Skip to main content

Full text of "Die mangelhafte Geschlechtsempfindung des Weibes. Anaesthesia sexualis feminarum. Anaphrodisia. Dyspareunia"

See other formats


Die 

mangelhafte 
Geschlechts 
des Weibes 




Otto Adler 




THE LIBRARY 
OF 

THE UNIVERSITY 
OF CALIFORNIA 



PRESENTED BY 
PROF. CHARLES A. KOFOID AND 
MRS. PRUDENCE W. KOFOID 



J 

1 ' 



MW 3 **> 



Die 

mangelhafte Gesdileditsempfindung 

des UJeibes. 



Anaesthesia sexualis feminarum. 
Anaphrodisia. Dyspareunia. 

Von 

San.-Rat Dr. Otto Adler 

Arzt In Berlin. 



Dritte vermehrte und verbesserte Auflage. 




BERLIN W. 62. 

FISCHER'S MEDICINISCHE BUCHHANDLUNG H. KORNFELD, 

Hof- und Kammer-Buchhandlung. 
1919. 




Digitized by Google 



Copyright 1919 

Fischer's medicinisqhe Buchhandlung H. Kornfeld, Berlin. 



Alle Rechte vorbehalten. 



Druck von G. J. Pfingsten, G. m. b. H., Itzehoe. 



Digitized by Googl 



K-ßF (* n < Z 

-; 0 



Vorwort zur II. Auflage. 



>> 



, Vorworte" sind zwar im allgemeinen gebräuchlich, doch 
gewöhnlich überflüssig. Wenn etwas Wesentliches zu sagen 
ist, so gehört es besser in den laufenden Text des Buches, 
Unwesentliches dagegen braucht nicht im Vorwort gesagt zu 
•werden. Wieviele Menschen lesen überhaupt ein Vorwort? 
Was kann sie daran interessieren? Sie lesen das Buch des 
Themas wegen, und dieses kann nicht im Vorwort abgehandelt 
iwerden. Wie ein Buch entstanden ist? — wie selten reizt 
das den Leser zu wissen! Oder soll er im Vorwort die allzu- 
häufig wiederkehrende Versicherung des Autors, „daß das 
Buch bestimmt sei, eine längst empfundene Lücke auszufüllen", 
als einleitende Begeisterung für die bevorstehende Lektüre 
mit Andacht in sich aufzunehmen? Die Wirkung wäre oft 
die gegenteilige. Ein bekannter Humorist hat erklärt, daß diese 
„Lücke" oft nur vom — Verfasser selbst gespürt worden sei. 

Ferner das Geschlecht der Leser. Von der geringen Zahl 
der Vorwortleser ist sicherlich die noch geringere dem weib- 
lichen Geschlecht angehörig. „Ich gehöre nämlich zu den 
Frauen, die Vorworte lesen" — bemerkte mir scherzend eine 
geistvolle, in der Agitation stehende und selbst literarisch 
tätige Frau, als ich ihr ein Buch reichte und sie zu meinefm 
Erstaunen bei den Vorseiten begann und verweilte. — 

Der vorliegende Stoff richtet sich an die Frauen und 
hat sie allein fast zum Gegenstande. Aller Wahrscheinlichkeit 
•nach wird auch der weibliche Leserkreis ein größerer als 
sonst bei Büchern sein. Liegt die Gefahr des ungeleseneni 
Vorwortes nicht um so näher? 

Die I. Auflage ist vorwortlos in die Welt gegangen. 
Diese zweite bricht entgegen allen soeben entwickelten Ar- 
gumenten mit dem guten Anlauf der ersten. Aber nur deshalb, 



M3508&9 



Digitized by Google 



IV 



tyeil wirklich etwas Neues zu sagen ist, etwas, das aus fremder 
Feder kommt, sich mit der vergangenen I. Auflage be- 
schäftigt und nicht gut im fortlaufenden Buchtext unterzu- 
bringen ist. 

Statt vieler Worte mag die Zuschrift einer unserer be- 
kanntesten und bedeutendsten Agitatorinnen an dieser Stelle 
Platz finden. Sie hat deshalb besonderen Wert, weil hier ein 
weibliches Fühlen und Denken in eine Sphäre eingreift, die 
'.eigentlich allein Domäne des Weibes ist u!nd nur aus Not 
bisher vom Manne behandelt wurde : 

„Mit lebhaftem Interesse habe ich Ihr letztes Buch über 
das Geschlechtsempfinden des Weibes gelesen. Solche 
Veröffentlichungen sind für uns von großer Tragweite, 
weil viele Männer, darunter auch zahlreiche Aerzte, nach 
dem herrschenden Sittenkodex, der überhaupt jeden 
nicht im Rahmen der Ehe sich vollziehenden Verkehr 
seitens eines sogenannten „anständigen" weiblichen 
Wesens als unsittlich brandmarkt, sich auf das angeblich 
nicht vorhandene Bedürfnis der Frau berufen. 

„M änne r" (und die müssen es ja natürlich am besten 
wissen) haben „festgestellt, daß es eine ganz gerechte 
Moral ist, die Frau zur Askese zu verdammen, weil sie 
ja ohnedies in viel geringerer Weise als der Mann ein 
natürliches Liebesleben braucht! Männer glauben dabei 
behaupten zu dürfen, daß Frauen, die dennoch geschlecht- 
liche Befriedigung suchen — sozusagen pathologisch sind! 
Minderwertig! 

Es gibt aber viele Frauen, die genau zu fühlen glauben, 
daß umgekehrt die Empfindungslosen patholo- 
gisch und die unter absoluter Enthaltsamkeit schwer 
leidenden Frauen nur gesund und natürlich sind, 
daß sie heute weder „brünstiger" noch „mannstoller" sind, 
als es ehedem der Fall war, sondern nur ehrlich genug 
und mutig genug, sich der Menschlichkeit nicht mehr 
zu schämen. 

Sie werden vielleicht die Bestrebungen zur Reform der 
Sittlichkeitsanschauungen verfolgt haben, jene viel ange- 
feindeten Bestrebungen, die doch nur darauf abzielen, 



Digitized by Google 



V 



schöne und natürliche Lösungen für das sexuelle Problem 
zu finden, L i e b e s beziehungen die Achtung zu erringen, 
für das Recht unehelicher Kinder und Mütter zu- kämpfen: 
und womöglich den Weg zu suchen, der den Mann nicht 
auf die Prostitution, die große Gruppe nicht zur Ehe 
gelangender Frauen nicht auf die Askese anweist. Für 
diese Bestrebungen sind nun Untersuchungen wie die 
Ihrigen von prinzipieller Bedeutung, und ich hoffe, daß 
eine nicht von einseitigen Vorurteilen ausgehende Wissen- 
schaft viel zur Aufhellung der Fragen beitragen wird. 

Es herrscht unter dem Druck einer unselig verlogenen 
Moral die unglaublichste Konfusion in den Köpfen. Pro- 
stitution (aus Not), Prostitution (aus abnormer Veran- 
lagung), starke Sinnlichkeit, normaler Liebeshunger, ein- 
fache, zärtliche Widerstandslosigkeit ohne eigene 
erotische Wünsche — all das wird in den großen Topf 
des weiblichen „Gefallenseins" zusammengeworfen. — " 

Soviel von dieser Agitatorin, die sich in ihrer privaten- 
(deshalb hier namenlosen) Zuschrift sympathisch von meiner 
sozialen und psychologischen Verarbeitung der wissenschaft- 
lichen Anästhesie-Fragen berührt fühlt. 

Es gibt auch andere Meinungen! Ich verweise auf das 
I. Kapitel dieser zweiten Auflage. Ob Dr. phil. Helenei 
Stöcke r, wenngleich sie „Roheit" und „Unbildung" dem- 
jenigen vorwirft, der 25 «>/o sexuelle weibliche Unempfindlich- 
keit annimmt, nicht doch die angeführten Zeilen voll unter- 
schreiben würde? Stammen diese Zeilen doch aus dem einst- 
mals gemeinsam befehligten Lager! 



Die Erweiterungen der vorliegenden II. Auflage 
sind folgende: Vollkommen neu eingefügt ist Kapitel XII 
— Die juristische Bedeutung der mangelhaften 
Geschlechtsempfindung in bezug auf Eheschei- 
dung- (Anfechtung der Ehe) mit dem ausführlichen ge- 
richtlichen Gutachten (Fall XXIII). 

Ferner ist auf die psycho-a na ly tische Methode 
Freud? wiederholt ausführlich eingegangen. Der oin- 



Digitized by Google 



VI 



schlägige Fall XXI (Eigene Beobachtung) ist neu. Hier- 
bei wird auch das Wesen der Traumdeutung gestreift. 

Fall VI (Künstliche Befruchtung beim Men- 
schen) erscheint ebenfalls zum ersten Male an dieser Stelle. 

Im übrigen haben fast alle Kapitel Zusätze und Er- 
weiterungen erfahren. Von neuen Namen seien genannt: 
Johanna Elberskirchen (Libido — Kapitel VII und X), 
|W. Stekel (IX und X), Waithard flX), Sutkowsky 
(Geschlechtsbestimmung — IV), Bucurra, Fischer - Karls- 
bad, Nenadovicz, Zabludowsky u. a. 

Berlin, im Juli 1910. 

Der Verfasser 



Digitized by Google 



Vorwort zur III. Auflage. 



Die II. Auflage war im Juli .1914 vergriffen. Der .Welt- 
krieg verhinderte eine Neu-Auflage, da auch der Verfasserj 
zu den Fahnen ging. 

Nach allzu langem Kampfe kommt endlich der friedliche 
Autor wieder zu seinem Rechte. Aus dem Kriege selbst 
bringt der Verfasser keine Bereicherung des vorliegenden] 
Themas, obgleich er sich in großen, leitenden Stellen befand. 
Die intime Vita sexualis des Weibes fürchtet den Donner 
der Kanonen Weder bei der ausländischen Bevölkerung noch 
bei den Etappenschwestern fand sich Gelegenheit zu ein- 
schlägigen Beobachtungen. 

Nicht unbedeutend hat sich dagegen die inländische 
Literatur vermehrt — Dank der immer mehr anerkannten 
Sexualwissenschaft, die nun endgültig ihren Platz be- 
hauptet. Die ein Jahr vor Kriegsbeginn gegründete „Ärzt- 
liche Gesellschaft für Sexualwissenschaft" zu 
Berlin nimmt mit ihrem Fachorgan eine führende Stellung 
ein Die Revolution hat das ihrige dazu beigetragen, der 
Freiheit in Wort und Schrift die letzten sexualen Fesseln 
zu sprengen 

Aus diesem Grunde konnte das I. Kapitel wesentlich ge- 
kürzt werden. Es bedarf keiner Entschuldigung mehr für 
sexuelle Themen — die Saat ist reif, wenngleich der lange 
geforderte Lehrstuhl für Sexualwissenschaft vor- 
läufig noch fehlt. 

Erweitert ist das Kapitel über die weibliche Libido. 
Die Frauen — die allein maßgebenden Beurteilerinnen — 
kommen mehr und mehr zu Wort (Margarethe Kossack, 
Mathilde Kemnitz u. a.). 



Digitized by Google 



vm 



Das Kapitel über Hysterie hat durch Margarethe 
Kossack einige Ergänzungen erfahren. Die scheinbar Sinn- 
lichsten sind oft die kältesten. Altstimmen und hystero- 
epileptische Krämpfe haben nach ihr Beziehungen zur Libido. 

Neu aufgenommen ist Fall VII: Verminderte 
Libido nach Empfängnis (eigene Beobachtung) 
mit entsprechenden Beobachtungen von Tarnier und 
C h a n t r c u 1 1. 

Zur Frage der weiblichen Pollutionen (Kap. VII) 
kommt mit einer neuen Auffassung W. Hammer zu Wort, 
Kap. IX (Brautnacht) ist durch einen Originalbrief, ferner 
die psychologische Studie über Frau von Warens 
(Kap. XIII) durch einen Zusatz von W. Stekel ergänzt 
worden. 

Der Zusammenhang von Orgasmus und Eugenik 
(M. V a e r t i n g) wurde in Kap. IV aufgenommen, während 
in dem therapeutischen Kapitel XI das Thelygan (J.Bloch) 
und Opium (Neumann) einen neuen Platz fanden. 

Berlin, im Mai 1919. 

Der Verfasser 



Digitized by Google 



Inhalt 



Seite 



Vorwort zur II. Auflage. 



III 



Vorwort zur HL Auflage. 



VII 



I. Die Schwierigkeiten in der Erforschung und Dar- 
stellung der Anaesthesla sexualis femlnarum ... 1 

Nomenclatur: „mangelhaft" und „mangelnd". Die Häufig - 
keit der Anaesthesia sexuaü's steht in auffallendem Mißverhältnis 
zu ihrer Berücksichtigung. Absichtliche und unbewußte Ver- 
schleierungen. Unmöglichkeit einer Statistik, selbst in Aerzte- 
kreisen Spärliche älteste Literatur. Vermehrte neuere seit Er- 
scheinen der 1. und II. Auflage. Vermehrung derselben durch 
medizinisches Frauenstudium, denen hier ein selbständiges Ge- 
bie*. eröffnet wird. In großen und bekannten Lehrbüchern der 
Gynäkologie kaum eine Erwähnung. Das schätzungsweise Vor- 
kommen der Anaesthesi a sexua l is femin.iryim berec h net s i ch n och 
prozentualen Dekaden! Guttzeit gibt 40 o,q an! Ein neueres 
weihliches Veto. Die gegenteiligen Behauptungen unver- 
heirateter Männer. 

II. Zur Anatomie und Physiologie der Wollustorgane 14 

Das Durchtreten des Sperma resp. der weiblichen Sekrete 
ist nicht die Ursache der Wollustempfindung, sondern ein 
koordiniertes Begleitsymptom. Beobachtung der Sekretion im 
weiblichen Orgasmus in einem speziellen Falle. Fall I (Eigene 
Beobachtung). Die weiblichen Sekretionen haben wesentlich 
mechanische Voraussetzungen. Die Glandulae vestibuläres 
majores sind ursprünglich Riechstoff bildende Lockdrüsen. 
Geruch und sexuelle Erregung. Empfindungsstatus beim 
masturhatorischen Orgasmus. Fall Ha (Eigene Beobachtung). 
Spezieller Fall eines spezifischen Ejakulationsgcruches. Das 
1 ypische im Orgasmus ist die Kontraktion der Geschlechts- 



rnuskulatur. l etztere ist anatomisch minimaler als die des 



X 

Seite 

Mannes (Walde) er). Glans als ,, sensibler Brennpunkt". Der 

relati\e Nervenreichtum hat zum Schlüsse eines höheren 

Geschlechtsgenusses des Weibes geführt. Tiresianische Ent - 
scheidung. Eine vollkommen andere Schlußfolgerung daraus. 
Exstirpation der Klitoris. Solche bei den Skopzen. Andere 
periphere Ei regungssteilen (Moraglia). Fall von Orgasmus 
mammarius. Praeputium giandis ist kein Schutz, sondern eher 
ein Erregungsmittel. Wahrscheinlich ebenso das Smegma prae- 
putiale. Die Erektion ist im allgemeinen notwendig für den 
Orgasmus. Die vermehrte Blutfülle und der vergrößerte Blut - 
druck machen erst die Nervenendigungen spezifisch sensibel. 
Fall von Anaesthesia sexualis completa bei Herzfehler des 
Manne.- (Fall III, Eigene Beobachtung). An der Blutdruck - 
erhöhung wirkt auch die Geschlechtsmuskulatur mit (Sexual - 
herz). Physiologisches Resunu-. 

III. Die Wollustkurve des Weibes 35 

Die Schwierigkeit in der Beurteilung der Quantität des 
Empfindens. Die Frage von der verschiedenen Genußfähig- 
keit beider Geschlechter. Die Unfruchtbarkeit dieser Frage. 
Historisches: Tiresias, Martinus Schurigius, Kobelt, Mante- 
gaz/.a, Hippokrates. Fall eines Zwitters mit beiderseitigem 
Geschlechtsverkehr ohne Entscheid (Fall IV). Verwechslung 
des allgemeinen weihlichen Geschlechtsverhaltens mit dem 
durchschnittlichen Orgasmus. Nur in extremen, pathologischen 
Fällen scheint das Weib eines größeren Furor sexualis fähig 
zu sein. Männliche Orgasmuskurve. Charakteristischer -spitzer 
Winkel. Weiblicher Höhepunkt durchschnittlich später. I 'eber- 
sinnliche und nymphomaiusche Ausnahmen. Mannliche Ati- 
passung. Empfindungsstatus in coitu (Fall IIb). Weibliche 
Orgasmuskurve. Charakteristischer stumpfer Winkel. Physio- 
logische Erklärung des langsameren Abklingens. Vergleich 
beider Kurven. Die eigene Geschlechtssprache des Weibes 
(Havelok Ellis). Bestätigung des „Abklingens" durch Urteil 
einer Arztin. 

IV. Wollustgefühl und Befruchtung 52 

Der Wert der Koinzidenz männlicher und weiblicher Wollust 
für die Befruchtung. Alltägliche Gegenerfahrung. Maria 
Theresia. Mechanische Erklärungen. Fall V (Eigene Beob - 
achtung). Männliche Ungeschicklichkeit. Notzucht. Künst - 
liche Befruchtung (Marion Sims). 'Fall VI (künstliche Be- 
fruchtung beim Menschen — Debrunner). Fehldiagnosen 
und Fehlbehandlung. Befruchtung in Narkose (S. G. Thomas). 
Besteht ein relativer Zusammenhang zwischen mangelhafter 
Empfindung und Unfruchtbarkeit? Notwendige Gesichts- 



12 



XI 



unkte für diese noch fehlende statistische Arbeit. Duncan 



Sfiüfi 



vertritt den Einfluß der sexuellen Anästhesie auf die Sterilität. 
Die Lücken seiner Statistik und seine eigenen Bedenken. Dcfi - 
nitior seiner Terminologie. 1 )uncan'sche Tabelle des Ge- 
schlechtstriebes und des geschlechtlichen Genusses bei unfrucht - 
baren Frauen. Zahlenschlüssc. Oie Empfindungslosigkeit 
steriler Frauen ist nicht größer als die durchschnittliche (ent - 
gegen Duncan). Physiologische Bedeutung der Wollust nach 
Kisch. besonders des Cervikalschleimes. Seeligmanns Fall. 
Sutkowskys Theorie der Geschlechtsbestimmutig auf Grund des 
früheren oder späteren Orgasmus. Ablehnung seiner Schlüsse 
durch die Tatsache der mangelhaften Geschlechtsempfindting. 
M. Vaerting's Theorie der orgastischen Eugenik. Verändertes 
Wollustgefühl nach Empfängnis. Tancrier und Chantreutl. 
(Fall VII (eigene Beobachtung). 

V. Wollustgefuhl und Verschneidung. (Kastration, Uterus- 
Exstirpation, Klitorektomie etc. — Vor Beginn der Ge- 
schlechtsreife und nach Aufhören derselben (Klimakterium] 73 

Kastration ist weder identisch mit männlicher Impotenz noch 
mit weiblicher Anästhesie. Römische Kastraten. Kastration 
beim Hengste. Sultan Amurad. Kastrat und Eunuch. Hegar, 
Tisster, Bruntzel. Schmalfuß. Kritik der Glävekeschen Fälle. 
Unterschied der frühen und späten Kastration. Ovariotomie 
in Ostindien (Roberts). Mensingas Fall vermehrter Geschlechts - 
lust nach der Operation. Uterus-Exstirpation ohne nennens- 
werten Einfluß. Verschneidung (Klitoris, Nymphen, spez. bei 
den Skopzen), (Pelikan, Nadeschdin). Verscheidung auf Buru, 
Ekuador, im Sudan. Infibulatioti. Normale Anästhesie im 
Kindesaltcr. Abweichungen. Erste Menstruation ^ erster 
Reiz zum undifferenzierten Geschlechtsgefühl (Dessoir). Ver - 
halten der Klimax. Bisweilen gesteigerte Libido (Krieger, 
Börner). Normaler Weise langsames Nachlassen. In seltenen 
Fallen noch in hohen Jahren. Guttzcit. Ninon de l'Enclos. 

VI. Relative UnempfindUchkeit bei Masturbation — 
Anaphrodisia ex causa masturbatoria (Dyspareunia 
masturhatoria) 89 

Scheinbarer Widerspruch der geschlechtlichen Empfindung 
bei Masturbation und Empfindungslosigkeit in coitu. Die ver- 
mehrte Schwierigkeit des Krankenexamens. Konstante Leug - 
nung der Masturbation. Das Wesen der Masturbation. Volks - 
glaube. Kurpfuscher. Psychische Alteration. Umbildung 
der Phantasie. Keine organischen Folgen. Ärztliche Urteile: 
Koblanck, Hegar, Lit/.mann, v. Kraift-Ebing, Mantegazza, 



XII 

Moragliaj Guttz.eit. Menstruatio parca, dolorosa et diseolorata. 
Masturbation verhältnismäßig harmlos, wenn sie nicht zur 
1 cidenschaft, zur geistigen Onanie ausartet. Praktische Fälle. 
Tongler (1 Fall), Laker (3 Fälle) — seine Erklärung durch 
Insensibilität der Vaginal- und Portio-Nervenfasern. Kleine 
anatomische Mißverhältnisse. Loimann (5 Fälle) — erworbene 
pathologische Veränderungen. Fall XVI (Eigene Beobachtung). 
Kritik. Veränderung in den Leitungsbahneri. Gewöhnung. 
Beispiel des Schlafes. Seltene Analogie beim Manne wegen 
anderer mechanischer Voraussetzungen. Fall einer solchen 
Analogie (XVII). Masturbatio masculina und feminalis in 
mechanischer Beziehung zum normalen Coitus. Die ungeeig - 
nete Lage der Klitoris für die gewöhnliche Copula. Begattung 
in der Säugetierwelt a posteriore. Die Klitoris als entwick - 
lungsgeschichtliches Derivat (Hypothese). Der menschliche 
Coitus ab anteriore auf Kesten des Weibes. Resume. 

VII. Vom weiblichen Geschlechtstrieb im allgemeinen. 

(Libido) 118 

Feststellung der Terminologie. Vergleich mit dem Hunger. 
„Sexuelle Appetitlosigkeit" (Eulenburg). Die ursprünglich ge- 
ringer vorhandene weibliche Libido. Der „Schmerz" im sexuellen 
Leben des Weibes. Sexuelle Erkrankungen beim Mann und 
beim Weibe. Unterschied der Folgen. Die geringere weibliche 
Libido jst die natürliche Schutzwehr gegen seine größeren 
sexueller. Gefahren. 1. Angeborene Schwäche und schwerere 
Erregbarkeit. 2. Hemmungen bei latentem normalen Trieb. - 
Die Hemmungen sind der häufigere Grund und entsprechen 
überhaupt dem Bilde der weiblichen Psyche. Charakteristik 
derselben nach Jean Jacques Rousseaus: La Nouvelle Heloisc. 
- Dit aggressive Form der männlichen Libido spiegelt sich 
im Befruchtung^ organg wieder. Vom Zauber der Persönlich- 
keit. Der Kuß der Sphinx. Der Mangel von Pollutionen 
bei der keuschen Jungfrau. Die Ahnung vom jungfräulichen 

Geschlechtstriebe ist mehr Kontrektatinn als Detumeszenz 

(Moll). W. Harnmer's modifizierte Auffassung von der Sinn- 
lichkeit gesunder Jungfrauen". Die Bezeichnung „Pollution" 
kann keinen gemeinsamen Begriff für die ganz anders ge- 
arteten männlichen und weihlichen Vorgänge darstellen. 
Mangelnde Libido und Kultur (Josef Müller, Bloß- 
Appun, Riedel-Se.ang-Insulaner, Finsch-Karolinen). Die jung - 
fräuliche Scham und Ängstlichkeit. Goethes Wahlverwandt- 
Schäften. Neuere Ansichten Johanna Elherskirchen. Ihre 
Auflassung - der weiblichen Libido. Ihre Kritik der mangel - 
haften Geschlechtsempfindung — Entartungserscheiiuingen. 

D_k Differen z, dxi Ansichten mir scheinbar. Goethe — 

Christiane und Rousseau — Therese. EilliL. Es bleibt ein 



XÜI 

Seile 

Rest von Passivität selbst bei dem von der konventionellen 
Moral losgelösten Geschlechtstrieb des Weibes. An diesen 
Rest setzen sich die krankhaften „Hemmungen" an. — Mar- 
garethe Kossack's Auffassung der weiblichen Libido deckt sich 
mit der des Verfassers. 

VIII. Hysterie und mangelhaftes Geschlechtsempfinden 137 

Über Definitionen der Hysterie. Empirische Bilder (Breuer 
und Freud). Die Häufigkeit der allgemeinen Anästhesien 
überhaupt. Sexuelle Anästhesie — eine Teilerscheinung. Die 
pathogene Wirkung des sexuellen Traumas. W. A. Freunds 
Parametritis chronica atrophicans als häufigste Ursache der 
Hysterie. Frankenhäusersches Ganglion. Fall XVUI (Eigene 
Beobachtung). Psychologische Epikrise. Fall XIX (Eigene 
Beobachtung). Die sozialen Schicksalsschläge haben beim 
Weiht- viel eher eine Alteration des sexuellen Lehens zur 
Folge als beim Manne. Fall XX (Straßmann). Grande 
Hysterie. Epikrise. Die geschlechtliche Unempfindlichkeit der 
scheinbar Sinnlichen nach Margarethe Kossack. Altstimmen. 
Verzettelungssucht. Hystero-epileptische Krämpfe und Libido. 



IX. Einige häufige Ursachen der sexuellen Anaesthesie — 
Vaginismus — Anaesthesia sexualis completa idio- 
pathica 158 

Defloratio. Ungeschicklichkeit und Brutalität der Hoch - 
zeitsnaeht. — Brief darüber. Unvollkommene Immissio. Schmer - 
zende Hymenaireste (Rohleder's ,, Hymenismus"). Vaginismus 
als direkte Folge der Schmerzen oder als Erinnerungskrampf. 
Der rein nervöse (psychische) Vaginismus. Psycho-analytische 
Mcthodf Freuds. W. Stekel (Nervöse Angstzustände). 
M. Waithard — Die psychogene Ätiologie und Psychotherapie 
de:. Vaginismus. Fall XXI (Eigene Beobachtung). Weih- 
liche ^Impotenz". Der Mann ist häufiger „impotent", das 
Weih prozentual mehr steril". Nach dem mechanischen 
Ausgleich tritt die Individualität in ihre Rechte. Die Kunst 
der Liebe. Ejaculatio praecox — absolut oder relativ. Modus 
actione- und Positio. Von der Einwirkung des Geruches auf 
das sexuelle Empfinden (Albert Hagen). Vincengo Monti. 
Heinrich IV. Galopin. Die absolute Unempfindlichkeit ohne 
scheinbare Hemmung. Guttzeit. Schurigius. Freundschaft 
unu sinnliche Liehe. Fall XXII (Eigene Beobachtung). Das 
vorwiegend psychologische Moment der geschwisterartigen 
Liehe in demselben. 



XIV 

Seile 

X. Die Folgen der mangelhaften Geschlechtsempfindung 179 

Vergleich mit anderen Fehlern der Sinnesorgane, sp. Blind- 
heil. Unterschied durch den gegenseitigen Austausch. Der 
Einfluß auf das Weib selbst. Gering bei absoluter Anästhesie 
ohne Libido und ohne Orgasmus. Gesichtsausdruck bei der - 
selben. Koketterie und Sinnlichkeit. Körperliche Störungen 
bei mangelndem Orgasmus allein (Fluor, Metritis, Endometritis). 
Dysmenorrhoe bei jungen Mädchen. Die latente Libido der 
Jungfrau und die Enthaltsamkeit. Nervöse Störungen durch 
mangelhafte Befriedigung. Angstneurosen etc. (Gattel). 
Freud und W. Stekel. Angstneurose und Angsthysterie. Ver- 
schiedene Krankheitshilder. Dr. Alice Stockhams Reformehe. 
Visionen aus dem transzendenten Leben. Das sexuelle Medium 
der Zukunft. Einfluß auf die Familie. Gefahren für Mann 
und Kinder. Johanna Elberskirchens entgegengesetzter Stand- 
punkt. 

XI Die Behandlung der mangelhaften Geschlechts- 
empfindung 186 

Der praktische Wert der Prophylaxe im allgemeinen, hei 
der Anaesthesia sexualis im speziellen. Die Erziehung 7.ur 
Sinnlichkeil, Brutalität resp. Ungeschicklichkeit des Mannes 
in der Hochzeitsnacht gibt oft einen dauernden Hernmungs- 
grunc ab. Rechtzeitige Belehrungen. Mechanische Behandlung. 
Dehnungen durch langsame Spekulum-Behandlung. Künstliche 
Defloratio. Ausschneidung (Exzision) des Hymen resp. Ein - 
kerbung. Entfernung schmerzhafter Hrmenalreste (Vaginis - 
mus). Bei Inkongruenz von Penis und Vagina Anleitung zur 
manuellen Introductio. Bei innerer Schmerzhaftigkeit auf para- 
metritischer Grundlage speziell gynäkologische Behandlung 
(Bader, Resorption, Massage etc.). Variationen der Positio 
(Inversio; a 'posteriore). Bei Ejaculatio praecox Behandlung des 
Mannes. Das Wesen der psychischen Behandlung beim Fehlen 

7eitlirher oder mechanischer Differenzen. Das Aufsuchen der 

Hemmung, des psychischen Traumas. Hypnose. Die psycho- 
analytische Methode l'reuri's. Traume. Die Mittel der Lrregung 
von Seiten des Mannes. Tändeleien, Küsse. Der individuelle 
Zauber geistiger Erregung. Titillatio. Ärztliche Behandlung — 
Elektrizität (Voinow, Kohleder). Biersche Stauung. Scheidcn- 
spekulum (Fischer-Karlsbad). Sexua'gymnastik (Zabludowsky). 
Zurückhaltende Vorsicht des Arztes bei der kombiniert mechani - 
schen Behandlung und seelischen Beeinflussung. Medikamente. 
Suggestive Wirkung. Liebestränke. Alkohol, Kanthariden, 
Yohimbir. (Berger). Rhome-Tabletten. Muiracithin (L.ustwerk). 
Libidol (Kantorovvicz). Ovarialtahlettcn, Oophorin, Ovaraden. 



XV 

Seit* 

Opo-(Brunst)Mi1ch (Bucura). Nenadowicz. Veit • Thelygan 
nach J. Bloch. Opium als speziell weibliches Aphrodisiacum 
(Ncumann). 

XII. Die juristische Bedeutung der mangelhaften Qe- 
schlechtsempfindung in Bezug auf Ehescheidung 
(Anfechtung der Ehe) 202 

Mangelhafte Geschlechtsempfindung kommt als Anfechtung 
der Ehe in Betracht. Die Anfechtung ist nur eine juristische 
Abart der Ehescheidung. Beide haben die Lösung der Ehe 
zum Endzweck. Die einschlägigen Bestimmungen des BGB. 
(Deutsches Reich) sind § 1333 (Anfechtungsgründe) und 
jj 133 r ) (Fristparagraph. 6 Monate), Die ^-Monatsfrist braucht 
nicht vom Hochzeitstage an zu zahlen, die vollendete „Ent - 
deckung des Irrtums" kann später erfolgen. Die Anfechtungs- 
gründc des § 1333 sind dehnbarer. Mangelhafte Geschlechts - 
empfindung des Weibes kann Anfechtungsgrund sein 1. für die 
Ehefrau, 2. den Ehemann. Für letzteren nur ausnahmsweise, 
wem' die Schädlichkeit (nervöse Zerrüttung) zu erweisen ist, 
dagegen cv. strafmildernd beim Ehebruch im Ehescheidungs- 
prozeß. Hir die Frau selbst ist Lmpfindungsmangel hei 
voller Impotenz des Mannes sicherer, bei relativer Impotenz 
nicht minder begründeter Anfechtungsgrund. Ohne diese 
Ursachen — bei beiderseitig normalen mechanischen Ver - 
hältnisse!, — ergibt sich ein Non liquet. Bei beiderseitigem 
Trcnnur.gsbegehren der Parteien ist diesem stattzugeben, 
sonst „Sünde oder Neurose" (W. Stekel). Gutachten (Eigene 
Beobachtung - Fall XXIII). 



XIII. Frau von Warens. La femme de ^lace. (Nach J. J. 
Rousseau: Les Confessions.) Eine psychologische 
Studie 216 

Da: sexuelle Element in J. J. Rousseaus: Les Confessions 

und U N ou ve l le H eloise, Ro us se a us Flucht zu Frau 

von Warens. Die eingehende Schilderung ihres sexuellen 
Lebens ist eine Ehrenrettung und Erklärung des Widerspruchs 
zwischen ihrer moralischen Aufführung und ihrer mangelhaften 
Geschlechtsempfindung. Wesentliche Daten aus dem Leben 
der Frau von Warens. Schilderung ihres Äußeren und ihres 
Charakters. Rousseaus erster Eindruck. Das Unglück der 
ersten, kinderlosen Ehe. Die sophistischo Verführung durch 
Herrn von Tavel. Der Prediger Perret. Ihr Haushälter 
Claude Anet. Rousseau selbst als Geliebter. Sein Bericht 
über die Anästhesie und Stimmung der ersten intimen Nacht. 
Psychologische Erklärung des scheinbaren Widerspruches 



XVI 



zwischen geschlechtlicher Unempfindlicfikeit und sichtbarem 
Drang nach "Liebe. Außer Freundschaft und Dankbarkeit ist 
oft nur die Eitelkeit Veranlassung. Rousseaus Reise. Bei der 
Rückkehr findet er seine Stelle besetzt durch einen „garcon 
perruquier". Die angebotene Teilung und freiwillige Ent- 
sagung trägt ihm, trotz der fehlenden Sinnlichkeit von Frau 
von Warens, dennoch deren Entfremdung ein. Wiederholte 
Versicherung der Uneigennützigkeit ihrer Hingabe. — Epi- 
kritischc Bemerkungen zu der geschilderten Anaesthesia sexualis 
der Frau von Warens. Ist sie eine absolute Anaesthetica oder 
nur relativ gegenüber Rousseau? Ist ihre Anästhesie organisch 
oder rein psychisch? Das Pathologische der Vita sexualis 
Rousseaus. Seine spätere Frau, Therese, ebenfalls ohne Sinn- 
lichkeit. Episode bei der venetianischen Julietta. Rousseaus 
sinnliche Kraft ist keine aktiv, das andere Geschlecht erotisch 
erregende. Er selbst lernt die wahre Sinnlichkeit erst bei 
einer routinierten Kennerin der Liebe (Frau von Larnage). 
Die Anästhesie der Frau von Warens ist wesentlich psychisch, 
eine Folge erworbener Hemmungen, die sich aus ihrer 'unglück- 
lichen Ehe und den weiteren Erlebnissen hinreichend er- 
klären. Zur Sprengung dieser Hemmungen reichte Rousseaus 
pathologisches Sexualempfinden nicht aus. Möglich, daß eine 
andere, spätere besondere Individualität dies dennoch erreicht 
hat. W. StekePs abweichende Auffassung: Frau von Warens 
eine Komödiantin — „avilissement". 



Digitized by Google 



I. Kapitel. 



Die Schwierigkeiten in der Erforschung und 
Darstellung der Anaesthesia sexualis feminarum. 



Nomenclatur: „mangelhaft" und „mangelnd". Die Häufigkeit der 
Anaesthesia sexualis steht in auffallendem Mißverhältnis zu ihrer Berück« 
sichligung. Absichtliche und unbewußte Verschleierungen. Unmöglichkeit 
einer Statistik, selbst in Ärztekreisen. Spärliche ältere Literatur, ver- 
mehrte neuere seit Erscheinen der I. und II. Auflage. Vermehrung derselben 
durch medizinisches Frauenstudium, denen hier ein selbständiges Gebiet 
eröffnet wird. In großen und bekannten Lehrbüchern der Gynäkologie 
kaum eine Erwähnung. Das schätzungsweise Vorkommen der An- 
aesthesia sexualis feminarum berechnet sich nach prozentualen Dekaden! 
Guttzeit gibt 40 o/o an! Ein neueres weibliches Veto! Die gegenteiligen 
Behauptungen unverheirateter Männer. 



Der Titel der vorliegenden Monographie : Die mangel- 
hafte Oeschlechtsempfindung des Weibes — ist 
unverändert auch für die vorliegende III. Auflage beibehalten 
worden, obgleich sich gewisse Bedenken dagegen geltend ge- 
macht hatten. 

Durch das Wort „mangelhaft" haben sich Irrtümer 
und falsche Auffassungen ergeben. Selbst Sexualforscher von 
Namen haben „mangelhaft" und mangelnd miteinander 
verwechselt. Hierauf beruhen manche widerstreitende 
Meinungen. 

Es ist notwendig, diesem Mißverständnis gleich von 
Anfang an zu begegnen. 

Adler, Geschlechlsempfindurg. 3. Aufl. 1 



Digitized by Google 



Die Bezeichnung „mangelhaft" ist nicht absichtslos 
und mit voller Überlegung gewählt und beibehalten worden. 
Das Wort soll alle Varianten des Geschlechtsempfindens 
in quantitativem Sinne umfassen (Die Qualitäten also, 
z. B. die Perversionen, sind nicht dabei berücksichtigt). 

Demnach ist „mangelhaft" der weitere, um- 
fassendere Begriff, in welchem „mangelnd" nur als 
eine Teilerscheinung enthalten ist. 

„Mangelhaft" ist demnach sowohl die fehlende 
Libido überhaupt (Anaphrodisie) wie auch der 
fehlende Orgasmus (Dyspareunie). Beide Zustände 
zusammen repräsentieren im Wesentlichen das gesamte 
Gebiet der „mangelhaften Geschlechtsempfin- 
dung" = Anaesthesia sexualis. Anaphrodisie 
und Dyspareunie sind nur Untertitel. 

Bei den folgenden Betrachtungen ist dieser Gesichtspunkt 
fetets zu wahren, selbst wenn beide Zustände bisweilen in- 
einander überfließen. Auf keinen Fall darf „mangelhaft" 
tund mangelnd beliebig vertauscht werden — das würde 
zu neuen Mißverständnissen und überflüssigen Diskussionen 
führen. — 



In der I., zum Teil auch noch in der If. Auflage waren 
Entschuldigungen und Auseinandersetzungen nötig, daß gerade 
das vorliegende Thema gewählt wurde. 

15 Jahre der Aufklärung liegen dazwischen. Die Sexual- 
wissenschaft ist inzwischen anerkannt worden und die große 
europäische Umwälzung hatte weitere Freiheiten dieser 
Disziplin gebracht — einer entschuldigenden Einführung be- 
darf es nicht mehr. 



Die „mangelhafte" Geschlechtsempfindung 
des Weibes — Anaesthesia sexualis feminarum 
— ist ein so eminent häufiger Zustand, daß nur 
die delikate Natur des Stoffes und die hieraus resultierende 
Schwierigkeit, Beobachtung und einwandfreies Material als 



Digitized by Google 



- 3 — 



wissenschaftliche Belege zu beschaffen, die beim ersten Er- 
lscheinen dieser Monographie vorhandene stiefmütterliche Be- 
handlung dieser Frage erklären. 

Die mangelhafte Geschlechtsempfindung ist 
ein eminent häufiger Zustand. Diese Behauptung 
der I Auflage muß auch. für die vorliegende III. aufrecht 
erhalten werden, nachdem seit dem ersten Erscheinen des 
Werkes neues und sehr reichliches Material dem Verfasser 
zugeströmt ist. Hie und da hat sich allerdings die Auffassung 
so manchen Falles geändert. Oft ist die vorhandene „Kälte" 
nur eine scheinbare. Bei genauerem Zusehen entpuppt sich 
nicht selten reichlich erotische Veranlagung und starkes Sinn- 
lichkeitsbedürfnis hinter einer kalten Außenhülle. Allein die 
Tatsache der mangelhaften Geschlechtsempfindung im 
konkreten Falle, oft über viele Jahre fortdauernd, besteht nach 
wie vor unverändert. 

Es ist begreiflicherweise schwer, eine feste Zahl anzu- 
heben, eine Statistik existiert nicht und läßt sich aus den 
angeführten Gründen nicht machen. Sie hätte nur Wert, wenn 
eine große Anzahl von Frauen unterschiedslos, 
Kranke und Gesunde, auf diese Frage hin examiniert 
werden könnte und ihre Angaben zugleich als absolut — 
wahr angenommen werden dürften ! Denn gerade in letzterem 
Punkte begegnet man bedenklichen Täuschungen, teils ab' 
sichtlichen, um ein mitleidsvolles Interesse zu erwecken, teils 
unabsichtlichen, die einer falschen Scham oder verwandten 
Gefühlen entspringen. Auch im Folgenden wird ein hierher 
gehöriger spezieller, selbst beobachteter Fall angeführt werden 
können. Gerade unter den sogenannten gesunden Frauen, 
die nie einen Arzt in Anspruch genommen haben, wenigstens 
nicht bei sexuellen Störungen, die nie bei der Geburt, im 
Wochenbett oder zur Behandlung jenes großen Heeres anderer 
Unterleibskrankheiten, denen die Frauen so oft unterworfen 
sind, ärztlichen Rat und Beistand bedurft haben, gerade bei 
diesen scheinbar oft gesundesten und wider- 
standsfähigsten, von anderen kränklichen in 
der Stille beneideten Frauen findet sich die teil- 
weise oder vollkommene geschlechtliche Em- 
pfindungslosigkeit dem Manne gegenüber nur 
allzuhäufig! Ein Teil derselben mag das Geheimnis des 

1* 



Digitized by Google 



hie empfundenen, vielleicht selbst nie geahnten sexuellen Hoch- 
gefühles mit in das Grab nehmen. Der Ehegatte war der 
einzige stille Zeuge seiner unerwiderten Leidenschaft, und erst 
nach dem Tode fder also Empfindenden haben sich seine 
Lippen dem Arzte zur Beichte geöffnet. Ein anderer Teil 
vertraut das Geheimnis dem Arzte erst nach vielen Jahren 
des vertrautesten Verkehres an, nachdem derselbe oftmals Leid 
und Freud der Familie geteilt hat, bei einem andren Teil 
scheitert auch dann noch die schamhafte Zurückhaltung der 
Frau, und nur der Ehegatte wagt schüchtern von dem kalten, 
empfindungslosen Zustand seiner Gattin zu sprechen. Ein 
letzter kleiner Teil wendet sich wohl direkt an den Arzt, aber 
nur dann, wenn Kinderlosigkeit vorhanden ist und der Mangel 
jeglicher Empfindung als Grund der Sterilität angenommen 
wird. 

Eine genaue Vorstellung über die Häufigkeit der 
sexuellen Anästhesie, ein in Zahlen angebbares prozentuales 
Verhältnis ließe sich vielleicht auf einem einzigen Wege er- 
reichen — durch eine Umfrage bei den Ärzten selbst in Bezug 
auf ihre persönlichen Erfahrungen in der Ehe. Obgleich eine 
!solche Fragestellung (selbstverständlich anonym) als Sammel- 
frage gestellt werden könnte und müßte, so habe ich mich 
Idoch bei privaten Sondierungen unter einer Reihe von Kollegen 
von der geringen Aussichtslosigkeit, ja Unmöglichkeit dieses 
Vorhabens überzeugt. Nicht alle Ärzte sind so vollkommen 
objektiv, um in Dingen der eigenen Familie ein absolut un- 
beeinflußtes medizinisches Urteil zu fällen. Sie scheuen sich 
'«ebenso wie ihre Patienten über die intimsten Fragen der 
Vita sexualis Rechenschaft abzulegen. Selbst auf dem Wege 
der Anonymität einer Sammelforschung werden Gefahren ge- 
wittert, welche die Person des Sprechers ahnen und erkennen 
zu lassen im stände wären. Ein großer Teil der Bogen würde 
unbeantwortet bleiben, ein Gesamturteil nicht möglich. Außer- 
dem stand noch die Mehrzahl der Ärzte der sexuellen Em- 
pfindungsfrage beim Weibe allzu indifferent gegenüber. Es 
wurde darüber nichts gelehrt, es stand nirgends etwas in 
.extenso darüber geschrieben, die Klagen der Frauen aus den 
schon andeutungsweise vorgetragenen Gründen konzentrierten 
sich von selbst ungemein selten auf diesen Punkt, die meisten 
trugen ihr stilles, heimliches Leid unausgesprochen in sich. 



Digitized by Google 



- 5 - 

Die Dezenz und Zurückhaltung des allgemeinen geschlecht- 
lichen Lebens überträgt sich bei diesen heikelsten und an- 
stößigsten aller Fragen auch auf das Sprechzimmer des Arztes 
junci da ihm die Empfindungslosigkeit als solche selten be- 
kannt ist, so kommt es ihm natürlich nicht in den Sinn, bei 
etwaigem Verdacht danach zu fragen. Denn tatsächlich kann 
auch dar. Umgekehrte der Fall sein. • Wenngleich die Dank- 
barkeit einer Patientin, der man ihr lange getragenes Ge- 
heimnis abgerungen hat, grenzenlos sein kann, ebenso miß- 
verstanden kann auch der Arzt werden und seine Art der 
Fragen, weil als überflüssige Lascivität aufgefaßt, trägt ihm 
die Abneigung, ja vielleicht den Haß seiner Patienten, nicht 
minder der Gattin wie des Ehemanns ein. Und seltsamerweise 
gehören hierzu gerade diejenigen, die in diese Klasse gehören, 
die vorzugsweise eines solchen Rates bedürften, die kalt und 
.empfindungslos sind. Hier beginnt die verfeinerte Über- 
kultur . . . facere non turpe, dicere obscoenum. Es gehört 
schon ein gewaltiger Grad von Philantropie, eine Art von 
'Martyrium dazu, auf die Gefahr des eigenen Schadens hin 
einem Anderen auch nur die Möglichkeit eines Nutzens zu 
gewähren. Diese Möglichkeit liegt bei der Anaesthesia sexualis 
feminarum vor — warum also, selbst ihre Kenntnis voraus- 
gesetzt, danach fragen, wenn die Patientin selbst darüber 
schweigt ! 

Die Literatur über die Anaesthesia sexualis femi- 
narum war, wie schon bemerkt wurde, bisher äußerst dünn 
und spärlich vorhanden. Einen Grund hatten wir bereits in 
der peniblen und diffizilen Natur des Stoffes kennen gelernt. 
Ein zweiter Grund lag vorzüglich darin, daß in allen! 
Fragen des spezifisch weiblichen Empfindens 
hind Fühlens das Weib auch nur allein sich in 
seiner Sprache verständlich machen kann. 

Schon G. L. Kobelt (Freiburg 1844), der ein noch heut 
anerkanntes meisterhaftes Werk mit vorzüglichen Kupfern über 
„Die männlichen und weiblichen Wollustorgane 
•des Menschen und einiger Säugetiere in ana- 
tomisch-physiologischer Beziehung" geschrieben, 
hat, entringt sich der Ausspruch : „Und wahrlich! wären 
unsere physiologischen Lehrbücher in so vieler 
Frauen als Männer Hände, wir würden manchem 



Digitized by Google 



— 6 

ungläubig lächelnden Gesichte begegnen." Die 
moderne Frauenbewegung, der das medizinische Studium sich 
in letzter Zeit mehr und mehr erschlossen hat, hat sicherlich^ 
auf diesem Gebiete ein großes, zukunftsreiches, ihr ganz zu 
eigen kommendes und dankbares Arbeitsfeld. „Das Ge- 
schlechtsleben des Weibes" von Frau Dr. med. 
Fischer-Dückelmann (Zürich) ist bereits das Resultat 
derselben und bildet eine Bereicherung der spärlichen Literatur 
und einen anerkennenswerten ersten Anfang und Versuch aus 
der Feder einer ärztlich denkenden Frau. In einem speziellen; 
Falle gibt sie ihrer Klage Ausdruck, „mit welcher Nicht- 
achtung das weibliche Gefühlsleben in der 
Ehe seitens vieler männlichen Ärzte oft bei 
handelt wird und welche furchtbaren Folgen 
ihrem Unverständnis entspringen." 

Vorstehende Angaben hatten ihren vollen Wert, als sit 
seinerzeit bei der I. Auflage dieses Buches nieder- 
geschrieben wurden. Seitdem hat sich manches geändert. Die 
Sexuelle Bewegung ist in Fluß gekommen. Aus der sexuellen 
Dunkelheit und geheimnisvollen Stille wurde die „sexuelle 
Aufklärung", Zuviel Licht flutete auf einmal herein und 
allzu laut und aufdringlich kündete es sich oftmals an. Der 
Übereifer und die Überproduktion machte sich auch hier wie 
bei allem Neuen bemerkbar und die geschäftliche Spekulation 
nutzte die Schwächen der sexuellen Instinkte, die plötzlich 
eine größere Freiheit genossen, in reichlichem Maße aus. 

Der sexuelle Wind flaute wieder ab. Die Spreu wird 
langsam vom Korn geschieden. Das Publikum selbst em- 
pfindet der Unterschied zwischen lüsterner Sensationsmachq 
und ehrlicher Aufklärung. Der metallene Kern, der sich aus 
der ganzen Bewegung herausschält, ist das Bewußtsein des 
Rechtes des Menschen auf sexuelles Wissen. Die Fort- 
pflanzung des Menschen in ihrem rein mechanischen Funda- 
ment nicht minder . wie mit ihren innerlichen seelischen 
.Nuancen beherrscht neben der Sorge für den Lebensunterhalt 
die ganze Welt. Um uns zu ernähren, streben und lernen 
und arbeiten wir unausgesetzt. Um uns fortzupflanzen und 
um uns zu lieben, sollen wir unwissend, mit einem Schleieif 
vor beiden Augen, in den Tag hineinleben? Ein taktvolles 
Kennenlernen und Wissen, das nicht zur Zote und Gemeinheit 



Digitized by Google 



- 7 - 



herabsinkt, erniedrigt nicht, sondern erhöht den Zauber des 
Genusses. 

Auch der vorliegenden Frage ist die angeschwollene Auf- 
klärungsliteratur der letzten Jahre zugute gekommen. Die! 
Frage der weiblichen Geschlechtskälte ist — angeregt durch 
die vorliegende Monographie — wiederholt besprochen 
worden. Ich sehe von einigen epigonenhaften Werkchen ab, 
die in ihrem Titel mit der „Kälte" derart ins Gesicht 
springen, daß Reklame und Sensation schon aus der Auf- 
schrift hervorgehen. Es sind entweder kurze Extrakte, denen 
eine Zusammenstellung der pikanteren Fälle des vorliegenden 
Werkes mit einem ebenfalls geborgten und verkürzten Ver- 
bindungstext ausreicht, oder wenig ehrliche und wissenschaft- 
liche Druckblätter, deren Endzweck in die Empfehlung eines 
— Sanatoriums ausklingt. 

Über diese Literatur kann ohne Diskussion ninweg- 
gegangen werden. Viel wertvoller dagegen sind eine Anzahl 
von Beobachtungen und Aufsätzen, die in ernsten Sammel- 
werken (z. B. Koßmann: Mann und Weib) und einigen 
\ neueren Sexualzeitschriften enthalten sind (Die NeueOenc- 
ration — Zeitschrift für Sexualwissenschaft — 
Mutterschutz — Sexualprobleme — u. a.) In ihnen 
ergreifen dankenswerterweise oftmals die Frauen selbst das 
Wort. Diesen Aufsätzen gesellt sich die medizinische Fach- 
presse hinzu, die ebenfalls der allgemeinen Bewegung ge- 
folgt ist und viel häufiger als früher ihre Spalten den sexuellen 
Fragen geöffnet hat. Es erübrigt sich hier, einzelne Namen 
zu nennen. Die angesehensten und gelesensten Fachzeit- 
schriften haben sich in diese Reihe gestellt. Auf die einzelnen 
Arbeiten einzugehen wird sich an manchen Stellen dieser Auf- 
lage wiederholt Gelegenheit finden. 

In den größeren und bekannteren Lehrbüchern der Gynä- 
kologie ist das Wort Anaesthesia sexualis oder D y s - 
pareunieso gut wie unbekannt. In einem der vorzüglichsten, 
in dem Schröder sehen Lehrbuch der Gynäkologie, kommt 
vielleicht hie und da unter „Symptomen" (z. B. Kapitel: 
Parametritis atrophicans) ein „Nachlaß der 
Libido" vor — aber damit ist auch die Materie erschöpft. 
Jener spezifische Zustand absoluter Kälte und Empfindungs- 
losigkeit ohne nachweisbare organische Krankheit und Ver- 



Digitized by Google 



- 8 - 



änderung, die Betonung ihrer Häufigkeit findet keine Er- 
wähnung und dies ist um so verwunderlicher, als Schröder, 
unter dessen persönlichem Zauber Verfasser noch selbst ge- 1 
standen, nicht nur ein Meister der Diagnostik und glänzender} 
Operateur, sondern auch ein Menschenkenner und Seelenarzt 
ersten Ranges war. Wie sein persönliches Auftreten und sein 
zum Herzen gehender Vortrag trotz aller Sprödigkeit des 
Stoffes, in dem es von weiblichen Schmerzen und Klagen 
wiederhallt und bei den größten aller Operationen $tröme 
Blutes fließen, stets voll einer zarten, teilnehmenden Mensch- 
lichkeit, ja oft von einer hinreißenden, fast dichterischen 
Diktion durchwebt war, so hatte auch seine Feder einen Hauch 
von Poesie. Man lese die bekannte Stelle von der gonorrhoi- 
schen Infektion in der Hochzeitsnacht, um seine Meisterschaft 
in der Darstellung menschlichen, speziell weiblichen Schicksals 
zu bewundern. Sicherlich ist S ch r ö d e r in seinen gewaltigen 
klinischen und vor allem privaten Klientel die sexuelle An- 
ästhesie* nicht entgangen — allein aus den eingangs erwähnten 
Gründen mag er ihre Besprechung und Aufnahme in sein 
Lehrbuch unterlassen haben. Eher findet sich noch in einigen 
älteren gynäkologischen Werken (z. B. J. C. G. Jörg: Über 
das physiologische und pathologische Lebendes 
Weibes (Leipzig 1833) und D. W,. K. Busch: Das Ge- 
schlechtsleben des Weibes (Leipzig 1841—44) einef 
kurze Andeutung. Auch in den kuriosen Kompilationen des 
D. Martinus Schurigius: Muliebria, Partheno- 
logia, Gynäkologia, Spermatolo-gia (Dresden und 
Leipzig 1720—1727) sind einzelne Hinweise enthalten, ebenso; 
wie in Zacchias: Quaestiones medicales, bei 
welchem zum ersten Male von einer „natura frigida" zu 
lesen ist. 

Im übrigen zerplittern sich die wenigen literarisch nieder- 
gelegten wissenschaftlichen Einzelbeobachtungen in der ver- 
schiedensten medizinischen Fachliteratur des In- und Auslandes. 
Da die letzten Jahre (vor Erscheinen der I. Auflage 1904} 
in der sexuellen Frage literarisch produktiver waren, so er- 
wähnten v. Krafft-Ebing, Moll, Rohleder, Eulen- 
burg, Fürbringer, Kisch u. a. wohl den Zustand, be- 
tonten seine Wichtigkeit und Bedeutung und wagten wohl 
hie und da den Versuch einer psychologischen Analyse. Seit- 



( 

Digitized by Google 



— 9 — 



dem hat' sich, wie schon erwähnt, die Literatur nennenswert 
vermehrt. Besonders muß hier die Freud sehe Schule-Wien 
mit ihrer „psycho-analytischen" Methode und ihrer 
Theorie der „sexuellen Wurzel" genannt werden. Einer 
ihrer Hauptjünger, W. Stekel (Nervöse Angstzu- 
stände), berührt das Thema der sexuellen Anästhesie oft 
iund eingehend. Von ihm und der Freud sehen Methode 
wird in den folgenden Seiten noch häufig die Rede sein. 

Unter den Philosophen haben Schopenhauer, Lotze, 
in jüngerer Zeit Max Dessoir der Vita sexualis ihr Augen- 
merk zugewendet. In anthropologischen oder allgemein kultur- 
| historischen Schriften (z. B. Ploß: Das Weib — Wester- 
' mark: Geschichte der menschlichen Ehe etc.) 
finden sich Andeutungen. Auch in sozial-politischen Schriften, 
wie z. B. in Bebels: Die Frau und der Sozialismus 
— hat die Frage Erwägung gefunden und keine geringere 
Erwiderung als Hegars Schrift: „Der Geschlechts- 
trieb" hervorgerufen. Eine selbständige Monographie über 
den Gegenstand besteht jedoch auch heut noch nicht außer 
der vorliegenden, wenn man, wie schon erwähnt wurde, von 
einigen Reklamebüchelchen absieht, die ihre mageren Früchte 
von diesem ersten Triebe geborgt haben. 

Es mag hier als ein kurioser Fall erwähnt werden, daß 
diese Literaturlücke nicht nur in den Fachkreisen der Ärzte, 
sondern gelegentlich im Publikum, bei einer Patientin zur 
Verwunderung über dieses literarische Defizit führen konnte. 

Eine Patientin kam wegen klimakterischer Beschwerden in 
meint Behandlung. Seit längerer Zeit gewohnt, bei jedem einzelnen 
Falle die sexuelle Empfindungs-Anamnese zu berücksichtigen, fand 
ich auch hier Dyspareunie. Die Patientin war in glücklicher 
Ehe verheiratet und hatte mehrere Kinder. Sie war einige Jahre 
selbst Leiterin eines größeren ärztlichen Hausstandes gewesen, hatte 
aber nie gewagt, über ihren Zustand zu sprechen, obgleich sie im 
stetigen Konnex mit Ärzten und Patientinnen lebte. Wie sie mir 
gestand, hat sie vergeblich die ihr leicht zugänglichen ärztlichen 
Bücher ihres Chefs — der notabene speziell gynäkologische Praxis 
trieb — durchsucht, ohne auch nur andeutungsweise einen Hinweis 
oder eine Erklärung für ihnen Zustand zu finden. Gewiß! Sogar 
der Chef hätte in seiner Bibliothek selbst mit seinem fachmännischen 
Blicke sicherlich kaum etwas davon entdecken können! — 

Es erübrigt, noch einmal auf das numerische Vor- 
kommen der Anaesthesiasexualisfeminarum zurück- 



Digitized by Google 



- 10 - 



zugreifen. Es ist bereits angeführt worden, daß eine einwands- 
freie statistische Berechnung nicht existiert und auch nicht 
(existieren kann. Stets wird es sich hier nur um Schätzungen 
handeln. Ich will meine persönlichen Erfahrungen, um jedem 
Vorwurf einer Überschätzung, wie sie leicht bei einseitiger 
Beschäftigunjg mit einer bestimmten Materie vorkommt, von 
vornherein zu begegnen, in die vorsichtigste und dehnbarste 
Form kleiden. Ich bin der Ansicht, daß die Anaesthcsia 
sexualis feminarum totalis et partialis pro- 
zentual nach Dekaden zählt. Sie beträgt sicher- 
lich nicht unter 10 %, ist höchstwahrscheinlich 
jedoch bedeutend höher: 2 0, 30 ja vielleicht gar 
b i s 4 0 o/o ! 

Ich kann leider nur wenige, exakte Gewährsmänner für 
meine Behauptung anführen. Die eine Zahl — -10 11 o — gibt 
»Qu tt zeit an. Derselbe hat sich in seinem kompendiösen 
IWerke : „3 0 J a h r e P r a x i s" der sexuellen Fragen besonders 
angenommen. Sein Urteil ist deshalb von Bedeutung, weil 
er allgemeine Praxis getrieben und durch seine jahrelangen 
Beziehungen zu denselben Personen auch in gesunden Tagen 
mit ihnen Fühlung behalten hat. — „Von 10 Weibe i n 
empfinden 4 gar nichts in coitu und üben den- 
selben selbst ohne alles angenehme Gefühl bei 
der Friktion und ohne eine Ahnung vom Hoch- 
genuß der Ejakulation zu haben/' — Ich beschränke 
mich darauf, Guttzeits Zahl — also 4 0 °o! — an dieser 
Stelle ohne jede Kritik zu registrieren. Es liegt kein Grund 
vor, im Sinne und in Wertschätzung seiner anderen Beob- 
achtungen das Resultat irgendwie zu bezweifeln. 

Eine zweite Zahl gibt Debrunner (Berichte undi 
Erfahrungen aus dem Gebiete der Gynäkologie 
u n d G e b u r t s h i 1 f e) an. Er sagt wörtlich : „Bei über 50°/o ( !) 
unserer Frauen der Ostschweiz ist von einer eigentlichen 
Libido nicht zu sprechen. Häufig habe ich nach dieser Richtung 
hin Gelegenheit gehabt, anamnestische Angaben zu sammeln 
{Und ich kann versichern, ^daß über die Hälfte 
(unserer Frauen eine Libido sexualis nicht 
kennen. Sie verhalten sich bei der Kohabitation ganz passiv." 

Nach meinem persönlichen Empfinden treffen diese Zahlen 
vielleicht "die seltenste und höchste Außengrenze — allein, 



Digitized by Google 



- 11 - 



wenn, wie von mir angegeben, nur selbst geringere pro- 
zentuale Dekaden übrig beliben, so dürfte dieses Ver- 
hältnis noch ungeahnt und überraschend genug erscheinen! 
Solche Zahlen vermutet man schwerlich bei einem Zustande, 
der vielen kaum dem Namen nach bekannt und über den 
bisher so wenig geschrieben ist und geforscht war! 

Für die zahlenmäßige Abschätzung der mangelhaften öe- 
schlechtsempfindung wären die Frauen selbst eigentlich die 
kompetentesten Statistiker. Leider liegt eine solche einwands- 
freie Arbeit aus der Feder einer Ärztin bisher nicht vt>r. *) 
Dagegen gibt auch Johanna Elberskirchen („Das Ge- 
schlechtsleben des Weibes" in Koßmann: Mann und 
V7eib, Bd. I, zweiter Teil, Kap. 3) trotz ihrer Kontroverse 
gegen die vorliegende Monographie (vergl. später beim Kapitel : 
Vom weiblichen Geschlechtstrieb im allge- 
meinen (Libido) „nach ihrer eigenen Erfahrung eine außer- 
gewöhnlich große Zahl Frauen mit mangelhafter Ge- 
schlechtsempfindung" zu. 

In einen anderen Ton verfällt die bekannte Agitatorin 
Dr. phil. Helene Stöcker. Sie kämpft in einem Auf- 
satz der von ihr herausgegebenen „D i e N e u e G e n e r a t i o n" • 
(„Die sexuelle Abstinenz und die Stützen der Gesell- 
schaft" — Januar 1909) für Freiheit und Anerkennung der 
(weiblichen Sexualität. Hierin erklärt sie die Tatsache einer 
ca. 23 o/o igen weiblichen Frigidität für baren l/nsinn und ver- 
steigt sich in ihrem Sexualitätsbewußtsein zu der wenig ab- 
stinenter Bemerkung, daß ein derartig versierter Arzt als ein 
„in Sachen der Liebe ungebildeter und roher Mensch einfach 
auszulachen" sei. 

Hätte die Autorin die „mangelhafte Geschlechts- 
empfindung des Weibes" auch nur mit einem kurzen 
Blicke beachtet, so würde sie vermutlich nicht zu ihrer ober- 
flächlichen Ansicht gekommen sein und hätte ihr nicht die 
agitatorisch rauhe Form ihres krassen Wortes geliehen. Sie 
hätte gefunden, daß eben ganz allgemein von „mangelhafter" 
Geschlechtsempfindung die Rede ist, daß die behaupteten 25o/ 0 
(andere sogar 40 und 50 o/o) nur die Fehler und Störungen 
des weiblichen Sexualgefühls betreffen ohne Kritik ihrer Ur- 



*) Neuerdings gibt Margarethe v. Kemnitz 60 o/o (!) an. 



Digitized by Google 



- 12 — 



Sachen. Das häufig gebrauchte Wort „kalt'' bringt die Ver- 
wirrung hervor. Dieses Wort schwebte der Gegnerin wahr- 
scheinlich vor und vermutlich sind ihr nur jene armseligen 
Torsi von Nachschriften zu Gesicht gekommen, die in der 
Erkenntnis der Bedeutsamkeit des Themas auf dem Titelblatt 
„die Kälte" der Frau sensationell Iiinausschreien. *) 

Hingewiesen sei an dieser Stelle noch auf jene andere 
Agitatorin, die in dem Vorworte zur II. Auflage dieses Buches 
zu Worte kommt. Sie hat — obgleich auf demselben Kampf- 
platz für sexuelle Reform stehend — aus der vorliegenden 
•Bearbeitung des Stoffes ein männliches und ärztliches Ver- 
ständnis für die Eigenart des weiblichen Sexualempfindens 
herausgelesen. Welche 'Gegensätze der Auffassung! 

Noch einem besonderen Irrtum muß begegnet werden, 
wenn es sich um die Schätzung, speziell um die Anerkennung 
der entschiedenen Häufigkeit der geschlechtlichen Unempfind- 
lichkeit des Weibes handelt. Unsere Schlüsse ziehen wir 
Ärzte nicht nur aus den Angaben der Frauen, sondern nicht 
viel seltener aus den Klagen der Ehemänner über die Kälte 
ihrer Gattin. Und nun halte man einmal Umfrage bei Jung- 
gesellen! Ich bin stets hier einem beredten Staunen oder der 
feurigsten Kontroverse begegnet, fast ausnahmslos fanden die 
Unverheirateten die behauptete Häufigkeit, ja selbst nur 
die Existenz des nichts empfindenden Weibes als unvereinbar 
mit ihren Erfahrungen, während gleichzeitig die Verheirateten 
in demselben Kreise zum mindesten oft mit einem verständnis- 
vollen Schweigen antworteten. Cum tacent clamant. — Die 
Erklärung ist für jeden, der nur auf diesen Punkt hingewiesen! 
wird, leicht und verständlich. Selbstverständlich ist das Ma- 
terial der Junggesellen ein absolut anderes! Entweder ist 
/es nur die Venus vulgivaga, die überhaupt durch Wollust 
zu ihrem Gewerbe getrieben wurde, oder wenn aus anderem 
Gründen dazu veranlaßt, doch gelernt hat, selbst bei der 
eisigsten tief ühlslosigkeit sich den Anschein 
heißer Liebesglut zu verleihen. Ein natürlicher, not- 
wendiger, raffinierter Geschäftskniff! Oder aber es existieren 
Beziehungen anderer Art, wo der Verkehr ein Austausch der 



*) Auch hier hat sich die Differenz durch das Mißverständnis von 
„mangelhaft" und „mangeln d" aufgeklärt. 



Digitized by Google 



- 13 - 



Herzen geworden ist, wo die Geliebte an Bildung und ge- 
sellschaftlicher Stellung ebenbürtig ist. Nun — in diesem 
Fällen der höchststehenden außerehelichen Geschlechtsliebe 
können es wieder a priori nur die von Natur em- 
pfindungsreichen Frauen und Mädchen sein. Die 
anderen fallen ganz von selbst aus, ihr Lebensweg kreuzt 
Jgar nicht diese Gefahren. Ihr Leben vollzieht sich abseits 
davon; unverheirateten Männern bleiben sie unbekannt. In 
der Ehe erst erfahren diese Frauen von ihren Pflichten und 
damit fst denn auch allzu häufig die traurige Entdeckung für 
den Mann gemacht. 

Hier setzt bereits die psychologische Analyse des Ge- 
schlechtslebens ein, der wir an späterer Stelle ausführlicher; 
begegnen werden. 



Digitized by Google 



II. Kapitel. 



Zur Anatomie und Physiologie der Wollustorgane, 



Das Durchtreten des Sperma resp. der weiblichen Sekrete ist nicht 
die Ursache der Wollustempfindung, sondern ein koordiniertes B e g l e i t- 
symptom. Beobachtung der Sekretion im weiblichen Orgasmus in einem 
speziellen Falle. Fall I (Eigene Beobachtung). Die weiblichen Sekretionen 
haben wesentlich mechanische Voraussetzungen. Die Glandulae vesti- 
buläres majores sind ursprünglich Riechstoff bildende Lockdrüsen. Geruch 
und sexuelle Erregung. Empfindungsstatus beim masturbatorischen Or- 
gasmus. Fall II a (Eigene Beobachtung). Spezieller Fall eines spezifi- 
schen Ejakulationsgeruches. Das Typische im Orgasmus ist die Kon- 
traktion der Geschlechtsmuskulatur. Letztere ist anatomisch minimaler 
als die des Mannes (Waldeyer). Glans als „sensibler Brennpunkt". Der 
relative Nervenreichtum hat zum Schlüsse eines höheren Geschlechtsgentisses 
des Weibes geführt. Tiresianische Entscheidung. Eine vollkommen andere 
Schlußfolgerung daraus. Exstirpation der Klitoris. Solche bei den Skopzen. 
Andere periphere Erregungsstellen (Moraglia). Fall von Orgasmus 
mammarius. Praeputium glandis ist kein Schutz, sondern eher ein Er- 
regungsmittcl. Wahrscheinlich ebenso das Smegma praeputiale. Die 
Erektion ist im allgemeinen notwendig für den Orgasmus. Die vermehrte 
Blutfülle und der vergrößerte Blutdruck machen erst die Nervenendigungen 
spezifisch sensibel. Fall von Anaesthesia sexualis completa bei Herzfehler 
des Mannes (Fall III, Eigene Beobachtung). An der Blutdruckerhöhung 
wirkt auch die Geschlechtsmuskulatur mit (Scxualherz). Physiologisches 
Resume. 



Indem die allgemeine Anatomie und Physiologie der 
,Wollustorgane, wenigstens in großen Zügen, im folgenden 
als bekannt vorausgesetzt werden muß, wird es sich für den 
vorliegenden Stofi im wesentlichen darum handeln, einige Be- 
sonderheiten eingehender zu betrachten, die einerseits markante 



Digitized by Google 



- 15 — 



Unterschiede gegenüber den männlichen Organen betreffen, 
andrerseits in Beziehung auf das Zustandekommen der Wollust- 
empfindung von besonderer Bedeutung sind. 

„Vor allem hat» sich die Physiologie" (Kobelt 
in seiner klassischen Darstellung der Anatomie und Physiologie 
der Wollustorgane), „verlassen von ihrer Schwester- 
doktrin, darüber noch nicht mit Bestimmtheit 
auszusprechen gewagt, an welche besonderen 
einzelnen Teile der Generationswerkzeuge 
I beider Geschlechter die wollüstigen Empfin- 
• düngen beim Begattungsakt zunächst gebunden 
sind, wie dieselben in ihrem Zusammenwirken 
auftretenund welches analoge Verhältnis dieser 
Teile in beiden Geschlechtern obwaltet." 

Obgleich diese Worte aus dem Jahre 1844 herrühren, 
haben sie ihre Bedeutung nicht verloren. Die Kobeltschen 
Ausführungen haben im wesentlichen« noch heute ihre Gültig- 
keit, seih Buch ist noch immer eine schätzenswerte anatomisch 
brauchbare Leistung. 

Wie unklar und verworren noch die Vorstellungen über 
den Sitz und das Zustandekommen der WollustempHndungen 
sind, mag aus einem weit verbreiteten Irrtum hervorgehen. 

Da in der Regd der männliche Orgasmus mit der Ejaku- 
lation des Sperma verbunden ist, so vindiziert man diesem den 
Hauptanteil an der Entstehung des Wollustkitzels. Wir lesen 
bei v. Krafft-Ebing: „Der Geschlechtsakt geht 
mit einem Wollustgefühl einher, das beim 
Manne durch infolge der sensiblen Reizung der 
Genitalien fiervorgerufenen Durchtretens von 
Sperma durch die Ductus ejaculatorii in die 
Urethra bedingt sein dürfte." In ähnlichem Sinne 
sagt Moll: „Das männliche Befriedigungsgefühl 
entstehtdurch die Ejakulatio n." — Wir kennen doch' 
wahrlich Fälle von früher Masturbation bei Knaben lange Zeit 
vor der Pubertät in hinreichender, ungezählter Fülle, in denen 
auch nicht eine Spur von Sperma oder Sekret 
entleert wird und nicht entleert werden kann. Die Angaben 
der unmündigen Kinder wären kaum von Bedeutung, wenn 
sie nicht als Erwachsene einstimmig die Tatsache zugäben, 
meist mit der stets wiederkehrenden Bemerkung, daß die erste 



Digitized by Google 



- 16 - 



.wirkliche Ejaculatio eine besondere Überraschung war! Alle 
geben keine Unterscheidung im früheren puerilen und späteren 
pubertären Empfinden an. Auf die Akme der Libido 
hat das Sperma als solches keinen Einfluß. 

Wir übertragen diese absolut sichere Tatsache auf das 
weibliche Geschlecht. Auch bei ihm findet bekanntlich im 
Kulminationspunkt eine Ejaculatio, eine Flüssigkeitsausschei- 
kiung, ein „Naß werden" statt. Wir führen dasselbe auf 
die verschiedensten Formen der Sekretion zurück, auf die 
Expression des Uterinschleimes, auf die vermehrte Leistung 
der Schleimdrüsen der Scheidenschleimhaut, auf die Sekretion 
der Glandulae vestibuläres und der Bartholinischen Drüsen. 
Sicherlich ist diese Flüssigkeitsbildung, die entgegen derjenigen 
des Mannes aus den verschiedensten Quellen stammt, ein 
Produkt der ansteigenden und auf ihrem Höhepunkt ange- 
langten Libido, allein es sind koordinierte Zustände. Nicht 
das „Durchtreten" der Sekrete macht den Kulminations- 
punkt der Libido, sondern im Beginn der geschlechtlichen Er- 
regung beginnt zugleich die Sekretion, d. h. die erhöhte Tätig- 
keit des ganzen sexuellen Drüsenapparates, und im Höhepunkt 
der Empfindung, im Orgasmus, erfolgt die Expression durch 
die Kontraktion des hierbei in Betracht kommenden Muskel- 
apparates • 

Es ist begreiflicherweise viel schwieriger, über die 
wirklichen Sekretionsvorgänge beim Weibe eine der Beob- 
achtung direkt zugängliche Vorstellung zu gewinnen. In actu 
copulationis selbst vermischen sich die Ejakulationen Beider 
;und gestatten keine einwandsfreie Deutung. Wir sind be- 
schränkt auf die Schilderungen und Angaben entweder inastur- 
bierender Weiber oder auf die Darstellung bei den Pollutiones 
feminales. Zur direkten Beobachtung wird sich nur ausnahms- 
weise bei leicht erregbaren erotischen Patientinnen Gelegenheit 
bieten. 

Der weibliche Orgasmus ist bisweilen in exploratione 
gynaecologica beobachtet worden (Litzmann, Hohl, 
Kisch), ein ganz besonderer Fall ist derjenige J. Becks, 
der den Orgasmus bei Uterusvorfall zu sehen Gelegenheit 
hatte. Ich selbst kann eine Beobachtung hinzufügen, die schon 
an dieser Stelle in extenso angeführt werden mag, weil sie 
die Sekretfrage in besonders bezeichnender Weise berührt. 



Digitized by Google 



- 17 - 



Fall 1. 

(Eigene Beobachtung.) 

Patientin ist 22 Jahre alt. Stammt aus gesunder Familie. Eine 
einzige jüngere Schwester ist blaß und in der Entwicklung zurück- 
geblieben, .neigt leicht zu Ohnmächten. Patientin selbst hat an 
verschiedensten skrophulösen Erscheinungen gelitten, Hals- und 
Armdrüsen, Nasenpolypen. Im zehnten Lebensjahre fing die „Hüfte 
an, hervorzutreten". Deshalb Gipskorsett. Jetzt ist noch ein einseitiger 
Hochstand des Beckens zu bemerken. Masern und danach lange 
Zeit entzündete Augen sind überstanden. Die erste Periode trat 
mit ca. 15 Jahren auf, war schmerzlos, ist seitdem aber höchst 
unregelmäßig wiedergekehrt und hat Pausen bis zu einem Jahre ge- 
macht. Zurzeit ist Patientin seit ca. 3 /4 Jahren ohne Menses. 

Augenblicklich sucht Patientin ärztliche Hilfe wegen Schmerzen 
in der linken Leistengegend auf. Vor einigen Wochen entstand 
auf einer Reise ein entzündlicher Zustand an den Genitalien, be- 
sonders Brennen beim Urinlassen und Schmerzen in der Leisten- 
gegend, die das Gehen erschwerten. Ausfluß hat, wenn überhaupt, 
nut in geringstem Grade bestanden. 

Patientin ist eine durchaus gebildete Künstlerin und hat seit 
ca. 3 Jahren dieselben intimen Beziehungen ebenfalls zu einem 
Künstler von hoher wissenschaftlicher Bildung. Der Konsors will 
weder früher, noch jetzt geschlechtlich krank gewesen sein. Seine 
Untersuchung ergibt normale Befunde. 

Bei der Patientin finden sich die linken Inguinaklrüscn erheb- 
lich, in mehreren • Paketen isoliert, vergrößert, jedoch nicht mehr 
so schmerzhaft, wie zur Zeit des Entstehens. Uterus und Vagina 
zeigen keine Anomalien im Spekulum. Dagegen ist linkerseits kurz 
vor dem großen und reichlich erhaltenen Hymcnalkranzc an der 
Ausführungsstelle des Ductus Bartholinianus eine linsengroße, ero- 
sionsartige, bei Berührung leicht blutende Stelle. Druck auf das 
labium majus sinistrum ist nicht schmerzhaft und entleert auch 
kein Sekret, speziell keinen Eiter aus der Glandula Bartholini. 

Die Diagnose bleibt sowohl wegen der Anamnese, wie wegen 
des zweifelhaften objektiven Befundes in suspenso, die meiste Wahr- 
scheinlichkeit spricht für ein Ulcus oder Gonorrhoe. 

Die Patientin war bereits von anderer Seite zur Operation be- 
stimmt, da „innen alles vereitert sei". Ich sah vorläufig keinen 
Grund zu diesem radikalen Einschreiten, besonders da Patientin 
schwer in ihrem Berufe geschädigt worden wäre. Ich behandelte 
deshalb während dreier Wochen mit äußeren Mitteln, wonach die 
erosionartige Stelle verschwunden war, die Inguinaldrüsen jedoch 
unverändert weiterbestanden, ohne an Größe und Schmcrzhaftigkcit 
zugenommen zu haben. 

In dieser Zeit wagte die Patientin das Geständnis, daß sie in 
coitu ohne Befriedigung und Empfindung sei. Sie 
erreiche den Orgasmus nur bei manueller Reizung der Klitoriscegend 
Adler, Oeschlechtsempfindun«. 3. Aufl. 2 



Digitized by Google 



- 18 — 



oder wenn das membrum virile sine immissione längere Zeit dar- 
übergleite. Anfänglich hatte sie frühere Mastur- 
bation geleugnet. Jetzt gab sie dieselbe zu. Sie übte die- 
selbe bereits seit ca. 10 Jahren, also als noch nicht geschlechts- 
reifes Mädchen. Den Geschlechtsverkehr mit dem Manne kennt sie 
seit etwa 3 Jahren. 

Ich untersuchte daraufhin bei eingeführtem Sperr-Spekulum die 
allgemeine Sensibilität im Sinne der Kallmann sehen Unter- 
suchungen (cf. Zeitschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie 1898). 
Die Portio war dabei vollkommen eingestellt und die Seitenwände 
der Vagina mit dem Ausführungsgange der Bartholinischen Drüse 
lagen klar zutage. 

Indem ich die Klitoris berührte, speziell deren Präputium zu- 
rückstreifte, zeigten mir ungewohnte Bewegungen der sonst sehr 
ruhigen und leicht untersuchbaren Patientin ihre sinnliche Erregung 
an. Die Situation verriet den Orgasmus, und in dem- 
selben Augenblicke entleerte sich aus der Mündung 
des affizierten Ductus B a r t h o Ii n i a n us Eiter, 
der plötzlich als erbsengroßes Träubchen auf 
der Scheidenwand lag. 

Hiermit war die Diagnose einer eitrigen Bartholinitis gegeben 
und die Schwellung der Inguinales hinreichend erklärt. 

Die Scheide secenierte in diesem Augenblicke vielleicht eben- 
falls ein wenig, jedenfalls höchst unmerklich. Die 
Portio vaginalis dagegen, die ich kurz zuvor mit Watte vollkommen 
gesäubert hatte, zeigte jedoch keine Spur von Veränderung, 
weder in ihrer Form, noch in bezug auf Sekretion. Von dem 
(noch später zu erwähnenden) K r i s t e 1 1 e r sehen Schleimstrang war 
auch nicht eine Andeutung zu sehen. 

Die Patientin gab an, eine volle und ganze Befriedigung gehabt 
zu haben, was nach den geschilderten Beobachtungen wohl kaum 
zu bezweifeln ist, trotzdem die Untersuchung der Klitoris sicher- 
lich nicht zu zeitraubend war und trotzdem das metallene Sperr- 
Spekulum die Vaginalwände dehnte. 

Bei einer späteren Untersuchung nach etwa weiteren drei Wochen 
konnte ein ähnlicher Zustand beobachtet werden. Auch diesmal 
keine Veränderung an der Portio vaginalis, dagegen wiederum ein 
Tropfen vor dem Ductus Bartholinianus, aber kein Eiter 
mehr, sondern glashelle, klare Flüssigkeit. 

Die Eiterproduktion hatte in der Zwischenzeit nachgelassen. 
Die Drüse wurde täglich ausgedrückt, das Sekret wurde immer 
dünnflüssiger, bis es seine normale Wasserfarbe hatte. Die In- 
guinales gingen langsam ganz zurück. 

Die Patientin ist ohne Operation als geheilt entlassen worden. 



- 

Digitized by Google 



- 19 - 



Der geschilderte Fall beansprucht das physiologische 
Interesse um dessentwillen, einmal, weil er die Geringfügigkeit 
der Sekretion beim weiblichen Orgasmus beweist, dann aber 
vor allem, weil er das Spiel der Muskulatur in ein hellesj 
Licht setzt. Selbstverständlich war der Eiter nicht im Augen- 
blicke produziert, sondern lagerte, wie die Krankengeschichte 
deutlich erweist, längst in einer Tasche der Bartholinischeni 
Drüse. Vergeblich war seine Expression vorher manuell ver- 
sucht worden. Die allseitig die Drüse umlagernde Muskulatur 
'des Constrictor cunni oder nach Waldeyer (cf. das 
Becken) besser des Musculus Trigoni urogenitalis 
•war viel leichter imstande, den vermutlich in einer Seiten- 
tasche der Drüse gebildeten Eiter dem Ausführungsgange 
zuzuführen. 

Wir sehen also aus diesem Spezialfälle, daß die Se- 
kretion nur eine bescheidene Rolle im weib- 
lichen Ejakulationsakte zu spielen braucht. 
Sicherlich gibt es auch profusere Ergießungen, 
allein absolut notwendig sind sie für das Zu- 
standekommen der Wollustempfindungen nicht 

Der geringere Bedeutungswert der weiblichen sexuellen 
Sekretionen erklärt sich ohne Zwang aus ihrer nur losen Be- 
ziehung zur Befruchtung. Während das männliche Sperma 
der Zweck der ganzen Ejakulation ist, um die lebenden 
Spermatozoen in der Vagina zu deponieren, während 
tausende dieser männlichen Befruchtungskörperchen im Eja- 
kulat enthalten sind, liegt das (den Spermatozoen gleich- 
wertige) weibliche Ei'chen und zwar ein einziges, reifes 
Ei längst in der Tube oder im Uterus. Der weibliche 
Organismus hat im Momente des Orgasmus kein 
neues Befruchtungsobjekt zu schaffen. Wenn es tatsächlich 
erwiesen sein sollte, daß Uterusschleim aus der Portio aus- 
gestoßen wird (wovon wir uns in unserem Falle nicht über- 
zeugen konnten) und daß dieser zähe Schleim sträng, wie 
K r i s t e 1 1 e r behauptet, einem gubernaculum, einem Leit- 
band gleich, aus dem orificium externum herabhängt» 
iim den Spermatozoen den Weg in das Uterus-Cavum zu er- 
leichtern, so kennen wir andererseits jene unzähligen Fälle 
reichen Kindersegens gerade bei jenen Frauen, von denen 

2» 



Digitized by Google 



- 20 - 



Unser Thema handelt, bei den Empfindungslosen 
ohne Orgasmus und ohne Sekretion. 

Das Ejakulat des Weibes dient wesentlich mechani-. 
sehen Forderungen, es erleichtert die immissio penis 
und verhindert die allzustarke Vergewaltigung bei den Frik- 
tionen an den Vaginalwänden. Es wäre von der Natur ver- 
fehlt, lediglich für den Orgasmus ein Sekret zu schaffen, das 
gebraucht wird, wenn es eigentlich schon zu spät ist! Die 
Sekretion hat vom mechanischen Standpunkte nur Sinn, wenn 
sie ante coitum, mit dem ersten sinnlichen Ge- 
danken, auftritt, gewissermaßen um das Terrain vorzube- 
reiten. Und tatsächlich ist es genugsam bekannt, daß dieses 
„Feuchtwerde n" in libidine nascente beginnt. 

Die mehr mechanische Theorie der weiblichen Sekrete 
stimmt auch sehr wohl mit der Tatsache überein, daß speziell 
die Bartholinische Drüse nicht wie beim Manne Hoden und 
Prostata, nicht wie das Ovarium beim Weibe, erst in der 
Geschlechts reife, sondern schon im kindlichen 
Stadium ihr spezifisches glashelles Produkt 
;e n t wickelt. Die Bartholinische Drüse ist keine 
Geschlechtsdrüse p a r e x c e 1 1 e n c e. *) 

Wie die Frage bei den anderen Drüsen, speziell bei den 
Glandulae vestibuläres majores zu beantworten sei, 
ist noch nicht vollkommen festgestellt. 

Gustav Klein (München) hat in einem interessanten 
Vortrag in der Gesellschaft für Geburtshilfe und Gynäkologie 
(März 1900) entwickelt, daß diese Drüsen höchstwahrscheinlich 
die Bestimmung haben oder wenigstens entwicklungsgeschicht- 
lich gehabt haben, Riechstoffe als Anlockungsmittel für 
das männliche Geschlecht zu bilden. Sie sind gewissermaßen 
ein Derivat aus der Brunstzeit, als der Geschlechtstrieb wie 
bei den Tieren noch ein periodischer war. 

Diese Annahme ist ohne Zwang für jeden leicht ver- 
ständlich, der in der Tierwelt "die unendliche Bedeutung des 
Geruchssinnes im Geschlechtsleben beobachtet hat. Jedem ist 
das bei dem uns am nächsten stehenden Haustiere, dem Hunde, 
aus alltäglicher Beobachtung bekannt. Der Hund wittert be- 



*) Ober die chemische Bedeutung des Sekrets vcrgl. die eugeni- 
sche Theorie M. V a e r t i n g ' s pag. 70. 



Digitized by Google 



- 21 — 



reits aus weiter Entfernung die läufische Hündin, der Hengst 
ist nicht zu zähmen und zurückzuhalten, wenn auf bisweilen 
kaum glaubhafte Entfernung einej rossige Stute seine Nüstern 
zum feurigen Blähen geschwellt hat. 

Beim Menschen, der sich allmählich von dejn natürlichen 
und niedrigen Instinkten zum Gebrauch der freien Vernunft 
entwickelt hat, mag diese Fähigkeit auf Kosten anderer Reize 
verloren gegangen sein. Allein daß der Geruch bei der Ent- 
stehung sexueller Leidenschaften noch immer eine gewaltige, 
bedeutsame Rolle spielt, ist allgemein bekannt. Nur eine 
Wandlung ist dabei eingetreten. Die Geruchsempfindung kon- 
zentriert sich nicht auf die sexuellen Teile, sondern auf einen 
gewissen erregenden Duft des ganzen weiblichen Körpers, 
auf einen spezifisch undefinierbaren betäubenden Hauch der 
in Erregnug zitternden sam metweichen, rosig geschwellten 
Haut des Weibes. Den praktischen Nutzen hieraus hat die 
(weibliche Welt, besonders die feiner sinsibilisierte kultivierte, 
seit langem gezogen. Das künstliche Parfüm ist ein altes 
Lockmittel und allgemein gebräuchliches Toilettenkunststück. 

Auch nach der negativen Seite hin ist die tiefe Ein- 
wirkung des Gcruchsinnes in tausendfachen Fällen beobachtet 
(und bekannt. Wir werden bei der eigentlichen speziellen Be- 
sprechung besondere Formen der mangelhaften Geschlechts- 
empfindung die Wahrnehmung eines unangenehmen Geruches 
als einen häufigen Hemmungsgrund geschlechtlichen Ver- 
mögens kennen lernen. 

Obgleich von den Perversionen der Vita sexualis in dem 
vorliegenden Thema grundsätzlich nicht die Rede ist, so mag 
dennoch, um die physiologische Bedeutung des Vestibül ar- 
Drüsen-Sekretes auch für den Menschen zu erweisen, auf den 
Cunnilingus hingewiesen werden. Gustav Klein hält 
denselben für ein phylogenetisches Derivat, das sich aus den 
ursprünglichen Beziehungen zwischen brünstigem Riechstoff 
des Weibchens und Witterung des Männchens zwanglos erklärt. 

Es ist interessant, daß kurze Zeit bevor G. Klein seine; 
hypothetischen Mitteilungen machte, unbeeinflußt davon ein 
sexueller Status von mir aufgenommen wurde, in welchem 
die Frage eines spezifischen Sexualgeruches bereits berührt 
und von der Patientin als eigene unbeeinflußte Beobachtung 
angegeben wurde. Als ich G. Klein meine diesbezügliche 



Digitized by Google 



- 22 - 



Mitteilung machte, riet er mir zur baldigen Veröffentlichung- 
Ides Falles. Ich habe jedoch damit zurückgehalten, um ihn 
im Rahmen des vorliegenden Werkes originär aufnehmen zu 
können. Ich füge deshalb an dieser Stelle den ausführlichen 
Empfindungsstatus einer intelligenten Patientin, die sich zu 
vorurteilsfreien Angaben herbeiließ, an. 

Fall II (a). 

(Eigpne Beobachtung.) 

Verlauf der geschlechtlichen Empfindung bei einem Falle 
manueller Mastrubation (30jährige Patientin). 

Das Verlangen nach geschlechtlicher Befriedigung entsteht: 

1. Von selbst kurz vor oder nach der Menstruation, 

2. Als Mittel gegen Schlaflosigkeit, 

3. Nach Ausspülungen mit warmem Wasser (kaltes Wasser 
ist ohne Reaktion), 

4. Nach wollüstigen Träumen, 

5. Ganz plötzlich ohne besonders nachweisbare Ursache. 
Ist das geschlechtliche Verlangen da, so teilt sich der weitere 

Ablauf der Empfindungen in zwei Stadien: 

Stadium I = minderwertige Erregung. 
Stadium II — höchste Wollustempfindung. 
Stadium I : (Verlauf der minderwertigen Erregung). 
Notwendig ist dazu eine bestimmte Position. Im vorliegenden 
Falle wird das rechte Knie gebeugt und der. rechte Fuß gegen das 
Knie des ausgestreckten linken Beines gelegt. Zeit: nur abends 
oder nachts. 

Sodann legen sich der gekrümmte Zeige- und Mittelfinger der 
rechten Hand auf das linke labium minus an seinem unteren Drittel 
und pressen dasselbe auf die unter ihm liegenden Teile. Fester 
Druck. Dann allgemeine Bewegung der so gedrückten Teile auf 
ihrer beweglichen Unterlage. Es findet keine eigentliche Reibung 
der Finger auf der Oberfläche statt, sondern ein Hin- und Her- 
schieben der mit den Fingern fixierten Schleimhaut- und Haut- 
stellen. 

Hier bisweilen Aufhören: 

a) wegen Selbstbeherrschung, 

b) wegen Ermattung des Armes. 

Das hierdurch hervorgerufene Gefühl genügt bisweilen als 
hinreichende Befriedigung und klingt langsam unter 
allgemeiner Ermattung des Körpers ab. Ein Erguß hat hier- 
bei nicht stattgefunden, ebensowenig wie eine allgemeine 
Transpiration. Bald tritt Schlaf ein. 



Digitized by Google 



- 23 — 



Wird dieses Stadium 1 nicht unterbrochen, so stellt sich 
Stadium II : (die höchste Wollustempfindung) 
ein. Dieselbe wird instinktiv geahnt und dabei senkt sich der 
Mittelfinger in die Vagina, während der Zeigefinger auf dem 
labium minus liegen bleibt und die übrige Hand die ganze Vulva 
derart umfaßt, daß der Daumen nach oben auf den Schambein- 
knochen, der vierte und fünfte Finger nach dem Damm bis zum 
After reichen. Die ganze so umfaßte Vulva mit dem Mittelfinger 
in der Vagina wird gegen die Symphyse gedrängt und sämtliche 
Teile, die jetzt einen „schwammigen Eindruck" machen, 
en masse hin- und herbewegt. Hierbei pflegt dann die bis dahin 
freie linke Hand die etwas erlahmende rechte, die jedoch ihre Lage 
unverändert beibehält, durch Auflagerung bei den Bewegungen zu 
unterstützen. 

Darauf stellt sich je nach den Umständen ohne erklärbare 
Ursache entweder sofort, bisweilen nach e i n"i g e n Sekunden, 
andernfalls erst nach längeren fortgesetzten Mani- 
pulationen das höchste Wollustgefühl ein, welches das 
vorher geschilderte Gefühl um ein Bedeutendes überragt. 
Währenddessen hebt sich das Becken an, gewissermaßen um der 
manipulierenden Hand entgegenzukommen. Die Hebung des 
Beckens geschieht unwillkürlich als eine Folge der höchsten Spannung 
und Erwartung. Es senkt sich beim oder auch noch vor dem 
Eintritt des höchsten Orgasmus von selbst. Diese Hebung 
des Beckens ist erst nach der Bekanntschaft mii 
dem Coitus entstanden, vordem fand sie nie statt. 
Mit dem höchsten Wollustgefühl stellt sich ein leichter, nach außen 
hervortretender Erguß ein, der die Hand merkbar naß 
macht und dessen Geruch sich deutlich von dem gewöhn- 
lichen (geruchlosen) Scheidenschleim unterscheidet. Zugleich 
empfindet der eingeführte Finger leichte Zu- 
sammen Ziehungen des ganzen Scheideninnern von der Portio 
uteri bis zum Scheideneingang. 

Die höchste Wollustempfindung währt einige Sekunden unter 
gleichmäßiger Kontraktion der Scheide. Indem dieselbe langsam 
nachläßt, klingt auch ganz langsam und allmählich die 
Wollustempfindung ab. Dieses langsame Abklingen ist 
e i n durchaus behaglicher Zustand, in welchem die Hand fast von 
selbst aus und von der Scheide gleitet und der Körper, der bei 
dem letzten Ansteigen der Empfindungen in große allgemeine 
transpiratorische Erregung versetzt wird, allmählich in 
eine wohltuende Abgespanntheit übergeht, die sich bald in ruhigen 
Schlaf verwandelt. Das Abklingen dieser höchsten 
Wollustempfindung ist entschieden länger und 
auch genußreicher als bei der zuerst beschriebenen 
Erregung in Stadium I. 

Stadium II ist demnach nur nach vorausgegangenem längerem 
oder kürzerem Stadium I zu erreichen mit einziger Ausnahme 



■ 



Digitized by Google 



- 24 - 

bei der Befriedigung nach dem Erwachen aus einem sinnlichen 
Traume (selten!), welcher gewissermaßen schon Stadium I erreicht 
und überwunden hat, so daß lediglich die in Stadium II geschilderten 
Manipulationen notwendig werden, um den meist sehr schnell ein- 
tretenden Orgasmus noch nachträglich zu genießen. 

Der Geist ist währenddessen, sowohl in Stadium I wie II kaum 
mit etwas anderem ais mit der Erwartung des maximalen Ge- 
fühles beschäftigt. Nur ganz selten dürften Vorstellungen von einem 
Manne oder überhaupt natürlichem Coitus die Phantasie beschäftigen. 

Nach dem manuellen Akte, wenn nicht unmittelbar Schlaf ein- 
tritt, ist eine dumpfe, einige Stunden anhaltende Empfindlichkeit 
im Kreuze vorhanden, die sich hauptsächlich beim Sitzen bemerkbar 
macht, seltener zugleich eine innere Empfindlichkeit im Leibe, be- 
sonders rechts, die bis in die Leistengegend zieht (Hegarsche 
L c n c! e n m a r k s y m p t o m c ?). 

Eine psychische Verstimmung pflegt meistens einige Zeit da- 
nach anzuhalten, die wohl mehr auf Selbstvorwürfe zurückzuführen 
ist, da Patientin den Zustand für eine gefahrbringende Krankheit 
hält, die vielleicht irgendwie ausarten könnte. — 

Beginn der ersten masturbatorischen Versuche mit dem ca. 
20. Jahre. Wiederholung derselben mit großen, monatlichen Pausen, 
sonst 2— 3mal wöchentlich. Niemals zwei unmittelbar aufeinander 
folgende Versuche, selbst nicht an einem Tage. 



Der im Vorangehenden aufgeführte sexuelle Empfindungs- 
status ist in seiner ganzen breiten Ausführlichkeit wieder- 
gegeben worden, weil wir auf ihn, sowie auf einen später 
folgenden ähnlichen Empfindungsstatus in coitu bei derselben 
Patientin wiederholt aus physiologischen und psychologischen 
Gründen zurückzugreifen gezwungen sind. Die pathologischen 
Abweichungen lassen sich naturgemäß erst beurteilen, wenn 
eine annähernde Vorstellung des normalen Vorganges be- 
schrieben worden ist. Der vorliegende enthält so viel 
Typisches, welches zum Gesamtbilde des vollkommenen Or- 
gasmus gehört, daß wir an seiner Hand die weitere Analyse» 
vorzunehmen imstande sind. 

Als ein Hauptmoment für die Entstehung des Orgasmus 
muß auf alle Fälle die Kontraktion des muskulösen Ge- 
schlechtsapparates angesehen werden. »Der eingeführte 
Finger", beschreibt die Patientin, „empfindet leichte Zu- 
sammenziehungen des ganzen Scheideninnern". Diese Kon- 
traktionen sind in seltenen Fällen in v i v a bei der Unter- 



Digitized by Google 



- 25 - 

suchung gesehen und beschrieben worden, ich selbst habe 
mich bei den unter Fall I beschriebenen Symptomen von ihrem 
Vorhandensein überzeugen können. Die gespannte Scheiden- 
wand geriet in eine leichte rhythmische Kontraktion, am besten 
dem unwillkürlichen Augenzwinkern vergleichbar, außerdem 
bewegte sich die Glans Clitoridis, eine Bewegung, die 
man am besten als „Nicken" bezeichnen möchte, während 
seitlich von ihr ausstrahlend von den Schambeinbögen die 
Kontraktionen des Musculus ischio-cavernosus durch 
Bewegung und Hartwerden deutlich wahrnehmbar wurden. 

Q. L. Kobelt sagt am Eingang seines Werkes: „Da 
alle Empfindungen um so lebhafter und be- 
stimmter im Sensorium hervortreten, je mehr 
ihre materiellen Träger zur Selbständigkeit durch- 
gebildet sind, so verlieh sie (die Natur) hierfür 
beiden Geschlechtern, selbst auf die Gcfahrdes 
Mißbrauches hin, gesonderte selbständige Or- 
gane — die Wollustorgane." 

Ich bin nun der Ansicht, daß von diesen „m a t e r i e 1 1 e n 
Trägern", von den peripheren Organen, weiche der Er- 
zeugung des höchsten Wollustkitzels dienen, dermuskulöse 
ApparatdieersteundbedeutendsteRollespielt 
Orgasmus, d. h. die Akme derLibido, das höchste 
Wollustgefühl, ist physiologisch identisch mit 
Kontraktion der Geschlechtsmuskulatur — das 
Fehlen, Ausbleiben dieser höchsten Empfin- 
dung ist zugleich ein Ausbleiben ihrer Zu- 
sammenziehung. Das Wollustgefühl ist, wie wir gesehen 
haben, nicht notwendig an das Ejakulat gebunden. Bei un- 
reifen Knaben und Mädchen! findet in der Masturbation ohne 
jeglichen Erguß ein volles Wollustgefühl statt. Nur der mus- 
kulöse Apparat arbeitet im entscheidenden Momente in 
spezifischem Wollustkrampfe. Die Geschlechtsdrüsen haben 
nur insofern Anteil, als sie reif geworden und ihr spezifisches 
Sekret bildend, oft genug und normalerweise den ersten 
Reiz entfachen, die Ahnung dieses Gefühles er- 
wecken, das Verlangen nach seiner "Erfüllung 
wachrufen, mit einem Worte den Geschlechts trieb als 
solchen bestimmen und beeinflussen. 



Digitized by Google 



- 26 - 



Stets ist auch auf den folgenden Seiten dieser fundamentale 
Unterschied bei der Analyse des Geschlechtsempfindens streng 
zu beobachten. Gewöhnlich ist in den andeutungsweisen Be- 
merkungen diesbezüglicher Beobachtungen von Libido im 
allgemeinen die Rede. Libido, d. h. Verlangen nach 
geschlechtlicher Befriedigung, kann in reichem, 
überreichemMaßevorhandensein, doch niemals 
ist es zum Höhepunkt, zur Entladung, zum „Or- 
gasmus" gekommen. Gerade diese Fälle werden 
# |uns als die speziell pathologischen unseres 
Themasganzbesonders des weiteren beschäfti- 
gen. Ins Anatomisch-Physiologische übersetzt liegt bei ihnen 
nichts andres vor als: Die Geschlechtsdrüsen (Eierstock, 
•Glandulae vestibuläres und Glandulae Bartno- 
lini) funktionieren normal, liefern ihr spezifisches Sekret, 
allein der Muskelapparat des Geschlechtssystems (Musculus 
ischio-cavernosus, Musculus Constrictor cunni 
s. Trigoni urogenitalis) bringen es zu keiner Kon- 
traktion, verfehlen den — Orgasmus. 

Da der Geschlechtstrieb beim weiblichen Geschlecht 
durchschnittlich, wie später zu erweisen ist, wesentlich 
geringer oder besser durch mancherlei Hinder- 
nisse und Hemmungen sozialer A rt vergrabener 
ist, so erscheint es ebenfalls begreiflich, daß die „materiellen 
Träger" des Orgasmus (der muskulöse Geschlechtsapparat) 
rein quantitativ eine geringere Rolle spielen als beim Manne. 
Schon a priori ist es um dessentwillen verständlich, weil beim 
Manne die Schleuderkraft des Genitalapparates in ganz 
anderer Weise von der Natur verlangt wird als beim Weibe. 
In Waldeyers großer topographischer Darstellung: „Das 
Becken" lesen wir: „Der Musculus trans versus 
perinei (der von Henle sogenannte Teil des 
Waldeyerschen M. trigoni urogenitalis) des 
.Weibesistgewöhnlich kleiner als der des Manne s." 
Und vom Musculus ischio-cavernosus heißt es an 
gleicher Stelle: „Er ist viel schmächtiger als der des 
(Mannes, wenn auch etwas länger wegen der 
längeren Arcus pubis." 

Es entsteht die weitere Frage, auf welche Reize hin und 
auf welchem Wege, bei welcher Veranlassung erfolgt die 



Digitized by Google 



- 27 - 



Kontraktion der Geschlechtsmuskulatur, wodurch wird die 
Akme der Libido, der Orgasmus erreicht? 

Indem wir die normale Libido der erwachenden Ge- 
schlechtsreifung vorläufig als vorhanden voraussetzen, wissen 
Wir, daß in der Regel erst eine Summe wiederholter 
gleichartiger peripherer Reize die definitive Kon- 
traktion der Muskulatur auslöst. Man ist gewohnt, die Haupt- 
reizstelle beim' Manne in die glans penis, beim Weibe 
in die ähnlich organisierte glans clitoridis zu legen. Sie 
feind, wie Kobelt sagt: „Der höchst sensible Brenn- 
punkt." Und sicherlich muß ein Organ, das wie diese beiden 
so ganz vorzugsweise mit spezifischen Nervenendkörperchen 
ausgestattet ist und das sogar Endkolben eigenster Form 
(Krause sehe G e n i t a 1 k ö r p e r ch e n), wie sie kaum ander- 
wärts an einer Stelle des menschlichen Körpers vorkommen 
dürften, in seinem nervenreichen Inhalt birgt, eine besondere 
Beziehung zum Mechanismus der höchsten sexuellen Em- 
pfindungen .haben. 

Ohne Zweifel sind beide die Haupterreger ^der notwendigen 
Reize, die zum Zentralnervensystem (Ejakulations- resp. 
besser Kontraktions Zentrum) geleitet hinreichend summiert 
und wiederholt die Geschlechtsmuskulatur zur Kontraktion 
bringen, zum Orgasmus führen. Beim Manne ist diese 
von der Natur gewählte Stelle ohne weiteres in ihrer zweck- 
mäßigen Lage verständlich. Beim Weibe dürfte die 
Erklärung schon etwas schwieriger ausfallen. 
Sicherlich sind, die Stellen in der Vagina bei den Friktionen 
des Penis ein viel leichteres Ziel als die oft recht hochsitzende 
Klitoris, von der es feststeht, daß sie in vielen 
Fällen beim normalen Coitus vom Penis über- 
haupt nicht direkt erreicht und gerieben wird. 

Möglich, daß an dieser anatomischen Vor- 
aussetzung infolge einer Ungleichheit der nun 
einmal aufeinander angewiesenen Genitalien, 
die Anaesthesia sexualis der Gattin die häufige, 
beklagenswerte Folge ist! 

In der Glans penis und clitoridis strömen die Nerven- 
endigungen in vermehrter Zahl und Ausdehnung zusammen. 
In der viel kleineren Glans clitoridis sogar relativ noch viel 
bedeutender. Sie ist absolut um ein Erhebliches „nerven- 



Digitized by Google 



- 28 - 



reicher". Sie ist, rein anatomisch gedacht, der wahre „sen- 
sible Brennpunkt", ein „Multum in minimo", wie 
sicli K o b e 1 1 ausdrückt, und da man immer gewohnt gewesen 
ist, dieses Organ bei Mann und Weib gleichmäßig als das 
eigentlich periphere Organ des höchsten Wollustempfindens 
zu betrachten, so hat iman auch aus diesem relativen 
Nervenreichtum der weiblichen Glans auf den er- 
höhten Wollustkitzel des Weihes geschlossen. 

Es ist höchst sonderbar, wie dieser anatomisch-physio- 
logische Schluß, den auch K o b e 1 1 macht und der ihn sogar 
zu einer kleinen mythologischen Exkursion begeistert, in 
schreiendstem Gegensatz zu der übergroßen Zahl unempfind- 
licher Frauen steht! Sollte nicht gerade jener Entscheidung 
des Tire sias, durch welche er im Liebesstreit zwischen 
Zeus und Hera der letzteren — also dem Weibe! — den 
neunfach höheren Genuß zuschreibt, eine tiefere, andre Wahr- 
heit nachklingen? Was heißt es anders, wenn er für seinen, 
Schiedsspruch mit der Blendung des Augenlichtes von Hera 
bestraft wurde, als daß sie mit seinem Orakel unzufrieden 
war, daß sie anders fühlte, daß sie vielleicht, obgleich eine 
Göttin, dennoch allzumenschlich organisiert war und das 
Schicksal der mangelhaften Geschlechtsempfindung mit dem 
großen Teil ihrer menschlichen Schwestern teilte! Die kleine 
unwissenschaftliche Abschwenkung, die wir uns auf Kobelt- 
schen Wegen erlauben, führt uns plötzlich zu ganz anderen 
Schlüssen. Vielleicht ist Hera der erste Name, an 
welchem geheimnisvoll und nur wie durch einen Schleier er- 
kennbar zum ersten Male Anaesthesia sexualis des Weibes 
in die Erscheinung tritt, vielleicht ist Hera die erste; 
kalt empfindungslose Frau, die erste — natura 
f rigida.! 

Die Eichel sowohl des Penis wie der Klitoris 
kommen selbstverständlich für die Entstehung des höchsten 
Wollustgefühls in erster Linie in Betracht. Allein eine} 
absolute, unbedingte Notwendigkeit sind sie 
rieh t. Ein Penis, dessen Glans aus anderen Gründen ampu- 
tiert ist (z. B. wegen Carcinoma), von dem jedoch ein ge- 
nügender Stumpf zurückgeblieben ist, um nicht nur eine 
Erektion, sondern auch die Einführung in die Vagina, also 
einen Coitus, zu gestatten, kann seine unverminderten. 



Digitized by Google 



- 29 - 



Gefühle bewahrt haben. Beim weiblichen Geschlecht 
ist bei verschiedenen Völkerstämmen die frühe Verschneidung, 
d. h. die ganze resp. teilweise Abtragung des Kitzlers, 
Sitte geworden. Bei den Skopzen, jener weitverbreiteten 
russischen Sekte, ist diese Verstümmelung allgemein. Aber 
<es ist erwiesen, besonders durch die vorzüglichen Unter- 
suchungen Pelikans im Auftrage der russischen Regierung, 
daß bei vorhandengewesenem Wollustgefühl durch 
Abtragung der Kitzlereichel ein Fortfall des 
Orgasmus auf keinen Fall stattgefunden hat. 

Man hat bei den krankhaften, überstarken Sinnlichkeits- 
zuständen des weiblichen Geschlechtes, bei jenen als „Nym- 
phomanie" bezeichneten Fällen, in welchen das Verlangen nach 
sinnlicher Befriedigung unaufhörlich das ganze Denken aus- 
füllt und zu einem Übermaße immer wiederkehrender Selbst- 
befriedigung führt, wiederholt den Vorschlag gemacht und 
tatsächlich ausgeführt, die Klitoris resp. deren Eichel zu exstir- 
pieren. Nach den mitgeteilten Ergebnissen bei den Skopzen- 
Sveibern wäre eine solche Heilmethode, um mit Guttzeit 
zu reden, „barer Unsin n". Der Sitz des höchsten Wollust- 
gefühls kann nirgends anders als im Zentral-Nerven- 
sy stem sein und folglich ist die Vernichtung jener peripheren 
Erreglingsteile an der Kitzlereichel schon um dessentwillen 
verfehlt, weil wir mit Sicherheit viele andre Stellen des Genital- 
schlauchs, ja sogar an vollkommen hiervon entfernten Punkten 
(z. B. Brustdrüsen) kennen, von welchen aus die Summation 
der Reize aus vorgenommen werden kann und tafsächlich 
zum Orgasmus führt; ja, noch viel mehr! Wir kennen eine 
ganze Anzahl von Fällen, welche niemals durch Reizung 
der Glans selbst imstande sind, zur Akme zu gelangen, 
sondern immer nur von anderen Punkten aus. 

Moraglia beschreibt in seinem Werke: Die Onanie 
beim normalen Weibe und bei derProstituierten 
(1897) ausführlich die verschiedenen Formen. Er kennt eine 
Befriedigung: 

1. Vom Innern der Scheide aus entweder an den 
Scheidenwänden oder an der Gebärmutter: 

Masturbatio vaginalis. 

2. An der Kitzlereichel: 

Masturbatio clitoridiana. 



Digitized by Google 



- 30 — 



3. An der Harnröhrenmündung, resp. im Innern der- 
selben : 

Masturbatio urethralis. 

4. An den Brustdrüsen: 

Masturbatio mammaria-. 

Nr. 1 : Masturbation vaginalis ~- ist selten bei Jungfrauen, 
fügt er hinzu. Wir erwähnen diese Beobachtung oesonders, 
Weil sie von späterer Bedeutung bei gewissen Formen der 
Unempfindlichkeit in coitu ist. 

Bei Nr. 4 führt er einen ihm persönlich bekannten Fall 
an, „w o eine bildhübsche Dame, die in ihrem nor- 
malen Sexual verkehr durchaus kühl war, ganz 
frenetisch wurde, wenn ihr Mann ihr an den 
Brüsten sog und sie drückte". 

Auch sonst sind Nervenverbindungen von der Brustdrüse 
zur sexuellen Empfindungssphäre bekannt. Nicht unerwähnt 
mag bei dieser Gelegenheit bleiben, daß Reizungen der Brust- 
warze in der Schwangerschaft gefährlich und vorzeitige Ge- 
bärmutter-Kontraktionen hervorzurufen und eventualen Abortus 
zu begünstigen imstande sein sollen. Im übrigen verweisen! 
wir von dem uns aus eigener Teobachtung bekannten Ma- 
terial auf den Empfindungsstatus des Fall II (a), in welchem 
ebenfalls eine typische Klitoris reizung nicht stattfindet; 
sondern entfernt davon, teils an den Nymphen, teils im 
Innern der Vagina selbst. 

Wenn es demnach unbestreitbar feststeht, daß der 
Kitzler, speziell seine Eichel, ein absolut unent- 
behrliches Postulat für die Entstehung des höchsten 
Wollustgefühles auf keinen Fall bildet, so bedarf doch 
ihre anatomische Bevorzugung mit so besonderem und reichem 
Nervenmaterial einer eigenen Erklärung. Mir erscheint ies 
viel plausibler, daß diese bei beiden Geschlechtern so sehr 
nach außen hervortretenden Sammelstellen feinster Nerven- 
enden den Weg weisen, daß überhaupt durch Friktion 
an den Genitalen ein besonderer Zustand her- 
vorgerufen werden kann, wenn erst einmal das dunkle 
Ahnungsgefühl des Geschlechtstriebes verstohlen sich gemeldet} 
hat. Beide, Glans Penis und Glans Clitoridis, haben ihr ver- 
schiebliches Hautdach, ihr Präputium. Aber dieses fasse 
ich nicht als einen Schutz auf, der ängstlich die Sen- 



Digitized by Google 



- 31 — 

sibilität der feinen Nervenenden zu hüten und zu bewahren 
hat, wie von andrer Seite oft erklärt wurde — wo blieben 
sonst Juden, Türken und alle Mohammedaner, die sich trotz 
Beschncidung im Gegenteil durch &roße Sinnlichkeit aus- 
zeichnen! — sondern ganz entgegengesetzt als uni 
absichtliches natürliches Erregungsmittel. Es 
ist unvermeidlich, daß bei den mannigfachsten Bewegungen 
des Körpers auch diese Hautfalten bewegt werden, und be- 
finden sich die Geschlechtsteile in erregungsfähigem (erektions^ 
ähnlichem) Zustande, so gibt die Natur hiermit die Richtung 
an, auf welchem Wege der vorhandene .Trieb einen natu* 
gemäßen Verlauf zu nehmen imstande ist. Ich wage noch 
weiter zu gehen und glaube, daß auch das typische 
Eichelsekret, welches sich gerade an diesen Falten soi 
reichlich als Smegma praeputiale bildet, ein Glied in 
der Kette der natürlichen Reize bildet, welche das! 
Individuum instinktiv auf die Befriedigung des 
Geschlechtstriebes hinleitet. 

Wir kommen zum letzten Punkte der für den physio,-! 
logischen Akt des Orgasmus wichtigsten Momente, zur 
Erektion. Dieselbe ist beim Manne ein unabweisliches Er- 
fordernis nicht minder für die Kohabitation, sondern auch für 
die Erzielung der Äkme bei der Masturbation. In seltenen! 
Fällen sind allerdings Ejakulationen und Orgasmus ohne~öder 
ohne genügende Erektion bekannt und beschrieben, po daß 
also die Kontraktion der Geschlechtsmuskulatur auch ohne 
stärkere Blutfülle möglich ist. Diese Fälle scheiden wir als 
pathologisch aus. In der Regel 'ist die Erektion nötig, um 
die Reibungsreize als spezifisch sexuelle Reize zu empfinden' 
und durch ihre Summation den Orgasmus, herbeizuführen. 
Auch im weiblichen System scheint die Erektion, die stärkere 
Durchblutung der Geschlechtsteile notwendig zu sein. Hier 
bezieht sich die Blutfülle nicht allein auf die Klitoris, sondern 
auch auf die kleinen Schamlippen, deren Grundgewebe nach 
Waldeyer (das Becken) „ein festes an elastischen 
Fas er nreichesBindegewebemitglatten Muskel- 
fasern aus zahlreichen weiten Venen ist, welche 
denselben den Charakter eines erektilen Ge- 
webes geben. In der Tat sinddie klei nen Scham- 
lippen einer namentlich bei geschlechtlicher 



Digitized by Google 



- 32 - 



Erregung auftretenden, erektionsähnlichen 
Ttirgescenz fähi g". 

Wir verweisen wieder auf unseren Empfindungsstatus in 
Fall II, in welchem die Patientin von dem „schwammigen 
find ruck" der betreffenden Geschlechtsteile spricht. 

Daß die Klitoris tatsächlich sich erigiert und vergrößert, 
ist oft bei der gynäkologischen Untersuchung zu beobachte:». 
Ihr Volumen steigt auf das Doppelte. 

C. H. S t r a t z beschreibt in seinen „Frauen auf J a v a" 
einen Hermaphroditen, „dessen Klitoris 2 cm, in erec- 
tionc jedoch 4 cm war". 

Der Sinn der weiblichen Erektionen, die gegenüber den 
männlichen als rein mechanische nicht erklärt werden können, 
liegt in ihrer eigenen und sonderbaren Einwirkung auf die 
sensiblen Nervenendigungen. Auch beim Manne bewirkt die 
zunehmende Durchblutung nicht nur die mechanische Koha- 
bitationsfähigkeit und Steif ung, sondern, wie beim Weibe, 
werden durch den erhöhten Blutdruck und durch die kräftigere 
Umspülung die „W o 1 1 u s t n e r v e n zu einer erhöhten 
und spezifischen Erregbarkeit umgestimmt". 
„Das heißt erfahrungsgemäß," fährt Kobelt fort, 
„Reize, die sonst unbeachtetbleiben, habenjetzt 
eine energische und eigenartige Rückwirkung 
auf das S e n s o r i u m , von welcher im jungfräu- 
lichen Individuum nur eine dunkle Vorahnung 
lebte, die sich im Geschlechtsdrange kundgibt. 
Ohne äußere Reizeinwirkung geht dieser Zu- 
stand geschlechtlicher Aufregung spurlos vor- 
über, das geahnte Gefühl blei bt im Dunkel liegen 
und entwickelt sich nicht zur deutlichen Em- 
pfindung, weil die einfache arterielle Kon- 
gestion den ge.f orderten Grad des inneren Blut- 
druckes auf den Nerveninhalt nicht herbei- 
führen kann und im Interesse des individuellen 
und generischen Lebens nicht herbeiführen 
durfte." 

Das erektile Gewebe erstreckt sich außer auf Klitoris und 
kleine Schamlippe auch auf das ganze Genitalrohr. Die schwell- 
fähigen Vaginalplexus reichen hoch hinauf bis zu den Fim- 
brien. Im weiblichen Körper findet keine so sehr 



Digitized by Google 



- 33 - 



nach außen sichtbare, dagegen vielleicht noch reichlichere 
Durchblutung des ganzen Inneren in stadio erectionis 1 
Statt. Man kann von einer nicht sieht baren veri- 
tablen „inneren Erektion" des' .Weibes sprechen. 

Außer der Blutfülle mag auch der vermehrte Blut- 
druck das Seinige zur Umstimmung der .Wollustnerven bei- 
tragen. Nicht allein, daß der Druck an und für sich schon in 
den erweiterten Bluträumen ein größerer ist, auch das ver- 
mehrte und verstärkte Pochen des Herzens beim sexuellen 
Akte zeigt dessen gewaltig gesteigerte Arbeit an, die sicherlich 
der Erregbarkeit des ganzen nervösen Sexualapparates zu- 
gute kommt. So allgemein bekannt diese Erscheinung ist 
und so wenig sie besonders betont zu werden braucht, war 
es mir doch in einem 

Fall III. 

(Eigene Beobachtung) 

interessant zu erfahren, daß eine 43jährige Beamtenfrau, die zwei- 
mal geboren und niemalsbeiderBegattungauchnurdie 
leiseste Andeutung einer angenehmen Empfindung 
verspürt hat, stets durch das erschreckende Herzklopfen ihres Mannes 
in peinlicher Angst erhalten wurde. Der von mir untersuchte Gatte 
hat einen typischen Herzklappenfehler (nach Gelenk-Rheumatismus) 
mit deutlichem Geräusche, das natürlich in der sexuellen Erregung 
noch gewaltig ziuiahm. 

Es scheint mir nicht ausgeschlossen, daß dieses die Frau be- 
ängstigende Symptom den genügenden Hemmungsgrund 
abgegeben hat, ihr vielleicht von Natur besonders geringes Ge- 
schlechtsverlangen und -empfinden ganz zu unterdrücken resp. "über- 
haupt nicht aufkommen zu lassen. Der Gatte hatte den Herzfehler 
schon mit in die Ehe gebracht. 



Es ist nicht ganz unwahrscheinlich, daß an der Erhöhung 
des Blutdrucks im sexuellen System die Muskulatur des 
Geschlechtsapparates noch direkt beteiligt ist. Es 
scheint, als ob mit der beginnenden Erregung und bei den 
Friktionen noch vor dem eigentlichen Orgasmus, bevor der 
eigentliche Wollustkrampf einsetzt, die diesbezügliche Mus- 
kulatur in leichten rhythmischen Zuckungen arbeitet, ledig- 
lich zu dem Zwecke, immer neues Blut in die erigierten 
Organe hineinzuschleudern und den Blutdruck in denselben 
ad maximum zu erhöhen. Die Geschlechtsmuskulatur, die ur- 

Adler. Geschlechtsempfindung. 3. Aufl. 3 



Digitized by Google 



- 34 - 



sprünglich nur beim Manne die absolute Bedeutung des 
sainen schnellenden Apparates hat, undj da diese Wirkung 
beim Weibe überflüssig ist, auch in Anlage und Fähigkeit 
sich zu kontrahieren bei demselben minderwertig werden 
konnte, gewinnt damit auch für das Wetib an er- 
neuterWichtigkeit. Die Geschlechtsmuskulatur unter- 
stützt durch leichte rhythmische Zusammenziehungen die 
Tätigkeit des Herzens, bis der volle Wollustkrampf eintritt. 
Die Oeschlechtsmuskulatur wirkt bis zum Or- 
gasmus dem Herzen ähnlich durch rhythmische 
Kontraktionen in unmittelbarer Nähe des blut- 
druckverlangenden Terrains, sie ist ein im Be- 
darfsfälle wirkendes, echtes peripher gelegnes 
S e >: u a 1 h e r z. (Kobelt.) 

Das kurze Fazit unserer anatomisch-physiologischen Be- 
trachtungen ist folgendes: 

Ar den pheripheren Geschlechtsorganen des Weibes voll- 
zieht sich die normale bis zum vollkommenen Orgasmus ent- 
wickelte Libido in folgender Stufenleiter : Die Erregung be- 
ginnt mit stärkerer Durchblutung des ganzen Geschlechts- 
apparates, besonders Kitzler und kleine Schamlippen, wahr- 
scheinlich hinauf bis zu den Fimbrien (innere Erektion). Damit 
fangen beim geschlechtsreifen Weibe schon die Drüsen an zu 
sezernieren und das Terrain zu befeuchten. Auch die Mus- 
kulatur (M. Ischio cavernosus, M. Trigoni urogeni- 
talis, Constrictor cunni) unterstützen die vermehrte 
Tätigkeit des Herzens durch leichtere, rhythmische Kontrak- 
tionen. Schließlich tritt im Orgasmus selbst die krampfhafte 
Kontraktion derselben Muskeln ein, wobei noch ein vermehrtes 
Sekret abgeschieden werden kann. Nach dem Wollustkrampfe 
verlieren die Organe ihre strotzende Blutfülle und kehren 
langsam zur Norm zurück. 

Die Betonung der beiden Hauptmomente, Blutfüllung 
(Erektion) und Krampf der Geschlechtsmuskeln, 
erscheint mir von ganz besonderer Wichtigkeit, weil die Be- 
handlung gewisser Formen pheripherer Anaesthesia sexu- 
alis von diesen Punkten aus die Möglichkeit einer Besserung" 
und Heilung des Zustandes nicht als aussichtslos erscheinen, 
lälit. 



Digitized by Google 



III. Kapitel. 

Die Wollüstkurve des Weibes. 



Die Schwierigkeit in der Beurteilung der Quantität des Empfindens. 
Die Frage von der verschiedenen Genußfähigkeit beider Geschlechter. Die 
Unfruchtbarkeit dieser Frage. Historisches: Tiresias, Martinus Schurigius, 
Kobelt, Mantegazza, Hippokrates. Fall eines Zwitters mit beiderseitigem 
Geschlechtsverkehr ohne Entscheid (Fall' IV). Verwechslung des all- 
gemeinen weiblichen Geschlechtsverhaltens mit dem durchschnittlichen 
Orgasmus. Nur in extremen, pathologischen Fällen scheint das Weib 
eines größeren Furor sexualis fähig zu sein. Männliche Orgasmuskurve. 
Charakteristischer spitzer Winkel. Weiblicher Höhepunkt durchschnittlich 
später. Übersinnliche und nymphomanische Ausnahmen. Männliche An- 
passung. Empfindungsstatus in coitu (Fall II b). Weibliche Orgasmus- 
kurve. Charakteristischer stumpfer Winkel. Physiologische Erklärung des 
langsameren Abklingens. Vergleich beider Kurven. Die eigene Geschlechts- 
sprache des Weibes (Havelok Ellis). Bestätigung des „Abklingens" 
durch Urteil einer Ärztin. 



Wie die allgemeinen — körperlichen und geistigen Eigen- 
schaften des Weibes — in tausenden von Varianten dem Manne 
gegenüber ihren spezifischen Charakter besitzen, so hat 
nicht nur die allgemeine Geschlechts Sphäre des 
»Weibes, sein Geschlechts trieb eine eigene weib- 
liche Färbung, sondern auch der Akt des 
,Wollustempfindens selbst (Orgasmus) läßt sich 
in seinem Ablauf von demjenigen des Mannes 
unterscheiden. ' 

Es ist selbstverständlich schwer, bei dem Worte „Em- 
pfindung" eine absolute oder auch nur annähernde Verständi- 
gung zu erzielen. Schon auf leichter diskutablen Gebieten 

3» 



Digitized by Google 



-36 - 

gehen die Ansichten so diametral auseinander, daß man eine 
bestimmte Norm nicht festzustellen imstande ist. Um wie- 
vielmehr auf den geheimnisvollen Pfaden des weiblichen Ge- 
schlechtsempfindens, das so ängstlich behütet und das vor 
allem so variabel ist! 

Eine Frage, die so alt als die .Welt ist, die bereits 
an das erste liebende Menschenpaar herantreten mußte, die 
seither wiederholt, besprochen und zu lösen gesucht wurde, 
harrt noch immer der Entscheidung — die Frage, ob der 
iMann oder das Weib einen höheren Liebes- 
genuß empfinden. 

Es mag eine reizvolle Unterhaltung sein, über diesen 
Punkt die Gedanken; auszutauschen, sie mag einen erfahrenen 
und beredten Sprecher zurj interessanten und geistvollen Kon- 
versation veranlassen, allein von Hause aus ist die ganze 
Fragestellung unfruchtbar und kindlich, nach S e v e d 
Ribbing ein „Knaben - Raisonnemen t". 

Wir haben schon vorhin andeutungsweise von der Ent- 
scheidung des T i r e s i a s im Liebesstreit zwischen Zeus und 
Hera gesprochen. Bis an den Olymp ist diese Frage ge- 
drungen! Und fast überall, wo sie beantwortet wurde, hat 
das weibliche Empfinden den Triumph davongetragen. Welch 
sonderbarer Gegensatz zu unseren 40 o/o Unempfindlichen! 

Des historischen Interesses wegen} füge ich einige Urteile 
über diese wenig wissenschaftliche und fruchtbare Frage bei: 

T i r e s i a s entschied für ein neunfach größeres Em- 
pfinden des Weibes deshalb, weil es volle neun Monate 
die Lasten der Schwangerschaft zu tragen hätte! 

D. Martinus Schurigius in, seinen Muliebria 
(1729) zitiert Franc. Plazzon. de Port. Gene rat. und 
gibt den Frauen einen dreifach höheren Genuß, weil sie 
von drei Stellen aus (Scheide, Kitzler, kleine Schamlippen), 
erregbar seien : 

„In feminis excitatur voluptas primo ex 
af f rictatione in rugis transversis cervicis, 
deinde intentigine seu extremitate clitoridis, 
quae glandi et constitutione; et exquisito sensu 
respondet; ad hanc affrictationem etiarn per- 
cipiuntnymphae duae sivei alae. Unde colligere 



Digitized by Google 



- 37 - 



est, feminas habere triplicem af f rictationem, cum 
virtantum unam inglandehabea t." 

Auch K o b e 1 1 wagt in seinem mehrfach zitierten Werke 
den tiresianischen Ausspruch anatomisch-physiologisch 
durch den Nerven reichtum der Kitzlereichel zu begründen. 
Selbstverständlich ist hiermit gar nichts bewiesen, da wir be- 
reits dieses Organ 1 durchaus nicht als das alleinige und wich- 
tigste kennen gelernt haben.) Ferner erscheint es zweifelhaft, 
ob die Kitzlereichel bei ihrem allerdings relativ der Eichel 
des Penis überlegenen Reichtum an Nervenelementen, auch im 
ganzen dieselbe übertrifft. Vergleichen wir die gewaltige; 
äußere Masse der männlichen Eichel mit der noch nicht ein. 
Zehntel betragenden weiblichen, so wird sich wahrscheinlich 
der absolute Nerven reichtum noch zu Gunsten der männ- 
lichen entscheiden. 

Es ist auch verfehlt, von diesen peripheren Stellen ausi 
den Grad der Libido und des Orgasmus, die doch im Sensorium 
ihre Zentralstellen besitzen und deren psycho-sexuelles 
Zentrum im Gehirn den springenden Punkt in 
der ganzen Frage der Geschlechtsempfindung 
bildet, bemessen zu wollen. 

Eine große Klitoris ist durchaus nicht iden- 
tisch mit großem Liebeskönnen, ebensowenig 
wie ein verkleinertes Organ mit erotischem 
Mangel. Ein Maler kann, die gewaltigsten, gröbsten Hände 
besitzen und dennoch die zartesten Bilder malen. Ich erinnere 
an den paradox klingenden geistvollen Ausspruch, daß 
Raphael ein großer Maler geworden wäre, selbst wenn er 
zufällig ohne Arme das Licht der .Welt erblickt hätte. 

Der Nervenreichtum der Klitoris läßt nur die Tatsache 
einer anderen Organisation, einer anderen Anlage zu. 
Ein Rückschluß auf die] erhöhte Wonne ist verfehlt. 

Von neueren Autoren hat sich Mantegazza für den 
erhöhten Geschlechtsgenuß des Weibes' ausge- 
sprochen. Seine Argumente fußen zum Teil auf den an- 
geführten peripheren Deduktionen, wenngleich er sich der 
physiologischen Erklärung, die in der erhöhten allge- 
meinen Sensibilität des Weibes liegen soll, nicht 
verschließt. 



Digitized by Google 



- 38 — 



Die ganze Frage ist müßig und de facto unbeantwortbar. 
Es handelt sich um inkommensurable Gefühle. 
(Wenn trotzdem oft die Entscheidung zugunsten des Weibes 
fällt, so liegt das wohl an einer Verwechslung. Die Natur 
hat im Liebesempfinden des t Weibes eine viel weitere und 
größere Differenz geschaffen. Jenen Dekaden von Un- 
empfindlichen stehen auf der anderen Seite einige 
Überempfindliche gegenüber. Es mag sein, daß die 
gewaltigsten Äußerungen der Leidenschaft im 
Extrem nur im weiblichen Geschlecht vor- 
kommen, daß ein nymphomanischen Geschlechts- 
hunger unersättlich und unstillbar sein kann. 
Dann aber haben wir! ein pathologisches Bild vor uns und es 
mag sein, daß dieses Krankheitsbild am Weibe noch 
frenetischer auftreten kann als beim Manne, ein wahrer 
furor sexualis, ein richtiger epileptischer Liebes- 
krampf. 

Die Frage läßt sich durch praktische und theoretische 
Konklusionen nicht lösen. Vielleicht würde ein Wißbegieriger 
dk Antwort bei den Zwittern suchen. Allein einen Zwitter 
im vollkommenen Sinne gibt es nicht, d. h. ein Individuum, 
das zu gleicher Zeit ein Weib befruchtet und selbst als Weib 
empfangen hätte. Ein Individuum, das Vater und Mutter zu- 
gleich ist! 

Übergänge gibt es genügend und ich führe der Voll- 
ständigkeit halber den von Bruck in der medizinischen Ge- 
sellschaft zu Berlin (1898) vorgestellten Hermaphroditen 
an, bei welchem einige kurze Angaben über das Geschlechts- 
empfinden von Interesse sind. 

Fall IV. 

Ein Hermaphrodit. 

(Brucks Fall. Auch bei Neugebauer: Beob. 1070.) 

Derselbe hat ein wohlausgebildetes männliches Geschlechtsglied 
5 1 /« cm lang, 6 l / 2 cm im Umfang). Außerdem darunterliegend eine 
normal große Vulva. Die Scheide ist 6 cm lang und endigt in 
einer rudimentären Gebärmutter. Der ganze Habitus ist mehr der- 
jenige eines weiblichen Zwitters. Alter: 33 Jahre. 



Digitized by Google 



- 39 - 



Ober den Geschlechtsverkehr wird folgendes angegeben. „Sic" 
ist verheiratet und will sogar zweimal abortiert haben (?). Sie übt 
jedoch den Coitus in beiderlei Form, d. h. mit Männern 
und mit Frauen aus; doch will sie in der letzten Zeit mehr Hin- 
neigung zum Coitus mit Frauen gehabt haben, während 
ihr andererseits der Verkehr mit einem Manne ein Bedürfnis 
— sie sagt bezeichnend: una necessitä — gewesen ist. Sexuelle 
Erregung ist jedenfalls bei beiden Formen des 
Coitus vorhanden gewesen. — 



St- sonderbar dieser Fall auch wegen seiner sexuellen 
Zweiseitigkeit ist, so kommt doch auch hier für unsere Frage 
keia nennenswertes Ergebnis heraus. Obgleich selbst mehr 
dem weibilchen Habitus sich nähernd, hat sie doch eine be- 
vorzugte Neigung wiederum zu Frauen, während ab und zu 
der Verkehr mit einem; Manne ein Bedürfnis ist. In welchem 
Falle nun eine tatsächlich größere Lust, ein tiefer empfundener 
Orgasmus stattgefunden hat, ist nicht angegeben und kann 
wahrscheinlich nicht angegeben werden. 

Auch das große Sammelwerk Neugebauer s*), das nicht 
weniger als 1981 Krankengeschichten von Zwittern aufführt, 
trinkt nichts Entscheidendes, obgleich unter LXXVII, 2 u. 25 
(,, Wechselndes Geschlechtsbewußtsein" und „Beischlaf mit 
Männern und mit .Weibern") die Frage zur häufigen Diskussion 
steht. 

Ich schließe diese der Vollständigkeit halber vorgebrachte, 
meiner Meinung nach nichtige und unbeantwortbare Frage 
des quantitativen Unterschiedes im männlichen und weib- 
lichen Orgasmus mit dem kurzen Hinweis auf Hippo- 
krates, der den Frauen den geringeren Geschlechts- 
gennß zuspricht. Der alte Meister hat wohl schon an die 
vielen „Unempfindlichen" gedacht! 

Von diesem Gesichtspunkte ausl löst sich die Frage ganz 
anders auf : 

Das Geschlechtsbedürfnis ist sicherlich, mit absoluter Ge- 
wißheit (wovon noch später) beim weiblichen Geschlecht 
in vielen Fällen ein unverhältnismäßig gerin- 



*) F. L. v. Neugebauer: „Hermaphroditismus beim 

Menschen." Leipzig. Dr. Werner Klinkhardt. 1908. 

t 



Digitized by Google 



- 40 - 

geres und verschwindet nicht selten bis zur 
eisigsten, kalten, totalen Empfindungslosig- 
keit Bei starkem, ausgeprägtem Triebe jedoch 
erreicht der Orgasmus eine in Quantität und 
Qualität dem Manne oftmals überlegene (pathologi- 
sche) Höhe. Da das Weib vielgestaltiger, variabler ist, so 
liegt auch sein Geschlechtsempfincfen innerhalb der weitesten 
Grenzen. Les extremes se touchent. — 

«Wir kehren nach dieser Abschwenkung zu dem nor- 
malen, durchschnittlichen Geschlechtsempf in^ 
den des Weibes im' Orgasmus zurück und wollen ver- 
suchen, dem Ablauf seiner! Empfindung eine bestimmte Form 
und Gestalt zu geben. Es kann sich hierbei nur um die Be- 
antwortung folgender Fragen handeln : 

1. Verläuft die Wollustempfindung des 
Weibes gewöhnlich in derselben Zeit 
wie diejenige des Mannes? 

2. Sind die zeitlichen Abschnitte (auf- 
steigend und absteigender Ast der 
Kurven) bei beiden Geschlechte rn 1 ver- 
schieden ? 

Wir werden hier einigen bemerkenswerten Abweichungen 
begegnen. 

Das männliche Empfinden spielt sich kurz folgender- 
maßen ab: 

Nachdem Erregung und Erektion eingetreten sind, wird 
durch gleichmäßig fortgesetzte rhythmische Bewegungen ein 
gleichmäßiger Wollustkitzel hervorgerufen; und erhalten. Der- 
selbe kann bisweilen durch verstärkte Rhythmik um ein Ge- 
ringes erhöht werden, im allgemeinen aber ist es ein gleich- 
mäßige! Kitzel, der das männliche Individuum in einer an- 
nähernden gleichwertigen Spannung erhält, die nur auf den 
Moment des höchsten Wollustgefühles, den Orgasmus, 
wartet. Der Eintritt des höchsten Momentes tritt 
fasturplötzlich in lawinenartige rAnschwellung 
ein. Es dauert nur wenige Augenblicke und ist 
unmittelbar darnach ebenso plötzlich ver- 
schwunden, ohne längere oder kürzere Zeit auch 
nur eine Spur von Wollustkitzel zurückzulassen. 



Digitized by Google 



- 41 — 

In folgender Kurve läßt sich dieser Ablauf graphisch ver- 
anschaulichen : 



Höhepunkt des 
Orgasmus 




Kurve des Geschlechtsempfindens beim Manne. 



Das Charakteristische an der männlichen Kurve ist der 
zuerst verhältnismäßig geradlinige Verlauf, dann die 
plötzliche Erhebung und der plötzliche Abfall. 
Dadurch entsteht — der Höhepunkt der Empfindung als mathe- 
mathischer Scheitelpunkt gedacht — ein spitzer .Winkel. 

Nicht unerheblich weicht hiervon das weib- 
liche Wollustgefühl ab. Im allgemeinen kann man 
sagen, daß der Höhepunkt des weiblichen Wollustkitzels: 
durchschnittlich etwas später einsetzt, als derjenige 
des Mannes. Wohlverstanden durchschnittlich! 
Es gibt sicherlich hier auch umgekehrte Verhältnisse und 1 
es ist hinreichend bekannt, daß Frauen in uno actu des Mannes 
zwei und mehrere Male den Höhepunkt erreichen. Entweder 
haben wir es dann mit schwächeren, älteren, abgelebten] 
Männern zu tun, oder mit übersinnlichen Frauen, die auch 
sonst bei der geringsten Aufregung erotisch reagieren und in 
das Gebiet der pathologischen Nymphomanie hin- 
überspielen. 

ImDurchschnitt setzt der weibliche Höhepunkt etwas 
später als der männliche ein und hierin liegt bereits 
ein greifbarer, leicht verständlicher Grund der 
mangelhaften, weiblichen Geschlechtsempf in- 



Digitized by Google 



- 42 - 

dung. Wird dieser Punkt in der Ehe nicht be- 
rücksichtigt, denkt der Mann nur rücksichtslos 
an seine eigene Befriedigung, so kommt die 
Gattin überhaupt nicht zur Erkenntnis ihres 
Mankos, wenn sie! als absolut unschuldiges Mädchen in, die 
Ehe getreten ist, oder aber sie fühlt die Entstehung 
eines ihr bekannten Gefühles (wenn sie früher masturbiert 
hatte) und vollendet demgemäß post actum erst manuell den 
rückständig gebliebenen Genuß. 

Wir werden später ausführlicher diese Verhältnisse be- 
sprechen und bemerken gleich hier, daß für diesen Ausgleich 
eine allmähliche „Anpassung" möglich ist, da der Mann 
in gewissem Sinne idie Fähigkeit besitzt, den Eintritt des Höhe- 
punktes seiner Empfindung, den Orgasmus, nach Belieben 
in allerdings beschränkter Grenze entweder zu be- 
schleunige n , noch mehr aber hinauszuschieben und 
zu verlängern. 

Wir wollen gleich) hier den Empfindungsstatus in c o i t u 
bei derselben Patientin, von welcher wir bereits den Em- 
pfindungsstatus bei der Masturbation als Fall II (a) 
früher angeführt haben, einfügen. Wir geben denselben mit 
allen Einzelheiten wieder und fühlen uns nicht veranlaßt, einige 
bedenkliche Sonderbarkeiten, die den Anschein haben könnten, 
als ob sie nicht zur Sache gehörten, einzuschränken oder 
ganz fortzulassen. Diese scheinbar laseiven Nebenumstände 
sind vielleicht an dieser Stelle, wo wir die weibliche Geschlechts- 
kurve festzustellen und an dem Status zu beweisen suchen, 
bedeutungslos und überflüssig, sind jedoch von erheb- 
licher Wichtigkeit zur wahren Beurteilung be- 
stimmter Formen mangelhafter Geschlechts- 
empfindung. Da diese später im ganzen behandelt 
werden, ist der vorliegende Status bereits in toto an dieser 
Stelle wiedergegeben worden, um einer Zersplitterung des 
einheitlichen Bildes vorzubeugen. Es wird also gerade auf 
idiese im Augenblick minderwertigen Punkte bei späterer Ge- 
legenheit eingehend zurückgegriffen werden müssen, ebenso 
wie wir hier auf unseren Masturbationsstatus von früher 
Fall II(a) zurückzugreifen haben. 



Digitized by Google 



- 43 - 



Fall II <b>. 

(Eigene Beobachtung). 
Empfindungsstatus in coltu 
(30jährige Patientin). 

Patientin stammt aus gesunder Familie, hat gesunde Elfern und 
•gesunde Geschwister. Außer Kinderkrankheiten keine nennenswerten 
Gesundheitsstörungen dagewesen. 

Als Mädchen von 6—7 Jahren entsinnt sie sich dunkel des 
Versuchs eines anderen ca. 15 jährigen Mädchens, die Genitalien zu 
befassen. Hiervon existiert nur eine ganz schwache Erinnerung. 
Gefühle geschlechtlicher Art datieren aus jener Zeit nicht. 

Erziehung ziemlich streng. Leistungen in der Schule gut. In 
der Klasse war sie meist die Jüngste. An unzüchtigen Unter- 
haltungen nie eine Teilnahme, zog sich stets davon zurück. 

Erste Periode mit 16V» Jahren. Ziemlich schmerzlos. Unregel- 
mäßig bis zum 18. Jahre. Seitdem jeden 21sten Tag ca. 8 — 9 Tage 
lang mit Kopfschmerzen. Vom ca. 20.— 21. Jahre an wurden die 
Pausen etwas größer (vielleicht alle 24 Tage). Dabei Leibkrämpfe, 
besonders in den ersten beiden Tagen. Vom 25. Jahre an stärkere 
Blutungen, bisweilen alle 14 Tage bis zu lOtägiger Dauer. Auch 
Untei Icibsschmcrzen in den freien Zeiten (M i 1 1 e 1 s c h m e r z). Des- 
halb mit 26 Jahren Auskratzung der Gebärmutter. Danach die 
Periode regelmäßig jeden 26. Tag, 8 Tage lang anhaltend; große 
Kopfschmerzen und leichte Leibschmerzen. In den letzten Jahren 
schwankten die Pausen zwischen 21 und 26 Tagen. Patientin £ibt 
an, ohne Geschlechtsverkehr die 21 tägigen, zur Zeit 
des Geschlechtsverkehrs 26tägige Pausen zu 
haben. — 

Bis zu ihrem 18. Jahre hatte sie keine Spur einer sinnlichen/ 
Empfindung. Dann Bekanntschaft mit einem blassen, 25jährigen 
Mädchen, welches masturbiertc und Anleitung dazu gab. Der erste 
Versuch war direkt unangenehm und schmerzhaft. Bei späteren 
Versuchen waren die Spielereien nicht mehr unangenehm und ge- 
wannen an Reiz durch das Geheimnisvolle und durch die Erwartung 
des geschilderten und versprochenen Empfindens, ohne daß selbst 
noch direkt angenehme Erregungen ausgelöst worden wären. 

Vom 18. — 22. Jahre Versuche mit großen Unterbrechungen, die 
nur zu leichten angenehmen Empfindungen in den Geschlechtsteilen 
führten. 

Vom 22.-25. Jahre regelmäßige Wiederholung, etwa alle 14 Tage, 
hauptsächlich vor den Menses. 

Vom 25. Jahre ab wegen schmerzhafter Periode gänzlich unter- 
lassen bis zur Operation. Also 1 Jahr volle Pause. 

6 Wochen nach der Operation erster Coitus (26 l / 2 Jahre). 

Normaler Geschlechtsverkehr war ihr ärztlich geraten worden. 
Dabei absolut kein Genuß, eher Schmerzhaftigkeit, wenngleich kein 
Widerwille und keine Abneigung, da Sympathie für den Mann vor- 



Digitized by Google 



- 44 - 



banden. Die folgenden Coitus waren wie die ersten empfindungs- 
1 o s, wenngleich nicht mehr schmerzhaft und vielleicht auch von 
einer geringen sympathischen Erregung begleitet, die zum Teil dem 
Gefühl entsprang, daß der Geliebte selbst in Erregung war und 
seinen Genuß erwartete. 

Nach wiederholten nicht zu langen Versuchen (ca. nach 14 Tagen) 
wurde gewissermaßen durch Zufall die erste wirkliche Wollust- 
empfindung wahrgenommen, wie sie später sich wiederholt beim 
Coitus einstellte und später auch bei manuellen eigenen Versuchen 
sich zeigte, bei letzteren allerdings in etwas veränderter Weise, 
jedoch mit den früheren nicht vollkommen gelungenen Mastur- 
bationsversuchen verglichen bedeutend erhöht. 

Die gewissermaßen zufällige Entstehung des ersten wirklichen 
Wollustgefühles geschah gelegentlich einer wohl mehr aus Tändelei 
unternommenen positio jnversa (maritus infra, femina supra), an 
welche sich ein conamen coitus in positione inversa anschloß. In 
hac positione femina pedem dextrum habebat extra lectum \n 
solo stantem, pedem sinistrum posito genu i n t r a lectum. Dabei 
introduetio membri virilis, wobei sie sofort von einer den ganzen 
Körper durchschauernden bisher nicht gekannten und empfundenen 
Erregung befallen wurde. Zugleich war gewissermaßen in der 
Scheide das Gefühl, als ob das Glied in der Tiefe, die vorfiel« 
kaum jemals von demselben erreicht worden war, eine besonders 
empfindliche, wollüstige Stelle getroffen hätte. Es schlössen 
sich diesem Erregungszustande, der auch von dem maritus sofort 
als ein besonderer an der* PaYtnerin bemerkt wurde, Coitus- 
bewegungen an, die hauptsächlich vom weiblichen Teile selbst aus- 
geführt wurden, während maritus ziemlich passiv sich verhielt, ge- 
wissermaßen um seine eigene Erregung hintenanzuhalten und der 
besonders disponierten Partnerin die Möglichkeit der ersten, wirk- 
lichen Wollusterregung zu verschaffen. Diese trat auch sofort nach 
ganz wenigen Coitusbewegungen in nie gekannter, überraschendster» 
genußreichster Weise ein. Es war ein allgemein wollüstiger Schauer» 
der den ganzen Körper durchzitterte und ihn zu allgemeinen auf- 
geregten wiederholten Zuckungen veranlaßte, die den weiblichen 
Oberkörper mehrmals fast krampfhaft rückwärts schnellten. Seine 
Dauer war ziemlich lange, so daß nicht nur der männliche Teil 
währenddessen poch durch eigene Bewegungen zur Ejakulation ge- 
langte, sondern auch post amotionem membri der wollüstige 
Schauer, wenn auch langsam abklingend und sieb 
vermindernd, fortbestand und den eigentlichen 
Höhepunkt des Aktes überdauerte. — Danach trat 
b.tld Schlaf ein. — Nunmehr fand jedesmal beim Coitus die 
geschilderte Wollustempfindung statt, wenn entweder die beschriebene 
Position innegehalten oder der normale Coitus mit erhöhter Becken- 
lagc (Kissen) vollzogen wurde. Meistens mußte maritus etwas 
zurückhalten, da der weibliche Höhepunkt in der Regel 
etwas später einsetzte. In seltenen Fällen fand die Er- 



Digitized by Google 



- 45 - 



regung des Mannes eher und demgemäß der weibliche 
Orgasmus überhaupt nicht statt. 

Die Wollustempfindungen waren, wenn auch je nach Zeit und 
Umständen vielleicht an Intensität etwas stärker oder geringer, jedoch 
immei in vollkommen befriedigender Weise vorhanden. In der 
ca. I 1 .jährigen Zeit des intimen Verkehrs kamen Masturbations- 
versuche nicht vor. 

Die Ejakulation des Mannes ist in der Zeit des vollkommenen 
Geschlechtsverkehrs von der Patientin in vagina als ein leichter 
Druck empfunden worden. Zugleich stellte sich auch ein eigener 
Erguß ein, der die äußeren Scheidenteile entschieden mehr be- 
feuchtete. Beim Abklingen der Empfindung war die retentio membri 
ein gefühlerhöhendes Mittel. Die sofortige Entfernung 
auf der Höhe des Orgasmus war für den weiblichen 
Teil eine Verminderung des Empfindens. 

Nach ca. 1 Jahre verheiratete sich Patientin mit. einem anderen 
Manne. In der Zwischenzeit kamen einige Masturbationsversuche 
vor, hauptsächlich zur Zeit der Periode, die zwar die früheren (in 
Fall IIa geschilderten) qualitativ übertrafen, jedoch nicht den ab- 
soluten Höhepunkt des geschlechtlichen Verkehrs erreichten, wohl 
hauptsächlich auch aus dem mechanischen Grunde, daß der digitus 
introduetus nicht bis an die wirklich empfindliche innere Stelle 
dringen konnte. Ein Erguß wurde erreicht. Die Vorstellungen 
dabei bewegten sich stets in der Erinnerung an den verflossenen 
Geschlechtsverkehr. 

Während der kurzen Ehe, die zwar nicht aus tiefer Neigung 
und Liebe, jedoch auch nicht aus rein äußeren Gründen geschlossen 
worden war, war der, wenigstens gegenüber dem früheren, ziemlich 
häufig ausgeübte Geschlechtsverkehr durchaus veränderter 
Natur. Patientin hat in dieser Zeit kaum 2—3 m a 1 
volle Wollustcmpfindung gehabt und diese auch nur 
bei dem Gedanken an eine frühere, ideale Jugendliebe, nicht etwa 
an den verflossenen Geschlechtsverkehr, weil sie diesen Gedanken 
als etwas Störendes mit Willen aus ihrer Ehe auszuschalten suchte. 
Zugleich war Patientin bei diesen wenigen Malen vorher durch 
Geselligkeit und Getränke besonders disponiert. 

Sie führt das Ausbleiben der wesentlichen, früher doch gekannten 
und empfundenen höchsten Wollusterregung auf ihren Ehegatten 
zurück, der rücksichtslos nur an die' eigene brutale 
Befriedigung dachte und meistens auch sehr 
schnell ejakulierte. . Zugleich machte derselbe seiner Frau 
sehr bald die sonderbarsten Anträge (Cunnilingus, Coitus a posteriore 
etc.), die als ekelhaft zurückgewiesen wurden. Da der Mann sich 
als in jeder Beziehung unmoralisch und zugleich energielos und er- 
werbsunfähig erwies, fand die Lösung der Ehe nach kurzer Zeit 
statt. 

Do der Coitus dieser Ehe, wie Patientin schildert, ihr fast nie 
einen Genuß gebracht hatte, fing sie noch in der Ehe von neuem 



Digitized by Google 



- 46 — 



an, die Masturbation wieder aufzunehmen und ward besonders durch 
du- dem Coitus sofort folgende warme Ausspülung dazu angeregt. 
Meist erreichte sie auch hierbei nur das (in Fall Ha) geschilderte 
Stadium I. 

Dem Manne gegenüber hat sie wiederholt Wollustcrregung 
geheuchelt, weil er danach fragte und mit dem Zugeständnis der- 
selben die Frau ihrem Manne eine Genugtuung zu gewähren dachte. 



Der vorstehende Empfindungsstatus ist in seiner breiten 
Ausführlichkeit aus den bereits vorgebrachten Gründen 
wiedergegeben worden. Für die spätere psychologische 
Analyse der mangelhaften Geschlechtsempfindung wird er eine 
Reih«; interessanter Momente entwickeln, den Zustand von 
wichtigen und häufigen Gesichtspunkten zu erklären. An dieser 
Stelle interessiert uns nur das Typische des normalen 
Empfindens, soweit es für die Charakteristik der von uns 
zu beschreibenden Eigenart des weiblichen Wollustempfindens 
in Betracht kommt, lediglich als Abweichung von der typischen 
Normalkurve des Mannes. 

Bei v. K rafft- Ebing in seiner Abhandlung: „Über 
das Zustandekommen der Wollustempfindung 
unt'derenMange] (Anaphrodisie) beimsexuellen 
Akt" (International. Zentralblatt für die Physio- 
logie u r d Pathologie der Harn- und Sexual- 
organe Bd II. 90/91 pag. 103) lesen wir: 

„Den befriedigenden Abschluß des ge- 
schlechtlichen Aktes stellt ein auf der Höhe des 
Orgasmus eintretendes Wollustgefühl dar. 

Beim Manne beginnt es mit dem erfolgenden 
Eintritt von Sperma aus den Samenblasen und 
den Ductus ejaculatorii in die pars membranacea 
uretii rae (vergl. das Irrtümliche dieser Ansicht in Kapitel II). 
Es schwillt dann lawinenartig an underreicht im Mo- 
mente der Ejakulation seine Höhe, um dann rasch 
zu verschwinden. 

Beim Weibe tritt es langsamer auf und verliert sich auch 
langsamer als beim Manne." 

Die Schilderung des männlichen Empfindens ent- 
spricht durchaus unserer männlichen graphischen Kurve. Das 
lawinenartige Ansteigen, das rasche Ab- 



Digitized by Google 



- 47 — 



schwellen gibt sich in der linearen Darstellung als 
spitzer Winkel wieder. 

Dagegen hat die weibliche Geschlechtskurve einen 
stumpfen Winkel. * 



Höhepunkt des 
Orgasmus 




Kurve des Geschlechtsempfindens beim Weibe. 

De- stumpfe Winkel bildet sich einmal durch das etwas 
langsamere Ansteigen, vor allem aber durch das höchst 
charakteristische, ganz allmähliche und lang- 
same Abklingen. Von letztem ist unserem Empfindungs- 
status (Fall IIb) in nicht mißzuverstehender, stets wieder- 
kehrender Weise die Rede. Ich habe in vielen anderen Fällen 
eine gleichmäßige Bestätigung von den Frauen erhalten, so 
daß an diesem spezifischen Unterschiede nicht zu 
zweifeln ist. 

Der physiologische Sinn dieses langsamen und all- 
mählichen Nachlasses könnte sehr wohl in einer Art peri- 
stal tischen Nachkrampfes liegen, der seine Be- 
wegungsrichtung von den äußeren Schamteilen das Scheiden- 
rohr entlang nach der Gebärmutter zu nimmt; gewissermaßen 
um das männliche Ejaculat festzuhalten oder 
langsam gegen den Muttermund zu drücken. Man 
hat auch im Orgasmus vom Krampf der Tuben und Fimbrien 
gesprochen, selbstverständlich in umgekehrter Richtung mit 
dem Gedanken, daß dieser Krampf das reife Ei dem Uterus 
als Ort seiner Befruchtung näher bringen wolle. 



Digitized by Google 



- 48 - 



Alle diese Annahmen stehen auf schwankem, hypotheti- 
schem Boden. Die Kenntnis des tatsächlichen Befruchtungs- 
vorganges — das Eindringen des männlichen Spermatozoen 
in das weibliche Ei erfolgt bekanntlich meist viele Stunden, 
ja vielleicht Tage nach dem befruchtenden Coitus — wider- 
spricht auch diesen so bescheidenen und notdürftigen Mitteln 
Ides Organismus. Daß jedoch ein Muskelspiel der Scheide 
tias Sperma überhaupt in derselben zurückzuhalten versucht 
Oder noch durch nachträglichen Druck, nachdem die Scheide 
vom Gliede befreit ist, in die als Receptacula passenden 
Scheidengewölbe zu pressen sich bestrebt, scheint leicht ver- 
ständlich, zumal wir tatsächlich die praktische Erfahrung haben, 
daß manche Fälle weiblicher Unfruchtbarkeit 
auf diesem allzuleichten Abfließen des Samens 
beruhen und bei dementsprechender Behand- 
lung zum ersehnten Kindersegen führen. 

M. Vaerting (siehe das folgende Kapitel I V : W o 1 1 u s t - 
ge fühl und Befruchtung) hält ebenfalls diese Differenz 
der Kurven für keinen Zufall. Er betrachtet den verlängerten 
(stumpfwinkligen) Orgasmus für ein unterstützendes Mittel 
zur Befruchtung. Durch ihn wird nicht allein eine passive 
Kraft des Zurückhaltend geleistet, sondern vor allem auch ein 
aktives Vorwärtspressen. Auch die Chemie des Orgasmus 
soll mit dem Cervicalschleim die „Schwächung" der Sperma- 
tozoen aufhalten. Alles in allem ist nach V. der nach- 
klingende weibliche- Zustand eine wohlberech- 
nete eugenische Einrichtung der Natur. 

Das zweite wichtige Unterscheidungsmoment bezieht sich 
auf den Zeitpunkt des weiblichen Orgasmus. Derselbe 
tritt bei normaler Veranlagung durchschnittlich später 
ein als beim Manne. DerHöhepunkt der weiblichen 
Erregung erfolgt meist nach demjenigen des 
M a n n e s. 

Unser Status (Fall II b) kennzeichnet das mit hinreichender 
•Deutlichkeit. Im Verkehr mit beiden Männern war die gleiche 
Erscheinung, wenngleich für sie selbst von leider allzuver- 
schiedenem Ergebnis! Beide Männer pflegten eher zu ejaku- 
lieren. Allein der erste hatte die Form der retardierenden 
„Anpassung" gefunden, während der zweite egoistischer 
Idachte Der natürliche Erfolg war in dem einen Falle vollste 



Digitized by Google 



- 49 - 



ßef riedigung, im anderen ihr Ausbleiben — ein typiscnes 
Beispiel mangelhafter Geschlechtsempfindung. 

Wenn wir also noch einmal beide Kurven untereinander- 
setzen und vergleichen, so erscheint derweiblicheWinkel, 



Höhepunkt des 
Orgasmus 




Männliche Kurve 



Höhepunkt de« 

Orgasmus 




Weibliche Kurve 



dieser Kurve am Höhepunkt des Empfindens weitgeöffnet, 
stumpf. Außerdem, in der Voraussetzung, daß beide Kurven 
zu gleicher Zeit beginnen und einen gleichen Zeit- 
abs ch n i 1 1 darstellen, ist der Orgasmus selbst bei der graphi- 
schen Darstellung des weiblichen Empfindens zeitlich 
etwas spät er. 

Es ist begreiflicherweise mühsam, diese kleinen Variationen 
und Details den Frauen konsultativ abzuringen. 

Adler. Geschlechtsempfindung. 3. Aufl. 4 



Digitized by Google 



- 50 - 



„Bei Untersuchungen über diesen Gegen- 
stand 4 ', sagt J. M. Duncan (Sterilität der Frauen) 
— Deutsch von S. Hahn 1884) — „begegnet man 
großen Schwierigkeiten, wie das bei der deli- 
katen Natur der Sache ja erklärlich ist. Die 
Schwierigkeitliegtdarin,daßmanderPatientin 
verständlich macht, um was es sich eigentlich 
handelt und ferner in der Unmöglichkeit, Worte 
von nicht mißzuverstehender Bedeutung, d. h. 
solche, die in dem Munde verschiedener Per- 
sonen dasselbe sagen, zu finden." 

H a v e 1 o k E 1 1 i s *) hat als einen besonderen Differenz- 
punkt der beiden Geschlechter auch die Verschiedenheit 
der Ausdrucksweise hervorgehoben. Das Weib hat, 
ebenso <wie der Mann, in vielen Dingen {eine eigeneSprache 
und gerade auf dem es so eigens angehenden Gebiete des 
geschlechtlichen Lebens, das so mächtig in sein ganzes Denken, 
Fühlen, in seine ganze Existenz eingreift, hat seine Sprache, 
eine spezifische Form angenommen, die durch das spezifisch 
weibliche Empfinden nicht minder beeinflußt ist als durch das 
ihm innewohnende Schamgefühl, eine Sprache, die nur Frauen 
untereinander ganz verstehen und nur ganz sprechen können. 

Es ist deshalb interessant, aus dem Munde der weib- 
lichen Ärztin selbst ein Urteil zu entnehmen und ihrer 
Gefühlswelt zu folgen. Auch hier stellt sich heraus, daß unsere 
grobe Darstellung der weiblichen Kurve ihre Richtigkeit besitzt 

Frau Dr. Fischel-Dückelmann spricht von 3 Peri- 
oden des weiblichen Geschlechtsempfindens: 

Periode I = anwachsender, vorbereiten- 
der Erregungszustand. 
Periode II = Erguß (Aufnahm edesSperma), 

= Höhepunkt der Empfindung. 
Periode III — Abklingen der Erregung. 

„Das Abklingen der Erregung", schließt sie, „in 
den weiblichen Organen hängt mit einem Nach- 
lassen der Spannung in den gefüllten Gefäßen, 
daher mit einem langsamen Abklingen der pul- 
sierenden Bewegungen und der ebenso langsam 



•) Mann und Weib. Leipzig. 



Digitized by Google 



- 51 - 



abnehmenden, stoßweise erfolgenden elektri- 
schen Entladungen zusammen. Die dabei em- 
pfundene, tiefe Befriedigung und Sättigung ist 
sowohl von dem eigenen Gesundheitszustand 
des Weibes, also Lage und Gestalt des Uterus, 
Intaktheit seiner ihn auskleidenden Schleim- 
haut und gesundes Nervensystem, wie von dem, 
twas der Mann ihr an Liebeskraft, Wärme und 
Elektrizität zu geben imstande ist, abhängig." 

Ohne auf die hierin angegebenen anatomischen und physi- 
kalischen Erklärungen, welche sogar die Elektrizität zu Hilfe 
nehmen, einzugehen, verschließen wir uns vor diesen noch 
unentwirrbaren Mysterien der intimen Vita sexualis und kon- 
statieren nur das 1 auch medizinisch weibliche rseits festgestellte 
„langsame Abklingen" als eine besondere Etappe des 
weiblichen Empfindungsstatus, die als „t i e f e B e f r i e d i g u n g 
und Sättigung" normalerweise vom Weibe empfunden 
wird. Der alte Satz : Omneanimalpostcoitumtriste 
— trägt wohl nur eine bedingte Wahrheit in sich! Ver- 
mutlich ist diese Weisheit ebenso von einem männlichen 
Individuum • ausgesprochen, wie für das weibliche Ge- 
schlecht gedacht und empfunden worden. Im Gegenteil! Die 
Frauen sind durch diese „Traurigkeit" des Mannes post actum 
vielfach verletzt. Die Abgeschlagenheit und Erschöpfung ist 
ihnen selbst nicht so eigen und sie finden das oftmals aller- 
dings allzu schnelle Ruhebedürfnis des Mannes als eine persön- 
liche Vernachlässigung, als eine Nichtachtung ihrer Person und 
ihrer weiblichen Reize.. 



Digitized by Google 



IV. Kapitel. 



Wollustgefühl und Befruchtung. 



Der Wert der Koincidenz männlicher und weiblicher Wollust für 
die Befruchtung. Alltägliche Gegenerfahrung. Maria Theresia. Mechani- 
sche Erklärungen. Fall V (Eigene Beobachtung). Männliche "Ungeschick- 
lichkeit. Notzucht. Künstliche Befruchtung (Marion Sims). Fall VI 
(künstliche Befruchtung beim Menschen. — Debrunner). Fehldiagnosen 
und Fehlbehandlung. Befruchtung in Narkose (S. G. Thomas). Besteht 
ein relativer Zusammenhang zwischen mangelhafter Empfindung und Un- 
fruchtbarkeit? Notwendige Gesichtspunkte für diese noch fehlende statisti- 
sche Arbeit. Duncan vertritt den Einfluß der sexuellen Anästhesie auf die 
Sterilität. Die Lücken seiner Statistik und seine eigenen Bedenken. Definition 
seiner Terminologie. Duncansche Tabelle des Geschlechtstriebes und dos 
geschlechtlichen Genusses bei unfruchtbaren Frauen. Zahlenschlüsse. Die 
Empfindungslosigkeit steriler Frauen ist nicht größer als die durchschnitt- 
liche (entgegen Duncan). Physiologische Bedeutung der Wollust nach 
Kisch, besonders des Cervicalschleimes. Seeligmanns Fall. Sutkowskys 
Theorie der Geschlechtsbestimmung auf Grund des früheren oder späteren 
Orgasmus. Ablehnung seiner Schlüsse durch die Tatsache der mangelhaften 
Geschlechtsempfindung. M. Vaerting's Theorie der orgastischen Eugenik. 
— Vermindertes Wollustgefühl nach Empfängnis. Tarnier und Chantreuil. 
Fall Vll (eigene Beobachtung). 



Ein eingewurzelter Glaube hält besonders bei den Frauen 
an der Tafsache fest, daß eine Befruchtung nur statt- 
findet, wenn der Höhepunkt des Wollustgefühles 
bei Mann und Frau in demselben Augenblick 
stattfindet. 

Ein anderer Glaube ist um ein weniges toleranter und 
Verlangt überhaupt nur den tatsächlichen Eintritt des wirk- 
lichen Orgasmus, gleichviel ob vor oder nach der be- 
fruchtenden Ejakulation des Mannes. 



Digitized by Google 



- 53 — 



Diejenigen Frauen, die ohne ein empfundenes Wollust- 
gefühl an die Möglichkeit einer Schwangerschaft glauben, sind 
dünn gesät, es sei denn, daß sie bereits durch vorangegangene 
Mißerfahrungen endlich im Wiederholungsfalle ihren festen, 
unerschütterlichen Frauenglauben abgeschworen und ver- 
loren haben. 

Jedem Arzte, der in der allgemeinen Praxis steht, sind 
solche Schwangerschafts-Diagnosen als typische, gleichmäßig 
wiederkehrende Paradigmafälle wohlbekannte Erscheinungen. 
Die Patientin kommt mit der Angabe, „daß ihr Un- 
wohlsein ausgeblieben sei". Hat die Untersuchung 
Schwangerschaft ergeben, so begegnet man dem höchsten Er- 
staunen, „weil es, nicht möglich, weil es so gut wie 
ausgeschlossen se i". Diese weibliche Antwort bedeutet 
fast immer, wenn man auf ihren wahren Sinn einzugehen sich 
bemuht, das Eingeständnis, daß die nun werdende Mutter in 
actu selbst „nichts gefühlt", d. h. keinen Orgasmus ge- 
habt habe. 

Dieser Glaube beherrscht nicht nur diejenigen, bei denen 
der Wunsch der Vater des Gedankens ist, jene Unverheirateten, 
die nun in gequälter Angst ihrem von der Welt geächteten 
Mutterschicksal entgegensehen, sondern auch die verheirateten 
Frauen, die bereits geboren und „empfunden" haben und 
die jetzt mit hinreichendem Kindersegen bedacht, absicht- 
lich ein Gefühl zurückgehalten haben, um den 
Kreis ihrer Nachkommen nicht noch weiter zu vergrößern. 

Aus der Summe dieser alltäglichen Erfahrungen geht be- 
reits die Nichtigkeit solchen Frauenglaubens klar und deutlich 
hervor. * 

Es steht mit absoluter Sicherheit fest, daß ohne jedes 
weibliche Empfinden beim geschlechtlichen 
Akte die Befruchtung stattfinden kann und tat- 
sächlich in zahlreichen Fällen stattfindet. Aber 
hiermit wäre immerhin noch nicht ausgeschlossen, daß unter 
Umständen das Vorhandensein weiblicher Wollust 
die Befruchtungsfähigkeit erhöhen, daß mit dem 
Erwachen des weiblichen Empfindens Unfruchtbarkeit beseitigt 
werden könnte. 

Das oft angeführte Beispiel der Kaiserin Maria 
Theresia mag auch hier seinen Platz finden. 



Digitized by Google 



- 54 - 



Die Kaiserin war bekanntlich in den ersten Jahren ihrer 
Ehe kinderlos. Die Gynäkologie, welcher damals in der ma- 
nuellen Untersuchung noch enge Grenzen gezogen waren, 
beschränkte sich, wenn angängig, einfacher äußerer Ratschläge. 
Der Kaiserin Leibarzt, van Swieten, gab jenen berühmten 
klassischen Rat: „Censeo, Vulvam Sacra tissiinae 
Majestatisantecoitumdiutiusessetitillanda m." 

Der spätere reiche Kindersegen der Kaiserin ist bekannt: 
So historisch und hochstehend allerdings dieses Beispiel sein 
mag, so gewährt es doch nur einen dürftigen Einblick in 
Idiese kaiserliche Vita sexualis intima. Wer weiß, ob hier 
Inicht rein mechanische Hindernisse vorgelegen haben, die erst 
den angeratenen Manipulationen wichen, die vielleicht dann erst 
eine wirkliche Kohabitation zuließen und damit nach allen 
fehlgeschlagenen falschen und schmerzlichen Versuchen zu- 
gleich „Gefühl" erweckten. Mechanische Erleichterung, 
Gefühl und Befruchtung waren koordinierende Zustände! 

Derartige Fälle von Unfruchtbarkeit, Empfindungsmangel 
lund — männlicher Ungeschicklichkeit sind in der ärztlichen 
Praxis durchaus nichts seltenes. Ich werde auf einen hierher 
gehörigen Fall totaler Anaesthesie in dem entsprechenden 
Kapitel zurückkommen. Ein anderer mag an dieser Stelle als 
eheliches Kuriosum männlicher Un Verdorbenheit an- 
geführt werden. 

Fall V. 

(Eigene Beobachtung). 

Ein junges Ehepaar (ausländischer Offizier) ist seit 10 Tagen 
verheiratet und befindet sich auf # der Hochzeitsreise. Der Mann 
ist erst 22 Jahre alt, die Frau 25 Jahre. 

Ärztliche Hilfe wird wegen großer Aufgeregtheit der Gattin, 
wegen Beängstigungen, Herzklopfen und Schlaflosigkeit verlangt. 

Der äußere Eindruck der im Bett liegenden, ängstlichen, zittern- 
den jungen Frau deutet auf einen rein nervösen Zustand hin. Fieber 
und Unterleibsschmerzen bestehen nicht. 

Die Vermutung liegt nahe, daß die jungen Ehefreuden vielleicht 
allzuviel genossen sind und eine Schmerzhaftigkeit und Reizung 
des Scheideneinganges und eine damit Hand in Hand gehende 
Exaltation der Nerven stattgefunden hat. 

In Anbetracht der Jugendlichkeit des Paares wird die sexuelle 
Frage in schonendster Weise vorläufig nur mit dem Manne allein 
berührt. Auf die Frage, ob er die jungen Ehemannsfreuden viel- 



Digitized by Google 



- 55 - 



leicht etwas allzu stürmisch und allzu häufig genossen hätte, ent- 
gegnet er mit Entrüstung: 

„Wodenken Sie hin, Herr Doktor! Ich habe aus 
Liebe, aus Neigung, aus Freundschaft geheiratet! 
An das andere denke ich nicht im Entferntesten!" 

„Sie haben also noch gar keinen Verkehr mit 
Ihrer Gattin gehabt?" 

„Nein! Und denke auch nicht daran!" 

Diese seltene, naive und nie erlebte Unschuld eines jungen Ehe- 
mannes ward einigermaßen durch das weitere Geständnis erklärt, 
daß er überhaupt noch nie eine Frau berührt hätte! 

Als ich ihm seine Pflichten klar zu machen suchte, konnte ich 
ihn nur dadurch wirklich überzeugen, daß ich ihm die Frage vor- 
legte, auf welchem Wege er sich wohl die Entstehung der Nach- 
kommenschaft vorstelle! — 

Die junge Frau gestand mir darauf, daß sie seit 10 Tagen und 
Nächten in peinlichster Erwartung daliege, die ihre Nerven in diese 
Aufregung versetzt hätte. 

In Anbetracht der jugendlichen Unerfahrenheit des Gatten gab 
ich auch der Frau die nötigen Anweisungen und Erklärungen, 
damit nach dieser aufreibenden Karenzzeit wenigstens der definitive 
Anfang um so leichter gemacht würde. 

Die Berichte der nächsten Tage waren höchst günstig. Die 
Patientin verließ selbstverständlich sofort das Bett. Man sah jetzt 
ein gesundes, glückseliges Paar! » 

Aus einer überseeischen Kolonie, wohin der Dienst den Gatten 
bald darauf verschickt hatte, kam nach genau abgelaufener Zeit die 
freudige Geburtsanzeige von — Zwillingen! 



Die etwas kuriose Krankengeschichte steht vielleicht nur 
in losem Zusammenhange zu unseren Fragen. Ich bin nicht 
einmal über das Geschlechtsempfinden dieser Frau orientiert, 
da begreiflicherweise in der kurzen Zeit Fragen diesbezüg- 
licher Art nicht angebracht waren und wohl auch ohne Er- 
gebnis für unseren Gegenstand gewesen wären. Allein es ist 
hier der extreme Fall gezeichnet, wiedurch Ungeschick- 
lichkeit und Unverstand des Mannes weibliche 
sexuelle Gef ühlslosigkeit der Frau großge- 
zogen werden kann, wie dann Unfruchtbarkeit als Folge 
davon aufgefaßt wird und wie durch Rat und Belehrung zur 
rechten Zeit alle Wege leicht geebnet werden können. — 



Digitized by Google 



- 56 - 

Die alltägliche Praxis zeigt uns, wie angedeutet wurde, 
in ungezählter Menge Befruchtungen ohne weib- 
liches Empfinden. 

Zu den klassischen Beispielen gehören die Schwan- 
gcrungeninder Notzucht. Wenn diese Beweisführung, 
wie K i s c h meint, noch nicht ausreichend erscheint, daß viel- 
mehr mancher Fall von behaupteter Nötzucht sich schließ- 
lich als eine „vis grata" herausstellt, so gestatten doch 
diejenigen Fälle absolut keinen Zweifel mehr, in welchen die 
künstliche Befruchtung oder die Befruchtung in Nar- 
kose stattgefunden hat. 

Die künstliche Befruchtung, d. h. die Impor- 
tation männlichen Samens auf instrumentellem Wege in die 
weiblichen Geschlechtsteile (Scheide, resp. direkt Gebärmutter) 
ist am Tiere (Spallanzani und Rossi bei Hündinnen) 
mit Sicherheit bewiesen. 

Beim Menschen sind diese Versuche schon um dessent- 
willen schwieriger, weil schon die Beschaffung des männlichen 
Stoffes mit erklärlichen Schwierigkeiten verbunden ist. 

Marion Sims berichtet einen von ihm selbst behandelten 
Fall, bei welchem der zehnte Versuch der künstlichen Be- 
fruchtung (Einspritzung in die Gebärmutter) erfolgreich war. 
Es erfolgte Schwangerschaft, die Patientin abortierte jedoch 
im vierten Monat durch Fall. 

Es ist zwar von „Empfindungen" bei diesen Opera*- 
tioneti nichts berichtet. Allein, es ist wohl anzunehmen, daß 
diese delikaten Prozeduren sicherlich nichts sexuell An- 
genehme? erweckten! 

Daß ein Fall einer wirklichen ausgetragenen menschlichen 
Schwangerschaft nach künstlicher Befruchtung beschrieben sei, 
war mir bei der I. Auflage nicht bekannt. 

Ich schloß mich damals dem Autor Kisch („Die Ste- 
rilität des Weibes") an, demzufolge „ganz einwands- 
freie Fälle von künstlicher Befruchtung beim Menschen nicht 
vorlagen". 

Inzwischen ist man auch hierin fortgeschritten, und ich 
bin durch Dr. A. Debrunner in Frauen feld („Berichte 
und Erfahrungen auf dem Gebiete der Gynäkologie und Ge- 
burtshilfe") in der glücklichen Lage, einen von ihm schon vor- 



Digitized by Google 



- 57 - 



dem (J901 publizierten) selbst erzielten Erfolg verzeichnen zu 
können. 

Da der Fall auch in unserem Sinne Interesse gewährt, mag 
er mit Deb runners Worten hier eingefügt werden: 

Fall VI. 

Künstliche Befruchtung beim Menschen. 

(Debrunners Fall.) 

„Frau Sch. wurde Mitte der 80er Jahre unter dem Eindrucke 
mißverstandener anamnestischer Erhebungen (!) 
einer ganz unnötigen und für die Frau verhängnisvoll sich ge- 
staltenden gynäkologischen Operation unterworfen. Die Frau kon- 
sultierte einen Arzt wegen Kinderlosigkeit in fünfjähriger Ehe. Sie 
setzte dem Kollegen auseinander, daß eine Immissio penis noch 
nie stattgefunden habe. Irrtümlicherweise suchte der betreffende 
Arzt, bestärkt durch die Angaben der Frau, die Sterilitätsursache 
in einem engen Scheideneingang operativ zu erweitern. Diese Er- 
weiterung fiel nun zu ergiebig aus. Jedenfalls wurde der 
Sphincter ani (DarmschUeßmuskel) durchschnitten; denn die Frau 
konnte nach der Operation Winde und dünnen Stuhl nicht zurück- 
halten. Dieses lästigen Zustandes halber konsultierte mich die 
Kranke Ende der SOer Jahre. Symptome und Befund entsprechen 
einem Dammriß III. Grades nach Geburtsverletzung. Eine lege 
artis ausgeführte Dammplastik führte zur früheren Funktions- 
fähigkeit des Afters. Im übrigen hatte die Frau einen normalen 
Geschlechtsbefund. Genauere anamnestische Erhe- 
bungen wiesen mit Deutlichkeit auf den Mann hin 
als ursächliches Moment der Sterilität. Es war zwar 
bei demselben nichts Abnormes zu entdecken. Durch Fragen in die 
Enge getrieben, gestand er mir zuletzt, daß es bei ihm noch nie zu 
einer Erecto penis gekommen sei. Er erziele seine Samenergüsse 
auf unnatürlichem Wege, durch Friktion des Penis. Dabei habe er 
die Gewohnheit, dies inter crura Feminae (!) zu besorgen, 
den Moment der Ejakulatio seminis benütze er, um die Rima pudendi 
Feminae zu benetzen. Da die Untersuchung des Sperma positiv 
ausfiel, mußte ich mir sagen, daß dieser Fall ein außerordentlich 
günstiger sei für den Versuch einer künstlichen Befruchtung. Mein 
Vorschlag wurde akzeptiert und ich führte die künstliche Befruchtung 
bei diesem Ehepaar unter folgenden Regeln aus: 

£ur Injektion der Samenflüssigkeit wurde der 2. Tag nach der 
Menstruation gewählt. Braun sehe Injektionsspritzen und Reagens- 
glas wurden ausgekocht und in physiologische Kochsalzlösung von 
37" C eingelegt. Der Mann hatte die Anweisung, mit der Eja- 
kulation das Reagensglas der Lösung zu entnehmen und den Samen 
in dasselbe zu ergießen. Unmittelbar nachher ließ ich mich rufen, 



Digitized by Google 



I 



- 58 - 

saugte den Samen mit einer bereitgehaltenen Spritze auf und spritzte 
einige Tropfen bei einfacher Rückenlage der Frau in den Cervical- 
kanal, während der größte Teil im hintern Scheidengewölbe ent- 
leert wurde. Darauf wurde der Frau 2 Stunden Bettruhe an- 
befohlen. Nach der ersten und zweiten Injektion trat die Regel 
zur richtiger. Zeit ein. Nach der dritten Injektion blieb sie aus: 
die Frau wa!r schwanger. Sie gebar am richtigen Ende der 
Schwangerschaft ein gesundes Mädchen. Wir haben es hier mit 
einer sicher konstatierten künstlichen Befruchtung zu tun, denn nach 
bestimmten Aussagen von Mann und Frau ist während der drei- 
monatlichen Injektionskur jede geschlechtliche Manipulation, wie sie 
einleitend beschrieben worden, unterblieben. Seither sind zehn Jahre 
verflossen, es wurden keine Injektionen gemacht; die Frau ist aber 
auch nicht mehr schwanger geworden." 



Diesem lehrreichen Falle 'sollen gleich hier einige epikriti- 
sche Bemerkungen eingefügt werden. Bei dieser „künstlichen 
Befruchtung" interessieren die Nebenum stände und die Vor- 
geschichte für das vorliegende Thema weitaus mehr als das 
Endresultat selbst. Der Fall ist leider ein sehr trauriger Be- 
weis für die? Unerfalirenheit (selbst eines Arztes) in sexuellen 
Fragen und die daraus entstandenen körperlichen und seeli- 
schen Leiden des Opfers. Allerdings liegt die Fehldiagnose 
gegen 30 Jahre zurück. Es war die Zeit vor der sexuellen 
Aufklärung, jene Zeit, in der sexuelle Fragen selbst in der 
ärztlichen Disziplin unerörtert blieben. Hier liegt ein 
krasser Fall künstlicher Züchtung mangelhafter 
Geschlechtsempfindung des Weibes vor. Denn 
ohne daß direkt hiervon die Rede, ist mit unverkennbarer Klar- 
heit zwischen den' Zeilen zu lesen, daß diese Frau geschlecht- 
lich nichts empfunden hat und nichts empfinden konnte. Wenn 
selbst der Trieb von Hause aus vorhanden war — hier mußte 
er systematisch abgetötet werden. Relative Im- 
potenz des Mannes, Operation, anstatt Heilung Verschlimme- 
rung und neues Leiden, jahrelanges vergebliches Warten auf 
Kindersegen, erneute Operation — wenn bei dieser Folge von 
Widrigkeiten, Qualen und Schmerzen nicht eine dauernde Aus- 
schaltung — Hemmung — des Triebes entstanden sein sollte, 
so müßte das mit einem Wunder zugehen. 

Der Fall ist lehrreich und gibt bereits einen bemerkens- 
werten therapeutischen Hinweis : Die Behandlung der 



Digitized by Google 



- 59 - 



mangelhaft en Geschlechtsempfindung des Lei- 
bes hat in erster Linie beim — Manne zu beginnen! 
Es klingt das so selbstverständlich, wenn man die Kranken- 
geschichte liest. Und doch — wie oft wird immer und immer 
}nur die Frau gynäkologisch behandelt, wenn ihre Sterilität 
Und Empfindungslosigkeit geheilt werden soll ! Ganz abge- 
seher. von den unnützen Qualen, Schmerzen, 
Operationen und möglicherweise körperlichen 
Verschlimmerungen — fast noch bedenklicher 
ist der unheilvolle Einfluß auf die Psyche der 
Gequälten. Solche falschen Dauerbehandlungen einer Ge- 
sunden müssen das Nervensystem alterieren und können 
bei schwach erotischer Veranlagung die feinen komplizierten 
Seelenvorgänge, welche das weibliche Sexualempfinden be- 
herrschen, dauernd vernichten. 

Wie innig sexuelle Anästhesie des Weibes mit Störungen 
der Geschlechtsfunktionen des Mannes allzuoft zusammen- 
hängen muß, wird an späteren Beispielen wiederholt gezeigt 
werden können. Besonders wird auf den juristischen Fall 
(Ärztliches Gutachten in einer Ehescheidung) in einem der 
letzten Kapitel hingewiesen. 



Von neuester Literatur über dieses Thema sei eine gute 
Übersicht erwähnt, die Hermann Rohleder gibt: „Die 
Zeugung beim Menschen." Mit Anhang: „Die 
künstliche Zeugung (Befruchtung) beim Men- 
schen." G. Thieme. Leipzig 1911. 

Ferner machte ein Fall von A. Doederlein*) seiner- 
zeit auch außerhalb der medizinischen Presse ein mehr als 
notwendiges Aufsehen. 



Befruchtung durch natürlichen Coitus in der Narkose 
ist mit Sicherheit erreicht und beschrieben. 

Dr. J. G. Thomas berichtet von einer einmaligen Nar- 
kose und einem einzigen dabei erfolgten Coitus mit folgender 



*) über künstliche Befruchtung. Münchener mediz. Woch. 1912. 



Digitized by Google 



- 60 - 



Konzeption. Wahrscheinlich war es ein Fall von weiblichem 
Scheidenkrampf (V a g i n i s m u s). 

In einem anderen, ähnlichen Krankheitsfalle narkotisierte 
er als Hausarzt wiederholt eine 30jährige Patientin, die schon 
11 Jahre lang ohne vollkommen gelungenen Geschlechtsver- 
kehr verheiratet war. Nur an der narkotisierten Ehegattin 
war der Coitus möglich! Nach einem Jahre trat die 
erste Schwangerschaft ein. 

Der Krampfzustand blieb sowohl während der Gravidität 
wie nach der Geburt des Kindes unverändert, so daß (die Nar- 
kose wurde, wie vielfach in Amerika, mit Äther vollzogen) 
nur mit Hilfe des Arztes diese eigentümliche „ätherische 
Verbindung" aufrecht erhalten werden konnte. 

Auch in der Narkose dürfte wohl mit Sicherheit die sexuelle 
Gefühlssphäre gleich Null zu betrachten sein. 



Wenn es demnach unzweifelhaft feststeht, daß nicht nur 
ohne jedes weibliche Geschlechtsgefühl und 
ohne jede Wollust, ja noch vielmehr bei ausge- 
sprochenem Widerwillen, bei Unlustgefühlen, 
bei Vergewaltigungen und selbst im künstlichen 
Schlafe der Narkose eine Befruchtung nicht 
nur möglich ist, sondern tatsächlich ungemein 
häufig und unerwartet stattfindet, so wäre doch 
andererseits die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß trotz- 
dem ein Zusammenhang bestände, daß vielleicht weibliche 
Wollust die Fruchtbarkeit erhöhte. Oder be- 
trachten wir lieber die negative Seite der Frage. Sexuelle 
Empfindungslosigkeit ist zwar nicht identisch mit Unfrucht- 
barkeit, doch könnte ein relativer Zusammenhang bestehen. 
Vielleicht könnten unter 100 empfindungslosen Frauen — wir 
nehmen natürlich eine ganz beliebige Zahl an — 20 kinderlose, 
unter 100 empfindenden jedoch nur 10 unfruchtbare sein. 
Ware ein solches Verhältnis erwiesen, so könnte man sich 
dem Einfluß des weiblichen Wollustgefühles, auf die Fähig- 
keit zu empfangen, unmöglich verschließen. Allein, bis zu 
dieser Statistik hat es noch weite Wege! Bei derartigen 
Schlüssen sind nur sehr große Zahlen und Reihen brauch- 



Digitized by Google 



- 61 - 



bar; sie müßten in die Tausende gehen! Und nun gedenke 
man weiter der Schwierigkeit unserer Frage, deren Beant- 
wortung so oft an der Sprödigkeit unseres Materials 
scheitert. Hier nützen auch nicht einfach, oberflächliche 
kurze klinische Fragen nach den Empfindungen im Ge- 
schlechtsverkehr. Eine Patientin gibt darin nicht einem (meist 
jüngeren) Assistenten eine kurze, wahrheitsgemäße Antwort. 
Das ist nur im intimsten Krankenexamen möglich, und dann 
auch gehört noch eine nicht mißzuverstehende Fragestellung 
dazu, wie bereits mit Berufung auf Duncan und Have- 
lock Ellis früher geschildert worden ist. 

Diese statistische Arbeit fehlt uns also noch. So wenig 
dieselbe meiner Meinung nach auf dem gewöhnlichen klini- 
schen Wege in Angriff genommen werden kann, so wün- 
schenswert wäre es, wenn diese Frage mit den Mitteln der 
Privatpraxis gelöst würde. Die Lösung hat jedoch nur Wert, 
wenn von ganz bestimmten, natürlichen und logischen Vor- 
aussetzungen aus die Fragestellung geschieht. Es muß er- 
gründet werden : 

1. Wie hoch ist der Prozentsatz steriler 
Frauen unter den Empfindenden? 

2. Wie hoch ist der Prozentsatz Unfrucht- 
bare r unter den Empfindungslosen? 

Sodann benötigt dabei die jedesmalige Erfahrung in dem 
speziellen Klientel die Angabe: 

3. Wie hoch ist der Prozentsatz der Em- 
pfindungslosen überhaupt, im ganzen 
genommen ? 

Letztere Frage ist identisch mit unserer im ersten Ka- 
pitel aufgeworfenen und die wir nur vorsichtig mit dem er- 
staunlichen Resultate von 10— 40 o/o (Debrunner 50%, Mar- 
garethe v. Kemnitz sogar 60 »o !) Empfindungsloser im ganzen 
weiblichen Geschlecht beantworten konnten. 

Vielleicht geben die vorliegenden Zeilen Veranlassung, 
dieser interessanten Frage in ein wandsfreier statistischer 
JWeisc näher zu treten. Denn ganz unbearbeitet ist sie auch 
bisher nicht geblieben, nur fehlt ihr der angeführte, nüchterne 
und logische Untergrund, dem wir im Vorangehenden als 
Postulat aufgestellt haben. 



Digitized by Google 



- 62 - 



J. M. Duncan hat dem Verhältnis von sexueller Em- 
pfindung und Fruchtbarkeit seine Beobachtung geschenkt 
Allein die Frage, deren Beantwortung er anstrebt, heißt ein- 
fach ;WieoftfindeichbeisterilenFrauenmangel- 
hafteGeschlechtsempfindung? Über die notwendige 
Vorfrage: WiehäufigbestehtsexuelleAnästhe- 
sie überhaupt? — sagt er nichts und ebensowenig über 
die Unfruchtbarkeit der Empfindenden. Der Autor hat diesen 
Mangel wohl selbst empfunden, seine eigenen Worte lauten: 

„Ich halte es für nahezu gewiß, daß das Ver- 
langen und die Lust in richtigem oder mäßigem 
Grade höchst wertvolle Mittel zur Beförderung 
der Fruchtbarkeit sind, nicht in Anbetracht 
dessen, daß sie an sich anziehend sind, sondern 
weil zwischen ihnen und der Vollkommenheit 
anderer Teile des komplizierten Befruchtungs- 
mechanismus ein gewisser Zusammenhang b e - 
Isteht. Doch dieses ist nur eine gewisse Ansicht, 
wenn auch in meinen Augen eine sehr wahr- 
scheinliche, denn ich kann für dieselbe keinen 
bindenden Beweis bringen, ein Umstand, wel- 
cher den Wert meiner Beobachtungen über die 
Abwesenheit des Verlangens und der Lust bei 
sterilen Frauen sehr herabsetzt. Eine beson- 
ders empfindliche Lücke ist hierbei der Mangel 
der Kenntnis eines diesbezüglichen Zu^tandes 
bei fruchtbaren Frauen. Im Anschluß an die bei 
unfruchtbaren Frauen gemachte Erfahrung will 
ich annehmen (?), daß bei fruchtbaren ge- 
schlechtliches Verlangen und geschlechtliche 
Lust selten fehlen. (!)" 

Zum Verständnis der Duncan sehen Tabelle sei bemerkt, 
daß er zwischen „geschlechtlichem Verlangen" und 
„Gcschlechtsgenuß" unterscheidet. Beide Begriffe, deren 
scharfe psychologische Differenz von uns erst an späterer 
Stelle bei der psychologischen Analyse des weiblichen Ge- 
schlechtstriebeis betrachtet werden wird, fallen vorläufig für 
uns unter den Sammelnamen der „mangelhaften! 
Geschlechtsempfindung" zusammen. Für „Ge- 
schlechtsgenuß" können wir auch jetzt schon getrost 



Digitized by Google 



- 63 — 



unser bisher oft gebrauchtes Wort „Orgasmus" gebrauchen. 
Auf „geschlechtliches Verlangen" passen wohl jene 
schon von uns beschriebenen Fälle, bei denen der vorhandene 
Trieb (Libido) zwar durch Masturbation, aber niemals bei 
der Begattung zum Orgasmus führt. 

Durcans eigene Unterscheidung lautet : 
„G eschlechtlichesVerlangen und geschlecht- 
1 i c 1* e Lust müssen gesondert betrachtet werden. 
Denn obgleich sie gewöhnlich verbunden sind, 
so ist dieses doch nicht immer der Fall. Eine 
Frau mit gesunden Genitalien kann sexuelles! 
Verlangen, aber keine Geschlechtslust empfin- 
den, oder es kann das Gegenteil stattfinden und 
sie mag kein Verlangen haben, dagegen der ge- 
schlechtlichen Lust zugänglich sein. Obgleich 
nur Gravidität und Gebären natürliche Folgen 
des geschlechtlichen Verlangens und Genusses 
sind, so besteht doch zwischen diesen und dem 
Wunsch, Kinder zu haben, wenig oder gar kein 
Zusammenhang. Der Wunsch nach Nach- 
kommenschaft mag sehr intensiv sein, während 
weder sexuelles Verlangen noch Genuß vor- 
handen ist, und der Wunsch, die Gravidität zu 
umgehen, mag sehr stark sein, während sowohl 
geschiechtlichesVerlangenals geschlechtlicher 
Genuß empfunden wird." 



Alter zur Zeit 
der Hochzeit 


Zahl 


Geschlechtstrieb 


Geschlechtlicher Genuß 


vor- 
handen 


fehlt 


nicht 
bekannt 


vor- 
handen 


fehlt 


nicht 
bekannt 


15-19 


59 


18 


4 


37 


15 


8 


36 


20-24 


220 


78 


18 


124 


69 


27 


124 


25—29 


134 


35 


12 


87 


31 


18 


85 


30-34 


59 


16 


3 


40 


14 


5 


40 


35-39 


23 


3 


1 


19 


3 


3 


17 


40-45 


9 


2 


1 


6 


2 


2 


6 



Dune an sehe Tabelle des Geschlechtstriebes und des geschlechtlichen 

Genusses bei unfruchtbaren Frauen. 



Digitized by Google 



- 64 - 



Das Ergebnis dieser Tabelle ist folgendes: 
Duncan verfügt im ganzen über 504 Fälle unfrucht- 
barer Frauen. Von dem geschlechtlichen Empfinden der- 
selben kennt er bei 308 Fällen überhaupt nichts! 
Also fast 2 /s fallen aus! 

Man kann an diesem ungeheuren Prozentsatz von neuem 
Äiie Schwierigkeit ermessen, denen die Erforschung immer und 
wieder begegnet- Wir haben hier einen Autor, der eigens 
diese Frage studiert! Es ist ihm nur möglich, ein Drittel 
seiner Fälle zu den entsprechenden Angaben zu bewegen! 
2 /i der sterilen Frauen wollten ihm entweder nicht ein- 
wandsfreie Auskunft geben oder er konnte aus äußeren 
»Gründen überhaupt nicht wagen, die diesbezülichen Fragen 
an sie zu stellen! 

Es bleiben ihm also von 504 Fällen nur noch 196 sterile 
Frauen übrig. Diese sondert er in 2 Klassen. 

Er findet bei: 

10 sterilen Frauen — 39mal fehlenden Ge- 
schlechtstrieb, d. h. ca. 20 o/o! 

und bei: » 
196 sterilen Frauen — 62mal fehlenden Ge- 
schlecht s g e n u ß , d. h. ca. 31 o/o ! 

Übersetzen wir das Resultat in unsere Sprache. Für uns 
ist vorläufig der Mangel des geschlechtlichen Genusses — 
Mangel des Orgasmus = „mangelhafte Geschlechtsempfin- 
dung" überhaupt. 

Wir kommen dem Autor entgegen und nehmen seine 
höhere Zahl an und erhalten also als ganzes Ergebnis, daß — 

ca. 31 o/o der sterilen Frauen mangelhafte 
Geschlechtsempfindung haben! 

Dieses Resultat ist uns nicht erstaunlich! Die Zahl er- 
reicht nicht einmal die höchst normierte von uns aufgestellte 
Maximalzahl von 40 o/o der Empfindungslosen überhaupt. Man 
erkennt sofort die Einseitigkeit und den Fehle r solcher 
Untersuchungen. 

Solange Duncan über die Häufigkeit der, wenn wir uns 
so ausdrücken dürfen, „normalen (d. h. durchschnittlichen) 
Empfindungslosigkeit" nicht orientiert ist, solange darf 
er aus seinen Zahlen nicht den „befruchtenden" Schluß 
ziehen. 



Digitized by Google 



- 65 - 



Nacl unseren Erfahrungen über die allgemeine Häufig- 
keit der sexuellen Anästhesie überhaupt läßt die Duncan- 
ischf Tabelle keinen anderen Schluß zu, als daß die „man gel - 
hafteGeschlechtsempfindung"beidenunfrucht- 
baren Frauen nur in der durchschnittlichen 
Ziffer aller (d. h. fruchtbaren und unfruchtbaren 
zusammen!) vorkommt und daß ein zahlenmäßig be- 
wiesener Zusammenhang zwischen mangelhafter Geschlechts- 
lust und Kinderlosigkeit nicht besteht. 

Zu den Vertretern des Zusammenhanges weiblicher 
Wollust und Befruchtung gehört auch Kisch, der in seiner 
Monographie über Sterilität wohl zuerst den Ausdruck 
^Dyspareunie* gebraucht und sie für viele Fälle von Kinder- 
losigkeit verantwortlich macht. Es ist dies sein gynäkologischer 
Glaube ; ein beweisendes Zahlenmaterial ist er nicht imstande 
anzuführen. Physiologisch begründet er den aktiven Anteil 
des Orgasmus einmal durch die von ihm behaupteten, von 
uns jedoch nicht wahrgenommenen „schnappenden" Kon- 
traktionen des Muttermundes, zweitens durch die reti- 
n i e r e n d e Wirkung des Constrictor cunni und drittens durch 
die Produktion des Cervicalschleimes. Der letztere hat 
allerdings nach Marion Sims besondere Eigenschaften. Es 
ist erwiesen, daß die Spermatozoen im sauren Scheidenschleim 
bereits nach ca. 12 Stunden als bewegungsunfähig, also als 
tot zu betrachten sind — im (alkalischen) Cervicalschleim da- 
gegen noch nach 36—40 Stunden sich lebhaft bewegen. Der 
jBedeutung dieser Tatsache wird man sich allerdings nicht 
verschließen können, wenn zufällig einmal, sei es aus mechani- 
schen Gründen des weiblichen Geschlechtskanals oder aus 
mangelhafter Eigenbewegung der Spermatozoen •) die Fort- 
bewegung derselben bis in das Gebärmutter-Innere über Ge- 
bühr verlangsamt sein sollte. Auch die muskulöse Zusammen- 
pressung, welche den vergossenen Samen, unter Umständen 
in das hintere Scheidengewölbe befördert und daselbst festhält, 
haben wir bereits gewürdigt. Immerhin dürften diese Mo- 
mente angesichts der ungeheuren Anzahl „empfindungs- 
loser" Befruchtungen, welche die selbständige Kraft des 



•) Vergl. pag. 70. 

Adler, Geschlechtsempfindung. 3. Aufl. 5 



Digitized by Google 



- 66 - 



Vorwärtsdringens der Spermatozoen in allererster Linie be- 
weisen, nur höchst selten in Betracht kommen. 

Kisch führt den Fall einer gebildeten Dame 
an, die behauptet, dieKonzeption nach Belieben, 
je nach ihrem laisser faire et laisser aller in der 
Handzunaben! Wir haben schon darauf hingewiesen, wie 
joft sich die Frauen in dieser Beziehung täuschen. Und selbst 
angenommen, der vorliegende Fall entspräche der Wahrheit, 
so wäre die „Entsagung" dieser Patientin in bemerkens- 
wertester Weise zu bewundern und zu — kritisieren! 

Seeligmann beruft sich in einem kurzen „Über 
sterilitas matrimonii" betitelten Artikel (Berliner 
Klinische Wochenschrift 1891, Nr. 41) auf Duncan 
und führt einen einzigen Fall an, bei welchem er der 
Wiederkehr des Wollustgefühles den Hauptanteil 
an der nach der Behandlung glücklich erzielten Schwanger- 
schaft zuschreibt. 

Unsere Beweisführung hat gezeigt, wie schwierig die Ent- 
scheidung dieser Frage selbst an einem größeren 
Materiale wie dem Duncan sehen ist und daß die Dun- 
er, ii sehen Zahlen eher nach der negativen Seite sprechen. Wir 
haben gezeigt, welch andere Fragen notwendig dabei berück- 
sichtigt werden müssen. Seeligmann windet sich aus 
diesem komplizierten Dilemma der schwierigsten aller Kontro- 
versen mit beneidenswerter Einfachheit an einem einzigen 
Falle heraus. Und dieser Fall ist nicht einmal etwas irgend- 
wie besonderes, sondern das alltägliche Brot eines jeden Arztes, 
der sich mit Gynäkologie beschäftigt. Seeligmann be- 
handelt eine Frau mit alter Parametritis, alten Verlage- 
rungen, alten Verwachsungen, der infolge dieser inneren Ver- 
bildungen, wie so häufig, der Coitus schmerzhaft ist und in- 
folgedessen keinen weiblichen Orgasmus aufkommen läßt. 
Massage lindert den alten Zustand und stellt annähernd normale 
Untcrleibsverhältnisse her. die Verwachsungen werden gelöst, 
die narbigen Zusammenziehungen gedehnt und mit ihnen treten 
wieder normale Zustände an den abdominellen Tuben-Mün- 
dungen auf, so daß das reife Ei wieder den bisher verschlosse- 
nen Weg in die Gebärmutter finden kann. Das ist wenigstens 
die natürliche und gewöhnliche Erklärung, nach welcher bei ' 
alter Parametritis durch Massage etc. Befruchtung er- 



Digitized by Google 



- 67 - 

möglich* wird, was hundert und tausendmal beobachtet ist. 
Wenn im vorliegenden Falle die Wollustempfindung- cn 
in so glücklicher Weise beeinflußt wurden, so mag der doppelte 
Erfolg im Interesse der Patientin immerhin beachtet und ge- 
würdigt werden. Die Parametritis ist eine der dank- 
barsten Ursachen der mangelhaften Oe- 
se h lechtsempfindung des Weibes und wir können 
Jms glücklich schätzen, hier eine Handhabe zu besitzen, direkt 
mechanisch einzugreifen und zu helfen. Bei der Therapie 
wird uns derselbe später noch einmal beschäftigen. Aber man 
gebe sich nicht der oberflächlichen Täuschung hin, daß nur, 
weil das Wollustgefühl nun zurückgekehrt, 
auch der Kindersegen die Folge davon ist! Dem 
einer Falle von Seeligmann stehen jene zahllosen 
anderen gegenüber, wo Parametritis in gleicher Weise 
behandelt wird, wo niemals Oeschlechtsempfindung vor- 
dem da war, wo niemals nachher solche aufgetreten ist, 
wo trotz der Hoffnung, daß hier ein greifbarer Grund und 
dementsprechende Behandlung die Welt der weiblichen Em- 
pfindungen in gewünschter Weise zurechtrücken würde, An- 
aesthesia totalis zurückblieb und wo trotzdem als unmittelbare 
Folge der günstigen lokalen Behandlung eine oft mehr als 
gewünschte Fruchtbarkeit eintrat. 

Die medizinische Wissenschaft rechnet leider noch nicht 
immer mit mathematischer Exaktheit Aus vielen Beob- 
achtungen läßt sich nur ein Waihrsch ein lieh keits - 
resultat resümieren, vorausgesetzt, daß alle Fragestellungen 
richtig waren. Aus einem einzelnen Falle Schlüsse ziehen 
zu wollen, ist bedenklich und gefährlich, besonders aber bei 
einer so schwierigen und komplizierten Materie, wie das Ver- 
hältnis von Geschlechtsempfindung und Befruchtung. 

Diese Schlußfolgerung ist ohne weiteres für eins der 
neuesten Ergebnisse anwendbar, die aus dem bisweilen noch 
etwar rückständigen und abergläubischen Rußland kommen. 

Dr. J. Sutkowsky in St. Petersburg (Das Ge- 
setz der Entstehung des Geschlechts und das 
Mittel, das Geschlecht des Individuums zu be- 
einflussen — Berliner Klinik 1909, Heft 252) hat sogar 
endlich das vielgesuchte große Geheimnis der willkür- 
lichen Geschlechtsbestimmung gefunden. Sein 

5« 



Digitized by Google 



- 68 — 

Fundament ist der Orgasmus. Von dem zeitlichen Ein- 
treten des männlichen resp. weiblichen Höhepunktes hängt 
nach seiner Ansicht einzig und allein das Geschlecht des 
Kindes ab und durch ein systematisches Früher oder Später 
haben Eheleute es nunmehr beliebig in der Hand, das Ge- 
schlecht ihrer Nachkommenschaft zu bestimmen! 
Sutkowskys Thesen sind folgende: 

1. Wenn der Orgasmus (die Ejakulation) des Mannes 
zuerst erfolgt, entsteht ein — weibliches Indi- 
viduum. 

2. Wenn der Orgasmus der Frau früher eintritt, 
sc entsteht ein — männliches Individuum. 

3. Wenn der Orgasmus gleichzeitig stattfindet, so 
entscheidet die stärkere der beiden Ehe- 
hälften. — 



Die Erklärung, welche Sutkowsky für seine Theorie 
gibt, ist eine chemische. Diese Erklärung ist an und für sich 
eine ziemlich plausible und mit vorhandenen Beobachtungen 
twohl vereinbar. Wenn nur die Erfolge nicht im Stiche ließen! 
Sutkowsky vermerkt die Tatsache, daß die Spennatozoen 
in alkalischem Fluidum länger lebensfähig bleiben als in 
saurem. Wenn also bei früher Ejakulation des Mannes die 
Spermatozoen die Scheide überschwemmen, so kämen sie in 
den normalsauren Scheidenschleim. Hierbei werden sie 
„abgeschwächt", sie verlieren an Kraft, folglich entsteht ein 
weibliches Individuum. 

Kommt dagegen die Frau vor dem Manne zum Orgas- 
mus, so finden die später deponierten Spermatozoen statt des 
sauren ein alkalisches Fluidum vor, sie büßen nichts an 
Lebenskraft ein und bilden ein männliches Individuum. Bei 
gleichzeitigem Orgasmus kämpfen sauer und alkalisch. Der 
Stärkere siegt! 

Sutkowsky versucht an Erfahrungen der Tierzucht 
seine Theorie zu erweisen und geht schließlich zum praktischen 
Beispie'. des Menschen über. Hier imponiert uns die — 
Dürftigkeit seines Materials. Ganze 5 Fälle! Und welcher 
Art! 



Digitized by Google 



- 69 - 



1. Eigene Beobachtung: Zuerst 2 Töchter, dann nach 
Wunsch (n. b. wie oft?) 

2. Rat an junges Ehepaar: Erfolg 1 Sohn. 

3. Rat an Ehepaar: Bereits 3 Töchter, dann 1 Sohn. 

4. >, u u » 5 ,, „ j> 
S 7 1 

Diese Zahlen sind so dürftig, zumal wenn man bedenkt, 
daß die Wahrscheinlichkeit, ein bestimmtes Geschlecht zu er- 
hallen, allein schon V 2 ist, und daß diese Wahrscheinlichkeit 
des anderen Geschlechts allein schon wächst, wenn vordem 
3, 5, \,\ 7 Töchter dagewesen sind. 

Hat uns Dr. Sutkowsky keine Fehlschläge mitzuteilen ? 
Erhöhe er seine Zahlenreihen auf 1000 Fälle, dann wollen 
wir anfangen statistische Schlüsse zu ziehen und an seine 
Theorie zu glauben! 

Gerade die Tatsache der häufigen mangelhaften Ge- 
schlechtsempfindung ist mit einem Schlage imstande, Sut- 
kowskys Vorschläge in das Reich der Phantasie zu ver- 
weisen. Es gibt eine unendliche Anzahl empfindungs- 
loser Frauen ohne Orgasmus. Ob 10, ob 20, 30 oder 
40 °/o, ist gleichgültig. Müßte nicht auf alle Fälle eine viel 
größere Zahl von „Abschwächungen" im sauren Scheiden- 
schleim dieser Anaestheticae eintreten ? Müßten dem- 
gemäß nicht unglaublich viel mehr Mädchen ge- 
boren werden? Tatsache aber ist, daß, ganz wenige 
Distrikte ausgenommen, auf der ganzen Welt durchschnittlich 
etwas mehr Knaben geboren werden. 

Ferner müßte sich der Mädchenüberschuß ganz auf- 
fallend bei den Erstgeburten zeigen. Denn wie viele 
Frauen gelangen erst nach längerem Verkehr, oft erst nach 
den» ersten Kinde zum Orgasmus! 

Man müßte die mangelhafte Geschlechtsempfindung des 
Weibes als nicht vorhanden betrachten, wenn Sutkowskys 
bequeme Theorie zu Recht bestände. Und Sutkowsky 
sagt doch selbst in seiner Veröffentlichung: „Es muß noch 
erwähnt werden, daß häufig während der ersten Zeit der Ehe 
das Weib durchaus keinen sinnlichen Genuß durch die ge- 
schlechtliche Vereinigung erhält; derselbe stellt sich erst nach 
der Geburt des ersten Kindes ein!" 



Digitized by Google 



70 - 



Wer Lust hat, mag Sutkowskys Theorie anwenden. 
Sie bringt keinen Schaden, höchstens Enttäuschung. Was aber 
soll die dauernd Unempfindliche machen, die sich nach 
5 Söhnen (entgegen der Theorie) endlich eine Tochter 
wünscht?? — 



Auf ähnlichen Gedankengängen bewegt sich M. Vaer- 
ting*) Nach seiner Auffassung unterstützt der weibliche Or- 
gasmus den Befruchtungsvorgang im Sinne der Eugenik. 
Der weibliche Orgasmus erleichtert den Spermatozoen ihren 
Weg — chemisch und mechanisch. Ohne weibliches Wollust- 
gefühl sind die Samenzellen ganz auf ihre Eigenbewegung 
angewiesen, sie brauchen mehr Zeit und Kraft, um allein zum 
Ei zm gelangen. Solche Spermatozoen sind gewissermaßen 
geschwächt, d. h. ermüdet und ausgehungert. Die endliche 
Befruchtung gibt ein geschwächtes Individuum. Dagegen sind 
die Kinder der gegenseitigen Liebe und Leidenschaft stark 
und kräftig. Der Orgasmus der Frau ist also nach Vaerting 
ein stark belebendes, anfeuerndes Element für den Befruch- 
tungsvorgang. Liebevoll werden durch ihn die kleinen männ- 
lichen Samenzellen — getrieben, gepreßt, angesogen und 
durch den alkalischen Cervixschleim frisch gehalten — be- 
schleunigt zum Ei getrieben. 

Wenn diese Argumentationen Vaerting's richtig sind, 
so kann natürlich auch eine allzuschwache Eugenik bis zur 
Unfruchtbarkeit führen. Ein von Hause aus „schwächliches" 
Spermatozoen geht vielleicht bei einer kalten Frau zu Grunde, 
erreicht aber sein Ziel möglicherweise noch bei einer 
Leidenschaf tlrchen. 

Beweise existieren nicht. Allein die Theorie hat etwas 
Bestechendes. Der weibliche Orgasmus kann nicht eine reine 
Luxuseinrichtung sein, er muß irgend einer physiologischen 
Funktion dienen — dafür spricht das überall sinnvolle Walten 
der Natur. 



•) Die eugenische Bedeutung des Orgasmus — Zeit- 
schrift für Sexualwissenschaft Bd. II (1915), Heft 6. 



Digitized by Google 



- 71 - 



Auf einen eigenartigen Zusammenhang zwischen Wol- 
lustgefühl und eingetretener Befruchtung 
(Schwangerschaft) machte mich die Zuschrift eines 
Kollegen aufmerksam. 

Bei den Tieren ist der Zustand bekannt. Unmittelbar 
nach einer fruchtbaren Deckung gestatten die Weibchen keine 
Paarung mehr. Die Schnelligkeit dieses Instinktes bewundern 
wir fast noch mehr wie seine Regelmäßigkeit. 

Der kulturelle Mensch hat dieses Näturgefühl in der Regel 
verloren. In nicht ganz seltenen Fällen kehrt es sich sogar in 
das Gegenteil um — das weibliche Wollustgefühl erwacht erst 
recht Offenbar spielt hier der Wegfall psychischer Hem- 
mungen eine Rolle. Die (vielleicht gefürchtete) Schwanger- 
schaft ist eingetreten. Das Unabwendbare ist geschehen. 
Jetzt nützt keine „Vorsicht", kein „Zurückhalten" mehr — 
das natürliche Gefühl kann sich austoben. 

Vereinzelte Frauen scheinen jedoch das natürliche Ab- 
wehrgefühl unbeeinflußt von solchen kulturellen Entlastungs- 
gedanken behalten zu haben. 

Die Zuschrift verweist auf T a r n i e r und Chantreuil 1 ): 

„Bisweilen zeigt sich beim Weibe nach der Empfängnis 
eine sehr merkwürdige Erscheinung, die ganz von selbst da- 
zu beiträgt, den Geschlechtsverkehr während der Schwanger- 
schaft einzuschränken, nämlich ein erheblich gemindertes! 
Verlangen nach demselben. Prof. Stoltz in Nancy hat 
einige Frauen gekannt, die während der Schwangerschaft einen 
direkten Abscheu vor der Annäherung ihres Mannes empfanden. 
Das Auftreten dieser Empfindung war für sie 
geradezu ein Symptom der eingetretenen Em- 
pfängnis." 

Diesen Beobachtungen kann ich eine eigene hinzufügen. 
Anläßlich eines Artikels über „Die frigide Frau" 2 ) schrieb 
Frau H. M. folgendes: 



!) Traite de Part des aecouchements (1888). 

*) Otto Adler - Sexual-Probleme April 1912. 



Digitized by Google 



— 12 — 



Fall VII. 

- 

Verminderte Libido nach Empfängnis. 
(Eigene Beobachtung). 

„ Ich habe eine sexuelle Befriedigung bis zu meiner 

Verheiratung (im 26. Jahre) nicht gekannt. Ich erwähne das aus- 
drücklich, weil damit die eventuelle Diagnose: „Anaesthesia sexualis 
masturbatoria" von vornherein wegfällt. In meiner Ehe traten dann 
zum ersten Male „Hemmungen" auf, als ich gravida wurde. Ich 
schob das damals auf meine Schwangerschaft. Nach meiner Nieder- 
kunft war der alte Zustand (normale Libido und normaler Orgasmus) 
wieder hergestellt. Dies wiederholte sich bei jeder meiner Schwanger- 
schaften, also jedesmal, wenn eine Konzeption unmöglich wurde. 
Ich erwähne das, weil es vielleicht folgende Tatsache erklärt. Mein 
Mann wünschte — aus verschiedenen, hauptsächlich ökonomischen 
Gründen — keine Kinder mehr, und es erfolgte nur noch Präventiv- 
verkehr. Nun betone ich: ich will nicht etwa die uralte Tat- 
sache aufwärmen, daß die zur Konzeptionsverhütung notwendigen 
Praktiken „störend" wirken. Aber bei mir — und, wie ich weiß, 
auch bei vielen anderen Frauen — ist eine Befriedigung unmöglich, 
sobald ich weiß, daß keine Schwangerschaft aus dem Verkehre 
resultieren kann. Es ist also nicht das physisch-mechanische 
Hindernis des Präservativs, sondern die psychische Hemmung, die 
— - trotz liebevollster Rücksichtnahme des Mannes — in solchen 
Fällen die Frau nicht zum Orgasmus kommen läßt. Da es in den 
meisten Fällen (fast immer) der Mann ist, dem eine größere Kinder- 
zahl unerwünscht ist, bin ich fest überzeugt, daß dieses Moment 
an einer großen Anzahl unglücklicher Ehen schuld ist. 

Ich möchte noch einmal hervorheben, daß das angeführte 
Moment die einzige Ursache der mangelhaften Geschlechts- 
empfindung bei m,<r ist, sonst ist alles normal; aber der Trieb, 
noch mehr Kinder zu bekommen, ist so mächtig, daß vielleicht 
die Möglichkeit, das Vorhandensein des Pessars zu vergessen, 
den einzigen Ausweg in sich schließt." 



Digitized by Google 



V. Kapitel. 



Wollustgefühl und Verschneidnng. 

(Kastration, Uterus -Exstirpation, Klitorektomie etc. — Vor 
Beginn der Geschlechtsreife und nach Aufhören derselben 

[Klimakterium]). 



Kastration ist weder identisch mit männlicher Impotenz, noch mit 
werblicher Anästhesie. Römische Rastraten. Kastration beim Hengste. 
Sultan Amurad. Kastrat und Eunuch. Hegar, Tissier, Bruntzel, Schmal- 
fuß. Kritik der Oläveckeschen Fälle. Unterschied der frühen und späten 
« Kastration. Ovariotomie in Ostindien! (Roberts). Mensingas Fall ver- 
mehrter Geschlechtslust nach der Operation. Uterus-Exstirpation ohne 
nennenswerten, Einfluß. Verschncidung (Klitoris, Nymphen, spez. bei den 
Skopzen (Pelikan, Nadeschdin). Verschneidung auf Buru, Ecuador, im 
Sudan. Infibulation. Normale Anästhesie im Kindcsalter. Abweichungen. 
Erste Menstruation — erster Reiz zum undifferenzierten Geschlechts- 
gefühli (Dessoir). Verhalten in der Klimax. Bisweilen gesteigerte Libido 
(Krieger, Börner). Normalerweise langsames Nachlassen. In seltenen 
Fällen noch' in hohen Jahren. Outtzeit. Ninon de l'Enclos. 



Wir haben bereits- bei den physiologischen Bemerkungen 
über den peripheren Entstehungsort des Orgasmus die 
Klitoris zwar als den „sensiblen Brennpunkt" der in Rede 
stehenden Empfindungen kennen gelernt, aber zugleich auch 
aus dem eigenen Masturbationsstatus (Fall II) entnommen, 
daß ihre direkte Reizung zur vollen Entstehung des höchsten 
.Wollustgefühles durchaus nicht absolut nötig ist, daß im 
Gegenteil andere Punkte der inneren Genitalien, ja 
selbst die Brustdrüsen nicht nur genügen, sondern im Gegen- 
teil nur diese erregungsfähig — um im technischen Ausdruck 
zu reden — erogen sind. 



4 

Digitized by Google 



- 74 — 



Es ist auch bereits darauf hingewiesen worden, daß selbst 
lohne Klitoris voller Orgasmus erreicht werden kann, 
wie bei der russischen Sekte der S k o p z e n erwiesen ist. 

Im allgemeinen existieren nicht nur im Publikum, sondern 
selbst in ärztlichen und naturwissenschaftlichen Köpfen noch 
vielfach falsche Ansichten über die Abhängigkeit der 
geschlechtlichen Empfindungen von den Ge- 
schlechtsorganen. 

Beim Manne glaubt man zumeist, daß der Verlust der 
Hoden identisch ist mit Verlust der Manneskraft. Im alten 
Rom war man erfahrener als heute. Wenigstens berichtet die 
laszive Muse des alten römischen Dichters, daß die besonders 
sinnlichen Frauen der verderbten ewigen Stadt mit raffinierter 
Lust gerade den Geschlechtsverkehr mit kastrierten Männern 
suchten, bei denen sie ein gleiches Vergnügen, jedoch ohne 
die Gefahr der lästigen Mutterschaft genießen konnten. 

Der Kastrierte besitzt nicht nur die Fähigkeit zu erigieren 
und den Coitus mit absolut gleicher Wollust zu vollziehen, 
sondern sogar zu ejakulieren. Sein Erguß, der wohl im wesent- 
lichen ein Sekret der Prostata ist, ist natürlich frei vom spezifi- 
schen Produkt der Hoden, den Spermatozoen, und deshalb 
nicht befruchtungsfähig, der Kastrierte besitzt also vollkommen 
die potentia coeundi, wenn auch nicht generandi. 

Der Kastrierte steht auf der gleichen Stufe wie jene zahl- 
reichen Männer, die zwar hinreichend geschlechtskräftig, aber 
doch nicht fähig zu befruchten sind, weil (gewöhnlich wegen 
früherer doppelseitiger Hodenentzündung) befruchtende 
Spermatozoen nicht mehr gebildet werden. Es sind das 
jene in ihrer Zahl durchaus nicht zu unter- 
schätzenden Fälle, in denen die Ehefrau immer 
und wieder auf Kinderlosigkeit behandelt wird, 
■während der Gatte der schuldige Teil ist. 

Trotzdem ist selbstverständlich ein Zusammenhang 
zwischen Geschlechts o r g a n e n und Geschlechts g e f ü h 1 
vorhanden. Bei den Tieren ist der Nachlaß des letzteren nach 
dem Verlust ihrer speziellen Zeugungsorgane hinreichend be- 
kannt und erwiesen. Allein z. B. auch beim Wallach tritt nicht 
immer eine absolute Geschlechtslosigkeit ein, und es wird von 
dem türkischen Sultan Amurad II. erzählt, der in höchstes Er- 
staunen geriet, als er einen Wallach plötzlich sich erregen sah 



Digitized by Google 



- 75 - 

und dessen Versuch gewahrte, eine Stute zu beschälen., Diese 
unerwartete Beobachtung soll ihn zu der radikalen Vorsichts- 
maßregel geführt haben, fortan als Haremswächter nicht bloß 
Kastrierte, d. h. der Hoden beraubt», sondern volle 
Eunuchen, bei denen bekanntlich die ganzen äußeren 
Geschlechtsteile entfernt sind, zu verwenden. 

Wie bei den Männern die Entfernung der Hoden, ebenso 
hat bei den Frauen die Beseitigung der Eierstöcke — die w e i b - 
liehe Kastration — keinen unbedingt aufheben- 
den Einfluß auf Geschlechtstrieb und Wollust- 
gefühl. 

H e g a r , der sich am eingehendsten mit dieser Operation 
beschäftigt hat, bestätigt, daß „eine Herabsetzung des 
Begattungstriebes nach Kastration beim Men- 
schen durchaus nicht konstant sei." — 

Tissier (De la Castration de la femme, Paris 
1885) hat die gleiche Beobachtung gemacht und gibt sogar 
unter Umständen eine Erhöhung des sexuellen Bedürfnisses 
post operationem zu: 

„Sichezlesanimauxleresultatdelacastration 
comme anaphrodisiaque est constant, chez les. 
fem m es il en est tout autrement. — — — — La 
castration parait nägiren rien sur l'attenuation 
des impulsions sexuelles, c'est bien plus le 
contraire qui se produit." 

Bruntzel (Archiv für Gynäkologie, XVI) be- 
schreibt vier Fälle von weiblicher Kastration und fügt hinzu, 
„daß die Geschlechtslustbei zweien seiner Fälle 
keine Änderung nach der Kastration erlitt en 
habe." 

Schmalfuß (Archiv für Gynäkologie, XXVI) 
behandelt die „K a s t r a t i o n b e i Neurosen" und bespricht 
an 4 Fällen (an Fall 6, 7, 13 und 31) die sexuellen Em- 
pfindungen. 

Fall 6 zeigt post operationem eine „Abneigung" 
gegen die Kohabitation, weil Schmerzen beim Coitus, wahr- 
scheinlich infolge innerer Narbenbildungen, aufgetreten sind. 
Man sieht an diesem einzelnen Falle den unseligen Einfluß 
einer einst gefeierten Methode, das kranke Nejvensystem des 



Digitized by Google 



- 76 - 



(V/eibes durch radikale Entfernung seiner Eierstöcke zu heilen! 
Diese operationswütige Ära hat nur ein kurzes Leben gehabt 

In Fall 7 war die Kohabitation „unveränder t". 

Fall 13 gibt an, daß die Kohabitation nicht mehr wie 
früher sei, „daß man nicht verheiratet sein sollte". 
Der unklare Notschrei dieser Operierten deutet nicht nur auf 
eine vielleicht dem ersten Falle ähnliche Narbenschmerzhaftig- 
keit hin, sondern enthält versteckt eine ganze Welt unaus- 
gesprochener, drückender sexueller Empfindungen, welche das 
Individuum als die beschwerende Last eines geschlechtlichen; 
Lebens und nicht ganz unwahrscheinlich vielleicht als den 
Grund seiner „Neurose" herumgeschleppt und großgezogen 
hat. Anstatt hier in die psychologische Analyse des Ge- 
schlechtslebens dieser Kranken eingedrungen wurde, hat die 
Kranke durch eine gefahrvolle Operation ihr Leben riskieren 
müssen, ohne Besserung zu finden. 

In Fall 31 handelt es sich um eine 33jährige Dritt- 
gebärende, bei welcher die Kastration anfangs die regelmäßige 
Periode aufhob. Während dieser Zeit der künstlichen Meno- 
pause hatte die Patientin kein Wollustgefühl. Später stellte 
sich die menstruelle Blutung von neuem ein und seitdem ist 
das Wollustgefühl wieder in Ordnung. 

Die Schmalfuß sehen Fälle wären von ganz be- 
sonderem Interesse für die Klärung unserer sexuellen Fragen, 
wenn ihnen eine detailliertere, psychologische Beachtung ge- 
schenkt wäre, wenn nicht nur der Chirurg, sondern auch der 
Nervenarzt in die Mysterien der vorangegangenen Vita sexualis 
einzudringen versucht hätte. Für uns ergeben sie aufs neue 
an dieser Stelle die allein in Betracht kommende und wichtige) 
Tatsache, daß die Kastration nicht identisch ist mit 
Vernichtung sexuellen Empfindens, daß selbst 
eine nervenkranke, „neurotische" Frau nach der 
Operation in dieser Hinsicht keine Einbuße zu 
leiden braucht. 

Am ausführlichsten behandelt diese Frage Glävecke 
(Archiv für Gynäkologie, XXXV.) in seiner Arbeit : 
„Körperliche und geistige Veränderungen im 
weiblichen Körper nach künstlichem Verluste 
der Ovarien einerseits und des Uterus anderer- 
seits." 



: 



Digitized by Google 



— 77 — 

Glävecke verfügt im ganzen über 41 Kastrationen, 
in denen er bei 27 (!) Erkundigungen über die Vita sexualis 
leinholen konnte. Seine Fragestellung richtet er auf 3 Punkte 
hin: 

1. Ob der Geschlechtstrieb gelitten? 

2. Ob intra coitum dieselbe Wollust wie früher? 

3. Ob intra coitum überhaupt ein Unterschied gegen 
früher ? 

Schon diese Fragestellung kann unmöglich ein einwand- 
freies, richtiges Resultat ergeben, abgesehen davon, daß wir 
es wieder mit klinischem Material zu tun haben, dessen An- 
gaben infolge der ganzen Umgebung nicht frei und lückenlos 
sein können. Die Fragestellung geht von der 
fehlerhatten Voraussetzung aus, daß alle Pa- 
tienten vordem tatsächlich Gefühl besessen 
Üiaben. Nach unserer Schätzung der allgemeinen Anaesthesia 
sexualis ist das von vornherein unwahrscheinlich, ja so gut 
(wie ausgeschlossen. Und nun stelle man sich die Antworten 
der ineist doch minder gebildeten und weniger objektiven 
Patientinnen auf die heikelsten aller Fragen vor! Die Patientin 
lühlt, daß ihr Geschlechtsleben von vornherein ganz falsch 
aufgefaßt wird, daß man mit der Möglichkeit ihrer stets be- 
standenen Gefühllosigkeit gar nicht rechnet! Sie hält dem- 
nach dieses selbst vom Arzte nicht in Betracht gezogene Manko 
ihres ganzen bisherigen geschlechtlichen Empfindens für eine 
Einbuße weiblichen Reizes, die sie ungefragt auf keinen Fall 
eingesteht. Und dann schwebt ihr unbewußt der Zusammen- 
hang dieses Zuslandes mit früher, vielleicht noch jetzt be- 
triebener Masturbation vor. In ihrer Einbildungskraft ist ihr 
abnormes geschlechtliches Leben vielleicht eine Sünde, eine 
Strafe. Wer will von diesem Durcheinander von Empfindungen 
die Wahrheit erwarten, wenn der ärztliche Analytiker selbst 
nicht in dem Zusammenhang der Wirrnisse bewandert ist! 
(Wir vermissen in den vorliegenden Angaben jedwede Auf- 
klärung über frühere Anästhesie und über frühere Mastur- 
bation. Beide Momente müssen in dem Empfindungsstatus 
der kastrierten Frauen vorkommen, wenn die psychologische 
Analyse eine vollkommene ist und ihre Schlüsse berechtigt 
sein sollen. Ich bin sicher überzeugt, daß sich' mancher Fall 
Glaveckes, dessen Endresultat lautet: „Die Patientin 



Digitized by Google 



- 78 - 

unterzog sich dem Coitus nur sehr ungern, aber 
ohne Abscheu, sie fürchtete nur die Schmerze n", 
sich psychologisch in einfache Anaesthesia sexualis auflöst, 
die stets bestanden hatte und die nun post operationem 
weiter bestand, aber erst durch die Narbenschmerzen 
kompliziert wurde. Aus dem bisher empfin- 
dungslosen, gleichgültigen. Zustand in actu 
wurde jetzt tatsächlich ein schmerzhafter und 
bei der Unkenntnis des früheren Zustandes ergab sich daraus 
der einfache Schluß, daß das Wollustgefühl nach der Operation 
„gelitten" hatte. 

Von diesem Gesichtspunkte aus erklären sich leicht die 
Resultate Gläveckes, die nach seinem eigenen Geständnis 
eine viel häufigere Beeinträchtigung des weiblichen Ge- 
schlechtsempfindens post castrationem aufweisen, als S c h m a 1 - 
fuß, Bruntzel, Koeberle und Pean beobachtet hatten, 

Trotzalledem bleiben auch bei Glävecke Fälle von er- 
haltener, wenn auch vielleicht durch Schmerzen etc. ver- 
minderter Libido übrig. Sie beweisen aufs neue den losen Zu- 
sammenhang von Eierstock und Wollust. Glävecke sagt 
sehr richtig, „daß die „Neigung" (Libido) zuerst zu 
leiden scheint, das Wollustgefühl erst später 
und daß letzteres bei manchen ungemindert 
fortbesteht, wieauch die Männer der Operierten 
bestätigen." 

Diese Unterscheidung von Neigung (Libido) — Trieb 
und Wollustgefühl = Orgasmus ist der springende 
Punkt in der ganzen Frage. 

Die Hoden sowohl des Mannes wie die Eierstöcke des 
•IWeibes pflegen in der Geschlechtsreife mit dem Erwachen 
ihrer ersten spezifischen Tätigkeit zugleich die erste Ahnung 
eines geschlechtlichen Wollens zu erwecken. In der Folge 
bleibt ihre Tätigkeit mehr oder minder von Einfluß auf ge- 
schlechtliches Wünschen und Verlangen, wie durch den zun 
Zeit der Menstruation vermehrten und allgemein beobachteten 
Trieb bestätigt wird. Das ist das normale, natürlich-animali- 
sche Verhalten des Geschlechtstriebes, wie es auch in der 
Tierwelt einzig und allein der Fall ist. Hoden resp. Eierstöcke 
fangen an, geschlechtsreif zu arbeiten und geben den natür- 
lichen Reiz ab, der das psychosexuelle Zentrum im Gehirn 



Digitized by Google 



- 79 - 



erregt. Eine Sinnlichkeit, die wesentlich auf diesem Reize 
beruht, wird selbstverständlich nachlassen, wenn ihre Haupt- 
erreger (die Eierstöcke) entfernt sind. Aber der komplizierte 
Denkapparat des Menschen hat sowohl in der Phantasie wie 
in vielen anderen äußeren Momenten mannigfache andere; 
Erregungsmittel geschaffen. Eine Sinnlichkeit, die auf 
diesen oft seltsamen und perversen Wegen das 
psychosexuelle Zentrum im Gehirn erregt, be- 
darf nicht mehr des Reizes der reifenden Eier- 
stöcke. Wir sehen das deutlich bei der frühen Masturbation, 
wir sehen es aber in unseren Fällen von' Kastration. Der Or- 
gasmus selbst kommt auf ganz anderen Bahnen zustande, wie 
wir bereits auseinandergesetzt haben, und ist ohne Eier- 
stöcke einmal Trieb vorhanden, so kann auch 
der Orgasmus absolut vollständig werden, vor- 
ausgesetzt, daß fürseine Entstehungüberhaupt 
ein normales Fundament vorhanden war. 

Bei Männern ebenso wie bei Frauen hat demnach die 
Kastration nur einen sehr bedingten Einfluß 
auf Geschlechtstrieb und Wollustgefühl. War 
beides schon vorhanden, so ist nach der Kastration 
der Ausfall ein verhältnismäßig nur unbedeutender und 
geringer. Findet die Entfernung dieser Zeugungsorgane 
jedoch vor der Geschlechtsreife, also in frühester Jugend, 
noch bevor auch durch die Phantasie und andere Erregungs- 
mittel die Sinnlichkeit geweckt ist, statt, so bleibt allerdings 
das Geschlechtsleben im Dunkeln liegen. Der frühzeitig 
kastrierte Knabe bleibt tatsächlich meistens impotent. Das 
früh der Eierstöcke beraubte Mädchen wird sicherlich noch 
mehr an seiner Sinnlichkeit Einbuße erleiden, da seine ganze 
geschlechtliche Sphäre von Hause aus noch versteckter ist. 

Die Beobachtungen hierüber müssen naturgemäß noch 
spärlicher sein, da die frühe weibliche Kastration ungemein 
selten ausgeführt wird. 

In Ostindien soll sie, wie Roberts angibt, häufiger 
vorgenommen werden. Die Mädchen bekommen dann keinen 
Busen, keine Schamhaare, das Becken bildet nicht den cha- 
rakteristisch weiblichen Schambeinwinkel, ^sie bekommen keine 
Menstruation und auch keinen Geschlechtstrieb. 



Digitized by Google 



- 80 - 



Es besteht also das durchgehende Gesetz, 
daß je früher die Kastration stattfindet, um so 
eher eine Beeinträchtigung des Geschlechts- 
lebens, vor allem der Libido, d. h. des ge- 
schlechtlichen Verlangens die Folge ist. Beim 
reifen Individuum hat die Entfernung der Eierstöcke nur 
einen mäßigen Einfluß auf Libido und Orgasmus, ein Einfluß, 
der auch auf rein psychischem Wege erklärt werden kann 
und der oft genug in den durch die Operation hinreichend ge- 
gebenen psychischen Hemmungen der weiblichen Vor- 
stellungswelt gesucht werden muß. Jedenfalls gibt es zahllose 
Fälle kastrierter Frauen mit ungeschwächter Sinn- 
lichkeit, ja es gibt Fälle, in denen erst nach dieserschein- 
bar verstümmelnden Operation, sei es aus Nachlaß 
vorheriger Schmerzen, sei es aus Wegfall psychischer Hem- 
imungen (z. B. Angst vor Mutterschaft) das Geschlechts- 
empfinden überhaupt eintritt oder ein ver- 
bessertes wird. 

Unter zahlreichen Fällen dieser Art, die jedem Operateur 
mit größerem Material vorkommen dürften, die jedoch vom 
reiner. Gesichtspunkte des absoluten Geschlechtsempfindens 
aus selten beschrieben werden, führe ich den Mensinga- 
sehen an, der unter dem Titel : „Entfernung der Zeu- 
gung sfähigkeit — Verstümmelung?" (Inter- 
nationale Klinische Rundschau 1 890) veröffent- 
licht ist. 

Fall VIII. 

(M e n s i n g a). 

Patientin hat 8mal geboren. Sie hat die mannigfachsten Unter- 
leibskrankheiten durchgemacht (Ovariitis, Ischias etc.), ohne dauernde 
Heilung und Linderung ihrer Schmerzen zu finden. Nach langem 
Bedenken wird schließlich zur Operation eingewilligt, bei welcher 
beide v&elfach verwachsene Ovarien entfernt wurden. Die Menses 
sistierten danach sofort. 

Der vorher ausnahmsweise nur höchst selten 
geübte Coitus brachte nach etlichen Stunden 
einen nervösen Schmerzparoxystnus besonders im 
Gehirn bis zum Wahnsinnigwerden hervor. 

Nach der Operation waren die Symptome viel erträglicher. Ja, 
die geschlechtliche Potenz (sie!) welche in den letzten 10—12 
Jahren auf Null reduziert war, hat sich nach Aussage des 
Gatten nicht nur wieder eingestellt, sondern den früheren Grad 



Digitized by Google 



- 81 — 



an Libido entschieden übertroff en. Was Wunder! Die 
Furcht vor den vernichtenden geistigen und körperlichen Folgen ist 
ja vollständig aufgehoben! 



Über den Einfluß der Uterus-Exstirpation können 
wir uns verhältnismäßig kurz fassen. Es ist schon von vorn- 
herein unwahrscheinlich, daß dieses Organ, welches nur im 
losen Zusammenhange zum Geschlechtsgefühl steht und das 
im wesentlichen nur die K a m m e r für den wachsenden Fötus 
ist, nennenswerten Einfluß auf die Libido hat. 

Solange die Ovarien erhalten sind, ist das der Gebär- 
mutter beraubte Individuum viel weibähnlicher geblieben, als 
nach der weit geringeren Operation der reinen Kastration. 
Von keiner Seite ist je ein erheblicher Einfluß der Gebär- 
mutterentfernung auf die Libido behauptet worden. 

Auch Glävecke bemerkt zu seinen Fällen, daß das 
sexuelle Empfinden „im wesentlichen unverändert 
geblieben sei." 

Wenn überhaupt ein Einfluß, so könnte hier im Durch- 
schritt nur ein heilsamer erwartet werden, da die große 
Und immerhin lebensgefährliche Operation in vielen Fällen 
wegen schmerzhafter Geschwülste unternommen wird, die, so- 
lange sie wuchsen und bestanden, sicherlich oft eine hin- 
reichende Hemmung für das Aufkommen vollen Em- 
pfindens abgaben. . 

Wir kommen noch einmal auf die eigentliche „Ver- 
sen n e{i d u n g", d. h. die Entfernung von Kitzler und kleinen 
Schamlippen zurück, die bei vielen Völkern aus rein religiösen 
Gründen ausgeübt wird, um die Sinnlichkeit zu ersticken oder 
in Schranken zu halten. Von der europäischen Bevölkerung 
ist die russische Sekte der Skopzen diesem Glauben 
unterworfen und trotz strenger Strafen und Verbote von Seiten 
der Regierung zählen ihre praktischen Anhänger nach 
Tausenden. , 

Bei der Beobachtung und Beschreibung dieser Sekte 
wiederholt sich wie immer dasselbe Spiel widerstreitender 
Meinungen, sobald die Konsequenzen der Verschneidung in 
Bezug auf die weiblich sexuelle Gefühlssphäre gezogen werden 
sollen. Immer und wieder wird die Häufigkeit 
der gewöhnlichen Anaesthesia feminarum 

Adler, Oeschlechtsempfindung. 3. Aufl. 6 



Digitized by Google 



unterschätzt und jedes weibliche Individuum 
von dem Gesichtspunkte aus betrachtet, als ob 
es von Hause aus volles Gefühl gehabt hat oder 
haben müßte. 

Pelikan zitiert deshalb selbst im Gegensatz zu seiner 
eigenen Wahrnehmung Nadeschdin, der sein Urteil über 
die verschittenen Skopzenweiber durchaus nach der 
gefühlsaufhebenden Seite hin formuliert und den Aus- 
fall der Empfindung nicht nur bei der wahren 
Kastration, bei Klitoris- und Nymphen-Ver- 
schneidung, sondernselbstbeiderExstirpation 
beider Brüste, wie sie ebenfalls als eine alleinige Form 
der Verschneidung bei den Skopzenweibern geübt wird, be- 
hauptet. 

Nadeschdin sagt: „Da die Brüste mit dem 
Uterus in einem engen sympathischen Konnex 
stehen, so muß ein Mangel derselben aller Wahr- 
scheinlichkeit nach die Frau des Konzeption s u 
vermögens und zugleich auch des Vergnügens} 
beim Coitus (!) berauben, was teilweise sefion 
darin seine Bestätigung findet, daß die auf 
solche Weise verstümmelten Frauen sich dem 
äußeren Ansehen nach durch ebendieselbe 
Bleichheit, Welkheit und Leblosigkeit in der 
Gesichtsfarbe auszeichnen wie die wahren 
Skopzen." 

Der gleiche Beobachter behauptet des weiteren, daß fast 
alle Skopzenweiber, selbst solche ohne deutliche Verstümme- 
lung welk aussehen und erklärt das durch den widernatür- 
lichen, von anhaltender Reizung ohne Befriedigung begleiteten 
Coitus mit Skopzen, die das „Zaren-Siege 1 <U ) nicht be- 
sitzen. 



¥ ) Bei den Skopzen sind die Moden die „S c h 1 ü s s e 1 z u r M ö 1 1 e", 
das Glied der „Schlüssel zum Abgrund". Die einfache männ- 
liche Kastration = Abtragung der Hoden wird „kleines Siege 1", 
die volle Abtragung der Hoden und des Gliedes wird „zwcites=Zaren- 
Siege 1", „zweite Reinhei t", „zweites Weißwerde n", „d e n 
Schimmel besteige n", im Gegensatz zu „den Schecken besteigen" 
(erste Reinheit) benannt. Wer das Zaren-Siegel also nicht besitzt, ist kein 
Eunuch, sondern nur ein Kastrierter. 



Digitized by Google 



- 83 — 



Nadeschdins Beobachtungen sind nicht ganz richtig, 
moch weniger seine Schlüsse, die er daraus zieht. Pelikan, 
der Nadeschdins Untersuchungen fortsetzte, hat selbst 
„sehr schöne, rotwangige Weiber der Sekte" ge- 
sehen. In der Mehrheit gibt auch er allerdings' deren welkes 
Aussehen zu, sucht aber den Grund in viel einfacheren und 
natürlicheren Ursachen, in der ganzen Lebensführung und 
Ausbildung der Psyche. 

Der Laie weiß aus der Beobachtung des täglichen Lebens 
sehr wohl, daß Gram, Kummer und Sorgen, überhaupt jede 
länger dauernde psychische Alteration dem Körper Welkheit, 
dem Gesichte Kränklichkeit, Blässe und Furchen nur allzu- 
leicht zu verleihen imstande sind. Bei den Skopzen ist es 
»wohl am nächstliegendsten, an ähnliche psychische Mo- 
mente zuerst zu denken. Eine Sekte, welche so widernatürliche 
Verstümmelungen freiwillig erduldet und welche aus falscher 
Religiosität eine mißverstandene Stelle des Evangelium Mat- 
thäi *) zu ihrem praktischen Glaubensbekenntnis gemacht hat, 
arbeitet und denkt von vornherein mit einem fehlerhaften 
Gehirn. 

Tatsächlich ist es mit der Verschneidung allein bei ihnen 
nicht abgetan. Diese Fanatiker leben in andauernder Ent- 
haltsamkeit, nehmen nur dürftige, wenig nahrhafte Kost zu sich 
und suchen den Rest der Seligkeit in eifrigstem Beten. Dazu 
kommt das niederpressende Gefühl der Heimlichkeit und Be- 
drückung, denn selbstverständlich stehen bedeutende Strafen 
auf solcher Selbstverstümmelung, und damit ist das Bild eines 
körperlich und psychisch falsch lebenden Individuums fertig. 
iMan füge noch den Kampf mit der vielleicht hinreichend 
vorhandenen Sinnlichkeit hinzu (denn tatsächlich wird solche 
durchaus nicht durch die genannten Operationen unterdrückt) 
und der psychischen Momente sind genug vorhanden, um 
Kraft und blühendes Leben aus den Adern zu bannen. 

Kitzler und kleine Schamlippen gehören, wie wir gesehen 
haben, in erster Linie zu den „erogenen" Zonen. Aber 

*) Matth. XIX, 12: „Denn es sind etliche verschnitten, 
die sind aus Mutterleib also geboren ; oder sind etliche 
verschnitten, die von Menschen verschnitten sind; oder 
sind etliche verschnitten, die s i c h, s e 1 b s t verschnitten 
haben, um des Himmelreichs wille n." 

6* 



Digitized by Google 



- 84 - 

sie sind es nicht allein. Wir erinnern noch einmal an 
Guttzeits Ausspruch, der die Exstirpation der Klitoris zur 
Heilung der Nymphomanie „baren Unsinn" nennt. 

R o h 1 e d e r befindet sich in einem gewaltigen Irrtum, 
wenn er behauptet, „daß eine verkümmerte Klitoris 
oder gar Fehlen derselben als Sitz des Wollust- 
gefühls (!) den Zustand der Dyspareunie be- 
dingen muß". 

T-elikan kann die „schwere" Beeinträchtigung der 
Sinnlichkeit weiblicher Skopzen nicht zugeben: 

„M an wird über den Einfluß derartiger Ver- 
letzungen auf die Geschlechtstätigkeit der 
Frauen nur so viel sagen können, daß dieselben, 
indem sie die Empfänglichkeit oder Reizbar- 
keit (W oiiuit) oder die Neigung zum Beischlaf 
(besonders nach Exstirpation der Klitoris) bei 
den Frauen mindern, zugleich auch ein mecha- 
nisches (aber zu beseitigendes) Hindernis für 
den normalen Coitus und die Geburt abgeben." 

Zum Verständnis der letzten Bemerkung sei hinzugefügt, 
daß sehr häufig durch Verschneidung der kleinen Schamlippen 
eine volle oder teilweise Verwachsung der Schamspalte 
stattfindet, die also rein mechanisch einen späteren Coitus 
Verbietet oder wenigstens behindert. Es ist einleuchtend, daß 
im Bedarfsfalle die operative Herstellung der Passage nicht 
allzu schwierig sein dürfte! 

Die weibliche Verschneidung ist auch bei vielen 
flicht zivilisierten Stämmen eingeführt, z. B. auf Buru, (alferi- 
scher Archipel), bei den .Indianern von Ecuador, im Sudan 
(vgl. Ploß-Bartels : Das Weib). 

Der Sinn und Zweck der Operationen ist bei den einen, 
den Geschlechtstrieb vor der Verheiratung zu unterdrücken, 
bei anderen gerade umgekehrt, um sie „fähiger und' ge- 
schickter zu machen, ihren natürlichen Ob- 
liegenheiten nachzukommen". 

Im Sudan findet die volle Vernähung (Infibu- 
lation) statt. Vor der Hochzeit schickt dann der Bräutigam 
den Angehörigen seiner Braut ein „Holzbild" seines Penis 
als Maß für die Öffnung, die gemacht werden soll! Es wäre 
interessant, in diesen Fällen eine Statistik über spätere An- 



Digitized by G( 



- 85 - 



aesthesia sexualis zu erhalten, da bei dieser Methode die 
schmerzhaften und blutigen Beschwerden der Hochzeitsnacht 
und der anfänglichen oft recht zweifelhaften Ehefreuden, welche 
häufig den ersten und dauernden Anlaß für weibliche An- 
ästhesie abgeben, als Ursachen fortfallen! 

Wir kommen zum letzten Teil unseres Kapitels, zu dem 
Verhalten der Libido vor der Geschlechtsreife 
und nach Aufhören der regelmäßigen menstru- 
ellen Blutungen, im Klimakterium. 

Selbstverständlich ist Anaesthesia sexualis im geschlechts- 
u n reifen Alter das Normale. Kinder beiderlei Geschlechts! 
müssen untereinander verkehren und ihren Spielen obliegen, 
ohne ein anderes Bewußtsein ihres Geschlechtsunterschiedes 
zu besitzen, als daß sie verschiedenartig gekleidet sind. 

In einem bekannten Scherz wird erzählt, daß Kinder an 
einer verbotenen Stelle gebadet hätten. Ein einzelner Knabe 
konnte nicht mehr entwischen, als die strenge Polizei nahte. 
Er wurde gefragt, ob auch Mädchen an dieser Stelle gebadet 
hätten, worauf er antwortete, daß er das nicht wisse, weil er 
zu spä; gekommen sei und alle anderen wären schon entkleidet 
gewesen ! 

In diesem Scherze liegt eine unbewußte psychologische 
Wahrheit, die Tatsache des absoluten Mangels jeden ge- 
schlechtlichen Empfindens, ja selbst der Ahnung und Vor- 
stellung davon. Erst mit der beginnenden Geschlechtsreife 
meldet sich das „Geschlechtsgef ühl", aber auch dann 
ist es noch kein ausgesprochenes, sondern „ein rein sub- 
jektives, körperliches Gefühl, welches in einem 
Sehnen und Drängen besteht, dem kein be- 
stimmtes Endziel vorschwebt" (Max Dessoir: 
Zur Psychologie der Vita sexualis. Allgemeine 
Zeitschrift für Psychiatrie und physisch gerichtliche Medizin 
1890. Bd. 50. pag. 941 etc.). 

Derselbe Autor nennt dieses erste wahre Gefühl das 
„undifferenzierteGeschlechtsgefühl" und kommt 
auf seiner Basis zu den allerdings etwas sonderbaren Schlüssen 
über die Entstehung der Homosexualität. 

Mangel jedes geschlechtlichen Triebes ist also in der 
Kinderzeit das Natürliche und Normale. Wenn trotzdem auch 
vor der Pubertät (und es sind feststehende Fälle aus dem 



Digitized by Google 



- 86 - 



*6. und 7. Lebensjahre und früher mit Sicherheit bekannt) 
masturbiert wird und wie es scheint mit erschreckender Zu- 
nahme, so ist das ein Beweis, daß das Gehirn als solches bei 
hinreichender Veranlagung und Beeinflussung seiner Vor- 
stellungswelt allein imstande ist, den vorbereitenden Erregungs- 
zustand für den Orgasmus zu schaffen, der sonst normalerweise 
(nur in der Geschlechtsreife als Geschlechtstrieb sich aus sich 
selbst entwickelt und bildet. 

Frühe Masturbation ist wohl ausnahmslos die Folge der 
Unterweisung und Verführung, die großgezogen und gefördert 
wird durch laszive Vorstellungen und Lektüre. Ich glaube, 
daß ein einzelnes, einsam erzogenes Individuum vor der 
Pubertät niemals den Weg zur Masturbation von selbst finden 
wird, bevor nicht die natürliche Geschlechtsreife gewaltsam 
den Drang ankündigt. Aufs neue geht aber aus den Tatsachen 
hervor, daß sowohl Geschlechtstrieb wie Geschlechtslust, das 
heißt, die Fähigkeit, den Höhepunkt, den Orgasmus zu er- 
reichen, vorgebildet in der Psyche liegen und dasi „psy c ho- 
se xu eil e" Zentrum oft nur des leisesten Anstoßes bedarf, 
um schon vor seiner physiologischen Reife in Aktion zu 
treten. 

Wenn normalerweise der Eintritt der monatlichen 
Blutungen des Weibes in der Geschlechtsreife den ersten An- 
stoß zum geschlechtlichen Fühlen und Sehnen abgibt, so liegt 
der Schluß nahe, daß mit dem Aufhören dieser periodischen 
Blutungen, wodurch das geschlechtsreif e Weib zugleich mit 
seiner Zeugungsfähigkeit aufhört, auch das Geschlechtsgefühl 
versiegt, daß die Anaesthesia sexualis der Kinderzeit wieder 
in ihre Rechte tritt. 

Die Abhängigkeit des weiblichen Geschlechtsempfindens 
von der Menstruation ist wiederholt in diesem Buche betont 
worden. Die durchschnittlich weit gedämpftere Sinnlichkeit 
des Weibes erreicht doch zeitweise bemerkenswerte Er- 
hebungen unmittelbar vor, während und direkt 
nach den Menses. 

Die Tatsache ist allgemein bekannt und Krieger (Die 
Menstruation 1869) erwähnt ihrer als einer häufigen und 
normalen Begleiterscheinung. 

„Es findet oft Reizbarkeit und trübe Stim- 
mungstatt, zuweilengepaart miteinemerhöhten 



Digitized by Google 



- 87 - 



Grad von Sinnlichkeit." Für pathologisch hält er es 
jedoch schon, „wenn ein so lebhaftes Verlangen 
nach Liebe eintritt, daß dasselbe den Charakter 
der Nymphomanie annimmt, so daß Frauen den 
Coitus suchen, die ihn sonst fliehen." 

Im allgemeinen wird man annehmen können, daß mit 
dem Aufhören des spezifisch produktiven Geschlechtslebens 
des Weibes zugleich auch das Geschlechtsempfinden 
langsam abklingt und nachläßt. Jedoch nur sehr lang- 
sam und ganz allmählich und ganz im Verhältnis? wie auch 
sonst die nun in das Alter der Matrone einge- 
tretene Frau in ihrem Wesen und ihrer Erschei- 
nung entweder jung bleibt und sich erhält oder 
früh den Charakter der verfallenden, alten 
Frau annimmt. 

Die Menstruation pflegt ja an und für sich schon nur 
in den seltensten Fällen plötzlich zu zessieren; meist reicht 
ihr langsames und allmähliches Verschwinden über Jahre hin- 
weg. In dieser Übergangszeit, die auch sonst iüt die Frauen 
eine häufig allzu„kritische" zu sein pflegt, in der Verände- 
runger auf vielen Gebieten des Nervensystems zur qualvollen 
Erscheinung kommen, findet sich merkwürdigerweise nicht 
allzu selten eine Erhöhung des Geschlechtsbedürfnisses. 

„Die Libido sexualis erfährt häufig zur Zeit 
der Klimax eine Sieigerung der Intensität, die 
geradezu qualvoll werden kann" (Börner: Die 
iWechseljahre der Frau). 

Kisch bemerkt in seiner Arbeit über „Das klimak- 
terische Alter der Frauen" (Erlangen 1874): 

„Die Geschlechtslust des Weibes, der sexu- 
elle Trieb, scheint die Jahre der Cessation der 
iMenses, wie die Zeit der möglichen Fruchtbar- 
keit mit zu überdauern. Wenigstens deuten 
schon darauf die vielen Ehen hin, welche von 
Frauen im höheren Alter geschlossen werden." 

Kisch begleitet hier eine richtige Tatsache mit einem 
jedenfalls sehr schwachen und einwandsfähigen Schlüsse. Es 
ist viel wahrscheinlicher, daß eine Wiederverheiratung ledig- 
lich aus sozialen Rücksichten geschieht. Das Weib ist in 
seinen vorgerückten Jahren alleinstehend noch weit mehr der 



Digitized by Google 



- 88 - 



Vereinsamung ausgesetzt als der Mann. Um dieser zu ent- 
gehen, um wieder einen Wirkungskreis und Lebenszweck zu 
haben, schließt es einen neuen Ehebund. Der Rest sexueller 
Mitgift, wenn ein solcher noch vorhanden, wird dann gewiß 
dankbar als Zugabe mit übernommen. 

Normalerweise wird die Libido je nach Anlage und Kon- 
stitution vom Augenblicke der letzten Periode an langsam 
an Intensität verlieren. Besonders wird das spontane Ver- 
langen geringer werden, da einer der natürlichen Reize, die 
monatliche- Reifung im Eierstocke mit ihren konsekutiven 
'Blutwallungen in den ganzen Unterleibsorganen, sowie die 
„innere Sekretion" erloschen ist. Dagegen ist der Fortfall 
gewisser Hemmungen, die sonst den Liebeshunger und 
den Orgasmus gestört haben können, die Angst vor erneuter 
Mutterschaft, etwaige Schmerzen zur Zeit der Menses etc., 
auf der anderen Seite nicht zu unterschätzen. Im Gehirn * 
bleibt die Tätigkeit des psychosexuellen Zentrums noch 
lange bestehen, und die Erinnerung an die erlebten Freuden 
vermag noch lange bei genügender Anregung von seiten des 
Mannes die Fähigkeit wachzuhalten, die Wonnen der alternden 
physischen Liebe, wenn auch nicht so kraftvoll und stürmisch 
wie ehemals, so doch immerhin reizvoll zu genießen. 

Im Durchschnitt wird man der klimakterischen Frau, die 
vordem nicht sexuell anästhetisch war, noch eine etwa 10jährige 
Dauer ihres langsam abnehmenden Geschlechtsempfindens zu- 
sprechen können, so daß die den Sechzigern zueilende Ma- 
trone als nahezu erloschener Vulkan zu betrachten ist. Selbst- 
verständlich kommen ausnahmsweise weit höhere Grenzen vor, 
und Guttzeit erzählt von einer 68jährigen Gattin, die im 
Verein mit ihrem 82jährigen noch immer geschlechtsfreudigen 
Ehegemahl den physischen Genuß der Liebe wohl zu bewahren 
gewußt hatte! 

Ich erinnere noch an den bekannten Ausspruch der mit 
70 Jahren wegen ihrer Jugendlichkeit und Schönheit gefeierten 
und gepriesenen Ninon de l'Enclos. Im Widerstreite der 
Meinungen, wann die Liebe aufhöre, wandte man sich 
an sie als Schiedsrichterin: „Ich bedaure," antwortete sie' be- 
kanntlich, „Ihnen das nicht sagen zu können, da müssen Sie 
eine — Ältere fragen." 



Digitized by Google 



VI. Kapitel. 



Relative Unempfindlichkeit bei Masturbation. 
Anaphrodisia ex causa masturbatoria. 



Scheinbarer Widerspruch der geschlechtlichen Empfindung bei 
Masturbation und Empfindungslosigkeit in coitu. Die vermehrte Schwierig- 
keit des Krankenexamens. Konstante Leugnung der Masturbation. Das 
Wesen der Masturbation. Volksglaube. Kurpfuscher. Psychische 
Alteration. .Umbildung der Phantasie. Keine organischen Folgen. Ärzt- 
liche Urteile: Koblanck, Hegar, Litzmann, v. Krafft-Ebing, Mantegazza, 
Moraglia, Guttzeit. Menstruatio parca, dolorosa et discolorata. Mastur- 
bation verhältnismäßig' harmlos, wenn sie nicht zur Leidenschaft, zur 
geistigen Onanie ausartet. Praktische Fälle. Torrgier (1 Fall), Laker 
(3 Fälle) — seine Erklärung durch Insensibilität der Vaginal- und Portio- 
Nenenfasern. Kleine anatomische Mißverhältnisse. Loimann (5 Fälle) — 
erworbene pathologische Veränderungen. Fall XVI (eigene Beobachtung). 
Kritik. Veränderung in den Leitungsbahnen. Gewöhnung. Beispiel des 
Schlafes.: Seltene Analogie beim Manne wegen anderer mechanischer Vor- 
aussetzungen. Fall einer solchen Analogie (XVII). Masturbatio inasculina 
und feminalis in mechanischer Beziehung zum normalen Coitus. Die» un- 
geeignete Lage der Klitoris für die gewöhnliche Copula. Begattung in 
der Säugctierwelt a posteriore. Die Klitoris als entwicklungsgeschicht- 
liches Derivat (Hypothese). Der menschliche Coitus ab anteriore auf 
Kosten des Weibes. Resume. 



Es klingt von vornherein wie ein Widerspruch, daß, wie 
der Titel dieses Kapitels sagt, geschlechtliche Unem- 
pfindlichkeit und Masturbation Hand in Hand 
gehen. 

Das Weib, das masturbiert, d. h. das durch eigene Manipu- 
lationen, jedenfalls nicht auf dem normalen Wege des zwei- 



Digitized by Google 



- 90 - 

geschlechtigen Coitus, Befriedigung sucht und findet, muß 
eo ipso Libido d. h. das Verlangen nach ge- 
schlechtlicher Befriedigung besitzen und höchst- 
wahrscheinlich, wie in den allermeisten Fällen auch zu kon- 
statieren ist, zur früher geschilderten Akme der Libido, zum 
vollen sinnlichen Höhepunkt, zum wahren Orgas- 
mus gelangen. 

Trotz dieses Widerspruchs istdieMasturbationeine 
der häufigsten Ursachen der weiblichen Un- 
empfindlichkeit beim normalen Geschlechts- 
v e r k e h r. Man kann in diesen Fällen nicht gut von „e i s i g e n 
undkaltenNaturen" (natura f rigida) sprechen. Im Gegen- 
teil, derartige Frauen sind häufig allzu sinnlich und empfinden 
es als eine schwere und drückende Last, daß sie den Kitzel 
der Wollust nur auf dem indirekten, manuellen Wege und 
nicht durch die reguläre immissio in den Armen eines Mannes 
zu befriedigen imstande sind. 

Wer systematisch auf das Geschlechtsleben des Weibes 
bei jedem einzelnen Krankenexamen eingeht, wird dieser Form 
der Unempfindlichkeit am meisten begegnen. Jedoch auch 
hier hüte man sich vor Täuschungen! Es ist schon schwer, 
die Tatsache der Unempfindlichkeit allein als einwandsfreies 
Bekenntnis zu empfangen, viel schwerer aber ist in solchem 
Falle das Geständnis, daß Masturbation mit Erfolg getrieben 
wurde und sich in der Ehe erhalten hat. Von selbst macht 
eine Frau dieses Geständnis fast nie oder sie müßte bereits 
eine abwechslungsreiche Schule geschlechtlicher Erfahrungen 
hinter sich haben, die jede Bedenklichkeit erotischer Er- 
fahrungen in Wort und Tat längst unterdrückt hat! Die 
Durchschnittsfrau, deren Liebeserfahrungen sich an einen 
Mann knüpfen, entrollt die Details ihrer Vita sexualis nur 
lauf sachkundige ärztliche Fragen, welche der Patientin das 
Verständnis ihres ärztlichen Ratgebers für den Zusammen- 
hang ihrer Klagen vor Augen führt. Man glaubej auch nicht, 
daß hier mit einem einzigen Male eine volle Beichte zu er- 
reichen ist. Das natürliche Schamgefühl kann auch dem Arzte 
gegenüber oft erst langsam und allmählich gebrochen werden. 
Ich verweise hierbei auf den früher geschilderten Fall l, in 
hvelchem die Patientin erst nach dreiwöchiger Behandlung die 
Masturbation zugestand. 



Digitized by Google 



- 91 - ' 



Es bleiben selbst bei direktem und schonendem Kranken- 
examen sicher noch Fälle übrig, in denen die Frauen ein 
jMasturbationszugeständnis trotz nachgiebigsten Eingehens und 
Fragens nie und nimmer machen. Aus dem Komplex anderer 
Erscheinungen und vor allem aus der besonderen Entrüstung, 
mit welcher diese falschen Moralistinnen eine derartige Frage 
und Zumutung zurückweisen, läßt sich oft mit annähernder 
Sicherheit auf das versteckte Vorhandensein des 
geleugneten Triebes schließen. 

Der Grund dieser Ableugnung liegt einmal in dem 
iWunsche mancher Frau, auch vor dem Arzte als beklagens- 
wertes aber unantastbar moralisches Weib zu gelten, dann 
aber überhaupt in der Furcht vor dem Geständnis einer Tat, 
die allgemein als eine „Sünde" und schwere „Verirrung" 
gilt 

An dieser Stelle scheint es zweckdienlich, das Wesen, der 
Masturbation, oder um den häufiger gebrauchten, aus 
der Bibel abgeleiteten synonymen Ausdruck „Onanie" zu ge- 
brauchen, zugleich in ihren Folgen kritisch zu beleuchten. 

Im Volksmunde, genährt durch angsterweckende Reklame- 
schriften (Jugendspiegel, Jugendsünden, Selbstbewahrung etc.) 
gilt die Selbstbefriedigung (Masturbation, Onanie) als ein 
scheußliches und gefährliches Laster, das zu den bedenk- 
lichsten Krankheiten, zu schwerem Siechtum, ja zum Tode 
führen muß. 

Selbstverständlich sind solche extremen Schlüsse zum 
Jgroßen Teil das Produkt des materiell richtig rechnenden Kur- 
pfuschertums, welches auf diese Weise die angstgequälten 
Masturbanten scharenweise in sein Lager treibt. In unserem 
mervösen Zeitalter ist das gleichzeitige Vorkommen von irgend 
einem nervösen Symptom und von Masturbation an ein und 
demselben Individuum bei der unendlichen Häufigkeit beider 
so selbstverständlich, daß der Charlatan, indem er die Mastur- 
barion als die Ursache aller Leiden ausschreit, sofort gefällige 
Ohren findet. Abgesehen von den materiellen Opfern, die 
auf diese Weise den Patienten entlockt werden, um schnell 
die Taschen des Kurpfuschers reichlichst zu füllen, hat ein 
derartiges Verhalten und Angstmachen eine unzweifelhaft tiefe 
und schädliche Einwirkung auf den Masturbanten, tiefer und 
schädlicher als der ganze organische Prozeß der Masturbation 



Digitized by Google 



- 92 - 



selbst. Das Hauptleiden des Onanisten ist eben ein psychisches 
und untergräbt die natürliche und gesunde Gleichmäßigkeit 
seiner Lebensvorgänge durch Selbstvorwürfe, die am Gehirn 
und an den Nerven nagen, um schließlich peripher auszuarten. 
Die Masturbation ist immer eine Art Nerven- oder Geistes- 
krankheit, der man nach den allgemein verständlichen Regeln) 
nicht durch brutale Schreckbilder heilend entgegentreten kann. 
Im Gegenteil! Dadurch kann höchstens eine Verschlimme- 
rung der alterierten Psyche zu tieferer, gefährlicherer Geistes'- 
erkrankung eintreten. 

Rein physiologisch von den peripheren Wollustorganen 1 
aus betrachtet, ist es absolut unverständlich, warum die 
Masturbation gegenüber dem normalen Coitus eine so ver- 
schriene und schädliche Wirkung haben soll. 

Sie wird es erst durch die Häufigkeit, durch 
die allzeitige Gelegenheit und durch die über- 
triebene Wiederholung. 

Ferner ist nicht zu leugnen, daß eine falsche Geistes^ 
richtung dadurch gefördert und großgezogen werden kann. 
Der nonr.ale Reiz, den das jeweilig andere Geschlecht auf die 
Sinnlichkeit ausübt, fällt allmählich fort, und die Phantasie 
bildet sich ihre eigenen Bilder, denen das Individuum entgegen 
der Wirklichkeit mehr und mehr nachgeht. So bildet sich 
langsam eine eigene Welt der Gedanken aus, die im Wider- 
spruch mit dem gegenseitigen Finden der Geschlechter steht 
und das Benehmen ändert. Der Masturbant wird tatsächlich 
oft ein weltfremder Sonderling, dessen scheue und zerstreute) 
Zurückhaltung auffällt, dessen Energie beeinträchtigt ist. Er 
ist wenigei widerstandsfähig, „schlaff", ein Träumer, in dessen 
Bbc* etwas Unsicheres wohnt und dessen Gedanken einer 
inneren fremden Vorstellungswelt gehören. 

Außer dem Erwerb, dem Streben zum Unterhalt des 
Lebens, ist der geschlechtliche Drang die mächtigste Trieb- 
feder zur Entfaltung der persönlichen Kräfte und zur Ein- 
fügung in das Getriebe des gesellschaftlichen Lebens und seiner 
gegenseitigen Erfordernisse. Der Masturbant verzichtet auf 
letzteres und findet in der Stille den Genuß, den sonst nur der 
gesellschaftliche Kampf erlaubt und gewährt. Seine Energie 
leidet, und damit wird Schlaffheit und Welkheit des Denkens 
und Strebens oft genug seinem Naturell die Signatur geben. 



Digitized by "Google 



- 93 - 

Allein ein organisches Leiden folgt daraus noch lange nicht. 
Erst wenn die genügenden Selbstvorwürfe hinzukommen, kann 
der Geist eine dauernde und schwere Beeinträchtigung er- 
fahren, die irreparabel wird und den Kranken zum schweren 
Neurastheniker mit dem Heer der vielseitigsten nervösen 
Symptome machen kann. Die Wirkung ist dann die gleiche, 
wie bei einem schweren Schicksalsschlag, das Oehirn hat eben 
nur anstatt eines plötzlichen ein langsam wirkendes Trauma 
erlitten. Aber man wähne nicht, daß der rein organisch- 
physisch-mechanische Vorgang der Masturbation diese Ver- 
änderungen allein zu erregen imstande sei *). 

Die wissenschaftliche Medizin kennt die Masturbation als 
Ursache so vieler von den Kurpfuschern verschrienen Krank- 
heiten nicht an. Man kann einen normalen Studiengang durch- 
gemach, haben und hat bei den 100 und 1000 Krankenvor- 
Istellungen in den verschiedensten Kliniken niemals von Onanie 
als Ätiologie zu hören bekommen. Vergeblich wird ein Arzt 
in seiner Erinnerung suchen, ob er je auf der Universität einen 
zusammenhängenden Vortrag über die Schädlichkeit der 
Masturbation gehört hat. 

K o b 1 a n c k hat in einem Vertrage in der Oesellschaft 
für Geburtshilfe und Gynäkologie zu Berlin (cf . 
Zeitschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie) den Zusammen- 
hang mancher Frauenleiden wie : Dysmenorrhoe, Fluor, sogar 
Eklampsie mit Masturbation statistisch zu erweisen gesucht. 
iWohl verstanden nur den Zusammenhang! Er hütet sich zu 
sagen: Die Masturbation ist die Ursache. Aber selbst in 
dieser herabgesetzten Abhängigkeit ist der übermäßigen 
Häufigkeit der Masturbation auch im weiblichen Geschlecht 
nicht hinreichend Rechnung getragen. Rohleder gibt die- 
selbe sogar auf 9 5 °a an ! Was will bei solchen Zahlen das 
gleichzeitige Vorkommen beider bedeuten! 

Die Urteile über das vv'esen und die Folgen) der Mastur- 
bation gehen auch in ärztlichen Meinungen begreiflicherweise 
auseinander. Allein kaum jemals wird man auch bei der 
extremsten Ansicht von der tiefen Schädigung des Organismus, 
von dem „furchtbaren Laster" zu hören bekommen. 



•) Vergl. die Ausführungen J. J. Rousseau's in seinen Con- 
fessions 1731—32. 



Digitized by Google 



- 94 - 



\ 



Hegar (Der Geschlechtstrieb) spricht zwar von 
leiner „direkt lokalen Reizung", die selbst zu anatomi- 
schen Veränderungen (Katarrhe, Hypertrophien) führen kann, 
den Schwerpunkt erkennt er jedoch in der „hochgradigen 
allgemeinen, nervösen und psychischen Er- 
regung". 

Litzmann (Behandlung und Erkenntnis von 
Frauenkrankheiten) nennt die Masturbation eine 
„widernatürliche Befriedigung" und spricht von 
ihren Vertretern als den „Unglücklichen". Allein er er- 
kennt offen- an, daß der Schaden vorwiegend nur in dem 
„Stachel liegt, der oft lange nach Oberwindung 
im „Gewissen" zurückbleibt." 

v. Krafft-Ebing gibt nur die Veränderung des 
psychosexuellen Lebens funktionell zu. 

,,E s gibt Männer und Frauen, die nur mastur- 
bieren, aber nicht coitieren können." 

Mantegazza hält die Masturbation beim weiblichen Ge- 
schlecht überhaupt für geringer und weniger schädlich. 

Moraglia (Die Onanie beim normalen Weibe 
und bei der Prostituierten 18Q7) resümiert das Er- 
gebnis seiner Untersuchungen: 

„Die Onanie ist nicht immer schlechtweg ein 
Laster, vielmehr ist sie bisweilen ein bloßes 
Übergangsstadium, durch welches man zur 
Liebe kommt; auch ist sie häufig deren erste 
Äußerung. Von kurzer Dauer bei normalen 
Wesen, dauert sie fast stets für ewig bei den 
unmoralischen und bei Prostituierte n." 

G u 1 1 z e i t in seinem wieck .-holt zitierten Buche (30 Jahre 
Praxis) ist der mildeste Beurteiler, der die Schädlichkeit 
der Masturbation nur in ganz bedingter Weise zuläßt, in der 
Mehrzahl der Fällt sie sogar als den NotbehelfderNatur 
beiaus gesprochener Sinnlichkeit nicht nur ent- 
schuldigt, sondern sc gar - empfiehlt. 

Nach ihm sind häufig Dysmenorhoen junger Mädchen, 
besonders die „M e n s 1 1 u a t i o parca, dolorosa et d j s - 
c o 1 o r a t a" nur die Folge eines vorhandenen, aber 
künstlich unterdrückten Geschlechtstriebes. 
Tatsächlich kennt jeder einigermaßen hierin bewanderte Arzt 



Digitized by Google 



- 95 - 



seit altersher das beste Heilmittel im normalen Geschlechts- 
verkehr und rät zur Ehe. 

„Glücklich, wenn bald eine Heira t", sagt unser 
Autor, „gut, wenn Instinkt oder Unterweisung 
das Mädchen mit der Selbstbefriedigung be- 
kannt machte. — Unglücklich aber, wenn diese 
natürlichen Wege zur Heilung nicht betreten 
werden; schlecht, wenn falsch verstandene Re- 
ligiosität oder verkehrte Meinung die Selbst- 
befriedigung als etwas sündhaftes oder schäd- 
liches verwirft; unverzeihlich, wenn ärztliche 
Ignoranz mit Emmenagogis, Nervinis, Ferrugi- 
nosis, Narcoticis und künstlichen Blute ntlee- 
rungen da Hilfe schaffen will, wo diese nur in 
der Befriedigung des Naturtriebes gefunden 
werden kann." 

Im allgemeinen schließen auch wir uns der harmloseren 
Auffassung der Atesturbation, soweit eine organische Schädi- 
gung des Individuums in Betracht kommt, an. Das weib- 
liche Geschlecht neigt so sehr zu Ausflüssen aller Art, deren 
Ursachen noch lange nicht geklärt sind, leidet so häufig und 
intensiv an Störungen und Beschwerden der Menstruation 
ohne jeden Geschlechtsverkehr und ohne jede Masturbation, 
daß in letzterer nicht nur vielfach vergeblich der Grund ge- 
sucht wird, sondern nach Beseitigung des bisherigen Zu- 
sfandes, d. h. also nach Einweihung in das geschlechtliche 
Empfinden Beseitigung und Heilung eintritt. 

Die Masturbation ist eine Krankheit nur wenn sie zum 
übermäßigen T rieb, wenn sie zur Leidenschaft wird, 
wenn sie zur geistigen Onanie ausartet und beständig 
das Gehirn mit wollüstigen Bildern ausfüllt. Dann arbeitet die 
Phantasie in eigenen Vorstellungen, und es ist möglich, daß 
das Gehirn nicht mehr auf die normalen Reize der Außenwelt 
reagiert und sich seine eigene Weltanschauung zurechtlegt. 
Zu schwach und energielos, um gegen das Empfinden und 
Denken der Umgebung anzukämpfen, entsteht die weltfremde, 
frühe 1 " bereits geschilderte Zurückhaltung, und kommen gar 
Gewissensbisse hinzu, so ist der Sonderling in das Stadium 
der Psychose getreten, unter deren Einfluß natürlich auch 
der Körper leiden muß. — 



Digitized by Google 



- 96 - 

Wir kehren zu dem eigentlichen Thema dieses Kapitels, 
zum Zusammenhang von Masturbation und mangelhaftr Em- 
pfindung in coitu zurück, öevor die theoretisch analytischen 
Erwägungen Platz finden, mögen einige praktische Fälle so- 
. wohl aus der Literatur wie aus eigener Beobachtung ange- 
führt werden. 

Fall IX. 

(Franz Torrgier). 
(Wiener klinische Wochenschrift 1 889, N o. 28. Kasui- 
stischen Beitrag zur Perversion des weiblichen Ge- 
schlechtstriebes.) 

„Anfangs Januar d. J. konsultierte mich eine 20jährige, den 
besseren Ständen angehörige Frau wegen bestehender 
Sterilität. Dieselbe ist seit 6 Monaten mit einem 27jährigen, 
eruierbar sehr gesunden Manne verehelicht und glaubt sich an der 
Kinderlosigkeit schuld, um so mehr, als ihr Mann ein außereheliches 
Mädchen von 4 Jahren besitzt. Eine genaue Untersuchung läßt 
bei der üppigen Blondine keinerlei pathologische Befunde nach- 
weisen. Bezüglich der Genitalien sei bemerkt, daß die Klitor. 
auffallend groß, sie und ihre Umgebung gerötet ist; Introitus weit, 
Vagina schlaff, Uterus und seine Adnexa, so weit abtastbar, normal. 
Einzig und allein das Cervicalsekret etwas vermehrt, wogegen 
Salizylstäbchen in den Ccrvix mit bestem Erfolge eingelegt wurden. 
Erst im Verlaufe dieser öfteren Konsultationen 
konnte ich nachfolgende Krankengeschichte aus den Angaben der 
intelligenten und mir vertrauensvoll entgegenkommenden Patientin 
zusammenstellen. 

Familien beider Eltern gesund, in keinerlei Weise hereditär 
belastet. Sie selbst das zweite Kind nach kaum 2jähriger Ehe; 
erstes Kind (Knabe) starb mit 3 Monaten an Gastroenteritis. Pat. 
besitzt nur noch ein, jetzt 12 Jahre altes Schwesterchen. Sie selbst 
ist bis auf Masern im 8. Lebensjahre nie krank gewesen, entwickelte 
sich frühzeitig und wurde im 13. Jahre zum erstenmal menstruiert. 
Menses kehren seitdem regelmäßig in 4wöchentlichen Intervallen 
wieder. Kurz nach Eintritt der Periode lernte sie durch eine im 
Hause lebende ältere Verwandte Onanie kennen, die ihr große 
Wollust bereitete. Um den nun bald stark auftretenden 
Geschlechtstrieb zu befriedigen, fröhnte sie bis zum 
16. Lebensjahre excessiver Masturbation, so zwar, daß sie oft im 
Tage 2—3, ja 4mal onanierte, behauptet sogar, eine Zeitlang keinen 
Schlaf gefunden zu haben, bevor sie nicht ihren stark erregten 
Geschlechtstrieb durch Reibung oder Zerrung der Klitoris be- 
friedigte. Im 16. Lebensjahre ging sie ein Liebesverhältnis mit 
einem jungen Manne ein; auffallenderweise mäßigte sie damals 



Digitized by Google 



- 97 - 



ihre Onanie, ohne jedoch derselben ganz zu entsagen; nach ca. 
V »jähriger Bekanntschaft ließ sie sich mit ihrem Liebhaber in 
wechselseitige Masturbation ein, die ihr mehr Wollust verursachte, 
wenn die Klitoris allein, als wenn die Vulva oder Vagina 
mechanisch gereizt wurden. Einem Coitus wurde aus sozialen 
Rücksichten standhaft Widerstand geleistet, trotz heftigem beider- 
seitigem! Verlangen nach demselben. Erst im 18. Jahre erfolgte der 
erste diesbezügliche Versuch, aber weder dieses Mal noch 
bei dem in den nächsten 3 Monaten häufig aus- 
geführten Beischlaf fand sie eine Befriedigung 
des exzessiv gesteigerten Geschlechtstriebes. 
Um diese zu erreichen, masturbierte sie nach voll- 
zogenem! Coitus, den sie überhaupt nur aus Liebe zum 
Manne, der jetzt von der früher geübten gegenseitigen Onanie 
nichts mehr wissen wollte, zuließ. Nach plötzlicher Lösung dieses 
Verhältnisses ergab sie sich neuerdmgs stark der einseitigen Mastur- 
bation, die sie aber außer mit ihrer Verführerin nie mit einem 
anderen weiblichen Individuum gepflogen hatte. Ihren jetzigen • 
Mann lernte sie bald darauf kennen und ehelichte denselben auf 
Grund wahrer Zuneigung gegen den Willen ihrer Eltern. 
Aber auch mit ihm fand sie im normalen geschlecht- 
lichen Verkehr keine Befriedigung, blieb daher der 
ihr volle Befriedigung bereitenden Masturbation .weiter getreu. Ihrem 
Manne, der vom ganzen Sachverhalte keine Kenntnis hat, gab sie 
sich ohne jede Lust hin, bis sie in letzter Zeit darauf verfiel, 
während des Coitus durch Manipulationen mit der Hand an 
der Klitoris auch eine Befriedigung des eigenen Geschlechtstriebes 
herbeizuführen. Trotzdem ist aber Patientin ob ihres Geschlechts- 
zustandes und der Kinderlosigkeit unglücklich und besorgt und 
wünscht dringend Abhilfe. 

Um womöglich die bestehende Hyperästhesie einzudämmen, ver- 
ordnete ich, außer möglichster Vermeidung jeder geschlechtlichen 
Aufregung, größere Dosen von Bromnatrium und Lupulin, außer- 
dem wurde die Klitoris nebst Umgebung öfters mit 10<>'oiger 
Lapislösung bepinselt, einerseits um die bestehenden Reiz- 
erscheinungen zu beheben, andererseits um die Sensibilität der Klitoris 
abzuschwächen, in der Hoffnung, dadurch die Masturbation — 
die. persönlich immer nur in manueller Friktion der Klitoris be- 
stand — zu erschweren (?) Vielleicht würde es so später eher 
gelingen, die in der Schleimhaut der Vulva, der Scheide und am Cervix 
und Orifiüum uteri endigenden Geschlechtsnerven durch Jen Coitus 
zu erregen und eine normale Befriedigung des Geschlechtstriebes 
herbeizuführen. 

Der Erfolg war freilich kein glänzender; Pat. gab nach 3 Wochen 
an, zwar weniger von geschlechtlichen Aufregungen geplagt zu sein, 
daher selten der Onanie zu pflegen, der Beischlaf aber bringe ihr 
noch nie jene volle Befriedigung wie die Masturbation, wenn sie 
auch zugeben müsse, jetzt durch den einfachen Beischlaf öfters 
Adle r, Geschlechisempfindung. 3 Aufl. 7 



Digitized by Google 



- 98 - 

doch zum Bewußtsein von Geschlechtsempfindung zu kommen. . . . 
Leider ist mir eine weitere Verfolgung resp. Behandlung des inter- 
essanten Falles nicht möglich, da seit) 4 Wochen die Frau sich meiner 
Behandlung entzogen." 



Die kurze Kritik, die Torr gl er diesem Falle anfügt, 
wendet sich nur in wenigen Worten gegen die Theorie der 
L a k e r sehen Fälle, der den anatomischen Grund dieser Per- 
version in dem alleinigen Vorhandensein der End- 
ausbreitungen der sensiblen Nerven in der 
Klitoris sucht, und die anderen Genitalpunkte 
als „insensibel" betrachtet. 

So wenig wir selbst auf dem Boden dieser schwachen 
und etwas simplen Erklärung Lakers stehen, so wenig 
können wir jedoch auch gerade den vorliegenden Torrg- 
1 c r sehen Fall als Gegenbeweis anerkennen. Wenn Torrgier 
aus den minimalen Besserungszugeständnissen seiner Patientin, 
die für den vorurteilsfreien Leser kaum melir als eine resig- 
nierte und negierende Konnivenz bedeuten dürften, den Schluß 
auf die beinahe wiedergewonnene Sensibilität und Erregungs- 
fähigkeit der anderen Genitalpunkte zieht, so erscheint doch 
das vorliegende Resultat hierfür etwas allzu dürftig. Wie 
meist ist auch hier die psychische Erklärung ganz außer 
Acht gelassen. Wir werden später an einem eigenen Falle 
einige Worte hinzufügen. 

Wir schließen an den Torrgierschen Fall unmittelbar 
die Lake r sehen Fälle („Über eine besondere Form 
ven verkehrter Richtung („Perversion") des 
weiblichen Geschlechtstriebes" — Archiv für 
Gynäkologie, Bd. XXXIV) mit den Erklärungen und 
Deutungen des Verfassers an. 1 

Fall X. 

(Erster Lak erscher Fall.) 

M. R., 27 Jahre alt, stammt von gesunden, erblich nicht be- 
lasteten Eltern, i'n ihrer Jugend überstand sie einmal Diphtherie. 
Masern und Scharlach. Seither ist sie stets gesund. Sie fühlte 
schon als Mädchen von 12 Jahren das Erwachen geschlechtlicher 
Regungen und hatte bereits im 15. Lebensjahre, ihrem mächtigen 



Digitized by Google 



- 99 - 



Geschlechtstrieb folgend, geschlechtlichen Umgang, der ihr aber 
niemals die leiseste Befriedigung gewährte. Zwei 
Monate später stellten sich die Menses ein, welche seither regel- 
mäßig alle drei Wochen wiederkehrten. Einige Monate später 
wurde sie durch den Umgang mit Freundannen zur wechselseitigen 
Onanie verleitet und von da an suchte sie und fand auch stets 
volle Befriedigung ihres Geschlechtstriebes. Sie fühlte sich dabei 
aber unglücklich, das Krankhafte ihrer verkehrten Richtung völlig 
einsehend, und tröstete sich anfangs nur damit, daß die Schuld 
vielleicht nicht an ihr, sondern an ihrem Geliebten gelegen sein 
konnte. Sie verkehrte seither noch mit mehreren Männern, in der 
Hoffnung, auf natürlichem Wege eine Befriedigung ihres Ge- 
schlechtstriebes erreichen zu können und heiratete aus eben diesem 
Grunde im 22. Lebensjahre. Die Ehe blieb kinderlos. Trotzdem, 
daß diese Verbindung auf Grund aufrichtiger Zu- 
neigung erfolgte, blieb ihr der geschlechtliche Verkehr mit 
ihrem; Manne doch stets ein Opfer, da sie auch' in der Ehe nie- 
mals durch den Beischlaf irgend eine Befriedi- 
gung ihrer Wollust gcfühle erringen konnte, so daß 
sie auch jetzt noch der Masturbation ergeben ist. Ihr einziger Trost 
besteht darin, daß sie im Laufe der letzten Jahre eine Anzahl 
vonl Mädchen und Frauen kennen gelernt hatte, 
welche bezüglich ihres Geschlechtslebens genau 
dieselbe Sonderbarkeit aufwiesen, welche eben« 
falls niemals durch normalen Geschlechtsverkehr, 
stets aber durch Masturbation die gewünschte Be- 
friedigung sich verschaffen konnten. In dem 
Hause, in dem sie wohnte, befanden sich allein zwei derartig 
abnorm veranlagte Personen, darunter eine 35jährige Frau, welche 
im übrigen in glücklicher Ehe lebte und 4 Kinder geboren hatte, 
welche den geschlechtlichen Verkehr mit ihrem Manne nur wie 
eine schwere Last auf sich nahm. Die R. ist klein, ziemlich 
kräftig gebaut, gut genährt, von klugem Gesichtsausdrucke, ohne 
neurasthenische/ Beschwerden. Die Merkmale einer fehlerhaften Ge- 
schlechtsempfindung fehlen gänzlich. Sie fühlt sich als Weib, gefällt 
sich nicht in Kundgebungen männlicher Gesinnung und Tracht, 
sie strebt den geschlechtlichen Verkehr an und betrachtet die 
wechselseitige Onanie nur als notgedrungenen Ersatz der man- 
gelnden, geschlechtlichen Empfindung beim Geschlechtsakte- Auch 
wollüstige Träume haben stets Männer zum Inhalte, während das 
Gegenteil sehr charakteristisch für das Vorhandensein einer ver- 
kehrten Geschlechtsempfindung ist. 



L a k e r hat nach dieser ersten Beobachtung weitere fünf 
Fälle beobachtet. „Da dieselben untereinander in 

7« 



Digitized by Google 



- 100 ~ 



nichts abweichen, was für die Sache selbst von 
Bedeutungist, führe ich nur noch in gedrängter 
Kürze das wichtigste aus der Krankengeschichte 
zweier Fälle an" : 

Fall XI. 

(Zweiter Laker scher Fall.) 

B. G. ist 34 Jahre alt, stammt aus erblich nicht belasteter 
Familie, ist stets gesund gewesen und menstruierte im 14. Lebens- 
jahre. Kurz nachher wurde sie der wechselseitigen Onanie ergeben, 
welche ihr stets eine große geschlechtliche Befriedigung gewährte, 
der sie in mäßigem Grade ergeben war. Trotzdem war sie sich 
des Verkehrten vollkommen bewußt und hoffte von ihrer Verehe- 
lichung, welche im 19. Jahre erfolgte, eine natürliche Befriedigung 
ihres Geschlechtstriebes. Trotz gegenseitiger Zuneigung 
verspürte sie niemals während des Beischlafes die 
ge hoffte geschlechtliche Befriedigung und sah sich 
genötigt, ihren nun noch mehr gesteigerten Geschlechtstrieb durch 
einfache und wechselseitige Onanie zu befriedigen. Sie gebar zwei 
Kinder, verlor nach 5jähriger Ehe ihren Mann. Die Gelegenheit, 
sich abermals zu verehelichen, bot sich nach weiteren 3 Jahren, 
und trotzdem die Wiederverehelichung aus anderen Gründen für sie 
sehr wünschenswert wäre, kann sie sich infolge ihrer geschlecht- 
lichen Regelwidrigkeit kaum dazu entschließen und frägt hierüber 
um ärztlichen Rat. Die Person ist gut entwickelt, keine Spuren 
von Neurasthenie, leicht melancholisch gefärbte^ Stimmung. 

Fall XII. 

(Dritter Laker scher Fall.) 

H. F., 25 Jahre alt, aus gesunder Familie, nicht verheiratet, 
der dienenden Klasse angehörig, schlecht genährt, hochgradig 
neurasthenisch. Sie wurde bereits im 11. Jahre zur Onanie ver- 
leitet und litt von jeher an einem krankhaft gesteigerten Ge- 
schlechtstriebe, der sie bereits im 15. Lebensjahre zu geschlecht- 
lichem Verkehr drängte. Seither hatte sie Gelegenheit, mit einer 
Reihe von Männern geschlechtlich zu verkehren, ohne daß sie 
jemals von einem Beischlafe irgend eine ge- 
schlechtliche Befriedigung gehabt hätte, während 
sie dieselbe sich durch Masturbation jederzeit 
verschaffen konnte. Diesem Laster war dieselbe seit den 
letzten zwei Jahren immer mehr, insbesondere infolge des sich 
noch* immer steigernden Geschlechtstriebes ergeben, und soll sie 
auch an ihrer hochgradigen Nervosität erst seit dieser Zeit leiden. 
Sie ist schwächlich gebaut, mit leidendem, scheuem Gesichts- 
ausdrucke. 



Digitized by Google 



- 101 -- 



Folgen wir noch einmal der bereits beim Torrgier- 
schen Fall erwähnten Kritik Lakers. 

Zunächst hat der Beobachter, obgleich er nur über 5 Fälle 
verfügt, eine richtige Vorstellung von der Häufigkeit dieser 
„Perversion". 

„Sämtliche 5 mir bekannt gewordenen Frauen 
behaupteten, mit einer Reihe von Schicksals- 
genossinnen bekannt geworden zu sein, welche 
ganz dieselbe krankhafte Verkehrtheit dar- 
boten, woraus ich den wichtigen Schluß ziehen 
möchte, daß diese eigentümliche Form von ge- 
schlechtlicher Verkehrtheit beim Weibe nicht 
allzu selten, vielleicht sogar ziemlich häufig, wenn auch! 
nicht immer in so ausgeprägter Form vor- 
komm t." 

Auch dieser Autor betont die Schwierigkeit der- 
artiger Krankenexamen und die „leicht begreif- 
liche Scheu' 4 der Kranken, ihre Klage dem Arzte anzu- 
vertrauen. Er warnt auch vor einer Verwechslung von an- 
geborener „Anaesthesia sexualis". Die geschilderten 
Frauen sind keine „kalten und empfindungslosen" Naturen, 
keine „naturae frigidae" von Hause aus. Im Gegenteil, ihr 
Geschlechtstrieb ist ein reger, vielfach frühzeitig entwickelter 
und mit Gewalt Erlösung und Befriedigung verlangender. Nur 
auf dem normalen Wege der männlichen Umarmung bleibt 
diese Befriedigung aus. 

Die anatomisch-physiologische Erklärung L a k e r s ist be- 
reits angedeutet worden. Er glaubt, daß die Endausbreitungen 
der den Wollustakt auslösenden sensiblen Nervenendijgungen 
nur in der Klitoris (also nicht in der Vagina und an der Portio) 
sitzen. In dieser Voraussetzung sei es leicht verständlich, 
daß durch „irgend welche, vielleicht sehr einfache 
anatomische Abweichungen, eine Erregung 
jener sensiblen Nerven nicht möglich ist." 

L a k e r spricht sich hier nicht deutlicher aus. Aber es 
kann wohl kaum etwas anderes angenommen werden, als daß 
seine „anatomischen Abweichungen" nur ein Mißverhältnis] 
zwischen Klitoris und Penis bedeuten, welches die erforderliche 
Friktion beider Teile nicht zuläßt. 



Digitized by Google 



- 102 - 



L a k e r glaubt demnach für die in Rede stehenden (mastur- 
batorischen) Anästhesien auf eine psychoneurotische Erklärung 
verzichten zu können und demgemäß auch seine Behandlung 
einrichten zu müssen. „Dieselbe dürfte eine ört- 
liche, vielleicht sogar eine chirurgische sein!" 
Über das „dürfte" gehen Lakers Andeutungen nicht hin- 
aus! 

Fügen wir dem Auszuge seiner epikritischen Bemer- 
kungei' noch den Ausspruch hinzu, daß die beschriebene fehler- 
hafte Richtung des Geschlechtstriebes „ohne Analogie 
beim Manne dasteht", so haben wir die wesentlichsten 
Punkte vorweg genommen, an welche sich unsere eigene Kritik 
an der Hand des Masturbationsstatus (Fall II, a und b) und 
des späteren in diese Rubrik gehörigen Falles (XVI) an- 
schließen wird. Bevor wir jedoch zu diesem eigenen Fall 
übergehen, mögen vorerst noch L o i m a n n s Beobachtungen 
(„Ueber Onanismus beim .Weibe als einer be- 
sonderen Form von verkehrter Richtung des 
Geschlechtstriebes" — Therapeutische Monats- 
hefte 1890) eingeschoben werden. 

Fall XIII. 

(Erster Loimann scher Fall.) 

Frau M. Sch. macht in Gegenwart ihres Gatten folgende An- 
gaben. Bisher immer gesund, wurde sie mit 13 Jahren normal 
menstruiert, verheiratete sich mit 19 Jahren und wurde ein Jahr 
später lohne Kunsthilfe von einem gesunden Kinde entbunden, 
welches rm 6. Lebensmonat einer akuten Krankheit erlag. Seit 
dieser Zeit leidet Patientin an einem Ausfluß, der ihr angeblich 
den Verkehr mit ihrem Manne verleidet. (!) Anderweitige Be- 
schwerden sollen nicht bestehen. Frau Sch. ist groß, sehr kräftig 
und gut entwickelt. Auch die Untersuchung der Genitalien ergibt, 
von einem geringfügigen Ccrvicalkatarrh und einer Erosion an der 
Portio abgesehen, keine weiteren pathologischen Verhältnisse. Bei 
einer etwa eine Woche später vorgenommenen, neuerlichen Unter- 
suchung! fielen mir eine stärkere Rötung der kleinen Labien und des 
Scheidenausganges, sowie einige leichte Epithelabschilferungen auf. 
Da. ein Coitus entschieden in Abrede gestellt wurde, machte ich 
aus) meiner Vermutung, daß Patientin masturbiert habe, kein HehL 
und nun machte mir die Frau unter Tränen folgendes Geständnis: 

Sie wurde im Alter von 10 Jahren zur Erziehung in ein 
Kloster gebracht und dort etwa im 12. Lebensjahre von ihren 
Freundinnen zur Onanie verleitet, der sie von nun an mehrmals 



Digitized by Google 



- 103 - 



täglich fröhnte. Mit 14 Jahren ins Elternhaus zurückgekehrt, fing 
sie mit gleichaltrigen oder um weniges älteren Knaben verschiedene 
Liebschaften an, die jedoch der gefürchteten Folgen halber zu 
keinem Coitus führten. Die heftigen geschlechtlichen Begierden 
wurden durch mutuelle Onanie befriedigt. Des Unnatürlichen ihres 
Gebahrens sich bewußt, erhoffte sie jn der im IQ Lebensjahre 
eingegangenen Ehe Erlösung zu finden und war nun nicht 
wenig überrascht, als bei Ausübung des Bei- 
schlafs jede Befriedigung ausblieb, wodurch Patientin 
veranlaßt wurde, ihrer alten Leidenschaft weiter zu fröhnen. Die bald 
nach Eingang der Ehe tingetretene Schwangerschaft empfand die 
unglückliche Frau als „schwere Strafe'^ und als sie wenige Monate 
nach 1 der Entbindung neuerdings konzipierte, wandte sie sich auf 
Anraten einer „Freundin" und ohne Wissen ihres Gatten an eine 
Hebamme, welche gegen gutes Entgelt den Abortus einleitete. 
Frau Sch. soll damals genötigt gewesen sein, durch einige Wochen 
das Bett zu hüten und seit dieser Zeit soll auch die oben erwähnte 
Leukorrhoe bestehen. Der eheliche Verkehr erschien ihr nur als 
ein schweres Opfer, und da sie nie geneigt war, die Schuld der 
mangelhaften Befriedigung dem Gatten beizumessen, beschloß sie, 
den Coitus mit anderen Männern zu versuchen. Wje diese Versuche 
ausgefallen sind, wird wohl hinreichend durch die Tatsache beleuchtet, 
daß Frau Sch. nach wie vor in hohem Grade der Masturbation er- 
geben ist und daß dieses die eigentliche Ursache war, 
warum sie ärztliche Hilfe in Anspruch nahm. 



An den vorliegenden Fall, der nur das häufige Durch- 
schnittsbild der gewöhnlichen Form dieser mangelhaften Ge- 
schlechtsempfindung wiedergibt, schließt Loimann zwei 
etwas abweichende Krankengeschichten an, die ihm Veran- 
lassung geben, an L a k e r s anatomisch-physiologischer Hypo- 
these der abnormen Verteilung der sensiblen Wollustfasern 
kritischen Anstoß zu nehmen. 

Fall XIV. 

(Zweiter Loimann scher Fall.) 

Frau J. H., 38 Jahre, war als Kind immer gesund und wurde 
mit 17 Jahren unregelmäßig menstruiert. Im 20. Lebensjahre 
heiratete sie gegen den Wjllen ihrer Eltern einen jungen Post- 
beamten und lebte mit diesem durch 10 Jahre in glücklicher Ehe, 
welcher 8 gesunde Kinder entstammten. Mit 30 Jahren wurde sie 
Witwe, und bei der Trauer um den erlittenen schweren Verlust 
soll durch geraume Zeit der Geschlechtstrieb förmlich erloschen 



Digitized by Google 



gewesen sein. Nach und nach erwachte derselbe jedoch wieder 
und nun verfiel die bedauernswerte! Frau, der sich die Gelegenheit 
zur Schließung einer neuen Ehe nicht darbieten wollte, und die 
einen außerehelichen Verkehr der etwaigen Folgen halber fürchtete, 
der Onanie, die ihr bisher ganz fremd gewesen war. Patientin 
fand hierin zwar die ersehnte geschlechtliche Befriedigung, allein 
ihr körperliches und geistiges Wohlbefinden soll dabei sehr ge- 
litten haben, und nach Verlauf einiger Jahre beschloß sie, angeb- 
lich auf Anraten eines Arztes, unbekümmert um etwaige Kon- 
sequenzen, ein Liebesverhältnis anzuknüpfen. Zuerst verführte sie 
einen jungen, etwa 18jährigen, ihrer Obhut anvertrauten Gymnasial- 
schülcr, und als zu ihrem! Erstaunen die gewohnte Be- 
friedigung nicht eintrat, schrieb sie dies der Uner- 
fahrenheit, oder wie sie sich ausdrückte, der „Dummheit" des 
Liebhabers zu und suchte einen neuen, dem bald noch einige 
andere folgten. Das Ziel ihren ^Wünsche scheint sie jedoch, soweit 
meine Beobachtung reicht, nicht erreicht zu haben, denn als sie 
zuletzj wegen eines chronischen Vaginalkatarrhes in meiner Be- 
handlung stand, war sie der Masturbation ärger ergeben denn je. 

Fall XV. 

(Dritter Loimann scher Fall.) 

A'. v. K. ist eine 38jährige Witwe, welche wegen profuser 
Leukorrhoe nach Franzensbad zur Kur gekommen war. Außer- 
dem beklagte sich Patientin über unersättliche Libido. Sie war 
mit 12 Jahren regelmäßig menstruiert, hat im Alter von 27 Jahren 
normal geboren und verlor 2 Jahre später durch den Tod ihren 
Gatten. Einige Zeit nachher fing sie an zu masturbieren, da ihr 
die Gelegenheit zu normaler Befriedigung des äußerst lebhaften 
Geschlechtstriebes angeblich fehlte. Nach einigen Jahren ging sie 
jedocll verschiedene Liebesverhältnisse ein, bei welchen sie aber 
eine volle geschlechtliche Befriedigung vermißte, 
was Patientin veranlaßte, während des Coitus oder unmittelbar 
nachher zu masturbieren. 



In der Erklärung seiner Fälle weicht Loimann nicht 
unwesentlich von Laker ab und nähert sich mit seiner Auf- 
fassung unserer eigenen. 

„Es liegt die Vermutung sehr nahe, daß diese 
Abnormität nicht auf einer Anomalie der ana- 
tomischen Anlage und daher angeboren sei, 
sondern daß es sich hier um durch sexuellen 
Mißbrauch erworbene pathologische Veränderun- 
gen handle." 



Digitized by Google 



— 105 — 

L o i m a n n sucht den Sitz der Veränderung nicht in den 
peripheren Nervenendigungen, sondern im Zentral-Nerven- 
system. Ihm ist es „sehr wahrscheinlich, daß durch 
sehr häufige und unnatürliche Reize die An- 
spruchsfähigkeit jenes Zentrums, welches beim 
Weibe das höchste Wollustgefühl auslöst und 
welches dem Ejakulationszentrum beim Manne 
entsprechen dürfte, bedeutend alteriert werden 
kann und wahrscheinlich für normale Reize her- 
abgesetzt erscheint." 

L o i m a n n bestreitet auch L a k e r s Behauptung, daß 
die Masturbations-Anästhesie des Weibes ohne Analogie beim 
Manne sei. Gerade diesen Punkt werden wir nach unseren 
eigenen Fällen ausführlicher berühren. Für uns ist diese 
Analogie sehr wohl vorhanden und wenn sie nur 
selten oder ganz versteckt beim Manne in die Er- 
scheinung tritt, so liegen die Gründe eben im vollkommen 
anderen Mechanismus der männlichen Aus- 
übung des Coitus einerseits und in dem viel aktiveren 
psychischen Vorgehen andererseits. 

L o i m a n n s Fall des „5 0jährigen Familienvaters^ 
dcrbei normaler Zuneigung zum weiblichen Ge- 
sell Uchte auch heute noch der Onanie ergeben 
ist, weil er hierdurch seine Libido angeblich 
wollüstiger und schneller befriedigt als durch 
den natürlichen Geschlechtsakt", ist nur ein 
schwacher und noch nicht einwandsfreier Beweis der mann- 
lichen Anomalie, da hier immerhin auch beim normalen Ge- 
schlechtsakte Orgasnius einzutreten scheint. Wir werden hier- 
über ein schlagenderes und detaillierteres Beispiel beizubringen 
imstande sein. 

L o i m a n n widersetzt sich auch dem Vorschlage L a k e r s, 
„dem Uebel durch eine örtliche oder gar 
chirurgische Behandlung beizukommen". Loi- 
mann hat keinen Erfolg davon gesehen, „wohl aber die 
Erfahrung gemacht, daß der Onanie ergebene 
Frauen sich mit großer Vorliebe einer ört- 
lichen Behandlung unterziehen." Von einer ört- 
lichen Behandlung erwartet er mehr Schaden als Nutzen, Besse- 
rung dagegen nur von hygienischen und diätetischen Maß- 



Digitized by Google 



— 106 — 

• 

nahmen, eventuell Badekuren und von einer günstigen Be- 
einflussung des gesamten Nervensystems. Seine weitere 
Forderung der Prophylaxe, die Reinhaltung der Phantasie, 
wird wohl in unserer Zeit ein frommer Wunsch bleiben! 

Wir geben im Folgenden jetzt die ausführliche eigene 
Beobachtung einer hierher gehörigen Krankengeschichte mit 
anschließender Epikrise. 

Fall XVI. 

(Eigene Beobachtung.) 

B. F. ist 311 Jahre alt und stammt aus gesunder Familie. Sie 
selbst hat keine besonderen Krankheiten durchgemacht. Im 
9. Lebensjahre wurde sie von einem ca. 50jährigen Manne an den 
Genitalien berührt. Schon damals hatte sie eine angenehme Em- 
pfindung und fühlte ein Naßwerden. Diese Manipulationen •wieder- 
holten sich etwa 2—3 Jahre. Dann fing das etwa 12jährige 
Mädchen mit eigenen Versuchen an, besonders da ihr der Vcr- 
führeir zuwider war. Sie gewöhnte sich damals bereits an die 
Reibung der linken Seite der Vulva, etwa im oberen Drittel der 
linken kleinen Schamlippe. Patientin glaubt, daß die Bevorzugung 
der linken Seite eine Teilerscheinung ist, da sie überhaupt links 
veranlagt ist, jedenfalls viele Verrichtungen mit der linken Hand 
vollzieht, z. B. das Schneiden mjt der Schere. Die Masturbation 
führte bei ihr bald zur vollen Befriedigung und war stets mit 
Naßwerden verbunden. Dies fand schon vor der Geschlechts- 
reife statt. Sie hat dann weiter sehr häufig masturbiert. Sie bewegt 
die linke (obere) Schamlippe mit einem (dritten) Finger en inasse 
hin und her. Es ist) nicht etwa ein Darüberstreichen, sondern eine 
Bewegung des ganzen Hautlappens. Meistj sitzt sie dabei, weniger 
zum Zie' kommt sie beim Liegen. Die Beine sind extendiert. 
Beim Höhepunkt senkt sich der Finger in die Scheide, zugleich 
mit dem Gedanken an männlichen Verkehr. Der Finger fühlt 
die» Zuckungen in der Scheide. Die Berührung des Kitzlers 
selbst verursacht ihr durchaus kein angenehmes 
Gefühl und ist nicht imstande, den Orgasmus zu 
erreichen; es ist, „als wenn jemand an einer Stelle 
kitzelt, wo es nicht angenehm ist". Die Einsenkung 
des Fingers wird erst seit ca. V 2 Jahr vollzogen. 

Die< Menses traten mit ca. 14 Jahren ein und waren bis zum 
22.; Jahre ziemlich regelmäßig, aber stets sehr schmerzhaft. Patientin 
. wurde, leicht ohnmächtig, sogar auf offener Straße. Nachts will 
s'w. krampfartige Zustände und im Schlafe geschrien haben. Vom 
22. Jahre ab begann sie den Geschlechtsverkehr. Seitdem haben 
diese; Anfälle langsam nachgelassen und immer größere Pausen ge- 
macht. Die Periode ist viel schmerzfreier geworden. Es stellte 
siel' Neigung zu Ausfluß ein. 



Digitized by Google 



- 107 - 

Der erste Geschlechtsverkehr mit einem Manne im 22. Lebens- 
jahre) war eine richtige, blutige Defloratio mit Schmerzen, Schwierig- 
keiten verloren sich jedoch bald, der Verkehr ging mühelos von 
statten, allein ohne jegliches Gefühl. Zu ihrer 
größten Verwunderung stellte sich ein solches 
auch bei ferneren Versuchen nicht ein, obgleich 
die Patientin in hohem Grade geschlechtlich er- 
regt war und die Umarmungen und Liebkosungen 
des" Mannes leidenschaftlich begehrte. Die ersten 
Beziehungen galten einem gebildeten Manne, einem höheren Offizier, 
den sie aufrichtig liebte. Als sich das Verhältnis löste, hoffte sie 
bei einem Wechsel eine Änderung ihrer Gefühllosigkeit zu finden. 
Jedoch vergeblich. Eine solche stellte sich niemals ein, 
obgleich sie nunmehr mit etwa 10 verschiedenen Männern der 
Reihe nach in intimen Verkehr getreten ist. Hierbei sei bemerkt, 
daß sie) nicht etwa als eine gewöhnliche Lustdirne erscheint, sondern 
stets ihrem augenblicklichen Verehrer aufrichtig ergeben ist und 
nichts von Raffinement besjtzt, um ihre Freunde irgendwie pekuniär 
auszubeuten. 

Sic wird stets durch die Liebkosungen des Mannes stark erregt, 
besonders wenn derselbe sie küßt und ihre Brüste streichelt. Sie 
fühlt dann sofort eine Nässe an den Genitalien, erlangt aber Be- 
friedigung nur, wenn die bewußte Stelle der Vulva manuell 
entweder von ihr selbst oder dem Liebhaber gereizt wird. I n 
coitn normali hat sie nicht die leiseste Wollust- 
empfindung, auch nicht bei protrahierten Ver- 
suchen. 

Ihr geschlechtlicher Verkehr besteht demnach entweder in der 
manuellen Selbstbefriedigung unmittelbar post actum oder in der 
Befriedigung per digitum viri ante coitum. Auf diese Weise be- 
friedigt, gibt sie sich als Opfer des Mannes hin. Bisweilen be- 
ginnt noch einmal eine zweite geschlechtliche Erregung und in 
seltenen Fällen erfolgt noch eine zweite manuelle Befriedigung post 
coitum. 

Der geschlechtliche, normale Verkehr hat ihr demnach trotz 
mannigfacher und abwechslungsreicher Versuche noch nicht ein 
einziges Mal direkte Befriedigung gewährt. In einigen Fällen 
ist es zum Orgasmus gekommen, wenn das erigierte membrum virile 
die Masturbation besorgte und gewissermaßen die Stelle des 
Fingers vertrat. Selbstverständlich war dabei von keiner immissio 
penis und auch von keinem Orgasmus des Mannes die Rede. 

In einigen, ganz seltenen Fällen ist es zu einer gleichzeitigen 
Ejakulation bei ihr und dem Manne gekommen. Das geschah beim 
Coitus a posteriore, wobei Patientin Hand und Terrain frei hatte, 
um zu gleicher Zeit während der immissio penis zu masturbieren. 
Auch in dieser Situation also nur Befriedigung auf dem gewohnten 
Wege. Sonderbarerweise schiebt sie diesem durchaus selten ge- 
übteu Modus ihre zweimalige Konzeption zu. . Sic glaubt absolut 



Digitized by Google 



- 108 - 



fest an die Konzeptionsgefahr bei Koinzidenz der Befriedigungen, 
selbst wenn dieselben, wie beschrieben, auf diesem doppelt in- 
direkten Wege von statten gehen. Sie hat beide Male im dritten 
Monat (artefiziell) abortiert. Da sie bisweilen, besonders nach 
den kriminellen Aborten, an Ausfluß leidet, war sie wiederholt in 
ärztlicher Behandlung und hat auch ihre sexuelle Anomalie dabei 
zur Sprache gebracht. Anfangs sehr unglücklich, daß ihr niemand 
helfen konnte, „auf daß sie auch beim natürlichen Ver- 
kehr wieder fühlte wie andere Mädche n", ist sie 
jetzt resigniert geworden und faßt ihren Zustand beinahe als etwas 
normales auf, nachdem sie mindestens „6—8 Frauen kennen 
gelernt hat, denen es genau ebenso geht wie ih r". 

Allmählich hat auch sie gelernt, die falsche Konzession ihrer 
vollen Empfindung an den Mann zu machen, da derselbe sie auf- 
richtig liebt und in dem Ausbleiben ihres gleichzeitigen Wollust- 
empfindens einen Mangel an Liebe zu sehen glaubt. 



Die mangelhafte Geschlechtsempfindung - im Zusammen- 
hang mit vorhergegangener Masturbation scheint die 
häufigste Form der relativen Anästhesie zu sein. Häufig! 
schon aus dem Grunde, weil die weibliche Masturbation an 
und für sich im reichlichsten Maße getrieben wird. Wollte 
man Rohleders ungeheure Zahl — auf 100 weibliche Indi- 
viduen entfallen nach ihm 95 Masturbationen! — ernstlich/ 
gelten lassen, und wollte man aus jeder Masturbation eine 
Anaesthesia conjugalis konstruieren, so würde die „fühlende" 
Frau zum Bedauern für ihr eigenes, zum Kummer für 1 das Ge- 
schlecht der Männer eine beklagenswerte Rarität und Aus^- 
nahme bilden. Bis zu solch schwindelnder Höhe ist dieser 
Defekt noch nicht gediehen! 

Wir schließen uns in der Erklärung des Zustandes am 
meisten an Loimann an. 

L a k e r s Ansicht der angeborenen mangelhaften Ver- 
sorgung der Scheide und Portio mit sensiblen Nervenendi- 
gungen scheint uns nicht annehmbar. Der erworbene 
Zustand scheint mit Loimann viel plausibler. Allein, ich 
glaube nicht an greifbare pathologische Veränderungen der 
Nervenendigungen am Genitalapparat — die insensiblen 
Stellen sind gerade nicht durch Masturbation gereizt worden 
(oder stellt sich Loimann dieselbe als eine Art Inaktivitäts- 
Atrophie vor?) — sondern an Veränderung der Lei- 
tungsbahnen. 



Digitized by Google 



- 109 - 



Wir müssen nach allgemein physiologischen Grundsätzen 
an der Tatsache eines sexuellen Zentrums im Gehirn und 
eines besonderen Ejakulationszentrums im Rückenmark fest- 
halten. Diese müssen vom Genitalapparat aus durch eine 
Summation von Reizen soweit erregt werden, um den eigent- 
lichen explosiven Akt des Orgasmus auszulösen. Es muß ein 
kompliziertes, kaum auszudenkendes Ineinanderarbeiten von 
Vorstellungen, Gedanken, Reizen und Empfindungen sein, 
welche im entscheidenden Momente das Gehirn zu dieser über- 
wältigenden Nervenarbeit veranlassen. Ist es nicht am wahr- 
scheinlichsten, daß dieses psycho-sexuelle Ejakulationszentrum, 
nachdem es sich einmal auf den Leitungskontakt entweder mit 
dem labium minus oder mit der Klitoris eingespielt hat, auf 
andere Leitungsbahnen nicht mehr reagiert? Das weib- 
liche Geschlecht hat es so viel schwerer als das 
männliche, sich in seiner sexuellen Sphäre zu- 
rechtzufinden, um all die Hemmungen zu beseitigen, 
die sich dem Geschlechtsgenuß mit drohender Warnung und 
iGefahr entgegenstellen (wovon später ausführlicher), daß ohne 
Frage seine nervösen Zentren mit ihren Verbindungen im 
Gehirn anders beschaffen sein müssen als beim Manne. Ist 
endlich die Leitung perfekt geworden, so funktioniert dieser 
komplizierte Apparat vom Genitalanfang über das sexuelle 
Zentrum im Gehirn zum Ejakulationszentrum im Rückenmark 
und schließlich wieder zu den Genitalien zurück. Es ist wie 
eine plötzlich entstandene Quelle auf hohem Berge, die sich 
den mühelosesten Weg sucht, die nun mit Leichtigkeit in ihrem 
selbstgeschaffenen Bette ein für allemal weiterrinnt, deren 
Laufveränderung und Umleitung jedoch nur mit bedeutenden 
und zeitraubenden Kräften und Opfern möglich wäre. 

Um in einfacherer, verständlicherer Form zu reden! Es 
hat sich also in vielen Fällen von Masturbation- der weibliche 
Organismus an die ursprünglich freigewählte periphere 
Stelle des Kitzlers oder der Schamlippe, an Tempo, Rhyth- 
tmus und Vorstcllungswelt gewöhnt. Aus dem 
alltäglichen Leben wissen wir, daß Gewöhnungen oft 
schwer zu beseitigen sind und festgewurzelt ein ganzes Leben 
anhalten können. Ich füge nur, um verständlicher zu' werden, 
ein einziges Beispiel an. 



Digitized by Google 



Es gibt Menschen, die nicht anders als in einer be- 
stimmten Lage, sei es auf dem Rücken, sei es auf der Seite 
— einschlafen können. In dem Augenblicke, wo sie die ge- 
wohnte Position verlassen, meldet sich das Gehirn mit leb- 
haften Oedanken und vermag nicht jenen eigentümlichen 
Lähmungszustand der Gehirnzellen zu erreichen, welchen wir 
als Schlaf bezeichnen. 

Wenn bereits so einfache Anlässe genügen, um das 
Gehirn wie beim Schlafe an seiner Entlastung und Entspannung 
zu behindern, um wie viel mehr können Gewöhnungen; 
die Schuld tragen, wenn vom Gehirn besondere, außerordent- 
liche Leistungen wie die Nervenerschütterung im Orgasmus 
verlangt werden! 

Einen ganz ähnlichen Oedankengang verfolgt A m m o n *) 
in betreff der Homosexualität. Er sagt wörtlich: 

„Durch das vielmalige Funktionieren werden die neu- 
gebildeten abnormen Assoziationsbahnen mit 
der Zeit so „ausgefahren", daß sie immer leichter an- 
sprechen und gleichzeitig wird nach dem Oesetz der Kompen- 
sation das normale Netz von Assoziationen verkümmert, 
bis es ganz aufhört zu funktionieren." 



Man sagt, und L a k e r spricht es als eine stolze und 
sichere These aus, daß „diese Anomalie ohne Ana- 
logie beim Manne" sei. 

Piese Annahme ist irrig! Ihre Erscheinung ist 
nur deshalb eine äußerst seltene, weil beim Manne 
andere mechanische Voraussetzungen sind, die 
diese Perversion fast zur Unmöglichkeit machen. In seltenen 
Fällen tritt sie jedoch ein und das Bild, männlicher Perversion 
ist in unveränderter Gleichheit geschaffen. 

Die mechanische Bedeutung liegt in folgendem. Die 
männliche Masturbation erfolgt wohl (von seltenen Perver- 
sionen abgesehen) in der weitaus größten Mehrzahl der Fälle 
naturgemäß am Gliede. Mag nun die Spitze (Eichel und Vor- 
1 aut) oder der Schaft des membrum bevorzugt sein — immer 

*) Dj\ Otto Amnion — Der Ursprung der Homosexualität und 
die Deszendenzlehrei (Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie 1909). 



Digitized by Google 



- 111 - 



werden diese Teile beim natürlichen coitus in toto in die 
Scheide versenkt, so daß stets eine allseitige Berührung 
stattfindet. Es bleibt kein Punkt des Penis übrig, dessen 
Reibung an den Vaginalwänden nicht möglich wäre und durch 
sein aktives Vorgehen, durch seine Direktion, 
hat es der Mann in der Hand, jeden beliebigen Punkt 
seines Gliedes, wenn ein solcher durch frühere 
Masturbation bevorzugt, empfindlich sein 
sollte, in derVaginazur geforderten Berührung 
und Reizung zu bringen. In seiner Gewalt liegt es, 
nicht nur jede gewünschte Friktion herbeizuführen, sondern 
auch das Tempo und die Kraft zu bestimmen, 
also mechanische Eigenschaften zu produzieren, die seinem 
Ermessen, seiner Individualität, im vorliegenden Falle 
seiner Gewöhnung genau entsprechen. 

Aber es gibt auch Fälle, in denen diese natürlichen 
Vorausselzungen durch eine sonderbare Gewöhnung des 
Mannes einerseits und durch ein aktiveres Vorgehen des weib- 
lichen Teiles zu nichte werden und die in Rede stehende 
Anomalie des Weibes in absolut gleicher Weise 
beim Manne wiedergeben. 

Der folgende Status gibt einen vollen Beleg dafür und 
»mag in Anbetracht der Aufklärung dieses häufigen weiblichen 
Defizits als einziger „männlicher" Fall im Rahmen dieser 
durchaus f e m i n e 1 1 e n Monographie entschuldigt werden. 

Fall XVH. 

(Eigene Beobachtung.) 

Der. Ehegatte einer Patientin, die sich wegen leichten Cervix- 
katarrhes in Behandlung befand, macht mir über sein Sexualleben 
folgende Angaben: 

P. B., Dr. jur., 35 Jahre alt, leidet öfter an deprimierenden 
Stimmungen, ist aber im allgemeinen eine sorglos und heiter an- 
gelegte, für das Leben empfängliche Natur. Sehr früh meldete 
sich bei ihm die Sinnlichkeit, lange vor der Geschlechtsreife. Früh- 
zeitige, oft wiederholte Masturbation. Bald nach der Pubertät 
Coitus» mit normaler Befriedigung, der häufig und an den ver- 
schiedensten Objekten wiederholt wurde. Patient hat eine reiche 
liste verschiedenartigster Erfolge aufzuweisen! Trotzdem hat er 
niemals dre Masturbation ganz aufgegeben, wenn seine stets (auch 
heute noch) bereite Libido sich mächtiger geltend machte, ohne 
daß immer Zeit und Gelegenheit zur natürlichen Befriedigung vor- 



Digitized by Google 



- 112 - 



handen war. Patient hat dabei stets den normalen, natürlichen 
Coitus nachzuahmen versucht. Positus est in lecto quasi in coitu 
ordinario uxorem infra se habens, . sed loco feminae atque vaginae 
manu sinistra vaginam imitatur digitis membrum com- 
plectans. Qua in positione copulae ordinariae simillima cosdem 
facit motus corporis quasi feminam complexu tenens. Membrum 
digitis tali modo cinctum est, ut solum truncum penis com- 
plectantur. Glans ipsa prominet. Hoc modo summam voluptatcm 
habet in radice membri, quae fere est initium scroti 
Nequt alioquin ejaculationem attingere potest nec in maturbatione 
nec in coitu ordinario nisi radix membri aut manu aut vagina 
irritalur. 

Diese Gewöhnung an den untersten Teil (radix) der 
P c n i s w u r z e 1 hat im Laufe der Zeit die Eichel selbst ganz 
insensibel gemacht. Er ist nicht imstande, durch deren 
alleinige Reizung zum Orgasmus zu gelangen, die immissio 
muß eine absolut vollkommene — funditus! — sein. Beim nor- 
malen Coitus ist er dies stets zu erreichen imstande gewesen 
(offenbar ist er einer allzukurzen Vagina niemals begegnet!), allein 
beim Coitus in positione in versa (maritus infra, uxor 
supra), wobei der weibliche Teil die Direktion hat, ist 
es bei ihm noch nie zur Ejakulation gekommen, 
während die Partnerin gerade nur dann Befriedi- 
gung findet. Post voluptatem feminae pflegt er in diesem 
Follf die Normalposition (uxor infra, maritus supra) herzustellen 
und an der bereits im 1 Nachklang des Genusses befindlichen Gattin 
sein Recht auf Liebt definitiv zu vollenden. 

Die Anästhesie der glans penis zeigt sich auch in einwands- 
freier Weise bei der F e 1 1 a t i o (in os feminae). Patient sucht 
bisweilen diese Perversion, allein die meisten Feminae sind wegen 
der Kleinheit ihres Os für ihn untaugliche Objekte. Nur eine 
ganz tiefe Fellatio, welche fast die radix penis erreicht, 
ist imstande, seinen Orgasmus hervorzurufen. In den meisten Fällen 
gelingt dies nicht wegen der IncongruenzvonOsund Penis. 

Dfe Ehe ist sonst eine glückliche. Ein gesundes Kind ist vor- 
handen Der Mann ist durchaus kein abgelebter Wüstling und 
jedem homosexuellen Empfinden abgeneigt. 



Der geschilderte Fall ist, glaube ich, eine fast e i n - 
wandsfreie männliche Analogie der häufigen weib- 
lichen Masturbations-Anästhesie. 

Wenn dieser Mann ausnahmsweise in der dem weiblichen 
Geschlecht zugewiesenen beengten Geschlechtssphäre auf- 
gewachsen wäre, wenn ferner er gewissermaßen als „passives'' 
Individuum an eine „aktive" Gattin gekommen wäre, die ihre 
Gewöhnung, ihren Rhythmus, ihre Kraft von Anfang an 



Digitized by Google 



- 113 - 



zur Ausführung gebracht hätte, dann hätte leicht der Fall ein- 
treten können, daß diese Gattin den Arzt wegen der „Kälte" 
ihres Gemahles hätte konsultieren können. Ob das Wort 
„Kalte" in diesem Falle gebraucht worden wäre, ist zweifel- 
haft — denn die Erektion des Mannes war ja vorhanden. 
Zum mindesten am Anfang. Ob sie nicht bei fortgesetzt 
fruchtlosem Bemühen allerdings schließlich ebenfalls nach- 
gelassen hätte — wer möchte das in Abrede stellen ? Ver- 
mutlich hätte dann aber die Frau weniger von „Kälte" als 
von „Impotenz" gesprochen. Und hätte derselbe Mann den 
Mut gefunden und hätte seinen Zustand dem Arzt geklagt — 
welches Bild hätte sich dargestellt? „Ich habe früher mastur- 
biert und empfunden und jetzt, seitdem ich verheiratet bin, 
empfinde ich nichts mehr." Ein absolutes Analogon 
derhäufigsten aller mangelhaften Geschlechts- 
empfindungen des .Weibes! Nur mit dem erheb- 
lichen Unterschiede — daß solche Passivität des Mannes zu 
den größten Ausnahmen gehört. 

Die Männer kennen die Mechanik des Begattungslebens 
aus früherer Zeit. Sie variieren diesen Mechanismus zu ihren 
Gunsten, nach ihrem Gefallen, nach ihrer Gewöhnung. 
Ihre Vorkenntnisse, der Mangel sonstiger Hemmungen, sowie 
die eingeborene männliche Aktivität gestatten ihnen, gleich 
von Anfang an den richtigen Weg zu finden. Und 
ist dieser Weg einmal gefunden — dann gehen sie ihn 
unbekümmert allzu oft allein, lediglich an die 
eigene Befriedigung denkend. 

„Die Männer denken nur an sich" — „die 
Männer sind Egoisten" — allzuhäufig hören wir Arzte 
dieses resignierte Urteil einer „unverstandenen" Frau! 

Das männliche Geschlecht ist in seiner Bauart so glücklich 
veranlagt, daß die „Gewöhnung" an bestimmte Punkte 
seines Sexualapparates doch immer durch den vollen Kontakt 
des ganzen Gliedes mit dem Scheideninneren und durch ent- 
sprechende Reizung ausgeglichen werden kann. Nur in 
seltenen Fällen sitzt die Prädilektionsstelle, die ohne Frage 
durch die eigenartige Form der Masturbation gezüchtet worden 
ist, so tief an der Wurzel des Gliedes, daß, wie im vorliegenden 
Falle und dann auch nur bei der seltenen Ausnahme der Positio 

• 

inversa und Fellatio, eine Erregung nicht erreicht wird. Ferner 

Adl e r, Geschlechtsempfindung. 3. Aufl. 8 



- 114 - 



bestimmt der Mann als aktiver Partner das von ihm gewohnte 
und beliebte Tempo, die Kraft und den Rhythmus. 

Die Masturbatio masculinagleicht mehr oder minder 
mit unwesentlichen Differenzen dem Coitus normalis. Die 
Masturbatio f e m i n a 1 i s ist in der großen Mehrzahl der Fälle 
eine davon abweichende. Die Manipulationen werden 
nicht in der Scheide, sondern außen am Introitus,i sei es an 
der Klitoris, sei es an den Ia,bia minora (am häufigsten!) voll- 
zogen und nach diesen beiden Punkten die „Oewöhnun g" 
hingeleitet. Diese Stellen werden sicherlich später bei der 
veritablen immissio überhaupt nicht oder höchst unvollkommen 
gereizt. Möglich, daß hier die quantitative Beschaffenheit und 
Bauart eines anderen membrum Abhilfe schaffen könnte; allein 
aus Fall XVI sehen wir trotz einer Auswahl unter 10 Varianten 
noch immer kein Resultat! 

Es wäre interessant, zu wissen, ob bei den verhältnismäßig 
seltenen Fällen interner (vaginaler) weiblicher Masturbation 
ebenfalls Anästhesie in coitu vorhanden ist. Ich glaube kaum, 
aber leider fehlen mir hierüber beweisende Krankengeschichten. 

Wenn, wie in den gewöhnlichen Vorstellungen, die Klitoris 
des Weibes noch immer als der „sensible Brennpunkt" 
des Geschlechtsempfindens betrachtet wird (wir haben bereits 
in Kapitel II und V die Entbehrlichkeit dieses Organes in 
bezug auf die Oefühlssphäre behauptet und klargestellt, und 
auch unser Fall XVI zeigt in praxi coitus et masturbationis 
die absolute Unempfindlichkeit dieser Stelle), so hat jeden- 
falls die Natur dem Weibe mit dieser Lokali- 
sation nicht den zweckmäßigsten Diensit er- 
wiesen. 

Die Klitoris liegt im oberen Winkel der Vulva, vor 
dem eigentlichen Vaginalanfang und hart unter dem Scham- 
beinwinkel. Diese Lage scheint für eine direkte Berührung 
mit dem in die Scheide eingeführten Penis im höchsten Grade 
unzweckmäßig. Die Klitoris wird, selbst ihre Erektion 
in Betracht gezogen, stets nur unvollkommen an der gegen- 
seitigen Friktion teilnehmen. 

Obgleich Waldeyer („Das Becken") bemerkt: „Bei 
der Erektion bleibt der Angulus clitoridis be- 
stehen, und darin liegt eine erhebliche Ver- 
schiedenheit gegenüber der Lage des erigierten 



Digitized by Google 



- 115 - 



Penis. Nur wird der Klitoriswinkel etwas mehr 
ans gerundet, so daß demnach eine kleine Er- 
hebung und Vorwärtsstreckung stattfindet. 
Dieses Verhalten entspricht ganz der Bedeu- 
tungdes Kitzlers, als Wollustorgan zu diene n(?). 
Augenscheinlich sind es das Praeputium und 
das Frenulum clitoridis, welche die Aufrich- 
tung verhindern" — wird meiner Meinung nach trotz 
dieses geschilderten „Entgegenkommens" der Klitoris 
an den Penis die wirkliche direkte Berührung nur 
in den seltensten Fällen glücklichster und 
passendster Bauart erreicht. Selbst die dem in situ 
copulationis befindlichen Penis viel näher gelegenen kleinen; 
Schamlippen werden oftmals nicht von demselben hinreichend 
berührt, so daß, wie in Fall XVI, nicht einmal diese durch die 
Masturbation gezüchtete Empfindungsstelle getroffen wird. 
Daß diese Stelle tatsächlich durch das Membrum virile gereizt 
und zum Orgasmus gebracht werden kann, beweist die freie 
Erklärung der Patientin, daß solche Befriedigung sine 
immissionc durch den Penis von außen wohl erzielt wird. 

Die einmal von der Natur gegebene anatomische 
Lage-Disharmonie zwischen Klitoris und Penis 
zwingt zu einer zweifachen Annahme: 

1. Entweder ist die Klitoris überhaupt niemals Prädi- 
lektionsstelle zur Erzielung des Wollustgefühles durch 
Reibung in loco gewesen und bildet nur ein (ent- 
behrliches) Glied in der Kette von Organen, deren 
(entfernte) Reizung erst den bevorzugten Gehalt der 
Kitzlereichel an sensiblen Nervenendigungen in spezi- 
fische Irritation versetzen — oder 

2. Die Klitoris hat im Laufe der Zeit durch 
veränderte Benutzung ihre wesentliche 
Bestimmung verloren, ist zum entwick- 
lungsgeschichtlichen Derivat geworden 

. und hat infolge Verschiebung der ana- 

tomischen Verhältnisse allmählich an- 
deren Stellen (den Vaginal wänden, der 
Portio) ihren Rang streitig machen 
müssen. 

8» 



Digitized by Google 



— 116 — 

Die Natur des Coitus, wie er in der gesamten übrigen 
Säugetierwelt vollzogen wird, spricht für die zweite Hypo- 
these. Überall erfolgt die Begattung der Mam- 
ma 1 i a , selbst bei den dem Menschen in Bauart am nächsten 
stehenden Affen, a posteriore. In dieser Stellung 
ist das Verhältnis von Klitoris und Penis ein 
ganz anderes. Die Klitoris liegt unter dem membrum, 
und während dieses jetzt die natürlichen Coituslbewegungen 
macht ist es klar, daß ein ganz anderer Kontakt zu- 
stande kommen muß, und daß die Beckensymphyse als 
natürlicher unterer Knochen widerstand bei 
stärkerer Pression die gegenseitige Annäherung und 
Reibung beider Organe begünstigt. 

Der Hypothese eines entwicklungsgeschicht- 
lichen Derivates begegnen wir hiermit am Sexualapparat 
bereits zum zweiten Male. Wir erinnern an die früher 
geschilderte Bedeutung der Glandulae vestibuläres 
majores, welche nach Gustav Klein ursprünglich Riech- 
stoffe bildeten, die als Reiz- und Lockmittel für das männliche 
Geschlecht ehemals bestimmt waren. 

„Von allen Wesen", sagt ein Dichter, „liegen nur 
die' Menschen Brust an Brust." Mit der Ausbildung 
der geistigen Fähigkeiten hat sich das Weib mit neuen Reizen 
verklärter und durchgeistigter Schönheit, mit dem seelischen 
Zauber erzitternden Liebesverlangens geschmückt, so daß im 
Deliriuni der Umarmung der Mann diese Wonne aus dem 
Glanz ihrer Augen und aus dem brennenden Kuß ihrer Lippen 
doppelt zu trinken dürstet. Die Natur hat ihm' den höchsten 
sinnlichen Genuß in der Seele des Weibes poetisch umzaubert 
und verfeinert, er schlürft in Wonne ein doppeltes Glück, 
und während sein sinnliches Verlangen gewaltsam schwillt, 
um die goldene Krone des höchsten Empfindens in Verzückung 
zu erreichen, baden sich seine anderen Sinne zugleich in der 
Seele, in der Liebe der Erwählten. Für ihn, den Mann, hat 
die Verfeinerung der Menschheit ein noch glühenderes Ge- 
nießen geschaffen. Das grob mechanische Element ist bei 
ihm dasselbe geblieben. Das Weib dagegen hat Einbuße ge- 
litten und muß „Brust an Brust" einen Teil seiner groben, 
sinnlichen Empfindung dem männlichen Geschlechte zum Opfer 
bringen. 



Digitized by Google 



- 117 - 



Da? Resume der im vorliegenden Kapitel gewonnenen 
Schlüsse und Betrachtungen konzentriert sich demnach zu 
folgendem Ergebnis: 

Frühere Masturbation ist ein häufiger, viel- 
leicht der häufigste Grund mangelhafter weib- 
licher Geschlechtsempfindung. 

Es tritt dadurch leicht eine Gewöhnung 
ein an: 

1. bestimmte Stellen, die beim normalen 
Akte vom männlichen Gliede nicht ge- 
nügendgetroffen, erreicht, resp. gereizt 
werden, 

oder an 

2. ein bestimmtes Tempo, an Rhythmus und 
Kraft der bisherigen manuellen Aus- 
übung, mit welcher die spätere Aktivität 
des Mannes nicht korrespondiert. 

Die Gewöhnung ist als eine Festlegung der 
Leitungsbahnen aufzufassen, die nur in einem 
bestimmten Zusammenhang peripher und zen- 
tral ineinanderwirken. 

Auch beim Manne kommt der Zustand in 
seltenen Fällen vor. Allein Bauart und Ge- 
brauch seiner äußeren Geschlechtsorgane 
schützen ihn im allgemeinen vor den Folgen 
einer bestimmten Gewöhnung, die um so weni- 
ger in die Erscheinung tritt, als er sein aktives 
Vorgehen in coitu seiner (Masturbations 1 ^Ge- 
wöhnung anzupassen pflegt. 

Die Klitoris spielt weder in der Mastur- 
bation noch beim normalen Akte des Konkubitu$ 
diedominierendeStelledesGeschlechtsempfin- 
dens. Für den rein mechanischen Akt des 
menschlichen Coitus ab anteriore ist die Lage 
derselben unvorteilhaft im Gegensatz zu der 
Begattungsform in der Säugetierwelt a posteri- 
ore. Die Klitoris des Weibes ist als wollust- 
erregendes Organ (ähnlich wie die glandulae 
vestibuläres majores als Lockmittel) in entwick- 
lungsgeschichtlichem Rückgang begriffen. 



Digitized by Google 



VII. Kapitel. 



Vom weiblichen Geschlechtstrieb im allgemeinen. 

(Libido.) 



Feststellung der Terminologie. Vergleich mit dem Hunger. „Sexuelle 
Appetitlosigkeit" (Eulenburg). Die ursprünglich geringer vorhandene weib- 
liche Libido. Der „Schmerz" irri sexuellen Leben des Weibes. Sexuelle 
Erkrankungen; beim Mann und beim Weibe. Unterschied der Folgen. 
Die geringere weibliche Libido ist die natürliche Schutzwehr gegen seine, 
größeren sexuellen Gefahren. 1. Angeborene Schwäche und schwerere 
Erregbarkeit. 2. Hemmungen bei latentem normalen Trieb. — Die Hem- 
mungen sind der 1 häufigere Grund und entsprechen überhaupt dem Bilde 
der weiblichen Psyche. Charakteristik derselben nach Jean Jacques 
Rousscaus: La Nouvelle Heloise. — Die aggressive Form der männlichen 
Libido spiegell sich im Befruchtungsvorgang wieder. Vom Zauber der 
Persönlichkeit. Der Kuß der Sphinx. Der Mangel von Pollutionen bei 
der keuschen Jungfrau. Die Ahnung vom jungfräulichen Geschlechts- 
triebe ist mehr Kontrektation als Detumeszenz (Moll). W. Hämmer's 
modifizierte Auffassung von der „Sinnlichkeit gesunder Jungfrauen". Die 
Bezeichnung „Pollution" kann keinen gemeinsamen Begriff für die ganz 
anders gearteten männlichen und weiblichen Vorgänge darstellen. 
Mangelnde Libido und Kultur (Josef Müller, Ploß-Appun, Riedel-Serang- 
Insulaner,. Finsch-Karolinen). Die jungfräuliche Scham und Ängstlichkeit. 
Goethes Wahlverwandtschaften. Neuere Ansichten. — Johanna Elbers- 
kirchen. Ihre Auffassung der weiblichen Libido. Ihre Kritik der mangel- 
haften. Geschlechtsempfindung. — Entartungserscheinungen. Die Differenz 
der Ansichten nur scheinbar. Goethe-Christiane und Rousseau-Therese. 
Emil. Es bleibt ein Rest von Passivität selbst bei dem von der kon- 
ventionellen Moral losgelösten Geschlechtstrieb des Weibes. An diesen' 
Rest setzen sich die krankhaften „Hemmungen" an. — Margarethe Kossak's 
Auffassung der weiblichen Libido deckt sich im wesentlichen mit der 
des Verfassers. 



Digitized by Google 



- 119 - 

Nachdem in den voraufgegangenen Auseinandersetzungen 
im wesentlichen vom Höhepunkt des geschlechtlichen Em- 
pfindens, vom Orgasmus und seinen Differenzen die Rede 
war, erübrigt es noch, den weiblichen Geschlechts- 
trieb im allgemeinen — Libido — in seinen Haupt- 
punkten festzustellen und zu charakterisieren. 

Wir müssen uns vorher noch einmal über die Terminologie 
einigen. 

Geschlechts trieb, Geschlechts verlangen, Geschlechts- 
drang = Libido sexualis werden im folgenden als 
synonyme Ausdrücke gebraucht werden. Sie bedeuten ledig- 
lich den Trieb, das Verlangen, den Drang nach 
geschlechtlicher Befriedigung, sei es, daß er von 
selbst als Zeichen pubertärer Reifung aus dem Individuum 
sich entwickelt, sei es, daß er erst später durch sinnliche Reize 
Mannigfacher Art geweckt, auflodert und entflammt, um volle 
Erfüllung zu finden. 

Geschlechtstrieb = Libido ist dem Hunger vergleichbar. 
Sein Fehlen ist von Eulenburg treffend als „sexuelle 
Appetitlosigkeit" bezeichnet worden. Die Stillung des 
Hungers durch Essen ist identisch mit der Befriedigung des 
Geschlechtstriebes, sei es durch Coitus oder Masturbation, 
mit dem allerdings wesentlichen Unterschiede, daß bei dem 
lukullischen Triebe der erste Bissen, beim Hunger nach 
Eros aber das letzte Stück Ambrosia den Höhepunkt des 
Genusses bedeutet. 

Geschlechtstrieb (Verlangen, Drang, Libido) 
sind die Präliminarien des — darauf folgenden —Geschlechts« 
genusses (Lust, Empfinden, Orgasmus, Ejacu- 
latio). Allein ihr beiderseitiges gleichzeitiges! 
Vorhandensein ist nicht absolut notwendig, 
eins bedingt nicht das andere mit logischer 
Konsequenz: Es gibt Libido ohne Orgasmus — 
dieser Zustand (Dyspareunie) ist das vorzugsweise Thema 
der vorliegenden Untersuchungen — allein auch andere Mi- 
schungen sind möglich und feststellbar. 

Wir haben bereits z. B. in Fall XVI jene Masturbantin 
kennen gelernt, die einen großen gewaltigen Drang nach 
geschlechtlicher Liebe hat, die in den verschiedensten Armen 
ruhte und doch niemals in den Armen eines Mannes zum Ge- 



Digitized by Google 



- 



- 120 - 



schlechts g e n u ß kam. Sie ist im wahren Sinne des Wortes 
ein „sinnliches" Weib mit ausgesprochenem, großem Ge- 
schlechtstrieb trotz ihrer mangelhaften Geschlechtsempfindung 
- so widersprechend es klingt, also ein „sinnliches Weib 
mitmangelhafterGeschlechtsempfindun g." 

Auch das Umgekehrte kann stattfinden. Unter bestimmten 
Voraussetzungen und Bedingungen kann ein volles Ge- 
schlechtsempfinden, ein voller Orgasmus herbeigeführt 
werden, allein der Trieb, das Verlangen (Libido) liegt 
so darnieder, daß ohne spezifische Anregung das Individuum 
gewissermaßen lustlos durch das Leben wandern würde. 

Beiden Varianten des sexuellen Lebens steht 
das weibliche Geschlecht überhaupt sehr nahe, 
weit mehr als das männliche. 

Um von vornherein bei den folgenden Betrachtungen den 
richtigen Ausgangspunkt zu- gewinnen, mag das definitive Er- 
gebnis gleich an die Spitze gestellt werden. Fast alle Autoren 
sind darin einig, daß derGeschlechts trieb (Verlangen, 
Drang, Libido) des Weibes sowohl in seinem 
ersten spontanen Entstehen, wie in seinen 
späteren Äußerungen wesentlich geringer ist 
als derjenige des Mannes, daß die Libido viel- 
fach erst in geeigneter Weise geweckt werden 
muf: und oftmals überhaupt nicht entsteht. Die 
Vertreterinnen der letzten Klasse sind die ganz „kalten und 
empfindungslosen Naturen" (femmes de glace, 
femmes de marbre, naturae frigidae) mit ab- 
soluter Anaesthesia sexualis completa seu 
totalis. 

Naturgemäß entsteht der Geschlechtstrieb des Weibes mit 
der spezifischen Reifung seines Geschlechtsapparates, mit dem 
Einsetzen der Menstruation. Allein, wie verschieden ist dieser 
Vorgang gegenüber dem entsprechenden beim Jüngling! 

In tausenden von Krankengeschichten lesen wir: „Die 
ersten Menses setzten mit Schmerzen, Krämpfen und Übelkeit 
ein und wiederholten sich in der Folgezeit in ähnlicher Weise." 

Von diesen Attacken ist der Jüngling in der kritischen 
Zeit der Reifung absolut verschont Meldet sich bei ihm die 
geschlechtliche Reifung durch die erste Pollution, so mag ihn, 
wenn er bis dahin unbefangen war, eine seltsame Überraschung, 



Digitized by Google 



- 121 - 



vielleicht eine Ängstlichkeif) befallen, aber Schmerzen sind 
und bleiben ihm fremd; im Gegenteil pflegt schon 
der Beginn mit angenehmen sinnlichen Emp- 
findungen, Vorstellungen und Träumen einher- 
zugehen. 

Der Schmerz im Oenitalsystem ist eine bcdauerns- 
w e r t e Domäne des weiblichen Geschlechts und gibt vielleicht 
dem ganzen weiblichen Geschlechtstriebe die besondere 
Signatur ; die ihn von dem männlichen unterscheidet. 

Schmerz ist häufig bei der ersten Menstruation des 
Mädchens, das fast noch ein Kind ist, vorhanden. Die 
Schmerzen wiederholen sich periodisch bei jedem neuen „Un- 
wohlsein* 4 (der Ausdruck ist charakteristisch!). Der erste 
eheliche Verkehr und viele folgenden sind mit Schmerzen 
verbunden, weil Zerreißungen stattfinden müssen, bei denen es 
aus frischen Wunden blutet und weil schmerzhafte Deh- 
nungen eintreten. Mit Schmerzen, mit Uebelkeit und Ver- 
stimmung geht oft ein großer Teil der Schwangerschaft da- 
hin, mi« Schmerzen melden sich die ersten Wehen, um 
progressiv zu steigen und bei dem Durchtritt des Kindes über 
den gespannten und hochempfindlichen Damm zu fast un- 
erträglicher Höhe zu exaeerbieren. 

Glücklich, wenn die Geburt normal verlief! Es bleiben 
auch dann noch manche höchst schmerzhafte und 
peinigende Momente übrig, wie Nachwehen und Schrunden 
an den Brustwarzen, welche das Nähren des Kindes zu einer 
Höllenqua! machen können. 

Tritt jedoch die so Gequälte noch in das Stadium der 
■ unterleibskranken Frau, dann kann ihr Leben eine Kette von 
Leiden und Schmerzen werden, und vergeblich zermartert 
sie ihr Gehirn mit dem vernichtenden Gedanken, wozu die 
geschlechtliche Liebe auf der Welt sei und worin ihre Freuden 
bestehen ! 

Von alledem ist nichts beim Manne vor- 
handen! Sein erster geschlechtlicher Tribut kann mit 



*) Vergl. J. J. Rousseau: Bekenntnisse (1731—32): „Der 
erste, sehr unabsichtliche Ausbruch hatte mich hinsichtlich meiner Gesund- 
heit in eine Unruhe versetzt, die besser als alles andere meine Unschuld 
zu erkennen gab. Bald wieder beruhigt" usw. 



Digitized by Google 



- 122 — 



Ängstlichkeit, mit Befangenheit einhergehen, aber 
stets ohne körperlichen physischen Schmerz. 
Ja selbst die geschlechtlichen Krankheiten haben beim 
'Manne — rein physisch betrachtet — einen kurzen 
und milden Verlauf. Die gefürchtete Tripperinfektion, die 
den Frauen so gefährlich und vor allem durch ihre tief- 
gehenden Entzündungen so schmerzhaft zu werden pflegt, 
ist beim Manne meistens eine Bagatelle. Die chronische Exi- 
stenz dieseis Leidens belästigt ihn oft kaum, während die 
Frau meist ein ganzes Leben lang unter den quälenden, ver- 
zehrenden und schmerzhaften Folgen leidet. Höchstens 
eine Hodenentzündung, eventuell ein Blasenkatarrh macht dem 
Manne einige Tage lebhafte Schmerzen. Danach ist jedoch 
bald alles vergessen und kaum jemals erinnern bei späterem 
Geschlechtsverkehr nachträgliche Schmerzen an die 
überstandene Krankheit, während die Frau leider allzuoft ihr 
dauerndes Opfer bleibt. 

Solchen Gefahren und Drohnissen gegenüber, die wie ein 
vielgestaltiges Gespenst das geschlechtliche Leben des Weibes 
von allen Seiten umlauern und bedräuen, muß die Natur 
einen warnenden Riegel entgegengesetzt haben. 

Nehmen wir selbst die schmerzhaften Anomalien 
der Menstruation als kulturelle Degenerations- 
erscheinungen an, so bleibt noch immer der große, ge- 
waltige Geburtsprozeß mit seiner Fülle von Schmerzen und 
Gefahren als gefürchtete Drohung übrig. Dieser ist es nun 
nicht allein wegen seiner hinreichend physischen Qualen, 
sondern vor allem auch wegen seiner seelischen Be- 
lastung. 

Ein Mann hat in einer schnellen Liebeslaune dast 
ke rnende Pfand im Schöße seines Opfers zurückgelassen. Er 
zieht in die Welt, und die Erinnerung an diese Freudenstunde, 
wenn sie nicht schnell durch andere bald verdrängt wird, ist 
vielleicht für ihn der einzige Rest dieser Umarmung. Das 
k Weib dagegen trägt außer den geschilderten Qualen des 
wachsenden und zur Geburt reifen Kindes in sich die 
seelische Sorge über die Zukunft desselben. Sie 
hat für sein Groß werden zu sorgen und die Mittel zu be- 
schaffen und zu allem gesellt sich bei fast allen Völkern 
die offene oder versteckte, auf Schritt und Tritt entgegen- 



Digitized by Google 



- 123 - 

dräuende Verachtung, welche die Welt der ehelosen 
Mutter entgegenbringt. 

Die natürliche Abwehr, welche die Natur dem 
^eibe gegen diese Gefahren hat geben müssen und tat- 
sächlich gegeben hat, kann auf zwei sich nahe gelegenen 
und begegnenden Wegen zustande kommen. Entweder: 

1. Der Geschlechtstrieb ist tatsächlich de facto von 
Hause aus absolut wesentlich geringer, bedarf also 
für sein Erwachen und Erwecken weit bedeutenderer 
und längerer Reize als derjenige des Mannes — 

oder: 

2. Der Geschlechtstrieb ist zwar (latent) in gleicher 
oder ähnlicher Stärke vorhanden, allein er ist ge- 
fesselt, eingeschlossen, gehemmt, und erst wenn diese 
Hemmung vom geeigneten Partner entweder mühsam 
in langsamer Arbeit aufgehoben, eventuell auch in 
besonderen Fällen durch einen einzigen treffenden 

Schlag gesprengt ist, erwacht das bis dato kalte und 
empfindungslose Weib zum Bewußtsein des ge- 
schlechtlichen Verlangens und Begehrens. 
Ich glaube, daß beide Momente zugleich — an- 
geborene Schwäche des Triebes einerseits, 
Hemmungen andererseits — je nach der Indi- 
vidualitat in verschiedenartigster Mischung — 
den Mangel des weiblichen Geschlechtstriebes 
bedingen. 

Hier beginnt die komplizierte psychologische Analyse 
dieses sexuellen Phänomens, und für die Behandlung kommt 
es darauf an, ob sie eine psychisch erregende} bei vor- 
wiegend angeborener Schwäche des Triebes, oder eine be- 
ruhigende, läuternde, aufklärende sein muß, welche 
die psychischen Hemmungen, die wie eine Mauer den 
gesunden sinnlichen Kern umlagern, aus dem Wege schafft. 

Diese Hemmungen spielen meinem Gefühle nach eine 
gewaltige Hauptrolle gerade in der sexuellen Sphäre. Sie 
wirken wie ein Fremdkörper im Gehirn, und wie bei 
der Hysterie von Breuer und Freud die Aufsuchung einesf 
alten, oft nur mit Mühe zu findenden, dem! Individuum kaum 
erinnerlichen „psychischen Traumas" zugleich den Pfad 
zur Heilung bedeutet, so muß das erste Streben in 



Digitized by Google 



- 124 - 



der ganzen Beurteilung dieser Frage, von der 
Entdeckung und Beseitigung dieser entweder 
natürlichen, vielleicht auch erworbenen Hem- 
mungen seinen Ausgang nehmen. 

Die Bedeutung der offenen oder verborgenen, angeborenen 
oder erworbenen Hemmung liegt meinem Gefühle nach 
den quantitativ größeren und bei weitem häufigeren Teil der 
mangelnden Libido zu Grunde. Die Theorie der Schmerzen 
und Gefahren macht die Hemmung wahrscheinlicher als die 
häufigere Annahme eines angeborenen mangelhaften Ge- 
schlechtstriebes. .Warum sollte die Natur, die 
sonst die übrigen Sinnesempfindungen bei 
beiden Geschlechtern annähernd gleich ver- 
teilt hat, gerade in diesem Punkte, bei dem 
höchsten sinnlichen Gefühle eine so krasse Aus- 
nahme zu Ungunsten des Weibes gemacht 
haben? Ich will eine durchschnittlich schwerere Erregbar- 
keit bis zu einem gewissen Grade gelten lassen. Die Natur 
wollte damit dem Weibe die Individualität seiner Liebe 
wahren und ihm die instinktive* Paarung überlassen, Welche 
vielleicht die geeignetste und gesündeste Nachkommenschaft 
erwarten ließ. Der Mann war dazu nicht geeignet, weil sein 
ganzer Trieb gewaltiger, voller, spontaner sein muß, nach- 
dem einmal die Natur den Vorgang der Befruchtungl von der 
Ueberführung des Zeugungsstoffes des männlichen Indi- 
viduums in das weibliche abhängig gemacht hatte. 

Schon in der Befruchtung selbst kommt dies zum Ausdruck. 

Der Mann ejakuliert das Sperma, dessen viele Tau- 
sende Spermatozoen in heftigen Eigenbewegungen im 
Genitalschlauch aufwärts streben. Es ist ein Wettlauf nach 
dem einzigen, kleinen weiblichen Ei, dessen Schicksal es war, 
nichtdurch eigene Kraft, sondern durch die Flimmer- 
Bewegung der Umgebung seinen Weg zu vollenden. Der 
ganze Vorgang des Kampfes der Spermatozoen entspricht der 
größeren Kraft und Leidenschaft ihres Produzenten. Die 
Liebe des Mannes ist aggressiv, diejenige des 
Weibes erwartend, duldend, passiv. 

Wenn der so häufige Mangel an Geschlechtstrieb und 
Geschlechtsempfinden tatsächlich so oft eine angeborene 
Anomalie wäre, so würde er zu den Momenten rechnen können, 



Digitized by Google 



- 125 - 



die nach Möbius „den physiologischen Schwach- 
sinn des Weibes" ausmachen. Ich erkenne diese ganze 
Auffassung nicht an und Möbius selbst hat dem in Rede 
stehenden Punkte keine Worte verliehe n 

Die Theorie der Hemmungen paßt sehr gut zu dem 
ganzen Wesen des Weibes, zu seiner spezifischen Psychologie, 
die wir an ihm wahrnehmen können, und deren Studium 
selbst vom Frauenarzte oft nicht hinreichend gewürdigt wird. 
Das Weib hat nicht nur einen weiblichen Körper, 
sondern vielmehr noch eine weibliche Seele, 
ein weibliches Gehirn. — 

Jean Jacques Rousse aus: Julie oder Die neue 
H e 1 o i s e, ein Werk, dessen ganzer Grundton auf das Gemisch 
leidenschaftlichster, glühendster sinnlicher Liebe und zugleich 
innigster Herzens- und Seelengemeinschaft zweier Liebenden, 
gestimmt ist — eine Liebe, die nach Max Dessoirs Ein- 
teilung der Heterosexualität deren höchste Stufe „der 
einzigen und inkommensurablen Individuali- 
tät" erreicht hat — enthält im 46. Briefe Julies an 
St. P r e u x folgende Stelle : 

„Angriff und Verteidigung, männliche Kühn- 
heit und Scham sind nichts Erkünsteltes, wie es 
sich deine Philosophen vorstellen, sondern na- 
türliche Einrichtungen, deren Notwendigkeit 
sich leicht nachweisen läßt und aus denen mit 
derselben Leichtigkeit alle übrigen morali- 
schen Unterschiede abgeleitet werden können. 
Da Mann und Weib überhaupt von der Natur 
nicht dieselbe Bestimmung erhalten haben, so 
muß jeder Teil bei seinen Neigungen und bei 
der Art zu denken und zu fühlen von seinem be- 
sonderen Gesichtspunkte ausgehen. — Ein voll- 
kommenes Weib und ein vollkommener Mann 
dürfen sich in ihren geistigen Anlagen nicht 
ähnlicher sein als in ihrem Aeußeren." — 

Was vom gesunden Weibe gilt, das hat noch mehr 
Bedeutung für das kranke. Das Weib hat seine eigenartigen 
Frauenkrankheiten an den körperlich weiblichen Teilen, am 
Uterus, an den Ovarien, an den Brüsten etc., so daß es nur 
natürlich erscheint, wenn auch seine spezifisch weibliche 



Digitized by Google 



-* 126 - 



Seelen- und Nerventätigkeit ganz besonderen und nur dem 
(Weibf: eigentümlichen Veränderungen und Krankheiten unter- 
liegt. 

Die Hysterie — der wir im nächsten Kapitel ausführ- 
licher begegnen — (obgleich in seltenen *) Fällen auch bei 
Männern zu beobachten) — ist eine solche spezifische Alte- 
ration der vorwiegend weiblichen Vorstellungsweit und weib- 
lichen Ideen-Assoziation, daß in diesen seltsamen Rahmen 
eigenartigster Arbeit der weiblichen Nervenzellen die Theorie 
der Hemmungen sich sehr wohl und zwanglos einfügt. 

Die Kunst, cliese Hemmungen zu beseitigen, die Kunst, 
den wie mit Stacheldraht umzäunten und darum schwerer 
erreichbaren Trieb des Weibes hervorzulocken und anzu- 
greifen, ist eine hohe, die höchste Preisaufgabe der männlichen 
Individualität. Die Kunst läßt sich bis zu eint;m gewisser* 
Grade erlernen, wie jede Kunst. Allein die besondere Geni- 
alität ist überall eine außerordentliche und angeborene. Sie 
beruht in der unerforschten Macht, in dem ungekannten, un- 
definierbaren ZauberderPersönlichkeit. Aller Wissen- 
schaftlichkeit zum Trotz gibt es noch immer einen „Liebes- 
z a u b e r". Das kalte, empfindungslose Weib, das solcher für 
seine Eigenart bestimmten Individualität begegnen würde, 
müßte zu neuem, flammenden Leben erwachen. Poesie und 
Malerei erzählen von dem Jüngling, dessen brennender Kuß 
und leidenschaftliche Umarmung selbst die tote, steinerne 
Sphinx zum Leben und Lieben erweckte. 

Der Geschlechtstrieb des gereiften Mädchens ist normaler- 
weise überhaupt nicht vorhanden oder äußert sich in wesentlich 
anderen Formen als beim Jüngling. Die Pullution ist 
nicht nur ein Zeichen der männlichen Reifung, 
sondern eine strikte Forderung der Natur und ein 
direkter Appell an seine Sinnlichkeit. Wir haben 
schon hervorgehoben, daß die Menstruation hiermit nicht in 
Parallele zu bringen ist, schon deshalb, weil sie so häufig 
nur Unbehagen und Schmerzen bereitet. 



*) N. B. Der große europäische Krieg hat das Zahlenverhältnis ge- 
waltig verschoben. Allerdings spielt hier die willkürliche Nomenklatur 
eine Rolle, indem Kriegspsychen und -neurosen mit Hysterie zusammen- 
getan werden. 



Digitized by Google 



Pollutionen kommen auch im weiblichen Geschlecht 
vor, jedoch kaum bei der keuschen und reinen Jung- 
frau. Sie sind das Privilegium derjenigen, die auf eine früher 
erworbene und ausgeübte Sinnlichkeit verzichten müssen. Sie 
sind ein Leiden junger Witwen und erscheinen beim 
junger. Mädchen nur, wenn dasselbe mastur- 
biert und in seine Vorstellungswelt den sinn- 
lichen Oedanken an eine männliche Umarmung 
aufgenommen hat. Die Masturbation des Mädchens! 
scheint niemals eine spontane, aus dem Geschlechtsgefühl her- 
aus geborene, sondern durch Verleitung und Verführung er- 
worbene zu sein. Wir haben bereits früher gesehen, daß sie 
langevor derpubertären Reifung zustande kommen 
kann. Das psychosexuelle Zentrum ist von seinen Hem- 
mungen befreit worden durch laszive Gespräche mit Freund- 
innen, die große unbewußte Welt der Hemmungs- 
vorstellungen, welche mit dem Geschlechts- 
verkehr und dem Gebären zusammenhängen, er- 
scheint bei der manuellen Befriedigung als un- 
gefährlich. Dabei ist auch nicht zu unterschätzen, daß 
diese natürlichen Hemmungen, welche die Angst und die 
Gefahren der Mutterschaft widerspiegeln, ihre besondere Höhe 
und Ausdehnung vermutlich ebenfalls erst mit der Rei- 
fung der weiblichen Geschlechtsorgane finden. 

Das sinnliche Gefühl des reifen, keuschen, in Gefühl und 
Phantasie nicht beeinflußten jungen Mädchens ist höchstens 
ein undefinierbares „Sehnen und Drängen". Es ist mehr* um 
mit Moll zu reden, Kontrektations- als Detu- 
m e s z e n z t r i e b , d. h. es ist vorherrschend ein Gefühl zu 
lieben, noch mehr geliebt zu werden, die Sehnsucht nach dem 
Geist und Wärme spendenden anderen Körper. Beim Jüngling 
tritt die Detumeszenz, d. h. das Verlangen, an 
seinen Genitalien Entlastung zu finden, viel deut- 
licher in die Erscheinung. ' 

Das Kapitel über die libidinösen Vorgänge und Empfin- 
dungen der (körperlich und seelisch) reinen Jungfrau ist be- 
greiflicherweise am allerschwierigsten zu normieren. Wir 
können uns im wesentlichen nur an das halten, was erfahrene! 
Frauen aus ihrer Erinnerung berichten. Hier, wie kaum' 
sonst im weiblichen Sexualleben, kann einzig und allein das» 



Digitized by Google 



- 12S - 



Wort der Frau selbst gelten. Wenn die Ärztin Dr. Mar- 
garethe Kossack') die spontane Regung des Geschlechts- 
triebes beim jungen Mädchen — entgegen dem des Jüng- 
lings — ablehnt, so können wir hieran nicht vorübergehen. 
Allerdings spricht sie sich über jungfräuliche Pollutionen 
nicht aus — das Fehlen solcher scheint jedoch nach ihren 
Darstellungen als selbstverständlich. — 

W. Hamme r-') dagegen bestreitet die lustlose Reifung* 
zum Weibe. Auch die reine Jungfrau hat neben seelischen 
Regungen im Sinne der bereits zugestandenen Kontrek- 
tation gewisse körperliche — D e tu m e sz e n z- Erschei- 
nungen: „Sie hat das Gefühl der Frische, der Kraft und 
Stärke, des Unternehmungsdranges, der wohltuenden Span- 
nung leicht feuchter Unterleibsorgane (!). Dann 
das Gefühl der Überreiztheit und Überspannung und da£ Be- 
dürfnis, die ungeheure Spannung zu lösen, sich durch Kneifen, 
durch Schlagen, durch Schnüren Erleichterungen zu schaffen, 
und ähnliche Gefühle mehr. Lernt jetzt die Jungfrau die 
Selbstbefriedigung nicht kennen, so tritt in regelmäßi- 
gen Zwischenräumen von etwa 3 Tagen oder länger 
oder kürzer, eine Traumentleerung übermäßig ge- 
spannter Schleimdrüsen ein, die nicht etwa der 
Monatsblutung entspricht, sondern der Begattung und 
deutlicher als alle „Aufklärung", weniger deutlich als die Be- 
gattung selbst die Beiwohnung in ihren Einzelheiten vor- 
spiegelt. Findet jetzt, ohne daß vorher die Selbstbefriedigung 
erlernt wurde, der Verkehr statt, so ist er in der Regel 
schmerzfrei (!?), wie auch bei solchen Jungfrauen der 
Gebärmutterspiegel leicht und schmerzlos eingeführt werden 
kann. Ohne äußere Verführung findet nun diese keusche 
Jungfrau häufig einen Weg, die übermäßige Spannung auch 
ohne Mann auszulösen. Die Selbstbefriedigung führt dann 
erst nach und nach, und je länger sie geübt wird, desto mehr 
die Entjungferungsschmerzen herbei. Die Monatsblutung ent- 
spricht der Geburt, die Traumentleerung oder Selbst- 
befriedigung der Begattung." — 



*) Vergl. den Schluß dieses Kapitels: Absatz 2. 

2 ) Über die Sinnlichkeit gesunder Jungfrauen — 
Die Neue Generation 1911, Heft 8. 



Digitized by Google 



- 12g - 



Woher mögen solch gegensätzliche Urteile bei einer so 
wichtigen, fundamentalen und alten Frage zustande kommen? 
An dem Ernst, an der Ehrlichkeit beider Beobachter ist nicht 
zu zweifeln und doch — sie sehen mit den grundverschiedenen 
Augen von Mann und Weib, sie vergleichen Dinge, die nicht 
zu vergleichen sind, und sie sehen diese Dinge getrübt und 
verschleiert durch lange kulturelle Heimlichkeit. Die Ver- 
wechslung beginnt schon mit der sprachlichen Bezeichnung, 
mit ihr erben sich Unklarheiten wie eine ewige Krankheit 
fort, z. B. : 

Was bedeutet das Wort „Pollution"?, „Beschmutz- 
u n g"> „B e s u d e 1 u n g", „Verunreinigung" ! Welch 
wenig passende Bezeichnung für einen physiologischen Vor- 
gang! Und weiter, was repräsentiert die männliche Pol- 
lution (bezw. die mit ihr identische Ejakulation)? Ledig- 
lich die Heraus schleuderung eines notwendigen Zeu- 
gungsstoffes. Die weibliche „sogenannte" Pollution 
dagegen hat kein notwendiges Befruchtungselement zu liefern 
(höchstens ein unterstützendes), am allerwenigsten hat sie 
etwas „hinaus"zuschleudern. Dasselbe Wort für zwei ganz 
verschieden geartete Vorgänge ist — offenbar vom Manne — 
geschaffen worden! 

Sicherlich machen sich die weiblichen libidinösen (Be- 
fruchtungs-) Drüsen mehr oder minder bei der Geschlechts- 
reifung bemerkbar. Selten kommen solche „libidinösen 
Ausflüsse" zur Konsultation — Unkenntnis und Scham 
halten sie fern. Und wenn der seltene Fall eintritt, so werden 
sie meist verkannt, sie werden für Scheidenkatarrhe und! ähn- 
liches gehalten, weil die etwaigen sinnlichen Begleitempfin- 
dungen verkannt und verschwiegen werden. 



Es ist von mancher Seite behauptet worden, daß der 
häufige Mangel des weiblichen Geschlechts- 
triebes „in unserer Zeit eine bedenkliche Ent- 
artungserscheinung sei" (Frau Dr. Fischer- 
Dückelmann) und nur bei „kultivierten Völker- 
stämmen" vorkomme. „In der Natur sei dieses Ver- 
hältnis nicht begründet" (Busch). 

Adler, Geschlechtsempfindung. 3. Aufl. 9 



Digitized by Google 



- 130 — 



Betreffs „Entartung" sei noch einmal auf unsere Mit- 
teilungen und Ansichten betreffend die Glandulae vesti- 
buläres majores und den Sitz der Klitoris beim 
Coitus normalis hingewiesen. 

Wie dagegen die weibliche Libido bei den Naturvölkern 
in die Erscheinung tritt, ist leider schwer zu eruieren. Ver- 
geblich habe ich Josef Müllers Schrift: „Das sexuelle 
Leben der Naturvölker" nach einer einzigen Andeutung 
über diesen Punkt durchsucht. 

In Ploß-Bartels (Das Weib) begegne ich der einzigen 
Beobachtung eines gewissen Appun, der in Guyana viele 
Jahre mit einer Indianerin verheiratet war. Er gibt an, daß 
in dem ganzen weiblichen Stamme „eine geringe Nei- 
gung zur physischen Liebe vorhanden sei". 

Riedel gibt von den Frauen der Insel Buru an, daß 
sie mit fremden Männern „passiv" und „indifferent" 
seien, fügt aber sofort hinzu: „aus Furcht vor Schwanger- 
schaft". 

Derselbe Autor berichtet von den Serang-Insu- 
1 a n e r n , daß daselbst eine Beschneidung der Männer erfolge, 
um „das Vergnügen der Frauen zu vermehren", 
und F i n s c h schildert die Mädchen auf Ponape (Karo- 
linen) als „unendlich eisig und kalt". 

Die Mitteilungen sind selbstverständlich zu dürftig, um 
aus ihnen irgend welche bindenden Schlüsse zu machen. Ge- 
schlechts trieb (Libido) und Geschlechts empfindung 
(Höhepunkt — Orgasmus) sind bei diesen kurzen An- 
gaben nicht genügend auseinandergehalten. Dazu kommt die 
Vermischung des geistig so anders gearteten Weißen mit 
der farbigen Rasse einer durchaus anderen Kultur. Schon 
bei uns geben die Vermischungen verschiedener Gesellschafts- 
klassen mit anderen Gewohnheiten und anderen geistigen Be- 
dürfnissen verschiedene Resultate. 

Den normalen Mangel eines ausgesprochenen Ge- 
schlechtstriebes beim reifen jungen Mädchen fassen wir als 
eine Konsequenz der natürlichen Hemmungen auf, die im 
wesentlichen in den geschlechtlichen Gefahren beruhen. 

Die „jungfräuliche Scham", die Angst, zum minde- 
sten ein gewisser Grad von Ängstlichkeit begleitet stets die 
myrtengeschmückte Braut in das Hochzeitsbett. Diese Angst 



Digitized by Goo< le 



- 131 - 



kann gemildert, verwischt werden, sie kann aber auch zu- 
nehmen und wachsen — je nach der Behandlung von seiten 
des Mannes und dementsprechenden Folgen für das Empfinden. 
Eine Ahnung dieser zitternden Scheu bleibt oftmals bis in die 
höheren Jahre bestehen, nicht zum Schaden für das Weib 
und für den Gatten, wenn nur der erste Hauch jeden Liebes- 
genusses von ihnen verklärt wird und das Ergebnis eine volle, 
warme, verzehrende Sinnesempfindung ist. In den „Wahl- 
verwandtschaften" schildert Goethes sinnlich poeti- 
tischt Feder an Charlotte diesen Rest jungfräulichen 
Zaubers . 

„Charlotte war eine von den Frauen, die von 
Natur mäßig, im Ehestande ohne Vorsatz und 
Anstrengung die Art und Weise der Liebhaber- 
innen fortführen. Niemals reizte sie den Mann, 
ja, seinem Verlangen kam sie kaum entgegen; 
aber ohne Kälte und abstoßende Strenge glich 
sie immer einer liebevollen Braut, die selbst 
vor dem Erlaubten noch innige Scheu trägt." 

Durch die ganze Natur des Liebens einer Frau, zieht sich 
als Ausdruck ursprünglicher Hemmung ein leichter 
Schleier von Zurückhaltung, Scheu und Ängstlichkeit und gibt 
dem liebenden Manne bei jedem wiederholten Werben und 
Genießen erneute Kraft und Gelegenheit, den längst ge- 
wonnenen Schatz aufs neue zu erobern, zu verdienen und zu 
erhalten ! 



Johanna Elberskirchen (in Alfter bei Bonn) hat 
in dem großen dreibändigen von Prof. Dr. Koßmann 
(Berlin) und Priv.-Doz. Dr. Jul. Weiß (Wien) heraus- 
gegebenen Werk: Mann und Weib — ihre Bezie- 
hungen zu einander und zum Kulturleben der 
Gegenwart 1 ) das Geschlechtsleben des Weibes 2 ) bearbeitet. 
Es handelt sich um eine umfangreiche Arbeit mit folgenden 
Untertiteln : 



*) Union Deutsche Verlagsgesellschaft. Stuttgart, Berlin, Leipzig. 

£ ) Das Geschlechtsleben des Weibes. Von Johanna Elberskirchen 
auf Burg Münchhausen bei Wachenheim. In Koßmann: Mann und Weib, 
Bd. I, Teil II, Kapitel 4. 

6« 



Digitized by Google 



— 132 — 



1. Über Wesen und Begriff des Geschlechtstriebes. 

2. Das Geschlechtsgefühl des Weibes. 

3. Krankhafte Veränderungen und abnorme Erschei- 
nungen des weiblichen Geschlechtstriebes. 

4. Die Ursachen mangelhafter Geschlechtsempfindung 
der Frau und die Hemmnisse für ihren Geschlechts- 
trieb. 

5. Über Enthaltsamkeit des Weibes und über Vor- 

■ 

beugungsmittel. 
Aus der reichen und eingehenden Darstellung Johanna 
Elberskirchens können an dieser Stelle nur einige Fun- 
damentalsätze angeführt werden. Es sei vorweg bemerkt, daß 
sich die Autorin ausführlich mit der in diesem Kapitel der vor- 
liegenden Monographie *) behandelten Auffassung der weib- 
lichen Libido beschäftigt. Ihre Kritik fällt negativ aus. Sie 
bestreitet einen von Hause aus geminderten resp. versteckten 
Geschlechtstrieb des Weibes und betrachtet fast alle Formen 
der mangelhaften Geschlechtsempfindung, welche auf mangel- 
haftem Triebe beruhen, als kulturelle Degenerationserschei- 
nungen : 

„Zur Erklärung des mangelhaften und minderwertigen Ge- 
schlechtslebens des Weibes ergibt sich die der mangelhaften, 
minderwertigen Entwicklungs- und Existenzbedingungen." 

Johanna Elberskirchen kritisiert mit vernichtenden 
Worten die seit Jahrtausenden von Geschlecht zu Geschlecht 
wie eine ewige Krankheit fortgeerbte Knechtungsmoral der' 
weiblichen Sexualität. Sie führt die Sitte der Vernähung (In- 
fibulation z. B. im Sudan) an und fährt fort: 

„An Stelle der körperlichen Vernähung trat der geistige, 
der moralische „Verschluß des Weibes". An die Stelle der 
unmittelbaren körperlichen Züchtigung trat die gesellschaft- 
liche: die Schande, an Stelle des körperlichen Todes' der ge- 
sellschaftliche Tod." - 

Es ist unmöglich, an dieser Stelle erschöpfend auf die tiefen 
Fragen der weiblichen Sexual-Ethik einzugehen. Nur einiges 
sei Johanna Elberskirchen erwidert: 

Ist denn die Kluft der Ansichten dieses Buches und ihrer 
eigenen so unüberbrückbar groß ? Ist es nicht mehr ein Streit 



•) Unc zwar der I. Auflage aus dem Jahre 1904. 



Digitized by Google 



- 133 - 

um Worte und sind wir nicht in den Prinzipien eigentlich einig? 
Steht nicht bereits klar und deutlich in der" I. Auflage dieses) 
( Werkef. zu lesen : 

„Warum sollte die Natur, die sonst die übrigen Sinnes- 
empfindungen bei beiden Geschlechtern annähernd gleich ver- 
teilt hat, gerade in diesem Punkte, bei dem höchsten sinnlichen 
Gefühle eine so krasse Ausnahme zu Ungunsten des Weibes 
gemacht haben ?" 

Diese noch dazu gesperrt gedruckte These war von 
Johanna Elberskirchen nicht zitiert und vollkommen 
übergangen. Immer heißt es nur: „einzelne Ärzte (Adler, 
Fehling, Wind Scheidt, Havelock Ellis) gehen so 
weit, zu behaupten, der Geschlechtstrieb des Weibes sei nicht 
angeboren sondern erworben." 

Und weiter : Von den Hemmungen sagt die Autorin, sie 
seien „sinn- und zweckstörende Erscheinungen — Entartungen". 

Ist nicht auch in dieser Monographie von „Entartungen" 
die Rede, ist nicht auf Frau Dr. Fischer -DückelmannsS 
ähnlichen Ausspruch hingewiesen und dabei die eigene Theorie 
der Entartung von Drüsen und Kitzler (Glandulae vestibu- 
läres majores und Klitoris) anschließend erwähnt ? — 

Die Differenz der Anschauungen besteht nur scheinbar und 
ist lediglich quantitativ. Die Vorkämpferinnen der neuen 
Moral *) verlangen alles und leugnen alles, um wenigstens 
einige Besserungen zu erreichen. Das mag agitatorisch ein 
richtiger Kampf prinzip sein, wissenschaftlich gebührt ihm die 
notwendige Einschränkung. Man mag noch so viel von kul- 
tureller Entartung sprechen, die unsere moralischen Vorstel- 
lungen, besonders die der weiblichen Sexualität verunstaltet 
haben, so ist doch zu bedenken, daß diese kulturelle Ent- 
artung Jahrtausende alt ist und daß es kein Volk auf 
der Erde gibt, welches sich dieser kulturellen Entartungs- 
ersebeinung — Bildung einer eigenen weiblichen 
Gescl' lechtsmoral — hat entziehen können. Wir ge- 
nießen die hohen Vorteile der Kultur — müssen wir nicht 
auch ihre Schäden hinnehmen, besonders wenn diese einmütig 
in der ganzen Welt gleichen Schritt halten und uns schließ- 
lich wie etwas selbstverständliches erscheinen ? Oft genug 

*) Vom Jahre 1905—1910. 



Digitized by Google 



- 134 - 

hört man in der Beweisführung das Beispiel der Naturvölker. 
Was wissen wir von der „mangelhaften Geschlechtsempfin- 
dung" bei diesen? So gut wie nichts. Das Wenige abfer, 
was wir wissen, deckt sich durchaus mit den „kulturellen" 
Ausfallerscheinungen unserer Frauen. Auch die kulturfremden, 
wilden Weiber sollen allzuoft „kalt und eisig" und „wenig 
zur physischen Liebe geneigt sein". 

Mag man dem Ding einen Namen geben, welchen man 
will — über die Tatsache eines zum mindesten anders organi- 
sierten Geschlechtstriebes bei Mann und Weib kommt man 
nicht fort. Die Liebe des Mannes ist und bleibt aggressiv, 
die des Weibes passiv, das spiegelt sich in tausend Varianten 
des ganzen organischen und seelischen Aufbaues beider wieder. 
Sollten die größten Denker, die größten Philosophen, Dichter 
und Menschenkenner (nicht etwa Ärzte), die weit über diesem 
Lebenseinerlei standen und den Menschen tief ins Herz sahen, 
sollten alle diese immer wieder von der gleichen kulturellen, 
Entartung umstrickt und befangen gewesen sein? Und kann 
man dann noch von Vorurteilen sprechen, wenn diese Denker 
sich ostentativ über die konventionellen Formen der staatlich 
sanktionierten Liebe hinweggesetzt haben? Goethe — 
Christiane und J. J. Rousseau — Therese sind leben- 
dige Beispiele der von der Reform verkündeten neuen, un- 
beengten, von keiner „Entartung" angekränkelten Sexual- 
ref orm. Wie beginnt Rousseaus Emil? 

„Alles ist gut, wie es aus den Händen des Urhebers 
aller Dinge hervorgeht. Alles entartet unter den Händen 
des Menschen — " ein Einführungsgesetz so recht nach dem 
Herzen der entartungsfeindlichen Reformerinnen — und doch 
predigt derselbe J. J. Rousseau den fundamentalen Unter- 
schied der „männlichen Kühnheit" (aggressive Liebe) und der 
„weiblichen Scham" (Passivität), aus denen „mit Leichtigkeit 
alle übrigen moralischen Unterschiede abgeleitet werden 
können". Und Goethe, der frauenerfahrene Menschen- 
kenner, umgibt seine poesieverklärten weiblichen Ideale mit 
dem Heiligenschein einer „liebevollen Braut, die selbst vor 
dem Erlaubten noch innige Scheu trägt". 

Man mag den Geschlechtstrieb des Weibes von allen 
Fesseln der Konvention befreien und ihm die natürlichste 
Entfaltung gestatten — immer muß ein eingeborener Rest 



Digitized by Google 



- 135 — 



von Zurückhaltung übrig bleiben, ein Rest, der nur verschönt 
und selbst dem frenetischsten Sinnestaumel eine reizvolle und 
um so anziehendere Verbrämung verleiht An diesen natür- 
lichen Rest setzen sich allerdings häufig überflüssige Schlacken 
an — Hemmungen — die zur mangelhaften Ge- 
schlechtsempfindung führen und dann in das Reich 
des Krankhaften hinüberweisen. 



Im Anschluß an Johanna Elberskirchen sei hier 
*noch von neuesten Kundgebungen die bereits zitierte Ärztin 
Margarethe Kossack *) angeführt. Sie äußert sich über 
die weibliche Libido folgendermaßen: 

1. „Der Mann versteht das Weib in den Äußerungen 
seines Geschlechtslebens fast nie. Dies ist insofern der Fall, 
als er dieselben stets auf Sinnlichkeit zurückzuführen pflegt. 
Setzen Backfische durch Unterhalten kindischer Liebesverhält- 
nisse ihren guten Ruf aufs Spiel, schicken sie angeschwärmten 
Schauspielern Billetdoux, tuscheln sie sich obszöne Geschichten 
ins Ohr, fallen junge Mädchen in Gesellschaft durch ihr 
kokettes Benehmen auf, verfolgen verheiratete Frauen ihre 
Gatten mit lästigen Zärtlichkeitsbezeugungen — immer und 
überall macht der Mann die Sinne des Weibes dafür verant- 
wortlich. Und doch haben sie in der Regel nicht das mindeste 
damit zu tun. DasWeib istvon Hauseaus nichtnur 
vielwenigersinnlichalsderMann, sondernnoch 
viel weniger als er glaubt, aber das Sexuelle 
im engsten und weitesten Sinn nimmt in seinem 
Dasein einen ungleich größeren Raum ein als 
in dem seinen und das zwar im umgekehrten Verhältnis 
zu der Erregbarkeit seiner Sinne.' 4 

2. „Auch damit irrt man, daß man immer annimmt, der 
Geschlechtstrieb äußere sich beim Mädchen bei eintretender 
Geschlechtsreife wie beim Jüngling ganz von selbst. Er er- 
wacht erst beim Zärtlichkeitsaustausch mit dem Manne. Hat 
ler sich schon früher bemerkbar gemacht, so ist er durch ver- 
botenes Liebesspiel mit Knaben, meinetwegen auch Mädchen, 
oder durch onanistische Manipulationen, zu denen Altersge- 



•) Die Vita sexualis der Hysterischen — Zeitschrift für 
Sexualwissenschaft - Bd. II (1915), Heft 5. 



Digitized by Google 



- 136 - 



nossen oder Dienstboten die Anleitung gegeben — kurzweg 
durch Reizung der Genitalien — künstlich hervorgerufen." 

3...Man möge nicht aus dem Umstände, daßi ein Mädchen 
sich sexuelle Unarten angewöhnt oder vorzeitigen Geschlechts- 
verkehr pflegt, schließen, daß ihre Sinne danach verlangten — 
das hieße Ursache und Wirkung verwechseln — die Ver- 
führerin war nur die Phantasie und mit ihr im Bunde vielleicht 
auch noch Neugier, Ehrgeiz. Ehrgeiz! — Ja das klingt sonder- 
bar und doch kanns so sein! Sie will etwas erleben; auf dem 
Gebiete der „Liebe"! Das rein Physische aber „das gehört 
dazu"! 

Diese wenigen Originalstellen der Margarethe 
K o s s a c k 'sehen Arbeit sind dem Verfasser eine dankenswerte 
Bestätigung seiner eigenen Auffassung der weiblichen 
Libido vom ersten Tage an. Schon in der I. Auflage standen 
folgende in dieser III. Auflage ») dadurch noch wertvoller ge- 
wordenen Sätze: 

„Man spricht von einem sinnlichen Ausdruck der Augen 8 ) 
und einem anlockenden, koketten Benehmen als besonderen 
Zeichen einer geschlechtsempfindenden und geschlechtsbe- 
dürftigen Frau. Die Koketterie hat mit der Sinn- 
lichkeit absolut nichts zu tun. Auch die kalte Frau 
will gefallen, und dies vielleicht um so mehr, als sie ihren 
geschlechtlichen Fehler kennt. Die weibliche natürliche Eitel- 
keit drängt auf das Gefallen hin. Selbst die absolut kalte 
Frau, die nie etwas bei ihrem Gatten empfunden hat, würde 
in ihrer Eitelkeit gekränkt sein, wenn ihr Mann sie nicht 
mehr begehrte." 3 ) — 



*) Siehe X. Kapitel: Die Folgen der mangelhaften Geschlechts- 
empfinciung. 

2 ) Margarethe K o s s a c k (1. c.) nennt sie „hungrige Augen". 

3 ) Vergl Rousseau: Confessions (1737—41) : „Nehmet die 
verständigste, gebildetste, am wenigsten sinnliche Frau : das unverzeih- 
lichste Verbrechen . . . ist, ihren Besitz erlangen zu können und keinen 
Gebrauch davon zu machen. Das muß wohl ausnahmslos der Fall sein" 



Digitized by Google 



VIII. Kapitel. 
• 

Hysterie und mangelhaftes (Jeschlechtsempfinden. 



Über Definitionen der Hysterie. Empirische Bilder (Breuer und 
Freud). Die Häufigkeit der allgemeinen Anästhesien überhaupt. Sexuelle 
Anästhesie — eine Teilerscheinung. Die pathogene Wirkung des sexuellen 
Traumas. W.; A. Freunds Parametritis chronica atrophicans als häufigste 
Ursache der Hysterie. Frankenhäusersches Ganglion. Fall XVIII (Eigene 
Beobachtung)« Psychologische Epikrise. Fall XIX (Eigene Beobachtung). 
Die sozialen Schicksalsschläge haben beim Weibe viel eher eine Alteration 
des sexuellen Lebens zur Folge als beim Manne. Fall XX (Straßmann). 
Grande Hysterie. > Epikrise. Vita sexualis der Hysterischen nach Mar- 
garethe Kossack. Die geschlechtliche Unempfindlichkeit der scheinbar 
Sinnlichen. „Hungrige" Augen. Altstimmen. Verzettelungssucht. Hystero-* 
epileptische Krämpfe und Libido. 



Im Juni 1902 hielt W. A. Freund in der Gesellschaft 
für Geburtshilfe und Gynäkologie zu Berlin einen 
von durchaus neuen Gesichtspunkten geleiteten Vortrag: 
„Ober Hysterie". 

Er begann mit einigen geistvollen Erklärungen ver- 
schiedenster Autoren, welche das Wesen der Hysterie in 
Worten wiedergeben sollten — allein er gab diese bisweilen 
zum schweren Philosophenstil ausgearteten Definitionen als 
Beleg und Beweis dafür, wie wenig die seltsame Krankheit 
einer leicht verständlichen und knappen Charakteristik mit 
'Vorteil fähig ist. 

Auch wir wollen das Heer dieser Definitionen nicht ver- 
mtnren. Wir folgen lieber dem Gedankengang Breuers und 
Freuds in ihren musterhaften und geistreichen „Studien 



Digitized by Google 



- 138 - 



über Hysterie" (1895), die nur ein empirisches Bild 
dieser Krankheit gelten lassen, dessen Farben aus dem ge- 
störtem Nervenleben, aus der Welt der Vorstellungen und 
Ideenassoziationen zusammenlaufen. 

Breuer und Freud betrachten die hysterischen 
Syn ptome „als Effekte und Reste der Erregun- 
gen, welche das Nervensystem als Traumen be- 
einflußt haben. Solche Reste bleiben nicht 
übrig, wenn die ursprüngliche Erregung tlurch 
AbreagierenoderDenkarbeitabgeführt worden 
ist." 

Zu den häufigsten hysterischen Symptomen gehören die 
Anästhesien, die empfindungslosen Stellen an um- 
schriebenen Teilen der Körper obe r fläche nicht minder 
wie der inneren Schleimhäute. Der Stich der Nadel wird 
nicht mehr als Schmerz, die Irritation der Nasenschleimhaut 
nicht als ein Kitzel, der Niesen hervorruft, empfunden; die 
Reizung des Rachens bleibt ohne Reaktion und hinterläßt 
kein Gefühl des Würgens. 

Empfindungslosigkeit in irgend einer Zone gehört zu 
den kaum entbehrlichen, charakteristischen Symptomen einer 
Hysterie. IstindiesemZusammenhangenichtauch 
die geschlechtliche Empfindungslosigkeit, die An- 
aesthesia sexualis in irgendwelcher Form, beson- 
ders aber der fehlende Geschlechtstrieb, die 
mangelnde Libido, als hysterisch verdächtig 
und mehr als wahrscheinlich anzunehmen? 

Im I. Kapitel ist bereits der „Sexualität als häufige 
Quelle psychischer Traumen" nach Breuer und 
Freu d Erwähnung geschehen : 

„Angst hatte ich oft als Folge des Grausens 
erkannt, das ein virginales Gemüt befällt, wenn 
sich zuerst die Welt der Sexualität vor ihm 
auf tut." 

Und an anderer Stelle desselben Buches (pag. 216) 
heißt es. 

„Die Neigung zur Abwehr des Sexualen wird 
noch verstärkt dadurch, daß die sinnliche Erre- 
gungbei derjungfrau eine Beimischung von Angst 
hat, die Furcht vordem Ungekannten, Geahnten, 



Digitized by Google 



- 139 - 



was kommen wird, während sie bei dem natür- 
lichen, gesunden jungen Manne ein utivermischt 
aggressiver Trieb ist. Das Mädchen a.hnt im 
Eros die furchtbare Macht, die ihr Schicksal be- 
herrscht und entscheidet und wird durch sie 
geängstigt. Um so größer ist die Neigung, weg- 
zublicken und das Ängstigende aus dem Bewußt- 
sein zu verdränge n." 

„D ieEhebringtneuesexualeTraumen. Esistzu 
wundern, daß die Brautnacht nicht häufiger pathogen wirkt, 
da sie doch leider so oft nicht erotische* Verfuhrung, sondern 
Notzucht zum Inhalt hat. (NB. Diese pathogene Wirkung 
ist tatsächlich mehr als häufig.) Aber freilich sind ja 
auch die Hysterien junger Frauen nicht selten, 
welche daraufzurückzuführen sind, und schwin- 
den, wenn sich im Laufe der Zeit der Sexual- 
genuß eingestelltunddas Trauma verwischthat. 
Auch im weiteren Verlauf vieler Ehen kommen 
sexuale Traumen vor. Jene Krankengeschich- 
ten, von deren Publikation wir absehen mußten, 
enthalten davon eine große Zahl, perverse An- 
forderungen des Mannes, unnatürliche Prak- 
tiken usw. Ich glaube nichtzu übertreiben, wenn 
ich behaupte, die große Mehrzahl der schweren Neurosen 
bei Frauen entstamme dem Ehebett." 

Breuer und Freud haben bei ihren Fällen vorwiegend 
die psychischen Traumen im Auge. Sie denken an eine 
ps>chologischfalscheSexualität,an eine fehler- 
haftc, geistige Erziehung zur Sinnlichkeit von 
Seiten des Mannes. Indem wir an späterer Stelle hierauf 
zurückkommen, mag hier der Kernpunkt der W. A. Freund- 
schen Ansichten wiedergegeben werden, der eine direkt 
pathologisch-anatomische Quelle der Hysterie 
behauptet. 

Diese häufige Quelle ist die von ihm selbst studierte 
und nach ihm benannte Freund sehe Krankheit, die Para- 
metritis chronica atrophicans. 

Die Parametritis ist die Hauptform jener traurigen 
Krankheit, womit die „unterleibskranke Frau" behaftet ist. 
Die Parametritis chronica atrophicans Freunds 



- 140 — 



ist im wesentlichen ein cirrhotischer Schrumpfprozeß des 
Beckenbindegewebes, für welches eine Analogie beim 
Manne nicht besteht. Die Krankheit ist vielfach Folge sexu- 
eller Insulte jeglicher Form (Coitus reservatus, Abort, Ge- 
burt etc.), kann aber nach Freund auch ohne solche Ur- 
sachen schon bei Kindern und jungen Mädchen als fort- 
gcleiteter Prozeß von Erosionen und Geschwüren des" 
Da rmes aus auftreten. 

Die hierdurch bewirkte Verkürzung des sexuellen Band- 
apparates und die Verlagerung der Organe selbst, speziell 
der Blase, der Gebärmutter, der Eierstöcke ist bei jeder 
Alteration mit Schmerzen verbunden. Diese Alteration kann 
bei einfacher Erregung und dadurch vermehrtem Blutzufluß, 
kann bei der Menstruation, kann beim Coitus durch rein 
Mechanisches Prinzip zustande kommen. 

Die hier liegende Quelle der Schmerzen betrachtet 
F r e it n d als einen häufigen Auslösungsakt der Hysterie. 
Er glaubt noch eine weitere pathologische Brücke gefunden 
zu haben in der direkten anatomischen Schädigung und Ver- 
änderung des Frankenhäuserschen Ganglions. 

Es ist ohne weiteres klar, daß ein schmerzhafter Coitus 
nicht geeignet ist, den durch die natürlichen Hemmungen 
bisher noch verhüllten Geschlechtstrieb und die vergrabene 
»Wollustempfindung aus ihrem Dunkel zu erwecken. Nicht 
nur der positive Schmerz allein übt seinen Stachel auf das! 
vorbereitete Nervensystem des Weibes aus und führt es zur 
Hysterie, sondern sicherlich auch der Mangel jeden sexuellen 
Empfindens — eines Empfindens, das vielleicht noch für alle 
anderen Qualen entschädigen und der hysterischen Reaktion 
Widerstand entgegensetzen könnte. 

Man stelle sich ein ahnungsloses Weib vor, dessen erste 
Liebesopfer von Schmerzen begleitet waren, welches durch 
Unverstand und Ungeschicklichkeit des Gatten lange im Zu- 
stande der Duldung gehalten wurde. Sie ist inzwischen Mutter 
geworden und will in dem Seligkeitsgefühl beim Anblick des 
eigenen Kindes sogar die Schmerzen vergessen, die sie um 
seinetwillen ertragen hat. Da meldet sich die häufigste aller 
Unterleibskrankheiten und ohne eine Ahnung vom Gefühle 
der Sinnlichkeit treten neue Qualen und Schmerzen auf, die 



Digitized by Google 



- 141 - 



um so heftiger werden, je stürmischer und begehrlicher das 
Lieben ihres Mannes ist. 

Es ist schwer, sich als Mann in diese Welt von Vor- 
stellungen zu versetzen und zu begreifen, welchen Kampf 
von Gefühlen, Gedanken und Empfindungen ein so beklagens- 
wertes Weib in seiner Seele durchzuringen hat. Liebt sie 
den Mann, so ist der geistige Verbrauch der Kräfte vielleicht 
nicht weniger, als wenn Abneigung den schmerzhaften Zustand 
vermehrt. Kein Wunder, wenn endlich das wunde Nerven- 
system erlahmt und schließlich mit den eigenartigen, viel- 
gestaltigen Symptomen der Hysterie reagiert. 

Wir verzichten auf nähere Krankengeschichten dieser Ma- 
terie, sie sind jedem Arzte geläufig und glücklicherweise ist 
in vielen Fällen durch direkte Behandlung eine Besserung 
möglich. Wir verweisen auf den hier sich einfügenden, früher 
beschriebenen S e e 1 i g m a n n sehen Fall. 

Die spezielle Bedeutung des Frankenhäuserschen 
Ganglions für die Frage der Wollustempfindung liegt vor- 
läufig noch in ihren hypothetischen Anfängen und bedarf der 
weiteren Forschungen. Wenn dieser im Beckenbindegewebe 
gelegene eigene Nervenapparat tatsächlich bei der Geschlechts- 
empfindung mitspricht, so mag es weniger der Geschlechts- 
trieb als solcher, sondern der Höhepunkt des weiblichen 
Empfindens, der Orgasmus sein, der durch ihn alteriert 
werden kann. Besonders käme die pathologische Bedeutung 
desselben für diejenigen Fälle in Betracht, in welchen schon 
Trieb und Empfindung vorhanden war, aber durch die be- 
schriebene Form der Erkrankung in den schmerzhaften Zu- 
stand des Nichts und der Erinnerung zurückversunken ist. 

Eine Bestätigung finden die Freund sehen Ansichten bei : 
S. Frankel: Beiträge zur Diagnose, Aetiojogiö 
und Therapie der sogenannten Parametritis 
posterior chronic a.*) 

Fränkel bestätigt, daß es sich in vielen Fällen überhaupt 
um keine Entzündung, sondern lediglich um einen rein 
primären Schrumpfungsprozeß handelt. Die Haupt- 
ursache seien pathologische Sexualfunktionen. Auch bei 



*) Naturforscher- Versammlung — Salzburg 1909 (Referat i. d. Berl. 
Hill. Woch. 1909, Nr. 42.) 



Digitized by Google 



- 142 — 



intakter Scheide sei der Befund häufig, „so daß mit gleicher 
Sicherheit, wie aus den äußeren Anzeichen (Klitoris und kleine 
Labien) aus diesem Befunde auf Masturbation geschlossen 1 
werden dürfe." Weniger klar erscheint die Beweisführung, 
daß eine „krankhafte Inanspruchnahme der Bänder bei den 
irregulären Coitusbewegungen des Uterus (?) erfolge und 
daß der fehlerhafte Ablauf des Orgasmus aus dem elastisch- 
muskulösen Gewebe ein narbig verkürztes Bindegewebe 
schaffe/' Ähnliches, jedoch nicht so konstant und hochgradig, 
soll auch beim Coitus reservatus stattfinden. — 



Im folgenden mögen einige Fälle in losem Zusammen- 
hange aufgeführt und besprochen werden, deren Trägerinnen 
Hystericae sind. Dieselben haben zur Freund sehen 
Krankheit gar keine oder geringe Beziehungen und sind von 
wesentlich anderen Gesichtspunkten aus zu betrachten. 

Fall XVIII. 

(Eigene Beobachtung.) 

Patientin ist eine jetzt ca. 40 Jahre alte Kaufmannsfrau, die in 
mittleren bürgerlichen Verhältnissen lebt; zeitweise sind die äußeren 
Verhältnisse etwas derangiert gewesen, jedoch hat niemals eine 
wirkliche! Not bestanden. Der Mann kann es jedoch nicht zu einer 
gleichmäßigen, sicheren und zunehmenden Existenz bringen, was 
eine begreifliche Quelle steten Kummers für sie bildet. 

Sie ist seit dem 13. Lebensjahre regelmäßig menstruiert und 
stammt aus gesunder Familie. Mit 23 Jahren hat sie geheiratet 
mit konventioneller Sympathie, jedenfalls ohne jede Abneigung. 
Die Defloratio war leicht, ohne nennenswerte Schmerzen und Blut- 
verlust. Sie behauptet, früher weder sinnliche Unterhaltungen ge- 
führt, noch an ihnen Gefallen gefunden zu haben; Masturbation 
wird durchaus in Abrede gestellt. 

Sie hat im ganzen dreimal geboren, das erste Mal etwa ein 
Jahr nach der Verheiratung. Die Kinder leben sämtlich und sind 
gesund. Sie behauptet, daß sie niemals bis nach der 
Geburt ihres letzten Kindes je eine wollüstige 
Empfindung in coitu gehabt hätte. Dieselbe trat erst 
nach einer ärztlichen Konsultation ein, wo sie ihren Zustand ge- 
legentlich anderweitiger Behandlung zur Sprache brachte. Dies 
war vor ca. 10 Jahren^ als ich der sexuellen Anästhesie noch keine 
besondere Aufmerksamkeit schenkte. Ich glaubte, ihr damals durch 



Digitized by Google 



- 143 - 



Behandlung mit Elektrizität Besserung versprechen zu können. Allein, 
die ganze Frage wurde spater nicht mehr berührt. 

Jetzt erzählt sie auf Befragen, daß sie bald nach jener Kon- 
sultation (also nach einfacher Aussprache, ohne diesbezügliche 
lokal«: Behandlung) Wollustempfindung verspürt hätte. Hierfür sei 
eine richtige Position notwendig und keine allzu schnelle Ejaculatio 
mariti. Allein, ihre Freuden sind nur spärlich. Ihr Gatte ver- 
nachlässigt sie geschlechtlich derart, daß sie monatelang überhaupt 
keinen Verkehr hat. In den letzten Jahren hat seine sexuelle 
Potenz vollkommen aufgehört, ob nur ihr gegenüber oder über- 
haupt, darüber habe ich keine bindenden Mitteilungen von ihm. 
Allein, es scheint mir fast, als ob seine sexuelle Indifferenz in 
diesem Falle nur individuell ist. Die Frau hat auch durch die 
Geburten gelitten, leidet an Ausfluß und an partiellem Vorfall 
der Scheidewände. 

Die Patientin leidet in Intervallen an Angstzuständen. Es ist 
charakteristisch, daß sie in voller Gesundheit ohne jedes ein- 
schlägige Symptom gelegentlich einer Pestepidemie in Indien den 
Arzt in Berlin holen ließ mit der eigentümlichen Beschwerde: 
„Ich habe solche Angst vor der Pest!" 

Solche Angstzustände halten dann mehrere Wochen an und das 
Ende ihrer Beschwerden klingt immer in eine Klage über den 
Mann aus, den sie aufrichtig, liebt, dessen sexueller Indifferentismus 
ihr jedoch nicht minder Sorgen macht als seine minderwertige Er- 
werbsfähigkeit. 

In den letzten Jahren haben sich die Angstzustände mit Schmerzen 
in der Magen- und Lebergegend verbunden. Die Anfälle machen 
den Eindruck von Gallensteinkoliken, allein auch nicht die Spur 
eines Anhaltes ist dafür gegeben, sondern lediglich nervöse Magen-, 
Darm- und Leberkoliken, also eine hysterische Intestinalneurose, 
kommt nach allen Beobachtungen und Behandlungen in Frage. 



Der vorliegende Fall hat zur Hysterie nur so weit Be- 
ziehung, als dieselbe hier auf alle Fälle die Folge des falschen 
und mangelhaften sexuellen Lebens im Verein mit den wirt- 
schaftlichen So#gen ist. Patientin ist der Typus der durch 
ihren Mann vernachlässigten Frau, der für sein sexuelles 
Manko nicht einmal das Äquivalent des vollen Ernährers? 
bieten kann. 

Sehr eigentümlich ist die bis zum dritten Kinde behauptete 
Unempfindlichkeit der Patientin — vorausgesetzt, daß ihre 
Angabe wahr ist! Bei Hysterischen kommen besonders in 
sexuellen Dingen sonderbare Behauptungen vor. Allein ich 
kann die Möglichkeit, ja sogar die hohe Wahrscheinlichkeit 



Digitized by Google 



- 144 — 



dieser Wirkung nicht von der Hand weisen. Die Aus- 
sprache allein, die Möglichkeit des Bekennt- 
nisses und die Mitteilung an eine sachverstän- 
dige Vertrauensperson genügt vollkommen zur 
Alteration und Umstimmung der Psyche. Wissen- 
schaftlich ist diese Wirkung noch ein undefinierbares Ge- 
heimnis, aber Suggestion und verwandte Ausdrücke ähnlichen 
Charakters sind längst in den anerkannten Sprach- und Heil- 
schatz der wissenschaftlichen Medizin übernommen worden. 
Neben der Logik der Schulmedizin läuft noch ein, großer Teil 
Mystik einher, die in der undefinierbaren Macht der Persön- 
lichkeit beruht. Dasselbe Mittel kann aufs der einen Hand 
den Zustand eines Kranken unbeeinflußt lassen, wohl gar 
verschlechtern, aus der andern eine Wunderheilung hervor- 
zaubern. Vorwiegend gilt dies natürlich bei allen psychischen 
und nervösen Leiden. Es ist jedoch nicht abzustreiten, daß 
auch bei pathologisch nachweisbaren Krankheiten die indi- 
viduelle Macht von günstigem Einfluß sein kann. A priori 
jedenfalls ist es nicht von der Hand zu weisen, daß der in- 
dividuell wohltätige Einfluß des Arztes das Vertrauen und 
den Glauben, d. h. also das regulierende Nervensystem! eines 
Kranken derartig stärken kann, daß seine Widerstandskraft 
im Kampf mit der Krankheit noch gehoben und gesteigert wird. 

Im vorliegenden Falle kann die Tatsache des Bekenntnisses 
eine» bisher verschwiegenen anormalen Zustandes allein den 
Weg zur Besserung weisen. Vielleicht war damit die erste 
Hemmung beseitigt und Patientin jetzt überhaupt zum 
ersten Male in der Lage, frei darüber nachzudenken. Sie 
wird dann den Mut gefunden haben, die natürliche Ahnung 
der falschen Positio zu verbe'ssern und somit allmählich in 
ein gesundes Geschlechtsempfinden eingetreten sein. Hier 
ist die Grenze des Erreichbaren. Zur Erhaltung und weiteren 
Pflege ist jetzt selbstverständlich ein „Mann" notwendig. 
Gegen diese fehlende Qualifikation versagen naturgemäß Re- 
zepte, Suggestion und die noch so hohe persönliche Macht 
des Arztes! 



Der nächste Fall XIX gewährt einen vielseitigen Ein- 
blick in das komplizierte geistige Sexualleben einer Hysterica, 



Digitized by Google 



- 145 — 



deren ganze Empfindungsweit durch die mangelhafte Sexualität 
mannigfach beeinflußt ist. 

Fall XIX. 

(Eigene Beobachtung.) 

Die 37jährige Patientin ' befindet sieh wegen Scheiden- und 
Cer\ ixkatarrhes in Behandlung. Während derselben werden ihr 
langsam, ganz allmählich und nach und nach die Angaben über 
ihr sexuelles Leben abgerungen. 

Sie stammt aus gesunder Familie. Die Mutter leidet, wie sie 
selbst, an Migräne. Erste Menses mit 12 Jahren, ziemlich regel- 
mäßig und schmerzhaft. Mit 16 Jahren verlobte sie sich mit 
einem 10 Jahre älteren Fabrikdirektor. Nach etwa l 1 /«jährigem 
Bestehen des Verlöbnisses wurde dasselbe aus äußeren Familien- 
verhältnissen — ohne direkten. Bruch mit dem Verlobten — 
aufgehoben. Sic gibt an, daß sie dem Bräutigam zwar sympathisch 
zugetan war, daß jedoch der Abbruch der Beziehungen nicht den 
lebenserschütternden Eindruck auf sie gemacht hätte, den häufig 
derartige Konflikte in der Seele eines Mädchens zur Folge haben. 

Zur Erleichterung des Schlages wurde sie in eine kleine Stadt 
einer landschaftlich schönen Gegend geschickt, wo sie ca. V 4 Jahre 
im. Kreise gleichaltriger Mädchen die Wirtschaft erlernte. In dieser 
Zeit blieben die Menses 3 /* Jahre aus, sie selbst wurde zusehends 
stärker in der Figur. 

Sie will niemals bis dahin irgendein sexuelles Gefühl gehabt 
haben. Bei Unterhaltungen der Freundinnen über diese Themata 
zog sie sich zurück, von einem Mädchen hielt sie sich dauernd 
fern, weil sie erfahren hatte, daß dasselbe masturbierte. Jedes 
sexuelle Gespräch war ihr widerlich und unangenehm. 

Im Alter von 25 Jahren verlobte sie sich aufs neue. In- 
zwischen hatten sich die pekuniären Verhältnisse der Eltern ver- 
schlechtert und sie war gezwungen, eine Stellung in einem Geschäfte 
einzunehmen. In diesem interessierten sich zu gleicher Zeit zwei 
Angestellte für sie. Derjenige, dem sie den Vorzug gab, schien 
jedoch; nicht ernste Absichten zu haben. Sie hatte für denselben 
ein sichtliches Interesse, weil er ihrer Vorstellung von Männlichkeit 
mehr entsprach. Er war groß und dunkel, und diese Qualitäten 
setzten sich bei ihr um so fester, als auch ihr erster Bräutigam 
groß und dunkel gewesen war. 

Der andere Verehrer dagegen war klein und blond. Sein 
Äußeres, welches durchaus entgegengesetzt ihrem Ideal war, wider- 
sprach demgemäß zugleich mit seinem weichen und nachgiebigen 
Wesen ihrer Vorstellung eines zu liebenden Mannes. 

Allein seine Aufmerksamkeiten und Bemühungen waren so treu 
und ehrlich, daß sie schließlich seinen Antrag, zugleich auch mit 
Rücksicht auf die Familienverhältnisse, die ihre eigene Versorgung 
wünschenswert machten, entsprach. 

Adler, Geschlechtsempfindung. 3. Aufl. 10 



Digitized by Google 



- 146 — 



Die» Form ihrer Zusage ist charakteristisch. Als endlich für 
den Mann sich Gelegenheit fand, seine offenen Absichten ihr gegen- 
über auszusprechen, antwortete sie ablehnend mit dem Hinweis auf 
jenen anderen, der sich gleichfalls um sie bemühte. In diesem 
Augenblick füllten sich die Augen des Antragstellers mit Tränen, 
und ei erschien in den ihrigen so sehr als das Bild des zerknirschten, 
niedergeschlagenen und enttäuschten Liebhabers, daß sie von Mit- 
leid gerührt wurde und ihm am nächsten Tage ihr Jawort gab. 

Es war ein Verlöbnis aus Mitleid, zwar ohne Abneigung, aber 
ohne die zwingende Kraft liebender Sympathie. 

Sie hat dann diesen Mann nach 2 Jahren im Alter von 27 Jahren 
geheiratet. Bei den ersten Malen des ehelichen Zusammenseins 
hatte sie Schmerzen, die sich jedoch bald verloren. Sie wurde 
schnell gravida und hatte eine schwere Geburt. Zange, Dammriß 
und» Naht. Die Geburt des zweiten Kindes war leicht. 

Seit der Niederkunft traten ihre Menses ca. alle 3— 3 l / 2 Wochen 
ein, dauerten etwa 8 Tage, meist mit einer Pause von 3 Tagen 
während derselben. Sie verliert auch bisweilen Stückenblut. Sie 
leidet an häufigen migräneartigen Kopfschmerzen, besonders am 
Hinterkopf, die unabhängig von ihrer Periode sind. Außerdem 
wird sie bisweilen von Schwindel befallen, besonders auf offener 
Straße, eine Art Platzangst. Bisweilen sind Rückenschmerzen vor- 
handen. Sic will nie bis zum heutigen Tage die Spur 
einer Empfindung in coitu gehabt haben trotz nun- 
mehr lOjähriger Ehe und zweimaliger Geburt. Ihr 
Verhältnis zu ihrem Gatten ist ein gutes, er liebt sie innig und „tut 
ihr alles zu Gefallen". Allein gerade das „imponiert ihr nicht". 
Sie wünsche von ihm etwas mehr Energie. „Er ist sonst gegen 
anuea energisch, nur gegen mich nicht". Seine Ejaculatio ist meist 
1 überaus schnell. Sie ist froh, „wenn ihr Mann sie zufrieden läßt". 

Die Patientin ist eine stattliche, gut gebaute, kräftige Frau. 
Ihr Leib ist etwas stark (Tympan-ie), sie leidet viel an Flatus. 
Die Haut zeigt am Hals und an den Oberschenkeln bräunliche 
Verfärbung mit größeren, weißen Inseln darinnen (Leukoderma). 
Auch der Vorderarm ist bräunlich (wie schmutzig aussehend). In 
der linken Mamma befindet sich ein walnußgroßer, harter ver- 
schieblicher/ Tumor, der bisweilen etwas Schmerzen macht. Die 
längere Beobachtung deutet auf ein Lipom, das vorläufig keine 
Veranlassung zu zu chirurgischem Einschreiten bietet. Sie gibt an, 
öfter an Herzklopfen zu leiden. 

Am Damm ist die deutliche Geburtsnarbe sichtbar. Es besteht 
ein leichter Prolaps der vorderen und hinteren Scheidewand, die 
beim Pressen noch mehr hervortreten. Der Uterus liegt nach 
hinten, beim Anheben entstehen einige seitliche Schmerzen. Das 
Orificium ist groß. Erosio. Cervixkatarrh. 

Auch in coitu treten ähnliche Schmerzen bei tieferer und 
hastigen Introductio ein, wie durch das Anheben bei der bimanuellen 
Untersuchung. 



Digitized by Google 



- 147 - 

# 

Die Patientin hat zwei unempfindliche (anästhetische) Zonen an 
der rechten Hand und am rechten Oberschenkel. Die Stiche der 
Nadel! empfindet sie daselbst fast gar nicht als Schmerz. Außerdem 
leidet sie an. häufiger, plötzlich auftretender Heiserkeit. Eine solche 
stellt sich jedesmal in der Sprechstunde bei der ärztlichen Unter- 
suchung ein und verliert sich von selbst wieder nach kurzer Zeit. 

Die Patientin war bereits einige Wochen in Behandlung und 
slets hatte sie jegliche Empfindung in coitu geleugnet, 
hatte auch jegliche Masturbation bestritten. 

Bei Abtastung der Vulva, speziell der KÜtorisgegend, gelegentlich 
der Ätzungen für die Portioerosionen bemerkte ich plötzlich an ihr 
Bewegungen und einen Ausdruck des Gesichtes, die beide auf 
wollüstige Empfindungen schließen ließen. Auf meine eindringliche 
Frage gab sie endlich die verschämte Antwort, daß sie eine volle, 
sinnliche Empfindung gehabt habe. 

„Sie fühlen also doch etwas und haben mir bisher immer das 
Gegenteil versichert?" 

„Ach Gott, Herr Doktor, Sie bekommen doch alles aus mir 
heraus! Ja! Ein ähnliches Gefühl habe ich auch einige Male bei 
meinemi Manne gehabt, bald nach der Geburt meines zweiten 
Kindes." 

„Und es hat sich nicht öfter wiederholt? Und weshalb nicht?" 

„Ich glaube erstens die Schnelligkeit meines Mannes ist daran 
Schuld. Dann aber ist mein steter Gedanke beim ehelichen Ver- 
kehr die Furcht vor einer neuen Empfängnis. Und drittens (das 
letzte habe ich nur langsam und zwangsweise aus ihr herausgeholt) 
muß ich die Vorstellung an einen großen und dunklen Mann dabei 
haben. Aber mein Mann ist so gut zu mir und ich verzichte auf 
diesen geistigen Ehebruch und empfinde lieber nichts." 

Die Patientin, deren Behandlung ich schnell zu Ende führte, 
da eine gelegentliche Bemerkung von ihr vermuten ließ, daß sich 
ein subjektives und persönliches Moment in die Objektivität der 
ärztlichen Behandlung einzudrängen imstande wäre, machte mir 
nicht etwa den Eindruck einer gefallsüchtigen, eroberungslustigen 
Dame, welche im Konsultationszimmer des Arztes auf Abenteuer 
ausging. Ihre, wenn auch nach den Schilderungen eingeschränkte 
und nicht volle Liebe zu ihrem Manne, ihre Liebe zu den Kindern 
war sicher eine offene und ehrliche. Allein sie fühlte sich doch 
ihren ganzen Neigungen und ihrem Naturell zuwider in eine etwas 
enge, philiströse Welt gebannt, in welcher die allzu gutherzige Sorg- 
samkeit ihresi Gatten kein Äquivalent bot. Sie ist nicht putz- 
süchtig, hat auch kein ausgesprochenes' Verlangen, im großen Stile 
zu* leben. Allein sie hat künstlerische Neigungen, speziell für 
Musik und Theater und hierin findet sie bei ihrem sonst so zärt- 
lichen Gatten keine geistige Erwiderung. 

Ich weiß nicht, in wie weit ihre Angaben richtig sind und ob 
sie mir nicht doch manches verschwiegen hat. Obgleich sie sicher- 
lich eine gutartige Hysterica ist, hat doch die Wahrheit ihrer Mit- 

10» 



Digitized by Google 



- 148 — 



teilungen Bedenken, zumal ein persönliches Moment nach ihren 
Andeutungen nicht ausgeschlossen erscheint. Jedenfalls geben die 
gemachten Angaben eine hinreichende Erklärung ihrer mangelhaften 
Oeschlechtsempfindung aus psychologischen Gründen nicht minder 
wie aus mechanischen. 



Dei* vorliegende Fall vereingt eine ganze Reihe von. Vari- 
anten auf dem Gebiete der mangelhaften Geschlechtsempfin- 
dung. Die Patientin ist von Natur keine sinnlich veranlagte 
'Natur, die mit den natürlichen, durch keine angekränkelte 
Phantasie beirrten Hemmungen in den ehelichen Geschlechts- 
verkehr tritt. In dieser Voraussetzung wäre es nicht wunder- 
bar, wenn anfangs noch keine Empfindung aufgetreten wäre, 
zuma! die Gravidität bald erfolgte. Die erste Geburt war 
schwer, und die Komplikationen der operativen Eingriffe 
waren nicht gerade geeignet, die schlummernde Leidenschaft 
zu schüren. 

Vermutlich stammen aus dieser Zeit auch die noch jetzt 
nachweisbaren Folgen der Parametritis. Der objektiv bimanu- 
elle Befund beweist das Hand in Hand mit der subjektiven 
Bestätigung des schmerzhaften Geschlechtsverkehrs. Hier be- 
ginnt die pathologische Grundlage ihrer Hysterie im Sinne 
der W. A. Freund sehen Darstellungen. 

Allein ich halte diese Ursache zwar für unterstützend, 
das psychologische Moment ihres Ideals, ihrer eingewurzelten 
Vorstellung vom „großen und dunklen" Mann jedoch für 
viel bedeutsamer — wenigstens für ihre Geschlechtsem- 
pfindung. 

Sie hat schließlich die natürlichen Hemmungen von 
Geburt, Wochenbett und Krankheit überwunden und sogar 
einige Male eine volle Empfindung gehabt. Allein ihre Vor- 
stellungswelt ist nun einmal auf ihre erste Liebe konzentriert, 
Und diese Gedanken haben durch den parametritischen 
Zuzug von Hysterie nichts an Vollkraft verloren, sondern 
vielleicht gewonnen. 

Obgleich sie ihrem jetzigen Manne sicherlich nichts vor- 
! zuwerfen hat und seine Güte und Sorgsamkeit für ihre Person 
i bei jeder Veranlassung sieht, fühlt und anerkennt, betrachtet 
sie sich doch als ein Opfer des Schicksals und äußerer Ver- 



Digitized by Google 



- 149 - 

hältnisse. Sie hat keinen ihren Neigungen und wohl auch 
Fähigkeilen entsprechenden Wirkungskreis, und wenn sie 
vielleicht auch darauf im Laufe der Zeit zu verzichten ge- I 
lernt hätte, so würde sie die Einsamkeit ihrer Regungen, / 
ihrer Gefühle, ihrer Weltanschauung stets bei ihrem Manne/ 
empfinden. Da sie ihm offenbar an Willenskraft und In- 
telligenz überlegen ist, entbehrt sie bei ihrer Charakteranlage 
gerade denjenigen Stachel und Reiz, der die geistige und sinn- 
liche Liebe eines solchen Weibes weckt und erhält, die über-1 
legene, herrschende Kraft des Mannes. Seine Güte 
empfindet sie nicht als Wohltat und Liebe, sondern als 
Schwäche, das Mitleid vom Tage der Verlobung hat eine 
gleiche Färbung während der Ehe behalten und ist nicht,] 
wie sonst bisweilen im Leben zu beobachten, in wahre seeli- 
sche Liebe und Herzensgemeinschaft übergegangen. 

Der Momente sind genügend im vorliegenden Falle. Fügen 
wir noch die Heftigkeit der männlichen Liebe — die Ejaculatio 
praecox — als mechanisches Moment hinzu, so enthält' 
diese Krankengeschichte eine Sammlung verschiedenster Ur- 
sachen, deron jede eir»zel;»e» allein imstande wäro, volle Scxual- 
Anästhesie zu bewirken. Bei unserer Patientin ist dies wicht 
einmal der Fall, und es ist demnach anzunehmen, daß sie 
in anderen Händen und unter anderen Verhältnissen sicherlich 
einer höheren Sinnlichkeit gewonnen worden wäre. 

Die Schicksalsmacht der sozialen Verhält- 
nisse zeigt eine zwiefache, anders gcarteteWir- 
kung beim Mann und beim Weibe. Der Mann kann 
in Anlage, Geist und Mut die Anwartschaft auf einen Herrscher- 
sessel der Macht oder des Geistes haben, und dennoch ver- 
kümmert sein Leben im gleichmäßigen Tritt der durchschnitt- 
lichen Alltäglichkeit. Das Schicksal im Leben des Mannes 
raubt ihm Ehre, Ruhm, Erwerb, Erfolge, das Schicksal des; 
Weibes zerreißt und zertritt seine — Liebe. 

Der dritte hysterische Fall (XX) hat eine etwas umfang- 
reiche Krankengeschichte. Dieselbe stammt von PaulStraß- 
mann, der die Patientin in der Gesellschaft für Ge- 
burtshilfe und Gynäkologie zu Berlin gelegentlich 
der Diskussion über den W. A. Freund sehen Vortrag vor- 
stellte. Es handelt sich um eine ausgesprochene Form 
großer Hysterie, in welcher die sexuelle Empfindungs- 



Digitized by Google 



- 150 - 



losigkeit eine bedeutsame Rolle spielt. Wir geben den Fall 
im wesentlichen im Wortlaut der Straß mann sehen Demon- 
stration wieder und beschränken uns auf einige unerhebliche 
Kürzungen. 

Fall XX. 

(Straßmanns Beobachtung.) 
Demonstration in der Gesellschaft für Geburtshilfe und Gynäkologie. 28. Juni 1902. 

Grande Hysterie. 

„Die vorgestellte Hysterica zeigt nicht das Bild der Parametritis 
atrophicans Freund, aber neben Hyperämie des Uterus eine große 
Schmerzhaftigkeit des hinteren Scheidengewölbes, heute besonders 
der rechten Sacrouterinfalte, auf die ich in der Diskussion später 
eingehen darf. Ich zeige die Patientin hier im wachen Zustande, 
werde sie alsdann im Nebenzimmer in hypnotischen Schlaf versetzen 
und sie dann in diesem Zustande mit seinen Symptomen der Willen- 
losigkeit und Katalepsie wieder hier demonstrieren. 

Die Patientin ist seit fast 2 Jahren in meiner Behandlung und 
vielfach beobachtet worden. Ich will gleich bemerken, daß ich 
diese, suggestive Methode natürlich nur dazu angewandt habe, um 
sie von ihren für die Kranke wie für die Umgebung gleich be- 
deutungsvollen Beschwerden zu befreien. Dies ist bis zu einem 
gewissen Grade auch gelungen. Die Kranke zeigt gesteigerte 
# Sehnenreflexe. Bei Weckung des Patellarreflexes gerät unter Um- 
ständen der ganze Körper, die Arme, selbst der Schädel in Zuckungen 
(Demonstration). Sie hat dann eine krankhafte Veränderung der 
Empfindlichkeit, teilweise Anästhesie wechselnd mit Hyper- - 
ästhesie am Rumpf sowohl wie an den Gliedmaßen. Hysterogene 
Zonen bestehen in der Ovarial- und der Magengegend. Besonders 
auffallend ist es, wie wenig sie auf große Reize reagiert. Mit 
dieser sterilen Stecknadel kann man bis zum Knopf in das Fleisch 
des Oberschenkels stechen, ohne daß darauf irgend eine Reaktion 
erfolgt. Wenn ich aber kleine Reize in Form leiser Berührungen 
mit 4er Spitze summiere — bekanntlich ein Stigma der Hysterie — 
dann werden Sic sehen, daß eine Reaktion in Form eines lebhaften 
allgemeinen Zusammenzuckens eintritt (Demonstration). 

Im Gesicht, das jetzt krampfhaft verdeckt gehalten wird, bemerkt 
man. was die Engländer als decoloration of eye-lids bezeichnen : 
die braunen Ringe unter den Augen treten bei ihr ganz besonders 
hervor. 

Weiterhin ist auf die herabgesetzten Schleimhautreflexe auf- 
merksam zu machen. Man kann mit dem Finger auf den Bulbus, 
selbst auf die Cornea fassen: eine gewisse Reaktion tritt wohl bei 
der Berührung ein, aber diese ist so unbedeutend, wie es bei 
Menschen mit ganz gesundem Nervensystem nie der Fall wäre. 

Der Gaumen ist absolut unempfindlich (Demonstration mit der 
Sonde). Ebenso ist die Nasenschleimhaut ganz unempfindlich. 



Digitized by Google 



- 15t - 



Ich möchte nun bitten, daß einige Herren dabei sind, wenn ich 
die Patientin im Nebenraum hypnotisiere; in Gegenwart einer zu 
großen Gesellschaft kann das nicht gut geschehen." 

Der Vortragende geleitet die Kranke in den Nebenraum; mehrere 
Mitglieder der Gesellschaft folgen ihm dorthin. Hypnose durch 
festes Anfassen der Oberarme und Fixicrenlassen des Zeigefingers, 
unmittelbar zuvor ein hysterischer Anfall (Zucken, Schreien, Zähne- 
knirschen). 

„Dit Patientin ist jetzt in Hypnose geraten und schläft hier 
ruhig weiter, während sie sich vorher heftig gegen die Vorstellung 
wehrte. Der Unterschied in Haltung und Gesichtsausdruck ist gewiß 
auch klinisch für die Herren interessant." 

Der Patientin wird suggeriert, daß' sie nichts von dem merken 
wird, was sonst um sie herum geschieht, kein Kopfweh haben wird, 
nachher mit Appetit essen und gut schlafen wird. 

Demonstration kataleptischer Stellungen auf dem Untersuchungs- 
sofa, auf Befehl Steifheit und Erschlaffung der befohlenen Stel- 
lungen. Auf Befehl steht Patientin auf und führt die gegebenen 
Befehle aus. Die Bewegungen geschehen etwas träge, wie im 
Schlafe. Z B. „steigen Sie jetzt hier die vier Stufen herauf!" (die 
Patientin macht einmal die Bewegung, als wenn sie eine Stufe, die 
tatsächlich nicht vorhanden ist, he rauf schritte). — „Jetzt geht es 
drei Stufen herunter!" (die Patientin steigt wie vorher drei Stufen 
abwärts zurück); oder „setzen Sie sich Ihren Hut auf! Hier ist 
Ihr Hut!" (die Patientin nimmt das ihr dargereichte Taschentuch 
und setzt es nach Art eines Damenhutes auf den Kopf). Allen 
Befehlen wird langsam willenlos nachgekommen. — 

„Auch vasomatorische Phänomene lassen sich gelegentlich bei ihr 
hervorrufen. Z. B. wird ein Spekulum als Schröpfkopf gegen Kreuz- 
schmerzen benutzt und ruft vorübergehende Rötung und Empfind- 
lichkeit der berührten Stellen hervor. 

Wir werden nun die Patientin in den Zustand des Opisthotonus 
versetzen, in welchem der Körper nur mit Fersen und Hinterhaupt 
auf den Kanten zweier Stühle ruht und diese im Bogen überwölbt. 

(Die Patientin wird in die bekannte Stellung eines Brückenbogens 
gebracht, in der sie länger« Zeit starr verbleibt.) 

Es sind ja dieselben Sachen, die öffentlich vorgeführt werden, 
wobei der betreffende Hypnotiseur sich dann womöglich noch selbst 
auf die Mitte des frei ausgestreckten Körpers stellt, um die Starr- 
heit der Spannung zu zeigen. Auch hier ist ein ziemlich kräftiger 
Druck mit flacher Hand auf das Abdomen nicht imstande, den 
Opisthotonus zu überwinden. 

Nach vergeblicher lokaler Behandlung (Tampons, Scarifikation etc.) 
und wenig wirkungsvollen allgemeinen Verordnungen haben wir die 
verschiedenen Algien durch hypnotische Suggestion gebessert und 
haben auch etwas auf diejenigen Ursachen eingewirkt, die bei ihr 
wohl die Hysterie mitbedingt haben, nämlich das eheliche Miß- 
verhältnis. Ihr Mann ist zwar sehr gut zu ihr; 



Digitized by Google 



- 152 — 



aber sie hat ihn gewissermaßen unter einem 
Zwange äußerer Verhältnisse geheiratet und die 
Abneigung gegen den Mann und seine Annäherung 
offen gezeigt. Eines Tages hat ihr Mann sich hinreißen lassen 
und gesagt, daß die 4 Kinder, die sie haben, wohl nicht von 
ihm wären, da sie niemals irgend eine Empfindung 
ihm gegenüber geäußert habe. Damals brach bei ihr 
der erste große hysterische Anfall aus. Sie sprach ein Jahr lang nicht 
mit ihrem Manne, Weinkrämpfe, Anfälle scheinbarer Bewußtlosig- 
keit Mit Zähneknirschen folgten, jede Annäherung wurde ver- 
weigert. Alles dieses ist jetzt allmählich gebessert — ich besitze 
darüber verschiedene Briefe des Ehemannes — Kohabitationdn 
werden seitens der Frau ohne Voluptas und Libido 
geduldet. Ich will bemerken, daß von Masturbation hier 
nichtdie Rede ist, wiedie Patientin allen sexuellen 
Dingen durchaus abgeneigt ist. 

Die Patientin führt — wie Sie gesehen haben — alle Befehle 
aus, das einzige, worin man auch in der Hypnose bei ihr auf 
einigen Widerstand stößt, ist, wenn man auf das geschilderte 
eheliche Verhältnis einwirken will, z. B. daß es der Kindererziehung 
wegen wichtig sei, dem Manne gegenüber sich wieder geneigt zu 
zeigen. Auch posthypnotische Suggestion gelingt bei ihr, indem 
sie die ihr erteilten Aufträge später in wachem Zustande zur Aus- 
führung bringt. 

So hat sie niederschreiben müssen: „Ich will gehorchen" u. a. 
mehr. (Suggestion, daß sie nach dem Erwachen ein Hand- 
tuch aus der Nebenstube auf den Tisch im Sitzungssaale bringt! 
Wiederholung, daß sie keine Beschwerden haben wird!) 

Sie werden bemerken, daß! ihr Benehmen das einer Schlafenden 
ist. Beim Erwachen, das jetzt durch Anblasen erzielt wird, reibt 
sie sich die Augen wie eine Schlaftrunkene. Der Schlafzustand 
kann sonst beliebig lange erhalten werden (bis zu 1 Stunde ver- 
suchsweise !) 

(Die Patientin, welche zuletzt regungslos gelegen, beginnt lang- 
sam sich zu bewegen, seufzt, erwacht allmählich und verläßt den 
Saal.) — 

Ich darf vielleicht zu diesem Fall noch einige Bemerkungen 
machen. Es handelt sich um eine 38jährige Inspektorsfrau, die 
5mal schwanger war, nicht genährt hat. 4 Kinder leben und 
werden mit großer Liebe von der Mutter aufgezogen. Ein Abort 
vor l 1 /«, Jahren. Sie war in ihrer Kindheit ganz gesund. Es ist 
keinel nervöse Belastung nachweisbar, der Vater starb an Schwind- 
sucht. In ihrem 13. Jahre hat sie ein größeres Trauma erlitten: 
sie brach durchs Eis und war ein halbes Jahr krank. Auf 
Empfehlung des ersten Schullehrers war sie auf eine höhere Töchter- 
schule gekommen, so daß also eine gewisse Intelligenz vorauszusetzen 
ist; wegen der eben genannten Erkrankung mußte sie aber diesen 
Schulunterricht aufgeben. Sic verlor ihren Vater früh, mußte sich 



Digitized by Google 



- 153 - 



jung ihr Brot als Näherin selbst verdienen und hat sich wohl 
ziemlich hart plagen müssen. Sie hat dann auf Zureden 
gegen ihre Neigung den Mann geheiratet, der nur 
den Fehler hat, daß er vielleicht zu gut zu seiner Frau ist. Die 
ersten hysterischen Anfälle stellten sich ein, als, wie erwähnt, ein 
sozusagen psychisches Trauma eingetreten war, indem ihr 
Mann ihr den erwähnten Vorwurf machte. Ihre Beschwerden sind 
— neben der. psychischen Momenten — die verschiedenen „Algien" 
(Kreuz, Magen, Kopf). Sie hat jetzt noch Schmerzen über dem 
hinteren Scheidengewölbe, zumal in der rechten Sacrouterinfalte, 
die aber nicht verkürzt ist. Jede lokale Behandlung ist zurzeit 
ausgesetzt. Sic hat augenblicklich eine Periode der Amenorrhoe 
(4 Monate), ohne daß ein bestimmter Grund dafür nachweisbar ist. 
Der Uterus ist nicht mehr vergrößert wie bei chronischer Metritis 
und jedenfalls nicht längere Zeit schwanger. 

Ich möchte hervorheben, daß mir diese Schmerzen hier doch 
nicht als ein besonderes Krankheitsbild erscheinen, 
sondern daß ich sie mehr als eine Art hysterogener Zone 
ansprechen möchte. Das allgemeine Befinden der Patientin hat 
sieht sehr gebessert: Schreikrämpfe und Zähneknirschen, wie vorhin 
(im Nebenzimmer), sind lange nicht dagewesen und mögen durch 
die/ Aufregung bei der heutigen Sitzung und durch die heute voll- 
ständig unterlassene Nahrungsaufnahme bedingt worden sein. 

Sfe macht gelegentlich noch echt hysterische Streiche, schreibt 
ihrem Mann Abschiedsbriefe, kehrt aber wieder zu ihm zurück usw. 
D^e Qemütsstimmung ist meist deprimiert, jedoch bisweilen heiter. 
Ihre: Ehe ist, von ihrer Seite aus betrachtet, eine 
unglückliche, indem sie glaubt, unverstanden zu 
sein und nicht das gefunden zu haben, was sie 
erwartete. Hierin dürfte die Grundlage der hysterischen Ver- 
änderungen, in dem genannten „psychischen Trauma" die Ursache 
zum Ausbruch der schweren Anfälle zu suchen sein. 

Ich wollte mir nur gestatten, Sie noch darauf aufmerksam zu 
machen, daß die Patientin unterdessen das Handtuch hereingebracht 
und dort auf den Tisch gelegt hat." 



Die epikritische Nachlese für diesen an den mannigfach- 
sten Krankhaftigkeiten reichen Fall beschränkt sich für uns 
auf die Psychologie der totalen sexuellen Unempfindlichkeit, 
welche hier in absoluter Reinheit ohne jegliche Spur einer 
erotischen Färbung vorhanden ist. 

Die Anaesthesia sexualis ist auch hier nur eine 
T e i i erscheinung. Anästhesie besteht bei der Patientin auf 
ihrer hysterischen Basis, an der Nasenschleimhaut, dem 



Digitized by Google 



- 154 - 



Gaumen, den Schenkeln. Die Unempfindlichkeit dieser Or- 
gane gegenüber den feineren und gröberen Reizen, wie der 
tiefe Stiel* der Nadel, erscheint mir fast als eine stärkere und 
tiefgreifendere Störung als die Unempfindlichkeit des sexuellen 
Apparates, der beim weiblichen Geschlechte einer so ganz 
eigenen Beachtung bedarf. 

Die sexuelle Anästhesie ist hier mit Sicherheit eine Folge 
der Schicksalsschläge, welche auf dieses empfängliche Gemüt 
eingewirkt haben. Von Hause aus ohne nennenstwerte Sinn- 
lichkeit ist sie unter dem Drucke äußerer Verhältnisse, jeden- 
falls nichi aus eigener freier Wahl in die Ehe getreten. Worin 
die Abneigung gegen ihren Gatten besteht, ist leider psycho- 
logisch nicht detailliert. Möglicherweise würden sich hierbei 
noch wichtige und interessante Einzelheiten ergeben. Allein 
die Tatsache des nicht freigewählten Mannes ist für 
ein derartig sensibles Nervensystem vollkommen aus- 
reichend, die angeborene „Hcmraun g" im weiblichen 
Sexualtrieb und -empfinden dauernd zu behalten. Vorbereitet 
war ihr Nervensystem längst durch jene dem Unfall auf dem 
Eise folgende Krankheit (welche vermutlich schon eine nervöse 
war), vorbereitet war es ferner durch die sozialen Verhältnisse, 
die ihre begonnene Bildung fortzusetzen nicht erlaubten und 
ihr den mühsameren Beruf einer Nähterin aufzwangen. 

Sie betrachtet sich als ein Opfer des Schicksals und muß 
es sich noch mehr betrachten in dem Augenblicke, wo sie 
ihre weibliche Individualität an einen nicht freigewählten Mann 
hingibt. Das ist der Kernpunkt im Kampfe eines weiblichen 
ringender Gemütes. Anstatt durch die Logik besiegt zu werden, 
daß sie einen fürsorglichen Gatten besitzt, der ihr schweres 
Los materiell erleichtert hat und dessen aufrichtiges Streben 
es ist, ihr durch Güte den Leben&pfad zu erleichtern, be- 
hält der Gedanke die Oberhand, daß sie nach allen entmutigen- 
den Erfahrungen, die vielleicht noch in besonderem Gegensatz 
zu einer angeborenen Sehnsucht sich im Leben zu erheben 
steht, schließlich auch noch gezwungen war, nicht nach freier 
Neigung den letzten Rest eigenster weiblicher Individualität 
zu vergeben. 

Es is* eine neue Illustration des beim vorigen Falle be- 
haupteten Unterschiedes der Schicksalsmacht und Gebunden- 
heit, die im Leben des Weibes demselben die Liebe kostet. 



Digitized by Google 



- 155 - 

Vielleicht hätte sich auch bei dieser Patientin noch im 
Laufe der Jahre ein Ausgleich ihres geschlechtlichen Fühlens 
finden lassen. Wenn sie dauernd die Fürsorglichkeit ihres 
Mannes beobachtet hätte, wäre bei einer passenden Gelegenheit 
vielleicht doch das Glück eingezogen. Da kam die Katastrophe! 
Die Bemerkung des Ehemannes, die zu all ihrem Dulden den 
Vorwurf der Untreue hinzufügt, begrub nicht nur jede Ffoff- 
nung, sondern machte sie zur wirklich Kranken. 

Man stelle sich ein weibliches Gemüt vor, das jahrelang 
das eheliche Leben als Zwang empfunden hat, das trotzdem 
seinen Pflichten wie ein Opferlamm nachgekommen ist und 
lunter doppelten Schmerzen seinen Kindern das Leben ge- 
geben hat. 

In diesem ewigen Kampfe ist sie wenigstens eine „an- 
ständige Frau" geblieben und hat jeden unreinen Gedanken 
von sich gewiesen. Im Kampf gegen das Geschick und trotz 
ehelichen Entbehrens wird ihr nun für alle Qualen der 
schwerste Vorwurf entgegengeschleudert. Das ist zu viel für 
ein gesundes, wie viel mehr noch für ein krankes, gehetztes 
Nervensystem! 

Die Sensibilität des Weibes, die so unendlich variabler 
und andersgeartet als diejenige des Mannes ist, muß natur- 
gemäß in der sexuellen Sphäre am meisten in die Erscheinung 
treten. Es sind Fälle bekannt und jedem einzelnen Beobachter 
geläufig, daß eine einzige rohe, vielleicht nur 
taktlose Behandlung von seiten des Mannes 
das Liebesleben einer Frau dauernd ertötet hat. 
Sie kann eine schon gewonnene Sinnlichkeit wieder verlieren, 
wenn die gewalttätige Hand des Gatten sie imi Zorne berührt 
hat, sie kann in den Zustand der Empfindungslosigkeit 
zurückversinken, wenn ihr ein Tadel entgegengeschleudert 
wird, der ihre weibliche Ehre verletzt. Um wie vieles mehr 
wirken solche Anlässe bei noch nicht geweckter Sinnlichkeit 
■und überhaupt auf dem Boden eines besonders empfindlichen, 
krankhaften Frauengemüts. 

Eine absolut angeborene geschlechtliche 
Unempfindlichkeit gibt es meiner Meinung 
nach beim Weibe überhaupt nicht. Wenn nicht 
mechanische Unzulänglichkeiten vorliegen, läßt sich fast stets 
der geistige Hemmungsgrund herausfinden. 



Digitized by Google 



156 - 



Die absolute Erregbarkeit, jenes Vorstadium, welches wir mit 
dem männlichen Erektionsstadium vergleichen können, mag 
bisweilen größerer Reize bedürfen, als der jeweilige Ehemann 
gerade besitzt. Jedoch die Natur kann kein ab- 
solutes Nichts — wenigstens nicht so häufig — an den 
Ort der höchsten Empfindung gesetzt haben. 
Auch hier könnte noch Heilung eintreten. Allein unsere 
sozialen Einrichtungen, die Heiligkeit der Familie und des 
Ehelebens würden in ihren Grundpfeilern erschüttert werden, 
wenn diese Form sexueller Anomalie mit dem einzigen Heil- 
mittel behandelt werden würde, welches zu neuer Hoffnung 
und neuem Leben berechtigt, mit Trennung und Scheidung 
vom Alten und Aufsuchen einer neuen Individualität. Oft 
genug vollzieht sich allerdings eine derartige Heilung heimlich 
hinter den übertünchten Kulissen des gesellschaftlichen Lebens! 

Einige neue, recht bemerkenswerte Beobachtungen zur 
Vita sexualis der Hysterischen gibt Margarethe 
Kossack*). 

Ihre Erfahrung über Hysterische führt zu dem Schlüsse, 
„dal< gut die Hälfte aller Hysterischen an voll- 
ständiger und die meisten übrigen an teil- 
weiser geschlechtlicher Unempfindlichkeit 
leiden. 

Solche Hystericae — Margarethe Kossack beschreibt 
in der kleinen Schrift nur drei Fälle — machen dem Unein- 
geweihten den vollkommen gegenteiligen Eindruck. Die 
„hungrigen Augen" nicht minder wie die ewigen sexuellen: 
Gespräche müssen a priori auf Lüsternheit schließen lassen. 
Das Gegenteil ist allzu oft der Fall. Paradox und doch richtig 
ist der Satz: „Das krankhafte Interesse für sexuelle Dinge 
ist nur durch die geschlechtliche Unempfindlichkeit hervor- 
gerufen." 

Margarethe Kossack stellt noch zwei Eigentümlich- 
keiten der Hysterisch-Frigiden fest. Die Beobach- 
tung ist — aus dem Munde der Aerztin — oesonders be- 
achtenswert : 

1. „Sie haben Altstimmen; wo die Sensibilitätsstörung 
den höchsten Grad erreicht hat, da ist die Stimme beim Singen 



*) Vergl. pag. 135 I. c. 



Digitized by Google 



- 157 - 



sogar kontraalt. Nur bei dem charakteristischen quiekenden 
Schreien bewegt sie sich in hohen Registern." 

2. „Sie sind oft sehr fleißig und sparsam, bringen es 
aber doch zu nichts, weil sie 0?'d urd Sachen verzetteln." 
(Der scheinbare Widerspruch wird durch einige Spezialfälle 
erläutert.) 

Eine ganz besondere Klasse macht die Autorin aus jenen 
Hysterischen, „deren Zustand sich zumeist durch Krämpfe 
vom Ansehen der epileptischen kennzeichnet. — 
Diese Hysterischen kreischen nicht dabei, sie verziehen plötz- 
lich das üesicht auf schmerzliche Weise und fallen hin wie 
lein Stück Holz. Die Bedauernswerten, bei denen die Hysterie 
sich in dieser Weise bemerkbar macht und zu deren Krankheits- 
symptomen furchtbare Kopfschmerzen und neurasthenische Be- 
hinderungen im Gebrauch dieser und jener Glieder, besonders' 
der Arme gehören, geben auf sexuellem Gebiet zu 
keinerlei Beobachtungen Anlaß." — 

Diese höchst auffallende Feststellung bedarf einer genauen 
(Nachprüfung. Es wäre ein dankbares Thema für einen 
Forscher mit größerem Material von Hysterie und Epilepsie. 
Im Bestätigungsfalle ließen sich sogar neue Wege zur Be- 
haroiung der sexuellen Anästhesie gewinnen. 



Digitized by Google 



VIII. Kapitel. 



Einige häufige Ursachen der sexuellen Anästhesie 
— Vaginismus — Anaesthesia sexualis completa 

idiopathica. 



Defloratio. Ungeschicklichkeit und Brutalität der Hochzeitsnacht. 
Brief darüber. Unvollkommene Immissio. Schmerzende Hymenalrcste 
(Rohleder's „Hymenismus"). Vaginismus als direkte Folge der Schmerzen 
oder als Erinnetungskrampf. Der rein nervöse (psychische) Vaginismus. 
Psycho-anal) tische Methode Freuds. W. Stekel (Nervöse Angstzustände). 
M. Waithard — Die psychogene Ätiologie und Psychotherapie des Va- 
ginismus. Fall XX! (Eigene Beobachtung). Weibliche „Impotenz". Der 
Mann ist häufiger „impotent", das Weib prozentual mehr „steril". Nach 
dem mechanischen Ausgleich tritt die Individualität in ihre Hechte. Die 
Kunst der Liebe. Ejaculatio praecox — absolut oder relativ. Modus 
actionis und Positio. Von der Einwirkung des Geruches auf das sexuelle 
Empfinden (Albert Hagen). Vincengo Monti. Heinrich IV. Galopin. 
Die absolute Unempfindlichkeit ohne scheinbare Hemmung. Guttzeit. 
Schurigiusu Freundschaft und sinnliche Liebe. Fall XXII (Eigene Beob- 
achtung). Das vorwiegend psychologische Moment der geschwister- 
artigen Liebe in demselben. 



In den vorhergehenden Kapiteln ist der Zusammenhang 
von Masturbation und geistigen Hemmungen in bezug auf 
geschlechtliche Unempfindlichkeit besprochen worden. Wir 
setzen im folgenden für den Geschlechtsverkehr die normale 
Jungfrau voraus, die ohne Kenntnis tieferer sexueller Regung 
nur mit der natürlichen Aengstlichkeit vor dem Bevorstehenden 
in das Hochzeitsbett steigt. 

Die Entjungferung — Defloratio ~ ist ein häufiger 
Grund lang anhaltender Anästhesie. Man kann wohl mit 



Digitized by Google 



- 159 — 



Sicherheit behaupten, daß der erste Coitus, der eine blutige 
Defloratio bewirkte, noch niemals ein Lustgefühl beim weib- 
lichen Teile bewirkt hat. Schmerzen, Blutungen, Zer- 
reißungen und Dehnungen sind nicht geeignet, die Emp- 
findungen der Wonne wachzurufen, zumal wenn noch die 
seelische Befangenheit hinzutritt. 

In diesem ersten, oft für das ganze Leben entscheidenden 
Momente tritt bereits die Individualität des Mannes in ihre 
Rechte. Der ungeschickte, übererregte Gatte 
kann hier die Wurzel der weiblichen Unemp- 
findlichkeit einpflanzen und durch fortgesetzte 
Ungeschicklichkeit und Roheit aus ihr den 
Stamm der dauernden Anästhesie großziehen. 
Wer rücksichtslos mit brutaler Manneskraft von seinen 
Rechter Besitz nimmt, wird Aengstlichkeit und Schmerzen 
Inu'* vermehren und bei Wiederholungen weibliche Abneigung 
langsam vergrößern. Wer mit liebevoller Schonung 
durch langsame, behutsame Gewöhnung zum sichern 
Empfinden steuert, wird eine um so dankbarere und entgegen- 
kommendere Partnerin finden. Der Weg % kann hier nur an- 
gedeutet werden. Ihn zu finden ist der Geschicklichkeit de& 
iMannes überlassen, der eventuell einige intime Ratschläge 
des Arztes nachzuhelfen imstande sind. 

Die vorstehende an die Männer gerichtete Warnung hat 
mir seitdem manche zustimmende Zuschrift eingebracht. Eine 
derselben beschäftigt sich in sehr ausführlicher Weise mit 
den brutalen Hochzeitsnächten. Ein kleiner Auszug 
des Briefes mag hier seinen Platz finden, da die Schreiberin 
sich selbst eine langjährige mütterliche Freundin vieler 
Mädchen (wozu sie die Leitung eines Mädchenheimes und 
später das Amt einer Auskunftgebenden an einem Mutter- 
schutzverein berief) nennt: 

„Nicht nur, wie Sie sagen, eine ungeschickte Hochzeits- 
nacht, sondern eben die Hochzeitsnacht an sich mit ihrer 
Vcrfrühung des Aktes, der als etwas gemeinsames, eine gemein- 
same Lust sein sollte, und nicht die Lust des Stärkeren um den 
Preis der Qualen des Schwächeren — diese Hochzeitsnacht müßte 
beseitigt werden, es müßte Ehrensache für den Mann sein, Beweis 
seiner! wahren Liebeskraft (nicht bloß der physischen, denn die 
bringt jeder Trottel auf), daß er die Hochzeitsnacht nur nach 
Bedarf noch einige Nächte verstreichen läßt, ohne die sogenannten 



Digitized by Google 



— 160 — 



„Rechte" auszuüben. In der Brautzeit scheute der Mann, nur 
mit einem Worte das Mädchen zu verletzen, zu erschrecken, einige 
Stunden nach der Trauung setzt er etwas daran, sie an ihren 
zartesten, von ihm selbst geschützten reinen Empfindungen zu ver- 
letzen. Ich weiß von einem, der seiner blutjungen Frau in der 
ersten Stunde die Decken und das Nachtkleid abriß und sie mit 
♦ der Lampe von oben bis unten beleuchtete, sie, die sich vor 

Scham krümmte. Ist da nicht nur Frigidität, sondern eine 
unglückliche Ehe die natürliche Folge? 

B r u t a I i t ä t wird leider immer noch die H>chzeitsnächte miß- 
brauchen, aber wenn die Ärzte darauf hinweisen, daß der Mann 
sieb selbst um viele spätere Freuden bringt, wenn er da gierig 
vorgeht, dann würde das vielleicht eher ihn zur besseren Be- 
handlung der jungen Frau bringen, als es bisher seine sogenannte 
„Liebe" aufgebracht". 



Wiederum auf der anderen Seite sind die Fälle häufig, 
wo in den ersten Monaten überhaupt ein richtiger Ge- 
schlechtsverkehr, eine volle immissio penis, 
nicht zustande kommt. Ein noch später zu erwähnender 
Fall zeigt diesen Zustand, der fast ein Jahr angedauert hat. 
Es gibt Fälle, die viel langer dauern, weil Unverstand und 
Schamgefühl jeden ärztlichen Rat umgehen. 

Nach erfolgter Defloratio bleiben sehr lange bei voll- 
zogenem Geschlechtsverkehr wunde, schmerzende Risse 
der Hymenaireste zurück. Dieselben heilen nicht aus, 
weil jeder erneute Geschlechtsverkehr eine neue Reizung 
hervorbringt. Bisweilen sind auch die Risse nicht tief genug 
und eine schmerzhafte Spannung und Dehnung der stehen- 
gebliebenen Teile begleitet jede neue Attacke des Liebens. 

Ist die Verheilung zwar eine vollkommene, so können 
narbige Auftreibungen an den Enden zurückbleiben, in denen 
sich besonders empfindliche Nervenendigungen konsolidieren. 
Diese Formen geben den häufigsten Anlaß zu dem traurigen 
Bilde des Vaginismus, jenem krampfhaft schmerzhaften 
Zustand der Vulva, bei welchem die immissio penis fast zur 
Unmöglichkeit wird. Rohleder schlägt hierfür den recht 
bezeichnenden Namen „Hymenismus" vor. 

Vaginismus (Hymenismus) beruht nicht selten auf dieser 
schmerzhaften Empfindlichkeit der gereizten und zerrissenen 
Schleimhautfetzen. Die Empfindlichkeit wird um so größer 



Digitized by Google 



- 161 - 



sein, je ängstlicher und befangener der Seelenzustand von 
Haust* aus war, und es ist eine begreifliche Reaktion der Natur, 
daß sie durch Kontraktion (Abwehr) dem schmerzbringenden 
Eindringling Widerstand leistet und die Pforten verschließt. 
Die Ursache liegt dann meist in diesen mechanischen Ver- 
hältnissen. Allerdings können Wunden und Schmerzen bereits 
verschwunden sein und trotzdem besteht der Zustand des 
Vaginismus weiter. Hier hat dann eine Gewöhnung 
stattgefunden, welche in der Psyche des Weibes 
dauernd die Vorstellung der erlittenen Qualen 
bei jedem neuen Versuch wachruft und die Re- 
aktion als eine Art „Erinnerungskrampf" stets von 
neuem entstehen läßt. 

Ein solcher „Erinnerungskrampf" kann nun auch 
ohne jeden vorausgegangenen mechanischen 
Insult die Ursache des Vaginismus sein. 

Es handelt sich dann um einen reinnervösen (psychi- 
schen) Vaginismus. 

Es ist fraglos, daß ein erheblicher Teil der vaginisti- 
sehen Krankheitsbilder gerade diese Basis hat, daß der Arzt 
vergeblich nach mechanischen Reizungen am Scheideneingang 
suchen wird, und daß es ganz verfehlt — d. h. nicht nur 
zwecklos, sondern direkt schädlich! — ist, hier 
etwa eine rein mechanische, schneidende, ätzende, dehnende, 
instrumentelle etc. Behandlung einzuleiten. 

Mit dem rein nervösen (psychischen) Vaginis- 
mus kommen wir auf ein Gebiet, das zu der mangelhaften 
Geschlechtsempfindung durch die Veröffentlichungen gerade 
der letzten Jahre in besonders nahe Beziehungen getreten ist» 

Es handelt sich um die bereits zitierte psycho-ana- 
ly tische Methode Freuds und seiner Wiener 
Schule. 

Diese Methode mit ihrer Theorie der sexuellen Wurzel 
hjat — wenn auch noch so angefeindet — sicher bei der 
sexuellen Anästhesie ein volles Recht, eingehend beachtet zu 
werden. Ist es doch die einzige Methode, welche der rein 
psychischen Basis der Frage am nächsten kommt und 
in der sich die Fäden einer Heilungsmöglichkeit theoretisch 
und praktisch vereinigen. 

Adler, Oeschlechtsempfindung. 3. Aufl. 11 



Digitized by Google 



- 162 - 



Ueber das ganze Freud sehe System folgen an späterer 
Stelle einigt erweiterte Erläuterungen. Hier sei nur auf das- 
jenige hingewiesen, was W. S t e k e 1 (einer der Hauptschüler 
Frei ds) in seinen „Nervösen Angstzuständen" 
(1908) sagt: 

„Weniger bekannt ist der V a g i n i s m u s als Zeichen einer 
Angstneurosc. Er tritt häufig bei jungen Frauen auf, deren 
Männer unerfahren, relativ impotent oder nur ungeschickt sind. Die 
Frauen werden reizbar, weinerlich gestimmt, ängstlich, klagen über 
Herzklopfen, Schwindel, Ohnmachtsanfälle, Migräne usw. Bekannt- 
lich tritt die Angstneurose bei jungen Frauen sehr häufig durch, wenn 
sie noch anästhetisch sind, d. h. wenn die Seuxalabneigung noch nicht 
überwunden ist. Das ist ja die tiefste Wurzel der Dyspareunie. 

Der Vaginismus ist auf unbewußt psychische Mo- 
tive zurückzuführen. Die durch die ungeschickten Versuche des 
Mannes erbitterte Frau verweigert demselben den Liebesakt. Der 
Vaginismusist manchmal nur ein Symptom der Angst 
vor dem C o i t u s. 

Schwere Fälle von Vaginismus verlangen eine psychoanalytische 
Behandlung." 



Einen durchaus ähnlichen Gedankengang zeigt eine 
Arbeit Prof. M. Walthards: Die psychogene Aetio- 
logie und Psychotherapie des Vaginismus *). 
(Aus der Frauenklinik des städtischen Krankenhauses in 
Frankfurt a. M.) 

Der Autor definiert den Vaginismus sehr richtig nicht 
allein als einer unbeabsichtigten und unwillkürlichen Krampf der 
Scheiden- und Beckenmuskulatur (bei jedem Versuch einen Fremd- 
körper in die Vagina einzuführen) — sondern erklärt die Abwehr- 
bewegungen der Oberschenkel, der Wirbelsäule, des ganzen Körpers 
für dazu gehörige Charakteristika, der Ausdruck „Vaginismut' 
bezeichnet eine unbeabsichtigte, unwillkürliche Bewegungskombination, 
welche sich aus vier Abwehrbewegungen zusammensetzt: 

1. Adduktion mit Einwärtsrollen der Oberschenkel, 

2. Lordose der Wirbelsäule, 

3. Gemeinsamer Abschluß der Beckenausgangsorgane, 

4. Dislokation des ganzen Körpers. 

Nicht nur der Fremdkörper (Penis, Instrument) rufen die Ab- 
wehrbewegungen (Vaginismus) liervor, schon das „klirrende Ge- 
räusch" ruft Erinnerungsbilder oder irrtümliche Vorstellung von 



•) Münchener Medizinische Wochenschrift 1909, Nr. 39. 



Digitized by Google 



- 163 — 



Schmerzen wach. Weitaus am häufigsten lösen „Furcht und Angst 
vor diesem Schmerz" den Vaginismus aus. „Aber auch Unwillen 
infolge von Indifferenz in sinnlicher Beziehung, Abneigung gegen 
die Person des Ehemannes, Furcht und Angst vor den späteren 
Geburten, ja sogar üewissensbisse bei Coitus extra matrimonium — 
kurz Phobien aller Art" sind häufige Ursachen. 

Nicht die Oberempfindlichkeit \H yperaesthesie) 
des Scheideneingangs, sondern Phobien sind der 
Grund des Vaginismus. Die Abwehrbewegung ist 
eine „zweckentsprechend e", ausgelöst durch die 
Phobie — also ein „physischer Reflex". 



Der Autor hat sehr richtig beobachtet, daß die ge- 
schilderten Abwehrkrämpfe auch bei vollkommen guter Passage 
(sogar bei „klaffender" Scheide) vorhanden sein können. Diese 
rein psychische Form des Vaginismus kann natür- 
lich auch nur vorwiegend psychisch behandelt werden. 
Unterstützend gibt Waithard den Rat, die antagonistischen 
Muskeln in Aktion zu setzen, wodurch die eigentlichen Krampf- 
muskeln außer Kraft treten. Dieser Antagonist ist die Bauch- 
presse. „Wir fordern deshalb unsere Patienten auf, während 
der Einführung eines Fremdkörpers die Bauchpresse zu inner- 
vieren, wodurch während der ganzen Dauer der Bauchpressen- 
aktion die Erschlaffung der Ausgangsmuskulatur andauert." 
Jetzt kann das Instrument viel leichter eingeführt werden, 
und damit schwindet zugleich die „häufigste psychogene Ur- 
sache des Vaginismus — die Phobie vor Schmerz". 

Im übrigen folgt Waithard in der rein psychischen 
Behandlung den Anweisungen P. Dubois, die man als eine 
gemäßigte psycho-analytische Methode ohne 
die sexuelle Dauerwurzel Freuds bezeichnen könnte. 
Er bemüht sich, durch „Belehrung in der psycho-astheni- 
schen Denkweise solcher Patientinnen das fehlende An- 
passungsvermögen an die gegebene Lebenslage zu entwickeln". 

Sehr beachtenswert für eine „klinische" Behandlung ist 
es und es zeigt von dem wirklich eingehenden Verständnis 
des Autors, daß diese Kranken entsprechend der psychi- 
schen Eigenart des Falles isoliert von dem Gros der 
Klinik behandelt werden. 



Digitized by Google 



- 164 - 



Die Behandlung des Vaginismus teilt sich nach diesen 
Angaben in eine 

a) mechanisch-chirurgische, 

b) medikamentös-psychische. 

Zu beachten ist, daß die weitaus geringere Zahl der 
Fälle mechanische Angriffspunkte darbietet, um ihnen mit 
Messer und Schere allein zu Leibe zu gehen. Durch ein 
mechanisches Zuviel schadet man dem rein 
psychischen Vaginismus — man beseitigt den 
Zustand nicht, man vergrößert ihn eher, die 
Abwehr(Erinnerungs)krämßf e werden womög- 
lich noch intensiver. 

Die meisten Fälle bedürfen der psychischen Behandlung 
und langsamen Gewöhnung. Die therapeutischen Hilfsmittel 
sind außer den beruhigenden Medikamenten entweder die 
psycho-analytische Methode Freuds resp. die vereinfachte 
Duboissche Psychotherapie in Verbindung mit geeigneten 
Muskelübungen (antagonistische Bauchpresse Waithard s) 
und eventuell ganz langsamen Gewöhnungen an das Spekulum. 

Ist der schmerzfreie und krampflose Zustand erreicht, dann 
bleibt der Geschicklichkeit des Ehemannes die weitere Aus- 
bildung einer normalen sinnlichen Empfindung bis zum Or- 
gasmus überlassen. 



An dieser Stelle mag ein Fall eigener Beobachtung folgen, 
bei welchem außer dem Vaginismus die Masturbation 
(Anaesthesia masturbatoria), sowie die Theorie der sexu- 
ellen Wurzel (psycho-analytische Methode Freuds) in 
markantester Weise in Erscheinung treten. Der Fall ist eigent- 
lich in dreifacher Weise ein Schulfall. Er ist hier ein- 
gefügt, weil das vaginistische Krankheitsbild die Situation 
am sichtbarsten beherrscht. Es ist aber auch ein Schulfall für 
Masturbations-Anästhesie und führt zugleich in- 
struktiv in Theorie und Praxis der Freudschen Me- 
thode ein. 

Fall XXI. 

(Eigene Beobachtung.) 

Frau X. X. ist eine gesund aussehende, gut gewachsene junge 
Frau von 24 Jahren. Sie ist in besten Kreisen — Justizrats- 



Digitized by Google 



- 165 - 



tochter — aufgewachsen. Sie hat keine besonderen Krankheiten 
durchgemacht, hat leicht gelernt, hat sich stets sportlich betätigt 
und ist seit einigen Jahren an einen sexuell-normalen Mann ver- 
heiratet. Ein Kind ist aus der Ehe hervorgegangen. 

Sic wendet sich an mich, weil sie mein Buch gelesen hat. Sie 
verlangt ärztliche Hilfe, weil sie eine unüberwindliche Abneigung 
gegen den ehelichen Verkehr hat. Sie kann die Einführung des 
Gliedes nicht vertragen. Schon bei dem bloßen Verbuch oder Oe- 
danken! krampfen sich ihre Schenkel zusammen. Sie wehrt mit 
Händen und Körper ab und beginnt unter wahnsinniger Angst- 
empfindung zu schreien. 

Trotzdem ist dem Ehemann einige Male der normale Verkehr 
gelungen: Beweis — das Kind. Sie weiß selbst nicht, wie das 
möglich geworden ist. Gewalt des Mannes und ein eigener Er- 
schöpfungsaugenblick müssen zusammengewirkt haben. — 

Ich beginne mein Krankenexamep, das sich über mehrere 
Konsultationen ausdehnt. Das Resultat ist eine Sexualanamnese, 
die selbst dem erfahrenen Spezialforscher — wenigstens aus dem 
Erziehungsmilieu dieser Patientin heraus — unerwartet über- 
raschend und reich ist. Folgendes Bild entwickelt sich. 

Mit ca. 12 Jahren (noch vor dem Eintritt der ersten Periode) 
hat sie zu masturbieren begonnen. Ort: die Klitorisgegend. Auf 
die Frage nach der Häufigkeit und der jedesmaligen Ursache gibt 
sie keine bestimmte Antwort. Sie entsinnt sich nur, fast regel- 
mäßig vor jeder Tanzstunde sich manuell befriedigt zu haben, um 
„recht leuchtende Augen zu haben". 

Mit ca. 15—16 Jahren begann der Verkehr mit Männern. Es 
sind deren bis zur Verheiratung (im ca. 20. Jahre) mindestens ein 
Dutzend gewesen! Auch nach der Verheiratung setzte sie ihre 
mannigfachen außerehelichen Beziehungen in unverminderter Weise 
fort und dürfte trotz ihrer 24 Jahre inzwischen ein zweites Dutzend 
erreicht haben! 

Es eröffnet sich ein ganz ungewohnter Einblick in die Sexual- 
welt eines jungen Mädchens resp. einer jungen Frau der so- 
genannten guten Gesellschaft. 

Am bemerkenswertesten und unnatürlichsten aber erscheint es, 
daß diese erfahrungsreiche Patientin, welche von Abenteuer zu 
Abenteuer springt, trotzdem unempfindlich sein soll, den regulären 
Männervetkehr geradezu ängstlich scheut und sich mit Krämpfen 
und Schreien dagegen wehrt. 

Trotzdem hat das seine Richtigkeit. Die Franzosen haben den 
treffenden Ausdruck „D e m i v i e r g e" erfunden und bezeichnen 
damit ein Mädchen (meist der guten Gesellschaft), das sexuell alles 
mit Ausnahme des vollendeten normalen Geschlechtsverkehrs 
(immissio penis) gestattet. 

Etwas ähnliches liegt hier vor. Warum gestattet die „Demi 
vierge" nicht die Immissio? Ganz natürlich aus der Angst 



Digitized by Google 



- 166 - 

vor der Mutterschaft, womit ihre bürgerliche Existenz begraben 
wäre. 

Unsere Patientin hat ein stark erotisches Begehren. Dies ergibt 
sich aus der frühen Masturbation noch vor der pubertären Reifung. 
Frühe Masturbation ist stets ein Zeichen nervöser Belastung. Ihre 
Widerstandskraft — die kulturellen „Hemmungen" — sind des- 
halb bei ihr geringer; sie erliegt dem ersten männlichen Begehren 
leicht — allerdings nur bis zur Imraissio. Hier sträubt sich der 
letzte Hemmungsrest — die Angst vor der unehelichen Mutter- 
schaft, die den bürgerlichen Tod bedeutet. 

Die Patientin erzählt, daß sie beim ersten Versuch des Sexual- 
verkehrs sich krampfhaft gesträubt und geschrien habe. Das ist 
an sich nicht wunderbar. Wunderbar bleibt nur, daß dieser Ab- 
wehrkrampf auch bei den folgenden 25 Männern (inkl. des Ehe- 
mannes!) bestehen bleibt. Der Zustand nimmt sogar derart zu, 
daß sie selbst allein bei dem Gedanken an normalen Geschlechts- 
verkehr zu zittern beginnt und krampfhaft die Schenkel schließt. 
Die Einführung jeglichen Gegenstandes — selbst des Fingers oder 
eines Instrumentes — verursacht ihr Vaginismus. Sie berichtet, 
daß sie selbst bei der Geburt ihres Kindes dem untersuchenden 
Finger des Arztes gleichen Widerstand entgegengebracht hätte, daß 
die Wehenschmerzen der Geburt ihr gering gegen die Angst vor 
der ärztlichen Untersuchung erschienen. 

Welcher Art war nun der vielseitige Geschlechtsverkehr und ist 
sie dabei zum Orgasmus gelangt? Man setzt sich nicht einer 
dauernden Gefahr aus, wenn sie nicht Ersatz bietet. Die Patientin 
gibt den Orgasmus in vielen Fällen zu, hat aber stets nur den 
Cunnilingus zugelassen oder bei halben Versuchen selbst manuell 
(wie bei ihrer gewohnten Masturbation) nachgeholfen. Den Cunni- 
lingus lernte sie durch ihren ersten Verführer kennen, der diesen 
Modus gern ausübte und diese Perversion um so lieber wählte, 
als ihm die krampfhafte Weigerung den Normalverkehr verbot. 
In Zukunft hat sie fast ausschließlich nur diese Art der Be- 
friedigung bei den Nachfolgern gestattet oder allenfalls den Coitus 
ohne immissio, womöglich noch durch Condom gesichert. 

In der Ehe ist der vaginistische Krampf unverändert bestehen 
geblieben. Sie besitzt keine Abneigung gegen ihren Mann — im 
Gegenteil: — sie wacht eifersüchtig über seiner Liebe, obgleich 
sie selbst ihre Wege geht. Nach wie vor vollzieht sich der Coitus 
ohne immissio bei ihrem Manne und ihren Liebhabern (der seltene 
Fall der brüsken Attacke, deren Folge die Schwangerschaft war, 
abgerechnet), und nach wie vor ruft sie den Orgasmusj durch 
manuelle Hilfe beim Akt hervor. Auch der außereheliche Cunni- 
lingus (der Mann ist durchaus normal) Wird häufig gestattet, Be- 
friedigung jedoch muß auch hierbei manuell bewirkt werden. — 
Nach dieser Anamnese, die in mehrstündiger Arbeit erreicht ist 
und in welcher bereits einige epikritische Betrachtungen vorweg 



Digitized by Google 



- 167 - 



genommen sind, beginne ich mit der körperlichen Untersuchung 
und Behandlung. 

Auf dem Untersuchungsstuhl zeigt die Patientin Neigung, die 
Schenkel zu schließen. Als ich den Finger nähere, krampft sie 
zusammen, noch mehr als ich nur ein Instrument zeige. Sie nimmt 
die Beine aus den Stützen, schließt die Oberschenkel und stößt 
mich mit den Händen fort. Ich beruhige sie durch langsamen, 
gütlichen Zuspruch soweit, daß schließlich eine Fingeruntersuchung 
möglich wird. Dabei bestätigt sich, daß eine vollkommen normale 
Passage vorhanden ist und daß besonders schmerzende Hymenai- 
reste fehlen. Eine weniger versierte Behandlung hätte vermutlich 
hier bereits mit Messer und Schere begonnen, womöglich tfie 
Narkose zu Hilfe genommen ! (N. B. Tatsächlich hat ein bekannter 
Operateur noch später diesen R*at erteilt!) 

Mit der Einführung des touchierenden Fingers unter der Ver- 
sicherung, daß die Organe normal gebaut und gesund seien, war 
bereits der erste Schritt gewonnen. Es gelang mir spater, bald 
ein glattes Sperrspekulum einzuführen. Die Patientin ertrug es 
und gewöhnte sich an eine langsame Dehnung durch Erweiterung 
der Sperrstellung. 

Für Finger und Instrument war also das Terrain vorgeebnet. 
In der Psyche begann der Gedanke Platz zu finden, daß ein 
mechanisches, Hindernis nicht vorliegen könne. Es handelte sich 
nun darum, auch für das lebendige membrum virile diese 
Vorstellung zu befestigen. 

Ich stellte der Patientin vor, daß ihre „Krämpfe" verkable 
„Abwehrkrämpfe" seien, die aus der Furcht vor außerehelicher 
Schwangerschaft hervorgegangen seien. Sie wollte das nicht zu- 
geben. Soweit hätte sie eigentlich nicht gedacht. Zum mindesten 
fiele dieser Grund seit ihrer Ehe fort. 

Hier hieß es, sich nicht beirren und abschrecken zu lassen. 
Die ganze gesellschaftliche Position der Patientin ließ mit Sicher- 
heit darauf schließen, daß die Angst vor unangenehmen Folgen 
vorhanden sein mußte. Wenn sie sich selbst auch nicht Rechen- 
schaft darüber gab, so lag diese Angst im Unterbewußtsein ver- 
steckt. Aus Angst vor Schwangerschaft flüchtete 
sich ihr Körper und die von Hause aus neuropathi- 
sche Konstitution (frühzeitiger Geschlechtstrieb) in die 
Neurose des unbewußt vaginistischen Abwehr- 
kram p f e s. 

Mit dieser Auffassung stehen wir plötzlich mitten in der 
Freud sehen Theorie der sexuellen Wurzel und dei 
hierauf bauenden psycho -analytischen Methode. 

„Die moderne Psychotherapie stellt sich die 
Aufgabe, den „Verdrängungen" nachzuspüren, sie 
zu lösen und so den Kranken zu heilen." (W. Stekel: 
Nervöse Angstzustände.) 



Digitized by Google 



- 168 — 



Mit der Voraussetzung, daß der verdrängte Gedanke '(die Angst 
vor außerehelicher Schwangerschaft) in der unbewußten Vorstellung, 
in der „Unbewußtheit seelischer Vorgänge" (Stekel) verankert lag, 
war die weitere Behandlung vorgeschrieben. Es kam darauf an v 
die „Kranke dazu zu bringen, aus Motiven besserer Einsicht etwas 
zu akzeptieren, was sie zufolge der Unlusterinnerungen bisher zu- 
rückgewiesen hatte" (Stekel). 

Die einfache Belehrung reichte nicht aus. Es blieben Zweifel 
zurück. Die Patientin glaubt nicht so recht an die Macht dieses 
gewissermaßen schlummernden Angstgedankens. Es müssen andere 
Beweise sie über das Vorhandensein belehren. 

Ein unschätzbares Mittel hierfür ist der Traum. 

Es ist ein hohes Verdienst Freuds und seiner Schule, den 
Träumen ein wissenschaftliches Fundament gegeben zu haben. 
Nicht im Sinne der Traumdeutung von Faxenmachern, Charlatan? 
und alten Weibern, sondern auf der Basis physiologischer Oedanken- 
assoziationen. 

Es würde zu weit führen, auf das ganze System — das notabene 
entsprechend der Jugend dieser Wissenschaft und dem Übereifer 
seiner; Vertreter bisweilen sanguinische Kritiklosigkeit zeigt — hier 
näher einzugehen. 

Die folgenden Fragen lassen den Weg wenigstens ahnen: 
Ich gebe der Patientin auf, sich ihren nächsten Traum zu merken 
und mir mitzuteilen. 

„Ich habe leider nichts geträumt." 

„Besinnen Sie sich. Vielleicht fällt es .Jhnen doch noch ein." 
„Ich habe wirklich nichts geträumt." 

„Besinnen Sie sich auf frühere Träume? Kehren bestimmte 
Arten von Träumen häufiger bei Ihnen wieder?" 

Die Patientin denkt nach: 

„Ja, ich sehe häufig Schlangen im Traum." 

.„Trägt die Schlange nicht stets den Kopf hoch aufgerichtet, als 
wenn sie auf Sie losstürzen wollte?" 

Die Patientin sieht mich ganz erstaunt an: 

„Woher wissen Sie das? Es ist richtig. Jetzt fällt es mir 
auf. Ich habe noch nie eine zusammengekauerte Schlange im 
Traume gesehen, immer nur die losstürzende." 

Dieser Moment war wichtig und festzuhalten. In der Psyche 
beginnt eine Gedankenverschiebung. Meine Sehergabe imponiert 
ihr. Vielleicht habe ich auch mit den anderen Gedanken Recht. — 

Ich setze ihr auseinander, daß die losstürzende Schlange identisch 
mit einem membrum virile sei, vor dem sie wegen Schwanger- 
schaftsfurcht Angst habe. 

Sifc widerspricht nicht. Man sieht ihr an, daß sie diesen Ge- 
danken innerlich verarbeitet. 

Ich fahre fort: 

„Haben Sie noch andere Träume ähnlicher Art gehabt?" 



Digitized by Google 



- 169 - 



„Jawohl — und sie erzählt mit erhöhtem Interesse — ich sehe 
sehr häufig einen Mann auf mich zukommen. Er greift in die 
Tasche und holt einen Revolver heraus. Ich habe den Traum so 
oft gehabt, daß ich auf der Straße schon Angst bekomme, wenn 
ich einen Mann mit den Händen in der Tasche sehe. Ich gehe 
dann schnell auf die andere Seite." 



Es bedari keiner großen Zusätze zu diesem zweiten Traum. 
Erwähnt sei, daß in den Freudschen Traumerklärungen „Tasch e", 
meist mit „Scheide" (Vagina) synonym ist. „Sic hat schon Angst, /" 
wenn der Mann die Hand in der Tasche hat!" Die Deutung des /. A £ \s 
Revolvers ist ganz klar. Schon die Gestalt bietet auffallende 
Ähnlichkeit mit einem vollen männlichen Geschlechtsteil (inkl. 
Hodensack). / 

Mit diesem zweiten Traum war die bis dahin immer noch 
zweifelhafte Ursache der hypothetischen Angst bei ihr zur Über- 
zeugung geworden. 

Ich sprach die Patientin nach längerer Zeit — sie war aus der 
Behandlung aus äußeren Gründen fortgeblieben — gelegentlich 
wieder: „Es geht schon viel besser!" 

Wieder nach längerer Zeit hatte ich mit ihr eine ausführlichere 
Aussprache. Sie erzählt: 

„Die Krämpfe, die Angst, das Schreien hatten sich mehr und 
mehr verloren. Ich fühlte mich unendlich gebessert. Ich hatte 
häufig vollkommen normalen Verkehr. Allein ein kleiner Rest 
eisten Widerstandes war bis vor P 2 Jahren nocn vorhanden. Ich 
erzählte das meinem damaligen (neuen) Verehrer. Er hielt das für 
Koketterie und Ziererei. Ohne Besinnen führte er mir, während 
ich auf seinem Schöße saß, seinen digitum in vagmam. Er über- 
rumpelte mich gewissermaßen, ich duldete es und bin seit diesem 
Tage ganz geheilt." 

Allerdings besteht noch ein Fehler. Sie erreicht auch jetzt noch 
keinen Orgasmus ohne eigene manuelle Nachhilfe (Anaesthesia 
masturbatoria). Sie ist damit aber vollkommen zufrieden. Diese 
Anästhesieform wqrde sonst noch eine gesonderte Behandlung er- 
fordern. 

Nachtrag: Patientin ist Witwe geworden. Ihrer Anlage ent- 
sprechend hindert sie das nicht an fortgesetztem Verkehr. Nicht 
erst seit dem Tode ihres Mannes — schon in den letzten Jahren 
vorher — hat sie in anderer Freunde Armen vollen Orgasmus 
erreicht. 



Der Vaginismus ist annähernd der einzige Zustand, 
auf welchen, wenn auch noch immer in beschränktem Sinne, 
das Wort Impotenz angewendet werden kann. Man findet 



Digitized by Google 



- 170 — 



bisweilen diese eigentlich nur für die mangelhafte Erectio 
mcmbri virilis bestimmte Ausdrucksweise auch für den Zu- 
stand der weiblichen Empfindungslosigkeit verwendet. I m - 
potentia ist die Unfähigkeit zur Kopulation, Sterilität 
die Unfähigkeit zur Befruchtung. Die Impotentia femi- 
narum könnte also höchstens auf die geschilderten Zustände 
des krampfhaften Vaginismus und auf die ganz seltenen Fälle 
einer angeborenen verschlossenen .Scheide Anwendung finden. 
Von diesen beiden Formen, welche die Mechanik des Ge- 
schlechtsverkehrs verhindern, abgesehen, bleibt selbst die 
kälteste, absolut anästhetische Frau stets potent 
und besitzt und bewahrt, wie früher gezeigt, ihre volle "r3e- 
gattungs- und Zeugungsfähigkeit. Es ist ein charak- 
teristisches Unterscheidungsmoment im Ge- 
schlechtsleben von Mann und Weib, daß prozen- 
tual der Mann viel häufiger impotent ist, das 
[Weib dagegen erheblich größeren Anteil an der 
Sterilität hat. 

■ 

Wenn der mechanische Ausgleich post deflorationem er- 
reicht ist, bleibt es der Kunst des Mannes überlassen, 
den Geschlechtstrieb zu wecken. Wenn Schmerzen 
nicht mehr die Situation verwirren, fängt die seelische Kunst- 
fertigkeit des Mannes an, der durch seine Liebkosungen der 
Frau das Bewußtsein ihrer begehrenswerten Reize beibringt. 
Hierin liegt die eigentliche Individualität des Mannes und die 
Kunst seiner Liebe. Es ist eine besondere Gabe, die je nach 
den Neigungen der Erwählten geformt sein will. Außer der 
seelischen Beeinflussung mögen auch manuelle Präliminarien 
notwendig und erlaubt sein; ich erinnere an den der Kaiserin 
Maria Theresia gegebenen Rat.*) 



Ist die Sinnlichkeit, das Geschlechts v e r 1 a n g e n , 
der Trieb, jener Erektionszustand, der als eine Umstimmung 
ähnlich einem hypnotischen Trancezustande aufzufassen ist, 
erreicht, so bleibt oft das ahnungsvolle Verlangen nach dem 



*) P a S- 53/54. 



Digitized by Google 



- 171 - 

Hochgenuß der Empfindung, nach dem Orgasmus, 
unbefriedigt durch die Schnelligkeit des männlichen Ein- 
tretens, durch die Ejaculatio praecox.*) 

Die Ejaculotio praecox ist entweder eine abso- 
lute, d. h. sie erfolgt fast unmittelbar nach der immissio, 
bisweilen sogar noch während der introduetio, bevor das 
Membrum vollkommen in die Vagina eingedrungen ist. In 
diesen Fällen ist sie vielfach ein nervöses Symptom, eine 
Teilerscheinung auch sonst vorhandener Neurasthenie, also 
eine sexuelle Neurasthenie des Mannes. Sie ist einer 
Heilung nicht unzugänglich. Auch Gewöhnung, die aus 
Heftigkeit der mit Angst und Heimlichkeit verbundenen ersten 
jugendlichen Versuche übernommen worden ist, kann die Ur- 
sache sein. 

Sodann ist die Ejaculatio praecox eine relative, 
d. h. sie ist zu frühzeitig im Verhältnis zum späteren Ein- 
treten des korrespondierenden Zustandes beim Weibe. Hier 
kommer Anlage und Neigung als grebsinnliches Moment an- 
einander. Wie auch sonst im Leben Charaktereigenschaften 
zueinander passen müssen, so ist es auch im rein sexuellen 
Sinne. Gewisse Differenzen können vorhanden sein. Die- 
selben können sich, wenn keine allzuweiten Grenzen 
gezogen sind, ausgleichen. Der Mann speziell hat 
sehr wohl die Fähigkeit, den actus zu protra- 
hieren, viel mehr als der weibliche Teil, ihn zu 
beschleunigen und zu verkürzen. Da durchschnitt- 
lich, wie wir früher gesehen, der weibliche Orgasmus etwas 
später einsetzt als der männliche, so erfordert es in der Regel 
einige Zeit der Übung, bis eine volle Anpassung statt- 
gefunden hat. An der Brutalität des Mannes, der 
rücksichtslos nur an seine eigene Befriedigung 
denkt,scheitertsehroftdasgegenseitigeGlück 
der Sinne. Ist der Zustand ein dauernder, so kommt 
die Frau niemals zum vollen sexuellen Em- 
pfinden. 

Auch der modus actionis, d. h. die Mechanik spielt 
«eine große und gewaltige Rolle. Wir haben erwiesen, daß die 
verschiedensten Stellen des .Vaginalschlauches, von der Klitoris 



*) Vergl. das Gutachten im juristischen Kapitel dieser Monographie. 



Digitized by Google 



— 172 — 



bis zur Portio gesondert, empfindlich sein können, und daß 
eine solche Prädilektionsstelle gefunden sein will. Bisweilen] 
führt der Zufall (wie bei Fall II b) zur Entdeckung. Jedenfalls 
ist beim Mangel der Empfindung eine systematische Lage- 
veränderung ein erstes Postulat für eine Änderung. Selbst 
der Coitus a posteriore darf unter Umständen nicht gescheut 
werden und führt bisweilen dann allein zum Ziele, wenn die 
Klitoris resp. Nymphen in normaler Position nicht genügend 
gereizt werden. Auch Tempo und Kraft sind von erheblichem 
Einflüsse. 

In die komplizierte Technik und Psychologie behufs Er> 
Ziehung zur Liebe und zum Geschlechtsempfinden spielt von 
den Sinnesorganen der Geruch oftmals mit entscheidender 
Bedeutung hinein. .Wie wir früher erwähnt haben, ist der 
sexuelle Geruchssinn in v der Tierwelt viel ausgesprochener« 
An Stelle der bedeutungslos gewordenen menschlichen Glan- 
dulae vestibuläres majores, der ehemaligen Riech- 
stoff bildenden Lockdrüsen, ha't sich der lockende Duft des 
.Weibes über seinen ganzen Körper verbreitet und ist für den 
mit den feineren Sinnen begehrenden Liebhaber als das spe- 
zifische „Parfüm des femmes" der Franzosen, als der „Odor 
di femina" des Italieners wahrnehmbar und anregend. — „La 
femme respiree est aimee." (Galopin.) 

Die sonderbaren Beobachtungen aus dem geschlechtlichen 
Geruchsleben behandelt Albert Hagen in seiner sexu- 
ellen Osphresiologie. Der Hauptinhalt dieses Werkes 
bezieht sich auf die Erregung der Geschlechtslust durch 
Gerüche und diese vorwiegend beim männlichen Geschlecht. 
Ein großer Teil der Perversionen beruht auf der erregenden 
Kraft sonderbarerweise oft der ekelhaftesten Gerüche, worüber 
die einschlägige Literatur zahlreiche Beispiele anführt, welche 
nicht in diesen Rahmen gehören. 

Die abstoßende Kraft eines Geruches ist in Hagens 
Arbeit wesentlich kürzer bedacht. Immerhin sind einige Bei- 
spiele von „eisiger Kälte im Ehebette" angefügt. 

Es ist von der Tochter Vincengo Montis die Rede, 
die nichts bei ihrem Gatten, dem Grafen Perticari, em- 
pfand, da er einen stinkenden Atem hatte. 



Digitized by Google 



- 173 - 



Bei Heinrich IV. und seiner zweiten Gemahlin Mar- 
garete war ein übelriechender Fußschweiß der Grund der 
Abneigung. 

Galopin sagt: „Une femme peut aimer passionnement 
lun manchot, un bossu, ou un ampute des deux pieds} ou des 
deux mains; eile ne saurait etre longtemps amoureuse d'un 
homme qui sent mauvais du nez, des pieds ou de la peau en 
generali ' 

Wir haben es hier mit groben Geruchsschäden zu tun, 
deren Wirkung bei der anerkannt nahen Beziehung des Ge- 
ruches zur Sinnlichkeit ohne weiteres verständlich und ein- 
. leuchtend erscheint. Mir ist es nicht unwahrscheinlich, daß 
auch geringere Geruchsstörungen, die als solche vielleicht 
direkt nicht als unangenehm wahrnehmbar sind, eine 
Hemmung im Gehirn auslösen können, welche die Libido 
unbewußt unterdrückt. Diese feinen Geruchsidiosynkrasien 
wären ein Beitrag zum geheimnisvollen Kapitel Sympathie 
und Antipathie, das so vielseitig in das Geschlechtsleben 
hiueinspielt. 

Es bleibt nach allen geschilderten Ursachen und Formen 
der sexuellen Anästhesie noch eine erhebliche Reihe von Fällen 
übrig, bei denen scheinbar weder ein mechanischer noch 
psychischer Hemmungsgrund vorliegt und wo trotzdem eine 
absolute Unempfindlichkeit besteht, wo nicht nur ein Zustand 
absoluten Mangels jeglichen Hochgefühles (Orgasmus) vor- 
liegt, sondern selbst Erwartung und Erregung, das ahnungs- 
volle Verlangen (Libido) wie eine sagenhafte Mythe das Ge- 
schlechtsleben des Weibes verschleiert — Anaesthesia 
sexualis completa idiöpathica. 

Es ist selbstverständlich, daß auch keine seelische Ab- 
neigung oder ein Zwang die Grundlage einer solchen Ehe 
ist. Im Gegenteil, die Gattin liebt ihren Gemahl aufrichtig 
und wehrt sich nicht gegen seine Umarmungen. Aber sie 
hat nicht die geringste Vorstellung auch nur der mindesten 
Spur einei angenehmen Erregung und Empfindung. Sie hat, 
wie Guttzeit mitteilt, kein anderes Gefühl, als ob sie „an 
der Schulter oder an der Hand berührt würd e". 

D. Martinus Schurigius (Gynäkologia) schildert 
den Zustand fast mit den gleichen Worten: 



Digitized by Google 



- 174 — 



,,Nec magis sentire, quam alioquin ab externo cutis con- 
tactu alibi sentire solebat". 

Diese Fälle ohne jeden erkennbaren mechanischen und 
seelischen Hemmungsgrund bieten der Analyse die größten 
Schwierigkeiten. Da die Theorie der Hemmungen hier 
fortfällt, bleibt der seltenere Grund der ursprünglich 
schwererer» Erregbarkeit übrig. Vermutlich sind die ge- 
schlechtlichen Gegensätze zu stark. Der glimmende Leiden- 
schaftsfunken eines solchen Weibes ist äußerst schwach und 
bedarf einer besonderen belebenden Glut, den nur eine be-» 
sondere männliche Individualität zu geben vermag. Die Tat- 
sache, daß ein solches Weib ihren Gatten liebt und trotzdem 
ünerregt bleibt, ist noch kein Beweis für die Aussichtslosigkeit 
»einer anders gearteten, größeren, individuellen Liebe. Die 
Liebe eines solchen absolut unerregbaren und empfindungs- 
losci Weibes entspricht vielmehr den Gesetzen einer allzu 
geordneten Moral und gesellschaftlichen Pflichtgefühles. Sie 
ist mehr Freundschaft und Neigung und basiert auf der über- 
zeugenden Vorstellung von der grundsätzlichen Notwendigkeit 
eines wohlfundierten Ehe- und Familienlebens. Aber die in- 
dividuelle Liebe, das eigentliche Gemisch seelischer und sinn- 
licher Liebe, ist damit noch nicht erreicht. 

Übrigens muß man selbst in solchen Fällen noch nach 
verborgenen mechanischen oder seelischen Ursachen forschen. 
Bei wohlerzogenen, sensiblen Frauen will der Ton des jedes- 
maligen Liebeswerbens genau abgestimmt sein. Diese feine 
Psychologie charakterisiert eben den Künstler der Liebe, der 
auch den kalten Marmor zum ahnungsvoll erregten Glühen 
bringt. 

Der folgende Fall ist ein teilweiser Beleg für die unem- 
pfindliche, liebende Frau. Teilweise nur deshalb, weil die 
Anfangsmomente das Geschlechtsleben in erkennbarem Sinne 
mechanisch irritierten. Nach Überwindung bleibt jedoch die 
idiopathische Anästhesie übrig. Leider ist der Fall nicht alt 
genug. Gerade hier ist ein Erfolg einige Zeit nach der Ge- 
burt nicht ohne Aussichten. Ein viel reineres Bild werden wir 
später im belletristischen Anhang in Frau von Warens 
kennen lernen. 



Digitized by Google 



- 175 - 



Fall XXII. 

(Eigene Beobachtung.) 

Die 21jährige Patientin sucht ärztliche Hilfe wegen Kinder- 
losigkeit auf. Sie ist seit ca. einem Jahre verheiratet. Die Patientin 
wird von ihrer Mutter begleitet, welche für das zu erwartende 
peinliche Examen das Wort führt. 

Di« Mutter glaubt, daß eine gewisse „Schwäche" des Mannes 
vorliege, die bisher noch keine volle Immissio penis gestattet hätte 
und daß vermutlich das Hymen noch nicht hinreichend perforiert 
sei. Außerdem hätte die Tochter noch keine Spur von irgend- 
einer angenehmen Empfindung in coitu gehabt. 

Zur Anamnese erfahre ich, daß die 21jährige Patientin aus 
höheren Kreisen stammt. Der Vater war hoher ausländischer 
Regierungsbeamter. Sie ist das einzige Kind der Ehe. Die Mutter 
will nie nennenswert krank gewesen sein, macht einen gesunden 
Eindruck und zeigt sich bei den delikaten Besprechungen als eine 
vorurteilsfreie Frau, bei der die Objektivität der Tatsachen vor 
jeder Prüderie und Sentimentalität die Oberhand behält. 

Die Mutter selbst gibt für ihre Person ebenfalls an, daß sie 
niemals während ihrer ganzen, durchaus glück- 
lichen Ehe eine volle Geschlechtsempfindung ge- 
hab t h a b e. Ihr sei der Coitus zwar niemals direkt unangenehm 
gewesen, sie habe sogar das Gefühl gehabt, als ob sie vielleicht 
eine besondere Wollustempfindung zu erreichen imstande sei, allein 
es sei tatsächlich nie dazu gekommen und sie glaubt selbst, daß es 
nur auf die allzu schnelle und heftige Ejakulation ihres Mannes 
zurückzuführen sei. Ihr Gatte, also der Vater der in Rede stehenden 
Patientin, hat viele Jahre an nervösen Sonderbarkeiten gelitten, 
die sich schließlich zu einem Gehirnleiden herausgebildet haben, 
welchem der Kranke erlegen ist. 

Die Patientin selbst hat außer den gewöhnlichen Kinderkrank- 
heiten (Masern, Keuchhusten, Windpocken) keine Krankheiten über- 
standen. Sie ist durch Ammenmilch ernährt worden und hat früh 
sprechen und gehen gelernt. Als einziges Kind ist sie etwas ver- 
wöhnt, jedoch nicht im eigentlichen Sinne verzogen worden. Jeder- 
zeit ängstlich behütet, hat sie dennoch stets eine normale körper- 
liche Erziehung erhalten, die auch vor Abhärtungen nicht zurück- 
schreckte. Speziell hat sie stets genügend körperliche Bewegung 
gehabt und wenn angängig im Freien gebadet. Von Kindheit auf 
ist ihr das Schwimmen ein Bedürfnis gewesen. 

Geistig schildert die Mutter ihre Tochter als durchaus begabt. 
Stets von leichter Auffassung, waren ihre Anstrengungen jedoch 
mäßig, so daß sie in der Schule zwar spielend mitkam, jedoch 
entgegen ihren Anlagen nur Durchschnittliches leistete. Der 
Charakter ist trotz der Verwöhnung stets nachgiebig gewesen. 
Sic war nie eigensinnig und stets ein durchaus lenkbares Kind. 



Digitized by Google 



- 176 - 



Die ersten Menses traten schon mit 12 Jahren ein, von Anfang 
an regelmäßig und ohne Beschwerden. Das Verhältnis zwischen 
Mutter und Tochter war das denkbar herzlichste. Die Mutter 
behauptet, daß die Tochter wohl kaum je ein Geheimnis vor ihr 
gehabt habe. Sinnliche Gespräche sind selbstverständlich nie ge- 
führt worden. Eine Neigung zu lasziver Lektüre hat niemals be- 
standen. Das Mädchen hat eine durchaus glückliche und frohe 
Jugend verlebt ohne Stürme und Aufregungen in der selbstver- 
ständlichen Voraussetzung, daß in dieser Sorglosigkeit das ganze 
Leben vorüberziehen müßte. Besondere nervöse Symptome sind 
nie beobachtet worden. Höchstens zeigte sich bei der Bettlägerig- 
keit während der Kinderkrankheiten eine etwas vermehrte Ängst- 
lichkeit und Empfindlichkeit. 

Mit 20 Jahren hat sie einen nur wenige Jahre älteren Literaten 
geheiratet, der körperlich zwar etwas zart aussieht, aber voll- 
kommen gesund ist und sich auf großen Reisen manchen Strapazen, 
ohne Schaden zu nehmen, ausgesetzt hat. Seine geistige Bildung 
ist eine hohe und vielseitige, seine Auffassung von Wissenschaft 
und Leben eine im wesentlichen ideale, ohne dabei die oft unüber- 
windbare Rauheit der Wirklichkeit zu verkennen und zwecklos 
dagegen ankämpfen zu wollen. 

Das geistige Band zwischen den Eheleuten ist das denkbar beste. 
Sic haben sich aus Neigung und Liebe geheiratet, jedoch vielleicht 
weniger aus der Begeisterung geschlechtsreifer jugendlicher Schwär- 
merei heraus, als aus dem Gefühl der schon seit Kindheit bestimmten 
Zusammengehörigkeit. Zuerst war es eine Kinderliebe, dann 
Jugend-, schließlich eheliche Liebe. Es ist nicht zu verkennen, 
daß in dem ganzen Verhältnis dieses jungen Paares von Hause 
aus etwas ähnliches wie Geschwisterliebe gelegen hat und daß diese 
von ihrem Entstehen aus geschlechtslose Liebe zum Teil in das 
ehelichq Leben übergegangen ist. Diese Tatsache ist für die 
psychologische Auffassung und Erklärung der weiblichen Empfin- 
dungslosigkeit des vorliegenden Falles von Bedeutung! 

Die Patientin selbst ist mittelgroß und wohlgebaut. Die Unter- 
suchung der Genitalien ergibt den von der Mutter vermuteten 
Befund. Eine eigentliche Defloratio hat trotz fast einjährigen ge- 
schlechtlichen Verkehrs noch nicht stattgefunden. Das Hymen ist 
unverletzt, der Introitus eng. 

Der rein mechanische Grund dieser Sterilität ließ sich demnach 
unschwer beseitigen. Der Hymenalring wird an einzelnen Stellen 
inzidiert und der so zugänglicher gemachte Introitus in mehreren 
Sitzungen laugsam mit dem Sperr-Spekulum mehr und mehr aus- 
gedehnt, bis die Patientin selbst imstande ist, einen hinreichend 
starken Obturator in die Scheide einzuführen. Diese Versuche werden 
lediglich unter Leitung des Gefühls gemacht. Die Patientin muß 
sich gewöhnen, ohne Hilfe des Gesichtssinnes die Einführung zu 
bewirken, was ihr nach den Dehnungen bald gelingt. Sie wird 



* 

Digitized by Google 



— 177 — 

auf die Ähnlichkeit des Verfahrens beim normalen Coitus hin- 
gewiesen und in Anbetracht der offenbar in Venere exercenda nicht 
übermäßigen Geschicklichkeit ihres Gatten wird ihr das ent- 
sprechende Verhalten in praxi empfohlen. 

Der Erfolg war der denkbar beste. Jegliche Unbequemlichkeit 
und Schmerzhaftigkeit war bald beseitigt und eine normale Immissio 
penis erreicht — allerdings noch immer ohne jegliches 
angenehme Gefühl und ohne die Spur einer Ahnung 
davon. 

De/ beste Beweis für den vollen Erfolg war die bereits nach 
2 Monaten ausbleibende Periode. Die Patientin hat eine durchaus 
normale Schwangerschaft durchgemacht und zur normalen Zeit ein 
gesundes Kind in leichter Geburt zur Welt gebracht. 

Jedoch ist bis heute noch keine Empfindung 
aufgetreten. Eine besondere Angst vor der erwarteten Nieder- 
kunft lag nicht vor. Die Patientin war glücklich, den Gegenstand 
heißesten Wunsches ihres Mannes, das Verlangen nach Nach- 
kommenschaft, in ihrem Schöße zu tragen. 

Eine etwaige Behandlung wegen der Anästhesie ließ ich vor- 
läufig vollkommen außer Acht. Die anderen Erfolge waren vor 
der Hand hinreichend, um die Patientin bis nach der Geburt zu 
vertrösten. 

Die Geburt hat erst vor kurzem stattgefunden, so daß der in- 
teressante Fall von Empfindungslosigkeit bei Mutter und Tochter 
zugleich leider seinen für den vorliegenden Zweck bedeutungsvollen 
Abschluß noch nicht gefunden hat. 



Die Krankengeschichte zeigt uns das Doppelbild der Un- 
empfindlichkeit bei Mutter und Tochter zugleich. 

Trotz der spärlichen Andeutungen der Mutter über ihren 
eigenen Zustand genügen die Angaben vollkommen zur Er- 
klärung im Rahmen der uns bekannten Momente. Ihr Gatte 
ist stets sonderbar, nervös gewesen, schließlich hat sich eine 
^manifeste Gehirnkrankheit entwickelt, an der er gestorben ist. 
Schon diese Anamnese legt den Verdacht nahe, daß männlicher- 
seits sexuelle Störungen vorhanden waren. Die Gattin gibt 
selbst zu, daß die Ejaculatio äußerst schnell von statten ging 
und daß sie selbst stets im Stadium der Erwartung gelassen 
wurde. 

Die Erwartung, ein gewisses Erregungsgefühl, wird also 
ohne weiteres zugestanden und hierin unterscheidet sie sich 
wesentlich von ihrer Tochter. Die Mutter hat Libido und 
erreicht einen gewissen Grad angenehmer Friktion, allein der 

Adler, Geschlechtsempfindung. 8. Aufl. 12 



Digitized by Google 



- 178 - 



Orgasmus bleibt vollkommen aus. Bei der Mutter haben wir 
einen ziemlich reinen Fall ausbleibender GeSchlechtslust in- 
folge Ejaculatio praecox des Mannes. 

Die Tochter hat in dem ersten Jahre ihrer Ehe eine rein 
mechanisch falsche Geschlechtsbehandlung erlitten. Nicht in 
dem schmerzhaft irritierenden Sinne wie etwa beim Vaginis- 
mus, sondern lediglich in mehr negativer Hinsicht. Sie hat 
wohl weniger Schmerzen gehabt als das unbewußte Gefühl, 
daß die von dem Manne aus Ungeschicklichkeit geübte Form 
des Verkehrs ante portas unmöglich die richtige Art und Weise 
des conubium sei! 

Nach einem Jahre solchen Scheinverkehres entschließt sie 
sich um ärztlichen Rat zu fragen. Es ist charakteristisch, daß 
dies der Kindersehnsucht wegen geschieht und nicht aus der 
Klage über den Mangel der Empfindung heraus. Die Be- 
handlung ist verhältnismäßig einfach und führt, wie geschildert, 
sehr bald zum gewünschten Erfolg. 

Es fragt sich, ob der ein Jahr lang unvollständig voll- 
zogene Verkehr den Grund der anhaltenden Hemmung 
für den weiblichen Teil abgegeben hat. Während dieser Zeit 
sicherlich. Aber ich halte ihn, da eine wirklich entzündliche 
und schmerzhafte Irritation niemals stattgefunden hat, nach 
der Befreiung und Belehrung nicht mehr für dauernd und 
anhaltend. 

Die absolute Unerregbarkeit, die nun auch in der Gra- 
vidität fortbesteht, trotzdem die Patientin mit der Mutter- 
schaft den Himmel ihrer Wünsche erreicht hat, ist im wesent- 
lichen eine rein psychische und beruht vorwiegend auf dem 
geschilderten geschwisterartigen Liebesverhältnis der Bhe- 
gatten. Dieses kann sich mit dem Augenblick der vollendeten 
Mutterschaft vollkommen ändern und tatsächlich geht sehr 
häufig nach dem ersten Kinde zum ersten Male der Zustand 
des Indifferentismus in den der geschlechtlichen Empfindung, 
Erregung und Lust über. 

Jedenfalls ist für den vorliegenden Fall alles in günstigster 
Weise für das herannahende Glück der Sinne vorbereitet- 



Digitized by Google 



X. Kapitel. 



DieFolgeii der mangelhaften Geschlechtsempf indung. 



Vergleich mit anderen Fehlern der Sinnesorgane, spez. Blindheit. 
Unterschied durch den gegenseitigen Austausch. Der Einfluß auf das 
Weib selbst. Gering bei absoluter Anästhesie ohne Libido und ohne 
Orgasmus. Gesichtsausdruck bei derselben. Koketterie und Sinnlichkeit. 
Körperlicht Störungen bei mangelndem Orgasmus allein (Fluor, Metritis, 
Endometritis). Dysmenorrhoe bei jungen Mädchen. Die latente Libido 
der Jungfrau und die Enthaltsamkeit. Nervöse Störungen durch mangel- 
hafte Befriedigung. Angstneurosen etc. (Gattel), Freud und W. Stekel. 
Angstneurose und Angsthysterie. — Verschiedene Krankheitsbilder. Dr. 
Alice Stockhams Reformehe. Visionen aus dem transzendenten Leben. 
Das sexuelle Medium' Jder Zukunft. Einfluß auf die Familie. "Ge- 
fahren für Mann und Kinder. Johanna Elberskirchen entgegengesetzter 
Standpunkt. 



Es liegt der Gedanke nahe, daß absolute Onkenntnis 
eines geschlechtlichen Empfindens einen Einfluß, eine tiefer- 
gehende Wirkung auf den weiblichen Organismus auszuüben 
nicht imstande sein kann. 

Bei den anderen Sinnen beobachten wir jedenfalls ähn- 
liches. Der Blinde hat wohl seinen eigenen, ruhigeren Ge- 
sichtsausdruck, der sofort den Mangel der Sehkraft verrät. 
Eine ausgesprochene schädliche Rückwirkung jedoch auf 
andere Organe ist nicht vorhanden. Selbstverständlich fehlt 
ihm die lebhafte, harmonische Gesamtausbildung, dafür treten 
andere Fähigkeiten, speziell eine viel feinere Gestaltung von 
Gehör und Gefühl ein. 

Ähnlich ist es bei den anderen Sinnesorganen. Und 
dennoch existiert für die Geschlechtsempf in- 

12. 



Digitized by Google 



- 180 — 



dung ein völlig anderer Maßstab. Die Ge- 
schlechtslust ist nicht nur der individuelle Be- 
sitz einer einzelnen Person, sondern erlangt 
seinen vollen Wert erst im gegenseitigen Aus- 
tausch. Das Glück der Sinne ist nur vollkommen im 
Doppelgenuß zweier Liebenden. 

Hieraus folgt allein schon die zwingende Kraft, welche 
weibliche ünempfindlichkeit auf das Weib selbst, auf den 
Gatten ev. auf die ganze Familie ausüben muß. 

Diese Folgen sind im wesentlichen psychische 
und können den Frieden der Familie gefährden. Sie können 
bei Mann und Weib den Grund geben zu dauernden geistigen 
und nervösen Störungen. 

Zweitens ist eine direkte Einwirkung auf den weiblichen 
Organismus, eine wirkliche krankhafte Organverände- 
rung des Sexualapparates besonders bei vorhandener Libido, 
aber fehlendem Orgasmus, nicht nur denkbar, sondern wohl 
bewiesen und festgestellt. 

Betrachten wir vorerst die Konsequenzen der Anästhesie 
am Körper und Geist des Weibes allein. 

Ohne jedes Verlangen und ohne jeden Trieb (Libido) 
und ohne jede Geschlechtslust und -empfindung (Orgasmus), 
also bei der typischen natura frigida, ist die Wirkung der 
Empfindungslosigkeit nur minimal. Wenn die so Beschaffene 
eine liebende Gattin und fürsorgliche Mutter zugleich ist, 
fehlt ihr tatsächlich nur ein Gefühl, das sie nicht entbehrt, 
weil sie es nicht ahnt und kennt. Allerdings mag der ganze 
Charakter, der von der rosigen Glut der höchsten Sinnes- 
empfindung niemals erwärmt wurde, bisweilen eine kalte, 
prosaische Färbung annehmen. Aber man glaube nicht, daß 
unter allen Umständen solche komplette Anästhesie auf den 
Zügen eines solchen Gesichtes liegen muß. 

Das Gegenteil ist allzuhäufig der Fall, und selbst be- 
rufene Frauenkenner können sich irren, wenn sie aus solchen 
Augen mit Sicherheit zu lesen glauben. 

Man spricht von einem sinnlichen Ausdruck der Augen*) 
und einem anlockenden, koketten Benehmen als besonderen 
Zeichen einer geschlechtsempfindenden und geschlechtsbedürf- 



') Vergl. Schluß des Kapitels VII. 



Digitized by Google 



- 181 - 



tigen Frau. Die Koketterie hat mit der Sinnliche 
keit absolut nichts zu tun. Auch die kalte Frau will 
gefallen, und dies vielleicht umsomehr, als sie ihren geschlecht- 
lichen Fehler kennt. Die weibliche natürliche Eitelkeit drängt 
auf das Gefallen hin. Selbst die absolut kalte Frau, die nie 
etwas bei ihrem Gatten empfunden hat, würde in ihrer Eitel- 
keit tief gekränkt sein, wenn ihr Mann sie nicht mehr be- 
gehrte. Es handelt sich natürlich nur um diejenige Gattin, 
die keine Abneigung gegen den Mann besitzt und die um der 
Reinheit ihrer Neigung, um der Reinheit des Familienlebens 
willen jeden unerlaubten Gedanken mit Entrüstung von sich 
weisen würde. 

Wenn Libido vorhanden ist, aber der Orgasmus aus- 
bleibt, so liegen die Verhältnisse für Leib und Seele wesent- 
lich ungünstiger. 

Die Libido entspricht physiologisch einer vermehrten ßlut- 
füllung der sexuellen Teile. Der Orgasmus bedeutet den 
Höhepunkt der Fluxion, zugleich aber auch das Signal zur 
schnellen Entlastung, die Rückkehr zu normalen Zirkulations- 
verhältnissen. 

Wenn diese natürliche Reaktion ausbleibt, so kann die 
libidinöse Fluxion und Stauung leicht eine dauernde werden 
und aus ihr entwickelt sich das Heer der gewöhnlichen Unter- 
leibsstörungen, Ausfluß und schmerzhafte Entzündung (Fluor, 
Metritis, Endometritis etc.). 

Unbefriedigte Libido ist auch beim geschlechts reifen 
jungen Mädchen ein häufiger Grund ihrer sexuellen Be- 
schwerden, die im wesentlichen in Ausfluß und schmerzhaften 
Menses (Dysmenorrhoe) bestehen. Wir haben bei der Be- 
sprechung der Masturbation bereits hierauf hingewiesen und 
betont, daß von alters her gegen diese virginellen Krankheiten 
die Ehe als Heilmittel erprobt ist. 

Die seelische Beeinflussung ist bei allen sexuellen Emp- 
findungsstörungen jedoch von hauptsächlichster Bedeutung, 

Eine gesunde Sinnlichkeit verlangt auf alle 
Fälle eine normale Befriedigung. Wenn Körper* 
und Geist gegen einen von der Natur dem Individuum ein- 
gepflanzten Trieb dauernd ankämpfen sollen, müssen sich 
seelische Störungen oder zum mindesten Verkümmerungen 
ergeben. 



Digitized by Google 



- 182 - 



Die viel diskutierte Frage über die Folgen der Enthaltsam- 
keit soll hier nicht entschieden werden. Oerade beim Weibe 
hat man sie vielfach gepriesen, weil so häufig seine ur- 
sprüngliche Libido so gering sei. 

Wer einen offenen Blick für Welt und Menschen hat, 
wird in dem Typus der alten Jungfer nicht gerade eine 
lobenswerte und ideale Züchtung erblicken. Mögen hier 
soziale Verhältnisse allerdings in schwerwiegendster Weise 
mitsprechen, mag die seelische Verkümmerung auch zum 
großen Teil eine Folge der Isolierung und verfehlter Lebens- 
freude sein — alles abgerechnet bleibt immer noch der un- 
verkennbare Unterschied zurück, der weit zu Gunsten des 
[Weibes spricht, welches die sinnliche Liebe kennt und genießt. 

Es ist auch durchaus kein Widerspruch, wenn man be- 
hauptet, daß bereits die Jungfrau an Krankheiten leidet, welche 
auf unterdrückter Empfindung beruhen, obgleich die Ge- 
schlechtslust des Weibes vielfach erst durch den Mann ge- 
weckt wird. Die latente Geschlechtsempfindung dokumentiert 
sich nur anders, als „Sehnen und Drängen", nicht als die 
stürmische, nach außen drängende Kraft des Mannes. Wenn 
auch oft Schwierigkeiten vorhanden sind, die weibliche Emp- 
findung mit richtiger Technik und unter behutsamer Beseiti- 
gung ihrer natürlichen Hemmungen zum Ziele zu führen, 
so folgt daraus noch durchaus nicht, daß ihre im Individuum 
schlummernde Kraft absolut wirkungslos ist. 

Die Tatsache einer durchaus ausgebildeten Sinnlich- 
keit dürfte wohl allgemein als hinreichender Grund betrachtet 
werden, dieselbe auch zeitweise ganz zu genießen. Ein ewiger 
Kampf dagegen kann zu schweren Störungen des Geistes 
führen. 

Die nervösen Störungen vom leichten M a 1 1 i g - 
keits- und Unlustgefühl bis zum schweren Angst- 
anfall und Krampf-, Magen-, Darmbeschwerden, 
Muskelschwäche, kurz das vielgestaltige Bild von Neur- 
asthenie und Hysterie haben allzuhäufig ihren vornehm- 
lichen Grund in sexuellen Störungen, in mangelhafter Ge- 
schlechtsempfindung. 

Gattel („Ueber die sexuellen Ursachen der Neur- 
asthenie und Angstneurose") bespricht an 100 Fällen diesen 
Zusammenhang. Irgendeine sexuelle Anomalie ist überall vor- 



Digitized by Google 



— 183 - 

handen, besonders die mangelhafte Befriedigung, infolge von 
Ejaculatio praecox oder Coitus interruptus. 

Hier muß noch einmal die Freud sehe Schule erwähnt 
werden. Bei Stekel*) begegnet man fast auf jeder Seite 
dem Wort „anästhetisch" als Urgrund einer Summe der 
verschiedensten Leiden. Hier kann nur ein ganz fragmen- 
tarischer Hinweis den reichen Inhalt des Buches andeuten. 

Stekel spricht von „Angstneurose" und „Angst- 
hysterie". Beide zusammen liefern folgende sexuell ver- 
ursachte Krankheitsformen : 

1. Der reine Angstanfall. 

2. Angstneurose mit Erscheinungen des Herzens. 

3. Brustangst. 

4. Störungen der Verdauung. 

5. Nervöses Erbrechen. 

6. Kongestionen, Ohnmacht, Schwindel. 

7. Zittern und Schütteln. 

8. Periodische Abmagerung etc. 

9. Muskelkrämpfe. 

10. Schlaflosigkeit. 

11. Platzangst. 

»12. Angst vor dem Erröten. 

13. Eisenbahn-, Prüfungsangst. 

14. Schwindel und Bergangst. Die Angst, zu stürzen. 

15. Stottern, Lampenfieber etc. etc. 
Seltsamerweise stellt sich ein weiblicher Autor, Dr. Alice 

Stokham (Chicago) in der Schrift: „Die Reform- 
Ehe", auf den entgegengesetzten Standpunkt. 

Ihre „neue Form des Geschlechtsverkehrs" 
läßt keinen Orgasmus und keine Ejaculatio zu, „es darf nicht 
zur Auslösung des höchsten Reizes kommen". Die demgemäß 
Handelnden „versichern, daß sie davon den höchsten Genuß, 
der überhaupt möglich ist, haben, keinen Kraftverlust leiden 
und den Befruchtungsvorgang mit absoluter Sicherheit be- 
herrschen können!" Und weiter: 

„Die geschlechtliche Vereinigung, dem Willen unterworfen 
und dem Zwecke angepaßt, erfährt durch eine bewußte 



•) Dr. Wilhelm Stekel: Nervöse Angstzustände und ihre Be- 
handlung. 1908. 



Digitized by Google 



- 184 - 



Anwendung eine Verherrlichung und die eheliche Liebe emp- 
fängt eine neue Bedeutung zugleich mit neuen Kräften." 

Der hinkende Bote dieses sonderbaren Evangeliums, das 
aus dem Geiste der mangelhaft empfindenden Frau, die eine 
neue und wiederholte Mutterschaft fürchtet, gepredigt und 
geformt zu sein scheint, kommt jedoch unmittelbar nach. 

Es sollen bei dieser Uebung „geistige Verzückung, 
Visionen aus dem transzendenten Leben" sich einstellen! 

, Die wenigen Worte genügen, um die Verfasserin bereits 
auf einem weit vorgeschrittenen nervösen Wege 
zu finden, den wir als die natürliche Folge solcher sexuellen 
Irrungen kennengelernt haben. Einen Schritt weiter und das 
sexuelle Medium wäre die neueste Errungenschaft in 
unserer übersinnlichen und transzendenten Zeit! — 

Jede dauernde Störung im sexuellen Empfinden des ver- 
heirateten Weibes erstreckt sich jedoch nicht allein auf seinen 
Organismus, auf Schäden .am eigenen Leib und der Seele, 
sondern kann eine tiefgreifende Wirkung auf das 
Eheleben, kann einen erheblichen Einfluß auf Gatten und 
Familie haben. Zur vollen Harmonie der Seelen, wie sie 
für eine glückliche Ehe Bedingung sind, gehört das grob- 
sinnliche Element des vollen gegenseitigen Geschlechts- 
empfindens. Die weibliche Verzückung ist dem liebenden 
Manne eine unendliche Veredelung seiner eigenen Sinnlichkeit 
und gibt ihm erst das wahre Bewußtsein seines Glückes. 
Das kalte Weib erniedrigt die Leidenschaft des Mannes leicht 
zum rohen Sinnesgenuß, in seinem Innern bleibt eine leere, 
unbefriedigte Stelle zurück. Oft genug ist dies der Grund, 
daß er in anderen Armen eine heißere Erwiderung sucht, 
und hiermit ist der erste Riß in das Familienleben geschehen, 
dessen Konsequenzen auf Zusammenleben und Erziehung 
nicht ohne Einfluß bleiben, dessen Ausläufer bis in die 
Kinderstube reichen und die sozialen Verhältnisse vollkommen 
erschüttern und verderben können. 

Auch Johanna Elberskirchen*) gibt den krank- 
haften Einfluß eines fehlerhaften Ablaufes des Geschlechts- 



*) Krankhafte Veränderungen und abnorme Er- 
scheinungen des weiblichen Geschlechtstriebes in 
Koßmann Mann und Weib, II, 201. 



Digitized by Google 



- 185 - 

empfindens unumwunden zu. Allerdings nur auf das emp- 
findungslose Weib selbst. Dagegen betrachtet sie sonderbarer- 
weise die Geschlechtskälte des Weibes als irrelevant für den 
Mann. Sie sagt wörtlich: 

„Obgleich sie dem Manne geschlechtlich gleichgültig 
gegenüberstehen, können sie ihn doch mit größter Liebe um- 
geben, aber ihre Liebe gilt nicht dem Manne als Geschlechts- 
wesen, sondern als Mensch, als Freund und Genossen. Und 
da dies das ungleich wertvollere ist, sollten die Männer 
es wirklich nicht tragisch nehmen, wenn ihre 
Frau an mangelhafter G es ch 1 e ch t s e m p f i n d u n g 
leidet . . 

Hier entwickelt sich eine so fundamental andere Welt 
männlichen und weiblichen^ Empfindens, daß eine' Diskussion 
nicht mehr möglich ist. Es stoßen inkommensurable Größen 
aneinander. Der Autor jedenfalls und mit ihm die über- 
wiegende Mehrzahl seiner Geschlechtsgenossen stehen auf dem 
gegenteiligen Standpunkte. Ihnen ist der eigene Geschlechts- 
genuß ohne Empfinden des Weibes eine salzlose, ungewürzte 
Nahrung, die kümmerlich genug den Hunger stillt. Die Frage 
kann sogar von juristischer Bedeutung werden. Sie ist im 
juristischer. Kapitel des weiteren behandelt. 



Digitized by Google 



XI. Kapitel. 



Die Behandlung der mangelhaften 
Geschlechtsempfindung. 



Der praktische Wert der Prophylaxe im allgemeinen, bei der 
Anaesthesia sexualis im speziellen. Die Erziehung zur Sinnlichkeit. 
Brutalität resp. Ungeschicklichkeit des Mannes in der Hochzeitsnacht 
gibt oft einen dauernden Hemmungsgrund ab. Rechtzeitige Belehrungen. 
Mechanische Behandlung. Dehnungen durch langsame Spekulumbehand- 
lung. Künstliche Defloratio. Ausschneidung (Exzision) des Hymen resp. 
Einkerbung. Entfernung schmerzhafter Hymenaireste (Vaginismus). Bei 
Inkongruenz von Penis und Vagina Anleitung zur manuellen Introductio. 
Bei innerer Schmerzhaftigkeit auf parametritischer Grundlage speziell 
gynäkologische Behandlung (Bäder, Resorption, Massage etc.). Variationen 
der Positiv (Inversio, a posteriore). Bei Ejaculatio praecox Behandlung 
des Mannes. Das Wesen der psychischen Behandlung beim Fehlen zeit- 
licher oder mechanischer Differenzen. Das Aufsuchen der Hemmung, 
des psychischen Traumas. Hypnose. Die psycho-analytische Methode 
Freuds. Träume. Die Mittel der Erregung von seiten des Mannes. 
Tändeleien, Küsse. Der individuelle Zauber geistiger Erregung. Titillatto. 
Ärztliche Behandlung — Elektrizität (Voinow, Rohleder). Biersche 
Stauung.' Scheidenspekulum (Fischer-Karlsbad). Sexualgymnastik (Zablu- 
dowsky). Zurückhaltende Vorsicht des Arztes bei der kombiniert mechani- 
schen Behandlung und seelischen Beeinflussung. Medikamente. Suggestive 
Wirkung. Liebestränke. Alkohol, Canthariden, Yohimbin (Berger). Rhome- 
Tabletten Muiracithin (Lustwerk). Libidol (Kantorowicz). Ovarial- 
tabletten, Oophorin, Ovaraden. Opo(Brunst)milch (Bucura). Nenadowicz. 
Veit. Thelygan nach J. Bloch. Opium als speziell weibliches Aphro- 
disiacum (Neumann). 



Wenn man die großen Lehrbücher der Medizin durch- 
wandert, so findet man bei der Beschreibung der einzelnen 
Krankheiten in der Regel die systematische Einleitung in: 



Digitized by Google 



- 187 - 



Aetiologie, anatomischer Befund, Symptome und Therapie. 
Die Therapie beginnt fast durchweg mit der Prophylaxe. 

Diese Prophylaxe bleibt meist ein frommer Wunsch. Ihre 
Undurchführbarkeit liegt in der physischen Unmöglichkeit des 
Einzelindividuums, gegen ein Heer von hundert und Tausenden 
von Krankheiten, deren Existenz dem Laien bisweilen kaum 
dem Namen nach bekannt ist, sich vorbeugend zu wappnen. 
Das menschliche Leben würde nur aus Prophylaxe bestehen 
»und dem individuellen Einzelleben mit seinen gewaltigen An- 
forderungen zum Gewinn der körperlichen und geistigen 
Existenzmittel kaum eine kurze Spanne Zeit übrig lassen. 

Die Prophylaxe kommt deshalb praktisch vorwiegend nur 
in Betracht bei Epidemien, ferner bei gewöhnlichen Lebens- 
bedürfnissen und -Verrichtungen, die sich besonders auf das 
Nahrungs- und vor allem auf das sexuelle Gebiet beziehen. 
Die „Gesellschaft zur Bekämpfung der Ge- 
schlechtskrankheiten" betrachtet es als eine ihrer 
ersten Aufgaben, die Gefahren des durch Naturforderung und 
soziale Maßnahmen ununterdrückbaren illegitimen Geschlechts- 
verkehrs vor allem prophylaktisch zu mindern und zu heben. 

Wenn irgendwo das Wort Prophylaxe eine erfüllbare 
Forderung bedeutet, so sicherlich zur Vermeidung der ganzen 
oder teilweisen Geschlechtsunempfindlichkeit des 
IWeibes. Ein großer Teil der weiblichen kalten 
Naturen ist ein Opfer des Mannes, dessen ent- 
weder unbewußte Ungeschicklichkeit oder 
leider bisweilen bewußte Brutalität der zarten 
Pflanze, die mit künstlerischer Eigenart und 
Liebe großgezogen werden sollte, von vorn- 
herein die Pracht der Entfaltung genommen hat. 
Es ist in den vorangegangenen Betrachtungen und Kranken- 
geschichten wiederholt auf diesbezügliche Einzelheiten hin- 
gewiesen worden. Es läßt sich kein Schema für die Form 
der Erziehung zur Liebe und zum Empfinden aufstellen. 
Allein ein ahnungsvolles und zitterndes Weib wird die Er- 
innerung an eine brutale Hochzeitsnacht ihr ganzes 
Leben bewahren, und oft genug gibt diese Erinnerung den 
hinreichenden Hemmungsgrund für die ganze Zukunft 
ab, wenn der Gatte nur seine eigene Sinneslust rücksichtslos 



Digitized by Google 



- 188 — 



weiter befriedigt, ohne einer gegenseitigen Anpassung zu Liebe 
seine Annäherungen mechanisch und seelisch zu modifizieren. 

Es» mag zur Ehre der Männer gesagt sein, daß vielleicht 
nur in selteneren Fällen eine bewußte Brutalität, viel häufiger 
dagegen Ungeschicklichkeit und Unverstand der Grund dieser 
Verirrung ist. Der Mann, der im seelischen Verkehr mit dem 
weibliehen Geschlecht nicht besonders begabt ist, wird aus 
seinen früheren Liebeserfahrungen bei der Venus vulgivaga 
keine brauchbaren Kenntnisse in die Ehe mitbringen, weder 
seelisch noch körperlich. Es wäre gut, wenn auch hier statt 
eines unsicheren Schweigens und zaghafter Ungewißheit vor- 
her die Lippen dem nahestehenden Arzte geöffnet würden, 
welcher dem Neuling manche Direktive geben könnte und 
auch sein seelisches Selbstbewußtsein zu heben und zu 
kräftigen imstande wäre, ohne welches der Mann leicht als 
ein Schwächling oder bei falscher übermäßiger Verwendung 
eben als brutal in den Augen seiner jungen Gattin erscheinen 
könnte. 

Die Prophylaxe hat demnach auf diesem wichtigen und 
bedeutungsvollen Punkte des sexuellen Lebens ihre unbedingte 
praktische Berechtigung aus dem einfachen Grunde, weil die 
weitaus größte Mehrheit der Menschheit eine legitime Ehe- 
gemeinschaft eingeht und demgemäß ihre sexuellen Bedin- 
gungen kennen sollte. Es ist ein Unterschied, ob man z. B. 
mit ängstlicher Prophylaxe sein Leben vor einem Typhus 
bewahren soll, oder ob man eine prophylaktische Belehrung 
in sexuellen Dingen betreibt. Der Typhus ist ein dräuendes 
Gespenst welches nur einen minimalen Bruchteil der Mensch- 
heit befällt. Wir besitzen nicht Kraft und Zeit genug, uns 
gegen jeden Feind zu wappnen, und es ist im allgemeinen ein 
hinreichendes Ergebnis, wenn wir im Augenblick der unmittel- 
bar drohenden Gefahr, beim Typhus, also bei einer be- 
ginnenden Epidemie, die prophylaktischen Maßnahmen nach 
Möglichkeit beachten. 

Anders ist es in der sexuellen Frage. Das sexuelle Leben, 
das nächst dem Nahrungstriebe der gewaltigste Faktor des 
menschlichen Daseins ist, trägt die berechtigte Forderung 
seiner Kenntnis in sich. Wenngleich eine sinnlich seelische 
Liebe einen besonderen Reiz durch den mysteriösen Schleier 
erhält, mit welchem sich das liebende Paar vor der übrigen 



Digitized by Google 



- 189 - 

Welt verschließt, so darf doch nicht Unkenntnis und Mangel 
an Aufklärung der Grund einer solchen Zurückhaltung sein. 
Es läßt sich sehr wohl für ein junges Mädchen das erforder- 
liche Maß sexueller Kenntnis [;cwinn;.i, ohne die jungfräu- 
liche Scham im mindesten zu beeinflussen und zu gefährden. 
Sicherlich ist zum wenigsten in der jungen Ehe eine 
frühe Belehrung dringend ratsam, um dauernden Störun- 
gen vorzubeugen. Für den Mann ist dieser Weg noch ein- 
facher, da er als Mann dem Manne gegenübertritt und nicht 
erst den oft schweren Kampf zu überwinden hat, den das 
weibliche Schamgefühl durch das Bekenntnis vor dem männ- 
lichen Geschlecht mit Zittern fürchtet. 

Eine durch ängstlich gehütete Unkenntnis 
großgezogene Keuschheit und Zurückhaltung 
kann zwar die treueste, aber zugleich auch 
kälteste Weiblichkeit heranbilden. 

Für die mechanische Behandlung der Anaesthesia 
sexualis kommt vor allem die Herstellung einer schmerzfreien 
Passage in Betracht. Wie wir vordem beschrieben haben, 
hat oft genug eine unvollkommene, bisweilen" überhaupt keine 
Defloratio stattgefunden — Rohleder*) spricht recht be- 
zeichnend von „Hy menismus". 

Der natürliche therapeutische Weg ergibt sich hier von 
selbst. In nachgiebigeren Fällen wird die wiederholte (8 bis 
10 mal) und längere ( 1 / 2 — 2 Stunden) Einführung eines Dilata- 
toriums genügen. Entweder wählt man hierzu Specula von 
wachsender Größe oder, was schonender und empfehlenswerter 
ist, ein metallenes Sperr-Spekulum, das mit geschlossenen 
Branchen eingeführt und ganz allmählich weiter geschraubt 
wird. Das Sperr-Spekulum hat nicht nur den Vorzug der 
feinsten Nuanciefung der Dehnung, sondern vor allem auch 
den der schonenderen Einführung, weil seine geschlossenen 
Branchen jede voluminösere Rundung auch des kleinsten 
zylindrisch geformten Dilatatoriums durch ihre flächenartig 
den Vaginalwänden angepaßte Form umgehen. 

Bei voller Intaktheit des Hymen wird sich ein chirurgi- 
scher Eingriff kaum vermeiden lassen. Diese künstliche De- 



•) Die Dyspareunie des Weibes — Arch. f. Frauenk. u. 
Eugenik 1914, Heft 2. 



Digitized by Google 



... ioo — 



floratio kann entweder total als volle Umschneidung des 
Hymenalkranzes oder auch als partielle Einkerbung an 3 bis 
4 Stellen ausgeführt werden. Durch die letztere etwas! 
schonendere Manipulation wird die kleine Operation der 
natürlichen Defloratio ähnlicher. 

Der kleine Eingriff ist nur bei sehr aufgeregten und 
widerspenstigen Patientinnen in leichter Allgemein-Narkose 
auszuführen. Sonst genügt wohl stets lokale Kokain-An- 
ästhesie, bei ruhigen und gefaßten Frauen ist auch diese über- 
flüssig. Es ist vielleicht am ratsamsten, sich diese Ruhe und 
Gefaßtheit durch einige vorbereitende Konsultationen langsam 
zu erziehen und nicht beim ersten Male zu Messer und Schere 
zu greifen. 

In den meisten Fällen genügt die Exzision resp. Inzision 
mit nachfolgender Tamponade. Nur in seltenen Fällen, be- 
sonders wenn ein größeres Blutgefäß das Hymen durchsetzte, 
wird eine Naht oder Umstechung nötig sein. 

Bei vollzogener natürlicher Defloratio können die stehen- 
gebliebenen, nicht selten narbig aufgetriebenen Carunculaej 
myrtiformes, die bisweilen den alleinigen Grund für den ge- 
fürchteten Zustand des Vaginismus abgeben, eine gleiche Be- 
handlung verlangen. Rein chirurgisch dürfte diese Operation 
noch leichter und unblutiger sein, als die komplette künstliche 
Defloratio. Allein meist hat das Nervensystem der betreffenden 
Frauen in diesen Fällen merklich gelitten und eine übernervöse 
Ängstlichkeit behindert entweder ihre Entschließung zu dem 
kleinen Eingriff oder erschwert dem Arzte die Ausführung* 
Hier ist eine psychisch beruhigende Vorbehandlung, in welcher 
das Vertrauen schrittweise und sicher erworben wird, be- 
sondere Bedingung. 

Bisweilen ist eine mechanische Inkongruenz zwischen 
Vagina und Penis nicht mehr vorhanden, und trotzdem er- 
folgt eine immissio entweder überhaupt nicht oder nur mit 
Schwierigkeiten und Schmerzen und dementsprechend auch 
im Vollzuge des Coitus ohne Geschlechtsempfindung. Auch 
hier spielen noch Ungeschicklichkeit des Mannes nicht minder 
wie der Frau eine Rolle. Bisweilen erschweren jedoch Lage- 
anomalien im Verhältnis der gegenseitigen Bauart tatsächlich 
eine spontane introduetio. Die Winkelbildung des erigierten 
Penis spielt hier nicht weniger eine Rolle als die Lage der 



Digitized by Google 



- 191 — 

gesamten Vulva entweder sehr nahe der Symphyse oder um- 
gekehrt mehr analwärts. Auch die ganze Körperkonstitution 
pflegt nicht ohne Einfluß zu sein, speziell kann ein starker 
Leib außerordentlich hindern, im extremsten Fall bei beider- 
seitigem Vorhandensein eventuell zur Unmöglichkeit des nor- 
malen connubium führen. 

Ohne manuelle Unterstützung wird in solchen Fällen 
kaum zu helfen sein. Wenn angängig, mag der männliche 
Teil auf diesem Wege die Direktion versuchen. Sonst wird 
sich die diesbezügliche weibliche Hilfe kaum umgehen lassen. 
Es kann notwendig werden, diese introductio 
manu uxoris direkt lehren zu müssen. In einem 
der geschilderten Fälle haben wir die Patientin langsam ge- 
wöhnen müssen, sich selbst lediglich unter dem Schutze des 
Gefühles das Spekulum einzuführen und ihr nach Überwindung 
der Schwierigkeit ein gleiches Verhalten pro speculo vi- 
vente mariti zu empfehlen. 

Sind jegliche Anomalien und Schwierigkeiten der immissio 
und introductio überwunden, so bleiben von mechanischen 
Insulten noch die tief en Beckenschmerzen *übrig, 
welche bei stärkerer Kohabitation und stürmischerem Vor- 
gehen des Mannes eine normale Entstehung des weiblichen 
Geschlechtsempfindens nicht aufkommen lassen, resp. ein be- 
reits erworbenes Gefühl von neuem vernichten können. 
Meistens handelt es sich um Verwachsungen und Verlage- 
rungen auf parametritischer Grundlage. Die hiergegen ge- 
bräuchlichsten Mittel und Kuren (Sol- und Moorbäder, Glyzerin, 
Tannin, Ichthyoltampons, Massage etc.) sind dabei auch hier 
indiziert. Wird Resorption, Beweglichkeit und Schmerzlosig- 
keit erreicht, so ist damit der Weg der Heilung auch für 
die Anaesthesia sexualis geebnet. 

Beim Mangel jeglicher anatomischer Befunde tritt das 
Verhalten des Nervenapparates mehr und mehr in seine Rechte. 

Bei den Fällen partieller Unempf indlichkeit, 
wie sie besonders bei früherer Masturbation vorkommen, ist 
oftmals die Positio von entscheidender Bedeutung. Haben! 
nurbe stimmte Stellen der Vulva resp. Vagina Empfindungs- 
fähigkeit, so ist die bevorzugte Reizung oft nur unter be- 
stimmten Bedingungen möglich, die bisweilen in praxi aman- 
tium durch Zufall entdeckt werden. Jedenfalls kann hier nur 



Digitized by Google 



- 192 - 



andeutungsweise wiederholt werden, daß Variationen der 
Positio oftmals ein schlummerndes und geahntes Ge- 
schlechtsempfinden wie mit einem Zauberschlage wachgerufen 
haben. Außer der Inversio kommt die im vorangehenden als 
phylogenetisch erklärte und wohl erlaubte Positio a posteriore 
in Betracht. Es muß im Einzelfalle dem Geschmack und Takte 
des Arztes überlassen bleiben, ob er einen diesbezüglichen 
Rat zu geben imstande ist (Kissen etc.). 

Zu achten ist auch besonders auf Tempo, Rhythmus, Takt 
und Stärke der einzelnen Friktionen. Dem Manne ist auf- 
zugeben, in dieser Hinsicht zu probieren und zu variieren, 
um eventuell einer etwaigen weiblichen Gewöhnung früherer 
Masturbation nahe zu kommen. 

Einen häufigen Grund des Ausbleibens eines weiblichen 
Orgasmus haben wir in der Ejaculatio praecox des 
Mannes kennen gelernt. In leichteren Fällen, d. h. wenn die 
Ejakulation des Mannes keine allzuplötzliche ist, pflegen Ge- 
wöhnung und Anpassung einen Ausgleich herbeizuführen, vor- 
ausgesetzt, daß der männliche Teil das Verständnis, den 
Willen und die im Organismus bis zu einem gewissen Grade 
vorhandene Fähigkeit besitzt, den Höhepunkt seiner Em- 
pfindung mit Bewußtsein hinauszuschieben. Liegen ernstere 
pathologische Erscheinungen sexueller Neurasthenie beim 
Manne vor, die womöglich bereits eine Ejaculatio ante 
portas bewirken, dann tritt einer der nicht seltenen Fälle 
lein, wo die geschlechtliche Unempfindlichkeit 
der Frau am — Manne behandelt werden muß. 

Bis hierher ist die Behandlung der mangelhaften Ge- 
schlechtsempfindung des Weibes verhältnismäßig leicht und 
verständlich. Wo irgend auch nur der entfernteste Grund 
einer mechanischen oder zeitlichen Differenz 
entdeckt werden kann, ist mit ihrer Regulierung auch der 
Weg zum normalen Empfinden gegeben. Es ist auch bis zu 
diesem Punkte, um dem oft kaum angedeuteten Fehler auf 
den Grund zu kommen, ein peinliches und delikates Kranken- 
examen nötig. Um aber überhaupt zum Ziele zu kommen, 
ist es notwendig, diese Differenzpunkte zu kennen und auch 
von selbst nach ihnen zu fragen. Die Patientin kennt sie 
nur in den seltensten Fällen und ihr Schamgefühl verwirrt 
und umschleiert ihre Aussagen, selbst wenn ein Gefühl ihr 



Digitized by Google 



den richtigen Weg der Erklärung weist. Es ist keine psycho- 
logisch leichte Aufgabe, einer feingebildeten Frau über die 
Mysterien ihrer geschlechtlichen Liebe die Lippen zu öffnen. 
(Meistens wird eine vorbereitete Konsultation mit dem Manne 
allein notwendig sein, was um so leichter ist, da tatsächlich 
der weiblichen Unempfindlichkeit allein wegen zuerst der 
Gatte den Arzt zu konsultieren pflegt. Schonend lassen sich 
dann Besprechung und Untersuchung auch bei der Frau an- 
fügen; wenn man langsam ihr Vertrauen erwirbt und nach 
.und nach intimere Fragen stellen kann und auch intimere 
Antworten erhält. Wie bei dem Gebrauch von Schere und 
Messer bei der künstlichen Defloratio, ist noch vielmehr bei 
der schneidenden und zerplittemden Analyse eines Frauen- 
gemütes Überhastung zu widerraten und nur ein schrittweises 
Vorgehen von dem Entgegenkommen der Patientinnen 
begleitet. 

Die psychologischen Aufgaben des Fragens und Be- 
ihandelns werden noch verwickelter ifhd schwieriger, wenn 
die geschilderten mechanischen und zeitlichen Differenzen 
nicht vorhanden sind, wenn mehr die nervöse Basis zur 
Erscheinung kommt. In den meisten Fällen war bisher ent- 
weder schon Gefühl vorhanden gewesen oder aber es bestand 
die Ahnung, der Wunsch, das Verlangen nach einem solchen. 

Beim Mangel auch dieses erwartenden Präliminarzustandes 
— womit wir den absolut kalten Naturen bereits ganz nahe 
gekommen sind — komplizieren sich die psychologischen 
Fragen und Aufgaben immer mehr. Wo ist das psychische 
Trauma, wo ist die Hemmung, die Verwirrung, welche 
das sexuelle Denken bewußt oder unbewußt irritiert? Es 
mag eine psychische Minierarbeit notwendig sein, um üi 
wochen- und monatelangen Zeiträumen hinter eine Vor- 
stellungswelt zu kommen, welche der Grund der veränderten 
Gefühlswelt ist. Es wird oft der Darstellung eines ganzen 
Lebens bedürfen, um an der richtigen Stelle psychisch ein- 
zusetzen. Mit der Erkenntnis der Richtung und des Ent- 
stehens ist dann zugleich auch die Heilung gegeben. 

Wahrscheinlich ist hierbei die Hypnose von unter- 
stützender Kraft für Diagnose nicht minder wie für die 
\Heilung. Da das weibliche Gemüt eine eigene sexuelle 
Sphäre besitzt und unendlich leicht darin beeinflußbar ist, 

Adler, GeschlechUempfindung. 3. Aufl. 13 



- 194 - 



scheint die hypnotische Kraft der Suggestion bei einer vor- 
bereiteten Patientin hinreichend bedeutungsvoll und geeignet 
zu sein, ihr unter Umständen die Fähigkeit des geschlecht- 
lichen Empfindens zu verschaffen. 

Aber auch ohne Hypnose, lediglich durch geeignete 
Fragestellung, eventuell unter Zuhilfenahme der Träume, 
läßt sich die psychische Therapie betreiben. 

Sie ist das weitaus wichtigste Heilmittel der meisten 
Formen sexueller Anästhesie. Freud hat die Methode ge- 
schaffen und auf der Theorie der sexuellen Wurzel sein 
psycho-analytisches Verfahren aufgebaut. 

Freud und seine Schule haben ein großes Heer von 
Widersachern, ja von erbitterten Feinden. Sie verneinen den 
Eutzen und behaupten unter Umständen die Schädlichkeit der 
Methode. Sie wehren sich gegen den überall von Freud ver- 
güteten sexuellen Urgrund der nervösen Symptome und 
fürchten, daß solcher in ein unschuldiges Gemüt hinein- 
examiniert werden könnte. 

Ohne in diese Diskussion einzutreten und Partei zu er- 
greifen, muß man die Methode bei der sexuellen An- 
ästhesie bedingungslos gelten lassen. Wo sich alles 
um Sexualität dreht, besteht keine Gefahr, die 
Unschuld zu vernichten! 

Die komplizierte Methode kann hier nicht auseinander- 
gesetzt werden. Sie ergibt sich aus Fall XXI und den Be- 
merkungen in Kapitel X. 

Die Traumdeutung Freuds ist besonders viel an- 
gefeindet worden. Mit Recht und mit Unrecht! Oft nehmen 
die Deutungen einen allzu phantastischen Flug. Welche 
Neuerer schießen nicht über das Ziel hinaus? Aber trotz 
alledem — auch Träume müssen ihre physiologischen Grund- 
lagen haben und können nicht einfach als undefinierbare 
Eindringlinge beiseite geschoben werden. 

Dem geschlechtlichen Hochgefühl geht normalerweise ein 
Erregungszustand voraus, der, wie wir gesehen haben, ana- 
tomisch in einer stärkeren Durchblutung der Genitalien, ähn- 
lich der Erektion beim Marine, seinen Ausdruck findet. Dieser 
Zustand ist als eine speziell geschlechtlich nervöse Erregung 
aufzufassen, die allein durch den Gedanken, durch die Vor- 



Digitized by Google 



- 195 — 



Stellung, durch die Ahnung und Hoffnung auf einen Genuß, 
d. h. also eine Leistung des Gehirns aufzufassen ist In ihr 
spiegelt sich vorwiegend die erotische Individualität wieder. 
Die leichteste Erregbarkeit bei dem geringsten Anlaß stuft 
sich bis zur kalten Marmornatur ab. 

Die erregenden Reize müssen demnach verschieden sein. 
Die Liebkosungen und kleinen Liebesplänkeleien, Küsse und 
Umarmungen, das lebhafte oder mutwillige, zarte oder ver- 
langende Spiel des seelischen Bewerbens sind die nie ver- 
sagenden Waffen eines siegesgewohnten Mannes. Ihr leben- 
gebender Gebrauch ist ein individuelles Geschenk des Himmels. 
Ein Philister versteht und lernt ihre Führung niemals, während 
der dafür Begabte durch Beobachtung und Weiterbildung eine 
Meisterschaft zu erreichen befähigt ist, welche ihm den Sieg 
erzwingt und selbst aus dem kältesten Frauenherzen noch den 
glühenden Funken des höchsten Empfindens hervorzuzaubern 
imstande ist. 

Welcher Art diese erotischen Erregungsmittel der Seele 
sind, läßt sich natürlich im Rahmen des vorliegenden Werkes 
nicht angeben. Sie verlieren sich in den feinsten und ent- 
legensten Tiefen der Psychologie und hängen innig mit dem 
Charakter, dem Lebensgang, der Erziehung, der Vorstellung 
des betreffenden weiblichen Wesens zusammen. Es ist die 
eigene Domäne des Dichters, den Kampf und den Sieg mit 
der blühenden Sprache seiner Phantasie uns glaubhaft vor 
Augen zu führen (z. B.)*). 

*) Das Andere — Novelle von Felicitas Leo: 

„Es war nichts in ihr verletzt worden, und sie war sein geworden 
— aber dennoch das Letzte hatte sie nicht kennen gelernt — das Ver- 
langen war ihr fremd geblieben" 

„Und doch — das; eine fehlte immer noch. Noch inuner. Und er 
konnte und wollte es nicht wecken. Das — das mußte ja die Zeit 
bringen." 

„Es war eine Atmosphäre von Unberührtheit um sie herum — man 
konnte einfach manche Themen in ihrer Gegenwart nicht besprechen." 

„Sie hatte immer unbestimmt geglaubt, die Leidenschaft sei 
Männersi'che." — — 

„Was er nicht hatte wecken können und wollen, das hatte ein 
anderer geweckt, ein gleichgültiger anderer, dem sie nichts bedeutete. 
Seine große, warme Liebe war zu weich gewesen, die letzte Tür hatte 
sie nicht gesprengt. Nun war sie aufgesprungen — aber nicht für 
ihn.' — — — — usw. 

13« 



Digitized by Google 



- 1% - 

Außer der angedeuteten Form der zentralen Erregung 
kommt zur Erreichung des turgeszierenden Präliminar-Zu- 
standes ante orgasmum die periphere Reizung in Betracht. 
Es kann sich dabei im wesentlichen um eine t i t i 1 1 a t i o , 
sei es Klitoridis, der Nymphen oder Vaginae selbst, durch den 
Mann handeln. Wenn van Swieten diesen Rat sogar der 
Kaiserin Maria Theresia (und mit gutem Erfolge!) geben 
durfte, so mag in geeigneten Fällen bei entsprechendem Takt 
ein ähnlicher Ratschlag gestattet sein. 

Außer der direkten tttillatio der Vaginalstellen kommt die 
Reizung der Brustdrüsen in Betracht. Die erotischen Zonen 
der Brustwarzen sind bisweilen so ausgesprochen, daß lediglich 
durch Manipulationen an diesen — sei es manuell oder durch 
Küsse und Saugen — cjer vorbereitende Erregungszustand 
erreicht wird. 

Es schließt sich diesem für den intimen Verkehr des 
Ehepaares allein bestimmten Ratschlage diejenige Behandlungs- 
weise an, welche von ärztlicher Seite für den Zustand der 
Anaesthesia sexualis feminarum vorgeschlagen worden ist. 

A. Voinow (Gazeta medizina 1891: Über das 
Fehlen der Wollustempfindung beim Weibe) be- 
nutzt den elektrischen Strom. Täglich 6—10 Minuten Fara- 
disation, die größere Elektrode auf das Epigastrium, die andere 
auf die äußeren Genitalien. Nach 10 Sitzungen soll ein 
Coitus mit normalen Wollustempfindungen stattgefunden 
haben, nach 2 Wochen war eine dauernde Heilung erzielt. 

Rohleder (Berlin 1901. Vorlesungen über 
Sexualtrieb und Sexualleben) wählt statt des Epi- 
gastriums die Lendenwirbelsäule. Er benutzt neuerdings 
(1914) einen kleinen Spamer'schen Induktionsapparat. Mit 
der größeren Elektrode werden streichende Bewegungen längs 
der Lendenwirbelsäule gemacht, während die kleinere Elektrode 
an den äußeren Genitalien, besonders der Clitoris arbeitet. 

Es ist nicht zu verkennen, daß in der Elektrizität das 
geeignetste Mittel jeglicher peripherer Nervenreizung gesucht 
werden muß. Der hierdurch erreichbare Effekt hat noch eine 
besondere Bedeutung, welche sich an unsere physiologische 
Erklärung des Orgasmus anlehnt. Es ist nicht unwahrschein- 
lich, daß durch elektrische Reizung eine Kontraktion der 



Digitized by Google 



- 197 - 



Genitalmuskulatur und eine Sekretion des betreffenden: 
Drüsenapparates erreicht werden kann. 

Es lohnt sich vielleicht, die Biersche Stauung, welche 
bei allen möglichen Störungen große Erfolge zeitigt, für die 
Behandlung der sexuellen Anästhesie heranzuziehen. 
Tatsächlich war die Stauung an der Portio (Cervikalkatarrh 
etc.) bereits vielfach empfohlen. Theoretisch gibt jedenfalls 
das Biersche Verfahren — wenn man überhaupt eine 
mechanische Behandlung der sexuellen Anästhesie neben der 
psychischen gelten lassen will — die besten Voraussetzungen. 
Libido, Erectio und Orgasmus gehen mit reicher Blutfüllung 
der Genitalorgane einher. Gerade das aber besorgt die Bier- 
sehe Stauung in reichstem Maße. 

Von Apparaten kommen in Betracht: außer den einfachen 
Glaskaspeln, die auf die Portio (ev. auch Klitoris resp. Labia 
minora) aufgesetzt werden, noch 

a) das doppelwandige Scheidenspekulum (Dr. H. Fischer- 
Karlsbad) (vergl. Katalog 33 des Mediz. Warenhauses A.-G., 
Nr. 16068), 

b) Apparat zur „Sexualgymnastik" (?) (Zabludowsky), 
ebenda 16071 und 16073). 

Hiernach wäre dem Individuum die Ahnung und Vor- 
stellung desjenigen Empfindungszustandes gegeben, der 
ihm bisher gemangelt hat. Die Sinnlichkeit wird auf den 
richtigen Weg geführt und es ist Sache der Trägerin, den- 
selben auszubilden und zu verfolgen. 

Nur bis zu diesem Grade dürfte jede diesbezügliche Be- 
handlung ärztlich zu verantworten sein. Jede geschlechtliche 
Erregung ist in reiner Form zu seltr an die Person des Er- 
regers gebunden. Die Gefahr, daß eine seelische Entfremdung 
vom Manne auf Kosten einer mehr als ärztlichen Intimität 
eintreten könnte, muß als erste grundsätzliche Warnung be- 
achtet werden, und eine Behandlung muß unterbleiben, bei 
welcher die* Objektivität zwischen Arzt und Patientin leidet. 
Diese allgemein gültige Regel verlangt bei dem heiklen Punkte 
der Anästhesiebehandlung eine doppelte Strenge eventuell um 
den Preis des Verlustes eines schon hoffnungsreich winkenden 
Erfolges. 

Die entweder rein mechanische oder psychische 
Grundlage der sexuellen Anästhesie macht es von vornherein 



Digitized by Google 



- 198 - 



wahrscheinlich, daß mit Medikamenten nur unter- 
stützend etwas zu erreichen ist. Einzelne haben sicherlich 
eine wenn auch schwache direkte Wirkung auf die Genital- 
organe, ihre suggestive Wirkung ist jedoch dabei weit höher 
einzuschätzen. „Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind." 
Die Liebestränke der alten Zeit verdanken solchem Glauben 
ihre Wirkung. 

Wer Interesse daran hat, einen Blick in dieses zu allen 
Zeiten beliebte Mystikum zu werfen, findet eine hinreichende 
Zusammenstellung aller erdenklichen Wahnwitzigkeiten in der 
„Vergleichenden Volksmedizin" "). 

Am ehesten kommt noch der Alkohol jeglicher Form 
sowohl als exzitierend-belebendes Mittel oder als Hemmungs- 
brecher in Betracht. Die Verführungskraft des Alkohol — 
gleichviel, ob als perlender Sekt, als feuriger Südwein, als 
Bier und Schnaps — ist bekannt. Sie beruht im erstem 
Stadium auf Anregung — also Erhöhung der Lust, der 
Libido — im zweiten dagegen auf einer Art Lähmung, 
die geschickt für die vorhandenen bewußten und unbewußten 
„Hemmungen" im Geschlechtsdenken und -empfinden des 
Weibes ausgenutzt wird. 

Ich kann bestätigen, daß ich in einem Falle von mangel- 
hafter Geschlechtsempfindung, bei welcher große Libido vor- 
handen war, der Orgasmus jedoch ausblieb, durch Verordnung 
von Portwein ante actum die diesem Falle durch die 
Eigenart der Verhältnisse zugrunde liegende psychische 
Hemmung aufheben konnte und einen vollen dauernden 
Erfolg erreichte. # 

Man mag unter den mehr für die Männerwelt begehrten 
'Mitteln (Canthariden etc.) immerhin auch für die Frauen 
Unterstützung suchen! Von den neuesten diesbezüglichen 
Errungenschaften auf dem Arzneimarkte macht sich das 
Yohimbin bemerkbar. 

Berg er führt nach einer Reihe männlicher Erfolge auch 
eine einzelne weibliche Beobachtung an (Münchener Me- 
dizinische Wochenschrift 1902 Nr. 2): 



*) v. Hovorka und K r o n f e 1 d : Vergleichende Volksmedizin. 
Bd. H. - Liebeszauber, Liebestränke — Zaubermittel etc. 



Digitized by Google 



- 199 — 



„Der günstige Einfluß des Yohimbins zeigte sich auch 
bei einer weiblichen Patientin, bei welcher der Ge- 
schlechtstrieb zwar vorhanden war, das Wollustgefühl jedoch 
erst durch mehrmaligen Coitus ausgelöst werden konnte. 
Hier erklärt sich der Erfolg durch vermehrte Blutzufuhr und 
größere Erektilität der corpora cavernosa, wodurch ein 
stärkerer peripherer Reiz auf die Zentren während der Frik- 
tionen ausgeübt wird." (?) 

Der Vollständigkeit halber seien „R h o m e"-Tabletten 
(25 Stück 6 Mk.!) erwähnt. Sie enthalten neben Yohimbin 
noch Strychnin und phosphorsauren Kalk. 

Muira'c ithin ist durch die Reklamen auch weiteren 
Kreisen bekannt. Es kommt aus dem brasilianischen „Potenz- 
holz" (Muira Puama) (cf. Lustwerk: Fortschritte der Me- 
dizin 1910 (41). 3 mal täglich 3 Pillen). 

Kantorowicz (Mediz. Klinik 1910) empfiehlt 25 bis 
30 Tropfen „Libidol". Der Name läßt nichts zu wünschen 
übrig. % 

Im Sinne der „Organtherapie" sind gegebenenfalls auch 
die Präparate heranzuziehen, welche aus Eierstockssubstanz 
hergestellt werden (Ovarialtabletten, Oophorin, 
Ovaraden). Da sie gewisse Ausfallserscheinungen nach 
operativer Entfernung der Eierstöcke heilen sollen, muß man 
auch mit der Möglichkeit rechnen, daß mangelhaft entwickelte 
Eierstöcke — vorausgesetzt, daß solche Ursache der mangel- 
haften Geschlechtsempfindung sein können — günstig durch 
sie beeinflußt werden. Besonders die Kombination von Ova- 
rialtabletten, Yohimbin, Lecithin (Bab — vergl. 
Henkel: Münch. Mediz. Wochenschrift 1911 (7)) kommt der 
theoretischen Forderung am nächsten. 

Einen eigenartigen Vorschlag, welcher der Organ - und 
S e r u m therapie folgt, hat Bucura (Zur Therapie 
der klimakterischen Störungen und der Dys- 
pareunie)*) gemacht. Er verwendet „Opomilch" = 
Brunstmilch, d. h. Milch von brünstigen Kühen. Das Er- 
gebnis war bisher ein Fall von günstiger klimakterischer 
Beeinflussung und zwei Fälle von „funktioneller Dyspareunie 



*) Münchener Mediz. Wochenschrift, 1909 (43). 



Digitized by Google 



- 200 - 



(entstanden post partum), über welche nichts berichtet werden 
konnte, weil die Fälle fortgeblieben sind." 

Der Vollständigkeit halber sei wenigstens Nenadovicz 
erwähn^ der als Franzensbader Badearzt auch die dortigen 
Quellen und Bäder zur Behandlung der Dyspareunie 
heranzeiht. Eine direkte Kritik dieser Therapie können wir 
umgehen. Wir beschränken uns auf dasjenige, was Veit 1 ) 
ganz allgemein bei der Dyspareunie sagt : 

„Einzige Therapie: Herstellung normaler sexu- 
eller Verhältnisse. 

Bei einzelnen Frauen mag dazu die Belehrung gehören; 
oft genug ist nicht mehr nötig. Das muß in wenigen Fällen 
in lokaler Behandlung bestehen. Besser in der Verordnung 
irgend einer Kur, die die Frau von ihrem Manne eine Zeitlang 
trennt; gleichzeitige Behandlung des Manne si 
Dann Belehrung. Zum Erfolg gehört Geschicklichkeit. Die 
muß man aber besitzen, wenn man überhaupt Arzt sein will; 
derörad derGeschicklichkeit, derhierverlangt 
wird, ist fast größer, als d e ♦ für Operationen 
(NB. Veit war selbst ein glänzender Optyrateur!). Aber ohne 
diese Geschicklichkeit geht es absolut nicht. Was man ver- 
ordnet, ist weniger wichtig, als wie man es tut." 

Das sind goldene Worte aus dem Munde eines Universi- 
tätsprofessors, der gewohnt war, das Messer mit Meisterschaft 
zu führen. 

Wenn überhaupt Anlage vorhanden ist, dann dürfte ein 
medikamentöser Erfolg bisweilen allein durch die einfache 
„Mica panis" Pille zu erreichen sein, welche bekanntlich bei 
der Impotentia psychica«der jungen Ehemänner die zauber- 
haften Wundererfolge hervorbringt! 

Aus dei Organo-Therapie muß noch das Thelygan 
(chemische Fabrik Dr. Georg H e n n i n g -Berlin) angeführt 
werden. Iwan Bloch 2 ) stellt es als sterilen wässrigen Aus- 
zug' aus Kuhovarien dar. Das Extrakt ist frei von Eiweiß 
und Lipoiden. 2,1 cem entsprechen 2 g Ovarium. Es ent- 
hält in 2,1 cem 1 cg Yohimbin und kommt in Ampullen -und 
Tablettenform in den Handel. 

*) Behandlung der Frauenkrankheiten, 1911. 

s ) Dr. Iwan Bloch — Zur Behandlung der sexuellen I nsufficienz. 
Mediz Klinil, Hl 5 Nr. 8. 



Digitized by Google 



- 201 — 



Iwan B 1 o c h's eigene Erfahrungen mit T h e 1 y g a n sind 
gering. Er erwähnt nur einen Fall von Frigidität mit 
„zweifellos günstigem Erfolge". 

Thelygan! Micapanis! Wer will entscheiden? Was 
sagte Veit? „Zum Erfolg gehört Geschicklichkeit« 
— Was man verordnet, ist weniger wichtig, als wie man 
es tut!" 

Ein uraltes Mittel — das Opium — hat Neu mann 1 )] 
ans Licht gezogen. Nach ihm erregt das (sonst beruhigende) 
Opium die weiblichen Nerven „in unerhörter Weise und 
erfüllt die Raucherin mit nicht zu unterdrückenden sinnlichen 
Gelüsten 2 ) ... Im Gegensatz zu seinem Einfluß auf das 
weibliche Geschlecht beruhigt das Opium die Sinne des 
Mannes und fesselt sogar seine Mannbarkeit". 

Hier wäre also ein direktes Aphrodisiacum im Sinne 
libidinöser Erregung bei allgemein kühler, temperament- 
loser Anlage gegeben. Vorsicht ist geboten — im Hinter- 
grund lauert das Gespenst der Opiumsucht! 



>) Dr. R. K. Neumann — Die Narkotika und Rauschmittel im 
Sexualleben, Sexual-Probleme 1912. September. 

2 ) Ein interessantes Feuilleton der Voss. Zeitung vom 10. III. 1916 : 
Ansclma Heine — In Elysions Hainen — beschreibt diesen Zu- 
stand mit dichterischer Feinheit. 



Digitized by Google 



XII. Kapitel. 



Die juristische Bedeutung der mangelhaften 
Geschlechtsempfindung in bezug auf Ehe- 
scheidung (Anfechtung der Ehe). 



Mangelhafte Geschlechtsempfindung kommt als Anfechtung der Ehe 
in Betracht. Die Anfechtung ist nur eine juristische Abart der* Eheschei- 
dung. Beide haben die Lösung der Ehe zum Endzweck. Die ein- 
schlägigen Bestimmungen des BGB (Deutsches Reich) smd $ 1333 (An- 
fechtungsgründe) und § 1339; (Fristparagraph. 6 Monate). Die 6-Monats- 
frist braucht nicht vom Hochzeitstage an zu zählen, die vollendete „Ent- 
deckung des Irrtums" kann später erfolgen. Die Anfechtungs„gründe" des 
§ 1333 sind dehnbarer. Mangelhafte Geschlechtsempfindung des Weibes 
kann Anfechtungsgrund sein 1. für die Ehefrau, 2. den Ehemann. Für 
letzteren nur ausnahmsweise* wenn die Schädlichkeit (nervöse Zerrüttung) 
für ihn zu erweisen ist, dagegen ev. strafmildernd beim Ehebruch im 
Scheidungsprozeß.! Für die Frau selbst ist Empfindungsmangel bei voller 
Impotenz des Mannes sicherer, bei relativer Impotenz nicht minder be- 
gründeter Anfechtungsgrund. Ohne diese Ursachen — bei beiderseitig; 
normalen mechanischen Verhältnissen — ergibt sich ein Non liquet. "Bei 
beiderseitigem Trennungsbegehren der Parteien ist diesem stattzugeben, 
sonst „Sünde oder Neurose" (W. Stekel). Gutachten (Eigene Beob- 
achtung - Fall XXIII). 



Die mangelhafte Geschlechtsempfindung des Weibes ist 
im Vorangehenden von den verschiedensten Seiten betrachtet 
worden. Ihre Entstehung, ihre Ursachen, ihre Folgen sind 
eingehend gewürdigt. Es fragt sich noch, ob die rein ärztliche 
Frage eine juristische werden kann, ob mangelhafte Oe- 
se hlechtsempfindung unter Umständen einen 
Scheidungsgrund abzugeben imstande ist. 



Digitized by Google 



- 203 - 



Die Frage muß bejaht werden, allerdings mit der mehr 
formellen Einschränkung, daß nicht auf Ehescheidung, 
sondern nur auf Anfechtung der Ehe geklagt werden kann. 
Diese rein juristische Abgrenzung ändert n : chts an dem Resultat 
— in beiden Fällen ist die Auflösung — Nichtigkeit — der 
Ehe der erstrebte Endzweck. 

In Betracht kommen für das Deutsche Reich aus dem 
Bürgerlichen Gesetzbuch von 1900 die Paragra- 
phen 1 3 33 und 1 3 39 des Familien rechts. 

„Eine Ehe kann von dem Ehegatten angefochten werden, 
der sielt bei der Eheschließung in der Person des anderen Ehe- 
gatten oder über persönliche Eigenschaften des anderen Ehe- 
gatten geirrt hat, die ihn bei Kenntnis der Sachlage und bei ver- 
ständiger Würdigung des Wesens der Ehe von der Eingehung 
der Ehe abgehalten haben würden." 

Dieser Paragraph ist die einzige Stütze der ganzen Frage. 

In ihn läßt sich die mangelhafte Geschlechtsempfindung als 

Anfechtungsgrund fraglos in vielen Fällen unterbringen. Der 

zweite Paragraph ist nebensächlicher Natur; er betrifft nur 

die Verjährung. 

„Die Anfechtung kann nur binnen sechs Monaten erfolgen. 
Die Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, in welchem der Ehegatte den 
Irrtum oder die Täuschung entdeckt." 

Dieser letzte (Frist-)Paragraph (1339) kann sofort mit 
wenigen Worten abgetan werden. Es handelt sich dabei um 
eine „Sechs-Monats-Fris t". Es ist klar, daß diese sechs 
Monate nicht vom Hochzeitstage ab zu zählen haben. Der 
„I r r t u m" resp. die „T ä u s c h u n g" braucht nicht gleich 
am ersten Tage „entdeckt" zu werden. Das angefügte Gut- 
achten ist ein sehr instruktives Beispiel dafür, daß diese 
„Sechs - Monats - Frist" unter Umständen noch nach 1 bis 2 
Jahren statthaben kann. In dem Gutachten handelt es sich 
um eint Ejaculatio praecox des Mannes, dessen 
dauernde (chronische) Existenz erst nach längerer Beob- 
achtung zu erkennen ist. Aehnlich kann es mit anderen 
Anomalien der Geschlechtsfunktion gehen, die als vorüber- 
gehende Störungen imponieren, und die schließlich doch noch 
eine Anpassung erhoffen lassen. 

Erst von dem Momente der „Entdeckung" fängt die Frist 
an zr. zählen. Die „Entdeckung" setzt aber die überzeugte 
Kenntnis des Fehlers voraus. Die volle „Entdeckung" be- 



Digitized by Google 



- 204 - 



ginnt demnach nicht mit dem ersten Symptom, sondern mit 
dem abgeschlossenen Krankheitsbilde, das erst 
durch seinen Verlauf vollkommen geklärt wird. 

Hiermit wären die Grenzen des Fristparagraphen für die 
•mangelhafte Geschlechtsempfindung leicht abgesteckt, d. h.. 
selbst mehr als halbjährige Ehen dürften — wenn nicht eine 
zu große Reihe von Jahren verstrichen ist — immer noch 
als innerhalb der halbjährigen Anfechtungsfrist stehend zu 
gelten haben. 

Weniger eindeutig ist der Hauptparagraph 1333 mit seinen 
Antechtungs g r ü n d e n. Er läßt eine große Dehnbarkeit dest 
„Irrtums über solche persönliche Eigenschaften des anderem 
Ehegatten, die bei Kenntnis der Sachlage und bei verständiger 
Würdigung des Wesens der Ehe von der Eingehung der Ehe* 
abgehalten haben würden", zu. Dazu kommt die außerordent-i 
lieh schwierige Materie dar mangelhaften Geschlechtsempfin-i 
dung mit ihren delikaten und feinen Abstufungen. 

Wenn die mangelhafte Geschlechtsempfindung des Weibes 
als Anfechtungsgrund der Ehe in Betracht kommt, so ist die 
Frage nach zwei Seiten zu erörtern: 

1. Als Anfechtungsgrund für die Belastete — die Ehe- 
frau selbst. 

2. Als Anfechtungsgrund für den indirekt Betroffenen 
— den Ehemann. 

Punkt 2 sei wegen der einfacheren Sachlage zuerst 
besprochen. 

E,* dürfte sich meiner Meinung nach nicht leicht ein 
Richterkollegium finden, welches auf die mangelhafte Emp- 
findung der Frau hin dem Manne allein das Recht zuspräche, 
die Ehe anzufeinden. Gewiß! es liegt für ein empfindsames, 
sensibles und höherstehendes Geschlechtsbedürfnis des Mannes 
sicherlich ein Manco, ein „Irrtum über eine persönliche Eigen- 
schaft des anderen Ehegatten" vor. Der Betreffende wäre 
bei vorheriger „Kenntnis der Sachlage" diese Ehe sicherlich' 
nicht eingegangen. Trotzdem wird diese feine Nuancierung 
der Auffassung des Geschlechtsverkehrs schwerlich in einem 
richterlichen Urteil als Stütze der Anfechtung figurieren. So- 
lange die rein mechanischen Verhältnisse für einen normalen 
Coitus bei beiden Teilen vorhanden sind, wenn womöglich 



Digitized by Google 



- 205 - 



Kinder dieser Ehe existieren, dürften vermutlich die feinen 
Seelenschwingungen einer unbefriedigten Sexualität des 
Mannes als „nebensächlich" ad acta gelegt werden. 

Es fragt sich jedoch: Könnte der sensible Ehemann nicht 
'durch den Dauerzustand seiner unerwiderten Leidenschaft 
Schaden an seiner Gesundheit leiden? Könnte er nicht zur 
Abstinenz seiner Ehefrau gegenüber verurteilt sein und könnte 
diese Abstinenz nicht seine Nerven zerrütten, ihn krank, siech 
und arbeitsunfähig machen? 

Die Unmöglichkeit der Anfechtung in dieser Form wäre 
nicht ganz von der Hand zu weisen. Allein die Ansicht, daß 
Isolcher Zustand eintreten könnte, dürfte einem Richter wohl 
kaum genügen. Es müßten schon recht erhebliche Anfangs- 
zeichen beginnender nervöser Zerrüttung vorhanden und 
auf der geschilderten Basis ärztlich begutachtet sein. 

Eine ganz andere Frage ist es, ob einem Ehemann unter 
Bolchen Verhältnissen der Ehebruch als voller Scheidungs- 
grund angerechnet werden könnte. Ich glaube, daß unter 
richtiger psychologischer Darstellung dieser Verhältnisse der 
Beschuldigte viel leichter milde Richter finden würde, die das 
„Schuldig" über, den Ehemann nicht allein aussprächen. 
/ Wesentlich anders liegen die Verhältnisse für die 
Frau selbst. 

Daß mangelhafte Geschlechtsempfindung des Weibes ein 
Anfechtungsgrund ist, wenn sie auf einer mangelhaften Be- 
gattungsfähigkeit des Ehemannes beruht, dürfte einem Zweifel 
kaum unterliegen. 

Am krassesten liegt der Fall, wenn der Ehemann voll- 
kommen impotent ist. Dann ist eben die Impotenz der 
Urgrund der Anfechtung, die mangelhafte Empfindung des 
k Weibes tritt sekundär dabei etwas in den Hintergrund. 

Ist die Impotenz nur eine relative, wie sie am reinsten 
bei der Ejaculatio praecox des Mannes in die Erscheinung 
tritt, dann tritt die mangelhafte Befriedigung der Ehefrau 
viel deutlicher als Anfechtungsgrund hervor. In diesem Falle 
ist die Anfechtung auf Begehr der Ehefrau gerechtfertigt, 
selbst wenn Kinder aus dieser Ehe hervorgegangen sein sollten, 
was im allgemeinen gegen Impotenz spricht. Allein die 
Ehefrau, besonders die normale, sinnlich ver- 
anlagte, hat ein Anrecht auf normale Befriedi- 



Digitized by Google 



- 206 - 



guiig ihrer Sinnlichkeit. Dazu genügt nicht der 
mechanische Akt allein — sein normaler Ablauf bis zum voll- 
endeten Orgasmus ist des Weibes gutes Recht. In dem an- 
gefügten Gutachten sind diese Verhältnisse an einem 
praktischen Beispiele eingehend auseinandergesetzt. 

Wie aber steht es mit der Anfechtung, wenn die Potenz 
des Ehemannes normal ist, wenn der geschlechtliche Akt an 
zeitlicher Vollständigkeit nichts zu wünschen übrig läßt, wenn 
eine unbestimmbare Hemmung — sei sie masturbatorisch oder 
idiopathisch oder gleichviel aus welchen sozialen Gründen — 
den Orgasmus der Frau nicht aufkommen läßt? 

Hier wird der Richter schwerlich anders als mit einem 
Non liquet urteilen können. Jedenfalls kann nicht gut das 
„Schuldig" auf eine Seite fallen. Nur eins ist von einer ent- 
gegenkommenden Jurisdiktion zu verlangen, daß sie bei 
beiderseitigen Trennungsbegehren unbedenklich dem 
doppelten Wunsche nachgibt und die Schuld dement- 
sprechend gleichmäßig verteilt. Es wäre unmenschlich, eine 
normale Libido mit fehlerhaftem Ablauf, der sich vielleicht 
nur gerade bei dieser Ehe vollzieht, in das lebenslängliche 
Joch der Abstinenz mit allen konsekutiven Erscheinungen der 
gesamten Neurasthenie zu zwingen. 

Wie sagt W. Stekel? — „Eine unbefriedigte 
Frau hat eigentlich nur die Wahl zwischen der 
Sünde und der Neurose." 



Fall XXIII. 

Ärztliches Gutachten im Ehescheidungsprozeß X contra X 

(Mangelhafte Geschlechtsempfindung der Ehefrau infolge 
Ejaculatio praecox des Mannes) 

(Eigene Beobachtung.) 

Der Ehemann X leidet seit Beginn der Ehe mit allergrößter 
Wahrscheinlichkeit an Impotenz und zwar an der relativ- 
chronischen Form mit mangelhafter Erektionsfähigkeit und vor- 
zeitiger Samenentleerung (Ejaculatio praecox). 

Hierfür sprechen alle Angaben der Ehefrau X. Sehr wesent- 
lich unterstützt werden deren Bekundungen durch das vorhandene 
Aktenmaterial, soweit es von dem Ehemann selbst herrührt (Behand- 
lung durch den Dr. N. N. und Ablehnung gerade dieses Arztes, ver- 



Digitized by Google 



- 207 - 



trauliche Mitteilungen »an dritte Personen, Widerspruch in der Be- 
hauptung, daß die Ehefrau stark sinnlich veranlagt sei und trotzdem 
sich vor dem ehelichen Verkehr verschließe). 

Die Impotenzform (Ejaculatio praecox) des Ehemannes ist zweifel- 
los an sich ein voller Anfechtungsgrund im Sinne des § 1333. Die 
Impotenz ist in erster Linie eine „solche persönliche Eigen- 
schaft des anderen Ehegatten, die bei Kenntnis der 
Sachlage und bei verständiger Würdigung des 
Wesens der Ehe von der Eingehung der Ehe abge- 
halten haben w ü r d e." Sie ist es an sich, sie wird es noch 
mehr einer Witwe gegenüber, die in erster Ehe geschlechtlich nor- 
mal verheiratet war und geboren hat. 

In Betracht kommt sodann §.1339. Die „Sechs-Monats- 
frist" desselben hat erst vom Tage der „entdeckten" Täu- 
schung, nicht etwa vom Hochzeitstage an zu zählen. Erst wenn 
diel Fehlversuche als „relativ-c hronische Impotenz", d. h. als 
unheilbar erkannt sind, steht der persönliche Fehler des Ehe- 
mannes fest. 

Diese Erkenntnis ist bei einer absoluten Impotenz leicht; 
langsam dagegen bei der relativen Form, bei der es sogar zeit- 
weise zu momentanen Erektionen und sogar zu einer regulären (vor- 
zeitigen) Samenergießung kommen kann. Erst die lang dauernden 
Fehlversuche, die von der Ehefrau anfänglich für eine vorübergehende 
„Schwäche" gehalten werden, öffnen ihr nach monate- und jahre- 
langem Warten die Atigen. Gewißheit wird ihr erst durch ärztliche 
Aufklärung zuteil. 

Es ist deshalb zweifellos, daß, wenn die Behauptungen der 
Ehefrau, die durch das vorhandene Aktenmaterial an sich schon sehr 
wahrscheinlich sind, durch weitere Zeugnisse weiter erhärtet werden 
können, die Ehe auf Grund der §§ 1333 und 1339 mit Recht anzu- 
fechtei sind. 

Begründung. 
1. Die Formen der Impotenz. 

Es» muß wissenschaftlich und praktisch zwischen absoluter, 
relativer, vorübergehender (akuter) und dauernder 
(chronischer) Form unterschieden werden. 

a) Absolute Impotenz. 

Eine Definition dieses Leidens erübrigt sich. Sie folgt aus 
der Benennung und steht zu dem vorliegenden Falle nicht in 
Frage. 

b) Relative Impotenz. 

Es handelt sich um Minderungen der Erektionsfähigkeit uncT 
Anomalien der Samenergießung. 

Entweder: besteht eine zwar vollkommene, aber nur wenige 
Augenblicke anhaltende Erektion, die beim Versuch, den Begattungs- 
akt zu* vollziehen, sofort nachläßt, indem schon bei dem Bei- 
schlafsversuch die Samenentleerung stattfindet (Ejaculatio 



Digitized by Google 



— 208 — 

praecox). In diesen Fällen kommt es meist zu keiner regel- 
rechten geschlechtlichen Vereinigung. Die Ergießung (E j a c u 1 a t i o) 
vollzieht sich bereits außerhalb (vor) der Scheide (ante 
portas) oder aber die Einführung (immissio) ist nur einen 
kuizer. Moment gelungen, so daß die Ergießung (Ejaculatio) 
gerade noch ih!r Ziel erreichen konnte. In letzterem Falle ist 
zwar eine Befruchtung (Schwangerschaft) möglich, allein für die Ehe- 
frau ist der ganze Akt wegen seiner Schnelligkeit ohne jegliches 
Gefühl vonstatten gegangen. Sie ist nichts als das Opfer einer 
gan2) momentanen Wollust des Ehemannes. Sie selbst em- 
pfindet nichts und behält von dem rein tierischen Akt nur 
die Erinnerung an Brutalität und Verunreinigung zurück. 

Oder: Die Erektion ist überhaupt nur mangelhaft, halb, ge- 
stattet keine sichere Einführung (immissio) und ist unfähig, 
die geschlechtliche Befriedigung der Ehefrau zu bewirken. Die 
Ergießung (Ejaculatio) kann auch hierbei sofort (praecox) 
resp. überhaupt nicht stattfinden. Für die Ehefrau selbst ist der 
Vorgang eine Qual, die vielleicht eine unnütze Erregung, niemals 
jedoch' eine Befriedigung zur Folge hat. Bei öfteren Wieder- 
holungen treten allzuleicht Abneigung, Widerwillen und Ekel gegen 
den geschlechtlichen Akt als solchen wie gegen die Person des 
Ausübenden ein. 

c) Vorübergehende (akute) und dauernde 
(chronische) Impotenz. 

Beide Formen, absolute und relative Impotenz, können vor- 
übergehend (akut) auftreten. Sie sind dann Teilerscheinungen 
eines Ivorübergehenden, allgemeinen nervösen Zustandes 
(Neurasthenie) oder Folgen vorangegangener Krankheiten, be- 
sonders! schwerer Infektionskrankheiten (z. B. Malaria). Im übrigen 
ist zu bemerken, daß die Potenz des Mannes von Stimmung, Laune, 
Gelegenheit usw. mehr oder minder abhängt. Sie ist eben ein 
unter psychischer Oberhoheit stehender Vorgang, bei welchem die 
Welt der Vorstellungen und Gedanken eine Hauptrolle spielt. Auch 
der sonst normal potente Mann wird bisweilen, besonders wenn 
er in nicht mehr ganz jugendlichem Alter sich befindet, zeitweise 
impotent sein. Es schieben sich dann sogenannte „psychische 
Hemmungen" ein, die oftmals nur in einer unangenehmen 
Vorstellung zu wurzeln brauchen. Es genügt ein unangenehmer 
Duft, ein abstoßender Anblick, eine Unsauberkeit oder vielleicht 
eine ganz unwesentliche Hauterscheinung (z. B. ein Pickel) bei 
der zu Begattenden, um den ungerechtfertigten Verdacht auf eine 
Krankheit in der Vorstellungswelt des Begattenden wachzurufen und 
demzufolge die Potenz unmöglich zu machen. Vorübergehende 
Abspannung und Überarbeitung, Kummer und Sorgen können zeit- 
weise Impotenz bedingen. 

Ein sehr häufiges Beispiel der vorübergehenden (akuten) 
Impotenz ist die den Ärzten wohlbekannte „psychische Im- 
potenz junger Ehemänner". Sie tritt nicht allzuseltcn in 



Digitized by Google 



- 209 - 



der Hochzeitsnacht auf und kann mehrere Tage, ja Wochen an- 
halten. Wenn sich Ängstlichkeit und Ungeschick gelegt und die 
Parteien aneinander gewöhnt haben, pflegt mit dem Selbstvertrauen 
auch die Potenz zurückzukehren. 

In keinem Falle bieten diese vorübergehenden. 
Potenzstörungen einen Anfechtungsgrund im 
Sinne des § 133 3. Erst ein dauernder (chronischer) 
Zustand berechtigt zur Anwendung des An- 
fechtungsparagraphen. Die Momente dafür sind frühestens 
gegeben, wenn mehrere Monate ergebnislos verflossen sind. 
Die Dauer dieser Karenzzeit festzulegen, dürfte schwer sein. E s 
muß dem weiblichen Empfinden in dieser Be- 
ziehung ein weiter Spielraum gesetzt werden. 
Eine Frau, die nach vielleicht 1 —2 Monaten wegen relativer 
Impotenz die Ehe anfechten wollte, könnte man als lasziv 
und ungeduldig ablehnen. Andrerseits muß man be- 
denken, wie viel Zeit nötig ist, um in dem Ge- 
dankengang einer Frau die Impotenz des Ehe- 
mannes als wirklichen Scheidungs- resp. An- 
fechtungsgrund zur Reife zu bringen. Sie kämpft 
dieser Kampf in sich zuerst viele Monate allein aus. Sie spricht 
nicht darüber, denn sie fürchtet, sich oder ihren Ehemann zu kom- 
promittieren. Ein solches Thema hat noch nie bei ihr mit anderen 
zur Diskussion gestanden. Dazu kommt die Hoffnung, daß sich 
noch alles ändern möge und die, wenn auch bisher fehlgeschlagenen 
Versuche, nähren in ihr die Zuversicht, daß die „Ungeschicklichkeit" 
sich doch mit der Zeit geben und einem normalen, ehelichen 
Zusammenleben Platz machen wird. 

Dieser Gedankengang ist wichtig für die Be- 
urteilung des Fristparagraphen (1339), wonach die 
Anfechtung nur „binnen 6 Monaten" erfolgen kann. Diese 
6-Monatsfrist kann naturgemäß erst mit dem Augenblick beginnen, 
in welchem „der Ehegatte den Irrtum oder die Täuschung ent- 
deckt". Der Irrtum aber resp. die Täuschung wird erst klar, 
wenn sich die Impotenz als eine chronische herausstellt. 
Um zu diesem Resultat zu kommen, muß eine Frau den letzten 
Rest von Hoffnung endgültig aufgegeben haben. Es spricht für 
den Anstand und die Empfindsamkeit der Ehefrau, wenn sie nicht 
gleich in den ersten Wochen und Monaten diese Hoffnung über 
Bord wirft, sondern eine Geduldsprobe von 1 — 2 Jahren über sich 
ergehen läßt. Erst wenn selbst ärztliche Manipulationen dem Manne 
kein« Hilfe bringen und der Ausspruch des Arztes Dr. N. N : 
„Wo nients ist, da kämpfen Götter selbst vergebens!" der Ehe- 
frau definitiv die Augen öffnen — dann erst fängt sie an, den 
letzten Rest von Hoffnung zu begraben. Volle juristische Klarheit 
aber über die „relative Impotenz" als Anfechtungsgrund 
wird ihr erst in dem Augenblicke, wo sie mit sachverständigen 
ärztlicher. Beratern in Verbindung tritt. 

Adler, Geschlcchtsempfindung. 3. Aufl. 14 



Digitized by Google 



- 210 - 

Man muß sich psychologisch in diese Oedankenwelt jeglicher 
Frau vertiefen. Der gereifte Gedanke der chronischen, 
. unheilbaren (Relativform) Impotenz, der in dem Kopfe einer 
Ehefrau erst alle Stadien der „Ungeschicklichkeit", der „vorüber- 
gehenden Schwäche", einer vorübergehenden „Nervosität", „Üben 
arbeitung", „falschen Gewöhnung an langjähriges Junggesellenleben" 
usw. durchlaufen hat, bedarf wahrlich einer langen Zeit der Ver- 
arbeitung, für welche 1—2 Jahre sicherlich nicht zu wenig an- 
gesetzt sind. Gerade die „chronische relative Impotenz", 
die hier vorliegt, verlangt ein viel längeres Beobachtungsstadium. 
Bei der „absoluten" Form (totaler Mangel) bildet sich leicht 
und schnell die richtige Vorstellung über den „p e r s ö nl i c h e n 
Irrtum des anderen Ehegatte n". Anders bei der „rela- 
tive n" Inipolenz, bei der die Hoffnung sich nur langsam in 
Resignation verwandelt. 

2. Die ärztliche Diagnose der Impotenz. 

Es. mag gleich von vornherein betont werden, daß eine ein- 
wandfreie ärztliche Diagnose der Impotenz nach dem gegenwärtigen 
Stande der medizinischen Wissenschaft unmöglich ist. Der Arzt 
kann objektiv nicht erkennen, ob eine Erektions- und Ejakula- 
tionsfähigkeit vorhanden ist, geschweige gar Unterformen einer 
mangelhafteiii Potenz feststellen. Der Arzt ist ganz auf die 
konfidentiellen Angaben der Eheleute angewiesen. 
Es gibt zwar nervöse Symptome allgemeiner Neurasthenie, 
die auch eine sexuelle wahrscheinlich machen, aber niemals 
kann man aus dem Fehlen dieser Allgemeinsymp- 
tomeauf eine Unversehrtheit der Potenzschlieflen. 
In diesem Sinne ist das Gutachten des Dr. X. Y., das der 
Ehemann beigebracht hat, aufzufassen. Es besagt, daß es be- 
sondere nervöse Symptome des Ehemanns, sowie Anzeichen von 
Homosexualität nicht hat feststellen können. Einen Schluß 
auf die Unversehrtheit der Potenz hat der Gut- 
achter weder gemacht noch machen können. 

Die Potenz steht, wie eingangs schon erwähnt wurde, viel zu 
sehr unter der Oberhoheit der psychischen Vorstellungswelt. Hier- 
gegen treten sogar objektiv wahrnehmbar Anomalien an den Ge- 
schlechtsteilen in den Hintergrund. Es ist z. B. der gewöhnliche 
Fall, daß bei erwiesener und zugestandener voller Impotenz eine 
objektive Anomalie an den Geschlechtsteilen nicht nachzuweisen ist. 
Andererseits steht es fest, daß selbst kastrierte Männer vollkommen 
potent sein können. In der Laienwelt bedeutet Verlust beider 
Hoden den Verlust der Männlichkeit. Dem ist durchaus nicht so. 
Ein kastrierter Mann kann volle Erektion und volle Ejakulation» 
d. h. also volle, ungeminderte Beischlafsfätügkeit besitzen. Er ist 
nicht impotent, sondern nur unfruchtbar (steril), d. hu 
es fehlen in seiner Ergießung (Ejakulat) die allein für die Be- 



Digitized by Google 



- 211 - 



fruchtung in Betracht kommenden Samentierchen (Sperma- 
tozoen). Für die zu Begattende ist der Kastrierte durchaus 
„potent". Er vollzieht den normalen Beischlaf, und im alten 
Rom sollen sogar diese unfruchtbaren Kastraten von den lasziven 
Frauen gesucht gewesen sein. Sie fanden bei ihnen volle Be- 
friedigung ohne die Gefahr der Mutterschaft. 

Dieser scheinbar wenig hierher gehörige Exkurs ist nur ge- 
macht worden, um die Schwierigkeit, ja Unmöglichkeit der ob- 
jektiven Diagnose einer Impotenz zu erweisen. 

Es ist deshalb für die juristische Beurteilung der Im- 
potenz des Ehemannes unerheblich, ob er negative Atteste bei- 
gebracht hat. Nur positive Bekundungen haben einen Wert 
und diese können einzig und allein auf den konfidentiellen Mit- 
teilungen der Eheleute selbst beruhen. Als Beweismaterial kann 
nur in Betracht kommen: 

a) das Zeugnis der Ärzte, denen sich die Eheleute anvertraut 
haben (Dr. N. N. u. a.); 

b) das Zeugnis dritter Personen; 

c) das Zeugnis der Eheleute selbst. 

3. Der EinfluB der Impotenz auf die Eheftau. 

Es könnte die Frage aufgeworfen werden, ob nicht die Im- 
potenz des Ehemanns für diejenige Ehefrau ein gleichgültiges und 
hinnehmbares Leiden sei, die auf Kinder verzichtet. Dem ist durch- 
aus zu widersprechen. Der Geschlechtsakt dient nicht allein der 
mechanischen Fortpflanzung, er dient vielmehr in einer harmo- 
nischen* Ehe zugleich einer beiderseitigen seelischen und sinnlichen 
Befriedigung, jede Ehefrau hat ebenso wie der Ehemann ein 
Anrecht auf den Orgasmus (Höhepunkt des sinnlichen Ge- 
nusses). Allerdiners neigt man im allgemeinen der Ansicht zu v 
dali eine Frau von Hause aus weniger sinnlich veranlagt sei, daß 
ihre mehr passive Sinnlichkeit vom Manne erst geweckt werden 
müsse. Tatsächlich gibt es eine große Anzahl empfindungs- 
loser „kalter" Frauen (n a t u r a c f r i g i d a e), die der 
Gutachter Adler in seiner Monographie wissenschaftlich aus- 
führlich beschrieben hat. Es mag Frauen geben, die mit dieser 
angeborenen oder erworbenen Kälte eine erträgliche Ehe führen. 
Sic befinden sich dann in der Lage, nur deshalb einen Genuß 
nicht zu entbehren, weil sie ihn eben nicht kennen gelernt haben. 
Es geht ihnen wie den Blindgeborenen, die meist gar nicht so 
unglücklich sind, weil sie nie das Licht gesehen haben. Diese 
Frauen scheuen sogar vielfach den ehelichen Verkehr, der ihnen 
nur Schmutz und Geburtsschmerzen bringt. Sie würden vielleicht 
mir Freuden an einen impotenten Ehemann verheiratet sein. 

Anders die sinnlich veranlagten Frauen. Man braucht 
hierunter noch keine übersinnlich veranlagte Frau zu ver- 
stehen, was leider so häufig fälschlich geschieht und auch in dem 

14» 



Digitized by Google 



- 212 — 



vorliegenden Falle von dem Ehemann fälschlich angenommen zu 
werden scheint. Die normale Frau hat auch ein nor- 
males, natürliches, sinnliches Begehren, wenn- 
gleich nicht so stürmisch und durch die Natur der 
weiblichen Zurückhaltung, durch jahrtausend- 
lange Sitte und Moral eingeengt. Die normale 
Frau .hat ein Anrecht auf Befriedigung dieser 
Sinnlichkeit, die in der Ehe beim Zusammensein mit der 
anreizenden Macht des männlichen Körpers nach natürlicher Er- 
füllung drängt. Dieses Recht hat bereits die normal empfindende 
Ehefrau, die als Jungfrau in das Hochzeitsbett steigt — noch 
vielmehr aber hat es die normal empfindende Witwe, die vor- 
dem glücklich verheiratet war und geboren hat. Entschließt sie 
sich zur zweiten Heirat, so hat sie ein mehr als doppeltes An- 
recht, bei dem zweiten Ehegatten eine normale Geschlechtsfähigkeit 
vorauszusetzen. Ein Ehemann, der im Bewußtsein einer 
geminderten Oeschlcchtsfähigkeit eine Witwen- 
ehe eingeht, macht sich einer doppelt schweren 
Täuschung schuldig. 

Die Gefahren und Leiden, denen eine unbefriedigte, normale 
Sinnlichkeit ausgesetzt ist, sind naturgemäß bei einer früher be- 
friedigten Witwe noch größer. Ohne der modernen sexuellen Be- 
wegung zu folgen, die jedem weiblichen Wesen unterschiedslos 
das volle Recht gestatten will, sich auszuleben und der freien 
L iebe zu huldigen, steht es doch ärztlich fest, daß eine einmal 
geweckte Sinnlichkeit bei fruchtlosen Versuchen 
des Ehemannes einen gewaltigen Schaden für Leib 
und Seele der Frau bedeutet. Darin sind jetzt alle 
modernen Spezial-Psychologen einig (Breuer, Freud, Stekel, 
Eulenburg, Fürbringer, Löwenfeld, Moll, \ d 1 c r). 
Einige von ihnen gehen so weit, alle Ursachen weiblicher Ner- 
vosität und Hysterie in einer sexuellen Wurzel zu suchen (Freud- 
J u n g sehe Schule in Wien und Zürich). Der Gutachter \ d 1 e r 
selbst steht auf einem, wenn auch gemäßigten ähnlichen Stand- 
punkte und hat in seiner bereits zitierten Monographie schon vor 
6 Jahren wortlich gesagt: 

„Die Tatsache einer durchaus ausgebildeten Sinnlichkeit 
dürfte wohl allgemein als hinreichender Grund betrachtet werden, 
dieselbe auch zeitweise ganz zu genießen. Ein ewiger Kampf da- 
gegen kann zu schweren Störungen des Geistes führen. 

Die nervösen Störungen vom leichten Mattigkeits- und Unlust- 
gefüh' bis zum schweren Angstanfall und Krampf — Magen-, Darm- 
beschwerden, Muskelschwäche, kurz, das vielgestaltige Bild von 
Neurasthenie und Hysterie, haben allzu häufig ihren vornehmlichen 
Grund in sexuellen Störungen, in mangelhafter Geschlechtsempfindung. 

G a 1 1 e 1 („Über die sexuellen Ursachen der Neurasthenie und 
Angstneurose") beschreibt an 100 Fällen diesen Zusammenhang. 



Digitized by Google 



- 213 — 



Irgend eine sexuelle Anomalie ist überall vorhanden, besonders die 
mangelhafte Befriedigung infolge von Ejaculatio 
praecox oder Coitus interruptus." 



In dieser Voraussetzung erscheinen die Verfehlungen, voraus- 
gesetzt, daß sie wirklich begangen sind und wegen derer die Ehe- 
frau schließlich in erster Instanz für schuldig erklärt worden ist, 
in ganz anderem Lichte. Nicht eine große Lüsternheit und über- 
große Sinnlichkeit haben zu dem abseitigen Schritte geführt, sondern 
das instinktive Gefühl nach Entspannung. Sie mußte das Schreck- 
gespenst der inneren Unruhe und Unlust, der drohenden Nervosität, 
twelche durch die Fehlversuche des Ehegatten großgezogen wurden, 
herannahen fühlen. Es ist viel leichter, ganz zu ent- 
behren, als immer und wieder an der normalen, 
in der ersten Ehe geweckten Sinnlichkeit durch 
nutzlose Attacken des zweiten Ehemannes gereizt 
und gequält zu werden. Hier erlahmt schließlich der Stärkste 
und setzt sich über die Konvention fort. Gerade die Fehl- 
versuche der vorliegenden relativen chronischen Im- 
potenz (Ejaculatio praecox) mußten auf die Ehefrau viel 
abstoßender wirken als die volle Unfähigkeit eines absolut Im- 
potenten. Dieser Punkt bedurfte des psychologischen Eingehens, 
obgleich er für die Anfechtungsklage als solche nicht mehr in 
Bctiacht kommt. Aber es mußte von der Ehefrau das Odium der 
Laszivität und einer frivolen Moral genommen werden. 

4. Gibt außer den Behauptungen der Ehefrau das vorliegende 
Aktenmaterial Anhaltspunkte für die sexuelle Anomalie des 
Ehemannes ? 

Es rst bereits auseinandergesetzt worden, daß die positiven 
Beweismittel (Atteste) über die Gesundheit des Ehemannes 
für die vorliegende Frage der Impotenz wertlos sind. Die 
Beweisführung hat sich lediglich mit der Krankhaftigkeit 
zu beschäftigen. In dieser Beziehung sind allein die konfidentieilen 
Angaben maßgebend. 

In 3 Punkten gibt bereits das vorliegende Material zu denken. 
Wenn man die Behauptungen der Ehefrau ganz ausschaltet, so 
zeigen doch 3 von dem Ehemann selbst angegebene Wege eine 
bemerkenswert deutliche Richtung. 

a) Der Ehemann lehnt das Zeugnis des Dr. N. N. unter der 
Begründung ab, daß dieser nicht Spezialarzt sei. 

Gerade Dr. N. N. soll die vertraulichen Angaben von seinem 
Patienten empfangen haben. Er hat dem Hilfesuchenden Tropfen 
verschrieben und der Ehefrau gegenüber den Ausspruch getan: 
„Wo nichts ist, da kämpfen Götter selbst vergebens!" 

Dia Ablehnung gerade dieses Arztes ist höchst verdächtig. 
Wenn der Ehemann die Qualifikation des Dr. N. N. als 'ipczial- 



Digitized by Google 



- 214 — 



arzt bemängelt, so kann das nur insoweit einen Sinn haben, als 
der Patient dem Arzte nicht zutraut, die Krankhaftigkeit 
zu erkennen und geeignete Mittel dagegen anzuwenden. Um diese 
Frage aber handelt es sich garnicht. Im Gegenteil! Der Ehe- 
mann gibt ja an, gesund zu sein. Nicht zur Feststellung der 
Gesundheit sucht man in der Regel einen Spezialarzt auf! Selbst 
um jeden scheinbaren Verdacht von sich abzuwälzen, müßte der 
Ehemann geradezu darauf dringen, den Dr. N. N. zu vernehmen! 

b) Der Ehemann bezeichnet seine Ehefrau als „besonders 
sinnlich veranlagt" (Schriftsatz vom 7. August 1909) und 
zugleich behauptet er, „daß sie nach Laune dem Kläger die Aus- 
übung der ehelichen Rechte versagt oder sie nur in ver- 
drossenster Form gestattet, schließlich sich während der 
letzten Monate des ehelichen Zusammenlebens mit ihrem Sohne 
in ihr Schlafzimmer eingeschlossen habe" (Schriftsatz vom 28. Sep- 
tember 1908). 

Wie 'erklärt sich dieser Gegensatz von Sinnlichkeit und 
Weigerung? Doch offenbar nur aus der Abneigung, welche die 
Ehefrau gegen diesen geschlechtlichen Verkehr des Ehemannes 
empfindet! Wenn sie wirklich so sinnlich ist, wie es der Ehemann 
darstellt, hätte sie doch mit Freuden jede Gelegenheit ergreifen 
müssen, die der Ehemann zur Befriedigung darbot. Allein diese 
Befriedigung trat eben nicht ein! Es waren immer nur abstoßende 
Fehlversuche. Ihre Nerven gerieten in einen Reizzustan'd und so 
zog sie es vor, schließlich lieber ganz zu verzichten, als stets 
aufs neue unnütze Erregung, Abspannung, Ekel und ßeschmutzung 
zu erleiden. 

c) Als letztes Moment kommt die von dem Ehemann angeführte 
Bemerkung in Betracht, wonach die Ehefrau beim Sühnetermin 
erklärt haben soll, „daß sie ein dauerndes Zusammenleben der 
Parteien für ausgeschlossen halte" (Schriftsatz vom 30. August 
1909). Diese Bemerkung ist psychologisch wichtig. Man muß 
bedenken, daß die Ehefrau damals nicht auf Scheidung, 
sondern auf Wiederherstellung des ehelichen Lebens 
klagte. Und trotzdem erklärt sie — ganz gegen den Geist einer 
Wiederherstellungsklage — ein Zusammenleben für ausgeschlossen. 
Dieser Widerspruch begreift sich aus der unglücklichen Fassung 
des betreffenden Paragraphen (1567) des Neuen BGB. Die Ehe- 
frau wünschte allerdings ebenfalls die Scheidung und am ge- 
eignetsten und schonendsten schien ihr als Grund die böswillige 
Verlassung. Der wenig glückliche Paragraph 15ö7 setzt aber hierzu 
die Klage auf Wiederherstellung voraus. Das Gesetz bringt also 
den. Scheidungsbegehrenden in den seelischen Konflikt, bevor er 
die Scheidung verlangt, die Rückkehr zu erbitten. Der Paragraph 
1567 hat eine Art Doppelgcsicht, in dessen Zügen sich ein Laie 
ungemein schwer zurechtfinden kann. Die Ehefrau ist deshalb 
ihrem einfachen, gesunden und natürlichen Gefühl gefolgt, als sie 
trotz der gesetzmäßig geforderten Wiederherstellung die Zerrüttung 



Digitized by Google 



— 215 — 



der Ehe bereits im Sühnetermin zugab. Sie scheute sich, den 
wahren Orund zu sagen, sie scheute sich auch, die Ehescheidung 
auf der sexuellen Basis aufzubauen, um die Scheidung ohne Schmutz 
und Härte durchzuführen. 

5 Die homosexuellen Verdachtsmomente. 

Die Ehefrau scheint mit dieser Annahme einem Irrtum zu 
unterliegen. Wenigstens reichen ihre Verdachtsmomente bei weitem 
nicht aus, eine Homosexualität greifbar zu konstruieren. Es muß 
aber betont werden, daß der Vorwurf nicht aus erfundener Bös- 
willigkeit resultiert, sondern ebenfalls eine für die Ehefrau reelle 
Grundlage besitzt. Sie war allmählich zur Kenntnis einer sexuellen 
Anomalie ihres Ehemannes durchgedrungen. Welcher Art — stand 
für sie noch nicht fest, da sie die E j a c u 1 a t i o praecox als 
Impotenzform nicht zu rubrizieren vermochte. Die „Schwäche" 
ihres) Ehegatten brachte sie unwillkürlich mit Homosexualität in 
Verbindung, als alle Welt gelegentlich des Moltke-Harden-Prozesses 
von Homosexualität sprach. Als dann noch das erste Scheidungs- 
begehren ihres Ehemannes mit einem Zitat aus diesem Prozeß 
(cf. den ersten Brief) begann, konnte dieser Gedanke, durch den 
Ehemann selbst angeregt, bei ihr festere Wurzel fassen. Die Vor- 
stellung verdichtete sich zur Wirklichkeit, als ihr die Mitteilungen 
übet die Kotstriche im Bett und an der Tapete, sowie die an sich 
belanglose Affäre mit dem Packer berichtet wurden. Jetzt kam 
ihr auch der am Anfang der Ehe mißlungene Versuch ihres Ehe- 
gatten in Erinnerung, welcher bei der sich immer mehr ver- 
dichteten Vorstellung der Homosexualität plötzlich an Bedeutung 
gewann. 

Dies ist das psychologische Entstehen der Vermutung. Die 
Ehefrau hat auch gehört, daß Homosexuellen empfohlen wurde, zu 
heiraten, um ihr Leiden los zu werden. In dem Zustande der 
Nervenspannung, den ein Ehescheidungsprozeß auf die Beteiligten 
auszuüben pflegt, ist es begreiflich, daß auch die homosexuelle 
Vorstellung als Ursache der Impotenz des Ehemannes schließlich 
dauernder, Platz in dem Kopfe der unbefriedigten Ehefrau findet. 

Ermangelt somit die Hypothese der Ehefrau, ihr Mann sei 
homosexuell, der? wissenschaftlich erforderlichen positiven Unter- 
lagen, so muß doch zugegeben und erwähnt werden, daß gerade 
die Impotenz, an welcher der Mann leidet — die nämlich, bei der 
etwaige Ejakulationen ohne beischlafartige Bewegungen ganz plötz- 
lich und fast gefühllos vor sich gehen — gerade die Form ist, 
Welche sich verhältnismäßig häufig bei Homosexuellen findet, woraus 
allerdings noch keineswegs Homosexualität gefolgert werden kann, 
da ebendieselbe Form der Impotenz auch bei nicht homosexuell 
Gearteter vorkommt. 



Digitized by Google 



XIII. Kapitel. 



Frau von Warens 

La Femme de glace. 

(Nach J. J. Rousseau: Les Confessions.) 



Eine psychologische Studie. 

* 

Das sexuelle Element in J. J. Rousseaus: Les Confessions und I a 
Nouvelle Heloise. "Rousseaus Flucht zu Frau von Warens. Die ein- 
gehende Schilderung ihres sexuellen Lebens ist eine "Ehrenrettung und. 
Erklärung des Widerspruchs zwischen ihrer moralischen Aufführung und 
ihrer mangelhaften Qeschlechtseinpfindung. Wesentliche Daten aus deim 
Leben der Frau von Warens. Schilderung ihres Äußeren und ihres 
Charakters. Rousseaus erster Eindruck. Das Unglück der ersten, kinder- 
losen Ehe. Die sophistische Verführung durch Herrn von Tavel. Der 
Prediger Perret. Ihr Haushälter Claude Anet. Rousseau selbst als Ge- 
liebter. Sein Bericht über die Anästhesie und Stimmung der ersten 
intimen, Nacht. Psychologische Erklärung des scheinbaren Widerspruches 
zwischen geschlechtlicher Unempfindlichkeit und sichtbarem Drang nach 
Liebt. Außer Freundschaft und Dankbarkeit ist oft nur die Eitelkeit 
Veranlassung. "Rousseaus Reise.' Bei der Rückkehr findet er seine Stelle 
besetzt durch einen „garceur perruquier". Die angebotene Teilung und 
freiwillige Entsagung trägt ihm* trotz der fehlenden Sinnlichkeit der 
Frau von Warens, dennoch deren Entfremdung ein. Wiederholte Ver- 
sicherung der Uneigennützigkeit ihrer Hingabe — Epikritische Bemer- 
kungen zu der geschilderten Anaesthesia sexualis der Frau von Warens. 
Ist sie eine absolute Anaesthetica oder nur* relativ gegenüber Rousseau? 
Ist ihre Anästhesie organisch oder rein psychisch? Das Pathologische 
der Vita sexualis Rousseaus. £eine spätere Frau, Therese, ebenfalls 
ohne Sinnlichkeit. Episode bei der venetianischen Julietta. Rousseaus 
sinnliche; Kraft üst keine aktiv das andere Geschlecht erotisch erregende. 
Er selbst lernt die wahre Sinnlichkeit erst bei einen routinierten Kennerin 
der Liebe (Frau von Larnage). Die Anästhesie der Frau von Warens 
ist wescntlichi psychisch, eine Folge erworbener Hemmungen, die sich 
aus ihrer unglücklichen Ehe und den weiteren Erlebnissen hinreichend 
erklären. Zur Sprengung dieser Hemmungen reichte Rousseaus patho- 
logisches Sexualempfinden nicht aus. Möglich, daß eine andere spätere 
besondere Individualität dies dennoch erreicht hat. W„. Stekels abweichende 
Auffassung: Frau von Warens eine Komödiantin — „avillissement". 



In der geistvollen Selbstbiographie J. J. Rousseaus: 
Les Confessions — bespricht der Verfasser mit seltener 



Digitized by Google 



- 217 — 



Offenheit die intimsten Regungen seines Seelenlebens. Seine 
Feder schreckt nicht vor einer besonders häufig wieder- 
kehrenden und ausführlichen Darstellung sexueller Erlebnisse 
zurück. Es ist jedoch nicht die Lust lasziv zu sein oder durch 
Laszivität zu wirken, sondern das ehrliche Bestreben, einen 
eigentümlichen und sonderbaren Werdegang des Charakters 
wie den seinigen mit unvermischten Farben wiederzugeben. 
In seinem Leben hat das eigenartige sexuelle Empfinden, 
welches bereits im neunten Lebensjahre, wie er schildert, sich 
bemerkbar machte, eine so entscheidende Rolle gespielt, daß 
hierdurch nicht allein sein seltsam gehetztes Schicksal teil- 
weise erklärt wird, sondern sich zugleich erst das Verständnis 
für seine Schriften eröffnet. Sein berühmtes Werk: „La 
Nouvelle Heloise" spiegelt in seiner diskreten Sinnlich- 
keit eine Welt eigenster Empfindungen wieder. 

J. J. Rousseau wurde in seinem ca. sechzehnten Lebens- 
jahre von Frau von Warens aufgenommen, als er seinem 
Lehrmeister entlaufen, in Not und Elend sich anschickte, aben- 
teuernd die Welt zu durchziehen. Er hat mit dieser Frau 
ca. zehn Jahre gemeinsam verlebt und ursprünglich im Ver- 
hältnis des Sohnes zur Mutter — er nannte sie auch später 
nie anders als „maman" — gestaltete sich ihr Verkehr zur 
vertrautesten Gemeinschaft zweier Liebenden, obgleich sie um 
zwölf Jahre älter war als er selbst. 

Rousseau hat das sexuelle Leben dieser eigenartigen 
Frau nach verschiedenen Punkten hin durchleuchtet; nicht, 
um eine Indiskretion zu begehen, sondern um eine Art Ehren- 
rettung vorzunehmen und Ehrenschuld abzutragen, die er für 
diese hochherzige Frau sein Leben lang dankbar empfunden 
und auch bewiesen hat. Er wollte der Welt den Glauben 
nehmen, daß sie trotz ihrer mannigfachen Verfehlungen eine 
sinnliche, leichtsinnige Frau gewesen sei, deren freie Hand- 
lungsweise nur erotischen Anwandlungen entsprungen wäre. 
Im Gegenteil! Indem er ihr Verlangen, zü leben und zu lieben, 
als das ununterd rückbare Bedürfnis ihrer Natur ausdrücklich 
betont und auch dem Leser das Zugeständnis einer zweifachen 
vertrauten Liebe zu gleicher Zeit (mit ihm selbst und mit 
Claude Anet) nicht vorenthalten kann, überrascht er den- 
noch mit der paradoxen Bemerkung, daß sie eine eisig 



Digitized by Google 



- 218 — 



kalte Natur gewesen sei — „une femme de glace" ■■- 
„avec un temperament froid" — „die nicht be- 
greifen konnte, daß man einem Akte so viele 
Bedeutung beilegte, der für sie gar keine hatte. 
Sie beehrte eine Enthaltsamkeit, die ihr so 
wenig kostete, nie mit dem Namen Tugend" („q u i 
ne pouvait concevoir, qu'on donna tant d'im- 
portance ä ce qui n'en avait point pour eile. Elle 
n'honora jamais du nom de vertu une abstinence, 
qui lui coütait si peu"). 

Um den eigenartigen Widerspruch im Handeln und Emp- 
finden dieser Frau psychologisch zu verstehen, ist es not- 
wendig, die einschlägigen Hauptsteilen im Originaltext wieder- 
zugeben. Auch werden über ihren Lebensgang die not- 
wendigsten Daten angeführt werden müssen. 

„Louise Eleonore von Warens war ein geborenes 
Fräulein delaTourdePil; ihre alte adelige Familie wohnte 
in Vevay, einer Stadt im Kanton Waadt. Noch sehr jung 
hatte sie Herrn von Warens aus dem Hause Loys, ältesten 
Sohn des Herrn von Villardin von Lausanne, ge- 
heiratet. Da diese Ehe, aus der keine Kinder her- 
vorgingen, nicht allzu glücklich war, ergriff Frau 
von Warens, von häuslichem Kummer getrieben, die sich 
ihr durch die Anwesenheit des Königs Victor Amadeus 
in Evian darbietende Gelegenheit und fuhr über den See, 
um sich diesem Fürsten zu Füßen zu werfen und riß sich 
so durch eine der meinigen (i. e. R o u s s e a u s) sehr ahnliche 
Unbesonnenheit, die sie ebenfalls immerdar hat beweinen 
müssen, von ihrem Gatten, ihrer Familie und ihrer Heimat los. 
Der König, der gern den eifrigen Katholiken spielte, nahm sie 
»unter seinen Schutz, bewilligte ihr eine Pension von 1500 pie- 
montesischen Livres, was für einen im allgemeinen wenig 
freigebigen Fürsten eine bedeutende Summe war, und sandte 
sie, als er wahrnahm, daß man ihn um deswillen für verliebt 
in sie hielt, von einer Abteilung seiner Garden geleitet, nach 
Annecy, wo sie unter der Gewissensleitung des Titularbischofs 
von Genf, Michael Gabriel von Bernex, im Kloster 
der Heimsuchung Mariä ihren Glauben abschwor." 

Die geschilderte Flucht vom Gatten und der Familie ge- 
schah im ca. einundzwanzigsten Jahre ihres Lebens. Als 



Digitized by Google 



- 219 — 



J. J. Rousseau Frau von Warens kennen lernte, war 
sie bereits achtundzwanzig Jahre alt. Ihre äußere Erscheinung 
in dieser Zeit beschreibt er folgendermaßen: 

„Ihre Schönheit gehörte zu jenen, die lange Dauer haben, 
weil sie sich weniger in den Zügen als in dem Gesichtsaus- 
drucke ausprägt; auch war die ihrige noch in ihrem ersten 
Glänze. Sie hatte eine angenehm berührende und zärtliche 
Miene, einen sehr sanften Blick, ein engelgleiches Lächein, 
einen dem meinigen (!) ähnlichen Mund und aschfarbiges» 
Haar von ungewöhnlicher Schönheit, auf dessen Ordnung sie 
wenig Sorgfalt verwandte, was ihr etwas ungemein Reizendes 
verlieh. Sie war nur klein, sogar untersetzt, und hatte eine 
etwas starke, wenn auch nicht unschöne Taille; aber es war 
unmöglich, einen schöneren Kopf, einen schöneren Busen, 
schönere Hände und schönere Augen zu sehen." 

Entzückend und rührend zugleich ist die Stelle zu lesen, 
an welcher Rousseau sein erstes Zusammentreffen mit 
Frau von Warens, an welche der zitternde und heimatlose 
Knabe von dem Pfarrer von Vontverre empfohlen war, 
schildert: 

„Ich hatte mir eine alte, höchst mürrische Betschwester 
vorgestellt, nach meiner Ansicht konnte die gute Dame des 
Herrn von Pontverre gar nichts anderes sein. Ich sehe 
ein Gesicht voller Liebreiz, schöne blaue Augen voller Sanft- 
mut, eine blendende Gesichtsfarbe, die Umrisse eines be- 
zaubernden Busens. Nichts entging dem raschen Blicke des 
jungen Proselyten; denn augenblicklich hatte sie mich für 
ihre Sache gewonnen, da ich überzeugt war, daß eine Religion 
von solchen Glaubensboten gepredigt, geradeswegs in das 
Paradies führen müßte." 

Soviel von ihrer äußeren Erscheinung. Von ihrem Cha- 
rakter entwirft Rousseau ein entzückendes Bild, das wohl 
zum Teil durch die Dankbarkeit verklärt ist. Allein, da seine 
ganze Lebensbeschreibung auch ohne die oft wiederholte Ver- 
sicherung in jeder Zeile den Hauch der Wahrheit atmet, hätte 
er sicherlich einen hervorstehend schlechten Charakterzug 
dieser Frau wenigstens andeutungsweise leicht gestreift. 

Er lobt vor allem „ihren liebevollen, sanften Charakter, 
ihr Wohlwollen gegen Unglücklich?, ihre unerschöpfliche Güte, 



Digitized by Google 



- 220 — 



ihr offenes, aufrichtiges und immerdar heiteres Gemüt, das 
sogar noch bei herannahendem Alter von Armut, Leiden und 
mancherlei Unglücksfällen bedrängt, die Ruhe und Reinheit 
ihrer schönen Seele und den ganzen Frohsinn ihrer schönsten 
Tage bewahrte." 

Ihre Kenntnisse, ihre Bildung waren jedoch planlos. 

„Auf ihre Erziehung hatten zu verschiedene Elemente 
eingewirkt, da sie ihre Mutter (wie Rousseau selbst) schon 
bei ihrer Geburt verloren hatte und jeden Unterricht, wie er 
sich gerade darbot, ohne Unterschied erhalten hatte. Sie 
hatte etwas von ihrer Gouvernante, etwas von ihrem Vater, 
etwas von ihren Lehrern und viel von ihren Liebhabern ge- . 
lernt, besonders von einem Herrn von Tavel, welcher Ge- 
schmack und Kenntnisse besaß und sie auch seiner Geliebten 
beibrachte, der sie zur Zierde gereichten. Allein so viele 
verschiedene Unterrichtsarten schadeten sich gegenseitig und 
die Planlosigkeit, mit der sie ihre vielfachen Studien betrieb, 
trug die Schuld, daß sie geistig durch dieselbe wenig gefördert 
wurde, so begabt sie von Natur auch war. Deshalb ließ sie 
sich auch, obgleich sie mit den Anfangsgründen der Philo- 
sophie und der Physik einigermaßen vertraut war, nicht von 
ihrer Vorliebe für Quacksalberei und Alchymie abbringen, 
die sie mit ihrem Vater teilte. Sie bereitete Elixire, Tinkturen, 
Baisame, Rezepte; sie behauptete, sich auf Geheimmittel zu 
verstehen ; Schwindler, die sich ihre Schwäche zunutze machten, 
bemächtigten sich ihrer, umlagerten sie, richteten sie zugrunde 
und zerstörten unter Schmelztiegeln und Quacksalbereien ihren 
Geist, ihre Talente und ihre Reize, durch welche sie sich zum 
Lieblinge der besten Gesellschaft hätte machen können.*' 

Was das Liebesleben der Frau von Warens betrifft, 
so ist bereits mitgeteilt worden, daß sie jung verheiratet 
wurde und, nach wenigen Jahren einer „nichtallzuglück- 
lichen und kinderlosen Ehe", ihrer Familie unter dem 
bereitwilligen Schutz des Königs Victor Amadeus entfloh. 

Worauf der Mangel an Glück in ihrem ehelichen Leben 
beruhte, ist leider nicht näher angegeben. Eine tiefere Kennt- 
nis gerade dieser Zeit hätte vermutlich für das psychologische 
Verständnis der späteren Seltsamkeit den Schlüssel abgegeben, 
jener. Seltsamkeit, daß eine nach ihrem ganzen Leben und 



Digitized by Google 



- 221 - 



Handeln in der Liebe durchaus nicht wählerische und dem- 
gemäß scheinbar sinnliche Frau dennoch eisig 
kalt, d. h. also in unserem Sinne geschlechtlich 
unempfindlich war. 

Schon während ihrer Ehe begann ihre erste Verirrung. 
Ein Herr von Tavel überrumpelte sie durch eine Philo- 
sophie, welche auch für die Folgezeit sich bei ihr festsetzte 
und welche geschickt ihre mangelhafte Sinnlichkeit ausnutzte. 

„Er fand, daß sie ihrem Manne und ihren Pflichten er- 
geben, immer kalt (f roide), nachsinnend und durch Erregung 
der Sinnlichkeit nicht zu gewinnen war (inattaquable par 
1 e s sens) und ging darauf aus, sie durch Sophismen zu 
gewinnen, und es gelang ihm auch, ihr die Pflichten, denen 
sie so treu nachkam, als reines Katechismusgeschwätz dar- 
zustellen, nui zur Unterhaltung von Kindern ersonnen ; die 
Vereinigung der Geschlechter als einen an sich 
ganz gleichgültigen Akt; die eheliche Treue als 
eine Scheinverpflichtung, deren ganzer sittlicher Sinn 
nur die öffentliche Meinung im Auge hätte; die Ruhe der 
Ehegatten als die einzige Richtschnur für die Pflicht der 
Frauen, so daß eine Untreue, die verschwiegen bliebe, für 
den, welchem sie die Treue brächen," sowie für das Gewissen 
nichts zu bedeuten hätte; kurz, er redete ihr ein, daß die 
Sache an sich nichts wäre, daß sie erst durch das Aufsehen 
etwas würde und daß jede Frau, die keusch schiene, 
es schon dadurch allein in Wahrheit wäre. Auf diese Weise 
erreichte der Elende sein Ziel, indem er die Vernunft 
eines Kindes irre leitete, dessen Herz er nicht hatte ver- 
führen können." 

Diese Grundsätze wurden in Anbetracht ihrer unglück- 
lichen Ehe und mit Rücksicht auf ihre Empfindungslosigkeit 
beim intimsten sexuellen Zusammensein sehr bald zur wohl- 
verstandenen und ausgeführten Wahrheit. Zum eifersüchtigen 
Schrecken ihres Verführers selbst, der nicht bedacht hatte, 
daß die fortgesetzte Handlung nach solchen Prinzipien ihn 
selbst zum Betrogenen machen mußte! 

Er hatte in einem Prediger Perret bald einen Neben- 
buhler und Nachfolger. 

Zur Zeit als Rousseau bei Frau von Warens in 
Chamberry lebte — also nach ihrer Flucht vom Gatten 



Digitized by Google 



- 222 - 



und fern von Herrn von Ta vel und dem Prediger P e r r e t 
— hatte sie intime Beziehungen zu ihrem Haushälter Claude 
A n e t. 

Claude An et war ihr sowohl an Bildung und Geburt 
weit unterlegen und eigentlich bekleidete er in ihrem Hause 
nur eint etwas höhere dienende Stellung. Allein es war ein 
Mann von festem, unbestechlichem und ehrlichem Charakter, 
der das kleine Hauswesen seiner Herrin mit deren be- 
schränkten Geldmitteln in Ordnung hielt und bei seinen Leb- 
zeiten den wirtschaftlichen Rückgang, der später durch ihre 
allzu freigebige und wohlwollende Hand ihr Haus zu Grunde 
richtete, durch weise Berechnung und enerjgische Zurück- 
haltung vermied. Zudem hatte er ein gleichmäßiges Streben, 
seine Kenntnisse allgemein zu erweitern, und speziell teilte 
er die Neigungen seiner Herrin für botanische Studien derart, 
daß man ihn zum Leiter einer neu zu gründenden pharma- 
zeutisch-botanischen Schule in Aussicht genommen hatte, wenn 
nicht sein plötzlicher und früher Tod alle diesbezüglichen 
Entwürfe zerstört hätte. 

Das intime Verhältnis zwischen Frau von Warens 
und diesem Claude Anet wurde Rousseau trotz bereits 
mehrjährigem Aufenthalt im Hause erst gelegentlich einer 
schweren Erkrankung Claude Anet's bekannt. Damals ent- 
rang sich ihren Lippen diese Beichte, durch welche sie ge- 
wissermaßen ein Gebet für die Genesung ihres treuen Dieners 
aussprach. 

Man lebte danach in glücklichem Beieinander und 
J. J. Rousseau war nach wie vor seit mehreren Jahren 
derjenige, welcher in harmloser Zufriedenheit seine Schutz- 
herrin auch fortan als „Mama" anredete und behandelte. 

Rousseau entwickelt nun in einer ganz eigenartigen 
und seltenen Psychologie, wie er selbst zu Frau von 
Warens in intime Beziehungen trat. 

Sie selbst war seine Verführerin. Weder hatte er vordem 
mit einem eigenen Gedanken überhaupt an die Möglichkeit 
ihres Besitzes gedacht, noch auch den Mut dazu besessen, 
Sie selbst aber nahm ihn beiseite, und in einer sehr seltsamen, 
fast kühl geschäftsmäßigen Weise bereitete sie ihn auf den 
Genuß vor, der nach achttägiger Karenzzeit seiner in ihren 
Armen warten sollte. 



Digitized by Google 



- 223 - 



Jeder unbefangene Beurteiler wird über diese scheinbar 
aufdringliche und unweibliche Art der Annäherung von vorn- 
herein den Stab brechen. Er wird sie als 'den Ausdruck ge- 
meinster Laszivität auffassen, deren Quelle grobe Sinnlich- 
keit ist und das Verlangen der älteren Frau nach einem 
jugendfrischen Liebhaber zum Inhalt hat. 

Wie kontrastiert hiermit der stets betonte Mangel an Sinn- 
lichkeit, den Rousseau an ihr beschreibt und dessen er 
in jener ersten Nacht der Intimität besonders gedenkt! 

„Sie war weder traurig noch leidenschaft- 
lich, sie war zärtlich und ruhig. Da sie wenig 
sinnlich war und nicht die Befriedigung der 
Wollust bezweckt hatte, genoß sie nicht ihre 
Wonne und brauchte nie Reue über sie zu emp- 
finden." („Pour eile, eile n'etait ni triste ni vive; eile etait 
caressante et tranquille. Comme eile etait peu sensuelle et 
n'avait point recherche la volupte, eile n'en eut pas les delices 
et n'en a jamais eu les remords.") 

Rousseau entwickelt den Widerspruch ihrer mangel- 
haften Sinnlichkeit und ihrer durchaus entgegengesetzten Auf- 
führung in interessantester Weise. 

Frau von Warens war eine Frau, die von der Freund- 
schaft lebte und deren Leben in Wohltun und Menschenliebe 
aufging. Diejenigen Personen, welche durch Schicksalsfügung 
ihrem Hausstande verbunden waren, wie Claude Anet und 
J. J. Rousseau, den sie als mittellosen Knaben auf- 
genommen hatte und der nun zum Manne erwachsen war, 
suchte sie sich mit allen Mitteln zu erhalten. Sie hatte be- 
obachtet, daß die Befriedigung des sinnlichen Momentes beim 
Manne vielfach den Schlüssel zur dauernden Anhänglichkeit 
an ein Weib bedeute. Aus diesem Grunde hatte sie Claude 
Anet, der wirtschaftlich für sie unentbehrlich geworden war 
und dem zugleich sie die höchste Achtung zollte, an sichl 
gekettet, aus dem gleichen Grunde verführte sie jetzt ihren 
Jean Jacques, um ihn anderen Gefahren zu entreißen und 
einer drohenden Entfremdung vorzubeugen. Diese Entfrem- 
dung gewahrte sie mit kundigem Frauenblicke in dem Be- 
nehmen der Mutter einer vornehmen adligen Schülerin Jean 
Jacques, die bereits bedenklich ihre Netze nach dem geist- 
vollen jungen Hauslehrer ausgeworfen hatte. 



Digitized by Google 



- 224 — 



Frau von Warens' Handlungsweise, wenn auch nicht 
zu rechtfertigen, ist unter solchen Gesichtspunkten immerhin 
psychologisch verständlich. Vor allem ist die Tatsache he- 
greiflich, daß eine sicherlich leichtlebige Frau, welche die er- 
laubten Grenzen weiblicher Moral weit und unentschuldbar 
überschreitet, welche ihren Gatten verlassen hat und danach 
in verhältnismäßig noch jungen Jahren vier weitere Lieb- 
haber in intimstem Verkehr an sich fesselt — die beiden 
letzten sogar als Rivalen! — nicht aus Sinnlichkeit 
gehandelt zu haben braucht, im Gegenteil, so 
paradox es klingen mag, im Liebesverkehr „kalt 
und empfindungslos" war, „ihre Wonne nicht 
genoß", in unserer Sprache zu den naturae fri- 
gid ae, zu den Vertreterinnen der Anaesthesia 
sexualis gehörte. 

An früherer Stelle x ) dieses Werkes ist bereits bemerkt 
worden, daß die Koketterie des Weibes mit seiner 
Sinnlichkeit, seinem geschlechtlichen Verlan- 
gen nichts zu tun hat, so oft auch der gegen- 
teilige Fehlschluß im Leben immer und wieder 
gemacht wird. Es gibt unendlich viele Frauen, die mit 
großen, leuchtenden, scheinbar verlangenden 
Augen-) in der Männerwelt umherspähen und jede Gelegen- 
heit suchen, Eindruck zu machen, Anbeter zu werben und sie 
zu ihren Füßen zu zwingen. Ist solch ein weiblicher Charakter 
nicht absolut fest und die Moral schwach, so wagt er auch 
den letzten, schwersten Schritt. Das letzte Zugeständ- 
nis der äußersten Intimität und sexuellen Hin- 
gabe ist jedoch nicht der sehnsuchtsvolle Höhe- 
punkt eines mühsam verhaltenen und bisher 
niedergekämpften sinnlichen Verlangens, son- 
dern eines aus Schwäche und vor allem aus Eitel- 
keit gewährten Geschenkes. Die Eitelkeit vor 
allem ist der häufigste psychologische Beweggrund solchen 
Falles. In der Natur des Weibes liegt das Begehrtwerden, 
und sieht es sich vor anderen bevorzugt und gefeiert, so 
geht diese Eitelkeit in Schwäche über, welche ihrerseits sich 
wieder aus Dankbarkeit einerseits und der Furcht, einen so 

1 ) Vergt. pag. 136. 

2 ) Margarethe Kossack's „Hungrige Augen" — vergl. ebenda. 



Digitized by Google 



- 225 — 



glühenden Verehrer zu verlieren, andererseits zusammensetzt. 

Die Triumphe der Männer über die Frauenwelt 
entspringen meist dem sinnlichen Moment. Der Fall 
einer Frau ist nur selten die Folge erotischer Leidenschaft, 
viel häufiger eine Konsequenz ihrer Eitelkeit. 

Rousseau erzählt weiter, wie er nach etwa lOjährigem 
Zusammenleben mit Frau von Warens nach Mont- 
pellier reiste, um gegen ein Heer nervöser Beschwerden, 
deren Grund er eingebildeterweise in einem Herzpolypen; 
suchte, Heilung anzustreben. Diese Heilung fand er sehr 
schnell, noch bevor er am Orte selbst ankam, unterwegs in 
den Armen einer wirklich sinnlichen Frau. Interessant ist 
bei dieser Gelegenheit die erneute Beobachtung, daß eine 
falsche Sexualität, wie Rousseau sie sicher bisher bei 
Frau von Warens genossen, Nervosität befördern 
und ein nur kurzer Taumel wahren Sinnengenusses 
Heilung herbeiführen kann. 

Um dem schon hinreichend männerreichen Lebensbilde 
der Frau von Warens aus dieser Epoche die letzte, 
Staffage zu geben, sei bemerkt, daß Rousseau nach einigen 
Monaten bei seiner Rückkehr in das Haus der Mutter und 
Geliebten zugleich „seine Stelle besetzt fand" („je trouvai 
ma place prise"). 

Der Nachfolger war ein einfacher Friseurgehilfe (un 
gar?on perruquier). Frau von Warens empfing 
ihren enttäuscht heimkehrenden Jean Jacques, dem sie 
bald die Intimität des neuen Verkehrs freimütig offenbarte, 
mit dem sonderbaren Tröste, „daß all seine Rechte noch die- 
selben wären und daß er, wenn er sie auch mit einem anderen 
teilte, ihrer deshalb nicht verlustig ginge." 

Auch in diesem Falle, der in die eigensten Interessen 
Rousseaus hineinspielte, seine Eitelkeit und sein männ- 
liches Ehrgefühl auf das empfindlichste verletzen mußte, 
weist er eine v.i eileicht inzwischen erwachte 
Sinnlichkeit der abwechslungliebenden Frau durchaus 
von der Hand. 

„Sie fand von ihrem Standpunkte aus die Sache ganz 
einfach, warf mir meine Nachlässigkeit im Hause vor und 
berief sich auf meine häufige Abwesenheit, als hätte siq 
eine so sinnliche Natur gehabt, daß sie einert 

Adler, Oeschlechtsempfindung. 3. Aufl. 16 



Digitized by Google 



- 226 



schnellen Ersatz für das Versäumte verlangt 
hätte." („Comme si eile eüt ete (Tun temperament 
fort presse d'en remplir les vides.") 

Rousseau erklärt auch hier ihre erneute Entwürdigung 
an diesen weit unter ihr stehenden „garcon perruquier" 
lediglich durch dessen Rührigkeit, mit welcher er in ihr Haus- 
wesen eingriff. 

„Dieser junge Mann kam ihr wie ein Schatz für ihre 
Angelegenheiten vor. In dem Wunsche, ihn an sich 
zu fesseln, wandte sie alle Mittel an, welche sie 
für geeignet hielt, und vergaß das nicht, auf 
welches sie sich am meisten verließ." 

Psychologisch höchst interessant ist das Resultat dieser 
(Nebenbuhlerschaft sowohl bei Rousseau selbst wie bei 
Frau von Warens. 

Rousseau hat in männlichem Stolze auf die angebotene 
„Teilung" verzichtet: 

„Mama, ich liebe Dich zu sehr, um Dich herabzuwürdigen; 
Dein Besitz ist mir zu teuer, um ihn zu teilen . . . ich werde 
Dich immer anbeten . . . Deine Verehrung ist mir ein noch 
größeres Bedürfnis als Dein Besitz ... der Vereinigung 
unserer Herzen opfere ich meine Sinnenlust. Ich würde 
tausendmal lieber sterben, als mich einem Genüsse hingeben, 
der das erniedrigt, was ich liebe!" 

Er lebte fortan in absoluter Enthaltsamkeit ihr gegen- 
über. Allein der Erfolg war eine zunehmende Entfremdung 
und Erkaltung „Mamas" gegen ihren einstigen Sohn und 
Geliebten. 

„Die Entsagung, die ich mir auferlegt, und die sie dem 
Anscheine nach gebilligt hatte, gehört zu jenen Dingen, 
welche die Frauen nie verziehen, welche Miene sie auch dazu 
machen, weniger wegen der Entbehrung, die sie 
dadurch persönlich leiden, als wegen der Gleichgültigkeit gegen 
ihren Besitz, den sie darin erblicken. Mehmet die ver- 
ständigste, gebildetste, am wenigstensinnlic he 
Frau: das unverzeihlichste Verbrechen, welches 
der Mann, um den sie sich sonst am ,wenigsten 
kümmert, gegen sie begehen kann, ist, ihren 
Besitz erlangen zu können und keinen Gebrauch 
davon zu machen." (Prenez la femme la plus sensee, 



Digitized by .Google 



- 227 - 

la plus phüosophe, la moins attach£e ä ses sens; le 
crime le plus irremissible que l'homme dont au reste eile se. 
soucie lc moins puisse commettre envers eile, est d'en pouvoir 
jouir et de n'en rien faire.) 

Das psychologische Fazit aus den mitgeteilten Sonderbar- 
keiten ist das Zusammentreffen mangelhafter weiblicher Ger 
schlechtsempfindung und damit kaum vereinbarer, nach all- 
gemeinem Urteil fast dirnenhaft zu nennender Aufführung.. 
Allein die gewöhnlichen Beweggründe fallen hier aus. Die 
Laszivität, das gewöhnliche Verlangen nach dem Manne 
kommen nach Rousseaus immer wiederkehrenden Ver- 
sicherung nicht in Betracht. Das zweite gewöhnliche Moment, 
die Hingabe der weiblichen Ehre um schnöden Gewinn und 
Verdienst ist ebenfalls ausgeschlossen: 

„Bemerkenswert ist, daß sie nach ihrer ersten Schwäche 
fast nur noch Unglücklichen ihre Gunst zugewandt hat 
(eile n'a guere favorise" que des malheureux). Männer in 
glänzenden Verhältnissen haben sich sämtlich 
vergebens um sie bemüht (les gents brillants ont tous 
perdu leur peine aupres d'elle); aber ein Mann, den sie erst 
zu bedauern (plaindre) begann, mußte sehr wenig liebens- 
würdig sein, wenn sie nicht damit enden sollte, ihn zu lieben." 

Und an einer anderen Stelle heißt es: 

„Kurz, um auf das zurückzukommen, was am wenigsten 
verzeihlich ist, sie machte, ohne selbst den wahren Wert ihrer 
Gunst zu schätzen, nie einen gemeinen Handel daraus; sie 
verschwendete sie, aber sie verkaufte sie nicht, 
obgleich sie unaufhörlich in Nahrungssorgen 
war (eile les prodiguait, mais eile ne les vendait pas, quoi- 
qu'ellc fut sans cesse aux expediens pour vivre), und ich 
wage zu behaupten, wenn Sokrates Aspasia achten 
konnte, hätte er vor Frau von Warens Hochachtung 
gehabt/* 

Der Seltsamkeit 'des ganzen Zustandes ist sich Rousseau 
selbst sehr wohl bewußt. 

„Ich weiß im voraus, daß, wenn ich ihr ein empfäng- 
liches Gemüt (un caractere sensible) und ein kaltes 
Temperament (un temperament froid) gebe, wie gewöhn- 
lich und mit ebensoviel Grund des Widerspruchs werde 
geziehen werden. Möglicherweise hatte die 

15* 



Digitized by Google 



- 228 - 

Natur Unrecht, und diese Verbindung hätte 
nicht sein sollen, ich weiß nur, daß sie statt- 
gefunden hat... Meine Aufgabe ist, die Wahrheit 
zu sagen, aber nicht, sie glaubbar zu mache n." 

Die ärztlichen Erfahrungen und Beobachtungen über die 
Jmangelhafte Geschlechtsempfindung des Weibes erblicken 
nichts von Widerspruch in der geschilderten Kombination., 
tWie die Koketterie ohne Sinnlichkeit bestehen kann 
Und fälschlicherweise oft als Laszivität ausgelegt wird, ebenso 
kann einmal Liebe von einem Weibe scheinbar verschwendet 
werden, ohne daß es gewinnsüchtige oder lusttrunkene, sinn- 
liche Dirnenqualitäten in sich trüge. Hat sich, wie bei Frau 
von Warens, eine falsche Moral über weibliche Ehre durch 
philosophische Trugschlüsse eines Verführers (Herr von 
Tavel) eingenistet, so erklärt sich zwanglos die eigenartige 
Kombination von Liebesverschwendung und sinnlichem Ge- 
fühlsmangel. — 

Die weitere und für uns wichtigere, weil unserem Thema 
zunächst stehende Frage drängt nach der Beantwortung 
folgender Punkte: 

1. War Frau von Warens tatsächlich eine ab- 
solute Repräsentantin sexueller Anästhesie, eine 
kalte, geschlechtlich unempfindliche Frau, eine na- 
tura frigida, une femme de glace avec le tempera- 
ment froid? 

oder: 

war sie es nur der Individualität Jean Jacques 
Rousseaus gegenüber und erwachte ihr Feuer 
in den Armen der anderen? 

2. Welcher Art war ihre sexuelle Anästhesie? Hatte 
dieselbe organische Ursachen oder eine rein psychi- 
sche Basis? 

Die Entscheidung über den ersten Punkt dürfte jetzt nach 
beinahe 200 Jahren, wo keine anderen Quellen als die sub- 
jektiven Mitteilungen Rousseaus zu Gebote stehen, 
schwierig sein. An der Tatsache der Empfindungslosigkeit 
Rousseau gegenüber ist wohl ernstlich nicht zu zweifeln. 
Es mag auch zugegeben werden, daß dieser Zustand bei 
seinen Vorgängern bestanden hat. Ob aber nach ihm keine 
Änderung eingetreten sei, erscheint mir zweifelhaft. Da Ab- 



Digitized by Google 



- 229 - 



neigung und Widerwillen (abgesehen vielleicht von ihren 
ersten ehelichen Anfängen) niemals bei ihr vorgelegen hat, 
bin ich überzeugt, daß sich in dem reichen Repertoir, das 
sich vermutlich später noch komplettierte, sicher einmal die 
richtige Individualität gefunden hat, welche die durch Anlage 
minimale und falsche Behandlung noch mehr herabgedrückte 
Sinnlichkeit dieser Frau dennoch zum Flammen bringen mußte. 

Jedenfalls war Jean, Jacques Rousseau nicht die 
geeignete Persönlichkeit. Die ganze Vita sexualis dieses 
JMannes war eine eigenartige, pathologische. Seine frühen 
.Geschlechtsempfindungen schon als unreifer Knabe, seine 
durch das ganze Leben vermutlich fortgesetzte Masturbation, 
(die er auch in der Ehe nicht definitiv aufgab, haben im 
Verein mit anderen Symptomen (exhibitionistische und maso- 
chistische Anlage) sogar dazu geführt, Rousseau nach- 
träglich als geisteskrank, als paranoisch zu er- 
klären (vergl. Moebius: „Die Krankengeschichte 
J. J. Rousseaus"). 

Auffallend sind jedenfalls seine anderweitigen sexuellen 
Erfahrungen und Berichte. 

Von Therese, seiner Frau, erzählt er, daß „ihre nicht 
sehr rege Sinnlichkeit (ses tranquilles sens) schwer- 
lich Verlangen nach anderen gehabt hätte, selbst als er bereits 
aufgehört, in dieser Beziehung für sie ein Mann zu sein' 4 . 
Also auch seine eigene Frau zählte zu den mangelhaft Emp- 
findenden. 

Ziemlich bekannt ist die reizende Liebesepisode bei der 
yenetianischen Julietta. Im Kabinett der verführerischen 
Kurtisane fühlte er „anstatt der Flammen, die ihn verzehrten, 
plötzlich eine tödliche Kälte durch seine Adern fließen, seine 
Beine begannen zu zittern und krankhaft erregt, setzte er sich 
nieder und weinte wie ein Kind". 

Das Ende des erwartungsreichen Abenteuers war die 

tHches'we räc k* ,iC * >e "' mzwiscnen berühmt gewordene Be- 
! . ettas : 



sehahlk 



„Zanetto! Lascia le donne, et studia la 

> it (Hänschen, laß die Frauen und studiere 
, ■*»«• .nur cf e $j 
Mathe niaflcK.) 

Aus allem geht hervor, daß Rousseau eine sinn- 
liche Verführungsgabe nicht besaß. Er mochte von 



Digitized by Google 



- 230 - 



de» Frauen seines Geistes wegen verehrt werden, aber mehr 
wegen seiner aparten und oft paradoxen Kauserie als wegen 
des begeisternden Feuers, das die Sinnlichkeit weckt und die 
Sinne erobert. Im Moment der Attacke versagten seine Kräfte 
und sein Naturell verwandelte sich. Aus dem geistvollen; 
Sprecher und Philosophen wurde ein schüchterner Knabe, 
der entweder die Liebe philosophisch beweisen wollte odetf 
dessen Leidenschaft in Tränen ausartete. Er beschreibt selbst 
seine Traurigkeit und den Strom seiner Tränen in der ersten, 
Liebesnacht mit Frau von Warens. Seine Tränen bei 
der Julietta haben wir bereits erwähnt. 

Derartig veranlagte Naturen werden schwerlich imstande 
sein, jemals ein bis dahin geschlechtlich noch nicht 
gewecktes Weib zum Bewußtsein der höchsten Sinnes- 
empfindung zu bringen. Das gelingt nur bei solchen, die den 
Genuß in früheren Armen bereits kennengelernt haben, und 
zu dieser gehörte jene schon eTwähnte Bekanntschaft auf 
Rousseaus Reise nach Montpellier. Im Vollbesitz der 
Sinnlichkeit riß sie den wenig erfahrenen und für sie — die 
ältere und erfahrene — deshalb um so begehrenswerteren 
Jüngling mit sich, so daß er noch später gestehen mußte: 
„Ich verdanke es Frau von Larnage, wenn ich 
nicht sterbe, ohne die Sinnenlust kennengelernt 
zu haben." 

Was nun die sexuelle Anästhesie der Frau von Warens 
betrifft, so ist es von vornherein verständlich, daß diese 
sinnlich wenig veranlagte Frau in ihrer ersten Ehe zu keiner 
Empfindung gelangte. Diese Ehe war unglücklich. Wo die 
Sympathie fehlt, wo eine Abneigung irgend welcher Form 
besteht kann ein bis dahin nicht geahntes Geschlechts- 
empfinden natürlich nur schwer geweckt werden. Der bis 
dahin bestandene Indifferentismus wurde durch diese Ehe noch 
weiter nach der negativen Seite hin ausgebildet. a j s Qlt 

Der nächste Verführer fand ebenfalls nicht ote stehga.«. 
Weg, die in der Ehe vermehrten und aufgespeicherten 
Hemmungen zu beseitigen. In seiner p h i 1 o s, zu zweifeln. 
Verführungskunst schaltete er die Sinnlichkeit* <»nz aus 
und beförderte somit nur noch die Vorstellungswelt der tat- 
sächlichen Empfindungslosigkeit. 



Digitized by Google 



- 231 - 



Claude Anet war für Frau von Warens der er- 
gebene Diener, dem sie aus Dankbarkeit die höchste Gunst 
gewährte, und Jean Jacques Rousseau war und blieb 
allezeit für sie der heimatlose „Knabe", dem sie stets nur 
'Mutterqualitäten oder allenfalls die Gefühle einer älteren 
Schwester entgegenbringen konnte. Als sie den „Mann" 
Rousseau weiter an sich fesseln wollte, mußten naturgemäß 
diese allein schon der Sinnlichkeit eines Weibes wider- 
strebenden Gefühle die Oberhand behalten, selbst wenn 
Rousseau als Liebeswecker begeisterndere Eigenschaften 
zur Verfügung gehabt hätte. 

Bis hierher erklärt sich der eigenartige Gefühlsmangel 
ziemlich zwanglos. Es war eine rein psychische Anaesthesia 
sexualis, die durch eine schwache Anlage begünstigt, in ihr£n 
ersten Anfängen antipathisch beeinflußt und später durch philo- 
sophische Trugschlüsse noch weiter gehemmt wurde. 

Wenn nach solchen Irreleitungen des Gefühls noch ein 
Erfolg eintreten soll, dann muß es eine eigene bezaubernde 
Und begeisternde Individualität besonderster Qualität sein, die 
einmal imstande ist, die erlebten Hemmungen abzustellen 
und zweitens das eigene Feuer der Begeisterung zu geben, 
welches noch am fremden Herde zündet. 

Es ist nicht ausgeschlossen, daß Frau von Warens 
noch in ihren weiteren Erfahrungen den wahren Zweck der 
sinnlichen Liebe kennengelernt hat. Die sonst so offenen 
Confessions des Verfassers versagen hier leider mit dem 
Augenblick der Trennung. 



Diese psychologische Studie über die Frigidität einer durch 
die Literatur berühmt gewordenen Frau hat den Widerspruch 
des bekannten Wiener Psycho-Analytikers W. S t e k e 1 *) her- 
ausgefordert. Er hält Frau von Warens für eine 
Komödiantin : 

„Dr. Otto Adler, dem wir ein gründliches wissen- 
schaftliches Werk über die Dyspareunie verdanken, nimmt 
ihre Geständnisse ernst. ... Es wird mir nicht schwer werden 
zu beweisen, daß Frau von Warens die unempfindliche 
Frau nur gespielt hat." 

. •) W. Stekel - Die kalte Frau - Neue Freie Presse, Wien. 



Digitized by Google 



- 232 — 



W. St ekel erkennt eine Zahl von 50°/o frigider Naturen 
an — ist sogar bereit, 99°/o anzunehmen — wenn nicht die 
„Verlogenheit einer Zeit, welche es zustande, gebracht hat, 
das Natürliche als Sünde und das Selbstverständliche als Ent- 
würdigung zu werten" verlangte, einen energischen Abstrich 
hiervon zu machen. 

Nach W. Stekel ist Frau von Warens „eine stolze 
Frau, welche im Kampfe der Geschlechter immer die führende 
Rolle haben will. Sie will herrschen, sie will beglücken"« 
Sie stieg in ihrer Wahl stets herab, sie verschenkte sich, aber 
sie verkaufte sich nicht. „Deshalb durfte sie auch nicht die 
Empfindung und den Genuß eingestehen. Sie wollte sich 
nichts geben lassen. Sie wollte nur die Schenkende sein. Einen 
wirklich Weben heißt sich einem hingeben, heißt sich ihm 
unterwerfen." 

Und der Fußfall vor dem König von Savoyen? Ist hier 
nicht ein Widerspruch? Nach W. Stekel war er nur „das, 
geschickte Spiel einer gefährlichen Kokette, die nach dem 
höchsten Preise schielte und sich den goldenen Karpfen aus 
dem Liebesteich angeln wollte." — 

Der Wiener Autor führt seine Studie in mannigfacher, 
geistreicher Analyse weiter aus. Rousseau und Adler — 
beide sind die Betrogenen. Ich kann mich trotzdem nicht ohne 
weiteres zu ihm bekehren, allein Zweifel sind mir doch auf- 
gestiegen, als ich andere Dokumente*) als diejenigen des wenig 
frauenkundigen Rousseau zur Einsicht bekam. Frau 
von Warens erscheint in ihren eigenen Briefen und denen 
ihres verlassenen Gatten durchaus nicht in Rousseauscher 
Unschuld. Zerrissen, haltlos, unbeständig schwankt diese 
Frauenseele hin und her, und aus der leidenschaftslosen Gut- 
herzigkeit, wie Rousseau sie beschreibt und empfindet, 
wuchern unverkennbar abstoßende Züge von Erwerbssucht 
und hysterischer Abenteuerlust hervor. Als Rousseau die 
54jährige nach 13jähriger Pause wiedersah, war er erschüttert 
von ihrem „avillissement". — „Que lui restait-il 
de sa vertu premiere?" — 



•) 1. Francois Mugnier 
— Paris 1891. 
2. Monte t et Ritter 



— Madame de Warens et J. J. Rousseau 

— Madame de Warens et son mari. 



Digitized by Google 



i 



ren 
die 
<at, 
nt- 
ich 

>lze ; 
nde 

in", 
iber 
die 
sich 
inen 
ihm 

hier 

„das 
dem 
1 aus 

icher, 

er - 
ohne 

i auf* 
.venig 
r rau 
jenes 
scher 

dies« 



;sucht 

u di- 
üttert 

it-il 



Digitized by Google 



RETURN BIOLOGY LIBRARY 
TO- 



642-2531 



LOAN.PERIOD 1 

Ii ' * > " r i 


2 


3 


4 


5 


6 



ALL BOOKS MAY BE RECALLED AFTER 7 DAYS 
Renewed books are subject to immediate recall 



DUE AS STAMPED BELOW 



DIU' 

























MAR1919" 

















































UNIVERSITY OF CALIFORNIA, BERKEL*" 
FORM NO. DD4, 1 4m, 3/78 BERKELEY, CA 94720 



LD 21-100m-2,'55 
(Bl39s22)476 



Library 
Uoiversiry of California 



Digitized by Google 



Bei 



in. Buchhandlung H. Korni 





iE 

m 



m 

I 



mi 



x 

v