  Exempels. 

Ergebnisse.  Die  Ergebnisse  zeigen  mit  vorrückender  Zeitlage  ansteigende 
Fehlerprozente.  Die  Klassendurchschnitte  zeigen  verschiedene  gute  Übereinstim- 
mungen mit  Beobachtungen  der  Lehrpraxis,  welche  sich  auch  weiterhin  bestätigen: 

1.  Die  erste  Schulstunde  stellt  die  günstigste  Arbeitszeit  des  Tages  vor; 
die  letzte  liefert  durchschnittlich  die  schwächsten  Leistungen. 

2.  Der  erste  und  zweite  Wochentag  zeichnen  Bich  vor  den  andern  durch 
ein  anderes  Arbeitsgesetz  aus;  der  am  Sonntag  erworbene  Vorrat  an  geistiger 
Frische  und  Widerstandskraft  hat  eine  Arbeitsanregung  und  Aufbesserung  des 
Arbeitswertes  am  Montag  und  Dienstag  zur  Folge.  Der  ungeeignetste  Arbeits- 
tag ist  der  Sonnabend. 

3.  Aufserordentliche  Anstrengung  in  einer  Lehrstunde  macht  sich  in  den 
folgenden  ungünstig  bemerkbar. 

4.  Langsames  Arbeiten  bedingt  bessere  Arbeitsqualität. 

Die  Versuche  ergeben  ferner,  dafs  es  unter  den  Schülern  Arbeitstypen 
giebt.  Bei  einem  Typus  zeigt  sich  die  Tendenz,  mit  vorrückender  Zeitlage 
besser  zu  arbeiten.  Einen  zweiten  Typus  bilden  die  Schüler,  bei  denen  eine 
Arbeitsanregung  nicht  stattfindet,  deren  Leistungsfähigkeit  morgens  am  gröfsten 
ist  und  dann  merklich  abnimmt.  Ein  dritter  Typus  wird  repräsentiert  durch 
solche  Knaben,  deren  Leistungen  an  einer  bestimmten  Stelle  des  Vormittags  ihr 
Maximum  erreichen,  vorher  steigen,  nachher  fallen.  Dem  verschiedenen  Arbeita- 
verhalten der  Versuchspersonen  liegen  vermutlich  verschiedene  physiologische 
Zustände  zu  Grunde. 

Über  die  Zeit,  in  welcher  die  Arbeitspausen  am  besten  eintreten,  sagen 
die  Versuche  folgendes: 

Um  10  Uhr,  d.  h.  also  nach  zweistündigem  Unterricht,  hat  %  der  Klasse 
die  beste  Leistung  erreicht,  %  arbeitet  sich  weiter  herauf,  %  erleidet  eine 
Depression,  welche  einem  zweiten  Optimum  voraufgeht.  Also  ist  an  dieser 
Stelle  die  lange  Pause  gerechtfertigt. 


F.  Fauth:  Zur  pädagogischen  Psychologie  und  Phy»ioiogie 


153 


Um  11  Uhr  steht  das  Verhältnis  andere,  es  haben  %  unseror  Schülerzahl 
das  Optimum  überschritten,  die  andern  haben  das  Optimum  noch  nicht  erreicht 
oder  nahern  sich  der  zweiten  besten  Leistung.  Die  Chancen  für  eine  gute 
Leistung  sind  jetzt  bei  einer  Klassenhälfte  vorhanden.  Auch  zu  dieser  Zeit 
dürfte  eine  längere  Pause  sich  wertvoll  erweisen. 

Um  12  Uhr  haben  %  der  Schüler  die  beste  Leistung  hinter  sich,  nur  % 
ist  noch  im  stände,  bessere  Arbeitswerte  zu  erzielen.  Deshalb  wäre  hier  eine 
noch  längere  Pause  an  ihrem  Platze;  besser  wäre  es  wohl,  den  Unterricht  ab- 
tubrechen, da  die  noch  zu  erwartenden  Resultate  nur  gering  sind. 

In  sämtlichen  Arbeitstypen  bemerken  wir  einen  Steilabfall  der  Qualität 
nach  jedem  Optimum. 

In  Betreff  der  Übung  bemerkt  Kemsies,  man  sei  vielleicht  berechtigt,  den 
Schlufs  zu  ziehen,  dafs  leicht  ermüdbare  Schüler  nur  geringe  Übungsfähigkeit 
besitzen,  während  ausdauernde  sehr  übungsfähig  sind.    Was  die  Dispositio 
betrifft,  so  ergab  sich,  dafs  die  Leistungen  davon  sehr  beeinflufst  werden.  Die 
Disposition  ist  an  einzelnen  Tagen  verschieden. 

Die  Diskussion  der  Ergebnisse  lehrt,  dafs  die  Beantwortung  der  Über 
bürdungsfrage  von  der  Beobachtung  der  individuellen  Arbeitsverhältnisse  unserer 
Schüler  ausgehen  mufs;  es  giebt  Arbeitstypen,  auf  welche  im  gegenwärtigen 
Lehrverfahren  nicht  genügend  Rücksicht  genommen  wird.  Der  Überbürdung 
fallen  in  erster  Linie  diejenigen  Schüler  anheim,  welche  ihr  Arbeitsoptimum  in 
den  ersten  Stunden  einbüfsen  und  in  den  späteren  Zeitlagen  eine  starke  geistige 
Ermüdung  in  der  Herabminderung  des  Arbeitswertes  erkennen  lassen. 

Versuche  2 

Es  wurden  Versuche  gemacht,  welche  die  Arbeitsgeschwindigkeit  in 
verschiedenen  Zeitlagen  und  ihr  Verhältnis  zur  Arbeitsqualität  betreffen.  Das 
Ergebnis  war,  dafs  grofste  Arbeitsgeschwindigkeit  und  beste  Arbeitsqualität 
nicht  immer  zusammenfallen,  dafs  langsames  Arbeiten  bessere  Arbeitswerte  zur 
Folge  hat  und  der  Arbeitszuwachs  mit  dem  Arbeitsfortschritt  nicht  zusammenfällt. 

Versuche  3 

(Ergographenmessungen) 

Diese  Versuche  knüpfen  an  die  bekannten  Untersuchungen  Mossos  über 
Muskelermüdung  unter  dem  Einflufs  geistiger  Arbeit  an.  Mossos  Apparat,  der 
Ergograph,  ermöglicht  es,  die  jeweilige  physiologische  Leistungsfähigkeit  eines 
Individuums  festzustellen,  indem  er  die  mechanische  Arbeit  einer  bestimmten 
Muskelgruppe  bis  zu  ihrer  totalen  Erschöpfung  direkt  aufzeichnet.  Der  Apparat 
zerfällt  in  zwei  Teile,  in  den  Fixierapparat,  welcher  die  Hand  unbeweglich  fest- 
hält, und  den  Registrierapparat,  welcher  die  periodischen  Kontraktionen  des 
•ich  frei  bewegenden  und  belasteten  Mittelfingers  auf  einem  rotierenden  berufsten 
Cylinder  graphisch  angiebt.  Die  so  entstehende  Linie  heifst  Ermüdungskurve, 
sie  ist  für  jede  Person  charakteristisch,  d.  h.  in  ausgeruhtem  Zustande  bei  einem 
gewissen  Gewichte  und  demselben  Rhythmus  entsteht  die  gleiche  Linie.  Wenn 


154 


F.  Fauth:  Zur  pädagogischen  Psychologie  und  Physiologie 


die  Person  durch  vorangegangene  Arbeit  mehr  oder  weniger  er- 
müdet ist,  so  verändert  sich  die  Kurve.  Nach  Kemsiea'  Ansicht  können 
Einwürfe  gegen  die  Anwendung  des  £rgographen  nicht  das  Prinzip,  sondern 
nur  die  Empfindlichkeit  desselben  zur  Messung  der  Ermüdung  treffen.  Kemsies 
hat  an  sich  und  an  Schülern  Versuche  mit  dem  Ergographen,  der  neuerdings 
verbessert  ist,  gemacht  und  teilt  die  Ergebnisse  mit.  Dabei  stellte  sich  auch 
heraus,  dafs  die  Muskeldepression  nach  langer  Arbeit  sich  durch  die  stärkste 
Willensanstrengung  nicht  verdecken  läfst. 

Ergebnisse.  Die  muskuläre  Ermüdung.  Einer  dem  psychologischen 
und  physiologischen  Zustande  der  Versuchsperson  angemessenen  geistigen  Arbeit 
folgt  zunächst  eine  Vermehrung  der  muskulären  Leistung  (Anregung),  bei  längerer 
Fortführung  der  Arbeit  entsteht  eine  Depression;  einer  relativ  gröfseren  An- 
strengung folgt  schon  nach  kurzer  Zeit  die  muskuläre  Minderleistung.  Wenn 
man  an  verschiedenen  Versuchspersonen  zu  verschiedenen  Tagen  und  Zeitlagen 
die  Wirkung  derselben  Disciplin  prüft,  so  stellt  sich  trotz  des  Wechsels  der 
physiologischen  Bedingungen  ein  bestimmter  Ermüdungswert  des  betreffenden 
Faches  heraus.  Es  liefse  sich  durch  Berücksichtigung  dieses  Wertes  der 
Lektionsplan  so  einrichten,  dafs  das  Aufeinanderfolgen  zweier  anstrengenden 
Unterrichtsstunden  (Mathematik  und  Turnen)  vermieden  wird  und  ein  gewisser 
Ausgleich  (Mathematik  und  Deutsch)  stattfinden  kann.  Ermüdungswerte  kommen 
nach  den  Versuchen  zu:  dem  Turnen,  Mathematik,  Französisch,  Erholungswerte 
dem  Deutschen,  der  Religion,  den  naturwissenschaftlichen  Fächern.  Die  sub- 
jektive Ermüdung.  Das  subjektive  Gefühl  der  Ermüdung  stimmte  nach  den 
Versuchen  nicht  immer  mit  dem  objektiven  Befund  überein.  Doch  ist  es  für 
die  Leistung  der  arbeitenden  Person  nicht  ohne  Einflufs.  Aber  die  Meinung, 
dafs  die  Stimmung,  welche  der  Unterricht  erzeugt,  und  das  Interesse,  welches 
die  Schüler  den  Gegenständen  entgegenbringen,  geeignet  seien,  der  objektiven 
Ermüdung  Einhalt  zu  thun,  ist  nicht  haltbar. 

Die  Überbürdung.  'Ein  Kriterium  der  Überbürdung  kann  in  der  an- 
dauernden Muskeldepression  gefunden  werden.  Dieser  Ennüdungszustand  zeigt 
sich,  sobald  der  Organismus  durch  Mangel  an  Schlaf,  Nahrung,  hinreichender 
Bewegung  im  Freien,  durch  Überarbeitung  oder  krankhafte  Störungen  in  einen 
Schwächezustand  gerät,  aus  welchem  er  dann  Tage  lang,  ja  eine  Woche  hin- 
durch nicht  herauskommt.  Wird  z.  B.  die  Herabminderung  der  Muskelleistung 
am  Tagesschlufs  durch  den  Nachtschlaf  nicht  mehr  ausgeglichen,  so  treten  am 
folgenden  Tage  als  natürliche  Folge  der  Schulanstrengung  noch  tiefere  Werte 
auf,  deren  Beseitigung  erst  durch  besondere  Mafsnahmen  möglich  ist.  Oft 
bleiben  solche  Depressionen  scheinbar  unberücksichtigt,  sie  verschwinden  wieder 
nach  kräftiger  Ernährung,  vermehrtem  Schlaf,  geringerer  Arbeitsleistung  oder 
völliger  Arbeitseinstellung,  wobei  die  Jugend  noch  durch  ihre  grofse  Elasticitat 
unterstützt  wird.  Ob  sich  jedoch  durch  wiederholte  starke  und  anhaltende 
Hemmungen  vitaler  Prozesse  nicht  dauernde  Nachteile  für  die  physische  und 
psychische  Entwickelung  ergeben,  ist  eine  Frage,  welche  man  bejahen  möchte. 
Der  Schule  müssen  die  meisten  tiefen  Werte  zur  Last  gelegt  werden;  ohne  ihr 


F.  Fauth:  Zur  pädagogischen  Psychologie  und  Physiologie 


155 


Zuthun  würden  viele  Depressionen  nicht  stattfinden/  Nachdem  K.  eine  ganze 
Anzahl  von  Messungsbeispielen  mitgeteilt  hat,  schliefst  er,  dafs  die  Frage  der 
zeitweiligen  Überbürdung  der  Schüler  unserer  höheren  Lehranstalten  im 
bejahenden  Sinne  beantwortet  werden  kann. 

Schlufs 

Nachdem  K.  nochmals  darauf  hingewiesen,  dafs  die  angestellten  Versuche 
in  unzweideutiger  Weise  ergaben,  dafs  die  Belastung  bald  einen  Schwäche- 
zustand des  Geistes  und  des  Körpers  herbeiführt,  dafs  die  Produktivität  sinkt, 
die  Arbeitafrische  und  Arbeitsfreudigkeit  verloren  geht  u.  s.  w.,  feist  er  die 
wichtigsten  Ergebnisse  also  zusammen: 

Die  besten  Arbeitstage  der  Woche  sind  der  Montag  und  Dienstag, 
sowie  jeder  erste  und  zweite  Tag  nach  einem  Ruhetag,  sie  eignen  sich  infolge- 
dessen zur  Vornahme  von  Prüfungsarbeiten.  Die  am  Sonntag  erworbene  körper- 
liche und  geistige  Frische  hält  vielfach  nur  bis  Dienstag  nachmittags  an. 
Deshalb  dürfte  sich  empfehlen,  den  Mittwoch  oder  Donnerstag  an  höheren 
Schulen  stark  zu  entlasten,  eventuell  zuweilen  einen  Ruhetag  einzurichten. 

Die  beste  Arbeitszeit  des  Schultages  sind  die  beiden  ersten  Schul- 
stunden, in  denen  die  Mohrzahl  der  Schüler  ihr  Arbeiteoptimum  besitzt;  nur 
am  Montag  dürften  die  dritte  und  vierte  Stunde  bessere  Arbeitswerte  ergeben. 
Der  dreistündige  Nachmittagsunterricht  der  höheren  Lehranstalten  wirkt  überaus 
anstrengend  und  müfste  auf  Montag  verlegt  werden. 

Pausen  von  längerer  Dauer  sind  nach  zweistündigem  Unterricht  sowie 
nach  jeder  folgenden  Stunde  einzurichten. 

Ferien  üben  einen  kräftigende  Wirkung  aus,  deren  Folgen  jedoch  kaum 
langer  als  vier  Wochen  nachweisbar  sind;  auch  aus  diesem  Grunde  erscheint 
öftere  Einschiebnng  von  Ruhetagen  in  die  Arbeitszeit  wünschenswert. 

Der  Lektionsplan  hat  die  einzelnen  Lektionen  nach  ihrem  Ermüdungs- 
wert so  zu  gruppieren,  dafs  ein  gewisser  Ausgleich  beginnender  Ermüdung 
herbeigeführt  wird. 

In  späteren  Zeitlagen  kann  durch  verlangsamtes  Arbeiten  die  Arbeits- 
qualität gehalten  werden. 

Die  Stundenzahl  des  Schultages  soll  ohne  Not  für  Kinder  von  10 — 12 
Jahren  nicht  4  Stunden  überschreiten,  für  12 — 14jährige  dürften  5  Stunden 
Maximum  sein. 

Auf  leicht  ermüdbare  Kinder  kann  im  Unterricht  weitgehende  Rück- 
sicht genommen  werden. 

Als  weitere  geeignete  Arbeitsbedingungen  erscheinen  nach  den 
Messungen:  kräftige  Ernährung,  hinreichender  Schlaf,  Bader  und  Spaziergänge. 

Zu  der  dankenswerten  Arbeit  Kemsies'  müssen  wir  dieselbe  Bemerkung 
machen  wie  zu  allen  ähnlichen  Berichten  von  Messungsversuchen.  Die  Verhält- 
nisse des  Schullebens  sind  nicht  dieselben  wie  die  bei  Messungen,  die  Schlüsse 
▼on  diesen  auf  jenes  müssen  mit  Vorsicht  aufgenommen  werden.  K.  hat  daher 
recht,  wenn  er  verlangt,  dafs  seine  Thesen  durch  Unterrichts  versuche  ver- 


15« 


F.  Fauth:  Zur  pädagogischen  Psychologie  und  Physiologie 


schiedener  Art  geprüft  werden.  Aber  wenn  auch  da  nicht  allzuviel  Neues 
herauskommen  wird,  und  sich  vielfach  nur  das  bestätigen  wird,  was  die  Lehrer 
durch  induktive  Beobachtung  selbst  im  Schulleben  erfahren  haben,  so  ist  es 
doch  dankenswert,  dafs  K.  auf  die  Wichtigkeit  der  Arbeitshygiene  der  Schule 
nochmals  ausdrücklich  hingewiesen  hat. 

II 

Zuerst  beantwortet  Cordes  die  Frage,  ob  eine  wissenschaftlich  verfahrende 
Selbstbeobachtung  psychischer  Zustande,  wie  sie  die  Selbsterziehung  fordere, 
möglich  sei.  Die  moderne,  experimentell  verfahrende  Psychologie  ist  einer 
solchen  Selbstbeobachtung  nicht  günstig  gestimmt.  Und  doch  behauptet  C, 
dafs  die  Selbstbeobachtung  als  eine  selbständige  psychologische  Erkenntnis- 
quelle unentbehrlich  sei.  'Thatsachenkomplexe,  wie  der  der  Selbsterziehung, 
lassen  sich  überhaupt  experimentell  nicht  untersuchen,  und  die  «Völkerpsycho- 
logie >,  die  als  Ergänzung  der  experimentellen  Psychologie  Geltung  gefunden 
hat,  kann  hier  nie  zu  Resultaten  kommen.'  C.  ordnet  dann  die  Selbstbeobach 
tung  in  drei  grofse  Gruppen.  In  der  ersten  Gruppe  wird  Antwort  gesucht  auf 
die  Frage:  Welches  ist  die  richtige  begriffliche  Bestimmung  eines  konkreten 
psychischen  Erlebnisses?  Eine  zweite  Gruppe  von  Selbstbeobachtungen  erfolgt 
in  Beantwortung  von  Fragen,  welche  sich  auf  das  Zusammensein  oder  die 
Succession  oder  ein  anderweitiges  Verhältnis  zweier  oder  mehrerer  psychischer 
Thatsachen  beziehen,  die  gerade  verfliefsen  oder  eben  erst  verflossen  sind.  Die 
Selbstbeobachtungen  der  letzten  Gruppe  erfolgen  zur  Beantwortung  von  Fragen 
nach  Erlebnissen,  die  der  weiteren  Vergangenheit  angehören.  Diesen  drei 
Gruppen  ist  gemeinsam  die  Abhängigkeit  von  vorgebildeten  psychologischen 
Begriffen  und  die  Gefährdung  durch  unberechtigt  sich  aufdrängende  Phantasie- 
bilder. Gegen  beide  Mängel  giebt  es  nur  ein  Mittel:  den  immer  wiederholten 
Vorsatz,  nur  das  thatsächlich  Beobachtete  als  Material  für  Untersuchungen 
zu  benutzen. 

C.  giebt  nun  eine  Übersicht  über  den  zur  Bearbeitung  stehenden 
Thatbestand.  Unter  'Erziehung'  versteht  er  die  Thätigkeit  eines  Menschen, 
des  Erziehers,  welche  eine  nachhaltige  Beeinflussung  eines  anderen  Menschen, 
des  Zöglings,  in  der  Art  zum  Zweck  hat,  dafs  die  psychischen  Vorgänge  und 
die  ihnen  entsprechenden  äufseren  Handlungen  des  letzteren  einem  dem  Erzieher 
vorschwebenden  Ideale  entsprechen.  Bei  der  Selbsterziehung  gehen  die  Gescheh- 
nisse von  uns  selbst  aus  und  beziehen  sich  auf  uns  selbst,  und  sie  haben  die 
Beeinflussung  von  psychischen  Vorgängen  unseres  Ichs  zum  Ziel.  C.  unter- 
scheidet dann  die  psychischen  Voraussetzungen  der  Selbsterziehung  und  die 
Thätigkeit  der  Selbsterziehung  selbst. 

1.  Die  psychischen  Voraussetzungen  der  Selbsterziehung 

Er  gruppiert  unter  diesem  Gesichtspunkt  die  psychischen  Thatsachen  so: 
1.  Vorstellungen  von  der  vorläufigen  Eigenart  eines  psychischen  Geschehens. 
Dahin  gehören  die  Erinnerungsvorstellungen,  die  Vorstellung  der  Eigenart 


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F.  Fauth:  Zur  pädagogischen  Psychologie  und  Physiologie 


157 


unseres  psychischen  Geschehens  und  der  Ichbegriff.  Besonders  wichtig  ist  die 
psychische  Disposition  in  uns,  die  aber  nicht  beobachtbar  ist.  'Jedem  Indi- 
viduum eignet  in  jedem  Augenblicke  seines  Lebens  eine  persönliche  Dis- 
position zu  eigenartigen  psychischen  Vorgängen,  die  ein  Produkt  ist 
aus  ererbter  Anlage  und  erworbener  Qualifikation.'  2.  Vorstellungen  anderer 
höher  gewerteter  Artungen  des  psychischen  Geschehens.  Selbsterziehung  hat 
nach  C.  nur  da  statt,  wo  aufser  den  Vorstellungen  von  der  persönlichen 
psychischen  Eigenart  noch  Vorstellungen  eines  anderen  höher  gewerteten 
psychischen  Geschehens  vorhanden  sind.  Beide  werden  ihrem  Wert  nach  mit- 
einander verglichen.  Dabei  soll  sich  wertvoll  nicht  mit  angenehm  decken,  und 
das  WertgefÜhl  soll  verknüpft  sein  nicht  mit  einfachen  Empfindungen,  sondern 
mit  Vorstellungen  oder  Begriffen  und  Urteilen,  die  sich  auf  Handlungen  be- 
ziehen. Am  intensivsten  und  klarsten  kommt  unser  Wertgefühl  zum  Bewufst- 
8ein  bei  der  Vorstellung  derjenigen  Handlungen,  welche  wir  als  gut  oder  böse 
charakterisieren.  Da»  ganze  Gebiet  solcher  Handlungen  nennen  wir  das  sitt- 
liche. 3.  Die  dritte  psychische  Voraussetzung  der  Selbsterziehung  ist  der 
Wille  zur  Selbsterziehung.  Das,  was  C.  hier  im  Auge  hat,  ist  unabhängig 
von  den  verschiedenen  Theorien  des  Willens.  Motive  des  Wollens  nimmt  er 
an,  auch  dafs  der  Vorgang  sowohl  Gefühle  wie  Vorstellungen  enthalt,  da  er 
als  typische  Motivation  des  Willens  zur  Selbsterziehung  das  Differenzurteil 
der  Vergleichung  zweier  sittlich  gewerteter  Vorstellungsgegenstände  annimmt. 
Ferner  nimmt  C.  die  Wollung  als  Wollvorgang  an,  der  unter  Aktivitäts-  und 
Freiheitsgefühlen  verläuft. 

2.  Die  Vorgänge  der  Selbsterziehung  selbst 
'Es  ist  Selbsterziehung  als  Beeinflussung  der  eigenen  psychischen  Vor- 
gänge und  der  ihnen  entsprechenden  äufseren  Handlungen  gefafst,  und  im 
Laufe  der  Untersuchung  hat  sich  dies  näher  dahin  bestimmt,  dafs  unsere 
phsychischen  Dispositionen  als  die  Verursacher  der  einzelnen  Vorgänge  das 
Objekt  der  selbsterzieherischen  Thätigkeit  sind;  dafs  diese  selbsterzieherische 
Tbütigkeit  dahin  geht,  die  persönlichen  Dispositionen  so  zu  gestalten,  dafs  die 
Einzelgeschehnisse  dieser  höchsten  sittlichen  Wertung  entsprechen.'  C.  unter- 
sucht nun  die  Selbsterziehung  in  Bezug  auf  intellektuelle,  auf  emotionale  Vor- 
gänge und  in  Bezug  auf  das  Wollen. 

1.  Selbsterziehung  in  Bezug  auf  intellektuelle  Vorgänge.  Die  Aufgabe  ist 
hier  zuerst  Bildung  sachgemäfser  Vorstellungen  durch  wiederholte  Prüfung  der 
konstant  wiederkehrenden  Vorstellungen.  Wichtig  ist  die  Bildung  der  Begriffe, 
sowohl  derer,  in  welchen  Gleichheitsmomente  verschmolzen  sind,  sowie  derer, 
welche  Teile  einer  Gesamtvorstellung  waren  und  durch  ein  bestimmtes  Wort 
erinnerbar  gemacht  wurden.  Hier  dürfen  wir  bei  der  Selbsterziehung  uns  an 
der  Wortbezeichnung  des  allgemeinen  Begriffes  nicht  genügen  lassen  und  uns  auch 
nicht  über  die  scharfe  Auffassung  des  Einzelfalles  hinwegsetzen.  Bei  der  Selbst- 
erziehung zum  richtigen  Urteile  ist  das  Haupterfordernis  möglichst  eindringende 
Beobachtung  der  realen  Beziehungen  der  Objekte  unserer  Vorstellungen. 


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F.  Fauth:  Zur  pädagogischen  Psychologie  und  Physiologie 


Auch  die  'persönliche  Gefühlsbetonung*  der  Begriffe  unterliegt  der  willkür- 
lichen Belb3terzieheri8chen  Einwirkung.  'Hier  scheinen  die  sittlichende  Macht 
der  Religion,  die  erzieherische  Bedeutung  der  Erinnerung  an  die  Eltern  und 
sonstige  verehrte  Personen,  der  Hauptnutzen  der  Beschäftigung  mit  vater- 
ländischer Geschichte  und  Heimatskunde  und  der  sittliche  Wert  guter  künst- 
lerischer Darstellung  von  menschlicher  Arbeit  und  menschlichem  Kampf  in 
Wort  und  Bild  ihren  Grund  zu  haben.'  Auch  in  Betreff  der  Wahl  der  Worte 
bei  Beurteilungen  kann  eine  selbsterzieherische  Thätigkeit  stattfinden.  Zu- 
sammenfassende Werturteile  nennt  C.  Maximen.  Auch  bei  der  Bildung  dieser 
Maximen  findet  eine  Selbsterziehung  statt.  'Die  Bedeutung  der  Maximen  für 
das  praktische  Handeln  ist  vergleichbar  mit  der  von  Begriffen  und  allgemeinen 
Sätzen  für  wissenschaftliche  Arbeiten.' 

2.  Selbsterziehung  in  Bezug  auf  emotionale  Vorgange,  wobei  die  Gefühle 
besonders  in  den  Blickpunkt  des  Bewufstseins  treten,  und  deren  Willens- 
motivationskraft  gerade  in  dem  eigenartigen  Charakter  der  in  ihnen  vor- 
kommenden GefÜhlselemente  und  deren  Verbindungen  zu  beruhen  scheint. 
Diese  Vorgange  können  die  Selbsterziehung  fordern  oder  hemmen.  Aufgabe 
der  Selbsterziehung  ist  da,  die  störenden  Dispositionen  unschädlich  zu  machen, 
die  fördernden  zu  mehren  und  zu  stärken.  Die  hier  in  Rede  stehenden  Ge- 
fühle gehören  den  sinnlichen  an,  dem  Gemeingefühl  und  den  Affekten. 

3.  Selbsterziehung  in  Bezug  auf  das  Wollen.  'Durch  die  auf  intellektuelle 
und  emotionale  Vorgänge  gehende  Selbsterziehung  werden,  falls  sie  erfolgreich 
ist,  Dispositionen  ausgebildet,  die  für  jeden  späteren  Willensakt  durch  Schaffung 
und  Gestaltung  von  Motiven  mitbestimmend  sind.  Somit  hat  alle  bisher  er- 
wähnte Selbsterziehung  Beziehung  auf  das  Wollen.  Es  ist  die  Frage,  ob  es 
aufserdem  noch  Selbsterziehung  giebt,  die  unter  Absehung  von  der  Ausbildung 
von  Motivdispositionen  auf  eigentliche  Wollensdispositionen  geht.'  Die  populäre 
Meinung  glaubt  es,  die  Psychologie  verhält  sich  skeptisch.  Doch  C.  glaubt, 
in  der  populären  Argumentation  stecke  etwas  Wahres.  'Der  einzelne  Willens- 
akt stellt  sich  uns  nicht  als  psychologisch  notwendiges  Resultat  des  Zusammen- 
treffens von  Motiven  dar,  auch  nicht,  wenn  wir  fest  im  Auge  behalten,  dafs  die 
Motive  nicht  «fremde  Kräfte»,  sondern  Bestandteile  unseres  Geschehens  sind. 
Sein  Ausfall  scheint  vielmehr,  wenn  nicht  von  noch  anderen,  doch  davon  ab- 
hängig zu  sein,  a)  wie  das  Subjekt  auf  Motive  Überhaupt  zu  reagieren  pflegt, 
ob  schnell  oder  langsam,  b)  wie  grofs  die  Energie  des  Willens  beim  Subjekt 
im  allgemeinen  ist,  und  c)  von  der  (willkürlichen)  Einstellung  der  Aufmerk- 
samkeit.' In  allen  diesen  drei  Bedingungen  des  einzelnen  Willensaktes  liegen 
eigentliche  Willensdispositionen  vor,  erreichbar  für  planmäfsige  Selbsterziehung. 

'Das  Resultat  ist  nicht  umfangreich,  aber  inhaltsreich.  In  der  Selbst- 
erziehung in  Bezug  auf  das  Wollen  handelt  es  sich  um  Regulierung  der  natür- 
lichen Schnelligkeit  der  Wollensvorgänge  und  ihrer  Energie  im  allgemeinen 
und  um  Einstellung  der  Aufmerksamkeit.  Durch  Übung  und  Gewöhnung  er- 
wachsen die  entsprechenden  Dispositionen.' 

Das  Büchlein  von  Cordes  ist  sehr  abstrakt  geschrieben;  obwohl  man  seinem 


i 


F.  Fauth:  Zur  pädagogischen  Psychologie  und  Physiologie  159 

Inhalt  zustimmen  mufs,  wird  es  doch  daher  wenig  anregend  wirken.  Zu 
praktischen  Zwecken  hätte  es  rascher  auf  den  letzten  Teil,  der  die  Vorgänge 
der  Selbsterziehung  selbst  behandelt,  losgehen  und  ohne  Besorgnis  für  den 
systematischen  Zusammenhang  eine  Reihe  von  Beispielen  aus  dem  Leben 
bringen  müssen.  Anschaulichkeit  hat  hier  mehr  Wert  als  Zusammenhang. 
Die  Anwendung  auf  die  Schule  fehlt  leider  ganz.  Und  dennoch  müssen  wir 
C.  für  seine  schwierige  Arbeit  danken,  denn  er  pflügt  dieses  Feld  zuerst,  und 
auf  diesem  Feld  können  noch  schöne  Früchte  wachsen.  Wir  wünschen,  dafs 
er  durch  eine  Darlegung,  wie  sich  seine  gewonnenen  Grundgedanken  im  Leben 
und  in  der  Schule  verwerten  lassen,  diese  Früchte  selbst  ernte. 

III 

1.  Altenburg  sucht  die  Leser  seines  geistvoll  und  frisch  geschriebenen 
Büchleins  in  sehr  geschickter  Weise  auf  deduktivem  Wege  von  dem  Wert  der 
Aufgabe,  die  er  sich  gestellt  hat,  zu  überzeugen.  Er  zeigt,  wie  schwer  es  doch 
ist,  Begabung,  Gedächtniskraft,  Urteilsfähigkeit,  Interesse,  Aufmerksamkeit, 
Arbeit,  das  Verhalten  im  Examen  bei  unseren  Schülern  objektiv  und  richtig 
zu  beurteilen,  wie  vor  allem  ein  tieferes  Ergründen  der  verschiedenen  Indivi- 
dualitaten nötig  sei.  Er  sagt  am  Schlüsse  seines  sehr  zum  Nachdenken  anregen- 
den ersten  Abschnittes,  der  das  gewöhnliche  Verhalten  der  Praktiker 
unter  den  Pädagogen  charakterisiert:  'Aus  allen  bisherigen  Besprechungen 
geht,  denke  ich,  das  eine  deutlich  hervor,  wie  wir  in  der  Praxis  vor  ungezählten 
Mengen  psychologischer  Probleme  stehen;  wir  brauchen  nicht  erst  darnach  zu 
suchen.  Es  ist  wie  mit  dem  Golde,  das  auf  der  Strafse  liegt;  aber  es  gehört 
einer  dazu,  der  es  findet.  Und  es  weifs  der  psychologisch  gestimmte  Erzieher, 
wie  er  nur  zuzugreifen  braucht,  um  Erscheinungen,  Fragen,  Probleme  in  Hülle 
und  Fülle  zu  finden,  welche  ihm  keine  praktische  Fertigkeit  allein,  keine 
praktische  Erfahrung  allein  zu  lösen  und  zu  entwirren  vermag.  Wir  stehen 
alle  Tage,  ja  in  jeder  Minute  unserer  der  Schule  gewidmeten  Arbeit  umgeben 
von  psychologischen  Erscheinungen,  sie  stellen  uns  immer  wieder  vor  neue 
Rätsel.  Ich  gestehe,  man  wird  immer  ernster,  je  tiefer  man  psychologisch 
sehen  lernt,  man  wird  viel  ruhiger,  zurückhaltender  im  Urteil,  weniger  ab- 
sprechend; denn  je  mehr  man  begreifen  lernt,  desto  mehr  lernt  man  geduldig 
nachgehen,  nachfühlen,  auch  verzeihen.  Aber  ich  gestehe,  man  wird  in  seinem 
Erzieherberufe  auch  fröhlicher,  weil  man  immer  mehr  zu  der  Erkenntnis  kommt, 
dafs  auch  in  der  geistigen  Entwickelung  nicht  Laune  und  Willkür  herrscht, 
nicht  springendes  Ungefähr,  nicht  Plötzlichkeit  und  Zufall,  sondern  Gesetz, 
Ordnung  und  Planmäfsigkeit.' 

2.  Psychologische  Bestimmtheiten  als  Mitgift  von  Landschaft, 
Grofs-  und  Kleinstadt,  Haus  und  Gesellschaft 

In  diesem  Abschnitt  weist  Altenburg  darauf  hin,  wie  Landschaft,  Grofs- 
and  Kleinstadt,  Haus  und  Gesellschaft  bei  den  Schülern  ganz  bestimmte  psycho- 
logische Eigenschaften  hervorrufen;  das  zeigt  sich  bei  der  Landschaft  in  Sitte, 


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F.  Fauth:  Zur  pädagogischen  Psychologie  und  Physiologie 


Sprache,  Volkstum,  in  der  Beweglichkeit  oder  im  Phlegma,  in  der  Zurück- 
haltung oder  im  Vertrauen,  in  der  Wirkung  auf  das  Ohr,  im  Thätigkeitstrieb 
und  der  Unterdrückung  desselben.  Auch  die  Schüler  der  Grofsstadt  und  der 
Kleinstadt  zeigen  sich  verschieden.  Da  wird  es  klar,  wie  viel  die  Anschauung, 
d.  h.  die  klare  Anschauung  thut,  zu  der  die  Schüler  oft  erst  gezwungen  werden 
müssen.  Die  Grofsstädter  sind  leicht  abgestumpft,  die  Kleinstädter  eng  in 
ihrem  Gesichtskreis,  aber  gierig  nach  Neuem,  zuweilen  auch  dürftiger  im 
Sprachvorrat.  Der  Geist  des  Hauses  und  der  Familie  ist  besonders  wichtig 
für  die  psychologische  Bestimmtheit  zur  Arbeit,  schlimm  ist  es,  wenn  das 
Haus  die  Arbeit  nicht  ehrt,  die  Kinder  dort  nicht  an  geregelte  Arbeit  gewöhnt 
werden.  Auch  die  Zerstreutheit  der  Schüler  hat  oft  ihre  Ursache  im  Leben 
des  Hauses.  Ein  Grund  des  Widerstreites  zwischen  Schule  und  Haus  liegt 
auch  oft  im  gesellschaftlichen  Ton  des  Hauses,  der  zur  Oberflächlichkeit  führt 
Besonders  verhängnisvoll  ist  es  überhaupt,  wenn  die  Einheit  des  erzieherischen 
Willens  zwischen  Haus  und  Schule  fehlt,  was  zuletzt  zu  sittlichen  Verkehrt- 
heiten führt. 

3.  Psychologische  Bestimmtheiten  als  Folge  vorübergehender  oder 

dauernder  körperlicher  Gebrechen 

In  diesem  sehr  anziehend  geschriebenen  und  durch  viele  Beispiele  aus  dem 
Schulleben  veranschaulichten  Abschnitte  schildert  Altenburg,  wie  die  Fähig- 
keiten der  Schüler  psychologisch  bestimmt  werden  durch  körperliche  oder 
durch  körperlich-geistige  Gebrechen.  So  führt  er  vor  die  Schwächen  des 
Gesichts  und  Gehörs,  die  tief  in  das  geistige  Leben  eingreifenden  Folgen  von 
Wucherungen  in  Nase  und  Hals,  die  psychologischen  Wirkungen  langer  und 
häufiger  Kinderkrankheiten,  die  geistige  Bestimmtheit,  die  sich  zeigt  unter  dem 
Einflufs  derjenigen  pathologischen  Zustände,  welche  man  früher  schlechtweg  als 
Skrophulose  zu  bezeichnen  pflegte,  die  so  weit  verbreitete  und  so  folgenreiche 
Blutarmut  und  Nervosität  mit  den  charakteristischen  Erscheinungen  der  Zer- 
streutheit und  Zerfahrenheit,  dann  die  Abnormitäten  im  Geistesleben  gewisser 
Knaben,  welche  diese  eigentlich  ungeeignet  für  den  Besuch  öffentlicher  Schulen 
erscheinen  lassen,  dann  die  Folgen  körperlichen  Wachstums,  die  vorübergehenden 
Anomalien  der  geistigen  Entwickelung.  Alle  diese  Erscheinungen  zwingen  zu 
sorgfältiger  und  andauernder  individueller  psychologischer  Beobachtung  und 
Behandlung. 

4.  Psychologische  Bestimmtheiten  unter  der  Einwirkung  des  Unter- 

richts und  der  Lehrordnung 

Die  Schule  weifs  den  grofsen  Wert  der  Arbeit  Behr  zu  schätzen,  und  die 
neuere  Pädagogik  will  mit  ihren  Untersuchungen  weniger  die  Arbeit  der  Schüler 
kürzen  helfen,  sie  will  vielmehr  Fingerzeige  für  eine  zweckmäßige  Einrichtung 
der  Schularbeit  geben.  Die  fortgesetzte  Thatigkeit  der  Schule  hat  einen  wohl- 
thuenden  Einflufs  auf  die  äufseren  sichtbaren  Formen  der  Individualität  der 
Schüler,  sie  durchgeistigt  dieselben.    Dafs  die  Schüler  nicht  stets  die  volle 


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F.  Fauth:  Zur  pädagogischen  Psychologie  und  Physiologie 


161 


Keife  für  die  Klasse  haben,  in  der  sie  sitzen,  ist  Thatsache,  dafs  dieses  psycho- 
logisch auf  die  Fähigkeiten  einwirkt,  ist  natürlich.  So  und  durch  die  Ein- 
wirkung unrichtig  verfahrender,  ungeschickter  Lehrer  entstehen  schädliche 
Hemmungen  des  Selbstvertrauens,  die  hochgradig  werden  können,  ferner  die 
Scheu  den  Mund  aufzuthun  und  die  Verstocktheit,  die  Energielosigkeit,  der 
Dilettantismus,  der  sich  auf  nicht  zur  Schule  Gehöriges  stürzt,  das  Lachen 
der  Schüler.  Reizloser,  abwechselungsloser  Unterricht  erzeugt  Ermüdung  und 
geistige  Abspannung.  Die  Halbheiten  des  Unterrichts  erzeugen  bei  den  Schülern 
das  Gefühl  der  Unfähigkeit.  Der  Unterricht,  der  das  richtige  Sehen  und  Hören 
der  Schüler  zu  wenig  bei  seiner  Methode  berücksichtigt,  mufs  natürlich  auch 
allerhand  Fehler  erzeugen.  A.  bringt  hier  eine  ganze  Fülle  von  Beispielen. 
Dann  prüft  er  die  Examenarbeit  psychologisch  auf  ihren  Wert  oder  Unwert 
für  die  Gesamtbildung,  er  zeigt,  wie  der  psychologische  Habitus  der  Prüflinge 
von  der  Natur  der  gesamten  Unterrichtseinteilung  abhängt.  Er  berücksichtigt 
dabei  besonders  die  Thatigkeit  des  Gedächtnisses.  Sein  Wort:  *  Vereinzelung 
der  Vorstellungen  bedeutet  den  Tod  des  geistigen  Lebens'  trifft  den  Nagel  auf 
den  Kopf.  Auch  die  erziehliche  Wirkung  der  äufseren  Organisation  des  Schul- 
lebens wird  mit  Recht  gewürdigt. 

Im  Schlufswort  spricht  A.  die  Uberzeugung  aus,  dafs  uns  die  päda- 
gogische Psychologie  die  Handhabe  gebe,  nicht  nur  zu  ergründen,  wie  sich  das 
Allgemeingültige  der  Schularbeit  in  jeder  einzelnen  Individualität  abspiegelt, 
sondern  auch,  um  jeder  Individualität  in  ihrer  Weise  beizukommen. 

Aus  dem  Titel  von  A.s  Schrift:  'Die  Kunst  des  psychologischen  Beobachtens* 
sehen  wir,  dafs  A.  nicht  eine  systematische  pädagogische  Psychologie  geben 
wollte,  die  uns  zeigt,  wie  man  es  in  jedem  einzelnen  Falle  machen  müsse, 
sondern  dafs  er  glaubt,  die  Vorbedingung  zu  jeder  psychologisch  arbeitenden 
pädagogischen  Thatigkeit  sei  die  Kunst  des  psychologischen  Beobachtens.  Von 
diesem  Standpunkt  aus  beurteilend  halten  wir  das  lebendige,  anregende  und 
die  Theorie  stets  mit  der  Schulerfahrung  verbindende  Schriftchen  Altenburgs 
für  eine  Perle  in  der  Schiller-Ziehenschen  Sammlung.  Jeder  denkende  Erzieher 
und  Lehrer  wird  das  Büchlein  mit  Genufs  lesen.  Doch  auch  dem  Laienpublikum 
wird  man  es  nicht  ohne  Erfolg  in  die  Hand  geben. 


Kw«  JUirbOek-r.   1899.  II 


11 


EIN  HERDERBUCH  ALS  SCHULAUSGABE 


Von  Karl  Landmann 

Ein  Überblick  über  die  landläufigen  Schulausgaben  deutscher  Klassiker 
läfst  uns  neben  der  reichen  Fülle  mehr  oder  weniger  geschickt  appretierter 
Reproduktionen  doch  auch  hier  und  da  eine  recht  empfindliche  Lücke  wahr- 
nehmen.   Dafs  Lessing  und  Goethe  und  Schiller  den  Löwenanteil  an  jenen 
Sammlungen  haben,  ist  ebenso  selbstverständlich  wie  die  minimale  Vertretung 
Wielands,  der  kaum  eine  andere  als  historische  Bedeutung  für  die  Schule 
haben  kann.    Bleiben  also  von  den  sechs  Grofsmeistern  der  zweiten  klassischen 
Litteraturperiode  noch  Klopstock  und  Herder.  —  Auch  für  Klopstock  wird 
heute  nicht  mehr  das  Wort  gelten,  dafs  er  lieber  gelesen  als  gelobt  sein  wollte, 
es  müfste  denn  gerade  sein,  dafs  das  Gymnasium  auch  nach  der  neuesten  Lehr- 
ordnung noch  ein  besonderes  Gewicht  darauf  zu  legen  hatte,  die  Horazischen 
Odenformen  auch  an  einem  deutschen  Dichter  zu  üben.    Für  den  Messias' 
aber,  den  ich  wenigstens  in  zweien  jener  Sammlungen  finde,  mögen  jene  Aus- 
gaben wohl  genügen.    Anders  bei  Herder,  der  so  sehr  an  der  Spitze  der  auch 
über  das  gegenwärtige  Jahrhundert  hinausragenden  Litteratur  steht,  dafs  ihm 
auch  für  die  Schule  der  gebührende  Ehrenplatz  angewiesen  werden  und  erhalten 
bleiben  sollte.  Aber  auch  hier  mache  ich  in  dem  halben  Dutzend  der  mir  vor- 
liegenden Verzeichnisse  eine  Wahrnehmung,  die  ein  bedenkliches  Streiflicht  auf 
die  in  unserer  Schullektüre  herrschende  Tradition  werfen  dürfte.    Das  von 
Herder  in  seinem  letzten  Lebensjahre  nach  einer  französischen  Quelle  gedichtete 
Romanzenepos,  jene  Dichtung,  auf  die  dasselbe  Wort  Anwendung  findet,  das 
Herder  im  Journal  seiner  Reise  im  Jahre  1769  über  Corneille»  Cid  sagt: 
'Corneilles  Cid  ist  spanisch,  seine  Helden  noch  spanischer,  seine  Sprache  in 
den  ersten  Stücken  noch  spanischer'  —  Herders  Cid  also  finde  ich  viermal 
ediert:  in  zwei  Sammlungen  neben  je  zwei  Bändchen  Prosa,  in  der  dritten 
neben  einem  Bändchen  ausgewählter  Dichtungen,  in  der  vierten  als  einzige 
Probe  Herderschen  Geistes.    Was  aber  diesem  Geiste  seine  treibende  Kraft 
in  dem  grofsen  Gärungsprozesse  des  achtzehnten  Jahrhunderts  verleiht:  seine 
führende  Stellung  in  der  Sturm-  und  Drangperiode,  das  ist  in  keiner  dieser 
Ausgaben  zu  genügendem  Ausdruck  gebracht. 

Dieser  Sachlage  gegenüber  begrüfsen  wir  mit  Genugthuung  und  Freude  das 
neueste  Heft  (Nr.  30)  der  Sammlung,  die  uns  schon  so  viel  des  Guten  gebracht 
hat,  der  Veit  Valentinschen:  'Herderbuch.  Reisejournal  —  Shakespeare  — 
Ossian  —  Volkslieder.    In  Auswahl.    Herausgegeben  von  J.  Loeber, 


K.  Landmann:  Ein  Herderbuch  als  Schulausgabe 


1G3 


Professor  am  Königlichen  Gymnasium  zu  Marburg.  Leipzig,  Dresden, 
Berlin.  L.  Ehlermann.  1898/  —  Das  Heft  enthält  auf  seinen  92  Seiten 
77  Seiten  Text.  Die  übrigen  15  Seiten  verteilen  sich  auf  einen  Abrils  von 
Herders  Leben  in  den  Jahren,  in  die  aufser  seinen  ersten  bahnbrechenden 
Schriften:  Fragmente  über  die  neuere  deutsche  Litteratur  und  Kritische 
Wälder  die  auf  dem  Titel  genannten  Stücke  fallen,  und  die  zum  Verstand 
nisse  dieser  Stücke  notwendigen  Vorbemerkungen:  diese  beiden  Zuthaten  des 
Herausgebers  in  räumlich  ziemlich  gleichen  Teilen.  Vorausgeschickt  ist  eine 
Inhaltsangabe  und  eine  Zeittafel  über  die  wichtigsten  literarhistorischen  Er- 
scheinungen von  1759  bis  1784,  dem  Jahre,  in  dorn  Herders  bedeutendstes 
Werk,  die  Ideen  zur  Philosophie  der  Geschichte  der  Menschheit,  zu  er- 
scheinen begann. 

Nach  diesen  einleitenden  Bemerkungen  über  die  äufsere  Anlage  des  Heftes 
fühle  ich  mich  gedrungen,  etwas  näher  auf  seinen  Inhalt  einzugehen,  indem 
ich  mich  zunächst  dem  Texte  zuwende.  Die  Bezeichnung  des  Titels  'In 
Auswahl'  betrifft  vor  allem  das  Reisejournal.  Dasselbe  füllt  in  der  Ausgabe 
von  Suphan  (Bd.  IV  S.  345 — 486)  142  Seiten,  die  in  unserer  Schulausgabe  auf 
24%  Seiten  zusammengezogen  sind,  eine  Kompression,  die  sich  leicht  begreifen 
läfst,  wenn  wir  erwägen,  dafs  allein  46  jener  142  Seiten  durch  einen  Unter- 
richtsplan in  Anspruch  genommen  sind,  den  Herder  für  seine  in  Riga  zu  er- 
richtende Schule,  eine  Realschule  in  nuce,  entwarf,  und  der  allerdings  für  den 
organisierenden  Pädagogen  der  Gegenwart  recht  viel  des  Interessanten,  für  die 
Primaner  unserer  höheren  Schulen  dagegen  sehr  wenig  Anziehungskraft  haben 
dürfte.  Jedenfalls  giebt  die  hier  getroffene  Auswahl  eine  auch  für  weitere 
Kreise  der  Gebildeten  vollständig  ausreichende  Zusammenfassung  der  Schrift, 
die  R.  Haym  (I  317)  mit  Recht  'das  aufklärendste  Dokument  für  die  innere 
Geschichte  des  Herderschen  Geistes'  nennt.  Für  die  Schule  hat  der  Heraus- 
geber dieses  Reisejournal  noch  besonders  dadurch  nutzbar  gemacht,  dafs  er  den 
Stoff  in  Abschnitte  eingeteilt  und  diese  durch  Überschriften  inhaltlich  charakte- 
risiert hat.  So  entstand  das  Schema,  das  ich  hier  mitzuteilen  mich  nicht  ent- 
halten kann:  1.  Abschied  von  Riga.  2.  Inwiefern  er  seinen  Aufenthalt  in  Riga 
besser  hätte  benutzen  können.  3.  Gedanken  und  Hoffnungen  beim  Beginne  der 
Fahrt.  4.  Der  Philosoph  auf  dem  Schiffe.  5.  Das  Leben  auf  dem  Schiffe. 
6.  Die  Lust  zu  fabulieren  wird  auf  dem  Schiffe  geweckt.  7.  Herder  will  Refor- 
mator Livlands  werden.  8.  Herder  will  durch  Schrift  Lehrer  der  Menschheit 
werden.  9.  Die  Litteratur  Frankreichs  unter  Ludwig  XIV.  10.  Was  kann  der 
Deutsche  aus  Frankreichs  Litteratur  lernen?  11.  Was  Kopenhagen  für  Herder 
hätte  sein  können.  12.  Was  Frankreich  für  Herder  sein  soll.  13.  Selbst- 
charakteristik. —  Eine  weitere  stoffliche  Einteilung  wird  unten  zur  Sprache 
kommen.  Was  aber  bezüglich  der  Wiedergabe  des  Textes  schon  hier  lobend 
erwähnt  werden  darf,  das  ist  die  Hervorhebung  besonders  wichtiger  Stellen 
durch  den  Druck.  So  wird  man  z.  B.  auf  S.  10  aus  dem  gesperrt  gedruckten 
Satze:  'Ich  wäre  nicht  ein  Tintenfefs  von  gelehrter  Schriftstellerei,  nicht  ein 
Wörterbuch  von  Künsten  und  Wissenschaften  geworden,  die  ich  nicht  gesehen 


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164  K.  Landmann:  Ein  Herderlmch  als  Schulausgabe 

habe  und  nicht  verstehe;  ich  wäre  nicht  ein  Repositorium  voll  Papiere  und 
Bücher  geworden,  das  nur  in  die  Bucherstube  gehört',  sofort  das  'tinten- 
klecksende Säculum'  heraustönen  hören,  das  zwölf  Jahre  später  die  Weltfahrt 
antreten  sollte,  aus  der  es  selbst  die  'Moderne'  unserer  Tage  noch  als  will- 
kommenes altes  Erbgut  gerettet  hat. 

Das  zweite  und  das  dritte  Stück  unserer  Auswahl,  die  Aufsätze  über 
Shakespeare  und  Ossian,  sind  dem  Buche  Von  deutscher  Art  und  Kunst  (Ausg. 
Suphan,  Bd.  V  S.  159 — 257)  entnommen.  Sie  bezeichnen  den  grofsen  Wende- 
punkt in  Herders  geistiger  Entwicklung,  die  Abwendung  von  dem  französischen 
und  die  durch  Shakespeare  vermittelte  Zuwendung  zum  deutschen  Ideal,  eine 
Wandlung,  die  durch  den  Einflufs  Herders  auf  den  um  fünf  Jahre  jüngeren 
Goethe  in  Strafsburg  von  so  eminenter  Bedeutung  für  die  Litteratur  und  das 
gesamte  Geistesleben  des  deutschen  Volkes  geworden  ist.  Der  Aufsatz  Ober 
Shakespeare  ist  unverkürzt,  der  über  Ossian  mit  Auslassung  von  26  Seiten  auf- 
genommen worden.  Beide  zusammen  nehmen  41  Seiten  der  Schulausgabe  in 
Anspruch.  Eine  Einteilung  des  Stoffes  in  besondere,  durch  Überschriften  be- 
zeichnete Abschnitte  schien  dem  Herausgeber  hier  nicht  geboten,  da  die  Hand 
des  Verfassers  selbst  den  Gang  der  Untersuchung  durch  geeignete  Einschnitte 
im  Druck  genügend  markiert  hatte.  Die  Hervorhebung  einzelner  Stellen  durch 
den  Druck  ist  hier  fast  durchweg  in  Übereinstimmung  mit  dem  Text  der  Aus 
gäbe  geschehen,  so  dafs  die  Herstellung  einer  Einheitlichkeit  des  Textes  des 
Reisejournals  mit  dem  dieser  beiden  Stücke  hier  nochmals  anerkennend  erwähnt 
werden  darf. 

Am  wenigsten  konnte  das  Streben  nach  Vollständigkeit  bei  der  Auswahl 
der  Volkslieder  entscheiden,  die  in  der  Suphanschen  Ausgabe  mit  den  vorauf 
gehenden  Untersuchungen  den  ganzen  fiinfundzwanzigsten  Band  füllen.  Die 
auf  12  Seiten  zum  Abdruck  gelangten  11  Lieder  sind  mit  Geschick  ausgewählt, 
um  die  verschiedenen  Volksstämme  und  zugleich  auch  verschiedene  Gattungen 
des  Volksgesnnges  zu  repräsentieren,  wozu  übrigens  auch  schon  in  dem  Aufsatz 
über  Ossian  eine  erkleckliche  Reihe  belehrender  Beispiele  gegeben  war. 

Wir  betrachten  nunmehr  die  weitere  Arbeit  des  Herausgebers,  die  eigene 
Zurhat  zu  dem  ausgewählten  Texte.  Und  hier  haben  wir  zuvörderst  eine  nicht 
immer  in  Schulausgaben  begegnende  weise  Beschränkung  in  dem  Lebens- 
abrifs  des  behandelten  Dichters  zu  rühmen:  nichts  von  dem  allen  Wissenskram 
der  Welt  durchwühlenden  Amanuensis  des  Predigers  Trescho  in  Mohrungen; 
nichts  von  dem  durch  einen  russischen  Regimentschirurgus  nach  Königsberg 
geretteten  Studiosus  der  Medizin  und  —  der  Theologie;  nicht  einmal  etwas, 
was  doch  ganz  besonders  zur  Erwähnung  hätte  reizen  können,  von  Herder  als 
Hörer  Kants.  'Den  22.  November  1764  hatte  Herder  (1744 — 1803)  Königs- 
berg verlassen,  um  eine  Lehrerstelle  an  der  Domschule  zu  Riga  anzutreten. 
Von  seinem  Freunde  Hamann  (1730 — 1788),  der  ihm  die  Poesie  als  die  Mutter- 
sprache der  Völker  gedeutet  und  das  Verständnis  für  Shakespeare  eröffnet  hatte, 
war  er  dorthin  empfohlen  worden.'  So  beginnt  S.  1  der  Bericht  über  Herders 
amtliche  Thätigkeit  in  Riga,  worauf  (S.  2/3)  der  über  seine  schriftstellerische 


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K.  Landmann:  Ein  Herderbuch  als  Schulausgabe 


165 


Thätigkeit  an  demselben  Orte  folgt  und  (S.  3/4)  der  über  die  Verhältnisse, 
welche  Herder  bewogen,  Riga  zu  verlassen:  diese  vier  Seiten  als  Einleitung 
zum  Reisejournal,  das  den  Schüler  der  Gegenwart  ganz  unvermerkt  mit  dem 
Pädagogen  und  Dichter  vor  130  Jahren  über  Helsingor  an  den  Küsten  Jütlands, 
Hollands  und  Englands  vorbei  nach  Painboeuf  und  Nantes  und  von  da  nach 
Paris  wandern  läfst,  von  wo  aus  ihn  die  Fortsetzung  der  Biographie  (S.  33/34) 
auf  dem  Rückweg  über  Hamburg  (Zusammentreffen  mit  Lessing  und  Claudius) 
nach  Eutin,  von  da  mit  seinem  hochgeborenen  Zögling  nach  Strafsburg  und 
wiederum  nordwärts  nach  Bückeburg  führt,  woselbst  die  Sammlung  'Von 
deutscher  Art  und  Kunst*  entsteht,  die  hier  die  Einleitung  zum  zweiten  und 
dritten  Stück  unserer  Ausgabe  bildet,  worauf  endlich  (S.  80/81)  das  Leben 
Herders  bis  zur  Herausgabe  der  Volkslieder  (1778 — 79)  weitergeführt  wird: 
überall  nur  das  zum  Verständnis  der  Auswahl  Notwendige,  dies  aber  in  einer 
Fassung  dargeboten,  die  ein  klares  Bild  von  den  ersten  fünfzehn  Jahren  der  ihre 
Schwingen  entfaltenden  Genieperiode  der  deutschen  Litteratur  zu  geben  vermag. 

Mehr  noch  als  bei  der  Herstellung  des  Textes  und  dem  Entwurf  einer 
Lebensskizze  hat  der  Herausgeber  bei  den  Vorbemerkungen  Gelegenheit 
gehabt,  sich  als  haushälterisch  arbeitenden  Pädagogen  zu  erweisen.  Sie  be- 
stehen teils  in  kurzen  litterarhistorischen  Einleitungen  zu  den  in  Auswahl 
nachfolgenden  Schriften,  teils  (unter  dem  Vordruck  'Sachliches')  in  Notizen 
über  die  darin  angeführten  Personen  und  Thatsachen,  die  einer  Erklärung  be- 
dürftig erschienen.  Gerade  hier  aber  habe  ich  neben  dem  bis  daher  gerne 
ausgesprochenen  Lobe  doch  auch  manche  Ausstellungen  zu  verzeichnen,  zu 
deren  gewissenhafter  Darlegung  mich  die  Hoffnung  auf  eine  recht  bald  nötig 
werdende  zweite  Auflage  treibt;  gerade  hier  sehe  ich  mich  als  angehender 
Siebziger  veranlafst,  für  die  Söhne  des  ausgehenden  19.  Jahrhunderts  zu 
plädieren,  da  diese  nicht  gerne  suchen,  was  bereitliegen  sollte. 

Es  ist  gewifs  nichts  gegen  die  auch  in  andern  Ausgaben  unserer  Samm- 
lung angewandte  Einrichtung  zu  sagen,  wonach  der  Text  am  Rande  mit  fort- 
laufender Zählung  gewisser  Absätze  versehen  ist,  denen  jene  sachlichen  Er- 
klärungen entsprechen  sollen.  Der  Schüler  soll,  so  ist  es  gedacht,  sich  diese 
Notizen  für  einen  oder  mehrere  dieser  Absätze  genau  ansehen,  dann  diese  Ab- 
sätze lesen,  sodann  weiteren  Vorrat  an  Präparation  holen  und  weiter  lesen 
u.  s.  w.  u.  s.  w.  Da  wäre  nun,  angesichts  des  Petitdrucks  dieses  'Sachlichen', 
eine  recht  deutlich  hervortretende  Bezeichnung  dieser  Zahlen  geboten,  sei  es 
durch  starken  Fettdruck,  sei  es  durch  eckige  Klammern,  oder  auf  sonst  eine 
augenfällige  Art.  Das  ist  aber  hier  keineswegs  der  Fall,  und,  was  noch  viel 
schlimmer  ist,  die  Übereinstimmung  der  Zahlen  am  Rande  des  Textes  mit 
denen  der  Vorbemerkungen  ist  durchaus  nicht  überall  zuverlässig.  So  stehen 
z.  B.  in  den  Vorbemerkungen  zu  dem  Aufsatz  über  Ossian  (S.  58  f.)  die  Zahlen 
6  und  7  für  5  und  65  für  die  durch  den  Text  gebotenen  Zahlen  7,  8,  9  steht 
eine  verlorene  9;  für  11  steht  12,  und  die  Zahl  13  der  Vorbemerkungen  ist 
mit  den  nachfolgenden  Erklärungen  ganz  überflüssig  gesetzt,  da,  wie  es  scheint, 
die  Stelle  der  Suphanschen  Ausgabe  S.  202  Z.  4  v.  o.  bis  S.  203  Z.  4  v.  u. 


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166 


K.  Landmann:  Ein  Herderbuch  als  Schulausgabe 


während  des  Druckes  auf  Verlangen  des  nach  Kürzungen  lechzenden  Verlegers 
gestrichen  werden  mutete,  während  jene  anderthalb  Zeilen  des  vorhergehenden 
Bogens  ruhig  stehen  blieben. 

Wenn  ich  nun  auch,  wie  soeben  angedeutet ;  dergleichen  Unzukömmlich- 
keiten von  den  Schultern  des  Herausgebers  abzuwälzen  geneigt  bin,  so  bleibt 
doch  noch  eine  nicht  unbeträchtliche  Anzahl  anderer  Notamina  übrig,  die  ich 
nun  in  der  Folge  der  Seitenzahlen  zur  Besprechung  bringen  will.  —  S.  5  Z.  11 
ist  statt  'vierwöchentlichen'  doch  wohl  'vierwöchigen'  zu  lesen,  vielleicht  auch 
in  der  ersten  Zeile  des  zweiten  Absatzes  'Gährungsprozefs'  durch  Tilgung  des  h 
zu  korrigieren.  S.  7  Z.  9  vermisse  ich  die  erklärende  Notiz  über  Beaumelle, 
wie  auch  Ninon  de  Lenclos  ihren  Platz  erst  nach  Moliere  haben  sollte.  Z.  14 
fehlt  vor  J.  Ludolf  die  Ziffer  7.  Warum  die  Absätze  12,  13,  14  des  Textes 
übersprungen  sind,  erklärt  sich  vielleicht  aus  der  Weglassung  von  S.  360,  8 
bis  362,  14  der  Ausgabe,  mufs  aber  in  den  Vorbemerkungen  zu  Verwirrung 
führen,  da  hier  die  Bezeichnung  14  mit  der  nachfolgenden  Erklärung  ganz  un- 
verständlich ist.  Auch  die  Auslassung  Forsters  unter  den  zu  Absatz  16  er- 
klärten Namen  erscheint  mir  nicht  gerechtfertigt.  —  S.  8  wünschte  ich  va 
Absatz  22  anstatt  der  Erklärung  'Wille,  Kupferstecher  bei  Giefsen,  geb.  1715' 
die  Fassung  'J.  G.  Wille,  berühmter  Kupferstecher,  1715  in  einer  Mühle  am 
Dünsberg  bei  Giefsen  geboren',  wozu  vielleicht  noch  die  Bemerkung  zugefügt 
werden  könnte,  dafs  dieser  leider  seinem  Vaterlande  untreu  gewordene,  aber  als 
Führer  Herders  durch  die  Kunstschätze  von  Paris  auch  für  uns  sehr  wichtig 
gewordene  Künstler  in  der  Kunstgeschichte  noch  über  den  viel  bekannteren 
Chodowiecki  gestellt  wird  (s.  das  Verzeichnis  seiner  Blätter:  Nagler,  Künstler- 
Lexikon  XXI  466 — 496).  Aufserdem  würde  ich  am  Schlufs  der  Vorbemerkungen 
auf  dieser  Seite  gerne  eine  Angabe  über  Thomas  auf  Daguesseau  und  'meine 
Freundin'  (S.  32  Z.  12  und  11  v.  u.)  sehen,  letzteres  um  so  mehr,  als  diesem 
Worte  auch  nach  dem  moralischen  Gradmesser  unserer  Primaner  eine  Bedeu- 
tung beigelegt  zu  werden  pflegt,  die  es  in  diesem  Falle  durchaus  nicht  hat 
(vgl.  Haym,  I  76  f.).  —  In  dem  Texte  des  Reisejournals  habe  ich  aufser  dem 
schon  erwähnten  Sprung  von  11  auf  15  nur  noch  den  Druckfehler  'Lieb- 
habereien' (S.  32  Z.  11)  zu  verzeichnen.  —  Die  hier  wie  in  den  folgenden 
Stücken  in  eckige  Klammern  gesetzten  kürzeren  Erklärungen  (vgl.  S.  26  Z.  15: 
Scharwerksarbeit  [Fronarbeit])  sind  durchaus  zu  billigen. 

Auch  über  die  Vorbemerkungen  zu  dem  Aufsatz  über  Shakespeare  sind 
einige  Auseinandersetzungen  mit  dem  Herausgober  geboten.  —  Die  Notizen  mit 
dem  Vordruck  8  gehören  zu  dem  mit  9  bezeichneten  Absatz,  während  eine 
zweite  9  am  Rande  des  Textes  als  zweite  Verschiebung  bezeichnet  werden 
mufs.  —  Die  Schreibung  Spinosa  hätte  wenigstens  mit  einem  Worte  als  nn- 
übliche  gekennzeichnet  werden  sollen.  Die  unter  10  stehende  Namensform 
Waberton  steht  in  Widerspruch  zu  der  im  Text  (S.  55  Z.  3)  gebrauchten,  wie 
auch  der  Shakesspeare  am  Ende  des  ersten  Absatzes  9  nicht  gerade  als  eine 
Zierde  unseres  Buches  zu  betrachten  ist.  —  Mit  dem  'britischen  Sophokles' 
(55,  6/7)  habe  ich  mich  leichter  befreundet  als  mit  dem  'brittischen  Welt- 


K.  Landmann:  Ein  Herderbuch  als  Schulausgabe 


167 


reisenden'  auf  S.  7  Z.  19.  —  Der  letzten  Note  dieser  Vorbemerkungen  wünschte 
ich  eine  Fassung,  die  etwas  weniger  geeignet  wäre,  die  Feder  des  Primaners 
zu  einer  mutwilligen  Illustration  herauszufordern. 

Aufser  der  ZahlenTerschiebung  in  den  Vorbemerkungen  zu  dem  Aufsatz 
Qber  Ossian,  die  der  Ausgangspunkt  zu  unserer  kritischen  Beleuchtung  gewesen 
ist,  habe  ich  auch  hier  noch  einige  Einzelheiten  zur  Sprache  zu  bringen.  — 
Zu  'Sachliches'  1  vermisse  ich  eine  Bemerkung  über  die  'Zauberase'  (S.  60 
Z.  10).  Denn  wenn  auch  der  Mythologiekundige  alsbald  herausfindet,  dafs 
damit  jene  nordische  Göttin  Gefjon  gemeint  ist,  der  die  Entstehung  des 
Miilarsees  zu  verdanken  sein  soll,  so  wäre  eine  kurze  Andeutung  hierüber 
doch  nicht  fiberflüssig  gewesen.  —  Zu  3  ist  der  Druckfehler  Garrilasso  statt 
des  im  Texte  stehenden  richtigen  Garcilasso  zu  beachten.  —  Im  Texte  selbst 
ist  S.  61  Z.  10  (gleich  nach  Garcilasso)  die  Schreibung  'Serenade'  statt  der  in 
der  Ausgabe  stehenden  mindestens  auffallend,  so  dafs  hier  vielleicht  auch  eine 
Andeutung  über  die  französische  und  italienische  Form  des  Wortes  wohl  an- 
gebracht wäre.  —  S.  65  Z.  lö  v.  u.  wäre  die  Schreibung  Rhapsodieen  (vgl.  z.  B. 
Akademieen  S.  54  Z.  8  v.  u.)  vorzuziehen.  Dafs  aber  S.  72  Z.  19  sich  'Metha- 
physik*  einschleichen  konnte,  ist  ebenso  bedauerlich  wie  —  um  auch  das  vierte 
Stück  nach  dieser  Seite  hin  hiermit  zu  erledigen  —  der  Druckfehler  'Befiel' 
auf  S.  91  (Ein  Spruch,  Z.  1).  —  Sachlich  hatte  zu  S.  72  Z.  9  noch  bemerkt 
werden  dürfen,  dafs  die  'einmal  angeführten'  Worte  in  der  Stelle  der  Ausgabe 
stehen,  die  in  der  Schulausgabe  S.  59  vor  Absatz  1  ausgelassen  ist 

Ich  bin  durchaus  nicht  abgeneigt  zu  glauben,  dafs  sich  beim  Gebrauch 
des  Buches  in  der  Klasse  nicht  noch  einige  andere  Berichtigungen  und  Ver- 
besserungen als  notwendig  oder  wünschenswert  herausstellen  dürften.  Das  alles 
aber  könnte  mich  nicht  bestimmen,  die  von  vornherein  ausgesprochene  Ansicht 
über  die  Vortrefflichkeit  dieser  Schulausgabe  zurückzunehmen.  Ja,  ich  würde 
dem  Herausgeber  raten,  mit  der  zweiten,  verbesserten  Auflage  des  Herderbuches 
zugleich  einen  zweiten  Teil  vorzubereiten,  der  eine  ebensogute  Auswahl  aus 
den  Schriften  'Vom  Geist  der  ebraischen  Poesie'  und  den  'Ideen  zur  Philo- 
sophie der  Geschichte  der  Menschheit'  enthielte.  Die  deutsche  Schule  hätte 
gewifs  alle  Ursache,  ihm  für  eine  solche  Bereicherung  der  deutschen  Schul- 
ausgaben dankbar  zu  sein. 


ANZEIGEN  UND  MITTEILUNGEN 


AUS  DEM  MITTELRHEINISCHEN 
HUMANISTENKREISE 

Mainz  und  der  damit  enge  zusammen- 
hängende benachbarte  Rheingau  war  mit 
Ausgang  des  15.  Jahrhunderts  ein  Lieblings- 
sitz  des  aufblühenden  Humanismus.  Die 
reichen  Stifte  und  Klöster  zu  Mainz  und 
im  Rheingau  bildeten  vielfach  geradezu 
kleine  Akademien  wissenschaftlich  gebildeter 
Manner,  welche  sich  mit  Sammlung  älterer 
Handschriften  und  der  Wiegendrucke,  der 
Vereinigung  zu  Bibliotheken  und  Nutzbar- 
machung dieser  litterariBchen  Schätze  be- 
schäftigten. Einen  starken  Rückhalt  bot 
bei  diesem  Streben  die  aufblühende  Mainzer 
Hochschule  und  die  am  Rhein  tonführende 
Hochschule  zu  Heidelberg.  Das  dort  Ge- 
lernte liefs  sich  zu  Hause  praktisch  ins 
lieben  umsetzen.  Die  Klöster,  insbesondere 
die  des  Benediktinerordens,  strebten  zu  Mainz 
und  im  Rheingau  danach,  es  ihrem  Vorbild, 
dem  Abt  Trithemius  von  Sponheim,  auf 
wissenschaftlichem  Gebiet  sowie  mit  Sammeln 
von  Bücherschätzen  nachzuthun.  Namentlich 
erreichten  die  infolge  der  Einführung  der 
Bursfelder  Reformation  sehr  aufblühenden 
Abteien  St.  Johann  oder  Johannisberg  im 
Rheingau  sowie  St.  Jacob  bei  Mainz  hierin 
wirklich  Grofsartiges  und  brachten  es  zu 
einer  wissenschaftlichen  Blüte  von  leider 
kurzer  Dauer. l)  Mit  Vorliebe  wandten 
sich  die  damaligen  mittelrheinischen  Huma- 
nisten der  lateinischen  Dichtkunst  zu,  aber 
auch  römische  Altertumskunde,  Geschichts- 
forschung und  die  Herausgabe  älterer  Hand- 
schriften ward  eifrig  betrieben.  Mainz  er- 
freute sich  damals  einer  der  ersten  deutschen 
Geschichtsprofessuren  an  einer  Hochschule. 
Dir  Stifter  war  Ivo  Wittig.  *)    Zu  Mainz  er- 


')  Jacobsberg  ward  ein  zweites  Bursfeld 
am  Rhein  in  Bezug  auf  Zucht  und  Wissen- 
schaftlichkeit. Vgl.  Katholik  1898  H  Heft  2 
S.  101. 

■)  Über  Wittig  (1473  — 1507)  vgl.  Roth 
im  Katholik  1898  H  S.  106  f. 


langten  Theoderich  Gresmund  der  Jüngere  l\ 
Jacob  Merstetter,  Wolfgang  Trefler,  Hebelin 
von  Heimbach,  Jacob  von  Mainz,  Hermann 
Aengler  oder  Piscator,  für  den  Rheinau 
Peter  und  Johann  Sorbillo  sowie  Johann 
Curvello  durch  ihre  litterarischen  Erzeugnisse 
einen  guten  Ruf.  Über  das  Wirken  dieser 
Männer  ist  ein  bescheidenes  und  sehr  zer- 
streutes Material  vorhanden.  Dasselbe  hier 
zu  vereinigen  und  für  einige  dieser  Männer 
biographisch  zu  verarbeiten,  soll  Zweck  dieser 
Studie  sein,  und  diese  Mitteilungen  sollen  einer 
Geschichte  des  Mainzer  und  mittelrheinischen 
Humanismus  in  etwas  vorarbeiten.  Durch 
die  Beleuchtung  der  in  sich  verwandten  Be- 
strebungen dieser  rheinischen  Humanisten 
dürfte  auch  die  Geschichte  des  Humanismus 
an  sich  gewinnen. 

I.   Peter  Sorbillo,  Hermann  Piscator 

Peter  Sorbillo  oder  Schlarp  *)  entstammte 
einem  angesehenen  Geschlecht  zu  Geisen- 
heim a.  Rh.  Dasselbe  kommt  in  vielfacher 
Verzweigung  urkundlich  vor.»)    Nach  Sitte 

>)  Das  Leben  und  Wirken  Gresmund«  ist 
zu  weitläufig,  um  hier  Stelle  zu  finden. 
Eine  Gesamtleistung  über  dessen  Leben  und 
Schriften  fehlt  immer  noch. 

*)  Nicht  Schlarff,  wie  Widmann  im  Rhenus 
III  S.  2  ohne  allen  urkundlichen  Anhaltspunkt 
schreibt.  Nur  die  Formen  Schlarp,  Schlarpp, 
Schlarpff  und  Schlapff  kommen  urkundlich  vor. 

*)  Zu  den  im  histor.  Jahrb.  der  Goerresg*  s 
18815  S.203  genannten  Mitgliedern  der  Familie 
kommen  als  seitdem  aufgefunden  noch:  Bmn 
Schlarpp,  1481  Dienstmann  des  Erzstiftei 
Mainz  unter  Kurfürst  Diether.  Gudenus, 
Codex  IV  S.  455.  —  (v.  Stramberg)  Rheini- 
scher Antiquarius  U.  Abt.  X  S.  694.  —  Roth, 
Geschichte  von  Geisenheim  S.  27.  1501  28.  De- 
zember Johannes  Schlarpp,  Schöffe  zu  Geisen- 
heim. Ebd.  S.  29.  1536  Michel  Schlarp, 
Schöffe  zu  Geisenheim.  Ebd.  S.  44.  1646 
derselbe  als  Schultheifs.  Ebd.  S.  45.  1551 
derselbe  als  Oberschultheifs.  Ebd.  S.  160. 
Anton  Schlarp  ex  Geisenheim,  1496  22.  No- 
vember Baccalaureus  der  Theologie.  Knodt, 
Hist.  universitatis  Mogunt.  S.  44. 


Anzeigen  und  Mitteilungen 


169 


der  Zeit  ward  der  Name  Sehlarp  nach  der 
Etymologie  schlürfen  (sorbere)  in  Sorbillo 
latinisiert.  Unter  der  lateinischen  Bezeich- 
nung iat  Sehlarp  gemeinhin  bekannt.  Urheber 
dieser  Umwandlung  ist  Peter  Sorbillo  jedoch 
keineswegs,  denn  bereits  1505  ward  ein 
Johann  Sorbillo  zu  Freiburg  i.  B.  in  die 
Matrikel  der  Hochschule  eingeschrieben. ') 
Für  Peter  Sorbillo  lag,  nachdem  er  sich 
dazu  entschlossen,  Benediktiner  zu  werden, 
die  Aufnahme  in  dem  benachbarten  Johannis- 
berg nahe,  denn  Geisenheim  und  die  Abtei 
Johannisberg  liegen  dicht  beisammen.  Wann 
Sorbillo  in  Johannisberg  eintrat,  entzieht  sich 
unserer  Kenntnis;  unter  Abt  Gerhard  erhielt 
er  die  damals  übliche  gelehrte  Kloster- 
bildung *)  und  bezog  als  jedenfalls  befähigter 
Kopf  auf  Kosten  seiner  Abtei  die  Heidel- 
berger Hochschule,  wo  er  am  17.  März  1506 
als  Petrus  Sorbillo  de  Geysenem  in  die 
Stammrolle  eingeschrieben  ward.  *)  Wir 
dürfen  vermuten,  dafs  Sorbillo  zu  Heidel- 
berg theologische  und  humanistische  Studien 
betrieb.  Das  dort  Gelernte  praktisch  zu 
verwerten  bot  sich  alsbald  Gelegenheit. 

Wie  zu  Johannisberg,  blühte  auch  in  dem 
Benediktinerkloster  St.  Jacob  oder  Jacobs- 
berg bei  Mainz  der  Humanismus.  Damals 
lebte  dort  Hfrmarm  i  ischer  oder  Aengler 
Knp'ler),  latinisiert  Piscator,  welche  Be- 
zeichnung in  der  Litteratur  gang  und  gäbe 
ist  Es  wird  angegeben,  dafs  er  ein  Schwabe 
von  Geburt  gewesen  sei4),  aber  auch  Mainz 
wird  als  seine  Heimat  bezeichnet.  Er  legte 
im  Jahre  1501  Profefs  zu  St.  Jacob  ab,  wurde 
dort  1605  Priester5)  und  war  möglicherweise 
ein  Verwandter  jenes  Fridericus  Piscator,  an 
den  Ulrich  von  Hutten  einen  Brief  richtete.  •) 
Ob  Piscator  studierte  und  wo  er  etwa  seine 
humanistische  Bildung  erhielt,  ist  unbekannt. 
Die  Heidelberger  Matrikel  enthalt  seinen 


')  Siehe  unten  unter  Johann  Sorbillo. 

*)  Der  Anonymus  de  origine  et  abbatibus 
S.  Johannis  in  Rhingavia  verlegt  Sorbillos 
Leben  und  Wirkungskreis  unter  Abt  Gerhard 
(1487-1496).  Vgl.  Roth,  Geschichtequellen 
an«  Nassau  I  3  S.  97. 

*)  XVI  kalendas  Aprilis.  Toepke,  Heidel- 
berger Matrikel  I  S.  468. 

*)  Severus  Ms.  im  Pfarrarchiv  zu  Geisen- 
heim. Vgl.  auch  die  folgende  Anmerkung. 

*)  Die  Historia  saneti  Iacobi  maioris 
apostoli  in  monte  specioso  prope  Moguntiam 
Bs.  der  Mainzer  Stadtbibliothek  (folio)  S.  425 
«gt:  6  April  (obiit)  Hermannus  Engeler, 
Angeler  sive  Piscator  Mogonus  anno  1501 
die  . . .  (Lücke)  prof.  et  1605  die  . . .  (Lücke) 
«acerdos.  Hier  erscheint  Mainz  als  Geburtsort. 

*)  Münch,  Opera  Hutteni  HI  S.  156—158. 


Namen  nicht.  War  er  Schwabe  von  Geburt, 
so  kann  er  in  Süddeutechland  studiert  haben 
und  dann  nach  Mainz  gelangt  sein.  Piscator 
hatte  sich  im  Geist  des  Humanismus  auf 
rumische  Altertümer  und  deren  Etymologie 
verlegt  und  war  hierin  Gesinnungsgenosse 
Sorbillos.  Beide  kannten  diese  ihre  gegen- 
seitige Neigung.  Beide  Abteien  standen  in 
nahem  Verhältnis,  schon  die  Ordensregel 
brachte  dieses  mit  sich,  nicht  weniger  dieThat- 
sache,  dafs  Jacobsberg  das  Visitationsrecht 
über  Johannisberg  ausübte.  Die  persönliche 
Bekanntschaft  beider  Männer  läfst  sich  bei 
so  vielen  Berührungspunkten  und  der  nahen 
Lage  beider  Klöster  bestimmt  voraussetzen. 
Sorbillo  schrieb  an  Piscator  einen  Brief  über 
den  Ursprung  der  Stadt  Mainz  und  behandelte 
darin  namentlich  die  Herleitung  des  Namens 
dieser  Römerstadt. ')  Der  Brief  begann  mit 
den  Worten:  Devoto  studiosoque  fratri  Her- 
manno  Piscatori  divi  patris  Benedicti  monacho 
professo  in  monasterio  S.  Iacobi  extra  muros 
Moguntinenses  u.  s.  w.  *)  und  schlofs:  ad  deum 
devotionis  promoveto.  *)  Auf  diesen  Brief 
antwortete  Piscator  in  einem  weitläufigen 
Schreiben  mit  dem  Anfang:  Divertissimo  ac 
multarum  historiarum  peritissimo  Petro  Sor- 
billo monacho  in  monte  S.  Ioannis  professo 
u .  s.  w.  Ego  te  frater  humanissime  u.  s.  w. 
und  dem  Schlüsse :  in  civitate  saneti  maiestae, 
honor  u.  s.  w. ')  Die  Geschichtsforscher 
Serarius,  Legipontius,  Joannis,  Würdtwein, 
Reuter  und  Bodmann  kannten  diese  beiden 
Briefe.  Nach  Reuter1)  befand  sich  eine 
Handschrift  derselben  in  der  Wiener  Hof- 
bibliothek. Diese  Angabe  ist  richtig,  denn 
noch  besitzt  diese  Bibliothek  die  einzige 
vorhandene  Handschrift  der  Briefe.  Wie 
dieselbe  nach  Wien  gelangte  und  woher 
sie  stammte,  entzieht  sich  unserer  Kenntnis. 
Eine  zweite  Handschrift  befand  sich  in  der 
Abtei  Johannisberg  im  Rheingau"),  woher 


')  Während  der  Anonymus  in  Roth,  Ge- 
schicbtsquellen  I  3  S.  97  die  Schrift  Epistola 
de  Moguntinac  civitatis  initio  betitelt,  heifst 
es  in  der  Wiener  Handschrift:  De  origine 
nominis  Moguntiae.  Letztere  Bezeichnung 
entspricht  mehr  dem  Inhalt  des  Briefes. 

*)  Serario-Joannis,  Rernm  Mogunt.  I  S  176. 

*)  Tabulae  codicum  ms.  V  S.  319,  80 
(Hist.  prof.  244).  Ch.  XVI  183  f.  6b— 8*  Hb. 
der  Wiener  Hofbibl.  Petrus  Sorbillo  id  est 
Sehlarp,  epistola  ad  Hermannum  Piscatorem 
de  origine  nominis  Moguntiae. 

*)  Serario-Joannis  a.  a.  O.  I  8.  176.  Vgl. 
Roth,  Geschichtsquellen  I  3  S.  97. 

*)  Albansgulden  S.  44.  Schaab,  Gesch.  von 
Mainz  I  S.  57.   Chmel,  Wiener  Hss.  I  S.  703. 

6)  Roth,  Geschichtsquellen  I  3  S.  97. 


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170 


Anzeigen  und  Hitteilungen 


ja  einer  der  Briefe  ausgegangen.  Eine  Ab- 
schrift sah  Prof.  Bodmann. »)  Möglicherweise 
entstammte  diese  der  zu  Grunde  gegangenen 
und  nur  noch  in  Resten  vorhandenen  Biblio- 
thek des  Johannisbergs.  *)  Vielleicht  ist  die 
Wiener  Handschrift  die  des  Jacobsbergs 
und  lag  dem  Verfasser  der  Historia  sancti 
lacobi  vor  »)  Einige  Stellen  teilte  auch 
Serarius  in  seiner  Geschichte  von  Mainz  mit. 
Daraus  läfst  sich  das  Ganze  beurteilen.  *) 
Bei  Piscator  nimmt  das  Thema  eine  andere 
als  von  Sorbillo  vorgezeichnete  Wendung. 
Er  geht  zwar  auf  Sorbillos  Anfragen  und 
Ansichten  ein,  handelt  aber  auch  de  ortu, 
primaeva  origine,  incremento,  variis  devasta- 
tionibus  urbis  Moguntinae,  sicut  et  de  mona- 
steriis.  S.  s.  Jacobi  Mog.  *)  Daher  auch  der 
räumliche  Unterschied  beider  Briefe.  Sor- 
billos Arbeit  nimmt  in  der  Wiener  Hand- 
schrift den  Raum  von  Blatt  6  Rückseite  bis 
Blatt  8  Vorderseite,  die  des  Piscator  Blatt  8 
Vorderseite  Mb  Blatt  144  Rückseite  ein.«) 
Beide  entnahmen  ihre  Angaben  entweder 
älteren  Quellen  oder  bildeten  ihre  NamenB- 
deutungen  selbst.  Das  letztere  ist  das  Wahr- 
scheinlichere. Dem  Sorbillo  scheint  woniger 
Material  zu  Gebote  gestanden  zu  haben. 
Von  Piscators  Arbeit  läfst  sich  wenig- 
stens sagen,  dafs  er  sich  in  den  Mainzer 
Geschichtsquellen  fleifsig  umgesehen  hatte. 
Nach  dem  Zeugnis  Bodman ns  soll  Piscator 
aus  einer  ungedruckten  Handschrift  der 
Mainzer  Karthause:  De  triplici  excidio  urbiB 
Mog.  geschöpft  haben.  *)  Sorbillo  leitet  den 
Namen  Moguntia  von  Magoz,  Japhets  Sohn, 
ab,  erwähnt  aber  auch  die  Ableitung  von 
den  Magiern,  welche  Trebeta,  der  Begründer 
der  Stadt  Trier,  von  dort  vertrieb,  oder  von 
dem  Trojaner  Moguncius,  welcher  mit  Pranco, 
dem  Gründer  Würzburgs,  an  den  Rhein  kam 
und  Mainz  angelegt  habe.  *)  Letztere  Ansicht 
zieht  Sorbillo  als  die  beste  Deutung  vor.  In 
einem  Brief  oder  vielmehr  einer  Abhandlung 
widerspricht  Piscator  diesem  und  will  auf 


Rheingauer  Altertümer  S.  210  Anm.  f. 
Über  die  Johannisberger  Bibliothek  vgl. 
Roth,  Gesch.  der  k.  Landesbibliothek  zu  Wies- 
baden S.  25. 

*)  Hs.  zu  Mainz  Stadtbibl.  S.  33. 
4)  Serario-Joannis  a.  a.  O.  S.  38.  39.  126. 
Vgl.  auch  S.  7. 

■)  Bodmann  a.  a.  0.  S.  127  Anm.  f-  In 
der  Historia  saneti  lacobi,  Hb.  S.  425  heifst 
es :  Incremento  et  variis  devastationibus  urbis 
Moguntinae,  sicut  et  de  vicissitudinibus 
coenobii  S.  lacobi. 

•)  Tabulae  codicum  ms.  V  S.  319. 

')  Rheingauer  Altertümer  S.  127  Anm.  f. 

•)  8erario-Joannis  a.  a.  0.  I  S.  40. 


Autorität  des  Mönchs  Sigehurd  die  zweit« 
Ableitung  von  den  Magiern  gelten  lassen. 
Er  erwähnt  aber  auch,  andere  leiteten  den 
Namen  Moguntia  vom  Flusse  Mogonus,  Mogus 
oder  Moenus  und  dem  Bache  Cia  oder  Scia, 
dem  Zeybach,  ab. »)  Und  damit  traf  er  wohl 
das  Richtige.  Den  Namen  des  sogenannten 
Eichelsteins  bei  Mainz  führt  Sorbillo  auf  die 
eichelartige  Gestaltung  des  Denkmals  zurück 
Piscator  läfst  auch  diese  Deutung  keineswegs 
gelten  und  betont,  der  Stein  sei  nicht  wie 
eine  Eichel  gestaltet  gewesen,  sondern  habe 
eine  dreikantige  Form  gehabt  Auch  berief 
er  sich  für  das  DruBusdenkmal  auf  das 
Druseloch  oder  den  Drusilacus.  Bei  Piscator 
fehlen  meistenteils  die  Quellenangaben,  bei 
Sorbillo,  wie  es  scheint,  immer.  Als  Meinungs- 
austausch ist  der  Briefwechsel  heute  vom 
Stande  der  Altertumskunde  belanglos,  aber 
als  erster  Versuch  etymologischer  Deutung 
von  römischen  Bezeichnungen  und  für  die 
Benutzung  damaliger  Quellen  interessant 
Wir  sehen  ferner  daraus,  wie  tief  damals  die 
Worterklärung  stand,  wenn  wir  auch  zugeben 
müssen,  dafs  manche  von  Sorbillo  und  Piscator 
vertretene  Ansicht  noch  nicht  durch  Besseres 
ersetzt  ist  Manche  Nachricht  Über  jetzt  zer- 
störte oder  abhanden  gekommene  römische 
Denkmäler  in  und  um  Mainz  bilden  eine 
wertvolle  Beigabe  des  gelehrten  Wort- 
Btreiteg. ')  An  solchen  Angaben  ist  nament- 
lich Piscators  Abhandlung  reich;  ihr  weit- 
schichtiger Inhalt  erhebt  Bich  aber  keineswegs 
über  den  Brief  Sorbillos,  dem  mehr  Nüchtern- 
heit und  Verweilen  beim  Thema  eigen  ist, 
während  das  Schreiben  Piscators  ein  ge- 
wisses Prangen  mit  Kenntnissen  und  die 
Sucht  zu  belehren  kennzeichnet,  wodurch 
dasselbe  keineswegs  gewonnen  haben  dürfte 
Aufser  diesem  Brief  Sorbillo«  als  be- 
kanntem ältesten  Versuch,  der  Urgeschichte 
von  Mainz  gerecht  zu  werden,  besitzen  wir 
von  Sorbillo  ein  lateinisches  Gedicht  auf 
den  beil.  Pantaleon.  Dasselbe  ist  wie  der 
Briefwechsel  mit  Piscator  ungedruckt  und 
umfafst  in  der  Handschrift  zwei  Seiten.  Das 


')  Ebd.  I  S.  40.  Verwandte  Ansichten 
stehen  in  einer  Hs.  der  Mainzer  Karthause, 
die  später  im  Kloster  Eberbach  sich  befand 
und  nun  Eigentum  des  Vereins  für  Nass. 
Altertumskunde  zu  Wiesbaden  ist  Diese 
Hs.  hat  den  Titel:  De  prima  fundatione 
civitatis,  ex  historia  seu  legenda  S.  Aurei  et 
lustine,  Blatt  48  —  56.  Vgl.  Joannis  a,  a  0. 
II  S.  15.  Roth,  Geschichtsquellcn  I  3  S.  X. 
Annalen  des  Vereins  für  Nass.  Altertumsk. 
IV  S.  229. 

*)  Bodmann  a.  a.  0.  S.  210. 


3 


Anzeigen  und  Mitteilungen 


171 


Ahfassungsjaar  ist  1614. l)  Die  Bibliothek 
des  8ir  Thomas  Philipps  zu  Chcltenham  bc- 
safo  dieses  geistige  Erzeugnis  Sorbillos  in 
einem  aus  St.  Jacob  bei  Mainz  stammen- 
den und  von  dem  Mönch  und  Bibliothekar 
dieser  Abtei  Wolfgang  Tref  ler  geschriebenen 
Sammelband.  *)  Wo  die  Handschrift  Bich 
jetzt  befindet,  ist  mir  unbekannt  Auch 
Trefler  war  Humanist  und  Geschichts- 
forscher. *)  Dieser  Umstand ,  wie  auch  die 
Beachtung,  die  er  dem  Gedicht  Sorbillos 
als  Teil  seiner  Sammelhandschrift  schenkte, 
setzen  persönliche  Beziehungen  beider  Männer 
voraus.  Nach  einer  allerdings  unverbürgten 
Nachricht  des  Benediktiners  Legipontius 
standen  beide  in  Briefwechsel.*) 

Schwer  dagegen  verträgt  Bich  mit  Sor- 
billo  die  Angabe,  dato  ein  Mönch  Peter 
Slarp  zu  Johannisberg  im  Namen  des  Spon- 
heimer Konvents  zu  dessen  Gunsten  für  den 
Prior  des  Jacobsbergs  ein  Schmähschreiben 
gegen  den  Sponheimer  Abt  Johann  Tri- 
themius  verfafst  habe5),  während  eine 
andere  Quelle  sagt,  Trithemius  und  Peter 
Schlarp  hätten  in  brieflichem  Verkehr  ge- 
standen. Will  man  nicht  annehmen,  daft 
ein  zweiter  Peter  Sorbillo  oder  vielmehr 


')  Archiv  der  Gesellsch.  f.  ält.  deutsche 
Geschieh tak.  H  S.  242.  In  den  Forschungen  z. 
deutsch.  Gesch.  XX  S.  66  steht  als  Abfaasungs- 
jahr  durch  Druckfehler  1 584.  Das  Gedicht  führt 
die  Überschrift:  Petri  Sorbillonis  monachi 
S.  Ioannis  in  Ithinga wia  de  s.  Pantaleone  m. 
carmen  elegant,  de  anno  1614.  Diese  Arbeit 
hat  sich  aufser  in  der  Cheltenhamer  Hs.,  welche 
aus  dem  Mainzer  Kloster  St.  Jacob  stammt, 
noch  nirgends  anderswo  gefunden. 
*)  Archiv  a.  a.  O.  H  8.  242. 
*)  Über  Trefler  handeln  Archiv  für  Frank- 
furt« Gesch.  u.  Kunst  N.  F.  V  S.  372  f.,  wo- 
selbst weitere  Litteraturangaben.  Forsch, 
z.  deutsch.  Gesch.  XX  8.  39  f.  Hist.  polit. 
Blätter  LXXXXIX  8.  926  und  Roth  im  Ka- 
tholik 1898  U  S.  347. 

*)  Forschungen  a.  a.  0.  XX  8.  40. 
*)  Tritnemii  epistolae,  Hagenau  1636, 
Blatt  199.  Der  Mönch  heifst  hier  Slam. 
Vgl.  Silbernagl,  Johannes  Trithemius,  2.  Aufl. 
S.  111,  wo  der  Name  Peter  Slarpion  lautet. 
Das  Ereignis  gehört  zum  Jahr  1506.  Eigen- 
tümlicherweise wird  Sorbillo  im  gleichen 
Jahr  zu  Heidelberg  immatrikuliert,  war  also 
zu  Johannisberg  schwerlich  anwesend,  um 
in  die  8ponheimer  Angelegenheiten  einzu- 
greifen. Trefler,  der  begeisterte  Verteidiger 
Trithems,  dürfte  auch  schwerlich  ein  Gedicht 
eines  Mannes  der  Aufbewahrung  für  wert 
gehalten  und  mit  demselben  in  Briefwechsel 
erstanden  haben,  der  sich  einen  solchen 
Verrat  an  der  Sache  des  Benediktinerklosters 
Sponheim  erlaubt  hätte. 


Schlarp  in  der  Abtei  Johannisberg  weilte, 
der  dann  obigen  Brief  geschrieben  hatte, 
wahrend  der  Altertumsfreund  dieses  Namens 
auch  der  Freund  des  Trithemius  gewesen, 
oder  beide  Männer  aus  Freunden  Feinde  ge- 
worden wftren,  so  bleibt  nur  die  Möglichkeit 
die  eine  oder  andere  Angabe  zu  bezweifeln 
übrig.  Es  wäre  doch  sonderbar,  wenn  zwei 
gleichnamige  Männer  zur  nämlichen  Zeit 
eine  Abtei  beherbergt  hätte.  Ebensowenig 
sind  Teile  eines  Briefwechsels  beider  Männer 
zum  Vorschein  gekommen. 

Der  Litteraturhistoriker  Johann  Butzbach 
schreibt  dem  Sorbillo  weitere  Gedichte  und 
eine  Rede  an  den  Kardinal  Raimund  (Peraudi) 
für  die  Abtei  Eberbach  im  Rheingau  zu.  *) 
Diese  Arbeiten  sind  unbekannt  oder  verloren. 
Sorbillos  Beziehungen  zu  Butzbach  sind  hoch- 
interessant. Butzbach  arbeitete  eine  Zeit 
lang  als  Klosterschneider  zu  Johannisberg. 
Er  hatte  früher  den  Studien  obgelegen,  nach 
und  nach  kam  die  alte  Lust  tum  Studieren 
wieder  über  ihn.  Die  jüngeren  Brüder  zu 
Johannisberg  redeten  ihm  zu,  sich  nach 
Deventer  zu  begeben.  Dort  lehrte  Alexander 
Hegius.  Butzbach  gab  diesem  Rat  nach,  er 
erzählt,  ein  älterer  Mönch  Peter  Schlarp*), 
ein  sehr  strebsamer  und  gelehrter  Herr,  habe 
ihm  einen  Empfehlungsbrief  an  Alexander 
Hegius  in  Deventer  übergeben.  Damit  reiste 
Butzbach  ab ,  obgleich  der  Abt  *)  Einwand 
hiergegen  erhob  und  am  Erfolg  zweifelte. 
Sorbillo  war  in  der  Nacht  von  Butzbach  ge- 
weckt worden.  In  aller  Eile  fertigte  dieser  den 
lateinischen  Empfehlungsbrief  an.  Obgleich 
dieser  ohne  ersten  Entwurf  geschrieben  war, 
war  sein  Stil  derart  trefflich,  dafs  ihn  Hegius 
drei-  bis  viermal  las  und  sich  nicht  genug 
über  die  Geistesgaben  des  Verfassers  wundern 
konnte.  Nach  dem  Schreiben  war  Butzbach 
plötzlich  auf  dem  Johannisberg  aufgebrochen. 
Deshalb  war  das  Schreiben  von  Sorbillo  — 
wir  setzen  voraus  infolge  eines  gegebenen 
Versprechens  —  in  der  Nacht  erledigt  worden. 
Die  Abreise  war  zudem  längere  Zeit  vor- 
bereitet, aber  trotzdem  plötzlich  erfolgt. 
Sorbillo  hatte  nämlich  an  Butzbachs  Eltern 
nach  Wittenberg  einen  deutschen  Brief  ge- 
schrieben, worauf  dieselben  auf  ihres  Sohnes 
Plan,  zu  studieren,  bereitwillig  eingingen. 


')  Kardinal  Raimund  weilte  1503  am 
Rhein.  Vgl.  über  denselben  J.  Schneider, 
Die  politische  und  kirchliche  Wirksamkeit 
des  Legaten  Raimund  Peraudi,  1882. 

*)  Demnach  hiefs  Sorbillo  im  Kloster 
noch  Schlarp. 

')  Johannes  de  Segen,  1496—1616  AM 
von  Johannisberg. 


172 


Anzeigen  und  Mitteilungen 


Als  Butzbach  diese  Einwilligung  in  Händen 
hatte,  hielt  ihn  nichts  mehr  auf  dem  Johannis- 
berg zurück. ')  Sorbillos  Empfehlung  an 
Hegius  half  Butzbach  über  den  Mangel  an 
Kenntnissen  hinweg.  Butzbach  fand  Auf- 
nahme in  des  Hegius  Schule,  der  aber  bald 
darauf  27.  Dezember  1498  starb.  Butzbach 
blieb  in  dessen  Schule,  erledigte  durch 
grofsen  Fleifs  in  zwei  Jahren  das  Pensum 
und  kam  1499  in  die  Abtei  Laach  des 
Benediktinerordens.  *)  Auf  diese  Weise  be- 
förderte Sorbillo  ein  Talent  auf  die  gelehrte 
Laufbahn  und  verhalf  dem  Benediktiner- 
orden zu  einem  Mitglied,  das  jedenfalls  zu 
des  OrdenB  Ehre  und  Ansehen  wirkte. 
Butzbach  vergafs  den  von  Sorbillo  ihm  ge- 
leisteten Dienst  nicht,  in  seinen  Ausdrücken 
über  Sorbillo  herrscht  Ehrerbietung  und 
Dankbarkeit.  Ob  wir  aus  dem  Schreiben 
des  Sorbillo  an  Hegius  auf  Bekanntschaft 
beider  Männer  schliefen  dürfen,  bleibt 
zweifelhaft.  Sorbillo  dürfte  im  Jahr  1624 
zu  Johannisberg  gestorben  sein.  Als  er  1498 
den  Brief  an  Hegius  schrieb,  gehörte  er 
bereits  zu  den  ältesten  Mönchen.  Sein 
Freund  Hermann  Piscator  überlebte  ihn,  da 
derselbe  erst  am  6.  April  1626  aus  dem 
Leben  schied.1) 

Erachten  wir  auch  die  dichterischen  Er- 
zeugnisse Sorbillos  für  wertlos  und  lassen 
dessen  andere  Arbeiten  4)  als  unbekannt  im 
Druck  keine  nähere  Würdigung  zu,  so  ge- 
bührt Sorbillo  doch  eine  ehrenvolle  Stellung 
als  ältestem  Freund  rheinischer  Altertums- 
kunde wie  auch  als  Förderer  de«  Butzbach. 

II.   Johann  Sorbillo 

Derselbe  stammte  ebenfalls  aus  Geisen- 
heim und  war  entweder  ein  Bruder  oder 

')  Chronica  eines  fahrenden  Schalers  oder 
Wanderbüchlein  des  Johannes  Butzbach, 
herausg.  von  J.  Becker,  Regennburg  1869, 
S.  131.  Die  Darstellung  Widmanns  im  Rhenus 
III  S.  5  ist  falsch. 

*)  Wegeier,  Das  Kloster  Laach  S.  102. 

*)  Historia  saneti  Iacobi,  Hs.  zu  Mainz, 
8.  426.  Über  Engeler  vgl.  noch  Archiv  f. 
Frankfurt«  Gesch.  u.  Kunst  N.  F.  V  S.  370  f. 
Rhenus  ni  S.  19  f.  Forschungen  z.  deutschen 
Gesch.  XX  8.  40.  Bodmann,  Rbeingauer  Alter- 
tümer S.  210  Anm.  f.  Hist.  Jahrb.d.  Goerresges. 
1886  S.  214.  Roth,  Geschichtsquellen  ISS.  97, 
Mitteilungen  an  die  Mitglieder  des  Vereins 
für  Frankfurter  Gesch.  V  S.  666. 

4)  Bemerkt  Bei  hier,  dafs  Sorbillo  nicht 
Verfasser  einer  Chronik  des  Johannisbergs 
ist.  Vgl.  Korrespondenzblatt  d.  Gesamt  Vereins 
1882  8. 92.  Eine  ältere  Johannisberger  Chronik 

Severus. 


doch  ein  Verwandter  des  Peter  Sorbillo.  Er 
ward  1606  in  die  Stammrolle  der  Hochschule 
zu  Freiburg  eingetragen. ')  Von  dieser  Stadt 
wandte  er  Bich  nach  Heidelberg,  wo  er  am 
7.  Juli  1606  als  Johannes  Schlarp  de  Gyssen- 
ham  dioc.  Mogunt.  in  die  Matrikel  ein- 
geschrieben wurde.")  Sorbillo  hatte  zu  un- 
bekannter Zeit  Beziehungen  zu  Johann  Geiler 
von  Kaisersberg,  dem  berühmten  Strafsburger 
Münsterprediger.  Als  derselbe  am  10.  Man 
1610  starb,  erschien  auf  dessen  Tod  eine 
Schrift:  In  Johannis  Kaieerspergii  theologi 
doctrina  vitaqne  probatiBgimi  primi  Argenti- 
nensis  ecclesie  predicatoris  mortem  planctu« 
et  lamentatio  cum  aliquali  vite  sue  de- 
Bcriptione  et  quorundam  epitaphiis.  Oppen- 
heim 1610.  Quarto. »)  Diese  8chrift  enthält 
ein  Epigramm  des  Johann  Sorbillo  auf 
Geiler  von  Kaisersberg.  Dafs  der  Jobann 
Sorbillo  von  Freiburg  und  Heidelberg  und 
der  Epigrammatist  die  nämliche  Person 
ist,  liegt  nahe.4)  Welche . Stellung  derselbe 
im  Leben  bekleidete,  ist  noch  nicht  bekannt 
geworden.  Zur  Auseinanderhaltung  gegen 
Peter  Sorbillo  und  dieses  dichterischen  Er- 
zeugnisses wegen  verdient  er  aber  immerhin 
eine  Erwähnung  als  rheinischer  Humanist. 

UI.   Jacob  Merstetter 

Merstetter  stammte  aus  Ehingen  in 
Württemberg  und  dürfte  um  1468  bis  1470 
geboren  sein,  da  er  am  26.  April  1488  zu 
Heidelberg  in  die  Stammrolle  der  Hochschule 
eingeschrieben  und  am  13.  Januar  1490  zum 
ßaeealaureus  art.  viae  mod.  ernannt  ward.*) 
Möglicherweise  war  er  auch  früher  geboren 
und  studierte  erst  ah  Geistlicher.  Von 
Heidelberg  dürfte  er  nach  1490  Pfarrer  von 

')  (Riegger),  Amoenitates  Friburgenses 
literariae,  Ulm  1776,  I  S.  64  f.  Addenda. 
loannes  Sorbillo  ex  Geisenheim  Mogunt. 
dioec.  1606.  Alb.  acad.  inscriptus  legitur. 
Eine  Tagesangabe  fehlt. 

*)  Septima  die  mensis  Iulii.  Toepke, 
Heidelberger  Matrikel  1  8.  460. 

*)  Beiheft  zum  Centralblatt  f.  Bibl.  cd 
Hartwig  IV  S.  7.  Daselbßt  weitere  Litteratur- 
angaben. 

*)  Bemerkt  sei  jedoch,  dafs  bei  Toepke. 
Heidelberger  Matrikel  I  S.  459,  ein  Johannes 
Sorbillo  Moguntinensis  die  Iovis  14.  Kalendas 
Iulii  als  in  die  Matrikel  eingeschrieben  l*e- 
zeichnet  ist.  Zweimal,  am  18.  Juni  und 
7.  Juli,  dürfte  der  Geisenheimer  Sorbillo 
doch  nicht  eingeschrieben  worden  sein. 
Der  Moguntinensis  ist  demnach  ein  anderer 
Johann  Sorbillo. 

s)  Toepke  a.  a.  0.  S.  390:  Iacobus  Meer 
stetter  (!)  de  Ehingen  Constanc.  dioc.  XXVI. 
Aprilis. 


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Anzeigen  and  Mitteilungen 


173 


St.  Emmeran  zu  Mainz  geworden  sein.  Diese 
Stellung  bekleidete  er  1497  noch. «)  Kurfürst 
Diether  von  Mainz  hatte  eine  Pfründe  im 
Aschaffenburger  Stift  dem  Lehrer  des  geist- 
lichen Rechts  an  der  Mainzer  Hochschule 
als  Lektoralpfründe  zugewiesen.1)  Seit  dem 
16.  September  1483  hatte  Johann  Bertram 
von  Naumburg  diese  Pfründe  innegehabt. 
Sein  Nachfolger  im  Amt  eines  Lehrers  des 
geistlichen  Rechte  zu  Mainz  und  damit  In- 
haber der  Aschaffenburger  Lektoralpfründe 
ward  Magister  Jacob  MerBtetter*);  er  wurde 
hierin  am  11.  August  1510  als  Licentiat  der 
Theologie  vom  Kurfürsten  Uriel  von  Mainz 
bestätigt.  *)  Diese  Professur  hatte  MerBtetter 
bis  1612  inne,  und  er  scheint  direkt  vom 
Pfarramt  diese  Stellung  angetreten  zu  haben, 
wäre  somit  von  1490  bis  1610  Emmerans- 
pfarrer  gewesen.  Am  26.  April  1512  ward 
Licentiat  Nicolaus  Fink  sein  Nachfolger  in 
der  Professur. 8)  Merstetter  ward  auch  Stifts- 
herr von  St.  Moriz  zu  Mainz  und  unter  dem 
Rektorat  des  Johann  Bertram  Dekan  der 
theologischen  Fakultät  an  der  Mainzer  Hoch- 
schule. Das  Jahr  dieser  Ernennungen  steht 
nicht  feBt.*)  Als  Universitätsprofessor  bezog 
Merstetter  60  Gulden  Gehalt  in  zwei  Hälften, 
am  1.  April  und  1.  Oktober,  jährlich.7)  Ob 
»ein  Rücktritt  oder  Tod  das  Ende  der  Stel- 
lung veranlasste,  wissen  wir  nicht.  Mög- 
licherweise starb  Merstetter  zu  Mainz.  Er 
war  nach  eigener  Angabe  Schüler  des  Jacob 
Wimpfeling  gewesen.  Er  bewahrte  ihm 
als  Lehrer  stets  treue  Anhänglichkeit  und 
lieferte  Beiträge  in  dessen  Schriften.*)  Zu 


')  SeveruB,  Parrochiae  Moguntinae  S.  76. 

*)  Knodt,  Hist.  univ.  Mog.  S.  43.  Petzholdt, 
Neuer  Anzeiger  1878  S.  260. 

*)  Archiv  des  Hist.  Vereins  für  Unter- 
franken  u.  s.  w.  XXVI  S.  269.  Diether  selbst 
war  der  erste,  welcher  die  Pfründe  bezog. 
Merstetter  war  ihr  dritter  Inhaber. 

*)  Knodt  a.  a.  0.  S.  48. 

*)  Über  Fink  vgl.  Katholik  1898  II  S.  243. 

•)  Rektor  war  übrigens  Bertram  1487.  Vgl. 
Katholik  1898  U  S.  248. 

Tj  Das  ältere  Statutenbuch  der  Mainzer 
Hochschule  sagt  Blatt  31:  Decretorum  pro- 
fessori  debetur  apud  Achaffenburgensea  pre- 
benda  et  canonicatus,  dant  60  fl.  ad  rationem 
24  alb.,  quorum  pars  media  cedit  prima 
Aprilis,  reliqua  prima  Octobris.  Hb.  der 
Mainzer  StadtbibUothek. 

•)  Vgl.  Soliloquium  Wimphelingii  pro 
pace  chnstianorum  et  pro  Hefveciis,  ut  re- 
cipiscant.  Quarto.  Blatt  16  Rückseite  ein 
Epigramms  panegyricon  Iacobi  Merstetter 
Ehingensis  in  Soliloquium  dulcissimi  cogno- 
minis  praeceptorisque  sui  Iacobi  Wympfel. 
Vgl  Centxalbl.  f.  Bibl.  V  (1888)  S.  476.  Der 


Mainz  dürfte  Merstetter  in  den  Druckereien 
des  Peter  Friedberg  und  Johann  Schoeffer 
des  Amtes  eines  Korrektors  gewaltet  haben. ') 
Er  erfreute  sich  zu  Mainz  grofser  Beliebt- 
heit bei  der  Partei  des  strenge  gesinnten 
Klerus  wie  auch  bei  den  Gelehrten.  Er  war 
auch  der  Liebling  des  Kurfürsten  Uriel  von 
Mainz.  Als  Lehrer  des  geistlichen  Rechts 
mag  er  manches  Talent  beim  Studium  ge- 
fordert haben.  Zu  seinen  Schülern  zählte 
auch  Johann  Hebelin  von  Heimbach,  der 
Verfasser  einer  noch  ungedruckten  Arbeit 
über  Mainzer  Geschichte.  *)  Hebel  in  war, 
wie  sein  Lehrer  Merstetter,  Stiftsherr  von 
St.  Moriz  zu  Mainz.  Das  gab  Gelegenheit 
zum  Verkehr.  Hebelin  widmete  demselben 
sein  genanntes  Geschichtewerk  mit  den 
Worten:  Iacobo  Merstettir  Ehingano  .  .  . 
philosopho  excellentissimo  .  .  .  q  .  .  .  acutis- 
simo,  preceptori  suo  collendissimo  (1)  Iohannes 
Hebelinus  de  Heynibach  eiusdem  professionis 
.  .  .  eiusdem  .  .  .  canonibus  divi  Mauritii 
Moguntinensis.  S.  P.  D.s)  Das  Widmungs- 
schreiben  Hebelins  an  Merstetter  ist  vom 
1.  März  1600.  *) 

Der  Humanist  Johann  Rack  oder  Rhagius 
aus  Sommerfeld,  daher  Aesticampianus,  war 
zu  Rom  vom  PapBt  zum  Dichter  gekrönt 
worden.  Er  besuchte  hierauf  die  gröfseren 
Städte  Deutschlands,  stattete  namentlich  den 
Hochschulen  Besuche  ab  und  kam  auch  nach 
Mainz.  Dort  verkehrte  er  angeblich  als  Pro- 
fessor der  Hochschule5)  mit  den  angesehen- 

bei  Johann  Schoeffer  1603  erschienene  Mer- 
curius  Trismegistus  soll  ebenfalls  Verse  von 
Merstetter  enthalten.  Vgl.  Zeitschrift  des 
VereinB  f.  rhein.  Gesch.  zu  Mainz  UI  S.  19. 
Über  den  Druck  vgl  Roth,  Buchdrucker- 
familie Schöffer  S.  16. 

')  Er  leitete  den  Druck  der  1499  bei 
Peter  Friedberg  erschienenen  Oratio.  Dar- 
über unten.  über  den  Druck  Zeitschrift 
a.  a.  0.  in  S.  18  f.,  wo  aber  Schoeffer  zum 
Drucker  gemacht  wird,  während  es  Fried- 
berg war.  Vgl.  Centraiblatt  a.  a.  0.  IV  (1887) 
S.  401. 

*)  Vgl.  Böhmer,  Fontes  rerum  German, 
m  S.  XLIV.  Forschungen  z.  d.  Gesch.  XX 
S.  63  f.  Roth,  Geschichtsquellen  I  1  S.  X  f. 
Anm.  Archiv,  f.  Frankfurts  Gesch.  u.  KunBt 
N.  F.  V  S.  864  f. 

*)  Forschungen  a.  a.  0.  XX  S.  64. 

«)  Ebd.  S.  64. 

6)  Kurfürst  Berthold  von  Mainz  bewog 
1601  den  Rhagius,  Lehrer  zu  Mainz  zu 
werden.  Vgl.  Weif»,  Berthold  von  Henne- 
berg S.  48.  Katholik  1898  II  S.  101.  Von 
Rhagius'  Professur  zu  Mainz  schweigen  jedoch 
die  Universitätsakten,  auch  Knodt  erwähnt 
ihn  in  den  Hist.  univ.  Mogunt.  nicht  als 
Lehrer. 


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174 


Anzeigen  und  Mitteilungen 


Bten  Kreisen  und  lernte  auch  den  Merstetter 
kennen.  *)  Als  Khagius  1507  zu  Leipzig  eeine 
Epigrammata  herausgab1),  widmete  er  diese 
dem  Kurfürsten  Jacob  von  Mainz.  Die  Samm- 
lung enthält  Gedichte  auf  den  Domkustos 
Wilhelm  von  Hohenstein,  die  Kurfürsten 
Berthold  und  Jacob  von  Mainz,  den  Dom- 
probst  Plalzgrafen  Georg,  den  Domdekan 
und  spateren  Kurfürsten  Uriel  (von  Gem- 
mingen), den  Domscholater  Adolf  Rau,  den 
Siegelbewahrer  Ivo  Wittig,  den  Stiftsherrn 
Georg  Behcm  an  der  Liebfrauenkirche.  Eins 
der  längsten  Gedichte  ist  an  Merstetter  ge- 
richtet.   Es  heifst  darin: 

Culte  musarum  celebris  Iacobe 
Cura,  Phoebeis  Heliconis  undis 
Lote,  iucundoB  catus  et  venustos 
Condere  versus  u.  b.  w. 

Rhagius  rühmt  im  Verlauf  der  29  Strophen 
des  Gedichtes  Merstetters  Rechtschaffenheit 
uud  Verdienste  als  Seelsorger  sowie  dessen 
Ansehen  bei  Hoch  und  Niedrig  zu  Mainz  mit 
den  Worten: 

Te  colit  magnae  venerandus  urbis 
Pontifex,  castus  pariter  sacerdos, 
Vulgus  et  celsa  procerum  et  diserta 
Turba  virorum.*) 

Rhagius  teilte  dem  Merstetter  auch  brieflich 
sein  Vorhaben,  nach  Frankfurt  a.  0.  über- 
zusiedeln, mit  und  besprach  die  ihm  be- 
kannten Mainzer  Verhältnisse.  *)  Jedenfalls 
trug  das  an  Merstetter  gerichtete  Gedicht 
zum  Bekanntwerden  des  Mannes  in  weiteren 
Kreisen  bei  und  ist  beachtenswert  als  An- 
erkennung desselben  als  Dichter. 

Mit  seinem  früheren  Lehrer  Wimpfeling 
blieb  Merstetter  noch  in  steter  Verbindung. 
Als  1499  das  Jubeljahr  der  Heidelberger 
Hochschule  gefeiert  werden  sollte,  rüstete 


')  Hebelin  von  Heimbach  nennt  den  Mer- 
Btetter  aus  Ehingen,  Dichter  und  Theologen, 
den  Schüler  des  St.  Christofspfarrers  und 
Mainzer  Professoren  Florentius  Diel  (1479 
bis  161«),  neben  Nicolaus  Durckhammer  aus 
Bingen,  Stiftsherrn  von  St.  Peter  zu  Mainz 
und  Pfarrer  zu  Eltville,  Heinrich  Resse  aus 
COln,  Binger  Pfarrer  und  Professor  der  Theo- 
logie zu  Mainz,  sowie  Rulinus  auB  Minzen- 
berg. Vgl.  Katholik  1898  n  8.  288  f.  Dem- 
nach hatte  Merstetter  auch  noch  zu  Mainz 
Vorlesungen  Diels  besucht.  Severus,  Par- 
rochiae  8.  180  f. 

*)  Ein  Exemplar  bewahrt  die  Münchener 
Hofblibiothek. 

*)  Zeitschrift  des  Vereins  f.  rhein.  Gesch. 
zu  Mainz  Hl  S.  19  f. 

*)  Archiv  f.  Littel aturgesch.  ed.  Schnorr 
v.  Carolsfeld  XIV  (1886)  S.  344. 


Wimpfeling    eine   Festschrift   und  wufcte 
solche,  welche  der  Hochschule  früher  an- 
gehört   hatten,    zur   Mitarbeiterschaft  zu 
veranlassen.    Die  Schrift  erschien  1499  im 
Verlag  des  Peter  Friedberg  zu  Mainz  ohne 
Orts-    und   Jahresan^ube    in    Quarte  auf 
22  Blättern.1)    Dieselbe  ist  dem  Andenken 
des  Marsilius  von  Inghen,  des  ersten  Rekton 
der  Heidelberger  Hochschule,  gewidmet.*) 
Ihr  Titel  lautet:  Ad  illustrissimum  Bararie 
ducem  Philippum  comitem  Rheni  Palatimmi 
et  ad  nobili8simos  filios  epistola.  Oratio 
continens  dictiones,  clausula!  et  elegantia« 
oratorias  cum  signis  distinetäs.  Epigrammata 
in  divum  Marsilium  ineeptorem  plantato- 
remque  Gymnasü  HeidelbergensiK  Marsüii 
quisquis  depromit  carmine  laudem,  stent 
sibi  pro  meritis  premia  digna  suis.  Vivat 
ter  centum  post  Nestor  vixerat  annos  Ely- 
sium  repetens  post  sua  ferta  nemus.  *)  Diese 
Schrift  zerfällt  in  mehrere  Teile.    Auf  den 
wiedergegebenen  Titel  folgt  die  Einleitung 
Wimpfelings  als  Herausgebers  der  Schrift, 
gerichtet  an  den  Pfalzgrafen  Philipp.  Eine 
Zeitangabe  fehlt.    Dann  kommt  die  Oratio 
continens  dictiones,  clausulas  et  elegantia« 
oratorias  als  Arbeit  des  Marsilius  von  Inghen 
Damit  endigt  Wimpfelings  Anteil  an  der 
Schrift,  wenn  man  ihm  die  Herausgabe  der 
Schrift  des  Inghen  noch  zuweisen  will,  was 
zu  bezweifeln  kein  Grund  vorliegt.  Nun 
griff  als  Mitherausgeber  Merstetter  zur  Feder 
und  lieferte  als  BaccalaureuB  der  heil.  Schrift 
eine  Anrede  an  den  geneigten  Leser,  worin 
er  eine  Anzahl  von  Dichtern  einlud,  den 
Marsilius  von  Inghen  ebenfalls  dichterisch 
zu  feiern.  *)   Er  wies  darauf  hin,  viele  dieser 
Dichter  seien  noch  jung  an  Jahren  und  in 
der  Kunst  ungeübt.  Als  ersten  dichterischen 
Beitrag  lieferte  er  selbst  ein  Epigramm  in 
Sapphischer  Strophe.    Dann  folgen  die  Epi- 
gramme selbst  und  hierauf  die  von  dem  Pro- 
fessor der  heil.  Schrift,  dem  Magister  Nicolaus 
Prowiu,  in  der  Heiliggcistkirche  zu  Heidel- 
berg auf  Inghen  gehaltene  Leichenpredigt8), 
hierauf  die  dem  Johann  Gensfleisch  genannt 


')  Zeitschrift  a.  a.O.  III  S.  18  f.  Centralblatt 
a.  a.  O.  IV  (1887)  S.  401,  woselbst  weitere 
Litteraturangaben.  Vgl.  ebd.  V  S.  474.  Thor 
becke,  Gesch.  der  Universität  Heidelberg  I 
(1886)  S.  8  Anm.  19. 

*)  Inghen  starb  20.  August  1396. 

*)  Centralblatt  a.  a.  0.  IV  S.401.  Fischer, 
Typographische  Seltenheiten  I  S.  22  f.,  der 
bereits  Friedberg  als  Drucker  erkannte. 

«)  Vgl.  Zeitschrift  a.  a.  0.  HI  8.  20  f. 
Centralblatt  a.  a.  0.  IV  8.  401. 

8)  Zeitschrift  a.  a.  O.  m  S.  21. 


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Anzeigen  and  Mitteilungen 


175 


<iut«nbcrg,  dem  Erfinder  der  Typographie, 
gtsetxte  Grabinschrift  des  Adam  Gelthus  und 
ein  Epigramm  auf  denselben  von  Wimpfe- 
ling. ')  Die  ganze  Anlage  der  Schrift  spricht 
dem  Wimpfeling  die  Herausgabe,  dem  Mer- 
stetter nur  die  Mitarbeit  zu.  Die  Ansicht, 
dab  Merstetter  das  Ganze  redigierte  und 
herausgab,  ist  jedenfalls  verwerflich*),  in- 
dem für  eine  solche  Annahme  keinerlei 
Gründe  vorbanden  sind.  Merstetter  befand 
»ich  1499  längst  zu  Mainz  und  leitete  nur 
den  Druck  bei  Peter  Friedberg  als  Korrektor 
oder  Redactor  des  Manuskripts.  Dafs  er  zu 
fielen  der  Epigrammatisten  der  Schrift  in 
oiheren  Beziehungen  von  Heidelberg  her 
■Und'),  ist  annehmbar,  ob  er  aber  gerade 
tUe  Epigramme  veranlafste  und  nicht  auch 
hier  Wimpfeling  thfttig  eingriff,  bleibt  doch 
fraglich.  Von  Merstetter  befindet  sich  noch 
eis  Disthycon  Iacobi  Merstetter  ehingii  in  eam 
ipiam  politissimam  orationem  in  Wimpfe- 
lings  Schrift:  Pro  concordia  dialecticorum.  *) 
Andere  dichterische  Erzeugnisse  Merstetter» 
iteben  in  den  Schriften  Wimpfelings:  De 
bjmnorum  et  sequentiarum  autoribus,  und 
in  dessen  Soliloquium.  Da«  Todesjahr  Mer- 
»tetters  ist  unbekannt.  •) 

IV.  Johann  Hebelin  von  Heimbach 

Nach  einer  unverbürgten  Angabe  stammte 
Hebelin  aus  einem  der  Dörfer  dieses  Namens 
dem  rheinischen  Lorch  gegenüber,  die  als 
Ober-  und  Niederbeimbach  bekannt  sind  und 
nun  Mainzer  Erzbistum  gehörten.  Unnötig 
üt  die  Annahme,  dafs  Hebelin  aus  dem  un- 
bedeutenden Dörfchen  Heimbach  bei  Langen- 
Khwalbach  (Nassau)  stammte.*)  Hebelin 
»Ire  dann   der  Familienname  gewesen.7) 


')  Ebd.  S.  21.  v.d.  Linde,  Gutenberg  S.78  f. 

*)  Zeitschrift  a.  a.  O.  S.  20.  Centraiblatt 
a.  a.  0.  V  S.  474.  Zeitschr.  f.  vergl.  Litteratur- 
gesch.  ed.  M.  Koch  N.  F.  IV  (1891)  S.  248. 

•)  Centraiblatt  a.  a.  O.  IV  S.  402  Anm. 
Vgl.  Zeitschrift  a.  a.  0.  m  S.  20  f. 

*)  Centralblatt  a.  a.  0.  V  S.  475. 

*)  Nachfolger  Merstetter«  als  Pfarrer  an 
St.  Exnmeran  zu  Mainz  ward  JodoeuB  Selbach 
le^um  UcentiatuB,  welcher  1628  Dekan  von 
St  Peter  zu  Mainz  wurde.  Vgl.  Joannis, 
Rer.  Mogunt.  U  S.  409.  —  Über  Merstetter 
bandeln  Zeitschrift  des  Vereins  f.  rhein. 
Gesch.  zu  Mainz  HI  S.  19  f.  Knodt,  Hist. 
nniv.  Mogunt.  S.  43.  Severus,  Parrochiae 
8.  76.   Katholik  1898  H  S.  239. 

*)  Forschungen  z.  d.  G.  XX  S.  63. 

*)  Die  Führung  zweier  Vornamen  Johann 
und  Hebelin  war  zu  Hebelins  Zeit  allerdings 
wenig  gebrauchlich  und  würde  diese  An- 
nahme nur  unterstützen. 


Diesem  gegenüber  giebt  Würdtwein1)  an, 
Hebelin  stamme  aus  Frankfurt  a.  M.  und 
zähle  zu  dem  Patriziergeschlecht  der  Heim- 
bach.*) Da  Hebelin  auch  Vorname  ist, 
scheint  diese  Angabe  das  Richtigere  zu 
sein.  Hebelin  war  1478  geboren.  *)  Seine 
Studien  machte  er  zu  Mainz.4)  Er  ward 
Stiftsherr  zu  St.  Moriz  in  Mainz  und  ver- 
legte sich  auf  das  Studium  der  Geschichte  der 
Stadt  Mainz.  Im  Jahr  1600  lieferte  er  eine 
derartige  Arbeit,  vielmehr  eine  Materialien- 
sammlung hierüber.  Dieselbe  bewahrt  die 
Würzburger  Universitätsbibliothek  als  Hs. 
Nr.  187  in  Selbstschrift  Hebelins.  Die  Arbeit 
beginnt  mit  der  Urgeschichte  von  Mainz, 
ohne  sich  näher  damit  zu  befassen,  bespricht 
die  Stifte,  die  Kirchen,  Kircheneinrichtungen, 
es  folgt  ein  Verzeichnis  der  Bischöfe  und 
Erzbischöfe  von  Mainz,  das  von  Bonifazius  an 
an  Ausführlichkeit  zunimmt.  Bei  Rhabanus 
Maurus  fehlt  nicht  die  Aufzählung  der 
Schriften  desselben.  Es  reihen  sich  an  In- 
scriptiones  ecclesiae  S.  Albani  auf  den 
Blattern  136,  148  und  149.  Einiges  über  alte 
Grabsteine  zu  St.  Alban  steht  Blatt  136.  Auf 
Blatt  166  finden  wir  Angaben  über  die  beil. 
Hildegardis  und  deren  Schriften  sowie  einen 
Brief  des  ErzbiBchofs  Arnold  von  Mainz  an 
dieselbe  mit  deren  Antwort. 8)  Am  Ende  be- 
findet sich  eine  Aufzahlung  der  benutzten 
Autoren  in  sehr  verblauter  Schrift.  Hebeline 
Hand  ist  sehr  unleserliche  Kurrentschrift,  wie 
solche  die  Notare  für  Entwürfe  gebrauchten, 
und  an  vielen  Stellen  unentzifferbar.  Der  Titel 
ist  mit  Tinte  von  Hebelin  selbst  verschmiert 
und  unkenntlich  gemacht.  Nebenan  steht: 
Hic  auetor  delevit  noroen  suum  motu  proprio, 
ut  non  arguatur  de  ignorancia,  quia  in  XXII. 
suo  aetatis  anno  sequentia  collcgit,  pOBt 
hec  alia  vidit  et  errorem  suum  fatetur.*) 

')  Würdtwein,  Moguntia  literata.  Hb.  der 
Frankfurter  StadtbibTiothek.  Die  Angaben 
sind  dort  sehr  dürftig. 

*)  Es  gab  zu  Frankfurt  a.  M.  ein  Ge- 
schlecht von  Heimbach  genannt  Schönwetter. 
Vgl.  Archiv  f.  Frankfurts  Gesch.  u.  Kunst 
N.  F.  IV  (1869)  S.  232. 

s)  Hebelin  verfafste  seine  Arbeit  1600  im 
Alter  von  22  Jahren,  was  als  Geburtszeit 
1478  ergiebt. 

*)  Hebelins  Angaben  weiBen  auf  Mainz 
hin,  auch  nennt  er  den  Merstetter  seinen 
Lehrer.  Hebelin  kannte  auch  den  Florentius 
Diel,  Professor  und  Christofspfarrer  zu  Mainz. 
Vgl.  Katholik  1898  D  S.  288. 

*)  Roth,  Geschichtsquellen  I  3  S.  X  Anm. 
Archiv  f.  Frankfurts  Gesch.  u.  Kunst  N.  F.  V 
S.  864  f.  Forschungen  z.  d.  0.  XX  S.  53  f. 
Vgl.  auch  oben  unter  Merstetter. 

•)  Forschungen  a.  a.  0.  XX  S.  64. 


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Anzeigen  und  Mitteilungen 


Diese  Bemerkung  spricht  für  Hebelins  Be- 
scheidenheit und  kennzeichnet  die  Arbeit  als 
Jugendversuch  auf  dem  Gebiet  der  Mainzer 
Geschichte. 

Hebelin  dflrfte  frühestens  1509  Dekan  des 
St.  Morizstifts  geworden  sein,  da  er  am 
18.  Januar  1509  in  einer  Streitsache  mit  dem 
clerus  secundariuB  der  Stadt  Mainz  als  Dekan 
des  Stifts  vorkommt. ')  Nach  anderer  An- 
gabe wurde  er  bereits  1607  Dekan  und  wurde 
in  dieser  Stellung  sowie  als  magister  artium 
und  Stiftsherr  am  Liebfrauenstift  ad  gradus 
zu  Mainz  im  Jahr  1507  Rektor  der  Mainzer 
Hochschule  nach  dem  Tode  des  Ivo  Wittig.  *) 
Am  81.  August  1610  erscheint  Hebelin  wie- 
derum als  Dekan  in  einer  Streitsache  wegen 
zwei  Gulden  Abgabe  an  den  clerus  secundarius 
zu  Mainz  und  ward  zur  Entrichtung  dieses 
Betrages  angehalten.3)  Hebelin  starb  im 
Januar  1515  als  Dekan  seines  Stifts. «) 

Sein  Mainzer  Geschichtswerk  kennzeichnet 
ihn  als  einen  belesenen  Mann.  Er  kannte 
die  Geschichtswerke  des  Eusebius,  Martin 
von  Troppau,  Sebastian  Brant,  Blondue,  Vin- 


')  Protokolle  des  Mainzer  clerus  secun- 
darius. Hs.  der  Mainzer  Seminarbibliothek, 
Folio,  8.  11  f. 

*)  Knodt,  Hist.  univ.  S.  11. 

»)  Protokolle  a.  a.  0.  S.  87  f. 

*)  Gudenus,  Codex  IH  S.  944:  Decessori 
succedens  supremum  vitae  diem  explevit  m. 
Ian.  1515. 


centius  Belluacensis,  Otto  Frisingensis,  Petrus 
de  Vineis  und  Jacob  Wimpfeling,  die  Vita 
s.  Godehardi  und  einige  Mainzer  Lokalquellen. 
Im  Jahr  1607  schrieb  Gheverdes  au»  Köln 
Hebelins  Arbeit  ab  und  erweiterte  dieselbe. 
Dessen  Handschrift  besitzt  die  Darmstädter 
Hofbibliothek. ')  Hebelins  Arbeit  war  dem 
Mainzer  Forscher  Helwich  und  dem  Pfarrer 
Severus  bekannt.  Letzterer  teilte  ein  Stück 
derselben  mit.*) 

Zu  den  mittelrheinischen  Humanisten  ge- 
hören noch  Wolfgang  Trefler*),  Johann  Cur- 
vello  Mönche  zu  Jacobsberg  und  Johannis- 
berg, Johann  Huttich  •)  und  Nicolaus  Carbach  •). 
die  ich  an  anderer  Stelle  bereit«  behandelt 
habe. 


»)  Forschungen  z.  d.  G.  XX  S.  64  f. 
")  Severus,  Parrochiae  S.  180  f.  Katholik 
1898  D  S.  2»9  Anm.  2.  Ich  habe  diese  Stelle 
in  der  Würzburger  Hs.  wiedergefunden.  Dem- 
nach befand  sich  HebelinB  Arbeit  noch  vor 
1768  zu  Mainz,  wo  sie  Pfarrer  Severus  für 
seine  Parrochiae  benutzte.  Katholik  1898 
n  8.  289  Anm.  2.  —  Helwich  schrieb  die 
Grabinschriften  von  St.  Alban  aus  Hebelins 
Arbeit  ab:  Ex  codice  vetusto,  kannte  aber 
den  Urheber  der  Arbeit  nicht. 

•)  Katholik  1898  U  S.  347—362. 
«)  Annalen  des  Hist.  Vereins  f.  d.  Nieder- 
rhein LXH  (1896)  8.  209  f. 

Euphorion  ed.  Sauer  TV  (1897)  8.  772  f. 
Katholik  1898  H  8.  852—868. 

Wiesbaden.  F.  W.  E.  Roth. 


3 


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J-/i.  VL-<  ♦    ß&<XK%MC}^  &  ngbBTglirbudi  fr.  BritfimrKh, 

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bind  gefottrmen  jinb,  in 
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ferro  Betwertuna  ber  C 
bf«  roitflidjf»  Sebent 
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boraftnae  in  ben  ein 
Xufaaben.   Dod)  wirb 

»crjuft3tD.  \.  tjötjexe  «ürgcTidjuIen,  «eolfdjulen,  <progtmtnaften  u.  weaigömnaiten.  |  JJ^ £  „fme  weien« 
^tubearbeituitß  bin  qhrof.  qHefjtet  mtb  Obetl.  greller,  jgnaen  «»  8f»J^. 

jü  5e  We  biegen  «Berten  be«  um  ben  6$ttiu*terrtd>t  |o  mbtrnfrn  Bericfler«  Ujre  weite  «erbreUnno,  an  ben  bBberen  fie 
■rrf*afft  baben.   Partie  ntUcf)  wirb  befir  ae|oro,t  werben.  b«6  bie  fleoenwarttaen  «uftoaen  beibet  »üdjer  aud)  neben  bei  Nrob 
|env«t  toerben  tönnen     Di«  mriprunalldje  gaffuna.  ber  ©ftdjer  wirb  aber  au*  jelbjtöerflanblid)  9unact)ft  neben  bei 
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Aus  dem  Inhalt  der  letzten  Hefte: 


Bemerkungen  zur  Siedelungsgeographle: 

Dr.  0.  Sohlüter.  .  _ 

D.  ßrfinlandexped.  d.  Ges.  f.  Erdkunde 
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lidjer  SDaf einflf ormen  unb 
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Jfulhir  titaam  flu  geniinnen, 
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g  c g e n  f  e i  t  i g e  n  Beeint 
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bblfl.  fi.  05.  Srubnrr  in  Ccipjin. 


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4  Beilagen  von 


JAHRGANG  1899.    ZWEITE  »ABTEILUNG.    VIERTES  HEFT 


DIE  ENTWICKELUNG  DER  GRIECHISCHEN  AUFKLÄRUNG 

BIS  AUF  SOKRATES1) 

Von  Wilhelm  Nestle 

Mehrfach  weisen  griechische  Schriftsteller  auf  die  Thatsache  hin,  dafa 
Hellas  sich  einer  besonders  günstigen  Mischung  der  kliraatologischen  Gegen- 
sätze erfreue,  und  Hippokrates,  der  Begründer  der  wissenschaftlichen  Medizin 
und  der  Volkerpsychologie,  als  solcher  ein  Vorläufer  Montesquieus,  nimmt 
keinen  Anstand,  die  körperliche  und  geistige  Überlegenheit  der  Europaer  über 
die  Asiaten  aus  dieser  Ursache  abzuleiten:  ein  Urteil,  dem  um  so  mehr  Be- 
deutung zukommt,  als  der,  welcher  es  fällte,  nicht  ein  Stubengelehrter  war, 
sondern  seine  Erfahrung  auf  eine  Fülle  von  Beobachtungen  gründete,  die  er 
in  den  wichtigsten  Teilen  der  damals  bekannten  Welt  vom  Nilthal  bis  Süd- 
rufsland angestellt  hatte.8)  Jedenfalls  weist  der  hellenische  Geist  eine  aufser- 
ordentlich  günstige  Vereinigung  der  verschiedenen  psychischen  Fälligkeiten  des 
Menschen  auf,  deren  harmonisches  Verhältnis  ihn  zu  seinem  Vorteil  von  dem 
anderer  ebenfalls  hochbegabter  Völker  des  Altertums,  wie  Inder,  Ägypter, 
Israeliten  und  Römer  unterscheidet,  bei  denen  teils  ausschweifende  Phantasie, 
teils  religiöse  Beschauung,  teils  praktisch -nüchterner  Sinn  allzu  einseitig  sich 
geltend  gemacht  haben.  Die  Griechen  haben  sich  eine  Religion  geschaffen,  in 
der  Gemüt  und  Phantasie  mit  verstandesmäfsiger  Klarheit  eine  Verbindung 
eingegangen  haben,  wie  sie  sich  ähnlich  wohl  nur  in  der  germanischen  Mytho- 
logie wiederfindet.  Und  wenn  man  gesagt  hat,  es  sei  eine  That  germanischen 
Geistes,  dafs  der  Deutsche  in  der  Götterdämmerung  seine  Götter  zur  Ver- 
nichtung verurteile  und  dadurch  das  Bedürfnis  nach  einer  höheren  Wahrheit 
bekunde3),  so  wird  diese  Leistung  durch  das  Streben  des  hellenischen  Geistes, 
durch  die  bunte  Götterwelt  hindurch  zu  einem  hinter  ihr  liegenden  einheit- 
lichen Grund  alles  Seins  zu  gelangen,  noch  übertroffen.  Entsprechend  der 
vorhin  gekennzeichneten  Doppelnatur  des  hellenischen  Geistes  ist  der  Weg, 
auf  dem  sich  dieses  Streben  bewegt,  ein  zweifacher.    Sobald  man  angefangen 

«)  Aus  einer  Schulrede,  gehalten  am  Geburtsfest  S.  M.  des  König*  Wilhelm  II.  von 
Württemberg,  25.  Febr.  1899,  im  Gymnasium  in  Ulm. 

*)  Hippokrates  ntQl  &4qwv  u.  s.  w.  19.  31.  Herodot  III  106.  Eurip.  Fr.  981.  Med.  824  ff. 
Plate  Phaedrus  64  S.  270  C.  Soph.  öd.  Col.  668  ff.,  besonders  694  ff.  Isokrates  VE  74.  Vgl. 
Pohl  mann,  Hellenische  Anschauungen  über  den  Zusammenhang  von  Natur  und  Geschichte. 
Erlanger  Habilitationsschrift.   Leipzig,  Hinsel  1879,  S.  12  ff. 

■)  F.  Dahn,  Bausteine.   Nach  andern  wäre  die  Götterdämmerung  von  der  christlichen 
Vorstellung  des  Weltgerichts  beeinOufst.  —  Vgl.  Zielinski,  N.  Jahrb.  1899,  S.  86. 
Neue  Jahrbücher  11  12 


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178     W.  Nestle:  Die  Entwickelung  der  griechischen  Aufklärung  bis  auf  Sokratts 

hatte,  sich  bei  der  alten  Naturreligion  nicht  mehr  zu  beruhigen,  suchte  man 
teils  Befriedigung  des  Gemütes  in  einer  tiefsinnigen  und  phantasievollen  Mystik, 
wie  sie  die  orphischen  Lehren  boten,  teils  begann  man  in  ebenso  kühner  als 
kindlicher  Weise  die  Bahn  wissenschaftlicher  Aufklärung  zu  beschreiten  und 
so  dem  Verstände  Genüge  zu  thun.  Beide  Richtungen  dieser  geistigen  Ent- 
wickelung sind  für  die  Folgezeit  von  eminenter  Wichtigkeit  geworden;  ja  man 
kann  sagen:  sie  haben  heute  noch  nicht  aufgehört  zu  wirken.  Zahlreiche  Vor- 
stellungen jener  orphischen  Konventikel,  namentlich  über  die  Ausgestaltung  des 
Lebens  im  Jenseits,  über  höllische  Strafen  und  himmlische  Seligkeit,  sind  in 
den  christlichen  Vorstellungskreis  übergegangen,  wie  die  vor  wenigen  Jahren 
aus  dem  unerschöpflichen  Schatzhaus  Ägyptens  ans  Licht  getretene  Petrus- 
apokalypse aufs  deutlichste  zeigt.1)  Und  die  wissenschaftliche  Aufklarung  der 
Griechen  hat  der  monotheistischen  christlichen  Religion  den  Weg  bereitet,  so 
dafs  mancher  der  altchristlichen  Apologeten  nach  dem  Vorgang  der  bekannten 
Rede  des  Paulus  in  Athen  mit  seinen  christlichen  Lehren  an  griechische  Ge- 
danken anknüpfte,  ja  mitunter  seine  schärfsten  Waffen  zur  Bekämpfung  des 
Polytheismus  aus  der  Rüstkammer  der  aufgeklarten  Hellenen  holte:  so  vor 
allen  Clemens  von  Alexandria,  dem  wir  eben  deswegen  eine  Menge  von  Bruch- 
stücken solcher  griechischer  Denker  verdanken.  Und  selbst  als  das  Christen- 
tum über  den  Hellenismus  triumphierte,  'lebte  vieles,  allzu  vieles  von  der 
Weisheit  seines  Greisenalters  weiter  in  den  spekulativen  Ausgestaltungen  des 
Christenglaubens'.  *)  Weitaus  das  gröfsere  Verdienst  der  griechischen  Auf- 
klarung ist  es  aber,  dafs  sie  für  alle  Zeiten  und  für  die  ganze  Welt  den  Grund 
zu  systematischer  wissenschaftlicher  Forschung  gelegt  hat,  freilich  damit  auch 
zu  dem  Zwiespalt,  der  noch  heute  jedem  denkenden  Gebildeten  zu  schaffen 
macht,  dem  Zwiespalt  zwischen  Glauben  und  Wissen.  Zwar  schien  es  im 
Mittelalter  noch  einmal,  als  sei  die  Einheit  beider  wiederhergestellt:  hatte  sich 
doch  die  Kirche  zugleich  mit  dem  Anspruch  auf  die  Vorschrift  des  Glaubens 
auch  des  Privilegiums  der  Bildung  bemächtigt.  Aber  auf  die  Dauer  hatte  dies 
keinen  Bestand.  Die  Renaissance  nahm  im  Bunde  mit  der  Reformation  die 
gewaltsam  abgerissene  Entwickelung  wieder  auf,  in  der  wir  jetzt  noch  begriffen 
sind.  Die  Anfänge  nun  jener  bedeutsamen  Bewegung  der  griechischen  Auf- 
klärung, bis  ins  fünfte  Jahrhundert  v.  Chr.,  gedenke  ich  hier  in  Kürze  zu 
verfolgen. 

Es  sind  im  wesentlichen  drei  Gebiete,  auf  denen  sich  die  Aufklarung 
bei  den  Griechen  vollzieht:  das  religiös -philosophische,  das  naturwissenschaft- 
liche und  das  historisch -politische.  Da  diese  aber  vielfach  ineinander  über- 
greifen, so  ziehe  ich  eine  in  der  Hauptsache  chronologische  Betrachtungsweise 
vor.  Die  Wiege  der  griechischen  und  damit  auch  der  europäischen  Kultur 
bilden  die  kleinasiatischen  Kolonien:  dort  ist  das  ritterliche  Epos,  dort  die 


')  A.  Dieterich,  Nekyia.    Leipzig  1893. 

*)  Rohde,  Psyche 1  690.  Hatch,  Griechentum  und  Christentum.  Deutsch  von  E.  Preu  sehen. 
Freiburg  i.  Br.  1892. 


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W.  Nestle:  Die  Entwickelung  der  griechischen  Aufklärung  bis  auf  Sokrates  179 

Lyrik,  dort  die  Naturphilosophie,  dort  endlich  die  Geographie  und  Geschicht- 
schreibung entstanden.  Nur  das  Drama  ist,  übrigens  nicht  ohne  Einwirkung 
aus  dem  Osten,  im  europäischen  Mutterlande  erblüht.  Die  ersten  schüchternen 
Ansätze  einer  religiös -philosophischen  Aufklärung  zeigen  sich,  so  paradox  das 
klingen  mag,  schon  im  Homerischen  Epos.  Man  hat  früher  sehr  viel  von 
Homerischer  Naivetat  gesprochen  und  kein  Geringerer  als  Schiller  hat  in  seiner 
Abhandlung  'Über  naive  und  sentimentalische  Dichtung*  auf  Homer  als  eines 
der  treffendsten  Beispiele  für  die  erstere  Gattung  hingewiesen,  die  eben  des- 
halb, weil  sie  Natur  ist,  die  Natur  nicht  bewufst  empfindet  und  sucht.1)  Diese 
ästhetische  Auffassung  hat  ganz  gewifs  ihre  Berechtigung.  Aber  überschätzt 
wurde  damals  diese  Naivetät  Homers  doch,  schon  darum,  weil  man  noch  gar 
keine  Vorstellung  von  dem  einige  Jahrhunderte  umfassenden  Zeitraum  hatte, 
Ober  den  sich  die  epische  Produktion  erstreckt:  sind  doch  erst  in  dem  Jahre, 
da  Schiller  jenen  Aufsatz  schrieb  (1795),  Fr.  Aug.  Wolfs  'Prolegomena  in 
Homerum'  erschienen.  Es  ist  ferner  bezeichnend,  dafs  schon  Nägelsbach  eine 
'Homerische  Theologie'  schreiben  konnte,  und  in  neuester  Zeit  haben  Schliemanns 
Funde  den  Wahn,  als  stünde  man  mit  der  Homerischen  Poesie  am  Anfang 
einer  Kulturentwickelung,  für  immer  zerstört  und  zu  ihrem  Teil  dem  Worte 
Herodots  wieder  zu  seinem  relativen  Recht  verholfen,  dafs  Homer  und  Hesiod 
den  Griechen  ihre  Theogonie  gemacht  haben.*)  Zwar  haben  die  Homerischen 
Dichter  sich  mit  ihren  religiösen  Vorstellungen  gewifs  im  wesentlichen  an  den 
Volksglauben  angeschlossen.  Aber  angesichts  der  Unmenge  von  Lokalkulten 
mufsten  sie  eine  gewisse  Auswahl  treffen,  deren  Ergebnis  der  in  Zeus  kulmi- 
nierende olympische  Götterstaat  war.  Indessen  damit  war  es  nicht  genug: 
auch  über  den  Göttern,  selbst  über  Zeus,  waltet  noch  eine  höhere  absolute 
Macht,  das  Schicksal,  ein  Begriff,  der,  wie  seine  Benennungen  zeigen,  gewifs 
nichts  Ursprüngliches  ist,  sondern  in  dem  wir  'eine  erste  dämmerhafte  Ahnung 
der  Gesetzmäfsigkeit  alles  Geschehens' s)  erkennen.  Das  Wort,  dafs  'Vielherr- 
schaft nicht  gut  ist,  sondern  Einer  Herr  sein  soll',  das  in  der  Ilias  in  Be- 
ziehung auf  menschliche  Verhältnisse  ausgesprochen  wird4),  findet  hier  schon 
eine  noch  zaghafte  Anwendung  auf  das  Göttliche,  wie  denn  auch  später 
Aristoteles  in  der  Metaphysik  seine  Auseinandersetzung  über  den  Gottesbegriü' 
damit  beschliefst.5)  Doch  kaum  ist  der  Begriff  gewonnen,  so  bereitet  seine 
Anwendung  auch  schon  Schwierigkeiten:  das  menschliche  Handeln  aus  eigenem 
Entschlufs  widerspricht  der  Idee  einer  unbeschränkten  göttlichen  Macht,  und 
mit  einem  neuen  Worte,  'Hypermoron',  das  den  Widerstand  gegen  das  Schicksal 
bezeichnet,  glaubt  man  das  Problem  der  Willensfreiheit,  die  Frage  nach  dem 
Ursprung  des  Bösen  und  des  Übels,  das  es  nach  sich  zieht,  gelöst  zu  haben.6)  — 

>)  Vgl.  auch  M.  Schneidewin,  die  Homerische  Naivetät.   Hameln  1878. 
*)  Herodot  II  68. 

•)  Gomperz,  Griechische  Denker  I  S.  24.  Lehre,  Zeus  und  die  Moira.  Aufsätze  aus 
dem  Altertum»  S.  220. 

«)  B  204.      *)  Aristoteles,  Metaphysik  XI  10. 
«)  a  82  ft;  vgl.  Ps.  Plato  II.  Alkib.  6  S.  142  D. 

12  • 


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180     W.  Nestle:  Die  Entwicklung  der  griechischen  Aufkl&rung  bis  auf  Sokrates 


Eine  starke  und  offenbar  bewufste  Emancipation  von  einer  tief  eingewurzelten, 
das  ganze  Altertum  beherrschenden  Volksvorstellung  begegnet  uns  bei  den 
Homerischen  Dichtern  in  ihren  Anschauungen  vom  Leben  nach  dem  Tode. 
Von  jenem  furchtbaren  Glauben,  dafs  die  Seelen  der  Abgeschiedenen  auch  noch 
auf  das  diesseitige  Leben  einen  Einflufs  ausüben  und  dafs  man  deswegen  durch 
allerlei  Beschwörungen  und  Opfer  ihre  schädliche  Einwirkung  bannen  und  ihre 
Gunst  sich  erwerben  müsse,  jenem  Glauben,  dem  auch  das  Wort  'de  mortuis 
nil  nisi  bene*  seinen  Ursprung  verdankt,  von  ihm  finden  wir  im  Homerischen 
Epos  nur  noch  vereinzelte  Rudimente.  Er  ist  vielmehr  durch  die  Anschauung 
ersetzt,  dafs  mit  der  Bestattung  des  Leichnams  die  Seele  in  den  Hades  ein- 
geht, von  dem  es  keine  Rückkehr  zur  Oberwelt  giebt.  Vielleicht  steht  damit 
die  Ersetzung  der  Sitte  des  Begrabens  durch  diejenige  der  Verbrennung  der 
Leiche,  die  wir  bei  Homer  ausschliefslich  vorlinden,  im  Zusammenhang.1) 
Endlich  aber  finden  wir  in  den  Homerischen  Gedichten  da  und  dort  zwar  noch 
nicht  eine  ausgesprochene  Polemik  gegen  die  Volksreligion,  aber  doch  gering- 
schätzige Aufserungen  über  einzelne  ihrer  Elemente.  Eine  solche  vernehmen 
wir  in  der  Ilias  aus  Hektors  Mund,  der  auf  die  Warnung  des  Polydamas,  er 
möge  ein  ungünstiges  Vogelzeichen  beachten,  entgegnet: 

Ich  achte  sie  nicht,  noch  kümmert  mich  Solches, 
Ob  sie  rechtshin  fliegen  zum  Tagesglanz  und  zur  Sonne, 
Oder  auch  links  dorthin  zum  nächtlichen  Dunkel  gewendet 
Nein,  des  erhabenen  Zeus  Ratschlufs  vertrauen  wir  lieber, 
Der  die  Sterblichen  all'  und  unsterbliche  Götter  beherrschet 
Ein  Wahrzeichen  nur  gilt,  das  Vaterland  zu  erretten.8) 

Allerdings  wird  hier  das  Vogelzeichen  in  Gegensatz  zu  einer  ausdrücklich 
durch  Iris  von  Zeus  überbrachten  Botschaft  gesetzt;  aber  wahrend  nach  dem 
gewöhnlichen  Glauben  auch  die  Vogclzeichen  von  Zeus  kommen,  wird  hier  der 
Glaube  an  diese  als  etwas  nicht  nur  Gleichgültiges,  sondern  geradezu  Ver- 
kehrtes und  Irreführendes  hingestellt.  Ganz  ähnlich  äufsert  sich  in  der  Odyssee 
der  freilich  als  frech  geschilderte  Freier  Eurymachos  über  die  Bedeutung  des 
Vogelflugs  und  Telemach  über  die  Weissagung  überhaupt.3)  Und  auch  an 
die  Götter  selbst  wagen  sich  die  Homerischen  Dichter.  Allbekannt  ist 
jenes  Lied  des  phäakischen  Sängers  Demodokos  von  dem  durch  Hephästos 
entdeckten  Liebesbund  des  Ares  und  der  Aphrodite,  das  man  unmöglich 
noch  als  Naivetät  auffassen  kann,  sondern  in  dem  man  eine  Ironisierung 
der  Menschlichkeiten  der  griechischen  Götter  erkennen  mufs.4)  Das  ist  nun 
zwar  ein  späteres  Einschiebsel,  stammt  aber  eben  doch  noch  aus  der  Zeit, 
da  die  epische  Dichtimg  noch  im  Flusse  war,  also  spätestens  aus  der  ersten 
Hälfte  des  sechsten  Jahrhunderts.  Auch  in  einer  Erzählung  der  Odyssee 
glaube  ich  nicht  mehr  einen  naiv  gläubigen,  sondern  einen  schalkhaften  Dichter 
zu  hören:  ich  meine  die  Scene,  wo  Helios  sich  bei  Zeus  beklagt,  dafs  die 
Gefährten  des  Odysseus  die  heiligen  Rinder  auf  der  Insel  Thrinakia  geschlachtet 

")  Rohde,  Psyche  S.  26.       *)  M  238  ff.;  Botechaa  der  Irig  A  186  ff. 
*)  ß  177  ff.  a  416  f.       4)  9  266  ff. 


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W.  Nestle:  Die  Entwickclung  der  griechischen  Aufklarung  Mb  auf  Sokrates  181 

haben,  und  droht,  wofern  ihm  nicht  Genugthuung  werde,  in  den  Hades  hinab- 
zntanchen  und  hinfort  den  Unterirdischen  zu  leuchten,  bis  ihn  Zeus  beruhigt 
und  bittet,  dafs  er  auch  künftig  den  unsterblichen  Göttern  und  den  sterblichen 
Menschen  scheinen  möge.1)  Neben  diesen  mannigfachen  positiven  Zeugnissen 
mag  auch  noch  ein  testimonium  ex  silentio  für  die  verhältnismäfsige  Frei- 
geistigkeit  der  Homerischen  Dichter  angeführt  werden.  Man  weifs,  was  bei 
primitiven  Völkern  der  'Medizinmann'  bedeutet,  und  es  ist  darum  ganz  gewifs 
nicht  zufällig,  wenn  wir  in  einem  so  umfangreichen  Gedichte  wie  die  Ilias,  wo 
so  häufig  von  Verwundungen  die  Rede  ist,  auch  nicht  einen  einzigen  Fall 
finden,  in  dem  eine  Heilung  durch  irgend  welche  Zaubermittel,  Besprechungen 
u.  dgl.  herbeizuführen  versucht  würde.8) 

Aus  dem  uns  nur  in  geringen  Resten  erhaltenen  'Epischen  Cyclus'  soll 
nur  eine  Stelle  der  dem  Stasinus  zugeschriebenen  'Kypria'  angeführt  werden, 
in  der  gesagt  wird,  dafs  Zeus  den  Trojanischen  Krieg  habe  entbrennen  lassen, 
am  die  Erde  vor  Übervölkerung  zu  bewahren.8) 

Unter  ganz  andern  Verhältnissen  als  das  ritterliche  Epos  in  Kleinasien 
ist  im  bäuerlichen  Böotien  die  Dichtung  des  Hesiod  erwachsen.  Herrscht  dort 
Kampfeslust  und  Lebensfreude,  so  lastet  hier  eine  düstere  Stimmung  auf  den 
Seelen  der  Menschen.  Hesiod  will  auch  mit  seinen  Gesängen  nicht  unter- 
halten und  erfreuen,  er  mag  nicht  fabulieren,  nicht  'Lügen  erzählen'*),  sondern 
er  will  die  Wahrheit  sagen,  belehren  und  bessern.  Daher  bringt  er  mit  seiner 
"Theogonie*  System  in  den  Wirrwarr  der  griechischen  Götter  und  zugleich 
fängt  er  an  zu  spekulieren,  indem  er  die  Vorstellungen  vom  Chaos,  vom  welt- 
bildenden Eros,  von  Eris,  dem  Prinzip  des  Streites  u.  dgL  einfuhrt.  So  ist 
seine  Theogonie  oft  nahe  daran,  sich  in  eine  Kosmogonie  zu  verwandeln.  Und 
der  berühmte  Mythus  von  den  vier  oder  fünf  Weltaltern5),  was  ist  er  anders 
als  eine  primitive  und  sehr  pessimistische  Geschichtsphilosophie?  Dafs  der 
Dichter  trotz  seiner  Frömmigkeit  dem  Volksglauben  und  -brauch  mit  einer 
gewissen  Freiheit  gegenübersteht,  zeigt  ein  Bruchstück  der  'Melampodie',  in  dem 
es  heilst,  dafs  kein  menschlicher  Seher  den  Willen  des  Zeus  erkunden  könne.8) 

Das  Epos  wurde  von  der  Lyrik  abgelöst.  Es  liegt  in  deren  Wesen,  dafs 
sie  es  mehr  mit  der  Aussprache  von  Gefühlen  als  mit  verstandesmäfsigen  Er- 
kenntnissen zu  thun  hat.  Wo  die  Dichter  auf  allgemein  Menschliches  zu 
sprechen  kommen,  macht  sich  ein  tiefes  Gefühl  der  Hinfälligkeit  alles  Irdischen 
geltend:  die  Menschen  sind  wie  die  Blumen  des  Feldes,  die,  kaum  erblüht,  an 
den  Strahlen  der  Sonne  verwelken.7)  Solche  Betrachtungen  führen  geradezu  zu 


')  <*  874  ff. 

*)  Dagegen  findet  sich  in  der  gegenüber  den  adeligen  Kreisen  der  Ilias  schon  etwas 
börgerlich  angehauchten  Odyssee  einmal  eine  inaoid^  1 467 .  Hochschätzung  der  Ärzte :  .4  514; 
P  388  f.   Daremberg,  La  mSdecine  entre  Homere  et  Hippocrate,  Revue  archeologique  1869. 

*)  Fr.  1.    Kinkel,  Ep.  Gr.  Fr.  S.  26. 

*)  Theog.  27  f.  gegen  x  208  gerichtet. 

*)  Erga  109  ff.      •)  Fr.  187  Kinkel  —  197  Rzach. 

»)  Mimnermus  Fr.  2,  1  ff.   Lyr.  Or.  ed.  Bergk-Hüler-Crusius  ♦  1897  S.  31. 


182     W.  Nestle:  Die  Entwickelung  der  griechischen  Aufklärung  bis  auf  Sokratee 

einer  pessimistischen  Auffassung  des  Lebens,  die  überhaupt  in  dem  griechischen 
Denken  tief  eingewurzelt  ist1),  und  aus  der  Spruchdichtung  des  Theognis 
tont  uns  zum  erstenmal  das  schwermütige,  Bpäter  so  oft  wiederholte  Wort 
entgegen:  'Nicht  geboren  sein  ist  das  Beste  und,  einmal  geboren,  so  früh  wie 
möglich  in  die  Pforten  des  Hades  einzugehen.")    Der  Dichter  verzweifelt  an 
der  Gerechtigkeit  des  Weltlaufs  und  dessen  offenbare  Unbilligkeit  stellt  ihm 
Frömmigkeit  und  Sittlichkeit  in  Frage.    Im  Grunde  stammt  alles  Übel  von 
den  Göttern,  die  den  Menschen  nicht  einmal  den  Weg,  ihnen  zu  gefallen,  ge- 
zeigt haben.    So  ist  das  einzige,  was  den  Menschen  bleibt,  die  Hoffnung  und 
die  ihnen  von  den  Göttern  verliehene  Vernunft.3)    Ähnlich  wie  Theognis 
denken  Mimnermos,  Simonides  von  Keos  und  sein  Neffe  Bakchylides, 
von  dessen  Liedern  uns  jüngst  der  Boden  Ägyptens  eine  ansehnliche  Zahl 
wieder  geschenkt  hat.4)    Von  einer  bestimmten  Stellungnahme  zur  Volks- 
religion ist  bei  diesen  Dichtern  keine  Rede.    Die  bekannte  Änderung,  die 
Stesichoros  in  seiner  Palinodie  an  der  Helenasage  anbrachte,  dafs  nämlich 
der  troische  Krieg  um  ein  von  den  Göttern  geschaffenes  Scheinbild  der  Helena 
entbrannt  sei,  während  die  wirkliche  Helena  hie  nach  Ilion  gekommen  sei, 
steht  unter  religiösem  Einflufs.6)    Und  wenn  Solon  einmal  sagt,  dafs  'die 
Dichter  vieles  erlügen*,  so  werden  wir  hierin  mehr  eine  Abneigung  des 
nüchternen  Staatsmannes,  der  zwar  selbst  Verse  machte  und  für  den  öffent- 
lichen Vortrag  der  Homerischen  Gedichte  Sorge  trug,  dagegen  die  Aufführung 
der  Tragödien  des  Thespis  verbot,  gegen  gewisse  Erzeugnisse  einer  phantasie- 
vollen Kunst  als  religiöse  Polemik  erblicken  dürfen.    Doch  glaubt  er  aller- 
dings auch  nicht  an  die  Mantik.6)  Bei  Pindar  schliefslich  kann  man  wohl  das 
Streben  nach  einer  Versittlichung  der  Religion  wahrnehmen,  und  er  nimmt 
z.  B.  an  der  Sage  vom  Mahle  des  Tantalos  ernstlichen  Anstofs7);  aber  er  steht 
mehr  unter  orphisch-mystischem  als  rationalistischem  Einflufs8),  und  die  Summe 
seiner  Lebensweisheit  ist  im  Grunde  dieselbe  wie  die  der  meisten  Lyriker: 
'Gegen  das  Schicksal  ist  aller  Kampf  vergeblich;  darum  bescheide  dich  bei 
deinem  Menschenlose*!9) 

Während  es  im  griechischen  Dichterwald  von  allen  Zweigen  schallte  von 
den  Gestaden  und  Inseln  des  Ägäischen  Meeres  bis  zu  den  entlegenen  west- 
lichen Pflanzstädten  in  Unteritalien  und  Sizilien,  entsprofste  an  den  gesegneten 
Küsten  Kleinasiens  dem  Boden  des  hellenischen  Geisteslebens  ein  neuer  kräftiger 
Stamm,  die  ionische  Naturphilosophie.    Die  reiche  See-  und  Handelsstadt 


')  Rohde,  Der  griechische  Roman  S.  206  A.  4.  —  Baumstark,  der  Pessimismus  in  der 
griechischen  Lyrik.   Heidelberg  1898. 

*)  Theogn.  426  ff.  Bakchyl.  Fr.  2.  Soph.  öd.  Col.  1224  ff.  Eur.  Bell.  Fr.  286;  inc.  908. 

■)  Theogn.  731  ff.  743  ff.  133  ff.  1136  ff;  Vernunft  (yw»fi»j)  896  f.  1171  f.  Über  die 
damalige  Bedeutung  des  Wort«  s.  Oomperz,  Apologie  der  Heilkunst  (Sitz.-Ber.  der  Wien. 
Ak.  120,  1890)  S.  6  ff. 

4)  Ed.  BlafH.    Leipzig,  Teubner  1898.       6)  Stesichoros  Fr.  11.    Herodot  VI  61. 

«)  Solon  Fr.  26.  12,  66  f.       *)  Pindar  Ol.  1  28  ff.  46  ff. 

•)  Pindar  Fr.  97.  98.  102.      »)  Pindar  Ol.  V  24.  Pyth.  IH  61.  Isthm.  IV  17;  Fr.  33.  134. 


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W.  Nestle:  Die  Entwickdung  der  griechischen  Aufklärung  Mb  auf  Sokrates  183 


Milet  war  es,  wo  ihre  ersten  Vertreter  nach  einem  einheitlichen  Grundstoffe 
alles  Bestehenden  forschten  und  so  sich  in  kindlichem  Wagemut  ein  Problem 
stellten,  dessen  Losung  die  moderne  Chemie  als  eine  Aufgabe  der  Zukunft  be- 
trachtet. Aufserdem  erregte  insbesondere  auch  die  Sternen  weit  die  Aufmerksam 
keit  jener  Forscher.  Der  28.  Mai  des  Jahres  585  v.  Chr.  ist  ein  denkwürdiger 
Tag  nicht  nur  in  der  politischen,  sondern  auch  in  der  geistigen  Geschichte 
der  Menschheit.  Damals  waren  die  Heere  der  Meder  und  Lydier  im  Begriff, 
nach  fünfjährigen  Kämpfen  am  Harys  die  Entscheidungsschlacht  zu  schlagen, 
als  plötzlich  die  Sonne  anfing  sich  zu  verfinstern  und  die  beiden  Völker,  durch 
dieses  vermeintliche  Wunder  erschreckt,  die  Waffen  niederlegten  und  einen 
Vertrag  schlössen,  welcher  den  Bestand  des  Lydischen  Reichs  noch  um  einige 
Jahrzehnte  verlängerte.  Diese  Sonnenfinsternis  hatte  Thaies  von  Milet 
seinen  Landsleuten  auf  dieses  Jahr  vorausgesagt  oder  nach  anderm  Berichte 
wenigstens  ihr  Eintreten  natürlich  erklärt.1)  Beides  ist  nur  verständlich  unter 
der  Annahme,  dafs  Thaies  aus  der  babylonischen  Wissenschaft,  mit  der  er  in 
Sardes  bekannt  werden  mochte,  astronomische  Kenntnisse  entlehnte,  welche 
diejenigen  seiner  Volksgenossen  bei  weitem  übertrafen.  Dorther  wird  er  auch 
die  Witterungsprognosen  entnommen  haben,  die  ihn  in  den  Stand  setzten,  eine 
ungewöhnlich  reiche  Olivenernte  vorauszusehen  und  durch  Pachtung  zahlreicher 
Ölpressen  zu  seinem  Vorteil  auszubeuten.  Endlich  verwies  er  seine  Seefahrt 
und  Handel  treibenden  Mitbürger  auf  den  kleinen  Bären  als  auf  das  Sternbild, 
welches  den  reinen  Norden  am  genauesten  bezeichnet.8)  Der  wenig  jüngere 
Landsmann  des  Thaies,  Anaximander,  hielt  zwar  die  Erde  noch  für  einen 
tam borin förmigen  im  Räume  schwebenden  Körper,  war  aber  der  erste,  der  eine 
Himmelskugel  und  eine  Erdkarte  zur  Demonstration  der  astronomischen  und 
geographischen  Verhältnisse  anfertigte.  Er  suchte  ferner  die  Entstehung  der 
Himmelskörper  durch  Abschleuderung  von  einer  grofsen  Feuermasse  zu  er- 
klaren, und  auf  der  Erde  selbst  machte  er  die  Beobachtung,  dafs  das  Meer  an 
aalreichen  Stellen  zurückgewichen  sei  und  ursprünglich  eine  viel  gröfsere 
Fläche  bedeckt  haben  müsse.  Auch  an  das  von  Dubois-Reymond  unter  die 
'Welträtser  gerechnete  Problem  der  Entstehung  der  Organismen  wagte  er  sich 
schon,  und  seinem  freilich  noch  sehr  rohen  Lösungsversuche  liegt  eine  Ahnung 
der  Darwinschen  Descendenztheorie  zu  Grunde:  er  liefs  nämlich  die  ersten 
Tiere  aus  dem  Meeresschlamm  hervorgehen  und  sah  in  diesen  Wassertieren, 
die  sich  beim  Übergang  auf  das  Land  mit  der  Zeit  veränderten,  die  Vorfahren 
der  Landtiere.  —  Auf  dem  Gebiete  der  Astronomie  bedeutet  Pythagoras  von 
Samos  einen  gewaltigen  Fortschritt,  der  nach  weiten  Reisen  in  Kroton  in 
Unteritalien  eine  Schule  gründete.  Er  lehrte  die  Kugelgestalt  der  Erde,  der 
Sonne,  des  Mondes  und  der  Planeten,  und  wenn  er  auch  noch  am  geozentrischen 
Standpunkt  festhielt,  so  hob  seine  Lehre  doch  die  bisher  angenommene  Sonder- 


•)  Herod.  I  74.    Plut.  de  plac.  phil.  II  24,  1. 

*)  So  Gomperz,  Griech.  Denker  I  S.  39  f.,  der  auch  8.  37  f.  schon  auf  Anfinge  physischer 
Spekulation  bei  Homer  hinweist:  H  »9;  g  201.  246. 


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184     W.  Nestle:  Die  Entwickelung  der  griechischen  Aufklärung  bis  auf  Sokrate« 

Stellung  der  Erde  im  Weltall  auf:  sie  war  jetzt  ein  Stern  unter  Sternen  ge- 
worden. Und  so  waren  es  denn  auch  Angehörige  der  Pythagoreischen  Schule, 
besonders  Philolaos  im  fünften  Jahrhundert,  welche  die  Scheinbarkeit  der 
Ruhelage  der  Erde  erkannten  und  deren  Bewegung  zwar  zunächst  noch  nicht 
um  die  Sonne,  sondern  um  ein  Centraifeuer,  um  das  alle  Himmelskörper  kreisen 
sollten,  lehrten.  Aber  auch  hier  blieb  man  nicht  stehen.  Ekphantos  von 
Syrakus  lehrte  die  Achsendrehung  der  Erde.  Heraklides  Ponticus,  ein 
Schüler  des  Plato  und  Aristoteles,  erkannte  die  zeitweilige  Erdnähe  der  Planeten 
Merkur  und  Venus  und  damit  die  Unrichtigkeit  der  bisherigen  Annahme,  dafs 
diese  sich  in  konzentrischen  Kreisen  um  die  Erde  bewegten;  vielmehr  drang 
er  weiter  zu  der  Erkenntnis,  dafs  dieselben  um  die  Sonne  kreisten.  Den 
letzten  Schritt  that  endlich  Aristarch  von  Samos  (um  280  v.  Chr.),  der 
Eopernikus  des  Altertums,  welcher  in  der  Sonne  den  Mittelpunkt  unseres 
Weltsystems  und  auch  die  Bewegung  der  Erde  um  dieselbe  erkannte.1)  Damit 
war  die  alte  geocentrische  Weltanschauung  durch  die  heliocentrische  ersetzt, 
freilich  um  verhältnismäfsig  bald  unter  religiösen  Einflüssen  wieder  von  dem 
alten  Irrtum  verdrangt  zu  werden,  so  dafs  die  Bahn  der  wissenschaftlichen 
Entwickelung  im  Beginn  der  Neuzeit  noch  einmal  durchmessen  werden  mufste. 
Es  ist  bekannt,  welcher  Widerstand  dabei  zu  überwinden  war.  'Was  an 
Kopernikus  und  Galilei  hängt,  sagt  ein  vor  wenigen  Jahren  verstorbener  ge- 
lehrter Theologe,  weifs  jeder  nachdenkende  Mensch.  Die  ganze  kirchliche 
Mythologie  ist  hinfallig,  wenn  die  Erde  aus  einem  im  Mittelpunkt  des  Weltalls 
stehenden  Körper  zu  einem  um  eine  Nebensonne  kreisenden,  höchstens  mittel- 
grofsen  Planeten  wird.  Um  das  gesamte  orthodoxe  System,  nicht  um  die 
jadische  Sage  von  Josuas  Sonne  handelte  es  sich,  als  die  Kirche  das  «e  pur  si 
inuove»  zu  hören  bekam.'8)  Ähnlich  war  es  auch  im  Altertum,  und  nicht  um- 
sonst standen  im  fünften  Jahrhundert  die  'Meteorologen'  im  Ruf  der  Ketzerei. 
Sind  es  doch  gerade  die  astronomischen  Erscheinungen,  die  immer  und  überall 
eine  mächtige  Anregung  zur  Bildung  von  Göttervorstellungen  gaben.  Wenn 
man  nun  selbst  noch  nichts  weiter  erkannt  hatte,  als  dafs,  wie  Anasagor&s 
unter  dem  Eindruck  des  Meteoritenfalls  bei  Ägospotamoi  (467)  sagte,  die  Sonne 
eine  feurige  Masse  sei3),  so  war  es  eben  nicht  mehr  Helios,  der  in  stiller 
Majestät  seinen  goldenen  Wagen  am  Himmelsbogcn  hinlenkte,  und  es  war 
nicht  mehr  denkbar,  dafs  er  aus  Entrüstung  über  einen  menschlichen  Frevel, 
wie  den  des  Thyestes  an  seinem  Bruder  Atreus,  auf  seiner  Bahn  umlenkte.  Der 
Gedanke  der  Gesetzmässigkeit  war  unvermeidlich,  wie  ihn  Heraklit  noch  halb 
mythologisch  ausdrückt:  'Die  Sonne  wird  ihre  Bahn  nicht  überschreiten;  wenn 
doch,  so  werden  die  Erinyen,  die  Helferinnen  der  Dike,  sie  zu  finden  wissen/4) 

')  Daf»  er  dabei  die  Sonne  für  nur  siebenmal  gröfscr  hielt  als  die  Erde,  ist  philo- 
sophisch gleichgültig. 

*)  P.  de  Lagarde,  Deutsche  Schriften »  S.  49. 

*)  Diog.  L.  II  10.  Hippol.  bei  Diels  Dok.  Ür.  S.  562,  14.  Xen.  Mem.  IV  7,  6.  Plato 
Ap.  14,  S.  26  D. 

*)  Herakl.  Fr.  29  (Byw .). 


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W.  Nestle:  Die  Entwicklung  der  griechischen  Aufklärung  biß  auf  Sokrates  185 


Ja,  man  zog  ans  solchen  Erkenntnissen  den  für  den  religiösen  Glauben 
noch  viel  gefährlicheren  Schlufs,  dafs  *die  schreckenden  Sagen  für  den  Dienst 
der  Götter  Gewinn  seien'.1) 

Wir  haben  damit  dem  Gange  der  Entwickelung  etwas  vorgegriffen  und 
kehren  jetzt  in  die  zweite  Hälfte  des  sechsten  Jahrhunderts  v.  Chr.  zurück. 
Durch  die  ihrerseits  vom  Orient  beeinflufsten  orphischen  Lehren  hatte  sich  im 
Laufe  des  siebenten  Jahrhunderts  ein  eigentümlicher  halb  mythologischer,  halb 
philosophischer  Pantheismus  ausgebildet,  wie  ihn  z.  B.  Pherekydes  von 
Syros  vertritt.  Der  oberste  Gott,  Zeus,  hatte  sein  Herrschaftsgebiet  immer 
weiter  ausgedehnt  und  allmählich  die  übrigen  Götter  entbehrlich  gemacht.  Zu- 
gleich hielt  der  Begriff  der  Sünde  seinen  Einzug  in  die  griechische  Welt  und 
wurde  alsbald  auch  auf  die  Handinngen  der  Götter  angewandt.  So  kam  es, 
dafs  nunmehr  der  Anthropomorphismus  der  griechischen  Götter  nicht  sowohl 
Tom  intellektuellen  als  vom  sittlichen  Standpunkt  aus  bekämpft  wurde.  Hier 
setzte  Xenophanes  von  Kolophon  ein,  der  in  einem  fast  hundertjährigen 
Leben  alle  griechischen  Lande  als  Rhapsode  durchzogen  und  nach  der  Unter- 
werfung Ioniens  durch  die  Perser  (545)  im  unteritalischen  Elea  eine  neue 
Heimat  gefunden  hat.  Mit  rücksichtsloser  Schärfe  bekämpfte  er  in  seinem 
Lehrgedicht  die  anthropomorphistischen  Volksgötter:  'Alles,  was  bei  den 
Menschen  für  Sehimpf  und  Schande  gilt,  haben  Homer  und  Hesiod  den  Göttern 
aufgebürdet  und  eine  Menge  frevelhafter  Handlungen  von  ihnen  erzählt:  Dieb- 
stahl, Ehebruch  und  gegenseitigen  Betrug.'  Das  kommt  daher,  dafs  die 
Menschen  sich  die  Götter  nach  ihrem  Bilde  vorstellen,  dafs  sie  glauben,  sie 
würden  wie  sie  geboren  und  hätten  dieselbe  Empfindung,  Sprache  und  Gestalt. 
Aber  wenn  die  Rinder  oder  Pferde  oder  Löwen  Hände  hätten  und  damit 
Bilder  anfertigen  könnten  wie  die  Menschen,  so  würden  sie  alle  ihre  Götter 
in  der  Gestalt  darstellen,  die  sie  selber  haben.')  Schillers  Gedanke,  cin  seinen 
Göttern  malet  sich  der  Mensch"),  ist  hier  von  dem  alten  griechischen  Weisen 
▼orweggenommen.  In  Wirklichkeit  giebt  es  nur  Einen  Gott,  der  weder  an 
Gestalt  noch  in  seinem  geistigen  Wesen  den  Sterblichen  gleicht,  der  ganz  sieht, 
ganz  denkt,  ganz  hört  und  mühelos  mit  seiner  Geistesmacht  das  All  bewegt. 
Die  Gottheit  ist  bedürfnislos  und  von  einer  Herrschaft  der  Götter  übereinander 
ist  keine  Rede.  Was  aber  das  Merkwürdigste  ist:  trotz  der  Bestimmtheit,  mit 
der  der  Philosoph  gegen  den  Polytheismus  auftritt  und  mit  der  er  auch  selber 
seine  Aussagen  über  das  höchste  Wesen  macht,  ist  er  sich  doch  demütig  bc 
wufst,  dafs  der  menschliche  Geist  niemals  ausreicht,  um  eine  vollständige  Er- 
kenntnis des  Transcendenten  zu  erlangen: 


')  Eurip.  El.  743  f. 

*)  Xenoph.  Fr.  7.  6.  6  Mullach  —  16.  17.  30  Lyr.  Gr.  ed.  Bergk-Hillcr-Crusius  4  (1897). 
In  Fr.  30  schreibt  Cnujius  i<tbf(iä  x'  für  afröijftt'  Mull.  Vgl.  auch  noch  die  Elegie  (Lyr. 
°r  Fr.  1,  21  f.),  wo  Titanen,  Giganten  und  Kentauren  als  nXdo^uxu  t&p  jtQotiQav  be- 
lehnet werden. 

*)  Schüler,  Antrittsrede  'Wae  heilst  und  zu  welchem  Ende  studiert  man  Universal- 


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186     W.  NeBtle:  Die  Entwickelung  der  griechischen  Aufklärung  bis  auf  Sokrates 


Deutliches  hat  noch  niemand  erkannt,  noch  wird  mans  erkennen 
Über  die  Götter  und  über  das  Weltall,  was  ich  da  sage; 
Und  ob  sich  einer  auch  dünkte,  Vollkommenes  drüber  zu  reden, 
Weifs  er  es  selbst  doch  nicht;  nur  Glauben  kann  es  hier  geben. 

Aber  er  ist  auch  weit  entfernt,  darum  auf  alle  Erkenntnis  zu  verzichten,  und 
proklamiert  vielmehr  die  zuversichtliche  Überzeugung  von  einem  Fortechritt 
der  Wissenschaft:  'Nicht  alles  haben  die  Götter  von  Anfang  den  Sterblichen 
gezeigt;  sondern  forschend  finden  sie  mit  der  Zeit  das  Bessere/1)  Darum 
hatte  Xenophanes  auch  für  die  ihn  umgebende  Welt  ein  offenes  Auge.  Die 
Geologie  zählt  ihn  zu  ihren  ältesten  Jüngern:  so  viel  wir  wissen,  hat  er  zuerst 
aus  dem  Vorkommen  fossiler  Tier-  und  Pflanzenreste,  die  er  in  den  Tertiär- 
schichten der  Steinbrüche  von  Syrakus  und  der  Insel  Malta  fand,  weitreichende 
Schlüsse  auf  die  Veränderung  der  Erdoberfläche  gezogen.*)  Bei  einem  Manne, 
dessen  ganzes  Leben  und  Streben  in  geistigen  Interessen  aufging,  kann  es  auch 
nicht  wundernehmen,  wenn  er  eine  instinktive  heftige  Abneigung  gegen  die 
physischen  Kraftmenschen,  die  Athleten,  hatte,  die  an  den  öffentlichen  National- 
festen auftraten  und  im  Falle  ihres  Sieges  von  ihren  Landsleuten  hoch  gefeiert 
wurden;  tonte  doch  die  Leyer  eines  Pindar  und  Bakohylides  zu  ihrem  Preise. 
Er  hat  damit  zu  einer  Bewegung  den  Anstofs  gegeben,  die  mit  einer  voll 
ständigen  Umgestaltung  des  griechischen  Bildungsideales  endigte:  an  die  Stelle 
der  fast  ausschliefslich  auf  die  Gymnastik  begründeten  dorischen  äQerr}  trat 
die  ionisch-attische  xaXoxccya&Ca,  welche  eine  umfassende  geistige  Ausbildung 
zur  Voraussetzung  hatte.8) 

Xenophanes  hatte  mit  seiner  Verkündigung  an  das  Nationalheiligtum  der 
Griechen,  an  Homer,  gerührt,  den  man  nicht  mit  Unrecht  die  Bibel  der  Hellenen 
genannt  hat.  Aber  er  wird  an  Schärfe  der  Polemik  noch  überboten  von 
Heraklit  aus  Ephesus,  den  die  Alten  wegen  des  oft  rätselhaften  Tiefsinns 
seiner  Sprüche  'den  Dunkeln*  nannten,  der  aber  eben  in  der  genannten  Hin- 
sicht an  Deutlichkeit  nichts  zu  wünschen  übrig  liefs.  Homer,  so  meinte  er, 
hätte  es  verdient,  von  den  nationalen  Festen  vertrieben  und  hinausgepeitscht 
zu  werden  und  nicht  minder  Archilochos.  Es  ist  noch  eine  seiner  gemäfsigtsten 
Äufserungen,  wenn  er  sagt,  dafs  Vielwisserei  den  Geist  nicht  bilde;  sonst  hätte 
sie  auch  den  Hesiod  weise  gemacht.    Die  Dichter  sind  ihm  Erfinder  und  Ver- 


*)  Xenoph.  Fr.  1.  2.  8.  14.  16.  16  Mullach  —  12.  13.  14.  19.  26.  28  Lyr.  Gr.  —  Plut 
Horn.  4.   Diek  Dox.  Gr.  S.  680,  14. 

*)  Qomperz,  Gr.  D.  I  8.  142.  Die  Annahme  von  Freudenthal  und  Gomperz,  die  nur 
auf  dem  Gebrauch  des  Plurals  9tol  beruht,  dafs  X.  neben  seinem  Allwesen  auch  Einzel- 
götter anerkannt  habe,  hat  Zeller,  Phil.  d.  Gr. 4  I  S.  630  f.  A.  3  m.  E.  glänzend  widerlegt. 
Vgl.  auch  Dilthey,  Einleitung  in  die  Geistes  wissen  Schäften  T  S.  190  f.  Übelzunehmen  wäre 
es  ihm  freilich  nicht:  hat  doch  auch  Wellhausen  seine  Weltanschauung  als  'Polytheismus 
und  Monotheismus  zugleich'  bezeichnet.  Schaff -Jackson,  Encyklopedia  of  bring  divines. 
New- York  1887  S.  288. 

*)  Nach  Ath.  X  S.  413  C  folgt  Euripides  in  Fr.  282  seines  Autolykos  dem  Xenophanes 
in  der  Geringschätzung  der  Gymnastik.  Vgl.  auch  v.  Wilamowitz-Möllcndorf,  Bakchylides 
(Berlin  1898)  8.  14  f. 


W.  Nestle:  Die  Entwickelung  der  griechischen  Aufklärung  bis  auf  Sokratea  187 


k i'inder  von  Lügen.  Und  von  dem  Volk,  das  ihren  Liedern  lauscht,  sagt  er: 
'Was  ist  denn  dieser  Leute  Sinn  und  Verstand?  Da  laufen  sie  den  Sängern 
nach  und  lassen  sich  von  ihnen,  deren  es  eine  Menge  giebt,  belehren,  ohne  zu 
wissen,  dafs  es  viele  schlechte,  aber  nur  wenige  gute  Menschen  giebt.  Denn 
die  Edeln  erwählen  Eines  statt  alles  andern,  unvergänglichen  Menschenruhm; 
die  Menge  aber  mästet  sich  wie  das  Vieh/  Ganz  verächtlich  erscheint  dem 
Philosophen  das  Volk  auch  in  seiner  Ausübung  des  Kultus:  er  nimmt  heftigen 
Anstofs  an  der  öffentlichen  Prozession  zu  Ehren  des  Dionysos,  die  ihm  unsitt- 
lich erscheint.  Über  die  Verehrung  der  kunstvollen  Götterbilder,  die  den  Stolz 
so  mancher  Städte  und  bekanntlich  nicht  zum  wenigsten  auch  von  Ephesus 
bildeten,  sagt  er:  'Da  beten  sie  zu  diesen  Bildern,  wie  wenn  jemand  mit  den 
Häusern  schwatzte,  ohne  einen  Begriff  davon  zu  haben,  was  Götter  und  Heroen 
sind.'  Und  in  den  schärfsten  Ausdrücken  eifert  er  gegen  die  Sühnopfer,  die 
weh  seiner  Ansicht  den  schuldbefleckten  Menschen  nicht  zu  reinigen  vermögen, 
wie  denn  überhaupt  ein  Opfer  nur  dann  einen  Sinn  hat,  wenn  es  aus  wirklich 
reiner  und  frommer  Gesinnung  dargebracht  wird.  'Da  reinigen  sie  sich',  ruft 
er  aus,  'indem  sie  sich  mit  Blut  beflecken,  wie  wenn  jemand,  der  in  Kot  ge- 
treten ist,  sich  mit  Kot  abwaschen  würde/  Sie  gleichen  Schweinen,  die  sich 
im  Schmutze  wälzen  und  Vögeln,  die  sich  im  Staube  baden.1)  'Eins  aber  ist 
Weisheit,  den  Geist  zu  verstehen,  vermöge  dessen  alles  durch  alles  gelenkt 
wird.  Er  will  mit  dem  Namen  des  Zeus  benannt  werden  und  will  es  nicht' 
Damit  lehnt  Heraklit  jede  anthropomorphische  Vorstellung  von  dem  obersten 
Wesen  ab,  schlägt  aber  zugleich  'eine  etymologisierende  Brücke  zwischen  Volks- 
glauben und  Weltweisheit.") 

Und  solche  Worte  verhallten  nicht  ungehört  in  den  engen  Wänden  der 
Gelehrten  stube.  Obwohl  Heraklit  ein  viel  zu  aristokratischer  Geist  war,  um 
auf  den  von  ihm  tief  verachteten  Pöbel  wirken  zu  wollen,  so  hat  doch  er  und 
Xenophanes,  Pythagoras  und  Anaxagoras  lebhaft  auf  den  Sizilischen  Komiker 
Epicharmos  (um  475)  eingewirkt,  der  es  nicht  verschmähte,  die  neuen  Lehren 
Ton  der  Bühne  aus  unter  die  Menge  zu  bringen,  und  der  seinen  Zuhörern  den 
bezeichnenden  Rat  gab:  'Sei  nüchtern  und  lerne  zweifeln;  das  ist  das  Mark 
des  Geistes/8) 

Es  konnte  nicht  fehlen,  dafs  die  heftigen  Angriffe  auf  die  überlieferte 
Religion  Entgegnungen  hervorriefen;  und  so  erstand,  noch  ehe  das  sechste 

«)  Fr.  19  und  66.  Gomperz,  Zu  Heraklits  Lehre  (Sitz.-Ber.  d.  Wiener  Ak.  d.  Wim. 
philo«,  hist.  Kl.  IIS,  1886,  S.  1004  f.  Griech.  Denker  I  8.  63).  Mit  der  Annahme  von 
Gomperz,  dafs  H.  an  eine  Mehrheit  von  Göttern  geglaubt  habe  (a.  a.  0.  S.  1010)  kann  ich 
nicht  über  einstimmen:  Fr.  20  und  126  (Byw.)  beweisen  dafür  gar  nichts;  Fr.  67  und  123 
reden  nur  von  Seelendämonen.   Zeller,  Phil.  d.  Gr.  I  8.  712  f. 

*)  Heraklit  Fr.  119.  16.  14.  118.  111.  127.  126.  128.  129.  180.  63  (Bywater). 

*)  Epicharm  266  (Mullach).  Vgl.  213  ff.  mit  Xenoph.  Fr.  6;  263  f.  mit  Anaxag.  Fr.  17; 
213  ff.  mit  Heraklit  Fr.  4.  2.  6.  91;  189  ff.  mit  Herakl.  Fr.  41.  42.  Im  übrigen  s.  Zeller, 
Phil.  d.  Gr. *  I  8.  496  ff.  Gegen  Wilamowitz  (Herakles  I  S.  29  A.  64),  dem  jetzt  auch  Kaibel 
(Com.  Gr.  Fr.  I  1899  S.  133  ff.)  folgt,  verteidigt  Rohde  (Psyche  S.  661  A.  1)  die  Echtheit  der 
Bruchstücke. 


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188     W.  Nestle:  Die  Entwicklung  der  griechischen  Aufklärung  bin  auf  Sokratea 


Jahrhundert  zu  Ende  ging,  der  so  heftig  bestrittenen  Autorität  Homers  ein 
Verteidiger  in  der  Person  des  Theagenes  von  Rhegion,  der  sie  durch  das 
Heilmittel  allegorischer  Deutung  seiner  Erzählungen  zu  retten  suchte.  Der 
Götterkampf  im  20.  Buch  der  Ilias,  der  besonderen  Anstofs  erregt  hatte,  wurde 
als  Kampf  der  einander  feindlichen  Elemente  in  der  Natur  gedeutet,  eine 
Methode,  deren  Grundprinzip  später  die  Cyniker  und  yon  diesen  die  Stoiker 
übernahmen.  Ganz  toll  betrieb  diese  allegorisierende  Apologetik  im  fünften 
Jahrhundert  Metrodoros  von  Lampsakos,  der  den  Agamemnon  mit  dem  Äther, 
Achilles  mit  der  Sonne,  Hektor  mit  dem  Mond,  Paris  und  Helena  mit  der  Luft 
und  der  Erde,  ja  Demeter,  Dionysos  und  Apollo  sogar  mit  Teilen  des  Körpers, 
nemlich  der  Leber,  Milz  und  Galle  gleichsetzte.  Es  ist  dies  dasselbe  Verfahren, 
wie  es  uns  später  bei  dem  jüdisch-griechischen  Religionsphilosophen  Philo  von 
Alexandria  entgegentritt,  'der  in  dem  Garten  Eden  die  göttliche  Weisheit,  in 
den  von  ihm  ausgehenden  vier  Strömen  die  vier  Kardinaltugenden,  in  Altar 
und  Tabernakel  die  intelligibeln  Erkenntnisobjekte  erblickt  hat  und  der- 
gleichen mehr'.1) 

Aber  die  Zeit  schritt  über  solche  reaktionäre  Versuche  schonungslos  hin 
weg.  Die  rationalistische  Weltbetrachtung  griff  immer  weiter  um  sich  und 
bemächtigte  sich  auch  der  eben  in  der  Entstehung  begriffenen  geographischen 
und  historischen  Forschung.2)  Hekatäos  von  Milet  begann  seine  'Genealogien' 
mit  folgenden  Worten:  'So  spricht  Hekatäos  von  Milet:  ich  schreibe  das 
Folgende,  wie  es  mir  wahr  erscheint;  denn  die  Sagen  der  Hellenen  sind,  wie 
mir  scheint,  vielfach  lächerlich/  Freilich  entspricht  der  Inhalt  der  Schriften 
des  weitgereisten  Verfassers,  Boweit  wir  ihn  aus  den  dürftigen  Fragmenten 
und  den  Entlehnungen  Herodots  aus  seiner  Periegese  (besonders  in  dessen 
2.  und  4.  Buche)  uns  vergegenwärtigen  können,  nicht  ganz  den  Erwartungen, 
die  jene  selbstbewufste  Einleitung  in  uns  zu  erregen  geeignet  ist.  Denn  es  ist 
ein  ziemlich  dürftiger  Rationalismus,  der  uns  hier  geboten  wird.  Wenn  von 
Herakles  erzählt  wurde,  dafs  er  den  Kerberos  aus  dem  Hades  heraufgeholt 
habe,  so  findet  dies  bei  Hekatäos  keinen  Glauben;  vielmehr  war  das  von 
Herakles  überwundene  Untier  eine  Schlange,  die  am  Vorgebirge  Tänarum 
hauste  und  die  man  wegen  ihres  tötliehen  Bisses  den  'Hund  des  Hades*  nannte. 
Ebenso  erschien  es  ihm  unglaubhaft,  dafs  Herakles  die  Rinder  des  Geryone* 
aus  Erytheia  in  dem  fernen  Iberien  nach  Mykenä  getrieben  haben  sollte.  Er 
erkennt  diese  Gegend  in  einem  Landstrich  bei  Ambrakia,  dessen  rötliche  Erde 
ihm  den  Namen  gegeben.  Ein  andermal  spricht  er  von  dem  Atoler  OineuB, 
dem  angeblichen  Erfinder  des  Weinbaus.  Dabei  erkennt  er  nicht,  dafs  der 
Personenname  Oineus  von  oinos  (Wein)  abgeleitet  ist,  sondern  sieht  umgekehrt 
in  dem  Namen  einen  Beweis  für  die  Wahrheit  der  Legende,  indem  er  bemerkt, 

')  Üomperz,  Gr.  D.  I  S.  304  II  Zielineki,  N.  Jahrb.  UW9  S.  90  A.  2.  ZeUer,  Phil,  d 
Gr.6  S.  1019  A.  4. 

*)  Von  Herodoros  aus  Heraklea  am  Pontu»,  den  Plutarch  (Thea.  26)  mit  Pherekyde« 
und  Hellanikos  zunaminenstellt,  wissen  wir  zu  wenig,  um  una  ein  Bild  von  ihm  zu  mache». 
Aristot.  hiBt.  an.  VI  6;  IX  12. 


W.  Nestle:  Die  Entwicklung  der  griechischen  Aufklärung  bis  auf  Sokrates  189 


dafs  die  alten  Griechen  die  Weinstocke  oinai  genannt  hätten.  An  der  von 
Stesichoros  begonnenen  Umbildung  der  Helenasage  arbeitet  er  weiter,  indem  er 
sie  zu  Ägypten  in  Beziehung  setzt.  Interessanter  ist  die  von  Herodot  ihm 
entlehnte  Erzählung,  dafs  Konig  Psammetich  von  Ägypten  zwei  neugeborene 
Kinder  von  einigen  durch  das  Ausschneiden  der  Zunge  stumm  gemachten 
Frauen  habe  aufziehen  lassen,  um  zu  erkunden,  in  welcher  Sprache  die  Kinder 
von  sich  aus  zuerst  reden  wurden,  und  damit  die  Frage  zu  entscheiden,  ob  der 
Anspruch  der  Ägypter,  das  älteste  Volk  der  Welt  zu  sein,  begründet  sei.  Der 
Versuch  habe  aber  ergeben,  dafs  das  erste  Wort,  das  die  Kinder  sprachen, 
bekos,  nicht  ägyptisch,  sondern  phrygisch  gewesen  sei  und  in  dieser  Sprache 
'Brot'  bedeutet  habe.  Unter  den  von  Herodot  aufgeführten  drei  Erklärungen 
der  Nilsch welle  in  Ägypten  geht  die  erste,  welche  sie  von  der  Einwirkung 
der  Etesien  herleitete,  auf  Thaies,  die  dritte,  die  in  ihr  eine  Wirkung  der 
Schneeschmelze  in  den  Gebirgen  sah,  wo  der  Nil  entspringe,  auf  Anaxagoras, 
die  zweite,  die  sie  aus  dem  Eindringen  des  die  Erde  umfiiefsenden  Ozeans  in 
das  Flufsbett  erklärte,  auf  Hekatäos  zurück.  So  bescheiden  diese  Ansätze  zu 
einer  vernunftmäfsigen  Weltbetrachtung  sind,  so  waren  sie  doch  der  Ausflufs 
einer  Freigeistigkeit,  vermöge  deren  Hekatäos  sich  nicht  scheute,  bei  der  Vor- 
beratung des  ionischen  Aufstandes  im  Jahr  500  den  versammelten  Fürsten  der 
hellenischen  Städte  in  Kleinasien  den  Rat  zu  geben,  wofern  sie  die  Erhebung 
gegen  das  mächtige  Perserreich  wagen  wollten,  sich  wenigstens  zuvor  des 
reichen  Tempelschatzes  des  Apollo  von  Branchidä  bei  Milet  zu  versichern, 
damit  das  Unternehmen  finanziell  gesichert  sei,  ein  Hat,  dessen  Nichtbefolgung 
schwere  Folgen  nach  sich  zog,  für  uns  zugleich  bemerkenswert  ab  erstes  Bei- 
spiel des  Gedankens  an  eine  Säkularisierung  religiösen  Eigentums,  das  uns  in 
der  alten  Geschichte  begegnet.1) 

Die  Folgen  der  siegreichen  Perserkriege  zeigten  sich  nicht  nur  im  politischen, 
sondern  auch  im  geistigen  Leben  Griechenlands.  Der  Angriff  der  Orientalen 
war  im  gleichen  Jahre  (480)  bei  Salamis  im  Osten  und  bei  Himera  im  Westen 
zurückgewiesen  worden.  Und  wenn  auch  eine  politische  Einigung  der  helleni- 
schen Welt  nicht  erzielt  wurde,  so  war  doch  das  ägäische  Meer  durch  die  Los- 
trennung der  Küstenland schaften  Kleinasiens  und  der  Inseln  von  Persien 
griechisch  geworden,  und  im  Mutterlande  begann  die  neu  aufstrebende  athenische 
Seemacht  die  spartanische  Landmacht  zu  überflügeln.  Es  zeigte  sich  binnen 
kurzem  die  Überlegenheit  des  beweglichen  und  vielseitigen  ionischen  Geistes 
über  das  im  Konservativismus  erstarrende  Dorertum,  und  Athen  wurde  nach 
der  Gründung  des  delischen  Seebundes  nicht  nur  die  politisch  mächtigste  Stadt 
Griechenlands,  sondern  auf  fast  ein  Jahrtausend  'die  allgemeine  Bildungsschule' 


')  Hekatäos  Fr.  332.  341.  346.  349  (Müller  Fr.  H.  Gr.  I).  Herodot  n  2,  besondere 
gegen  Ende  «Ellrivte  Xiyovai»,  was  auf  Hekatäos  gebt;  U  19  ff.  (NilscbweUe);  II  112  ff. 
'Helenasage).  v.  Gutschniid  im  Philologns  X  1866  8.  626  ff.  —  Diels,  Herodot  und  Hekataios 
im  Hermes  XXII  1887  S.  411  ff.  —  G.  Grote,  Geschiebte  Griechenland«  (deutsche  Ausgabe, 
Berlin  1880)  1  S.  270  f.  -  Säkularisierung  der  BranchidenBcbätzc  Herod.  V  36. 


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190     W.  Nestle:  Die  Entwickelang  der  griechischen  Aufklärung  bis  auf  Sokrate* 


von  Hellas,  ja  der  antiken  Welt  überhaupt.1)  Dort  fanden  sich  von  jetzt  an 
aus  allen  Teilen  der  griechischen  Welt  die  geistig  hervorragenden  Männer  zu- 
sammen und  dort  entstand  nun  auch  eine  neue  Gattung  der  Dichtung,  das 
Drama,  besonders  die  Tragödie.  In  Athen  war  es  auch  und  nicht  in  Olympia, 
wo  der  Geschichtschreiber  der  Freiheitskriege  Teile  seines  Werkes  öffentlich 
vorlas,  ehe  er  nach  seinen  weiten  Wanderungen,  die  ihn  aus  der  Halikar- 
nassi sehen  Vaterstadt  nach  Kyrene  und  Ägypten,  nach  Babylonien  und  Skythien 
geführt  hatten,  mit  einem  nach  Grofsgriechenland  abgehenden  Kolonistenzug 
sich  in  Thurii  eine  neue  Heimat  suchte.  Herodot  zeigt  sich  in  seiner  ganzen 
Eigenart  als  einen  Menschen,  der  an  der  Grenze  zweier  Zeitalter  steht  Mit 
seinem  Herzen  hängt  er  in  aufrichtiger  Fömmigkeit  an  den  religiösen  Über- 
lieferungen der  Väter,  aber  sein  Verstand  kann  sich  dem  kritischen  Geist  der 
Gegenwart  nicht  verschliefsen  und,  obwohl  er  noch  im  ionischen  Dialekte 
schreibt,  ist  doch  *die  Periodenzirkelei  der  gleichzeitigen  Sophistik'  nicht  ganz 
spurlos  an  ihm  vorübergegangen.  Er  zeigt  ein  sichtliches  Bestreben,  das  Über- 
natürliche aus  der  Überlieferung  möglichst  zu  eliminieren.  Die  Entstehung 
der  Peneiosschlucht  in  Thessalien,  die  der  Volksglaube  dem  Poseidon  zuschrieb, 
führt  er  auf  ein  Erdbeben  zurück,  wie  er  sich  denn  überhaupt  über  die  Ver- 
änderungen der  Erdoberfläche  Gedanken  gemacht  und  z.  B.  die  Entstehung  des 
Nildeltas  auf  Grund  seiner  Erkundigungen  in  Ägypten  in  ganz  richtiger  Weise 
erklärt  hat.  Dagegen  lehnt  er  die  Sage  von  der  angeblich  schwimmenden  Nil- 
insel Chemmis  mit  Entschiedenheit  ab.  Den  Bestand  der  Erde  schätzte  er  auf 
20000  Jahre.  Charakteristisch  ist  die  Art  und  Weise,  wie  er  sich  die  Gründungs- 
legende des  Zeusorakels  in  Dodona  und  des  Ammonorakels  in  Libyen  zurecht- 
legt. Zwei  schwarze  Tauben,  so  hiefs  es,  seien  aus  dem  ägyptischen  Theben 
aufgeflogen,  hätten  sich  an  den  beiden  Orten  auf  Bäumen  niedergelassen  und 
mit  menschlicher  Stimme  die  Gründung  der  Heiligtümer  befohlen.  Dieses 
Wunder  ist  nun  nach  seiner  Ansicht  schlechterdings  unmöglich.  In  Wirklich- 
keit wurden  zwei  Thebanische  Priesterinnen  von  Phöniziern  aus  Ägypten  ent- 
führt und  in  Libyen  und  Dodona  als  Sklavinnen  verkauft.  Da  man  ihre 
fremde  Sprache  nicht  verstand  und  sie  Laute  wie  Vögel  von  sich  zu  geben 
schienen,  nannte  man  sie  Teleiaden'  d.  h.  Tauben.  Daraus  entstand  die  obige 
Sage,  und  schwarz  mufsten  die  Tauben  sein  wegen  der  dunkeln  Hautfarbe  der 
Fremden.  Als  sie  dann  die  Landessprache  kennen  gelernt  hatten,  stifteten  sie 
die  Orakel.  In  ähnlich  rationalistischer  Weise  behandelt  er  die  Sagen  von  Io, 
Europa  und  Medea,  und  bei  der  Helenasage  folgt  er  dem  Stesichoros  und 
Hekatäos.  Seine  berühmte,  übrigens  keineswegs  ihm  speeifisch  eigene  Lehre 
vom  Neid  der  Götter  hängt  zusammen  mit  der  Vorstellung  von  einem  Kreis- 
lauf alles  Geschehens  in  der  Welt,  der  überall  das  Zuviel  wieder  auf  das  ge- 
hörige Mafs  reduziert,  einer  Vorstellung,  die  auf  den  Ideenkreis  des  Heraklit 
hinzuweisen  scheint.')  —  Dieser  Rationalismus  des  Herodot  in  der  Mythen- 

')  xoivöv  TxctidevnjQiov  it&eiv  ävftQin-xois.    Theod.  XIT1  27. 

*)  Über  Herodot  vgl.  Diels  a.  a.  0.  —  E.  Meyer,  Herodot  und  Ionier  im  Philologus  XLVTfl 
(N.  F.  H)  1889  S.  268  ff.  —  Gomperz,  Gr.  D.  I  S.  208  ff.  —  Herod.  VU  129  (Peneiosschlucht)) 


W.  Nestle:  Die  Entwickelung  der  griechischen  Aufklärung  bis  auf  Sokrates  191 


deutung  ist  im  Grunde  schon  ganz  derselbe,  den  wir  in  dem  wohl  im  Beginn 
des  vierten  Jahrhunderts  in  Kleinasien  entstandenen  Büchlein  des  Paläphatos 
Aber  'unglaubliche  Geschichten*  antreffen,  der  uns  z.  B.  erzahlt  (cap.  3),  Aktäon 
sei  keineswegs  von  Artemis  in  einen  Hirsch  verwandelt  und  von  seiner  Meute 
lerrissen  worden,  sondern  er  sei  ein  Mann  gewesen,  der  sich  durch  über- 
mässige Liebhaberei  für  den  Jagdsport  finanziell  ruiniert  habe,  und  so  habe  es 
dann  geheifsen:  'Armer  Aktäon,  der  du  von  deinen  eigenen  Hunden  aufgezehrt 
wurdest!'1) 

Von  Anfang  an  standen  bei  den  Griechen  Philosophie  und  Naturwissen- 
schaft im  engsten  Zusammenhang,  und  dieser  blieb  auch  im  fünften  Jahr- 
hundert bis  auf  Sokrates  im  grofsen  ganzen  noch  gewahrt.  Anaxagoras,  der 
zuerst  in  seinem  Nus  ein  geistiges  Princip  in  die  Lehre  von  der  Weltentstehung 
einführte,  so  dafs  dieser  Geist  aus  dem  Chaos  den  Kosmos  herstellte,  interessierte 
sich  auch  lebhaft  für  die  Einzelheiten  des  Naturlebens.  Eine  höchst  anschau- 
liche Scene  schildert  uns  Plutarch,  die  uns  in  das  Haus  des  Perikles  versetzt, 
in  dem  der  Weise  aus  Klazomenae  mit  andern  geistig  bedeutenden  Männern 
und  Frauen  der  Zeit  als  gern  gesehener  Gast  verkehrte.  Eines  Tages  brachte 
ein  Landmann  dem  Perikles  einen  Widder  vom  Felde,  der  seltsamerweise 
nur  ein  einziges  Horn  hatte.  Ein  Seher  namenB  Lampon  und  Anaxagoras 
waren  dabei  zugegen.  Der  erstere  wufste  sogleich  Bescheid  über  das  'Wunder': 
die  Einhörnigkeit  des  Tieres  zeigte  an,  dafs  der  politische  Rivale  des  Perikles, 
Thukydides,  des  Melesias  Sohn,  diesem  bald  unterliegen  und  Perikles  das  Feld 
allein  behaupten  werde.  Anaxagoras  aber  öffnete  den  Schädel  des  Widders 
und  erklärte  die  Abnormität  aus  der  mangelhaften  Beschaffenheit  des  Gehirns. 
Plutarch  als  akademischer  Yermittelungstheologe  erspart  uns  dazu  die  wohl- 
weise Bemerkung  nicht:  es  könnten  ganz  wohl  beide  recht  gehabt  haben, 
Anaxagoras,  der  die  physische  Ursache,  und  Lampon,  der  die  tiefere  Bedeutung 
der  merkwürdigen  Erscheinung  erkannt  habe.9)  Anaxagoras  hat  auch  die 
Kiemenatmung  der  Fische  zuerst  entdeckt.  —  Im  Westen  der  griechischen  Welt 
stellt  sich  in  Empedokles  von  Agrigent  eine  eigentümliche  Vereinigung  von 
Arzt,  Weihepriester,  Redner  und  Politiker  dar.  Auch  er  hat  die  Naturwissen- 
schaften wesentlich  gefördert:  seine  freilich  sehr  unzulängliche  Lehre  von  den 
vier  Elementen  hat  Jahrhunderte  lang  die  Naturwissenschaft  beherrscht.  Ferner 
suchte  er  das  Problem  der  Zweckmässigkeit  in  der  organischen  Welt  so  zu 
lösen,  dafs  er,  ähnlich  wie  Anaxitnander,  eine  anfängliche  Entstehung  monströser 

II  11  f.  (Nildelta,  20000  Jahre);  II  156  (Nilinsel  Cbemmis);  II  64  ff.  (Gründung  von  Dodona); 
I  2  (lo  und  Europa);  II  113  ff.  (Helena).  —  <p&6vog  »t&v:  I  82;  HI  40;  VII  10  und  46, 
woxu  vgl.  I  6  und  207  (xvxlo«  t&v  iv&Qoaxr}ttav  «^yfMxro»»)  mit  Heraklit  Fr.  70  und  87 
(Bywtfer),  Fr.  69  und  63  (Schuster).  Eurip.  Ino  Fr.  415,  3  ff.  Herakles  789.  Eloktra  1166. 

■)  Palaephatua  ntfl  &nltsxav  bei  Westermann,  Mythographi  8.  268  ff.  Vgl.  darüber 
Vitelü,  I  manoBcritti  di  Palefato.  Studi  Italiani  di  filologia  clasaica  vol.  I  S.  241  ff.  — 
F  Wipprecht,  Quaestiones  Palaephateae.  Leipzig  1892.  —  J.  Schräder,  Palaephatea. 
Berliner  Abhandlungen  zur  klass.  Alt-Wiss.  I  1.  Berlin  1894.  -  Diese  drei  Schriften  be- 
•prochen  von  E.  Schwarte  in  der  Berliner  Philologischen  Wochenschrift  1894  S.  1576  ff. 

*)  Plut.  Per.  6. 


192     W.  Nestle:  Die  Entwickelung  der  griechischen  Aufklärung  bi*  auf  Sokrate* 


Wesen  annahm,  von  denen  immer  nur  die  tauglichsten  sich  erhalten  konnten, 
so  dafs  eine  fortschreitende  Vervollkommnung  stattfand.  Endlich  ist  er  mit 
seinem  Ausspruch:  'Eines  ist  Haar  und  Laub  und  dichtes  Gefieder  der  Vögel' 
ein  'Vorläufer  Goethes  auf  dem  Gebiet  der  vergleichenden  Morphologie'  ge- 
worden.1) Dabei  lehrte  er  eine  Art  Hylozoismus,  durch  den  zwar  eine  Mehr- 
heit von  Götterexistenzen  nicht  ausgeschlossen,  aber  deren  menschenähnliche 
Gestalt  bestritten  wurde.  —  Leukippos  und  Demokritos  bezeichnen  mit 
ihrer  Atomenlehre  und  streng  durchgeführten  mechanischen  Welterklärung 
wiederum  einen  erheblichen  Fortschritt  in  der  exakten  Naturwissenschaft. 
Demokrits  auf  weiten  Reisen  erworbene  Gelehrsamkeit  umfafst  ebenso  die 
kleinsten  Vorgänge  in  der  Natur  wie  die  grofsen  Probleme  der  Astronomie, 
hinsichtlich  deren  er  mit  der  Aufstellung  der  Frage,  ob  unsere  Erde  die  einzige 
Wohnstätte  lebender  Wesen  sei,  und  der  Annahme  einer  unendlich  grofsen 
Zahl  von  Weltsystemen,  die  teils  im  Entstehen,  teils  im  Vergehen  begriffen 
seien,  den  Ergebnissen  der  modernen  Forschung  sich  in  überraschender  Weise 
nähert.  Ein  viel  untergeordneterer  Geist  war  Diogenes  von  Apollonia,  der 
die  Lehre  des  Anaxagoras  vom  Nus  mit  der  Stofflehre  des  Anaximenes  zu  ver- 
einigen suchte  in  der  Art,  dafs  ihm  der  Äther  als  das  materielle  und  zugleich 
geistige  Prinzip  der  Welt  erschien.  Er  erklärte  daher  auch  die  Menschenseele 
für  einen  Teil  dieser  ätherischen  Substanz,  die  mit  dem  Tode  des  Individuums 
wieder  in  das  All  zurückströmt.  Welcher  Popularität  sich  diese  Lehre  erfreute, 
sieht  man  nicht  nur  daran,  dafs  Euripides  in  seinen  Dramen  sie  wiederholt 
seinen  Personen  in  den  Mund  legt  und  Aristophanes  in  den  'Wolken'  sie  ver- 
spottet, sondern  dafs  sie  selbst  in  die  offizielle  Grabschrift  der  im  Jahre  432 
vor  Potidäa  gefallenen  Athener  übergegangen  ist.*)  Eben  Diogenes  ist  ein 
deutliches  Beispiel  dafür,  wie  die  Fortschritte  der  Naturwissenschaften  auch 
auf  die  praktische  Medizin  einwirkten.  Schon  Alkmäon  von  Kroton,  ein 
jüngerer  Zeitgenosse  und  Anhänger  des  Pythagoras,  hatte  im  Gehirn  das 
geistige  Centraiorgan  des  Menschen  erkannt  und  den  Sinneswahrnehmungen 
eine  eingehende  Untersuchung  gewidmet.  Er  war  der  erste,  der  einen  quali- 
tativen Unterschied  zwischen  Menschen  und  Tieren  statuierte,  indem  er  den 
letzteren  nur  Empfindung,  den  Menschen  allein  Denkkraft  zuschrieb.  Im  unter- 
italischen Kroton,  im  afrikanischen  Kyrene,  im  kleinasiatischen  Knidos  und  auf 
der  benachbarten  Insel  Kos  wurde  die  medizinische  Wissenschaft  eifrig  be- 
trieben. Den  Arzt  Demokedes  von  Kroton  finden  wir  bald  im  Dienst  der 
Stadt  Athen,  bald  in  dem  von  Ägina,  bald  bei  dem  Tyrannen  Polykrates 
von  Samos,  wobei  er  Jahresgehalte  von  8200,  10000,  16400  Drachmen 
bezieht.  Durch  einen  von  der  Zunft  vorgeschriebenen  Eid  verpflichteten  sich 
die  Ärzte  zur  gewissenhaften  Ausübung  ihres  Berufs,  und  von  der  Gesinnung, 
die  in  ihren  Kreisen  herrschte,  zeugt  das  schöne  Wort:  'wo  es  nicht  an 
Menschenliebe   fehlt,  wird  es  auch  an  der  Bcrufsliebe  nicht  fehlen.'  Den 

')  Empedoklea  216  f.  (Mull  ),    Gomperz,  Gr.  D.  I  8.  190  f. 

*)  Rohde,  Psyche  S.  660  A.  1.  Kur.  Hik.  631  ff.  und  1139  f.  Phoen.  808  ff.;  Fr.  971 
und  839.    Aristoph.  Wölk.  228  ff.    C.  I.  A.  I  442. 


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W.  Nestle:  Die  Entwicklung  der  griechischen  Aufklärung  biti  auf  Sokrates  193 


preisten  Namen  erwarb  sich  unter  den  Jüngern  des  Asklepios,  an  dessen 
Heiligtümer,  z.  B.  in  Epidauros,  sich  ausgedehnte  Kuranstalten  anzuschliefsen 
pflegten,  Hippokrates  von  Kos  (geb.  460),  unter  dessen  Namen  uns  eine  um- 
fassende Schriftensammlung  erhalten  ist.  Obwohl  darunter  nur  eine  einzige, 
'Über  Luft,  Wasser,  Lage*  mit  einiger  Sicherheit  auf  ihn  selbst  als  Verfasser 
zurückgeführt  werden  kann,  so  ist  er  doch  der  geistige  Vater  aller,  die  jeden- 
falls zum  Teil  noch  dem  fünften  Jahrhundert  angehören.1)  Von  besonderem 
Interesse  gerade  in  ihrem  Verhältnis  zur  Aufklärungsbewegung  ist  die  Schrift 
'Über  die  heilige  Krankheit*,  worunter  verschiedene  Arten  von  Geisteskrank- 
heiten, Epilepsie,  Verfolgungswahn,  Tobsucht  zusammengefafst  werden.  Die  • 
Tendenz  des  Verfassers  ist  dabei,  zu  zeigen,  dafs  solche  Geisteskrankheiten 
nicht  mehr  und  nicht  weniger  'heilig'  seien  als  andere,  dafs  sie  vielmehr  ihre 
durchaus  natürlichen  Ursachen  in  Erkrankungen  des  Gehirns  hätten,  dafs  man 
ihnen  durch  eine  verständige  Behandlungs weise,  namentlich  durch  rationelle 
Diät,  und  ja  nicht  durch  religiöse  Besprechungen  u.  dgl.  beizukommen  suchen 
müsse  und  dafs  man  die  damit  behafteten  Personen  in  keiner  Weise  als  be- 
sonders vom  Zorn  der  Götter  betroffen  betrachten  dürfe.  Es  ist  interessant, 
den  Einflufs  dieser  Theorien  auf  die  Litteratur,  besonders  das  Drama,  zu 
beobachten.  Äschylus  in  seiner  'Orestie'  und  im  'Prometheus'  (Io)  und 
Sophokles  in  seinem  'Ajax'  stehen  noch  durchaus  auf  dem  religiösen  Stand- 
punkt: Ajax  giebt  sich  den  Tod,  wie  er  ausdrücklich  sagt,  weil  er  in  seinem 
Wahnsinn  ein  Zeichen  der  Feindschaft  der  Götter  erblickt.  Euripides  dagegen 
folgt  der  neuen  wissenschaftlichen  Auffassung:  im  'Orestes'  und  in  der 
'Taurischen  Iphigenie',  in  den  'Bakchen'  (Agaue)  und  im  'Herakles'  schildert 
er  uns  die  physischen  und  psychischen  Symptome  des  Wahnsinns  mit  der 
peinlichen  Genauigkeit  eines  Psychiaters:  der  bei  Äschylus  von  den  Erinyen 
verfolgte  Orestes  wird  bei  ihm  nicht  etwa  von  Gewissensbissen  gequält  —  wie 
sollte  er  das  auch,  hat  doch  Apollo  ihm  den  Muttermord  befohlen!  —  sondern 
er  ist  ein  an  Verfolgungswahn  leidender  Geisteskranker,  der  Hallucinationen 
hat  und  dem  Elektra  schwesterliche  Pflege  angedeihen  läfst,  eine  der  ersten 
pathologischen  Figuren  auf  der  griechischen  Bühne.  Darum  endigt  aber  auch 
sein  'Herakles'  nicht  wie  der  'Ajax'  des  Sophokles  mit  dem  Selbstmord  des 
Helden:  obwohl  er  in  seinem  Tobsuchtsanfall  Gattin  und  Söhne  erschlagen  hat 
und,  wieder  zum  Bewufstsein  gekommen,  im  Gemüte  tief  gebrochen  ist,  ringt 
er  sich  doch  zu  dem  Entschlüsse  durch  'ich  trags  zu  leben',  wobei  ihm  die 
Freundschaft  des  Theseus  liebreich  die  Hand  reicht.8)  —  Stark  von  Heraklit 
beeinflufst  zeigt  sich  die  Schrift  'Über  die  Diät'.3)  —  Endlich  erwähne  ich 


*)  Gomperz,  Gr.  D.  I  119  ff.  224  ff.  Theophr.  d.  sens.  26  bei  Dieb  Dox.  S.  506.  Frodrich, 
Hippokratische  Untersuchungen.  Heft  16  der  Philologischen  Untersuchungen,  herausg.  von 
Kießling  und  v.  Wilamowitz- Möllendorf.  1898. 

vovaov  1  ff.  Ennerins,  Hipp.  Vol.  II  S.  51  ff.  —  H.  Harries,  Tragici  Graeci 
qua  arte  usi  sint  in  describenda  insania.  Diss.  inaug.  Kiel  1891.  —  v.  Wilamowitz, 
Herakles*  I  8.  130. 

■)  Weygoldt,  Die  ps.-Hippokr.  Schria  nt9\  ttafrne  in  Fleckeisens  Jahrb.  1882  S.  101  ff. 

N.a,  Jahrbücher.    1899.    II  13 


194     W.  Nestle:  Die  Entwickelung  der  griechischen  Aufklärung  big  auf  Sokrates 

i 

noch  die  ganz  eigenartige  Schrift  'Von  der  Kunst*  oder  wie  man  sie  nach 
ihrem  Inhalt  auch  genannt  hat  'Die  Apologie  der  Heilkunst \  Sie  setzt  sich 
mit  den  Vorurteilen  auseinander,  die  noch  immer  in  weiten  Kreisen  der  äret- 
liehen  Kunst  gegen  aber  bestehen,  und  sucht  dieselben  auf  Grund  einer  ein 
dringenden  und  tiefgründigen  Erörterung  zu  widerlegen.  Es  ist  ursprünglich 
nicht  eine  zur  Lektüre  verfafste  Schrift,  sondern  ein  Vortrag,  ohne  Zweifel  die 
Rede  eines  Sophisten  aus  den  letzten  Jahrzehnten  des  fünften  Jahrhunderts, 
und  ein  namhafter  Gelehrter  glaubte  sogar  mit  Aufwendung  von  vielem  Scharf- 
sinn den  Protagoras  als  ihren  Verfasser  erweisen  zu  können.1) 

Damit  sind  wir  schon  in  die  Zeit  des  peloponnesischen  Krieges,  also  in 
das  letzte  Drittel  des  fünften  Jahrhunderts  eingetreten.    Es  ist  merkwürdig, 
welch   reges  geistiges  Leben  trotz  des  Krieges  und  aller  seiner  Begleit- 
erscheinungen, wie  der  furchtbaren  Pest,  die  von  430  an  drei  Jahre  lang  Athen 
verheerte  und  es  seines  gröfsten  Staatsmannes  beraubte,  zu  jener  Zeit  in 
Griechenland  herrscht.  Und  diese  geistige  Bewegung  ist  für  die  Weltgeschichte 
von  viel  grofserer  Wichtigkeit  als  die  äufseren  Einzelheiten  des  grofsen  Krieges. 
Denn  wenn  auch  durch  denselben  die  Macht  Athens  gebrochen  wurde,  so  dafs 
sie  ihre  alte  Höhe  niemals  wieder  erreichte,  so  blieb  diese  Stadt  nichtsdesto- 
weniger sowohl  während  des  Krieges  als  nachher  das  Herz  von  Griechenland.  Ja 
gerade  eine  mit  dem  Krieg  aufs  engste  zusammenhangende  politische  Sendung 
war  es,  die  einen  der  berühmtesten  sogenannten  Sophisten,  Gorgias  von 
Leontini,  im  Sommer  427  nach  Athen  führte.    Seine  mit  allen  Mitteln  der 
Rhetorik  ausgefeilten  Prunkreden  bildeten  das  Entzücken  der  Athener  nicht 
minder  als  der  Bewohner  anderer  griechischer  Städte,  in  denen  er  sich  hören 
liefs,  und  nicht  weniger  als  das  Volk  an  den  Festen  zu  Olympia  und  Delphi 
wufste  er  auch  Fürsten  wie  Iason  von  Pherä  in  Thessalien  zu  bezaubern. 
Der  Schlamm  des  Alpheios  hat  uns  die  Inschrift  des  Sockels  einer  ihm  in 
Olympia  errichteten  Statue  erhalten,  in  der  es  heifst:  'Keiner  der  Sterblichen 
hat  eine  schönere  Kunst  ersonnen,  um  die  Seele  für  die  Leistungen  der  Männer- 
tugend zu  stählen.' 2)    In  diesen  Worten  haben  wir  das  Wesen  der  Sopbistik 
kurz  und  bündig  ausgedrückt.    Sie  will  eine  Kunst  sein  und  keine  Wissen- 
schaft; denn  dieser  gegenüber  verhält  sie  sich,  wenigstens  soweit  sie  Philosophie 
ist,  im  wesentlichen  skeptisch.    Ihr  Ziel  ist,  die  &Qsrij  zu  lehren,  d.  h.  die 
praktische  Tüchtigkeit  im  öffentlichen  Leben.  Und  das  Hauptmittel,  die  hiefur 
notwendige  geistige  Gewandtheit  im  Denken  und  Reden  zu  erzielen,  bildet  die 
Rhetorik.  Gorgias  selbst  hat  sich  in  seinem  fast  hundertjährigen  Leben  dieser 
Thätigkeit  mit  ungeheurem  Erfolg  gewidmet;  aber  auf  den  Fortschritt  der 
Wissenschaft  konnte  er  wegen  seines  absoluten  Skepticismus,  den  man  mit 
Recht  Nihilismus  genannt  hat,  unmöglich  einwirken,  leugnete  er  doch  die 

*)  Gompcrz,  Die  Apologie  der  Heilkunst  in  den  Sitzungsber.  der  Wiener  Ak.  Philo«, 
bist.  Klasse  120  1890,  IX  8.  1—196. 

*)  Kaibel,  Epigr.  Gr.  S.  634.  Gomperz,  Gr.  D.  I  S.  381.  Die  unter  seinem  Namen  er- 
haltenen Reden  'Lob  der  Helena'  und  Talamedes'  hält  Blafs  (Antiph.  Or.  et  Fr.  2  praef.  XVIII) 
für  echt.    Anders  Gomperz,  Gr.  D.  S.  383. 


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W.  Nestle:  Die  Entwickeluilg  der  griechischen  Aufklärung  bis  auf  Sokrates  195 


Existenz  des  angeblich  Seienden,  die  Möglichkeit  seiner  Erkenntnis  sowie  die 
Möglichkeit  der  Mitteilung  dieser  Erkenntnis  an  andere,  wenn  es  eine  solche 
gäbe.  —  An  geistiger  Bedeutung  uberragte  ihn  jedenfalls  Protagoras  von 
Abdera,  den  wir  schon  zur  Zeit  des  Perikles  in  Athen  finden  und  der  im 
Hause  des  Euripides  eine  seiner  Hauptschriften,  'Über  die  Götter*,  vorgelesen 
haben  soll,  welche  mit  den  Worten  begann:  'Von  den  Göttern  kann  ich  nichts 
wissen,  weder  dafs  sie  sind  noch  dafs  sie  nicht  sind.  Denn  vieles  macht  es 
unmöglich,  hierüber  etwas  zu  wissen:  die  Dunkelheit  der  Sache  und  die  Kürze 
des  menschlichen  Lebens.'  Protagoras  war  also  auch  Skeptiker  mindestens 
hinsichtlich  des  Transcendenten.  Und  er  war  überhaupt  in  der  Erkenntnis- 
theorie Subjektivist:  *Der  Mensch  ist  das  Mafs  aller  Dinge,  derer  welche  sind, 
dafs  sie  sind,  und  deror,  welche  nicht  sind,  dafs  sie  nicht  sind/  Mit  einer 
einzigen  Ausnahme  hat  das  ganze  Altertum,  Plato  und  Aristoteles  an  der  Spitze, 
denen  der  ganze  Zusammenhang,  in  dem  dieses  Bruchstück  stand,  noch  vorlag, 
diesen  Satz  in  individualistischem  und  nicht  in  generellem  Sinne  gefafst.1)  Er 
stand  in  derjenigen  Schrift  des  Protagoras,  welche  den  aggressiven,  auf  die 
Übungen  in  der  Palästra  hinweisenden  Titel  'Die  Niederboxer'  führte.  Für 
seine  Auflösung  der  objektiven  Begriffe  spricht  auch  der  Satz,  dafs  es  von 
jedem  Gegenstand  zwei  einander  entgegengesetzte  Betrachtungsweisen  gebe,  und 
der  weitere,  dafs  es  daher  Aufgabe  des  guten  Redners  sei,  auch  der  schwächeren 
Sache  durch  seine  Darstellungskunst  zum  Siege  zu  verhelfen.8)  So  ist  denn 
auch  das  Feld  seiner  Thatigkeit  nicht  die  Welt  als  Erkenntnisobjekt,  sondern 
die  Sprache  als  Mittel  des  Gedankenausdrucks.  In  seinem  Buch  'Über  die 
Sprachrichtigkeit'  hat  er  den  Grund  zu  einer  systematischen  Darstellung  der 
Formenlehre  und  Syntax  gelegt.  Dabei  hat  er  die  rhetorische  Dialektik  aus- 
gebildet, nicht  die  Fragedialektik  in  kurzer  Rede  und  Antwort,  deren  sich 
Sokrates  bediente,  sondern  die  Kunst  der  Widerlegung  des  Gegners  in  langer 
Rede,  nachdem  man  diesen  selbst  sich  hatte  aussprechen  lassen.  Die  zahl- 
reichen Redewettkämpfe  in  den  Dramen  des  Euripides  können  uns  hievon  ein 
Bild  geben.3)  Auch  mit  der  Theorie  des  Rechts  scheint  er  sich  gelegentlich 
befafst  und  dabei  hinsichtlich  des  Strafzwecks  die  Sühnetheorie  abgelehnt  und 
die  Lehre  von  der  Abschreckung  durch  die  Strafe  mit  Entschiedenheit  vertreten 


')  Gomperz  hat  in  der  'Apologie  der  Heilkunst '  8.  26  ff.  (s.  S.  194  A.  1)  und  Griecb. 
Denker  I  8.  361  ff.  mit  Berufung  auf  Hermias,  Irris.  gent.  phil.  9  bei  Diels  Dox.  Gr.  8.  653 
die  gegenteilige  Auffassung  in  sehr  bestechender  Weise  verfochten.  Aber  auch  er  muh 
(Ap.  S.  176.  Gr.  D.  8.  866)  wie  Peipers  (Erkenntnistheorie  Piatos  8.  48),  Halbfafe  (Die  Be- 
richte des  Plato  und  Aristoteles  über  Protagoras  in  Fleckeisens  Jahrb. -Suppl.  XIII  1884 
8  209  f.)  und  Laas  (Neuere  Untersuchungen  über  Protagoras  in  Vierteljahrsachr.  f.  wiss. 
Philos.  VD3  1884  8.  486)  zugeben  dafs  die  Ausdrucksweise  des  Prot,  die  individualistische 
Deutung  nahelegte.   Vortrefflich  Zeller,  Phil.  d.  Gr.»  I  8.  1095  ff. 

*)  ProtagoraB  Fr.  1.  2.  6.  6  (Mull).  Die  beiden  Hauptschriften  1)  »e$l  4rtör  und 
2)  «pi  ro$  övtog  oder  ^  &lrjö(ta  oder  ol  KccxaßdUovxtg:  'Niederboxer';  Ribbeck,  Euripides 
und  seine  Zeit  8.  11. 

*)  &pdhu  Uycov  z.  B.  Eur.  Med.  546.  Hik.  428.  Or.  491.  Hekabe  1129  ff.  Heraklid  184  ff. 
Troad.  914  ff.   Antiope  Fr.  188  ff. 

13* 


19G     W  Nestle:  Die  Entwickeln^  der  griechischen  Aufkl&rung  bis  auf  Sokratea 

zu  haben.1)  —  Der  dritte  unter  den  grofsen  Sophisten  ist  Prodikos  von  Keoa, 
der  auf  dem  Gebiet  der  Sprachlehre  der  Begründer  der  Synonymik  wurde  und 
in  seiner  Weltanschauung  zuerst  unter  den  Griechen  einem  philosophisch 
formulierten  Pessimismus  huldigt.  Nach  seiner  Ansicht  giebt  es  mehr  Übel 
als  Gutes  in  der  Welt  und  man  sollte  den  Menschen  bei  seinem  Eintritt  ins 
Leben  mit  Klageliedern  empfangen  und  dagegen  bei  seinem  Abscheiden  au» 
demselben  glücklich  preisen.  Nichtsdestoweniger  forderte  er  weder  zu  asketischer 
Weltflucht  noch  zum  rauschenden  Genüsse  des  Augenblicks  auf,  sondern  suchte 
das  Leid  des  Lebens  durch  tüchtige  Arbeit  zu  überwinden.  Selbst  von  schwäch- 
licher Konstitution,  erwählte  er  sich  die  Kraftgestalt  des  Herakles  zu  seinem 
Ideal,  und  die  ganze  Welt  kennt  den  schönen  von  ihm  ersonnenen  Mythos  von 
Herakles  am  Scheideweg.  Seinem  Vaterland  hat  er  zahlreiche  politische  Dienste 
geleistet.  In  die  Ethik  hat  er  den  wichtigen  Begriff  der  Adiaphora  eingeführt, 
den  von  ihm  die  Kyniker  und  von  diesen  die  Stoiker  übernommen  haben. 
Religiös  galt  er  als  verdachtig.  Eines  Tags  hielt  er  im  Gymnasium  Lykeion 
eine  Rede  über  den  Reichtum,  worin  er  den  Gedanken  ausführte,  dafs  materieller 
Besitz  an  sich  weder  gut  noch  schlecht  sei,  sondern  das  eine  oder  andere 
erst  durch  die  Anwendung  werde,  die  man  von  ihm  mache.  Ein  vorlautes 
Bürschchen,  so  wird  erzahlt,  'suchte  ihn  nun  in  den  verfänglichen  Widerspruch 
zu  verwickeln,  dafs,  wenn  es  bei  allen  Gütern  auf  die  Tugend  ankomme,  die 
Tugend  aber  erlernt  werden  könne,  das  Gebet  überflüssig  sei*.  Noch  ehe 
Prodikos  antworten  konnte,  wurde  er  von  dem  Gymnasiarchen  aus  dem  Lokal 
gewiesen,  weil  er  sich  mit  den  jungen  Leuten  über  ungehörige  Dinge  unter- 
halte.*) —  Als  vierten  im  Bunde  nennt  man  gewöhnlich  Hippias  von  Elia, 
einen  Mann,  der  das  positive  Wissen  seiner  Zeit  in  erstaunlichem  Mafs  in  sich 
vereinigt  und  seinerseits  erweitert  hat:  Astronomie,  Geometrie  und  Arithmetik, 
Phonetik,  Rhythmik  und  Musiklehre,  Theorie  der  Plastik  und  Malerei,  Sagen- 
und  Völkerkunde,  Chronologie  und  Mnemonik:  dies  alles  beherrschte  er  und 
aufserdem  war  er  noch  als  epischer,  tragischer,  epigrammatischer  und  dithy- 
rambischer Dichter  thätig.  Er  ist  also  einer  der  ersten,  der  den  Namen  eines 
Polyhistors  verdient,  eine  Erscheinung  so  vielseitig,  wie  sie  uns  in  der  Renaissance 
zuweilen  wieder  begegnen,  z.  B.  in  Lionardo  da  Vinci. 

Noch  manche  Sterne  zweiter  Gröfse  wie  Thrasymachos  und  Kallikles, 
Diagoras  von  Melos,  Antiphon  und  Kritias,  der  bekannte  Oligarch  und  Schüler 
des  Sokrates,  wären  zu  nennen.  Allen  diesen  Männern  ist  es  gemeinsam,  dafs 
sie  mit  skeptischem  Sinn  an  alle  Überlieferung,  an  die  religiösen,  politischen, 
sozialen,  ethischen  und  ästhetischen  Meinungen  herantreten  und  die  Frage  auf 
werfen:  wie  ist  das  alles,  die  gesamte  sogenannte  Kultur,  geworden,  und  ist 
der  Anspruch  auf  Geltung,  den  sie  erhebt,  berechtigt?  Dabei  stellen  sie 
alle  bestehenden  Einrichtungen  und  Gebräuche  vor  die  Frage,  ob  sie  durch 

•)  Prot.  Per.  86.   Plate-  Protag.  8.  824  B.   Gompere,  Gr.  D.  I  S.  358  f. 

*)  Auf  Prodikos  bezieht  sich  die  Theodicee  in  den  Hik.  den  Eur.  196  £T.  und  Kresphont. 
Fr.  449.  Die  Anekdote  bei  Pb.  Plato,  Eryxias  S.  397.  Vgl.  Welcher,  Prodikos  von  Keos, 
Kl.  Sehr,  n  S.  526. 


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W.  Nestle:  Die  Entwicklung  der  griechischen  Aufklärung  bis  auf  Sokrates  197 

Natur  oder  Satzung  (<pv6ei  oder  diasc)  geworden  seien,  ein  Gegensatz,  den 
wir  zum  erstenmal  bei  dem  Philosophen  Archelaos,  einem  Schüler  des 
Anaxagoras,  vorfinden.1)    Entschieden  wird  die  Frage,  ungeachtet  der  bei  ein- 
zelnen auftretenden  Skepsis,  vor  dem  Richterstuhle  der  Vernunft  (£uv£<ftg),  zu 
der  Aristophanes  einmal  den  von  ihm  als  Vertreter  der  aufklärerischen  Richtung 
eingeführten  Euripides  als  zu  seiner  Göttin  beten  lafst.*)    Dabei  bedienten  sie 
sich  der  rhetorischen  Kunst  zur  Popularisierung  ihrer  Ideen,  und  so  drang  die 
Aufklärung  jetzt  erst  in  weitere  Kreise  des  Volkes  ein.    Freilich  hatte  auch 
dies  seine  Grenzen,  da  die  hohen  Honorare,  die  die  Sophisten  verlangten  — 
Protagons  liefs  sich  100  Minen  =  7000  Mk.  für  einen  Lehrkursus  bezahlen 
—  es  nur  reichen  Leuten  ermöglichten,  ihre  Bildung  bei  ihnen  zu  holen.  Doch 
hielten  sie  auch  einzelne  Vortrage  mit  billigerem  Eintrittspreis.3)  —  Die 
Religion,  gegen  welche  sich  die  Sophisten  durchweg  ablehnend  verhalten, 
vird  entweder  als  eine  primitive  Naturerklärung  der  noch  nicht  zur  wirklichen 
Erkenntnis  gelangten  Menschen  oder  geradezu  als  eine  Erfindung  zum  Zwecke 
der  Volkserziehung  bezeichnet.    Im  ersteren  Sinn  sprach  sich  Prodikos4),  im 
weiten  Kritias  in  seinem  'Sisyphos'5)  aus.    Man  nahm  einen  tierischen  Ur- 
zustand des  Menschen  an,  aus  dem  er  sich  allmählich  zu  höheren  Stufen  entr 
wickelte.    An  den  Beginn  dieser  Entwickelung  setzte  man  die  artikulierte 
Rede,  welche  die  einen  als  etwas  von  Natur  Gewordenes  betrachteten,  während 
andere  in  der  Sprache  ein  konventionelles  Produkt  sahen.  Jene  Theorie  vertrat 
zneret  Heraklit  und  im  fünften  Jahrhundert  sein  aus  Piatos  Dialog  bekannter 
Schüler  Kratylos,  diese  höchst  wahrscheinlich  Demokrit,  Protagoras  u.  a.  Weiter 
fragte  man  nach  der  Entstehung  des  Staats  und  des  öffentlichen  Rechts,  und 
hier  tritt  uns  wie  im  Zeitalter  der  modernen  Aufklärung  die  Lehre  vom 
Gesellfichaftsvertrag  entgegen.    Der  Kampf  gegen  die  wilden  Tiere  veranlafste 
Dach  Protagoras  die  Menschen  zu  geselligem  Leben,  das  weiterhin  zur  Städte- 
und  Staatengründung  führte.')   Denn  auch  gegeneinander  mufsten  die  Menschen 
sich  schützen  und  —  so  läfst  Plato  den  Glaukon  sagen  —  'da  sie  einander 
Unrecht  thun  und  voneinander  Unrecht  leiden  und  so  beides  zu  kosten  be- 
kommen, so  scheint  es  denen,  die  nicht  das  erstere  wählen  und  das  letztere 
meiden  können,  nützlich,  eine  Übereinkunft  zu  schliefsen  (£vvd,fofrcuy.T)  —  Bei 
der  Frage  nach  der  Entstehung  des  Rechts  wird  der  konventionellen  Satzung 
das  Naturrecht  entgegengestellt,  und  aus  dieser  Quelle  entspringen  nun  zwei 
einander  polar  entgegengesetzte  Gedankenreihen.     Die  Vertreter  der  einen 
Richtung,  wie  Hippias  und  der  schon  dem  vierten  Jahrhundert  angehörige 
Alkidamas8),  proklamieren  den  Grundsatz  der  Gleichheit  aller  Menschen.  Es 


')  Gompere,  Gr.  D.  I  S.  823.       *)  Aristoph.,  FrÖBche  898. 

*)  Plato  Erat.  1  S.  384  B.    Axiochos  4  8.  366  B.    Welcker,  Prodikos  S.  412  ff. 

*)  Gompera,  Gr.  D.  I  S.  346. 

*)  Kritia«,  Sisyphos  Fr.  1  bei  Nauck,  Trag.  Gr.  Fr.»  S.  771.  Vgl.  auch  Moschion  Fr.  6 
(nerte«  Jahrhundert):  ib.  S.  816  f. 

*)  Plato,  Protag.  8.  822.      *)  Plato,  Politoia  II  2  8.  368  E. 

•)  Alkidamas,  Meu.  Fr.  1  bei  Schol.  zu  Aristot.  Rhet.  I  13,  2.   Orat.  Att.  II  164. 


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198     W.  Nestle:  Die  Entwickelung  der  griechischen  Aufklärung  bis  auf  Sokrates 


liegt  auf  der  Hand,  dafs  dies  zur  Bestreitung  der  Rechte  der  bevorzugten 
Stände,  besonders  des  Adels,  und  zur  Forderung  der  Sklavenemancipation 
sowie  zur  Leugnung  des  bisher  allgemein  anerkannten  Wertunterschieds 
zwischen  Hellenen  und  Barbaren,  zum  Kosmopolitismus  führen  mufste: 

Der  ganze  Äther  steht  dem  Flug  des  Adlers  frei, 
Die  ganze  Welt  ist  Vaterland  dem  edlen  Mann.1) 

Und  auch  auf  den  Besitz  wurde  der  Grundsatz  der  Gleichheit  angewendet: 
Phaleas  von  Chalcedon  verlangte  in  der  zweiten  Hälfte  des  fünften  Jahr- 
hunderts die  Ausgleichung  der  Vermögensunterschiede  und  die  Ver- 
staatlichung der  gesamten  gewerblichen  Arbeit.  Etwas  gemässigter  wünschte 
Hippodamos  von  Milet  unter  Zugrundelegung  der  Einteilung  des  Volks  in 
die  drei  Stände  der  Gewerbetreibenden,  Ackerbauer  und  Krieger  die  Verstaat- 
lichung von  Grund  und  Boden  zu  zwei  Dritteln;  nur  ein  Drittel  sollte  Privat- 
eigentum bleiben.1)  —  Die  zweite  Richtung,  die  ebenfalls  vom  Begriff  de» 
Naturrechts  ausging  und  deren  Hauptvertreter  ein  Thrasymachos  und 
Kallikles  waren,  verkündigte  im  diametralen  Gegensatz  zu  den  erwähnten 
Theorien  das  Recht  des  Stärkeren  und  nahm  für  das  Kraftgenie  des  'Über- 
menschen* Partei.  Ein  anschauliches  Charakterbild  eines  praktischen  Vertreters 
dieser  Moral  des  rücksichtslosen  Egoismus  entwirft  Xenophon  in  seiner  Anabasis, 
indem  er  uns  Menon,  einen  der  Feldherrn  der  10000  Griechen,  als  einen  Mann 
schildert,  der  sich  über  alle  bürgerliche  Moral  und  Frömmigkeit  hinwegsetzte 
und  jeden,  der  dies  nicht  that,  als  einen  Schwächling  und  Dummkopf  be- 
trachtete.8) In  dem  einzigen  uns  erhaltenen  Satyrspiele,  dem  'Kyklops',  läfst 
sich  Euripides  die  Gelegenheit  nicht  entgehen,  diese  Moral  zügelloser  Genufs- 
sucht  und  Selbstsucht  zu  persiflieren.4) 

Man  sieht,  wie  die  neue  Aufklärung  an  allem  Bestehenden  rüttelte,  und, 
was  das  Schlimmste  war,  die  Vertreter  dieser  Umsturzpartei  behaupteten  nicht 
nur,  selbst  das  Privilegium  der  Bildung  zu  besitzen,  sondern  warfen  sich  auch 
noch  zu  Erziehern  der  Jugend  auf.  Kein  Wunder,  dafs  es  dem  gutgesinnten 
konservativen  athenischen  Bürger  angst  und  bange  wurde,  wenn  etwa  der  junge 
Sohn  aus  der  Schule  des  Sophisten  nach  Hause  kam  und  den  Vater  mit  den 
dort  aufgeschnappten  noch  unvergorenen  neuen  Ideen  traktierte.  Und  doch 
begreift  man  auch  wieder  die  Leidenschaft,  mit  der  die  Vertreter  der  neuen 
Richtung  gegen  manche  altgeheiligte  Einrichtung  polemisierten,  wie  z.  B.  gegen 
die  Mantik,  wenn  man  bedenkt,  dafs  die  Seher  der  verhängnisvollen  sizilischen 
Expedition  einen  glänzenden  Erfolg  verheifsen  hatten,  und  dafs  es  die  Propheten 
des  frommen  Nikias  waren,  durch  deren  Aberglauben  die  letzte  Rettung  der 
athenischen  Flotte  aus  dem  Hafen  von  Syrakus  unmöglich  gemacht  wurde.*) 


')  Eur.  Fr.  1047;  vgl.  Fr.  777  und  902. 

■)  Gomperz,  Gr.  D.  I  S.  829  f.      ")  Xen.  An.  II  6,  21  ff. 

*)  Eur.  Kykl.  316  ff.  W.  Schmid,  Kritisches  und  Exegetisches  zu  Eur.  Kyklops  im 
Phüologus  1896  8.  57  f. 

»)  Thukyd.  VII  50;  VIII  1.    Vgl.  auch  Eur.  Hei.  744  ff.  (aufgeführt  412). 


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W.  Nestle:  Die  Entwickclung  der  griechischen  Aufklarung  bis  auf  Sokrate*  199 

Trotzdem  hielt  ein  grofser  Teil  des  Volkes  zäh  am  Alten  fest,  nnd  es  ist 
natürlich,  dafs  es  an  Opposition  gegen  die  neue  Aufklarung  nicht  fehlte.  Ich 
denke  dabei  nicht  sowohl  an  den  Kampf  des  Sokrates  mit  seiner  Begriffs- 
philosophie  und  Ethik  gegen  die  nihilistischen  Tendenzen  in  der  Sophistik; 
denn  trotz  allem  hat  er  viel  mit  ihr  Verwandtes,  und  Aristophanes  hat  zwar 
viel  Einzelnes  mit  Unrecht  von  andern  auf  Sokrates  übertragen,  aber  instinktiv 
richtig  gehandelt,  wenn  er  ihn  geradezu  als  den  Typus  der  Aufklärung  hin- 
stellte. Auch  der  Spott  der  Komödie,  so  bissig  er  war,  war  doch  in  der 
Hauptsache  harmlos.  Viel  ernster  war  die  politische  Opposition.  Schon 
Perikles  hatte  seinen  Freund  Anaxagoras  nicht  vor  der  Einleitung  eines 
Prozesses  wegen  Gottlosigkeit  schützen  können,  und  der  Philosoph  entzog  sich 
nur  durch  schleunige  Abreise  aus  Athen  der  Verurteilung.  Als  Protngoras 
sein  Buch  über  die  Götter  im  Hause  des  Euripides  vorlas,  'empfand  ein 
schneidiger  Reiteroffizier,  der  reiche,  oligarchisch  gesinnte  Pythodoros,  dessen 
Statue  unlängst  in  Eleusis  wiedergefunden  wurde,  das  Bedürfnis,  die  Gesell- 
schaft zu  retten'.  Auch  er  wurde  unter  Anklage  gestellt,  seine  Schriften  öffent- 
lich verbrannt,  und  er  mufste  Athen  verlassen,  wobei  er  auf  der  Fahrt  nach 
Sizilien  durch  Schiffbruch  den  Tod  gefunden  haben  soll.  Nicht  besser  erging 
es  dem  'Atheisten'  Diagoras  von  Melos,  der  ebenfalls  wegen  Asebie  verurteilt 
und  auf  dessen  Kopf  ein  Preis  von  einem  Talent  gesetzt  wurde.  Dafs  die  demo- 
kratische Restaurationsherrschaft  nach  dem  Sturze  der  sogenannten  30  Tyrannen 
an  der  Wende  des  fünften  zum  vierten  Jahrhundert  dem  Sokrates  den  Schier- 
lingsbecher reichte,  ist  allbekannt.  So  gefährlich  war  es,  'nicht  an  die  Götter 
zu  glauben,  an  die  der  Staat  glaubte'  und  mit  den  neuen  Lehren  'die  Jugend 
zu  verführen'.1)  Trotz  dieser  Verfolgung  schritt  die  Aufklärung  sieghaft 
ihren  Gang  weiter:  in  den  von  Sokrates  ausgehenden  Schulen  und  ihren 
Weiterbildungen  hat  sie  die  Welt  erobert,  und  schon  am  Ausgang  des  fünften 
Jahrhunderts  hatte  sie  mit  Ausnahme  der  Aristophanischen  Komödie  die  ganze 
Litteratur  für  sich  gewonnen.  Die  griechische  Prosa  hat  sie  zwar  nicht  be- 
gründet, aber  mächtig  gefördert,  und  vermöge  ihrer  praktischen  Ziele  hat  sie 
die  Entstehung  einer  ausgedehnten  Fachschrift  stellerei  hervorgerufen:  von 
der  edlen  Kochkunst  an,  welche  in  einem  gewissen  Mi  thaikos  ihren  ersten 
litterarischen  Bearbeiter  fand,  bis  zur  geistvollen  politischen  Monographie,  wie 
uns  eine  solche  z.  B.  in  der  fälschlich  dem  Xenophon  zugeschriebenen  Schrift 
Tom  Staate  der  Athener  vorliegt,  erfährt  jedes  Gebiet  seine  theoretische  Be- 
handlung: die  Fechtkunst  und  die  Taktik,  die  Landwirtschaft,  die  Pferdezucht 
und  der  Jagdsport,  die  Malerei,  Architektur  und  Skulptur,  die  Technik  des 
Bühnenwesens  und  die  Musik  nicht  minder  als  die  Litteraturgeschichte,  als 
deren  erste  Vertreter  Damastes  und  Glaukos  von  Rhegion  erscheinen.  Auch 
Geographie  und  Geschichte  nehmen  einen  neuen  Aufschwung:  man  schreibt 
Memoiren  und  Reisebilder  und  wendet  insbesondere  auch  dem  Ausland  sein 

')  Anaxagoras:  Plut.  Per.  32.  Protagoras:  Gompera,  Gr.  D.  I  S.  353.  471.  Diagoras: 
Diodor  XIII  6.  Sokrates:  Xen.  Mem.  I  1,  1.  —  In  der  Komödie  verspottete  schon  KratinoB 
ia  Beinen  'Panoptai'  den  'Atheisten'  Hippo.   Gompera,  Gr.  D.  I  S.  303. 


200     W.  NeBtle:  Die  Entwicklung  der  griechischen  Aufklärung  bis  auf  Sokrates 


Interesse  zu;  Xanthus  verfafst  eine  lydische,  Charon  von  Lampsakus  und 
Dionysius  von  Milet  eine  persische  Geschichte.1)  Den  Höhepunkt  auf  dem 
Gebiet  der  politischen  Geschichtschreibung  bezeichnet  freilich  Thukydides  als 
Darsteller  der  zeitgenössischen  griechischen  Geschichte.  Mit  seiner  durchaus 
pragmatisch-politischen  Auffassung  der  Ereignisse,  mit  seinem  nüchtern  klaren, 
von  allen  religiösen  Vorurteilen  freien  Sinn  bezeichnet  er  einen  grofsen  Fort- 
schritt über  Herodot  hinaus,  wie  er  in  formaler  Hinsicht  zugleich  der  Be- 
gründer der  attischen  Prosa  geworden  ist.  Wenn  ihn  die  Überlieferung  zu 
einem  Jünger  des  Anaxagoras  macht,  so  hat  sie  jedenfalls  insofern  Recht,  als 
sein  Werk  nach  Form  und  Inhalt  die  griechische  Aufklarung  zur  Voraussetzung 
hat.  Es  mag  nur  auf  das  eine  hingewiesen  werden,  dafs  in  der  gewaltigen 
Leichenrede1),  die  er  den  Perikles  zu  Ehren  der  im  ersten  Jahr  des  Peloponne- 
sischen  Krieges  gefallenen  Athener  halten  läfst,  jede  Anspielung  auf  die  Ge- 
stalten der  Volksreligion  vermieden  und  dabei  die  von  bornierten  Leuten  noch 
vielfach  bestrittene  Nützlichkeit  wissenschaftlicher  und  künstlerischer  Thätig- 
keit  als  ein  Vorzug  Athens  vor  allen  andern  griechischen  Städten  gepriesen 
wird.  'Wir  pflegen  das  Schöne  mit  mäfsigem  Aufwand  und  die  Wissenschaft 
ohne  Weichlichkeit':  so  spricht  bei  Thukydides  mit  Stolz  der  athenische  Staats- 
mann, der  Freund  eines  Anaxagoras,  Phidias  und  Euripides. 

Der  letztere  Name  veranlagst  uns,  auch  noch  mit  einigen  wenigen  Worten 
des  Verhältnisses  zu  gedenken,  das  die  jüngste  Dichtungsgattung,  die  Tragödie, 
zu  der  Aufklärungsbewegung  einnimmt.  Es  ist  eine  schöne  litterarische 
Legende,  dafs  der  ruhmreichste  Tag  der  griechischen  Geschichte,  der  Tag  von 
Salamis,  auch  die  drei  Koryphäen  der  Tragödie  auf  eben  dieser  Insel  zu- 
sammengeführt habe:  Aschylos,  so  heifst  es,  habe  in  der  Schlacht  mitgekämpft, 
der  16jährige  blühend  schöne  Sophokles  den  Siegesreigen  der  Epheben  an- 
geführt, und  Euripides  sei  an  diesem  Tag  von  seiner  nach  Salamis  geflüchteten 
Mutter  geboren  worden.  Jedenfalls  ist  damit  das  Zeitverhältnis  der  drei 
Dichter  im  allgemeinen  richtig  gekennzeichnet;  unrichtig  aber  wäre  es,  darauB 
auf  eine  von  Aschylos  bis  Euripides  gleichmäfsig  fortschreitende  Annäherung 
an  die  Aufklärungsbewegung  zu  schliefsen.  Aschylos  hat  ungefähr  eine  ähn- 
liche Weltauffa8sung  wie  Pindar,  nur  dafs  er  sich  unter  orphischen  Einflüssen 
noch  mehr  einem  religiösen  Pantheismus  nähert: 

Zeus  ist  der  Äther,  Erde  Zeus  und  Himmel  Zeus. 
Zeus  ist  das  alles  und  was  noch  darüber  ist3) 

Dafs  aber  die  Wirksamkeit  dieses  Allgottes  in  der  Welt  weise  und  gerecht 
ist,  dafs  den  Frevler  unnachsichtlich  seine  Strafe  ereilt  und  der  Gerechte  seinen 
Lohn  empfängt,  das  ist  für  Aschylos  eine  heilige,  unantastbare  Wahrheit.  Und 
wenn  er  sich  auch  über  das  Problem  von  Schicksal  und  Schuld,  von  Freiheit 
und  Notwendigkeit  Gedanken  macht,  wenn  er  auch  wie  Pindar  eine  Versitt- 
lichung  der  Gottesvorstellung  anstrebt,  so  gerät  er  dabei  doch  nie  weder  in 


')  Ctompera,  Gr.  D.  I  S.  310  f.  396  ff.  *)  Thuk.  H  bö  ff.,  besonders  40. 
*)  Aschylos,  Heliadcn  Fr.  70. 


W.  Nestle:  Die  Entwicklung  der  griechischen  Aufklärung  bis  auf  Sokrates  201 


einen  inneren  noch  äufseren  Konflikt;  der  Friede  seiner  Seele  bleibt  ungestört, 
und  er  fühlt  sich  in  keinem  Gegensatz  zum  Volksbewufstsein.  —  Das  letztere 
gilt,  fast  in  noch  höherem  Grade,  von  Sophokles.  Ästhetisch  betrachtet  ver- 
dienen seine  Tragödien  um  ihrer  geschlossenen  Harmonie  willen  unstreitig  die 
Palme  unter  den  Werken  der  drei  grofsen  Dichter.  'Friedselig  ist  er  hier, 
friedselig  dort',  sagt  Aristophanes  mit  Recht  von  ihm  nach  seinem  Tode.1)  Er 
ist  eine  durch  und  durch  religiöse  Natur,  so  sehr,  dafs  ihm  die  Befolgung 
einer  religiösen  Sitte  oder  Vorschrift  überall  an  erster  Stelle  steht.  Dies  be- 
weist Antigone,  die  mit  der  vollsten  Sympathie  des  Dichters  die  Staatsgesetze 
obertritt,  um  der  religiösen  Pflicht  zu  genügen,  und  dies  beweist  noch  deut- 
licher ein  Bruchstück  seines  'Thyestes',  welches  lautet: 

Niemand  ist  weise,  aufser  wer  die  Götter  ehrt. 
Und  wenn  des  Rechtes  Boden  zu  verlassen  dir 
Ein  Gott  befiehlt,  mufst  du  im  Blick  auf  ihn  es  thun. 
Denn  nichts  ist  böse,  was  uns  je  ein  Gott  gebeut*) 

Gewifs,  es  liegt  eine  tiefe  Wahrheit  darin,  dafs  Sophokles  die  ewigen  'un- 
geschriebenen Gesetze'  über  das  konventionelle  menschliche  Recht  stellt.8)  Aber 
wir  haben  Grund,  anzunehmen,  dafs  des  Dichters  Meinung  die  ist:  'Was  dir 
die  Götter  befehlen,  das  thue  unbesehen-,  du  hast  kein  Recht  zu  fragen,  ob  das 
sittlich  oder  unsittlich  sei;  weil  es  von  den  Göttern  kommt,  ist  es  sittlich.' 
Dann  steht  die  überlieferte  Religion  über  dem  Sittengesetz,  und  so  aufgefaßt 
bildet  das  Wort  des  Sophokles  den  direkten  Gegensatz  zu  einem  berühmten 
Verse  des  Euripides: 

Wenn  Götter  etwas  Böses  thun,  sind's  Götter  nicht.4) 

Und  in  der  That:  es  läfst  sich  kaum  ein  gröfserer  Gegensatz  denken,  als  der 
zwischen  der  Persönlichkeit  und  der  Lebensauffassung  dieser  beiden  Männer, 
und  dieser  Unterschied  prägte  sich  schon  in  ihrem  Äufseren  aus.  Man  ver- 
gleiche die  Lateranische  Sophoklesstatue  mit  der  Neapeler  Büste  des  Euripides: 
zwar  Hoheit  des  Geistes  steht  auf  beider  Stirne  geschrieben.  Aber  dort  sehen 
wir  einen  Mann,  der  selbstbewufst,  frei,  ruhig  und  heiter  über  die  Welt  hin- 
schaut; die  Wogen  des  Lebens  schlagen  zu  seinem  sicheren  Standort  nicht 
empor.  Hier  blickt  uns  ein  gefurchtes,  nachdenkliches,  sorgenvolles  Antlitz 
an,  dessen  Mund  zu  sprechen  scheint:  'Wer  erfreute  sich  des  Lebens,  Der  in 
seine  Tiefen  blickt?'  Euripides  ist  eine  Kampfnatur;  und  so  hat  er  sich  denn 
auch  tapferen  Mutes  an  die  Spitze  der  Aufklärungsbewegung  gestellt,  dem 
Hafs  der  Feinde  und  dem  Spott  der  Komödiendichter  trotzend,  der  ihn  noch 
bis  übers  Grab  hinüber  verfolgte.  Man  kann  wohl  sagen,  dafs  sich  alle 
Strahlen  der  Aufklärung  in  seiner  Person  wie  in  einem  Brennpunkte  sammeln. 
Und  zwar  ist  es  eine  durchaus  schiefo  Auffassung,  ihn  lediglich  als  einen 

')  Aristoph.  Frösche  82. 

*)  8ophokl.  Thycst.  Fr.  226:  statt  Sv-frefc  schreibt  Beynen:  oy-tfeorj.  Nauck,  Tr.  Gr. 
Fr.«  S.  184. 

*)  Sophokl.  Antigone  464  f.       *)  Eurip.  Beller.  Fr.  292,  7. 


202     W.  Nestle:  Die  Entwicklung  der  griechischen  Aufklärung  bis  auf  Sokrates 

Jünger  der  zeitgenossischen  Sophistik  anzusehen.  Er  war  vielmehr  Philosoph 
und  hat  sich  ebensowenig  gescheut,  auf  der  Bühne,  von  der  er  zu  seinem 
Volke  sprach,  die  Verirrungen  der  neuen  Richtung,  z.  B.  den  MiTsbrauch  der 
Rhetorik  vor  Gericht  und  in  Volksversammlungen  durch  gewissenlose  Redner, 
mit  scharfen  Worten  zu  geifseln,  als  alles,  was  ihm  im  öffentlichen,  besonders 
im  religiösen  Leben  als  unwahr  erschien,  schonungslos  zu  bekämpfen.  Es  ist 
staunenswert,  mit  welchem  Freimut  dieser  Mann  an  geheiligter  Statte,  im 
Theater  des  Dionysos,  die  griechischen  Götter  zum  Tode  verurteilt  hat  Es 
ist  hier  nicht  der  Ort,  diese  Polemik  sowie  seine  positiven  philosophischen 
Lehren  genauer  darzulegen.  Nur  darauf  soll  hingewiesen  werden,  dafs  Euripides, 
da  er  doch  die  alten  mythischen  Stoffe  als  Grundlagen  seiner  Dramen  bei- 
behielt, durch  den  Gegensatz,  in  dem  diese  religiösen  Vorstellungen  zu  seiner 
Gedankenwelt  standen,  unvermeidlich  in  einen  inneren  und  äufseren  Zwiespalt 
geraten  mufste;  in  einen  inneren:  denn  seine  Gedanken  deckten  sich  nicht  mit 
den  Ideen  der  von  ihm  behandelten  Mythen;  und  in  einen  äufseren:  denn  seine 
Heroen  verwandelten  sich  unter  seinen  Händen  in  Menschen,  wie  seine  Zeit- 
genossen waren.  Er  hat,  wie  man  treffend  gesagt  hat1),  die  Menschen  seiner 
Zeit  und  nicht  zum  wenigsten  sich  selbst  auf  die  Bühne  gebracht,  ohne  doch 
den  Schritt  von  der  heroischen  zur  bürgerlichen  Tragödie  zu  thun,  und  so 
bildet  sein  mitunter  auch  pathologisches  Drama  den  Übergang  zum  bürger- 
lichen Lustspiel  des  Menander.  Er  hat  zu  seinen  Lebzeiten  wenig  Anerkennung 
gefunden:  nur  vier  Siego  und  einen  fünften  mit  hinterlassenen  Dramen  hat  er 
errungen,  obwohl  er  88  Stücke  oder  22  Tetralogien  verfafst  hat.*)  Dafür 
hatte  er  die  Genugthuung,  unter  seinen  Zuschauern  stets  den  Sokrates  zn 
haben,  der  sonst  das  Theater  mied.8)  Die  fortgesetzte  Verkennung  und  die 
unerquicklichen  politischen  Zustände  Athens  nach  der  mifslungenen  sizilischen 
Expedition  mögen  ihn  bewogen  haben,  einer  Einladung  des  Macedonischen 
Königs  Archelaos  zu  folgen,  an  dessen  Hof  er  die  zwei  letzten  Jahre  seines 
Lebens  verbrachte.  Er  traf  dort  eine  Reihe  bedeutender  Männer:  seinen  Lands- 
mann Agathon,  der  mit  seiner  Tragödie  'Die  Blume'  neue  Bahnen  ein- 
geschlagen hatte,  Timotheos  von  Milet,  den  Reformator  der  Musik,  den 
Epiker  Choirilos  von  Samos,  den  Maler  Zeuxis  von  Heraklea  und  ver- 
mutlich auch  den  damals  in  der  Verbannung  lebenden  Geschichtschreiber 
Thukydides.  Letzterer  soll,  als  Euripides  im  Jahr  405  in  Macedonien  ge- 
storben war,  auch  seine  Grabschrift  verfafst  haben.4)  Im  Leben  verkannt,  ge- 
hört er  zu  jenen,  wie  jüngst  von  Cicero  gesagt  wurde,  'im  eminenten  Sinne 
des  Worts  kulturellen  Persönlichkeiten,  deren  eigentliche  Biographie  erst  mit 


•)  Fr.  Nietzsche,  Die  Geburt  der  Tragödie  aus  dem  Geiste  der  Musik»  S.  78  ff. 
*)  v.  Wilamowitz-Möllendorf,  Analecta  Euripidea  S.  172  ff. 
*)  Älian,  var.  hist.  II  IS. 

*)  Agathon:  Ael.  var.  hist.  XTTI 4.  Schol.  zu  Ariatoph.  Frösche  83.  Timotheos:  Apophthegm 
Arch.  S.  177.  Choirilos  Suidas  s.  v.  Zeuxis:  Ael.  var.  hist.  XTV  17.  Die  Anwesenheit  des 
Thukydides  am  Hof  des  Archelaos  ist  nicht  sicher,  aber  wahrscheinlich:  v.  Wilamowito, 
Herakles 1  1  S.  16  A  26.   Vita  36  ff. 


W.  Nestle:  Die  Entwicklung  der  griechischen  Aufklarung  bis  auf  Sokrates  203 

ihrem  Todestage  beginnt*1),  und  es  ist  wahr,  was  ein  neuerer  Geschichtschreiber 
über  ihn  urteilt:  dafs  'aufter  Homer  kein  zweiter  griechischer  Dichter  eine  so 
tiefgreifende  Wirkung  auf  die  Nachwelt  geübt  hat'.*)  Ja,  niemals  ist  ein  Wort 
von  der  Geschichte  so  Lügen  gestraft  worden,  wie  das  kurzsichtige  Urteil  des 
Aristophanes,  dafs  mit  Euripides  auch  seine  Poesie  gestorben  sei.*)  Diesen 
Ruhm  verdankt  er  eben  dem  Gedankengehalt  seiner  Dramen,  dem  Umstand, 
dafs  er  der  Dichter  der  griechischen  Aufklarung,  'der  Philosoph  der  Bühne', 
wie  das  Altertum  ihn  nannte,  gewesen  ist.4)  Im  Leben  aber  half  ihm  über 
alles  Leid  und  über  alle  dichterischen  Mifserfolge  jene  Befriedigung  hinweg, 
welche  die  ernste  und  eindringliche  Beschäftigung  mit  der  Wissenschaft  jedem, 
der  sich  ihr  widmet,  gewährt.  Das  hat  er  ausgesprochen  in  den  schonen 
Worten,  bei  deren  Abfassung  ihm  wohl  das  Bild  des  Anaxagoras  vorschwebte: 

Glücklich  der  Mann,  der  Kunde  der  Wissenschaft 
Durfte  erlernen. 

Niemals  wird  nach  der  Mitbürger  Unheil 
Noch  nach  verwerflicher  That  er  trachten; 
Sondern  er  schaut  der  ew'gen  Natur  nie 
Alternde  Ordnung:  wie  sie  geworden, 
Woher  und  wozu. 

Solch  einen  Mann  wird  nie  ein  Gedanke 
An  Werke  des  Unrechts  beschleichen.6) 

An  diese  Worte  hat  vermutlich  auch  der  römische  Dichter  zur  Zeit  des 
Augustus  gedacht,  als  er  den  Vers  schrieb,  der  in  bündigster  Kürze  das  Ziel 
und  den  Erfolg  aller  wissenschaftlichen  Aufklarung  zusammenfallt: 

Felix  qui  potuit  rerum  cognoscere  causas.8) 
')  ZielinBki,  Cicero  im  Wandel  der  Jahrhunderte  S.  1. 

*)  Beloch,  Griech.  Geschichte  I  8.  676.  Ion  bei  Bergk,  Lyr.  Gr.4  (1897)  S.  127  Nr.  5. 
*)  Aristoph.  Frösche  868  f. 

«)  6  nrivtxbs  <ptl6eo<poS  z.  B.  Ath.  IV  8.  158  E  und  oft. 

■)  Eur.  Fr.  910:  v.  7  folge  ich  der  Konjektur  v.  Wilamowitoens  o&tv  für  ojtjj.  Über 
die  Bedeutung  von  IotoqIh  vgl.  Gomperz,  Apologie  der  Heilkunst  8.  96.  Die  Beziehung  auf 
Anaxagoras  vermutete  Yalckenaer,  Diatribe  in  Euripidis  perditorum  dramatum  reliquias  S.  26. 

*)  Vergil,  Georg.  II  490. 


LERNEN  UND  LEBEN  AUF  DEN  HUMANISTENSCHULEN 
IM  SPIEGEL  DER  LATEINISCHEN  SCHÜLERDIALOGE 

Von  Aloys  Bömer 

(Schlafs) 

Noch  um  vieles  reichhaltiger  als  die  bisher  mitgeteilten  Notizen  über  das 
Lernen  ist  das  Material  der  Dialoge,  welches  über  das  Leben  und  Treiben 
der  Knaben  unterrichtet. 

Daft  die  Schüler,  deren  Eltern  nicht  am  Orte  wohnten,  entweder  beim 
Lehrer  und  seinen  Gehilfen  in  den  *Bursen*  oder  bei  den  Bürgern  Unter- 
kommen finden  konnten,  wurde  schon  erwähnt.  Die  Wohnungen  der  ersteren 
müssen  am  begehrtesten  gewesen  sein,  da  die  Ankömmlinge  häufig  die  Aus- 
kunft erhalten,  dafs  die  Bursen  schon  besetzt  seien.  Uber  die  Höhe  des 
Logisgeldes,  des  sogenannten  locarium  (Mos.  7),  findet  sich  bei  Murmellius  (25) 
folgende  Bemerkung  eines  Knaben,  der  in  Münster  bei  einem  Schuster  in 
St.  Lambert  Wohnung  erhalten  hat:  *Frater  meus  et  ego  in  sex  menses  duo- 
decim  solidis  luculentum  cubiculum  conduximus  =  Myn  broer  und  ick  hebben 
voer  eyn  half  jaer  ein  luchtige  kamer  om  twelift  schillinc  gehuyrt.'  Früher 
war  es  üblich,  dafs  die  Knaben  neben  dem  Kostgeld  auch  noch  eine  Abgabe 
für  Licht  und  Holz  entrichteten  (Niav.  I  2).  Später  erliefsen  .  manche  Bürger 
diesen  Tribut,  dafür  mufsten  die  Schüler  aber  jeden  Tag  in  der  Kirche  das 
Salve  singen  (Hegend.  4).  Es  gab  auch  völlig  freies  Quartier,  wenn  die 
Einwohner  sich  zu  kleinen  Dienstleistungen,  sei  es  zu  häuslichen  Arbeiten 
(Mob.  7;  Phil.  9)  oder  zur  Nachhilfe  beim  Studium  jüngerer  Söhne  der  Familie 
(Schott.  19)  verpflichteten.  Wenn  Wirte  kostenlos  Logis  gewährten,  haben  sie 
dafür  wohl  auf  andere  Weise  ihr  Schäfchen  ins  Trockene  zu  bringen  gesucht, 
denn  es  heifst  bei  Murmellius  (25 c):  *Caupones  gratis  locant  domus  suas  ad- 
venis,  sed  eo  carius  cibant  =  Die  wirt  lyhen  ire  huser  vergebens  den  gesten, 
genen  inen  aber  dest  turer  zu  essen.'  Die  Knaben,  welche  beim  Lehrer  wohnten, 
mufsten  abwechselnd  den  Boden  der  Klassenzimmer  und  der  Schlafstuben  rein- 
fegen (Hegend.  8;  Dune.  26).  Die  Bursen  wurden  abends  zur  bestimmten  Stunde 
geschlossen,  im  Winter  um  9,  im  Sommer  um  10  Uhr,  und  es  durfte  alsdann 
keinem,  selbst  dem  Lehrer  nicht  mehr  geöffnet  werden  (Barl.  17).  Über- 
tretungen wurden  strenge  bestraft. 

Das  Aufstehen  am  Morgen  war  für  manche  Schüler  eine  sauere  Pille 
Wenn  wir  bedenken,  dafs  die  Schulstunden  damals  in  der  Regel  schon  um 
6  Uhr  begannen  (Schott.  21)  und  also  sehr  frühzeitig  das  Bett  verlassen  werden 


A.  Börner:  Die  Humanistenschulen  im  Spiegel  der  lateinischen  Schülerdialoge  205 

mufste,  werden  wir  diese  Trägheit  ein  wenig  verzeihlicher  finden.  Das  Wecken 
besorgte  in  der  Schule  entweder  einer  von  den  Gehilfen  des  Rektors  oder  einer 
?on  den  Knaben  (Cord.  II  54),  in  den  Privathäusern  gewöhnlich  die  Magd. 
Reichere  Eltern  konnten  sich  für  ihre  Sohnchen  auch  einen  eigenen  Haus- 
lehrer leisten,  einen  paedagogus,  der  in  der  Regel  aus  den  älteren  Schülern 
der  Anstalt  genommen  wurde  (Niav.  I  1;  Cord.  II  44  u.  54).  Solche  Pädagogen 
überwachten  das  Ankleiden  ihrer  Zöglinge,  geleiteten  sie  zur  Kirche  und  Schule, 
halfen  ihnen  bei  ihren  Arbeiten  nach  und  hatten  aufserdem  noch  die  nicht 
immer  leichte  Aufgabe,  ihnen  den  nötigen  'Schliff  beizubringen.  Eine  Unter- 
weisung in  letztgenannter  Beziehung,  aus  welcher  einige  Proben  mitgeteilt  zu 
werden  verdienen,  hat  uns  Erasmus  in  seinem  Dialoge  'Monitoria  paedagogica' 
aufgezeichnet.  Es  handelt  sich  um  eine  Unterredung  des  Pädagogen  mit  dem 
seiner  Erziehung  anvertrauten  Knaben.  Der  Pädagoge  beginnt:  'Du  scheinst 
mir  nicht  einer  aula,  sondern  einer  caula  entsprossen  zu  sein,  so  ungeschlachte 
Sitten  legst  Du  an  den  Tag.  Einem  feinen  Knaben  geziemt  ein  feines  Be- 
tragen. So  oft  Dich  einer  anredet,  dem  Du  Ehrerbietung  schuldig  bist,  stelle 
Dich  gerade  hin  und  entblöfse  Dein  Haupt!  Der  Blick  sei  freundlich  und  be- 
scheiden, die  Augen  sittsam  und  immer  auf  den  gerichtet,  der  mit  Dir  spricht, 
die  Füfse  geschlossen,  die  Hände  ruhig.  Ja  nicht  gewackelt  mit  den  Schien- 
beinen und  nicht  gestikuliert  mit  der  Hand!  Auch  nicht  auf  die  Lippen  ge- 
bissen, auf  dem  Kopfe  gekratzt  oder  in  der  Nase  gestochert!  . . .  Wenn  Du  zu 
antworten  hast,  thue  es  kurz  und  gut,  füge  zuweilen  den  Titel  dessen  ein,  mit 
dem  Du  redest,  und  beuge  auch  hin  und  wieder  das  eine  Knie,  namentlich  am 
Schlüsse  Deiner  Antwort!  Entferne  Dich  auch  nicht,  ohne  vorher  um  Er- 
laubnis gefragt  zu  haben  oder  ohne  zum  Fortgehen  aufgefordert  zu  sein!  Beim 
Sprechen  überstürze  Dich  nicht,  aber  stocke  auch  nicht  und  brumme  nicht 
in  den  Bart,  sondern  rede  laut  und  deutlich!  Wenn  Dir  ein  Älterer,  eine 
Magistratsperson,  ein  Priester,  ein  Gelehrter  oder  irgend  ein  angesehener  Mann 
begegnet,  vergifs  nicht  den  Hut  abzunehmen  und  iafs  es  Dich  nicht  verdriefsen, 
das  Knie  zu  beugen!  Dasselbe  thu',  wenn  Du  an  einer  Kirche  oder  einem 
Bilde  des  Gekreuzigten  vorbeikommst!'  u.  s.  w.  Vor  dem  Pädagogen  hatten  die 
Knaben,  wie  wir  aus  unserem  Gespräche  ersehen,  an  dessen  Schlufs  der  Schüler 
Folgsamkeit  in  allen  Dingen  gelobt,  einigen  Respekt;  den  armen  Mädchen  aber, 
welche  beim  Anziehen  behilflich  sein  sollten,  mögen  Taugenichtse  oftmals  einen 
warmen  Kopf  gemacht  haben.  Die  Beatrix  bei  Vives  (1)  mufs  übrigens  auch 
eine  wunderbare  Alte  gewesen  sein.  Sie  läfst  sich  alle  Unarten  gefallen,  nur 
bäMich  darf  man  sie  nicht  nennen.  Das  Ankleiden  ihrer  beiden  Zöglinge 
beaufsichtigt  sie  mit  einer  solchen  Sorgfalt  und  giebt  bei  jedem  Kleidungs- 
stücke, das  angelegt  wird,  so  viele  Unterweisungen,  dafs  den  Kleinen  die  Geduld 
vergeht.  Einen  Versuch  derselben,  ihr  wegzulaufen,  vereitelt  sie  mit  der  ihr 
eigenen  Energie;  sie  ruht  nicht  eher,  bis  die  Knaben  sich  gründlich  gewaschen 
und  das  Morgengebet  verrichtet  haben.  Als  dann  aber  nochmals  gute  Er- 
mahnungen kommen  sollen,  läfst  Emanuel  sich  zu  der  Drohung  hinreifsen,  sie 
möge  sich  zum  Teufel  scheren  oder  er  würfe  ihr  die  Stiefel  an  den  Kopf  und 


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206    A.  Börner:  Die  Humanistenschulen  im  Spiegel  der  lateinischen  Schfllerdialoge 

risse  ihr  den  Schleier  ab.  Ein  anderer  Bube  führt  die  Magd,  welche  ihn 
wecken  soll,  erst  noch  mit  Vorliebe  an  der  Nase  herum.  Wenn  sie  kommt 
und  ihn  anruft,  stellt  er  sich,  als  wäre  er  noch  im  tiefsten  Schlafe  und  als 
hörte  er  nichts.  Wenn  sie  dann  immer  lauter  ruft,  hebt  er  endlich  langsam 
den  Kopf,  richtet  sich  im  Bette  auf,  wirft  die  Brustbinde  über  die  Schultern 
und  thut,  als  wolle  er  aufstehen.  Sobald  aber  die  Weckerin  in  gutem  Glauben 
weggegangen,  wirft  er  sich  schleunigst  wieder  ins  Bett  und  schlaft  noch  eine 
gehörige  Zeit,  bis  sie  zum  zweitenmale  kommt.  Vermutlich  hat  sie  sich  aber 
nicht  allzu  oft  auf  solche  Weise  hintergehen  lassen  (Cord.  III  40).  — 

Allzu  fürstlich  werden  die  Schlafstellen  für  die  fremden  Knaben  in  der 
Kegel  nicht  gewesen  sein.  Dafs  sie  aber  auf  der  Erde  hätten  liegen  müssen 
und  im  Sommer  gar  auf  dem  Kirchhofe  in  der  Streu  wie  die  Schweine,  was 
Platter  von  Breslau  erzählt,  davon  erfahren  wir  in  unseren  Dialogen  nichts. 
Über  Kälte  und  Ungeziefer  wird  freilich  auch  beständig  geklagt  (Niav.  II  7; 
Mos.  35;  Barl.  1527,  3;  Schott.  28;  Dune.  58).  Zur  Vertreibung  der  Kälte 
empfiehlt  ein  Knabe  dem  andern,  das  Bett  'anhelitu  corporis'  warm  zu  machen, 
für  welchen  Zweck  der  Genufs  von  Rüben  ganz  vorzügliche  Dienste  leiste 
(Schott.  12).  Ein  Schüler  pflegt  Stiefel  und  Zeug  mit  ins  Bett  zu  nehmen, 
damit  sie  warm  werden,  ein  anderer  legt  sich  sogar  mit  den  Kleidern  zur 
Ruhe,  was  jedoch  von  seinem  Freunde  als  schädlich  bezeichnet  wird,  da  man 
sehr  leicht  Würmer  auf  diese  Weise  bekäme  (Schott.  62).  Unter  dem  Un- 
geziefer werden  zwar  nicht,  wie  bei  Platter,  Läuse  genannt,  'wie  reifer  Hanf 
samen  dick',  aber  dafür  Mücken,  Flohe  und  Wanzen.  Als  bei  Vives  (11)  ein- 
mal ein  Knabe  beim  Aufstehen  nach  einem  Floh  hascht,  wird  das  eine  verlorene 
Mühe  genannt,  da  der  Fang  eines  Tierchens  aus  dem  Schlafzimmer  etwa  so 
viel  bedeute,  wie  das  Schöpfen  eines  Wassertropfens  aus  dem  Ozean.  Wenns 
kälter  wurde,  liefsen  die  Plagen  des  Ungeziefers  natürlich  nach,  und  in  dieser 
Beziehung  sehnten  sich  die  Schüler  nach  dem  Winter,  den  sie  um  seiner  Kälte 
willen  doch  wieder  so  sehr  verabscheuten.  Nur  bei  den  alten  Weibern  hätten 
die  Flöhe  ein  ewiges  hospitium,  heifst  es  bei  Schottennius  (28). 

Selbstverschuldetes  Fehlen  und  Zuspätkommen  in  der  Schule  wurde 
unnachsichtig  geahndet.  Wenn  jemand  von  einer  oder  mehreren  Stunden 
dispensiert  werden  wollte,  hatte  er  vorher  um  Erlaubnis  zu  fragen.  Nach 
den  zahlreichen  Notizen  bei  Niavis  zu  schliefsen,  müssen  die  Knaben  nicht 
selten  von  dieser  Freiheit  Gebrauch  gemacht  haben.  Bei  Corderius  begegnen 
uns  wiederholt  die  Nomenciatores,  welche  die  fehlenden  oder  zu  spät  kommenden 
Schüler  notierten.  Erasmus  (Euntes  in  ludum  litt)  läfst  den  kleinen  Johannes 
Hals  über  Kopf  zur  Schule  rennen,  denn  wenn  er  vor  Ablesung  des  Schüler- 
kataloges  nicht  zur  Stelle  ist,  ist  es  um  seine  'Haut'  geschehen.  Zur  Ent- 
schuldigung ihres  Zuspätkommens  führen  die  betreffenden  Sünder  die  wunder- 
barsten Gründe  an.  Der  eine  hat  wegen  Ungeziefers  und  heftiger  Kopfschmerzen 
erst  nicht  einschlafen  können  (Dune.  58),  der  andere  versichert,  dafs  ihm  die 
Schlafsucht  angeboren  sei  (Cord.  II  26).  Besonders  beliebt,  auch  für  den  Fall, 
dafs  einer  seine  Lektion  nicht  konnte,  war  der  Vorwand,  dafs  man  den  Eltern 


A.  Börner:  Die  HumaniBtenschalen  im  Spiegel  der  lateinischen  Schülerdialoge  207 

oder  den  Wirtsleuten  erst  noch  bei  irgend  einer  Arbeit  hätte  behilflich  sein 
müssen.  An  solchen  kleinen  Geschäften  der  Schüler  werden  erwähnt:  Auf- 
warten bei  Gesellschaften  (Schott.  65),  Bierholen  (Niav.  I  2;  Hegend.  4  u.  7), 
Aasrichten  von  Botschaften  (Zov.  1),  Wasserschöpfen  (Mos.  11),  Helfen  beim 
Kä8epressen  und  Butterkernen  (Dune.  50),  Herumbringen  von  Würsten  bei  den 
Nachbarn,  wenn  geschlachtet  wird  (Schott.  76)  u.  a.  Falls  die  Knaben  dem 
Lehrer  und  seinen  Gehilfen  eine  Wurst  oder  eine  Kanne  Bier  mitbrachten,  oder 
wenn  sie  eine  Einladung  der  Eltern  auszurichten  hatten,  sei  es  zum  Frühstück, 
sei  es  zur  Mahlzeit  oder  sei  es  zum  Freibad,  wird  ihre  Strafe,  wenn  sie  sich 
verspäteten,  nicht  allzugrofs  gewesen  sein.  Die  Kantoren  bei  Niavis  (I  3) 
nehmen  Bolche  Einladungen  geradezu  devot  von  ihren  Schülern  entgegen.  Bei 
Barlandus  (22)  weils  ein  Knabe  von  einem  Lehrer  zu  erzählen,  der  sich  sogar 
fai  diseipuli  illius  sellam  concacassent',  durch  eine  Mahlzeit  hätte  beschwichtigen 
lassen.  Die  Mutter  bürge  für  die  Wahrheit.  Hinter  die  Mutter  verschanzten 
sich  die  Söhne,  weil  sie  fast  immer  —  im  Recht  und  im  Unrecht  —  Hilfe 
bei  ihr  fanden,  mit  Vorliebe.  Bei  Corvinus  (4)  klagt  der  Baccalaureus  dem 
Rektor,  dafs  der  Knabe  Lentulus  nie  rechtzeitig  zur  Deklination  erschiene,  weil 
die  Mutter  ihn  nicht  vor  Sonnenaufgang  aufstehen  liefse.  Bei  dieser  Gelegen- 
heit spricht  der  Rektor  die  bemerkenswerten  Worte:  'Es  ist  ein  uralter  Fehler, 
and  er  findet  sich  nicht  nur  hier  in  Breslau,  dafs  gut  beanlagte  Knaben  oft 
infolge  der  Schmeicheleien  ihrer  Mütter  für  die  Wissenschaft  verloren  gehen.' 

Die  Kost  der  Knaben  bestand  aus  dem  Morgenimbifs  (ientaculum),  dem 
Spatfrühstück  oder  der  Vormahlzeit  (prandium),  dem  Vesperbrote  (merenda) 
und  der  Hauptmahlzeit  (cena).  Dio  Zeit  und  die  Gerichte  für  die  einzelnen 
Stärkungen  wechselten  natürlich  je  nach  der  Dauer  der  Schulstunden  und  dem 
Vermögen  der  Schüler.  Bei  Vives  (7)  giebt  es  im  Hause  des  Lehrers  zum 
Morgenimbifs  Butterbrot  mit  Früchten,  zum  Spätfrühstück  Brei,  Gemüse  und 
gehacktes  Fleisch,  an  Fasttagen  Rührmilch,  frische  Fische  oder  gesalzene 
Haringe,  zum  Vesperbrote  Mandeln,  Nüsse,  Feigen  oder  Rosinen,  im  Sommer 
Birnen,  Apfel,  Kirschen  oder  Pflaumen.  Bei  der  Hauptmahlzeit  folgen  auf 
klein  geschnittenen  und  mit  Essig  und  öl  angemachten  Salat  gekochte  Hammel- 
kaidaunen mit  Würzelchen  und  getrockneten  Pflaumen  oder  auch  Pasteten.  Als 
Hauptgang  giebt  es  meistens  Kalbsbraten  oder  im  Frühjahr  zuweilen  auch 
einen  vom  jungen  Zickchen.  An  Fasttagen  werden  statt  des  Fleisches  Eier 
gereicht,  die  entweder  einzeln  genommen  oder  in  einer  Pfanne  zum  Kuchen 
▼ermengt  werden.  Den  Kachtisch  bilden  Rettiche,  frische  Käse,  Birnen,  Pfirsiche 
oder  Quitten.  Bei  Huendern  (4)  bekommt  ein  Schüler  zum  Frühstück  frische 
Torte,  ein  anderer  Brot  und  Wildpret.  Bei  Schottennius  giebt  es  zum  Spät- 
frühstück (8)  Brot  mit  Kohl,  Eiern  oder  Häringen,  zur  Merende  (15)  Brot 
mit  Käse  und  Bier.  Corderius  läfst  beim  Vesperbrot  einmal  (H  10)  mageres 
gesalzenes  Rind-  oder  Schweine-  oder  als  etwas  ganz  besonders  Delikates  ge- 
schmortes Bockfleisch  verspeisen,  ein  andermal  (IV  19)  Birnen  und  Käse.  In 
den  Coüocutiones  wird  als  Leckerbissen  colustrum  d.  i.  Biestmilch  gepriesen. 
Oft  wechselten  die  Knaben  ihre  Portionen  untereinander  aus  oder  teilten  sich 


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208    A.  Börner:  Die  Humanistenschulen  im  Spiegel  der  lateinischen  Schalerdialoge 


gegenseitig  mit.  Dafs  es  dabei  nicht  immer  ohne  Streitigkeiten  abgegangen, 
läfst  sich  denken.  Das  drastischste  Gezanke  fuhrt  uns  Huendern  (4)  vor.  — 
Das  Decken  des  Tisches  bei  den  Hauptmahlzeiten  mufsten  die  Knaben  seibat 
besorgen  (Schott.  10  u.  67;  Heyd.  15;  Viv.  7).  Für  die  Etikette  beim  Essen  gab 
es  besondere  Regeln,  auf  deren  Befolgung  grofses  Gewicht  gelegt  wurde  (Erasm. 
Monitoria  paed.;  Heyd.  16;  Zov.  14).  Am  ausführlichsten  hat  Heyden  dieselben 
aufgezeichnet.    Aus  seinen  Unterweisungen  seien  die  folgenden  hervorgehoben: 

Prirao  ungues  purga        =  Erstlich  raynig  die  nägel! 

Hinc  man us  lava  =  Damach  wasch  die  hend! 

v  Mox  deo  benedicas  =  Alsdann  sprich  das  benedicite! 

Post  decenter  accumbe     =  Daraach  setz  Dich  fein  zflchtig  nider! 

Cibos  carpe  digitis  =  Die  speyfs  greyff  mit  den  fingern  an! 

Ne  condas  vola  —  Nit  fafs  in  die  faust! 

Primus  ne  esto  esu         =  Nit  sey  der  erst  mit  dem  essen! 

Proxima  te  carpe  =»  Nimb  das  nechst  vor  Dir! 

Bibiturus  os  terge  =  Wisch  den  mund,  wann  Du  trincken  wilt! 

Non  manu,  sed  mappula  =  Nit  mit  der  hand,  sondern  mit  dem  tuch! 

Morsa  ne  redintinge        =  Das  gebissen  tuncke  nit  wider  ein! 

Nec  linge  digitos  =  Nit  leck  an  den  fingern! 

Nec  ossa  rodas  =  Nag  auch  kain  bayn! 

Cum  satur  es,  surge        =  Wann  Du  gnug  hast,  so  stee  auff! 

Rursum  lava  manus        =  Wasch  die  händ  wider! 

Mensalia  tolle  =  Heb  das  tischgeret  auff! 

Deo  gratias  age  =  Sag  Gott  dem  Herren  danck! 

Auch  beim  Trinken  wurden  bestimmte  Regeln  beobachtet.  So  pflegte 
man  z.  B.  eifrig  das  Vortrinken  und  sah  genau  darauf,  dafs  mit  demselben 
Quantum  nachgekommen  wurde.  Bei  Murmellius  (61)  versteigt  sich  ein  Knabe, 
der  dem  anderen  'ein  potken  half  vorgetrunken  hat,  als  dieser  sich  weigert, 
ihm  gleichzuthun,  sogar  zu  der  Drohung:  'Nisi  tantumdem  potaris,  hunc  calicem 
tibi  in  os  impingam  =  Het  en  sy  saich,  dat  du  my  gelych  sals  doen,  ich  sal 
dit  cruysken  dich  voer  den  cop  werpenl'  Verbotener  Wirtshausbesuch  lockte 
viele  besonders  an.  Bei  Corderius  (H  30)  ist  Michael  dafür,  dafs  er  einem  Ver- 
führer nicht  zum  unerlaubten  Vergnügen  hat  folgen  wollen,  von  diesem  auf 
einem  einsamen  Wege  überfallen  worden  und  hat  zwei  heftige  Faustschlage  ins 
Gesicht  davongetragen.  Frühstück  und  Mahlzeit  werden  über  das  Kneipen  ver- 
gessen (Barl.  17).  In  Cöln  hatten  die  Knaben  eine  besondere  Schülerkneipe  in  der 
abgelegenen  'platea  ovium',  wohin  so  leicht  kein  Lehrer  kam.  Hier  pflegten 
sie  nach  der  Schule  einzukehren  (Schott.  26  u.  97).  Ein  besonders  Vergnügungs- 
süchtiger schlägt  seinen  Kameraden  sogar  vor,  nach  dem  Beispiele  der  Priester, 
die  sich  jeden  Monat  gegenseitig  zum  Mahle  einlüden,  auch  unter  den  Schülern 
ein  solches  regelmafsiges  convivium  einzuführen,  bei  dem  es  ja  nur  Bier  und 
ein  Stück  Brot  zu  geben  brauche  (Schott.  98  u.  100).  Schöne  Wirtstöchterlein 
haben  damals  schon  ihre  Anziehungskraft  ausgeübt,  freilich  nicht  auf  alle,  z.  B. 
nicht  auf  den  Albinus  bei  Niavis  (U  5),  der,  als  ihn  Esculus  verleiten  will, 


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A.  Börner:  Die  HumaniBtenechulen  im  Spiegel  der  lateinischen  Schülerdialoge  209 


mitzugeben  zu  seiner  Angebeteten,  das  ganze  wankelmütige  Weibergeschlecht 
verwünscht  Neben  den  Wirtshausmadehen  boten  —  nebenbei  bemerkt  —  die 
Schwestern  der  Kameraden  den  Schülern  ein  beliebtes  Verehrungsobjekt:  'Pauli 
soror  adeo  formosa  est,  ut  nihil  supra  —  Pawels  suster  is  so  seer  suverlick, 
dat  dair  nicht  boven  en  sy!'  ruft  bei  Murmellius  (94)  ein  kleiner  Schwärmer 
begeistert  aus.  Wirtshausschulden  waren  bei  den  Knaben  nichts  Ungewohntes. 
Hadrian  bei  Duncanus  (63)  hat  zum  Anmerken  derselben  einen  besonderen 
Apparat,  nämlich  zwei  'taleolae  crenatae  =  ghekerfde  stoexkens'.  Auf  dem 
einen  hat  er  die  Zahl  der  Gläser  Bier  eingekerbt,  die  er  dem  Wirte  das 
Semester  über  schuldig  geblieben  ist,  auf  dem  anderen  die  Anzahl  Brote. 
Den  Kneipgenies  stehen  Übrigens  in  den  Dialogen  fast  immer  solide  Schüler 
gegenüber.  Bei  Murmellias  (49)  warnt  ein  solcher  den  leichtsinnigen  Freund: 
'Cave  tibi,  ne  tantum  potes,  ut  lectum  nostrum  convomas  =  Hoede  dy,  dat 
du  so  yeel  nicht  en  supest,  dat  du  onse  bedde  bekotzest !'  Schottennius  (94)  läfst 
den  Trinker  Helluo  an  das  Wort  des  Thaies  (?)  erinnern:  'Den  ersten  Becher 
für  den  Durst,  den  zweiten  für  die  Fröhlichkeit  den  dritten  für  das  Vergnügen, 
den  vierten  für  die  Unvernunft/  Über  die  Wirkungen  der  einzelnen  Becher  trägt 
bei  demselben  Schottennius  im  22.  der  den  Confabulationes  angehängten  rCon- 
Tivia*  ein  Dichter  folgendes  Kneiplied  im  Tone  der  Vagantenpoesie  vor: 

Dum  vina  bibo,  tristari  non  bene  quibo: 
In  haustu  primo  laetor  sub  pectoris  imo, 
In  cordis  ftmdo  laetor,  dum  bibo  secundo, 
Post  ternum  potum  vinum  mox  fit  mihi  notum, 
Et  potus  quartus  laetum  reddit  atque  facetum, 
Et  potas  quintus  laetam  mentem  facit  intus, 
Dum  bibo  bis  ter,  sum  qualibet  arte  magister, 
Potu  septeno  frons  efficitur  sine  freno, 
Potus  bis  quartus  mihi  sensus  tollit  et  artus, 
Sed  si  plus  bibam,  kannen,  pot,  omnia  frangam, 
üt  corpus  redimam,  rock,  hemmet,  omnia  vendam. 

Das  viele  Kneipen  verschlang  natürlich  eine  nicht  unbeträchtliche  Summe,  und 
vir  sehen  deshalb  die  Trinker  in  ewigen  Geldnöten.  Ein  grofser  Teil  der 
Schüler  war  übrigens  gar  nicht  in  der  Lage,  einen  Heller  für  solche  un- 
erlaubte Genüsse  auszugeben,  konnte  er  sich  doch  nur  mit  gröfster  Mühe  das 
Allernotwendigste  zum  Leben  verschaffen.  Uber  ihre  Armut  stimmen  die 
Knaben  immer  und  immer  wieder  die  traurigsten  Lieder  an.  Zunächst  klagen 
sie  über  die  vielen  Abgaben,  die  sie  zu  leisten  hatten.  Zu  dem  Betrage  für 
Wohnung,  Licht  und  Holz,  von  dem  oben  schon  die  Rede  war,  kam  das  regel- 
mäßige Schulgeld,  das  allerdings  den  Allerbedürftigsten  ganz  oder  zum  Teil 
erlassen  wurde,  und  aufserdem  noch  kleine  Abgaben  an  bestimmten  Festen. 
In  Leipzig  mufste  z.  B.  am  Tage  der  hL  Katharina  dem  Kantor  1  argenteus 
gezahlt  werden,  dazu  erhielt  derselbe  noch  alle  drei  Wochen  einen  nummus 
antiquus  (Hegend.  4).  Kurzum,  dem  Knaben,  der  dieses  erzählt,  kostet  das 
Leben  den  Winter  über  Beine  sechs  Silberlinge.    Eine  eigentümliche  Abgabe 

XtM  Jahrbücher.  18».  II  14 


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210    A.  Börner:  Die  Humatnstenschulen  im  Spiegel  der  lateinischen  Schalerdialoge 

war  die  von  Kirschsteinen,  welche  zerstofsen  und  ins  Bier  geschüttet  wurden, 
um  es  aufzubessern.  Dem  Aegidius,  der  eifrig  solche  Steine  sammelt,  um  sie 
dem  Lehrer  zu  bringen,  giebt  sein  Freund  Bartholomaeus  den  schönen  Rat,  zum 
Aborte  zu  gehen,  wo  er  sie  in  Menge  finden  würde  (Schott.  70).  An  die  Stelle 
der  Kerne  trat  spater  das  sogenannte  Kerngeld.  Geldbriefe  von  den  Eltern 
wurden  schon  mit  derselben  Sehnsucht  erwartet  und  mit  ebensolcher  Freude 
begrüfst,  wie  heute  unter  der  studierenden  Jugend;  im  Notfalle  wurde  auch  schon 
zum  Versetzen  von  Büchern  geschritten  (Cord.  I  29).  Briefe  ohne  Geld  ver- 
achtete man,  da  sie  nur  'podici  tergendo'  nützlich  wären  (Erasmus,  Ad  quid 
litterae  vacuae).  Häufig  brachten  die  Markttage  Rettung  aus  der  Not,  wenn 
Verwandte  oder  Bekannte  der  Eltern  aus  der  Heimat  kamen  und  für  die 
Knaben  etwas  mitzubringen  hatten,  wenn  nicht  Geld,  so  doch  neue  Kleider 
oder  sonst  eine  notwendige  Gabe  (Mos.  1;  Schott.  54;  Cord.  HI  8).  Die  Kleider- 
not war,  zumal  bei  grimmiger  Winterkalte,  oft  gerade  so  grofs,  wie  die  Geldnot 
(Schott.  29;  Cord.  IV  20),  und  mehr  als  einmal  hören  wir  von  den  Schülern, 
dafs  der  traurige  Zustand  ihres  Anzuges  —  oft  mitten  im  Semester  —  sie 
zwinge,  nach  Hause  zurückzukehren  (besonders  Hegend.  1).  — 

Den  armen  Knaben  blieb  nichts  anderes  übrig,  als  sich  aufs  Betteln  zu 
verlegen,  das  infolgedessen  allgemein  gang  und  gäbe  und  sozusagen  organisiert 
war.  Das  Gehen  zu  den  Schwellen  der  Reichen  und  Erbitten  des  Zehnten 
ist  etwas  ganz  Alltägliches  in  den  Dialogen  (Mos.  7,  10  u.  20;  Hegend.  4  u.  9; 
Schott.  45).  Die  sogenannten  'Concentores',  welche  vor  den  Häusern  der  Bürger 
oder  auch  beim  Mahle  eigens  zu  diesem  Zwecke  komponierte  Lieder  vortrugen, 
hatten  für  ihren  Gesang  einen  gewissen  Anspruch  auf  eine  gute  Gabe  (Mos.  18; 
Hegend.  4).  Diejenigen  aber,  welchen  die  Natur  keine  schöne  Stimme  verliehen 
hatte,  waren  übel  daran.  Bartholomaeus  bei  Hegendorffinus  (4)  klagt  darüber, 
dafs  er  oft  bis  8  Uhr  abends  vor  den  Häusern  sitzen  müsse,  um  ein  Stückchen 
ranziges  Fleisch  zu  bekommen.  Man  mufste  eben  auch  das  Betteln  verstehen.  Der 
in  dieser  Branche  besonders  bewanderte  Marcus  belehrt  bei  Hegendorffinus  (9) 
den  ungeschickten  Peter,  wie  er  es  anzufangen  hat:  Wenn  er  ein  grobes  Wort 
zu  hören  bekommt,  darf  er  nicht  gleich  verzagen  und  fortgehen,  sondern  mufs 
immer  stehen  bleiben,  selbst  wenn  man  droht,  ihn  mit  Steinen  wegzutreiben. 
Denn  solche  Drohungen  sind  doch  nicht  ernst  gemeint.  'Wenn  Du  häufig 
wirfst,  wirst  Du  einen  Venuswurf  thun/  Ein  grofser  Freudentag  für  die 
Bettler  war  der  vor  dem  Feste  des  hl.  Marti nus.  Wenn  sie  dann  am  Abend 
von  Haus  zu  Haus  zogen,  erhielten  sie  alles,  was  von  den  Mahlzeiten  übrig 
geblieben  war.  Hieronymus  bei  Schottennius  (40)  hat  sich  an  einem  solchen 
Abende  für  acht  Tage  versorgt,  noch  viel  gröfsoren  Erfolg  aber  erhofft  Konrad 
bei  Mosellanus  (18).  Er  denkt  soviel  zu  erobern,  dafs  er  den  ganzen  Winter 
etwas  davon  hat.  Neben  den  Speiseresten  fielen  nämlich  bei  dieser  Gelegen- 
heit hier  und  da  auch  kleine  Geschenke  ab.  Am  Feste  des  hl.  Blasius  läfst 
Schottennius  (102)  gleichfalls  die  Knaben  herumziehen  und  die  übliche  Gabe 
erbitten:  ein  Stück  Schweinefleisch  und  Weizenbrot  dazu.  Die  Sitte  gründete 
sich  auf  ein  sagenhaftes  Erlebnis  aus  dem  Leben  des  Heiligen.    Diesem  soll 


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A.  Börner:  Die  Humanistenachulen-  im  Spiegel  der  lateinischen  Schülerdialoge  211 

nämlich  eine  arme  Witwe,  der  er  einst  ihr  einziges  Schwein  aus  dem  Rachen 
eines  Wolfes  errettet  hatte,  in  Dankbarkeit  später  wahrend  seiner  Gefangen- 
schaft Schweinefleisch  zur  Erquickung  gebracht  haben,  worauf  er  die  An* 
Weisung  gegeben,  auch  nach  seinem  Tode  sein  Andenken  durch  Wohlthaten 
zu  feiern.  Auch  an  den  Fastnachtstagen,  an  welchen  wegen  des  furchtbaren 
Trubels  (Niav.  Ul  15;  Phil.  2)  der  Unterricht  ausgesetzt  wurde,  Maskieren  aber 
für  die  Schüler  streng  verboten  war  (Mos.  27),  scheinen  die  Gaben  reichlicher 
geflossen  zu  sein,  wenigstens  sehen  wir  bei  Hegendorffinus  (6)  Melchior  vor 
Kastnacht  zum  Markte  eilen  in  der  Absicht,  sich  Töpfe  zu  holen  für  die 
Speisen,  welche  er  zu  bekommen  hofft.  Ostern  pflegten  sich  die  Knaben  an 
die  Bauern  heranzumachen.  Schottennius  (120)  läfet  Buttubata  vor  dem  Feste 
selbst  seine  Schuhe  flicken,  damit  er  in  gewohnter  Weise  aufs  Land  gehen  und 
för  Singen  des  Hymnus  'Christo,  qui  lux*  Eier,  vielleicht  sogar  eine  fette 
Wurst  erobern  kann.  Auch  bei  Mosellanus  (29)  spricht  ein  Knabe  vom  Eier- 
betteln, das  sein  Freund  jedoch  für  ungeziemend  hält.  Aus  der  Dummheit  der 
Bauern  schlugen  die  Schüler,  wo  sie  nur  konnten,  Kapital.  Namentlich  auf 
dem  Markte  bot  sich  dazu  Gelegenheit  Johannes  wendet  z.  B.  folgenden  Kniff 
bei  den  Obstbauern  an:  'Gygis  annulo  utor  vel  alium  mihi  adiungo,  qui  poma 
«4  pira  licitatur,  et  cum  agricolae  in  gremium  mihi  numerarunt,  ego  me  in 
pedem  quantum  possum  proripio'  (Hegend.  3).  Cyrillus  betrügt  eine  Butter- 
frau, die  nicht  gut  sehen  kann,  um  einen  Obolus  und  erhält  für  seine  Geschick- 
lichkeit von  seinem  Freunde  Pamphilus  ein  besonderes  Lob  (Corv.  5).  Cirratus 
versucht  sogar,  eine  Obstfrau  zu  bestehlen  (Viv.  4).  —  Von  einem  eigentüm- 
lichen Gebrauche  am  Gründonnerstage  hören  wir  bei  SchottenniuB  (58):  Im 
Kloster  des  hl.  Antonius  steht  es  an  diesem  Tage  bei  der  Fufswaschung  jedem 
frei,  zwei  Kuchen  mit  nach  Hause  zu  nehmen.  Von  einem  dürfen  jedesmal 
zwei  gleich  essen  zur  Anregung  des  Durstes,  den  sie  mit  drei  Bechern  Wein 
stillen  können.  So  fand  man  um  Ostern  Gelegenheit,  sich  zu  entschädigen  für  die 
Entbehrungen  der  langen  Fastenzeit  (Mos.  17  u.  23;  Schott.  36/7  u.  58).  Da 
nicht  nur  wahrend  der  vierzigtägigen  Dauer  derselben,  sondern  dazu  auch  noch 
an  manchem  anderen  Tage  des  Jahres,  z.  B.  vor  dem  Feste  der  hl.  Katharina, 
der  Patronin  der  Studierenden  (Mos.  19),  gefastet  werden  mufste,  verstehen  wir 
es,  wenn  ein  Knabe  bei  Mosellanus  (23)  diejenigen  verwünscht,  die  das  Fasten 
eingeführt  und  dabei  vergessen  hätten,  dafs  nicht  alle  in  der  Lage  wären,  so 
gut  zu  frühstücken  wie  sie.  Man  könnte  sich  dazu  auch  noch  auf  einen  Aus- 
spruch des  hl.  Hieronymus  berufen,  dafs  in  den  Jugendjahren  das  Fasten  noch 
nicht  angebracht  wäre  (Mos.  ebendas.). 

Eine  Fleischverteilung  mitsamt  einem  Freibade,  welche  ein  Reicher  einmal 
(Mos.  12)  den  Schülern  in  Aussicht  stellt,  wird  wohl  eine  aufsergewöhnliche 
Wohlthat  gewesen  sein.  Bei  Erwähnung  des  Bades  möge  gleich  hier  bemerkt 
»in,  dafs  im  Sommer  den  Schülern  das  Baden  im  fliefsenden  Wasser  strengstens 
verboten  war  (Hegend.  2).  Hortena  wird  wegen  Übertretung  dieses  Verbotes  bis 
tum  Biutvergiefsen  geprügelt  (Niav.  I  7).  Ja  sogar  einem  Ertrunkenen  bleiben 
die  Schläge  nicht  erspart.    Der  Lehrer  straft  den  toten  Körper,  damit  die  Seele 


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212    A.  Börner:  Die  Humanistenschulen  im  Spiegel  der  lateinischen  Schülerdialoge 

Ruhe  habe.  So  Niavis  (II  10).  Zu  seinem  Berichte  pafst  der  des  Winmannus  (15), 
dafs  in  Breslau  einmal  ein  Schüler  bei  einem  verbotenen  Bade  in  der  Oder  er- 
trunken und  der  Leichnam  dann  in  die  Schule  gebracht  und  vom  Lehrer  der- 
artig hergenommen  wäre,  dafs  er  vor  Schmerz  fast  hatte  wieder  aufleben  müsse n. 
Publius,  der  in  der  Bule  gebadet  hat,  ist  mit  dem  Verluste  seiner  Stiefeln  davon- 
gekommen (Winm.  ebendas.). 

Das  Baden,  welches  so  viele  Unglücksfalle  mit  sich  brachte,  zu  verbieten, 
war  jedenfalls  recht  wohlgemeint  von  den  Lehrern.  Dafür  verschafften  sie 
ihren  Schülern  andere  Erholungen  von  den  geistigen  Arbeiten  in  Fülle. 
Gerade  in  dieser  Beziehung  bezeichnen  die  Humanistenschulen  einen  besonders 
segensreichen  Fortschritt  gegenüber  den  mittelalterlichen.  Das  Mittelalter 
kannte  noch  keine  längeren  Ferien,  und  nunmehr  welcher  Jubel  der  Knaben 
über  die  bevorstehenden  Ruhetage  in  unseren  Dialogen!  Bei  Duncanus  (35/7) 
ist  alles  in  freudiger  Aufregung;  Schule,  Spielhaus  und  Bibliothek  sind  wie  aus- 
gestorben; jeder  ist  mit  dem  Einpacken  seiner  Sachen  beschäftigt.  Ulrich  bei 
Schottennius  (93)  zählt  an  den  Fingern  die  Tage  ab  bis  zum  Feste  des  hl.  Bar 
tholomaeus,  dem  Schlüsse  der  Schule  (24.  Aug.).  Nebenbei  erklärt  er  seinem 
Kameraden  Lucius,  weshalb  man  sich  am  letzten  Schultage  gegenseitig  mit  den 
Büchern  auf  den  Kopf  klopfe.  Lucius  hatte  geglaubt,  dem  Gehirn  würde  auf 
diese  Weise  Wissen  eingetrichtert.  Der  Gebrauch  soll  aber  von  den  Komödien 
herübergenommen  sein,  an  deren  Schlüsse  mit  den  Händen  geklatscht  wurde. 
Weihnachten  giebt  es  bei  Schottennius  (35)  abermals  Ferien,  vom  Tage  vor 
Thomas  (21.  Dez.)  bis  zum  Tage  nach  Neujahr.  Während  dieser  Zeit  brauchten 
die  Knaben,  welche  am  Orte  blieben,  nur  an  den  Festtagen  in  der  Kirche  zu 
singen.  Eine  Hauptfreude  in  den  Herbstferien  war  für  die  Schüler,  welche  in 
günstigen  Gegenden  wohnten,  die  Weinlese  (Mos.  8;  Hegend.  3;  Cord.  H  14/5  u.  47. 
IV  24).  An  der  letztcitierten  Steile  berichtet  ein  Knabe,  dafs  der  Wein  bei 
ihnen  zu  Hause  so  gut  geraten  wäre,  dafs  die  Bauern  ihn  wie  Wasser  tränken 
und  gar  nicht  aus  dem  Rausche  kämen.  Für  jugendliche  Magen  wird  übrigens 
Vorsicht  im  Essen  von  Trauben  empfohlen,  weil  schon  viele  nach  übenniifsigeni 
Genüsse  nachts  das  Bett  besudelt  hätten  oder  die  Stiefeln  zu  Hilfe  zu  nehmen 
gezwungen  gewesen  wären  (Schott.  69).  Neben  der  Traubenlese  besafs  der 
Vogel-  und  Fischfang  für  die  Schüler  eine  besondere  Anziehungskraft. 

Zu  den  grofsen  Ferien  kamen  als  Erholungszeit  freie  Nachmittage,  nnd 
zwar  neben  den  regelmäfsigen  in  jeder  Woche  —  bei  Mosellanus  (11):  Mitt- 
woch, bei  Zovitius  (2):  Donnerstag  —  noch  solche  bei  aufserge wohnlichen  Ge- 
legenheiten, z.  B.  an  Markttagen  (Cord.  IV  35),  am  Gregoriustage  (s.  oben)  u.  s.  w. 
Diese  kleinen  Freiheiten  wurden  mit  Vorliebe  zum  Spiele  benutzt.  Wir  sind 
in  neuerer  Zeit  durch  eine  besondere  Schrift1)  darüber  belehrt  worden,  wie 
grofses  Gewicht  von  den  Humanisten,  zunächst  den  italienischen,  auf  Leibes- 
übungen gelegt  wurde.  Diesem  Prinzipe  entsprach  die  eifrige  Pflege  der  Spiele, 


*)  W.  Krampe,  Die  italienischen  Humanisten  nnd  ihre  Wirksamkeit  für  die  Wieder- 
belebung gymnastischer  Pädagogik.   Breslau  1896. 


A.  Börner:  Die  Hi 


im  Spiegel  der  lateinischen  Schalerdialoge  213 


welche  der  körperlichen  Ausbildung  dienten.  Auch  während  des  Mittelalters  war 
auf  Strafsen  und  Märkten  gelaufen,  gesprungen,  der  Ball  geworfen,  der  Speer 
geschleudert  worden,  aber  in  ihre  Schulen  hatte  die  Kirche  den  gymnastischen 
Übungen  keinen  Eingang  gestattet.  In  dieser  Beziehung  eine  durchgreifende 
Änderung  geschaffen  zu  haben,  ist,  wie  schon  angedeutet,  eines  der  gröfsten 
Verdienste  der  Schulmänner  des  Humanismus.  Kaum  einer  von  ihnen,  der  ein 
theoretisches  Handbuch  der  Pädagogik  geschrieben,  verfehlt  es,  dem  Spiele  die 
wärmste  Empfehlung  angedeihen  zu  lassen.  Die  besten  Lehrmeister  auf  diesem 
Gebiete  waren  die  Griechen  mit  ihrer  reich  entwickelten  Gymnastik.  Viele 
Spiele  wurden  von  ihnen  einfach  herübergenommen,  andere  durch  Variation 
oder  selbständig  neu  geschaffen.  Dafs  auch  bei  diesen  Erholungen  die  Corycäer 
ihres  Amtes  zu  walten  hatten,  haben  wir  oben  bereits  gehört.  Die  Aufzählung 
der  beliebtesten  Spiele  möge  mit  den  sogenannten  Turnspielen  begonnen 
sein.  Eine  ganze  Anzahl  derselben  beschreibt  der  gefeierte  Philologe  Joachim 
Camerarius  der  Ältere  (1500 — 1574)  in  seinem  'Dialogus  de  gymnasiis',  der 
zunächst  zusammen  mit  des  Camerarius  'Praecepta  morum  ac  vitae'  (1541  u.  ö.) 
and  später  auch  in  mehreren  Ausgaben  der  Colloquia  des  Corderius  als  Anhang 
abgedruckt  worden  ist.  Der  Inhalt  dieses  bemerkenswerten  Gespräches  ist  kurz 
folgender:  Ein  Fremder  halt  einem  Schüler  vor,  dafs  in  ihren  Schulen  nicht 
mehr  die  notwendige  Sorge  auf  die  Ausbildung  des  Körpers  verwendet  würde, 
während  im  Altertum  und  auch  noch  bei  den  alten  Germanen  die  körperlichen 
Übungen  sich  eifriger  Pflege  erfreut  hätten.  Der  Knabe  kann  jedoch  stolz 
erwidern,  dafs  sein  Lehrer  in  löblicher  Weise  zu  dem  alten  Brauche  zurück- 
gekehrt sei.  Er  sorge  immer  dafür,  dafs  sie,  besonders  vor  dem  Essen,  die 
nötige  körperliche  Bewegung  hätten.  Zwar  stände  ihnen  keine  palaestra  und 
arena  zur  Verfügung,  aber  es  gäbe  eine  ganze  Reihe  von  Spielen,  die  sich  auch 
auf  dem  Schulboden  ausführen  liefsen.  Wir  ergreifen,  erzählt  er,  aufgespannte 
Seile  oder  eine  in  Balken  eingelassene  Stange  und  halten  uns  daran,  solange 
wir  können,  oder  wir  versuchen,  an  einem  herabhängenden  Seile,  das  wir  mit 
den  Füfsen  umklammern,  hoch  zu  klettern.  Ein  anderes  Mal  stellt  sich  einer 
hin  und  streckt  seine  Arme  auseinander  oder  prefst  sie  gegen  die  Brust,  und 
ein  zweiter  mufs  sie  mit  Gewalt  beugen  oder  strecken.  Dabei  wird  ein  Raum 
abgegrenzt,  der  nicht  überschritten  werden  darf.  Ferner:  Einer  fafst  den 
andern  mitten  um,  und  dieser  mufs  versuchen,  sich  frei  zu  machen.  Oder: 
Einer  ballt  die  Faust,  und  der  andere  hat  sie  zu  öffnen.  Oder:  Einer  mufs 
sich  bemühen,  den  andern  über  eine  auf  den  Boden  gezeichnete  Linie  zu 
ziehen.  Wir  pflegen  auch  wohl,  berichtet  der  Schüler  weiter,  ein  nicht  allzu 
schweres  Gewicht  möglichst  weit  her  aufzuheben  oder  möglichst  weit  hin  nieder- 
zulegen. Aufserdem  spielen  wir  'caecus  musculus'  —  unser  Blinde  Kuh  — , 
indem  einer  in  der  Mitte  eines  Kreises  mit  verbundenen  Augen  die  ihn  um- 
tanzenden und  zerrenden  Genossen  zu  greifen  sucht.  Es  hält  auch  wohl  einer 
die  Hände  auf  dem  Rücken  zusammen,  ein  anderer  kniet  hinein,  und  der  erste 
trägt  den  zweiten  zu  einem  bestimmten  Ziele.  Oder  wir  spielen  mit  Kügelchen, 
indem  der  eine  die  des  andern  zu  treffen  oder  die  seinen  in  Grübchen  (die  eine 


214    A.  Börner:  Die  Hnmanistenschulen  im  Spiegel  der  lateinischen  Sehülerdialoge 


bestimmte  Sirecke  voneinander  entfernt  sind)  hineinzutreiben  sucht.  Es  kommt 
dabei  auf  eine  sichere  Hand  an.    Dasselbe  Spiel  spielen  wir  auch  mit  ehernen 
Münzen.    Kennst  Du  ferner,  fragt  der  Schüler  den  Fremden,  die  Bogenannten 
'vaccae  latebrae',  von  den  Alten  'diffugium'  genannt?    Einer  bleibt  dabei  mit 
geschlossenen  Augen  an  einem  bestimmten  Male  stehen,  bis  die  andern  sich 
versteckt  haben.  Nachdem  er  dreimal  'Ich  komme!'  gerufen,  darf  er  die  Augen 
öffnen  und  mufs  nun  die  Kameraden  suchen.    Sieht  er  einen,  so  lauft  er  auf 
seinen  Platz  zurück,  ruft  'Gefunden!'  und  giebt  an,  wen  und  wo.    An  dem 
betreffenden  ist  dann  die  Reihe  des  Suchens.    Glückt  es  aber  einem  der  Ver- 
steckten, entweder  unbemerkt  oder  schneller,  als  der  Suchende,  zum  Male  zu 
gelangen,  so  hat  dieser  noch  einmal  seine  Rolle  zu  übernehmen.  Endlich  giebt 
es  noch  folgendes  Spiel:  Wir  teilen  uns  in  zwei  Parteien.    Durchs  Los  wird 
einer  bestimmt,  der  eine  Scheibe  bewegen  mufs.    Dieselbe  ist  auf  der  einen 
Seite  schwarz,  auf  der  andern  weifs.   Jeder  Partei  gehört  eine  Seite.    Der  Be- 
wegende ruft  'Tag  oder  Nacht!'    Die  Partei,  deren  Farbe  dann  oben  zu  lieger. 
kommt,  mufs  laufen,  die  andere  folgt  ihr,  und  wer  zuerst  gefangen  wird,  heilst 
'asinus',  und  an  ihm  ist  die  Reihe,  die  Scheibe  zu  drehen.    Der  Fremde  be- 
fürchtet, dafs  bei  solchen  Spielen  auch  mancher  Unfall,  manche  Verletzung 
vorkommen  würde.    Der  Schüler  halt  das  jedoch  für  ganz  heilsam  zum  Er- 
lernen von  Ausdauer,  besonders  den  Schlagen  des  Lehrers  gegenüber.  —  Neben 
dieser  zusammenfassenden  Darstellung  bei  Camerarius  finden  sich  zerstreute 
Nachrichten  über  ein  oder  anderes  Spiel  wohl  in  jeder  der  Dialogsammlungen, 
ein  neuer  Beweis  dafür,  welch  grofses  Gewicht  auf  den  Gegenstand  gelegt 
wurde.    Um  zunächst  die  noch  nicht  erwähnten  gymnastischen  Übungen  im 
engeren  Sinne  anzureihen,  finden  wir  den  von  Vergil  (Aen.  V  291)  empfohlenen 
Wettlauf  (Erasm.,  De  lusu  4;  Schott.  50)  und  den  Sprung  (Schott.  49)  mit 
Eifer  gepflegt.   Bei  letzterem  unterschied  man  den  Heuschrecken-  oder  Frosch- 
sprung mit  beiden  Beinen,  aber  geschlossenen  Füfsen  (Erasm.  a.  a.  0.;  Barl. 
1524,  6),  dann  den  Sprung  auf  einem  Beine  (Erasm.  a.  a.  0.)  und  endlich  den 
an  einem  Stabe  (Erasm.  a.  a.  0.).    Im  Winter  bot  das  Schlittschuhlaufen  und 
das  'glibberen,  slibberen,  glyen'  auf  dem  Eise  eine  hübsche  Abwechselung 
(Dune.  4/8).  Ein  eigentümliches  Plänklerspiel  (Lusus  velitaris)  beschreibt  Petrus 
Apherdianus,  Lehrer  im  Hause  der  Brüder  des  gemeinsamen  Lebens  zu  Hardewick, 
in  einem  vereinzelten  Dialoge,  den  er  seinem  1545  erschienenen  'Tirocinium 
Latinae  linguae'  einfügte.    Nachdem  die  Knaben  in  zwei  Parteien  eingeteilt 
sind  und  jeder  ein  Lager  und  ein  Gefängnis  zugewiesen  ist,  verkündet  einer 
der  Mitspielenden  folgende  Gesetze: 

1)  Im  Lager  ist  jeder  vor  dem  Feinde  sicher  sowohl  vor  dem  Auslaufen 
als  nach  demselben. 

2)  Wer  das  Lager  verlassen,  um  den  Feind  herauszufordern,  mufs  sich, 
wenn  er  von  einem  Gegner  mit  der  Hand  berührt  wird,  als  Gefangener  in  das 
Gefängnis  desselben  abführen  lassen.  Dort  hat  er  solange  zu  bleiben,  bis  es 
seinen  Genossen  gelungen  ist,  seine  ausgestreckte  Hand  oder  irgend  einen  andern 
Teil  seines  Körpers  zu  fassen.  Dann  darf  er  frei  zu  denselben  zurückkehren. 


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A.  Bdiner:  Die  Humanistcnschulen  im  Spiegel  der  lateinischen  Schalerdialoge  215 


3)  Der  eine  darf  den  andern  nur  gefangen  nehmen,  falls  dieser  vor  ihm 
das  Lager  verlassen  hat. 

4)  Falls  eine  Partei  während  des  Auslaufens  ihr  Lager  leer  läfst,  darf 
der  Gegner  es  erobern  und  alle  Feinde,  wenn  sie  zurückkehren,  zu  Gefangenen 
machen.  Wenn  das  der  Fall  gewesen,  ist  das  Spiel  beendet,  und  die  Besiegten 
müssen  ihre  Strafe  zahlen. 

Wohl  der  gröfsten  Beliebtheit  unter  allen  Spielen  erfreuten  sich  die  Ball- 
spiele. Die  verbreitetste  Methode  war  die  alte  ixüxvQog,  t<pt}ßixtf,  dxi'xotvos 
der  Griechen,  bei  der  es  galt,  den  von  der  feindlichen  Partei  geworfenen  Ball 
zurückzutreiben  (Erasm.,  De  lusu  1;  Zov.  7).  Eine  andere  gleichfalls  gern  ge- 
spielte Art  war  die  folgende:  Jeder  der  Mitspielenden  grabt  sich  eine  Grube 
in  den  Boden.  Der  Ball  wird  gerollt,  und  in  wessen  Grube  er  fallt,  der  greift 
ihn  und  sucht  die  anderen,  welche  fortlaufen,  zu  treffen  (Schott.  46).  Wer  ge- 
troffen wird,  'habet  puerum'.  Wenn  er  eine  Anzahl  solcher  pueri  hat,  mufs 
er  sich  als  Scheibe  für  die  anderen  hinstellen,  und  es  ist  für  diese  natürlich 
ein  besonderer  Spafs,  ihn  ganz  gehörig  zu  treffen  (Niav.  I  5).  Ein  Keulen- 
ballspiel  läfst  Zovitius  (11)  veranstalten.  Entweder  werden  bei  demselben  auch 
mehrere  Gruben  gemacht,  und  es  gilt,  den  Ball  von  einer  bestimmten  Linie 
aas  mit  der  Keule  in  dieselben  hineinzubringen,  oder  der  Ball  mufs  von  einer 
Grabe  aus  so  vor  eine  Mauer  getrieben  werden,  dafs  er  in  die  Grube  zurück- 
lauft. Bei  Vives  (22)  stofsen  wir  auf  unser  Modespiel  (Lawn  Tennis',  dessen 
Heimat  bekanntlich  Frankreich  und  Italien  waren.  Dort  hiefs  es  'Longe  paume', 
hier  Tallone  giuco  de  la  corda*.  Bei  Vives  hat  Scintilla  das  Spiel  in  Paris 
gesehen.  Er  erzählt  darüber:  Die  Bälle  sind  kleiner  und  härter  als  die  ge- 
wöhnlichen. Sie  sind  nicht  von  Gummi,  sondern  von  Leder,  und  nicht  mit 
Wolle,  sondern  mit  Hundehaaren  ausgefüllt.  Der  Lehrer  liefert  besondere 
Schuhe  und  Hüte.  Die  Schuhe  sind  gefüttert,  die  Hüte,  je  nach  der  Jahreszeit 
leichter  oder  schwerer,  werden  durch  ein  Band  unter  dem  Kinn  festgehalten, 
so  dafs  sie  beim  Hin-  und  Herspringen  nicht  vom  Kopfe  fallen  können. 
Zwischen  den  beiden  Parteien  wird  ein  Seil  ausgespannt.  Wer  unter  dem- 
selben herwirft,  hat  einen  Fehler  gemacht.  Die  Bälle  werden  nicht  mit  der 
Hand,  sondern  mit  Netzen  aus  festen  Saiten  geschlagen  und  entweder  im  Fluge 
oder  nach  dem  ersten  Auffallen  zurückgetrieben.  Es  giebt  zwei  Zeichen  oder, 
wenn  man  will,  Ziele,  und  jedesmal  die  Zahlen:  15  ,  30,  45  oder  Vorteil, 
Weichheit  und  Sieg,  der  zweifacher  Art  sein  kann,  indem  es  entweder  heifst 
'Wir  haben  ein  Zeichen  gewonnen*  oder  'Wir  haben  das  Spiel  gewonnen'.  — 
Wiederholt  begegnet  uns  der  'Lusus  sphaerae  per  annulum  ferreum'  (Erasm., 
De  lusu  3;  Schott.  48;  Zov.  8;  Dune.  12  u.  14).  Als  'sphaera'  konnte  man  ent- 
weder einen  Ball  benutzen  oder  Kügelchen.  Im  ersteren  Falle  wurde  der 
eiserne  Ring  aufgehängt  und  der  Ball  hindurchgeworfen,  wie  es  auch  Aeneas 
Sylvins  1438  auf  den  grünen  Rasenplätzen  vor  Basel  sah.  Wollte  man  aber 
Kügelchen  verwenden,  so  steckte  man  den  Ring  so  in  die  Erde,  dafs  ein  Halb- 
bogen heraussah. 

Das  Spiel  mit  Kügelchen  oder  Knickern,  wie  wir  sie  nennen  —  in  Cöln 


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216    A.  Börner:  Die  & 


im  Spiegel  der  lateinischen  Schülerdialoge 


hiefsen  sie  'ornnia'  (Schott.  47)  — ,  ermöglichte  auch  zahlreiche  Variationen. 
Die  beiden  Hauptspielarten  fanden  wir  bei  Gamerarius  bereits  erwähnt  (vgL 
dazu  Niav.  I  5;  Schott.  47).  Eine  andere  Methode  war  folgende:  Einer  nimmt 
zwei  Kugeln,  läfst  sich  von  dem  Mitspielenden  ebensoviel  geben  und  wirft 
dann  die  Kugeln  zusammen  auf  eine  Grube  zu.  Falls  eine  Paarzahl  hinein- 
fällt, hat  er  gewonnen,  sonst  der  Gegner  (Niav.  I  5).  Statt  der  Kügelchen 
wurden  bei  diesem  Spiele  auch  wohl  Nüsse  verwendet  (Dune.  47). 

Die  Anfange  unseres  Kegeln s  begegnen  uns  bei  Barlandus  (3).  Es  wird 
dort  nach  aufgestellten  Holzern  geworfen.  Trifft  man  den  'König*  oder  diesen 
und  seine  beiden  Nachbarn,  so  wird  das  besonders  vermerkt.  An  einer  anderen 
Stelle  bei  Barlandus  (40)  wird  nur  ein  einzelner  Klotz  als  Ziel  hingestellt. 

Beim  Kreiselspiel  konnte  sich  jeder  allein  vergnügen,  man  veranstaltete 
aber  auch  Wettkämpfe,  bei  denen  es  darauf  ankam,  den  Kreisel  möglichst  lange 
in  Bewegung  zu  halten.  Den  Preis  bildet  bei  Huendern  (4)  einmal  ein  Kreisel, 
ein  andermal  eine  Aalhaut,  deren  man  sich  als  Geiüsel  zum  Treiben  des  Kreisels 
bediente.  Dafs  er  in  der  Kirche  nicht  spielen  durfte,  hatte  Petrellus  in  den 
Gollocutiones  natürlich  wissen  müssen,  und  es  geschah  ihm  deshalb  ganz  recht, 
wenn  einer  von  den  Kirchenhütern  ihn  abfafste  und  verprügelte,  dafs  er  kaum 
mehr  gehen  konnte. 

Was  die  Preise  dieser  Spiele  im  allgemeinen  angeht,  so  war  das  Spielen 
um  Geld  zwar  meistens  für  die  Schüler  verpönt,  aber  man  scheint  es  nicht 
besonders  streng  mit  diesem  Verbote  genommen  zu  haben.  Bei  Barlandus  (40) 
soll  der  Lehrer  sogar  mittrinken  von  den  Sextarien  Wein,  welche  die  ver- 
lierende Partei  zu  zahlen  hat.  Schottennius  (50)  lafst  den  Besiegten  zwei 
Mafs  Bier  zum  Besten  geben.  Bei  Erasmus  wird  an  einer  Stelle  (De  lusu  1) 
um  Geld  gespielt,  an  einer  anderen  (ebend.  2)  um  die  Ehre  der  Nationen. 
Adolf  ist  Franzose,  Bernhard  Deutscher.  Der  Unterliegende  mnfs  das  Vater- 
land seines  Gegners  hochleben  lassen.  Adolf  verliert  und  ruft  dreimal:  Floreat 
Germania!  An  einer  dritten  Stelle  (ebend.  3)  mufs  der  Besiegte  ex  tempore 
ein  Distichon  auf  den  Sieger  machen  und  hersagen. 

Wer  beim  Spiele  beginnen  durfte,  machte  man  gerne  mit  einem  Messer 
aus.  Jeder  wählte  eine  Seite  desselben,  der  eine  die  mit  dem  Zeichen  des 
Schmiedes,  der  zweite  die  andere.  Dann  wurde  das  Messer  in  die  Höhe  ge- 
worfen, und  wessen  Seite  nach  oben  zu  liegen  kam,  der  hatte  das  Hecht,  den 
Anfang  zu  machen  (Schott.  48). 

Kartenspiel  war  den  Schülern  an  den  meisten  Orten  verboten,  gleich- 
wohl dürfen  wir  annehmen,  dafs  die  Vier,  welche  Vives  (21)  den  'Triumphns 
Hispanicus'  spielen  lafst,  Schüler  sind,  da  auch  an  einer  anderen  Stelle  bei 
ihm  (6)  ein  aus  der  Schule  zurückgekehrter  Knabe  sich  mit  seinen  Geschwistern 
am  Kartenspiel  erfreut.  Einen  besonderen  Dialog  über  einen  'Ludus  chartarum', 
der  späteren  Ausgaben  von  Barlandus  angehängt  wurde,  schrieb  der  Holländer 
Augustinus  Reymarus.  Eine  der  vier  Farben  wird  als  die  beste  bezeichnet 
Innerhalb  der  Farben  folgen  sich  die  Karten  also  an  Wert:  das  As  gilt  11, 
die  Zehn  10,  der  König  3,  die  Königin  2,  der  Bube  (pedissequus)  1.  Wer  die 


A.  Börner:  Die  Humanistenachulen  im  Spiegel  der  lateinischen  Schülerdialoge  217 


höchste  Karte  hat,  spielt  jedesmal  auf.  *Unus  et  trigesimus  numerus  ludum 
absolvito!'    Der  Sieger  erhält  ein  Blatt  Papier,  25  Wallnüsse  und  6  Äpfel. 

Mit  der  Erlaubtheit  des  Würfelspiels  stand  es  ähnlich,  wie  mit  der  des 
Kartenspiels.  Bei  Schottennius  (44)  wird  es  unpassend  für  Schüler  genannt, 
aber  Zovitius  (9)  läfst  es  sogar  in  drei  Variationen  pflegen.  Das  erste  Mal 
werden  vier  Knöchel  aufeinander  gesetzt  und  nach  diesen  von  einem  bestimmten 
Punkte  aus  mit  einem  besonderen  Wurfknöchel  geworfen.  Die  dabei  zu  Falle 
gebrachten  waren  gewonnen.  Das  zweite  Mal  setzt  jeder  zehn  Würfel  Der 
letzte,  der  *Bäcker*  (pistor),  wird  oben  auf  dieselben  gelegt.  Wer  diesen  trifft, 
hat  den  ersten  Wurf.  Die  Pointe  ist  dieselbe,  wie  vorhin.  Bei  der  dritten 
Spielart,  dem  'twaelfaeten*  (duodecempedes),  gilt  es,  soviel  wir  aus  den  Reden 
der  Spielenden  ersehen  können,  die  aufgesetzten  Würfel  möglichst  weit  fort- 
zuschleudern.   Der  Sieger  bringt  es  auf  elf  Fufs. 

Der  auch  bei  Zovitius  (13)  beschriebene  'lusus  novem  scruporum'  erinnert 
an  das  Belagerungsspiel  (ludus  latrunculorum)  der  Alten. 

Unter  den  Spielen,  welche  den  Geist  beschäftigten,  waren  von  alters  her 
die  Rätsel  beliebt.  Mit  Scherzfragen  einer  stellenweise  für  Schüler  nicht  be- 
sonders passenden  Art  beschäftigen  sich  zwei  Knaben  bei  Duncanus  (51).  Da 
heilst  es  z.  B.:  Ubi  cunetae  mulieres  sunt  bonae?  Antwort:  Ubi  plurimas  est 
invenire  quidem,  sed  nullas  inalas.  —  Quid  bene  facit  mulier  mala?  Antwort: 
Quod  moritur  et  mundum  peste  liberat.  —  Ubi  nullae  sunt  mulieres  malae? 
Antwort:  In  coelo.  Heimstätten  solcher  Unterhaltung  müssen  damal«  schon 
die  Spinnstuben  gewesen  sein,  denn  als  bei  Niavis  (H  5)  einmal  die  Rede  auf 
Rätsel  kommt,  erzählt  Albinus,  dafs  er  in  diesen  eben  von  den  Spinnstuben 
seiner  Heimat  her  grofse  Erfahrung  habe.  Er  führt  seinen  Bericht  also  aus: 
Im  Winter,  wenns  dunkel  wird,  kommen  die  Mädchen  und  jungen  Frauen  nach 
gethaner  Arbeit  zum  Spinnen  zusammen,  und  dann  kann  man  Rätsel  über 
Rätsel  hören.  Die  eine  giebt  auf,  die  andere  löst.  Und  wenn  diese  hin  und 
her  rät  und  sich  ungeschickt  anstellt,  dann  giebt  es  ein  allgemeines  Gelächter, 
und  das  Anhören  macht  ein  solches  Vergnügen,  dafs  man  sich  keine  schönere 
Erholung  für  den  Geist  denken  kann. 

Neben  den  Rätseln  im  gewöhnlichen  Sinne  des  Wortes  wurde  auch  das 
einfachere  Ausraten  gepflegt  Man  nahm  ein  paar  Nüsse,  Kirschsteine, 
Kügelchen,  Nadeln  oder  was  man  gerade  zur  Hand  hatte,  und  liefs  die  An- 
zahl raten,  ob  Gerad  oder  Ungerad  (Schott.  70),  oder  man  legte  zwei  Nadeln 
nebeneinander  und  fragte,  ob  sie  gleich  lägen,  d.  h.  die  beiden  Köpfe  zusammen, 
oder  ungleich,  d.  h.  Kopf  neben  Spitze  (Zov.  12). 

Als  ein  Mittel  zur  Stärkung  des  Geistes  wurde,  nebenbei  bemerkt,  auch 
das  Waschen  des  Kopfes  angesehen,  das  ein  Knabe  bei  Mosellanus  (17) 
etwa  sechsmal  im  Jahre  vornehmen  läfst.  Ein  Pendant  zu  dieser  Anschauung 
bildet  eine  Stelle  im  7.  Kapitel  des  Enchiridion  scholasticorum  von  Murmellius, 
wo  es  heifst,  dafs  häufiges  Kämmen  der  Haare  von  wohlthätigem  Einflufs  auf 
das  Gedächtnis  sei.  Ob  die  genannten  Mittel  wirklich  etwas  für  sich  haben, 
vermag  ich  nicht  zu  entscheiden. 


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218    A.  Börner:  Die 


im  Spiegel  der  lateinischen  Schülerdialoge 


Gröfsere  Spiele  brachten  gewisse  Festtage  des  JahreB  mit  sich.  Am  ver- 
breitetsten  und  beliebtesten  unter  diesen  war  schon  während  des  Mittelalters 
das  Bischofsspiel  am  Tage  des  hl.  Nikolaus.  In  den  Dialogen  begegnet  es 
uns  an  zwei  Stellen,  bei  Mosellanus  (21)  und  bei  Schottennius  (33).  Bei 
Mosellanus  erzählt  Statius  den  Hergang,  wie  er  in  seiner  Heimat  üblich  ist, 
folgendermafBen:  Die  Schüler  wählen  dort  am  Nikolaustage  nach  der  Vorschrift 
des  Rektors  einen  aus  ihrer  Mitte  zum  Bischof  und  geleiten  ihn  in  grofeem 
Aufzuge  zu  seiner  Wohnung  und  nach  bestimmter  Zeit  zur  Kirche  zurück. 
Auf  die  Frage  Lucans,  was  für  einen  Vorteil  der  Erwählte  von  seiner  Würde 
habe,  erwidert  Statius,  davon  wisse  er  nur  soviel,  dafs  er  bei  einem  Mahle  — 
auf  wessen  Kosten,  könne  er  nicht  sagen  —  festlich  bewirtet  würde.  Lucan 
interessiert  es  besonders,  ob  der  Bischof  während  seiner  Amtszeit  auch  vom 
Lernen  dispensiert  wäre  oder  ob  er  gegebenenfalls  ebensogut  wie  seine  Kameraden 
die  Rute  zu  fühlen  bekäme.  Als  Statius  die  letzte  Frage  mit  'Ja'  beantwortet 
und  bemerkt,  die  Würde  habe  gerade  so  viel  auf  sich,  als  wenn  einer  in  der 
Tragödie  den  König  Agamemnon  oder  Priamus  darstellte,  gesteht  Lucan,  dafs 
es  ihn  dann  nach  einer  solchen  Ehre  nicht  gelüstete.  Auch  bei  Schottennius 
legen  die  Knaben  kein  besonderes  Gewicht  auf  die  Auszeichnung,  da  sie  nichts 
einbringe.  Der  eine  baut  allerdings  darauf,  dafs  das  Glück  in  der  Jugend 
eine  Vorbedeutung  für  das  spätere  Leben  sei,  wie  es  das  Beispiel  Piatos  zeige, 
dem  die  Bienen,  als  er  in  den  Windeln  gelegen,  Honig  auf  die  Lippen  getrager 
hätten.  Das  Spiel,  welches  nach  Zeit  und  Ort  vielfach  variiert  wurde,  hat  sich 
bis  ins  18.  Jahrhundert  hinein  erhalten. 

Eine  gewisse  Ähnlichkeit  mit  dem  Bischofsspiele  hatte  das  von  den  Alten  über- 
nommene Königsspiel,  von  dem  wieder  Mosellanus  (25)  und  Schottennius  (34) 
berichten  lassen.  Es  war  ein  Familienspiel.  Nach  Mosellanus  fand  es  am  Tage 
vor  dem  Feste  der  hl.  drei  Könige  statt  Jede  Familie  loste  alsdann  einen  König 
mit  der  Königin  und  dem  ganzen  Hofstaate  aus.  Um  die  Würde  der  Königin  stritt 
die  Mutter  des  Hauses  mit  den  Mägden.  Der  König  hatte  am  Festabende  freies 
Trinken,  mufste  dafür  aber  später  ein  königliches  Mahl  veranstalten. 

Am  Tage  des  hl.  Gallus  läfst  Schottennius  (31)  die  Knaben  die  'pro- 
sternatio  galli'  mitmachen.  Das  'Hahnschlagen'  ist  vielleicht  auf  eine  alt- 
deutsche Kultushandlung  zu  Ehren  Donars  zurückzuführen.  Der  Hahn  wurde 
entweder  unter  einen  Topf  gesteckt  oder  so  in  die  Erde  gegraben,  dafs  er  mit 
dem  Kopfe  heraussah.  Die  Spielenden  mufsten  mit  verbundenen  Augen  aus 
einer  bestimmten  Entfernung  nach  ihm  schlagen,  und  wer  ihn  tötete,  war 
König.  Später  nahm  man  statt  des  Hahnes  einfach  einen  Topf.  Die  Ehre  des 
Sieges  scheint  sehr  geschätzt  gewesen  zu  sein,  denn  Nikolaus  verspricht,  falls 
ihm  das  Glück  hold  ist,  seinen  Kameraden  eine  ganze  Mahlzeit,  zwei  Hahne 
und  vier  Mafs  Wein. 

Im  Sommer  wurde  an  manchen  Orten  ein  Vogelschiefs en  veranstaltet. 
Man  hing  dann  in  einem  hohen  Baume  einen  Papagei  (psittacus)  auf,  und  wer 
ihn  heruntersctiofs,  wurde  als  König  mit  Gesang  und  Flötenspiel  von  den  Mit- 
schülern nach  Hause  geleitet  (Barl.  1524,  6). 


A.  Börner  :  Die  Humanistenachulen  im  Spiegel  der  lateinischen  Schülerdialogc  219 


Von  den  Festen  des  hl.  Martinas  und  Blasius  war  schon  die  Rede.  Während 
diese  den  Knaben  eine  Quelle  des  Erwerbs  waren,  mufsten  die  Schüler  am 
LambertuBtage  nach  Schottennius  (32)  noch  eine  Abgabe  dazu  leisten. 
Thomas  giebt  ein  paar  oboli,  Paul  trotz  seines  Reichtums  nur  einen  solidus. 
Von  Belustigungen  der  Kinder  am  Lambertustage,  wie  sie  im  Münsterlande 
noch  heute  üblich  sind,  hören  wir  nichts. 

Am  Neujahrstage  beobachteten  die  Knaben  die  altrömische  Sitte,  sich 
gegenseitig  nicht  nur  Glück  zu  wünschen,  sondern  auch  kleine  Geschenke 
(strenae)  zu  verehren  (Mos.  25;  Hegend.  5;  Schott.  41;  Phil.  1;  Dune.  3). 

Zum  Schlüsse  noch  ein  -paar  Bemerkungen  Über  das  religiöse  Leben 
der  Schüler.  Für  diesen  Punkt  fliefsen  unsere  Quellen  spärlich;  wir  hören  vor- 
wiegend von  Knaben,  welche  es  mit  diesen  ihren  Pflichten  leicht  nehmen. 
Dafs  ihnen  das  viele  Singen  in  der  Zeit  der  grofsen  Feste  zu  viel  wurde, 
ist  schon  bemerkt.  Auch  eine  einstündige  Predigt  bei  der  Primiz  eines 
jungen  Priesters  stellt  ihre  Geduld  zu  sehr  auf  die  Probe  (Mos.  10),  denn  sie 
machen  es  nicht  alle,  wie  der  Taugenichts  bei  Duncanus  (39),  der  während  des 
langen  Gottesdienstes  zu  lesen  oder  seine  Lektion  zu  repetieren  oder  auch  wohl 
ein  kleines  Schlafchen  zu  halten  pflegt.  Manche  Lehrer  sahen  es  gerne,  wenn 
die  Schüler  auch  an  den  Wochentagen,  an  welchen  der  Kirchenbesuch  nicht 
offiziell  war,  vor  der  Schule  doch  noch  eben  durch  das  Gotteshaus  gingen 
(Zov.  14).  Deshalb  richtet  ein  Pädagoge  bei  Niavis  (I  1)  an  seinen  Zögling 
eine  solche  Mahnung;  er  brauche  nur  fünf  Vater-Unser  und  ebensoviele  Ave- 
Maria  zu  beten.  An  Gottes  Segen  sei  alles  gelegen.  *Qui  deum  negligit,  in 
scholis  multas  subeat  virgarum  castigationes  necesse  est/  Einem  Skeptiker 
bei  Schottennius  (72)  will  das  allerdings  nicht  in  den  Kopf.  Wahrend  sein 
Freund  Konrad  jeden  Morgen  eine  Messe  hört,  geht  er  nur  an  Sonn-  und  Feier- 
tagen hin.  Als  Konrad  darauf  die  Vermutung  ausspricht,  dafs  daher  vielleicht 
sein  schlechter  Fortschritt  im  Lernen  rühre,  entgegnet  er  schlagfertig,  dafs 
viele  ganz  gelehrte  Männer  überhaupt  niemals  in  die  Kirche  gingen.  Gleich 
im  folgenden  Dialoge  läfst  Schottennius  aber  anerkennen,  dafs  ein  andächtiges 
Gebet  von  grofsem  Einflüsse  sei  auf  einen  gedeihlichen  Fortgang  der  Studien. 
Die  gröfste  Qual  für  ungeratene  Knaben  war  das  Beichten.  Natürlich  war  es 
ihr  Bestreben,  möglichst  glimpflich  beim  Bekenntnisse  davonzukommen,  und 
es  ist  interessant  zu  vernehmen,  welche  Beobachtungen  in  dieser  Beziehung 
von  ihnen  gemacht  wurden.  Bei  Niavis  (II  11)  wird  ein  dicker  Mönch  vor- 
geschlagen, weil  der  humaner  sei  als  die  anderen.  Mosellanus  (28),  der 
übrigens  bei  seiner  Hinneigung  zur  Reformation  der  Ohrenbeichte  Oberhaupt 
nicht  freundlich  gegenüberstand,  läfst  einen  schläfrigen  Priester  wählen,  den 
man  hintergehen  könne.  Bei  Schottennius  (39)  kommt  es  den  Schülern 
darauf  an,  einen  Beichtvater  ausfindig  zu  machen,  der  sie  nicht  kenne.  Im 
allgemeinen  scheinen  sich  die  Mönche  einer  gröfseren  Beliebtheit  erfreut  zu 
haben  als  die  Weltgeistlichen,  wobei  als  Grund  mitgesprochen  haben  mag, 
dafs  es  den  Mönchen  verboten  war,  Geld  anzunehmen  (Schott.  57).  Die  Er- 
zählung von  einem  höchst  abenteuerlichen  Beichterlebnis  bei  Jonas  Philo- 


220    A.  Börner:  Die  Humanistenschulen  im  Spiegel  der  lateinischen  Schalerdialoge 


logus  (10)  wollen  wir,  da  sie  ohne  Zweifel  stark  übertrieben  ist,  auf  sich  be- 
ruhen lassen. 

Die  handgreiflichen  Mängel  des  humanistischen  Schulbetriebes,  welche  bald 
eine  unausbleibliche  Reaktion  veranlafsten,  in  erster  Linie  die  Zurüekdrängung 
der  Muttersprache,  überhaupt  des  Volkstümlich-Nationalen,  und  in  zweiter  die 
Vernachlässigung  der  realen  Wissenschaften  sind  schon  oft  genug  hervorgehoben 
worden.  Dafür  soll  am  Schlüsse  dieser  Untersuchung  einmal  betont  werden, 
was  die  Humanisten  Gutes  in  erzieherischer  Hinsicht  geleistet  haben,  und  da 
sind  abermals  zwei  Hauptpunkte  zu  nennen:  1)  der  praktische  Betrieb  des 
Sprachunterrichts,  2)  die  Einführung  der  Leibesübungen  in  die  Schule.  Gewifs 
ist  es  eine  merkwürdige  Fügung  des  Schicksals,  dafs  unsere  Zeit,  in  welcher 
sich  ein  Übergang  vom  Humanismus  zum  Realismus  vollzieht,  gerade  die  ge- 
nannten beiden  Methoden  wieder  aufgenommen  hat,  durch  deren  Einführung  die 
Humanistenschulen  einen  Fortschritt  bezeichnen  gegenüber  den  auf  Realismus 
gerichteten  mittelalterlichen  Lehranstalten.  Auch  von  unseren  Schulmännern 
wird,  um  es  noch  einmal  hervorzuheben,  genau  wie  von  den  Humanisten  bei 
Erlernung  der  fremden  Umgangssprachen  auf  praktische  Übungen  wieder  be- 
sonderes Gewicht  gelegt,  und  auch  heute  wieder  ist  ein  lange  Zeit  geschwundener 
Sinn  erwacht  für  einen  gesunden  Geist  in  einem  gesunden  Körper,  für  eine  ge- 
deihliche leibliche  Ausbildung  der  Knaben,  die  hoffentlich  auf  die  ganze  Ent- 
wickelung  unseres  Volkes  ihren  wohlthätigen  Einflufs  nicht  verfehlen  wird. 


I 


GELLERTS  PÄDAGOGISCHE  WIRKSAMKEIT 

Von  WOLDEHAR  HaVNEL 

Alles,  was  Gellerts  erfolgreiche  Lebensarbeit  angestrebt  hat,  darf  man  als 
Brachstücke  der  einen  grofsen  Aufgabe  auflassen,  Tugend  und  Religion  — 
beides  gehört  untrennbar  zusammen  —  zu  befordern,  und  als  Nachhall  der 
englischen  Moralischen  Wochenschriften  kehrt  dieser  bessernde  und  belehrende 
Zug,  freilich  ohne  das  ausgesprochene  bürgerliche  Selbstbewufstsein  der  Vor- 
bilder, in  der  gesamten  Litteratur  etwa  des  zweiten  Viertels  des  18.  Jahr- 
hunderts in  Deutschland  wieder.1)  Im  Sinne  dieser  geistigen  Bewegung,  der 
er  für  unsere  Kultur  den  vollendetsten  und  wirksamsten  Ausdruck  verliehen 
hat,  hat  der  Hofmeister  Deutschlands  —  so  wird  Geliert  von  Wilhelm  Scherer 
mit  treffendem  Anklang  an  seine  pädagogische  Theorie  genannt  —  auch  für 
die  eigentliche  Erziehung  zahlreiche  Ratschlage  und  Vorschriften  gegeben,  hat 
er  personlich  ab  Erzieher  gewirkt.  Einigermafsen  systematisch  stellt  er  in  der 
zweiundzwanzigsten  und  dreiundzwanzigsten  seiner  'Moralischen  Vorlesungen' 
seinen  Studenten  als  künftigen  Vätern  die  Grundzüge  der  Kindererziehung  zu- 
sammen, aber  auch  sonst  durch  Lehre  und  Beispiel  wirkte  er  auf  seinen  engeren 
Kreis  von  Zuhörern,  über  ihn  hinaus  auf  die  zahlreichen  ihm  befreundeten 
Familien  und  endlich  auf  das  grofse  Publikum,  dessen  Lieblingsschriftsteller 
Jahrzehnte  hindurch  Geliert  war,  aus  dem  heraus  man  sich  mit  der  Bitte  um 
Hilfe  und  Rat  an  den  persönlich  unbekannten  Dichter  wandte. 

Mit  einem  gewissen  freudigen  Stolz,  den  man  öfter  an  ihm  beobachten 
kann,  war  Geliert  sich  einer  so  vielseitigen  erzieherischen  Thätigkeit  bewufst. 
Ich  bin  so  stolz,  dafs  ich  glaube,  das  Beste  von  der  Erziehung  gelesen  oder 
gedacht  zu  haben',  schrieb  er  bei  Gelegenheit  von  Rousseaus  Emil  an  seine 
empfindsame  Korrespondentin  Caroline  Lucius"),  und  zu  seinen  Vorbildern 
hatte  er  trotz  der  Vorrede  zum  Emil  das  Vertrauen,  'dafs  sie  das  Wichtigste, 
Brauchbarste  und  durch  Erfahrung  ganzer  Jahrhunderte  am  meisten  Bestätigte 

')  Hübsch  hat  besonders  diesen  Zusammenhang  der  Pädagogik  Gellerts  mit  der  Litte- 
tatar durch  eine  übrigens  leicht  zu  vermehrende  Auswahl  von  B «legen  hervorgehoben 
H.  Schuller  'Über  Gellerts  erzieherischen  Einflufs.'  Leip.  Diss.  (—  Neue  Jahrbücher  f.  Philo- 
logie u.  Padag.  122.  Bd.  1880).  Von  sonstiger  Litteratur  erwähne  ich  nur  K.  Biedermann 
Deutschland  im  18.  Jahrhundert'  Bd.  H  2,  1867  S.  20  ff.  und  die  vielfach  fördernde 
Arbeit  von  E.  0.  Frenze!  'Über  Gellerts  religiöses  Wirken'  Leipz.  Diss.  1824,  endlich  meine 
eigene  Dissertation  'Geliert*  Lustspiele'  Leipzig  1896.  —  Ich  citiere  nach  Band-  und  Seite  n- 
«ahl  die  von  Jul.  Ludw.  Klee  besorgte  Ausgabe  der  'Sämtlichen  Schriften'  in  10  Bänden 
(mit  vielen  Briefen  und  Cramers  Biographie)  nach  dem  Abdruck  Berlin  und  Leipzig  1867. 
*)  IX  146. 


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222 


W.  Haynel:  Gelierte  pädagogische  Wirksamkeit 


in  ihrem  Unterrichte  nicht  so  leicht  werden  übersehen  haben'.1)  Unter  diesen 
Vorgängern  steht  obenan  Locke  mit  seinen  'some  thoughts  concerning  education'; 
nach  1758,  d.  h.  vor  allem  in  den  Moralischen  Vorlesungen  benutzte  Geliert 
gerne  Basedows  Traktische  Philosophie  für  alle  Stände',  mit  der  er  sich  oft 
geradezu  wörtlich  berührt  (VII  106  f.,  s.  w.  u.  S.  233  u.  ö.)  und  von  deren  Ver- 
fasser er  urteilt:  'er  denkt  oft  aus  sich  selbst,  oft  neu,  zuweilen  zu  kühn' 
(VI  178)'),  und  endlich  war  ihm  Mosheims  Sittenlehre  insbesondere  für  seine 
Theorie  des  Religionsunterrichts  wichtig.  Dagegen  erschien  ihm  schon  die 
Vorrede  von  Rousseaus  Emil  so  paradox  und  'schimmernd  wahr',  dafs  sie 
ihn  in  'Verwunderung  und  Bestürzung*  setzte  und  er  das  Buch  schon  seiner 
Schreibart  wegen  nicht  ganz  lesen  zu  können  erklärte.  Dafs  man  Rousseau 
beschuldigte,  er  vertrüge  sich  nicht  mit  der  Religion,  war  schon  Grund  genug 
für  den  frommen  Mann,  'seine  Weisheit'  zu  entbehren.  Und  als  'ein  wackrer 
Mann'  zu  ihm  kam  und  von  dem  Werke  Rousseaus  sagte,  'es  ist  wegen  seiner 
hinreifsenden  Beredsamkeit  das  gefährlichste,  das  vielleicht  jemals  zum  Umstürze 
der  christlichen  Religion  geschrieben  worden',  da  bat  er  Caroline  Lucius  dringend, 
mit  der  weiteren  Lektüre  dieses  'geistreichen  Skribenten'  noch  zu  warten  (den 
ersten  Teil  hatte  sie  schon  gelesen  und  in  ängstlichem  Zweifel  Geliert  gefragt, 
ob  sie  das  Buch  zu  Ende  lesen  dürfe)  (IX  143 — 149). 

Die  Erziehung  ist  für  Geliert  eine  Pflicht,  wegen  deren  Erfüllung  Gott 
einst  Rechenschaft  fordern  wird  (V  166),  so  wird  sie  den  Vätern  eingeschärft 
(II  169,  31;  III  243);  wer  seinen  Kindern  nichts  als  Reichtum  hinterlafst,  der 
hafst  sie  und  macht  sie  unglücklich,  ist  die  Moral  des  'Baronisierten  Bürgers' 
(I  118  f.).  Der  Redner  weist  auf  die  Vererbung  von  Schwäche  und  Krankheit 
hin  und  ermahnt  seine  Zuhörer,  die  Jugendjahre  unschuldig  zu  verbringen  und 
ihre  Gesundheit  nicht  aufs  Spiel  zu  setzen  (VII  98).  Und  als  zukünftigen 
Vätern  giebt  er  seinen  Studenten  Ratschlage  für  die  Erziehung  ihrer  Kinder 
und  begründet  so  die  Aufnahme  der  beiden  Vorlesungen  über  Erziehung  in 
sein  Kolleg  (VII  95  ff.).  Aber  anderseits  ist  die  Erziehung  auch  das  gröfste 
Glück  eines  Menschen,  das  der  gemütvolle  Redner  warmherzig  und  eindringlich 
schildert.    So  heifst  es  vom  Christen: 

 einer  Seele  Heil 

Ist  ihm  das  gröfste  Glück.    Dir  mangeln  gute  Sitten; 

Er  giebt  dir  Unterricht  und  stärket  ihn  durch  Bitten. 

Er  sieht  ein  redlich  Herz,  das  durch  des  Freigeists  Spott 

Im  Glauben  wanken  will;  er  siehts,  und  wird  sein  Gott  (II  29). 

Als  Vater  eilt  er  fromm,  der  Kinder  Glück  zu  gründen, 
Und  in  dem  ihrigen  seins  noch  einmal  zu  finden. 

Er  bildet  gern  ihr  Herz  

 und  er  schmeckt  Heil  und  Leben, 

Dem  Himmel  und  der  Welt  ein  würdigs  Glied  zu  geben  (H  31). 

')  IX  147. 

*)  G.  nennt  Basedow  an  dieser  Stelle  den  Schüler  Pufendorfs,  Mosheims  u.  s.  w.,  vergibt 
aber  Locke  zu  nenuen.  Die  'so  anstöfsige'  Philaletbie  lehnte  G.  übrigens  energisch  ab  (VI  179). 


i 


W.  Haynel:  Geliert*  pädagogische  Wirksamkeit  223 

Und  ein  anderes  Mal  meint  der  Dichter:  *  Aller  Beifall  der  Welt,  aller  Ruhm 
der  Loblieder  ist  nicht»  gegen  den  stillen  Ausspruch  des  Gewissens,  dafs  wir 
ein  einziges  junges  Herz  für  den  Himmel  gebildet,  oder  doch  zu  bilden  uns 
aufrichtig  bemühet  haben'  ( VJLLl  128).  Ganz  besonders  verdient  macht  sich 
'der  Menschenfreund der  ein  fremdes  Kind  erzieht,  'er  schenkt  ihm  Zucht 
und  Kunst;  der  Vater  gab  ihm  Leben:  Wer  hat  für  diesen  Sohn  das  Meiste 
hergegeben?*  (H  11),  und  in  der  Erzählung  hinterlafst  Oront  seinem  Freunde 
Pylades  die  Sorge  für  seine  Frau  und  die  Erziehung  seines  Sohnes:  'denn  du 
verdienst,  dafs  sie  dir  angehören'  (I  177).  Hier  lag  wohl  auch  der  psycho- 
logische Hintergrund  für  Gellerts  Vorliebe  für  das  Hofmeistertum ;  ein  fremdes 
Kind  zu  erziehen  war  ein  Gott  wohlgefälliges,  Freude  und  innere  Befriedigung 
mit  sich  bringendes  Werk. 

Er  selbst  hat  diese  Pflicht  der  Erziehung  mannigfach  geübt,  ihr  Glück 
vielfach  erfahren.  So  betrachten  wir  zunächst  den  Kreis,  auf  den  Geliert 
erzieherisch  eingewirkt  hat,  wie  er  Person,  Wort  und  Schrift  in  den  Dienst 
der  Erziehung  gestellt  hat,  und  suchen  nachher  den  Inhalt  dieses  Wirkens 
and  seine  pädagogischen  Ziele  festzustellen. 

Geliert  selbst  hat  Leiden  und  Freuden  des  Hofmeisterlebens  wenigstens 
ein  Jahr  lang  kennen  gelernt,  er  war  1739  Erzieher  bei  zwei  jungen  Herren 
Ton  Lüttichau.  Dann  bereitete  er  einen  Neffen  zur  Universität  vor,  ging  mit 
ihm  1741  nach  Leipzig  (X  174  f.),  und  wie  er  sich  damals  eines  bald  darauf 
verstorbenen  Bruders  annahm,  so  hat  er  auch  später  jüngeren  Verwandten  mit 
Unterricht  und  Rat  beigestanden  (VIH  16).  Am  meisten  Kummer  machte  ihm 
Jahre  lang  ein  Schwestersohn,  der  schliefslich  unter  die  Soldaten  ging  und 
nachher  in  Geisteskrankheit  verfiel1)  1757  unterstützte  Geliert  den  Hofmeister 
der  Söhne  der  Familie  von  Zedtwitz  in  deren  Erziehung,  als  ihn  in  den  Tagen 
der  Schlacht  bei  Rofsbach  Krankheit  auf  ihrem  Gut  Bonau  zurückhielt 
(VIA  267;  das  Getöse  der  Schlacht,  die  in  einer  Entfernung  von  1%  Stunden 
von  ihm  geschlagen  wurde,  mufste  der  Kranke  erschüttert  anhören).  Um  die 
Wende  der  50er  und  60er  Jahre  spielte  er  wohl  mit  dem  Gedanken,  aufs  Land 
zu  ziehen,  dort  nützliche  Schriften  zu  schreiben  und  ab  und  zu  einen  'fähigen 
Knaben'  zu  sich  zu  nehmen  und  zu  erziehen,  ein  paar  Jahre  später  aber  freute 
er  sich,  diese  Pläne  nicht  ausgeführt  zu  haben,  so  wenig  fühlte  er  sich  noch 
dazu  gesund  und  geschickt  (1762.  IX  162).  Darum  suchte  er  doch  die  von 
ihm  selbst  gelehrte  Pflicht  zu  üben,  und  so  liefs  er  auf  seine  Kosten  zwei 
arme  Kinder  in  seiner  Vaterstadt  die  Schule  besuchen  (VIH  280).  *)  Den  Sohn 


')  über  diesen  in  Briefen  oft  erwähnten,  in  Klee«  Ausgabe  mit  G***l  bezeichneten 
Neffen  Gabriel  Christian  Meese  vgl.  Geliert«  Briefe  an  Frl.  E.  von  Schönfeld,  Leipzig  1861  17  f. 

*)  Die  Schrift  'Geliert  als  Vater,  von  einem  Leipziger  Frauenzimmer  beschrieben', 
•Us  von  seinem  zwölften  Jahre  mit  G.  korrespondiert  haben  und  von  ihm  unterwiesen  sein 
wül,  rührt  überhaupt  von  keinem  Frauenzimmer  her,  wie  Frenzel  a.  a.  0.  S.  66  gezeigt  hat. 
iHf'gf  nach  G.s  Tod  entstandene  Litteratur  kann  man  gar  nicht  kritisch  genug  prüfen; 
jeder  Verfasser  will  sich  durch  persönlichen  Verkehr  mit  dem  allverehrten  G.  interessant 
machen,  und  was  er  nicht  erlebt  hat,  das  erfindet  er  einfach. 


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224 


W.  Haynel:  Gelierte  pädagogische  Wirksamkeit 


des  Wohlthäters  seiner  Mutter,  des  Freiherrn  von  Craufsen,  hoffte  er  dereinst 
an  Herz  und  Verstand  bilden  zu  können.  So  waren  viele  Studenten  nicht  nur 
willige  Hörer  seiner  Vorlesungen,  sondern  drängten  sich  zu  ihm  heran,  um 
ihm  ihre  Verehrung  zu  bezeugen  und  seiner  milden  Lebensweisheit  teilhaftig  | 
zu  werden.  Da  kamen  insbesondere  adlige  Herren  aus  deutschen  und  fremden  t 
Landen,  so  Moritz  von  Brühl,  der  Neffe  des  allgewaltigen  Ministers,  vielleicht 
Gelferts  Lieblingsschüler,  ferner  dessen  Bruder  Heinrich,  der  Dichter  Cronegk, 
der  seinen  Lehrer  in  seinen  Schriften  nachahmte  und  verherrlichte1);  ein  Graf 
Werther  wollte  gleichzeitig  seine  collegia  von  Geliert  eingerichtet  und  von  ihm 
eine  Frau  vorgeschlagen  haben1),  und  Laudons  Neffe  erhielt  von  dem  Oheim, 
der  Geliert  in  Karlsbad  kennen  und  verehren  gelernt  hatte,  die  Erlaubnis,  in 
Leipzig  zu  studieren,  wenn  der  Dichter  sich  seiner  annehmen  wollte  (IX  187). 
Ganz  besonders  lieb  und  wert  waren  Geliert,  wie  seine  Briefe  zeigen  und 
Goethe  bezeugt9),  die  jungen  Adligen  aus  Dänemark,  für  die  es  guter  Ton 
wurde,  in  Leipzig  zu  studieren  und  von  Geliert  unterwiesen  zu  werden.  Kein 
Wunder,  dafs  der  Minister  von  Bcrnstorff  bekannte,  dafs  Dänemark  für  diese 
Erziehung  ihm  vielen  Dank  schulde  (IX  235)  und  man  von  Kopenhagen  aus 
bei  dem  Leipziger  Professor  anfragte,  ob  er  die  Erziehung  des  dänischen  Kron- 
prinzen übernehmen  wolle  (VHI  226.  229).  Sogar  ein  Amerikaner  kam  aus 
der  neuen  Welt  nach  Leipzig  und  suchte  bei  Geliert  'Hilfe  und  Religion'.4) 
Wie  alle  diese  Jünglinge  an  Geliert  hingen,  dafür  genüge  als  einziges  und 
vielleicht  vortrefflichstes  Beispiel  das  Zeugnis  Christian  Garves  in  einem  Brief 
an  Geliert  vom  3.  Juni  1767.  Er  bittet,  ihn  seinen  zweiten  Vater  nennen 
zu  dürfen,  und  bekennt,  ihm  nicht  nur  die  Ausbildung  seines  Verstandes, 
sondern  auch  die  Verbesserung  seines  Herzens  schuldig  zu  sein,  'nicht  bloft 
Ihr  Unterricht,  Ihr  Rat,  Ihre  Fürsorge  für  mein  Glück,  sondern  noch  viel- 
mehr der  starke  und  bestandige  Antrieb,  den  ich  zur  Ausübung  meiner  Pflichten, 
in  dem  Wunsche  und  in  der  Hoffnung,  Ihre  Gewogenheit  und  Ihren  Beifall  zu 
erhalten,  gefunden  habe  und  immer  finden  werde:  dieses  ist  ein  Geschenk  der 
Vorsicht,  die  meine  schwache  Tugend  dadurch  unterstützen  und  befestigen 
wollte'  (X  45).  Und  auch  Leute,  die  wie  der  junge  Goethe  und  sein  Kreis 
seiner  Pflichtenlehre  und  seiner  Moral  kritischer  gegenüberstanden,  waren  doch 
der  milden  Persönlichkeit  zugethan  und  konnten  nicht  umhin,  den  Mann  'herz- 
lich lieb  zu  haben'. &) 

»)  Vgl.  Haynel,  a.  a.  0.  8.  76  f.      «)  Briefe  an  Frl.  v.  Schönfeld  S.  62. 

»)  In  'Dichtung  und  Wahrheit',  =  Werke,  Weimarer  Ausgabe  I  XXVH  129.  Den  Ab- 
schluls  der  Erziehung  der  Dänen  scheint  übrigen«  persönliche  Vorstellung  bei  der  Luciui 
in  Dresden  gebildet  zu  haben.   IX  266;  IX  148. 

«)  Briefe  an  Frl.  v.  Schönfeld  S.  240. 

•)  Goethe  in  'Dichtung  und  Wahrheit'  Buch  VII  =  Werke  XXVII  118.  Übrigens  darf 
man  Goethes  Verhältnis  zu  G.  nicht  lediglich  nach  der  Darstellung  in  'D.  u.  W.'  beurteilen. 
Gellerts  'Stilübungen'  wirken  deutlich  in  den  Briefen  Goethes  an  seine  Schwester  nach. 
Er  ermahnt  sie,  natürlich  zu  schreiben,  und  korrigiert  den  Ausdruck  der  Schreiben 
Cornelions  ahnlich  wie  Geliert  z.  B.  die  des  Freiherrn  von  Widmann  (IX  21  ff.  26  ff.  82  ff  ). 
Und  die  'Laune  des  Verliebton'  hat  man  mit  G.'s  'Band'  in  Verbindung  gebracht.  Wahr  wird 


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W.  Haynel:  Gellerts  pädagogische  Wirksamkeit 


225 


Der  Leipziger  Student,  der  dem  gefeierten  Lehrer  der  Hochschule  nicht 
persönlich  nahe  stand,  hörte  wenigstens  sein  Kolleg.  Schon  als  Privatdozent 
las  er  mit  grofsem  Erfolge,  den  ein  glänzend  anerkennendes  Zeugnis  der 
Fakultät  (Vlll  24  f.)  bestätigte,  als  er  sich  auf  Drängen  Beiner  Freunde  und 
der  Regierung  selbst  um  eine  aufserordentliche  Professur  bewarb,  die  er  denn 
auch  erhielt  (1751.  VIII  22).  Zehn  Jahre  später  drängte  man  ihn,  ein  er- 
ledigtes Ordinariat  zu  Übernehmen,  aber  standhaft  weigerte  er  sich  mit  Rück- 
sicht auf  seinen  Gesundheitszustand  (IX  58  ff.  70  ff.).  In  seinen  Vorlesungen 
fanden  sich  Studenten  aller  Fakultäten  ein,  während  des  siebenjährigen  Krieges 
hörten  preufsische  Offiziere  den  berühmten  Leipziger  Professor,  wie  der  mar- 
tialische Held  des  berühmten  Husarenbriefs  (VIH  286  ff.),  wie  ferner  der  junge 
Gfraf  Dohna,  'ein  gutes  Kind  von  neunzehn  Jahren'  (VHI  289  f.).  Der  Freiherr 
von  Widmann  erinnerte  sich  des  Gellertschen  Kollegs  noch  lange  mit  Freuden 
(IX  9),  und  wer  durch  Leipzig  durchreiste  und  geistige  Interessen  hatte,  der 
wollte  auch  den  berühmten  Fabeldichter  hören.1) 

Geliert  las  über  Dichtkunst  und  Beredsamkeit,  über  Batteux  und  Stock- 
bausens Bibliothek  der  schönen  Wissenschaften;  in  seinem  Praktikum  lieferten 
die  Studenten  deutsche  und  lateinische  Ausarbeitungen,  um  Stil  und  Geist  zu 
Oben,  hier  kritisierte  der  Dichter  poetische,  lieber  aber  prosaische  Aufsätze 
seiner  Zuhörer,  und  wenn  ihm  die  Lucius  oder  sonst  eine  seiner  empfind- 
samen Korrespondentinnen  einen  recht  schönen  Brief  gesandt  hatte,  so  gab 
er  ihn  als  Musterbrief  seinen  Studenten  zum  Besten.  Nützliche  Kenntnisse 
zu  befördern,  ganz  besonders  aber  Herz  und  Sitten  zu  bessern,  war  das 
Ziel  aller  seiner  Vorlesungen.  Am  wichtigsten  waren  daher  die  über  Sitten- 
lehre, die  moralischen,  'das  philosophische  Auditorium  war  in  solchen  Stunden 
gedrängt  voll,  und  die  schöne  Seele,  der  reine  Wille,  die  Teilnahme  des  edlen 
Mannes  an  unserem  Wohl,  seine  Ermahnungen,  Warnungen  und  Bitten,  in 
einem  etwas  hohlen  und  traurigen  Tone  vorgebracht*  *),  machten  tiefen  Ein- 
druck. Originale  Gedanken  waren  freilich  wenig  vorhanden,  Geliert  verfuhr 
eklektisch  und  nahm  das  Gute,  wo  er  es  zu  finden  glaubte,  insbesondere  von 
englischen  Moralphilosophen.  Und  er  wollte  die  Sittenlehre  nicht  blofs  von 
der  Seite  vortragen,  'wo  sie  den  Verstand  als  eine  Wissenschaft  unterrichtet, 
aufklärt  und  überzeugt',  sondern  sie  vornehmlich  von  der  Seite  zeigen,  'wo  sie 
das  Herz  rührt,  bildet  und  bessert'  (VI  9).  Hier  zeigte  der  Redner  seinen 
Zuhörern,  wie  sie  ihre  Kinder  dereinst  erziehen  sollten,  hier  sprach  er  von 
Gesundheitspflege,  von  Sittsamkeit  und  Anstand,  besonders  aber  predigte  das 


freilich  bleiben,  dafs  die  ausgesprochene  Abneigung  gegen  jeden  kräftigen  Gef'ühlsausdruck 
üt  der  Poesie,  der  Mangel  jedes  fortreifaenden  Schwunges  in  Vortrag  und  Weltanschauung 
ein  inneres  Verhältnis  zu  Geliert  bei  dem  jugendlichen  FeuergeiBt  nicht  aufkommen  liefsen. 
Anderseits  weisen  bei  G.  die  Betonung  von  Gefühl  und  Herz,  der  Drang  nach  natürlicher 
Aasdrucksweise  doch  schon  auf  die  Stürmer  und  Dranger  hin. 

*)  Vgl.  den  Bericht  Goethes  über  den  durchreisenden  Franzosen,.  Werke  XXVII  128, 
nad  Fremd,  a.  a.  0.  S.  86. 

*)  Goethe,  a.  a.  0.  S.  188. 

S.n.  J.hibücher    1899.    II  16 


W  Haynel:  Geliert«  pädagogische  Wirksamkeit 


Kolleg  Demut,  Frömmigkeit  und  Herrschaft  über  Begierden  und  Leidenschaften 
Mustermenschen  und  abschreckende  Beispiele  schilderte  der  Professor  in  fein 
gezeichneten  'Charakteren'  (nach  dem  Muster  der  Moralischen  Wochenschriften), 
und  in  den  Kreis  aller  dieser  Bestrebungen  fielen  Gelegenheitsreden  oder  er- 
gänzende Darlegungen:  'Von  den  Trostgründen  wider  ein  sieches  Leben',  'Von 
dem  Einflüsse  der  schönen  Wissenschaften  auf  das  Herz  und  die  Sitten',  'Von 
den  Ursachen  des  Vorzugs  der  Alten  vor  den  Neueren  in  den  schönen  Wissen 
schaften,  besonders  in  der  Poesie  und  Beredsamkeit',  'Lehren  eines  Vaters  für 
seinen  Sohn,  den  er  auf  die  Akademie  schicket',  letztere  im  Anschlufs  an  die 
die  Erziehung  behandelnden  Vorlesungen  vorgetragen1),  u.  a.  m. 

Wo  Gellerts  persönliche  Unterweisung  ausgeschlossen  war,  da  waren  doch 
seine  Schriften  und  von  ihm  in  besonderen  Vorlesungen  herangebildete  Hof 
meister  Trager  seiner  Bestrebungen.  Immer  wieder  zeigen  die  an  ihn  ge- 
richteten Briefe,  wie  er  von  allen  Seiten,  von  Bekannten  und  Unbekannten  am 
Hofmeister,  auch  um  Prediger,  ja  sogar  um  Frauen  angegangen  wurde.  Die 
Herzogin  von  Holstein,  'eine  verstandige  Prinzessin',  verlangte  von  ihm  einen 
Informator'),  der  Dessauische  Hof,  der  Minister  von  Massow,  die  Gräfin  von  F. 
und  viele  andere  mehr  baten  um  Hofmeister  (X  46  f.;  X  40;  IX  321;  ferner 
VIH  126;  VIII  238  u.  s.  w.),  und  Goethes  wunderlicher  Freund  Behrisch  ver- 
dankte Geliert  seine  Erzieherstelle  beim  Grafen  von  Lindenau.8) 

Mag  der  Dichter  sich  und  den  Seinen  gegen  Ende  seines  Lebens  das 
Dasein  vergällt  haben,  mag  seine  Frömmigkeit  in  unfruchtbaren,  ja  abstofsen- 
den  Tiefsinn  und  unleidliche  Schwermut  ausgeartet  sein,  wie  es  uns  weniger 
seine  Briefe  als  besonders  sein  Tagebuch  zeigen,  seine  Schriften  atmeten  doch 
das,  was  der  Zeit  am  meisten  fehlte  und  für  die  Bildung  der  Herzen  die  Haupt- 
sache war  und  ist,  den  gefühlswarmen  Ton,  in  dem  er  alles,  was  er  schrieb 
und  lehrte,  vortrug,  die  herzliche  Zuneigung,  die  er  jedem  entgegenbrachte, 
das  mitfühlende  Herz,  durch  das  die  Scharfe  des  Verstandes  wohl  beeinträchtigt 
wurde,  in  dessen  Reiz  aber  gerade  das  Geheimnis  seines  unendlichen  Erfolges 
lag.  Bessern  und  Belehren,  Erziehen  und  Unterrichten  ist  auch  hier  das  Ziel, 
'so  werden  die  guten  und  bösen  Charaktere  in  dem  Heldengedicht,  in  der 
Tragödie,  in  der  Comödie,  in  dem  Romane;  so  wird  eine  Fabel,  eine  Erdichtung 
besser  als  Cratippus  und  Crantor  lehren'  (V  74).  Und  auf  die  Frage,  welches 
seiner  Werke  ihm  das  liebste  wäre,  antwortete  er:  'Das  nützlichste'  (IX  195). 
Ein  Buch  der  Erziehung  und  Lehre  waren  seine  'Fabeln  und  Erzählungen'; 
wie  sein  Magister  in  dem  Lustspiel  'Die  zärtlichen  Schwestern'  meint  auch 
er,  wo  keine  systematische  Moral  geboten  werden,  wo  eine  abstrakte  Lehre  un- 
verständlich sein  kann,  da  tritt  anmutig  und  anziehend  die  Wahrheit  im  Gewände 
der  Fabel  auf,  'dem,  der  nicht  viel  Verstand  besitzt,  die  Wahrheit  durch  ein 
Bild  zu  sagen'  (I  95).  Geistlicher  Unterricht  wird  in  den  religiösen  Liedern, 
in  den  Lehroden  geboten,  'dafs  der  Verstand  in  den  Liedern  unter- 


•)  VH  188  Amru 

»)  Chr.  F.  Gelierte  Tagebuch  aus  dem  Jahre  1761,  Leipzig  1862  S.  29. 
•)  v.  Loeper  zu  Goethe«  Dichtung  und  Wahrheit,  Hempel  XXI  807. 


W.  Haynel:  Geliert«  pädagogische  Wirksamkeit 


227 


richtet  and  genährt  werde,  ist  eine  sehr  notwendige  Pflicht,  wenn  man  die 
unrichtigen  Begriffe,  die  sich  die  Menge  von  der  Religion  macht,  den  Mangel 
der  Kenntnis  in  den  Wahrheiten  derselben  und  die  täglichen  Zerstreuungen 
bedenkt*  (II  71).  In  den  Lustspielen  sind  die  tugendhaften  Menschen  allemal 
gebildet»  die  frommen  Frauen  wie  Frau  Dämon  und  die  empfindsamen  Madchen 
▼erstehen  Französisch  und  sind  in  der  neuesten  moralischen  Litteratur  be- 
wandert, dagegen  die  Betschwester  kennt  Richardsons  verherrlichte  'Pamela* 
nicht,  und  die  kokette  Frau  Orgon  kann  kein  Französisch.  Das  Musterbild 
einer  richtig  erzogenen  und  selbst  wieder  erziehenden  Frau  war  die  schwedische 
Gräfin,  und  in  dem  Herrn  R**  mit  seiner  eifrigen  pädagogischen  Thatigkeit 
»eichnete  der  Dichter,  leicht  verhüllt,  sich  selbst.  Für  das  Briefschreiben  gab 
Geliert  eine  hübsche  Vorschrift  mit  sorgfältig  ausgewählten  Musterbriefen. 
Wie  diese  eifrig  nachgebildet  wurden,  so  waren  insbesondere  Gelierte  Fabeln 
ein  willkommenes  Schulbuch.  Aus  ihnen  lernten  sachsische  Prinzessinnen 
Deutsch  (IX  195),  Friedrich  der  Orofse  empfahl  sie  als  Lesebuch,  in  kur- 
sächsischen lateinischen  Stadtschulen  wurden  sie  als  Schulbuch  benutzt,  und 
die  Moralischen  Vorlesungen  empfahl  Ernesti  für  den  moralischen  Unterricht 
auf  den  Bächsischen  Fürstenschulen.1)  Geliert»  Vorlesungen  liefe  sich  der 
bayerische  Kurfürst  wiederholt  vorlesen  und  befahl  sie  durch  den  Druck  zu 
verbreiten*),  und  als  Einderbuch  spielen  die  Fabeln  in  der  gesamten  Litteratur 
ihrer  Zeit  eine  Rolle. 

Und  endlich  welche  köstlichen  Lehren  empfing  der  zahlreiche  Kreis  der 
Korrespondenten  durch  die  vielen  Briefe,  deren  Erledigung  den  gröfsten  Teil 
von  Gelierte  gesunden,  nicht  den  Vorlesungen  und  dem  Bibellesen  gewidmeten 
Tagen  in  Anspruch  nahm.  Wie  hat  er  in  dieser  selbst  für  jene  briefselige 
Zeit  ausserordentlichen  Menge  von  Briefen  namentlich  den  jungen  Damen,  mit 
denen  er  so  gerne  plauderte,  Erdmuthe  von  Schönfeld  und  Caroline  Lucius, 
aber  auch  früheren  Zuhörern  wie  Moritz  von  Brühl  Geist  und  Herz  in  freund 
lieh  vaterlichem  Tone  gebildet.  Auch  darf  der  Historiker  anmerken,  dafs 
Geliert  Jahre  lang  mit  Eberhard  von  Rochow,  dem  ausgezeichneten  Förderer 
der  preufsischen  Elementarschulen,  in  lebhaftem  Briefwechsel  über  moralische 
und  gelegentlich  auch  pädagogische  Fragen  gestanden  hat.  Seine  Verehrung 
bezeugte  Rochow  dem  Dichter  durch  eine  Pension,  die  dieser  aber  nach  einigen 
Jahren  1763  ausschlug  und  lieber  'zur  Erziehung  armer  Kinder  oder  zur  Aus- 
stattung eines  armen  und  frommen  Mädchens*  anzuwenden  bat  (IX  228).  Und 
wie  Geliert  den  trefflichen  Mann  schätzte,  zeigt,  dafs  er  auf  seine  Bitte  ihm 
sogar  seinen  langjährigen  Famulus,  Gödick,  anscheinend  als  Hofmeister  abtreten 
wollte.  Schliefslich  ist  dieser  dann  allerdings  doch  bis  zu  Gelierte  Tod  bei  ihm 
geblieben,  und  die  sentimentalen  Freundinnen  des  Professors  beneideten  ihn, 
dafs  er  immer  in  der  Nahe  des  verehrten  Mannes  weilen  durfte.9) 


*)  Vgl.  Schaller,  a.  a.  0.  S.  29.      *)  Briefe  an  Frl.  v.  Schönfeld  S.  246. 
*)  Auch  mit  Basedow  stand  Geliert  in  litteraxiechem  Verkehr,  vgl.  Max  Müller,  Easaya  IV  7 
bei  Schüller,  S.  86. 

16« 


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228  W.  Haynel:  GellerU  pädagogische  Wirksamkeit 

Über  seinen  Tod  hinaus  wollte  Geliert  Segen  stiften  durch  die  'Unvoll- 
standigen  Nachrichten'  von  seinem  Leben,  eine  Art  Memoiren,  die  er  an- 
scheinend ursprünglich  zur  späteren  Veröffentlichung  bestimmt  hatte,  und  aus 
denen,  als  wegen  der  Unfertigkeit  der  Arbeit  oder  aus  anderen  Gründen 
davon  abgesehen  werden  mufste,  Cramer  viel  Material  für  seine  Biographie 
Gellerts  schöpfte.1) 

Nachdem  uns  dieser  Überblick  gezeigt  hat,  wie  mannigfach  Geliert  durch 
That  und  Rede,  durch  Wort  und  Schrift  nach  allen  Seiten  hin  erzieherisch 
gewirkt  hat,  erhebt  sich  die  wichtige  Frage  nach  dem  Inhalt  aller  dieser  Be- 
mühungen. Welche  Ziele  steckte  Geliert  der  Erziehung,  und  welche  Wege 
schlägt  er  ein,  sie  zu  erreichen? 

Nicht  allein  für  diese  Welt,  sondern  für  die  Ewigkeit  soll  die  Jugend  er- 
zogen werden  (V  166).  'Alle  Anwendung  und  Übung  der  Kräfte  des  Geistes 
mufs  auf  die  Absicht  gerichtet  sein,  uns  weiser,  besser  und  zum  Dienste  der 

Welt  brauchbarer  zu  machen  Des  Menschen  Glück  nicht  einzuschränken, 

Verlieh  ihm  Gott  die  Kraft  zu  denken  Und  sprach:  Mensch,  schaffe  dein  und 
deiner  Brüder  Glück'  (VII  19).  So  sind  Vollkommenheit  und  Glückseligkeit, 
die  Schlagworte  der  Wolffischen  und  der  englischen  Popularpbilosophie,  das, 
wonach  der  Mensch  streben,  worauf  die  Erziehung  und  Bildung  gerichtet  sein 
soll.  So  hatte  Basedow  gesagt,  der  Zweck  der  Erziehung  sei,  'dafs  Kinder 
glückselige  und  gemeinnützige  Menschen  würden'.*)  Für  Geliert  liegt  die 
Glückseligkeit  im  Bewufstsein  der  Tugend,  die  schönste  Belohnung  der  Tugend 
ist  das  Gefühl  der  Glückseligkeit,  seine  weichmütigen  Frauen  und  Mädchen, 
seine  zärtlichen  Väter  und  Liebhaber  zeigen  immer  wieder  dieses  frohe  Gefühl 
freudiger  Ruhe.  Das  Streben  nach  Vollkommenheit  zeigt  sich  in  dem  Eifer 
für  Tugend  und  Religion  und  einer  herzlichen,  werkthätigen  Nächstenliebe; 
wir  haben  gesehen,  wie  Geliert  selbst  für  dieses  alles  Muster  und  Vorbild  war. 
Am  Eingang  der  Vorlesungen  über  Erziehung  heilst  es  'Kinder  erziehen  heifst, 
ihren  Verstand,  ihr  Herz,  ihren  Körper  und  ihre  besonderen  Naturgaben  so 
bilden,  dafs  sie  sich  und  anderen  zum  Glück  leben  und  die  wichtigen  Ab- 
sichten ihres  Daseins  erreichen  lernen'  (VII  97). 

Der  Redner  kennt  zwar  auch  Söhne  und  Töchter  niedriger  Stände,  die 
weise  und  glücklich  erzogen  sind  (VII  131) s),  aber  seine  ganze  Erziehungs- 
lehre ist  hauptsächlich  für  die  'grofsen  Häuser'  und  für  günstige  Umstände 
berechnet  (VH  131).  Man  mufs  sich  an  die  Kreise  erinnern,  in  denen  er  sich 
am  meisten  bewegte,  aus  denen  sich  seine  Hörer  meist  zusammensetzten,  und 
versteht  es,  dafs  er  den  Schulunterricht  kurz  abmacht.  Er  verlangt  zwar,  dafs 
zum  Unterricht  an  Schulen  keine  düsteren  Köpfe  'mit  Wörtern  und  Sentenzen', 
sondern  die  ^Verständigsten  unter  den  Gelehrten'  herangezogen  und  durch 

*)  Darauf,  dafs  die  'Unvollständigen  Nachrichten*  ursprünglich  für  den  Druck  bestimmt 
•waren,  läfat  wenigstens  der  Umstand  schliefsen,  dafs  der  Leser  öfter  ermahnend  angeredet 
wird,  so  X  176.  186  u.  ö. 

»)  Basedow,  Praktische  Philosophie  für  alle  Stande.   Kopenhagen  u.  Leipzig  1768  S  640. 

»)  Vgl.  auch  die  Erzählung  'Der  Informator'  I  219  ff. 


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W.  Haynel:  Geliert«  pädapogische  Wirksamkeit  229 

gute  Bezahlung  dabei  erhalten  bleiben  sollen  (V  99),  aber  an  eine  so  ausführ- 
liche Gegenüberstellung  von  häuslicher  und  Schulerziehung,  wie  sie  Locke  in 
§  70  seiner  'thoughts  concerning  education'  giebt,  denkt  er  nicht.  So  gelangt 
Geliert  mit  Montaigne,  Locke  und  Basedow  zur  Theorie  der  Erziehung  durch 
den  Hofmeister1),  sein  Leben  lang  hat  er  ihr  nachdrücklich  das  Wort  geredet. 
Aber  während  Locke  seinen  Zögling  dem  beständigen,  segensreichen  Einflufs 
des  Elternhauses  unterwerfen  will,  während  Basedow  nur  dann  Privatunter- 
richt durch  den  Hofmeister  empfiehlt,  wenn  die  Eltern  im  stände  sind,  dessen 
Fähigkeiten  zu  beurteilen,  'sonst  sind  die  öffentlichen  Schulen  besser'*),  geht 
Gellerts  Erziehungsideal  viel  weiter.  In  einem  seiner  Musterbriefe  meint  er: 
Die  Erziehung  zu  Hause  hat  tausend  Hindernisse.  Ein  Hofmeister  kann  un- 
möglich alles  wissen;  und  wenn  er  auch  viel  weifs,  so  hat  er  doch  nicht  allemal 
die  Gabe,  gut  zu  unterrichten  oder  ein  junges  und  lebhaftes  Herz  genug  zu 
unterhalten,  und  dies  gehört  doch  notwendig  zu  einer  guten  Erziehung.  Wir 
müssen  leicht  und  angenehm  lernen,  ehe  wir  wissen,  wie  viel  wir  zu  lernen 
haben.  Es  ist  nicht  genug  zu  lernen,  wir  müssen  auch  beizeiten  mit  der 
Welt  bekannt  werden;  allein  die  Welt  zu  Hause  ist  nicht  allemal  die  beste. 
Wir  sehen  nur  immer  einerlei  Geschöpfe,  und  wie  wir  wenig  bemerkt  werden, 
so  bemerken  wir  auch  andre  wenig  ....  Ich  will  nur  sagen,  dafs  es  sowohl 
für  den  Verstand  eines  jungen  Menschen,  als  für  sein  Herz  und  für  seine 
Sitten  vorteilhaft  ist,  wenn  er  an  einem  fremden  Orte  erzogen  wird*  (IV  115  f.). 
So  rät  er  denn  der  besorgten  Mutter,  ihren  zehnjährigen  Sohn  durch  einen 
Informator  an  einem  Ort  erziehen  zu  lassen,  wo  er  Gelegenheit  habe,  viel  zu 
sehen  und  zu  hören.  Und  dazu  empfiehlt  er  —  Leipzig.  Hier  wird  der  Knabe 
alles,  was  zu  der  Bildung  eines  Weltmannes  gehört,  lernen,  etwa  bis  zum 
16.  Jahre  verweilen  und  kann  dann  seine  Kavalierreise  antreten,  immer  noch 
von  seinem  Mentor  begleitet.  Man  sieht,  Geliert  will  wie  Locke  den  Knaben 
zum  Weltmann  heranbilden,  aber  während  letzterer  häusliche  Erziehung  fordert, 
übertreibt  Geliert  einseitig  den  Gedanken  Lockes  von  der  Annehmlichkeit  des 
Lernens,  er  versteht  ihn  schief  und  folgert  aus  der  gröfseren  Anregung  von 
Sitten  und  Verstand  den  Vorzug  der  Erziehung  in  einer  Stadt  wie  Leipzig, 
die  doch  für  ein  derartiges  Unternehmen  nicht  eben  sehr  geeignet  gewesen 
sein  wird.  Man  kann  sich  kaum  einen  gröfseren  Gegensatz  zur  Erziehung 
des  Emil  denken,  und  sehr  viel  Anklang  scheint  dieses  Gellertsche  Prinzip 
auch  kaum  gefunden  zu  haben,  wenn  er  auch  an  jener  Stelle  versichert,  es 
seien  jetzt  verschiedene  Knaben  in  dieser  Absicht  in  Leipzig;  wenigstens  findet 
man  in  späteren  Jahren  kaum  eine  Spur  davon.  Im  Sinne  Lockes  mufste 
sich  mit  dieser  Erziehung  notwendigerweise  eine  Frühreife  verbinden,  und 
Geliert  urteilt:  'Der  Vorteil  ist  grofs.  Sie  (die  jungen  Herren)  fangen  etliche 
Jahre  eher  an  zu  leben  und  hören  etliche  Jahre  eher  auf,  Kinder  zu  sein/ 
Auch  die  schwedische  Gräfin  klagt,  sie  wäre  einige  Jahre  früher  'vernünftig' 


')  Er  nennt  ihn  auch  Anfühier,  Führer,  Aufseher,  Informator 
*)  Basedow,  a.  a.  0.  S.  563. 


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geworden,  wenn  ihr  Vetter  allein  sie  erzogen  und  nicht  der  Einflufs  von  dessen 
Frau  den  »einigen  durchkreuzt  hätte  (IV  196).  Wieder  ist  Rousseau,  sind 
aber  auch  die  Philanthropinisten  energische  Gegner  dieser  ungesunden  Tor- 
zeitigen Reife.1) 

Aber  wir  kehren  zum  Hofmeister  zurück,  der  denn  doch  Gelierte  Ideal 
zum  Trotz  auch  in  des  Dichters  Freundeskreis  meist  seinen  Zögling  zu  Hause 
auf  die  Akademie  vorbereitete  (so  V  166).  Geliert  malt  sich  zwischen  dem 
Jüngling  und  seinem  'Führer'  ein  herzliches  Verhältnis  aus,  wie  jener  diesem 
sein  Herz  entdeckt  und  sich  zur  Abwehr  von  Versuchungen  und  Gefahren 
Rats  bei  ihm  erholt  (IX  232  f.).  Wo  kein  Hofmeister  vorhanden  ist,  da  treten 
Freunde  oder  Verwandte  hilfreich  an  seine  Stelle,  wie  Christianchen  in  der 
'Betschwester'  von  ihrer  älteren  Freundin  Lorchen  und  von  der  Frau  des  Herrn 
Ferdinand  erzogen  und  gebildet  werden  soll.  Geliert  rühmt,  dafs  so  öfter 
Kinder  böser  und  schlechter  Eltern  durch  rechtschaffene  Hofmeister  brave 
Menschen  werden  können  (VH  98  f.);  dafs  der  Fall  auch  umgekehrt  eintreten 
könnte,  das  scheint  ihm  gar  nicht  in  den  Sinn  zu  kommen.  Der  ideale  Hof- 
meister ist  Herr  R**  in  der  'Schwedischen  Gräfin',  ein  Abbild  des  Dichters 
selbst;  dieses  Buch  ist  überhaupt  der  pädagogische  Musterroman  für  Geller^ 
so  sehr  man  sich  heute  über  die  widersinnige  Mischung  von  Moral  und  Un- 
moral wundern  mag,  die  in  diesem  Werk  herrscht.  Hier  übergiebt  auch 
Caroline  ihren  Sohn  schon  in  seinen  zartesten  Jahren  einem  geschickten  Manne 
zur  Aufsicht  und  ruft  erst  den  Dreizehnjährigen  auf  kurze  Zeit  zu  sich,  da  sie 
ihren  Tod  nahe  glaubt  (IV  220).  Die  schwedische  Gräfin  ist  —  wir  haben  es 
oben  schon  gesehen  —  von  ihrem  Vetter  erzogen.  Aus  dem  ungeratenen 
Simon  im  'Los  in  der  Lotterie')  der  als  'Freigeist'  möglichst  abschreckend 
wirken  soll,  wäre  nach  des  Verfassers  Meinung  gewifs  ein  besserer  Mensch  ge- 
worden, wenn  er  nicht  seinen  Hofmeister  fortgeschickt  hatte  (HI  267). 

Aber  Geliert  ahnt  doch  wenigstens  etwas  von  dem  reichen  Segen  des 
häuslichen  Lebens  auch  für  die  Erziehung.  Bildet  der  Informator  seinen  Zög- 
ling im  Elternhause  heran,  dann  sollen,  wenn  möglich,  die  Eltern  dem  Unter- 
richt ihrer  Kinder  beiwohnen  (VH  125).  Leider  aber  thun  das  die  wenigsten, 
und  jener  Bauer  in  der  Erzählung  'Der  Informator'  ist  eine  löbliche  Aus- 
nahme, 'als  obs  die  Pflicht  der  Väter  wär'  (I  220),  meint  ironisch  der  Dichter. 
Das  Hauptthema  dieser  Erzählung  ist  die  unwürdige  Behandlung  und  elende  Be- 
zahlung, die  dem  Hofmeister  gewöhnlich  zu  teil  werden,  und  gegen  die  Geliert 
wieder  im  Bunde  mit  Locke  (§  90  ff.)  und  Basedow  (a.  a.  0.  S.  563)  kämpft 
(vgl.  VII  99).  Für  die  Erziehung  seines  Kindes  darf  dem  Vater  nichts  zu 
teuer  sein,  und  jener  Bauer  ist  mit  Recht  darüber  aufgebracht,  dafs  der  Infor- 
mator nicht  mehr  Bezahlung  verlangt  als  sein  Grofsknecht  erhält.  Sein  Edel 
mann  freilich  giebt  'für  sein  halb  Dutzend  Knaben  Mit  vielem  Stolz  kaum 
dreifsig  Gulden'  (I  221).   Geliert  kennt  die  hohen  Anforderungen,  die  das  Amt 

')  Für  die  PhUantropinisten  vgl.  die  'Allgemeine  Revision  des  gesamten  Schal-  and 
EraehungsweBens'  IX  (Locke)  8.  439  f.  Wien  and  Wolfenbflttel  1787.  Wie  die  Prunreife 
der  Zeit  entsprach,  dafür  vgl.  Schaller  S.  12  f. 


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W.  Haynel:  Geliert«  pädagogische  Wirksamkeit 


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des  Erziehers  stellt,  und  er  wünscht,  dafs  junge  Leute  von  erfahrenen  Hof- 
meistern auf  den  Akademien  Rat  und  Unterricht  für  die  Praxis  erhielten 
(VU  100).  80  schweben  ihm  hier  'kleine  Pflanzschulen'  für  Hofmeister  vor, 
ein  Urbild  unserer  pädagogischen  Seminare  an  Universität  und  Gymnasium. 
Er  selbst  zog  durch  Vorlesungen  über  diesen  Gegenstand  Nachwuchs  für  diese 
verantwortungsvolle  Stellung  heran1);  wie  gesucht  seine  Schüler  als  Erzieher 
waren,  haben  wir  oben  gesehen  (S.  226). 

Schlägt  Geliert  bei  der  Erziehung  den  EinfluTs  des  Familienlebens  gering 
an,  so  will  er  dagegen  dem  Säugling  von  der  Mutter  die  erste  Nahrung  ge- 
reicht sehen.  Der  Kampf  gegen  die  Ammen  war  in  Lockes  Erziehungstheorie 
enthalten  gewesen,  die  Moralischen  Wochenschriften  hatten  das  Thema  auf- 
gegriffen, auch  Basedow  hatte  gegen  diese  Vertreterinnen  der  Mutter  geeifert 
(a.  a.  0.  S.  530),  und  Rousseaus  Zorn  über  sie  ist  bekannt.  Geliert  fürchtet 
von  den  Ammen  'sowohl  Krankheiten  der  Seele  als  des  Blutes*  für  die  Kinder 
(VU  101  f.),  und  seinen  Tartarenfürsten,  der  in  Nachäffung  europaischen  Vor- 
bildes befohlen  hatte,  alle  Kinder  Ammen  zu  übergeben,  bedroht  eine  edle 
Frau  mit  dem  Tode,  wenn  er  ihr  Kind  von  ihrer  Brust  risse  (I  187  f.). 

Mit  Locke  (§  4)  stellt  Geliert  das  kräftige,  gesunde  Bauernkind  dem  Stadt- 
kind zu  dessen  Nachteil  gegenüber  und  fordert,  man  möge  die  Sitten  des  Land- 
volks allgemein  bei  der  Erziehung  von  Kindern  nachahmen  (VQ  102  f.). 
Gesunde  körperliche  Erziehung  verlangt  er  mit  seinen  Vorgängern;  die  Fabel 
'die  Affen  und  die  Bären'  vergleicht  die  an  Hitze  und  Frost  gewöhnten,  kräf- 
tigen jungen  Bären  mit  der  verweichlichten  und  verzärtelten  Affenjugend  und 
schliefst  mit  der  Moral: 

Was  macht  die  Kinder  siech?    Vielleicht  Natur  und  Zeit? 

Nein,  mehr  der  Eltern  Weichlichkeit. 

0  Reicher,  soll  dein  Kind  gesund  in  Städten  blühen, 

So  zieh  es  in  der  Stadt,  wie  es  die  Dörfer  ziehen.    (I  270  f.) 

Es  ist  anzuerkennen,  dafs  Geliert  trotz  ängstlicher  Fürsorge  für  seinen 
eigenen,  zarten  Körper  Einsicht  genug  besafs,  um  sich  dem  sicheren  Blick  des 
Engländers  unterzuordnen,  der  hier  seine  nationale  Erziehung  zu  Ehren  brachte. 
Wie  Locke  (§  8.  §  13)  wünscht  Basedow  (a.  a.  0.  S.  540  f.),  wünscht  Geliert 
einfache  Kost,  nicht  zu  viel  Schlaf  und  ein  hartes  Lager,  viel  frische  Luft, 
Leibesübungen,  Gewöhnung  an  Unbilden  der  Witterung,  nicht  zu  warme  und 
nicht  einengende  Kleidung  (VI  205  ff.  VU  122  f.),  'das  frische  Wasser'  und 
das  'gesunde  Brot*  (VU  102  f.)  sind  die  beste  Nahrung  für  Kinder.  Auch 
seinen  Studenten  predigte  er  Mäfsigkeit  und  Sorge  für  Gesundheit  und  Körper, 
indem  er  sich  auf  sein  eigenes  Beispiel  berief,  aber  auch  ein  schönes  Lehr- 
gedicht anerkennend  nannte  (VI  205  f.).  Seines  mäfsigen  Lebens  freut  sich 
der  Vater  des  schwedischen  Grafen  noch  auf  dem  Sterbebett  (IV  211). 

Das  heranwachsende  Kind  bekomme  nur  das  beste  Beispiel  zu  sehen 

')  Aach  der  'Nordische  Aufseher'  1762  II  S.  S69  fordert  Lehrer  auf  den  Akademien, 
welche  'die  schwere  Kunst,  Kinder  zu  unterrichten  und  zur  Tugend  anzuführen,  ordentlich 
gleich  anderen  Wissenschaften  vortrügen'.   Ähnliches  strebte  auch  Bflsching  an. 


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W.  Haynel:  Geliert«  pädagogische  Wirksamkeit 


(VII  115).  Locke  hatte  (§  71)  das  herrliche  Wort  Juvenals  'maxima  debetur 
pueris  reverentia' !)  als  Richtschnur  aufgestellt,  und  Geliert  fibersetzt  es  'Man 
habe  für  den  Knaben  die  höchste  Ehrerbietung'  (VII  131).  Was  Geliert  über 
Sparsamkeit  und  Freigebigkeit  und  über  Besserung  der  Fehler  des  Kindes  vor- 
bringt, hat  er  fast  wortlich  Basedow  entnommen,  den  er  auch  anfuhrt  als 
seinen  Gewährsmann  (VII  105  f.).  Wenn  Locke  den  Ehrgeiz  der  Kinder  zu 
erregen  sucht,  so  warnen  Basedow  sowohl  wie  Geliert  davor,  ihn  zu  sehr  zu 
wecken,  denn  Eifersucht  und  Neid  würden  die  Folge  sein.  Wohl  will  auch 
Basedow  (a.  a.  0.  S.  549)  nebenher  den  Trieb  zur  Ehre  starken,  aber  die 
Hauptsache  ist  ihm  das  Trachten  nach  Ehre  bei  Gott,  und  das  pafste  in 
Gellerts  Anschauung  vortrefflich  hinein.  Er  lehnt  den  Ehrgeiz  vollständig  ab, 
nach  ihm  sollen  Kinder  alles  möglichst  rühmlich  und  vollkommen  thun,  um 
dem  Gebot  des  Allmächtigen  nachzukommen,  sein  Wohlgefallen  und  die  Liebe 
der  Vernünftigen  zu  erwerben  (VII  125  ff.).  So  knüpft  er  auch  hier  an  die 
Religion  an.  Bei  der  Aufzahlung  unschädlicher  Belohnungen  stimmt  Geliert 
wieder  fast  wörtlich  mit  der  'Praktischen  Philosophie'  überein,  wo  Werkzeuge, 
nützliche  Bücher,  vermehrte  Freundlichkeit  empfohlen  werden.  Locke  nennt 
noch  'Ruhm  und  Ehrenzeichen1,  beide  sucht  man  bei  Geliert  und  Basedow  ver- 
gebens, jener  warnt  sogar  bei  dieser  Gelegenheit  noch  einmal  ausdrücklich 
davor,  den  Ehrgeiz  anzuspornen  (VII  125).  Auch  die  Strafen,  die  Basedow 
vorschlägt,  übernimmt  Geliert,  'Entziehung  der  Gewogenheit,  den  kleinen 
Kerker,  den  Hunger'  empfiehlt  er,  aber  alle  Strafen  sollen  erst  einige  Zeit 
nach  dem  Fehltritt,  nach  Verrauchen  des  ersten  Zornes,  verhängt  werden. 
Wirkliche  Halsstarrigkeit  will  Geliert  mit  Locke,  der  sonst  so  sehr  gegen  die 
Anwendung  der  Rute  eifert,  mit  der  Rute  bestrafen  (VH  128  ff.).  Bevor  man 
das  Kind  aber  straft,  soll  man  versuchen,  dem  Kinde  die  'Gründe  und  Vor- 
stellungen von  der  Strafbarkeit  des  Bösen'  beizubringen,  und  schämen  soll  es 
sich  da  am  meisten,  'wo  es  die  Vernunft  am  meisten  befiehlt'  (VII  129  f.).  Da 
klingt  also  Lockes  bekannter  Rat,  mit  Kindern  zu  vernünfteln,  wider. 

Zu  Dankbarkeit,  Dienstfertigkeit,  Treue,  Verträglichkeit,  Zufriedenheit, 
Bescheidenheit,  Demut  und  Menschenfreundlichkeit  will  Geliert  die  Jugend  er- 
zogen sehen;  das  sind  fast  alles  passive  Tugenden,  und  der  Mensch  des  18.  Jahr- 
hunderts zeigt  sich  in  ihm,  wenn  er  von  der  Vaterlandsliebe,  die  man  bei  den 
Alten  so  rühme,  sagt:  'was  ist  sie  oft  alB  eine  parteiische  und  schwärmerische 
Hitze  für  die  Ehre  und  den  ewigen  Namen  ihrer  Nation,  zum  Untergange  der 
Freiheit  und  des  Glücks  andrer  Völker?  Wo  ist  die  allgemeine  Menschen- 
liebe? Wo  die  Mildthätigkeit  in  der  Tugendlehre  der  Alten?'  (VI  52).  Hier 
hätte  sich  Geliert  Locke  zum  Muster  nehmen  können,  dessen  ganze  Erziehung 
nationalen  Charakter  trägt  und  der  von  schlechter  Jugeridbildung  den  Verlust 
von  virtue,  ability,  learning,  courage  furchtet,  die  die  Engländer  wie  kein  andres 

')  Das  bezieht  Basedow  (a.  a.  0.  8.  646)  mit  einem  groben  Mißverständnis  auf  da* 
Ceremoniell  und  wünscht,  dafs  die  Kinder  daran  gewöhnt  werden,  dasselbe  Ceremoniell, 
das  die  Eltern  hohen  Standespersonen  gegenüber  beobachten,  jenen  und  ihren  Aufsehern 
gegenüber  zu  zeigen. 


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W.  Haynel:  Gellerts  pädagogische  Wirksamkeit  233 

Volk  bis  dabin  ausgezeichnet  hatten  (§  70).  Und  wieder  wird  ein  Thema  des 
18.  Jahrhunderts  angeschlagen:  der  Roman  zeigt  eine  glückliche  Ehe  zwischen 
der  schwedischen  Grafin  und  dem  Herrn  R**,  zwischen  adliger  Dame  und 
bürgerlichem  Mann,  allerdings  wohl  das  einzigem al,  wo  der  zaghafte  Geliert 
dieses  Thema  der  *  Moralischen  Wochenschriften*  verwendet.  Eine  andere 
Mahnung  dieser  lehrhaften  Litteratur  hat  dagegen  Geliert  sein  ganzes  Leben 
lang  wiederholt  und  sich  hierin  mit  Locke,  Richardson  und  Basedow  zusammen- 
gefunden, die  freundliche  Behandlung  der  Dienstboten;  Fabeln,  Roman  und 
Lustspiele1)  predigen  sie  dem  Leser. 

Wir  möchten  noch  auf  eines  hinweisen.  Es  ist  die  schwere  Aufgabe  des 
Erziehers,  auf  die  Individualität  des  heranwachsenden  Knaben  Rücksicht  zu 
nehmen.  Hier  war  Locke  der  Meister  feiner  Seelenkenntnis,  der  manch  über- 
raschend tiefen  Blick  in  das  Leben  der  jugendlichen  Seele  geworfen  hatte.  Er 
hatte  insbesondere  auf  das  Verhältnis  zwischen  Eltern  und  Kind  hingewiesen, 
wie  es  z.  B.  zwischen  Vater  und  Sohn  immer  mehr  freundschaftlicher  Natur 
werden  solle  (§  95  ff.).  Ein  Nachklang  dieser  feinen  Beobachtung  findet  sich 
nur  ein  einzigesmal  bei  Geliert,  in  dem  pädagogischen  Musterbuch,  zu  dem  es 
der  Verfasser  bestimmt  hatte,  hat  der  schwedische  Graf  in  seinem  Vater  nach 
dessen  Willen  mehr  den  Freund  als  den  Vater  lieben  gelernt  (IV  201). 
Gelegentlich  fehlt  auch  bei  Geliert  nicht  der  Hinweis  auf  die  individuelle  Bo 
bandlung  der  Kinder;  er  warnt  davor,  sie  einfach  so  zu  erziehen,  wie  man 
selbst  erzogen  ist,  ohne  Fähigkeiten  und  Neigungen  zu  erforschen  (VU  106), 
aber  von  einer  wirklichen  Kenntnis  des  Kindergemütes  und  der  Jugend  findet 
sich  kaum  eine  Spur.  Geliert  kannte  ja  wirklich  aus  eigener  Erfahrung  nur 
sentimentale  junge  Mädchen  und  fromme  Studenten. 

Wir  wenden  uns  zum  ersten  Unterricht  der  Kinder,  etwa  bis  zum  fünften, 
sechsten  Lebensjahr.  Mit  seinen  Vorbildern  lehrt  Geliert,  dafs  er  mehr  Ver- 
gnügen als  Arbeit  sein  soll,  mehr  sinnliches  Spielwerk  als  trockene  Unter- 
weisung. Buchstaben  lernen  Kinder  nicht  aus  Büchern,  sondern  man  klebt  sie 
auf  Karten,  Bilder  und  ähnliches,  auch  wird  auf  die  Natur  verwiesen,  wo  viel 
zu  sehen  ist,  woran  das  Kind  denken  lernen  kann  (VH  106  ff.).  Ganz  wie 
Locke  es  betont,  soll  auch  nach  Geliert  möglichst  grofse  Abwechselung  in  der 
Beschäftigung  des  Zöglings  herrschen  und  Spielen  und  Lernen  einander  mög- 
lichst angenähert  werden.  Was  die  Kinder  sehen  und  hören,  soll  ihnen  ge- 
lt,  oft  wiederholt  und  so  nach  und  nach  eingeprägt  werden;  allmählich  kann 
dann  zum  Lesebuch  übergehen,  das  erst  Wörter,  dann  kleine  Sätze, 
Bchliefslich  Erzählungen,  Fabeln,  Briefe,  moralische  Regeln  enthalte.  Diese 
Sätze  entnahm  Geliert  wörtlich  Basedow  (vgl.  das  Citat  VH  107),  nur  die 
'Fabeln',  die  in  der  Vorlage  fehlen,  fügte  er  ein.  Denn  hier  war  seiner  Theorie 
nach  der  Platz  für  die  Verwendbarkeit  der  Fabel  im  Unterricht.  Übrigens 
fand  auch  Locke  Äsops  Fabeln  vortrefflich  geeignet,  Kinder  zu  vergnügen 
und  zu  unterhalten,  und  ihnen,  aber  auch  bejahrten  Männern,  Stoff  zu  nütz- 

■)  Vgl.  Haynel,  a.  a.  O.  8.  64  f. 


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234  W.  Haynel:  Gelferts  pädagogische  Wirksamkeit 

liehen  Betrachtungen  abzugeben  (§  156).  *)  Auch  die  Art,  wie  Frau  von 
Beaumont  fafsliche  Sittensprüche  in  Fabeln  und  Erzählungen  einkleidete, 
rühmte  der  Redner  (VII  110).  Diesen  moralischen  Regeln  sollten  sich  dann 
*die  ersten  Wahrheiten  der  Religion,  die  sich  dem  Verstände  eines  Kindes  be- 
greiflich machen  lassen'  (VII  107)  anschliefsen. 

Damit  kommen  wir  auf  den  Teil  des  Unterrichts  zu  sprechen,  der  für 
Geliert  der  wichtigste  war,  den  Religionsunterricht.  Sein  Leben  lang  hat 
Geliert  zwischen  Orthodoxie,  Pietismus  und  Rationalismus  keine  ganz  klare 
Stellung  gewonnen*);  die  Wertschätzung  der  heiligen  Schrift  verband  ihn  mit 
der  Orthodoxie,  das  glaubige,  lebendige  Christentum  fand  er  im  Pietismus, 
und  seine  Freude  an  der  Offenbarung  Gottes  in  Natur-  und  Menschenleben, 
seine  Neigung  zu  vernünftigem  Denken  mufsten  ihn  dem  Rationalismus  ver- 
binden. In  vielen  seiner  geistlichen  Lieder  spricht  sich  eine  förmliche  Ver- 
meidung des  Dogmas  aus,  und  ihm  war  die  christliche  Religion  die  beste 
Sittenlehre,  daher  entsprach  diese  Religion  durchaus  der  Vernunft  Diese 
praktisch  rationalistische  Anschauung  spricht  sich  am  schärfsten  in  der 
'Schwedischen  Gräfin'  aus.  Sie  sagt  von  ihrem  Vetter:  'Man  glaube  ja  nicht, 
dafs  er  eine  hohe  und  tiefsinnige  Philosophie  mit  mir  durchging.  0  nein,  er 
brachte  mir  die  Religion  auf  eine  vernünftige  Art  bei  und  überführte  mich 
von  den  grofsen  Vorteilen  der  Tugend  .  (IV  196),  und  sie  meint:  'Ich  glaube 
auch  gewifs,  dafs  die  Religion,  wenn  sie  uns  vernünftig  und  gründlich  bei- 
gebracht wird,  unsern  Verstand  eben  so  vortrefflich  aufklären  kann,  als  sie 
unser  Herz  verbessert*  (IV  197).  'Viele  Leute  würden  mehr  Verstand  zu  den 
ordentlichen  Geschäften  des  Berufs  und  zu  einer  guten  Lebensart  haben, 
wenn  er  durch  den  Unterricht  der  Religion  wäre  geschärft  worden'  (TV  197). 
Hier  scheint  also  der  Rationalismus  zu  herrschen,  und  in  den  1756  ge- 
druckten 'Betrachtungen  über  die  Religion'  heifst  es  ähnlich  'Die  Absicht 
der  Religion  besteht  darin,  dafs  sie  unsre  falschen  Begriffe  reinigen,  die 
Neigungen  unsere  Herzens  bessern  .  .  .  und  sie  und  unsre  Handlungen  den  Ge- 
setzen der  Vernunft  und  Tugend  unterwerfen  . . .  soll'  (V  85).  Etwas  andere 
klingt  das,  was  Geliert  in  den  'Moralischen  Vorlesungen'  für  den  Religions- 
unterricht in  den  ersten  Jahren  der  Kindheit  vorbringt,  etwa  bis  zum  zehnten 
oder  zwölften  Jahre  (VH  117).  Hier  handelt  es  sich  um  Bildung  des  Ver- 
standes und  des  Herzens  beim  Unterricht  in  der  Religion,  beides  läuft  neben- 
einander her.  Aus  den  Werken  der  Natur,  aus  der  Schönheit  und  Vollendung 
der  Welt  lerne  das  Kind  Gottes  Güte  und  Heiligkeit  empfinden'),  vor  allem 
aber  werde  die  Religion  geweckt  durch  das  Leben  des  Erlösers,  durch  Bei- 
spiele aus  der  biblischen  Geschichte  und  dem  Leben  frommer  Männer,  ins- 
besondere des  Paulus;  denn  das  Privatleben  frommer  und  weiser  Leute  erscheint 

•)  Dazu  bemerkte  Campe  sehr  richtig  (Revisionswerk  8. 469),  dafs  verschiedene  Äsopische 
Fabeln  weder  der  Fassungskraft  der  Kinder  noch  einer  für  sie  geeigneten  Sittenlehre  ent- 
sprächen. 

*)  Frenael,  a.  a.  0.  8.  16  ff. 

•)  Vgl.  n  80  das  dem  Psalm  nachgedichtete:  'Die  Himmel  rahmen  de«  Ewigen  Ehre.' 


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W.  Haynel:  Geliert*  pädagogische  Wirksamkeit  235 

ihm  für  die  Jugend  lehrreicher  als  das  glanzende  Leben  der  Grofsen1)  (VII  115). 
So  schlagt  er  hier  die  Brücke  zur  moralischen  Auffassung  aller  Geschichte. 
Geliert  protestiert  gegen  die  Methode,  durch  trockene  und  langweilige  Erklärung 
einer  Glaubenslehre  oder  durch  Auswendiglernen  des  Katechismus  Religion  zu 
lehren,  jene  Beispiele  aus  der  Vergangenheit  und  Gegenwart  sollen  vielmehr 
zu  praktischer  Nacheiferung  auffordern1),  und  das  Leben  Christi  Ehrfurcht, 
Liebe  und  Gehorsam  gegen  Gott  erwecken.  An  dieser  Stelle  citiert  Geliert  als 
Muster  für  solchen  Unterricht  die  Anweisung,  die  der  'Nordische  Aufseher* 
gegeben  hatte  (VII  114).  Auch  dieser  wollte  durch  Beispiele  aus  Christi  Leben 
Verstand  und  Herz  bilden  und  nach  Erkenntnis  begierig  machen,  anderseits 
den  Willen  erregen  und  zum  Gehorsam  gegen  Gott  anleiten.  Auch  Locke  und 
Basedow  hatten  ähnliches  angestrebt.  Wir  haben  hier  also  eine  praktische, 
aber  auch  zum  Herzen  sprechende  Tendenz,  abgelehnt  wird  der  Unterricht  der 
Orthodoxie.  Der  Verstand  ist  freilich  keineswegs  ganz  zurückgetreten,  und  der 
Rationalist  kommt  ganz  deutlich  auf  der  zweiten  Stufe  der  Erziehung  zu  Worte. 
Hier  soll  der  formliche  Unterricht  beginnen  und  die  Religion  'der  Jugend 
zwar  gründlich,  aber  darum  nicht  unverständlich,  zwar  in  einer  guten  Ordnung, 
aber  darum  nicht  in  einem  trocknen  und  tiefsinnigen  Lehrgebäude'  vorgetragen 
werden  (VII  119).  Richtige  und  würdige  Begriffe  von  den  Glaubenslehren 
mufs  man  sich  machen,  dann  wird  man  die  Religion  als  göttliche  Weisheit 
▼erehren  und  lieben  und  in  ihr  den  einzigen  Weg  zur  wahren  Glückseligkeit 
erkennen  (VH  120).  Aus  dieser  Kenntnis  geht  dann  als  schönste  Frucht  die 
Liebe  zu  Gott  hervor  'die  Wissenschaft  der  Seligkeit  hat  das  mit  allen  mensch- 
lichen Künsten  und  Wissenschaften  gemein,  dafs  sie  zuerst  mit  dem  Verstände 
gefafst  werden  mufs,  ehe  sie  durch  die  Anwendung  unser  wahres  Eigentum 
wird'  (V  86).  Geliert  citiert  Young:  'Einen  Gott  erkennen,  ist  der  Freude 
Anfang;  einen  Gott  anbeten,  ist  der  Freude  Wachstum;  einen  Gott  lieben,  ist 
der  Freude  völlige  Reife',  und  fügt  hinzu:  'Ihn  aber  erkennen,  und  Empfindungen 
der  Seele  gegen  ihn  haben,  die  dieser  Erkenntnifs  gemäfs  sind,  und  das  thun, 
was  diese  Empfindungen  uns  empfehlen,  dieses  ist  die  Anbetung  Gottes,  das 
Wesen  und  das  Glück  der  Religion'  (VI  85).  Vgl  VI  11;  VH  9;  VIII  352  u.  ö. 
Dieses  scheint  uns  der  Kern  der  Anschauung  Gellerts  von  Religion  zu  sein, 
erst  die  Erkenntnis,  dann  eine  Liebe  und  zwar  eine  werkthätige  Liebe.  Ganz 
klar  wird  freilich  seine  Stellung  nie,  und  es  ist  bezeichnend,  dafs  er  für  den 
religiösen  Bildungsgang  Mosheims  Sittenlehre  rühmt  (IX  147),  der  ebensowenig 

wie  er  selbst  einen  ganz  festen  theologischen  Standpunkt  besafs.*) 

— ■  

')  'Lehrreicher',  ja,  aber  man  darf  mit  Schaller  a.  a.  0.  8.  17  fragen,  auch  anziehender? 

*)  Vorbildlich  wirkt  auch  der  Tod  wahrer  Christen;  er  zeigt  Ergebenheit,  ja  Freude, 
die  köstliche  Fracht  frommen  Lebenswandels.  So  wird  der  Tod  frommer  Männer  gern  be- 
schrieben, in  der  Schwedischen  Gräfin  IV  74  ff.  840  f.,  so  verwendet  Cramer  Gellerts  eigenen 
Tod  X  259  —  «66(!).  Abschreckend  wirkt  dagegen  der  Tod  des  Sünders  und  Freigeist« 
W  m  ff.   Haynel,  S.  52. 

*)  Vgl.  Allgemeine  deutsche  Biographie  XXII  397. 

(8chlufc  folgt) 


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ANZEIGEN  UND  MITTEILUNGEN 


ÄSTICAMPIANS  LEIPZIGER  ABSCHIEDS. 
REDE 

Eines  Tages  im  Sommersemeatcr  1511 
herrschte  in  den  Hofen  und  Gängen  und 
Räumen  der  Leipziger  Universität  grofse 
Aufregung.  Am  schwarzen  Brett  war  ein 
Zettel  angeschlagen,  auf  dem  in  lateinischer 
Sprache  geschrieben  stand:  'Johannes  Ästi- 
campianus,  im  Begriff,  von  hier  fortzuziehen, 
wird  nach  seiner  Sitte  allen,  die  zu  dieser 
Universität  gehören,  Vorgesetzten  und  Unter- 
gebenen, ein  letztes  Lebewohl  sagen.  Mögen 
alle  sich  einfinden,  die  nicht  sowohl  den 
Menschen  —  er  ist  ein  Poet!  —  ab  die 
Wahrheit  —  sie  ist  göttlichen  Wesens!  — 
lieben  und  verehren.  Heute  Nachmittag 
2  Uhr  im  Auditorium  maximum.' 

Der  Mann,  der  dies  geschrieben,  hiefs 
eigentlich  Johannes  Rack,  hatte  aber  seinen 
Familiennamen  in  Ragius  latinisiert  und 
nannte  sich  dazu  nach  seinem  Geburtsorte 
Sommerfeld  in  der  Neumark  Ästicampianus. '  ) 
Er  gehört  zu  den  vagabundierenden  Huma- 
nisten seiner  Zeit,  ein  Geistesverwandter  des 
grofsen  Ulrich  von  Hutten.  Er  war  ungemein 
fleifsig  und  strebsam  und  gründlich  gelehrt, 
doch  alles  andere  als  ein  Stubenhocker;  ein 
gut  Teil  der  Welt  hatte  er  mit  offenen 
Sinnen  und  reichem  Gewinn  für  sein  Innen- 
leben durchwandert.   Er  war  begeistert  für 


')  Von  dem  sehr  dürftigen  Artikel  der 
Allgemeinen  deutschen  Biographie  (I  133) 
ist  zurückzuverweisen  auf  Böcking,  Hutteni 
operum  supplemenhim  n  293  ff.,  der  wieder 
auf  Jo.  Alb.  Fabricius,  Bibliotheca  Latina 
mediae  et  infimae  aetati»  VI  108  ff.  zurück- 
geht. Vgl.  ferner  Enders,  Luthers  Brief- 
wechsel I  126  Anm.  5.  Jl  61  Anm.  2.  Seide- 
mann, Die  Leipziger  Disputation  S.  16. 
Straufs,  Ulrich  von  Hutten,  Register  s.  v. 
Krause,  Helius  Eobanus  Hessus  I  111  ff. 
Vor  allem  G.  Bauch,  Archiv  für  Litteratur- 
beschichte  XH  321  ff.  XHI 1  ff.,  Zeitschrift  für 
Kirchengeachichte  XVIII  396  f. ,  Geschichte 
des  Leipziger  Friihhumanismus  (Beihefte  zum 
Centraiblatt  für  Bibliothekswesen  XXII 
S.  172  ff. 


die  neu  entdeckte  Antike,  doch  bewahrte  er 
sich  sein  gut  deutsches  Herz  —  wie  werden 
die  Jünglinge  gelauscht  haben,  wenn  er 
ihnen  des  Tacitos  Germania  interpretierte! 
Ein  stolzer  Freimut,  der  in  herausfordernd? 
Keckheit  umschlagen  konnte,  gab  seinen 
Reden  etwas  Hinreißendes,  —  aber  nie  ver- 
fiel er  in  ordinäres  Witzeln  und  Schimpfen. 
Im  Wintersemester  1607/8  wurde  er  in  Leipzig 
immatrikuliert:  dns.  Iohannes  Esticampianu«, 
professor  rhetorice  artig  et  poeta  laureatof. 
Aus  der  im  folgenden  mitgeteilten  Rede  er- 
hellt, mit  welchem  Eifer  er  sieb  seinem  Be- 
rufe und  seinen  Studien  widmete.  Doch 
wurde  ihm  seine  Wirksamkeit  sehr  bald  ver- 
leidet durch  die  kleinlich-gehässigen  Ia- 
triguen,  mit  denen  ihn  die  alten,  zähe  an  der 
mittelalterlichen  sterilen  Scholastik  hangen 
den  Professoren  verfolgten;  sie  sahen  in  ihm 
einen  frechen  Eindringling  und  Revolutionär 
Sie  schlössen  ihm  die  Hörsäle  zu,  beauf- 
tragten andere  mit  Abhaltung  der  Vor- 
lesungen, die  auf  ihn  fielen,  hetzten  die 
Studenten  gegen  ihn  auf,  verdächtigten  ihn 
beim  Herzog  Georg,  bis  dieser  ihm  seine 
Huld  entzog,  kurz,  quälten  ihn  auf  alle 
Weise,  bis  er  sich  entschlofs,  freiwillig  zu 
weichen.  Vorher  aber  wollte  er  mit  seinen 
Feinden  und  Neidern  noch  Abrechnung 
halten  und  ihnen  in  seiner  Abschiedfrede 
nach  Herzenslust  die  Wahrheit  sagen.  Diese 
ist  uns  glücklicherweise  erhalten. ')  Sie  ist 


')  Fehlerhaft  gedruckt  aus  einer  E.  8 
Cyprian  gehörenden  Handschrift  in  einer 
schwer  zugänglichen  Gelegenheitsschrift:  De 
Ioanne  Rhagio  Aeeticampiano  .  .  .  prae*idi' 
M.  Daniele  Fidlero  ...  ad  diem  XXUI 
Maji  MDCCm  publice  disputabitur  H.  L.  Q  C 
In  Abschrift  Stephan  Roths  findet  sie  sich  im 
Cod.  XXIV.  VII.  3  fol.  60»— 52*  der  Zwickauer 
RatsbibUothek.  Dieser  Text  ist  im  folgenden 
zu  Grunde  gelegt.  —  Varianten:  S.  1  Z.  i 
nach  orationem:  quandam  (am  Rande:  ali- 
quant); Z.  7  statt  veri:  viri;  Z.  10  statt  etiam: 
mihi ;  Z.  11  st.  praesens:  enim;  Z.  26  st  nobis: 
mihi;  Z.  27  Bt.  labor  pene:  laborque  (a.  R 
dazu:  pene);  vos  — ;  8.  2  Z.  1  st  tum:  cum; 


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Anzeigen  und  Mitteilungen 


237 


ein  wahres  Master  humanistischer  Bered- 
samkeit: schOn  und  stolz  und  kraftvoll  ist 
die  Sprache,  besonders  köstlich  aber  die 
Ironie,  mit  der  er  im  dritten  Teile  —  übri- 
gens durchgehend»  in  anständigem,  male 
vollem  Tone  —  gegen  seine  Widersacher 
loszieht.  Feige  und  erbärmlich,  wie  ihre 
ganze  Kampfesweise,  war  ihre  Antwort:  sie 
relegierten  ihn  auf  zehn  Jahre.  Was  kümmerte 
ihn  das?  Als  Sieger,  als  Triumphator  zog  er 
von  dannen.  Seine  Bede  aber  kursierte  mit 


Z.  6  st.  animi:  anime;  Z.  7  st.  pestem:  pestes; 
Z.  8  st  laboriose:  laboriosas;  Z.  10  st.  ut 
(moribus):  et  (moribus);  Z.  12  st.  cum:  tum; 
Z.  16  st.  victui:  victum;  Z.  17  at.  famaegratia: 
vanae  gloriae;  Z.  21  semper  — ;  sint  — ;  Z.  22 
st  nobis:  mihi;  Z.  35  u.  8.  3  Z.  1  heilst  hier: 
qui  sunt  de  nomine,  de  celo,  de  animalibus 
domesticis  ac  feris,  de  auibus,  de  insectis 
et  peregrinis,  patrijs  arboribus;  Z.  2  st. 
oniniaque;  omni»;  st.  strenue:  secure;  Z.  4 
st.  cotnmentariola:  commentaria;  Z.  5  st. 
commodo:  commodato;  Z.  6  eam  corrigiert 
in  iam;  Z.  16  st.  laboris:  laborum;  Z.  16  st. 
et  privatim:  ad  primam;  Z.  17  st.  pertexerim: 
perrexerim  (a.  B.:  prouezerim);  Z.  19  st.  ani- 
marum:  animorum;  Z.  20  st.  eandem:  eam 
(a.  B:  cum);  8t.  propalamque:  palamque; 
Z.  23  st.  nihil :  nihilque ;  Z.  26  st  antiquiorum: 
antiquorum;  Z.  26  st.  picti:  depicti;  vor 
dicta:  sine  lepida;  Z.  27  st  rei:  res;  Z.  29 
st.  vel:  ne;  Z.  30  non  — ;  Z.  31  nach  Horatii: 
venusini;  S.  4  Z.  3  vor  mecum:  domi;  Z.  6 
«t.  triumphos:  triumphosque ;  Z.  14  vor  ei: 
hoc;  Z.  16  sit  -;  Z.  18  mihi  — ;  Z.  23  st. 
cum:  tum;  Z.  26  st.  alibi:  aliubi;  vor  nihil: 
et;  Z.  27  st.  iam:  ergo;  Bt.  bono:  loco;  8.  5 
Z.  7  st.  quo:  quod;  Z.  12  st  his:  iis;  Z.  14 
»t.  persequuti:  prosecuti;  Z.  16  nach  prae- 
eluserunt:  vel  alios  lectores  subornarunt; 
Z.  21  heilst  hier:  illos  numerare  non  est 
necesse;  Z.  24  aiunt  auditorea  se  velle;  Z.  27 
Sunt  Theologi,  Theologi  certe,  Theologi 
ront,  et  docti  et  probi  viri,  qui  .  .  .;  Z.  33 
etiam:  iam;  Z.  34  st.  tarnen:  tu;  Z.  35 
tt  vobis:  nobis;  8. 6  Z.  8  vel  — ;  Z.  9  loco  — ; 
Z.  11  st.  civitas:  grauitas;  Z.  13  st  tutari: 
curare;  Z.  16  autem  — ;  Z.  19  Baepius  — ; 
Z.  22  st  Sed :  sese  (a.  B. :  seque) ;  Z.  24  st. 
possent:  posaunt;  Z.  27  st  quia:  secundum 
quod;  Z.  84  st.  recte:  recta;  Bt.  insulsis: 
maltis;  S.  7  Z.  1  st  non:  nunc;  Z.  3  st.  vos: 
vobis ;  Z.  4  st.  repellitis  illud:  repeüimur 
(».  R.  dazu:  alio);  Z.  6  st.  eloquentum:  id 
«st  eloquentiam;  Z.  8  Bt.  Nam:  Atque;  der 
Schlufs  (Z.  18  ff.)  heifst  hier:  Inculti  ergo 
ieionique  uiuatis,  fede  atque  inglorii:  quid 
(lies  quod)  inuitus  ominor :  moriemini.  Sed  . . . ; 
Z.  19  st.  languidissimae:  languissime  (?); 
Z  21  nach  amen:  Valete  feliciter  Et  pro 
viatore  Esticampiano  deum  pie  ac  assidue 
wate.  Darunter:  Invitatio  eiusdem.  S.  Fidler 
8.  XV  n.  ••**.  Hier  noch  am  Ende:  hodie 
hora  2  in  maximo  auditorio. 


der  Überschrift:  '0  Wahrheit,  wie  bist  du 
den  Sterblichen  verhafst!'  unter  der  Leipziger 
Studentenschaft  und  drang  gewifs  auch  in 
weitere  Kreise.  Es  verlohnt  sich,  sie  aus 
dem  Staube  der  Vergessenheit  hervorzuholen. 

'Erwartet  nicht  von  mir,  deutsche  Männer, 
eine  wohlgesetzte,  kurzweilige  und  eure 
Ohren,  wie  es  vordem  oft  der  Fall  war, 
sanft  und  angenehm  kitzelnde  Bede!  Die 
Tag  für  Tag  sich  wiederholende  Qualerei, 
durch  die  ich  hier  beinahe  aufgerieben  bin, 
hat  mir  all  meine  gute  Laune  zerstört. 
Hört  euch  vielmehr  eine  kunstlose  und 
tapfere  und  wahre  Bede  aufmerksam  an, 
die  euch,  die  ihr  Freunde  der  Wahrheit 
seid,  sicher  mehr  interessieren  wird,  zumal 
da  ihr  das,  was  ich  sagen  will,  selbst  mit 
angesehen  und  mit  angehört  habt  —  darum 
kann  ich  mich  auch  kurz  fassen  —  die  mir 
zur  Verfügung  stehende  Zeit  gestattet  so 
wie  so  keine  wortreichen  HerzenBergiefsungen. 
Ich  will  euch  also,  wenn  ihr  mich  gütigst 
anhören  wollt,  kurz  das  erklären,  was  einigen, 
die  weder  meine  wissenschaftlichen  Grund- 
sätze, noch  meine  guten  Absichten  der  Uni- 
versität gegenüber  kennen,  ah  unklar  oder 
geradezu  sinn-  und  zwecklos  erschienen  ist. 
Zuerst  werde  ich  reden  von  der  Mühe,  die 
ich  während  fast  dreier  Jahre  auf  die  Unter- 
weisung sehr  vieler  von  euch  verwendet  habe. 
Darauf  will  ich  über  die  Schriftsteller,  über 
die  ich  in  dieser  Zeit  teils  privatim,  teils 
publice  Vorlesungen  gehalten  habe,  Heerschau 
halten,  zuletzt  aber  denen,  die  mich  verfolgt 
und  meine  ehrlichen  wissenschaftlichen  Be- 
strebungen mit  List  und  Gewalt  gehindert 
haben,  danken  —  zunächst  mit  Worten, 
wenn  sich  Gelegenheit  bietet,  auch  —  und 
zwar  gehörig  —  mit  der  That,  wogegen  ich 
denjenigen,  die  mit  Interesse  und  Gewinn 
mich  gehört  und  mit  Achtung  und  Liebe 
mir  begegnet  sind,  blofs  Dank  sagen  kann, 
—  den  Dank  mit  der  That  abzustatten,  ist 
mir  jetzo  nicht  mehr  vergönnt;  denn  ich 
mufs  von  hinnen  ziehen,  da  ihr  es  so  wollt, 
und  zwar  sogleich. 

Es  ist,  deutsche  Männer  und  Jünglinge, 
immer  mein  höchstes  Bestreben  und  unaus- 
gesetztes Bemühen  gewesen,  euch  alle,  die 
ihr,  um  zu  lernen,  euch  an  mich  wandtet, 
gewissenhaft  und  recht  zu  unterrichten  und 
seiner  Zeit  als  wissenschaftlich  und 
zugleich  moralisch  reife  Männer  zu  ent- 
lassen, damit  ihr  euch  zur  Ehre,  euren 
Vätern  zum  Gewinn,  der  christlichen  Beli- 
gion  zur  Zierde  leben  und  wirken  könntet. 
Um  dies  gut  und  richtig  leisten  zu  können, 
habe  ich  Länder  und  Meere  durchreist, 
Tage  und  Nächte  durchwacht,  mein  Ver- 


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238 


mögen  verbraucht,  Gesellschaften  gemieden, 
Freundschaften  mir  vom  Leibe  gehalten, 
Gefahren  des  Leibes  und  der  Seele  be- 
standen, Vergnügungen ,  denen  andere  fast 
die  ganze  Jugend  weihen,  als  mühselige 
Pest  für  die  Seele  mir  versagt  und  ihnen 
für  immer  den  Krieg  erklärt,  nicht  «war  aus 
einer  natürlichen  Antipathie  (denn  jeden 
reifst  seine  Begierde  fort1)),  sondern  nur, 
um  dem  Vaterlande  zu  nütcen  und  cur  Aus- 
bildung eurer  Talente  und  Charaktere  mein 
Scherflein  beizutragen.  Eine  Zeit  lang  habe 
ich  täglich  vier  Stunden  Kolleg  gelegen, 
während  ich  zugleich  andere  teils  zum 
Repetieren  und  Einprägen,  teils  zur  Prä- 
paration und  zum  Verseschmieden  verwandte, 
ho  dafs  kaum  etwas  Zeit  zum  Essen,  Trinken, 
Schlafen  und  zu  Freundesbesuchen  übrig 
blieb.  Ihr  wiürt  es  alle,  daft  ich  das  gethan 
habe,  nicht,  um  irgendwie  Geld  oder  eitle 
Ehre  einzuheimsen  (beides  ist  in  sehr  be- 
scheidenem Mafse  mir  eigen),  sondern  aus 
Eifer,  um  euch  und  um  mich  um  das  Vater- 
land verdient  zu  machen.  Wie  viel  Jüng- 
linge aber  und  auch  ältere  Männer  ich 
durch  meine  fleifsige  Arbeit  Wissenschaft 
lieh  und  sittlich  gefördert  habe,  müTat 
auch  ihr  wissen,  da  ihr  sie  gesehen  und 
gehört  habt 

Was  nun  die  traktierten  Autoren  be- 
trifft —  das  war  ja  der  zweite  Teil  meiner 
Rede  —  so  habe  ich  euch  —  und  zwar  in 
beispiellos  kurzer  Zeit  —  diejenigen  erklärt, 
die  eben  jene  doppelte  Förderung  euch 
bringen  konnten :  die  weisesten  und  moralisch- 
sten, die  Hellas  und  Rom  je  gehabt  hat. 
Um  nun  alle  meine  Kollegien  aufzuzählen,  so 
habe  ich  erstlich  jenen  grofsen  Brief  des 
älteren  Plinius  an  Titus  Vespasian,  mit 
dem  er  seine  Historia  naturalis  einleitet, 
publice  und  gratis  gelesen.  *)  Wer  den  recht 
verstanden  hat,  dem  ist  der  Weg  gebahnt 
zum  Eindringen  in  die  tiefsten  Geheimnisse 
der  SchOpfung.  Nicht  zufrieden  damit,  habe 
ich  aber  auch  das  Werk  selbst  in  Angriff 
genommen  und  alles  darin  mit  Lust  und 
Liebe  erklärt  und  bewiesen,  und  zwar  so 
gründlich,  dafs  nicht  nur  die,  welche  mein 
Kolleg  gehört,  sondern  auch  andere,  die  sich 
von  diesen  meine  Erklärungen  und  Text- 
verbesserungen geborgt  und  abgeschrieben 
haben,  das  Werk  verstehen  und  ihren  Schülern 
ohne  Anstofs  vortragen  können.  Dank  meiner 
gewissenhaften  Arbeit  haben  »ie  es  so  herr- 
lich weit  gebracht,  dafs  sie  aus  diesem 


')  Verg.  Eclog.  II  66. 
*)  Bauch,  Archiv  XIII  S.  12  Anm.  4. 
Leipziger  Frühhumanismus  S.  176. 


Schriftsteller,  den  ganz  Deutschland  vor  mir 
kaum  vom  Hörensagen  gekannt,  geschweige 
gelesen  hatte,  reichsten  und  glänzendsten 
Gewinn  zogen.  Trotzdem  haben  sie  mir  mit 
schwärzestem  Undank  gelohnt.  Doch  mögen 
sie  selbst  zusehen!  Vorher  habe  ich  von 
des  Titus  Livius  Ab  urbe  condita  historia 
drei  Dekaden  bis  zu  Ende  durchgenommen, 
dann  die  erste  repetiert  und  endlich  du 
Ganse  überflogen.  Was  soll  ich  die  Komödien 
de«  Plautus  aufzählen?  Ks  giebt  nichts 
Liebenswürdigeres,  nicht«  Geistreicheres  und 
zugleich  Beredteres.  In  ihnen  wird  uns  ein 
farbengesättigtes  Bild  gegeben  von  der  bald 
kärglichen,  bald  üppigen  Lebenshaltung  der 
Alten  und  von  ihren  reinen,  unverdorbenen 
Sitten  ;  bald  zierliche,  bald  bescheidene,  bald 
leichtfertige  Reden  klingen  an  unser  Ohr; 
was  dem  privaten  und  öffentlichen  Leben 
frommt  und  was  nicht,  ist  vollauf  gezeigt 
Und  dabei  tragt  die  ganze  Sprache  ein  so 
echt  lateinisches  Kolorit,  —  selbst  die  Musen, 
wenn  sie  Lateinisch  reden  wollten,  könnten 
sich  nicht  passender  und  feiner  ausdrücken 
Ich  schweige  von  den  Gedichten  des  Veno- 
siners  Horas,  die  sich  ganz  vorzüglich  rar 
Einführung  der  Studierenden  in  die  klassische 
Lyrik,  aber  auch  in  die  christliche  Hymnik 
eignen.  Ich  übergehe  die  Äneide  Vergilt, 
in  der  das  thätige  und  beschauliche  Lebeu 
—  die  Entdeckung  ist  von  mir  —  allegorisch 
dargestellt  ist  Ich  erwähne  auch  nicht  die 
Rhetorik  des  Marianus  Capeila,  —  ich  habe 
den  unglückseligen  Einfall  gehabt,  sie 
drucken  zu  lassen,  und  hab  sie  noch  zu 
Hause. ')  Ich  übergehe  auch  die  Briefe 
Ciceros,  seine  drei  Bücher  De  offieiis,  De 
oratore  und  drei  seiner  Reden.  Beinahe 
aber  hätte  ich  den  Tacitus  vergessen.  Er 
hat  euch  eurer  Vorfahren  Ursprung,  Lebens- 
weise, Waffen,  Sitten,  Gesetze,  Feierlich- 
keiten, Siege  und  Triumphe  offenbart,  hat 
euch  in  euer  Vaterland,  dem  ihr  entfremdet 
wäret,  als  wenn  ihr  daraus  verbannt  wäret, 
zurückgeführt.  *)    Die    Briefe    des  Hiero- 

l)  Vgl.  Bauch,  Archiv  X  428.  XTH  U 
Anm.  1.  Drucke  von  Frankfurt  a.  0.  Central - 
blatt  für  Bibliothekswesen  XV  S.  261  Nr.  12 
Leipziger  Frühhumanismus  S.  176.  Auf  dem 
Titelblattdes  Zwickauer  Exemplars  (IV.  Dl  40,) 
steht  folgende  Bemerkung  von  Stephan  Roths 
Hand:  donum  M.  Georgij  heltis  a  Forcbhaiw 
(vgl.  G.  Kawerau,  Der  Briefwechsel  de« 
JuBtus  Jonas  I  186)  praeeeptoris  mei  Charit, 
anno  M.  D.  XX. 

*)  Vgl.  Bauch,  Archiv  XDJ  18  Anm.  1 
Leipziger  Frühhumanismus  8.  176.  Ferner 
diese  Jahrbücher  1899  S.  117  f.  und  Mit- 
teilungen des  Altertumsvereins  für  Zwickau 
VI  S.  SO. 


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239 


nymas ')  übergebe  ich  absichtlich,  denn 
dieser  Schriftsteller  ist  zu  grofs  und  er- 
haben, als  dafs  er  mit  den  andern  von  mir 
aufgezählten  auf  eine  Linie  gerückt  werden 
könnte.  Denn  er  legt  jedem  Menschen  nach 
«einem  Staude  die  menschlichen  und  gött- 
lichen Tugenden  mit  freundlicher  Bestimmt- 
heit ans  Herz  und  prägt  üie  ihm  mit  der 
hinreil'senden  Wucht  und  überströmenden 
Fülle  seiner  Bede  ein,  so  dafs  es  geradezu 
ein  Frevel  wäre,  für  den  Christen  zumal, 
seinen  Ermahnungen  und  Belehrungen  nicht 
Folge  zu  leisten  und  sein  Leben  nicht  so 
einzurichten,  dal«  ee  Gott  wohlgefällig  und 
den  Menschen  nützlich  sei.  Aufeerdem  hatte 
ich  die  leuchtenden  Nachte  deB  Aulus 
Gellius,  das  fleifsige  Werk  Priscians  und 
die  vier  Bücher  Augustins  De  doctrina 
Christiana  in  Arbeit,  —  letztere  gedachte 
ich  dieses  Jahr,  so  Gott  es  gewollt,  der 
Herzog  den  Gehalt  gespendet  und  die  Uni- 
rertitat  mir  einen  Hörsal  überlassen  hätte, 
tu  Nutz  und  Frommen  der  Studenten  vor- 
zutragen, aber  die  Menschen  und  wohl  auch 
Gott  haben  es  anders  gewollt. 

Nun  komme  ich  zum  Danksagen,  dem 
dritten  Teil  meiner  Bede,  —  dem  schwierig- 
sten zugleich  wegen  der  verschiedenen  Per- 
sonen, die  jetzt  mich  hören,  als  auch  wegen 
ihrer  verschiedenen  Gesinnungen.  Wie 
ich  in  dieser  mifslichen  Lage  mich  be- 
nehmen soll,  weifs  ich  nicht  Denn  wenn 
ich  überhaupt  nicht  danke,  beleidige  ich 
Gott,  den  Schöpfer  aller  Dinge,  und  die 
Menschen,  die  sich  um  mich  wohl  verdient 
gemacht  haben.  Wenn  ich  aber  danke,  be- 
stärke ich  diejenigen,  welche  mich  schlecht 
behandelt  haben,  und  die  Undankbaren  in 
ihrer  Verstocktheit  und  Perfidie,  —  denn 
niemand  legt  Fehler  ab,  die  von  jemandem 
mit  vollem  Munde  gelobt  werden.  Nun,  ich 
verde  so  lavieren,  dafs  niemand,  anfaer  er 
ist  ein  Wahrheitefeind,  von  hier  unbedankt 
nach  Hause  geht.  Ich  hege  und  sage  Dank 
dem  ewigen  Gott,  der  mich  so  lange  hat 
heil  und  gesund  hier  wirken  lassen,  dem 
Herzog  Georg,  der  mir  seine  Güte  bewiesen 
hat,  —  o  dafs  er  sie  doch,  wie  ee  scheinen 
wollte,  gekrönt  hätte!  -  dann  hätte  Ästi- 
«ampian  nicht  vergebens  hier  so  viel  Geld 
verbraucht  und  euch  mit  eitler  Hoffnung 


')  Vgl.  Bauch,  Archiv  XHI  7  Anm.  8. 
Leipziger  Frühhumanismus  8.  174.  G.  Ka- 
werau,  Hieronymus  Emser,  Halle  1898,  S.  24 
u.  Anm.  66.  —  Seit  der  berühmten  Hieronymus- 
ausgäbe  des  Erasmus  (Panzer,  Annales  typo- 
jrrapbici  VI  8. 194  Nr.  143)  stand  dieser  Kirchen- 
vater bei  den  Humanisten  in  hohen  Ehren. 


genasführt!  —  den  Bürgern,  die  mich  be- 
herbergt und  beköstigt  haben.  Insbesondere 
aber  danke  ich  —  denn  man  soll  ja  beten 
für  die,  die  uns  verfolgen  und  schmähen, 
um  so  mehr  also  ihnen  danken  —  danke 
ich  denen,  die  mich  mit  Hais  und  Neid  ver- 
folgt, die  mir  mein  Amt  irnfsgönnt,  mich 
nie  eingeladen,  nie  angeredet,  die  mir  die 
Hörsäle  verschlossen  oder  ihre  Schüler  ab- 
gehalten haben,  bei  mir  zu  hören,  oder 
andere  mit  der  betr.  Vorlesung  beauftragt 
haben.  Das  habe  ich  nicht  verschuldet, 
denn  niemanden  habe  ich  gereizt,  niemandem 
geschadet,  sondern  ihre  ureigene  Natur  und 
längst  eingerissene  und  eingerostete  ver- 
kehrte Gewohnheit  und  ihr  böser  Wille  bat 
sie  dazu  getrieben.  Wer  sie  sind?  —  ich 
brauche  sie  nicht  aufzuzählen.  Sie  wissen 
es,  und  die  meisten  von  euch  kennen  sie. 
Aber  wer  murmelt  da  unter  euch,  er  kenne 
sie  nicht,  die  die  Poeten  nicht  leiden  könnten  ? 
Du  da?  Dich  meine  ich,  der  du  da  sitzt! 
Du  willst  sie  nicht  kennen?  —  Die  Zuhörer 
sagen:  Ja.  —  Nun,  es  sind  die  vier  Fakul- 
täten. Namen!  sagst  du?  Nenne  sie  auf 
der  Stelle!  —  ?  —  Es  sind  die  Theologen, 
die  der  Poeten  Gedichte  ebenso  hassen  wie 
die  Sünden  der  Pharisäer,  —  gelehrte  Herren 
und  Biedermänner  —  wer  wollte  das  leugnen? 
Aber  sage  mir  doch,  warum  sie  Zöllner  und 
Sünder  zu  ihren  Schmäusen  rufen,  die  Poeten 
aber  zu  ihren  steif-feierlichen  Frühstücken  nie- 
mals einladen?  Fürchten  sie,  diese  möchten 
einen  zu  guten  Appetit  entwickeln?  Ach, 
was  sollten  sie  essen?  Poeten  leben  von 
Hülsenfrüchten  und  aufgebackenem  Brot.  — 
Aber  wir  wollen  sie,  wenn  du  willst,  un- 
geschoren lassen,  damit  sie  nicht  gereizt 
uns  zürnen  und  uns  schlecht  behandeln,  denn 
sie  haben  die  Gewalt,  freizulassen  und  ans 
Kreuz  zu  schlagen,  wen  sie  wollen.  —  Ferner 
die  Juristen.  Sie  wissen,  wie  man  recht 
handeln  soll,  handeln  selbst  aber  selten  so, 
einen  oder  den  andern  ausgenommen;  den 
Poeten,  der  ihre  Schüler  nicht  Ammen- 
märchen, wie  sie  sie  auf  klägliche  Weise 
vortragen,  lehrt,  sondern  sie  zum  Verständnis 
der  Gesetze  anleitet,  lassen  sie  nicht  in  ihr 
Auditorium,  sondern  chicanieren  ihn,  — 
denn  auch  sie  können  freisprechen  und  ver- 
dammen. —  Es  folgen  die  Mediziner.  Sie 
haben  den  Poeten  freilich  eingeladen,  aber 
nicht  aus  Freundlichkeit,  sondern  aus  blofser 
Prahlsucht,  um  ihm  ihre  'Überlegenheit' 
zu  beweisen.  Als  ob  unsere  hochheilige 
Poesie  der  schmierigen  und  gifttnisiherischen 
Medizin  die  Schleppe  nachzutragen  hätte! 
Die  gestrengen  Römer  haben  die  Poesie 
immer,  jene  Kunst  der  Griechlein  nie  aus- 


i 


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geübt!  —  Aber  auch  sie  lasse  ich,  die  den 
Poeten  mit  ihren  Tränkchen  gesund  machen 
oder  auch  zum  Orcu»  hinunterschicken 
können.  —  Bleiben  die  Philosophen  übrig. 
Sie  haben  mich  teils  wohlwollend  angehört, 
teils  mit  wohlfeiler  Ignorierung  bedacht, 
diese  letzteren  sind  freilich  in  erdrückender 
Majorität.  Doch  dank  ich  ihnen  allen,  teils, 
weil  sie  mich  doch  einmal  wenigstens  zu 
einem  Frühstück  eingeladen,  teils  weil  sie 
durch  ihren  Neid  und  ihre  Verkleinern ugs- 
aucht  mich  zu  untadeligem  Lebenswandel 
und  mannhafter  Rede  getrieben  haben.  — 
Nachdem  ich  aber  denen  gedankt,  die  es 
nach  ihrem  Thun  nicht  verdient  haben,  will 
ich  nunmehr  denen  Dank  sagen,  die  es  ver- 
dient haben  nach  ihrer  Gesinnung  und  ihrem 
Thun,  -  ich  meine  die  Männer  und  Studenten, 
die  mich  von  Herzen  lieben  und  mit  ihrem 
Hab  und  Gut  nötigenfalls  unterstützen  würden. 
Sie  sollen  des  eingedenk  bleiben,  dafs  sie  es 
meiner  Sorge  und  Arbeit  zu  danken  haben, 
wenn  sie  soweit  ausgebildet  sind,  dafs  sie 
nun  auch  andere  hier  und  anderswo  unter- 
richten können.  8ie  sollen  überzeugt  sein, 
dafs  ich,  wohin  ich  nur  immer  ziehe  und 
wo  ich  bleibe,  ihnen  mit  Rat  und  That, 
schliefslich  auch  mit  Geldmitteln  zur  Seite 
stehen  werde.  Denn  ich  mufs  von  hier 
weichen,  wie  die  Schrift  sagt:  Wenn  sie 
euch  verfolgen  in  dieser  Stadt,  flieht  in  eine 
andere! ')  Und  zwar  werde  ich  gezwungen, 
von  hier  fortzuziehen,  nicht  etwa  wegen  an- 
geborener geistiger  Impotenz  oder  schand- 
barer Gesinnung  (solche  Anklagen  bringen 
die  Heuchler  ja  sonst  gegen  die  Poeten 
vor)  —  in  beiden  Beziehungen  habe  ich 
reichlich  Gegenbeweise  gegeben  —  sondern 
unr  wegen  der  MUsgunat  und  Bosheit  einiger, 
die  euch,  edle  Kommilitonen,  terrorisieren, 
gierig  ausplündern  und  von  dem  Wege  zur 
wahren  Redekunst  und  von  der  Norm  ge- 

')  Matth.  10,  28. 


Lebenswandels  durch  ihre  blöden 
Gespräche  und  üppigen  Schmausereien  ab- 
zuziehen suchen.  Auf  sie  könnte  man,  wenn 
sie  nicht  hier  wären,  das  Schriftwort1)  mit 
geringen  Änderungen  anwenden:  Euch  muüte 
zuerst  das  Wort  des  Lateins  gepredigt  werden, 
aber  weil  ihr  es  zurückweist  und  euch  der 
römischen  Beredsamkeit  unwert  erzeigt,  siehe, 
so  wende  ich  mich  zu  den  benachbarten  und 
barbarischen  Völkern. 

Wen  von  den  Poeten,  die,  um  euch  eine 
feinere  Bildung  zu  bringen,  gleichsam  vom 
Himmel  zu  euch  herabgeschickt  worden  sind, 
haben  euere  Väter  nicht  vertrieben,  habt  ihr 
nicht  verspottet?  Um  aus  vielen  wenige 
herauszugreifen :  Conrad  Celtes  habt  ihr  fast 
wie  einen  Feind  verjagt*),  Hermann  von  dem 
Busche  lange  hin-  und  hergequält  und  dann 
vertrieben  •),  auch  Johannes  Ästicampian  habt 
ihr  mit  Intriguen  aller  Art  befehdet  und 
werft  ihn  nun  endlich  hinaus.  Welcher  Poet 
wird  schliefslich  noch  zu  euch  kommen?! 
Keiner,  beim  Hercules,  keiner,  zu  dessen 
Ohren  je  die  Kunde  von  euerer  —  Tugend- 
haftigkeit dringt!  In  Unkultur  und  geistiger 
Hungersnot  werdet  ihr  leben,  schmachvoll 
und  ruhmlos  —  ungern  sage  ichs  voraus  — 
werdet  ihr  sterben.  Indes  —  das  wollte  ich 
eigentlich  nicht  sagen;  der  gerechte  Schmerz 
und  der  glühende  Eifer  für  die  Wahrheit 
hat  mir  diese  Worte  entrungen.  Habt  drnm 
Nachsicht,  deutsche  Männer,  mit  meinem 
gerechten  Schmerz  und  gebt  der  Wahrheit 
nur  ein  klein  wenig  Kaum,  damit  Gott  der 
Allmächtige  euch  euere  Sünden  verzeihe! 
Amen!  Lebt  wohl  und  legt  allzeit  fromme 
Fürbitte  ein  bei  Gott  für  Ästicampian,  der 
wieder  zum  Wanderstab  greift!' 


l)  Act.  18,  4«. 

*)  Bauch,   Leipziger  Friihhumanismüs 

S.  20. 

■)  Ebd.  S.  169. 

Otto  Clmuu. 


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VON  K.  k.  DAENEI.L.   ph.  a.  Jt  8  — 

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Nachweis  an  sieben  klassischen  Beispielen  der  hellenischen  Sage,  wobei  er  wohl  mit  Hecht 
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weiter  benu|t  werben  Wimen.  Die  urfprünglWje  Saflunfl  ber  «üdjer  wirb  ober  oueb.  felbfroerfMnbli* 
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I_)  fein  objte  _efe»tB$f  ««* 
in  Snfd|-iä  ber  >tör 


 Verlag  von  Ferdinand  Schöningh  in  Paderborn,  

Behaghei,  Otto,  Der  Gebranch  der  Zeitformen  im  koiijnnk- 

tivischen  Nebensatz  des  Deutschen.  Mit  Bemerkungen  zur  lateini- 
schen Zeitfolge  und  zur  griechischen  Modusverschiebung.  IX  und  217  S.  gr.  8 
M.  4.40. 


Die  „Südwestdeatgehen  Schulblätter"  1898,  1  sagen  über 

Heinichen-Wagener,  lateinisches  Schulwörterbuch 

.  .  .  Wir  werden  die  Frage  „Wtkaai  Ufaüniache  8chnlwftrterbnch  sollen  wir  nnaern  Schülern 

dahin  beantworten:  >t_mnfe_lgng  verdient  nur  ein  Schnhv.irtcrbnch.  weh-  ;  ^  mit  allem 
gründlich  aufräumt,  somit  sich  auf  das  Nötige  beschränkt  und  die«  in  einer  Anordnung  u-i  fto* 
Darstellung  bietet,  welche  dem  Schüler  die  gesuchte  Hilfe  anoh  wirklich  an  die  Hand  glebt  «od 

.  .  .  Seitdem  die  von  Wagen  er  besorgte  Neubearbeitung  des  Heini  chen' 
ist,  trage  ich  kein  Bedenken, 


dieses  Buch  zu  empfehlen. 


.  .  .  Die  VcrlagHbuchhandlnng  hat  das  Buch  auch  Ruf  serlich 

eine  Zierde  der  angehenden  Bibliothek  jedes  Sekundaners  bilden  kan: 


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JAHRGANG  1899.    ZWEITE  ABTEILUNG.   FÜNFTES  HEFT 


GELLERTS  PÄDAGOGISCHE  WIRKSAMKEIT 
Von  Woldemar  Haynel 

(8chluf8) 

Aus  der  Unklarheit  seiner  theologischen  Stellung  ging  als  segensreiche 
Frucht  Gellerts  versöhnliche  Duldsamkeit  hervor.  An  der  Hochschule  des  alt- 
lutherischen Landes  freute  er  sich  der  Übereinstimmung  mit  Lehrern  der 
reformierten  Kirche  wie  Saurin  und  Sack,  seiner  Betschwester  ist  dagegen 
ein  calvin  ischer  Priester  ein  Abscheu  (HI  165);  der  Roman  vereint  Prote- 
stanten, Katholiken  und  Juden  in  Freundschaft,  ja  Verwandtschaft.  Nur  den 
Deismus  halste  er,  so  gut  er  es  verstand  zu  hassen,  die  Freigeisterei  war 
ihm  die  gröfste  Sünde,  und  er  besafs  keine  Spur  von  Verständnis  für  jene 
Richtung,  ebensowenig  wie  die  Moralischen  Wochenschriften  und  sein  gesamter 
Freundeskreis.  In  Erzählungen,  Lehrgedichten,  Lustspielen  und  Vorlesungen 
eiferte  er  gegen  die  Freigeisterei. 

Geschichte  und  Geographie  sind  ihm  eigentlich  nur  Anhängsel  der  Religion, 
der  Unterricht  in  jenen  Fachern  nur  eine  Unterstützung  des  Religionsunter- 
richts. Bossuets  Einleitung  in  die  Geschichte  der  Welt  und  Religion  ist  mit 
der  Fortsetzung  von  Cramer  das  Werk,  das  zu  rühmen  und  zu  empfehlen  er 
nicht  müde  wird  (VII  118  u.  ö.).  Die  Geschichte  ist  ihm  'moralisch  be- 
trachtet' —  und  er  betrachtet  immer  moralisch  —  'ein  Commentarius  über 
den  Menschen,  über  seine  Weisheit  und  Thorheit,  über  seine  Tugenden  und 
Laster,  über  sein  Glück  und  Unglück/  Die  grofsen  Männer  der  Historie 
interessieren  ihn  nur,  weil  sie  zeigen,  wie  wenig  sie  ausgerichtet  haben,  wenn 
sie  nicht  religiös  und  fromm  gesinnt  waren;  ihn  lehrt  die  Geschichte  Liebe  zur 
Tugend  und  Abscheu  vor  dem  Bösen  und  bietet  der  Nachwelt  'die  nützlichsten 
Regeln  des  Verhaltens  im  bürgerlichen  Leben'  (VH  16).  In  diesem  Sinne  soll 
sich  auch  der  historische  Unterricht  bewegen;  kein  Wunder,  dafs  ihm,  dem 
der  Sinn  für  historische  Gröfse  so  gut  wie  Patriotismus  abgeht,  Lebens- 
beschreibungen grofser  Männer  lieber  sind,  wenn  sie  sie  im  Privatleben,  in  der 
Familie,  als  wenn  sie  sie  im  Glänze  der  Macht  ihrer  glänzenden  Throne  und 
der  ersiegten  Lorbeerkranze  zeigen  (VI  153).  Man  mag  zugeben,  dafs  es  um 
die  Zeit  Gellerts  wenig  historisches  Verständnis  gab,  das  nicht  ins  Moralische 
hinüberspielte,  dafs  das  Sachsen  seiner  Tage  wenig  Vaterlandsliebe  wecken 
konnte,  ihm  fehlte  doch  auch  das  Verständnis  für  alle  menschliche  Gröfse, 

N*o«  JabrbUcb.r.   1S99.   n  16 


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W.  Haynel:  Geliert«  pädagogische  Wirksamkeit 


wenn  er  'einen  rechtschaffenen  Antonin,  der  doch  noch  lange  kein  Christ  war' 
über  einen  'freigeisterischen  König*  mit  seinem  Unglauben  —  gemeint  ist 
natürlich  Friedrich  der  Grofse  —  stellt  (VI  62). 

Wie  hier  auf  dem  Felde  der  Geschichte  alles  durch  die  Brille  Abelen 
Moralisierens  betrachtet  wird,  so  ist's  nicht  besser  mit  der  Geographie  bestellt. 
Ordnung  und  Schönheit  der  Natur  schärfen  den  Verstand,  platt  nach  Nutzen 
und  Zweck  zählt  der  Redner  ähnlich  wie  Brockes  Vorzüge  von  Weltmeeren 
und  Seen1),  Pflanzen  und  Tieren  (Geographie  und  Naturkunde  werden  zu 
einem  Gebiet  vereinigt)  auf  (VII  24  ff.).  Die  blofse  Kenntnis  der  Naturlehre 
reicht  nicht  aus,  'dadurch  wird  der  Knabe  nicht  gebessert'.  So  wird  die  Voll- 
kommenheitstheorie, lediglich  um  Eindrücke  der  Religion  hervorzurufen,  be- 
nutzt, und  der  Moralprofessor  klagt,  dafs  die  wenigsten  Lehrmeister  dieses  vor- 
treffliche Mittel  zur  Beförderung  der  Tugend  benutzen  (VII  118). 

Die  religiöse  Grundstimmung  Gellerts  beeinflufste  auch  sein  Verhältnis 
zum  klassischen  Altertum.  Freilich  hat  er  antike  Autoren  viel  gelesen,  ins- 
besondere schätzte  er  Cicero,  daneben  auch  Plato,  Xenophon,  Theophrast,  Cebes, 
Epictet,  Antonin,  Seneca.  Sie  sind  ihm  einmal  'ehrwürdige  Überreste  der  ge- 
sunden Vernunft',  anderseits  aber  'Beweise  von  der  Schwache  der  Vernunft, 
wenn  sie  von  keiner  Offenbarung  unterstützet  wird'  (VI  175).  Und  darin  eben 
liegt  das  Entscheidende  für  Geliert;  die  stoische  Sittenlehre  ist  zwar  prächtig, 
aber  sie  'bläht  das  kranke  Herz  auf  und  schmeichelt  ihm'  (VI  176)*),  und 
stolz  darauf,  wie  herrlich  weit  wir's  gebracht  haben,  sagt  er  'gleichwohl  weifs  in 
unsern  Tagen  das  geringste  Dorf  mehr  von  dem  Einigen  Gott  und  den  Pflichten 
des  Menschen,  als  Athen  und  Rom  wufsten*  (VI  23).  Er  erkennt  haupt- 
sächlich formale  Gründe  für  das  Studium  der  Alten  an,  es  ist  'zum  Geschmack 
notwendig'  (X  179),  die  Alten  sind  'unsere  Lehrmeister  in  der  Kunst  zu  denken 
und  sich  auszudrücken'  (VI  53)^  er  rühmt  sie  wegen  'ihrer  meisterhaften 
Geschicklichkeit  schön  zu  denken  und  zu  schreiben'  (X  179),  aber  sie  'erniedrigen 
die  Moral  der  Religion'  (X  180).  So  ist  ihm  Ovid  schön,  aber  unreif,  und  er 
hat  ihn  nie  ganz  gelesen  (X  179)>  und  der  Moralprofessor  ruft  entsetzt:  'Hörte 
(Rom)  auf,  fremden  Königen  mit  einem  schnöden  Stolze  zu  begegnen? 
besiegte  Heerführer,  ja  zuweilen  sogar  Könige  zu  ermorden;  und  an  grausamen 
Schauspielen,  wo  Menschenblut  zur  Lust  vergossen  war,  sich  zu  ergötzen?' 
(VI  55).  Er  unterläfst  es  leider,  sich  auch  in  der  Geschichte  christlicher 
Völker  nach  derartigen  Schandthaten  und  Unsitten  zu  erkundigen.  1767  erhielt 
Geliert  den  Befehl,  vor  seinem  Kurfürsten,  der  sich  zu  wiederholten  Malen  eine 
moralische  Vorlesung  von  ihm  halten  liefs,  über  den  Vorzug  der  Alten  vor 
den  Neuern  in  den  schönen  Wissenschaften  zu  sprechen.  Zögernd  und  im 
Grunde  nur,  weil  alle  andern  es  thun,  giebt  er  da  den  Alten  zwar  im  all- 

')  Von  den  Bergen  weifs  er  noch,  dafs  sie  dazu  dienen,  die  Aussicht  angenehmer  tu 
machen,  die  ohne  sie  allzu  einförmig  sein  würde!  (VII  24). 

*)  Die  Erzählung  'Epictet'  verspottet  das  Ungereimte  der  Lehre  dieses  Philosophen 
I  181  f.  'Und  willst  du  stets  zufrieden  sein:  So  bilde  dir  erhaben  ein,  Lust  sei  nicht  Lust 
und  Pein  nicht  Pein',  meint  der  Dichter  ironisch. 

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W.  Haynel:  Gelierte  pädagogische  Wirksamkeit 


gemeinen  den  Vorzug  —  das  Gegenteil  zu  erklären  wäre  kaum  erlaubt  ge- 
wesen — ,  aber  er  weist  doch  schon  auf  Molieres  Lustspiele,  auf  Richardson 
und  das  rührende  Lustspiel  hin  als  Schöpfungen,  wie  sie  bei  den  Alten  gar 
nicht  oder  weniger  vollendet  gefunden  würden.  Die  christliche  Religion  könne 
ebensogut  grofse  Redner  bilden  wie  die  heidnische  Beredsamkeit  (V  187  ff.). 
Homer  ist  zwar  des  Witzes  Fürst  (VI  49)  und  unsterblich  (HI  424),  aber 
'unsterblicher  bei  Christen'  ist  —  Richardson  (III  424);  seine  eigenen  geist- 
lichen Oden  und  Lieder  vergleicht  er  mit  Pindar  nach  dem  Maß»  der  Nützlich- 
keit (IX  7),  und  Cicero  wird  als  Beispiel  eitler  Selbstgefälligkeit  verwandt 
(I  228  f.)  in  der  Erzählung  'Der  gehoffte  Ruhm*.  Es  soll  freilich  nicht  ver- 
gessen werden,  dafs  er  für  die  Musterbibliothek  des  Fräuleins  von  Schönfeld 
auch  Winckelmanns  'Gedanken  über  die  Nachahmung  der  griechischen  Werke 
in  der  Malerei  und  Bildhauerkunst',  'ein  schönes  Werk  zum  Geschmack  in  der 
Malerei'1),  empfiehlt,  aber  im  ganzen  wird  man  zusammenfassen  dürfen,  dafs 
Geliert  bei  der  antiken  Litteratur  lediglich  formale  Schulung  und  Geschmacks- 
bildung suchte,  dafs  er  für  den  ewigen  Inhalt  ihrer  Musterwerke  —  schon  die 
oben  citierte,  oft  wiederholte  Auswahl  zeigt  das  —  keine  Spur  von  Verständnis 
besafs.  Von  dem  anhebenden  Geiste  des  Neuhumanismus  ist  bei  ihm  nichts 
zu  finden,  und  er  wufste  doch  von  Gesner  und  war  mit  Heyne,  auch  mit 
Ernesti  befreundet. 

Deren  Einflufs  zeigt  sich  dagegen  in  seiner  Theorie  des  Unterrichts  in  den 
alten  Sprachen,  wo  er  sich  allerdings  ebenso  mit  Locke  und  Basedow  wie  mit 
Gesner  und  Ernesti  berührte.  Wie  man  zur  Zeit  von  Geliert»  Jugend  die 
alten  Sprachen  lehrte,  erzählt  Ernesti  im  Leben  Gesners:  man  übersetzte  die 
Schriftsteller  Wort  für  Wort,  Redner,  Historiker,  Dichter  ohne  sonderlich  viel 
Rücksicht  auf  den  Inhalt,  lernte  Redensarten  auswendig  und  putzte  mit  ihnen 
seine  Sprachübungen  auf.9)  Da  ist  Geliert  denn  doch  moderner.  Anfangs 
lerne  der  Knabe  eine  alte  Sprache  wie  die  Muttersprache,  ohne  alle  Grammatik, 
etwas  Deklinieren  und  Konjugieren  ausgenommen.  Haften  so  eine  Menge 
Wörter  und  Redensarten  im  Gedächtnis  des  Schülers,  dann  lasse  man  ihn 
eifrig  lesen  und  übersetzen,  aber  erst  nach  einigen  Jahren  eine  Grammatik  zu 
Hilfe  nehmen  (VU  109;  Geliert  führt  als  Leitfaden  dieser  Methode  Gesners 
kleine  deutsche  Schriften  an).  Nicht  die  Menge  der  Lektüre  thut  es;  nichtige 
Gelehrsamkeit,  die  nur  liest,  um  'stark  und  sinnreich'  denken  zu  lernen  und 
sich  der  Menge  toten  Wissens  rühmt,  verspottet  der  Dichter  (I  200  f.  216  f.). 
Lieber  lese  man  wenig  Werke,  diese  aber  fleifsig,  aufmerksam  und  mit  grofser 
Empfindung;  hier  weicht  Geliert  von  Gesner  und  Ernesti  ab,  die  eine  mög- 
lichst ausgebreitete  Lektüre  empfahlen.  Diese  Unterrichtsregeln  gelten  natür- 
lich nur  für  das  Lateinische,  aus  dem  Griechischen  wünscht  Geliert  mehr  gute 


*)  In  der  oben  erwähnten,  vor  dem  Kurfürsten  gehaltenen  Rede  wird  man  an  Winckel- 
raann  erinnert,  wenn  cb  heilst  'Eine  gewisse  edle  Einfalt  der  Alten  ....  schien  ihnen  eine 
Verbesserung  zu  leiden'  (V  193). 

*)  Abgedruckt  in  (Ellerts  Leben  von  Cramer  X  163  f. 

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W.  Haynel:  Geliert«  pädagogische  Wirksamkeit 


Übersetzungen,  er  denkt  besonders  an  Xenophon,  aber  auch  an  Tragiker  und 
Redner  (VIII  68). 

Aufser  dem  formalen  Motiv  bestimmte  ihn  noch  ein  anderes  zur  Wert- 
schätzung des  Altertums,  'die  Alten  liebten  die  Muttersprache  und  schrieben 
darin,  nachdem  sie  sich  von  Jugend  auf  darin  geübt  hatten  ....  Viele  von 
den  Neuern  haben  in  ihren  ersten  Jahren  alle  Sprachen,  nur  nicht  ihre  Mutter- 
sprache gefafst'  (V  195),  und  so  wissen  sie  schließlich  bei  der  Menge  von 
Sprachen,  die  sie  kennen,  sich  in  keiner  leicht,  natürlich,  reich  und  mannig- 
faltig genug  auszudrücken.  Geliert  selbst  war  ein  Meister  des  Stils;  man  denke 
an  die  graziöse  Form  seiner  Fabeln  und  vergleiche  die  Ausdrucksweise  seiner 
Lustspiele  mit  denen  seiner  Zeitgenossen,  wie  jene  diese  an  Leichtigkeit, 
Gefälligkeit  und  Wahrheit  der  Redeweise  übertreffen.  Und  sein  Hinweis  auf 
die  Muttersprache  war  nicht  der  erste,  den  man  vom  Katheder  der  Leipziger 
Universität  herab  hörte.  Die  Bemühungen  um  die  deutsche  Sprache  waren 
nach  Thomasius  anerkennenswert  von  dem  Sprach-  und  Litteraturdiktator 
Gottsched  fortgeführt  worden,  und  aus  dem  Kreise  jüngerer,  freier  zu  ihm  stehen- 
der Schüler  war  auch  Geliert  hervorgegangen.  Geilerts  Sprache  war  noch  für 
Adelung1)  das  damals  allerdings  längst  überholte  Vorbild,  im  ganzen  blieb 
er  auf  Gottscheds  Standpunkt  mit  mehr  Geschmack,  als  dieser  besessen,  stehen; 
Natürlichkeit  und  Leichtigkeit  liefsen  zwar  gelegentlich  Dialektisches  einfliefsen, 
an  den  'Beurteilungen  einiger  (eigener)  Fabeln  aus  den  Belustigungen'  (I  283  ff.) 
zeigt  er  seinen  Lesern,  wie  man  den  Stil  verbessert,  und  lehrt  sie  Stilgefühl. 
Interessant  ist  zu  sehen,  was  er  in  den  Briefen  des  süddeutschen  Freiherrn 
von  Widmann  am  Ausdruck  auszusetzen  hatte  (IX  21  ff.  27  ff.  32  ff.).  Da 
sucht  er  dann  alles  Dialektische  herauszutreiben,  zeigt  sich  auch  als  Puristen, 
hat  aber  doch  den  Mut,  ein  paar  sich  durch  Nachdruck  und  Kürze  aus- 
zeichnende austriacismos  zuzulassen  (IX  29).  In  ähnlicher  Weise  verfuhr  er  in 
seinem  Praktikum,  unermüdlich  ermahnte  er  seine  Studenten,  bei  den  ihm  ein- 
gereichten Aufsätzen  gewissenhafte  Sorgfalt  auf  den  Stil  zu  verwenden.  Welchen 
Erfolg  er  dabei  hatte,  lehren  uns  die  jetzt  vorliegenden  Briefe  Goethes  an  seine 
Schwester8);  gleich  wendet  er,  was  eben  Geliert  gelehrt  hatte,  der  Schwester 
gegenüber  an. 

Fast  ebensoviel  Sorgfalt  wie  auf  den  Stil  wollte  Geliert  auf  die  Hand- 
schrift verwandt  wissen,  und  er  glaubte,  gute  Ausdrucksweise  wäre  oft  die 
Folge  einer  guten  Hand.    Beide  vereint  gehören  zu  einem  guten  Brief. 

Fast  nichts  hat  Geliert  in  seiner  gesamten  pädagogischen  Thätigkeit  so 
sehr  betont  als  die  Kunst  des  Briefschreibens  und  die  Vorzüge  eines  guten 
Briefs.  Auch  Locke  wünscht,  dafs  Kindern  Beherrschung  ihrer  Muttersprache 
und  klare  Wiedergabe  ihrer  Gedanken  im  Brief  beigebracht  würde,  und  Natürlich- 
keit war  auch  für  ihn  die  Hauptsache  beim  Briefschieiben  gewesen  (§  189). 


')  Adelung,  Versuch  eines  vollständigen,  grammatisch-kritischen  Wörterbuchs  der  hoch- 
deutschen Mundart.    Leipzig  1774.    I.    Vorrede  S.  XII. 

*)  Abgedruckt  in  dem  1.  Bd.  der  4.  Abt.  der  Weimarer  Ausgabe. 


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W.  Haynel:  Gellerts  pädagogischo  Wirksamkeit 


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Seitdem  Geliert  1742  seine  ^Gedanken  von  einem  guten  deutschen  Brief  in 
Schwabes  'Belustigungen'  veröffentlichte  (V  204  ff.),  hat  er  bis  zuletzt  praktisch 
und  theoretisch  Briefschreiben  gelehrt.  Oft  sandte  er  Briefe  korrigiert  dem 
Verfasser  zurück,  gerne  lobte  er,  wo  ein  Brief  ihm  besonders  gefiel.  1751  ver- 
öffentlichte er  eine  Auswahl  wirklich  geschriebener  'Briefe,  nebst  einer  Abhand- 
lung von  dem  guten  Geschmacke  in  Briefen'  (IV  5  ff.).  Der  Brief  vertritt  die 
Stelle  des  Gesprächs,  daher  sei  er  natürlich,  die  Einfälle  und  Schreibart  un- 
gesucht, halte  er  die  rechte  Mitte  zwischen  fader  Gedankenarmut  und  gesuchter 
Geistreichigkeit.  Titulaturen  und  Komplimente  sind  vom  Übel.  Den  Muster- 
briefen von  Junker,  Neukirch  gegenüber1)  war  Gellerts  Bestreben  wirklich  ver- 
dienstlich, sie  waren  alle  gezwungen  und  geschraubt,  Geliert  bot  das  gerade 
Gegenteil;  kein  Wunder,  dafe  Rabener  den  Freund  drängte,  den  Deutschen 
einen  neuen  und  brauchbareren  Briefsteller  zu  schenken  (X  204  f.).  Was  Geliert 
vom  Brief  verlangte,  fand  er  besonders  in  den  Briefen  seiner  schreibseligen 
Korrespondentinnen;  wegen  ihrer  naiven  Schreibart  lobte  er  Caroline  Lucius 
(IX  31);  hübsche  Briefe  von  ihr  las  er  in  seinem  Praktikum  den  Studenten 
als  Muster  vor,  und  sie  zeigen  die  geforderte  Leichtigkeit  und  Natürlichkeit  bis 
zur  Grenze  der  Geschwätzigkeit  und  Gedankenarmut,  gerade  so  wie  die  Briefe 
des  braven  Geliert  selbst  oft  und  vielleicht  meist  recht  flach  und  leer  sind. 
Er  ging  sogar  soweit  zu  erklären,  dafs  Frauenzimmer,  auch  wenn  sie  nicht 
von  Stande  wären  und  keine  gute  Erziehung  genossen  hätten,  bessere  Briefe 
schrieben  als  das  stärkere  Geschlecht.8)  Dem  Fräulein  von  Schönfeld  erteilt 
er  als  besonderes,  uns  freilich  sonderbar  anmutendes  Lob  die  Versicherung,  er 
habe  ihren  Brief,  der  schön  und  richtig  gedacht  sei,  in  Gedanken  ins  Lateinische 
übersetzt,  und  'er  blieb  immer  gut;  wer  weifs,  wie  schön  er  erst  im  Griechischen 
klänge!'3)  So  empfiehlt  er  auch  zur  Übung  im  Briefschreiben  zunächst  Über- 
setzung ausländischer,  besonders  französischer  Muster  —  die  Briefe  der  Frau 
von  Sevigne"  gehören  zu  seinen  liebsten  — ,  aber  er  weifs,  dafs  das  gefährlich 
i8t>  und  giebt  einige  treffliche  Regeln  für  die  Kunst  des  Übersetzens  (IV  50  ff). 

In  den  Briefen  empfiehlt  Geliert,  namentlich  den  Damen,  gern  gute  Lektüre 
und  stellt  eine  Auswahl  guter  Bücher  nach  dem  Vorgang  des  Zuschauers  zu 
einer  Musterbibliothek  zusammen.4)  Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  auf  Gellerts 
ästhetische  Anschauungen  einzugehen.  Sie  haben  sich  nicht  sonderlich  über 
die  seiner  Zeitgenossen  erhoben  und  suchten  in  der  Kunst  den  Begriff  des 
Schönen,  der  Ordnung,  der  Übereinstimmung  und  des  Anstands,  der  auf  Sitten 
nnd  äufserliches  Betragen  übergehen  sollte,  wie  anderseits  Edelmut  und  Grofs- 
mut  in  den  Werken  der  Kunst  praktisch  Eigentum  des  eigenen  Herzens  werden 
sollten  (VII  17).  Man  sieht,  da  spielt  das  Interesse  an  der  schönen  Form  mit, 
die  Hauptsache  bleibt  aber  Belehren  und  Bessern.  Uns  interessiert,  dafs  solche 


')  Vgl.  den  Liebhaber,  der  in  seiner  Thorheit  ans  zwanzig  Briefen  die  'hellsten  Flammen' 
für  seinen  Liebesbrief  zusammentragt  (fDer  erhörte  Liebhaber'  I  99  ff.). 
■)  Briefe  an  Frl.  v.  Schönfeld,  a.  a.  0.  S.  77. 
•)  Ebd.  S.  14.       *)  Ebd.  S.  36,  vgl.  VI  176  f.,  auch  VHI  121. 


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W.  Haynel:  Geliert«  pädagogische  WirkHamkeit 


Anschauungen  wieder  vortrefflich  zum  Streben  Lockes  nach  Nützlichkeit  und 
Brauchbarkeit  passen.  Moralische  Wochenschriften,  Bremer  Beiträge,  Richardson, 
Frau  von  Beaumont,  Mosheim  und  ähnliches  ist  die  Lieblingslektüre  des  Dichters 
und  wird  seinem  Kreise  empfohlen.  Geliert  warnt  vor  der  'Krankheit',  nur 
Journale  und  Wochenblatter  und  gelehrte  Tagesregister  zu  lesen  (V  180) 
(vgl.  I  201),  und  er  verlangt,  dafs  man  auch  geographische,  historische  und 
ökonomische  Wissenschaften  kennen  sollte  (V  181),  wo  er  Lockes  Mahnung, 
dafs  dor  junge  Engländer  auch  die  Gesetze  und  Staatseinrichtungen  seines  Vater- 
landes kenne,  nachklingen  lassen  mag.  Von  der  Dichtkunst  'die  aus  vollem 
Herzen  und  wahrer  Empfindung  strömt,  welche  die  einzige  ist'1),  hatte  Geliert 
keinen  Begriff,  und  schlimm  war,  dafs  er  mit  der  Litteratur  nicht  fortschritt 
und  bei  den  höchst  mittelmäfsigen  Poeten  stehen  blieb,  die  es  um  1740  gab. 
Er  selbst  gestand:  'die  Poesie  und  ihr  Verdienst  wird  mir  alle  Tage  fremder, 
und  warum  sage  ich  nicht,  gleichgiltiger'  (IX  96). 

Als  Jugendlektüre  empfiehlt  Geliert  auf  der  ersten  Stufe  Fabeln  und  Er- 
zählungen, auf  der  zweiten,  wo  nun  die  scherzhafte  Hülle  dem  Verstand  weichen 
mufste,  das  Lehrgedicht,  das  ihm  selbst  vielleicht  am  wenigsten  gelungen  war. 
Geschmack,  Einsicht  und  Tugend  werden  ferner  durch  die  Werke  der  Haller, 
Hagedorn,  Schlegel,  Cramer  und  sonstiger  'grofser'  Dichter  gebildet,  aber  auch 
Zuschauer  und  Nordischer  Aufseher  werden  für  einen  Knaben  von  neun  oder 
zehn  Jahren1)  empfohlen.  Beim  Lesen  mufs  der  Knabe  seinen  Fähigkeiten 
nach  angestrengt  werden  und  seinen  Verstand  anwenden  lernen,  aber  er  soll 
weder  blofs  aus  Wollust  lesen,  ohne  seinen  Verstand  zu  gebrauchen,  noch  — 
hier  tönt  Lockes  Lehre  nach  —  soll  er  lediglich  bei  seinen  Büchern  sitzen, 
um  arbeitsam  zu  werden,  denn  dadurch  wird  ihm  das  Lesen  verhafst,  und  es 
ist  doch  ein  sicheres  Hilfsmittel  zu  Weisheit  und  Tugend  (VH  121). 

Wir  werfen  noch  einen  Blick  auf  besondere  Kreise,  die  Geliert  pädagogisch, 
anregte,  Studenten  und  junge  Mädchen.  Erstere  hatte  er  freilich  eigentlich 
immer  im  Auge,  sie  kannte  er  am  besten,  hier  war  er  wirklich  verbunden  mit 
der  Jugend  und  nicht,  wie  bei  der  Kindererziehung,  vorwiegend  Theoretiker. 
Bei  der  Berufswahl  empfiehlt  er  verständig,  einer  nicht  tadelnswürdigen,  son- 
dern gegründeten  Neigung  nachzugeben;  ganz  ohne  göttliche  Fürsorge  kommt 
er  freilich  auch  hier  nicht  aus;  vielleicht  äufsert  sich  in  dem  Wunsche  des 
Jünglings  eine  Fügung  der  Vorsehung,  die  ihn  zu  Grofsem  bestimmt,  und  dann 
kann  der  Mensch  nichts  an  einer  solchen  Neigung  ändern.')  Auch  für  die 
Einrichtung  des  akademischen  Studiums  gab  er  Ratschläge,  5 — 6  Jahre  empfiehlt 
er  als  Dauer  des  Aufenthalts  auf  der  Akademie  (V  180).    Hatte  die  bisherige 


')  Frankfurter  gelehrte  Anzeigen  1772,  XV,  in  Scherers  Neudruck,  Heilbronn  1883,  S.  99. 
Man  sollte  endlich  nach  v.  Biedermanns,  Scheren  u.  a.  Nachweis  aufhören,  diese  Recension 
Goethe  zuzuschreiben;  die  Stelle  'Der  Recensent  ist  Zeuge  u.  s.  w.'  wird  auf  ihn  zurück- 
zuführen sein,  kann  aber  auch  von  Merck  geschrieben  sein. 

*)  VII  117  begann  die*e  zweite  Stufe  der  Erziehung  mit  dorn  zehnten  oder  zwölften 
Jahr.   Man  sieht,  wie  wenig  methodisch  der  Verfasser  zu  Werke  geht. 

■)  IX  166  f. 


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W.  Haynel:  Gelierte  pädagogische  Wirksamkeit 


217 


Erziehung  wesentlich  den  Zweck  allgemeiner  Bildung,  sollte  sie  einen  'Welt- 
mann' aas  dem  Knaben  machen,  um  mit  Locke  zu  reden,  so  tritt  die  Fach- 
bildung in  den  Vordergrund  der  akademischen  Studien.  Der  Hofmeister  bleibt 
am  besten  auch  auf  der  Universität  noch  Begleiter  des  jungen  Mannes,  ebenso 
wie  nachher  auf  der  Kavaliersreise.  Gelehrsamkeit  zu  erlangen  ist  der  Zweck 
des  Aufenthalts,  aber  Verstand  ohne  Tugend,  ohne  ein  gebessertes  Herz  sind 
weder  für  den  Einzelnen  noch  für  das  Vaterland,  dem  er  dienen  soll,  von 
Segen  (VI  11).  So  soll  zwar  ein  betrachtlicher  Teil  der  Zeit  dem  Fachstudium 
gewidmet  werden,  aber  der  besorgte  Morallehrer  schärft  jedem  ein,  das  Morgen- 
gebet nicht  zu  vergessen  und  täglich  in  der  heiligen  Schrift  zu  lesen;  auch  soll 
mindestens  eine  Stunde  täglich  den  Alten  gewidmet  werden.  Auch  das  geliobte 
Brief9chreiben  wird  wieder  empfohlen.  Und  dafs  nur  ja  nicht  die  gute  Hand 
vernachlässigt  werde!  (V  180  f.).  Einen  ausführlichen  Stundenplan  entwirft 
der  Professor:  4  Stunden  Kolleg  und  ebensoviel  für  die  Wiederholung,  4  für 
Künste  und  Leibesübungen,  5  für  Mahlzeiten,  Erholung  und  Freunde,  7  für 
den  Schlaf.  Endlich  soll  der  Jüngling  auf  der  Universität  auch  eine  Gewohn- 
heit fortsetzen,  die  er  schon  seit  dem  zehnten  Jahre  etwa  geübt  hat,  sich 
nämlich  täglich  Rechenschaft  über  alles,  was  er  erlebt,  zu  geben;  'ein  getreues 
and  ungekünsteltes  Journal'  'übt  uns  in  der  Schreibart,  macht  uns  auf  das, 
was  wir  thun,  sehn  oder  hören,  achtsamer,  giebt  uns  zu  guten  Anmerkungen 
and  Regeln  über  unsere  Berufsgeschäfte  Gelegenheit'  und  läfst  schliefslich  auch 
dankbar  die  Spuren  der  gottlichen  Vorsehung  bemerken  (IX  159).  Das  war 
also  in  nuce  eine  tägliche  Wiederholung  aller  pädagogischen  Vorschriften 
Gellerts,  die  nachdenkliche,  Verstand  und  Sitten  bildende  Lektüre,  der  gute 
Stil  und  endlich  das  Vertrauen  auf  Gott.  Diese  tägliche  Rechenschaft  wird 
daher  auch  in  fast  allen  Schriften  empfohlen,  so  in  dem  geistlichen  Lied 
'Prüfung  am  Abend'  (H  81);  der  Vater  des  schwedischen  Grafen  —  immer 
wieder  werden  wir  auf  den  Roman  zurückgeführt  —  hat  40  Jahr  lang  ein 
Tagebuch  geführt,  und  vor  seinem  Ende  läfst  er  es  sich  von  seiner  Schwieger- 
tochter vorlesen  (V  211).  Geliert  selbst  beobachtete  in  seinem  Tagebuch1)  nur 
zu  ängstlich  und  peinlich  alle  Stimmungen  und  Regungen  seines  ängstlichen 
Gemüts.  Diese  Vorliebe  für  die  psychologische  Vertiefung  hier  des  eigenen 
Charakters,  die  sich  aber  sonst  in  seinen  'Charakteren'  und  z.  B.  den  eingehend 
und  fein  gezeichneten  Mädchenfiguren  seiner  Lustspiele  offenbart,  weist  ent- 
schieden nach  vorwärts,  die  Beobachtung  des  Herzens,  so  zaghaft  und  schüchtern 
sie  war,  konnte  auch  der  Sturm  und  Drang  an  Geliert  lernen. 

Noch  einmal  finden  wir  Geliert  auf  dem  Boden  der  Bestrebungen  der 
Moralischen  Wochenschriften  in  seinem  Eifer  für  die  Hebung  der  weiblichen 
Bildung.  Lockes  'Gedanken'  waren  für  die  Erziehung  von  Knaben  bestimmt^ 
er  glaubte,  es  würde  sich  leicht  ergeben,  inwiefern  die  Erziehung  der  Mädchen 


')  Davon  ist  das  Jahr  1761  gedruckt;  rChr.  F.  Gelierte  Tagebuch  aas  dem  Jahre  1761.» 
Leipzig,  Weigel  1862,  ein  unerquickliche«  Register  von  Ausbrüchen  der  Zerknirschung 
und  Bufse. 


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L>4S 


W.  Haynel:  Geliert«  pädagogische  Wirksamkeit 


davon  abweichen  müsse.  Basedow  hatte  denjenigen,  welche  eine  besondere  An- 
leitung für  die  Mädchenbildung  wünschten  —  und  dieses  Verlangen  trugen 
weite  Kreise1)  —  eine  Anzahl  Schriften  angegeben,  aus  denen  sie  sich  be- 
lehren möchten  (S.  563).  Die  Moralischen  Wochenschriften  aber  hatten  dieses 
Thema  sehr  energisch  aufgegriffen,  und  Locke  und  Basedow  gegenüber  durfte 
sich  Geliert  einer  gewissen  Erfahrung  in  dieser  Beziehung  rühmen.  Er  freute 
sich  des  Vertrauens  und  der  Achtung,  die  ihm  Damen  fast  durchweg  mehr  als 
Männer  erwiesen  (IX  269);  der  Grund  dafür  lag  freilich  nicht  blofs,  wie  er 
meinte,  in  seiner  gröfseren  Liebenswürdigkeit  gegen  das  zartere  Geschlecht,  er 
lag  in  seiner  ganzen  Art  und  Weise  zu  denken.  Es  ist  merkwürdig,  dafs 
Geliert  zu  derselben  Zeit,  wo  er  in  seinen  Fabeln  und  Erzählungen  die  Frauen 
mit  allen  schlechten  Eigenschaften  der  litterarischen  Tradition  ausstattete,  dafs 
er  da  in  seinen  Lustspielen  feine  und  lebenswahre  Charakterbilder  'empfind- 
samer' Mädchen  und  Frauen  zeichnete.  Bei  der  Darstellung  der  männlichen 
Charaktere  ist  ein  derartiger  Widerspruch  zwischen  Erzählungen  und  Lust- 
spielen nicht  vorhanden.  Gellerts  weichlicher,  schwächlicher  Art  entsprachen 
jene  'vernünftigen  Frauenzimmer'  am  besten,  dieses  Schlages  waren  die  meisten 
seiner  Korrespondentinnen,  solche  Frauen  wünschten  die  jungen  Männer,  die 
ihn  verehrten  (VIII  289).  Solchen  Mädchen  bezeichnete  er  ein  Ideal  weiblicher 
Bildung,  wenn  es  von  Julchen  in  den  'Zärtlichen  Schwestern*  heilst:  'Du  kannst 
ja  auf  der  Laute  spielen.  Du  kannst  schön  singen.  Du  kannst  dein  Bischen 
Französisch.  Du  schreibst  einen  feinen  Brief  und  eine  gute  Hand.  Du  kannst 
gut  tanzen,  verstehst  die  Wirtschaft,  und  siehst  ganz  fein  aus;  bist  ehrlicher 
Geburt,  gesittet  und  fromm  und  nunmehr  auch  ziemlich  reich'  (III  69).  Und 
die  schwedische  Gräfin  besitzt  eine  ähnliche  Bildung  (IV  202.  209).  'Klug, 
gesittet  und  geschickt'  ist  diese  Musterfrau  dadurch  geworden  (V  196).  Geliert 
wollte  keine  'gelehrten  Frauenzimmer'  bilden,  aber  durch  das  Lesen  guter 
Bücher  Verstand  und  Sitten  bilden1),  das  Vorbild  ist  das  Magazin  der  Frau 
von  Beaumont.  Der  Lucius  schreibt  er  'Fahren  Sie  in  Ihrer  guten  Lektüre 
fort  .  . .  Sie  muntere  ich  dazu  auf,  ob  es  gleich  für  viele  Frauenzimmer  gut 
wäre,  wenn  sie  weniger  läsen;  aber  Sie  gehören  nicht  in  diese  Klasse'.  Die 
'vielen  Frauenzimmer'  sind  diejenigen,  welche  nur  lesen,  um  zu  lesen,  aus 
'Wollust'  (IX  31  f.).  Im  Besitz  .dieser  Bildung  wird  das  Mädchen  vom  Manne 
seiner  selbst  wegen,  nicht  wegen  seines  Geldes,  gesucht  werden  (IX  48). 

Für  den  Verkehr  zwischen  beiden  Geschlechtern  sprach  Geliert  merk- 
würdige Anschauungen  in  seinem  Roman  aus.  Dem  vorehelichen  Sohn  ihres 
Mannes,  den  R***  erzieht,  bringt  die  Gräfin  das  'Wohlanständige'  bei,  da» 


')  Ein  paar  Beispiele  aus  der  Litieratur  bei  Schüller,  S.  22  f. 

*)  Es  ist  ergötzlich  zu  lesen,  wenn  der  junge  Goethe,  wie  der  leibhaftige  Geliert, 
seiner  Schwester  schreibt:  'Du  bist  über  die  Kinderjahre,  du  muist  also  nicht  nur  zum 
Vergnügen,  sondern  zur  Besserung  deines  Verstände«  und  deines  Willens  lesen',  und  ihr 
Zuschauer,  die  Schriften  der  Beaumont,  unter  Romanen  nur  Grandison  empfiehlt,  ebenso 
italienische  Litteratur  mit  Ausnahme  Boccaccios.  (Die  Erwähnung  des  letzteren  stammt 
wohl  aus  G.b  eigenen  Studien,  nicht  von  Geliert)  Werke  IV.  I  26. 


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W.  Haynel:  Geliert«  i^agoffische  Wirksamkeit.  249 

'junge  Mannspersonen  oft  am  ersten  von  einem  Frauenzimmer  lernen  können* 
(IV  223);  umgekehrt  ist  die  Tochter  des  Amsterdamer  Wirts  mehr  unter  den 
'Mannspersonen*  als  unter  ihrem  Geschlecht  aufgewachsen,  und  ihre  Erziehung 
ist  nach  dem  kompetenten  Urteil  der  Gräfin  vortrefflich.1)  Übrigens  ist  diese 
selbst  vormittags  wie  'ein  Mann'  und  nachmittags  'als  eine  Frau'  erzogen 
worden  (IV  195).  Dieser  AnschamiHgskreis  ist  in  seiner  Verbreitung  allerdings 
auf  den  Roman  beschrankt,  man  darf  daher  billig  Bedenken  tragen,  ihn  dem 
späteren  Geliert  noch  zuzuschreiben;  es  genüge,  ihn  wegen  seiner  Sonderbarkeit 
erwähnt  zu  haben. 

Wie  Geliert  über  die  erzieherische  Thätigkeit  der  Frauen  aufserhalb  des 
Familienkreises  dachte,  zeigt  eine  Stelle  der  Korrespondenz  mit  Caroline  Lucius. 
Als  diese  Lust  zeigte,  selbst  zu  unterrichten  und  zu  erziehen,  schreibt  er  (1766), 
es  wäre  vortrefflich,  wenn  sie  nach  Art  der  Frau  von  Beaumont  einigen  Kindern 
Französisch  beibrächte  und  ihnen  etwas  Handarbeitsunterricht  gäbe.  Sie  könne 
nichts  Nützlicheres  und  Rühmlicheres  für  die  Welt  thun.  Es  sei  blofs  frag- 
lich, ob  sie  lediglich  einigen  Kindern  aus  guten  Familien,  die  zu  ihr  kämen, 
Unterricht  erteilen  oder  ein  Kind  ganz  zu  sich  nehmen  und  erziehen  wolle. 
Dafs  sie  sich  in  einer  fremden  Familie  der  Erziehung  unterziehen  würde, 
würde  ihr  Vater  kaum  zugeben,  'und  ich',  setzt  er  mit  seltener  Entschieden- 
heit hinzu,  'billige  es  überhaupt  auch  nicht*  (X  18). 

Damit  glauben  wir,  Inhalt  und  Ziele  der  pädagogischen  Bestrebungen 
Gellerts  im  Umrifs  dargestellt  zu  haben;  wir  haben  vieles  von  ihnen  auf  Vor- 
bilder, wie  Locke,  Basedow,  die  Moralischen  Wochenschriften  und  andere, 
zurückgeführt,  vieles  hat  unsere  Kritik  ablehnen  müssen.  Insbesondere  war  es 
für  Gellerts  pädagogische  Ideale  von  vornherein  bedenklich,  dafs  er  sie  auf  dem 
Untergrunde  seiner  moralischen  Theorie  aufbaute  und  alle  Fragen  der  Er- 
ziehung vom  Standpunkt  seiner  moralischen  Bestrebungen  aus  beurteilte.  So 
verquickte  er  deutsche  und  antike  Litteratur,  Geschichte  und  Geographie,  alles 
und  jedes  mit  dem  Übeln  Drange  zum  Moralisieren.  Kam  eine  Zeit,  die  die 
einzelnen  Wissenschaften  frei  und  selbständig  machte  und  es  ablehnte,  alle  der 
Moral  dienstbar  zu  machen,  die  den  Unterbau  aller  dieser  Gellertschen  An- 
schauungen, eben  seine  Moral,  erschütterte,  so  fiel  der  übrige  Teil  des  päda- 
gogischen Gebäudes  fast  ganz  zusammen. 

Jahrzehnte  hindurch  sind  freilich  Gellerts  Schriften,  wenn  auch  nicht  alle 
in  gleichem  Mafse,  um  Goethes  Urteil  heranzuziehen  'das  Fundament  der 
deutschen  sittlichen  Kultur'  gewesen*),  und  es  ist  hundertmal  dargestellt,  wie 
Geliert  der  besorgte  Gewissensrat  Bekannter  und  Unbekannter,  Nahestehender 
und  Fremder  gewesen  ist.  Auch  ein  anderes  berühmtes  Wort  des  Goethischen 
Kreises,  das  mitten  in  den  litterarischen  Kämpfen  der  70er  Jahre  gesprochen 
eine  um  so  gröfsere  Bedeutung  hat,  sei  hier  nicht  unterdrückt.  'An  Geliert, 
die  Tugend  und  die  Religion  glauben,  ist  bei  unserm  Publico  beinahe  Eins.'*) 


')  'Dieses  halte  ich  allemal  für  ein  Glück  bei  einem  Frauenzimmer'  IV  261  f. 
*)  Werke  I.  XXVII  128.       »)  Frankfurter  Gelehrte  Anzeigen,  a.  a.  0.  8.  98. 


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W.  Hayncl:  Geliert«  pädagogische  Wirksamkeit 


An  dem  Siegeslauf  seiner  Schriften  haben  auch  die  in  ihnen  verstreuten 
pädagogischen  Bemerkungen  Teil  genommen;  hauptsächlich  freilich  waren  sie, 
wie  wir  sahen,  in  den  Moralischen  Vorlesungen  enthalten,  die  erst  nach  des 
Verfassers  Tode  gedruckt  wurden.  Während  Geliert  sie  zu  seinen  Lebzeiten 
seinen  Studenten  vortrug,  fügte  er  doch  das  Beste  hinzu,  was  er  geben 
konnte,  was  diesem  Manne  erst  eigentlich  sowohl  als  persönlichem  Vorbild  als 
auch  als  Lehrer  seines  Volkes  die  ungeheure  Anziehungskraft  verlieh,  seine 
Persönlichkeit.  Wir  möchten  meinen,  dafs  die  liebenswürdige  Zaghaftigkeit, 
die  herzliche  Liebe  und  Zuneigung,  die  seine  Freundlichkeit  jedem  entgegen- 
brachte, dieses  noch  so  rührselige  und  einseitige,  doch  felsenfeste  und  aus  dem 
Innern  dringende  Gottvertrauen  der  eigentliche  Grund  war,  dafs  sich  ihm  die 
Herzen  öffneten.  Und  dieser  selbe  Geist  wehte  auch  aus  seinen  Schriften  und 
zog  die  Herzen  ihrer  Leser  mit  einer  anmutigen  Unwiderstehlichkeit  an.  Ge- 
lehrte Poeten  und  weltweise  Männer  hatte  es  genug  gegeben  das  ganze 
17.  Jahrhundert  hindurch  und  bis  an  Gellerts  Tage  heran,  hier  zum  erstenmale 
trat  ein  Lehrer  seines  Volks  auf,  der  ihm  gab,  was  es  suchte,  was  es  seit 
Luther  nicht  wieder  gefunden  hatte,  Wärme,  Herzlichkeit,  Liebe.  So  ist  die 
Persönlichkeit  dieses  Mannes  das  Beste  an  seinem  Lebenswerk,  auch  an  seinem 
erzieherischen  Wirken;  wir  haben  es  gesehen,  wie  er  da  selbst  überall  voran- 
ging, wie  er  die  von  ihm  selbst  gelehrte  Pflicht  der  Erziehung  übte  und  sich 
an  dem  daraus  hervorgehenden  Glück  erfreute.  Auch  die,  welche  seiner  Lehre 
widerstrebten,  denen  er  nicht  grofs,  nicht  allseitig  genug  erschien,  sie  konnten 
doch  nicht  umhin,  —  wir  berufen  uns  wieder  auf  Goethe  —  ihn  herzlich  lieb 
zu  haben. 

Und  gewifs,  grofs,  tief  war  Gellerts  'Moral'  nicht,  seiner  Ethik  war  viel 
Menschliches  fremd.  Es  war  ihm  nur  vergönnt,  seiner  Zeit  den  wirkungs- 
vollsten und  entsprechendsten  Ausdruck  zu  verleihen,  aber  das  Gröfsere,  sein 
Volk  vorwärts  zu  führen,  ihm  voranzuschreiten,  das  war  ihm  nicht  beschieden. 
Am  Ende  einer  langen  Epoche  fafat  er  noch  einmal  alles,  was  sie  bewegt,  am 
anziehendsten  und  herzlichsten  zusammen,  aber  über  sie  hinaus  ragt  er  nicht, 
oder  wenigstens  nur  in  ganz  geringen  Ansätzen.  Kein  Wunder  daher,  dafs 
nach  seinem  Tode,  als  die  Persönlichkeit  verstummt  war,  sein  Werk,  genau 
besehen  im  Lichte  einer  neuen  Zeit,  Mängel  und  Schwächen  in  Menge  aufwies. 
Sehr  bald  setzte  die  Kritik  ein,  Mauvillon  und  Unzer  mit  ihrem  Briefwechsel 
'Über  den  Wert  einiger  deutscher  Dichter'  voran,  mehr  boshaft  und  abstofsend 
als  dafs  sie  gerecht  abzuwägen  versuchten.  Eingesetzt  hat  diese  Gegenströmung 
schon  Jahre  vorher,  Geliert  wufste  nichts  von  den  neueren  Dichtern,  aber 
Klopstock  und  Lessing  hatten  auch  zu  ihm  kein  inneres  Verhältnis.  Und  alles, 
was  eine  ganz  neue  Zeit  bald  brachte,  war  Gellerts  Anschauungskreis  unend- 
lich ferne  liegend;  weder  für  die  Freude  an  menschlicher  Gröfse,  noch  für  eine 
Sittlichkeit,  die  die  Fesseln  der  Theologie  abwarf,  für  ein  starkes  Menschen- 
tum, für  ein  leise  aufdämmerndes  Nationalgefühl  hatte  Gellerts  Moral  Platz 
gehabt.  Mit  einer  neuen  litterarischen  Welle  kam  das  Selbstbewufstsein  des 
Bürgertums,  das  die  deutschen  moralischen  Wochenschriften  ihren  englischen 


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W.  Haynel:  Gellerts  pädagogische  Wirksamkeit 


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Vorbildern  nicht  hatten  nachfühlen  können,  nun  auch  in  Deutschland  zum 
Ausdruck.  Unbarmherzig  wurden  Gellerts  Ideale  bei  Seite  geworfen,  seine 
Epoche  war  zu  Ende.  Betrachten  wir  noch  einmal  seine  pädagogischen  Ideale, 
so  hat  Rouaseaus  Notschrei  die  zaghafte  Stimme  des  Leipziger  Professors  über- 
tönt, Kant  befreite  die  Moral,  und  das  klassische  Altertum  verband  sich  mit 
dem  germanischen  Geist  in  höchster  Offenbarung  im  Neuhumanismus. 

Nur  auf  dem  Gebiet  der  Religion,  wo  Geliert  sein  Bestes  gab,  sind  die- 
jenigen geistlichen  Lieder,  deren  herzlicher  Ton,  deren  innige,  thätige  Frömmig- 
keit die  Schranken  kalter  und  trockener  Lehrhaftigkeit  durchbrach,  Eigentum 
unseres  Volkes  geblieben.  Die  Macht  und  Wucht  der  Lieder  des  16.  Jahr- 
hunderts, die  tiefe,  warme  Gläubigkeit  des  Einzelnen,  wie  sie  Paul  Gerhardts 
Poesie  eigen  ist,  hat  Geliert  nicht  erreicht,  ihre  Gröfse  und  Schönheit  aber 
verständnisvoll  gewürdigt.  Seine  geistlichen  Lieder  erheben  sich  auch  hier 
nicht  über  ihre  Zeit,  es  sind  die  klassischen  Kirchengesänge  des  Rationalismus. 
Wie  wir  im  grofsen  Ganzen  Geliert  doch  am  meisten  zu  dieser  theologischen 
Richtung  hinneigen  sahen,  so  spiegeln  auch  seine  Lieder  in  ihrer  Betonung  des 
Allgemeinen,  in  ihrer  Mahnung  zu  Menschenliebe,  in  ihrer  Vermeidung  des 
Dogmatischen  den  Geist  der  Aufklärung  wieder.  Bei  einzelnen  bricht  aber 
die  Wärme  des  Gefühls  so  Bieghaft  durch,  dafs  sie  das  Eigentum  unserer 
protestantischen  Gemeinden  bleiben  mögen1),  zumal  diejenigen,  denen  Beethoven 
die  Macht  unvergänglicher  Töne  geliehen  hat.  So  mag  des  Dichters  Freude 
an  der  Erziehung  zu  'Tugend  und  Religion'  hier  in  frommer  Christen  Herzen 
noch  lange  im  Sinne  des  einstigen  Lehrers  seines  Volkes  nachwirken. 

Wie  steht  es  aber  um  den  erzieherischen  Wert,  den  wir  heute  den  Fabeln 
und  Erzählungen  Gellerts  zumessen?  Sie  waren  bestimmt,  'dem,  der  nicht 
viel  Verstand  besitzt,  die  Wahrheit,  durch  ein  Bild,  zu  sagen'  (I  95),  und 
unsere  Darlegungen  haben  gezeigt,  welche  wichtige  Rolle  sie  nach  Gellerts 
pädagogischer  Theorie  für  den  Unterricht  der  ersten  Jahre,  etwa  bis  zum 
zehnten  Lebensjahr,  spielten  (s.  o.  S.  233  f.).  In  einer  etwas  voreiligen  Ver- 
ehrung für  alles  AJte  haben  manche  auch  für  unsere  Zeit  Gellerts  Fabeln  als 
vortreffliches  Lesebuch  für  unsere  Sextaner  oder  Quintaner  gepriesen.  Zu- 
gegeben, dafs  die  Anzahl  guter  neuerer  Fabeln  nicht  sehr  grofs  ist,  so  erhebt 
sich  doch  die  Frage,  ob  Gellerts  Fabeln  und  Erzählungen  wirklich  jenen  ge- 
rühmten pädagogischen  Wert  noch  besitzen.  Die  Vorbedingung,  dafs  sich  die 
Fabel  überhaupt  trotz  ihrer  oft  recht  dick  aufgetragenen  Lehrhaftigkeit  für  den 
Gebrauch  in  der  Schule  empfiehlt,  betrachten  wir  als  erfüllt;  denn  die  Beant- 


')  Zum  Beweis  für  das  Nachwirken  der  religiösen  Gesänge  6.8  mögen  folgende  Zahlen 
statt  vieler  anderer  gelten:  das  bis  vor  etwa  8  Jahren  gebräuchliche  Gesangbuch  der 
lutherischen  Gemeinden  Ostfrieslands  (wir  haben  einen  Druck  aus  1841  vor  uns)  zahlte  36, 
das  seitdem  eingeführte  hannoversche  Gesangbuch  umfafst  19  Gellertache  Lieder,  das  eben- 
falls vor  einigen  Jahren  neu  erschienene  Gesangbuch  der  reformierten  Gemeinden  Ostfries- 
lands  2&hlt  20;  diese  Zahl  ist  wegen  der  Abweichung  vom  Dichter  in  der  Konfession  be- 
sonders charakteristisch.  Ästhetisch  betrachtet  dürfte  etwa  die  Hälfte  dieser  Zahl  dauernden 
Wert  beanspruchen. 


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W.  Hayncl:  Geliert«  pädagogische  Wirksamkeit 


wortung  dieser  Vorfrage  müssen  wir  dem  praktischen  Schulmann  überlassen, 
der  allein  aus  eigener  Erfahrung  darüber  wird  urteilen  können. 

Man  spricht  gewöhnlich  kurz  von  Gellerts  Fabeln,  und  doch  sollte  man 
lieber,  wenn  man  den  langen  Titel  abkürzen  will,  von  Erzählungen  reden,  denn 
das  sind  sie  zu  vier  Fünfteln.  Daraus  ergiebt  sich  für  uns  schon  ein  wich- 
tiges Moment.  Der  allgemeine  Charakter,  der  der  Fabel  eigentümlich  ist,  ist 
bei  Geliert  meist  überhaupt  nicht  vorhanden,  ganz  spezielle  Verhältnisse  da- 
maliger Zeit  werden  behandelt;  da  erscheint  Satire  auf  Auswüchse  des  Lebens 
jener  Epoche,  da  wird  altes  litterarisches  Gut  aufs  neue  verwertet,  alles 
Dinge,  die  für  die  heutige  Schuljugend  unverständlich  und  ungeeignet  sind. 
Geliert  räumte  allerdings  der  Fabel  einen  bedeutsamen  Platz  in  der  Erziehung 
oin,  aber  man  verkennt  den  Charakter  dieser  Schöpfungen  durchaus,  wenn  man 
die  Fabeln  und  Erzählungen  des  Dichters  lediglich  für  ein  .Schulbuch  halt. 
Vielmehr  wollen  sie  viel  weitere  Kreise  belehren,  bessern  und  —  verspotten. 
Je  mehr  wir  durch  Publikationen  und  Forschung  neuerer  Zeit  in  die  Lage  ge- 
setzt sind,  die  innere  Geschichte  der  deutschen  Länder  jener  Zeit  zu  studieren, 
desto  mehr  erkennen  wir,  dafs  sich  hinter  der  scheinbar  litterariBchen,  dabei 
so  zaghaften  und  vorsichtigen  Kritik  Gellerts,  Rabeners  u.  a.  ein  tiefer  Wahr- 
heitsgehalt verbirgt.  Klagen  über  Arglist  der  Advokaten,  über  den  Prozefo- 
unfug,  über  Ungerechtigkeit  der  Richter,  über  Stellen-  und  Amterjagd  ver- 
stummen in  der  Masse  des  Materials  nie.1)  Die  Empörung  über  diese  Zustände 
macht  sich  freilich  so  zaghaft  und  behutsam,  dabei  so  amüsant  und  kunstvoll 
dargestellt  geltend,  dafs  man  bei  Gellerts  Erzählungen  den  Wirklichkeitsgehalt 
gewöhnlich  vergifst  und  nur  zu  oft  lediglich  die  Entwickeiung  litterarischer 
Motive  betrachtet,  dabei  aber  nicht  bedenkt,  dafs  den  Anstofs  zur  Umformung 
alter  Tradition  bittere  Wirklichkeit  gab.  Wir  haben  oben  schon  gesehen,  wie 
manche  Erzählung  dazu  benutzt  wurde,  um  den  eigenen  Zeitgenossen  Lebren 
ins  Gedächtnis  zu  rufen,  bei  denen  von  einer  Gültigkeit  für  unsere  Tage  und 
erst  recht  von  ihrer  Verwendung  im  Unterricht  auf  der  unteren  Stufe  nicht 
die  Rede  sein  kann  (Informator,  der  erhörte  Liebhaber,  Tartarenfürst,  Affen 
und  Bären  u.  s.  w.).  Dazu  kommt  nun  der  reiche  Schatz  der  überlieferten 
Satire,  den  der  Dichter  ausbeutet,  der  Hohn  auf  die  dummen  Bauern  (Bauern 
und  Amtmann),  die  Spottverse  auf  die  schlechten  Dichter  und  elenden 
Skribenten  (z.  B.  das  Gespenst,  die  Nachtigall  und  die  Lerche,  der  unsterb- 
liche Autor,  die  beiden  Schwalben,  der  alte  Dichter  und  der  junge  Kritikus), 
auf  haarspalterische  Philosophen  und  Gelehrte  (der  grüne  Hut,  Fuchs  und 
Elster,  der  Schatz,  der  Polyhistor,  Spinne  u.  s.  w.).  Für  die  Schuljugend  sind 
alle  diese  Stücke  ebensowenig  brauchbar  wie  diejenigen,  in  welchen  uns  Ver- 
treterinnen des  weiblichen  Geschlechts  entgegentreten.  Den  merkwürdigen 
Gegensatz  zwischen  den  meisten  weiblichen  Figuren  der  Lustspiele  und  den 


*)  Wir  denken  speziell  an  die  schöne  Publikation  der  Acta  Borussica,  Denkmäler  der 
preufsischen  Staatsverwaltung  im  18.  Jahrh.  Herausgegeben  von  der  Kgl.  Akademie  der 
Wissenschaften.    Berlin  1894  ff. 


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W.  Haynel:  Gelierte  pädagogische  Wirksamkeit 


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Frauen,  wie  sie  in  den  Erzählungen  ganz  nach  dem  Muster  der  Holberg, 
Moliere,  Frau  Gottsched  gezeichnet  werden,  haben  wir  schon  oben  angedeutet 
(S.  248).  Nur  diese  letztere  Art  von  Frauen  findet  sich  in  den  Erzählungen, 
hier  sind  sie  alle,  eine  wie 

und  fällt  einmal  eine  Ausnahme  von  dieser  Regel  vor,  so  weifs  der  Verfasser 
sie  nicht  hoch  genug  zu  preisen.  Etwa  ein  Fünftel  der  ganzen  Sammlung 
darf  man  diesen  pädagogisch  ganz  unfruchtbaren  zuweisen,  und  Geliert  hat 
auch  eine  Anzahl  von  Ehen  geschildert,  in  denen  die  Männer  jener  Art  von 
Frauen  würdig  sind.  In  den  Erzählungen  und  Fabeln  spiegelt  sich  dann  auch 
der  gesamte  Apparat  des  Schäferspiels  wieder,  auch  die  unnatürlichen  Namen 
Dämon,  Selinde,  Orgon  u.  8.  w.,  die  die  Zeit  nun  einmal  in  jeglicher  Poesie  ver- 
wandte und  hebte,  kommen  vielfach  vor.  Gegen  einige  Stücke  mufs,  wenn  es 
sich  um  pädagogische  Verwendbarkeit  handelt,  aus  moralischen  Gründen  Ein- 
spruch erhoben  werden;  wie  man  überhaupt  die  Stichhaltigkeit  der  Moral 
Gellerts  stets  prüfen  mufs,  so  findet  man  auch  hier,  dafs  uns  selbstverständlich 
erscheinende  Ehrlichkeit  und  Bravheit  den  Ruhm  besonders  grofser  Tugend  zu- 
gebilligt erhält  (z.  B.  der  arme  Schiffer;  der  fromme  General,  der,  wenn  Gott 
nicht  wäre,  auch  keinen  König  scheuen  würde;  Alcest,  Amynt).  In  Zeit  und 
Persönlichkeit  des  Dichters  wurzeln  ferner  Schauergeschichten  mit  faustdick 
aufgetragener  Moral  oder  voll  rührseligen  Mitleids  (Inkle  und  Yariko,  Rhynsolt 
und  Lucia);  da  findet  sich  jene  unmännliche,  ungesunde  Art  der  Moral,  gegen 
die  wir  mit  jenem  Franzosen,  von  dem  Goethe  erzählt,  uns  ablehnend  verhalten 
müssen  (Alcest,  der  grofsmütige  Räuber,  das  neue  Ehepaar,  der  Held  und  der 
Reitknecht  u.  s.  w.).  Manchmal  ist  endlich  die  Erzählung  nichts  mehr  als  eine 
gereimte  moralische  Vorlesung,  und  dadurch  geht  die  ganze  Anschaulichkeit 
verloren  (das  Testament),  oder  die  Moral  ist  so  langatmig  wie  im  'Kutschpferd" 
oder  so  unklar,  so  allgemein  und  dem  Hergang  des  vorderen  Teils  der  Fabel 
so  wenig  angemessen  wie  in  'Hans  Nord',  in  dem  'Kind  mit  der  Schere',  den 
'beiden  Hunden*  u.  s.  w.  Unverständlich  für  die  Jugend  sind  wegen  ihres  ge- 
samten Hintergrundes  z.  B.  Semnon  und  das  Orakel,  der  Leichtsinn,  oder 
wegen  ihrer  Verquickung  mit  philosophischen  Lehren  z.  B.  Epictet,  Herodes 
und  Herodias,  das  Schicksal. 

Aufser  diesen  sachlichen  Momenten,  von  denen  wir  nur  einige  typische 
hervorheben  konnten,  ist  auch  noch  etwas  Formelles  zu  bedenken.  Scherer 
hat  Geliert  nachgerühmt,  er  habe  die  Grazie  der  deutschen  Litteratur  wieder 
zugeführt1),  und  gewifs  sticht  die  Eleganz  des  Gellertschen  Stils  aufs  vorteil- 
hafteste von  aller  Poesie  um  ihn  herum  ab.  Aber  man  darf  nicht  übersehen, 
dafs  die  Leichtflüssigkeit  und  Gefälligkeit  seiner  Darstellung  den  Dichter  nicht 
selten  verleitet,  in  reinste  versifizierte  Prosa  zu  verfallen,  dafs  Charakter  und 
Klarheit  der  Erzählung  unter  ermüdender  Weitschweifigkeit,  die  alles  bis  aufs 
Kleinste  erzählt  und  berichtet,  empfindlich  leiden.  Man  braucht  noch  nicht 
mit  Johann  Heinrich  Vofs  gegen  Gellerts  französisch  kraftlose  Schreibart  los- 


•)  Geschichte  der  deutschen  Litteratur7,  Berlin  1894,  S  402. 


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254 


W.  Haynel :  Geliert»  pädagogische  Wirksamkeit 


zupoltern1)  und  kann  doch  zweifeln,  ob  manche  Erzählung  nicht  zuviel  Flufa, 
zuviel  Deutlichkeit  besitze,  um  der  Jugend  empfohlen  zu  werden.2)  Darunter 
leidet  z.  B.  auch  der  berühmte  'Hund'  und,  um  noch  eins  gerade  der  be- 
kanntesten Stücke  anzuführen,  der  Schlufs  der  Erzählung  'Der  Blinde  und 
der  Lahme*. 

Wenn  man  schliefslich  auch  den  Gebrauch  heute  veralteter  Ausdrücke  als 
Hindernis  für  die  Verwendung  der  Fabeln  im  Jugendunterricht  ansieht,  so  darf 
man  bei  scharfer  Kritik  auf  Verständlichkeit  für  jüngere  Schüler  hin  doch  nur 
von  wenigen  dieser  berühmten  Fabeln  und  Erzählungen  zugeben,  dafs  sie 
Sextanern  oder  Quintanern  als  Lesestück  in  die  Hand  gegeben  werden  könnten. 
Ein  Zehntel  des  Ganzen  wird  allerhöchsten s  noch  für  unsere  Zeit  auf  dieser 
Stufe  des  Unterrichts  in  Betracht  kommen,  darunter  freilich  die  bekanntesten 
Stücke  wie  der  grüne  Esel,  der  Bauer  und  sein  Sohn,  Till,  der  Hund,  der 
Blinde  und  der  Lahme  (wenn  man  die  klappernden  Schlufsverse  mit  in  Kauf 
nimmt).  Auch  die  Erzählung,  die  dem  unsichern  Jüngling  zeigt,  wie  man 
Briefe  schreiben  soll,  mag  als  Nachhall  dieser  Bemühungen  Gellerts  fortleben. 
Aufserdem  kommen  in  Frage  etwa  der  Kuckuk,  das  Pferd  und  die  Bremse,  die 
junge  Ente,  der  Schwätzer,  der  Knabe  und  die  Mücken,  Wachtel  und  Hänfling, 
Elster  und  Sperling,  der  Zeisig,  das  Heupferd,  und  auch  bei  diesen  möchte 
man  zum  Teil  Zweifel  an  ihrer  Verständlichkeit  für  ein  jugendliches  Alter 
hegen.  Wie  ersichtlich,  überwiegen  in  dieser  Auswahl  die  Fabeln,  die  all- 
gemeine Wahrheiten  vortragen. 

So  haben  wir  also  hier  Geliert  einen  beträchtlichen  Teil  lebendiger  Nach- 
wirkung, die  ihm  von  anderer  Seite  noch  eingeräumt  wird,  absprechen  und 
die  Brauchbarkeit  seiner  Fabeln  für  das  Alter,  für  das  ihr  Verfasser  sie  vor- 
wiegend bestimmte,  ganz  erheblich  einschränken  müssen.  Ganz  aber  möchten 
wir  Gellerts  Fabeln  und  Erzählungen  auch  in  einem  weiteren  Sinne  nicht 
aus  der  Schule  verbannen.  Es  giebt  kein  litterarisches  Denkmal  der  ganzen 
Zeit  von  etwa  1550  bis  1750,  das  uns  ein  so  vortreffliches  Abbild  ihrer  Kultur 
giebt,  das  ähnlich  verbreitet  und  bekannt  wäre  im  deutschen  Hause  wie  Gellerts 
Fabeln.  Nicht  mehr  als  Lehrer  soll  der  Dichter,  von  jenen  paar  Ausnahmen 
abgesehen,  wirken,  aber  als  ein  lebendiges  Abbild  seiner  Epoche  kann  er  uns 
ein  vortreffliches  Mittel  zur  Belebung  des  Unterrichts  in  oberen  Klassen  sein. 
Je  mehr  der  Lehrer  sich  wird  bestreben  müssen,  die  Vergangenheit  in  Litteratur, 
politischem  und  wirtschaftlichem  Leben,  in  religiösen  Anschauungen  deutlich 
und  anschaulich  seinen  Schülern  vorzutragen,  ein  desto  vortrefflicheres  Hilfs- 
mittel findet  er  dazu  an  den  Fabeln  Gellerts.  An  ihnen  kann  er  zeigen,  wie 
sich  schüchtern  die  Anfänge  der  Kritik  der  bestehenden  Verhältnisse  geltend 
machten,  wie  viel  Unnatur  und  Überlieferung  von  dieser  Litteratur  fortgeschleppt 
wird,  wie  aber  so  manches  Zeichen  der  anhebenden  neuen  Epoche  in  schüchterner 


»)  Bei  Schuller,  S.  82  Anm.  140. 

*)  Ähnlich  urteilt  Wendt,  Didaktik  und  Methodik  des  deutschen  Unterrichts,  München  1896, 
8.  41  (Baumeisters  Handbuch  VII  7). 


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W.  Haynel:  Geliert«  pädagogische  Wirksamkeit 


255 


Satire  deutlich  wird.  Hier  spiegeln  sich  die  Unsicherheit  des  Rechts,  die  weich- 
liche Rührseligkeit  und  der  Abscheu  frommer  Gemüter  gegen  den  Deismus 
wieder;  die  Kritik,  die  der  mannhafte  Lessing  an  den  Religionen  übt,  richtet 
Geliert  scherzhafter  gegen  die  philosophischen  Systeme.  Auf  der  einen  Seite 
spielt  noch  die  Unnatürlichkeit  der  Schäferpoesie  eine  Rolle,  auf  der  andern 
findet  sich  eine  Vorahnung  des  Naturevangeliums  Rousseaus,  wenn  der  schlechte 
Kulturmensch  dem  unschuldigen  Naturkinde  gegenübergestellt  wird  (Inkle  und 
Yariko).  So  können  Gellerts  Fabeln  und  Erzählungen  wertvolle  Hilfsmittel 
der  Erziehung  sein,  in  anderm  Sinne  freilich  als  ihr  Dichter  gewollt  hat,  so 
mögen  sie  fernerhin  ein  Platzchen  im  deutschen  Hause  finden,  für  das  sie  doch 
das  einzige  poetische  Werk  geblieben  sind,  das  yon  der  Reformation  bis  auf 
Klopstock  und  Lessing  in  unseres  Volkes  Eigentum  übergegangen  ist. 


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ZU  DER  NEUEN  PREUSSISCHEN  PRÜFUNGSORDNUNG  FÜR 
KANDIDATEN  DES  HÖHEREN  LEHRAMTS 

Von  N.  N. 

Preufsen  hat  unter  dem  12.  September  1898  eine  nene  Prüfungsordnung 
für  die  Kandidaten  des  höheren  Lehramts  erscheinen  lassen,  die  am  1.  April  1899 
in  Kraft  getreten  ist.  Es  ist  zu  erwarten,  dafs  andere  Staaten,  insbesondere 
auch  Sachsen,  dem  Beispiele  der  führenden  Macht  bald  folgen  werden.  Für 
die  Umgestaltung  wird  das  neue  preufsische  Muster  das  Vorbild  abgeben,  und 
von  denen,  die  jetzt  auf  der  Universität  zum  höheren  Lehramte  sich  vorbereiten, 
wird  schon  mancher  neuen  Prüfungsbedingungen  sich  zu  unterwerfen  haben. 
Für  eine  neue  Regelung  der  Verhaltnisse  bringen  selbstverständlich  alle  daran 
beteiligten  Parteien  Wünsche  mit,  im  vorliegenden  Falle:  Examinatoren  und 
Examinanden,  Staat  und  Schule.  Nach  Aufforderung  der  Redaktion  sollen  im 
folgenden  Betrachtungen  und  Wünsche  zur  neuen  preußischen  und  bevor- 
stehenden sächsischen  Prüfungsordnung  vorgebracht  werden,  wie  sie  einem 
ifuptßtog  aufgestiegen  sind,  der  nach  überstandener  Prüfung  im  Schul- 
vorbereitungsdienste steht,  dem  also  seine  Examenerlebnisse  noch  frisch  genug 
in  der  Erinnerung  haften,  der  mit  den  Studierenden  noch  Fühlung  genug  hat, 
um  zu  wissen,  was  diese  für  eine  neue  Prüfungsordnung  etwa  für  Wünsche 
hegen,  und  der  aus  den  ersten  Anfängen  seiner  Praxis  doch  auch  schon  ein 
klein  wenig  Blick  dafür  gewonnen  hat,  in  welchem  Verhältnisse  Examen- 
forderungen und  Lehrthätigkeit  stehen.  Also  nicht  eine  kritische  Musterung 
Paragraph  für  Paragraph  soll  gegeben  werden,  sondern  im  Anschlüsse  an  ein- 
zelne Punkte  sollen  einige  sächsische  Kandidatenwünsche  zur  Sprache  kommen. 

Zunächst  hält  Preufsen  fest  am  zweijährigen  Vorbereitungsdienste,  worin 
Sachsen  noch  nicht  gefolgt  ist.  Dafs  wir  davor  bewahrt  bleiben,  ist  zu  erhoffen. 

Beibehalten  ist  ferner  die  Trennung  von  allgemeiner  und  Fachprüfung, 
d.  h.  die  Forderung,  dafs  jeder  Examinand  aus  dem  Gebiete  der  Philosophie, 
der  Pädagogik,  der  deutschen  Litteratur  und  Sprache  und  aus  der  Religion» 
lehre  seiner  Konfession  geprüft  werde.  Nachdem  schon  in  den  Bemerkungen 
zur  Prüfungsordnung  von  1887  diese  Forderungen  besonders  begründet  worden 
waren,  sind  sie  jetzt  in  §  11  in  klarerer  Form  als  1887  und  weit  ausführlicher 
dargestellt  worden.    Nun  aber  die  Neuerungen: 

Zunächst  sei  hingewiesen  auf  einige  genauere  Formulierungen  und  scheinbar 
nur  ausschmückende  Zusätze. 

§  1  lautet:  Zweck  der  Prüfung  ist  die  Feststellung  der  wissenschaftlichen 
Befähigung  für  das  Lehramt  an  höheren  Schulen.    Das  war  der  Zweck  der 


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N.  N.  Zu  der  neuen  preufs.  Prflfungaordnung  für  Kandidaten  des  höheren  Lehramts  257 

Prüfung  auch  bisher.  Dafs  aber  dieser  allgemeine  Satz  jetzt  an  die  Spitze  der 
Verordnung  gestellt  wird,  soll  wohl  einen  ausdrücklichen  Hinweis  auf  Trennung 
zwischen  wissenschaftlicher  und  sogenannter  praktischer  Auabildung  abgeben. 

In  §  2  wird  jetzt  ausdrücklich  festgestellt,  dafs  die  Prüfungskommissionen 
vorwiegend  aus  Universitätslehrern  und  Schulmännern  zusammengesetzt  werden 
sollen  und  der  Vorsitz  regelmässig  einem  Schulmanne  zu  übertragen  ist. 

Die  Bestimmungen  über  die  Zuständigkeit  der  Kommissionen  sind  auch 
vervollständigt,  aber  für  Sachseti  mit  seiner  einzigen  Prüfungsstelle  ohne  Belang. 

In  §  5  wird  bei  den  Bedingungen  für  die  Zulassung  nach  Halbjahren  ge- 
rechnet, nicht  mehr  nach  Jahren:  wohl  ausdrückliche  Rücksicht  auf  Unter- 
brechung des  Studiums.  Ebenda  ist  neu  die  Bestimmung  über  die  Anstalten, 
deren  Absolvierung  an  Stelle  des  Gymnasiums  in  bestimmten  Fällen  genügen 
soll  zur  Bewerbung  um  die  Kandidatur. 

Wichtige  Neuerungen  bringen  in  den  §§  28  ff.  die  Bestimmungen  über  die 
Hausarbeiten  und  deren  Ersatz.  Nach  der  bisherigen  preufsischen  und  der  be- 
stehenden sächsischen  Ordnung  bekommt  der  Kandidat  zu  häuslicher  Erledigung 
eine  Aufgabe  aus  dem  philosophischen  oder  pädagogischen  Gebiete,  je  eine  aus 
jedem  der  Fächer,  in  denen  die  Lehrbefähigung  für  die  erste  Stufe  nachgewiesen 
werden  solL    Dazu  sind  folgende  zwei  Einschränkungen  gegeben: 

1.  Wenn  zwei  von  dem  Kandidaten  gewählte  Hauptfächer  in  solcher  Be- 
ziehung stehen,  dafs  die  Prüfungskommission  die  Gründlichkeit  des  Studiums 
derselben  durch  eine  Aufgabe  erachtet  ermitteln  zu  können,  so  ist  es  zulässig, 
für  dieselben  nur  eine  Aufgabe  zu  stellen. 

2.  Mehr  als  drei  Aufgaben  zu  schriftlicher  häuslicher  Bearbeitung  dürfen 
keinem  Kandidaten  gestellt  werden. 

Hierfür  bestimmt  die  neue  Vorschrift: 

Zur  häuslichen  Bearbeitung  erhält  der  Kandidat  zwei  Aufgaben,  die  eine 
für  die  allgemeine  Prüfung  aus  deren  Gebieten  —  also  auf  Wunsch  auch  aus 
der  Religionslehre  oder  deutschen  Litteratur  — ,  die  andere  für  die  Fachprüfung 
aus  einem  der  Fächer,  in  welchen  er  die  Lehrbefähigung  für  die  erste  Stufe 
nachweisen  will.  Wünsche  des  Kandidaten  bezüglich  der  Auswahl  der  Auf- 
gaben sind  thunlichst  zu  berücksichtigen.  §  6, 1:  In  der  Meldung  ist  an- 
zugeben, aus  welchen  Gebieten  —  also  nicht  nur  aus  welchen  Fächern  —  der 
Kandidat  die  Aufgaben  für  die  schriftlichen  Hausarbeiten  zu  erhalten  wünscht. 

Betreffs  der  Sprache,  in  welcher  die  Arbeiten  zu  schreiben  sind,  ist  neu 
die  Bestimmung,  dafs  vom  Gebrauche  der  deutschen  Sprache  kein  Dispens 
mehr  erteilt  wird.  Das  bedeutet  den  Verzicht  auf  eine  Höflichkeit  gegen  die 
Ausländer,  die  auf  ihr  deutsches  Zeugnis  hin  in  ihrem  Vaterlande  Vorteile  für 
ihre  Anstellung  erringen  wollen.  Sie  mögen  immerhin  der  Sprache  sich  auch 
in  den  Arbeiten  bedienen,  in  der  sie  bei  deutschen  Professoren  Unterricht  ge- 
nossen haben. 

Als  Gesamtfrist  für  die  Hausarbeiten  sind  jetzt  16  Wochen  festgesetzt 
worden  gegen  6  Wochen  für  jede  Arbeit  nach  den  alten  Vorschriften.  Dem- 
entsprechend kann  Aufschub  um  16  Wochen  von  der  Kommission  erteilt 

Neue  Jahrbücher.   189».  II  17 


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258    N.  N.:  Zu  der  neuen  preufs.  Prüfungsordnung  für  Kandidaten  des  höheren  Lehramts 


und  von  deren  Leiter  weitere  Fristverlängerung  beim  Ministerium  beantragt 
werden. 

Mit  diesen  neuen  Bestimmungen  wird  Zweck  und  Wesen  der  Hausarbeiten 
nicht  unerheblich  verändert.  Nicht  mehr  in  jedem  Fache,  in  dem  er  volle  Lehr- 
befähigung zuerkannt  haben  will,  darf  der  Kandidat  eine  Hausaufgabe  gestellt 
bekommen,  sondern  nur  aus  einem  und  aufserdem  eine  zweite  aus  dem  Gebiete 
der  allgemeinen  Prüfung.  Er  soll  also  jetzt  nicht  mehr  nachweisen,  dafs  er  in 
jedem  seiner  Hauptfächer  zu  arbeiten  versteht  und  dafs  er  genügend  mit 
Pädagogik  oder  Philosophie  sich  vertraut  gemacht  hat,  sondern  er  soll  den 
Nachweis  liefern,  dafs  er  die  allgemeine  Standesbildung  besitzt  und  dafs  er  den 
wissenschaftlichen  Betrieb  der  Fachstudien  erlernt  hat.  Die  Verlängerung  der 
Arbeitsfrist  ist  wohl  als  Hinweis  darauf  anzusehen,  dafs  zu  recht  eingehenden 
Erörterungen  durch  die  Auswahl  der  Themata  Gelegenheit  gegeben  werden  soll. 
An  Stelle  der  Hausarbeiten  können  nach  wie  vor  vom  Kandidaten  bereits  im 
Druck  veröffentlichte  Arbeiten  angenommen  werden.  Nach  den  neuen  Be- 
stimmungen sind  alle  veröffentlichten  Schriften  bei  der  Bewerbung  einzureichen, 
während  das  früher  nur  zugelassen  war,  falls  der  Kandidat  deren  Berück- 
sichtigung wünschte.  Bestehen  geblieben  ist  die  Einschränkung,  dafs  nur  die 
von  preufsischen  Universitäten  angenommenen  Dissertationen  ohne  Prüfung 
ihrer  Qualität  als  Ersatz  gerechnet  werden  sollen. 

Geblieben  ist  das  Institut  der  Klausurarbeiten  als  Kontrole  der  Selb- 
ständigkeit und  als  Schutz  gegen  eine  zu  grofse  Zahl  von  Hausarbeiten.  Sie 
werden  nun  häufiger  vorkommen,  weil  die  Zahl  der  Hausarbeiten  beschränkt 
ist  und  Übersetzungsproben  für  die  fremden  Sprachen  ausdrücklich  gefordert 
werden  (§  29).    Die  Arbeitsfrist  ist  auf  je  drei  Stunden  Maximum  festgesetzt. 

Der  Nachweis  praktischer  Fähigkeiten,  der  bisher  nur  in  Physik  und 
Chemie  verlangt  war,  soll  nun  ausgedehnt  werden  auf  Benutzung  erdkundlicher 
Anschauungsmittel  und  —  im  Anschlufs  an  die  Hausarbeiten  —  Entwerfen 
von  Kartenskizzen  und  einfache  bildliche  Darstellung  von  Pflanzen-  und  Tier- 
formen (§  30). 

Die  dreistündigen  Klausurarbeiten  werden  die  Vorteile  und  Nachteile  aller 
Klausurarbeiten  haben.  Ihre  stärkere  Betonung  bedeutet  wohl  eine  Anpassung 
an  die  Examenvorschriften  der  anderen  Fakultäten.  Die  Forderung  des  Nach- 
weises praktischer  Fähigkeiten  ist  wohl  in  bester  Absicht  gestellt  als  nach- 
drücklicher Hinweis  für  den  Kandidaten  auf  die  Bedürfnisse  der  Schulpraxis. 
Ob  daraus  nun  unbedingt  eine  neue  Prüfungsforderung  gemacht  werden  mufste, 
ist  ja  eine  andere  Frage. 

§  11  handelt  von  der  Abstufung  der  Lehrbefähigung.  In  Sachsen  und 
Preufsen  hatte  man  bisher  drei  Stufen:  Lehrbefahigung  im  einzelnen  Fache  für 
Ober-,  Mittel-  und  Unterklassen.  Über  die  Frage  dieser  Gliederung  sind  aus- 
führliche Erörterungen  zu  finden  in  den  Bemerkungen  zu  der  Prüfungsordnung 
von  1887.  Es  wird  da  im  Anschlufs  an  die  Abschaffung  des  dritten  Gesamt- 
zeugnisgrades die  Beibehaltung  der  dritten  Lehrfähigkeitsstufe  verteidigt  mit 
folgender  Begründung:  Damit  die  Lehramtsprüfung  überhaupt  bestanden  und 


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N.  N.:  Zu  der  neuen  preufc.  Prüfungsordnung  für  Kandidaten  des  höheren  Lehramts  259 

das  zulässig  mindest«  Mafs  der  Lehrbefahigung  erreicht  werde,  ist  in  einer  be- 
stimmten Zahl  von  Lehrgegenständen  eines  bestimmten  Gebietes  die  Nach- 
weisung der  mittleren  Lehrbefahigung  erforderlich;  dadurch  wird  keineswegs 
ausgeschlossen,  dafs  in  anderen  Gegenständen  das  mindeste  Mafs  der  Lehr- 
bdahigimg  erworben  werde,  und  der  Nachweis  auch  nur  dieses  Mafses  sicherer 
Kenntnisse  ist  sowohl  für  die  Gesamtbildung  des  betreffenden  Kandidaten  als 
insbesondere  für  seine  etwaige  Verwendung  in  der  Lehrthätigkeit  nicht  zu 
unterschätzen. 

Ich  wende  mich  zu  §  9,  der  in  Absatz  2  von  der  pflichtmäfsigen  Ver- 
bindung von  Fachern  handelt.  Es  wird  bestimmt:  'Die  dem  Kandidaten  .... 
rastehende  Wahl  unterliegt  der  Beschränkung,  dafs  sich  unter  den  von  ihm 
bezeichneten  Fächern  stets  eine  der  folgenden  Verbindungen  finden  mufs: 
Lateinisch  und  Griechisch,  Französisch  und  Englisch,  Geschichte  und  Erdkunde, 
Religion  und  Hebräisch,  Reine  Mathematik  und  Physik,  Chemie  nebst  Mineralogie 
und  Physik  oder  anstatt  letzterer  Botanik  und  Zoologie,  mit  der  Mafsgabe 
jedoch,  dafs  an  die  Stelle  jedes  in  den  drei  ersten  Verbindungen  genannten 
Prüfungsgegenstandes  sowie  an  die  Stelle  von  Hebräisch  in  der  vierten  Ver- 
bindung Deutsch  treten  kann.  —  4.  Angewandte  Mathematik  kann  nur  im  An- 
schlufs  an  Reine  Mathematik  gewählt  werden.' 

Die  Änderung  bedeutet  also  eine  Begünstigung  des  Deutschen.  Den  Schaden 
tragen  die  fremden  Sprachen,  für  die  die  bisher  bestehende  enge  Verknüpfung  des 
Griechischen  mit  dem  Lateinischen  und  des  Französischen  mit  dem  Englischen 
beseitigt  ist.    Vgl.  §§  15  u.  17.    Einen  Vorteil  Behe  ich  darin  nicht. 

Auf  eine  Besprechung  der  Vorschriften  über  das  Mafs  der  in  den  einzelnen 
Fachern  nachzuweisenden  Kenntnisse  möchte  ich  in  diesen  allgemein  gehaltenen 
Erörterungen  verzichten. 

Was  nun  die  Wünsche  anlangt,  mit  denen  die  künftigen  Kandidaten  der 
Prüfung  entgegensehen,  so  sind  es  wohl  hauptsächlich  diese  drei,  dafs  sie  dabei 
von  ihren  Fachstudien  möglichst  ausgedehnten  Gebrauch  machen  können  und 
für  den  Erfolg  der  Prüfung  den  rechten  Nutzen  haben,  dafs  ihnen  ferner  die 
Prüfung  als  heilsames  Menetekel  vor  Augen  steht  und  dafs  endlich,  um  einen 
modern  wirtschaftlichen  Ausdruck  zu  gebraueben,  ungeeigneter  Zuzug  durch 
die  Einrichtungen  der  Prüfung  fern  gehalten  wird. 

Für  die  Erfüllung  dieser  Wünsche  wird  es  das  wichtigste  sein,  dafs  in 
ruögüchst  wenig  Fachern  nebeneinander  geprüft  wird. 

Ich  halte  es  für  einen  Hauptvorzug  der  Vorbildung  für  das  höhere  Lehr- 
fach gegenüber  der  seminaristischen  Bildung  der  Volksschullehrer,  dafs  wir  in 
ein  freiwillig  gewähltes  Studiengebiet  oder  mehrere  irgendwie  verwandte  Fächer 
uns  einarbeiten  und  zum  wissenschaftlichen  Verstandnisse  derselben  zu  kommen 
suchen,  und  dafs  uns  dieser  Vorzug  durch  den  Zwang  zu  einer  zweifelhaften 
Polyhiatorie  nicht  genommen  wird. 

Die  preufsische  Neuerung,  dafs  die  dritte  Lehrstufe  beseitigt  wird,  ist 
meines  Erachtens  freudigst  zu  begrüfsen.  Man  vergegenwärtige  sich  nur,  wes- 
halb und  wie  die  Lehrberechtigung  für  Unterklassen  erworben  wird.  Das 

17* 


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260    N.  N.:  Zu  der  neuen  preufc.  Prüfungsordnung  für  Kandidaten  des  höheren  Lehramt* 

Zeugnis  verlangt  drei  volle  Fakultäten  oder  den  Ersatz  der  dritten  vollen 
Fakultas  durch  die  zweite  Stufe  der  Lehrbefahigung  in  zwei  Fächern.  Nun 
dient  es  dem  Kandidaten  zur  Empfehlung,  mehr  Fakultäten  im  Zeugnis  auf- 
zuweisen als  verlangt  wird.  An  gewisse  Fächer  ist  auch  Nachweis  elemen- 
tarer Kenntnisse  in  verwandten  Fächern  gebunden.  Deren  Nachweis  bringt 
aber  auch  eine  Lehrbefahigung  dritten  Grades  ein.  Die  Kenntnisse  kann 
sich  nun  der  Kandidat  auf  verschiedenen  Wegen  verschaffen.  Er  hört  etwa 
eine  möglichst  kurze  Vorlesung  bei  dem  prüfenden  Professor  und  bringt  die 
dabei  erworbenen  Kenntnisse  gewaltsam  an.  Von  den  so  erworbenen  und  dar- 
gelegten Kenntnissen  wird  er  gerade  im  Unterklassen  Unterricht  meist  so  gut 
wie  gar  keinen  Gebrauch  machen  können.  Man  hört  ferner  die  Examina 
mehrerer  Leidensgefährten  an,  um  sich  über  die  Gegenstände  der  Prüfung  zu 
orientieren  in  der  ja  wohl  nicht  immer  unrichtigen  Meinung,  dafis  die  Examina- 
toren für  den  Nachweis  von  Mindestkenntnissen  allmählich  durch  die  Praxis 
zu  einem  Prüfungskanon  kommen.  Auch  wird  an  Heften  zusammengeborgt,  was 
man  bekommen  kann,  und  sie  werden  studiert,  mit  allen  Un Vollkommenheiten 
des  Kollegienheftes,  ein  zeitraubendes  und  unerspriefsliches  Unternehmen.  Dazu 
kommt  etwa  noch  die  Durcharbeitung  eines  Schullehrbuchs.  So  belastet  sich 
der  Examinand  mit  viel  und  vielerlei  ungesichtetem  und  sehr  äufserlich  an- 
geeignetem Wissensstoff.  Mancher  freilich  thut  überhaupt  gar  nichts.  Er  sagt  sich: 
Der  Staatsexaminand  hat  für  seine  Hauptfächer  genug  zu  schaffen,  um  die 
Fülle  von  Gedächtnisarbeit  für  die  Prüfung  zu  bewältigen.  Da  ist  jede  Zer- 
splitterung schädlich.  Was  ich  für  meine  Hauptfächer  aus  den  Nachbargebieten 
wissen  mufs,  weifs  ich,  Aber  Einzelheiten  kann  ich  im  Bedarfsfalle  jederzeit 
mich  leicht  unterrichten.  Dafs  ich  nicht  ganz  unwissend  bin,  beweist  ja  mein 
Reifezeugnis,  das  bei  andern  Fakultäten  doch  auch  als  Garantieschein  der  Bil- 
dung angesehen  wird.  Und  wir,  die  wir  inp  Schulamt  gehen  wollen,  haben 
doch  in  der  Regel  nicht  zu  den  schlechtesten  Schülern  gehört.  Also  auf  gut 
Glück  hinein  ins  Examen  mit  den  Schulerinnerungen  und  den  gelegentlich  dazu 
erworbenen  Einzelkenntnissen. 

Also  entweder  thut  der  Kandidat  für  die  Prüfung  nichts  und  überläßt  die 
Entscheidung  dem  Zufall.  Dann  hat  die  Prüfung  keinen  Zweck.  Oder  er  thut 
viel  und  raubt  sich  die  Zeit  und  die  Kraft  für  die  wichtigeren  Arbeiten.  Dann 
ist  die  Prüfung  schädlich.  Hat  der  Kandidat  nun  aber  die  Lehrbefähigung  im 
Zeugnis  stehen,  dann  kann  er  auch  Unterricht  in  dem  betreffenden  Fache  nicht 
ablehnen,  so  unwillkommen  ihm  dieser  sein  mag.  Umgekehrt  wird  er  auch  ohne 
die  Fakultas  im  Bedarfsfalle  den  Unterklassenunterricht  in  weniger  ihm  ver- 
trauten Fächern  übernehmen  können,  mindestens  ebensogut  wie  der  Landgeist- 
liche, der  alle  Fächer  der  Unterklassen  zu  traktieren  pflegt. 

Endlich  erlangen  die  dritte  Lehrbefahigung  auch  diejenigen,  die  sich  ver- 
geblich um  die  Mittelklassenfakultas  beworben  haben.  Sie  werden  nun  in  aller 
Form  prädiziert  zum  Unterklassenunterricht,  wo  sie  doch  ausdrücklich  einen 
Mangel  an  Fähigkeit  bewiesen  haben,  und  brüsten  sich  unter  Umständen  mit 
dem  Besitze  der  Fakultas  gegenüber  denen,  die,  als  allgemein  tüchtig  erwiesen, 


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N.  N.:  Zu  der  neuen  preufe.  Prüfungsordnung  für  Kandidaten  des  höheren  Lehramts  261 

auch  ohne  besondere  Prüfung  zur  Übernahme  des  betreffenden  Unterrichtes  eher 
befähigt  sind.  Dafs  diese  Begründung  nicht  zutrifft  für  diejenigen,  die  um  die 
volle  Fakultas  sich  beworben  und  nur  die  zweite  Stufe  erlangt  haben,  leuchtet 
jedem  ein,  der  die  dabei  gestellten  und  zu  stellenden  Anforderungen  kennt. 

Die  Forderung,  dafs  auch  der  Unterschied  zwischen  erster  und  zweiter 
Fakultas  für  die  Prüfung  zu  beseitigen  sei,  möchte  ich  mir  nicht  zu  eigen 
machen.  Denn  in  drei  oder  —  zur  Sicherung  gegen  etwaigen  Schiffbruch  — 
in  vier  Fachern  den  Anforderungen  für  Oberklassenunterricht  in  der  Prüfung 
genügen  zu  wollen,  ist  schon  ein  kühnes  Unterfangen.  Das  Vorhandensein  von 
ausdrücklich  anerkannten  Nebenfächern  ist  ganz  zweckmäfsig.  Wer  in  der 
Praxis  dann  nachweist,  dafs  er  in  einem  Fache  zwar  nur  die  Fakultas  für 
Mittelklassen,  aber  die  Befähigung  für  Oberklassen  hat,  nun  der  mag,  um  allen 
gesetzmäfsigen  Vorschriften  zu  genügen,  sich  einer  Ergänzungsprüfung  unter- 
ziehen. Aber  auch  ohne  diese  wird  bei  Gelegenheit  der  Oberklassenunterricht 
ihm  nicht  vorenthalten  werden.  Umgekehrt  kann  er,  wenn  es  ihm  nicht  will- 
kommen ist,  nicht  gezwungen  werden,  den  höheren  Unterricht  zu  übernehmen. 
Auch  diese  Folge  des  Vorhandenseins  einer  Abstufung  kann  ja  unter  besonderen 
Umständen  angenehm  sein. 

Von  den  obligatorischen  Prüfungsgegenständen  sind  unbedingt  zu  halten 
Philosophie  und  Pädagogik.  Beseitigen  sollte  man  dagegen  die  Zwangsprüfung 
in  Religion.  Deren  Stellung  im  Staateexamen  suchen  zu  verteidigen  die  Be- 
merkungen zur  preufsischen  Prüfungsordnung  von  1887.  Sie  soll  danach  nicht 
eine  Wiederholung  der  Reifeprüfung  bilden,  sondern  den  Kandidaten  Anlafs 
geben  zu  zeigen,  dafs  sie  der  Kenntnis  und  dem  Verständnisse  ihrer  christlichen 
Konfession  ihr  gereifteres  Nachdenken  gewidmet  haben.  Das  kann  eine  Prü- 
fung, von  deren  Bestehen  die  Zukunft  des  Prüflings  abhängt,  nicht  zeigen. 
Welcher  25jährige  Kandidat  wäre  soweit  in  seinem  religiösen  Denken  reif 
und  fertig,  dafs  die  Prüfung  nicht  gefährlich  würde  als  Gewissenszwang  oder 
Versuchung  zur  Heuchelei  oder  Verleidung  der  Religion?  Um  das  zu  verhüten, 
kommen  einsichtige  Examinatoren  ja  doch  wieder  darauf  hinaus,  den  Wissens- 
stoff der  Reifeprüfung  zu  repetieren.  Und  damit  wird  dann  auch  nach  den 
preufsischen  Erläuterungen  der  ganze  Prüfungsabschnitt  überflüssig  und  als 
Überlastung  des  Kandidatengedächtnisses  hinfallig. 

Deutsch  in  der  allgemeinen  Prüfung  wird  in  den  preufsischen  Erläuterungen 
begründet  mit  der  'hohen  Aufgabe  dieses  Momentes  der  Jugendbildung'.  Gewifs* 
ist  ein  wenig  Studium  deutscher  Sprache  und  Litteratur  recht  schön  und  gut. 
Aber  mufs  es  darum  examiniert  werden?  Prüft  man  den  Juristen  aus  allen 
Gebieten  menschlichen  Denkens  und  Lebens,  in  denen  es  zu  rechtlichen  Ver- 
wickelungen kommen  kann?  Oder  ist's  nicht  auch  nach  der  Prüfung  für  den 
Lehrer  wünschenswert,  dafs  er  bei  Gelegenheit  sich  über  Fortschritte  mensch- 
lichen Wissens  und  Könnens  informiert,  die  aufserhalb  seines  Studiums  liegen 
und  von  denen  bis  zur  Zeit  seiner  Reifeprüfung  den  Schulen  noch  nichts  ge- 
sagt werden  konnte? 

Wie  aus  den  geführten  Erörterungen  zu  ersehen  ist,  vertrete  ich  die  An 


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N.  N.:  Zu  der  neuen  preufg.  Prüfungsordnung  für  Kandidaten  des  höheren  Lehramts 

sieht,  dafs  die  allgemeine  Prüfung  nach  Möglichkeit  einzuschränken  ist.  Will 
man  aufser  der  Philosophie  und  der  Pädagogik  noch  andere  Fächer  halten,  so 
sind  dem  Kandidaten  zwei  Zugeständnisse  zu  gönnen,  erstens  Anrechnung  der 
bei  der  etwaigen  mündlichen  Promotion  nachgewiesenen  Kenntnisse  wenigstens 
für  die  allgemeine  Prüfung,  und  zweitens  Zulassung  zeitlicher  Trennung  der 
einzelnen  Prüfungsfächer  oder  wenigstens  von  allgemeiner  und  Fachprüfling 
nach  Art  der  Stationen  in  der  medizinischen  Staatsprüfung. 

Der  Staat,  der  den  Kandidaten  ein  Zeugnis  ausstellen  läfst,  giebt  ihnen 
damit  die  Aussicht  auf  Verwendung  im  Schuldienst  für  die  gesamte  Zeit  ihrer 
Dienstfähigkeit.  Er  droht  nicht  mit  neuen  Prüfungen  bei  jeder  Änderung  im 
Untcrrichtsweaen.  Er  mufs  also  seine  Forderungen  so  stellen,  dafs  seine  künf- 
tigen höheren  Lehrer  auch  unter  veränderten  Verhältnissen  Verwendung  finden 
können.  Er  kann  beispielsweise  keinem  ein  Oberlehrerzeugnis  erteilen,  der 
nichts  kann  als  nur  in  einem  einzigen  Fache  unterrichten.  Denn  es  könnten 
Umstände  eintreten,  die  die  Beseitigung  dieses  einen  Faches  aus  dem  Mittel- 
schulunterrichte herbeiführten. 

Die  Schule  mufs  aus  mancherlei  Zweckmäfsigkeitsgründen  wünschen,  dafs 
jedes  Mitglied  des  Kollegiums  in  möglichst  viel  Fächern  auf  möglichst  viel 
Stufen  verwendbar  ist.  Ausarbeitung  des  Stundenplans,  möglichste  Zusammen- 
legung des  Unterrichts  einer  Klasse  in  eine  Hand  begründen  diese  Forderung. 

Wenn  ich  so  die  Wünsche  und  Forderungen  der  an  der  behandelten  Frage 
beteiligten  Parteien  gegeneinander  abwäge,  komme  ich  zu  folgendem  Ergebnis: 
Ein  volles  Zeugnis  soll  erworben  werden  durch  zwei  Hauptfächer  mit  voller 
Fakultas  und  dazu  zwei  Nebenfächer  mit  halber  Fakultas  nach  Wahl  oder 
durch  drei  Hauptfächer.  In  der  Freiheit  der  Fächerkombination  darf  nicht  zu 
weit  gegangen  werden.  Examinatoren  und  Examinanden  sind  auf  den  Unter- 
richtsstoff der  Schulen  ausdrücklich  hinzuweisen.  Mehr  Fächer  nebeneinander 
sind  nicht  zu  fordern  wegen  der  daraus  entstehenden  Gefahr  der  Verflachung, 
aber  auch  nicht  weniger  Fächer  zum  Schutz  gegen  wissenschaftliche  Einseitig- 
keit und  im  Interesse  der  praktischen  Verwendbarkeit  der  Kandidaten.  Die 
Möglichkeit  einer  Zerlegung  des  Examens  in  Stationen  mufs  zugelassen  werden. 

Der  Kandidat  erwirbt  sich  ein  Anrecht  auf  Verwendung  nach  erwiesener 
wissenschaftlicher  Befähigung,  wenn  nicht  seine  Versuche  in  der  Praxis  seine 
Unbrauchbarkeit  darthun. 

Es  soll  jedem  das  Recht  zugestanden  werden,  die  Anstaltsart  zu  wählen, 
an  der  er  unterrichten  will,  und  ihm  möglichst  nur  Beschäftigung  in  den 
Fächern  gegeben  werden,  die  seinem  Interesse  nahe  liegen  —  dem  Interesse, 
d.  h.  dem  Studiengebiete,  auf  das  die  Prüfung  sich  erstreckte  und  Gebieten, 
denen  aufserdem  oder  später  die  Neigung  sich  zuwendet,  denn  bei  der  Prüfung 
soll  ja  kein  Kandidat  darauf  vereidigt  werden,  nun  gar  nichts  Neues  mehr 
lernen  zu  wollen.  Dafs  man  einem  sonst  als  tüchtig  Erwiesenen  auch  Leistungen 
auf  Gebieten  zutrauen  kann,  aus  denen  er  nicht  auf  alle  und  jede  Weise  ge 
prüft  worden  ist,  nimmt  ja  auch  die  neue  preufsische  Ordnung  an,  die  nur  eine 
fachwissenschaftliche  Hausarbeit  vorschreibt. 


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DER  GRIECHISCHE  UNTERRICHT 

Von  Richard  Meister 

Mit  der  Bearbeitung  des  griechischen  Unterrichts  ist  nunmehr  das  Bau- 
meistersche  Handbuch  der  Erziehungs-  und  Unterrichtslehre  für  höhere  Schulen 
zum  Abschlüsse  gelangt.  Der  Auftrag  zur  Bearbeitung  dieses  letzten  Teiles 
ist  längere  Zeit  von  Hand  zu  Hand  gegangen;  mehrere  namhafte  Schulmänner 
hatten  ihn  erst  angenommen,  nach  einiger  Zeit  aber  wieder  zurückgeschickt; 
schliefslich  ist  er  *in  elfter  Stunde'  in  Dettweilers  Hände  gelangt,  der  bereits 
den  lateinischen  Unterricht  für  das  Handbuch  bearbeitet  hatte,  und  ist  von  ihm 
in  weniger  als  neun  Monaten  vollendet  worden,  wie  das  in  Baumeisters  Schlufs- 
wort  mit  gebührendem  Danke  hervorgehoben  wird.  Wie  sein  lateinischer  Unter- 
richt ist  auch  dieser  griechische  ein  an  nützlichen  Winken  reiches  und  an- 
regendes Buch.  Bei  allgemeinen  Fragen  verweilt  es  nur  kurz,  manchmal  zu 
kurz,  wie  in  dem  Uberblick  über  die  geschichtliche  Entwickelung  des  griechi- 
schen Unterrichts  (S.  7 — 11),  den  realen  Dingen  aber  geht  es  resolut  und 
frisch  zu  Leibe;  man  hat  immer  das  Gefühl,  dafs  bei  allem,  was  hier  ge- 
schrieben steht,  unmittelbare  Beobachtung  und  Kritik  des  wirklichen  Unter- 
richts zu  Grunde  liegt.  Energisch  in  der  Durchführung  seiner  Forderungen, 
konsequent  in  der  Verfolgung  seines  Ziels,  kurz  gefafst  im  Anfassen  der 
Probleme,  so  erscheint  uns  in  dem  Buche  der  Verfasser  als  Didaktiker.  Aber 
eben  darum,  weil  ich  die  werbende  Kraft  seines  Wortes  nicht  verkenne,  glaube 
ich  meine  Bedenken  gegen  den  Grundgedanken  dieser  Didaktik  um  so  rück- 
haltloser aussprechen  zu  müssen. 

'Der  griechische  Unterricht  ist  heute  aufs  äufserste  gefährdet*  (4),  das  ist 
der  Leitsatz  seiner  Einleitung.  Dieser  Gefahr  gegenüber  organisiert  er  seine 
Didaktik  defensiv,  sucht  zu  beseitigen,  woraus  der  Gegner  Vorteil  ziehen 
konnte,  und  giebt  auf,  was,  wie  er  glaubt,  sich  nicht  mehr  halten  läfst.  Vor 
allem  hat  nach  ihm  der  'grammatische  Betrieb*  heftige  Angriffe  hervorgerufen; 
er  sucht  daher  in  seiner  Didaktik  den  griechischen  Unterricht  dadurch  zu  refor- 
mieren, dafs  er  den  grammatischen  Betrieb  ganz  erheblich  zu  beschränken  rät. 

Man  solle  sich  zunächst  in  der  Formenlehre  begnügen,  'das  zu  lehren 
was  not  thue,  und  alle  Seltenheiten  und  Ausnahmen  bei  Seite  lassen'  (25). 
Nur  die  'regelmäßigen  Grundformen*  seien  'einzupauken'  (36);  es  komme  nicht 
darauf  an,  'die  Formen  so  zu  lernen,  dafs  sie  ohne  weiteres  auch  beim  Über- 
setzen ins  Griechische  angewendet,  sondern  nur,  dafs  sie  in  dem  griechischen 
Texte  sofort  erkannt'  würden  (36).  'Auf  die  unbedingt  genaue  Accentsetzung 
werde  man  wohl  allmählich  verzichten  müssen'  (38);  begnügen  solle  man  sich 


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264 


B.  Meister:  Der  griechische  Unterricht 


mit  *  Anschauung  und  Erklärung  der  Accenie  in  den  wichtigsten  Erscheinungen 
ohne  die  sogenannten  Ausnahmen  und  ohne  die  alerandrinische  Benennung'; 
zum  schriftlichen  Gebrauche  sei  weder  die  Setzung  der  Accente,  noch  die  des 
Spiritus  lenis  noch  die  Eigentümlichkeit  der  Encliticae  einzuüben  (25  f.).  In 
der  Declination  sei  'aus  dem  regelmäßig  zu  erlernenden  Lehrstoff  auszuscheiden 
und  gelegentlicher  Erklärung  bei  der  Lektüre  zu  überlassen:  der  Dual,  der 
Vokativ  mit  wenigen  Ausnahmen,  die  sogenannte  attische  Deklination,  eine 
grofae  Anzahl  von  Substantiv-  und  Adjektivformen,  namentlich  auch  von 
solchen,  die  durch  Eontraktion  Eigentümlichkeiten  haben'  (26)  u.  s.  w.  In  der 
Konjugation  brauche  sehr  vieles  vou  den  sogenannten  Unregelmäfsigkeiten,  'was 
die  Schüler  selbst  finden  können,  für  die  Zukunft  nicht  dem  mechanischen 
Gedächtnis  aufgebürdet  zu  werden'  (34);  auszuscheiden  seien  'z.  B.  die  Perfekte 
von  äyetQa,  aAsitpm,  ä(>6<o,  lytiftai  u.  a.,  Seltenheiten  wie  &Aa6&ai,  äAdfievog, 
a(j«4,  üqccs-,  &a#apa,  iötffiava,  manche  Imperativformen,  besonders  die  des 
Perfekts'  (26);  auf  das  Perfekt  brauche  überhaupt  nicht  die  gleiche  Sorgfalt 
verwendet  zu  werden  wie  auf  die  übrigen  Verbalformen,  z.  B.  auf  den  Aorist  (26). 
Von  einer  solchen  Beschränkung  in  der  Einübung  der  Formen,  die  bis  jetzt 
noch  nicht  genügend  durchgeführt  sei,  verspricht  sich  Dettweiler  nicht  eine 
Schädigung,  Bondern  eine  Förderung  und  Vertiefung  des  griechischen  Unter- 
richts (25).  Wenn  aber  nur  die  regelmäfsigen  Grundformen  sicher  gelernt,  die 
unregelmäfsigen  Formen  zum  grofsen  Teil  bei  Seite  gelassen  werden  sollen, 
und  auch  von  den  regelmäfsigen  auf  manche  Formen  keine  Rücksicht  ge- 
nommen, auf  manche  nicht  die  gleiche  Sorgfalt  verwendet  werden  soll  wie  auf 
andere,  wenn  die  Formen  überhaupt  nicht  so  gelehrt  und  gelernt  werden 
sollen,  dafs  sie  ohne  weiteres  beim  Übersetzen  ins  Griechische  angewendet, 
sondern  nur  so,  dafs  sie  in  einem  griechischen  Texte  erkannt  werden  können, 
dann,  fürchte  ich,  werden  bei  einem  solchen  Unterrichte  in  der  Formenlehre 
unter  gewöhnlichen  Verhaltnissen  die  Schüler  nicht  'wenig  aber  sicher'  (25), 
sondern  wenig  und  unsicher  lernen.  Sie  werden,  wenn  man  von  ihnen  nicht 
mehr  verlangt  die  Formen  zu  bilden  sondern  nur  zu  erkennen,  mit  geringerer 
Aufmerksamkeit  die  einzelnen  Wörter,  Silben  und  Zeichen  betrachten  und 
infolgedessen  die  im  Text  begegnenden  Formen  leichter  verkennen  und  ver- 
wechseln. Und  wenn  man  so  zahlreiche  Stücke  der  Deklinations-  und  Kon- 
jugationslehre nicht  lernen  läfst,  sondern  allemal  erst,  wenn  sie  in  der  Lektüre 
vorkommen,  erklärt,  so  verlangsamt  man  nicht  nur  dadurch  die  Lektüre,  son- 
dern hält  auch  die  Schüler  in  dem  Gefühl  der  Unzulänglichkeit  und  Halbheit 
ihres  grammatischen  Wissens  nieder.  Und  wenn  man  den  Lehrer  auffordert, 
gewisse  Formen  zwar  lernen  zu  lassen,  aber  nicht  mit  der  gleichen  Sorgfalt 
wie  andere,  so  wird  man  ihn  aufser  stand  setzen,  die  Sicherheit  der  Schüler 
in  der  Formenlehre,  die  sein  Ziel  beim  Unterrichte  sein  mufs,  zu  erreichen. 
Zu  verlangen  ist  doch  wohl  vielmehr,  dafs,  was  einmal  in  der  Formenlehre 
von  den  Tertianern  gelernt  werden  soll,  ordentlich  gelernt  und  geübt  werden 
mufs,  so  dafs  es  fest  sitzt,  und  dafs  der  in  den  Tertien  gelernte  Formenschatz 
für  die  Bedürfnisse  des  Gymnasiums  aushält  und  reicht 


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R  Meister:  Der  griechische  Unterricht 


265 


Aber  weit  mehr  noch  als  in  der  Formenlehre  soll  nach  Dettweilers  Rat 
der  Unterricht  in  der  Syntax  reformiert  werden.  'Es  mufs  vollständig  mit 
der  Übrigens  verhältnisrnäfsig  jnngen  Tradition  gebrochen  werden,  dafs  ein 
eigentlicher,  buchinäfsiger,  systematischer  Unterricht  in  der  griechischen  Syntax 
zum  Verständnis  des  Griechischen,  zur  wissenschaftlichen  Bildung  und  Er- 
ziehung, also  zur  Erfüllung  der  Aufgabe  des  humanistischen  Gymnasiums  notig 
sei  oder  auch  nur  Wesentliches  beitrage  oder  je  beigetragen  habe'  (39).  'Das 
Gezeter,  dafs  hierdurch  die  Lektüre  an  Gründlichkeit  verliere,  rührt  mich  nicht; 
denn  es  ist  grundlos.  Im  Gegenteil  wird  mit  dem  Schwinden  des  buch- 
mäßigen Unterrichts  in  der  Syntax  eine  Menge  von  sogenanntem  notwendigen 
Memorierstoff  beseitigt  und  Zeit  und  Kraft  gewonnen.  Dadurch  wird  erst 
Gelegenheit  geschaffen,  auf  die  feineren  Mittel  und  Färbungen  der  griechischen 
Sprache,  auf  ihre  Verwandtschaft  mit  anderen,  auf  die  sinnliche  Kraft  des  Aus- 
drucks, auf  die  etymologischen  Fragen,  kurz  auf  das,  was  W.  v.  Humboldt 
«innere  Sprachform»  genannt  hat,  einzugehen  und  so  die  sprachliche  Einsicht 
riel  mehr  zu  vertiefen,  als  dies  beim  Regelunterricht  nach  der  Grammatik  der 
Fall  war  und  ist  Und  umgekehrt  wird  dadurch  die  Lektüre  selbst  nur  ge- 
fordert. Denn  es  ist  eine  Illusion,  dafs  die  Schüler  durch  einen  noch  so  gründ- 
lichen Grammatikunterricht  irgendwie  in  dem  Verständnis  einer  Stelle  gefordert 
würden'  (69).  Nur  gewisse  syntaktische  Hauptregeln  sollen  durch  Beispiele 
'veranschaulicht'  werden  in  einer  'Schulsyntax',  wie  sie  der  Verfasser  als 
Direktor  in  Bensheim  auf  sechs  kleinen  Quartseiten  zusammengestellt  hat. 
Diese  Schulsyntax  besteht  darin,  dafs  wir  eine  Anzahl  von  leicht  behaltbaren 
metrischen  Beispielen  mit  einem  allgemeinen  oder  doch  leicht  verstandlichen, 
auch  wohl  geschichtlichen  Inhalt  gruppenweise  mit  ganz  kurzen  Bemerkungen 
über  die  Regel,  die  dadurch  veranschaulicht  werden  soll,  in  gemeinsamer  Be- 
ratung zusammenstellen,  drucken  lassen  und  allein  dem  syntaktischen  Unter- 
richt zu  Grunde  legen'  (40).  Er  giebt  folgendes  Beispiel  aus  ihr.  'Die  Eigen- 
tümlichkeiten des  griechischen  Accusativs  werden  folgendermafsen  dargestellt: 

ßtäxTH  tbv  ärdpcc  d-upbg  dg  ÖQyijv  xeötbv  (Gutes  oder  Böses  zufügen 
durch  Wort  oder  That,  nützen,  schaden,  vergelten). 

£iftf«S  ßCov  xQKtiGTOv,  t)v  frvpov  xoarjfc  (Acc.  des  Inhalts.  Der  im  Acc. 
stehende  Begriff  ist  schon  unmittelbar  oder  mittelbar  im  Verbum  ent- 
halten). 

tov  xävra  d'  ÜXßov  %(ucq  sv  (i  iupeiX&xo  (doppelter  Acc.  bei  ausziehen 
und  berauben,  lehren  und  verheimlichen). 

ßÜnöv  i9xi  6&fiä  y  t\  pv%^v  voötlv  (Acc.  der  Beziehung.  Vgl.  Abi. 
limitationis)'  (40  f.). 
Diese  Zusammenstellung  kommt  mir  doch  einigermafsen  lückenhaft  vor.  Ich 
vermisse  z.  B.  die  Konstruktion  der  doch  sehr  häufigen  Verba  ixtUixstv, 
<f$(tvuv,  Xtcvödvetv,  &aQQelv  —  mit  welchem  der  vier  metrischen  Beispiele 
sollen  diese  von  den  Schülern  durch  Gedankenassociation  als  begriffsverwandt 
verbunden  werden?  Oder  soll  ihre  Konstruktion  etwa  als  'selbstverständlich' 
nicht  besonders  gelernt,  oder  nur  bei  Gelegenheit  in  der  Lektüre  'aufgezeigt' 


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266  R.  Meister:  Der  griechische  Unterricht 

werden?  Oder  soll  sie  deshalb  in  der  Syntax  weggelassen  werden,  weil  sie 
etwa  schon  früher  bei  den  Vokabeln  mitgelernt  worden  ist?  Gilt  aber  nicht 
das  Gleiche  von  ihr  wie  von  der  Konstruktion  der  durch  jene  metrischen 
Beispiele  'veranschaulichten'  Verba  ßkdxzuv,  acpaiQtfö&ai,  didtttixetv  u.  s.  w.? 
Ist  es  nicht  im  Sinne  der  Konzentration,  die  doch  Dettweiler  mit  Recht  überall  ^ 
vertritt,  zu  verlangen,  dafs  bei  der  Lehre  vom  Accusativ  alle  gebrauchlichen 
Vorba,  die  vom  Deutschen  abweichende  Accusativkonstruktion  haben,  auch 
wenn  sie  früher  bereits  als  Vokabeln  gelernt  worden  sind,  in  logischer 
Gruppierung  aufgeführt  werden?  Und  ist  es  nicht  für  das  Lernen  und  Wieder- 
holen praktischer,  dafs,  wie  die  üblichen  Schulgrammatiken  es  thun,  die  dem 
Begriff  und  der  Konstruktion  nach  zusammengehörigen  gebräuchlichen  Verba 
übersichtlich  zusammengedruckt  werden,  als  dafs  sich  der  Schüler  z.  B.  bei 
dem  Beispiel  von  Si<paiQel6&ai  merken  soll:  ebenso  werden  die  Verba  'lehren' 
und  'verheimlichen*  konstruiert?  —  Ferner  bedarf  nach  Dettweiler,  'wenn  der 
lateinische  Unterricht  in  Tertia  seine  volle  Schuldigkeit  gethan  hat',  'die  ganze 
Lehre  vom  Prädikativum,  so  auch  die  dahin  gehörigen  Verba  mit  doppeltem 
Acc.  oder  Nom.  keine  Minute  der  Erklärung,  ebenso  der  Gen.  possess.,  subjeci, 
object.,  explic,  partit.  Denn  das  ist  alles  in  der  lateinischen  Grammatik  ge- 
lernt. Dafs  an  Stelle  des  Ablat.  instrum.,  modi,  mensurae  der  Dativ,  an  Stelle 
des  Abi.  der  Trennung  und  der  Vergleichung,  des  Abi.  absol.  der  Genetiv  tritt, 
wird  schon  in  dem  Lesebuch  für  Untertertia  hervortreten'  (41).  Auch  hier  ist 
mir  Dettweilers  Verfahren  zu  summarisch.  Namentlich  der  Gebrauch  de8 
griechischen  Genetivs  wird  auf  so  kurze  Weise  nicht  klar  gemacht  werden 
können;  der  partitivus  z.  B.  bei  den  Verben  xivhv,  lapßttvuv,  xvyiavuv, 
ävrtzeod-ca  u.  s.  w.  ist  doch  im  Lateinischen  weder  beim  Genetiv  noch  beim 
Ablativ  erlernt  oder  erläutert  worden.  Ebenso  ist  mit  der  Bemerkung:  'die 
Eigentümlichkeiten  der  Negationen  erklären  sich  alle  ohne  grofses  Regelwerk 
aus  dem  Pleonasmus'  (42)  für  das  Wissen  der  Schüler  vom  Gebrauch  der 
griechischen  Negationen  doch  noch  gar  nichts  gethan;  Konstruktionen  z.  B.  wie 
ov  [iti  xcevöcaftai  wollen  doch  einfach  gelernt  Bein.  Das  Verfahren,  alle  diese 
Regeln  nicht  systematisch  nach  der  Grammatik,  sondern  je  nach  ihrem  Vor- 
kommen bei  der  Lektüre  zu  lehren  und  lernen  zu  lassen,  halte  ich  für  um- 
ständlicher und  zeitraubender  als  das  gewöhnliche,  und  wenn  man  auf  die  Ein- 
übung dieser  syntaktischen  Dinge,  um  den  Gang  der  Lektüre  nicht  allzulange 
aufzuhalten,  nicht  die  nötige  Zeit  verwenden  will,  halte  ich  allerdings  für  nahe- 
liegend die  Gefahr  der  Ungründlichkeit  und  der  Verwirrung  in  den  Schüler- 
köpfen. Und  wenn  diese  Gefahr  sich  verwirklichen  sollte,  dann  erst  wäre 
meiner  Ansicht  nach  der  griechische  Unterricht  aufs  äufserste  gefährdet.  Dem 
vorzubeugen,  weifs  ich  kein  besseres  Mittel  zu  empfehlen,  als,  soweit  die  Lehr- 
pläne dazu  Spielraum  lassen,  die  grammatische  Grundlage  so  fest  und  solid 
wie  möglich  aufzubauen;  dabei  soll  nicht  das  Gedächtnis  allein,  sondern  der 
Verstand  zugleich  beschäftigt  werden  und  mithelfen;  Formen  und  Regeln 
sollen  sofort  in  den  Satzzusammenhang  gebracht  und  wieder  aus  ihm  heraas 
erläutert  werden;  was  aus  dem  griechischen  Satz  gelernt  worden  ist,  soll  beim 


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«R.  Meister:  Der  griechische  Unterricht 


2«7 


Übersetzen  in  das  Griechische  angewendet  werden;  durch  Wechsel  im  Lehr- 
verfahren soll  das  Denkvermögen  vielseitig  angeregt  werden;  erklaren  und  ab- 
fragen, mündlich  übersetzen  und  Sätze  bilden,  einzelne  Wörter  an  die  Wand- 
tafel anschreiben,  in  das  Heft  kurze  Sätze  übersetzen,  so  soll  der  Unterricht 
in  der  griechischen  Grammatik  auf  vielen  Wegen  das  eine  Ziel  erstreben: 
Sicherheit  in  der  Beherrschung  der  äufseren  Sprachform.  Dann  erst  wird  es 
erlaubt  sein,  auf  die  'innere  Sprachform'  (s.  oben  S.  265)  einzugehen.  Je  näher 
aber  der  grammatische  Unterricht  die  Schüler  jenem  Ziel  gebracht  hat,  desto 
ungehinderter  und  rascher  wird  die  Lektüre  vorwärts  schreiten  können.  So 
bedeutet  der  von  Dettweiler  verworfene  'gründliche*  Grammatikunterricht  für 
den  Hauptteil  des  griechischen  Unterrichts  im  Gymnasium  Erleichterung  und 

Nicht  so  wie  bei  der  Grammatik  tritt  die  reformierende  Tendenz  der 
Dettweilerschen  Didaktik  bei  seiner  Behandlung  der  Lektüre  hervor,  zu  der 
ich  nur  wenige  Bemerkungen  mir  gestatte.  Die  zu  lesenden  Autoren  sind  für 
ihn  von  den  Prosaikern  Xenophon,  Herodot,  Thukydides,  Demosthenes,  Piaton, 
von  den  Dichtern  Homer  und  Sophokles.  Ich  möchte  den  in  Ubereinstimmung 
mit  den  preufsischen  Lehrplänen  von  ihm  gestrichenen  Lysias  in  H  A  festgehalten 
sehen.  Dettweiler  meint,  wer  Demosthenes  als  Typus  des  Redners  habe, 
könne  jeden  anderen  entbehren  (57);  aber  die  Gerichtsrede  des  Lysias  mit 
ihren  feingezeichneten  Charakterbildern  ist  ein  besonderer  Typus,  der  neben 
dem  der  politischen  Rede  des  Demosthenes  einen  Platz  verdient.  Wenn  ihm 
ein  Dritteljahr  in  HA  gewidmet  wird,  bleibt  für  Herodot  genug  noch  übrig. 
Von  Demosthenes  wird  als  gebräuchliche  Auswahl  empfohlen  'eine  Olynthische 
Rede,  am  besten  die  erste,  weil  einführende,  und  die  3.  Philippische,  die  ge- 
waltigste, feurigste,  nationalste,  in  der  Ehre  wurzelnde,  der  Schwanengesang 
des  Demosthenes,  dazwischen  mit  Abwechselung  aus  manchen  Gründen  eine 
andere,  meist  die  über  die  Angelegenheiten  auf  dem  Chersones,  die  am  meisten 
streng  beweisende,  oder  auch  die  1.  oder  2.  Philippische'  (55).  Dabei  ist,  wie  ich 
glaube  nicht  mit  Recht,  die  Rede  über  den  Frieden  ausgeschlossen,  die  inhalt- 
lich ganz  besonders  bedeutungsvoll  und  für  die  Politik  des  Demosthenes  von 
hervorragendem  Interesse  ist.  Beiläufig  möchte  ich  bemerken,  dafs  ich  die 
Bezeichnung  der  3.  Phüippischen  Rede  als  'Schwanengesang  des  Demosthenes' 
weder  für  glücklich  noch  für  richtig  halte,  da  er,  wie  bekannt,  in  den  auf  sie 
folgenden  zwanzig  Jahren  seines  Lebens  noch  manche  Rede  gehalten  hat,  von 
denen  die  uns  erhaltene  vom  Kranz  ihr  an  Bedeutung  sicherlich  nicht  nach- 
steht. Dafs  es  sich  in  Piatons  Apologie  um  des  Sokrates  'gereiften  Glauben 
an  eine  Unsterblichkeit'  (56)  handele,  kann  ich  nicht  finden;  der  Abschnitt 
dvolv  yäq  &6xtQ&v  iöxi  xb  xt&vavai,  u.  s.  w.  kann  schwerlich  als  Beleg  dafür 
dienen.  Aischylos  soll  'zu  allen  Zeiten,  auch  wo  man  es  sich  nicht  eingestehen 
wollte,  für  die  Schule  zu  schwer'  (65)  gewesen  sein;  bei  uns  liest  man  oft  den 
Prometheus  und  wird  nicht  ohne  Verwunderung  von  Dettweiler  sich  sagen 
lassen,  dafs  'der  kühne  Wortbildner,  dessen  Sprache  überall  ringt  mit  dem 

nur  annähernd  von  einem  Schüler  erfafst  worden  sei' 


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268 


R.  Meister:  Der  griechische  Unterricht* 


und  dafs  auch  die  Lehrer  selten  seien,  'die  es  vermögen,  ihn  zu  erklären*  (65). 
Auch  dagegen  möchte  ich  Einsprache  erheben,  dafs  Dettweiler  den  Euripides 
'in  seiner  sittlichen  Auffassung  vielfach  zu  leicht  geschürzt*  (65)  erklärt.  Er 
hat  dieses  Urteil  wohl  eher  aus  dem  Spötter  Aristophanes  geschöpft  als  aus 
dem  philosophischen  Tragiker,  der  es  so  bitter  ernst  mit  allen  sittlichen 
Problemen  nimmt.  Ab  und  zu  einmal  in  Unter-  oder  Oberprima  zur  Medeia, 
dem  Hippolyt,  der  taurischen  Iphigenie  zu  greifen,  sollte  nicht  verwehrt  sein. 
Von  allen  Sophokleischen  Stücken  bevorzugt  Dettweiler  den  Aias,  der  ihm  zur 
Einführung  vortrefflich  erscheint.  Ich  will  dagegen  nichts  sagen,  obwohl  ich 
zu  diesem  Zwecke  dem  Philoktet  oder  dem  König  Ödipus  den  Vorzug  gebe, 
aber  die  empfohlene  (66)  Heranziehung  der  zahlreichen  Beziehungen  aus 
Goethes  Götz,  'mit  dem  Aias  sehr  viele  Berührungspunkte  gerade  in  dem  Be 
griff  der  durch  eigene  Schuld  verletzten  Heldenehre  und  des  dadurch  hervor- 
gerufenen Untergangs'  habe,  aus  Minna  von  Barnhelm  und  aus  den  Reden  des 
Demosthenes  zur  verschiedenen  Beleuchtung  des  Ehrbegriffs  im  Aias  würde 
ich,  soweit  es  sich  um  die  Erklärung  des  Sophokleischen  Dramas  handelt,  als 
zu  weit  hergeholt  lieber  unterlassen.  Ich  verstehe  auch  nicht,  wie  'im  Aias 
deutlicher  als  in  einem  anderen  antiken  Stücke  die  Gnade  der  Gottheit  als  eine 
die  irrenden  Menschen  gerecht  und  weise  bestimmende  Macht  als  Leitmotiv 
angewandt'  (66)  sein  soll;  nicht  'Gnade  der  Gottheit'  wird  durch  das  Ein- 
greifen der  Athene  bekundet,  sondern  im  Gegenteil  erbarmungslose  Bestrafung 
menschlicher  Üborhebung.  —  Für  die  Lyriker,  meint  Dettweiler,  fehle  es  an 
Zeit  (68  f.).  Ich  möchte  doch  dringend  empfehlen,  in  den  beiden  Primen  oder 
wenigstens  in  Oberprima  für  sie  Zeit  zu  schaffen,  etwa  aller  vierzehn  Tage 
eine  Stunde,  wo  man  sechs  Stunden  wöchentlich  hat,  oder  eine  Wochenstunde, 
wo  man,  wie  bei  uns,  über  sieben  verfügt.  Die  Stadtmüllerschen  Eclogae 
poetarum  Graecorum  bieten  eine  passende  und  nicht  zu  kärglich  bemessene 
Auswahl  aus  ihnen.  Da  ist  die  schönste  Gelegenheit,  scharfe  und  mannig- 
faltige Bilder  des  Griechentums  vorzuführen,  'Litteraturbilder,  Geschichtsbilder, 
Persönlichkeitsbilder,  Begriffsbilder'  (46),  wie  sie  Dettweiler  so  gern  'erarbeiten' 
läfst.  Dichter  allerersten  Ranges  sind  unter  ihnen,  Persönlichkeiten,  die  mit 
ihrem  Denken  und  Handeln  charakteristisch  für  ihr  Volk  und  ihre  Zeit  und 
typisch  für  alle  Zeit  geworden  sind,  Schöpfer  und  über  Jahrtausende  hin 
leuchtende  Muster  bestimmter  Dichtungsgattungen.  Sollen  unsere  Schüler  nichts 
von  ihnen  lernen?  Oder  nur  dürre  litteraturgeschichtliche  Notizen?  Gerade 
für  das  Konzentrationsverfahren,  in  dessen  Wertschätzung  ich  mit  Dettweiler 
ganz  übereinstimme,  bieten  sie  verlockende  Aufgaben.  Wo  läfst  sich  die 
Tüchtigkeit  der  spartanischen  Jugenderziehung,  das  Wesen  der  lykurgischen 
Verfassung,  der  Charakter  der  Lakonier  besser  schildern  und  schauen  als  in 
den  Gedichten  des  Tyrtaios?  Wie  läfst  sich  der  Kontrast  zwischen  athenischer 
und  lakonischer  Sinnesweise  besser  begreifen,  als  wenn  man  neben  sie  die 
Gedichte  Solons  stellt?  Kann  man  die  Gesetzgebung  Solons  in  ihren  Ursachen, 
Haupttendenzen  und  Wirkungen  irgendwo  lebendiger  zur  Anschauung  bringen 
als  im  Rahmen  seiner  Hypothekai?    Sind  nicht  Mimnermos  und  Theognis  zu 


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R.  Meister:  Der  griechische  Unterricht 


269 


beiden  wirkungsvolle  Gegensätze,  und  beide  nicht  nur  ausgeprägte  Charakter- 
köpfe, sondern  zugleich  auch  ihrerseits  Typen  des  griechischen  Volkes?  Und 
Archilochos,  Alkaios,  Sappho  —  führt  nicht  jeder  in  eine  eigene  reiche  Welt, 
sind  es  nicht  grofsartige  Erscheinungen  mit  stark  individuellem  Gepräge,  die 
im  Gedächtnis  der  Betrachtenden  fest  haften  und  ihnen  vieles  Wertvolle  mit- 
zuteilen haben?  Gern  lasse  ich  den  Lyrikern  im  zweiten  Halbjahr  der  Ober- 
prima eines  der  drei  Aristophanischen  Stücke  (Ritter,  Wolken,  Frosche)  in  der 
gekürzten  Form,  in  der  sie  Stadtmüller  mit  in  die  Eclogae  aufgenommen  hat, 
folgen;  sie  zeigen  neben  ihrem  allgemeinen  litterarischen  und  historischen 
Interesse  den  Schülern  das  unerreichte  Musterbild  der  Posse  und  den  geist- 
reichsten Bühnendichter  und  erwecken  durch  ihren  unerschöpflichen  Humor, 
ihren  schlagfertigen  Witz  und  ihre  kühne  Phantasie  Frohsinn  und  Heiterkeit. 

Wenn  ich,  wie  dargelegt,  über  den  Weg,  den  der  griechische  Unterricht 
im  Gymnasium  einzuschlagen  hat,  an  verschiedenen  Punkten  von  Dettweüers 
Ansicht  abweiche,  so  bin  ich  über  das  zu  erstrebende  Ziel  und  die  Zu- 
kunft dieses  Unterrichts  ganz  mit  ihm  einverstanden:  'Wir  können,  wenn  wir 
uns  selbst  in  die  rechte  Zucht  nehmen,  es  so  weit  bringen,  dafo  unsere  Schüler 
sich  in  einen  gegen  früher  nicht  einmal  beschränkten  Kreis  von  Schriftstellern 
ersten  Ranges  bis  zu  selbständigem  Übersetzen  in  ein  ordentliches  Deutsch 
einlesen,  dafs  sie  nicht  etwa  dilettantenhaft  herausgepflückte  Teile,  sondern 
gröfsere  Gedankeneinheiten  durch  eigene  Arbeit  verstehen  und  in  ihrer  Kunst- 
form würdigen,  und  dafs  sie  sich  eine  durch  eigene  Erarbeitung  wertvollere 
Kenntnis  der  für  unsere  eigene  Zeit  wichtigsten  antiken  Gedankenwelt  erwerben. 
Wir  glauben  deshalb,  dafs  der  griechische  Unterricht,  richtig  gehandhabt  — 
was  nicht  bedeuten  soll,  nach  einer  bestimmten,  unfehlbaren  Methode,  die  es 
nie  geben  wird  —  in  der  Zukunft  eine  günstigere  Stellung  haben  kann  als 
jetzt'  (75  f.).  Das  glaube  auch  ich,  wenn  ich  auch  vielleicht  die  Voraus- 
setzungen der  fechten  Zucht*  und  'richtigen  Handhabung*  etwas  anders  fasse. 
Der  griechische  Unterricht  hat  eine  Zeit  lang  unter  der  Meinung  gelitten,  der 
Weg  zur  höheren  Bildung  gehe  einzig  und  allein  durch  ihn.  Das  war  ein 
Irrtum.  Wir  sehen  auf  den  Höhen  des  staatlichen  und  gesellschaftlichen  Lebens 
nicht  nur  frühere  Zöglinge  humanistischer  Gymnasien,  sondern  Industrielle, 
Techniker,  Offiziere,  Kaufleute,  Künstler  und  viele  andere,  die  sich  höhere  und 
hohe  Bildung  erworben  haben,  ohne  jemals  mit  Bewufstsein  bei  den  Griechen 
in  die  Schule  gegangen  zu  sein.  Gewifs,  die  Schule  der  Griechen  ist  nicht  die 
einzige,  die  höhere  Bildung  lehrt:  die  feinste  aber  und  die  an  vorzüglichen 
Lehrern  reichste  ist  sie.  Zu  diesen  Lehrmeistern,  Homer  und  Piaton,  Demosthenes 
und  Sophokles,  Herodot  und  Solon  und  wie  sie  alle  heifsen,  den  jugendlichen 
Sinn  hinzuführen  und  zu  erheben,  das  ist  die  schöne  Aufgabe  des  griechi- 
schen Unterrichts.  Was  jene  Geister  gedacht  und  gebildet  haben,  können  sie 
nur  in  ihrer  eigenen  Sprache  rein  und  unverfälscht  vermitteln;  die  edle 
)  künstlerische  Form  und  die  individuelle  Gestaltung  der  Gedanken  geht  in  der 

Übersetzung  unrettbar  verloren;  Charakter  und  Bedeutung  von  feststehenden 
und  nach  Form  und  Inhalt  erzieherischen  Mustern  haben  die  Klassiker  nur  im 


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R.  Meister:  Der  griechische  Unterricht 


eigenen  Sprachgewand.  Um  eingeführt  zu  werden  in  den  Geist  jener  Werke 
und  ihrer  Verfasser,  müssen  darum  die  Schüler  die  griechische  Sprache  lernen, 
und  je  gründlicher  sie  sie  lernen,  um  so  ungehinderter  und  gewinnbringender 
wird  die  Lektüre  vor  sich  gehen:  Unsicherheit  und  Kärglichkeit  des  gramma- 
tischen  Wissens  hindert  den  griechischen  Unterricht,  sein  Ziel  zu  erreichen,  und 
verringert  seinen  Wert  und  seine  Existenzberechtigung. 

So  bin  ich  wieder  an  dem  Punkte  angelangt,  von  dem  ich  ausging,  auf 
den  es  mir,  wie  dem  Verfasser  dieser  neuesten  Didaktik,  am  meisten  ankommt 
In  diesem  Punkt  sind  wir  verschiedener  Meinung.  Ich  würde  es  für  einen 
Schaden  halten,  wenn  in  der  von  Dettweiler  empfohlenen  Weise  der  Unterricht 
in  der  griechischen  Grammatik  in  weiterem  Umfange  beschrankt  und  zurück- 
gedrängt werden  sollte;  nach  meiner  Überzeugung  werden  wir  die  Stellung  des 
griechischen  Unterrichts  im  Gymnasium  durch  nichts  besser  starken,  verteidigen 
und  schützen  können  als  durch  treue  Arbeit  an  der  Befestigung  seines  Funda- 
ments, des  sprachlichen  Wissens. 


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HILFSBÜCHER  FÜR  DEN  DEUTSCHEN  UNTERRICHT 

Von  Paul  Vogel 

Ernst  Laafl,  Der  deutsche  Aufsatz  in  den  oberen  Gymnasialklassen.  Erste  Abteilung: 
Einleitung  und  Theorie.  Dritte  Auflage  besorgt  von  J.  Im el mann.  Berlin,  Weidmannsche 
Buchhandlung  1898. 

Meine  hohe  Wertschätzung  des  Laasschen  Buches  habe  ich  schon  bei  der 
Besprechung  der  zweiten  Abteilung  (Jahrbücher  f.  PhiL  u.  Päd.  II.  Abt  1896 
Heft  12  S.  574  ff.)  zu  erkennen  gegeben.  Bei  genauer  Durchsicht  der  'Theorie' 
hat  sich  meine  Bewunderung  nur  gesteigert.  Hauptsachlich  ist  mir  immer 
klarer  geworden,  dafs  das  Werk  für  die  ganze  Gymnasialbildung  von 
hoher  Wichtigkeit  ist,  nicht  nur  für  den  deutschen  Aufsatz.  Die  vorwiegend 
auf  das  Reale  gerichtete  Jetztzeit  hatte  das  humanistische  Gymnasium  gern  zu 
einer  höheren  Bürgerschule  umgemodelt,  die  nur  das  und  alles  das  zu  treiben 
hatte,  was  im  späteren  Leben  praktisch  verwertbar  ist.  Die  Unterrichts- 
ministerien konnten  sich  dem  Zug  der  Zeit  nicht  ganz  entziehen,  sie  konnten 
höchstens  —  wie  dies  gottlob  in  Sachsen  geschehen  ist  —  die  neuen  Regulative 
möglichst  konservativ  gestalten.  Die  moderne  Bewegung  ist  aber  mit  diesen 
neuen  Regulativen  durchaus  noch  nicht  zum  Stillstand  gekommen.  Und  an- 
gesichts dieser  Thatsache  gerade  begrüfse  ich  die  neue  Auflage  des  Laasschen 
Buches  mit  besonderer  Freude:  denn  es  zieht  sich  durch  dasselbe,  und  zwar 
stark  betont,  der  Grundsatz  hindurch,  dafs  das  Gymnasium  wissenschaftliche 
Propädeutik  zu  bieten  habe,  ein  Grundsatz,  der  auch  in  neuerer  Zeit  meines 
Erachtens  z.  B.  beim  Betrieb  des  Französischen  nicht  immer  genügend  an- 
erkannt und  durchgeführt  wird. 

Nach  Lajis  soll  der  Aufsatz  1.  die  für  die  höheren  Berufsarten  bestimmten 
Jünglinge  mit  der  Fertigkeit  ausrüsten  ihre  Gedanken  in  sachgemäßer,  über- 
sichtlicher Gliederung  klar  und  verständig  darzulegen;  2.  naheliegende,  für  die 
allgemeine  Bildung  besonders  wertvolle  Unterrichtsstoffe  recht 
gründlich  durchzuarbeiten  und  anzueignen;  3.  die  Privatlektüre  zu  leiten 
und  zu  vertiefen.  Damit  diese  Zwecke  erreicht  werden,  wünscht  Laas,  dafs 
dem  Lehrer  des  Deutschen  noch  andere  Unterrichtsgegenstände  in  die  Hand 
gegeben  werden,  und  zwar  meint  er  damit  in  erster  Linie  das  Griechische 
und  das  Lateinische1):  sein  ganzes  Buch  (auch  die  'Materialien')  ist  in  dem 

l)  Genannt  ist  nur  der  lateinische  Dichter  (S.  26)  'Die  lateinische  Prosa  mufs  so  lange 
dem  lateinischen  Aufsatz  zur  Ausbeute  vorbehalten  bleiben,  als  dieser  fortfahrt,  Bestandteil 
des  Gymnasialunterrichts  zu  sein'  (S.  25).    Dafs  letzteres  nicht  mehr  der  Fall  ist,  hätte 


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P.  Vogel:  Hilfsbücher  für  den  deutschen  Unterricht 


Sinne  geschrieben,  dafs  der  deutsehe  Aufsatz  auch  für  die  humanistischen 
Disziplinen  ganz  direkt  nutzbar  gemacht  wird.  Auf  Mathematik,  Religion1), 
Naturwissenschaften,  Französisch  wird  das  Prinzip  der  Konzentration  nicht  aus- 
gedehnt. Sehr  richtig:  die  Gegenwart  hat  Lateinisch  und  Griechisch  stark  zurück- 
gedrängt, die  realen  Fächer  und  Franzosisch  haben  mächtig  gewonnen  und 
nehmen  auch  die  häusliche  Arbeitszeit  der  Schüler  ganz  anders  als  früher  (das 
Französische  in  Quarta  entschieden  bedeutend  mehr  als  das  Lateinische!)  in 
Anspruch:  soll  das  humanistische  Gymnasium  schliefslich  nicht  blofs  den 
Namen  eines  solchen  führen,  so  mufs  jede  Gelegenheit  benutzt  werden,  den 
humaniora  beizuspringen.  Dafs  Laas  hierzu  den  deutschen  Aufsat/  grundsätz 
lieh  verwendet  wissen  will,  kann  ihm  nicht  genug  gedankt  werden:  ist  es  doch 
auch  für  den  Aufsatz  selbst  ein  Gewinn,  wenn  ihm  aufser  der  deutschen  Litte- 
ratur  noch  die  alten  Klassiker  zur  Verfügung  stehen. 

So  viel  über  die  Grundgedanken  des  Werkes.  Auch  die  Durchführung  im 
einzelnen  bleibt  allerwärts  des  Prinzips  eingedenk,  dafs  der  Aufsatz  im  Sinne 
einer  wissenschaftlichen  Propädeutik  verstanden  werden  soll  Glänzend 
sind  die  Abschnitte  über  Analysis  und  Paraphrase  (S.  66 — 77),  sodann  über 
inventio  und  im  Zusammenhang  damit  über  die  röxot  (S.  79  ff.),  über  partitio 
und  divisio  (S.  103  ff.),  über  die  Kategorien  der  Relation  (bes.  die  kausalen) 
(ß.  148  ff.)  und  über  Urteile,  Beweis  und  Widerlegung  (S.  156  ff.):  werden 
diese  Gedanken,  auch  nur  zum  Teil,  beim  Aufsatzunterricht  verwertet  und  die 
Schüler  durch  sie  geistig  geschult,  so  ist  damit  zugleich  die  philosophische 
Propädeutik  geboten,  die  auf  der  Schule  überhaupt  in  Betracht  kommt.  Mir 
ist  aus  der  Seele  gesprochen:  'für  die  Gymnasialjugend  ist  vorerst  diejenige 
Logik  zuträglicher,  von  der  Melanchthon  zu  sagen  pflegte,  dafs  sie  sich  von 
der  Rhetorik  nur  dem  Namen  nach  unterscheide,  jene  Logik,  welche  die 
Theorie  fortwährend  an  Inventions-  und  Dispositionsübungen  zur  Anwendung 
bringt'  (S.  11).  Im  übrigen  möchte  ich  dem  Gymnasiasten  von  Philosophie 
nur  so  viel  geboten  sehen,  als  durch  die  Lektüre  alter  und  deutscher  Klassiker 
direkt  nahegebracht  wird:  werden  darüber  hinaus  noch  irgendwelche  skeptische, 
materialistische,  pessimistische  u.  s.  w.  Samenkörner  ausgestreut,  so  kann  oder 
vielmehr  wird  meist  der  Erfolg  ein  bedenklicher  sein.  Der  Lehrer  hat  nicht 
Zeit,  die  Saat  zu  voller,  fruchtbarer  Entwickelung  zu  bringen,  und  der  Schüler 
besitzt  noch  nicht  die  Fähigkeit,  sie  selbständig  in  sich  ausreifen  zu  lassen; 
anderseits  sind  es  aber  auch  nicht  taube  Samenkörner:  denn  solche  Ideen 
imponieren  dem  Schüler  mächtig  durch  den  Reiz  der  Neuheit  und  weil  sie 
ganz  abweichen  von  dem  sonst  auf  der  Schule  Gebotenen.  Was  ist  dann  also 
der  Erfolg?  Die  Schüler  gelangen  zur  Selbstüberhebung,  zum  Pessimismus, 
zum  Unglauben,  zum  Zweifel  überhaupt  an  jeder  Autorität,  und  sie  verlieren 


Imelmann  zu  den  entsprechenden  Änderungen  im  Text  veranlassen  müaueii.  _  Ebenso  ist 
S.  98  nicht  berücksichtigt,  dafs  nach  den  jetzigen  Lehrplänen  die  Stellung  eines  Themas 
im  Anschluß  an  Homer  in  Untersekunda  nicht  mehr  möglich  ist. 
•)  Wegen  der  konfessionellen  Unterschiede. 


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P.  Vogel:  Hitöbücher  für  den  deutschen  Unterricht  273 

leicht  die  Begeisterungsfähigkeit  für  Ideale,  die  das  Wesen  der  Gymnasial- 
bildung  ausmachen. 

Es  seien  noch  einige  einzelne  Punkte  hervorgehoben,  in  denen  mir  Laas' 
Auffassung  besonders  einleuchtend  erscheint.  Wenn  er  zunächst  die  Chrien- 
schablone  höchstens  als  ein  Mittel  der  inventio  gelten  läfst,  so  findet  er 
jetzt  wohl  fast  allgemeine  Zustimmung:  gar  selten  liest  man  noch  in  Jahres- 
berichten davon,  dafs  thatsächlich  ein  Aufsatz  in  Chrienform  gemacht  worden 
ist.  —  Auf  mehr  Widerspruch  wird  sein  Urteil  über  die  sogenannten  freien 
Vorträge  stofsen:  ich  aber  stimme  mit  ihm  in  der  Wertschätzung  dieser 
Übungen  —  meist  handelt  es  sich  doch  um  auswendig  gelernte  Aufsätze  — 
völlig  aberein.  'Ein  in  dieser  Richtung  planmäfsig  organisierter  Betrieb  nimmt 
auf  alle  Fälle  zu  viel  Zeit  und  Kraft  in  Anspruch',  'die  so  angewandte  Zeit 
ist  für  die  übrigen  Schüler  so  gut  wie  verloren';  'der  Vortrag  seiner  (des 
Schülers)  eigenen  Sachen  bringt  zu  dürftigem  Ertrag;  und  je  «freier»  er 
wird,  um  so  unergiebiger  ist  er';  'die  . . .  «Debatten»  sind  auch  nur  Spielereien'. 
'Wird  in  den  Antworten  der  Schüler  stets  Bedachtsamkeit,  Zusammenhang  und 
Bestimmtheit  gefordert,  läfst  man  sie  über  Klassen-  wie  Privatlektüre  regel- 
mäfsig  mündlich  referieren  und  resümieren,  wird  das,  was  aus  einer  Reihe  auf- 
genommener Kenntnisse  und  Erkenntnisse  das  Wichtigste  und  Wesentlichste 
ist,  öfter  einmal  von  ihnen  rekapituliert  und  zusammengefafst,  erhalten  sie 
immer  wieder  Gelegenheit  und  Anreiz,  ihr  Urteil  redend  zu  entwickeln  und  zu 
begründen,  so  ist  mit  alledem  ihren  leiblichen  und  geistigen  Sprachorganen 
Übung  genug  angeboten'  u.  8.  w.  —  Wenn  Laas  —  entgegen  der  sonst  ge- 
forderten Verknüpfung  des  Aufsatzunterrichtes  mit  der  Lektüre  —  auch 
gelegentliche  Stellung  von  allgemeinen  Themen  (S.  23)  gestattet,  so 
ist  das  ein  Beleg  dafür,  wie  wenig  einseitig  er  vorgeht:  denn  gerade  solche 
Aufgaben  vermitteln  eine  bestimmte  Art  von  stilistischer  Schulung,  die  nicht 
zu  entbehren  ist.  Aber  er  verlangt  —  und  das  ist  eine  auch  für  die  Jetztzeit 
keineswegs  überflüssige  Mahnung!  —  dafs  dann  nur  solche  Themata  gegeben 
werden,  'zu  denen  der  Stoff  im  allgemeinen,  im  schul-  oder  aufserschulmäfsigen 
Erfahrungskreise  des  Schülers  erwartet  werden  kann':  'die  Feder  und 
Zunge  unserer  Schüler  soll  nur  benutzt  werden,  um  ehrlich  die  echten,  eigenen 
Vorstellungen,  Gefühle  und  Einsichten  darzustellen.'  Überhaupt  warnt  Laas  — 
so  sehr  er  auch  dem  Aufsatz  eine  bedeutsame  Rolle  zuweist  und  ihm  hohe 
Ziele  steckt  —  wiederholt  eindringbch  davor,  vom  Schüler  zu  viel  zu  er- 
warten und  zu  verlangen  (S.  53);  'das  geistige  Leben  unserer  Schüler  baut 
sich  auf  aus  Rezeption,  Verarbeitung  des  Rezipierten  und  Umbildung  desselben 
zu  selbständigerer  Produktion'  (S.  13);  von  Obersekunda  an  'wird  man 
vorsichtig  und  allmählich  den  Versuch  machen  ...  das  selbständige  Urteil 
in  Anspruch  zu  nehmen'  (S.  38).  —  Ebenso  berechtigt  ist  es,  dafs  Laas  an 
den  Lehrer  die  entschiedensten  Anforderungen  stellt,  und  es  verdient  Be- 
achtung, wenn  er  der  'Manier  der  Herren  Schlendrianisten'  entgegen- 
arbeitet, 'die  entweder  bei  jedem  Aufsatztermine  bbndlings  nach  einem  be- 
liebigen, halbwegs  klassengerechten  Thema  greifen  oder  mit  einer  nicht  immer 

u  18 


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274  P  Vogel:  Hilfsbücher  für  den  deutschen  Unterricht 

wohl  assortierten  Anzahl  von  Aufsatethemen1)  mit  vorrückendem  Dienstalter 
und  Rang  von  Klasse  zu  Klasse,  von  Anstalt  zu  Anstalt  reisen*  (S.  36),  die 
aus  'Gedankenlosigkeit  und  Bequemlichkeit  Zufall  oder  Laune  über  die  Ab- 
grenzung des  Themas  entscheiden  lassen  und  sich  über  Einheit  u.  dgl.  schlechter- 
dings keine  Skrupel  machen'  (S.  51),  die  die  einfachsten  Fingerzeige  darüber 
unterlassen,  was  eigentlich  vom  Schüler  verlangt  wird  (S.  29).  —  Dafs  Imel- 
mann  bei  Bearbeitung  der  dritten  Auflage  durchaus  pietätvoll  verfahren  ist, 
kann  man  nur  billigen;  am  Texte  sind  keine  nennenswerten  Änderungen  ge- 
macht worden  (s.  auch  das  Vorwort  zu  den  'Materialien');  die  anregende  Kraft 
des  Buches  ist  unabhängig  von  der  Übereinstimmung  mit  seinem  Standpunkt; 
auch  wer  z.  B.  dem  Aufsatz  die  beherrschende  Stellung  nicht  einräumt,  wird 
reiche  und  mannigfaltige  Belehrung  aus  dem  Studium  des  Buches  davon- 
tragen. —  Wünschenswert  wäre,  wenn  'in  der  Eindämmung  der  Flut  wissen- 
schaftlicher Kunstausdrücke  und  Fremdwörter'  noch  durchgreifender 
vorgegangen  würde,  zumal  da  das  Buch  den  deutschen  Unterricht  zum  Gegen- 
stand hat  (z.  B.  S.  203  'laudieren'!);  aus  demselben  Grunde  möchte  auch  der 
Stil  an  manchen  Stellen  noch  mehr  auf  Schönheit  und  Durchsichtigkeit  hin 
abgefeilt  werden,  z.  B.  S.  50:  Von  demselben  Lehrer  —  es  ist  nebenbei  auch 
derselbe,  den  wir  S.  36  Anm.  2  tadeln  mufsten,  und  das  folgende  das  dort 
als  ungeeignet  bezeichnete  Thema  —  wurde  gestellt:  'Wenn  es  dir 
übel  geht,  u.  s.  w.'  —  Schließlich  ist  es  recht  unübersichtlich  und  störend, 
wenn  zu  einem  Punkte  a  (S.  134)  der  entsprechende  Punkt  b  Seite  138  in  der 
Anmerkung  versteckt  erscheint,  oder  wenn  zu  den  mit  Ziffern  bezeichneten 
Punkten  1.  2.  (S.  247)  die  Weiterführung  durch  die  nicht  gesperrten  Worte: 
drittens,  viertens  im  Text  (S.  248.  250)  gebracht  wird.  —  In  vieler  Beziehung 
geistesverwandt  mit  Laas  ist: 

Ferdinand  Schultz,  Meditationen.   Dessau,  Paul  Banmann,  1884.  1886.  1898. 

Von  dem  längst  rühmlich  bekannten  Buche  ist  im  Jahre  1898  die  zweite 
Auflage  des  ersten  Bändchens  und  das  dritte  Bändchen  neu  erschienen. 

Dafs  ich  im  allgemeinen  kein  besonderer  Freund  von  'Themensammlungen' 
bin,  habe  ich  schon  verschiedentlich  als  Referent  ausgesprochen  und  auch  be- 
gründet (s.  Neue  Jahrbücher  1898  II  S.  281);  insbesondere  sind  mir  solche, 
die  reichliche  Ausführungen  bieten,  bedenklich  als  mögliche  Eselsbrücken. 
Letztere  Befürchtung  ist  nun  zwar  bei  den  'Meditationen'  durchaus  nicht  aus- 
geschlossen, aber  Schultz  bietet  so  viel  Treffliches  und  Neues,  solch  eine  Fülle 
von  Anregungen  für  den  Lehrer,  dafs  ein  etwaiger  Mifsbrauch  demgegenüber 
nicht  in  Betracht  kommen  kann. 

Schultz  bekennt  in  den  Vorreden,  Laas  viel  zu  verdanken,  ohne  sich  darum 
in  jeder  Beziehung  von  ihm  abhängig  zu  machen.  Wie  Laas,  benutzt  Schultz 
den  Aufsatz,  um  Gelesenes  und  Gelerntes  innerlich  zu  befestigen,  und  behandelt 

*)  Unter  den  aufgeführten  Beispielen  steht  auerst  daB  berüchtigte:  'Meine  Ferien'!  - 
Die  von  Laas  gerügten  Mifsst&nde  haben  sich  allerdings  teilweise  verringert,  aber  nach 
meiner  Beobachtung  ist  es  doch  richtig,  dafs  Imelmann  die  betreffenden  Passus  nicht  etwa 
'als  für  die  Jetztzeit  entbehrlich'  getilgt  hat. 


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P.  Vogel:  Hilfsbacher  für  den  deutschen  Unterricht 


27f) 


er  neben  der  deutschen  Litteratur  vorwiegend  die  antiken  Klassiker.  Da 
sein  Buch  aber  auch  für  Realgymnasien  brauchbar  sein  soll,  zieht  er  im  zweiten 
und  dritten  Bändchen  die  Peripherie  des  Ideenkreises  etwas  weiter  und  geht 
auch  auf  Geschichte,  Geographie,  Physik  ('der  Blitzableiter'  III  152)  und  aus- 
ländische Litteratur  —  Shakespeare  wird  mit  Recht  unter  die  Schätze  unserer 
Nationallitteratur  gerechnet  —  ein:  doch  bleiben  derartige  Themata  stark  in 
der  Minderzahl.  —  Wie  Laas  erkennt  auch  Schultz  wohl  den  Wert  sogenannter 
allgemeiner  Themata  an,  wünscht  aber  in  gleicher  Weise  wie  dieser  die  Heraus- 
forderung zu  altklugem  Absprechen  und  die  Verlockung  zu  hohlen  Phrasen  zu 
vermeiden:  er  empfiehlt  deshalb  vielmehr  die  Entwickelung  von  Begriffen  als 
die  Behandlung  von  Urteilen,  anderseits  sucht  er  solche  Aufgaben  möglichst 
zu  einem  unserer  grofsen  Meister  in  Beziehung  zu  setzen  (s.  u.). 

Von  den  Alten  werden  herangezogen  Homer,  Äschylos,  Sophokles,  Plato, 
Horaz,  aus  der  deutschen  Litteratur  Wolfram  von  Eschenbach,  Walther  von  der 
Vogel  weide  (das  Nibelungenlied  wunderbarerweise  nicht!),  Klopstock,  Lessing, 
Schiller,  Goethe,  Kleist,  Unland,  G.  Frey  tag,  Fritz  Reuter,  Jordan,  Rieh. 
Wagner,  Shakespeare  (s.  o.);  eine  Anzahl  von  Meditationen  bringen  auch 
die  Litteratur  der  Griechen  und  Romer  mit  der  unsrigen  in  Beziehung.  Schultz 
bestrebt  sich,  den  Gedankenkreis  der  Dichter  und  Denker  zur  rechten 
Auffassung  und  Durchdringung  zu  bringen:  seine  Meditationen  sorgen  dafür, 
dafs  der  Schüler  über  gewisse  allgemeine  Begriffe  unterrichtet  werde,  die 
Grundanschauungen  unserer  ersten  Geister  darstellen  (s.  o.);  so  wird  gleich  zu 
Anfang  der  Begriff  'Charakter*  erläutert  (im  Anschlufs  an  'Tasso'),  die 
nächsten  Entwürfe  drehen  sich  darum,  wie  die  Griechen  —  Herder  —  Schiller  — 
Goethe  das  Menschheitsideal  fassen.  Ebenso  wird  in  Hinblick  auf  die  Lektüre 
Lessings,  auch  Schillers  die  Frage  behandelt:  'Was  verstehen  wir  unter  Kunst?' 
Fernerhin  wird  Bedacht  genommen  auf  die  den  Dichtwerken  zu  Grunde  liegen- 
den 'sittlichen  Ideen  und  deren  Modifikation  durch  die  Weltanschauung  des 
Altertums,  des  Mittelalters  und  der  Neuzeit';  ein  grofser  Teil  der  Aufgaben 
leitet  zur  Charakteristik,  besonders  zur  vergleichenden  Charakteristik  an. 

Etwas  ganz  Neues  ist  es,  dafs  von  Schultz  auch  die  Musik  herangezogen 
wird:  Bd.  I  Nr.  15  'Welche  Aufgabe  hat  die  Musik?'  Bd.  H  Nr.  69  'Eignet 
sich  der  Stoff  des  Epos  von  Wolfram  v.  Eschenbach,  Parzival,  zur  Fabel  eines 
Musikdramas?'  Der  Verfasser  —  bekannt  durch  seine  Komposition  der  Musik 
zu  des  Sophokles  Philoktetes  —  ist  hierbei  von  der  Erkenntnis  ausgegangen, 
'dafs  diese  Kunst  in  unserer  Zeit  eine  Macht  geworden  ist,  die  so  bedeutende 
Kulturerscheinungen  aufzuweisen  hat,  um  auch  diejenigen,  denen  die  Gaben 
zur  Ausübung  derselben  fehlen,  zum  Nachdenken  über  sie  zu  veranlassen'. 
Besonders  da  Schultz  die  Musik  durchaus  nicht  in  den  Vordergrund  gedrängt 
hat  (nur  drei  Meditationen  im  ganzen  Werke  berühren  sie),  stelle  ich  mich 
völlig  auf  seine  Seite;  ich  würde  sogar  gern  noch  einige  wenige  musik- 
geschichtliche Aufgaben  aufgenommen  sehen:  jetzt  liegt  doch  die  Sache  so, 
dafs  die  gebildetsten  Leute  auf  dem  Gebiete  der  Musik  die  tollste  Unkenntnis 
und  Gleichgültigkeit  an  den  Tag  legen  dürfen,  ohne  erröten  zu  müssen,  während 

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270 


P.  Vogel:  HUfsbücher  für  den  deutschen  Unterricht 


in  der  Malerei  und  Plastik  jeder  wenigstens  die  wichtigsten  Namen  und  Werke 
wissen  möchte  und  sich  schämen  würde,  völlige  Gefühllosigkeit  gegenüber  den 
Darbietungen  der  bildenden  Kunst  kund  zu  thun.  Darin  mufs  entschieden 
Wandel  geschafft  werden,  und  das  Gymnasium  kann  zu  seinem  bescheidenen 
Teile  dazu  beitragen:  ist  doch  die  Musik  die  Kunst,  die  nächst  der  Poesie  die 
allgemeinste  Bedeutung  für  die  Menschheit  hat  —  besonders  jetzt,  wo  so  viel 
für  die  Verbreitung  derselben  gethan  wird  — ,  die  für  die  Gesamtheit  ungleich 
wichtiger  ist  als  Malerei  und  Bildhauerkunst! 

Mehr  beiläufig  sei  zum  Schlufs  bemerkt,  dafs  man  im  dritten  Bändchen 
S.  49  den  Eindruck  gewinnt,  als  würde  Oedipus  rex  als  Glied  einer  Ödipus- 
trilogie  betrachtet,  während  doch  zur  Zeit  des  Sophokles  der  innere  Zusammen- 
hang der  Trilogien  aufgegeben  war;  —  erstes  Bändchen  S.  39  ist  ein  Irrtum 
im  Schema  der  Disposition:  auf  A.  Vorzüge  folgt  nicht  das  zu  erwartende  B. 

Zu  seinem  Teile  von  gleich  hoher  Bedeutung,  wie  die  beiden  soeben  be- 
sprochenen Bücher,  ist 

Hermann  Steuding,  Die  Behandlung  der  deutschen  Nationallitteratur  in  der  Oberprima 
des  Gymnasiums  an  den  Hauptwerken  Goethes  erläutert.    Leipzig,  Seemann  1898. 

Der  geschätzte  Verfasser,  der  auf  dem  Gebiete  des  deutschen  Unterrichts 
in  Oberprima  langjährige  Erfahrung  besitzt,  will  nicht  einen  vollständigen 
Lehrplan  bieten,  sondern  er  zeigt  an  Goethe,  wie  er  sich  überhaupt  die 
Behandlung  der  Nationallitteratur  denkt:  die  Besprechung  der  Hauptwerke 
Schillers  und  einen  Ausblick  auf  die  spätere  Zeit  der  Dichtung  verschiebt  er 
auf  spätere  Gelegenheit.  Zuvörderst  genügt  das  erschienene  Buch  völlig,  um 
des  Verfassers  pädagogische  Auffassung  bis  ins  einzelne  kennen  zu  lernen:  die 
für  später  in  Aussicht  gestellte  Fortsetzung  wird  aber  als  willkommenes  Hilfs- 
buch von  vielen  Lehrern  mit  Freude  begrüfst  werden. 

Der  Verfasser  sieht  als  seine  Aufgabe  als  Lehrer  der  obersten  Stufe  an,  'die 
fortschreitende  Entwickelung  unserer  beiden  gröfsten  Dichter,  Goethes 
und  Schillers,  aus  ihren  eigenen  Werken  darzulegen  und  die  Schüler  in 
die  geistige  Werkstatt  derselben  einzuführen'.  Demgemäfs  bietet  er  von  S.  20 
an:  Goethes  Leben  im  Spiegel  seiner  Hauptwerke,  und  zwar  1)  Goetz, 
2)  Werthers  Leiden,  3)  Clavigo,  4)  Wanderers  Sturmlied  (als  Beispiel  für  die 
Erklärung  lyrisch-philosophischer  Gedichte),  5)  Egmont,  6)  Iphigenie,  7)  Tasso, 
8)  Elegien,  Epigramme,  Idyllen,  Balladen,  9)  Faust1)  (S.  85—161).  Die  Schlufs- 
besprechung  des  Faust  pflegt  dann  Steuding  mit  der  Gesamtbetrachtung  Goethes 
nach  Beendigung  der  Darstellung  seines  LebensgangeB  zu  vereinigen,  da  dieses 
Werk  'neben  seiner  allgemeineren  Bedeutung  die  Selbstentwickelung  des 
Dichters  schildert'. 

Die  genannten  Dichtungen  werden  den  Schülern  teils  durch  Privat- 
lektüre teils  durch  zusammenhängende  Klassenlektüre  bekannt  gemacht 
In  der  Klasse  läfst  Steuding  lesen    1)  besonders  schöne,   wichtige  oder 


')  8.  11—12  spricht  Steuding  von  der  Berechtigung,  ja  Notwendigkeit  der  Faustlektür«1 
auf  dem  Gymnasium. 


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P.  Vogel:  Hilfsbacher  für  den  deutschen  Unterricht 


277 


schwierige  Scenen  aus  privatim  gelesenen  Dramen,  2)  eine  Auswahl  (S.  13) 
aus  Faust,  besonders  die  Stücke,  die  wirklich  Goethes  eigenen  Werdegang 
schildern,  3)  eine  Auswahl  aus  den  lyrischen  Gedichten,  die  Goethes  inneren 
Lebensgang  versinnbildlicht.  —  Bei  der  Aufgabe  eines  Dramas  zur  Privat- 
lektüre  verteilt  Steuding  eine  Reihe  Themata  unter  die  Schüler,  'so  daTs  diese 
Dichtungen  vor  der  Behandlung  in  der  Klasse  von  jedem  unter  ihnen  nach 
einem  bestimmten  Gesichtspunkte  hin  durchgelesen  werden  müssen'  (derartiger 
Gesichtspunkte  werden  neun  genannt,  S.  8 — 9,  die  bei  Behandlung  der  meisten 
Dramen  berücksichtigt  werden  können).  Diese  Themata  müssen  'von  allen  im 
Entwurf  ausgearbeitet  und  dem  Gedächtnis  so  weit  eingeprägt  sein,  dafs 
darüber  in  freiem  Vortrag1)  (vom  Platze  aus)  berichtet  werden  kann'.  Das 
ist  sicherlich  eine  treffliche  Vorbereitung  für  die  gemeinsame  Besprechung  der 
Dramen,  nur  würde  ich  vorschlagen,  das  Drama  zuerst  einfach  lesen  zu  lassen, 
dann  die  Themata  zu  stellen  und  daraufhin  eine  nochmalige  Lektüre  zu 
verlangen,  damit  die  Dichtung  zuerst  in  ihrer  Gesamtheit  auf  den  Schüler 
wirkt;  das  voraus  gestellte  Thema  wird  meist  den  Blick  einseitig  auf  gewisse 
Beobachtungen  lenken  und  den  allgemeinen  Eindruck  beeinträchtigen.  Freilich 
ergiebt  sich  dadurch  noch  ein  Plus  von  häuslicher  Arbeit:  diese  scheint  aber 
ohnedies  durch  das  Steudingsche  Verfahren  etwas  stark  in  Anspruch  genommen 
zu  werden,  da  es  sich  um  eine  stattliche  Anzahl  Dramen  handelt  und  jedesmal 
von  allen  ausgearbeitete  Entwürfe  verlangt  werden  —  aufser  den  wirklichen 
Aufsätzen. 

Im  Übrigen  möchte  ich  mich  mit  diesem  blofsen  Referate  über  das  Buch 
begnügen:  da  ich  noch  nicht  Gelegenheit  hatte,  deutschen  Unterricht  in  Prima 
zu  erteilen,  ist  eB  mir  unmöglich,  zu  beurteilen,  wie  die  Steudingschen  Vor- 
schläge im  einzelnen  zur  Schulpraxis  stehen.  Ich  kann  nur  aussprechen,  dafs 
das  Buch  mich  so  gewonnen  hat,  dafs  ich  nicht  anstehen  würde,  in  des  Ver- 
fassers Fufstapfen  zu  treten,  wenn  ich  in  die  Lage  kommen  sollte,  den  Unter- 
richt zu  übernehmen.  Aber  auch  dem,  der  mit  manchem  nicht  einverstanden 
ist1)  und  manches  anders  machen  möchte,  wird  das  von  Steuding  entworfene 
Unterrichtsbild  —  er  selbst  erklärt  (S.  2)  kein  Muster  aufstellen  zu  wollen  — 
Gutes  in  Fülle  bieten;  z.  B.  ist  auch  nicht  nur  für  Lehrer  der  Oberprima  und 
nicht  nur  für  Lehrer  des  Deutschen  hochinteressant  die  Methode  der  Wieder- 
holung litteraturgeschichtlicher  Pensen  der  vorhergehenden  Klassen:  Steuding 
läfst  den  Stoff  nach  neuen  Leitmotiven  gruppieren  und  so  nach  gewissen  Haupt- 
gesichtspunkten zu  wohlgeordneten  Gesamtbildern  vereinigen  (S.  4 — 5);  S.  15 — 19 
wird  im  einzelnen  ausgeführt,  wie  sich  etwa  für  Oberprima  eine  solche  ein- 
leitende Übersicht  gestalten  kann. 

')  Aufserdem  läfst  der  Verfasser  jeden  Schüler  je  eine  wirkliche  Bede  halten  (8.  6); 
Vortrage  im  Sinne  von  auswendig  gelernten  Aufsätzen  kennt  auch  Steuding  nicht  (s.  oben 
unter  Laas  S.  273). 

*)  Z.  B.  halten  noch  nicht  alle  die  Einführung  eines  litteraturgeschichtlichen  Lehr- 
buches für  selbstverständlich  (S.  2);  mir  persönlich  scheint  es  für  Prima  mindestens 
empfehlenswert,  s.  unten  S.  279. 


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P.  Vogel:  Hilfsbücher  für  den  deutschen  Unterricht 


Eine  andere  Seite  des  deutschen  Unterrichtes  auf  der  obersten  Stufe 
behandelt: 

Fr.  Bindsei],  Der  deutsche  Aufsatz  in  Prima.    Zweite  Auflage  von  Bruno  Zielonka. 
Berlin,  Gaertncr  1899. 

Wie  Laas  will  auch  Bindaeil  durch  den  deutschen  Aufsatz  den  reichen 
Schatz  heben,  den  die  Meisterwerke  unserer  grofsen  Dichter  sowie  der 
alten  Klassiker  sowohl  zur  intellektuellen  als  auch  zur  moralischen  Aus- 
bildung des  menschlichen  Geistes  bieten;  auch  er  fafet  den  Aufsatz  nicht  nur 
als  ein  Mittel  zu  sprachlicher  und  formaler  Schulung,  sondern  will  durch  ihn 
vor  allem  auch  erzieherisch  auf  den  inneren  Menschen  wirken.  Zu  letzterem 
Zwecke  wünscht  er,  dafs  auch  das  Stoffgebiet  sittlicher  Ideen  und  all- 
gemeiner Lebenswahrheiten  für  den  Aufsatzuntemcbt  grundsätzlich 
herangezogen  werde,  während  Laas  diesen  Aufgaben  einen  nur  bescheidenen 
Spielraum  anweist,  sie  nur  zu  gelegentlicher  Verwendung  kommen  lassen 
will  (s.  o.).  Was  mir  gegen  häufige  Stellung  solcher  Themata  zu  sprechen 
scheint,  ist  oben  S.  273.  275  gesagt  worden;  wenn  aber  der  Verfasser  S.  31  dem 
Schüler  das  Moralisieren  verbietet:  'es  steht  dem  jungen  Menschen  schlecht 
an,  andern  zu  sagen,  was  sie  thun  und  lassen  sollten',  wenn  er  glaubt  (S.  8), 
es  könne  vom  Schüler  nicht  mehr  verlangt  werden,  als  'das  von  andern  Ge- 
dachte in  sich  aufzunehmen,  zu  verarbeiten  und  in  einer  angemessenen  Weise 
wieder  zum  Ausdruck  zu  bringen',  so  scheint  er  doch  insofern  mit  mir 
übereinzustimmen,  als  er  eine  Sorte  von  Themen,  die  im  Lehrerjargon  wohl  als 
'Schwafelthemata'  bezeichnet  zu  werden  pflegen,  nicht  gutheifsen  kann  (obschon 
einige  der  von  ihm  vorgeschlagenen  'freien'  Themata  etwas  danach  klingen). 

Das  Büchlein  beginnt  (I)  mit  einem  theoretischen  Teil:  1.  Die  Aufgabe 
des  deutschen  Aufsatzes  in  Prima.  2.  Die  sprachliche  Seite.  3.  Die  stoffliche 
Seite  (sehr  beachtlich  ist,  was  hier  S.  4  — 6  über  das  geistige  Niveau  gesagt 
wird,  auf  dem  der  Primaner  steht,  wenn  ich  auch  über  das  eine  oder 
andere  abweichender  Ansicht  bin).  4.  Die  formale  Seite.  5.  Die  allgemeinen 
Dispositionsgesetze.  6.  Elemente  der  empirischen  Psychologie.  7.  Die  kontra- 
diktorischen Gegensätze.  8.  Die  speziellen  Inventions-  und  Dispositionsgesetze. 
9.  Die  Einteilung  der  Themata  nach  ihrem  Inhalte.  Nr.  5 — 9  sind  ja  viel 
kürzer  gefafst  als  die  entsprechenden  Partien  bei  Laas,  gehen  demgemäß  auch 
viel  weniger  in  die  Tiefe,  aber  sie  eignen  sich  trefflich  zur  schnellen  Infor- 
mation für  die  Lehrer  und  zu  direkter  Verwendung  im  Unterricht  Sehr  wert- 
voll sind  im  (II)  praktischen  Teil  die  Handwerksregeln  (A),  die  man  bei 
Laas  nur  ganz  vereinzelt  findet,  wertvoll  für  Lehrer  wie  für  Schüler.  Wie 
nötig  ist  z.  B.  die  Warnung  vor  formelhaften  Wendungen,  leeren  Redensarten 
bei  Einführung  eines  Gedankens,  besonders  auch  von  Beispielen,  ebenso  bei 
Übergängen!  (S.  32—34).  Wenn  freilich  am  Ende  dieses  Kapitels  (S.  39—47) 
10  vollständig  ausgeführte  Einleitungen,  7  desgl.  Schlüsse,  zu  7  und 
5  Themen  gehörig,  geboten  werden,  so  wird  diesen  unwesentlichen  Teilen  des 
Aufsatzes  zu  viel  Ehre  zugestanden  und  überdies  hilfsbedürftigen  Schwächlingen 
bedenkliche  Gelegenheit  zum  Abschreiben  geboten. 


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P.  Vogel:  Hilfsbücher  für  den  deutschen  Unterricht 


270 


Leider  wird  das  Buch  unnötig  verteuert  durch  B.  Dispositionen,  die 
den  gröfsten  Teil  desselben  (S.  48—140)  ausmachen,  in  der  zweiten  Auflage 
auch  noch  vermehrt  worden  sind.  Wenn  die  in  I  gegebenen  Theorien  durch 
praktische  Beispiele  belegt  wurden,  so  war  das  sehr  zweckentsprechend,  fast 
nötig,  aber  es  genügten  hierzu  völlig  etwa  10  Typen.  Werden  aber  50  Dis- 
positionen gebracht,  so  stellt  sich  der  Anhang  als  eine  *  Sammlung  von  Aufsatz- 
themen' heraus,  und  hierfür  ist  gar  kein  Bedürfnis  vorhanden  (s.  oben  S.  274). 
Denn  'freie'  Themata  hat  jeder  Lehrer  zu  hunderten  im  Kopfe,  und  die  25  Auf- 
gaben im  Anschlufs  an  die  Lektüre  sind  teils  ganz  selbstverständlich  und  nahe- 
liegend (z.  B.  die  Vorfabel  zu  Goethes  Egmont),  teils  bringen  sie  wenigstens 
keine  neuen  Ideen  und  Auffassungen  (z.  B.  Nr.  4.  5.  7;  vgl  Laas,  Materialien 
S.  89.  335.  379). 

Es  ist  oben  (s.  S.  277  Anm.  2)  die  Frage  der  litteraturgeschichüichen 
Lehrbücher  gestreift  worden.  Steuding  nimmt  die  Einführung  eines  solchen 
für  Prima  als  selbstverständlich  an;  die  meisten  werden  sie  wohl  wenigstens 
als  wünschenswert,  vielleicht  alle  als  zulassig  betrachten.  In  Sachsen  sind  die 
Grundzüge  der  deutschen  Literaturgeschichte  von  Klee  mit  Recht  besonders 
verbreitet;  da  aber  vielleicht  auf  keinem  Gebiete  Geschmack  und  Ansprüche 
der  Lehrer  so  verschieden  sind  wie  im  deutschen  Unterricht,  verdient  wohl 
auch  empfohlen  zu  werden  das  Büchlein  von 

Rudolf  Lehmann,  Ubersicht  über  die  Entwickelung  der  deutschen  Sprache  und  Litteratur. 
Zweite  Auflage.   Berlin,  Weidmann  1898. 

Wie  die  Namen  Lehmann  und  Klee  auf  dem  Gebiete  des  deutschen  Unter- 
richts einen  gleich  guten  Klang  haben,  so  sind  auch  die  beiden  Leitfaden  — 
jeder  in  seiner  Art  —  gleich  gut;  dabei  dürften  sie  sich  kaum  ernstlich 
Konkurrenz  machen,  denn  wenn  sie  auch  beide  ihre  Aufgabe  in  derselben 
Weise  anfassen,  nämlich  beide  die  Entwickelung  der  Nationallitteratur 
bieten,  so  weichen  sie  doch  in  der  Ausführung  so  wesentlich  voneinander 
ab,  dafs  dem  einen  das  eine,  dem  andern  das  andere  Buch  als  für  seine  Be- 
dürfnisse brauchbarer  erscheinen  kann,  ohne  dafs  er  dadurch  den  Wert  des 
nicht  gewählten  irgend  bezweifeln  möchte. 

Wesentlich  ausführlicher  ist  Klee,  das  Lehmannsche  Buch  ist  sicher  um 
die  Hälfte  kürzer:  Lehmann  will  nur  ein  Schema  bieten,  das  der  Lehrer  erst 
mit  Geist  und  Leben  erfüllen  und  das  blofs  zur  häuslichen  Wiederholung  auf- 
gegeben werden  soll;  Klee  dagegen  wünscht  gewisse  Partien  dem  häuslichen 
Privatfleifs  der  Schüler  zu  überlassen,  auch  soll  sein  Handbuch  für  den  Selbst- 
unterricht genügen,  es  ist  deshalb  ausführlicher  gehalten.  Selbstverständlich 
ist  auch  die  Nomenklatur  bei  Lehmann  noch  mehr  beschränkt.  Klee  ver- 
folgt den  Werdegang  in  dankenswerter  Weise  bis  in  die  neueste  Zeit,  Lehmann 
hat  erst  in  der  zweiten  Auflage  seinen  litterarhistorischen  Teil  wenigstens  bis 
zu  Goethes  Tode  fortgeführt;  dafür  bietet  Lehmann  in  einem  besonderen  Teile 
I  (S.  3 — 30),  viel  eingehender  als  Klee,  eine  Geschichte  der  deutschen  Sprache1) 

>)  Es  ist  mir  aufgefallen,  dafs  S.  14  die  Regel  über  die  Brechung  so  gefafet  ist,  dafs 
sich  die  1.  Pers.  Sing.  Ind.  Praes.  gSbu  anstatt  gibu  ergeben  müfste, 


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P.  Vogel:  Hilfsbücher  für  den  deutschen  Unterricht 


und  einen  Anhang  über  die  Entwickelung  der  Verskunst.  Wird  also  irgendwo 
ein  Lehrbuch  nur  für  die  Primen  gesucht,  so  wird  man  sich  wahrscheinlich 
lieber  für  Klee  entscheiden,  da  man  dem  Primaner  gern  ein  Buch  in  die 
Hand  giebt,  welches  auch  für  sein  Privatstudium  einigermafsen  ausreicht; 
würde  aber  die  Einführung  eines  solchen  Leidfadens  für  die  drei  oberen 
Gymnasialklassen  gewünscht,  so  könnte  man  vielleicht  gerade  wegen  des 
erwähnten  sprachgeschichtlichen  Teiles  im  Interesse  der  Obersekunda  das 
Lehmannsche  Buch  bevorzugen,  auch  wenn  man,  wie  ich,  einzelnes  bei  Klee 
richtiger  oder  geeigneter  dargestellt  findet;  wenn  z.  B.  S.  41  behauptet  wird, 
kein  höfischer  Epiker  der  Blütezeit  entlehne  seine  Stoffe  heimischen  Sagen 
(Der  arme  Heinrich!1)),  wenn  S.  46  behauptet  wird,  man  dürfe  nur  'von  einem 
Sammler  und  Ordner  sprechen,  welcher  die  39  Aventüren  (des  Nibelungen- 
liedes) aus  einem  Cyklus  alter  .  .  .  Volkslieder  vereinigt  hat',  und  wenn 
S.  49  von  der  stofflichen  Einseitigkeit  des  Minnesangs  (ohne  zeitliche 
Einschränkung!)  gesprochen  wird,  so  ziehe  ich  mir  die  entsprechende  Dar- 
stellung bei  Klee  (§  26.  31.  35)  bedeutend  vor. 

Im  übrigen  glaube  ich,  dafs  die  Obersekunda  ein  Hilfsbuch  noch  sehr 
wohl  entbehren  kann.  Wird  aber  ein  solches  beliebt,  so  ist  wohl  auf  jeden 
Fall  eines  von  der  Art  der  eben  besprochenen  zu  wählen,  die  den  gesamten 
litteraturgeschichtlichen  Stoff  der  drei  oberen  Klassen  im  Zusammenhang 
bringen,  nicht  aber  ein  Separatleitfaden  für  Obersekunda,  wie  er  sich  z.  B. 
darstellt  in 

P.  Wessel,  Geschichte  der  deutschen  Dichtung.   Bis  zur  Reformation,  für  Obersekunda. 
Gotha,  Perthes  1898. 

Im  übrigen  wird  hier  der  Stoff  im  allgemeinen  ebenso  behandelt  wie  bei 
Klee  und  Lehmann:  Zeichnung  des  Entwickelungsganges,  möglichste  Be- 
schrankung der  Nomenklatur,  Unterdrückung  von  Inhaltsangaben  und  Analysen 
der  in  der  Schule  zu  lesenden  Dichtungen.  Als  Einteilungsprinzip  wählt  Wessel 
die  religiös-sittriche  Weltanschauung:  I.  das  germanische  Heidentum,  H.  das 
römisch  katholische  Christentum,  HI.  das  Erstarken  des  weltlichen  und  nationalen 
Geistes,  1.  die  Dichtung  der  Ritter,  2.  die  Dichtung  der  Bürger,  3.  die  Dichtung 
des  Volkes.  Der  Verfasser  tadelt  die  in  den  meisten  Büchern  übliche  ganz 
äufserliche  Einteilung  (Ahd.  Mhd.  Nhd.  Litteratur),  ebenso  billigt  er  nicht, 
wenn  die  'verschiedensten  Einteilungsprinzipien  zusammengeworfen  und 
bald  der  sprachliche,  bald  der  politische  oder  kulturhistorische,  bald  der  religiöse 
Gesichtspunkt  in  den  Vordergrund  gestellt'  werden.  Zuzugeben  ist,  dafs  Wessel 
Einheit  der  Disposition  durch  seine  Aufstellung  erreicht,  innerlich  aber,  für 
das  Verständnis  des  Schülers,  wird  nichts  gewonnen,  denn  eine  Anzahl  von 
Dichtungen  läfst  sich  weder  in  positivem  noch  in  negativem  Sinne  mit  der 
Religion  in  Beziehung  setzen.  So  sind  aus  dem  germanischen  Heidentum  (I) 
die  Göttermythen  hervorgegangen,  die  Heldensagen  dagegen  von  Ermenrich, 
Dietrich,  Etzel,  Gunther,  Walther  sind  wohl  in  heidnischer  Zeit  entstanden, 

')  Sollte  das  Gedicht  auch  nach  lateinischer  Vorlage  gearbeitet  sein,  so  bietet  es  doch 
eine  deutsche  Sage! 


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P.  Vogel:  Hilfsbücher  fflr  den  deutschen  Unterricht 


281 


sie  haben  aber  mit  der  heidnischen  Religion  innerlich  nichts  zu  thun. 
Teil  III  kann  angesichts  des  Einteilungsprinzips  nur  so  aufgefafst  werden, 
dafs  mit  dem  'Erstarken  des  weltlichen  und  nationalen  Geistes'  ein  Gegen- 
satz zu  Religion  und  Kirche  hervorgetreten  sei:  das  lafst  sich  aber  weder 
vom  Parzival  noch  vom  armen  Heinrich,  weder  von  Walther  von  der  Vogel- 
weide noch  vom  Meistergesang  und  Hans  Sachs  irgend  behaupten,  im  Gegen- 
teil; anderseits  sind  unter  III  sowohl  solche  Dichtungen  behandelt,  die  gerade 
rein  kirchlichen  Charakter  haben  (Passions-,  Oster-  und  Christspiele),  als  auch 
die  Minnesanger,  die  zum  Teil  absolut  nichts  mit  der  Religion  zu  thun 
haben,  z.  B.  der  Kürenberger,  Dietmar  von  Eist  u.  ä.  Nach  alledem  kann  ich 
es  für  keinen  wirklichen  Gewinn  betrachten,  wenn  von  den  sonst  üblichen  Ein- 
teilungen des  Stoffes  abgegangen  worden  ist-,  mir  erscheint  gerade  für  die  Ober- 
sekunda, in  der  man  auch  Sprachgeschichte  zu  treiben  hat,  die  Einteilung  nach 
dem  sprachlichen  Gesichtspunkt  am  zweckentsprechendsten:  in  den  Unterteilen 
müssen  sich  damit  natürlich  die  andern  Gesichtspunkte  mehrfach  kreuzen. 

Sehr  beherzigenswert  ist,  was  Wessel  (Vorwort  IV— V)  über  die  Lektüre 
der  mittelhochdeutschen  Dichtung  sagt:  auch  ich  glaube,  dafs  die  beste  Über- 
setzung das  Original  nie  ersetzen  kann,  dafs  ferner  die  Kenntnis  der  älteren 
deutschen  Sprache  das  deutsche  Empfinden  weckt  und  befestigt;  auch  mir 
würde  es  lieb  sein,  wenn  aufser  Nibelungenlied  und  Walther  auch  Gudrun  und 
der  arme  Heinrich  den  Obersekundanern  durch  eigene  Lektüre  bekannt  gemacht 
werden  könnte.  Diesem  Zwecke  soll  dienen 
F.  Wessel,  Mittelhochdeutsches  Lesebuch.    Gotha,  Perthes  1898. 

Die  Sammlung  bietet  in  494  Strophen  die  Haupthandlung  des  Nibelungen- 
liedes, in  150  Strophen  die  wirkungsvollsten  Stellen  aus  Gudrun  —  also  be- 
sonders die,  die  sich  auf  Gudruns  Person  beziehen  — ,  638  Verse  des  armen 
Heinrich,  und  von  Walther  10  Mai-  und  Minnelieder,  11  politische,  8  lehrhafte 
Sprüche,  7  Gedichte,  die  sich  auf  sein  Wanderleben  beziehen1),  und  4  geistlich- 
asketische. Niemand  wird  bezweifeln,  dafs  eine  derartige  vielseitige.  Lektüre 
für  die  Schüler  sehr  nutzbringend  sein  mufs,  und  ich  kann  behaupten,  dafs  die 
Auswahl  im  allgemeinen  richtig  und  zweckmäfsig  getroffen  ist;  jedem  sub- 
jektiven Wunsche  kann  Boich  ein  Buch  doch  nicht  gerecht  werden.  Eine 
andere  Frage  ist  freilich,  ob  nicht  viele  Kollegen  doch  lieber  auf  den  armen 
Heinrich  und  Gudrun  verzichten,  um  unser  grofses  Nationalepos  von  der 
Nibelunge  nöt  den  Schülern,  wenn  auch  nicht  ganz,  so  doch  mehr  im  ganzen 
und  als  Ganzes  vorzuführen;  viel  geht  natürlich  verloren,  wenn  nicht  ganz  ein 
Viertel  des  Epos  gelesen  wird;  z.  B.  können  die  Schüler  keinen  wirklichen 
Eindruck  von  der  dichterischen  Komposition  erhalten,  wenn  es  nicht  möglich 
ist,  an  der  Hand  eigener  Lektüre  mit  ihnen  von  der  kunstvollen  Gliederung 
des  Ganzen,  von  der  planvollen  Durchführung  gewisser  Charaktere,  z.  B.  Hagen, 
Kriemhild  zu  sprechen.    Doch  lafst  sich  durch  Erörterung  von  Für  und 


')  Vielleicht  könnten  noch  einige  Lieder  herangezogen  werden,  die  auf  seine  an- 
genehmen und  unangenehmen  Erfahrungen  in  Wien  hinweisen. 


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282 


P.  Vogel:  Hilfsbacher  für  den  deutschen  Unterricht 


Wider  in  dieser  Frage  nicht  zu  einem  abschließenden  Ergebnis  kommen;  es 
wird  eben  immer  von  den  einen  Lehrern  und  Schulen  dies,  von  den  andern 
jenes  Verfahren  bevorzugt  werden. 

Für  die  Amtsgenossen,  die  sich  für  eingehendere  Behandlung  de/  Geschichte 
der  deutschen  Sprache  im  Unterricht  erwärmen  können  und  sich  deshalb  für 
dieses  Gebiet  interessieren,  wird  vielleicht  willkommen  sein  der  Hinweis  auf  das 
mir  in  erster  Lieferung  vorliegende,  auf  sechs  Lieferungen  berechnete  Werk  von 

Bruno  Liebich,  Die  Wortfamilien  der  lebenden  hochdeutschen  Sprache  ab  Grundlage  für 
ein  System  der  Bedeutungslehre.    Breslau,  Preufs  und  Jünger  1898. 

Vorausgeschickt  wird  eine  ziemlich  weit  ausholende,  aber  sehr  klare  und 
interessante  Einleitung,  die  zur  Konstatierung  der  Thatsache  führt,  dafs  die 
Bedeutungslehre  'ein  richtiges  Neuland  ist,  dessen  Grenzen  wir  noch  nicht 
kennen  und  wo  jeder  für  seine  Persönlichkeit  freien  Spielraum  findet*.  Es 
fehlt  noch  durchaus  an  einem  System  der  Bedeutungslehre,  Bedürfnis  nach 
einem  solchen  ist  aber  vorhanden.  Die  richtige  Methode,  um  allmählich  zu 
einem  System  zu  gelangen,  ist  nach  Liebichs  Ansicht  die,  dafs  man  von  der 
Muttersprache  ausgeht  und  —  an  Stelle  des  Suchens  nach  den  Wurzeln  — 
eine  möglichst  vollständige  Aufzeichnung  der  Wortfamilien  (in  alphabetischer 
Reihenfolge)  versucht;  ist  dann  auf  dieser  Grundlage  eine  Bedeutungslehre  für 
das  Neuhochdeutsche  geschaffen,  so  sollen  in  derselben  Weise  andere  Einzel- 
sprachen  behandelt  und  damit  so  lange  fortgefahren  werden,  bis  man  'zunächst 
für  einen  ganzen  Sprachzweig  (z.  B.  den  germanischen),  sodann  für  einen 
ganzen  Sprachstamm  (z.  B.  den  indogermanischen),  endlich  für  alle  Sprachen 
durch  Ausscheiden  des  Besonderen  die  allgemein  gültigen  Gesetze*  auffindet. 

Zu  einem  grofsen  wissenschaftlichen  Gebäude  soll  also  durch  dieses  Buch 
ein  erster  Grundstein  geliefert  werden;  aber  auch  der  Grundstein  an  sich  dürfte 
in  mehr  als  einer  Beziehung  von  Nutzen  sein,  z.  B.  als  bequemes  Mittel  zur 
Orientierung.  Das  Buch  ist  gearbeitet  nach  Heynes  Wörterbuch,  ohne  dafs 
sich  jedoch  der  Verfasser  immer  an  dessen  Ansicht  bände;  auch  werden  — 
als  solche  bezeichnete  —  Worte  herangezogen,  die  sich  in  jenem  Lexikon 
nicht  finden.  Ich  würde  für  richtig  halten,  möglichst  alle  existierenden  Worte 
aufzuzeichnen,  vielleicht  auch  die  Mundarten  noch  mehr  zur  Geltung  kommen 
zu  lassen,  denn  je  vollständiger  das  Verzeichnis  ist,  eine  um  so  sichrere  Unter- 
lage stellt  es  dar  für  weitere  Untersuchungen;  so  würde  ich  S.  28  unter  75 
Armenarzt,  Schularzt,  Bezirksarzt,  Spezialarzt,  Assistenzarzt,  Militärarzt,  S.  34 
unter  116  Strafbank,  Gartenbank,  S.  37  unter  131  Zahnbürste,  S.  77  unter  311 
Gelegenheitsgedicht  u.  a.  m.  hinzufügen. 

Die  bisher  besprochenen  acht  Bücher  bezogen  sich  sämtlich  auf  den 

deutschen  Unterricht  der  Oberklassen;  es  sei  noch  kurz  auf  eine  Reihe  Schriften 

hingewiesen,  die  vorwiegend  den  Unter-  oder  Mittelklassen  dienen  sollen. 

H.  Heidelberg,  Elementargrammatik  der  deutschen  Sprache   für  höhere  ünterrichta- 
anstalten.    Berlin,  Weidmann  1898. 

Auch  über  die  Frage  (s.  oben  S.  277  Anm.  2),  ob  ein  derartiges  HiLfs 
buch  einzuführen  ist,  Bind  die  Ansichten  noch  sehr  geteilt,  wenigstens  in 


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P.  Vogel:  Hilfsbucher  für  den  deutschen  Unterricht  283 

Sachsen  kommen  viele  Anstalten  ohne  ein  solches  aus;  abgesehen  von  inneren 
Gründen  kommt  hier  auch  die  Rücksichtnahme  auf  den  Geldbeutel  der  Eltern 
und  das  Bestreben  in  Betracht,  den  Bücherwust  der  jungen  Leutchen  nicht 
noch  weiter  zu  vermehren.    Will  man  aber  den  Knaben  eine  Grammatik  in 
die  Hand  geben,  so  halte  ich  die  vorliegende  für  sehr  angemessen.    Sie  ver- 
schmäht das  Eingehen  auf  Quisquilien  und  vermeidet  es,  dem  Schüler  den 
Kopf  schwer  zu  machen  durch  Behandlung  aller  möglichen  kitzlichen  Fälle, 
über  die  manchmal  sogar  die  Lehrer  des  Deutschen  uneins  sind.  Anderseits 
reicht  das  kurzgefafste  und  dementsprechend  billige  Büchlein  auch  noch  für  die 
Bedürfnisse  des  Primaners  aus,  er  wird  sich  darin  bei  Zweifeln  in  formeller 
und  syntaktischer  Beziehung,  über  Rechtschreibung  und  Zeichensetzung  immer 
genügenden  Rat  holen  können.  An  folgenden  Stellen  würde  mir  eine  Ergänzung 
oder  Änderung  angebracht  erscheinen.  S.  12  fehlt:  'Die  Silbenbrechung  ist  zu 
vermeiden,  wenn  auf  der  einen  oder  andern  Zeile  nur  ein  Buchstabe  stehen 
würde';  S.  17  würde  ich  Pluralbildungen  wie  Jungens,  Mädels,  Kerls  (in  einer 
Elementargrammatik!)  nicht  als  zulässig  nennen;  S.  19  genügt  die  Haupt- 
regel Mas  Adjektiv  geht  nach  der  schwachen  Deklination  mit  davorstehendem 
Artikel  oder  Fürwort',  z.  B.  nicht  für  den  Fall:  du  Glücklicher,  dir  Glück- 
lichem (auch  Anm.  1  bringt  keine  Ergänzung!  —  Bessere  Fassung  der  Regel 
bei  Matthias,  kleiner  Wegweiser);  auch  fehlt  eine  Anweisung  für  den  Fall, 
dafs  zwei  Fürworte  zu  einem  Substantiv  treten,  z.  B.  nach  jenem  unsrem 
Kate,  mit  allem  eurem  Zureden  (mit  Anm.  3  zu  verbinden!);  —  S.  32 — 33 
werden  Verba  genannt,  die  zwischen  starker  und  schwacher  Flexion  schwanken: 
hier  fehlen  so  wichtige  Worte  wie  gären,  schwellen,  sieden,  —  'erloschen*  wird 
unter  die  gerechnet,  bei  denen  beide  Bildungen  ohne  Bedeutungsunterschied 
gebraucht  werden,  während  doch  hier  die  starken  Formen  intransitiv,  die 
schwachen  transitiv  sind.  Ferner  sind  'roch*  (von  rächen)  'schrob,  geschroben' 
(von  schrauben)  nur  noch  mundartlich  im  Gebrauch,  also  in  diesem  Buche  zu 
streichen;  —  S.  67  ist  ganz  unzureichend  die  Regel  über  die  Verkürzung  eines 
Objektsatzes  mit  'dafs'  zum  Infinitiv:  nach  derselben  würde  es  erlaubt  sein 
zu  schreiben  'ich  sage  es  genau  zu  wissen'  'der  Feldherr  meldete  den  Feind 
besiegt  zu  haben'  u.  a.  m.  (vgl.  Grammatik  von  Heyse-Lyon  S.  436);  —  S.  72  fehlt 
die  Anweisung,  dafs  auch  Konsekutivsätze  die  Verkürzung  zulassen,  z.  B.  ich 
bin  so  glücklich  ihn  zu  kennen.1) 
Gemeinsam  sind* zu  behandeln: 

F.  Kern,  Leitfaden  für  den  Anfangsunterricht  in  der  deutschen  Grammatik.  Zweite  Auflage. 
Berlin,  Nicolai  1898. 

O.  Lehmann  und  K.  Dorenwell,  Deutsches  Sprach-  und  Übungsbuch  für  die  unteren  und 
mittleren  Klassen  höherer  Schulen.  In  vier  Heften  (Sexta  bis  Untertertia).  Hannover- 
Berlin,  Carl  Heyer  (Prior)  1898. 

Beide  Veröffentlichungen  haben  den  grammatischen  Elementarunterricht 
zum  Gegenstand  (Kern  bis  Quinta,  Lehmann -Dorenwell  bis  Untertertia8)  ein- 

')  Druckfehler:  S.  41  steht  zweimal  Perf.  statt  Pens. 
*)  Mir  liegen  die  Hefte  für  Quinta  und  Quarta  vor. 


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281 


P.  Vogel:  Hilfsbücber  für  den  deutschen  Unterricht 


schliefslich),  beide  verfolgen  die  induktive  Methode;  beide  bringen  dem  Lehrer 
wertvolle  Ratschlage  und  Anregungen  über  das  bei  diesem  Unterricht  ein- 
zuschlagende Verfahren,  beide  —  insbesondere  Lehmann -Dören  well  —  eine 
Fülle  von  Übungsstoff.  Nun  scheinen  aber  beide,  ganz  sicher  wenigstens  das 
letztgenannte,  darauf  berechnet  zu  sein,  den  Schülern  in  die  Hände  gegeben 
zu  werden  (Lehmann  und  Dören  well  bieten  zahlreiche  Sätze,  in  denen  bedeut- 
same Lücken  von  den  Schülern  auszufüllen  sind):  gegen  eine  solche  Ver- 
wendung der  Hefte  mochte  ich  mich  entschieden  erklären.  Wird  ein  gram- 
matischer Leitfaden  gewünscht,  so  mochte  das  nur  ein  Buch  von  der  Art  des 
besprochenen  Heidelbergschen  sein,  welches  für  die  ganze  Schulzeit  ausreicht 
und  in  kurzer  Fassung  die  hauptsächlichsten  Regeln  und  Paradigmata  enthält: 
die  Gewinnung  der  Regeln  etwa  durch  heuristisches  Verfahren,  desgleichen  die 
Illustrierung  durch  Beispiele  ist  Sache  des  Lehrers.  Es  möchte  doch  den 
Schülern  die  Muttersprache  nicht  dadurch  verleidet  werden,  dafa  sie  —  wie  für 
Latein  und  Griechisch  —  für  jedes  Jahr  ein  neues  'deutsches  Übungsbuch' 
anzuschaffen  und  danach  Deutsch  zu  'lernen'  haben! 

In  dem  dritten  Heft  (Quarta)  von  Lehmann -Dören well  ist  mir  folgendes 
aufgefallen:  S.  15  G.  wird  die  besondere  Regel  aufgestellt:  'Geht  dem  Adjektiv 
ein  Genitiv  voraus,  so  biegt  es  stark'  (Auf  des  Meeres  tiefstem  Grunde);  der 
ganze  Abschnitt  kann  wegfallen,  denn  die  starke  Biegung  ergiebt  sich  einfach 
daraus,  dafs  das  Adjektiv  keinen  Artikel  vor  sich  hat;  —  S.  28:  das 
Praeteritum  ffrug'  dürfte  mindestens  für  diese  Klasse  nicht  als  möglich  ge- 
nannt werden;  so  lange  bei  einem  Verbum  starke  und  schwache  Bildung  noch 
in  einem  völlig  unentschiedenen  Kampfe  liegen,  mufs  die  Schule  das  ursprüng- 
lich Richtige  möglichst  zu  schützen  suchen;  hier  liegt  die  Sache  doch  so, 
dafs  ein  starkes  Partizip  'gerragen'  bisher  Überhaupt  noch  nicht  aufgetaucht 
ist;  —  S.  79:  ich  glaube,  Quartaner  könnten  schon  durch  einige  bestimmtere 
Regeln  darüber  aufgeklärt  werden,  wann  der  Objektsatz  durch  Infinitiv  ersetzt 
werden  darf. 

Heinrich  Schrohe,  Über  die  Verbindung  deR  deutlichen  und  lateinischen  Unterrichts  auf 
der  Unter-  und  Mittelstufe  des  Gymnasiums  II.  Teil. ')  Programm  des  Gymnasiums  zu 
Bensheim  1898. 

Dafs  eine  derartige  Verbindung  nötig  ist,  ist  klar;  in  der  fortgesetzten 
Gegeneinanderstellung  und  gleichsam  Reibung  der  fremden  Sprachbildung  mit 
unserer  eigenen  liegt  eine  treffliche  logische  Zucht.  Da§  im  deutschen  gram- 
matischen Unterricht  Behandelte  mufs  im  und  für  den  lateinischen  Unterriebt 
verwendet  werden,  sobald  das  Deutsche  passenden  Stoff  für  solch  ein  induk- 
tives Verfahren  bietet,  z.  B.  wenn  es  gilt,  gewisse  Begriöe  klar  zu  machen.  Ißt 
in  Quarta  deutsche  Satzlehre  getrieben  worden,  so  wird  der  dort  klar  gemachte 
Unterschied  von  Subjekts-  und  Objekts-,  von  Urteils-  und  Begehrun gssatzen, 
ebenso  des  Indikativs  und  Konjunktivs  in  Nebensätzen  sehr  trefflich  bei  dem 
Beginn  der  lateinischen  Satzlehre  in  Untertertia  zu  Grunde  gelegt  und  auf  die 
fremde  Sprache  übertragen  werden. 

')  Die  beiden  Tertien  behandelnd.   Teil  I  (Sexta  —  Quarta)  erscheint  später. 


I 


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P.  Vogel:  Hilfsbficher  för  den  deutschen  Unterricht  285 

Verhältnismäfsig  selten  aber  nützt  das  Deutsche  etwas  für  die  Erlernung 
des  lateinischen  Sprachgebrauchs,  der  lateinischen  'Regeln':  z.  B.  wann  nun 
im  Lateinischen  accusativus  cum  infinitivo,  ut  finale,  ut  consecutivum,  quod, 
quin,  ne  zu  wählen  ist,  lafst  sich  aus  dem  Deutschen  nicht,  oder  wenigstens 
nur  zu  einem  bescheidenen  Teile  ableiten. 

Nun  verlangt  der  Verfasser  nicht  etwa  nur,  dafs  man  bei  passender 
Gelegenheit  auf  der  deutschen  Grammatik  fufse  und  dafs  man  die  Sprachen 
fortdauernd  miteinander  vergleiche,  sondern  er  fordert  geradezu,  1)  dafs  der 
deutsche  grammatische  Unterricht  der  Quarta  den  Ausgangspunkt1)  für 
die  Belehrungen  biete,  die  in  den  Tertien  über  die  lateinische  Satzlehre  ge- 
geben werden;  2)  dafs  dieser  Behandlung  wiederum  eine  abschliefsende 
Betrachtung  der  deutschen  Satzlehre  folge. 

Der  gröfste  Teil  der  Abhandlung  ist  nun  dazu  bestimmt,  solche  — 
systematische!  —  Zusammenfassungen,  'die  nach  Abschlufs  der  einzelnen 
Kapitel  (s.  vorher  unter  2))  der  lateinischen  Grammatik  in  den  Tertien  vor- 
genommen wurden',  darzubieten.  Er  bringt  folgende  Kapitel:  1.  Tempora. 
II.  Indikativ  und  Konjunktiv.  III.  Die  unabhängigen  Urteils-,  Begehrungs- 
und Fragesätze.  IV.  Die  Nebensatze:  A.  Subjekts-  und  Objektssätze,  a.  Dafs- 
Sätze,  b.  indirekte  Rede,  c.  indirekte  Fragesätze;  B.  Adverbialsätze;  C.  Attribut- 
sätze.   V.  Der  Infinitiv. 

Dafs  ich  das  oben  unter  1)  aufgestellte  Verlangen  bis  zu  einer  gewissen 
Grenze  für  berechtigt  halte,  geht  aus  meinen  einleitenden  Bemerkungen 
hervor;  der  Forderung  unter  2)  mufs  ich  aber  entschieden  widersprechen, 
mindestens  wenn  die  abschliefsende  Betrachtung  so  ausgedehnte  und 
schwierige  systematische  Zusammenfassungen  ergiebt,  wie  sie  Schrohe  uns 
vorführt.  Schrohe  hat  'keinen  Augenblick  gezögert',  lateinische  Stunden 
hierzu  zu  verwenden:  nun  wenn  diese  Betrachtungen  so  in  extenso  vor- 
genommen werden,  wie  Verf.  es  darstellt,  und  so  gründlich,  dafs  die  Schüler 
solche  grammatische  Ausarbeitungen  fertigen  können,  wie  sie,  wörtlich  aus 
Schülerheften  entnommen,  als  'Beilagen'  angefügt  werden,  —  dann  wird  ein 
schönes  Quantum  lateinischer  Lektionen  in  Anspruch  genommen!  Ich  behaupte 
nicht,  dafs  das  verlorene  Zeit  ist,  aber  für  die  Erlernung  der  Regeln  der 
lateinischen  Sprache  wird  verhältnismäfsig  wenig  dadurch  gewonnen;  und 
das  ist  doch  für  die  Tertien  die  Hauptsache;  tiefer  in  das  Wesen  der  Syntax 
einzudringen,  dazu  bieten  Repetitionen  in  den  obern  Klassen  passende  Gelegen- 
heit. Für  Tertianer  halte  ich  diese  Sachen  für  zu  hoch,  auch  hat  dieses  Alter 
für  solche  abstrakte  Besprechungen  noch  kaum  Interesse. 

Kann  ich  somit  dem  Verf.  nicht  in  allem  folgen,  so  habe  ich  doch  die 
klare  und  lehrreiche  Abhandlung  mit  grofsem  Genüsse  gelesen,  und  jeder 
wird  wie  ich  vielfache  Anregung  daraus  ziehen;  für  den  Lehrer  sind  solche 
Zusammenstellungen  eine  ausserordentlich  nützliche  Vorbereitung  auf  seinen 
Unterricht. 


')  Ohne  jede  Einschränkung! 


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28G 


P.  Vogel:  Hilfsbücher  für  den  deutschen  Unterricht 


Last  not  least  sei  kurz  Erwähnung  gethan  des  liebenswürdigen  Büch- 
leins von 

Oskar  Dähnhardt,  Naturgeschichtliche  Volksmärchen  aus  Nah  und  Fern.  Leipzig, 
Teubner  1898. 

Wenn  ich  mich  hier  kurz  fasse,  so  ist  dies  alles  andere  als  Gering- 
schätzung: ich  kann  mich  nur  nicht  entschliefsen,  im  wesentlichen  das  hier  zu 
wiederholen,  was  vor  kurzem  in  einer  eingehenden,  mir  sehr  treffend  erscheinen- 
den Besprechung  in  der  '  Zeitschrift  für  den  deutschen  Unterricht'  über  das 
Buch  und  über  Dähnhardts  Verdienste  um  die  Erforschung  des  deutschen 
Volkstums  gesagt  worden  ist.  Ich  möchte  aber  zwei  Kategorien  von  Amts- 
genossen diese  Märchen  noch  ganz  besonders  zu  gelegentlicher  Benutzung 
empfehlen.  Die  naturwissenschaftlichen  Lehrer  der  Unterklassen  werden 
gut  thun,  öfter  einmal  solch  eine  kleine  Geschichte  ihrer  Besprechung  zu 
Grunde  zu  legen  oder  anzufügen:  die  Märchen  zeigen,  wie  scharf  das  Volk  die 
Natur  beobachtet  und  wie  liebevoll  es  darüber  nachgedacht  hat,  und  das  ist 
es  doch,  was  auch  die  Schüler  zuerst  lernen  sollen.  Und  es  kommt  damit  ein 
belebendes  Element  in  den  Unterricht  hinein:  mit  der  sinnig  poetischen  Er- 
klärung der  Märchen  läfst  sich  gar  leicht  die  wissenschaftliche  Darstellung 
verbinden.  Ebenso  werden  die  Religionslehrer  für  die  gleichen  Altersstufen 
mit  Erfolg  einige  solche  Märchen  vorlesen:  dieselben  zeigen  aufs  eindringlichste, 
wie  tief  der  Glaube  an  Gott,  der  Glaube  an  das  Wirken  Gottes  in  den  kleinsten 
Kleinigkeiten  im  Volke  haftet.  Und  das  ist  in  unserer  glaubensarmen  Zeit  ein 
bedeutender  Gewinn. 


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DIE  KUNSTGESTALTUNG  DES  BUCHES  fflOB1) 

Von  Julius  Lev 

In  meiner  letzten  Abhandlung  in  dieser  Zeitschrift  (Jahrg.  1896  S.  125  ff.) 
hatte  ich  mir  die  Aufgabe  gestellt,  den  Kern  und  den  Zweck  des  Buches  Hiob 
darzulegen.  In  der  vorliegenden  Abhandlung  sei  es  mir  gestattet,  auf  die 
dichterische  Kunst  des  Buches,  die  wohl  einzig  in  ihrer  Art  sein  dürfte,  naher 
einzugehen. 

Zur  richtigen  Beurteilung  des  Kunstwerkes  ist  es  nötig,  den  stofflichen 
Gehalt,  auf  welchen  die  Dichtung  sich  aufbaute,  von  dieser  selbst  zu  unter- 
scheiden. Der  stoffliche  Gehalt  war  dem  Dichter  durch  die  alte  Sage  von 
Hiob  gegeben.  Von  diesem  Manne  berichtete  sie,  dafs  er  lange  Zeit  durch 
Frömmigkeit  und  Tugend  vor  allen  seinen  Zeitgenossen  hervorgeragt  und  zu- 
gleich auch  in  ungetrübtem  Glücke,  im  Reichtum  und  Kindersegen  gelebt 
habe,  plötzlich  aber  durch  hereinbrechende  Unglücksfälle  und  schreckliches 
Körperleiden  in  das  äufserste  Elend  geraten  sei,  dafs  er  jedoch,  durch  Geduld 
und  Ergebung  in  den  Willen  Gottes  wiedergenesen,  noch  grölseres  Glück  und 
reicheren  Segen  als  früher  wiedererlangt  habe.  Diese  Sage  war  allgemein  im 
Volke  bekannt.  Der  Prophet  Ezechiel,  welcher  noch  vor  der  Zerstörung 
Jerusalems  (586  v.  Chr.)  weissagte,  nennt  Hiob  (C.  14,  14.  20)  neben  Noah 
und  Daniel,  welche  in  schweren  Prüfungen  sich  bewahrt  hatten.  Der  Inhalt 
dieser  Sage  ist  im  wesentlichen  aus  C.  1  und  2,  V.  1 — 10  und  aus  C.  42, 
V.  10 — 17  zu  entnehmen.  Aber  der  rohe  Stoff  der  Sage  erscheint  bereits  in 
einer  dichterischen  Bearbeitung.  Zunächst  äufserlich  wird  der  Schauplatz  auf 
fremdes  Gebiet  aufserhalb  Palastinas  und  in  die  uralte  Zeit  der  Patriarchen 
verlegt,  wodurch  dem  Dichter,  wie  bereits  früher  ('Problem'  S.  141)  bemerkt 
worden  ist,  die  freieste  Entwickelung  seiner  poetischen  Schöpfung  ermöglicht 
wurde.  Die  dichterische  Bearbeitung  zeigt  sich  ferner  in  der  symmetrischen 
Zahlenangabe  der  Kinder  und  des  Besitzes:  7  Söhne  und  3  Töchter  —  7000  Schafe 
und  3000  Kamele,  ebenso  sich  entsprechend:  500  Jochrinder  und  500  Eselinnen. 
In  ähnlicher  Weise  wechseln  symmetrisch  die  über  Hiob  hereinbrechenden  Un- 
glücksfälle ab:  auf  den  räuberischen  Uberfall  der  Sabäer  folgt  das  elementare 
Feuer  des  Blitzes  und  auf  den  Einbruch  der  Chaldäer  der  verheerende  Sturm 

•)  Diese  Abhandlung  gehört  eigentlich  nicht  in  die  Pädagogik.  Aber  dem  ehrwürdigen 
Verfasser,  der  fast  seit  fünfzig  Jahren  schätzbare  Beiträge  für  die  zweite  Abteilung  der 
Jahrbücher  geliefert  hat,  haben  wir  gern  auch  bei  der  neuen  Einrichtung  unserer  Zeit- 
schrift an  der  altgewohnten  Stelle  einen  Platz  eingeräumt.    Die  Redaktion. 


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J.  Ley:  Die  KunstgeBtaltung  des  Baches  Hiob 


aus  der  Wüste,  so  dafs  menschliche  und  elementare  Gewalten  der  Zerstörung 
in  gleicher  Reihe  miteinander  abwechseln.  Dafs  alle  diese  Unglücksfälle, 
welche  den  gesamten  Besitz  und  samtliche  Kinder  hin  wegraffen,  an  einem  Tage 
eintreffen,  und  dafs  immer  nur  ein  Unglücksbote  übrig  bleibt,  läfst  ebenfalls 
das  Streben  nach  Symmetrie,  selbst  auf  Kosten  der  Wahrscheinlichkeit,  erkennen. 
Auch  die  Gastmahle  im  regelmäfsigen  Kreise  der  7  Söhne  und  die  Brandopfer 
in  gleicher  Zahl,  wie  die  3  Freunde,  die  7  Tage  und  7  Nächte  zur  Erde 
sitzen,  zeigen  ebenfalls  Neigung  zur  Symmetrie  der  Zahlen.  Kunstvoller  schon 
ist  die  Steigerung  in  den  sich  fortsetzenden  Unglücksfällen  und  Verlusten, 
welche  mit  dem  schlimmsten,  dem  Tode  der  Söhne  und  Töchter,  schliefen. 
Der  ruhige  und  gleichmäfsige  Gang  der  Erzählung,  die  sich  wiederholenden 
Redewendungen  und  Ausdrücke  in  C.  1  und  2,  V.  1 — 10  erinnern  überhaupt 
an  dichterisch  epische  Darstellungsweise.  Doch  sind  dieses  nur  äufserliche 
Kunstmittel;  aber  auch  diese  schon  lassen  keinen  Zweifel  an  der  Echtheit  des 
Prologs  aufkommen. 

Eine  wahrhaft  dichterische  Erfindung  ist  die  Eröffnung  der  Himmelsscene, 
in  welcher  die  Engel  und  Satan  zugleich  vor  Jahve  erscheinen.  Hierdurch 
werden  die  Ereignisse  auf  Erden  mit  den  himmlischen  Vorgängen  in  Verbindung 
gebracht  und  auf  einen  höheren  Standpunkt  erhoben.  Ein  Ahnliches  hat  ja 
auch  Homer,  aber  von  einer  Entlehnung  kann  ja  keine  Rede  sein.  Dagegen 
hat  bekanntlich  Goethe  im  Prolog  des  Faust  dieses  Kunstmittel  aus  Hiob  ent- 
lehnt. Hierdurch  wird  zugleich  das  Interesse  des  Lesers  für  den  nachfolgenden 
Kampf  in  den  Streitreden  Hiobs  mit  seinen  Freunden  um  so  gespannter,  als  er 
einerseits  über  Hiobs  Unschuld  durch  Jahves  eigene  Worte,  dafs  keiner  an 
Frömmigkeit  ihm  auf  Erden  gleichkomme,  aufgeklärt  ist  und  auf  dessen  Seite 
stehen  mufs,  anderseits  aber  auch  den  Reden  der  Freunde,  welche  aus  Gründen 
ihrer  religiösen  Überzeugung  sprechen,  die  Anerkennung  nicht  wird  versagen 
können.    Die  dramatische  Anlage  ist  auch  hieran  zu  erkennen. 

Nach  der  Sage  hatte  sich  Hiobs  Frömmigkeit  in  den  ihm  auferlegten 
Prüfungen  bewährt:  'Bei  alledem  sündigte  Hiob  nicht  mit  den  Lippen',  auch 
nicht  mit  einem  Worte  des  Vorwurfs  gegen  Gott;  Satans  Verdächtigungen 
waren  widerlegt.  Mit  diesen  Textesworten  C.  2,  10  schlössen  nach  der  Sage 
Hiobs  Prüfungen  ab.  Hieran  schloß»  sich  nach  dem  Inhalt:  'Und  Jahve  wandte 
Hiobs  Mif8geschick,  als  er  wegen  seines  Unglücks1)  betete,  und  Jahve  gab 
ihm  alles,  was  er  besessen  hatte,  doppelt  wieder*  (c.  42,  10).  Er  wurde  von 
seiner  Krankheit  geheilt,  von  seinen  Verwandten  und  Bekannten  besucht,  ge- 


')  Es  mufs  in  V.  10  ins^  Tf3  (vgl.  V.  11)  gelesen  werden,  worauf  auch  die  defektive 
Schreibweise  hinweist.  Doch  ist  die  falsche  Lesart  schon  sehr  alt,  wie  sich  ans  der  LXX 
ergiebt,  und  kann  möglicherweise  vom  Dichter  selbst  herrühren,  von  welchem  auch 
C.  42,  7—9  (ebenso  wie  C.  2,  11—13)  hinzugefügt  worden  ist,  um  die  Erzählung  der  Sage 
äufserlich  wenigstens  mit  seiner  Dichtung  in  Einklang  zu  bringen.  Schon  an  Bich  erscheint 
es  kaum  denkbar,  dafs  Hiob,  während  er  noch  selbst  sich  im  aufsersten  Elend  befand  — 
denn  von  seiner  Heilung  ist  bisher  noch  keine  Rede  gewesen  —  für  seine  gegnerischen 
Freunde  eher  als  für  sich  selbst  gebetet  haben  sollte. 


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J.  Ley:  Die  KmiHtgestaltung  des  Buches  Hiob 


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tröstet  und  beschenkt,  sein  Herdenreichtum  verdoppelte  sich;  er  erfreute  sich 
eines  neuen  Eindersegens  bis  ins  vierte  Geschlecht  und  lebte  noch  140  Jahre 
(C.  42,  11 — 17).  Hiermit  war  der  Sagenkreis  über  Hiob  abgeschlossen,  welcher 
auch  zu  der  traditionellen  Anschauung  stimmte,  dais  Hiob  in  Geduld,  Ergebung 
und  Gebet  seine  Frömmigkeit  bewährt  habe  (vgl.  Jacob.  5,  11)  und  mit  einem 
noch  gröfseren  Glücksstande  belohnt  worden  sei.  Weitergehende  Prüfungen 
lagen  der  Sage  fern,  da  Satan  selbst  keine  Verdächtigungsgründe  vorzubringen 
hatte  und  dessen  auch  nicht  ferner  im  ganzen  Buche  erwähnt  wird. 

Die  Ankunft  der  drei  Freunde  (C.  2,  11  ff.)  kann  nicht  mehr  zur  Sage  ge- 
hören; denn  sie  konnte  von  Satan  weder  veranlafst,  noch  gewünscht  worden 
sein.1)  Die  Freunde  kamen  in  bester  Absicht,  um  Hiob  ihr  Beileid  zu  be- 
zeugen und  ihn  zu  trösten.  Nach  der  Sage  kommen  die  Freunde  erst  nach 
seiner  Wiedergenesung.  Die  Ankunft  der  Freunde  ist  des  Dichters  eigene 
Erfindung  und  ein  besonderes  Kunstmittel.  Diesem  konnte  in  seiner  weit  fort- 
geschritteneren Zeit  die  einfache  Lösung  für  menschliche  Prüfungen,  wie  sie 
die  Sage  bietet,  nicht  mehr  genügen;  sie  entsprach  auch  nicht  mehr  den  viel- 
fachen Erfahrungen  einer  späteren  Zeit,  nach  welchen  oft  die  Frommen  im 
Elend  untergehen,  während  die  Gottlosen  sich  im  Wohlleben  befinden.  Er 
suchte  daher  eine  tiefere  Lösung  welche  auch  für  seinen  fortgeschritteneren 
Standpunkt  ausreichte.  Der  Sagenstoff  gestaltete  sich  in  seiner  schöpferischen 
Phantasie  zu  einer  vollständigen  Dichtung.  Die  erdichtete  Ankunft  tröstender 
Freunde  war  ja  ganz  den  Verhältnissen  angemessen;  aber  der  Dichter  liefs  zu- 
gleich hervorragende  Männer  von  eigentümlichem  Charakter  und  verschiedener 
Sinnesart  erscheinen,  durch  welche  es  ihm  möglich  wurde,  reichere  und  tiefere 
Gedankenreihen  zu  entwickeln.  Die  Frage  über  Hiobs  persönliches  Schicksal 
erweiterte  sich  ihm  zu  einer  allgemeinen  über  die  Gerechtigkeit  Gottes  in  der 
Leitung  der  menschlichen  Schicksale,  und  in  welchem  Verhältnisse  das  Glück 
oder  Unglück  der  Menschen  zu  ihrem  sittlichen  und  religiösen  Wandel  stehen. 
So  gestaltete  sich  das  Ganze  zu  einer  psychologisch  dramatischen  Dichtung, 
in  welcher  die  fortschreitende  Gedankenentwickelung  mit  den  wechselnden 
Seelenstimmungen  der  sich  bekämpfenden  Personen  zum  Ausdruck  gelangen 
konnte. 

Der  Dichter  motivierte  die  Ankunft  der  drei  Freunde  mit  der  Absicht, 
dafc  sie  ihn  trösten  wollten.  Aber  hierzu  liefs  er  es  gar  nicht  kommen;  sieben 
Tage  safsen  sie  um  ihn  mit  allen  Zeichen  der  Trauer,  ohne  ein  Wort  des 
Trostes  oder  der  Teilnahme  zu  sprechen.  Das  Entsetzliche  war  ihnen  un- 
begreiflich; die  Gedanken,  welche  sich  ihnen  aufdrängten,  wagten  sie  nicht 
auszusprechen;  sie  würden  den  Leidenden  nur  verletzt  haben.  Aber  dieses  un- 
heimliche Schweigen,  dieses  Versagen  jedes  Zuspruchs  der  nächsten  Freunde 


')  Auch  Budde  (das  Buch  Hiob  übersetzt  und  erklart.  Göttingen  1896)  ist  der  gleichen 
>  Ansicht.   Doch  fehlt  bei  ihm  wie  bei  den  anderen  Exegeten  eine  klare  Scheidung  des 

Sagenstoffes  von  der  eigentlichen  Dichtung,  wodurch  allein  viele  Schwierigkeiten  beseitigt 
werden.  Die  falsche  Vokalisation  des  einen  Wortes  in  C.  42,  10  (s.  oben)  war  das  Hindernis. 

N.u.  Jahrbücher.   1899.   U  19 


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J.  Ley:  Die  Kunstgestaltung  des  Buches  Hiob 


verwundete  seine  Seele  auf«  tiefste  und  brachte  ihn  ganz  in  Verzweiflung.  So 
brach  er  denn  endlich  selbst  das  Schweigen,  indem  er  in  Verwünschungen 
seines  eigenen  Daseins  und  in  Klagen  wegen  der  Unglücklichen,  die  sich  ver- 
gebens nach  dem  Tode  sehnen,  ausbrach.  Hierdurch  sahen  sich  auch  die 
Freunde  zum  Sprechen  genötigt.  Die  Anknüpfung  zum  Redekampf  und  zum 
eigentlichen  Drama  war  gegeben. 

Schon  diese  aus  Verzweiflung  hervorbrechende  Klage  ist  kunstvoll  ge- 
gliedert. Sie  beginnt  mit  den  heftigsten  Verwünschungen  gegen  den  Tag  und 
die  Nacht,  die  ihn  ins  Dasein  gebracht.  Nur  gegen  die  scheinbare  und  äufsere 
Ursache  seines  Daseins  ist  seine  Verwünschung  gerichtet.  Es  ist  dieses  psy- 
chologisch begründet.  Der  leidenschaftlich  Erregte  wendet  sich  zunächst  stets 
gegen  die  aufserliche  oder  unmittelbare  Ursache  des  Unglücks;  vgl  Jerem. 
20,  14 — 18.  Horat.  Oden  II.  13.  Aber  auch  als  Hiob,  durch  das  Ausstofsen 
der  ungeheuerlichen  Verwünschungen  gleichsam  erleichtert  und  erschöpft,  in 
einen  ruhigeren  Ton  der  Klage  übergeht  und  sich  gegen  den  wirklichen 
Urheber  seines  Daseins  wendet,  geschieht  dieses  mit  einer  gewissen  Scheu. 
Der  Name  Gottes  wird  nicht  genannt.  Die  Frage,  ob  mit  Recht  und  nach 
Verdienst  die  Leiden  über  ihn  gekommen  seien,  wird  gar  nicht  berührt.  Ein 
Zweifel  an  Gottes  Gerechtigkeit  liegt  ihm  bei  seiner  tiefen  Frömmigkeit  noch 
fern.  Aber  es  ist  doch  nicht  mehr  der  Hiob  der  Sage,  welcher  in  den  schwersten 
Leiden  in  Demut  und  Ergebung  betet,  es  ist  der  Hiob  des  Dichters,  der  sich 
aus  den  Banden  altväterlichen  Glaubens  zu  lösen  beginnt  und  die  demselben 
widerstrebenden  Gedanken  und  Wünsche  nicht  mehr  niederhält.  Mit  den  Ver- 
wünschungen seines  Daseins  und  den  Klagen  über  dessen  Urheber  ist  er  auf 
eine  schiefe  Bahn  geraten  und  von  dem  früheren  festen  Glaubensstandpunkte 
gewichen,  als  er  seinem  Weibe  gegenüber  sprach:  'Das  Gute  nehmen  wir  von 
Gott  an,  und  das  Schlimme  sollten  wir  nicht  annehmen?'  Jetzt  will  er  weder 
Gutes  noch  Schlimmes  empfangen  haben;  er  wünscht,  ins  Dasein  überhaupt 
nicht  gerufen  worden  zu  sein.  Aber  dieser  Wunsch  verträgt  sich  nicht  mit 
einer  Ergebung  in  Gottes  Willen,  dessen  Geschicke  der  Fromme  vertrauensvoll 
ertragen  müfste.  Dieses  giebt  den  Freunden  Anlafs  zum  Tadel  und  zum  Be- 
ginn des  Streites. 

Kunstvoll  in  diesem  Monolog  Hiobs  ist  sowohl  der  allmähliche  Übergang 
von  dem  Ausbruch  der  Verzweiflung  (V.  3 — 10)  in  den  milderen  Ton  der  Klage, 
zuerst  mit  unerfüllbaren  Wünschen  (V.  11  —  19),  zuletzt  mit  erfüllbaren  (V.  20 
— 26),  als  auch  die  Art  und  Weise,  wie  er  von  seiner  leidenschaftlichen  Er- 
regtheit unversehens  und  fast  gegen  seinen  Willen  von  seinem  bisherigen 
frommen  Standpunkt  sich  fortreifsen  läfst. 

Der  weitere  Gang  der  kunstvollen  Gedankenentwickelung  in  den  Rede- 
kämpfen, in  welchen  zuerst  in  dem  ersten  Redewechsel  die  Freunde  mit  sieg- 
reichen Gründen  die  Oberhand  gewinnen,  Hiob  dagegen  in  vergeblicher  Abwehr 
immer  mehr  von  seinem  früheren  Standpunkte  der  Frömmigkeit  abgedrängt 
wird  und  der  Verzweiflung  fast  unterliegt,  dann  aber  inmitten  des  zweiten 
Redewechsels  aus  innerer  Kraft  zu  einem  festen  Glauben  sich  erhebt  und  von 


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einem  höheren  Standpunkte  die  Angriffe  der  Freunde  widerlegt1)  und  im  dritten 
Redewechsel  sie  zum  Schweigen  bringt  und  schliefslich  zum  Erweis  seiner  Un- 
schuld seinen  frommen  und  von  Gott  begnadeten  Lebenswandel  zu  seinen  jetzigen 
übermäfsigen  Leiden  in  Gegensatz  stellt  und  von  Gott  ein  Rechtsverfahren  zu 
seiner  Verteidigung  verlangt,  die  Ausführung  dieses  so  kunstvoll  sich  ent- 
wickelnden psychologischen  Dramas  in  seinen  Einzelheiten  kann  schon  der 
Raumbeschränkung  wegen  hier  nicht  weiter  dargelegt  werden.  Auch  sind  die 
Umrisse  desselben  in  dem  'Problem  des  Buches  Hiob'  gezeichnet  worden.1)  Nur 
die  kunstmäfsige  Weise,  wie  die  theoretischen  Fragen  eine  dichterische  Ge- 
staltung in  anschaulichen  Bildern  erhalten  haben  und  die  gesellschaftlichen 
Zustände  der  Zeit,  die  Volkssagen,  die  geschichtlichen  Ereignisse,  die  Anschau- 
ungen von  den  Naturerscheinungen  erkennen  lassen,  so  dafs  sie  uns  gewisser- 
maßen ein  Weltbild  jener  Zeit  gewahren,  mag  hier  noch  in  einigen  Zügen 
dargelegt  werden. 

In  den  gesellschaftlichen  Zustanden  erscheint  das  alte  patriarchalische  Re- 
giment trotz  der  monarchischen  Spitze  in  voller  Geltung,  wie  dieses  ja  nach 
den  Berichten  der  Bücher  Esra  und  Nehemia  selbst  nach  der  Rückkehr 
aus  dem  babylonischen  Exil  geblieben  war.  Hiob  selbst  erscheint  als  ein 
hochangesehener  Stammesältester,  ein  Berater  und  Wohlthäter  seiner  Unter- 
gebenen, welche  ihn  dankar  verehren  und  segnen  (C.  29,  8 — 25).  Daneben 
treten  auch  gewaltthätige  Herren  uns  entgegen,  welche  ihre  Unterthanen  hart 
bedrücken  (22,  6 — 9;  24,  2 — 4),  und  neben  den  hochmütigen,  in  allem  Über- 
flufs  schwelgenden  Reichen  (21,  8 — 12)  sehen  wir  die  in  die  Wüste  Hinaus- 
gestofsenen,  welche  unter  Gesträuchen  übernachten  und  zum  Schutze  vor  Un- 
wetter an  den  Fels  sich  schmiegen;  daneben  auch  den  Tagelöhner,  der,  von  der 
Arbeitslast  und  der  Hitze  des  Tages  erschöpft,  nach  dem  Abendschatten  sich 
sehnt.  Die  Mühen  und  Gefahren  des  Bergmannes,  der  aus  der  Tiefe  verborgene 
Schätze  ans  Licht  bringt,  werden  ausführlich  geschildert  (28,  1 — 10)  und  lassen 
zugleich  die  in  Kunstfertigkeiten  fortgeschrittene  Zeit  erkennen. 

Die  Sagen  der  Vorzeit  werden  berührt,  so  namentlich  die  von  der  Sintflut, 
für  welche  dem  Dichter  Berichte  vorgelegen  zu  haben  scheinen,  die  uns  un- 
bekannt geblieben  sind  (22,  15 — 18).  Tief  ergriffen  zeigt  sich  der  Dichter  von 
der  traurigen  Lage  und  den  Bedrängnissen  des  eigenen  Volkes.  Die  Dichtung 
ist,  wie  wir  anderwärts  nachgewiesen  haben*),  zur  Zeit  der  Regierung  des 
Königs  Zedeqia  (597 — 586  v.  Chr.)  abgefafst  worden,  als  Nebukhadnezar 
Jerusalem  erobert,  den  Tempel  ausgeplündert,  den  König  Jojakhin  mit  seinem 
ganzen  Hofe,  die  Vornehmen,  Priester,  Handwerker  und  an  7000  (10000)  der 
Wehrhaftesten  in  die  Gefangenschaft  fortgeführt  und  Zedeqia  zum  König  ein- 
gesetzt hatte.  In  den  Klagen  Hiobs  über  das  eigene  Leid  tönen  die  des  ganzen 
Volkes  wieder  über  die  Gewalttätigkeit  des  Eroberers,  in  dessen  Hand  das 
Land  gegeben  war  (9,  24;  17,  5 — 9),  über  die  Fortführung  der  gefesselten 
Königsfamilie  und  der  ihres  Ornats  entkleideten  Priester  und  Ratsherren,  was 

')  Buddes  Einwendungen  (S.  XXV11.  XXXI)  finden  am  Schlüsse  ihre  Erledigung. 
*)  Die  Abfassuugszeit  des  Buches  Hiob  in  den  Theol.  Stud  u.  Krit.  1898  S.  69  ff. 

19* 


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er  mit  eigenen  Augen  hatte  ansehen  müssen  (12,  17—19.  24.  25;  13,  1).  In 
Hiob  verkörpern  sich  die  Drangsale  des  ganzen  Volkes,  die  Belagerung  und 
Erstürmung  der  Stadt  und  des  Tempels:  'Entbrennen  liefs  er  wider  mich  seinen 
Zorn  und  sah  mich  an,  als  ob  ich  zu  seinen  Feinden  gehörte;  allsamt  rücken 
seine  Scharen  an  und  lagern  rings  um  mein  Zelt1)  (19,  11.  12).  Er  stürmt 
auf  mich  ein,  Rifs  (folgt)  auf  Rifs,  wie  ein  Kriegsheld  stürzt  er  gegen  mich 
(16,  14).  Zur  Beute  läfst  er  die  Freunde  fortwandern '),  während  die  Augen 
der  (rerlassenen)  Kinder  verschmachten:  Und  so  hat  er  mich  zum  Sprichwort 
für  alle  Welt  hingestellt*  (17,  5.  6).  —  In  diesen  Worten  drückt  sich  seine 
Klage  und  sein  Zorn  über  des  Volkes  Unterdrücker  aus,  der  die  Gefangenen  in 
entfernte  Gegenden  fortführte  und  am  Flusse  Kebar  ansiedelte  (Ezech.  3,  15). 
Auch  die  Angriffe  der  Freunde  gegen  Hiob  gehen  oft  in  versteckte  Ver- 
wünschungen gegen  den  verhafsten  Eroberer  über.  So  kündigt  Eliphas  diesem 
innere  Gewissensqualen  und  äufsere  Bedrängnisse  an  (15, 19—24):  'Denn  gegen 
Gott  streckte  er  seine  Hand  aus  und  wider  den  Allmächtigen  erhob  er  sich 
trotzig.  Er  rannte  wider  ihn  mit  trotzigem  Halse  unter  der  Wölbung  seiner 
Schilde  Buckel,*  —  was  sich  nur  auf  des  Eroberers  Eindringen  in  den  Tempel 
Jahves  und  auf  die  Beraubung  seiner  Schätze  und  Heiligtümer  beziehen  kann 
(II  Reg.  24,  13).  Auch  Bildads  Rede  (18,  5 — 21)  läfst  den  Hais  gegen  den 
Nationalfeind  in  den  Verwünschungen  erkennen,  ebenso  Zophar  (20,  19 — 29), 
alle  jedoch  im  natürlichen  Zusammenhange  der  Rede,  so  dafs  sie  auch  auf  Hiob 
bezogen  werden  konnten,  aber  den  Volks-  und  Leidensgenossen  nach  ihrem 
Sinne  verständlich.  Die  geschichtlichen  Ereignisse  der  Zeit  und  die  Seelen- 
stimmung des  Volkes  werden  uns  hiermit  erkennbar. 

Ganz  besonders  verwebt  sich  mit  der  Dichtung  die  Schilderung  vielfacher  Er- 
scheinungen in  der  Natur.  Treffend  vergleicht  Hiob  die  wandelbare  Treue  seiner 
Freunde  mit  der  Steppe,  welche  im  Frühling  nach  der  Schneeschmelze  reich  be- 
wässert im  üppigen  Graswuchs  prangt,  zur  Sommerszeit  aber  zur  ausgedörrten 
Wüste  wird  und  die  die  Hoffnungen  der  Karawanen  zu  ihrem  Verderben  täuscht 
(6,  16 — 20).  Die  Erde  läfst  der  Dichter  als  ein  Werk  Gottes  vor  unseren  Augen 
entstehen,  wie  er  ihre  Mafse  bestimmt,  die  Mefeschnur  ausspannt  und  die  Eck 
steine  legt;  sie  entsteht  unter  dem  Jubel  der  Morgensterne  und  dem  Jauchzen 
der  Himmelssöhne  (38,  4 — 7),  auf  festen  Grundsäulen  schwebt  sie  frei  im  Äther 
(26,  7).  Auch  das  Meer  sehen  wir  im  Entstehen,  wie  es  als  ein  Riesenkind  aus 
dem  Schofse  der  Erde  hervorbricht,  Wolken  und  Nebel  als  Wickel  und  Gewand 
erhält,  aber  in  Zucht  und  Schranken  gehalten  wird:  Bis  dahin  darfst  du  kommen 
und  nicht  weiter,  hier  haben  deine  stolzen  Wellen  ein  Ende  (38,  8—11).  Das 
Himmelsgewölbe  erstrahlt  bald  durchsichtig  im  Goldglanze  von  Norden  her 
(37,  21.  22),  bald  wird  es  von  dunklen  Wolken  bedeckt,  die  mit  Regen  die 
Erde  überschütten;  der  Sturmwind  treibt  sie  umher,  dafe  sie  nach  seinem  Rat- 
schlüsse ausführen,  was  er  befiehlt,  sei  es  zum  Segen,  sei  es  zum  Verderben 

')  Mit  dem  'Zelt'  ist  wohl  der  Tempel  gemeint.    Da  der  Feind  im  Lande  war,  durften 
die  Klagen  nicht  offen  ausgesprochen  werden;  nur  symbolisch  konnte  man  ea  wagen. 
•)  Vgl.  die  Abfasaungraeit  S.  66  Note  1. 


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J.  Ley:  Die  Kunstgestaltung  des  Buches  Hiob 

(5,  10;  12,  15;  36,  27.  28;  37,  12.  13;  38,  26.  27).  Alle  Elemente:  das  Licht, 
die  Wolken,  der  Regen,  Schnee,  Hagel  und  Frost  entstehen,  kommen  und  gehen 
auf  Gottes  Befehl  und  erscheinen  stets  in  Bewegung  (9,  9;  37,  37.  28.  32;  38, 
31.  32);  die  Morgenrote,  welche  die  Erde  mit  strahlendem  Lichte  erweckt  und 
die  Diebesbanden  von  ihrem  nächtlichen  Treiben  verscheucht  (38,  12—15);  der 
Mond,  der  mit  seinem  milden  Strahlenglanz  hinwandelt  und  zur  Anbetung  ver- 
lockt; die  hellglänzenden  Sterne  und  selbst  die  Sternbilder  werden  nach  alten 
Mythen  in  Bewegung  dargestellt  (38,  31.  32).  Ebenso  auch  die  zerstörenden 
Elemente:  Blitz  und  Donner  (37,  2 — 4),  Erdbeben,  Bergstürze,  Verfinsterungen 
der  Sonne  und  der  Gestirne  (9,  5 — 7),  selbst  das  stille,  friedliche  Schattenreich 
der  aus  dem  Leben  Geschiedenen  (3,  17 — 19)  und  die  geheimnisvollen  Visionen 
zur  Mitternachtszeit  (4, 13 — 16),  in  allem  ist  Leben  und  Bewegung,  woran  man 
den  schöpferischen  Dichter  erkennt  wie  an  Homer  und  Vergil. 

Mit  besonderer  Vorliebe  werden  die  Tiere  geschildert,  aber  nicht  nach 
ihrer  äufseren  Erscheinung,  sondern  in  ihrer  lebensvollen  Bewegung  und  Thatig- 
keit,  so  der  Löwe,  wenn  er  im  Hinterhalte  auf  Beute  lauert  (38,  39.  40);  der 
Rabe,  der  nach  Prafs  schreit  und  mit  seiner  hungernden  Brut  umherirrt  (38,  41); 
die  kreifsende  Gemse,  die  schmerzlos  ihre  Jungen  gebiert,  welche,  sich  selbst 
überlassen,  ins  Weite  davonlaufen  (39,  1—4);  der  in  der  Steppe  umherschwei- 
fende Wildesel,  der  jeder  Zähmung  widerstrebt  (5 — 8);  der  starke  Wisent,  der 
zum  Dienste  des  Ackerbaues  sich  nicht  zwingen  läfst  (9 — 11);  der  dumme  und 
sorglose  Vogel  Straufs,  der  seine  Eier  unbedacht  dem  Wüstensande  zum  Aus- 
brüten überlafst  und  mit  einer  Schnelligkeit  dahineilt,  dafs  kein  Reiter  ihn 
einholt  (12 — 18);  das  feurige,  in  den  Kampf  sich  stürzende  Rofs,  so  es  den 
Trompetenschall  hört  (19 — 25);  der  hoch  sich  schwingende  Adler,  der  vom 
Felsengrat  aus  auf  Beute  späht.1)  Alle  diese  kleinen  Schilderungen  lassen  eben- 
falls Leben  und  Bewegung  des  instinktiven  Bildungstriebes  schöpferischer 
Dichtungskraft  erkennen.  Selbst  Pflanzen,  welche  in  ihrem  Wachstum  ganz 
passend  in  Vergleichungen  verwendet  worden,  erscheinen  in  lebensvoller  Be- 
wegung, wie  sie  die  Mauer  übersteigen  und  dichtes  Geröll  durchdringen  und 
überwuchern  (8,  16.  17). 

Ganz  besonders  lebhaft  sind  die  Schilderungen  der  inneren  Vorgänge  des 
Seelenlebens:  die  Unruhe  des  schmerzlichen  Krankenlagers  (6,  3.  4.  13.  14),  das 
geängstigt«  Gewissen  (15,  20 — 24;  18,  11 — 16)  und  umgekehrt  der  Frieden  und 
die  Gemütsruhe  der  Gottergebenen  (5,  24 — 26;  11,  17 — 19),  die  zum  Teil  den 
Gegenstand  des  Streites  in  den  Gegenreden  bilden. 

Obwohl  der  Dichtung  theoretische  Fragen  der  Theodicee  zu  Grunde  liegen, 
und  sie  auch  nicht  der  Gründe  strenger  Beweisführung  ermangelt,  so  bewegen 
sich  doch  samtliche  Reden  stets  in  einer  blühenden  und  kunstreichen  Sprache 
und  lassen  auch  die  Elemente  der  verschiedenen  Dichtungsarten  erkennen.  Am 
stärksten  tritt  das  lyrische  Element  hervor  zunächst  in  den  wehmütigen  Klagen 
des  von  Schmerzen  und  Gram  niedergedrückten  Mannes  nicht  nur  über  den 

»)  Die  Schilderungen  des  Nilpferdes  und  des  Krokodils  (C.  40.  41)  sind  sekundär, 
vgl.  unten. 


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jammervollen  Zustand  seines  Leibes,  sondern  auch  über  die  Herzlosigkeit  der 
Freunde,  welche  statt  des  Trostes  ihn  mit  Vorwürfen  überhäuften  und  ihm 
seinen  letzten  Halt,  die  Überzeugung  seiner  Unschuld,  zu  erschüttern  suchten. 
Die  Klagen  über  das  persönliche  Leiden  gehen  oft  in  die  über  das  traurige 
Schicksal  der  Menschen  überhaupt  über  (3,  20  ff.;  14,  1  u.  a.).  An  die  Klagen 
schliefsen  sich  mehrmals  die  rührendsten  Bitten  an  Gott  und  die  Freunde  um 
Erbarmen  und  Schonung  (7,  17  ff.;  10,  2  ff.;  13,  24  ff.;  7,  28  ff;  19,  21).  In  ganz 
erhabenem  Tone  gehalten  sind  die  Lobpreisungen  von  Gottes  Allmacht,  Weisheit 
und  Güte  (5,  9—17;  9,  6—10;  11,  8—11;  12,  7—10;  25,  2—5;  26,  5—13;  28, 
23 — 28;  C.  38 — 40);  es  sind  diese  zum  Teil  Hymnen,  welche  sich  den  schönsten 
Psalmen  anreihen,  ja  man  könnte  sagen,  die  ganze  Dichtung  lauft  auf  die  Ver- 
herrlichung von  Gottes  Erhabenheit  hinaus. 

Das  dramatische  Element  ist  schon  äufserlich  an  der  dialogischen  Form 
zu  erkennen,  wesentlich  aber  an  den  bereits  erwähnten  fortschrei&md  sich  stei- 
gernden Affekten  in  den  Seelenstimmungen:  für  Hiob  in  der  anfangs  zunehmen- 
den Erbitterung  und  seinem  Zurückweichen  von  seinem  früheren  festen  Glaubens- 
standpunkt bis  zur  Verzweiflung,  dann  seiner  Wiederermannung  und  Erstarkung, 
welche  ihn  mit  neuer  Zuversicht  erfüllt  und  über  seine  Gegner  siegreich 
hervorgehen  läfst,  während  umgekehrt  die  Freunde,  anfangs  ihres  Sieges  sieber, 
stets  schärfer  mit  ihren  Angriffen  vorgehen,  zuletzt  jedoch  dem  überlegenen 
Gegner  weichen  und  verstummen.  Anstatt  der  Handlungen,  welche  sonst  das 
WeBen  des  Dramas  ausmachen,  tritt  hier  die  fortschreitende  Bewegung  in  der 
Entfaltung  innerer  Seelenzustände  ein.  Die  dramatische  Anlage  der  Dichtung 
zeigt  sich  im  besonderen  in  der  Individualisierung  der  drei  Freunde  Hiobs. 
Obwohl  sie  alle  drei  den  gleichen  Standpunkt  einnehmen,  dafs  Hiobs  Leiden 
nur  die  Folge  einer  Verschuldung  sein  könne,  und  in  ihren  Angriffen  und  Er- 
mahnungen einstimmig  auftreten,  so  ist  doch  der  Ausgangspunkt  bei  denselben 
nicht  nur  verschieden,  sondern  auch  die  Art  ihres  Auftretens,  die  Ausdrücke 
und  Wendungen  in  ihren  Reden  lassen  ihre  verschiedenartigen  Charaktere  und 
die  eigentümliche  Sinnesweise  erkennen.  Auch  hier  mufB  ich  mich,  da  die 
Ausführung  einen  zu  weiten  Raum  einnehmen  würde,  auf  die  im  'Problem'  ge- 
gebenen Andeutungen  beschränken.1) 

Auch  epische  Schilderungen  fehlen  der  Hiobdichtung  nicht.  Der  Prolog 
(C.  1.  C.  2,  1 — 10)  hat,  wie  eben  bereits  bemerkt,  den  epischen  Charakter  und 
ist  in  seiner  aus  der  Sage  umgearbeiteten  Gestalt  ein  Werk  des  Dichters. 
Auch  die  genannten  kleinen  Tierschilderungen  in  C.  39  können  wohl  als  episch 
bezeichnet  werden.  Dagegen  sind  die  ausführlichen  Schilderungen  des  Nil- 
pferdes und  des  Krokodils  am  Schlüsse  der  Dichtung  spätere  Einschaltungen, 
die  wie  die  Elihureden  mit  der  Dichtung  in  keinem  organischen  Zusammen- 
hange stehen,  wie  dieses  auch  von  vielen  Exegeten  auch  aus  anderen  Gründen 
erkannt  worden  ist  (vgl.  Stud.  u.  Krit.  1895  S.  678.  690). 

So  finden  sich  in  diesem  Werke  die  Elemente  sämtlicher  Dichtungsarten 

')  Eine  auflffihrliche  Schilderung  von  den  Charakteren  der  Freunde  und  Hiobs  religiösen 
Wandlungen  wird  nächstens  in  den  Theol.  Stud.  u.  Krit.  erscheinen. 


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J.  Ley:  Die  Kunstgestaltung  des  Buches  ffiob 


295 


vereinigt,  welche  ihm,  abgesehen  vom  Inhalt,  noch  einen  besonders  hervorragen 
den  Kunstwort  verleihen,  um  so  mehr,  als  die  hebräische  Poesie  nichts  Ähnliches 
aufzuweisen  hat 

Zum  Schlüsse  sei  es  mir  noch  gestattet,  Buddes  Einwendungen1)  gegen 
meine  dramatische  Auffassung  der  Dichtung  zu  berichtigen.  B.  will  einen 
Unterschied  in  Hiobs  Stellung  zu  Gott  nach  der  Rede  in  C.  19,  wie  ihn  auch 
die  meisten  Exegeten  annehmen,  nicht  anerkennen  (S.  XXVII  Note  2).  Dafs 
aber  hier  der  Wendepunkt  liegt,  und  dafs  von  hier  ab  eine  gewisse  Beruhi- 
gung in  Hiobs  Gemüt  und  eine  vollständige  Veränderung  in  seinem  Verhalten 
gegen  Gott  eingetreten  ist,  läfst  sich  sowohl  an  dem  mehr  freundlichen  Tone, 
den  er  jetzt  den  Freunden  gegenüber  anschlagt,  alß  auch  an  der  ehrfurchts- 
vollen Scheu  erkennen,  wenn  er  etwas  aussprechen  will,  was  gegen  den  Glauben 
an  Gottes  Gerechtigkeit  zu  verstofsen  scheint.  So  gleich  zum  Beginn  der 
nächsten  Rede  in  C.  21,  wo  er  die  Freunde  in  Demut  bittet,  ihn  doch  anzuhören, 
Geduld  mit  ihm  zu  haben;  er  würde  dieses  als  eine  Tröstung  von  ihrer  Seite 
aufnehmen  (21,  2.  3).  So  hat  er  bisher  mit  seinen  Freunden  nicht  geredet; 
man  vergleiche  die  Anreden  in  C.  6,  14—27;  12,  2—8;  13,  7—12;  16,  2—5; 
17,  10;  19,  2 — 5.  14 — 19,  wo  er  sie  treulos,  heuchlerisch,  parteiisch,  falsche 
Anwälte  u.  s.  w.  nennt.  Solche  Ausdrücke  gegen  die  Freunde  kommen  nach 
den  Schlafs worten  des  C.  19  nicht  mehr  vor.  Und  wie  verschieden  ist  sein 
jetziges  Verhalten  gegen  Gott.  Da  er  jetzt  zur  Widerlegung  der  Vergeltungs- 
lehre der  Freunde  Beispiele  vom  Wohlergehen  der  Frevler  anführen  will,  er- 
greift ihn  Schrecken  und  Schauder,  weil  es  wie  eine  Anklage  gegen  Gottes 
Gerechtigkeit  aussehen  könnte  (21,  6).  Früher  hatte  er  solche  Scheu  nicht 
gehabt;  da  hatte  er  keck  erklärt:  'Den  Frommen  wie  den  Frevler  vertilgt  er 
in  gleicher  Weise.*  Wenn  eine  Geifsel  plötzlich  Tod  verbreitet,  so  spottet  er 
des  Unterganges  der  Unschuldigen  (9,  21  ff.  und  ähnlich  10,  3  ff.;  13,  24  ff.; 
14,  20  ff.;  16,  14  ff.;  19,  7.  22).  Jetzt,  da  er  die  Worte  der  Gottesverächter  an- 
führt, kann  er  es  nicht  unterlassen,  gleich  hinzuzufügen:  Gewifs,  in  ihrer  Gewalt 
steht  nicht  ihr  Glück,  und  was  Gottlose  denken,  liegt  mir  fern  (21,  14 — 16). 
Mit  dem  letzten  parenthetisch  zu  fassenden  Verse  will  er  den  Verdacht  von 
sich  abwälzen,  als  ob  er  gleiche  Gedanken  hegen  könnte.  Den  letzten  Halb- 
vers auszuscheiden  (Budde  S.  119),  dafür  liegt  gar  kein  Grund  vor;  er  ist  eben 
für  Hiobs  veränderte  Stellung  zu  Gott  bezeichnend.  Auch  in  der  Rede  des 
Eliphas  (22,  18)  kehrt  derselbe  Stichos  in  gleichem  Sinne  wieder.  In  derselben 
Weise  sucht  Hiob  gleich  darauf  den  Schein,  als  ob  er  die  ausgesprochenen 
Gedanken  der  Frevler  billige,  in  einem  Zwischenverse  abzuweisen  mit  den 
Worten:  'Will  man  Gott  Einsicht  lehren,  ihn,  der  die  Himmlischen  richtet' 
(21,  22)?  Er  erhebt  überhaupt  keine  Anklage  mehr  gegen  Gottes  Gerechtig- 
keit, er  zweifelt  auch  nicht  mehr  an  derselben.  Seine  Klage  ist  nur  darauf 
gerichtet,  dafs  Gott  ihm  nicht  gestatte,  seine  Unschuld  durch  ein  Rechtsverfahren 
i  zu  erweisen,  dafs  Gott  sich  nicht  finden  lasse  (23,  3—12),  wobei  stets  die 


")  Budde,  Das  Buch  ffiob  (8.  XXVH  XXXI) 


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J.  Ley:  Die  Kunst^estaltung  des  Buches  Hiob 


Voraussetzung  zu  Grunde  liegt,  dafs,  wenn  es  zu  einer  Darlegung  seiner  Rechts- 
sache käme,  Gott  ihm  sein  Recht  unzweifelhaft  würde  zu  teil  werden  lassen. 
Ja  er  sucht  sich  Gottes  Verhalten  dadurch  zu  erklären,  dafs  es  zur  erhabenen 
Allmacht  Gottes  gehöre,  den  einmal  gefaßten  BeschluTs  gleichsam  wie  ein 
Naturgesetz  nicht  zu  verändern  und  auf  Erörterungen  sich  nicht  einzulassen 
(23,  13.  14).  Diese  Scheu  vor  dem  allgewaltigen  Gotte,  der  keine  Einrede  zulasse, 
erhält  ihren  stärksten  Ausdruck  in  C.  23,  14 — 17  (der  letzte  Vers  ist  nach 
Budde  S.  132  zu  emendieren).    Hiob  nimmt  jetzt  ungefähr  den  religiösen 
Standpunkt  ein,  wie  ihn  der  Islam  Qber  die  menschlichen  Schicksale  hat 
Trotzdem  hält  er  an  der  Überzeugung  seiner  Unschuld  fest,  die  er  zunächst  in 
C.  27,  2 — 7  ausspricht.    Nur  darf  man  V.  2  nicht  (mit  Budde)  übersetzen:  cSo 
wahr  Gott  lebt,  der  mir  mein  Recht  genommen',  sondern  'der  mir  ein  Rechts 
verfahren  versagt  (entzogen)  hat'.    Diese  Bedeutung  hat  das  Wort  'Mischpat* 
(C.  13,  18;  23,  4;  Num.  27,  5;  Jes.  50,  8;  Jerem.  12,  1  u.  v.  a.).  Von  der  Über- 
zeugung seiner  Unschuld  läfst  er  sich  nicht  abbringen.    Heucheln,  sagt  er, 
könnte  nur  ein  Gottloser  zum  Mifsfallen  Gottes  und  zu  seinem  eigenen  Ver- 
derben (27,  8 — 10).   Mit  dieser  Überzeugung  seiner  Unschuld  schliefst  er  seine 
letzte  Rede  (31,  35 — 37),  nachdem  er  sein  in  Tugend  und  Frömmigkeit  zu- 
gebrachtes Leben  beteuert  hatte.   Bei  allen  seinen  Beteuerungen  setzt  er  jedoch 
stets  voraus,  dafs  Gott  ihn  für  unschuldig  erklären  und  ihm  seine  Gnade  zu- 
wenden würde,  wenn  er  seine  Rechtssache  wahrnehmen  wollte.    Denn  er  zwei- 
felt nicht  an  Gottes  Gerechtigkeit)  vielmehr  hofft  er  auf  sie;  sie  ist  seine  letzte 
und  einzige  Stütze.    Budde  verwechselt  Verletzung  des  Rechts,  positives 
Unrecht,  welches  Hiob  auch  nur  von  Gott  zu  denken  seit  dem  Wendepunkte 
fern  von  sich  weist  (23,  6.  22),  mit  Versagung  einer  Rechtsuntersuchung, 
über  welche  Hiob  bis  zum  Schlüsse  seiner  Reden  klagt.    Letzteres  allein  war 
das  Strafwürdige,  welches  er  durch  das  Erscheinen  Gottes  zu  seiner  Beschämung 
erkennen  und  bereuen  mufste.    Wenn  Budde  dagegen  einwendet  (S.  XXVII), 
'dafs  nichtsdestoweniger  Hiob  nach  meiner  Darstellung  (Problem  S.  138)  die 
Strafwürdigkeit  seiner  eigenen  vermessenen  Rede  erkennen  und  demutsvoll  seine 
Reue  aussprechen  mufs',  so  ist  daselbst  bereits  erklärt  und  auch  selbstverständ- 
lich, dafs  er  durch  Jahves  Erscheinen  und  Rede  erkennen  mufste,  in  welchem 
schweren  Irrtum  er  befangen  war,  wenn  er  klagte,  dafs  Gott  sich  nicht  um 
ihn  bekümmere  und  seine  Klage  über  Entziehung  eines  Rechtsverfahrens  nicht 
höre.    Alle  Klagen,  die  er  in  diesem  Irrtume  gegen  Gott  erhoben,  müssen  ihm 
jetzt,  da  Gott  sich  selbst  zu  ihm  herabgelassen  hatte  und  ihn  seine  gütige  Für- 
sorge für  das  Weltall  und  selbst  für  die  Tiere  hatte  erkennen  lassen,  zu  seiner 
Beschämung  als  unwahr  und  vermessen  erscheinen,  und  deshalb  spricht  er  seine 
Reue  in  tiefster  Demut  aus,  aber  nicht  deshalb,  weil  er  Gott  abgesagt  hätte. 
Denn  seit  der  Wende  in  C.  19  hängt  er  mit  aller  Innigkeit  wieder  an  Gott 
und  klagt  nur,  dafs  Gott  auf  ihn  nicht  achte.   Und  je  tiefer  seine  Anhänglich- 
keit an  Gott  ist,  um  so  mehr  mufs  er  es  bereuen,  dafs  er  ungerechterweise 
gegen  ihn  geklagt  hatte. 

Budde  lälst  Hiob  in  C.  27.  28  seinen  Bankerott  in  der  Weltanschauung 


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J.  Ley:  Die  Kunstgestaltung  de«  Buches  Hiob  297 

erklären  (S.  XXIV),  wenn  auch  nicht  einen  so  schlimmen,  wie  er  ihn  früher1) 
dargestellt  hatte.  Aber  abgesehen  davon,  dafiä  Hiobs  Reden  in  C.  27 — 31  den 
Eindruck  eines  aus  dem  Kampfe  hervorgegangenen  Siegers  und  nicht  eines  des 
Bankerotts  sich  bewufsten  Mannes  machen,  so  ist  für  solche  Annahme  nicht 
der  geringste  Grund  vorhanden,  wenn  man  die  Dichtung  als  eine  dramatisch 
eich  fortentwickelnde  erkannt  hat,  in  welcher  Hiobs  Stellung  zu  Gott  in  ver- 
schiedenen und  sogar  sich  widersprechenden  Phasen  erscheinen  konnte,  die  aber 
notwendige  Übergänge  zu  einander  bildeten.  Der  Wendepunkt  in  C.  19  ist  im 
Problem  (S.  134  ff.)  in  seiner  inneren  Notwendigkeit  begründet  worden,  und 
hierdurch  sind  die  Schwierigkeiten  und  Widersprüche,  welche  Budde  (S.  XXI) 
anführt,  beseitigt.  Wie  im  Leben  des  einzelnen  Menschen  infolge  von  Erfah- 
rungen und  besserer  Erkenntnis  Wandlungen  in  den  religiösen  und  moralischen 
Anschauungen  eintreten  können,  ohne  dafs  von  einer  Untreue  gegen  sich  selbst 
oder  gar  von  einem  Bankerott  die  Rede  sein  kann,  ebensowenig  kann  dieses  von 
Hiob  behauptet  werden.  Es  ist  kein  blofser  'Wertstreit',  wie  Budde  meine 
Bezeichnung  der  Hiobdichtung  als  eine  dramatische  erklärt  (S.  V  Note  1), 
sondern  die  ganze  Anlage  und  Ausführung  der  Dichtung  gestaltet  sich  ganz 
anders,  als  wenn  man  sie  als  eine  didaktische  auffafst.  Die  didaktische  hat 
eine  bestimmte  Tendenz,  welcher  sie  treu  bleiben  mufs;  die  dramatische  stellt 
die  Vorgänge  nach  ihrem  natürlichen  in  des  Dichters  Phantasie  sich  gestalten- 
den Verlauf  dar  ohne  tendenziöse  Belehrung:  sie  ist  sich  selber  Zweck. 

Es  sind  noch  andere  Punkte  in  der  Auffassung  des  Ganzen,  in  denen  ich 
Budde  nicht  beistimmen  kann,  so  namentlich  in  Beziehung  auf  die  Echtheit 
der  Elihureden  und  der  ihnen  untergelegten  Tendenz.  Hierauf  gedenke  ich  an 
anderer  Stelle  einzugehen.  Auch  die  von  ihm  angenommene  Fragestellung  des 
Dichters  (S.  XH  f.)  scheint  mir  verfehlt  und  ist  nach  Problem  (S.  129  ff.)  zu 
berichtigen.  In  der  Bestimmung  der  Abfassungszeit  des  Buches  Hiob  habe 
ich  Buddes  Annahme  (§  5  S.  XXIV)  in  der  genannten  Abhandlung  (Stud.  u. 
Kril  1898  8.  53  ff.)  berichtigt,  und  ich  will  noch  hinzufugen,  dafs  selbst  bei 
der  Annahme,  dafs  15,  18 — 19  keine  Interpolation  sind  (Stud.  u.  Krit.  1895 
S.  657),  diese  dennoch  nicht  'auf  die  Zeit  der  Völkermischung  nach  der  Ver- 
bannung' (B.  S.  79),  sondern  auf  die  Zeit  sich  beziehen  müssen,  da  die  Chal- 
däer  in  Palästina  eingedrungen  und  die  Herren  des  Landes  geworden  waren. 
Eine  weitere  Auseinandersetzung  wäre  hier  nicht  am  Platze.  Übrigens  sollen 
hiermit  keineswegs  Buddes  Verdienste  um  die  Erklärung  der  Einzelheiten  des 
Textes  in  Abrede  gestellt  werden,  wenn  man  auch  an  manchen  Stellen  ihm 
nicht  zustimmen  kann.  Der  emsigen  und  umsichtigen  Benutzung  und  Beurtei- 
lung aller  seiner  Vorgänger  gebührt  die  vollste  Anerkennung.  Seine  Skepsis 
gegen  meine  Metrik  hat  er  aufrecht  erhalten.  Wenn  er  aber  die  Form  von 
weolatha  (C.  5,  16)  ganz  nach  meinen  'Grundzügen  der  Metrik*  1875  (S.  101) 
erklärt  (S.  25),  so  hat  er  die  Einwirkung  der  rhythmischen  Betonung  selbst  auf 
>  den  Konsonantentext  zugestanden. 

»)  Zeitschrift  d.  A.  T.  W.  1882  S.  616  ff.  —  Meine  Entgegnung  in  d.  8tud.  u  Krit  1896 
8.  671  dürfte  vielleicht  die  Milderung  der  früher  gebrauchten  Ausdrücke  veranlagt  haben. 


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ANZEIGEN  UND  MITTEILUNGEN 


BRIEFE  VON  F.  A.  WOLF  UND  F.  P APEN- 
CORDT AN  LINA  KLINDWOKTH 

Aua  dem  Nachlaß  einer  längst  verstor- 
benen, ihm  nahe  verwandten  Dame  sind  dem 
Unterzeichneten  eine  Anzahl  Briefe  von  Frie- 
drich August  Wolf,  dem  Philologen,  und 
von  Papencordt  in  die  Hände  gekommen. 
Diese  Dame,  ein  Fräulein  Karolina  Klind- 
worth  (von  der  Verwandtschaft  immer  Tante 
Lina  genannt),  gebürtig  aus  Göttingen,  Tochter 
des  Professors  der  Physik  bei  der  Universität 
6.  Klindworth,  siedelte  mit  einer  Jugend- 
freundin (auch  Profesaorstochter) ,  die  den 
portugiesischen  Gesandten  Grafen  Oriolla 
beiratete,  nach  Berlin  Ober  und  lebte  im 
Hause  des  Grafen,  der  1832  aus  dem  portu- 
giesischen Staatsdienst  ausschied  und  preußi- 
scher Unterthan  wurde,  auch  nach  dem  Tode 
deB  Grafen,  erst  als  Erzieherin  der  Kinder, 
dann  als  Freundin  und  Gesellschafterin  der 
Gräfin  bis  zu  ihrem  Tode  (1865).  Lina  Klind- 
worth war  eine  recht  gelehrte  echte  Göt- 
t  ingerin,  die  nicht  nur  die  lateinischen  und 
griechischen  Klassiker  las  und  übersetzte, 
sondern  auch  mit  Wolf,  Böckh  u.  a.  Gelehrten 
in  Verkehr  und  Briefwechsel  stand,  eine  Zeit 
lang  auch  nach  Verabredung  mit  Wolf  nur 
lateinische  Briefe  zu  ihrer  Übung  wechselte. 
Aufser  den  vorhin  genannten  Briefen  erregt 
wohl  auch  Teilnahme  ein  bisher  meines 
Wissens  unbekanntes  kleines  Gedicht  von 
Wolf  an  Goethe,  das  einem  dieser  Briefe 
beilag,  von  W.  mit  eigener  Hand  geschrieben. 
Das  Gedicht  lautet  so: 

Vor  einem  neuen  Bildnis  Goethens,  von 
dem  Maler  Franck  zu  Berlin  aufgestellt. 
Endlich  schau'  ich  dich  wieder,  Götter- 
jüngling! 

Sei  mir  würdig  gegrüßt,  du  Hochgeliebter, 
Dcfs  so  sprechendes  Bild  ich  stets  vermifste; 
Das  mit  Zaubergewalt  um  sechsunddreifsig 
Jahr'  in  eigene  Jugend  mich  zun'iektiiuscht, 
Und  des  Alters  verhafste  Schwell'  hinweg- 
hebt. 

Ja,  bei  längerm  Beschauen  fühl'  ich  innig 
Mich  am  Körper  und  Geist  so  ganz  wie 

damals, 

Als  zuerst  ich  dich  sah  und  lieben  lernte. 

Nie  nun  rücket  dies  Bild  von  meiner  Seite: 
Es  mag  lindern  der  weiten  Trennung  Sehn- 
sucht; 


Freundlich  weil'  es  um  mich  mit  dieser 

heitern 

Stirn,  dem  sinnigen  Aug',  und  bis  zum  letzten 
Tage  spreche  sein  Mund  mir  Lebensmut  zu. 
B.  d.  1  Dec.  1822.  W. 

Zu  diesen  Versen  hat  Wolf  folgende  An- 
merkimg hinzugesetzt: 

'Den  Verfafser  überraschte,  da  er  eben 
vom  Krankenbette  aufstehend  solch  einer 
Freude  höchst  bedürftig  war,  dies  Ölgemälde, 
das  den  alternden  Dichter  ihm  fast  in  der- 
selben Gestalt  wieder  darstellte,  wie  er  ihn 
seit  1786  aufser  sich  nicht  gesehen  hatte. 
In  jenem  Jahre  war  es,  wo  der  Verf.,  in 
seinem  siebenundzwanzigsten,  ihn,  der  in 
der  schönsten  männlichen  Kraft  stralte,  zu 
Jena  kennen  lernte  auf  der  Büttnerschen 
Bibliothek,  wo  sich  bald  ein  langes  Gespräch 
über  die  Aufstellung  der  unlängst  angekom- 
menen Bücher  und  über  Bücherwesen  und 
-Unwesen  überhaupt  anknüpfte;  ein  Gespräch, 
woraus  ihm  noch  manche  geistvolle  Ansichten 
gegenwärtig  blieben  bis  in  die  neueste  Zeit, 
wo  er  die  Jenaischen  und  Weimarischen  Bi- 
bliotheken nach  gleichen  Grundsätzen  ge- 
ordnet und  gewifsermafsen  vereinigt  sah. 
Eine  nähere  Verbindung  mit  dem  Dichter 
und  Weisen  entstand  ihm  erst  später,  die 
dann  bei  der  Nähe  der  beiderseitigen  Wohn- 
orte ')  etliche  glückliche  Jahre  hindurch,  bis 
zu  einer  Freundschaft  erwuchs,  die  nicht 
einmal  eines  Briefwechsels  bedarf.' 

Nun  mögen  hier  einige  der  Briefe  von 
Wolf  an  Lina  Klindworth,  der  Zeit  nach  ge- 
ordnet, folgen,  die  wegen  der  Person  de« 
Verfassers  wohl  ein  allgemeineres  Interesse 
linden  werden. 

Friedenau,  Mai  1899. 

Prof.  Dr.  Th.  Preufs. 

I 

Fr.  Aug.  Wolf  an  Lina  Klindworth 
So  Bchwer  es  mir  auch  noch  wird,  mufs 
ich  Danen,  theure  Freundin,  doch  ein  paar 
Zeilen  vor  Ihrer  Abreise  widmen,  die  Danen 
mein  Andenken  erhalten  mögen.  Jetzt  bin 
ich  ganz  dafür,  dafs  der  gute  alte  R.  in  G. 


•)  Wolf  ging  erst  1807  von  Halle  nach 
Herün. 


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Anzeigen  und  Mitteilungen 


Ihr  Kunstwerk  in  die  Arbeit  nehme1),  um 
es  in  der  kleineren  Form,  wie  er  viele  Göt- 
tingerund andere  gestochen  hat,  zuzubereiten; 
und  gelingen  wird  es  gewifs,  wenn  er  von 
Ihnen  auf  die  Bemerkungen  Ihres  Billets 
genau  aufmerksam  gemacht  wird.  Viele 
wollen  aufserdem  finden,  dafs  Ihnen  die 
Nase  am  unteren  Theile  ein  wenig  zu  stark 
geraten  sei:  Die  Art,  wie  Sie  Bich  um  ein 
paar  meiner  schwächlichen  Locken  verdient 
gemacht  haben,  hat  meinen  ganzen  Beifall, 
wie  da»  Bild  Oberhaupt.  Gut  wäre  es  indels 
vielleicht,  wenn  R.  es  Ihnen  vor  der  Voll- 
endung vorher  zu  einer  kritischen  Beurthei- 
lung  schickte. 

Doch  genug  hievon!  Und  nun  nur  noch 
den  herzlichen  schweigenden  Handedruck  in 
Gedanken,  der  Ihnen  meine  besten  Wünsche 
zu  Ihrer  wirklich  bedeutenden  Veränderung 
auadrücken  soll.  *)  Erhalten  Sie  mir  gleich- 
falls Ihr  unschätzbares  freundschaftliches 
Andenken. 

8  Mai  22.  W. 

Für  R.:  Fr.  Ang.  Wolf,  nichts  sonst.») 

n 

Berlin,  18.  Aug.  28. 
Ich  brauche  Ihnen  nicht  erst  zu  sagen, 
iheuerste  Freundin,  dafs  ich  Ihre  Briefe  mit 
grofsem  Vergnügen  lese,  und  also  die  langen 
am  liebsten,  aber  sprechen  höre  ich  Sie  doch 
noch  lieber.  Möchten  Sie  doch  darum  mir 
diese  Freude  recht  bald  wieder  machen !  Ich 
höre,  dafs  Ihr  Herr  Graf4),  defsen  baldige 
Rückkehr  nach  Berlin  bo  viele  seiner  Freunde 
wünschen,  am  Ende  des  Monats  wieder  eine 
vorläufige  Spazierreise  hermachen  wird. 
Grade  um  die  Zeit,  oder,  noch  wahr- 
scheinlicher, in  den  ersten  Tagen  des 
Septembers  wird  die  Wilhelmine*),  die  nur 
2  Tage  unlängst  hier  durch  nach  Möglin  flog, 
wieder  von  da  zurückkommend  wohl  eher 
8—4  Tage  hier  verweilen.  Und  könnten  Sie 

')  Gemeint  ist  der  damals  berühmte 
Kupferstecher  Riepenhausen  in  Göttingen,  ein 
Freund  des  Khndworthschen  Hauses,  der  ein 
von  Lina  K.  gezeichnetes  Porträt  von  Wolf 
stechen  sollte,  derselbe,  der  u.  a.  die  Hogarthi- 
schen  Bilder  gestochen  hat,  wozu  Lichten- 
berg die  Erklärungen  schrieb.  —  R.  hat  den 
Auftrag  betr.  Wölls  Bildnis  auch  ausgeführt; 
der  oben  genannte  Herausgeber  ist  im  Besitz 
dieses  Kupferstich-Porträts. 

*)  Worauf  diese  Andeutung  hinzielt,  ist 
mir  unbekannt. 

*)  D.  b,  die  Unterschrift  unter  dem  Stich 
von  Riepenhau?en. 

*)  Oriolla. 

*)  Mir  nicht  erinnerlich,  wer  diese  Dame 
war. 


es  nun  so  anlegen,  dafs  Sie  in  eben  dieser 
Zeit  hier  wären,  so  würden  8ie  noch  jemand 
aufser  mir  verbinden.  Ja,  könnte  ich  noch 
zu  rechter  Zeit  von  der  Zeit  Ihrer  Ankunft 
durch  ein  schön  Epistelchen  Ihrer  Hand  be- 
lehrt werden,  und  obendrein  noch  ein  paar 
Tage  übrig  sehen,  um  nach  M.  zu  schreiben, 
so  liefse  sich  der  erfreuliche  Plan  recht  gut 
in  Ausführung  bringen.  Was  meinen  Sie, 
meine  Verehrteste?  Was  ist  denn  so  einer 
kleinen  Grazie,  wie  Sie  sind,  nicht  thulich, 
wenn  sie  will.  Und  nicht  wahr,  Sie  wollen 
ein  wenig? 

Haben  8ie  übrigens  noch  Zeit,  so  bitte 
ich  um  einen  schriftlichen  Commentar  zu 
derjenigen  der  Horazischen  Oden,  die  Ihnen 
bis  jetzt  die  liebste  geblieben  ist,  ich  meine, 
bei  Direr  Herkunft.  Dann  wollen  wir  schon 
für  diese  lateinische  Unterhaltung  eine  weitere 
Abrede  nehmen. 

Meine  heutige  grofse  Kürze  kann  ich  nur 
mit  der  Furcht  entschuldigen,  dafs  ich  kaum 
noch  das  Blättchen  werde  zur  Post  kriegen 
können. 

Von  ganzem  Herzen 

der  Ihrige,  F.  A.  W. 

ra 

Nulla  dies  sine  linea,  dictum  est  sednli 
cujusdam  picteris  Graeci.  Ad  ejus  dicü 
modum  tibi,  roi  carissima,  dictum  aeeipe 
meum,  Nulla  dies  sine  aliquo  epistolio  La- 
tino.  Sed  unde  tandem  argumentum  nobis 
nascetur?  Ex  nihilo,  suaserim;  satisque  erit 
etiam  sie  ordiri,  Si  vales,  bene  est,  ego  valeo. 
Ac  sane  ego  hodie  paullo  etiam  melius  valeo, 
quam  soleo  ex  aliquot  hebdomadibus  diemm. 

Non  dissimulabo  tarnen,  occasionem  scri- 
bendi  hodie  mihi  esse  majorem  et  digniorem. 
Discupio  enim,  ut  abs  te  legantur  nonnulla 
scriptorum  meorum,  vertanturque  in  Germani- 
cum  sermonem  eum  ad  morem,  quem  nuper 
tibi  in  Muretinis  commendavi.  En  igitur 
leve  volumen  ejusmodi,  ex  quo  tibi  inde  a 
Num.  HI  usque  ad  XVI  primum  sumas  pro- 
oemia  illa,  olim  Halis  a  me  lectionum  indi- 
cendarum  causa  exarata  non  sine  lepore 
quodam  et  facetiis,  quales  raro  reperiuntur 
apud  eos,  qui  hodie  Latine  scribunt.  Plerisqne 
enim  nunc  facultas  deest  ea  eoque  more  scri- 
bendi,  quae  et  quo  volunt,  potiuBque  scribunt, 
quo  tenais  Latinitatis  cognitio  eos  trahit,  non 
ducit.   Avocor.    Vale  mihique  fave, 

Tuo 

d.  4.  Febr.  1824.  F.  A.  W. 

Dies  scheint  der  letzte  Brief  von  Wolf  an 
Lina  Klindwortb  zu  sein,  wenigstens  der 
letzte  unter  den  in  meinen  Besitz  gelangten. 
Denn  bereits  nach  einem  halben  Jahre,  im 


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300 


Sommer  1824,  starb  W.  bekannÜich  in  Mar- 
seille. Zwar  befinden  sich  in  meiner  Samm- 
lung noch  einige  Briefe,  aber  ohne  Datum; 
dieselben  sind  sicherlich  älter  als  aus  dem 
Jahre  1824.  Von  diesen  mögen  die  beiden 
folgenden  noch  hier  mitgeteilt  werden. 

IV 

Durum  profecto  et  vix  excusabile  esset, 
amicissima  Lina,  si  ego  tibi  priores  partes 
concederem  in  isto,  quod  constituimus,  com- 
mercio  litterarum,  id  est,  si  ego  priuB  abs  te 
Latinam  epistolam  ezBpectarem,  quam  tu 
aliquam  meam  accepisses.  Neque  adeo  mihi 
deest  occasio  scribendi:  ante  oculos  enim 
vereatur  libelluB  Hebelianus ') ,  qui  ad  te 
puerosque  tuos  *)  tandem  remitti  cupit.  Verum 
autem  ut  dicam,  minus  mihi  iste  placuit, 
quam  exspectaram;  quippe  in  hoc  populari 
scribendi  genere  haud  difficile  est  majorem 
assequi  perfectionem ,  et  aseecutus  eam  jam 
olim  est  in  duobus  similibus  scriptis  Pesta- 


Misi  tibi  simul  epistolam  Latinam,  heri 
modo  ad  me  perlatam,  ut,  ubi  ad  me  veneris, 
narres,  quid  in  ea  tibi  placuerit  aut  dis- 
plicuerit.  —  Doleo,  quod  ipso  hoc  temporis 
puncto  per  importunos  hoBpites  avocor;  alio- 
quin  plures  plagellas  a  me  acciperes.  Vale. 

W. 

V 

So  schwach  ich  mich  auch  noch  fühle, 
kann  ich  es  doch  nicht  aufschieben,  Danen, 
meine  liebenswürdige  Freundin,  ein  paar 
Worte  tiefempfundenes  Dankes  für  Dire 
gütigen  Zeilen  zu  schreiben.  Sie  haben  mich 
Aber  mein  häusliches  Bedürfnüs  so  schön 
aufgeklärt,  dafs  ich  nun  fast  für  den  Kattun 
entschieden  bin,  wenn  ich  nur  neben  gutem 
Muster  auf  dauerhaften  Stoff  rechnen  kann; 
zwei  Eigenschaften,  wobei  freilich  wieder 
ein  paar  Damenaugen  anders  wirken  würden 
als  die  hellsten  Kritiker- Augen.  —  Hierbei 
zugleich  Ihr  treffliches  Kunstwerk,  woran 
viele  Freunde  im  Süden  von  Deutschland  und 
der  Schweiz  Bich  hoch  ergötzt  haben,  aber 
dabei  viel  Gold  von  dem  Ramen  abgesehen. 

Das  grofse  lateinische  Unternehmen  be- 
treffend, so  werde  ich  Dir  edles  Vertrauen 
gewifs  auf  alle  Weise  zu  ehren  suchen,  so  auch 
durch  tiefes  Verschweigen  gegen  jedermännig- 
lich.  Denn  leider  verzeiht  man  Ihrem  Ge- 
schlecht in  unseren  Tagen  eher  Griechisch 
als  Latein.   Das  werden  Sie  mir  aber  doch 


zunächst  erlauben,  ein  Viertelstündchen  La- 
tein mit  Danen  zu  sprechen,  womit  in  jeder 
Sprache  billig  aller  Unterricht  anfängt  Also, 
um  Ihnen  gleich  einen  Vorschmack  ans  dem 
Horaz  zu  geben,  quid  agis,  dulcissima  rerum? 
wofür  es  auch,  wie  der  gelehrte  Hr.  Bruder  *) 
Ihnen  sagen  wird,  noch  die  Lesart  giebt: 
dulcissima  Lina! 

Vale,  faveque 

Tui  studiosiBsimo 

lSApriL1)  F.  A.W. 

Als  eine  Fortsetzung  der  im  Vorhergehen- 
den mitgeteilten  Briefe  von  Fr.  A.  Wolf  folgen 
hier  drei  Briefe  von  F.  Papencordt  an  Lina 
Klindworth.  Papencordt  war  in  den  30er 
Jahren  Lehrer  von  Deodat  OrioUa,  jüngerem 
Sohne  des  Grafen  0.,  gewesen,  in  diesem 
Amt  mit  Lina  K.  bekannt  geworden  und  be- 
richtete nun  an  diese  über  einen  Aufenthalt 
in  Italien,  wo  er  sich  philologischer  und 
historischer  Studien  wegen  1886  und  in  den 
folgenden  Jahren  aufhielt. 

I««  Brief 
Fraskati  80  Juli  1887. 
Empfangen  Sie  vor  allem,  verehrteste« 
Fraulein,  meinen  herzlichsten  Dank  für  Dir 
freundliches  Briefchen  aus  dem  Monat  April; 
dasselbe  iBt  mir  um  so  angenehmer  ge- 
wesen, je  weniger  ich  einen  solchen  Beweis 
ferneren  Andenkens  durch  mein  langes  Still- 
schweigen verdient  und  daher  auch  erwartet 
hatte.  Wenn  ich  aber  jetzt  durch  neues 
Zögern  mit  einer  Antwort  noch  weniger  zu 
entschuldigen  schien,  so  kann  ich  mich  in 
der  That  durch  nichts  anderes  vertheidigen, 
als  dafs  jenes  Vergehen  wahrhaftig  nicht 
durch  Seltenheit  der  Erinnerung  an  Sie  und 
Ihre  Umgebung  hervorgerufen  ist  Im  Monate 
April  war  ich  nicht  ganz  wohl;  dann  kamen 
Bekannte  von  mir  an,  welche  alle  mir  eben 
freie  Zeit  zum  Herumführen  u.  dgl.  in 
sprach  nahmen,  und  endlich 


')  Es  ist  wohl  der  Rheinische  Hausfreund 
gemeint. 

*)  Die  Zöglinge  von  Lina,  die  beiden 
Sühne  des  Grafen  Oriolla. 


')  Gemeint  ist  Georg  Klindworth,  in  sehr 
jungen  Jahren  philologischer  Privat-Docent 
in  Göttingen,  dann  in  den  zwanziger  Jahren 
in  die  diplomatische  Laufbahn  verschlagen, 
als  Gesandtschaft«  Sekretär  an  verschiedenen 
europäischen  Höfen,  zuletzt  Geh.  Staatsrat 
und  Geheim -Sekretär  im  Ministerium  des 
Auswärtigen  in  Paris  unter  Guizot,  durch  die 
Februar -Revolution  samt  seinem  Chef  aus 
Paris  vertrieben,  lebte  seitdem  meist  in 
Brüssel,  starb  in  Paris  1882. 

*)  Die  Jahreszahl  fehlt.  Da  aber  im  Briefe 
von  einer  schweren  Krankheit  W.b  die  Rede 
ist  und  auch  von  dem  von  Lina  kürzlich 
gezeichneten  Porträt,  so  stammt  der  Brief 
vermutlich  aus  demselben  Jahre  wie  der 


obige  Nr.  I, 


1822. 


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301 


Verhältnisse  so  ungewifs  und  schwankend, 
dab  ich  Tor  deren  Festsetzung  keinen  Brief 
schreiben  wollte,  der  mir  wahrhaft  aus  der 
Seele  kommen  mufste.  Jetzt  habe  ich  eine 
Reise  nach  Neapel  und  Sicilien  definitiv  für 
dieses  Jahr  aufgeben  müssen,  da  bei  der 
[Iffugkeit  der  Cholera  ein  solcher  Plan 
venig  Nutzen  bringen,  ja  eine  Tollkühnheit 
»ein  würde;  und  ich  bin  jetzt  wie  voriges 
Jahr  für  den  Sommer  in  Fraskati  angesiedelt. 

Mein  hiesiges  Leben  ist  so  gut,  als  ich 
es  wünschen  kann.  Fraskati  liegt  an  dem 
Boge,  anf  dessen  Spitze  das  alte  Tuskulum 
mit  sehr  bedeutenden  Überresten,  Theater, 
Odeum,  Wasserleitung,  Resten  der  tuskula- 
nächen  Villa  des  Cicero  u.  dgl.  sich  befindet. 
Die  Stadt  hat  einige  tausend  Einwohner,  ist 
aber  rings  von  den  schönsten,  kolossal  grofs- 
artigen  Villen  der  vornehmen  römischen  Fa- 
milien, welche  ebenso  viel  vollkommen 
Entliehe  Gärten  darbieten,  umgeben.  Ich 
»elbrt  habe  mit  einem  Freunde  eine  schöne 
Wohnung  von  mehreren  Stuben  und  einem 
prächtigen  Salon  inner  unsere  Aussicht  ist 
auf  der  einen  Seite  die  Campagna  mit  der 
Stadt  Rom,  auf  der  anderen  ein  schöner 
Wald  von  immergrünen  Eichen  und  Öl- 
bäumen, dann  wieder  Campagna,  und  etwa 
drei  Heilen  weit  von  hier  in  der  Ferne  das 
Heer,  auf  dem  ich  die  weifsen  Segel  oft 
mit  blofsen  Augen  erblicke,  und  von  wo  aus 
in  diesem  Augenblicke  ein  frischer  Wind 
da«  Papier  bewegt  und  jede  Spur  von  drücken- 
der Hitze  abhält.  Morgens  früh  wird  bei 
Zeiten  aufgestanden,  dann  zu  Pferde,  zu  Esel 
»der  zu  Fufs  ein  tüchtiger  Spaziergang  ge- 
macht, gearbeitet,  zu  Mittag  gegessen,  ein 
»enig  geruht  und  wieder  gearbeitet,  bis  es 
drausen  kühl  wird.  Dann  wieder  geschleu- 
dert, abends  ein  Stündchen  in  ziemlich  an- 
genehme Gesellschaft  gegangen,  oder  mit 
2  guten  Freunden  Plato  gelesen,  und  zuletzt 
vortrefflich  geschlafen.  Werden  Sie  nicht 
Beidisch,  wenn  Sie  so  etwas  im  märkischen 
Sande  hören?  Sie  würden  wohl  anch  so  ein 
ölöck  mit  doppelten  Zügen  schlürfen,  um 
weh  für  die  Folge  davon  zehren  zu  können. 
Schwerlich  werde  ich  wohl  je  glücklichere 
Zeiten  erleben,  als  mir  der  Aufenthalt  in 
Italien  darbietet  und  noch  darbieten  wird. 
Dabei  lernt  man  so  viel  durch  Anschauung 
»ad  durch  die  größere  Freiheit  des  Geistes, 
daü  es  unmöglich  ist,  nicht  Fortschritte  zu 
machen,  nicht  allein  in  der  gröfseren  Masse 
de«  Wissens,  sondern  vorzüglich  an  innerer 
»ahrhaft  geistiger  Fortbildung.  Den  Cicero, 
UviuH,  Tacitua  zu  lesen,  ist  hier  die  an- 
genehmste Erholung  beim  Arbeiten.  Meine 
mittelaltrigen  Studien  erfordern  schon  mehr 


Anstrengung,  aber  es  ist  ein  Vergnügen, 
wenn  man  sich  so  unmittelbar  auch  die  Züge 
dieser  in  so  viel  Spuren  vorliegenden  Zeit 
lebendiger  macht. ') 

Von  Zeit  zu  Zeit  unternehme  ich  zu 
diesem  Zwecke  besondere  kleine  Reisen  von 
4 — 6  Tagen,  um  mir  eine  bestimmte  Begeben- 
heit oder  bestimmte  Zustände  lebhafter  zu 
vergegenwärtigen.  So  habe  ich  in  dem  Monat 
Juni  die  Städte  mit  kyklopischen  Mauern, 
wie  Cora,  Norba,  Signia,  dann  Gabii,  Veji, 
Ostia,  Fidenae  etc.  besucht.  Gröfsere  Reisen 
mufs  ich  jetzt  wegen  der  Hitze  auf  den 
Oktober  versparen,  wenn  nicht  unterdefs  die 
Cholera  ankommt  und  alle  meine  Pläne  mit 
einem  Mal  durchkreuzt.  Ich  habe  in  München 
und  Berlin  die  Cholera  ruhig  erwartet,  aber 
hier  denke  ich  mit  gröfserer  Furcht  an 
ihre  Annäherung,  weil  mir  ein  gröfseres 
Glück  dadurch  zerstört  wird;  andrerseits 
wird  in  Rom,  wie  in  Neapel  und  Palermo 
die  Hülflosigkeit,  der  Mangel  an  ordent- 
lichen Mafsregeln  beispiellos  sein.  Bis  jetzt 
sind  noch  keine  Cholerafälle  vorgekommen, 
doch  mehrere  Beispiele  der  Vorgängerin 
Cholerine,  und  gestern  zwei  andre  ver- 
dächtige Fälle.  Viele  schicken  sich  schon 
zur  Flucht  an,  und  Fraskati,  welches  nur 
vier  Stunden  von  Rom  entfernt  ist,  hat  schon 
alle  Häuser  voll.  Dies  wäre  freilich  ein  un- 
glücklicher Ausgang  des  herrlichen  Anfangs. 

Hier  sehen  Sie  im  Einzelnen,  wie  es  mir 
geht;  hoffentlich  geht  es  auch  Ihnen  so  gut, 
wie  es  in  der  Mark  gehen  kann;  denn  auch 
ich  habe  daselbst  viele  angenehme  Stunden 
verbracht.  Wenn  Ihnen  der  Ottos  Ttyrjpos 
bisweilen  noch  einiges  Vergnügen  macht,  so 
wird  es  mir  angenehm  sein,  davon  zu  hören. 
Auch  den  Virgil  habe  ich  theilweise  an  der 
Stelle  gelesen,  wo  Äneas  nach  ihm  gelandet 
'ist,  und  fast  hätten  die  Wogen  das  Exemplar, 
welches  zum  Andenken  in  die  salzige  Fluth 
getaucht  wurde,  davongetragen.  Von  Deodat 
hoffe  ich,  daffl  er  auch  fernerhin  so  fort- 
schreiten wird,  wie  er  begonnen  hat.  Zur 
Ausbildung  eines  tüchtigen  Menschen  etwas 
beigetragen  zu  haben,  ist  mir  lieber,  als 
hätte  ich  ein  weltberühmtes  Buch  geschrieben ; 
denn  da  sehe  ich  den  Nutzen  unmittelbar 
und  weifs,  dafs  viele  Menschen  mir  auch 
unbekannt  dafür  Dank  wissen.  Wie  gern 
sähe  ich  den  guten  Jungen  mal  wieder,  um 


')  Papencordt  sammelte  damals  den  Stoff 
zu  einer  Gesch.  der  Stadt  Rom  im  M.-A., 
ein  Plan,  der  bekanntlich  nicht  von  ihm, 
sondern  von  Gregorovius  ausgeführt  ist.  Nur 
die  Geschichte  der  Vandalen  ist  von  Papen- 
cordt als  ein  Teil  jenes  Planes  ausgeführt 


302 


Anzci^pn  und  \f itt^ilunj^Gti 


ihn  im  Nothfalle  zu  starken  oder  wenigstens 
meine  Freude  zu  erkennen  zu  geben.  Theilen 
Sie  mir  ja,  wenn  es  Ihnen  bequem  ist, 
Einzelnheiten  über  sein  Leben  und  Treiben 
mit;  von  Ihnen  höre  ich  dies  am  liebsten, 
da  wir  ungefähr  gleiche  Ansichten  über 
unseren  Pflegling  haben.  Dem  Hrn.  Grafen 
und  der  Frau  Gräfin  danke  ich  verbindlichst 
für  ihr  gütiges  Angedenken  und  bitte  mich 
ihnen  auch  jetat  zu  empfehlen,  ebenso  Hrn. 
Grafen  Alphons1),  der  wohl  kaum  mehr  bei 
Ihnen  sein  wird. 

Ihnen  sage  ich  über  Apennin  und  Alpen 
weg  ein  herzliches  Lebewohl  und  bitte  auch 
ferner  um  Ihr  gütiges  Angedenken. 

F.  Papencordt. 
Adresse:  Legazione  di  Prussia 
in  Roma. 

P.  8.  Wenn  ich  nicht  durch 
Ihre  gütige  Nachsicht  verwöhnt 
wäre,  so  würde  ich  kaum  einen 
so  schlecht  geschriebenen  Brief  ab- 

11»*  Brief 

Rom  25  April  1888. 
Verehrtestes  Fräulein! 

Leider  mufs  ich  mich  wieder  Ihnen  gegen- 
über der  Nachlässigkeit  anklagen,  und  in 
der  Tbat  mein  Stillschweigen  kann  ich  nicht 
rechtfertigen,  sondern  höchstens  nur  ent- 
schuldigen. Mir  ist  es  nämlich  immer  un- 
angenehm, Briefe,  welche  ich  aus  dem  Herzen 
schreibe,  mit  Geschäfts-,  Handlungs-  und 
weifs  Gott  welchen  Briefen  auf  die  Post  zu 
geben,  und  obgleich  ich  alle  14  Tage  meine 
Briefe  mit  dem  österreichischen  Courier 
wenigstens  bis  Wien  schicken  könnte,  so 
suche  ich  für  freundschaftliche  Briefe  immer 
eine  gute  Gelegenheit,  und  ich  schreibe  dann 
mit  doppelter  Freudigkeit.  Nun  hatte  ich 
leider  eine  Gelegenheit  mit  unserem  Courier, 
der  d.  Januar  nach  Berlin  ging,  ver- 
säumt, und  dessen  Rückkehr,  wobei  ich  neue 
Briefe  zu  erhalten  hoffte,  hat  sich  bis  z. 
Igten  April  verschoben,  so  dafs  die  Abreise 
des  Hrn.  G.  R.  Bunsen*)  nach  Berlin  wieder 
die  erste  gute  Gelegenheit  ist,  welche  ich 
denn  auch  benutze. 

Ich  brauche  Ihnen  wol  nicht  zu  sagen, 
welcho  Freude  mir  Ihr  Brief  gemacht  hat. 
Das  Angedenken  an  Ihr  Haus  macht  mir  die 
Erinnerung  an  Berlin  immer  doppelt  un- 
genehm, besonders  da  ich  aus  Ihrem  Brief 


')  Der  ältere  schon  erwachsene  Sohn  des 
Grafen  Oriolla. 

«)  Bekanntlich  1827—89  preufs.  Gesandter 
beim  Vatikan. 


sehe,  dafs  man  auch  meiner  daselbst  nicht 
vergessen  hat.  Leider  schrieben  Sie  mir  so 
wenig  über  sich  selbst,  und  ohne  dala  mich 
die  Natur  mit  einer  lebendigen  Einbildungs- 
kraft versehen  hätte,  mufs  ich  jetzt  heraus- 
rathen,  womit  Sie  sich  beschäftigen,  mir 
Ihre  Umgebung,  Ihren  Schreibtisch  u.  s.  w. 
ausmalen,  wo  ich  Sie  d.  12.  März  1886  ver- 
lassen habe.  Vergessen  Sie,  ich  bitte  sehr 
darum,  das  nicht  in  Ihrem  nächsten  Briefe 
zu  thun.  Was  Sie  mir  über  Deodat  schreiben, 
ist  mir  außerordentlich  lieb  gewesen;  ich 
nehme  zu  viel  Antheil  an  ihm,  um  nicht 
seinen  ferneren  Lebenslauf  mit  der  gröfsten 
Aufmerksamkeit  zu  verfolgen.  Ich  habe  ihm 
eine  Reihe  guter  Ermahnungen  auch  in  dem 
beiliegenden  Briefe  gegeben,  und  ich  hoffe, 
er  wird  dieselben  gut  aufnehmen,  da  die- 
selben mehr  vorbeugender  Natur  sind,  als 
dafs  ich  sie  unmittelbar  auf  ihn  angewendet 
hätte.  Es  wäre  mir  sehr  lieb  zu  wissen, 
welche  Punkte  ich  in  meinen  Briefen  an  ihn 
vorzüglich  zu  berühren  hätte,  um  zu  seiner 
Ausbildung  auch  fernerhin  mitwirken  zu 
können.  Er  ist  noch  der  alte  gute  Junge: 
seinen  letzten  Brief  hatte  er  in  der  Nacht 
geschrieben,  müde  und  schläferig,  wie  er 
selbst  sagt  und  man  auB  den  verschiedenen 
Anstrengungen,  welche  er  in  dem  Briefe 
macht,  um  sich  wach  zu  halten,  sieht.  Das 
hat  mich  wahrhaft  gerührt. 

Was  meine  eigenen  Verhältnisse  betrifft, 
so  haben  sie  richtig  ge rathen,  dafs  die  Zeit 
unmittelbar  nach  dem  Abgange  meines 
Briefes  vom  8teu  August  nicht  zu  den  an- 
genehmsten gehört  hat.  Ich  war  zwar  wäh- 
rend der  Zeit  der  Cholera  meist  in  Fraakati, 
auch  kamen  daselbst  nur  ein  paar  Cholera- 
fälle vor;  aber  diese  trafen  gerade  die  Frau 
und  den  ältesten  Sohn  des  Hauses,  worin 
ich  wohnte,  und  es  fehlte  also  an  Unbequem- 
lichkeiten nicht.  Als  die  Cholera  im  Ab- 
nehmen begriffen  war,  nahm  ich  meinen 
alten  Plan,  nach  Neapel  zu  gehen,  wieder 
auf,  und  so  ging  es  in  der  Mitte  Septembers 
mit  angenehmer  Gesellschaft  von  Freunden 
weiter  nach  Süden.  Es  ist  das  eine  der 
angenehmsten  Reisen,  welche  ich  je  gemacht 
habe.  Zwar  herrschte  in  Neapel  auch  noch 
die  mifsliche  Krankheit,  aber  die  Leute 
waren  daran  gewöhnt,  und  niemand  redete 
davon;  aufserdem  hörte  sie  im  Oktober  ganz 
auf.  —  Zwischen  Neapel  und  Rom  herrscht 
ein  Gegensatz,  dessen  Gröfse  man  ohne 
eigene  Anschauung  nicht  glaubt.  Der  Ernst-, 
ja  ich  möchte  Bagen  die  Trauer,  welche  Rom 
und  seine  Umgegend  charakterisiert,  weicht 
in  Neapel  einem  üppigen  Leben.  Die  Natur 
ist  blendend  schön,  ein  zauberischer  Effekt 


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Anzeigen  und  Mitteilungen 


303 


folgt  dem  anderen,  und  man  kommt  gar 
nicht  zur  Besinnung,  sondern  lebt  vollkommen 
wie  in  einem  Rausche.  So  geht  es  in  steigen- 
der Progression  von  Terracina  an  fort,  immer 
dem  Heere  entlang  oder  doch  nicht  in  all- 
zugrofser  Entfernung.  In  Oaeta  hatten  wir 
den  schönsten  Mondschein,  und  ich  freute 
mich  nicht  wenig  Ober  das  Zusammentreffen, 
dafs  auch  Aeneas  beim  Mondschein  diesen 
Ort  verlassen  hatte,  splendet  tremulo  sub 
1  umine  Pontus,  sagt  unser  Virgil,  dessen  un- 
übertreffliche Wahrheit  in  Naturbeschrei- 
bungen man  erst  an  Ort  und  Stelle  zu  wür- 
digen vermag.  Dabei  lag  unser  Gasthof 
grade  an  der  Stelle,  wo  das  Landgut  des 
Cicero,  auf  dem  er  ermordet  wurde,  un- 
gefähr gelegen  haben  mufs;  denn  man  kann 
höchstens  in  betreff  einer  Viertelstunde  nach 
den  Beschreibungen  irren,  und  der  fromme 
Glaube  des  Volkes  hat  ein  antikes  Grabmal 
in  der  Nähe,  welches  wahrscheinlich  der 
Plancischen  Familie  gehörte,  Sepolcro  di 
Cicerone  getauft.  In  Neapel  selbst  wohnte 
ich  am  Meere,  Strada  Sta  Lucia,  so  dafs 
ich  von  der  Altane  des  Fensters  den  ganzen 
Meerbusen  übersah  und  vom  Bette  aus  die 
Sonne  über  den  Vesuv  her  sich  erheben  sab. 
Jeder  Punkt  um  Neapel  gewährt  eine  andre 
Aussiebt  mit  so  wunderbaren  Effekten,  dafs 
ich  meiner  Erinnerung  oft  nicht  traute  und 
wieder  umkehrte,  um  mich  zu  überzeugen, 
dafis  es  wirklich  so  schön  sei.  Dies  gilt 
namentlich  von  Bajae,  Puzzuoli,  Misenum 
u.  s.  w.,  wo  auch  die  alten  Börner  ihre  liebsten 
Landhäuser  hatten.  Die  Stadt  Neapel  selbst 
macht  wahrhaft  den  Eindruck  einer  grofsen 
modernen  Stadt,  und  die  Hauptatrafse,  der 
Toledo,  ist  den  ganzen  Tag  gewifB  mit 
sechsmal  so  viel  Menschen,  Wagen  und 
Pferden  gefüllt,  als  die  Königsstralse  in 
Berlin,  wenn  Markt  daselbst  ist1);  schade 
nur,  dafs  Volk  und  Regierung  gleich  tief 
gesunken  sind. 

Der  Zweck  meiner  Reise  war  aufser  Ar- 
beiten auf  einzelnen  Bibliotheken  mehr,  mir 
im  allgemeinen  zu  einer  lebendigen  Anschau- 
ung des  Alterthums  zu  verhelfen,  und  in 
dieser  Beziehung  ist  Neapel  mit  Rom  der 
wichtigste  Ort.  In  Rom  ist  alles  grofs  artiger, 
in  Neapel  dagegen  besser  erhalten.  Viele 
kolossale  Überreste  des  Alterthums  in  Rom 
versteht  man  erst,  wenn  man  die  kleinen 
Copien  in  Pompeji  gesehen.  Von  alten  Ge- 
mälden und  Bronzen  sieht  man  in  Neapel 
mehr,  als  in  der  übrigen  Welt  zusammen  ge- 


')  Man  mufs  sich  erinnern,  dafs  Berlin 
im  J.  1838  erst  etwa  320000  Einwohner 
zählte,  also  weniger  alB  das  damalige  Neapel. 


nomraen;  namentlich  in  ersterer  Beziehung 
lernt  man  die  Alten  von  einer  neuen  Seite 
bewundern,  und  selbst  die  gewöhnlichsten 
Wandgemälde  sind,  waB  Composition  an- 
betrifft, fast  durchweg  ausgezeichnet  im  Ver- 
hältnifs  zu  den  Leistungen  der  Neueren. 
Man  sieht,  wie  in  einer  wahren  Blüthezeit 
der  Kunst  auch  das  Handwerk  künstlerisch 
wird,  ähnlich  wie  allenthalben  im  XV  u. 
XVIt«n  Jahrhundert.  Auch  mit  dem  häus- 
lichen Leben  der  Alten  befreundet  man  sich 
sehr,  und  es  macht  nur  in  der  Erinnerung 
einen  sonderbaren  Contrast,  dafs  wir  uns  in 
Pompeji  in  dem  Hanse  eines  gewissen  Pansa 
zu  Tische  setzten  und  unter  freiem  Himmel 
in  einem  alten  Triklinium  unser  bescheidenes 
Frühstück  von  Wein,  Brod  und  Früchten 
verzehrten;  an  Ort  und  Stelle  fanden  wir  es 
ganz  natürlich.  So  ist  es  mir  bei  vielen 
Dingen  ergangen.  Grofs  sind  in  Pompeji 
nur  die  öffentlichen  Gebäude,  wie  Amphi- 
theatrum,  Theatrum,  Basilica,  die  Wohn- 
häuser sind  sehr  klein,  aber  die  Räume  sehr 
sorgfältig  vertheilt.  Es  ist  Alles  nett,  an- 
genehm, heimlich,  aber  nicht  grofsartig. 

Letzteres  ist  dagegen  vor  allem  der  Fall 
mit  den  3  Tempern  in  Paestum.  Einer  der- 
selben aus  dem  Anfang  des  5,en  Jahrh.  vor 
Chr.  G.  iBt  der  besterhaltene  griechische 
Tempel  in  der  Welt,  und  ohne  denselben 
gesehen  zu  haben,  iBt  es  schwer,  wenn  nicht 
unmöglich,  sich  die  absolute  Schönheit  und 
Harmonie  eines  griechischen  Tempels  vor- 
stellen zu  können.  Es  ist,  wie  Goethe  sagt: 
Die  Säule  tönt  und  die  Triglyphe  klingt. 
Dabei  sind  die  Dimensionen  ganz  kolossal, 
und  durch  die  Säulenkolosse  hindurch  sieht 
man  das  Element  des  Gottes,  dem  der  Tempel 
wahrscheinlich  geweiht  war,  nämlich  das 
Meer  des  Poseidon.  Aufserdem  habe  ich 
noch  Salerno,  das  im  M.  A.  so  berühmte  und 
einzig  schön  gelegene  Amalfi  und  die  Insel 
Capri  besucht. 

Kurz,  der  Aufenthalt  in  Neapel  ist  eine 
meiner  liebsten  Erinnerungen,  trotzdem,  dafs 
auch  Mifsgeschicke  nicht  fehlten.  Schon  auf 
der  Hinreise  hatte  ich  mich  erkältet;  aber 
in  Neapel,  Salerno,  Paestum  und  Amalfi  liefs 
die  Freude  des  Augenblickes  und  die  damit 
verbundene  Aufregung  das  Übel  nicht  zum 
Ausbruche  kommen;  ich  hefs  mir  lauter  Un- 
vorsichtigkeiten zu  Schulden  kommen,  ja 
badete  in  Amalfi,  obgleich  es  gegen  Ende 
Septembers  war,  wiederholt  im  Meere.  Dafür 
muTste  ich  denn  auch  bei  meiner  Rückkehr 
nach  Neapel  14  Tage  büfsen  und  litt  am 
heftigsten  Terzianfieber.  Ich  wurde  zwar 
geheilt,  aber  nur  schlecht  behandelt,  und  so 
trat  nach  3  Wochen  das  Übel  wieder  ein, 


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304 


Anseigen  und  Mitteilungen 


doch  nur  schwacher  und  kürzer.  Ich  Hefa 
mir  dadurch  meine  gute  Laune  auch  nicht 
im  geringsten  verderben,  und  ohnehin  stellte 
ich  mich  immer  gleich  so  vollkommen  wieder 
her,  dafs  ich  selbst  an  den  intermittierenden 
Tagen,  da  das  Fieber  nur  jeden  dritten  Tag 
kam,  ausging.  —  Endlich  d.  IS*""  November 
traf  ich  wieder  in  Rom  ein. 

Hier  setzte  ich  mein  altes  Leben  der  Ar- 
beit, des  Spazierengehens  u.  s.  w.  fort  und 
ich  lebe  in  der  schon  früher  beschriebenen 
Weise.  Gesellschaft  habe  ich  diesen  Winter 
bis  zur  Unhöf  lichkeit  nicht  besucht,  besonders 
seitdem  mir  ein  leichtes  Unwohlsein  wenig- 
stens Einen  ostensibeln  Grund  mich  zurück- 
zuziehen, geben  konnte.  Aufserdem  betrüben 
mich  die  Vorgänge  in  Deutschland  wirklich 
zu  sehr,  als  dafs  ich  dabei  an  rauschenden 
Vergnügungen  Theil  nehmen  konnte.  Ich 
begreife  auch  nicht  im  entferntesten,  wie 
die  Sache  für  die  nächste  Zeit  beigelegt 
werden  kann.  —  Meine  Arbeiten  sind  noch 
immer  speciell  Geschichte  Roms  im  M.  A. 
mit  Bezug  auf  Pabst  und  Kaiser.  Wenn  mir 
mein  Plan  gelingt,  hoffe  ich  damit  einen 
wichtigen  Beitrag  zur  Geschichte  des  M.  A. 
zu  geben.  Bis  zum  August  d.  J.  bleibe  ich 
in  Horn  fest;  dann  werde  ich  wohl  wieder 
eine  gröfsere  Reise  machen;  über  das  Wohin 
habe  ich  nur  stille  Pläne,  welche  ich  mir 
selbst  noch  nicht  zu  gestehen  wage.  Unter 
uns  gesagt,  ich  denke  auf  ein  paar  Monate 
nach  Athen  zu  gehn,  oder  nach  Sicilien. 
Im  Winter  kehre  ich  nach  Rom  zurück;  im 
Sommer  1839  über  die  Alpen  nach  Deutsch- 
land; aber  den  Finger  auf  den  Mund  ge- 
halten; denn  andere  Leute  glauben,  ich  käme 
früher  zurück. 

Jetzt  will  ich  schliefsen;  denn  ich  bin 
freilich  noch  nicht  müde,  mich  mit  Ihnen 
zu  unterhalten,  aber  8ie  möchten  jetzt  wohl 
mehr  als  genug  meines  Geschwätzes  haben, 
wenn  es  wie  Kraut  und  Rüben  durch  ein- 
ander geht,  so  dafs  ich  mich  schäme,  diesen 
in  aller  Eile  geschriebenen  Brief  als  Antwort 
auf  den  Ihrigen,  durch  Zierlichkeit  in  Stoff, 
Form  und  Schrift  gleich  ausgezeichneten  ab- 
gehn  zu  lassen.  Ich  rechne  jedoch  wie 
immer  auf  Ihre  gütige  Nachsicht,  und  hoffe 
und  bitte,  dafs  Sie  mir  ja  recht  bald  ant- 
.  —  Meine  besten  Empfehlungen 


an  S.  Excellenz  und  d.  Fr.  Gräfin  und  di» 
beiden  jungen  Grafen,  welche  ich  gesehn 
F.  Papencordt. 
Adr.  Legation  de  Prasse  ä 
(Schlufs  folgt) 


ZU  GOETHES  IPHIGENIE 
In  Heft  2.  H.  1899  dieser  Jahrbücher 
S.  116  will  Imelmann  aus  den  Worten  des 
Pylades  Akt  4  Szene  4 
0  führet  uns  hinüber,  günstig«  Winde, 
Zur  Felseninsel,  die  der  Gott  bewohnt, 
Dann  nach  Mycen 
folgern,  d;ifg  Goethe  hier  und  also  auch  so 
den  anderen  Stellen,  wo  Delphi  vorkommt, 
die  Insel  Delos  gemeint  und  sie  fälschlicher- 
weise Delphi  (Delphos)  genannt  habe. 

Es  bedarf  nur  eines  Hinweises  auf  die 
Quelle  Goethes,  die  Fabeln  Hygins  (vgL 
Joh.  Vahlen,  Wiener  Akad.  der  Wissenscfa 
phil.-hist.  Klasse  Bd.  75  S.  822),  um  den  Be 
weis  zu  führen,  dafs  der  Dichter  vielmehr 
immer  Delphi  gemeint  hat.  Electra  de 
fratris  nece  Delphos  sciscitatum  est  profecU. 
Quo  cum  venisset  eodem  die  Iphigenia  cum 
Greste  venit  eo  .  .  .  Cognitione  itaque  facta 
Mycenas  venerunt  steht  bei  Hyginus  unter 
Aletes.  Also  genau  wie  in  der  oben  citierten 
Stelle  in  der  Goethischen  Iphigenie:  '. . .  Dann 
nach  Mycen.'  So  gering  waren  Goethe« 
Kenntnisse  des  Altertums  sicherlich  nicht, 
dafs  er  das  Delphische  Orakel  nach  Delo» 
versetzt  hätte.  Aus  der  Form  Delphos  bei 
Hygin  erklärt  sich  vielleicht  auch  du 
Goethische  Delphos  für  Delphi  —  wie  er  js 
auch  iv  Tu^ffoie  fälschlich  in  Tauris  über-  I 
setzt.  Dafs  Goethe  auch  in  der  Italienisches 
Reise  (Bologna  d.  19.  Oktober),  wo  er  den 
Plan  seiner  Delphischen  Iphigenie  beschreibt: 
'Elektra  in  gewisser  Hoffnung,  dafs  Orest  dai 
Bild  der  Taurischen  Iphigenie  nach  Delphi 
bringen  werde,  erscheint  in  dem  Tempel  de» 
Apollo'  u.  s.  w.  Delos  gemeint  habe,  wird 
Imelmann  wohl  nicht  behaupten  wollen.  Es 
bleibt  also  dabei,  dafs  Goethe  in  der  mehr- 
fach citierten  Stelle  Delphi  für  eine  Insel 
gehalten  und  nicht,  wie  Imelmann  will, 
eigentlich  Delos  gemeint  und  es  an  dieser 
und  den  andern  Stellen  versehentlich  Delphi 

Kahl 


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:  trefflicher  unb  erfahrener  Sdjufmänner  nrieber= 
»TuSbrurf  gegeren  roorben  tft. 

u.  268  <S.)  gr.  8.  bauerf).  geb.  a.  *Ä  2.40. 

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71 


Jr^eic^tiiö  fcer  neueften  2ef)r=  unb  ^itfäbücfjer  in  aßen  Untcrricijtäfädjcnt.  ©ratU 
unb  jronto  üou  ber  Serfagäbucf^anbhmg  Xeubncr,  ßeip$ig,  ipoftftrajje  3. 


Vertag  von  8.  ®.  2ett6HtT  in  Sciüjig. 


liniere  Jliutterrpra«*)*,  i»ir  UJer&nt  trab  «Ifr  Uier*». 

Bon  *rof.  Dr  C  ©et ff    3.  »nfL    »■    3«  £rinn>an1> 

gebunben  JC  2.60. 

Xiefe*  In  iBiflenfcbaftltcber  gemrinOerftanblicber  3crm 
fleffbriebene  Butt)  nmrbe  oora  '.ungemeinen  Xrutfchen  Sprach- 
mein  mit  einem  Breife  ausgezeichnet  unb  erfreut  fid)  eine« 
gto&cn  (frfolge*. 

Jrutfrtc  SHuflrraufrähe  für  offr  Jlrlm  h«6crer  SAufe« 
»ufammengeftellt  Bon  Obert.  Dr.  Q  e  r  tn  a  n  n  U 1 1 1  i  dj.  Xaurr- 
W  geb.  JC  2.40. 

«i|«0r*tir4  -  »roktirrft*  jlnl*ittt«0  »ur  Abf<i(T"tt(t 
bnitfrfirr  AufTälic  o.  Xtreltot  Dr.  3uliu»  fcaumann 
6.  Sinti    geh-       3  60. 

VralitiTilir  Aivlrttimp.  IM*  Drrmrtbitiig  brr  Ijmipt- 
(adiltdiftrn  friilrr  in  £nlaflt  nnb  Au«fulirunn 
brntCdirr  JUifTätf*  oon  Dr.  «bolf  ftufenrr  3.  \Hnfl 
Sru  brarb.  von  Dr.  Ctto  8hon    lart.  . »'  i  — 

,\it*fiil|rltrtit  «Unofttionen  unb  gtnJUrrntnittrft  f« 
brMtfrfjen  A«"«>b»n'   *on  «eftot  Dr  Äarl  Wenge. 


geh  jc 

ifunbitt>nrt|t(t  iTlicnuita  mit  atiefüljrlidjrn  Oi«* 
«rafttionen  |tt  brntföirn  AnfTaben  unb  Stoff» 
IM  frrirn  yorträflrn  oon  Xtreltot  Dr.  3utiu»  «au- 
mann.  geh-  1-60. 
flnnbert  lUjemata  fn«  b*ntrdi*  »«fTäff».  «oh  »hm- 
nafiallrhrcr      Rurberg,   lart.  JL  —  eo. 


8  Weich 


M.  2.70 


$U  £tilorb*tten.  »nleitung  unb  Xiipofitionen  B 

Dr  Xbcobor  «Selbe,  geh  •* 
ffinfli«  Ktirwat«  fn  brutMim  *nfTS»j»n. 

Oon  Dr.  3fetb.  $oftmann    geb  .K  l. — 
9«utr«t>e  Äuffäif*.    fär  bir  nntrrcn  ftlalTrn  In'hrrrr 

(el)ranrtalten.  Ben  Oberlehrer  ttarl  Jut.  ftiumtad). 

3  Bänbcben.   geh-  je  JC  1.60. 
I.  Banbchen:  ttrjablungen. 

irt    ~~  wSBP"m 

uul     —  vneie- 

Xie  ubetaitl  fteunblidje  aufnähme,  roeltfre  bie  brei  erften 
Banbchen  gefunbeu  haben,  bat  b:e  BerlagSPiicbhanbluna  befrimmt, 
bie  Sammlung  fortMtfeJien,  uub  »mar  toirb  enthalten  Banbchen  IV. 

6eftrn  unb  geße.  V  Xittate,  VI.  3 :tt>ali«njteberg:ibeji.  Vll.  «adj- 
lbungen,  £etglrio)ungen  unb  gobetn,  VIII.  Hut  allen  äkMetrn. 
9Us0nti*nrn  fu  bruifiiten  Auffiikm.  Bon  Cberlebjtr 

ftarl  »inbel    2  »dnb^en.  gflj-  ie  2.— 
Pi*pt>ritionrn  trab  m«t«ritUt*tl  (n  brulfriiru  ,\»fraüen. 
Bon  »rof.  Dr.  8.  Öf)oteolu«.  4  ^efte    g'^  Je  .«  1 — 

bjc"  P»il!rilf  ^u|iiti  {i  irkeitett  rni|i|tri  |rti[ri.  T£x 

f  k  o»«llrr  unb  Heroen  br«  ICafAfiSen  Jirierlum».  BopuUre 
SSptboiogif   bcr  »rieben   unb  «»inet     1-  Auflage.  Wit 
48  «bbilbungen  nod>  anriten  flunflwetlen.  fBob,Ifeile  Slu«flabf. 
8.  Reio)  geb.  Ji  3.60. 
J>i*  £agrn  >f*  nlafflf«en  ACtfrlmm».    <fr»a^ungen  au«  brr 
ölten  ©elt.   5.  Buflage.  8>«**  »4nbe  mü  98  Wübungen 
nad)  anHfen  Ihinfttoerfen.  ©obKeile  Kuogabe.    8.  «eitb 
gebunben  4.50. 
OrfAiAlf    »er    Orteten    «nb   »iraer    In  Kltfgrajljlni. 
t  ©&nbf.   3.  auflagt,    öoblfflle  «u«gabe. 
I.  Sie  Aelben  drieajcnlanb*  im  irrieg  unb  gruben. 
Wft'ctjiitf  brr  (0riea)en  in  biograe^fcb«  gorm.  Seit 
1  6tablfHd).  8.  »rieb  geb.  Ji  3.— 
Q.  Sie  gelben  Wonl  im  Urieg  unb  ^rieben.  WefAiajte 
bei  Wömer  in  biogranbifitier  gorm.  OTtt  l  6iflb,l(HoV 
8.  Weio)  gebunben  JC  3.60 

CriaBfungen  aus  0<r  afhn  th<\ti\&u.  3  Banb«en  3.  Huflage. 

8.  £Jn  l  Banb  gebunben  M  3  76 
KICber  an*  bem   aftgrififlifdJfn   Itttu.     SRit  gablreufcn 
«bbilbungen.   2.  Auflage.    öob,lfrile  Aufgabe    8.  9teict| 
gebunben  JC  t.— 
Hifber  au«  beut  atirömiftom  4ttcn.    SKlt  |ablrrid>en  Hb 
Ulbungen.    2.  aufläge,    ©ohifetle  «utgabe.  8.  «rieb  ge- 
bunben JC  3.60. 
Tic  JReifter  ber  «rirAirdien  ^itleralur.    Sine  ÜberfS*!  bet 
naffif4en  fittteratur  ber  »riefben  fflr  bie  reifere  3ugenb 
unb  Rreunbe  br4  Bltertum»    "Tin  einem  Stablfti*  «Bobl- 
»eile  «u»gabe. 


PJrrrtiirtiie  brr  beutfdiru  gittorattt*  mit  auogeDiSlw 
6tfieftn  au*  ben  ©rrfen  ber  6orAUghc6ft»n  S<fcnM?'ie2:r 
iftren  »iograubien,  "JJortroti  unb  Raefimile«  In  ocrirrfM 
cu«affülirttn  t»oIi,jfi)nltten  Bon  ^einrieb  »urs  4  Birr: 
gt.  Sej  -rJonnat  CJ*b.  JC  51  — ,  reich,  gebunben  Ji  5*50 
Betannttitb,  unter(cb,eibet  fieb  bie  filiieraturgelebiditt  M 

Dum  oon  allen  übrigen  £itteraturgefcbirj)ten  bureb  tte  *■  . 

grapbirn  unb  beigefügten  Bortrdtt  bet  £d>riftft(Oer  ntettt 

anlgebebnlen  Stoben  au<  ben  Worten  berfrlben.  Irr? 

allen  ©ettbetoerbrä  auf  biefem  »ebiete  gilt  anertanntermc^  l 

Citteraturgefcbidfte  bou  Ihiri  al«  bie  bet  roeitem  gebieoecur  vi 

au4führlid)ftf 

fUmardi«  tlfbon  unb  «rief*.   SKebft  einer  2;:':t... 
bti  Sebent  unb  ber  €praebe  Bitmartlt.   gür  Sebule  ui! 
baut  I|(rau4gegcben  nnb  bearbeitet  Son  Dr.  Ctto  Ssss 
*iu  einem  Bilbni*  Bi«marrl4.  8.  3u  Crigiual  EeiniMiilbir' 
JC  2.— 

(Seboren  Bi4marct*  Sieben  unb  Briefe  wegen  isrtl  v 
n>altigrn  3nba!t4  unb  ber  oollenbrtrn  gorm  (rtjon  feit  langer  S-'-j 
tu  ben  tlafüfrben  tterten  unferer  Sitteratar,  fo  nnrb  biefe  xn 
bewdfirter  vanb  getroffene  au«roabl  i«*>t  in  jebrr  Sawilii  uat  s 
teber  Siule  »itllommen  fein 

Dritt fd)f  « öfter-  nnb  fl»lb*nros«n.    gür  voal 
SAule  na*  ben  betten  Quellen  bargefteDt  von  Dr.  attl' 
Sange.  8    «eid>  geb.  JC  4.50 

ftnball:  Einleitung.  I.  Abteilung:  7»rut'*e  e*.*ü.-r 

fagen.  i.  Xeil:  Xa«  öeltaO  unb  (eine  Berooljne».   U.  teil:  £» 

einjeluen  (Sotttjfiten     III.  Xeil:  ©eituntergang  nnb  Sfltr 

neuerung    II.  -Abteilung :  ?rut(a5e  Ärf&enfaae«.  I.  Bu4  ?" 

»ötinngen.  U.  But*.  ?te  ^Uerungen.    III.  B«4  VetHr. 

nnb  ^ifOrflnnbe.  IV.  Bu«    5agrnllrei5  3>irtri<0»  »•«  arm. 

V.  Bn*.   JSeowuff.  VI.  Bua) 


ilaturarr<M<t)tit<rjr  Dolh#miirit|rn  an«  ttnl;  unb  freu 

rteiammelt  oon  C  Xäbnbarbt.    BHt  liteljeidnuM« 
C  2 d)totnbraiib,eini.  8.  (BefnmacfooH  gebunben  .*! - 
6innige  Jtnfd)auung.  btd)lrrifrb,e*  Cnu>ftnben  unb  uuit 
»rnigßen  brr}tia)er,  editer  viimor  bereinigen  ftö>  in  >i'ta 
naturgeffljirljtlitben  «lardjett    Cnoarbfene  unb  ftinber  tretten  n 
ben  oft  tieffinnigen,  oft  ernften  unb  oft  hutnorwllrn  „DlärdV: 
ihre  3reubr  haben. 

iJoturBubUn  im  flowf*   Don   Xirefior  BTof.  Dr 
ftrarpelm.  Blunbereien  in  ber  Xammerfiunbe   8w  tW 
für  bie  3ugenb.  «Rit  Reidmungen  oon  C  6d)niiibraibttir 
3n  Original  £ein»anobaiib  JC  3.80. 

Xie  Waturftubien  loUen  ben  lern-  unb  wijbejietvir 
ffnaben  m  moglicbfl  lebenbiger  Xarftellung  jum  narurw*f" 
irbaftli&en  Xrnfen  anregen  unb  tlnn  bfe  9laturobierte  feiner  ui*jt  ' 
Umgebung,  vor  allem  alfo  be»  oaterlidVn  <jauie*.  geifhj  ur.t 
gemutlid)  näher  bringen. 

Sti-rifiiiiir  bnr«V|  Itinlb   nnb   flttv  boa  Hctr-ty 

Sanbthrrg,  Cberlebrer  am  Ägl.  Otnmnaflum  jb  SDesS- 
C  t't  tfine  'Jlnleitung  tut  Beobachtung  ber  hetsriVheR 
in  ÜJJonatSbilbern  Jür  ^au*  unb  ß-djulf  bearbeitet  fif"'- 
tuflage.  9Rit  84  gnuflrationen  naeh  OrigiBaI»ei«nI131i:r: 
r-on  Ärau  $•  8aub»berg.  fXIll  u  234  6.)  gt.  8.  «»• 
3n  Criginal  Cinbanb  JC  5  — 

 Ifrfle  Huflage.  ohne  nauftationen    (X  a.  IM  : 

gr.  8.   1S9S.   3n  Cnginal-Sinbanb  JC  2. 80. 

Xa»  Bua»  roenbet  fldj  an  aOe  Srennbe  ber  «Rat«;  e»  ir- 
«aturfunbe  auf  Spa.Meraänflfn  Irhten,  giebt,  nad)  3a$rr|lr:'; 
geotbnet,  au4fdjlie6lich  ©(hilberungen  au*  ber  rjeimifibeti  f^-' 
uub  jleht  botanifefte,  joologifrhe  «nb  geologiidK  fragen  jleiiStwf^ 
in  ben  ftteie  ret  Betrachtung,  jc  iiachbcm  fte  fich  bem  *e«Wt'r: 
am  gegebenen  Crte  unb  ju  bet  gegebenen  flelt  aufbräitarn 

fbr«  »amrtttr rhlärung  unb  tbr< 


llnfere  yflanirti 
&t rliit np  in 
Blitubon.  Bon  Dr. 


Stell i»n9  in  b**  lilntl.olcr, t r  nnb  im  Jftlk**}**; 
fll«tuben.  Bon  Dr.  Öronj  ~ 
geb  JC  8.40. 


dloflie 


n«.  8  2 -«ufL 


5&t  jeben  Bflanwiifteunb  witb  ba*  Äinb  Ht  «£ 
otcl  anjtehenkcr,  wenn  ftd)  ihm  her  oft  fo  Hefe  nnb  «'^s».. 


feine»  Samen*  eut bullt,  unb  hatum  rottb  auch  jeber.  bet  Sk^T 
jux  bie  farbenbunten  Blumenforöfilinge  be»  ©albr»  u»  •  • 
«arten»  h«t,  biefe«  Banbthen  mit  ftreuben  begTufjcn 


Hierzu  Beilagen  von  B.  G.  Tenbner  in  Leipzig. 


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Am  7.  August  verschied  in  Dresden  nach  längerem  Siechtum 
sanft  und  schmerzlos  Herr  Professor  Db. 


ALFRED  FLECKEISEN 

Konrektor  em.  des  Vitzthumschen  Gymnasiums,  im  fast  vollendeten 
79.  Lebensjahre. 

Vielbewahrt  als  besonnener  und  feinsinniger  Gelehrter  hat  sich 
der  Verewigte  in  der  philologischen  Wissenschaft  ein  dauerndes, 
rühmliches  Andenken  gesichert.  Er  verdankt  diesen  Ehrenplatz  nicht 
nur  seinen  eignen,  anerkannten  Leistungen  auf  dem  Gebiete  der 
lateinischen  Sprache  und  romischen  Litteratur,  die  ihm  schon  vor 
vielen  Jahren  die  aufrichtige  Freundschaft  eines  Friedrich  Ritschl 
eingetragen  haben,  eine  warme,  durch  begeistertes  Mitforschen  ge- 
nährte Gelehrtenfreundschaft,  die  nur  der  Tod  lösen  konnte.  Zahl- 
reiche, namentlich  jüngere  Freunde  sind  dem  ehrwürdigen  Greise 
in  herzlicher  Erinnerung  verpflichtet  für  erfahrenen  Rat  und  wohl- 
wollende Aufmunterung,  die  er  unermüdlich  spendete.  Vor  allem 
ist  das  Verhältnis  Fleckeisens  zu  der  mitunterzeichneten  Verlags- 
buchhandlung Jahrzehnte  lang  ein  so  enges  und  in  mannigfacher 
Hinsicht  seltnes  gewesen,  dafs  es  einen  wichtigen  und  schönen 
Teil  ihrer  Geschichte  bildet:  die  Pflege  und  Förderung  der  Wissen- 
schaft, insbesondere  der  klassischen  Studien  ist  nicht  ohne  seine 
unmittelbare  Einwirkung  für  sie  leitend  geworden  und  geblieben. 

För  immer  ist  Fleckeisens  Name  mit  der  Geschichte  dieser 
Zeitschrift  verbunden,  und  sein  Gedächtnis  lebt  in  vielen  persönlichen 
Beziehungen,  die  er  als  ihr  Herausgeber  angeknüpft  und  sorgsam 
gepflegt  hat.  46  Jahre  hindurch  (1852 — 1897)  war  er  an  der 
Redaktion  der  Neuen  Jahrbücher  für  Philologie  und  Pädagogik 
beteiligt  und  hat  seit  1855  die  Verantwortung  für  deren  erste 
Abteilung,  die  Jahrbücher  für  klassische  Philologie,  allein  getragen. 
Trotz  aller  strengen  Wissenschaftlichkeit,  die  er  immerdar  vertrat, 
empfand  doch  der  Leser  der  grünen  Hefte  gar  oft  den  milden,  ver- 
söhnlichen Geist  ihres  Leiters,  der  seinen  wohlthuenden  Einflufs 
auszuüben  schien  und  noch  mehr  ausgeübt  hat,  als  der  Öffentlichkeit 
bekannt  werden  konnte.  Wir  betrauern  in  dem  Verstorbenen  einen 
treuen  Haushalter,  einen  Mann  von  seltner  Herzensgüte,  den  all- 
verehrten Vertreter  einer  glänzenden  Zeit  der  Philologie. 


Johannes  Ilberg. 


B.  G.  Teubner. 


igmzea  I 


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JAHRGANG  1899.    ZWEITE  ABTEILUNG.    SECHSTES  UND  SIEBENTES  HEFT 


AUS  DER  NEUNTEN  JAHRESVERSAMMLUNG 
DES  SÄCHSISCHEN  GYMNASIALLEHRERVEREINS 

ABGEHALTEN  AM  4.  UND  5.  APRIL  1899  IN  MEISSEN1) 

I 

WEGE  UND  ZIELE  FÜR  DIE  ABFASSUNG  EINER  GESCHICHTE 
DES  SÄCHSISCHEN  GELEHRTENSCHTJL WESENS 

Von  Ernst  Schwabe 

Als  vor  drei  Jahren  die  mit  Sehnsucht  erwartete  zweite  Auflage  von 
F.  Paulsens  'Geschichte  des  gelehrten  Unterrichts'  erscheinen  sollte,  gab  man 
sich  in  Schulkreisen  vielfach  der  Hoffnung  hin,  dafs  man  in  diesem  grund- 
legenden Werke  nunmehr  auch  ein  ausgeführtes  Bild  von  dem  Schulwesen  der 
aufserpreufsischen  deutschen  Lander  finden  würde.  Vor  allem  schien  dies  für 
Sachsen  eine  berechtigte  Forderung  zu  sein.  Jedoch  sah  man  sich  in  dieser 
Hinsicht  bei  der  Lektüre  des  Werkes,  trotzdem  dafs  es  vielfach  erweitert  und  ver- 
tieft worden  war,  in  gewissem  Sinne  enttäuscht.  Denn  wenn  auch  dieser  erste 
Kenner  der  Geschichte  der  Gymnasialpädagogik  ausserordentlich  häufig  auf 
unsere  speziell  sächsischen  Gymnasialverhältnisse  eingeht  und  gewisse  allgemein 
deutsche  Einrichtungen  und  Gebrauche  gerade  aus  sächsischem  Ursprünge 

*)  Durch  die  Zusammenstellung  der  folgenden  vier  Vorträge,  von  denen  I  und  II  in 
der  Öffentlichen  Hauptversammlung  gehalten  worden  sind,  III  in  der  Abteilung  für  alte 
Sprachen  und  Geschichte  und  IV  in  der  neuphilologischen  Abteilung,  versuchen  wir  ein 
Bild  von  der  rührigen  pädagogischen  Thätigkeit  des  sächsischen  Gymnasiallehrervereins 
zu  geben.  Freilich  ist  es  nicht  vollständig.  Es  wurde  weiterhin  noch  in  der  Haupt- 
Versammlung  von  Prof.  Dr.  Günther  aus  Plauen  i.  V.  ein  Vortrag  über  Naturalismus 
und  Realismus  im  Drama  gehalten,  den  wir  dem  Gegenstande  nach  für  die  Päda- 
gogik nicht  in  Anspruch  nehmen  konnton.  Außerdem  erledigte  die  mathematische 
Abteilung  folgende  Tagesordnung:  1.  Oberlehrer  Bernhard  Schmidt  aus  Würzen:  Vor- 
führung eines  Apparates  zur  Veranschaulichung  der  wichtigsten  elektrischen  Begriffe  und 
Gesetze.  3.  Prof.  Dr.  Reinhardt  aus  Meilsen:  Über  den  elektrolytischen  Stromunterbrecher 
Ton  Dr.  Wehnelt.  8.  Dr.  Tauberth  aus  Dresden  (Kreuzschule):  Über  das  Rechnen  mit 
Maßeinheiten  im  physikalischen  und  mathematischen  Unterricht.  4.  Prof.  Dr.  Hünlich  aus 
Leipzig  (Konigl.  Gymnasium):  Bericht  über  die  ihm  aufgetragene  Sammlung  der  von  den 
sächsischen  Gymnasien  gestellten  mathematischen  Maturitätsaufgaben  aus  den  Jahren  1896 
—  1898.  —  Wir  hoffen  Ober  den  letzten  Gegenstand,  die  Aufgabensammlung  in  der  Mathe- 
matik, unseren  Leeern  später  noch  Mitteilung  bieten  zu  können.  Die  Redaktion. 
N«u«  Jahiböchar.  189«.  II  20 


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306  E.  Schwabe :  Wege  u.  Ziele  f.  d.  Abfassung  einer  Geschichte  d.  sächs.  Gelehrtenschulwesens 

herleitet,  so  kann  es  doch  nicht  geleugnet  werden,  dafs  es  auch  bei  ihm  zu 
einem  einheitlichen  und  deutlichen  Bilde  des  sachsischen  Schulwesens  nicht 
gekommen  ist. 

Es  wäre  jedoch  mehr  als  ungerecht,  wenn  wir  Sachsen  dem  bahnbrechen- 
den Geschichtsschreiber  des  deutschen  gelehrten  Unterrichts  daraus  einen  Vor- 
wurf machen  wollten.  Es  konnte  gar  nicht  anders  sein;  denn  Paulsen  sah 
sich  darauf  angewiesen,  überall  nur  aus  abgeleiteten  Quellen  zu  schöpfen.  Nur 
bei  wenigen  Anstalten  unseres  sachsischen  Vaterlandes  lag  ihm  eine  ausführliche 
Darstellung  vor.  Für  die  meisten  Zeiten  und  Schulen  war  kein  Material  vor- 
handen. Vollends  eine  zusammenfassende  Bearbeitung  unseres  sächsischen 
höheren  Schulwesens,  die  auf  urkundliche  Belege  sich  stützte,  ja  nur  eine  hand- 
liche, nach  historischen  Gesichtspunkten  geordnete  Sammlung  der  in  Sachsen 
gültig  gewesenen  und  noch  gültigen  Gesetze  und  Schulordnungen  hat  ihm  nicht 
vorgelegen.  So  ist  denn  das  Bild,  das  in  Paulsens  Buch  von  unserem 
sächsischen  Gelehrten  Schulwesen  entsteht,  trotz  der  redlichen  Bemühungen,  mit 
dem  vorhandenen  Materiale  etwas  Gutes  zu  schaffen,  lückenhaft,  mit  unsicheren 
Konturen  gezeichnet  und  darum  nicht  recht  geeignet,  für  unsere  höheren  Schulen 
und  ihre  Geschichte  allgemeines  Interesse  zu  erwecken  und  ihnen  bei  den  Ge- 
bildeten Deutschlands  den  ehrenvollen  Platz  zu  sichern,  den  sie  verdient  haben 
und  der  ihnen  gebührt. 

Denn  schon  bei  einem  oberflächlichen  Einblick  in  die  früheren  Zustände 
des  sächsischen  höheren  Schulwesens  bemerkt  man,  dafs  sächsische  Einrichtungen 
früher  für  ganz  Deutschland  und  darüber  hinaus  mafsgebend  gewesen  sind. 
Und  auch  späterhin,  als  Sachsen  seine  Führerrolle  abgeben  mufste,  ist  sein 
Schulwesen  noch  immer  beachtenswert  geblieben;  denn  man  ging  seine  eigenen 
Wege,  soweit  es  der  Druck  der  Verhältnisse  gestatten  wollte,  und  schliefslich 
im  letzten  halben  Jahrhundert  hat  gerade  Sachsens  Gymnasialwesen,  gegenüber 
den  schwankenden  Stimmungen  in  anderen  deutschen  Ländern,  eine  ruhigere 
Entwickelung  gehabt  und  gleichmäfsigere  Haltung  bewahrt  und,  das  bewährte 
Gute  schützend,  an  dem  Werte  des  klassischen  Bildungsideals  festgehalten. 

Wenn  man  aber  an  einzelnen  Punkten  tiefer  eindringt,  da  und  dort  innere 
und  äufsere  Schulverhältnisse  in  ihrem  Zusammenhange  zu  erfassen  sucht  oder 
einen  einzelnen  Gegenstand  in  seiner  Gesamtentwickelung  vom  Ursprünge  an 
bis  auf  den  houtigen  Tag  verfolgt,  so  wird  man  mit  frohem  Erstaunen  gewahr, 
welch  unerwartete  Fülle  des  Details  freundlich  auf  uns  herniederströmt,  wie 
anmutig  und  farbenreich  sich  Zug  um  Zug  zum  Bilde  unserer  Vergangenheit 
fügt,  wie  ruhig,  trou  und  selbstverleugnend  unsere  Vorgänger  an  den  sächsischen 
höheren  Schulen  ihres  Amtes  gewaltet  haben.  Fast  nirgends  ist  das  Bild  ganz 
trübe;  denn  wenn  auch  Sachsens  politische  Geschichte  sich  nicht  immer  in 
aufsteigender  Linie  bewegt  hat,  und  das  mehrfache  Unglück  unseres  Landes 
seine  Rückwirkung  auch  auf  das  Gelehrtenschulwesen  geäufsert  hat,  so  zeigen 
uns  doch  selbst  die  Zeiten  des  tiefsten  Niederganges  unsere  Gymnasien  fast 
immer  in  freundlichem,  ja  oft  sogar  (dieser  Gunst  des  Schicksals  dürfen  wir 
uns  rühmen)  in  hellstrahlendem  Lichte.   Nach  dem  dreifsigjährigen  Kriege  war 


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E.  Schwabe:  Wege  u.  Ziele  f.  d.  Abfassung  einer  Geschichte  d.  sRchs.  Gelehrtenschulwesens  307 

ein  Christian  Weise  die  Zierde  der  Zittauer  Schule,  im  vorigen  Jahrhundert 
lehrten  Gesner,  Reiske  und  Ernesti  in  Leipzig,  und  wenn  wir  an  die  Zeit  von 
1815 — 1830,  vielleicht  die  schmerzlichste,  die  unser  sächsisches  Gymnasialwesen 
durchgemacht  hat,  denken,  so  strahlt  die  Schule  Gottfried  Hermanns  hervor, 
die  in  selbstloser  Hingabe  vieles  von  dem  zu  retten  wufste,  was  die  Not  der 
damaligen  Tage  kleinmütig  hinzugeben  entschlossen  war. 

Eine  eingehende  Betrachtung  unseres  höheren  Schulwesens  birgt  aber  auch 
noch  einen  anderen  Vorteil  in  sich;  denn  bei  der  Betrachtung  der  eigentlichen 
Schulgeschichte  ergeben  sich  ungesucht  eine  solche  Menge  von  Beziehungen 
zur  allgemeinen  Kulturgeschichte  und  Geistesgeschichte  unseres  Vaterlandes, 
ilafs  das  Interesse  sich  immer  mehr  steigert,  je  tiefer  man  eindringt,  und  ein 
Stoff,  der  an  sich  vielleicht  oder  auch  nur  im  Rahmen  einer  gesamtdeutschen 
Schul-  und  Geistesgeschichte  unbedeutend  erscheinen  könnte,  an  Bedeutung 
und  damit  an  Anteilnahme  auch  weiterer  Kreise  unter  den  Gebildeten  gewinnt. 
So  ist  uns  beispielsweise  gelehrt  worden,  welchen  Einflufs  die  Zittauer  Schul- 
komödien auf  die  Entwickelung  der  Poesie  in  sachsischen  Landen  gehabt  haben, 
so  vermag  man  jetzt  noch  zu  erkennen,  wie  befruchtend  der  Bienenfleifs  eines 
Schöttgen  u.  a.  auf  die  Einzelforschung  der  sächsischen  Landesgeschichte  ein- 
wirkte, so  wird  uns  eine  berufene  Feder  das  traditionelle  Verhältnis  zwischen 
den  Vertretern  der  klassischen  Sprachen  an  der  Leipziger  Universität  und  an 
den  Leipziger  höheren  Schulen  darzulegen  haben. 

Darum  ist  es  eine  dankenswerte  Aufgabe,  einmal  diese  noch  ungeschriebene 
Geschichte  unseres  sächsischen  Gelehrtenschulwesens  in  Angriff  zu  nehmen. 
Freilich,  die  Wege,  die  dazu  führen,  sind  weit,  und  das  Ziel,  das  gesteckt  ist, 
ist  hoch  und  nicht  mit  einem  Male  und  auch  schwerlich  von  einem  Manne  zu 
erreichen.  Es  wird  viel  unverdrossenen  Fleifses  bedürfen,  ehe  man  nur  an  die 
eigentliche  Aufgabe  selbst  herankommt,  da  eine  grofse  Menge  von  Vorarbeiten 
erst  erledigt  sein  mufs,  und  es  wird  noch  eine  ganze  Reihe  von  Jahren  ver 
gehen,  ehe  ein  solches  Werk  auf  den  Büchertisch  der  deutschen  Gelehrten- 
schule und  der  gebildeten  Welt  gelegt  werden  kann. 

Denn  wenn  schon  das  Feld  der  Gymnasialpädagogik  überhaupt  erst  seit 
verhältnismäfsig  kurzer  Zeit  bebaut  worden  ist,  so  hat  man  sich  wohl  erst  seit 
Paulsens  Werk  ernstlich  dazu  entschlossen,  die  Geschichte  der  Gymnasien  und 
Ihrer  Thätigkeit  als  eine  wirkliche  Wissenschaft  gelten  zu  lassen  und  fähige 
und  fleifsige  Arbeiter  auf  diesem  Felde  für  voll  anzusehen.  Hierbei  sind  wir 
Sachsen,  soweit  es  wenigstens  das  letztgenannte  Wissenschaftsgebiet  angeht,  be- 
sonders im  Rückstand  geblieben.  Freilich  ist  schon  eine  grofse  Reihe  von 
Einzelschriften,  darunter  sehr  achtbare  Leistungen,  vorhanden  und  lassen  uns 
das  Ganze  ahnen;  aber  das  meiste  ist  doch  noch  zu  thun  übrig,  vor  allem  alles 
das,  was  sich  auf  die  Gesamtentwickelung  unseres  Gelehrtenschulwesens  bezieht. 

Schon  die  Entwickelung  der  Schulgesetzgebung  im  Ganzen  und  im 
Einzelnen  zu  verfolgen,  ist  sehr  schwierig.  Was  Preufsen  an  seinem  Wicse- 
Kübler  besitzt,  diesem  unentbehrlichen  Rüstzeug  eines  jeden,  der  das  preufsische 
Schulwesen  studieren  will,  nämlich  eine  Sammlung  der  wichtigsten  Gesetze  und 

20* 


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308  E-  Schwabe :  Wege  u.  Ziele  f.  d.  Abfawung  einer  Geschichte  d.  sftch».  Oelehrtenschalfreaeus 

Verordnungen,  die  gelten  und  gegolten  haben  (die  letzteren  in  historischer  Folge 
geordnet),  das  liegt  dem  Forscher  für  unser  sachsisches  Vaterland  nicht  yor. 
Schon  die  heute  noch  gültigen  Gesetze  und  Verordnungen  haben  seit  der  jetzt 
veralteten  Arbeit  von  Philippi  keinen  neuen  Sammler  und  Bearbeiter  gefunden. 
So  mufs  schon  für  den  Gebrauch  des  Tages  mit  der  letzten  Auflage  des  Codex 
für  das  Königlich  Sächsische  Kirchen-  und  Schulrecht  von  1890  gerechnet 
werden;  im  übrigen  mufs  man  sich  auf  das  Gesetz-  und  Verordnungsblatt  und 
auf  die  Sammlung  der  im  Schularchiv  befindlichen  Verordnungen  verlassen, 
eine  nicht  immer  leichte  Aufgabe,  die  auch  ein  zuverlässiges  Gedächtnis  ver- 
langt. Und  es  wäre  doch  sehr  zu  wünschen,  da  Ts  gerade  die  Kenntnis  des 
noch  geltenden  Rechts  den  Angehörigen  des  höheren  Lehrerstandes  erleichtert 
würde. 

Noch  viel  schlimmer  steht  es,  sobald  es  sich  um  schulrechtliche  Fragen 
historischer  Natur  handelt.  Auch  für  den,  der  sich  an  einem  grofsen  Orte  mit 
reichen  Bibliotheksschätzen  befindet,  wird  es  nicht  immer  leicht  sein,  sich  ge- 
nügend und  schnell  über  das  zu  orientieren,  was  einmal  Gültigkeit  gehabt  hat 
oder  Brauch  gewesen  ist.  Selbst  den  gröfseren  Schulbibliotheken  steht  nicht 
immer  eine  vollständige  Sammlung  der  einzelnen  Bände  des  Codex  Augusteus 
zur  Verfügung,  geschweige  denn  das  gesamte  Gesetz-  und  Verordnungsblatt 
oder  die  Landtagsakten.  Und  was  schliefslich  die  Einzelschulordnungen  an- 
geht, so  ist  das  Werk  von  Vormbaum  'Evangelische  Schulordnungen',  wie  schon 
sein  Titel  lehrt,  zeitlich  begrenzt  und  unvollständig.  Dazu  ist  dieses  Buch 
jetzt  ziemlich  selten  geworden  und  schwer  aulzutreiben.  In  noch  höherem 
Grade  selten  sind  die  Einzelgesetze  und  -Ordnungen  einer  ganzen  Reihe  von 
Schulen  aus  späterer  Zeit;  sie  finden  sich  nur  hier  und  da  in  älteren  Bi- 
bliotheken, bisweilen  sogar  nur  handschriftlich,  und  sind  dadurch  schwer  be- 
nutzbar. Darum  hat  also  jeder,  der  mit  dem  Studium  dieser  Seite  des 
sächsischen  Gelehrtenschulwesens  beginnen  will,  mit  einem  weitzerstreuten, 
nicht  immer  leicht  zu  beschaffenden,  öfters  auch  schwer  erkennbaren  Quellen- 
material zu  thun.  Viel  gesetzgeberische  Weisheit,  von  Friedrich  dem  Weisen 
an  bis  auf  Friedrich  AuguBt  den  Gerechten  und  von  Melanchthons  Visitations- 
protokollen an  bis  zu  den  Ordnungen  der  kleinen  Lyceen  in  der  Lausitz  und 
im  Erzgebirge,  liegt  da  verborgen  und  harrt  der  Hebung.  Es  ist  darum  eine 
der  ersten  und  wichtigsten  Vorarbeiten  für  eine  Geschichte  des  sächsischen 
Gelehrtenschulwesens,  das  Gesetzesmaterial  zu  sammeln  und  zu  sichten, 
um  in  historischer  Hinsicht  klar  darzustellen,  wie  sich  alles  entwickelt  hat; 
und  es  wird  dabei  die  nützliche  Nebenarbeit  mit  abfallen,  dafs  auch  für  das 
Bedürfnis  der  Gegenwart  das  gesammelt  und  in  bequemer  systematischer  Form 
zugänglich  gemacht  wird,  was  heute  noch  gilt. 

Wenn  schon  bei  der  Lösung  dieser  Aufgabe  mit  vielem  noch  unbekannten 
Material  gerechnet  werden  mufs,  so  ist  das  in  noch  weit  höherem  Mafse  bei 
einer  zweiten  Vorarbeit  der  Fall,  bei  der  Ausbeutung  des  archivalischen 
Materials.  Denn  das  allermeiste,  was  sich  in  den  Akten  des  Hauptstaats- 
archivs, des  Kultusministerialarchivs  (seit  1837)  und  der  einzelnen  Stadt-, 


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E.  8chwabe :  Wege  u.  Ziele  f.  d.  Abfawung  einer  Geschichte  d.  sachs.  Gelehrtenschulweuens  309 

Schul-  und  auch  Pfarrarchive  befindet,  ist  eine  wahre  terra  incognita.  Dafa 
dieses  handschriftliche  Material  zuganglich  gemacht  und  ausgebeutet  werden 
mius,  wenn  man  zu  einem  einigermafsen  sicheren  Bilde  unseres  Gelehrten- 
schulwesens gelangen  will,  ist  einleuchtend.  Natürlich  ist  hierbei  an  eine  auch 
nur  annähernde  Veröffentlichung  der  Gesamtheit  dieses  Materials  nicht  zu 
denken.  Aber  in  einer  Form  ist  doch  diese  Forderung  erfüllbar,  und  diese 
mufs  darum  ins  Auge  gefafst  werden:  nämlich  eine  Herausgabe  der  aller- 
wichtigsten  Urkunden,  eine  ganz  kurz  zu  haltende  Übersicht  der 
auf  den  verschiedenen  in  Frage  kommenden  Archiven  ruhenden  Akten,  und 
vor  allem  Regesten  dazu,  um  es  dem  Einzelforscher  zu  ermöglichen,  von 
einem  gegebenen  Punkte  aus  weiter  einzudringen  und  sich  weiter  fortzuhelfen, 
so  dafs  es  ihm  gelingt,  eine  quellenmäfsig  fundierte  und  darum  abschließende 
Einaeluntersuchung  darzubieten.  Auch  diese  zweite  Vorarbeit,  das  Urkunden- 
und  Regestenbuch,  wird  hoffentlich  auf  das  Studium  der  Geschichte  unseres 
Gelehrtenschulwesens  recht  befruchtend  einwirken,  und  vor  allem  darauf,  dafs 
auch  Gesamtbilder  entworfen  werden  und  die  Einzelheit  nicht  mehr  allein 
herrschend  in  den  Vordergrund  tritt. 

Denn  an  Einzeluntersuchungen,  soweit  Bie  mit  einem  beschrankten  Akten- 
kreis zu  thun  hatten  und  sich  auf  einzelne  Schulen,  Zeiten,  Personen  und  Fächer 
beziehen,  ist  schon  eine  stattliche  Anzahl  vorhanden.  Eine  der  besten,  die  von 
Theodor  Flathe  über  St.  Afra,  nennen  wir  mit  gerechtem  Stolz  die  unsere. 
Jedoch  ist  die  Verteilung  dieser  Arbeiten  über  Zeit,  Stoff  und  Art  sehr  un- 
gleichmäfsig.  Von  manchen  Schulen  fehlt  sie  noch  heute  oder  ist  so  verfafst, 
dafs  sie  nur  schwer  zu  lesen  und  zu  verwenden  ist.  Das  bedauerlichste  aber 
ist,  dafs  es  bis  heute  noch  nicht  möglich  ist,  auch  nur  einen  noch  so  ober- 
flächlichen Überblick  über  diese  ganze  Litteratur  zu  gewinnen.  Darum  kann 
es  einem  arbeitswilligen  Forscher  auf  diesem  schulgeschichtlichen  Gebiete  leicht 
begegnen,  dafs  er  meint,  etwas  gefunden  zu  haben  und  ein  dankbares  Thema 
bearbeiten  zu  können,  um  hinterher  finden  zu  müssen,  dafs  ihm  die  ganze 
Arbeit  an  einem  Orte,  wo  er  nicht  suchte,  schon  vorweggenommen  ist  —  eine 
gt.'wüs  wenig  ermutigende  Thatsache  und  kaum  geeignet,  andere  zur  Mitarbeit 
zu  veranlassen.  Viele  von  diesen  Arbeiten,  darunter  eine  Reihe  ganz  vortreff- 
licher Einzelleistungen,  finden  sich  als  wissenschaftliche  Beilage  den  Programmen 
beigegeben;  diese  leicht  zu  erreichenden  Bausteine  leiden  aber  vielfach  an  dem 
Übelstand,  dafs  sie  unvollendet  bleiben  mufsten,  da  ihnen  nur  ein  beschrankter 
Raum  zur  Verfügung  gestellt  werden  konnte.  Die  übrigen  Veröffentlichungen 
sind  aber  oft  grofse  Seltenheiten:  das  erklärt  sich  daraus,  dafs,  abgesehen  von 
Zeitungsartikeln,  eine  ganze  Reihe  solcher  Arbeiten  sich  in  Stadtchroniken  und 
periodischen  Veröffentlichungen  von  Geschichtsvereinen  und  gelehrten  Gesell- 
schaften vorfinden,  also  nur  einem  sehr  eingeschränkten  Kreise  bekannt  ge- 
worden sind.  Auch  hier  zeigt  sich  bei  einigermafsen  tieferem  Eindringen  in 
die  Einzelheiten,  dafs  die  Fülle  des  Stoffes  ungeahnt  grofs  ist  —  ich  selbst 
habe  in  kurzer  Zeit  und  nur  mit  Benutzung  der  Afranischen  Bibliothek  etwas 
über  370  Titel  von  Einzelartikeln  zusammengebracht.   Anderseits  wird  die  Ab- 


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310  E.  Schwabe :  Wege  u.  Ziele  f.  d.  Abfassung  einer  Geschichte  d.  gächs.  Gelehrtenschulweaen« 


gelegenheit  dieses  Materials  am  besten  durch  die  Thatsache  bestätigt,  dafs  in 
Theobald  Zieglers  Abrifs  der  Geschichte  der  Gymnasien  (einer  im  Citieren 
allerdings  sparsamen  Schrift)  sich  kein  einziges  auf  sächsische  Gymnasial- 
verhältnisse  bezügliches  Werk  verzeichnet  findet.  Und  in  der  viele  Seiten  langen 
Bibliographie  in  Paulsens  zweitem  Bande  werden  für  Sachsen  nur  vier  Bücher- 
titel genannt,  während  für  Württemberg,  Schleswig- Holstein  und  sogar  die 
Schweiz  die  Angaben  mindestens  dreifach  so  hoch  sind  —  von  Preufsen  ganz 
zu  schweigen.  —  Deshalb  ist  die  dritte  notwendige  Vorarbeit,  die  geleistet 
werden  mufs,  ehe  man  an  weitere  Ziele  denken  darf,  eine  ausführliche, 
genaue  und  umfassende  Bibliographie  aller  Druckerzeugnisse  über  unser 
sächsisches  Gelehrtenschulwesen,  von  seinen  Anfängen  an  bis  auf  den  heutigen 
Tag,  womöglich  mit  genauen  Angaben,  wo  sich  die  zum  Teil  sehr  seltenen 
Drucksachen  vorfinden.  Der  Zeit  nach  wird  aber  diese  Veröffentlichung  die 
erste  sein  müssen,  um  Mitarbeiter  anzulocken,  die  das  angezeigte  bibliographische 
Matorial  entweder  zu  eigenen  Studien  verwenden  oder  aus  demselben  die 
Lücken  in  der  Geschichte  unseres  sächsischen  Gelehrtenschulwosens  erkennen 
und  diese  aus  ungedrucktem  Material  ausfüllen.  Dadurch  wird  sich  hoffentlich 
in  kurzer  Zeit  ermöglichen  laBsen,  dafs  ebenso  wie  die  Wiesesche  Veröffent- 
lichung für  Preufsen  eine  kurze,  chronikartig  gehaltene  geschichtliche  Über- 
sicht über  die  wichtigsten  Daten  für  das  Gesamtschulwesen  und  die  einzelnen 
Schulen  zusammengebracht  und  herausgegeben  werden  kann. 

Ob  damit  die  Reihe  der  Vorarbeiten  erschöpft  ist,  die  notwendig  sind,  um 
an  die  Errichtung  des  Gesamtgebäudes  zu  gehen,  das  mufs  die  Arbeit  selber 
lehren.  Das  Ziel  aber,  das  auf  diesen  verschlungenen  und  nicht  immer  leicht 
kenntlichen  Pfaden  erreicht  werden  soll,  ist  eine  auf  die  Quellen  gegründete 
und  rein  objektiv  gehaltene  Darstellung  der  Geschichte  unseres  sächsischen 
Gelehrtenschulwesens.  Darum  müssen  auch  die  Vorarbeiten  dazu  besonders  in 
Angriff  genommen  werden,  um  in  absehbarer  Zeit  zum  Abschlufs  zu  gelangen, 
und  wollen  deshalb  nur  als  Ergänzung,  nicht  als  Konkurrenz  zu  dem  umfassen- 
den Werke  von  Kehrbach,  Monumenta  German iae  paedagogica,  angesehen  sein. 
Denn  auch  schon  in  der  hier  vorgeschlagenen  Arbeitsweise  wird  ein  längerer 
Zeitraum  bis  zum  Abschlufs  des  Ganzen  vergehen.  Je  breiter  gegründet  aber, 
je  sicherer  in  seinen  Einzelheiten  dies  Gebäude  gebaut  sein  wird,  desto  gewisser 
wird  der  Verfasser  und  sein  Leserkreis  davor  bewahrt  bleiben,  dafs  das  Ganze 
etwa  in  apologetischer  Wendung  zu  einer  Art  von  Rettung  des  Gymnasiums 
würde  oder  sich  zu  einem  einseitigen  Lobpreisen  der  klassischen  Bildung  ent- 
wickelte. Es  kommt  aber  darauf  an,  dafs  das  sächsische  Gymnasium  (darum 
handelt  es  sich  in  der  Hauptsache)  dargestellt  wird,  so  wie  es  wirklich  ist  und 
gewesen  ist,  mit  seinen  Vorzügen  und  Mängeln.  Will  man  dies  Ziel  aber  er- 
reichen, so  darf  die  Philologie  nicht  allein  zu  Worte  kommen,  sondern  nur  da, 
wo  sie  herrscht,  und  es  mufs  dafür  gesorgt  sein,  dafs  alle  anderen  Gymnasial- 
wissenschaften, von  der  Religion  an  bis  zum  Turnen,  in  angemessener  Weise 
ihre  Darstellung  finden. 

Damit  ist  gegeben,  dafs  mehrere  Männer  sich  auch  in  die  Ausführung  des 


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E.  Schwab«:  Wege  u.  Ziele  f.  d.  Abfassung  einer  Geschichte  d.  säche.  Gelehrtenschulwesens  311 


Schlufswerkes  zu  teilen  haben.  Denn  man  würde  damit  einen  schweren  Fehler 
begehen,  wenn  nur  ein  Fachmann  diese  Gesamtentwickelung  darstellen  und  so 
gewissermafsen  über  Dinge  mitsprechen  wollte,  die  er  nicht  von  Grund  aus 
versteht.  Aufaerdem  ist  die  Geschichte  des  sächsischen  Gelehrtenschulwesens 
mit  so  tausendfachen  Faden  mit  der  Geschichte  der  gesamten  Kultur  unseres 
Volkes  verknüpft,  dafs  jede  auch  unabsichtliche  Tendenz  das  Bild  verwirren 
würde. 

Und  damit  komme  ich  zu  dem  dritten  nnd  letzten  Punkte  meiner  Aus- 
führungen,  zu  den  Mitteln,  mit  denen  diese  Geschichte  des  sächsischen  Ge- 
lehrtenschulwesens geschaffen  werden  soll. 

Aus  den  eben  dargelegten  Gründen  ist  es  hoffentlich  deutlich  geworden, 
dafs  ein  einzelner  Mann,  wenigstens  in  der  oben  ausgeführten  Weise  der  Vor- 
arbeit, diese  Arbeit  nicht  leisten  kann.  Es  würde  auch  bedenklich  sein  —  und 
hierbei  kehre  ich  zu  dem  im  Eingange  citierten  Buche  von  Paulsen  zurück  — 
wenn  man  das  kühne,  geniale  Konstruieren  eines  solchen  Werkes  für  ganz 
Deutschland  im  kleinen  für  unser  Sachsen  nachahmen  wollte.  Von  einem 
grofsen  Architekten  hat  noch  niemand  verlangt,  dafs  er  die  einzelnen  Bausteine 
selbst  behaut  und  auch  eigenhändig  an  den  rechten  Fleck  setzt.  Wenn  ihm 
sein  Werk  gelingt,  trotedem  dafs  er  nicht  jede  Einzelheit  in  ihr  Einzelstes 
verfolgte,  dann  ist  er  bewundernswert  —  aber  wird  gerade  unsere  sachsische 
Gelehrtenschulgeschichte  solch  einen  Meister  finden?  Zudem  ist  trotz  der  Fülle 
des  Stoffes  die  Aufgabe  enger  umgrenzt,  wird  mehr  den  Charakter  einer  wenn 
auch  sehr  ausführlichen  Spezialarbeit  zur  deutschen  Gelehrten-  und  Kultur- 
geschichte tragen,  und  darum  ist  der  angedeutete  lange  und  mühselige  Weg 
einzuschlagen,  weil  man  auf  ihm  eines  gewissen  Abschlusses  und  damit  wohl 
auch  Erfolges  sicher  ist. 

Jedoch  dazu  braucht  es  viele  arbeitsfreudige  Hände,  und  deshalb  wende 
ich  mich  heute  an  die  Kollegen,  den  natürlichen  Interessentenkreis  für  das 
geplante  Unternehmen.  Ich  möchte  wünschen,  dafs  sie  sich  zunächst  für  das 
Thema  selbst  interessierten.  Dann  werden  sie  oft  mit  befriedigtem  Stolze  zu 
der  Erkenntnis  gelangen,  welch  eine  hochachtbare  Einrichtung  es  ist,  die  uns 
alle  umschliefst,  und  den  stillen,  aber  stetigen  Fortschritt  gewahren,  der  un- 
ablässig auch  im  Gesamtorganismus  des  Gelehrtenschulwesens  vor  sich  geht, 
trotz  des  Leugnens  mancher  mehr  überzeugter  als  unterrichteter  Gegner.  Dann, 
hoffe  ich,  wird  auch  mancher,  der  dieser  Sache  bisher  fremd  gegenübersteht, 
sich  bereit  finden,  ihr  seine  Mitarbeit  zu  widmen  und  somit  dem  einen  grösseren 
Zwecke  dienen  zu  helfen.  Ferner  mufs  aber  auch  für  die  Bearbeiter  einzelner 
der  oben  genannten  Vorarbeiten  schon  jetzt  die  Hilfe  aller  derer  aufs  dringendste 
angerufen  werden,  die  in  der  Lage  sind,  aus  eigenem  Wissen  oder  infolge  ihrer 
amtlichen  Stellung  ausreichende  und  zuverlässige  Auskünfte  zu  erteilen.  Zu- 
nächst richtet  sich  diese  Bitte  an  die  Rektoren  und  an  die  Vorstände  der 
Schulbibliotheken  und  Schularchive.  Doch  kann  dabei  die  Hilfe  der  grofsen 
Bibliotheken  und  Archive  nicht  entbehrt  werden,  und  darum  möge  auch  diesen 
gegenüber  die  Bitte  ausgesprochen  sein,  dafs  die  an  ihnen  beschäftigten  Herren, 


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3 1 2  E.  Schwabe :  Wege  u.  Ziele  f.  d.  Abfassung  einer  Geschichte  d.  sächs.  Gelehrtenschul 


die  im  Staate  an  Interessen  uns  vielleicht  ain  nächsten  stehenden,  hilfreich  ihre 
Hand  bieten  möchten. 

Um  äufsere  Mittel  brauchen  wir  unseren  Verein  nicht  in  Anspruch  zu 
nehmen.  Sie  sind  freilich  nötig,  um  erst  das  Spiel  der  Kräfte  zu  ermöglichen, 
und  darum  hat  sich  die  Staatsregierung,  auf  Antrag  unseres  Vorsitzenden  in 
seiner  Denkschrift  vom  15.  Dezember  1898,  in  dankenswertester  Liberalitat 
entschlossen,  eine  jährliche  Beihilfe  bis  auf  weiteres  zu  gewähren,  so  dafs  es 
zunächst  möglich  sein  wird,  die  mit  der  Einrichtung  eines  solchen  Unternehmens 
notwendig  verbundenen  Kosten  zu  decken.  Dann  wird  es  aber  auch  möglich 
sein,  den  Mitarbeitern,  die  zur  Teilnahme  an  den  Vorarbeiten  sich  melden  oder 
dazu  veranlafst  werden,  für  ihre  Arbeit  ein  bescheidenes  Entgelt  zu  gewähren. 

Weit  wichtiger  sind  jedoch,  gegenüber  den  realen  Mitteln,  die  idealen 
Mittel,  die  wir  brauchen,  nämlich  die  Anteilnahme,  die  der  höhere  Lehrerstand 
und  mit  ihm  die  Gebildeten  unseres  sächsischen  und  deutschen  Volkes  einer 
Geschichte  seines  Gelehrtenschulwesens  widmen.  Die  Interessen  der  Welt  haben 
sich  etwas  von  den  stillen  Räumen  der  Gelehrtenschule  abgewendet;  vielfach 
weifs  man  nicht,  selbst  viele  Väter  wissen  es  nicht,  wie  es  bei  uns  zugeht 
Nur  wenn  es  gelingt,  das  Interesse  für  diese  Sache  nicht  nur  zu  erregen,  son- 
dern auch  zu  fesseln,  darf  auf  eine  glückliche  Lösung  dieser  schwierigen  Auf- 
gabe gerechnet  werden.  Doch  ich  meine,  wenn  es  sich  nur  darum  handelt,  so 
ist  der  Erfolg  schon  gewifs.  Schon  bei  anderen  Gelegenheiten  ist  noch  nie- 
mals vergeblich  an  den  wissenschaftlichen  Sinn  der  Gymnasiallehrerschaft 
appelliert  worden:  so  wird  auch  die  Sympathie  nicht  fehlen,  wo  es  sich  um 
die  Geschichte  des  eigenen  Standes  und  Berufes  handelt. 


ÜBER  DIE  ERTEILUNG  DER  WISSENSCHAFTLICHEN 
HAUPTZENSUR  BEI  DER  REIFEPRÜFUNG l) 

Von  Richard  Meister 

In  der  letzten  Sitzung  des  vorjährigen  Ortsvorstandes  in  Leipzig  wies  ich 
darauf  hin,  wie  hinsichtlich  der  Bestimmung  unserer  Lehr-  und  Prüfungsordnung 
unter  §  66  Absatz  4S)  über  die  Erteilung  der  wissenschaftlichen  Hauptzensur 
an  den  sächsischen  Gymnasien  verschiedene  Verfahren  beobachtet  würden,  so 
dafs  auf  Grund  derselben  Fachzensuren  den  Prüflingen  unter  Umständen  ver- 
schiedene Hauptzensuren  erteilt  werden  könnten,  je  nachdem  von  der  Prüfungs- 
kommission das  oder  jenes  Verfahren  zu  Grunde  gelegt  würde.  Ich  war  der 
Ansicht,  dafs  eine  Erörterung  darüber,  ob  eine  Einigung  der  sächsischen 
Gymnasien  in  diesem  Punkte  wünschenswert  und  thunlich  sei,  am  besten  in 

M  Vgl.  hierzu  unter  Anzeigen  und  Mitteilungen  S.  399.    Die  Redaktion. 
*)  'Bei  Erteilung  der  wissenschaftlichen  Hauptzensur  ist  auf  diejenigen  Fächer  besondere« 
Gewicht  zu  legen,  welche  in  Oberprima  mit  einer  grosseren  Stundenzahl  bedacht  sind.' 


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R.  Meuter:  über  die  Erteilung  der  wissenschaftlichen  Hauptaensur  bei  der  Reifeprüfung  313 


einer  Rektorenkonferenz  vorgenommen  werden  mochte.  Es  ist  auch  bei  der 
Kektorenkonferenz  im  Januar  dieses  Jahres  in  Dresden  diese  Frage  von  einer 
Seite  angeregt,  wegen  Mangels  an  Zeit  aber  wieder  abgesetzt  worden.  Ich 
glaube  deshalb,  dafs  im  Sinne  der  Forderung  der  Angelegenheit  eine  kurze 
Darlegung  des  Thatbestandes  nicht  unangebracht  sein  wird.  Um  diese  Dar- 
legung in  jedem  Punkte  auf  Grund  authentischen  Materials  geben  zu  können, 
habe  ich  mich  an  die  Rektoren  mit  der  Bitte  um  Auskunft  Uber  verschiedene 
schematisch  zusammengestellte  Fragen  gewandt  und  von  allen  den  Fragebogen 
beantwortet,  von  vielen  ausserdem  durch  beigelegte  Schreiben  erläutert  zurück- 
erhalten. 

Von  allen  Zensuren,  die  das  Gymnasium  seinen  Schülern  giebt,  greifen 
nur  die  beiden  Hauptzensuren,  die  nach  der  Reifeprüfung  ihnen  erteilt  werden, 
über  den  Bereich  der  Schule  hinaus  in  das  Studium  und  in  das  spätere  Leben. 
Gewisse  dieser  Hauptzensuren  eröffnen,  andere  verschliefsen  den  Zugang  zu 
Benefizien  und  Stipendien  während  der  Universitätszeit;  sehr  erhebliche  Bei- 
hilfen, wie  z.  B.  das  goldene  Stipendium,  werden  nur  auf  1  oder  lb  hin  ge- 
währt. Von  diesen  materiellen  Folgen  abgesehen  üben,  wie  wir  alle  wissen, 
diese  Zensuren  einen  nicht  zu  unterschätzenden  moralischen  Einflufs  auf  die 
Empfänger  aus.  Sind  es  doch  Taxierungen  ihrer  Persönlichkeit,  die  sie  vor 
der  Öffentlichkeit  erfahren,  und  mit  denen  sie  sich  später  auszuweisen  haben. 
Und  zwar  trägt  insbesondere  die  wissenschaftliche  Hauptzensur  diesen 
Charakter  der  Taxierung.  Sie  charakterisiert  und  rubriziert  die  wissenschaft- 
liche Persönlichkeit  des  Prüflings,  indem  sie  seine  Leistungen  bezeichnet  als 
ersten,  zweiten  oder  dritten  Ranges.  Und  auf  der  Universität  und  im  Leben 
fragt  man  nicht  mehr  danach,  wo  hast  du  dir  diesen  Rang  geholt,  von  welcher 
Prüfungskommission  ist  er  dir  verliehen  worden,  sondern  reiht  die  von  den 
verschiedenen  Gymnasien  kommenden  Studenten  ohne  Unterschied  zusammen, 
die  einen  in  den  ersten,  die  anderen  in  den  zweiten,  die  letzten  in  den  dritten 
Kang,  im  Vertrauen  auf  die  Gleichmäfsigkeit,  mit  der  die  entscheidende  Haupt- 
zensur überall  verliehen  werde.  Das  Bestreben  der  einzelnen  sächsischen 
Prüfungskommissionen  mufs  also  sein,  diese  Gleichmäfsigkeit  bei  der  Erteilung, 
die  die  Voraussetzung  der  gleichmäfsigen  Anrechnung  später  bildet,  nach 
Menschenmöglichkeit  walten  zu  lassen.    Wie  steht  es  nun  damit  bei  uns? 

Man  kann  die  sächsischen  Gymnasien  hinsichtlich  des  Verfahrens  bei  der 
Erteilung  der  wissenschaftlichen  Hauptzensur  in  drei  Gruppen  teilen.  In  der 
ersten  Gruppe  wird  die  Hauptzensur  aus  den  Fachzensuren  rein  mechanisch 
herausgerechnet;  in  der  zweiten  werden  die  Prüflinge  nach  dem  Eindrucke 
ihrer  ganzen  Persönlichkeit,  natürlich  unter  Berücksichtigung  der  erteilten  Fach- 
zensuren, von  der  Prüfungskommission  durch  Acclamation  oder  durch  Majoritäts- 
beschlufs  in  die  einzelnen  Zensurgrade  eingeschätzt;  in  der  dritten,  die  eine 
vermittelnde  Stellung  einnimmt,  wird  zuerst  eine  Berechnung  des  Durch- 
schnitts der  Fachzensuren  vorgenommen,  dieses  arithmetische  Resultat  aber 
nachher  der  Korrektur  durch  pädagogische  Erwägungen  unterworfen. 

Nach  der  Meinung  der  ersten,  d.  i.  der  rechnenden  Gruppe  soll  die  wissen- 


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314  K.  Meister:  über  die  Erteilung  der  wissenschaftlichen  Haupteensur  bei  der  Reifeprüfung 

schaftliche  Hauptzensur  nichts  anderes  ausdrücken  als  den  Durchschnitt  der 
pädagogischen  Urteile,  die  in  den  Fachzensuren  niedergelegt  sind.  Wenn  daher 
die  Ziffern  der  Fachzensuren  die  Urteile  über  die  Einzelleistungen  richtig  aus- 
drückten, so  müsse  die  Durchschnittszahl  dieser  Ziffern  der  richtige  Ausdruck  h 
für  die  Gesamtleistung  sein.  Und  kein  Moment  der  Beurteilung,  das  nicht  in 
den  Fachzensuren  vorgelegen  hätte,  dürfe  in  der  Gesamtzensur  zum  Ausdruck 
kommen.  Möge  z.  B.  das  Urteil  über  die  Leistungsfähigkeit  eines  begabten, 
aber  nicht  fleifsigen  Schülers  noch  so  günstig  sein,  seine  Hauptzensur  dürfe 
doch  lediglich  auf  dem  fufsen,  was  er  nach  Angabe  der  Fachzensuren  wirklich 
geleistet  habe.  Und  was  sonst  an  allgemeinen  pädagogischen  Momenten  an- 
geführt werde,  wie  die  Beurteilung  seiner  Art  zu  arbeiten,  zu  denken,  sich 
auszudrücken,  die  Berücksichtigung  seiner  geistigen  Reife,  die  Anschauung 
seiner  ganzen  Persönlichkeit,  das  sei  selbstverständlich  bei  jeder  der  einzelnen 
Fachzensuren  mit  ins  Gewicht  gefallen,  und  dürfe  schliefslich  nicht  noch  einmal 
dazu  verwendet  werden,  um  die  ziffernmäfsig  aus  den  Fachzensuren  sich  er- 
gebende Durchschnittszensur  hinauf  oder  hinunter  zu  drücken.  Richtiger  sei 
es,  in  dem  Falle,  wo  etwa  die  ausgerechnete  Durchschnittszensur  nicht  be- 
friedige, eine  nochmalige  Revision  der  in  Rechnung  gestellten  Faktoren,  also 
der  einzelnen  Fachzensuren,  vorzunehmen.  Das  Verfahren  wird  von  einem 
Gymnasium  dieser  Gruppe  so  angegeben:  'Aus  den  Fachzensuren  wird  der 
Durchschnitt  gezogen  und  danach  die  Hauptzensur  erteilt.  Auch  in  dem  Falle, 
wo  bei  13  Zensurziffern  das  Verhältnis  7  :  6  ist,  und  die  Mehrheit  der  Kom- 
mission der  Ansicht  ist,  dafs  die  kleinere  Verhältniszahl  dem  Gesamteindrucke, 
den  sie  vom  Prüflinge  erhalten  hat,  besser  entspreche,  wird  vom  arithmetischen 
Durchschnitt  nicht  abgewichen,  wohl  aber  die  Frage  aufgeworfen,  ob  in  einem 
Fache  eine  Zensuränderung  angängig  sei,  wo  etwa  der  betreffende  Lehrer 
zwischen  zwei  Zensuren  geschwankt  habe.  Wenn  diese  Frage  von  den  Lehrern, 
die  die  Fachzensuren  gegeben  haben,  verneint  wird,  bleibt  es  bei  der  dem 
arithmetischen  Durchschnitt  entsprechenden  Hauptzensur.'  Zu  den  Grundsätzen 
dieser  rechnenden  Gruppe  bekennen  sich  drei  von  den  sächsischen  Gymnasien. 
Sie  rühmen  es  als  einen  besonderen  Vorzug  dieses  Verfahrens,  dafs  mit  der 
Vollendung  der  Fachzensuren  auch  die  subjektive  Beurteilung  ihr  Ende  erreicht 
habe,  und  dafs  der  von  Hafs  und  Liebe  nicht  beeinflufste  arithmetische  Zwang  mit 
der  Kraft  des  Kausalitätsgesetzes  gleichmäfsig  wirke  und  in  wohlthütiger  Weise 
alle  Streitigkeiten  und  Majorisierungen  innerhalb  der  Kommission  ausschliefse. 

Die  zweite,  d.  i.  die  einschätzende  Gruppe,  in  die  fünf  von  den  sächsischen 
Gymnasien  gehören,  richtet  bei  der  Erteilung  der  Hauptzensur  ihren  Blick 
auch  auf  die  Ziffern  der  erteilten  Fachzensuren,  vor  allem  aber  auf  den  ganzen 
Menschen,  dessen  Persönlichkeit  sie  möglichst  zutreffend  durch  die  Hauptzensur 
charakterisieren  möchte.  'Wir  überblicken',  so  wird  von  einem  Gymnasium 
dieser  Gruppe  das  Verfahren  geschildert,  'in  der  Schlufskonferenz  die  Zensuren 
und  schätzen  danach  jeden  Schüler,  unter  selbstverständlicher  Betonung  der  l 
Hauptfächer,  ein;  ganz  selten  macht  sich  dabei  eine  förmliche  Abstimmung 
nötig.    Wenn  dann  alle  unter  die  Hauptzensuren  rubriziert  sind,  sehen  wir 


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B.  Meister:  Über  die  Erteilung  der  wissenschaftlichen  Hauptzensur  bei  der  Reifeprüfung  315 

uns  die  so  entstandenen  Gruppen  an;  scheint  es  nun,  dafs  ein  Schüler  in  eine 
Gesellschaft  geraten  ist,  in  die  er  nach  seiner  Leistungsfähigkeit  nicht  pafst, 
so  wird  —  eventuell  durch  kleine  Änderungen  der  Fachzensuren  —  der  Ver- 
such gemacht,  ihm  durch  Versetzung  in  eine  andere  Nummer  gerecht  zu  werden.' 
In  dieser  Gruppe  wird  also  ein  Durchschnitt  aus  den  Fachzensuren  nicht  be- 
rechnet und  die  Hauptzensur  von  jedem  arithmetischen  Zwange  frei  den  Prüf- 
lingen erteilt. 

Die  dritte,  d.  i.  die  vermittelnde  Gruppe,  zu  der  die  meisten  sächsischen 
Gymnasien,  nämlich  neun,  gehören,  berechnet  zwar  zunächst  einen  Durchschnitt 
aus  den  Fachzensuren,  sieht  diesen  Durchschnitt  aber  nicht  als  bindend,  son- 
dern nur  als  Grundlage  für  eine  folgende  Beratung  an.  Doch  herrscht  im  all- 
gemeinen in  dieser  Gruppe  das  Bestreben,  möglichst  das  rechnerische  Ergebnis 
für  die  wirklich  zu  erteilende  Zensur  festzuhalten  und  nur  in  besonderen  Fällen 
von  ihm  abzuweichen.  So  wird  z.  B.  von  einem  dieser  Gymnasien  berichtet: 
'Mit  dem  rein  mechanischen  Verfahren,  das  am  ehesten  etwaige  Subjektivitäten 
und  Unregelmäfsigkeiten  ausschliefst,  sind  wir  bisher  immer  noch  am  besten 
ausgekommen.  Selbstverständlich  wird  die  auf  mathematischem  Wege  ge- 
wonnene Durchschnittszensur  nachher  in  doppelter  Weise  kontrolliert:  einmal 
durch  Vergleichung  mit  den  Zensuren  der  übrigen  Examinanden,  und  sodann 
durch  Vergleichung  mit  der  Privatzensur,  die  wir  dem  Schüler  nach  dem  Ge- 
samteindrucke, den  wir  im  Laufe  der  Zeit  von  ihm  gewonnen  haben,  geben 
würden.  In  den  weitaus  meisten  Fällen  stimmt  die  Sache  ausgezeichnet;  bleiben 
ausnahmsweise  Bedenken  übrig,  so  werden  entweder  einzelne  Fachzensuren 
modifiziert,  oder  es  wird  der  ziffernmäfsige  Durchschnitt  ignoriert.' 

Zu  dieser  Verschiedenheit  kommt  aber  nun  eine  zweite  hinzu  bei  der  Ab- 
wägung der  einzelnen  Fachzensuren.  Die  Lehr-  und  Prüfungsordnung  be- 
merkt an  der  oben  angeführten  Stelle  darüber  nur,  dafs  auf  diejenigen  Fächer 
besonderes  Gewicht  zu  legen  sei,  die  in  Oberprima  mit  einer  gröfseren  Stunden- 
zahl bedacht  sind.  Als  solche  Hauptfächer  gelten  jetzt  an  den  meisten  der 
sächsischen  Gymnasien  die  vier:  Latein,  Griechisch,  Mathematik  und  Deutsch; 
an  einem  nur  die  drei:  Latein,  Griechisch  und  Mathematik;  an  einem  werden 
die  Fächer  dem  Range  nach  in  drei  Klassen  geteilt:  erstens  Latein,  Griechisch, 
Mathematik  und  Deutsch,  zweitens  Französisch  und  Geschichte,  drittens  Religion 
und  Physik.  Der  Vorschrift,  den  Hauptfächern  besonderes  Gewicht  beizulegen, 
kommt  man  wieder  in  verschiedener  Weise  nach.  In  der  mittleren,  d.  i.  der 
einschätzenden  Gruppe  läfst  man  sich  bei  der  Wahl  der  Nummer,  in  die  man 
den  Prüfling  einschätzt,  vor  allem  von  den  Ziffern  der  Hauptfächer  leiten.  Wo 
eine  Durchschnittszensur  berechnet  wird,  also  in  der  ersten  und  dritten  Gruppe, 
wird  das  besondere  Gewicht  der  Hauptfächer  meistens  dadurch  zum  Ausdruck 
gebracht,  dafs  man  die  Ziffern  der  Hauptfächer  doppelt  oder  dreifach  setzt. 
Die  meisten  Gymnasien  dieser  beiden  Gruppen  rechnen  die  lateinische  Zensur 
t  dreifach,  die  griechische,  mathematische  und  deutsche  zweifach,  die  andern  vier 

einfach,  so  dafs  der  Durchschnitt  der  acht  Fächer  aus  13  Ziffern  gezogen  wird; 
zwei  Gymnasien  sehen  von  der  besonderen  Hervorhebung  der  lateinischen 


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316  R-  Meister:  Über  die  Erteilung  der  wissenschaftlichen  Haupteensur  bei  der  Reifeprüfung 


Zensur  ab  und  rechnen  alle  Hauptfacher,  zu  denen  an  dem  einen  Gymnasium 
vier,  an  dem  anderen  drei  Fächer  gehören,  doppelt,  die  anderen  Fächer  einfach; 
an  einem  Gymnasium  wird  Oberhaupt  keine  Multiplikation  vorgenommen,  son- 
dern jedes  Fach  einfach  gerechnet,  den  Hauptfächern  aber  dadurch  gröfseres 
Gewicht  beigelegt,  dafs  man  sich  bei  gebrochenem  Durchschnitt  nach  der  Seite 
der  Hauptfächer  entscheidet. 

Infolge  dieser  Verschiedenheiten  des  allgemeinen  Verfahrens  und  der  Be- 
rechnung der  Fachzensuren  im  einzelnen  wird  in  nicht  ganz  wenigen  Fällen 
die  wissenschaftliche  Hauptzensur  verschieden  ausfallen,  je  nachdem  die  Prü- 
fungskommission das  oder  jenes  der  geschilderten  Verfahren  anwendet.  Viel- 
leicht ist  mancher  geneigt,  diese  Ungleichmäfsigkeit  zu  entschuldigen  mit  dem 
Hinweis  auf  die  Subjektivität  jeder  Zensierung  und  auf  die  Unmöglichkeit, 
ganz  gleiche  Zensierungsmafsstäbe  herzustellen.  Aber  dieser  Hinweis  würde 
hier  nicht  am  Platze  sein.  Versetzen  wir  uns  an  das  Ende  der  Reifeprüfung. 
Die  Zensuren  für  die  acht  Fächer  sind  gegeben  und  gebucht  Sie  sind  selbst- 
verständlich alle  gegeben  worden  lediglich  als  Würdigung  der  einzelnen  Fach- 
leistungen ohne  jede  Rücksicht  auf  irgend  ein  bestimmtes  Verfahren,  nach  dem 
schliefslich  die  Hauptzensur  erteilt  werden  wird.  Angesichts  dieser  Fachzensuren 
ist  nun  jede  der  17  Prüfungskommissionen  in  Sachsen  berechtigt,  jedes  der 
oben  geschilderten  Verfahren  anzuwenden,  um  die  wissenschaftliche  Hauptzensur 
den  Prüflingen  zu  erteilen,  denn  keines  dieser  Verfahren  verstöfst  gegen  die 
Lehr-  und  Prüfungsordnung,  jedes  ist  legal.  Niemand  würde  etwas  dagegen 
haben,  wenn  eine  Prüfungskommission,  die  dieses  Ostern  nach  dem  einschätzen- 
den Verfahren  die  Hauptzensur  erteilt  hätte,  nächstes  Ostern  beschließen  würde, 
sie  nach  dem  rechnenden  Verfahren  zu  erteilen,  oder  wenn  eine,  die  sich  bisher 
streng  an  den  herausgerechneten  Durchschnitt  gehalten  hätte,  das  nächste  Mal 
beschliefsen  würde,  in  der  Weise  des  vermittelnden  Verfahrens  die  Durch- 
schnittszensuren, wo  sie  pädagogischen  Erwägungen  nicht  zu  entsprechen 
schienen,  zu  ignorieren.  Wie  gesagt,  nachdem  die  Prüfung  beendet  und  die 
Leistungen  alle  zensiert  sind,  hat  jetzt  die  Kommission  völlig  freie  Wahl, 
welches  Verfahren  sie  anwenden  will,  um  die  wissenschaftliche  Hauptzensur  zu 
bestimmen,  und  die  Abiturienten  werden  auf  Grund  derselben  Leistungen  und 
derselben  Fachzensuren  in  nicht  wenigen  Fällen  je  nach  der  getroffenen  Wahl 
bessere  oder  schlechtere  Hauptzensuren  erhalten  und  unter  Umständen  die 
Anwartschaft  z.  B.  auf  das  goldene  Stipendium  gewinnen  oder  verlieren,  wofür 
keineswegs  die  Subjektivität  des  Zensierens,  sondern  lediglich  das  rein  technische 
Moment  des  angewandten  Verfahrens  die  Schuld  tragen  wird. 

Bei  ziemlich  gleichartigen  Fachzensuren  werden  die  Ergebnisse  der  ver- 
schiedenen Verfahren  natürlich  oft  übereinstimmen;  wer  lauter  Zweien  als 
Fachzensuren  hat,  wird  bei  keinem  Verfahren  etwas  anderes  als  2  in  der 
Hauptzensur  erhalten.  Aber  doch  führen  unter  Umständen  auch  in  diesen 
Fällen  der  völligen  oder  annähernden  Gleichartigkeit  der  FachzenBuren  die  ver-  4 
schiedenen  Verfahren  zu  verschiedenen  Resultaten.  Die  Zensur  1  z.  B.  wird 
nach  dem  Verfahren  der  rechnenden  Gruppe  nur  dann  gegeben,  wenn  1  ün 


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R.  Meister:  Über  die  Erteilung  der  wissenschaftlichen  Hauptzensur  bei  der  Reifeprüfung  317 

Durchschnitt  überwiegt,  wenn  also  bei  13  Ziffern  wenigstens  siebenmal  1  steht 
gegen  sechsmal  lb;  die  einschätzende  Gruppe  erteilt  1  unter  Umstanden  schon, 
wenn  einige  'bedeutsame'  erste  Grade  in  den  Fachzensuren  stehen,  auch  wenn 
der  zahlenmäfsige  Durchschnitt  nicht  1,  sondern  lb  ergeben  würde;  einige 
Gymnasien  erklären,  dafs  sie  1  auch  in  dem  Falle  geben  würden,  wenn  alle 
Fachzensuren  gleichmäfsig  auf  lb  lauten  würden.  Namentlich  empfindlich  ist 
die  Differenz  zwischen  lb  und  2*:  ob  die  eine  oder  die  andere  Hauptzensur  zu 
erteilen  sei,  wird  in  nicht  seltenen  Fallen  lediglich  von  der  Technik  des  an- 
gewandten Verfahrens  abhängen.  Wer  z.  B.  in  Latein,  Griechisch  und  Deutsch 
\\  in  den  anderen  fünf  Fachern  2*  hat,  wird  nach  dem  rechnenden  Verfahren 
lb  erhalten,  wenn  Latein  dreifach,  Griechisch,  Mathematik  und  Deutsch  zwei- 
fach gerechnet  werden;  dagegen  2%  wenn  man  Latein,  Griechisch  und  Mathe- 
matik zweifach,  die  anderen  Fächer  einfach  rechnet.  Häufiger  noch  werden 
sich  durch  Anwendung  der  verschiedenen  Verfahren  verschiedene  Resultate  er- 
geben, wenn  die  Fachzensuren  ungleichartig  sind,  wenn  z.  B.  die  Nebenfächer 
sehr  gut,  die  Hauptfächer  nur  genügend  zensiert  sind,  oder  wenn  die  Haupt- 
fächer selbst  auseinander  gehen  und  etwa  Deutsch  und  Mathematik  sehr  gut, 
Latein  und  Griechisch  nur  genügend  zensiert  sind,  oder  wenn  bei  sehr  guten 
Zensuren  im  allgemeinen  ein  oder  zwei  Fächer,  etwa  Mathematik  und  Physik, 
mit  nur  genügenden  Zensuren  isoliert  stehen.  In  solchen  Fällen  namentlich 
▼erden  die  Prüfungskommissionen,  die  das  rechnende  Verfahren  anwenden,  in 
günstigerer  Lage  sein;  auch  sie  werden  in  einzelnen  Fällen  zu  verschiedenen 
Resultaten  kommen,  je  nachdem  sie  die  Hauptfächer  verschieden  auswählen 
und  bewerten,  aber  im  Schofse  jeder  einzelnen  Kommission  wird  ungestörte 
Eintracht  herrschen,  indem  man  sich  dem  mathematischen  Ergebnis  fügt,  und 
kein  Anlafs  zur  Verteidigung  des  Fachinteresses  oder  zur  genaueren  Darlegung 
der  gröfseren  oder  geringeren  geistigen  Reife  des  betreffenden  Abiturienten 
oder  zur  eingehenderen  Charakterisierung  seiner  ganzen  Persönlichkeit  gegeben 
ist.  Dagegen  wird  nach  dem  einschätzenden  und  nach  dem  vermittelnden  Ver- 
fahren in  solchen  schwierigeren  und  zweifelhaften  Fällen  die  Entscheidung  der 
Kommission  über  die  zu  erteilende  Hauptzensur  gerade  von  der  Erörterung 
solcher  pädagogischen  Momente  abhängen,  bei  der  die  Verschiedenheit  der  sub- 
jektiven Beurteilung  oft  zu  längeren  und  schwierig  zu  entscheidenden  Debatten 
fuhren  wird,  die  schliefslich  nur  durch  Abstimmung  und  Majorisierung  ihr  Ende 
zu  finden  pflegen. 

Nach  alledem  darf  ich  wohl  auf  Zustimmung  hoffen,  wenn  ich  es  aus- 
spreche, dafs  eine  Einigung  der  sächsischen  Gymnasien  über  die  Art  der  Er- 
teilung der  wissenschaftlichen  Hauptzensur  schon  im  Sinne  der  Gerechtigkeit 
gegen  unsere  Schüler  wünschenswert  erscheint.  Und  wenn  man  mir  darin 
zustimmt,  so  habe  ich  den  Hauptzweck  meiner  Darlegung  erreicht.  Denn 
was  nun  etwa  noch  hinzuzufügen  ist,  das  versteht  sich,  sehe  ich  recht,  zum 
einen  Teile,  wenn  wirklich  eine  Einigung  zu  stände  kommen  soll,  von  selbst, 
und  ist  zum  anderen  Teile  wenig  wesentlich,  wenn  überhaupt  nur  eine  Regelung 
erfolgt.    Selbstverständlich  nämlich  scheint  mir,  dafs  eine  Einigung  nur  auf 


318  B.  Meister:  Über  die  Erteilung  der  wissenschaftlichen  Haupteensur  bei  der  Reifeprüfung 

Grundlage  des  rechnenden  Verfahrens  möglich  ist,  weil  dieses  allein  für  die 
Erteilung  der  Hauptzensur  in  jedem  Falle  einen  festen  Anhalt  gewährt,  die 
Subjektivitäten  und  Imponderabilien  völlig  ausschliefst  und  dadurch  eine  Gleich- 
mäfsigkeit  des  Verfahrens  an  allen  Orten  und  bei  allen  Schülern  ermöglicht; 
die  Ausnahmefälle,  in  denen  eine  Abweichung  von  dem  arithmetischen  Durch- 
schnitt angezeigt  erscheinen  sollte,  wie  z.  6.  wenn  eine  3b  in  einem  Hauptfach 
steht,  mflfsten  dabei  ebenfalls  geregelt  werden.    Für  wenig  wesentlich  dagegen 
halte  ich  im  Vergleich  mit  dieser  prinzipiellen  Entscheidung  über  das  Verfahren 
im  allgemeinen,  wie  die  Einzelfragen  über  die  Durchschnittsberechnung  be- 
antwortet werden,  als  da  sind:  1)  Welche  Fächer  sind  Hauptfächer?  Wenn 
es  in  dem  schon  oben  citierten  4.  Absatz  des  §  66  der  Lehr-  und  Prüfungs- 
ordnung heifst,  dafs  'auf  diejenigen  Fächer  besonderes  Gewicht  zu  legen  sei, 
die  in  Oberprima  mit  einer  gröfseren  Stundenzahl  bedacht  sind',  so  ist  wohl 
zunächst  an  Latein,  Griechisch  und  Mathematik  zu  denken,  die  mit  acht,  sieben 
und  vier  Stunden  bedacht  sind,  während  Deutsch  keine  grofsere  Stundenzahl 
hat  als  Geschichte,  nämlich  drei.    Soll  nun  trotzdem  Deutsch,  der  Wichtigkeit 
des  Fachs  entsprechend,  unter  die  besonders  zu  betonenden  Hauptfächer  in 
diesem  Falle  aufgenommen  werden,  wie  es  an  den  meisten  sächsischen  Gym- 
nasien jetzt  in  der  That  geschieht?    2)  Ist  Latein,  das  die  meisten  Stunden 
hat,  mehr  zu  betonen  als  Griechisch,  Mathematik  und  Deutsch?   3)  In  welcher 
Weise  ist  das  besondere  Gewicht  der  Hauptfächer  zum  Ausdruck  zu  bringen 
—  durch  Multiplikation  oder  nur  durch  Entscheidung  nach  der  Seite  der 
Hauptfächer  bei  gebrochenem   Durchschnitt?    Was  diese  drei  Fragen  an- 
langt, so  halte  ich  nur  dies  für  notwendig,  dafs  sie  einheitlich  beantwortet 
werden,  für  weniger  wichtig,  zu  Gunsten  welcher  der  jetzt  üblichen  Modalitäten 
die  Entscheidung  getroffen  werde.    Und  wenn  ich  die  grofsen  Schwierigkeiten 
bedenke,  die  einer  gegenseitigen  Vereinbarung  der  sächsischen  Gymnasien  über 
diese  Punkte  im  Wege  stehen  würden,  so  möchte  ich  meinen,  dafs  es  das 
wünschenswerteste  sei,  wenn  das  Königliche  Ministerium  durch  eine  authentische 
Interpretation  jenes  4.  Absatzes  des  §  66  der  Lehr  und  Prüfungsordnung  Gleich- 
mäfsigkeit  in  der  Beantwortung  dieser  drei  Fragen  herbeiführte. 


in 

AUS  DER  PRAXIS  DES  GESCHICHTLICHEN 
UND  KUNSTGESCHICHTLICHEN  ANSCHAUUNGSUNTERRICHTS 

Von  Otto  Eduard  Schmidt 

Die  Frage,  ob  im  Gymnasialunterrichte  Anschauungsmittel  zu  verwenden 
sind,  die  das  Leben  und  die  Kunst  der  Antike  und  der  folgenden  Epochen  der 
menschlichen  Kultur  dem  Schüler  auch  vermittelst  des  Auges  näher  bringen, 
gilt  ohne  Zweifel  als  entschieden,  und  zwar  im  bejahenden  Sinne,  obwohl  vor 
dem  Übermafs  der  bildlichen  Darstellung  aus  Gründen,  die  auf  der  Hand  liegeD, 


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O.  E.  Schmidt :  Aua  der  Praxi*  des  geschieht!  u.  kunstgeBchichtl.  Anschauungsunterrichte  319 

ebenso  nachdrücklich  gewarnt  werden  mufs,  wie  vor  jenem  absoluten  Mangel 
bildlicher  Anschauung,  der  noch  vor  fünfundzwanzig  Jahren,  als  ich  das  Gym- 
nasium verliefs,  durchaus  die  Regel  war.  Der  Zug  unserer  ganzen  Zeit  vom 
Abstrakten  zum  Konkreten,  von  der  reinen  Philosophie  zur  künstlerisch  dar- 
gestellten Idee  ist  so  stark,  dafs  sich  ihm  auch  die  Schule  nicht  entziehen 
kann.  Der  bedeutende  Erfolg  des  schrullenhaften  Buches  'Rembrandt  als  Er- 
zieher' war  doch  ein  Symptom  dafür,  dafs  sich  im  Herzen  unseres  Volkes  ein 
tiefempfundenes  Bedürfnis  nach  einer  nationalen  Kunst  und  nach  einer  An- 
leitung zum  Genüsse  von  Kunstwerken  als  einem  Stücke  menschlicher  Glück- 
seligkeit angesammelt  hatte.  Auf  dem  Gebiete  der  Kunst  und  der  künstlerischen 
Anschauung  versöhnt  sich  auch  der  moderne  Mensch  und  das  skeptische  Eltern- 
haus am  leichtesten  mit  dem  'Dogma  vom  klassischen  Altertum',  und  wir 
Lehrer  dürfen  hoffen,  dafs  der  für  antikes  Leben  und  antike  Kunst  gewonnene 
Schüler  auch  den  Texten  der  Schriftsteller,  ja  selbst  der  lateinischen  und 
griechischen  Grammatik,  in  der  auch  ein  Stück  künstlerischer  Beanlagung  der 
klassischen  Völker  zur  Erscheinung  kommt,  wieder  ein  lebendigeres  und  tieferes 
Interesse  widmen  werde:  denn  der  Stofsseufeer  Virchows  am  Ende  des  Jahr- 
hunderts, verwunderlich  wegen  des  Mundes,  aus  dem  er  kam,  gehört  zwar  zu 
den  Zeichen  der  Zeit,  darf  aber  in  uns  nicht  im  mindesten  den  Glauben  hervor- 
rufen, dafs  mit  reiner  Grammatik  und  reiner  Logik  das  etwas  ins  Wanken 
geratene  einheitliche  deutsche  Bildungsideal  wiederhergestellt  werden  könne. 
Hier  mufs  sich  der  deutsche  Schulmeister  objektiver,  kritischer,  ja  ich  möchte 
tilgen  diagnostischer  zeigen,  als  der  grofse  medizinische  Doktrinär.  Doch  ich 
will  mich  nicht  in  Theorien  verlieren,  sondern  von  der  Theorie  zur  Praxis 
herabsteigen. 

Denn  ich  möchte  heute  statt  aller  Reden  für  und  gegen  die  Anschauungs- 
mittel einfach  vorführen,  was  unsere  Fürstenschule  St.  Afra  an  An- 
schauungsmitteln für  die  gedachten  Zwecke  besitzt,  und  wie  sie 
verwertet  werden.  Dabei  ist  zu  beachten,  dafs  unsere  Geldmittel  recht  be- 
schränkt sind,  denn  unsere  Objekte  für  den  Anschauungsunterricht  bilden  einen 
Zweig  der  Schülerbibliothek,  es  stehen  uns  also  zu  Anschaffungen  nur  soviel 
Gelder  zur  Verfügung,  als  wir  nach  der  Bücheranschaffung  übrig  behalten,  das 
sind  durchschnittlich  jährlich  50  Mark.  Wir  können  also  durchaus  nicht  mit 
den  Schülerbibliotheken  der  grofsstädtischen  Anstalten  konkurrieren,  die  über 
ganz  andere  Geldmittel  verfügen.  Wenn  wir  trotzdem  das  Licht  der  Öffent- 
lichkeit nicht  scheuen,  sondern  die  Kollegen  einladen,  von  unserem  Bilderapparat 
Kenntnis  zu  nehmen,  so  entspringt  unser  Mut  dem  Bewufstsein,  dafs  wir  in 
den  letzten  Jahren  mancherlei  auf  diesem  Gebiete  versucht  haben,  was  vielleicht 
dem  oder  jenem  Kollegen  nicht  uninteressant  sein  könnte;  täuschen  wir  uns 
aber  darin,  nun  so  wird  uns  der  Gedanke  trösten,  anderen  die  angenehme 
Empfindung  verursacht  zu  haben,  dafs  sie  daheim  alles  reichlicher  und  besser 
i  besitzen. 

Im  vorigen  Jahrgange  der  Dberg-Richterschen  Jahrbücher  hat  Dr.  Wagner 
in  einem  sehr  lesenswerten  Aufsatze  unter  dem  Titel:  'Neue  Hilfsmittel  für  den 


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320   0.  E.  8ohmidt:  Aus  der  Praxis  des  geschieht!,  u.  kunstgeschichtl.  Anschauungsunterrichts 


klassischen  Anschauungsunterricht'  ein  Verzeichnis  und  eine  kurze  Besprechung 
der  Hilfsmittel  gegeben,  die  ein  modernes  Gymnasium  zu  diesem  Zwecke  be- 
sitzen möchte.  Ich  kann  sagen,  dafs  unsere  Schülerbibliothek  die  meisten  der 
dort  genannten  Werke  besitzt;  einige  wenige  fehlen  noch,  dafür  aber  sind 
andere  da,  die  ich  in  Wagners  Aufzahlung  vermifst  habe.  Luckenbachs 
Abbildungen  zur  alten  Geschichte  als  das  billigste  derartige  Hilfsmittel  ist  bei 
uns  obligatorisch  eingeführt  und  also  in  der  Hand  eines  jeden  Schülers. 
Aufserdem  aber  werden  vom  Lehrer  an  Werken  der  Lichtdrucktechnik 
namentlich  verwendet  Steudings  'Denkmäler  antiker  Kunst',  zwei  Exemplare 
von  Baumeisters  'Denkmälern  des  klassischen  Altertums',  die  neun  Hefte  der 
'Klassischen  Bildermappe'  von  H.  Bender,  die  entsprechenden  Bilder  des 
Bruckmannschen  'Klassischen  Skulpturenschatzes',  die  Seemann  sehen  'Kunst- 
historischen Bilderbogen*  und  die  grofsen  Wandbilder  desselben  Verlags,  der  L 
und  IL  Band  der  Spamerschen  Illustrierten  Weltgeschichte,  ferner 
Wagners  'Rom',  das  in  der  von  mir  herausgegebenen  Bearbeitung  (VI.  Auf- 
lage, 1899)  auch  eine  vollständig  neue  Illustration  erhalten  hat,  und  die 
150  prachtvollen  Landschafts-  und  Architekturbilder,  die  der  Lübecker  Photo- 
graph Nöhring  unter  dem  Titel  'Aus  dem  klassischen  Süden'  mit  einem  von 
den  Teilnehmern  der  IH.  badischen  Studienreise  herrührenden  Texte  veröffent- 
licht hat.  In  der  künstlerischen  Reproduktion  der  Photographie  leistet  das 
zuletzt  genannte  Werk  das  Höchste,  was  ich  kenne;  dagegen  mufs  leider  von 
Luckenbach,  teilweise  auch  von  Bruckmanns  Skulpturenschatz  gesagt 
werden,  dafs  manche  Bilder  technisch  nicht  ganz  auf  der  Höhe  der  Zeit  stehen; 
einige  sind  zu  schwarz,  andere  in  ungünstiger  Beleuchtung  wiedergegeben. 
Steudings  Abbildungen  sind  im  ganzen  klar  und  sauber,  doch  haben  bei 
einigen  leider  nicht  Originalphotographien,  sondern  Holzschnitte  als  Vorlage 
gedient. 

Überhaupt  kann  ein  Lichtdruck  eine  gute  Photographie,  namentlich  eine 
solche  grofsen  Formats,  niemals  ganz  ersetzen.  Historische  Landschaften,  Werke 
der  Architektur,  vor  allem  aber  Werke  der  Plastik  machen  nach  meinen  Er- 
fahrungen in  Photographie  einen  ungleich  tieferen  Eindruck  als  in  der  besten 
Autotypie.  Es  ist,  als  ob  die  Photographie  etwas  von  dem  Zauber  des  Originals, 
insbesondere  den  eigentümlichen  Ton  des  antiken  Marmors  widerstrahlte,  was 
bei  der  Reproduktion  verloren  geht.  Deshalb  habe  ich  seit  einer  Reihe  von 
Jahren  begonnen,  zur  Ergänzung  der  genannten  Werke  eine  gröfsere  Anzahl 
von  Photographien  anzuschaffen  und  zwar,  wo  es  sich  um  Kunstwerke  handelt, 
immer  solche,  die  direkt  vom  Original,  nicht  von  einem  Gipsabgüsse  auf- 
genommen worden  sind.  Wir  besitzen  gegenwärtig  fünf  Bände  italienischer 
Photographien  des  üblichen  Formats  (22x27  cm)  und  zwar: 

1)  Rom  und  Beine  Umgebung. 

2)  Landschaften  aus  Campanien,  Ischia,  Capri. 

3)  Landschaften  von  der  Ostküste,  aus  Umbrien  und  Toscana. 

4)  Landschaften  aus  Unteritalien  und  Sizilien. 

5)  Römische  Büsten  und  Statuen;  griechische  Münzen. 


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O.  E.  8chmidt:  Ana  der  Praxis  des  geschieht!,  u.  kunstgeschichtl.  Anschauungsunterrichts   32  t 


Ferner  besitzen  wir  eine  reichhaltige  Sammlung  von  Photographien  grie- 
chischer Landschaften  von  der  Firma  Barth  &  Hirst  in  Athen,  andere 
griechische  Aufnahmen  von  einer  englischen  Gesellschaft  (The  english  Photo- 
graphie Co.),  die  noch  schärfer  sein  sollen,  werden  baldigst  angeschafft  werden. 
Vor  allem  aber  habe  ich  eine  grofse  Sammlung  von  Photographien  zur 
griechischen  und  römischen  Kunstgeschichte  erworben,  und  zwar  zu- 
meist im  Anschlufs  an  das  von  Dr.  Paul  Herrmann  und  Adolf  Gutbier 
zusammengestellte  'Museum  der  antiken  Skulptur  in  Original-Photo- 
graphien'.1) 

Die  meisten  dieser  Photographien  halt  die  Arnoldsche  Kunsthandlung 
neuerdings  vorratig,  fehlende  werden  noch  beschafft.  Die  Preise  sind  durch- 
schnittlich nur  um  zehn  Pfennige  für  jedes  Bild  höher  als  in  Italien  oder 
Griechenland,  so  dafs  man  also  für  eine  unaufgezogene  Photographie  (21x27  cm), 
die  in  Rom  eine  halbe  Lira  kostet,  in  Dresden  eine  halbe  Mark  bezahlt.  Wer 
in  Auswahl  und  Einkauf  von  Photographien  grofse  Erfahrung  besitzt  und 
hunderte  auf  einmal  anschafft,  wird  natürlich  besser  thun,  sich  der  Kataloge 
von  Brogi,  Alinari  in  Florenz,  von  Anderson  in  Rom,  von  Sommer  in  Neapel 
zu  bedienen,  aber  bei  allmählicher  Anschaffung  ist  der  Bezug  durch  die 
Arnoldsche  Kunsthandlung  entschieden  vorzuziehen,  da  man  bei  diesem  Ver- 
fahren jedes  Bild  vor  dem  Ankauf  sehen  kann  und  sich  auch  die  Rechnungs- 
ablage erleichtert 

Ein  ganz  besonderer  Reiz  liegt  natürlich  darin,  wenn  man  die  für  den 
Anschauungsunterricht  nötigen  Bilder  in  den  klassischen  Ländern  nach  Autopsie 
der  Gegenden  und  Kunstwerke  einkaufen  und  mitbringen  kann.  An  solchen 
Bildern  hängen  dann  unsere  persönlichen  Erinnerungen,  über  solche  Bilder 
vermögen  wir  wärmer  und  deshalb  eindrucksvoller  zu  sprechen  als  über  andere. 
Deshalb  habe  ich  auf  einer  Studienreise,  die  ich  im  vorigen  Jahre  nach  Italien 
unternahm,  begonnen,  an  Ort  und  Stelle  ein  Album  Tullianum  zu  sammeln, 
Aufnahmen  derjenigen  Landschaften  und  Monumente,  die  für  Ciceros  Leben 
und  zum  Verständnisse  seiner  Schriften  von  besonderem  Werte  sind.  Das  war, 
da  es  sich  vielfach  um  Gegenden  handelte,  die  von  der  Heerstrafse  entfernt 
liegen,  nicht  so  einfach,  wie  es  scheinen  mochte,  aber  mit  Hilfe  von  persön- 
lichen Empfehlungen,  Besuchen,  Briefen  habe  ich  schliefslich  doch  einen  statt- 
lichen Bilderapparat  zu  Cicero  zusammengebracht.  Einige  Proben  daraus  biete 
ich  den  Fachgenossen  in  Heft  5  und  6  der  Jahrbücher  zu  der  Monographie 
über  Ciceros  Villen.  Es  wird  sich  aber  meines  Erachtens  auch  empfehlen,  ein 
Album  Horatianum  oder  auch  ein  Thucydideum  anzulegen. 

Zu  den  von  mir  für  die  Schule  in  Italien  erworbenen  Bildern  gehört  auch 
eine  Sammlung  der  interessantesten  Säulen-Kapitäle  aus  Pompeji, 

')  Da»  vortreffliche  Verzeichnis  zum  'Museum  der  antiken  Skulptur  u.  b.  w.'  von 
Dr.  Herrmann,  dem  Direktorialassistenten  an  der  Kgl.  8kulpturcnsammlung  in  Dresden, 
das  nach  kuust^eschichtlichen  Grundsätzen  angeordnet  ist  und  kurze,  treffende  Erklärungen 
der  einzelnen  Kunstwerke  enthält,  wird  von  der  ArnoldBchen  Kunsthandlung  in  Dresden 
gern  gratis  an  Interessenten  abgegeben. 

X«m  J*hrbHcher.   1999.    U  21 


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322   0.  E.  Schmidt:  Aus  der  Praxis  de«  geschieht!  u.  kunstgeschichtL  Anschauungsunterrichts 

die  ich  Herrn  Hauptmann  Lindner  in  Rom  verdanke.  Man  kann  an  diesen 
Photographien  studieren,  wie  sich  die  römische  Kompositensäule  aus  den 
einfachen  griechischen  Formen  entwickelte,  und  wie  sie  schließlich  bis  zu  der 
Geschmacklosigkeit  entartete,  dafs  man  die  Kopfe  des  Hausherrn  und  der  Haus- 
frau als  Verzierung  des  Kapitals  anbrachte.  Ich  kann  allen  Romfahrern  aus 
unserem  Kreise,  die  sich  Bilder  anschaffen  wollen,  nur  dringend  raten,  aufser 
den  üblichen  Bilderladen  auch  Herrn  Hauptmann  Lindner,  einem  geborenen 
Sachsen,  einen  Besuch  zu  machen,  der  sein  Atelier  im  malerischen  Garten  der 
Casa  tedesca  auf  dem  Kapitol  (Via  di  rupe  Tarpeia  28)  aufgeschlagen  hat. 
Man  findet  bei  ihm  Aufnahmen,  die  in  keiner  der  üblichen  Handlungen  zu 
haben  sind;  auch  photographiert  dieser  Herr  gelegentlich  gegen  wirklich  billige 
Entschädigung  in  entlegeneren  Teilen  Italiens. 

Von  den  letzten  Ausläufern  der  antiken  Kunst  interessieren  uns  natur- 
gemäfs  die  auf  deutschem  Boden  hergestellten  und  wiederaufgefundenen  Mo- 
numente am  meisten.  Ich  habe  deshalb  vor  mehreren  Jahren  Photographien 
der  bekannten  Neumagener  Funde  aus  dem  Mosellande  erworben  und  durch 
einen  Photographen  vervielfältigen  lassen  in  der  Hoffnung,  dals  auch  andere 
Gymnasien  eine  Verwendung  für  diese  Bilder  haben  würden,  ich  habe  aber 
trotz  des  billigen  Preises  (4  Mark  für  6  Bilder)  fast  überall  eine  Zurück- 
weisung erfahren.  Trotzdem  darf  ich  sagen,  dafs  gerade  diese  gut  realistischen 
Bildwerke,  weil  in  ihnen  antike  Kunst  mit  einem  heimatlichen  Beigeschmacke 
erscheint,  immer  besonderen  Eindruck  auf  die  Schüler  gemacht  haben,  und 
zwar  nicht  nur  das  Moselschiff  mit  den  Weinfässern  und  dem  an  Eduard 
Grützners  Bilder  erinnernden  Küfer,  sondern  auch  die  feinere  Darstellung  einer 
römischen  Schule1)  im  Mosellande,  die  leider  sehr  zertrümmerte  'Heimkehr  von 
der  Jagd'  und  die  'Ba^-bierstube'. 

Als  Anschauungsmittel  für  den  Geschichtsunterricht  im  Mittelalter 
und  in  der  Neuzeit  verwenden  wir  namentlich  die  Porträts,  Architekturbilder, 
Landschaften,  Schlachten  plane,  die  in  den  grofsen  illustrierten  Geschichtswerken 
enthalten  sind.  Das  ältere  Werk  dieser  Art  von  Oncken  ist  neuerdings  durch 
die  unter  Kaemmels  Leitung  erschienene  Weltgeschichte  des  Spamerschen 
Verlags  hinsichtlich  der  Reichhaltigkeit  und  technischen  Vollendung  der  Bilder 
weit  übertroffen  worden.  Für  die  Kunstgeschichte  verwenden  wir  den  Klas- 
sischen Skulpturenschatz  (Bruckmann),  das  Speemannsche  Museum  und 
die  vortrefflichen  Künstlermonographien  des  Verlags  von  Velhagen  &  Kla- 
sing.  Doch  sollen  mit  der  Zeit  auch  hierfür  Photographien  angeschafft  werden. 
Die  Unterweisung  in  der  mittleren  und  neueren  Kunstgeschichte  kann  man 
sich  bei  uns  gar  nicht  elementar  genug  vorstellen.  Es  giebt  keine  besonderen 
Stunden  für  diese  Kunstgeschichte,  auch  keine  Systematik,  sondern  im  Zu- 
sammenhange mit  der  allgemeinen  Geschichto  werden  am  Schlüsse  jeder  Epoche 

')  Gate  Lichtdrucke  des  MoselBchiffg  und  der  'Schule'  finden  sich  jetzt  in  der  von  mir 
bearbeiteten  Geschichte  Roms  in  der  Dlustr.  Weltgesch.  (Spanier)  U  S.  846 f.  Doch  bin 
ich  auch  heute  noch  erbötig,  Photographien  der  Neumagener  Funde  an  Fachgenossen  billig 
abzugeben. 


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O.  E.  Schmidt:  Aus  der  Praxis  des  geschieht!,  u  kunntgeschichtl.  Anschauungsunterrichts  323 


auch  ihre  wichtigsten  Künstler  genannt  und  Bilder  ihrer  Werke  mit  ganz 
kurzen  Erklärungen  des  dargestellten  Gegenstandes  ausgestellt.  Es  kommt  uns 
nur  darauf  an,  unsere  Schüler,  die  nicht  in  der  Lage  sind,  die  Schaufenster 
grofsstädtischer  Kunsthandlungen  zu  studieren,  mit  einigen  charakteristischen 
oder  meisterlichen  Werken  der  betreffenden  Epoche  bekannt  zu  machen.  Also, 
ist  z.  B.  in  der  Geschichte  des  Mittelalters  die  Zeit  der  Ottonen  besprochen 
und  den  Schülern  ein  Begriff  der  ottonischen  Renaissance  auf  dem  Gebiete 
des  geistigen  Lebens  gegeben  worden,  so  wird  im  Zusammenhange  damit  eine 
Lehrstunde  auf  die  romanische  Kunst  und  auf  Vorführung  romanischer  Bau- 
werke und  romanischen  kirchlichen  Schmuckes  verwendet;  oder  nach  1273  wird 
die  Gothik  als  ein  Ausflufs  der  Idee  des  Gottesstaates  behandelt.  Über  diese 
Dinge,  die  doch  sozusagen  auch  zur  allgemeinen  Bildung  gehören,  ohne  bild- 
liche Demonstration  reden  zu  wollen,  wäre  ein  Unding.  Die  bildlichen  Bei- 
spiele dazu  entnehme  ich,  soweit  es  möglich  ist,  der  sächsischen  Heimat. 
Vorzüglichen  Stoff  dazu  liefert  das  von  Steche  begründete  Werk  'Beschreibende 
Darstellung  der  alteren  Bau-  und  Kunstdenkmäler  des  Königreichs  Sachsen', 
dessen  Illustration  musterhaft  genannt  werden  darf  und  das  in  keiner  Schul- 
bibliothek eines  sächsischen  Gymnasiums  fehlen  dürfte.  Die  Wechselburger 
Kapelle  als  Beispiel  romanischen  Stils,  die  Goldene  Pforte  in  Freiberg  als  der 
in  Stein  gebildete  Gottesstaat,  das  Grabmal  des  Kurfürsten  Moritz  im  Frei- 
berger  Dom  und  die  Skulpturen  der  Kirche  zu  Lauenstein  als  Beispiele  der 
Kunst  des  Zeitalters  der  Reformation  müssen  jedem  sächsischen  Gymnasiasten 
einmal  vor  Augen  gestanden  haben.  Aber  auch  sonst  niufs  man  bemüht  sein, 
auf  historisch  oder  künstlerisch  wertvolle  Bauten  und  Denkmäler  unserer  engeren 
Heimat  aufmerksam  zu  machen  und  die  Schüler  zu  selbständiger  Beobachtung 
auf  diesem  Gebiete  anzuregen.  Dadurch  wird  manches"  Band  geknüpft  zwischen 
Vergangenheit  und  Gegenwart,  zwischen  den  jungen  Herzen  und  dem  uralten, 
heiligen,  heimatlichen  Boden,  dadurch  kann  auch  manche  Ferienwanderung 
aus  dem  Schlamme  der  'Bierreise*  zu  der  reinen  Sphäre  künstlerischer  Be- 
obachtung und  historischer  Betrachtung  emporgehoben  werden.  Ich  kann 
wenigstens  aus  meiner  Erfahrung  berichten,  dafs  mancher  ehemalige  Afraner 
noch  als  Student  seine  Wanderschaft  nach  irgend  einem  kirchlichen  oder  pro- 
fanen Monumente  gerichtet  hat,  das  ihm  zunächst  auf  der  Schule  in  Wort  und 
Bild  nahegebracht  worden  war;  eine  Postkarte  mit  einem  Worte  dankbarer 
Erinnerung  an  solche  Unterweisung  belohnt  dann  den  Lehrer  oft  noch  nach 
Jahren  für  die  aufgewandte  Mühe. 

Sehr  schwierig  ist  die  Frage  zu  beantworten,  wie  die  Bilder  den 
Schülern  zugänglich  gemacht  werden  sollen.  Wir  haben  mancherlei 
hierzu  versucht.  Wir  haben  z.  B.  ein  grofses  Gipsmodell  der  Akropolis  in  der 
Schülerbibliothek  aufgestellt,  wir  haben  an  den  Wänden  derselben  die  bekannten 
braungetönten  Langischen  Bilder  aufgehängt,  auch  eine  tabula  Peutingeriana. 
Wir  haben  begonnen,  den  Anschauungsmitteln  in  den  langen,  öden  Korridoren 
unseres  Hauses  ein  Heim  zu  bieten  und  diese  dadurch  zugleich  etwas  wohn- 
licher zu  machen.   Dazu  verwenden  wir  neuerdings  die  grofsen  Seemann  sehen 

21* 


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324   0.  E.  Schmidt:  Aus  der  Praxis  des  geschieht!,  u.  kuustgeschichtl.  Arachanangronterricht« 


Tafeln,  auf  Pappe  gezogen  und  lackiert,  ferner  die  noch  gröfseren  Blätter,  die 
das  Kaiserlich  Deutsche  Archäologische  Institut  in  Berlin  herausgiebt  (Denkmal 
der  Hegeso,  Alexandersarkophag).  Aber  dabei  beobachten  wir,  dafs  der  Schüler 
solche  Gelegenheit  zur  Belehrung  und  Anschauung  nur  wenig  benutzt:  das 
Interesse  ist  noch  nicht  so  rege,  dafs  er  sieht,  ohne  dazu  angeregt  zu  werden. 
Überhaupt  wirkt  ein  Kunstwerk  nach  meinen  Erfahrungen  erst  dann,  wenn  es 
dem  Schüler  in  einem  gewissen  geistigen  Zusammenhange  mit  anderen  Dingen 
erscheint,  und  wenn  die  Erklärung  des  Lehrers,  sei  sie  auch  noch  so  zurück- 
haltend und  bescheiden,  hinzukommt.  Demnach  ist  der  rechte  Ort  für  die 
Pflege  der  Anschauung  der  Klassenunterricht.  Es  empfiehlt  sich  aber 
gur  nicht,  Bilder  oder  Bücher  im  Unterrichte  herumzugeben;  diese  werden 
beschmutzt,  und  es  entsteht  Unruhe.  Deshalb  verwenden  wir  seit  einer  Reihe 
von  Jahren  Anschauungskästen,  1  m  hoch,  60  cm  breit,  10  cm  tief,  aus 
Holz,  inwendig  weifs  gestrichen,  mit  einer  Glasthür  verschlossen.  In  jeder 
Klasse  hängt  ein  solcher  Kasten,  er  kostet  ungefähr  8 — 10  Mark,  in  der  Nähe 
des  Katheders,  dafs  der  Lehrer  leicht  damit  hantieren  kann,  aber  natürlich  so 
aufgemacht,  dafs  gutes  Licht  hineinfällt. 

In  diese  Kästen  lassen  sich  illustrierte  Bücher  selbst  grofsen  Formats  auf- 
geschlagen ohne  Schwierigkeit  hineinstellen,  das  Umblättern  wird  durch  ein 
über  den  Blattrand  gelegtes,  rechts  und  links  mit  Kopierzwecken  befestigtes 
Leinwandband  vermieden.  Auch  Karten,  einzelne  Photographien,  Statuetten,  ja 
sogar  Zinnsoldaten,  um  die  Bewaffnung  der  römischen  Krieger  zu  veranschau- 
lichen, lassen  sich  gut  unterbringen.  Es  können  auch  zwei  Lehrer  den  Kasten 
zu  gleicher  Zeit  benutzen,  denn  er  ist  in  halber  Höhe  durch  ein  bewegliches 
Brett  geteilt. 

Der  Einwurf,  dafs '  die  im  Kasten  ausgestellten  Dinge  den  Schüler  in 
anderen  Lehrstunden  zerstreuen,  ist  durch  unsere  Erfahrung  widerlegt  worden: 
nach  dieser  Richtung  ist  in  den  acht  Jahren,  seitdem  ich  diese  Kästen  in 
St.  Afra  benutze1),  nicht  die  geringste  Klage  laut  geworden.  Die  Schüler  be- 
trachten den  Kasten  bei  Schlufs  des  Unterrichts,  während  der  Lehrer  seine 
Einträge  macht.  Gelegentlich  läfst  sich  auch  eine  Repetition  so  abhalten,  dafs 
man  einen  Schüler  an  den  Kasten  stellt  und  über  die  dort  ausgestellten  Gegen- 
stände reden  läfst:  dabei  kommen  nach  meinen  Erfahrungen  recht  hübsche 
kleine  Sprechübungen  und  mitunter  auch  ganz  annehmbare  selbständige  Urteile 
der  Schüler  zu  Tage.  Das  ist  namentlich  der  Fall  in  der  Kunstgeschichte,  wo 
das  fortgesetzte  Schauen  von  Kunstwerken  verschiedener  Epochen  und  ver- 
schiedener Richtungen,  auch  ohne  dafs  eine  systematische  Unterweisung  erfolgt, 
unwillkürlich  zu  Vergleichungen  auffordert.  Ich  entsinne  mich  z.  B.  mit  Ver- 
gnügen einer  halb  geschichtlichen,  halb  kunstgeschichtlichen  Repetition  über 
einige  hervorragende  Persönlichkeiten  der  Weltgeschichte,  die  ich  einst  in  Prima 
an  die  Zusammenstellung  der  bekanntesten  Reiterstandbilder  (Marc  Aurel  — 


')  Vorher  habe  ich  Kasten  ähnlicher  Konstruktion  am  Kgl.  Gymn.  zn  Dreaden-N.  be- 
nutzt, und  zwar  auf  Anregung  meines  Kollegen,  des  Prof.  Dr.  Martin  Lange. 


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O.  E.  Schmidt:  Au«  der  Praxis  des  geschichtl.  u.  kunstgeschichtl.  Anschauungsunterricht«  325 

Karl  der  Grofse  —  Barbarossa  —  Colleoni  —  der  grofse  Kurfürst  —  August 
der  Starke  —  Friedrich  der  Grofse  u.  s.  w.)  anknüpfte. 

Ein  besonderes  Kapitel  bildet  die  technische  Vorbereitung  der  Photo- 
graphien für  den  Gebrauch  in  der  Klasse  und  ihre  Aufbewahrung. 
Früher  liefsen  wir  die  Photographien,  damit  sie  nicht  beschädigt  würden  und 
damit  sie  Bich  gut  abhöben,  jede  auf  eine  grofse  Tafel  graublauen  Kartons  auf- 
ziehen. Aber  dieses  Verfahren  hat  doch  mancherlei  gegen  sich:  eine  einzelne 
Tafel  Verschwindet  leicht,  die  Ecken  aber  bestofsen  sich.  Deshalb  fafsten  wir 
12 — 25  stofflich  dazu  geeignete  Bilder  zu  je  einem  Bande  zusammen:  so  sind 
die  oben  erwähnten  fünf  Bände  italienischer  Photographien  entstanden.  Aber 
eine  so  angelegte  Sammlung  braucht  viel  Raum  und  ist  auch  nicht  sehr  leicht 
zu  handhaben.  Deshalb  lassen  wir  neuerdings  die  Photographien  nur  noch  auf 
feine  Leinwand,  und  zwar  ohne  jeden  Rand,  aufziehen,  so  dafs  sich  die  auf- 
gezogene Photographie  nur  durch  gröfsere  Festigkeit  von  der  unaufgezogenen 
unterscheidet.  Ein  mit  Leinwand  aberzogener  Pappkasten  von  10  cm  Höhe 
beherbergt  leicht  300 — 400  so  behandelte  Bilder.  Damit  sie  sich  nicht  rollen, 
liegt  zu  oberst  eine  papierüberzogene  Stahl-  oder  Messingplatte.  Um  diese 
Photographien  in  der  Klasse  auszustellen,  bedarf  man  einer  grofsen  (grau  aber- 
zogenen) Papptafel,  auf  welche  leinwandgeftttterte  Ecken  so  aufgeklebt  sind, 
dafs  man  die  Ecken  der  Photographien  unter  diese  Ecken  hineinschiebt.  Die 
von  mir  verwendeten  Papptafeln  haben  Platz  für  vier  bis  zwölf  Photographien, 
je  nach  Bedürfnis,  so  dafs  ich  also  auch  leicht  Gruppen,  z.  B.  archaische 
Bildwerke,  die  Meisterwerke  des  Phidias,  eine  Gruppe  von  Alexandrinischer 
Kunst  u.  s.  w.  zusammenstellen  kann.  Die  betreffende  Papptafel,  auf  der  jedes  Bild 
vom  anderen  durch  ein  5 — 10  cm  breites  Intervall  getrennt,  also  wirksam  um- 
rahmt erscheint,  wird  dann  auf  einem  gewöhnlichen  Stativ,  wie  es  für  Wand- 
tafeln gebraucht  wird,  in  der  Klasse  ausgestellt.  Wir  besitzen  auch  Papptafeln 
mit  Ecken  für  ganz  grofse  Photographien,  sowie  für  Zusammenstellung  von 
Gruppen  aus  dem  'Klassischen  Skulpturenschatz*  und  uns  dem  'Museum',  so 
dafs  ich  auch  sofort  eine  Holbein-Dürer-Raffael-Gruppe  für  den  Unterricht  zu- 
sammenstellen kann.  Zur  Aufbewahrung  des  ganzen  Apparates,  der  natürlich 
allen  Lehrern  unserer  Schule  zur  Verfügung  steht,  aber  stets  von  mir  persönlich 
gebrauchsfertig  gemacht  wird,  dient  ein  besonders  konstruierter  Schrank,  der 
oben  die  Bilderkästen,  unten  die  oben  besprochenen  zur  Ausstellung  dienenden 
Papptafeln  enthält,  und  zwar  aufrecht  stehend,  jede  von  der  anderen  durch  einen 
hölzernen  Unterschied  getrennt,  so  dafB  also  z.  B.  eine  Phidias-  oder  Dürer- 
gruppe unter  Umständen  monatelang  im  Schranke  aufbewahrt  werden  kann. 
Die  Bilder  sind  darin  vor  Licht  und  Staub  vollkommen  geschützt.  Ich  kann 
wohl  sagen,  dafs  sich  dieser  Apparat  recht  gut  bewährt  hat.  Er  wird  durch 
Neuanschaffung  von  Photographien  immer  vermehrt.  Aber  einen  Stillstand 
giebt  es  auf  diesem  Gebiete  nicht;  schon  mufs  man  sein  Augenmerk  auf  ein 
I  neues  Unternehmen  richten,  das  vielleicht  eine  grofse  Zukunft  haben  wird: 
bereits  ist  das  verbesserte  Skioptikon  in  den  Dienst  der  Kunstgeschichte 
gestellt  worden  durch  Franz  Stödtner:  Antike  Kunst  in  Lichtbildern  (Institut 


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326    A.  Reum:  Ist  ea  Aufgabe  des  Gymnasium«,  den  franzÖBischen  AufaaU  zu  pflegen? 

für  wissenschaftliche  Projektion sphotographie  1898,  Berlin  NW.  21,  Bremer- 
strafse  56).  Auf  diesem  Gebiete  könnte  sich  die  historische  Wissenschaft  mit 
der  Naturwissenschaft,  der  Geschichtslehrer  und  Philologe  mit  dem  Physiker 
zum  edlen  Bunde  im  Dienste  des  Schönen  die  Hand  reichen  —  und  wer  weifs, 
was  uns  erst  das  20.  Jahrh.  auf  dem  Gebiete  der  Technik  des  Anschauungs- 
unterrichtes bringen  wird. 


IV 

IST  ES  AUFGABE  DES  GYMNASIUMS,  DEN  FRANZÖSISCHEN 

AUFSATZ  ZU  PFLEGEN  1 

Von  Albrecht  Reum 

Für  die  Vertreter  des  französischen  Unterrichts  auf  dem  Gymnasium  giebt 
es  ein  Gebiet,  das  mir  vorkommt  wie  ein  fruchtbares,  gelobtes  Land,  das  man 
uns  nicht  allerorten  gönnt,  das  die  Unseren  einst  besessen,  aber  im  Bewufstsein 
ihrer  unzulänglichen  Ausrüstung  wieder  aufgegeben  haben;  das  uns  jedoch  zu- 
kommt und  zufällt,  wenn  wir  nur  den  festen  Willen  zeigen,  es  wieder  in  Besitz 
zu  nehmen  und  mit  besseren  Mitteln  und  Kräften  zu  schirmen,  zu  verwalten 
und  auszubauen  als  unsere  Vorgänger:  ich  meine  den  französischen  Aufsatz. 

Noch  vor  wenig  Jahren  gebrach  es  vielen  unter  uns  an  dem  zu  diesem 
Unternehmen  erforderlichen  Mute.  Gar  mancher  erblickte  in  diesem  Streben, 
das  in  Wahrheit  auf  Früheres  zurückgreift,  eine  zeitraubende,  unfruchtbare 
Neuerung,  die  überdies  mit  den  für  uns  geltenden  Unterrichtsvorschriften  nicht 
vereinbar  wäre.  Vielleicht  ist  es  unter  dem  belebenden  Einflüsse  der  mehr 
und  mehr  an  Ansehen  und  Boden  gewinnenden  direkten  Methode  schon  vielfach 
anders  geworden.  Jedenfalls  ist  es  wünschenswert,  dafs  über  diese  wichtige 
Frage  allseitig  Klarheit  herrscht,  und  darum  will  ich  es  wagen,  sie  noch  einmal 
aufzurollen,  trotzdem  ich  mich  über  denselben  Stoff  schon  einmal  (im  Oster- 
programm  des  Vitzthumschen  Gymnasiums  zu  Dresden  vom  Jahre  1896)  aus- 
führlich geäufsert  habe.  Dort  wie  hier  ist  es  mein  Bemühen,  alle,  die  diese 
Unterrichtsfrage  angeht,  von  der  Notwendigkeit  zu  überzeugen,  dafs  in  unserem 
französischen  Sprachunterrichte  noch  eine  wichtige  Änderung  vorgehen  mufs, 
wenn  die  leider  zur  Zeit  noch  mehr  besprochene  als  wirklich  durchgeführte 
Reform  ihren  fördernden  und  befruchtenden  Einflufs  auf  Lehrende  und  Lernende 
wirklich  ausüben  soll.  Ich  kann  mich  als  ein  Anhänger  der  direkten  Methode 
mit  der  vorherrschenden  Stellung  und  dem  alle  anderen  Übungen  verdunkeln- 
den Ansehen  der  Übersetzung  nicht  einverstanden  erklären;  denn  man  er- 
wartet von  dieser  Übung  mehr,  als  sie  leisten  kann,  und  gefährdet  durch  sie 
die  Erreichung  des  uns  neuerlich  gesteckten  Zieles  mehr,  als  man  ahnt.  Da 
sie  jedoch  in  hohem  Grade  geeignet  ist,  Urteil  und  Willen  zu  bilden  und  ge- 
wisse grammatische  Dinge  zu  erläutern,  soll  sie  nicht  ganz  verdrängt,  wohl 
aber  durch  die  Pflege  des  Aufsatzes  etwas  eingeschränkt  und  nach  mehreren 
Seiten  hin  ergänzt  werden. 


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A.  Reum:  Ist  es  Aufgabe  des  Gjmnaniumß,  den  französischen  Aufsatz  zu  pflegen?  327 

Indem  ich  diese  Forderung  ausspreche,  bin  ich  den  streng  gesinnten  Re- 
formern gewifs  zu  bescheiden  und  den  Anhängern  der  grammatisierenden 
Methode  zu  kühn;  und  dennoch  scheint  mir  dieser  Mittelweg  der  einzige  zu 
sein,  der  zu  einem  schonen  und  der  Schule  würdigen  Ziele  führt. 

Da  es  nach  den  seit  Jahren  veranstalteten  und  gelungenen  Versuchen 
(z.  B.  am  Königlichen  Gymnasium  zu  Leipzig)  nicht  mehr  nötig  ist,  umständlich 
die  Möglichkeit  französischer  Aufsatzflbungen  an  unseren  Gymnasien  nach- 
zuweisen, soll  hier  auf  diesen  Punkt  nicht  eingegangen  werden;  übrigens 
brauchte  man  aus  einer  Möglichkeit  noch  keine  Notwendigkeit  zu  folgern.  Es 
soll  vielmehr  ohne  Rücksicht  auf  einzelne  Versuche  erwogen  werden: 

1.  Welche  Gründe  sich  für  die  Pflege  des  französischen  Aufsatzes  an 
deutschen  Schulen,  insbesondere  an  unseren  Gymnasien,  geltend  machen  lassen? 
2.  Wie  der  Aufsatzunterricht  zu  gestalten  wäre,  damit  die  anderen  vorgeschriebenen 
Übungen  von  ihm  nicht  Aber  Gebühr  beeinträchtigt,  sondern  womöglich  durch 
ihn  gefordert  würden?  und  3.  Welche  Bedenken  der  Gegner  des  Aufsatzes  als 
unbegründet  zurückgewiesen  werden  dürfen? 

'Man  mag  Zwecke  und  Mittel  des  Sprachunterrichtes  definieren  wie 
man  will,  der  Wunsch,  die  Sprache  gebrauchen  zu  lernen,  drängt  sich  mit 
natürlicher  Gewalt  immer  auf.'  So  läfst  sich  v.  Sallwürk  in  seinen  jüngst 
erschienenen  'Fünf  Kapiteln  vom  Erlernen  fremder  Sprachen*  vernehmen. 
Wenn  sich  aber  ein  Wunsch  gewaltsam  aufdrängt,  so  lüTst  er  sich  auf  die 
Dauer  nicht  abweisen;  und  wenn  der  Wunsch  natürlich  ist,  so  wäre  es  un- 
natürlich, seine  Verwirklichung  verhindern  zu  wollen.  Natürlich  aber  ist  der 
Wunsch,  weil  er  das  zum  Zwecke  der  Gedankenvermittelung  Geschaffene:  die 
Sprache,  seiner  natürlichen  Bestimmung  gemäfs  verwenden  will  und  alles  ge- 
waltsame Daranherumbiegen  und  -zwängen  als  dem  Zwecke  der  Sprache  fremd 
und  der  Sprachaneignung  nicht  förderlich  verwirft. 

Die  Sprache  gebrauchen  kann  aber  nur  bedeuten:  sie  zur  Vermittelung 
dessen  brauchen,  was  der  Redende  oder  Schreibende  ausdrücken  will,  um  seine 
Urteile,  Ansichten  und  Anliegen,  kurz,  was  in  ihm  vorgeht,  anderen  mitzuteilen. 

Mitteilungen  erfolgen  mündlich  oder  schriftlich.  Es  mufs  an  den  Gebildeten 
die  Forderung  gestellt  werden,  dafs  er  zu  beidem  fähig  ist,  und  an  seine 
Bildungsstätte,  dafs  sie  beides  lehrt.  Das  thut  sie  aber  nicht  durch  Übersetzen 
französischer  Schriftsteller  und  Einprägen  der  Grammatik,  nicht  durch  Vokabel- 
überhören und  Übersetzenlassen  allein,  denn  zum  Französischschreiben  aus 
sich  heraus  gehört  die  Beherrschung  eines  ansehnlichen  und  in  sich  zu- 
sammenhängenden Sprachatoffes  und  die  Fertigkeit,  mit  diesem  nach 
Mafsgabe  des  jeweiligen  Zweckes  und  in  den  dem  gebildeten  Franzosen  ge- 
läufigen Denk-  und  Redeformen  frei  umzuspringen.  Nach  dieser  Seite  hin 
bedarf  daher  unser  Unterricht  einer  notwendigen  Ergänzung. 

Zu  dieser  drängt  zunächst  das  praktische  Bedürfnis  hin.  Je  lebhafter 
und  enger  sich  der  Verkehr  der  Kulturvölker  gestaltet,  desto  weniger  genügt 
eine  oberflächliche  Bekanntschaft  mit  ihren  Sprachen.  Die  Möglichkeit,  mit 
Franzosen  in  mündlichen  oder  schriftlichen  Verkehr  zu  kommen,  ist  heute 


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328    A.  Reum:  Ist  e*  Aufgabe  des  Gymnasiums,  den  franzöMBchen  Aufsatz  tu  pflegen? 

zehnmal  so  grofs  als  vor  zwanzig  Jahren,  und  das  wird  sich  stetig  steigern; 
viele  Geschäfteleute  müssen  sich  der  fremden  Sprachen  täglich  bedienen,  und 
selbst  unsere  Schüler  sind  in  jüngster  Zeit  in  einen  lebhaften  BriefVerkehr 
mit  gleichaltrigen  Franzosen  gebracht  worden  und  empfinden  dabei  deutlich, 
woran  es  ihnen  bei  unserem  bisherigen  Unterricht  noch  gebricht. 

So  dankenswert  und  förderlich  auch  dieses  Unternehmen  ist,  so  ist  es  doch 
geeignet,  die  Achtung  der  Schüler  vor  dem  schulmäfsigen  Sprachunterricht  in 
vermindern,  wenn  die  Schule  fortfahrt,  dabei  die  Rolle  einer  stummer 
Zuschauerin  zu  spielen,  statt  die  ihr  von  Rechts  wegen  zukommende  Rolle  der 
Führerin  und  Lehrmeisterin  zu  übernehmen. 

Es  ist  über  jeden  Zweifel  erhaben,  dafs  diese  Einrichtung,  die  von  dem 
'sich  mit  natürlicher  Gewalt  aufdrängenden  Wunsche,  die  Sprache  frei  ge- 
brauchen zu  lernen',  lebendiges  Zeugnis  ablegt,  durch  eine  methodische  Ein 
führung  in  den  französischen  Stil  nicht  nur  für  die  Schüler  nutzenbringender 
gemacht  würde,  die  bisher  zugelassen  werden,  sondern  dafs  auch  noch  viel  mehr 
Schüler  zugelassen  werden  könnten. 

Ferner  ist  die  Pflege  des  Aufsatzes  wegen  der  mit  ihr  zusammenhängenden 
und  durch  sie  vermittelten  Bereicherung  des  Wortschatzes  geboten. 

Auch  bei  den  neueren  Unterrichtswerken,  die  ihre  Musterstücke  mit  Rück- 
sicht auf  das  tägliche  Leben  gewählt  haben,  läfst  sich  die  Beobachtung  machen, 
dafs  der  dem  Schüler  vermittelte  Wortschatz  fürs  Leben  nicht  ausreicht;  sobald 
sich  die  Wirklichkeit  mit  dem  im  Buche  festgehaltenen  Bilde  oder  Vorgar ge 
nicht  Punkt  für  Punkt  deckt,  machen  sich  empfindliche  Lücken  bemerkbar.  Um 
nun  zunächst  einmal  seinen  Schülern  den  nötigsten,  den  'eisernen  Bestand'  toh 
Wörtern  aus  allen  naheliegenden  Gebieten  vorzuführen  und  einzuprägen,  wendet 
sich  der  Verfasser  meist  mit  jedem  Kapitel  einem  neuen  Vorstellungskreise  in. 
und  der  Wortschatz  des  vorigen  bleibt  notgedrungen  lückenhaft. 

Wollte  man  aber  in  jedem  Kapitel  alle  Möglichkeiten  erschöpfen  und 
z.  B.  bei  den  Wettererscheinungen  nicht  einen  bestimmten  Tag  ins  Auge  fassen, 
sondern  alle  Lufterscheinungen  und  Niederschläge,  die  möglicherweise  im 
Laufe  des  ganzen  Jahres  eintreten  können,  besprechen,  so  entbehrt  das  gebotene 
Bild  der  Wahrheit  und  Wirklichkeit  und  somit  seines  gröfsten  Reizes,  und  die 
Aufnahme  neuer  Wörter  und  Wendungen  artet  wieder  in  trockenes,  geist 
tötendes  Vokabellernen  aus,  das  doch  nun  einmal  in  seiner  Unzulänglichkeit 
erkannt  ist  und  daher  in  der  alten  Weise  nicht  mehr  gepflegt  werden  darf 
Über  diesen  Mangel  können  keine  äufserlich  ansprechenden  Formen  wie  Ge- 
spräche und  Briefe  hinwegtäuschen;  solche  Kapitel  geben  vor,  ein  Stück  Leben 
zu  sein,  sind  aber  langweilige  Aufzählungen  von  unverbundenen  Phrasen.  Wann 
also  sollen  und  können  die  notwendigerweise  bleibenden  Lücken  im  Wortschätze 
ausgefüllt  werden?  Durch  die  Lektüre?  Vielleicht,  und  bis  zu  einem  geringen 
Grade  gewifs.  Doch  mufs  sie  so  betrieben  werden,  dafs  sie  auf  die  An- 
eignung des  Gelesenen  abzielt,  nicht  auf  eine  möglichst  glatte  Verdeutschung 

Mehr  als  die  Lektüre  ist  zur  Aneignung  der  für  den  Gedankenausdruck 
nötigen  Wörter  der  Aufsatzunterricht  geeignet  und  daher  auch  berufen. 


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A.  Renin:  Ist  es  Aufgabe  des  Gymnasium»,  den  französischen  Aufsate  zu  pflegen?  329 

Zwischen  der  Vermittlung  neuer  Wörter  beim  Lesen  und  beim  Niederschreiben 
seiner  eigenen  Gedanken  herrscht  ein  bemerkenswerter  Unterschied.  Lesen 
wir  die  Schilderung  eines  Vorganges  oder  eines  Bildes,  so  ziehen  an  unserem 
Geiste  die  sprachlichen  Vorstellungen  in  sehr  verachiedengradiger  Deutlichkeit 
und  in  mehr  oder  minder  grofser  Ferne  flüchtig  vorüber;  wir  sind  im  wesent- 
lichen Zuschauer;  schreiben  wir  aber  einen  Vorgang  oder  die  Schilderung 
eines  Bildes  selbst  nieder,  so  suchen  wir  ein  innerlich  erschautes  Bild  in  Worten 
festzuhalten,  auszumalen  und  auszuprägen,  um  es  anderen  mitzuteilen;  wir  sind 
nicht  stille  Zuschauer,  sondern  Erzähler,  Redner,  kurz  Vortragende,  die  sich 
mitteilen,  die  fesseln,  die  wirken  wollen.  Beim  Schreiben  sind  unsere  Vor- 
stellungen bewufJster  und  lebhafter;  Ding  und  Wort  verschmelzen  in  der  grösseren 
Glut  der  Begeisterung  für  unseren  Gegenstand  auch  inniger  miteinander,  und 
aufserdem  liegt  in  dem  Suchen  des  geeignetsten  Ausdruckes  eine  kräftigere 
geistige  Thätigkeit  ab  darin,  dafs  die  sprachliche  Anschauung  durch  ein  gelesenes 
Wort  geweckt  wird.  Das  durch  eigene  Denkthätigkeit  herbeigewünschte  und 
dann  wirklich  herbeigeschaffte  Wort  für  den  uns  vorschwebenden  Begriff  ist 
Ziel  und  Abschlufs  einer  Gedankenverknüpfung,  die  uns  lebhaft  anregt  und 
unsere  geistige  Aufnahmefähigkeit  steigert.  Fehlt  uns  aber  ein  Wort  für  einen 
uns  vorschwebenden  Begriff,  und  erhalten  wir  dies  Wort  gerade  in  dem  Augen- 
blicke, da  wir  es  suchen,  in  richtiger  Aussprache  und  richtiger  Verbindung  mit- 
geteilt, so  sind  wir  sicher,  es  so  leicht  nicht  wieder  zu  verlieren.  Und  in  dieser 
beneidenswerten  Lage  befände  sich  der  Schüler  bei  dem  von  mir  gedachten 
Aufsatzunterrichte.  Das  aufgewühlte  Gedächtnis  nimmt  es  auf,  wie  die  frisch 
gezogene  Furche  das  Saatkorn.  Und  versteht  es  der  Lehrer,  das  Wort  durch 
Anspielung  auf  stammverwandte  und  bekannte  Wörter  gleich  zu  erklären  und 
dem  Schüler  vertraut  zu  machen,  so  ist  das  Erlernen  noch  sicherer  und  geradezu 
genufsreich.  Bei  diesen  Gelegenheiten  hat  es  Sinn  und  Nutzen,  wenn  auch  in 
elementarem  Sinne,  auf  Etymologie  einzugehen;  mit  Spannung  und  Gewinn 
werden  die  Lernenden  lauschen,  während  derartige  Bemerkungen  beim  Lesen 
und  Übersetzen  gröfstenteils  über  die  Köpfe  unserer  Schüler  hin  wegfliegen,  da 
ihre  Gedanken  auf  anderes,  auf  die  Übersetzung  gorichtet  sind. 

Mit  dieser  unser  Wissen  erweiternden  und  vertiefenden  Wirkung  stilistischer 
Aufgaben  hängt  zusammen,  was  ich  an  dritter  Stelle  als  praktischen  Nutzen 
des  Aufsatzunterrichtes  bezeichnen  möchte:  ich  meine  die  Erleichterung  des 
Verständnisses  der  gesprochenen  Sprache. 

Wir,  die  wir  aus  der  alten  Schule  stammen  und  im  Auslande  unsere  Er- 
fahrungen gesammelt  haben,  sind  lebendige  Zeugen  dafür,  dafs  man  sieben 
Jahre  Vokabeln  lernen,  ganze  Bände  überBetzen  und  in  die  grammatischen 
Gesetze  eingeweiht  werden  kann,  ohne  dadurch  die  Fähigkeit  zu  erwerben,  sich 
in  französischer  Umgebung  leidlich  verständlich  zu  machen  oder  Franzosen 
leidlich  zu  verstehen.  Wer  von  uns  möchte  sich  noch  einmal  so  mitleidig  be- 
l  trachten  lassen,  wer  möchte  noch  einmal  das  Gefühl  tiefer  Beschämung  und 

Ratlosigkeit  durchkosten,  was  wir  seinerzeit  im  Auslande  empfunden  haben? 
Und  nun  erst  die  qualvollen  Stunden  im  Theater!  Wo  alles  genofs  und  lauschte 


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330   A.  Reum:  Ist  e*  Aufgab«  des  Gymnasiums,  den  franzöaiachen  Aufsatz  zu  pflegen? 

und  lachte,  safsen  wir  im  Innereten  unzufrieden  und  geknickt  da,  versuchten 
durch  ein  erkünsteltes  —  unwillkürlich  halb  schmerzliches  —  Lachein  zu  ver- 
bergen, dafs  wir  nicht  wufsten,  welche  geistreiche  Anspielung  die  Lachmuskeln 
unserer  Umgebung  reizte,  und  lasen  von  Stund  an  fleifsig  die  Stücke  daheim, 
die  wir  später  sehen  wollten.  Verstanden  wir  dann  besser,  so  bildeten  wir 
uns  ein,  wir  hatten  Fortschritte  gemacht.  Im  Grunde  täuschten  wir  uns,  denn 
was  wir  nun  vom  Gang  der  Handlung  verstanden,  waren  Erinnerungsvorstell- 
ungen der  uns  durch  das  Lesen  vermittelten  Bilder;  die  gesprochene  Sprache 
rauschte  vor  wie  nach  wirkungslos  an  unserem  Ohr  vorüber,  nur  einzelne 
Wörter  und  Sätze  ragten  wie  verstreute  Inseln  aus  dem  Meere  der  unver- 
standenen Klänge  empor. 

Wie  erklärt  sich  diese  Hilflosigkeit? 

Sallwürk  äufsert  sich  folgendermafsen  über  diesen  Punkt:  «Hättest  Du 
auch  die  sprachlichen  Vorstellungen  in  Dir  vollziehen  können,  die  den 
Worten  des  Schauspielers  zu  Grunde  gelegen  haben,  so  hätte  Deinem  Ver- 
ständnisse gar  nichts  gefehlt/  Nur  wenn  wir  das,  was  der  andere  sprich^ 
«innerlich  mitsprechen'  können,  indem  wir  die  sprachlichen  Anschauungen, 
auf  denen  seine  Rede  beruht,  auch  in  uns  wecken,  vermögen  wir  ihn  zu  ver- 
stehen, wie  wir  unsere  Landsleute  verstehen.  'Würden  wir  die  nämlichen 
sprachlichen  Anschauungen,  aus  denen  seine  Rede  fliefst,  auch  in  uns  lebendig 
machen  können,  so  würden  wir  an  seinem  schnellen  Reden,  das  wir  uns  meist 
nur  einbilden,  kein  Hindernis  für  unser  Verständnis  finden:  Wer  so  mit  einem 
Fremden  spricht,  denkt,  wie  der  landläufige  Ausdruck  lautet,  in  der  fremden 
Sprache.' 

Schulen  wir  bei  unserem  Unterrichte  das  nicht,  so  arbeiten  wir  nahezu 
umsonst.  Und  glauben  wir,  dafs  die  bisher  üblichen  Übungen  heute  mehr 
Wunder  thun,  als  sie  einst  an  uns  gethan  haben,  so  befinden  wir  uns  im 
Irrtum.  Wir  müssen  auf  Übungen  sinnen,  die  den  Schüler  nicht  jede  Minute 
aus  der  fremden  Sprache  herausreifsen,  sondern  die  ihn  vielmehr  immer 
mehr  in  die  fremde  Sprache,  in  ihre  Anschauungen  und  Denkformen  hinein- 
ziehen! Ich  werde  weiter  unten  zu  erörtern  haben,  welcher  Art  diese  sein 
können.  Mehr  oder  minder  lassen  sich  alle  Übungen  unter  diesem  Gesichts- 
punkte anstellen.  Keine  Übung  aber  erfüllt  diese  Forderung  so  umfassend  als 
der  Aufsatz.  Denn  wenn  wir  mitsprechen  lernen  sollen,  was  ein  Franzose 
spricht  oder  recitiert,  so  müssen  wir  uns  zunächst  ausdrücken  lernen  wie  er, 
zum  mindesten  in  derselben  Weise  wie  er.  Da  nun  seine  sprachlichen  An- 
schauungen, oder,  wie  sie  Steinthal  nennt:  'die  innere  Wortform'  durch  die 
Bilder  der  Aufsenwelt  und  durch  seine  Empfindungen  unmittelbar  geweckt 
werden,  so  müssen  wir  gleichfalls  lernen,  an  die  Aufsenwelt  und  an  unsere 
Empfindungen  die  französischen  sprachlichen  Anschauungen  unmittelbar  an- 
zuknüpfen, ohne  uns  durch  die  anders  gearteten  deutschen  hindurchzuarbeiten; 
sonst  wird  der  Franzose  uns  im  Tempo  stets  voraus  sein,  während  zum  inner- 
lichen Mitsprechen  gleiches  Tempo  erforderlich  ist. 

Da  aber  der  mündliche  Gedankenausdruck  wie  in  der  Muttersprache  so 


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A.  Reum:  Ist  es  Aufgabe  de«  Gymnasiums,  den  französischen  Aufsatz  m  pflegen?  331 

auch  in  der  fremden  Sprache  am  besten  durch  den  schriftlichen  geschult 
und  gefordert  wird,  so  weist  uns  auch  diese  gewifs  sehr  schwer  wiegende 
Rücksicht  mit  allem  Nachdruck  auf  die  Pflege  des  französischen  Aufsatzes  hin. 
Erfahrungsgemäfs  darf  ich  hinzufugen,  dafs  ich  erst  besseres  und  müheloseres 
Verstehen  der  Franzosen  erreicht  habe,  seitdem  ich  mich  gewöhnt  habe,  soviel 
als  möglich  französisch  zu  schreiben.  Und  jeder  wird  auf  Grund  seiner  per- 
sönlichen Erfahrungen  dasselbe  bestätigen.  Es  ist  aber  recht  und  billig,  dafs 
diese  Beobachtungen  der  jetzt  lernenden  Jugend  zu  gute  kommen;  ja,  es  wäre 
gransam,  sie  auf  demselben  beschwerlichen  und  nicht  zum  lohnenden  Ziele 
führenden  Weg  weiter  drängen  zu  wollen,  nur  weil  wir  ihn  einst  gegangen  sind. 

Man  hat  den  Vertretern  der  Reform  vorgeworfen,  dafs  sie  Männer  der 
reinen,  nüchternen  Praxis  seien,  und  dafs  ihr  Streben  des  idealen  Zuges  ent- 
behre. Ich  darf  daher  auch  nachdrücklich  auf  die  idealen  Gründe  hinweisen, 
die  sich  für  die  Pflege  des  Aufsatzes  geltend  machen  lassen. 

Ist  auch  das  Hauptziel  aller  Sprachstudien  das  Verstehen  der  fremden 
Sprache,  so  ist  es  doch  nicht  das  einzige  Ziel.  Der  deutsche  Unterricht  be- 
schränkt sich  selbst  in  der  kleinsten  Dorfschule  nicht  darauf,  die  Schüler 
ihre  Muttersprache  nur  verstehen  zu  lehren,  sondern  er  leitet  sie  zur  Re- 
produktion von  Vorstellungsreihen  in  zusammenhängender  Darstellung  an.  Sie 
sollen  sich  in  ihr  bethätigen.  Diese  Stilübungen  wenden  sich  von  der  wirk- 
lichen Welt  allmählich  höheren  Vorstellungen  zu  und  bereiten  so  systematisch 
das  Verständnis  eines  höheren,  eines  dichterischen  Gedankenfluges  vor.  Erkennt 
man  aber  dem  schlichten  Bauernknaben  das  Anrecht  auf  solch  einen  Unterricht 
in  seiner  Muttersprache  zu,  in  der  er  acht  Jahre  unterwiesen  wird,  so  sehe  ich 
nicht  ein,  warum  man  es  dem  viel  besser  vorbereiteten  und  geistig  höher  stehenden 
Gymnasiasten,  der  auch  nahezu  acht  Jahre  französisch  studiert,  versagen  will. 

Wie  kann  man  übrigens  der  Jugend  vor  den  Werken  der  grofsen  Denker 
und  Dichter  eine  bessere  Achtung  einflöfsen,  als  indem  man  sie  anleitet,  sich  an 
ihren  Mustern  zu  bilden?  Kann  man  den  Sinn  für  Litteraturwerke  besser  pflegen, 
als  durch  die  Anregung  zu  eigenem  Schaffen?  Wer  wird  eine  Dichtung,  eine 
Symphonie,  ein  Gemälde  mit  mehr  Verständnis  und  Genufs  hören  oder  schauen, 
der  einigermafsen  mit  der  Technik  Vertraute  oder  der  gänzlich  Unkundige? 
Darum,  meine  ich,  ist  die  Pflege  des  Aufsatzes  unter  Umständen  auch  der 
Schlüssel  zu  der  Pforte,  hinter  der  die  dichterischen  Schätze  einer  Nation  ver- 
borgen liegen.  Hat  der  deutsche  Schüler  auch  einmal  versucht,  ein  schönes 
Bild  oder  einen  packenden  Vorgang,  wenn  auch  in  engem  Rahmen,  in  fran- 
zösischer Form  und  nach  französischer  Auffassung  darzustellen,  so  liest  er  die 
dichterischen  Schilderungen  der  französischen  Schriftsteller  mit  weit  gröfserem 
Genüsse,  mindestens  mit  besserem  Verständnisse;  und  das  ist  ohne  Frage  ein 
schöner  Gewinn. 

Ist  es  dem  mit  griechischen,  lateinischen  und  französischen  Übersetzungen 
}-  geplagten  jungen  Manne  nicht  herzlich  zu  gönnen,  wenigstens  in  einer  Sprache 

zuweilen  ein  paar  Seiten  schreiben  zu  dürfen,  deren  Text  nicht  eigensinniger 
Formen  und  Konstruktionen  wegen  zu  seiner  Qual  ersonnen  ist?  Übersetzen 


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332   A.  Raum:  Ist  es  Aufgabe  des  Gymnasiums,  den  französischen  Aufsatz  zu  pflegen? 

ist^  zumal  bei  dem  Unbegabten,  eine  Mosaikarbeit;  die  einzelnen  Wörter  werden 
gesucht  und  eingepafst  wie  die  Steinchen  ins  Mosaikbild.  Leider  verliert  bei 
dieser  Arbeit  der  Übersetzer  häufig  den  Überblick,  und  aus  den  verrenkten 
Sätzen  spricht  oft  ein  schiefer  oder  verstümmelter  Sinn.  Dieser  ist  jedoch  dem 
Schüler  gleichgültig;  denn  was  er  übersetzt,  berührt  ihn  wenig;  er  fühlt  sich 
als  Handwerker,  der  nur  zu  arbeiten,  nicht  zu  denken  braucht.  Wie  viele 
Male  habe  ich  mich  davon  überzeugt,  dafs  der  Sinn  des  Übersetzten  dem 
Übersetzer  oft  gar  nicht  zum  Bewufstsein  kommt!  Diese  handwerksmäßige 
Arbeit  schläfert  den  durch  den  grammatischen  Unterricht  reichlich  ermüdeten 
Schüler  vollends  ein;  es  wäre  ein  gutes  Werk,  den  abgetriebenen  Geist  von 
Zeit  zu  Zeit  aufzufrischen,  damit  er  nicht  verlernt,  sich  selbst  zu  regen,  seibat 
Gedanken  hervorzubringen  und  diese  in  eine  selbstgefundene  Form  zu  giefsen 
Es  ist  nicht  genug,  dafe  er  lerne  handwerksmafsig  mit  der  Sprache  um- 
zugehen, sondern  er  lerne  es  auch  künstlerisch. 

So  bin  ich  denn  der  Ansicht,  dafs  jeder,  der  es  mit  der  uns  anvertrauten 
Jugend  wohl  meint,  aus  praktischen  wie  idealen  Gründen  die  Pflege  des 
französischen  Aufsatzes  auch  am  Gymnasium  wünschen  mufs.  Und  daher 
wende  ich  mich  der  zweiten  Frage  zu:  Durch  welche  Mittel  läfst  sich 
dieses  Ziel  erreichen? 

Bei  der  grammatischen  Methode  läuft  alles  auf  einen  Vergleich  der 
fremden  Sprache  mit  der  Muttersprache  hinaus.  Beim  Vokabellernen  nach 
der  alten  Methode  wird  der  Schüler  geübt,  für  das  deutsche  Wort  rasch  das 
französische  einzusetzen  und  umgekehrt,  beim  grammatischen  Unterrichte, 
die  Formen  und  Satzbilder  beider  Sprachen  nebeneinander  zu  halten  und  durch 
den  Vergleich  urteilen  zu  lernen;  bei  der  Lektüre  und  bei  allen  schrift- 
lichen Übungen  Sätze  oder  Satzreihen  von  einer  in  die  andere  Sprache  zu 
übertragen.  Immer  also  wird  der  Schüler  nachdrücklich  auf  einen  Vergleich 
von  einzelnen  Wörtern,  Wortformen  oder  einzelnen  Sätzen  hingewiesen,  und 
durch  dieses  Vergleichen  hofft  man,  werde  die  neue  Sprache  gelernt,  ob- 
wohl man  doch  nur  folgerichtig  erwarten  sollte,  dafs  der  Schüler  zwei  Sprachen 
vergleichen  lernt.  Gewifs  wird  ja  dadurch  eine  gewisse  Bekanntschaft  mit 
oft  wiederkehrenden  Wörtern  und  Wendungen  erreicht,  aber  eine  Herrschaft 
über  die  fremde  Sprache  keinesfalls.  Ist  nun  diese  ungeniefsbare  Frucht  eo 
vielen  Schweifses  wirklich  wert,  und  hätte  nicht  ganz  anderes  erreicht  werden 
können,  wenn  man  nicht  jeden  Augenblick  diese  Parallelen  gezogen  hätte? 
Läfst  es  sich  denn  nicht  jedem  Kinde  begreiflich  machen,  dafs  ein  Wanderer 
weiterkommt,  wenn  er  auf  einer  Strafse  munter  weiterschreitet,  als  wenn  er 
zugleich  auf  zweien  wandeln  will  und  jeden  Fortschritt  auf  der  einen  Strafte 
auf  der  gleichlaufenden  anderen  wiederholt? 

Die  grofsen  Mängel  dieses  Unterrichtes  sind  oft  genug  hervorgehoben 
worden,  z.  B.: 

1)  Das  Auftauchen  des  französischen  Wortbegriffes  nur  mit  Hilfe  des 
deutschen  Wortes:  so  erklärt  sich  die  Unfähigkeit  der  so  unterrichteten  Schüler, 
französisch  zu  sprechen. 


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A.  Reom:  Ist  es  Aufgabe  de«  Gymnasiums,  den  französischen  Aufsatz  zu  pflegen?  333 

2)  Auftauchen  des  deutschen  Wortes  statt  der  französischen  sprachlichen 
Anschauung:  so  erklärt  sich  die  Unfähigkeit,  gesprochenes  Französisch  un- 
mittelbar zu  verstehen. 

3)  Die  Gewohnheit,  ganze  Satze  erst  deutsch  zu  denken,  diese  nach 
schwierigen  Regeln  französisch  umzudenken  und  dann  zu  übersetzen,  wobei 
Germanismen  und  Gallicismen  zu  groben  Fehlern  verleiten. 

Aufserdem  hat  ein  so  unterrichteter  Schaler  nur  Beispielsätze  zn  Regeln 
übersetzt  und  wagt  nicht,  einen  schlichten  Satz  auszusprechen,  weil  er  ganz 
anders  aussieht  als  die,  mit  denen  er  sonst  seine  Plage  hatte. 

Hieraus  geht  hervor,  dafs  Schüler,  die  ausechliefslich  auf  den  Vergleich 
beider  Sprachen  abgerichtet  sind,  unüberwindliche  Schwierigkeiten  beim  freien 
Gebrauch  der  fremden  Sprache  haben  müssen.  Und  ich  verstehe  vollkommen, 
wie  meine  Vorschläge  an  Schulen,  wo  die  grammatisierende  Methode  herrscht, 
Kopfschütteln  hervorrufen.  Meine  Ansicht  und  Absicht  ist  es  nun  auch  gar 
nicht,  dafs  man  an  solchen  Anstalten  schon  jetzt  Aufsätze  liefern  lassen  sollte, 
wohl  aber,  dafs  man  einen  Weg  endlich  verlassen  müfste,  der  so  wenig  weit 
ins  fremde  Sprachgebiet  hineinführt  und  unsere  Schüler  nicht  befähigt,  eine 
gesprochene  fremde  Sprache  jemals  zur  Trägerin  ihrer  eigenen  Gedanken  zu 
machen. 

Will  man  dieses  Ziel  erreichen,  so  mufs  man  den  gesamten  Sprachunter- 
richt anders  anfassen,  auf  einem  anderen  Grundsatze  aufbauen  und  Mittel  und 
Wege  finden,  alle  Wörter,  Sprach-  und  Stileigentümlichkeiten  des  Französischen 
möglichst  oder  ganz  ohne  Zuhilfenahme  des  Deutschen  zu  lehren.  Handelte 
es  sich  bei  der  Übersetzungsmethode  darum,  auf  Schritt  und  Tritt  aufs  Deutsche 
zu  verweisen,   so  mufs  es  die  neue  Unterrichtskunst  lernen,   ohne  das 
Deutsche  auszukommen  und  den  Geist  des  Schülers  mittels  französischer 
Gedanken  zur  Hervorbringung  neuer  Denkprozesse  anzuregen.    Der  Unterricht 
mufs  unmittelbar  ins  Französische  einfuhren,  zum  Denken  in  der  fremden 
Sprache  anleiten  und  zum  unverfälscht  französischen  Gedankenausdrucke  er- 
ziehen.  Es  mufs  also  nicht  weniger  als  alles  einer  Reform  unterzogen  werden: 
Aneignung  der  französischen  Wörter,  Behandlung  der  Lektüre,  Behandlung  der 
Grammatik  und  der  schriftlichen  Übungen.  Diese  Übungen  alle  müssen  weniger 
der  Vermittelung  einer  Bekanntschaft  mit  der  fremden  Sprache,  als  vielmehr 
ihrer  Aneignung  dienstbar  gemacht  werden.    Der  Schüler  soll  nicht  mehr 
zwei  Sprachen  vergleichen,  sondern  beide  unabhängig  voneinander  gebrauchen 
lernen.   Das  scheint  mir  das  Wesentliche  an  allen  Reformbestrebungen  zu  sein. 
Diesem  Ziele  strebt  man  zu,  wenn  man  nach  der  Anschauungsmethode 
unterrichtet;  denn  sie  lehrt  die  neuen  Wörter  unmittelbar  an  die  Vorstellung, 
nicht  an  das  deutsche  Wort  knüpfen.    Aber  damit  hat  man  erst  den  ersten 
Schritt  gethan.   Die  überraschenden  Erfolge  dieses  Verfahrens  bürgen  für  seine 
Zweckmäfsigkeit  und  Richtigkeit  und  laden  zum  Weiterschreiten  nach  dieser 
Richtung  hin  ein.    Mit  einem  auf  empirischem  Wege  gewonnenen  Wortschatze 
sollte  aber  nach  zwei  Richtungen  hin  weiter  gearbeitet  werden:  einerseits 
mutete  er  beweglich  erhalten  werden  und  zum  Ausdruck  selbsterzeugter 


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334   A.  Rcum:  Ist  es  Aufgabe  des  Gymnasiums,  den  französischen  Aufsatz  zu  pflegen? 

Gedanken  dienen  lernen,  anderseits  rnüfste  er  vermöge  der  Wortableitung 
stetig  erweitert  werden. 

Es  ist  die  Aufgabe  des  neuen,  zeitgemäfsen  Unterrichtes,  die  Verknüpfung 
der  erlernten  franzosischen  Wörter  untereinander  zu  festigen  und  zu  verviel- 
fachen, damit  einem,  sobald  man  französisch  sprechen  oder  schreiben  will,  das 
rechte  französische  Wort  einfällt  und  nicht  das  deutsche!  Wie  das  Wörter- 
lernen, so  hat  auch  das  Wörter  über  hören  folglich  nicht  mehr  in  der  alten 
Weise  zu  geschehen,  sondern  so,  dafs  die  neu  erlernten  Wörter  vom  Lehrer 
genannt  und  von  den  Schülern  in  Sätzen  angewendet  werden.  So  tauchen 
zunächst  die  Wortverbindungen  im  Gedächtnisse  der  Schüler  auf,  in  denen  das 
Wort  zuerst  vorgekommen  ist  Das  ist  natürlich,  aber  gerade  das  ist  auch 
wichtig;  denn  eben  diese  Wortverbindungen  und  die  Summe  der  damit  ver- 
knüpften Vorstellungen  sind  die  unsichtbaren  Fäden,  an  denen  die  Bedeutung 
festgehalten  wird.  Bei  Worten  mit  engem  Bedeutungskreis  gebe  man  sich  mit 
der  Wiederholung  des  Satzes  aus  dem  durchgearbeiteten  Texte  zufrieden,  bei 
viel  verwendbaren  lasse  man  die  Schüler  in  reicherer  Zahl  Sätze  bilden.  Die 
von  den  Schülern  ausgesprochenen  Sätze  stellen  anfänglich  bescheidene,  all- 
mählich immer  wertvollere  Gedanken  dar,  die  desto  wortreicher  und  flüssiger 
werden,  je  mehr  Stoff  verarbeitet  wird. 

Auf  diese  Weise  fällt  beim  Wörter  überhören  kein  deutsches  Wort,  und 
auf  den  Befehl  hin:  Employez  le  cerisier  dans  une  phrase  quelconque!  ent- 
spinnt sich  ein  reger  Wettstreit,  denn  jeder  will  seino  Weisheit  an  den  Mann 
bringen. 

Der  eine  sagt:  Le  cerisier  est  un  arbre  fruitier. 
Der  zweite:  Le  cerisier  que  voici  est  en  fleurs. 

Der  dritte:  En  hiver,  le  cerisier  est  depouille*  de  fleurs  et  de  feuilles. 
Der  vierte:  J'aime  beaucoup  les  cerisiers,  ils  nous  donnent  des  fruits 
savourenx. 

Gewöhnlich  lasse  ich  zu  jedem  Worte  nur  drei  Sätze  bilden,  um  durch- 
zukommen. Ist  ein  Wort  besonders  leicht  verwendbar  und  geeignet,  alle  mög- 
lichen Stoffe  zu  verarbeiten,  so  benutze  ich  es  zu  einer  schriftlichen  Übung, 
z.  B.:  Employez  s'amuser  ä  faire  qcJt.  en  formant  de  belies  phrases  bien 
interessantes,  bien  longues! 

Und  nun  folgen  die  Andeutungen.  Parlez  des  'abeilles'!  Ich  will  einige 
Antworten  aus  den  Heften  meiner  Schüler  nebeneinander  halten. 

Der  eine  schreibt:  En  e*te*,  les  abeilles  s'amusent  ä  voler  de  fleur  en  fleur 
pour  ramasser  le  miel,  que  nous  aimons  tous. 

Der  andere:  Les  abeilles,  reveillees  des  l'aurore,  s'amusent  ä  visiter  toutes 
les  fleurs  du  cerisier. 

Der  dritte:  L'abeille,  industrieuse  et  joyeuse,  s'amuse  ä  butiner  toutes  les 
fleurs  du  jardin  en  bourdonnant  du  matin  au  soir. 

Dabei  verwenden  alle  nur  Bausteine,  die  ihnen  der  Lehrgang  geliefert 
hat;  sie  setzen  sie  nach  den  ihnen  eingeprägten  grundlegenden  Stilregeln  zu 
neuen  Sätzen  zusammen. 


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A.  Reum:  Ist  es  Aufgabe  des  Gymnasiums,  den  französischen  Aufsatz  zu  pflegen?  335 


Nun  folgen  neue  Anweisungen,  z.  B.:  Parlez  des  Dunstes',  et  employez  la 
tournure:  'gravir  des  montagnes',  u.  s.  f. 

Die  andere  Aufgabe,  die  sich  an  die  Aneignung  von  Wörtern  knüpft,  ist, 
was  Carre*  so  kraftig  betont,  sie  mit  ihren  Gegenteilen,  mit  sinnverwandten 
oder  abgeleiteten  Ausdrücken  zusammenzustellen  und  dadurch  den  Geist  an- 
zuregen, vermittelst  der  einen  fremdsprachlichen  Vorstellung  eine  neue  zu 
wecken.  So  lassen  sich  mit  der  gröfsten  Leichtigkeit  und  immer  in  anregender 
Weise  ganze  Massen  neuer  "Wörter  lehren,  ohne  die  Muttersprache  heranzuziehen, 
oft  so,  dafs  der  Schüler  das  neue  Wort  selbst  findet. 

Wenn  z.  B.  die  Verben  chanter,  jouer,  nager,  plonger,  danser,  sauter, 
marcher,  becher,  travailler,  manger,  parier,  chasser,  reciter  dagewesen  sind,  und 
auiserdem  das  Substantiv  le  chasseur,  und  man  fragt:  Que  fait  le  chanteur? 
le  joueur?  le  nageur?  u.  s.  w.,  so  erhalt  man  ohne  Schwierigkeit  die  Antworten: 
11  chante,  il  joue,  il  nage,  u.  s.  f. 

Will  man  den  Schüler  zum  Selbstfinden  anregen,  frage  man  weiter:  Qui 
est-ce  qui  marche?  Qui  est-ce  qui  travaille?  Qui  est-ce  qui  parle  beaucoup? 
So  wird  man  die  Antworten  erhalten:  le  marche ur,  le  travailleur,  le  parleur. 

Will  man  sein  Denken  anregen  und  ihn  zum  Erklären  anhalten,  so  frage 

man:  Comment  appelez-vous  un  nomine  qui  chante  bien  et  beaucoup?  

un  homme  qui  joue  beaucoup?  und  umgekehrt:  Qu'est-ce  qu'un  chanteur, 
qu'est-ce  qu'un  joueur,  qu'est-ce  qu'un  re*eitateur?  u.  s.  f. 

Ähnlich  verfährt  man  mit  den  Ableitungen  auf  -ier,  -iste,  indem  man  teils 
giebt,  teils  fordert.  So  halt  der  Schüler  leicht  an  chapeau  :  chapelier  fest,  an 
gant  :  gantier,  an  papier  :  papetier;  an  vitre  :  vitrier;  an  lampe  :  lampiste,  an 
dent  :  dentiste,  u.  s.  w. 

Ebenso  verhält  es  sich  mit  admirer  :  admirable,  respect  :  respectable, 
aimer  :  aimable;  —  peur  :  peureux;  majeste" :  majestueux;  montagne  :  montagneux; 
pierre  :  pierreux;  poisson  :  poissonneux. 

Diese  neu  erworbenen  Wörter  läfst  man  dann  natürlich  reichlich  in  Sätzen 
anwenden. 

Zu  solchen  Erweiterungen  des  Wortschatzes  führen  ferner  einfach  gehaltene 
Definitionen,  indem  man  dem  Gattungsbegriff  noch  mehrere  Arten  unterordnen 
läfet,  zumal  wenn  die  hierbei  herangezogenen  Wörter  die  gleiche  Bildung  auf- 
weisen. 

Ist  agneau  erklärt  mit:  le  petit  d'une  brebis,  so  findet  der  Schüler 
leicht  die  Erklärung  für  perdreau,  pigeonneau,  lapereau,  lionceau,  renardeau, 
louveteau,  vorausgesetzt,  dafs  perdrix,  pigeon,  lapin,  lion,  renard  und  loup  bereits 
dagewesen  sind. 

Ist  la  chevre  erklärt  mit:  la  femelle  du  bouc,  so  findet  der  Schüler 
leicht  die  Erklärung  für  la  lionne,  la  chienne,  la  tigresse,  Tänesse,  la  chatte, 
la  dinde,  u.  s.  f. 

Hat  er  für  le  bateau  ä  vapeur  die  Definition  erhalten:  C'est  un  navire 
pousse*  par  une  machine  ä  vapeur,  so  giebt  er  leicht  selbst  danach  die  De- 
finition von  bateau  ä  voiles,  bateau  ä  rames,  moulin  ä  eau,  moulin  ä  vent, 


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336   A..  Benin:  Ist  es  Aufgabe  des  Gymnasiums,  den  französisclu'n  Aufsatz  zu  pflegen? 

moulin  ä  vapeur,  moulin  a  cafe,  und  einer  grofsen  Zahl  der  mit  a  gebildeten 
zusammengesetzten  Wortbegriffe. 

Ich  bin  überzeugt,  dafs  man  auf  diesem  Wege  das  sogenannte  'Französisch- 
denken' in  seinen  Anfängen  geradezu  lehren  kann.  Die  II.  Auflage  meiner 
Vorstufe  enthalt  noch  andere  Beispiele  für  diese  Art  Erweiterung  des  Wort- 
schatzes. 

Die  Behandlung  der  Lektüre  wird  gleichfalls  mit  dem  neuen  Zwecke 
eine  andere.  Ich  denke  hierbei  vorzugsweise  an  erzählende  und  beschreibende 
Prosa. 

Das  Präparieren  des  Textes  kann  unterbleiben,  es  sei  denn,  es  erfolgt  so, 
wie  es  dem  neuen  Zwecke  dient  Danach  wäre  keine  Verdeutschung  des 
fremden  Wortes  einzutragen,  sondern  eine  französische  Begriffsbestimmung. 
(Hierzu  empfiehlt  sich  das  bei  Armand  Colin  erschienene  treffliche  und  billige 
Wörterbuch  von  Gazier.)  Doch  soll  dem  Schüler  dadurch  nichts  geschenkt 
werden,  nein,  seine  Mitarbeit  in  und  nach  der  Stunde  soll  nur  um  so  reger 
werden.  Der  Schüler  hat  zunächst  die  Wörter  in  dem  von  ihm  gelesenen 
Abschnitte  zu  bezeichnen,  die  ihm  unbekannt  sind.  Der  Lehrer,  der  natürlich 
wohl  vorbereitet  sein  mufs,  giebt  ihm  eine  kurze  Worterklärung  oder  regt  die 
besseren  der  Klasse  dazu  an.  (Schon  im  ersten  Jahre  erwerben  die  Schüler  im 
Definieren  eine  gewisse  Fertigkeit,  wenn  sie,  wie  ich  es  in  den  letzten  beiden 
Jahren  gethan  habe,  dazu  angeleitet  werden.)  In  jeder  Stunde  werden  etwa 
zehn  Definitionen  in  das  sogenannte  Präparationsheft  eingetragen.  Diese  Be- 
griffsbestimmungen sind  für  die  folgende  Stunde  einzuprägen.  Ist  die  Stelle 
schwierig,  so  mufs  sie  übersetzt  werden,  jedenfalls  wird  sie  nachher,  und  leichte 
Stellen  ohne  vorherige  Übersetzung,  von  dem  Schüler  bei  geschlossenem  Buche 
nacherzählt.  Als  häusliche  Arbeit  gebe  man  das  Nacherzählen  des  ganzen 
in  einer  Stunde  gelesenen  Abschnittes  auf,  was  dann  in  der  nächsten  Stunde 
den  gewünschten  Zusammenhang  herstellt.  Dabei  ist  der  Lehrer  nicht  in  Ver- 
legenheit, wie  er  die  vorgeschriebenen  Sprechübungen  beschaffen  soll,  aufserdem 
kann  or  seine  Kräfte  schonen  und  zwingt  doch  seine  Schüler  zu  einer  entschieden 
fordernden  Übung.  Ich  habe  beobachtet  —  und  es  liegt  auf  der  Hand,  dafs  es 
nicht  anders  sein  kann  —  dafs  die  Schüler  so  viel  bedächtiger  und  aufmerk- 
samer lesen  und  sich  bemühen,  den  Inhalt  wirklich  zu  einer  inneren  Vorstellung 
lebendig  zu  machen,  was  beim  Übersetzen  oft  nicht  geschieht,  wenigstens  erst 
durch  die  Verdeutschung,  und  somit  in  einer  das  französische  Können  nicht 
fördernden  Weise.  Es  ist  einleuchtend,  dafs  ein  so  geleiteter  Unterricht  in  der 
Lektüre  dem  französischen  Sprachschatze  fortwährend  neue  Nahrung  zuführt  und 
die  Gewandtheit  im  mündlichen  Gedankenausdrucke  fordert,  während  das  vordem 
ausschliefslich  geübte  Übersetzen  dem  Schüler  keine  neuen  französischen  Wörter 
zuführte  und  nur  dem  Gedankenausdruck  im  Deutschen  diente.  Soll  diese 
Fertigkeit  geübt  werden,  so  pflege  man  sie  in  den  deutschen  Stunden  und  gebe 
als  Aufsatz  zuweilen  eine  gut  deutsche  Übersetzung  fremdsprachlicher  Lesestoffe.  f 
Die  wenigen  uns  gewährten  Unterrichtsstunden  aber  seien  in  ihrem  vollen  Um- 
fange der  Aneignung  des  Französischen  gewidmet! 


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A.  Reum:  Ist  es  Aufgabe  des  Gymnasiums,  den  französischen  Aufsatz  zu  pflegen?  337 

Wie  verlangt  ferner  die  Reform  die  Behandlung  der  Grammatik,  die  bisher 
ja  Tor  allem  von  dem  Prinzip  der  Sprachvergleichung  beherrscht  war? 

Was  ist  der  Zweck  jeglichen  Schulunterrichtes  in  Grammatik?  Doch  wohl 
der,  den  Schüler  bei  Feststellung  der  Richtigkeit  von  Wort-  und  Satzformen 
zu  unterstützen.  Ihr  kommt  die  Rolle  einer  Beraterin  zu,  die  ihm  oft  zu 
sagen  Gelegenheit  hat:  'Ja,  im  Französischen  ist  das  eben  anders  als  in 
deiner  Muttersprache.  Mache  dich  von  ihr  los,  sonst  vermagst  du  dir  die  echt 
französische  Ausdrucksweise  nicht  zu  eigen  zu  machen/ 

Trotzdem  wird  behauptet,  dafs  die  Hauptaufgabe  des  grammatischen  Unter- 
richtes sei,  die  zu  lernende  Sprache  mit  der  eigenen  zu  vergleichen.  Erst  da- 
durch erreiche  man  die  gewünschte  grammatische  Schulung  und  die  Fähigkeit, 
ifrainmatisch  richtig  zu  denken. 

Ich  bestreite  das.  Ich  brauche  keine  deutsche  Grammatik,  um  franzosische 
zu  lehren,  und  keine  französische,  um  deutsche  zu  lehren. 

Was  ist  die  Frucht  der  Nebeneinanderstellung  von  Fällen  abweichenden 
Sprachgebrauchs?  —  Verwechselung  und  Unsicherheit.  Ist  gegen  sie 
wahrlich  noch  nicht  lange  genug  erfolglos  gekämpft  worden? 

Darum  halte  ich  es  für  wichtiger  und  richtiger,  die  Gesetze  der  französi- 
schen Grammatik  für  sich  zu  lehren  und  zwar  nur  an  französischen  Beispielen. 

Ist  das  möglich?  —  Ganz  bestimmt.  Die  grammatische  Erkenntnis  baut 
sich  ja  immer  auf  der  Beobachtung  gleicher  oder  ähnlicher  Fälle  auf.  Sie 
mufs  ja  also  immer  vom  Französischen  ausgehen.  Sodann  leitet  die  Grammatik 
aus  den  beobachteten  Erscheinungen  die  Regel  ab,  und  Aufgabe  des  Schülers 
ist  es,  diese  in  ähnlichen  Sätzen  anzuwenden.  Führt  man  dem  Schüler  anfangs 
die  zu  Beispielen  geeigneten  Stoffe  zu,  um  die  Zeit  möglichst  auszunützen,  so 
wird  er  später  leicht  aus  der  Lektüre  selbst  Beispiele  zu  Regeln  bilden  lernen. 
Das  ist  alles  so  einfach,  dafs  man  schon  im  ersten  Jahre  so  verfahren  kann 
und  deshalb  so  verfahren  sollte.  Ich  habe  daher  in  der  II.  Auflage  meiner 
Vorstufe  diesen  Weg  eingeschlagen  und  habe  nie  gefunden,  dafs  ich  meinen 
Quartanern  zu  viel  zugemutet  hätte. 

Indem  ich  eine  Reihe  fertiger  oder  nur  angedeuteter  Sätze  nebeneinander 
stelle,  bei  denen  bald  das  Adjektiv  nach  dem  Geschlecht  oder  Numerus  ver- 
ändert, bald  der  article  partitif  angewendet,  bald  Präpositionen,  bald  Verben, 
bald  Pronomina  einzusetzen  sind,  gewöhne  ich  den  Schüler  an  das  Bilden  von 
ätzen  nach  kurzen  Andeutungen.  Stöfst  uns  nun  im  Text  später  eine  auf- 
fällige Wortverbindung  auf,  so  genügt  gleichfalls  oft  nur  ein  Wort,  um  den 
Schüler  zu  veranlassen,  in  einem  selbst  gebildeten,  glatt  französischen  Satze 
die  betreffende  Eigentümlichkeit  nachzubilden.  Auf  diese  Weise  übe  ich  schon 
im  ersten  Jahre  wichtige  Sachen  aus  der  Lehre  vom  Infinitiv,  z.  B.  apprendre 
ä  faire  qch.,  savoir  faire  qch.,  aller  (venir),  voir,  entendre  faire  qch.,  se  mettre 
>  i'aire  qch.,  s'amuser  a  faire  qch.,  die  Umschreibung  der  im  Französischen 
fehlenden  Causativa  durch  faire  und  inf.:  faire  voler,  faire  entendre,  faire 
boire,  faire  aller,  die  Lehre  von  der  Anwendung  des  Particips  in  verkürzten 
Sitzen,  auch  Stilistisches:  die  dem  Franzosen  so  geläufigen  attributiven 

Koue  J»hibttcher.    1899.   n  22 


338    A.  Reum:  Ist  es  Aufgabe  des  Gymnasiums,  den  französischen  Aufsatz  «1  pflegen? 

Relativsätze,  wo  wir  im  Deutschen  ein  particip.  praesentis  anwenden;  und  dieB 
alles,  ohne  auf  das  Deutsche  einzugehen;  denn  auch  diese  grammatischen  Dinge 
wollen  empirisch  eingeprägt,  nicht  logisch  begründet  sein;  vieles  läfst  sich  ja 
im  Sprachgebrauch  Oberhaupt  nicht  begründen,  am  wenigsten  durch  die  Logik. 
Denn  es  giebt  doch  nur  eine  Logik,  aber  jede  Sprache  hat  ihre  besondere, 
d.  h.  also  Verstöfse  gegen  die  allgemeine  Logik;  und  da  sich  solche  Dinge  nur 
durch  den  Gebrauch  aneignen  lassen,  ist  es  richtig,  zu  einem  recht  häufigen 
Gebrauchen  anzuregen,  ohne  immerfort  die  Hindernisse  zu  zeigen,  über  die  der 
Schüler  stolpern  kann,  oder  ihm  gar  durch  das  Deutsche  fortwährend  Steine 
des  Anstofses  in  den  Weg  zu  legen. 

Ob  die  Regel  deutsch  oder  französisch  gegeben  wird,  ist  ziemlich  gleich- 
gültig. Werden  wir  im  inneren  Ausbau  der  neuen  Methode  noch  weiter  sein, 
so  wird  man,  glaube  ich,  der  französischen  Regel  den  Vorzug  geben.  Für  den 
Anfang  genügt  die  deutsche.  Das  Wesentliche  aber  ist,  dafs  nicht  übersetzt 
und  doch  etwas  verstanden  wird.  Wie  viele  Fehler  fallen  da  ganz  von  selbst 
weg!  Die  leidigen  Verwechselungen  der  Geschlechter,  die  Vertofse  gegen  den 
Gebrauch  des  Artikels,  .die  üblichen  Verwechselungen  von  ses  und  leurs,  die 
fehlerhafte  Anwendung  des  Hilfszeitwortes  avoir  bei  den  verbes  refleehis,  die 
falschen  Konjunktive  in  der  abhängigen  Rede,  die  unfranzösischen  Konstruktionen 
und  noch  vieles  mehr,  wozu  das  Übersetzen  fortwährend  verleitet.  Wie  klein 
erscheint  alsdann  der  in  jedem  Jahre  zu  verarbeitende  grammatische  Stoff! 
Weil  die  Aufmerksamkeit  jedesmal  nur  auf  einen  Punkt  gelenkt  wird,  wird 
dieser  natürlich  besser  verstanden,  und  es  werden  weniger  Fehler  gemacht 
Vor  allem  aber  kann  sich  das  Sprachgefühl  bilden,  das  uns  allmählich  zur 
unbewufsten  Befolgung  der  Regeln  anhält.  Dies  ist  die  edelste  Frucht  des  so 
erteilten  grammatischen  Unterrichtes  und  gelangt  eher  zur  Reife,  als  man  nach 
den  bisherigen  Erfahrungen  denken  sollte. 

Für  den  freien  Gebrauch  ist  ein  solcher  grammatischer  Betrieb  natürlich 
von  dem  höchsten  Nutzen,  denn  erstens  bleibt  der  Schüler  fortgesetzt  im 
fremdsprachlichen  Elemente,  erfafst  echt  französische  Satzformen  und  lernt 
einen  gelesenen  Stoff  in  alle  möglichen  neuen  Formen  umgiefsen.  Ich  weifs  aber 
keine  bessere  Vorübung  zum  Aufsatz.  Denn  auch  der  Aufsatz  ist  in  gröfserem 
Umfange  ein  Neuordnen  und  Umgiefsen  von  Gedanken,  die  wir  uns  im  Rahmen 
der  fremden  Sprache  hörend  oder  lesend  angeeignet  haben. 

Es  bleibt  noch  zu  prüfen,  wie  die  Reform  die  Verwendung  der  Über 
Setzungen  wünschen  mufs. 

Es  liegt  mir  ferne,  Übersetzungen  ganz  verdrängen  zu  wollen,  denn  ihnen 
wohnt  ohne  Zweifel  eine  den  Verstand  und  das  Urteil  schulende  Kraft  inne. 
Verlangt  man  also  von  der  Übersetzerthätigkeit  nichts  Ungebührliches,  so 
wird  sie  sich  als  nutzenbringend  auch  ferner  erweisen.  An  ihren  Gebrauch 
knüpfen  sich  aber  folgende  Bedingungen: 

1)  Nur  zusammenhängende  Stücke  werden  zum  Übersetzen  vorgelegt. 

2)  Diese  Stücke  müssen  sich  inhaltlich  an  Gelesenes  anschiiefsen  und  den 
dort  erworbenen  Wortschatz  verwerten. 


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A.  Beum:  Ist  es  Aufgabe  des  Gymnasium»,  den  französischen  Aufgats  zu  pflegen?  339 

3)  Sie  müssen  in  gutem,  nicht  in  Übersetzerdeutsch  geschrieben  sein. 

4)  Sie  müssen  mündlich  gemeinsam  von  Lehrer  und  Schüler  vorbereitet 
werden,  so,  dafs  der  Lehrer  französisch  ihren  Inhalt  abfragt  und  auf  diese  Weise 
den  zum  Übersetzen  nötigen  Wortvorrat  beweglich  und  gelaufig  macht.  — 
Das  Wörterbuch  wird  dann  nur  etwa  wegen  der  Rechtschreibung  aufgeschlagen, 
nicht  aber,  um  die  fehlenden  Wörter  zu  finden.  Denn  ein  selbst  gesuchtes 
Wort  ist,  streng  genommen,  meist  ein  Fehlgriff. 

In  dieser  Form  kann  die  Übersetzung  dem  Sprachgefühle  nicht  so  viel 
schaden  als  früher,  und  in  dieser  Form  wird  auch  diese  Übung  dem  fran- 
zösischen freien  Gedankenausdruck  einigermafsen  dienstbar  gemacht. 

Aber  nicht  nur  durch  diese  mittelbare  Anleitung,  sondern  durch  bestimmte, 
unmittelbare  Schulung  muls  der  schriftliche  freie  Gebrauch  der  französischen 
Sprache  angestrebt  werden,  wenn  wir  die  gewünschten  Erfolge  nicht  dem  Zu- 
falle verdanken  wollen.  Wir  müssen  durch  feste  Stilregeln  unseren  Schülern 
die  hauptsachlichsten  Richtlinien  geben,  wir  müssen  sie  die  Gesetze  des  fran- 
zösischen Stiles  finden,  erkennen  und  befolgen  lehren. 

Ich  habe  am  Schlüsse  des  ersten  Jahres  der  Versuchung  nicht  widerstehen 
können,  einzelne  in  meinen  'Französischen  Stilübungen'  skizzierte  Aufsätzchen 
schon  in  Quarta  ausführen  zu  lassen,  und  zwar  ohne  dafs  die  Schüler  das  Buch 
in  die  Hände  bekamen.  Ich  habe  auch  einen  Aufsatz  in  der  Examenarbeit 
neben  einem  langen  Diktate  verlangt.  Der  Erfolg  war  überraschend  günstig. 
Keiner  hatte  unter  II,  über  50%  I  oder  Ib.  Gegen  die  natürlich  einfachen 
Stilregeln  war  nicht  verstofsen  worden,  die  Arbeiten  lasen  sich  glatt  und  gut. 
Verglichen  mit  den  früheren  Beschreibungen  der  Hölzeischen  Bilder  waren  sie 
entschieden  reifer  und  wertvoller:  ein  Beweis,  dafs  sich  die  Gärtnerarbeit  am 
jungen  Bäumchen  wirklich  lohnt. 

Die  Möglichkeit,  schon  auf  der  Unterstufe  und  mithin  auch  in  höheren 
Klassen  stilistische  Übungen  mit  gutem  Erfolge  anzustellen,  kann  somit  nicht 
mehr  in  Zweifel  gezogen  werden ;  und  von  ihrer  Zweckdienlichkeit  ist  wohl 
jeder  überzeugt;  denn  wir  handeln  nur  nach  allgemein  gültigen  Grundsätzen, 
wenn  wir  unsere  Schüler  erst  lehren,  was  wir  von  ihnen  fordern.  Wenn  jetzt 
auf  die  von  Zeit  zu  Zeit  erlaubten  kurzen  freien  Arbeiten  bei  den  Halbjahrs- 
zensierungen 'ein  entscheidendes  Gewicht  nicht  zu  legen'  ist,  so  ist  das  vor 
ständlich.  Wir  verliefsen  uns  ja  dabei  auf  angeborenes  Geschick  der  Schüler 
und  auf  den  Zufall.  Das  Ansehen  dieser  Arbeiten  steigt  aber  sofort,  wenn  wir 
unsere  Schüler  systematisch  in  den  französischen  Stil  einführen. 

Wie  ich  mir  die  Stilvorübungen  und  die  Vorbereitung  der  Aufsätze  denke, 
habe  ich  schon  ausführlich  in  meiner  Programmarbeit  dargelegt;  ich  gehe  darum 
hier  nicht  wieder  darauf  ein. 

Ich  wollte  aber  auch  zeigen,  wie  der  Aufsatzunterricht  einzurichten  wäre, 
so  dafs  er  die  übrigen  Übungen  nicht  beeinträchtigte,  sondern  sie  womöglich 
fördern  könnte. 

In  dem  von  mir  angedeuteten  Lehrverfahren  werden  dem  Schüler  in  der 
That  eine  namhafte  Anzahl  wichtiger  Worte  mehr  zugeführt  und  fester  ein- 

22- 


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340   A.  Rettin:  Ist  es  Aufgabe  des  Gymnasium*,  den  französischen  Aufsatz  zu  pflegen? 

geprägt,  denn  er  lernt  sie,  indem  er  sie  anwendet,  und  indem  sie  dem  bereits 
erworbenen  Wortschatze  entwachsen  und  sich  ihm  angliedern. 

In  der  Grammatik  erfüllt  dies  Verfahren  die  vorgeschriebenen  Bedingungen, 
und  zwar  so,  dafs  man  die  ins  Auge  gefafsten  grammatischen  Thatsachen 
durch  mehr  und  zum  grofsen  Teile  vom  Schüler  gebildete  Beispiele  belegt, 
welche  sich  um  den  durch  Lehrbuch  und  Lektüre  vermittelten  Sprachstoff 
gruppieren. 

In  der  Lektüre  würde  von  nun  an  mehr  gelernt  als  nur  gelesen,  mehr 
definiert  als  verdeutscht,  weniger  rasch  aber  dafür  gründlicher  gelesen  werden 
als  bisher.  Die  Lektüre  würde  die  ihr  von  Hechts  wegen  zufallende  Aufgabe 
erfüllen,  den  Stoff  zu  Sprechübungen  zu  liefern,  und  so  würde  sie  die  Gesprächs- 
bücher  mit  ihrem  fleißig  zusammengetragenen,  aber  der  Wirklichkeit  nur  un- 
vollkommen nachgebildeten  Geplauder  überflüssig  machen. 

Die  schriftlichen  Übungen  endlich  würden  an  Mannigfaltigkeit  gewinnen, 
zu  einer  gebührenden  Beschränkung  der  Übersetzungen  und  dafür  zur  Pflege 
des  Aufsatzes  führen  und  somit  Gelegenheit  geben,  Wortkenntnis,  grammatisches 
Wissen,  Gelesenes  und  Selbst- Gedachtes  zu  verwerten  und  zu  verweben,  und 
so  alle  Übungen  zu  einer  einzigen  Kraftleistung  zusammenwirken  lassen. 

Eine  gröfsere  Anstrengung  seitens  des  Lehrers  aber  wäre  damit  nicht  ge- 
fordert, nur  muls  vorausgesetzt  werden,  dafs  er  für  seinen  Unterricht  im  Lehr- 
buche die  gehörige  Stütze  hat.  Wird  aber  bei  dieser  Art  zu  unterrichten  mehr 
und  Besseres  geleistet,  so  geschieht  es  nur  infolge  der  treibenden,  lebendigen 
Kraft,  die  den  neuen  Unterrichtsgrundsätzen  innewohnt. 

Es  seien  nun  noch  kurz  die  Hauptbedenken  der  Gegner  des  Aufsatzes  einer 
Prüfung  unterworfen.  Es  sind  ihrer  vornehmlich  drei:  Zunächst  wird  behauptet, 
zur  Anfertigung  von  Aufsätzen  sei  auf  dem  Gymnasium  keine  Zeit. 

Freilich  ist  es  wahr,  dafs  uns  in  den  Mittel-  und  Oberklassen  sehr  wenig 
Zeit  gegönnt  ist,  und  dafs  die  in  den  beiden  ersten  Jahren  erworbenen  Kennt- 
nisse in  arger  Gefahr  sind,  von  den  übrigen  Fächern  beeinträchtigt,  ja  sozu- 
sagen erdrückt  zu  werden. 

Ich  bin  an  einem  Gymnasium  angestellt,  das,  seiner  Überlieferung  treu, 
auch  in  den  Mittel-  und  Oberklassen,  mit  alleiniger  Ausnahme  der  Oberprima, 
dem  Französischen  wöchentlich  drei  Stunden  gönnt.  Ich  darf  behaupten,  dafs 
meine  Kollegen  nie  über  Überbürdung  durch  das  Französische  geklagt  haben. 
Der  Grund  liegt  wohl  darin,  dals  durch  die  neue  Methode  die  häuslichen  Ar- 
beiten beträchtlich  vermindert  werden,  denn  die  Hauptarbeit:  die  grammatischen 
Übungen,  die  Durcharbeitung  der  gelesenen  Texto,  die  Vorbereitungen  von 
Übersetzungen  und  Aufsätzen  werden  in  lebendiger  Zusammenarbeit  von  Lehrer 
und  Schüler  in  der  Klasse  geleistet.  Wenn  aber  so  durch  die  neue  Methode 
dem  Schüler  wöchentlich  mehrere  Stunden  häuslicher  Arbeit  erspart  werden, 
die  den  übrigen  Fächern  zu  gute  kommen,  so  sollte  dem  Französischen  füglich  , 
im  Lehrplane  eine  Stunde  mehr  zugebilligt  werden,  damit  die  ihm  zugedachten 
Aufgaben  auch  bei  der  neuen  Lehrweise  mit  Ruhe  und  Sicherheit  erfüllt  werden 
könnten  und  nicht  wie  bisher  mit  Überanstrengung  der  Lehrkräfte  und  mit 


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A.  Renm:  Ist  es  Aufgabe  de«  Gymnasiums,  den  französischen  Aufsatz  zu  pflegen?  341 

einer  gewissen  Hast  und  Eile,  die  den  Unterricht  nicht  zu  voller  Wirksamkeit 
kommen  lassen. 

Zunächst  aber  haben  wir  mit  den  bestehenden  Verhältnissen  zu  rechnen. 
Und  da  muTs  von  vornherein  ein  Grundsatz  ausgesprochen  werden,  der  wohl 
allgemeiner  Zustimmung  versichert  sein  darf:  Je  weniger  Zeit  man  hat,  desto 
besser  mufs  man  sie  ausnützen,  d.  h.  einen  um  so  leichter  gangbaren  und 
rascher  zum  Ziele  führenden  Weg  sollte  man  einschlagen.  Wenn  aber  das  Ziel 
ist,  sich  einer  Sprache  mündlich  und  schriftlich  bedienen  zu  lernen,  so  kann 
der  kürzeste  Weg  unmöglich  durch  den  Irrgarten  der  grammatischen  Abstrak- 
tionen führen,  sondern  nur  geradeswegs  in  das  Sprachgebiet  hinein.  Ferner  ist 
bereits  angedeutet  worden,  wie  der  Unterricht  in  seiner  Neugestaltung  dies  Ziel 


führung  unnötig  macht,  vielmehr  selbst  nach  allen  Seiten  hin  eine  solche  dar- 
stellt; ferner,  wie  eine  stilistische  Unterweisung  zugleich  in  Festigung  der 
Wörterkenntnis,  Grammatik  und  Sprechfertigkeit  wichtige  Dienste  leistet  und 
somit  ebensoviel  giebt  als  sie  beansprucht,  kurz,  dafs  es  sich  nur  darum 
handelt,  Verstreutes  zu  sammeln  und  einem  einzigen  Zwecke  dienstbar  zu 
machen. 

Und  wollte  mir  jemand  sagen,  daüs  wir  an  gewisse  uns  vorgeschriebene 
Abschnitte  der  Grammatik  gebunden  sind,  so  brauche  ich  nur  an  die  Zeit- 
ersparnis zu  erinnern,  die  uns  aus  der  oben  geschilderten  Behandlung  der 
Grammatik,  mit  vorlaufiger  Hin  weglassung  des  Deutschen,  erwachsen  mufs. 

Wo  die  alte  Methode  40  Sätze  in  einer  Stunde  bewältigte,  liefert  die  neue 
mit  Leichtigkeit  80  (vorausgesetzt,  dafe  die  Stunde  gut  vorbereitet  ist,  oder 
dafs  das  Lehrbuch  für  geeignete  Stoffe  sorgt).  Nehmen  wir  die  früheren 
Leistungen  als  Norm  ahn  als  an,  das  wir  zu  erreichen,  nicht  zu  überschreiten 
brauchen,  so  bleibt  uns  demnach  von  unserer  Grammatikstunde  genau  die  Hälfte 
für  unsere  Stilübungen.  Drei  solche  in  zwei  Hälften  geteilte  Stunden  würden 
aber  vollauf  genügen,  einen  Aufsatz  von  mäfsiger  Ausdehnung  gründlich  durch- 
zusprechen. Die  zweite  Stunde  der  Woche  bliebe  ganz  der  Lektüre  gewidmet. 
Nun  sollen  ja  aber  im  Halbjahr  nur  etwa  drei  Aufsätze  geliefert  werden,  die 
übrigen  schriftlichen  Arbeiten  sollten  Ubersetzungen  bleiben.  Dann  wäre  jene 
Teilung  der  Grammatikstunden  im  Halbjahr  nur  neunmal  nötig;  die  übrigen 
31  Grammatikstunden  könnten  ja  in  voller  Ausdehnung  dem  Studium  der 
Grammatik  und  den  Klassenarbeiten  dienen.  Es  scheint  mir  demnach  nicht 
stichhaltig,  wenn  man  Mangel  an  Zeit  anführt,  um  den  Aufsatz  zu  bekämpfen. 

Der  zweite  Einwand,  dem  man  häufig  begegnet,  ist,  die  Durchsicht  von 
Schüleraufsätzen  sei  zu  schwierig  und  zu  zeitraubend. 

Unterscheiden  wir  hier  recht  genau  die  beiden  hier  möglichen  Fälle:  ent- 
weder ist  der  Aufsatz  in  der  von  uns  angedeuteten  Weise  gewählt  und  vor- 
sorglich vorbereitet  worden,  oder  es  wird  gegen  einen  oder  mehrere  oder  alle 
von  mir  aufgestellten  Grundsätze  zugleich  verstofsen  und  man  verlangt,  wie 
es  seiner  Zeit  von  uns  verlangt  wurde,  die  Darstellung  eines  Bildes  oder  Vor- 
ganges oder  gar  eine  Untersuchung  litteraturgeschichtlicher  Fragen,  über  die 


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342    A.  Reum:  Ist  es  Aufgabe  des  Gymnasiums,  den  französischen  Aufsatz  zu  pflegen? 


wir  unsere  Ausdrücke  dem  Wörterbuch  entliehen,  und  die  wir  ohne  alle 
stilistischen  Winke  zusammenhängten,  einzig  und  allein  vertrauend  auf  unser  — 
leider  nur  allzu  deutsch  es  —  Sprachgefühl.  Im  letztbezeichneten  Falle  giebt  es 
keinen  entschiedeneren  Gegner  des  Aufsatzes  als  mich;  solche  Versuche  sind 
des  deutschen  Gymnasiums  nicht  würdig.  Und  solchen  mißglückten  Versuchen 
danken  wir's  auch,  dafs  wir  der  Freiheit,  Aufsatze  liefern  zu  lassen,  verlustig 
gegangen  sind.  Aber  wollen  wir  nicht  so  viel,  vor  allen  Dingen  keine  hoch- 
trabenden Themen,  keine  spitzfindigen,  kunstkritischen  Fragen  behandeln,  son- 
dern schlicht  erzählen,  beschreiben,  berichten,  Gelesenes  nachahmen,  zusammen- 
fassen oder  erweitern  lassen,  und  das  auf  Grund  verständiger  stilistischer 
Anleitung,  so  stecken  wir  uns  ein  erreichbares  Ziel,  und  so  schützen  wir  unsere 
Schüler  vor  Fehlgriffen  und  machen  uns  die  Aufgabe  der  Durchsicht  ungleich 
leichter.  Wir  müssen,  sei  es  in  Gestalt  eines  stilistischen  Leitfadens  (das  ist 
das  kürzeste)  oder  durch  eine  reichliche  Auswahl  geeigneter,  aus  Altem  und 
Neuem  zusammengesetzter  Wörter  und  Wendungen,  unseren  Schülern  Gedanken 
und  Ausdrücke  zur  Verfügung  stellen  und  ihnen  so  die  Lust,  in  diesem  Falle 
das  Wörterbuch  zu  befragen,  gründlich  abgewöhnen. 

Es  ist  klar,  dafs  wir  keine  falschen  Wörter  zu  tilgen  und  durch  richtige 
zu  ersetzen  haben  werden,  wenn  die  Schüler  nur  die  ihnen  gelieferten  ver- 
wenden. Und  wenn  dann  ein  Satz  mifsglückt,  so  genügt  ein  Strich,  um  dem 
Schüler  anzudeuten,  welcher  Satz  in  der  Verbesserung  nochmals  umzubilden 
ist.  Alle  Übrigen  Fehler  aber,  Verstöfse  gegen  Formen-  und  Satzlehre,  haben 
die  Arbeiten  mit  den  Übersetzungen  gemein,  und  es  bleibt  nur  noch  hervor- 
zuheben, dafs  es  unterhaltsamer  und  spannender  ist,  Schüleraufsätze  durch- 
zusehen, als  die  wörtlich  oder  nahezu  wörtlich  übereinstimmenden  Diktate  oder 
Ubersetzungen. 

In  meiner  Programmarbeit  appelliere  ich  zum  Schlüsse  an  den  Idealismus 
der  Kollegen  und  spreche  die  Hoffnung  aus,  dafs  sie  dem  höheren  Ziele  auch 
gern  eine  Stunde  mehr  widmen  werden.  Meine  Erfahrungen  im  letzten  Jahre 
haben  mich  indessen  dahin  belehrt,  dafs  dies  ganz  unnötig  war,  denn  ich  habe 
festgestellt,  dafs  mich  die  Durchsicht  eines  Aufsatzes  genau  dieselbe  Zeit  ge- 
kostet hat,  als  die  Korrektur  einer  gleichlangen  Übersetzung.  Und  die  Fehler 
wirken  nicht  so  herabdrückend  auf  die  Stimmung  des  Lehrers.  Der  deutsche 
Text  verleitet  nur  zu  oft  zu  denselben  und  mithin  zu  den  am  häufigsten  und 
mit  dem  entsprechend  wachsenden  Mafse  gerechten  Zornes  oder  gelinder  Ver- 
zweiflung angestrichenen  Fehlern  und  legt  dem  Lehrer  die  Klage  über  Stumpf- 
sinn, Gedankenlosigkeit  und  Zerstreutheit  seiner  Schüler  nahe.  Der  selbst  ge- 
schaffene oder  wenigstens  nachgeschaffene  französische  Text  weist  im  ganzen 
selten  arge  Verstöfse  gegen  die  grammatische  Richtigkeit  auf,  weil  in  diesem 
Punkte  durch  die  Besprechung  gehörig  vorgebaut  wird;  es  finden  sich  mehr 
Verstöfse  gegen  die  Rechtschreibung,  und  vielleicht  hie  und  da  ein  mifsrateneß 
Satzgefüge. 

Über  die  Orthographie  wird  sich  kein  Philologe  ernstlich  ereifern,  denn 
infolge   seiner   historischen  Bildung  ist  er  gegen  diese  Wildlinge  in  der 


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A.  Renm:  Ist  es  Aufgabe  des  Gymnasiums,  den  französischen  Aufsatz  zu  pflegen?  343 

Schreibung  im  ganzen  milder  ab  andere  Menschen.  Gab  es  doch  einen  grofsen 
Germanisten  an  der  Leipziger  Universität,  der  der  Orthographie  gründlich  feind 
war  und  den  Standpunkt  vertrat:  jeder  solle  schreiben  dürfen,  wie's  ihm  be- 
liebe. Und  was  die  stellenweise  verunglückten  Sätze  angeht,  so  zeigen  sie  den 
Schüler  im  Hingen  mit  dem  fremden  Elemente  unter  dem  Einflüsse  seiner 
eigenen  Ideen,  wobei  er  seinen  Kräften  etwas  zuviel  zumutet  und  mit  dem 
besten  Wollen  ans  Werk  gegangen  ist.  Unterliegt  er  hierbei,  so  ist  ihm  im 
Grunde  nicht  zu  zürnen,  und  sein  mifsglücktes  Bemühen  hat  oft  etwas  Komisches, 
etwas  Humoristisches  an  sich.  Welch  ungeahnt  erquickliche  Wirkung  von  einer 
sonst  ertötenden  und  darum  mit  Recht  so  wenig  beliebten  Arbeit! 

Doch  nun  noch  ein  Wort  über  das  letzte  Bedenken:  nämlich  über  die 
Unvollkommenheit  unserer  Schüleraufsätze.  Aus  dem  bereits  Aus- 
geführten geht  hervor,  dafs  in  der  von  mir  vorgeschlagenen  Weise  eine  Un- 
vollkommenheit der  französischen  Aufsätze  zuerst  dem  Lehrer  oder  dem 
zu  Grunde  gelegten  Lehrbuche  der  Stilistik  zur  Last  gelegt  werden 
müTste,  denn  der  Inhalt  sowohl  als  der  Grundstock  der  erforderlichen  Aus- 
drücke wird  ja  dem  Schüler  geliefert  oder  wenigstens  gehörig  nahegelegt.  Es 
läfst  sich  also  mit  Recht  erwarten,  dafs  ein  Mangel  nach  dieser  Richtung  hin 
sich  nicht  einstellen  wird,  solange  in  der  Wahl  der  Stoffe  eine  glückliche 
Hand  waltet. 

Aber  manche  fürchten  vielleicht,  dafs  diese  Stilübungen  sie  in  anderer 
Weise  nicht  befriedigen  würden,  dafs  der  Schüler  zu  stark  beeinflufst  wäre, 
dafs  ihm  die  Sache  zu  leicht  gemacht  würde,  und  er  zu  wenig  eigene  Arbeit 
dabei  leistete. 

Darauf  habe  ich  zu  erwidern,  dafs  ich  im  wesentlichen  die  Unter-  und 
Mittelstufe  im  Auge  gehabt  habe,  wenn  ich  den  Aufsatzunterricht  schilderte, 
und  dafs  ich,  wie  in  jedem  Unterrichtsfache,  den  Haupterfolg  auch  des  Auf- 
aatzunterrichtes  von  dem  Lehrgeschick  und  dem  feinen  Takt  des  Lehrers  ab- 
hängig weifs  und  daher  unbesorgt  bin.  Der  Zeitpunkt,  wo  man  die  gründ- 
lichen Vorbesprechungen  durch  flüchtigere  ersetzen  oder  sich  mit  kurzen 
Andentungen  begnügen  darf,  wird  dem  erfahrenen  Fachmanne  nicht  entgehen; 
es  liegt  vollkommen  in  seiner  Hand,  die  Aufgaben  entsprechend  zu  erschweren 
und  die  Schüler  zu  gröfserer  Selbständigkeit  zu  zwingen. 

Aber  die  dem  Schüler  zufallende  Arbeit  ist  durchaus  nicht  zu  unter- 
schätzen. Er  nimmt  die  unter  strengem  Ausschluss  der  Muttersprache  ihm 
übermittelten  Gedanken  in  sich  auf,  ergänzt  sie  selbstthätig,  prägt  sich  dabei 
eine  ansehnliche  Reihe  neuer  Ausdrücke  ein,  baut  dann  in  häuslicher  Arbeit 
mit  den  ihm  gelieferten  Bausteinen  das  Aufsatzgebäude,  an  dem  er  unter  An- 
wendung der  ihm  gegebenen  Stilregeln  glättet  und  bessert,  und  trägt  dann 
frei,  ohne  das  mindeste  Hilfsmittel,  die  Arbeit  aus  dem  Gedächtnisse  in  der 
Klasse  ein.  • 

Man  mag  von  dem  Werte  der  Ubersetzung  durchdrungen  sein,  wie  man 
will,  man  mufs  zugeben,  dafs  sie  unter  keinen  Umständen  den  Schüler  zu 
solcher  Selbständigkeit  erziehen,  sein  Gedächtnis  zu  solcher  Kraftentfaltung 


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344   A.  Bcum:  ht  es  Aufgabe  des  Gymnasium«,  den  französischen  Aufsatz  au  pflegen? 


zwingen  und  gleichzeitig  sein  ganzes  Wesen  zu  Freudigkeit  und  Arbeitslust 
anregen  und  Geschmack  und  Schönheitssinn  bilden  kann,  wie  der  Aufsatz. 
Und  ich  kann  nicht  glauben,  dafs  ein  in  gutem,  flüssigem  Französisch  ge- 
schriebener, zwei  bis  drei  Seiten  langer  Aufsatz,  den  die  kleinen  Tertianer  vor 
den  Augen  des  Lehrers  emsig  und  vor  Schaffensfreude  strahlend  aus  ihrem 
Gedächtnisse  nahezu  ohne  jeden  Fehler  niederschreiben,  nicht  mehr  befriedigen 
und  erfreuen  würde  als  eine  der  üblichen  Übersetzungen  oder  gar  nur  ein 
Diktat.  Ich  wenigstens  bekenne  offen,  dafs  ich  diese  Aufsätze  immer  mit 
grofser  Genugthuung  und  Freude  durchlese;  ihre  Durchsicht  ist  mir  keine  Last, 
sondern  eine  Lust. 

Aber  auch  meinen  Schülern  ist  ein  solcher  Aufsatz  eine  Freude,  wie  ich 
mich  jedesmal  überzeugt  habe.  Warum  sollen  aber  nicht  alle  dieser  Freude 
teilhaftig  werden?  Haben  sie  nicht  ein  Recht  darauf?  Wäre  es  nicht  eine 
feine  Klugheit,  diese  Freude  an  der  Arbeit  zu  unserer  Bundesgenossin  zu 
machen?  Ein  Verfahren  aber,  das  unsere  Schüler  zu  freudigem  Erfassen  des 
Dargebotenen  führt,  das  sie  zu  aufmerksamen  Zuhörern,  zu  frischen,  leistungs- 
fähigen Knaben  macht,  kann  nicht  schlecht  oder  falsch  sein.  Die  Mutter- 
sprache erlernen  ist  eine  der  gröfsten  und  reinsten  Freuden  unserer  lallenden 
Kleinen.  Wie  wiederholen  und  üben  sie  täglich  für  sich,  welche  Freude  strahlt 
ihnen  aus  den  Augen,  wenn  sie  ein  neues  Wort  verstehen  und  anwenden 
lernen!  Warum  soll  das  Erlernen  einer  fremden  Sprache  sich  nicht  auch  zu 
einer  erquicklichen  Geistesbeschäftigung  machen  lassen?  Sollten  uns  nicht  die 
verdrossenen  Mienen  der  nur  am  kurzen  Zügel  der  Grammatik  gegängelten 
Knaben  manchmal  zu  denken  geben? 

Ich  habe  versucht,  meine  Ansicht  über  die  Pflege  des  französischen  Auf- 
satzes darzulegen  und  zu  begründen;  ich  habe  angedeutet,  wie  wir  unter  einem 
neuen  Banner  wieder  in  ein  früher  aufgegebenes  Gebiet  siegreich  einrücken 
könnten,  und  hebe  zum  Schlafs  nochmals  hervor,  dafs  es  sich  hierbei  nicht  um 
eine  äufserliche  Frontveränderung  handeln  soll,  sondern  zugleich  um  eine  durch- 
greifende Reform.  Wir  wollen  zwar  dasselbe,  wie  die  Früheren,  aber  nicht 
ohne  uns  zu  diesem  Zwecke  besonders  zu  üben  und  neu  zu  rüsten,  und  zwar 
jeden  Tag,  jede  Stunde.  Unsere  Frontveränderung  kann  zu  Verschiebungen, 
soll  aber  zu  keinen  Zerreifsungen  oder  zum  gänzlichen  Bruche  mit  der  alten 
Ordnung  führen.  Im  Gegenteil  soll  es  unser  Streben  sein,  wahrhaft  Taugliches 
weiter  zu.  verwenden  und  zu  verwerten  und  mit  allem  und  mit  allen  im 
innigsten  Zusammenhange  zu  bleiben. 


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FRIEDRICH  SCHLEIERMACHER  ALS  DEUTSCHER  PATRIOT1) 


Für  die  höhere  Schale  dargestellt 

Von  Johannes  Reinhard 

Der  Geist,  Ton  dem  das  Zeitalter  Friedrich  Ernst  Schleiermachers  beseelt 
war  —  Schi,  lebte  von  1768  — 1834  —  mutet  denjenigen  fremdartig  an,  der 
sich  aus  den  Tagen  der  sozialen,  der  orientalischen,  der  ostasiatischen  Frage 
und  der  vielen  anderen,  von  denen  wir  zu  reden  pflegen,  in  jene  Periode  ein- 
seitiger Innerlichkeit  des  deutschen  Lebens  zurückversetzt.  Dafs  ein  Mann  der 
Wissenschaft  den  Angelegenheiten  des  heimischen  Staates  lebhafte  Teilnahme 
widmete,  war  damals  neu  und  weder  durch  eine  eingehende  Berichterstattung 
und  Erörterung  politischer  Fragen  in  den  Zeitungen  noch  durch  eine  Volks- 
vertretung in  einem  Parlamente  angeregt  oder  ermöglicht.  Lediglich  auf  die 
Armee  und  das  unmittelbar  beauftragte  Beamtentum  beschränkte  sich  die  Mit- 
arbeit des  Volkes  an  öffentlichen  Angelegenheiten,  wenn  man  noch  als  Mit- 
arbeit bezeichnen  darf,  was  nur  die  Ausführung  fürstlicher  Willensmeinungen 
war.  Die  Generation  Schleiermachers  schuf  zuerst  einer  selbstthätigen  Ent- 
faltung vaterländischer  Gesinnung  von  Privatleuten  im  Staate  einen  Raum  und 
bahnte  so  den  Weg  zu  Verfassungsformen,  wie  diejenigen  sind,  deren  wir  uns 
erfreuen.  Versuchen  wir  diesen  Fortschritt  aus  der  Gesamtentwickelung  des 
deutschen  Geisteslebens  zu  erklären!  Die  Geschichte  keiner  anderen  Nation 
weifs  von  einer  so  jammervollen,  so  sprichwörtlich  gewordenen  Ungleichheit 
ihrer  inneren  Fortschritte  mit  ihrem  äufeeren  Ergehen  zu  sagen  wie  die 
deutsche.  Die  religiös -sittliche  Gesundung  unseres  Volkes  durch  die  Refor- 
mation Luthers,  vereint  mit  der  im  Humanismus  gegebenen  Bereicherung 
seiner  geistigen  Potenzen,  trafen  auf  ein  zersplittertes,  bald  auch  durch  den 
grofsen  Krieg  aufs  tiefste  erschöpftes  Staatswesen.  Lebhaft  angeregt,  aber  un- 
fähig, eine  ihrem  Werte  entsprechende  äufsere  Stellung  zu  gewinnen,  so  wandte 
sich  der  Lebensdrang  der  Deutschen  nach  innen,  nach  den  geistigen  Grofs- 
mächten  der  Ideen  und  Ideale.  Die  Generation  der  Lessing  und  Kant  begann 
damit,  ein  von  der  Erweiterung  der  wissenschaftlichen  Erkenntnisse  und  der 
Befreiung  und  Vertiefung  der  Religion  in  gleichem  Mafse  bestimmtes  Weltbild 

')  Aus  der  Litteratur  über  Schleiermacher  sei  hier  nur  auf  Wilhelm  Diltheys  anregenden 
Aufsate  über  8ch.s  politische  Gesinnung  und  Wirksamkeit  im  10.  Bde.  der  Preufs.  Jahrb. 
(1862)  empfehlend  und  dankend  verwiesen . 


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J.  Reinhard:  Friedrich  Schleiemiacher  als  deutscher  Patriot 


zu  entwerfen.  Den  ihnen  nachfolgenden  Meistern  der  deutschen  Dichtung  blieb 
es  versagt,  grofsen  Thaten  einer  ruhmreichen  Nation  die  poetische  Verherrlichung 
zu  schaffen,  wie  dies  den  Epikern  Griechenlands  und  des  deutschen  Mittelaltere, 
den  Dramatikern  Englands  und  Spaniens  vergönnt  gewesen  war,  sie  dienten 
ihrem  Volke  gleich  den  Philosophen  als  Baumeister  an  der  idealen  Welt,  ab 
Förderer  und  Befreier  seiner  Gedanken  und  Phantasien.  Welche  Schätze  er- 
standen unter  dieser  gemeinsamen  Arbeit!  Welche  Fülle  geistiger  Kräfte 
sammelte  sich  bis  zu  hochgradiger  Spannung  in  unserem  Volke  an!  Es  war 
unvermeidlich,  dafs  sich  ihre  Expansivkraft,  nun  auch  das  äufsere  Leben  um- 
gestaltend, auslöste.  Und  das  Geschlecht,  auf  das  der  alternde  Goethe  blickte, 
unternahm  es.  Mit  dem  Geiste  der  Poesie  alle  Zeitalter,  Stande,  Gewerbe, 
Wissenschaften  und  Verhältnisse  durchschreitend  die  Welt  zu  erobern,  das 
war,  wie  einer  aus  ihrem  Kreise  schreibt,  das  Ziel  der  auf  die  Blütezeit  des 
Klassizismus  folgenden  Romantiker.  Und  zur  nämlichen  Zeit  vollzog  man  in 
dem  Bemühen  um  Verwirklichung  der  geistigen  Errungenschaften  die  Über- 
windung gewisser  Einseitigkeiten  der  vorausgegangenen  Zeit.  Jeder  Renaissance 
haftet  die  Gefahr  an,  die  geschichtlich  gewordene  Wirklichkeit  zu  verkennen. 
Die  von  den  Klassikern  ausgehende,  hierin  vorbereitet  durch  Nachwirkungen 
der  eigentlich  so  genannten  Renaissance  zu  Beginn  der  Neuzeit,  die  von  England 
und  Frankreich  zu  uns  herüber  gekommen  waren,  hatte  in  Verfolgung  ihrer 
Meister  aus  dem  griechischen  Altertum  die  Bedeutung  des  Vaterlandes  und  der 
Kirche  verkannt,  das  Deutschtum  durch  den  Weltbürgersinn,  das  Christentum 
durch  die  Humanität  ersetzt.  Wollte  man  aber  ihren  idealistischen  Erwerb 
praktisch  verwerten,  so  mutete  man  sich  von  jenen  blassen  Allgemeinheiten  zu 
konkreteren  Gestaltungen  wenden.  So  erfolgte  im  Zeitalter  der  Romantiker  die 
Rückkehr  zu  einer  erneuten  Wertschätzung  der  Kirche  und  des  Vaterlandes.1) 
Zu  dieser  Generation  gehörte  auch  Schleiermacher.  Den  Meistern  in  der 
idealistischen  Weltbetrachtung,  Kant  und  Goethe,  ist  er  als  jüngerer  Zeit- 
genosse begegnet,  die  Brüder  Schlegel  waren  seine  vertrauten  Freunde,  dem 
von  der  Romantik  beeinflufsten  GelehrtenkreiBe,  dem  sich  im  J.  1810  die  neu- 
begründete Universität  Berlin  als  Wirkungsstätte  erschlofs,  gehörte  auch  er  an, 
und  nicht  nur  seine  Jugendschriften,  in  denen  er  im  Tone  des  Rhapsoden  die 
unendliche  Fülle  des  individuellen  Lebens,  vornehmlich  des  Gemütslebens,  ver- 
herrlicht, sondern  ebenso  die  Grundgedanken  seiner  reifsten  Werke  beweisen 
wie  Äufserungen  seiner  Briefe  und  gelegentlich  das  praktische  Verhalten  des 
Mannes,  dafs  er  zeitlebens  der  Romantik  wahlverwandt  geblieben  ist.8)  Doch 
wir  thäten  ihm  Unrecht,  begnügten  wir  uns  mit  dieser  Erklärung  des  Wesens 
Sch.8  aus  dem  Kreise,  in  dem  er  lebte.  Irgendwo  und  irgendwann  verrät  wohl 
jeder  etwas  Originales,  wie  viel  mehr  eine  Persönlichkeit,  die  zu  den  führenden 
Geistern  gehört.    Das  aber  war  das  Eigentümliche  in  Sch.,  dafs  er  ein  aus- 


')  Vgl.  zu  dem  Vorhergehenden  die  geistvolle  Entwickelung  in  Diltheys  Leben  Schleier- 
macher« 8.  V  ff. 

')  Vgl.  Kirn,  Schleiermacher  und  die  Romantik. 


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J.  Reinhard:  Friedrich  8chleiermacher  als  deutscher  Patriot  847 

geprägt  sittlicher  Charakter  war,  der  ebenso  wie  Kant  und  Fichte  den  Wert 
des  Individuums  in  den  Willen  verlegte,  es  aber  nicht  durch  ein  farbloses 
Sittengesetz,  sondern  dadurch,  dals  es  in  sich  das  Ewige  selbst,  das  Leben 
Gottes  spiegelt,  tiefblickend  bestimmt  sein  lafst.  Als  der  grofse  Ethiker  nach 
den  Dichtern  und  Philosophen  suchte  Sch.  nach  Lebenskreisen  zur  Entfaltung 
des  von  ihm  definierten  Individuums,  er  nennt  als  solche  die  hausliche  Gemein- 
schaft —  die  Familie,  die  religiöse  —  die  Kirche,  die  gelehrte  —  die  Wissen- 
schaft, die  politische  —  den  Staat.  Wiederholt  treffen  wir  die  Beachtung 
dieser  Gemeinschaften  in  seinen  Werken,  am  handgreiflichsten  in  seinem 
Leben.  'Wissenschaft  und  Kirche;  Staat  und  Hauswesen  —  weiter  giebt  es 
nichts  für  den  Menschen  auf  der  Welt,  und  ich  gehöre  unter  die  wenigen 
Glücklichen,  die  alles  genossen  haben',  konnte  er  in  einem  Briefe  ausrufen.1) 
Das  etwa  war  der  Weg,  auf  dem  Sch.  zum  Patrioten  geworden  ist. 

Fragen  wir  weiter,  wie  er  diese  Gesinnung  bethätigt  hat,  so  lassen  sich 
in  dieser  Hinsicht  vier  Perioden  seines  Lebens  unterscheiden:  die  erste  bis 
zum  J.  1806,  die  zweite,  unmittelbar  auf  die  Katastrophe  von  Jena  folgend, 
dann  die  Zeit  der  Bemühungen  um  Deutschlands  Wiederherstellung  bis  zur 
Erhebung  im  J.  1813,  endlich  die  nach  den  Befreiungskriegen.  Um  aber  das 
Eingehen  auf  zumeist  höchst  unerquickliche  innerpreufsische  Angelegenheiten 
zu  vermeiden,  und  zugleich  meinem  Thema:  Sch.  als  deutscher  Patriot  treu 
zu  bleiben,  sei  es  mir  gestattet,  von  der  Behandlung  dieser  letzten  Periode 
abzusehen. 

Der  Eintritt  Sch.s  in  die  litterarische  Welt  geschah  im  Frühjahr  1799. 
Als  Prediger  an  dem  Charite  -  Krankenhause  zu  Berlin  veröffentlichte  er  seine 
'Reden  über  die  Religion  an  die  Gebildeten  unter  ihren  Verächtern',  ein  Werk, 
das  auf  viele  Zeitgenossen  einen  machtigen  Eindruck  machte  und  für  die  Folge- 
zeit von  reformatorischer  Bedeutung  geworden  ist.  Denn  ein  Geschlecht,  das 
sich  gewöhnt  hatte,  auch  die  Höhen  und  Tiefen  des  göttlichen  Lebens  nach 
dem  Mafsstabe  spießbürgerlicher  Vernunftgemäfsheit  abzustecken,  erinnerte  es 
in  hinreifsender  Sprache  daran,  dafs  die  Religion  das  Anschauen  des  Allgemeinen 
und  Unendlichen  ist,  dessen  Pulse  in  Natur-  und  Geistesleben  machtig  und  doch 
geheimnisvoll  schlagen,  dessen  Provinz  im  menschlichen  Geiste  das  Gebiet  der 
Unmittelbarkeit,  das  Gemüt,  ist.  Indem  der  Verf.  aber  nach  denen  forscht, 
die  für  eine  solche  Auffassung  der  Religion  Verständnis  hatten,  wird  er  zum 
Lobredner  deutscher  Art.  Denn  jene  stolzen  Insulaner  kennt  er  nur  auf  der 
Suche  nach  Gewinn  und  Genufs,  nach  Holz  und  Masten  für  ihre  erwerbsüchtige 
Lebensfahrt,  und  der  Franzosen  Anblick  könne  ein  Verehrer  der  Religion  kaum 
ertragen,  weil  sie  bald  in  roher  Gleichgültigkeit,  bald  in  witzigem  Leichtsinn, 
in  jeder  Handlung,  in  jedem  Worte  fast  deren  heiligste  Gesetze  mit  Füfsen 
treten.  'Nur  hier  im  heimatlichen  Lande  ist  das  beglückte  Klima,  welches 
keine  Frucht  ganzlich  versagt,  hier  findet  ihr  alles,  was  die  MenBchen  ziert, 
und  alles,  was  gedeiht,  bildet  sich  irgendwo  zu  seiner  schönsten  Gestalt.  Hier 


')  Aus  8ch.s  Leben  in  Briefen  II  191. 


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348  J-  Reinhard:  Friedrich  Schleiermacher  ala  deutscher  Patriot 

fehlt  es  weder  an  weiser  Mäfsigung  noch  an  stiller  Betrachtung.  Hier  also 
muf8  auch  die  Religion  eine  Freistatt  finden  vor  der  plumpen  Barbarei  und 
dem  kalten,  irdischen  Sinne  des  Zeitalters/1) 

Ein  gutes  Wort  zu  einer  Zeit,  da  die  Deutschen  für  alles  Englische  und  | 
Französische,  das  zu  ihnen  kam,  schwächlicher  Bewunderung  voll  waren.  Dieser 
zum  Bewufstsein  erwachte  nationale  Geist  in  Sch.  regte  alsbald  die  Flügel,  im 
Leben  des  Staates  seine  Schwungkraft  zu  erproben.  Noch  war  seine  Stunde 
nicht  gekommen.  In  dem  Schriftchen,  das  Sch.  dem  neuen  Jahrhundert  als 
Neujahrsgabe  bot,  in  den  Monologen,  lesen  wir  daher  in  dieser  Sache  nur 
Klagen,  WttnBche  und  Hoffnungen  auf  eine  bessere  Zeit.  Noch  giebt  es  keinen 
thätigen  Anteil  am  Staatsleben  für  das  freie  männliche  Selbstgefühl.  Aber  er 
wird  kommen.  Einstweilen  können  ihn  die  Pflege  gemeinsamer  Sprache  und 
Sitte  ersetzen,  an  denen  sich  die  Weisen  und  Guten  erkennen  mögen.  'So  bin 
ich  der  Denkart  und  dem  Leben  des  jetzigen  Geschlechte  ein  Fremdling,  ein 
prophetischer  Bürger  einer  späteren  Welt'8)  Unter  den  Ursachen  des  geringen 
Wertes  des  Staatslebens  für  den  einzelnen  hatte  Sch.  auch  diejenige  Betrach- 
tungsweise genannt,  nach  der  der  Staat  nur  ein  notwendiges  Übel  sei,  das 
man  möglichst  wenig  zu  empfinden  wünscht.  Um  die  Bekämpfung  dieser  Auf- 
fassung hat  er  sich  im  weiteren  Verlauf  seines  Wirkens  bemüht.  Dem  an- 
regenden Berliner  Leben  war  für  Sch.  eine  stille,  arbeitsfrohe  Zeit  als  Hof- 
prediger in  dem  entlegenen  Pommerschen  Städtchen  Stolp  gefolgt,  dann  war 
er  1804  als  Professor  und  Universitätsprediger  nach  Halle  berufen  worden, 
nicht  ohne  dafs  er  bei  dieser  Gelegenheit  einen  Beweis  der  Treue  gegen  sein 
engeres  Vaterland  gegeben  hätte;  denn  er  hatte,  um  sich  Preufsen  zu  erhalten, 
einen  günstigeren  Ruf  nach  Würzburg,  der  zur  selben  Zeit  an  ihn  ergangen 
war,  abgelehnt.  Bereits  bei  der  Eröffnung  des  Hallischen  akademischen  Gottes- 
dienstes erinnert  der  Prediger  an  den  Staat:  die  Einrichtung,  zu  der  sie  ver- 
sammelt wären,  beweise,  dafs  König  und  Vaterland  durch  das  Evangelium  auf 
die  Gemüter  einzuwirken  wünschten,  wie  denn  auch  Preufsen  nicht  durch  Über- 
flufs  äufserer  Hilfsmittel,  sondern  allein  durch  die  Macht  der  Gesinnung  in  die 
Reihe  der  ersten  Mächte  Europas  eingetreten  sei.9)  Und  ausschliefslich  diesem 
Gegenstande,  der  ihm  am  Herzen  lag,  widmete  er  im  Spatsommer  1806  gleich- 
falls im  Gottesdienste  der  Hallischen  Hochschule  eine  geistliche  Rede:  'wie 
sehr  es  die  Würde  des  Menschen  erhöht,  wenn  er  mit  ganzer  Seele  an  der 
bürgerlichen  Vereinigung  hängt,  der  er  angehört.'4)  Es  ist  im  grofsen,  von 
Gott  gebauten  Hause  der  Menschheit  so  geordnet  —  damit  tritt  Sch.  den  gegen 
den  Staat  Gleichgültigen  entgegen  —  dafs  man  das  Ganze  nicht  anders  beein- 
flussen könne,  als  indem  man  als  Einzelner  auf  das  Einzelne  wirkt.  Und  selbst 
für  die  zum  Gröfsten  erforderliche  Vereinigung  der  Kräfte  bietet  sich  keine 
andere  Grundlage  dar  als  die  Volkseinheit.  'Wessen  Kurzsichtigkeit  oder  Hoch- 
mut dies  zu  klein  ist,  wer,  anstatt  auf  sein  Volk  und  mit  seinem  Volke  zu 
wirken,  Bich  weiter  ausstreckt  und  es  gleich  auf  das  Ganze  des  menschlichen 


')  1.  Rede.      •)  8.  Monolog.      »)  Pred.  IV  226  ff.      *)  I  223. 


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J.  Reinhard:  Friedrich  8chleiermacber  als  deutscher  Tatriot 


349 


Geschlechts  anlegt,  der  wird  in  der  That  erniedrigt,  anstatt  erhöht  zn  werden. 
Alle  dagegen,  die  Gott  zu  etwas  Grolsem  berufen  hat,  nicht  nur  in  solchen 
Dingen,  welche  unmittelbar  den  Gewalthabern  unter  den  Völkern  obliegen  in 
Zeiten  der  Ruhe  wie  des  Krieges,  sondern  auch  in  aolchen,  die  am  wenigsten 
an  diese  Grenze  gebunden  zu  sein  acheinen,  in  dem  Gebiete  der  Wissenschaften, 
in  den  Angelegenheiten  der  Religion,  sind  immer  solche  gewesen,  die  von 
ganzem  Herzen  ihrem  Vaterlande  und  ihrem  Volke  anhingen  und  dieses  fordern, 
heilen,  starken  wollten,  solche,  welche  die  Verbindung  liebten,  in  der  sie  er- 
höhte Kraft,  bereite  Werkzeuge,  willige  Freunde  notwendig  finden  mufsten, 
solche,  die  auch  in  sich  selbst  den  eigentümlichen  Sinn  ihres  Volkes  für  das 
Vortrefflichste  hielten.' 

Diese  Proben  werden  ausreichen,  um  Sch.s  Entwicklung  als  Vaterlands- 
freund von  1799 — 1806  zu  markieren:  in  den  Reden  über  die  Religion  zeigt 
er  sich  zuerst  begeistert  achtend  auf  deutsche  Eigentümlichkeit,  in  den  Mono- 
logen sucht  er  nach  geordneter  Bethätigung  im  Staatsleben  und  vertröstet  die 
Gleichdenkenden  mit  dem  Hinweis  darauf,  dafs  sie  ja  an  ihres  Volkes  Sprache 
und  Sitte  einstweilen  Anteil  hätten,  in  den  ersten  Hallischen  Predigten  endlich 
wirkt  er  für  den  Staat  durch  Pflege  vaterlandischer  Gesinnung  bei  seinen  Zu- 
hörern, durch  die  Bekämpfung  des  Gedankena  an  eine  internationale  Gelehrten- 
republik, der  diesen  geläufig  war.  Seine  Gedanken  gewinnen  schrittweise  an 
Klarheit  und  praktischer  Bedeutung  und  dies  allein  durch  die  Logik  eines 
eminent  sittlichen  Geistes,  ohne  dafs  die  bürgerliche  Gemeinschaft  ihn  irgend- 
wie zu  solcher  Teilnahme  ermutigt,  ohne  dafs  eine  Überlieferung  bestimmend 
auf  ihn  eingewirkt,  ohne  dafs  auch  die  schrillen  Signale  eines  nationalen  Un- 
glücks alle  Mann  an  Bord  zur  Rettung  des  sinkenden  Staatsschiffs  gerufen  und 
eine  Vereinigung  der  Gleichgesinnten  herbeigeführt  hätten.  Auch  ohne  dies 
war  der  Denker  gereift,  schweren  Geschicken  des  Vaterlandes  zu  begegnen,  wie 
sie  noch  das  Jahr  1806  brachte,  und  unter  ihnen  die  Kraft  und  Gröfse  seiner 
Überzeugungen  am  leuchtendsten  zu  offenbaren.  Wenn  das  Unglück  über  ein 
Volk  in  Wellen  hereinflutet,  dann  brechen  die  Stützen,  die  geordnete  Verhält- 
nisse den  Menschen  gewähren,  und  die  Schwachen  sinken  mit  ihnen,  aber  die 
Starken  stehen,  andern  ein  Halt,  der  Gesamtheit  ein  fester  Grund,  über  dem 
eine  bessere  Zukunft  sich  erbaut. 

Seit  langem  schon  braute  sich  ein  dunkles  Unwetter  wider  das  nördliche 
Deutschland  zusammen.  Die  aufgeregte  Spannung  im  Volke  wuchs.  Als 
Schleiermacher  in  der  Osterzeit  des  Jahres  1806  nach  Berlin  reiste,  fand  er 
die  alten  litterarischen  Interessen  in  der  Stadt  verdrängt,  aber  im  hellen 
Frühlingsaonnenschein  unter  den  Linden  Gruppen  lebhaft  Politisierender.  Ihn 
selbst  ergriff  die  Ahnung  grofser  Entscheidungen,  wie  wir  aus  einem  Briefe 
an  eine  Freundin  auf  Rügen  sehen.  'Bedenken  Sie,  so  schrieb  er  am  20.  Juni1), 
dafs  kein  einzelner  bestehen,  kein  einzelner  sich  retten  kann,  dafs  doch  unser 
t         aller  Leben  eingewurzelt  ist  in  deutscher  Freiheit  und  deutscher  Gesinnung 


')  Briefe  II  68  f. 


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J.  Reinhard:  Friedrich  8chleiermacher  als  deutscher  Patriot 


und  diese  gilt  es.  Möchten  Sie  sich  wohl  irgend  eine  Gefahr,  irgend  ein 
Leiden  ersparen  für  die  Gewifsheit  unser  künftiges  Geschlecht  einer  niedrigen 
Sklaverei  Preis  gegeben  zu  sehen  und  ihm  auf  alle  Weis»  eingeimpft  zu  sehen 
die  niedrige  Gesinnung  eines  grundverdorbenen  Volkes?  Glauben  Sie  mir,  es 
steht  bevor,  früher  oder  spater,  ein  allgemeiner  Kampf,  dessen  Gegenstand 
unsere  Gesinnung,  unsere  Religion,  unsere  Geistesbildung  nicht  weniger  sein 
werden  als  unsere  äufsere  Freiheit  und  äuTseren  Güter,  ein  Kampf,  der  gekämpft 
werden  mufs,  den  die  Konige  mit  ihren  gedungenen  Heeren  nicht  kämpfen 
können,  sondern  die  Völker  mit  ihren  Königen  gemeinsam  kämpfen  werden, 
der  Volk  und  Fürsten  auf  eine  schönere  Weise  als  es  seit  Jahrhunderten  der 
Fall  gewesen  ist,  vereinigen  wird  und  an  den  sich  jeder,  jeder,  wie  es  die 
gemeinsame  Sache  erfordert,  anschliefsen  mufs.  Mir  steht  schon  die  Krisis 
von  ganz  Deutschland,  und  Deutschland  ist  doch  der  Kern  von  Europa,  vor 
Augen.  Ich  atme  Gewitterluft  und  wünsche,  dafs  ein  Sturm  die  Explosion 
schneller  herbeifahre;  denn  an  Vorüberziehen  ist,  glaube  ich,  nicht  mehr  zu 
denken/  Und  als  Sch.  in  denselben  Sommerwochen  mit  einer  neuen  Auflage 
Beiner  Reden  über  die  Religion  beschäftigt  war,  flofs  ihm  gleichfalls  ein 
patriotisch-prophetisches  Wort  in  die  Feder,  eine  Antwort  auf  die  Frage,  ob 
die  nächste  Zukunft  mit  den  Fortschritten  des  erobernden  Frankreichs  nicht 
auch  solche  des  Katholizismus  bringen  würde.  'Ich  möchte  herausfordern  den 
Mächtigsten  der  Erde,  ob  er  dies  nicht  auch  etwa  durchsetzen  wolle,  wie  ihm 
alles  ein  Spiel  ist,  und  ich  möchte  ihm  dazu  einräumen  alle  Kraft  und  alle 
List;  aber  ich  weissage  ihm,  es  wird  ihm  mifslingen  und  er  wird  mit  Schanden 
bestehen.  Denn  Deutschland  ist  immer  noch  da,  und  seine  unsichtbare  Kraft 
ist  ungeschwächt,  und  zu  seinem  Beruf  wird  es  sich  wieder  einstellen  mit  nicht 
geahnter  Gewalt,  würdig  seiner  alten  Herren  und  seiner  vielgepriesenen  Stammes- 
kraft; denn  es  war  vorzüglich  bestimmt,  den  Protestantismus  zu  entwickeln, 
und  es  wird  mit  Riesenkraft  wieder  aufstehen,  um  ihn  zu  behaupten/1) 

Trotz  dieser  Ahnungen  scheint  Sch.  nicht  damit  gerechnet  zu  haben,  dafe 
das  Verhängnisvolle  so  bald  schon  hereinbrechen  würde.  Wohl  erlebte  er  es, 
dafs  man  seine  erst  eröffnete  Universitätskirche  in  ein  Militärmagazin  ver- 
wandelte, wohl  beobachtete  er  aufmerksam  die  Ansammlung  ansehnlicher 
Truppenma8sen  in  und  um  Halle  und  teilte  er  die  kriegslustige  Stimmung  der 
Armee  und  der  Bevölkerung,  aber  mehr  als  davon  handeln  doch  seine  Briefe 
von  Vorlesungen,  wissenschaftlicher  Schriftstellerei  und  Plänen  für  künftige 
Semester.  Da  erfolgte  am  14.  Oktober  1806  die  Doppelschlacht  von  Jena  und 
Auerstadt.  Mehrere  Bewohner  Halles  schlössen  aus  der  Richtung  deB  ver- 
hallenden Donners  der  Geschütze,  dafs  die  preufsische  Armee  die  geschlagene 
sei,  noch  am  selben  Tage  kam  die  Kunde  von  einer  völligen  Niederlage  in  die 
Stadt  —  für  Sch.  nicht  überraschend,  dem  es  fast  gewifs  gewesen  war,  dafs 
Preufsen  die  erste  Schlacht  verlieren  würde8)  — ,  aber  die  Einwohnerschaft,  die 
gemeint  hatte,  es  würde  schon  der  Anblick  einer  preufsischen  Wachparade. 


l)  Nachrede,  am  Ende.      >)  Briefe  D  79  f. 


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J  Reinhard:  Friedrieb  Schleiermacher  als  deutscher  Patriot 


351 


hinter  der  ja  das  Gespenst  des  siebenjährigen  Krieges  drohend  stünde,  aus- 
reichen, um  Napoleons  sieggewohnte  Armeen  in  wilder  Flucht  aufzulösen,  ver- 
wandelte die  Hiobspost  in  ihr  Gegenteil:  am  16.  umjubelte  man  den  einzigen 
französischen  Gefangenen,  den  man,  wer  weifs  wo  aufgegriffen,  durch  die  Strafsen 
führte,  als  untrüglichen  Beweis  des  Sieges  der  eigenen  Waffen,  und  noch  am 
16.  hielt  man  NapoleonB  Avantgarde,  die  vor  den  Thoren  der  Saalestadt  mit 
den  preufsischen  Reserven  handgemein  wurde,  für  ein  versprengtes  französisches 
Korps,  das,  im  Rücken  von  der  preufsischen  Hauptmacht  gedrängt,  nun  auch 
in  der  Stirne  aufgehalten  würde,  und  bedauerte  voll  Mitleids  die  entsetzliche 
Niederlage  der  Ärmsten.  Endlich  zerplatzte  der  schillernde  Schaum,  den  man 
sich  geblasen  hatte,  an  einer  grausam  harten  Wirklichkeit.  In  völliger  Auf- 
lösung ergossen  sich  die  geschlagenen  Truppen  durch  die  Stadt,  von  Bernadettes 
sogenannter  Schwefelbande  verfolgt.  Unter  grofser  Gefahr  inmitten  des  Wirr- 
warrs und  pfeifender  Geschosse  erreichte  Seh.,  der  mit  Freunden  vom  Garten 
der  Loge  aus  dem  Auf-  und  Abwogen  des  Kampfes  zugeschaut  hatte,  seine 
Wohnung.  Aber  deren  geschützte  Lage  verhinderte  es  doch  nicht,  dafs  feind- 
liche Kavalleristen  eindrangen  und  an  Geld,  Wertsachen  und  Wäsche  mitnahmen, 
was  sie  fanden. 

Es  wäre  überflüssig,  den  Zustand  der  vom  Feinde  alsbald  besetzten  Stadt 
zu  schildern.  Der  ist  überall  derselbe  schreckliche.  Für  die  Hallischen  Pro- 
fessoren wirkte  es  noch  erschwerend,  dafs  Napoleon  die  Studenten  als*ein  zu 
Demonstrationen  geneigtes  Völkchen  auswies  und  diese  sich  die  bereits  bezahlten 
Kollegiengelder  von  ihren  Lehrern  zurückerbaten.  Infolgedessen  wies  Sch.s  und 
seines  Freundes  Steffens  gemeinsamer  Vermögensbestand  zehn  Thaler  auf,  mit 
denen  sie  den  Tagen  der  Teuerung  entgegengingen.  Sie  zogen  darum  in 
Steffens*  kleine  Wohnung  zusammen,  um  wenigstens  an  Licht  und  Feuerung  zu 
sparen.  Aber  schliefslich  war  doch  der  letzte  eigene  Pfennig  ausgegeben  und 
das  Freundespaar  auf  Vorschüsse  angewiesen,  die  ihnen  wohlhabendere  Freunde, 
besonders  Scks  Verleger,  Georg  Reimer  in  Berlin,  längst  angeboten  hatten. 

Zu  der  äufseren  Bedrängnis  gesellten  sich  andere  schmerzliche  Erfahrungen. 
Das  Auftreten  der  Franzosen  freilich  —  die  ersten  hatten  sich  mit  den  Worten 
nous  8ommes  les  invincibles  bei  unserem  Gelehrten  eingeführt  —  machte  es 
ihm  gewifs,  dafs  an  ihre  dauernde  Herrschaft  nicht  zu  denken  sei.  Aber  die 
allgemeine  Auflösung,  die  bodenlose  Feigheit  und  Niederträchtigkeit  auf  der 
eigenen  Seite,  von  der  nur  wenige,  das  Königspaar  obenan,  eine  rühmliche 
Ausnahme  bildeten,  erschütterte  ihn  tief,  da  sie  auch  seine  düstersten  Er- 
wartungen weit  übertraf.  Konnte  doch  an  ihn  selbst  ein  französischer  Militär- 
beamter, durch  Erfolge  bei  anderen  ermutigt,  das  Ansinnen  stellen,  Sch.  möchte 
in  einem  Briefe  die  königliche  Regierung  verdächtigen  und  Hoffhungen  auf 
Napoleons  heilbringende  Herrschaft  äufsern,  ein  erbärmliches  Verlangen,  dessen 
entrüstete  Zurückweisung,  wie  sie  ihm  Sch.  zu  teil  werden  liefs,  noch  dazu  nicht 
\  ungefährlich  war.    Unter  solchen  Umständen  war  es  wohl  verlockend,  auf 

eine  Anfrage  der  Stadt  Bremen,  die  seiner  als  Prediger  begehrte,  einzugehen. 
Freunde  redeten  zu.   Aber  Sch.  dachte  anders:  'ungerner  als  je  würde  ich  mich 


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J.  Reinhard:  Friedrich  Schleiermacher  als  deutscher  Patriot 


jetzt  von  dem  Könige  trennen,  dem  ich  eine  recht  herzliche  Sehnsucht  habe, 
ein  tröstliches,  ermunterndes  Wort  zu  sagen  in  dem  Unglück,  das  wahrlich 
nicht  durch  seine  Sünden  über  ihn  und  uns  gekommen  ist/    'Ich  bin  fest 
entschlossen,  so  lange  ich  noch  in  Halle  Kartoffeln  und  Salz  auftreiben  kann,  lt 
hier  zu  bleiben  und  das  Schicksal  von  Deutschland  hier  abzuwarten/ 

Geradezu  erhebend  ist  ein  Einblick  in  die  Gedankenwelt  des  Mannes,  wie 
sie  aus  seinen  in  den  Jahren  1806  und  1807  geschriebenen  Briefen  spricht. 
Da  ist  keine  Klage  um  die  zertrümmerte  Wirksamkeit,  um  den  Verlust  seines 
Katheders,  nach  dem  er  sich  sehnte,  vielmehr  sieht  er  in  dem  schweren  Ge- 
schick eine  heilsame  Übung  der  inneren  Kraft.  Darum  ist  er  auch  von  dem 
Verlangen  nach  einem  Frieden  um  jeden  Preis  weit  entfernt:  'dais  mir  der 
Konig  keinen  schimpflichen  Frieden  macht,  das  ist  das  einzige,  woraus  uns 
noch  bessere  Zeiten  hervorgehen  können.  Die  Zuchtrute  mufs  über  alles  gehen, 
was  deutsch  ist;  nur  unter  dieser  Bedingung  kann  hernach  etwas  recht  tüchtig 
Schönes  daraus  entstehen.  Wohl  denen,  die  es  erleben!  —  Ich  fürchte  nichts 
als  einen  schmählichen  Frieden,  der  einen  Schein  —  und  nur  einen  Schein 
von  Nationalexistenz  und  Freiheit  übrig  lafst.  Aber  auch  darüber  bin  ich 
ruhig,  denn  wenn  sich  die  Nation  diesen  gefallen  lafst,  so  ist  sie  zu  dem 
Besseren  noch  nicht  reif,  und  die  härteren  Züchtigungen,  unter  denen  sie  reifen 
soll,  werden  dann  nicht  lange  ausbleiben/  Also  fafst  er  das  gegenwärtige 
Verhängnis  als  ein  wohl  scharfes,  aber  notwendiges  und  in  seinen  Folgen 
segensreiches  Mittel  zur  Erziehung  seines  Volkes  auf:  'Die  Verfassung  von 
Deutschland  war  ein  unhaltbares  Ding;  in  der  preufsischen  Monarchie  war  auch 
viel  zusammengeflicktes,  unhaltbares  Wesen.  Das  ist  verschwunden.  —  Der 
alte  Schaden  ist  gewaltsam  geöffnet,  die  Kur  ist  verzweifelt,  aber  die  Hoffnung 
ist  noch  nicht  aufzugeben.  —  Vielleicht  soll  Deutschland  den  Kelch  bis  auf 
die  letzten  Hefen  leeren,  damit  es  eine  desto  gründlichere  Umwälzung  giebt/ 
Dais  aber  das  Ende  aller  dieser  Wirren  die  Wiederherstellung  des  Vaterlandes 
sein  werde,  diese  Überzeugung  bleibt  ihm  unerschüttert:  'Ich  bin  gewifs,  dafs 
Deutschland,  der  Kern  von  Europa,  in  einer  schönen  Gestalt  wieder  sich  Bilden 
wird.  Wann  aber  und  ob  nicht  erst  nach  weit  härteren  Trübsalen  und  nach 
einer  langen  Zeit  schweren  Druckes,  das  weifs  Gott/1) 

Es  war  doch  nicht  die  nationale  Gefahr  allein,  an  die  Sch.  dachte.  Er 
sah  nicht  weniger  den  Protestantismus  und  die  deutsche  Wissenschaft  durch 
den  Eroberer  bedroht,  der  diese  beiden  Geistesmächte  halste.  Sie  zu  verteidigen, 
war  er  entschlossen,  in  die  vorderste  Reihe  der  Kämpfer  zu  treten,  auf  die 
Gefahr  hin,  als  Märtyrer  der  guten  Sache  zu  fallen.  'Wenn  das  Äufserste 
kommt,  so  schreibt  er  am  1.  Dezember  des  Unglücksjahres,  Freund,  dann  lafs 
uns  auf  unseren  Posten  stehen  und  nichts  scheuen.  Ich  wollte,  ich  hätte  Weib 
und  Kind,  damit  ich  keinem  nachstehen  dürfte  für  diesen  Fall/  Einstweilen 
wünscht  er,  es  möchte  der  Versuch  gemacht  werden,  Bonaparte  durch  freie 
Rede  zu  Tode  zu  ärgern;  denn  die  sei  für  ihn  das  schärfste  Gift.')    Es  ist  I 


»)  Briefe  D  72.  78.       *)  S.  79.  81. 


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J.  Reinhard:  Friedrich  Schleiermacher  &h  deutscher  Patriot  353 

wohl  nicht  uninteressant,  am  Ende  dieser  Zusammenstellung  tapferer  und  zu- 
versichtlicher Worte  aus  Sch.s  Briefen  eine  Äufserung  zu  hören,  in  der  er  von 
den  Mitteln  handelt,  durch  die  er  sich  in  solcher  Stimmung  erhielt.  Er  schreibt: 
'Schwer  sind  die  Zeiten,  und  frisch  und  munter  zu  bleiben  ist  schwer.  Aber 
man  mufs  es  doch  dahin  bringen.  Drei  kleine  Kunstgriffe  weifs  ich  dazu  und 
sehr  wohlfeile,  die  gar  nicht  übel  sind.  Was  das  Vaterland,  ich  meine  Deutsch- 
land, betrifft,  nur  so  weit  hinaussehen,  als  möglich  ist,  denn  nur  in  der  Ferne 
sieht  man  das  klare,  fröhliche  Licht;  die  Schlechtigkeiten,  welche  um  uns  her 
vorgegangen  sind,  nur  in  Masse  und  in  ihren  allgemeinen,  wohlbekannten  Ur- 
sachen zu  betrachten,  ohne  zu  sehr  auf  das  einzelne  zu  sehen,  denn  das  macht 
am  meisten  Not  und  Ekel,  und  endlich,  lachen  Sie  nicht  darüber,  dem  Magen 
die  Augen  nur  auf  14  Tage  hinaus  zu  erlauben,  sonst  kommen  die  Sorgen  der 
Nahrung  und  in  denen  sitzt  der  gröfste  Teufel.'1) 

Es  ist  nur  begreiflich,  dafs  es  dem  Patrioten  Sch.  nicht  genügte,  seine 
Gedanken  in  Privatbriefen  auszusprechen,  sondern  dafs  er  danach  verlangte,  das 
Beste,  was  er  wuXste,  hinauszuwerfen  in  das  sturmbewegte  Leben  der  All- 
gemeinheit. Hatte  er  schon  vor  dem  Kriege  gemeint:  'Mir  ist  oft  so  zu  Mute 
gewesen,  ein  politisches  Wort  laut  zu  reden,  wenn  ich  nur  die  Zeit  dazu  hätte 
gewinnen  können'8),  wie  viel  lebendiger  mufste  dieser  Drang  jetzt  in  ihm  sein! 
Er  denkt  daran,  'dem  guten  Könige  ein  Wort  zu  sagen  über  die  Anhänglichkeit 
des  besseren  Teiles  der  Nation,  über  den  Mut  für  die  gute  Sache  des  Vater- 
landes und  über  den  Hals  gegen  die  Niederträchtigkeiten  des  Feindes,'  und  ein 
andermal  finden  wir  ihn  sinnend  über  der  Möglichkeit,  in  das  Hauptquartier 
seines  Königs  zu  kommen,  der  gewifs  Leute,  die  ganz  müfsig  säfsen,  recht  gut 
auf  irgend  eine  Art  brauchen  könnte.  Um  so  bereitwilliger  und  freudiger  be- 
nutzte er  zur  Äufserung  seiner  vaterländischen  Gesinnung  diejenige  Stätte 
öffentlicher  Wirksamkeit,  die  ihm  von  Amts  wegen  zugänglich  war  und  in  jener 
Zeit  infolge  der  Erkrankung  eines  Hallischen  Geistlichen  noch  öfter  aufgethan 
wurde:  die  Kanzel.  Es  ist  hier  nicht  die  Gelegenheit,  auf  die  grofsen  Gefahren, 
die  mit  der  Behandlung  politischer  Stoffe  in  der  Predigt  verbunden  sind,  ein- 
zugehen. Die  Erinnerung  wird  genügen,  wie  sehr  dabei,  sei  es  Feigheit 
und  Engherzigkeit,  sei  es  ein  religiöser  Chauvinismus,  den  Hauptzweck  jeder 
religiösen  Zusammenkunft:  die  Erbauung  der  Gemeinde,  beeinträchtigen  können. 
Die  Predigten  Sch.s  in  der  Notzeit  des  Vaterlandes  vermeiden  sicher  diese  Ge- 
fahren, einzig  bemüht,  den  Zuhörern  den  Glanben  an  die  göttliche  Leitung  der 
Weltgeschichte  und  an  die  Sicherheit  eines  mit  ihr  geeinten  Gemütes  zu 
festigen.  Sch.  ist  der  erste  politische  Prediger  im  grofsen  Stil  geworden,  den 
das  Christentum  hervorgebracht  hat8),  und  ist  es  geblieben,  unerreicht  bis  auf 
diesen  Tag. 

Als  die  preufsische  Armee  geschlagen,  Halle  vom  Feinde  besetzt  war,  die 
Festungen  des  Landes  sich  zumeist  widerstandslos  dem  Sieger  ergaben  und  die 
Verzagten  nach  Frieden  schrien,  hat  der  Hallische  Theologe  die  erste  dieser 


»)  Briefw.  mit  J.  Chr.  Gafo.       *)  Briefe  0  67.       •)  Dilthey,  Preufe.  Jahrb.  X  246. 

Neue  Jahrbflcher    18*9.   n  23 


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J.  Reinhard:  Friedrich  Schleiermacher  als  deutscher  Patriot 


Predigten  gehalten:  dafs  überall,  wo  Gott  waltet,  Friede  sein  mufs.  Es 
sei  in  Natur  und  Geschichte  ein  leitendes  Gesetz,  dafs  jeder  Übergang  rom 
Unvollkommenen  zum  Vollkommenen  sich  durch  Streit  vollziehe.  Darum  sei 
es  Pflicht,  in  Zeiten,  die  kriegerische  sein  sollten  nach  göttlicher  Bestimmung,  | 
die  unruhvolle  Entwickelung  nicht  aufzuopfern  einem  tragen  Ruhebedürfhis, 
sondern  sie  sich  zu  wahrem,  vollem  Leben  gereichen  zu  lassen.  Könne  doch 
der  innere  Friede  auch  unter  äufserem  Streit  bewahrt  bleiben,  ja  erst  recht 
errungen  werden  durch  die  Arbeit  am  eigenen  Selbst:  'die  Festigkeit  nämlich, 
die  Besonnenheit,  die  Ruhe,  welche  mitten  im  Streit  und  in  den  Verwirrungen 
des  Lebens  zu  bewahren  leicht  die  höchste  Tugend  des  Mannes  sein  mag.'1) 

Am  23.  November  hat  er  wieder  gepredigt,  inmitten  des  lauten  Klagen« 
des  aus  seiner  Ruhe  aufgeschreckten  Volkes,  über  den  Text  aus  dem  Römer- 
brief: wir  wissen,  dafs  denen,  die  Gott  lieben,  alle  Dinge  zum  Besten  dienen. 
Dafür  will  und  kann  er  nicht  Bürgschaft  leisten,  was  von  den  verlorenen  Gütern 
zum  Genufs  des  Lebens  werde  wiedergefunden  werden.  Es  wäre  frevelhaft,  die 
Hoffnung  auf  sie  im  Namen  des  Christentums  zu  begünstigen.  Aber  zur  Selbst- 
erkenntnis und  zur  Gotteserkenntnis  könne  das  Unglück  gereichen.  Denn  wie 
de»  Staates  Fehler  und  Mifsgriffe,  so  würden  jetzt  auch  die  Mängel  des  ein- 
zelnen Bürgers  offenbar.  Aber  auch  schlummernde  Kräfte,  unverlorene  Tugenden 
erwachten  im  Volke:  Geduld,  Mut,  Gewandtheit,  Entschlossenheit  und  rascher 
Überblick.  Und  ist  die  Züchtigung  nicht  eine  Offenbarung  Gottes,  wenn  durch 
sie  in  die  Behandlung  der  öffentlichen  Angelegenheiten  Strenge  und  Ernst, 
Aufmerksamkeit  und  freier  Sinn  gebracht  werden,  wenn  auch  die  Schwachen 
ungeahnte  Starke  beweisen,  wenn  kein  Keim  des  Guten  verdirbt,  nein!  Ver- 
antwortlichkeit, Begeisterung  und  Eifer  für  das  Gute  aus  dem  Leiden  herror- 
gehen?  Noch  liebt  Gott  das  Volk  der  Deutschen.  Dafs  nur  diese  die  Ein- 
tracht, Anhänglichkeit  und  Treue  immer  mehr  die  Oberhand  gewinnen  Leisen, 
nur  alle  schlechten  Mittel  zur  Selbsterhaltung,  Lug,  Verrat,  Kriecherei  und 
Ungerechtigkeit  verabscheuten  und  zeigten,  dafs  es  unter  ihnen  etwas  Heilige« 
gäbe,  worauf  sie  unverbrüchlich  hielten,  dafs  sie  noch  immer  dasselbe  Volk 
seien,  dessen  schönster  Beruf  es  immer  gewesen  ist,  die  Freiheit  des  Geistes 
und  die  Rechte  des  Gewissens  zu  beschützen  und  durch  ein  solches  grofses 
Beispiel  unter  den  Völkern,  wenn  auch  erst  für  künftige  Zeiten,  der  Mittelpunkt 
zu  werden,  um  den  sich  alles  Gute  und  Schöne  vereinige.2) 

Das  Jahr  der  Verluste,  1806,  ging  zu  Ende.  'Dafs  die  letzten  Zeiten  nicht 
schlechter  seien  als  die  vorigen',  war  Sch.s  Thema  am  letzten  Sonntage  im 
alten  Jahre.8)  Bisher  hätten  viel  Gleichgültigkeit,  Schlaffheit,  Selbstsucht 
und  Mifstrauen  am  öffentlichen  Leben  der  Deutschen  gehaftet,  und  nur  große 
Erschütterungen  könnten  eine  gründliche  Heilung  bewirken.  Trete  sie  ein, 
dann  sei  der  Verlust  nur  scheinbar  und  die  Ausbildung  aller  Fähigkeiten  und 
in  den  bisher  schlaffen  Gemütern  ein  Geist  der  Kraft  und  Liebe  der  wahre 
Gewinn,  mit  dem  man  durch  die  gegenwärtigen  Zeiten  hindurchgehe  zu  besseren.  \ 


')  Pred.  I  839  ff.       *)  8.  261  ff.       ")  S.  266  ff. 


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J.  Reinhard:  Friedrich  Schleiermacher  als  deutscher  Patriot  355 

Am  Morgen  des  Neujahrstages  1807  tritt  er  vor  die  Gemeinde  mit  der 
Frage:  was  wir  fürchten  sollen  und  was  nicht?1)  Das  allein  wertvolle  Leben 
—  dasjenige  des  Geistes  —  sei  über  alle  Gefährdung  durch  äufsere  Gewalten 
erhaben.  Darum  sei  Mut  eine  Pflicht,  Verzagtheit  schlimmer  als  jeder  Verlust, 
schlimmer  als  der  Tod.  Von  ihr  frei  zu  werden  durch  die  richtige  Erkenntnis 
der  geistigen  Werte  sei  jetzt  wichtiger  als  die  Entfernung  der  Feinde,  ein 
rühmlicher  Friede  uad  die  Wiedererstattung  aller  Verluste.  Dagegen  solle  mau 
den  Herrn  fürchten,  in  dazu  man  auf  seine  Stimme  höre  und  den  von  ihm  ge- 
ordneten Lauf  der  Welt  achte.  Und  auf  Grund  eigener  Erfahrung  bezeugt  der 
Prediger  den  Segen  der  von  ihm  empfohlenen  Gesinnung:  'Wie  auch  jedem  die 
äufsere  Wirksamkeit  zerrüttet,  die  wohlausgeführten  Werke  zerstört  und  alles 
Leibliche  seines  Thuns  und  Seins  verwundet  oder  getötet  werde:  wir  werden 
unter  allen  Zerstörungen  jene  gottliche  Kraft  in  uns  fühlen,  vermöge  deren 
der  Geist  überall  seinen  Leib,  seine  Glieder,  seine  Werkzeuge  wiederherstellt 
oder  neu  erschafft;  und  so  werden  wir  mutig  und  heiter,  tüchtig  und  unbesiegt 
der  Welt  zum  Trotz,  Gott  zum  Preise,  uns  selbst  zur  Zufriedenheit  dastehen/ 

Stellen  wir  diesen  grofeen,  besonnenen  Gedanken  die  Verwirrung  der  Ver- 
hältnisse und  die  Haltlosigkeit  vieler  Verzagten  gegenüber,  nehmen  wir  dazu, 
dafs  sie  in  einer  ebenmalsig  dahinfliefsenden,  an  den  erhabenen  Stil  des  grie- 
chischen Dichterphilosophen  erinnernden  Sprache,  mit  ebensoviel  äufserer  Ge- 
messenheit wie  tiefer  innerer  Ergriffenheit  vorgetragen  wurden,  so  begreift  sich 
die  Gewalt,  die  sie  über  die  Gemüter  beeafsen.  Wir  besitzen  den  Bericht  eines 
studiosus  medicinae  darüber  in  einem  Briefe  an  seine  Eltern.  Da  heilst  es: 
'Man  wundert  sich  über  Sch.s  Kühnheit,  mit  den  eindringlichsten  Worten  die 
Zuhörer  an  ihr  Vaterland  und  an  ihren  König  zu  erinnern,  und  jeden,  der 
fähig  ist,  das  alte  Glück  des  Landes  zu  befördern,  im  Guten  zu  bekräftigen. 
Er  schliefst  dergleichen  jedesmal  in  sein  Schlufsgebet  ein  und  weils  dabei  so 
eindringend  zu  reden,  dafs  mancher  davon  entflammt  wird  und  jedes  Auge  seine 
Rührung  nicht  verbirgt.'  Fürwahr,  viel  wiegt  in  kritischen  Zeiten  ein  Mann, 
sonderlich  an  geweihter  Stätte,  wo  mit  der  Besonnenheit  seines  Wesens  sich 
noch  verbindet  das  heilige  Schweigen  der  Ewigkeitswelt,  in  der  wie  das  Lärmen 
des  Tages  so  auch  das  Toben  der  Völker  verhallt! 

Schliefslich  wurde  Sch.  auch  diese  Wirksamkeit  genommen,  die  er  immer 
als  eine  Wohlthat,  bei  der  man  sich  und  andere  stärken  könne,  empfunden 
hatte:  durch  den  Tilsiter  Frieden  war  das  Königreich  Westfalen  errichtet  und 
Halle  ihm  einverleibt  worden.  Die  Folge  war,  dafs  das  Kirchengebet  für  den 
neuen  König  Jerome  und  dessen  Gemahlin  verordnet  wurde.  Seitdem  hat  Sch. 
die  Kanzel  nicht  mehr  betreten.  So  war  es  Zeit  zu  dem  Entschlufs,  den 
Wanderstab  zu  nehmen  und  das  deutsche  Vaterland  da  zu  suchen,  wo  ein 
Protestant  leben  konnte  und  Deutsche  regierten.«)  Er  siedelte  dahin  über,  wo 
je  langer  je  mehr  vaterlandsliebende  Männer  sich  Bammelten  in  der  Hoffnung 
*         besserer  Zeiten:  im  Dezember  1807  nach  Berlin.    Das  Werk,  das  er  für 


»)  S.  281  ff.      •)  Briefe  D  106. 

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J.  Reinhard:  Friedrich  Schleiermacher  als  deutscher  Patriot 


Preufsen  und  Deutschland  dort  gethan,  noch  in  wenigen  Zügen  vorzuführen,  ist 
das  letzte  Stück  meiner  Aufgabe. 

Die  Berliner  Anfange  des  privatisierenden  Gelehrten  waren  die  denkbar 
bescheidensten.  Durch  Vorlesungen  über  griechische  Philosophie,  die  er  vor 
wifsbegierigen  Jünglingen  und  Männern  hielt,  erwarb  er  einen  —  freilich  hingst 
nicht  ausreichenden  —  Beitrag  zu  seinem  Lebensunterhalt.  Aber  seine  kleinen 
Verhältnisse  verschwanden  ihm  ganz  neben  dem  grofsen  welthistorischen  Schau- 
spiele. Das  Kleinste,  so  meint  er,  was  in  diesem  wirken  konnte,  würde  ihn 
mehr  freuen  als  das  grofste  in  seinem  besonderen  Kreise.1)  Und  er  beschliefst 
das  Jahr  1807  mit  dem  in  einem  Briefe  ausgesprochenen  Vorsatze:  'Mutig  sein 
und  ausdauern,  froh  geniefsen,  was  übrig  ist,  lebendig  hoffen  auf  das,  was  ich 
nicht  mehr  erleben  werde,  daran  mufs  ich  mich  recht  halten.'*)  Allmählich 
befestigte  sich  jedoch  seine  Existenz:  1809  übernahm  er  das  Pfarramt  an  der 
Dreifaltigkeitskirche  und  begründete  er  seinen  Hausstand,  1810  trat  er  bei  der 
Stiftung  der  Universität,  an  deren  Vorbereitung  er  einen  Hauptanteil  hatte,  an 
erster  Stelle  in  die  Zahl  der  ordentlichen  Professoren  der  Theologie,  er  wurde 
Mitglied  der  Akademie  der  Wissenschaften  und  arbeitete  während  einiger  Jahre 
als  Rat  im  Ministerium  des  Innern.  So  konnte  er  sich  in  ruhigerem  Wirken 
und  gleichmäfsigem  Streben  dem  ersehnten  Ziele  zuwenden,  das  er  nie  aus  den 
Augen  verloren  hatte,  der  Wiederherstellung  Deutschlands. 

'Es  war  eine  Zeit  der  Dämmerung.  Frischer  Morgenwind  verkündete  das 
Nahen  eines  schonen  Tage»,  doch  die  Formen  und  Massen  der  jugendlichen 
Welt  traten  im  unsicheren  Zwielicht  noch  nicht  scharf  und  klar  auseinander' 
—  so  beurteilt  der  Verfasser  der  Deutschen  Geschichte  im  19.  Jahrhundert  die 
Jahre  der  Stein-  und  Schamhorstschen  Reformen  und  die  bangeren  des  Mi- 
nisteriums Altenstein -Dohna.  Jedenfalls  war  Sch.s  Glaubenszuversicht  auf  die 
endliche  Rettung  des  Vaterlandes  nach  wie  vor  vonnoten.  Dafs  sie  ihm  nicht 
verloren  gegangen  war,  bezeugen  wieder  seine  Briefe:  'Niemals  kann  ich  dahin 
kommen,  am  Vaterlande  zu  verzweifeln;  ich  glaube  zu  fest  daran,  ich  weifs  es 
zu  bestimmt,  dafs  es  ein  auserwähltes  Werkzeug  und  Volk  Gottes  ist.  Es  ist 
möglich,  dafs  alle  unsere  Bemühungen  vergeblich  sind  und  dafs  vor  der  Hand 
harte  und  drückende  Zeiten  eintreten  —  aber  das  Vaterland  wird  gewifs  herr- 
lich daraus  hervorgehen  in  kurzem.  Es  ist  eine  herrliche  Gabe  Gottes,  in  einer 
Zeit  zu  leben  wie  diese,  alles  Schöne  wird  tiefer  gefühlt  und  man  kann  es 
gröfser  und  herrlicher  darstellen.' s)  Freilich  sanken  seine  Hoffhungen  tief,  als 
gegen  Ende  des  Jahres  1809  Freiherr  v.  Stein  vom  Hasse  Napoleons  gestünt 
wurde.  Sch.  gratulierte  dem  Geächteten,  denn  das  sei  die  grofste  Ehre,  die 
einem  Privatmann  widerfahren  könnte,  für  einen  Feind  der  grofsen  Nation 
erklärt  zu  werden.4)  Aber  als  die  Steinschen  Reformen  mehr  und  mehr  ein- 
schliefen, als  die  Regierung  sich  nicht  entschliefsen  konnte,  wie  die  Patrioten 
im  Lande  einmütig  verlangten,  am  österreichischen  Kriege  1809  teilzunehmen, 
vermifste  er  auf  das  schmerzlichste  die  starke,  mutige  Hand,  die  vom  Ruder 


»)  S.  10Ö.       •)  S.  106.       *)  S.  196.       «)  S.  210. 


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J.  R«iuhard:  Friedrich  8chk'ierniach*r  als  deutscher  Patriot 


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des  Staatsschiffes  entfernt  worden  war.  Und  im  Sommer  1811  schreibt  er  an 
Stein  nach  Prag1):  'Es  ist  nicht  zu  verkennen,  dafs  die  gegenwartige  Administra- 
tion Ihre  Spur  ganz  verlassen  hat*,  und  warnt  ihn,  mit  seinem  Ansehen  das 
Verfahren  der  zur  Zeit  in  Berlin  einflufsreichen  Staatsmänner  zu  decken,  die 
seinen  Namen  nur  beschmutzten.  'Woran  könnte  mir  mehr  liegen,  als  dafs 
Ihr  gesegneter  Name  ebenso  rein  auf  jedermann  und  auf  die  Nachwelt  käme, 
als  er  vor  denen  dasteht,  welche  Sie  selbst  und  Ihr  öffentliches  Leben  zu 
kennen  das  Glück  haben.'  Und  einige  Monate  später  schreibt  er  an  einen 
Freund1):  'Gott  mag  wissen,  was  noch  aus  unseren  politischen  Verhältnissen 
herauskommt  Mir  scheint  alles,  was  geschieht,  so  verkehrt,  dafs  ich  lieber 
gar  nicht  daran  denken  und  mich  gar  nicht  darum  kümmern  möchte.' 

Unterdessen  stand  er  doch  auch  in  aufbauender  Arbeit  Während  die  von 
Napoleon  sorgfältig  überwachte  und  gehemmte  Regierung  in  der  Vorbereitung 
eines  Aufstandes  gegen  die  Fremdherrschaft  fast  gänzlich  gehindert  war,  traten 
im  Lande  verschiedentlich  Patrioten  zu  g«meinsamer  Thätigkeit  zusammen. 
Beobachtung  des  Feindes,  Vereinigung  der  Entschlossenen,  Kräftigung  der  Ver- 
zagten, kurz  Vorbereitung  eines  Volkskrieges  war  ihr  Ziel  Fichte,  Niebuhr, 
Sch.  gehörten  zu  einer  dieser  geheimen  Gesellschaften,  Stein  und  Dohna, 
Scharnhorst  und  Gneisenau  standen  ihr  nahe.  Sch.  beschreibt  sie  später  ein- 
mal3): 'Man  trat  nicht  hinein  und  nicht  heraus,  da  war  keine  Aufnahme,  keine 
Obern,  keine  Formel,  keine  Statuten,  keine  Insignien,  keine  Papiere.  Die  Leute 
waren  nur  durch  Vaterlandsliebe  und  durch  gegenseitiges  Vertrauen  verbunden, 
und  solch  idealistisches  Gesindel  ist  entsetzlich  schwer  auseinander  zu  bringen.' 
Für  die  Zwecke  der  Patrioten  Vereinigung  war  der  besonnene,  'kluge  Schleier', 
wie  sie  ihn  nannten,  eine  überaus  wertvolle  Kraft.  Er  unternahm  mehrere 
Reisen  in  dieser  Angelegenheit:  1808  nach  Halle,  nach  Königsberg  und  nach 
Dessau,  1811  nach  Schlesien.  Aufserdem  fand  eine  lebhafte  Korrespondenz 
statt  Vor  allem  setzte  der  Minister  Alex.  v.  Dohna,  Sch.  eng  befreundet, 
diesen,  wie  er  meint,  in  rasende  Bewegung,  indem  er  posttäglich  Briefe  und 
Berichte  von  ihm  erwartete.  Ein  solcher  Schriftenwechsel  war  bei  dem  fran- 
zösischen Spionagesystem  nicht  ungefährlich,  erhielt  doch  Sch.s  Braut  eine 
Zeit  lang  die  Briefe  ihres  Verlobten  aufgeschnitten.*)  Darum  bedienten  sich 
die  Gesinnungsgenossen  einer  ausgebildeten  Geheimsprache.  Zunächst  waren 
die  Namen  vertauscht:  König  Friedrich  Wilhelm  III.  tritt  unter  dem  gut 
pommerisch  klingenden  Namen  Quednow  auf,  Stein  wird  Christ  genannt, 
Gneisenau  Kall,  Scharnhorst  Mansfeld,  und  für  Napoleon  hat  man  die  sinnige 
Bezeichnung  'der  liebe  Mann'  gewählt.  Doch  geht  die  Wörtervertauschung 
noch  weiter:  die  Staatsangelegenheiten  werden  meist  als  landwirtschaftliche 
Marsnahmen  besprochen.  Jedenfalls  bemerkt  der  Nichteingeweihte  an  diesen 
Briefen  nichts  Auffallendes,  es  müfste  denn  der  Umstand  sein,  dafs  in  Schleier- 
macherschen  und  Steinschen  Briefen  sonst  nicht  so  banales  Zeug  wie  die  Mitr 


*)  Briefe  IV  181.      •)  An  OaTs  3.  108. 

")  B&mÜ.  Werke  zur  Philo«.  I  668       *)  Briefe  H  139. 


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J.  Reinhardt  Friedrich  Schleiermaoher  als  deutscher  Patriot 


teilungen  über  Güterkaufe  und  schöne  Landschaften  zu  stehen  pflegt,  die  jetet 
durch  die  Geheimsprache  zu  stände  kommen.  Eine  wunderlich  wirre  Zeit,  die 
den  Ehrlichsten  nötigte,  sein  Wesen  zu  wandeln  und  seinen  Gedanken  die 
Worte  als  Masken  anzulegen!  Doch  werden  wir  der  eigenen  Meinung  8ch.8 
beistimmen  können:  'Es  ist  durchaus  eine  würdige,  schöne,  tadellose  Rolle,  die 
ich  spiele,  und  was  kann  es  Schöneres  geben,  als  dafs  ich  den  Zustand  der 
Dinge,  auf  denen  das  Glück  unseres  Lebens  beruhen  mufs,  selbst  kann  leiten 
und  herbeiführen  helfen.' ') 

Das  Wesentliche  an  seiner  Arbeit  für  das  Vaterland  haben  wir  aber  mit 
dem  eben  Dargelegten  noch  nicht  erreicht.  Die  Umstände  verlangten  ein  Auf- 
gebot aller  Mitteüungsformen.  Während  E.  M.  Arndt  mit  zornigen  Liedern,  die 
von  Mund  zu  Mund  gingen,  sein  Volk  bestürmte,  Fichte  in  seinen  Reden  die 
deutsche  Nation  zu  ihrer  Erneuerung  zu  führen  suchte,  fuhr  Sch.  fort,  mit 
seinen  politischen  Predigten  die  schlafenden  Geister  zu  wecken.  'Ich  beneide 
jeden,  der  das  Glück  hat,  in  irgend  einem  Sinne  eine  politische  Person  zu  sein. 
Leider  kann  ich  nichts  thun  für  die  Regeneration  als  predigen.*  Aber  seine 
Wirksamkeit  war  grofs,  dichte  Scharen  sammelten  sich  in  dem  dürftigen 
Rundbau  der  Dreifaltigkeitskirche,  um  ihn  zu  hören.  'Bunter  ist  überhaupt 
wohl  kein  Fischzug  als  mein  kirchliches  Auditorium  —  so  beschreibt  er  es*)  — : 
Hermhuter,  Juden,  getaufte  und  ungetaufte,  junge  Philosophen  und  Philologen, 
elegante  Damen'  u.  s.  w.  Und  einer  seiner  Zeitgenossen')  berichtet:  'Es  giebt 
keinen,  der  wie  er  die  Gesinnung  der  Einwohner  hob  und  regelte,  und  in  allen 
Klassen  eine  nationale,  eine  religiöse,  eine  tiefere  geistige  Ansicht  verbreitete. 
Berlin  ward  durch  ihn  wie  umgewandelt  und  würde  sich  nach  Verlauf  einiger 
Jahre  in  seiner  früheren  Oberflächlichkeit  kaum  wiedererkannt  haben.  Waa 
ihm  den  grofsen  Einflufs  verschaffte,  war  dieses:  dafs  er  Christ  war  im  edlen 
Sinne,  fester  unerschütterlicher  Bürger,  in  der  bedenklichsten  Zeit  kühn  mit 
den  Kühnsten  verbunden,  ein  Mensch  in  der  tiefsten  Bedeutung  des  Worts, 
und  doch  als  Gelehrter  streng,  klar,  entschieden.  Sein  Entschlufs,  sich  für  «ins 
schmachvoll  gedrückte  Vaterland  zu  opfern,  hatte  damals  eine  ansteckende 
Gewalt  und  unterhielt  die  kühne  Gesinnung,  die  entschlossen  war,  nicht  blofs 
bessere  Zeiten  unthätig  zu  erwarten,  sondern  auch,  wo  sich  die  Gelegenheit 
darbot,  durch  die  That  herbeizuführen.  Sein  mächtiger,  frischer,  stets  fröhlicher 
Geist  war  einem  kühnen  Heere  gleich  in  der  trübsten  Zeit.' 

Da  über  die  Hauptgedanken  der  politischen  Predigt  Sch.s  schon  bei  seiner 
Hallischen  Zeit  gehandelt  wurde,  so  können  hier  ausfuhrlichere  Mitteilungen 
über  die  in  Berlin  gesprochenen  wegbleiben.  Nur  einige  Themata4)  seien  citiert 
zur  Andeutung  der  Gedankenbahnen,  auf  denen  er  seine  Zuhörer  führte:  Über 
den  heilsamen  Rat,  zu  haben,  als  hatten  wir  nicht  —  Über  die  Beharrlichkeit 
gegen  das  unB  bedrängende  Böse  —  Wie  wir  eine  zwischen  grofsen  Ereignissen 
liegende  Zeit  anwenden  sollen  —  Wie  sich  in  grofsen  Wendepunkten  mensch- 
licher Dinge  die  Würdigen  beweisen.    Seinen  Predigten  verdankte  er  es  auch, 


*)  8.  122.      *)  IV  166.      •)  Steffens.      «)  Prcd.,  Bd.  I. 


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J.  Reinhard:  Friedrich  Schltiormacher  als  deutlicher  Patriot 


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dafs  er  eines  Tages  vor  den  Marschall  Davoust  geführt  und  als  Unruhe- 
stifter verwarnt  wurde.    Doch  that  man  ihm  nichts  weiter  an. 

Die  Saat  ging  endlich  auf.  Das  Ersehnte  und  Vorbereitete,  die  Erhebung 
Ton  1813,  trat  ein.  Die  gewaltige  Erregung,  welche  des  Königs  Aufruf  an  sein 
Volk  hervorgerufen  hatte,  erfüllte  Berlin.  Wieder  stand  Sch.  an  der  Spitze  der 
Bewegung  im  Volke:  ein  Brief  Scharnhorsts ')  aus  den  ersten  Wochen  der  Kriegs- 
rustungen  dankt  ihm,  der  sich  für  die  schnelle  Fortführung  der  Kriegsfrei- 
willigen den  Staat  verpflichtet  hätte.  Zu  gleicher  Zeit  rief  Sch.  gemeinsam  mit 
Niebahr  u.  a.  eine  Zeitung,  den  Preußischen  Korrespondenten,  ins  Leben,  um 
durch  ihn  auf  einen  weiteren  Kreis  einwirken  zu  können,  und  versah  eine  Zeit 
lang  die  Redaktion  des  Blattes.  Jetzt  klingt  der  ganze  Jubel  des  treuen  Mannes 
aus  den  Worten  eines  Briefes  heraus:  man  müfste  doch  in  Freude  und  Wonne  ver- 
gehen über  die  so  herrlich  sich  entwickelnde  Zeit,  die  auch  Menschen,  die  schon 
ganz  hoffnungslos  waren,  einen  neuen  Geist  einhauchte.1)  Und  am  28.  März 
feiert  er  im  Gottesdienste  den  Anbruch  der  grofsen  Zeit.')  An  das  vergangene 
Schwere  erinnert  er  und  als  Rückkehr,  zur  Wahrheit  begrüfBt  ot  die  eingetretene 
Veränderung,  die  sich  besonders  in  der  allgemeinen  Opferfreudigkeit  und  der 
Vereinigung  von  Armee  und  Volk  kundthue.  Dann  spricht  er  die  Warnung 
Tor  Selbstüberschätzung  und  Übermut,  die  Mahnung  zu  verdoppelter  Treue  und 
Sorgfalt  aus.  Und  er  schliefst:  'Keiner  erfreue  sich  eines  ungestörten  Ansehens 
in  der  Gesellschaft,  der  noch  Mutlosigkeit  oder  Gleichgültigkeit  durch  Wort 
oder  That  predigt  oder  geneigt  scheint,  den  vorigen  Zustand  mit  Ruhe  den 
Kämpfen  um  einen  bessern  vorzuziehen!  Keiner  bleibe  unbeobachtet  und  un- 
entlarvt,  welcher  meint,  je  mehr  aller  Augen  nach  aufsen  gewendet  wären,  um 
desto  sicherer  und  verborgener  könne  er  einer  jetzt  mehr  als  je  frevelhaften 
und  verräterischen  Selbstsucht  fröhnen.  Keiner  bleibe  ungezüchtigt,  der  etwa 
in  dem  thörichten  Wahn,  für  den  Fall  eines  unglücklichen  Ausgangs  sich  selbst 
ein  leidlicheres  Schicksal  zu  bereiten,  irgend  die  kräftigen  Mafsregeln  hemmen 
oder  sich  von  ihnen  ausschliefsen  wollte,  die  unumgänglich  notwendig  sind,  um 
einen  glücklichen  Ausgang  herbeizuführen.  Ja,  sollte  sich  Engherzigkeit  und 
Verworfenheit  dieser  Art  gar  im  Grofsen  oder  Kleinen  in  die  öffentliche  Ver- 
waltung einschleichen  wollen,  dann  lafst  uns,  weil  die  Gefahr  doppelt  ist,  auch 
doppelt  ankämpfen  und  nicht  ruhen,  bis  wir  siegen!'  —  fSo  stehe  jeder  auf 
seinem  Posten  und  weiche  nicht!  So  halte  sich  jeder  frisch  und  grün  im 
Gefühl  der  grofsen  heiligen  Kräfte,  die  ihn  beleben!  So  vertraue  jeder  Gott 
and  rufe  ihn  an!' 

Die  Wechselfälle  des  nun  ausbrechenden  Krieges  haben,  bald  erhebend, 
bald  beängstigend,  auch  auf  Sch.s  Stimmungen  eingewirkt.  Doch  gab  er  sich 
ihnen  keineswegs  thatenlos  preis.  Vielmehr  trat  er  dem  zur  Verteidigung 
Berlins  gebildeten  Landsturme  bei.  Und  in  welchen  Feuereifer  blicken  wir 
hinein,  wenn  wir  in  einem  der  Briefe  an  seine  in  Schlesien  geborgene  Frau 
lesen4),  wie  er  nach  der  Morgenarbeit  im  akademischen  Berufe  und  in  pfarr- 


»)  Briefe  IV  190.      *)  II  266.      »)  Pred.  IV  87.       *)  U  269. 


360  J-  Reinhard:  Friedrich  Schleiermacher  als  deutscher  Patriot 

amtlichen  Geschäften  drei  Stunden  lang  exerziert,  eine  Sitzung  des  Pres- 
byteriums  abhält,  endlich  am  Abende  ein  Landwehr -Bataillon  einsegnet.  Es 
ist  begreiflich,  dafs  ein  Mann  von  solcher  Gesinnung  alle  Nachrichten  vom 
Kriegsschauplatze  mit  Spannung  verfolgt)  und  als  sie  nach  Niederlagen  im  An- 
fange von  Siegen  zu  melden  wußten,  sie  mit  Freude  begrüfst  hat.  Unbegreif- 
lich dagegen  wird  es  bleiben,  dafs  schon  während  des  Krieges  ein  erbärmliches 
Denunziantentum  und  eine  argwöhnische  Regierung  einen  so  bewährten  Vater- 
landsfreund mifstrauischer,  kränkender  Behandlung  hat  aussetzen  können.  An- 
statt darauf  einzugehen,  ziehen  wir  es  vor,  den  Vorhang  fallen  zu  lassen  Aber 
das  weitere  Wirken  und  Leiden  dieses  Patrioten,  das  ihm  der  treue  Dienst  fürs 
Vaterland  noch  gebracht  hat.  Der  bedeutende  Geist  mifst  mit  anderem  Mafso 
als  die  Kleinen  und  mufs  ihre  Rache  dafür  empfinden,  dafs  er  ihnen  un- 
verständlich ist.  Wie  weitblickend  aber  ein  Sch.  gewesen,  das  mag  zum  Schlafs 
eine  Stelle  aus  einem  inmitten  der  Kriegsunruhen  an  Friedr.  Schlegel  gerichteten 
Briefe  erweisen,  wo  er  dem  alten  Freunde  sein  politisches  Glaubensbekenntnis 
erstattet1):  'Die  Stammesverschiedenheiten  —  heifst  es  da  —  wie  die  Spuren 
der  alten  einzelnen  politischen  Konkreszenzen  sind  den  Deutschen  zu  stark  auf- 
gedrückt, als  dafs  man  sie  sollte  vernichten  wollen  dürfen.  Nur  sollen  sie 
nicht  über  die  gröfsere  Nationaleinheit  dominieren.  Darum  ist  nach  der  Be- 
freiung mein  höchster  Wunsch  auf  ein  wahres  deutsches  Kaisertum,  kräftig 
und  nach  aufsen  hin  allein  das  ganze  deutsche  Volk  und  Land  repräsentierend, 
das  aber  wieder  nach  innen  den  einzelnen  Ländern  und  ihren  Fürsten  recht 
viel  Freiheit  läfst,  sich  nach  ihrer  Eigentümlichkeit  auszubilden  und  zu  re- 
gieren. Aber  jenes  ist  nur  möglich,  wenn  kein  dem  deutschen  Kaisertum  za- 
gehöriger Fürst  Länder  hat,  die  demselben  nicht  angehören,  und  dieses  ist  nur 
möglich,  wenn  in  die  inneren  (nicht  militärischen  und  diplomatischen)  An- 
gelegenheiten der  einzelnen  Staaten  der  Kaiser  sich  ja  nicht  mischt.' 

')  Briefe  III  428. 


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DIE  PHANTASIE 

Eine  psychologisch  -  ästhetische  Studie 
Von  Alfred  Biese 

Die  Phantasie  ist  zwar,  wie  Goethe  sagt,  das  'Schofskind*  Juppiters,  nicht 
etwa  trotz,  sondern  gerade  wegen  der  'Launen  der  Thörin',  aber  sie  ist  auch 
zugleich  das  Stiefkind  der  modernen  Pädagogik,  der  modernen,  physiologischen 
Psychologie.  Diese  weifs,  im  Grunde  genommen,  herzlich  wenig  mit  dem 
*ewig  beweglichen',  'seltsamen'  Wesen  anzufangen,  das  chamäleonartig  seine 
Gestalt  wechselt  und  fiberall  bei  der  Bethätigung  des  Menschengeistes  sich  mehr 
oder  weniger  zur  Geltung  bringt.  Es  ist  aber  eine  wunderbare  und  doch  wieder 
in  der  verwickelten  Eigenart  der  menschlichen  Psyche  begründete  Thatsache, 
dafa,  welche  seelische  Kraft  auch  immer  wir  zu  eindringender  Betrachtung 
herausheben  —  sei  es  nun  das  Fuhlen  oder  Wollen  oder  Vorstellen,  sei  es 
die  Erinnerung,  das  Gemfit,  die  Phantasie  —  gerade  die,  auf  welche  wir  unser 
Augenmerk  richten,  uns  auch  als  die  bedeutsamste,  wirkungsvollste  erscheinen 
will.  So  erhebt  denn  auch  in  dem  bunten  Stimmengewirre  der  Psychologen 
der  eine  für  den  Willen,  der  andere  für  das  Fühlen,  der  dritte  für  das  Ver- 
mögen zu  vergleichen  und  sich  zu  erinnern  u.  s.  f.  seine  Stimme  und  erklärt 
es  für  die  wichtigste  Seelenregung,  ohne  die  alle  übrigen  nicht  gedacht  werden 
könnten.  Und  sonderbar  genug,  jeder  hat  recht.  Die  menschliche  Seele  gleicht 
einem  vielstimmigen  Orchester,  bei  dem  jedes  Instrument  seine  eigene  Berechti- 
gung hat  und  seine  Bestimmung  erfüllt,  bei  dem  aber  auch  bald  dieses,  bald 
jenes  die  Führung  übernimmt.  Und  so  ist  es  individuell  verschieden,  ob  Ver- 
stand oder  Wille,  ob  Gemüt,  ob  Phantasie  im  besonderen  Mafse  ausgebildet 
ist  und  die  Herrschaft  in  Lebensanschauung  und  Lebensbethätigung  gewinnt.1) 

Piaton,  der  phantasiereiche  Philosoph  oder  philosophische  Dichter,  stellt 
<pavx«6lct  und  attfrqöig  (d.  i.  die  Wahrnehmung)  eng  zusammen;  sie  ist  für 
ihn  die  Auffassung  der  Bilder  der  sinnlichen  Wahrnehmung;  das  künstlerische 

•)  Aber  es  könnte  gerade  in  unseren  Tagen,  wo  auch  in  den  höheren  Scholen  das 
Vervtandesm&Xeige,  vom  NüUlichkeitastandpunkt  Diktierte,  das  Schematische  n.  s.  w.  fast 
die  Alleinherrschaft  führt,  nicht  schaden,  wenn  Phantasie  und  psychologische  Vertiefung 
der  Probleme,  wenn  philosophische  Durchdringung,  wenn  ferner  warmes  Orfühl  und  lebendig« 
Anschauung  die  natürlichen  Forderungen  des  Herzens  der  Jugend  in  höherem  Mafse  be- 
friedigten. —  Die  folgenden  Blätter  möchten  nicht  nur  zum  psychologischen  Unterricht  in 
Prima,  sondern  überhaupt  zur  Verinnerlichung  der  pädagogischen  Thätigkeit,  besonders 
auf  dem  Gebiete  des  Deutschen,  einen  Beitrag  liefern. 


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362 


A.  Bieae:  Die  Phantasie 


Schaffen  dagegen  ruht  auf  der  Einbildung,  der  slxaöta,  und  das  Kunstwerk 
ist  das  gereinigte  (idealisierte)  Bild  der  Wirklichkeit,  eine  Nachahmung  des 
Phantasiebildes,  des  Ideals;  die  göttliche  Kraft  des  Dichters  ist  eine  fc£a  fucvüt, 
ein  göttlicher  Wahnsinn. 

Aristoteles  beschränkt  den  Begriff  <pavtao£a  ebenfalls  auf  die  Sinneswahr- 
nehmung, er  nennt  sie  'eine  sinnliche  Wahrnehmung  ohne  Stoff*,  d.  h.  sie  ge- 
staltet das  rein  innerlich  Geschaute  nicht  als  Oedanken,  sondern  in  Formen, 
die  der  Wirklichkeit  entsprechen  (De  an.  III  8);  er  hebt  aber  auch  die  Fähig- 
keit hervor,  sich  lebhaft  alles  im  Innern  gleichsam  als  Bild  vor  den  inneren 
Blick  zu  stellen  (Poet.  c.  17),  und  fordert  vom  Dichter,  er  müsse  sich  alles 
bis  irts  einzelne  so  lebendig  veranschaulichen,  als  sei  er  bei  dem  Vorgänge 
selbst  gegenwartig  gewesen  und  habe  es  mit  eigenen  Augen  gesehen;  Ein- 
bildungskraft mufs  sich  also  —  wie  wir  heute  sagen  würden  —  mit  Ein- 
fühlung verbinden;  Aristoteles  bezeichnet  diese  Kraft  des  Dichters,  sich  selber 
in  den  zu  schildernden  leidenschaftlichen  Zustand  zu  versetzen,  als  Folge  des 
lebhaften  Temperaments,  als  natürliches  Genie;  die  Klarheit  des  Gestaltens 
mufs  sich  mit  Wärme  der  Begeisterung  verbinden;  die  Ekstase,  die  geistige 
Trunkenheit,  geregelt  durch  Besonnenheit,  ergiebt  die  schöpferische  Dichter- 
gabe. Die  Phantasie  in  Beziehung  zur  Kunst  unterschied  von  der  niederen 
Einbildungskraft  erst  der  Sophist  Philostratus.  —  Cicero  folgt  (Tusc.  I  62  f.) 
den  Stoikern,  wenn  er  die  Kraft  zu  erfinden  und  zu  ersinnen  (inventio  atque 
exeogitatio)  als  göttliche  Anlage,  als  caelestis  mentis  instinetus  preist,  ohne 
den  kein  Kunstwerk  entstünde.  —  In  der  neueren  Zeit  waren  es  besonders  die 
Englander  (Bacon,  HobbeB),  welche  die  Poesie  auf  Einbildungskraft  gründeten; 
Addison  rühmt  die  Neigung  zum  Phantastischen,  die  dem  englischen  Volke 
eigentümlich  sei  (fanciful);  er  bezeichnet  das  Gesicht  als  einen  erweiterten 
Tastsinn,  die  Phantasie  als  einen  erweiterten  Gesichtssinn,  ein  Gesicht  für  Un- 
gegenwärtiges. Hutcheson  fand  den  Geschmack  in  der  Fähigkeit  des  inneren 
Vergleichens  u.  ä.  m.  Während  die  Franzosen  das  Prinzip  des  Nützlichen, 
Regelmäfsigen  vorwalten  lassen,  heben  die  Engländer  (z.  B.  Burke  und  Home) 
das  Gefühl,  das  Gemüt,  die  Sympathie  hervor. 

Unsere  deutschen  Klassiker  leben  und  weben  in  der  Verherrlichung  der 
Phantasie;  Schiller  nennt  sie  in  den  'Künstlern'  'die  schöne  Bildkraft',  er 
richtet  die  Forderung  an  den  Dichter: 

Dafs  dein  Leben  Gestalt,  dein  Gedanke  Leben  gewinne, 
Lais  die  belebende  Kraft  stets  auch  die  bildende  sein. 

Jean  Paul  trennt  die  Einbildungskraft,  die  auch  die  Tiere  besäfsen  ('weil  sie 
träumen  und  fürchten,)  und  die  Phantasie,  die  ihm  etwas  Höheres,  'der 
Elementargeist  der  übrigen  Kräfte'  ist,  denn  sie  'mache  alle  Teile  zum 
Ganzen'.  Bei  den  Philosophen  —  wie  Schelling  und  Solger  —  wird  die 
Phantasie,  in  nebelhafter  Mystik,  ein  'aktiv-passives  Erkennen',  eine  'bewufst- 
unbewufste  Thätigkeit',  eine  Erleuchtung,  bei  der  das  Menschenhirn  gleichsam 
ein  passives  Gefäfs  für  Aufnahme  des  göttlichen  Offenbarungsstrahls  werde. 


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A.  Biese:  Die  Phantasie 


HG  3 


Auch  für  WeifsC  ist  die  Phantasie  etwas  'absolut- Geistiges',  welches  fden  end- 
lichen Geist  und  seine  Besonnenheit  beherrscht  und  nur  in  einer  höheren  Be- 
sonnenheit, nämlich  in  der  des  Genius,  als  Moment  oder  als  Kraft  aufgehoben 
zu  werden  vermag*;  'in  dem  Begriff  der  Phantasie,  welcher  die  unmittelbare 
Substanz  der  Schönheit  ist,  sind  zwei  Momente  gesetzt,  deren  Wechselbeziehung 
die  Wirklichkeit  der  Schönheit  ausmacht,  nämlich  die  Empfindung  (Seligkeit) 
und  die  Anschauung  (das  Beseligende)'.  Die  Systeme  Hegels  und  Vischers  sind 
nicht  minder  durch  den  schwerfälligen  Begriffspanzer  und  die  dunkle  Aus- 
drucksweise entstellt,  aber  hindurch  blitzen  überall  leuchtende,  geniale  Gedanken. 
Viecher  ist  durchdrungen  von  dem  Phantasievermögen;  er  nennt  es  das  'un- 
bewufst  verwechselnde',  'leihende'  Anschauen,  eine  'symbolisch  beseelende  Kraft', 
die  auf  'ZurOckverlegung  des  empfindenden  und  selbstbewufsten  Lebens  hinter 
sich  in  die  blinde  Natur'  beruhe.  Robert  Vischer,  Lotse,  Fortlage,  Siebeck, 
Volkelt,  Groos,  Ziegler  u.  a.  haben  diesen  fruchtbaren  Begriff  der  Anpassung 
des  Menschlichen,  sei  es  des  'Phantasieleibes'  oder  der  Menschenseele  selbst, 
an  die  Dinge  weitergeführt.1)  Fechner  machte  die  Assoziation  der  Vorstellungen 
zum  Grundstein  der  Ästhetik,  während  nüchtern  armselige  Anschauung  bei 
Zimmermann,  mathematischer  Formalismus  bei  Herbart  waltet,  so  dafs  alle 
Symbolik,  alle  Phantasiethätigkeit  sich  verflüchtigt.  Schopenhauer  und  v.  Hart- 
mann werden  nicht  müde,  die  Phantasie  als  die  Triebkraft  der  Kunst  zu 
schildern;  sie  ist  für  Schopenhauer  'der  wesentliche  Bestandteil  der  Genialitat'; 
freilich  weifs  er:  'alle  Menschen  besitzen  Phantasie,  d.  i.  das  Vermögen,  in  den 
Dingen  die  Ideen  zu  erkennen  und  eben  damit  sich  ihrer  Persönlichkeit  augen- 
blicklich zu  entäufsern;  der  Genius  aber  hat  vor  ihnen  nicht  nur  den  viel 
höheren  Grad  und  die  anhaltende  Dauer  jener  Erkenntnisweiae  voraus,  sondern 
behält  bei  derselben  auch  jene  Besonnenheit,  die  erforderlich  ist,  um  das  so 
Erkannte  in  einem  willkürlichen  Werk  zu  wiederholen.  Solche  Wiederholung 
ist  das  Kunstwerk'. 

Während  dann  Frohschammer  die  Phantasie  zum  Grundprinzip  des  Welt- 
prozesses erhob,  schuf  das  Emporblühen  der  Naturwissenschaften  eine  gewaltige 
Ernüchterung.  Wundt  weist  sie  aus  der  Psychologie  aus:  'Die  intellektuellen 
Funktionen  in  der  Form  der  Phantasiethätigkeit  fallen  der  Ästhetik  zu',  heifst 
es  in  den  'Vorlesungen  Über  Mensehen-  und  Tierseele'  (3.  Aufl.  S.  359).  —  Weit 
mehr  gerecht  wird  der  Phantasie  das  scharfsinnige  Lehrbuch  der  allgemeinen 
Psychologie  von  Joh.  Rehmke  (1894  Hamburg  u.  Leipzig,  Leop.  Vofs). 

Aus  Sinneseindrücken  setzt  sich  die  Wahrnehmung,  aus  Wahrnehmungen 
die  Vorstellung  zusammen;  aber  wie  verwickelt  ist  wiederum  der  physiologische 
Vorgang  einer  Sinnesempfindung;  unterscheiden  wir  doch  in  ihm  die  drei  Stufen 
des  Reizes,  der  Nervenerregung  und  eines  Gehirnzustandes  und  anderseits  die 
sechs  Kreise:  Gesicht,  Gehör,  Geschmack,  Geruch,  Hautempfindung  und  Muskel- 
►  empfindung,  und  jeder  dieser  Kreise  schliefst  auch  wieder  eine  Reihe  verwickelter 

•)  Ich  Beibit  in  der  'Philosophie  des  Metaphorischen»  (Hamborg  u.  Leipzig,  Leop. 
Vofs  1898). 


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3Ü4 


A.  Biese:  Die  Phantasie 


Erscheinungen  in  sich.  Wir  können  uns  die  psychologische  Stufenleiter  von 
Empfinden,  Wahrnehmen,  Vorstellen  am  einfachsten  mit  den  lateinischen  Aus- 
drücken videre,  cernere,  intellegere  klar  machen;  videre  ist  das  sinnliche  Sehen, 
das  6(?äv,  das  noch  nicht  zum  Bewufstsein  zu  kommen  braucht,  cernere  ist 
schon  ein  Unterscheiden  der  Gegenstände  voneinander,  ein  Wahrnehmen  des 
Einzelnen,  <pQd&6&cu,  und  intellegere,  cognosccre  (griechisch  eldivcu,  tpQtal 
voelv)  schliefst  die  Scheidung  der  ungleichartigen  und  die  Zusammenfassung 
der  gemeinsamen  Merkmale  eines  Gegenstandes,  d.  i.  eine  Vorstellung  in  sich. 
Und  was  ist  nun  die  Phantasie? 

Der  Stamm  des  griechischen  Verbums  <pcäva,  also  <pav-,  bedeutet  sicht- 
bar, offenbar  machen,  zeigen,  die  Iterativform  tata  die  häufige  Wiederholung; 
cpavtaoi'a  ist  daher  im  griechischen  Sprachgebrauch  die  aktive  Fähigkeit, 
Sinneseindrücke  zu  empfangen,  Vorstellungen  zu  bilden,  aber  auch  passivisch 
das  Vorgestellte,  die  Vorstellung  selbst,  die  Einbildung  (neben  <pävxa6^),  dann 
besonders  die  Fähigkeit,  Dinge  als  wirklich,  als  gegenwartig  sich  vorzustellen, 
welche  nur  im  menschlichen  Geiste  vorhanden  sind  oder  die  in  der  Ferne  des 
Raumes  oder  der  Zeit  sich  fanden  oder  finden. 

Phantasie  ist  Bildkruft;  die  Aufsenwelt  wird  zu  inneren  Bildern  und  das 
seelische  Erleben  formt  sich  in  der  Kunst  auch  wieder  zu  Gebilden;  so  sagte 
Goethe  zu  Eckermann  die  prächtigen,  viel  citierten  Worte:  'Ich  empfing  in 
meinem  Innern  Eindrücke,  und  zwar  Eindrücke  sinnlicher,  lebensvoller,  lieb- 
licher, bunter,  hundertfältiger  Art,  wie  eine  rege  Einbildungskraft  es  mir 
darbot;  und  ich  hatte  als  Poet  weiter  nichts  zu  thun,  als  solche  Anschauungen 
und  Eindrücke  in  mir  künstlerisch  zu  runden  und  auszubilden  und  durch 
eine  lebendige  Darstellung  so  zum  Vorschein  zu  bringen,  dafs  andere  dieselben 
Eindrücke  erhielten,  wenn  sie  mein  Dargestelltes  hörten  oder  lasen/  —  Das 
Bilden,  das  Gestalten,  das  Schaffen  tritt  als  eine  Grundkraft  der  Seele  in  der 
Phantasie  besonders  hervor,  und  es  beruht  auf  dem  Umformen  des  Gegen- 
ständlichen, des  im  Bewufstsein  Vorhandenen,  d.  i.  der  Wahrnehmungen  und 
Vorstellungen,  zu  etwas  Neuem,  zu  einer  besonderen  Einheit. 

Während  das  Vorstellungsvermögen  der  Seele  einen  Inhalt  wieder  bietet, 
den  sie  bereits  früher  in  sich  verarbeitet  hat;  während  das  Denkvermögen  der 
Seele  bisher  Unbestimmtes,  Ungesichtetes  als  etwas  Bestimmtes  liefert,  schafft 
die  Phantasie  dagegen  ein  Neues,  nicht  zwar  hinsichtlich  des  Stoffes  selbst, 
wohl  aber  hinsichtlich  seiner  Einheit,  hinsichtlich  der  Verbindung  (Kombination) 
von  Erfahrungen  sinnlicher  oder  gedanklicher  Art.  Mag  uns  der  Traum,  mag 
die  Illusion,  Vision,  Hallucination  oder  die  Komik,  der  blitzartig  von  einer 
Sphäre  auf  die  andere  übertragende  Witz  u.  s.  w.  noch  so  kühne  Gestalten 
annehmen:  sie  sind  doch  nichts  als  die  wundersame  Vermischung  von  Wahr- 
nehmungen und  Vorstellungen. 

Aber  es  ist  ein  besonderes  Neues,  eine  eigenartige  Angliederung  einer 
Vorstellung  an  die  andern,  die  wir  bei  der  Phantasie  wahrnehmen,  reden  wir 
von  der  lachenden  Sonne  oder  dem  scharfen  Geiste,  von  rasendem  Feuer  oder 
bitteren,  nagenden  Sorgen,  oder  gaukelt  uns  das  Märchen  Däumlinge  und  Biesen, 


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A.  Biese:  Die  Phantasie 


3G5 


Zuckerhänachen  oder  Siebenmeilenstiefel,  goldene  Äpfel,  redende  Tiere  u.  a.  w. 
ror.  Thätigsein  und  Umbilden  bezeichnet  überhaupt  das  innerste  Wesen  der 
Seele;  wir  wollen  immer  geistig  beschäftigt,  angeregt  sein;  die  menschliche 
Seele  mufs  immer  zu  schaffen  haben,  sie  lechzt  nach  Belebung  und  Erschütte- 
rung, nach  dem  Thätigsein.  Und  dies  ist  schon  auf  der  niedrigsten  Stufe 
ein  Gestalten,  ein  Trennen  oder  Verbinden,  kurz  ein  Umbilden. 

Die  Welt  der  Wahrnehmungen  ist  ein  Gebilde  unserer  Sinnesorgane;  was  wir 
als  Schwingung  der  Luft  objektiv  bezeichnen^  das  wird  in  unserem  Sinnesnerv, 
je  nachdem  dieser  geartet  ist,  zur  Wärme,  zum  Licht,  zum  Ton,  zur  Farbe.  So 
ist  also  schon  das  Aufnehmen  des  sinnlichen  Eindrucks  ein  Umformen,  sind 
Empfindungen  und  Töne  Lebensakte  der  fühlenden  Innerlichkeit,  denn  Luft- 
nnd  Atherwellen  sind  an  sich  ton-  und  lichtlose  Bewegungen  im  Raum;  der- 
selbe elektrische  Strom  kann  den  Bäuerlichen  Geschmack,  den  phosphorhaften 
Geruch,  das  Prickeln  der  Haut,  den  Funken  im  Auge  und  das  Knistern  im 
Ohre  erregen.  Unsere  Sinne  aind  nicht  Spiegel,  welche  die  Aufsendinge  auf- 
fangen, sondern  die  Empfindungen  und  Wahrnehmungen  aind  Bethätigungen, 
Erzeugnisse  unserer  Seele.  —  Aber  nicht  nur  unser  Wahrnehmen,  aondern 
auch  alles  Aufmerken,  alles  Begreifen  iat  Thätigkeit;  auch  im  Vorstellen  ist 
die  Einbildungskraft  wirksam;  setzen  wir  die  einzelnen  Wahrnehmungen  zu- 
sammen, so  schaffen  wir  ein  Bild;  erneuern  wir  die  Vorstellung,  so  kommt 
diese  nimmermehr  unverändert  wieder  empor,  auftauchend  über  'die  Schwelle 
des  Bewußtseins',  sondern  —  wie  Wundt  uns  lehrt  a.  a.  0.  S.  517  —  'jede 
erinnerte  Vorstellung  iat  in  Wahrheit  ein  neues  Gebilde,  das  aus  zahlreichen 
Elementen  verschiedener  früherer  Vorstellungen  zusammengesetzt  ist*.  Heben 
wir  das  Allgemeine  aus  dem  Einzelnen  zu  einem  logischen  Begriffe  heraus,  so 
schaffen  wir  ein  Bild.  Immer  bilden  wir  das  Gegebene  um  und  leben  somit 
in  einer  Welt  selbstgeschaffener  Gestaltungen. 

Aber  obwohl  unsere  Wahrnehmungen  und  Vorstellungen  nur  Vergeistig 
ungen  des  Körperlichen,  Synthesen  von  Geist  und  Welt,  Erzeugnisse  transcenden- 
taler  Ursachen  und  der  umformenden  Thätigkeit  unserer  Seele  sind,  so  über- 
tragen wir  doch  (metaphorisch)  verallgemeinernd  das,  was  nur  für  uns  —  nun 
einmal  ao,  wie  wir  sind,  geartete  Wesen  —  gilt,  als  Eigenschaften  auf  die  Dinge 
selbst  und  benennen  sie,  indem  wir  das  Teilhafte,  d.  i.  das  Charakteristische  für 
das  Ganze  setzen.  Unsere  Phantasie  schaltet  und  waltet  daher  metaphorisch.  In 
meiner  Thilosophie  des  Metaphorischen'  habe  ich  daher  diesen  Begriff  zu  einem 
Grundbegriff  erhoben.  —  Unterscheiden  wir  nämlich  die  beiden  uns  ledig- 
lich bekannten  Sphären:  das  Innere  und  das  Äufsere,  so  beobachten  wir,  wie 
die  Phantasie  im  Wahrnehmen,  Vorstellen,  Begriffebilden  (Denken,  Urteilen, 
Schliefsen),  in  der  Sprache  u.  s.  w.  immer  von  der  einen  Sphäre  auf  die  andere 
Oberträgt,  das  Sinnliche  auf  das  Geistige  oder  umgekehrt  oder  wechselseitig. 

Das  Schaffen  der  Phantasie  ist  —  wenn  wir  es  auf  eine  ganz  kurze 
Formel  bringen  wollen  und  alles,  was  es  für  una  giebt,  in  Sinnliches  und 
Geistiges  scheiden  —  vor  allem  ein  Vergeiatigen  de8  Sinnlichen  oder  ein 
Versinnlichen  dea  Geiatigen.    Das  Verainnlichen  des  Sinnlichen  führt  zur 


366  A.  Biese:  Die  Phantasie 

Veranschaulichung,  das  Vergeistigen  des  Geistigen  zur  Vertiefung  in  den 
künstlerischen  Gebilden.  —  Das  Auge  der  Phantasie  beseelt  das  Gegenständ- 
liche, und  das  innerlich  Empfundene  und  Gedachte  wandelt  die  schöpferische 
Kraft  der  Phantasie  in  Gestalt.  Das  tritt  uns  in  den  mannigfaltigen  Wirkungs- 
gebieten der  Phantasie  entgegen.  Und  das  ist  auch  nur  natürlich.  Sind  wir 
doch  selbst  eine  Einheit  von  Innerem  und  Äufserem,  von  Leib  und  Seele, 
wissen  wir  doch  nicht,  wo  der  eine  aufhört  und  die  andere  beginnt,  und  so 
entsteht  für  uns  die  innere  Nötigung,  unser  Wesen  zum  Mafse  aller  Dinge  zu 
machen,  das  Aufsere,  also  das  an  sich  Fremdartige  durch  das  einzig  wohl  Be 
kannte,  d.  L  eben  unser  eigenes  inneres  und  äufseres  Leben,  uns  zugänglich, 
begreifbar  zu  machen  und  anderseits  unser  Inneres  mit  allen  seinen  Regungen. 
Gedanken  und  Empfindungen  auszugestalten  in  der  Sprache  und  in  der  Kunst, 
in  der  Religion  und  in  der  Philosophie. 

Die  Kraft  des  Bildens,  des  Beseelens  ist  das  Wesen  der  Phantasie.  Sie 
macht  sich  nicht  nur  —  wie  man  oftmals  wähnte  —  beim  Schaffen  jener 
neuen  Gebilde,  die  nur  im  Geiste  des  Menschen  bestehen,  wje  Riesen,  Daum 
linge,  Centauren,  Hexen,  Kobolde  u.  s.  f.  geltend,  sondern  sie  waltet  allüberall 
im  Leben  der  Seele;  nicht  nur  sinnliche,  sondern  auch  geistige  Farbe  leiht 
sie  den  Dingen;  das  Starre  und  Tote  gewinnt  Bewegung,  gewinnt  ein  lebens- 
volles Sein;  die  Linien  der  Berge,  die  Formen  der  Bäume  streben  zur  Höhe, 
weil  wir  in  unbewufster  Phantasiethätigkeit  die  Thätigkeit  unseres  nach- 
eilenden Auges  in  jene  hineinprojizieren;  die  Felsen  scheinen  mit  Trotz 
Sonne  und  Sturm  stand  zu  bieten,  der  Giefsbach  mit  Jauchzen  sich  hinab- 
zustürzen, das  Feuer  zu  rasen,  die  Flut  zu  toben,  der  Sturm  in  Leiden- 
schaft zu  wüten  u.  s.  f.  Und  alles  das  ist  nicht  nur  bildliche  Rede;  es  ist 
naturnotwendige  metaphorische  Phantasievorstellung,  die  erwachsen  ist  auf 
demselben  Boden,  auf  dem  unsere  Wahrnehmung,  unsere  Vorstellung  Über- 
haupt erwächst,  d.  h.  auf  dem  Boden  der  Umformung,  die  unsere  Seele  mit 
allem,  was  die  Sinne  ihr  zufuhren,  vornehmen  mufs.  Wer  will  scheiden, 
was  lediglich  Wahrnehmung  im  engeren  Sinne  und  was  ästhetische  Illusion 
ist?  Es  ist  immer  ein  Neues,  das  die  Seele  bildet,  und  diese  Thätigkeit 
in  ihr  nennen  wir  eben  Einbildungskralt,  nennen  wir  Phantasie.  Dabei  ist 
es  selbstverständlich,  dafs  auch  diese  Kraft  nirgends  allein  wirkt,  sonders 
wie  sie  Wahrnehmungen  und  Vorstellungen  als  den  Stoff  ihrer  Gebilde 
voraussetzt,  so  erweist  sie  sich  auch  niemals  ohne  jene  beiden  anderen 
Grundkräfte,  ohne  Gefühl  und  Willen,  thätig;  vom  Denken,  vom  Verstände 
unterscheidet  sie  sich  darin,  dafs  bei  jenem  das  Trennen,  bei  ihr  das  Ver- 
binden  das  erste  ist. 

Verstand  und  Phantasie  haben  denselben  Stoff  gemeinsam,  und  das  Denken 
mag  man  ein  'Bilden'  von  Urteilen  nennen,  aber  es  ist  nichts  als  Phrase  und 
führt  irre,  die  Thätigkeit  der  Phantasie  ein  'Denken  in  Bildern'  zu  nennen; 
das  Wesentliche  bleibt:  ein  Neuschaffen  von  Wahrnehmungen,  Anschauungen, 
Vorstellungen  durch  Übertragung,  durch  Angliederung  der  einen  an  die  andere; 
leiht  die  Phantasie  dem  Baume,  dem  Strauch,  der  Säule,  dem  Dach  ein  Leben, 


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A.  Bieae:  Die  Phantasie 


367 


ein  seelisches  Regen  und  Streben,  so  gliedert  sie  eben  der  schlichten,  objektiven 
Anschauung  ein  geistiges,  menschliches  Empfinden  an;  und  es  ist  nicht  unser 
geringstes,  nein,  es  ist  unser  köstlichstes  Vermögen,  die  Dinge  der  Aufsenwelt 
in  den  Strom  unserer  Seele  zu  tauchen,  sie  durchgeistigen,  symbolisch  um- 
gestalten zu  können.  Aber  nicht  minder  köstlich  ist  das  Vermögen,  das  wogende 
Leben  des  Innern  in  feste  Gestalt,  in  Wort  und  Bild  oder  in  den  flüchtigen  Ton 
umwandeln  zu  können«  —  Hierauf  beruht  das  Schöpferische,  d.  i.  das  Geniale 
im  Menschen.  —  Die  Phantasie  verwebt  und  verschmilzt  Inneres  und  Aufseres, 
sie  ist  die  Sinnliches  vergeistigende  und  Geistiges  versinnlichende,  kurz  die 
metaphorische  Bildkraft  der  Seele. 

Das  Gebiet  der  Phantasie  ist  natürlich  die  ganze  Welt  der  Erscheinungen; 

in  ästhetischer 

Hinsicht. 

Das  Bilden  der  Seele  ist  frei;  je  mehr  aber  der  organisierende  Verstand, 
je  mehr  das  Gegenständliche  in  dem  Gedächtnisse  zur  Herrschaft  gelangt,  desto 
gebundener  wird  es.  Am  freiesten  ist  das  Spiel  der  Phantasie  im  Traum  und 
im  Kindesleben  des  Einzelnen  und  der  Völker;  gebunden  wird  es  in  der  Erinne- 
rung und  Sehnsucht  und  Furcht  und  Hoffnung,  in  der  Kunst,  in  der  Wissenschaft. 

Im  Traum,  wo  das  Bewnfstsein,  wenn  nicht  erloschen,  so  doch  stark  be- 
schränkt ist,  wo  der  ordnende  Verstand,  der  die  Faden  der  Vorstellungen  straff 
festhält  und  jede  Verknotung  und  Zerrung  hemmt,  sein  Reich  abgegeben  hat 
an  die  Phantasie,  da  entfaltet  diese  zügellos  ihre  Macht;  an  den  äufseren  Reiz 
der  Nerven  knüpft  sie  ein  buntes  Gewebe  von  Vorstellungen:  verschiebt  sich 
die  Decke  des  Träumenden,  hat  er  das  Gefühl  der  Kälte,  an  den  Füfsen,  so 
wandelt  er  durch  einen  Flufs,  an  den  Händen,  so  wird  er  von  kalten  Fäusten 
gepackt;  liegen  die  Kniee  aufeinander,  so  wähnt  er  zu  fallen;  schläft  er  in 
enger  Schiffskoje  und  stöfst  mit  dem  Kopf  gegen  die  Decke,  so  versetzt  ihn 
die  Traumphantasie  in  die  marternde  Angst  des  Lebendigbegrabenen.  Fällt 
ein  Lichtstrahl  in  sein  Auge,  so  wähnt  er  sich  im  hellerleuchteten  Festsaal, 
oder  er  träumt,  auf  dem  Rigi  den  Sonnenuntergang  zu  geniefsen.  Noch 
häutiger  sind  die  Träume  symbolische  Abspiegelungen  innerer,  körperlicher  oder 
seelischer,  Zustände.  Üppige  Speisen,  feurige  Weine  geben  der  Phantasie  Flügel, 
die  uns  in  ferne,  niebetretene  Gegenden  tragen,  in  Palmenhaine,  in  herrliche 
Moscheen  und  Tempel;  leicht  wie  ein  Vogel,  geschwind  wie  die  Wolken  schweben 
wir  über  Land  und  Meer  dahin,  oder  auch  wilde  Bestien  richten  ihren  unheim- 
lichen Blick  auf  uns,  zum  Sturze  bereit.  Und  wie  plastisch  anschaulich  er- 
scheinen uns  die  Bilder,  wie  zusammenhangsvoll  die  kühnen  Gedanken,  die  wir 
noch  kurz  zuvor  am  Schreibtisch  nicht  finden  konnten  und  nun  weiter  spinnen! 
Leider  folgt  dann  meistens  die  Ernüchterung  mit  dem  kahlen,  bleichen  Tages- 
lichte, und  alle  die  schönen  Gedanken  und  Systeme  zerfliefsen  wie  die  Morgen- 
nebel, wie  flüchtige  Schemen  in  nichts;  denn  es  waren  Trugbilder,  wilde,  wirre 
Assoziationen,  mit  denen  uns  die  Phantasie  um  gaukelte;  der  Begeisterung,  dem 
Schwünge  fehlte  die  Besonnenheit,  fehlte  das  wache  ordnende  Verstandes- 


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368  A.  Biese:  Die  Phantasie 

bewufstsein,  die  Konzentration  der  Aufmerksamkeit  —  Aber  wundersam  gind 
die  Empfindungen,  die  uns  beschleichen.  Bald  ist  die  Traumphantasie  lyrisch, 
weich,  gefühlvoll:  wir  schwelgen  in  Mitgefühl,  in  Rührung,  wir  schmelzen  in 
Reue  und  Verzweiflung;  bald  ist  sie  episch:  wir  erleben  eine  lange  Geschichte,  | 
wir  sind  auf  Reisen,  sehen  die  Züge  dahinbrausen,  weilen  an  fremden  Orten 
mit  fremden  Menschen,  die  uns  erzählen  u.  s.  w.  Bald  ist  sie  dramatisch  be- 
wegt: wir  halten  Dialoge,  wir  zanken,  streiten  —  und  auf  all  das  Gaukelspiel 
sieht  vielleicht  das  herrschende  Bewufstsein  blitzartig  scharfsichtig  herab,  und 
mitten  im  Traume  gestehen  wir  uns,  dafs  doch  alles  nur  ein  Traum  sei,  um 
dann  doch  lustig  oder  traurig  weiter  zu  träumen.  Und  das  Wundersamste  ist 
die  Fülle  und  die  rapide  Schnelligkeit^  in  der  die  Phantasie  dann  arbeitet;  wir 
glauben  oft  stundenlang  geträumt  zu  haben,  und  unsere  Uhr  belehrt  uns,  wenn 
wir  wieder  in  Angstschweifs  gebadet  oder  mit  hellem  Lachen  aufwachen,  dafs 
es  nur  Sekunden  oder  Minuten  gewesen.  In  Erankheitszuständen  wird  der 
Traum,  in  Hallucinationen,  im  Wahnsinn  wird  die  Phantasie  zu  den  tollsten 
Ausgeburten,  zu  den  furchtbarsten  Beängstigungen,  zu  dem  ausschweifendsten 
Jubel  fuhren. 

Man  nennt  den  Traum  einen  Dichter,  und  in  der  That  ist  die  Traumphantasie 
der  künstlerischen  verwandt;  aber  auch  wachend  ist  ja  jeder  Mensch,  wenigstens 
eine  Zeit  lang,  ein  Dichter;  ich  meine  nicht  nur  die  Schwärmerei  der  ersten 
grünen  Liebe,  sondern  die  selige  Kindheit  Das  Kind  ist  ganz  Phantasie.  Und 
es  ist  oft  erstaunlich,  wie  die  bildnerische  Kraft  der  Seele  mit  dem  geringsten 
Vorrat  von  Wahrnehmungen  und  Vorstellungen  zu  schalten  und  zu  walten  weüa, 
wie  sie  kühne  Gebilde,  nicht  blofs  Wortformen  und  Wortverbindungen,  sondern 
auch  Gebilde  der  Anschauung  sich  neu  schafft.  Die  kindliche  Phantasie  ist 
durchaus  metaphorisch,  d.  h.  die  Dinge  mit  ihrem  MaXse  messend,  das  Kindes- 
wesen auf  sie  übertragend.  Allem  Gegenständlichen  leiht  das  Kind  sein  Leben, 
sein  Begehren,  sein  Empfinden:  dem  Stuhl,  dem  Tisch,  der  Puppe  u.  s.  f.  Wae 
ihm  neu  und  fremd  ist,  zu  dem  schlägt  die  Analogie  des  Gekannten  die  Brücke; 
der  Mond  ist  ein  grofses  Licht,  das  brennt  oder  ausgelöscht  ist,  die  Blitze 
rühren  von  Streichhölzern  her,  die  der  hebe  Gott  anreifst  u.  ä.  m.  Welche 
Wunderwelt  schafft  sich  des  Kindes  Phantasie  im  Spiel!  Das  ärmlichste  Kind 
ist  beglückt  mit  dem  Brettchen  oder  Stöckchen  oder  Läppchen;  denn  die 
gütige  holde  Fee  Phantasie  breitet  ihren  goldigen  Schimmer  über  das  Alltäg- 
lichste und  Dürftigste,  wandelt  die  Hütte  in  einen  Palast,  den  Stock  in  ein 
stolzes  Rofs.  —  Des  Kindes  Welt  ist  eine  Märchenwelt.  —  Der  Spieltrieb  ist 
die  Wiege  der  Kunst;  er  ruht  auf  einer  phantasievollen  Vertauschung  nnd 
Umwandlung  der  Wirklichkeit,  auf  einer  zum  Teil  bewufsten  Illusion,  und  zu- 
gleich auf  jenem  Thütigkeitsdrange,  den  auch  der  kleine,  junge  Mensch  schon 
beständig  befriedigen  will;  die  Seele  mufa  eben  Stoff  haben  zum  Umformen, 
zum  Neubilden  von  Vorstellungen;  es  ist  ihr  eine  Lust,  ihren  Stempel  allen 
Dingen  aufzudrücken,  sie  durch  Seelisches  umzuformen,  sie  sich  so  näher  zu  \ 
bringen,  vertraulich  auch  mit  dem  Leblosen  Zwiesprache  zu  pflegen,  wie  es  das 
Kind  thut  mit  dem  Tisch,  mit  den  Bausteinen,  mit  Ball  und  Knäuel  u.  s.  f. 


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A.  Biese:  Die  Phantasie 


369 


Aber  auch  die  Tiere  spielen!  Haben  auch  diese  Phantasie?  Weun  Goethe 
den  'alten,  hohen'  Vater  preist,  'der  solch  eine  schöne,  unverwelkliche  Gattin 
dem  sterblichen  Menschen  gesellen  mögen',  der  'uns  allein  sie  mit  Himmels- 
band verbunden',  da  fährt  er  voll  Mitleid  mit  den  minderbegabten  Wesen  fort: 
'Alle  die  andern  armen  Geschlechter  der  kinderreichen,  lebendigen  Erde  wandeln 
und  weiden  in  dunkelm  Genufs  und  trüben  Schmerzen  des  augenblicklichen 
beschrankten  Lebens,  gebeugt  vom  Joche  der  Notdurft.' 

Betrachten  wir  die  kunstvoll  gearbeiteten  Nester  der  Vögel,  das  Spiel  der 
Katzen  oder  der  Hunde,  bedenken  wir,  welche  Klugheit,  welch  Gedächtnis, 
welche  Treue  und  Anhänglichkeit,  welche  Eifersucht,  Mifsgunst  und  Hinterlist 
in  solcher  Tierseele  wohnen  kann,  so  will  es  uns  scheinen,  als  ob  sie  auch 
Phantasie  besitzen  müfsten.  Und  im  niederen  Grade  ist  sie  gewifs  ihnen  nicht 
abzusprechen.  Erinnerungsbilder,  Assoziationen  der  Vorstellungen  haben  auch 
sie,  aber  keine  Begriffs-  und  Urteilsbildung,  keine  freie,  erfinderische,  vom 
Willen  geleitete  Phantasie;  wohl  handeln  sie  zweckthätig,  aber  ohne  Bewufst- 
sein  des  Zweckmäßigen;  im  Genufs  und  im  Leiden  ist  ihr  Bewufstsein  um- 
flort, ihr  Seelenleben  ist  ein  vages  Spiel  von  Assoziationen  (vgl.  Wundt,  S.  399  f.). 

Auch  ihre  Spiele  erheben  sich  nie  'zu  jenen  erfinderischen  Spielen,  in  denen 
planmäfsig  und  von  einer  einheitlichen  Gesamtvorstellung  aus  der  Verlauf  des 
Spieles  geregelt  wird'.  Erst  der  phantasievolle  Tierpsychologe  pflegt  seine 
eigenen  Motive  und  Ideen,  Berechnungen  und  Empfindungen  in  jenes  hinein- 
zutragen und  es  so  umzudeuten;  sehr  natürlich,  denn  da  das  Tier  durch  Leben 
und  Bewegung  und  GefÜhlsäufserung  uns  so  nahe  gerückt  ist,  liegt  die  Ver- 
suchung nahe,  die  trennenden  Schranken  hinwegzuräumen  und  die  Grenzlinien 
zu  verwischen.  Eine  planmafsige,  einheitliche  Verknüpfung  von  Vorstellungen 
zu  neuen  Gebilden  ist  den  Tieren  versagt,  und  dies  ist  doch  das  wesentlichste 
Merkmal  der  menschlichen  Phantasie,  während  die  wirre  Einbildungskraft  des 
Traumes,  das  unwillkürliche  Spiel  der  Assoziationen  auch  den  Tieren  eigen  ist. 

Doch  ist  dies  noch  ein  wenig  aufgeklärtes  Gebiet1);  wir  werden  aber 
kaum  irre  gehen,  wenn  wir  bei  den  Tieren  ein  mehr  trieb-  und  reflexartiges 
Thun,  instinktive  Nachahmung  als  eigene  Wahl  und  intellektuelle  Überlegung 
voraussetzen  und  ihr  primitives  psychisches  Leben  dem  unsrigen  in  Parallele 
setzen,  wie  z.  B.  die  Zelle  sich  verhält  zum  entwickelten  Organismus.  Aber  es 
liegt  in  der  Richtung  der  Zeit  begründet,  das  Tier  dem  Menschen  ganz  nahe 
zu  rücken,  als  ob  seine  Intelligenz  von  der  unsrigen  sich  nur  durch  den  Mangel 
der  Sprache  unterschiede,  und  anderseits  den  Menschen  wieder  dem  Tiere  an- 
zunähern und  sogar,  wie  Wundt  (S.  416)  will,  auch  bei  ihm  weit  mehr  asso- 
ziatives Vorstellen  als  wirkliches  Denken  zu  finden;  'ich  bin  geneigt'  —  sagt 
er  —  'anzunehmen,  dafs  der  Mensch  eigentlich  nur  selten  und  wenig  denkt'. 
Das  klingt  wenig  erbaulich,  dürfte  aber  wohl  nicht  ganz  unzutreffend  für  die 
Mehrzahl  sein.  —  So  wenig  auch  die  Spiele  der  Tiere  und  der  Kinder  von- 
einander entfernt  zu  sein  scheinen,  so  ist  doch  schon  unverkennbar,  wie  viel 


«)  Vgl.  Karl  Groos,  Das  Spiel  der  Tiere.   Jena  1896. 

Bim  Jahrbücher.    1899  II 


24 


370 


A.  Bieae:  Die  Phantasie 


planvoller,  erfinderischer  das  junge  Menschlein  verfahrt  als  das  älteste  Haas- 
tierchen. 

Auf  einer  kindlichen  Stufe  zeigt  sich  uns  die  menschliche  Phantasie  im 
Jugendalter  der  Völker,  in  der  Sagenschöpfung  und  besonders  in  der  Mythen- 
bildung. In  ihr  wandelt  sich  Glauben  und  Reflexion,  Empfinden  und  Ahnen 
aberweltlioher  Wesen  in  Poesie.  Das  Denken  tritt  vor  dem  Dichten  zurück; 
Lebendes  und  Lebloses  werden  nicht  geschieden;  vielmehr  alles  ist  beseelt;  alle 
Bewegung  in  der  Natur,  im  Flufs,  im  Meer,  in  den  Wolken,  im  Blitz,  im 
Sturm  ist  Wirkung,  Lebensausstrahlung  eines  unsichtbaren  Wesens,  das  der 
kindliche  Naturmensch  sich  nach  seinem  eigenen  Bilde,  sei  es  in  Dankbarkeit 
und  Hoffnung,  sei  es  in  Furcht  und  Zagen  milde  und  gütig  oder  grausam  und 
unerbittlich  gestaltet.  Oder  welche  Tiere  ihm  furchtbar  dünken,  welche  ihm 
Entsetzen  einflöfsen  wie  Schlange  oder  Tiger,  welche  er  im  grimmen  Kampfe 
miteinander  beobachtet:  alle  die  werden  ihm  zur  Analogie  zu  den  fremdartigen 
Vorgängen  am  Himmel  oder  auf  der  Erde;  er  deutet  sie  sich  um,  übertragt 
Sinnliche«  oder  Seelisches  auf  das  Sinnliche,  das  Elementare,  und  so  ergeben 
sich  in  seiner  Phantasie  neue  Vorstellungsgebilde;  die  Naturereignisse  werden 
zu  Thaten  handelnder  Wesen.  Wenn  die  Wolken  das  segenspendende  Nafs  ent- 
führen und  die  Erde  dürsten  mufs,  so  wandelt  sich  dies  in  den  Mythos  von 
dem  Widder  mit  dem  goldenen  Vliefs  in  der  Argonautensage;  der  den  Eis- 
panzer der  Erde  lösende  Frühlingsstrahl  wird  zum  Sigurd,  der  die  BrunhiM 
befreit;  vor  allem  das  Gewitter  wird  von  den  Naturvölkern  in  der  mannig- 
fachsten Weise  durch  die  metaphorische  Phantasie  gedeutet  und  zu  dramatisch 
bewegten  Vorgangen  umgestaltet.  Im  Donner  hört  der  Angstvolle  die  drohende 
Stimme  dessen,  der  ihn  geschaffen  hat,  der  Krieger  den  Ton  der  Drommete 
oder  den  Hufschlag  göttlicher  Rosse,  der  Hirte  das  Brüllen  einer  Kuh,  ein 
anderer  das  Dröhnen  dea  Hammerschlages  oder  den  wilden  Aufschrei  des 
Wolkendrachens,  dem  der  Gott  das  Haupt  zerschmettert;  der  Bauer  sagt  noch 
heute:  Uns'  Herrgott  smitt  Brot  in  de  Kisten,  oder  hört  Petrus  mit  den  Englein 
Kegel  schieben.  —  Himmel  und  Erde  "werden  zu  Vater  und  Mutter  der  Welt, 
Sonne  und  Mond  Geschwister,  die  Sterne  werden  zu  Kindern  des  Mondes,  die 
Milchstrafse  zu  der  Wohnung  von  Seelen  oder  die  Strafse  der  Vögel  oder  der 
weifsen  Elefanten;  der  Regenbogen  wird  zur  Brücke  oder  Schärpe  oder  Schlange 
oder  Waffe.  Genug,  was  nur  irgend  an  Vorstellungen  sich  im  Geiste  der 
Naturmenschen  gebildet  hat,  es  wird  angepafst  den  neu  und  fremdartig  auf 
ihn  eindringenden  Eindrücken,  und  diese  prägt  die  Phantasie  um  zu  Gebilden 
und.  zu  ausgesponnenen  Thaten  und  Wirkungen  im  Verborgenen  handelnder 
Wesenheiten.  Das  ist  der  Grundzug  der  mythischen  Phantasie  bei  allen 
Völkern,  die  wir  kennen;  sie  lösen  die  Ratsei  durch  die  Analogie,  durch 
glaubensvolle  Dichtung;  denn  alle  Seelenkräfte  stehen  noch  ganz  im  Banne 
der  Phantasie. 

Doch  die  Phantasie  treibt  nicht  nur  im  Traum,  in  der  Kindesseele  und 
im  Blütenalter  der  Menschheit,  in  der  mythenbildenden  Zeit,  ihr  Wesen,  son- 


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A.  Biese:  Die  Phantasie  371 

dem  sie  ist  eine  elementare  Kraft  der  Seele,  deren  Wirksamkeit  sich  niemand 
entziehen  kann  und  mag.  Wie  beseligend  ist  sie  zunächst  für  den  von  seiner 
Arbeit  Ausruhenden,  für  den  der  Erinnerung  an  glückliche  Stunden  sich  Hin- 
gebenden! Die  Phantasie  ordnet  die  Assoziationen,  die  aus  der  Erinnerung 
hervorquellen;  sie  bringt  Leben,  Form  und  Farbe  in  die  Bilder,  und  das  Gefühl, 
das  Verlangen:  'ach  könntest  du  noch  einmal  geniefsen,  was  langst  vergangen!' 
durchdringt  die  Bilder  mit  Wärme  und  Innigkeit.  So  wird  die  Kindheit  zu 
einer  goldenen  Zeit  verklärt,  die  Heimat  zu  einer  Insel  der  Seligen.  Die  Ge- 
stalten und  Ereignisse  der  Vergangenheit  tauchen  wie  gegenwärtig,  anschaulich, 
greifbar  auf;  alles,  was  uns  einst  durchbebte,  erwacht  buntbewegt,  veredelt, 
rein  von  den  Schlacken  des  Augenblickes,  von  allem,  was  den  Gonufs  trübte, 
schwächte,  störte.  Welcher  Zauber  liegt  in  solchen  Stunden  des  Sinnens,  des 
Gedenkens  an  genossene  Freude!  Dann  hebt  die  Phantasie  das  reine  Gold 
heraus  aus  dem  tiefen  Schachte  des  Gedächtnisses.  Aber  sie  mildert  auch  das 
Leid.  Es  überkommt  uns  sanft -selige  Wehmut,  zumal  in  den  Stunden  der 
Dämmerung,  wenn  alle  Linien  um  uns  her  ineinander  schwanken,  wenn  die 
Umrisse  immer  unbestimmter  werden,  wenn  mit  dem  Schwinden  des  Tages- 
lichtes zugleich  unser  Bewnfstsein  desto  heller  in  uns  erwacht  und  nun  ge- 
schäftig ihre  Faden  spinnen  die  Erinnerung  und  die  Sehnsucht  im  Dienste  der 
Bildnerin,  der  Zauberkünstlerin  Phantasie.  Wem  Schnee  des  Alters  den  Scheitel 
deckt,  der  wird  unter  ihrem  Wunder  wirkenden  Stabe  wieder  jung;  die  Zeit 
wandelt  sich,  er  lebt  noch  einmal  in  Tagen  knospenden,  reifenden,  sich  er- 
füllenden Menschenglückes.  Oder  es  sausen  da  draufsen  am  grauen  Wintertage 
•  die  Stürme,  da  entführt  uns  der  Zaubermantel  in  die  Herrlichkeit  des  Sommers, 
wo  man  am  Dünenhange,  umflutet  von  Sonne,  umrauscht  vom  Wellen  schlage, 
sich  dehnte  in  innigstem  Behagen.  Ihre  Bilder  machen  zum  bleibenden,  be- 
seligenden Besitze,  was  einst  das  Herz  aufjauchzen  liefs. 

Wer  je  gelebt  in  Liebesarmen, 
Der  kann  im  Leben  nie  verarmen; 
Und  müfst'  er  sterben  fern,  allein, 
Er  fühlte  noch  die  sel'ge  Stunde, 
Wo  er  gelebt  an  ihrem  Munde, 
Und  noch  im  Tode  ist  sie  sein. 

Aber  die  Phantasie  hält  auch  die  grausen  Bilder,  die  bitteren  Stunden  der 
Vergangenheit  mit  unerbittlicher  Grausamkeit  fest;  du  kannst  es  nicht  ver- 
gessen, wie  du  am  ersten  Sarge  standest,  wie  ein  Rifs  durch  die  sonnige  Welt 
zu  gehen  schien,  du  kannst  es  nicht  vergessen:  jenes  schmerzliche  Bild,  den 
Vater,  die  Muttor  auf  dem  Totenbette;  du  kannst  auch  nicht  vergessen  jene 
Stunde,  wo  du  zuerst  erfuhrest:  Freundesliebe  ist  selten  so  stark,  dafs  sie  über 
Neid  und  Eifersucht  triumphiere,  dafs  sie  Schmerzliches  mit  dir  trage  ohne 
den  Schimmer  von  Schadenfreude,  dafs  sie  über  gerechte  Anerkennung  ohne 
den  leisesten  Anflug  von  Mifsgunst  sich  mit  dir  freue.  Du  kannst  nicht  ver- 
gessen die  Wunden,  die  dir  das  Leben  schlug;  sie  vernarbten,  um  immer 
wieder  aufzubrechen;  und  in  solchen  Stunden,  wo  du  es  empfindest,  es  giebt 

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A.  Biese:  Die  Phantani« 


kein  Kraut  gegen  diese  Schwache  der  Seele,  gegen  die  unauslöschlichen  Bilder, 
da  verwünschest  du  wohl  die  entsetzliche  Phantasie.  Ja,  wie  manchen  hat  sie 
schon  in  Verzweiflung  und  Irrsinn  getrieben! 

Der  Erinnerung  an  vergangenes  Leid  und  an  vergangene  Freude  leiht  die 
Phantasie  Schwingen,  und  sie  beschwört  längst  entwichene  Gestalten  wieder 
herauf,  aber  sie  beflügelt  auch  die  Furcht  und  die  Hoffnung,  so  dafs  Zukünftiges 
vor  dem  inneren  Auge  ersteht. 

Was  ist  es,  das  in  sorgenvoller  Nacht  am  Bette  des  Kranken,  in  düsterer 
Vorahnung  schrecklicher  Begebenheit  uns  die  Minuten  zu  Stunden,  die  Stunden 
zu  Nächten  dehnt,  das  uns  martert  in  der  bangenden  Ungewißheit,  uns  foltert 
in  der  Angst  des  Herzens,  das  uns  die  furchtbaren  Gebilde  des  Möglichen 
schon  wie  greifbare  Wirklichkeit  vor  die  Seele  stellt?  Es  ist  die  entsetzliche 
Phantasie  im  Bunde  mit  der  bleichen  Furcht. 

Goethe  nennt  im  f Faust'  Furcht  und  Hoffnung  die  beiden  'gröfsten 
Menschenfeinde'.  Der  gemeinsame  Begriff  beider  ist  die  Erwartung;  so  kann 
iXacig  bei  den  Griechen  die  Ahnung  des  Unheilvollen,  die  Furcht,  wie  auch  die 
Sehnsucht  nach  Glück,  die  Hoffnung,  bezeichnen.  —  Die  Furcht  ist  wahrlich 
eine  arge  Menschenfeindin,  denn  sie  lähmt  die  Thatkraft,  sie  schwächt  das 
Selbstgefühl,  versetzt  in  Unruhe,  raubt  den  Mut,  stört  das  Gelingen,  sie  macht 
feige.  —  Und  die  Hoffnung?  Baut  Bie  nicht  auch  trügerische  Luftschlösser, 
verführt  sie  nicht  zu  Sülsen,  aber  thatlosen,  thörichten  Träumen,  deren  Folgen 
nur  namenlose  Enttäuschung  und  Verbitterung  sind?  Raubt  sie  nicht  die  Be- 
sonnenheit, setzt  sie  nicht  Unmögliches  als  möglich  oder  das  zu  Leistende 
schon  als  gethan,  als  mühelos  errungen  hin?  —  Was  stachelt  den  Ehrgeizigen 
und  Habsüchtigen?  Ist  es  nicht  das  Wahngebilde  der  entsetzlichen  Phantasie, 
die  ihn  mit  Hoffnungen,  mit  leeren  Schemen  äfft,  die  ihn  ohne  Rast  und  Ruh, 
ohne  Genufs  der  Gegenwart,  ohne  Freude  am  Errungenen  durch  das  Leben 
peitscht?  Umstrahlt  von  Illusionen  gaukelt  auf  der  rollenden  Kugel  die 
trügerische  Glücksgöttin  vor  dem  Unglücklichen  her,  um  ihn  in  den  Abgrund 
zu  locken.  —  Aber  die  Furcht  kann  auch  eine  Menschenfreundin  sein,  wenn 
sie  auf  kluger  Erwägung  möglicher  Schwierigkeiten  und  Irrungen  ruht,  wenn 
sie  zwischen  Tollkühnheit  und  Feigheit  die  Mitte  halten  lehrt,  wenn  sie  Gottes- 
furcht ist.  —  Und  derselbe  Goethe,  der  die  Hoffnung  als  verführerische  Feindin 
hinstellt,  hat  nicht  minder  recht,  wenn  er  sie  *die  ältere,  gesetztere  Schwester' 
der  Phantasie  und  seine  'stille  Freundin'  nennt,  ja,  wenn  er  fleht:  (0  dafs  die 
erst  mit  dem  Lichte  des  Lebens  sich  von  mir  wende,  die  edle  Treiberin, 
Trösterin,  Hoffnung!'  Und  fürwahr,  wer  möchte  sie  entbehren,  sie,  die  da  das 
Vertrauen  belebt,  den  Mut  schärft,  die  da  den  Schmerz  lindert,  die  tröstet,  vor 
Verzagen  schützt,  die  Lebensflamme  immer  von  neuem  nährt  und  die  Thatkraft 
entfacht?  —  Und  was  schafft  der  Furcht,  was  der  Hoffnung  ihre  Bilder?  Es 
ist  die  Phantasie  mit  ihren  rosigen,  mit  ihren  düsteren  Farben.  Sie  macht 
das  Ferne  sichtbar.  So  gaukelt  sie  dem  nach  seinem  Vater  verlangenden 
Telemach  schon  die  Heimkehr  des  Ersehnten  vors  innere  Auge;  üoaexcu  iv  tpQttiiv, 
d.  h.  im  Geiste,  mit  dem  Blicke  der  Phantasie  sieht  er  den  Odysseus  landen 


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A.  Biese:  Die  Phantasie 


373 


und  die  Freier  vertreiben.  Und  will  derselbe  Homer  uns  das  Heimweh  des 
Verschlagenen  anschaulich  machen,  so  hebt  er  nicht  nur  hervor,  er  sehne  sich, 
die  Heimat  wiederzusehen,  sondern  er  wandelt  den  Gedanken  in  ein  Phantasie- 
bild, er  möchte  den  Rauch  sich  erheben  sehen  aus  den  Dächern  seiner  Heimat- 
insel; mit  diesem  Bilde  steigen  die  Umrisse  des  Gehöftes,  des  Hauses,  die 
Linien  der  Berge  und  Ufer  deutlich  vor  ihm  auf;  er  glaubt  sich  daheim. 

Die  gröfsten  Gaukler  im  Dienste  der  Phantasie,  aber  auch  zugleich  des 
Verstandes,  des  Scharfsinns,  sind  der  Witz  und  die  Ironie.  Sie  sind  gutmütig 
und  neckisch  oder  böswillig,  frech  und  verletzend.  Sie  kuppeln  die  ungleich- 
artigsten Vorstellungen  aneinander,  kombinieren  die  wundersamsten  Gebilde, 
werfen  aber  auch  oft  helle  Schlaglichter  auf  Dinge  und  Personen;  sie  verblüffen 
durch  das  Verkehrte,  Sinnwidrige;  sie  reizen  durch  den  Kontrast  zum  herz- 
lichsten Lachen,  aber  auch  durch  die  Bitterkeit  zum  heftigsten  Zorn.  Sie  sind 
gefahrliehe  Waffen,  sowohl  für  den,  auf  den  sie  gerichtet  sind,  als  auch  für 
den,  der  sie  führt. 

Wie  aber  überhaupt  eine  hohe  Geistesbeanlagung  mit  grofsen  Rechten 
auch  schwere  Pflichten,  ja  tiefe  Konflikte  in  sich  schliefst,  so  ganz  besonders 
die  Phantasiebegabung.  Goethe  ist  ein  seltenes  Beispiel  von  innerlich  aus- 
geglichenen Gaben;  er  hegte  ein  Pandaimonion  unsichtbarer  Geister  in  Kopf 
und  Herzen,  und  wie  haben  ihn  seine  unvergleichlichen  Gaben  beglückt,  und 
wie  hat  er  auch  unter  ihnen  gelitten!  Goethe  war  ein  grofser  Lebenskünstler, 
ein  Weltweiser,  und  doch  giebt  es  aufser  dem  Taust*  und  'Werther*  wohl 
kaum  eine  Dichtung,  in  der  so  viel  eigenstes,  schmerzlichstes  Erleben  steckt, 
als  den  'Tasso',  diese  Tragödie  der  Phantasie  und  des  überweichen  Gemütes. 
Nur  Selbst-  und  Welterkenntnis,  nur  Selbstüberwindung  und  Weltbezwingung 
schaffen  wahres  Glück;  nur  ein  starkes  Herz  voll  Menschen-  und  Weltliebe 
kann  den  Widerstreit  von  Idee  und  Wirklichkeit,  den  Kampf  mit  Enttäuschungen 
bestehen  und  verwinden.  Aber  all  das  fehlt  dem  Tasso.  Er  ist  eine  pro- 
blematische, eine  phantastische,  eine  tragische  Natur.  Wie  sehr  der  Mensch  sein 
gröfeter  Feind  ist,  welch  ein  Danaergeschenk  eine  grofse  einseitige  Phantasie- 
begabung, welches  Leid  neben  allem  inneren  Reichtum  ein  empfindsames  Herz 
in  sich  schliefst,  wie  der  Lorbeer  mehr  ein  Zeichen  der  Schmerzen  ist  als  des 
Glücks,  der  Ruhm  'ein  Sonnenstrahl,  der  sich  in  Thränen  bricht':  das  lehrt 
uns  der  'Tasso'.  Tasso  läfst  sich  hätscheln  und  hätschelt  sein  Herz  selbst  wie 
ein  krankes  Kind;  er  ist  Gefühls-  und  Phantasiemensch  und  leidet  daher  un- 
säglich unter  dem  Widerstande  der  harten  Wirklichkeit,  die  er  nicht  zu  meistern 
im  stände  ist.  Sein  Genie  wie  sein  Verderben  liegt  darin,  dafs  er  ganz 
Empfindung,  ganz  Seele,  Phantasie  ist.  Wohl  hat  er  in  der  Einsamkeit  sich 
vertieft,  wohl  sind  ihm  die  Schwingen  der  dichterischen  Kraft  gewachsen,  aber 
zugleich  umgiebt  ein  solches  Schwelgen  in  einsamem  Selbstgenusse  die  Phan- 
tasie mit  tausend  Gefahren;  hinter  der  Einsamkeit,  in  der  Entfernung  und 
Entfremdung  von  den  Menschen  lauern  die  Gespenster  des  Argwohns  und 
des  Mifstrauens  gegen  andere  und  gegen  sich  selbst,  der  Verzagtheit  und  Ver- 
zweiflung. Wen  immer  die  Phantasie  zwingt,  durch  die  Erscheinungen  hindurch 


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A.  Biese:  Die  Phantasie 


die  Ideen  des  Ewigen  und  Schönen  hindurchleuchten  zu  sehen,  der  verachtet 
zu  leicht  jene  und  büfst  dies  dadurch,  dafs  er  ihr  Opfer  wird,  dafs  er  in  dem 
Lebenskampfe  unterliegt.  Das  weiche  Herz  führt  ihn  zur  Empfindlichkeit  und 
Empfindsamkeit,  zum  Argwohn  und  zur  Selbstüberschätzung.  Wer  nur  ein 
Gemüts-  und  Phantasieleben  führt,  wer  nur  Illusionen  und  Wahnbilder  sich 
schafft,  der  verliert  den  Boden  der  Wirklichkeit  unter  den  FüXsen,  der  fallt 
von  einer  Enttäuschung,  von  einer  Niederlage  in  die  andere,  der  verzehrt  sich 
selbst,  der  gelangt  nie  zu  jenem  inneren  Gleichgewicht,  auf  dem  des  Menschen 
Heil  beruht.  Was  nützt  Geistesgröfse,  wenn  sie  mit  Willensschwäche,  mit 
Kleinheit  gegenüber  den  widerstreitenden  Verhaltnissen  sich  paart?  Wie  der 
Strom  den  Ertrinkenden,  so  reifsen  ihn  diese  dahin.  Begeisterung  darf  nicht 
zur  haltlosen  Schwärmerei,  zur  Phantastik  führen,  sie  mufs  sich  einen  mit 
Besonnenheit.  Kopf  und  Herz  müssen  gleichmäfsig  ausgebildet  sein,  wo  wahres 
Glück  wohnen  soll. 

Doch  wie  selten  ist  dies!  In  der  Welt  triumphiert  zumeist  der  nüchterne, 
superkluge  Verstand;  und  die  gar  zu  weichen,  zu  herzlichen,  vertrauensseligen, 
von  überströmendem  Gefühle  beseelten  Naturen  leiden  und  gehen  unter  als 
Märtyrer  des  Herzens  und  der  Phantasie. 

Aber  so  alt  der  Streit  ist  zwischen  Verstand  und  Phantasie,  er  wird 
immer  wieder  von  neuem  zu  schlichten  sein.  Und  so  grofs  auch  die  Aus- 
artungen und  Verirrungen  der  Phantasie  sein  können,  sie  bleibt  doch  eine 
holde  Fee,  wenn  man  sie  zügelt,  wenn  sie  dem  Menschen  nicht  ein  Irrlicht, 
sondern  eine  wärmende  Flamme  ist,  an  der  er  die  Begeisterung  für  alles  Ideale 
entzündet.  So  mahnt  Goethe:  'Begegnet  ihr  lieblich,  Wie  einer  Geliebten! 
Lafst  ihr  die  Würde  Der  Frauen  im  Haus!  Und  daß  die  alte  Schwiegermutter 
Weisheit  Das  zarte  Seelchen  ja  nicht  beleid'ge!'  —  Ja,  was  wäre  die  Welt, 
wenn  wir  sie  nur  mit  den  Augen  des  Verstandes  anschauten?  Sie  wäre  kalt, 
kahl,  stumpf. 

Gehe  an  einem  Sommerabend,  wenn  die  Sonne  sich  neigt,  an  die  male- 
rischen Ufer  eines  Flusses  (z.  B.  der  Mosel,  des  Rheins),  und  du  siehst  alles  in 
wunderbaren  Farben  strahlen:  die  Höhen  der  Berge  und  die  Wolken  sind  in 
rosigen  Duft  gebadet,  das  Thal  selbst  und  die  niederen  Gründe  der  Berge 
liegen  in  gedämpftem  Blau,  ja  Blauschwarz,  und  so  auch  der  Hintergrund  des 
Flusses,  aber  die  Wellen  spiegeln  die  Wolken  und  ziehen  in  rosigem  Scheine 
dahin.  Alles  ist  ein  Bild  voll  Schönheit  und  Poesie.  Und  warum?  Die  Phan- 
tasie sieht  in  dem  Bilde  Frieden,  und  sie  deutet  das  holde  Schweigen  dieser 
idyllischen  Abendlandschaft  als  wunschloses  Glück.  —  Und  dann,  eine  halbe 
Stunde  später,  ist  all  der  zauberische  Duft  zerflossen,  die  Wolken,  die  so  goldig 
oder  purpurn  oder  violett  leuchteten,  wandern  dahin  in  stumpfem  Grau,  die 
Schatten  breiten  sich  alles  verwischend  aus.  Da  ist  es  dir,  als  ob  du  von 
der  Poesie  heraus  in  die  nüchterne  Prosa  geworfen  seiest.  —  Was  wir  eben 
geistig  deuten  können,  was  unsere  Phantasie  anregt  und  belebt,  so  dafs  sie  in 
dem  Rosenschimmer  der  Wolken  ihren  durchgeistigenden  Duft  wieder  zu  er- 
kennen meint,  dafs  alles  ihr  zum  Symbol  des  Seelischen,  der  Stimmung,  des 


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A.  BieBO:  Die  Phantasie 


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Gemütes  wird,  das  ist  —  poetisch.  Die  graue  Einfachheit  der  Dinge  ohne 
den  Widerschein  des  Geistigen  ist  stumpf,  ist  prosaisch. 

Es  ist  und  bleibt  die  Hauptsache:  die  Phantasie  beseelt  und  durchgeistigt 
die  Aufsenwelt;  sie  wandelt  die  Dinge  menschlich,  d.  h.  seelisch  um;  das 
Schauen  ist  vom  Beseelen  unzertrennlich.  Ohne  Symbolik  kommt  kein  inneres 
Bild  zu  stände. 

In  der  Sphäre  der  Phantasie  ist  die  Sonne  nicht  mehr  —  wie  der  Ver- 
stand uns  lehrt  —  der  Zentralkörper,  um  den  sich  die  Erde  dreht,  nicht  ein 
ungeheurer  Feuerball,  der  zwanzig  Millionen  Meilen  von  uns  entfernt  ist,  son- 
dern hier  ist  sie  die  Lebenspenderin,  mit  der  unser  Fühlen  und  Handeln  auf 
das  innigste  verbunden  ist;  hier  küfst  sie  den  Frühling  wach  und  lockt  Blatt- 
und  Blumenschmuck  hervor;  hier  weckt  sie  das  Leben,  wenn  am  Morgen  ihr 
Feuer  am  Horizont  hervorblickt;  hier  giefst  sie  Frieden  über  das  Gefilde  und 
die  Geschöpfe,  wenn  sie  am  Abend  ihren  Lauf  vollendet  hat  und  unter  den 
Himmelsrand  hinabsinkt.  Hier  iBt  der  Wald  nicht  blofs  eine  Anzahl  verschie- 
dener Bäume,  sondern  er  ist  ein  Gottesdom,  wohin  das  von  Sorgen  belastet« 
Gemüt  sich  aus  der  tobenden  Welt  flüchten  kann,  und  wo  es  in  der  seligen 
Waldeseinsamkeit  die  erquickende  Stimme  des  Ewigen,  in  den  Wipfeln  Frieden 
rauschen  hört. 

Das  Licht  wird  zum  Symbol  des  Frohen,  Guten,  Schönen,  das  Dunkle  zum 
Sinnbilde  des  Bösen,  Schweren  und  Traurigen.  Das  Halbdunkel  ist  ahnungs- 
voll; nicht  nur  das  Auge  labt  sich  an  der  Dämmerung  des  Waldes,  sondern 
die  Seele  senkt  sich  in  unerforschte  Tiefen  der  Ahnungen  und  verhüllten  Ge- 
fühle,  während  das  Licht  wie  ein  Bewufstsein  der  Natur  von  sich  selber,  wie 
ein  Denken  ihrer  eigenen  Formen  erscheint.  Die  Stimmung  der  Farben  wird 
offener,  heller  und  milder,  je  mehr  sie  gegen  das  Weifse  zunehmen,  und  ge- 
drängter, energischer,  je  mehr  sie  sich  dem  Schwarzen  nähern.  Die  Luft  erfreut 
durch  das  reine  Lebensgefühl,  das  die  lebendigen  Wesen  in  ihrem  all  verbreiteten, 
erhaltenden  und  labenden  Elemente  geniefsen;  im  zartbewegten  Laube  flüstern 
die  Winde,  im  Sturm  ertönt  ein  Brüllen  der  Wut,  ein  Geheul  der  Verzweiflung. 
Das  Feuer  mit  seinen  flackernden  Flammenzungen,  mit  dem  beständigen  Über- 
gehen der  Linien  ineinander  spiegelt  eine  Unruhe  des  Verzehrens,  einen  leiden- 
schaftlichen Affekt  wider.  —  Das  Rauschen  des  Wassers  weckt  das  Gefühl 
einer  immer  frischen  Lebendigkeit;  die  Quelle  weckt  die  geheimnisvolle  und 
dankbare  Empfindung  eines  aus  der  Tiefe  gespendeten,  erfrischenden  Segens; 
der  muntere  Bach  scheint  sich  in  schäumender  Lust  zu  überstürzen,  der  Flufs 
mit  leisen  Tritten  durch  die  Ebene  hinzuschleichen,  der  Strom  im  Vollgefühle 
der  Kraft  majestätisch  dahinzuziehen.  Der  vom  Walde  eingeschlossene  Teich, 
in  welchem  sich  die  Wolken  des  Himmels,  das  Licht  der  Sonne,  die  Schatten 
und  Umrisse  der  Bäume  spiegeln,  hat  uns  etwas  Heimliches,  Trautes;  und  das 
hat  nicht  nur  im  unmittelbaren  Eindrucke  der  Abgeschiedenheit,  der  feierlichen 
Stille,  den  weichen  Linien  im  Wasserspiegel  seinen  Grund,  sondern  wir  deuten 
die  Spiegelung  sogleich  um  in  ein  Sichselbstbeschauen  der  Natur;  wir  leihen 
ihr  ein  dämmerndes  Selbstbewufstsein,  das  sich  selbst  geniefst;  wir  legen  gleich- 


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A.  Biese:  Die  Phantasie 


sam,  was  träumerisch  und  ahnungsreich  in  unserer  Seele  lebt,  hinein  in  die 
ruhige  Wasserfläche  mit  ihren  zarten  Formen,  mit  dieser  ineinander  rinnenden 
und  verschmelzenden  Doppeltsetzung  der  Erscheinungen.  Nicht  anders  beim 
Meer,  das  uns  bald  Anmut,  Frieden,  schmeichelnde  Lockung,  bald  Kraft,  Gröfse,  - 
Leidenschaft,  List  und  Tücke,  Groll  und  Wut  zu  atmen  scheint,  das  uns  bald 
durch  Ewigkeitsgedanken  über  die  enge  Sphäre  des  Menschlichen  erhebt,  bald 
uns  in  abgrundtiefe  Schwermut  der  Vergänglichkeit  versenkt. 

Mit  den  Augen  der  Phantasie  gesehen  ist  der  Tau  ein  glänzendes  Ge- 
schmeide, der  Schnee  ein  Leichentuch;  das  Gebirge  ist  nicht  blofs  eine  Stein- 
masse, die  sich  über  die  Ebene  erhebt,  sondern  der  erhabene  Zeuge  gewaltiger 
Kräfte  und  Erdrevolutionen,  gegen  die  das  winzige  Menschenkind  ein  Nichts 
ist.  —  Bei  der  Pflanze,  diesem  saugenden,  von  Leben  strotzenden  Wesen,  haben 
wir  den  Eindruck  des  Atmens,  des  Strebens  nach  Selbsterhaltung;  und  wir 
leihen  ihr  eine  Seele,  sei  es  nun  die  schlummernde  Kindesseele  oder  die  auf- 
strebende des  Mannes;  in  den  Waldesriesen  denken  wir  die  Empfindungen  des 
Greises  hinein,  der  Jahrhunderte  an  sich  vorübergehen  sah.  Und  hören  wir 
die  Blätter  rauschen  oder  erzittern,  oder  neigt  sich  im  Winde  die  Blume,  so 
erscheint  uns  diese  äufsere  Erscheinung  als  das  Widerspiel  eines  inneren  Vor- 
ganges —  ein  lieblicher  Gedanke  schaukelt  ihr  Kopfchen  hin  und  her.  Der 
eine  Baum  atmet  Anmut,  der  andere  Kraft,  ein  dritter  Wehmut  und  Trauer. 
Das  Laub  giebt  dem  Baume  seine  Stimmung  u.  a.  m. 

Wie  aber  mit  den  einzelnen  Naturformen,  so  steht  es  auch  mit  deren 
Gruppen,  mit  ganzen  Landschaften.  Sie  wirken  nur,  wenn  der  Beschauer  mit 
den  Augen  der  Phantasie  und  des  Gemütes  sich  in  sie  versenkt,  wenn  er  selbst 
eine  innere  Welt  von  Gedanken  und  Empfindungen  in  sie  hineinlegen  kann, 
wenn  er  den  elementaren  Anregungen  und  Reizen,  welche  die  Linien  und 
Farben  erzeugen,  nachgehen  und  das  Einzelne  durch  das  Band  der  eigenen 
seelischen  Stimmung  verknüpfen  kann,  sei  es  nun  im  Einklänge  oder  im  Wider- 
spruche. Nur  wer  Geist  und  Herz,  nur  wer  Phantasie  besitzt,  versteht  die 
Sprache  der  Natur.  Dem  erscheint  sie  als  das,  was  sie  in  Wahrheit  ist  für 
den  Menschen,  als  das  grofse  Geheimnis,  dessen  Schleier  zu  lüften  zwar  die 
Menschheit  mit  wachsendem  Erfolge  unternommen  hat,  das  jedoch  dem  er- 
schaffenen Geiste,  der  in  ihr  Innerstes  eindringen  will,  ein  ewiges  Ignorabitis 
zuruft.  Was  aber  der  Wissenschaft,  dem  Verstände  unmöglich  ist,  gelingt  der 
Phantasie.  Sic  entsiegelt  jenes  ewige  Rätsel,  das  in  dem  All  schlummert;  sie 
webt  Menschengemüt  und  Natur  in  eins,  so  dafs  ein  Herz  in  ihr  klopft,  ein 
Geist  aus  ihr  redet. 

Die  Phantasie  durchgeistigt  die  Natur;  sie  versinnlicht  ferner  das  Geistige. 
Wer  will  das  Wesen  der  Seele  selbst  ergründen?  Wir  stehen  vor  einer  Wellen 
schlagenden,  in  Gekräusel  wallenden  Meeresfläche,  deren  Tiefe  unergründlich 
und  dunkel  ist;  alle  Bethätigungen  des  Geistes,  ob  'vorstellen*,  'fassen',  fbe-  ^ 
greifen'  u.  s.  w.  können  wir  nur  metaphorisch,  d.  i.  durch  Übertragung  aus 
dem  Sinnen  leben  deuten;  die  Phantasie  ist  darin  allezeit  rege  gewesen;  ich 


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A.  Biese:  Die  Phantast 


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erinnere  an  das  Gespann  mit  den  beiden  angleichen  Pferden  im  Phädrus  des 
Piaton,  an  die  beiden  Uhren  bei  Leibniz,  an  die  'Seelenvermögen'  der  Wolffschen 
Schule,  an  die  *  Seelensubstanz',  an  die  Herbartsche  'Schwelle'  und  'Klemme' 
und  'Verwachsung'  der  Vorstellungen  u.  a.  m.  Die  Phantasie  umkleidet  alles 
Unkörperliche  mit  dem  Schein  des  Faßbaren,  Anschaulichen.  Selbst  die  Träume, 
so  wesenlos  (dfistrqvd)  sie  sind,  auch  bei  Homer  (Od.  XIX,  560),  sie  schweben 
doch  als  Schatten-,  als  Dunstgestalten  durch  die  Pforten,  und  wie  diese  geartet, 
ob  aus  Horn  oder  Elfenbein,  gehen  sie  in  Erfüllung  oder  nicht. 

Ja,  die  Phantasie  selbst,  dies  rätselvolle  Vermögen  der  Seele,  wird  vor 
ihren  eigenen  Richterstuhl  gerufen;  in  Tiecks  'Phantasus'  wird  sie  —  in  wenig 
passender  Tropik  —  zu  einem  wunderlichen,  grämlichen,  kindischen  oder  launigen 
und  launischen  Alten,  über  den  die  Vernunft  am  Tage  Wache  hält;  in  der 
Nacht  aber,  wo  die  Vernunft  zu  Bett  gebracht  ist,  stehen  Schlummer  und 
Schlaf  aus  ihrem  Winkel  auf,  und  der  Schlaf  schleicht  zum  Alten,  den  Pflicht, 
Verstand  und  Vernunft  bisher  gefesselt  haben,  löst  ihn,  und  jener  schüttelt 
sich  vor  Freude,  breitet  den  weiten  Mantel  aus,  und  aus  seinen  Falten  ent- 
gleiten die  wundersamsten  Sachen  der  Traumwelt.  —  Bei  Rückert  heifst  es: 

Phantasie,  das  ungeheure  Riesenweib,  Safs  zu  Berg, 
Hatte  neben  sich  zum  Zeitvertreib  Witz,  den  Zwerg  — 
Der  Verstand  Seitwärts  stand, 
Ein  proportionierter  Mann, 
Sah  das  tolle  Spiel  mit  an. 

Im  Geiste  der  Alten,  denen  die  Harmonie  zwischen  der  Idee  und  der  Ge- 
stalt das  höchste  war,  schuf  Goethe  das  köstliche  Gedicht  'Meine  Göttin'. 
'Welcher  Unsterblichen  Soll  der  höchste  Preis  sein?  Mit  niemand  streit'  ich, 
Aber  ich  geb'  ihn  Der  ewig  beweglichen,  Immer  neuen,  Seltsamen  Tochter 
Jovis,  Seinem  Schofskinde,  der  Phantasie.' 

Wie  die  Kräfte  der  Seele  gestaltet  die  Phantasie  alle  abstrakten  Begriffe 
iu  anschaulichen  Wesen  um,  ob  den  Schnitter  Tod,  ob  Frau  Sorge,  ob  den 
Geier  Schmerz,  das  süfse  Kind,  die  Hoffnung,  die  alte  Vettel  Zeit,  die  Vagantin 
mit  dem  Wackelköpfchen,  ob  die  rote  Rose  Leidenschaft,  des  Glückes  empor- 
hebende Flügel,  ob  Frau  Sehnsucht  mit  den  grofsen  verträumten  Augen,  ob 
den  Genius  unter  dem  Bilde  des  Stromes  u.  ä.  m. 

Aber  die  Phantasie  wandelt  auch  im  Innern  Erlebtes,  Anschauungen, 
Empfindungen,  Ideen  in  sinnliche  Form,  in  Marmor,  in  Farben,  in  Worte,  in 
Töne  um:  ihr  ureigenstes  Reich  ist  die  Kunst.  Da  wird  das  Sinnliche  durch- 
geistigt, das  Sinnliche  versinnlicht,  das  Geistige  vergeistigt.  Alle  Kunst  ist 
symbolisch,  metaphorisch,  eben  eine  Geburt  der  Phantasie,  welche  Äufseres 
und  Inneres,  Natur  und  Geist  in  eins  verwebt;  denn  Kunst  ist  durch  die 
Seele,  durch  eine  Persönlichkeit  hindurchgegangene,  von  ihr  durchsättigte 
Natur.  Anschaulichkeit  soll  sich  mit  Innerlichkeit  durchdringen;  ein  Bild 
«oll  vor  das  innere  Auge  gestellt  werden,  und  unser  Herz,  unser  Geist,  unsere 
Phantasie  mufs  angeregt,  erwärmt,  erhoben  oder  erschüttert  werden.  Nur  dann 
haben  wir  wahre  Kunst 


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378 


A.  Biese:  Die  Phantasie 


Die  künstlerisch«  Phantasie  ist  es  vor  allem  (und  der  ist  zu  bedauern,  in 
dem  nicht  auch  etwas  vom  Künstler  lebt,  der  nur  Verstand  sein  will),  die 
Phantasie  ist  es,  die,  wie  es  im  'Wallenstein'  heilst,  'um  die  gemeine  Deutlich- 
keit der  Dinge  den  goldenen  Duft  der  Morgenröte  webt'.  Es  ist  der  'Morgen- 
duft' in  der  Goethischen  'Zueignung',  d.  h.  die  Jugendfrische,  die  verklärende 
Macht  der  Phantasie,  die  sich  mit  'Sonnenklarheit'  des  Wirklichen,  mit  dem 
Klar-  und  Weitblick  des  in  die  Welt  schauenden  Genies  vereinen  solL  Wahrer 
Lebensgehalt,  in  den  reinen  Äther  der  Schönheit,  der  Idee  erhoben,  das  ist 
Kunst;  'das  Leben,  gefafst  in  Reinheit  und  gehalten  im  Zauber  der  Sprache': 
das  ist  Poesie.    So  empfing  Goethe 

'Aus  Morgenduft  gewebt  und  8onnenklarheit 

Der  Dichtung  Schleier  aus  der  Hand  der  Wahrheit.' 

Die  'Wahrheit'  hält  den  'reinsten  Schleier'  in  Händen;  sie  reicht  ihn  dein 
Dichter;  er  braucht  ihn  gleichsam  nur  in  die  Luft  zu  werfen  —  wie  Leukothea 
über  den  Odysseus  — ,  und  er  fühlt  sich  über  alle  Bedrängnis  des  Lebens  er- 
hoben. Und  diese  göttliche  Zauberkraft  birgt  in  sich  die  Phantasie,  die  be- 
freiende, beseligende,  die  das  Unebene  ebnet,  das  Rauhe  glättet,  die  Schwüle 
des  Herzens  bannt  wie  ein  säuselnder  Abendwind  mit  seiner  linden  Kühle 
und  mit  Blumen-  und  Würzgeruch  den  Besänftigten  umhaucht. 

Es  schweigt  das  Wehen  banger  Erdgefuhle, 
Zum  Wolkenbette  wandelt  sich  die  Gruft, 
Besänftiget  wird  jede  Lebenswelle, 
Der  Tag  wird  lieblich,  und  die  Nacht  wird  helle. 

Das  ist  die  erlösende  und  beglückende  Wirkung  der  künstlerischen  Phan- 
tasie, wie  sie  uns  entgegenstrahlt  aus  den  Meisterwerken  der  grofaen  Künstler 
aller  Zeiten;  mag  sie  in  Worten  oder  Tönen  zu  uns  reden,  mag  sie  die  stumme 
Sprache  des  Steines  und  der  Farbe  wählen,  mag  sie  heiter  gestimmt  mit 
blühenden  Farben  des  alles  Unebene  ausgleichenden  Humors  und  des  kecken 
Witzes  zeichnen  und  aus  den  Blüten  des  Daseins  den  Stoff  zu  ihren  Gebilden 
ziehen,  oder  mag  sie  düster  und  schwerblütig  die  Romantik  des  Sturmes  oder 
der  Nebel  oder  der  Eisgebirge,  mag  sie  Abgründe  suchen,  Schrecknisse  im 
Menschenleben;  sie  ist  reich  an  Mannigfaltigkeit,  launisch  in  ihrem  Wechsel, 
ewig  fesselnd,  ewig  berückend. 

'Sie  mag  rosenbekränzt  Mit  dem  Lilienstengel  Blumenthäler  betreten, 
Sommervögeln  gebieten  Und  leichtnährenden  Tau  Mit  Bienenlippen  Von  Blüten 
saugen;  Oder  sie  mag  Mit  fliegendem  Haar  Und  düsterm  Blicke  Im  Winde 
sausen  Um  Felsen  wände  Und  tausendfarbig,  Wie  Morgen  und  Abend,  Immer 
wechselnd,  Wie  Mondesblicke,  Den  Sterblichen  scheinen.' 

Und  dies  tritt  nicht  nur  in  den  Aufserungen  der  Phantasie  bei  den  ein- 
zelnen Künstlern  (man  denke  an  Shakespeare,  an  Goethe,  an  Beethoven),  son- 
dern auch  bei  den  mannigfachen  und  so  überaus  charakteristischen  Unterschieden 
der  Kulturvölker  hervor;  man  denke  an  die  kolossalen  und  grotesken  Ausgeburten 
der  ägyptischen  und  indischen  Kunst,  an  die  gottbeseelte,  in  die  Weite  schwei- 


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A.  Bie»e:  Die  Phantasie 


879 


fende  Phantasie  der  Hebräer,  an  den  plastischen  Sinn  der  Hellenen,  oder  man 
vergleiche  germanische  und  romanische  und  slavische  Art  zu  denken,  zu 
empfinden,  zu  gestalten.  Die  Kunst  ist  immer  im  Geiste  des  Menschen  um- 
geschmolzene Wirklichkeit,  und  ihre  Prägstatte  ist  die  Phantasie,  diese  un- 
erschöpfliche Bildnerin. 

Der  Künstler  vermählt  Seele  mit  Stoff,  er  breitet  Geist  über  die  Materie; 
er  fühlt  sich  ein  in  die  Dinge  und  Verhältnisse  der  Welt,  die  er  gestaltet;  er 
lebt  sich  hinein  in  die  Geschöpfe  seiner  Phantasie  und  stellt  sie  hin  wie  ein 
schaffender  Gott,  auf  da£s  sie  zeugen  von  seiner  Kraft,  von  seinem  Genius, 
seiner  Weltliebe,  seinem  alle  Gegensätze  in  Harmonie  lösenden  Humor.  Aber 
nicht  nur  der  Künstler  bedarf  der  Gestaltungskraft;  auch  das  Geniefsen  der 
KunBt  setzt  ein  inneres  Bilden,  ein  Nachschaffen  voraus,  wenn  es  in  die  Tiefe 
dringen,  nicht  an  der  Oberfläche  des  sinnlichen  Eindrucks  haften  bleiben  will. 
Das  Schöne  giebt  es  ja  doch  nur  in  der  Seele,  in  der  Phantasie  des  Menschen; 
daher  ruht  der  Genufs  des  Schönen  auf  dem  Zusammenrinnen  des  Innern, 
d.  h.  der  Stimmungen,  Ahnungen,  Empfindungen,  und  des  Äufseren,  das  uns 
der  Künstler  vor  Auge  oder  Ohr  gestellt  hat  Mitklingen  mufs  unser  Herz, 
mitschwingen  müssen  seine  Saiten,  wenn  uns  ein  Kunstwerk  packen  soll,  wenn 
ein  harmonischer  Eindruck  zu  stände  kommen  soll*  Und  wie  lebhaft  weifs  der 
wahre  Poet,  der  grofse  Dramatiker  oder  Lyriker,  wie  lebhaft  der  musikalische 
Genius  die  Einbildungskraft  zu  wecken!  Unser  ganzes  Innere  erzittert,  und 
zugleich  tauchen  auf  und  schweben  dahin  luftige,  wundersame  Gestalten;  oder 
wir  glauben  die  Vorgänge  der  Tragödie  mitzuerleben,  wir  versenken  uns  ganz 
in  den  gewaltigen  Helden,  sind  fortgerissen  von  der  Grofse  seines  Wollens, 
und  fallt  er,  so  ist  es  uns,  als  würde  uns  selbst  der  Dolch  ins  Herz  gestofsen. 
Es  ist  die  Phantasie,  die  ein  Echo  aller  Gefühlstöne  in  unserm  Innern  weckt. 

Die  Phantasie  ist  das  innere  Auge  der  Seele;  es  sieht  tiefer  als  das  leib- 
liche; es  sieht  Zusammenhänge,  wo  sonst  nur  lose  Teile  erscheinen;  es  ist 
etwas  Ahnungsreiches,  Deutung* fähiges,  Schöpferisches  in  ihr.  Was  an  Bild- 
stoff die  Anschauung,  was  auch  die  Erkenntnis  darbietet,  das  überschaut  das 
Auge  der  Phantasie  mit  raschem  Blick,  Lücken  ausfüllend.  Wie  der  plastische 
Künstler  schon  in  dem  Marraorblock  die  zu  bildende  Gestalt  ahnt,  wie  er  sie 
im  Geiste  sieht:  nicht  tot,  sondern  lebendig,  als  ob  die  Stirne,  als  ob  das 
Auge,  der  Mund  sich  herausarbeiteten  aus  der  Fläche,  die  Brust  sich  wölbte, 
die  Glieder  sich  reckten,  das  Leben  pulsierte,  so  steht  auch  vor  dem  genialen 
Staatsmann  schon  das  Gebäude  seiner  Thaten,  vor  dem  genialen  Erfinder  und 
Forscher  das  Gebäude  seiner  Gedanken  fertig  da,  ehe  er  alle  einzelnen  Steine 
hat  zusammentragen  können. 

So  ist  der  Phantasie  auch  ein  dem  Schaffen  vorauseilendes  Ahnimgs- 
vermögen eigen.  Jede  Hypothese  ist  gleichsam  die  Vorwegnahme,  das  Bild 
einer  streng  wissenschaftlichen  Lösung  des  Problems.  So  sagt  Goethe  in  den 
Sprüchen:  'Der  denkende  Mensch  hat  die  wunderliche  Eigenschaft,  dafs  er  an 
die  Stelle,  wo  das  unaufgelöste  Problem  liegt,  gerne  ein  Phantasiebild  hinfabelt, 


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A.  Biese:  Die  Phantasie 


das  er  nicht  los  werden  kann,  wenn  das  Problem  auch  aufgelöst  und  die  Wahr- 
heit am  Tage  ist' 

Da  unser  Denken  an  die  Anschauung  gebunden  ist,  'Begriffe  ohne  An- 
schauungen leer'  sind,  diese  aber  durch  die  Sinne  und  die  Phantasie  zu  Bildern 
umgeformt  werden,  da  ferner  die  Sprache  durchaus  metaphorisch,  d.  h.  jedes 
Wort  nicht  nur  ein  Symbol  des  Gedankens  ist,  sondern  auch  die  ursprüng- 
lichsten Wurzeln  als  den  letzten  Begriffsinhalt  menschliche  Thütigkeit  in  sich 
schliefsen,  so  kann  auch  das  wissenschaftliche  Denken  weder  der  Macht  der 
Analogie,  der  Übertragung  von  einer  Sphäre  auf  die  andere,  noch  der  Ein- 
bildungskraft überhaupt  en traten.  Diese  macht  sich  das  reiche  Wissen  unter- 
than  und  formt  es  zu  wissenschaftlichen  Theorien,  zu  philosophischen  Systemen. 
Selbst  dem  strengen  Logiker,  dem  scharfen  Denker  mischt  sie  in  sein  so  sorg- 
sam gefügtes  System  ihre  Farben  hinein;  er  wähnt,  nur  der  Gedanke  leite  ihn, 
alles  Bildliche  bleibe  ihm  fern;  aber  wie  auf  Anschauung  alles  Vorstellen 
beruht,  so  kann  auch  kein  System  so  abstrakt  sein,  dafs  es  nicht  Anschauung 
nicht  Bild,  nicht  Gleichnis  darböte.  So  lehrt  die  Geschichte  der  Philosophie 
die  Macht  der  metaphorischen  Phantasie.1)  'Alles  Vergängliche  ist  nur  ein 
Gleichnis',  aber  noch  mehr  ist  nur  im  Bilde,  im  Gleichnis  uns  fafsbar:  das 
Unvergängliche,  das  Ubersinnliche.  So  hat  ein  philosophisches  System  das 
andere,  eine  Metaphysik  die  andere  abgelöst,  indem  der  Nachfolger  dem  Vor- 
gänger Phantasiebilder  nachwies,  sei  es  nun  Aristoteles  den  Platonischen  Ideen, 
sei  es  der  Kritizismus  eines  Locke,  Hume,  Kant  dem  Dogmatismus  gegenüber, 
sei  es,  dafs  man  den  metaphorischen  Gehalt  in  den  Begriffen  der  Substanz  bei 
Cartesius  und  Spinoza,  der  Leibnizschen  Monade,  des  Kantischen  'Dinges  an 
sich',  des  materialistischen  'Atoms*,  des  Schopenhauerschen  'Willens'  oder  de« 
'Grofsen  Unbekannten',  des  'Unbewufsten'  bei  v.  Hartmann  erkannte;  doch  die 
philosophische  Phantastik  hat  in  dem  kranken  Hirn  des  trotz  alledem  genialen 
und  sprachgewaltigen,  aber  mehr  als  Poet  und  Prophet  denn  als  Denker  mach- 
tigen Nietzsche  ihren  Höhepunkt  erreicht;  sein  System  ist  ein  'soziologischer 
Roman',  an  dem  nicht  nur  moralische  Brutalität,  sondern  auch  eine  üppig 
wuchernde,  glühende  Phantasie  gearbeitet  hat 

Die  grandiosesten  Gedankendichtungen  —  ich  meine  vor  allem  die  Systeme 
eines  Piaton  in  der  alten,  eines  Hegel  in  der  neueren  Zeit  —  zeigen  nicht 
minder  als  die  Religionssysteme,  dafs  das  Höchste,  was  der  Mensch  denken 
und  empfinden  kann,  sich  kleiden  mufs  in  die  Form  menschlicher  Einbildungs- 
kraft, dafs  Poesie  und  Philosophie  das  gemeinsame  Band  in  der  Phantasie  be- 
sitzen, d.  i.  in  der  Verkörperung  des  Geistigen  und  in  der  Vergeistigung  des 
Sinnlichen.  Wo  die  Logik  ihre  Grenze  findet,  da  fördern  die  Phantasie  und 
der  Wille  und  der  Affekt  die  göttlichen  Intuitionen  zu  Tage;  wo  die  physika- 
lische Erklärung  der  Welt  die  Schranke  des  Ignorabimus  erreicht,  da  setzt  das 
ethisch-religiöse  Moment  ein  und  fordert  Ideen,  Ideale  und  baut  über  der  realen 


•)  Vgl.  das  6.  Kap.  der  'Philosophie  des  Metaphorischen':  'Da»  Metaphorische  in  der 
Philosophie.' 


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A.  Biese:  Die  Phantasie 


381 


eine  ideale  Welt  auf.  Wir  erkennen  diese  nur  im  Abbilde,  im  Gleichnis  — 
fiktxoiiev  6Y  iööxtQov  iv  (tlvCypau  —  aber  das  Abbild  weist  auf  das  Urbild, 
in  dem  Vergänglichen  erblicken  wir  den  Schein  des  Ewigen;  Phantasie  und 
Gemüt  lassen,  was  der  Verstand  nicht  ergründet,  ahnen  sab  specie  aeternitatis. 

Wie  Faust  in  der  Morgenfrühe  die  Bergesriesen  im  Sonnenglanze  erglühen 
sieht  und  jubelt:  'Sie  tritt  hervor!',  da  —  getroffen  von  der  Fülle  und  Kraft 
des  Lichtes  —  klagt  er:  'Leider  schon  geblendet,  Kehr'  ich  mich  weg,  vom 
Augenschmerz  durchdrungen.' 

Er  deutet  dies  symbolisch,  und  so  will  er  sich  bescheiden  mit  dem  Um- 
schleierten,  Verhüllten,  wie  es  unser  Erdenleben  bietet: 

Der  Wassersturz,  das  Felsenriff  durchbrausend, 
Ihn  schau'  ich  an  mit  wachsendem  Entzücken. 
Von  Sturz  zu  Sturzen  wälzt  er  jetzt  in  tausend, 
Dann  abertausend  Strömen  sich  ergießend, 
Hoch  in  die  Lüfte  Schaum  an  Schäume  sausend. 
Allein  wie  herrlich,  diesem  Sturm  entsprießend, 
Wölbt  sich  des  bunten  Bogens  Wechsel-Daner, 
Bald  rein  gezeichnet,  bald  in  Luft  zerfließend, 
Umher  verbreitend  duftig  kühle  Schauer! 
Der  spiegelt  ab  das  menschliche  Bestreben. 
Thm  sinne  nach,  und  du  begreifst  genauer: 
Am  farbigen  Abglanz  haben  wir  das  Leben. 


I 


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MATERIALIEN  ZU  EINER  RE  PETITION  ÜBER  AFRIKA 

Von  Rudolf  Hannckk 

Würde  Ulrich  von  Hutten  noch  einmal  auf  die  Erde  zurückkehren  und 
den  Beginn  des  zwanzigsten  Jahrhunderts  erleben,  so  könnte  er  mit  vollster 
Überzeugung  seinen  Kuf  wiederholen:  O  Jahrhundert,  es  ist  eine  Lust,  in  dir 
zu  leben!  Denn  ebenso  wie  beim  Anfang  des  sechzehnten  Säkulums  macht 
sich  der  Anbruch  eines  neuen  Kulturzeitalters  mit  bedeutend  erweitertem 
Horizonte  in  unseren  Tagen  geltend.  Wir  entdecken  zwar  nicht  neue  Erdteile 
und  Seewege  wie  ein  Kolumbus  und  Vasko  de  Gama,  aber  es  haben  die 
geographisch-merkantilen  RieBenprojekte  unserer  Zeit  und  die  Voraussicht  ihrer 
zukünftigen  Wirkung  entschieden  etwas  Analoges  mit  den  geographischen 
Thaten  Europas  um  das  Jahr  1500.  Schon  naht  sich  der  Riesenbau  der 
sibirischen  Eisenbahn  seiner  Vollendung,  Nordamerika  ist  von  Schienensträngen 
durchquert,  und  ihnen  ganz  ebenbürtig  oder  vielleicht  noch  staunenswerter  be- 
schäftigt ein  neues  kolossales  Eisenbahnprojekt  die  Aufmerksamkeit  Europas, 
nämlich  die  Kap-Kairobahn  zur  Durchmessung  des  gesamten  Afrikas  von  Nord 
nach  Süd.  Ahnlich  wie  die  angeblichen  Kanäle  des  Mars  durchschneiden  die 
Schienen  dieser  Riesenbahnen  ganze  Kontinente,  und  wenn  diese  Bauten 
vollendet  sind,  wird  die  moderne  Menschheit  auf  die  bautechnischen  Grofsthaten 
des  Altertums  mit  ihrer  mühsamen  Zusammenfügung  von  Steinmassen  wie  auf 
die  Arbeiten  von  Pygmäengeschlechtern  stolz  herabsehen  können.  Das,  was  dem 
neuen  Eisenbahnprojekte  noch  das  besonders  Interessante  verschafft,  ist  die 
Richtung  der  Baulinie.  Zum  erstenmale  ist  ein  solches  Riesenprojekt  geplant 
in  der  Richtung  des  Längengrades,  durch  70  Breitengrade  hindurch  und  quer 
über  den  Äquator.  Wer  sich  in  Kairo  auf  die  Bahn  setzt,  sieht  nachts  am 
Sternenhimmel  den  grofsen  Bären  funkeln,  und  wenn  er  endlich  in  der  Kap- 
stadt anlangt,  strahlt  ihm  das  Kreuz  des  Südens  in  mächtigem  Glänze  ent- 
gegen. Desgleichen  kann  er  die  schon  von  Herodot  bei  Erwähnung  der  Um- 
schiffung  Afrikas  durch  die  Phönicier  ausgesprochene  Verwunderung  teilen, 
dafs  während  der  Reise  die  Sonne  ihre  gewohnte  Bahn  zu  verlassen  scheint; 
in  Nordafrika  beschrieb  sie  südlich  ihren  Tagesbogen,  in  Südafrika  dagegen 
nördlich.  Überhaupt  kommt  der  Reisende  in  Afrika  aus  den  Rätseln  und 
der  Verwunderung  gar  nicht  heraus.  Flüsse,  Temperatur,  Regenzeit,  Flora 
und  Fauna  bieten  so  viel  Staunenswertes  und  Unerklärliches,  dafs  noch  heute 
der  Zuruf  der  alten  Römer  gelten  kann:  Quid  novi  ex  Africa?  Der  ganze 
Erdteil  macht  den  Eindruck  des  Ungeschlachten,  wozu  auch  hauptsächlich 
die  geringe  Zugänglichkeit  der  Küste  beiträgt.    Schon  Sallust  spricht  von 


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R.  Hanncke:  Materialien  zu  einer  Repetition  über  Afrika 


383 


dem  Ungestümen,  hafenlosen*  Meer  um  Afrika  herum,  an  der  Westseite  der 
Sahara  treibt  der  Passat  den  Flugsand  in  das  Meer,  so  dafs  man  hier  wie 
bei  dem  danischen  Skagen  von  einem  Grab  der  Schiffer  sprechen  möchte;  an 
der  Küste  von  Guinea  tobt  eine  unbändige  Brandung,  und  das  rote  Meer  ist 
westwärts  eingesäumt  durch  gefährliche  Korallenriffe.  —  Die  Flüsse  haben 
ferner  meist  die  fatale  Eigentümlichkeit  der  Wasserfalle  und  Stromschnellen, 
und  größtenteils  stellen  sich  die  Fälle  nahe  der  Flußmündung  ein;  denn  Afrika 
erscheint  mit  seinem  Hochlandspanzer  wie  eine  riesige  Schildkröte;  vom  Hoch- 
lande herab  ergiefst  sich  der  Strom  in  Fällen  zum  Rande  und  ist  also  für  die 
Schiffahrt  unbrauchbar  geworden.  Zudem  war  man  bis  vor  kurzem  über 
Ursprung  und  Lauf  der  Flüsse  völlig  im  Unklaren.  Nicht  allein  der  Nil  er- 
schien als  sphinxartig,  so  dafs  das  Caput  Nili  quaerere  geradezu  die  Bedeutung 
bekam,  sich  den  Kopf  mit  unergründlichen  Dingen  zermartern,  sondern  auch 
der  Niger  galt  als  der  *Flufs  der  Rätsel*.  Der  Gegensatz  der  trockenen  und 
der  Regenzeit  trug  viel  zur  Verwirrung  bei.  Bald  erschienen  Flugverbindungen, 
die  später  nicht  mehr  vorhanden  waren,  und  man  war  im  Ungewissen,  ob  nun 
wirklich  der  Benue  zum  Tschadsee  abfliefse,  ob  Zambese  und  Kongo  eine 
Bifurkation  hätten  und  Schari  und  weifser  Nil  in  Zusammenhang  stünden.  — 
Staunenswert  waren  die  Temperaturexzesse.  Bei  Murzuk,  dem  'Glutofen',  war 
das  Wärmemaximum  vorhanden,  man  fand  also  das  Wortspiel  für  Afrika 
Svev  tpQixriq  (ohne  Frostschauer)  sehr  glaubhaft  —  und  doch  war  wieder  in  den 
Nächten  die  Abkühlung  so  stark,  dafs  man  diese  Nächte  als  den  'Winter  der 
Tropen'  bezeichnen  konnte.  Drei  Viertel  deB  Erdteils  lagen  in  der  Tropen- 
zone, und  dabei  der  Mangel  an  Wasser.  Allerdings  mutmafst  man  ja  richtig 
in  der  Wüste  das  'Meer  unter  der  Erde',  also  das  Quell wasser,  und  die 
Franzosen  sprechen  es  ganz  deutlich  aus,  dafs  man  Afrika  mit  dem  Bohrer  er- 
obern müsse.  Das  hervorsprudelnde  Nafs  erscheine  den  verschmachtenden 
Negerstammen  als  Überzeugendste  Kulturthat,  und  der  Tuareg,  der  in  seinen 
blauen  Shawl  sein  Antlitz  vergräbt,  damit  doch  nur  nicht  die  Feuchtigkeit  des 
Atems  entweiche,  schone  das  liquid  gold,  das  Wasser,  wie  eine  Zaubergabe 
und  reinige  sich  nur  mit  Sand. 

Denken  wir  nun,  das  Riesenprojekt  des  Cecil  Rhodes,  also  die  grofse 
Transversalbahn  von  Kairo  bis  zum  Kap,  wäre  bereits  vollendet,  —  wirklich 
macht  sich  ja  der  energische  Engländer  anheischig,  die  Bahn  in  fünf  Jahren 
herzustellen1)  —  und  fahren  auf  dieser  Zukunftsbahn  von  Norden  nach  Süden, 
um  so  die  geographischen  Eigentümlichkeiten  des  schwarzen  Erdteils  in  kon- 
kretester Weise  kennen  zu  lernen! 

In  Kairo,  'der  Perle  des  Orients',  wird  gerade  das  Fest  der  Schleusen- 
öffnung gefeiert.  Um  die  Mitte  des  August  ist  der  Nil  bei  seiner  jährlichen 
Überschwemmung  bo  hoch  gestiegen,  dafs  die  Schleuse  des  grofsen  Kanals 
durchstochen  werden  kann.  Es  ist  das  ein  für  Ägypten  hochbedeutsames  Fest. 


')  Die  Neger  sollen  sich  recht  untüchtig  und  ungeschickt  als  Arbeiter  anstellen.  Alles 
tragen  sie  auf  dem  Kopfe,  selbst  die  Karre,  wenn  sie  sie  entleert  haben  und  surückkehreu. 


■ 


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384 


R.  Hanncke:  Materialien  zu  einer  Repetition  über  Afrika 


Denn  bekanntlich  sind  ja  Ägypten  und  Nubien  eigentlich  Wüsten  mit  Oasen- 
stellen, d.  h.  sie  fallen  in  die  Region  des  grofsen  regenarmen  Wüstengürtels, 
der  sich  vom  atlantischen  Rande  der  Sahara  über  Arabien,  Innerpersien  bis 
zur  Gobi  hinzieht.  Diese  Lande  entbehren  also  fast  gänzlich  den  wohlthätigen  ^ 
Regen,  und  Kairo  selbst,  mehr  aber  noch  Suez  machen  sich  in  der  Bauart 
ihrer  Häuser  diese  klimatische  Eigentümlichkeit  zu  nutze.  Denn  da  man  darauf 
rechnen  kann,  dafs  es  z.  B.  in  Suez  im  Jahre  durchschnittlich  nur  eine  Viertel- 
stunde regnet,  hat  man  die  Häuser  aufs  schlechteste  aus  ungebrannten  Steinen 
zusammengefügt,  und  bei  tagelang  anhaltendem  Regenwetter  müfsten  ganze 
Dörfer  und  Städte  in  sich  zusammenstürzen.  Die  einzige  Rettung  für  das 
ägyptische  Nilthal,  dem  Wüstenelend  zu  entrinnen,  liegt  also  darin,  dafs  'Vater 
Nil'  durch  seine  Überschwemmung  die  staubigen  Lande  erquickt  und  fruchtbar 
macht.  Wenn  die  tropischen  Regengüsse  den  oberen  Nil  erfüllen,  beginnt  in 
Ägypten  das  Wasser  des  Stromes  zu  schwellen,  Mitte  August  aber  ist  der 
kritische  Augenblick  gekommen,  wo  man  ersieht,  ob  der  Strom  hinlänglich  ge- 
stiegen ist,  um  die  Inundation  zu  ermöglichen.  Die  Munadis1)  eilen  in  den 
Kanal,  vieltausendstimmiger  Jubel  erfüllt  die  Luft,  und  endlich  sind  die  letzten 
Spatenstiche  geschehen,  der  Strom  stürzt  brausend  durch  die  Schleusen.  — 
Eine  Eisenbahnfahrt  durch  Ägypten  um  diese  Zeit  läfst  das  ganze  Land  als 
einen  grofsen  See  erscheinen,  wenig  später  beginnt  dann  die  dem  zweiten 
Gleichnis  des  bilderreichen  Arabers  entsprechende  Erscheinung,  wo  die  Gegend 
wie  ein  lachender  Garten  aussieht,  um  zuletzt  wieder  den  trostlosen  Charakter 
der  Wüste  anzunehmen.  In  der  Zeit  der  üppigen  Vegetation  macht  Ägypten, 
da  vorher  das  befruchtende  Nafs  überall  durch  Kanäle  und  Sakien  (Schopf- 
räder) hingeleitet  ist,  einen  gesegneten  Eindruck.  Getreide-  und  Baumwollen- 
felder  reifen  der  Ernte  entgegen,  und  Sykomoren  und  Datteln  bilden  die 
charakteristischen  Bäume.  Die  Behausungen  der  Fellachen  sind  zahlreich  um- 
hergestreut, und  es  ist  unglaublich,  wie  kümmerlich  der  durch  harte  Steuern 
gedrückte  Feiiah  leben,  mufs,  —  heifst  es  doch,  'die  Taube  wohnt  in  Ägypten 
besser  als  der  Mensch*.  Dabei  hat  das  Land  eine  Volksdichtigkeit,  wie  sie 
selten  beobachtet  wird.  Auf  einem  Räume  so  grofs  etwa  wie  Pommern  leben 
gegen  7  Millionen  Menschen.  Sonst  ist  das  ägyptische  Wüsten klima  nicht  un- 
gesund, und  gerade  Brustkranke  finden  hier  Genesung.  Der  feine  Staub  in  der 
Luft  erzeugt  allerdings  anderseits  die  berüchtigten  ägyptischen  Augenkrankheiten. 

Bei  Assuan  erreicht  der  Bahnzug  die  Landesgrenze.  Hier  sind  die  Strom- 
schnellen, die  jetzt  durch  grofsartige  Strombettregulierungen  beseitigt  werden 
sollen,  und  wir  betreten,  indem  wir  stromaufwärts  fahren,  das  zweite  Stufen- 
land des  Nil,  Nubien. 

Hier  tritt  der  Charakter  der  Wüste  viel  augenfälliger  zu  Tage.  Es  fehlen 
die  einengenden  Gebirgszüge,  die  Ägypten  das  Ansehen  eines  Sarges  geben, 
ihm  aber  auch  zugleich  die  segenspendende  Überschwemmung  ermöglichen;  das 
Land  ist  breiter  gelagert  und  liegt  schon  südlich  vom  Wendekreise.  Die  Hitze 


')  'Nilausrufer'. 


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B.  Hanncke:  Materialien  m  einer  RepetiÜon  Ober  Afrika 


385 


ist  daher  der  Art  grofs,  dafs  man  Eier  im  glühenden  Sande  kochen  kann.  Die 
Bahn  hat  die  Umwege  der  S-artigen  Schleifen  des  Flusses  abgekürzt  und  sucht 
in  gerader  Richtung  Berber  zu  erreichen,  von  wo  ein  Schienenstrang  nach 
Suakin  am  roten  Meere  projektiert  ist.  Hier  in  diesen  Strichen  hat  der  Islam 
die  letzten  verzweifelten  Anstrengungen  gemacht,  um  seine  Vorherrschaft  über 
die  Neger  dem  Christentum  gegenüber  zu  behaupten,  und  zweimal  haben  die 
Englander  mit  den  ägyptischen  Truppen  schwere  Kampfe  gegen  die  Scharen 
des  Mahdi  bestehen  müssen,  unter  Gordon  und  zuletzt  unter  Lord  Kitchener. 
Während  im  westlichen  Sudan  die  Fulbe  oder  Fellata  mit  Energie  und  Erfolg 
den  Islam  unter  die  ackerbautreibenden  Neger  getragen  und  ^überall  Despotien 
aufgerichtet  haben,  ist  hier  im  Osten  der  Mahdi  erstanden,  der  gestützt  auf 
die  angebliche  Prophezeiung  Muhameds,  dafs  im  dreizehnten  Jahrhundert  der 
muhamedanischen  Zeitrechnung  ein  Mahdi  erscheinen  und  den  Islam  wieder 
beleben  werde,  wirklich  im  Jahre  1300  oder  1882  der  christlichen  Ära  unter 
fanatischen  Verheifsungen  für  die  Kämpfer  des  Propheten  'den  Engel  des 
schwarzen  Todes',  das  Banner  des  Halbmondes1),  unheimlich  flattern  liefs. 
Östlich  von  diesen  blutgetränkten  Gefilden  liegt  die  afrikanische  Schweiz,  das 
Alpenland  Abessinien  mit  seiner  semitischen,  christlichen  Bevölkerung.  Es 
sind  hier  ebenso  wie  in  Armenien  Urformen  eines  monopbysitischen  Christen- 
toms vorhanden,  und  leider  haben  die  modernen  Missionsbestrebungen  der 
europaischen  christlichen  Völker  von  diesen  versteinerten  Kirchengemeinschaften 
in  Afrika  keine  Unterstützung  zu  erwarten.  Der  'Löwe  vom  Stamme  Juda', 
wie  sich  der  äthiopische  Kaiser  nennt,  betrachtet  im  Gegenteil  occidentalisches 
Christentum  mit  dem  gröfsten  Mifstrauen. 

Von  Berber  an  schliefst  sich  die  Bahn  wieder  enger  an  den  Nil  und 
überschreitet  den  Atbara  in  grofsartigem  Brückenbau.  Wenn  die  Sprengungen 
bei  Assuan  vollendet  sind,  so  ist  der  Nil  weithin  aufwärts  für  Dampfschiffe 
zugänglich.  Er  ähnelt  darin  unserer  Donau,  die  von  Donauwörth  an  von  Dampf 
sshiffen  befahren  wird,  und  die  ebenfalls  in  dem  jetzt  regulierten  Pafs  von 
Orsova  ihre  Stromenge  hatte.  Allerdings  hat  die  Nilfahrt  ein  erhebliches 
Hindernis  zu  überwinden,  wie  sie  die  Donau  in  unseren  gemässigten  Klima- 
strichen nicht  kennt.  Das  ist  die  verfilzte  metertiefe  Pflanzenbarre  des  Sszedd, 
die  bei  der  jahrelangen  Vernachlässigung  zu  einem  recht  bösen  Hindernis  der 
Dampfschiffahrt  sich  ausgewachsen  hat.  Jedenfalls  hat  der  Neger  hier  auf  dem 
Flusse  doch  schon  längst  den  Zeugen  und  Träger  unserer  abendländischen 
Kultur,  den  gehorsamen  Boten  des  allmächtigen  'Königs  Dampf  bewundern 
können,  eben  das  Dampfschiff,  und  ebenso  werden  Niger  und  Benue  und  sogar 
der  Kongo  zwischen  Stanley-  und  Livingstonefällen  von  den  Rädern  unserer 
europäischen  Dampfschiffe  durchfurcht;  auf  letzterem  sollen  schon  vierzig  dieser 
modernsten  Leviathane  verkehren. 

Bei  Chartum  vereinigen  sich  der  weifse  und  der  blaue  Nil.  Chartum,  in 
dessen  Nähe  sich  Omdurma,  wohlbekannt  aus  der  Geschichte  des  Mahdi,  be- 

>)  Die  grofce  schwärze  Fahne  des  Mahdi. 

Neue  Jthrbacuar.   189».  II  25 


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386 


R.  Hanncke:  Materialien  zu  einer  Repetition  Ober  Afrika 


findet,  ist  zur  Zeit  des  ersten  Aufstandes  zerstört  worden.  Etwas  oberhalb  am  Nil 
liegt  Faschoda,  bis  zu  dem  die  Franzosen  von  Westen  her  vorgedrungen  waren, 
und  noch  weiter  aufwärts  ist  Redjaf  nennenswert,  wo  die  Kongoleute  den  Nil 
zu  erreichen  suchen.  Denn  der  'heilige  Strom'  ist  hier,  wie  das  Meer  im 
hanseatischen  Mittelalter,  der  heifsersehnte  Zielpunkt  der  Europäer,  seine 
riesige  Handelsstrafse  erscheint  als  Inbegriff  verheifsungsvollster  Zukunfts- 
traume. 'Während  aber  England  dem  Kongostaat  gegenüber  ein  Auge  zu- 
drückt, das  Vordringen  stillschweigend  geschehen  läfst,  ist  es  bei  Frankreich 
voll  wachsamen  Argwohns  gewesen,  und  Faschoda  hat  den  Anlafs  zu  sehr 
gereizten  diplomatischen  Erörterungen  gegeben.  —  Der  eine  Quellarm  des  Nil 
wird  also  der  weifse  genannt  wegen  des  milchigen  Wassers,  und  ostwärts  er- 
giefst  sich  in  ihn  der  von  Abessinien  herabströmende  blaue  Nil  mit  schlamm- 
reicher grüner  Farbe.  Über  Sennaar  und  Fasogel  leitet  uns  dieser  letztere 
Flufs  in  das  Gebiet  einer  ganz  anderen  Flora  und  Fauna.  Bisher  bildeten 
Dattelpalme  und  Kamel  die  charakteristischen  Typen  der  Landschaft,  jetzt 
kommen  wir  in  den  Tropengürtel,  wo  die  riesigen  Adansonien  und  die  echt 
afrikanischen  Erscheinungsformen  der  Pachydermen  sich  als  Vertreter  der 
durchwanderten  Gebiete  darbieten.  Die  Adansonien  oder  Affenbrotbäume, 
Baobabs,  gehören  zu  den  kolossalsten  Pflanzen,  man  nennt  sie  den  Elefanten 
unter  den  Gewächsen  und  kann  dies  malvenartige  Pflanzengebilde  ebenso  wie 
die  Mammutbäume  in  Kalifornien  und  die  300  m  langen  Algen  der  Oceane 
unter  die  Zeugen  einer  staunenswerten  Schaffenskraft  vegetativer  Natur  rechnen. 
Man  mifst  den  Umfang  der  Baobabs  bis  zu  24  m,  den  Durchmesser  der  kurzen 
Stämme  bis  zu  8  m  und  hat  an  einzelnen  Exemplaren  5 — G000  Jahresringe 
aufgefunden.  —  Dort  wo  sich  die  hamitischen  Bewohner  mit  den  eigentlichen 
Negerstämmen,  zuerst  den  Haussanegern  und  weiter  südlich  den  Bantus  be- 
rühren, begegnen  uns  auch  schon  Sterkulien,  die  kakaobaumähnlichen  Kola- 
oder Gurunufsge wachse,  die  den  '  Kaffee  von  Sudan'  liefern.  Die  Kolanüsse 
zeichnen  sich  durch  ihren  starken  Gehalt  an  Koffein  aus  (sie  übertreffen  darin 
den  stärksten  Javakaffee),  und  dienen  den  Negern  als  unentbehrliches  An- 
regungsmittel, das  sie  z.  B.  wach  erhält,  wenn  sie  ihre  nächtlichen  Orgien 
feiern.  Wie  unser  Wegerich  den  Indianern  als  'Fufs  des  weilsen  Mannes'  gilt 
und  westwärts  den  Europäer  als  Kulturpionier  begleitet,  so  ist  die  Kolanuß 
überall  da  zu  finden,  wo  Neger  wohnen,  also  auch  in  Brasilien.  Sie  bildete 
in  Innerafrika  einen  wichtigen  Handelsartikel  und  wurde  buchstäblich  mit  Gold 
(Sudan  war  vor  Entdeckung  der  südamerikanischen  Goldländer  der  ergiebigste 
Fundort)  aufgewogen.  —  Zu  erwähnen  ist  ferner  die  Negerhirse  oder  Durra, 
das  afrikanische  Hauptgetreide.  Der  träge  Neger  baute  bisher  so  unzulänglich 
das  Getreide,  dafs  Afrika,  obschon  es  57  mal  so  volkreich  ist  wie  Australien, 
dem  Welthandel  nicht  so  viel  Ware  bietet  wie  dieser  meist  dürre  Erdteil  — 
Den  Riesen  des  Pflanzenwuchses  entsprechen  die  Vertreter  der  Fauna.  Schon 
quantitativ  mufs  diese  Fauna  imponieren,  denn  Afrika  ist  der  säugerreichste  f 
Kniteil,  aber  auch  die  Qualität  der  einzelnen  Arten  erfüllt  uns  mit  staunender 
Verwunderung  über  dies  seltsame  Spiel  einer  strotzend  fruchtbaren  Naturkraft 


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B.  Hanncke:  Materialien  zu  einer  Repetiüon  über  Afrika 


387 


Elefanten,  Rhinocerosse  und  Nilpferde  ragen  durch  ihre  Kolossalität  hervor, 
Krokodile,  Giraffen,  Riesenschlangen,  Löwen  und  Straufse  dienen  weiter  dazu, 
das  Tiergewimmel  des  tropischen  Afrika  recht  buntscheckig  zu  machen,  und 
dazu  kommen  dann  in  den  westafrikanischen  Urwäldern  die  seltsamen  Vertreter 
der  Affenwelt,  der  Schimpanse  und  der  Gorilla.  —  Nur  ein  zur  Nahrung  so 
notwendiges  Mineral  hat  die  Natur  diesem  östlichen  Afrika  versagt,  nämlich 
das  Salz,  und  so  bildet  hier  das  Salz  der  Wüste  Sahara  die  übliche  Tausch- 
ware. In  Abessinien  ersetzen  Steinsalzstabe  das  nötige  Courantgeld  und  er- 
innern in  der  unmittelbar  verwertbaren  Nützlichkeit  an  die  ursprüngliche  Form 
und  Bedeutung  des  griechischen  obolos  und  des  römischen  as  (Bratspiefs  und 
Stangen,  also  Stäbe  von  Metall,  die  zerteilt  werden  konnten).1) 

Die  Bahn  soll  den  Nil  aufwärts  begleiten  und  befindet  sich  bei  Lado,  von 
wo  der  Nil  schiffbar  wird,  in  echt  tropischem  Sumpf land,  'das  zur  Zeit  der 
Überschwemmung  meilenweit  mit  Wasser  bedeckt  ist.'  Hier  wohnen  zwischen 
NU  und  Kongo  die  hochentwickelten  Niam-Niam  und  Mongbuttus,  die  aber 
trotz  ihrer  Intelligenz  und  manuellen  Geschicklichkeit  Menschenfresser  sind  und 
in  dem  Glauben  stehen,  sich  durch  die  entsetzliche  Mahlzeit  die  Kraft  der  ge- 
fallenen  Feinde  anzueignen.  —  Bald  ist  der  Äquator  erreicht,  und  südostwärts 
liegt  der  Wunderberg  des  Kilimandscharo.  Der  Rübezahlberg  (oder  Berg  == 
kilima  des  Dämons  der  Kälte)  steigt  kegelartig  empor  und  ragt  mit  seinem 
Schneehaupte  Kibo  bis  zu  einer  Höhe  von  6000  m.  Anschaulich  schildert 
uns  Dr.  Hans  Meyer  —  der  den  Gipfel  bestiegen  hat  —  die  Eindrücke,  wenn 
man  nach  Durchwanderung  der  Steppen  der  Njikawüste  zuerst  den  Berg- 
riesen wahrnimmt.  'Unten  die  Glut  des  Äquators  und  tropisches  Leben,  neben 
uns  der  nackte  Neger  und  vor  uns  Palmenhaine  am  Rande  des  Tawetawaldes; 
dort  oben  die  Eisluft  der  Pole,  die  überirdische  Ruhe  einer  gewaltigen  Hoch- 
gebirgsnatur,  ewiger  Schnee  auf  erloschenen  Vulkanen !'  Hier  kann  man  recht 
erkennen,  welche  Fülle  des  Segens  Schneeberge  in  sich  bergen,  zumal  in  einem 
tropischen  Klima,  und  man  versteht  den  Stofsseufzer  des  Geographen,  'wie 
anders  würde  es  um  Afrika  stehen,  wenn  seine  Gebirge  von  Schnee  belastet 
wären'.  Der  Schnee  speist  die  Bäche  und  Rinnsale,  und  es  entwickelt  sich  die 
entzückende  Vegetation  der  Dschaggüländer,  die  diesen  Erdenfleck  zu  einem 
'Garten  Gottes'  stempelt.  Der  Reiz  der  Gegend  wird  erhöht  durch  die  Pflanzung 
der  Bananen  oder  des  Pisangs,  dessen  Beeren  ja  Millionen  Menschen  der  heifsen 
Erdstriche  die  mehlreichen  Getreidearten  des  Nordens  ersetzen  und  dessen 
Stämme,  wie  Humboldt  sagt,  den  Menschen  seit  der  frühesten  Kindheit  seiner 
Kultur  begleiten. 

Die  Bahn  ist  jetzt  überhaupt  in  das  äquatoriale  Seengebiet  Afrikas  ein- 
getreten, und  man  will  bekanntlich  Afrika  den  Erdteil  der  gröfsten  Binnenseen 
nennen.  In  ziemlicher  Nahe  von  dem  Schienengeleise  liegt  der  Viktorianyanza 
von  der  Gröfse  Bayerns,  der  also  an  Flächenraum  wenig  dem  oberen  See 


')  Im  Sudan  selbst  bilden  die  Kauris,  die  kleinen  Muscheln  der  indischen  Porzellan  - 
Schnecken,  das  Tauschgeld.    Ein  Huhn  kostet  etwa  250  Kauris,  also  ungefähr  »0  Pf. 

25* 


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388  R  Hanncke:  Materialien  zu  einer  Repetition 

Amerikas,  dem  gröfsten  Binnensee,  nachsteht.  Seine  Ufer  sind  meist  flach, 
und  darin  unterscheidet  er  sich  von  den  schlauchartigen  südlichen  Seen  des 
Tanganyka  und  Nyassa,  von  denen  ersterer  eine  Reliktenfauna  beherbergen  soll, 
was  auf  ursprünglichen  Zusammenhang  mit  dem  Meere  hindeuten  würde.  Das  Js 
Zwischenland  dieser  Seen  ist  Deutschostafrika  in  der  Gröfse  des  gedoppelten 
Deutschlands,  und  durch  seinen  Westrand  soll  die  projektierte  Eisenbahn  hin- 
durchgelegt werden.  In  dem  Lande  kann  man  wie  in  allen  dem  Äquator  be- 
nachbarten Breitengraden  nicht  von  eigentlichen  Jahreszeiten  sprechen,  dies 
sind  klimatische  Erscheinungen  unserer  gemäfsigten  Zone.  Über  dem  Äquator- 
bewohner steht  die  Sonne  zweimal  im  Jahre  senkrecht  oder  direkt  im  Zenith, 
das  ist  an  unseren  Tag-  und  Nachtgleichen  des  21.  März  und  23.  September, 
in  den  zwischenliegenden  Zeiten  beschreibt  sie  zuerst  nordwärts  ihren  Tages- 
bogen,  und  dann  südwärts.  Für  die  heifse  Zone  gilt  das  Gesetz,  dafs  'die 
Regen  dem  Zenithstande  der  Sonne  folgen',  und  demnach  müfsten  diese  Gegenden 
wenigstens  in  unmittelbarer  Nähe  des  Äquators  zweimal  Regenzeiten  haben. 
Dies  klang  auch  aus  einer  neuerlichen  beweglichen  Bitte  der  Zeitungen  heraus, 
wonach  für  unsere  Kolonie  gesammelt  werden  sollte,  weil  wegen  Ausbleibens 
der  kleinen  Regenzeit  und  anhaltender  Dürre  Mifs wachs  und  Hungersnot  ein- 
getreten sei.  Das  Fatale  ist,  dafs  Afrika  gröfstenteils  Hochland  ist,  und  dafs 
z.  B.,  was  unsere  Kolonie  Ostafrika  betrifft,  die  regengeschwängerten  Monsuns 
bereits  an  den  Küstenrändern  zerreifsen  und  sich  ihrer  Segensfülle  entladen 
(ganz  wie  an  der  Ostküste  Australiens),  so  dafs  in  den  Trockenzeiten  höchstens 
an  den  das  Land  durchstreichenden  Gebirgszügen  Steigungsregen  (wie  in  Heidel- 
berg) sich  findet  und  üppigeres  Wachstum  zuläfst.  Daraus  erklärt  sich  in  dem 
östlichen  Afrika  das  Park-  und  Savannenähnliche  der  Landschaft,  die  für  den 
Europäer  etwas  Ödes  und  Fremdartiges  in  sich  schliefst.  Statt  unseres  weichen 
Unsens  sprossen  büschelähnlich  zusammenstehende  harte  und  steife  Halmgräser, 
und  nur  vereinzelt  wachsen  Strauch-  und  Baumarten,  die  lange  Trocknis  aus- 
halten, wie  Dornsträucber  und  kaktusähnliche  Euphorbien  (Wolfsmilchgewächse). 
Hier  sind  die  Jagdgründe  und  Tummelplätze  der  Antilopen,  Giraffen  und  Straufse, 
und  die  Uferwälder  an  dem  Sickerwasser  der  Flüsse  'ziehen  sich  wie  dunkel- 
farbige Schlangen  durch  die  fahle  Steppe'. 

Lange  Zeit  wurde  in  diesen  Gebieten  scheufslicher  Sklavenraub  getrieben. 
Überhaupt  schien  der  Erdteil  schon  seit  dem  grauesten  Altertum  dazu  verdammt 
zu  sein,  als  vornehmste  und  fast  einzige  Ausfuhrware  das  Ebenholz,  wie  die 
ihrer  Freiheit  beraubten,  unglücklichen  schwarzen  Menschen  genannt  wurden, 
zu  liefern.  Karthago  schickte  seine  Karawanen  südwärts,  die  Araber  des  Mittel- 
alters legten  dem  Hinterlande  schonungslos  diese  Blutsteuer  auf,  und  als 
Amerika  entdeckt  war  und  Las  Casas  seine  menschenfreundlichen  Vorschläge 
machte,  kam  der  Skaventransport  aus  dem  unglücklichen  Kontinente  erst  recht 
in  Flor.  Man  will  nachrechnen,  dafs  bisher  in  etwa  zweieinhalb  Jahrhunderten 
40  Millionen  Menschen  Afrika  entzogen  seien,  und  staunt  über  die  trotzdem 
schier  unerschöpfliche  Menschenfülle  (man  schätzt  die  Einwohnerzahl  Afrikas 
auf  etwa  170  Millionen).    Das  Los  der  amerikanischen  Neger  war  ja  traurig 


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R.  Eannckc:  Materialien  zu  einer  Kepetition  über  Afrika 


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genug  —  man  erinnere  sich  der  Schilderungen  aus  Onkel  Toms  Hütte  — ,  aber 
scheufslicher  noch  waren  die  Sklavenjagden  hier  in  Ostafrika.  Wenn  die 
arabischen  Händler  ihren  nichtswürdigen  Einkauf  oder  Raub  gemacht  hatten, 
so  trieben  sie  die  Neger  in  den  Dschebas  erbarmungslos  zur  Küste,  und  dann 
ging  es  an  die  Verpackung  in  den  Dhaus,  aus  denen  endlich  die  zu  Toten- 
gerippen abgemagerten  Überlebenden  -  und  waren  es  auch  nur  fünfzig  Pro- 
zent —  an  der  asiatischen  Küste  herauskletterten,  um  auf  die  Sklavenmärkte 
gebracht  zu  werden.  Die  Besitzergreifung  des  Landes  durch  Deutschland  hat 
diesen  entwürdigenden  Jagden  ein  Ende  gemacht,  und  der  ostafrikanische  Ab- 
delkader, der  Araber  Buschiri,  hat  seinen  Aufruhr  und  Widerstand  gegen  die 
deutsche  Humanität  mit  dem  Tode  am  Galgen  büfsen  müssen.  Statt  des  Eben- 
holzes wird  jetzt  Elfenbein  zur  Küste  gebracht,  das  von  hier  aus  im  stärksten 
Prozentsatz  als  Ausfuhrware  in  den  Handel  kommt,  und  charakteristisch  wie 
die  langen  Kamelreihen  in  der  nordafrikanischen  Wüste  und  die  Ochsenwagen 
in  Südafrika  erscheinen  hier  als  einzig  mögliche  Art  des  Transportes  die  mit 
ihren  Lasten  bepackten,  einzeln  hintereinander  in  den  schmalen  Steppenpfaden 
einherschreitenden  schwarzen  Träger.  Es  ist  eben  die  einzig  mögliche  Art  der 
Fortschaffung  der  Lasten,  denn  die  Haustiere  Europas  oder  Nordafrikas  können 
entweder  das  heiTse  Klima  nicht  vertragen  oder  fallen  als  Opfer  der  hier  ein- 
heimischen giftigen  Tsetsefliege. 

Zwischen  Tanganyka-  und  Nyassasee,  wo  die  Eingeborenen  eine  Art 
Mückenkuchen  wie  unseren  Kaviar  verzehren,  verläfst  die  Bahn  deutsches 
Gebiet  und  bleibt  nun,  ebenso  wie  nordwärts  bis  an  den  Äquator  der  Einflufs 
Englands  reichte,  ausschliefslich  auf  englischem  Territorium.  Es  ist  das  eine 
stolze  Genugthuung  für  den  energischen  Kolonisationsgeist  des  angelsächsischen 
Volkstums,  in  so  breiter  Lagerung  von  Nord  nach  Süd  durch  einen  gewaltigen 
Erdteil  hin  den  Einflufs  seines  Namens  und  seiner  Flagge  gewahrt  zu  wissen 
und  sich  nur  für  eine  kurze  Strecke  genötigt  zu  sehen,  mit  den  Dutchmen  sich 
zu  vereinbaren.  Es  war  ja  in  den  letzten  Jahrzehnten  auch  keine  allzuschwere 
Aufgabe,  sich  hier  gröfsere  Territorien  zu  erwerben,  und  unter  etwas  veränderten 
Verhältnissen  schienen  die  mittelalterlichen  Zustände  der  fränkisch-byzantinischen 
Zeit  des  Archipelagus  aufgelebt  zu  sein,  wo  mühelos  die  occidentali  sehen  Grafen 
und  Barone  im  Kreuzzugszeitalter  sich  Herzogtümer  und  Königreiche  erwarben 
und  Dynastien  begründeten.  Im  wesentlichen  verdankt  aber  England  diesen 
neuen  Zuwachs  seiner  Macht  hier  südwärts  vom  Äquator  der  Thatkraft  eines 
Mannes,  den  die  Presse  daher  nicht  mit  Unrecht  den  Napoleon  Südafrikas  ge- 
nannt hat,  eben  des  Cecil  Rhodes,  von  dem  auch  das  grandiose  Eisenbahn- 
projekt herrührt,  das  uns  bisher  beschäftigt  hat.  Die  Bahn  läuft  also  jetzt  in 
den  Steppen  und  Waldungen  des  neu  erworbenen  und  fast  ganz  ungekannten 
Rhodesia,  und  allmählich  wird  der  Reisende,  je  weiter  er  südwärts  fährt,  den 
Einflufs  einer  geänderten  Jahreszeit  gewahr  werden.  Der  Nordrand  Afrikas 
hatte  seine  Sommerzeit  vom  Mai  bis  September,  in  Südafrika  umgekehrt  tritt 
die  begünstigte  Jahreszeit  vom  November  bis  Mai  ein.  Noch  komplizierter 
wird  ja  der  Gegensatz  zweier  Punkte  auf  der  Erdoberfläche,  wenn  zu  dem 


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R.  Hanncke:  Materialien  zu  einer  Kepetition  über  Afrika 


Unterschiede  der  Jahreszeiten  noch  der  der  Tageszeiten  tritt,  so  dafs  man 
sich  das  Maximum  dieses  gegensätzlichen  Zustandes  derart  konstruieren  kann: 
wenn  wir  zwölf  Uhr  mittags  im  heifsen  Sommer  haben,  ist  es  für  die  Leute 
auf  den  Antipodeninseln  bei  Neuseeland  Mitternacht  und  obenein  Winterszeit. 

—  Die  Bahn  nähert  sich  jetzt  dem  Zambese,  dem  viertgrofsten  unter  den 
afrikanischen  Strömen.  Natürlich  hat  auch  dieser  Flufs  in  den  Livingstoneschen 
Viktoriafällen  seinen  Absturz,  und  besonders  prächtig,  denn  über  dreifsig 
Meter  tief  stürzt  sich  das  breite  Wasser  in  eine  enge  Spalte,  und  mächtige 
Dampfsaulen  verkünden  bis  auf  zehn  Kilometer  den  gewaltigen  Naturvorgang, 

—  aber  es  geht  ihm  wie  den  anderen  Flüssen  in  Afrika,  für  die  Schiffahrt  ist 
er  gröfstenteils  unbrauchbar.  Die  oft  majestätische  Breite  des  Strombettes  be- 
hindern wiederholt  Sandbänke  und  Katarakte,  und  namentlich  die  Mündungs- 
arme sind  leider  fast  wie  verstopft.  So  hat  er  die  Erwartungen,  die  man  an 
seine  Entdeckung  knüpfte,  nicht  erfüllt.  Während  die  zweiundzwanzig  Mün- 
dungsarme, die  'Ölfltisse'  des  Nigers  oder  Kworras  einen  intensiven  Handel  mit 
Palmol  ermöglicht  haben,  ist  das  Zambesedelta  unbewohnt  und  ungesund  ge- 
blieben. Etwa  fünf  Grad  südlich  vom  Zambese  liegt  Buluwayo,  die  Hauptstadt 
von  Rhodesia,  bis  zu  dem  von  der  Kapstadt  her  schon  die  Bahn  fertig  und  im 
Betriebe  ist.  Je  mehr  sich  der  afrikanische  Kontinent  nach  Süden  zuspitzt, 
desto  schroffer,  kann  man  sagen,  werden  die  klimatischen  Gegensätze.  Die 
Ostküste  hat  reichlichen  Regen,  üppige  Vegetation  und  alle  Mängel  eines  tro- 
pischen Klimas,  wie  denn  die  Delagoabai  durch  ihre  Mangrowewaldungen  und 
ihre  Sumpffieber  berüchtigt  ist  Binnenwärts  auf  den  Hochflächen  haben  wir 
ein  Uberaus  trockenes  Klima  und  die  Erscheinung  der  Regenflüsse,  die  also  nur 
bei  Regenzeit  sich  mit  Wasser  füllen;  ja  man  will  behaupten,  dafs  in  Südafrika 
in  den  letzten  Jahrzehnten  sich  der  Wasserstand  noch  erheblich  gemindert  hat. 
Das  Land  trocknet  also  immer  mehr  ein,  und  wenn  nicht  die  civilisatorische 
Anpflanzung  der  Kulturgewächse  Südafrika  aufhilft,  werden  die  Lebensbedin- 
gungen dort  ungünstiger  werden.  Früher  konnte  man  doch  den  Ngamisee 
nachweisen,  dessen  Wasser  allerdings  ein  periodisches  Einschlürfen  beobachten 
liefsen  —  die  Eingeborenen  sagten,  das  Wasser  ziehe  sich  zurück,  'um  zu 
fressen'  —  heute  soll  er  beinahe  verschwunden  sein,  ebenso  wie  die  Salzpfannen 
auch  solche  ehemaligen  Seemulden  darstellen.  Also  das  ausgesprochene  Kon- 
tinentalklima und  die  Dürre  prägen  hier  dem  südlichen  Erdteil  gröfstenteils 
den  Charakter  der  Steppe  oder  geradezu  der  Wüste  auf,  wie  das  die  grofse 
Kalahari  wüste  im  Inneren  des  Landes  bezeugt.  Bei  dem  Vorherrschen  des 
Busches  oder  des  'Niederwaldes',  eines  niedrigen  strauchartigen  Gehölzes,  macht 
sich  der  Mangel  an  Holz  und  Brennmaterial  sehr  empfindlich  geltend,  und  man 
wartet  sehnsüchtig  auf  die  Entdeckung  von  gröfseren  Steinkohlenflözen.  In 
den  Breiten  der  Kalahari  tritt  der  klimatische  Gegensatz  der  einzelnen  durch 
die  Längengrade  geschiedenen  Gürtel  und  Vegetationstypen  recht  augenfällig 
zu  Tage.  An  der  Ostküste  liegt  das  englische  Natal,  benannt  nach  dem  Tage 
seiner  Entdeckung  durch  Vasko  de  Gama,  dem  Weihnachtstage  1497.  Hier  an 
dem  feuchtheifsen  Uferstriche  gedeiht  neben  Kaffee  und  Baumwolle  sogar  das 


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K.  Hanncke:  Materialien  zu  einer  Repetition  über  Afrika 


391 


Zuckerrohr,  und  der  Regenmesser  zeigt,  die  erstaunliche  Fülle  der  Niederschlüge 
von  5  m  an.  Überboten  wird  diese  Regenmenge  wohl  nur  von  Assam  in 
Hinterindien,  wo  570"  (also  etwa  15  m)  Niederschlage  stattfinden  sollen, 
während  wir  in  Deutschland  nur  700  mm  messen.  Aber  diese  Entleerungen  und 
Güsse  der  mit  Wasserdunst  übersättigten  Wolken  bringen  andererseits  auch 
zahlreiche  Gewitter  mit  sich,  und  wir  entsinnen  uns,  dafs  Bartholomäus  Diaz 
die  Südspitze  Afrikas  das  Cabo  tormentoso  nannte,  wobei  Gewitterstürme  wohl 
auch  eine  Rolle  gespielt  haben.  —  Nach  Westen  zu  folgen  die  beiden  Boeren- 
republiken  mit  gemäfsigterem  Klima,  dann  die  Kalahari  und  endlich  am  Rande 
des  atlantischen  Ozeans  unser  deutsches  Südwestafrika  mit  seiner  fast  vegeta- 
tionslosen Stranddünenküste.  Die  Kalahari  tragt  den  Namen  einer  Wüste,  ent- 
behrt doch  aber  nicht  ganz  des  Pflanzenwuchses.  Der  Boden  ist  hier  und  da 
Wkleidet  mit  verschiedenen  Salzpflanzen,  den  Aasblumen  und  Eispflanzen,  und 
namentlich  charakteristisch  ist  das  absonderliche  Gebilde  der  Welwitschia,  einer 
polypenartig  an  der  Erde  hinkriechenden  Pflanze,  die  den  Stamm  als  Wurzel  in  der 
Erde  stecken  hat  und  an  der  Oberfläche  zweimeterlange  Blatter  treibt.  Während 
sich  also  die  Pflanzenwelt  von  diesen  Strichen  zurückgezogen  hat,  sind  sie  um 
so  mehr  der  Tummelplatz  zahlreicher  Tiere  geworden,  die  aus  den  bewohnten 
Gegenden  leider  vertrieben  sind.  Antilopen,  Straufse  und  Giraffen  haben  hier 
ihre  Jagdgründe,  und  auch  der  Löwe  ist  noch  zu  finden.  Und  gleichermafsen 
wie  die  klimatischen  Verhältnisse  sich  hier  nach  Ost  und  West  scheiden,  so 
haben  wir  auch  bedeutsame  ethnologische  Unterschiede.  Die  Ostküste  zeigt 
noch  bis  Natal  in  den  schönen  Sulukaffern  die  letzten  Ausläufer  der  Bantu- 
neger,  so  wie  im  Nordwesten  die  Duallavölker  in  Kamerun  als  letzte  nördliche 
Vertreter  erscheinen.  In  den  Wüsten  der  Kalahari  und  weiter  südwestlich 
finden  wir  dagegen  die  Betschuanen,  Buschmänner  und  Hottentotten  mit  ihren 
Schnalzlauten  (nach  denen  sie  benannt  Bein  sollen),  wahrscheinlich  die  Über- 
bleibsel der  Ureingeborenen  Afrikas,  wie  man  auch  in  den  zwischen  die 
Neger  eingestreuten  kümmerlichen  Zwergvölkern  in  den  äquatorialen  Strichen 
diese  Ureinwohner  erkennen  will.  Diese  Stämme  Südafrikas  stehen  auf  der 
untersten  Stufe  der  Gesittung,  sind  überaus  faul,  diebisch  und  bis  zu  er- 
schreckendem Grade  bedürfnislos  in  Bezug  auf  Nahrung  und  Wohnung,  wie 
man  denn  sagt,  der  Buschmann  kenne  keine  anderen  Haustiere  als  den  Hund 
and  die  Laus. 

Die  Bahn  umgeht  geflissentlich  das  Gebiet  der  beiden  südafrikanischen 
Republiken,  und  das  hat  seinen  guten  Grund.  England  ist  neidisch  auf  das 
Emporblühen  dieser  beiden  Boerenstaaten,  des  Oranjefreistaats  und  der  Trans 
vaalschen  Republik,  und  legt  ihnen  gern  Hindernisse  in  den  Weg,  scheut  auch 
vor  offenen  Gewaltstreichen  nicht  zurück,  wie  das  Cecil  Rhodes  bewiesen  hat. 
Die  holländischen  Boeren  haben  aber  eine  gewaltige  Zähigkeit  und  Thatkraft 
nnd  bauen  sich  im  Lande  ihre  eigenen  Eisenbahnen,  von  denen  die  wichtigste 
die  Hauptstadt  Pretoria  mit  dem  viel  umstrittenen  Delagoahafen  verbindet. 
Die  Bewohner  der  Republiken  sind  Bauern  und  Viehzüchter,  zwei  Fundobjekte 
haben  aber  dem  Lande  weit  über  Afrika  hinaus  eine  grofse  Bedeutung  und 


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392 


R.  Hanncke:  Materialien  zu  einer  Repetition  Aber  Afrika 


Anziehungskraft  verliehen,  das  sind  die  Diamanten  und  das  Gold.  Das  Dasein 
der  sogenannten  'Vaalgesteine'  war  insofern  von  grofser  Wichtigkeit,  als  in  sie 
die  kostbaren  Diamanten  eingebettet  lagen.  Man  fand  sie  durch  Waschen 
und  Sortieren  entweder  in  den  River- Diggings,  also  im  Flufsbett  des  Vaal 
selbst  —  in  den  Ufergeländon  arbeiteten  unzählige  'Wiegen*  — ,  oder  man  grub 
sie  auf  den  erworbenen  'Claims'  in  den  schnell  berühmt  gewordenen  'Diamant- 
kratern', vor  allem  in  Kimberley,  wo  die  Vertiefungen  der  in  den  Gruben 
schürfenden  Arbeiter  übersponnen  waren  mit  einem  Spinnenwebennete  von 
Drahtseilen,  an  denen  die  Eimer  herabgelassen  und  heraufgezogen  wurden.1) 
Berühmt  geworden  ist  'der  Stern  von  Südafrika',  ein  Diamant  von  83  Karat, 
für  den  einst  ein  Preis  von  500000  Mark  gezahlt  wurde.  Die  Diamanten  haben 
mehrfach  einen  Stich  ins  Gelbliche  und  imponieren  durch  ihre  Grölse,  so  dafs 
man  bereits  einen  Stein  von  über  900  Karat  gefunden  hat.  —  Eine  zweite  an- 
sehnliche Rolle  im  Wirtschaftsleben  der  Erde  spielt  das  Gold  der  Transvaal 
bergwerke,  dessen  Ausbeute  gegenwärtig  die  bedeutendste  in  der  Welt  ist,  so 
dafs  Amerika  überflügelt  ist,  wenn  nicht  noch  Clondyke  allmählich  i  ichere 
Erträge  liefert.  Nach  einer  neuerlichen  Berechnung  ist  die  Gesamtausbeute  an 
Gold  auf  der  Erde  350000  kg,  was  einem  Wert  von  einer  Milliarde  Mark 
gleichkommt.  Afrika  liefert  eine  viertel  Milliarde  an  Wert.8)  Ein  Viertel  der 
gesamten  Goldgewinnung  findet  im  Kunstgewerbe  Verwendung,  das  übrige 
wandert  in  die  Münzen. 

Da  die  Geographen  in  Afrika  sehr  freigebig  mit  signifikanten  Vergleichen 
gewesen  sind  und  wir  z.  B.  'ein  afrikanisches  Rom'  in  Timbuktu  und  ein 
'London  Afrikas'  in  dem  sudanischen  Kano  besitzen,  so  könnten  wir  eigentlich 
für  Transvaal  den  alten  halb  mythischen  Begriff  'Eldorado'  wieder  aufleben 
lassen. 

So  überschreitet  nun  endlich  die  Bahn  den  letzten  grofsen  afrikanischen 
Strom,  den  Oranjeflufs;  wir  durchfliegen  die  Wüstengebiete,  darunter  die  Carroo, 
die  durch  Freiligrats  Gedicht  'Der  Löwenritt',  das  allerdings  alle  möglichen 
geographischen  und  zoologischen  Verstöfse  darbieten  soll,  hinlänglich  bekannt 
ist,  und  befinden  uns  am  Ziel  unserer  Fahrt,  in  der  englischen  Kapkolonie. 
Wenn  wir  Ende  August  uns  in  Kairo  auf  die  Bahn  gesetzt  haben  und  eine 
solche  Transversierung  des  Erdteils  doch  wohl  zwei  bis  drei  Wochen  Zeit 
beansprucht,  so  langen  wir  demnach  im  September  in  der  Kapstadt  an.  Dort, 
wo  wir  abfuhren,  war  es  Spätsommer,  hier  wo  wir  ein  treffen,  ist  es  Beginn 
des  Frühlings  mit  dem  Reiz  der  erwachenden  guten  Jahreszeit.  Man  nennt 
den  September  hier  am  Kap  den  Blumenmonat,  und  alle  Pracht  der  berühmten 
kapischen  Flora  ist  hier  zu  schauen.  An  den  'Kindern  der  verjüngten  Au' 
sind  die  Verheifsungen  der  Ceres  in  vollstem  Mafse  erfüllt: 

Euer  Kelch  soll  überfliefsen 

Von  des  Nektars  reinstem  Tau,  — 


')  Jetzt  ist  in  Kimberley  der  Betrieb  grofatenteils  im  Besitz  der  de  Beere  Gesellschaft. 
*)  Nach  neuester  Berechnung  28 V,  %  alles  jährlich  produzierten  Goldes. 


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R.  Hanncke:  Materialien  zu  einer  Repetition  Ober  Afrika 


393 


Tauchen  will  ich  euch  in  Strahlen, 
Mit  der  Iris  schönstem  Licht 
Will  ich  eure  Blätter  malen 
Gleich  Aurorens  Augesicht.1) 

Die  Wunder  einer  farbenreichen  Vegetationskraft  sind  am  besten  auf  der 
Rückseite  des  Tafelberges  zu  beobachten,  da,  wo  die  alte  Burgunderrebe  hier 
den  feurigen  Kapwein  erzeugt  Unter  dem  Geäste  der  Proteaceen,  der  Silber- 
bäume und  Zuckerbasche  erglühen  die  Polster  der  Eriken  und  die  mannshohen 
herrlichen  Pelargonien.  Noch  ist  nicht  die  heifseste  Zeit  da,  der  Januar  und 
Februar  —  'wo  Metallgegenstande  so  heifs  werden,  dafs  man  sie  kaum  in  der 
Hand  halten  kann  und  wo  dunkle  Wollenkleidungen  einen  Geruch  verbreiten, 
als  waren  sie  versengt*  — ,  noch  ist  es  herrliches  Frühjahr,  wo  der  Südost- 
passat mit  seiner  auffrischenden  antarktischen  Luftströmung  als  'Kapdoktor' 
seine  Herrschaft  angetreten  hat.  Überhaupt  will  man  der  Kapstadt  das  ge- 
sündeste Klima  der  Welt  zuerkennen  und  ihr  Klima  dem  des  paradiesischen 
Neapel  gleichsetzen,  nur  dafs  eine  gewisse  Erschlaffung  des  Thätigkeitstriebes 
als  unwillkommene  Beigabe  mit  in  den  Kauf  genommen  werden  mufs.  —  Alle 
diese  südafrikanischen  Staaten,  auch  unsere  Kolonie  Westafrika,  sind  gewaltige 
Viehzüchter,  und  namentlich  in  der  Schafzucht  (1875  in  der  Kapkolonie  zehn 
Millionen  Schafe!)  wird  Südafrika  nur  von  Australien  und  den  La  Platastaaten 
überholt,  so  dafs  Wolle  neben  den  Erträgen  der  Straufsenzucht  die  hauptsäch- 
lichste Ausfuhrware  bildet. 

Wohl  bei  keinem  andern  Erdteil  hat  der  Zeitraum  der  letzten  dreifeig 
Jahre  eine  solche  Bereicherung  der  Kenntnis  gebracht,  ein  solches  Eindringen 
in  das  äulsere  und  innere  Leben  des  Landes.  Vor  dreifsig  Jahren  brauchte 
man  den  Vergleich,  Afrika  wäre  wie  ein  Trauermantel,  der  nur  an  den  Rändern 
seiner  Flügel  licht  erscheint;  heute  überzieht  man  den  Erdteil  mit  Telegraphen- 
drähten, und  die  Bewegungskraft  des  Dampfes  soll  die  entmutigende  Schwer- 
fälligkeit des  inneren  Ausgleichs  und  der  Beziehungen  der  einzelnen  Landschaften 
zu  einander  besiegen.  Vielleicht  ist  auch  der  Negerrasse  noch  einst  ein  intensiver 
Anteil  an  dem  Ausbau  der  Menschenkultur  beschieden, 

»)  Pritech,  Südafrika  8.  187. 


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4 


ANZEIGEN  UND  MITTEILUNGEN 


BRIEFE  VON  F.  A.  WOLF  UND  F.  P APEN- 
CORDT AN  LINA  KLINDWORTH 
(Schluß) 

III*1  Brief  von  Papencordt  an  Lina 
Klindworth. 
Rom  10  December  18S8. 

Beaten  Dank,  verehrteste*  Fräulein ,  für 
Ihren  letzten  Brief  vom  8*""  August,  welchen 
ich  aber  erst  d.  28  November  erhalten  habe, 
wie  Ihnen  Deodat  wohl  Bchon  gesagt  hat. 
Wir  tauschen  Briefe  aus,  wie  Glaukos  und 
Diomedes  beim  Homer  ihre  Rüstungen;  ich 
gebe  Erz  und  bekomme  Gold  dafür  wieder: 
XQVOta  %ulxti<av  inarofißoi  twtaßouav,  und 
ich  würde  Ihnen  öfter  schreiben,  wenn  ich 
mich  nicht  schämte,  zu  oft  einen  ungleichen 
Handel  zu  machen.  —  Alle  Nachrichten, 
welche  Sie  mir  über  Ihr  Leben  und  Treiben 
in  Waldow  ■)  geben,  haben  mich  sehr  inter- 
essiert; ich  wollte  Ihnen  gern  einen  Theil 
meiner  Mufse  zu  Lieblingsarbeiten  abtreten, 
wenn  dies  nur  anginge.  Vielleicht  oder 
hoffentlich  gewifs  bringt  Deodate  Rückkehr 
in  das  alterliche  Haus  eine  angenehme 
Störung  in  Ihre  allzugrofse  Gewissenhaftig- 
keit; so  sehr  ich  auch  die  Aufopferung  an- 
erkenne, mit  der  Sie  Sich  der  Erziehung  der 
Kinder  Ihrer  Freundin  widmen  ■),  wäre  Ihnen 
doch  wohl  etwas  mehr  Rücksicht  auf  Sich 
Selbst  anzurathen,  so  dafs  Ihnen  mehr  die 
Oberleitung  und  anderen  das  Detail  anheim- 
fiele. Ähnliches  erinnere  ich  mich  Ihnen 
auch  schon  mündlich  gesagt  zu  haben.  Doch 
Sie  werden  dies  am  besten  wissen,  und  ich 
bin  weit  entfernt,  mir  ein  UrtheiL,  ja  kaum 
einen  guten  Rath  anmafsen  zu  wollen. 

Also  unser  Deodat  ist  jetzt  Studiosus  ge- 
worden; ich  war  ganz  überrascht  und  hatte 
gedacht,  er  würde  auf  der  Schule  bis  Ostern 
bleiben.   Er  schreibt  mir  einen  sehr  liebens- 


')  Ein  Landgut  des  Grafen  Oriolla  in  der 
Nieder- Lausitz,  wo  die  Familie  im  Sommer 
zu  leben  pflegte. 

')  Die  Gräfin  O.  hatte  aufser  den  Söhnen 
auch  eine  Tochter  Luise,  später  Palastdame 
bei  der  Kaiserin  Augusta.  Lina  Kl.  liefs  es 
sich  nicht  nehmen,  mit  den  jungen  Grafen 
die  lateinischen  und  griechischen  Klassiker 
selbst  zu  lesen. 


würdigen  Brief  voll  der  besten  Vorsätze;  und 
ich  habe  mein  Beates  gethan,  ihn  darin  zu 
bestärken.  Oder  mufs  ich  fürchten,  d&fs  er 
freundschaftliches  Predigen  nicht  gut  auf- 
nimmt? Ich  habe  ihm  vor  allem  gerathen, 
wenigstens  in  einem  Theil  seiner  Arbeit 
unverbrüchliche  Ordnung  zu  halten;  ferner 
habe  ich  ihn  dringend  ermahnt,  die  klassi- 
schen Studien  fortzusetzen.  Ohne  diese  Fort- 
setzung wäre  alle  frühere  Arbeit  ihrem  Wesen 
nach  verloren ;  vielleicht  wäre  es  am  besten, 
er  nähme  wöchentlich  noch  etwa  3  Privat- 
stunden  über  alte  Sprachen  bei  einem  tüch- 
tigen Philologen;  sonst  hat  das  Fortarbeiten 
doch  keine  rechte  Art,  wie  ich  an  so  vielen 
Beispielen  gesehen  habe.  Der  Vortheil  davon 
ist  ein  gewisser  Zwang  und  eben  die  Ge- 
legenheit, sich  immer  Raths  zu  erholen. 
Bitte,  schlagen  Sie  dieses  gütigst  dem  Herrn 
Grafen  vor,  wenn  Sie  selbst  damit  ein- 
verstanden sind.  Ich  bin  kein  sonderlicher 
Freund  der  Engländer,  aber  ich  habe  deren 
doch  eine  grofse  Menge  hier  gesehn  und 
bewundere  ihren  Sinn  für  klassische  Bildung, 
nicht  nur  unter  den  Civilisten,  sondern  auch 
unter  den  Officieren  der  Landmacht.  Es  ist 
mir  wiederholt  vorgekommen,  dafs  ich  einem 
colonel  oder  major-general  vorgestellt  bin, 
welcher  in  allen  Welttheilen  gedient  hatte 
und  dabei  die  Klassiker  kannte,  wie  ein 
Philolog  von  Profession  es  gewöhnlich  nicht 
thut;  bei  den  Juristen  und  Parlaments- 
Mitgliedern  ist  es  durchweg  der  Fall.  Dabei 
haben  sie  einen  aufserordentlichen  Eifer  zum 
lernen;  und  z.  B.  einer  meiner  Bekannten 
liest  griechische  Klassiker  mit  einem  alten 
Generalleutenant,  welcher  seine  Universitiit»- 
studien  hervorgesucht  hat.  So  etwas  wünschte 
ich  auch  bei  Deodat  zu  sehen  und  ich  rechne 
sehr  auf  Ihre  Unterstützung  dabei. 

Was  mich  betrifft,  so  habe  ich  bald, 
nachdem  ich  Ihnen  geschrieben,  im  Juni  eine 
kleine  Reise  in  die  Abruzzen  gemacht  und 
die  alten  Wohnsitze  der  Volsker,  Marser, 
Samniten,  Aequer  und  Sabiner  besucht.  Es 
ist  dies  eine  der  interessantesten  Reisen,  die 
man  machen  kann,  da  das  Volk  noch  nicht 
durch  die  Reisenden  verderbt  ist,  und  man 
weniger  zu  Wagen,  sondern  nur  zu  Fufs 
oder  zu  Pferde  reisen  kann.    Ich  war  in 


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Anzeigen  und  Mitteilungen 


Anagni,  Ferentinum ,  Alatri,  Arpinum,  der 
Geburt«*  tadt  Ciceros  und  Marius',  wo  ich  an 
die  Leser  von  Cicero  de  lege  Muni lia  gedacht 
habe;  dann  Sora,  lago  di  Fucino  mit  dem 
Schlachtfelde  Conradiiis,  Celano,  Corfinium, 
Aquila,  Kieti.  80  lange  es  die  Hitze  erlaubte, 
blieb  ich  dann  in  Rom  bei  meiner  Arbeit, 
im  August  war  ich  auf  dem  Lande,  und 
d.  II'*"1  September  reiste  ich  dann  nach 
Sicilien.  Die  Überfahrt  von  Neapel  nach 
Meeaina  war  sehr  glücklich,  denn  ich  hatte 
während  27  Stunden  auch  kaum  einen  Anfall 
von  Seekrankheit,  welche  ich  sehr  fürchte. 
Auch  die  Reise  selbst  war  wunderbar  glück* 
lieh.  Jeder  rieth  uns  wegen  der  vielen 
Rauberbanden  ab,  überhaupt  oder  ohne  Be- 
deckung  au  reisen;  mehrere  Reisende  kehrten 
in  den  Hafenplätzen  wieder  um,  und  unsere 
Gesellschaft,  bestehend  aus  4  Deutschen,  hat 
auch  nicht  eine  Spur  von  Räubern  gesehen, 
selbst  nicht  in  den  berufensten  Gegenden. 
Weder  in  Palermo,  noch  in  Neapel  oder  hier 
will  man  uns  dieses  glauben  und  denkt,  wir- 
sagten  es  nur  nicht  aus  Furcht  vor  allen 
Weitläufigkeiten.  Aus  diesem  Grunde  und 
wegen  des  anhaltend  guten  Wetters  ging 
alles  prächtig  von  statten;  solche  Äufseriich- 
keiten  haben  in  Sicilien  besonderes  Gewicht, 
da  man  %  des  Weges  und  mehr  blos  zu 
Maulthier  machen  kann. 

Wir  nahmen  den  Weg  über  Messina,Catania, 
Leontini,  Syracus,  Note,  Modica,  Terra  nova, 
Sicata,  Girgenti,  Castelvetrano,  nach  Selinunt, 
Segesta,  Palermo.  Am  meisten  entsprochen 
haben  mir  Syracus,  Girgenti,  Palermo.  Der 
erste  Ort  ist  nächst  Griechenland  für  grie- 
chische Geschichte  der  klassischeste  Ort,  und 
ich  habe  wahrhaft  im  Thucydides  geschwelgt, 
den  ich  an  Ort  und  8telle  gelesen  und  da 
erst  ganz  verstanden  habe.  Auch  die  Gegend 
bat  einen  ganz  besonderen  Reiz  und  weicht 
von  den  italienischen  ab.  Man  fühlt  sich 
weit  mehr  im  Süden,  und  allen  Erzählungen 
nach  mufs  Griechenland  gerade  so  aussehn. 
Von  Kunstdenkmalen  sieht  man  in  Syracus 
nur  noch  sehr  wenig;  der  Minerventempel 
ist  jetzt  die  Domkircbe,  aber  in  seinen  Ver- 
hältnissen der  schönste  dorische  Tempel, 
welchen  ich  kenne.  Die  Arethusa  ist  ein 
Schmutzloch  ohne  Gleichen  und  der  Ort,  wo 
die  scheuslichsten  Weiber  waschen  und  das 
Vieh  zur  Tränke  geführt  wird.  Die  alten 
Latomien  gewähren  einen  ausserordentlich 
grof Bärtigen  Anblick;  es  sind  ungeheure 
Steinbrüche,  die  man  in  aller  möglichen 
Weise  zugehauen  hat.  Am  schönsten  sehen 
diejenigen  aus,  wo  man  ungeheure  Pfeiler 
aur  Stützung  der  Decken  hat  stehen  lassen, 


395 

berüchtigten  Gefängnissen  dienten.  Hube 
ich  das  Lokal  gesehen,  so  lebe  ich  ganz 
andere  in  der  Geschichte  des  Ortes.  —  In 
Girgenti  sah  ich  aufser  der  höchst  inter- 
essanten Lage  der  Stadt  und  ihrer  Umgebung 
die  weltberühmten  Tempel.  Der  noch  stehende 
ganz  unversehrte  ist  kleiner,  als  der  grofsc 
in  Paestum,  aber  besser  erhalten  und  daher 
außerordentlich  belehrend.  Von  der  Gröfse 
des  Jupitertempels  kann  man  sich  freilich 
bei  dem  besten  Willen  kaum  einen  Regriff 
machen;  es  ist  wirklich  wahr,  was  schon 
Diodor  sagt,  dafs  man  in  einer  Cannellierung 
stehen  kann;  mein  nicht  sehr  schmaler 
Rücken  pafste  vortrefflich  hinein,  und  die 
Ecken  standen  noch  weit  über.  Selinunt  ist 
nur  ein  ungeheurer  Trümmerhaufen;  denn 
nur  zwei  Säulen  stehen  noch  von  6  kolossalen 
Tempeln.  In  Segest  ist  das  Theater  ganz 
nach  griechischen  Principien  gebaut,  wunder- 
schön gelegen  und  sehr  belehrend :  die  Sitze 
des  unteren  Stockes  waren  in  den  Felsen 
gehauen  und  sind  noch  ganz  gut  erhalten. 
Auch  der  Tempel  daselbst  ist  sehr  grofsartig, 
war  aber  selbst  im  Alterthum  nicht  vollendet 
Palermo  ist  der  Mittelpunkt  Siciliens  wäh- 
rend des  Mittelalters  und  der  neueren  Zeit. 
Die  Lage  ist  prachtvoll,  wohl  noch  schöner, 
wie  die  "on  Neapel.  Unter  den  Sehens- 
würdigkeiten aus  dem  Alterthum  sind  die 
Metopen,  welche  man  unter  den  Tempeln 
von  Selinunt  gefunden  hat,  von  dem  höchsten 
Interesse,  ja  von  alter  Kunst  vielleicht  mit 
den  Sachen  vom  Parthenon  das  Interessanteste 
in  der  Welt  Es  sind  ihrer  neun  an  der 
Zahl,  welche  3  verschiedenen  Kunstepochen 
der  vorphidianischen  Zeit  ganz  bestimmt 
entsprechen.  Es  ist  ein  Tod  des  Actaeon 
darunter,  welcher  das  Schönste  ist,  was  mir 
von  antiker  Kunst  im  Original  vorgekommen 
ist.  Durch  Betrachtung  acht  griechischer 
Kunstwerke  wird  einem  eine  ganz  neue  Welt 
aufgeschlossen,  und  ich  sage  nur  meine 
innigste  Überzeugung,  wenn  ich  behaupte, 
dafs  die  besten  Bildwerke  römischer  Zeit, 
z.  B.  der  Apollo  des  Belvedere,  der  Meleager, 
der  sterbende  Fechter,  Laocoon  sich  zu  den 
acht  griechischen  Kunstwerken  verhalten, 
wie  Virgil  zum  Homer.  Man  mufs  sich  ganz 
von  neuem  daran  gewöhnen,  wenn  man  eine 
Zeit  lang  unter  den  Griechen  gelebt  hat.  — l) 


')  Hiermit  hört  der  Brief  auf  der  4.  Seite 
des  Bogens  auf;  ohne  Zweifel  befand  sich 
der  Schlufs  auf  einem  beigelegten  und  ver- 
loren gegangenen  Blatte. 

Friedenau,  Mai  18«J0. 

Prof.  Dr.  Th  Preufs. 


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ZUR  AUSSPRACHE  DES  LATEINISCHEN 
Nach  der  Bemerkung  der  lateinischen 
Metrik,  dafß  eine  auf  kurzen  Vokal  aus- 
lautende letzte  Silbe  vor  mehrfachem  kon- 
sonantischen Anlaute  kurz  bleibe,  möchte  es 
scheinen,  als  wenn  in  der  lateinischen 
Sprache  die  Anlehnung  der  Wörter  an- 
einander, wodurch  elien  eine  Silbenverstär- 
kung  würde  herbeigeführt  werden  können, 
nicht  in  gleich  ausgedehntem  Mafse  wie  in 
der  griechischen  stattgefunden  habe.  Das 
ist  aber  durchaus  nicht  der  Fall. 

Eb  stehen  sich  im  Lateinischen  nämlich 
zwei  Grundsätze  gegenüber,  einmal  der,  dafs 
im  Verse  die  Konsonanten  im  Anlaute  eines 
Wortes  auf  die  Endsilbe  des  daran  an- 
gelehnten vorhergehenden  ebenso  wirken, 
wie  im  Inlaute  auf  die  vorhergehende  Silbe, 
und  der  andere,  dafs  auf  kurzen  Vokal  aus- 
lautende letzte  Silben  zu  schwach  sind,  um 
durch  eine  solche  Anlehnung  verstärkt  oder 

—  wie  der  gewöhnliche  Ausdruck  ist  — 
verlängert  zu  werden. 

Hierbei  wird  vorausgesetzt,  dafs  die 
Schlufssilbe  diesen  offenen  Auslaut  behält 
und  nicht,  wie  z.  B.  in  necesse  'st,  alta  'st, 
eine  neue,  geschlossene  Silbe  entsteht. 

—  Ferner  ist  zu  bemerken,  dafs  das  an- 
gefügte que  nicht  als  schwache  Schlufssilbe 
aufzufassen  ist,  Bondern  von  den  Römern  als 
ein  dem  Sinne  nach  selbständige«  Wort, 
wenn  auch  ohne  selbständige  Betonung, 
empfunden  wurde.  Wenn  also  von  zwei 
aufeinander  folgenden  que  bei  Dichtern  das 
erste  öfters  in  der  Arsis  erscheint,  so  ver- 
stöfst  das  durchaus  nicht  gegen  den  obigen 
Grundsatz. 

Aus  jener  erwähnten  Zwangslage  ziehen 
sich  nun  die  lateinischen  Dichter  dadurch, 
dafs  sie  es  vermeiden,  durchaus  Positions- 
länge bildende  Konsonantenverbindungen, 
wie  sc,  st,  sp,  sq,  auf  eine  solche  schwache 
Endsilbe  folgen  zu  lassen.  BlofB  einfache 
Konsonanz  oder  nicht  notwendig  Positions- 
länge bildende  Konsonantenverbindung  (ge- 
wöhnlich ungenau  als  muta  cum  liquida 
bezeichnet,  in  Wirklichkeit  Verbindung  von 
muta  oder  f  mit  r  oder  1)  ist  als  Anlaut 
danach  statthaft.  Statthaft  ist  also  z.  B.  im 
lateinischen  Verse  die  Wortfolge  ille  parat 
oder  ille  placet  oder  ille  fremit;  unstatthaft 
aber  %.  B.  ille  studet  oder  ille  Bciet  oder  ille 
sqnalor. 

Vor  Fremdwörtern  ist  keine  Anlehnung 
nötig.  Wie  der  Dichter  ohne  Anstand  sagt 
in  Actaeo  Aracjntho  (Verg.  ecl.  II  24)  und 
pati  hymenaeos  (Verg.  georg.  III  60),  so 
läfst  er  auch  unbedenklich  den  Doppel- 


konsonanten s  auf  schwachen  Auslaut  folgen 
in  'nemorosa  Zacynthos'  (Verg.  Aen.  Hl  «701 
Ferner  lesen  wir  uni  Crassicio  se  credere 
Zmyrna  probavit  in  Versen,  welche  Sueton 
de  gramm.  18  anführt,  und  distincta  zms- 
ragdo  bei  Lncan  (Phars.  X  181). 

In  dem  Verse 
horrida  squamosi  volventia  membra  draconis 
aber,  der  als  Beweis  für  die  Wirkungslosig- 
keit mehrfacher  Konsonanz  auf  vorhergehende 
Schlnfesilbe  im  lateinischen  Verse  angeführt 
zu  werden  pflegt,  liegt  der  hiatua&hnlichen 
Trennung  des  daktylischen  horrida  von  dem 
nächsten  Worte  offenbar  malerische  Absicht 
zu  Grunde:  es  wird  dadurch  die  ruckweise 
Bewegung  des  Untieres  veranschaulicht,  das 
hastig  voranschnellt  und  dann,  wie  die 
langen  Silben  des  folgenden  squamosi  zum 
Ausdruck  bringen,  in  langgezogenen,  schlep- 
penden Zügen  mit  seinem  schuppigen  Leibe 
über  die  Erde  hinschleifend  sich  wiederum 
ringelt  und  zu  neuem  Vorstofse  ansetzt  — 
Zu  vergleichen  ist  der  Hiatus  in  femineo 
nlulatu,  worin  sich  der  abgerissene,  stoß- 
weise Wehruf  der  Frauen  darstellt. 

Ganz  gewifs  haben  die  lateinischen 
Dichter  in  dieser  Anlehnung  der  Wörter  an- 
einander nur  den  freieren  Gebranch  der 
Sprache  des  gewöhnlichen  Lebens  zur  Regel 
erhoben.  Eine  ganz  enge  Verbindung  aber, 
unter  Aufgabe  des  eigenen  Worttones,  haben 
wir  in  der  Prosa  bei  den  Präpositionen  und 
Konjunktionen,  die  mit  dem  folgenden  Worte 
gewissermafsen  zu  einem  Worte  ver- 
schmelzen, so  dafs  z.  B.  in  den  vatikanischen 
Fragmenten  von  Sali.  bist.  HI  am  Zeilen- 
schlusse  abgetrennt  wird  contra  8 -pect* tarn 
rem,  quo-m  oraret. 

Eine  Folge  von  dieser  prokli tischen  An- 
lehnung ist  die  Verkürzung  der  mit  inde, 
ve  und  que  zusammengesetzten  Konjunk- 
tionen deinde,  proinde,  exinde,  aive,  neve, 
atque  und  neque  in  dein,  proin,  earin  oder 
exim,  seu,  neu,  ac  und  nec;  und  zwar  ist 
diese  Veränderung  eingetreten  vor  kon- 
sonantischem Anlaute.  Vokalischer 
Anlaut  nämlich  würde  bei  Elision  oder 
Synixese  des  auslautenden  e  den  vorher- 
gehenden Konsonanten  geschützt  haben 
Anders  aber  ist  es,  wenn  vor  konsonantischem 
Anlaute  das  e  durch  Apha  rase  abfällt  Mas 
vergleiche  z.  B.  dein  —  d'alii  mit  einem  un- 
aussprechlichen dein  —  d'ceteri!  Dem  ent- 
spricht auch  die  Analogie  von  ab  und  (im 
älteren  Latein)  von  band,  deren  auslautender 
Konsonant  sich  an  vokalischen  Anlaut  be- 
quem anlehnt,  während  er  vor  konsonan- 
tischem, namentlich  da,  wo  sich  eine  hart.' 
Verbindung  ergeben  würde,  abfällt,  b«aw. 


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abfallen  kann.  —  Ferner  stimmt  mit  der 
Entstehung  solcher  Formen  wie  dein,  seu, 
deren,  wenn  auch  bei  den  einzelnen  Schrift- 
stellern verschiedene,  so  doch  fiberwiegende 
Art  der  Verwendung. 

Zu  bemerken  ist  noch,  dafs  in  exin 
auffordern  eine  Verflüchtigung  des  n  ein- 
treten kann,  so  dafs  sein  Laut  dem  des 
Schlufs-m  in  lateinischen  Wörtern  entspricht. 
Daraus  erklärt  sich  die  Schreibung  exim. 

Was  ferner  den  Umstand  anlangt,  dafB 
sich  wohl  nec,  aber  (in  der  klassischen 
Sprache  wenigstens)  nicht  ac  vor  Konsonanten 
findet,  so  hat  dies  seinen  Grund  wohl  in  der 
volkstümlichen  Aussprache  des  qu  als  c. 
Bei  eintretender  Elision  wurde  hierbei  neque 
dem  durch  Aphärese  (vor  Konsonanten)  ent- 
standenen nec  in  der  Aussprache  gleich,  und 
es  war  also  einerlei,  ob  man  ss.  B.  neque  ille 
oder  nec  ille  schrieb.  Anders  lag  die  Sache 
aber  bei  atque.  Atque  ille  z.  B.  lautete  in 
diesem  Falle  at-cille  (c  selbstverständlich 

k);  zu  einer  Umwandlung  lag  also  kein 
Grund  vor.  Bei  konsonantischem  Anlaute 
dagegen,  z.  B.  in  atque  primo,  entstand  (falls 
nicht  atque  blieb)  nach  Aphärese  des  e  — 
da  ein  at-eprimo  nicht  möglich  — :  ac-primo. 

GrSTAV  FA8TKRDHO. 


Adolf  Baxtkls,  Da  dpctscub  Dichtuso 

DBB  GEGENWART.    DlB  ALTES  LUV  DIE  JlTNOEH. 

Zwkttb  AvnjL.au.   Leipzig  1899,  Ed.  Ave- 

narius.  272  S.  geh. 
Schon  häufig  ist  in  diosen  Blättern  die 
Frage  angeregt  worden,  wie  weit  die  Lit- 
teratur  der  Gegenwart  in  den  deutschen 
Unterricht  hineingezogen  werden  könne  und 
dürfe.  Dafs  die  Zeit  nur  für  sehr  sum- 
marische Behandlung  ausreicht,  dafs  ferner 
gelegentliche  Anregungen  zur  Lektüre  und 
Anschaffungen  für  die  Bibliothek  der  oberen 
Klassen  zumeist  genügen  müssen,  dürfte  den 
Einsichtigen  feststehen.  Wie  aber  bei  der 
Fülle  des  gewaltigen,  ewig  sich  neu  gebären- 
den Stoffes  sich  selbst  orientieren?  So  wird 
mancher  fragen,  dem  ein  selbständiges  Stu- 
dium der  neueren  und  neuesten  Litteratur 
entweder  bei  der  Last  der  engeren  Berufs- 
arbeit unmöglich  war  oder  auch  nach  Rich- 
tung seiner  ganz  dem  'Klassischen'  zu- 
gewandten Seele  unwürdig  schien.  Da  bietet 
nun  wirklich  das  Buch  von  Bartels  sich  als 
trefflicher  Wegweiser  dar.  Es  ist  durchweg 
eine  fleifsige,  brauchbare  Arbeit,  die  Beleden- 
heit mit  Geschmack,  sicheres  eigenes  Urteil 
mit  Gewandtheit  des  Ausdrucks  verbindet, 
die  anregt  und  zugleich  aufs  beste  orientiert. 
Die  erste  Auflage,  die  vor  zwei  Jahren  er- 


schien, hat  so  viel  Anklang  gefunden,  dafs 
es  wohl  wert  schien,  die  damalige  Skizze 
jetzt  durch  —  enger  gedruckte  —  Exkurse 
über  Leben  und  Dichten  der  einzelnen  füh- 
renden oder  geführten  Geister  zu  einem 
stattlichen,  gut  ausgestatteten  Bande  zu  er- 
weitern. Wer  des  Verfassers  witzige  Satire 
'Der  dumme  Teufel  oder  die  Geniesuche' 
(Dresden,  Verlags- Anstalt  1896.  1  Mk.  50  Pf.) 
kennt,  der  sieht  auch  hier,  wie  die  Begabung 
B.s  mehr  auf  der  Seite  des  scharf  spürenden 
Verstandes  als  auf  der  einer  eigenartigen, 
mit  sich  fortreifsenden  intuitiven  Geistes- 
kraft ruht,  dafs  er  sich  daher  vor  allem 
schematisch  die  Sache  zurechtzulegen  und 
nun  nach  Klassen  einzuteilen  liebt:  die  einen 
(Goethe,  Shakespeare,  Dante,  Cervantes)  sind 
ganze  Genies,  andere  sind  'partielle  Genies', 
grofse  Talente,  gewaltige  Persönlichkeiten 
(Schiller),  Universalgröfsen  (Herder)  oder  nur 
Talente  schlechtweg;  man  glaubt  eigentlich, 
die  Zeit  sei  vergangen,  wo  man  noch  über 
die  Unterschiede  von  Genie  und  Talent  — 
wie  über  Ballade  und  Romanze  —  haar- 
scharf stritt.  Etwas  Geniales,  Schöpferisches 
liegt  in  jeder  ecRten  Künstlernatur;  die 
Dauer  der  Wirkung  ihrer  Produktivität 
dürfte  der  letzte  Prüfstein  sein,  und  wo  sie 
bleibt,  ob  in  der  Welt,  ob  in  einem  Volk, 
ob  in  einer  Landschaft.  Es  giebt  eben 
gleichsam  zeit-  und  volklose,  ewige  Geister 
—  die  werden  nur  alle  paar  Jahrhunderte 
einmal  geboren  —  und  enger  nationale, 
enger  landschaftliche  Geister,  die  auch  er- 
heben und  erlösen,  und  deren  Kunstwerke 
für  die  Glieder  ihres  Stammes  Offenbarungen 
sind  und  auf  lange  Zeiten  bleiben. 

B.  setat  besonders  ins  rechte  Licht  die 
an  groben  Talenten  reichen  26  Jahre  nach 
1840,  die  Zeit  des  aufstrebenden  Liberalis- 
mus, erkennt  scharfsinnig  schon  von  der 
Mitte  der  60er  Jahre  den  Beginn  des  Ver- 
falls infolge  des  Kapitalismus  (Materialismus 
und  Pessimismus)  und  unterscheidet  denn 
eine  Früh-,  Hoch-  und  Spätdekadence,  die 
mit  dem  konsequenten  Naturalismus  ihren 
Gipfelpunkt,  im  Symbolismus  ihren  Rück- 
schlag ins  andere  Extrem  findet  und  teils 
vom  Nietzschetum ,  teils  vom  Sozialismus 
beeinflufst  wird.  Freilich  kann  es  bei  einer 
Bolchen  zahlenmäfsigen  Konstruktion  von 
Epochen  nicht  ausbleiben,  dafs  die  Schemata 
zu  willkürlicher  Zahlenmystik  werden  und 
die  einzelnen  Dichter  auf  ein  Prokrustes- 
bett kommen;  denn  manche  sind  recht 
langlebig  und  erreichen  ihre  Höhe  erst  im 
Alter.  Und  ferner  tritt  auch  bei  diesem  so 
gediegenen  Buche  die  Schwierigkeit,  ja  Un- 
möglichkeit hervor,  die  Geschichte  seiner 


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Zeit  sine  ira  et  studio  zu  schreiben;  ee  kann 
eben  niemand  aus  seiner  Haut  heraus,  d.  h. 
aus  seinen  Sympathien  und  Antipathien,  aus 
Urteilen,  die  auf  zufällige  Dinge  zurück- 
zuführen sind.  Wäre  B.  nicht  -  geborener 
Wespt'lburener ,  wäre  ihm  Hebbel  nicht  von 
Jugend  auf  als  Ideulgestult  erschienen,  er 
würde  ihn  nicht  in  so  überschwenglicher 
Weise,  fast  auf  jeder  Seite  verherrlichen; 
nur  noch  der  Hebbel  verwandte  Thüringer 
Otto  Ludwig  und  der  Schweizer  Jeremias 
Gotthelf  erhalten  eine  gleich  liebevolle, 
gleich  bewundernde,  über  alle  übrigen  er- 
hebende Würdigung,  während,  je  näher  wir 
der  unruhig  flutenden  Gegenwart  kommen, 
auch  das  Urteil  B.s  immer  mehr  von  Gmut 
oder  Ungunst  persönlichen  Geschmackes  ge- 
trieben wird  und  nicht  selten  mit  recht 
üblen  Zensuren  verfährt,  die  nicht  mehr  den 
frei  über  seinem  Stoffe  schwebenden  Künstler 
und  Kritiker  verraten,  sondern  die  rein  sub- 
jektive Abneigung  des  Schriftstellers. 

Aber  das  erscheint  fast  als  psychologisch 
selbstverständlich  und  giebt  zugleich  auch 
wieder  Farbe  und  Ton  der  ganzen  Arbeit, 
die  in  summa  nur  als  'vortrefflich  gekenn- 
zeichnet werden  kann.         4  ^ 


J.  Koch,  Römische  Geschichte.  8*.  205  S. 
Zweite  Auflade.  Gösckexschb  Sammlung. 
Leipzig  1898. 
Die  Neubearbeitung  dieses  Kompendiums 
der  Römischen  Geschichte,  das  in  erster 
Auflage  von  Bender  herausgegeben  worden 
war,  zeichnet  sich  vor  allem  durch  gewissen- 
hafte Beobachtung  der  neueren  einschlägigen 
Forschung  aus.  Die  Königszeit  ist  mit 
gröfster  Kürze  behandelt,  Republik  und 
Kaiserzeit  Bind  gleichfalls  zu  ihrem  Rechte 
gekommen,  während  die  letztere  bisher  in 
den  meisten  Büchern  dieser  Art  recht  stief- 
mütterlich behandelt  zu  werden  pflegte.  Der 
Inhalt  reicht  bis  zum  Untergange  des  Reiches 


im  J.  476;  der  Prinzipat  des  AugustuB,  die 
Neuorganisation  Diocletians,  die  Verhältnisse 
unter  Conotantin  sind  ausführlicher  behandelt, 
< 'hriatenverfolgungen  und  Völkerwanderung 
in  ihrem  natürlichen  Zusammenhang  dar- 
gestellt. Die  vorausgeschickte  Litteratur- 
angabe  und  die  Quellenübersichten  vor  den 
einzelnen  Abschnitten  können  die  Brauch- 
barkeit des  Buches  nur  erhöhen,  das  übrigens 
trotz  der  Einteilung  in  Kapitel  und  Para- 
graphen in  fortlaufender  Darstellung  geschickt 
und  warm  geschrieben  ist.  Die  Behandlung 
von  Streitfragen  ist  mit  Recht  vermieden; 
Verfasser  giebt  kurz  derjenigen  Auffassung 
Ausdruck,  für  die  er  sich  entschieden  hat. 
In  Einzelheiten  wird  der  Fachgenosse  je 


nach  seinem  Standpunkte  zustimmen  oder 
anderer  Meinung  sein,  ohne  der  Ansicht  de« 
Verfassers  ihre  Berechtigung  absprechen  zn 
wollen.  Die  vorkommenden  Ortsnamen  sind 
durch  die  modernen  Bezeichnungen  oder 
durch  die  Angabe  benachbarter  örtlichkeiten 
erläutert,  wodurch  der  Schauplatz  der  Er- 
eignisse dem  Leser  näher  gerückt  wird.  Du 
Buch  wird  nicht  nur  der  gebildete  Laie  mit 
Genufs  in  die.  Hand  nehmen,  sondern  et 
wird  auch  den  Schülern  der  oberen  Jüa^eu 
des  Gymnasiums  gute  Dienste  leisten,  für 
die  es  jeden  anderen  Leitfaden  ersetzen  kann 
In  den  preufsischen  Schulen,  wo  die  neues 
Lehrpläne  nur  eine  flüchtige  Behandlung  der 
alten  Geschichte  gestatten,  wird  ee  den  Vor- 
trag des  Lehrers  zu  ergänzen  und  das  Ver- 
ständnis der  historischen  Entwickelung  de* 
römischen  Volkes  zu  fördern  besonders  ge- 
eignet »ein. 


GituiinsCaB  des  SXcbsiscbbn  Gesc 

LeHBEE   DUO  ScHÜLKH   HuHEKKH   ScilOLKX  VOI 

Prof.  De.  Otto  Kaemmel,  Reetoe  dss 

NlCOLAJOYMKASIUMS  IE  LEIPZIG.     ZWEITE  VEB- 

HEH8KKTE  und  kroabzte  Auflage.  Dreyen 
1898,  Huhle. 

Zum  zweitenmale  kehrt  das  anmutige 
und  einem  dringenden  Bedürfnis  dienende 
Büchlein  in  alle  sächsischen  Schulen,  Semi- 
narien  und  gewifs  auch  in  viele  Familien 
ein.  Die  neue  Auflage  zeigt  neben  allen 
seiner  Zeit  gerühmten  Vorzügen  (N.  Jahrb. 
f.  Phil.  u.  Päd.  n.  Abt.  1898.  S.  160)  der 
ersten  nicht  nur  zahlreiche  Verbesserung 
—  nur  schade,  dafs  auf  der  Stammtafel  des 
Hauses  Wettin  Johann  Georg  I.  noch  »U 
Sohn  statt  als  Bruder  Christians  U_  auf- 
geführt ist  — ,  sondern  auch  eine  sehr  wert- 
volle Ergänzung.  In  drei  Paragraphen  giebt 
K.,  nicht  mit  byzantinischen  Lobejmlchen, 
Bondern  in  unwiderleglichen  Zahlen  und 
Thatsachen,  den  Beweis  von  der  erbaulichen 
Entwickelung  des  äufseren  und  ümerec 
Wohlstandes  unseres  Vaterlandes  unter  der 
gesegneten  Regierung  unseres  teuren  Königs 
Albert  und  schliefst  mit  dem  erquicklichen 
Worte:  'So  wurde  Sachsen  ein  glänzende» 
Beispiel  der  untrennbaren  Verbindung 
zwischen 
Gesinnung.' 


Zu  Richaed  Msibtbb:    Übeb  dib  Fsst- 

STEU.UEO  DBB  WIS8EBSCHAVTUCBEE  HaLTT- 
XKNStTB     FÜE     DAS     REIFEZEDQKIS     AK  Ott 

sächsischem  Gtmhasibm.    Vgl.  8.  318. 
Ich  bekenne  mich  dazu,  dafs  ich  al» 
sächsischer  Gymnasialrektor  bei  der  Fest- 
stellung der  Hauptzensur  für  die 


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der  Abiturienten  das  Äufserste  des  mecha- 
nischen Verfahren«  vertrete  und  bisher  in 
meinem  Bereiche  durchgeführt  habe,  also 
reine  Berechnung  des  Durchschnitts  der  Fach- 
Zensuren  und  dabei  auch  noch  gleiche  Be- 
wertung sämtlicher  Fächer,  so  dafs  z.  B.  die 
Zensuren  in  Physik  und  Geschichte  als 
Rechnungsfaktoren  gleich  wirken  mit  denen 
im  Deutschen  und  Lateinischen.  Nur  wenn 
der  Durchschnitt  eine  gebrochene  Zahl  er- 
giebt,  wird  zu  Gunsten  der  sogenannten 
Hauptfächer  entschieden,  und  wenn  in  irgend 
einem  einzelnen  Fache  eine  Notzensur  ge- 
geben worden  ist,  hart  am  Durchfallen  vor- 
bei, nicht  durch  eine  andere  kompensiert, 
bei  uns  in  Sachsen  markiert  durch  die 
Nummer  3b,  die  nach  der  Prüfungsordnung 
überhaupt  nur  einmal  auf  dem  Zeugnis  als 
Fachzensur  erscheinen  darf,  dann  wird  unter 
Umstanden  die  Gesamtzensur  unter  den 
Durchschnitt  hinabgedrückt,  damit  sie  auf 
der  dritten  Stufe,  der  Stufe  des  Nur  Genügend 
(S  oder  8»)  bleibt 

Gegenüber  der  scheinbar  vernünftigeren 
Methode,  fflr  die  Gesamtzensur  die  ganze 
Persönlichkeit  des  Prüflings  einzuschätzen, 
möchte  ich  zunächst  den  grofsen  Unterschied 
geltend  machen,  ob  man  nur  zehn  oder 
vierzig  und  mehr  Abiturienten  zugleich  mit 
Zensuren  zu  versorgen  hat.  Die  in  dieser 
Beziehung  wie  in  mancher  anderen  glück- 
lichen minder  frequenten  Schulen  können 
sich  eher  den  pädagogischen  Luxus  ge- 
statten, nach  all  den  umständlichen  Prüfungs- 
prozeduren schließlich  Gaben,  Leben  und 
Thaten  jedes  Schülers  noch  einmal  in  ein- 
gehendem Meinungsaustausch  durchzuspre- 
chen und  dabei  einen  Ausgleich  zwischen 
dem  bestehenden  Präjudiz  Über  den  Wert 
des  Schülers  und  dem  wirklichen  Ergebnis 
Beiner  Prüfung  zu  suchen.  Wenn  man  aber 
eine  Prüfungskommission  von  etwa  fünfzehn 
Mitgliedern  vor  sich  hat  und  ungefähr  vierzig 
Abiturienten,  die  in  zwei  völlig  getrennten 
Parallelen  vorgebildet  worden  sind,  jede  Ab- 
teilung in  der  Regel  von  anderen  Lehrern, 
dürfte  es  sich  schon  zur  Vermeidung  end- 
loser und  fruchtloser  Debatten  empfehlen, 
dafs  man  auf  jenen  wohlgemeinten  Versuch 
des  corriger  la  fortune  verzichtet  und  die 
eioerne  Notwendigkeit  des  arithmetischen  Ge- 
setzes wirken  läfst.  Aber  es  sprechen  auch 
noch  andere  und  gewichtigere  Gründe  dafür 

Die  Fachzensuren  selbst  beruhen  ja  schon 
auf  einer  Durchschnittsrechnung,  insofern  sie 
für  Religion,  Deutsch  und  Geschichte  aus 
atwei  Nummern  (Halbjahr  und  Prüfung),  für 
Griechisch,  Französisch  und  Mathematik  auB 
dreien  (Halbjahr,  schriftlicher  und  münd- 


licher Prüfung)  und  für  Lateinisch  bei 
unseren  zwei  schriftlichen  Prüfungsarbeiten 
aus  vier  Nummern  entstehen.  Hier  bietet 
sich  nun  reichlich  Gelegenheit,  die  mannig- 
faltigsten pädagogischen  Erwägungen  und 
Rücksichten  zur  Geltung  zu  bringen.  Der 
Fachvertreter  wird  bei  Berechnung  der  Halb- 
jahrszensur  alle  einschlagenden  Momente  ab- 
wägen, namentlich  auch  das  der  Vergleichung 
zwischen  allen  Schülern  der  Klasse  und  des 
gemeinsamen  Grundinafsstabes  für  alle,  und 
er  wird  dabei  um  so  gewissenhafter  und 
vorsichtiger  verfahren,  je  sicherer  er  weifs, 
dafs  die  Halbjahrszensur  unabänderlich  fest- 
steht, ehe  noch  die  Prüfung  beginnt.  Er 
wird  aber  dann  auch  die  überwiegende  Be- 
deutung dieser  Zensur  bei  abweichenden 
Prüfungsergebnissen  in  Rechnung  stellen 
können.  Die  anderen  Mitglieder  der  Prü- 
fungskommission können  dagegen  bei  der 
Zensur  auf  die  schriftlichen  Arbeiten  und 
die  mündlichen  Leistungen  in  der  Prüfung 
ihre  Stimme  wirksam  für  Erhöhung  oder 
Herabsetzung  erheben;  namentlich  werden 
bei  Parallelen  die  beiden  Examinatoren  jedes 
Faches  sich  wechselseitig  kontrollieren  und 
über  ihre  Zensurvorschläge  einigen,  bei  den 
schriftlichen  Arbeiten  am  besten  dann,  wenn, 
wie  es  ohnehin  das  Natürliche  ist,  beiden 
Abteilungen  dieselben  Aufgaben  gestellt 
werden.  Nach  dieser  gründlichen  Durch- 
arbeitung der  Fachzensuren,  die  denn  doch 
einige  Gewähr  für  die  Richtigkeit  der  Be- 
urteilung bietet,  will  es  mir  nicht  geraten 
und  des  bis  dahin  geübten  Zensorenamtes 
nicht  recht  würdig  erscheinen,  wenn  nun  zu 
guter  Letzt  noch  auf  Grund  von  Impondera- 
bilien und  mehr  gefühlsmiilsig  als  erkenntais- 
mäfsig  das  gewonnene  Resultat  irgendwie 
verschoben  und  willkürlich  geändert  wird. 
Wer  soll  denn  die  Kosten  einer  solchen  Ver- 
änderung tragen,  welches  Fach,  welcher 
Zensor?  Ich  persönlich  würde  mich  nicht 
leicht  dazu  verstehen.  Und  dazu  kommt 
noch  etwas  Hauptsächliches. 

Im  Reifezeugnisse  erscheinen  neben  der 
Gesamtzensur  die  einzelnen  Fachzensuren. 
Das  beides  mufs  sich  hier,  wo  nun  die  Ein- 
schätzung urkundlich  geworden  ist,  voll- 
ständig decken,  so  dafs  der  Inhaber  des 
Zeugnisses,  seine  Kommilitonen  und  alle,  die 
das  Zeugnis  einzusehen  berechtigt  sind,  die 
Übereinstimmung  der  Hauptzensur  mit  den 
Einzelzensuren  nachrechnen  können.  Oder 
sollte  es  wünschenswert  sein,  dafs  folgende 
Frage  möglich  würde:  Ihre  Fachnummern 
ergeben  eine  erste  Zensur,  warum  haben  Sie 
nur  eine  zweite  erhalten?  und  dafs  diese 
Frage  unbeantwortet  bliebe  oder  mit  der 


Anzeigen  und  Mitteilungen 


400 

Üblichen  Schulkinderei  beantwortet  würde: 
Ja,  ich  habe  schlechter  bei  den  Lehrern  ge- 
standen abi  meine  Machbarn? 

Diese  letzte  Erwägung  bestärkt  mich  auch 
in  der  Forderung,  dafs  für  die  Gesamtzensur 
nicht  eine  Berechnung  nach  Pointe,  sondern 
durchaus  gleiche  Bewertung  sämtlicher  Fächer 
zu  Grunde  gelegt  werden  sollte.  Lateinisch, 
Griechisch  und  Mathematik  haben  lange  ihr 
Übergewicht  genossen  und  die  anderen  Dis- 
ziplinen haben  manchmal  den  Druck  davon 
empfunden;  das  hat  schulpädagogisch  seine 
gute  Berechtigung,  worüber  hier  nicht  weiter 
geredet  werden  kann.  Jetzt  aber  bei  dem 
entscheidenden  Schlafs akt,  wo  der  Schüler 
nicht  mehr  für  Schulzwecke,  sondern  vor 
der  Öffentlichkeit,  für  das  Leben  und  für 
sein  künftiges  Berufsstudium  charakterisiert 
wird,  sollten  alle  wissenschaftlichen  Pflicht- 
fächer gleiches  Recht  und  gleichen  Rang 
haben.  Für  den  künftigen  Theologen  haben 
die  Kenntnisse  in  der  Religion  unmittel- 
bar mehr  Wert  als  die  in  der  Mathematik, 
für  den  Juristen  die  in  der  Geschichte  mehr 
als  die  im  Griechischen,  für  den  Neuphilo- 
logen die  im  Französischen  mehr  als  die  im 
Lateinischen.  Und  es  scheint  mir  nicht  un- 
erhebliche moralische  Bedeutung  zu  haben, 
wenn  sich  bei  der  Schlufszensierung  die 
Facheifersacht  nicht  regen  kann,  und  wenn 
die  kleinen  Musen  der  Reifeprüfung  nicht 
in  Versuchung  kommen,  sich  durch  extreme 
Zensuren  auf  ihrem  Gebiete  dafür  schadlos 
zu  halten,  dafs  ihre  grofsen  Kolleginnen  jede 
zwei  oder  drei  Stimmen  haben.  Übrigens 
haben  mich  statistische  Erhebungen,  die  ich 
für  mehrere  hundert  Reifezeugnisse  habe 
anstellen  lassen,  gelehrt,  dafs  zwischen  dem, 
was  bei  Berechnung  nach  Points,  und  dem, 
was  bei  gleicher  Bewertung  der  Fächer 
herauskommt,  der  Unterschied  gering  zu 
sein  pflegt  und  sich  darauf  beschränkt,  dafs 
eine  kleine  Zahl  von  Prüflingen  (16%)  um 
einen  Grad  besser  (lb  statt  2»,  2*  statt  2 
u.  s.  w.)  zensiert  werden;  diese  Gunst  aber 
wird  sachverständige  Humanität,  welche  die 
Schwierigkeiten  der  Reifeprüfung  zu  wür- 
digen weifs,  den  Abiturienten  gern  gönnen. 
Der  Sicherheit  wegen,  um  Mifsdeutungen  zu 
vermeiden,  will  ich  auch  noch  ausdrücklich  be- 
merken, dafs  ich  selbst  nicht  etwa  in  einem 
der  sogenannten  Nebenfächer,  die  ich  besser 
honoriert  wünsche,  Unterricht  erteile,  sondern 
nur  in  den  alten  Sprachen  und  im  Deutschen. 

Über  das  Deutsche  möchte  ich  in  diesem 
Zusammenhange  nach  meiner  langjährigen 


Erfahrung  noch  eine  Bemerkung  hinzufügen. 
Selbstverständlich  halte  ich  dieses  Lehrfach 
nicht  nur  für  dankbar  und  reizvoll,  sondern 
auch  für  wichtig  und  wertvoll.    Aber  ich 
bin  entschieden  gegen  jeden  Versuch,  ihm 
beim  Abgange  und  bei  der  Schlufszensierung 
in  irgend  einer  Form  ein  Übergewicht  zu 
geben.   Es  ist  zwar  ein  Kaiserwort,  aber  es 
ist  nach   meiner  Beobachtung    doch  ein 
Irrtum,  was  auf  der  Berliner  Dezember- 
konferenz ausgesprochen  worden  ist:  'Wenn 
Einer  im  Abiturientenexamen  einen  tadel- 
losen deutschen  Aufsatz  liefert,  so  kann  man 
daraus  das  Mafs  der  Geistesbildung  des 
jungen  Mannes  erkennen  und  beurteilen,  ob 
er  etwas  taugt.'  Ich  finde  im  Gegenteil,  daft 
die  gröfsere  und  geringere  Stilgewandtheit 
deB  Oberprimaners,  wie  sie  sich  in  den 
deutschen  Aufsätzen  und  namentlich  bei  der 
eztemporalis  audacia  der  Klausurarbeit  des 
Examens  bekundet,  zu  den  späteren  Leistung» 
im  BerufuHtudium  und  im  Berufe  selbst  in 
einem  ganz  unsicheren  und  unberechenbaren 
Verhältnis  steht.    Die  jugendliche  Stilreife 
ist  das  Individuellste  von  allen  Arten  der 
Reife,  die  wir  beim  Abgang  zusprechen;  sie 
hängt  am  wenigsten  von  unserem  Unterricht« 
ab;  ich  will  nur  daran  erinnern,  wie  mancher 
einen  verhältnismäfsig  hohen  Grad  solcher 
Reife   den  sonst  sehr  zweifelhaften  unt- 
erziehenden  Faktoren   verdankt,    dafs  er 
fleifsig   das  Theater   besucht   und  emsig 
besser  geschriebene  Romane  gelesen  hat; 
mancher  gewinnt  diese  Stilreife  in  sehr  be- 
friedigender Weise,  aber  nur  später  als  in 
Oberprima;  mancher  gewinnt  sie  nur  nicht 
auf  dem  Gebiete  der  litterarisch-ästhetischen 
Erörterung,  aus  dem  die  Schulthemata  ge- 
nommen zu  werden  pflegen,  wohl  aber  auf 
anderen,  für  seine  Lebensarbeit  bedeutungs- 
volleren Gebieten. 

Die  vorstehenden  Auslassungen  bilden, 
wie  jeder  Leser  erkennt,  nicht  einen  Wider- 
spruch zu  Meisters  trefflichen  Ausführungi'u 
über  die  Hauptzensur  in  der  Reifeprüfung, 
sondern  nur  eine  Ergänzung  dazu  und  eine 
Zustimmung  zu  seinem  Wunsche,  dafs  in 
dieser  Beziehung  Gleicbuiilfsigkeit  bei  uns 
in  Sachsen  durch  die  Schulbehörde  herbei- 
geführt werden  möchte.  Allerdings  möchte 
ich  das  dahin  verschärfen,  dafs  das  rein  arith- 
metische Prinzip  zur  Grundlage  der  Gleich- 
mäfsigkeit  dienen  sollte.  Das  würde  tieb 
auch  für  die  gesetzliche  Vorschrift  uurch  un- 
zweideutige Klarheit  und  Schärfe  empfehlen 

RlGHJUU)  BlCHTCJl  I 


tized  by  Goog  Z 


45.  Versammlung  deutscher  Philologen  und  Schulmänner 

Bremen  t899.    26.  bis  30.  September. 

Unter  Vorbehalt  kleinerer  Änderungen  teilt  da«  Präsidium  folgende«  mit: 
Montag,  d.  86.  Sept.:  Abend*  Begröfsniig  und  geselliges  Beisammensein. 
Dienstag,  d.  2tf.  Sept:  (t  Uhr)  ernte  allgemeine  Sitzung.   Eröffnung  durch  den  ersten  Vor 

ac  der  1 


enden,  Vorträge.  —  Darauf  Konetitui 
r  FOhrn  ng.  —  (Abend»)  Freie  Vereini 


,er  Bektionen.  —  (Nachm.)  Besichtigung  der  Stadt 
im  Bflrgerpark. 


Mittwoch,  d.  87.  Sept.  bis  Freitag,  d.  29.  8ept: 

(9  Uhr)  Sitaungen  der  Sektionen.  —  Allgemeine  SiUungen. 


Mittwoch,  d.  97.  Sept  :  (4  Uhr)  Festessen.  T 
können  nur  berück  sichtigt  werden,  wer 
J.  SepTember,  Mittags,  erfolgen. 

Donnerstag,  d.  28.  Sept:  (Nachm.)  Aufführe 
ide)  Fest  im  Katskeller,  vom  Senate  dargeboten, 
Freitag,  d.  29.  8ept:  (Nachm.)  Ausflöge 


(Abondi 


im  Stadtt 

mf  .  Pakt 


oder  freie  Vereinig! 


smen  erwünscht  Gedeck  6  Mark, 
»,  spätestens  jedoch  bis  Dienstag, 

Zwischen  ahn  oder  Hasbruch.  — 

nach  Bremerharen  (Kaiserhafen), 
m  in  verschiedenen  Lokalen. 

rddeatseben  Lloyd  wir  Verfügung 


EPr.  D 


För  die  allgi 


.  *  i  k 


in  Qi 


M>ig;  Prv 
Meyer 
ieinrti  V. 


i  sind  Vortrlge  angemeldet  von  Geh.  Bat  Prof. 

Dr.  Schreiber  in  Leipzig;  Prof.  Dr.  Morf  in  Zürich- 
mnasiahlirektor  Schneider  in  FriedebergNm. ;  Direktor 
ot  Dr.  Bulle  in  München;  Priratdocent  Dr.  Kraeger  in 
•an;  Prof.  Dr.  Wendt  in  Hamburg;  Prof.  Dr.  Ltnoke 

und  der  Verhandlongen  in  den  Sektionen  werden  spater 


Der  Preis  der  Mitgliedskarte  betragt  nach  §11  der  Statuten  von  IBM  sehn  Mark. 
Für  Wohnungen  an  molkigen  Preisen  ist  in  hiesigen  Gasthausern,  soweit  der  Baum  reicht 
i  Prirnthäoaern  Vorsorg«  getroffen.    Wunsche  in  Beziehung  auf  Wohnung  bitten  wir  zeitig  an 
Dr.  Neuling,  Koonstrafse  6,  zu  richten.   Hier  sind  auch  bis  zum  34.  September  Mitglieds- 
tn  bekommen,  von  da  ab  im  Konveutsaalo  des  Küastlervereins.    Das  Wohnungtiburefln  befindet 
an  86.  September  auf  dem  Ceatral-Bahnkofe,  vom  Stf.  September  ab  im  Konventsaale  des 
tönst  1  erv «  reine 

Das  Empfangsburenu  befindet  sich  in  den  Tagen  vom  86.  September  an  im  Konventsaale 
instlervereinfl.    Dort  können  die  Mitglieder  ihre  Mitgliedskarte,  Abzeichen,  Festschriften  und 
in  Empfang  nehmen.    Damit  die  Liste  der  Mitglieder  recht  genau  zusammengestellt  werden 
bitten  wir  die  Mitglieder  hier  ihre  genaue  Adresse  (am  besten  auf  ihrer  Visitenkarte)  anzugeben. 


Bremen,  im  Juni  1899. 


Das  Präsidium  der  41.  Vcrsaramlang  deuLsrlirr  Philologen  und  Schlniänne 

Schulrat  Sander,  Prof.  Dr.  C.  Wagener. 


I:  G.  Huf!. 


II:  5.  «uff. 


Km  öte  (Eutfüljniitg  ju  erleudtait,  m 

g   ^.llt^illUtUCU,    1  Sejta.   2.  Cn:  :ta.  8.  Cuarta  unb  leilia  fort  JC  1.20, 

^  JC  1.—,  JC  —.80  erfahrnen  unb  erfolgten  bereit*  barauf^in 

=  mcljrfaftjc  (ftNfn^rungrn.  = 

Teil  frid)icn  \ä)on  früher 

3  fiWeüimnnt:  SfJ"*l  *•  **ert!  fflrt- ie  J  l" 

*■  ccfmicbte  atb  .H  1  00. 


8.  üitteraiur« 


SRan  öerlanae  frrtnrrmpiarr  *nr  %  r  ii  f  u  :t .;,  bcijufi*  roeat.  Suifö^rung  Don  ber  *3erlag«» 
bucbbanblmtg  S*.  ®  ieubner  in  fieiajig,  ^oftfmtfie  S. 


für  alte  Urb 


uorliegenbe  Sud) 
iß  au3  einem  von  bem 
SJctjaffcr  feit  langen 
Jlabrcn  gefüllten  ve- 
baxfttiffe  erwadjfen, 
bafi  auch  t>on  anbeter 
©rite  nielfad)  em  ■ 
pfunben  roorben  {ein  bürfte,  unb  bem  »ob  ein« 
Seibe  trefflicher  unb  erfahrener  Schulmänner  roieber- 
tiolt  rTuSbrud  gegeben  roorben  ift. 

[X  u.  268  6J  gr.  8.  bauerf).  geb.  u  2.40. 

«erlag  ton  IB.  ö.  fceubnet  in  Ueipji§. 
Tnrrt)  aBe  «Sndjbanolnnaen,  Quäj  )ur  ?lnftct)t,  crbäitlirt) 


Allerhöchste  Awaieiehnnneeii : 


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Harmoniums  95  Mlc.  an. 

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Monatlich  I  Heft  von  circa  60  Seiten.   Halbjährlich  9  Mk. 
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Aus  dem  Inhalt  der  letzten  Hefte: 


Der  Mittelland  •  Kanal :  Major  L  D.  V.  Kurs. 

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Die  Völkerstämme  Österreich  -  Ungarns : 

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zehnt:  Dr.  Willi  Ule. 
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Eingesandte  Bücher,  Aufsätze  und  Karten  —  Zeltschriftensobaa. 

Prospekte  und  Probehefte  gratis  und  franko 


3 


Die  „SüdwrBtdentschen  Schalblätter1'  1898,  1  sagen  über 


Heinichen-Wagener,  lateinisches  Schulwörterbuch: 

.  .  .  Wir  werden  die  Frage  „Weichet  lateinische  Schulwörterbuch  sollen  wir  MMMMM  Schülern 


r 

eantworten:  „Emplehlnng  ferdient  nur  «'in  Schulwörterbuch,  welches  mit  allem  überflüssigen  WSEm 

aufräumt,  somit  sich  auf  das  Nötige  beschränkt  und  dies  in  einer  Anordnung  nnd  ein" 
Bllnng  bietet,  welche  dem  Schüler  die  gesuchte  Hilfe  auch  wirklich  an  die  Hand  giebt  und  ins 
geistig  fordert." 

.  .  .  Seitdem  die  von  Wagener  besorgte  Neubearbeitung  de»  Heinichen'schen  LexikonB 
ist,  trage  ich  kein  Bedenken, 


dieses  Buch  zu  empfehlen. 


  UIUVUVJ        WUUII        £-14         VIII  KJ  I  \J  III  \J  IIb    <| 

...  Die  Verlagsbuchhandlung  hat  das  Buch  auch  nufserHch  Tortrefflich  ausgestattet,  so  doli  e» 
eine  Zierde  der  angehenden  Bibliothek  jedes  Sekundaners  bilden  kann. 


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JAHRGANG  1899.    ZWEITE  ABTEILUNG     ACHTES  HEFT 


DIE  PÄDAGOGIK  DER  JESUITEN  UND  DER  PIETISTEN 

Von  Georg  Mertz 

Man  hat  schon  oft  die  Pietisten  die  Jesuiten  in  der  protestantischen 
Kirche  genannt.    Und  in  der  That  finden  sich  auch  bei  beiden  religiösen  Ge- 
meinschaften vielfache  Beziehungspunkte.    Dagegen  sind  auch  wieder  die  prin 
zipiellen  Unterschiede  so  grofs,  dafs  von  einer  Identifizierung  nicht  die  Rede 
Bein  kann. 

Besonders  auf  pädagogischem  Gebiet  läfst  sich  bei  allen  Verschiedenheiten 
auffallende  Ähnlichkeit  nachweisen.  Die  folgende  Vergleichüng  soll  dies  darlegen. 
Dabei  wird  Nebensächliches,  das  zur  allgemeinen  Schulpraxis  gehört,  nicht 
erwähnt  werden.  Es  sollen  vielmehr  nur  die  Hauptpunkte  hervorgehoben 
werden,  an  denen  sich  zugleich  nachweisen  läfst,  zu  welchen  Folgen  die  Grund- 
ratze beider  auf  dem  Gebiete  des  Unterrichtswesens  führten  und  wie  gerade 
gewisse  Einrichtungen  im  Schulwesen  im  engsten  Zusammenhange  standen  mit 
dem  in  beiden  Gemeinschaften  herrschenden  Geiste. 

Schon  in  der  Lebensführung  der  Männer,  die  als  Begründer  der  Schul- 
anstalten bei  den  Pietisten  und  Jesuiten  angesehen  werden  müssen,  trifft  man 
auf  einen  Punkt,  der  für  beide  bestimmend  war,  ihr  Augenmerk  auf  die  Er- 
ziehung der  Jugend  zu  richten.  In  der  richtigen  Erkenntnis  der  Bedeutung 
der  Erziehung  hofften  nämlich  beide,  ihren  neuen  Lebenszweck  am  besten  da- 
durch zu  erreichen,  dafs  sie  sich  der  Jugend  vergewisserten  und  schon  in  den 
Jahren  hingebender  Empfänglichkeit  dem  kindlichen  Geiste  das  Gepräge  auf- 
drückten, das  nach  ihrer  Ansicht  für  den  Gnadenstand  und  die  Seligkeit  un- 
bedingt nötig  war.  Den  Weg,  den  sie  dabei  die  Zöglinge  zu  führen  hatten, 
zeigte  ihnen  die  eigene  Bekehrung.  Beide  gingen  darauf  aus,  den  Schüler 
durch  methodische  Anweisung  dazu  zu  bringen,  den  Entwicklungsgang  ihrer 
eigenen  Person  durchzumachen. 

Ignatius  war  aus  der  militärischen  Laufbahn  hervorgegangen.  Da  er 
wegen  seiner  Verwundung  nicht  hoffen  konnte,  Lorbeeren  auf  dem  Schlachtfelde 
und  auf  dem  Turnierplatz  zu  erwerben,  sann  er  auf  Mittel  und  Wege,  ander- 
wärts Ehre  zu  gewinnen.  Seine  durch  die  Lektüre  geistlicher  Ritterromane 
erhitzte  Phantasie  liefs  ihn  Erscheinungen  der  Jungfrau  Maria  sehen,  die  ihn  zu 
ihrem  Ritterdienste  aufforderte.  Zum  Ritterdienst  der  Himmelskönigin,  der  Schutz- 
patronin der  katholischen  Kirche,  erzog  er  seine  Schüler.  Es  ist  deshalb  nicht 
Zufall,  dafs  die  jesuitischen  Erziehungsprinzipien,  Disziplin  und  Ehre,  überein- 
stimmen mit  denen  des  modernen  Offizierskorps.   Denn  die  Absicht  des  Stifters 

Heu«  Jahrbücher.   1WJ>.   U  20 


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402 


G.  Mertz:  Die  Pädagogik  der  Jesuiten  und  der  Pietisten 


des  Jesuitenordens  war,  der  Kirche  eine  auserlesene  Schar  Anführer  im  Kampf 
mit  der  Häresie  und  Welt  zuzuführen.1) 

Bei  Francke  war  es  die  Stimme  des  Gewissens,  die  ihn  auf  die  Verantwort- 
lichkeit des  Predigtamtes  aufmorksam  machte.  In  seiner  Gewissensangst  kam 
er  zu  Lüneburg  bei  der  Ausarbeitung  einer  Predigt  über  Joh.  20.  31  zur  Er- 
leuchtung und  Erweckung.  Er  wollte  deshalb  seine  Schüler  durch  Reue  und 
Bufse  zur  Bekehrung  bringen,  wie  er  sie  selbst  an  sich  erlebt. 

Für  beide  war  die  Beschäftigung  mit  der  Jugenderziehung  der  Anfang  zur 
Verwirklichung  ihrer  Lebensaufgabe. 

Ignatius  hat  nicht  allein  selbst  sofort  nach  seiner  Wahl  zum  General 
46  Tage  lang  Kinder  in  religiösen  Dingen  unterrichtet,  sondern  bestimmte  auch 
in  Const.  IV  c.  4,  2,  dafs  jeder  Jesuit  sich  eine  Zeit  lang  dem  Unterrichte  zu 
widmen  habe. 

Francke  hatte  sich  zwar  schon  früher  mit  Unterrichten  abgegeben;  aber  seine 
Hauptarbeit  auf  diesem  Gebiete  fällt  doch  erst  in  die  Zeit  nach  seiner  Bekehrung. 

Auf  dem  Weg  zum  Ziele  liefsen  sich  beide  durch  nichts  irre  machen.  Sie 
herrschen  als  unbeschränkte  Machthaber  in  ihrem  Gebiet.  Weder  staatliche 
noch  kirchliche  Organe  hatten  irgendwelchen  Einflufs  auf  ihr  Schulwesen.  Die 
Lehrordnungen  und  Schuleinrichtungen  erhielten  sich  noch  lange  Zeit  nach 
dem  Tode  Franckes  in  unveränderter  Weise  an  den  pietistischen  Anstalten  in 
Halle  fort,  bis  die  Kirche  selbst  ihrer  Aufgabe  sich  besann  und  das  Schulwesen 
in  die  Hand  nahm.  Erst  dann  fanden  auch  Neuerungen  in  den  Hallischen 
Anstalten  Eingang.  In  den  JesuitenBchulen  ist  es  bis  heute  noch  beim  alten 
geblieben.  'Im  grofsen  und  ganzen  sind  die  drei  Redaktionen  eine  und  die- 
selbe Ratio  studiorum,  die  von  Anfang  bis  heute  in  Geltung  geblieben  ist.  Es 
wäre  daher  nicht  entsprechend,  ron  Schulordnungen  der  Gesellschaft  Jesu  zu 
sprechen.  Der  Orden  hat  nur  eine  einzige  Studienordnung,  die  auf  dem 
vierten  Teile  seiner  Constitutionen  aufgebaut  ist;  die  etwaigen  Modifikationen 
sind  bloft  neue  Zweige  des  nämlichen  Baumes.*  Pachtler  S.  J.  Vorrede  zu  Bd.  II 
der  Ausgabe  der  rat.  stud.  in  Mon.  Germ.  Päd. 

l)  Allerdinge  darf  man  nicht  wie  Duhr  'Die  Studienordnung  der  Gesellschaft  Jean' 
8.  80  f.  einen  Unterschied  machen  wollen  zwischen  der  Erziehung  der  Schaler,  welche  in 
den  Orden  eintreten,  und  derjenigen,  welche  blofs  ihre  Erziehung  bei  dem  Orden  empfingen. 
So  lange  Duhr  nicht  genauer  nachweist,  was  von  der  Ratio  studiorum  für  die  Scholastici 
Soc.  Jesu  und  im  Unterschied  von  ihnen  für  die  Scholastici  externi  gilt,  ist  sein  Vorwurf 
der  Unkenntnis  und  verblüffenden  Kritiklosigkeit  gegen  'manche  gelehrte  Leute*  wie 
Wagenmann  und  Weicker  nicht  stichhaltig.  Der  Unterschied,  welcher  in  dieser  Hinsicht 
in  dem  IV.  Teil  der  Constitution  und  in  der  Rat.  stud.  in  den  beiden  kleinen  Abschnitten 
'Regeln  für  die  Scholastiker  unserer  Gesellschaft'  und  'Regeln  für  die  auswärtigen  Schüler 
der  Gesellschaft'  gemacht  wird,  ist  gerade  ein  Beweis  dafür,  dafs  im  allgemeinen  die  in 
der  Const.  und  der  Rat.  aufgestellten  Grundsatze  für  alle  Schüler  gelten.  In  den  Aus- 
nahmeregeln  wird  gar  nicht  auf  dieselben  in  unterscheidender  Weise  eingegangen.  Ebenso 
verkehrt  wäre  es,  einen  Unterschied  machen  zu  wollen  zwischen  den  pietistischen  Schülern, 
welche  speziell  für  das  Lehr-  und  Predigtamt  erzogen  wurden,  und  denen,  die  nur  ihre 
Erziehung  in  den  Schulen  der  Pietisten  genossen  (vgl.  Mertz  'Die  Pädagogik  der  Jesuiten' 
Heidelberg,  1898    S  24  ff.) 


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G.  Mertz:  Die  Pädagogik  der  Jesuiten  und  der  Pietiuten 


403 


Der  Grundstimmung  des  Herzens  beider  Männer  entsprechend,  konnte  das 
von  ihnen  begonnene  Erziehungswerk  nicht  anders  sich  gestalten  als  einseitig 
religiös. 

Const.  IV  c.  17,  3  wird  der  Zweck  der  Gesellschaft  Jesu  bei  der  Erziehung 
wie  bei  allen  anderen  Tätigkeiten  folgendermafsen  angegeben:  *  Derselbe 
(General)  aber  wird  in  eigener  Person  oder  durch  einen  anderen  nach  Er- 
wägung aller  [Jmstande  das  festsetzen,  was  nach  seinem  Urteil  zur  gröfseren 
Ehre  und  zum  Dienste  Gottes  und  zum  allgemeinen  Besten  gereicht;  denn  dies 
ist  unser  einziger  Endzweck  bei  dieser  und  bei  allen  anderen  Sachen.'  Dafs 
unter  dem  'allgemeinen  Besten*  nichts  anderes  bei  dem  Unterricht  bezweckt 
wird  als  die  religiöse  Unterweisung,  beweist  Const.  IV  c.  5,  1 :  'Weil  der  Zweck 
der  in  unserer  Gesellschaft  zu  lernenden  Wissenschaften  der  ist:  dem  eigenen 
und  fremden  Seelenheil  unter  Gottes  gnädiger  Hilfe  zu  nützen,  so  mufs 
dies  im  allgemeinen  und  bei  jedem  Einzelnen  den  MaTsstab  liefern,  nach  dem 
unsere  Studierenden  sich  auf  bestimmte  Fächer  verlegen  und  bis  zu  einem  ge- 
wissen Grade  fortschreiten/ 

Den  gleichen  Zweck,  die  Forderung  der  Ehre  Gottes  bei  der  Erziehung, 
hatte  sich  Francke  gesetzt.  'Die  Ehre  Gottes  mufs  in  allen  Dingen,  aber  ab- 
sonderlich in  Auferziehung  und  Unterweisung  der  Kinder,  als  der  Hauptzweck 
immer  für  Augen  sein,  sowohl  dem  Präceptori  als  den  Untergebenen  selbst.' 
(Kurzer  und  einfältiger  Unterricht,  wie  die  Kinder  zur  wahren  Gottseligkeit 
and  christlichen  Klugheit  anzuführen  sind,  ehemals  zu  Behuf  christlicher  In- 
formatoren entworfen  und  nun  auf  Begehren  zum  Druck  gegeben.  I.  Teil  [Von 
der  Anführung  zur  Gottseligkeit]  §  1.  Denselben  Zweck  giebt  §  19  des 
II  Teiles  [Von  der  Ajiführung  zur  Klugheit]  der  genannten  Schrift  an:  'Alle 
Klugheit,  sie  habe  Namen,  wie  sie  wolle,  mufs  Gottes  Ehre  zum  Ziel  und 
Zweck  haben  und  mufs  alle  anderen  Dinge  brauchen,  solchen  heiligen  Zweck 
eu  erreichen/) 

In  der  Auffassung  'der  Ehre  Gottes'  gehen  zwar  beide  auseinander.  Bei  beiden 
«igt  sich  jedoch  in  diesem  Punkte  eine  Beschränkung  des  biblischen  Christentums. 

Nach  jesuitischer  Ansicht  konzentriert  sich  die  Ehre  Gottes  in  der  katho- 
lischen Kirche.  Die  Schüler  zu  Gliedern  derselben  zu  machen,  war  darum  zu 
allererst  ihre  Absicht.  So  sagt  der  Verfasser  des  Landshuter  Erziehungsplanes: 
'Das  ganze  Bestreben  ihrer  Schule  ging  dahin,  die  Jünglinge  der  einen  wahren 
Kirche  treu  anhänglich  zu  machen.  Solches  tendierten  sie  im  Gröfsten  wie  im 
Kleinsten/ 

Gelehrt  wird  darum  in  den  Ordensschulen. auch  nur,  was  die  Kirche  billigt 
und  was  zur  Bestärkung  des  katholischen  Glaubens  beiträgt.  'Im  Lehrvortrage 
mufs  man  vor  allem  für  Bestärkung  des  Glaubens  und  für  Wachstum  der 
Frömmigkeit  sorgen.  Deshalb  soll  niemand  bei  Fragen,  welche  der  heilige 
Thomas  nicht  eigens  behandelt  hat,  etwas  lehren,  was  mit  der  Ansicht  der 
Kirche  und  den  allgemein  angenommenen  Überlieferungen  nicht  gut  überein- 
stimmt und  was  irgendwie  die  Grundlage  der  echten  Frömmigkeit  erschüttert 
(Rat.  stud.  reg.  prof.  theol.  5).    Auch  bei  geringfügigeren  Dingen  mufs  die 

26* 


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G.  Mertz:  Die  Pädagogik  der  Jesuiten  und  der  Pietisten 


Tradition  und  die  Lehrmeinung  der  Ton  der  Kirche  approbierten  Dogmatiker 
hochgehalten  werden  (Rat.  stud.  reg.  comm.  prof.  sup.  fac.  6).  Selbst  auf  Äußer- 
lichkeiten, die  den  Glauben  nicht  berühren,  wird  Wert  gelegt,  wenn  Gefahr  be- 
steht, dafs  die  Kirche  an  Ansehen  verlieren  kann.  So  verlangt  Const.  4c,  0,  5  die 
Verteidigung  der  in  der  katholischen  Kirche  geltenden  Übersetzung  der  Vulgata . 

Bei  der  Verherrlichung  der  katholischen  Kirche  mufs  natürlich  der  Orden 
den  Schüler  für  den  Kampf  mit  der  protestantischen  Kirche  erziehen.  So 
fordert  die  Errichtungsbulle  des  Collegium  Germanicum  in  Rom  a.  1552,  welches 
für  alle  deutschen  Kollegien  vorbildlich  war,  eine  Anzahl  talentvoller,  gottes- 
fürchtiger  und  religionseifriger  deutscher  Jünglinge  zu  erziehen  und  zu  unter- 
richten, damit  sie  dereinst  als  unverzagte  Kämpfer  für  den  Glauben  in  ihre 
Heimat  geschickt  werden  könnten,  um  dort  durch  Beispiel,  Predigt,  Unterricht 
und  Seelsorge  Gottes  Ehre  zu  fordern,  das  Gift  der  Ketzerei  zu  vernichten, 
den  Glauben  zu  verteidigen  und  aufs  neue  zu  pflanzen,  wo  er  ausgerottet  sei. 
Dasselbe  betonen  Rat.  stud.  reg.  prof.  hist.  eccles.  4  und  andere  Stellen.  Und  in 
der  That  hat  auch  die  Schulthätigkeit  des  Jesuitenordens  am  meisten  zur  Rettung 
der  katholischen  Kirche  im  16.  und  17.  Jahrhundert  beigetragen.  'Die  grofsen 
Offensivbewegungen  des  Katholizismus  in  dem  Jahrhundert,  das  zwischen  dem 
Passauer  Vertrag  und  dem  westfälischen  Frieden  liegt,  wurde  durch  die  Jesuiten- 
schulen teils  vorbereitet,  teils  gesichert.  Aus  ihnen  sind  die  geistlichen  und 
weltlichen  Fürsten  hervorgegangen,  die  in  den  österreichischen  und  bairischen 
Ländern,  in  den  fränkischen  und  rheinischen  Bistümern  den  Protestantismus 
ausgerottet  haben.  Die  meist  mit  Gewalt,  mit  Exekutionen  und  Vertreibung 
begonnene  Wiedereroberung  wurde  dann  durch  die  stille  und  beharrliche  Tätig- 
keit der  Jesuiten  in  Kirche  und  Schule  vollendet  und  gesichert  (Paulsen,  Ge- 
schichte des  gelehrten  Unterrichts,  Bd.  I.  S.  389). 

Es  könnte  aber  fast  scheinen,  als  ob  der  Orden  seine  Pflicht,  die  Ehre  der 
katholischen  Kirche  zu  fördern,  einzig  durch  seinen  Kampf  mit  der  Häresie 
erfüllen  zu  können  glaubte.  Denn  abgesehen  von  diesem  Kampfe  nimmt  er 
ihr  gegenüber  eine  ziemlich  freie  Stellung  ein.  Bekanntlich  gilt  der  heilige 
Thomas  in  der  katholischen  Kirche  als  der  Dogmatiker,  mit  dem  sie  steht  und 
fällt.  Der  Orden  hat  nun  allerdings  ihn  auch  hochgehalten  —  wenn  es  ihm 
recht  war.  Andernfalls  trug  er  kein  Bedenken,  trotz  der  kirchlichen  Autorität  ihn 
fallen  zu  lassen.  Schon  im  ersten  Entwurf  der  Rat.  stud.  a.  1586  fanden  sich 
in  dem  Abschnitt  'De  opinionum  delectu  in  Theologiae  facultate'  Sätze  des 
heiligen  Thomas,  die  nicht  allein  nicht  zu  verteidigen  sind,  sondern  denen  so- 
gar widersprochen  werden  darf.  Und  wo  besondere  Gründe  vorliegen,  da  darf 
auch  nach  Rat.  stud.  a.  1832  Reg.  prof.  sanct.  script.  6  im  Gegensatz  zu  den 
Canones  der  Papste  oder  Konzilien  gelehrt  werden.  Zur  offenen  Feindschaft 
mit  der  Kirche  läfst  er  es  jedoch  nicht  gern  kommen.  'Weifs  man,  dafs  ge- 
wisse Ansichten  eines  beliebigen  Verfassers  die  Katholiken  in  einer  Provinz 
oder  auf  einer  Akademie  schwer  verletzen  würden,  so  lehre  und  verteidige  man 
sie  dort  nicht',  Rat.  stud.  reg.  prof.  Theol.  6. 

So  hat  schliefslich  der  Orden  doch  nur  sein  eigenes  Interesse  im  Auge. 


G.  Merte:  Die  Pädagogik  der  Jesuiten  und  der  Pietisten 


405 


Und  wo  er  für  die  Ehre  Gottes  und  für  die  Ehre  der  Kirche  eintritt,  schiebt 
er  die  eigene  Ehre  unter.  Da  nach  seiner  Ansicht  die  Gesellschaft  Jesu  die 
katholische  Kirche  in  ihrer  vollkommensten,  gottwohlgefälligsten  Gestalt  darstellt, 
so  hat  er  auch  ein  Recht,  die  Schüler  für  seinen  Zweck  zu  erziehen.  So  erklärt  es 
sich  auch,  dafs  der  Orden  nicht  damit  zufrieden  war,  der  Kirche  treu  ergebene 
Glieder  zu  gewinnen,  sondern  mit  allen  Mitteln  darauf  hinarbeitete,  dafs  seine 
Schüler  auch  Mitglieder  oder  wenigstens  Freunde  des  Ordens  wurden.  Der  Orden 
durfte  allerdings  diese  Absicht  nicht  offen  aussprechen.  Ein  unkluges  Vorgehen  iu 
dieser  Hinsicht  wird  ausdrücklich  in  Rat.  stud.  reg.  comm.  prof.  cl.  inf.  6  ver- 
boten. Besser  und  unauffälliger  wirkte  hier  der  Beichtvater,  an  den  nach  dieser 
Stelle  die  verwiesen  wurden,  bei  denen  man  Lust  zum  Eintritt  in  den  Orden 
voraussetzte.  Weil  der  Orden  sich  aus  den  Schülern  rekrutierte,  war  er  auch 
bei  der  Auswahl  der  Erziehungsobjekte  vorsichtig  und  zurückhaltend.  Mit  der 
Erziehung  des  gemeinen  Volkes  gab  er  sich  nicht  ab.  Es  wird  zwar  in 
Const  IV  12  declar.  die  Erziehung  des  gemeinen  Volkes  als  eine  Liebespflicht 
hingestellt,  aber  trotzdem,  angeblich  aus  Mangel  an  geeigneten  Kräften,  dieselbe 
nicht  befohlen.  Eine  andere  Stelle,  Ex  reg.  provincialis  29,  verbietet  geradezu 
die  Errichtung  von  Volksschulen,  'am  allerwenigsten  eröffne  er  neue  Schulen 
zum  Unterricht  im  Lesen  und  Schreiben,  was  nicht  einmal  privatim  angeht' 
Den  wahren  Grund  für  die  Vernachlässigung,  ja  Verachtung  des  Volksschul- 
wesens giebt  Decr.  21  der  20.  Generalkongregation  a.  1820  an,  durch  welches 
die  Warnung  vor  Errichtung  von  Volksschulen  begründet  wird  mit  dem  Hin- 
weis auf  die  Gefahr  des  Verlustes  eines  höheren  Gutes.  Ebenso  ablehnend  ver- 
hielt sich  der  Orden  den  Realschulen  gegenüber.  Beiderlei  Schulen  brachten 
ihm  eben  keinen  Gewinn.  Nur  die  gelehrten  Schulen  bildeten  Redner  heran, 
welche  der  Orden  zur  Erreichung  seines  Zweckes  bedurfte.  Wer  sich  diese 
Bildung  aneignen  konnte,  der  war  'idoneus*  im  Sinne  der  Rat.  stud.  reg.  praef. 
stud.  inf.  1 1  und  12  und  Const.  IV  4,  3  declar.  und  ersetzte  durch  seine  Anlagen, 
was  ihm  etwa  an  Ansehen  und  Reichtum  abging.  Immerhin  war  es  dem  Orden 
angenehm,  wenn  seine  Zöglinge  auch  durch  ihre  weltliche  Stellung  ihren  Ein- 
flufs  für  ihn  geltend  machen  konnten.  Er  erzog  deshalb  mit  Vorliebe  die 
Söhne  der  Reichen  und  Vornehmen.    Reg.  rect.  75. 

Auch  die  Pietisten  sehen  die  Ehre  Gottes  in  einer  äufserlichen  religiösen 
Gemeinschaft  verwirklicht.  Sie  hatte  aber  nichts  gemein  mit  der  bestehenden 
protestantischen  Kirche.  Im  Gegenteil,  die  offizielle  Kirche  war  für  sie  ein 
Babel,  durch  welches  die  Ehre  Gottes  gefährdet  war.  Sie  sahen  es  deshalb  als 
ihre  Pflicht  an,  die  Kirche  aus  dem  Sumpfe,  in  den  sie  geraten  war,  heraus- 
zuziehen und  sie  wieder  zur  Annäherung  an  das  Reich  Gottes  zu  bringen.  'In 
Summa,  es  ist  dieses  der  Weg,  wodurch  dem  verfallenen  Kirchen-  und  ge- 
meinen Wesen,  wo  nicht  gänzlich  aufgeholfen,  doch  dergestalt  beigestanden 
werden  kann,  dafs  man  sich  einer  augenscheinlichen  Besserung  in  allen  Stücken 
zu  versehen  haben  wird.'  (Nutzen,  so  aus  denen  zur  Erziehung  der  Jugend 
und  Verpflegung  der  Armen  zu  Glaucha  bei  Halle  gemachten  Anstalten  ent- 
steht  Vier  Blatter  veröffentlicht  a.  1698.) 


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G.  Mcrtz:  Die  Pädagogik  der  Jesuiten  und  der  Pietisten 


Bis  zu  einer  allgemeinen  Erneuerung  der  Kirche  gaben  sie  sich  zufrieden 
mit  der  Herstellung  einer  'ecclesiola  in  ecclesia',  in  der  vorerst  die  Bekehrten 
sich  vereinigen  konnten  zur  Darstellung  der  Ehre  Gottes  auf  Erden.  Es  war 
darnach  selbstverständlich,  dafs  sie  die  Jugend  zunächst  für  ihre  Gemeinschaft 
erzogen.    Hier  reichen  sich  die  Jesuiten  und  Pietisten  wieder  die  Hand. 

Verkehrt  aber  wäre  es,  wollte  man  beiden  Gemeinschaften  Selbstsucht  oder 
seelenmörderische  Absichten  bei  der  Erziehung  vorwerfen.  Beide  handelten 
vielmehr  im  guten  Glauben  an  ihre  göttliche  Mission  und  in  der  festen  Über- 
zeugung, ihren  Schülern  das  Beste  zu  bieten. 

Wie  bereits  erwähnt,  sehen  die  Jesuiten  in  ihrer  Gesellschaft  die  voll 
endetste  Darstellung  der  katholischen  Kirche.  Aufser  der  Kirche  giebt  es  kein 
Heil.  Die  Zugehörigkeit  zu  ihr  ist  die  Bedingung  zur  Seligkeit.  Das  Bearbeiten 
und  Gewinnen  der  Zöglinge  für  den  Orden  war  daher  die  gröfste  Liebes- 
erweiBung  und  die  edelste  Nächstenliebe,  die  sie  einem  Menschen  erzeigen 
konnten.  Der  Orden  konnte  somit  seine  Thiiti^keit  darauf  beschränken,  missio- 
nierend der  Kirche  und  sich  selbst  die  Schüler  zuzuführen  und  sie  bei  der- 
selben zu  erhalten.  Durch  jede  Neugewinnung  wurde  dem  Ehrendenkmal  Gottes 
ein  neuer  Stein  zugefügt,  und  der  Baustein  selbst  hatte  seinen  Zweck  erfüllt. 
Es  blieb  dem  Aufgenommenen  nur  noch  übrig,  die  guten  Werke  der  Kirche 
zu  vollbringen.  Dazu  bedurfte  es  aber  bei  ihm  keiner  weiteren  Gnadenwirkung, 
denn  die  Glaubensrechtfertigung  ist  nach  jesuitischer  Ansicht  nichts  anderes  als 
die  Kirchenrechtfertigung.  Als  auf  dem  Konzil  zu  Trient  im  Jahre  1545  ge- 
legentlich der  Frage  von  der  Rechtfertigung  Stimmen  laut  wurden,  die  sich 
für  den  biblischen  Rechtfertigungsbegriff  aussprachen,  gaben  die  Jesuiten  Lainez 
und  Salmoron  den  Ausschlag,  so  dafs  im  scholastischen  Sinne  die  Rechtfertigung 
identifiziert  wurde  mit  der  Wiedergeburt,  d.  h.  mit  dem  Entschlufs,  der  Kirche 
anzugehören,  und  zuletzt  wesentlich  auf  die  guten  Werke  zurückgeführt  wurde. 
Und  in  dem  delectus  opinionum  der  Rat.  stud.  a.  1586  gestattet  Aquaviva  den 
Jesuiten,  gerade  von  den  Sätzen  des  heiligen  Thomas  abzuweichen,  in  denen 
er  sich  der  Glaubensrechtfertigung  des  Augustin  nähert.  Nach  jesuitischer  An- 
sicht vermag  sich  der  Wille  des  Menschen  zu  allen  Akten  zu  disponieren,  denn 
der  Mensch  ist  von  Natur  nicht  so  verdorben,  dafs  er  sich  nicht  frei  für  das 
Gute  entscheiden  kann.  Der  Begriff  der  Sünde  wird  ausdrücklich  in  der 
kölnischen  Censur  vom  Jahr  1560  auf  die  wissentliche  und  freiwillige  Ober- 
tretung  des  göttlichen  Gebotes  beschränkt. 

In  dieser  Hinsicht  hat  auch  die  pietistische  ecclesiola  in  ecclesia  bedenk- 
liche Ähnlichkeit  mit  der  alleinseligmachenden  Kirche.  Hat  ein  Mensch  den 
Schritt  der  Bekehrung  hinter  sich,  so  bürgt  ihm  die  Zugehörigkeit  zur  eccle- 
siola die  Seligkeit.  Der  heilige  Geist,  der  den  Bekehrten  in  Besitz  genommen, 
wirkt  auf  eine  solche  Weise  auf  ihn  ein,  dafs  er  zum  Ziele  der  christlichen 
Vollkommenheit  auf  Erden  gelangen  mufs.  Die  Erbsünde  hat  für  ihn  ihre  Be- 
deutung verloren.  Nur  der  unbekehrte  Mensch  ist  von  Natur  ganz  verdorben 
und  untauglich  zu  guten  Werken,  §  2,  Sect.  II  der  Ordnung  und  Lehrart  des 
Paedagogiums.  Ist  aber  auf  Grund  der  Reue  und  des  Schmerzes  über  die  Sünde 


G.  Mertz:  Die  Pädagogik  der  Jesuiten  und  der  Pietisten 


407 


die  Gnade  einmal  zum  Durchbruch  gekommen,  so  folgt  aus  der  Gottseligkeit 
'ein  nicht  geringer  Teil  der  wahren  christlichen  Klugheit  gar  leichtlich.'  Die 
gesteigerte  Betonung  der  Heiligung  erklärt  bei  den  Pietisten  die  Indifferenz  gegen 
das  Dogma  und  die  Trübung  der  Rechtfertigungslehre  im  katholisierenden  Sinn. 

Nach  dem  Dargelegten  ist  es  natürlich,  dafs  bei  boiden  Gemeinschaften 
eine  allseitige  wissenschaftliche  Ausbildung  der  Schüler  nicht  bezweckt  wurde. 
Die  Wissenschaft  tritt  hinter  die  Frömmigkeit  zurück. 

Bei  den  Jesuiten  wird  zwar  betont,  dafs  die  Schüler  zu  wissenschaftlichen 
und  gesitteten  Menschen  erzogen  werden  sollen.  So  heifst  es  in  Übereinstimmung 
mit  Const.  IV  16,4  und  anderen  Stellen  in  Rat.  stud.  reg.  comm.  prof.  class. 
inf.  1  'die  Jünglinge,  die  man  der  Gesellschaft  Jesu  zur  Erziehung  anvertraut 
hat,  unterrichte  der  Lehrer  so,  dafs  sie  zugleich  mit  den  Wissenschaften  be- 
sonders die  eines  Christen  würdigen  Sitten  gewinnen.'  Die  Erklärung  dazu  giebt 
aber  im  obengenannten  Sinn  Rat.  stud.  reg.  comm.  prof.  sup.  fac.  1,  'die  besondere 
Absicht  des  Lehrers  sowohl  in  den  Vorlesungen  bei  passender  Gelegenheit  als 
ausserhalb  derselben  gehe  dahin,  dafs  er  seine  Schüler  zum  Dienst  und  zur 
Liebe  Gottes  und  zur  Übung  der  Tugenden,  durch  welche  wir  ihm  Wohl- 
gefallen sollen,  begeistere  und  sie  bestimme,  dieses  als  einziges  Ziel  ihrer 
Studien  im  Auge  zu  behalten.'  Die  beschränkt  wissenschaftliche  Ausbildung 
seiner  Schüler  liefs  der  Orden  sich  nur  angelegen  sein,  soweit  es  für  seinen 
Zweck  erforderlich  war.  Offen  ausgesprochen  findet  sich  dies  in  Rat.  stud.  reg. 
prov.  1:  'Da  es  eine  der  wichtigsten  Dienstleistungen  unserer  Gesellschaft  ist, 
alle  zu  unserem  Institut  passenden  Wissenschaften  den  Nebenmenschen  derart 
vorzutragen,  dafs  dieselben  hierdurch  zur  Erkenntnis  und  Liebe  unseres  Schöpfers 
und  Erlösers  aufgemuntert  werden.'  Dafs  die  Liebe  zum  Orden  dabei  mehr 
ins  Gewicht  fällt  als  die  Kenntnis  in  den  Wissenschaften,  beweist  Const.  IV,  4,2: 
'Wenn  sie  aber  nach  der  Prüfungszeit  studieren,  so  mufs  man  einerseits  acht- 
geben, dafs  über  dem  Eifer  im  Lernen  nicht  die  Liebe  zu  gründlichen  Tugenden 
und  zum  Ordensleben  sich  abkühle.' 

Die  Wissenschaft  gänzlich  beiseite  zu  stellen,  verbot  dem  Orden  sein  wohl- 
verstandenes Interesse.  Im  Landshuter  Erziehungsplan  heifst  es:  Trüfung  des 
Buchstabens,  Forschung,  folglich  Wissenschaft,  war  der  Hauptcharakter  dieser 
Häresie.  Der  Orden,  welcher  die  Völker  vor  dieser  Irrlehre  bewahren  und  in 
dem  alten  Glauben  bestärken  sollte,  mufste  die  gleiche  Waffe,  das  ist  Wissen- 
schaft, ergreifen  und  sich  damit  rüsten,  wenn  er  mit  ihr  den  Kampf  glücklich 
aufnehmen  wollte.'  Aus  dem  hier  angegebenen  Grunde  suchte  auch  der  Orden 
seine  Zöglinge  einseitig  auszustatten  für  das  praktische  Leben.  So  erklärt  sich 
bei  ihm  das  Wertlegen  auf  feines  Benehmen  und  Weltklugheit.  Hätte  er  dies 
und  die  Wissenschaft  gänzlich  vernachlässigt,  so  hätte  er  niemels  die  Erziehung 
der  höheren  Stände,  die  für  seine  Zwecke  von  besonderer  Wichtigkeit  waren, 
an  sich  reifsen  können. 

Auch  bei  Francke  ist  die  wissenschaftliche  Ausbildung  der  Schüler  Neben- 
sache. Er  ist  zwar  durchaus  kein  Feind  derselben.  In  §  25  der  Anführung 
zur  christlichen  Klugheit  sagt  er:  'Da  zwar  nötig  ist  zu  erinnern,  dafs  man 


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(}.  Merte;  Die  Pädagogik  der  Jesuiten  und  der  Pietisten 


notwendig  einen  rechten  und  festen  Grund  in  den  Wissenschaften,  Künsten  und 
Sprachen  selbst  legen  müsse,  ehe  man  könne  angewiesen  werden,  wie  man  die- 
selbe mit  zu  Klugheit  anwenden  solle.*  Als  Hauptzweck  verwirft  er  sie  je- 
doch. 'Wer  nur  deswegen  die  Jugend  unterrichtet,  dafs  er  sie  gelehrter  mache, 
siehet  zwar  auf  die  Pflege  des  Verstandes,  welches  gut,  aber  nicht  genug  ist, 
denn  er  vergifst  das  Beste  u.  s.  w.'  §  3  der  Erziehung  der  Jugend  zur  Gott- 
seligkeit. In  diesem  Sinne  ist  auch  das  Wort  Franckes  zu  verstehen:  'Ich 
sehe  nun,  dafs  Glaube  wie  ein  Senfkorn  mehr  gilt  als  hundert  Säcke  voll  Ge- 
lehrsamkeit.' Der  Grund,  warum  er  dennoch  die  wissenschaftliche  Ausbildung 
nicht  aufser  acht  liefs,  ist  in  seiner  Ansicht  von  der  Würde  des  Menschen  zu 
suchen.  Mit  ihr  vertrug  sich  Rohheit  und  Unwissenheit  nicht.  Weil  er  im 
Menschen  das  Ebenbild  Gottes  sieht,  sucht  er  seine  Schüler  so  weit  mit  Kennt- 
nissen zu  versehen,  dafs  sie  ein  menschenwürdiges  Dasein  führen  und  ihre 
gottgewollte  Stellung  in  der  Welt  ausfüllen  können. 

Die  Jesuiten  sowohl  als  auch  die  Pietisten  erzogen  also  die  Schüler  ein- 
seitig für  eine  bestimmte  religiöse  Gemeinschaft.  Beide  mufsten  daher  auf 
gleiche  Weise  bedacht  sein,  alles  von  ihnen  fern  zu  halten,  was  dem  Geiste 
der  Gemeinschaft  widersprach  und  was  im  stände  war,  die  beabsichtigte  Herzens- 
richtung zu  durchkreuzen.  Für  beide  empfahl  sich  zu  diesem  Zwecke  die 
Institutserziehung,  bei  der  nicht  allein  die  Möglichkeit  gegeben  war,  durch 
Unterricht  auf  die  Schüler  in  ihrem  Sinne  einzuwirken,  sondern  auch  durch 
eine  feste  Lebensordnung  dem  Gemüte  derselben  das  geistige  Gepräge  der  Ge- 
meinschaft aufzudrücken. 

Die  Erziehungsanstalten  der  Jesuiten  sind  zugleich  Internate.  Wenn  auch 
sogenannte  Externe,  die  nicht  in  der  Anstalt  wohnen,  am  Unterrichte  teil- 
nehmen konnten,  war  es  doch  Regel,  dafs  die  Schüler  zugleich  Pensionäre 
waren.  Denn  die  feste  Ordnung  und  stramme  Disziplin  als  Haupterziehungs- 
mittel des  Ordens  konnte  nur  bei  den  Schülern,  die  stets  unter  Aufsicht  waren, 
die  beabsichtigte  Wirkung  ganz  hervorbringen.  Musterhaft  war  auch  in  der 
That  auf  allen  Gebieten  die  Ordnung  in  den  Kollegien.  In  keinem  Stücke 
durfte  von  derselben  abgewichen  werden.  'Von  allgemeinem  Nutzen  ist  eine 
genaue  Ordnung  der  Zeit  in  Studien,  Gebeten,  Messen,  Vorlesungen,  Essen 
Schlaf  und  allen  übrigen  Dingen.  Darum  gebe  man  in  den  festgesetzten 
Stunden  ein  Glockenzeichen,  bei  dessen  Klang  alle  sofort,  ohne  auch  nur  einen 
Buchstaben  zu  vollenden,  sich  zu  dem  verfügen,  wozu  sie  gerufen  werden.' 
Const.  IV  10,  9.  Abgesehen  von  der  Hausordnung  gab  es  für  alle  Schüler 
bestimmte  Gesetze.  Für  die  Internen  bestanden  die  'regulae  scholasticorum 
nostrorum.'  Die  Externen  hatten  sich  nach  den  'Regulae  externorum  auditorum 
Societatis'  zu  richten.  Die  Lehrer  hatten  nach  rat.  stud.  reg.  comm.  prof.  class. 
inf.  39  ihre  Hauptsorge  darauf  zu  richten,  dafs  die  Schüler  ihre  Regeln  genau 
inne  hielten.  Ebenso  war  nach  derselben  Regel  für  Ruhe  und  Ordnung  in 
Kirche  und  Schule  gesorgt.  Auch  aufserhalb  des  Hauses  standen  die  Schüler 
unter  steter  Aufsicht.  Ohne  Erlaubnis  der  Oberen  durften  die  Schüler  über- 
haupt nirgends  hingehen  als  in  die  Schule.    Auf  dem  Hin-  und  Rückwege  «u 


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G.  Mertz:  Die  Pädagogik  der  Jesuiten  und  der  Pietisten  409 

* 

ihr  müssen  sie  stets  miteinander  und  'mit  jener  inneren  und  äufscren  Sittsam- 
keit gehen,  die  ihrer  eigenen  Erbauung  und  jener  der  Nebenmenschen  ansteht.' 
Const.  IV  4,  6. 

Francke  ging  von  Aufang  seiner  Erzieherthätigkeit  an  darauf  aus,  alle  Schüler 
in  eigenen  Erziehungshäusern  unterzubringen.  Es  kommt  ihm  darauf  an,  sie 
möglichst  jedem  nicht  pietistischen  Einflufs  und  Umgang  zu  entziehen.  Er 
sieht  es  nicht  einmal  gern,  dafs  die  Schüler  auch  nur  für  kürzere  Zeit  dem 
Einflufs  ihrer  pietistischen  Umgebung  entrückt  wurden.  Ordnung  und  Lehrart 
des  Päd.  46.  Für  seine  verschiedenen  Anstalten  arbeitete  er  Lehrordnungen 
aus,  in  denen  er  nicht  allein  Vorschriften  für  die  Unterrichtsweise,  sondern 
auch  für  das  Verhalten  und  die  Beaufsichtigung  der  Schüler  giebt.  Ohne  Auf- 
sicht waron  auch  bei  ihm  die  Schüler  niemals.  'Die  Kinder  müssen  allezeit 
unter  sorgfältiger  Inspektion  gehalten  werden,  es  sei  in  der  Stube,  auf  dem 
Hofe,  auf  dem  Speise-  oder  Bettsaale,  beim  Kleiderwechseln  oder  beim  Reinigen, 
oder  wo  es  auch  sein  mag,  und  sind  ohne  Not  auch  nicht  auf  eine  kurze  Zeit 
allein  zu  lassen.'  Instruktion  oder  Regeln  für  die  Präceptoren  der  Waisen- 
kinder, §  8.  Ahnlich  lauten  die  Vorschriften  für  die  Beaufsichtigung  der 
Schüler  des  Pädagogiums,  §  20  der  Ordnung  und  Lehrart  des  Päd. 

Bei  beiden  waren  die  Schüler  an  der  freien  Bewegung  gehindert.  Die 
Beaufsichtigung  artete  in  ein  formliches  Spion iersyBtem  aus.  Beiden  kam  es 
hierbei  darauf  an,  nicht  allein  stets  über  Fleifs  und  Aufführung  der  Schüler 
unterrichtet  zu  sein,  sondern  auch  die  Gedanken  und  die  innersten  Regungen 
ihres  Herzens  kennen  zu  lernen.  Was  die  psychologische  Beobachtung  betrifft, 
sind  wohl  weder  die  Jesuiten  noch  die  Pietisten  von  irgend  welchen  Schul- 
männern übertroffen  worden. 

Die  genaue  Kenntnis  der  Herzensstimmung  war  eben  für  beide  die  Voraus- 
setzung der  Anwendung  und  des  Erfolges  ihrer  religiösen  Erziehungsmittel, 
durch  welche  sie  dieselben  zu  unbedingtem  Gehorsam  und  zur  geeigneten  Ge- 
mütsverfassung brachten. 

Bezeichnend  für  den  willenlosen  Gehorsam  bei  den  Jesuiten  ist  Const. 
IV  10,  5:  'Die  Insassen  des  Kollegs  sollen  ihren  Rektor  hoch  in  Achtung  und 
Ehre  halten,  als  den  Stellvertreter  Christi  unseres  Herrn,  sollen  ihm  die  freie 
Verfügung  über  ihre  Person  mit  aufrichtigem  Gehorsam  Überlassen,  vor  ihm 
nichts  verschlossen  halten,  nicht  einmal  das  eigene  Gewissen,  das  sie  ihm  in  den 
festgesetzten  Zeiten  und  noch  öfters,  wenn  ein  Grund  es  erfordern  würde,  er- 
öffnen müssen;  sie  sollen  ihm  nicht  widersprechen,  in  keiner  Weise  ihr  eigenes 
Urteil  als  dem  seinigen  entgegengesetzt  zeigen.' 

In  Ubereinstimmung  damit  verlangt  Francke  in  der  Ordnung  und  Lehrart 
der  Waisenhausschulen  9:  'Nichts  soll  nach  eigenem  Willen,  sondern  alles  in 
kindlichem  Gehorsam  gegen  die  Vorgesetzten  geschehen,  welche  als  Väter  in 
allen  Stücken  sollen  geehrt  werden.' 

Um  diesen  willenlosen  Gehorsam  zu  erzielen  und  die  Herzen  für  ihre  Ab- 
sichten empfänglich  zu  machen,  schlugen  beide  den  gleichen  Weg  der  Ge- 
wiasensforschung  und  der  religiösen  Andachtaübungen  ein. 


! 


410  0.  Merte:  Die  Pädagogik  der  Jesuiten  und  der  Pietinten 

Nach  Const  IV  4,  3  wird  bei  den  Jesuiten  täglich  eine  Stunde  auf  Messe- 
hören, Rosenkranz  und  Gewissensforschung  verwendet  Wird  die  Stunde  da- 
durch nicht  ganz  ausgefüllt,  so  sind  noch  einige  Gebete  beizufügen.  Täglich 
fanden  bei  Tisch  lateinische  und  griechische  Deklamationen  über  religiöse  Gegen- 
stande statt,  Rat.  stud.  reg.  rect.  11.  Es  wird  streng  darauf  gesehen,  dafs 
die  Schüler  regehnäfsig  den  Gottesdienst  besuchen,  wobei  jedoch  das  An- 
wohnen der  Messe  der  Predigt  vorgezogen  wird,  Rat.  stud.  reg.  comm.  prof. 
class.  inf.  3.  Ebenso  werden  die  Privat-  und  Hausandachten  gepflegt.  Zum 
Gebet  werden  die  Schüler  stets  ermuntert  und  angeleitet.  Jede  Vorlesung  und 
Unterrichtsstunde  begann  mit  einem  Gebet,  das  ein  Schüler  sprach,  während  die 
Lehrer  und  die  anderen  Schüler  "barhäuptig  und  gesammelt'  zuhörten,  Rat.  stud. 
reg.  comm.  prof.  sup.  fac.  2  und  3.  Aber  was  wurde  gebetet?  Nach  der  erst 
genannten  Stelle  sollen  zwar  solche  Gebete  gesprochen  werden,  die  auf  den 
Unterrichtsgegenstand  Bezug  haben.  Insoweit  waren  sie  wenigstens  freie  Ge- 
danken. Im  übrigen  aber  waren  es  nur  vorgeschriebene  Gebete  und  Litaneien, 
welche  die  Schüler  an  Gott  und  ein  ganzes  Heer  von  Heiligen  zu  richten 
hatten.  Bezeichnend  hierfür  ist  Reg.  extern,  audit.  14:  'Gott  dem  Herrn  aber 
(die  Ratio  a.  1832  fügt  hinzu:  fdem  heiligen  Herzen  Jesu'),  der  heiligen  Jung- 
frau und  Gottesmutter,  den  übrigen  Heiligen  sollen  sie  recht  oft  und  innig 
sich  empfehlen,  die  Hilfe  der  Engel  und  besonders  des  Schutzengels  beständig 
anflehen.'  Besonders  betont  wird  die  Verehrung  Marias.  Jeden  Sonntag  abend 
wird  die  Litanei  der  seligen  Jungfrau  in  der  Klasse  vorgebetet,  oder  die  Schüler 
werden  zur  gemeinsamen  Anbetung  in  die  Kirche  geführt,  Rat  stud.  reg.  comm. 
prof.  class.  inf.  7.  An  derselben  Stelle  findet  sich  die  Mahnung,  'er  rate  aber 
den  Schülern  sorglich  die  Andacht  zu  Maria  und  dem  heiligen  Schutzengel.' 
Die  Kongregation  von  Maria  Verkündigung,  die  sich  die  besondere  Verehrung 
Marias  zur  Pflicht  gemacht,  soll  aus  dem  römischen  Kolleg  in  allen  Kollegien 
eingeführt  werden,  Rat  stud.  reg.  rect.  22.  Diese  vielen  Andachtsübungen  und 
Gebete  steigerten  auf  der  einen  Seite  unnatürlich  die  Phantasie  des  Schülers, 
so  dass  der  Wille  dadurch  betäubt  wurde,  auf  der  anderen  Seite  erdrückten 
sie  auch  wieder  die  wahrhaft  religiösen  Gefühle  und  machten  den  Schüler 
gleichgültig  gegen  das,  was  ihm  das  Höchste  sein  sollte.  Es  konnte  gar  nicht 
ausbleiben,  dafs  das  Gebet  in  Geplapper  ausartete,  die  religiösen  Übungen  lästig 
fielen  nnd  die  Schüler  am  Ende  nur  gewohnheitsmäfsig  thaten,  was  der  Vor- 
gesetzte von  ihnen  verlangte. 

In  denselben  Fehler  verfiel  Francke.  Er  selbst  hatte  eine  'Schriftniäfsi^ 
Anweisung  recht  und  Gott  wohlgefällig  zu  beten'  geschrieben.  Darnach  soll 
bei  der  Anleitung  zum  Gebet  nicht  allein  auf  den  Inhalt  desselben,  sondern 
auch  auf  die  äufserliche  Stellung  und  andächtigen  äufserlichen  Gebärden  ge- 
sehen werden.  Er  warnt  zwar  vor  dem  Geplapper  und  verlangt  kurze,  aus 
dem  Herzen  gesprochene  Gebete.  'Ordnung  und  Lehrart  der  Waisenhausschulen 
11  und  13.'  Er  will  auch  einen  geordneten  Stufengang  beim  Beten  eingehalten 
wissen  in  seiner  Schrift  'Von  der  Anführung  der  Kinder  zum  Gebet'.  Die 
Häufung  der  Gebete  mufste  jedoch  auch  eine  nachteilige  Einwirkung  auf  das 


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G.  Mertz:  Die  Pädagogik  der  Jesuiten  uud  der  Pietisten 


411 


Gemüt  and  den  Willen  seiner  Schüler  haben.  Es  wurden  nämlich  nicht  allein 
alle  Unterrichtsstunden  mit  Gebet  angefangen  und  geschlossen,  sondern  sie 
worden  auch  durch  ein  Gebet  um  Gottes  Beistand  bei  einer  Aufgabe  unter- 
brochen. Gebetet  wurde  nicht  allein  in  Kirche,  Schule  und  Zimmer,  sondern 
auch  auf  dem  Spaziergang  unter  freiem  Himmel.  'Instruktion  für  die  Präceptoren 
der  Waisenkinder  14.'  Die  Kinder  mufsten  über  ein  gegebenes  Thema  beten, 
ob  sie  in  der  Stimmung  dazu  waren  oder  nicht.  Auch  der  häufige  Besuch  des 
Gottesdienstes  liefs  nichts  zu  wünschen  übrig. 

Bedenklicher  noch  als  das  Verfahren  bei  Gebet  und  Andachtsübungen  waren 
bei  beiden  Gemeinschaften  die  Anleitungen  der  Schüler  zur  Gewissensforschung 
und  Beichte. 

Nach  Rat.  stud.  reg.  comm.  prof.  class.  inf.  5  und  Reg.  comm.  prof.  sup.  fac.  3 
haben  die  Jesuitenschüler  jeden  Abend  nach  ganz  bestimmten  Kegeln  eine  Ge- 
wissensforschung mit  sich  vorzunehmen.  Dabei  haben  sie  sich  alles  zu  vergegen- 
wärtigen, was  sie  den  Tag  über  gethan,  und  sich  zugleich  die  Strafe  für  ihr  Thun 
voranstellen.  Eine  Gewissensforschung  in  höherem  Grad  bildeten  die  Exerzitien, 
bei  denen  sich  der  Büfsende  wochenlang  abquälte  und  ängstigte.  Durch  derartige 
Übungen  mufste  Phantasie  und  Gefühl  das  eigene  Urteil  betäuben  und  den 
Willen  mitfortreüsen.  Die  Zerknirschung  vollendete  der  Beichtvater.  Täglich 
hatten  nach  Const.  IV  4,3  die  Zöglinge  zu  beichten  und  das  Abendmahl  zu 
empfangen.  An  den  Beichtzetteln  wurde  genau  kontrolliert,  wer  gebeichtet 
hatte.    Rat.  stud.  prof.  class.  inf.  9  und  Reg.  extern,  audit.  3. 

Verwandt  damit  sind  die  Grübeleien  und  Gewissensforschungen,  zu  denen 
die  pietistischen  Schüler  angehalten  wurden.  Vorschriften  zur  Selbstprüfung 
enthalt  die  Schrift  Franckes  'Philantropia  dei  u.  s.  w.'  mit  der  steten  Auf- 
forderung: 'Betrachte'.  Die  Folgen  der  Sünde  sich  auszumalen,  leitete  den 
Schaler  die  andere  Schrift  Thilotheia'  an.  Den  gröfsten  Fehler  machte  Francke 
dadurch,  dafs  er  durch  derartige  Übungen  den  Schüler  schon  im  Anfang  seiner 
Entwickelung  zur  Bekehrung  bringen  wollte,  während  doch  die  Erkenntnis  des 
eigenen  Herzen  szus  tan  des,  die  Hingabe  an  Gott,  gleichen  Schritt  halten  soll  mit 
der  natürlichen  Entwickelung. 

Immerhin  zeichnet  sich  Francke  bei  den  religiösen  Übungen  vor  den  Jesuiten 
dadorch  aus,  dafs  er  in  ihnen  kein  opus  operatum  sah  und  mehr  auf  das  religiöse 
Verständnis  Wert  legte. 

Gröfser  ist  der  Unterschied  in  den  Mitteln,  die  sie  zur  Handhabung  der 
Zucht  und  zur  Anregung  des  Fleifses  und  der  Aufmerksamkeit  anwandten. 

Bei  den  Jesuiten  treten  die  Strafen  ziemlich  in  den  Hintergrund.  Es 
scheint  fast,  als  ob  sie  eine  Abneigung  gegen  dieselben  gehabt  hätten.  Jeden- 
falls hofften  sie  durch  Anstachelung  des  Ehrtriebes  und  durch  die  Furcht  vor 
Schande  mehr  zu  erreichen  als  durch  Strafen.  Rat.  stud.  reg.  comm.  prof.  clasB. 
inf.  39.  Wegen  häuslicher  Vergehen  wird  nur  selten  und  nur  aus  gewichtigen 
Gründen  in  der  Schule  gestraft.  Rat.  stud.  reg.  praef.  stud.  inf.  38.  Liegt  ein  straf- 
würdiger Fall  vor,  so  soll  der  Lehrer  nicht  vorschnell  und  bei  der  Untersuchung 
nicht  peinlich  sein.    'Er  drücke  lieber,  wo  er  es  ohne  fremden  Schaden  kann, 


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412 


G.  Merta:  Die  Pädagogik  der  Jeeuiten  und  der  Pietisten 


ein  Auge  zu.'  Zur  Strafe  wird  auch  erst  geschritten,  wenn  gute  Worte  und 
Ermahnungen  nichts  fruchten.  Rat.  st.  reg.  praef.  stud.  inf.  38.  Helfen  die  Er- 
mahnungen nicht,  so  soll  der  Lehrer  mit  einer  gelinden  Strafe  einschreiten. 
Körperliche  Züchtigung  tritt  nur  bei  groben  Verbrechen  ein.  Diese  Strafe 
darf  aber  der  Lehrer  nicht  selbst  vollziehen.  Rat  stud.  reg.  comm.  prof.  class. 
inf.  40.  Dazu  ist  ein  eigener  Korrektor  anzustellen,  der  nicht  Ordensmitglied 
sein  darf.  Ist  ein  solcher  nicht  vorhanden,  so  soll  der  Lehrer  eine  andere 
Weise  ersinnen,  den  Schuldigen  gebührend  züchtigen  zu  lassen.  Eine  härtere 
Strafe  ist  die  Entfernung  aus  der  Schule,  die  erst  dann  verhangt  wird,  wenn 
keine  Besserung,  sondern  Verführung  der  Mitschüler  zu  erwarten  ist.  Ist  auch 
die  Entfernung  keine  genügende  Sühne,  so  berichtet  der  Präfekt  an  den  Rektor, 
der  die  weltlichen  Gerichte  anzurufen  hat  R.  st.  reg.  praef.  stud.  inf.  41.  Man 
sieht  aus  dem  ganzen  Verfahren,  dafs  das  Odium  von  Lehrer  und  Orden  fern- 
gehalten wird.  Die  Schüler  sollen  durch  Strafen  keine  Abneigung  gegen  den 
Orden  bekommen.  Die  Strafe  bezweckte  die  Besserung  des  Übelthäters  und  die 
Abschreckung  der  Mitschüler. 

Eine  andere  Auffassung  von  der  Strafe  hatten  die  Pietisten.  Für  sie  traten 
keine  Heiligen  und  Fürbitter  mit  ihrem  Verdienste  bei  Gott  ein.  Der  Glaube, 
gegründet  auf  Bufse  und  Reue,  verhalf  zur  Vergebung.  Reue  empfindet  aber 
nur  der,  welcher  zum  Schuldbewufstsein  gekommen  ist  Über  die  Strafe  handelt 
c.  16  der  Erziehung  zu  Gottseligkeit  und  'Instruktion  für  die  Präceptoren,  was 
sie  bei  der  Disziplin  wohl  zu  beachten'.  Kein  Kind  darf  gestraft  werden,  das 
nicht  von  seinem  Unrecht  überzeugt  ist  und  sein  Vergehen  eingesteht.  Der 
Lehrer  soll,  wenn  er  auch  von  der  Strafwürdigkeit  eines  Schülers  überzeugt  ist, 
von  der  Strafe  absehen,  wenn  der  Schuldige  hartnackig  sein  Vergehen  in  Ab- 
rede stellt.  Denn  von  einem  solchen  Kinde  wird  die  Strafe  nicht  als  eine  Wohl- 
that  angesehen,  wofür  es  nach  Franckes  Meinung  danken  und  durch  Handschlag 
Besserung  geloben  kann.  Auch  sonst  will  Francke  die  Strafe  lieber  vermeiden. 
So  viel  immer  möglich,  soll  die  Auferziehung  nicht  mit  Strenge  und  Härtigkeit, 
sondern  mit  Sanftmut  und  Süfsi^keit  geschehen.  Wenn  es  nötig  ist,  scheut  er 
jedoch  nicht  vor  ihr  zurück.  Ein  Kind,  das  dreimal  gewarnt  und  mündheb 
zurechtgewiesen  wurde,  wird  wegen  Bosheit,  nicht  aber  wegen  Unfleifses  körper- 
lich gezüchtigt  Dabei  ist  jedoch  im  Einverständnis  mit  den  Eltern  und  mit 
Rücksicht  auf  die  Gesundheit  des  Kindes  zu  verfahren.  Die  nächsthöhere 
Strafe  ist  die  Anzeige  des  PrUceptors  beim  Rektor,  der  dio  Schuldigen  vor  die 
Spezial-Konferenz  nimmt,  in  Gegenwart  anderer  Praceptoren  ermahnt  und  zu- 
weilen auch  straft.  Die  Art  der  Strafe  bestimmt  der  Inspektor  auf  Grund  des 
Strafbüchleins,  in  das  alle  Vergehen  umständlich  eingetragen  werden.  Die 
Strafe  wird  sofort  und  zwar  von  dem  Präceptor  des  zu  Strafenden  vollzogen. 
Nur  in  dem  Fall,  wo  es  sich  um  eine  eigene  Angelegenheit  des  Präceptors 
handelt,  soll  er  nicht  selbst  strafen,  um  den  Schein  der  Rachsucht  zu  vermeiden. 
Vor  jeder  körperlichen  Züchtigung  mufs  der  Strafende  sich  durch  Gebet  vor- 
bereiten und  zu  Gott  seufzen,  dafs  er  ihm  die  Gnade  gebe,  nicht  aus  fleisch- 
lichem Zorn,  sondern  in  erbarmender  Liebe  zu  strafen.    Aus  dieser  Umstand- 


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Q.  Mertz:  Die  Pädagogik  der  Jesuiten  nnd  der  Pietisten 


413 


lichkeit  des  Strafverfahrens  geht  schon  allein  hervor,  dafa  die  Pietisten  der 
Strafe  eine  andere  Bedeutung  beilegten  als  die  Jesuiten.  Die  Strafe  ist  Sühne 
und  Genugthuung  für  das  Vergehen. 

Am  meisten  unterscheiden  sich  die  beiden  Gemeinschaften  in  der  Anwen- 
dung des  Ehrtriebes  bei  der  Erziehung. 

Bei  den  Jesuiten  war  die  Anstachelung  desselben  ein  Haupterziehungs- 
mittel. Es  mufs  ihnen  zum  Vorwurf  gemacht  werden,  dafs  sie  methodisch  den 
Ehrgeiz  in  den  Schülern  erweckt  und  grofs  gezogen  haben,  obwohl  sie  sich  in 
Const.  IV  15,  4  dagegen  wehren.  Man  kann  es  ihnen  allerdings  nicht  verargen, 
dafs  sie  die  Erregung  des  Ehrbewufstseins  bei  ihren  Schülern  als  Erziehungs- 
mittel angewandt  haben.  Aber  die  Art  und  Weise,  wie  sie  dabei  vorgegangen 
sind,  mufs  getadelt  werden.  Es  handelte  sich  bei  ihnen  nicht  allein  darum, 
dafs  der  Schüler  Ehre  und  Prämien  erlangte,  sondern  dafs  er  seinen  Mitschüler 
um  jeden  Preis  überflügelte.  Jedem  Schüler  wird  ein  Mitbewerber,  Aemulus  ge- 
nannt, zur  Seite  gestellt,  der  den  Gegner  auf  Schritt  und  Tritt  beobachtet,  seine 
Übertretungen  zur  Anzeige  bringt  und  seine  Schwächen  ausbeutet,  um  dann  im 
Besitze  des  Preises  noch  stolz  auf  den  Zurückgebliebenen  herabschauen  zu 
können.  Rat  stud.  reg.  comm.  prof.  class.  inf.  35.  Als  Siegespreis  winkten  dem 
Ehrgeize  die  Schülerwürden,  Rat.  stud.  reg.  comm.  prof.  class.  inf.  35,  die  Prämien, 
legen  Praeraiorum  1,  die  Aufnahme  in  die  Akademie,  Rat.  stud.  reg.  Acad.  8  u.  9. 
Nicht  unerwähnt  darf  hier  die  Art  und  Weise  der  Preisverteilung  bleiben. 
Unter  grofser  Feierlichkeit  mit  Trompetenschall  wird  der  Name  des  Siegers 
öffentlich  genannt,  und  vor  versammeltem  Publikum  erhält  er  die  Auszeichnung. 
Rat.  stud.  reg.  rect.  13  und  andere  Stellen.  Die  Waffen  in  dem  Kampf  um  Ehre 
und  Preis  bilden  in  den  niederen  Klassen  die  sogenannten  Konzertationen,  an 
deren  Stelle  in  den  oberen  Klassen  die  Disputationen  treten.  Es  ist  nicht 
leicht  verständlich,  wie  an  manchen  Stellen  solche  Wettkämpfe  edel  genannt 
werden  können,  denn  sie  muteten  ja  in  den  Schülern  unedle  Leidenschaften  ent- 
flammen. Auf  der  einen  Seite  tritt  das  Bestreben  auf,  durch  alle  Schliche  den 
Gegner  zu  übertölpeln;  auf  der  anderen  Seite  folgt  auf  die  Niederlage  Selbst- 
verachtung und  Hafs. 

Haben  die  Jesuiten  zu  viel  in  dieser  Hinsicht  gethan,  so  haben  die  Pietisten 
zu  wenig  das  Ehrgefühl  als  Erziehungsmittel  beachtet.  Nirgends  wird  an  das- 
selbe appelliert.  Francke  sieht  in  seiner  Anregung  nur  einen  Schaden  für  die 
Schüler  und  unterdrückt  es  auf  alle  Weise.  *Wenn  aber  die  Kinder  meinten, 
sie  müfsten  um  deswillen  die  Sprachen  und  Wissenschaften  erlernen,  damit  sie 
dermaleins  für  alle  Welt  hochangesehene  und  berühmte  Leute  würden  und  da- 
mit sie  einen  unsterblichen  Namen  erlangten  u.  s.  w.,  wäre  der  Informator  ver- 
bunden, ihnen  die  Nichtigkeit  solcher  antreibenden  Ursachen  zu  zeigen  und 
bessere  und  wichtigere  Ursachen  an  die  Hand  zu  geben,  dadurch  nicht  ihr 
eigener  Ehrgeiz  gesättigt,  sondern  Gottes  Ehre  befördert  würde*.  Von  der  An- 
führung zur  Klugheit  26,  4.  Ahnlich  lautet  auch:  Von  der  Anführung  zur 
Gottseligkeit  2.  Zur  Verhütung  des  Ehrgeizes  gab  es  keinerlei  Auszeichnungen. 
'Kein  Kind  mufs  über  das  andere  ungebührlich  erhoben  werden  noch  ein  Korn- 


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G.  Mertz:  Die  Pädagogik  der  Jesuiten  und  der  Pietisten 


mando  über  andere  verstattet  werden.  Instruktion  für  die  Präcept.  der 
Waisenkinder  27.  'Ein  Schüler  ist  gar  nicht  zum  Obaervatoren  derer,  so 
deutsch  reden  oder  sonst  wider  die  Ordnung  peccieren,  zu  bestellen',  Nach- 
erinnerung zu  der  verb.  Methode  des  Paedag.  18.  Francke  fürchtete,  es 
möchte  dadurch  die  Liebe  der  Kinder  in  Neid  ausarten,  und  sie  möchten  ver- 
gessen, dafs  vor  Gott  alle  gleich  seien.  Von  der  Information  der  Waisenkinder 
insonderheit  9.  Die  Kinder  selbst  sollen  es  nicht  einmal  gern  hören,  wenn  sie 
gelobt  werden  (Philotheia).  Auch  die  Informatoren  sollen  sich  jedes  Lobes 
enthalten.  'Informatoren  Bollen  nicht  die  Kinder,  welche  sich  wohl  anlassen, 
mit  unzeitigem  Lob  stolz  machen,  sondern  sollen  ihnen  die  Verheifsung,  welche 
die  Gottseligkeit  hat  und  die  Liebe  Christi  vor  Augen  malen.  Auch  die  Un- 
gezogenen sollen  durch  dergleichen  evangelische  Gründe  zum  Guten  angefahrt 
werden'.  Was  von  den  Informatoren  zu  observieren  11.  Durch  Lob  und  Ver- 
heifsung dagegen  wird  nach  Franckes  Ansicht  den  unschuldigen  Kinderherzen 
der  Hoffartsgeist  gleichsam  mit  Gewalt  eingeprägt  Von  der  Erziehung  zur 
Gottseligkeit  11. 

Gerade  bei  diesem  Erziehungsmittel  war  der  dogmatische  Standpunkt  beider 
Gemeinschaften  mafsgebend. 

Die  Jesuiten  glauben  an  die  Verdienstlichkeit  guter  Werke,  wegen  deren 
besonders  die  Heiligen  eine  Ehreustellung  bei  Gott  einnehmen.  Wie  Gott  die  be- 
sonders auszeichnet,  welche  Hervorragendes  geleistet  haben,  so  zieren  die  Jesuiten 
auch  die,  welche  sich  durch  besondere  Leistungen  hervorthun.  Und  wie  nicht 
alle  Menschen  Heilige  werden,  so  können  auch  nicht  alle  Schüler  an  erster 
Stelle  stehen.  Eines  Unrechts  waren  sich  die  Jesuiten  bei  ihrem  Verfahren 
nicht  bewufst.  Bei  Francke  dagegen  kommt  alles  auf  die  Gnade  Gottes  an. 
Der  Mensch  kann  im  unbekehrten  Zustande  nichts  Gutes  leisten.  Er  verdient 
darum  auch  kein  Lob.  Und  auch  die  Bekehrten  haben  keinen  Anspruch  darauf, 
denn  sie  verdanken  alles  der  Wirkung  des  heiligan  Geistes.  Stolz  konnten  die 
Menschen  nur  sein  auf  den  Adel  ihrer  Seele  und  auf  die  Gemeinschaft  mit 
Gott.  Ein  Grund  zur  Bevorzugung  des  einen  vor  dem  anderen  lag  hierin  nicht. 

Die  rigorose  Lebensauffassung  Franckes  war  auch  der  Grund,  warum  er 
fast  alle  Erholungen  und  Vergnügungen  den  Schülern  vorenthielt,  während  die 
Jesuiten  sie  ihnen  in  reichlichem  Mafse  gewährten. 

Bei  den  Jesuiten  war  jeder  Überanstrengung  der  Schüler  vorgebeugt, 
Const.  IV  4,  1;  13,  5.  Keiner  soll  über  zwei  Stunden  sich  am  Lesen  oder 
Schreiben  anstrengen,  ohne  das  Studium  eine  kurze  Weile  zu  unterbrechen, 
Rat.  st.  reg.  schol.  nostr.  10  und  Const.  IV  6,  1.  An  Vakanztagen  und  Ferien 
war  kein  Mangel,  sie  wurden  in  überreichem  Mafse  gegeben.  Rat.  stud.  reg. 
prov.  37,  1 — 11.  Zum  Baden,  Reiten,  Turnen,  zu  Ausflügen  u.  s.  w.  hatten 
die  Schüler  reichlich  Gelegenheit.    Erinnerungen  eines  Jesuitenzöglings  S.  127. 

Dom  mönchischen  Ideal  kommt  Francke  bei  der  Erziehung  näher  als  sie. 
Freie  Zeit  hatten  eigentlich  seine  Schüler  kaum.  Nicht  einmal  die  Sonntage 
wurden  ihnen  freigegeben.  Sie  mufsten  an  ihnen  zur  Schule  kommen  und  wurden 
in  den  Gottesdienst  geführt  'damit  sie  nicht  verwilderten'.    Freie  Nachmittage 


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G.  Merte:  Die  Pädagogik  der  Jesuiten  und  der  Pietisten 


415 


gab  es  nicht.  Ferien  galten  als  Zeitverschwendung.  Die  in  den  einzelnen  Lehr- 
ordnungen erwähnten  Freistunden  waren  Arbeitsstunden,  in  denen  sich  die 
Schüler  durch  die  sogenannten  Rekreationsübungen  Kenntnisse  in  den  ver- 
schiedenen Handwerkszweigen  verschaffen  mufsten.  Ordnung  und  Lehrart  der 
Präceptoren  31.  Solcher  Art  waren  fast  alle  Erholungen.  'Der  Informator  soll 
auf  Dinge  bedacht  sein,  darinnen  die  Kinder  zwar  ausruhen,  aber  die  Zeit  da- 
mit nicht  unnützlich  vertreiben,  noch  ihre  ohnedem  flatterhaften  Sinne  in  alle 
Welt  zerstreuen*.  Von  der  Erziehung  zur  Gottseligkeit  12,  2.  Spiele  wurden 
nur  mit  sehr  vorsichtiger  Auswahl  gestattet  und  durften  nur  unter  Aufsicht 
der  Lehrer  ausgeführt  werden,  'damit  sie  dadurch  nicht  Gelegenheit  zu  allerlei  Mut- 
willen und  Zerstreuung  des  Gemütes  bekommen  mögen'.  Ordnung  und  Lehrart  des 
Paedag.  31.  Die  einzige  Erholung  bildete  die  sogenannte  Motion,  d.  h.  Spazier- 
gänge und  Ausflüge,  bei  denen  das  Gebet  jedoch  nicht  vergessen  werden  durfte. 

Bei  den  Unterrichtsgegenstanden  zeigt  sich  deutlich  der  prinzipielle  Gegen- 
satz zwischen  Jesuiten  und  Pietisten. 

Die  ersteren  erziehen  für  den  Orden.  Als  Mitglieder  eignen  sich  aber  nur 
Gelehrte  oder  Reiche  und  Hochgestellte.  Mit  den  Gegenstanden  des  Elementar- 
unterrichts beschäftigten  sie  sich  nicht.  Ihre  Schulen  waren  gelehrte  Studien- 
anstalten, in  denen  fast  ausschliefslich  die  Bildungselemente  des  Humanismus 
gepflegt  wurden,  denn  nur  im  Besitze  der  Beredsamkeit  konnten  sie  ihren  Zweck 
erreichen.  Alles  andere,  was  nicht  mit  ihr  zusammenhing  und  was  nicht  un- 
bedingt zum  Fachstudium  der  Theologie  gehörte,  schlössen  sie  vom  Unterrichte 
aus,  Const.  IV  5,  1.  Die  meiste  Zeit  wurde  in  den  'Studia  inferiora*  auf 
Latein  verwendet.  Die  Schüler  sollten  so  weit  gebracht  werden,  dafs  sie  die 
lateinische  Sprache  schriftlich  und  mündlich  beherrschten.  Es  kam  dabei  nicht 
auf  die  Aneignung  einer  klassischen  Bildung  an.  Denn  an  den  Schriftstellern 
wurde  nur  die  formelle  Seite  hervorgehoben.  Latein  brauchte  der  Orden,  weil 
es  nicht  allein  die  wissenschaftliche  Universalsprache,  sondern  auch  die  Kirchen- 
und  Ordenssprache  war.  Deshalb  halt  auch  der  Orden  an  dem  Betrieb  des- 
selben, den  er  anfangs  mit  allen  Schulen  gemein  hatte,  fest  bis  in  die 
neueste  Zeit.  Der  lateinischen  Sprache  gegenüber  treten  alle  anderen  Sprachen, 
besonders  die  Muttersprache,  fast  ganzhch  zurück.  In  den  Konstitutionen  wird 
sie  nur  für  die  Predigt  empfohlen.  In  der  Rat.  stud.  a.  1586  und  1599  wird 
sie  zwar  als  nützlich  bei  der  Erklärung  des  Unterrichtsstoffes  angeführt,  aber 
im  übrigen  verboten,  'daher  sei  der  Gebrauch  der  Muttersprache  in  den  ver- 
schiedenen Schulsachen  niemals  gestattet',  Rat.  stud.  1599  reg.  comm.  prof.  class. 
inf.  18.  Erst  in  der  Rat.  stud.  1832  hat  man  ihr  notgedrungen  eine  Stelle  an- 
gewiesen. Die  Zeit,  welche  für  sie  bestimmt  wurde,  ist  jedoch  äufserst  be- 
grenzt.   Ebenso  stiefmütterlich  wird  der  religiöse  Unterrichtsstoff  behandelt. 

In  den  Const.  IV  16,  2  wird  nur  vorgeschrieben,  dals  wöchentlich  an  einem 
Tag  Christenlehre  im  Kolleg  gehalten  werde,  in  der  die  jüngeren  Schüler  den 
Katechismus  lernen  und  hersagen.  'Die  Erwachsenen  sollen  ihn  womöglich 
kennen'.  In  der  Rat.  stud.  wird  der  Katechismus  zwar  mehr  berücksichtigt. 
Nach  Reg.  comm.  prof.  class.  inf.  4  soll  er  in  den  drei  Klassen  der  Grammatik 


410 


O.  Mertz:  Die  Pädagogik  der  Jesuiten  und  der  Pietiutcn 


und  wenn  notig  auch  in  den  anderen  Klassen  Freitags  und  Samstags  hergesagt 
werden.  Im  ganzen  wird  aher  nur  1  Stunde  wöchentlich  darauf  verwendet. 
Dafs  dahei  auch  nach  der  Rat.  stud.  1832,  die  im  Unterschied  von  der  Rat.  stui 
a.  1599  auf  Verständnis  des  Katechismus  dringt,  wenig  Zeit  für  die  Erklärung 
desselben  übrig  blieb,  kann  wohl  nicht  bestritten  werden.  Den  religiösen 
Memorierstoff  ersetzten  die  religiösen  Übungen  und  Andachten.  Auf  gleiche 
Weise  wurden  die  Realien  vernachlässigt.  Was  davon  unter  der  Bezeichnung 
Erudition  getrieben  wurde,  ist  kaum  der  Rede  wert.  Es  wird  zwar  in  Rat 
stud.  a.  1832  Reg.  prov.  23,  3  Geschichte,  Geographie  und  Mathematik  für  die 
unteren  Klassen  empfohlen.  Die  Behandlung  der  Geschichte  aber,  die  nach  Rat. 
stud.  reg.  prof.  class.  Hum.  1  fvon  Zeit  zu  Zeit  die  Schüler  auffrischen  und 
unterhalten  soll',  zeigt,  dafs  auch  die  anderen  Realfächer  nur  geringer  Pflege 
sich  erfreuten.  Nach  Reg.  praef.  stud.  inf.  8,  11  der  Rat.  stud.  a.  1832  bleibt  es 
sogar  dahingestellt,  ob  Geschichte,  Geographie  und  die  Grundzüge  der  Mathe- 
matik in  den  Schulen  gelehrt  werden  sollen. 

Auch  in  den  Schulen  Franckes,  d.  h.  in  der  Lateinschule  und  in  dem  Päda- 
gogium, wog  Latein  bei  weitem  vor.  Da  es  aber  seine  Hauptabsicht  war,  seine 
Schüler  zum  lebendigeu  Christentum,  das  sich  einzig  und  allein  auf  die  Bibel 
gründet,  zu  erziehen,  so  mufste  er  schon  aus  diesem  Grund  dem  Griechischen 
und  Hebräischen,  als  den  Grundsprachen  der  Bibel,  einige  Aufmerksamkeit 
schenken.  Aus  dem  gleichen  Grunde  mufste  er  sich  die  Muttersprache  an- 
gelegen sein  lassen.  Denn  wer  aus  der  Bibel  seinen  Glauben  schöpfen  soll, 
mufs  dieselbe  in  der  Muttersprache  lesen  können.  Im  engsten  Zusammenhang 
damit  stand  die  Forderung  des  Unterrichts  im  Katechismus.  Und  weil  alle 
Menschen  Mitglieder  des  Reiches  Gottes  werden  sollen  und  alle  für  den  gleichen 
Zweck  erschaffen  sind,  so  haben  auch  alle  Anspruch  auf  Bildung,  die  zum  Ver- 
ständnis des  Ratschlusses  Gottes  und  zur  Ergreifung  des  Heils  im  Glauben 
nötig  ist.  Dieser  Anschauung  entsprang  bei  Francke  die  Idee  einer  allgemeinen 
Volksbildung,  bei  der  auch  die  Kenntnis  der  Realien  nicht  aufser  acht  gelassen 
werden  kann.  Bezeichnend  hierfür  ist  §  7  der  Information  der  Waisenkinder 
insonderheit:  'Weil  auch  einer,  der  nicht  studieret,  dennoch  die  Principia  Astro- 
nomiae,  Geographiae,  Physicae,  Historiae  und  was  seines  Ortes  oder  Landes 
Polizeiordnung  sei,  zu  wissen  wohl  vonnötcn  hat,  wo  er  ein  verständiger  und 
dem  gemeinen  Wesen  nützlicher  Mann  werden  will,  wird  ihnen  auch  aufser 
denen  ordentlichen  Schulstunden  neben  dem,  dafs  sie  zum  Stricken  angehalten 
werden,  gleichsam  spiolender  Weise  von  allen  diesen  Wissenschaften  das  Notige 
beigebracht,  dafs  sie  zum  Exempel  lernen,  wie  sie  Gott  aus  der  Natur  erkennen 
und  sich  durch  seine  Werke  zu  seinem  Lobe  reizen  lassen  sollen,  wie  sie  ein 
Land  vom  andern  unterscheiden,  wie  sie  reisen  sollen,  wie  sie  einen  Acker 
messen  oder  teilen,  wie  sie  den  Kalender  brauchen  sollen  u.  s.  w.' 

(Schilift  folgt) 


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ÜBER  KLASSISCHE  STUDIENREISEN 

Von  Johannbs  Tkukbr 

Die  Anschauungsmethode  ist  das  Schofskind  der  heutigen  Gymnasial 
padagogik.  Nicht  nur  dafs  sie  in  ausgedehntestem  Mafse  die  Grundlage  der 
realen  Unterrichtsfächer  bildet,  sie  beherrscht  auch  den  neusprachlichen  Unter 
rieht  und  klopft  gelegentlich  selbst  bei  den  abstraktesten  Disziplinen  an,  Ein- 
lafe  begehrend.  Auch  für  die  altklassischen  Fächer  hat  sie  eine  früher  un- 
bekannte Bedeutung  gewonnen.  Zwar  ist  die  lateinische  Bilderfibel,  die  in 
Nachahmung  der  'neuen  Methode'  auf  neusprachlichem  Gebiete  den  lateinischen 
Unterricht  schon  für  den  Anfänger  um  einige  hervorragende  Darstellungen  aus 
dem  klassischen  Altertume  konzentrieren  will,  als  eine  verfehlte  Anticipatio  zu 
bezeichnen,  die  auf  einer  Verwechselung  der  unterschiedlichen  Bild ungs werte 
der  alten  und  der  modernen  Sprache  beruht  und  das  Interesse  des  lateinischen 
ABC- Schützen,  dessen  Kräften  die  Bewältigung  der  fremden  Sprachform  allein 
durchaus  genügt,  zu  Gunsten  einer  oberflächlichen,  frühreifen  Vielseitigkeit  zer- 
splittert. Dagegen  sind  die  mannigfachen  Bestrebungen  unserer  Zeit,  dem 
fortgeschritteneren  Schüler  das  Altertum  nach  Möglichkeit  im  Bilde  vorzuführen 
and  ihm  besonders  das  Verständnis  für  die  Ziele  und  Aufgaben  der  antiken 
Kunst  zu  wecken,  nur  freudig  zu  begrüfsen,  so  wenig  harmonisch  mit  ihrem 
idt-iilen  Inhalte  auch  die  nüchterne  Forderung  anmutet,  die  Archäologie  für  den 
Kandidaten  der  Philologie  unter  die  obligatorischen  Prüfungsfächer  einzureihen. 
Denn  indem  die  bildende  Kunst  das  Streben  des  griechischen  Geistes  nach  dem 
xtilov  xayu&6v  zur  augenfälligen  Darstellung  bringt,  trägt  die  Beschäftigung 
mit  ihr  nicht  wenig  dazu  bei,  den  klassischen  Unterricht  zu  beleben  und  im 
eigentlichen  Sinne  der  humanistischen  Bildung  fruchtbar  zu  gestalten. 

Auf  diese  Erkenntnis  gründet  sich  die  gröTsere  oder  geringere  Liberalität, 
mit  welcher  die  Regierungen  der  meisten  deutschen  Bundesstaaten  alljährlich 
eine  Anzahl  ihrer  altphilologischen  Gymnasiallehrer  in  stand  setzen,  die  Heimat 
des  klassischen  Altertums  oder  wenigstens  Italien  auf  einer  längeren  oder 
kürzeren  Studienreise  zu  besuchen.  Der  Zweck  solcher  Mission  liegt  natürlich 
nicht  in  der  Lösung  bestimmter  wissenschaftlicher  Aufgaben,  sondern  ihre  Teil- 
nehmer sollen  unter  sachverständiger  Anleitung  die  wichtigsten  Stätten  und 
Denkmäler  des  alten  Kulturlebens  kennen  lernen,  um  die  gewonnene  An- 
schauung in  den  Dienst  der  heimatlichen  Lehrthätigkeit  zu  stellen.  Der  Wert 
dieser  Autopsie  bedarf  nicht  erst  einer  ausführlichen  Begründung.  Bezüglich 
der  Topographie  und  Architektur  ist  er  um  so  gröfser,  als  der  gewöhnliche 

Neu»  Jibrbuchcr.    UW.    Ii  27 


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41« 


J.  Teufer:  Über  klassinche  Studienreisen 


Bildungsgang  des  klassischen  Philologen  ihm  wenig  Gelegenheit  bietet,  sein 
räumliches  Anschauungsvermögen  besonders  zu  üben. 

Wie  ist,  um  ein  einfaches  Beispiel  zu  gebrauchen,  selbst  bei  einer  durch 
Beschreibung  und  Abbildung  so  allgemein  bekannten  Lokalität  wie  dem  Forum 
Roman  um  der  Augenschein  geeignet,  die  vorgefafste  Vorstellung  zu  ergänzen, 
ja  richtig  zu  stellen.  Zwar  wer  sich  gewöhnt,  nackte  Zahlenangaben  durch 
eine  Vergleichung  mit  bekannten  Verhältnissen  in  das  ausdrucksvolle  Gewand 
der  Realität  zu  kleiden,  wird  vor  der  naheliegenden  Versuchung  bewahrt 
bleiben,  im  Hinblick  auf  die  spätere  Gröfse  der  Welthauptstadt  die  Ausdehnung 
dieses  Raumes  weit  zu  Überschätzen.  Vielmehr  wird  ihm  nicht  selten  schon 
die  deutsche  Mittelstadt  unter  ihren  freien  Plätzen  ein  passendes  Vergleichungs 
objekt  darbieten.1)  Dagegen  gehört  —  um  von  der  Unzulänglichkeit  der 
Photographien  ganz  abzusehen  —  eine  seltene  Fertigkeit  im  Kartenlesen  dazu, 
um  sich  die  eigenartige  Lage  des  Forums  in  der  Einsenkung  zwischen  dem 
Möns  Palatinus,  Capitolinus  und  Esquilinus  wirklich  anschaulich  vorzustellen 
und  in  ihrer  Bedeutung  zu  würdigen.  Denn  diese  Lage  ist  ein  ausschla«; 
gebender  Faktor  für  die  Topographie  der  alten  Stadt  gewesen.  Sie  erklärt 
uns  die  frühzeitige  Existenz  von  künstlichen  Entwässerungsanlagen,  macht  aber 
zugleich  den  Ausbau  des  Forums  von  der  Besiedelung  des  Esquilin  abhängig 
und  setzt  somit  die  Benützung  eines  anderen  Marktplatzes  (Boarium)  für  die 
allerälteste  Zeit  als  notwendig  voraus.  Einen  klaren  Überblick  über  dies* 
Bodenverhältnisse  und  überhaupt  über  das  Gebiet  der  Siebenhügelstadt  ge- 
winnen wir  vom  Palatin  aus,  der  sich  ebensowohl  durch  seine  historische  Be- 
deutung als  Sitz  der  ersten  Uransiedelung  wie  wegen  seines  von  modernen 
Bauwerken  fast  völlig  freien  PlateauB  vorzüglich  zum  Orientierungspunkte 
eignet.  Indes  konnte  ein  Markt-  und  Versammlungsplatz  von  der  beschränkten 
Ausdehnung  des  Forums  den  wachsenden  Anforderungen  der  Kapitale  auf  die 
Dauer  nicht  genügen.  Schon  in  republikanischer  Zeit  von  Göttertempeln. 
Staatsgebäuden,  später  auch  von  Basiliken  eingerahmt,  bedeckt  sich  in  der 
Kaiserzeit  das  Forum  selbst  mehr  und  mehr  mit  Monumenten  und  wird  so 
allmählich  zu  einem  Museum  der  vaterländischen  Geschichte  und  selbst  iu 
einem  ehrwürdigen  Denkmal  der  Urzeit.  Dies  fortgeschrittene  Entwickelung»- 
stadium  repräsentiert  uns  sein  heutiges  buntes  Trümmerfeld.  In  seine  ursprüng- 
liche Bestimmung  traten  die  Kaiserfora  ein,  unter  denen  das  weitaus  gröTste, 
das  Forum  Trajani,  nur  zu  einem  kleinen  Teile  erst  wieder  blofsgelegt  worden 
ist.  Wir  verschaffen  uns  durch  den  ungehemmten  Umblick  auf  der  TrajanB- 
aäule  leicht  einen  Begriff  von  seiner  ehemaligen  Gröfse.  Derselbe  Punkt  läfst 
uns  den  besonderen  Zweck  des  Forum  Trajani  als  eine  Verbindung  zwischen 
dem  Forum  Romanum  mit  der  Neustadt  im  Marsfelde,  d.  i.  den  Durchstich 
zwischen  Möns  Capitolinus  und  Quirinalis,  deutlich  erkennen. 

Ist  das  Beispiel  des  Forum  Romanum  dazu  angethan,  unserer  Vorstellungs- 
kraft einen  Zügel  anzulegen,  so  läfst  uns  der  Mafsstab  unserer  heutigen  Bau 

')  In  Leipzig  giebt  der  Hauptmarkt  die  Lange  uVs  Forums  wieder,  desHen  Breite  er 
noch  um  ca.  15  m  übertrifft. 


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J.  Teufer:  Über  klonische  Studienreisen 


411» 


in  vielen  Fallen  der  überlegenen  Gröfse  des  Altertums  nicht  gerecht 
werden.  So  giebt  es  kein  modernes  Amphitheater  oder  auch  Theater,  das  nach 
seiner  Geräumigkeit  auch  nur  einen  annähernden  Vergleich  mit  dem  Kolosseum 
oder  selbst  der  Arena  zu  Verona  aushielte.  Unsere  Badeanstalten  werden  an 
Großartigkeit  bei  weitem  übertroffen  von  den  Thermen  des  Caracalla,  deren 
prachtvolle  Hallen  ihr  Vorbild  allerdings  nicht  in  den  bescheidenen  städtischen 
baiin  eae,  sondern  in  den  hellenistischen  Gymnasien  finden.  Ihre  Einrichtung 
erinnert  uns  daran,  welchen  uns  unbekannten  Wert  man  einer  geregelten  und 
umständlichen  Badeprozedur  in  Verbindung  mit  gymnastischer  Körperpflege 
beilegte.  Während  die  palatinischen  Kaiserwohnungen,  auf  dem  vornehmsten 
und  ehrwürdigsten  Flecke  der  Altstadt  gelegen,  hinsichtlich  der  Gröfse  ihres 
Grundrisses  im  Vergleich  zu  neueren  Stadtschlössern  nichts  Auffallendes  bieten, 
«teilt  die  Villa  Adriana  bei  Tivoli,  in  ihrer  Vollendung  zugleich  als  ein  Wunder 
antiker  Baukunst  gerühmt,  schon  durch  die  Weitläufigkeit  ihrer  Anlage,  die 
sich  die  Nachbildung  weltberühmter  Bauten  und  Gegenden  zur  Aufgabe  ge- 
stellt hatte,  wohl  alle  modernen  fürstlichen  Landsitze  in  den  Schatten.  Andere 
architektonische  Überreste  des  Altertums  entbehren  bei  ihrer  Eigenartigkeit 
überhaupt  eines  heimatlichen  Anajogons,  so  vor  allem  der  griechische  Tempel1), 
dessen  überwältigender  Formenwirkung  wir  uns  trotz  der  besten  Bilder  nicht 
bewufst  werden  können,  die  titanenhaften  Mauern  von  Mykenä  und  Tiryns,  die 
friedliche  Feststätte  Olympia,  das  altrömische  Normalhaus  Pompejis,  das  Colum- 
barium  u.  s.  w. 

Unter  denjenigen  Punkten,  deren  natürliche  Beschaffenheit  uns  hauptsäch- 
lich wegen  eines  bestimmten  historischen  Faktums  interessiert,  sei  neben  der  ein- 
fachen Situation  von  Marathon,  von  Salamis,  des  Monte  Pellegrino  (Heirkte)  u.  a. 
ab  besonders  instruktiv  hier  nur  Syrakus  hervorgehoben.  Wenn  schon  in  seinem 
heutigen  Bestände  ganz  auf  Ortygia  beschränkt,  gestattet  doch  sein  übersicht- 
liches Terrain  eine  klare  Orientierung  über  die  Gestalt  der  alten  Stadt  zur 
Zeit  des  Thukydides  und  läfst  uns  die  Bewegungen  der  Athener  nach  dem 
Berichte  dieses  Schriftstellers  aufs  anschaulichste  verfolgen,  vom  Olympieion 
und  Epipolä  an,  den  anfänglichen  Ruhmesstätten  athenischer  Strategie,  bis  zu 
den  Laotamien,  deren  gähnender  Schlund  die  Überreste  der  Expedition  in 
sich  begrub. 

Aber  es  hiefse  Eulen  nach  Athen  tragen,  wollte  ich  auch  nur  eine  nackte 
Aufzählung  aller  der  Örtlichkeiten,  Bauten  und  Kunstwerke  geben,  deren  Be- 
sichtigung als  eigentliches  Ziel  der  altphilologischen  Studienreise  vornehmlich 
in  Betracht  kommt.  Denn  es  fehlt  nicht  an  gründlichen  Reiseberichten,  die 
den  praktischen  Standpunkt  des  Gymnasiallehrers  berücksichtigen.  Auch  ein 
anderer  Wertfaktor,  so  unschätzbar  er  ist,  sei  seiner  subjektiven  Natur  wegen 
hier  nur  kurz  gestreift:  die  ethisch  bildende  und  läuternde  Wirkung,  die  das 

')  Einen  Einblick  in  die  Technik,  mit  der  die  rienigen  Sänlentronimeln  der  gewaltigen 
«elinuntiachen  Tempelfelder  bearbeitet  wurdeu,  gewährt  ein  Besuch  der  antiken  Steinbrüche 
von  Campobello,  deren  feierabendlieher  Zuatand  uns  mitten  in  die  Werkstätte  der  alten 
jiurflckveraeUt  (vgl.  Badeker,  Italien  m  S.  279  »)• 

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J.  Teufer:  Über  klassische  Studienreisen 


Vaterland  des  Sophokles  und  des  Vergil  noch  heute  auf  die  Seele  auszuüben 
im  stände  ist.  Wohl  dem,  welchem  der  unverschleierte  Anblick  von  Schön 
heit  und  Kraft,  diesen  unsterblichen  Wächterinnen  am  Grabe  des  klassischen 
Altertums,  so  tief  ins  Herz  sich  einprägt,  dafs  er  ihn  unverlöscht  mit  zurück- 
bringt in  die  nüchterne  Heimat  und  in  die  schwüle  Atmosphäre  der  Schulstube. 
Ihm  belebt  die  Begeisterung  das  dürre  Wort  des  alten  Prosaikers  wie  frisches 
Nafs  die  trockene  Jerichorose,  und  über  der  sauren  Hantierung  mit  den  hart 
kantigen  Bausteinen  der  Grammatik  verliert  er  nicht  das  Bild  des  erhabenen 
Athenetempels  aus  den  Augen,  der  sich  aus  schlichten,  schwerfälligen  Steinen 
zu  seiner  gottlichen  Schönheit  aufbaut.  Diese  Berufsfreudigkeit  ist  etwas  von 
dem  unverlierbaren  Glücke,  das  nach  Goethes  Erzählung  seinen  Vater  in  der 
Erinnerung  an  Neapel  beseligte.  Aber  freilich,  man  mufs  dann  auch  mit 
Goethes  Augen  sehen  können;  und  die  Empfänglichkeit  gegen  das  Überirdische 
in  Natur  und  Kunst  bleibt  eine  Gnadengabe  von  oben. 

Wir  wollen  den  festen  Boden  des  Objektiven  nicht  verlassen.    Auf  ihm 
erwächst  dem  reisenden  Philologen,  wofern  er  nur  den  Blick  nicht  allzustarr 
auf  sein  Hauptziel  gerichtet  hält,  so  dafs  er  dadurch  blind  wird  für  das  Schöne 
und  Interessante,  das  zu  beiden  Seiten  des  Weges  liegt,  eine  solche  Fülle  von 
Anregungen  und  neuen  Anschauungen,  dafs  es  sich  wohl  lohnen  dürfte,  diesen 
einmal  ausschliefslich  unser  Augenmerk  zuzuwenden.    Gewifs  handelt  es  sich 
dabei  zum  guten  Teil  um  Beobachtungen,  deren  Wahrnehmung  zu  eines  jeden 
Reisenden  Bildung  und  Erziehung  beiträgt;  allein  dasselbe  gilt  doch  unbestreit 
bar  auch  vom  Besuche  der  loca  classica  selbst,  und  ebenso  gewifs  wird  hier 
wie  dort  der  Wert  eigener  Kenntnis   und  persönlicher  Erfahrung  für  den 
unendlich  höher  sein,  der  durch  seinen  Beruf  dazu  veranlafst  ist,  sich  über 
ihren  Inhalt  ein  gewisses  Urteil,  eine  bestimmte  Vorstellung  zu  bilden,  und 
nicht  blofs  für  sich  zu  bilden,  sondern  im  Unterrichte  vorzutragen  und  zu  ver 
treten.    So  sollen  denn  die  folgenden  Zeilen  auf  diejenigen  Bildungsmomente 
aufmerksam  machen,  die  wir  bei  einer  Studienreise  natürlicherweise  als  Parerga 
anzusehen  und  gering  zu  schützen  pflegen,  vielleicht,  dafs  unter  diesen  unschein 
baren  Perlen,  auf  die  wir  ungesucht  beim  Graben  nach  dem  Schatze  stofsen, 
sich  doch  die  eine  oder  andere  rindet,  die  es  verdient,  aufgehoben  und  ans 
Licht  gezogen  zu  werden. 

Schon  den  Umstand  möchte  ich  als  einen  wertvollen  Reisegewinst  für 
den  in  Ausübung  seines  Berufes  stehenden  Gymnasiallehrer  bezeichnen,  dafs  er 
gewisseraiafsen  selbst  für  einige  Zeit  auf  die  Schulbank  zurückversetzt  wird, 
indem  ihn  teils  seine  Umgebung,  teils  die  Anforderungen  de«  Lebens  veranlassen, 
die  Schuldisziplinen  fast  ausnahmslos  wieder  einmal  aufzunehmen  und  in  dem 
bunten  Wechsel  eines  Stundenplanes,  wie  der  Augenblick  es  verlangt,  die  Auf- 
merksamkeit bald  diesem,  buld  jenem  Fache  zuzuwenden.  Denn  wenn  sich 
auch  daheim  im  Lehrerzimmer  Altphilologe  und  Naturwissenschaftler  mit  der 
Freundschaft  mangelnder  Interessengemeinschaft  als  wohlgewogeue  Antipoden  ( 
gegenüberzustehen  pflegen,  wer  könnte  hier  das  Auge  verschliefsen  gegen  die 
auffallendsten  Erscheinungen  der  südlichen  Pflanzenwelt,  gleichviel  ob  sie  die 


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J.  Teufer:  ü"ber  klassische  Studienreisen 


421 


Alten  schon  kannten  oder  nicht,  gegen  die  Pinie  und  Palme,  den  Kaktus  und 
den  Papyrus,  der  doch  zumal  ein  unbestreitbares  Anrecht  hat  auf  das  Interesse 
eines  jeden  Gelehrten?  Und  wer  gewänne  es  nicht  über  sich,  schon  um  den 
beiden  Sternchen  im  Bädeker  Genüge  zu  thun,  im  weltberühmten  Aquarium  zu 
.Wapel  einmal  hin  abzutauchen  in  die  Geheimnisse  des  mittelländischen  Meeres 
und  seinen  stummen  Bewohnern  einen  Besuch  abzustatten?  —  Der  Anblick  der 
Olive  läfst  unsere  Gedanken  hinüberschweifen  nach  dem  heiligen  Vaterlande  des 
Ölbaums;  aber  zahlreiche  Malsteine  erinnern  uns  daran,  dafs  unser  Fufs  auch 
hier  auf  geweihtem  Boden  steht.  In  fortlaufenden  Bildern  führen  sie  uns 
durch  die  christliche  Kirchengeschichte,  von  den  Märtyrerstatten  und  den  ver- 
steckten Katakombengängen  in  die  Kunstsäle  des  Vatikans,  von  der  bescheidenen 
Basilika  durch  die  Triumphkirche  des  Papsttums  nach  dem  schlichten  Grabe 
Pius'  IX.  Ja,  wem  die  Steine  reden,  der  läfst  sich  von  den  Isis-  und  Mithras- 
und  Cybelestatuen  der  römischen  Museen  erzählen  von  der  Sintflut  fremder  Kulte, 
die  zu  der  Zeit,  da  im  fernen  Osten  das  Brünnlein  lebendigen  Wassers  ent- 
sprang, Italien  überschwemmte  und  den  altchristlichen  Sarkophagreliefs  so 
häufig  den  Stempel  eines  mysteriösen  Synkretismus  aufgedrückt  hat.  Und  wer 
Ohren  hat,  zu  hören,  der  fühlt  sich  durch  die  glühende  Beredsamkeit,  mit 
welcher  der  Waldenserprediger  im  Herzen  Roms  gegen  Mariendienst  und  Fege- 
feuer eifert,  zurückversetzt  in  die  trotzige  Kampfeslust  der  Reformationszeit. 

Aber  weit  noch  über  die  Grenzen  des  alten  Patrimonium  Petri  hinaus 
reichen  die  Spuren  der  deutschen  Geschichte,  die  uns,  wenn  auch  vielfach 
schmerzlicher  Art,  auf  Schritt  und  Tritt  begleiten.  Und  doch,  mag  uns  auch 
die  demütigende  Rolle  des  alten  Heldenkaisers  Barbarossa  auf  den  Bildern  des 
Dogenpalastes  die  Röte  des  Unwillens  in  die  Wangen  treiben,  mag  uns  der 
Besuch  der  'Sala  del  re  Enzio'  in  Bologna  mit  stiller  Wehmut  über  das 
romantische  Schicksal  des  liederkundigen  Königssohnes  und  auf  der  Piazza  del 
Mercato  in  Neapel  die  Erinnerung  an  das  Ende  des  letzten  Hohenstaufen  mit 
bitterem  Schmerze  erfüllen:  wir  begreifen  gerade  an  diesem  paradiesischen 
Punkte  unserer  Wanderung  am  allerbesten,  was  die  germanischen  Stämme  zur 
Zeit  der  Völkerwanderung  so  mächtig  über  die  Alpen  zog,  was  die  späteren 
Hohenstaufen  trieb,  ein  Erbland  festzuhalten,  dessen  leichte  Fruchtbarkeit  mit 
»einer  Schönheit  wetteifert  und  von  den  Zeiten  Hannibals  bis  heute  der  That- 
kraft  und  Mannestugend  seiner  Bewohner  so  verhängnisvoll  geworden  ist.  Die 
Königsgräber  im  Dome  zu  Palermo  bergen  die  irdischen  Überreste  der  beiden 
gewaltigen  Fürsten,  welche  die  deutsche  Kaiserwürde  mit  dem  Besitze  des 
Königreichs  Sicilien  vereinigten.  Wir  empfinden  eine  stille  Freude,  dafs  das 
Deutschtum  heute  in  friedlicher  Weise  von  dem  Felseneiland  am  Golfe  von 
Neapel  Besitz  ergriffen,  dessen  zauberhafte  Schönheit  dereinst  den  heiteren  Sinn 
des  alternden  Augustus  entzückte  und  dem  Weltüberdrusse  des  finsteren 
Tiberius  als  Zufluchtsstätte  diente;  dafs  unsere  Landsleute  sein  blaues  Wunder 
der  staunenden  Welt  erschlossen  und  dem  Inselstädtchen  beinahe  den  Charakter 
einer  deutschen  Kolonie  aufgeprägt  haben. 

Ea  wäre  überflüssig,  auch  nur  in  grofsen  Umrissen  das  nngeheure  An- 


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J.  Tenfer:  Über  klassische  Studienreisen 


schauungsmaterial  zu  zeichnen,  das  Italien  für  die  mittelalterliche  und  neuere 
Welt-,  Kultur-  und  Kunstgeschichte  umschliefst.  Allerdings  mag  man  daran 
zweifeln,  ob  aus  der  reichen  Mannigfaltigkeit  der  Anregungsmittel  im  einzelnen 
eine  eigentliche,  tiefgehende  Wissensbereicherung  erwachsen  wird.  Aber  wie 
jede  harmonische  Geistesbildung  untrennbar  an  einem  gewissen  Universalismus 
haftet,  so  dienen  sie  dazu,  den  Gesichtskreis  des  Fachmannes  zum  Besten  des 
Pädagogen  zu  erweitern  und  ihn  ror  verhängnisvoller  Einseitigkeit  zu  bewahren. 

Für  den  letzteren  Gesichtspunkt  ist  nicht  ohne  Bedeutung  die  praktische 
Erfahrung,  die  sich  an  den  Aufenthalt  unter  einem  durchaus  fremdsprachigen 
Volko  knüpft  und  die  brennendste  Tagesfrage  des  modernen  Schulkampfes 
berührt.  Dabei  setze  ich  freilich  als  ausgeschlossen  voraus,  dafs  sich  der  Reisende 
damit  begnügt,  sich  recht  und  schlecht  oder  vielmehr  recht  schlecht  mit  Hilft 
einiger  Redensarten  aus  Meyers  Taschenwörterbuch  durchzuschlagen,  und  im 
übrigen  auf  seine  Gewandtheit  im  Gebrauche  der  internationalen  Zeichensprache 
verläfst.  Das  ist  des  reisenden  Parvenüs,  nicht  aber  des  Philologen  würdig. 
Eine  vorangehende  Übung  in  der  italienischen  Sprache,  bei  der  es  weniger  auf 
Länge  als  auf  Regelmäfsigkeit  der  Lektionen  ankommt,  lohnt  sich  nicht  nnr 
durch  den  nächstliegenden  Gewinn,  dafs  sie  dem  Fremdlinge  die  Wege  ebnet, 
verschlossene  Thüren  öffnet,  vor  Übervorteilungen  schützt,  den  Verkehr  mit 
dem  Volke  ermöglicht  und  in  stand  setzt,  den  Befriedigung  heischenden  Fragen, 
welche  der  Anblick  unzähliger  Sehenswürdigkeiten  momentan  auftauchen  läfst, 
einen  verständlichen  Ausdruck  zu  verleihen.  Auch  ohne  dafs  darum  eine 
perfekte  Beherrschung  der  Sprache  notwendig  wäre,  bekommt  der  Lernende 
einen  wirklichen  Einblick  in  das  Verhältnis  des  Italienischen  zur  Muttersprache 
Latein;  er  versucht  —  wozu  ihm  sonst  in  der  Regel  die  Veranlassung  fehlen 
wird  —  die  eigene,  lange  nicht  geübte  Fähigkeit  zur  Erlernung  einer  neuen 
Sprache  und  wird  dabei  voraussichtlich  nicht  ohne  Genugthuung  wahr 
nehmen,  dafs,  was  das  Mannesalter  an  Gedächtnisfrische  und  Lernfreudig- 
keit eingebüfst  hat,  durch  den  sprachbildenden  Charakter,  der  dem  Studium  des 
Lateinischen  im  allgemeinen  und  für  die  romanischen  Sprachen  insbesondere 
eignet,  reichlich  ersetzt  wird.  Dabei  mag  er,  wofern  ihm  die  pädagogischen 
Bestrebungen  der  Neusprachler  nicht  gleichgiltig  sind,  die  günstige  Geiegt-uht  tt 
nicht  ungenützt  vorübergehen  lassen,  die  vielgerühmte  *neue  Methode',  etwa 
nach  dem  geschickten  Leitfaden  von  Alge,  am  eigenen  Fleische  zu  erproben. 

Bei  der  praktischen  Anwendung  der  erworbenen  Kenntnisse  wirft  die 
Dialektverschiedenheit,  die  dem  Reisenden  in  den  einzelnen  Teilen  Italiens 
allerdings  besonders  empfindlich  entgegentritt,  ein  interessantes  Streif  licht  auf 
die  bisweilen  sehr  weitgehenden  phonetisch-dialektischen  Anforderungen  unseres 
neusprachlichen  Unterrichts:  zwar  erging  es  mir  nicht  überall  so  rühmlich  wie 
in  Ravenna,  wo  ich  den  Wirt  der  Trattoria  nach  einem  kurzen  Gespräche  mit 
ihm  (vielleicht  auch  infolge  eines  von  mir  unbewufst  gebrauchten  süditahenischec 
Speisenamens)  zu  den  Seinigen  äufsern  hörte:  'e  un  Napolitano'  —  aber  allent- 
halben wurde  mein  Reise-Italienisch,  dossen  phonetische  Feinheiten  sich  nicht 
über  ein  scharfes  Zungen-R  und  die  genaue  Scheidung  der  verschiedenen  Zisch- 


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J.  Teufer:  über  klassische  Studienreisen 


423 


laute  erhoben,  von  Wirten  und  Führern,  von  den  gebildeten  Eingeborenen  und 
zumeist  auch  vom  gewöhnlichen  Volke  verstanden,  und  wenn  umgekehrt  das 
Verständnis  des  letzteren  mitunter  weit  schwieriger  war,  so  wäre  diese  Schwierig- 
keit  gewifs  auch  durch  den  elegantesten  Florentiner  Dialekt  meinerseits  nicht 
gehoben  worden. 

Auch  die  französische  Sprache  spielt  in  Italien  eine  beachtenswerte  Rolle. 
Fremdenführer  und  Kellner  der  gröfseren  Hotels  sprechen  sie  mehr  oder  weniger 
geläufig,  und  der  starke  internationale  Verkehr  hat  sie  eigentlich  zum  Gemein- 
gut der  besseren  Gesellschaft  gemacht.  Diese  ist  gewohnt,  während  sie  die 
ungenügende  Kenntnis  ihrer  eigenen  Muttersprache  gern  verzeiht,  die  leidliche 
Beherrschung  des  Französischen  bei  jedem  Gebildeten  vorauszusetzen.  (Dafs 
dies  nicht  weniger  in  Griechenland  der  Fall  ist,  ist  bekannt  genug.)  Wie 
peinlich  dies  bei  mangelhafter  Übung  werden  kann,  entging  mir  nicht,  als  ich 
in  Rom  versuchte,  mir  Zutritt  in  die  Auditorien  einiger  höherer  Schulen  zu 
verschaffen.  Und  führt  solche  Erfahrung  auch  nur  zu  einer  Würdigung  des 
'Marktwertes'  der  französischen  Sprache,  so  wird  sie  doch  sicher  dazu  beitragen, 
diesen  Marktwert  fürs  praktische  Leben  nicht  verächtlich  zu  unterschätzen. 

Mit  solchen  sprachlichen  Beobachtungen  verbindet  sich  leicht  und  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  von  selbst  das  Studium  der  heutigen  Bewohner  des  Landes. 
Und  es  scheint  mir  für  einen  Lehrer  der  deutschen  Jugend,  gleichviel  welches 
Spezialfach  er  vertritt,  gar  nicht  hoch  genug  anzuschlagen,  dafs  er  einmal  in 
enge  Fühlung  mit  einem  fremden  Volke  getreten  ist.  Denn  wenn  es  unter 
allen  Umständen  seine  Aufgabe  ist,  die  Liebe  zum  deutschen  Vaterlande  in  ihr 
zu  pflegen  und  zu  vertiefen,  so  erfüllt  er  dieselbe  weniger  durch  überschweng- 
liche patriotische  Lobreden  als  dadurch,  dafs  er  seinen  Schülern  die  Augen  zu 
öffnen  sucht  für  die  hohen  Tugenden  und  auch  die  Schwächen  deutscher 
Eigenart.  Durch  nichts  aber  kann  der  Maisstab  für  die  Vorzüge  und  Fehler 
der  eigenen  Landsleute  nachdrücklicher  und  anschaulicher  geschärft  werden  als 
durch  den  aufmerksamen  Verkehr  mit  einem  anderen  Kulturvolke,  das,  seit 
alten  Zeiten  in  ununterbrochener  Wechselbeziehung  zu  unserem  Volke  stehend, 
doch  seiner  ganzen  Abstammung  nach  einen  grundverschiedenen  nationalen 
Charakter  repräsentiert.  Und  Gott  Lob,  der  Deutsche  braucht  von  diesem 
Vergleiche  keine  Gefährdung  seiner  Liebe  zur  Heimat  zu  befürchten.  Wohl 
mag  manches  dünkelhafte  Vorurteil  schwinden,  aber  so  viel  er  auch  der  Lande 
gesehen,  er  wird  noch  immer  mit  der  freudigen  Überzeugung  zurückkehren: 
tiuschiu  zuht  gat  vor  in  allen. 

Schon  der  ohrenbetäubende  Lärm  des  italienischen  Strafsenlebens,  der  laute 
Frohsinn  mit  seiner  Vorliebe  für  Musik,  Spiel  und  Tanz,  die  Lebhaftigkeit  der 
Unterhaltung  verraten  ein  südlich  -  feuriges  Temperament.  Dasselbe  erreicht 
seinen  edelsten  Ausdruck  in  dem  leidenschaftlichen  Spiele  des  Schauspielers, 
nicht  selten  auch  in  der  hinreifsenden  Beredsamkeit  eines  Predigers;  aber  auch 
schon  am  Kinde  bewundern  wir  eine  unserer  Jugend  weit  überlegene  Kunst  des 
Vortrags,  wenn  wir  in  der  Weihnachtezeit  einmal  den  Deklamationen  in  Maria 
in  Aracoeli  in  Rom  beiwohnen.    Dem  Fremden  gegenüber  bethätigt  es  sich  im 


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J.  Teufer:  über  klawsi»che  Studienreisen 


allgemeinen  auch  bei  dem  Manne  des  Volkes  in  einer  natürlichen  Umgänglich- 
keit und  Gefälligkeit,  so  dal»  ich  gelegentlich  auf  der  Eisenbahnfahrt  nicht 
ungern  die  zugeknöpfte  Gesellschaft  reisender  Landsleute  mit  dem  eingeborenen 
Publikum  der  dritten  Klasse  vertauschte.  Die  wohlwollende  Neugier,  die  wir 
wohl  auch  in  gewissen  Gegenden  der  Heimat  bei  den  niederen  Volksschichten 
finden,  ist  hier  nicht  selten  mit  einem  feinen  Takte,  ja  mit  ausgesuchter  Höflich- 
keit verbunden.  In  liebenswürdiger  Weise,  ohne  uns  zu  verletzen,  pflegt  man 
unsere  etwaigen  Sprachfehler  richtigzustellen,  und  wer  sich  mit  uns  langer  unter- 
halten hat,  verfehlt  nicht,  uns  vom  eigenen  Frühstücke  anzubieten,  bevor  er 
selbst  davon  geniefst,  oder  das  Unterlassen  dieser  guten  Sitte  wenigstens  mit 
der  Dürftigkeit  seiner  Mundvorräte  zu  entschuldigen. 

Bewundernswert  bleibt  die  angeborene  Geschicklichkeit  des  Italieners,  sich 
auch  bei  mangelnder  Sprachgemeinschaft  zu  verständigen.  Diese  Gewandtheit 
liegt  zuerst  ebenfalls  in  dem  lebhaften  Naturell  des  Romanen  begründet, 
wird  aber  noch  bedeutend  erhöht  durch  das  infolge  des  starken  Fremden- 
verkehrs gesteigerte  Accommodationsvermögen.  Wie  er  fast  beständig  die 
Gestikulation  zur  Unterstützung  des  gesprochenen  Wortes  verwendet,  so  daf» 
wir,  von  der  Stimme  der  Sprechenden  unerreicht,  glauben  könnten,  eine 
Taubstummenunterhaltung  zu  beobachten,  so  giebt  er,  ohne  sich  lange  zu  be- 
sinnen, dem  nichtverstandenen  Wunsche  nach  einem  Federmesser  durch  die 
Handbewegung  des  Bleistiftspitzens  deutlicheren  Ausdruck;  das  Wort  'Tiscb- 
glocke'  ersetzt  er  durch  'Klingling'  u.  s.  w.  Als  ich  in  einem  Städtchen  Ober 
italiens  dem  des  Deutschen  ein  wenig  mächtigen  Kellner  beim  Schlafengehen 
erklärte,  wir  wollten  lieber  italienisch  sprechen,  da  ich  mich  hierin  vervoll- 
kommnen möchte,  erwiderte  er  sofort:  'dunque  parleremo  italiano!'  Wie  er  mir 
darauf  im  Schlafzimmer  das  Licht  anzündete,  wies  er,  mich  ansehend,  auf  seine 
Thätigkeit,  indem  er  langsam  und  prononciert  sagte:  'accendere  il  lume',  worauf 
er  mit  einem  'felicissima  notte'  sich  empfahl.  Er  hätte  zweifellos  als  Lehrer 
die  beste  Anlage  zu  einem  tüchtigen  Vertreter  der  Anschauungsmethode  gehabt! 

So  fügen  sich  kleine  Züge  zu  einem  Gesamtbilde,  welches  gegen  die  kühle 
Zurückhaltung  des  deutschen  Phlegmas  nicht  unvorteilhaft  absticht.  Ander- 
seits besitzt  der  deutsche  Bär  dafür  auch  viel  mehr  von  dem  edlen  Stolze  des 
alten  Königs  der  deutschen  Wälder.  Der  aufdringliche  Fremdenführer,  der  ge- 
winnsüchtige Droschkenkutscher,  der  unverschämt  geilende  Bettler  sind  in  ihrem 
Nonplusultra  rein  charakteristische  Typen  des  Südens.  Auch  den  deutschen 
Kaufmann  und  den  deutschen  Gastwirt  umstrahlt  bald  der  unverfälschte  Glorien- 
schein einer  vornehmen  Solidität,  wenn  wir  uns  trotz  der  treuherzigen  Freund- 
lichkeit des  italienischen  Wirtes  gezwungen  sehen,  mit  ihm  über  den  Preis 
selbst  der  geringfügigsten  Ansprüche  zu  aecordieren,  um  nicht  hinterher  doppelt 
und  dreifach  zahlen  zu  müssen;  wenn  wir  uns  beim  Einkaufe  von  irgend  welchen 
Waren  gar  bald  von  der  erfahrenen  Weisheit  des  alten  Rates  überzeugen: 
'Kaufe  möglichst  nicht«  ein,  dessen  Wert  du  nicht  wenigstens  ungefähr  be- 
messen kannst!'  Während  sich  der  Italiener  über  die  moralische  Berechtigung 
der  Fremdenausbeutung  offenbar  nicht  die  geringsten  Gewissensskrupel  macht, 


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,T.  Teufer:  Über  klatsche  Studienreisen 


425 


werden  wir  uns  mit  stolzer  Freude  bewufst,  dafs  deutsche  Ehrlichkeit  auch 
heute  noch  nicht  zum  leeren  Schall  geworden  ist. 

Ein  anderer  hervorstechender  Zug  des  Romanen  ist  die  Grausamkeit  gegen 
die  Tiere.  Allgemein  bekannt  ist  die  herzlose  Verfolgung,  der  unsere  Sing- 
vögel, in  Ermangelung  anderer  jagdbarer  Tiere,  im  ganzen  Lande  ausgesetzt 
sind.  Uns  bleibt  die  schmerzliche  persönliche  Erfahrung  mit  dieser  Gefühls- 
rohheit  nicht  erspart:  wir  sehen  die  kleinen  Sänger  des  heimatlichen  Waldes 
ihres  Federschmuckes  entkleidet  und  an  Stäbchen  aufgereiht  auf  dem  Markte 
feilgeboten,  und  im  Parke  oder  im  Weingarten  fliegen  uns  wohl  auch  selbst  die 
Schrote  eines  unvorsichtigen  Schützen  um  die  Ohren.  Aber  dies  ist  nicht  der 
einzige  Akt  welscher  Tierquälerei:  unbarmherzig  schlägt  der  Bauer  sein  keuchen- 
des Lasttier,  dem  er  wohl  gar  zu  gesteigerter  Qual  mit  raffinierter  Grausam- 
keit die  wunden  Stellen  offen  hält;  mit  den  Füfsen  an  eine  Stange  gebunden 
werden  die  lebenden  Puten  und  Hühner  oft  stundenweit  zur  Stadt  getragen, 
und  fast  jeder  gröfseren  Ziegenherde  hinken  einzelne  Tiere  nach,  denen  der 
grausam-sichere  Steinwurf  des  eigenen  Hirten  das  Bein  gebrochen. 

Man  würde  Unrecht  daran  thun,  für  diese  Gefühllosigkeit  die  katholische 
Kirche  verantwortlich  machen  zu  wollen,  auf  deren  Boden  einst  die  schwärme- 
rische Naturliebe  eines  Franziscus  von  Assisi,  wenn  auch  als  eine  fremdartige 
Pflanze,  gedieh.  Ebensowenig  dürfen  wir  darin  bei  den  Nachkommen  eines 
alten  Kulturvolkes  eine  kindlich -naive  Bildungsstufe  sehen  wollen.  Vielmehr 
handelt  es  sich  hier  um  einen  tiefeingewurzelten  Fehler  des  romanischen  Cha- 
rakters: das  wilde  Wohlgefallen  am  Grausigen,  das  selbst  den  Damenflor  des 
alten  Roms  auf  den  Tribünen  der  blutigen  Arena  versammelte,  läfst  noch  heute 
die  Spanierin  dem  Stierkämpfer  Beifall  klatschen;  es  zeigt  sich  uns  am  Italiener 
als  ein  auffallender  Mangel  an  Mitgefühl  gegen  die  niedere  Kreatur.  Nicht  die 
fortgeschrittenere  Kultur,  sondern  das  warme  deutsche  Gemüt  ist  die  Mutter 
unserer  segensreichen  Tierschutzvereine  gewesen. 

Die  sozialen  Verhältnisse  der  Heimat  werden  in  ein  glänzendes  Licht  ge- 
rückt durch  die  wirtschaftliche  Lage  Italiens,  deren  Not  sich  in  seinen  grofsen 
Scharen  von  Bettlern  und  Bresthaften  aller  Art,  in  dem  allgemeinen  Elende  und 
der  vielfachen  Verdienstlosigkeit  der  unteren  Volksschichten,  in  dem  versumpften 
Zustande  weiter  Landstrecken  jedem  Auge  offen  darstellt.  Ebenso  wird  ein 
Besuch  des  Exercicrplatzes  uns  die  Überlegenheit  des  eigenen  Vaterlandes  zur 
freudigen  Gewifsheit  machen.  Indessen  wollen  wir,  um  nicht  in  gefährliches 
Eigenlob  zu  verfallen,  anstatt  länger  beim  heutigen  Bewohner  des  Landes  zu 
verweilen,  lieber  auf  dessen  geographische  und  kulturelle  Eigenart  selbst  noch 
mit  einem  Worte  eingehen. 

Denn  einerseits  sind  auch  die  rein  geographischen  Anschauungen  von  viel 
zu  allgemeiner  Bedeutung,  als  dafs  sie  blofs  dem  Fachmanne  zu  gute  kämen. 
Ich  brauche  nur  an  einige  besonders  frisch  im  Gedächtnis  haftende  Bilder  zu 
erinnern:  schon  an  der  Grenzscheide  zwischen  Norden  und  Süden  die  St.  Gott- 
hardbahn, die  inmitten  einer  wildromantischen  Alpennatur  mit  ihren  Kehr- 
tunneln ein  Meisterwerk  moderner  Ingenieurkunst  darstellt;  jenseits  der  Alpen 


426  J  Teufer:  Ober  klassische  Studienreisen 

beim  Eintritt  in  Oberitalien  der  überwältigende  Anblick  südlicher  Natur;  die 
zauberhafte  Märchenpracht  der  Lagunenstadt;  die  schwermütige  Campagna  vor 
den  Thoren  Roms;  der  Vesuv  mit  seinem  unheimlichen  Krater;  die  altberühmte 
Schönheit  deB  Golfes  von  Neapel;  die  blendenden  Farbenkontraste  der  sizilischen  ( 
und  griechischen  Küste  u.  s.  w.  Welches  Vorstellung* vermögen,  und  wäre  es 
auch  die  reichbegnadete  Phantasie  eines  Schiller,  vermöchte  hier  den  Anblick 
der  Wirklichkeit  zu  ersetzen? 

Anderseits  ist  die  natürliche  Beschaffenheit  eines  Landes  konservativer 
als  die  Geschichte  seiner  Bewohner,  und  so  hat  Italien  sowohl  wie  Griechenland 
durch  die  Jahrhunderte  wechselnder  Menschengeschlechter  mancherlei  mehr  oder 
weniger  an  Klima  und  Boden  haftende  kulturelle  Eigentümlichkeiten  festge- 
halten, die  direkt  oder  indirekt  als  Illustration  des  klassischen  Altertums 
dienen  können.  So  kommt  zwar  der  heutige  Weinbau  Italiens  an  Umfang  und 
Güte  dem  in  alten  Zeiten  nicht  mehr  gleich,  aber  die  immerhin  reichen  An- 
pflanzungen zeigen  noch  dieselben  Grundformen  —  nur  nicht  die  Mannigfaltig 
keit  —  der  Zucht,  die  Varro  de  r.  r.  1,  8  ausführlich  beschreibt,  von  denen  die 
Vermählung  von  Ulme  und  Rebe  auch  aufserhalb  der  agrarischen  Litteratur 
so  häufige  Erwähnung  findet.  An  Qualität  hat  der  heutige  griechische  Wein 
gegen  früher  offenbar  noch  weit  mehr  verloren  als  der  italienische.  Aber  die 
Sitte  der  Harzbeimischung,  die  dem  nordischen  Gaumen  den  'Rezinatwein'  so 
wenig  munden  läfst,  beruht  schon  auf  einem  uralten  Brauche.  Und  wenn  ihn 
uns  der  griechische  Bauer,  unter  dessen  gastfreiem  Dache  wir  eingekehrt  sind, 
kredenzt  mit  der  typischen  Frage  nach  unserem  Vaterlande,  da  wandelt  sich 
sein  Wort  in  unserem  Ohre  zum  Verse:  xig  xo&tv  elg  ävÖQ&v;  xö&i  rot  %6Ui 
r\dl  xoxrjsg;  Damit  jedoch  dem  homerischen  Bilde  auch  der  Schatten  nicht  fehle, 
fallen  draufsen  vor  der  Hütte  mit  wütendem  Gebelle  die  wilden  Schäferhunde 
auf  uns  ein  und  lassen  sich  nur  mit  Mühe  durch  die  Steinwürfe  ihres  Herrn 
zurückscheuchen  (Od.  XIV.  29  ff.). 

Die  Mode,  so  unbeständig  sie  ist,  scheint  in  dem  ärmellosen  Mantel,  den 
die  grofse  Masse  des  italienischen  Volkes  trägt,  indem  sie  das  rechte  Ende  über 
die  linke  Schulter  zurückschlägt,  einen  Rest  altrömischer  Tracht  festgehalten 
zu  haben.  Auch  die  riemengebundene  Fufsbekleidung  des  Canipagiiahirten 
zeigt  nur  wenig  Veränderung  gegen  antikes  Schuhwerk,  und  bei  der  mangeln- 
den Industrie  nnd  der  Armut  des  Landes  haben  selbst  Gerätschaften  des  ge- 
meinen Lebens  und  Werkzeuge,  mit  denen  Kleinstädter  und  Bauern  ihre  täg- 
lichen Arbeiten  verrichten,  des  öfteren  eine  altertümliche  Form  bewahrt.  In 
den  zahlreichen  Mufsestunden  aber,  die  ihnen  altüberkommene  Gewohnheit  be- 
schert, bildet  die  Barbierstube  für  Neugierige  und  Geschwätzige  eine  gern  be- 
suchte Kultstätte  des  Klatsches,  genau  so  wie  zu  des  Horaz  Zeiten;  ja,  so  wenig 
erfreulich  ihr  Anblick  ist,  auch  die  lippi,  die  derselbe  Dichter  gelegentlieh  mit 
den  tonsores  zusammen  als  die  berufenen  Diener  der  Fama  nennt  (Sat.  I,  7, 
sind  noch  immer  eine  auffallend  häufige  Erscheinung  zumal  der  unteren  Volks- 

Am  meisten  mufste  sich  der  gleichbleibende  Einflufs  des  Klimas  geltend 


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J.  Teufer:  Über  klassische  Studienreisen 


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machen  in  der  Bauweise  der  menschlichen  Wohnungen.  Bei  Betrachtung  der 
pompejanischen  Ausgrabungen  wird  man  sich  in  seinen  Vorstellungen  von  dem 
Gemeindewesen  eines  auf  Frohsinn  und  heiteren  Lebensgenufs  gerichteten 
Völkchens  leicht  etwas  enttäuscht  fühlen  durch  die  schroffe  Abgeschlossenheit 
der  gefängnisartigen  Häusennauern,  die  nur  von  wenigen  und  kleinen  ver- 
gitterten Öffnungen  durchbrochen  sind,  und  durch  die  Engigkeit  der  eigent- 
lichen Wohnräume  sogar  in  den  vornehmeren  Hausern.  Doch  die  Sonne  Süd- 
italiens belehrt  uns  rasch  über  die  Gründe  dieser  Bauart.  Das  warme  Klima 
beschrankt  die  Bedeutung  des  Wohnhauses.  So  bedurfte  der  Pompejaner  der 
Privaträume  nur  zum  Schlafen  und  allenfalls  zum  Essen.  Das  eigentliche 
Tagesleben  spielte  sich  Sommer  und  Winter  im  Freien  ab,  in  den  nach  der 
Strafse  weit  geöffneten  Parterreladen  und  Werkstatten  oder  auf  der  Gasse,  bei 
den  Reicheren  in  dem  hallenumrahmten,  mit  erfrischenden  Gartenanlagen  ge- 
schmückten Peristylium. 

Der  Fortschritt  von  Zeit  und  Kultur  hat  im  Prinzip  hierin  nicht  viel  ge- 
ändert. Denn  wenn  schon  das  belebende  Grün  der  Umgebung  die  ungastliche 
Starrheit  der  Steinwände  etwas  mildert,  so  ruft  auch  heute  noch  das  italienische 
Klein-Bürgerhaus  in  uns  den  Eindruck  der  Ungemütlichkeit  hervor:  schmuck- 
lose, oft  schmutzige  Kammern  im  Inneren;  nach  aufsen  eine  nackte  Front  mit 
wenigen  groben  Fensteröffnungen,  die  oft  genug  noch  des  Glases  entbehren; 
nirgends  die  einladende  Spur  eines  behaglichen  Familienlebens.  Ja  für  die 
ärmste  Klasse  der  Bevölkerung  kann  man  sagen,  dafs  die  Wohnungen  teilweise 
noch  die  gleichen  wie  vor  zwei  Jahrtausenden  geblieben  sind.  In  den  Winkel- 
gassen Alt -Neapels  findet  man  heute  noch  dieselben  Vicolobauten  wieder,  wie 
sich  ihre  stattlichen  Ruinen  aus  der  römischen  Kaiserzeit  zwischen  Via  sacra 
und  Palatin,  westlich  vom  Konstantinsbogen,  erhalten  haben. 

Um  auch  der  bildenden  Kunst  noch  mit  einem  Beispiele  zu  gedenken,  sei 
auf  die  Bedeutung  der  grofsen  italienischen  Friedhöfe  hingewiesen.  Die  Reise- 
handbücher pflegen  ihren  Besuch  zu  empfehlen  wegen  der  Großartigkeit  ihrer 
Anlage,  wegen  ihres  hervorragenden  architektonischen  und  plastischen  Schmuckes. 
Dem  Psychologen  entgeht  zugleich  nicht  der  leidenschaftliche  Schmerz  und  das 
hoffnungsarme  Todesgrauen,  das  sich  in  den  meisten  Grabskulpturen  ausdrückt. 
Wir  wollen  noch  zwei  andere  Punkte  beachten.  Zunächst  haben  wir  im  Fried- 
hofsschmucke ein  hauptsachliches  Arbeitsfeld  für  die  heutige  italienische  Plastik 
vor  uns.  Bringen  wir  seine  vielgestaltige  Fülle  und  den  in  ihm  liegenden 
grofsen  Aufwand  mit  der  reichen  Kunstfertigkeit,  die  wir  schon  am  gewöhn- 
lichen Hausgeräte  des  alten  Pompeji  bewundern,  in  Verbindung,  so  erkennen 
wir,  wie  der  die  weiteren  Kreise  des  Volkes  beherrschende  Kunstsinn  der  Alten 
auch  im  heutigen  Italiener  nicht  ganz  erloschen  ist,  wir  verstehen,  wie  ander- 
seits im  Altertume  durch  das  allgemeine  Bedürfnis,  Villen  und  Gärten,  Öffent- 
liche Plätze  und  Gräber  mit  plastischen  Kunstwerken  zu  verzieren,  die  breite 
und  sichere  Existenzbasis  für  eine  durch  Kleinasien,  Griechenland  und  Italien 
verzweigte  Künstlerschaft  gegeben  wurde. 

Ich  habe  hierbei  Friedhöfe  im  Sinne  wie  S.  Miniato  in  Florenz  und  den 


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.1.  Teufer:  Ober  klassische  Studienreisen 


Campo  Verano  in  Rom.  Die  breite  Hauptstrafse  des  letzteren  gewährt  beim 
Eintritt  eine  treue  Rekonstruktion  der  alten  Via  Appia  oder  der  pompej »machen 
Gräberstrafse  vor  dem  Herkulaner  Thor:  rechts  und  links  eine  fortlaufende  Reihe 
stattlicher  Sepulkralbauten ,  durchwirkt  vom  Flore  der  Cypressen,  plastische 
Bildwerke  auf  gewaltigen  steinernen  Postamenten  abwechselnd  mit  kleinen  Grab- 
kapellen. Ja,  auch  in  den  Motiven  der  künstlerischen  Darstellung  zeigt  der 
Friedhofsschmuck  einen  überraschenden  Anschlufs  an  die  Antike.  Abgesehen 
von  der  Gestalt  der  Grabkammer,  die  besonders  durch  Canova  wieder  viel  zur 
Anwendung  gekommen  ist,  des  Sarkophags,  des  CippuB,  des  altitalischen  Altars 
beachte  man  nur  die  vielen  Reliefportrats,  die  auf  dem  Totenbett  Gelagerten, 
die  Abschiedsszenen  zwischen  den  Gliedern  der  Familie;  sogar  die  Inschriften 
ahmen  oft  direkt  die  Sitte  des  Altertums  nach. 

Diese  innige  Verquickung  von  Gegenwart  und  Vergangenheit  mufs  auch 
das  streng  fachmännische  Interesse  gewinnen  und  führt  uns  somit  wieder  zu 
unserem  Ausgangspunkte  zurück.  Natürlich  soll  weder  in  der  letzten  Betrach- 
tung noch  im  allgemeinen  das  zu  Gebote  stehende  Anschauungsmaterial  mit 
den  gegebenen  Ausführungen  und  Andeutungen  abgeschlossen  sein.  Vielmehr 
werden  die  zufälligen  Umstände  und  die  besonderen  Wege,  die  der  Reisende 
einschlägt,  noch  mancherlei  zur  Erweiterung  seiner  Erfahrung  beitragen.  So 
blieben  mir  bei  einer  Fahrt  im  mittelländischen  Meere  die  vollen  Schrecken 
eines  Gowittersturmes  nicht  erspart,  so  dafs  ich  seitdem  die  packende  Schilde- 
rung in  Ovids  Tristien  1  2  mit  besonders  teilnahmvollem  Grauen  lese.  Und 
die  griechische  Hauptstadt  zeigte  mir  ein  Volk  in  Waffen,  das  an  überschäumen- 
dem Patriotismus  und  erregter  Leidenschaft  den  Zeitgenossen  des  Demosthenes 
gewifs  nicht  nachstand.  Aber  auch  wenn  sich  eine  Reise  ganz  in  normalen 
Geleisen  bewegt,  bleibt  der  Reichtum  ihrer  Anregungen  fast  unerschöpflich. 
Bei  dem  Neusprachler  liegen  die  Beziehungen  zum  fremden  Volke  zu  offen  am 
Tage,  als  dafs  die  Notwendigkeit  der  Auslandsreise  nicht  überall  die  vollste 
Anerkennung  fände.  Möge  auch  der  klassischen  Studienreise  als  einer  Schule 
der  Anschauung  für  den  Philologen  und  zugleich  als  einem  wertvollen  Förde- 
rungsmittel für  die  harmonische  Gesamtausbildung  des  Lehrers  immer  mehr 
die  verdiente  Würdigung  zu  teil  werden! 


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DER  NEUSPRACHLICHE  UNTERRICHT  IM  KÖNIGREICH 

SACHSEN 


Von  Otto  Dost 

Als  ich  vor  25  Jahren,  mit  deutschen  Kaufleuten  aus  Nottingham  auf 
einem  Ausfluge  nach  dem  romantischen  Belvoir  Castle  begriffen,  im  Ge- 
spräche über  die  Großartigkeit  der  englischen  Industrie  und  des  britischen 
Handels  die  leise  Hoffnung  auszusprechen  wagte,  dafs  das  politisch  und  wirt- 
schaftlich geeinte  Deutschland  im  Verlaufe  der  Zeit  schliefslich  doch  mit 
England  in  erfolgreichen  Wettbewerb  werde  treten  können,  wurde  ich  von 
allen  Seiten  verlacht  unter  dem  Hinweise  nicht  nur  auf  die  unvergleichliche 
geographische  Lage  Englands  und  die  Macht  seines  Kapitals,  sondern 
auch  auf  die  den  Engländern  innewohnende  kaufmännische,  ganz  besonders 
aber  gewerblich  technische  Begabung,  und  diese  Behauptungen  schienen 
bestätigt  zu  werden  durch  die  Thatsache,  dafs  damals  in  Nottingham  wohl  der 
Vertrieb  der  Waren  zu  einem  Teile  in  deutschen  Händen  log,  die  Fabri 
kation  hingegen  ausschliefslich  in  englischen.  Im  Gespräche  mit  Engländern 
fühlte  sich  das  deutsche  Gemüt  noch  weniger  gehoben,  wenn  diese  mitleids- 
voll hinwiesen  auf  das  arme  Deutschland  mit  seinen  wandernden  Bettel- 
musikanten und  knechtischen  Bewohnern,  wo  der  Knabe  ein  Mann  sei,  noch 
ehe  er  Knabe  gewesen,  ja,  wo  dem  Knaben  schon  die  sklavische  Gesinnung 
des  unfreien  deutschen  Mannes  eingeflöfst  werde  in  den  Zwangsschulen  und 
später  im  Heerzwange,  Einrichtungen,  durch  die  die  Deutschen  sicherlich  zu 
Grunde  gehen  würden. 

Aber  wie  Deutschland  1870  das  wehrhafte  übermütige  Frankreich  über- 
raschte durch  seine  in  aller  Stille  geschaffene  überlegene  Wehrkraft,  so  ver- 
setzte es  ein  Jahrzehnt  später  das  stolzeste  aller  Industrie-  und  Handels- 
völker in  Bestürzung  durch  die  Erfolge  seiner  stillen  Arbeit  auf  den  Gebieten 
friedlichen  Gewerbes.  Wie  kurzer  Zeit  hatte  es  doch  bedurft,  um  das  einstige 
demütigende  Mitleid  Englands  in  herausfordernden  Hafs  zu  verwandeln! 
Wie  in  Frankreich  unmittelbar  nach  dem  Kriege,  so  waren  1880  in  England 
alle  Volks  und  Altersklassen  von  Deutschenhafs  ergriffen:  vom  kleinen  Mädchen, 
das  erst  kaum  lallte,  bis  zu  dem  aus  behaglicher  Ruhe  aufgeschreckten  Greise,  der 
sonst  nie  etwas  von  Deutschland  gehört  hatte,  alle  sprachen  von  den  'horrid 
Germans'.  Nur  einzelne,  besonders  solche,  die  ihre  Ausbildung  einer  öffent- 
lichen deutschen  Unterrichtsanstalt  oder  einer  deutschen  Familie  verdankten, 
verrieten   etwas   von   dem   wahren  Grunde  dieses  plötzlichen  Gesinnuugs- 


430 


0.  DoBt:  Der  neu  sprachliche  Unterricht  im  Königreich  Sachsen 


wechseis.  Während  mau  in  Frankreich  in  immer  weiteren  Kreisen  uns  ein 
eingehendes  Studium  widmete  und  uns  in  der  Folge  eine  stetig  wachsende 
Anerkennung  zollte,  griff  England,  das  Land  des  freien  Mitbewerber  zu  Ab- 
wehrmafsregeln,  die  nicht  alle  als  fair  bezeichnet  werden  können.  Am 
bekanntesten  ist  das  Handelsmarkenschutzgesetz  von  1887  mit  seinem  Made 
in  Germany  geworden,  weil  es  im  eigenen  Lande  dem  Fluche  der  Lächerlich- 
keit verfiel. 

Einer  der  ersten  jener  geistig  Vornehmen,  die  in  würdiger  Weise  den 
wahren  Ursachen  des  industriellen  Aufschwungs  Deutschlands  nachgingen,  war 
der  einer  feingebildeten  Nottinghamer  Familie  entstammende  Leiter  des  Chem- 
nitzer Zweiges  der  Nottingham  Manufacturing  Company,  Herr  Fe  Iking,  der 
seine  Beobachtungen  veröffentlichte  in  dem  1881  in  London  erschienenen  Buche 
Technical  Education  in  a  Saxon  Town. 

Seit  jener  Zeit  ist  in  England  viel  und  noch  mehr  in  Frankreich  Ober 
diesen  Gegenstand  geschrieben  worden.  Alle  Urteile  weisen  hin  auf  die 
deutsche  Schule  als  Ursache  der  deutschen  Überlegenheit  auf  industriellem 
Gebiete.  Zunächst  betonen  sie  die  Wirksamkeit  der  deutschen  Schule  nach  der 
Seite  der  Charakterbildung.  Die  Schule,  sagt  man,  gewöhnt  den  jungen 
Deutschen  frühzeitig  an  Gehorsam  und  Zucht,  doch  so,  dafs  das  finstere 
*Du  sollst*  allmählich  übergeht  in  das  freundliche  'Ich  will'.  Damit  steht  im 
Zusammenhange  die  Erziehung  des  jungen  Deutschen  zu  selbstloser  Arbeit 
und  unverdrossener  Pflichttreue.  Die  deutsche  Schule,  sagt  man  weiter, 
bemüht  sich,  fern  davon,  die  Köpfe  ihrer  Zöglinge  mechanisch  mit  totem 
Wissenskram  zu  füllen,  dieselben  durch  methodische  Behandlung  der  Lebr- 
gegenstände  dahin  zu  führen,  dafs  sie  denkend,  d.  h.  methodisch  und  darum 
gründlich  arbeiten.  Sodann  wird  der  deutschen  Schule  nachgerühmt,  daft 
sie  dem  Deutschen  eine  vertiefte  Allgemeinbildung  giebt,  die  ihm  jenes 
vielseitige  Interesse  verleiht,  vermöge  dessen  er  sich  überall  leicht  zurechtfinden 
und  weiterbilden  kann.  Endlich  wird  behauptet,  dafs  die  Schule  in  Deutsch- 
land den  jungen  Mann  auf  Grund  dieser  Allgemeinbildung  mit  einer  gediegenen 
theoretischen  und  praktischen  Fachbildung  ausstattet.  Unter  die  beiden 
letzten  Gesichtspunkte  gehört  vor  allen  Dingen  die  gründliche  Schulung  des 
Deutschen  in  mindestens  zwei  Fremdsprachen,  die  ihm  die  Kraft  und  die  Lust 
verleiht,  seine  sprachlichen  Kenntnisse  nach  der  idealen  und  praktischen  Seite 
zu  vertiefen  und  zu  erweitern.  Kein  Wunder,  dafs  man  nicht  selten  in  Deutseh 
land  Engländer  und  Franzosen  trifft,  die  hierhergekommen,  um  sich  im 
Deutschen  zu  üben,  in  heller  Verzweiflung  darüber  sind,  dafs  sie  keine  Ge- 
legenheit dazu  haben,  weil  man  überall  englisch  oder  französisch  mit  ihnen 
spricht. 

Gilt  das  Gesagte  von  Deutschland  im  allgemeinen,  so  von  Sachsen  im 
besonderen;  von  Sachsen,  dem  Staate  mit  der  dichtesten  Bevölkerung,  die  zu 
fast  %  (72%)  dem  Handels-  und  Gewerbestande  und  nur  zu  kaum  %  (16%)  der 
Landwirtschaft  mit  ihren  verwandten  Zweigen  angehört,  die  aber  in  gewissem 
Grade  sich  dem  herrschenden  Erwerbszweige  angepafst  hat.    Diese  Einheit- 


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0.  Dost  :  Der  neuBprachliche  Unterricht  im  Königreich  Sachsen 


431 


liehfreit  der  Erwerbsverhältnisse  hat  auch  eine  gewisse  Einheitlichkeit 
im  Volksbildungswesen  zur  Folge  gehabt.    Da  nun  Industrie  und  Handel 
die  wichtigsten  Förderer  der  Schulen  sind  und  hindernde  Umstände,  wie 
nationaler  oder  konfessioneller  Hader  oder  klerikale  Einflüsse  sich  in  Sachsen 
niefci  fühlbar  gemacht  haben,  so  läfst  sich  schon  hieraus  auf  einen  hohen 
Stand  des  Unterrichtswesens  in  Sachsen  schliefsen.    Dafs  dieser  Schlufs  kein 
ungerechtfertigter  ist,  wird  durch  die  Zeugnisse  des  Auslandes  bewiesen.  Hat 
doch  einer   der  höchsten  Beamten  des  franz.  Unterrichtswesens  nach  einer 
Studienreise  in  Deutschland  Sachsen  bezüglich  der  Schulen  an  die  Spitze  der 
dentachen  Staaten  gestellt  und  erklärt,  dafs  er  in  keinem  anderen  Lande  die 
Schulgesetze  in  so  vollkommener  Weise  verwirklicht  gefunden  habe  als  in 
Sachsen.    Das  bezieht  sich  freilich  zunächst  nur  auf  das  Volksschulwesen; 
denn  es  ist  ja  natürlich,  dafs  ein  Staat  wie  Sachsen  mit  einer  so  zahlreichen 
In  (lagtriebe  völkerung  dem  Volksschulwesen  seine  besondere  Fürsorge  zu- 
wenden mofste.    Dafs  dabei  aber  das  höhere  Schulwesen  nicht  leer  ausgehen 
konnte,  liegt  auf  der  Hand;  ja  in  keinem  Staate  findet  sich  bei  dem  Drange 
der  Volksschulen  nach  vorwärts  so  häufig  ein  allmähliches,  stufenweises  Über- 
gehen von  der  Volks-  zur  höheren  Schule,  wie  in  Sachsen.  Die  Industrie-  und 
Handelsstädte  gingen  mit  ihrem  Schulwesen  voran,  allen  voran  Leipzig  und 
Chemnitz;  die  anderen  folgten  in  edlem  Wetteifer  nach,  und  unserer  Regierung 
kann  die  Anerkennung  nicht  versagt  werden,  dafs  sie  in  richtiger  Erkenntnis 
den  Bedürfnissen  der  einzelnen  Gemeinden  auf  diesem  Gebiete  nachgehend, 
ihnen  freien  Spielraum  und  materielle  Unterstützung  gewährt  hat  und  schliefs- 
lich  mit  sicherem  Takte  den  rechten  Zeitpunkt  fand,  an  dem  sie  dem  Gewordenen 
fär  das  ganze  Land  allgemeine  Giltigkeit  verlieh.    Trotz  dieses  besonnenen 
Verfahrens  ist  die  Gesetzgebung  in  Sachsen  auf  dem  Gebiete  des  Schulwesens 
in  deutschen  Landen  am  kühnsten  und  raschesten  vorgegangen;  denn  seit  1873 
haben  wir  bereits  das  zweite  Volksschulgesetz.  Dieses  unterscheidet,  wie  schon  im 
Schulgesetz  von  1835  angedeutet  war,  einfache,  mittlere  und  höhere  Volks- 
schalen, die  je  nach  den  örtlichen  Bedürfnissen  ineinander  übergehen.  Das 
unterscheidende  Merkmal  ist  nicht  sowohl  die  mehr  oder  weniger  reiche  Gliede 
rang  —  einkbiHsige  Schulen  bestehen  in  Sachsen  schon  längst  nicht  mehr,  auch 
die  einfache  Volksschule  hat  mindestens  zwei  Klassen,  meist  mehr  —  sondern 
der  fremdsprachliche  Unterricht.  Höhere  Volksschulen  müssen,  mittlere 
Volksschulen  können  fremdsprachlichen  Unterricht  haben.    Ja,  es  giebt  eine 
nemliche  Zahl  einfacher  Volksschulen,  die  in  Sonderabteilungen  fremd- 
sprachlichen Unterricht  gewahren.  Aus  diesen  Selekten,  aus  den  mittleren  und 
höheren  Volksschulen  ist  der  gröfsere  Teil  der  zahlreichen  Realanstalten  des 
Landes  hervorgegangen,  und  diese  sind  neben  den  höheren  Töchterschulen  und 
Lehrerinnenseminaren  die  Hauptpflegestätten  der  neueren  Sprachen  unter 
den  Erziehungsschulen.    Aber  auch  das  Gymnasium  mufste,  den  neuen  Zeit 
Verhältnissen  Rechnung  tragend,  den  neueren  Sprachen  gröfsere  Beachtung 
schenken  und  führte  deshalb  vom  Jahre  1876  an  das  Englische  neben  dem 
obligatorischen  Französischen  als  wahlfreies  Fach  ein.    Den  Anlafs  zur  Er- 


432 


0.  Dost:  Der  neusprachliche  Unterricht  im  Königreich  Sachsen 


lernung  fremder  »Sprachen  bietet  immer  das  reale  Bedürfnis;  das 
Ideale,  gleichsam  Geheimnisvolle  einer  Sprache  wird  später  erst  darin  gefunden 
oder  vielmehr  durch  die  Methode  hineingetragen.  Oder  war  es  mit  dem  Latein 
anders? 

Sieht  man  zunächst  ab  von  zahlreichen  und  mannigfachen  Veranstaltungen 
zur  Verbreitung  neusprachlicher  Kenntnisse  in  Sachsen,  die  sich  nicht  wohl 
übersehen  lassen,  wie  z.  B.  von  den  schriftstellerischen,  buchhändlerischen 
Unternehmungen  zur  Darbietung  neusprachlicher  Lektüre  und  Lehrmittel,  die 
ja  Sachsen  nicht  allein  zu  gute  kommen,  von  den  franzosischen  und  englischen 
Sprachgesellschaften  in  den  gröfseren  Städten,  von  den  Fortbildungskursen 
kaufmännischer  und  anderer  Vereinigungen  sowie  solchen,  die  von  Einzelnen 
unterhalten  werden,  von  den  Pensionaten  und  von  dem  starken  Auslandsbesuch, 
und  hält  man  sich  nur  an  die  öffentlichen  Schuleinrichtungen  zur  Mitteilung 
neusprachlicher  Kenntnisse,  so  kommen  aufser  den  schon  genannten  Erziehung» 
schulen  und  den  Hochschulen  vor  allem  noch  die  Fachschulen  in  Betracht. 
Unter  diesen  haben  für  uns  hervorragendes  Interesse  die  Handelsschulen 
in  ihren  verschiedenen  Formen  entweder  als  Handelsfachschulen  oder  als 
Handelsfortbildungsschulen  oder  als  Handelsklassen  allgemeiner  oder  gewerb- 
licher Fortbildungsschulen.  Diese  zusammengenommen  bestehen  gegenwärtig 
in  der  stattlichen  Zahl  von  65  mit  5500  Schülern,  die  von  etwas  über  100  neu 
sprachlichen  Lehrern  in  640  Stunden  wöchentlich  unterrichtet  werden,  wovon 
nahezu  die  Hälfte  dem  Englischen  gewidmet  wird.  Obgleich  die  staatliche 
Unterstützung  der  Handelsschulen  in  Sachsen  verhältnismäfsig  weiter  geht  als 
in  anderen  Staaten,  ist  die  sächsische  Regierung  doch  fortgesetzt  bemüht,  diese 
Schulen  zu  fördern  insbesondere  durch  gröfsere  Sicherstellung  der  Lehrer  und 
durch  eine  zweckentsprechende  Ausbildung  derselben.  Diesem  letzteren  Zwecke 
hat  vor  allem  die  im  vorigen  Jahre  zu  Leipzig  gegründete  Handelshoch 
schule,  die  erste  in  Deutschland,  mit  zu  dienen.  Durch  Errichtung  dieses 
wichtigen  Institutes  hat  sich  Sachsen  ein  erneutes  Verdienst  erworben,  auch 
hinsichtlich  der  Förderung,  die  das  Studium  der  neueren  Sprachen  dort  erfahren 
wird,  wo  nicht  blofs  für  Französisch  und  Englisch,  Bondern  auch  für  Italienisch, 
Russisch,  Spanisch  und  nach  Bedürfnis  für  andere  Sprachen  Kurse  eingerichtet 
sind  oder  eingerichtet  werden. 

Was  die  technischen  Lehranstalten  betrifft,  so  bestehen  bei  den  be- 
deutenderen unter  diesen  fremdsprachliche  Kurse  zur  Fortbildung.  Hierher  ge- 
hören das  Technikum  in  Mittweida  mit  einem  Lehrer,  desgleichen  die  städtischen 
Gewerbeschulen  zu  Dresden  und  Leipzig  mit  je  einem  Lehrer,  die  städtischen 
Staatslehranstalten  in  Chemnitz  mit  je  einem  Lehrer  für  Französisch  und  Eng 
lisch,  die  Bergakademie  mit  einem  Lehrer  für  Englisch.  Wie  vorzüglich  die 
königl.  technische  Hochschule  in  Dresden  und  die  Landeshochschule  in  Leipzig 
für  die  neuereu  Sprachen  ausgestattet  sind,  ist  zu  allgemein  bekannt,  als  dafs  ich 
mich  des  weiteren  darüber  auszusprechen  brauchte.  Unsere  jüngeren  Zeit 
genossen  sind  zu  beneiden,  dafs  ihnen  zur  Ausbildung  für  ihren  Beruf  so  vor 
treffliche  Gelegenheit  geboten  ist,  nicht  allein  zum  wissenschaftlichen  Studium 


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O.  Dost:  Der  neusprachliche  Unterricht  im  Königreich  Sachsen 


433 


der  neueren  Sprachen,  sondern  auch  zur  Übung  im  schriftlichen  und  mündlichen 
Gebrauche  derselben  sowie  zur  Einfuhrung  in  die  Methodik  des  Faches. 

An  den  17  Gymnasien  des  Landes  werden  in  je  wöchentlich  23  bis 
24  Stunden  4200  Schüler  von  54  Lehrern  in  den  neueren  Sprachen  unterrichtet. 

An  den  12  Realgymnasien  (das  diesen  ähnliche  Kadettenkorps  und  das 
bis  zur  Unterprima  gediehene  wiedererstehende  Realgymnas.  zu  Plauen  ein- 
geschlossen) empfangen  neusprachlichen  Unterricht  3630  Schüler  von  66  Lehrern 
in  je  52  Stunden  wöchentlich. 

Die  35  Realschulen,  zu  denen  ich  auch  die  Privatschulen  in  Dresden 
und  Leipzig  sowie  die  neuerstehende  Schule  zu  Ölsnitz  i.  V.  rechne,  sowie  die 
ihnen  ähnlichen  beiden  höheren  Töchterschulen  in  Dresden  und  Leipzig,  ver- 
mitteln einer  Schülerzahl  von  rund  8000  in  wöchentlich  40  bis  43  Stunden 
Kenntnis  im  Französischen  und  Englischen  durch  145  Lehrkräfte. 

Höhere  Volksschulen,  die  als  solche  bezeichnet  sind,  mit  Einschlufs 
der  hierher  gehörigen  Privatschulen,  giebt  es  im  Lande  82  mit  14500  Schülern 
und  Schülerinnen,  die  neusprachlichen  Unterricht  empfangen  von  320  Lehrern 
und  Lehrerinnen  in  12 — 46  Stunden  wöchentlich  bei  4 — 6 jährigem  Kursus. 

Mittlere  Volksschulen  mit  neu  sprachlichem  Unterricht  besitzt  Sachsen 
gegenwärtig  80  mit  einer  neusprachlichen  Schülerzahl  von  ungefähr  5000, 
unterrichtet  von  180  Lehrkräften  in  je  8 — 28  Stunden  die  Woche. 

Einfache  Volksschulen  mit  fremdsprachlichen  Sonderabteilungen  giebt 
es  20,  die  ihren  500  Schülern  und  Schülerinnen  in  8—20  Stunden  die  Woche 
neusprachlichen  Unterricht  gewähren  durch  28  Lehrkräfte. 

In  der  Mehrzahl  dieser  Schulen  wird  Französisch  gelehrt,  das  Englische 
tritt  hinzu  vornehmlich  in  den  vogtländischen ,  in  einigen  erzgebirgischen  und 
Lausitzer  Städten  sowie  in  und  um  Dresden,  also  in  den  Textilindustriebezirken 
und  wo  es  viel  Fremdenverkehr  giebt. 

Die  Gesamtzahl  der  Volksschulen  mit  neusprachlichem  Unterricht  ist  mithin 
182;  die  Zahl  ihrer  Schüler  und  Schülerinnen,  die  diesen  Unterricht  empfangen, 
20000  und  die  der  neusprachlichen  Lehrkräfte  528.  —  Die  Gesamtzahl  der  höheren 
und  Handelsschulen  nebst  3  Lehrerinnenseminaren  ist  133,  die  Zahl  der  Schüler 
dieser  Anstalten,  die  neusprachlichen  Unterricht  geniefsen,  22150,  die  der 
Lehrer  dieses  Faches  378.  Also  erhalten  gegenwärtig  in  Sachsen  jährlich  neu- 
sprachlichen Unterricht  42 150  Schüler  von  906  Lehrern  in  315  Schulen. 
Denkt  man  hierbei  noch  an  diejenigen,  welche  an  verschiedenen  Volksschulen 
oder  sonstwo  in  Privatkursen  neusprachlicheu  Unterricht  geniefsen,  sowie  an 
alle,  die  an  technischen  und  Hochschulen  neusprachlichen  Studien  obliegen,  so 
ist  die  Zahl  derer,  die  jährlich  in  Sachsen  neuere  Sprachen  erlernen,  mit  45000 
gewifs  nicht  zu  hoch  bemessen.  Das  ist  etwa  der  84.  Teil  der  Bevölkerung 
oder  ungefähr  12  vom  1000. 

Es  ist  mir  nicht  möglich  gewesen,  ähnliches  statistisches  Material  zusammen- 
zustellen bezüglich  der  Verbreitung  des  neusprachlichen  Unterrichtes  in  einer 
anderen  der  Gröfse  und  den  Verhältnissen  Sachsens  entsprechenden  Landschaft, 
aber  nach  abschätzendem  Überschlag  gestaltet  sich  nirgends  das  Exempel  so, 

tf.n*  Jfthrbdchar.   189».   II  2S 


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434 


O.  Doat  :  Der  neusprachliche  Unterricht  im  Königreich  Sachsen 


dafs  Sachsen  übertroffen  würde.  Dabei  raufs  man  bedenken,  dafs  Sachsen 
Binnenland  ist,  weit  ab  von  der  Grenze  und  von  der  Küste  liegt  und  dafs 
Neugründungen  von  Schulen  mit  neusprachlichem  Unterricht  sowie  von  neu 
sprachlichen  Kursen  an  bestehenden  Schulen  im  Wetteifer  der  Gemeinden  oder 
Korporationen  beständig  vor  sich  gehen  und  dafs  der  neusprachliche  Unterricht 
in  Sachsen  dieses  Ostern  eine  bedeutsame  Erweiterung  erfahren  hat  durch  Ein- 
führung desselben,  zunächst  des  Französischen,  an  3  Seminaren,  die  hoffent 
lieh  zu  allgemeiner  Aufnahme  des  neusprachlichen  Unterrichtes  in  den  Lehrplan 
der  19  Lehrerseminare  des  Landes  führen  wird.  Latein  oder  Franzosisch 
oder  beides  im  Seminar  ist  eine  brennende  Frage  geworden.  Die  Fürsorge 
der  sächsischen  Regierung  für  die  Volksschule  hatte  eine  gleiche  Fürsorge  für 
die  Lehrerbildungsanstalten  zur  Folge,  die  den  Charakter  höherer  Schulen  em- 
pfingen. Das  Gklassige  sächsische  Seminar  mit  Lateinunterricht,  in  28  wöchent 
liehen  Pflichtstunden  erteilt,  erscheint  den  Lehrern  der  übrigen  deutschen 
Staaten  als  ein  des  Nachstrebens  würdiges  Ideal.  Die  sächsische  Lehrordnnng 
vom  Jahre  1873  gab  mit  dem  Latein  dem  Seminar  in  verstärktem  Mafse  wieder, 
was  schon  die  erste  Seminarordnung  von  1820  enthalten  hatte,  was  aber 
durch  die  rückläufige  Bewegung  der  50er  Jahre  weggeschwemmt  worden  war. 
Diese  rückläufige  Bewegung  aufgehalten  zu  haben,  ist  das  Verdienst  der 
gröfsten  Industriestadt  Sachsens,  deren  pädagogischer  Verein  den  damaligen 
schlagfertigen  Subrektor  an  der  Realschule  beauftragte,  bei  Gelegenheit  der  1864 
in  Chemnitz  abzxihaltenden  sächsischen  Lehrerversammlung  die  Seminarbildung 
namentlich  nach  ihrer  sprachlichen  Seite  hin  einer  eingehenden  Kritik  zu  unter 
ziehen.  Fast  die  gesamte  dort  anwesende  Lehrerschaft  stimmte  dem  von 
Dr.  Dittes  ausgesprochenen  Verdammungsurteil  ihrer  eigenen  Vorbildung  zu. 

Die  erste  Seminarordnung  von  1820  hatte  auch  Französisch  mit  einer 
Stunde  wöchentlich  auf  dem  Lehrplan  stehen.  Von  diesem  Fache  sah  indes 
die  1873er  Lehrordnung  nach  einigem  Schwanken  ab,  weil  man  es  mit  dem  an 
sich  ganz  richtigen  Grundsatze  hielt,  dafs  es  besser  sei,  in  dem  Seminar  mit 
seiner  infolge  der  Überfülle  von  Unterrichtsfächern  ihm  kurz  bemessenen  Zeit 
eine  Sprache  mit  einiger  Gründlichkeit  zu  lehren.  In  der  Wahl  des  Latein 
liefs  man  sich  unter  anderem  wohl  auch  beeinflussen  durch  die  politische  Lage 
Anfang  der  70er  Jahre;  man  glaubte,  Frankreich  habe  nebst  seiner  Sprache 
seine  Rolle  in  der  Welt  ausgespielt.  Das  Englische  nahm  damals  selbst  an 
den  Realanstalten  noch  nicht  die  Stellung  ein,  die  es  jetzt  einnimmt,  nach 
dem  Eintritt  Deutschlunds  in  den  Weltverkehr  und  seitdem  das,  was  die 
Romantiker  und  Germanisten  durch  das  wissenschaftliche  Studium  der  Mutter- 
sprache und  ihrer  Litteratur  für  das  verwandte  Englische  gethan  haben,  auch  in 
den  Schulen  einen  Widerhall  gefunden  hat.  Dazu  kam  ferner  die  geringschätzige 
Meinung,  die  man  vom  Bildungswerte  der  neueren  Sprachen  hegte,  deren 
Methode  nicht  ausgebildet  war;  femer  das  Bedenken,  dafs  der  sächsische 
Dialekt  der  Erlernung  neuerer  Sprachen  nicht  günstig  sei;  denn  von  phonetischer 
Schulung  wufste  man  damals  noch  nichts.  Schliefslich  fehlte  es  auch  an 
geeigneten  Lehrkräften.   Die  Frage,  ob  jetzt,  nach  länger  als  einem  Vierteljahr- 


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0.  Dost  :  Der  neusprachliche  Unterricht  im  Königreich  Sachsen  435 

hundert,  die  Dinge  noch  ebenso  liegen,  braucht  nicht  erst  beantwortet  zu  werden. 
Ist  es  aber  nicht  ein  seltsamer  Widerspruch,  besonders  im  Hinblick  auf  die 
Konzentration  des  Unterrichts,  dafs  an  so  vielen  Volksschulen  in  Sachsen 
Französisch  und  zum  Teil  auch  Englisch  gelehrt  wird,  aber  die  Mehrzahl  der 
Lehrer  es  nicht  kann?  Warum  soll  der  Lehrer  hinter  den  Gebildeten  des 
Volkes  zurückstehen  in  einer  .Zeit,  in  der  die  drei  Weltsprachen  eine  immer 
gröfsere  Verbreitung  gewinnen  und  in  immer  tiefere  Schichten  des  Volkes 
getragen  werden  durch  alle  die  vorhin  aufgezahlten  zahlreichen  Veranstaltungen  V 
Der  Volksschullehrer  sollte  doch  vor  allen  Dingen  diejenigen  Wissensgebiete 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  beherrschen,  die  im  Besitze  der  Gebildeten  des 
Volkes  sind,  das  Gelehrtentum  steht  ihm  ferner.  Das  Latein  ist  ein  für  den 
Seminaristen  fruchtloser  Putz,  den  er  beiseite  läfst,  sobald  er  das  Seminar 
hinter  sich  hat.  Diejenigen  Lehrer,  die  heute  noch  für  Beibehaltung  des 
Latein  eintreten,  thun  es  meist  wohl  mehr  aus  Standesrücksichten  als  aus 
Überzeugung  vom  wahren  Werte  der  Sache.  Warum  schliefsen  sich  wohl  die 
jungen  Lehrer  in  den  Städten,  sofern  nicht  etwa  wie  in  Dresden  von  der 
Schulverwaltung  oder  von  Schuldirektoren  besondere  neusprachliche  Kurse  für 
sie  eingerichtet  sind,  bestehenden  Sprachkursen  an  oder  richten  solche  unter 
sich  ein  oder  suchen  sich  durch  Privatstunden  oder  durch  mühsames  Selbst- 
studium an  der  Hand  von  Toussaint- Langenscheidt  neusprachliche  Kenntnisse 
anzueignen?  In  richtiger  Erkenntnis  des  hier  vorliegenden  Bedürfnisses  hat 
sich  wohl  auch  die  Staatsregierung  entschlossen,  an  drei  Seminaren  neben  dem 
lateinischen  einen  französischen  Kursus  zu  eröffnen. 

Unendlich  höher  aber  als  das  praktische  Bedürfnis  stelle  ich  die  ideale 
Bedeutung  des  neusprachlichen  Unterrichts  im  Seminar.  Es  wäre  unangebracht, 
hier  eingehen  zu  wollen  auf  einen  Vergleich  des  Bildungswertes  der  neueren 
Sprachen  mit  demjenigen  des  Latein  unter  besonderer  Bezugnahme  auf  den  Volks- 
schullehrer. Wenn  bedeutende  Pädagogen  und  Schulmänner  wie  Zill  er  und  Ober- 
schulrat Israel  Einspruch  gegen  das  Französische  erhoben  haben  vom  sittlichen 
und  vaterländischen  Standpunkte,  so  dürfte  es  bei  aller  Hochachtung  vor 
diesen  angesehenen  Männern  nicht  allzu  schwierig  sein  nachzuweisen,  dafs  auch 
grofse  Charaktere  in  Irrtum  befangen  sein  können.  Wenn  Latein  für  das 
Seminar  gefordert  wird,  weil  der  Lehrer  im  stände  sein  müsse,  zu  den  Quellen 
zu  steigen,  so  ist  zu  erwidern,  dafs  durchaus  nicht  alle  Quellen  in  Latium  oder 
in  der  mittelalterlichen  Scholastik  liegen,  am  wenigsten  für  den  Volksschul- 
lehrer. Möge  man  immerhin  denen,  die  das  Recht  erlangt  haben,  sich  auf  der 
Universität  für  den  höheren  Volksschuldienst  vorzubereiten,  die  Ablegung 
einer  Prüfung  im  Latein  etwa  nach  dem  Mafsstabe  dessen,  was  das  Real- 
gymnasium verlangt,  zur  Bedingung  machen.  Wenn  aber  behauptet  worden 
ist,  die  Ersetzung  des  Latein  im  Seminar  durch  neusprachlichen  Unterricht 
bedeute  Verflachung  des  Seminarunterrichts,  so  behaupte  ich  das  Gegenteil, 
fordere  aber,  dafs  das  Latein  durch  beide  neuere  Sprachen  ersetzt  werde  in 
der  Aufeinanderfolge  Französisch  und  Englisch  mit  nur  geringfügigem  Mehr- 
aufwand an  Zeit:  etwa  je  7  Stunden  Französisch  in  der  0.  und  5.  Klasse,  von 


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436  O.  Dost   Der  neusprachliche  Unterricht  im  Könijrreich  Sachsen 

der  4. — 1.  fortgesetzt  in  je  2;  Englisch  in  4  und  3  dreistündig,  dann  ebenfalls 
zweistündig.  Auf  das  Französische  kommen  also  22  Stunden  und  auf  das 
Englische  10  =  32  Stunden.  —  In  der  Erziehungsschule  sollte,  wo  auch  immer 
die  Zeit  zu  beschaffen  ist,  aus  praktischen  und  pädagogischen  Gründen  keine 
der  beiden  neueren  Sprachen  allein  gelehrt  werden.  An  unserer  höheren  Land- 
wirtachaftsBchule  ist  in  Nachahmung  des  preufsischen  Beispiels  das  Englische 
abgeschafft  und  das  Französische  neben  landwirtschaftlichen  Fächern  etwas  ver- 
stärkt worden.  Die  Folgen  dieser  Änderung  für  die  sprachliche  Bildung  sind 
ungünstig.  Indessen  ist  der  Schaden  in  der  Landwirtschaftsschule,  wo  die 
Fachinteressen  vorwiegen,  nicht  so  grofs.  Aber  der  künftige  Lehrer  bedarf 
vor  allem  einer  gediegenen  sprachlichen  Schulung.  Das  höchste  Ziel  des  fremd- 
sprachlichen Unterrichts  im  Seminar  ist  die  dadurch  bewirkte  Vervollkommnung 
in  der  Erkenntnis  und  im  Gebrauche  der  Muttersprache.  Die  Erlernung  der 
Sprachen  um  ihrer  selbst  willen  kommt  hier  erst  in  zweiter  Linie  in  Frage. 
Überhaupt  kommt  es  auf  die  Schulart  an,  ob  hier  das  mittelbare  oder  un- 
mittelbare Interesse  vorwiegen  soll.  In  der  dem  Seminar  für  fremdsprach- 
lichen Unterricht  zur  Verfügung  stehenden  Zeit  dürfte  aber  bei  immerhin  schon 
gereiften  jungen  Leuten  von  14 — 20  Jahren,  die  meist  wissen,  was  sie  wollen, 
und  bei  denen  auch  bei  der  Aufnahme  schon  einige  Vorkenntnisse  im  Fran- 
zösischen vorausgesetzt  werden  könnten,  neusprachlicher  Unterricht  sich  in 
jeder  Hinsicht  als  fruchtbarer  erweisen  als  der  lateinische  durch  den  fort- 
gesetzten Vergleich  der  drei  Sprachen  hinsichtlich  der  Laute,  der  Betonung, 
besonders  im  Hinblick  auf  den  ersten  Lautier-,  Lese-  und  Sprechunterricht  in 
der  Elementarklasse,  der  Flexionsmittel  und  der  Gesetze  des  Satzbaues.  — 
Wird  das  Französische  mehr  als  Zweck  gelernt,  so  das  Englische  als  Mittel 
zum  Zweck.  Die  Zierlichkeit  des  Französischen,  seine  Richtung  auf  das 
Formelle,  Künstlerische,  um  nicht  zu  sagen  bisweilen  Gekünstelte,  findet  ein 
Gegengewicht  in  der  geschäftsmäfsig  gedrängten  Kürze  und  in  dem  Zuge 
zum  Natürlichen  und  Nützlichen  im  Englischen.  Als  Sprache  des  Realismus 
bildet  das  Englische  eine  wichtige  Ergänzung  zum  deutschen  Idealismus  und 
französischen  Formalismus.  Wenn  das  Französische  vornehmlich  wichtig 
ist  für  den  Lehrer  durch  den  Gegensatz,  in  dem  es  als  romanische  Sprache 
zum  Deutschen  steht,  so  ist  das  Englische  unendlich  reich  an  wichtigen 
Aufschlüssen  für  das  stammverwandte  Deutsch,  besonders  auch  in  sprach 
geschichtlicher  und  sprachvergleichender  Beziehung.  Während  die  fran- 
zösische klassische  Litteratur  im  allgemeinen  zur  deutschen  in  scharfem  Gegen- 
satze steht,  ist  es  bezüglich  des  Verhältnisses  zwischen  unserer  und  der  englischen 
Litteratur  keine  Überschwenglichkeit,  was  der  Archidiakonus  Sinclair  am  31.  Juli 
vorigen  Jahres  im  Nachmittagsgottesdienste  der  St.  Paulskirche  zu  London  in 
seiner  auf  den  Tod  des  Fürsten  Bismarck  bezugnehmenden  Predigt  sagte:  'Kein 
Volk,  mit  Ausnahme  desjenigen  der  Vereinigten  Staaten,  steht  uns  so  nahe 
hinsichtlich  der  Religion,  der  Stammesverwandtschaft,  der  Gesittung  und  Lebens- 
führung wie  das  deutsche.  Die  Philosophie,  die  Dichtung,  die  Litteratur  und 
die  Musik  der  beiden  Volksstamme  sind  das  gemeinsame  Eigentum  beider, 


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0.  Dost:  Der  neusprachliche  Unterricht  im  Königreich  Sachsen 


437 


Angesichte  so  starker  Bande  der  Verwandtschaft  und  des  gemeinsamen  Interesses 
versinken  kleinliche  Handelseifersüchteleien  in  Bedeutungslosigkeit.'  Die  gegen 
die  französische  Litteratur  erhobenen  sittlichen  und  patriotischen  Bedenken 
können  hier  nicht  einmal  erhoben  werden.  Ferner  mufs  es  für  den  Lehrer 
von  hohem  Interesse  sein,  in  ihrer  Litteratur  den  eigentümlichen  Gang  der 
Geschichte  der  beiden  Kulturnationen  verfolgen  zu  können  und  durch  die 
Beschäftigung  mit  dem  Englischen  den  Schlüssel  zu  einem  weiten  geographischen 
Ausblick  zu  erlangen.  Nicht  minder  mufs  der  angehende  Volksschullehrer 
günstig  beeinflufst  werden  von  der  freien,  vorurteilslosen,  vorzugsweise  induk- 
tiven Forschungsweise  des  vorwiegend  auf  Naturerkenntnis  gerichteten  englischen 
Geistes,  der  sich  auch  in  der  Poesie  Englands  offenbart.  Schliefslich  darf  weder 
die  reichhaltige  pädagogische  Litteratur  Frankreichs  noch  diejenige  Englands, 
von  Amerika,  wo  dieses  Gebiet  besonders  angebaut  worden  ist,  ganz  zu 
schweigen,  vergessen  werden.  Während  im  Lateinischen  meist  nur  Bruchstücke 
von  Cäsar,  Ovid  und  Cicero  gelesen  werden,  können  im  Französischen  und 
Englischen  bald  ganze  Werke  bewältigt  werden,  die  den  Geist  der  Schüler 
ganz  anders  mit  neuen  Ideen  bereichern.  Die  Hauptsache  aber  ist,  dafs  der- 
selbe die  Kraft  und  die  Lust  mit  ins  Leben  hinausnimmt,  die  neusprachliche 
Lektüre  fortzusetzen. 

Für  die  Sache  der  neueren  Sprachen  in  Sachsen  wäre  die  endgiltige  Ein- 
führung des  neusprachlichen  Unterrichts  im  Seminar  mit  Freuden  zu  begrttfsen; 
seine  Methodik  würde  dort  unzweifelhaft  gefördert  werden;  denn  der  Seminar- 
unterricht hat  von  Anfang  an  einen  vorbildlichen  Charakter  für  die  Lernenden. 
Das  ist  einer  der  Gründe,  die  gegen  den  Reinschen  Vorschlag  sprechen,  die 
Realschule  zur  Vorschule  des  Seminars  zu  machen  und  dieses  zur  pädagogischen 
Fachschule.  Vom  Standpunkte  der  Ausführbarkeit  betrachtet,  könnte  Sachsen 
mit  seinen  vielen  Realschulen  den  Versuch  wohl  wagen;  aber  wichtige  päda- 
gogische und  andere  Bedenken  stehen  dem  entgegen.  Gotha  hat  vor  Jahren 
den  Versuch  gemacht;  er  ist  mifsglückt,  und  in  Sachsen  ist  es  letztes  Ostern 
in  Dresden  nicht  einmal  zum  Versuch  gekommen.  Es  bleibt  also  nur  die  Ein- 
führung der  neueren  Sprachen  ins  Seminar  übrig  und  zwar  als  Pflichtfach. 
Der  Unterricht  in  diesem  Fache  müfste  auch  dort,  ja  dort  noch  notwendiger 
als  in  Real-  und  Handelsschulen,  wissenschaftlich  gebildeten  Neuphilologen 
übertragen  werden. 

Wenn  ich  gesagt  habe,  dafs  die  Methode  des  neusprachlichen  Unterrichts 
durch  seine  Aufnahme  in  den  Seminarlehrplan  gefördert  werden  würde,  so  habe 
ich  damit  nicht  sagen  wollen,  dafs  Sachsen  in  dieser  Beziehung  zurück- 
geblieben sei.  Schon  die  in  unseren  Schulen  meist  gebrauchten  Lehrbücher 
deuten  auf  den  Fortschritt  hin,  den  Sachsen  auch  in  dieser  Beziehung  gemacht  hat. 

Gymnasien:  Plötz-Kares,  Börner  und  Deutschbein  für  Gymnasien. 

Realgymnasien:  Plötz-Kares, Börner;  Deutschbein, Gesenius-Regel, Thiergen. 

Realschulen:  Plötz-Kares,  Börner  und  Deutschbein. 

Volksschulen:  Enkel -Klähr-Steinert,  Börner,  Reum,  Pünjer,  Bierbaum, 
Rofsmann-Schmidt,  Plötz;  Plate,  Thiergen,  Deutschbein,  Fehse.  —  Aufser  diesen 
Lehrbüchern  finden  in  allen  Schulgattungen  Hölzeis  Bildertafeln  häufige  Verwendung. 


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43* 


0.  Dost:  Der  neusprachliche  Unterricht  im  Königreich  Sachsen 


Aus  dein  Gebrauche  dieser  Bücher  ist  der  allmähliche  Übergang  von  der 
alten  synthetischen  zur  analytischen  direkten  Methode  zu  erkennen.  Am  kon- 
servativsten sind  aus  leichterklärlichen  Gründen  Realschulen  und  Gymnasien 
geblieben;  in  der  Mitte  stehen  die  Realgymnasien,  bei  den  Volksschulen  berühren 
sich  die  Extreme.  Ziel  und  Methode  richten  sich  dort  nach  den  örtlichen 
Bedürfnissen  und  Anforderungen.  Aber  fast  überall  ist  das  Bestreben  unver- 
kennbar, die  Resultate  der  Phonetik  vorsichtig  zu  benutzen,  vom  Nächstliegenden 
auszugehen,  den  Übungen  sittlich-wertvolle,  inhaltreiche,  über  Land  und  Leute 
Frankreichs  und  Englands  belehrende  Stoffe  zu  Grunde  zu  legen  und  den 
freien  Gebrauch  der  Sprache  zu  fördern,  ohne  das  Hin-  und  Herübersetzen,  also 
den  Vergleich  mit  der  Muttersprache,  aufzugeben.  Da  der  Mensch  doch  nun 
einmal  nur  eine  Muttersprache  hat,  so  ist  diese  nicht  nur  der  natürliche  Aus- 
gangspunkt des  fremdsprachlichen  Unterrichts,  sondern  Vervollkommnung  in 
der  Muttersprache  ist  mindestens  der  Beherrschung  der  fremden  gleichzuachten. 
In  der  fremden  Sprache  denken,  ist  zumal  auf  der  Stufe  des  Lernens  eine 
sehr  gewagte  Forderung.  Der  Irishman,  der  gefragt,  ob  er  französisch 
könne,  antwortete:  '0  ja,  aber  auf  Irisch*  hatte  gar  nicht  so  unrecht.  Gewifs 
soll  die  dem  neusprachlichen  Lehrer  zur  Verfügung  stehende  Zeit  möglichst 
zur  Übung  in  der  fremden  Sprache  ausgenützt  werden,  und  er  mag  sich 
so  viel  als  möglich  der  Sprache  bedienen,  aber  nur  so  lange  er  sicher 
ist,  dafs  sie  verstanden  wird,  dafs  der  Schüler  das  Gelesene  oder  Gehörte 
im  stillen  in  sein  geliebtes  Deutsch  übertragen  hat,  sonst  hat  die  Mutter- 
sprache laut  einzutreten.  Doch  über  das  Methodische  will  ich  mich  kurz  fassen 
und  auf  wenige  Zusätze  beschränken. 

Wenn  ein  jugendlicher  Fachgenosse  in  überschäumender  Begeisterung  für 
seinen  Beruf  seinen  methodischen  Ideen  die  Zügel  schief sen  läfst,  so  steht  ihm 
dies  besser  als  greisenhafte  Gleichmütigkeit.  Zeit  und  Berufstätigkeit  werden 
bald  genug  seinen  Ton  herabstimmen.  Stürmt  er  gegen  leitende  Personen,  die 
die  Verantwortung  fürs  Ganze  tragen  und  die  daher  Neuerungen  vorsichtig 
zögernd  gegenüberstehen,  so  wird  er  bald  die  Erfahrung  machen  wie  der 
Sturm  mit  dem  Wanderer,  der  seinen  Mantel  fester  anlegte,  statt  ihn  ab- 
zulegen. Vielleicht  wäre  das  jugendliche  Feuer  schon  auf  der  Universität  etwas 
gezähmt  worden  in  einer  Übungsschule  nach  Herbart'schem  System,  dem 
besten,  so  lange  es  kein  besseres  giebt,  wo  er  dadurch  in  strenger  didaktischer 
Zucht  gehalten  worden  wäre,  dafs  er  jede  einzelne  seiner  unterrichtlichen  Mafs- 
nahmen  einem  ethischen  und  psychologischen  Grundgedanken  hätte  unter- 
ordnen müssen.  Hätte  er  dann  nach  bestandener  wissenschaftlicher  Staatsprüfung 
und  zwei-  bis  dreijähriger  Thätigkeit  noch  eine  auf  die  Schulpraxis  gerichtete 
Prüfung  vor  einer  Kommission  von  Schulmännern  zu  bestehen,  so  dürfte  sein 
Geist  in  methodischer  Beziehung  so  gefestigt  sein,  dafs  er  ruhig  dem  Dienste 
der  Schule  und  seiner  eigenen  Fortbildung  überlassen  werden  könnte,  ohne 
Gefahr  zu  laufen  überzuschäumen. 

Die  Pädagogik  Herbarts,  die  einst  in  Leipzig  ihren  Mittelpunkt  und  aufser 
in  Thüringen  in  Sachsen  grofse  Verbreitung  'gefunden  hat,  hat  vielleicht  den 


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0.  Doflt:  Der  neusprachliche  Unterricht  im  Königreich  Sachsen  439 

* 

Anstois  zur  Reform  des  neusprachlichen  Unterrichtes  gegeben,  d.  h.  zu  dem 
Bestreben,  jeder  Sprache  die  ihrem  Wesen  eigene  Methode  zu  geben.  In  diesem 
Sinne  hat  bereits  in  den  70er  Jahrqn  Wernecke  über  die  Methode  des  Eng- 
lischen in  der  sächsischen  Realschulmännerversammlung  zu  Zwickau  gesprochen. 
Da  überhaupt  die  Reformbestrebungen  auf  dem  Gebiete  des  neusprachlichen 
Unterrichtes  in  innigem  Zusammenhange  stehen  mit  der  Schulreform- 
bewegung insofern,  als  diese  die  neueren  Bildungsmittel  in  ihrem  wahren 
Bildungswesen  darzustellen  sucht,  so  darf  nicht  übersehen  werden,  dafs  der 
1873  bei  Gelegenheit  der  1.  allgemeinen  deutschen  Realschulmännervcrsanimlung 
zu  Gera  gegründete  sächsische  Realschulmännerverein  sich  um  die  Sache 
der  neueren  Sprachen  in  Sachsen  unbestreitbare  Verdienste  erworben  hat  schon 
Tor  der  Reformbewegung.  Wenn  der  neuphilologischen  Lehrerschaft  Sachsens 
der  Vorwurf  gemacht  worden  ist,  dafs  sie  Bich  in  geringer  Zahl  an  den 
deutschen  Neuphilologen  Versammlungen  beteiligt  und  überhaupt  bei  dem  Toben 
des  Kampfes  um  die  Methode  eine  mehr  beobachtend-zu wartende  Haltung 
eingenommen  habe,  so  läfst  dies  noch  keinen  Schlufs  zu  auf  eine  geringere 
Strebsamkeit  der  sachsischen  neuphilologischen  Lehrerschaft,  noch  viel  weniger 
auf  eine  weniger  erfolgreiche  Arbeit  in  der  Schule.  Der  Lehrer  neuerer 
Sprachen  wird,  wenn  er  es  ernst  meint  mit  seiner  Aufgabe,  von  amtlicher  und 
—  die  Kollegen  aus  den  Industriestädten  mit  lebhaftem  Export  werden  mir 
dies  bestätigen  —  häufig  genug  noch  aufseramtlicher  Berufsarbeit  dermafsen 
in  Anspruch  genommen,  dafs  er  der  kurzen  Ferienzeit  dringend  bedarf  zur 
Sammlung  neuer  Kraft,  will  er  sich  nicht  allzu  früh  verbrauchen.  Schliefslich 
ist  es  doch  auch  besser,  nach  einer  guten  d.  h.  auf  Nachdenken  und  gründ- 
licher Vorbereitung  beruhenden  Methode  zu  unterrichten,  als  viel  von  einer 
guten  Methode  zu  reden.  Wir  können  der  Regierung  nur  dankbar  sein, 
dafs  sie  aus  dem  fortdauernden  Widerstreit  der  Meinungen  den  Schlufs  zieht, 
es  sei  geraten,  auch  in  dieser  Angelegenheit  so  zuwartend  und  besonnen 
vorzugehen,  wie  sie  es  sonstwo  gethan,  und  sich  zunächst  damit  begnügt, 
unter  Hinweis  auf  das  höchste  Ziel  allen  Unterrichts  vor  zu  einseitigen 
Richtungen  zu  warnen,  anderseits  es  aber  auch  anzuerkennen,  wenn  dieses 
Ziel  auch  auf  abweichenden  Wegen  erreicht  wird.  Sagt  doch  selbst  der 
Fachmann  unter  den  Geheimräten,  Dr.  W.  Münch,  auf  der  Wiener  Versamm- 
lung: 'Die  Behörde  kann  nicht  anordnen:  Unterrichtet  nach  diesem  Pro- 
gramm. Denn  die  Folge  würde  sein,  dafs  recht  viele  Lehrer  einen  recht 
geistlosen  Unterricht  gäben.'  Das  wäre  indessen  noch  nicht  die  schlimmste 
Folge.  Abgesehen  davon,  dafs  solche  Anordnungen  der  Behörde  oft  übertreten 
werden  müfsten  und  zwar  nicht  von  den  schlechtesten  unter  uns,  würde  der 
Schein  zuweilen  an  Stelle  des  Seins  treten  in  dem  im  Hamlet  angedeuteten 
Sinne.  Nichts  ist  jedoch  von  so  verheerender  Einwirkung  auf  jugendliche 
Seelen,  als  eine  unwahre,  charakterlose,  selbstsüchtige  Persönlichkeit,  so  wie  kein 
Einflufs  tiefer,  nachhaltiger  und  segenbringender  ist  nls  der  eines  offenen,  lebens- 
vollen, warmherzigen  Charakters.  Keine  didaktische  Kunst  kann,  wie  wir 
uus  unserer  Schulzeit  wissen,  die  Macht  der  Persönlichkeit  ersetzen. 


440 


0.  Dost:.  Der  neusprachliche  Unterricht  im  Könifrreicb  Sachsen 


Darum  keine  Versuche  bureaukratischer  Gleichmacherei,  kein  gegenseitiges 
Herabziehen  unter  Kollegen,  Schulen,  Schulgattungen  und  Staaten,  sondern 
wohlwollendes  Er  fassen  der  Eigenart  eines  jeden,  gegenseitige  Wertschätzung 
und  kameradschaftliches  Zusammenwirken  nach  dem  Beispiele  unserer  Heere 
von  1870! 

Jetzt  steht  Sachsen  im  Verein  mit  dem  gesamten  Deutschland  in  wachsen- 
dem friedlichen  Verkehre  mit  der  Welt;  jeder  Staat  hat  seinen  Teil  daran,  der- 
jenige Sachsens  ist  nicht  der  geringste.  Die  Folge  ist,  wie  ich  nachzuweisen 
mich  bemüht  habe,  die  zunehmende  Verbreitung  und  Vertiefung  des  Unterrichte 
in  den  noueren  Sprachen. 


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ZUR  PHYSIOLOGIE  UND  PSYCHOLOGIE  IN  DER  PÄDAGOGIK 


Von  Wilhelm  Koppelmann 

Schäfer,  Rudolf,  Lic.  theol.  Die  Vererbung.  Ein  Kapitel  aus  einer  zukünftigen  psycho- 
physiologischen Einleitung  in  die  Pädagogik.   Berlin,  Reuther  &  Reichard,  1898.   112  S. 

Im  Anschluß  an  Beneke  führt  Schäfer  in  der  Einleitung  aus,  dafs  eine 
der  wichtigsten  Fragen  flir  die  Pädagogik  die  sei:  'Was  findet  der  Erzieher 
vor  bei  dem  Beginnen  seines  Werkes?'  Zur  Beantwortung  derselben  sei  neben 
der  Psychologie  die  von  der  Pädagogik  bisher  sehr  vernachlässigte  Physiologie 
von  grofsem  Nutzen;  es  sei  für  die  Zukunft  als  Ziel  hinzustellen,  dafs  'diese 
beiden  Wissenschaften  die  gemeinsame  Grundlage  der  pädagogischen  Wissen- 
schaft bilden.'  Man  müsse  aber  über  die  von  Beneke  formulierte  Frage  noch 
hinausschreiten  und  weiter  fragen:  'Wie  ist  das  geworden,  was  sich  dem  Er- 
zieher darbietet.  Denn  was  derselbe  beim  Beginne  seines  Erziehungswerkes 
vorfindet,  das  ist  schon  das  Resultat  einer  Entwickelung,  die  geistigen  und 
leiblichen  Anlagen  sind  von  den  Eltern  in  gewissem  Sinne  ererbt;  wenn  der 
Erzieher  daher  das  Kind  richtig  verstehen  will  —  und  das  ist  doch  notig  — 
so  kann  er  nicht  anders,  als  sich  mit  dem  Entwickelungsprozefs,  der  schon 
hinter  dem  Kinde  liegt,  zu  beschäftigen,  sein  Wesen  und  Werden  zu  ergründen 
zu  suchen.  Daher  wird  auch  die  Aufmerksamkeit  des  Erziehers  auf  die  Zeit 
zu  richten  sein,  die  das  Kind  in  Beinern  fötalen  und  embryonalen  Zustande 
durchlebt  hat,  denn  in  diesem  intrauterinen  Leben  werden  die  Grundlagen  der 
ganzen  späteren  Lebensentwickelung  gelegt,  hier  wird  schon  entschieden  über 
die  Anlagen  leiblicher  und  geistiger  Natur,  die  die  Mitgift  für  das  Leben  des 
Kindes  sind,  und  alles,  was  das  Kind  in  seinem  Leben  noch  dazu  erwirbt,  ist 
nur  die  Weiterbildung  des  Keimes  und  der  Anlagen,  die  es  im  Mutterschofs 
erhalten  hat  (S.  6).' 

Nach  einer  Erörterung  darüber,  welchen  Umfang  die  physiologische  Hand 
reichung  für  den  Pädagogen  anzunehmen  habe,  behauptet  Schäfer  dann  weiter: 
Der  Erzieher  kann,  wenn  er  sich  mit  der  Kenntnis  dieser  Dinge  vertraut 
gemacht  hat,  wirklich  individuell  erziehen,  nämlich  sich  Rechenschaft  geben, 
warum  und  unter  welchen  Verhältnissen  das  Kind  so  geworden  ist,  wie  er  es 
vorfindet,  und  darnach  seine  Mafsnahmen  treffen  (S.  8).'  Er  selbst  greift  aus 
der  von  ihm  umschriebenen  'pädagogischen  Propädeutik'  ein  Kapitel,  fund  zwar 
ein  sehr  interessantes  und  für  Erziehung  und  Unterricht  wichtiges*,  die  Lehre 
von  der  Vererbung,  heraus,  die  er  in  folgenden  Abschnitten  behandelt: 


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442 


W.  Koppelmann:  Zur  Physiologie  und  Psychologie  in  der  Pädagogik 


I.  Die  Vererbung  (im  engeren  Sinne). 

II.  Die  erbliche  Veränderung. 

III.  Der  Anteil  von  Mann  und  Weib  bei  der  Zeugung. 

IV.  Die   Entstehung   und   Vererbung   individueller   Eigenschaften  und 
Krankheiten. 

V.  Degenerescenz  und  Abschwächung  der  erblichen  Anlage. 

Sch.  verhält  sich  im  wesentlichen  referierend,  führt  uns  die  in  den  wich- 
tigsten Punkten  weit  auseinandergehenden  Ansichten  der  einzelnen  Forscher 
vor,  ja  greift  sogar  in  geschichtlichen  Ruckblicken  bis  in  das  Mittelalter  und 
Altertum  zurück.1)  Nun  bezweifle  ich  nicht  im  mindesten,  dafs  dies  an  sich 
ganz  interessant,  und  die  Kenntnis  dieser  Dinge  in  gewisser  Hinsicht  auch 
nützlich  ist,  vermisse  aber  sehr  den  Nachweis  der  Bedeutung  derselben  für  die 
Pädagogik,  welcher  doch  gerade  die  Hauptsache  gewesen  wäre.  'Die  bescheidene 
Studie,  die  ich  mit  dieser  Schrift  darbiete,  habe  ich  durch  Mitteilung  von 
eigenen  Erfahrungen  aus  meiner  nicht  ganz  kurzen  Erziehungspraxis  absichtlich 
nicht  erweitern  wollen',  heilst  es  im  Schlufswort.  Ja,  warum  denn  nicht? 
Sch.  wünscht  doch  sogar  physiologische  Belehrungen  in  den  Lehrplan  der  Volks- 
schullehrerseminarien  eingeführt  zu  sehen  und  meint,  es  sei  *ein  sicherer  Erfolg 
der  Erziehungs-  und  Unterrichtsein  Wirkungen  von  der  Erwerbung  und  prak 
tischen  Verwendung  dieser  aus  der  Psychologie  und  Physiologie  des  Kindes 
geschöpften  Kenntnisse  zu  erwarten*  (S.  15).  Und  im  Vorwort  betont  er, 
dafs  die  Studien,  aus  denen  seine  Schrift  erwachsen  sei,  ihm  bei  seinem  Unter- 
richt wie  bei  der  Erziehung  'sehr  nützlich'  Beien.  Sehr  interessant  *äre  es 
gewesen,  darüber  Näheres  zu  erfahren,  und  ich  möchte  dem  Verfasser  aus- 
drücklich nahelegen,  das  Versäumte  nachzuholen. 

Eins  allerdings  sagt  Schäfer  uns  klar  heraus  (an  der  oben  angeführten 
Stelle,  ferner  S.  81  und  102,  indirekt  auch  an  anderen  Stellen),  dafs  der 
mit  physiologischen  Kenntnissen  ausgestattete  Pädagoge  'wirklich  individuell' 
erziehen  könne.  Ob  diese  Ansicht  richtig  ist,  scheint  mir  jedoch  mehr  als 
fraglich.  Die  Voraussetzung  einer  erfolgreichen  'individuellen'  Erziehung  ist 
zu  allererst  eine  genaue  Bekanntschaft  mit  den  körperlichen  und  geistigen 
Eigentümlichkeiten  des  betreffenden  Kindes.  Diese  wird  aber  durch  die 
Kenntnis  der  Ergebnisse  der  Physiologie,  obgleich  sie  natürlich  zur  richtigen 
Beurteilung  unter  Umständen  nützlich  sein  können,  ebensowenig  unmittelbar 
gegeben  wie  durch  eine  noch  so  gute  Ausbildung  auf  dem  Gebiete  der  Psycho- 
logie, Ethik  und  Medizin.  Nur  genaue  Beobachtung  des  Kindes  und  Erkun- 
digungen nach  seinem  Vorleben  und  den  häuslichen  Verhältnissen,  in  denen  es 
sich  bewegt,  können  hier  zum  Ziele  führen.  Und  was  im  besonderen  die  von 
Sch.  so  hochgeschätzte  Kenntnis  der  modernen  Vererbungstheorien  betrifft,  so 
wird  auch  der  auf  diesem  Gebiet  ausgezeichnet  orientierte  Lehrer  sehr  selten 

')  Ich  will  auf  die  Einzelheiten  nicht  eingehen,  aber  doch  im  vorbeigehen  erwähnen, 
dafs  bei  der  einfachsten  Art  der  Fortpflanzung,  der  Teilung,  sich  die  Organismen  keines- 
wegs 'einfach  in  zwei  ganz  gleiche  Hälften'  teilen,  sondern  dafs  dies  in  Wirklichkeit  ein 
«ehr  komplizierter,  durchaus  noch  nicht  aufgeklärter  Vorgang  ist. 


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W.  Koppelmann:  Zur  Physiologie  und  Psychologie  in  der  Pädagogik  443 


in  der  Lage  sein,  die  Eltern  und  die  internen  ehelichen  Vorgänge,  die  für  die 
Entwicklung  des  Kindes  yon  Bedeutung  gewesen  sind,  so  genau  kennen  zu 
lernen,  dafs  er  aus  den  ohnehin  unsicheren  und  schwankenden  Theorien  Nutzen 
ziehen  konnte. 

Da  indessen  die  Bedeutung  der  Physiologie  flir  die  Pädagogik  von  vielen, 
i.  T.  hervorragenden,  Schulmännern  neuerdings  stark  betont  wird,  so  möchte  ich, 
auf  die  Gefahr  hin,  für  rückständig  zu  gelten,  noch  eine  Bemerkung  mir  erlauben. 
Ich  bin  durchaus  nicht  blind  gegen  die  Bedeutung  der  modernen  Physiologie 
und  Biologie.  Ich  weifs,  in  wie  hohem  Mafse  unsere  Weltanschauung  durch 
die  Ergebnisse  dieser  Wissenschaften  beeinflufst  wird,  und  habe  aus  diesem 
Grunde  ihre  Fortschritte,  als  bescheidener  Laie  natürlich,  mit  Interesse  verfolgt. 
Ich  gebe  auch  zu,  dals  sie  für  einige  Unterrichtszweige,  insbesondere  für  den 
Elementar-  und  elementaren  Sprachunterricht,  von  Bedeutung  werden  können, 
ebenso  dafs  auf  die  körperlichen  Voraussetzungen  der  geistigen  Leistungsfähig 
keit  und  die  körperliche  Bedingtheit  mancher  Jugendfehler  bisher  meistens 
nicht  die  nötige  Rücksicht  genommen  ist.  Das  Streben,  hier  Besserung  her- 
beizufuhren, ist  gewifs  verdienstlich,  obgleich  die  Aneignung  physiologischer, 
medizinischer  und  psychiatrischer  Kenntnisse  uns  Lehrern,  für  die  andere 
Dinge  doch  nun  einmal  die  Hauptsache  bleiben,  immer  nur  in  ausserordentlich 
bescheidenem  Mafse  wird  zugemutet  werden  können  und  zudem  eine  gründ- 
lichere Reinigung  unserer  Schulen  und  die  Bewilligung  der  dazu  nötigen  Mittel, 
vorlaufig  noch  nötiger  und  nützlicher  sein  würde.  Aber  wie  gesagt,  ich  habe 
nichts  gegen  Physiologie  und  physiologische  Psychologie;  mag  man  so  viel 
Nutzen  für  Erziehung  und  Unterricht  daraus  schöpfen  wie  möglich.  Nur 
dagegen  möchte  ich  protestieren,  dafs  man  neuerdings  die  Sachlage  manchmal 
80  darstellt,  als  ob  mit  der  größseren  Beachtung  der  Physiologie  jetzt  eine  neue 
Epoche  in  der  Pädagogik  beginnen  werde.  Da  lese  ich  z.  B.  in  einem,  ich 
weifs  nicht  von  wem  verfafsten  Prospekt,  mit  dem  eine  um  die  pädagogische 
Litteratur  verdiente  Buchhandlung  ihre  'Sammlung  von  Abhandlungen  aus  dem 
Gebiet  der  pädagogischen  Psychologie  und  Physiologie'  (herausgegeben  von 
Schiller  und  Ziehen)  ankündigt,  folgendes:  'Die  Thatsache,  dafs  alle  psychischen 
Prozesse  mit  einem  Organ  unseres  Körpers,  dem  Gehirn,  in  engstem  Zusammen- 
hang stehen,  ist  in  der  Psychologie  der  Pädagogik  noch  kaum  zur  Geltung 
gekommen.  Die  pädagogische  Behandlung  richtete  sich  daher  leider  oft  aus- 
schliefslich  auf  ganz  metaphysische  Seelen.  Erst  durch  den  Zusammenhang  mit 
dem  Gehirn  werden  die  seelischen  Vorgänge  des  Kindes  uns  zugänglich.'  Ich 
frage:  welcher  halbwegs  vernünftige  Pädagoge  hat  jemals  seine  Behandlung  auf 
'ganz  metaphysische  Seelen'  gerichtet?  Das  Objekt  der  Behandlung  sind  meines 
Erachtens  die  empirischen  Seelen  der  Jungen  gewesen,  wie  man  sie  durch 
Beobachtung  kennen  lernte,  und  daran  wird  sich  auch  in  Zukunft  nichts 
Wesentliches  ändern.  Es  ist  auch  gar  nicht  wahr,  zum  mindesten  eine  starke 
Übertreibung,  dafs,  wie  es  so  schön  ausgedrückt  ist,  'erst  durch  den  Zusammen- 
hang mit  dem  Gehirn  die  seelischen  Vorgänge  des  Kindes  uns  zugänglich 
werden.'    Auch  die  empirische  Psychologie  ist  im  wesentlichen  auf  das  Studium 


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W.  Koppelmann:  Zur  Physiologie  und  Psychologie  in  der  Pädagogik 


der  'seelischen  Vorgänge'  angewiesen  und  nicht  auf  die  Hirnphysiologie.  Was 
bei  der  übertriebenen  Hochschätzung  der  Bedeutung  der  Physiologie  und  phy- 
siologischen Psychologie  für  die  Pädagogik  herauskommt,  das  zeigt  in  recht 
charakteristischer  Weise  die  Abhandlung  von  Jul.  Baumann  über  'Willens-  und 
Charakterbildung  auf  physiologisch-psychologischer  Grundlage*  (3.  Heft  ersten 
Bandes  der  oben  genannten  Sammlung).  Die  physiologischen  Erörterungen  in 
den  ersten  Abschnitten  haben  hier  lediglich  dekorative  Bedeutung.  Was  Bau- 
mann über  Willens-  und  Charakterbildung  zu  sagen  weifs,  hatte  er  ebensogut 
ohne  jene  'Grundlage'  vorbringen  können,  das  Verständnis  dieser  späteren 
Kapitel,  in  denen  nur  an  einzelnen  Stellen  anstandshalber  an  die  Physiologie 
erinnert  wird,  wäre  dadurch  nicht  im  mindesten  erschwert  worden.  Auch  hat 
das  Bestreben,  alles  Psychische  auf  physiologische  Grundlagen  zurück- 
zuführen, bei  ihm,  allerdings  auch  bei  anderen,  zu  einer  ganz  unhaltbaren 
Auffassung  und  Definition  des  Willens  geführt.  Am  deutlichsten  tritt  das 
hervor  S.  28,  wo  es  heifst:  'Einen  Vorgang,  wo  auf  Vorstellung  und  Wert- 
schätzung geistige  oder  geistig-leibliche  Bethätigung  eintritt,  nennen  wir  Wille 
und  willkürliche  Handlung.'  Ich  bestreite  entschieden,  dafs  wir  irgend  einen 
Vorgang  Wille  nennen.  Wille  und  willkürliche  Handlung  werden,  wie  es 
scheint,  von  Baumann  einfach  identifiziert.  In  Wirklichkeit  sind  aber  Wille 
und  gewollte  Handlung  grundverschieden.  Wenn  ein  vom  Schlagflufs  Gelähmter 
einzelne  Glieder  nicht  bewegen  kann,  so  kann  sein  Wille  sehr  intakt  und  sehr 
energisch  sein,  die  Organe  gehorchen  ihm  nur  nicht.  Dasselbe  gjilt  von 
Aphasie  und  ähnlichen  krankhaften  Zuständen.  Es  ist  eine  gefährliche  Begriffs- 
verwirrung, die  im  Verein  mit  anderem  schliefslich  zur  Verkennung  der  Selb- 
ständigkeit des  Geistes  gegenüber  dem  Körper  führt,  wenn  man  das  Wollen 
nicht  sorgfältig  als  etwas  ganz  Heterogenes  von  der  Ausführung  einerseits  und 
dem  psychischen  Reiz  anderseits  scheidet.  Auch  Ausdrücke  wie:  'Bedingtheit 
des  Handelns  und  damit  des  Willens'  (S.  13)  oder:  'Wenn  der  Wille  durch 
Herbeiführung  einer  langen  Reihe  von  Bewegungen  ermüdet  ist*  (S.  14)  oder: 
'Leistungsfähigkeit  des  Willens'  (S.  15)  sind  zum  mindesten  irreführend. 

Doch  ich  entferne  mich  zu  weit  von  unserem  Gegenstande.  Ich  glaube, 
um  zum  Schlufs  meine  Meinung  kurz  zusammenzufassen,  dafs  die  Physiologie 
für  die  Pädagogik  niemals  eine  grundlegende,  sondern  stets  nur  eine  subsidiäre 
Bedeutung  haben  wird. 

Baldwin,  James  Mark,  Prof.  der  Psychologie  an  der  Universität  Princeton.  Die  Ent- 
wicklung deg  Geistes  beim  Kinde  und  bei  der  Rasse.  Nach  der  dritten  engl. 
Ausgabe  ins  Deutsche  übersetzt  von  Dr.  A.  E.  Ortmann.  Nebst  einem  Vorwort  von 
Th.  Ziehen,  Prof.  an  der  Universität  Jena.  Mit  17  Figuren  und  10  Tabellen.  Berlin, 
Beuther  &  Reichard,  1898.   470  8. 

Von  den  fünf  Rezensionen  dieses  Buches,  die  ich  ganz  oder  zum  Teil 
gelesen  habe,  lauten  vier  anerkennend  oder  sehr  anerkennend.  Dagegen  verhalt 
sich  W.  Ament  in  einer  ausführlichen  Besprechung  in  der  Zeitschrift  für  Philo- 
sophie und  phil.  Kritik  sehr  kühl  und  schlägt  den  Wert  des  Werkes  ziemlich 
niedrig  an.    Ich  gestehe  gleich  von  vom  herein,  dafs  ich  diese  Ansicht  teile. 


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W.  Koppelmann:  Zur  Physiologie  und  Psychologie  in  der  Pädagogik 


445 


Der  anspruchsvolle  Titel  wird  durch  den  Inhalt  keineswegs  gerechtfertigt,  vor 
allem  aber  begreife  ich  nicht,  wie  man  Baldwins  Ausführungen  grofse  Wichtig- 
keit für  den  Lehrer  und  Erzieher  beilegen  kann  (so  die  Besprechung  in  der 
Zeitschrift  für  lateinlose  höhere  Schulen  und  in  der  'Praxis  der  Volksschule'). 
Doch  wenden  wir  uns  dem  Inhalt  des  Buches  zu. 

Baldwin  steht  ganz  auf  dem  Boden  der  Entwickelungslehre.  Wie  der 
Mensch  körperlich  nur  eine  besonders  hohe  Stufe  in  der  Qesamtentwickelung 
der  Lebewesen  aus  den  einfachsten  Anfängen  darstellt,  so  ist  auch  der  mensch- 
liche Geist  aus  niedrigeren  Stufen  im  Tierreich  allmählich  entwickelt.  Es 
handelt  sich  für  Baldwin  im  Grunde  um  das  Problem  'der  phylogenetischen 
Entwickelung  des  Bewufstseins  in  allen  Tieren  aufwärts  bis  zum  Menschen' 
(S.  14).  Dies  soll  auch  der  Titel  anzeigen,  'Entwickelung  des  Geistes  beim 
Kinde  und  bei  der  Rasse'.  Unter  Rasse  versteht  nämlich  B.  nicht  etwa 
Stamm  oder  Volk,  sondern  die  Gesamtheit  der  Lebewesen,  welche  die  Ahnen- 
reihe des  Menschengeschlechts  bilden.  Von  der  Entwickelung  des  Geistes  bei 
der  Rasse  ist  übrigens,  nebenbei  bemerkt,  in  dem  Buche  aus  naheliegenden 
Gründen  wenig  die  Rede.  Die  Bedeutung,  welche  im  Zusammenhang  solcher 
und  ähnlicher  Spekulationen  die  Kindespsychologie  besitzt,  wird  verständlich, 
wenn  man  sich  daran  erinnert,  welche  Rolle  bei  den  Vertretern  der  Entwicke- 
lungslehre die  Ontogenesis  als  abgekürzte  Wiederholung  der  Phylogenesis  spielt. 

Man  sieht  schon  aus  diesen  Andeutungen,  wohin  eigentlich  die  Forschungen 
Baldwins,  der  sich  besonders  an  Spencer  und  Romanes  angeschlossen  hat, 
zielen.  Hinzuzufügen  ist  nur  noch,  dafs  konsequenterweise  die  Erscheinungen 
des  bewufsten  Lebens,  auch  das  Wollen,  als  blofse  Weiterentwickelungen  des 
unbewufsten  aufgefafst  werden. 

Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  diese  Ideen  kritisch  zu  beleuchten.  Sehen  wir 
lieber  zu,  was  uns  Baldwin  über  die  Entwickelung  des  Geistes  beim  Kinde 
Positives  und  Neues  zu  sagen  weifs. 

Ziehen,  welcher  die  deutsche  Übersetzung  von  Baldwins  Werk  mit  einem 
Vorwort  versehen  hat,  rühmt  Preyer  nach,  dafs  er  zuerst  in  die  kindliche 
Psychologie  die  'fruchtbaren  neuen  Methoden'  eingeführt  habe.  Doch  schildere 
er  im  wesentlichen  nur  die  systematischen  Beobachtungen  an  einem  einzigen 
Kinde.  'Es  war  die  Seelenentwickelung  eines  Kindes,  nicht  die  Psychologie 
des  Kindes'.  DieBe  scheint  nach  seiner  Meinung  Baldwin  dargestellt  zu  haben. 
Ich  kann  nun  allerdings  nicht  finden,  dafs  Baldwin  sich  in  dieser  Hinsicht 
wesentlich  von  Preyer  unterscheidet:  bei  ihm  sind  es  zwei  Kinder,  und  auch 
diese  hat  er  nach  meiner  Meinung  ziemlich  einseitig  studiert.  Er  hat  nämlich 
die  Entwickelung  seiner  beiden  Kinder,  H.  und  E.,  während  der  ersten  Lebens- 
jahre genau  überwacht,  allerlei  sonst  der  Mutter  und  Wärterin  überlassene  Dienste 
bei  ihnen  verrichtet  und  sie  dabei  mit  dem  Auge  des  Psychologen  beobachtet. 
Ich  sage  absichtlich:  mit  dem  Auge  des  Psychologen,  denn,  wie  B.  behauptet, 
ist  nur  der  Psychologe  im  stände,  das  Kind  zu  'beobachten',  nicht  etwa  die 
'Durchschnittsmutter'  und  der  'Durchschnittsvater.'  Von  diesen  hat  B.  eine 
sehi-  geringe  Meinung.    Die  Durchschnittsmutter  weifs  angeblich  'über  den 


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W.  Koppelmann:  Zur  Physiologie  und  Psychologie  in  der  Pädagogik 


menschlichen  Korper  noch  weniger  als  über  den  Mond  oder  eine  wilde  Blume', 
und  der  Durchschnittsvater  bekommt  sein  Kind  'täglich  etwa  eine  Stunde  lang, 
wenn  es  schön  angezogen  ist,  zu  Gesicht',  hat  aber  'niemals  in  seinem  Leben 
mit  ihm  in  demselben  Zimmer  geschlafen*  (S.  35).  Die  Durchschnittsmutter 
'mag  eine  Familie  von  einem  Dutzend  aufziehen  und  kann  doch  nicht  im  stände 
sein,  eine  einzige  zuverlässige  Beobachtung  zu  machen,  während  er  —  der  Psy- 
chologe nämlich  —  es  vermag,  aus  einem  einzigen  Laut  eines  Ein- 
jährigen Theorien  des  Neurologen  und  Erziehers  zu  bestätigen,  die  für  die 
zukünftige  Schulung  und  Wohlfahrt  des  Kindes  von  grofser  Bedeutung  sind'. 
Kein  Wunder,  wenn  er  sein  Urteil  hoch  über  das  der  Durchschnittsväter  und 
-mütter  stellt.  Auch  das  psychologische  Verständnis  der  Lehrer  schätzt  Baldwin 
nicht  sonderlich  hoch  ein.  Er  hält  es  für  'sehr  wahrscheinlich,  dafs  von  je 
drei  Kindern  zwei  in  der  Schule  in  nicht  wieder  auszugleichender  Weise  in 
ihrer  geistigen  und  moralischen  Entwickclung  geschädigt  und  gehindert  werden'. 
Als  höflicher  Mann  erklärt  er  jedoch,  durchaus  nicht  sicher  zu  sein,  'dafs  wir 
besser  fahren  würden,  wenn  wir  die  Kinder  zu  Hause  behielten'  (S.  37). 

Baldwin  hat  sich  nun  nicht  darauf  beschränkt,  mit  dem  durchdringenden 
Blick  des  Psychologen  zu  beobachten,  sondern  er  hat  auch  mit  seinen  beiden 
Kindern  Experimente  angestellt,  und  zwar  über  'Entfernung»-  und  Farbenwahr- 
nehmungen', den  'Ursprung  der  Rechtshändigkeit',  'Bewegungen  des  Kindes' 
(malende  Nachahmung  etc.)  und  über  'Suggestion'.  Da  das  von  Preyer  zu 
Grunde  gelegte  Sprechen  der  Kinder  ein  zu  unsicherer  Mafsstab  für  die  Be- 
urteilung ihres  Unterscheidens  von  Farben  u.  dergl.  ist,  so  hat  sich  Baldwin 
an  die  Bewegungen  des  Kindes,  besonders  die  Handbewegungen  gehalten  und  so 
'eine  neue  Methode,  das  Kind  zu  studieren'  gefunden.  Er  konstatiert  z.  B.,  wie 
oft  und  bis  zu  welchen  Entfernungen  sein  Kind  H.  nach  roten,  blauen,  grünen 
oder  weifsen  Papierstückchen  langt,  wobei  sich  in  dem  verschiedenen  Verhalten 
zu  den  einzelnen  Farben  dann  auch  das  Unterscheidungsvermögen  zeigt.  Die 
Resultate  werden  in  Tabellen  mitgeteilt,  welche  mit  einer  Reihe  von  Formeln 
und  Figuren  dazu  dienen,  dem  Ganzen  den  nötigen  'exakten'  Anstrich  zu  geben. 
Ahnliche  Versuche  hat  B.  über  den  vorwiegenden  Gebrauch  der  rechten  Hand 
angestellt,  auch  seine  Kinder  gezeichnete  einfache  Vorlagen  nachahmen  lassen. 
In  dem  Kapitel  über  'Suggestion*  führt  er  allerlei  Beispiele  von  seinen  Kindern 
und  von  Erwachsenen  an,  welche  darthun,  dafs  das  'plötzliche  Eintreten  einer 
Idee  oder  eines  Bildes  oder  eines  unbestimmten,  bewufsten  Reizes  von  aufsen 
her  ins  Bewufstsein'  die  Tendenz  hervorruft,  'Muskel-  und  Willenseffekte  her- 
beizuführen, die  auf  ihre  Gegenwart  zu  folgen  pflegen'.  Das  versteht  nämlich 
Baldwin  unter  Suggestion.  Dabei  kommen  die  den  Müttern  bekannten  Methoden 
der  Einschläferung  kleiner  Kinder,  Reaktionen  beim  Erblicken  der  Michtiascbe, 
der  für  das  Ausgehen  bestimmten  Kleidungsstücke  und  anderes  zur  Sprache. 
Viel  Neues  enthält  das  Kapitel  nicht  Am  Schlüsse  desselben  stellt  Baldwin 
das  'Gesetz'  —  mit  diesem  Ausdruck  ist  er  nicht  sehr  sparsam  —  der  Dynamo- 
genesis auf,  dafs  auf  jeden  Reiz  (im  Organismus  natürlich)  eine  Handlung  folgt, 
und  zwar  entweder  eine  Gewohnheitshandlung  oder  eine  Accommodation.  Das 


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W.  Koppelmann :  Zur  Physiologie  und  Psychologie  in  der  Pädagogik  447 

'Gesetz  der  Gewohnheit'  fafst  Baldwin  S.  445  folgendermafsen:  'Gewohnheit  ist 
die  Tendenz  eines  Organismus,  Prozesse,  die  vital  wohlthätig  sind,  immer 
leichter  und  leichter  fortdauern  zu  lassen/  Das  Wesen  der  Accommodation 
wird  S.  447  mit  folgenden  Worten  beschrieben:  'Accommodation  ist  das  Prinzip, 
nach  dem  ein  Organismus  sich  an  mehr  komplizierte  Zustände  der  Reizung 
durch  Leistung  von  mehr  komplizierten  Funktionen  adaptiert/ 

Diesen  ersten  Teil  seines  Werkes  nennt  Baldwin  'Experimentelle  Begrün- 
dung*. Auf  der  am  Schlufs  gewonnenen  theoretischen  Grundlage  baut  sich 
dann  der  zweite  Teil,  'Biologische  Entwicklung',  auf,  eine  den  fruchtbaren 
Boden  der  Erfahrung  mehr  als  billig  verlassende  naturphilosophische  Speku- 
lation. Sie  fliefat  allmählich  über  in  den  dritten  Teil,  welchen  Baldwin  'Psy- 
chologische Entwickelung*  nennt.  Was  er  mit  den  beiden  Teilen  bezweckt,  ist 
schon  im  Eingang  skizziert  worden.  Im  dritten  Teil  tritt  die  Mitteilung  von 
positiven  Thatsachen  aus  dem  Gebiet  der  Kindespsychologie,  die  man  gerade  hier 
erwarten  sollte,  fast  gänzlich  zurück;  es  ist  meistens  in  ganz  allgemeiner  Weise 
die  Rede  von  dem  Ursprung  des  Gedächtnisses,  des  Denkens,  des  Affekts,  ferner 
der  Entstehung  des  Wollens,  der  innerlichen  Sprache  und  des  Gesanges  und 
der  Aufmerksamkeit.  Diese  Ausführungen  sind  oft  recht  oberflächlich;  alles, 
o.  a.  auch  die  Moral,  wird  auf  Nachahmung  zurückgeführt.  Auf  Einzelheiten 
einzugehen,  lohnt  sich  nicht,  nur  einen  Irrtum,  welcher  nicht  blofs  bei  Baldwin 
sich  findet,  sondern  weitverbreitet  ist,  möchte  ich  bei  dieser  Gelegenheit  be- 
richtigen. S.  475  heifst  es:  'Der  Mensch  erwirbt  die  »Anschauungen«  der 
räumlichen  Beziehungen,  und  zwar  so  vollkommen,  dafs  Kant  sie  für  angeboren 
hielt.'  Ich  verweise  demgegenüber  auf  die  ausdrückliche  Erklärung  Kants:  'Die 
Kritik  erlaubt  schlechterdings  keine  anerschaffenen  oder  angeborenen  Vor- 
stellungen; alle  insgesamt,  sie  mögen  zur  Anschauung  oder  den  Verstandes- 
begriffen gehören,  nimmt  sie  als  erworben  an  (Kants  Werke,  ed.  Hartenstein, 
revidierte  Ausgabe  von  1867,  Bd.  VI,  S.  37).'  Vergl.  a.  a.  0.  S.  39:  'So  ent- 
springt  die  formale  Anschauung,  die  man  Raum  nennt,  als  ursprünglich 
erworbene  Vorstellung.' 

So  viel  vom  Inhalt  des  Buches.  Die  Darstellung  ist  schwerfällig,  z.  T. 
dunkel  und  durch  viele  überflüssige  Fremdwörter  entstellt.  Wieviel  davon  auf 
Rechnung  des  Übersetz  ers  zu  schreiben  ist,  vermag  ich  nicht  zu  beurteilen. 

Für  diejenigen,  welche  auf  dem  Gebiet  der  noch  ganz  in  den  Windeln 
liegenden  Kindespsychologie  thätig  sind,  mag  das  Werk  Baldwins,  dem  grofse 
Gelehrsamkeit  gewifs  nicht  abzusprechen  ist,  einigen  Wert  haben.  Für  den 
Lehrer  und  Erzieher  —  ich  sage  das  in  ausdrücklichem  Widerspruch  zu  dem 
Vorwort  Ziehens,  welcher  Vätern,  Müttern  und  Lehrern  das  Buch  als  Weg- 
weiser empfiehlt  —  ist  es  nach  meiner  Überzeugung  ohne  Bedeutung. 


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DIE  GESTALTUNG  DES  LATEINISCHEN  UNTERRICHTS 
IM  OBERBAU  DES  REALGYMNASIUMS  NACH  FRANKFURTER 

LEHRPLAN 

Von  Julius  Ziehen 

Da  in  Reinhardts  grundlegender  Schrift  über  'Die  Frankfurter  Lehrpläne' 
naturgemäß*  nur  ganz  kurz  (auf  S.  46)  von  der  Gestaltung  des  Lateinunterrichts 
in  den  drei  Oberklassen  des  Realgymnasiums  nach  dein  neuen  Lehrplan  die 
Rede  ist,  so  wird  es  angesichts  der  zunehmenden  Verbreitung  des  Frankfurter 
Lehrplans  und  des  allmählichen  Heranwachsens  zahlreicher  Oberklassen  dieses 
Systems  an  verschiedenen  Orten  wohl  zweckniäfsig  sein,  für  die  dreimal  sechs 
wöchentlichen  Stunden,  die  dem  lateinischen  Unterricht  von  Obersekunda  bis 
Oberprima  im  Reinhardtschen  Plan  bestimmt  sind,  die  Lehraufgabe  und  das 
Lehrverfahren  einer  näheren  Betrachtung  zu  unterziehen  oder  einige  darauf 
bezügliche  Fragen  zur  Diskussion  unter  den  Fachgenossen  vorzulegen1);  es 
wird  kein  Schade  sein,  wenn  dabei  die  grundsätzliche  Frage  nach  der  Stellung 
des  Lateinischen  im  Gesamtplan  des  Realgymnasiums  und  damit  die  Frage 
nach  der  Daseinsberechtigung  dieser  ganzen  Schulart  gelegentlich  leise  ge- 
streift wird. 

Die  kompaktere  Gestaltung  des  Lateinunterrichts  im  Frankfurter  Lehrplan 
bietet  gegenüber  dem  staatlichen  Lehrplan  den  grofsen  Vorteil,  dafs  die  Er 
Werbungen  und  Errungenschaften  des  Anfangsunterrichts  in  dieser  Sprache  noch 
kräftiger  bis  zum  Abschlufs  desselben  Unterrichts  nachwirken;  Fonnenkenntnis 
und  damit  auch  Exaktheit  der  Formenauffassung  bei  der  Schriftstellerlektüre 
wird  im  Oberbau  des  Realgymnasiums  nach  Frankfurter  Lehrplan  viel  leichter 
und  viel  intensiver  bei  den  Schülern  zu  erreichen  sein;  es  wird  bei  ziel- 
bewufstem  Vorgehen  von  Anfang  an  keine  Mehrbelastung  der  Schüler  bedeuten, 
wenn  die  von  Untertertia  bis  Untersekunda  neuerlernte  und  wiederholte  Formen- 
lehre durch  die  Aufnahme  von  etwa  20  Formenfragen  in  jede  schriftliche 
Klassenarbeit  dem  Bewufstsein  der  Schüler  erhalten  bleibt;  jeder  Leser  kann 
sich  au  der  Hand  etwa  der  lateinischen  Formenlehre  von  Perthes -Gillhausen 
leicht  klar  machen,  wie  sich  bei  14tägigen  schriftlichen  Arbeiten  der  Wieder- 
holungsstoff der  Formenlehre  in  recht  bequeme  Einzelteile  zerlegen  läfst,  die, 
auf  ein  Jahr  berechnet,  im  Oberbau  des  Realgymnasiums  also  dreimal  min-, 
destens  wiederkehren;  dabei  ist  noch  sehr  in  Betracht  zu  ziehen,  dafs  natürlich 

»)  Über  den  Lateinunterricht  im  Mittelbau  deB  Realgymnasium«  s.  Bd.  I  S.  187  ff.  dieser 
Zeitschrift. 


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J.  Ziehen:  Die  Gestaltung  de»  lateinischen  Unterricht«  im  Oberbau  des  Realgymnasiums  449 

an  sich  schon  die  in  Tertia  gebrauchte  'Formenlehre*  dem  Schüler  viel  weniger 
zum  Fremdkörper  geworden  ist  als  nach  dem  staatlichen  Lehrplan  das  in 
Sexta  und  Quinta  gebrauchte  entsprechende  Lehrbuch. 

Mutatis  mutandis  ganz  Ähnliches  gilt  für  die  Syntax,  und  ich  will  unter 
Weglassung  der  Gedankengang«,  die  zu  ihr  hinführen,  nur  die  Schlufsforderung 
hinsetzen,  die  das  Schicksal  der  lateinischen  Syntax  im  Oberbau  des  Real- 
gymnasiums nach  Frankfurter  Lehrplan  betrifft:  das  Lehrbuch  der  Syntax 
bleibt  im  unausgesetzten  Gebrauch  von  Obersekunda  bis  Prima,  es  dient,  was 
die  reichlicher  bemessene  Stundenzahl  sehr  wohl  erlaubt,  als  feste  Grundlage 
zu  systematischen  Wiederholungen,  für  die  etwa  eine  halbe  Stunde  von  den 
sechs  wöchentlichen  Stunden  anzusetzen  ist;  da  für  exakte  und  zugleich  prompte 
Auffassung  der  syntaktischen  Erscheinung  im  Schriftstellertext  der  Besitz  gut- 
gewählter Musterbeispiele  für  die  einzelnen  syntaktischen  Regeln  von  der 
gröfsten  Wichtigkeit  ist,  werden  in  jede  der  schriftlichen  Klassenarbeiten  einige 
dieser  Sätze  aufgenommen,  die  nach  Angabe  der  Regel  oder  eines  Parallel- 
beispieles für  dieselbe  Regel  von  den  Schülern  aus  dem  Gedächtnis 
niederzuschreiben  sind. 

Diese  Sätze  und  die  obenerwähnten  20  Formen  bilden  eine  Erweiterung 
der  schriftlichen  Klassenarbeiten  gegenüber  der  üblichen  Form,  die  mir  durch 
das  Wesen  des  Frankfurter  Lehrplans  erst  recht  ermöglicht  und  für  die  Stellung 
des  Lateinischen  am  Realgymnasium  im  allerhöchsten  Grade  erwünscht  zu  sein 
scheint;  was  im  übrigen  die  schriftlichen  Arbeiten  selbst  anbetrifft,  so  ist 
Reinhardts  Forderung  (a.  a.  0.)  'von  Obersekunda  an  alle  14  Tage  eine  schrift- 
liche Übersetzung  aus  dem  Lateinischen'  ohne  weiteres  anzunehmen;  es  mag 
dabei  dem  einzelnen  Lehrer  immerhin  mit  Rücksicht  auf  die  Gesamtgestaltung 
des  lateinischen  Unterricht»  im  Frankfurter  Lehrplan  eher  als  beim  staat- 
lichen Lehrplan  möglich  und  sollte  ihm  darum  auch  unbenommen  sein,  ge- 
legentlich auch  in  den  Oberklassen  eine  Übersetzung  aus  dem  Deutschen  ins 
Lateinische  ganz  oder  teilweise  zum  Gegenstand  der  schriftlichen  Arbeit  zu 
machen;  dals  das  nicht  im  Ühermaüs  geschieht,  dafür  wird  schon  die  Rücksicht 
auf  die  Art  der  Aufgabe  beim  Abiturientenexamen  sorgen.  .  Für  den  gesamten 
der  Grammatik  und  den  schriftlichen  Arbeiten  gewidmeten  Teil  des  Latein- 
unterrichts in  den  Oberklassen  würde  ich  vorschlagen,  zwei  von  den  sechs 
Stunden  anzusetzen;  in  der  Obertertia  des  Realgymnasiums  sind  nach  Reinhardts 
Plan  fünf  Stunden  der  Lektüre,  drei  den  grammatischen  und  schriftlichen 
Übungen  zu  widmen;  dies  Verhältnis  würde  sich  für  die  drei  Oberklassen,  was 
ja  wohl  auch  saehgemäfs  ist,  nach  dem  oben  gemachten  Vorschlag  etwas  zu 
Gunsten  der  Lektüre  verschieben;  ich  halte  für  sehr  wohl  möglich,  dals  ein 
dazu  besonders  geschickter  Lehrer  von  diesen  zwei  Stunden  sogar  noch  einen 
Teil  auf  statarische  Lektüre  mit  Betonung  der  grammatischen  Seite  verwendet. 

Es  bleiben  je  vier  Stunden  von  Obersekunda  bis  Oberprima  für  die  Lektüre 
übrig;  ihr  Stoff  ist  nach  Reinhardts  Entwurf  für  Obersekunda  Sallust  oder 
Curtius  und  Ovid,  für  Prima  Livius,  Cicero  und  Virgil,  wobei  zu  bemerken 
ist,  dafs  nach  demselben  Entwurf  Casars  Bellum  Gallicum  den  Lesestoff  der 

Neu,  Jihrbüch.r    189«.   II  29 


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450   J-  Ziehen:  Die  Gestaltung  des  lateinischen  Unterrichte  im  Oberbau  des  Realgymnasiums 

Untersekunda,  Vogel -Jahrs  Nepos  plenior  den  der  Obertertia  bildet.  Bei  der 
praktischen  Durchführung  des  Versuches  in  Frankfurt  ist  zu  Gunsten  der  An- 
gleichung  des  Realgymnasiums  an  das  Gymnasium  von  vornherein  an  diesem 
Entwurf  eine  kleine  Änderung  vorgenommen  worden  insofern,  als  von  dem 
Nepos  plenior  ganz  abgesehen,  dafür  schon  in  Obertertia  mit  dem  Bellum 
Gallicum  begonnen  und  demzufolge  auch  schon  in  Untersekunda  Ovid  gelesen 
wurde.  Für  die  Frage  der  Lektüre  in  den  Oberklassen  bedeutet  dies  nur, 
dafs  durch  Vorwegnahme  eines  Teils  der  Ovidlektüre  durch  die  Untersekunda 
oben  etwas  mehr  Platz  gewonnen  ist;  auch  wird  die  Beseitigung  des  Nepos 
plenior  mit  seinem  Lesestoff  aus  der  griechischen  Geschichte  an  Stelle  der 
Alternative  'Sallust  oder  Curtius'  vielleicht  das  unbedingte  Nebeneinander  der 
beiden  Schriftsteller  wünschenswert  erscheinen  lassen;  in  Prima  hat  an  zahl- 
reichen Realgymnasien  auch  Horaz  eine  bescheidene  Stelle,  die  man  ihm  wohl 
auch  im  Frankfurter  Lehrplau  an  sich  wohl  lassen  kann;  ein  Gleiches  hat  für 
Tacitus  zu  gelten. 

Die  Frage  des  lateinischen  Lesestoffes  für  die  Oberklassen  des  Real- 
gymnasiums scheint  mir  gegenüber  den  Bestimmungen  der  staatlichen  Lehr- 
pläne und  Lehraufgaben,  denen  sich  Reinhardt  natürlich  zunächst  anschlofs,  in 
manchen  Punkten  einer  neuen  Beleuchtung  bedürftig,  z.  B.  ist,  um  vom  Nega- 
tiven abzusehen,  die  Möglichkeit,  den  lateinischen  Fachschriftstellern  einen  be- 
scheidenen Platz  zu  gönnen,  vielleicht  der  Erwägung  wert.1)  Obwohl  sich  Er- 
wägungen dieser  Richtung  gegenüber  den  sechs  Stunden  lateinischen  Unterrichts, 
die  der  Frankfurter  Lehrplan  dem  Oberbau  des  Realgymnasiums  giebt,  ent- 
schieden besseren  Mutes  anstellen  lassen  als  gegenüber  den  vier  Lateinstunden 
der  drei  Oberklassen  nach  staatlichem  Lehrplan,  so  soll  hier  doch  von  allen 
Abänderungsgedanken  völlig  abgesehen  und  zunächst  auf  der  Grundlage  des 
von  Reinhardt  entworfenen  und  oben  besprochenen  Lektüreplans  nur  das  Wie 
der  lateinischen  Schriftstellerlektüre  in  II  bis  I  des  Realgymnasiums  nach 
Frankfurter  Lehrplan  noch  kurz  besprochen  werden. 

Die  Betrachtung  dieses  Wie  mufs  in  Erinnerung  an  das,  was  oben  über 
den  Betrieb  der  Grammatik  in  denselben  Klassen  gesagt  wurde,  in  dem  Satze 
gipfeln,  dafs  genaues  grammatisches  Verständnis  sowie  exakte  Auffassung  und 
Ubersetzungswiedergabe  des  lateinischen  Wortlautes  konsequent  und  unerbitt- 
lich zu  fordern  sind;  die  Forderung  braucht  angesichts  der  reicher  bemessenen 
Stundenzahl  des  Lateinischen  in  dem  neuen  Lehrplan  den  Vorwurf  der  Un- 
durchführbarkeit  sicher  nicht  zu  scheuen;  da  die  in  den  Zeitungen  so  oft  breit- 
getretene Lehre  von  der  Wertlosigkeit  der  Originallektüre  beim  Vorhandensein 
'gleichwertiger'  Übersetzungen  der  kontrebandeneu  Heranziehung  auch  minder- 
wertiger Übersetzungen  durch  die  Schüler,  unabsichtlich  freilich,  nicht  wenig 
in  die  Hände  gearbeitet  hat,  so  hat  die  Schule  gerade  heutzutage  um  so  mehr 
die  Pflicht,  jede  Verwendung  der  Übersetzung  als  Eselsbrücke  durch  die  Art 

')  Was  Max  C.  T.  Schmidt  in  seiner  Broschüre  'Zur  Reform  der  klassischen  Studien 
auf  Gymnasien'  (Leipzig,  Dürr  1899)  ausführt,  hat  für  dae  Realgymnasium  zum  Teil  noch 
in  verstärktem  Mafue  zu  gelteu. 


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J.  Ziehen:  Die  Gestaltung  des  lateinischen  Unterrichts  im  Oberbau  des  Realgymnasiums  451 


des  Betriebs  der  Lektüre  unmöglich  zu  machen;  es  ist  eine  sittliche  Wirkung 
des  Unterrichts,  um  die  es  sich  da  handelt,  und  die  darin  besteht,  dafa  die 
Oberflächlichkeit  der  Arbeit  und  die  Halbheit  der  Aneignung  ausgeschlossen 
werden;  die  Stundenzahl  des  Lateinischen  im  Oberbau  des  Realgymnasiums 
kann  jedenfalls  innerhalb  des  Frankfurter  Lehrplans  diesen  beiden  schweren 
Mängeln  des  Unterrichts  nicht  mehr  zur  Entschuldigung  dienen. 

Wenn  der  Frankfurter  Lehrplan  wirklich,  was  ich  nach  den  bisherigen 
Erfahrungen  glauben  möchte,  bei  den  Schülern  eine  geschicktere  und  rasche 
Auffassung  des  Sachganzen  erzielt,  was  wohl  am  meisten  durch  die  früh- 
zeitige Auffassung  der  gesprochenen  Fremdsprache  veranlafst  ist,  so  wird  die 
kursorische  Lektüre  wohl  in  den  Oberklassen  eine  ziemlich  bedeutende  Rolle 
spielen  können;  man  wird  sie  am  besten  an  einem  Stoffe  üben,  der  seinem 
Inhalt  nach  an  Oedanken-  und  Interessenkreise  anknüpft,  die  den  Schülern  beson- 
ders geläufig  sind  und  besonders  naheliegen;  das  würden  für  das  Realgymnasium 
wohl  am  ehesten  Auszüge  aus  den  lateinischen  Fachschriftstellern  sein.  Bei 
dieser  kursorischen  wie  bei  der  statarischen  Lektüre  aber  wird  gerade  den 
Schülern  nach  Frankfurter  Lehrplan  durch  Betonung  guten  Lesens  der  fremd- 
sprachliche Text  besonders  zum  Verständnis  gebracht  werden  müssen;  nicht 
nur  bei  der  jedesmaligen  Präparation,  sondern  auch  in  wiederholenden  Zu- 
sammenfassungen sollte  das  flüssige  Lesen  des  lateinischen  Originals  als  Auf- 
gabe gestellt  werden. 


29* 


EIN  JAHR  LATEINISCHEN  UNTERRICHTS  NACH  OSTERMANN- 

BAHNSCH1) 

Von  Eduard  Loch 

Die  in  verschiedenen  Städten  Deutschlands  hervortretenden  Bestrebungen, 
auch  dem  weiblichen  Geschlecht  die  gymnasiale  Bildung  zuganglich  zu  machen, 
haben  in  Königsberg  um  Michaelis  1898  durch  die  Vereine  'Frauenwohl' 
und  'Frauenbildung — Frauenstudium'  zur  Errichtung  zweier  Gymnasialzirkel 
geführt,  von  denen  der  eine  für  erwachsene  junge  Damen  bestimmt  ist,  der 
andere  für  eine  Klasse  12 — 14jähriger  Mädchen,  die  im  übrigen  den  Unterricht 
in  einer  höheren  Töchterschule  besuchen  und  vorläufig  nur  in  Mathematik  und 
Latein  besonders  unterrichtet  werden.  Mit  dem  lateinischen  Unterricht  in 
diesem  jüngeren  Zirkel  betraut,  hatte  ich  zuerst  die  nicht  ganz  leichte  Aufgabe, 
ein  geeignetes  Lehrbuch  auszuwählen,  da  ich  bei  Schülerinnen  im  Tertianeralter, 
die  2 — 3  Jahre  französischen  Unterricht  gehabt  hatten,  nicht  mit  einem  Sextaner- 
übungsbuch anfangen  wollte.  Von  den  bisher  für  den  lateinischen  Anfangs- 
Unterricht  in  Tertia  vorhandenen  Büchern,  die  ich  daraufhin  prüfte,  schien  mir 
keins  ganz  passend;  selbst  von  der  Bearbeitung  des  Perthesschen  Lesebuchs 
durch  Wulff,  das  mir  von  allen  die  geeignetste  Verteilung  des  grammatischen 
und  Lesestoffs  zu  haben  schien,  schreckte  mich  der  grofse  Umfang  der  Wort- 
kunde und  der  Mangel  an  deutschen  Übungsstücken  ab,  die  ich  bei  beschränkter 
Zeit  für  meinen  Zweck  nicht  entbehren  konnte.  Da  lernte  ich  die  im  vorigen 
Jahre  erschienene  Bearbeitung  dee  Oetermannechen  Ohnngebneha  von  Bahn«, 
kennen  und  entschied  mich  sofort  für  dessen  Einführung,  da  es  sowohl  dem 
Inhalt  seiner  Sätze  wie  seiner  ganzen  Anlage  nach  als  das  geeignetste  und 
anregendste  Lehrbuch  erschien.  Wie  sehr  es  sich  auch  in  der  Praxis  als 
solches  bewährt  hat,  mag  aus  den  folgenden  Ausführungen  hervorgehen. 

Vor  allem  ist  es  das  Hauptverdienst  von  Bahnsch  —  und  als  solches  auch 
schon  in  mehreren  Besprechungen  mit  ungeteiltem  Beifall  anerkannt  — ,  dafe 
er  in  dem  reichen  Schatz  von  lateinischen  Sentenzen,  von  allgemein  bekannten 
Citaten  und  geflügelten  Worten  einen  Stoff  gefunden  und  äufserst  geschickt 
verwertet  hat,  der  dem  Alter  12— 14 jähriger  Schüler  wahrhaft  zusagt  und 
gerade  durch  die  Kürze  und  Prägnanz  des  Ausdrucks  und  den  wertvollen 
Inhalt  die  Erlernung  der  Formenlehre  und  sogar  schon  am  Anfang  mancher 
syntaktischen  Erscheinung  erleichtert  und  fördert   So  habe  ich  im  Verlauf  des 

*)  Lese-  und  Übungsbuch  fflr  den  lateinischen  Anfangsunterricht  in  Reformschulen. 
Nach  OstermannB  Lateinischen  Übungsbüchern  bearbeitet  von  Dr.  Fr.  Bahnsch,  Prof.  am 
Kgl.  Gymnasium  zu  Danzig.    (B.  G.  Teubner  1898.) 


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Ed.  Loch:  Ein  Jnhr  lateinischen  Unterricht«  nach  Ostermann-Bahnsch 


453 


Unterrichts  oft  gefunden,  dafs  die  Madchen  manche  Sätze  —  nicht  blofs  Verse  — 
auswendig  behalten  hatten  und  bei  späterem  Vorkommen  derselben  Worte, 
Gedanken  oder  grammatischen  Erscheinungen  von  selbst  anführten,  z.  B.  für 
'dum  so  lange  als':  dum  spiro,  spero  (S.  4a  1);  'es  ist  das  Zeichen,  die  Pflicht 
jemandes*:  generosi  viri  est  etc.  (ibid.  a4);  post  mit  dem  Accusativ:  post  nubila 
Phoebus  (S.  3  c  11);  'man  mufs':  necessitati  parendum  est  (S.  20  d  12);  homo 
proponit,  deus  disponit;  qualis  res,  talis  grex;  quot  capita,  tot  sensus  u.  s.  f. 
Ja,  sie  sprachen  es  sogar  von  selbst  aus,  wie  gerne  sie  die  'hübschen'  Sätze 
übersetzten,  und  übten  sie  auch  ohne  Schwierigkeit  zum  sogenannten  Retro- 
vertieren ein. 

Allerdings  kann  ich  hier  ein  Bedenken  nicht  unerwähnt  lassen,  das  schon 
der  Referent  in  der  Zeitschr.  f.  d.  Gymn.-Wes.  (1898  S.  591/3),  Prof.  Lentz, 
hervorgehoben  hat,  und  das  der  Verfasser  selbst  in  der  Einleitung  S.  V  zurück- 
zuweisen sucht,  dafs  nämlich  bei  der  Fülle  dieser  Sentenzen,  die  auf  den  ersten 
Seiten  ausschliefslich  den  Lesestoff  bilden,  manche  dem  Schüler  zu  schwierig 
sein  könnten  und  daher  der  Lehrer  zu  viel  Zeit  von  der  lateinischen  Stunde 
moralisierend  verbringen  müsse.  Ich  habe  nun  beim  Unterricht  die  Erfahrung 
gemacht,  dafs  viele  Sätze  allerdings  ohne  eingehende  Erläuterung  unverständlich 
bleiben  und  dafs  dem  Lehrer  in  der  That  bisweilen  im  Erklären  abstrakter 
Begriffe  und  Gedanken  und  im  Anführen  konkreter  Beispiele  etwas  zu  viel  zu- 
gemutet wird,  dafs  aber  die  Schülerinnen  dabei  keineswegs  Ermüdung  oder 
Abspannung  zeigten,  sondern  am  Ende  der  Stunde  die  Sentenzen  mit  demselben 
Eifer  erfafsten  wie  beim  Beginn.  Ich  glaube  aber,  dafs  sich  beim  Knaben- 
unterricht  hierin  doch  ein  Unterschied  bemerkbar  machen  würde,  besonders 
infolge  der  Erfahrung,  die  ich  beim  Anfangsunterricht  im  Griechischen  in  III  b 
seit  mehreren  Jahren  gemacht  habe,  und  dafs  Lentzens  Forderung  von  Sätzen 
mit  mehr  konkretem,  historischem  Inhalt  jedenfalls  berechtigt  ist,  wie  ja  z.  B. 
Eaegi  diese  Mischung  in  seinem  griechischen  Übungsbuch  in  durchaus  geschickter 
und  für  die  Praxis  sehr  geeigneter  Weise  durchgeführt  hat.  Welche  nun  frei- 
lich von  den  Sätzen  bei  Bahnsen  zu  Gunsten  solcher  mit  konkreterem  Inhalt 
auszulassen  wären,  darüber  werden  wohl  die  Ansichten  fast  aller  Benutzer  aus- 
einandergehen, dem  einen  wird  dieser,  dem  anderen  jener  Satz  ungeeignet 
erscheinen.  Das  aber  mufs  ich  hier  konstatieren,  dafs  die  zahlreichen  von 
Lentz  a.  a.  0.  gemachten  Athetesen  sich  bei  der  Lektüre  in  der  Klasse  keines- 
wegs als  notwendig  erwiesen  haben;  vielmehr  übersetzten  die  Schülerinnen  die 
allermeisten  der  von  ihm  beanstandeten  Sätze  mit  Leichtigkeit  und  wufsten  sie 
auch  selbst  zu  erklären.  Wenn  etwas  gestrichen  werden  soll,  so  möchte  ich 
vielmehr  eine  Anzahl  Verse  dafür  empfehlen,  die  entweder  aus  dem  Zusammen- 
hang gerissen  schwieriger  zu  erklären  sind  und  später  bei  der  Lektüre  doch 
noch  vorkommen,  oder  wegen  seltener  Vokabeln,  ungewöhnlicher  Wortstellung 
u.  dgl.  dem  Anfänger  unnötige  Schwierigkeiten  bereiten,  z.  B.  S.  5  Stück  b 
Satz  9;  S.  6  a  9;  S.  10  II.  c  5;  S.  13  b  5;  S.  16  b  4;  S.  17  e  1;  S.  18  a  4  (zu 
früh  für  diese  Stufe!);  S.  19  c  7;  S.  25  b  3;  S.  26  f  5  und  6;  S.  26  g  2  (eduxit  — 
edueavit);  S.  28  b  2  (nisi  si);  S.  29  unten  b  4;  S.  30  c  5  (zu  früh!);  S.  37  b  9. 


454         Ed.  Loch:  Ein  Jahr  lateinischen  Unterricht«  nach  Oatermann -Bahnsen 

Hinsichtlich  der  deutschen  Sätze,  die  den  lateinischen  Stücken  dem  gram- 
matischen Stoff  nach  genau  entsprechen,  will  ich  für  eine  neue  Auflage  hier 
dem  Wunsche  Ausdruck  geben,  dafs  sie  sich  im  Vokabelschatz,  namentlich 
anfangs,  etwas  mehr  auf  die  zu  den  lateinischen  Stücken  gelernten  Worte  be- 
schränken möchten.  Der  Schüler  findet  zwar  alle  fremden  Vokabeln  und 
Wortverbindungen  in  dem  mit  musterhafter  Sorgfalt  angelegten  alphabetischen 
deutsch-lateinischen  Wörterverzeichnisse,  doch  hat  er  sich,  besondere  in  den 
ersten  Monaten,  schon  so  viele  Vokabeln  einzuprägen,  dals  noch  weitere  neu 
vorkommende  gar  zu  leicht  Unsicherheit  und  Verwirrung  im  Gedachtnisse 
hervorrufen. 

Das  Vokabellernen  war  überhaupt  im  ersten  Vierteljahr  die  Hauptarbeit 
für  die  Schülerinnen.  Denn  wenn  ich  in  dieser  Zeit  von  9  Wochen  auch  nur 
12  Seiten  des  lateinischen  Textes  (S.  3 — 14),  die  fünf  Deklinationen  und  den 
Indikativ  des  Aktivums  der  vier  Konjugationen  enthaltend,  und  die  deutschen 
Satze  S.  99 — 109  sehr  mit  Auswahl  durchgenommen  habe,  so  waren  doch  dazu 
nicht  weniger  als  99G  Vokabeln,  also  jede  Woche  mindestens  110  Vokabeln  zu 
erlernen  (S.  167 — 186)  —  denn  die  wenigen  klein  gedruckten  werden  doch 
meist  mitgelernt.  Zwar  wurde  das  Behalten  bei  einer  sehr  grofsen  Zahl  durch 
den  steten  Hinweis  auf  das  Französische  oder  auf  deutsche  Fremdwörter  erleichtert, 
aber  dennoch  gehörte  der  ganze  Eifer  für  die  neue  Sprache  und  ein  beständiges 
Wiederholen  dazu,  um  diesen  reichen  Stoff  zu  bewältigen.  Daher  möchte  ich 
für  etwaige  Auslassungen  von  Sätzen  diesen  Gesichtspunkt  der  Vokabelersparnis 
besonders  zur  Berücksichtigung  empfehlen.  In  den  späteren  Abschnitten  wird 
ja  dann  naturgemäfs  die  Zahl  der  Vokabeln  geringer,  so  dafs  sie  sich  im 
zweiten  Vierteljahr  (S.  15—30  =*  186—202)  auf  durchschnittlich  60  in  der 
Woche  und  später  auf  noch  weniger  verminderten.  Übrigens  ist  das  lateinisch- 
deutsche Wörterverzeichnis  aus  äufseren  Gründen  schon  in  einem  zweiten,  ver- 
besserten Abdruck  erschienen. 

Was  nun  noch  die  Verteilung  des  grammatischen  Stoffes  auf  die  Übungs- 
stücke anbetrifft,  so  zeigt  sich  gleich  auf  den  ersten  Seiten  der  umsichtige, 
praktische  Blick  des  Verfassers.  Es  wird  nämlich  gleichzeitig  mit  dem  Erlernen 
der  ersten  und  zweiten  Deklination  sofort  das  ganze  Verbum  esse  und  der 
Indik.  Präs.  Akt.  der  vier  Konjugationen  eingeübt.  Daran  schliefst  sich  noch  der 
Ind.  Impf,  das  Futurum  und  der  Imperativ  des  Aktivums,  und  mit  diesem  geringen 
Material  von  Verbalformen  sind  bis  S.  19  alle  lateinischen  Sentenzen,  klassi- 
schen Citate,  Verse  und  mehrere  zusammenhängende  Stücke  gebildet.  Die 
Aneignung  aller  dieser  Verbalformen  wurde  den  Schülerinnen  sehr  leicht,  und 
nach  3  Wochen  war  das  Pensum  (3  Seiten  lat.  Sätze  mit  c.  330  Vokabeln) 
soweit  befestigt,  dafs  die  dritte  Deklination  begonnen  werden  konnte.  Im 
ersten  Vierteljahr  wurden  so  die  fünf  Deklinationen  (bei  der  dritten  auch  viele 
Genusregeln)  absolviert  (bis  S.  14),  im  zweiten  Vierteljahr  das  übrige  Sextaner- 
pensum mit  manchen  Erweiterungen  (S.  15 — 30),  so  dafs  die  Reife  für  Quinta 
im  Winterhalbjahr  bequem  erreicht  war.  Im  dritten  Vierteljahr  folgten  nun 
die  Deponentia  und  Verba  anomala  —  diese  machten  allerdings  noch  ziemlich 


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Ed.  Loch:  Ein  Jahr  lateinischen  Unterricht»  nach  OBtertnann-Bahnech  455 


viel  Schwierigkeiten  und  sollten  wohl  besser,  wie  bisher,  erst  am  Schlufs  der 
Formenlehre  stehen  —  und  dann  im  zweiten  Kursus  'Unregelmäfsigkeiten  und 
Besonderheiten'  der  fünf  Deklinationen,  wovon  ja  vieles  schon  im  ersten  Kursus 
behandelt  war.  Daneben  wurden  —  die  Hauptarbeit  des  Quintanerpensums  — 
die  sogenannten  unregelmäTsigen  Verba  nach  der  Grammatik  von  Ellendt- 
Seyffert  begonnen  (bei  Bahnsen  bis  S.  48),  die  ich  auch  für  die  Genusregeln 
schon  zu  Grunde  gelegt  hatte,  da  sie  auch  im  ganzen  folgenden  Unterricht 
gebraucht  werden  wird.  Die  kurzen  Regeln  aus  der  Syntax  (Anhang  11) 
wurden  —  besonders  in  der  letzten  Zeit  —  bei  vielen  Satz",  zur  Erklärung 
und  Vorbereitung  auf  Späteres  herangezogen.  °v 

Es  blieben  nun  für  das  kurze  vierte  Quartal  von  Anfang  August  bis  Ende 
September  noch  auf  S.  48 — 61  die  unregelmäTsigen  Verba  der  III.  und  IV.  Konju- 
gation mit  Erweiterungen  aus  der  Formenlehre  der  Komparation,  Pronomina 
und  Zahlen,  sowie  der  Acc.  c.  inf.,  Participialkonstruktionen,  Gerundium  und 
Gerundivum,  so  dafs  im  zweiten  Schuljahr  mit  dem  Pensum  für  Quarta,  der 
KasuBlehre,  begonnen  werden  kann.  Diese  ist  in  den  zusammenhängenden 
Stücken  (S.  62 — 96)  aus  Ostermann-Müllers  Quartateil  verarbeitet;  zur  Ein- 
übung derselben  soll  zugleich  der  bisherige  Teil  für  Tertia  gebraucht  werden. 
Daneben  wird  wohl  schon  im  ersten  Quartal  des  zweiten  Schuljahrs  mit  der 
Cäsarlektüre  begonnen  werden  können. 

Jedenfalls  habe  ich  durch  den  Gebrauch  dieses  Übungsbuchos  beim  Mädchen- 
unterricht die  sichere  Überzeugung  gewonnen,  dafs  sich  dadurch  in  einem  Jahre 
gut  die  Reife  für  die  bisherige  Quarta  erreichen  läfst,  und  kann  es  —  ohne 
ein  Freund  von  Reformgymnasien  zu  sein  —  für  den  Anfangsunterricht  bei 
fortgeschritteneren  Schülern  in  jeder  Hinsicht  empfehlen. 


BERICHT  ÜPER  DIE  SECHSÜNDDREISSIGSTE  VERSAMMLUNG 
DES  vl£^INS  RHEINISCHER  SCHULMÄNNER  (1899) 


Der  Vorsitzende  Geheimrat  Dr.  0.  Jäger  eröffnete  die  von  98  Schulmännern  besuchte 
Versammlung  (in  Köln  am  4.  April). 

Er  erwähnte,  dato  durch  einen  unglücklichen  Zufall  der  Bericht  über  die  letzte  Ver- 
sammlung erst  spät  habe  fertig  gestellt  und  versandt  werden  können  und  bat,  da  bei  der 
Beachtung,  die  unserer  Versammlung  von  vielen  Seiten  geschenkt  werde,  wir  dafür  sorgen 
müTsten,  einen  möglichst  abgeklärten  Bericht  zu  erhalten,  dafs  alle,  die  das  Wort  ergreifen, 
nachher  ein  kurzes  authentisches  Resume*  ihrer  Oedanken  senden  und  dadurch  den  Vor- 
sitzenden und  den  Berichterstatter  von  seiner  schweren  Verantwortung  entlasten  möchten. 
Gern  hätte  ich  Ihnen,  fuhr  er  fort,  einen  Rückblick  geboten  auf  da»,  was  im  vorigen  Jahre 
auf  dem  Gebiet  des  höheren  Unterrichtswesens  geschehen  ist;  der  beschrankten  Zeit  wegen 
begnüge  ich  mich  damit,  Ihre  Aufmerksamkeit  auf  zwei  Punkte  zu  lenken:  1)  dafs  wir 
Stellung  nehmen  müssen  zu  dem  mit  grofser  Wucht  auftretenden  Experiment  des  Reform- 
gymnasiums, und  2)  dafs  wir  uns  überlegen  müssen,  wie  einem  anderen  Übel  nach  und 
nach  zu  begegnen  ist,  der  offenbar  vielfach  vorhandenen  und  mit  einer  steigenden  Tendenz 
behafteten  Überbürdung  der  Lehrer,  die  so  nicht  fortgehen  kann.  Ich  möchte  Ihrer  Er- 
wägung anheimgeben,  ob  jene  Neugestaltung,  die  unter  dem  verlockenden  Namen  des 
Keformgymnasiums  auftritt,  nicht  von  der  fundamental  irrigen  Voraussetzung  ausgeht,  dafs 
unsere  Jugend  auf  möglichst  leichte  und  bequeme  Weise  die  Sprachen  erlerne,  statt  davon, 
was  an  den  Sprachen  gelernt  wird.  Unsere  alte  Einrichtung  beruht  auf  dem  Grundsatz, 
dafs  die  Jugend  unserer  leitenden  Kreise  nachdrücklicher  arbeiten  mufs  als  andere,  und 
dafs  sio  früh  damit  anfangen  mufs. 

Nach  einigen  geschäftlichen  Mitteilungen  und  der  üblichen  Verlesung  der  Namen  der 
Anwesenden  erhält  das  Wort  zu  einem  Vortrage  'über  den  deutschen  Aufsatz  in  Unter- 
sekunda' Oberlehrer  Rick -Kempen:  Wir  alle  werden  Münch  beipflichten,  dafs  auf  dem 
Gebiete  des  deutschen  Aufsatzes  mehr  erreicht  werden  kann,  als  bisher  erreicht  ist  Dazu 
ist  vor  allem  nötig,  dafs  der  Gang  so  systematisch  wie  möglich  sei;  aber  das  ist  sehr 
schwierig,  weil  dieser  Unterricht  rein  geistig  ist  und  der  Routine  widerstrebt.  Besondere 
Bedeutung  hat  der  deutsche  Aufsatz  in  Untersekunda:  wir  müssen  danach  streben,  den 
austretenden  Schülern  eine  Vorstellung  von  wissenschaftlicher  Arbeit  mitzugeben,  und  wiT 
müssen  für  diejenigen ,  die  weiter  studieren ,  das  Gerüst  errichten ,  auf  dem  sie  dann  fort- 
bauen können.  Aus  meiner  mehrjährigen  Praxis  möchte  ich  hier  einige  Erfahrungen  mit- 
teilen; mögen  sie  auch  bereits  Bekanntes  bringen,  so  sind  sie  doch  selbständig  durch- 
dacht und  in  systematischen  Zusammenhang  gebracht,  bo  dafs  ich  hoffen  darf,  dafs  sie 
eine  Grundlage  für  die  Debatte  abgeben  können. 

Welches  Ziel  müssen  wir  uns  in  Untersekunda  stecken?  Wir  dürfen  uns  nicht  mehr 
begnügen  mit  dem  einfachen  Draufloserzählen  wie  in  Unter-  oder  Obertertia;  der  Schüler 
mufs  jetzt  lernen,  einen  gegebenen  Stoff  selbständig  zu  ordnen  und  geordnet  darzustellen. 
Zwar  kann  man  schon  vom  zweiten  Halbjahr  der  Quarta  an  die  Schüler  die  Teile  ihrer 
Arbeit  erkennen  lassen;  aber  das  bat  nur  propädeutischen  Wert.   Der  Geist  des  Schülers 


Von  Burkhard  Geisbler 


B.  Geifsler:  Bericht  über  die  36.  Versammlung  des  Vereins  rheinischer  Schulmänner  457 


auf  dieser  Stufe  ist  noch  nicht  geneigt,  zergliedernd  zu  denken,  die  sprachliche  Fertigkeit 
ist  su  gering. 

Was  können  wir  thun,  um  dieses  Ziel  zu  erreichen?  Wichtig  ist  vor  allem  die  Wahl 
des  Themas  —  wichtig,  aber  auch  sehr  schwierig.  Gerade  die  Schwierigkeit  der  Sache 
ist  daran  schuld,  dafs  so  viel  ungeeignete  Themata  gestellt  werden.  Das  Ideal  wäre,  wenn 
jedes  neue  Thema  einen  Fortschritt  bedeutete  und  alle  zusammen  einen  planmäfsigen 
Stufengang  darstellten.  —  Eigentlich  könnte  ja  jedes  Thema  geeignet  scheinen,  das  dem 
Standpunkt  des  Schülers  entspricht;  aber  im  ganzen  kann  man  vom  Untersekundaner  nur 
verlangen,  dafs  er  bekannte  Vorstellungen  darstelle  und  verknüpfe:  daß  Thema  mufs  aus 
dem  Unterricht  herauswachsen.  Aufserdem  kommt  noch  in  Betracht,  dafs  ihm,  dem 
Gedankenarmen,  Ideen  zugeführt  werden,  die  er  später  weiter  ausbauen  und  verwerten 
kann.  Themata  allgemeiner  Art,  Sentenzenthemata,  eignen  Bich  dazu  im  allgemeinen 
nicht;  sie  sind  nur  dann  anzuwenden,  wenn  sich  sonst  kein  passendes  Thema  bietet.  Der 
Stoff  mufs  dann  ganz  im  Gedanken-  und  Gesichtskreise  des  Schülers  liegen,  auch  lokale 
Anknüpfungen  sind  nicht  zu  verschmähen,  z.  B.  eignet  sich  das  Thema  'Vorteile  des  Land- 
aufenthalt*»' ganz  wohl  für  Schulen  auf  dem  Lande.  Aber  selbst  bei  diesem  Thema  wird 
man  schon,  dafs  es  schwer  ist  manchen  Schülern  die  Verhältnisse  grofser  Städte  so  klar  zu 
machen,  dafs  kein  falsche«  Bild  entsteht.  Schwierigere  Themata  dieser  Art,  z.  B.  'der 
Strom  ein  Bild  des  menschlichen  Lebens'  sind  für  unsere  Schüler  nicht  geeignet.  Der 
Geist  des  Schülers  ist  noch  zu  wenig  gereift,  um  Selbständiges  hervorzubringen,  daher  tritt 
leicht  Stoffmangel  ein. 

Es  wird  sich  danach  empfehlen,  die  Themata  im  allgemeinen  auB  dem  Stoffe  der 
Lektüre:  Minna  von  Barnhelm,  Jungfrau  von  Orleans,  Hermann  und  Dorothea  u.  s.  f.  zu 
wählen.  Aber  damit  sind  noch  nicht  alle  Schwierigkeiten  gehoben:  die  in  den  Ausgaben 
dem  Texte  angehängten  Themata  erweisen  sich  meist  als  ungeeignet,  da  sie  den  geistigen 
Standpunkt  des  Schülers,  seine  sprachliche  Fähigkeit  nicht  richtig  würdigen.  Die  meisten 
Dichtwerke  geben  gar  nicht  so  sem  geeignete  Themata,  und  diese  entdeckt  man  auch 
erst  bei  eingehender  Prüfung.  —  Welcm^  Art  sollen  nun  die  Themata  auf  dieser  Stufe 
sein?  Wir  müssen  eine  Aufgabe  stellen,  die  nicht  mehr  verlangt,  als  erzählend  und 
einfach  beweisend  einen  leicht  zu  teilenden  Stoff  darzulegen.  Themata  erzählender 
Art  müssen  vorherrschen,  die  beweisenden  stellen  mehr  das  Ziel  dar,  dem  man  zustrebt. 
Stelle  ich  z.  B.  das  Thema:  'Wie  entwickelt  sich  das  Geschick  der  Jungfrau  von  Orleans 
nach  der  Anklage  des  Vaters',  so  verläuft  die  Darstellung  in  einfach  erzählender  Form; 
gröfsere  sprachliche  Gewandtheit  erfordert  schon  die  Aufgabe:  'Wie  beweist  Bertran  de 
Born  dem  Könige  seine  geistige  Gröfse?'  Noch  schwieriger  ist  das  Verstehen  und  Dar- 
stellen von  Empfindungen  und  seelischen  Vorgängen;  für  einen  Untersekundaner  ist  dies 
zu  schwierig,  wenigstens  wenn  es  durch  einen  ganzen  Aufsatz  durchgeführt  werden  soll, 
wie  es  folgende  Themata  verlangen:  'Wie  ist  Goethes  Hermann  und  Dorothea  geeignet, 
unser  Naturgefühl  zu  beleben?'  —  'Die  Treue  die  Triebfeder  in  Leasings  Minna  von  Barn- 
helm.' —  Charakterzeichnungen  sind  den  Schülern  nur  bei  wenigen  Personen  möglich,  wie 
bei  dem  Apotheker  oder  bei  dem  Wirte  in  Minna  von  Barnbelm.  Die  Darstellung  aller 
anderen  Personen  erfordert  tieferes  psychologisches  Verständnis  und  gröfsere  Gewandtheit 
des  Ausdrucks,  als  sie  der  Untersekundaner  besitzt.  Daher  sind  nicht  zu  empfehlen  Auf- 
gaben wie  'Sturz  und  Erhebung  der  Jungfrau  von  Orleans' ;  ahnliche  Schwierigkeiten  bietet 
in  seinem  ersten  Teile  'Johanna  in  Rheims'. 

Das  Thema  mufs  ferner  einen  abgeschlossenen  Kreis  darstellen;  dieser  Forderung  ent- 
spricht nicht  das  Thema:  'Der  1.  Gesang  von  Hermann  und  Dorothea'  oder  'Erster  Monolog 
der  Jungfrau  von  Orleans'.  —  Als  KlasBenaufsätze  empfehlen  sich  nur  Aufgaben,  die  eine 
erzählende  Darstellung  verlangen,  damit  Plan  und  Ausführung  sich  leicht  ergeben.  Die 
Auswahl  ist  ziemlich  beschränkt,  da  der  Stoff  dem  Schüler  geläufig  sein  mufs.  Am  besten 
greift  man  allgemeine  Züge  herauf»,  z.  B. :  'Welche  Haupttbatsachen  berichtet  Livius  vor 
dem  Beginn  des  2.  punischen  Krieges?'  'Hannibal  an  der  Rhone'.  'Jobannas  Lebenslauf 
bis  zu  ihrem  ersten  öffentlichen  Auftreten.'    Gelegentlich  kann  man  auch  bei  Klassen- 


458     B.  Geifeler:  Bericht  über  die  36.  Versammlung  de»  Vereins  rheinischer  Schulmänner 

anfsätzen  den  Text  mitbringen  lassen:  freilich  dürfen  die  Schüler  dann  nicht  ahnen,  wie 
das  Thema  lauten  wird.  So  kann  man  Themata  aus  Teilen  der  Lektüre  wählen,  die  nicht 
gerade  in  letzter  Zeit  durchgenommen  sind. 

Ist  das  Thema  entsprechend  gewählt,  so  beginnt  die  eigentliche  Anleitung.  Denn 
allein  kann  es  der  Schüler  noch  nicht.  Am  meisten  lernt  der  8chÜler  durch  zwei  Mittel: 
1)  durch  geschickte  Fragestellung  des  Lehrors;  so  wird  gefunden,  was  zum  Thema  gehört 
und  wie  der  Stoff  zu  ordnen  ist;  2)  durch  Hinweis  auf  gewisse  theoretische  Regeln;  es 
genügt,  wenn  die  Schüler  lernen,  den  Stoff  nach  seiner  inneren  Verwandtschaft  zu  ordnen, 
Verwandtes  unter  einen  höheren  Gesichtspunkt  zu  bringen.  —  In  einfach-praktischer  Weise 
mache  man  die  Form  der  Einleitung  und  des  Schlusses  klar:  die  Einleitung  hat  den  Zweck, 
in  möglichst  kurzer  Weise  zum  Thema  zu  führen,  man  kann  dabei  vom  Gegensatz  oder 
vom  Ähnlichen  ausgehen.  Der  Schlufs  kann  rückblickend  oder  vorausblickend  sein  oder 
einen  gegensätzlichen  Gedanken  enthalten. 

Die  früher  üblichen  Dispositionsübungen  an  Themen  allgemeiner  Art  sind  nichts  für 
Untersekunda;  sie  haben  nur  geringen  Wert  und  nehmen  zu  viel  Zeit  in  Anspruch. 

Auch  bei  Durchsicht  und  Rückgabe  der  Aufsätze  kann  planvolles  Verfahren  Erfolge 
erzielen.  Man  gebe  alle  Aufsätze  auf  einmal  zurück,  wie  jetzt  wohl  allgemein  üblich. 
Vorher  lege  man  zunächst  eingehend  dar,  welche  Fehler  gemacht  worden  sind  bei  der  Ein- 
teilung, in  sachlicher  und  sprachlicher  Hinsicht.  Dann  kann  der  Lehrer  noch  zeigen,  wie 
es  gemacht  werden  sollte,  durch  eine  Skizze,  durch  einen  von  ihm  verfertigten  Muster- 
aufsatz, oder  er  kann  noch  einfacher  den  besten  8chüleraufsatz  mit  seinen  Verbesserungen 
vorlesen.  Jedenfalls  empfiehlt  es  sich,  eine  Musterleistung  zu  geben,  wenn  die  Arbeit  der 
Klasse  wesentlich  nicht  gelungen  ist. 

Die  Korrektur  des  Lehrers  mufs  durch  die  Besprechung  ihre  Ergänzung  und  Begründung 
finden :  der  Schüler  mufs  einsehen,  inwiefern  er  gefehlt  hat,  so  dafs  er  selbständig  verbessern 
kann.  Die  höchste  Vollkommenheit  erreicht  der  Lehrer,  wenn  keine  seiner  Bemerkungen 
vergeblich  ist.  —  Redner  schliefst  mit  den  Worten  Kretschmanns  im  Danziger  Programm 
von  1897,  'dafs  an  keiner  Stelle  des  Gymnasiums  einschneidender  gearbeitet  werden  kann, 
als  bei  diesem  von  ihm  behandelten  Gegenstand'. 

Die  Thesen  lauteten: 

1)  In  ÜB  soll  der  Schüler  systematisch  angeleitet  werden,  zu  einem  gegebenen 
Thema  den  Plan  zu  entwerfen  und  das  Wesen  der  einzelnen  Teile  theoretisch  und  prak- 
tisch kennen  zu  lernen. 

2)  Es  soll  demnach  hier  für  den  Aufsatz  in  höherem  Sinne,  wie  er  auf  den  oberen 
Stufen  dem  Verständnis  erschlossen  wird,  der  Grund  gelegt  werden. 

3)  Systematische  Dispositionsübungen  an  allgemeinen  Themen  sind  wenigstens  auf 
dieser  Stufe  zu  verwerfen. 

4)  Der  Regel  nach  sollen  gerade  auf  dieser  Stufe  die  Themen  dem  Unterrichtsstoffe 
entnommen,  allgemeine  Themen  nur  ganz  ausnahmsweise  zugelassen  werden. 

5)  Der  Plan  des  Aufsatzes  mufs  mit  den  Schülern  vorher  vollständig  besprochen 
werden.  Die  Besprechung  des  Planes  aber  sowie  alles  dessen,  was  mit  dem  Aufsätze 
zusammenhängt,  z.  B.  auch  bei  der  Rückgabe  der  Arbeiten,  empfiehlt  es  sich  so  zu  ge- 
stalten, dafs  dabei  die  Gesichtspunkte  theoretisch  zur  Sprache  und  praktisch  zur  Anwendung 
kommen,  die  für  die  Anfertigung  des  Planes  und  des  Aufsatzes  von  Wichtigkeit  sind. 

6)  Für  die  Anleitung  empfiehlt  es  sich  auch,  bei  der  Besprechung  der  korrigierten 
Arbeiten  in  einer  Skizze  oder  geradezu  in  einem  ausgeführten  Probeaufsatze  den  Schülern 
ein  Muster  zu  geben,  wie  die  Sache  gemacht  werden  mufste. 

1)  Es  empfiehlt  Bich,  für  diese  Stufe  wenigstens,  dem  Lehrer  anheimzustellen,  wenn  er 
es  für  nötig  hält,  die  Schüler  bei  Klassenaufsätzen,  abgesehen  vom  Prüfungsaufsatze,  den 
Text  des  Buches,  aus  dem  er  den  Aufsatz  nimmt,  gebrauchen  zu  lassen. 

8)  Aus  dem  Aufsätze  der  II  B  mufs  vor  allem  die  Darstellung  rein  geistiger  Vor- 
gänge, müssen  ferner  Reflexionen  verlangende  Themen,  demnach  mit  wenigen  Ausnahmen 
auch  Charakterschilderungen  ferngehalten  werden. 


B.  Geifsler:  Bericht  flb«r  die  36.  Versammlung  des  Vereins  rheinischer  Schulmänner  459 


Der  Vorsitzende  dankt  dem  Redner  für  seinen  anregenden  Vortrag  und  schlägt  der 
Versammlung  vor,  für  die  Debatte  irgend  eine  der  Thesen  herauszugreifen,  z.  B.  These  6, 
die,  allerdings  sehr  limitiert,  den  Musteraufsatz  des  Lehrers  empfiehlt.  Er  halte  dies  für 
eine  nicht  ganz  klare  Forderung  unserer  pädagogischen  Nimmersatte.  Was  für  einen  Auf- 
satz solle  der  Lehrer  machen?  Solle  er  zeigen,  wie  ein  gereifter  Mann  das  Thema  be- 
handelt, oder  solle  er  einen  Mosteraufsatz  für  einen  Untersekundaner  machen?  Für  diese 
letztere  Bolle  bekenne  er  nicht  genug  dramatisches  Talent  zu  haben.  —  Früher,  vor  dem 
groben  Schiffbruch,  habe  es  eine  Sammlung  lateinischer  Musteraufsätze  gegeben,  die  er 
immer  bewundert  habe,  weil  sie  nicht  etwa  gute  Aufsätze  enthalten  habe,  wohl  aber  muster- 
hafte Mittt'lmäisigkeitaaufKätze.  Wer  sich  an  diesem  Buche  gebildet,  der  habe  schliefslich 
so  arbeiten  können  oder  müssen,  dafs  der  Korrektor  immer  den  Aufsatz  mit  genügend  be- 
zeichnen mufste,  niemals  aber  mit  gut. 

Er  habe  aber  noch  einen  tieferen  Grund:  wir  müfsten  fürchten,  die  Individualität  des 
Schülers  zu  knicken  und  zu  ersticken,  wenn  wir  ihm  zuviel  von  unseren  eigenen  Gedanken 
aufzwangen.  Diese  Gefahr  liege  vor  bei  zu  eingehender  Besprechung  der  Disposition,  nament- 
lich aber  beim  Musteraufsatze,  sofern  derselbe  einen  rcgHmufsigen  Bestandteil  schnlmäfsiger 
Aufsatzbehandlung  bilde. 

Direktor  Brüll-Prüm  ist  betreffs  des  Musteraufsatzes  ganz  anderer  Ansicht  als  der 
Vorsitzende.  Er  glaube,  gerade  auf  diese  Weise  den  Schüler  erheblich  fördern  zu  können, 
indem  er  ihm  an  einem  lebendigen  Beispiele  zeige,  wie  der  Aufsatz  disponiert  nein  müsse, 
und  wie  die  einzelnen  Teile  logisch  verknüpft  werden  sollten.  Er  halte  den  Musteraufsatz 
für  die  Krönung  der  Korrektur.  Freilich  müsse  sich  der  Lehrer  dabei  auf  den  Standpunkt 
des  Schülers  herablassen;  aber  müsse  er  das  nicht  immer  thun,  im  Unterricht  und  bei 
der  Vorbereitung?  Schliefslich  empfiehlt  er  noch,  sich  wo  möglich  für  das  ganze  Schul- 
jahr Themata  zu  überlegen,  damit  sie  sich  untereinander  zu  einer  Einheit  zusammen- 

•  I  •    r»  . 
!»CL1 1 1 1 1  St.  D . 

Prof.  V olckm an n- Düsseldorf  möchte  gern  erfahren,  ob  die  Mehrzahl  der  Anwesenden 
die  systematischen  Dispositionsübungen  für  zwecklos  halte  oder  nicht.  Er  sei  dagegen, 
weil  er  in  Tertia  von  einem  Oispositionarius  schrecklichster  Art  gequält  worden  sei.  Er 
beschranke  in  seiner  Praxis  solche  Übungen  auf  die  Aufsätze,  stelle  das  Thema  so,  dafs 
die  Einteilung  möglichst  klar  sei,  lasse  sich  dann  die  Disposition  von  den  Schülern  ein- 
reichen und  korrigiere  sie,  ehe  die  Schüler  mit  der  Ausarbeitung  begännen. 

Direktor  Evers- Barmen  hat  es  einmal  mit,  ein  andermal  ohne  Musteraufsatz  ver- 
sucht und  keinen  wesentlichen  Unterschied  gefunden;  er  möchte  ihn  deshalb  dem  Lehrer 
nicht  als  verbindlich  auferlegen.  Wolle  man  ihn  einführen,  so  rate  er,  ihn  nach  der 
Korrektur  der  Schülerhefte  anzufertigen.  Was  Dispositionsübungen  anlange,  so  halte  er  es 
für  ganz  belebend,  wenn  man  sich  von  den  Schülern  Themata  angeben  lasse  und  dann  in 
kurzer  Zeit  mit  der  Klasse  den  springenden  Punkt  und  die  Hauptgliederung  zu  finden  suche.  — 
Zu  These  8  meint  er,  dafs  gerade  das  Beweisende  für  die  Klasse  geeignet  sei;  die 
8chüler  müfsten  aus  dem  Erzählungsstil  übergehen  in  den  einfachen  Darstellungsstil,  müfsten 
lernen,  sich  im  Präsens  und  Perfektum  auszudrücken.  —  Rein  geistige  Vorgänge  müsse  der 
Lehrer  bei  Auswahl  der  Themata  an  Thataacben  anknüpfen,  das  genus  rationale  mit  dem 
gen  us  historicum  verbinden,  wie  dies  Kretschmann  in  seinen  beiden  Programmen  thue. 

Direktor  Cau er- Düsseldorf  empfiehlt  Anfertigung  eines  Musteraufaatzes  und  hebt  dann 
besonders  die  Wichtigkeit  der  Disposition  hervor,  die  bei  jeder  Rede,  jedem  Aufsatze 
die  Hauptsache  sei;  auch  blofse  Dispositionsübungen  empfiehlt  er  in  oberen  Klassen,  weil 
dadurch  die  Zahl  der  Themata  wesentlich  vermehrt  werde.  Allerdings  dürfe  man  den 
Schülern  keine  Disposition  aufzwingen,  auch  nicht  zuviel  Unterabteilungen  verlangen. 

Die  Untersekunda  hält  er  mit  dem  Vorredner  für  die  Stufe,  auf  der  man  dem  Schüler 
das  ewige  Erzählen  abgewöhnen,  ihn  von  dem  natürlichen  Triebe  der  Sprache  frei  machen 
soll.  Die  Themata  seien  so  zu  wählen,  dafs  in  den  Aufsätzen  Darstellung  und  Beweis 
verbunden  werden  müsse,  z.  B.:  rEs  wächst  der  Mensch  mit  seinen  gröfseren  Zwecken,  nach- 
gewiesen an  Hermann  und  Dorothea.*    Selbst  einfachere  Charakteristiken  seien  nicht  ganz. 


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460    B.  Geifsler:  Bericht  über  die  36.  Versammlung  de»  Vereins  rheinischer  Schulmänner 


abzulehnen,  z.  B.  'Vergleichung  der  beiden  Freier  Eurymachus  und  Antinous'  oder  »Ver- 
treter der  Kantone  in  Wilhelm  Teil'. 

Provinzialschulrat  Matthias:  Den  Musteraufsatz  soll  man  weder  so  machen,  wie  ihn 
ein  Erwachsener,  noch  wie  ihn  ein  Sekundaner  schreiben  würde.  Aua  den  Aufsätzen  einer 
ganzen  Klasse  läfst  sich  aber  sehr  wohl  ein  Musteraufsatz  zusammenstellen;  so  scheinen 
auch  einige  der  von  Kretschmann  veröffentlichten  entstanden  zu  sein.  —  Zu  These  3  bemerkt 
er,  dafs  der  Schüler  auch  in  zahlreichen  anderen  Fachern  Gelegenheit  hat,  sich  im  Dis- 
ponieren zu  üben.  —  Im  übrigen  erklart  er,  dafs  er  es  für  verkehrt  halte,  den  Unter- 
Rekundanern  daB  Erzählen  abzugewöhnen.  Lernen  müssen  sie  blofs,  das  Nebensachliche 
abzustreifen.  Dabei  braucht  man  die  Reflexion  nicht  anszuschliefsen,  man  kann  z.  B.  eine 
Charakteristik  in  erzählender  Form  geben  lassen. 

Nach  erläuternden  Bemerkungen  des  Berichterstatters  und  der  Direktoren  Cauor  und 
Brüll  wird  die  Verhandlung  auf  eine  halbe  Stunde  unterbrochen. 

Nach  der  Pause  schlägt  der  Vorsitzende  vor,  sich  jetzt  dem  zweiten  Gegenstände 
zuzuwenden,  obwohl  das  erste  Thema  noch  eine  Fülle  von  Diskutierstoff  biete,  und  erteilt 
das  Wort  Oberlehrer  Dr.  Wiesenthal -Barmen  zu  einem  Vortrage  'Über  einige  Fragen 
der  Untcrrichtsverteilung'.    Dieser  führt  aus: 

Es  sind  keine  neuen  Fragen,  deren  Besprechung  ich  hier  anregen  mochte;  aber  sie 
werden  gerade  jetzt  in  den  Kreisen  jüngerer  Amtsgenossen  vielfach  und  lebhaft  erörtert, 
so  dafs  es  wünschenswert  erscheint,  dafs  sich  etwas  von  dieser  Strömung  auf  der  Oberfläche 
bemerkbar  mache.  In  Bezug  auf  den  Lehrstoff  bewegen  sich  meine  Vorschläge  auf  dem 
Boden  des  Gegebenen,  erstreben  aber  gröfeere  Rücksichtnahme  auf  die  Persönlichkeit 
des  Lehrers  wie  anch  der  Schüler. 

Allgemein  sind  die  Klagen  Über  die  Zersplitterung  der  geistigen  Thiitipkeit  anf  unseren 
höheren  Schulen;  darum  ist  es  wünschenswert,  dafs  die  Schulleitungen  mehr  als  bisher  für 
Konzentration  des  Unterrichtes  durch  die  Persönlichkeit  des  Lehrers  sorgen  und  dadurch 
die  erziehliche  Wirkung  der  Schule  fördern.  Zu  wirklich  dauerndem  Lehrerfolge  gehört 
eine  erzieherisch  wirkende  Persönlichkeit;  zur  Zeit  aber  besteht  die  Gefahr,  dafs  die 
Wirksamkeit  der  Persönlichkeit  gehemmt  wird  durch  die  Ansprüche  der  Lehrstoffe.  Das 
kritisierende  Publikum,  die  amtlichen  Lehrpläne,  die  Aufsichtsbehörden  verlangen  in  erster 
Linie  nachweisbare  Leistungen;  hinter  diesen  treten  dann  zu  leicht  die  Imponderabilien 
zurück,  und  doch  ist  das  Höchste,  Letzte  der  Schule  ein  Imponderabile:  die  Wirkung  der 
reiferen  Persönlichkeit  auf  die  Bich  bildende. 

Auch  die  neuen  Aufgaben  der  Schule  drangen  dahin,  die  Leistungen  zu  steigern;  man 
vcrgifst  anscheinend  oft,  dafs  es  bei  jedem  Unterricht  hauptsächlich  auf  das  Wie,  auf  den 
Weg  zum  Ziele  ankommt.  Vor  allem  aber  birgt  das  Spezialistentum  grofse  Gefahren  für 
die  Bildung  der  Persönlichkeit;  Abhilfe  soll  da  die  gepriesene  'Konzentration  des  Unter- 
richtes' bringen.  Aber  bo  viel  Schönes  darüber  auch  geschrieben  worden  ist,  Erfolg  wird 
man  erst  dann  verspüren,  wenn  man  den  verschiedenen  Unterrichtsfächern  einen  lebendigen 
Mittelpunkt  in  der  Person  des  Lehrers  giebt.  Daher  lautet  meine  1.  These:  'Es  ist 
wünschenswert,  dafs  auf  unseren  höheren  Schulen  Massnahmen  bei  der  UnterrichUverteilung 
getroffen  werden,  die  geeignet  sind,  die  Wirkung  einer  Lehrerpersönlichkeit  auf  Schüler- 
persönlichkeiten zu  fördern.' 

Der  Schüler,  der  in  die  Sexta  eintritt,  hat  sich  nicht  nur  in  völlig  neue  Unterrichts- 
fächer hineinzufinden,  sondern  er  bekommt  statt  eines  Lehrers  deren  b — 7,  weshalb 
nervöse,  schüchterne  und  verschlossene  Naturen  sich  nur  schwer  einleben.  Daher  ist  es 
gut,  wenn  der  Ordinarius  möglichst  wenig  Nebensonnen  hat,  wenn  er  z.  B.  im  Gymnasium 
selbst  mit  Latein,  Deutsch,  Religion,  Geographie  bedacht  ist,  während  ein  zweiter  Lehrer 
Rechnen  und  Naturbeschreibung,  ein  dritter  die  technischen  Fächer  übernimmt.  Am  be- 
denklichsten ist  die  Zersplitterung  des  Unterrichtes  in  den  Mittelklassen.  Durch  welche 
Wissensgebiete  wird  nicht  ein  Tertianer  getummelt!  Daher  stellen  sich  hier  Stumpfsinn 
und  Fahrigkeit  oft  auch  bei  solchen  Schülern  ein,  deren  Leistungen  in  den  unteren  Klassen 
Besseres  hätten  erwarten  lassen.   Je  mehr  Lehrer  aber,  desto  mehr_Zersplitterung,  desto 


B.  Geifsler:  Bericht  Aber  die  36.  Versammlung  de«  VereinB  rheinischer  Schulmanner  461 


weniger  Vertiefung;  denn  der  Schüler  hat  auf  dieser  Stufe  noch  keine  ausgesprochene 
Neigung  für  ein  Fach,  er  arbeitet  für  diesen  oder  jenen  Lehrer.  Daher  gebe  man  dem 
Ordinarius  möglichst  viele  Stunden  in  seiner  Klasse  —  Abwechselung  bietet  die  bunte 
Menge  des  Stoffe«  schon  zur  Genüge  —  dann  wird  der  Gang  des  Unterrichtes  ruhiger 
werden  und  der  Lehrer  auf  Grund  seiner  vielseitigen  Kenntnis  des  Schülers  die  Möglichkeit 
haben,  erzieherisch  auf  seine  Klasse  einzuwirken.  Auch  der  Fachlehrer  wird  bei  dieser 
Verteilung  der  Stunden  nicht  zu  kurz  kommen:  er  findet  die  Schüler  weniger  abgespannt 
und  zerstreut,  seine  Stunde  und  seine  Person  bringen  Abwechselung. 

Auch  ihm  ist  es  übrigens  zu  gönnen,  dafs  er  in  einer  Mittelklasse  mehr  als  blofs  ein 
Fach  gebe,  damit  er  Gelegenheit  zu-  mehrseitiger  Beobachtung  der  Schüler  hat. 

In  den  Oberklassen  ist  die  Vereinigung  mehrerer  Fächer  in  der  Hand  des  Ordinarius 
nicht  Bo  leicht  durchführbar,  aber  auch  nicht  so  notwendig.  Der  Schüler  ist  selbständiger 
und  daher  widerstandsfähiger  gegen  verschiedene  Einflüsse. 

Daher  lautet  die  2.  These:  Es  ist  wünschenswert,  dafs  der  Ordinarius  in  den  unteren 
und  mittleren  Klassen  über  die  Hälfte  der  wissenschaftlichen  Stunden  in  seiner  Hand 
vereinige. 

Es  läfst  Bich  nicht  leugnen,  dafs  unsere  Klassenstufen  zu  sehr  isoliert  sind;  man  kommt 
zu  wenig  auf  das  Pensum  des  Vorjahres  zurück,  und  doch  ist  die  selbständige  Wiederholung 
früheren  Unterrichtsstoffes  die  beste  Anleitung  zu  selbständigerer  Arbeit.  Das  wird  aber 
sehr  erleichtert,  wenn  der  Lehrer  mehrere  Jahre  mit  seiner  Klasse  aufrückt.  Auch  sonst 
liegen  die  Vorteile  des  Anfrückens  auf  der  Hand:  der  Lehrer  kennt  die  einzelnen  Schüler 
wie  den  Klassencharakter  viel  intimer  als  durch  Mitteilungen  seines  Vorgängers,  er  hat 
auch  die  Gelegenheit,  mehr  Fühlung  mit  den  Eltern  zu  nehmen.  —  Der  einzige  berechtigte 
Einwand  ist  der,  dafs  es  eine  Ungerechtigkeit  sei,  einer  Klasse  mehrere  Jahre  einen  guten, 
der  anderen  einen  schlechten  Ordinarius  zu  geben.  Doch  ist  hier  gröfste  Vorsicht  am 
Platze;  oft  heilst  es  'schlecht'  oder  'nicht  geeignet',  wo  es  blofs  heifsen  dürfte  'nicht  nach 
meinem  Geschmacke'  oder  'reitet  nicht  mein  Steckenpferd'.  Nur  bei  zweifelloser  Unfähig- 
keit ist  es  geboten,  ein  Mitglied  des  Lehrerkollegiums  möglichst  unschädlich  zu  machen; 
sonst  lasse  man  dem  Lehrer,  der  doch  auch  ein  Mensch  ist,  sozusagen,  die  Freude,  eine 
gewisse  Vollendung  seiner  Arbeit  zu  sehen.  Eb  wird  ihm  das  Gefühl  der  Verantwortlichkeit 
schürfen  und  ihm  ein  mächtiger  Antrieb  zu  fortgesetzter  Selbsterziehung  sein.  Fraglich 
ist  blofs,  wie  viele  Jahre  die  Klasse  unter  Leitung  desselben  Ordinarius  bleiben  soll;  man 
hat  früher  die  Formel  aufgestellt:  nicht  unter  zwei,  nicht  über  vier  Jahre;  man  hat  neuer- 
dings am  Barmer  Gymnasium  den  Versuch  gemacht,  Klassen  von  Sexta  bis  Untersekunda 
demselben  Ordinarius  zu  lassen.  Einen  Vorteil  hat  allerdings  ein  solcher  Jahrgang,  dafs 
er  nämlich  kindlicher  und  zutraulicher  bleibt  oder  bleiben  kann.  Doch  habe  ich  das  Ge- 
fühl, dafs  eine  Zeit  von  sechs  Jahren  selbst  für  einen  guten  Lehrer  zu  hing  sei.  Allzuleicht 
kommt  der  Ordinarius  zu  denselben  Empfindungen,  wie  wir  sie  bei  den  Eltern  tadeln:  der 
eine  verliebt  sich  in  seine  Klasse,  der  andere  fafst  alles,  was  seine  Kluse  verbricht,  als 
persönliche  Beleidigung  auf.  Sollte  die  Vorliebe  für  die  eigenen  Schüler  dahin  führen,  dafs 
zu  wenig  sitzen  gelassen  werden,  so  darf  man  wohl  an  eine  Verfügung  erinnern,  die  es 
den  Direktoren  zur  Pflicht  macht,  gegen  allzugrofse  Milde  einzuschreiten.  8ollte  dagegen 
ein  Ordinarius  seine  Klasse  mit  allzuscharfem  Besen  reinigen  wollen,  um  sie  zur  Muster- 
klasse zu  machen,  dann  braucht  man  den  Direktor  nicht  ans  Einschreiten  zu  erinnern;  dann 
thut  er's  schon  von  selber.  —  Die  8.  These  lautet  also:  Es  ist  wünschenswert,  dafs  jeder 
Ordinarius  mit  seiner  Klasse  mehrere  Jahre  aufrücke. 

Dieselben  Gründe  sprechen  natürlich  auch  dafür,  dafs  dio  Fachlehrer  mehr  als  ein  Jahr 
den  Unterricht  bei  denselben  Schülern  behalten.  Es  läfst  sich  nicht  immer  ermöglichen,  sie 
mit  mehr  als  einem  Fache  in  derselben  Klasse  zu  beschäftigen;  gerade  ihnen  sollte  daher 
Gelegenheit  gegeben  werden,  durch  länger  dauernde  Beobachtung  den  einzelneu  Schüler 
als  Menschen,  nicht  blofs  als  guten  oder  schlechten  Mathematiker  kennen  zu  lernen.  Auch 
die  Leistungen  der  Schüler  werden  durch  Vermeidung  des  Wechsels  ohne  Überlastung 
gesteigert.   Man  kann  zweifeln,  ob  bei  einem  Wechsel  von  guten  und  minder  guten  Lehrern 


462     B  Geifsler:  Bericht  über  die  36.  Versammlung  des  Vereins  rheinischer  Schulmänner 

nicht  schließlich  dasselbe  herauskommt,  als  wenn  eine  Lehrkraft  zweiten  Ranges  sich  mit 
einem  Cötus  völlig  einarbeiten  kann;  unzweifelhaft  aber  ist  bei  dem  Wechsel  die  Arbeitslast 
des  Lehrers  gröfser.  Wie  lange  der  Fachlehrer  mit  aufrücken  «oll,  läfst  sich  am  besten 
aus  dem  Unterrichtsstoff  seines  Faches  ersehen;  es  ergeben  sich  da  gröfsere  natürliche 
Gruppen,  die  mehr  als  ein  Jahr  umfassen.  So  sollte  z.  B.  der  Anfangsunterricht  im  Fran- 
zösischen, der  Geschichtsunterricht  in  den  Tertien,  das  Griechische  von  Untertertia  bin 
Untersekunda  stets  in  derselben  Hand  bleiben;  in  den  Oberklaasen  bildet  fast  aller  Unter- 
richt in  den  Primen  eine  natürliche  Gruppe. 

Die  4.  These  könnte  also  so  gefafst  werden:  Es  ist  wünschenswert,  dafs  der  Unterricht 
an  die  Fachlehrer  nach  sachlichen,  mehr  alB  ein  Schuljahr  umfassenden  Gruppierungen 
verteilt  werde. 

Ihren  besonderen  Haken  hat  die  Unterrichtsverteilung  für  die  oberen  Klassen.  Die 
beati  possidentes  sehen  in  dem  Wunsch  jüngerer  Kollegen,  Unterricht  in  Prima  zu  be- 
kommen, vielfach  eine  lächerliche  oder  gar  pietätlose  Anmabung.  Beruhte  dies  Streben 
auf  der  Ansicht,  dafs  der  Unterricht  in  Prima  wichtiger,  vornehmer  oder  gar  schwieriger 
sei,  so  würde  ihm  allerdings  jede  Berechtigung  fehlen.  Aber  diese  Auffassung  findet  sich 
doch  nur  vereinzelt  bei  der  jüngeren  Generation,  die  auf  die  erzieherische  Seite  ihrer 
Thätigkeit  den  Hauptwert  legt.  Jeder,  der  gleichzeitig  Unterricht  in  oberen  und  unteren 
Klassen  hat,  erkennt  leicht,  dafs  der  Unterricht  in  Prima  erheblich  leichter  ist:  er  erfordert 
geringere  Anstrengung  der  Sprachorgane,  geringere  Willensanspannung,  und  ist  auch  in 
didaktischer  Beziehung  entschieden  leichter.  Man  sollte  also  aufhören,  diesen  Unterricht 
als  besondere  Auszeichnung  zu  behandeln,  vielmehr  danach  streben,  jeden  Lehrer  mit  dem 
Unterricht  zu  belehnen,  für  den  er  Bich  besonders  geeignet  zeigt.  Leider  aber  ist  der 
Primaunterricht  vielfach  daB  Monopol  des  Alters.  Tausende  ehemaliger  Primaner  können 
Zeugnis  davon  ablegen,  wie  abstumpfend  jahrzehntelanges  Betreiben  desselben  Gegenstandes 
■  auf  den  Lehrer  wirkt  und  wie  verstimmt  und  verstimmend  schliefslich  die  alte  Leier  ist 
(Zwischenruf:  Bravo!  da  capo!)  Die  Zahl  der  aufserordentlichen  Männer,  die  bei  demselben 
Unterricht  stets  frisch  und  anregend  bleiben,  ist  nicht  grofs. 

Es  ist  ganz  in  der  Ordnung,  dafs  ältere  Lehrer,  soweit  sie  dazu  geeignet  sind,  vor- 
wiegend den  Unterricht  in  den  Oberklassen  erteilen;  aber  die  jüngeren,  denen  der  härteste 
Teil  der  Aufgabe  bleibt,  die  nervenaufreibende  Arbeit  in  den  unteren  und  mittleren 
Klassen,  sollten  doch  auch  dazwischen  einen  Unterricht  bekommen,  der  sie  zu  wissenschaft- 
licher Thätigkeit  anregt.  Sonst  sind  sie  in  Gefahr,  sich  bis  zum  Stumpfsinn  abzumatten 
und  früh  kränkliche  Pedanten  zu  werden. 

Auch  vom  Standpunkte  der  Schüler  aus  empfiehlt  sich  dies;  auch  dem  Primaner  int 
eine  Unterbrechung  des  trockenen  Tones  zu  gönnen.  Die  lebhafte  Antipathie  vieler  ehe- 
maliger Gjmnasial-Abiturienten  gegen  das  humanistische  Gymnasium  ist  verschuldet  durch 
den  Unterricht,  den  diese  Männer  genossen  haben.  Hat  man  es  doch  sogar  als  Vorzug 
des  Unterrichtes  in  klassischen  Sprachen  gerühmt,  dafs  er  langweilig  sein  dürfe,  ohne 
viel  an  Wirksamkeit  einzubüßen.  Wenn  das  je  der  Fall  gewesen  ist,  so  ist  es  heute  nicht 
wahr.  Heute  gilt  es,  von  dem  blofsen  Altersanspruch  abzusehen  und  die  beste  Kraft  auf 
dem  bedrohten  Punkte  zu  verwenden.  Ebenso  notwendig  ist  ob  aber,  dafs  auch  ältere 
Lehrer  gelegentlich  in  Mittel-  und  Unterklassen  unterrichten,  einmal  um  Bich  vor  aus- 
geleiertem Schlendrian  zu  bewahren,  dann  aber  anch,  damit  sie  den  richtigen  Malsstab  für 
die  Beurteilung  der  jetzt  möglichen  Leistungen  finden.  Nach  den  grofsen  Veränderungen 
des  Lehrplanes  sollte  eigentlich  jeder  altphilologische  Lehrer  darum  gebeten  haben  oder 
bitten,  wieder  einmal  in  den  Mittelklassen  unterrichten  zu  dürfen,  um  zu  wissen,  was  jetzt 
noch  geleistet  werden  kann. 

Darum  heifst  die  G.  These:  Es  ist  wünschenswert,  dafs  in  den  oberen  Klassen  anch 
jüngere,  in  den  mittleren  auch  ältere  Lehrer  beschäftigt  werden. 

Von  der  Durchführung  meiner  Vorschlage  verspreche  ich  mir  eine  Förderung  des 
erzieherischen  Charakters  unserer  höheren  Schulen;  freilich  weifs  ich,  dafs  keine  Malsregel 
in  der  Welt  der  Schule  fruchtbringend  ist,  wenn  es  die  ausführenden  Persönlichkeiten  an 


i 


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B.  Geifsler:  Bericht  über  die  36.  Versammlung  des  Vereins  rheinischer  Schulmänner  463 


sich  fehlen  lassen.  Aber  soviel  ich  sehe,  ist  guter  Wille  überreichlich  vorhanden  Für 
Zustimmung  und  Belehrung  gleich  dankbar,  schliefse  ich  mit  den  Worten  des  Horaz: 

si  quid  novisti  rectius  iBtis, 
Candidus  imperti;  si  nil,  his  utere  mecum. 

Der  Vorsitzende  dankt  für  den  Vortrag,  der  ein  wichtiges  Gebiet  unseres  Schullebens 
von  den  verschiedensten  Seiten  beleuchtet  habe.  Fraglich  sei  ihm  allerdings,  ob  die  auf- 
gestellten Grundsatze  in  der  Praxis  durchführbar  seien;  die  einzelnen  Lehrer  seien  so  ver- 
schieden wertig,  dafs  es  ein  grofses  Unrecht  wäre,  die  eine  Klasse  mehrere  Jahre  dem  bessereu 
zu  geben,  die  andere  dem  anderen  zu  überlassen.  Im  Leben  und  Organismus  der  Schule 
hänge  aber  alles  so  eng  zusammen,  dafs  oft  ein  Schlag  tausend  Verbindungen  treffe  und 
die  ganze  schöne  Organisation  verderbe. 

Die  Thesen  fafsten  den  Inhalt  des  Vortrages  gut  zusammen,  aber  diskutabel  seien  sie 
nicht,  weil  sie  sehr  wahr  seien.  Indem  er  sich  bemühe,  einen  diskutierbaren  Punkt  zu 
finden,  stofse  er  auf  die  3.  These.  Gewifs  sei  es  wünschenswert,  dafs  der  Lehrer  längere 
Zeit  mit  seiner  Klasse  aufrücke;  es  frage  sich  nur,  wie  lange.  Und  da  sei  er  nicht  der 
Meinung,  dafs  sich  hier  keine  bestimmte  Grenze  finden  lasse.  Er  würde  in  der  Kegel  die 
Schüler  nicht  über  zwei  Jahre  in  derselben  Hand  lassen;  denn  auch  der  beste  Lehrer  werde 
den  jüngeren  Schülern  etwas  leid,  es  müsse  etwas  Neues  hineinkommen.  Unter  dem  vielen 
Guten,  was  man  auf  der  Schule  nicht  nur  lerne,  sondern  erlebe,  sei  das  Beste  die  Ein- 
wirkung der  verschiedenen  Persönlichkeiten. 

Er  schlage  daher  als  Amendement  den  Zusatz  zur  3.  These  vor:  'doch  im  allgemeinen 
nicht  über  zwei  Jahre'. 

Direktor  Zahn -Mors  ist  im  wesentlichen  mit  dem  Vorsitzenden  einverstanden,  schlägt 
aber  vor,  gar  nicht  zu  diskutieren,  um  noch  den  3.  Punkt  der  Tagesordnung  zu  erledigen. 

Der  Vorsitzende  stellt  den  entsprechenden  Antrag  und  ändert  ihn  auf  den  Wider- 
spruch von  Volckmann  -  Düsseldorf  dahin  ab,  dafs  die  Thesen  dem  Ausschufs  für  die  Vor- 
bereitung der  nächsten  Versammlung  überwiesen  werden  sollen,  damit  diese  eventuell  darüber 
in  Diskussion  eintreten  kann.    Der  Antrag  wird  angenommen. 

Darauf  nimmt  der  Vorsitzende  das  Wort  zu  einem  Bericht  über  den  letzten 
Historikertag: 

Von  der  letzten  Versammlung  habe  ich  mir  die  Hände  stärken  lassen  zu  meinem 
Referat  über  die  Frage:  Wie  sollen  künftige  Geschichtslehrer  vorbereitet  werden?  Besonders 
handelte  es  sich  um  die  These,  dafs  die  wünschenswerteste  Vorbildung  das  humanistische 
Gymnasium  sei.  Dieser  Satz  wurde  von  dem  Historikertag  ausgeschaltet,  und  mein  Kor- 
referent, Direktor  Vogt  von  Nürnberg,  betonte  mit  Nachdruck,  dafs  Real-  und  Reform- 
gymnasium ebensogut  vorbereiten  könnten. 

In  dem  Bestreben,  möglichst  kurz  zu  sein,  möchte  ich  der  Versammlung  nur  zwei 
Hauptpunkte  vortragen,  die  mir  die  wichtigsten  zu  sein  scheinen.  Einmal  trat  mir  als 
wichtig  entgegen,  dafs  auf  diesem  Historikertag  sich  ein  fruchtbarer  Verkehr  zwischen  der 
gelehrten  Wissenschaft  und  der  Schulpraxis  angebahnt  hat  und  auch  prinzipiell  angenommen 
worden  iBt.  Ich  empfehle  dringend,  sich  künftig  nach  Möglichkeit  an  diesen  Tagen  zu 
beteiligen.  Es  ist  von  ungeheurem  Werte  für  die  Männer  der  Praxis,  ein  paar  Tage  lang 
den  ganzen  Strom  der  Wissenschaft  an  sich  vorbeirauschen  zu  lassen;  aber  auch  für  die 
Universitätslehrer  ist  es  von  gröfster  Wichtigkeit,  dafs  auch  Fragen  des  geschichtlichen 
Mittelschulunterrichtes  behandelt  werden.  Die  Thesen  haben  im  ganzen  Beifall  gefunden; 
doch  eine  Art  von  Widerspruch  trat  schärfer  hervor,  die  eino  tiefere  Gefahr  erkennen  lafst. 
Mein  Korreferent  stellte  die  These  auf:  'Der  künftige  Geschichtelehrer  hat  ein  vierjähriges, 
der  Geschichte  gewidmetes  Studium  durchzumachen  und  hat  seine  Befähigung  durch  zwei 
Prüfungen  nachzuweisen'.  Das  ist  doch  eine  sehr  ideologische  Forderung!  —  In  derselben 
Richtung  bewegte  sich,  was  Professor  Zwidineck-Südenhorst  mit  Nachdruck  aufstellte:  Ge- 
schichte sei  ein  Hauptfach  und  als  solches  zu  behandeln.  Er  stellte  sogar  eine  Reform 
des  Gymnasiums  auf  dieser  Grundlage  in  Aussicht.  Wir  inufsten  betonen  und  wurden  auch 
uoterstützt,  dafs  der  Ausdruck  Haupt-  und  Nebenfächer  irreführend  sei,  dufa  jedes  Fach 


464     B.  GeifBler:  Bericht  über  die  36.  Versammlung  des  Vereins  rheinischer  Schulmänner 

an  seiner  Stelle  gleichen  Wert  habe,  dafs  aber  doch  unterschieden  werden  müsse  zwischen 
dem,  was  der  Geschichtsunterricht  als  solcher  bietet,  und  dem,  was  jeder  andere  Unterricht 
an  geschichtlichen  Kenntnissen  dem  Schaler  zufahrt  In  diesem  Kampf  mit  dem  Spezialisten- 
tum fand  die  Versammlung  den  richtigen  Ausweg  auf  Veranlassung  von  Prof.  Kaut  mann 
in  Breslau,  der  selbst  25  Jahre  Gymnasiallehrer  gewesen  ist;  Vogts  These  wurde  also  dahin 
gemildert:  es  sei  wünschenswert,  dafs  der  Geschichtsunterricht  auch  an  Gymnasien  von 
fachmännisch  gebildeten  Lehrern  erteilt  werde. 

Diese  zwei  Punkte  scheinen  mir  die  Hauptsache  zu  sein:  1)  Es  ist  erfreulich,  dafs  sieb 
auf  diesem  Gebiete  die  Männer  der  Hochschule  und  der  Mittelschule  zusammengefunden 
haben;  2)  es  ist  erfreulich,  dafs  es  gelungen  ist,  das  Spezialistentum  zurückzudrängen,  das 
uns  au  allen  Ecken  und  Enden  bedroht. 

Gern  würde  ich  Ihnen  noch  erzählen  von  einer  Versammlung  des  Vereins  württem- 
bergischer  Lehrer,  der  ich  beigewohnt  habe,  aber  die  Zeit  drängt.  Besonders  hat  mir  dabei 
gefallen,  dafB  der  8ondergeist  nach  und  nach  soweit  in  den  Hintergrund  getreten  ist,  dafs 
auch  die  dortigen  Lehrer  sich  ganz  als  deutsche  Lehrer  fühlen.  Das  kommt  vielleicht 
heraus  wie  eine  gewöhnliche  Phrase.  Es  ist  mir  aber  doch  klar  geworden,  dafs  eine 
Solidarität  des  deutschen  Lehrerstandes  noch  nicht  vollständig  erreicht  ist.  Allerdings 
aber  haben  wir  die  frohe  Empfindung  mit  fortgenommen,  dafB  wir  nicht  blofs  als  Gaste 
geduldet  waren,  sondern  dafs  auch  unsere  württembergischen  Kollegen  in  jedem  preußischen 
und  sächsischen  Schulmann  u.  s.  w.  jetzt  einen  Landsmann  sehen,  und  dafs  also  jeder  von 
uns,  wo  immer  er  den  Fufs  auf  deutscher  Erde  niedersetzt,  nicht  blofs  ein  allgemeines 
vaterländisches,  sondern  ein  Heimatsgefühl  hegen  darf.  Das  wollen  wir  uns  für  die  Zukunft 
merken.  (Beifall.) 


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Universität  Groningen. 

6.  Band.  Althochdeutsches  Eleinentarbuch  von  Dr.  G.  Holz,  a.  o.  Professor  an 
der  Universität  Leipzig. 

Dia  Sammlung  «oll  mr  Einführung  in  iU*  Studium  der  altgennauischen  Dialekte  dienen  Sit 
hat  den  /.weck,  alle«  zu  bitten  .  waa  dam  Anfanger  lur  gründlichen  wissenschaftlichen  Kenntnis  der 
alteren  Perioden  der  hauptsächlichsten  germanischen  Sprachen  von  nbtan  ist 

.  .  .  Wir  freuen  an«,  dafs  die  pädagogische  Seite  iu  dieser  ganzen  Sammlung  zum  Worte  ***- 
kommen  Ut.  Sie  iet  in  der  That  vorzüglich  auagefallen  und  wir  konneu  nur  wünschen,  dafs  die  übrig«» 
Bandeben  ihren  Vorgängern  nicht  nachstehen  mögen.  Was  der  Student  beim  Studium  unterer  altes 
Sprachen  an  Zeit  gewinnt,  da«  kann  er  anderen  Seiten  der  germanistischen  Wissenschaft  zuwenden, 
die  Ja  nichts  anderes  sein  will  and  sein  kann  als  die  Wissenschaft  von  unserer  geistigen  Entwicksloof 
Aber  immerhin  bleibt  die  Kenntnis  der  Sprache  die  notwendige  Vorbedingung  für  alles  Übrige  Sie 
zu  erleichtern  nnd  zu  vertiefen.  i»t  auch  der  Zweck  dieser  Sammlung,  die  wir  »nf  das  freudigst« 
begrufeen,  da  sie  allen  Anforderungen,  die  mau  an  sie  steUen  kann,  anf  da«  bette  entspricht 

(AUfftn  Ztitußg) 


J.  B.  Metzler'scher  Verlag  in  Stuttgart. 

Erschienen:  der       Erste  bis  sechste  Halbband 

—  Aal  bis  Claudius  — 
von 

Pauly's  Real-Encyclopädie 

der 

classischen  Altertumswissenschaft 

in  neuer  Bearbeitung  unter  Redaction  von 

Georg  Wissowa. 

lieber  100  Mitarbeiter,  Autoritäten  auf  den  Gebieten  der  Geographie  und  Topographie, 
Geschichte  und  Prosopograpbie,  Littcraturgeschichto,  Antiquitäten,  Mythologie  und  Kultus, 
Archäologie  und  Kunstgeschichte.  Dieses  monumentale  Werk  ist  auf  10  Bände  (w  90  Bogen) 
berechnet  und  bildet  ein  hochfit  wertvoDes  Bt-staridstiick 

jeder  philologischen  Bibliothek. 

Preis  des  VoUbandes  JL  30.-,  fei  Halbbandes  X  15- 


Hierzu  3  Beilagen 

von  der  Weidmannsehen  Buchhandlung  in  Berlin  und  B.  G.  Teubner  in  Lelpxig. 


JAHRGANG  1899.    ZWEITE  ABTEILUNG.    NEUNTES  HEFT 


DIE  ÄLTESTE  DEUTSCHE  ZEITSCHRIFT  FÜR  HÖHERES 

SCHULWESEN 

Von  Ernst  Schw^ 


Unter  dem  mancherlei  Guten,  was  das  deutsche  Gymnasium  den  kur- 
sächsischen Landen  und  Lehrern  verdankt,  ist  auch  der  erste  gröfsere  Versuch 
einer  Zeitschrift  zu  nennen,  die  den  Interessen  der  höheren  Schulen  und  ihrer 
Lehrer  zu  dienen  sich  vornahm.  Es  waren  dies  die  seit  1741  erschienenen 
Acta  Scholastika  mit  ihren  verschieden  benannten  Fortsetzungen. 

Das  Auftauchen  eines  periodischen  Organs  für  das  höhere  Schulwesen  lag 
damals  gewissermafsen  in  der  Luft.  Der  Vorrat  der  Bücher,  die  eine  des 
Stoffsammelns  frohe  und  überaus  schreibselige  Zeit  aufgespeichert  hatte,  war 
um  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  ins  ungeheure  gewachsen.  Vor  allem  die 
kleineren  Gelegenheitsschriften  aller  Art,  die  selbst  an  den  unbedeutendsten 
Orten  mehrmals  im  Jahre  erschienen,  darunter  nicht  zum  wenigsten  die  von 
den  Rektoren  der  Stadtschulen  bei  jedem  möglichen  Anlafs  zu  verfassenden 
Eiiüadungsprogramme,  waren  zu  solch  einem  papierenen  Meere  geworden,  dafs 
sich  der  Wunsch  nach  einer  übersichtlichen  Zusammenfassung,  um  sich  leichter 
in  diesem  Überflufs  orientieren  zu  können,  allenthalben  regte. 

Dazu  kam  noch  das  Beispiel  der  Universitäten,  die  seit  den  letzten  Dezennien 
des  17.  Jahrhunderts  darin  wetteiferten,  dem  Beispiel  des  französischen  Journal 
des  Schavans  (zuerst  erschienen  1C65)  nachzuahmen  und,  dem  übermächtigen 
Zuge  der  klassischen  Bildung  jener  Zeit  folgend,  in  Deutschland  lateinische 
Acta  herauszugeben.  Paulsen,  Gesch.  des  gel.  Unterrichts  I4  S.  500.  540,  zählt 
von  ihnen  eine  ganze  Anzahl  auf,  die  lange  Zeit  im  Gange  waren  und  sich 
durch  deutsche  Konkurrenz,  wie  des  Leipziger  Thomasius  'Monatsgespräche', 
nur  langsam  verdrängen  liefsen.  Unter  diesen  gelehrten  Zeitschriften  war  aber 
wiederum  die  wichtigste  die  Acta  eruditorum,  die  seit  1683  in  Leipzig  erschienen, 
ein  gleich  von  seinen  Anfängen  an  sehr  vornehm  gehaltenes  Blatt,  das  u.  a. 
Leibniz  zu  seinen  ständigen  Mitarbeitern  zählte  und  drei  Generationen  hindurch 
von  Mitgliedern  der  Leipziger  Professorenfamilie  Mencken  redigiert  ward.1) 
Für  viele  Jahre  waren  die  Acta  eruditorum  die  vornehmste  Quelle  und  die 
beliebteste  Auskunftsatätte  für  alle  geistig  Interessierten,  die  sich  verpflichtet 
fühlten,  den  Fortschritten  der  Wissenschaft  zu  folgen.  Jahrzehntelang  ist  diese 
Zeitschrift  das  einzige  periodische  Organ  gewesen,  das  sich  in  regelmässiger 
Folge  auf  vielen  älteren  Schulbibliotheken  findet.   So  grofs  war  das  Bedürfnis 

»)  Prutz,  Geschichte  des  deutschen  Journalismus  I  (einz.)  S.  275—286. 

vrn.  n  30 


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E.  Schwabe:  Die  Älteste  deutsche  Zeitschrift  für  höheres  Schulwesen 


nach  einem  wissenschaftlichen  Hilfsmittel,  trotz  des  rein  akademischen  Tones,  der 
entweder  in  zierlichem  Latein  oder,  wenn  auch  nur  hin  und  wieder,  im  steifen 
Deutsch  jener  Tage  darin  angeschlagen  wurde.  Jedoch  berücksichtigten  die 
Acta  eruditorum  fast  nur  die  Interessen  der  reinen  Wissenschaft  und  hatten 
für  deren  praktisch  anwendbare  Seiten  und  vor  allem  für  das,  was  Personliches 
anging,  kein  Interesse  und  nur  wenig  Raum  übrig.1)  So  kam  es  denn,  dafs 
in  ihren  zahlreichen  Banden  trotz  häufiger  Besprechung  von  Schriften  gelehrter 
Schulmänner  das  Gebiet  der  Pädagogik  und  der  Geschichte  des  Unterrichts- 
wesens kaum  da  und  dort  gestreift  wird  und  diese  Mutter  aller  gelehrten 
deutschen  Zeitschriften  wohl  für  die  wissenschaftlichen  Bedürfnisse  der  seiehrten 
Schulen  ausreichte,  jedoch  den  didaktischen  Anforderungen  des  Tages  und  den 
Wünschen,  Historisches  über  ganze  Schulen  und  einzelne  Schulmänner  zu  er 
fahren,  in  keiner  Weise  Genüge  that. 

Das  Bedürfnis,  diesem  Übelstande  abzuhelfen,  mufs  in  Schulkreisen  tief 
empfunden  worden  sein.  Einsichtige  Männer,  die  den  tiefen  Verfall  des 
gelehrten  Schulwesens  in  jenen  Tagen  mit  Schmerzen  ansahen,  wurden  sich 
darüber  klar,  dafs  man  nach  Mitteln  streben  müsse,  um  den  Untergang  auf- 
zuhalten und  zu  retten,  was  zu  retten  war.  Ein  kräftiges  Heilmittel  aber  er- 
blickten sie  in  dem  Zusammenscbliefsen  der  gelehrten  Schulmänner,  um  nach 
möglichst  einem  idealen  Ziele  zu  streben,  und  ferner  meinten  sie,  dafs  man 
in  der  Erkenntnis  der  Geschichte  des  höheren  Schulwesens  eine  starke  Wurzel 
von  dessen  Kraft  finden  werde.  Denn  aus  dem  Studium  dessen,  was  man  in 
früheren  Tagen  und  an  anderen  Orten  sich  als  Ideal  gesetzt  und  durchzuführen 
sich  vorgenommen  hatte,  glaubte  man  neue  Kräfte  zu  schöpfen,  um  dem  be- 
drängten und  herabgekommenen  Schulwesen  der  damaligen  Gegenwart  wieder 
aufhelfen  zu  können.  An  die  Erfüllung  weiterer  Bedürfnisse  dachte  man  nicht 
Der  Blick  war  lediglich  rückwärts  gewendet,  und  das  Historische  herrschte 
zunächst  allein,  ohne  dafs  man  das  Didaktische  und  Persönliche  beachtete. 

Unter  diesem  Gesichtspunkt  also  wurde  der  erste  Versuch  gemacht,  ein 
Gesamtbild  über  die  Gelehrtenschulen  Deutschlands  zu  gewinnen  und,  soweit 
angängig,  alle  deutschen  Gymnasien  der  Reihe  nach  historisch  darzustellen. 
Dieser  Versuch  ging  aus  von  dem  wackeren  Rektor  des  Gymnasium  illustre  Saxo- 
Hennebergense  zu  Schleusingen,  Magister  Godofredus  Ludovici*),  dem  Freunde 
des  berühmten  Zittauer  Rektors  und  Vertreters  des  'politischen'  Bildungsideals 
Christian  Weise.  Von  ihm  erschien  in  den  Jahren  1708 — 1718  eine  Historia 
Rectorum,  Gymnasiorum  Scholarumque  celebriorum,  sive  Schul- 


')  Das  Gleiche  lafst  sich  von  den  übrigen  gelehrten  Zeitschriften  des  18.  Jahrhunderts 
sagen,  die  die  Acta  ergänzten,  so  von  den  'Zuverlässigen  Nachrichten'  Jöchers  (1712  oder 
1740—1758)  und  den  'Neuen  Zeitungen  für  Gelehrte  Sachen'  (1716—1797),  vgl.  Prutx  a.a.O. 
S.  »61  ff. 

*)  Spater  am  Casimirianum  in  Koburg,  wo  er  54jährig  starb,  vgl  Allg.  D.  Biographie 
Bd.  19  S.  618  von  'Unbekannt'.  Leider  ist  dieser  Artikel  nichts  weniger  als  vollständig, 
bebandelt  L.  nur  als  Hymnologeu  und  trägt  seiner  Bedeutung  für  die  Schule  und  Schul- 
gesebiebte  zu  wenig  Rechnung. 


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E.  Schwabe:  Die  älteste  deutsche  Zeitschrift  für  höheres  Schulwesen 


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historie,  in  fünf  Bänden  (Leipzig,  sumptn  Haered.  Lanckisi),  in  der  er  im  ganzen 
30  Lebensläufe  wichtiger  Rektoren  behandelt  und  daran  an  schliefsend  (übrigens 
nicht  immer  in  straff  festgehaltener  Disposition)  die  Geschichte  der  ihnen  unter- 
gebenen Gymnasien  darstellt.  Es  ist  hierbei  nicht  unwichtig,  darauf  hinzuweisen, 
dafs  von  den  behandelten  Schulen1)  und  Rektoren8)  ein  reichliches  Vierteil  auf 
Kursachsen  fällt:  ein  starkes  Argument  für  dessen  Bedeutung  für  das  höhere 
Schulwesen,  da  ihm  der  erste  Schulgeschichtsschreiber,  der  zudem  nicht  einmal 
in  sächsischen  Diensten  stand,  einen  so  breiten  Raum  zugestanden  hat. 

In  der  Vorrede  zu  seinem  Buche  spricht  Ludovici  auch  von  seinen  Vor- 
gängern und  kommt  zu  dem  Wahrscheinlichkeitsschlufs,  dafs  er  für  seine  etwas 
erweiterte  Auffassung  der  'Schulhistorie'  überhaupt  keine  gehabt  habe.3)  Dies 
ist  insofern  richtig,  als  zusammenfassende  Arbeiten  über  gelehrte  Schulen  und 
was  damit  zusammenhängt  allerdings  noch  nirgends  vorlagen,  wenigstens  nicht 
in  besonderen  Büchern.  Es  gab  entweder  nur  Einzelarbeiten,  von  denen 
Ludovici  teils  in  seinen  Vorreden,  teils  im  Verlaufe  seiner  Werke  eine  ganze 
Reihe  aufzählt,  oder  alles  Schulmäfsige  ist  in  den  grofsen  allgemein -biographischen 
Werken  untergebracht,  von  denen  Ludovicis  Arbeit  nur  eine  Abzweigung  ist. 
Natürlich  treten  sie  dort  zurück.  So  finden  sich  z.  B.  in  Melchior  Adamis  und 
Paul  Frehers  Vitae  theologorum  einzelne  Angaben.  Das  bekannte  Werk  von 
Wittens,  Memoriae  Philosophorum  et  Rectorum  (dessen  Unzulänglichkeit  übrigens 
auch  anderweit  hinlänglich  bekannt  ist)  tadelt  Ludovici  ebenfalls,  und  selbst 
das  beste4)  aller  dieser  Bücher,  von  Clarmund  (einem  Pseudonymen  Autor, 
vielleicht  Rüdiger?),  wird  trotz  seiner  grösseren  Ausführlichkeit  doch  als  un- 
zulänglich bezeichnet,  da  es  seinen  Rahmen  zu  weit  gespannt  habe,  um  die 
'Schulhistorie'  gründlich  zu  erörtern,  und  in  den  hundert  Lebensbeschreibungen 
der  gelehrten  Schule  und  ihrer  Geschichte  zu  wenig  gerecht  geworden  sei.6) 

So  machte  sich  denn  Ludovici  im  Jahre  1708  an  die  Arbeit,  das,  was  er 
während  vierzehn  Jahren  in  seinen  schedae  gesammelt  hatte,  zu  einem  Ganzen 
zu  gestalten  und  zu  veröffentlichen.  Eine  Schulgeschichte  auch  nur  eines 
deutschen  Landes  ist  nicht  daraus  geworden,  sondern  nur  die  Darstellung  ein- 
zelner Schulen  und  ihrer  Geschichte.    Das  ist  aber  nicht  Ludovicis  Fehler, 


*)  Görlitz,  Zittau,  Kreuzschule  zu  Dresden,  Zeitz,  Zwickau,  Bautzen,  Schneeberg. 

')  Hiob  Magdeburg,  Christian  Kaimann,  Johannes  BohemuB,  Christian  Thrill,  Christian 
Weise,  Christian  Daum,  Johannes  Krause,  Johannes  Zechendorf. 

*)  Vbrr.  zum  ersten  Band:  Viam  hanc  omnem  an  praeiverit  quispiam  inque  narratione 
hujus  ezempli  voluerit  elaborare,  mihi  non  constat,  oder,  wie  es  anderswo  von  seiner 
Arbeit  heifst,  quae  fregit  glaciem  et  primas  scholarum  suarum  lineas  durit. 

*)  Vitae  clarissimorum  in  re  literaria  virorom,  Das  ist  Lebensbeschreibung  etlicher 
Hauptgelehrten  Männer,  so  von  der  Literatur  Profefs  gemacht.  Worinnen  viel  sonderbahre 
und  notable  Sachen,  sowohl  von  ihrem  Leben  als  geführten  Studiis  entdecket.  Allen 
enrieusen  Gemüthern  zu  sonderbarem  Nutzen  und  Vergnügen  entworffen  von  Adolph 
Clarmund.  Wittenberg.  Verlegt«  Christian  Gottlieb  Ludwig  1708.  Dritte  Aufl.  ibid. 
1708/1711. 

•)  Der  Vorwurf  trifft  zu,  denn  es  sind  dabei  im  ganzen  nur  vier  deutsche  Schulmanner 
behandelt:  Georg  Fabricius,  Hieronymus  Wolf,  Christian  Daum  und  Jobannes  Sturm. 

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E.  Schwabe:  Die  älteste  deutsche  Zeitschrift  für  höhere«  Schulwesen 


sondern  lag  im  wissenschaftlichen  Wesen  der  Zeit.  Auch  in  anderer  Hinsicht 
hat  sich  der  gelehrte  Schleusinger  Rektor  Hen  eZeitbedürfhissen'  nicht  zu  entr 
ziehen  vermocht.  Bei  Büchern  aus  dem  Beginn  des  18.  Jahrhunderts  ist  man 
eine  oft  sehr  künstliche,  ja  sogar  wunderliche  Anordnung  des  Stoffes  gewohnt. 
So  auch  Ludovicis  'Schulhistorie'.  Sie  ist  so  disponiert,  dafs  der  Autor  1)  das 
Leben  eines  jeden  Rektors  beschreibt,  2)  das  damals  völlig  unerläfsliche  Lob- 
lied, das  die  Stelle  der  Kritik  vertreten  mufste,  bei  einem  jeden  anstimmt, 
3)  dessen  Schriften  in  chronologischer  Folge  aufzählt,  4)  die  Geschichte  des 
ihm  untergebenen  Gymnasiums  anfügt.  Trotz  dieser  wunderlichen  Disposition, 
die  z.  B.  dazu  führte,  dafs  dem  Leben  von  Christian  Weise  nicht  etwa  die 
Geschichte  des  Gymnasiums  von  Zittau  angefügt  ist,  wie  man  wohl  erwarten 
durfte,  sondern  die  des  Gymnasiums  von  Baireuth  (denn  die  Zittauer  Gymnasial 
geschieh te  war  schon  nach  dem  Leben  Christian  Kaimanns,  des  Sängers  von  'Meinen 
Jesum  lafs  ich  nicht'  —  Goedeke,  Gndrsz.  z.  Gesch.  d.  d.  Dichtung  III*  S.  75.  213  — 
abgehandelt)  —  trotz  also  dieser  offenbaren  Mängel  und  auch  trotz  einer  ge- 
wissen Unvollstiiniligkeit  und  Ungenauigkeit,  besonders  in  bibliographischen 
Angaben,  ist  die  Ludovicische  Historia  scholarum  eine  wahre  Fundgrube  für 
die  Bearbeiter  der  Gelehrten-  und  Schulgeschichte  besonders  Mitteldeutschlands 
im  17.  und  18.  Jahrhundert,  eine  Materialiensammlung  von  hohem  Wert,  und 
es  ist  nur  zu  beklagen,  dafs  die  grofs  angelegte  Arbeit  unvollendet  geblieben  ist 

Leider  nahm  der  Tod  dem  fleifsigen  und  treuen  Manne,  dem  Vater  der 
Geschichtschreibung  des  gelehrten  deutschen  Schulwesens,  die  Feder  allzufrüh 
aus  der  Hand.  Auf  lange  Zeit  hin  ist  man  bei  der  Forschung  auf  diesem 
Gebiete  wieder  auf  entweder  ganz  umfassende  Gesamtwerke  oder  schwer  zu 
erreichende  Einzeldrucke,  oder  gar  auf  das,  was  die  gelehrten  Zeitungen  in 
ihren  Anhängen  den  Schulen  als  Sündenwinkelchen  anzuweisen  für  gut  fanden, 
hingewiesen.  Die  Schwierigkeiten,  die  sich  in  Bezug  auf  Überblicken  des 
Materials  und  auf  Beschaffung  der  oft  sehr  seltenen  Drucksachen  ergeben, 
sobald  ein  so  treuer,  im  ganzen  zuverlässiger  und  zu  den  Quellen  leitender 
Führer  wie  Ludovici  fehlt,  sind  den  Arbeitern  auf  diesem  schwierigen  und  noch 
nicht  genügend  erhellten  Gebiete  nur  zu  wohl  bekannt. 

Sie  müssen  auch  in  der  damaligen  Zeit  Bchon  hart  genug  empfunden 
worden  sein,  so  dafs  zunächst  das  Bedürfnis  immer  stärker  hervortrat,  alles 
Schulgeschichtliche,  so  weit  es  von  Ludovici  nicht  erledigt  war  oder  auch  sich 
neu  gesammelt  hatte,  übersichtlich  studieren  zu  können.  Als  Zweites  schloß 
sich  hieran  der  zu  allen  Zeiten  geltende  Wunsch,  sich  über  den  gegenwärtigen 
Stand  der  Schulen  und  alle  Personalien,  die  mit  ihnen  zusammenhängen,  bald 
und  genau  unterrichten  zu  können.  Als  Drittes  und  Wichtigstes  aber  kam  hinzu, 
dafs  man  sich  über  didaktische  und  pädagogische  Dinge  auszusprechen  und 
über  die  zur  Zeit  gerade  geltenden  Einrichtungen  an  gelehrten  Schulen,  soweit 
die  protestantische  Welt  reichte,  ausreichend  zu  orientieren  begehrte. 

Dies  letztere  war,  bei  der  damaligen  starken  Gährung  im  höheren  Schul- 
wesen, die  Hauptsache,  und  das  Ziel  dieses  Wunsches  war  zweierlei:  einmal  eine 
Übersicht,  beziehentlich  ein  sorgfältiger  Auszug  aus  den  wichtigsten  einschlägigen 


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E.  Schwab«:  Die  älteste  deutsche  Zeitschrift  für  höhere»  Schulwesen 


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Schulprogrammen,  die  etwa  seit  1720  erschienen  und  schon  damals  nicht  leicht 
zu  haben  waren,  und  zweitens  ein  bibliographisches  Verzeichnis  aller  Schriften, 
die  sich  mit  Schulsachen  jeder  Art,  hinsichtlich  des  Unterrichts,  der  Unter- 
richtsmittel, der  Lehrpersonen  und  der  Schulgeschichte,  befafsten.  Es  waren 
also,  wenn  auch  in  anderer  Form,  ungefähr  dieselben  Wünsche,  die  man  heute 
einer  das  Gymnasialwesen  behandelnden  Zeitschrift  entgegenbringen  wird,  und 
das  angedeutete  Programm  fand  auch  bald  genug  seine  Erfüllung. 

Denn,  um  diesen  Wünschen  gerecht  zu  werden,  entstand  die  erste  deutsche 
Zeitschrift  für  höheres  Schulwesen  oder,  wie  ihr  voller  Titel  lautet,  'Acta 
Scholas tica,  worinnen  nebst  einem  gründlichen  Auszuge  derer  Programmatum 
der  gegenwärtige  Zustand  derer  berühmtesten  Schulen  und  der  dahin  gehörigen 
Beredsamkeit  entdecket  wird'.  Zunächst  erschienen  sechs  Jahrgange  zu  je 
sechs  'Stücken'  1741 — 1746  in  Leipzig  und  Eisenach,  dann  noch  zwei  Bände 
1747/48  in  Nürnberg.  Die  erste  Fortsetzung  fand  das  verdienstliche  Unter- 
nehmen in  den  Nova  acta  scholastica,  von  denen  zwei  Bande  zu  je  zwölf 
Monatsheften  1749 — 1751  in  Leipzig  erschienen  sind.  Und  dann  sind  noch 
acht  Bande  zu  je  sechs  'Stücken'  herausgekommen  unter  dem  Titel  'Altes 
und  Neues  von  Schulsachen',  die  in  Halle  1752 — 1755  bei  Johann  Justinus 
Gebauer  erschienen  sind.  Mit  diesen  achtzehn  Oktavbänden  ist  die  Reihe  dann 
abgeschlossen. 

Ehe  auf  den  Inhalt  dieser,  wenigstens  in  voller  Reihenfolge,  jetzt  ziemlich 
selten  gewordenen  Zeitschrift  eingegangen  und  eine  Schilderung  des  Typischen 
in  ihr  gegeben  werden  kann,  mufs  ein  Wort  über  ihren  Herausgeber  voraus- 
geschickt werden.  Es  war  dies  der  damalige  Konrektor  und  spätere  Rektor 
des  Nanmburger  Domgymnasiums,  Mag.  Johann  Gottlieb  Biedermann, 
der  im  Jahre  1747  als  Rektor  nach  Freiberg  berufen  ward  und  daselbst  1772 
im  Amte  verstorben  ist. 

Ein  kurzer  Lebenslauf  und  eine  Würdigung  des  um  das  sächsische  und 
deutsche  Gymnasialwesen  verdienten  Mannes  ist  hier  um  so  mehr  am  Platze, 
als  der  Artikel  über  Biedermann  in  der  Allg.  Deutsch.  Biographie  Bd.  II  S.  395/6 
sehr  kurz,  nicht  überall  genau  und  dabei  ziemlich  parteiisch  ist.  Biedermann 
hat  es  aber  nicht  verdient,  dafs  er  um  einer  einzelnen  Geschmacklosigkeit 
willen,  die  bei  einem  so  vielschreibenden1)  Manne  mitunterlaufen  mochte,  für 
alle  Zeiten  in  einem  ganz  einseitigen  und  darum  falschen  Lichte  steht,  blofs 
weil  er  einmal  den  empfindlichen  Musikern  zu  nahe  getreten  ist.  —  Das  aus- 
führlichste Quellenmaterial  über  Biedermanns  Leben  verdanken  wir 'einem  Pro- 

')  Es  Bind  von  ihm  allein  148  Programme  wenigstens  dem  Titel  nach  erhalten!  Dafs 
diese  Gelegenheitsschriften  des  18.  Jahrhunderts  oft  sehr  kurz,  in  der  Wahl  der  Themen 
oft  sonderbar  und  in  der  Ausführung  mehr  als  flüchtig  gewesen  sind  und  einen  Vergleich 
mit  den  entsprechenden  neueren  Arbeiten  in  keiner  Weise  aushalten,  ist  nur  zu  begreiflich. 
Die  Arbeiten  Biedermanns  sind  noch  lange  nicht  die  schlechtesten  aus  diesen  Programm- 
fabriken des  18.  Jahrhunderts.  Aber  er  behandelt  doch  auch  Sonderbarkeiten,  wie  1767 
Sermone*  animalium  brutorum  testimoniis  atque  exemplis  probat,  oder  1771  'Die  böse 
Sieben',  1772  de  porri*  sacris  et  mysticis,  oder  Gemeinplätze  wie  1771  de  laudibus  nimiis. 


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E.  Schwabe:  Die  älteste  deutsche  Zeitschrift  für  höheres  Schulwesen 


gramm1)  des  Freiberger  Konrektors  Mag.  Hübler  vom  November  1772,  wo  er 
ad  memoriam  viri  praenob.  etc.  M.  Jo.  GottL  Bidermanni  orationibus  aliquot 
recolendam  einladet.  Freilich  ist  auch  dieses,  trotz  seiner  zehn  Quartseiten, 
noch  dürftig  genug.    Wir  entnehmen  demselben  folgende  Daten: 

Johannes  Gottlieb  Biedermann8)  wurde  am  4.  September  1705  zu  Naum- 
burg a.  d.  Saale  als  Sohn  eines  Geistlichen  geboren.  Er  besuchte  zunächst  die 
Schule  seiner  Vaterstadt  und  begab  sich  1724  nach  Wittenberg,  um  Philosophie 
und  Theologie  zu  studieren.  Dort  bestand  er  die  erste  theologische  Prüfung, 
erlangte  den  Magistergrad  und  wurde  Hilfsarbeiter  an  der  Universitätsbibliothek. 
Nach  einer  Hauslehrerzeit  in  Coswig  im  Herzogtume  Anhalt -Zerbst,  wo  sich 
ihm  auch  Gelegenheit  zur  Bethätigung  geistlicher  Beredsamkeit  bot,  wurde  er 
1732  zum  Konrektor  an  der  Domschule  seiner  Vaterstadt  berufen  (Hübler  a.a.O.: 
ex  hui  us  doctrinae  privatae  angustiis  mox  in  celebritatem  deduetus  est)  und 
zehn  Jahre  später,  1742,  trat  er  als  Rektor  an  die  Stelle  von  Johann  George 
Schulze,  der  in  ein  geistliches  Amt  übergegangen  war.  Seine  Naumburger 
Rektorenzeit  fällt  mit  dem  grofsen  Aufschwung  seiner  Zeitschrift  zusammen. 
Im  Jahre  1747  erhielt  er,  nachdem  man  ihn  schon  anderswo  mehrfach  begehrt 
hatte,  einen  Ruf  vom  Stadtrat  zu  Freiberg,  das  durch  den  Tod  von  Samuel 
Moller9)  erledigte  Rektorat  des  Freiberger  Gymnasiums  zu  übernehmen.  Er 
leistete  ihm  Folge  und  befand  sich  bei  der  allseitigen  Anerkennung,  die  er 
fand,  in  der  alten  Bergstadt  so  wohl,  dafs  er  sich  selbst  den  ehrenvollsten  An- 
erbietungen verschlofs  und  verschiedene  Rufe  nach  Bautzen,  Zittau,  Halle  und 
Berlin  ausschlug.  In  Freiberg  ist  er  auch,  nachdem  er  über  25  Jahre  als 
Rektor  amtiert  hatte,  am  3.  August  1772  nach  kurzer  Krankheit  gestorben. 

Hübler,  dessen  Angaben  wir  kurz  zusammengezogen  hier  wiederholt  haben, 
fügt,  dem  Muster  Suetons  folgend,  der  Lebensbeschreibung  noch  eine  Schilderung 
der  Person  Biedermanns  und  seiner  geistigen  und  sittlichen  Eigenart  hinzu. 
Der  markanteste  Satz  daraus  ist,  dafs  an  Biedermann  vor  allem  'assiduitas 
institutionis  und  constantia  rationis,  quam  sapienter  elegisset'  zu  rühmen  seien 
und  dafs  es  ihm  bei  allem,  was  geschrieben  werde,  auf  kurze,  klare  Satze  (quos 

•)  Dasselbe  deutsch  (mit  -  übrigens  stark  tendenziösen  -  Noten  von  M.  Beyer)  in 
den  'Freiberger  Gemeynnützigen  Nachrichten'  von  1806.  S.  868.  863.  878.  Dazu  kommt 
noch,  nach  einer  freundlichen  Notiz  des  Hrn.  Rektor  Preufs  in  Freiberg,  die  Arbeit  eine« 
Anonymus  in  den  F.  G.  N.  von  1824,  S.  406,  Zur  Erinnerung  an  Herrn  Doktor  Joh.  Gottlieb 
Bidennann. 

')  Die  Acta  scholastica  und  ihre  beiden  Fortsetzungen  zeigen  den  Namen  in  dieser 
Form  auf  ihren  deutschen  Titelblättern.  Dagegen  tragen  das  dem  HI.  Bande  der  Acta 
schol.  zum  6.  Stück  vorgesetzte  Bild  B  s  aus  dem  Jahre  1748  und  das  dem  I.  Bande  von  'Neues 
und  Altes  von  SchulBachen'  vorgesetzte  Bild  B.s  aus  dem  Jahre  1752  die  Unterschrift 
M.  Joann.  Gottlieb  Bidennann,  Rect.  schol.  cathedral.  Naumburgensis  (bei.  Freibergensis). 
Wir  haben  in  dieser  Schreibung  deshalb  wohl  nur  eine  latinisierende  Umbildung  des  ur- 
sprünglichen Namens  zu  erblicken.  —  Nach  frdl.  Mitteilung  des  Hrn.  Rektor  Albracbt 
vom  Naumburger  Domgymnasium  schrieb  B.  selbst  seinen  Namen  in  dortigen  Akten 
(deutsch  und  lat.)  nur  mit  i,  seine  Nachfolger  aber  stet«  mit  ie. 

*)  Ein  Bild  dieses  Mannes  ist  als  Stich  den  Nova  acta  scholast.  Bd.  1  Sechstes  Stück 
(von  1748)  beigegeben. 


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E.  Schwabe:  Die  älteste  deutsche  Zeitschrift  für  höheres  Schulwesen  471 


aphorismos  vocant)  angekommen  sei.  In  der  Disziplin  sei  er  zwar  sorgsam, 
aber  liberal  gewesen  und  habe  nur  dann  gestraft,  wenn  es  unbedingt  nötig 
gewesen  sei. 

Wieweit  dies  Urteil  begründet  ist,  darüber  können  wir,  bei  dem  Mangel 
aller  anderen  Nachrichten  über  Biedermanns  Leben  und  Wesen,  nicht  nach- 
kommen. Über  seine  Thätigkeit  als  Schriftsteller  und  Redakteur  scheint  es 
dagegen,  dafs  Hübler  seinerseits  sich  kein  Urteil  hat  bilden  können.  Bücher 
hat  Biedermann  aufser  einem  Hefte  'Anfangsgründe  der  hebräischen  Sprache' 
(dessen  ich  nicht  habe  habhaft  werden  können),  wie  es  wenigstens  scheint, 
nicht  geschrieben.  Auch  von  dem  ebengenannten  kennt  Hübler  offenbar  nur 
den  Titel.  Ebenso  kurz,  wie  über  dieses,  fafst  er  sich  über  die  oben  erwähnte 
ungeheure  Zahl  von  Biedermanns  Programmen,  Ober  deren  Titel  er  kurzweg 
auf  Strodtmann,  Geschichte  jetzt  lebender  Gelehrten,  P.  X  S.  419 — 440,  das 
'Neue  gelehrte  Europa'  XIII  S.  252 — 259  und  auf  Harlesius,  Vitae  Philologorum 
nostra  aetate  clarissimorum  Tom.  H  S.  137  — 162  verweist  —  für  einen  Bio- 
graphen ein  sehr  bequemes  Verfahren,  aber  zeitraubend  für  diejenigen,  die  eine 
solche  Biographie  benutzen  wollen  und  nicht  zu  jeder  Zeit  eine  grofse,  an  alten 
Bücherschätzen  reiche  Bibliothek  zur  Hand  haben.  Vollends  über  die  von 
Biedermann  redigierten  Schulzeitschriften  hilft  sich  Hübler  mit  einigen  dürren 
Worten  weg:  Nota  sunt  opera  viri,  in  quibus  varia,  quae  celeberrimi  scholarum 
doctores  scripsissent,  collegit,  quamobrem  ea  brevissime  tantum  indicabimus. 
Edidit  igitur  etc.  Hübler  wird  wohl,  da  diese  Zeitschriften  der  Freiberger 
Gymnasialbibliothek  fehlen,  nur  die  Titel  gekannt  und  genug  zu  thun  ge- 
glaubt haben,  wenn  er  auf  diese  allein  hinwiese.  Das  scheint  vor  allem 
daraus  hervorzugehen,  dafs  unter  jenen  Zeitschriften  auch  Selecta  scholastica 
(Vol.  I.  II.  Numburg.  1744 — 1746)  von  ihm  genannt  werden,  die  in  der  Reihe 
der  von  Bietlermann  herausgegebenen  und  in  den  Verzeichnissen  genannten 
fehlen,  auch  nirgendswo  aufzutreiben  sind,  so  dafs  die  Annahme  nahe  liegt, 
Hübler  habe  irrtümlicherweise  diesen  Titel  unter  die  Reihe  der  wirklich  vor- 
handenen Bücher  mitaufgenommen. 

Es  ist  sehr  zu  beklagen,  dafs  uns  (so  weit  ich  wenigstens  habe  nach- 
kommen können)  keine  unparteiische  und  sorgfältige  Würdigung1)  dieser 
redaktionellen  Thätigkeit  Biedermanns  aus  der  Feder  eines  seiner  Zeitgenossen 
vorliegt.  Man  würde  daraus  ersehen  haben,  wie  die  Bestrebungen  dieses 
Mannes  im  Gesamtrahmen  des  geistigen  Lebens  des  18.  Jahrhunderts  empfunden 
worden  sind,  und  ferner,  wie  man  in  den  Kreisen  der  Schulmänner  und  Ge- 
lehrten von  ihm  und  seinem  Unternehmen  dachte.    Das  würde  für  ein  Urteil, 

')  B.  hatte  schon  vor  Erscheinen  seines  Unternehmens  in  den  'Hamburgischen  Berichten 
von  gelehrten  Sachen'  auf  die  Acta  aufmerksam  gemacht.  Es  erfolgten  dann  Anzeigen  der 
ersten  Stüclce  in  der  Leipziger  Oel.  Zeitung  174t  S.  268,  den  Hamburger  Beyträgen  1740 
S.  830  und  1741  S.  347.  Frankfurter  Gelehrten  Zeitung  1741  S.  822.  880  f.  515  bezieht 
sich  nur  auf  den  1.  Jahrgang  der  'Acta'.  Einen  von  Braunschweig  aus  in  den  'Ham- 
burgischen Berichten  von  gelehrten  Sachen'  1741  S  469.  742  gegen  B.  gerichteten  AngrifT 
hat  er  ebenda  1742  8.  133-135  abgefertigt. 


472  E.  Schwabe:  Die  älteste  deutsche  Zeitschrift  für  höheres  Schulwesen 

das  wir  heutzutage  zu  gewinnen  trachten ,  sehr  wichtig  und  vorteilhaft  sein. 
Leider  fehlt  aber,  dem  Anschein  nach,  eine  solche  zeitgenossische  Beurteilung 
gänzlich;  es  steht  auch  kaum  zu  erwarten,  dafs  eine  solche  noch  auftaucht:  bei 
der  bekannten  Abneigung  des  18.  Jahrhunderts  gegen  scharf  eindringende  oder 
auch  nur  genügend  orientierende  Kritik  von  Büchern  und  Zeitschriften  ist  das 
nur  zu  begreiflich.  Anzeigen  giebt  es  genug,  aber  es  ist  aus  ihnen  so  gut 
wie  nichts  zu  lernen,  höchstens  dals  ein  paar  untergelaufene  Druckfehler  moniert 
werden.  Über  Tendenz  und  Herausgebergeschick  aber  hört  man  nichts  als 
wohlfeile,  hohle  Redensarten. 

Die  Acta  scholastica  (und  ihre  Fortsetzungen)  verdienen  aber  eine  Wür- 
digung schon  um  deswillen,  weil  sie  die  ersten  Vorlaufer  aller  der  zusammen- 
fassenden und  orientierenden  Zeitschriften  sind,  aus  denen  heutzutage  der 
Gymnasiallehrer  sich  über  pädagogische,  didaktische,  schul -historische  und 
-philologische  und  Standesfragen  aller  Art  zu  orientieren  und  verhaltnismäfsig 
leicht  auf  dem  laufenden  zu  erhalten  pflegt. 

Nach  all  diesen  Richtungen  hin  suchten  die  Acta  scholastica  ihre  Leser 
zu  unterrichten.  Der  nächste  Zweck  war  freilich,  wie  Biedermann  selbst  in 
der  Vorrede  zum  I.  Band  der  Acta  sagt,  nur,  'den  Anfang  zu  einer  Sammlung 
auserlesener  Schul  -Programmatum  zu  machen'.  Aber  dabei  blieb  er  nicht 
stehen.  Schon  dem  ersten  Stück  des  1.  Bandes,  in  dem  sich  acht  Pro- 
gramme im  Auszug  finden,  sind  beigegeben:  1)  eine  Bibliographie  der  Pro- 
gramme von  1740;  2)  Schriften  von  Schulmännern;  3)  Neue  zur  Schule  gehörige 
Bücher  vom  Jahre  1740,  a)  zur  deutschen  Sprache  (darunter  Bodmers  und 
Breitingers  Kritische  Beyträge),  b)  zur  lateinischen  Sprache,  c)  zur  griechischen 
Sprache,  d)  zur  hebräischen  Sprache,  e)  zu  galanten  Studiis  (worunter  B.  alles 
einrechnete,  was  zur  Mythologie,  Geschichte,  Geographie  und  Mathematik1) 
gehörte;  4)  Allerhand  Veränderungen,  so  im  Jahre  1740  in  Schulen  vorgefallen; 
und  5)  Allerhand  neue  Merkwürdigkeiten  (die  sich  auf  Gelehrtenschulen  be- 
ziehn),  darunter  Stundenpläne,  Lebensläufe,  Schulgeschichten,  behördliche  An- 
ordnungen u.  s.  w. 

Diese  Stoffverteilung  ist  im  ganzen  durch  alle  achtzehn  Bände  mehr  oder 
minder  beibehalten  worden.  Das  gröfste  aktuelle  Interesse  hatten  natürlich  die 
obengenannten  Beigaben.  Auf  ihre  Sammlung  mufste  der  Redakteur  vor  allem 
bedacht  sein,  und  die  Beschaffung  des  einschlägigen  Materials,  um  das  er  nicht 

')  Da»  war  damalH  hergebracht,  vgl.  Paulscn,  Gesch.  des  gel.  Unterricht«  I*  S.  651.  — 
In  den  Acta  erscheinen  auch  einzelne  mathematische  Abhandlungen,  so  Act  VIT  S.  21  —  37 
Carl  H.  Theuno  (Rektor  der  Schule  zu  Sorau):  Wie  man  für  eine  iede  eubische  Zahl  von 
sechs  Ziffern  auffs  höchste  die  Wurtzel  ohne  Rechnung  ohnfehlbar  finden  kann.  A.  u.  N.  IV 
192  —  218  J.  A.  A.  Zwicke :  Von  Einschränkung  der  mathematischen  Wissenschafften  in 
niedern  Schulen.  Act.  V  408  ff.  Stephan  Carl  Libeth  (Rektor  des  Pädagog.  im  Closter 
Berge):  De  eo  quod  iustum  est  circa  Matheseos  usum  in  scholis  Nov.  act.  I  1—55.  87—189 
Jo.  Frid.  Hähn  (InHp.  zu  Closter  Berge):  Gedancken,  wie  dem  künftigen  Verfall  der  Mathe 
matick  vorzubeugen.  —  Daneben  als  Kuriosum:  Act.  VI  437  M.  Bonifazius  Heinrieb 
Ehrenbürger,  Prof.  Mathem.  et  Metaphjs.  des  Gymnasii  zu  Coburg:  De  amatrice  lumen  et 
scintillas  spargente  (als  physikalisches  Phänomen!). 


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B.  Schwabe:  Die  iiiteste  deutsche  Zeitschrift  für  höheres  Schulwesen 


473 


möde  wird  zu  bitten,  mag  ihm  wohl  oft  weit  mehr  Möhe  und  Arbeit  ver- 
ursacht haben,  als  die  im  ganzen  zurücktretenden  Originalartikel  und  die  Aus- 
züge aus  den  Programmen,  die  die  Hauptmasse  des  Inhalts  der  Acta  darstellen. 

Jene  *  Beigaben'  umfassen  für  ihre  Zeit  so  ziemlich  das  alles,  was  auch  in 
neueren  Büchern,  die  dasselbe  Thema  behandeln,  wie  z.  B.  in  den  bekannten 
Publikationen  von  Mushacke  und  Rethwisch  geleistet  wird.  Damals  war  freilich 
der  Rahmen  wegen  der  geringeren  Anzahl  der  Schulen  weit  enger  gezogen  als 
heute.  Biedermann  griff  darum  auch  über  die  Grenzen  Deutschlands  hinaus 
und  gab  genaue  Daten  über  die  deutschen  Gelehrtenschulen  in  Dänemark1), 
Schweden*),  Polen3)  und  Rufsland4),  ohne  die  gelegentlichen  Angaben  über  die 
hollandischen,  ungarischen  und  englischen  Schulen.  Es  mag  dem  Herausgeber 
wohl  dabei  vorgeschwebt  haben,  dafs  seine  statistischen  Angaben  alle  die 
Länder  umfassen  sollten,  die  dem  Protestantismus  anhingen:  denn  die  enge 
Verbindung  der  Gymnasien  mit  der  'gereinigten  Lehre'  war  ja  der  damaligen 
Zeit  eine  selbstverständliche  Sache:  eins  ohne  das  andere  konnte  man  sich 
schon  um  deswillen  nicht  denken,  weil  die  Lehrer  fast  ausnahmslos  studierte 
Theologen  waren. 

Die  Personalnachrichten,  die  etwas  ganz  Neues  in  der  pädagogischen 
Litteratur  darstellten,  waren  so  geordnet,  dafs  in  den  einzelnen  'Stücken*  zu- 
nächst die  Neubesetzungen  freigewordener  Stellen  gemeldet  wurden,  dann  be- 
kanntere Schulmänner  nach  ihrem  Hinscheiden  einen  Nekrolog  erhielten5), 

*)  Act.  III  620 — 526  Der  gegenwärtige  Zustand  derer  Schulen  in  Dänemarck.  —  II  361 
Rectores  der  8chule  zu  Coldingen  in  Dänemarck  von  derselben  Stiftung  an.  —  Nov. 
act.  I  886  —  246  Etwas  von  denen  dänischen  Schulen  (Odensee).  —  ib.  629  Fortsetzung.  — 
Act.  V  549—568  Von  der  Schule  zu  Rieben  (Ripe)  im  sogen.  Puckgard. 

*)  Act.  II  163  — 168  Der  gegenwärtige  Zustand  der  Schulen  in  Schweden.  —  Act.  IV 
356  —  860  Schule  zu  Nykjöping.  —  ib.  361  Schule  zu  Geval  (Gefle).  —  Act.  VTII  310  —  818 
Von  den  Schulen  in  Pommern  schwedischen  Anteils  (Stralsund,  Greifswald,  Wolgast,  Barth). 

—  Act.  VH  644  Die  deutsche  Schule  in  Stockholm.  —  Nov.  act.  II  926  Kurtze  Historie 
von  der  Trivial -Schule  bey  der  St.  Clara -Kirche  in  der  Nordervorstadt  zu  Stockholm.  — 
ib.  878  Lectiones  bey  der  deutschen  Schule  zu  Stockholm.  —  A.  u.  N.  II  298/4  Fortsetzung 
von  der  'Kurtzen  Historie'.  —  ib.  I  267  Lehrerkollegium  der  deutschen  Schule  in  St. 

•)  Act.  I  299  Schulnachrichten  von  Pohlnisch  Lissa,  Sluck  und  Cajodun  (?)  in 
Littbauen  u.  a. 

*)  Act.  H  877  Die  Lehrer,  die  bey  der  Schule  von  Archangel  sind  gewesen.  — 
Acta  HI  6  ff.  Joh.  Loderus ,  Von  der  Wiederherstellung  des  Rigischen  Lycei.  —  Act  VTII 
342—869  Nachricht  von  der  Domschule  zu  Riga  —  A.  u.  N.  I  270—286.  II  281—286  Das 
kaiserliche  Gymnasium  zu  Reval.  —  A.  u.  N.  I  286  —  291  Die  Schule  zu  Narwa  (mit 
Lektionsplan)  —  A.  u.  N.  V  280—289  Anrede  von  G.  M  Schnetter  bey  der  Einführung 
J.  G.  Hebenstreit  zum  Cantor  und  Schulkollegenamt  bey  der  Stadtschule  zu  Pernau  in  Lief- 
lancL  —  ib.  804  Kurtze  Nachricht  von  der  Pernauischen  Stadtschule. 

•)  Ich  erwähne  (hier,  wie  oben,  nur  beispielsweise)  A.  u.  N.  I  211—815  Rektor  Theophilus 
Grabener  an  der  Fürstenschule  zu  8t.  Afra  in  Meifsen.  —  Act.  I  800-  304  Rector  M.  Daniel 
Müller  aus  Chemnitz.  —  Nov.  act.  I  207 — 234  Rector  Doppert  aus  Schneeberg  (vgl.  hierzu 
E.  Heydenreich  im  N.  Sächs.  Archiv  XVI  229—268).  —  Act.  V  462—476  Rector  Jacob  Wolf 
aus  Stralsund.  —  Act.  ID  241—247  Rector  M.  Christian  August  Freyberg  zu  St.  Annen  vor 
Drefsden.  —  A.  u.  N.  I  197—211  Rect.  em.  0.  Friedrich  Dolp  in  der  Reichsstadt  Nördlingen. 

—  A.  u.  N.  V  310—312  M.  Joh.  Friedr.  Jünger,  gewes.  Lehrer  bey  der  Landschule  zu  Meissen. 


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E.  Schwabe:  Die  älteste  deutsche  Zeitschrift  für  höheres  Schulwesen 


hierauf  die  historische  Reihenfolge  der  Rektoren  und  Kollegen  an  einzelnen 
Schulen  (wohl,  wie  der  Zufall  das  Material  lieferte)  angefügt  ward  und  den 
Schlufs  die  gegenwärtige  Zusammensetzung  der  einzelnen  Lehrerkollegien  bildete. 

Alles  sachlich  Wissenswerte  und  Interessante,  wie  Arbeits-  und  Lektions- 
plüue  und  behördliche  Anordnungen,  vereinigte  der  Herausgeber  unter  der 
Rubrik  'Allerhand  neue  Merkwürdigkeiten'.  Hierin  ist  viel  zum  Teil  noch 
unverwertetes  Material  gesammelt,  das  seiner  Auferstehung  harrt.1) 

Es  ist  in  diesen  'Beigaben'  zu  den  Acta  wohl  keine  irgendwie  bedeutende 
Schule  im  ganzen  protestantischen  Deutschland  ganz  vergessen  worden.  Jedoch 
ist  die  Behandlung  der  einzelnen  Schulen  und  Lander  recht  ungleich,  was  sich 
wohl  daraus  erklären  wird,  wie  dem  Redakteur  von  einzelnen  Stellen  aus  das 
Material  zugeflossen  oder  auch  vorenthalten  worden  sein  mag.  Vor  allem  die 
Gymnasien  kleinerer  und  entlegenerer  Orte  Nord-  und  Mitteldeutschlands  werden 
für  persönlich  und  sachlich  gerichtete  Forschung  bei  einer  genauen  Durchsicht 
dieser  Acta  viel  brauchbares  Material  und  in  den  bibliographischen  Ubersichten 
manch  nützlichen  Handweiser  finden.  Dagegen  finden  wir  manche  alte  und 
berühmte  Schule  entweder  gar  nicht  oder  doch  nur  vorübergehend  erwähnt, 
wie  z.  B.  von  den  Berliner  Schulen  das  Graue  Kloster  und  das  Joachimsthalsche 
Gymnasium  (wie  überhaupt  Nachrichten  aus  Berlin  nur  sporadisch  erscheinen), 
das  Marienstiftsgymnasium  zu  Stettin,  das  Domgymnasium  zu  Magdeburg,  das 
Kneiphöfische  Gymnasium  zu  Königsberg,  u.  a.  m. 

Besondere  Aufmerksamkeit  widmete  Biedermann  Mitteldeutschland,  vor 
allem  Kursachsen8),  über  dessen  Gymnasial-  und  Lateinschul -Verhältnisse  er 


')  So  finden  sich  z.  B.  Act.  Vm  306  -310  Die  Lectiones  des  Lyceums  von  Marienberg 
im  Erzgebirge.  —  Act.  V  491  —  617  Vorläufige  Nachricht  von  dem  Collegio  Carolino  zo 
Braunschweig.  —  Act.  III  664  Lectiones  a)  der  Schulen  zu  Mietau  in  Churland  1744,  b)  zu 
Neuruppin  in  der  Marek  Brandenburg,  c)  der  deutschen  Schule  zu  Stockholm.  —  Act.  II 
443—446  Lectiones  des  Gymnasii  1)  zu  Hamburg  1743/44,  2)  Thoren  1743,  3)  Minden  1743;. 

—  Nov.  act.  II  103—113  Nachricht  von  der  jetzigen  Einrichtung  der  Altetädtischen  Parochial- 
Schule  zu  Königsberg.  -  ib.  146  149  Nachricht  vor  diejenigen,  welche  ihre  Söhne  oder 
Pflcgbefohlenen  auf  die  Closterschule  zu  Ilfeld  zu  bringen  gedencken.  Auf  Befehl  der 
KönigL  Regierung  zu  Hannover  den  6.  Mertz  1749  publiciert.  -  A.  u.  N.  VI  269—299  Jo. 
Öeorg  Albrecht,  Die  gegenwärtige  Verfassung  des  Gymnasii  zu  Pranckfurt  am  Mayn  — 
A.  u.  N.  VII  298  —  323  M.  Johann  Dan.  Schumanns,  Direktors  des  Padagogii  zu  Clausthal, 
Nachricht  von  des  Pädagogii  zu  Clausthal  gegenwärtiger  Verfassung.  —  A.  u.  N.  VTH  209—245 
M.Johann  Peter  Millers,  Rektors  des  Gymnasii  zn  Hallo,  Nachricht  von  der  itzigen  Ver- 
fassung des  Evangelisch-Lutherischen  Gymnasii  zu  Halle  1766,  u.  a.  m. 

*)  Z.  B.  Act.  I  868 — 862  Von  dem  Ursprung  der  Franciskaner- Schulen  in  Meilsen 
(Green).  -  U  169  Die  Rectores  der  Creutzachule  zu  Drefsdeu.  —  ib.  364  Die  jetzigen 
Lehrer  a)  Am  Gymn.  zu  Freyberg  in  Meifsen,  b)  bey  denen  Schulen  in  Leipzig  1)  Zu 
8t.  Nicolai  2)  Zu  St.  Thomae,  c)  am  Lyceo  zu  Wittenberg,  d)  am  Gymnasio  zu  Merseburg. 

—  ib.  567  Gegenwärtige  Lehrer  zu  Grofseuhayn.  ib.  669  Zu  Lauban.  Zu  Pirna.  —  DU  167 
Gegenwärtige  Lehrer  an  der  Doraschule  zu  Naumburg.  —  ib.  226  Die  Rectores  der  Schule 
zu  Annaberg.  —  ib.  435  Gegenwärtige  Lehrer  an  der  Rathsschule  zu  Naumburg.  — 
ib.  49  —  62  Die  sämtl.  RectoreB  der  Schule  zu  Freyberg  in  Meifsen.  —  ib.  54/65  Rectores 
der  Schule  zu  Grofsenhayn.  -  ib.  136-148  Rectores  der  Schule  zu  Chemnitz.  -  IV  146-169 


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E.  Schwabe:  Die  älteste  deutsche  Zeitschrift  für  höheres  Schulwesen 


475 


uns  fast  in  jedem  Bande  seiner  Zeitschrift  orientiert.  Jedoch  sind  auch  hier 
die  Angaben  nicht  lückenlos.  Man  findet  z.  B.  so  gut  wie  keine  geschichtlichen 
Angaben  und  nur  dürftige  Personalnotizen  über  die  drei  Fürstenschulen  und 
die  zwei  Stadtschulen  zu  St.  Thomä  in  Leipzig  und  zum  Kreuz  in  Dresden. 
Im  ganzen  aber  fliefst  die  Quelle  für  das  18.  Jahrhundert  hier  besonders 
reichlich,  und  die  Angaben  sind,  wie  Stichproben  und  Vergleiche  mit  anderen 
einschlägigen  Arbeiten  ergeben  haben,  auch  ziemlich  zuverlässig,  wenigstens 
nicht  in  geringerem  Orade  als  solche  Arbeiten  aus  der  Mitte  des  18.  Jahrhunderts 
überhaupt  zu  sein  pflegen.  Der  'Mushacke'  und  'Rethwisch'  aus  der  Perückenzeit 
hat  offenbar  gethan,  was  er  nur  konnte,  ein  erfreuliches  Zeichen,  mit  welchem 
Bienenfleifs  der  ehemalige  Freiberger  Rektor  gesammelt  und  gearbeitet  hat, 
angewiesen  allein  auf  die  freundlichen  Zusendungen  seiner  Kollegen  und  ohne 
dafs  ein  'Druck  von  oben'  ihn  unterstützt  hätte,  dabei  unter  den  schwierigsten 
postalischen  Verhaltnissen  und  mit  dem  einzigen  litterarischen  Hilfsmittel  der 
Leipziger  Mefskataloge. 

Weniger  günstig  als  über  diese  'Beigaben'  mufs  das  Urteil  über  den 
eigentlichen  Hauptinhalt  der  Biedermannschen  Zeitschrift  lauten.  Im  grofsen 
und  ganzen  besteht  dieser  aus  mehr  oder  minder  ausführlichen  Auszügen  aus 
der  damaligen  Programmlitteratur.  Die  meisten  dieser  Auszüge,  besonders  in 
den  ersten  Jahrgangen,  sind  von  Biedermann  selbst  gemacht;  späterhin  werden 
die  Programme  entweder  im  ganzen  abgedruckt  oder  doch  die  Auszüge  von 
den  Verfassern  selbst  geliefert.  Eigentliche  Originalartikel  sind  erst  ganz  zu- 
letzt, in  den  Bänden  'Altes  und  Neues'  erschienen,  und  es  ist  wohl  gerade  der 
feierlichen  Weisheit  dieser  Emanationen  zuzuschreiben,  dafs  die  Zeitschrift,  die 
nicht  Anregendes  und  Persönliches  genug  mehr  darbot,  zu  langweilig  wurde, 
keine  Abonnenten  und  Verleger  mehr  fand  und  deshalb  abstarb. 

Der  Gedanke,  die  Programmlitteratur  in  einer  Übersicht  zu  vereinigen,  war 
an  sich  gut.  Wenn  man  die  verhältnismässig  leichte  Zugänglichkeit  bedenkt, 
die  durch  diese  Programmschau  über  ganz  Deutschland  und  seine  protestantischen 
Anhängsel  dem  gelehrten  Publikum  für  diesen  Zweig  der  litterarischen  Arbeit 
geboten  wurde,  so  waren  die  Acta  geradezu  die  Erfüllung  eines  Bedürfnisses. 
Denn  gerade  jene  Programme  sind  zu  den  gröfsten  bibliographischen  Selten- 
heiten geworden,  sobald  nicht  ein  Rektor  das  Bedürfnis  fühlte,  seine  Opuscula 


Etwas  von  der  Rathsschule  zu  Naumburg.  -  ib.  252  —  265  Rcctores  des  Zittauischen 
Gymnasii.  —  ib.  361— 867  Nachricht  von  der  letzten  Visitation  des  Gymnasii  ülustris  zu 
Weifsenfelß.  —  ib.  369—372  Vita  M.  Christian  Peschecks,  wohlverdienten  ältesten  Collegen 
und  Öffentl.  Lehrers  der  mathematischen  Wissenschaften  bei  dem  Zittauischen  Gymnasio 
(vgl.  Neues  Laus.  Mag.  XX  374  —  378).  —  V  79—82  Einige  milde  Schulstiftungen  a)  Vor 
die  Präceptores  des  Gymnasii  zu  Zittau  (aus  Carpzov,  Anal.  Fast.  Zittav.  P.  HI  cap.  VIII 
.S.  106  f.).  ib.  281— 286  Verzeichnis  der  Rectorum,  Conrectonun  et  Cantorum  bei  der 
Laubanischen  Schule.  —  ib.  517  —  521  Die  sämmtlichen  Collegen  bey  der  Grimmischen 
Fürstenschalen.  —  VII  146—149  Etwas  von  der  Rathsschule  zu  Naumburg  —  ib.  647—550 
Von  der  Schule  zu  Gcithayn  oder  Geitcn.  —  A.  u.  N.  VII  824  Einweihung  der  Schule  zu 
Rofswein.  —  VIH  206—209  Voigt,  Von  der  Schulbibliothec  zu  Camenz. 


476  E.  Schwabe:  Die  älteste  deutsche  Zeitschrift  für  höheres  Schulwesen 

zu  sammeln.1)  Um  die  meisten  war  es  allerdings  auch  nicht  schade,  denn  die 
Perückenzeit  ist  für  Kunst  und  Wissenschaft  kein  Perikleisches  Zeitalter  ge- 
wesen. Aber  manche  dieser  Gelegenheitsschriften  enthalten  doch  wissenswerte 
Einzelheiten,  und  wer  einmal  solche  Sachen  vergebens  gesucht  hat,  selbst  am 
Orte  ihres  Erscheinens,  der  wird  den  Wert  einer  solchen  Übersicht  wohl  zu 
würdigen  wissen. 

Leider  ist  der  Zweck  des  Ganzen  dadurch  etwas  verfehlt,  dafs  Biedermann 
ein  eklektisches  Verfahren  ohne  bestimmte  Grundsatze  einschlug,  mancherlei 
wegliefs,  was  man  ungern  entbehrt,  und  vieles  aufnahm,  was  man  als  leeres 
Stroh  bezeichnen  mufs.  Er  scheint  eben  bei  der  Aufnahme  der  einzelnen  Ar- 
tikel von  der  Hand  in  den  Mund  gelebt  zu  haben. 

Die  Arbeiten  selbst  zerfallen  in  vier  grofse  Hauptgruppen:  1)  die  rein 
wissenschaftlichen,  soweit  dies  die  Altertumskunde  angeht,  2)  die  historischen, 
hierbei  das  Wort  im  weitesten  Umfange  genommen,  3)  die  theoretisch  und 
4)  die  praktisch  pädagogischen  Abhandlungen. 

Rein  wissenschaftliche  Arbeiten  auf  dem  Gebiete  der  Altertumswissen- 
schaft treten  uns  in  den  Acta  verhältnismäfsig  selten  entgegen:  auch  diese 
Zeitschrift  scheint  schon  'mit  Ausschlufs  der  klassischen  Philologie'  erschienen 
zu  sein.  Das  hängt  einmal  mit  dem  damaligen  Tiefstand  der  Altertumswissen- 
schaften zusammen,  anderseits  thaten  aber  die  Acta  eruditorum  diesem  Bedürfnis 
hinreichend  Genüge.  Am  geringsten,  an  Quantität  und  Qualität,  sind  die  Ar- 
beiten über  griechische  Schriftsteller  und  Altertümer.  Das  Vorhandene  ist 
dürftig  und,  selbst  mit  historischem  Mafsstab  gemessen,  unbedeutend.*)  Etwas 
besser  sind  die  Arbeiten,  die  sich  auf  Grammatisches  beziehen,  wenngleich  man 
sich  erst  durch  die  wunderlich  kindlichen  Theoreme  hindurchwinden  mufs,  die 
man  damals  für  Sprachforschung  hielt.8)  —  Einen  etwas  höheren  Hang  nimmt 
alles  das  ein,  was  über  Latein  und  die  damit  zusammenhängenden  Fragen  aus 
den  Programmen  ausgezogen  ist,  vor  allem  so  weit  es  schulmäfsig  ist  Be- 
merkungen zu  den  Schriftstellern  und  Altertümern  sind  freilich  ebenfalls  recht 
spärlich  vertreten.  Die  etwas  häufigeren  grammatischen  und  stilistischen  Aus- 
einandersetzungen sind  sachlich  zwar  nicht  viel  hoher  stehend  als  die  über  das 
Griechische  handelnden  Arbeiten,  beweisen  aber  doch,  dafs  der  damalige  Schul- 
sack noch  gut  und  reichlich  mit  Latein  versehen  war.  Der  Inhalt  der  Acta 
ist  zwar  fast  durchweg  deutsch,  aber  wo  sich  Latein  einmal  eingefügt  findet) 
da  ist  es  gut  und  verhältnismäfsig  rein;  der  Stil  ist  zwar  bisweilen  geschraubt) 
aber  es  ist  doch  flüssig  geschrieben  und  leicht  zu  lesen. 

*)  Einzelne  Angaben  hierüber  befinden  sich  in  Ludo?icis  Schulhistorie,  Vorr.  zum  I.  Bd., 
und  in  der  Vorr.  ssum  I.  Bd.  der  Acta. 

*)  Einen  charakteristischen  Beleg  hierfür  bieten  die  Bemerkungen  des  Fürstlich  Hohen- 
lohischen  Eonrektors  M.  Jo.  Christian  Wibel  zu  der  Junckerschen  Ausgabe  von  Plutarch  de 
educatione  pucromm  und  drei  Isokratesreden ,  einem  traurigen  Machwerk  nach  Art  der  in 
diesen  Jahrb.  1897  S.  672  charakterisierten  'pädagogischen'  Übersetzungen  des  Horaz. 

*)  Hin  und  wieder  finden  sich  Zusätze  zu  den  landläufigen  grammatischen  Lehrbüchern, 
vgl.  Act  m  267  ff.  Henr.  Scholtz,  De  aoristoruni  graecorum  differentia  et  notione.  —  In 
A.  u.  N.  III  168  ff.  zu  des  Lambertus  Bos  Werk:  EUipses  graecae. 


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E.  Schwabe:  Die  älteste  deutsche  Zeitschrift  für  höheres  Schulwesen 


477 


Die  zweite  Gruppe  bilden  die  historischen  Arbeiten  aller  Art.  So  weit 
sie  sich  auf  rein  geschichtliche  Dinge1)  beziehen,  sind  sie  in  der  Regel  nur 
Materialiensammlungen  ohne  historische  Kritik,  enthalten  aber  doch  manches 
recht  Brauchbare.  Das  tritt  besonders  hervor,  sobald  es  sich  um  Stadt-')  und 
Schulgeschichtliches5)  handelt.  Gar  manche  von  diesen  Arbeiten  sind  für  die 
Zustande  des  damaligen  Schulwesens,  vor  allem  der  deutschen  protestantischen 
Schulen  im  Auslände,  von  hoher  Wichtigkeit  und  kulturhistorischem  Interesse. 
Man  wird  z.  B.  die  Schicksale4)  des  wackern  deutschen  Rektors  an  der  evan- 
gelisch-lutherischen Schule  zu  Moskau,  Mag.  Christian  Zierold,  nicht  ohne 
Bewegung  und  grofses  Mitleid  mit  diesem  in  ein  damals  halbbarbarisches  Land 
verschlagenen  Gelehrten  lesen,  und  der  dieser  Länder  Kundige  wird  in  den 
Auslassungen  jener  Tage  vielleicht  an  manche  Parallelen  aus  unserer  Zeit 
erinnert  werden. 

Den  Übergang  zu  den  eigentlich  pädagogischen  Abhandlungen  mögen  die 
Abhandlungen  auB  den  'gelehrten  Studien'  bilden,  von  denen  einige  (vgl.  S.  504 
Note  1)  miteingestreut  sind,  und  die  Abhandlungen  über  altdeutsche5)  Lieder, 
die  SchÖttgen  gesammelt  hatte.  Sie  dienten  dazu,  dem  Gesamtbild  einige  bunte 
Farben  mehr  aufzusetzen. 

Den  breitesten  Raum  nehmen  die  pädagogischen  Abhandlungen  ein, 
deren  beide  Abteilungen  sich  nicht  voneinander  trennen  lassen.  Auch  hier  ist 
wenig  Weizen  in  der  Spreu.  Seiten-  ja  bogenlang  findet  sich  die  unerträgliche 
Seichtheit  und  salbungsvoll  -  unausstehliche  pädagogische  Predigt  und  jener 
Schwall  von  Gemeinplätzen,  in  dem  das  18.  Jahrhundert  sich  so  wohl  gefiel.6) 
Daneben  laufen,  immer  mit  pädagogischer  Tendenz,  mancherlei  Kuriosa  mit  unter, 
wie  die  feierliche  Abhandlung  des  Osnabrücker  Rektors  M.  Zacharias  Goetze 


')  Z.  B.  Acta  III  363  ff.  Samuel  Walther,  Das  Magdeburgische  Herzogthum  ein  Land 
der  Grafen.  —  IV  398  Chr.  Runge  (Prorect.  und  Prof.  am  Gymn.  Magdal.  zu  Breslau),  Von 
dem  Ursprung  des  Schlesischen  Adlers.  —  Not.  act.  I  423  Gottfr.  Mörlin,  Rector  zu  Alten- 
burg, Von  ungleichen  Urteilen  über  die  Geschichte  des  Churfürsten  Joh.  Friedr.  des  Grofs- 
mütigen.  —  A.  u.  N.  IV  1  ff.  Joh.  Ludw.  Gebhardi,  Von  dem  Uhrsprung  des  Durchlauchtigsten 
Hauses  der  Fürsten  von  Nassau. 

»)  Vgl.  Acta  I  1.  Chr.  SchÖttgen,  Vom  Ursprünge  des  Gregoriusfestes.  —  A.  u.  N.  VI 
116 — 149  Reformationsgeschichte  der  Stadt  Hildesheim. 

*)  Vgl.  oben  S.  606  Note  1—5.  Ferner  Act.  IV  433  ff.  A.  u.  N.  m  299—327  Nachricht 
von  denen  mittleren  oder  gymnastischen  Schulen  des  Herzogthums  Württemberg. 

«)  Nov.  act.  II  410—432.  774  —  796  (unvollendet)  Herrn  Christian  Zierolds,  Rect.  der 
Evangel.  Luth.  Schule  bey  der  Neuen  Kirche  zu  Mofcau,  von  ihm  selbst  aufgesetzt. 

*)  Nov.  act.  I  677 — 589  Nachricht  von  einem  altteutschen  Manuscript  der  Sprüchwörter 
und  des  Predigers  Salomonis.  A.  u.  N.  VHI  179—206  Probe  einer  Erklärung  der  Offen- 
barung Johannis  in  altdeutschen  Versen. 

')  Um  den  Ton  solcher  Abhandlungen  zu  charakterisieren,  sei  aus  den  Nov.  act.  schol. 
Bd.  I  herausgegriffen:  'Ob  der  Mensch  allein  und  ihm  selbst  gelassen,  vermögend  gewesen, 
reden  zu  lernen,  und  eine  Sprache  zu  erfinden,  oder  ob  vielmehr  Gott  der  Urheber  davon  sey' 
(natürlich  ohne  eine  Ahnung  davon  zu  haben,  dafa  schon  Plato  einen  ähnlichen  Gedanken 
erörtert  hat).  —  ib.  285  'Die  Weisheit  und  Güte  Gottes  im  Winde.'  Anderes  dergleichen 
fast  in  jedem  Bande. 


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478 


E.  Schwabe:  Die  älteste  deutsche  Zeitschrift  für  höheres  Schulwesen 

* 


Tom  Bompernickel'  (Act.  VII  99  ff.),  dessen  trefflichen  Eigenschaften  der  Sieg 
der  'Westphälinger'  über  Varus  und  seine  Legionen  in  der  Hauptsache  zu- 
geschrieben wird;  das  lateinische  Gedicht  des  ehemaligen  Rektors  Joh.  Hoffmann 
von  Frankenhausen  über  'Die  Martinsganfs'  (Acta  H  399) '),  vgl.  die  orientierende 
Bemerkung  Biedermanns  über  diesen  Schulmann;  oder  die  Abhandlung  von 
Johann  Simeon  Lindinger,  Rektors  des  reformierten  Oymnasii  zu  Halle,  'Be- 
urtheylung  des  bey  den  Chinesern  üblichen  Unterrichts  der  Jugend'  (A.  u. 
N.  HI  29  ff).    Vgl.  auch  S.  504  Note  1  am  Ende. 

In  der  grofsen  Menge  der  Aufsatze  vermifst  man  gar  manches,  was  man 
gern  wissen  möchte,  um  ein  deutliches  Bild  von  dem  damaligen  Schulwesen  zu 
gewinnen.  Man  hört  z.  B.  wenig  genug  über  den  Einzelbetrieb  der  Schulen, 
über  ihre  Frequenz  und  und  vor  allem  Angaben  über  den  Durchschnittsstand 
der  Leistungen.  Vielleicht  hat  das  seinen  Grund  darin,  dafs  man  sich  der 
eigenen  Unzulänglichkeit  doch  zu  sehr  bewufst  war.  Denn  wir  dürfen  uns 
diese  Dinge  gar  nicht  gering  genug  denken.  Der  Betrieb  litt  an  dem  zum  Teil 
sehr  geringwertigen  Lehrerpersonal  (Paulsen  I '  593),  die  Frequenz  war  abhängig 
von  allerlei  Faktoren,  die  heutzutage  mit  Recht  stark  zurücktreten,  vor  allem 
städtischen  und  geistlichen  Einflüssen,  und  der  Durchschnittsstand  der  Leistungen 
war  dementsprechend.  Vor  allem  wurde  der  letztere  dadurch  herabgedrückt, 
dafs  die  jungen  Leute  zu  früh  aus  den  Schulen  wegliefen,  sobald  sie  sich  selbst 
oder  ihre  Eltern  sie  für  reif  genug  erachteten,  die  Universität  zu  beziehen. 
Hierüber  wird  oft  laut  geklagt.  Daneben  litt  das  öffentliche  Gymnasium  unter 
dem  alten  Elend  der  Winkelschulen,  die  wie  ein  schädliches  Unkraut  überall 
wucherten.1)  Doch  finden  sich  hier  und  da  schüchterne  Ansätze,  die  Schulwelt 
des  Tages  zu  schildern,  wie  sie  wirklich  war,  freilich  nur  bescheiden  sich 
hervorwagend  und  auch  in  ihren  Auskünften  wenig  befriedigend.  Man  kann 
z.  B.  aus  den  sich  zahlreich  hinter  den  Programmauszügen  findenden  Themata, 
über  die  die  Abiturienten  gesprochen  haben,  manchen  Schlufs  auf  das8)  machen, 

•)  Solche  Poesien  auch  anderwärts.  8o  erschien  in  Meifsen  1710  Posta  Laurent inus, 
Ludi  et  Rpulae  Afranae  feriis  tarn  statis  quam  indictiris  in  ül.  ludo  Mianensi  ad  Albim 
quotannis  celebrari  solitae,  worin  der  anser  Burcardinus  und  die  feriae  stramineae  (entspr. 
dem  heutigen  Schulfest  im  Juli)  die  gröfste  Rolle  spielen. 

*)  Act.  IV  206  Jacob  Krantz,  Rect,  zu  Landeshut  in  Schlesien.  Progr.  1738  frl.  Von 
sogenannten  Winckelachulen.  Vgl.  hierzu  Th.  Vogel  in  Schmids  Encyclop.  des  ge«.  Er- 
ziehungswesens  VII  *  S.  764  mit  der  Note. 

*)  Zu  dieser  Rubrik  gehören  auch  Nov.  act  I  707  Christ.  Tob.  Damm  (Rektor  am  Cölln. 
Gymnasium  in  Berlin),  Anzeige  derer  8atze  zu  denen  wöchentlichen  Rede-  und  Disputations- 
übungen. Sie  beziehen  sich  auf  die  Jahre  1742—1746.  Die  Themen  zu  den  'Rede'übungen 
sind  deutsch  (also  die  Redeübungen  wohl  auch),  und  der  Zahl  nach  kann  man  annehmen, 
dafs  für  jede  Woche  je  ein  Thema  gestellt  ward.  Die  lateinischen  Themen  für  die  Dis- 
putationen sind  weit  zahlreicher,  so  dafs  man  also  daran  denken  mufs,  dafs  sie  zur  Wahl 
gestellt  worden  sind.  Die  Themen  selbst  bewegen  sich  (wie  es  bis  zum  Absterben  dieser 
»ungen  wohl  überhaupt  gewesen  ist)  auf  christlichem  oder  allgemein  moralischem  Gebiet, 
und  nur  sehr  wenige  unter  ihnen  Bind  anfechtbar  oder  ungeeignet.  —  Recht  vernünftig 
klingt  auch  daB,  was  der  Annaberger  Rektor  Gotthold  Wilisch  1724  'Von  der  nützlichen  Ein- 
richtung des  in  Schulen  gewöhnlichen  Perorierens  und  Disputierens'  schreibt  Act,  IV  338— 361. 


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K.  Schwabe:  Die  älteste  deutsche  Zeitschrift  für  höhereH  Schulwesen 


47» 


was  in  den  einzelnen  Schulen  betrieben  worden  ist.  Das  Wie  freilich  wird 
nirgends  erörtert,  wenigstens  nicht  so,  dafs  man  sich  die  damalige  Praxis  genau 
vorstellen  könnte. 

Es  ist  immer  so  gewesen,  dafs  es  viel  weniger  Leute  gegeben  hat,  die 
uns  sagen,  wie  etwas  irgendwo  wirklich  gemacht  wird,  und  sich  kühn  der 
Kritik  stellen,  als  solche,  die  theoretisierend  und  philosophierend  ihre  Weisheit 
zu  Markte  bringen  und  uns  zu  belehren  trachten,  wie  es  gemacht  werden 
könnte  (oder,  wie  sie  denken:  mufste).  Denn  die  Gedanken  wohnen  leicht  bei- 
einander. Davon  macht  auch  die  Mitarbeiterschaft  der  Acta  scholastica  keine 
Ausnahme,  denn  die  Theorie  überwuchert  hier  alles. 

Das  meiste  hiervon  ist  unbrauchbar,  besonders  die  langen  moralisierenden 
Abhandlungen,  die  die  Bände  'Altes  und  Neues'  füllen.  Deren  gelehrte  Lange- 
weile wird  in  den  vorhergehenden  Banden  aber  doch  da  und  dort  durch  Be- 
trachtungen abgelöst,  die  weit  besser  sind,  und  in  denen,  zum  Glück  für  uns, 
es  dem  Autor  widerfährt,  dafs  er  vom  Thema  abspringend  nicht  mehr 
theoretisierend  das  Ideal  der  Schule  und  des  Lehrers  schildert,  sondern  auf  die 
realen  Verhältnisse  und  Zustande  übergreift  und  uns  durch  deren  kritische 
Betrachtung  einen  Einblick  in  die  wirkliche  Schulstube  gewährt.  Über  ein 
hervorragendes  Beispiel  dafür  soll  im  nächsten  Hefte  berichtet  werden. 

cSchlufs  folgt) 


DIE  PÄDAGOGIK  DER  JESUITEN  UND  DER  PIETISTEN 


Von  Geoko  Mertz 
(Schluß) 

Bei  der  Vergleichung  des  Unterrichtestoffes  der  beiden  religiösen  Ge- 
meinschaften fällt  besonders  auf,  dafs  nur  die  Pietisten  für  die  religiöse  Unter- 
weisung und  das  religiöse  Verständnis  ihrer  Schüler  gesorgt  haben,  wahrend 
die  Jesuiten  sehr  wenig  in  diesem  Punkte  geleistet  haben. 

Bei  Francke  kamen  in  den  Volksschulen  von  6  Unterrichtsstunden  4  auf 
Religion.  Daneben  standen  noch  die  vielen  Andachten  und  Gebetsübungen  in 
ihrem  Dienst.  Die  Religion  bildete  den  Mittelpunkt  des  ganzen  Unterrichts. 
Katechismus,  biblische  Geschichte,  Kirchenlieder,  Bibelkunde  standen  in  kon- 
zentrischer Verbindung.  Auch  in  der  Lateinschule  und  in  dem  Pädagogium 
war  trotz  des  Latein  mit  5  bis  7  Klassen  die  Religion  mit  4  bis  5  Klassen 
ausschlaggebend,  denn  auf  sie  wurde  in  allen  Unterrichtsstunden  Bezug  ge- 
nommen. In  allen  Schulen  bildete  die  Bibel  die  Grundlage  des  Religions- 
unterrichts. 

Bei  den  Jesuiten  verdrängten  die  religiösen  Übungen  fast  vollständig  den 
religiösen  Unterrichtsstoff.  In  den  Studia  inferiora  wurde  die  Bibel  überhaupt 
nicht  gebraucht.  In  den  Studia  superiora  wurden  die  Schüler  nur  oberflächlich 
mit  ihr  bekannt  gemacht.  An  ihre  Stelle  traten  die  scholastische  Theologie, 
die  dogmatischen  Lehrsätze  der  Kirche. 

Hier  macht  sich  wiederum  der  confessionelle  Gegensatz  beider  geltend. 
Etwas  hatten  sie  jedoch  auch  hier  gemein.  Wie  die  Jesuiten  darauf  ausgehen, 
die  Lehrsätze  der  Kirche  —  wenn  sie  dem  Ordensinteresse  nicht  widersprechen 
—  in  allen  Teilen  zu  beweisen  und  zu  verteidigen,  so  halten  die  Pietisten  an 
dem  buchstäblichen  Sinn  der  Bibel  als  unbedingt  mafsgebend  für  Glauben  und 
Seligkeit  fest.  Die  scholastische  Theologie  auf  der  einen  Seite,  die  Bibel  auf 
der  anderen  waren  die  Norm  für  Erziehung  und  Bildung. 

Daraus  erklärt  sich  auch  bei  beiden  die  Geringschätzung  und  Vernach- 
lässigung des  Inhaltes  der  Klassiker.  Für  beide  kam  bei  der  Lektüre  der  alt- 
klassischen Schriftsteller  nur  die  sprachlich  -  formelle  Seite  in  Betracht.  Die 
bereinigten  Klassiker*  wurden  zudem  noch  oft  von  den  kirchlichen  Schrift- 
stellern verdrängt. 

Auch  in  der  Methode  finden  sich  neben  Ähnlichkeiten  prinzipielle  Ver- 
schiedenheiten zwischen  Jesuiten  und  Pietisten. 


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G.  Mertz:  Die  Pädagogik  der  Jesuiten  und  der  Pietisten 


481 


In  der  festen  Studienordnung,  in  den  approbierten  Gewohnheiten  der  Pro- 
vinzen und  der  einzelnen  Gymnasien  war  für  den  Jesuitenorden  die  Gewähr 
für  eine  einheitliche  Methode  gegeben.  Wenn  je  einem  Provinzial  eine  Abände- 
rung der  Rat.  stud.  zweckdienlich  schien,  so  hatte  er  es  dem  General  zu  be- 
richten. Veränderungen  durften  dann  nur  in  der  Art  getroffen  werden,  'dafs 
man  unserer  gemeinsamen  Studienordnung  möglichst  nahe  kommt*.  Rat.  stud. 
reg.  prov.  39.  Damit  die  Lehrer  nicht  in  Versuchung  kommen,  vermeintliche 
Besserungen  nach  eigenem  Gutdünken  beim  Unterrichte  einzuführen,  finden 
monatlich  oder  wenigstens  alle  zwei  Monate  Konferenzen  statt,  bei  denen  sie 
ihre  Erfahrungen  und  Verbesserungsvorschläge  vorbringen  können,  um  von 
der  Vortrefflichkeit  der  Rat.  stud.  überzeugt  zu  werden.  Die  Beobachtung  der 
Uniformität  geht  soweit,  dafs  ein  neuer  Lehrer  die  Lehrart  und  die  sonstigen 
Gebräuche  des  Vorgängers  festzuhalten  hat.  R.  st.  reg.  praef.  stud.  inf.  5.  Ein 
Lehrer  darf  nicht  einmal  neue  Beweisgründe  für  die  approbierte  Lehre  an- 
führen, sondern  mufs  die  alten  Beweise  immer  wieder  vortragen.  Rat.  stud. 
reg.  prof.  theol.  5.  Dem  mechanischen  Lehren  entsprach  das  mechanische  Lernen. 
Schon  das  ist  genau  vorgeschrieben,  was  ein  jeder  zu  studieren  hat.  Es  giebt 
kein  Lieblingsstudium.  Nicht  einmal  so  viel  Freiheit  ist  dem  Schüler  gestattet, 
dafs  er  das  vorgeschriebene  Pensum  sich  auf  die  ihm  passende  Weise  zu  eigen 
macht.  Rat.  stud.  reg.  praef.  stud.  27.  Vom  Forschen  und  Denken  wurde  der 
Schüler  methodisch  abgehalten.  War  alles,  was  der  Orden  lehrte,  unbedingte 
Wahrheit,  so  genügte  es  für  den  Schüler,  sich  materiell  dasselbe  anzueignen. 
Sein  Geist  war  nur  ein  leeres  Gefäfs,  in  das  die  Wahrheit  als  fertiger  Stoff 
eingegossen  wurde.  Hätte  er  gewagt,  sich  selbst  von  der  Wahrheit  zu  über- 
zeugen, so  hätte  er  gezweifelt  an  der  Autorität  der  Oberen,  denen  er  Verstand 
und  Willen  im  heiligen  Gehorsam  unterzuordnen  hatte.  So  bleibt  das  Wissen 
ein  toter  Schatz,  zu  dessen  Aneignung  und  Festhaltung  weiter  nichts  als  ein 
gutes  Gedächtnis  erforderlich  ist.  Die  Pflege  des  Gedächtnisses  liefsen  sich  darum 
auch  die  Jesuiten  hauptsächlich  angelegen  sein.  Seine  Übung  förderte  ja 
noch  in  anderer  Hinsicht  den  Zweck  des  Ordens,  Redner  heranzubilden.  Ein 
Redner  mufs  ein  gutes  Gedächtnis  haben,  um  den  Stoff  stets  gegenwärtig 
und  bereit  zu  haben.  Rat.  stud.  reg.  prof.  Rhet.  3.  Aufserordentliches  haben 
auch  die  Jesuiten  in  der  Gedächtnisübung  geleistet.  Jeden  Sonnabend  wurde 
von  den  Schülern  der  in  der  vergangenen  oder  in  mehreren  Wochen  gelernte 
Stoff  auswendig  hergesagt.  Sogar  ganze  Bücher  wurden  auswendig  gelernt 
und  vorgetragen.  Rat.  stud.  reg.  comm.  prof.  class.  inf.  19.  Eine  Gedächtnis- 
übung bilden  die  Deklamationen  und  Redekämpfe.  Zur  gleichen  Pflege  und 
Ausbildung  tragen  nicht  wenig  die  fortwährenden  Wiederholungen  bei.  Taglich 
wurde  die  Lektion  des  laufenden  und  vorhergehenden  Tages  eine  Stunde  lang 
wiederholt.  Rat.  stud.  reg.  comm.  prof.  sup.  fac.  12.  Aufserdem  haben  die  Scho- 
lastiker die  Pflicht,  wöchentlich  drei-  bis  viermal  zu  Hause  je  eine  Stunde  zu  repe- 
tieren. Rat.  stud.  reg.  prof.  Rhet.  19.  So  wird  alles  im  Laufe  des  Schuljahres 
ein  paarmal  wiederholt.  Ist  dies  nicht  möglich,  so  sorgt  der  Lehrer  gegen  Ende 
des  Schuljahres  dafür,  dafs  womöglich  alle  Lektionen  vor  Eintritt  der  Ferien 

Uwe  Jahrbücher    18»9    II  31 


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482 


G.  Mertz:  Die  Pädagogik  der  Jesuiten  und  der  Piet«t*n 


repetiert  werden.  Rat.  stud.  reg.  comm.  prof.  sup.  fac.  13.  Mit  dem  Beginn  des 
neuen  Schuljahres  fängt  auch  die  Repetition  wieder  an.  Der  neue  Stoff  darf 
nicht  in  Angriff  genommen  werden,  bevor  das  Pensum  der  vorhergehenden 
Klasse  wiederholt  ist.  Rat.  stud.  reg.  comm.  prof.  class.  inf.  12,  1.  Kurz  der 
ganze  Unterricht  ist  auf  die  Pflege  und  Übung  des  Gedächtnisses  zum  Nachteil 
des  Verständnisses  angelegt. 

Auch  bei  den  Pietisten  war  das  Lehrverfahren  genau  vorgeschrieben.  Für 
die  einzelnen  Schulen  bestanden  besondere  Lehrpläne,  welche  auch  auf  Kleinig- 
keiten eingingen.  Als  Norm  für  die  deutschen  Schulen  galt  die  'Ordnung  und 
Lehrart  für  die  Waisenhaus-Schulen'.  Für  die  lateinische  Schule  und  das  Päda- 
gogium war  die  'Ordnung  und  Lehrart  des  Pädagogiums'  und  die  'Verbesserte 
Methode  des  Paedagogii  regii'  inafsgebend.  Für  die  Lehrer  bestanden  bis  ins 
einzelnste  gehende  Instruktionen,  an  die  sie  gebunden  waren  und  auf  deren 
Einhaltung  der  Inspektor  zu  dringen  hatte.  'Es  sollen  sich  die  Informatores 
in  allen  Stücken  nach  der  ihnen  vorgeschriebenen  Schulordnung  und  Instruktion 
richten  und  nichts  nach  eigenem  Gefallen  ändern.'  Was  von  den  Informat. 
zu  observieren  §  19.  Trotz  dieser  strengen  Vorschrift  über  die  Beobachtung 
der  Lehrordnungen  und  Instruktionen,  die  hauptsächlich  der  jungen  unerfahrenen 
Lehrer  wegen  gegeben  werden  mufste,  hielt  jedoch  Francke  dieselben  nicht  für 
vollkommen.  Es  sollte  vielmehr  fortwährend  an  ihrer  Verbesserung  gearbeitet 
werden.  'Man  deliberieret  fast  täglich  darüber,  wie  es  immer  in  besserer  Ver- 
fassung und  Ordnung  gebracht  werden  möge,  man  konferieret  mit  schulver- 
ständigen Männern  und  bemüht  sich,  alles  was  man  vor  die  Jugend  nützlich 
erkennet  zu  prakticieren.'  Ordnung  und  Lehrart  des  Pädagogiums  §  49.  Dafe 
es  Francke  wirklich  Ernst  war  mit  dem  Fortschreiten  auf  dem  Gebiete  des 
Schulwesens,  zeigt  die  verbesserte  Methode  vom  Jahr  1721,  in  der  er  in  einem 
Zeitraum  von  19  Jahren  mehr  Veränderungen  vorgenommen  hat  als  die  Jesuiten 
bei  der  letzten  Redaktion  der  Studienordnung  nach  fast  dreihundert  Jahren. 
FQr  ihn  gab  es  eben  in  dieser  Hinsicht  keine  abgeschlossene  Grenze.  Das 
Forschen  nach  Wahrheit  stand  nicht  im  Gegensatz  zu  seinem  biblischen  Glauben. 
Er  konnte  deshalb  auch  den  einzelnen  Informatoren  eine  grofsere  Freiheit  auf 
diesem  Gebiete  gestatten  und  nahm  gern  die  wirklich  guten  Vorschläge  von 
ihnen  an.  So  sagt  §  2  der  Nacherinnerung  zu  der  verbesserten  Methode:  'Ein 
jeglicher  Informator  hat  die  Special- Vorteile,  die  er  bei  seiner  Information  (sie 
mögen  nun  zur  Erleichterung  der  Studiorum  oder  zur  Erhaltung  guter  Ordnung 
dienen)  für  gut  befunden,  wohl  anzumerken,  aufzuschreiben  und  dem  Inspectori 
zu  übergeben,  damit  sie  zur  allgemeinen  Konferenz  gebracht  und  ferner  erwogen 
werden  können.  Was  nun  davon  für  dienlich  und  praktikabel  erachtet  wird, 
das  läfst  der  Inspector  in  das  allgemeine  Observations-Buch  ordentlich,  reinlich 
und  leserlich  eintragen,  damit  es  beibehalten  werde  und  den  Successoribus  zur 
Nachricht  diene.'  Mit  der  protestantischen  Gewissensfreiheit  Franckes  hängt 
es  auch  zusammen,  dafs  er  auf  das  Verständnis  des  Gelernten  bei  den  Schülern 
drang.  Und  weil  die  Erziehimg  für  die  Gemeinschaft  die  Wissenschaft,  die 
nicht  im  Gegensatz  zur  Religion  stand,  nicht  ausschlofs,  so  konnte  er  dem 


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6.  Mertz:  Die  Pädagogik  der  Jesuiten  und  der  Pietisten 


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einzelnen  ScbUler  überlassen,  welchem  Fach  er  sich  widmen  wollte.  'Hierbei 
ist  noch  zu  erinnern,  dafa  die  Scholaren  nicht  verbunden  sind,  dafs  sie  alle 
Disciplinen  mittraktieren  müssen,  sondern  es  wird  teils  auf  die  Capacität  eines 
jeglichen,  teils  auch  auf  den  Zweck,  den  die  Eltern  selbst  mit  den  Kindern 
haben,  gesehen.'  Ordnung  und  Lehrart  des  Pädagogiums  §  39.  Nur  Religion 
und  Latein  waren  für  alle  Schüler  obligatorisch  und  mufsten  ununterbrochen 
während  des  Aufenthaltes  im  Pädagogium  studiert  werden.  Um  den  Schülern 
die  Freiheit  in  der  Wahl  der  Fächer  gewähren  zu  können,  hatte  er  das  Fach- 
system in  den  Anstalten  eingeführt.  Schon  in  dem  Aufsatz  vom  Jahr  1696 
hatte  er  den  Plan  zu  dieser  Einrichtung  entworfen.  'Die  Knaben,  so  in  Infor- 
mation genommen  werden,  sind  von  ganz  unterschiedenen  Jahren,  Ingeniis  und 
Profectibus.  Daher  sie  auch  nach  ihrer  besonderen  und  unterschiedenen  Capa- 
cität zu  unterschiedlichen  Wissenschaften  angeführet  werden,  dergestalt,  dafs 
gleich  und  gleich  zusammen  gestellet  und  zu  einerlei  Lectionibus  gehalten 
werden.'  Darnach  waren  die  Schüler  nicht  nach  Jahrgängen,  sondern  nach 
ihren  Kenntnissen  in  Klassen  eingeteilt.  Je  nach  ihren  Fortschritten  in  den 
einzelnen  Fächern  konnten  sie  verschiedenen  Klassen  angehören.  So  war  z.  B. 
ein  Schüler  im  Latein  in  Prima,  während  er  im  Griechischen  am  Unterricht 
in  der  Secunda  teilnahm.  Der  Überladung  mit  Unterrichtsstoff  war  durch  die 
Mafsregel  vorgebeugt,  dafs  ein  Schüler  zu  gleicher  Zeit  nur  in  drei  Fächern 
Unterricht  empfangen  durfte.  Es  ist  klar,  dafs  durch  dieses  Verfahren  das  Ver- 
ständnis gefördert  wurde.  Der  Schüler  konnte  sich  mit  dem  Einzelnen  ab- 
geben. Der  Stoff  drang  mit  Wucht  auf  ihn  ein  und  erweckte  nachhaltige  Vor- 
stellungen in  ihm.  Das  Gedächtnis  und  die  feste  Einprägung  des  Lernstoffes 
kamen  dabei  nicht  zu  kurz.  In  dieser  Hinsicht  standen  die  Pietisten  den 
Jesuiten  nicht  nach.  Die  Repetition  war  in  §  37  der  Ordnung  und  Lehrart 
des  Pädag.  und  in  der  verbesserten  Methode  'Von  der  Repetition  und  Prä- 
paration' genau  geregelt.  Die  Lehrer  hatten  nicht  allein  regelmäfsig  nach 
Durchnahme  eines  bestimmten  Abschnittes  denselben  in  den  eigentlichen  Unter- 
richtsstunden zu  wiederholen,  sondern  es  waren  für  die  Generalrepetition  auch 
eigens  zwei  Tage  in  der  Woche,  Mittwoch  und  Sonnabend,  bestimmt.  Dabei 
wurden  anfangs  alle  bereits  gelernten  Unterrichtsgegenstände  wiederholt,  so  dafs 
durch  den  gerade  zu  behandelnden  Stoff  das  Pensum  der  früheren  Klassen  nicht 
aus  dem  Gedächtnis  verdrängt  wurde.  Nach  der  verbesserten  Methode  waren 
Latein  und  Religion  von  der  Generalrepetition  ausgeschlossen,  weil  sie  ununter- 
brochen durchgenommen  wurden  und  deshalb  weniger  Gefahr,  vergessen  zu 
werden,  für  sie  bestand.  Die  Fächer,  deren  Wahl  unter  den  früher  erwähnten 
Bedingungen  jedem  Schüler  freistand,  mufsten  dagegen  regelmäfsig  von  einem 
examen  solemne  bis  zum  andern  repetiert  werden.  An  der  Repetition  hatten 
sich  alle  Schüler  zu  beteiligen,  die  jemals  diese  Fächer  gelernt  hatten.  War 
die  Schülerzahl  zu  grofs,  so  richtete  man  Parallelklassen  ein.  Stellte  es  sich 
heraus,  dafs  einzelne  Schüler  das  Gelernte  gänzlich  vergessen  hatten,  so  wurden 
sie  angehalten,  es  von  neuem  zu  lernen.  Zu  diesem  Zwecke  wurden  sie  den 
sogenannten  Präparandi  zugewiesen.    Zu  gleicher  Zeit  mit  den  Generalrepe- 

31« 


484  <»  Mertz:  Die  Pädagogik  der  Jesuiten  und  der  Pietisten 

titionen  wurden  nämlich  besondere  Kurse  abgehalten  für  solche  Schüler,  die 
noch  gar  keinen  Unterricht  in  den  zu  repetierenden  Fächern  genossen  hatten 
und  doch  während  der  Zeit  der  Gencralrepctition  beschäftigt  werden  mufsten. 
In  diesen  Kursen  wurde  ihnen  (den  praeparandi)  dann  ein  allgemeiner  Begriff 
i  coneeptus  generalis)  beigebracht  von  den  Gegenständen,  welche  von  den  andern 
Schülern  unterdessen  repetiert  wurden. 

Erwähnt  mag  hier  noch  ein  Punkt  werden,  den  allerdings  beide  Gemein- 
schaften mit  allen  Schulen  ihrer  Zeit  gemein  haben.  Er  ist  die  Einübung  des 
Formalen  bei  den  Sprachen.  Richtig  und  elegant  schreiben  in  Prosa  und 
Versen  ist  das  Ziel,  dem  die  Lektüre,  der  Grammatikunterricht  und  die  zahl- 
reichen schriftlichen  Übungen  dienen.  Selbst  bei  dem  Unterricht  im  Deutschen 
an  den  höheren  Schulen  verlor  Francke  dieses  Ziel  nicht  aus  dem  Auge.  In 
dem  Kapitel  der  verbesserten  Methode  'Von  der  deutschen  Oratorie'  legt  er 
seine  Ansichten  darüber  dar.  Es  ist  die  alte  Rhetorenschule,  auf  die  Bedürfnisse 
des  Deutschen  zugeschnitten. 

Es  ist  selbstverständlich,  dafs  die  Jesuiten  sowohl  als  auch  die  Pietisten 
nur  solche  Lehrer  unterrichten   liefsen,  die   im  Geiste  der  Gemeinschaft 


Ein  jeder  Jesuit  mufs  eine  Zeit  lang  als  Lehrer  wirken.  Nachdem  er  die 
Studia  inferiore  absolviert  und  von  den  Studia  superiora  Artistik  und  Sprachen 
studiert  hat,  ist  er  als  Lehrer  gewöhnlich  vier  Jahre  in  einer  Klasse  der  niederen 
Schulen  thätig.  Er  unterbricht  dann  das  Lehramt,  um  vier  Jahre  lang  sich 
dem  Studium  der  Theologie  zu  widmen.  In  zwei  weiteren  Jahren  bereitet  er 
sich  auf  die  Lehrthätigkeit  für  die  höheren  Schulen  vor.  Nachdem  er  sodann 
die  Priesterweihe  empfangen  hat,  legt  er  entweder  die  Gelübde  als  Coadjutor 
spiritualis  mit  dem  Versprechen  der  speziellen  eifrigen  Hingabe  an  den  Jugend- 
unterricht, oder  als  Professe  mit  der  Berechtigung,  Unterricht  in  den  höheren 
Schulen  erteilen  zu  dürfen,  ab.  Von  dieser  Regel  wird  nur  selten  eine  Aus- 
nahme gemacht  und  zwar  nur,  wenn  das  Interesse  des  Ordens  es  verlangt. 
Rat.  stud.  a.  1832  reg.  prov.  26.  Dem  Provinzial  steht  es  zu  jeder  Zeit  frei, 
die  Lehrer  abzurufen  und  sie  anderwärts  zu  verwenden.  Kein  Lehrer  weifs 
darum,  wie  lange  er  im  Lehramte  verwendet  wird,  nachdem  er  vier  Jahre  lang 
an  den  niederen  Schulen  gewirkt  hat.  Es  herrschte  deshalb  ein  beständiger 
Wechsel  im  Lehrerpersonal.  Der  Orden  konnte  ohne  Gefährdung  seines  Zweckes 
diese  Praxis  einhalten.  Denn  alle  Lehrer  wirkten  in  demselben  Geiste  und  nach 
derselben  unabänderlichen  Methode.  Und  da  es  bei  den  Schülern  nur  darauf 
ankam,  dafs  sie  mechanisch  den  Unterrichtsstoff  sich  einprägten,  so  nahmen 
auch  sie  nach  der  Ansicht  des  Ordens  an  dieser  Einrichtung  keinen  Schaden. 

Das  Lehrerpersonal  an  den  Franckeschen  Anstalten  bestand  anfangs  mit 
wenigen  Ausnahmen,  wie  z.  B.  des  Schreiblehrers  und  des  französischen  Maitre, 
aus  Studenten  der  Universität,  die  bekehrt  waren.  'So  bringet  es  gewifs  das 
Schulamt  nicht  weniger,  sondern  ebenso  wohl  mit  sich,  dafs  die  Präceptores 
für  alle  und  jede  Seelen,  welche  Gott  ihnen  in  der  Schule  anvertraut  hat, 
schwere  Rechenschaft  geben  müssen,  und  mit  ihrem  Wissen  und  Willen  nichts 


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Ct.  Mertz:  Die  Pädagogik  der  Jesuiten  uml  der  Pietisten 


versäumen  dürfen,  was  zu  der  Untergebenen  ewigen  Wohlfahrt  nötig  und 
erspriefslich  ist .  .  .  Ein  Schulmann  mufs  ein  rechter  Eiferer  sein  für  Gottes 
Ehre  und  eine  gar  zarte  Liebe  gegen  die  Jugend  als  die  Lämmer  von  der  Herde 
Christi  in  seinem  Herzen  haben,  welche  Liebe  ihn  stets  dringe  und  treibe,  dafs 
er  in  allen  Stücken  für  das  Beste  der  Jugend  sorge,  und  alles,  was  er  mit 
ihnen  treibet,  zu  der  Ehre  Gottes  und  der  Jugend  Besten  richte.'  Katechismus- 
examen §  18.  Auf  eine  längere  Thätigkoit  dieser  Lehrer  konnte  Francke  nicht 
rechnen,  'deren  man  sich  nach  Gottes  Willen  eine  Zeit  lang  versichern  kann'. 
Ordnung  und  Lehrart  des  Pädag.  Sekt.  II  Absch.  5.  Also  auch  hier  herrschte 
ein  bestandiger  Wechsel.  Während  aber  die  Jesuiten  gar  nichts  thun  wollten, 
diesem  Ubelstande  abzuhelfen,  empfand  Francke  das  Nachteilige  dieser  Ein- 
richtung. An  der  Abstellung  des  Übels  hinderte  ihn  jedoch  der  Mangel  an 
geeigneten  Lehrkräften  und  die  Notwendigkeit  der  gröfsten  Sparsamkeit.  Beides 
lag  bei  den  Jesuiten  nicht  vor. 

Die  Not  und  nicht  das  Prinzip  wie  bei  den  Jesuiten  war  auch  der  Grund 
der  mangelhaften  Vorbildung  des  Lehrerpersonals  bei  Francke. 

Die  Jesuiten  treten  das  Lehramt  ohne  jede  praktische,  ja  fast  ohne  jede 
wissenschaftliche  Vorbildung  an.  Es  wurde  nicht  einmal  gefragt,  ob  der 
Lehrende  überhaupt  Talent  und  Lust  zum  Unterrichten  habe.  Das  Lehren  war 
einfach  eine  Pflicht  des  heiligen  Gehorsams,  der  sich  jeder  Jesuit  zu  unter- 
werfen hatte.  Obwohl  der  Orden  reichlich  Gelegenheit  und  Mittel  gehabt  hätte, 
hat  er  für  die  Ausbildung  seiner  Lehrer  herzlich  wenig  gethan.  Bei  dem  An- 
tritt des  Lehramtes  an  den  niederen  Schulen  hatte  der  Jesuit  in  den  Gymnasial- 
fächern eigentlich  nur  die  Kenntnisse,  die  er  sich  als  Gymnasialschüler  erworben 
hatte.  Sie  reichten  eben  noch  aus,  um  mit  einer  der  untersten  Klassen  im 
Unterrichten  beginnen  zu  können.  Und  da  er  in  der  Hegel  dieselbe  Klasse 
vier  Jahre  lang  behielt,  so  mufste  er  mit  den  vorrückenden  Schülern  den  zu 
lehrenden  Stoff  erst  selbst  wieder  gründlich  lernen  (Rat.  stud.  reg.  prov.  29), 
wenn  er  es  nicht  vorzog,  die  Hefte  seines  Vorgängers  oder  einen  Autor  einfach 
abzuschreiben  und  vorzutragen.  Mon.  Germ.  Paed.  Bd.  XVI  S.  366.  'Wo  nun 
noch  dazu  überfüllte  Klassen  kamen,  wie  sie  bei  grofser  Frequenz  nicht  selten 
waren,  mufste  der  Unterricht  in  Schlendrian  und  dürftige  Routine  verfallen. 
Ein  junger  Lehrer,  der  ohne  Übung  in  Unterricht  und  Disziplin  vor  eine  Klasse 
von  100  Schülern  und  darüber  sich  gestellt  sah,  konnte  sich  wohl  kaum  anders 
als  durch  mechanisches  Vorsagen  und  Abhören  helfen.'  Paulsen,  Geschichte  des 
gelehrten  Unterrichts  Bd.  I  S.  424.  Noch  mehr  liefs  die  praktische  Vorbildung 
zu  wünschen  übrig.  Wohl  wurden  zuweilen  Anläufe  zur  Lehrerbildung  gemacht, 
wie  im  decr.  9  der  zweiten  Generalkongreg.  a.  1565,  das  die  Gründung  eines 
philologischen  Seminars  anregt,  und  in  Rat.  stud.  reg.  prov.  30,  nach  der  die 
Lehrer  in  Privatakademien  vorgebildet  werden  sollen.  Über  den  Anlauf  kam 
man  aber  nicht  hinaus.  Die  Lehrer  wurden  nach  Rat.  stud.  reg.  rect.  9  viel 
*  einfacher  für  das  Amt  vorbereitet.    Der  Rektor  des  Kollegs,  aus  welchem  die 

Lehrer  der  Grammatik  und  Humanität  genommen  wurden,  bestellte  einen 
Schulmann,  bei  dem  die  künftigen  Lehrer  gegen  das  Ende  ihrer  Studien 


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G.  Mertz:  Die  Pädagogik  der  Jesuiten  und  der  Pietist«« 


wöchentlich  dreimal  durch  Vorlesen,  Diktieren,  Schreiben,  Korrigieren  und 
andere  Arbeiten  9ich  auf  ihren  Beruf  vorbereiteten.  Ahnliche  Vorschriften  giebt 
auch  Rat.  stud.  reg.  prov.  22.  Dem  Mangel  einer  allseitigen,  gründlichen  Vor- 
bildung halfen  auch  die  sogenannten  Repetitionskurse,  welche  im  1 7.  Jahrhundert  ^ 
errichtet  wurden,  nicht  ab.  Denn  das  Hauptziel  dabei  war,  dafs  die  Lehrer 
selbst  es  'zu  einem  reinen  Latein  und  zur  wahren  Eloquenz'  brachten. 

Bei  der  Auswahl  der  Lehrer  hat  Francke  alles  gethan,  was  unter  den 
gegebenen  Umständen  möglich  war.  Die  Studenten  wurden  auf  ihre  Brauch- 
barkeit zum  Lehrfache  beobachtet.  Sobald  man  einen  Würdigen  entdeckte, 
machte  man  ihn  mit  dem  Vorhaben,  ihn  als  Lehrer  zu  bestellen,  bekannt 
Ging  er  darauf  ein,,  so  wurde  ihm  das  Unterrichtsfach  freigestellt.  Bevor  er 
jedoch  mit  dem  Unterrichten  begann,  mufste  er  eine  Zeit  lang  an  den  Kon- 
ferenzen der  Informatoren  teilgenommen  haben.  Bisweilen  mufste  er  auch,  bevor 
er  zum  Unterricht  an  den  höheren  Schulen  zugelassen  wurde,  zur  Probe  im 
Waisenhause  einige  Stunden  unterrichten.  Die  Bedingung  der  Anstellung  war 
aber  stets,  dafs  sie  'in  denen  Studiis  fürnehmlich,  worinnen  sie  informieren 
sollen,  genugsam  gegründet'  und  'eine  Gabe,  deutlich  und  gründlich  zu  lehren, 
sich  hervorthut*  und  'man  sich  ihrer  nach  Gottes  Willen  eine  Zeit  lang  ver- 
sichern kann'.  Ordnung  und  Lehrart  des  Fädag.  Sekt.  II  5.  Das  Lehren  mufsten 
aber  auch  sie  hauptsächlich  erst  beim  Unterrichten  lernen.  Zu  ihrer  Ausbildung 
war  ihnen  zur  Pflicht  gemacht,  wöchentlich  wenigstens  eine  Stunde  in  anderen 
Klassen  zu  hospitieren,  um  das  Lehrverfahren  anderer  Lehrer  kennen  zu  lernen. 
Aufserdem  fanden  täglich  Konferenzen  und  monatlich  Unterredungen  statt,  bei 
denen  die  Lehrer  ihre  gegenseitigen  Erfahrungen  austauschten  und  von  ihren 
gemeinschaftlichen  Studien  sprachen.  In  diesen  Einrichtungen  sah  Francke 
aber  nur  einen  Notbehelf.  Schon  im  Jahre  1707  errichtete  er  eine  Lehrer- 
bildungsanstalt unter  dem  Namen  'Seminarium  selectum  Praeceptorum'.  Wer 
in  dieses  Seminar  aufgenommen  werden  wollte,  mufste  in  der  Theologie,  in 
den  Studiis  humanioribus  und  vor  allen  Dingen  in  der  wahren  Gottseligkeit 
einen  guten  Grund  gelegt  nnd  dabei  natürliche  Gaben,  Geschicklichkeit  und 
Lust  zum  Schulwesen  haben.  Die  Seminaristen  waren  verpflichtet,  nach  zwei- 
jährigem Aufenthalt  im  Seminar  drei  Jahre  lang  an  den  Franckeschen  Anstalten 
zu  unterrichten.  Das  Seminar  sollte  nur  Lehrer  für  die  lateinische  Schule  und 
das  Pädagogium  heranbilden.  Auch  damit  gab  sich  Francke  noch  nicht  zu- 
frieden. Er  wollte  eine  Bildungsanstalt  für  Religionslehrer  und  für  solche,  die 
sich  ganz  dem  höheren  Lchramte  widmen  wollten,  ins  Leben  rufen.  Diese 
Anstalt,  die  allerdings  Projekt  blieb,  sollte  Internat  sein  und  den  Namen 
'Seminarium  elegantioris  litteraturae'  führen. 

Man  sieht,  dafs  er  ganz  andere  Anforderungen  an  den  Lehrerberuf  stellte 
als  die  Jesuiten.  Bei  ihnen  scheint  es  fast,  als  ob  die  Schwächstbegabten  gut 
genug  waren  zum  Lehramt.  Nach  Rat.  stud.  reg.  prov.  19,  4  sollen  nämlich 
diejenigen,  die  sich  im  Verlaufe  des  Studiums  unfähig  für  Philosophie  und  l 
Theologie  zeigen,  für  die  Kasuistik  oder  das  niedere  Lehramt  bestimmt  werden. 
Und  nach  Reg.  prov.  25  sollen  einige,  die  wegen  ihres  Alters  oder  Talentes  nur 


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G.  Mertz:  Die  Pädagogik  der  Jesuiten  und  der  Pietisten 


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geringere  Fortschritte  in  den  höheren  Studien  versprechen,  unter  der  Bedingung 
in  den  Orden  aufgenommen  werden,  dafs  sie  ihr  ganzes  Leben  dem  gottlichen 
Dienst  in  dem  Gymnasiallehramt  sich  weihen  wollen. 

Mit  den  Anforderungen  an  die  Lehrerbildung  hing  die  Achtung,  in  der 
die  Lehrer  in  beiden  Gemeinschaften  standen,  zusammen. 

Von  den  Lehrern  der  Jesuiten  standen  eigentlich  nur  die  Universitäts- 
professoren, die  den  Grad  eines  Professen  mit  vier  Gelübden  erlangt  hatten,  in 
Ansehen.  Und  auch  unter  ihnen  gab  es  solche,  die  nicht  als  Volljesuiten 
betrachtet  wurden,  weil  sie  nur  ausnahmsweise  wegen  ihrer  philologischen 
Kenntnisse  zu  Professen  befördert  worden  waren.  Die  Träger  des  Lehramts 
an  den  niederen  Schulen  erfreuten  sich  dagegen  allgemein  geringer  Achtung; 
denn  sie  waren  ja  erst  auf  dem  Wege,  Jesuiten  zu  werden.  Ihr  Amt  galt  nur 
als  Durchgangsstufe  zu  etwas  Höherem.  Ein  jeder  war  froh,  wenn  er  das 
niedere  Lehramt  hinter  sich  hatte.  Wer  sein  ganzes  Leben  lang  als  Lehrer 
verwendet  wurde,  trug  den  Makel  der  Unfähigkeit  zu  etwas  Besserem  an  sich. 
In  der  Rat.  stud.  findet  sich  auch  nirgends  eine  Hervorhebung  des  Lehrerberufes, 
wenn  man  nicht  die  Stelle  Reg.  prov.  32  dafür  ansehen  will,  wo  verboten  wird, 
die  Lehrer  zu  Nebengeschäften  und  Hausdiensten  zu  verwenden.  Für  die 
Geringschätzung  des  Lehrerstandes  sprechen  noch  die  vielen  Ausnahmen  und 
Zugeständnisse,  die  man  machen  mufste,  um  Lehrer  zu  gewinnen.  Wäre  das 
Lehramt  geachtet  gewesen,  so  hätte  es  dieser  Lockmittel  nicht  bedurft. 

Die  Lehrthätigkeit  der  Studenten  an  den  Franckeschen  Anstalten  war 
zwar  auch  nur  eine  Durchgangsstufe  zu  einem  anderen  Beruf.  Die  meisten 
blieben  nicht  beim  Lehrfach.  Mit  der  Geringschätzimg  des  Lehrerstandes  bei 
den  Jesuiten  hatte  jedoch  die  Stellung  der  Lehrer  Franckes  nichts  gemein.  Er 
schätzte  die  Lehrthätigkeit  vielmehr  so  hoch,  dafs  er  wünschte,  ein  jeder 
Pfarrer  möchte  zuerst  eine  Zeit  lang  Lehrer  gewesen  Bein.  Ja,  er  hatte  vor 
dem  Lehrerstande  eine  solche  Hochachtung,  dafs  er  den  Lehrer  auf  eine  Linie 
stellte  mit  den  Seelsorgern. 

Eine  auffallende  äufsere  Ähnlichkeit  mag  hier  noch  erwähnt  werden,  die 
wohl  mit  dem  hierarchischen  Geiste  und  dem  Anspruch  auf  unbedingte 
Herrschergewalt  sowohl  des  Ignatius  als  auch  Franckes  zusammenhängt.  Bei 
den  Lehrern  beider  Gemeinschaften  bestand  eine  feste  militärische  Rangordnung. 

Bei  den  Jesuiten  führte  der  General  die  Oberaufsicht  über  alle  Lehrer  und 
Schulen.  Const.  IV  10,  2.  Unter  ihm  steht  der  Provinzial,  welcher  die  Lehrer 
und  Schulen  einer  Provinz  zu  beaufsichtigen  und  jährlich  zu  visitieren  hat 
Ihm  untergeben  sind  die  Rektoren  der  Kollegien,  die  vom  General  gewöhnlich 
auf  drei  Jahre  ernannt  werden  und  die  regelmäfsig  dem  Provinzial  Bericht 
über  den  Stand  der  Schulen  einzuschicken  haben.  Rat.  stud.  reg.  rect.  3.  .Den 
Rektoren  zur  Seite  stehen  die  Studienpräfekteu,  deren  es  gewöhnlich  zwei 
giebt.  Der  eine  führt  die  Aufsicht  über  Lehrer  und  Lehrverfahren  an  den 
niederen  Schulen  und  wird  Praefectus  stud.  inf.  genannt.  Der  andere  hat  die- 
selbe Pflicht  an  den  höheren  Anstalten  und  führt  den  Namen  Praefectus  stud. 
sup.    Im  Notfall  kann  noch  ein  dritter  Studienpräfekt  bestellt  werden,  dem 


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0.  Mertz:  Die  Pädagogik  der  Jesuiten  und  der  Pietisten 


die  Aufsicht  über  die  Räume  vor  der  Schule  obliegt.  Reg.  prov.  2  und  3. 
Unter  den  Studienpräfekten  stehen  die  Lehrer,  die  ihnen  in  allem  zu  gehorchen 
haben,  was  zu  den  Studien  und  zur  Schuldisziplin  gehört.  Rat.  stud.  reg.  comm. 
prof.  class.  inf.  11.  J 

An  diese  Einrichtung  erinnern  die  Hallischen  Anstalten.  Die  Oberaufsicht 
und  Oberleitung  lag  in  den  Händen  Franckes.  Obwohl  er  sich  selbst  nicht 
beim  Unterrichte  beteiligte,  war  er  doch  durch  die  Instruktionen  und  Schul- 
ordnungen, die  alle,  wenn  nicht  von  ihm  selbst,  so  doch  unter  seiner  Beihilfe 
und  mit  seiner  Genehmigung  ausgearbeitet  wurden,  die  Seele  von  dem  ganzen 
Werke.  Durch  die  Konferenzen,  die  er  anfangs  taglich,  später  wöchentlich  mit 
den  Inspektoren  abhielt,  blieb  er  stets  in  engster  Fühlung  mit  allem,  was  in 
den  Schulen  seiner  Anstalt  vorging.  Ohne  seinen  Willen  durfte  nichts  geändert 
werden.  Unter  ihm  stehen  die  Inspektoren,  die  er  selbst  ernennt  und  deren 
Aufgabe  sich  auf  die  Aufsicht  der  Lehrer  beschränkt.  'Instruktion  des  Inspec- 
toris  Scholarum'  in  der  Ordnung  und  Lehrart  der  Waisenhausschulen,  und 
Sekt.  II  6  der  Ordnung  und  Lehrart  des  Pädag.  Die  Inspektoren  wählen  sich 
nach  der  letztgenannten  Stelle  je  einen  Vize-Inspektor.  Den  Inspektoren  unter- 
geben sind  dio  Lehrer  an  den  einzelnen  Schulen. 


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INDIVIDUALGEIST  UND  (1ESAMTGEIST 


Von  August  Messer 

Ich  will  hier  die  Frage  erörtern:  Inwiefern  kaiin  man  neben  dem 
individuellen  Geiste  von  einem  Gesamtgeist  reden,  und  welche  Be- 
deutung hat  dieser  Begriff  für  Erziehung  und  Unterricht? 

Bei  der  Behandlung  dieser  Frage  sehe  ich  ab  von  den  angrenzenden 
metaphysischen  Problemen,  wie  sie  in  der  Geschichte  der  Philosophie  mehrfach 
hervorgetreten  sind.  Ich  verbleibe  also  auf  dem  für  alle  gangbaren  Boden  der 
Erfahrung;  ich  will  nur  von  einem  Gesichtspunkte  aus  Umschau  halten  nach 
den  Thatsachen,  die  Zeugnis  ablegen  für  ein  geistiges  Gemeinschaftsleben,  das 
über  die  Individuen  übergreift. 

Da  die  Menschen  als  körperliche  Wesen  selbständig  nebeneinander 
stehen,  ein  jeder  ein  Ding  für  sich,  so  neigt  man  leicht  dazu,  in  zu  hohem 
Grade  sie  auch  geistig  als  selbständig  und  voneinander  unabhängig  auf- 
zufassen. Aber  der  stete  und  rege  Verkehr,  die  innigen  Beziehungen,  wodurch 
die  Menschen  miteinander  verbunden  sind,  dürfen  nicht  als  etwas  angesehen 
werden,  was  den  Menschen  gewissermafsen  nur  äufserlich  berührte,  was  gleich- 
gültig bliebe  für  die  Beschaffenheit  der  Individuen  selbst.  Dafs  die  Menschen 
einer  bestimmten  Zeit  und  eines  bestimmten  Kulturkreises,  bei  allen  individuellen 
Unterschieden,  im  grofsen  und  ganzen  so  viel  Übereinstimmung  zeigen,  ergiebt  sich 
nicht  nur  daraus,  dafs  sie  in  übereinstimmenden  äufseren  Verhältnissen  leben, 
sondern  vor  allem  aus  dieser  geistigen  Wechselwirkung.  Nicht  nur  Vorstellungen 
und  Gedanken,  sondern  auch  Gefühle  und  damit  Willensregungen  werden  un- 
ausgesetzt von  dem  einen  auf  den  anderen  übertragen  —  freilich  nicht  so,  dafs 
dabei  die  Empfangenden  nur  rezeptiv,  nur  passiv  sich  verhalten.  Alles  geistige 
Leben  ist  als  solches  Selbstthätigkeit,  und  was  es  von  aufsen  aufnimmt,  ist  nur 
Anregung  zu  eigenem  Schaffen,  einem  Schaffen,  das  freilich  in  seiner  Selb- 
ständigkeit und  Originalität  zahllose  Abstufungen  zeigt. 

Diese  geistige  Wechselwirkung  aber  ist  es,  wodurch  überhaupt  erst  Unter- 
richt und  Erziehung  ermöglicht  wird. 

Da  aber  Geistiges,  d.  h.  alles  was  in  unserem  Bewufstsein  vorgeht,  nicht 
von  anderen  unmittelbar  wahrgenommen  werden  kann,  so  kann  der  Individual- 
geiet  mit  anderen  individuellen  Geistern  nicht  in  unmittelbare  Beziehung 
treten:  er  mufs  sich,  um  mit  den  anderen  zu  verkehren,  gewissermafsen  ver- 
körpern. Dies  geschieht  aber,  aufser  durch  mimische  Ausdrucksbewegungen, 
vor  allem  durch  die  Sprache.  —  Wohl  klagt  der  Dichter:  'Warum  kann  der 


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A.  Messer:  Individualgeist  und  Gesaiutgcist 


lebendige  Geist  dem  Geist  nicht  erscheinen?  Spricht  die  Seele,  so  spricht,  ach, 
schon  die  Seele  nicht  mehr!'  und  Nietzsche  erklärt:  'Was  sind  Worte  und  Töne 
anders,  denn  Regenbogen  und  Scheinbrücken  zwischen  ewig  Geschiedenen?' 
Gleichwohl  ermöglicht  die  Sprache  den  geistigen  Verkehr  in  einer  so  voll- 
kommenen Weise,  dafs  sie  uns  bei  erneuter  Überlegung  immer  wieder  Be 
wunderung  abnötigt. 

Der  einzelne  nun  kommt  als  sprachloses  Wesen  auf  die  Welt;  er  hat 
nur  die  Fähigkeit,  Bewufstseinszustände  durch  Laute  kund  zu  geben,  Laute, 
die  aber  durchaus  individueller,  subjektiver  Natur  sind.  Dafs  dieselben 
zu  intersubjektiven  Verständigungsmitteln  werden,  ist  nur  durch  die 
beständige  Einwirkung  anderer  bewufster  und  sprechender  Individuen  möglich.1) 
Die  Sprache  ist  also  kein  Produkt  des  Individuums,  sondern  ein  soziales 
Produkt,  ein  Erzeugnis  des  Gesamtgeistes.  Freilich  verhält  sich  dabei  der 
einzelne  nicht  nur  empfangend,  eine  gewisse  Spontaneität  des  einzelnen  in 
der  Aneignung  und  Verwendung  der  Sprache,  ein  gewisses  sprachschöpferisches 
Vermögen  bleibt  erhalten.  Die  Sprache  erscheint  als  ein  Werdendes;  an  ihr 
bethätigen  sich  die  Individuen  nicht  nur  aufnehmend,  sondern  auch  umbildend. 
Zwar  erscheint  der  einzelne  eng  an  den  Sprachgebrauch  gebunden,  aber  alle 
Veränderungen  desselben  kommen  doch  im  Munde  und  im  Denken  von  In- 
dividuen zu  stände.  Meist  ist  diese  Umbildung  eine  ganz  allmähliche,  sie 
ergiebt  sich  aus  der  Summierung  und  gewohnheitsmäfsigen  Festlegung  kleiner 
Verschiebungen,  aber  gelegentlich  bringen  auch  Individuen  von  hervorragender 
sprachbildender  Kraft  Neubildungen  zu  allgemeiner  Geltung. 

Zwar  ist  die  Sprache  nur  ein  Ausdruck  und  Hilfsmittel  des  Denkens,  nicht 
das  Denken  selbst,  im  Kinde  eilt  zunächst  die  Entwickelung  des  Vorstellens 
und  Urteilens  der  des  Sprechens  voraus,  aber  'mit  seinem  Denken  ohne 
Sprechen  würde  jedes  Individuum  auf  dem  Punkte  stehen  bleiben,  wo  die 
Menschheit  vor  Jahrtausenden  begonnen  hat.  Dies  zeigen  die  Erfahrungen  an 
den  Taubstummen  zur  Genüge.  Darum  gilt  von  dem  normalen  Menschen: 
Was  wir  vorstellen,  ist  nur  dann  unser  sicherer  und  fester  Besitz,  wenn  wir 
das  bezeichnende  Wort  dazu  haben.  Wir  empfinden  das  Fehlen  des  Wortes 
zu  einer  Vorstellung  immer  als  einen  Mangel  und  als  ein  Hindernis,  das  uns 
erschwert,  sie  in  ihrer  Eigentümlichkeit  und  Geschiedenheit  von  anderen  fest- 
zuhalten, sicher  zu  reproduzieren  und  vor  Verwechselung  zu  bewahren.' 

Bei  dieser  innigen  Beziehung  zwischen  Sprache  und  Denken  findet  aber 
eine  Beeinflussung  des  individuellen  Denkens  schon  in  seinen  elementarsten 
Gestaltungen  durch  die  Sprache  und  damit  durch  den  Gesamtgeist  statt. 
Der  Gang  der  Reproduktion  und  Assoziation  wird  beim  Kinde  schon  ganz  früh 
durch  die  Sprache,  die  es  hört,  in  bestimmte  Richtungen  gelenkt.  Die  Sprache 
giebt  Anleitung,  die  ungeschiedene  Masse  unseres  Vorstellungsinhalts  zu  gliedern, 
einzelne  Wahrnehmungskomplexe  zu  einer  vorstellungsmäfsigen  und  sprachlichen 
Einheit  zu  verschmelzen,  wie  dies  in  der  Bildung  der  Gattungsbegriffe  statt- 

')  Vgl.  hierfür  und  für  die  folgenden  Bemerkungen  über  die  Sprache  Friedrich  Jodl, 
Lehrbuch  der  Psychologie.    189C  S.  691  ff. 


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A.  "Messer:  Individualgeist  und  Oesamtgeist 


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findet.  Zugleich  lehrt  uns  die  Sprache  zusammengesetzte  Wahrnehmungeu 
inhaltlich  zu  zerlegen,  indem  z.  B.  der  Gegensatz  des  Dinges  und  seiner 
Eigenschaften,  Thätigkeiten  und  Zustande  in  den  sprachlichen  Formen  der 
Substantiva,  Adjektiva  und  Verba  ausgesondert  wird.  Die  Sprache  giebt  also 
dem  Menschen  (in  ihrem  Wortschatz)  einerseits  eine  in  ihr  vorgebildete  Viel- 
heit von  (lautlichen)  Zeichen,  welche  ihn  anleiten,  seine  Erfahrungen  und  Vor- 
stellungen zu  gliedern  in  der  dieser  Vielheit  entsprechenden  Weise;  ander- 
seits bietet  die  Sprache  die  Möglichkeit,  eine  Vielheit  von  Vorstellungen  unter 
ein  einziges  Sprachzeichen  zusammenzufassen  und  dadurch  Erfahrungen  zu 
verdichten  und  zu  konzentrieren.  'Aus  dem  Chaos  der  möglichen  Kom- 
binationen und  Beziehungen,  welche  sich  aus  der  ungeheueren  Mannigfaltigkeit 
unserer  Wahrnehmungawelt  ergeben,  sind  durch  die  Sprache,  in  welcher  sich 
Denken  und  Erfahrung  der  vorausgehenden  Generationen  verkörpern, 
bestimmte  Gruppen  und  Beziehungen  bevorzugt  und  dadurch  der  Assoziation 
feste  Richtungslinien  gegeben.  Das  Begriffssystem  jeder  Sprache,  an  welcher 
ein  individuelles  Denken  heranwächst,  drangt  eine  Menge  Kombinationen  auf, 
die  nicht  entstehen  würden;  zerstört  andere,  die  sich  sonst  bilden  könnten/ 

Die  Sprache  nun  entwickelt  sich  mit  dem  gesamten  Geistesleben  eines 
Volkes;  es  ist  unmöglich,  den  reichen  geistigen  Besitz  einer  Kulturnation  in 
der  stammelnden  Sprache  eines  Naturvolkes  auszudrücken.  Der  einzelne  wächst 
also  mit  dem  Erlernen  seiner  Muttersprache  nicht  nur  in  die  gerade  geltende 
Sprachforra,  sondern  auch  bis  zu  einem  gewissen  Grade  in  die  zu  der  betreffenden 
Zeit  bestehende  Denk-  und  Anschauungsweise,  ja  in  die  gesamte  Kulturlage 
seines  Volkes  hinein. 

Ferner  ist  die  Art  und  Weise,  wie  die  verschiedenen  Sprachen  die  Glie- 
derung des  Erfahrungsinhaltes  vornehmen  und  die  Arten  des  Vorstellbaren 
ausdrücken,  höchst  verschieden;  jede  Sprache  spiegelt  das  Verhältnis  des  Be- 
wufstseins  zur  Realität  in  ihrer  Weise  und  bietet  es  in  dieser  konkreten  Form 
dem  Individuum  als  Mittel  der  Orientierung  in  der  Welt.  Durch  das  Erlernen 
fremder  Sprachen  werden  wir  auf  das  intimste  in  die  Denkweise  anderer 
Nationen  eingeführt;  zugleich  wird  sich  das  Denken  dabei  seiner  innigen  Be- 
ziehung zum  Sprechen  erst  recht  klar  bewufst;  es  sieht,  wie  sich  derselbe 
Gedanke  in  verschiedenen  Sprachen  ausdrücken  läfst  und  in  derselben 
Sprache  in  verschiedener  Weise:  der  Gedanke  wird  als  das  Wesentliche  von 
den  Worten  unterschieden.  Zugleich  ergiebt  sich  die  Erkenntnis,  wie  die 
Struktur  der  verschiedenen  Sprachen  die  Gedankenbildung  selbst  in  verschiedener 
Weise  beeinflufst:  dadurch  aber  wird  der  Gedanke  mehr  und  mehr  befreit  von 
der  Herrschaft  der  Sprache. 

Eine  solche  Entwickelung  des  Denkens  selbst  aber  ist  nötig,  damit  der 
einzelne  teilnehmen  kann  an  der  höchsten  Form  theoretischer  Gesamtbethätigung, 
an  der  Wissenschaft.  Das  Denken  des  einzelnen  in  seiner  natürlichen  Ab- 
hängigkeit von  dem,  was  sich  zufällig  den  Sinnen  bietet,  beeinflufst  von  Trieben 
und  Bedürfnissen,  geleitet  von  zufälligen  Assoziationen  und  den  Kombinationen 
der  Phantasie,  mufs  erst  durch  lange  und  tiefgreifende  Einwirkung  des  Gesamt 


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A.  Messer:  Individualgeiet  und  Gesamtgeitd 


geistes  zu  jenem  streng  geregelten,  objektiven  Verfahren  herangebildet  werden, 
welches  die  Mitarbeit  an  der  Wissenschaft  erheischt.  Es  erscheint  dies  um  so 
selbstverständlicher,  als  der  Oesamtgeist  selbst  erst  ganz  allmählich  zu  jenem 
Verfahren  gelangt  ist,  welches  die  heutige  Wissenschaft  anwendet  und  fort- 
gesetzt  zu  vervollkommnen  trachtet.  So  fafste  z.  B.  der  Mensch  die  ihn  um- 
gebende Natur  ursprünglich  durchaus  nach  Analogie  seines  eigenen  Wesens 
auf.  Weil  hier  Bewegungen  und  Handlungen  auf  Vorstellungen  des  Zwecks 
und  auf  Willensbcthätigungen  erfolgen,  so  sieht  er  auch  in  allen  Natur- 
vorgängen Handlungen  menschenähnlicher  und  zugleich  übermenschlicher 
Wesen.  Und  wie  wenig  theoretisch  ist  seine  Betrachtungsweise,  wie  durch- 
setzt von  Furcht  und  Hoffnung!  Ganz  allmählich  ist  diese  mythisierende 
Auffassung  der  Aufsenwelt  zurückgedrängt  worden,  aber  Anthropomorphismen 
in  der  Naturerfassung  wirken  auch  in  uns  noch  nach,  wenn  auch  überaus  ver- 
feinert und  schwerer  erkennbar,  und  so  ist  es  noch  heute  ein  Gegenstand 
ernster  Arbeit,  zunächst  nur  eine  von  subjektiver  Verfälschung  freie  Be- 
schreibung des  Thatbeatandes  der  Erfahrung  zu  liefern. 

So  zeigt  sich  schon  eine  tiefgehende  Entwicklung  in  der  einfachen 
Auffassung  und  Konstatier ung  des  in  der  Wirklichkeit  Gegebenen,  des 
Materials,  an  dem  nun  erst  die  Wissenschaft  bestrebt  ist,  zu  analysieren, 
Zusammenhänge  festzustellen,  zu  erklären.  Noch  viel  augenfälliger  ist 
die  Entwickelung  in  den  Methoden  der  Wissenschaft,  in  ihrem  Arbeits- 
gerät und  vor  allem  in  dem  Schatze  von  Betrachtungen  und  Erkennt- 
nissen, den  sie  im  Laufe  der  Jahrhunderte  angesammelt  hat. 

Es  ist  vor  allem  die  Aufgabe  der  Schule,  zumal  der  höheren,  den  ein- 
zelnen einzuführen  in  diese  theoretische  Gesamtbethätigung  der  Menschen, 
wie  sie  in  der  Wissenschaft  vorliegt;  ihn  zu  befähigen,  zunächst  rezeptiv, 
weiterhin  aber  auch  produktiv  an  dem  wissenschaftlichen  Leben  teilzunehmen. 
Freilich  ist  es  durch  die  Verschiedenheit  der  Begabung  und  der  Lebensumstande 
bedingt,  dafs  es  nur  verhältnismäfsig  wenigen  gelingt,  auch  nur  auf  einem 
beschränkten  Wissensgebiet  wirklich  zu  einer  nennenswerten  Forderung  der 
Wissenschaft  zu  gelangen;  gleichwohl  fehlt  der  so  umfangreichen  Litteratur, 
der  diese  Bedeutung  nicht  zukommt,  im  grofsen  und  ganzen  nicht  aller  Wert: 
ihre  Verfasser  sind  doch  —  wenn  auch  in  verschiedenem  Mafse  und  mit  ver- 
schiedenem Erfolge  —  bemüht,  wissenschaftlich  zu  arbeiten,  sie  werden  dadurch 
selbst  innerlich  gefordert,  sie  tragen  ferner  vielfach  schätzbares  Material  zu- 
sammen für  Gröfsere,  und  sie  erleichtern  endlich  weiteren  Kreisen  die  rezeptive 
Teilnahme  an  der  Wissenschaft. 

Aber  gerade  in  der  unendlich  reichen  Gliederung  der  wissenschaftlichen 
Bethätigung,  in  dem  Zusammenwirken  so  vieler  an  der  Lösung  wissenschaft- 
licher Probleme  bietet  sich  das  Bild  eines  über  die  einzelnen  über- 
greifenden geistigen  Gesamtlebens.  Und  zwar  führt  die  Wissenschaft 
den  einzelnen  über  sein  Volk  hinaus  in  ein  Gesamtleben  der  Kultur- 
menschheit. 

Als  Gegenstand  der  Wissenschaft  nun  erscheint  der  allen  gemeinsame 


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A,  Messer:  Individualgeitft  und  Gesamtgeist 


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Gesamtbestand  des  Wirklichen,  dessen  Erfassung  die  nie  zu  voll- 
endende Aufgabe  des  Gesamtgeistes  ist 

Jener  Inbegriff  der  Wirklichkeit  aber,  jene  'objektive  Welt'  ist  als 
Ganzes  nicht  Gegenstand  wirklicher  Wahrnehmung  des  einzelnen,  sondern 
ein  Inbegriff  sozusagen  von  möglichen  Wahrnehmungen;  von  möglichen  Wahr- 
nehmungen nicht  jedes  Beliebigen,  sondern  eines  Normalindividuums,  das 
mit  sich  identisch  und  von  allen  im  Denkverkehr  Stehenden  gleich  sehr  vor- 
stellbar ist.  Diese  objektive  Welt  aber  wird  hineinkonstruiert  in  den  absoluten 
Raum  und  die  absolute  Zeit  für  ein  von  aller  Gefühlsbeimischung  entäufsertes 
'Bewußtsein  überhaupt'.1) 

Auch  die  Begriffe  des  absoluten  Raumes  und  der  absoluten  Zeit  werden 
nicht  von  den  einzelnen  als  solchen  gebildet.  Die  subjektive  Raum-  und 
Zeit  vor  Stellung,  deren  allmähliche  Entwicklung  bei  dem  Individuum  die 
Psychologie  nachweist,  sie  wird  erst  im  wissenschaftlichen  Denken  umgebildet 
zu  dem  Raum-  und  Zeit  begriff.  Der  absolute  Raum  und  die  absolute  Zeit 
werden  nunmehr  gefafst  als  die  unendlichen,  vollkommen  kontinuierlichen  und 
gleichmäfsigen  Formen  des  Nebeneinander  und  Nacheinander  alles  Existierenden. 
In  dieser  Fassung  aber  ist  der  Raum-  und  Zeitbegriff  keine  von  dem  einzelnen 
zu  beobachtende  Realität,  sondern  ein  im  Denkverkehr  der  Wissenschaft 
erzeugtes  logisch-mathematisches  Idealgebilde;  also  ein  Produkt  des  Gesamt- 
geistes. 

So  zeigt  also  die  geistige  Bethätigung  der  Menschen  nach  ihrer  theore- 
tischen Seite  ein  inniges  Ineinsleben  der  Menschheit,  durch  das  der  einzelne 
erst  zum  denkenden  Menschen  wird,  und  dessen  Wirkungen  und  Leistungen 
weit  über  die  des  einzelnen  hinausgreifen.  Es  bietet  sich  also  in  Wahrheit 
hier  ein  Thatbestand  dar,  der  ungezwungen  auf  den  Begriff  des 
Gesamtgeistes  hinführt. 

Aber  nicht  nur  in  der  theoretischen  Geistesbethätigung,  im  Streben 
nach  Wahrheit,  zeigt  sich  dies,  auch  auf  dem  Gebiete  des  Schonen  und 
Guten  tritt  uns  die  nämliche  Erscheinung  entgegen.  Nur  mit  einem  Worte 
sei  darauf  hingewiesen,  wie  der  einzelne  in  dem,  was  er  für  schön  hält,  und 
in  dem,  was  er  als  schön  darzustellen  sucht,  das  Kind  seiner  Zeit  ist, 
d.  h.  in  Abhängigkeit  steht  von  einem  übergreifenden  geistigen  Gesamtleben. 
Wichtiger  für  die  Pädagogik  ist,  dafs  dasselbe  auch  gilt,  wenn  wir  den 
Menschen  nach  seiner  praktischen  Seite  als  wollendes  und  handelndes 
Wesen  ins  Auge  fassen. 

Zwar  ist  hier  vieles  in  dem  Individuum  von  der  Geburt  an  gegeben,  was 
gewissermafsen  als  ererbter  Besitz  der  Gattung  angesehen  werden  mufs.  'Der 
Meusch  betritt  die  Welt  mit  einem  angeborenen  Besitz  von  entwickelungs- 
geschichtlich  präformierten  unwillkürlichen  Bewegungen,  mit  welchen  er  auf 
die  ihn  treffenden  Reize  antwortet  und  in  denen  seine  Bedürfnisse  und  Triebe 
zum  Ausdruck  kommen.'    Alle  diese  Triebe:  'Atmungstrieb,  Ernährungstrieb, 


•)  Vgl.  Ernst  Laas,  Idealismus  und  Positivismus.    III.  ^Berlin  1882)  S.  454. 


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A.  Messer:  Individualgeist  und  Geeamtgeist 


Bewegungs- (Spiel)  trieb,  Geschlechtstrieb,  Mitteilungstrieb,  Wahrnehmungs- 
trieb  .  .  .  stehen  in  natürlichem  Zweckzusammenhang  mit  der  Erhaltung  und 
Entwickelung  des  psychophysischen  Organismus,  welche  ohne  sie  unmöglich 
wäre.'1)  Aber  der  gewaltige  Unterschied,  der  zwischen  den  unwillkürlichen, 
triebartigen  Bewegungen  des  Kindes  und  der  zielbewufsten  Bethätigung  des  Er- 
wachsenen im  Dienste  ethischer  Ideale  liegt,  ist  zum  guten  Teil  begründet  in 
der  Einwirkung  des  Gesamtgeistes  auf  den  einzelnen. 

Von  frühester  Kindheit  an  findet  sich  der  Wille  des  einzelnen  gehemmt 
oder  gefördert  durch  das  Wollon  anderer.  Wie  nun  aus  dem  übereinstimmenden 
Denken,  Fühlen  und  Wollen  ursprünglich  gleichartiger  und  unter  gleichartigen 
Naturbedingungen  lebender  Wesen  sich  in  übereinstimmender  Weise  Sprache 
und  religiöse  Anschauungen  entwickelt  haben,  so  haben  sich  dadurch  auch 
übereinstimmende  Lebensgewohnheiten  und  Normen  für  das  Handeln  ge- 
bildet.8) Der  einzelne  gehört  aber  nicht  nur  einer  geistigen  Gemeinschaft  an, 
sondern  verschiedenartigen  konkreten  Ausgestaltungen  derselben,  wie  sie  sich 
in  den  Völkern,  Staaten,  Kirchen,  Kulturgesellschaften  verschiedener  Art,  in 
Stämmen  und  Familien  darstellen.  Alle  diese  geistigen  Verbindungen  aber,  die 
mannigfach  ineinander  übergreifen  und  die  mit  steigender  Kultur  immer  reicher 
sich  gestalten,  wirken  auf  das  Wollen  und  Handeln  des  einzelnen  beschrän- 
kend und  bestimmend;  besonders  deutlich  tritt  im  Staate  dem  lndividnal- 
willen  ein  Gesamtwille  gegenüber.8) 

Dieser  Thatbestand  ist  gerade  für  die  Erziehung  von  der  höchsten 
Bedeutung.  Die  Eltern  und  die  Lehrer  sind  diejenigen  Persönlichkeiten,  die 
für  die  heranwachsende  Generation  in  erster  Linie  als  Träger  und  Vertreter 
eines  Gesamtwollens  in  Betracht  kommen.  Schon  die  Mutter  sagt  dem 
Kinde:  'Das  darf  man  nicht  thun';  sie  giebt  unbewufst  ihrem  Befehle  einen 
allgemeinen  Charakter;  sie  fühlt  instinktiv,  dafs  sie  bei  der  Erziehung  des 
Kindes  nicht  nach  persönlichem  Belieben  befiehlt,  sondern  dafs  sie  einem  Gesetz 
bei  dem  Kinde  Geltung  verschafft,  dem  sie  sich  selbst  unterworfen  fühlt.  Noch 
deutlicher  tritt  in  den  Einrichtungen  und  Lebensgewohnheiten  der  Schule  und 
in  der  nach  einheitlichem  Plane  organisierten  Thätigkeit  der  Lehrer  dem  ein- 
zelnen mit  zwingender  Gewalt  ein  Gesamtwollen  entgegen. 

Es  ist  zweifellos  eine  ernste  Pflicht  des  Lehrers,  wie  jedes  Vorgesetzten, 
zu  scheiden  zwischen  persönlichen  Wünschen  und  Ansprüchen  und  dem,  was 
er  als  Träger  eines  Gesamtwillens  zu  fordern  berechtigt  und  verpflichtet  ist. 
Gar  mancher  erliegt  der  Gefahr,  durch  persönliche  Launenhaftigkeit  oder 
Herrschsucht  beeinflufst  zu  werden  in  seinem  Verhalten  als  Vertreter  des 
Willens  einer  Gesamtheit.  Zweifellos  entwickelt  sich  aber  auch  bei  den  Schülern 
allmählich  ein  Gefühl  dafür,  was  der  Lehrer  kraft  seines  Amtes,  also  kraft  des 
Gesamtwillens,  den  er  vertritt,  und  was  er  als  Person  von  ihnen  fordert.  Wert- 
voll aber  für  die  sittliche  Entwickelung  der  Schüler  wird  es  sein,  wenn  das 

')  Friedrich  Jodl,  a.  a.  0.  8.  422  und  426. 

*)  Vgl.  Wilhelm  Wundt,  Ethik.    (Stuttgart  1886)  S.  386  f. 

*)  Vgl.  Wilhelm  Wundt,  ürundrifc  der  Psychologie.    (Leipzig  1896)  S.  349. 


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A.  Messer:  Individualgeist  und  Gesamtgeittl 


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instinktive  GefQhl  für  den  hier  vorliegenden  Thatbestand  allmählich  zu  klarer 
Einsicht  umgestaltet  wird.  Besonders  bei  denen,  die  einst  in  dem  Kulturleben 
ihrer  Nation  zu  den  führenden  Klassen  gehören  sollen,  die  zu  einem  guten 
Teil  als  Beamte  später  in  ihrem  Wirkungskreise  einen  Gesamtwillen  vertreten 
sollen,  erscheint  es  angemessen,  wenigstens  den  Versuch  zu  machen,  sie  zur 
bewufsten  Erfassung  dieser  Verhältnisse  zu  führen. 

Aller  historische  Unterricht  bietet  reiche  Gelegenheit,  an  deutlichen 
Beispielen  den  Schüler  allmählich  die  Erkenntnis  gewinnen  zu  lassen,  wie  der 
einzelne  in  seinem  Wollen  und  Handeln  durchaus  bedingt  ist  durch  die  jeweils 
historisch  gegebenen  Formen  und  Einrichtungen  des  religiösen,  sittlichen,  recht- 
lichen und  wirtschaftlichen  Lebens.  Der  reifere  Schüler  wird  leicht  erkennen 
können,  wie  die  Schule  selbst,  die  in  so  weitem  Umfange  auf  sein  eigenes 
Leben  bestimmend  einwirkt,  die  fast  seiner  ganzen  Thätigkeit  Ziel  und  Mafs 
giebt>  eine  solche  Gestaltung  ist,  und  wie  auch  Lehrer  und  Direktor  im  Dienst 
eines  höheren  Willens  stehen. 

Nun  ist  aber  der  einzelne  —  und  zwar  um  so  eher,  eine  je  kräftigere 
Individualität  er  von  Natur  besitzt  —  leicht  geneigt,  all  dem,  was  bestimmend 
und  mithin  auch  vielfach  hemmend  und  beengend  an  ihn  herantritt, 
energischen  Widerstand  entgegenzusetzen.  Das  nächste  Ziel  ethischer  Be- 
lehrung wäre  demnach,  ihn  allmählich  zu  der  Einsicht  zu  führen,  dafs  ein 
solcher  Widerstand  des  Individualwillens  gegen  den  Gesamtwillen  auf  die  Dauer 
ganz  nutzlos  ist.  Wie  eine  gewaltige  Maschine,  die  doch  selbst  Menschen- 
werk ist,  den  einzelnen,  der  in  ihr  Räderwerk  gerät,  widerstandslos  zermalmt, 
so  erfassen  die  staatlichen  und  gesellschaftlichen  Einrichtungen  übermächtig 
den  einzelnen,  und  erbarmungslos  bringt  der  Gesamt wille  die  einzelnen  seinen 
Zwecken  zum  Opfer.  Jeder  Krieg  bietet  ein  schlagendes  Beispiel  dafür.  Doch 
diese  den  individuellen  Trotz  niederschmetternde  Einsicht  soll  nicht  die  letzte 
und  höchste  bleiben.  Der  einzelne  soll  über  die  widerwillige  und  äufserliche 
Unterordnung  unter  den  Gesamtwillen  hinausgeführt  und  dazu  gebracht  werden, 
seinen  Geboten  freiwillig  sich  zu  unterwerfen,  sie  in  seinen  eigenen  Willen 
aufzunehmen,  kurz,  aus  dem  Zustand  sittlicher  Heteronomie  zur  sittlichen 
Autonomie  zu  gelangen.  Dieser  Übergang  aber  wird  ihm  erleichtert  werden 
durch  die  Einsicht,  dafs  der  Mensch  nicht  nur  in  seiner  physischen  Existenz 
von  seinen  Mitmenschen  abhängig  ist,  sondern  dafs  er  auch  erst  durch  sein 
Leben  in  und  mit  den  verschiedenen  Gestaltungen  geistiger  Gemeinschaft  ein 
Mensch  wird,  dafs  er  allen  geistigen  Besitz  diesen  verdankt,  dafs  er  also  im 
tiefsten  Grunde  und  in  weitestem  Sinne  ein  soziales  Wesen  ist.  Somit 
erscheint  es  aber  als  eine  Forderung  seiner  physischen  wie  seiner  geistigen 
Natur,  und  demnach  als  sittlich  geboten,  diesen  Gemeinschaften  sich  einzuordnen 
und  darum  ihrem  Willen  sich  zu  unterwerfen.  Zunehmende  Lebenserfahrung 
und  philosophische  Vertiefung  wird  schüefslich  zu  der  Erkenntnis  führen,  dafs 
erst  die  Mitarbeit  an  den  Zielen  des  Gesamtwillens,  die  Förderung  objektiver 
Güter,  dem  Leben  des  einzelnen  einen  wertvollen  Inhalt  giebt.  Nach 
der  niederdrückenden  Einsicht  in    •    -      -igkeit  aller  rastlosen  Bethätigung 


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-4t»*; 


A.  Messer:  Individualgcist  und  Gesamtgeist 


im  Dienste  persönlicher  Bestrebungen  kann  so  der  einzelne  Halt  und  Trost 
finden  in  der  Hingabe  an  die  Zwecke  des  Gesamtwillens. 

Auf  allen  Gebieten  geistigen  Lebens  haben  sich  uns  also  Thatsachen 
gezeigt,  die  darauf  hinweisen,  dafs  alles  individuelle  geistige  Sein  nur  innerhalb 
geistiger  Gemeinschaften  sich  entwickelt  und  dafs  selbstbewufste,  geistige 
Persönlichkeiten  nur  mit  und  in  der  Gemeinschaft  möglich  sind.  Anderseits 
darf  man  behaupten,  dafs  alle  die  Schöpfungen,  in  denen  sich  die  geistige  Ent- 
wickelung  der  Menschheit  darstellt:  Sprache,  Wissenschaft,  Kunst,  Religion, 
Sitte,  Recht  als  Erfindungen  einzelner  nicht  zu  denken  sind;  dafs  sie 
zwar  die  Thätigkeit  einzelner  fordern,  aber  ebenso  sehr  geistige  Gemein- 
schaft.1) Auch  für  das  geistige  Leben  gilt  das  Wort  Fr.  A.  Langes:  'Alles 
Leben  ist  nur  im  Zusammenhang  mit  naturgemäfser  Umgebung  möglich 
und  die  Idee  eines  selbständigen  Lebens  ist  bei  dem  ganzen  Eichbaum  so  gut 
eine  Abstraktion  wie  bei  dem  kleinsten  Fragment  eines  losgerissenen  Blättchens.'8) 

Nicht  minder  treffend  bemerkt  Aloys  Riehl:  'Wer  den  Menschen  vom 
Menschen  geistig  ebenso  trennt,  wie  sich  beide  körperlich  gegenüberstehen,  und 
das  geistige  Sein  und  Wirken  an  den  Körper  des  einzelnen,  oder  gar  an  einen 
Punkt  dieses  Körpers  geknüpft  denkt,  verschliefst  sich  den  Blick  für  die 
Realität  des  allgemeinen,  überindividuellen  Geistes,  dessen  Träger  nicht  die 
Individuen,  sondern  die  Verbände  der  Individuen  sind.  Er  sieht  die  Menschheit 
vor  den  Menschen  nicht.'3) 

Nun  wird  man  allerdings  bedenklich  fragen,  ob  es  denn  wirklich  einen 
Gesamtgeist  gebe,  der  aufs  er  und  neben  dem  Einzelgeist  bestehe  und  der 
als  mystisches  Wesen  gewissermafsen  in  der  Luft  schwebe;  mit  anderen  Worten, 
ob  wir  dem  Gesamtgeist  in  gleichem  Sinne  Existenz  zuschreiben  können, 
wie  dem  individuellen.  Man  wird  sich  doch  kaum  der  Auffassung  entziehen 
können,  dafs  nur  die  Individuen  im  eigentlichen  Sinne  existieren,  dafs  nur 
ihnen  ein  für  sich  bestehendes,  substantielles  Sein  zukomme,  während  all  das, 
was  wir  dem  Gesamtgeist  zugeschrieben  haben,  nur  an  den  substantiell  be- 
stehenden Individuen  als  Erscheinung,  Äufserungsweise  ihres  geistigen  Lebens, 
also  nur  accidentiell  existiere. 

Mit  diesen  Erwägungen  aber  stehen  wir  schon  mitten  in  einer  meta- 
physischen Streitfrage  drinnen,  die  dadurch  noch  verwickelter  ist,  dafs 
auch  das  substantielle  Sein  des  lndividualgeistes  in  Frage  gezogen  wird. 
Schon  Hume  hat  bei  seiner  Kritik  des  Substanzbegriffes  die  Ansicht  ver- 
treten, die  Seele  sei  nichts  als  die  Summe  aller  inneren  Vorstellungen,  die 
in  unaufhörlichem,  gesetzmäfsigem  Flusse  dahinziehen.4)  In  neuerer  Zeit 
haben,  in  Anknüpfung  an  Kant  und  Schopenhauer,  besonders  Wundt6)  und 

')  Vgl-  Wilhelm  Wundt^  System  der  Philosophie.   (Leipzig  1889)  S.  691  ff. 
*)  Geschichte  des  Materialismus.    2.  Aufl.  II  S.  261. 

*)  Der  philosophische  Kritizismus  II  2.    (Leipzig  1887)  8.  255;  vgl.  S.  265  ff. 
4)  Vgl.  Richard  Falckcuberg,  Geschichte  der  neueren  Philosophie.    2.  Aufl.  (Leipzig 
1Ö'J2)  S.  184  f. 

')  Ethik  S.  391  f.    System  der  Philosophie  S.  691  ff. 


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A.  Messer:  Individualgeist  and  Gesamtgeist 


41)7 


und  Paalsen l)  diese  Aktualitätstheorie,  wie  sie  Wundt  nennt,  durch  eine  scharfe 
Kritik  der  Substantialitätstheorie  zu  begründen  versucht.  Die  Anwendung  des 
Substanzbegriffs  auf  die  Seele  sei  eine  ungerechtfertigte  Übertragung  aus  dem 
Gebiet  des  Körperlichen;  dort  habe  er  einen  bestimmten,  angebbaren  Sinn: 
die  Atome  seien  'das  absolut  beharrliche  und  nach  Quantität  und  Qualität 
unveränderliche  Substrat  der  materiellen  Welt.")  Die  Seelensubstanz  aber 
sei  kein  Gegenstand  der  Wahrnehmung,  ihre  Verbindung  mit  den  physischen 
Vorgängen  lasse  sich  nicht  angeben;  'für  den  Seelenatomismus  mit  seinen  ein- 
fachen, nur  in  auf  serer  und  vorübergehender  Wechselwirkung  stehenden  Sub- 
stanzen gebe  es  keinen  geistigen  Zusammenhang,  kein  geistiges  Leben  und  keine 
allgemeinen  geistigen  Zwecke  aufser  solchen,  die  vielen  zufällig  zusammen- 
lebenden Individuen  gemeinsam  seien.'8) 

Diese  Aktualitätstheorie  hat  zweifellos  das  Gute,  dafs  sie  in  energischer 
Weise  die  Bedeutung  jenes  geistigen  Gemeinschaftslebens  hervorhebt.  Dafs 
alle  seine  Produkte,  die  Sprache  ebenso  wie  der  Staat,  die  Religion  wie  die 
Sitte  erfunden  und  gemacht  seien  von  den  einzelnen  Individuen  —  die 
dann  schon  vor  aller  geistigen  Gemeinschaft  als  selbständig  und  fertig  gedacht 
werden  mufsten  — ,  das  war  ja  die  in  der  Aufklärungszeit  herrschende  Ansicht, 
und  das  ist  die  Auffassung,  der  sich  das  naive  Bewufstsein  immer  wieder 
nähert. 

Die  Streitfrage  zwischen  Aktualitäts-  und  Substantialität.stheorie  soll  als 
eine  metaphysische  hier  nicht  behandelt  werden.4)  Nur  darauf  sei  hingewiesen, 
dafs  sich  auch  auf  dem  Gebiet  des  Körperlichen  manche  Schwierigkeiten  bei 
der  Anwendung  des  Substanzbegriffs  ergeben.6)  Ferner,  wenn  man  sich  auch 
alle  Schwierigkeiten,  die  dieser  Begriff  bietet,  zum  Bewufstsein  bringt  —  nach 
wie  vor  fühlen  wir  uns  doch  genötigt,  zu  den  geistigen  Vorgängen  im  in- 
dividuellen Bewufstsein  ein  Etwas  hinzuzudenken,  das  sie  gewissermafsen 
trägt  und  erlebt,  nach  wie  vor  bleibt  also  der  psychische  Zwang  bestehen,  die 
Substanzkategorie  auf  das  individuelle  geistige  Sein  anzuwenden,  während 
ihre  Anwendung  auf  das  geistige  Gemeinschaftsleben  nach  wie  vor  als  un- 
angemessen erscheint.  Wir  werden  also  bei  »vorsichtiger  Ausdrucks  weise  zunächst 
nicht  in  demselben  Sinne  von  dem  Gesamtgeist  wie  von  dem  Individualgeist 
reden  dürfen,  wir  werden  uns  begnügen  müssen,  von  einem  geistigen  Gemein- 
schafts- und  Gesamtleben  zu  sprechen;  aber  immerhin  mag  da,  wo  es  auf 
besondere  Genauigkeit  der  Bede,  nicht  ankommt,  das  Wort  'Gesamtgeist'  seine 
Stelle  finden;  denn  es  fafst  verschiedene  Gruppen  von  Erscheinungen  über- 
sichtlich zusammen  und  erleichtert  die  Ausdrucksweise.  —  Auch  verwendet  ja 
die  Sprache  das  Wort  vielfach  so,  dafs  der.  Gedanke  an  ein  substantiell 


')  Einleitung  in  die  Philosophie.   4.  Aufl.  (Berlin  1896)  S.  132  ff. 
*)  Pauken  a.  a.  0.  8.  184.      ■)  Wundt,  Ethik  S.  361. 

*)  Vgl.  über  die  ganie  Frage  Oswald  Külpe,  Einleitung  in  die  Philosophie,  (Leipzig 
1896)  S.  180  ff. 

')  Vgl.  Ed.  v.  Hartmann,  Philosophie  des  Unbewufsten.    (4.  Aufl.)  S.  78  ff. 

n  32 


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A.  Messer:  Individnalgeist  und  G«samtgeist 


existierendes  Wesen  fernbleibt  so  wenn  wir  z.  B.  vom  Geist  der  Gesetze,  vom 
Geist  eines  Volkes,  einer  Gesellschaft,  einer  Zeit  reden. 

Wir  haben  bisher  unseren  ganzen  Gegenstand  in  der  Weise  behandelt, 
dafs  wir  gewissermafsen  im  Querschnitt  die  innige  Verflechtung  der  einzelnen 
zu  geistiger  Gemeinschaft  betrachteten.  Daneben  ist  jedoch  auch  eine  Behand- 
lung vom  historischen  Gesichtspunkt  aus  möglich,  die,  sozusagen  im  Längs- 
schnitt, die  Entwickelung  des  Gesamtgeistes  in  ihrem  allmählichen  Fort- 
schreiten ins  Auge  fafst. 

Das  Leben  des  Gesamtgeistes,  wie  es  sich  darstellt  in  Wissenschaft  und 
Kunst,  Sitte  und  Recht,  Religion  und  Kultur,  ist  —  eben  als  Leben  —  in 
beständigem  Werden,  in  beständiger  Veränderung.  In  diesen  historischen 
Ausgestaltungen  des  geistigen  Gesamtlebens  stehen  die  Individuen  drinnen,  ja 
mehr  noch,  das  individuelle  Leben  gewinnt  dadurch  erst  seinen  Inhalt  Denn 
man  versuche  einmal,  aus  einem  bestimmten  Menschen  dasjenige  fortzudenken, 
was  seiner  historisch  gegebenen  Religion,  seiner  Epoche  des  rechtlich-moralischen 
Lebens  und  endlich  der  betreffenden  Phase  der  Kultur  im  weitesten  Sinne  an- 
gehört: das  'Etwas',  das  übrig  bleibt,  jenes  'Fürsichsein',  jene  Personenhaftig- 
keit  scheint  nur  eine  Lebensform  zu  sein,  deren  Inhalt  historisch  gegeben 
ist.  Über  diese  sachlichen  historischen  Inhalte  und  ihr  Verhältnis  zum 
persönlichen  Leben  der  Individuen  hat  der  Erlanger  Philosophieprofessor  Clafs 
in  seinen  'Untersuchungen  zur  Phänomenologie  und  Ontotogie  des  menschlichen 
Geistes'  (1896)  in  so  tiefgehender  Weise  sich  ausgesprochen,  dafs  ich  mich 
für  diesen  Teil  meiner  Erörterung  darauf  beschränken  kann,  einige  seiner  Ge- 
danken wiederzugehen. 

Ein  solcher  'historischer  Inhalt'  in  Clafs'  Sinne  ist  also  'eine  bestimmte 
Gestalt  des  religiösen,  rechtlich -moralischen,  kulturlichen  Lebens'.  Er  besteht 
aus  einer  'Summe  von  Formen  des  theoretischen  und  praktischen  Lebens,  aus 
autoritativen  Institutionen,  endlich  aus  einem  mehr  oder  weniger  ausgebildeten 
System  von  Gedanken,  welches  allem  zu  Grunde  liegt.'  Er  stellt  sich  dar 
nicht  blofs  in  einem  'Reich  seelischer  Innerlichkeit,  sondern  in  ungeheueren 
Massen  sinnfälliger,  also  körperlicher  Produkte  und  Gestaltungen.'  Aber  sie 
sind  gewirkt  von  lebendigen  Menschen;  in  ihnen  drückt  sich  ihr  Bedürfen 
und  Wünschen,  ihr  Sinnen  und  Wollen,  ihr  Sehnen  und  Hoffen  aus;  sie 
kommen  von  Seelen  und  reden  zu  Seelen.  Am  augenfälligsten  ist  dies  bei 
aller  Litteratur  der  Fall,  wo  das  sinnliche  Produkt  offenbar  lediglich  die 
Bedeutung  eines  blofsen  Mittels  hat.  Aber  auch  für  die  anderen  Gebiete  gilt 
Ähnliches.  Versetzen  wir  uns  nur  in  eine  Stadt  mit  reicher  historischer  Ver- 
gangenheit! Reden  da  nicht  in  den  Bauten  die  Menschen  ganz  verschiedener 
Zeiten  zu  uns?  Prägen  sich  da  nicht  Ideen,  welche  Gestaltungen  des  geistigen 
Gesamtlebens  angehören,  also  'historische  Inhalte'  aus?  Freilich  nicht  jedem 
tritt  das  Geistige  in  den  sinnfälligen  Produkten  entgegen.  Das  Steingebilde, 
das  dem  Altertumsforscher  das  Bild  eines  längst  vergangenen  geistigen  Lebens 
heraufführt,  ist  dem  schweifenden  Nomaden  nur  ein  merkwürdiger  Steinhaufen. 


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A.  Messer:  Individualgeist  und  Gesamtgeigt 


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Eben  dies  Beispiel  aber  leitet  uns  von  der  Betrachtung  dessen,  was  unter 
einem  'historischen  Inhalt'  zu  verstehen  ist,  auf  die  Erörterung  des 
Verhältnisses,  in  dem  die  Individuen  zu  einem  solchen  Inhalt  stehen 
£  Die  beiden  Betrachter  in  unserem  Beispiele  fassen  dasselbe  Objekt  ganz  ver- 

schieden auf,  weil  in  beiden  die  Vorstellungen,  die  sie  selbst  mitbringen  und 
durch  die  sie  das  sinnlich  Gegebene  appercipieren,  an  Inhalt,  Zahl  und  Glie- 
derung ganz  verschieden  sind.  So  erhalt  Überhaupt  der  einzelne,  der  ja  doch 
in  der  geistigen  Atmosphäre  seiner  Zeit  und  seiner  Umgebung  aufwächst,  ohne 
dafs  er  es  will  und  weifs,  eine  Menge  von  Vorstellungen,  die  eben  einem 
bestimmten  historischen  Inhalte  angehören  und  die  weiterhin  appercipierend 
wirken.  In  ihrem  Lichte  betrachtet  und  behandelt  er  das  seiner  Erfahrung 
sich  Bietende.  In  ebendemselben  Naturvorgang  sieht  der  Wilde  die  Thätigkeit 
menschenähnlicher  Dämonen,  der  Naturforscher  das  Produkt  gesetzmäfsig  wir- 
kender Kräfte. 

Aber  nicht  nur  nach  der  theoretischen,  sondern  auch  nach  der  prak- 
tischen Seite  steht  das  Individuum  unter  der  Herrschaft  der  historischen 
Inhalte.  Die  Forderungen,  die  Familie,  Gesellschaft,  Staat  an  den  einzelnen 
stellen,  ja  die  Forderungen,  die  er  selbst  an  sich  stellt,  die  idealen  Ziele,  die 
er  seinem  sittlichen  Streben  setzt,  sind  bedingt  durch  die  gerade  herrschenden 
historischen  Inhalte. 

Freilich  kann  das  Verhalten  der  Individuen  zu  den  Inhalten  verschieden 
sein.  Je  mehr  wir  in  der  geistigen  Höhenabstufung  der  Menschen  nach 
unten  gehen,  um  so  mehr  Überwiegt,  vor  allem  in  theoretischer  Beziehung, 
das  passive  Verhalten.  Die  Herrschaft  des  Inhalts  über  das  Individuum  ist 
hier  um  so  sicherer,  weil  sie  ihm  als  solche  gar  nicht  zum  Bewufstsein  kommt. 
Was  der  Inhalt  bietet,  ist  bei  den  ganz  in  der  Gegenwart  lebenden  Menschen, 
also  bei  der  Masse,  auch  bei  der  Masse  der  Gebildeten,  das  Selbstverständ- 
liche. Je  höher  aber  der  Mensch  geistig  steht,  je  mehr  er  versteht,  um 
so  weniger  wird  ihm  selbstverständlich.  So  tritt  denn  hier  mehr  und  mehr 
ein  aktives  Verhalten  des  Individuums  gegenüber  dem  Inhalt  auf.  Selbst- 
thätig  erfafst  es  ihn  mit  klarem  Bewufstsein  in  seiner  Tiefe;  durch  überlegten 
Willensentschlufs  vermag  es  sich  in  Beinen  Dienst  zu  stellen.  So  treibt  ein 
solcher  historischer  Inhalt,  ein  solches  objektives  Gedankensystem  zur  Arbeit, 
und  es  giebt  die  Aufgaben  und  Zielpunkte  für  die  Arbeit  von  Tausenden  und 
Millionen  von  Individuen.  Aber  eben  durch  diese  Arbeit  kommt  es,  dafs  solche 
Inhalte  sich  erschöpfen,  sich  ausleben.  Schon  bei  der  positiven  Arbeit 
kommt  es  vor,  dafs  vorhandene  Ausgestaltungen  der  Grundgedanken  einer 
kritischen  Betrachtung  unterworfen  werden,  ja  dafs  die  Fassung  des  Grund- 
gedankens selbst  einer  Revision  unterzogen  wird.  Aber  neue  Inhalte  vermag 
das  kritisch  sich  verhaltende  Individuum  nicht  zu  schaffen;  dazu  bedarf  es 
produktiver  Genialität;  sie  treten  heraus  gewissermafsen  mit  Urgewalt  aus 
W  den  verborgenen  Tiefen  der  Seele,  und  sie  müssen  sich  oft  entwickeln  in  hartem 

Kampfe  mit  früheren,  älteren  Inhalten.  Denn  nicht  für  alle  Individuen  eines 
Volkes  und  einer  Zeit  zugleich  stirbt  ein  solches  Gedankensystem.    Es  kann 

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A.  Messer:  Individnalgeist  und  Geiamtgeist 


noch  auf  lange  hinaus  für  viele  Geltung  und  Leben  behalten,  während  andere 
langst  sich  darüber  hinaus  entwickelt  haben.  Es  gehört  aber  mit  zu  den 
schmerzlichsten  Erfahrungen  für  den  einzelnen  Menschen,  wenn  er  selbst  irre 
wird  an  der  Giltigkeit  und  dem  unbedingten  Wert  des  Ideenkreises,  für  den 
er  seither  eingetreten  ist,  den  er  —  vielleicht  schon  von  frühester  Jugend  an  — 
in  sich  aufgenommen  und  in  dem  er  das  Heiligste,  das  Teuerste,  alles,  was 
seinem  Leben  Sinn  und  Wert  gab,  eingeschlossen  fand.  Überaus  schwer  wird 
es  ihm  sein,  in  eine  neue  Weltauffassung  sich  hindurchzukämpfen,  und  wohl 
mag  der  Fall  eintreten,  dafs  er  an  dem  Verlust,  den  er  erlitten,  innerlich  zu 
Grunde  geht 

Damit  kommen  wir  zu  der  Bedeutung  der  Inhalte  für  das  indivi- 
duelle Leben. 

Sie  enthalten,  wie  wir  sehen,  eine  Gruppe  von  innig  verbundenen  Ideen  und 
Idealen.  Die  einzelnen  haben  daran  Anteil  —  wenn  auch  in  unendlich  ab- 
gestuften Graden  der  Bewufstheit,  der  inneren  Klarheit  Denken  wir  uns  aber 
das  Leben  der  Individuen  von  diesem  ideellen  Gehalt  losgelöst,  so  erscheint  es 
als  durchaus  bedeutungslos,  als  ein  durch  Geburt  und  Tod  begrenzter  Kampf 
um  ein  Dasein,  dessen  Wert,  soweit  er  etwa  noch  in  Gefühlen  der  Lust  und 
des  Glückes  gesucht  wird,  um  so  zweifelhafter  uns  vorkommen  kann,  je  mehr 
wir  darüber  reflektieren. 

Nach  alledem  läfst  sich  von  dem  Gesichtspunkt  unserer  Betrachtung  aus 
die  Aufgabe  von  Erziehung  und  Unterricht  dahin  bestimmen:  es  soll  durch  sie 
das  individuelle  Geistesleben  seiner  allmählichen  Entwickelung  entsprechend  in 
immer  innigere  und  bewufstere  Beziehung  zu  dem  geistigen  Gesamtleben  ge- 
bracht werden.  Die  'historischen  Inhalte',  d.  h.  die  das  religiös-ethische 
Gebiet  wie  die  Kulturarbeit  im  weitesten  Sinne  durchdringenden  und  beherr- 
schenden Ideen  des  Volkes  und  der  Zeit  bestimmen  die  Ziele  der  Erziehung 
und  des  Unterrichts;  psychologische  Einsicht  und  praktische  Erfahrung 
lehrt  die  geeigneten  Mittel  zur  Annäherung  an  diese  Ziele  finden. 

Die  Anteilnahme  der  einzelnen  an  dem  geistigen  Gesamtleben  soll  aber 
nicht  nur  eine  theoretische  sein.  Der  Mensch  ist  zum  Handeln  da.  Und  so 
möge  denn  schon  der  Jugend  die  Überzeugung  eingepflanzt  werden,  dafs  das 
Handeln  des  einzelnen  und  seine  ganze  Lebensgestaltung  nicht  eine  Angelegen- 
heit ist,  die  ihn  allein  anginge,  die  lediglich  seine  Privatsache  wäre,  sondern 
dafs  es  bedeutungsvoll  ist  für  die  engeren  und  weiteren  Lebensgemeinschaften, 
denen  er  angehört  und  für  deren  Ergehen  er  sich  mitverantwortlich  fühlen 
soll.  Aus  unseren  Knaben  und  Jünglingen  mögen  also  Männer  werden,  deren 
Sinnen,  Wollen  und  Handeln  darstellt  ein  Ineinsleben  des  Individualgeistes  und 
des  Gesamtgeistesl 


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MODERNE  SCHULAUSGABEN 

Von  Max  Siebouro 

Unsere  Zeit  steht  im  Zeichen  —  nicht  blofs  de«  Verkehrs,  sondern  auch 
der  Arbeit.  Wohl  in  keiner  Geschichtsepoche  ist  so  rastlos  und  so  intensiv 
geschafft  worden  wie  heutzutage.  Der  gewaltige  Fortschritt,  den  die  moderne 
Welt  auf  allen  Gebieten  materieller  Wohlfahrt  aufweist,  ist  wahrhaftig  nicht 
blofs  eine  Folge  glücklicher  Umstände,  leicht  geborener  genialer  Gedanken: 
die  Früchte,  die  die  Mehrzahl  von  uns  pflückt,  hangen  nicht  rot  und  lustig 
am  Zweig,  wie  uns  ein  Apfel  begrüfst.  Diesem  Zeitgeist  hat  sich  auch  die 
Schule  nicht  verschliefsen  können.  Nicht  als  ob  der  deutsche  Gymnasiallehrer 
früher  auf  der  faulen  Haut  gelegen  hätte.  Das  Gymnasium  ist  von  jeher  eine 
Statte  treues ter  Pflichterfüllung  gewesen,  ein  rechtes  geistiges  yvpvaöiov,  das 
stolz  auf  seine  Erfolge  hinweisen  darf  —  und  gegenüber  manchem  reformieren- 
den Heißsporn  hinweisen  soll.  Ist  doch  daraus  die  Generation  hervorgegangen, 
die  das  Deutsche  Reich  gegründet  hat.  Aber  es  läfst  sich  nicht  leugnen,  dafs 
auch  im  Gymnasium  die  Arbeit  intensiver  geworden  ist.  Die  beschauliche 
Behaglichkeit,  in  der  früher  Lehren  und  Lernen  vor  sich  ging,  ist  verschwunden. 
Die  Masse  des  Lernstoffes  ist  gröfser,  die  Stundenzahl  geringer  geworden,  die 
ganze  Klasse  soll  fortwährend  mitthätig  sein;  da  gilt  es,  mit  dem  Augenblick 
zu  geizen  und  die  Minute  auszunutzen.  Uber  die  Folgen,  schädliche  wie  nütz- 
liche, die  dieser  Arbeitsbetrieb  nach  sich  zieht,  lohnte  sich  schon  einmal  be- 
sonders zu  reden.  Heute  will  ich  nur  eine  dieser  Erscheinungen  ins  Auge 
fassen,  ich  meine  das  Anwachsen  der  Schulbuchlitteratur. 

Was  insonderheit  die  Lektüre  der  altklassischen  Schriftsteller  anbetrifft,  auf 
die  ich  mich  zunächst  beschränke,  so  konnte  man  fast  mit  einer  Variation  des 
bekannten  Sprüchwortes  sagen,  dafs  man  hier  allmählich  vor  lauter  Kommen- 
taren, Inhaltsangaben,  Hilfsheften  und  Abbildungen  den  Text  nicht  mehr  sieht. 
Gewifs  hat  diese  Erscheinung  ihre  zwei  Seiten.  Dafs  solche  Ausgaben  in 
Menge  gemacht  und  gebraucht  werden,  beweist  zunächst,  wie  ernst  es  durch- 
weg mit  der  Behandlung  der  Schriftsteller  genommen  wird,  wie  man  bestrebt 
ist,  möglichst  vollkommen  und  schnell  das  Ziel  eines  allseitigen  Verständnisses 
der  Klassiker  zu  erreichen.  Auch  weifs  ich  wohl,  dafs  die  Forderung  der 
neuen  Lehrpläne,  die  Lektüre  müsse  unbeschadet  der  Gründlichkeit  umfassender 
werden,  viel  zur  Entstehung  jener  Litteratur  beigetragen  hat.  Aber  diese  Er- 
*  wägungen  können  bei  mir  nicht  in  die  Wagschale  fallen  gegenüber  den  grofsen 

Gefahren  und  Schäden,  die  gewifs  mit  dem  Gebrauch  jener  Bücher  verbunden 
sind.    Und  seitdem  Männer,  deren  Namen  sich  des  besten  Klanges  in  der 


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502  M.  8iebourg:  Moderne  Schulausgaben 

pädagogischen  Welt  erfreuen,  sich  an  die  Spitze  solcher  Unternehmnngen  ge- 
stellt haben,  halte  ich  es  für  geboten,  offen  and  anzweideutig  sich  als  Gegner 
derselben  zu  bekennen.  Ich  nenne  mit  Absicht  keine  bestimmte  Sammlung; 
ein  jeder  von  uns  weifs,  worum  es  sich  handelt.  Wir  haben  es  mit  einer 
Idee  zu  thun,  die  in  mehr  oder  minder  ähnlicher  Form  in  allen  jenen  Unter- 
nehmungen Verwirklichung  sucht. 

Wogegen  erkläre  ich  mich  also?  Zunächst  gegen  die  'Auswahlen'.  Der 
ganze  Schriftsteller  gehört  in  die  Hand  wie  des  Lehrers  so  des  Schülers.  Der 
Kostenpunkt  kann  dabei  gar  keine  Rolle  mehr  spielen;  jedenfalls  ist  die  Aus- 
wahl plus  Kommentar  in  der  Regel  teurer  als  der  hlofse  Text  Ferner,  wenn 
auch  nur  einer  von  hundert  Schülern  einmal  sich  etwas  mehr  z.  B.  in  seinem 
Vergil  ansähe,  als  was  gerade  in  der  Schale  gelesen  wird  und  die  Auswahl 
bietet,  so  ist  damit  das  Verdikt  gegen  die  letztere  begründet:  bekanntlich 
freuen  sich  die  Engel  im  Bimmel  mehr  über  einen  Sünder,  der  Bufse  thut, 
denn  Über  99  Gerechte.  Die  alten  Klassiker  soll  der  Gymnasiast  mit  ins 
Leben  hinausnehmen;  ich  lege  Wert  darauf,  data  sie  überhaupt  in  seiner 
Bibliothek  stehen,  die  sicher  manches  Bach  enthalten  wird,  das  er  nicht  öfter 
hervorholt  als  den  Tacitus  oder  Thukydides  und  das  er  doch  als  nötigen  Be 
standteil  der  Sammlung  ansieht.  Vor  allem  aber  bringt  der  Gebrauch  der 
'Auswahlen'  geradezu  Gefahren  für  den  Lehrer  mit  sich.  Die  Ausscheidung 
der  nicht  zu  lesenden  Teile  des  Autors  ist  und  bleibt  subjektiv,  eine  Einigung 
aller  darüber  zu  erzielen  wird  unmöglich  sein.  Ich  bin  also  dabei  dem  Ge- 
schmacke  und  der  Einsicht  eines  anderen  überantwortet.  Man  wende  mir  nicht 
ein,  dafs  ja  bei  Schriftstellern,  die  nicht  ganz  gelesen  werden  können,  auch  die 
Einzelanstalt  ihre  Auswahl  trifft  und  so  die  Freiheit  beschränkt.  Das  kann 
erstlich  jedes  Jahr  wechseln  und  ich  habe  dabei  mitzureden,  zweitens  wird  ein 
vernünftiger  Lehrplan  mehrere  'Vorschläge  enthalten  und  drittens  ein  vernünf- 
tiger Direktor  oder  Schulrat  auch  nichts  dagegen  haben,  wenn  der  Lehrer  auch 
einmal  etwas  anderes  liest,  als  was  gerade  festgelegt  ist  —  wenn  er  es  nur 
ordentlich  macht. 

Es  ist  um  die  humana  inertia  ein  eigen  Ding,  dessen  Schwerkraft  leugnen 
zu  wollen  vermessen  wäre.  Gerade  ein  Beruf,  wie  der  unsere,  der  in  seinem 
äufseren  Verlauf  die  Regelmäfsigkeit  selbst  ist,  verführt  leicht  zum  Mechanischen, 
und  es  ist  schliefslich  nur  zu  begreiflich,  wenn  man  dort  alle  nur  gebotenen 
Erleichterungen  gerne  ergreift,  wo  man  die  Maximalstundenzahl  als  die  nor- 
male betrachtet.  Also  —  anfangs  ärgert  man  sich  über  die  'Auswahl'  eines 
anderen  und  die  Beschränkung  der  Selbstbestimmung.  Aber  allmählich  giebt 
man  seinen  Widerstand  auf;  man  gerät  besonders  da,  wo  Jahr  um  Jahr  der- 
selbe Lehrer  denselben  Schriftsteller  traktiert,  in  einen  bequemen  Schlendrian, 
und  schliefslich  ist  es  doch  immerhin  ein  vernünftiger  Mensch  gewesen,  der 
die  betreffende  Au b wähl  gemacht  hat.  So  ist  die  Gefahr  vorhanden,  dafs  der 
ausgewählte  Herodot  und  Vergil  des  Schülers  auch  der  Herodot  oder  Vergil 
für  den  Lehrer  wird.  Und  was  das  heifsen  will,  brauche  ich  wohl  nicht 
auszuführen. 


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M.  Siebourg:  Moderne  8ohalauugaben 


503 


Für  viel  bedenklicher,  diesmal  auf  Kosten  des  Unterrichts  und  des  Schülers, 
halte  ich  die  Inhaltsangaben,  mit  denen  unsere  modernen  Schulausgaben 
verziert  sind.    Da  werden  nicht  nur  die  grofsen  Abschnitte  in  Überschriften 

►  zusammengefafst  —  Herodot  VI  132 — 136  Zug  des  Miltiades  gegen  Paros, 

VII  8 — 11  Dritter  Zug  gegen  Griechenland,  Beratung  des  Xerxes  mit  den  Grofsen 
seines  Reiches.  Vergil  VI  Äneas  in  der  Unterwelt.  1.  Die  Vorbereitungen 
zum  Gang  in  die  Unterwelt.  2.  Der  Gang  durch  die  Unterwelt.  Ilias.  1.  Teil. 
Einleitung  und  Erregungspunkt.  Buch  1.  1. — 21.  Tag  u.  s.  w.  —  nein,  bei 
jedem  Kapitel,  bei  jeder  Gruppe  von  20 —  30  Versen  steht  am  Rande  in 
prägnanter  Form,  was  der  Grieche  oder  Römer  uns  zu  sagen  haben  wird.  Das 
sieht  so  aus,  wie  in  den  Bibeln,  wo  die  Citate  und  Konkordanzen  die  Ränder 
schmücken,  oder  wie  in  vielen  unserer  wissenschaftlichen  Werke,  die  mit  Fug 
und  Recht  zur  schnellen  Orientierung  des  Benutzers  am  Rand  fortlaufend  kurz 
den  Inhalt  der  Untersuchungen  skizzieren.  Jene  Angaben  in  unseren  modernen 
Schultezten  sind  gewifs  sehr  gut  gemeint  und  wollen  der  Forderung  Rechnung 
tragen,  die  die  neuen  Lehrpläne  mit  Recht  überall  wieder  erheben,  dafs  näm- 
lich der  Schriftsteller  vornehmlich  seiner  selbst,  seines  Inhaltes  wegen  zu  lesen 
ist.  Es  ist  nicht  zu  leugnen,  dafs  die  neuen  Lehrpliiite  in  dieser  Beziehung 
einen  wesentlichen  Fortschritt  bedeuten.  Zwar  hat  der  tüchtige  Lehrer  auch 
früher  den  Inhalt  seines  Autors  nicht  vernachlässigt;  aber  in  der  Allgeroeinheit 
und  mit  dem  Nachdruck,  wie  heutzutage,  ist  diese  Aufgabe  früher  nicht  erfüllt 
worden.  Ich  weifs  aus  meiner  eigenen  Primanerzeit,  dafa  die  Mehrzahl  von 
uns  in  einer  eigenen  Abteilung  des  Präparationsheftes  den  Gedankengang  sich 
fortlaufend  skizzierte.  Aber  da  nicht  in  jeder  Stunde  darnach  gefragt  und 
nicht  immer  zu  Beginn  mit  der  Klasse  der  gröfsere  und  engere  Zusammenhang 
der  zu  behandelnden  Stelle  kurz  und  klar  durgelegt  wurde,  so  bin  ich  über- 
zeugt, wir  hätten  schlecht  bestanden,  hätte  man  uns  unvermutet  gefragt:  Was 
lest  ihr  denn  jetzt  eigentlich?  Bei  der  verwirrenden  Fülle  von  Wissensstoff, 
der  an  einem  5 — 6  stündigen  Unterrichtstage  den  Schülerköpfen  zugemutet 
wird  und  erfafst  und  behalten  werden  soll,  ist  es  einfachste  psychologische 
Forderung,  dafs  zu  Beginn  der  Stunde  gewissermaßen  ein  geistiger  Appell 
stattfinde,  indem  ein  Schüler  etwa  den  Inhalt  des  zu  wiederholenden  Abschnitts 
wiedergiebt,  dann  aber  kurz  der  Zusammenhang  hervorgehoben  wird,  in  dem 
die  Stelle  mit  dem  ganzen  Werk  steht.  Es  genügt  also  z.  B.  bei  Kap.  VI— VIII 
der  Platonischen  Apologie  nicht,  dafs  der  Schüler  sagt:  Sokrates  schildert,  wie 
er  bei  Politikern,  Dichtern  und  Handwerkern  den  delphischen  Orakelspruch  be- 
stätigt gefunden  hat;  es  mufs  auch  noch  erklärt  werden,  welchen  Zweck  diese 
Erzählung  verfolgt,  dafs  Sokrates  damit  den  Grund  seines  schlechten  Rufes 
aufdecken  will  und  bo  sein  drittes,  gewichtigstes  Argument  gegen  die  'ersten 
Ankläger'  vorbringt.  Wird  dergleichen  versäumt,  so  kann  es  vorkommen,  dafs 
der  Schüler  zwar  genau  weifs,  was  Aneas  alles  in  der  Unterwelt  sieht,  aber 

I  nicht  weifs,  warum  er  denn  überhaupt  in  die  Unterwelt  hinabsteigt.  Die 

Rechenschaftsablage  über  diese  Dinge  mufs  stets  der  erste  oder  letzte  Punkt 
der  häuslichen  Vorbereitung  sein. 


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M.  8iebouig:  Moderne  Schulau «gal.cn 


Demnach,  wird  man  nun  sagen,  sind  doch  die  modernen  Ausgaben  nur  zu 
loben,  in  denen  überall  die  geistigen  Wegweiser  aufgesteckt  sind  und  selbst 
dem  zerfahrensten  Schuler  das  Abirren  und  Verfehlen  unmöglich  gemacht  wird. 
Im  Gegenteil,  man  raubt  dadurch  dem  Unterricht  eine  seiner  fruchtbringendsten 
Aufgaben;  die  Bücher  sehen  von  vornherein  so  aus,  wie  sie,  cum  grano  salis 
aufgefafst,  der  Schüler  nach  und  nach  bis  zum  Ende  der  Lektüre  gestaltet 
haben  müfste.  Die  gemeinsame  Feststellung  des  Inhaltes  einer  Stelle  und 
ihrer  Bedeutung  innerhalb  des  Ganzen  mufs  eine  wesentliche  Aufgabe  einer 
jeden  Lektürestunde  bilden.  Und  das  ist  gar  nicht  so  leicht.  Wer  mit 
Primanern  deutsche  Prosastücke  behandelt  hat  und  dabei  einen  knappen  Ge- 
dankengang, eine  disponierende  Inhaltsangabe  herauszuarbeiten  suchte,  der 
weifs  davon  ein  Liedlein  zu  singen.  Man  lasse  einen  mittelmäfsigen  Primaner 
etwa  zehn  Zeilen  eines  solchen  Stückes  lesen,  heifse  ihn  dann  das  Buch  hin- 
legen und  kurz  sagen,  was  er  gelesen  habe  —  so  wird  er  in  der  Regel  krauses 
Zeug  zu  Tage  fordern,  oft  selbst  Dinge,  die  gar  nicht  dastehen;  es  bedarf 
gewöhnlich  erst  einiger  Richtfragen  des  Lehrers,  ehe  die  klare  Zusammen- 
fassung gelingt  und  das  Wesentliche  vom  Unwesentlichen  geschieden  wird. 
Und  eben  die  Fähigkeit  dazu,  das  Wesentliche  vom  Unwesentlichen  zu  scheiden 
—  das  ist  die  goldene,  gar  nicht  hoch  genug  zu  schatzende  Frucht,  die  als 
Lohn  einer  in  diesem  Sinne  betriebenen  Lektüre  winkt;  wer  sie  hat,  von  dem 
sagt  die  Menge,  auch  der  Gegner  mit  Achtung:  er  ist  ein  klarer  Kopf.  Sie 
ist  durchaus  nicht  überall  zu  finden  —  auch  nicht  unter  den  akademisch  Ge- 
bildeten. Von  hohem  Interesse  sind  mir  immer  die  Sitzungsprotokolle,  die  die 
Mitglieder  eines  pädagogischen  Seminars  anfertigen.  Die  Art  und  Weise,  wie 
der  einzelne  den  Inhalt  dessen  zusammenfafst,  was  in  einer  einstündigen 
Sitzung  vorgetragen  wird,  ist  sehr  bezeichnend;  sie  verrat,  wefs  Geistes  Kind 
er  ist.  Ich  wundere  mich  auch  schon  längst  nicht  mehr  darüber,  dafs  Bismarck 
gelegentlich  einmal  einen  Bericht  des  Generalkonsuls  Nachtigal,  des  Afrika- 
forschers, den  ihm  untergebenen  Beamten  des  auswärtigen  Dienstes  in  Abschrift 
zugehen  liefs  als  Muster  dafür,  wie  man  zu  berichten  habe.  Diese  Kunst  mufs 
ihm  doch  wohl  nicht  zu  häufig  entgegengetreten  sein.  Also  —  in  ernster 
Arbeit  hat  der  Schüler  erst  das  zu  erringen,  was  ihm  die  moderne  Ausgabe 
bequem  und  fein  säuberlich  über  dem  Text  und  am  Rande  darbietet.  Natur- 
gemä/s  ist  die  Aufgabe  noch  schwieriger  bei  einem  fremdsprachlichen  Autor, 
wo  sich  zwischen  die  Sache  und  den  rezipierenden  Verstand  noch  die  fremde 
Sprache  stellt.  Man  kann  bei  Extemporeübungen  z.  B.  aus  Livius  oder  auch 
nach  vorangegangener  hauslicher  Vorbereitung,  die  der  Brücke  und  des  'freund- 
lichen* Beraters  entbehrt,  die  Erfahrung  machen,  dafs  dem  Schüler  wohl 
eine  Art  wörtliches  Verständnis  gelingt,  ohne  dafs  ihm  der  Gedankengang 
klar  geworden  ist.  Da  hat  eben  die  Arbeit  der  Schule  einzusetzen,  und  sie 
wird  gern  gethan.  Das  Interesse  erlahmt  dabei  in  der  Regel  nicht,  und  die 
(fvfiyikoXoyovvteg  wissen,  dafs,  wer  von  ihnen  dabei  schlagfertig  ist,  nicht 
gerade  der  Schlechteren  einer  sein  kann.  Also  —  fort  mit  den  Inhaltsangaben 
aus  den  Schulexemplaren;  der  Unterricht  erarbeite  den  Inhalt,  der  Schüler 


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notiere  ihn  sich  fortlaufend  und  kurz.  Dann  ist  es  ein  leichtes  am  Schlufs, 
auch  die  grofcen  Abschnitte  zu  übersehen  und  eine  Disposition  aufzustellen. 
Ich  habe  gar  nichts  dagegen,  wenn  die  Zeichen  dieser  Disposition  ins  Exemplar 

*  eingetragen  oder  etwa  durch  Striche  die  Versgruppen  herausgehoben  werden. 

Die  alten  alexandrinischen  Philologen  hatten  recht  viele  nützliche  und  sinnvolle 
Zeichen  in  ihrem  Homer  stehen.  Zur  Beruhigung  aller  derer,  die  besorgen, 
dafs  bei  einem  Bolchen  Lektürebetrieb  die  sprachliche  Seite  zu  kurz  komme, 
bemerke  ich  ausdrücklich,  dafs  das  Gegenteil  der  Fall  ist:  ohne  die  schärfste 
grammatische  Exegese  ist  ein  klares,  sachliches  Verständnis  gar  nicht  möglich. 

Und  nun  die  Kommentare?  Auch  sie  sind  alle  von  der  besten  Absicht 
erfüllt;  sie  wollen  Ernst  machen  mit  der  Forderung  der  neuen  Lehrpläne,  dafs 
die  Lektüre  ja  nicht  wieder  in  die  'grammatische  Erklärungsweise'  zurückfalle 
und  unbeschadet  der  Gründlichkeit  umfassender  werde.  Drum  wollen  sie  dem 
Schüler  gedruckt  zu  Hause  in  die  Hand  geben,  was  er  durch  eigene  Kraft 
nicht  finden  kann  und  so  den  Unterricht  entlasten.  Da  werden  schwierige 
Konstruktionen  entwickelt,  der  Sinn  wird  erklart,  Übersetzungshilfe  gereicht. 
Die  Rezensenten  sind  durchweg  auch  voller  Lob  über  dies  Bemühen;  nur  hier 
und  da  wagt  sich  die  schüchterne  Bemerkung  hervor,  dafs  doch  eigentlich  nach 
des  Rezensenten  Geschmack  zu  viel  fertige  Ubersetzungen  geboten  würden. 
But  Brutus  is  an  honourable  man,  and  so  are  they  aU.  Und  doch  trifft  das  den 
wunden  Punkt  der  Einrichtung,  auf  den  nur  energischer  und  allgemeiner  hin- 
gewiesen werden  mufs.  Was  ist  denn  das  anders  als  'präparierte  Präparation'? 
Mit  der  Darbietung  jener  Übersetzungshilfen  und  Übersetzungen  wird  dem 
Unterricht  wieder  eine  seiner  fruchtbringendsten  Aufgaben  zum  grofsen  Teil 
vereitelt,  die  sich  gleich  bedeutsam  neben  die  vorher  besprochene,  die  gemein- 
same Erarbeitung  des  Inhaltes  und  Gedankenganges  des  Schriftwerkes,  stellt: 
ich  meine  jetzt  die  Aufgabe,  in  gemeinsamer  Arbeit  mit  der  Klasse  für  den 
fremdsprachlichen  Text  die  möglichst  nahekommende  und  zugleich  möglichst 
gute  deutsche  Übertragung  zu  finden  —  soweit  das  einem  Gymnasiasten  mög- 
lich ist  Das  ist  die  praktische  Bethätigung  der  'Kunst  des  Übersetzens',  die 
täglich  und  stündlich  geübt  werden  mufs  und  gerade  heutzutage  von  besonderer 
Bedeutung  ist.  Gerade  heutzutage,  wo  man  die  Übung  im  Gebrauch  der  fremden 
Sprache  selbst  so  sehr  beschnitten  hat,  ist  jene  tägliche  Arbeit  allein  noch  im 
stände,  Sprach-  und  Stilgefühl  zu  wecken  und  auszubilden.  Wird  sie  von  der 
Sexta  an,  wo  der  Schüler  beispielsweise  neben  pater  filium  amat  das  Deutsche: 
der  oder  ein  Vater  liebt  seinen  Sohn  beobachtend  stellt,  bis  zur  Prima  hinauf, 
wo  virtus  qua  qui  caret  beatus  esse  non  potest  heifst:  die  Tugend,  ohne  deren 
Besitz  man  nicht  glücklich  sein  kann,  die  man  besitzen  mufs,  um  glücklich 
sein  zu  können  —  wird  sie  konsequent  durchgefühlt,  dann  fällt  die  Kenntnis 
dessen,  was  man  gemeinhin  Stilistik  nennt,  als  reife  Frucht  in  den  Schofs.  Es 
bedarf  nur  gelegentlicher  Zusammenfassung  dessen,  was  alle  Tage  geübt  wird. 

fr  Und  wie  gern  wird  diese  Arbeit  gethan,  jenes  'Ringen*  mit  dem  Ausdruck, 

das  recht  eigentlich  in  ein  yvpvdöiov  hineingehört.  Es  ist  eine  wahre  Lust>  zu 
sehen,  wie  lebhaft  die  ganze  Gesellschaft  sich  an  der  Suche  beteiligt,  wie  oft 


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blitzartig  und  überraschend  geschickt  das  Richtige  gefunden  wird;  welcher  be- 
rechtigte Stolz  erfüllt  erst  den  Schüler,  zu  dessen  Vorschlag  der  Lehrer  sagen 
kann:  'Das  ist  gut,  das  ist  treffender,  als  was  ich  gefunden  habe.'  Und  welchen 
Nutzen  zieht  daraus  nicht  die  Kenntnis  der  deutschen  Sprache.  Bei  einer 
Arbeitsweise,  die  nicht  jedes  is  qtti  mit  * derjenige,  welcher',  jeden  Acc.  c  inf. 
durch  einen  Dafssatz,  jedes  Homerische  di  mit  'aber'  wiedergiebt,  wird  der  Vor- 
wurf, der  früher  manchmal  nicht  ohne  Grund  gegen  den  altsprachlichen  Lektüre 
betrieb  erhoben  wurde,  nämlich  er  verderbe  das  Deutsch,  nicht  nur  nicht  mehr 
zu  Recht  bestehen,  sondern  in  sein  Gegenteil  verkehrt  werden  müssen.  Dann 
wird  jede  dieser  Stunden  im  besten  und  wahrsten  Sinne  eine  deutsche  Stunde 
sein.  Nun,  jene  Frische  und  Freudigkeit  des  Unterrichts,  die  Lust  des  Selbst- 
findens,  der  lebendige  Erwerb  stilistischer  Kenntnisse,  die  Zunahme  in  der  Be- 
herrschung der  Muttersprache,  das  alles  wird  zum  grofsen  Teil  durch  die 
Kommentare  mit  ihren  Übersetzungshilfen  und  fertigen  Übersetzungen  vereitelt. 
Also  —  'supplicium',  wie  'Auch  Einer*  sagt. 

Noch  eine  andere  Gefahr  bringt  der  Gebrauch  der  Kommentare  mit  sich, 
von  der  ich  nur  ungern  rede,  eine  Gefahr  für  den  Lehrer  selbst.  Befindet  sich 
der  Kommentar  in  den  Händen  der  Schüler,  so  mufs  selbstverständlich  der 
Lehrer  ihn  auch  zu  Rate  ziehen.  Hat  aber  jemand  22 — 24  Stunden  wöchentlichen 
Unterricht,  dabei  Aufsatze  und  andere  Arbeiten  zu  korrigieren  und  mehrere 
Schriftsteller  nebeneinander  zu  behandeln,  so  findet  er  durchaus  nicht  immer 
die  gar  nicht  geringe  Zeit,  die  dazu  gehört,  50  Verse  Vergil  oder  ein  Kapitel 
einer  Demosthenischen  Rede  in  gutes  Deutsch  zu  übertragen.  Es  ist  nur  zu 
menschlich,  wenn  er  sich  mit  dem  begnügt,  was  der  Kommentator  ihm  bietet. 
Wo  die  Sache  etwas  schwierig  wird,  springt  der  schon  freundlich  bei  und  er- 
möglicht eine  rasche  Vorbereitung.  Was  das  aber  auf  die  Dauer  besagen  will, 
ist  leicht  abzusehen.  Man  begiebt  sich  mehr  und  mehr  in  die  so  bequeme 
Abhängigkeit  von  fremden  Gedanken,  man  büfst  an  Selbständigkeit  des  Urteils 
ein  und  verliert  den  Zusammenhang  mit  der  Wissenschaft,  man  gerät  so  in  die 
Gefahr,  auf  die  Stufe  der  nur  für  die  Elemente  vorgebildeten  Lehrer  zu  sinken, 
eine  Gefahr,  die  alle  Gehalts-  und  Rangerhöhungen  nicht  abwenden  können. 
Ohnehin  ist  das  jetzt  herrschende  Prinzip  der  Unterrichtsverteilung  wissen- 
schaftlicher Vertiefung  nicht  gerade  hold.  Klassenlehrertum,  nicht  Fachlehrer- 
tum  ist  heute  die  Parole;  beide  Einrichtungen  haben  ihre  unleugbaren  Vor- 
und  Nachteile.  Jedenfalls,  wer  in  einer  Prima  Lateinisch,  Griechisch  und 
Deutsch  verwaltet  und  natürlich  auch  behufs  Erreichung  der  Normalstunden- 
zahl anderes  Wissenswerte  lehren  mufs,  für  das  er  in  der  Regel  auch  noch 
mancher  Vorbereitung  bedarf,  der  mufs  gute  Nerven  haben  und  mit  der  Zeit 
ordentlich  haushalten,  wenn  er  mit  den  bedeutenderen  Leistungen  und  Fort- 
schritten seiner  Fachwissenschaft  bekannt  bleiben  und  nebenher,  was  ich  für 
dringend  wünschenswert  halte,  an  einer  wenn  auch  noch  so  kleinen  Stelle 
selbst  forschend  mitarbeiten  wilL 

Einen  Vorwurf  müssen  wir  freilich  an  diesem  Punkt«  gegen  die  philo- 
logische Wissenschaft  erheben.    Mit  dem  gewaltigen  Fortschritt,  den  sie  in 


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den  letzten  Dezennien  fast  in  allen  ihren  Zweigen  gemacht  hat,  hat  die  Er- 
klärung der  alten  Autoren  nicht  gleichen  Schritt  gehalten.   Wie  oft  begegnet 
man   auch   in   philologischen  Zeitschriftartikeln  bei  der  Behandlung  einer 
P  schwierigen  Stelle  der  Bemerkung:  die  Kommentare  lassen  uns  hier,  wie  ge- 

wöhnlich, im  Stich,  silent  ut  solent  Die  Wissenschaft  ist  sich  selbst  dieser 
Lücke  wohl  bewufst,  und  in  den  allerletzten  Jahren  wendet  man  sich  that- 
kräftig  den  hier  noch  zu  losenden  grofsen  Aufgaben  zu.1)  Das  Gymnasium 
darf  hoffen,  yon  jener  Thätigkeit  reiche  Frucht  zu  ziehen,  erst  recht  dann, 
wenn  die  Wissenschaft  etwas  mehr,  als  es  die  Hegel  ist,  von  den  Bedürfnissen, 
Bestrebungen  und  Fortschritten  der  Gymnasialpädagogik  Notiz  nimmt. 

Und  nun  noch  ein  Wort  über  die  sogenannten  Hilfsheft e.')  Sie  enthalten 
sehr  viel  Praktisches,  Schönes  und  Wissenswertes,  und  man  könnte  sich  glück- 
lich schätzen,  wenn  am  Ende  eines  Lehrganges  die  Klasse  das  alles  in  sich 
aufgenommen  hatte.  Bücher,  wie  die  beiden  Homerhefte  von  Henke,  die  die 
Frucht  einer  langjährigen  Erfahrung  und  pädagogischer  Einsicht  sind,  können 
ror  allem  dem  von  grofsem  Nutzen  sein,  der  zum  erstenmal  Odyssee  oder 
llias  zu  behandeln  hat,  und  ihm  zeigen,  wie  er  diese  Dinge  anfassen  soll. 
In  der  Hand  des  Schülers  möchte  ich  drum  doch  nicht  jene  Hilfshefte  sehen. 
Auch  sie  greifen  wieder  oft  dem  Unterricht  zu  sehr  vor.  Sie  geben  vielfach 
Zusammenstellungen  in  fertiger  Form,  die  der  Schüler  durch  eigene  Kraft, 
durch  eigenes  Sammeln  sich  im  Laufe  der  Zeit  erst  erarbeiten  sollte.  Wer 
den  Schülerthätigkeitsdrang  darauf  leitet,  weifs,  wie  gern  solche  Arbeiten  ge- 
macht werden,  niemand  wird  ihren  Segen  bestreiten  wollen.  Dem  Schüler 
gäbe  ich  am  liebsten  statt  all  der  Hefte  zu  jedem  einzelnen  Schriftsteller  einen 
Abrüs  der  Realien  und  Antiquitäten  einschliefslich  einiger  Hauptpunkte  der 
antiken  Kunstgeschichte  in  die  Hand,  der  ihn  durch  Mittel-  und  Oberklassen 
begleiten  müfste.  Er  dürfte  schon  als  Ersatz  für  die  verschiedenen  Hilfshefte 
und  Kommentare,  gewissermafsen  als  eine  sachliche  Grammatik,  ein  paar 
Mark  kosten. 

In  summa  —  ich  erkläre  mich  gegen  die  Gestaltung  und  die  Beigaben, 
wie  sie  unsere  modernen  griechischen  und  lateinischen  Schulausgaben  zeigen. 
Der  Lehrer  hat  wenig  Nutzen,  dagegen  wahrscheinlich  in  der  Regel  Schaden 
davon,  indem  er  zu  bequemer  Drangabe  der  geistigen  Selbständigkeit  und  zur 
Entwissenschaftlichung  verführt  wird.  Schüler  und  Unterricht  haben  durchweg 
nur  Nachteil  davon;  ihnen  werden  die  erfreulichsten  und  förderndsten  Arbeiten 
vorgemacht  Blieben  noch  Verleger  und  Bearbeiter.  Für  den  ersteren  haben 
wir  nicht  zu  sorgen;  ich  bezweifle  aber,  ob  selbst  er  besonderen  Vorteil  aus 
solchen  Unternehmungen  zieht.  Die  Konkurrenz  ist  zu  grofs,  und  ich  habe  da 
schon  ganz  merkwürdig  resignierte  Aufserungen  Beteiligter  gehört.  Der  einzige 
allerdings,  der  die  Frage  'cui  bono*  positiv  und  fröhlich  beantworten  kann,  ist 

gl  >)  Vgl.  C.  Hosius,  Neuere  Kommentare  zu  lateinischen  Dichtern,  in  diesen  Jahrbachern, 

Jahrg.  1899  I.  Abi  S.  101  ff. 

")  Auf  die  Abbildungen  gehe  ich  absichtlich  nicht  ein.    Da«  ist  eine  besondere  Frage 
für  »ich,  die  augenblicklich  ebenso  brennend  ist,  wie  der  uns  beschäftigende  Gegenstand 


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M.  Sieboorg:  Moderne  iSchulausgaben 


in  unserem  Fall  der  Editor;  er  hat  redliche  Arbeit  hinter  sich  und  hoffentlich 
auch  noch  etwas  materiellen  Vorteil  bei  der  Sache.  Dieselbe  Arbeit  aber,  die 
er  geleistet,  mufs  ein  jeder  von  uns  für  sich  thun  —  das  ist  unsere  Pflicht 
und  Schuldigkeit,  für  die  kein  Ersatzmann  eintreten  kann.  ^ 

Ich  wünsche  in  der  Hand  unserer  Gymnasiasten  gut,  d.  h.  den  Forderungen 
der  Hygiene  entsprechend  gedruckte,  unverkürzte  Texte  unserer  Schulklassiker. 
Davor  zunächst  eine  in  deutscher  Sprache  abgefafste  Inhaltsübersicht  nach 
grofsen  Abschnitten,  die  eine  schnelle  Orientierung  und  einen  vorläufigen  Durch- 
blick durch  das  Ganze  ermöglicht.  Für  Ciceronische  oder  Demosthenische 
Reden  u.  ä.  wäre  das  nicht  nötig.  Sodann  eine  ganz  kurze  deutsche  Einleitung 
mit  den  nötigsten  Daten  über  Leben  und  Schriften  des  betr.  Autors  und  den 
Bemerkungen,  die  etwa  vor  Beginn  der  Lektüre  des  betr.  Werkes  unerläfslich 
sind.  Wenige  Seiten  werden  durchweg  diesen  Zwecken  genügen.  Am  Schlüsse 
folge  dann  endlich  ein  Namensverzeichnis,  das  bei  knapper  Fassung  nicht  zu 
spärlich  in  seinen  Angaben  sei.  Ich  würde  in  seiner  steten  Heranziehung  zu- 
gleich ein  Kampfmittel  gegen  eine  Erscheinung  sehen,  die  einen  mit  Betrübnis 
erfüllen  kann;  ich  meine  die  erschreckend  zunehmende  Unkenntnis  in  der  alten 
Mythologie  und  in  dem  Sagen-  und  Anekdotenhaften  der  alten  Geschichte.  Man 
kann  es  schon  erleben,  dafs  eine  ganze  Unterprima  von  der  schönen  Fabel  des 
Menenius  Agrippa  überhaupt  nichts  weifs;  kein  Wunder  Übrigens,  da  diesen 
Dingen  nur  in  Quinta  und  Quarta  einige  Aufmerksamkeit  im  Zusammenhang 
geschenkt  werden  kann  und  die  philosophischen  Schriften  Ciceros,  die  jenen 
Stoff  überall  heranziehen,  aufser  Kurs  gesetzt  sind.  Nimmt  man  hinzu,  dafs 
auch  die  Kenntnisse  in  der  alten  Geschichte  selbst  in  Abnahme  begriffen  sind, 
so  ist  die  Gefahr  vorhanden,  dafs  das  Gebiet  immer  beschrankter  wird,  das  für 
alle  Gebildeten  unseres  Vaterlandes  gemeinsamer  Boden  war,  auf  dem  man 
sich  verstand,  wie  das  Virchow  in  den  letzten  Verhandlungen  des  preufsischen 
Abgeordnetenhauses  über  den  Kultusetat  treffend  dargelegt  hat. 

Ich  habe  nun  zum  Schlüsse  noch  einem  Einwurf  Rede  zu  stehen,  den 
man  mir  machen  wird,  dem  nämlich,  wie  ich  mich  mit  der  Forderung  der 
neuen  Lehrplane  abfinde,  dafs  die  Lektüre  unbeschadet  der  Gründlichkeit  um- 
fassender werden  müsse.  Zunächst  halte  ich  es  nicht  für  glücklich,  dafs  eine 
derartige  Bestimmung  in  unser  pädagogisches  Gesetzbuch  —  denn  das  sind 
doch  wohl  die  neuen  Lehrpläne  für  uns  —  hineingesetzt  worden  ist  Darin 
sollten  nur  Bestimmungen  stehen,  die  unter  allen  Umständen  ausführbar  sind. 
Das  ist  aber  jene  Forderung  nicht.  Der  Umfang  der  Lektüre  hängt  sehr  von 
dem  Schulmaterial  ab,  mit  dem  sie  zu  betreiben  ist.  Es  giebt  oft  schwach 
begabte  Klassen,  oder  solche,  die  durch  äufsere  Umstände,  häufigen  Lehrer- 
wechsel u.  ä.  zurückgeblieben  sind.  Es  wäre  sündhaft,  mit  solchen  viel  <L  tu 
rasch  lesen  zu  wollen.  Auch  giebt  es  hervorragende  Schulmänner,  die  über- 
haupt gegen  eine  umfassendere  Lektüre  sind  und  an  dem  Grundsatz  'wenig, 
aber  gründlich'  hängen.  Ich  persönlich  gestehe,  dafs  ich,  seit  ich  mich  be-  ^ 
strebe,  jener  Forderung  zu  genügen,  auch  Mittel  und  Wege  dazu  gefunden 
habe;  in  diesem  Sommersemester  habe  ich  bei  drei  Wochenstunden  die  ganze 


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M.  Siebourg:  Moderne  Schulausgaben  509 

* 

Apologie  gelesen,  während  ich  früher  in  der  gleichen  Zeit  gewöhnlich  noch 
mit  den  beiden  kurzen  Nachreden  im  Rückstand  blieb.  Dieses  Mal  bin  ich  in 
den  ersten  zwei  Dritteln  des  Semesters  in  gewohnter  Weise  vorgegangen,  so 
zwar,  dafs  die  Schüler  zu  Hause  aufser  der  Vorbereitung  eines  neuen  Stückes 
auch  die  Repetition  zu  leisten  hatten.  Diese  Wiederholung  liefs  ich  nun  für 
das  letzte  Drittel,  also  für  etwa  vier  Wochen,  wegfallen,  in  der  der  Klasse 
ausdrücklich  mitgeteilten  Absicht,  nunmehr  schneller  vorwärtszugehen  und  vor 
Thoresschlufs  noch  das  ganze  Werk  erledigt  zu  sehen.  Der  gewohnte  Gang 
der  Lektürestunde  erlitt  dabei  keine  Änderung:  die  beiden  Hauptaufgaben, 
Feststellung  des  Gedankenganges  und  Herausarbeitung  einer  guten  Übersetzung, 
wurden  stets  gelöst.  Auch  die  zusammenhängende  Musterübersetzung  des  ganzen 
in  der  Stunde  durchgenommenen  Abschnittes  wurde  nicht  verabsäumt  Aber 
mit  dem  Wegfall  der  Repetition  war  Zeit  gewonnen;  die  Schüler  konnten  ein 
gröberes  Stück  vorbereiten;  war  dasselbe  in  der  Klasse  erledigt,  so  extem- 
porierten wir,  oder  ich  selbst  übernahm  auch  schon  die  Fortsetzung.  Und  so 
erreichten  wir  unser  Ziel  und  hatten  auch  noch  Zeit,  eine  Disposition  auf- 
zustellen und  uns  den  Inhalt  des  ganzen  Werkes  mit  gelegentlicher  guter 
Rezitation  einzelner  griechischer  Stellen  vor  die  Seele  zu  rufen. 

Sed  haec  hactenus.  Über  moderne  Schulausgaben  deutscher  Klassiker, 
die  vielfach  auch  wenig  erfreulich  sind,  vielleicht  ein  andermal  mehr. 

Anmerkung.  Die  vorstehend  erörterte  Frage  ist  inzwischen  auch  auf  der  diesjährigen 
Philologenveraainmlung  in  Bremen  zur  Verhandlung  gekommen.  Ich  freue  mich  aus 
Zeitungsberichten  zu  ersehen,  dafs  der  Referent,  Rektor  Lechn  er -Nürnberg,  ähnliche 
Forderungen,  wie  ich,  erhebt. 


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ANZEIGEN  UND  MITTEILUNGEN 


STEGKEIFDISTICHEN 
Die  Zwickauer  Ratsschulbibliothek  be- 
wahrt einen  stattlichen  Quartband1),  der 
einst  Caspar  Hofmann  gehörte,  einem  'un- 
sterblich berühmten  Medicus',  wie  ihn  W  i  1 1  in 
Beinern  Nflrnbergischen  Gelehrten-Lexikon1) 
nennt.  Geboren  in  Gotha  und  daselbst  vor- 
gebildet, studierte  er  in  Leipzig,  Strasburg, 
Altdorf,  Padua,  Basel,  trat  am  26.  Aug.  1607 
die  durch  den  Tod  des  Nicolaus  Taurellus 
erledigte  Professur  der  Medizin  zu  Altdorf 
an  und  starb  hier  am  3.  Nov.  1648.  Der 
interessante  Band  enthalt  87  kleine  Druck- 
schriften; auf  den  Titel-  und  Schlufsseiten 
bat  Hofmann  allerlei  aufgezeichnet:  Hoch- 
zeitscannina, Ansprachen  und  Reden,  Witze 
u.  s.  w.  Die  im  folgenden  abgedruckten 
Anekdoten  will  er  von  Georg  Lichtenthaler, 
professor  claBsicus  zu  Altdorf  (gest.  26.  Okt. 
1602)*),  mitgeteilt  bekommen  haben.  Die 
darin  vorkommenden  Personen  sind  —  den 
Poeten  Salomon  Frencelius  a  Friedenthal  *) 
etwa  ausgenommen  —  allgemein  bekannt. 

In  convivio  aliquando,  cui  intererat  Major, 
nunciabatur  novum  Pontificem  nomine  Pium  V. 
Komae  creatum  esse.   Ibi  Major: 
Miror,  Pontißces  cum  tot  iam  Borna  crearit, 
Inter  eos  tantum  quinque  fuisse  pios. 

Referebat  M.  Liechtentaler. 

Major  et  Cruciger  Witeberga  aliquando 
Lipsiam  ad  nundinas  proficiscebantur  et  per- 
noctabant  in  Dieben '),  quas  Philippus  Thebas 
Saxonicas  vocare  solebat:  Ibi  cum  satie  in- 
solenter a  pulicibus  essent  habiti,  surgens 
mane  Cruciger  aiebat: 

Thebani  pulices  (Addebat  Major:)  Et  tu, 
durissime  lecte,  (Respondebat  Cruciger:)  Sat 
me  lusiBtis,  (Implebat  Major:)  Ludite  nunc 
alios!  Referebat  idcm 


')  Jetzige  Bibliothekusignatur:  IX.  V.  10. 
»)  D  162  f. 

*)  Der  Lebensabrifs  bei  Will  H  440 f.  ist 
zu  verbessern  nach  dem  'Leichenanschlag 
auf  M.  Georg  Lichtenthaler',  den  Strobel 
in  seinen  *  MiHcellaneen  Literarischen  Inn- 
halts',  Erste  Sammlung  (Nürnberg  1778) 
8.  168 — 160  abgedruckt  hat. 

*)  Jöcher,  Gelehrtenlexikon  0  742. 

•)  Düben,  Stadt  im  Kr.  Bitterfeld,  16  km 
von  Eilenburg,  an  der  Mulde. 


Cum  Sturmio  aliquando  erant  Argentinae 
Frischlinus  et  Frencelius.  Dji  cum  Sturmius 
Frencelij  industriam  probare  vellet,  oravit 
ipsos,  ut  alter  versum  inciperet,  alter  Clau- 
de ret.    Ibi  Frischlinus: 

Lingua  mihi  velum.  Continuo  Frencelius: 
Dens  mihi  remus  erit.  Hoc  Sturmius  et  alij 
convivae  valde  laudarunt  et  mirati  sunt  in 
Frencelio.  Referebat  idem. 

Cum  Philippo  oliiu  Stigelius  et  8abinus 
erant.  His  Philippus  curabat  anserem  assari 
et  ei,  qui  prius  distichon  pronunciasset,  pro- 
mittebat  pulpam.   Ibi  tum  Stigelius: 

Vertitur  ad  prunas  utra  fuligine  gansa. 
Heic  Sabinus  in  risum  solutus  Gansam  Latine 
dicinegabat.  8ed  continuo  subdebat  Stigelius : 

An  nescis,  gansam  Plinius  autor  habet?1) 
Referebat  haec  ad  mensaiu  Cal.  Maij  anno  97 
M.  Georgius  Liechtentaler  Altorfij. 

Iidem  cum  eodem  erant  Mittebat  virgo 
quaedam  ad  alterutrum  colligatarum  violarum 
manipulum.  Hunc  dum  accepiBset  ab  inter- 
nuncio  Philippus,  ingressus  conclave,  ubi 
erant,  dicebat:  Das  wirdt  heut  noch  ein 
bar  Verse  kosten.  Qui  primus  mihi  distichon 
dixerit,  addebat,  ille  habebit.  Ibi  Stigelius: 
Cur  mittis  violas?  Nempe  ut  violentius  urar 
Heu  violor  violis,  o  violenta,  tuis! 

Referebat  idem. 
Otto  Cuuom. 

Prof.   L.  Kmöpfel,    GraxASiAtLSHua  in 
Works,  Zur  Übbrb Crdukosfragr  der  axa- 

DRIÜSCB   GEBILDETEM   LbHRXK  DeOTBCBXJJII» 

Schalke  1899.  48  8.  8. 
Der  Titel,  den  Grobianus  Wustinann  eine 
Sprachdummheit  nennen  würde,  ist  das 
Schlechteste  an  der  Schrift.  Der  Verfasser 
bietet  im  Anschlufs  an  eine  frühere  Arbeit 
und  zu  ihrer  Erweiterung  (Statistische  Unter- 
suchungen über  die  Gesamtlage  der  aka- 
demisch gebildeten  Lehrer  im  Vergleich  mit 
den  übrigen  Beamten  im  Grofsherzogtnm 

und  in  ihrer  Art  berühmt  gewordenen  Methode 

>)  Vgl.  C.  Plini  Secundi  Naturalis  Historia 
lib.  X  cap.  XXII  sect.  27:  candidi  [anseres] 
ibi  [in  Germania],  verum  minores,  gantae 


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Anzeigen  und  Mitteilungen 


511 


Schröders  statistische  Erhebungen  Aber  das 
Dienst-  und  Lebensalter  der  akademisch  ge- 
bildeten Beamten  in  verschiedenen  deutschen 
Bundesstaaten  (Hessen,  Preufsen,  Bayern, 
Sachsen,  Baden  u.  a.).  Das  Material  ist  in 
zehn  mit  eingehenden  Erlauterungen  ver- 
sehenen Tabellen  übersichtlich  verarbeitet, 
freilich  nicht  ohne  zahlreiche  Lücken,  weil 
nur  für  die  Lehrer,  nicht  für  die  anderen 
Beamten  die  Unterlagen  in  der  erforderlichen 
Vollständigkeit  zu  erlangen  waren. 

In  der  zweiten  Hälfte  der  Schrift  werden 
über  die  ungünstigen  Vitalitäteverhältnisse 
der  höheren  Lehrerschaft,  die  sich  in  den 
vorhergehenden  Tabellen  ziffermüMg  dar- 
gestellt haben,  gutachtliche  Äufserungen  von 
verschiedenen  Autoritäten  angeführt,  von 
Paulsen,  Medizinalrat  Eulenburg,  Dettweiler, 
Staateminister  Bosse,  Uhlig ,  Griesbach, 
Münch,  Oskar  Jäger,  Lexis  u.  a. 

Das  Zahlenwerk  der  Statistik  Knöpfeis 
kann  ich  schlechterdings  nicht  kontrollieren. 
Unzweifelhaft  beruht  es  auf  sehr  mühevoller 
Sammlung  und  Berechnung.  Er  selbst  ver- 
bürgt sich  nachdrücklich  für  die  Zuverlässig- 
keit seiner  Ansätze.  Ich  gehe  bei  meinen 
weiteren  Betrachtungen  von  der  Überzeugung 
aus,  dafs  hier  alles  richtig  ist,  nicht  nur  die 
Zahlen  selbst,  sondern  auch  die  Auswahl 
und  Zusammenstellung  der  Vergleich«  ngs- 
objekte,  der  verschiedenen  Alters-  und  Berufs- 
kategorien.  Aufgefallen  ist  mir  in  dieser 
Beziehung  nur  das  eine,  dafs  auch  die  hessi- 
schen Oberförster  zur  Vergleichung  heran- 
gezogen werden.  Ihre  Lebenszähigkeit  steht 
in  einem  geradezu  rührenden  Kontrast  zu 
der  Hinfälligkeit  der  Gymnasiallehrer.  Aber 
das  weifs  doch  jedermann  von  vornherein, 
dafs  die  Lebensbedingungen  dieser  Wald- 
läufer ganz  andere  sind  als  die  unsrigen, 
so  dafs  die  Vergleichung  der  Altersverhält- 
nisse dieser  beiden  Stände  nicht  viel  mehr 
Wert  hat,  als  wenn  man  das  Latein  der 
Jägerwelt  mit  dem  der  Gymnasiallehrer  ver- 
gliche. Die  verfehlte  Parallele  verführt  den 
Verf.  auch  zu  dem  Ausrufe:  fDa  sollte  man 
doch  Oberförster  werden',  einem  Ausrufe, 
der  zu  dem  sonstigen  Ernste  und  der  Sach- 
lichkeit seiner  Ausführungen  merkwürdig  in 
Widerspruch  steht.  Der  Verf.  hat  sicherlich 
in  Wirklichkeit  mehr  Achillesgesinnung,  als 
sich  darin  verrät.  Unwillkürlich  denkt  man 
auch  an  die  Kehrseite  der  Medaille,  dafs  in 
den  letzten  Jahrzehnten  —  ob  es  neuer- 
dings besser  geworden  ist,  weifs  ich  nicht  — 
gerade  die  Carriere  der  Oberförster  als  eine 
der  langsamsten  allgemein  verschrien  war. 

Aber  auch  abgesehen  von  den  Oberförstern 
führen  die  Untersuchungen  Knöpfeis  wie 


ähnliche  andere  zu  dem  für  uns  akademisch 
gebildeten  Lehrer  betrübenden  und  ent- 
mutigenden Ergebnis,  dafs  wir  im  Vergleich 
mit  den  juristischen  Beamten  und  den  Geist- 
lieben  einen  erheblich  geringeren  Durch- 
schnitt des  Amtsalters  haben,  und  dafs  bei 
uns  der  Prozenteatz  derer,  die  bis  zum  60. 
oder  gar  66.  Lebensjahre  im  Dienste  aus- 
halten, erheblich  niedriger  ist.  Es  wäre 
sehr  zu  wünschen,  dafs  diese  Thatsachen, 
mehr  als  bei  den  Lehrern  selbst,  in  dca 
gesetzgebenden  Kreisen  einen  tiefen  Eindruck 
machten  und  die  entsprechenden  und  aus- 
gleichenden Verbesserungen  herbeiführten : 
ausgiebige  Anfangs-  und  Vordienstgehalte, 
beschleunigte  Steigerung  der  Alterszulagen, 
frühzeitigen  Ansatz  der  Höchstgehalte,  Aus- 
schlufs  aufreibender  Nebenbeschäftigung 
durch  die  G*haltsbemesnung,  günstige  Pen- 
sionsbedingungen, Beseitigung  übertriebt  1er 
und  mafsloser  Ansprüche  an  die  Arbeits- 
leistung der  einzelnen  Lehrer. 

Soweit  bin  ich  ganz  einverstanden  mit 
der  Tendenz  der  vorliegenden  Schrift.  Da- 
gegen will  es  mir  nicht  in  den  Sinn,  wenn 
es  der  Verf.  wie  andere  vor  ihm  durch  seine 
Behandlung  der  Sache  befördert,  dafs  die 
unliebsame  Erscheinung  unserer  Kurzlebig- 
keit aus  unserer  Berufst hätigkeit  an  sich, 
auB  dem  Anstrengenden  und  Aufreibenden 
unserer  Berufsarbeit  erklärt  wird,  als  wenn 
wir  ein  selbstmörderisches  Gewerbe  betrieben 
und  eine  Art  Arsenikarbeitor  des  Geisteslebens 
wären.  Das  halte  ich  für  grundfalsch,  auch 
für  verhängnisvoll,  weil  es  in  unserem  Stande, 
wo  ohnehin  die  rosige  Stimmung  nicht  vor- 
herrschend ißt,  noch  mehr  Melancholie  er- 
zeugen wird  und  auch  Ansprüche  auf  Arbeits- 
erleichterungen, die  ihrerseits  wieder 
mafslos  sind.  Ich  bleibe  bis  zum  besseren 
Beweise  des  Gegenteils  bei  der  Überzeugung, 
dafs  unser  Beruf  seinem  Wesen  nach  ebenso 
gesund  ist  wie  der  juristische  und  der  theo- 
logische, und  dafs  unsere  verhältnismafsig 
schlechte  Statistik  andere  entscheidende 
Ursachen  haben  mufs,  als  im  Durchschnitt 
wöchentlich  19  Stunden  Unterricht  in  Klassen 
von  je  86  Mann  und  wöchentlich  60 — 70  Hefte 
zum  Korrigieren  bei  40  Schulwochen  im 
Jahre,  was  der  mir  vertraute  Normalsatz 
für  einen  juvenis  in  den  Mittelklassen  ist, 
und  was  ich,  wenn  es  gut  gemacht  wird, 
als  eine  rechtschaffene  Leistung  ansehe,  aber 
nicht  als  Überbürdung  schätzen  kann. 

Für  eine  bessere  Aufhellung  der  unheim- 
lichen Sterblichkeitsfrage  vermisse  ich  zu- 
nächst eine  statistische  Vergleichung  mit 
den  Zuständen  bei  den  Volksschullehrern. 
Wie  bekommt  diesen  die  Unterrichtsarbeit? 


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512 


Anzeigen  und  Mitteilungen 


Das  müfuten  wir  doch  eigentlich  zuerst  fragen, 
wenn  sich  ernstliche  Überbürdungssorgen  bei 
uns  regen.  Derartige  Untersuchungen  sind 
freilich  in  unseren  Kreisen  nicht  beliebt, 
weil  wir  oft  von  anderer  Seite  in  unbilliger 
Weise  und  zu  unserem  Schaden  nach  der 
leichtfertigen  Auffassung:  Lehrer  ist  Lehrer, 
auch  wenn  es  sich  um  Gehalt  und  Hang 
handelte,  mit  den  Kollegen  von  der  Volks- 
schule  zu  nahe  auf  eine  Linie  geruckt  worden 
sind.  Aber  das  darf  uns  doch  nicht  hindern, 
wenn  es  sich  fragt,  wie  mutmasslich  die  Lehr- 
th&tigkeit  in  der  Öffentlichen  Schule  auf 
Gesundheit  und  Lebensdauer  wirkt,  die  mit 
uns  an  einem  Strange  ziehenden  und  ähn- 
lichen Anstrengungen  ausgesetzten  Volks- 
schollehrer  zu  vergleichen.  Die  einzige  Be- 
ziehung darauf  findet  sich  bei  Knöpfel  S.  18 
in  folgenden  seltsam  und  zweideutig  klingen- 
den Aufserungen:  'Von  den  seit  1870  ab- 
gegangenen hessischen  Kollegen  hatten  nur 
fünf  vierzig  und  mehr  definitive  Dienstjahre 
erreicht.  Von  diesen  fünf  stammen  vier  aus 
der  guten  alten  Zeit,  wo  es  auch  Lehrern 
ohne  akademische  Bildung  wegen  Lehrer- 
mangels möglich  war,  in  die  Kategorie  der 
ak.  geb.  Lehrer  zu  gelangen.  —  Die  gleichen 
Beobachtungen  wurden  in  Sachsen  gemacht. 
So  fugte  ein  sächsischer  Kollege,  der  mir  die 
Anzahl  der  ak.  geb.  Lehrer  mit  Aber  60  Jahren 
angab,  erläuternd  hinzu:  Freilich  sind  da- 
runter einige  ohne  akademische  Bildung.' 

Bei  der  Vergleichung  mit  den  Geistlichen 
ist  es  handgreiflich,  dafs  diese  gegen  uns 
in  Vorteil  kommen  durch  die  Landpfarrer, 
die  vornehmlich  den  AltersdurchBchnitt  in 
ihrem  8tande  heben  und  den  Prozenteatz 
der  tsexagenarii  steigern  dürften  —  man  ver- 
gleiche die  Oberförster.  Wir  Gymnasial- 
lehrer müssen  allesamt  bis  auf  den  ver- 
schwindend kleinen  Bruchteil  der  Portenser, 
Ilfelder,  Rofslebener  und  ahnlicher  Paradies- 
kollegen  Stadtluft  atmen,  sehr  viele  von  uns 
Grofsstadtluft,  und  das  zehrt  natürlich.  Auch 
die  Juristen  sind  in  dieser  Hinsicht  günstiger 
gestellt,  weil  sie  viel  mehr  8tellen  haben, 
wo  der  Mensch  noch  nah  der  Natur  und 
nachbarlich  mit  dem  Acker  zusaminenwohnt. 

Noch  wichtiger  aber  und  vornehmlich 
entscheidend  ist  ein  anderes  Moment,  das 
unter  den  von  Kn.  angeführten  Autoritäten 
Pauken  berührt,  wenn  er  sagt :  'Viele  Lehrer 
treten  schon  mit  geschwächter  Kraft  ins  Amt 
ein;   Entbehrungen   wahrend   der  langen 


Studienzeit,  die  inneren  und  äußeren  Stra- 
pazen der  Examensjahre,  die  gedrückt«  und 
kümmerliche  Lage  während  langer  Probe-, 
Warte-  und  Hilfslehrerjahre:  alle»  das  zu- 
sammen hat  vielen  Mut  und  Kraft  schon 
gelähmt.'  Ich  möchte  das  noch  etwas  deut- 
licher ausführen.  Wir  gehören  der  greisen 
Mehrzahl  nach  von  Haus  ans  zu  den  wirt- 
schaftlich Schwachen,  stammen  aus  engeu 
Verhältnissen,  haben  uns-  in  der  Jugend 
nicht  viel  zu  gute  thun  können,  haben 
manchmal  schon  als  Gymnasiasten,  vollends 
uls  Studenten  neben  der  angestrengten  und 
langwierigen  Arbeit  für  die  Ausbildung  zum 
I^ebensberuf  auch  noch  mühselige  Arbeit 
ums  tägliche  Brot  gehabt,  und  dieses  Brot 
war  schmal  genug  und  wurde  nicht  reich- 
licher in  der  Kandidaten-  und  Hilfslehrer- 
zeit, in  der  Übergangszeit  also,  wo  sich  der 
Körper  des  Anfängers  der  regelmäßigen 
Berufsarbeit  des  Docierens  und  Discipli- 
nierens  voller  Klassen  unter  Freiheit  tob 
anderen  Zumutungen  und  bei  sonst  guter 
Pflege  anpassen  sollte.  Da  liegen  die  Keime 
für  so  viele  schmerzliche  Fälle  verfrühter 
Invalidität. 

Worauf  führt  das  hin?  Darauf  dafs  man, 
nachdem  man  in  den  letzten  Zeiten  für  die 
ständigen  Lehrer  besser  zu  sorgen  angefangen 
hat,  eine  besondere  Fürsorge  dem  Bedürf- 
nisse zuwendet,  sich  einen  recht  kräftigen  und 
widerstandsfähigen  Nachwuchs  zu  sichern, 
indem  man  ungebührliche  Ausdehnung  der 
Studienzeit  möglichst  hindert  und  zu  diesem 
Zwecke  manchen  Luxus  der  wissenschaft- 
lichen Ausstattung  einschränkt,  wobei  dieüni- 
versitätsprofessoren  das  Reste  thun  mfl/sten; 
indem  man  ferner  den  Überflufe  des  zweiten 
.Jahres  der  pädagogischen  Ausbildung  wieder 
beseitigt,  um  jüngere  und  frischere  Leute 
ins  Amt  zu  bekommen;  indem  man  Atter- 
hin einen  vollbeschäftigten  Vikar  nicht  mit 
1200  Mark  jährlich  abfindet,  wovon  er  nicht 
leben  kann;  indem  man  endlich  die  Zahl 
der  unentbehrlichen  Stellen,  die  jetzt  von 
nichtständigen  Lehrern  versorgt  werden,  auf 
ein  Minimum  reduziert  und  nicht  an  den 
Anfängern  spart,  was  man  oben  zulegt  Eine 
solche  Prophylaxe  scheint  mir  mehr  angezeigt 
zu  sein  als  die  therapeutischen  Versuche, 
wie  sie  durch  die  Knöpfeische  Statistik  em- 
pfohlen werden,  dafs  man  die  Lehrer  im 
besten  Mannesalter  auf  halbe  Sinekuren : 


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Das  1897  erschienene 

Englische  Lesebuch 

für  die  Sekunda  und  Prima 

höherer  Lehranstalten 


Prof.  Dr.  H.  Conrad 

sucht  durch  den  sprachlichen,  literarischen 
und  uligemein  bildenden  Charakter  des  ge- 
botenen Lesestoffes  den  Ansprächen,  welche 
die  beulige  Zeit  an  den  neusprachlichen  Unter- 
richt stellt,  in  ihrem  ganzen  Umfang  gerecht 
zu  werden.  In  dem  Urteil,  dass  der  Verfasser, 
der  sich  durch  seine  Arbeiten  auf  dem  Gebiete 
des  engl.  Unterrichts  u.  der  engl.  Literatur- 
geschichte einen  in  Fachkreisen  bekannten 
Namen  gemacht  hat,  in  dieser  Beziehung 
Mustergültiges  geschaffen,  stimmen  die  Sach- 
verständigen üoerein,  die  bisher  von  dem 
Inhalt  des  Lesebuchs  Kenntnis  genommen 
haben. 

Der  ganze  Text  ist  annotiert  und  (im 
II.  Teil)  eine  Grundlage  für  Sprechübungen 
aus  dem  alltäglichen  Leben  beigegeben.  Die 
Hauptabschnitte  sind  im 

I.  Teil:  Geschichte.  Erzählungen  und 
Novellen.  Beigaben:  Karte  von  England 
und  Süd-Schottland,  und  Vogelschau  von 
London,  (Preis  M.  3.60;  gbd.  M.  3.90.) 
II.  Teil:  Beschreibungen  u.  Schilderungen. 
Briefe.  Reden.  Nützliche  Kenntnisse 
(Sprechübungen).  Gespräche.  Gedichte. 
(Preis  M.  3.  —  ;  gbd.  M.  3.40.) 

Inhalt&reneichiiiB,  Vorwort  und  Probe* 
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Verlagshandlung  J.  B.  Metxler  in  Stuttgart. 


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^^^^im^im^im  SScrfafyer  feit  langen 

^                 *M  «     i  3ofiren  gefügten  Se^ 

.    .    _  ^ .  ^  _  ^         baS  oudj  oon  anberer 

Seite  bielfad}  em- 
nfunben  roorben  fein  bflrfte,  unb  bent  Bon  einer 
{Reibe  treffUdjcr  unb  erfahrener  Sdjulmänner  roieber- 
bolt  ÄuSbtud  gegeben  roorben  ift. 

[X  u.  268  ©.1  gr.  8.  bouert).  geb.  n.  JC  2.40. 

»erlag  Don  8.  *».  Irubner  in  geifijig. 
t  ui  dj  alle  #udif)anblunprn,  aud)  jur  Änfid|t,  rrbättf 


'.in  Berlage  con  SB-  9.  Xeubner  in  Sripjta.  9?oflftra6e  3, 
ift  rrf  dienen : 

Dr.  £).  Vomier* 

gjg^gd^g  ttntettid)t3tocrf 

im  engtfen  änfölufj  an  bie  Sleuen  i'ebrplauc 

bearbeitet  mit  befonberer  ^erütff: Attjuitfl  ber  Übungen  im  manb- 
litten  unb  Jdjriftlidjen  freien  wbraudj  ber  Spraefir. 

Sie  aufterorbentlicb  grafte.  RA  ftrtig  mebrenbe  Hnjnb1  pon 
einfübrunarn  in  mebr  aU  400  eiilttn  mit  inmejami  Aber  500 
Irr  berft)iek>enirtigftta  «ädern  nnl  mittleren  üetirnnfmlten  bei  Jü- 
an! SnllanbrA  brbetttet  einen  unerwartet  raffen  (frfolg  bie|e< 
Unterrid)t«rt>crfe«,  ber  bei  ber  Qodjflut  alter  unb  neuer  Crfd>ri' 
nungen  auf  Metern  (Srbiete  um  lo  bemert>n«roerter  ift. 

tW~  Cinife  Urteile  Uta  Hutoritntrn :  •  Sie  SBoeTnrrfdien 
*ii<6rr  finb  ein  ganj  Donüalidje«  Srbrmittrl:  eine  Slrl  Cuint- 
effenj  aQrr  guten  unb  rationellen  aBettjoben.  •  3btrm  £ebr 
budje  unb  feiner  TOetbobe  wirb  febenfadl  bie  gulunft  je« 
boren.  •  $al  ftoernerirbe  fiebrbud)  übertrifft  meine«  ärr- 
aebten»  alte  abnlirben  Mürber  •  3*  balte  bietet  Budj  gerabeju 
für  bat  3beal  eine«  franjbfifAen  fiebrbudi*. 
Sreierembltre  jur  Prüfung  be|uf<  eteat.  Cinfitruoa  ftaie 
ouafübrlirbrr  t?r*f»("  M«  grni  )■  tlrnfrt»  Htm  «erläge 
ü.  ».  Xeubner  in  W»j*§,  ««fifrrnfre  ». 


Überseht  über  bit  Aufgaben  unb  Zeile: 


A.  Boernrr: 
Hueeabe  A: 
fiebrbud)  (eiufi  in  8  Hbt.). 
ßaur'rtaeln  b.  fran*  Ärammat. 
ftraAiüftleh-beutfcbe«  u.  beutfoV 

fran*Siifd}e«  SSbrterbudj. 
Cbrrflufr  $utit  fiebrbud). 
Sqntatt-  Unb  \.  b.  Faustregeln. 
Hu*g.B(f  b9b  SWÄbctie nfdiu!.) : 
I  — in.  Tt il:  $.  b.  1.— 8.  Unter- 

ridjt»iabr  im-  aramm  8nb). 
Menbearbritung  bei  DL  Zeile« 

(Suffclborfn  Vulgabe). 

B.  t3oerner»Ib,i 
8u*gabe  a 

fietrrbudj.  —  Wrammarit. 
Cberftufr. 
«  u»o-  B  (»•  Wi  «labdtenfdj.): 
!•  u-ELteU:  gfir  ba»  1- u.  «. 
Unterrirl)t«j.(m  grammanb,). 
HI.  leit  \  tjUrju^auBtitgeln 
IV.  1ti\  |  ber  engl.  S»nta£. 

C.  3)oetner-8o6 
l'ebrbudj.  —  «rommatit.  — 


9ran)tfifrb. 

IV.  teil  (Oberftufe):  g.  b.  «.  u. 

5.  Unterri^ttj-  (m-OCTtrrb  ). 
Oau^tTegeln  iiebft  fbntaft.  9lnb. 

(Äu«g.  B). 
*u»g.  C  (gef.  »eubearbeitg  ): 
Sebrbueb:  J.  u.  II.  »bteilung. 
Faustregeln  nebft  jnntaft.  tJbu. 

(«u»fl.  B). 
Cberfrufe  (m  JSSrterb). 


ergen:  <Englif$. 

Vulgate  c 
(geturgte  Neubearbeitung), 
bearbeitet  uon  Dr.  O.  I^iergen, 
9rof .  am  ftbnigL  ftabrnentorM 
(u  trrtben,  unb  'Crof.  Dr.  B. 
edjflbre.  IHreltor  b.  »ealff*.  I 
mi  tre«ben.  [3n  Borbeteit] 
«u«g.  tbRabettentotö»: 
ttlementarbud)  b.  engl-  epracbe. 

era:  SJtotientf <fi- 
Oberftufe  [in  Vorbereitung]. 


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BP  HPEUBNER  m  LEIPZIG. 
•  Vjr.  J_  ^RLAGSBOCHHANDLUXG. 

'TNeutfcfyes  £efebucfy 

für  fjöfare  fcefyranftotten. 

123enrDritung  bcs  ^obclncr  Xrfdnirljg 

für  prüiif>cn  unb  .llorbbciitfrfjlanb  Uon 

T*ircHtor  .iXi.  £ucr£  u.  prof.  f).  üi)ai% 

-Jn  Xrintuanb  rjrfdjutacltb.  it.  Ojurrfjaft  gr&unbrn. 

I*  C§crta)  .tßh.  i.8o,  II.  (Quinta)  äh.  2.20, 
ni.  (Quarta).  (Unter  bct  IprcflfcJ  -^■••^-»•^ 

5ftr  biefeJ  na*  ben  neuen  preußtfchen  ßchrnUnen 
bearbeitete  &iebucb  ftnb  biefelben  (Srunbffl|ie  maß' 
grbenb  flctorfeit,  wir  für  bai  ihm  $u  «rnnbe  licgcnbe 
„Töbelner"  iJrfebud).  Wiefel  hat  fid)  bei  ber  Äritif 
oon  bornbercin  airnftißftrr  «ufnabme  ju  erlrcurn  ge» 
babt,  b^t  fi(b  tu  mehreren  Auflagen  in  bct  $rafi« 
berüilJjrt  unb  in  ben  fädtfijdteu  unb  tbürinßifdjen 
ttfitibern  eine  weite  Scrbtrhuiia  aefunbrn  ^arti 


iiejeuurrj  btfjcr  wrt  ittrbt  nur  auf  verftaub  uub  ©inen, 
fonberu  fafi  mehr  tiorb  auf  G5efflfjl,  (Einbtlbttug 
Traft  unb  GJemflt  loirfrn;  c$  foO  „bor  aOrm  burd) 
forßfdltige  fflu£)t>abl  gcbicgencr  SJrfeftfide  barnadj 
ftrrbcn,  nidtt  nur  bte Beietrbernng  be«?Biffen#, 
joubrrn  in  noth  ruMjcrem  Ärabe  bie  ^Belebung 
bcr  ^bontafir ,  bte  Hulbilbimg  be*  Äatnr»  uub 
edjonhritefinnr«,  bte  ©tarlung  bei  religio», 
fittliöjcn  (HrfüMi  unb  ber  bairrfäubif^ru  »r» 
Onuuna  ju  jörbern,  überhaupt  ba*  jugenb» 
liehe  Wrmilt  für  aDt#  töutr  unb  Stböne  empfang» 
lio)  gu  madjen,  e8  mit  natbtjaltigcr  $egriflrrung 
für  bte  tbcalen  ©fiter  belßebcn*  ju  erfüllen". 


Sie  SBa  brutto,  bei  allaenttin  beutieben  Cbe* 

ängige  SSedjf elroirf uncj  bei  fiefeftoffel  mit  bra 
Draufgaben  bei  Unterridjtl  in  (Hef  ditdile,  Srb« 
funbe  unb  ftaturgef(fitd)te  tft  ferner  bat  3t<rl  b" 
§eraulgcbcr  geroefen. 


t 


a  ft<  audj 


flemefen,  betn  berechtigten  i 
entgcßenjufommen  unb  ihr 
mit  audj  ben  beutfeber 
ti'ftt  ex  burd)  biefei  bebi 
unb  roert  ju  matten: 
baf)  bal  ifefeluirb  mehr  a! 
$auftbucb  geftöltet  rocrbei 
aueb  aul  eigenem  Antrieb 
roirftirb  vertraut  marben  fo 


-,.v 


triebt  felbfi.  f( 
rb.  möalidm  lief 


reift ,  mit  betn  ex  }t 


i aditnäunlfm r  tirurlrüungrn  ort  DöbcUrr  ttUiaä*. 
ttntrr  km  nrntnu  fcfutiditn  it(rfcn<|fm  IB  fctnii  r«»le 


■  r  rt  fem  fl 
i  ((•  btntiArn 


frultefrlrt  ...  9i  otcl 
tonfrtm  JHarfetM.  mit  Iv 

rntflcp<iifoinRit(  Ott  Im 

tBtrbra.  . . .  ftriarl  bte  wir  Wlaaaltn  V» itMAtr  tat 
(pitdjt  tu  feinem  pto(o((tten  mit  tajeinem 
Tftl  i»  (<lr  Um  bcBll4fn  ffiltai  «n»  Tentra, 
arfl<i«ft.  m  0»»bm  ktn  12—14  Jtkren  aOr  t»lra 
)■  fertfra  nn»  tu  fäf  »tra,  ala  air|r«.  .  .  .  fj|m  atottt 
tft  tttrt  »fr  ISru«o  ja  tiata  Vtlrbudi  ntlrgl.  tat 
Ir|«»aa)  krr  frftr  flttt  |ii  Um  Salanfifba«  tar  He 
t»BBl».  <fi»aa»a.  «raU» 

atr  Raltaatl  tfl  |li«tia).  bcr  UBJ|aa|  brt 
aaaw|ra ;  btn  tunrnblt4ca  Oürtne  »ttb  rt 
fuitr,  iBtrrrfiaatt  9labtuna  »UOffü^rt   9er  oDi 
VctauSgrbrt  bca  aaitenetra  »fitcSt »punft  watt 
(jjakrdbrHAtc  it.  fe.  bsb.  Ca)au 

3b  ittcrn  Itoltagrn  rrfdkicnrn:  %eOH 
u  t  m.  ttrtr  tbatla^t  btftatljt  nur  uafrr 
aegrbene«  UttrtL  6lr  fitetnen  fttfj  tobet 
teit  Ute}  aietr  rtnnrbüraert  >a  baben 

Ijabrr^brriaitr  ük.  a.  bat.  MafkK 

X«»  6u4  bat  dne  fttarai  Bert  e»ti»ir< 
nahmt  orfunben.    £em  .  .  .  Urteilt.  w*Wk»  t 
krmi«bor  nennt.  mn|  man  bnrrbauS  btrfttamtre. 
wobl  tft  rfta)lta)  unb  bietet  bet  CtartrrffflaV*  nrnua 
(,t«|n9bfnajte  ik.  b.  beb.  Ea)aua.  1V> 

Qn  ber  jneilrn  ttuftaae  ift  bat  Qatetttaltfeie 
mebr  brtant  alt  in  bererftra.  Sit  anbete« Uatetrli 
ftoffe  toutben  mit  best  Hemleben  in  n»0  eafttc 
lirbaua  orbraebt        flab  ktaa  aaa)  kit  t»rBmilaa«K. 
[für  ptinttig.       (Jotrr Jtrria)le  ib.  B.  «ik.  e4«lki.  lf» 


■ 
■r: 
im 


Dia  „Sidweatilentachen  S<  lnilblulte^  18» 


Heinichen-Wagener,  lateinisches  Schulwörterbuch: 

...  Wir  werden  die  Frago  „Welches  Utelniiche  Schülwflrterrmeh  »oDan  wir  MMB  SeA nitro  t«.^»!! 

dahin  t.  antu  »rt^n:  „Empfehlttng  fwdi«at  nur  eun  .sc.liulwort«fbuch,  weUhet  mit  «11601  überflüssigen  bäum 
Krim  dl  ich  nurrütiiut ,  n.>niit  nich  auf  .la«  Nötige  beaebrinkt  und  diet  in  einer  JLnordnaaf  «H  MiJ 
l)ar»tellunje  bietet,  welche  dem  Schüler  die  gesuchte  Hilfe  aucli  witklirh  an  die  Hand  giebi  nai  ian 
geistig  fordert." 

.  .  .  Seitdem  die  von  Wngener  besorgte  Neubearbeitung  des  Heinichen'echen  Lexikon!  e 

kein  Bedenken, 


dieses  Buch  zu  empfehlen. 


.  .  .  Die  Verlagsbuchhandlung  hat  das  Buch  auch  Sufherlfch  Tortrefflich  anngestatteU 

eine  Zierde  der  angehenden  Bibliothek  jedes  Sekundaners  bilden  kann. 


Hierzu  B 


von  Velhagen  Sc  Kinsing  in 


Id  und  B.  0.  Tcubner 


triff. 


JAHRGANG  1899.    ZWEITE  ABTEILUNG.   ZEHNTES  HEFT 


ÄSTHETISCHE  UND  ETHISCHE  BILDUNG  IN  DER  GEGENWART 

Von  Wilhelm  Münch 

Vom  Wahren,  Schonen  und  Guten  redet  man  so  gerne  in  einem  Atem. 
Die  Jugend  soll  zur  Liebe  und  zur  Begeisterung  für  das  Wahre,  Schöne  und 
Gute  erzogen  werden,  das  gilt  als  selbstverständliches  Ziel,  als  die  unzweifel- 
hafte Pflicht  und  Schuldigkeit  der  Erzieher,  namentlich  derjenigen  an  Schulen, 
an  die  man  ja  überhaupt  gern  die  unbedingtesten  Ansprüche  mit  gelassener 
Miene  stellt,  wahrend  man  der  häuslichen  Erziehung  so  recht  ernstliche  Zu- 
mutungen nicht  zu  machen  pflegt,  auch  ihr  schon  eher  gestattet,  ihre  Ziele 
und  Wege  nach  subjektivem  Begehr  und  Ermessen  zu  wählen.  Vom  Sinn  für 
das  Wahre,  Schöne  und  Gute  spricht  man  dann  auch  wieder,  wo  das  Wesen 
der  Bildung  und  der  Gebildeten  recht  voll  bezeichnet  werden  soll.  Drei  Sonnen, 
zugleich  am  Himmel  stehend  und  ihr  verschiedenfarbiges  Licht  —  klarer, 
glühender  oder  milder  —  zugleich  herniederströmend:  was  könnte  Herrlicheres 
gedacht  werden!  Wenn  sich  nur  alles  wirklich  so  leicht  verbände,  nicht  oftmals 
auseinander  strebte,  wenigstens  im  Innern  der  Menschen,  wie  sie  nun  einmal 
sind!  Wenn  das  Kaminfeuer  den  umliegenden  Raum  erhellt,  dafa  die  Bewohner 
sich  dabei  sehen  und  erkennen  können,  und  wenn  es  ihr  Auge  mit  dem  züngeln- 
den Spiel  der  Flamme  erfreu^  und  wenn  es  ihnen  zugleich  Wärme  bringt,  so 
ist  das  alles  dem  Kaminfeuer  ganz  natürlich,  ist  ein  alltägliches  Ding  und 
-  vielleicht  ein  hübsches  Symbol  von  dem  Zusammensein  jener  edlen  Dreiheit: 
aber  diese  selbst  ist  darum  nicht  im  geringsten  alltäglich,  mindestens  nicht  in 
kräftiger  Lebendigkeit.  Unsicher  schwankt  das  Ideal  des  Wahren,  des  Guten 
und  des  Schönen  durch  die  Seele  der  meisten  hin,  wird  in  guter  Stunde 
einigennafsen  kräftig,  aber  entweicht  auch  wieder  als  Schemen  in  die  Ferne 
oder  wird  im  Sieg  gemeiner  Kegung  hinausgestofsen.  Das  ist  so  die  Erfahrung 
aller  Tage. 

Auch  das  ist  für  niemanden  mehr  überraschend,  der  nicht  als  junge  Ein- 
falt am  Thor  des  Lebens  steht,  dafs  man  sich  dem  einen  der  Ideale  in  einer 
Weise  ergeben  kann,  die  gegen  die  anderen  gleichgültig  macht.  Der  gelehrte 
Forscher,  der  mit  einer  Hingabe  ohnegleichen  der  Feststellung  des  Wahren 
auf  irgend  einem  Gebiete,  an  irgend  einem  Punkte  zustrebt,  dem  die  Erkenntnis 
ohne  irgend  einen  persönlichen  Gewinn  wert  genug  ist,  um  ihr  Kraft  und 
Leben  zu  opfern,  er  läfst  darüber  vielleicht  sein  menschliches  Herz  vertrocknen 
und  veröden,  ja  läfst  es  vielleicht  auch  von  Neid  und  Mifsgunst  zerfressen  und 

H«u*  JahrbO«b«r.  189».    H  38 


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514 


W.  Münch:  Ästhetische  and  ethische  Bildung  in  der  Gegenwart 


gewöhnt  es  zu  brutalem  Kampfe  (denn  auch  der  Geisterkampf  kann  brutal  sein). 
Aber  führt  nicht  wenigstens  zwischen  dem  Schönen  und  dem  Guten  der  Weg 
um  so  viel  leichter  herüber  und  hinüber?  Die  Geschichte  vergangener  Zeiten 
wie  das  Angesicht  der  Gegenwart  weist  genug  schroffes  Auseinanderfallen  des 
ästhetischen  und  ethischen  Interesses  oder  doch  der  praktischen  Kraft  dieses 
Interesses  auf.  Überhaupt  aber  hat  kaum  zu  irgend  einer  Zeit  das,  was  man 
als  personliche  Bildung  erstrebte,  und  auch  selbst  das,  was  man  als  Bildungs- 
ideal über  sich  erblickte,  jene  Dreiheit  in  gleichmäl'siger  Kraft  in  sich  begriffen. 
Vielfach  kommt  das  Gute  nur  als  eine  Art  von  mitlaufendem  Schatten  ins 
Spiel  oder  als  ein  stillschweigend  vorausgesetzter  Grundton,  der  aber  nur 
schwach  oder  überhaupt  nicht  wirklich  mittönt 

Es  sind  betrachtliche,  sind  zumal  'interessante'  Perioden  der  Kulturgeschichte, 
in  denen  das  Ästhetische  nach  Emanzipation  ringt,  auf  sich  selbst  ruhen,  sich 
um  seine  eigene  Achse  drehen  will  und  einen  Wert  in  sich  besitzen,  der  jedem 
anderen  Werte  mindestens  gleich  sei,  vielleicht  auch  die  andern  entbehrlich 
mache.  Mitunter  ist  es  eine  Art  von  Trotz  mit  dem  die  ästhetische  Bildung 
sich  gegen  die  ethische  ausspielt,  gewöhnlicher  wohl  wird  man  sich  der  Ein- 
seitigkeit nicht  eigentlich  bewufst  Ist  doch  der  Gesamtbegriff  der  Bildung, 
der  seinerzeit  wirklich  das  Menschliche  nach  allen  seinen  Seiten  einschlofs, 
gleichsam  ein  erhöhtes  Werden  der  Person  gegenüber  dem  blois  natürlichen 
bedeutete,  im  Laufe  unseres  Jahrhunderts  ganz  wesentlich  nach  der  einen  Seite 
hingeglitten,  oder  nach  der  Doppelseite  von  Intellektuellem  und  Ästhetischem, 
und  ist  dabei  doch  auch  das  von  aufsen  her  Einzuflöfsende  von  grösserer  Be 
deutung  geworden  als  das  von  innen  Bich  Gestaltende.  Was  an  den  Griechen 
der  klassischen  Zeit  bewundert  wird  oder  (denn  das  Bewundern  kommt  bei 
vielen  dem  Anstaunen  zu  nahe  und  gilt  häufiger  den  grofsen  Proportionen 
als  den  reinen  Mafsen)  was  ihnen  eine  Art  Liebe  bei  uns  gewinnt,  das 
schönste  Wohlgefallen  uns  einflöfst,  ist  eben  das  ungeschiedene  Zusammen- 
sein ästhetischen  und  ethischen  Lebens,  und  nur  einmal  ist  in  den  späteren 
Zeiten  ein  Geschlecht  gekommen,  das  sich  von  gleichem  Ideal  beseelen  liefs, 
das  Geschlecht  nämlich,  das  die  Humanität  als  sein  Ziel,  seine  natürliche  Auf- 
gabe, als  den  Inhalt  seines  Wollens  und  seiner  Liebe  empfand,  und  das  dieses 
Ideal,  das  nachher  nur  eine  Art  von  vager  Vorstellung  oder  von  landläufiger 
Parole  geblieben  ist,  so  rein  und  inhaltschwer  schaute.  Die  Zeit  Herders, 
Goethes,  Wilhelms  von  Humboldt  und  all  der  Ihrigen  (denn  sie  waren  nicht 
Offiziere  ohne  Armee)  ist  rasch  vorübergegangen.  Schiller,  der  mit  der  *ästhe 
tischen  Erziehung  des  Menschen'  wirklich  doch  den  innersten  Menschen  ge 
stalten  wollte,  ist  für  unsere  Zeit  zwar  grofser  'Klassiker',  ist  aber  —  obschon 
noch  nicht  mit  seiner  Dichtung,  doch  mit  seiner  innersten  Persönlichkeit  — 
unserm  Geschlecht  in  eine  gewisse  hohe  Ferne  entrückt,  der  man  mehr  Respekt 
zollt,  als  dafs  man  sich  innerlich  hineinfände. 

Schon  das  Griechentum  behauptete  jene  schöne  Einheit  nicht;  der  Intel- 
lekt emanzipierte  sich,  die  naive  Ganzheit  zerging,  die  Bewufstheit  siegte, 
die  Subjektivität,  die  Spaltung  in  Einseitigkeiten  und  Gegensätze:  als  eigent- 


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W.  Münch:  Ästhetische  und  ethische  Bildung  in  der  Gegenwart  515 

liches  Dominium  des  nationalen  Geistes  blieb  das  Ästhetische.  Auch  als 
die  Wiedergeburt  der  Antike  den  Süden  Europas  und  dann  das  Innere  über- 
kam, da  hat  sich  als  das  Lebendigste  immer  wieder  erwiesen  die  ästhetische 
Seite,  die  im  Norden  freilich  fast  nur  den  Trieb  zur  Nachahmung  schöner 
Sprechkunst  weckte,  aber  im  Süden  doch  den  gesamten  Aufschwung  und 
Umschwung  der  bildenden  Künste  hervorrief.  Und  gerade  in  dieser  Zeit  der 
Renaissance,  wie  viel  erschreckendes  Auseinanderfallen  des  ethischen  und  ästhe- 
tischen Strebens!  Nicht  als  ob  es  dort  an  den  liebenswertesten  Trägern  aller 
guten  Ideale  zugleich,  an  wirklich  harmonischen  Persönlichkeiten  fehlte;  aber 
daneben  wie  viel  Formenkultus,  Kunstkennerschaft,  Kunstbegeisterung  bei 
Leere  oder  Harte  des  innersten  Herzens!  Und  wie  die  neue  Bildung  ans  den 
Kreisen  der  Künstler,  Enthusiasten  und  Forscher  allmählich  in  breitere,  an 
sich  oberflächlichere  übergeht,  wie  sie  bei  fremden  Nationen  sich  naturalisiert, 
die  Höfe  Europas  ziert:  zum  Ethischen  gewinnt  sie  am  allerwenigsten  ein 
ernstliches  Verhältnis. 

Um  so  bestimmter  wird  man  auf  den  tief  ethischen  Charakter  oder  doch 
Ursprung  der  Reformation  hinweisen,  und  so  hätte  ja  beim  Zusammentreffen 
von  Renaissance  und  Reformation  jene  Zeit  doch  das  Wünschenswerte  voll  be- 
sessen. Nur  dafs  es  am  wirklichen  Zusammentreffen  und  am  Zusammenwirken 
in  Wahrheit  so  sehr  fehlte!  Zwar  kann  man  so  viel  sagen,  dafs  im  Mutter- 
lande der  Reformation  der  Humanismus  durchweg  (was  vom  Lande  der  Renais- 
sance nicht  gilt)  das  religiöse  Moment  mitaufnahm,  und  sein  Bildungsideal, 
so  wie  es  formuliert  zu  werden  pflegte,  mochte  ein  schönes  Gleichgewicht  dar- 
bieten. AbeT  das  wirklich  entfaltete  Leben  blieb  sehr  viel  einseitiger,  im 
ethischen  Sinne  nicht  tief  und  im  ästhetischen  nicht  eigentlich  kraftvoll. 
Hatte  gerade  die  Reformation  einen  Geist  kühlen  Trotzes  gegen  das  ästhetisch 
Schöne  erweckt,  so  mochte  dies  —  ähnlich  wie  beim  Urchristentum  —  als 
Kehrseite  der  vollen  ethischen  Ergriffenheit  hingenommen  werden;  aber  diese 
volle  Ergriffenheit  gelbst  zerging,  und  nach  hundert  Jahren  war  ödes  Formen- 
leben nach  beiden  Seiten,  der  religiös  ethischen  und  der  ästhetischen  (ästhetisch- 
philologischen müfste  mau  sagen)  das  Gepräge.  So  trat  dem  Humanismus  denn 
das  Bildungsideal  weltgewandter  Vornehmheit  gegenüber,  in  dem  zwar  wiederum 
ein  gewisses  Gleichgewicht  des  Menschlichen  angestrebt  wurde,  aber  doch  eben 
nur  ein  weltförmiges  Ethos  und  eine  der  Natur  sich  entfremdende  Anmut 
sich  vereinte.  Das  Schwanken  geht  dann  weiter  fort,  und  von  allen  Richtungen 
und  Gestaltungen  ist  eine  Art  von  Nachleben  unserer  Zeit  verblieben,  doch 
nicht  so,  dafs  die  Einseitigkeiten,  als  solche  empfunden  und  überwunden,  sich 
neutralisierten  und  damit  etwas  Ganzes  und  Gutes  herauskäme. 

Unsere  Nachbarnationen  stehen  nicht  mit  uns  gleichartig  da.  Den  grofsen 
Unterschied  zwischen  Süd  und  Nord,  zwischen  Romanen  und  Germanen, 
zwischen  den  älteren  und  den  jüngeren  Kulturvölkern  kennt  jedermann.  Ästhe- 
tische Bildung  bei  sich  zu  verwirklichen  wird  den  Romanen  so  viel  leichter 
als  uns.  Fast  alle  Wertschätzung  des  italienischen  Wesens  ruht  auf  der  glück- 
lichen ästhetischen  Anlage  und  Entwickelung  dieses  Volkes,  daneben  freilich 

38* 


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516  W.  Mflnch:  Ästhetische  und  ethiiiche  Büdung  in  der  Gegenwart 

auch  auf  einer  gewissen  Kindlichkeit  des  Wesens;  und  in  dieser  Kindlichkeit 
selbst  mag  man  etwas  wie  Einheit  des  Ästhetischen  und  Ethischen  finden. 
Auch  die  Bedeutung  der  Franzosen  im  europaischen  Kulturleben  hängt  ja  zu 
einem  wesentlichen  Teile  an  ihrer  ästhetischen  Beanlagung,  die  überall  Pro- 
portionen zu  wahren  und  sich  gefällig  darzustellen  weifs,  so  dafs,  was  man 
ihnen  als  Eitelkeit  immer  wieder  anzurechnen  nicht  umhin  kann,  doch  schon 
halb  entschuldigt  ist  durch  das  ästhetische  Bedürfnis  dieser  gefälligen  Selbst 
darstellung.  Daneben  aber  haben  die  Franzosen  nach  der  ethischen  Seite  auf- 
zuweisen einerseits  die  Fähigkeit  leichter  Begeisterung  für  gewisse  hohe  Ideen, 
und  andererseits  die  freundliche  Gestaltung  aller  menschlich -geselligen  Berüh- 
rungen, und  wenn  weder  das  eine  noch  das  andere  uns  ab  das  entscheidend 
Wertvolle  gilt,  so  darf  doch  weder  dem  einen  noch  dem  andern  sein  ethischer 
Wert  überhaupt  abgesprochen  werden.  Doch  es  würde  lange  Abhandlungen 
erfordern,  die  besondere  Eigenart  genau  zu  bestimmen,  in  welcher  sich  das 
Ästhetische  und  sein  Verhältnis  zum  Ethischen  im  Leben  und  Wesen  der  ein- 
zelnen Nationen  darstellt. 

UnB  Germanen  sollte  wohl  die  mangelnde  natürliche  Begabung  nach  der 
ästhetischen  Seite  antreiben,  unsere  Starke  um  so  entschiedener  im  Ethischen 
zu  suchen.  Noch  erfreulicher  ist  es  freilich,  wenn  wir  uns  zugleich  ein  Können 
und  Verstehen  erarbeiten,  das  die  Natur  uns  nicht  hat  schenken  wollen, 
wenn  das  Ästhetische  sich  auf  guter  intellektueller  Grundlage  aufbaut  und  mit 
dem  ethischen  Gebiet  in  feste  Wechselwirkung  tritt  Auf  dieser  Linie  liegen 
doch  auch  diejenigen  nationalen  Leistungen,  die  wir  hier  aufzuweisen  haben, 
und  auf  ihr  mufs  das  allgemeine  Bildungsstreben  andauernd  sich  bewegen. 

Welches  Bild  bietet  uns  die  Wirklichkeit  in  der  Gegenwart  dar?  In 
welchem  Verhältnisse  und  in  welcher  Mischung  ist  ästhetische  und  ethische 
Bildung  unter  uns  lebendig?  Allbekannt  und  verstandlich  ist,  dafs  Perioden 
des  Wohlstandes  oder  des  Luxus  der  Entwickelang  des  Ästhetischen  günstig 
sind,  das  ja  ohne  diese  Bedingungen  über  ein  kümmerliches  Dasein  sich  kaum 
erheben  könnte.  Nicht  so  sehr  denkt  man  daran,  dafs  zwischendurch  schwerere 
Zeiten  kommen  müssen,  damit  das  Ethische  wieder  in  die  erste  Linie  trete. 
Uns  geht  es  jetzt  im  ganzen  gut  genug,  und  die  Wagschale  des  Ästhetischen 
hat  sich  füllen  können;  ist  nicht  die  des  Ethischen  darüber  in  eine  etwas 
blasse  Höhe  entschwebt?  Man  kann  das  doch  nicht  in  jeder  Beziehung  sagen. 
Bestimmte  und  starke  ethische  Regungen  fehlen  nicht:  auf  billigen  Ausgleich 
der  Rechte,  auf  Befreiung  von  mancherlei  verkehrten  Banden,  auf  gesunde 
Ertüchtigung  der  Personen,  auf  kräftiges  Thun  statt  blofsen  Sinnens  und 
Fühlens  geht  in  mancherlei  Formen  der  Zug  unserer  Gegenwart.  Was  sie  aber 
nicht  begünstigt  das  ist  das  persönliche  ethische  Leben,  die  Entwickelung 
sittlicher  Individualitäten.  Die  äufsere  Bewegung  des  Lebens  ist  so  grofs,  dafs 
der  einzelne  sich  ihr  gegenüber  nicht  leicht  auf  festen  Füfsen  hält.  Nicht 
mit  Notwendigkeit  'bildet  sich  im  Strom  der  Welt  ein  Charakter',  und 
nicht  mit  Notwendigkeit  ist  der  sich  bildende  Charakter  ein  sittlich  schätz- 
barer.   Auch  dem  sittlichen  Charakter  ist  zur  Büdung  ein  Mals  von  Stille 


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W.  Münch:  Ärthetieche  und  ethische  Bildung  in  der  Gegenwart 


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oder  Stetigkeit  des  Lebens  von  Vorteil.  Es  ist  jetzt  so  viel  äufseres  Neue 
im  Werden,  dafg  das  Alte  auch  im  Innern  der  Menschen  starker  schwankt 
und  leichter  weicht  Die  ästhetische  Bildung  ihrerseits  bedarf  zu  ihrem  Ge- 
deihen nicht  eines  so  festen  Mittelpunktes,  sie  geht  nicht  so  in  das  Innerste 
der  Person,  sie  ist  oft  nur  so  viel  wie  ein  Sammetmantel  über  verhülltem 
Körperwuchs.  Sie  kann  freilich  auch  viel  mehr  sein.  Unterscheiden  wir 
etwas  genauer. 

Die  eine  Erscheinungsform,  die  sentimentale,  scheint  unserer  Zeit  wenig 
nahe  zu  liegen.  Wir  schwelgen  nicht  leicht  in  Gefühlen,  schmelzen  nicht  hin 
in  Sehnsucht  nach  dem  Schönen,  lassen  unser  Innerstes  sich  nicht  mit  einer 
Art  von  Verliebtheit  füllen  für  einen  schöngeistigen  Schriftsteller,  sind  den 
weichen,  süfsen  Empfindungen  hier  so  wenig  zugeneigt  als  anderswo.  Die 
wehmütige  Wonne,  welche  Jean  Paul  unsern  Grofsmüttern  (übrigens  mit  Ein- 
schlufs  vieler  Grofsväter)  bereitete,  ist  dem  heutigen  Geschlecht  so  fremd  wie 
die  Sprache  der  Antipoden ;  selbst  die  Poeten  in  Goldschnitt  auf  den  Tischchen 
unserer  Jungfrauen  haben  nicht  mehr  die  alte  Bedeutung;  ästhetische  Thee- 
gesellschaften  sind  so  ausgestorben  wie  die  Schmachtlocken  der  Damen.  Gleich- 
wohl wird  auch  jetzt  noch  viel  geschwärmt:  es  ist  aber  zumeist  ein  Schwärmen 
für  anschauliche  Kunstobjekte  oder  eine  leidenschaftliche  Hingabe  an  ge- 
wisse Kunstrichtungen,  und  vielleicht  noch  mehr  ein  Glühen  für  einzelne  Kunst- 
vertreter. Vor  allem  ist  es  ein  Schwärmen  'par  compagnie',  ein  Getragen- 
werden vom  Strome,  ein  Bewegtwerden  vom  Winde  öffentlicher  Stimmung. 
Es  ist  also  doch  ohne  volle  persönliche  Echtheit,  oder  wenigstens  ohne  indivi- 
duellen Herd.  Es  ist  auch  mit  viel  Kampfbereitschaft  oder  doch  Verachtung 
nach  aufsen  verbunden,  was  ja  jener  älteren,  nun  altmodischen  Schwärmerei 
nicht  eigen  war.  Man  fühlt  sich  mehr  fortgerissen  als  erfüllt,  mehr  erregt 
als  beglückt.  Dafs  die  Frauen  in  erster  Linie  stehn,  ist  der  Natur  gemäfs; 
aber  die  Männer  bleiben  doch  nicht  dahinten,  namentlich  nicht  soweit  es 
lautes  Zeugnis  gilt  oder  feurigen  Protest.  Im  einzelnen  ist  diese  ganze  Art 
ästhetischer  Kultur  oft  mit  viel  Unterscheidungslosigkeit  verbunden,  und  sie  ist 
oft  weniger  Bildung  als  Gewöhnung  oder  Suggestion. 

Ihr  steht  gegenüber  die  ästhetisch  -  formale  Geistesrichtung,  die  zu  ver- 
stehen, zu  ermessen,  zu  urteilen  trachtet,  die  auf  Grund  eines  umfassenden 
sachlichen  Gesichtskreises  (wie  die  Gegenwart  ihn  weit  leichter  gewährt  als 
die  Vergangenheit)  und  auf  Grund  positiver  Schulung  sich  bezeugt  und  die  zu 
wissenschaftlicher  Bildung  sich  nicht  selten  ausbaut,  wie  denn  ein  \\  issen  um 
Kunstgeschichte  —  nicht  blofs  in  Grundzügen  und  Haupterscheinungen,  sondern 
auch  im  Einzelnen  und  Versteckten  —  offenbar  viel  gewöhnlicher  geworden 
ist  als  früher.  Dafs  die  Wissenschaftlichkeit  nicht  immer  von  der  echten, 
wirklich  respektabeln  Art  ist,  sondern  vielfach  kleinlich,  äufserlich,  spielerisch, 
nimmt  niemand  wunder.  Aber  auch  abgesehen  davon  ist  eine  zu  sehr  von 
Intellektualismus  durchzogene  ästhetische  Bildung  nicht  recht,  was  sie  sein  sollte. 

Auch  eine  Wendung  nach  dem  allgemein  Kulturellen  hin  nimmt  das 
ästhetische  Interesse  in  anderen  Fällen.    Man  empfindet  die  Kunstbewegung 


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W.  Mönch:  Ästheiische  und  ethische  Bildung  in  der  Gegenwart 


als  einen  integrierenden  Teil  der  allgemeinen  Kulturentwickelung,  ja  sieht  wohl 
in  ihr  die  eigentliche  Seele,  das  allerwesentlichste  Stück  der  letzteren,  in  ihrer 
Selbständigkeit  die  rechte  Emanzipation  Oberhaupt,  und  in  der  Teilnahme  an 
diesem  Ringen  die  preiswürdigste  persönliche  Aufgabe.  Hier  insbesondere 
wird  dem  Ethischen  oder  dem,  was  sonst  ethisch  hiefs  and  dafür  galt,  kaum 
ein  Recht  gelassen,  mindestens  nicht  das  Recht,  dem  Ästhetischen  irgendwie 
unbequem  zu  werden.  Es  ist  natürlich  vor  allem  Jugend,  die  auf  diesen  Linien 
vordringt,  wie  es  so  oftmals  in  der  Vergangenheit  die  Jugend  war,  die  Ähn- 
liches beanspruchte  und  verfocht,  mochte  man  sich  nun  als  Originalgenies  oder 
als  Romantiker  oder  als  junges  Deutschland  oder  wie  sonst  fühlen  und  be- 
zeichnen. Das  jugendliche  Kraftbe wulstsein  ist  es  wesentlich,  das  so  von  Zeit 
zu  Zeit  an  dem  festgewordenen  Bau  alterer  Gedanken  rütteln  mufs.  Das 
Ästhetische  also  ist  hier  eher  das  Terrain  des  Kampfes  als  die  Quelle  bil- 
dender Einwirkung. 

Sehr  anders,  wenn  die  ästhetische  Bildung  ein  ganz  subjektives  Gut  ge- 
worden ist,  nur  egoistisches  Bedürfnis  befriedigt,  wenn  vor  allem  nur  die 
Fähigkeit  erstrebt  wird,  ästhetisch  zu  geniefsen,  eine  Genufssucht,  die  sich  freilich 
von  der  gemein  sinnlichen  sehr  unterscheidet,  aber  doch  auch,  wie  diese,  die 
Persönlichkeit  im  Banne  halt.  Diese  Wirkung  des  Ästhetischen  ist  nicht  Sache 
der  Jugend,  sondern  der  reifen  Jahre;  es  ist  nicht  zufällig,  dafs  man  den  Be- 
griff des  Geschmacks  vom  physischen  auf  das  ästhetische  Gebiet  übertragen  hat: 
wie  der  eigentliche  Geschmackssinn  erst  mit  der  Höhe  des  Lebens  zu  seiner 
rechten  Ausbildung  kommt,  so  oder  nicht  viel  anders  ist  es  in  der  Regel  auch 
mit  diesem  ästhetischen  Sinne.  Und  mancher  ruht  sehliefslich  selbstzufrieden 
auf  dem  Ästhetischen  aus,  der  in  begeisterungsfähiger  Jugendzeit  zu  ethischen 
Idealen  sich  erhoben  hatte. 

Einen  wesentlich  sozialen  Charakter  nimmt  die  ästhetische  Bildung  in 
andern  Fallen  an.  Die  Fähigkeit,  das  Kunstschöne  aus  irgend  einem  Gebiete 
andern  vorzuführen,  reproduzierend  zu  übermitteln,  ist  ja  freilich  hie  und  da 
eine  Versuchung  zur  Eitelkeit,  setzt  aber  eben  doch  Erziehung  zum  Selbst- 
können voraus,  die  immer  auch  ethisch  achtbar  ist.  Einen  sozialen  Wert  hat 
ferner  die  anmutvolle  Gestaltung  der  äufseren  Lebensumgebung,  in  der  gegen- 
wärtig zwar  auch  viel  blofses  Mitgetragenwerden  von  der  Mode  sich  findet,  im 
ganzen  aber  wirklich  eine  sehr  erhebliche  Steigerung  des  ästhetischen  Sinnes 
während  der  letzten  Jahrzehnte  stattgefunden  hat.  Und  einen  sozialen  Charakter 
und  Wert  hat  weiterhin  auch  die  Schulung  und  Gewöhnung  zu  anmutig-wohl- 
thuendem  persönlichen  Gegenübertreten.  In  diesem  Sinne  hat  von  jeher  das 
Weib,  wenn  es  seinen  Typus  erfreulich  darstellte,  entweder  von  jener  unmittel- 
baren und  naiven  Einheit  des  Ästhetischen  und  Ethischen,  die  sich  beim  Kinde 
empfinden  läfst,  etwas  behalten,  oder  dieselbe  in  sichrerer  Form  gewonnen; 
schon  das  Entgegentreten  in  heiterer  Freundlichkeit  bedeutet  doch  ein  gewisses 
Zusammen  von  sittlicher  nnd  ästhetischer  Natur,  und  die  Besten  verwirklichen 
in  dieser  Art  eine  schöne  Harmonie.  Weit  alltäglicher  ist  es  freilich,  zugleich 
nach  der  einen  Seite  der  Echtheit  zu  entbehren  und  nach  der  andern  im 


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W.  Münch:  Ästhetische  und  ethische  Bildung  in  der  Gegenwart  519 

Kleinen  und  Einzelnen  stecken  zn  bleiben  oder  mit  blofs  Anempfundenem  eich 
zu  begnügen. 

Endlich  die  wirklich  persönliche  ästhetische  Durchbildung.  Nicht  nur  bei 
denen  werde  sie  gesucht,  die,  rem  naturlicher  Begabung  getrieben,  Person  und 
Leben  in  den  Dienst  des  Schönen  stellen,  den  Künstlern  also;  Tielleicbt  liegt 
denen  sogar  das  Ziel  in  unserm  Sinne  gar  nicht  am  Herzen.  Es  handelt  sich 
nicht  um  etwas,  das  nur  wenigen  m  erstreben  vergönnt  wäre,  wie  wenig  es 
auch  Hegel  in  der  wirklichen  Welt  sein  mag:  nämlich  die  Durchdringung  des 
Wesens  und  Gebarens  mit  den  Prinzipien  des  Mafses,  die  Gestaltung  nicht 
blofs  der  eigenen  Erscheinung  tind  Bewegung,  sondern  auch  des  Fuhlens  und 
Thuns  unter  dem  Gesichtspunkt  des  wohlthuend  Harmonischen,  also  die  Ästhetik 
der  persönlichen  Lebensführung,  wie  sie  durch  reiche  Empfänglichkeit,  sicheres 
Mals,  schönes  Gleichgewicht  bestimmt  wird.  Und  bei  solchem  Wesen  unter- 
scheidet man  denn  freilich  nicht  und  hat  auch  eigentlich  kaum  zu  unterscheiden, 
ob  es  vielmehr  als  ethische  oder  als  ästhetische  Personenbildung  zu  betrachten 
ist.  Trotzdem  fehlt  der  Unterschied  nicht.  Es  kann  das  alles  von  einem 
inneren  Kern  her  sich  regulieren,  Ergebnis  der  Selbsterziehung  sein,  und  es 
kann  auch  eine  Harmonie  sein,  die  von  aufsen  her  angebildet  ist.  Das  letztere 
tritt  uns  am  häufigsten  bei  solchen  entgegen,  die,  in  durchaus  gebildetem  und 
allseitig  wohlgesittetem  Hause  aufgewachsen,  gleichsam  nur  die  Aktiva  des 
geistigen  Elternvermögens  geerbt  haben,  ohne  die  Passiva,  nämlich  den  Unter- 
grund von  persönlichem  Ringen  und  seinen  Nachwirkungen,  den  stärkeren  und 
unregelmäfsigeren  Pendelschlägen  in  Fühlen  und  Wollen.  Doch  natürlich,  nicht 
in  allen  Fällen  könnte  man  solche  Unterscheidung  machen.  Wer  von  uns  will 
bei  sich  selbst  oder  andern  scheiden,  wie  viel  ihm  angebildet  ist  und  wie  viel 
von  innen  heraus  gewonnen!  Wie  vieles  soll  unserm  Innern  durch  Einleben 
in  die  Gedanken-  und  Empfindungswelt  der  edlen  Dichter  zukommen!  Nur 
dafs  freilich  auch  dieses  Einleben  nicht  erfolgt  oh*e  ein  gewisses  Mitproduzieren, 
das  dann  auch  nicht  ohne  einen  persönlich-ethischen  Wertcharakter  ist 

Einst  gab  es  eine  allgemeinere  und  planvolle  Pflege  eines  bewulst  har- 
monischen Seelenzustandes:  unter  dem  Namen  der  «schönen  Seele'  ist  das  Ideal 
bekannt  und  mit  diesem  Namen  auch  in  die  Vergangenheit  hinabgesunken. 
Denn  auch  das  Ideal  des  voll  Menschlichen  ist  so  wenig  unveränderlich,  dafs 
eine  Generation,  selbst  wenn  sie  es  will  und  glaubt,  ein  solches  Ideal  doch 
nicht  festhält,  wie  es  eine  andere  gefühlt  und  erzeugt  hat.  So  galt  es  ja  da- 
mals vor  allem,  reich  und  schön  fühlen,  das  Entgegentretende  reich  nnd  tief 
reflektieren,  tief  in  sich  selbst  leben,  aber  auch  dem  Gefühl  des  andern  sich 
schön  darstellen;  und  so  suchen  denn  die  schönen  Seelen  einander  gegenseitig, 
sie  rühren  sich  und  bewundern  sich,  sie  gefallen  sich  selbst,  und  sie  spielen 
damit  schon  über  die  Grenze  des  wirklich  Wohlthnenden  hinüber.  Unsere 
Generation  möchte  doch  Gesunderes  verwirklicht  sehen,  wenn  auch  von  schlich- 
terem Charakter. 

Gewifs  bewegen  wir  uns  oft  nur  unbestimmt  um  das  Ziel  herum,  anstatt 
uns  ihm  wirklich  zu  nähern.    An  Surrogaten  fehlt  es  auch  hier  nicht,  nicht 


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W.  Münch:  Ästhetische  und  ethische  Bildung  in  der  Gegenwart 


an  Selbsttäuschung,  nicht  an  Verwechselungen.  Wie  oft  wird  für  warmes  Herz 
gehalten,  was  nur  entzündbare  Phantasie  ist,  wie  oft  auch  von  dem  Inhaber 
selbst!  Wie  oft  ist  zwischen  schönem  Fühlen  und  anmutendem  Reden  die 
Scheidung  nicht  recht  möglich!  Wie  schwer  wird  es,  gegenüber  der  Tendenz 
der  Differenzierung,  die  alle  Lebens-  und  Kulturentwickelung  beherrscht,  auch 
hier  die  Unierung  zu  finden.  Ästhetisches  Interesse  oder  ethisches?  Das 
erstere  hat  so  viel  mehr  Kraft,  unmittelbar  zu  beleben,  zu  entzünden,  auch  zu 
berauschen. 

Mehr  oder  doch  häufiger  als  zum  ethischen,  das  gern  als  ärmlich  be- 
schränkend angesehen  wird,  fühlt  sich  das  ästhetische  Fühlen  zum  religiösen  in 
einem  nahen  Verhältnis,  und  diese  Nähe  ist  ja  auch  nichts  Neues  oder  Zufälliges, 
sondern  nur  Fortleben  oder  Wiederaufleben  alter,  enger  Verbindung.  Beide 
erheben,  wenn  auch  auf  verschiedene  Weise,  über  die  Welt  der  Wirklichkeit, 
für  welche  die  Ethik  doch  vor  allem  tüchtig  machen  will.  Beide  erlauben  auch 
zu  schwärmen,  während  Schwärmen  auf  dem  ethischen  Gebiete  nie  auf  die 
Dauer  hat  gedeihen  wollen  (und  in  unserer  Zeit  sich  wesentlich  auf  die  gelegent- 
lich con  amore  aufgegriffenen  Zwecke  der  Wohlthätigkeit  beschränkt,  wobei 
aber  die  erhöhte  Stimmung  mehr  dem  angenehmen  Mittel  gilt  als  der  sittlichen 
Aufgabe).  Gegen  jene  Verbindung,  die  im  Katholizismus  eine  dauernde  Heim- 
stätte gewonnen  hat,  hört  ja  auch  der  Protestantismus  mehr  und  mehr  auf  sich 
zu  wehren.  So  sind  nun  allerwärts  schön  aufgeführte  Oratorien  und  sonstige 
religiöse  Musikdarbietungen  ein  geschätztes  Mittel  geworden  zur  Kontinuierung 
religiöser  Stimmungen  über  alle  dogmatische  Zweifel  hinüber,  und  auch  die 
bildende  Kunst  ist  willkommen,  wenn  sie  wieder  zu  den  alten  religiösen  Ge- 
schichtsstoffen greift. 

Aber  ethische  Bildung  als  solche?  Schon  der  Name  ist  kaum  gangbar. 
Von  ethischer  Kultur  hören  wir  neuerdingB  angelegentlich  reden,  aber  sie  ist 
nicht  dasselbe,  muXs  nicht  dasselbe  sein  mit  ethischer  Bildung.  Es  ist  fast,  als 
ob  es  einer  Bildung,  eines  allmählichen  Werdens  und  Gestaltens,  nebst  Empfangen 
und  Verarbeiten,  hier  nicht  bedürfte,  als  ob  diese  Begriffe  hier  nicht  hergehörten. 
Freilich  denken  wir  ja  jetzt  bei  Bildung  ganz  vorwiegend  an  ein  von  aulsen 
allmählich  Entgegengebrachtes  und  Überkommenes,  Gelerntes,  auch  Angelerntes; 
das  Ethische  scheint  sich  schon  durch  eine  normal  anständige  Kindererziehung 
hinlänglich  ergeben  zu  haben  und  sich,  soweit  es  nun  einmal  bei  Menschen  der 
Fall  zu  sein  pflegt,  behaupten  zu  können.  Ein  Behaupten  gilt  es,  ein  Inne- 
halten von  Linien  und  Grenzen,  ein  NichtÜberschreiten.  Die  alte  Form  der 
'zehn  Gebote',  die  ganz  vorwiegend  nur  Verbote  sind,  hat  durch  alles  konkrete 
Christentum  hindurch  bis  heute  sich  in  Wirkung  erhalten.  Die  Erziehung,  wie 
sie  den  meisten  genügt,  pflegt  nur  die  Erhebung  der  Nachwachsenden  auf  die 
durchschnittliche  Normalhöhe  der  Erwachsenen  zum  Ziel  zu  haben  oder  doch 
zum  Ergebnis.  Bildung  reicht  weiter,  endet  später,  oder  vielmehr  endet  niemals. 
Sie  hat  oder  hätte  als  Selbstbildung  —  und  freilich  gerade  die  ethische  Bildung 
mufs  mehr  als  andere  Selbstbildung  sein  —  immer  wieder  zu  ergänzen,  zu 
erneuern,  zu  verjüngen.    Die  Aufgabe  der  inneren  Organisation  wird  nicht 


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W.  Mflnch:  Ästhetische  und  ethische  Bildung  in  der  Gegenwart 


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erledigt,  die  Reife  ist  durch  keine  Altersgrenze  verbürgt,  ein  wertvoller  innerer 
Bestand  nicht  als  unverlierbar  gesichert  Wenn  das  Abthun  aller  naiven  Herb- 
heit in  der  persönlichen  Berührung  mit  Menschen,  das  Sichfügen  in  wohlgefällige 
Form  für  den  Umgang,  das  Bewahren  eines  angenehmen  Gleichmaises  der 
Stimmung  als  ein  Stück  der  ästhetischen  Bildung  zu  gelten  hat,  und  gewifs  als 
ein  wertvolles  Stück,  so  ist  die  tiefere  Höflichkeit,  die  des  Herzens,  ein  Teil 
der  ethischen.  Sie  ist  zwar  einigen  Menschen  von  Natur  eigen,  die  meisten 
aber  müssen  sie  erst  in  sich  selber  groisziehen.  Und  so  ist  es  mit  der  Billig- 
keit, die  eine  so  leichte  Pflicht  scheint,  wenn  man  sie  im  allgemeinen  nennen 
hört,  und  doch  so  viel  voraussetzt,  wenn  sie  in  all  den  konkreten  Fallen  geübt 
werden  soll  So  auch  wohl  gradezu  mit  der  Gerechtigkeit,  die  etwas  ganz 
Wohlfeiles  zu  sein  scheint  und  erst  durch  eine  grofse  innere  Entwickelung  ge- 
sichert wird.  Schliefslich  ist  —  um  das  ganze,  grofse  Gebiet  der  sittlichen 
Tapferkeit  in  ihren  vielen  Formen  nicht  näher  zu  berühren  —  alles  rechte 
Verstehen  des  Menschlichen,  die  Fähigkeit  verstehenden  Mitempfindens  nach 
allen  Seiten,  die  Würdigung  der  inneren  Kräfte  und  Gegenkräfte,  der  zuver- 
lässige und  reiche  gute  Menschenwille  Ergebnis  allmählich  sich  vollziehender 
ethischer  Bildung. 

Dals  die  Aufgabe  solcher  ethischen  Selbstbildung  im  Bewufstsein  der  Mehr- 
zahl ein  lebendiges  Dasein  habe,  dem  steht  leider  auch  kirchliche  Auffassung 
nachteilig  entgegen.  Vollkommenheit  und  Vervollkommnung  sind  Ausdrücke, 
die  der  kirchenbesuchende  Christ  kaum  noch  je  zu  hören  bekommt.  Die  Be- 
sorgnis, dafs  damit  menschlicher  Kraft  etwaB  Wesentliches  zugetraut  würde, 
dals  die  Abhängigkeit  von  göttlicher  Kraft  und  Gnade  und  damit  denn  auch 
vom  Dogma  gefährdet  würde,  läfst  aus  der  kirchlich-religiösen  Erziehung  des 
Volkes  ein  solches  Moment  der  Anregung  ganz  verschwinden.  Die  Besorgnis, 
dafs  das  Palladium  des  Protestantismus,  die  Lehre  von  der  Rechtfertigung  durch 
den  Glauben,  bedroht  werde,  läfst  einen  andern,  läfst  den  fruchtbarsten  religiösen 
Begriff  fast  ignorieren,  jedenfalls  ganz  zurückstellen,  nämlich  den  der  Heiligung. 
Und  doch  wäre  mit  Heiligung  das  in  höchstem  Sinne  und  tiefstem  Ernste 
bezeichnet,  was  unter  dem  schlichten  Namen  ethischer  Bildung  uns  hier  be- 
schäftigt. 

Denn  in  der  That,  einer  Ergänzung,  die  zugleich  Vertiefung  ist,  bedarf 
unsere  obige  Kennzeichnung  ihres  Wesens.  Dort  kam  mehr  ihre  Parallelität 
mit  der  ästhetischen  Bildung,  wie  eine  solche  ja  schon  durch  die  Wiederkehr 
des  Begriffes  Bildung  gegeben  ist,  zur  Sprache,  als  das  die  beiden  Unter- 
scheidende. Als  gemeinsam  für  die  eine  und  die  andere  erschien  vor  allem  das 
Mafs,  die  erworbene  innere  Sicherheit  des  Mal'shaltens  gegenüber  allen  An- 
trieben roher  Natürlichkeit,  allerdings  zugleich  mit  der  gewonnenen  feinen 
Empfänglichkeit  und  der  Erlösung  aus  engem  Gesichtskreis.  Aber  weder 
Empfänglichkeit  noch  Gesichtskreis  noch  Mafs  ergeben  den  eigentlichsten  Kern 
sittlicher  Bildung.  Diese  leistet  ihr  Bestes  durch  Kampf,  durch  Überwindung, 
und  besitzt  ihr  Bestes  in  der  Kraft  zur  Überwindung.  Das  ist  freilich  schon 
den  Griechen  nicht  fremd  geblieben,  nicht  Plato  und  nicht  den  Stoikern  und 


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522  W.  Münch:  Ästhetische  und  ethische  Bildung  in  der  Gegenwart 

auch  nicht  andern  Denkern  und  Beobachtern;  aber  weder  in  der  allgemeinen 
Lehre  noch  im  allgemeinen  Bewußtsein  hat  es  seine  rolle  Bedeutung  gewinnen 
kennen.  Die  Stoiker  z.  B.  predigen  eigentlich  mehr  den  Sieg  als  den  Kampf 
und  nehmen  damit  den  letzteren  doch  nicht  allzu  ernstlich.  Auch  ruht  ihre 
ethische  Vornehmheit  auf  einer  Art  von  Stolz,  und  Stolz  ist  keins  der  tief- 
sittlichen Fundamente.  Murrte  nicht  eines  Tages  dem  Bewußtsein  die  Sittlich- 
keit wesentlich  als  Ergebnis  schweren  inneren  Kampfes  aufgehen?  Die  Er- 
kenntnis des  eigenen  Wesens  mufste  in  die  Tiefe  streben,  und  in  der  Tiefe 
zeigte  sich  der  Kampf. 

Ineinander  wachsen  werden  sie  also  auch  in  fernerer  Zeit  nicht,  die 
ästhetische  und  die  ethische  Menschenbildung;  zu  schöner  Einheit  werden  sie 
sich  mehr  nur  bei  einzelnen  verbinden,  eine  Mehrzahl  wird  es  nicht  werden. 
Es  ist  nicht  blofs  so,  dafs  die  Pflege  des  Schönen  (des  Kunstschönen  wenigstens) 
eines  freundlichen  Lebenszustandes  bedarf,  und  dafs  in  kriegerischer  Zeit  die 
grofsen  sittlichen  Kräfte  auf  den  Plan  treten:  auch  für  den  einzelnen  fallen 
beide  Sphären  doch  ungefähr  wie  Frieden  und  Krieg  auseinander;  mindestens 
mufs  es  ein  bewaffneter  Friede  sein,  was  unsern  ethischen  Zustand  charakterisiert, 
nicht  der  sorglose  Friede  des  heiteren  Spiels. 

Auch  werden  wir  ja  nicht  vergessen,  dafs  jenes  freundlich  harmonische 
Ergebnis,  wie  es  mit  Bildung  zu  bezeichnen  war,  nicht  gleichbedeutend  ist  mit 
sittlichem  Wertgehalt  überhaupt.  Dieser  kann  überragend  grofs  sein  bei 
mangelndem  Gleichgewicht  des  Wesens,  ihm  kann  das  gefällig  Wohlthuende 
sehr  fehlen,  er  kann  mit  einseitiger  Kraft  die  Persönlichkeit  erfüllen;  ohne  ein 
gewisses  Mafs  von  Einseitigkeit  und  Scharfe  ist  überhaupt  kaum  Charakter. 
Aber  anzustreben  hat  der  einzelne  darum  doch  jenes  Gleichgewicht,  dessen 
Mangel  erst  hingenommen  wird  bei  einer  gewissen  Gröfse  des  Wesens,  die  nicht 
jedermann  verliehen  ist. 

Und  auch  auf  den  Vorstufen  der  Selbsterziehung  soll  dieses  Bestreben  nicht 
versäumt  werden.  Gegen  die  öffentliche  Erziehung  ist  jetzt  viel  Beschwerde, 
dafs  sie  der  Pflicht  ästhetischer  Bildung  nicht  genüge,  und  für  die  spezifisch 
ästhetischen  Naturen  ist  sie  damit  schon  überhaupt  gerichtet,  bleibt  sie  schlechter- 
dings unter  ihrer  Aufgabe,  ist  sie  nur  rohe  Stümperei  oder  blinder  Schlendrian. 
Es  ist  wahr,  die  Schulen  marschieren  in  der  Regel  ein  Stück  hinter  cler  all- 
gemeinen Kultur  des  Zeitalters  her.  Nicht  blofs,  dafs  man  da  ewig  dieselben 
Klassiker  liest,  während  es  doch  so  viel  anregendere  Moderne  giebt,  oder  Dinge 
treibt,  von  denen  kein  Mensch  aufser  der  Schule  mehr  etwas  wissen  will:  das 
sind  die  Anklagen  der  Thorheit,  auch  der  moralischen  Borniertheit.  Indessen 
man  darf  dort  doch  wirklich  das  Unvollkommene  sehen  und  bezeichnen. 

Was  sich  die  Schulen  als  Pflege  des  Ästhetischen  anrechnen,  hält  sich  teils 
auf  dem  Gebiet  des  Elementarsten  (wie  Ordnung,  Symmetrie  in  äufseren  Dingen), 
oder  es  bleibt  als  rein  Technisches  aufserhalb  des  inneren  Zusammenhangs  und 
Lebens  (so  das  bescheidene  Mafs  von  Zeichnen  und  Gesang),  oder  es  gehört 
dem  mifslichen  Gebiet  des  formal  Rhetorischen  an  (also  die  Kultur  des  schrift- 
lichen Stils),  oder  es  kommt  infolge  starker  Beimischung  nüchterner  Verstandes- 


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W  Müsch:  Ästhetische  und  ethische  Bildung  in  der  Gegenwart 


523 


Übung  oft  nicht  zu  eigentlich  ästhetischer  Wirkung  (so  die  Dichterlektüre). 
Freilich  liegt  in  den  konkreten  Lebensbedingungen  der  Schule  Erschwerung  und 
Hemmung  genug,  und  wenn  es  nur  die  eine  wäre,  dafs  die  Zöglinge  in  ihrer 
Mehrzahl  nach  Abkunft  und  Vorbildung  das  Ganze  abwärts  ziehen.  Und  sicher- 
lich bleiben  die  schlichteren  Ziele  ethisch-intellektueller  Ausbildung  weitaus  die 
gröfseren.  Aber  eine  Wandlung  zur  Vervollkommnung,  nämlich  zu  vollerer 
Vereinigung  der  Ziele  und  Linien,  mufs  doch  von  der  Zukunft  gefordert  werden. 
Und  wie  wenig  das  verkannt  wird,  das  beweisen  die  zahlreichen  Stimmen,  die 
sich  aus  Fachkreisen  für  geschicktere  Einverwebung  ästhetischer  Anregung  und 
Orientierung  erheben.  Pflege  eines  wirklich  guten  Vortrags  edler  Dichtung,  im 
Zusammenhang  mit  lebendiger  und  liebender  Erfassung,  Ausmünden  eines 
bildenden  Zeichenunterrichts  in  das  Verständnis  kunstgeschichtlicher  Erschei- 
nungen, Hinarbeiten  auf  deutliche  Auffassung  von  Kunstwerken  im  Zusammen- 
hang mit  begrifflicher  Klärung  und  sprachlicher  Bereicherung,  würdige  Ge- 
staltung der  äufseren  Raumausstattung,  auch  immer  völligeres  Abthun  des  roh 
Natürlichen  im  Unterrichtston,  das  sind  Ziele,  denen  man  sich  nähern  soll. 

Wollten  nur  auch  die  andern  erziehenden  Faktoren  in  gleichem  Mafse  ihre 
Pflichten  revidieren!  Zwar  einer  dieser  Faktoren,  die  Gesellschaft,  würde  dazu 
vergeblich  aufgefordert,  denn  sie  ist  ein  Wesen  ohne  Haupt  und  Centrum  und 
kann  also  einen  Willen  nur  im  Sinne  einer  Strömung  entwickeln,  die  zu  be- 
einflussen kaum  von  aufsen  her  gelingen  könnte.  Die  Kirche  ist  zwar  nicht 
gewohnt,  einer  Unvollkommenheit  in  der  Erledigung  ihrer  Berufsaufgaben  ge- 
ziehen zu  werden,  aufBer  von  ihren  Feinden,  zu  denen  wir  uns  nicht  schlagen 
wollen;  aber  vielleicht  wäre  es  gut,  wenn  sie  von  Freunden  öfter  gemahnt 
würde.  Dahin  gehört,  was  oben  gesagt  wurde.  Und  dazu  doch  noch  eins. 
Die  Fülle  und  Tiefe  der  ethischen  Bestandteile  neutestamentlicher  Briefe,  in 
denen  sich  übrigens  die  Sprache  des  höchsten  Ernstes  oft  zugleich  zu  leuchten- 
der Schönheit  erhebt  und  so  die  edelste  Einheit  des  Ethischen  und  Ästhetischen 
sich  verwirklicht,  pflegt  nicht  entfernt  so  ausgekauft  zu  werden  wie  es  geschehen 
sollte.  Bleibt  das  einer  künftigen  Periode  der  Kirchengeschichte  vorbehalten? 
Die  Familien  endlich,  die  gebildeten  Familien  sind  es  ja  vor  allem,  denen  die 
Vereinigung  ästhetischer  und  ethischer  Erziehung  obliegt,  nicht  blofs  die 
ästhetische  für  sich,  worauf  sich  manche  in  der  That  zu  sehr  beschränken, 
auch  nicht  eine  beliebige  ästhetische  oder  was  als  eine  solche  erscheint, 
sondern  die  Vereinigung  einer  gesunden  ästhetischen  und  einer  ernst  folge- 
richtigen ethischen  Erziehung.  Dafs  das  Verantwortlichkeitsbewufstsein  über- 
haupt viel  weniger  lebendig  ist  als  die  Bereitschaft,  andere  entrüstet  zur  Ver- 
antwortung zu  ziehen,  ist  —  zwar  ein  unvergänglich  menschlicher  Zug,  aber 
doch  besonders  auch  ein  Zug  unserer  Gegenwart,  mit  deren  stark  öffentlichem 
und  äufserlich  vielbewegtem  Leben  er  zusammenhängt. 

Aber  wir  gehen  durch  starke  Krisen  und  werden  vieles  neu  zu  suchen 
haben,  was  uns  im  auflösenden  Wirrwarr  der  Zeit  verloren  geht,  und  dann 
weiterhin  und  immer  von  neuem  noch  anderes,  was  kaum  jemals  schon  erfüllt 
und  verwirklicht  war. 


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DIE  ÄLTESTE  DEUTSCHE  ZEITSCHRIFT  FÜR  HÖHERES 

SCHULWESEN 


Von  Ernst  Schwabe 

(Schlaft) 

Einer  der  fleißigsten  und  fähigsten  Mitarbeiter  der  Acta  scholastica  war 
unzweifelhaft  Gotthilf  August  Hofmann,  'Prorecktor  und  öffentlicher  Lehrer 
der  Weltweisheit  am  Archigymnasium  zu  Dortmund'.1)  Alles,  was  dieser 
Mann  (wahrscheinlich  ein  Obersachse)  geschrieben  hat,  hat  Hand  und  FuXs.  Die 
Abhandlungen  und  Darlegungen,  die  aus  seiner  Feder  stammen,  sind  in  einem 
munteren  und  klaren  Stil  geschrieben  und  enthalten  viel  Beherzigenswertes, 
was  heute  noch  gilt  und  für  damalige  Zeit  eine  ungeheure  Kühnheit  darstellte. 
Jedoch  sind  die  mutigen  Worte  mit  so  viel  Feinheit  vorgebracht,  dals  er  sich 
durch  sie  schwerlich  Feinde  gemacht  hat  So  viel  ich  sehe,  tritt  Hofmann  zum 
erstenmale  als  Mitarbeiter  im  ü.  Bande  der  Nova  acta  scholastica  auf,  der  im 
Jahre  1751  erschien,  dann  aber  gleich  zweimal,  mit  den  Abhandlungen  'Von 
der  Gültigkeit  alter  Schulmoden '  (S.  643 — 684)  und  dem  'Charackter  eines 
rechtschafenen  Schulmannes'  (S.  721 — 773).  Der  Verfasser  verfügt  über  einen 
gesunden  Mutterwitz  und  eine  flotte,  frische  Schreibart.  Bewufst  sucht  er  sich 
vom  Schlendrian  des  ewigen  Disputierens,  der  Imitationen  und  des  Programm- 
fabrizierens loszulösen.  Das  Sapere  aude!  ist  seine  Devise:  alles  atmet  einen 
kraftigen,  aller  Vorbildung  sich  entgegensetzenden  Menschenverstand,  der  nicht 
mehr  aus  sich  und  seinen  Themen  macht,  als  bei  bescheidener  Selbsteinschätzung 
daraus  gemacht  werden  kann.  Beide  Abhandlungen,  die  in  gewisser  Art  den 
damaligen  Typus  pädagogischer  Theorie,  sowohl  was  die  Schule  als  den  Schul- 
mann angeht,  darstellen,  verdienen  wohl  ein  kurzes  Referat. 

Die  erste  'Von  der  Gültigkeit  alter  Schulmoden  *  wendet  sich  'gegen  gewisse 
ausserwesentliche  Gewohnheiten,  die  auf  den  eigentlich  sogenannten  »Schulen« 
eingeführt  sind'.  In  Wirklichkeit  kann  man  das  Ganze  als  einen  dem  herrschen- 
den Pedantismus  hingeworfenen  Fehdehandschuh  ansehen.  Im  Eingange  seiner 
Abhandlung  wendet  sich  Hofmann  zunächst  gegen  die  übermäfsige  Anwendung 
des  Lateins  und  geifselt  dann  die  langatmigen  Programme,  die  eine  unbedeutende 
Sache  damit  aufputzten  und  verbrämten,  dafs  sie  womöglich  vom  Ursprung  der 

')  Die  grofcen  Nachschlagewerke  schweigen  über  diesen  merkwürdigen  Mann.  Er 
findet  sich  weder  in  der  Allg.  D.  Biogr.  noch  in  den  alteren  Werken  von  Jöcher,  Adelung 
und  Roterarnnd.  —  Auch  die  Bibliothek  des  Dortmunder  Gymnasiums  vermag  Aber  ihn 
keine  Auskunft  zu  geben  (Mitteilung  des  Prof.  Dr.  Schuhe,  Dortmund). 


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E.  Schwabe:  Die  älteste  deutsche  Zeitschrift  für  höheres  Schulwesen 


525 


Welt  anfingen.1)  Hierauf  wendet  er  sich  zu  seinem  eigentlichen  Thema  und 
teilt,  hierbei  dem  Prinzip  der  damals  sehr  beliebten  partitio  dichotomica 
folgend,  die  'alten  Schulmoden'  in  zu  erhaltende  und  zu  verwerfende. 

Zu  der  ersten  Gattung  gehören  ihm  alle  die,  'die  dem  Zweck  einer  Schule 
sowohl  Oberhaupt  als  besonders  gemäfs  sind',  und  zu  diesen  rechnet  er  als  aus 
früherer  Zeit  überkommen:  '1)  die  Gründlichkeit  des  Unterrichts  in  allerley 
Sprachen  und  Wissenschaften,  2)  den  besondern  Eyfer,  der  sich  bei  Lehrenden 
und  Lernenden  vorfand,  3)  das  Ansehn,  worein  sie  sich  mittelst  einer  genauen 
wohleingerichteten  Zucht  bey  ihren  Untergebenen  setzten,  4)  die  gute  Eyn- 
tracht,  welche  vordem  auf  allen  Schulen  blühet».' 

Wichtiger  als  diese  laudatio  temporis  acti  und  für  das  Verständnis  dieser 
von  der  Schulgeschichtschreibung  arg  vernachlässigten  Zeit  nutzbringender  ist 
der  zweite  Teil,  die  Schilderung  der  Schulmoden,  die  'den  Zweck  einer  Schule 
zwar  nicht  gantz  auffheben,  aber  dennoch  gewaltig  verhindern  und  schwer 
machen'.  Hier  fordert  Hofmann,  als  Wortführer  einer  neuen  Zeit,  vor  allen 
Dingen  einen  sachlich  sorgfältig  fundierten  Unterricht,  und  hierbei  exempli- 
fiziert er,  wenn  auch  in  der  Form  vorsichtig,  so  doch  in  der  Sache  kühn,  zu- 
nächst auf  einen  vernünftig  umzugestaltenden  Religionsunterricht.  Den  Übel- 
stünden, die  in  diesem  Noli  me  tangere  des  Unterrichtswesens  zur  festen  Form 
erstarrt  waren,  geht  er  kühn  zu  Leibe  ('Wahrhaftig,  mit  einem  bisgen 
Catechismusgeplärr  ists  nicht  ausgerichtet')  und  stellt  als  erste  Forderung  hin, 
dafs  der  Lehrer  selbst  nicht  blofs  im  formalen  Christentum  zu  Hause  sein, 
sondern  eine  wahre  Liebe  zu  Gott,  Religion  und  Tugend  besitzen  müsse.  Dann 
ist  'eine  gantze  Moral  und  Politick  deshalb  zu  lesen  gantz  und  gar  nicht 
nöthig'.  Leider  fehlt  es  daran  sehr:  gründliche  Kenntnisse,  die  es  zulassen, 
dafs  die  Lehrer  aus  dem  Vollen  schöpfen,  sind  selten  vorhanden:  die  meisten 
begnügen  sich  nicht  nur  im  Religions-,  sondern  auch  im  Sprachunterricht  mit 
dem  äufseren  systematischen  Einpauken  dessen,  was  sie  selbst  auf  der  Schule 
gelernt  haben  (vgl.  auch  Paulsen  I*  S.  593)  und  die  Zahl  derer  ist  sehr  grofs, 
deren  'gantze  Lehre  blos  auf  die  kahle  Grammatik  eingeschranckt  ist*.  Bei 
dem  Sprachunterricht  vermifst  er  allen  realen  Untergrund. ")  Dieser  mufs  aber 


')  ib.  S.  647.  'Ware  ich  —  gar  um  meiner  Sünden  willen  ein  Antiquitatenkramer  oder 
buchst&belnder  Kunstlichter  geworden;  wie  würde  ich  mich  freuen,  dafs  ich  ietzt  meine 
Waren  so  vortreflich  an  den  Mann  bringen  könnte!  Zuförderst  würde  ich  mit  einer  alt- 
vaterischen Mine  den  Ursprung  sowohl  der  Schulen  überhaupt,  als  der  Moden  in  denselben 
untersuchen  und  entdecken,  Adam  sey  nach  der  Vertreibung  aus  dem  Paradies  der  erste 
Schulmeister  gewesen,  Lamech  aber  habe  die  Eintheylung  in  Claesen  eingeführt.  Hier- 
nächst  würde  ich  manche  verderbte  Lesarten  vieler  alten  griechischen  und  lateinischen 
Schriftsteller  mit  grosser  Dreystigkeit  verbessern,  wenns  auch  nur  in  den  Noten  geschehen 
sollte  u.  s.  w.'   Zu  der  Anspielung  auf  Lamech  vgl.  1.  Mos.  4,  19  (Jabal,  Jubal,  Thubalkain). 

*)  ib.  668.  'Wo  ist  der  Unterricht  in  der  Geographie,  der  Physik,  der  Historia,  der 
Mythologie,  den  Romischen  und  Deutschen  Alterthümern,  der  Kenntnifs  lateinischer  Auetoren 
und  anderer  guten  Bücher,  der  Beredsamkeit  und  Dichtkunst?   Wer  lehret  sie  eine  ge- 
•    schickte  Periode,  einen  guten  Brief  oder  auch  nur  ein  manierlich  Compliment  machen? 
Wer  führet  sie  darauff,  ihre  Oedancken  beyxeiten  mit  eignen  Worten  ausiudrücken?' 


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526  E.  Schwab«:  Die  älteste  deutsche  Zeitschrift  für  höheres  Schulwesen 

geschaffen  werden,  freilich  von  allem  nur  die  'ersten  leichtesten  Anfangsgründe, 
worauf  hernach  ein  Studierender  fortbauen  konnte'.  Den  geistigen  Standpunkt 
der  Schule1)  schildert  er  hierbei  als  außerordentlich  niedrig.  Freilich  weifs 
auch  er  diesen  Mangel  nur  damit  zu  erklären,  dafs  die  Not  der  Zeit  die  Eltern 
hindert,  möglichst  viel  an  die  Erziehung  der  Kinder  zu  wenden,  und  dafs  es 
deshalb  unmöglich  ist,  die  besseren  Elemente  der  Studierenden  beim  Schulamte 
zu  erhalten. 

Einen  zweiten  Hauptübelstand  findet  Hofmann  in  ungeeigneter  Behandlung 
des  Unterrichts,  selbst  zugegeben,  dafs  die  einmal  beliebte  formale  Methode 
die  rechte  wäre.  Hierbei  rechnet  er  seinen  Zeitgenossen  eine  ganze  Anzahl 
Verstösse  vor:  den  ersten  erblickt  er  (charakteristisch  genug)  in  der  Verwendung 
ungeeigneter  Bücher,  die  man  entweder  aus  Sparsamkeit  oder  Beharrlichkeit 
nicht  mit  besseren  vertauschen  will.  Dann  tadelt  er  die  'üble  Methode,  wenn 
man  seine  anvertrauten  Lehrlinge  mit  dem  peinlichen  Auswendiglernen  martert 
und  sie  gar  nicht  von  Kindheit  an  zum  Gebrauche  ihres  eigenen  Verstandes 
anführt'.  Drittens  rechnet  er  es  zu  den  methodischen  Fehlern  seiner  Zeit, 
dafs  'man  den  Schülern  so  viele  Faulküssen  läfst,  auff  denen  sie  sanft  ruhen 
mögen'.  Damit  wendet  er  sich  gegen  die  Ausgaben  ad  modum  Minelli,  die 
damals  aufgekommen  waren,  die  Neuen  Testamente  mit  gegenübergedruckter 
lateinischer  Vulgata  und  die  Ausgaben  mit  deutschen  Anmerkungen.  Was  die 
letzteren  angeht,  so  war  der  Vorwurf  unzweifelhaft  treffend:  man  braucht  nur 
die  elenden  Eselsbrücken  anzusehen,  die  damals  als  'Schulausgaben'  von  Ovid 
u.  a.  paradierten.*)  Einen  vierten  Vorwurf  erhebt  er  gegen  die  Schulen,  wo 
'man  von  seinen  Schülern  Arbeiten  fordert,  welche  ihre  Fähigkeit  und  Kräfte 
übersteigen'.8)  Der  Fehler  jener  redesüchtigen  Zeit  war  eben  der,  dafs  man 
in  gewissen  Dingen  zu  schnell  vorwärts  ging  und  prunkhafte  Redeleistungen 
hervorzurufen  strebte,  ehe  nur  die  notwendigste  stilistische  Vorbildung  gegeben 
war.  Den  fünften  methodischen  Fehler  sieht  H.  in  dem  geraden  Gegenteil  des 
vierten,  'wenn  man  (die  Schüler)  durch  allerley  Umschweife  als  im  Labyrinth 
herumführt  und  den  kürtzesten  Weg  gehn  sollte!'  Hiermit  traf  Hofmann  den 
bösesten  Punkt  und  die  empfindlichste  Stelle.  Leider  hatte  er  nur  zu  sehr 
recht  mit  seiner  empörten  Frage:  'Ist  es  nicht  eine  Schande,  zehen  bis 
zwantzig  Jahr  an  dem  blossen  Latein  zuzubringen-  und  doch  kaum  so  viel  zu 
lernen  als  man  eben  gebraucht?'    Um  auf  das  Schülerlatein  zu  schliefsen, 

')  ib.  664.  'Wu  lernt  aber  ein  Schaler  anstatt  alles  dessen?  Ein  bisgen  Latein  ans 
dem  Cornelius,  griechisch  und  hebräisch  buchstabieren.  Damit  bringen  sie  ihre  besten, 
edelsten  Jahre  zu  u.  8.  w.' 

*)  ib.  670.  'So  lange  sie  Trost  in  den  Noten  finden  oder  eine  Übersetzung  bey  der 
Hand  haben,  sollte  man  glauben,  wunder  wie  gescheit  sie  wären.  Wird  ihnen  aber  dieser 
gerichtliche  Beistand  genommen,  dann  sehen  sie  sich  nach  dem  Tacitus  um  und  bitten 
Belbigen  mit  einem  beweglichen  Husten  um  Hülfe.' 

*)  ib.  S.  671.  'Wird  ein  Schüler  wohl  gantze  Bogenannte  Chrien,  oder  ordentliche  Reden 
anfertigen  können,  ehe  er  weih,  was  ein  logischer  Satz  ist?  Was  entsteht  darauf«  anders, 
als  dafs  man  entweder  seinen  Lehrlingen  gar  nichts  aufgiebt,  oder  selbst  alles  machen 
muTs  und  sie  nur  zusehen  läfst?' 


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E.  Schwabe:  Die  älteste  deutsche  Zeitschrift  für  höheres  Schalwesen  527 

braucht  man  nur  in  die  damalige  Programmlitteratur  zu  blicken.  Trotz  aller 
Geläufigkeit  und  Flüssigkeit,  mit  der  sich  die  Lateinschreiber  und  -redner  jener 
Tage  in  hergebrachten  Konversationsphrasen  bewegten,  braucht  man  gar  nicht 
lange  zu  suchen,  um  mit  einem  100  Jahre  später  auftretenden  lateinischen  Poeten 
klagen  zu  müssen:  Donatus  miser  male  vapulat!  Die  argen  Schnitzer,  die  sich 
selbst  angesehene  Schulmänner  zu  schulden  kommen  Uelsen,  sind  auch  ein  Zeichen 
jener  Zeit,  und  wenn  das  am  grünen  Holz  geschah,  wie  mag  es  erst  bei  den 
Schülern  gewesen  sein!  In  dieser  Hinsicht  hat  es  allerdings  1840  unvergleich- 
lich viel  besser  ausgesehen  als  1740. 

Die  weiteren  Teile  dieser  Arbeit  sind  leider  nur  skizziert:  sie  bezeichnen 
als  Hauptgrund  des  Rückgangs  die  Überlastung  der  Schulen  mit  ungeeignetem 
Schülermaterial  und  das  Zusammensitzen  der  verschiedenartigsten  Elemente  in 
einer  Klasse.  Die  Hilfsmittel,  die  H.  dagegen  empfiehlt,  sind  ungefähr  dieselben, 
die  man  auch  heute  vorschlagen  würde.  Als  letzte  böse  Schulmode  bekämpft 
er  dann  die  schlechte  Zucht,  die  Übcrmäfsige  Ausdehnung  der  Feiertage  und 
das  treue  Festhalten  am  alten  Schlendrian. 

In  dieser  Arbeit,  die  in  ihrem  kernigen  Ton  oft  an  Lessingschen  Stil 
erinnert,  klingt,  wie  in  vielen  anderen,  die  in  jener  Zeitschrift  veröffentlicht 
sind,  die  Klage  eines  gescheiten  und  wohlmeinenden  Mannes  hindurch,  wie 
übel  es  doch  mit  dem  damaligen  Gymnasium  bestellt  gewesen  sei.  Zu  jeder 
Zeit  hat  es  nun  Leute  gegeben,  die  sich  getrauten,  den  Sitz  des  Übels  genau 
anzugeben  und  Heilmittel  vorzuschlagen.  Solche  Wundermänner  fehlten  auch 
damals  nicht  Doch  die  salbungsvoll  langweiligen  Reden  derer  sollen  hier  bei- 
seite bleiben,  die  vom  hohen  Piedestal  herab  alle  Schuld  am  Verfall  der  Gym- 
nasien bei  deren  Lehrern,  ihrer  ganz  besonderen  menschlichen  Unvollkommen- 
heit  und  ihrer  mangelhaften  Erziehung  und  Weiterbildung,  suchten.  Denn  das 
Bild  wird  viel  klarer  und  deutlicher,  wenn  wir  auf  die  Aufserungen  derer 
achten,  die  damals  mitten  in  der  Praxis  standen  und  darum  uns  am  genauesten 
sagen  können,  wo  sie  der  Schuh  drückte,  anderseits  aber  auch,  wenn  sie  gegen 
sich  und  andere  ehrlich  sind,  am  leichtesten  die  Fehler  aufzuzeigen  wissen,  die 
damals  der  ganze  höhere  Lehrerstand  sich  schuld  geben  mufste.  'Höherer 
Lehrerstand'  ist  freilich  hierbei  cum  grano  salis  zu  verstehen,  da  ja  die  aller- 
meisten Gymnasiallehrer  Theologen  waren  und,  falls  sie  kein  Rektorat  erreichen 
konnten,  so  bald  als  möglich  in  ein  Pfarramt  zu  kommen  trachteten. 

Die  zweite  Abhandlung  G.  A.  Hofmanns  giebt  uns  darüber  den  -besten 
Aufschlufs,  wie  man  sich  in  Berufskreisen  den  'Charackter  eines  rechtschafenen 
Schulmannes'  zu  denken  pflegte.  Nachdem  er  des  'Pöfels'  Urteil  abgefertigt 
hat,  der  nur  den  als  'rechtschaffen'  ansieht,  der  in  allen  Dingen  den  Eltern  zu 
Willen  ist,  verlangt  er  als  erstes,  dafs  ein  Schulmann  von  Natur  gut  aus- 
gerüstet sein  solle:  die  Ausführungen  des  feiner  organisierten  Obersachsen  über 
seine  neue  Heimat1)  sind  hierbei  mit  starker  Ironie,  die  er  auch  sonst  öfter 


')  ib.  S.  741.  'Ein  Schulmann  soll  aber  auch  eine  genugsam  starke  Stimme  und  ver- 
nehmliche Aussprache  haben,  und  das  hauptsächlich  in  Westphaleu.    Denn  in  diesem  ge- 


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E.  Schwabe:  Die  älteste  deutsche  Zeitschrift  für  höhere«  Schulwesen 


anwendet,  durchzogen.  Von  dem  Geiste  eines  Schulmannes  aber  fordert  er,  dafs 
ihm  'ein  lebhaft  Naturell  und  Munterkeit1  eigen.  Ja  es  klingt  wie  aus  Lessinga 
Munde,  wenn  er  erklärt,  dafs  er  'vielleicht  einen  strengen  BeweUs  von  dem 
Satz  wagen  (würde),  dafs  ein  Schulmann  ohne  die  Eigenschaften  eines  schönen 
Geistes  ein  vollkommener  Pedant  sey'.  Ein  munterer  Witz,  ein  'glückliches 
Gedächtnüfs',  ein  'reiner  und  zarter7  Geschmack  und  als  Krone  ein  'edles  und 
gutes  Hertz*  sind  die  weiteren  Naturgaben,  die  er  von  einem  rechten  Schul- 
mann verlangt.  Ebensohoch  sind  die  Anforderungen,  die  er  an  das  stellt, 
was  von  dem  Menschen  für  die  Ausbildung  eines  solchen  geleistet  werden  soll. 
Ein  rechter  Schulmann  soll  vor  allen  Dingen  nicht  'eine  butte  und  pöfelhafte' 
Erziehung  genossen  haben  und  ununterbrochen  an  sich  weiter  arbeiten.  Die 
damaligen  Schulmänner  müssen  es  wohl  in  beiden  Dingen  schwer  an  sich  haben 
fehlen  lassen,  wenn  Hofmann  mit  Recht  schreiben  kann,  dafs  sie  von  den 
klassischen  Lateinern  nur  die  'fast  ausgepeitschten  Autoren*  und  von  den  Neu- 
lateinern fast  gar  nichts  kannten.1)  Vor  allem  dringt  H.,  beim  Lehrer  ebenso 
wie  beim  Schüler,  auf  reale  Durchbildung.  Zwar  soll  der  rechte  Schulmann 
auch  etwas  von  'Critick'  verstehen,  aber  doch  steht  ihm  die  Durchbildung  in 
Mythologie  und  Altertümern  weit  höher.  Ja  fast  modern  klingt  es,  wenn  es 
bei  ihm  S.  762  heifst:  'Die  alte  sowohl  als  die  neue  Geographie  ist  ihm  so 
unentbehrlich,  dafs  er  ohne  jene  keinen  älteren  Schriftsteller  verstehn,  ohne 
diese  aber  in  der  neueren  Geschichte  nicht  fortkommen  kann/  Überhaupt  also 
ist  ihm  eine  gründliche  und  umfassende  gelehrte  Bildung  das  fundamentum 
scholarum.  'Denn  ist  nicht  ein  Schulmann  auch  ein  ehrlicher  Bürger  in  der 
Republik  der  Gelehrten?* 

Neben  dem  Sammeln  eines  reichen  Wissens  lag  ihm  aber  auch  eine  sorg- 
fältige Durchbildung  des  Könnens  am  Herzen,  vor  allem  im  Reden  und  Dichten, 
oder,  wie  man  damals  sagte,  in  den  'schönen  Wissenschaften'.  Nicht  die  red- 
nerischen Figuren  aus  den  Lehrbüchern  lernen,  sondern  selbst  an  den  Born 
der  Dicht-  und  Redekunst*)  herangehen,  ist  hier  für  den  'rechtschaffnen*  Schul- 
mann das  erstrebenswerte  Ziel.   'Er  braucht  selbst  kein  Dichter  zu  seyn:  aber 


sitteten  Theil  von  Deutachland  besitzt  auch  der  geringste  Pöbel  die  seltene  Wissenschaft, 
aus  der  Stärke  der  Stimme,  sonderlich  im  Predigen,  die  Stärke  des  Geistes,  ja  die  gantze 
innere  Geschickligkeit  eines  Menschen  weit  sicherer,  als  die  Planetenleser,  zu  erraten.' 

')  ib.  S.  760.  rIch  will  wetten,  dafs  viele  die  meisten  Schrifften  des  Cicero,  des  Livius, 
den  Vellejus  Paterculus,  den  Juvenalis,  den  Valerius  Flaccus,  den  Pomponius  Mela,  den 
Lactantius,  den  Minucius  Felix  und  viertzig  andere  nicht  mit  Augen  gesehn  haben: 
und  wenn  man  ihnen  vollends  in  den  neueren  vortreflichsten  Schriftstellern  den  Laurentius 
Valla,  den  Ubertus  Folieta,  den  M.  Antonius  Maioragius,  den  Janus  Nicius  Erythräus,  den 
Petrus  Cunius,  den  Franc.  Vavassor  und  mehrere  verlegen  wollte,  Wörden  sie  eben  bo  un- 
wissend seyn,  als  jener  Mönch,  der  den  Articulus  Schmalcaldicus  für  einen  Ketzer  zu 
Luthers  Zeit  hielt.' 

*)  ib.  S.  766.  'Eine  männliche,  eine  feurige  Beredsamkeit  mufs  es  seyn,  die  die  Hertzen 
überwindet  und  mit  den  Regungen  erfüllet,  welche  den  lebhaften  und  reitsenden  Vortrag 
der  Wahrheit  begleiten.  Zu  der  müssen  Jünglinge  mit  dem  gröfsten  Fleis  angewiesen 
werden.' 


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E.  Schwabe:  Die  älteste  deutsche  Zeitschrift  für  höheres  Schulwesen  529 

sein  verbesserter  Geschmack  mufs  ihm  die  Geschickligkeit  geben,  von  der- 
gleichen Dingen  richtig  zu  urtheilen  (S.  769).'  Wenn  diese  Ansicht  durch- 
dringe1), dann  werde  es  künftighin  besser  um  die  Schulen  und  ihre  Leistungen 
stehen. 

Er  schliefst  denn  seine  Ausfahrungen  mit  dem  Wunsche,  dafs  der  Schul- 
meister, wie  er  sein  soll,  auch  etwas  von  Philosophie  und  Mathematik  verstehen 
mochte.  Man  sieht  also,  dafs,  abgesehen  von  einigen  Forderungen,  die  zu  allen 
Zeiten  als  selbstverständlich  angesehen  worden  sind,  Hofmann  als  Kennzeichen 
des  'rechtschaffenen  Schulmanns'  eine  möglichst  tiefe  und  vielseitige  Geistes- 
bildung ansieht;  dafs  er  seiner  Zeit  nicht  so  weit  vorausgeeilt  ist,  um  auch 
eine  ausgedehnte  pädagogische  Lehrzeit  zu  verlangen,  dürfen  wir  ihm  nicht 
verargen.  Möglichst  viel  Wissen  war  das  Ideal  seiner  Zeit:  dafs  er  daneben 
das  Können  so  stark  betont,  ist  schon  sehr  viel,  und  darin  liegt  die  Berech- 
tigung, ihn  einen  der  Wortführer  in  der  pädagogischen  Bewegung  jener  Tage 
zu  nennen. 

Seit  dem  ersten  Auftreten  G.  A.  Hofmanns,  der  bald  darauf  als  Rektor 
nach  Bielefeld  überging,  ist  fast  in  jedem  Jahrgang  von  'Altes  und  Neues  aus 
Schulsachen'  eine  Abhandlung  von  ihm  aufgenommen.*)  Mögen  sie  nun 
theoretische  Probleme  behandeln,  oder,  was  ihm  und  uns  näher  liegt,  praktische 
Fragen  erörtern,  sie  sind  alle  vortrefflich  geschrieben  und  zeigen  uns  in  dem 
nach  Westfalen  versetzten  Sachsen  einen  wackern  Schulmann,  der  das  Herz 
auf  dem  rechten  Fleck  hat,  auch  für  die  Not  seiner  Mitarbeiter,  mit  klarem 
Blick  das  Schulwesen  überschaut  und  erkennt,  was  ihm  not  thut.  Leider  geht 
eine  umfassende  Behandlung  dieses  Mannes,  die  eine  dankenswerte  Aufgabe 
wäre,  und  seiner  Schriftstellerei  über  den  Rahmen  unseres  Themas  hinaus: 
leider!  denn  offenbar  ist  G.  A.  Hofmann  eine  Lichtgestalt  unter  den  Schul- 
männern der  ersten  Hälfte  des  18,  Jahrhunderts  gewesen. 

Dafs  unsere  Vorgänger  im  Amte  damals  nicht  zu  beneiden  waren,  teils 
der  üblen  Lage  wegen,  in  der  sie  sich  befanden,  teils  um  der  Kollegen  willen, 
die  sie  unter  sich  dulden  mufsten,  hat  schon  Paulsen  am  Ende  des  I.  Bandes 
seiner  Gesch.  des  gel.  Unterrichts  genugsam  ausgeführt.  Den  Niedergang  des 
gelehrten  Unterrichts  und  die  Barbarei,  die  infolgedessen  auf  Universitäten  und 
Gymnasien  zu  jener  Zeit  eingezogen  war  und  vor  allem  den  höheren  Lehrer- 
stand in  eine  unwürdige  Lage  hinabgedrückt  hatte,  kann  man  sich  gar  nicht 
arg  genug  vorstellen.  Am  deutlichsten  zeigen  sich  diese  trübseligen  Bilder  in 
den  Beiträgen  der  Acta  und  ihrer  Fortsetzungen,  die  ihresgleichen  in  den 

')  ib.  S.  769.  'Aus  den  8chulen  müssen  Leute  kommen,  die  den  guten  Geschmack  nach 
und  nach  in  einem  Lande  allgemeine  machen,  worinn  er  bis  dahin  nur  wenigen  Seelen  im 
Verborgenen  bey gewohnt  hatte.' 

*)  Die  übrigen  Schriften  O.  A.  Hofmanns  in  den  Acta  sind:  A.  u.  N.  I  88 — 97  Gedanken 
von  dem  Werthe  der  Dichtkunst.  —  m  106-124  Von  Schulstudien.  —  ib.  216-288  Grund- 
sätze zu  einer  vernünftigen  Zucht  auf  Schulen  (Antrittsprogramm  in  Bielefeld  1751).  — 
Vm  94—116  Von  dem  Entbehrlichen  in  der  Welt  (Eine  scharfe  Polemik  gegen  das  Pro* 
grammschreiben  auf  den  Schulen,  vor  allem  in  lateinischer  Sprache).  —  Anderweite  Schriften 
Hofmannn  habe  ich  nicht  finden  können. 

Neue  Jahrbücher.   189«    II  84 


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530  E.  Schwabe:  Die  älteste  deutsche  Zeitschrift  für  höheres  Schulwesen 

heutigen  wissenschaftlichen  Zeitschriften  nicht  mehr  finden,  nämlich  in  den 
zahlreichen  eingelegten  Gedienten.  Die  meisten  von  ihnen  sind  allerdings  im 
besten  Falle  nur  wohlgemeinte  Reimereien,  die  für  uns  kein  Interesse  mehr 
haben.  Ein  paar  von  ihnen  sind  aber  doch,  schon  um  einmal  dies  verschollene 
geirus  paedagogice  dicendi  zu  verdeutlichen,  einer  kurzen  Erwähnung  und 
Charakteristik  wert.  Denn  sie  zeigen  uns,  oft  in  naiver  und  rührender  Form, 
neben  dem  Bilde,  wie  des  Schulmanns  Ideal  und  die  beste  Schule  nach  Ansicht 
dieser  Poeten  sein  sollte,  recht  deutlich,  wie  die  Schule  wirklich  war  und  an 
welchen  Gebrechen  das  damalige  höhere  Schulwesen  litt. 

Das  gröfste  Übel,  woran  es  damals  krankte,  war  aber  entschieden  die  un- 
genügende soziale  Stellung  der  Schulmänner.  Es  ist  die  Beseitigung  dieses 
Zustandes  zwar  eine  alte  Forderung,  und  seit  den  Zeiten,  wo  uns  Lucian  in 
seiner  Schrift  ncql  x&v  inl  pio&ip  öwövtmv  mit  soviel  Humor  wie  Entrüstung 
die  jammervolle  Position  des  antiken  Hauslehrers  schildert1)  und  spater 
Melanchthon  de  paedagogorum  miseriis  schrieb,  ist  das  wohlbekannte  Klagelied 
nicht  ausgesungen  worden.  Es  hat  aber,  wenigstens  seit  der  Reformation,  nie 
so  viel  Berechtigung  gehabt  als  um  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts.  Die  Haupt- 
schuld an  dem  Verfall  der  Wissenschaft  überEaupt  und  damit  des  Wissenschaft 
liehen  Verfalls  der  höheren  Lehranstalten  trug  die  konfessionelle  Erstarrung 
des  Protestantismus:  auch  im  Schulwesen  brachte  der  Pietismus  neues  Leben. 
Die  Hauptschuld  an  dem  sozialen  Verfall  und  der  daraus  folgenden  niedrigen 
Einschätzung  des  Lehrerstandes  lag  aber  daran,  dafs  alle  Lehrer,  mit  wenigen 
Ausnahmen,  Theologen  waren  und  das  höhere  Lehramt  nur  als  einen  Durch- 
gangsposten ansahen,  um  möglichst  bald,  wie  es,  in  Sachsen  wenigstens,  damals 
hiefs  und  noch  lange  geheifsen  hat,  ins  'Amt'  zu  kommen,  gerade  als  wenn 
sie  an  der  Schule  kein  Amt  zu  bekleiden  gehabt  hätten.  Daraus  folgte,  dafs 
die,  die  an  den  Schulen  blieben,  ohne  Rektoren  geworden  zu  sein,  meist  eine 
Art  'gestrandeter  Existenzen'  waren,  jedenfalls  aber  vielfach  dafür  angesehen 
und  danach  behandelt  worden  sind.  Das  Unglück,  dafs  die  Stadtverwaltungen 
und  die  geistlichen  Herren  sich  nicht  damit  begnügten,  das  Äufsere  des  Schul- 
wesens zu  leiten,  sondern  auch  in  das  innere  Getriebe  hineinzureden  und  in  den 
Unterricht  zu  pfuschen  wagten,  wird  in  jenen  Gedichten  oft  genug  behandelt  und 
beklagt.  Besonders  bemerkenswert  ist  der  Ergufs  des  Rektors  Samuel  Seidel 
aus  Lauban  (Nov.  act.  schol.  I  341 — 362).  In  seinem  'Schulmann'  weifs  er 
uns  beweglich  des  Schulmeisters  hartes  Los  zu  schildern.  Seine  einflufs- 
reichen  Mitbürger,  die  gegen  ihn  besonders  tadelsüchtig  sind,  kränken  ihn  auf 
jede  Weise: 

Den  Schulmann  —  packt  der  Philister  an 
Und  kann  ihn  ja  die  feige  Wuth  nicht  allsofort  in  Stücke  hacken 
8o  drischt  sie  ihn  doch  desto  mehr  mit  ihren  eignen  Eselsbacken. 


')  Vgl.  vor  allem  die  charakteristischen  Stellen:  cap.  14  ff.  aber  die  Behandlung  bei 
Tische,  cap.  19  ff.  Ober  die  Bezahlung,  cap.  M  ff.  über  die  Behandlung  seitens  der  Damen 
des  Hausen  u.  s.  w. 


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E.  Schwabe:  Die  alterte  deutsche  Zeitschrift  für  höheren  Schulwesen 


531 


Wer  sonsten  wie  ein  Maulwurf  blinzelt,  hat  hier  die  Augen  wie  ein  Luchs: 
Der  Hase  streicht  den  Bart  und  spöttelt:  was  will  doch  nur  der  arme  Puchs? 
Der  abgeschmacktste  Stockfisch  selbst  höhnt  hier  die  Flecken  an  den  Fohren 
Und  ein  gelehrter  Steckelknecht  spitzt  (albern  genug!)  mit  Schulmajoren.1) 

Es  ist  einem  solchen  in  keiner  Weise  möglich,  den  Beifall  seiner  Mitbürger 
zu  gewinnen: 

Ein  Schulmann  mach  es  wie  er  wolle,  so  saugt  der  Spott  doch  Geiffer  draus: 
Ist  gleich  so  Lehr'  als  Lehrart  richtig,  so  setzt  der  Klfigling  doch  was  aus. 

Vor  allem,  mag  er  sich  weiterbilden  oder  nicht,  in  keinem  Falle  thut  er 
recht  daran: 

Schreibt  wo  ein  Schulmann  nütze  Bücher,  so  thut  er  doch,  der  Lastrer  sprichts, 
Indessen  sonst  nicht,  was  er  solte,  so  thut  er  in  der  Schule  nichts! 
Und  schreibt  er  nichts,  und  liest  und  lehret,  so  beifst  die  Glosse:  Wer  erst  könnte! 
Ja  wenn  das  trage  Nebenwerck  ihm  erst  zum  Schreiben  Zeit  vergönnte! 

Auch  in  der  aufseren  Lebens  haihing  dient  er  den  Leuten  zum  Anstois:  er  kann 
gar  nicht  bescheiden  genug  auftreten: 

Kaum  r&umt  man  ihm  für  Stock  und  Degen  ein  spanisch  Rohr  von  Schwartzdorn  ein, 
Kaum  darf  sein  Schlafrock  etwas  besser,  als  einst  der  Peltz  Petrarchens  seyn!*) 

Auch  im  Verkehr  mit  seinen  Mitmenschen  ist  es  ihm  oft  schwer,  das  Rechte 
zu  thun: 

Bald  soll  er  immer  gramisch  thun,  bald  soll  er  immer  schackernd  lachen. 

Bei  solchen  Verhältnissen  kann  man  sich  nicht  wundern,  wenn  die  Schul- 
männer danach  trachteten,  sich  ihnen  zu  entziehen  und  möglichst  bald  in  ein 
Pfarramt  zu  gelangen.  In  dem  Idealbild  eines  Schulmannes,  das  uns  Friedrich 
Jacob  Beltzer8),  Prorektor  an  der  Schule  zu  Grünstedt,  entwirft,  ein  Mann,  der 
merkwürdigerweise  das  umgekehrte  Verfahren  einschlug  und  von  der  Pfarre 
zur  Schule  überging,  heifst  es,  mit  Verkennung  der  Verhaltnisse  und  mit 
offenbarer  Tendenz  gegen  die  Kollegen,  die  sich  aus  ihren  engen  Verhältnissen 
heraussehnten: 

Ein  andrer  geht  zur  Schule,  weil  er  Befördrung  sucht 
Er  fraget  nicht  danach,  wieviel  sein  Lehren  fruchft 

*)  Fohren  =  Forellen.  Unter  Major  verstand  man  gewöhnlich  das,  was  wir  heute  als 
Korporal  ansehen,  und  schrieb  ihm  auch  die  bekannten  Korporaleigenschaften  zu.  —  Die 
Bezeichnung  'Schulmajor'  miüs  damals  öfter  verwendet  worden  sein.  Vgl.  Pappe,  Die  Vor- 
nehmsten Ursachen  des  Verfall«  niederer  Schulen  (Nov.  act  schoL  I  465) : 

Hört,  Spötter  einmal  auf,  den  Schuletand  zu  entweyhen 

Und  auf  diefs  heyige  Amt  der  Lästrung  Schaum  zu  speyen. 

Hört  auf  mit  Schulmajor,  Pedant  und  Fuchs  zu  schelten 

Und  treuen  Lehrern  so  die  Mühen  zu  vergelten! 
■)  Der  Pelz  Petrarcas  war  sprichwörtlich ,  vgl.  Voigt,  Wiederbel.  des  klass.  Alter- 
thums  I1  S.  108. 

*)  Act.  VI  486 — 487.   Von  den  Tugenden  und  Pflichten  eines  guten  Schulmannes. 

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E.  Schwabe:  Die  älteste  deutsche  Zeitschrift  für  höheres  Schulwesen 


Er  wartet  nur,  wie  bald  man  ihn  ins  Pfarramt  nähme. 
Damit  er,  wie  er  meint,  einmal  zur  Ruhe  k&me; 
Ein  solcher  sieht  die  Schul'  vor  eine  Wüste  an 
Und  einen  fetten  Dienst  hilt  er  vor  Canaan.1) 

Daneben  mag  es  oft  genug  schlimm  um  die  Schulkollegen,  ihre  Leistungen, 
ihre  Eintracht  und  ihre  aufseramtliche  Führung  ausgesehen  haben:  wir  haben 
heute  nur  den  Trost,  dafs  es,  den  Zeitschilderungen  in  Romanen  nach,  bei 
anderen  Standen  auch  nicht  besser  aussah.  In  allen  den  Gedichten,  die  den 
Schulmann  schildern  wollen,  wie  er  eigentlich  sein  soll,  und  dabei  immer 
wieder,  zur  Freude  dessen,  der  schulgeschichtliche  Erkenntnis  erwerben  will, 
in  die  Schilderung  wirklicher  Zustande  verfallen,  kehren  gewisse  Vorwürfe,  die 
den  ganzen  Stand  treffen,  immer  wieder.  Der  schon  oben  genannte  Osterwick  er 
Konrektor  Joh.  Justus  Pappe  weifs,  wie  man  zwischen  den  Zeilen  liest,  folgendes 
aus  eigener  Erfahrung  über  die  Uneinigkeit  seiner  Kollegen  zu  berichten: 

Bebt  wie  Alazon  dort  und  Erisander  brennen 
Und  bey  der  Schule  sich  gar  nicht  ertragen  können, 
Seht,  wie  sie  gegen  sich  von  Zorn  und  Rache  glühn, 
Und  bey  der  Jugend  sich  wohl  durch  die  Hechel  ziehn! 

Ein  scharfes  Streiflicht  auf  die  gesellschaftliche  Haltung  des  Standes  er- 
giebt  sich  aus  der  Stelle  Act.  Nov.  I  357,  wo  Rektor  Seidel  klagt,  dafs  viele 
Kollegen  den  Schulstand  verächtlich  machen,  wenn  sie 

Im  Glimpf  und  Ernst  verkehrt  und  blind, 
Oft  Schüler,  die  auf  ihr  GeheiXs  ein  Lomberspiel  mit  ihnen  wagen, 
Aus  Zorn,  dem  Satansengel  gleich,  beym  letzten  Trumpft*  mit  Fäusten  schlagen.9) 

Die  genannte  Stelle,  die  in  ihrem  ganzen  Inhalt  herzusetzen  zu  weitläufig 
(und  auch  für  unseren  Stand  nicht  sehr  rühmlich)  wäre,  ist  ein  sehr  lehrreiches 
Stück  für  den,  der  die  Geschichte  des  höheren  Schulwesens  in  Deutschland 
während  des  18.  Jahrhunderts  studieren  will.  Die  Pedanten,  die  hohlen  Tadler 
des  klassischen  Altertums,  die  Leute,  die  alles  besser  wissen,  die  Ungläubigen, 
die  Heuchler,  die  allzu  Weltlichen  werden  mit  kurzen,  starken  Strichen  ge- 


')  Ähnlich  auch  bei  Pappe,  a.  a.  0.  S.  461: 

Kaum  geht  an  einem  Ort  ein  fettes  Pfarramt  auff, 
So  laufft  ScholaBticus  im  allerachnellsten  Lauf, 
Er  sehnt  sich  nach  der  Ruh',  nach  der  Gemächlichkeit, 
Die  ihm  bo,  wie  er  hofft,  die  fette  Pfründe  beut, 
Er  bringet  solche  wohl  auf  unerlaubtem  Wege, 
Durch  Heyrath  und  Geschenck  und  List  in  sein  Gehege. 
*)  Vgl.  hierzu  auch  das  charakteristische  Programm  des  Bautzener  Rektors  Zeiske: 
De  curae  scholarum  parte  rectoribus  rerumpublicarum  cum  privatis  quodammodo  communi- 
canda  p.  8:  frustra  scholam  eiusque  alumnoa  dissolutae  vitae  arguent  ii,  qui  ipai  multis 
vitiis  iuquinati  Catones  agunt,  aut  qui,  cum  Palamedem  ludendi  arte  et  cupiditate  vincant, 
talos  e  manibuB  adolescentum  magnis  clamoribuB  ezcutere  volunt,  aut  si  ipsi  e  Sauffejorum 
et  Bibulorum  fanülia  sint,  siccam  Heracliti  animam  iuvenibus  commendaat. 


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£.  Schwabe:  Die  älteste  deutsche  Zeitschrift  für  höheres  Schulwesen 


533 


zeichnet  —  ein  Bild,  von  dem  man  nur  wünschen  möchte,  dafs  es  nur  eine 
Karikatur  ist  und  der  wahren  Wirklichkeit  nicht  entsprochen  hat 

Nicht  viel  anders  ist  auch  das,  was  über  die  Schule  und  die  Schüler 
gesagt  wird.  Hier  soll  nur  das  herausgehoben  werden,  was  für  das  18.  Jahr- 
hundert typisch  ist.  Auf  die  am  meisten  blutende  Wunde  des  damaligen  Schul- 
wesens legt  der  schon  öfter  erwähnte  Pappe  den  Finger,  wenn  er  den  allzu- 
zeitigen Übergang  der  Schüler  auf  die  Hochschulen  (Nov.  Act.  I  458)  beklagt: 

Sonst  liefs  man  keinen  eh'  von  niedern  Schalen  gehn, 

Als  bis  er  in  Athen  und  Born  sich  umgesehn, 

Bis  er  den  röm'schen  Kiel  so  frey  als  fertig  führte 

Und  man  in  seiner  Schlifft  ein  männlich  Wesen  spürte,  — 

Wenn  jetzt  ein  Jüngling  kaum  den  Cicero  erblickt, 

Kathal  und  typto  weife,  so  hält  man  ihn  geschickt, 

Nach  ausgestandnem  Schweis  die  örter  zu  beziehn, 

Wo  Kunst  und  Wissenschafft  in  reichem  Mafse  blühn! 

Das  giebt  dann  jene  anspruchsvolle  Halbbildung,  die  mit  philosophischen 
Redensarten  um  sich  wirft  und  in  den  Elementen  der  Wissenschaften  un- 
sicher ist: 

0  toller  Zeitenlauff! 
Wer  heutzutage  nur  mit  philosoph'schen  Sätzen, 
So  ihm  ein  Ratzel  sind,  halb  stammelnd  weifs  zu  schwätzen, 
Viel  von  Monaden  spricht,  und  ausser  dieser  Welt 
Viel  tausend  andere  mit  Wolf  für  möglich  hält, 
Den  wird  man  also  bald  als  einen  Klugen  preisen; 
Man  eilt,  ihm  Kirch  und  Staat  zur  Aufsicht  anzuweisen! 

Im  ganzen  also  von  Schule,  Schülern  und  Lehrern  ein  unerfreuliches  Bild. 
Doch  wäre  es  ungerecht,  wenn  wir  nicht  ausdrücklich  hervorheben  wollten, 
dafs  auch  an  freundlichen  Zügen  kein  Mangel  ist.  Fast  alle  die  zahlreichen 
gereimten  Ergüsse,  die  das  Los  des  deutschen  Schulmannes  in  deutschen 
Ländern  behandeln,  gipfeln  doch  in  dem  Schlufsgedanken,  dafs  es  nicht  nur 
eine  heilige,  sondern  auch  eine  herrliche  Aufgabe  sei,  im  Schulamt  zu  stehen 
und  die  Jugend  zu  unterweisen.  Zwar  sind  es  meistens  Rektoren,  die  sich  auf 
den  Pegasus  geschwungen  haben.  Sie  mögen  allerdings,  als  Leiter  der  Schulen, 
die  Lasten  des  Schulamtes  nicht  so  schwer  als  andere  empfunden  und  auch  etwas 
mehr  Anteil  an  sozialer  Wertschätzung  genossen  haben.  Aber  in  ihrer  äuTseren 
Lage  unterschieden  sie  sich  nur  unwesentlich  von  ihrem  Kollegium,  und  man 
darf  nicht  behaupten,  dafs  sie  beim  Lobpreise  des  Schulamtes  gemächlich  vom 
sicheren  Port  aus  geraten  und  geredet  hatten.  Am  herzlichsten  und  eindring- 
lichsten geschieht  aber  dieses  magisterii  encomium  in  den  Versen  des  wackeren 
Rektors  der  Rochlitzer  Stadtschule,  Johann  Friedrich  Neunhofen  (Act.  VIII  257 
— 275),  der  im  Jahre  1747  ausführlich  von  dem  'Flohr  der  Schulen,  aus  der 
Beschaffenheit  der  Lehrer,  die  ihr  Amt  ohne  Seuf&en  thun*  sich  ausspricht. 
Denn,  nach  Widerlegung  aller  Einwände,  die  man  gegen  das  Schulamt  machen 
könnte,  zeigt  er  uns  den  Schulmann,  wie  er  sein  soll,  gesund  an  Leib  und 


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534  ß-  Schwab«:  Die  älteste  deutsche  Zeitschrift  für  höheres  Schulwesen 

Seele  und  wahrhaft  fromm,  und  kommt  dann  zu  dem  Schlufs,  dafs  es,  wenn 
mit  rechtem  Fleifs  betrachtet  und  betrieben,  doch  kein  schöneres  Amt  geben 
könne,  als  die  von  Erfolg  begleitete  Arbeit  an  der  Jugend. 

Und  mit  diesem  harmonischen  Akkord  mögen  unsere  Ausführungen  über 
die  Acta  scholastica  und  ihre  Fortsetzungen  ausklingen.  Denn  er  lafst  uns  er- 
kennen,  dafs  trotz  aller  Not  der  Zeit  dem  deutschen  Schulmann  selbst  in  der 
Schulbarbarei  des  18.  Jahrhunderts  der  hohe  Begriff  seines  Amtes  und  der  zu 
seiner  Erfüllung  notwendige  Idealismus,  dieses  fast  unverwüstliche  Erbe  unserer 
deutschen  Altvordern,  doch  nicht  abhanden  gekommen  war. 

Ein  Zeugnis  für  diesen  Idealismus  ist  auch  die  ganze  Zeitung  selbst  und 
die  Thatigkeit  ihres  Herausgebers,  der  zum  erstenmale  den  Gedanken,  'die 
Interessen  des  höheren  Lehrerstandes  zusammenzufassen',  unter  trrofsen  Opfern 
an  Zeit  und  Geld  und  vielerlei  Ärger  zum  Ausdruck  gebracht  hat.  Die  Acta 
scholastica  erschienen,  als  die  Modernisierung  des  alten  Gymnasiums  im  Gange 
war  und  die  Welt  sich  der  'Zeit  der  Aufklärung*  zuwendete.  Es  ist  kein 
Zufall,  dafs  sie  gerade  damals  auftauchten:  ebensowenig,  wie  es  ein  Zufall  ist, 
dafs  alle  ihre  modernen  Nachfolgerinnen  zu  der  Zeit  entstanden,  als  der  Neu- 
humanismus zu  regieren  und  neue  Anschauungen  und  Bildungselemente  in  den 
Vordergrund  zu  treten  begannen. 


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LUDWIG  VON  STRÜMPELL 


Von  Alfred  Spitzner 

Am  Abend  des  18.  Mai  d.  J.  vollendete  Adolf  Heinrich  Ludwig 
von  Strümpell,  der  berühmte  Fortbildner  der  Herbartschen  Philosophie  and 
Pädagogik  und  letzte  unmittelbare  Schüler  Herbarts,  in  Leipzig  seinen 
inhaltreichen,  gesegneten  Lebensgang. 

Volle  65  Jahre  hindurch  stand  der  mit  tiefem  sittlichen  Ernste  und  in 
wohlthuender  Selbsttreue  nach  Wahrheit  forschende  Gelehrte  in  den  vordersten 
Reihen  der  Vertreter  der  Geisteswissenschaften.  Mit  weitem  Blick  umfafate 
er  ein  grofses  Stück  menschlichen  Wissens,  Philosophie,  Naturwissenschaften, 
Pädagogik,  und  entfaltete  durch  seine  zahlreichen  Werke,  durch  seine  Vor- 
lesungen, besonders  aber  durch  das  von  ihm  begründete  und  geleitete  *  Wissen- 
schaftlich-Pädagogische  Praktikum'  eine  Wirksamkeit,  deren  Bedeutung  vom 
akademischen  Hörsaal  bis  in  die  letzte  Dorfschule  reicht  und,  wie  man  hoffen 
darf,  von  bleibendem  Werte  sein  wird.  Strümpell  konnte  von  der  hohen 
Warte  eines  gottbegnadeten  Alters  aus  in  eine  Vergangenheit  zurückblicken, 
die  ihm  die  Früchte  eines  arbeitreichen,  hohen  und  edlen  Bestrebungen  ge- 
weihten Lebens  zeigte,  und  erlebte  zugleich  die  seltene  Freude",  sich  in  solcher 
körperlichen  Rüstigkeit  und  wunderbaren  geistigen  Frische  zu  erhalten,  dafs  er 
seine  akademische  und  wissenschaftliche  Thätigkeit  ungestört  bis  in  die  letzten 
Tage  seines  Lebens  fortsetzen  konnte.  Noch  als  fast  Achtzigjähriger  schrieb 
er  die  wenige  Tage  vor  seinem  Tode  in  dritter  Auflage  erschienene  'Päda- 
gogische Pathologie  oder  die  Lehre  von  den  Fehlern  der  Kinder*. 
Mit  fast  jugendlich  zu  nennender  Begeisterung  begründete  er  dadurch  eine 
ganz  neue  Disciplin  und  erschlofs  ein  Gebiet  der  wissenschaftlichen  Pädagogik, 
auf  dem  sich  infolge  seiner  Anregung  gegenwartig  eine  stetig  fortschreitende, 
eminent  segensreiche  Forschung  anbahnt.  Noch  am  24.  Januar  d.  J.  konnte 
der  rührige  ehrwürdige  Greis  das  110.  Semester  seiner  akademischen 
Lehrthätigkeit  feiern  und  danach  seine  Vorlesung  über  die  Praxis  des 
wissenschaftlichen  Denkens  ungestört  zu  Ende  fuhren.  Und  inmitten 
einer  von  ihm  während  der  letzten  Jahre,  mit  grofser  empirischer  Subtilität  ge- 
förderten Arbeit  über  die  Thatsachen  des  Bewufstseins  befiel  ihn  plötzlich 
die  tödliche  Krankheit  und  rief  ihn  nach  raschem,  schmerzlichem  Verlaufe  kurz 
vor  dem  Eintritt  ins  88.  Lebensjahr  von  seiner  Wirkungsstätte  ab. 

Wenn  es  der  Verfasser  infolge  einer  an  ihn  ergangenen  Einladung  des 
Herausgebers  der  pädag.  Abteilung  der  Jahrbücher  unternimmt,  an  dieser  Stelle 


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A.  Spitzner:  Ludwig  von  Strümpell 


dem  Heimgegangenen  ein  Wort  der  Erinnerung  zu  widmen,  so  geschieht  dies 
in  dem  Sinne,  dafs  er  damit  zugleich  einem  Bedürfnis  seines  eigenen  Herzens 
genugthut,  da  er  mit  Strümpell  eine  lange  Zeit  hindurch  in  naher  per- 
sönlicher Verbindung  gestanden  hat  und  ihn  als  seinen  Lehrer  und  Freund 
verehrt.  Er  beabsichtigt,  im  Rückblick  auf  dies  enge  Verhältnis  hier  vornehm- 
lich auf  die  pädagogische  Wirksamkeit  Strümpells  und  auf  das  Eigen- 
artige seiner  Pädagogik  näher  einzugehen,  ohne  aber  eine  erschöpfende 
Darstellung  weder  der  in  Frage  kommenden  biographischen  noch  der  wissen- 
schaftlichen Momente  bieten  zu  wollen.  Eine  solche  ist  gegenwärtig  noch 
gänzlich  ausgeschlossen,  weil  sie  verschiedene  nicht  unbedeutende  und  zeit- 
raubende Vorarbeiten  voraussetzt,  z.  B.  über  Strümpells  Verhältnis  zu  Herbart, 
über  seine  Thätigkeit  als  Erzieher  im  Hause  des  Grafen  Medem,  über  seine 
hervorragende  Teilnahme  an  der  Organisation  des  deutschen  Schulwesens  in 
den  baltischen  Provinzen  als  Mitglied  der  obersten  Schulbehörde  daselbst  u.  s.  w. 

Ein  Bild  des  pädagogischen  Lebensgangcs  Strümpells,  wie  es  hier  gedacht 
ist,  ist  aber  gleichwohl  reich  genug  an  edlen  und  würdigen  Zügen,  um  in  die 
Geschichte  der  hervorragenden  Pädagogen  mit  Ehren  eingereiht  zu  werden. 

Strümpell  wurde  am  28.  Juni  1812  in  dem  braunschweigischen  Städtchen  Schöppen- 
stedt geboren.  Die  ersten  geistigen  Interessen  erweckte  in  ihm,  wie  er  selbst  erzählte, 
der  Unterricht,  den  er  aufser  der  Stadtschule  vom  zweiten  Geistlichen  des  Ortes  in  den 
klassischen  Sprachen  genofs  und  dessen  Wirkung  sich  in  glücklicher  Weise  mit  den  bilden- 
den Einflössen  verband,  welche  'das  tiefreUgiftse  Gemüt  und  der  von  hohen  und  edlen 
Gedanken  erregte  Geist  der  Mutter'  auf  ihn  ausübte. 

Im  14.  Lebensjahre  kam  Strümpell  nach  Braunschweig,  um  in  das  Gymnasium 
Catharineum  einzutreten.  Der  damalige  Leiter  desselben,  der  als  Philologe  und  Schulmann 
rühmlichst  bekannte  Rektor  Traugott  Friedemann,  setzte  den  talentvollen  Knaben  in 
die  Sekunda,  von  wo  aus  dieser  bis  zu  seinem  17.  Jahre  in  den  drei  oberen  Klassen  (Prima, 
Media,  Selekta)  den  Gymnasialkursus  absolvierte.  Nach  seinem  Abgange  vom  Gymnasium 
besuchte  Strümpell  das  Collegium  Carolinum  in  Braunschweig,  'eine  Anstalt,  die  damals 
noch  gewissermaßen  eine  Universität  im  kleineren  Maßstäbe  war  und  in  solchen  Männern, 
wie  Henke  (später  in  Marburg),  Griepenkerl,  Emperiue,  Dedekind,  Petri  u.  a 
durch  Gelehrsamkeit  und  gründliche  Wissenschaftlichkeit  ausgezeichnete  Dozenten  besah'. 
Den  gröTsten  Einflufs  übte  Professor  Griepenkerl  auf  den  jungen  Studenten  aus.  Griepen- 
kerl, ein  begeisterter  Schüler  HerbartB  und  eine  Zeit  lang  Lehrer  bei  Pestalozzi  und 
Fellenberg,  fesselte  Strümpell  durch  seine  Vorträge  derart,  dafs  er  den  Entschlufs  fafste, 
sich  gänzlich  der  Philosophie  und  Pädagogik  zu  widmen.  Dieser  Einflufs  steigerte  sich 
noch,  als  Strümpell  in  die  Familie  Griepenkerls  eingeführt  wurde.  Noch  im  hohen  Alter 
sprach  er  mit  dankbarer  Verehrung  'von  der  an  bildenden  Einflüssen  reichen  Sphäre'  im 
Hause  seines  Lehrers. 

Das  im  Verkehre  mit  Griepenkerl  sich  entwickelnde  überwiegende  Interesse  für  die 
Herbartsche  Philosophie  fand  dadurch  eine  bedeutende  Stärkung,  dafs  Strümpell  zu  jener 
Zeit  die  persönliche  Bekanntschaft  HerbartB  machte,  als  dieser  sich  im  Jahre  1880  auf 
der  Durchreise  in  Braunschweig  aufhielt  und  seinen  Schüler  Griepenkerl  besuchte.  'Der 
tiefe  Eindruck',  sagte  Strümpell,  'den  die  imponierende  Erscheinung  dieses  Mannes  auf 
mich  hervorbrachte,  kann  nur  demjenigen  verständlich  sein,  der  auB  eigener  Erfahrung  in 
seiner  Jugend  sich  der  geistigen  Bedeutung  eines  derartigen  Erlebnisses  erinnert,  wo  das 
lebendige  Bild  einer  durch  intellektuelle  und  sittliche  Gröfse  ausgezeichneten  Person, 
welcher  eine  starke,  schon  aus  der  Ferne  genährte  Hochschätzung  entgegenkommt,  sich 
begeisternd  in  die  Seele  eines  jüngeren  Mannes  einsenkt'. 


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Herbart  lud  Strümpell  ein,  nach  Königsberg  zu  kommen,  und  schon  im  nächsten 
Jahre  siedelte  dieser  dahin  über,  wo  er  denn  auch  von  Herbart  eines  näheren  Verkehres 
gewürdigt  wurde.  Strümpell  blieb  zwei  Jahre  in  Königsberg  und  war  während  dieser  Zeit 
Mitglied  des  von  Herbart  geleiteten  pädagogischen  Seminars.  Anfser  seinen 
Spezialfachern  der  Philosophie  und  Pädagogik  nahm  er  insbesondere  noch  an  philo- 
logischen, mathematischen  und  naturwissenschaftlichen  Studien  lebhaften  Anteil. 
1833  legte  er  sein  Doktorexamen  ab.  Er  promovierte  mit  der  Schrift:  De  methodo  philosophica. 

Nach  seinem  Abgange  von  der  Universität  zu  Königsberg  hielt  sich  Strümpell  zur 
Vollendung  seiner  Studien  in  Wolfe nbflttel,  Bonn  und  Leipzig  auf,  in  letzterer  Stadt 
insbesondere  durch  die  Vorlesungen  von  Drobisch  über  mathematische  Psychologie 
gefesselt.  Während  dieser  Zeit  stand  er  mit  Herbart  in  fortdauerndem  brieflichen  Ver- 
kehre und  schrieb,  von  dessen  lebhaftestem,,  in  dem  regen  Briefwechsel  Bich  aus- 
sprechendem Interesse  begleitet,  seine  'Erläuterungen  zu  Herbarts  Philosophie,  mit 
Bücksicht  auf  die  Berichte,  Einwürfe  und  Mißverständnisse  ihrer  Gegner*. 
Das  Werk  war  grofs  angelegt  und  sollte  die  akademische  Laufbahn  Strümpells  begründen 
helfen.  Allein  nach  dem  Erscheinen  des  1.  Heftes  im  Jahre  1834  drängten  sich  Strümpell 
wesentliche  Abweichungen  von  seineT  bisherigen  philosophischen  Über- 
zeugung auf,  über  die  er  sich  mit  Herbart  nicht  einigen  konnte.  Herbart  zog 
sich  infolgedessen  von  ihm  zurück,  und  Strümpell  stellte  die  Fortsetzung  seiner  Polemik  ein. 

Der  Streitpunkt  lag  hauptsächlich  auf  psychologischem  Gebiete.  Herbart  warf 
Strümpell  vor,  er  habe  seine  Psychologie  'vergessen',  er  habe  sich  aus  seinem  'psycho- 
logischen Garten  verirrt',  während  Strümpell  überzeugt  war,  dafs  die  Herbartsche  Lehre 
an  mehreren  Stellen  'der  Verbesserung  bedürftig  sei  oder  weiter  fortgebildet  werden  müsse'. 
'Ich  hege  die  Überzeugung1,  schrieb  er  damals,  'dafs  Herbarts  Philosophie  die  übrigen 
8yBteme  unserer  Zeit  an  spekulativem  Gehalte  und  an  Fruchtbarkeit  der  Resultate  in 
theoretischer,  wie  in  praktischer  Hinsicht  bei  weitem  überragt:  meine  aber  deshalb  nicht, 
dafs  sie  schon  diejenige  Vollkommenheit  erreicht  habe,  mit  der  das  Denken  völlig  zufrieden 
sein  könnte.  Hieraus  geht  für  einen  Schüler  dieser  Philosophie,  der  eben  solcher  Über- 
zeugung ist  und  den  nicht  ausschliefslich  die  äufsere  Stellung  des  Systemes,  sondern  auch 
dessen  eigene  Kultur  interessiert,  natürlicherweise  die  Aufgabe  hervor,  seine  Kräfte  in 
Arbeiten  an  dem  inneren  Baue  zu  versuchen:  selbst  auf  die  Gefahr  hin,  dafs  er  den  Beifall 
der  Schule  darin  nicht  für  Bich  haben  sollte.' 

Es  sei  an  dieser  Stelle  ein  Brief  Herbarts  erwähnt,  der  auf  die  Situation  ein  helles 
Licht  wirft.  Zum  Verständnis  desselben  mufs  noch  vorausgeschickt  werden,  dafs  Strümpell 
alle  seine  Bedenken  in  einem  größeren  Aufsatze  niedergelegt  und  ihn  von  Leipzig  aus 
an  Herbart  geschickt  hatte  mit  der  Bitte,  die  darin  ausgesprochenen  Meinungen  zu  prüfen. 
Herbart  glaubte,  die  Abhandlung  sei  für  die  Öffentlichkeit  bestimmt,  und  antwortete  am 
10.  Juli  1885  in  der  Weise,  dafs  er  schrieb:  'Wäre  der  mir  übersandte  Aufsatz  von  einer 
anderen  Hand  als  der  Ihrigen,  so  würde  ich  ihn  mit  der  einfachen  Bemerkung  zurück- 
schicken, es  scheine  mir  nicht  zweckmässig,  mich  darauf  einzulassen.  Er  ist  aber  von 
Ihnen.  —  Es  kommt  gar  sehr  in  Betracht,  dafs  der  Aufsatz  kein  Brief  und  keineswegs  in 
solcher  Form  abgefafst  ist,  als  wäre  er  blofs  für  Sie  und  für  mich  bestimmt  Der  Brief 
redet  von  einer  reifen  Frucht,  die  gegessen  seyn  wolle.  Im  Aufsatze  ist  von  mir  als  einer 
dritten  Person  gesprochen  worden  —  mit  Wem?  Es  werden  sogenannte  Beweise  als 
schlagende  Beweise  gerühmt  —  um  Wem  zu  imponieren?  Die  Frage,  ob  ich  den  Aufsatz 
wohl  geduldig  durchlesen  würde?  scheint  dem,  mit  seiner  Beredsamkeit  anderwärts  hin- 
gewendeten Verfasser  gar  nicht  einzufallen.  Unter  diesen  Umständen  müssen  Sie  Sich  nicht 
wundern,  wenn  mir  etwan  ein  Ausdruck  in  die  Feder  läuft,  als  ob  wir  nicht  allein  wären, 
und  als  ob  ich  Jemandem  laut  meine  offene  Meinung  sagte.  Sie  sind  nicht  jung  genug 
(Str.  war  damals  iS  Jahre  alt),  damit  man  sich  die  Voraussetzung  erlauben  dürfte,  Sic 
hätten  Ihr  Verfahren  nicht  von  allen  Seiten,  und  in  seiner  ganzen  Bedeutung,  wohl  er- 
wogen. Und  ich  bin  nicht  alt  und  nicht  schwach  genug,  um,  wo  ich  schweige,  aus  blofser 


Gemächlichkeit  zu  schweigen.' 


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Auf  die 


Strümpells 


Brief: 


Göttingen  13.  Aug.  1835. 


Vor  wenigen  Tagen,  lieber  Herr  Doctor,  kam  ich  von  Pyrmont,  und  erst  tot 
wenigen  Stunden  gewann  ich  Zeit  Ihren  Brief  zu  öffnen.  Was  mir  zunächst  dabey  ein- 
fallt, sollen  Sie  hier  unverhohlen  erfahren. 

Ihre  Empfindlichkeit  ist  nicht  geringer,  ab  ich  vermnthete;  auch  das  mutete  ich 
voraussehen,  dafs  Sie,  in  Ihren  Augen,  ganz  recht  behalten  würden.  Aber  die  achtungs- 
werthen  Grandzüge  Ihres  Charakters  leuchten  durch;  diese  schätze  ich  wie  ich  soll; 
tud  es  macht  mir  Vergnügen,  Sie  dessen  zu  versichern. 

Sie  wissen,  glanbe  ich,  wie  sich  Andere  gegen  mich  benommen  haben.  Hätte  ich 
Sie  mit  diesen  Andern  verwechselt,  so  hätten  Sie  um  desto  gewisser  gar  keine  Antwort 
von  mir  bekommen,  da  Ihre  Entfernung  von  mir  schon  seit  vorigem  November  am 
Tage  lag. 

Die  Antwort,  die  ich  Ihnen  gab,  konnte  nur  kurz  seyn,  denn  ich  hatte  eine  Brunnen- 
kur schon  hier  angefangen.  Der  Zweck  der  Antwort  mutete  seyn  zu  warnen,  falls  Sie 
etwa  noch  auf  Warnung  hören  wollten. 

Dafs  Ihr  Aufsatz  nur  für  Drobisch  und  mich  bestimmt  war,  sagen  Sie  mir  jetzt! 
Dem  Aufsätze  war  das  nicht  anzusehen;  dieser  schien  vielmehr  gerade  ins  Publicum 
zu  wollen.    Was  daraus  gar  leicht  entstehen  könne,  davon  muteten  Sie  die  Probe 

Sollte  ich  Ihnen  etwa  jetzt  etwas  Angenehmes  über  diesen  Aufsatz  sagen,  so  könnte 
es  dies  seyn,  dafs  Sie  wie  ein  geschickter  Feldherr  die  Gegend  Ihrer  Stellung  gewählt 
hatten;  denn  von  dieser  Seite  her  konnte  ein  Angriff  kommen,  den  ich  nicht  wie  so 
viele  andre  verachten  durfte.  Sie  wufsten  wohl,  dafs  ich,  sobald  meine  Psychologie 
und  Metaphysik  in  scheinbaren  Widerstreit  versetzt  wurden,  nicht  still  zusehn  konnte. 

Unstreitig  steht  es  Ihnen,  wie  jedem  Andern  völlig  frey,  zu  prüfen,  ob  meine  Be- 
handlung der  einen  und  der  andern  Wissenschaft  gehörig  in  einander  greife,  oder 
nicht  Soll  aber  dabey  ein  freundliches  Verhältnis  bestehn,  so  ist  die  gröfste  Behut- 
samkeit sowohl  in  der  Form  der  Untersuchung  als  in  der  des  Vortrags  nöthig,  um 
nicht  ohne  Grund  die  Meinungen  zu  verwirren. 

Wodurch  das  Bild  Ihrer  Persönlichkeit  in  mir  entstellt  sey,  'möge  Gott  wissen'?  — 
Es  mufs  wohl  nicht  bo  schlimm  entstellt  seyn,  als  Sie  glauben;  jedenfalls  dürfen  Sie 
keinen  Dritten  in  Verdacht  haben.  Das  aber  ist  gewifs,  dafs  ich,  noch  bevor  ein  ge- 
wisses Blatt  von  mir  in  Ihren  Händen  seyn  konnte,  aus  Ihren  eignen  brieflichen 
Äufserungen  gegen  mich,  es  mir  weissagte,  es  werde  eine  Zeit  kommen,  wo  ich  gegen 
eine  'Strümpell'sche  Philosophie  mich  würde  erklären  müssen.  Vielleicht  habe  ich  das 
früher  gewufst  als  8ie  Selbst. 

Erlauben  Sie  nun  mir,  als  Ihrem  alten  Freunde,  den  aufrichtigen  Wunsch  und  die 
Bitte,  dafs  Sie  in  Düren  Verhältnissen  vorsichtiger  werden  mögen,  als  bisher.  Sie 
können  anderwärts  schlimmer  anlaufen  als  bey  mir.  Es  gelingt  nicht  immer  mit  der 
Selbstverteidigung  —  und  Selbsterhaltung.  Sobald  wir  das  Gebiet  des  eigentlichen 
Healen  verlassen,  behauptet  die  Störung  ihre  Rechte. 

Doch  über  diesen  Punkt  will  ich  Ihrer  Entscheidung  nicht  vorgreifen.  Wollen  8ie 
meinen  Brief  noch  einmal  ansehn,  so  wird  unter  den  Fragen  am  8chlusse  die  dritte 
Ihnen  zeigen,  dafs,  wofern  Sie  dieselbe  beantworten  wollten,  Einen  hiemit  der  Faden 
einer  gegenseitigen  rein  wissenschaftlichen  Erklärung  zu  Gebote  stand. 

Zunächst  mufB  ich  nun  um  Ihre  Adresse  bitten,  um  Ihnen  mit  Sicherheit  Ihren 
Aufsatz  zurückzuschicken.  Ob  8ie  mir  alsdann  nähere  Auskunft  über  die  Art,  wie  Sie 
den  deutschen  Verkehr  verlassen  wollen,  mittheilen  werden,  mufs  ich  erwarten.  In  der 
That,  ich  habe  Mühe  daran  zu  glauben,  da  Ihre  Feder  Ihnen  jetzt  wenigstens  eher, 
als  früherhin,  eine  literarische  Existenz  scheint  verschaffen  zu  können. 


Der  Ihrige 


Herbart. 


A.  Spitzner:  Ludwig  von  Strümpell 


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Strümpell  ging  nun  seinen  eigenen  Weg,  und  dieser  führte  ihn  zunächst  in  die  päda- 
gogische Praxis.  Er  lief«  fürs  erste  seinen  Plan,  als  Docent  an  einer  Universität  auf- 
zutreten, fallen  und  nahm  den  schon  früher  gehegten  Wunsch  von  neuem  auf,  einige  Jahre 
als  Lehrer  und  Ersieher  thätig  zu  sein.  Nicht  in  'die  Sphären  des  Weltalls'  wollte  er 
blicken,  um  seine  Anschauungen  zu  klären  und  zu  kräftigen,  sondern  in  'das  kleine  Erden- 
leben oder  Stadtleben  oder  Hausleben',  um  in  dessen  Sphären  erst  zu  begreifen,  mit 
welchem  Rechte  von  einer  materiellen  und  einer  geistigen  geredet  werden  darf,  wo 
beider  Unterscheidungsgrund  liegt,  wie  tief  wohl  der  Verstand  könne  hineindringen,  'um 
die  Möglichkeit  der  höchsten  Produkte  des  menschlichen  Geistes:  der  Überlegung,  der 
Wahl  unter  Zwecken,  der  inneren  sittlichen  Gesetzgebung  und  Regierung  psychologisch  zu 
erwägen  und  zu  erklären'. 

Aber  nicht  allein  die  Einsicht  in  'die  theoretische  Kontinuität  zwischen  Psychologie, 
Ethik  und  Pädagogik'  an  sich  und  der  Umstand,  dafs  Strümpell  die  letztere  Doktrin  'in 
einem  für  die  philosophische  Erkenntnis  höchst  bedeutsamen  Lichte'  erschien,  veranlagte 
ihn,  die  Wirksamkeit  eines  Erziehers  und  Lehrers  mit  Hinneigung  zu  ergreifen,  sondern 
vor  allem  auch  der  sittliche  Impuls,  den  eben  diese  von  Herbart  ausgehende  Er- 
kenntnis auf  seine  Willensthätigkeit  ausübte. 

Im  Jahre  1835  übernahm  Strümpell  durch  die  Vermittelung  des  Professor  J  äs  che  in 
Dorpat  die  Erziehung  zweier  Knaben  des  Grafen  Hedem  in  Kurland  und  leitete  sie 
fast  10  Jahre  lang.  Was  er  erwartete:  'nützliche  Erfahrungen,  geistige  Sorgen  und  Freuden, 
tiefgreifende  Veranlassungen  zur  Selbstprüfung  und  Selbsterkenntnis,  wie  vor  allem  zur 
wissenschaftlichen  Orientierung  über  die  feineren  Verbältnisse  zwischen  pädagogischer 
Theorie  und  Praxis',  dies  alles  fand  er  reichlich.  Die  in  den  Händen  des  Verfassers  sich 
befindenden  Aufzeichnungen  Strümpells  aus  jener  Zeit  lassen  deutlich  erkennen,  wie  ge- 
wiusenhaft  er  sein  Amt  verwaltete  und  wie  scharfsinnig  er  die  ihm  daraus  erwachsenden 
Erfahrungen  verwertete.  Insbesondere  ist  hierfür  eine  gröfsere,  noch  ungedruckte  Arbeit 
von  hervorragender  Bedeutung,  welche  Strümpell  im  Sommer  1887  der  für  das  geistige 
Leben  der  baltischen  Provinzen  tonangebenden  'Kurländischen  Gesellschaft  für  Litteratur 
und  Kunst'  zum  Zwecke  seiner  Aufnahme  in  dieselbe  einreichte.  Sie  ist  betitelt:  'Der 
Begriff  vom  Individuum,  herausgehoben  aus  dem  Netze  der  praktischen  Be- 
griffe, welche  der  Pädagoge  zu  erzeugen  hat.'  Die  Arbeit  läfst  deutlich  ersehen, 
wie  sich  allmählich  schon  damals  die  Grundsätze  in  Strümpell  ausprägten,  aus  denen  nach- 
her seine  philosophischen  und  speziell  seine  pädagogischen  Lehren  entstanden  sind. 

Die  wissenschaftliche  Hauptarbeit  während  der  in  Rede  stehenden  Periode  ist  Strümpells 
'Kritik  der  Herbartschen  Metaphysik'.  Sie  erschien  im  Jahre  1840,  ein  Jahr  vor 
Herbarts  Tode. 

Strümpell  war  in  Kurland  nicht  unbeachtet  geblieben.  Im  Herbst  1848  empfing  er 
eine  Einladung  des  Kurators  des  Dorpatschen  Lehrbezirks,  H.  von  Kraftström, 
zur  Habilitierung  an  der  Universität  Dorpat.  Er  folgte  dem  Rufe  und  eröffnete  im 
Januar  1844  seine  akademische  Laufbahn  mit  Vorlesungen  über  Einleitung  in  die 
Philosophie,  Psychologie  und  Pädagogik.  Dieselben  fanden  Beifall  und  hatten  im 
April  1846  seine  Anstellung  als  'aufserordentlicher',  im  April  1849  als  'ordentlicher  Pro- 
fessor der  theoretischen  und  praktischen  Philosophie  und  der  Pädagogik' 
zur  Folge. 

In  diesen  Stellungen  entfaltete  Strümpell  volle  26  Jahre  hindurch  eine  mit  wahrhaft 
humanitären  praktisch -pädagogischen  Arbeiten  grofsen  StÜB  verknüpft«  Thätigkeit. 

Zum  Vorsitzenden  des  'Kuratorischen  Konseils',  d.  i.  der  obersten  Schulbehörde  der 
baltischen  Provinzen  war  als  Nachfolger  Kraftströms  der  ebensosehr  als  Gelehrter  wie 
als  Staatsmann  berühmte  Graf  Alexander  Keyserling,  als  Freund  Bismarcks  vielen 
bekannt,  ernannt  worden.  Dieser  setzte  alles  daran,  'die  Universität  Dorpat  und  die 
baltischen  Schulen  als  Pflanzstätten  deutscher  Bildung  auszugestalten  und  zu 
pflegen'.  Er  fand  in  dem  zum  Mitglied e  des  Konseils  berufenen  Pädagogen  Strümpell 
einen  kongenialen,  von  gleicher  frischer  Begeisterung  für  die  humanen  und  nationalen 


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A  Spitzner:  Ludwig  von  Strümpell 


Bildungsaufgaben  der  Deutschen  in  den  Ostseeländer!)  beseelten  Mitarbeiter  und  schenkte 
ihm  sein  ganzes  Vertrauen  und  seine  ungekünstelte  dauernde  Freundschaft,  von  welcher 
ein  interessanter  und  umfangreicher  Briefwechsel  ein  schöne«  Zeugnis  ablegt 

In  der  eigenartigen  pädagogischen  Situation,  in  die  Strümpell  auf  diese  Weise  versetzt 
worden  war,  entfaltete  er  vor  allem  eine  äufserst  lebhafte  und  weitauagreifende  organi- 
satorische Thutigkeit.  Auf  dem  gesamten  Gebiete  der  8chule  und  öffentlichen  Eraiehung 
entstand  unter  seinem  thätigen  persönlichen  Einflufs  lebendige  Bewegung.  Ein  päda- 
gogisches Seminar  an  der  Universität,  Gymnasien,  Kreisschulen ,  Lehrerseminare,  Fort- 
bildungsschulen, Volksschulen  wurden  neu  gegründet  oder  erweitert  und  verbessert 
Strümpell  reiste  im  Auftrage  der  Regierung  nach  Deutachland,  der  Schweiz  und  nach 
Frankreich,  um  das  Schulwesen  dieser  Länder  zu  studieren  und  seine  Erfahrungen  bei  der 
Reformierung  der  baltischen  Schulen  zu  verwerten.  Er  verschaffte  sich  durch  vielfache 
Inspektionen  einen  tiefen  Einblick  in  den  wirklichen  Stand  der  ihm  unterstellten  Schulen 
und  beriet  auf  amtlichen  Konferenzen  mit  den  Lehrern  der  verschiedenen  Schulgattungen 
die  Aufgaben,  Mittel  und  Wege  der  Weiterentwickelung  derselben.  Mit  tüchtigen  Schul- 
männern, die  er  zum  Teil  in  Deutschland  persönlich  kennen  gelernt  und  nach  Rufsland 
berufen  hatte,  bearbeitete  er  Lehrpläne  (1869  im  Druck  erschienen)  und  riet'  er  manche 
neue  Einrichtung  ins  Leben.  Er  selbst  aber  suchte  in  dem  pädagogischen  Universität«  - 
seminare  wohlgeschulte  Lehrkräfte  heranzubilden  und  legte  überall  mit  Hand  an,  wo  es 
not  that.  80  beteiligte  er  sich  planmäfsig  am  Unterrichte  im  Lehrerseminare  zu 
Dorpat,  wie  sogar  auch  in  der  von  ihm  neu  errichteten  Fortbildungsschule  daselbst, 
Er  hielt  zahlreiche  populäre  Vorträge,  veranstaltete  Elternabende,  ja  der  Pädagoge  wurde 
teilweise  zum  Volkswirte. 

Die  reiche  praktische  Thätigkeit  Strümpells  in  Dorpat  liefs  ihm  nur  wenig  Mufse  zur 
Veröffentlichung  wissenschaftlicher  Forschungen.  Es  seien  folgende  Werke  ans  jener  Zeit 
genannt:  Die  Pädagogik  der  Philosophen  Kant,  Fichte,  Herbart  (1849),  Die  Vorschule  der 
Ethik  (1844),  Die  Verschiedenheit  der  Kindernaturen  (1844),  Entwurf  der  Logik  (1846),  Die 
Universität  und  das  Universitätsstudium  (1848),  Die  Geschichte  der  griechischen  Philosophie 
(1864—61),  Lehrpläne  für  Knabenelementarschulen  des  Dorpater  Lehrbezirks  mit  den  nötigen 
Erläuterungen  und  Ergänzungen  entworfen  unter  Mitwirkung  erfahrener  Schulmänner  (1869), 
Erziehungsfragen  (1869). 

Die  grofsen  Verdienste  Strümpells  um  die  Förderung  des  baltischen  Schulwesens  wurden 
von  seiten  der  russischen  Regierung  dadurch  anerkannt,  dafs  er  zunächst  zum  Hof  rat, 
dann  zum  Wirklichen  Staatsrat  mit  dem  Titel  Excellens  befördert  und  in  den 
Adelsstand  erhoben  wurde.  Indessen  trat  nach  dem  polnischen  Aufstände  und  nach  den 
Erfolgen  der  preuf Bischen  Waffen  im  Kriege  mit  den  Österreichern  1866  mehr  und  mehr 
die  Anschauung  hervor,  das  deutsche  Element  bringe  dem  russischen  Reiche 
Gefahr.  Schule  und  Universität  sollten  nicht  humane  Bildungswege  verfolgen,  sondern 
staatlichen,  russifikatorischen  Zwecken  dienstbar  gemacht  werden.  Keyserling 
und  Strümpell  fanden  die  hierauf  gerichteten  Bestrebungen  ebenso  schädlich  für  das 
Reich  wie  für  die  Provinzen  und  traten  ihnen  entgegen.  Wohl  gelang  es  den  klaren  und 
lauteren  Gründen  ihrer  Auseinandersetzungen  eine  Zeit  lang,  die  ihnen  anvertrauten  Schulen 
vor  bildungsfeindlichen  Einflüssen  zu  bewahren,  doch  war  es  auf  die  Dauer  vergeblich, 
gegen  die  russische  Leidenschaft  mit  Gründen  zu  kämpfen.  Am  28.  Oktober  1869  erfolgte 
die  Entlassung  Keyserlings,  und  am  15.  Januar  1871  mufste  auch  Strümpell  weichen. 

Zur  Charakterisierung  der  Stimmung,  welche  über  Strümpells  Scheiden  in  den  ihm 
nahestehenden  Kreisen  in  Dorpat  herrschte,  sei  hier  folgender  Brief  erwähnt,  den  Professor 
Victor  Weyrich  kurz  vor  Strümpelb  Abreise  an  diesen  richtete: 

Lieber  College,  obgleich  ich  nicht  wufste,  ob  ich  Ihnen  damit  recht  käme,  so  habe 
ich  doch  dem  herzlichen  Verlangen,  Sie  vor  Dn-er  Abreise  noch  ein  Mal  zu  sprechen, 
nicht  gebieten  können.  Leider  finde  ich  Sie  nicht  zu  HauseJ  —  Statt  der  mündlichen, 
von  Herzen  kommenden,  empfangen  8ie  wenigstens  in  diesen  wenigen  Zeilen  die  schrift- 
liche Versicherung,  dafs  Ihr  Scheiden  mich  ebenso  schmerzlich  als  unerwartet  berührt 


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A.  Spitzner:  Ludwig  von  Strümpell 


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hat  Ich  hitte  das  nimmer  für  möglich  gehalten,  aber!  —  ja  aber,  wir  leben  in  der 
Zeit  der  Wander!  Gott  weif»,  was  uns  noch  bevorsteht,  denn  wenn  man  so  mit  Ihnen 
verfahrt,  was  —  doch  die  Bitterkeit,  die  mein  Herz  überwallt,  erstickt  das  Wort  selbst, 
das  dem  Papier  zu  überliefernde.  Eine  Majorität  von  22  Stimmen  mufs  sich  einer 
Minorität  von  16  unterordnen,  —  so  will  es  das  Gesetz ! ! !  — 

Ware  ich  nicht  Patient  und  hätte  Stubenarrest,  ich  käme  dennoch  heute  Abend 
zu  Ihnen  und  hülfe  Ihnen  packen,  so  aber  mufs  ich  leider  darauf  verzichten  und  sage 
Ihnen  hiermit  ein  herzliches,  warmes  Lebewohl,  in  der  festen  Überzeugung,  dafs, 
auf  eine  oder  die  andere  Weise,  Ihnen  Genugthuung  zu  Theil  werden  wird. 

Auf  baldiges  glückliches  Wiedersehen 

Ihr  treuer  College 

Victor  Wejrich. 

Das,  was  Strümpell  selbst  als  wirkliche  und  wahrhaftige  Genugthuung  empfand,  war 
die  tiefe  Freude  darüber,  dafs  er  nach  dem  Abschlufs  einer  26 jahrigen  akademischen 
Thätigkeit  im  Dienste  der  deutschen  Bildung  im  Auslande  noch  einen  zweiten,  nicht 
minder  bedeutungsvollen,  auch  an  Arbeit  und  Verdiensten  reichen  Lebensabschnitt  im 
Dienste  der  Wissenschaft,  der  Universität  und  der  Heranbildung  tüchtiger  Pädagogen  und 
Schulmänner  im  neugeeinten  Vaterlande  verleben  konnte. 

Als  es  im  Frühjahre  1871  feststand,  dafs  Strümpell  seine  akademische  Wirksamkeit 
an  der  Universität  Leipzig  fortzusetzen  gedachte,  begrüfsten  es  deren  damalige  Vertreter 
'mit  grofser  Genugthuung,  in  dem  berühmten  Schüler  Herbarts  die  Lehr- 
kräfte ihrer  Hochschule  so  bedeutend  vermehrt  zu  sehen'.  Sie  nahmen  an  seiner 
am  26.  April  1871  eröffneten  Lehrthätigkeit  den  regsten  Anteil.  Dasselbe  Interesse  be- 
kundete auch  das  sächsische  Ministerium,  indem  es  Strümpell  unter  dem  Minister 
von  FalkenBtein  am  15.  Juli  1871  zum  ordentlichen  Honorarprofessor  und  am 
80.  Dezember  1871  zum  Mitgliede  der  Kgl.  Prüfungskommission  für  Kandidaten 
des  höheren  Schulamtes  ernannte,  sowie  ihn  unter  dem  Minister  von  Gerber  am 
20.  Juni  1872  durch  eine  definitive  staatliche  Anstellung,  soweit  seine  russischen  Pensions- 
verhaltniase  eine  solche  zuliefsen,  zu  bestimmen  wufste,  einer  damals  von  der  philo- 
sophischen Fakultät  in  Wien  angestrebten  Berufung  nicht  Folge  zu  geben. 

In  seinen  Vorlesungen  über  Geschichte  der  Philosophie,  Logik,  Psycho- 
logie, Ethik,  Rechts-  und  Religionsphilosophie,  allgemeine  und  psycho- 
logische Pädagogik,  pädagogische  Pathologie  u.  s.  w.  zeigte  er  sich  als  hervor- 
ragende Autorität  auf  allen  Gebieten  der  Philosophie  und  der  Pädagogik  und  fesselte  als 
Meister  der  Rede  »eine  Hörer  in  hohem  Mafse.  sei  es.  dafs  er  sich  in  seinen  tiefeeirründeten 
Vorträgen  als  Forscher  von  edelster,  vornehmster  Gesinnung  an  die  akademische  Jugend 
belehrend  wandte,  sei  es,  dafs  er  ihr  mit  der  Weisheit  einer  langen  und  reichen  Erfahrung 
und  mit  der  Klarheit  und  Schärfe  eines  echt  philosophischen  Geistes  die  höchsten  Fragen 
ans  Herz  legte.   Erquickend  war  sein  sonniger  Humor. 

Diese  seltenen  Eigenschaften  des  beliebten  Universitätslehrers  kannte  und  würdigte 
man  auch  aufserhalb  der  Universität.  Oft  wurde  er  um  Vorträge  gebeten,  zu  denen  er 
sich  in  seinem  ausgesprochenen  Gemeinsinne  auch  gern  bereit  finden  liefe.  So  hielt  er  in 
Leipzig  im  Kaufmännischen  Vereine,  im  Lehrervereine  (beide  Vereine  ernannten  ihn  in 
dankbarer  Verehrung  zu  ihrem  Ehrenmitgliede) ,  im  Konservatorium,  im  Gewandhaus,  in 
den  Schrebervereinen  u.  s.  w.  Vorträge  über  allein  40  verschiedene  Themen  aus  seinen 
wissenschaftlichen  Gebieten. 

Das  hervorragendste  Verdienst  aber  erwarb  sich  Strümpell  in  Leipzig  dadurch,  dals  er 
sich  mit  viel  Hingebung,  mit  wahrhaft  väterlicher  Teilnahme  und  Fürsorge  der  Aus- 
bildung der  jungen  studierenden  Pädagogen  widmete.  Am  7.  Mai  1872  gründete 
er  für  sie  das  bereits  erwähnte,  von  ihm  34  Semester  hindurch  geleitete  Praktikum,  und 
bald  scharte  sich  ein  ansehnlicher  Kreis  begeisterter  Schüler  um  den  beliebten  Lehrer. 

Das  Praktikum  verfolgte  einen  doppelten  Zweck:  einmal,  'das  rezeptive  Arbeiten 
der  Studierenden  der  Pädagogik  zu  ergänzen',  das  andere  Mal,  'demselben 


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A.  Spitmer:  Ludwig  von  Strümpell 


gewissermaßen  durch  ein  produktives  Verfahren  das  nötige  Gegengewicht 
zu  geben'.  Dies  geschah  dadurch,  dafs  die  Mitglieder  veranlafst  wurden,  'sich  ihr  Wissen 
aus  den  Gebieten  der  Pädagogik  und  ihrer  Hilfswissenschaften  von  einzelnen  Stellen  aus 
in  einem  logfischen  Zusammenhange  zu  vergegenwärtigen,  durch  eigenes  Nachdenken  das- 
selbe zu  klären  und  zu  erweitern  und  die  Gedanken  in  einer  korrekten  und  präcisen 
Sprache  auszudrücken'.  Am  Anfange  des  Semesters  stellte  Strümpell  den  Mitgliedern  seines 
Praktikum«  Aufgaben  zu  pädagogischen  Arbeiten  cur  freien  Wahl.  Die  Arbeiten,  in  denen 
diese  Aufgaben  behandelt  wurden,  unterzog  Strümpell  einer  gewissenhaften  Durchsicht  und 
einer  strengen  Beurteilung.  In  den  Sitzungen  des  Praktikums  wurden  dann  diese  Arbeiten 
vorgelesen  und  nach  allen  Seiten  hin  gründlich  diskutiert. 

Nun  darf  man  aber  nicht  denken,  dafs  es  Strümpell  sowohl  bei  der  Beurteilung  als 
auch  bei  der  Besprechung  dieser  Arbeiten  einzig  und  allein  darauf  angekommen  wäre, 
seine  eigene  Meinung  zum  Ausdruck  gebracht  zu  sehen.  'Strümpell  achtete  nichts 
hoher',  sagt  Seminardirektor  Dr.  Kahl,  ein  ehemaliges  Mitglied  des  Praktikums,  'als 
Freiheit  des  wissenschaftlichen  Denkens.  Von  jener  »Starrgläubigkeit,  von  jenem 
einseitigen  Aufgehen  in  der  eigenen  Meinung,  von  jener  Unduldsamkeit,  durch  welche 
manche  Herbartianer ,  nicht  zum  wenigsten  Ziller,  der  Herbartechen  Richtung  bo  sehr  ge- 
schadet haben,  wufste  Strümpell  nichts.  Bei  ihm  durfte  jede  Ansicht  zu  Worte  kommen, 
wofern  sie  nur  Hand  und  Fufs  hatte.  Deshalb  waren  auch  die  Übungen  seines  Praktikums 
so  außerordentlich  anregend.'  Und  allen  Schülern  Strümpells  waren  darum  die  Worte 
aus  dem  Herzen  geschrieben,  wie  Dr.  Kahl  weiter  mit  Recht  bemerkt,  mit  denen  Professor 
Dr.  Wendt  den  6.  Band  der  'Pädagogischen  Abhandlungen  von  Mitgliedern  des 
von  Professor  Strümpell  geleiteten  wissenschaftlich-pädagogischen  Prak- 
tikums' einleitete:  'Wir  verehren  Herbart  und  erkennen  auch  die  Richtung  seines 
Schälers  Strümpell  als  den  zweckmäßigsten  Weg  zum  Weiter-  und  Ausbau  der  Herbartecheu 
Pädagogik  an:  aber  wir  schwören  weder  auf  die  Worte  Herbart«  noch  liegt  es  in  dem 
Wesen  unseres  Lehrers,  von  seinen  eigenen  Ansichten  abweichende  Meinungen  als  un- 
vereinbar mit  dem  Begriffe  der  psychologischen  Pädagogik  zu  erklären.' 

Die  soeben  genannten  'Pädagogischen  Abhandlungen'  u.  s.  w.,  welche  Strümpell 
selbst  veröffentlichte  oder  durch  Wendt  veröffentlichen  liefs,  bilden  den  litterarischen 
Nachweis  für  das  Gesagte,  wie  überhaupt  von  dem  frischen  wissenschaftlichen  und  echt 
pädagogischen  Geiste,  der  im  Strümpellschen  Seminare  herrschte  und  gepflegt  wurde. 

Die  8chüler  Strümpells,  die  zumeist  in  Deutschland  th&tig  sind,  und  zwar  in  allen 
Zweigen  des  öffentlichen  Unterrichts-  und  Erziehungswesens ,  von  denen  sich  auch  eine 
nicht  kleine  Anzahl  schriftstellerisch  ausgezeichnet  hat,  denken  mit  grofBer  Liebe  und 
Dankbarkeit  an  die  Zeit  ihrer  Studien  unter  der  Führung  Strümpells  zurück.  Als  dieser 
am  86.  April  1894  das  Jubiläum  seiner  25jährigen  Wirksamkeit  in  Leipzig  als 
rüstiger  84 jähriger  Greis  feiern  konnte,  kam  dies  schöne,  vielfach  zur  persönlichen  Freund- 
schaft fortgebildete  Verhältnis  zwischen  Lehrer  und  Schüler  zum  erhebenden  Ausdruck. 

Zu  den  fleifsigen  Mitgliedern  des  Seminars  gehörten  auch  viele  Aualänder.  Wenn 
Rüde  in  Heins  Encyklop.  Handbuch  der  Pädagogik  DJ  688  f.  mehrere  8eiten 
aufs  erdeutscher  Herbart- Litteratur  aufzählen  konnte,  bo  ist  dies  eben  zum  guten  Teile 
mit  eine  Wirkung  des  Strümpellschen  Praktikums. 

Ein  grofser  Vorzug  desselben  lag  schließlich  in  dem  Umstände,  dafs  an  den  Übungen 
vor  allem  auch  diejenigen  studierenden  Pädagogen  teilnahmen,  welche  bereits  an 
Volksschulen  als  Lehrer  thätig  waren.  (Die  sächsische  Regierung  ermöglicht  es  be- 
kanntlich in  dankenswerter  Weise  tüchtigen  Lehrkräften  der  Volksschule,  an  der  Landes- 
universität ihre  Fortbildung  zu  betreiben.)  In  den  wissenschaftlich-pädagogischen 
und  besonders  in  den  psychologischen  Erörterungen  des  Seminars  konnte  infolgedessen 
öfter  von  praktischen  Erfahrungen  ausgegangen  oder  darauf  zurückgegriffen  werden,  als  es 
sonst  wohl  möglich  gewesen  wäre,  und  gerade  darauf  kam  es  Strümpell  hauptsächlich  an. 
Theorie  und  Praxis  sollten  glücklich  zusammentreffen,  die  Distanz  zwischen 
ihnen  sollte  auf  wissenschaftlichem  Wege  möglichst  verringert  werden. 


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A.  Spitzner:  Ludwig  von  Strümp«' 11 


f)43 


Es  ist  nun  an  der  Zeit,  von  dieser  Stelle  aus  auf  das  bereits  hin  und 
wieder  leise  berührte  Eigenartige  in  Strümpells  Pädagogik  noch  etwas 
näher  einzugehen,  um  zugleich  zu  sehen,  auf  welches  Arbeitsgebiet  Strümpell 
seine  Schüler  hinführte.  Unter  allen  aus  seinem  grofsartigen  pädagogischen 
Erfahrungskreise  abstrahierten  Folgerungen  schlug  Strümpell  namentlich  die 
folgende  hoch  an:  'Je  voller  und  kräftiger  das  Ideal  der  intellektuellen, 
sittlichen  und  religiösen  Bildung  in  der  Brust  eines  Erziehers 
wirkt,  desto  vorsichtiger  mufs  er  insofern  sein,  dafs  er  die  von  der 
Theorie  eingegebenen  künstlichen  und  allgemeinen  Erziehungs- 
mittel nicht  überschätzt.'  Vielmehr  hat  nach  seiner  Überzeugung  der  Er- 
zieher 'in  allen  Fällen  an  den  in  den  jeweiligen  faktischen  Verhält- 
nissen, wie  in  der  Individualität,  in  der  Familie,  in  Sitten  und 
Gewohnheiten,  in  Neigungen  und  Interessen  u.  s.  w.  liegenden  natür- 
lichen Potenzen  ununterbrochen  festzuhalten  und  seine  Zwecke  an 
den  dadurch  thatsächlich  bestimmten  Entwickelungsgang  anzu- 
schliefsen,  selbst  dann,  wenn  er  mit  ihnen  in  Opposition  sein  mufs'. 

Von  diesem  Standpunkte  aus  folgerte  Strümpell  die  Notwendigkeit 
einer  allmählichen  Reform  der  wissenschaftlichen  Pädagogik. 

Das  Erste,  was  er  an  ihrer  bisherigen,  d.  h.  insbesondere  bis  zu  Herbart 
und  Beneke  reichenden  Behandlung  auszusetzen  hat,  ist,  'dafs  dieselbe  sich 
zu  allgemein  hält,  d.  h.  sich  zu  sehr  in  allgemeinen  Gedanken  und  Erörte- 
rungen bewegt  und  deshalb  dem  thatsächlichen  Gegenstande,  auf  den  es 
doch  vorzugsweise  ankommt,  nämlich  dem  Kinde  und  dem  ihm  in  den 
einzelnen  Stufen  seiner  Entwickelung  zu  widmenden  Verfahren 
noch  zu  fern  steht*. 

Strümpell  wies  infolgedessen  immer  wieder  mit  Nachdruck  darauf  hin, 
dafs  es  der  Entwickelung  des  menschlichen  Geistes  mehr  entspräche,  wenn 
vorzugsweise  die  in  ihm  von  der  Natur  bezweckte  Entwickelungsform 
durch  den  pädagogischen  Eingriff  begünstigt  und  hervorragend  ausgebildet 
wiirde,  als  wenn  man  dies  nicht  thue  und  alle  vorher  auf  dem  Wege  der 
Abstraktion  zusammengestellten  Seiten  der  geistigen  Entwickelung  des 
Menschen  auch  im  einzelnen  wirklichen  Kinde  entdecken  und  im  Sinne 
einer  'harmonischen  Durchbildung'  ausgestalten  wolle. 

Wie  die  auf  diese  Weise  verfahrende  Pädagogik  ihren  fast  ausschliefslich 
nur  vom  Zweckbegriffe  beherrschten  Inhalt  auch  darstellen  will,  eine  ge- 
naue Erwägung  desselben  wird  jedesmal  finden,  dafs  mit  ihren  Lehrsätzen 
schlechterdings  die  ungeheure  Kluft  nicht  ausgefüllt  werden  kann,  die  zwischen 
dem  Erzieher,  der  ihnen  gemäfs  handelt,  und  dem  bestimmten,  einzelnen,  heran- 
wachsenden Kinde  besteht  So  wie  sie  sich  selbst  mit  einem  gewissen  Über- 
mute über  das  reale  Leben  des  Kindes,  also  über  die  Thatsachen  der  päda- 
gogischen Erfahrung  stellt,  so  stellt  sie  auch  den  Erzieher  und  Lehrer  in 
seinem  ganzen  Verfahren  dem  Kinde  zu  fern,  und  Strümpell  behält  recht. 

Ein  zweiter  Punkt,  wo  darum  die  Strümpell'sche  Pädagogik  auf  ein 
Reformbedürfnis  der  bisherigen  pädagogischen  Theorie  hinweist,  liegt  in  dem 


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A.  Spitaner:  Ludwig  von  Strümpell 


Umstände,  'dafs  sie  zu  sehr  vom  Standpunkte  des  Erziehers  und  Lehrers 
und  zu  sehr  gleichsam  blofs  fftr  die  Befriedigung  seines  Heraens  und  seines 
Verstandes  gearbeitet  ist*.  Sie  ist  zu  sehr  'abstrakte  d.  h.  mit  sich  selbst 
beschäftigte  Doctrin'  und  verwechselt  deshalb  oft  die  Wünsche  und  Hoff- 
nungen mit  der  Wirklichkeit,  die  Oedanken  und  Gemütszustände  des  Er- 
ziehers mit  den  Zustanden  und  Vorgangen  im  Innern  der  Kinder,  die  davon 
oft  völlig  unberührt  bleiben  und  ihren  eigenen  Weg  gehen.  Bei  aller  schein- 
baren Nähe,  ja  selbst  bei  aller  scheinbaren  Innigkeit  des  Verhältnisses  zwischen 
dem  Lehrer  und  dem  Schüler  stellt  die  wissenschaftliche  Pädagogik  doch  den 
ersteren  noch  zu  fern  dem  Gegenstände  gegenüber,  auf  den  es  in  Wahrheit 
ankommt:  demjenigen  nämlich,  was  beim  Unterrichte  und  bei  der  Er- 
ziehung der  Zögling  zu  thun  hat,  das  heifst,  was  in  ihm  vorgeht  und 
vorgehen  kann  und  was  nicht  Strümpell  ist  der  Meinung  gewesen,  und  zwar 
mit  Recht,  dafs  hiervon  die  Pädagogik,  trotz  Herbart  und  Beneke,  noch 
kein  befriedigendes,  empirisch  ermitteltes  Wissen  gewähre,  und  schrieb  in 
der  Erkenntnis  dieses  Mangel»  sowie  der  nachteiligen  Folgen  desselben  seine 
Psychologische  Pädagogik  (1880),  neben  der  Pädagogischen  Patho- 
logie (1890)  sein  pädagogisches  Hauptwerk. 

Die  auf  diese  Weise  von  Strümpell  kräftig  eingeleitete  notwendige  Fort- 
bildung der  wissenschaftlichen  Pädagogik  hängt  insbesondere  mit  zwei  wich- 
tigen pädagogischen  Fragen  zusammen,  und  zwar  1.  mit  der  Frage  nach  der 
psychologischen  Begründung  der  Erreichbarkeit  der  Bildungszwecke 
und  2.  mit  der  Frage  nach  den  Bildungswerten  der  Unterrichtsgegen- 
stände wie  der  Erziehungsmittel  überhaupt 

'Die  historische  Gerechtigkeit',  sagt  Strümpell  in  betreff  dieser  Punkte, 
'verlangt  nicht  zu  verschweigen,  dafs  in  dieser  Hinsicht  die  Schriften  von 
Herbart  und  Beneke  sich  vor  allen  anderen  auszeichnen.  Allein  auch  in 
ihnen  ist  dasjenige,  was  die  psychologische  Pädagogik  erstrebt,  lange 
noch  nicht  gegeben.  Was  namentlich  Herbart  darüber  sagt,  ist  als  solches, 
da  man  es  sonst  in  keiner  pädagogischen  Schrift  findet,  sehr  dankenswert, 
aber  es  reicht  lange  noch  nicht  aus.  Dafs  es  nicht  ausreicht  und  dafs  mithin 
die  betreffenden  Gegenstande  für  die  meisten  Leser  Herbarts  doch  eigentlich 
dunkel  bleiben,  geht  wohl  schon  daraus  hervor,  dafs  selbst  innerhalb  des 
Kreises  der  Herbartschen  Schule  allerlei  Mifsverständnisse  darüber  herrschen, 
und  andererseits  eine  Beachtung  dieses  wichtigen  Gegenstandes  der  theoretischen 
Pädagogik  von  anderen  Seiten  so  gut  wie  ganz  ausgeblieben  ist.' 

Aber  auch  Strümpells  'Psychologische  Pädagogik'  soll  noch  kein  ab- 
schließendes Werk  sein.  An  vielen  Stellen  weist  er  selbst  darauf  bin,  wo 
die  weiterzuführende  Forschung  einzusetzen  habe,  und  zeigt  nur,  wie  dieselbe 
zu  betreiben  ist  Doch  liegt  in  diesem  Umstände  mehr  ein  Anlafs  zur  Er- 
höhung als  zur  Schmälerung  der  Bedeutung  des  unbestritten  klassischen  Werkes. 

Ein  dritter  wesentlicher  Punkt  der  Strümpellschen  Pädagogik  besteht 
darin,  dafs  sie  den  eben  hervorgehobenen,  von  ihr  aufgedeckten  Mangel  der 
bisherigen  Pädagogik  auf  einen  noch  tiefer  liegenden  Mangel  zurück 


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A.  Spitzner:  Ludwig  von  Strümpell 


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führt,  der  Strümpell  schon  als  jungen  Forscher  beschäftigte  und  ihn  ins- 
besondere zum  Verlassen  der  Bahnen  nötigte,  die  ihm  die  Herbartsche  Psy- 
chologie gewiesen  hatte. 

Strümpell  fand,  dafs  die  theoretische  Pädagogik  die  pädagogische  Fun- 
damentalfrage entweder  gar  nicht  oder  im  günstigsten  Falle,  wie  es  in  der 
Uerbartschen  Pädagogik  geschieht,  nur  oberflächlich  behandelt.  Diese  Fun- 
damentalfrage liegt  in  dem  Begriffe  der  Bildsamkeit,  das  heifst  der  Be- 
fähigung des  menschliehen  Geistes,  durch  Einflüsse  und  Einwirkungen  von 
aufsen,  von  Seiten  der  Natur  und  von  Seiten  der  Mitmenschen,  über  den 
schon  erreichten  Zustand  in  eine  noch  höhere  und  bessere  Bildung  hinüber- 
geführt werden  zu  können. 

In  Bezug  hierauf  sagt  Strümpell:  'Es  ist  nicht  genug,  blofs  das  That- 
sächliche  nachzuweisen,  woran  man  die  Bildsamkeit  des  Kindes  erkennt 
und  worin  sie  sich  ausdrückt,  sondern  es  muls  auch  die  noch  speciellere 
und  wichtigere  Frage  untersucht  werden,  worin  die  Bildungsvorgänge 
selbst  bestehen,  und  insbesondere,  ob  sich  bestimmte  Gesetze  ent- 
decken lassen  (an  denen  es  doch  nicht  fehlen  kann),  nach  denen 
die  Fortbildung  und  Entwickelung  des  menschlichen  Geistes  statt- 
findet» 

Es  kann  gar  keinem  Zweifel  unterliegen,  dafs  Strümpell  mit  dem  Auf- 
rollen dieser  Frage  der  pädagogischen  Wissenschaft  einen  Gesichtspunkt  von 
höchster  Bedeutung  und  großer  Tragweite  eröffnet  hat.  Denn  solange  die 
Pädagogik  diese  Frage  nicht  gründlich  zu  beantworten  weifs,  also  die  Bildungs 
Vorgänge  selbst,  die  im  Innern  der  menschlichen  Seele  stattfinden,  und  ins- 
besondere die  Gesetze,  nach  denen  sie  geschehen,  nicht  kennt,  wird  sie  auch 
ebenso  lange  sich  im  Dunkeln  bewegen  und  viele  unnütze  Reden  führen  und 
—  unnütze  Arbeit  verrichten.  Aber  noch  mehr!  Die  Wichtigkeit  dieses  Gegen- 
standes tritt  erst  dadurch  in  das  rechte  Licht,  wenn  wir  bedenken,  dafs  er 
die  pädagogische  Forschung  zu  tiefgehenden  Auseinandersetzungen  mit  der 
allgemeinen  Biologie,  insbesondere  mit  der  Abstammungs-  und  Ent- 
wicklungslehre Darwins,  Spencers  u.  a.,  mit  der  modernen  physio- 
logischen Psychologie  und  mit  der  modernen  Psychiatrie  herausfordert. 

Im  Hinblick  auf  diese  Sachlage  hat  Strümpell  mehrere  Semester  hindurch 
psychologische  Pädagogik  vorgetragen  und  dabei  in  scharfsinniger  Weise 
die  Elemente  des  Gegenstandes  blofsgelegt  und  seine  weitere  Untersuchung 
angeregt.  Eben  dahin  gehört  auch  seine  1878  erschienene  Abhandlung  über 
'die  Geisteskräfte  des  Menschen,  verglichen  mit  denen  der  Tiere. 
Ein  Bedenken  gegen  Darwins  Ansicht  über  denselben  Gegenstand'. 
Auch  seine  Vorlesungen  Uber  'Psychologie',  die  er  1884  als  'Lehre  von 
der  Entwickelung  des  Seelenlebens  im  Menschen*  zum  Teil  veröffentlichte, 
kommen  hier  in  Betracht  Der  Verfasser  mufs  es  sich  leider  in  Rücksicht 
auf  den  engen  Raum  eines  Artikels  versagen,  auf  die  hier  in  Frage  kom- 
menden Anschauungen  Strümpells  näher  einzugehen.  Auf  einen  Punkt  nur 
will  er  zu  sprechen  kommen,  weil  er  das  hauptsächlichste  Moment 

Neu.  Jafcrbttcher    1899.   U  36 


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A.  Spitener:  Ludwig  von  Strümpell 


der  psychologischen  Differenz  zwischen  Strümpell  und  Herbart 
darstellt 

Strümpell  stimmt  insoweit  mit  Herbart  überein,  als  er  lehrt:  Alle  geistigen 
Zustande  und  Vorgange  im  Kinde  entsprechen  zunächst  in  ihren  Elementen 
dem  Begriffe  eines  reinen  Natur  Vorgang  es  und  sind  als  solche  als  Wir- 
kungen eines  physiologisch-psychischen  oder  eines  rein  psychischen 
Mechanismus  anzusehen.  Nun  aber  verfolgt  Strümpell  auf  dem  Wege  der 
pädagogischen  Betrachtung  die  Wirkungen  des  psychischen  Mechanismus 
und  stöfst  auf  die  Thatsache,  dafs  dieselben  immer  nur  bis  zu  einem 
bestimmten  Punkte  reichen,  soweit  nämlich,  als  sich  gewisse  Bewufstseins- 
inhalte  sekundär  hervorbilden,  welche  sich  mit  dem  Ichbewufstsein  ver- 
knüpfen und  den  Geist  zu  einem  nicht  mehr  naturnotwendigen,  vielmehr 
freien,  bewufsten  Wirken  weiterführen,  ihn  unabhängig  machen  von 
den  Wirkungen  des  Mechanismus  und  auf  diesen  allmählich  so  zurückwirken, 
dafs  sie  ihn  in  seinen  Bewegungen  mehr  und  mehr  bestimmen,  indem 
sie  sich  denselben  einfügen  und  mit  ihnen  fortwirken.  Kurz,  es  ist  der  Uber- 
gang  vom  mechanischen  zum  normierten  VorsteLhuigsablauf,  auf  den 
Strümpell  hinweist,  das  Fortschreiten  des  kindlichen  Geistes  zu  allen  den 
Bewufstseinsinhalten  und  Formen,  welche  in  ihren  Unterschieden  und  Gegen- 
sätzen die  Welt  des  Verstandes,  der  Vernunft,  des  an  sich  Würdigen, 
des  Guten  und  Schönen,  des  Erhabenen  und  des  über  allem  Irdischen 
stehenden  Göttlichen  darstellen.  Diese  neuen,  höheren  Bewufstseins- 
elemente,  welche  den  psychischen  Mechanismus  überschreiten  und  ihn 
ihrem  Einflufs  unterwerfen,  nennt  Strümpell  'freiwirkende  Kausali- 
täten*. Mit  dieser  Abgrenzung  hat  er  die  Psychologie  Herbarts  verlassen 
und  zugleich  der  Gefahr  vorgebeugt,  'dafs  eine  zu  starke  Betonung  des  An- 
teiles der  Physiologie  an  der  Psychologie  dazu  führen  könne,  bei  der  Ab- 
hängigkeit beider  die  Eigenartigkeit  und  Selbständigkeit  des  geistigen  Lebens 
zu  übersehen  oder  gar  gänzlich  aufzugeben*.  Es  fragt  sich  nun,  worin  die 
Bedingungen  zu  suchen  sind,  unter  denen  der  psychische  Mechanismus  in 
den  Stand  gesetzt  wird,  solche  höhere  Fortbildungen  zu  veranlassen.  Strümpell 
erblickt  sie  in  dem  Gefühlsbewufstsein.  Damit  klärt  er  zum  erstenmale 
dio  aufserordentlich  wichtige  teleologische  Bedeutung  der  Gefühle  für 
die  Entwickelung  des  geistigen  Lebens  auf  und  löst  dieselben  als 
'specifische  Zusätze  zum  Quäle  des  Erlebnisses*  aus  der  gänzlichen 
Unrichtigkeit  der  Herbartschen  Auffassung.  Im  Gefühle,  das  sich  zunächst 
einem  mechanisch  bewirkten  psychischen  Erlebnis  anschliefst,  kommt  nach 
Strii  mpell  die  Seele  aus  dem  Bereiche  der  gleichgiltigen  Thatsachen  hinaus 
und  beginnt,  je  nach  dem  Wert  ihrer  Stimmung,  eine  ihr  allein  zu- 
gehörige freie  Wirksamkeit,  und  zwar  in  der  Hinsicht,  dafs  durch  jede  be- 
stimmte Gefühlsart  auch  eine  eigene  Fortbildung  des  geistigen  Lebens  er- 
möglicht ist  vermittelst  eigentümlicher  und  bewufster  Werte. 

Es  erübrigt  noch,  auf  einen  vierten  und  einen  fünften  Punkt  der 
Strümpellschen  Pädagogik  kurz  zu  sprechen  zu  kommen. 


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A.  Spitmer:  Ludwig  von  Strümpell 


547 


Aus  der  Thatsache,  dafs  die  Entwickelung  des  menschlichen  Geistes  sich 
in  dem  genannten  Gegensätze  zwischen  Naturnotwendigkeit  und  einer 
höheren,  die  Abhängigkeit  Ton  der  letzteren  normierenden  Kausalität  be- 
wegt, erklärt  es  sich,  weshalb  es  auf  dem  geistigen  Gebiete  ebenso  wie  auf 
dem  Gebiete  des  organischen  Lebens  allerlei  sogenannte  Fehler,  Abnormi- 
täten, krankhafte  Zustände  giebt  und  ganz  unvermeidlich  geben  roufs. 

Hieraus  entspringt  für  Strümpells  Plan  einer  die  Thatsachen  der  Bildsam- 
keit und  ihrer  Bedingungen  in  das  Specielle  verfolgenden  theoretischen  Pädagogik 
die  Aufgabe,  die  Fehler  der  Kinder  empirisch  aufzusuchen,  den  phy- 
siologischen oder  psychischen  Sitz  jedes  einzelnen  derselben,  die 
Art  und  Weise  der  Störung  oder  Abweichung  vom  Normalen  der 
Bildsamkeit  zu  ermitteln.  Oder  kurz  gesagt:  sie  erstrebt  eine  rationelle 
Pathologie  der  Seele  während  ihrer  jugendlichen  Entwickelung. 

Die  jetzt  bereits  in  3.  Auflage  vorliegende  'Pädagogische  Pathologie* 
Strümpells  hat  auf  dem  bis  zu  ihrem  ersten  Erscheinen  im  Jahre  1890  nur 
ganz  dürftig  bearbeiteten  wichtigen  Gebiete  eine  solche  Fülle  von  Belehrungen 
und  Anregungen  gebracht,  dafs  bereits  eine  eigene  Zeitschrift  dafür  ent- 
'  standen  ist.  Auf  mehreren  Lehrerversammlungen,  zuletzt  auf  der  deutschen 
Lehj'erversammlung  zu  Breslau  (Pfingsten  1898),  sind  die  einschlägigen  Fragen 
eingehend  besprochen  worden,  und  'heute  ist  die  hohe  philanthropische,  päda- 
gogische und  sozialökonomische  Bedeutung  der  pädagogischen  Pathologie  wohl 
allgemein  aberkannt',  wie  Dr.  Kahl  mit  Kecht  feststellt. 

Im  Zusammenhange  mit  der  eben  gestellten  Aufgabe  behandelt  Strümpell 
noch  eine  andere. 

Sowie  er  die  rationelle  Behandlung  der  Fehler  der  Kinder  auf  eine  genaue 
Erforschung  der  dabei  stattfindenden  Thatsächlichkeiten  und  ihrer  Ursachen  zu 
gründen  sucht,  so  will  er  auch  in  die  aufserordentlich  vielen  Unter- 
schiede, die  bei  der  Entwickelung  der  Kinder  normaliter  vorkommen, 
einigermafsen  Licht  und  Ordnung  gebracht  wissen.  Aus  diesem  Grunde 
veröffentlichte  er  die  interessante  Schrift  über  'die  Verschiedenheit  der 
Kindernaturen'.  Sie  erschien  das  erste  Mal  im  Jahre  1844,  zuletzt  1894, 
und  ist  noch  in  keiner  Beziehung  veraltet  oder  überholt.  Noch  immer  ist  sie 
der  Ausgangspunkt  der  Bearbeitung  einer  ungemein  schwierigen  und  nur  erst 
allmählich  zu  lösenden  Aufgabe,  die  wiederum  die  Pädagogik  in  nahe  Beziehung 
und  Verbindung  mit  den  Fortschritten  der  allgemeinen  Physiologie  und 
Psychologie  des  Menschen  bringt. 

Rein  historisch  betrachtet  zeigt  die  soeben  genannte  Schrift  neben  der 
oben  bereits  erwähnten,  noch  nicht  veröffentlichten  Arbeit  über  den  Begriff 
des  Individuums  aus  dem  Jahre  1837,  wie  weit  die  Anfänge  der  Strümpell  - 
sehen  Reformgedanken  zurückreichen,  während  die  ihn  zuletzt  beschäftigende, 
leider  unvollendet  gebliebene  Schrift  über  die  Thatsachen  des  Bewufstseins 
davon  Zeugnis  ablegt,  dafs  Strümpell  mit  wachsamem  Auge  auch  im  höchsten 
Alter  noch  die  Weiterentwickelung  der  Dinge,  die  uns  hier  beschäftigt  haben, 
verfolgte. 

36* 


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548  A.  Spitzner:  Ludwig  von  Strümpell 

Der  kurze  Überblick  über  die  Bestrebungen  Strümpell»  auf  dem  Gebiete 
der  wissenschaftlichen  Pädagogik  lasft  deutlich  erkennen,  wie  außerordentlich 
anregend  die  von  ihm  so  glücklich  geleiteten  Übungen  und  Arbeiten  des 
'Wissenschaftlich-pädagogischen  Praktikums*  waren. 

Die  von  hier  aus  sowie  durch  seine  Schriften  von  Strümpell  in  die  Wege 
geleitete  kräftige  Initiative  einer  Fortbildung  der  Pädagogik  ist  so  gesund, 
so  lebensvoll  und  bedeutend,  dafs  ihm  für  alle  Zeiten  ein  Ehrenplatz  unter  den 
neueren  führenden  Pädagogen  gebührt.  Im  Herzen  seiner  Schüler  aber  lebt 
sein  Bild  weiter  als  das  des  vollendet  edlen  Menschen  mit  einem  goldenen 
Herzen  und  Gemüt  voll  unerschöpflicher  Fülle  an  Menschen-  und  Kinderliebe. 


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BEMERKUNGEN  ZUM  ANSCHAUUNGS-  UND  KUNSTUNTERRICHT 

AUF  DEM  GYMNASIUM 

Von  Gerhard  Schui/tz 

Ob  und  wie  die  antike  Kunst  im  Gymnasialunterricht  herangezogen  werden 
soll,  ist  eine  Frage,  die  viel  besprochen1),  aber  noch  nicht  endgültig  entschieden 
ist.  Die  preußische  Schulreform  von  1892  hat  den  von  vielen  Seiten  ge- 
wünschten Unterricht  in  der  Kunstgeschichte  abgelehnt.  Jedoch  haben  die 
Behörden  für  die  Frage  weiter  lebhaftes  Interesse  bekundet,  wie  sich  besonders 
in  der  wiederholten  Befragung  der  Direktoren  -  Versammlungen  zeigt.  Der 
V Ermittelung  von  A.  Conze  verdanken  wir  ferner  die  Einrichtung  der  sehr 
nützlichen  Anschauungskurse,  die  zwar  selbstverständlich  keine  Archäologen 
ausbilden  können,  aber  doch  vielen  Lehrern  erwünschte  Gelegenheit  geben,  mit 
der  Wissenschaft  in  Beziehung  zu  treten,  alte  Kenntnisse  aufzufrischen  und 
neue  zu  erwerben.  So  hat  die  Bewegung  doch  Fortschritte  gemacht  Langsam, 
aber  stetig  bricht  sich  die  Überzeugung  Bahn,  dafs  das  Gymnasium  die  Pflicht 
hat,  seine  Schüler  mit  der  antiken  Kunst  bekannt  zu  machen.  In  der  That,  mag 
man  diese  nun  nach  ihrem  innern,  rein  menschlichen  Gehalt  betrachten  oder 
ihre  weltgeschichtliche  Bedeutung  in  ihrer  Wirkung  auf  alle  grofsen  Blütezeiten 
der  Kulturvölker  erwägen,  oder  mag  man  sie  endlich  nur  zur  Belebung  und 
Ergänzung  der  antiken  Litteratur  verwenden,  in  jeder  Beziehung  ist  sie  für  den 
heutigen  Standpunkt  der  höheren  Schule  unentbehrlich.  So  ist  sie  denn  auch  in 
der  Praxis  schon  vielfach  herangezogen.  Eifrige  Verlagsbuchhandlungen  haben 
Wandbilder  hergestellt  und  unsere  Schulbücher  mit  Bildern  geschmückt,  die 
jedes  Jahr  sich  vervollkommnen.  Wenn  ich  nun  in  dieser  Frage  das  Wort 
ergreife,  so  geschieht  es  mit  dem  Bewufstsein,  dafs  ich  etwas  wesentlich  Neues 
nicht  vorbringen  kann.  Aber  ich  möchte  doch  einige  Punkte  hervorheben,  die 
mir  zum  Schaden  der  Sache  nicht  immer  gebührend  berücksichtigt  zu  sein 
scheinen.  Ich  werde  mich  dabei  bemühen,  theoretische  Erörterungen,  die  wir 
ausreichend  besitzen,  möglichst  zu  vermeiden  und  besonders  auf  praktische 
Fragen  einzugehen. 

l)  Über  die  neueste  Litteratur  berichtet  Engelmann  in  den  Jahresberichten  des  philol. 
Vereins  zu  Berlin.  Die  ältere  findet  man  zusammengestellt  bei  Koch,  Programm  des 
Gymnasiums  zu  Bremerhaven  1896.  Es  fehlen  bei  ihm  die  Direktorenversammlungen  von 
Ost-  und  Westpreufsen  1892,  von  Schleswig-Holstein  1802  und  der  Rheinprovinz  1896,  die 
besonders  lehrreich  sind,  weil  man  da  auch  die  Stimmen  von  Gegnern  hört.  Namentlich 
mochte  ich  auf  die  Schleswig- Holsteinsche  hinweisen,  auf  der  sich  der  geistvolle  Vortrag 
0 Stendorf s,  der  'keine  Zeit'  hatte,  die  Referate  zu  studieren,  dafür  aber  sehr  beherzigens- 
werte eigene  Gedanken  bringt,  und  die  praktische  Pädagogik  von  Wall ichs  sehr  glücklich 


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550    l».  Schultz :  Bemerkungen  »um  Anschauung»-  und  Kunstunterricht  auf  dem  Gymnasium 

Die  preufsi«chen  Lehrpläne  von  1892  sagen  beim  Unterricht  im  Latei- 
nischen S.  25:  'Eine  zweckmäßige  Verwertung  von  Anschauungsmitteln,  wie 
sie  in  Nachbildungen  antiker  Kunstwerke  und  in  sonstigen  Dar- 
stellungen antiken  Lebens  so  reichlich  geboten  sind,  kann  nicht  genug  em- 
pfohlen werden.'  Es  werden  hier  also  die  antiken  Kunstwerke  von  sonstigen 
Darstellungen  unterschieden,  die  wir  wohl  mit  dem  allgemein  üblichen  Aus- 
druck kurz  als  Anschauungsbilder  bezeichnen  können.  Die  zweckmäfBige  Ver- 
wendung beider  Arten  von  Bildern  wird  dem  Lehrer  überlassen.  Gerade  auf 
diese  aber  kommt  es  an.  Bei  einer  näheren  Erwägung  wird  es  nützlich  sein, 
wenn  wir  beide  Gattungen  etwas  schärfer  trennen,  als  es  gewöhnlich  zu  ge- 
schehen pflegt.  Kunstwerke  sind  selten  gute  Anschauungsbilder  —  im  Sinne 
der  Schule  — ,  weil  sie  gar  nicht  für  deren  Zwecke  gemacht  sind;  werden  sie 
aber  als  solche  verwendet,  so  sind  sie  in  Gefahr,  in  ihrem  eigentümlichen  Wert 
als  Werke  der  Kunst  nicht  gebührend  gewürdigt  zu  werden. 

Beide  Arten  von  Bildern  unterscheiden  sich  nach  ihrem  Ursprung  und 
ihrem  Zweck.  Kunstwerke  gehen  hervor  aus  einer  bestimmten  Erregung  *ies 
Gemütes  und  wünschen  dieselbe  bei  dem  Beschauer  zu  bewirken.  Je  höher 
sie  stehen,  eine  um  so  gröfsere  geistige  Reife  verlangen  sie  von  diesem.  Für 
Kinder  werden  sie  also  häufig  nicht  verständlich  sein.  —  Anschauungsbilder 
gehen  hervor  aus  bestimmten  Absichten  des  Verstandes,  sie  sollen  Kenntnisse 
vermitteln,  Gegenstände  zeigen,  die  bisher  unbekannt  waren,  Vorstellungen 
hervorrufen,  die  das  Wort  nicht  geben  kann.  Eine  Wirkung  auf  das  Gemflt> 
eine  Erhebung  der  Seele  erstreben  sie  nicht.  Sie  lassen  sich  für  jedes  Alter 
passend  herstellen.  Die  Art  der  Darstellung  wird  alles  Ungewohnte  vermeiden, 
sich  also  der  heutigen  malerischen  Technik  bedienen. 

Erwägen  wir  nun  die  zweckmässige  Verwendung  dieser  beiden  Arten  von 
Bildern,  so  möchte  ich  mit  dem  Unterricht  in  der  Geschichte  beginnen,  der 
vorläufig  über  das  gröfste  Material  verfügt.  Da  sind  nun  Nachbildungen  von 
antiken  Kunstwerken  reichlich  vorhanden,  aber  von  allen  Urteilsfähigen  nur  für 
die  oberen  Klassen  berechnet.  So  bezeichnet  Luckenbach,  dem  wir  das  beste 
und  technisch  vollendetste  Werk  für  die  Schule  verdanken,  dasselbe  ausdrücklich 
als  'Abbildungen  zur  alten  Geschichte  für  die  oberen  Klassen  höherer  Lehr- 
anstalten/ Die  unteren  gehen  demnach  leer  aus.  Ahnlich  verhalten  sich  die 
Leitfäden.  Beispielsweise  hat  Jäger  seine  gröfseren  Darstellungen  der  grie- 
chischen und  römischen  Geschichte  mit  Bildern  begleitet,  im  kleinen  Hilfsbuch 
für  Quarta  aber  keine  gegeben.  Und  allerdings,  antike  Kunstwerke  braucht 
der  Quartaner  nicht,  wohl  aber  andere,  seinem  Verständnis  angemessene  An- 
schauungsbilder. Leider  aber  ist  da  noch  recht  wenig  vorhanden.  Die  Lehmann- 
schen  Wandbilder  berücksichtigen  das  Altertum  fast  gar  nicht.  Und  doch  hat 
der  Erfolg,  den  sie  in  der  Geschichte  des  Mittelalters  und  der  Neuzeit  er- 
rungen haben,  unzweifelhaft  bewiesen,  dafs  sie  einem  allgemeinen  Bedürfnis 
entgegenkamen.  Unter  den  Hilfsbüchern  ist  meines  Wissens  nur  eins  (von 
Andrae),  das  den  Versuch  gemacht  hat,  einige  'kulturgeschichtliche'  Abbildungen 
hinzuzufügen.   Ich  habe  —  allerdings  in  einer  höheren  Töchterschule  —  dafür 


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G.  Schulte:  Bemerkungen  zum  Anschauung»-  und  Kunstunterricht  auf  dem  Gymnasium  551 

immer  das  gröfste  Interesse  gefunden,  obgleich  die  technische  Ausführung  noch 
viel  zu  wünschen  übrig  lafst.  Jedenfalls  zeigt  die  Erfahrung,  dafs  derartige 
Bilder  für  die  unteren  und  mittleren  Klassen  das  Richtige  sind. 

Vielleicht  könnte  man  nun  sagen,  dafs  die  Schüler  die  notigen  An- 
schauungen im  lateinischen  Anfangsunterricht,  zu  dem  ich  jetzt  übergehe, 
schon  in  Sexta  und  Quinta  erworben  haben  müfsten,  wo  sie  zuerst  mit  den 
betreffenden  Stoffen  in  Berührung  getreten  sind.  In  der  Hauptsache  ist  das 
gewifs  richtig.  Es  ist  kein  Zweifel,  dafs  vom  pädagogischen  Standpunkt  gerade 
in  den  untersten  Klassen  die  'Verwendung  von  Anschauungsmitteln  nicht  dringend 
genug  empfohlen  werden  kann*.  Leider  aber  stofsen  wir  hier  auf  eine  noch 
viel  gröfsere  Lücke,  als  im  Geschichtsunterricht.  Der  Sextaner  hört  von 
Göttern  und  Tempeln,  von  Häusern  und  Säulenhallen,  von  Waffen  und  Kleidungs- 
stücken, von  denen  er  keine  Vorstellungen  hat.  Er  lernt  tote  Worte,  bei  denen 
er  nichts  denkt.  Das  sollte  aber  nicht  so  sein.  Es  ist  fast  wunderbar,  dafs 
bisher  erst  ein  Versuch  gemacht  ist,  gründliche  Abhilfe  zu  schaffen,  indem 
grundsätzlich  überall  das  anschauliche  Bild  dem  Worte  beigesellt  wird.  Das 
hat  L.  Gurlitt  in  seiner  Fibel  für  Sexta  durchgeführt,  zu  der  eben  auch  das 
Heft  für  Quinta  sich  gesellt  hat.  Der  Gedanke  ist  gewifs  der  ernstesten  Be- 
achtung und  Prüfung  wert.  Freilich  scheint  vorläufig  die  Macht  der  Gewohn- 
heit noch  gröfser  zu  sein  als  alle  Lehren  der  Pädagogen,  öfters  habe  ich  die 
Frage  gehört:  Sollen  denn  die  Sextaner  durch  die  Bilder  wirklich  besser  Latein 
lernen?  Damit  haben  die  Bilder  in  erster  Linie  doch  gar  nichts  zu  thun; 
nebenbei  glaube  ich  allerdings,  dafs  mit  der  lebhafteren  Auffassung  der  Dinge 
auch  die  Aneignung  der  Worte  erleichtert  und  das  Interesse  für  den  Unterricht 
gesteigert  werdVi  wird.  Freilich  darf  man  an  die  Bilder  keinen  künstlerischen 
Mafsstab  legen.  Sie  müssen  manches  weglassen,  manches  in  den  Vordergrund 
stellen,  was  nur  den  Zwecken  des  Unterrichts  dient.  Hier  ist  der  Punkt,  wo 
noch  Erfahrungen  gemacht  werden  müssen:  das  Prinzip  aber  halte  ich  für 
unanfechtbar  richtig.1) 

Gehen  wir  nun  zu  den  mittleren  und  oberen  Klassen  über,  die  den  Schüler 
mit  den  alten  Schriftstellern  selbst  bekannt  machen.  Gewifs  gilt  hier  der 
Satz,  es  sei  ein  schlechter  Schriftsteller,  der  nicht  aus  sich  selbst  verstanden 
werden  könne.  Die  Schilderungen  Homers  und  die  Szenen  der  Tragiker  be- 
dürfen für  das  Verständnis  keiner  Illustration.  Wohl  aber  bedarf  die  Welt, 
in  der  der  Schriftsteller  lebt  und  die  er  als  bekannt  voraussetzt,  die  aber  der 
Schüler  nicht  kennt,  der  Veranschaulichung.  Dazu  genügt  ganz  weniges.  Bei 
Cäsar  brauchen  wir  das  römische  Heer  auf  dem  Marsch  und  im  Lager,  bei 
Xenophon  ebenso  das  griechische  Heer,  bei  Homer  kämpfende  Krieger,  Häuser 
und  Schiffe,  bei  den  Tragikern  ein  Theater  und  Schauspieler.  Und  zwar 
brauchen  wir  das  alles  in  moderner  Weise  dargestellt,  wie  es  ehemals  war, 
in  Leben  und  Wirklichkeit.  Man  hat  versucht,  hier  den  Schülern  Abbildungen 
nach  antiken  Originalen  vorzuführen,  und  dabei  manchen  Mifsgriff  gemacht. 

')  Ich  will  aus  meinem  Herzen  keine  Mördergrube  machen:  ich  halte  die  Gurlittache  Fibel 
för  einen  argen  Mifsgriff,  was  ich  gelegentlich  näher  begründen  werde.  —  Der  Redakteur. 


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552   G  Schultz:  Bemerkungen  zum  Anschauung*-  und  Kunntunterricht  auf  dem  Gymnasium 

Man  sehe  z.  B.  das  Wörterbuch  zu  Casars  Gallischem  Krieg,  das  Polaschek 
bei  Freytag-Tempski  hat  erscheinen  lassen.  Er  verwendet  da  eine  Reihe  Reliefs 
von  der  Trajanssäule.    Was  ist  die  Folge?    Einerseits  werden  die  Tertianer 
eine  üble  Vorstellung  von  der  alten  Kunst  bekommen.    Denn  auch  sie  sehen 
die  schlechte  Perspektive,  die  Fehler  in  den  GröfsenverhäMtnissen,  die  un- 
geschickte Verteilung  der  Figuren;  lachen  werden  sie  über  das  Bild  auf 
S.  34:  Stationes  et  castella  cum  ignibus.  Anderseits  bekommen  sie  doch  keine 
richtige  Vorstellung  von  den  Dingen.    Denn  sie  haben  nicht  die  Kraft  und 
Übung  der  Phantasie,  um  sich  aus  dem  schlechten  Reliefstil  ein  Bild  der 
Wirklichkeit  herzustellen.  —  Noch  schlimmer  hat  man  bei  Homer  geirrt. 
Indem  man  die  Antike  um  jeden  Preis  in  die  Schule  einführen  wollte,  hat 
man  mit  emsigem  Fleifs  alles  gesammelt,  was  mit  dem  Inhalt  der  Homerischen 
Gesänge  sich  berührt,  Münzen  und  Vasenbilder,  Wandgemälde  und  Trink- 
becher, nichts  fehlt.    Hier  hat  die  Praxis  schon  gerichtet,  indem  sie  solchen 
Vorschlägen  kein  Gehör  gab.   Aber  selbst  ein  Buch  mit  so  mafsvollem  Bilder- 
schmuck, wie  Henke s  Hilfsheft  zu  Homer,  das  bei  Teubner  erschienen  ist, 
scheint  mir  mit  der  Nachbildung  von  Vasenbildern  in  die  Irre  zu  gehen. 
Jeder,  der  einmal  archäologische  Übungen  mitgemacht  hat,  weifs  aus  Erfahrung, 
wie  langsam  man  sich  in  den  Stil  und  die  Auffassung  der  Vasenbilder  hinein- 
sieht.   Der  Schüler  wird  sie  überhaupt  nicht  verstehen.    Von  dem  wissen- 
schaftlichen Interesse,  das  sie  erregen,  hat  er  keine  Ahnung;  von  Schönheit 
kann  meist  keine  Rede  sein,  wenn  auch  die  naive  Darstellung  und  mancher 
hübsche  Zug  dem  Kundigen  Vergnügen  macht.    Was  soll  ein  Schüler  mit 
der  XQHSßtia  XQog  'JxikUtt,  wo  Achill  beim  Abendbrot  sitzt  mit  dem  Messer 
in  der  Hand,  während  Hektors  Leiche  unter  der  Kline  liegt?     Gesetzt,  er 
sieht  die  steifen  Figuren  mit  den  eckigen  Bewegungen  ohne  Lächeln  an,  so 
hat  er  doch  weder  Gewinn  für  das  Verständnis  des  Schriftstellers  —  denn  dieser 
erzählt  anders,  noch  für  seinen  Schönheitssinn  —  denn  das  Bild  wird  nie- 
manden mit  ästhetischer  Begeisterung  erfüllen,  noch  endlich  für  seine  sach- 
liche Vorstellung  —  denn  er  sieht  Athener  des  5.  Jahrhunderts  und  nicht  Ho- 
merische Helden.     Will  man  Homer  benutzen,  um  im  Anschlufs  an  einige 
Stellen  wirkliche  antike  Kunstwerke  zu  zeigen,  so  wird  man  deren  sehr  wenige 
finden.    Will  man  die  Kultur  der  Homerischen  Welt  zur  Anschauung  bringen, 
was  ja  wohl  schon  einigermafsen  möglich  ist,  so  stelle  man  Bilder  her,  in 
denen  die  erhaltenen  Trümmer  wissenschaftlich  zu  neuem  Leben  erweckt  sind. 

Für  die  übrigen  Schulschriftsteller  sind  ähnliche  Zusammenstellungen  meines 
Wissens  nicht  unternommen.  Wohl  aber  hat  man  systematisch  gesammelt, 
was  der  Schüler  an  Anschauungsmaterial  braucht.  So  ist  der  Schreibersche 
Bilderatlas  entstanden,  der  weit  über  die  Bedürfnisse  der  Schule  hinausgeht, 
so  der  Leitfaden  der  griechischen  und  römischen  Altertümer  von  Wagner- 
Kobilinski,  der  24  Tafeln  enthält.  So  sorgfältig  und  sachkundig  hier  nun 
auch  ausgewählt  sein  mag,  so  habe  ich  doch  wieder  die  Empfindung,  dafs  zu 
viel  archäologisches  Rohmaterial  gegeben  ist.  Wozu  dienen  beispielsweise  die 
beiden  Ansichten  des  Parthenon  in  seinem  jetzigen  Zustande  (Taf.  IX)  neben 


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6.  Schultz  :  Bemerkungen  zum  Anschauung»-  und  Kunstunterricht  auf  dem  Gymnaaium  553 


der  Rekonstruktion  (Taf.  VIII)?  Einen  wie  schlechten  Eindruck  machen  die 
Trümmer  der  Propyläen  neben  der  Altis  von  Olympia  (Taf.  X)!  Wozu  wird 
das  Bild  des  heutigen  Forums  von  Rom  vorgeführt?  Man  will  die  Macht  und 
Herrlichkeit  der  weltbeherrschenden  Stadt  zeigen  und  zeigt  einen  traurigen 
Trümmerhaufen!  Ferner,  die  Sammlung  von  verschiedenen  Formen  der  Fufs- 
bekleidung  und  der  Kopfbedeckung  ist  gewifs  lehrreich.  Aber  wäre  es  nicht 
eindrucksvoller,  wenn  ganze  Menschen  in  voller  Bekleidung  daständen?  Auch 
hier  sollte  das  wissenschaftliche  Präparat  verschwinden  und  das  Leben  selbst 
angeschaut  werden.  Endlich  drängt  sich  die  Beobachtung  auf,  dafs  auf  den 
24  Tafeln  sich  kaum  2  oder  3  Werke  der  Plastik  finden,  die  als  Kunst- 
werke gelten  können.  Auch  hier  bestätigt  sich,  dafs  bei  der  Lektüre  der 
Schulschriftsteller  sich  nur  selten  und  ausnahmsweise  die  Nötigung  ergiebt, 
die  Meisterwerke  der  Plastik  heranzuziehen. 

Zu  diesen  Ausnahmen  gehören  zwei  Kategorien,  die  Porträts  und  die 
Götterbilder.  Von  Porträts,  die  die  Schule  angehen,  sind  aber  nur  sehr  wenige 
erhalten,  und  die  Köpfe  der  Götter  können  nur  in  den  oberen  Klassen  gezeigt 
werden,  weil  sie  für  die  unteren,  wie  ich  aus  Erfahrung  weifs,  zu  schwierig  sind. 

Im  ganzen  wird,  wie  ich  glaube,  unsere  Umschau  ergeben  haben,  dafs 
Anschauungsmaterial  zwar  für  alle  Klassen  notwendig  ist,  dafs  aber  Nach- 
bildungen von  antiken  Originalen  dazu  nur  selten  zweckmäfsig  verwendet  wer- 
den können.  Vielmehr  müssen  zum  Gebrauch  im  Geschichtsunterricht  und  in 
der  fremdsprachlichen  Lektion  besondere  Anschauungsbilder  hergestellt  werden. 
Viel  brauchen  es  nicht  zu  sein.  Dafür  wünschte  ich,  dafs  sie  in  doppeltem 
Format  vorhanden  wären,  als  Wandbilder  und  in  Buchgröfse  für  die  Hand  des 
Schülers.  Auf  keinen  Fall  kann,  wie  aus  den  vorhandenen  Proben  hervor- 
geht, der  Anschauungsunterricht  benutzt  werden,  um  die  Schüler  in  die  antike 
Kunst  einzuführen.  Im  Gegenteil,  wenn  nach  all  den  hohen  Worten  von  der 
Herrlichkeit  der  alten  Kunst,  die  der  Schüler  hört,  ihm  so  viel  minderwertige 
Werke  gezeigt  werden,  so  mufs  er  Mifstrauen  fassen.  Er  wird  sich  sein  Urteil 
nach  dem  bilden,  was  er  sieht,  und  Abneigung  statt  Liebe  aus  der  Schule 
mitnehmen. 

Wir  müssen  also  diesen  Weg  verlassen,  wenn  wir  nicht  auf  die  alte  Kunst 
in  der  Schule  verzichten  wollen.    Und  das  wollen  wir  nicht. 

Bevor  ich  mich  aber  zu  der  Behandlung  der  alten  Kunst  selbst  wende, 
ist  eine  Vorfrage  zu  beantworten,  die  meist  übergangen  wird,  die  mir  aber 
nicht  unwichtig  erscheint.  Ist  nicht  eine  Vorbereitung  des  Schülers  für  die 
Betrachtung  von  Kunstwerken  nötig,  und  was  gehört  zu  ihr?  Natura  non 
facit  saltus,  der  Unterricht  soll  es  auch  nicht.  Was  nicht  vorbereitet  ist, 
schwebt  in  der  Luft.  Auch  praktische  Schulmänner  haben  wohl  gefühlt,  dafs 
hier  etwas  nötig  sei.  So  wurde  der  rheinischen  Direktoren- Versammlung  1896 
die  Frage  gestellt:  'In  welcher  Weise  und  in  welchem  Umfange  sind  An- 
schauungsmittel im  sprachlichen  und  geschichtlichen  Unterricht  wirkungsvoll 
zu  verwenden?  Wie  kann  dadurch  insbesondere  auch  die  Entwickelung  des 
Kunstverständnisses  vorbereitet  werden?'    Offenbar  meinte  die  Behörde,  dafs 


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554   G.  Schultz:  Bemerkungen  zum  Anschauung«-  und  Kunstunterricht  auf  dem  Gymnasium 


man  bei  Schülern  nicht  ohne  weiteres  Interesse  und  Aufnahmefähigkeit  für 
die  Kunst  voraussetzen  könne.    Und  ich  halte  das  für  sehr  richtig. 

Nun  gehört  zur  Auffassung  eines  Kunstwerkes  dreierlei:  das  Auge,  die 
Phantasie  und  ein  erregbares  Gefühl.  Das  Auge  führt  an  das  Werk  heran, 
die  Phantasie  dringt  in  sein  Inneres  hinein,  das  Gefühl  ergreift  die  Stimmung, 
die  von  ihm  ausströmt. 

Zunächst  mufs  also  das  Auge  geschult  werden.  Dazu  dient  in  erster  Linie 
das  Zeichnen,  dessen  Wichtigkeit  allerdings  oft  überschätzt  wird.  Man  hat  be- 
kanntlich den  Unterricht  darin  zu  einer  vollständigen  Unterweisung  in  der 
Kunst  und  ihrer  Geschichte  ausbilden  wollen.  Dagegen  ist  schon  der  äufsere 
Grund  geltend  zu  machen,  dafs  doch  nur  verhältnismäfsig  wenig  Schüler  sich 
daran  beteiligen.  Und  obgleich  Theoretiker,  wie  Konrad  Lange,  und  Prak- 
tiker, wie  Baumeister  und  Frick,  ihre  Stimme  dafür  erhoben  haben,  wird  das 
Zeichnen  in  absehbarer  Zeit  nicht  obligatorisch  gemacht  werden  können,  weil 
die  Zeit  fehlt.  Es  ist  aber  auch  in  seiner  Wirkung  überschätzt  worden.  Das 
Zeichnen  bildet  das  Auge,  vor  allem  aber  die  Hand,  und  die  brauchen  wir 
nicht,  um  ein  Kunstwerk  zu  geniefsen.  Wenn  wir  es  auch  ganz  genau  kopieren 
könnten,  so  würde  seine  Wirkung  auf  uns  doch  kaum  erhöht  werden.  Es  ist 
wie  in  der  Musik;  es  giebt  sehr  musikalische  Menschen,  die  eine  grofse 
Empfänglichkeit  besitzen,  ohne  ein  Instrument  spielen  zu  können.  Immerhin 
werden  wir  die  Hilfe  des  Zeichnens  nicht  entbehren  wollen. 

Das  Auge  kann  aber  auch  noch  auf  andere  Weise  gebildet  werden,  in- 
dem der  oben  geforderte  Anschauungsunterricht  grundsätzlich  dazu  ausgenützt 
wird.  Man  darf  sich  nicht  begnügen,  die  Bilder  kurz  vorzuzeigen  und  dann 
in  die  Klasse  zu  hängen.  Jedes  Bild  mufs  eingehend  beschrieben  werden, 
nicht  vom  Lehrer,  sondern  von  den  Schülern.  Jeder,  der  es  versucht  hat, 
weifB,  wie  schwer  es  ihnen  wird,  zu  sehen,  was  eigentlich  dargestellt  ist;  ungefähr 
so  schwer  wie  bei  einem  Lesestück,  zu  erfassen,  was  darin  gesagt  ist.  Aber 
wie  der  Lernstoff  eines  Bildes  nur  auf  die  angegebene  Weise  wirklich  an- 
geeignet werden  kann,  so  kann  auch  nur  so  das  Auge  geschult  werden.  Schon 
längst  läfst  man  Beschreibungen  von  Bildern  als  Aufsätze  anfertigen;  für  die 
mittleren  Klassen  ist  es  in  den  Lehrplänen  sogar  vorgeschrieben.  Das  ist  eine 
sehr  nützliche  Übung,  die  auch  in  den  oberen  Klassen  noch  öfters  gefordert 
werden  sollte.    Leicht  ist  eine  gute  Beschreibung  ja  niemals. 

Die  Betrachtung  der  Anschauungsbilder  übt  aber  nicht  blofs  das  Auge, 
sondern  auch  die  Phantasie.  Hierin  ist  sie  dem  Zeichnen  unzweifelhaft  über- 
legen. Mag  uns  ein  solches  Bild  ein  geschichtliches  Ereignis  vorführen  oder 
einen  Vorgang  aus  dem  Leben,  z.  B.  ein  Opfer  oder  ein  Leichenbegängnis, 
überall  haben  wir  Menschen  vor  uns  in  bestimmten  Stellungen.  Ihr  Gesichts- 
ausdruck, ihre  Bewegungen  verraten  bestimmte  Absichten  und  Gefühle,  die  der 
Schüler  verstehen  mufs.  Er  wird  gezwungen,  sich  in  die  Handlung  hinein- 
zudenken, den  Anteil  der  einzelnen  Personen  zu  bestimmen,  kurz  —  seine 
Phantasie  zu  gebrauchen.  Unzweifelhaft  ist  das  schon  ein  Übergang  zur  Auf- 
fassung eines  wirklichen  Kunstwerkes. 


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G.  Schultz :  Bemerkungen  zum  Anschauung«-  und  Kunstunterricht  auf  dem  Gymnasium  555 

Am  schwierigsten  scheint  es  mir,  über  die  ästhetischen  Gefühle  der  Schüler 
und  deren  Ausbildung  zu  reden.  Sie  erwachen  wohl  erst  in  der  Zeit  der 
Pubertät.  Wie  in  dieser  Periode  die  Lesewut  viele  Kinder  ergreift,  ein  Heifs- 
hunger  nach  geistiger  Nahrung,  so  dafs  sie  nicht  genug  Bücher  verschlingen 
können,  so  ergreift  sie  auch  häufig  ein  kaum  zu  stillender  Drang  nach  Bildern. 
Sie  nehmen  alles,  was  sie  bekommen  können.  Sicher  liegt  hier  ein  starkes 
Bedürfnis  vor  und  sind  auch  Gefühle  der  Lust  und  Unlust  vorhanden.  Aber 
diese  Gefühle  sind  noch  sehr  unklar  und  treten  ebenso  heftig  wie  einseitig 
aof.  Hier  braucht  von  einer  Vorbereitung  nicht  mehr  die  Rede  zu  sein,  hier 
kann  die  echte  Kunst  selbst  eintreten. 

Der  Unterricht,  der  sich  mit  der  alten  Kunst  beschäftigt,  mufs  die  Schüler 
in  den  Stand  setzen,  die  Kunstwerke  geistig  als  solche  zu  erfassen  und  mit 
ästhetischem  Genufs  zu  betrachten.  Er  kann  daher  nur  in  den  obersten  Klassen 
stattfinden;  denn  nur  hier  finden  Bich  die  geistige  Reife  und  die  sachlichen 
Vorkenntnisse.  Das  Haupthindernis  für  ihn  liegt  in  dem  Mangel  an  Zeit. 
Ein  bestimmter  Platz  in  dem  Fachwerk  der  Schule  mufs  für  ihn  angewiesen 
werden,  weil  er  ohne  Stetigkeit  und  Regelmüfsigkeit  keinen  Erfolg  haben 
kann.  Mit  Vorliebe  hat  man  ihn  früher  mit  der  alten  Geschichte  verbunden. 
Es  sollten  bei  jedem  Abschnitt  der  politischen  Entwicklung  die  wichtigsten 
Werke  der  Baukunst  und  Plastik,  dazu  für  die  neuere  Zeit  auch  die  der 
Malerei  vorgelegt  werden.  Nach  dieser  Methode  müfste  die  alte  Kunst  gegenwärtig 
in  Obersekunda  behandelt  werden.  Indessen  weifs  jeder,  dafs  die  vorhandene 
Zeit  nicht  einmal  für  die  Geschichte  selbst  ausreicht,  so  dafs  es  schlechterdings 
unmöglich  ist,  hier  einige  Wochen  für  andere  Zwecke  zu  erübrigen.  Ich  würde 
es  auch  bedenklich  finden,  wenn  die  Prima  bei  vorgeschrittener  Reife  ganz 
leer  ausginge.  Am  wichtigsten  aber  scheint  mir,  dafs  die  Besprechung  der 
Kunstwerke  in  unserem  Sinne  mit  der  Geschichte  eigentlich  gar  nichts  zu  thun 
hat.  Wir  wollen  doch  erst  das  Sehen  der  Werke  lehren  und  dabei  Verständnis 
und  Liebe  für  die  Kunst  wecken.  Die  geschichtliche  Auffassung  ist  etwas 
Späteres,  das  naturgemäß  nachfolgt.  Es  ist  hier  doch  nicht  anders,  als  bei 
den  Werken  der  Schriftsteller,  die  man  in  der  Schule  stets  einzeln  behandelt, 
indem  man  die  Zusammenfassung  einer  höheren  Stufe  überläfst. 

Inhaltlich  steht  der  Kunstunterricht  jedenfalls  am  nächsten  der  griechischen 
Lektüre  in  Prima.  Hier  hört  der  Schüler  in  Worten,  was  er  dort  in  Formen 
sieht.  Die  Werke  des  Thukydides,  Plato,  Demosthenes  atmen  denselben  Geist 
des  griechischen  Bürgertums,  der  die  schönsten  Jünglingsgestalten  und  den  Fries 
des  Parthenon  belebt,  den  Geist  einer  unter  dem  Gesetz  entwickelten,  kraft- 
vollen Freiheit.  Den  Höhepunkt  erreicht  die  Litteratur  in  der  attischen  Tragödie. 
Sie  stellt  das  Höchste  und  das  Tiefste  dar,  die  wundervolle  Götterwelt  in 
seliger  Schönheit,  das  stolze  und  doch  so  schwache  Menschengeschlecht  in 
seinem  Streben  und  Straucheln.  Wo  giebt  es  etwas  Ahnliches,  als  in  den 
Meisterwerken  des  Plastik?  Demnach  wäre  es  das  beste,  wenn  die  darstel- 
lende Kunst  auch  im  Unterricht  mit  der  griechischen  Lektion  in  Prima  ver- 
bunden werden  könnte.    Freilich  werden  nicht  viele  Lehrer  unter  den  jetzigen 


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556   O-  Schultz:  Bemerkungen  zum  Anschauung«-  und  Kunstunterrieht  auf  dem  Gymnasium 

Verhältnissen  Zeit  dazu  hergeben  wollen  oder  —  können.  Denn  streichen 
kann  man  von  der  Lektüre  kaum  etwas.  Zu  einer  fruchtbringenden  Betrach- 
tung der  Kunstwerke  aber  gehört  Zeit,  sogar  ziemlich  viel  Zeit.  Es  wird 
also  nichts  übrig  bleiben,  als  in  Unterprima  eine  besondere  Stunde  dafür  zuzu- 
setzen, was  in  dieser  Klasse  kaum  Schwierigkeiten  machen  könnte.  Vor  Über 
bürdung  braucht  man  sich  nicht  zu  fürchten,  da  die  häuslichen  Arbeiten  nicht 
vermehrt  werden.  Es  ist  sehr  erfreulich,  dafs  die  Behörden  in  Elbing  einen 
Versuch  bereits  gestattet  haben,  und  nur  bedauerlich,  dafs  der  betreffende  Be- 
richt in  dem  Programm  von  1897  so  kurz  ausgefallen  ist  Sollten  diese  Ver- 
suche zu  keiner  dauernden  Einrichtung  führen,  müfste  man  sich  vorläufig  nach 
dem  Rate  Guhrauers  richten  und  in  bestimmten  Stunden  regelmäßig  am  An- 
fang oder  Ende  des  Unterrichts  ein  Bild  vorlegen.  Das  könnte  aber  nur  ein 
Behr  energischer  und  zielbewufster  Lehrer  durchführen. 

Eine  zweite  Schwierigkeit  für  die  Einführung  des  Kunstunterrichte  liegt 
in  der  Beschaffung  des  Anschauungsmaterials.  Für  die  Architektur  möchte 
wohl  ausreichend  gesorgt  sein.  Hinweisen  möchte  ich  bei  dieser  Gelegenheit 
besonders  auf  die  vorzüglichen  farbigen  Tafeln  im  2.  Cyklus  der  Seemannschen 
kunsthistorischen  Bilderbogen.  Aber  die  Plastik?  Da  läist  sich  doch  nicht 
leugnen,  dafs  Gipsabgüsse  das  Beste  sind  und  bleiben.  Die  wichtigsten  Köpfe 
wenigstens  müssen  in  Gips  vorhanden  sein.  Ich  bin  auch  überzeugt,  dafs 
sie  sich  bei  einigem  guten  Willen  beschaffen  lassen.  Die  Kosten  sind  nicht 
so  grofs,  dafs  man  nicht  im  Laufe  von  einigen  Jahren  6 — 8  Stück  zusammen- 
bringen konnte.  Vielleicht  könnten  die  Behörden  hierin  auch  helfen,  indem 
sie  in  den  staatlichen  Gipsgiefereien  Exemplare  herstellen  lassen.1)  Solche 
Köpfe  müssen  dann  dauernd  in  den  Klassenräumen  oder  in  der  Aula  aufgestellt 
werden. 

Für  die  grofse  Menge  der  Werke  werden  wir  freilich  immer  auf  bildliche 
Reproduktionen  angewiesen  werden.  Aber  hier  hat  die  moderne  Technik  Fort- 
schritte gemacht,  die  sich  noch  vor  20  Jahren  kaum  ahnen  liefsen.*).  Neben 
Seemanns  Tafeln  für  das  ganze  Gebiet  der  Kunstgeschichte  sind  für  die 
griechische  Plastik  an  technisch  erster  Stelle  zu  nennen  die  'Denkmäler  grie- 
chischer und  römischer  Skulptur'  von  Furtwängler-Urlichs.  Diese  sind 
zwar  immer  noch  nicht  grofs  genug,  aber  da  sie  vorläufig  das  Beste  sind, 
was  wir  haben,  auch  durch  die  Buchausgabe  für  die  Schulen  sehr  bequem 
brauchbar  geworden  sind,  so  werde  ich  an  sie  im  folgenden  die  Ausstellungen 
anknüpfen,  die  mir  vom  Standpunkt  des  Unterrichts  nötig  erscheinen.  Es 


l)  Der  vortreffliche  Kopf  des  alternden  Cäsar  kostet  in  der  Kgl.  Giefserei  in  Charlotten- 
burg 7,50  Mk.  Der  Selbstkostenpreis  ist  natürlich  noch  geringer.  Warum  findet  man 
übrigens  diesen  besten  aller  Casarköpfe  in  keiner  Schulausgabe? 

*)  Dem  8kioptikon  stehe  ich  noch  mifstrauisch  gegenüber,  weil  es  die  Bilder  nur  für 
kurze  Zeit  erscheinen  läfst  Aufserdem  ist  es  noch  zu  teuer  und  selbst  Klein,  der  es  am 
eifrigsten  empfohlen  hat,  giebt  in  seinem  neuesten  Programm,  Bremerhaven  1899,  an,  daf» 
die  Bilder  noch  nicht  kraftig  genug  gewesen  seien.  Nutzen  wird  der  Apparat  wohl  nur 
für  Vortrage  in  gröTseren  Baumen  haben,  die  abends  stattfinden. 


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I 


O.  Schulte:  Bemerkungen  «um  Anschauung«-  und  Kunstunterricht  auf  dem  Gymnasium  557 


handelt  sich  dabei  um  die  Auswahl  und  Anordnung  des  Stoffes.  Die  Haupt- 
vertreter des  Kunstunterrichts,  wie  Menge  und  Baumeister,  haben  die  histo- 
rische Reihenfolge  vorgeschlagen,  wohl  weil  sio  die  Verknüpfung  mit  dem 
Geschichtsunterricht  im  Sinne  hatten.  Die  meisten  Programme  haben  sich  an- 
geschlossen. Grundsätzlich  hat  meines  Wissens  noch  niemand  widersprochen.1) 
Allerdings  erklären  die  meisten,  dafs  keine  Kunstgeschichte  getrieben  werden 
soll,  halten  aber  doch  die  geschichtliche  Folge  für  die  bequemste.  Mir  scheint 
sie  weder  bequem  noch  praktisch,  wenn  wir  als  Ziel  die  ästhetische  Betrach- 
tung aufstellen.  In  der  Schule  dürfen  wir  keine  Archäologen  sein.  Die 
Wissenschaft  verarbeitet,  was  ihr  der  Boden  beschert,  mit  Gleichmut  ohne  Er- 
regung, aber  für  die  Schule  hat  nur  das  Vollkommene  Geltung.  Nur  das  vollendete, 
von  allen  Schlacken  gereinigte  Werk  vermag  die  Bewunderung  zu  entzünden, 
die  wir  wünschen.  Man  lasse  also  alles  Archaische  ganz  und  gar  beiseite! 
Was  soll  der  Apollo  von  Tenea  in  der  Schule?  Selbst  die  Ägineten  könnten 
nur  unter  dem  Gesichtspunkt  zugelassen  werden,  dafs  sie  eine  leicht  über- 
sichtliche Giebelgruppe  geben.  Wenn  aber  Furtwängler  nur  die  vier  Figuren 
der  Mittelgruppe  giebt,  so  ist  damit  nichts  anzufangen. 

Statt  der  historischen  Reihenfolge  nehme  man  eine  andere,  die  vom  Leich- 
teren zum  Schwereren  aufsteigt.  Die  Grundlage  mufs  die  Darstellung  des 
menschlichen  Körpers  bilden.  Dazu  diene  der  Doryphoros  und  Apoxyomenos, 
der  werfende  und  der  stehende  Diskobol,  als  Ergänzung  der  betende  Knabe. 
Dafs  unsere  turngeübte  Jugend  Interesse  und  Verständnis  für  den  Körper  hat, 
wird  niemand  bezweifeln.  Ferner  sind  die  genannten  Statuen  sämtlich  Kunst- 
werke ersten  Ranges.  Mit  Schmerzen  bemerkt  man  also,  dafs  in  der  Münchener 
Sammlung  aufser  dem  Apoxyomenos  nicht  eine  zu  finden  ist.  —  Es  folgt  die 
Betrachtung  des  Gewandes.  Das  männliche  wird  am  besten  an  den  Porträt- 
statuen erläutert,  das  weibliche  an  der  Frauengruppe  aus  dem  Ostgiebel  des 
Parthenon  und .  einer  Korafigur  vom  Erechtheion.  Erst  dann  kann  man  zu 
den  Götterbildern  übergehen.  Hier  strebt  die  Bildung  des  Körpers  nicht  mehr 
nach  der  Darstellung  des  Normalen,  sondern  sucht  das  Charakteristische.  Die 
Proportionen,  noch  mehr  die  Bewegungen  werden  bedeutungsvoll,  vor  allen 
Dingen  aber  spiegelt  sich  das  Wesen  des  Gottes  im  Kopfe.  Diesen  richtig 
aufzufassen  ist  die  schwierigste  Aufgabe.  Am  förderlichsten  wird  dabei  stete 
Vergleichung  sein.  Sie  ist  schon  sonst  gelegentlich  empfohlen,  ich  möchte  sie 
grundsätzlich  Überall  fordern.  Die  Linien  eines  Kopfes  aufzufassen  und  sprach- 
lich auszudrücken,  ist  schwer,  manchmal  unmöglich.  Stellt  man  mehrere  zu- 
sammen, so  wird  sowohl  das  Auge  als  auch  die  Sprache  viel  leichter  das 
Richtige  finden.  Von  Zeus  der  Anfang.  Will  man  neben  die  Maske  von 
Otricoli  nicht  die  elische  Münze  legen,  so  benütze  man  den  Asklepios.  Für 
Hera  sind  die  Köpfe  der  Hera  Farnese  und  der  Juno  Ludovisi  am  ausdrucks- 
vollsten. Bei  Athena  ist  man  nicht  in  Verlegenheit.  Für  Apollo  sind  2  Typen 

')  Nach  Abschlufs  der  Arbeit  Behe  ich,  dafs  es  Monte  Müller  thut  in  der  Programm- 
abhandlung:  Bildende  Kunst  im  Gymnaaialunterricht  Bautzen  1899.  leb  freue  mich,  mit 
ihm  in  den  meinten  Punkten  iibereinzuütiumien. 


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558    Ci.  Schult» :  Bemerkungen  zum  Anschauung»-  and  Kunstunterricht  auf  dem  Gymnasium 

ausgeprägt,  desgleichen  für  Dionysos.  Ich  denke,  dafs  man  auf  diese  Weise 
bessere  Erfolge  erzielen  wird,  als  wenn  man  beispielsweise  den  olympischen 
Zeus  und  den  Apollo  Musagetes  unter  dem  5.  Jahrhundert  bespricht,  den  Zeus 
von  Otricoli  und  den  Apoll  vom  Belvedere  unter  dem  4.  Jahrhundert,  wie  es 
Furtwängler  -  Urlichs  thun.  Der  auffallendste  Mangel  ist  freilich  bei  ihnen, 
dafs  die  Juno  Ludovisi  ganz  fehlt.  In  einer  für  die  Sekule  bestimmten  Samm- 
lung ist  das  ein  fast  unbegreiflicher  Fehler. 

Auf  die  Einzelbilder  würden  dann  die  Gruppen  folgen,  von  denen  sich  die 
Eirene  und  der  Hermes  des  Praxiteles  bequem  an  die  Götterbilder  anachliefsen. 
Endlich  würden  die  Reliefs  betrachtet  werden  müssen,  der  Fries  des  Parthonon 
und  von  Pergamon,  sowie  einige  Grabmäler. 

Wenn  ich  hier  schliefse,  so  möchte  ich  doch  noch  ausdrücklich  hervor- 
heben, dafs  ich  im  vorhergehenden  zwar  meine  Bemerkungen  auf  die  antike 
Kunst  beschrankt  habe,  dafs  ich  aber  auch  die  Vorführung  der  mittelalter- 
lichen und  neuen  Kunst  für  notwendig  halte. 


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ANZEIGEN  UND  MITTEILUNGEN 


H  J.  MÜLLKH,  ChUSTIA!«  OsTKRMAJtXS  La  1  KIM 
SCHBsÜbCHQSBUCH.    N  I  I  i:  AcSOABX.  FÜKFTKB 

Tut:  Obbrskküwda  und  Prima.  Leipzig, 
B.  G.  Teubner  1899.  XI  u.  372  S.  8. 
So  lange  als  Zielleistang  im  Lateinischen 
bei  der  Reifeprüfung  die  Übersetzung  aus 
dem  Deutschen  bestehen  wird  —  und  das 
wird  hoffentlich  der  Fall  bleiben  — ,  so  lange 
niufs  den  Schülern  Gelegenheit  gegeben 
werden,  sich  darauf  vorzubereiten.  Die 
wenigen  schriftlichen  Arbeiten,  die  nach 
den  Lehrplänen  in  den  drei  oberen  Klassen 
geschrieben  werden,  reichen  dafür  nicht  aus, 
vielmehr  müssen  möglichst  häufige  münd- 
liche und  schriftliche  Übersetzungsübungen 
danebenhergehen.  Um  Zeit  zu  ersparen, 
wird  der  Lehrer  ein  Übungsbuch  verwenden. 
Dieses  mufs  aber  so  eingerichtet  Bein,  dafs 
er  bei  diesen  Übungen  in  der  Lage  ist,  die 
in  den  Vorklassen  von  den  Schülern  er- 
worbenen grammatischen  und  stilistischen 
Kenntnisse  durch  zusammenfassende  Be- 
merkungen und  den  Bedürfnissen  der  Lek- 
türe entsprechend  mafsvoll  zu  erweitern. 
Deshalb  ist  es  notwendig,  dafs  das  Buch 
auf  die  Grammatik  Rücksicht  nimmt.  Dieser 
Anschlufs  darf  aber  nicht  sklavisch  sein, 
sondern  mufs  den  Kenntnissen  der  Schüler 
der  oberen  Klassen  entsprechend  mehr  lose 
sein.  Diesen  Anforderungen  entspricht  das 
oben  genannte  Buch  in  hervorragendem 
MafBe.  Die  dargebotenen  übersetzungs- 
aufgaben,  die  sich  an  die  Klassenlektüre 
nicht  anlehnen,  zerfallen  in  zwei  Gruppen: 
die  eine,  deren  Aufgaben  auf  die  gram- 
matischen und  stilistischen  Bemerkungen  in 
den  Anhängen  zu  des  Verfassers  Grammatik 
Bezug  nehmen  oder  zu  den  entsprechenden 
Paragraphen  in  anderen  Grammatiken  in 
Beziehung  gesetzt  sind,  enthält  15  Stücke 
mit  Einzelsätzen  und  91  zusammenhängende 
Abschnitte;  die  andere  sogenannt«  freie  Auf- 
gaben, die  sich  nicht  an  einen  begrenzten 
grammatischen  oder  stilistischen  Lehrstoff 
anschliefsen. 

Die  Lesestücke  sind  mit  grofsem  Geschick 
zusammengestellt.   Der  Verf.  hat  solche  Ab- 


schnitte aus  der  Geschichte  ausgewählt,  die 
geeignet  sind,  die  durch  die  lateinische  und 
griechische  Lektüre  gewonnene  Kenntnis 
hervorragender  Staatsmänner,  Dichter  und 
Philosophen  und  der  politischen  und  geistigen 
Entwicklung  der  beiden  bedeutendsten  Völker 
des  Altertums  zu  vertiefen.  Ich  erwähne  bei- 
spielsweise 'die  Beschäftigung  mit  der  Philo- 
sophie in  Rom'  (12  Stücke),  'der  athenische 
Staat  im  Perikleischen  Zeitalter'  (10  Stücke), 
'Rom  im  Ciceronischen  und  Augusteischen 
Zeitalter'  (12  Stücke). 

Die  sprachliche  Darstellung  ist  ,  was  be- 
sonders hervorgehoben  zu  werden  verdient, 
gut  deutsch,  aber  auch  wieder  so  gehalten, 
dafs  die  Übersetzung  auch  von  einem  Durch- 
schnittsschüler, wenn  er  gewissenhaft  arbeitet, 
ohne  zu  grofse  Mühe  auch  privatim  geleistet 
werden  kann.  Unterstützung  findet  der 
Schüler  in  der  an  den  Anfang  des  Buches 
gestellten  Sammlung  von  1086  Phrasen  und 
in  der  Zusammenstellung  nicht  weniger 
synonymischer  Unterscheidungen,  auf  die  im 
Texte  durch  Sternchen  oder  Zahlen  hin- 
gewiesen wird.  Die  Phrasen  sind  aber  nicht 
ganz  neu,  sondern  dem  Schüler  in  dem  bis- 
herigen Unterricht  bekannt  geworden ;  er  er- 
hält hier  nur  Gelegenheit,  sie  wieder  auf- 
zufrischen. Der  Verf.  hat  oft  Veranlassung 
genommen,  den  Phrasen  feine  stilistische  Be- 
merkungen hinzuzufügen  und  damit  den 
seiner  Grammatik  gemachten  Vorwurf  ent- 
kräftet, als  ob  er  das  Niveau  des  grammati- 
schen Wissens  der  Schüler  herabdrücken 
wollte.  Seine  Grammatik  soll  nur  Lernbuch 
sein  und  enthält  nur  das,  was  der  Schüler 
auf  der  unteren  und  mittleren  Stufe  un- 
bedingt wissen  mufs.  In  diesem  5.  Teile 
findet  er  alle  die  Feinheiten  des  lateinischen 
Sprachgebrauches,  deren  Zusammenstellung 
den  Anhängern  der  Grammatik  von  Ellendt- 
Seyffert  als  Vorzug  des  Buches  gilt. 

Bei  dem  Umfange  des  Buches  ist  es  ganz 
natürlich,  dafs  nicht  jeder  Schüler  alle  Ab- 
schnitte übersetzen  wird;  aber  der  Inhalt  ist 
so  interessant,  dafs  er  von  jedem  kennen  ge- 
lernt und  eingeprägt  zu  werdeu  verdient. 


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560 


Anseigen  und  Mitteilungen 


Diesen  berechtigten  Wunach  des  Verf.  teile 
ich  von  Herzen. 

Diesen  6.  Teil,  den  der  Verf.,  ohne  auf 
Vorarbeiten  Ostermanns  zu  fufsen,  selb- 
ständig gearbeitet  hat,  der  das  ganze  Unter- 
richtswerk  auf  das  schönste  krönt,  bcgrilfse 
ich  mit  grofser  Freude;  von  seiner  Benutzung 
verspreche  ich  mir  nicht  nur  eine  Befestigung 
der  grammatischen  und  stilistischen  Kennt- 
nisse der  Schüler,  sondern  auch  eine  Bereiche- 
rung ihres  kulturgeschichtlichen  Wissens. 

Gotthold  Sachse. 

Iphiokxtk  aif  T actus,   ku  Schauspiel  vos 
Goethe  ,  bdited  with  iktsoductioe,  xotes 

AJTO  APPENDICE8  BY  KaXL  BbEUL,  LlTT.  D., 

Pb.  D. ,  Uxiykssity  Lectcreh  ix  Gebmas. 

Cambridge,  at  the  University  Press  1899. 
Diese  Iphigenie  -  Ausgabe  ist  vom  Ver- 
fasHer,  der  die  Stellung  eines  Lektors  für 
Deutsch  an  der  Universität  zu  Cambridge 
bekleidet,  für  Lehrer  des  Deutschen  in  Eng- 
land und  vorgeschrittenere  Schüler  und 
Studenten  bestimmt  Seine  Absicht  war, 
durch  eine  übersichtliche,  reichhaltige  Ein- 
leitung und  durch  sorgfältige  Anmerkungen 
das  Verständnis  des  Textes  möglichst  zu  er- 
leichtern, damit  im  Unterricht  zur  Pflege 
eines  sprachrichtigen  Vortrags  und  zur  Be- 
sprechung der  Charaktere  und  anderer 
Sachen  die  Zeit  nicht  fehle. 

Für  die  Einleitung,  die  eine  ausführ- 
liche Entstehungsgeschichte  des  Stückes  giebt 
sowie  die  Quellen  (besonders  die  Beziehungen 
zu  Euripides),  Nachahmungen  und  Über- 
setzungen, ferner  Metrum  und  Stil  u.  a.  be- 
handelt, sind  die  besten  Kommentare,  eine 
grofse  Zahl  Abhandlungen  und  selbst  Auf- 
sätze aus  litterarischen  Zeitschriften  mit 
Sachkenntnis  und  Geschick  verwertet  worden. 


Für  Engländer,  die  tiefer  in  das  Studium 
Goethes  eindringen  wollen,  enthält  der  An- 
hang sehr  eingehende  Litteraturverzeich- 
nisse,  in  denen  auch  die  einschlägigen 
Gymnasialprogramme  nicht  vergessen  sind.  ' 

Auch  die  Anmerkungen,  für  die  eben- 
falls gute  Hilfsmittel  benutzt  sind,  beweisen, 
dais  der  Verfasser  sein  Werk  für  Vor- 
geschrittenere bestimmt  hat:  er  erklärt 
sprachliche  und  sachliche  Schwierigkeiten 
sowie  Eigentümlichkeiten  in  Stil  und  Metrum, 
indem  er  die  älteren  Entwürfe  Goethe« 
(Proben  im  Anhang),  Euripidee,  Parallel- 
steilen  aus  anderen  Werken  Goethes  und 
aus  Schiller  geschickt  heranzieht;  der  Ver- 
fasser giebt  jedoch  nicht  grammatische 
Erklärungen  oder  Übersetzungen  ganzer 
Verse. 

Der  Text  der  Iphigenie  ist  nach  den 
neuesten  Hilfsmitteln  berichtigt  und  in  der 
neuen  Orthographie  gedruckt. 

Der  Verfasser  verspricht  auch  eine  Neu- 
bearbeitung der  besten  englischen  Über- 
setzung der  Iphigenie  von  William  Taylor 
of  Norwich,  1793,  die  das  Lob  eines  Henry 
Crabb  Robinson  erhielt. 

Im  ganzen  ist  die  Breulsehe  Ausgabe  ein 
sich  selbst  empfehlendes  Werk  deutschen 
Fleifses,  das  vortrefflich  geeignet  erscheint, 
gebildete  Engländer,  die  de«  Deutschen  ge- 
nügend kundig  sind,  in  das  Studium  eines 
der  edelsten  Werke  Goethes  und  in  die 
deutsche  Litteratur  der  Blütezeit  überhaupt 
einzuführen.  Die  Sprache  Breuls  ist  so 
fliefsend  und  klar,  dafs  sein  kleines  Werk, 
ganz  abgesehen  von  seinem  reichen  Inhalt, 
auch  für  Deutsche,  die  sich  im  Englischen 
nach  dieser  Seite  hin  vervollkommnen  wollen, 
von  groteem  Nutzen  sein  kann. 

Exxst  Maschxl 


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Crrlöfl  neu  U>ill|clm  Btolft  in  Dmaftt, 


.  j    Wie  stnfllrt  m  Philip? 

Zine  Hodegctik  für  Jünger  dieser  Wissenschaft 

^  Ton 

Wilhelm  Freund. 

Fünfte ,  Tennehrte  and  rerbesserte  Auflage, 
geh.  1  M.  60  Pfge.  —  geb.  2  M. 
Inhalt:  I.  Name,  Begriff  and  Umfang  der  Philologie. 
—  JJ.  Die  einteilten  Discipllnen  der  Philologie.  — 
III.  Vertheilung  der  Arbeit  de«  Philologie -Studireuden 
auf  6  Semost.  r.  —  IV.  Die  Bibliothek  dei  Philologie- 
Studirenden.  —  V.  Die  Meister  der  pbilolog.  Witten- 
«rhaft  in  alter  und  neuer  Zeit.  —  VI.  Die  gegenwärtigen 
Lehrer  der  klassischen  Philologie  an  den  Hochschulen. 


Cicero  historicus. 

Cicero1»  Geschichtsangaben  über  die  bedeutendsten 
griechischen  und  römischen  Staatsmänner,  Dichter, 
Historiker,  Philosophen,  Mathematiker,  Kedner 
und  Künstler.  Für  die  Schüler  der  Oberklasucn 
der  höheren  Lehranstalten  zur  Priratlektttre 
und  als  Vorschule  für  den  correcten  lateinischen 
Ausdruck  aus  Cicero's  Werken  gesammelt  und 
inhaltlich  geordnet  von 

Wilhelm  freund. 

Nebst  einem  phraseologischen  Glossar. 
Eleg.  geh.  2  M.— ,  geb.  2  M.  50  Pfge. 


Wilhelm  freund's 

$cd)s  'Sttfcfn 
ber  gricd)i|"rfjen,   römifdjen,  bcuifd)cnt 
engCtfcfjert,  fran3Öfifd)cn  u.  ifaricuifcfjcn 

literaturgeschichte. 

Für  den  Schul-  und  Selbstunterricht. 

Kritische  Sichtnng  dei  Stoffe«,  Auswahl  de«  Bedeutendsten, 
tachgomasse  Eintheilung  und  Gruppirung  desselben  nach 
Zeiträumen  und  Fächern  Uebcrstchtlichkeit  des  Uetammt- 
inhalta,  endlich  Angabe  der  wichtigsten  bibliographischen 
Notizen  waren  die  leiteuden  Grundsätze  bei  Ausarbeitung 
dieser  Literaturgeschichts-Ialcln.  Preis  jeder  einzelnen  50  Pfge. 


Msn  ^rimanrni  rmpfuljlcn! 

eine  met&obijd)  georbneie 
Uorbrreftung  für  Hit  3U)iturUiTitn-$)riifuitg. 

On  104  ttodjcnillayn  Briefen 
für  ben  jnjcijabriflfn  ^Jrimanercurfui 

Don  BHlftelm  Jrnmfc, 

ift  beUftänbla  erfcfiieiten  unb  fann  i«  nadj  ©unldi  brr  BeftrOet 
in  8  Cuartilfit  tu  je  3  SRarf  S6  Bfge.  ober  in  8  3«trgän8cn 
»u  je  15  Korr  belogen  »erben.  Qthci  Omrtaf  fomie  jebtr 
Jahrgang  roiib  aurb  etnjeln  abgegeben  unb  ift  burrb  jrbe  **itrf). 
banblunfl  Xeutfdilanb»  unb  bee  Builanbe«  ju  rrbalten,  irrige 
aueb  in  ben  gtanb  gefefct  ift.  bat  rrBc  Cstrtalbcft  )ur  «nfl*t 
unb  Vrtbtnummrrn  unb  Vrefarete  grutif  ju  liefern.  «ünfW 
Urtbrile  btr  angefelienften  griiftbriftm  ü6tt  bie  Srimo  fiebert 
auf  »«langen  gratii  $u  Zicnftcn 


fjm  Betloge  uon  B.  9.  Zeubner  tn  £etj>jig,  Boftftvoue  3 
ift  etfäjienen: 

Dr.  De  ©ocrnerS 

im  engften  «9nfd)tttg  nn  bie  Sfteuen  fiefyrüläne 

bearbeitet  mit  brfonbeter  BerudMta^tiaung  ber  Übungen  im  münb- 
lichen  unb  fdjrifiUdjen  freien  Qkbraud}  ber  Seratbr. 
Tie  aiifserorbrntlicb  nro&e,  flef)  flerig  melirenbe  Biuabl  Don 
einfürmmnrn  in  mehr  all  400  Stätten  mit  in#gt|amt  über  600 
ber  kerfrbirbritartigRrn  hsberen  unb  initiieren  rebranPtllrn  M  3n» 
nnb  flueUnbr»  bebrütet  einen  unerwartet  rafrbrn  (Erfolg  biefeS 
Uitterrid|i«rorrfra,  ber  bri  bet  fcorbflut  aller  unb  neuer  ttrfäjet- 
nungen  auf  birfrm  Sebiete  um  fo  bemerfenlitwiteT  ifl. 

■sVT  tFittIgt  Urteile  btn  Butsritätrn:  •  Tie  BoernrrfArii 
iSüctjer  fiub  ein  aans  botAüfllirhe-i  Sehrmittel:  eine  Brt  Cuint- 
effeiu  aller  guten  unb  rationellen  SRetbobrn.  •  äbrrm  Cclir- 
lurfee  unb  feiner  «lettjobe  roirb  iebenfafl»  bie  yutunft  ae- 
bBren.  •  Sa*  Boernerfcbe  fiebrbueb  übertrifft  meine»  Crr- 
oebten»  eile  abnlldjcn  S'  min  r  •  J)d)  halte  biefes  »ueb  grrabrau 
für  bae  3braf  eine«  franjofifebeu  liclirlutrh?. 

ffrrirrroiklarT  tur  Vritfnng  brbnft  eben  f.  SHnfubning  (obilr 
•uSfülirliQrr  ^rofirft  r'e tjeu  gern  tu  Ximflrn  tont  Berlage 
0.  9.  Zciiitriii  £ri»)ig,  ^pßf*roficc  8. 

Ubcrfirlit  Uber  bie  Qtilgabeii  unb  Zeile: 

A  SBoerner:  trran j6f Hrf). 
«uSgabeA:  IV.  teil  (Obtrfhife):  jj.  b.  4.  u. 

Ee^rbueb  (aueb  in  2  «6t ).  5.  Unterriebtst  (m.«Bfirtrr6  ). 

taiiptre nc'.n  b.  fran)  Mrammat.  t>aubtrrgeln  nebfl  fmttatt.  Hub. 
5ronAö|lfdi  beutffbe<  u.  beurfa)-        (iBu«g.  B). 

franjafiftbe«  SSSrtetbud}.  Slueg.  C  (gef.  ??eubearbeitß ): 

Cberfhife  jum  fietrrtueb.  fiebrbufb:  t  u.  IL  Bbteilung. 

Sontalt  Snb  8-  b.  ^aubtregeln.      i>au|itregeln  nebfl  [antatt.  Vlnb 
Ka||  B  (f  bbb  TOabdKnfdjuI.):        («luta.  B). 
L — III.  Ztü :  g.  b- 1.— 3.  Unter-      Cberfnifr  (m.  «Bortrrb  ). 

ritbtejabr  (m.  gramm.  Mnb  ). 
Neubearbeitung  be«  III.  Zeifea 

(Süffelborfer  ztutgabe). 

B.  SJoerner-Zbiergeii:  Gngtifrfi. 
SuSgabe  A:  flntgabr  0 

ßebvburb.  —  eirammattt  (gcfflrjte  Keubearbeitnng), 

Cberflufe.  bearbeitet  Bon  Dr.  O.  tbt«gfn. 

flula.B  (f.  t)öh.  Wabebenfeft  ):      $rof.  am »önigl.  «abettentorr» 
L  u  IL  Zeil:  gür  bat  l.  u.  S.      «u  Xrceben,  unb  l'tof.  Dr.  B. 
Unterrtdit8j.(m.gramm.'Hnrj.).      isebbpte.  Ziireftor  b.  iHealirfi  I 
HI.  leill  blerjm>auptrtgeln      »u  Ire*ben.    [3«  SSorberrit.) 
IT.  Zeil)  ber  engl.  Spntaj.      Bu»g  f  b  »Tabettentorp«: 

lementarbueb  b.  engl-  Sprache. 

C.  Öoernrr-Uooera:  Stalienifeb. 
fiebrbud)-  —  «rammatif.  —  Cbcrftuft  [in  Borbeteitnng]. 


AUtsrhSchfite  An8«cichnnngen : 
Orden,  Stantsmedaillen  etc. 


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Flügel  10jährige  Garantie, 
Harmoniums  95  Mk.  an. 

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Dil  Herren  Gaittliehu  iL  Lehrtr  erhalten  Eitripniu. 


i. 

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I:  6.  «ufl. 


II:  5.  Huf.. 


tftjott,  ^ttttbliud)  Ut  beutfdjctt  Sjirad}*,  L  feil 

tlt  3  Bltlrilintnfctt*  1  S<*ta-  2  Ouinto.  8.  Ouorta  unb  Xtxtia  faxt.  JC  1.20, 
w  kj  ^vK+rXKKK^KKtx.    jcu-jc  -.80  erfd)ienen  unb  erjotfllen  bereit«  baraufbui 

=  mcljrfadje  (^iufü^rititgen.  =s 

J)ct  2.  3tfl  erfdjien  fdjon  früher 

in  3  fibtcUunnnK  1  siiIif*ir-  2  *oetiI  lart-  *  *  1  •-•  *•  8*««**«*- 

jS—^    gefdjidite  geb.  1.60. 

SRan  berlanae  f rrUvtmplar*  nur  $rflfuna  bebufS  c&ent.  Einführung,  »ob  ba  Berlage 
Du^anblung  ©.  ©.  leubner  in  Ceipjig,  »Jk-iftirrn&c  «. 


Verlag  von  B.  G.  TEUBNER  in  Leipzig. 

Hettner's  Geographische  Zeitschrift 

Monatlieh  I  Heft  von  circa  60  Seiten.   Halbjährlich  9  Mk. 
Zum  Abonnement  jedem  Gebildeten  wie  allen  Schulen  empfohlen. 

Aus  dem  Inhalt  der  letzten  Hefte: 

Umrisse  zu  einer  Landeskunde  der  Karo-  Über  französische  Länderkunde:  Prof. 

linen:  Prof.  Dr.  A.  Klrchboff.  B.  Auerbach. 

Ober  d.  Gebirgsbildung  Im  paläozoischen  Neue  Alpenkarten:  Prof.  Dr.  Albrecht 

Zeltalter:  Dr.  Fritz  Frech.  Penok. 

Mitteilungen  —  Geographische  Neuigkeiten  —  Bucherbespreehi 
Eingesandte  Bücher,  Aufsätze  und  Karten  —  Zeitschriftenschau. 

Prospekte  und  Probehefte  gratis  und  franko. 


Die  „Siidwestdentsclien  SrhnlMätter"  18'JX,  1  sagen  über 

Heinichen-Wagener,  lateinisches  Schulwörterbuch: 


,  .    Wir  werden  die  Frage  „Welches  —   _.   .—   

dahin  biwitworten:  „Empfehlung  Verdient  nur  ein  Schulwörterbuch,  welches  mit  allem  überflüssigen  Balht-i 
gründlich  aufräumt,  somit  rieh  auf  das  Nötige  beschränkt  und  dies  In  einer  Ajiordnnng  «ad  einer 
Ihirstellung  bietet,  welche  dem  Schüler  die  gesuchte  Hilfe  tiuch  wirklich  an  die  Hand  Riebt  und  ihn 
geistig  fördert.« 

.  .  .  Seitdem  die  ron  Wagener  besorgte  Neubearbeitung  des  Heinichen'schen  Lexikons  erschien  u 
ist,  trage  ich  kein  Bedenken, 


dieses  Buch  zu  empfehlen. 


.  .  .  Die  Yerlagsbiichbnndlung  hat  das  Buch  nuch  Ilu Verheb  Tortrefflich 

»  Zierde  der  ansehenden  Bibliothek  iedes  Sekundaners  bilden  kann. 


so  dafa  o« 


Hierzu  Beilagen  von  Eduard  Arenaria«  in  Lelpiig  und  B.  G.  Teubner  in  Leipzig. 


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