Die
mangelhafte
Geschlechts
des Weibes
Otto Adler
THE LIBRARY
OF
THE UNIVERSITY
OF CALIFORNIA
PRESENTED BY
PROF. CHARLES A. KOFOID AND
MRS. PRUDENCE W. KOFOID
J
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Die
mangelhafte Gesdileditsempfindung
des UJeibes.
Anaesthesia sexualis feminarum.
Anaphrodisia. Dyspareunia.
Von
San.-Rat Dr. Otto Adler
Arzt In Berlin.
Dritte vermehrte und verbesserte Auflage.
BERLIN W. 62.
FISCHER'S MEDICINISCHE BUCHHANDLUNG H. KORNFELD,
Hof- und Kammer-Buchhandlung.
1919.
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Copyright 1919
Fischer's medicinisqhe Buchhandlung H. Kornfeld, Berlin.
Alle Rechte vorbehalten.
Druck von G. J. Pfingsten, G. m. b. H., Itzehoe.
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K-ßF (* n < Z
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Vorwort zur II. Auflage.
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, Vorworte" sind zwar im allgemeinen gebräuchlich, doch
gewöhnlich überflüssig. Wenn etwas Wesentliches zu sagen
ist, so gehört es besser in den laufenden Text des Buches,
Unwesentliches dagegen braucht nicht im Vorwort gesagt zu
•werden. Wieviele Menschen lesen überhaupt ein Vorwort?
Was kann sie daran interessieren? Sie lesen das Buch des
Themas wegen, und dieses kann nicht im Vorwort abgehandelt
iwerden. Wie ein Buch entstanden ist? — wie selten reizt
das den Leser zu wissen! Oder soll er im Vorwort die allzu-
häufig wiederkehrende Versicherung des Autors, „daß das
Buch bestimmt sei, eine längst empfundene Lücke auszufüllen",
als einleitende Begeisterung für die bevorstehende Lektüre
mit Andacht in sich aufzunehmen? Die Wirkung wäre oft
die gegenteilige. Ein bekannter Humorist hat erklärt, daß diese
„Lücke" oft nur vom — Verfasser selbst gespürt worden sei.
Ferner das Geschlecht der Leser. Von der geringen Zahl
der Vorwortleser ist sicherlich die noch geringere dem weib-
lichen Geschlecht angehörig. „Ich gehöre nämlich zu den
Frauen, die Vorworte lesen" — bemerkte mir scherzend eine
geistvolle, in der Agitation stehende und selbst literarisch
tätige Frau, als ich ihr ein Buch reichte und sie zu meinefm
Erstaunen bei den Vorseiten begann und verweilte. —
Der vorliegende Stoff richtet sich an die Frauen und
hat sie allein fast zum Gegenstande. Aller Wahrscheinlichkeit
•nach wird auch der weibliche Leserkreis ein größerer als
sonst bei Büchern sein. Liegt die Gefahr des ungeleseneni
Vorwortes nicht um so näher?
Die I. Auflage ist vorwortlos in die Welt gegangen.
Diese zweite bricht entgegen allen soeben entwickelten Ar-
gumenten mit dem guten Anlauf der ersten. Aber nur deshalb,
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IV
tyeil wirklich etwas Neues zu sagen ist, etwas, das aus fremder
Feder kommt, sich mit der vergangenen I. Auflage be-
schäftigt und nicht gut im fortlaufenden Buchtext unterzu-
bringen ist.
Statt vieler Worte mag die Zuschrift einer unserer be-
kanntesten und bedeutendsten Agitatorinnen an dieser Stelle
Platz finden. Sie hat deshalb besonderen Wert, weil hier ein
weibliches Fühlen und Denken in eine Sphäre eingreift, die
'.eigentlich allein Domäne des Weibes ist u!nd nur aus Not
bisher vom Manne behandelt wurde :
„Mit lebhaftem Interesse habe ich Ihr letztes Buch über
das Geschlechtsempfinden des Weibes gelesen. Solche
Veröffentlichungen sind für uns von großer Tragweite,
weil viele Männer, darunter auch zahlreiche Aerzte, nach
dem herrschenden Sittenkodex, der überhaupt jeden
nicht im Rahmen der Ehe sich vollziehenden Verkehr
seitens eines sogenannten „anständigen" weiblichen
Wesens als unsittlich brandmarkt, sich auf das angeblich
nicht vorhandene Bedürfnis der Frau berufen.
„M änne r" (und die müssen es ja natürlich am besten
wissen) haben „festgestellt, daß es eine ganz gerechte
Moral ist, die Frau zur Askese zu verdammen, weil sie
ja ohnedies in viel geringerer Weise als der Mann ein
natürliches Liebesleben braucht! Männer glauben dabei
behaupten zu dürfen, daß Frauen, die dennoch geschlecht-
liche Befriedigung suchen — sozusagen pathologisch sind!
Minderwertig!
Es gibt aber viele Frauen, die genau zu fühlen glauben,
daß umgekehrt die Empfindungslosen patholo-
gisch und die unter absoluter Enthaltsamkeit schwer
leidenden Frauen nur gesund und natürlich sind,
daß sie heute weder „brünstiger" noch „mannstoller" sind,
als es ehedem der Fall war, sondern nur ehrlich genug
und mutig genug, sich der Menschlichkeit nicht mehr
zu schämen.
Sie werden vielleicht die Bestrebungen zur Reform der
Sittlichkeitsanschauungen verfolgt haben, jene viel ange-
feindeten Bestrebungen, die doch nur darauf abzielen,
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V
schöne und natürliche Lösungen für das sexuelle Problem
zu finden, L i e b e s beziehungen die Achtung zu erringen,
für das Recht unehelicher Kinder und Mütter zu- kämpfen:
und womöglich den Weg zu suchen, der den Mann nicht
auf die Prostitution, die große Gruppe nicht zur Ehe
gelangender Frauen nicht auf die Askese anweist. Für
diese Bestrebungen sind nun Untersuchungen wie die
Ihrigen von prinzipieller Bedeutung, und ich hoffe, daß
eine nicht von einseitigen Vorurteilen ausgehende Wissen-
schaft viel zur Aufhellung der Fragen beitragen wird.
Es herrscht unter dem Druck einer unselig verlogenen
Moral die unglaublichste Konfusion in den Köpfen. Pro-
stitution (aus Not), Prostitution (aus abnormer Veran-
lagung), starke Sinnlichkeit, normaler Liebeshunger, ein-
fache, zärtliche Widerstandslosigkeit ohne eigene
erotische Wünsche — all das wird in den großen Topf
des weiblichen „Gefallenseins" zusammengeworfen. — "
Soviel von dieser Agitatorin, die sich in ihrer privaten-
(deshalb hier namenlosen) Zuschrift sympathisch von meiner
sozialen und psychologischen Verarbeitung der wissenschaft-
lichen Anästhesie-Fragen berührt fühlt.
Es gibt auch andere Meinungen! Ich verweise auf das
I. Kapitel dieser zweiten Auflage. Ob Dr. phil. Helenei
Stöcke r, wenngleich sie „Roheit" und „Unbildung" dem-
jenigen vorwirft, der 25 «>/o sexuelle weibliche Unempfindlich-
keit annimmt, nicht doch die angeführten Zeilen voll unter-
schreiben würde? Stammen diese Zeilen doch aus dem einst-
mals gemeinsam befehligten Lager!
Die Erweiterungen der vorliegenden II. Auflage
sind folgende: Vollkommen neu eingefügt ist Kapitel XII
— Die juristische Bedeutung der mangelhaften
Geschlechtsempfindung in bezug auf Eheschei-
dung- (Anfechtung der Ehe) mit dem ausführlichen ge-
richtlichen Gutachten (Fall XXIII).
Ferner ist auf die psycho-a na ly tische Methode
Freud? wiederholt ausführlich eingegangen. Der oin-
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VI
schlägige Fall XXI (Eigene Beobachtung) ist neu. Hier-
bei wird auch das Wesen der Traumdeutung gestreift.
Fall VI (Künstliche Befruchtung beim Men-
schen) erscheint ebenfalls zum ersten Male an dieser Stelle.
Im übrigen haben fast alle Kapitel Zusätze und Er-
weiterungen erfahren. Von neuen Namen seien genannt:
Johanna Elberskirchen (Libido — Kapitel VII und X),
|W. Stekel (IX und X), Waithard flX), Sutkowsky
(Geschlechtsbestimmung — IV), Bucurra, Fischer - Karls-
bad, Nenadovicz, Zabludowsky u. a.
Berlin, im Juli 1910.
Der Verfasser
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Vorwort zur III. Auflage.
Die II. Auflage war im Juli .1914 vergriffen. Der .Welt-
krieg verhinderte eine Neu-Auflage, da auch der Verfasserj
zu den Fahnen ging.
Nach allzu langem Kampfe kommt endlich der friedliche
Autor wieder zu seinem Rechte. Aus dem Kriege selbst
bringt der Verfasser keine Bereicherung des vorliegenden]
Themas, obgleich er sich in großen, leitenden Stellen befand.
Die intime Vita sexualis des Weibes fürchtet den Donner
der Kanonen Weder bei der ausländischen Bevölkerung noch
bei den Etappenschwestern fand sich Gelegenheit zu ein-
schlägigen Beobachtungen.
Nicht unbedeutend hat sich dagegen die inländische
Literatur vermehrt — Dank der immer mehr anerkannten
Sexualwissenschaft, die nun endgültig ihren Platz be-
hauptet. Die ein Jahr vor Kriegsbeginn gegründete „Ärzt-
liche Gesellschaft für Sexualwissenschaft" zu
Berlin nimmt mit ihrem Fachorgan eine führende Stellung
ein Die Revolution hat das ihrige dazu beigetragen, der
Freiheit in Wort und Schrift die letzten sexualen Fesseln
zu sprengen
Aus diesem Grunde konnte das I. Kapitel wesentlich ge-
kürzt werden. Es bedarf keiner Entschuldigung mehr für
sexuelle Themen — die Saat ist reif, wenngleich der lange
geforderte Lehrstuhl für Sexualwissenschaft vor-
läufig noch fehlt.
Erweitert ist das Kapitel über die weibliche Libido.
Die Frauen — die allein maßgebenden Beurteilerinnen —
kommen mehr und mehr zu Wort (Margarethe Kossack,
Mathilde Kemnitz u. a.).
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vm
Das Kapitel über Hysterie hat durch Margarethe
Kossack einige Ergänzungen erfahren. Die scheinbar Sinn-
lichsten sind oft die kältesten. Altstimmen und hystero-
epileptische Krämpfe haben nach ihr Beziehungen zur Libido.
Neu aufgenommen ist Fall VII: Verminderte
Libido nach Empfängnis (eigene Beobachtung)
mit entsprechenden Beobachtungen von Tarnier und
C h a n t r c u 1 1.
Zur Frage der weiblichen Pollutionen (Kap. VII)
kommt mit einer neuen Auffassung W. Hammer zu Wort,
Kap. IX (Brautnacht) ist durch einen Originalbrief, ferner
die psychologische Studie über Frau von Warens
(Kap. XIII) durch einen Zusatz von W. Stekel ergänzt
worden.
Der Zusammenhang von Orgasmus und Eugenik
(M. V a e r t i n g) wurde in Kap. IV aufgenommen, während
in dem therapeutischen Kapitel XI das Thelygan (J.Bloch)
und Opium (Neumann) einen neuen Platz fanden.
Berlin, im Mai 1919.
Der Verfasser
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Inhalt
Seite
Vorwort zur II. Auflage.
III
Vorwort zur HL Auflage.
VII
I. Die Schwierigkeiten in der Erforschung und Dar-
stellung der Anaesthesla sexualis femlnarum ... 1
Nomenclatur: „mangelhaft" und „mangelnd". Die Häufig -
keit der Anaesthesia sexuaü's steht in auffallendem Mißverhältnis
zu ihrer Berücksichtigung. Absichtliche und unbewußte Ver-
schleierungen. Unmöglichkeit einer Statistik, selbst in Aerzte-
kreisen Spärliche älteste Literatur. Vermehrte neuere seit Er-
scheinen der 1. und II. Auflage. Vermehrung derselben durch
medizinisches Frauenstudium, denen hier ein selbständiges Ge-
bie*. eröffnet wird. In großen und bekannten Lehrbüchern der
Gynäkologie kaum eine Erwähnung. Das schätzungsweise Vor-
kommen der Anaesthesi a sexua l is femin.iryim berec h net s i ch n och
prozentualen Dekaden! Guttzeit gibt 40 o,q an! Ein neueres
weihliches Veto. Die gegenteiligen Behauptungen unver-
heirateter Männer.
II. Zur Anatomie und Physiologie der Wollustorgane 14
Das Durchtreten des Sperma resp. der weiblichen Sekrete
ist nicht die Ursache der Wollustempfindung, sondern ein
koordiniertes Begleitsymptom. Beobachtung der Sekretion im
weiblichen Orgasmus in einem speziellen Falle. Fall I (Eigene
Beobachtung). Die weiblichen Sekretionen haben wesentlich
mechanische Voraussetzungen. Die Glandulae vestibuläres
majores sind ursprünglich Riechstoff bildende Lockdrüsen.
Geruch und sexuelle Erregung. Empfindungsstatus beim
masturhatorischen Orgasmus. Fall Ha (Eigene Beobachtung).
Spezieller Fall eines spezifischen Ejakulationsgcruches. Das
1 ypische im Orgasmus ist die Kontraktion der Geschlechts-
rnuskulatur. l etztere ist anatomisch minimaler als die des
X
Seite
Mannes (Walde) er). Glans als ,, sensibler Brennpunkt". Der
relati\e Nervenreichtum hat zum Schlüsse eines höheren
Geschlechtsgenusses des Weibes geführt. Tiresianische Ent -
scheidung. Eine vollkommen andere Schlußfolgerung daraus.
Exstirpation der Klitoris. Solche bei den Skopzen. Andere
periphere Ei regungssteilen (Moraglia). Fall von Orgasmus
mammarius. Praeputium giandis ist kein Schutz, sondern eher
ein Erregungsmittel. Wahrscheinlich ebenso das Smegma prae-
putiale. Die Erektion ist im allgemeinen notwendig für den
Orgasmus. Die vermehrte Blutfülle und der vergrößerte Blut -
druck machen erst die Nervenendigungen spezifisch sensibel.
Fall von Anaesthesia sexualis completa bei Herzfehler des
Manne.- (Fall III, Eigene Beobachtung). An der Blutdruck -
erhöhung wirkt auch die Geschlechtsmuskulatur mit (Sexual -
herz). Physiologisches Resunu-.
III. Die Wollustkurve des Weibes 35
Die Schwierigkeit in der Beurteilung der Quantität des
Empfindens. Die Frage von der verschiedenen Genußfähig-
keit beider Geschlechter. Die Unfruchtbarkeit dieser Frage.
Historisches: Tiresias, Martinus Schurigius, Kobelt, Mante-
gaz/.a, Hippokrates. Fall eines Zwitters mit beiderseitigem
Geschlechtsverkehr ohne Entscheid (Fall IV). Verwechslung
des allgemeinen weihlichen Geschlechtsverhaltens mit dem
durchschnittlichen Orgasmus. Nur in extremen, pathologischen
Fällen scheint das Weib eines größeren Furor sexualis fähig
zu sein. Männliche Orgasmuskurve. Charakteristischer -spitzer
Winkel. Weiblicher Höhepunkt durchschnittlich später. I 'eber-
sinnliche und nymphomaiusche Ausnahmen. Mannliche Ati-
passung. Empfindungsstatus in coitu (Fall IIb). Weibliche
Orgasmuskurve. Charakteristischer stumpfer Winkel. Physio-
logische Erklärung des langsameren Abklingens. Vergleich
beider Kurven. Die eigene Geschlechtssprache des Weibes
(Havelok Ellis). Bestätigung des „Abklingens" durch Urteil
einer Arztin.
IV. Wollustgefühl und Befruchtung 52
Der Wert der Koinzidenz männlicher und weiblicher Wollust
für die Befruchtung. Alltägliche Gegenerfahrung. Maria
Theresia. Mechanische Erklärungen. Fall V (Eigene Beob -
achtung). Männliche Ungeschicklichkeit. Notzucht. Künst -
liche Befruchtung (Marion Sims). 'Fall VI (künstliche Be-
fruchtung beim Menschen — Debrunner). Fehldiagnosen
und Fehlbehandlung. Befruchtung in Narkose (S. G. Thomas).
Besteht ein relativer Zusammenhang zwischen mangelhafter
Empfindung und Unfruchtbarkeit? Notwendige Gesichts-
12
XI
unkte für diese noch fehlende statistische Arbeit. Duncan
Sfiüfi
vertritt den Einfluß der sexuellen Anästhesie auf die Sterilität.
Die Lücken seiner Statistik und seine eigenen Bedenken. Dcfi -
nitior seiner Terminologie. 1 )uncan'sche Tabelle des Ge-
schlechtstriebes und des geschlechtlichen Genusses bei unfrucht -
baren Frauen. Zahlenschlüssc. Oie Empfindungslosigkeit
steriler Frauen ist nicht größer als die durchschnittliche (ent -
gegen Duncan). Physiologische Bedeutung der Wollust nach
Kisch. besonders des Cervikalschleimes. Seeligmanns Fall.
Sutkowskys Theorie der Geschlechtsbestimmutig auf Grund des
früheren oder späteren Orgasmus. Ablehnung seiner Schlüsse
durch die Tatsache der mangelhaften Geschlechtsempfindting.
M. Vaerting's Theorie der orgastischen Eugenik. Verändertes
Wollustgefühl nach Empfängnis. Tancrier und Chantreutl.
(Fall VII (eigene Beobachtung).
V. Wollustgefuhl und Verschneidung. (Kastration, Uterus-
Exstirpation, Klitorektomie etc. — Vor Beginn der Ge-
schlechtsreife und nach Aufhören derselben (Klimakterium] 73
Kastration ist weder identisch mit männlicher Impotenz noch
mit weiblicher Anästhesie. Römische Kastraten. Kastration
beim Hengste. Sultan Amurad. Kastrat und Eunuch. Hegar,
Tisster, Bruntzel. Schmalfuß. Kritik der Glävekeschen Fälle.
Unterschied der frühen und späten Kastration. Ovariotomie
in Ostindien (Roberts). Mensingas Fall vermehrter Geschlechts -
lust nach der Operation. Uterus-Exstirpation ohne nennens-
werten Einfluß. Verschneidung (Klitoris, Nymphen, spez. bei
den Skopzen), (Pelikan, Nadeschdin). Verscheidung auf Buru,
Ekuador, im Sudan. Infibulatioti. Normale Anästhesie im
Kindesaltcr. Abweichungen. Erste Menstruation ^ erster
Reiz zum undifferenzierten Geschlechtsgefühl (Dessoir). Ver -
halten der Klimax. Bisweilen gesteigerte Libido (Krieger,
Börner). Normaler Weise langsames Nachlassen. In seltenen
Fallen noch in hohen Jahren. Guttzcit. Ninon de l'Enclos.
VI. Relative UnempfindUchkeit bei Masturbation —
Anaphrodisia ex causa masturbatoria (Dyspareunia
masturhatoria) 89
Scheinbarer Widerspruch der geschlechtlichen Empfindung
bei Masturbation und Empfindungslosigkeit in coitu. Die ver-
mehrte Schwierigkeit des Krankenexamens. Konstante Leug -
nung der Masturbation. Das Wesen der Masturbation. Volks -
glaube. Kurpfuscher. Psychische Alteration. Umbildung
der Phantasie. Keine organischen Folgen. Ärztliche Urteile:
Koblanck, Hegar, Lit/.mann, v. Kraift-Ebing, Mantegazza,
XII
Moragliaj Guttz.eit. Menstruatio parca, dolorosa et diseolorata.
Masturbation verhältnismäßig harmlos, wenn sie nicht zur
1 cidenschaft, zur geistigen Onanie ausartet. Praktische Fälle.
Tongler (1 Fall), Laker (3 Fälle) — seine Erklärung durch
Insensibilität der Vaginal- und Portio-Nervenfasern. Kleine
anatomische Mißverhältnisse. Loimann (5 Fälle) — erworbene
pathologische Veränderungen. Fall XVI (Eigene Beobachtung).
Kritik. Veränderung in den Leitungsbahneri. Gewöhnung.
Beispiel des Schlafes. Seltene Analogie beim Manne wegen
anderer mechanischer Voraussetzungen. Fall einer solchen
Analogie (XVII). Masturbatio masculina und feminalis in
mechanischer Beziehung zum normalen Coitus. Die ungeeig -
nete Lage der Klitoris für die gewöhnliche Copula. Begattung
in der Säugetierwelt a posteriore. Die Klitoris als entwick -
lungsgeschichtliches Derivat (Hypothese). Der menschliche
Coitus ab anteriore auf Kesten des Weibes. Resume.
VII. Vom weiblichen Geschlechtstrieb im allgemeinen.
(Libido) 118
Feststellung der Terminologie. Vergleich mit dem Hunger.
„Sexuelle Appetitlosigkeit" (Eulenburg). Die ursprünglich ge-
ringer vorhandene weibliche Libido. Der „Schmerz" im sexuellen
Leben des Weibes. Sexuelle Erkrankungen beim Mann und
beim Weibe. Unterschied der Folgen. Die geringere weibliche
Libido jst die natürliche Schutzwehr gegen seine größeren
sexueller. Gefahren. 1. Angeborene Schwäche und schwerere
Erregbarkeit. 2. Hemmungen bei latentem normalen Trieb. -
Die Hemmungen sind der häufigere Grund und entsprechen
überhaupt dem Bilde der weiblichen Psyche. Charakteristik
derselben nach Jean Jacques Rousseaus: La Nouvelle Heloisc.
- Dit aggressive Form der männlichen Libido spiegelt sich
im Befruchtung^ organg wieder. Vom Zauber der Persönlich-
keit. Der Kuß der Sphinx. Der Mangel von Pollutionen
bei der keuschen Jungfrau. Die Ahnung vom jungfräulichen
Geschlechtstriebe ist mehr Kontrektatinn als Detumeszenz
(Moll). W. Harnmer's modifizierte Auffassung von der Sinn-
lichkeit gesunder Jungfrauen". Die Bezeichnung „Pollution"
kann keinen gemeinsamen Begriff für die ganz anders ge-
arteten männlichen und weihlichen Vorgänge darstellen.
Mangelnde Libido und Kultur (Josef Müller, Bloß-
Appun, Riedel-Se.ang-Insulaner, Finsch-Karolinen). Die jung -
fräuliche Scham und Ängstlichkeit. Goethes Wahlverwandt-
Schäften. Neuere Ansichten Johanna Elherskirchen. Ihre
Auflassung - der weiblichen Libido. Ihre Kritik der mangel -
haften Geschlechtsempfindung — Entartungserscheiiuingen.
D_k Differen z, dxi Ansichten mir scheinbar. Goethe —
Christiane und Rousseau — Therese. EilliL. Es bleibt ein
XÜI
Seile
Rest von Passivität selbst bei dem von der konventionellen
Moral losgelösten Geschlechtstrieb des Weibes. An diesen
Rest setzen sich die krankhaften „Hemmungen" an. — Mar-
garethe Kossack's Auffassung der weiblichen Libido deckt sich
mit der des Verfassers.
VIII. Hysterie und mangelhaftes Geschlechtsempfinden 137
Über Definitionen der Hysterie. Empirische Bilder (Breuer
und Freud). Die Häufigkeit der allgemeinen Anästhesien
überhaupt. Sexuelle Anästhesie — eine Teilerscheinung. Die
pathogene Wirkung des sexuellen Traumas. W. A. Freunds
Parametritis chronica atrophicans als häufigste Ursache der
Hysterie. Frankenhäusersches Ganglion. Fall XVUI (Eigene
Beobachtung). Psychologische Epikrise. Fall XIX (Eigene
Beobachtung). Die sozialen Schicksalsschläge haben beim
Weiht- viel eher eine Alteration des sexuellen Lehens zur
Folge als beim Manne. Fall XX (Straßmann). Grande
Hysterie. Epikrise. Die geschlechtliche Unempfindlichkeit der
scheinbar Sinnlichen nach Margarethe Kossack. Altstimmen.
Verzettelungssucht. Hystero-epileptische Krämpfe und Libido.
IX. Einige häufige Ursachen der sexuellen Anaesthesie —
Vaginismus — Anaesthesia sexualis completa idio-
pathica 158
Defloratio. Ungeschicklichkeit und Brutalität der Hoch -
zeitsnaeht. — Brief darüber. Unvollkommene Immissio. Schmer -
zende Hymenaireste (Rohleder's ,, Hymenismus"). Vaginismus
als direkte Folge der Schmerzen oder als Erinnerungskrampf.
Der rein nervöse (psychische) Vaginismus. Psycho-analytische
Mcthodf Freuds. W. Stekel (Nervöse Angstzustände).
M. Waithard — Die psychogene Ätiologie und Psychotherapie
de:. Vaginismus. Fall XXI (Eigene Beobachtung). Weih-
liche ^Impotenz". Der Mann ist häufiger „impotent", das
Weih prozentual mehr steril". Nach dem mechanischen
Ausgleich tritt die Individualität in ihre Rechte. Die Kunst
der Liebe. Ejaculatio praecox — absolut oder relativ. Modus
actione- und Positio. Von der Einwirkung des Geruches auf
das sexuelle Empfinden (Albert Hagen). Vincengo Monti.
Heinrich IV. Galopin. Die absolute Unempfindlichkeit ohne
scheinbare Hemmung. Guttzeit. Schurigius. Freundschaft
unu sinnliche Liehe. Fall XXII (Eigene Beobachtung). Das
vorwiegend psychologische Moment der geschwisterartigen
Liehe in demselben.
XIV
Seile
X. Die Folgen der mangelhaften Geschlechtsempfindung 179
Vergleich mit anderen Fehlern der Sinnesorgane, sp. Blind-
heil. Unterschied durch den gegenseitigen Austausch. Der
Einfluß auf das Weib selbst. Gering bei absoluter Anästhesie
ohne Libido und ohne Orgasmus. Gesichtsausdruck bei der -
selben. Koketterie und Sinnlichkeit. Körperliche Störungen
bei mangelndem Orgasmus allein (Fluor, Metritis, Endometritis).
Dysmenorrhoe bei jungen Mädchen. Die latente Libido der
Jungfrau und die Enthaltsamkeit. Nervöse Störungen durch
mangelhafte Befriedigung. Angstneurosen etc. (Gattel).
Freud und W. Stekel. Angstneurose und Angsthysterie. Ver-
schiedene Krankheitshilder. Dr. Alice Stockhams Reformehe.
Visionen aus dem transzendenten Leben. Das sexuelle Medium
der Zukunft. Einfluß auf die Familie. Gefahren für Mann
und Kinder. Johanna Elberskirchens entgegengesetzter Stand-
punkt.
XI Die Behandlung der mangelhaften Geschlechts-
empfindung 186
Der praktische Wert der Prophylaxe im allgemeinen, hei
der Anaesthesia sexualis im speziellen. Die Erziehung 7.ur
Sinnlichkeil, Brutalität resp. Ungeschicklichkeit des Mannes
in der Hochzeitsnacht gibt oft einen dauernden Hernmungs-
grunc ab. Rechtzeitige Belehrungen. Mechanische Behandlung.
Dehnungen durch langsame Spekulum-Behandlung. Künstliche
Defloratio. Ausschneidung (Exzision) des Hymen resp. Ein -
kerbung. Entfernung schmerzhafter Hrmenalreste (Vaginis -
mus). Bei Inkongruenz von Penis und Vagina Anleitung zur
manuellen Introductio. Bei innerer Schmerzhaftigkeit auf para-
metritischer Grundlage speziell gynäkologische Behandlung
(Bader, Resorption, Massage etc.). Variationen der Positio
(Inversio; a 'posteriore). Bei Ejaculatio praecox Behandlung des
Mannes. Das Wesen der psychischen Behandlung beim Fehlen
7eitlirher oder mechanischer Differenzen. Das Aufsuchen der
Hemmung, des psychischen Traumas. Hypnose. Die psycho-
analytische Methode l'reuri's. Traume. Die Mittel der Lrregung
von Seiten des Mannes. Tändeleien, Küsse. Der individuelle
Zauber geistiger Erregung. Titillatio. Ärztliche Behandlung —
Elektrizität (Voinow, Kohleder). Biersche Stauung. Scheidcn-
spekulum (Fischer-Karlsbad). Sexua'gymnastik (Zabludowsky).
Zurückhaltende Vorsicht des Arztes bei der kombiniert mechani -
schen Behandlung und seelischen Beeinflussung. Medikamente.
Suggestive Wirkung. Liebestränke. Alkohol, Kanthariden,
Yohimbir. (Berger). Rhome-Tabletten. Muiracithin (L.ustwerk).
Libidol (Kantorovvicz). Ovarialtahlettcn, Oophorin, Ovaraden.
XV
Seit*
Opo-(Brunst)Mi1ch (Bucura). Nenadowicz. Veit • Thelygan
nach J. Bloch. Opium als speziell weibliches Aphrodisiacum
(Ncumann).
XII. Die juristische Bedeutung der mangelhaften Qe-
schlechtsempfindung in Bezug auf Ehescheidung
(Anfechtung der Ehe) 202
Mangelhafte Geschlechtsempfindung kommt als Anfechtung
der Ehe in Betracht. Die Anfechtung ist nur eine juristische
Abart der Ehescheidung. Beide haben die Lösung der Ehe
zum Endzweck. Die einschlägigen Bestimmungen des BGB.
(Deutsches Reich) sind § 1333 (Anfechtungsgründe) und
jj 133 r ) (Fristparagraph. 6 Monate), Die ^-Monatsfrist braucht
nicht vom Hochzeitstage an zu zahlen, die vollendete „Ent -
deckung des Irrtums" kann später erfolgen. Die Anfechtungs-
gründc des § 1333 sind dehnbarer. Mangelhafte Geschlechts -
empfindung des Weibes kann Anfechtungsgrund sein 1. für die
Ehefrau, 2. den Ehemann. Für letzteren nur ausnahmsweise,
wem' die Schädlichkeit (nervöse Zerrüttung) zu erweisen ist,
dagegen cv. strafmildernd beim Ehebruch im Ehescheidungs-
prozeß. Hir die Frau selbst ist Lmpfindungsmangel hei
voller Impotenz des Mannes sicherer, bei relativer Impotenz
nicht minder begründeter Anfechtungsgrund. Ohne diese
Ursachen — bei beiderseitig normalen mechanischen Ver -
hältnisse!, — ergibt sich ein Non liquet. Bei beiderseitigem
Trcnnur.gsbegehren der Parteien ist diesem stattzugeben,
sonst „Sünde oder Neurose" (W. Stekel). Gutachten (Eigene
Beobachtung - Fall XXIII).
XIII. Frau von Warens. La femme de ^lace. (Nach J. J.
Rousseau: Les Confessions.) Eine psychologische
Studie 216
Da: sexuelle Element in J. J. Rousseaus: Les Confessions
und U N ou ve l le H eloise, Ro us se a us Flucht zu Frau
von Warens. Die eingehende Schilderung ihres sexuellen
Lebens ist eine Ehrenrettung und Erklärung des Widerspruchs
zwischen ihrer moralischen Aufführung und ihrer mangelhaften
Geschlechtsempfindung. Wesentliche Daten aus dem Leben
der Frau von Warens. Schilderung ihres Äußeren und ihres
Charakters. Rousseaus erster Eindruck. Das Unglück der
ersten, kinderlosen Ehe. Die sophistischo Verführung durch
Herrn von Tavel. Der Prediger Perret. Ihr Haushälter
Claude Anet. Rousseau selbst als Geliebter. Sein Bericht
über die Anästhesie und Stimmung der ersten intimen Nacht.
Psychologische Erklärung des scheinbaren Widerspruches
XVI
zwischen geschlechtlicher Unempfindlicfikeit und sichtbarem
Drang nach "Liebe. Außer Freundschaft und Dankbarkeit ist
oft nur die Eitelkeit Veranlassung. Rousseaus Reise. Bei der
Rückkehr findet er seine Stelle besetzt durch einen „garcon
perruquier". Die angebotene Teilung und freiwillige Ent-
sagung trägt ihm, trotz der fehlenden Sinnlichkeit von Frau
von Warens, dennoch deren Entfremdung ein. Wiederholte
Versicherung der Uneigennützigkeit ihrer Hingabe. — Epi-
kritischc Bemerkungen zu der geschilderten Anaesthesia sexualis
der Frau von Warens. Ist sie eine absolute Anaesthetica oder
nur relativ gegenüber Rousseau? Ist ihre Anästhesie organisch
oder rein psychisch? Das Pathologische der Vita sexualis
Rousseaus. Seine spätere Frau, Therese, ebenfalls ohne Sinn-
lichkeit. Episode bei der venetianischen Julietta. Rousseaus
sinnliche Kraft ist keine aktiv, das andere Geschlecht erotisch
erregende. Er selbst lernt die wahre Sinnlichkeit erst bei
einer routinierten Kennerin der Liebe (Frau von Larnage).
Die Anästhesie der Frau von Warens ist wesentlich psychisch,
eine Folge erworbener Hemmungen, die sich aus ihrer 'unglück-
lichen Ehe und den weiteren Erlebnissen hinreichend er-
klären. Zur Sprengung dieser Hemmungen reichte Rousseaus
pathologisches Sexualempfinden nicht aus. Möglich, daß eine
andere, spätere besondere Individualität dies dennoch erreicht
hat. W. StekePs abweichende Auffassung: Frau von Warens
eine Komödiantin — „avilissement".
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I. Kapitel.
Die Schwierigkeiten in der Erforschung und
Darstellung der Anaesthesia sexualis feminarum.
Nomenclatur: „mangelhaft" und „mangelnd". Die Häufigkeit der
Anaesthesia sexualis steht in auffallendem Mißverhältnis zu ihrer Berück«
sichligung. Absichtliche und unbewußte Verschleierungen. Unmöglichkeit
einer Statistik, selbst in Ärztekreisen. Spärliche ältere Literatur, ver-
mehrte neuere seit Erscheinen der I. und II. Auflage. Vermehrung derselben
durch medizinisches Frauenstudium, denen hier ein selbständiges Gebiet
eröffnet wird. In großen und bekannten Lehrbüchern der Gynäkologie
kaum eine Erwähnung. Das schätzungsweise Vorkommen der An-
aesthesia sexualis feminarum berechnet sich nach prozentualen Dekaden!
Guttzeit gibt 40 o/o an! Ein neueres weibliches Veto! Die gegenteiligen
Behauptungen unverheirateter Männer.
Der Titel der vorliegenden Monographie : Die mangel-
hafte Oeschlechtsempfindung des Weibes — ist
unverändert auch für die vorliegende III. Auflage beibehalten
worden, obgleich sich gewisse Bedenken dagegen geltend ge-
macht hatten.
Durch das Wort „mangelhaft" haben sich Irrtümer
und falsche Auffassungen ergeben. Selbst Sexualforscher von
Namen haben „mangelhaft" und mangelnd miteinander
verwechselt. Hierauf beruhen manche widerstreitende
Meinungen.
Es ist notwendig, diesem Mißverständnis gleich von
Anfang an zu begegnen.
Adler, Geschlechlsempfindurg. 3. Aufl. 1
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Die Bezeichnung „mangelhaft" ist nicht absichtslos
und mit voller Überlegung gewählt und beibehalten worden.
Das Wort soll alle Varianten des Geschlechtsempfindens
in quantitativem Sinne umfassen (Die Qualitäten also,
z. B. die Perversionen, sind nicht dabei berücksichtigt).
Demnach ist „mangelhaft" der weitere, um-
fassendere Begriff, in welchem „mangelnd" nur als
eine Teilerscheinung enthalten ist.
„Mangelhaft" ist demnach sowohl die fehlende
Libido überhaupt (Anaphrodisie) wie auch der
fehlende Orgasmus (Dyspareunie). Beide Zustände
zusammen repräsentieren im Wesentlichen das gesamte
Gebiet der „mangelhaften Geschlechtsempfin-
dung" = Anaesthesia sexualis. Anaphrodisie
und Dyspareunie sind nur Untertitel.
Bei den folgenden Betrachtungen ist dieser Gesichtspunkt
fetets zu wahren, selbst wenn beide Zustände bisweilen in-
einander überfließen. Auf keinen Fall darf „mangelhaft"
tund mangelnd beliebig vertauscht werden — das würde
zu neuen Mißverständnissen und überflüssigen Diskussionen
führen. —
In der I., zum Teil auch noch in der If. Auflage waren
Entschuldigungen und Auseinandersetzungen nötig, daß gerade
das vorliegende Thema gewählt wurde.
15 Jahre der Aufklärung liegen dazwischen. Die Sexual-
wissenschaft ist inzwischen anerkannt worden und die große
europäische Umwälzung hatte weitere Freiheiten dieser
Disziplin gebracht — einer entschuldigenden Einführung be-
darf es nicht mehr.
Die „mangelhafte" Geschlechtsempfindung
des Weibes — Anaesthesia sexualis feminarum
— ist ein so eminent häufiger Zustand, daß nur
die delikate Natur des Stoffes und die hieraus resultierende
Schwierigkeit, Beobachtung und einwandfreies Material als
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wissenschaftliche Belege zu beschaffen, die beim ersten Er-
lscheinen dieser Monographie vorhandene stiefmütterliche Be-
handlung dieser Frage erklären.
Die mangelhafte Geschlechtsempfindung ist
ein eminent häufiger Zustand. Diese Behauptung
der I Auflage muß auch. für die vorliegende III. aufrecht
erhalten werden, nachdem seit dem ersten Erscheinen des
Werkes neues und sehr reichliches Material dem Verfasser
zugeströmt ist. Hie und da hat sich allerdings die Auffassung
so manchen Falles geändert. Oft ist die vorhandene „Kälte"
nur eine scheinbare. Bei genauerem Zusehen entpuppt sich
nicht selten reichlich erotische Veranlagung und starkes Sinn-
lichkeitsbedürfnis hinter einer kalten Außenhülle. Allein die
Tatsache der mangelhaften Geschlechtsempfindung im
konkreten Falle, oft über viele Jahre fortdauernd, besteht nach
wie vor unverändert.
Es ist begreiflicherweise schwer, eine feste Zahl anzu-
heben, eine Statistik existiert nicht und läßt sich aus den
angeführten Gründen nicht machen. Sie hätte nur Wert, wenn
eine große Anzahl von Frauen unterschiedslos,
Kranke und Gesunde, auf diese Frage hin examiniert
werden könnte und ihre Angaben zugleich als absolut —
wahr angenommen werden dürften ! Denn gerade in letzterem
Punkte begegnet man bedenklichen Täuschungen, teils ab'
sichtlichen, um ein mitleidsvolles Interesse zu erwecken, teils
unabsichtlichen, die einer falschen Scham oder verwandten
Gefühlen entspringen. Auch im Folgenden wird ein hierher
gehöriger spezieller, selbst beobachteter Fall angeführt werden
können. Gerade unter den sogenannten gesunden Frauen,
die nie einen Arzt in Anspruch genommen haben, wenigstens
nicht bei sexuellen Störungen, die nie bei der Geburt, im
Wochenbett oder zur Behandlung jenes großen Heeres anderer
Unterleibskrankheiten, denen die Frauen so oft unterworfen
sind, ärztlichen Rat und Beistand bedurft haben, gerade bei
diesen scheinbar oft gesundesten und wider-
standsfähigsten, von anderen kränklichen in
der Stille beneideten Frauen findet sich die teil-
weise oder vollkommene geschlechtliche Em-
pfindungslosigkeit dem Manne gegenüber nur
allzuhäufig! Ein Teil derselben mag das Geheimnis des
1*
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hie empfundenen, vielleicht selbst nie geahnten sexuellen Hoch-
gefühles mit in das Grab nehmen. Der Ehegatte war der
einzige stille Zeuge seiner unerwiderten Leidenschaft, und erst
nach dem Tode fder also Empfindenden haben sich seine
Lippen dem Arzte zur Beichte geöffnet. Ein anderer Teil
vertraut das Geheimnis dem Arzte erst nach vielen Jahren
des vertrautesten Verkehres an, nachdem derselbe oftmals Leid
und Freud der Familie geteilt hat, bei einem andren Teil
scheitert auch dann noch die schamhafte Zurückhaltung der
Frau, und nur der Ehegatte wagt schüchtern von dem kalten,
empfindungslosen Zustand seiner Gattin zu sprechen. Ein
letzter kleiner Teil wendet sich wohl direkt an den Arzt, aber
nur dann, wenn Kinderlosigkeit vorhanden ist und der Mangel
jeglicher Empfindung als Grund der Sterilität angenommen
wird.
Eine genaue Vorstellung über die Häufigkeit der
sexuellen Anästhesie, ein in Zahlen angebbares prozentuales
Verhältnis ließe sich vielleicht auf einem einzigen Wege er-
reichen — durch eine Umfrage bei den Ärzten selbst in Bezug
auf ihre persönlichen Erfahrungen in der Ehe. Obgleich eine
!solche Fragestellung (selbstverständlich anonym) als Sammel-
frage gestellt werden könnte und müßte, so habe ich mich
Idoch bei privaten Sondierungen unter einer Reihe von Kollegen
von der geringen Aussichtslosigkeit, ja Unmöglichkeit dieses
Vorhabens überzeugt. Nicht alle Ärzte sind so vollkommen
objektiv, um in Dingen der eigenen Familie ein absolut un-
beeinflußtes medizinisches Urteil zu fällen. Sie scheuen sich
'«ebenso wie ihre Patienten über die intimsten Fragen der
Vita sexualis Rechenschaft abzulegen. Selbst auf dem Wege
der Anonymität einer Sammelforschung werden Gefahren ge-
wittert, welche die Person des Sprechers ahnen und erkennen
zu lassen im stände wären. Ein großer Teil der Bogen würde
unbeantwortet bleiben, ein Gesamturteil nicht möglich. Außer-
dem stand noch die Mehrzahl der Ärzte der sexuellen Em-
pfindungsfrage beim Weibe allzu indifferent gegenüber. Es
wurde darüber nichts gelehrt, es stand nirgends etwas in
.extenso darüber geschrieben, die Klagen der Frauen aus den
schon andeutungsweise vorgetragenen Gründen konzentrierten
sich von selbst ungemein selten auf diesen Punkt, die meisten
trugen ihr stilles, heimliches Leid unausgesprochen in sich.
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Die Dezenz und Zurückhaltung des allgemeinen geschlecht-
lichen Lebens überträgt sich bei diesen heikelsten und an-
stößigsten aller Fragen auch auf das Sprechzimmer des Arztes
junci da ihm die Empfindungslosigkeit als solche selten be-
kannt ist, so kommt es ihm natürlich nicht in den Sinn, bei
etwaigem Verdacht danach zu fragen. Denn tatsächlich kann
auch dar. Umgekehrte der Fall sein. • Wenngleich die Dank-
barkeit einer Patientin, der man ihr lange getragenes Ge-
heimnis abgerungen hat, grenzenlos sein kann, ebenso miß-
verstanden kann auch der Arzt werden und seine Art der
Fragen, weil als überflüssige Lascivität aufgefaßt, trägt ihm
die Abneigung, ja vielleicht den Haß seiner Patienten, nicht
minder der Gattin wie des Ehemanns ein. Und seltsamerweise
gehören hierzu gerade diejenigen, die in diese Klasse gehören,
die vorzugsweise eines solchen Rates bedürften, die kalt und
.empfindungslos sind. Hier beginnt die verfeinerte Über-
kultur . . . facere non turpe, dicere obscoenum. Es gehört
schon ein gewaltiger Grad von Philantropie, eine Art von
'Martyrium dazu, auf die Gefahr des eigenen Schadens hin
einem Anderen auch nur die Möglichkeit eines Nutzens zu
gewähren. Diese Möglichkeit liegt bei der Anaesthesia sexualis
feminarum vor — warum also, selbst ihre Kenntnis voraus-
gesetzt, danach fragen, wenn die Patientin selbst darüber
schweigt !
Die Literatur über die Anaesthesia sexualis femi-
narum war, wie schon bemerkt wurde, bisher äußerst dünn
und spärlich vorhanden. Einen Grund hatten wir bereits in
der peniblen und diffizilen Natur des Stoffes kennen gelernt.
Ein zweiter Grund lag vorzüglich darin, daß in allen!
Fragen des spezifisch weiblichen Empfindens
hind Fühlens das Weib auch nur allein sich in
seiner Sprache verständlich machen kann.
Schon G. L. Kobelt (Freiburg 1844), der ein noch heut
anerkanntes meisterhaftes Werk mit vorzüglichen Kupfern über
„Die männlichen und weiblichen Wollustorgane
•des Menschen und einiger Säugetiere in ana-
tomisch-physiologischer Beziehung" geschrieben,
hat, entringt sich der Ausspruch : „Und wahrlich! wären
unsere physiologischen Lehrbücher in so vieler
Frauen als Männer Hände, wir würden manchem
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ungläubig lächelnden Gesichte begegnen." Die
moderne Frauenbewegung, der das medizinische Studium sich
in letzter Zeit mehr und mehr erschlossen hat, hat sicherlich^
auf diesem Gebiete ein großes, zukunftsreiches, ihr ganz zu
eigen kommendes und dankbares Arbeitsfeld. „Das Ge-
schlechtsleben des Weibes" von Frau Dr. med.
Fischer-Dückelmann (Zürich) ist bereits das Resultat
derselben und bildet eine Bereicherung der spärlichen Literatur
und einen anerkennenswerten ersten Anfang und Versuch aus
der Feder einer ärztlich denkenden Frau. In einem speziellen;
Falle gibt sie ihrer Klage Ausdruck, „mit welcher Nicht-
achtung das weibliche Gefühlsleben in der
Ehe seitens vieler männlichen Ärzte oft bei
handelt wird und welche furchtbaren Folgen
ihrem Unverständnis entspringen."
Vorstehende Angaben hatten ihren vollen Wert, als sit
seinerzeit bei der I. Auflage dieses Buches nieder-
geschrieben wurden. Seitdem hat sich manches geändert. Die
Sexuelle Bewegung ist in Fluß gekommen. Aus der sexuellen
Dunkelheit und geheimnisvollen Stille wurde die „sexuelle
Aufklärung", Zuviel Licht flutete auf einmal herein und
allzu laut und aufdringlich kündete es sich oftmals an. Der
Übereifer und die Überproduktion machte sich auch hier wie
bei allem Neuen bemerkbar und die geschäftliche Spekulation
nutzte die Schwächen der sexuellen Instinkte, die plötzlich
eine größere Freiheit genossen, in reichlichem Maße aus.
Der sexuelle Wind flaute wieder ab. Die Spreu wird
langsam vom Korn geschieden. Das Publikum selbst em-
pfindet der Unterschied zwischen lüsterner Sensationsmachq
und ehrlicher Aufklärung. Der metallene Kern, der sich aus
der ganzen Bewegung herausschält, ist das Bewußtsein des
Rechtes des Menschen auf sexuelles Wissen. Die Fort-
pflanzung des Menschen in ihrem rein mechanischen Funda-
ment nicht minder . wie mit ihren innerlichen seelischen
.Nuancen beherrscht neben der Sorge für den Lebensunterhalt
die ganze Welt. Um uns zu ernähren, streben und lernen
und arbeiten wir unausgesetzt. Um uns fortzupflanzen und
um uns zu lieben, sollen wir unwissend, mit einem Schleieif
vor beiden Augen, in den Tag hineinleben? Ein taktvolles
Kennenlernen und Wissen, das nicht zur Zote und Gemeinheit
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herabsinkt, erniedrigt nicht, sondern erhöht den Zauber des
Genusses.
Auch der vorliegenden Frage ist die angeschwollene Auf-
klärungsliteratur der letzten Jahre zugute gekommen. Die!
Frage der weiblichen Geschlechtskälte ist — angeregt durch
die vorliegende Monographie — wiederholt besprochen
worden. Ich sehe von einigen epigonenhaften Werkchen ab,
die in ihrem Titel mit der „Kälte" derart ins Gesicht
springen, daß Reklame und Sensation schon aus der Auf-
schrift hervorgehen. Es sind entweder kurze Extrakte, denen
eine Zusammenstellung der pikanteren Fälle des vorliegenden
Werkes mit einem ebenfalls geborgten und verkürzten Ver-
bindungstext ausreicht, oder wenig ehrliche und wissenschaft-
liche Druckblätter, deren Endzweck in die Empfehlung eines
— Sanatoriums ausklingt.
Über diese Literatur kann ohne Diskussion ninweg-
gegangen werden. Viel wertvoller dagegen sind eine Anzahl
von Beobachtungen und Aufsätzen, die in ernsten Sammel-
werken (z. B. Koßmann: Mann und Weib) und einigen
\ neueren Sexualzeitschriften enthalten sind (Die NeueOenc-
ration — Zeitschrift für Sexualwissenschaft —
Mutterschutz — Sexualprobleme — u. a.) In ihnen
ergreifen dankenswerterweise oftmals die Frauen selbst das
Wort. Diesen Aufsätzen gesellt sich die medizinische Fach-
presse hinzu, die ebenfalls der allgemeinen Bewegung ge-
folgt ist und viel häufiger als früher ihre Spalten den sexuellen
Fragen geöffnet hat. Es erübrigt sich hier, einzelne Namen
zu nennen. Die angesehensten und gelesensten Fachzeit-
schriften haben sich in diese Reihe gestellt. Auf die einzelnen
Arbeiten einzugehen wird sich an manchen Stellen dieser Auf-
lage wiederholt Gelegenheit finden.
In den größeren und bekannteren Lehrbüchern der Gynä-
kologie ist das Wort Anaesthesia sexualis oder D y s -
pareunieso gut wie unbekannt. In einem der vorzüglichsten,
in dem Schröder sehen Lehrbuch der Gynäkologie, kommt
vielleicht hie und da unter „Symptomen" (z. B. Kapitel:
Parametritis atrophicans) ein „Nachlaß der
Libido" vor — aber damit ist auch die Materie erschöpft.
Jener spezifische Zustand absoluter Kälte und Empfindungs-
losigkeit ohne nachweisbare organische Krankheit und Ver-
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änderung, die Betonung ihrer Häufigkeit findet keine Er-
wähnung und dies ist um so verwunderlicher, als Schröder,
unter dessen persönlichem Zauber Verfasser noch selbst ge- 1
standen, nicht nur ein Meister der Diagnostik und glänzender}
Operateur, sondern auch ein Menschenkenner und Seelenarzt
ersten Ranges war. Wie sein persönliches Auftreten und sein
zum Herzen gehender Vortrag trotz aller Sprödigkeit des
Stoffes, in dem es von weiblichen Schmerzen und Klagen
wiederhallt und bei den größten aller Operationen $tröme
Blutes fließen, stets voll einer zarten, teilnehmenden Mensch-
lichkeit, ja oft von einer hinreißenden, fast dichterischen
Diktion durchwebt war, so hatte auch seine Feder einen Hauch
von Poesie. Man lese die bekannte Stelle von der gonorrhoi-
schen Infektion in der Hochzeitsnacht, um seine Meisterschaft
in der Darstellung menschlichen, speziell weiblichen Schicksals
zu bewundern. Sicherlich ist S ch r ö d e r in seinen gewaltigen
klinischen und vor allem privaten Klientel die sexuelle An-
ästhesie* nicht entgangen — allein aus den eingangs erwähnten
Gründen mag er ihre Besprechung und Aufnahme in sein
Lehrbuch unterlassen haben. Eher findet sich noch in einigen
älteren gynäkologischen Werken (z. B. J. C. G. Jörg: Über
das physiologische und pathologische Lebendes
Weibes (Leipzig 1833) und D. W,. K. Busch: Das Ge-
schlechtsleben des Weibes (Leipzig 1841—44) einef
kurze Andeutung. Auch in den kuriosen Kompilationen des
D. Martinus Schurigius: Muliebria, Partheno-
logia, Gynäkologia, Spermatolo-gia (Dresden und
Leipzig 1720—1727) sind einzelne Hinweise enthalten, ebenso;
wie in Zacchias: Quaestiones medicales, bei
welchem zum ersten Male von einer „natura frigida" zu
lesen ist.
Im übrigen zerplittern sich die wenigen literarisch nieder-
gelegten wissenschaftlichen Einzelbeobachtungen in der ver-
schiedensten medizinischen Fachliteratur des In- und Auslandes.
Da die letzten Jahre (vor Erscheinen der I. Auflage 1904}
in der sexuellen Frage literarisch produktiver waren, so er-
wähnten v. Krafft-Ebing, Moll, Rohleder, Eulen-
burg, Fürbringer, Kisch u. a. wohl den Zustand, be-
tonten seine Wichtigkeit und Bedeutung und wagten wohl
hie und da den Versuch einer psychologischen Analyse. Seit-
(
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dem hat' sich, wie schon erwähnt, die Literatur nennenswert
vermehrt. Besonders muß hier die Freud sehe Schule-Wien
mit ihrer „psycho-analytischen" Methode und ihrer
Theorie der „sexuellen Wurzel" genannt werden. Einer
ihrer Hauptjünger, W. Stekel (Nervöse Angstzu-
stände), berührt das Thema der sexuellen Anästhesie oft
iund eingehend. Von ihm und der Freud sehen Methode
wird in den folgenden Seiten noch häufig die Rede sein.
Unter den Philosophen haben Schopenhauer, Lotze,
in jüngerer Zeit Max Dessoir der Vita sexualis ihr Augen-
merk zugewendet. In anthropologischen oder allgemein kultur-
| historischen Schriften (z. B. Ploß: Das Weib — Wester-
' mark: Geschichte der menschlichen Ehe etc.)
finden sich Andeutungen. Auch in sozial-politischen Schriften,
wie z. B. in Bebels: Die Frau und der Sozialismus
— hat die Frage Erwägung gefunden und keine geringere
Erwiderung als Hegars Schrift: „Der Geschlechts-
trieb" hervorgerufen. Eine selbständige Monographie über
den Gegenstand besteht jedoch auch heut noch nicht außer
der vorliegenden, wenn man, wie schon erwähnt wurde, von
einigen Reklamebüchelchen absieht, die ihre mageren Früchte
von diesem ersten Triebe geborgt haben.
Es mag hier als ein kurioser Fall erwähnt werden, daß
diese Literaturlücke nicht nur in den Fachkreisen der Ärzte,
sondern gelegentlich im Publikum, bei einer Patientin zur
Verwunderung über dieses literarische Defizit führen konnte.
Eine Patientin kam wegen klimakterischer Beschwerden in
meint Behandlung. Seit längerer Zeit gewohnt, bei jedem einzelnen
Falle die sexuelle Empfindungs-Anamnese zu berücksichtigen, fand
ich auch hier Dyspareunie. Die Patientin war in glücklicher
Ehe verheiratet und hatte mehrere Kinder. Sie war einige Jahre
selbst Leiterin eines größeren ärztlichen Hausstandes gewesen, hatte
aber nie gewagt, über ihren Zustand zu sprechen, obgleich sie im
stetigen Konnex mit Ärzten und Patientinnen lebte. Wie sie mir
gestand, hat sie vergeblich die ihr leicht zugänglichen ärztlichen
Bücher ihres Chefs — der notabene speziell gynäkologische Praxis
trieb — durchsucht, ohne auch nur andeutungsweise einen Hinweis
oder eine Erklärung für ihnen Zustand zu finden. Gewiß! Sogar
der Chef hätte in seiner Bibliothek selbst mit seinem fachmännischen
Blicke sicherlich kaum etwas davon entdecken können! —
Es erübrigt, noch einmal auf das numerische Vor-
kommen der Anaesthesiasexualisfeminarum zurück-
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zugreifen. Es ist bereits angeführt worden, daß eine einwands-
freie statistische Berechnung nicht existiert und auch nicht
(existieren kann. Stets wird es sich hier nur um Schätzungen
handeln. Ich will meine persönlichen Erfahrungen, um jedem
Vorwurf einer Überschätzung, wie sie leicht bei einseitiger
Beschäftigunjg mit einer bestimmten Materie vorkommt, von
vornherein zu begegnen, in die vorsichtigste und dehnbarste
Form kleiden. Ich bin der Ansicht, daß die Anaesthcsia
sexualis feminarum totalis et partialis pro-
zentual nach Dekaden zählt. Sie beträgt sicher-
lich nicht unter 10 %, ist höchstwahrscheinlich
jedoch bedeutend höher: 2 0, 30 ja vielleicht gar
b i s 4 0 o/o !
Ich kann leider nur wenige, exakte Gewährsmänner für
meine Behauptung anführen. Die eine Zahl — -10 11 o — gibt
»Qu tt zeit an. Derselbe hat sich in seinem kompendiösen
IWerke : „3 0 J a h r e P r a x i s" der sexuellen Fragen besonders
angenommen. Sein Urteil ist deshalb von Bedeutung, weil
er allgemeine Praxis getrieben und durch seine jahrelangen
Beziehungen zu denselben Personen auch in gesunden Tagen
mit ihnen Fühlung behalten hat. — „Von 10 Weibe i n
empfinden 4 gar nichts in coitu und üben den-
selben selbst ohne alles angenehme Gefühl bei
der Friktion und ohne eine Ahnung vom Hoch-
genuß der Ejakulation zu haben/' — Ich beschränke
mich darauf, Guttzeits Zahl — also 4 0 °o! — an dieser
Stelle ohne jede Kritik zu registrieren. Es liegt kein Grund
vor, im Sinne und in Wertschätzung seiner anderen Beob-
achtungen das Resultat irgendwie zu bezweifeln.
Eine zweite Zahl gibt Debrunner (Berichte undi
Erfahrungen aus dem Gebiete der Gynäkologie
u n d G e b u r t s h i 1 f e) an. Er sagt wörtlich : „Bei über 50°/o ( !)
unserer Frauen der Ostschweiz ist von einer eigentlichen
Libido nicht zu sprechen. Häufig habe ich nach dieser Richtung
hin Gelegenheit gehabt, anamnestische Angaben zu sammeln
{Und ich kann versichern, ^daß über die Hälfte
(unserer Frauen eine Libido sexualis nicht
kennen. Sie verhalten sich bei der Kohabitation ganz passiv."
Nach meinem persönlichen Empfinden treffen diese Zahlen
vielleicht "die seltenste und höchste Außengrenze — allein,
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wenn, wie von mir angegeben, nur selbst geringere pro-
zentuale Dekaden übrig beliben, so dürfte dieses Ver-
hältnis noch ungeahnt und überraschend genug erscheinen!
Solche Zahlen vermutet man schwerlich bei einem Zustande,
der vielen kaum dem Namen nach bekannt und über den
bisher so wenig geschrieben ist und geforscht war!
Für die zahlenmäßige Abschätzung der mangelhaften öe-
schlechtsempfindung wären die Frauen selbst eigentlich die
kompetentesten Statistiker. Leider liegt eine solche einwands-
freie Arbeit aus der Feder einer Ärztin bisher nicht vt>r. *)
Dagegen gibt auch Johanna Elberskirchen („Das Ge-
schlechtsleben des Weibes" in Koßmann: Mann und
V7eib, Bd. I, zweiter Teil, Kap. 3) trotz ihrer Kontroverse
gegen die vorliegende Monographie (vergl. später beim Kapitel :
Vom weiblichen Geschlechtstrieb im allge-
meinen (Libido) „nach ihrer eigenen Erfahrung eine außer-
gewöhnlich große Zahl Frauen mit mangelhafter Ge-
schlechtsempfindung" zu.
In einen anderen Ton verfällt die bekannte Agitatorin
Dr. phil. Helene Stöcker. Sie kämpft in einem Auf-
satz der von ihr herausgegebenen „D i e N e u e G e n e r a t i o n" •
(„Die sexuelle Abstinenz und die Stützen der Gesell-
schaft" — Januar 1909) für Freiheit und Anerkennung der
(weiblichen Sexualität. Hierin erklärt sie die Tatsache einer
ca. 23 o/o igen weiblichen Frigidität für baren l/nsinn und ver-
steigt sich in ihrem Sexualitätsbewußtsein zu der wenig ab-
stinenter Bemerkung, daß ein derartig versierter Arzt als ein
„in Sachen der Liebe ungebildeter und roher Mensch einfach
auszulachen" sei.
Hätte die Autorin die „mangelhafte Geschlechts-
empfindung des Weibes" auch nur mit einem kurzen
Blicke beachtet, so würde sie vermutlich nicht zu ihrer ober-
flächlichen Ansicht gekommen sein und hätte ihr nicht die
agitatorisch rauhe Form ihres krassen Wortes geliehen. Sie
hätte gefunden, daß eben ganz allgemein von „mangelhafter"
Geschlechtsempfindung die Rede ist, daß die behaupteten 25o/ 0
(andere sogar 40 und 50 o/o) nur die Fehler und Störungen
des weiblichen Sexualgefühls betreffen ohne Kritik ihrer Ur-
*) Neuerdings gibt Margarethe v. Kemnitz 60 o/o (!) an.
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Sachen. Das häufig gebrauchte Wort „kalt'' bringt die Ver-
wirrung hervor. Dieses Wort schwebte der Gegnerin wahr-
scheinlich vor und vermutlich sind ihr nur jene armseligen
Torsi von Nachschriften zu Gesicht gekommen, die in der
Erkenntnis der Bedeutsamkeit des Themas auf dem Titelblatt
„die Kälte" der Frau sensationell Iiinausschreien. *)
Hingewiesen sei an dieser Stelle noch auf jene andere
Agitatorin, die in dem Vorworte zur II. Auflage dieses Buches
zu Worte kommt. Sie hat — obgleich auf demselben Kampf-
platz für sexuelle Reform stehend — aus der vorliegenden
•Bearbeitung des Stoffes ein männliches und ärztliches Ver-
ständnis für die Eigenart des weiblichen Sexualempfindens
herausgelesen. Welche 'Gegensätze der Auffassung!
Noch einem besonderen Irrtum muß begegnet werden,
wenn es sich um die Schätzung, speziell um die Anerkennung
der entschiedenen Häufigkeit der geschlechtlichen Unempfind-
lichkeit des Weibes handelt. Unsere Schlüsse ziehen wir
Ärzte nicht nur aus den Angaben der Frauen, sondern nicht
viel seltener aus den Klagen der Ehemänner über die Kälte
ihrer Gattin. Und nun halte man einmal Umfrage bei Jung-
gesellen! Ich bin stets hier einem beredten Staunen oder der
feurigsten Kontroverse begegnet, fast ausnahmslos fanden die
Unverheirateten die behauptete Häufigkeit, ja selbst nur
die Existenz des nichts empfindenden Weibes als unvereinbar
mit ihren Erfahrungen, während gleichzeitig die Verheirateten
in demselben Kreise zum mindesten oft mit einem verständnis-
vollen Schweigen antworteten. Cum tacent clamant. — Die
Erklärung ist für jeden, der nur auf diesen Punkt hingewiesen!
wird, leicht und verständlich. Selbstverständlich ist das Ma-
terial der Junggesellen ein absolut anderes! Entweder ist
/es nur die Venus vulgivaga, die überhaupt durch Wollust
zu ihrem Gewerbe getrieben wurde, oder wenn aus anderem
Gründen dazu veranlaßt, doch gelernt hat, selbst bei der
eisigsten tief ühlslosigkeit sich den Anschein
heißer Liebesglut zu verleihen. Ein natürlicher, not-
wendiger, raffinierter Geschäftskniff! Oder aber es existieren
Beziehungen anderer Art, wo der Verkehr ein Austausch der
*) Auch hier hat sich die Differenz durch das Mißverständnis von
„mangelhaft" und „mangeln d" aufgeklärt.
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Herzen geworden ist, wo die Geliebte an Bildung und ge-
sellschaftlicher Stellung ebenbürtig ist. Nun — in diesem
Fällen der höchststehenden außerehelichen Geschlechtsliebe
können es wieder a priori nur die von Natur em-
pfindungsreichen Frauen und Mädchen sein. Die
anderen fallen ganz von selbst aus, ihr Lebensweg kreuzt
Jgar nicht diese Gefahren. Ihr Leben vollzieht sich abseits
davon; unverheirateten Männern bleiben sie unbekannt. In
der Ehe erst erfahren diese Frauen von ihren Pflichten und
damit fst denn auch allzu häufig die traurige Entdeckung für
den Mann gemacht.
Hier setzt bereits die psychologische Analyse des Ge-
schlechtslebens ein, der wir an späterer Stelle ausführlicher;
begegnen werden.
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II. Kapitel.
Zur Anatomie und Physiologie der Wollustorgane,
Das Durchtreten des Sperma resp. der weiblichen Sekrete ist nicht
die Ursache der Wollustempfindung, sondern ein koordiniertes B e g l e i t-
symptom. Beobachtung der Sekretion im weiblichen Orgasmus in einem
speziellen Falle. Fall I (Eigene Beobachtung). Die weiblichen Sekretionen
haben wesentlich mechanische Voraussetzungen. Die Glandulae vesti-
buläres majores sind ursprünglich Riechstoff bildende Lockdrüsen. Geruch
und sexuelle Erregung. Empfindungsstatus beim masturbatorischen Or-
gasmus. Fall II a (Eigene Beobachtung). Spezieller Fall eines spezifi-
schen Ejakulationsgeruches. Das Typische im Orgasmus ist die Kon-
traktion der Geschlechtsmuskulatur. Letztere ist anatomisch minimaler
als die des Mannes (Waldeyer). Glans als „sensibler Brennpunkt". Der
relative Nervenreichtum hat zum Schlüsse eines höheren Geschlechtsgentisses
des Weibes geführt. Tiresianische Entscheidung. Eine vollkommen andere
Schlußfolgerung daraus. Exstirpation der Klitoris. Solche bei den Skopzen.
Andere periphere Erregungsstellen (Moraglia). Fall von Orgasmus
mammarius. Praeputium glandis ist kein Schutz, sondern eher ein Er-
regungsmittcl. Wahrscheinlich ebenso das Smegma praeputiale. Die
Erektion ist im allgemeinen notwendig für den Orgasmus. Die vermehrte
Blutfülle und der vergrößerte Blutdruck machen erst die Nervenendigungen
spezifisch sensibel. Fall von Anaesthesia sexualis completa bei Herzfehler
des Mannes (Fall III, Eigene Beobachtung). An der Blutdruckerhöhung
wirkt auch die Geschlechtsmuskulatur mit (Scxualherz). Physiologisches
Resume.
Indem die allgemeine Anatomie und Physiologie der
,Wollustorgane, wenigstens in großen Zügen, im folgenden
als bekannt vorausgesetzt werden muß, wird es sich für den
vorliegenden Stofi im wesentlichen darum handeln, einige Be-
sonderheiten eingehender zu betrachten, die einerseits markante
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Unterschiede gegenüber den männlichen Organen betreffen,
andrerseits in Beziehung auf das Zustandekommen der Wollust-
empfindung von besonderer Bedeutung sind.
„Vor allem hat» sich die Physiologie" (Kobelt
in seiner klassischen Darstellung der Anatomie und Physiologie
der Wollustorgane), „verlassen von ihrer Schwester-
doktrin, darüber noch nicht mit Bestimmtheit
auszusprechen gewagt, an welche besonderen
einzelnen Teile der Generationswerkzeuge
I beider Geschlechter die wollüstigen Empfin-
• düngen beim Begattungsakt zunächst gebunden
sind, wie dieselben in ihrem Zusammenwirken
auftretenund welches analoge Verhältnis dieser
Teile in beiden Geschlechtern obwaltet."
Obgleich diese Worte aus dem Jahre 1844 herrühren,
haben sie ihre Bedeutung nicht verloren. Die Kobeltschen
Ausführungen haben im wesentlichen« noch heute ihre Gültig-
keit, seih Buch ist noch immer eine schätzenswerte anatomisch
brauchbare Leistung.
Wie unklar und verworren noch die Vorstellungen über
den Sitz und das Zustandekommen der WollustempHndungen
sind, mag aus einem weit verbreiteten Irrtum hervorgehen.
Da in der Regd der männliche Orgasmus mit der Ejaku-
lation des Sperma verbunden ist, so vindiziert man diesem den
Hauptanteil an der Entstehung des Wollustkitzels. Wir lesen
bei v. Krafft-Ebing: „Der Geschlechtsakt geht
mit einem Wollustgefühl einher, das beim
Manne durch infolge der sensiblen Reizung der
Genitalien fiervorgerufenen Durchtretens von
Sperma durch die Ductus ejaculatorii in die
Urethra bedingt sein dürfte." In ähnlichem Sinne
sagt Moll: „Das männliche Befriedigungsgefühl
entstehtdurch die Ejakulatio n." — Wir kennen doch'
wahrlich Fälle von früher Masturbation bei Knaben lange Zeit
vor der Pubertät in hinreichender, ungezählter Fülle, in denen
auch nicht eine Spur von Sperma oder Sekret
entleert wird und nicht entleert werden kann. Die Angaben
der unmündigen Kinder wären kaum von Bedeutung, wenn
sie nicht als Erwachsene einstimmig die Tatsache zugäben,
meist mit der stets wiederkehrenden Bemerkung, daß die erste
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.wirkliche Ejaculatio eine besondere Überraschung war! Alle
geben keine Unterscheidung im früheren puerilen und späteren
pubertären Empfinden an. Auf die Akme der Libido
hat das Sperma als solches keinen Einfluß.
Wir übertragen diese absolut sichere Tatsache auf das
weibliche Geschlecht. Auch bei ihm findet bekanntlich im
Kulminationspunkt eine Ejaculatio, eine Flüssigkeitsausschei-
kiung, ein „Naß werden" statt. Wir führen dasselbe auf
die verschiedensten Formen der Sekretion zurück, auf die
Expression des Uterinschleimes, auf die vermehrte Leistung
der Schleimdrüsen der Scheidenschleimhaut, auf die Sekretion
der Glandulae vestibuläres und der Bartholinischen Drüsen.
Sicherlich ist diese Flüssigkeitsbildung, die entgegen derjenigen
des Mannes aus den verschiedensten Quellen stammt, ein
Produkt der ansteigenden und auf ihrem Höhepunkt ange-
langten Libido, allein es sind koordinierte Zustände. Nicht
das „Durchtreten" der Sekrete macht den Kulminations-
punkt der Libido, sondern im Beginn der geschlechtlichen Er-
regung beginnt zugleich die Sekretion, d. h. die erhöhte Tätig-
keit des ganzen sexuellen Drüsenapparates, und im Höhepunkt
der Empfindung, im Orgasmus, erfolgt die Expression durch
die Kontraktion des hierbei in Betracht kommenden Muskel-
apparates •
Es ist begreiflicherweise viel schwieriger, über die
wirklichen Sekretionsvorgänge beim Weibe eine der Beob-
achtung direkt zugängliche Vorstellung zu gewinnen. In actu
copulationis selbst vermischen sich die Ejakulationen Beider
;und gestatten keine einwandsfreie Deutung. Wir sind be-
schränkt auf die Schilderungen und Angaben entweder inastur-
bierender Weiber oder auf die Darstellung bei den Pollutiones
feminales. Zur direkten Beobachtung wird sich nur ausnahms-
weise bei leicht erregbaren erotischen Patientinnen Gelegenheit
bieten.
Der weibliche Orgasmus ist bisweilen in exploratione
gynaecologica beobachtet worden (Litzmann, Hohl,
Kisch), ein ganz besonderer Fall ist derjenige J. Becks,
der den Orgasmus bei Uterusvorfall zu sehen Gelegenheit
hatte. Ich selbst kann eine Beobachtung hinzufügen, die schon
an dieser Stelle in extenso angeführt werden mag, weil sie
die Sekretfrage in besonders bezeichnender Weise berührt.
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Fall 1.
(Eigene Beobachtung.)
Patientin ist 22 Jahre alt. Stammt aus gesunder Familie. Eine
einzige jüngere Schwester ist blaß und in der Entwicklung zurück-
geblieben, .neigt leicht zu Ohnmächten. Patientin selbst hat an
verschiedensten skrophulösen Erscheinungen gelitten, Hals- und
Armdrüsen, Nasenpolypen. Im zehnten Lebensjahre fing die „Hüfte
an, hervorzutreten". Deshalb Gipskorsett. Jetzt ist noch ein einseitiger
Hochstand des Beckens zu bemerken. Masern und danach lange
Zeit entzündete Augen sind überstanden. Die erste Periode trat
mit ca. 15 Jahren auf, war schmerzlos, ist seitdem aber höchst
unregelmäßig wiedergekehrt und hat Pausen bis zu einem Jahre ge-
macht. Zurzeit ist Patientin seit ca. 3 /4 Jahren ohne Menses.
Augenblicklich sucht Patientin ärztliche Hilfe wegen Schmerzen
in der linken Leistengegend auf. Vor einigen Wochen entstand
auf einer Reise ein entzündlicher Zustand an den Genitalien, be-
sonders Brennen beim Urinlassen und Schmerzen in der Leisten-
gegend, die das Gehen erschwerten. Ausfluß hat, wenn überhaupt,
nut in geringstem Grade bestanden.
Patientin ist eine durchaus gebildete Künstlerin und hat seit
ca. 3 Jahren dieselben intimen Beziehungen ebenfalls zu einem
Künstler von hoher wissenschaftlicher Bildung. Der Konsors will
weder früher, noch jetzt geschlechtlich krank gewesen sein. Seine
Untersuchung ergibt normale Befunde.
Bei der Patientin finden sich die linken Inguinaklrüscn erheb-
lich, in mehreren • Paketen isoliert, vergrößert, jedoch nicht mehr
so schmerzhaft, wie zur Zeit des Entstehens. Uterus und Vagina
zeigen keine Anomalien im Spekulum. Dagegen ist linkerseits kurz
vor dem großen und reichlich erhaltenen Hymcnalkranzc an der
Ausführungsstelle des Ductus Bartholinianus eine linsengroße, ero-
sionsartige, bei Berührung leicht blutende Stelle. Druck auf das
labium majus sinistrum ist nicht schmerzhaft und entleert auch
kein Sekret, speziell keinen Eiter aus der Glandula Bartholini.
Die Diagnose bleibt sowohl wegen der Anamnese, wie wegen
des zweifelhaften objektiven Befundes in suspenso, die meiste Wahr-
scheinlichkeit spricht für ein Ulcus oder Gonorrhoe.
Die Patientin war bereits von anderer Seite zur Operation be-
stimmt, da „innen alles vereitert sei". Ich sah vorläufig keinen
Grund zu diesem radikalen Einschreiten, besonders da Patientin
schwer in ihrem Berufe geschädigt worden wäre. Ich behandelte
deshalb während dreier Wochen mit äußeren Mitteln, wonach die
erosionartige Stelle verschwunden war, die Inguinaldrüsen jedoch
unverändert weiterbestanden, ohne an Größe und Schmcrzhaftigkcit
zugenommen zu haben.
In dieser Zeit wagte die Patientin das Geständnis, daß sie in
coitu ohne Befriedigung und Empfindung sei. Sie
erreiche den Orgasmus nur bei manueller Reizung der Klitoriscegend
Adler, Oeschlechtsempfindun«. 3. Aufl. 2
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oder wenn das membrum virile sine immissione längere Zeit dar-
übergleite. Anfänglich hatte sie frühere Mastur-
bation geleugnet. Jetzt gab sie dieselbe zu. Sie übte die-
selbe bereits seit ca. 10 Jahren, also als noch nicht geschlechts-
reifes Mädchen. Den Geschlechtsverkehr mit dem Manne kennt sie
seit etwa 3 Jahren.
Ich untersuchte daraufhin bei eingeführtem Sperr-Spekulum die
allgemeine Sensibilität im Sinne der Kallmann sehen Unter-
suchungen (cf. Zeitschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie 1898).
Die Portio war dabei vollkommen eingestellt und die Seitenwände
der Vagina mit dem Ausführungsgange der Bartholinischen Drüse
lagen klar zutage.
Indem ich die Klitoris berührte, speziell deren Präputium zu-
rückstreifte, zeigten mir ungewohnte Bewegungen der sonst sehr
ruhigen und leicht untersuchbaren Patientin ihre sinnliche Erregung
an. Die Situation verriet den Orgasmus, und in dem-
selben Augenblicke entleerte sich aus der Mündung
des affizierten Ductus B a r t h o Ii n i a n us Eiter,
der plötzlich als erbsengroßes Träubchen auf
der Scheidenwand lag.
Hiermit war die Diagnose einer eitrigen Bartholinitis gegeben
und die Schwellung der Inguinales hinreichend erklärt.
Die Scheide secenierte in diesem Augenblicke vielleicht eben-
falls ein wenig, jedenfalls höchst unmerklich. Die
Portio vaginalis dagegen, die ich kurz zuvor mit Watte vollkommen
gesäubert hatte, zeigte jedoch keine Spur von Veränderung,
weder in ihrer Form, noch in bezug auf Sekretion. Von dem
(noch später zu erwähnenden) K r i s t e 1 1 e r sehen Schleimstrang war
auch nicht eine Andeutung zu sehen.
Die Patientin gab an, eine volle und ganze Befriedigung gehabt
zu haben, was nach den geschilderten Beobachtungen wohl kaum
zu bezweifeln ist, trotzdem die Untersuchung der Klitoris sicher-
lich nicht zu zeitraubend war und trotzdem das metallene Sperr-
Spekulum die Vaginalwände dehnte.
Bei einer späteren Untersuchung nach etwa weiteren drei Wochen
konnte ein ähnlicher Zustand beobachtet werden. Auch diesmal
keine Veränderung an der Portio vaginalis, dagegen wiederum ein
Tropfen vor dem Ductus Bartholinianus, aber kein Eiter
mehr, sondern glashelle, klare Flüssigkeit.
Die Eiterproduktion hatte in der Zwischenzeit nachgelassen.
Die Drüse wurde täglich ausgedrückt, das Sekret wurde immer
dünnflüssiger, bis es seine normale Wasserfarbe hatte. Die In-
guinales gingen langsam ganz zurück.
Die Patientin ist ohne Operation als geheilt entlassen worden.
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Der geschilderte Fall beansprucht das physiologische
Interesse um dessentwillen, einmal, weil er die Geringfügigkeit
der Sekretion beim weiblichen Orgasmus beweist, dann aber
vor allem, weil er das Spiel der Muskulatur in ein hellesj
Licht setzt. Selbstverständlich war der Eiter nicht im Augen-
blicke produziert, sondern lagerte, wie die Krankengeschichte
deutlich erweist, längst in einer Tasche der Bartholinischeni
Drüse. Vergeblich war seine Expression vorher manuell ver-
sucht worden. Die allseitig die Drüse umlagernde Muskulatur
'des Constrictor cunni oder nach Waldeyer (cf. das
Becken) besser des Musculus Trigoni urogenitalis
•war viel leichter imstande, den vermutlich in einer Seiten-
tasche der Drüse gebildeten Eiter dem Ausführungsgange
zuzuführen.
Wir sehen also aus diesem Spezialfälle, daß die Se-
kretion nur eine bescheidene Rolle im weib-
lichen Ejakulationsakte zu spielen braucht.
Sicherlich gibt es auch profusere Ergießungen,
allein absolut notwendig sind sie für das Zu-
standekommen der Wollustempfindungen nicht
Der geringere Bedeutungswert der weiblichen sexuellen
Sekretionen erklärt sich ohne Zwang aus ihrer nur losen Be-
ziehung zur Befruchtung. Während das männliche Sperma
der Zweck der ganzen Ejakulation ist, um die lebenden
Spermatozoen in der Vagina zu deponieren, während
tausende dieser männlichen Befruchtungskörperchen im Eja-
kulat enthalten sind, liegt das (den Spermatozoen gleich-
wertige) weibliche Ei'chen und zwar ein einziges, reifes
Ei längst in der Tube oder im Uterus. Der weibliche
Organismus hat im Momente des Orgasmus kein
neues Befruchtungsobjekt zu schaffen. Wenn es tatsächlich
erwiesen sein sollte, daß Uterusschleim aus der Portio aus-
gestoßen wird (wovon wir uns in unserem Falle nicht über-
zeugen konnten) und daß dieser zähe Schleim sträng, wie
K r i s t e 1 1 e r behauptet, einem gubernaculum, einem Leit-
band gleich, aus dem orificium externum herabhängt»
iim den Spermatozoen den Weg in das Uterus-Cavum zu er-
leichtern, so kennen wir andererseits jene unzähligen Fälle
reichen Kindersegens gerade bei jenen Frauen, von denen
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Unser Thema handelt, bei den Empfindungslosen
ohne Orgasmus und ohne Sekretion.
Das Ejakulat des Weibes dient wesentlich mechani-.
sehen Forderungen, es erleichtert die immissio penis
und verhindert die allzustarke Vergewaltigung bei den Frik-
tionen an den Vaginalwänden. Es wäre von der Natur ver-
fehlt, lediglich für den Orgasmus ein Sekret zu schaffen, das
gebraucht wird, wenn es eigentlich schon zu spät ist! Die
Sekretion hat vom mechanischen Standpunkte nur Sinn, wenn
sie ante coitum, mit dem ersten sinnlichen Ge-
danken, auftritt, gewissermaßen um das Terrain vorzube-
reiten. Und tatsächlich ist es genugsam bekannt, daß dieses
„Feuchtwerde n" in libidine nascente beginnt.
Die mehr mechanische Theorie der weiblichen Sekrete
stimmt auch sehr wohl mit der Tatsache überein, daß speziell
die Bartholinische Drüse nicht wie beim Manne Hoden und
Prostata, nicht wie das Ovarium beim Weibe, erst in der
Geschlechts reife, sondern schon im kindlichen
Stadium ihr spezifisches glashelles Produkt
;e n t wickelt. Die Bartholinische Drüse ist keine
Geschlechtsdrüse p a r e x c e 1 1 e n c e. *)
Wie die Frage bei den anderen Drüsen, speziell bei den
Glandulae vestibuläres majores zu beantworten sei,
ist noch nicht vollkommen festgestellt.
Gustav Klein (München) hat in einem interessanten
Vortrag in der Gesellschaft für Geburtshilfe und Gynäkologie
(März 1900) entwickelt, daß diese Drüsen höchstwahrscheinlich
die Bestimmung haben oder wenigstens entwicklungsgeschicht-
lich gehabt haben, Riechstoffe als Anlockungsmittel für
das männliche Geschlecht zu bilden. Sie sind gewissermaßen
ein Derivat aus der Brunstzeit, als der Geschlechtstrieb wie
bei den Tieren noch ein periodischer war.
Diese Annahme ist ohne Zwang für jeden leicht ver-
ständlich, der in der Tierwelt "die unendliche Bedeutung des
Geruchssinnes im Geschlechtsleben beobachtet hat. Jedem ist
das bei dem uns am nächsten stehenden Haustiere, dem Hunde,
aus alltäglicher Beobachtung bekannt. Der Hund wittert be-
*) Ober die chemische Bedeutung des Sekrets vcrgl. die eugeni-
sche Theorie M. V a e r t i n g ' s pag. 70.
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reits aus weiter Entfernung die läufische Hündin, der Hengst
ist nicht zu zähmen und zurückzuhalten, wenn auf bisweilen
kaum glaubhafte Entfernung einej rossige Stute seine Nüstern
zum feurigen Blähen geschwellt hat.
Beim Menschen, der sich allmählich von dejn natürlichen
und niedrigen Instinkten zum Gebrauch der freien Vernunft
entwickelt hat, mag diese Fähigkeit auf Kosten anderer Reize
verloren gegangen sein. Allein daß der Geruch bei der Ent-
stehung sexueller Leidenschaften noch immer eine gewaltige,
bedeutsame Rolle spielt, ist allgemein bekannt. Nur eine
Wandlung ist dabei eingetreten. Die Geruchsempfindung kon-
zentriert sich nicht auf die sexuellen Teile, sondern auf einen
gewissen erregenden Duft des ganzen weiblichen Körpers,
auf einen spezifisch undefinierbaren betäubenden Hauch der
in Erregnug zitternden sam metweichen, rosig geschwellten
Haut des Weibes. Den praktischen Nutzen hieraus hat die
(weibliche Welt, besonders die feiner sinsibilisierte kultivierte,
seit langem gezogen. Das künstliche Parfüm ist ein altes
Lockmittel und allgemein gebräuchliches Toilettenkunststück.
Auch nach der negativen Seite hin ist die tiefe Ein-
wirkung des Gcruchsinnes in tausendfachen Fällen beobachtet
(und bekannt. Wir werden bei der eigentlichen speziellen Be-
sprechung besondere Formen der mangelhaften Geschlechts-
empfindung die Wahrnehmung eines unangenehmen Geruches
als einen häufigen Hemmungsgrund geschlechtlichen Ver-
mögens kennen lernen.
Obgleich von den Perversionen der Vita sexualis in dem
vorliegenden Thema grundsätzlich nicht die Rede ist, so mag
dennoch, um die physiologische Bedeutung des Vestibül ar-
Drüsen-Sekretes auch für den Menschen zu erweisen, auf den
Cunnilingus hingewiesen werden. Gustav Klein hält
denselben für ein phylogenetisches Derivat, das sich aus den
ursprünglichen Beziehungen zwischen brünstigem Riechstoff
des Weibchens und Witterung des Männchens zwanglos erklärt.
Es ist interessant, daß kurze Zeit bevor G. Klein seine;
hypothetischen Mitteilungen machte, unbeeinflußt davon ein
sexueller Status von mir aufgenommen wurde, in welchem
die Frage eines spezifischen Sexualgeruches bereits berührt
und von der Patientin als eigene unbeeinflußte Beobachtung
angegeben wurde. Als ich G. Klein meine diesbezügliche
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Mitteilung machte, riet er mir zur baldigen Veröffentlichung-
Ides Falles. Ich habe jedoch damit zurückgehalten, um ihn
im Rahmen des vorliegenden Werkes originär aufnehmen zu
können. Ich füge deshalb an dieser Stelle den ausführlichen
Empfindungsstatus einer intelligenten Patientin, die sich zu
vorurteilsfreien Angaben herbeiließ, an.
Fall II (a).
(Eigpne Beobachtung.)
Verlauf der geschlechtlichen Empfindung bei einem Falle
manueller Mastrubation (30jährige Patientin).
Das Verlangen nach geschlechtlicher Befriedigung entsteht:
1. Von selbst kurz vor oder nach der Menstruation,
2. Als Mittel gegen Schlaflosigkeit,
3. Nach Ausspülungen mit warmem Wasser (kaltes Wasser
ist ohne Reaktion),
4. Nach wollüstigen Träumen,
5. Ganz plötzlich ohne besonders nachweisbare Ursache.
Ist das geschlechtliche Verlangen da, so teilt sich der weitere
Ablauf der Empfindungen in zwei Stadien:
Stadium I = minderwertige Erregung.
Stadium II — höchste Wollustempfindung.
Stadium I : (Verlauf der minderwertigen Erregung).
Notwendig ist dazu eine bestimmte Position. Im vorliegenden
Falle wird das rechte Knie gebeugt und der. rechte Fuß gegen das
Knie des ausgestreckten linken Beines gelegt. Zeit: nur abends
oder nachts.
Sodann legen sich der gekrümmte Zeige- und Mittelfinger der
rechten Hand auf das linke labium minus an seinem unteren Drittel
und pressen dasselbe auf die unter ihm liegenden Teile. Fester
Druck. Dann allgemeine Bewegung der so gedrückten Teile auf
ihrer beweglichen Unterlage. Es findet keine eigentliche Reibung
der Finger auf der Oberfläche statt, sondern ein Hin- und Her-
schieben der mit den Fingern fixierten Schleimhaut- und Haut-
stellen.
Hier bisweilen Aufhören:
a) wegen Selbstbeherrschung,
b) wegen Ermattung des Armes.
Das hierdurch hervorgerufene Gefühl genügt bisweilen als
hinreichende Befriedigung und klingt langsam unter
allgemeiner Ermattung des Körpers ab. Ein Erguß hat hier-
bei nicht stattgefunden, ebensowenig wie eine allgemeine
Transpiration. Bald tritt Schlaf ein.
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Wird dieses Stadium 1 nicht unterbrochen, so stellt sich
Stadium II : (die höchste Wollustempfindung)
ein. Dieselbe wird instinktiv geahnt und dabei senkt sich der
Mittelfinger in die Vagina, während der Zeigefinger auf dem
labium minus liegen bleibt und die übrige Hand die ganze Vulva
derart umfaßt, daß der Daumen nach oben auf den Schambein-
knochen, der vierte und fünfte Finger nach dem Damm bis zum
After reichen. Die ganze so umfaßte Vulva mit dem Mittelfinger
in der Vagina wird gegen die Symphyse gedrängt und sämtliche
Teile, die jetzt einen „schwammigen Eindruck" machen,
en masse hin- und herbewegt. Hierbei pflegt dann die bis dahin
freie linke Hand die etwas erlahmende rechte, die jedoch ihre Lage
unverändert beibehält, durch Auflagerung bei den Bewegungen zu
unterstützen.
Darauf stellt sich je nach den Umständen ohne erklärbare
Ursache entweder sofort, bisweilen nach e i n"i g e n Sekunden,
andernfalls erst nach längeren fortgesetzten Mani-
pulationen das höchste Wollustgefühl ein, welches das
vorher geschilderte Gefühl um ein Bedeutendes überragt.
Währenddessen hebt sich das Becken an, gewissermaßen um der
manipulierenden Hand entgegenzukommen. Die Hebung des
Beckens geschieht unwillkürlich als eine Folge der höchsten Spannung
und Erwartung. Es senkt sich beim oder auch noch vor dem
Eintritt des höchsten Orgasmus von selbst. Diese Hebung
des Beckens ist erst nach der Bekanntschaft mii
dem Coitus entstanden, vordem fand sie nie statt.
Mit dem höchsten Wollustgefühl stellt sich ein leichter, nach außen
hervortretender Erguß ein, der die Hand merkbar naß
macht und dessen Geruch sich deutlich von dem gewöhn-
lichen (geruchlosen) Scheidenschleim unterscheidet. Zugleich
empfindet der eingeführte Finger leichte Zu-
sammen Ziehungen des ganzen Scheideninnern von der Portio
uteri bis zum Scheideneingang.
Die höchste Wollustempfindung währt einige Sekunden unter
gleichmäßiger Kontraktion der Scheide. Indem dieselbe langsam
nachläßt, klingt auch ganz langsam und allmählich die
Wollustempfindung ab. Dieses langsame Abklingen ist
e i n durchaus behaglicher Zustand, in welchem die Hand fast von
selbst aus und von der Scheide gleitet und der Körper, der bei
dem letzten Ansteigen der Empfindungen in große allgemeine
transpiratorische Erregung versetzt wird, allmählich in
eine wohltuende Abgespanntheit übergeht, die sich bald in ruhigen
Schlaf verwandelt. Das Abklingen dieser höchsten
Wollustempfindung ist entschieden länger und
auch genußreicher als bei der zuerst beschriebenen
Erregung in Stadium I.
Stadium II ist demnach nur nach vorausgegangenem längerem
oder kürzerem Stadium I zu erreichen mit einziger Ausnahme
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bei der Befriedigung nach dem Erwachen aus einem sinnlichen
Traume (selten!), welcher gewissermaßen schon Stadium I erreicht
und überwunden hat, so daß lediglich die in Stadium II geschilderten
Manipulationen notwendig werden, um den meist sehr schnell ein-
tretenden Orgasmus noch nachträglich zu genießen.
Der Geist ist währenddessen, sowohl in Stadium I wie II kaum
mit etwas anderem ais mit der Erwartung des maximalen Ge-
fühles beschäftigt. Nur ganz selten dürften Vorstellungen von einem
Manne oder überhaupt natürlichem Coitus die Phantasie beschäftigen.
Nach dem manuellen Akte, wenn nicht unmittelbar Schlaf ein-
tritt, ist eine dumpfe, einige Stunden anhaltende Empfindlichkeit
im Kreuze vorhanden, die sich hauptsächlich beim Sitzen bemerkbar
macht, seltener zugleich eine innere Empfindlichkeit im Leibe, be-
sonders rechts, die bis in die Leistengegend zieht (Hegarsche
L c n c! e n m a r k s y m p t o m c ?).
Eine psychische Verstimmung pflegt meistens einige Zeit da-
nach anzuhalten, die wohl mehr auf Selbstvorwürfe zurückzuführen
ist, da Patientin den Zustand für eine gefahrbringende Krankheit
hält, die vielleicht irgendwie ausarten könnte. —
Beginn der ersten masturbatorischen Versuche mit dem ca.
20. Jahre. Wiederholung derselben mit großen, monatlichen Pausen,
sonst 2— 3mal wöchentlich. Niemals zwei unmittelbar aufeinander
folgende Versuche, selbst nicht an einem Tage.
Der im Vorangehenden aufgeführte sexuelle Empfindungs-
status ist in seiner ganzen breiten Ausführlichkeit wieder-
gegeben worden, weil wir auf ihn, sowie auf einen später
folgenden ähnlichen Empfindungsstatus in coitu bei derselben
Patientin wiederholt aus physiologischen und psychologischen
Gründen zurückzugreifen gezwungen sind. Die pathologischen
Abweichungen lassen sich naturgemäß erst beurteilen, wenn
eine annähernde Vorstellung des normalen Vorganges be-
schrieben worden ist. Der vorliegende enthält so viel
Typisches, welches zum Gesamtbilde des vollkommenen Or-
gasmus gehört, daß wir an seiner Hand die weitere Analyse»
vorzunehmen imstande sind.
Als ein Hauptmoment für die Entstehung des Orgasmus
muß auf alle Fälle die Kontraktion des muskulösen Ge-
schlechtsapparates angesehen werden. »Der eingeführte
Finger", beschreibt die Patientin, „empfindet leichte Zu-
sammenziehungen des ganzen Scheideninnern". Diese Kon-
traktionen sind in seltenen Fällen in v i v a bei der Unter-
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suchung gesehen und beschrieben worden, ich selbst habe
mich bei den unter Fall I beschriebenen Symptomen von ihrem
Vorhandensein überzeugen können. Die gespannte Scheiden-
wand geriet in eine leichte rhythmische Kontraktion, am besten
dem unwillkürlichen Augenzwinkern vergleichbar, außerdem
bewegte sich die Glans Clitoridis, eine Bewegung, die
man am besten als „Nicken" bezeichnen möchte, während
seitlich von ihr ausstrahlend von den Schambeinbögen die
Kontraktionen des Musculus ischio-cavernosus durch
Bewegung und Hartwerden deutlich wahrnehmbar wurden.
Q. L. Kobelt sagt am Eingang seines Werkes: „Da
alle Empfindungen um so lebhafter und be-
stimmter im Sensorium hervortreten, je mehr
ihre materiellen Träger zur Selbständigkeit durch-
gebildet sind, so verlieh sie (die Natur) hierfür
beiden Geschlechtern, selbst auf die Gcfahrdes
Mißbrauches hin, gesonderte selbständige Or-
gane — die Wollustorgane."
Ich bin nun der Ansicht, daß von diesen „m a t e r i e 1 1 e n
Trägern", von den peripheren Organen, weiche der Er-
zeugung des höchsten Wollustkitzels dienen, dermuskulöse
ApparatdieersteundbedeutendsteRollespielt
Orgasmus, d. h. die Akme derLibido, das höchste
Wollustgefühl, ist physiologisch identisch mit
Kontraktion der Geschlechtsmuskulatur — das
Fehlen, Ausbleiben dieser höchsten Empfin-
dung ist zugleich ein Ausbleiben ihrer Zu-
sammenziehung. Das Wollustgefühl ist, wie wir gesehen
haben, nicht notwendig an das Ejakulat gebunden. Bei un-
reifen Knaben und Mädchen! findet in der Masturbation ohne
jeglichen Erguß ein volles Wollustgefühl statt. Nur der mus-
kulöse Apparat arbeitet im entscheidenden Momente in
spezifischem Wollustkrampfe. Die Geschlechtsdrüsen haben
nur insofern Anteil, als sie reif geworden und ihr spezifisches
Sekret bildend, oft genug und normalerweise den ersten
Reiz entfachen, die Ahnung dieses Gefühles er-
wecken, das Verlangen nach seiner "Erfüllung
wachrufen, mit einem Worte den Geschlechts trieb als
solchen bestimmen und beeinflussen.
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Stets ist auch auf den folgenden Seiten dieser fundamentale
Unterschied bei der Analyse des Geschlechtsempfindens streng
zu beobachten. Gewöhnlich ist in den andeutungsweisen Be-
merkungen diesbezüglicher Beobachtungen von Libido im
allgemeinen die Rede. Libido, d. h. Verlangen nach
geschlechtlicher Befriedigung, kann in reichem,
überreichemMaßevorhandensein, doch niemals
ist es zum Höhepunkt, zur Entladung, zum „Or-
gasmus" gekommen. Gerade diese Fälle werden
# |uns als die speziell pathologischen unseres
Themasganzbesonders des weiteren beschäfti-
gen. Ins Anatomisch-Physiologische übersetzt liegt bei ihnen
nichts andres vor als: Die Geschlechtsdrüsen (Eierstock,
•Glandulae vestibuläres und Glandulae Bartno-
lini) funktionieren normal, liefern ihr spezifisches Sekret,
allein der Muskelapparat des Geschlechtssystems (Musculus
ischio-cavernosus, Musculus Constrictor cunni
s. Trigoni urogenitalis) bringen es zu keiner Kon-
traktion, verfehlen den — Orgasmus.
Da der Geschlechtstrieb beim weiblichen Geschlecht
durchschnittlich, wie später zu erweisen ist, wesentlich
geringer oder besser durch mancherlei Hinder-
nisse und Hemmungen sozialer A rt vergrabener
ist, so erscheint es ebenfalls begreiflich, daß die „materiellen
Träger" des Orgasmus (der muskulöse Geschlechtsapparat)
rein quantitativ eine geringere Rolle spielen als beim Manne.
Schon a priori ist es um dessentwillen verständlich, weil beim
Manne die Schleuderkraft des Genitalapparates in ganz
anderer Weise von der Natur verlangt wird als beim Weibe.
In Waldeyers großer topographischer Darstellung: „Das
Becken" lesen wir: „Der Musculus trans versus
perinei (der von Henle sogenannte Teil des
Waldeyerschen M. trigoni urogenitalis) des
.Weibesistgewöhnlich kleiner als der des Manne s."
Und vom Musculus ischio-cavernosus heißt es an
gleicher Stelle: „Er ist viel schmächtiger als der des
(Mannes, wenn auch etwas länger wegen der
längeren Arcus pubis."
Es entsteht die weitere Frage, auf welche Reize hin und
auf welchem Wege, bei welcher Veranlassung erfolgt die
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Kontraktion der Geschlechtsmuskulatur, wodurch wird die
Akme der Libido, der Orgasmus erreicht?
Indem wir die normale Libido der erwachenden Ge-
schlechtsreifung vorläufig als vorhanden voraussetzen, wissen
Wir, daß in der Regel erst eine Summe wiederholter
gleichartiger peripherer Reize die definitive Kon-
traktion der Muskulatur auslöst. Man ist gewohnt, die Haupt-
reizstelle beim' Manne in die glans penis, beim Weibe
in die ähnlich organisierte glans clitoridis zu legen. Sie
feind, wie Kobelt sagt: „Der höchst sensible Brenn-
punkt." Und sicherlich muß ein Organ, das wie diese beiden
so ganz vorzugsweise mit spezifischen Nervenendkörperchen
ausgestattet ist und das sogar Endkolben eigenster Form
(Krause sehe G e n i t a 1 k ö r p e r ch e n), wie sie kaum ander-
wärts an einer Stelle des menschlichen Körpers vorkommen
dürften, in seinem nervenreichen Inhalt birgt, eine besondere
Beziehung zum Mechanismus der höchsten sexuellen Em-
pfindungen .haben.
Ohne Zweifel sind beide die Haupterreger ^der notwendigen
Reize, die zum Zentralnervensystem (Ejakulations- resp.
besser Kontraktions Zentrum) geleitet hinreichend summiert
und wiederholt die Geschlechtsmuskulatur zur Kontraktion
bringen, zum Orgasmus führen. Beim Manne ist diese
von der Natur gewählte Stelle ohne weiteres in ihrer zweck-
mäßigen Lage verständlich. Beim Weibe dürfte die
Erklärung schon etwas schwieriger ausfallen.
Sicherlich sind, die Stellen in der Vagina bei den Friktionen
des Penis ein viel leichteres Ziel als die oft recht hochsitzende
Klitoris, von der es feststeht, daß sie in vielen
Fällen beim normalen Coitus vom Penis über-
haupt nicht direkt erreicht und gerieben wird.
Möglich, daß an dieser anatomischen Vor-
aussetzung infolge einer Ungleichheit der nun
einmal aufeinander angewiesenen Genitalien,
die Anaesthesia sexualis der Gattin die häufige,
beklagenswerte Folge ist!
In der Glans penis und clitoridis strömen die Nerven-
endigungen in vermehrter Zahl und Ausdehnung zusammen.
In der viel kleineren Glans clitoridis sogar relativ noch viel
bedeutender. Sie ist absolut um ein Erhebliches „nerven-
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reicher". Sie ist, rein anatomisch gedacht, der wahre „sen-
sible Brennpunkt", ein „Multum in minimo", wie
sicli K o b e 1 1 ausdrückt, und da man immer gewohnt gewesen
ist, dieses Organ bei Mann und Weib gleichmäßig als das
eigentlich periphere Organ des höchsten Wollustempfindens
zu betrachten, so hat iman auch aus diesem relativen
Nervenreichtum der weiblichen Glans auf den er-
höhten Wollustkitzel des Weihes geschlossen.
Es ist höchst sonderbar, wie dieser anatomisch-physio-
logische Schluß, den auch K o b e 1 1 macht und der ihn sogar
zu einer kleinen mythologischen Exkursion begeistert, in
schreiendstem Gegensatz zu der übergroßen Zahl unempfind-
licher Frauen steht! Sollte nicht gerade jener Entscheidung
des Tire sias, durch welche er im Liebesstreit zwischen
Zeus und Hera der letzteren — also dem Weibe! — den
neunfach höheren Genuß zuschreibt, eine tiefere, andre Wahr-
heit nachklingen? Was heißt es anders, wenn er für seinen,
Schiedsspruch mit der Blendung des Augenlichtes von Hera
bestraft wurde, als daß sie mit seinem Orakel unzufrieden
war, daß sie anders fühlte, daß sie vielleicht, obgleich eine
Göttin, dennoch allzumenschlich organisiert war und das
Schicksal der mangelhaften Geschlechtsempfindung mit dem
großen Teil ihrer menschlichen Schwestern teilte! Die kleine
unwissenschaftliche Abschwenkung, die wir uns auf Kobelt-
schen Wegen erlauben, führt uns plötzlich zu ganz anderen
Schlüssen. Vielleicht ist Hera der erste Name, an
welchem geheimnisvoll und nur wie durch einen Schleier er-
kennbar zum ersten Male Anaesthesia sexualis des Weibes
in die Erscheinung tritt, vielleicht ist Hera die erste;
kalt empfindungslose Frau, die erste — natura
f rigida.!
Die Eichel sowohl des Penis wie der Klitoris
kommen selbstverständlich für die Entstehung des höchsten
Wollustgefühls in erster Linie in Betracht. Allein eine}
absolute, unbedingte Notwendigkeit sind sie
rieh t. Ein Penis, dessen Glans aus anderen Gründen ampu-
tiert ist (z. B. wegen Carcinoma), von dem jedoch ein ge-
nügender Stumpf zurückgeblieben ist, um nicht nur eine
Erektion, sondern auch die Einführung in die Vagina, also
einen Coitus, zu gestatten, kann seine unverminderten.
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Gefühle bewahrt haben. Beim weiblichen Geschlecht
ist bei verschiedenen Völkerstämmen die frühe Verschneidung,
d. h. die ganze resp. teilweise Abtragung des Kitzlers,
Sitte geworden. Bei den Skopzen, jener weitverbreiteten
russischen Sekte, ist diese Verstümmelung allgemein. Aber
<es ist erwiesen, besonders durch die vorzüglichen Unter-
suchungen Pelikans im Auftrage der russischen Regierung,
daß bei vorhandengewesenem Wollustgefühl durch
Abtragung der Kitzlereichel ein Fortfall des
Orgasmus auf keinen Fall stattgefunden hat.
Man hat bei den krankhaften, überstarken Sinnlichkeits-
zuständen des weiblichen Geschlechtes, bei jenen als „Nym-
phomanie" bezeichneten Fällen, in welchen das Verlangen nach
sinnlicher Befriedigung unaufhörlich das ganze Denken aus-
füllt und zu einem Übermaße immer wiederkehrender Selbst-
befriedigung führt, wiederholt den Vorschlag gemacht und
tatsächlich ausgeführt, die Klitoris resp. deren Eichel zu exstir-
pieren. Nach den mitgeteilten Ergebnissen bei den Skopzen-
Sveibern wäre eine solche Heilmethode, um mit Guttzeit
zu reden, „barer Unsin n". Der Sitz des höchsten Wollust-
gefühls kann nirgends anders als im Zentral-Nerven-
sy stem sein und folglich ist die Vernichtung jener peripheren
Erreglingsteile an der Kitzlereichel schon um dessentwillen
verfehlt, weil wir mit Sicherheit viele andre Stellen des Genital-
schlauchs, ja sogar an vollkommen hiervon entfernten Punkten
(z. B. Brustdrüsen) kennen, von welchen aus die Summation
der Reize aus vorgenommen werden kann und tafsächlich
zum Orgasmus führt; ja, noch viel mehr! Wir kennen eine
ganze Anzahl von Fällen, welche niemals durch Reizung
der Glans selbst imstande sind, zur Akme zu gelangen,
sondern immer nur von anderen Punkten aus.
Moraglia beschreibt in seinem Werke: Die Onanie
beim normalen Weibe und bei derProstituierten
(1897) ausführlich die verschiedenen Formen. Er kennt eine
Befriedigung:
1. Vom Innern der Scheide aus entweder an den
Scheidenwänden oder an der Gebärmutter:
Masturbatio vaginalis.
2. An der Kitzlereichel:
Masturbatio clitoridiana.
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- 30 —
3. An der Harnröhrenmündung, resp. im Innern der-
selben :
Masturbatio urethralis.
4. An den Brustdrüsen:
Masturbatio mammaria-.
Nr. 1 : Masturbation vaginalis ~- ist selten bei Jungfrauen,
fügt er hinzu. Wir erwähnen diese Beobachtung oesonders,
Weil sie von späterer Bedeutung bei gewissen Formen der
Unempfindlichkeit in coitu ist.
Bei Nr. 4 führt er einen ihm persönlich bekannten Fall
an, „w o eine bildhübsche Dame, die in ihrem nor-
malen Sexual verkehr durchaus kühl war, ganz
frenetisch wurde, wenn ihr Mann ihr an den
Brüsten sog und sie drückte".
Auch sonst sind Nervenverbindungen von der Brustdrüse
zur sexuellen Empfindungssphäre bekannt. Nicht unerwähnt
mag bei dieser Gelegenheit bleiben, daß Reizungen der Brust-
warze in der Schwangerschaft gefährlich und vorzeitige Ge-
bärmutter-Kontraktionen hervorzurufen und eventualen Abortus
zu begünstigen imstande sein sollen. Im übrigen verweisen!
wir von dem uns aus eigener Teobachtung bekannten Ma-
terial auf den Empfindungsstatus des Fall II (a), in welchem
ebenfalls eine typische Klitoris reizung nicht stattfindet;
sondern entfernt davon, teils an den Nymphen, teils im
Innern der Vagina selbst.
Wenn es demnach unbestreitbar feststeht, daß der
Kitzler, speziell seine Eichel, ein absolut unent-
behrliches Postulat für die Entstehung des höchsten
Wollustgefühles auf keinen Fall bildet, so bedarf doch
ihre anatomische Bevorzugung mit so besonderem und reichem
Nervenmaterial einer eigenen Erklärung. Mir erscheint ies
viel plausibler, daß diese bei beiden Geschlechtern so sehr
nach außen hervortretenden Sammelstellen feinster Nerven-
enden den Weg weisen, daß überhaupt durch Friktion
an den Genitalen ein besonderer Zustand her-
vorgerufen werden kann, wenn erst einmal das dunkle
Ahnungsgefühl des Geschlechtstriebes verstohlen sich gemeldet}
hat. Beide, Glans Penis und Glans Clitoridis, haben ihr ver-
schiebliches Hautdach, ihr Präputium. Aber dieses fasse
ich nicht als einen Schutz auf, der ängstlich die Sen-
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- 31 —
sibilität der feinen Nervenenden zu hüten und zu bewahren
hat, wie von andrer Seite oft erklärt wurde — wo blieben
sonst Juden, Türken und alle Mohammedaner, die sich trotz
Beschncidung im Gegenteil durch &roße Sinnlichkeit aus-
zeichnen! — sondern ganz entgegengesetzt als uni
absichtliches natürliches Erregungsmittel. Es
ist unvermeidlich, daß bei den mannigfachsten Bewegungen
des Körpers auch diese Hautfalten bewegt werden, und be-
finden sich die Geschlechtsteile in erregungsfähigem (erektions^
ähnlichem) Zustande, so gibt die Natur hiermit die Richtung
an, auf welchem Wege der vorhandene .Trieb einen natu*
gemäßen Verlauf zu nehmen imstande ist. Ich wage noch
weiter zu gehen und glaube, daß auch das typische
Eichelsekret, welches sich gerade an diesen Falten soi
reichlich als Smegma praeputiale bildet, ein Glied in
der Kette der natürlichen Reize bildet, welche das!
Individuum instinktiv auf die Befriedigung des
Geschlechtstriebes hinleitet.
Wir kommen zum letzten Punkte der für den physio,-!
logischen Akt des Orgasmus wichtigsten Momente, zur
Erektion. Dieselbe ist beim Manne ein unabweisliches Er-
fordernis nicht minder für die Kohabitation, sondern auch für
die Erzielung der Äkme bei der Masturbation. In seltenen!
Fällen sind allerdings Ejakulationen und Orgasmus ohne~öder
ohne genügende Erektion bekannt und beschrieben, po daß
also die Kontraktion der Geschlechtsmuskulatur auch ohne
stärkere Blutfülle möglich ist. Diese Fälle scheiden wir als
pathologisch aus. In der Regel 'ist die Erektion nötig, um
die Reibungsreize als spezifisch sexuelle Reize zu empfinden'
und durch ihre Summation den Orgasmus, herbeizuführen.
Auch im weiblichen System scheint die Erektion, die stärkere
Durchblutung der Geschlechtsteile notwendig zu sein. Hier
bezieht sich die Blutfülle nicht allein auf die Klitoris, sondern
auch auf die kleinen Schamlippen, deren Grundgewebe nach
Waldeyer (das Becken) „ein festes an elastischen
Fas er nreichesBindegewebemitglatten Muskel-
fasern aus zahlreichen weiten Venen ist, welche
denselben den Charakter eines erektilen Ge-
webes geben. In der Tat sinddie klei nen Scham-
lippen einer namentlich bei geschlechtlicher
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- 32 -
Erregung auftretenden, erektionsähnlichen
Ttirgescenz fähi g".
Wir verweisen wieder auf unseren Empfindungsstatus in
Fall II, in welchem die Patientin von dem „schwammigen
find ruck" der betreffenden Geschlechtsteile spricht.
Daß die Klitoris tatsächlich sich erigiert und vergrößert,
ist oft bei der gynäkologischen Untersuchung zu beobachte:».
Ihr Volumen steigt auf das Doppelte.
C. H. S t r a t z beschreibt in seinen „Frauen auf J a v a"
einen Hermaphroditen, „dessen Klitoris 2 cm, in erec-
tionc jedoch 4 cm war".
Der Sinn der weiblichen Erektionen, die gegenüber den
männlichen als rein mechanische nicht erklärt werden können,
liegt in ihrer eigenen und sonderbaren Einwirkung auf die
sensiblen Nervenendigungen. Auch beim Manne bewirkt die
zunehmende Durchblutung nicht nur die mechanische Koha-
bitationsfähigkeit und Steif ung, sondern, wie beim Weibe,
werden durch den erhöhten Blutdruck und durch die kräftigere
Umspülung die „W o 1 1 u s t n e r v e n zu einer erhöhten
und spezifischen Erregbarkeit umgestimmt".
„Das heißt erfahrungsgemäß," fährt Kobelt fort,
„Reize, die sonst unbeachtetbleiben, habenjetzt
eine energische und eigenartige Rückwirkung
auf das S e n s o r i u m , von welcher im jungfräu-
lichen Individuum nur eine dunkle Vorahnung
lebte, die sich im Geschlechtsdrange kundgibt.
Ohne äußere Reizeinwirkung geht dieser Zu-
stand geschlechtlicher Aufregung spurlos vor-
über, das geahnte Gefühl blei bt im Dunkel liegen
und entwickelt sich nicht zur deutlichen Em-
pfindung, weil die einfache arterielle Kon-
gestion den ge.f orderten Grad des inneren Blut-
druckes auf den Nerveninhalt nicht herbei-
führen kann und im Interesse des individuellen
und generischen Lebens nicht herbeiführen
durfte."
Das erektile Gewebe erstreckt sich außer auf Klitoris und
kleine Schamlippe auch auf das ganze Genitalrohr. Die schwell-
fähigen Vaginalplexus reichen hoch hinauf bis zu den Fim-
brien. Im weiblichen Körper findet keine so sehr
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- 33 -
nach außen sichtbare, dagegen vielleicht noch reichlichere
Durchblutung des ganzen Inneren in stadio erectionis 1
Statt. Man kann von einer nicht sieht baren veri-
tablen „inneren Erektion" des' .Weibes sprechen.
Außer der Blutfülle mag auch der vermehrte Blut-
druck das Seinige zur Umstimmung der .Wollustnerven bei-
tragen. Nicht allein, daß der Druck an und für sich schon in
den erweiterten Bluträumen ein größerer ist, auch das ver-
mehrte und verstärkte Pochen des Herzens beim sexuellen
Akte zeigt dessen gewaltig gesteigerte Arbeit an, die sicherlich
der Erregbarkeit des ganzen nervösen Sexualapparates zu-
gute kommt. So allgemein bekannt diese Erscheinung ist
und so wenig sie besonders betont zu werden braucht, war
es mir doch in einem
Fall III.
(Eigene Beobachtung)
interessant zu erfahren, daß eine 43jährige Beamtenfrau, die zwei-
mal geboren und niemalsbeiderBegattungauchnurdie
leiseste Andeutung einer angenehmen Empfindung
verspürt hat, stets durch das erschreckende Herzklopfen ihres Mannes
in peinlicher Angst erhalten wurde. Der von mir untersuchte Gatte
hat einen typischen Herzklappenfehler (nach Gelenk-Rheumatismus)
mit deutlichem Geräusche, das natürlich in der sexuellen Erregung
noch gewaltig ziuiahm.
Es scheint mir nicht ausgeschlossen, daß dieses die Frau be-
ängstigende Symptom den genügenden Hemmungsgrund
abgegeben hat, ihr vielleicht von Natur besonders geringes Ge-
schlechtsverlangen und -empfinden ganz zu unterdrücken resp. "über-
haupt nicht aufkommen zu lassen. Der Gatte hatte den Herzfehler
schon mit in die Ehe gebracht.
Es ist nicht ganz unwahrscheinlich, daß an der Erhöhung
des Blutdrucks im sexuellen System die Muskulatur des
Geschlechtsapparates noch direkt beteiligt ist. Es
scheint, als ob mit der beginnenden Erregung und bei den
Friktionen noch vor dem eigentlichen Orgasmus, bevor der
eigentliche Wollustkrampf einsetzt, die diesbezügliche Mus-
kulatur in leichten rhythmischen Zuckungen arbeitet, ledig-
lich zu dem Zwecke, immer neues Blut in die erigierten
Organe hineinzuschleudern und den Blutdruck in denselben
ad maximum zu erhöhen. Die Geschlechtsmuskulatur, die ur-
Adler. Geschlechtsempfindung. 3. Aufl. 3
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- 34 -
sprünglich nur beim Manne die absolute Bedeutung des
sainen schnellenden Apparates hat, undj da diese Wirkung
beim Weibe überflüssig ist, auch in Anlage und Fähigkeit
sich zu kontrahieren bei demselben minderwertig werden
konnte, gewinnt damit auch für das Wetib an er-
neuterWichtigkeit. Die Geschlechtsmuskulatur unter-
stützt durch leichte rhythmische Zusammenziehungen die
Tätigkeit des Herzens, bis der volle Wollustkrampf eintritt.
Die Oeschlechtsmuskulatur wirkt bis zum Or-
gasmus dem Herzen ähnlich durch rhythmische
Kontraktionen in unmittelbarer Nähe des blut-
druckverlangenden Terrains, sie ist ein im Be-
darfsfälle wirkendes, echtes peripher gelegnes
S e >: u a 1 h e r z. (Kobelt.)
Das kurze Fazit unserer anatomisch-physiologischen Be-
trachtungen ist folgendes:
Ar den pheripheren Geschlechtsorganen des Weibes voll-
zieht sich die normale bis zum vollkommenen Orgasmus ent-
wickelte Libido in folgender Stufenleiter : Die Erregung be-
ginnt mit stärkerer Durchblutung des ganzen Geschlechts-
apparates, besonders Kitzler und kleine Schamlippen, wahr-
scheinlich hinauf bis zu den Fimbrien (innere Erektion). Damit
fangen beim geschlechtsreifen Weibe schon die Drüsen an zu
sezernieren und das Terrain zu befeuchten. Auch die Mus-
kulatur (M. Ischio cavernosus, M. Trigoni urogeni-
talis, Constrictor cunni) unterstützen die vermehrte
Tätigkeit des Herzens durch leichtere, rhythmische Kontrak-
tionen. Schließlich tritt im Orgasmus selbst die krampfhafte
Kontraktion derselben Muskeln ein, wobei noch ein vermehrtes
Sekret abgeschieden werden kann. Nach dem Wollustkrampfe
verlieren die Organe ihre strotzende Blutfülle und kehren
langsam zur Norm zurück.
Die Betonung der beiden Hauptmomente, Blutfüllung
(Erektion) und Krampf der Geschlechtsmuskeln,
erscheint mir von ganz besonderer Wichtigkeit, weil die Be-
handlung gewisser Formen pheripherer Anaesthesia sexu-
alis von diesen Punkten aus die Möglichkeit einer Besserung"
und Heilung des Zustandes nicht als aussichtslos erscheinen,
lälit.
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III. Kapitel.
Die Wollüstkurve des Weibes.
Die Schwierigkeit in der Beurteilung der Quantität des Empfindens.
Die Frage von der verschiedenen Genußfähigkeit beider Geschlechter. Die
Unfruchtbarkeit dieser Frage. Historisches: Tiresias, Martinus Schurigius,
Kobelt, Mantegazza, Hippokrates. Fall eines Zwitters mit beiderseitigem
Geschlechtsverkehr ohne Entscheid (Fall' IV). Verwechslung des all-
gemeinen weiblichen Geschlechtsverhaltens mit dem durchschnittlichen
Orgasmus. Nur in extremen, pathologischen Fällen scheint das Weib
eines größeren Furor sexualis fähig zu sein. Männliche Orgasmuskurve.
Charakteristischer spitzer Winkel. Weiblicher Höhepunkt durchschnittlich
später. Übersinnliche und nymphomanische Ausnahmen. Männliche An-
passung. Empfindungsstatus in coitu (Fall II b). Weibliche Orgasmus-
kurve. Charakteristischer stumpfer Winkel. Physiologische Erklärung des
langsameren Abklingens. Vergleich beider Kurven. Die eigene Geschlechts-
sprache des Weibes (Havelok Ellis). Bestätigung des „Abklingens"
durch Urteil einer Ärztin.
Wie die allgemeinen — körperlichen und geistigen Eigen-
schaften des Weibes — in tausenden von Varianten dem Manne
gegenüber ihren spezifischen Charakter besitzen, so hat
nicht nur die allgemeine Geschlechts Sphäre des
»Weibes, sein Geschlechts trieb eine eigene weib-
liche Färbung, sondern auch der Akt des
,Wollustempfindens selbst (Orgasmus) läßt sich
in seinem Ablauf von demjenigen des Mannes
unterscheiden. '
Es ist selbstverständlich schwer, bei dem Worte „Em-
pfindung" eine absolute oder auch nur annähernde Verständi-
gung zu erzielen. Schon auf leichter diskutablen Gebieten
3»
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-36 -
gehen die Ansichten so diametral auseinander, daß man eine
bestimmte Norm nicht festzustellen imstande ist. Um wie-
vielmehr auf den geheimnisvollen Pfaden des weiblichen Ge-
schlechtsempfindens, das so ängstlich behütet und das vor
allem so variabel ist!
Eine Frage, die so alt als die .Welt ist, die bereits
an das erste liebende Menschenpaar herantreten mußte, die
seither wiederholt, besprochen und zu lösen gesucht wurde,
harrt noch immer der Entscheidung — die Frage, ob der
iMann oder das Weib einen höheren Liebes-
genuß empfinden.
Es mag eine reizvolle Unterhaltung sein, über diesen
Punkt die Gedanken; auszutauschen, sie mag einen erfahrenen
und beredten Sprecher zurj interessanten und geistvollen Kon-
versation veranlassen, allein von Hause aus ist die ganze
Fragestellung unfruchtbar und kindlich, nach S e v e d
Ribbing ein „Knaben - Raisonnemen t".
Wir haben schon vorhin andeutungsweise von der Ent-
scheidung des T i r e s i a s im Liebesstreit zwischen Zeus und
Hera gesprochen. Bis an den Olymp ist diese Frage ge-
drungen! Und fast überall, wo sie beantwortet wurde, hat
das weibliche Empfinden den Triumph davongetragen. Welch
sonderbarer Gegensatz zu unseren 40 o/o Unempfindlichen!
Des historischen Interesses wegen} füge ich einige Urteile
über diese wenig wissenschaftliche und fruchtbare Frage bei:
T i r e s i a s entschied für ein neunfach größeres Em-
pfinden des Weibes deshalb, weil es volle neun Monate
die Lasten der Schwangerschaft zu tragen hätte!
D. Martinus Schurigius in, seinen Muliebria
(1729) zitiert Franc. Plazzon. de Port. Gene rat. und
gibt den Frauen einen dreifach höheren Genuß, weil sie
von drei Stellen aus (Scheide, Kitzler, kleine Schamlippen),
erregbar seien :
„In feminis excitatur voluptas primo ex
af f rictatione in rugis transversis cervicis,
deinde intentigine seu extremitate clitoridis,
quae glandi et constitutione; et exquisito sensu
respondet; ad hanc affrictationem etiarn per-
cipiuntnymphae duae sivei alae. Unde colligere
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est, feminas habere triplicem af f rictationem, cum
virtantum unam inglandehabea t."
Auch K o b e 1 1 wagt in seinem mehrfach zitierten Werke
den tiresianischen Ausspruch anatomisch-physiologisch
durch den Nerven reichtum der Kitzlereichel zu begründen.
Selbstverständlich ist hiermit gar nichts bewiesen, da wir be-
reits dieses Organ 1 durchaus nicht als das alleinige und wich-
tigste kennen gelernt haben.) Ferner erscheint es zweifelhaft,
ob die Kitzlereichel bei ihrem allerdings relativ der Eichel
des Penis überlegenen Reichtum an Nervenelementen, auch im
ganzen dieselbe übertrifft. Vergleichen wir die gewaltige;
äußere Masse der männlichen Eichel mit der noch nicht ein.
Zehntel betragenden weiblichen, so wird sich wahrscheinlich
der absolute Nerven reichtum noch zu Gunsten der männ-
lichen entscheiden.
Es ist auch verfehlt, von diesen peripheren Stellen ausi
den Grad der Libido und des Orgasmus, die doch im Sensorium
ihre Zentralstellen besitzen und deren psycho-sexuelles
Zentrum im Gehirn den springenden Punkt in
der ganzen Frage der Geschlechtsempfindung
bildet, bemessen zu wollen.
Eine große Klitoris ist durchaus nicht iden-
tisch mit großem Liebeskönnen, ebensowenig
wie ein verkleinertes Organ mit erotischem
Mangel. Ein Maler kann, die gewaltigsten, gröbsten Hände
besitzen und dennoch die zartesten Bilder malen. Ich erinnere
an den paradox klingenden geistvollen Ausspruch, daß
Raphael ein großer Maler geworden wäre, selbst wenn er
zufällig ohne Arme das Licht der .Welt erblickt hätte.
Der Nervenreichtum der Klitoris läßt nur die Tatsache
einer anderen Organisation, einer anderen Anlage zu.
Ein Rückschluß auf die] erhöhte Wonne ist verfehlt.
Von neueren Autoren hat sich Mantegazza für den
erhöhten Geschlechtsgenuß des Weibes' ausge-
sprochen. Seine Argumente fußen zum Teil auf den an-
geführten peripheren Deduktionen, wenngleich er sich der
physiologischen Erklärung, die in der erhöhten allge-
meinen Sensibilität des Weibes liegen soll, nicht
verschließt.
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- 38 —
Die ganze Frage ist müßig und de facto unbeantwortbar.
Es handelt sich um inkommensurable Gefühle.
(Wenn trotzdem oft die Entscheidung zugunsten des Weibes
fällt, so liegt das wohl an einer Verwechslung. Die Natur
hat im Liebesempfinden des t Weibes eine viel weitere und
größere Differenz geschaffen. Jenen Dekaden von Un-
empfindlichen stehen auf der anderen Seite einige
Überempfindliche gegenüber. Es mag sein, daß die
gewaltigsten Äußerungen der Leidenschaft im
Extrem nur im weiblichen Geschlecht vor-
kommen, daß ein nymphomanischen Geschlechts-
hunger unersättlich und unstillbar sein kann.
Dann aber haben wir! ein pathologisches Bild vor uns und es
mag sein, daß dieses Krankheitsbild am Weibe noch
frenetischer auftreten kann als beim Manne, ein wahrer
furor sexualis, ein richtiger epileptischer Liebes-
krampf.
Die Frage läßt sich durch praktische und theoretische
Konklusionen nicht lösen. Vielleicht würde ein Wißbegieriger
dk Antwort bei den Zwittern suchen. Allein einen Zwitter
im vollkommenen Sinne gibt es nicht, d. h. ein Individuum,
das zu gleicher Zeit ein Weib befruchtet und selbst als Weib
empfangen hätte. Ein Individuum, das Vater und Mutter zu-
gleich ist!
Übergänge gibt es genügend und ich führe der Voll-
ständigkeit halber den von Bruck in der medizinischen Ge-
sellschaft zu Berlin (1898) vorgestellten Hermaphroditen
an, bei welchem einige kurze Angaben über das Geschlechts-
empfinden von Interesse sind.
Fall IV.
Ein Hermaphrodit.
(Brucks Fall. Auch bei Neugebauer: Beob. 1070.)
Derselbe hat ein wohlausgebildetes männliches Geschlechtsglied
5 1 /« cm lang, 6 l / 2 cm im Umfang). Außerdem darunterliegend eine
normal große Vulva. Die Scheide ist 6 cm lang und endigt in
einer rudimentären Gebärmutter. Der ganze Habitus ist mehr der-
jenige eines weiblichen Zwitters. Alter: 33 Jahre.
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- 39 -
Ober den Geschlechtsverkehr wird folgendes angegeben. „Sic"
ist verheiratet und will sogar zweimal abortiert haben (?). Sie übt
jedoch den Coitus in beiderlei Form, d. h. mit Männern
und mit Frauen aus; doch will sie in der letzten Zeit mehr Hin-
neigung zum Coitus mit Frauen gehabt haben, während
ihr andererseits der Verkehr mit einem Manne ein Bedürfnis
— sie sagt bezeichnend: una necessitä — gewesen ist. Sexuelle
Erregung ist jedenfalls bei beiden Formen des
Coitus vorhanden gewesen. —
St- sonderbar dieser Fall auch wegen seiner sexuellen
Zweiseitigkeit ist, so kommt doch auch hier für unsere Frage
keia nennenswertes Ergebnis heraus. Obgleich selbst mehr
dem weibilchen Habitus sich nähernd, hat sie doch eine be-
vorzugte Neigung wiederum zu Frauen, während ab und zu
der Verkehr mit einem; Manne ein Bedürfnis ist. In welchem
Falle nun eine tatsächlich größere Lust, ein tiefer empfundener
Orgasmus stattgefunden hat, ist nicht angegeben und kann
wahrscheinlich nicht angegeben werden.
Auch das große Sammelwerk Neugebauer s*), das nicht
weniger als 1981 Krankengeschichten von Zwittern aufführt,
trinkt nichts Entscheidendes, obgleich unter LXXVII, 2 u. 25
(,, Wechselndes Geschlechtsbewußtsein" und „Beischlaf mit
Männern und mit .Weibern") die Frage zur häufigen Diskussion
steht.
Ich schließe diese der Vollständigkeit halber vorgebrachte,
meiner Meinung nach nichtige und unbeantwortbare Frage
des quantitativen Unterschiedes im männlichen und weib-
lichen Orgasmus mit dem kurzen Hinweis auf Hippo-
krates, der den Frauen den geringeren Geschlechts-
gennß zuspricht. Der alte Meister hat wohl schon an die
vielen „Unempfindlichen" gedacht!
Von diesem Gesichtspunkte ausl löst sich die Frage ganz
anders auf :
Das Geschlechtsbedürfnis ist sicherlich, mit absoluter Ge-
wißheit (wovon noch später) beim weiblichen Geschlecht
in vielen Fällen ein unverhältnismäßig gerin-
*) F. L. v. Neugebauer: „Hermaphroditismus beim
Menschen." Leipzig. Dr. Werner Klinkhardt. 1908.
t
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geres und verschwindet nicht selten bis zur
eisigsten, kalten, totalen Empfindungslosig-
keit Bei starkem, ausgeprägtem Triebe jedoch
erreicht der Orgasmus eine in Quantität und
Qualität dem Manne oftmals überlegene (pathologi-
sche) Höhe. Da das Weib vielgestaltiger, variabler ist, so
liegt auch sein Geschlechtsempfincfen innerhalb der weitesten
Grenzen. Les extremes se touchent. —
«Wir kehren nach dieser Abschwenkung zu dem nor-
malen, durchschnittlichen Geschlechtsempf in^
den des Weibes im' Orgasmus zurück und wollen ver-
suchen, dem Ablauf seiner! Empfindung eine bestimmte Form
und Gestalt zu geben. Es kann sich hierbei nur um die Be-
antwortung folgender Fragen handeln :
1. Verläuft die Wollustempfindung des
Weibes gewöhnlich in derselben Zeit
wie diejenige des Mannes?
2. Sind die zeitlichen Abschnitte (auf-
steigend und absteigender Ast der
Kurven) bei beiden Geschlechte rn 1 ver-
schieden ?
Wir werden hier einigen bemerkenswerten Abweichungen
begegnen.
Das männliche Empfinden spielt sich kurz folgender-
maßen ab:
Nachdem Erregung und Erektion eingetreten sind, wird
durch gleichmäßig fortgesetzte rhythmische Bewegungen ein
gleichmäßiger Wollustkitzel hervorgerufen; und erhalten. Der-
selbe kann bisweilen durch verstärkte Rhythmik um ein Ge-
ringes erhöht werden, im allgemeinen aber ist es ein gleich-
mäßige! Kitzel, der das männliche Individuum in einer an-
nähernden gleichwertigen Spannung erhält, die nur auf den
Moment des höchsten Wollustgefühles, den Orgasmus,
wartet. Der Eintritt des höchsten Momentes tritt
fasturplötzlich in lawinenartige rAnschwellung
ein. Es dauert nur wenige Augenblicke und ist
unmittelbar darnach ebenso plötzlich ver-
schwunden, ohne längere oder kürzere Zeit auch
nur eine Spur von Wollustkitzel zurückzulassen.
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- 41 —
In folgender Kurve läßt sich dieser Ablauf graphisch ver-
anschaulichen :
Höhepunkt des
Orgasmus
Kurve des Geschlechtsempfindens beim Manne.
Das Charakteristische an der männlichen Kurve ist der
zuerst verhältnismäßig geradlinige Verlauf, dann die
plötzliche Erhebung und der plötzliche Abfall.
Dadurch entsteht — der Höhepunkt der Empfindung als mathe-
mathischer Scheitelpunkt gedacht — ein spitzer .Winkel.
Nicht unerheblich weicht hiervon das weib-
liche Wollustgefühl ab. Im allgemeinen kann man
sagen, daß der Höhepunkt des weiblichen Wollustkitzels:
durchschnittlich etwas später einsetzt, als derjenige
des Mannes. Wohlverstanden durchschnittlich!
Es gibt sicherlich hier auch umgekehrte Verhältnisse und 1
es ist hinreichend bekannt, daß Frauen in uno actu des Mannes
zwei und mehrere Male den Höhepunkt erreichen. Entweder
haben wir es dann mit schwächeren, älteren, abgelebten]
Männern zu tun, oder mit übersinnlichen Frauen, die auch
sonst bei der geringsten Aufregung erotisch reagieren und in
das Gebiet der pathologischen Nymphomanie hin-
überspielen.
ImDurchschnitt setzt der weibliche Höhepunkt etwas
später als der männliche ein und hierin liegt bereits
ein greifbarer, leicht verständlicher Grund der
mangelhaften, weiblichen Geschlechtsempf in-
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- 42 -
dung. Wird dieser Punkt in der Ehe nicht be-
rücksichtigt, denkt der Mann nur rücksichtslos
an seine eigene Befriedigung, so kommt die
Gattin überhaupt nicht zur Erkenntnis ihres
Mankos, wenn sie! als absolut unschuldiges Mädchen in, die
Ehe getreten ist, oder aber sie fühlt die Entstehung
eines ihr bekannten Gefühles (wenn sie früher masturbiert
hatte) und vollendet demgemäß post actum erst manuell den
rückständig gebliebenen Genuß.
Wir werden später ausführlicher diese Verhältnisse be-
sprechen und bemerken gleich hier, daß für diesen Ausgleich
eine allmähliche „Anpassung" möglich ist, da der Mann
in gewissem Sinne idie Fähigkeit besitzt, den Eintritt des Höhe-
punktes seiner Empfindung, den Orgasmus, nach Belieben
in allerdings beschränkter Grenze entweder zu be-
schleunige n , noch mehr aber hinauszuschieben und
zu verlängern.
Wir wollen gleich) hier den Empfindungsstatus in c o i t u
bei derselben Patientin, von welcher wir bereits den Em-
pfindungsstatus bei der Masturbation als Fall II (a)
früher angeführt haben, einfügen. Wir geben denselben mit
allen Einzelheiten wieder und fühlen uns nicht veranlaßt, einige
bedenkliche Sonderbarkeiten, die den Anschein haben könnten,
als ob sie nicht zur Sache gehörten, einzuschränken oder
ganz fortzulassen. Diese scheinbar laseiven Nebenumstände
sind vielleicht an dieser Stelle, wo wir die weibliche Geschlechts-
kurve festzustellen und an dem Status zu beweisen suchen,
bedeutungslos und überflüssig, sind jedoch von erheb-
licher Wichtigkeit zur wahren Beurteilung be-
stimmter Formen mangelhafter Geschlechts-
empfindung. Da diese später im ganzen behandelt
werden, ist der vorliegende Status bereits in toto an dieser
Stelle wiedergegeben worden, um einer Zersplitterung des
einheitlichen Bildes vorzubeugen. Es wird also gerade auf
idiese im Augenblick minderwertigen Punkte bei späterer Ge-
legenheit eingehend zurückgegriffen werden müssen, ebenso
wie wir hier auf unseren Masturbationsstatus von früher
Fall II(a) zurückzugreifen haben.
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Fall II <b>.
(Eigene Beobachtung).
Empfindungsstatus in coltu
(30jährige Patientin).
Patientin stammt aus gesunder Familie, hat gesunde Elfern und
•gesunde Geschwister. Außer Kinderkrankheiten keine nennenswerten
Gesundheitsstörungen dagewesen.
Als Mädchen von 6—7 Jahren entsinnt sie sich dunkel des
Versuchs eines anderen ca. 15 jährigen Mädchens, die Genitalien zu
befassen. Hiervon existiert nur eine ganz schwache Erinnerung.
Gefühle geschlechtlicher Art datieren aus jener Zeit nicht.
Erziehung ziemlich streng. Leistungen in der Schule gut. In
der Klasse war sie meist die Jüngste. An unzüchtigen Unter-
haltungen nie eine Teilnahme, zog sich stets davon zurück.
Erste Periode mit 16V» Jahren. Ziemlich schmerzlos. Unregel-
mäßig bis zum 18. Jahre. Seitdem jeden 21sten Tag ca. 8 — 9 Tage
lang mit Kopfschmerzen. Vom ca. 20.— 21. Jahre an wurden die
Pausen etwas größer (vielleicht alle 24 Tage). Dabei Leibkrämpfe,
besonders in den ersten beiden Tagen. Vom 25. Jahre an stärkere
Blutungen, bisweilen alle 14 Tage bis zu lOtägiger Dauer. Auch
Untei Icibsschmcrzen in den freien Zeiten (M i 1 1 e 1 s c h m e r z). Des-
halb mit 26 Jahren Auskratzung der Gebärmutter. Danach die
Periode regelmäßig jeden 26. Tag, 8 Tage lang anhaltend; große
Kopfschmerzen und leichte Leibschmerzen. In den letzten Jahren
schwankten die Pausen zwischen 21 und 26 Tagen. Patientin £ibt
an, ohne Geschlechtsverkehr die 21 tägigen, zur Zeit
des Geschlechtsverkehrs 26tägige Pausen zu
haben. —
Bis zu ihrem 18. Jahre hatte sie keine Spur einer sinnlichen/
Empfindung. Dann Bekanntschaft mit einem blassen, 25jährigen
Mädchen, welches masturbiertc und Anleitung dazu gab. Der erste
Versuch war direkt unangenehm und schmerzhaft. Bei späteren
Versuchen waren die Spielereien nicht mehr unangenehm und ge-
wannen an Reiz durch das Geheimnisvolle und durch die Erwartung
des geschilderten und versprochenen Empfindens, ohne daß selbst
noch direkt angenehme Erregungen ausgelöst worden wären.
Vom 18. — 22. Jahre Versuche mit großen Unterbrechungen, die
nur zu leichten angenehmen Empfindungen in den Geschlechtsteilen
führten.
Vom 22.-25. Jahre regelmäßige Wiederholung, etwa alle 14 Tage,
hauptsächlich vor den Menses.
Vom 25. Jahre ab wegen schmerzhafter Periode gänzlich unter-
lassen bis zur Operation. Also 1 Jahr volle Pause.
6 Wochen nach der Operation erster Coitus (26 l / 2 Jahre).
Normaler Geschlechtsverkehr war ihr ärztlich geraten worden.
Dabei absolut kein Genuß, eher Schmerzhaftigkeit, wenngleich kein
Widerwille und keine Abneigung, da Sympathie für den Mann vor-
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- 44 -
banden. Die folgenden Coitus waren wie die ersten empfindungs-
1 o s, wenngleich nicht mehr schmerzhaft und vielleicht auch von
einer geringen sympathischen Erregung begleitet, die zum Teil dem
Gefühl entsprang, daß der Geliebte selbst in Erregung war und
seinen Genuß erwartete.
Nach wiederholten nicht zu langen Versuchen (ca. nach 14 Tagen)
wurde gewissermaßen durch Zufall die erste wirkliche Wollust-
empfindung wahrgenommen, wie sie später sich wiederholt beim
Coitus einstellte und später auch bei manuellen eigenen Versuchen
sich zeigte, bei letzteren allerdings in etwas veränderter Weise,
jedoch mit den früheren nicht vollkommen gelungenen Mastur-
bationsversuchen verglichen bedeutend erhöht.
Die gewissermaßen zufällige Entstehung des ersten wirklichen
Wollustgefühles geschah gelegentlich einer wohl mehr aus Tändelei
unternommenen positio jnversa (maritus infra, femina supra), an
welche sich ein conamen coitus in positione inversa anschloß. In
hac positione femina pedem dextrum habebat extra lectum \n
solo stantem, pedem sinistrum posito genu i n t r a lectum. Dabei
introduetio membri virilis, wobei sie sofort von einer den ganzen
Körper durchschauernden bisher nicht gekannten und empfundenen
Erregung befallen wurde. Zugleich war gewissermaßen in der
Scheide das Gefühl, als ob das Glied in der Tiefe, die vorfiel«
kaum jemals von demselben erreicht worden war, eine besonders
empfindliche, wollüstige Stelle getroffen hätte. Es schlössen
sich diesem Erregungszustande, der auch von dem maritus sofort
als ein besonderer an der* PaYtnerin bemerkt wurde, Coitus-
bewegungen an, die hauptsächlich vom weiblichen Teile selbst aus-
geführt wurden, während maritus ziemlich passiv sich verhielt, ge-
wissermaßen um seine eigene Erregung hintenanzuhalten und der
besonders disponierten Partnerin die Möglichkeit der ersten, wirk-
lichen Wollusterregung zu verschaffen. Diese trat auch sofort nach
ganz wenigen Coitusbewegungen in nie gekannter, überraschendster»
genußreichster Weise ein. Es war ein allgemein wollüstiger Schauer»
der den ganzen Körper durchzitterte und ihn zu allgemeinen auf-
geregten wiederholten Zuckungen veranlaßte, die den weiblichen
Oberkörper mehrmals fast krampfhaft rückwärts schnellten. Seine
Dauer war ziemlich lange, so daß nicht nur der männliche Teil
währenddessen poch durch eigene Bewegungen zur Ejakulation ge-
langte, sondern auch post amotionem membri der wollüstige
Schauer, wenn auch langsam abklingend und sieb
vermindernd, fortbestand und den eigentlichen
Höhepunkt des Aktes überdauerte. — Danach trat
b.tld Schlaf ein. — Nunmehr fand jedesmal beim Coitus die
geschilderte Wollustempfindung statt, wenn entweder die beschriebene
Position innegehalten oder der normale Coitus mit erhöhter Becken-
lagc (Kissen) vollzogen wurde. Meistens mußte maritus etwas
zurückhalten, da der weibliche Höhepunkt in der Regel
etwas später einsetzte. In seltenen Fällen fand die Er-
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regung des Mannes eher und demgemäß der weibliche
Orgasmus überhaupt nicht statt.
Die Wollustempfindungen waren, wenn auch je nach Zeit und
Umständen vielleicht an Intensität etwas stärker oder geringer, jedoch
immei in vollkommen befriedigender Weise vorhanden. In der
ca. I 1 .jährigen Zeit des intimen Verkehrs kamen Masturbations-
versuche nicht vor.
Die Ejakulation des Mannes ist in der Zeit des vollkommenen
Geschlechtsverkehrs von der Patientin in vagina als ein leichter
Druck empfunden worden. Zugleich stellte sich auch ein eigener
Erguß ein, der die äußeren Scheidenteile entschieden mehr be-
feuchtete. Beim Abklingen der Empfindung war die retentio membri
ein gefühlerhöhendes Mittel. Die sofortige Entfernung
auf der Höhe des Orgasmus war für den weiblichen
Teil eine Verminderung des Empfindens.
Nach ca. 1 Jahre verheiratete sich Patientin mit. einem anderen
Manne. In der Zwischenzeit kamen einige Masturbationsversuche
vor, hauptsächlich zur Zeit der Periode, die zwar die früheren (in
Fall IIa geschilderten) qualitativ übertrafen, jedoch nicht den ab-
soluten Höhepunkt des geschlechtlichen Verkehrs erreichten, wohl
hauptsächlich auch aus dem mechanischen Grunde, daß der digitus
introduetus nicht bis an die wirklich empfindliche innere Stelle
dringen konnte. Ein Erguß wurde erreicht. Die Vorstellungen
dabei bewegten sich stets in der Erinnerung an den verflossenen
Geschlechtsverkehr.
Während der kurzen Ehe, die zwar nicht aus tiefer Neigung
und Liebe, jedoch auch nicht aus rein äußeren Gründen geschlossen
worden war, war der, wenigstens gegenüber dem früheren, ziemlich
häufig ausgeübte Geschlechtsverkehr durchaus veränderter
Natur. Patientin hat in dieser Zeit kaum 2—3 m a 1
volle Wollustcmpfindung gehabt und diese auch nur
bei dem Gedanken an eine frühere, ideale Jugendliebe, nicht etwa
an den verflossenen Geschlechtsverkehr, weil sie diesen Gedanken
als etwas Störendes mit Willen aus ihrer Ehe auszuschalten suchte.
Zugleich war Patientin bei diesen wenigen Malen vorher durch
Geselligkeit und Getränke besonders disponiert.
Sie führt das Ausbleiben der wesentlichen, früher doch gekannten
und empfundenen höchsten Wollusterregung auf ihren Ehegatten
zurück, der rücksichtslos nur an die' eigene brutale
Befriedigung dachte und meistens auch sehr
schnell ejakulierte. . Zugleich machte derselbe seiner Frau
sehr bald die sonderbarsten Anträge (Cunnilingus, Coitus a posteriore
etc.), die als ekelhaft zurückgewiesen wurden. Da der Mann sich
als in jeder Beziehung unmoralisch und zugleich energielos und er-
werbsunfähig erwies, fand die Lösung der Ehe nach kurzer Zeit
statt.
Do der Coitus dieser Ehe, wie Patientin schildert, ihr fast nie
einen Genuß gebracht hatte, fing sie noch in der Ehe von neuem
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an, die Masturbation wieder aufzunehmen und ward besonders durch
du- dem Coitus sofort folgende warme Ausspülung dazu angeregt.
Meist erreichte sie auch hierbei nur das (in Fall Ha) geschilderte
Stadium I.
Dem Manne gegenüber hat sie wiederholt Wollustcrregung
geheuchelt, weil er danach fragte und mit dem Zugeständnis der-
selben die Frau ihrem Manne eine Genugtuung zu gewähren dachte.
Der vorstehende Empfindungsstatus ist in seiner breiten
Ausführlichkeit aus den bereits vorgebrachten Gründen
wiedergegeben worden. Für die spätere psychologische
Analyse der mangelhaften Geschlechtsempfindung wird er eine
Reih«; interessanter Momente entwickeln, den Zustand von
wichtigen und häufigen Gesichtspunkten zu erklären. An dieser
Stelle interessiert uns nur das Typische des normalen
Empfindens, soweit es für die Charakteristik der von uns
zu beschreibenden Eigenart des weiblichen Wollustempfindens
in Betracht kommt, lediglich als Abweichung von der typischen
Normalkurve des Mannes.
Bei v. K rafft- Ebing in seiner Abhandlung: „Über
das Zustandekommen der Wollustempfindung
unt'derenMange] (Anaphrodisie) beimsexuellen
Akt" (International. Zentralblatt für die Physio-
logie u r d Pathologie der Harn- und Sexual-
organe Bd II. 90/91 pag. 103) lesen wir:
„Den befriedigenden Abschluß des ge-
schlechtlichen Aktes stellt ein auf der Höhe des
Orgasmus eintretendes Wollustgefühl dar.
Beim Manne beginnt es mit dem erfolgenden
Eintritt von Sperma aus den Samenblasen und
den Ductus ejaculatorii in die pars membranacea
uretii rae (vergl. das Irrtümliche dieser Ansicht in Kapitel II).
Es schwillt dann lawinenartig an underreicht im Mo-
mente der Ejakulation seine Höhe, um dann rasch
zu verschwinden.
Beim Weibe tritt es langsamer auf und verliert sich auch
langsamer als beim Manne."
Die Schilderung des männlichen Empfindens ent-
spricht durchaus unserer männlichen graphischen Kurve. Das
lawinenartige Ansteigen, das rasche Ab-
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schwellen gibt sich in der linearen Darstellung als
spitzer Winkel wieder.
Dagegen hat die weibliche Geschlechtskurve einen
stumpfen Winkel. *
Höhepunkt des
Orgasmus
Kurve des Geschlechtsempfindens beim Weibe.
De- stumpfe Winkel bildet sich einmal durch das etwas
langsamere Ansteigen, vor allem aber durch das höchst
charakteristische, ganz allmähliche und lang-
same Abklingen. Von letztem ist unserem Empfindungs-
status (Fall IIb) in nicht mißzuverstehender, stets wieder-
kehrender Weise die Rede. Ich habe in vielen anderen Fällen
eine gleichmäßige Bestätigung von den Frauen erhalten, so
daß an diesem spezifischen Unterschiede nicht zu
zweifeln ist.
Der physiologische Sinn dieses langsamen und all-
mählichen Nachlasses könnte sehr wohl in einer Art peri-
stal tischen Nachkrampfes liegen, der seine Be-
wegungsrichtung von den äußeren Schamteilen das Scheiden-
rohr entlang nach der Gebärmutter zu nimmt; gewissermaßen
um das männliche Ejaculat festzuhalten oder
langsam gegen den Muttermund zu drücken. Man
hat auch im Orgasmus vom Krampf der Tuben und Fimbrien
gesprochen, selbstverständlich in umgekehrter Richtung mit
dem Gedanken, daß dieser Krampf das reife Ei dem Uterus
als Ort seiner Befruchtung näher bringen wolle.
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Alle diese Annahmen stehen auf schwankem, hypotheti-
schem Boden. Die Kenntnis des tatsächlichen Befruchtungs-
vorganges — das Eindringen des männlichen Spermatozoen
in das weibliche Ei erfolgt bekanntlich meist viele Stunden,
ja vielleicht Tage nach dem befruchtenden Coitus — wider-
spricht auch diesen so bescheidenen und notdürftigen Mitteln
Ides Organismus. Daß jedoch ein Muskelspiel der Scheide
tias Sperma überhaupt in derselben zurückzuhalten versucht
Oder noch durch nachträglichen Druck, nachdem die Scheide
vom Gliede befreit ist, in die als Receptacula passenden
Scheidengewölbe zu pressen sich bestrebt, scheint leicht ver-
ständlich, zumal wir tatsächlich die praktische Erfahrung haben,
daß manche Fälle weiblicher Unfruchtbarkeit
auf diesem allzuleichten Abfließen des Samens
beruhen und bei dementsprechender Behand-
lung zum ersehnten Kindersegen führen.
M. Vaerting (siehe das folgende Kapitel I V : W o 1 1 u s t -
ge fühl und Befruchtung) hält ebenfalls diese Differenz
der Kurven für keinen Zufall. Er betrachtet den verlängerten
(stumpfwinkligen) Orgasmus für ein unterstützendes Mittel
zur Befruchtung. Durch ihn wird nicht allein eine passive
Kraft des Zurückhaltend geleistet, sondern vor allem auch ein
aktives Vorwärtspressen. Auch die Chemie des Orgasmus
soll mit dem Cervicalschleim die „Schwächung" der Sperma-
tozoen aufhalten. Alles in allem ist nach V. der nach-
klingende weibliche- Zustand eine wohlberech-
nete eugenische Einrichtung der Natur.
Das zweite wichtige Unterscheidungsmoment bezieht sich
auf den Zeitpunkt des weiblichen Orgasmus. Derselbe
tritt bei normaler Veranlagung durchschnittlich später
ein als beim Manne. DerHöhepunkt der weiblichen
Erregung erfolgt meist nach demjenigen des
M a n n e s.
Unser Status (Fall II b) kennzeichnet das mit hinreichender
•Deutlichkeit. Im Verkehr mit beiden Männern war die gleiche
Erscheinung, wenngleich für sie selbst von leider allzuver-
schiedenem Ergebnis! Beide Männer pflegten eher zu ejaku-
lieren. Allein der erste hatte die Form der retardierenden
„Anpassung" gefunden, während der zweite egoistischer
Idachte Der natürliche Erfolg war in dem einen Falle vollste
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ßef riedigung, im anderen ihr Ausbleiben — ein typiscnes
Beispiel mangelhafter Geschlechtsempfindung.
Wenn wir also noch einmal beide Kurven untereinander-
setzen und vergleichen, so erscheint derweiblicheWinkel,
Höhepunkt des
Orgasmus
Männliche Kurve
Höhepunkt de«
Orgasmus
Weibliche Kurve
dieser Kurve am Höhepunkt des Empfindens weitgeöffnet,
stumpf. Außerdem, in der Voraussetzung, daß beide Kurven
zu gleicher Zeit beginnen und einen gleichen Zeit-
abs ch n i 1 1 darstellen, ist der Orgasmus selbst bei der graphi-
schen Darstellung des weiblichen Empfindens zeitlich
etwas spät er.
Es ist begreiflicherweise mühsam, diese kleinen Variationen
und Details den Frauen konsultativ abzuringen.
Adler. Geschlechtsempfindung. 3. Aufl. 4
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„Bei Untersuchungen über diesen Gegen-
stand 4 ', sagt J. M. Duncan (Sterilität der Frauen)
— Deutsch von S. Hahn 1884) — „begegnet man
großen Schwierigkeiten, wie das bei der deli-
katen Natur der Sache ja erklärlich ist. Die
Schwierigkeitliegtdarin,daßmanderPatientin
verständlich macht, um was es sich eigentlich
handelt und ferner in der Unmöglichkeit, Worte
von nicht mißzuverstehender Bedeutung, d. h.
solche, die in dem Munde verschiedener Per-
sonen dasselbe sagen, zu finden."
H a v e 1 o k E 1 1 i s *) hat als einen besonderen Differenz-
punkt der beiden Geschlechter auch die Verschiedenheit
der Ausdrucksweise hervorgehoben. Das Weib hat,
ebenso <wie der Mann, in vielen Dingen {eine eigeneSprache
und gerade auf dem es so eigens angehenden Gebiete des
geschlechtlichen Lebens, das so mächtig in sein ganzes Denken,
Fühlen, in seine ganze Existenz eingreift, hat seine Sprache,
eine spezifische Form angenommen, die durch das spezifisch
weibliche Empfinden nicht minder beeinflußt ist als durch das
ihm innewohnende Schamgefühl, eine Sprache, die nur Frauen
untereinander ganz verstehen und nur ganz sprechen können.
Es ist deshalb interessant, aus dem Munde der weib-
lichen Ärztin selbst ein Urteil zu entnehmen und ihrer
Gefühlswelt zu folgen. Auch hier stellt sich heraus, daß unsere
grobe Darstellung der weiblichen Kurve ihre Richtigkeit besitzt
Frau Dr. Fischel-Dückelmann spricht von 3 Peri-
oden des weiblichen Geschlechtsempfindens:
Periode I = anwachsender, vorbereiten-
der Erregungszustand.
Periode II = Erguß (Aufnahm edesSperma),
= Höhepunkt der Empfindung.
Periode III — Abklingen der Erregung.
„Das Abklingen der Erregung", schließt sie, „in
den weiblichen Organen hängt mit einem Nach-
lassen der Spannung in den gefüllten Gefäßen,
daher mit einem langsamen Abklingen der pul-
sierenden Bewegungen und der ebenso langsam
•) Mann und Weib. Leipzig.
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abnehmenden, stoßweise erfolgenden elektri-
schen Entladungen zusammen. Die dabei em-
pfundene, tiefe Befriedigung und Sättigung ist
sowohl von dem eigenen Gesundheitszustand
des Weibes, also Lage und Gestalt des Uterus,
Intaktheit seiner ihn auskleidenden Schleim-
haut und gesundes Nervensystem, wie von dem,
twas der Mann ihr an Liebeskraft, Wärme und
Elektrizität zu geben imstande ist, abhängig."
Ohne auf die hierin angegebenen anatomischen und physi-
kalischen Erklärungen, welche sogar die Elektrizität zu Hilfe
nehmen, einzugehen, verschließen wir uns vor diesen noch
unentwirrbaren Mysterien der intimen Vita sexualis und kon-
statieren nur das 1 auch medizinisch weibliche rseits festgestellte
„langsame Abklingen" als eine besondere Etappe des
weiblichen Empfindungsstatus, die als „t i e f e B e f r i e d i g u n g
und Sättigung" normalerweise vom Weibe empfunden
wird. Der alte Satz : Omneanimalpostcoitumtriste
— trägt wohl nur eine bedingte Wahrheit in sich! Ver-
mutlich ist diese Weisheit ebenso von einem männlichen
Individuum • ausgesprochen, wie für das weibliche Ge-
schlecht gedacht und empfunden worden. Im Gegenteil! Die
Frauen sind durch diese „Traurigkeit" des Mannes post actum
vielfach verletzt. Die Abgeschlagenheit und Erschöpfung ist
ihnen selbst nicht so eigen und sie finden das oftmals aller-
dings allzu schnelle Ruhebedürfnis des Mannes als eine persön-
liche Vernachlässigung, als eine Nichtachtung ihrer Person und
ihrer weiblichen Reize..
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IV. Kapitel.
Wollustgefühl und Befruchtung.
Der Wert der Koincidenz männlicher und weiblicher Wollust für
die Befruchtung. Alltägliche Gegenerfahrung. Maria Theresia. Mechani-
sche Erklärungen. Fall V (Eigene Beobachtung). Männliche "Ungeschick-
lichkeit. Notzucht. Künstliche Befruchtung (Marion Sims). Fall VI
(künstliche Befruchtung beim Menschen. — Debrunner). Fehldiagnosen
und Fehlbehandlung. Befruchtung in Narkose (S. G. Thomas). Besteht
ein relativer Zusammenhang zwischen mangelhafter Empfindung und Un-
fruchtbarkeit? Notwendige Gesichtspunkte für diese noch fehlende statisti-
sche Arbeit. Duncan vertritt den Einfluß der sexuellen Anästhesie auf die
Sterilität. Die Lücken seiner Statistik und seine eigenen Bedenken. Definition
seiner Terminologie. Duncansche Tabelle des Geschlechtstriebes und dos
geschlechtlichen Genusses bei unfruchtbaren Frauen. Zahlenschlüsse. Die
Empfindungslosigkeit steriler Frauen ist nicht größer als die durchschnitt-
liche (entgegen Duncan). Physiologische Bedeutung der Wollust nach
Kisch, besonders des Cervicalschleimes. Seeligmanns Fall. Sutkowskys
Theorie der Geschlechtsbestimmung auf Grund des früheren oder späteren
Orgasmus. Ablehnung seiner Schlüsse durch die Tatsache der mangelhaften
Geschlechtsempfindung. M. Vaerting's Theorie der orgastischen Eugenik.
— Vermindertes Wollustgefühl nach Empfängnis. Tarnier und Chantreuil.
Fall Vll (eigene Beobachtung).
Ein eingewurzelter Glaube hält besonders bei den Frauen
an der Tafsache fest, daß eine Befruchtung nur statt-
findet, wenn der Höhepunkt des Wollustgefühles
bei Mann und Frau in demselben Augenblick
stattfindet.
Ein anderer Glaube ist um ein weniges toleranter und
Verlangt überhaupt nur den tatsächlichen Eintritt des wirk-
lichen Orgasmus, gleichviel ob vor oder nach der be-
fruchtenden Ejakulation des Mannes.
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Diejenigen Frauen, die ohne ein empfundenes Wollust-
gefühl an die Möglichkeit einer Schwangerschaft glauben, sind
dünn gesät, es sei denn, daß sie bereits durch vorangegangene
Mißerfahrungen endlich im Wiederholungsfalle ihren festen,
unerschütterlichen Frauenglauben abgeschworen und ver-
loren haben.
Jedem Arzte, der in der allgemeinen Praxis steht, sind
solche Schwangerschafts-Diagnosen als typische, gleichmäßig
wiederkehrende Paradigmafälle wohlbekannte Erscheinungen.
Die Patientin kommt mit der Angabe, „daß ihr Un-
wohlsein ausgeblieben sei". Hat die Untersuchung
Schwangerschaft ergeben, so begegnet man dem höchsten Er-
staunen, „weil es, nicht möglich, weil es so gut wie
ausgeschlossen se i". Diese weibliche Antwort bedeutet
fast immer, wenn man auf ihren wahren Sinn einzugehen sich
bemuht, das Eingeständnis, daß die nun werdende Mutter in
actu selbst „nichts gefühlt", d. h. keinen Orgasmus ge-
habt habe.
Dieser Glaube beherrscht nicht nur diejenigen, bei denen
der Wunsch der Vater des Gedankens ist, jene Unverheirateten,
die nun in gequälter Angst ihrem von der Welt geächteten
Mutterschicksal entgegensehen, sondern auch die verheirateten
Frauen, die bereits geboren und „empfunden" haben und
die jetzt mit hinreichendem Kindersegen bedacht, absicht-
lich ein Gefühl zurückgehalten haben, um den
Kreis ihrer Nachkommen nicht noch weiter zu vergrößern.
Aus der Summe dieser alltäglichen Erfahrungen geht be-
reits die Nichtigkeit solchen Frauenglaubens klar und deutlich
hervor. *
Es steht mit absoluter Sicherheit fest, daß ohne jedes
weibliche Empfinden beim geschlechtlichen
Akte die Befruchtung stattfinden kann und tat-
sächlich in zahlreichen Fällen stattfindet. Aber
hiermit wäre immerhin noch nicht ausgeschlossen, daß unter
Umständen das Vorhandensein weiblicher Wollust
die Befruchtungsfähigkeit erhöhen, daß mit dem
Erwachen des weiblichen Empfindens Unfruchtbarkeit beseitigt
werden könnte.
Das oft angeführte Beispiel der Kaiserin Maria
Theresia mag auch hier seinen Platz finden.
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Die Kaiserin war bekanntlich in den ersten Jahren ihrer
Ehe kinderlos. Die Gynäkologie, welcher damals in der ma-
nuellen Untersuchung noch enge Grenzen gezogen waren,
beschränkte sich, wenn angängig, einfacher äußerer Ratschläge.
Der Kaiserin Leibarzt, van Swieten, gab jenen berühmten
klassischen Rat: „Censeo, Vulvam Sacra tissiinae
Majestatisantecoitumdiutiusessetitillanda m."
Der spätere reiche Kindersegen der Kaiserin ist bekannt:
So historisch und hochstehend allerdings dieses Beispiel sein
mag, so gewährt es doch nur einen dürftigen Einblick in
Idiese kaiserliche Vita sexualis intima. Wer weiß, ob hier
Inicht rein mechanische Hindernisse vorgelegen haben, die erst
den angeratenen Manipulationen wichen, die vielleicht dann erst
eine wirkliche Kohabitation zuließen und damit nach allen
fehlgeschlagenen falschen und schmerzlichen Versuchen zu-
gleich „Gefühl" erweckten. Mechanische Erleichterung,
Gefühl und Befruchtung waren koordinierende Zustände!
Derartige Fälle von Unfruchtbarkeit, Empfindungsmangel
lund — männlicher Ungeschicklichkeit sind in der ärztlichen
Praxis durchaus nichts seltenes. Ich werde auf einen hierher
gehörigen Fall totaler Anaesthesie in dem entsprechenden
Kapitel zurückkommen. Ein anderer mag an dieser Stelle als
eheliches Kuriosum männlicher Un Verdorbenheit an-
geführt werden.
Fall V.
(Eigene Beobachtung).
Ein junges Ehepaar (ausländischer Offizier) ist seit 10 Tagen
verheiratet und befindet sich auf # der Hochzeitsreise. Der Mann
ist erst 22 Jahre alt, die Frau 25 Jahre.
Ärztliche Hilfe wird wegen großer Aufgeregtheit der Gattin,
wegen Beängstigungen, Herzklopfen und Schlaflosigkeit verlangt.
Der äußere Eindruck der im Bett liegenden, ängstlichen, zittern-
den jungen Frau deutet auf einen rein nervösen Zustand hin. Fieber
und Unterleibsschmerzen bestehen nicht.
Die Vermutung liegt nahe, daß die jungen Ehefreuden vielleicht
allzuviel genossen sind und eine Schmerzhaftigkeit und Reizung
des Scheideneinganges und eine damit Hand in Hand gehende
Exaltation der Nerven stattgefunden hat.
In Anbetracht der Jugendlichkeit des Paares wird die sexuelle
Frage in schonendster Weise vorläufig nur mit dem Manne allein
berührt. Auf die Frage, ob er die jungen Ehemannsfreuden viel-
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leicht etwas allzu stürmisch und allzu häufig genossen hätte, ent-
gegnet er mit Entrüstung:
„Wodenken Sie hin, Herr Doktor! Ich habe aus
Liebe, aus Neigung, aus Freundschaft geheiratet!
An das andere denke ich nicht im Entferntesten!"
„Sie haben also noch gar keinen Verkehr mit
Ihrer Gattin gehabt?"
„Nein! Und denke auch nicht daran!"
Diese seltene, naive und nie erlebte Unschuld eines jungen Ehe-
mannes ward einigermaßen durch das weitere Geständnis erklärt,
daß er überhaupt noch nie eine Frau berührt hätte!
Als ich ihm seine Pflichten klar zu machen suchte, konnte ich
ihn nur dadurch wirklich überzeugen, daß ich ihm die Frage vor-
legte, auf welchem Wege er sich wohl die Entstehung der Nach-
kommenschaft vorstelle! —
Die junge Frau gestand mir darauf, daß sie seit 10 Tagen und
Nächten in peinlichster Erwartung daliege, die ihre Nerven in diese
Aufregung versetzt hätte.
In Anbetracht der jugendlichen Unerfahrenheit des Gatten gab
ich auch der Frau die nötigen Anweisungen und Erklärungen,
damit nach dieser aufreibenden Karenzzeit wenigstens der definitive
Anfang um so leichter gemacht würde.
Die Berichte der nächsten Tage waren höchst günstig. Die
Patientin verließ selbstverständlich sofort das Bett. Man sah jetzt
ein gesundes, glückseliges Paar! »
Aus einer überseeischen Kolonie, wohin der Dienst den Gatten
bald darauf verschickt hatte, kam nach genau abgelaufener Zeit die
freudige Geburtsanzeige von — Zwillingen!
Die etwas kuriose Krankengeschichte steht vielleicht nur
in losem Zusammenhange zu unseren Fragen. Ich bin nicht
einmal über das Geschlechtsempfinden dieser Frau orientiert,
da begreiflicherweise in der kurzen Zeit Fragen diesbezüg-
licher Art nicht angebracht waren und wohl auch ohne Er-
gebnis für unseren Gegenstand gewesen wären. Allein es ist
hier der extreme Fall gezeichnet, wiedurch Ungeschick-
lichkeit und Unverstand des Mannes weibliche
sexuelle Gef ühlslosigkeit der Frau großge-
zogen werden kann, wie dann Unfruchtbarkeit als Folge
davon aufgefaßt wird und wie durch Rat und Belehrung zur
rechten Zeit alle Wege leicht geebnet werden können. —
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Die alltägliche Praxis zeigt uns, wie angedeutet wurde,
in ungezählter Menge Befruchtungen ohne weib-
liches Empfinden.
Zu den klassischen Beispielen gehören die Schwan-
gcrungeninder Notzucht. Wenn diese Beweisführung,
wie K i s c h meint, noch nicht ausreichend erscheint, daß viel-
mehr mancher Fall von behaupteter Nötzucht sich schließ-
lich als eine „vis grata" herausstellt, so gestatten doch
diejenigen Fälle absolut keinen Zweifel mehr, in welchen die
künstliche Befruchtung oder die Befruchtung in Nar-
kose stattgefunden hat.
Die künstliche Befruchtung, d. h. die Impor-
tation männlichen Samens auf instrumentellem Wege in die
weiblichen Geschlechtsteile (Scheide, resp. direkt Gebärmutter)
ist am Tiere (Spallanzani und Rossi bei Hündinnen)
mit Sicherheit bewiesen.
Beim Menschen sind diese Versuche schon um dessent-
willen schwieriger, weil schon die Beschaffung des männlichen
Stoffes mit erklärlichen Schwierigkeiten verbunden ist.
Marion Sims berichtet einen von ihm selbst behandelten
Fall, bei welchem der zehnte Versuch der künstlichen Be-
fruchtung (Einspritzung in die Gebärmutter) erfolgreich war.
Es erfolgte Schwangerschaft, die Patientin abortierte jedoch
im vierten Monat durch Fall.
Es ist zwar von „Empfindungen" bei diesen Opera*-
tioneti nichts berichtet. Allein, es ist wohl anzunehmen, daß
diese delikaten Prozeduren sicherlich nichts sexuell An-
genehme? erweckten!
Daß ein Fall einer wirklichen ausgetragenen menschlichen
Schwangerschaft nach künstlicher Befruchtung beschrieben sei,
war mir bei der I. Auflage nicht bekannt.
Ich schloß mich damals dem Autor Kisch („Die Ste-
rilität des Weibes") an, demzufolge „ganz einwands-
freie Fälle von künstlicher Befruchtung beim Menschen nicht
vorlagen".
Inzwischen ist man auch hierin fortgeschritten, und ich
bin durch Dr. A. Debrunner in Frauen feld („Berichte
und Erfahrungen auf dem Gebiete der Gynäkologie und Ge-
burtshilfe") in der glücklichen Lage, einen von ihm schon vor-
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dem (J901 publizierten) selbst erzielten Erfolg verzeichnen zu
können.
Da der Fall auch in unserem Sinne Interesse gewährt, mag
er mit Deb runners Worten hier eingefügt werden:
Fall VI.
Künstliche Befruchtung beim Menschen.
(Debrunners Fall.)
„Frau Sch. wurde Mitte der 80er Jahre unter dem Eindrucke
mißverstandener anamnestischer Erhebungen (!)
einer ganz unnötigen und für die Frau verhängnisvoll sich ge-
staltenden gynäkologischen Operation unterworfen. Die Frau kon-
sultierte einen Arzt wegen Kinderlosigkeit in fünfjähriger Ehe. Sie
setzte dem Kollegen auseinander, daß eine Immissio penis noch
nie stattgefunden habe. Irrtümlicherweise suchte der betreffende
Arzt, bestärkt durch die Angaben der Frau, die Sterilitätsursache
in einem engen Scheideneingang operativ zu erweitern. Diese Er-
weiterung fiel nun zu ergiebig aus. Jedenfalls wurde der
Sphincter ani (DarmschUeßmuskel) durchschnitten; denn die Frau
konnte nach der Operation Winde und dünnen Stuhl nicht zurück-
halten. Dieses lästigen Zustandes halber konsultierte mich die
Kranke Ende der SOer Jahre. Symptome und Befund entsprechen
einem Dammriß III. Grades nach Geburtsverletzung. Eine lege
artis ausgeführte Dammplastik führte zur früheren Funktions-
fähigkeit des Afters. Im übrigen hatte die Frau einen normalen
Geschlechtsbefund. Genauere anamnestische Erhe-
bungen wiesen mit Deutlichkeit auf den Mann hin
als ursächliches Moment der Sterilität. Es war zwar
bei demselben nichts Abnormes zu entdecken. Durch Fragen in die
Enge getrieben, gestand er mir zuletzt, daß es bei ihm noch nie zu
einer Erecto penis gekommen sei. Er erziele seine Samenergüsse
auf unnatürlichem Wege, durch Friktion des Penis. Dabei habe er
die Gewohnheit, dies inter crura Feminae (!) zu besorgen,
den Moment der Ejakulatio seminis benütze er, um die Rima pudendi
Feminae zu benetzen. Da die Untersuchung des Sperma positiv
ausfiel, mußte ich mir sagen, daß dieser Fall ein außerordentlich
günstiger sei für den Versuch einer künstlichen Befruchtung. Mein
Vorschlag wurde akzeptiert und ich führte die künstliche Befruchtung
bei diesem Ehepaar unter folgenden Regeln aus:
£ur Injektion der Samenflüssigkeit wurde der 2. Tag nach der
Menstruation gewählt. Braun sehe Injektionsspritzen und Reagens-
glas wurden ausgekocht und in physiologische Kochsalzlösung von
37" C eingelegt. Der Mann hatte die Anweisung, mit der Eja-
kulation das Reagensglas der Lösung zu entnehmen und den Samen
in dasselbe zu ergießen. Unmittelbar nachher ließ ich mich rufen,
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saugte den Samen mit einer bereitgehaltenen Spritze auf und spritzte
einige Tropfen bei einfacher Rückenlage der Frau in den Cervical-
kanal, während der größte Teil im hintern Scheidengewölbe ent-
leert wurde. Darauf wurde der Frau 2 Stunden Bettruhe an-
befohlen. Nach der ersten und zweiten Injektion trat die Regel
zur richtiger. Zeit ein. Nach der dritten Injektion blieb sie aus:
die Frau wa!r schwanger. Sie gebar am richtigen Ende der
Schwangerschaft ein gesundes Mädchen. Wir haben es hier mit
einer sicher konstatierten künstlichen Befruchtung zu tun, denn nach
bestimmten Aussagen von Mann und Frau ist während der drei-
monatlichen Injektionskur jede geschlechtliche Manipulation, wie sie
einleitend beschrieben worden, unterblieben. Seither sind zehn Jahre
verflossen, es wurden keine Injektionen gemacht; die Frau ist aber
auch nicht mehr schwanger geworden."
Diesem lehrreichen Falle 'sollen gleich hier einige epikriti-
sche Bemerkungen eingefügt werden. Bei dieser „künstlichen
Befruchtung" interessieren die Nebenum stände und die Vor-
geschichte für das vorliegende Thema weitaus mehr als das
Endresultat selbst. Der Fall ist leider ein sehr trauriger Be-
weis für die? Unerfalirenheit (selbst eines Arztes) in sexuellen
Fragen und die daraus entstandenen körperlichen und seeli-
schen Leiden des Opfers. Allerdings liegt die Fehldiagnose
gegen 30 Jahre zurück. Es war die Zeit vor der sexuellen
Aufklärung, jene Zeit, in der sexuelle Fragen selbst in der
ärztlichen Disziplin unerörtert blieben. Hier liegt ein
krasser Fall künstlicher Züchtung mangelhafter
Geschlechtsempfindung des Weibes vor. Denn
ohne daß direkt hiervon die Rede, ist mit unverkennbarer Klar-
heit zwischen den' Zeilen zu lesen, daß diese Frau geschlecht-
lich nichts empfunden hat und nichts empfinden konnte. Wenn
selbst der Trieb von Hause aus vorhanden war — hier mußte
er systematisch abgetötet werden. Relative Im-
potenz des Mannes, Operation, anstatt Heilung Verschlimme-
rung und neues Leiden, jahrelanges vergebliches Warten auf
Kindersegen, erneute Operation — wenn bei dieser Folge von
Widrigkeiten, Qualen und Schmerzen nicht eine dauernde Aus-
schaltung — Hemmung — des Triebes entstanden sein sollte,
so müßte das mit einem Wunder zugehen.
Der Fall ist lehrreich und gibt bereits einen bemerkens-
werten therapeutischen Hinweis : Die Behandlung der
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mangelhaft en Geschlechtsempfindung des Lei-
bes hat in erster Linie beim — Manne zu beginnen!
Es klingt das so selbstverständlich, wenn man die Kranken-
geschichte liest. Und doch — wie oft wird immer und immer
}nur die Frau gynäkologisch behandelt, wenn ihre Sterilität
Und Empfindungslosigkeit geheilt werden soll ! Ganz abge-
seher. von den unnützen Qualen, Schmerzen,
Operationen und möglicherweise körperlichen
Verschlimmerungen — fast noch bedenklicher
ist der unheilvolle Einfluß auf die Psyche der
Gequälten. Solche falschen Dauerbehandlungen einer Ge-
sunden müssen das Nervensystem alterieren und können
bei schwach erotischer Veranlagung die feinen komplizierten
Seelenvorgänge, welche das weibliche Sexualempfinden be-
herrschen, dauernd vernichten.
Wie innig sexuelle Anästhesie des Weibes mit Störungen
der Geschlechtsfunktionen des Mannes allzuoft zusammen-
hängen muß, wird an späteren Beispielen wiederholt gezeigt
werden können. Besonders wird auf den juristischen Fall
(Ärztliches Gutachten in einer Ehescheidung) in einem der
letzten Kapitel hingewiesen.
Von neuester Literatur über dieses Thema sei eine gute
Übersicht erwähnt, die Hermann Rohleder gibt: „Die
Zeugung beim Menschen." Mit Anhang: „Die
künstliche Zeugung (Befruchtung) beim Men-
schen." G. Thieme. Leipzig 1911.
Ferner machte ein Fall von A. Doederlein*) seiner-
zeit auch außerhalb der medizinischen Presse ein mehr als
notwendiges Aufsehen.
Befruchtung durch natürlichen Coitus in der Narkose
ist mit Sicherheit erreicht und beschrieben.
Dr. J. G. Thomas berichtet von einer einmaligen Nar-
kose und einem einzigen dabei erfolgten Coitus mit folgender
*) über künstliche Befruchtung. Münchener mediz. Woch. 1912.
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Konzeption. Wahrscheinlich war es ein Fall von weiblichem
Scheidenkrampf (V a g i n i s m u s).
In einem anderen, ähnlichen Krankheitsfalle narkotisierte
er als Hausarzt wiederholt eine 30jährige Patientin, die schon
11 Jahre lang ohne vollkommen gelungenen Geschlechtsver-
kehr verheiratet war. Nur an der narkotisierten Ehegattin
war der Coitus möglich! Nach einem Jahre trat die
erste Schwangerschaft ein.
Der Krampfzustand blieb sowohl während der Gravidität
wie nach der Geburt des Kindes unverändert, so daß (die Nar-
kose wurde, wie vielfach in Amerika, mit Äther vollzogen)
nur mit Hilfe des Arztes diese eigentümliche „ätherische
Verbindung" aufrecht erhalten werden konnte.
Auch in der Narkose dürfte wohl mit Sicherheit die sexuelle
Gefühlssphäre gleich Null zu betrachten sein.
Wenn es demnach unzweifelhaft feststeht, daß nicht nur
ohne jedes weibliche Geschlechtsgefühl und
ohne jede Wollust, ja noch vielmehr bei ausge-
sprochenem Widerwillen, bei Unlustgefühlen,
bei Vergewaltigungen und selbst im künstlichen
Schlafe der Narkose eine Befruchtung nicht
nur möglich ist, sondern tatsächlich ungemein
häufig und unerwartet stattfindet, so wäre doch
andererseits die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß trotz-
dem ein Zusammenhang bestände, daß vielleicht weibliche
Wollust die Fruchtbarkeit erhöhte. Oder be-
trachten wir lieber die negative Seite der Frage. Sexuelle
Empfindungslosigkeit ist zwar nicht identisch mit Unfrucht-
barkeit, doch könnte ein relativer Zusammenhang bestehen.
Vielleicht könnten unter 100 empfindungslosen Frauen — wir
nehmen natürlich eine ganz beliebige Zahl an — 20 kinderlose,
unter 100 empfindenden jedoch nur 10 unfruchtbare sein.
Ware ein solches Verhältnis erwiesen, so könnte man sich
dem Einfluß des weiblichen Wollustgefühles, auf die Fähig-
keit zu empfangen, unmöglich verschließen. Allein, bis zu
dieser Statistik hat es noch weite Wege! Bei derartigen
Schlüssen sind nur sehr große Zahlen und Reihen brauch-
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- 61 -
bar; sie müßten in die Tausende gehen! Und nun gedenke
man weiter der Schwierigkeit unserer Frage, deren Beant-
wortung so oft an der Sprödigkeit unseres Materials
scheitert. Hier nützen auch nicht einfach, oberflächliche
kurze klinische Fragen nach den Empfindungen im Ge-
schlechtsverkehr. Eine Patientin gibt darin nicht einem (meist
jüngeren) Assistenten eine kurze, wahrheitsgemäße Antwort.
Das ist nur im intimsten Krankenexamen möglich, und dann
auch gehört noch eine nicht mißzuverstehende Fragestellung
dazu, wie bereits mit Berufung auf Duncan und Have-
lock Ellis früher geschildert worden ist.
Diese statistische Arbeit fehlt uns also noch. So wenig
dieselbe meiner Meinung nach auf dem gewöhnlichen klini-
schen Wege in Angriff genommen werden kann, so wün-
schenswert wäre es, wenn diese Frage mit den Mitteln der
Privatpraxis gelöst würde. Die Lösung hat jedoch nur Wert,
wenn von ganz bestimmten, natürlichen und logischen Vor-
aussetzungen aus die Fragestellung geschieht. Es muß er-
gründet werden :
1. Wie hoch ist der Prozentsatz steriler
Frauen unter den Empfindenden?
2. Wie hoch ist der Prozentsatz Unfrucht-
bare r unter den Empfindungslosen?
Sodann benötigt dabei die jedesmalige Erfahrung in dem
speziellen Klientel die Angabe:
3. Wie hoch ist der Prozentsatz der Em-
pfindungslosen überhaupt, im ganzen
genommen ?
Letztere Frage ist identisch mit unserer im ersten Ka-
pitel aufgeworfenen und die wir nur vorsichtig mit dem er-
staunlichen Resultate von 10— 40 o/o (Debrunner 50%, Mar-
garethe v. Kemnitz sogar 60 »o !) Empfindungsloser im ganzen
weiblichen Geschlecht beantworten konnten.
Vielleicht geben die vorliegenden Zeilen Veranlassung,
dieser interessanten Frage in ein wandsfreier statistischer
JWeisc näher zu treten. Denn ganz unbearbeitet ist sie auch
bisher nicht geblieben, nur fehlt ihr der angeführte, nüchterne
und logische Untergrund, dem wir im Vorangehenden als
Postulat aufgestellt haben.
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- 62 -
J. M. Duncan hat dem Verhältnis von sexueller Em-
pfindung und Fruchtbarkeit seine Beobachtung geschenkt
Allein die Frage, deren Beantwortung er anstrebt, heißt ein-
fach ;WieoftfindeichbeisterilenFrauenmangel-
hafteGeschlechtsempfindung? Über die notwendige
Vorfrage: WiehäufigbestehtsexuelleAnästhe-
sie überhaupt? — sagt er nichts und ebensowenig über
die Unfruchtbarkeit der Empfindenden. Der Autor hat diesen
Mangel wohl selbst empfunden, seine eigenen Worte lauten:
„Ich halte es für nahezu gewiß, daß das Ver-
langen und die Lust in richtigem oder mäßigem
Grade höchst wertvolle Mittel zur Beförderung
der Fruchtbarkeit sind, nicht in Anbetracht
dessen, daß sie an sich anziehend sind, sondern
weil zwischen ihnen und der Vollkommenheit
anderer Teile des komplizierten Befruchtungs-
mechanismus ein gewisser Zusammenhang b e -
Isteht. Doch dieses ist nur eine gewisse Ansicht,
wenn auch in meinen Augen eine sehr wahr-
scheinliche, denn ich kann für dieselbe keinen
bindenden Beweis bringen, ein Umstand, wel-
cher den Wert meiner Beobachtungen über die
Abwesenheit des Verlangens und der Lust bei
sterilen Frauen sehr herabsetzt. Eine beson-
ders empfindliche Lücke ist hierbei der Mangel
der Kenntnis eines diesbezüglichen Zu^tandes
bei fruchtbaren Frauen. Im Anschluß an die bei
unfruchtbaren Frauen gemachte Erfahrung will
ich annehmen (?), daß bei fruchtbaren ge-
schlechtliches Verlangen und geschlechtliche
Lust selten fehlen. (!)"
Zum Verständnis der Duncan sehen Tabelle sei bemerkt,
daß er zwischen „geschlechtlichem Verlangen" und
„Gcschlechtsgenuß" unterscheidet. Beide Begriffe, deren
scharfe psychologische Differenz von uns erst an späterer
Stelle bei der psychologischen Analyse des weiblichen Ge-
schlechtstriebeis betrachtet werden wird, fallen vorläufig für
uns unter den Sammelnamen der „mangelhaften!
Geschlechtsempfindung" zusammen. Für „Ge-
schlechtsgenuß" können wir auch jetzt schon getrost
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- 63 —
unser bisher oft gebrauchtes Wort „Orgasmus" gebrauchen.
Auf „geschlechtliches Verlangen" passen wohl jene
schon von uns beschriebenen Fälle, bei denen der vorhandene
Trieb (Libido) zwar durch Masturbation, aber niemals bei
der Begattung zum Orgasmus führt.
Durcans eigene Unterscheidung lautet :
„G eschlechtlichesVerlangen und geschlecht-
1 i c 1* e Lust müssen gesondert betrachtet werden.
Denn obgleich sie gewöhnlich verbunden sind,
so ist dieses doch nicht immer der Fall. Eine
Frau mit gesunden Genitalien kann sexuelles!
Verlangen, aber keine Geschlechtslust empfin-
den, oder es kann das Gegenteil stattfinden und
sie mag kein Verlangen haben, dagegen der ge-
schlechtlichen Lust zugänglich sein. Obgleich
nur Gravidität und Gebären natürliche Folgen
des geschlechtlichen Verlangens und Genusses
sind, so besteht doch zwischen diesen und dem
Wunsch, Kinder zu haben, wenig oder gar kein
Zusammenhang. Der Wunsch nach Nach-
kommenschaft mag sehr intensiv sein, während
weder sexuelles Verlangen noch Genuß vor-
handen ist, und der Wunsch, die Gravidität zu
umgehen, mag sehr stark sein, während sowohl
geschiechtlichesVerlangenals geschlechtlicher
Genuß empfunden wird."
Alter zur Zeit
der Hochzeit
Zahl
Geschlechtstrieb
Geschlechtlicher Genuß
vor-
handen
fehlt
nicht
bekannt
vor-
handen
fehlt
nicht
bekannt
15-19
59
18
4
37
15
8
36
20-24
220
78
18
124
69
27
124
25—29
134
35
12
87
31
18
85
30-34
59
16
3
40
14
5
40
35-39
23
3
1
19
3
3
17
40-45
9
2
1
6
2
2
6
Dune an sehe Tabelle des Geschlechtstriebes und des geschlechtlichen
Genusses bei unfruchtbaren Frauen.
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- 64 -
Das Ergebnis dieser Tabelle ist folgendes:
Duncan verfügt im ganzen über 504 Fälle unfrucht-
barer Frauen. Von dem geschlechtlichen Empfinden der-
selben kennt er bei 308 Fällen überhaupt nichts!
Also fast 2 /s fallen aus!
Man kann an diesem ungeheuren Prozentsatz von neuem
Äiie Schwierigkeit ermessen, denen die Erforschung immer und
wieder begegnet- Wir haben hier einen Autor, der eigens
diese Frage studiert! Es ist ihm nur möglich, ein Drittel
seiner Fälle zu den entsprechenden Angaben zu bewegen!
2 /i der sterilen Frauen wollten ihm entweder nicht ein-
wandsfreie Auskunft geben oder er konnte aus äußeren
»Gründen überhaupt nicht wagen, die diesbezülichen Fragen
an sie zu stellen!
Es bleiben ihm also von 504 Fällen nur noch 196 sterile
Frauen übrig. Diese sondert er in 2 Klassen.
Er findet bei:
10 sterilen Frauen — 39mal fehlenden Ge-
schlechtstrieb, d. h. ca. 20 o/o!
und bei: »
196 sterilen Frauen — 62mal fehlenden Ge-
schlecht s g e n u ß , d. h. ca. 31 o/o !
Übersetzen wir das Resultat in unsere Sprache. Für uns
ist vorläufig der Mangel des geschlechtlichen Genusses —
Mangel des Orgasmus = „mangelhafte Geschlechtsempfin-
dung" überhaupt.
Wir kommen dem Autor entgegen und nehmen seine
höhere Zahl an und erhalten also als ganzes Ergebnis, daß —
ca. 31 o/o der sterilen Frauen mangelhafte
Geschlechtsempfindung haben!
Dieses Resultat ist uns nicht erstaunlich! Die Zahl er-
reicht nicht einmal die höchst normierte von uns aufgestellte
Maximalzahl von 40 o/o der Empfindungslosen überhaupt. Man
erkennt sofort die Einseitigkeit und den Fehle r solcher
Untersuchungen.
Solange Duncan über die Häufigkeit der, wenn wir uns
so ausdrücken dürfen, „normalen (d. h. durchschnittlichen)
Empfindungslosigkeit" nicht orientiert ist, solange darf
er aus seinen Zahlen nicht den „befruchtenden" Schluß
ziehen.
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- 65 -
Nacl unseren Erfahrungen über die allgemeine Häufig-
keit der sexuellen Anästhesie überhaupt läßt die Duncan-
ischf Tabelle keinen anderen Schluß zu, als daß die „man gel -
hafteGeschlechtsempfindung"beidenunfrucht-
baren Frauen nur in der durchschnittlichen
Ziffer aller (d. h. fruchtbaren und unfruchtbaren
zusammen!) vorkommt und daß ein zahlenmäßig be-
wiesener Zusammenhang zwischen mangelhafter Geschlechts-
lust und Kinderlosigkeit nicht besteht.
Zu den Vertretern des Zusammenhanges weiblicher
Wollust und Befruchtung gehört auch Kisch, der in seiner
Monographie über Sterilität wohl zuerst den Ausdruck
^Dyspareunie* gebraucht und sie für viele Fälle von Kinder-
losigkeit verantwortlich macht. Es ist dies sein gynäkologischer
Glaube ; ein beweisendes Zahlenmaterial ist er nicht imstande
anzuführen. Physiologisch begründet er den aktiven Anteil
des Orgasmus einmal durch die von ihm behaupteten, von
uns jedoch nicht wahrgenommenen „schnappenden" Kon-
traktionen des Muttermundes, zweitens durch die reti-
n i e r e n d e Wirkung des Constrictor cunni und drittens durch
die Produktion des Cervicalschleimes. Der letztere hat
allerdings nach Marion Sims besondere Eigenschaften. Es
ist erwiesen, daß die Spermatozoen im sauren Scheidenschleim
bereits nach ca. 12 Stunden als bewegungsunfähig, also als
tot zu betrachten sind — im (alkalischen) Cervicalschleim da-
gegen noch nach 36—40 Stunden sich lebhaft bewegen. Der
jBedeutung dieser Tatsache wird man sich allerdings nicht
verschließen können, wenn zufällig einmal, sei es aus mechani-
schen Gründen des weiblichen Geschlechtskanals oder aus
mangelhafter Eigenbewegung der Spermatozoen •) die Fort-
bewegung derselben bis in das Gebärmutter-Innere über Ge-
bühr verlangsamt sein sollte. Auch die muskulöse Zusammen-
pressung, welche den vergossenen Samen, unter Umständen
in das hintere Scheidengewölbe befördert und daselbst festhält,
haben wir bereits gewürdigt. Immerhin dürften diese Mo-
mente angesichts der ungeheuren Anzahl „empfindungs-
loser" Befruchtungen, welche die selbständige Kraft des
•) Vergl. pag. 70.
Adler, Geschlechtsempfindung. 3. Aufl. 5
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Vorwärtsdringens der Spermatozoen in allererster Linie be-
weisen, nur höchst selten in Betracht kommen.
Kisch führt den Fall einer gebildeten Dame
an, die behauptet, dieKonzeption nach Belieben,
je nach ihrem laisser faire et laisser aller in der
Handzunaben! Wir haben schon darauf hingewiesen, wie
joft sich die Frauen in dieser Beziehung täuschen. Und selbst
angenommen, der vorliegende Fall entspräche der Wahrheit,
so wäre die „Entsagung" dieser Patientin in bemerkens-
wertester Weise zu bewundern und zu — kritisieren!
Seeligmann beruft sich in einem kurzen „Über
sterilitas matrimonii" betitelten Artikel (Berliner
Klinische Wochenschrift 1891, Nr. 41) auf Duncan
und führt einen einzigen Fall an, bei welchem er der
Wiederkehr des Wollustgefühles den Hauptanteil
an der nach der Behandlung glücklich erzielten Schwanger-
schaft zuschreibt.
Unsere Beweisführung hat gezeigt, wie schwierig die Ent-
scheidung dieser Frage selbst an einem größeren
Materiale wie dem Duncan sehen ist und daß die Dun-
er, ii sehen Zahlen eher nach der negativen Seite sprechen. Wir
haben gezeigt, welch andere Fragen notwendig dabei berück-
sichtigt werden müssen. Seeligmann windet sich aus
diesem komplizierten Dilemma der schwierigsten aller Kontro-
versen mit beneidenswerter Einfachheit an einem einzigen
Falle heraus. Und dieser Fall ist nicht einmal etwas irgend-
wie besonderes, sondern das alltägliche Brot eines jeden Arztes,
der sich mit Gynäkologie beschäftigt. Seeligmann be-
handelt eine Frau mit alter Parametritis, alten Verlage-
rungen, alten Verwachsungen, der infolge dieser inneren Ver-
bildungen, wie so häufig, der Coitus schmerzhaft ist und in-
folgedessen keinen weiblichen Orgasmus aufkommen läßt.
Massage lindert den alten Zustand und stellt annähernd normale
Untcrleibsverhältnisse her. die Verwachsungen werden gelöst,
die narbigen Zusammenziehungen gedehnt und mit ihnen treten
wieder normale Zustände an den abdominellen Tuben-Mün-
dungen auf, so daß das reife Ei wieder den bisher verschlosse-
nen Weg in die Gebärmutter finden kann. Das ist wenigstens
die natürliche und gewöhnliche Erklärung, nach welcher bei '
alter Parametritis durch Massage etc. Befruchtung er-
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- 67 -
möglich* wird, was hundert und tausendmal beobachtet ist.
Wenn im vorliegenden Falle die Wollustempfindung- cn
in so glücklicher Weise beeinflußt wurden, so mag der doppelte
Erfolg im Interesse der Patientin immerhin beachtet und ge-
würdigt werden. Die Parametritis ist eine der dank-
barsten Ursachen der mangelhaften Oe-
se h lechtsempfindung des Weibes und wir können
Jms glücklich schätzen, hier eine Handhabe zu besitzen, direkt
mechanisch einzugreifen und zu helfen. Bei der Therapie
wird uns derselbe später noch einmal beschäftigen. Aber man
gebe sich nicht der oberflächlichen Täuschung hin, daß nur,
weil das Wollustgefühl nun zurückgekehrt,
auch der Kindersegen die Folge davon ist! Dem
einer Falle von Seeligmann stehen jene zahllosen
anderen gegenüber, wo Parametritis in gleicher Weise
behandelt wird, wo niemals Oeschlechtsempfindung vor-
dem da war, wo niemals nachher solche aufgetreten ist,
wo trotz der Hoffnung, daß hier ein greifbarer Grund und
dementsprechende Behandlung die Welt der weiblichen Em-
pfindungen in gewünschter Weise zurechtrücken würde, An-
aesthesia totalis zurückblieb und wo trotzdem als unmittelbare
Folge der günstigen lokalen Behandlung eine oft mehr als
gewünschte Fruchtbarkeit eintrat.
Die medizinische Wissenschaft rechnet leider noch nicht
immer mit mathematischer Exaktheit Aus vielen Beob-
achtungen läßt sich nur ein Waihrsch ein lieh keits -
resultat resümieren, vorausgesetzt, daß alle Fragestellungen
richtig waren. Aus einem einzelnen Falle Schlüsse ziehen
zu wollen, ist bedenklich und gefährlich, besonders aber bei
einer so schwierigen und komplizierten Materie, wie das Ver-
hältnis von Geschlechtsempfindung und Befruchtung.
Diese Schlußfolgerung ist ohne weiteres für eins der
neuesten Ergebnisse anwendbar, die aus dem bisweilen noch
etwar rückständigen und abergläubischen Rußland kommen.
Dr. J. Sutkowsky in St. Petersburg (Das Ge-
setz der Entstehung des Geschlechts und das
Mittel, das Geschlecht des Individuums zu be-
einflussen — Berliner Klinik 1909, Heft 252) hat sogar
endlich das vielgesuchte große Geheimnis der willkür-
lichen Geschlechtsbestimmung gefunden. Sein
5«
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Fundament ist der Orgasmus. Von dem zeitlichen Ein-
treten des männlichen resp. weiblichen Höhepunktes hängt
nach seiner Ansicht einzig und allein das Geschlecht des
Kindes ab und durch ein systematisches Früher oder Später
haben Eheleute es nunmehr beliebig in der Hand, das Ge-
schlecht ihrer Nachkommenschaft zu bestimmen!
Sutkowskys Thesen sind folgende:
1. Wenn der Orgasmus (die Ejakulation) des Mannes
zuerst erfolgt, entsteht ein — weibliches Indi-
viduum.
2. Wenn der Orgasmus der Frau früher eintritt,
sc entsteht ein — männliches Individuum.
3. Wenn der Orgasmus gleichzeitig stattfindet, so
entscheidet die stärkere der beiden Ehe-
hälften. —
Die Erklärung, welche Sutkowsky für seine Theorie
gibt, ist eine chemische. Diese Erklärung ist an und für sich
eine ziemlich plausible und mit vorhandenen Beobachtungen
twohl vereinbar. Wenn nur die Erfolge nicht im Stiche ließen!
Sutkowsky vermerkt die Tatsache, daß die Spennatozoen
in alkalischem Fluidum länger lebensfähig bleiben als in
saurem. Wenn also bei früher Ejakulation des Mannes die
Spermatozoen die Scheide überschwemmen, so kämen sie in
den normalsauren Scheidenschleim. Hierbei werden sie
„abgeschwächt", sie verlieren an Kraft, folglich entsteht ein
weibliches Individuum.
Kommt dagegen die Frau vor dem Manne zum Orgas-
mus, so finden die später deponierten Spermatozoen statt des
sauren ein alkalisches Fluidum vor, sie büßen nichts an
Lebenskraft ein und bilden ein männliches Individuum. Bei
gleichzeitigem Orgasmus kämpfen sauer und alkalisch. Der
Stärkere siegt!
Sutkowsky versucht an Erfahrungen der Tierzucht
seine Theorie zu erweisen und geht schließlich zum praktischen
Beispie'. des Menschen über. Hier imponiert uns die —
Dürftigkeit seines Materials. Ganze 5 Fälle! Und welcher
Art!
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1. Eigene Beobachtung: Zuerst 2 Töchter, dann nach
Wunsch (n. b. wie oft?)
2. Rat an junges Ehepaar: Erfolg 1 Sohn.
3. Rat an Ehepaar: Bereits 3 Töchter, dann 1 Sohn.
4. >, u u » 5 ,, „ j>
S 7 1
Diese Zahlen sind so dürftig, zumal wenn man bedenkt,
daß die Wahrscheinlichkeit, ein bestimmtes Geschlecht zu er-
hallen, allein schon V 2 ist, und daß diese Wahrscheinlichkeit
des anderen Geschlechts allein schon wächst, wenn vordem
3, 5, \,\ 7 Töchter dagewesen sind.
Hat uns Dr. Sutkowsky keine Fehlschläge mitzuteilen ?
Erhöhe er seine Zahlenreihen auf 1000 Fälle, dann wollen
wir anfangen statistische Schlüsse zu ziehen und an seine
Theorie zu glauben!
Gerade die Tatsache der häufigen mangelhaften Ge-
schlechtsempfindung ist mit einem Schlage imstande, Sut-
kowskys Vorschläge in das Reich der Phantasie zu ver-
weisen. Es gibt eine unendliche Anzahl empfindungs-
loser Frauen ohne Orgasmus. Ob 10, ob 20, 30 oder
40 °/o, ist gleichgültig. Müßte nicht auf alle Fälle eine viel
größere Zahl von „Abschwächungen" im sauren Scheiden-
schleim dieser Anaestheticae eintreten ? Müßten dem-
gemäß nicht unglaublich viel mehr Mädchen ge-
boren werden? Tatsache aber ist, daß, ganz wenige
Distrikte ausgenommen, auf der ganzen Welt durchschnittlich
etwas mehr Knaben geboren werden.
Ferner müßte sich der Mädchenüberschuß ganz auf-
fallend bei den Erstgeburten zeigen. Denn wie viele
Frauen gelangen erst nach längerem Verkehr, oft erst nach
den» ersten Kinde zum Orgasmus!
Man müßte die mangelhafte Geschlechtsempfindung des
Weibes als nicht vorhanden betrachten, wenn Sutkowskys
bequeme Theorie zu Recht bestände. Und Sutkowsky
sagt doch selbst in seiner Veröffentlichung: „Es muß noch
erwähnt werden, daß häufig während der ersten Zeit der Ehe
das Weib durchaus keinen sinnlichen Genuß durch die ge-
schlechtliche Vereinigung erhält; derselbe stellt sich erst nach
der Geburt des ersten Kindes ein!"
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70 -
Wer Lust hat, mag Sutkowskys Theorie anwenden.
Sie bringt keinen Schaden, höchstens Enttäuschung. Was aber
soll die dauernd Unempfindliche machen, die sich nach
5 Söhnen (entgegen der Theorie) endlich eine Tochter
wünscht?? —
Auf ähnlichen Gedankengängen bewegt sich M. Vaer-
ting*) Nach seiner Auffassung unterstützt der weibliche Or-
gasmus den Befruchtungsvorgang im Sinne der Eugenik.
Der weibliche Orgasmus erleichtert den Spermatozoen ihren
Weg — chemisch und mechanisch. Ohne weibliches Wollust-
gefühl sind die Samenzellen ganz auf ihre Eigenbewegung
angewiesen, sie brauchen mehr Zeit und Kraft, um allein zum
Ei zm gelangen. Solche Spermatozoen sind gewissermaßen
geschwächt, d. h. ermüdet und ausgehungert. Die endliche
Befruchtung gibt ein geschwächtes Individuum. Dagegen sind
die Kinder der gegenseitigen Liebe und Leidenschaft stark
und kräftig. Der Orgasmus der Frau ist also nach Vaerting
ein stark belebendes, anfeuerndes Element für den Befruch-
tungsvorgang. Liebevoll werden durch ihn die kleinen männ-
lichen Samenzellen — getrieben, gepreßt, angesogen und
durch den alkalischen Cervixschleim frisch gehalten — be-
schleunigt zum Ei getrieben.
Wenn diese Argumentationen Vaerting's richtig sind,
so kann natürlich auch eine allzuschwache Eugenik bis zur
Unfruchtbarkeit führen. Ein von Hause aus „schwächliches"
Spermatozoen geht vielleicht bei einer kalten Frau zu Grunde,
erreicht aber sein Ziel möglicherweise noch bei einer
Leidenschaf tlrchen.
Beweise existieren nicht. Allein die Theorie hat etwas
Bestechendes. Der weibliche Orgasmus kann nicht eine reine
Luxuseinrichtung sein, er muß irgend einer physiologischen
Funktion dienen — dafür spricht das überall sinnvolle Walten
der Natur.
•) Die eugenische Bedeutung des Orgasmus — Zeit-
schrift für Sexualwissenschaft Bd. II (1915), Heft 6.
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- 71 -
Auf einen eigenartigen Zusammenhang zwischen Wol-
lustgefühl und eingetretener Befruchtung
(Schwangerschaft) machte mich die Zuschrift eines
Kollegen aufmerksam.
Bei den Tieren ist der Zustand bekannt. Unmittelbar
nach einer fruchtbaren Deckung gestatten die Weibchen keine
Paarung mehr. Die Schnelligkeit dieses Instinktes bewundern
wir fast noch mehr wie seine Regelmäßigkeit.
Der kulturelle Mensch hat dieses Näturgefühl in der Regel
verloren. In nicht ganz seltenen Fällen kehrt es sich sogar in
das Gegenteil um — das weibliche Wollustgefühl erwacht erst
recht Offenbar spielt hier der Wegfall psychischer Hem-
mungen eine Rolle. Die (vielleicht gefürchtete) Schwanger-
schaft ist eingetreten. Das Unabwendbare ist geschehen.
Jetzt nützt keine „Vorsicht", kein „Zurückhalten" mehr —
das natürliche Gefühl kann sich austoben.
Vereinzelte Frauen scheinen jedoch das natürliche Ab-
wehrgefühl unbeeinflußt von solchen kulturellen Entlastungs-
gedanken behalten zu haben.
Die Zuschrift verweist auf T a r n i e r und Chantreuil 1 ):
„Bisweilen zeigt sich beim Weibe nach der Empfängnis
eine sehr merkwürdige Erscheinung, die ganz von selbst da-
zu beiträgt, den Geschlechtsverkehr während der Schwanger-
schaft einzuschränken, nämlich ein erheblich gemindertes!
Verlangen nach demselben. Prof. Stoltz in Nancy hat
einige Frauen gekannt, die während der Schwangerschaft einen
direkten Abscheu vor der Annäherung ihres Mannes empfanden.
Das Auftreten dieser Empfindung war für sie
geradezu ein Symptom der eingetretenen Em-
pfängnis."
Diesen Beobachtungen kann ich eine eigene hinzufügen.
Anläßlich eines Artikels über „Die frigide Frau" 2 ) schrieb
Frau H. M. folgendes:
!) Traite de Part des aecouchements (1888).
*) Otto Adler - Sexual-Probleme April 1912.
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— 12 —
Fall VII.
-
Verminderte Libido nach Empfängnis.
(Eigene Beobachtung).
„ Ich habe eine sexuelle Befriedigung bis zu meiner
Verheiratung (im 26. Jahre) nicht gekannt. Ich erwähne das aus-
drücklich, weil damit die eventuelle Diagnose: „Anaesthesia sexualis
masturbatoria" von vornherein wegfällt. In meiner Ehe traten dann
zum ersten Male „Hemmungen" auf, als ich gravida wurde. Ich
schob das damals auf meine Schwangerschaft. Nach meiner Nieder-
kunft war der alte Zustand (normale Libido und normaler Orgasmus)
wieder hergestellt. Dies wiederholte sich bei jeder meiner Schwanger-
schaften, also jedesmal, wenn eine Konzeption unmöglich wurde.
Ich erwähne das, weil es vielleicht folgende Tatsache erklärt. Mein
Mann wünschte — aus verschiedenen, hauptsächlich ökonomischen
Gründen — keine Kinder mehr, und es erfolgte nur noch Präventiv-
verkehr. Nun betone ich: ich will nicht etwa die uralte Tat-
sache aufwärmen, daß die zur Konzeptionsverhütung notwendigen
Praktiken „störend" wirken. Aber bei mir — und, wie ich weiß,
auch bei vielen anderen Frauen — ist eine Befriedigung unmöglich,
sobald ich weiß, daß keine Schwangerschaft aus dem Verkehre
resultieren kann. Es ist also nicht das physisch-mechanische
Hindernis des Präservativs, sondern die psychische Hemmung, die
— - trotz liebevollster Rücksichtnahme des Mannes — in solchen
Fällen die Frau nicht zum Orgasmus kommen läßt. Da es in den
meisten Fällen (fast immer) der Mann ist, dem eine größere Kinder-
zahl unerwünscht ist, bin ich fest überzeugt, daß dieses Moment
an einer großen Anzahl unglücklicher Ehen schuld ist.
Ich möchte noch einmal hervorheben, daß das angeführte
Moment die einzige Ursache der mangelhaften Geschlechts-
empfindung bei m,<r ist, sonst ist alles normal; aber der Trieb,
noch mehr Kinder zu bekommen, ist so mächtig, daß vielleicht
die Möglichkeit, das Vorhandensein des Pessars zu vergessen,
den einzigen Ausweg in sich schließt."
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V. Kapitel.
Wollustgefühl und Verschneidnng.
(Kastration, Uterus -Exstirpation, Klitorektomie etc. — Vor
Beginn der Geschlechtsreife und nach Aufhören derselben
[Klimakterium]).
Kastration ist weder identisch mit männlicher Impotenz, noch mit
werblicher Anästhesie. Römische Rastraten. Kastration beim Hengste.
Sultan Amurad. Kastrat und Eunuch. Hegar, Tissier, Bruntzel, Schmal-
fuß. Kritik der Oläveckeschen Fälle. Unterschied der frühen und späten
« Kastration. Ovariotomie in Ostindien! (Roberts). Mensingas Fall ver-
mehrter Geschlechtslust nach der Operation. Uterus-Exstirpation ohne
nennenswerten, Einfluß. Verschncidung (Klitoris, Nymphen, spez. bei den
Skopzen (Pelikan, Nadeschdin). Verschneidung auf Buru, Ecuador, im
Sudan. Infibulation. Normale Anästhesie im Kindcsalter. Abweichungen.
Erste Menstruation — erster Reiz zum undifferenzierten Geschlechts-
gefühli (Dessoir). Verhalten in der Klimax. Bisweilen gesteigerte Libido
(Krieger, Börner). Normalerweise langsames Nachlassen. In seltenen
Fällen noch' in hohen Jahren. Outtzeit. Ninon de l'Enclos.
Wir haben bereits- bei den physiologischen Bemerkungen
über den peripheren Entstehungsort des Orgasmus die
Klitoris zwar als den „sensiblen Brennpunkt" der in Rede
stehenden Empfindungen kennen gelernt, aber zugleich auch
aus dem eigenen Masturbationsstatus (Fall II) entnommen,
daß ihre direkte Reizung zur vollen Entstehung des höchsten
.Wollustgefühles durchaus nicht absolut nötig ist, daß im
Gegenteil andere Punkte der inneren Genitalien, ja
selbst die Brustdrüsen nicht nur genügen, sondern im Gegen-
teil nur diese erregungsfähig — um im technischen Ausdruck
zu reden — erogen sind.
4
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- 74 —
Es ist auch bereits darauf hingewiesen worden, daß selbst
lohne Klitoris voller Orgasmus erreicht werden kann,
wie bei der russischen Sekte der S k o p z e n erwiesen ist.
Im allgemeinen existieren nicht nur im Publikum, sondern
selbst in ärztlichen und naturwissenschaftlichen Köpfen noch
vielfach falsche Ansichten über die Abhängigkeit der
geschlechtlichen Empfindungen von den Ge-
schlechtsorganen.
Beim Manne glaubt man zumeist, daß der Verlust der
Hoden identisch ist mit Verlust der Manneskraft. Im alten
Rom war man erfahrener als heute. Wenigstens berichtet die
laszive Muse des alten römischen Dichters, daß die besonders
sinnlichen Frauen der verderbten ewigen Stadt mit raffinierter
Lust gerade den Geschlechtsverkehr mit kastrierten Männern
suchten, bei denen sie ein gleiches Vergnügen, jedoch ohne
die Gefahr der lästigen Mutterschaft genießen konnten.
Der Kastrierte besitzt nicht nur die Fähigkeit zu erigieren
und den Coitus mit absolut gleicher Wollust zu vollziehen,
sondern sogar zu ejakulieren. Sein Erguß, der wohl im wesent-
lichen ein Sekret der Prostata ist, ist natürlich frei vom spezifi-
schen Produkt der Hoden, den Spermatozoen, und deshalb
nicht befruchtungsfähig, der Kastrierte besitzt also vollkommen
die potentia coeundi, wenn auch nicht generandi.
Der Kastrierte steht auf der gleichen Stufe wie jene zahl-
reichen Männer, die zwar hinreichend geschlechtskräftig, aber
doch nicht fähig zu befruchten sind, weil (gewöhnlich wegen
früherer doppelseitiger Hodenentzündung) befruchtende
Spermatozoen nicht mehr gebildet werden. Es sind das
jene in ihrer Zahl durchaus nicht zu unter-
schätzenden Fälle, in denen die Ehefrau immer
und wieder auf Kinderlosigkeit behandelt wird,
■während der Gatte der schuldige Teil ist.
Trotzdem ist selbstverständlich ein Zusammenhang
zwischen Geschlechts o r g a n e n und Geschlechts g e f ü h 1
vorhanden. Bei den Tieren ist der Nachlaß des letzteren nach
dem Verlust ihrer speziellen Zeugungsorgane hinreichend be-
kannt und erwiesen. Allein z. B. auch beim Wallach tritt nicht
immer eine absolute Geschlechtslosigkeit ein, und es wird von
dem türkischen Sultan Amurad II. erzählt, der in höchstes Er-
staunen geriet, als er einen Wallach plötzlich sich erregen sah
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und dessen Versuch gewahrte, eine Stute zu beschälen., Diese
unerwartete Beobachtung soll ihn zu der radikalen Vorsichts-
maßregel geführt haben, fortan als Haremswächter nicht bloß
Kastrierte, d. h. der Hoden beraubt», sondern volle
Eunuchen, bei denen bekanntlich die ganzen äußeren
Geschlechtsteile entfernt sind, zu verwenden.
Wie bei den Männern die Entfernung der Hoden, ebenso
hat bei den Frauen die Beseitigung der Eierstöcke — die w e i b -
liehe Kastration — keinen unbedingt aufheben-
den Einfluß auf Geschlechtstrieb und Wollust-
gefühl.
H e g a r , der sich am eingehendsten mit dieser Operation
beschäftigt hat, bestätigt, daß „eine Herabsetzung des
Begattungstriebes nach Kastration beim Men-
schen durchaus nicht konstant sei." —
Tissier (De la Castration de la femme, Paris
1885) hat die gleiche Beobachtung gemacht und gibt sogar
unter Umständen eine Erhöhung des sexuellen Bedürfnisses
post operationem zu:
„Sichezlesanimauxleresultatdelacastration
comme anaphrodisiaque est constant, chez les.
fem m es il en est tout autrement. — — — — La
castration parait nägiren rien sur l'attenuation
des impulsions sexuelles, c'est bien plus le
contraire qui se produit."
Bruntzel (Archiv für Gynäkologie, XVI) be-
schreibt vier Fälle von weiblicher Kastration und fügt hinzu,
„daß die Geschlechtslustbei zweien seiner Fälle
keine Änderung nach der Kastration erlitt en
habe."
Schmalfuß (Archiv für Gynäkologie, XXVI)
behandelt die „K a s t r a t i o n b e i Neurosen" und bespricht
an 4 Fällen (an Fall 6, 7, 13 und 31) die sexuellen Em-
pfindungen.
Fall 6 zeigt post operationem eine „Abneigung"
gegen die Kohabitation, weil Schmerzen beim Coitus, wahr-
scheinlich infolge innerer Narbenbildungen, aufgetreten sind.
Man sieht an diesem einzelnen Falle den unseligen Einfluß
einer einst gefeierten Methode, das kranke Nejvensystem des
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(V/eibes durch radikale Entfernung seiner Eierstöcke zu heilen!
Diese operationswütige Ära hat nur ein kurzes Leben gehabt
In Fall 7 war die Kohabitation „unveränder t".
Fall 13 gibt an, daß die Kohabitation nicht mehr wie
früher sei, „daß man nicht verheiratet sein sollte".
Der unklare Notschrei dieser Operierten deutet nicht nur auf
eine vielleicht dem ersten Falle ähnliche Narbenschmerzhaftig-
keit hin, sondern enthält versteckt eine ganze Welt unaus-
gesprochener, drückender sexueller Empfindungen, welche das
Individuum als die beschwerende Last eines geschlechtlichen;
Lebens und nicht ganz unwahrscheinlich vielleicht als den
Grund seiner „Neurose" herumgeschleppt und großgezogen
hat. Anstatt hier in die psychologische Analyse des Ge-
schlechtslebens dieser Kranken eingedrungen wurde, hat die
Kranke durch eine gefahrvolle Operation ihr Leben riskieren
müssen, ohne Besserung zu finden.
In Fall 31 handelt es sich um eine 33jährige Dritt-
gebärende, bei welcher die Kastration anfangs die regelmäßige
Periode aufhob. Während dieser Zeit der künstlichen Meno-
pause hatte die Patientin kein Wollustgefühl. Später stellte
sich die menstruelle Blutung von neuem ein und seitdem ist
das Wollustgefühl wieder in Ordnung.
Die Schmalfuß sehen Fälle wären von ganz be-
sonderem Interesse für die Klärung unserer sexuellen Fragen,
wenn ihnen eine detailliertere, psychologische Beachtung ge-
schenkt wäre, wenn nicht nur der Chirurg, sondern auch der
Nervenarzt in die Mysterien der vorangegangenen Vita sexualis
einzudringen versucht hätte. Für uns ergeben sie aufs neue
an dieser Stelle die allein in Betracht kommende und wichtige)
Tatsache, daß die Kastration nicht identisch ist mit
Vernichtung sexuellen Empfindens, daß selbst
eine nervenkranke, „neurotische" Frau nach der
Operation in dieser Hinsicht keine Einbuße zu
leiden braucht.
Am ausführlichsten behandelt diese Frage Glävecke
(Archiv für Gynäkologie, XXXV.) in seiner Arbeit :
„Körperliche und geistige Veränderungen im
weiblichen Körper nach künstlichem Verluste
der Ovarien einerseits und des Uterus anderer-
seits."
:
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Glävecke verfügt im ganzen über 41 Kastrationen,
in denen er bei 27 (!) Erkundigungen über die Vita sexualis
leinholen konnte. Seine Fragestellung richtet er auf 3 Punkte
hin:
1. Ob der Geschlechtstrieb gelitten?
2. Ob intra coitum dieselbe Wollust wie früher?
3. Ob intra coitum überhaupt ein Unterschied gegen
früher ?
Schon diese Fragestellung kann unmöglich ein einwand-
freies, richtiges Resultat ergeben, abgesehen davon, daß wir
es wieder mit klinischem Material zu tun haben, dessen An-
gaben infolge der ganzen Umgebung nicht frei und lückenlos
sein können. Die Fragestellung geht von der
fehlerhatten Voraussetzung aus, daß alle Pa-
tienten vordem tatsächlich Gefühl besessen
Üiaben. Nach unserer Schätzung der allgemeinen Anaesthesia
sexualis ist das von vornherein unwahrscheinlich, ja so gut
(wie ausgeschlossen. Und nun stelle man sich die Antworten
der ineist doch minder gebildeten und weniger objektiven
Patientinnen auf die heikelsten aller Fragen vor! Die Patientin
lühlt, daß ihr Geschlechtsleben von vornherein ganz falsch
aufgefaßt wird, daß man mit der Möglichkeit ihrer stets be-
standenen Gefühllosigkeit gar nicht rechnet! Sie hält dem-
nach dieses selbst vom Arzte nicht in Betracht gezogene Manko
ihres ganzen bisherigen geschlechtlichen Empfindens für eine
Einbuße weiblichen Reizes, die sie ungefragt auf keinen Fall
eingesteht. Und dann schwebt ihr unbewußt der Zusammen-
hang dieses Zuslandes mit früher, vielleicht noch jetzt be-
triebener Masturbation vor. In ihrer Einbildungskraft ist ihr
abnormes geschlechtliches Leben vielleicht eine Sünde, eine
Strafe. Wer will von diesem Durcheinander von Empfindungen
die Wahrheit erwarten, wenn der ärztliche Analytiker selbst
nicht in dem Zusammenhang der Wirrnisse bewandert ist!
(Wir vermissen in den vorliegenden Angaben jedwede Auf-
klärung über frühere Anästhesie und über frühere Mastur-
bation. Beide Momente müssen in dem Empfindungsstatus
der kastrierten Frauen vorkommen, wenn die psychologische
Analyse eine vollkommene ist und ihre Schlüsse berechtigt
sein sollen. Ich bin sicher überzeugt, daß sich' mancher Fall
Glaveckes, dessen Endresultat lautet: „Die Patientin
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unterzog sich dem Coitus nur sehr ungern, aber
ohne Abscheu, sie fürchtete nur die Schmerze n",
sich psychologisch in einfache Anaesthesia sexualis auflöst,
die stets bestanden hatte und die nun post operationem
weiter bestand, aber erst durch die Narbenschmerzen
kompliziert wurde. Aus dem bisher empfin-
dungslosen, gleichgültigen. Zustand in actu
wurde jetzt tatsächlich ein schmerzhafter und
bei der Unkenntnis des früheren Zustandes ergab sich daraus
der einfache Schluß, daß das Wollustgefühl nach der Operation
„gelitten" hatte.
Von diesem Gesichtspunkte aus erklären sich leicht die
Resultate Gläveckes, die nach seinem eigenen Geständnis
eine viel häufigere Beeinträchtigung des weiblichen Ge-
schlechtsempfindens post castrationem aufweisen, als S c h m a 1 -
fuß, Bruntzel, Koeberle und Pean beobachtet hatten,
Trotzalledem bleiben auch bei Glävecke Fälle von er-
haltener, wenn auch vielleicht durch Schmerzen etc. ver-
minderter Libido übrig. Sie beweisen aufs neue den losen Zu-
sammenhang von Eierstock und Wollust. Glävecke sagt
sehr richtig, „daß die „Neigung" (Libido) zuerst zu
leiden scheint, das Wollustgefühl erst später
und daß letzteres bei manchen ungemindert
fortbesteht, wieauch die Männer der Operierten
bestätigen."
Diese Unterscheidung von Neigung (Libido) — Trieb
und Wollustgefühl = Orgasmus ist der springende
Punkt in der ganzen Frage.
Die Hoden sowohl des Mannes wie die Eierstöcke des
•IWeibes pflegen in der Geschlechtsreife mit dem Erwachen
ihrer ersten spezifischen Tätigkeit zugleich die erste Ahnung
eines geschlechtlichen Wollens zu erwecken. In der Folge
bleibt ihre Tätigkeit mehr oder minder von Einfluß auf ge-
schlechtliches Wünschen und Verlangen, wie durch den zun
Zeit der Menstruation vermehrten und allgemein beobachteten
Trieb bestätigt wird. Das ist das normale, natürlich-animali-
sche Verhalten des Geschlechtstriebes, wie es auch in der
Tierwelt einzig und allein der Fall ist. Hoden resp. Eierstöcke
fangen an, geschlechtsreif zu arbeiten und geben den natür-
lichen Reiz ab, der das psychosexuelle Zentrum im Gehirn
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erregt. Eine Sinnlichkeit, die wesentlich auf diesem Reize
beruht, wird selbstverständlich nachlassen, wenn ihre Haupt-
erreger (die Eierstöcke) entfernt sind. Aber der komplizierte
Denkapparat des Menschen hat sowohl in der Phantasie wie
in vielen anderen äußeren Momenten mannigfache andere;
Erregungsmittel geschaffen. Eine Sinnlichkeit, die auf
diesen oft seltsamen und perversen Wegen das
psychosexuelle Zentrum im Gehirn erregt, be-
darf nicht mehr des Reizes der reifenden Eier-
stöcke. Wir sehen das deutlich bei der frühen Masturbation,
wir sehen es aber in unseren Fällen von' Kastration. Der Or-
gasmus selbst kommt auf ganz anderen Bahnen zustande, wie
wir bereits auseinandergesetzt haben, und ist ohne Eier-
stöcke einmal Trieb vorhanden, so kann auch
der Orgasmus absolut vollständig werden, vor-
ausgesetzt, daß fürseine Entstehungüberhaupt
ein normales Fundament vorhanden war.
Bei Männern ebenso wie bei Frauen hat demnach die
Kastration nur einen sehr bedingten Einfluß
auf Geschlechtstrieb und Wollustgefühl. War
beides schon vorhanden, so ist nach der Kastration
der Ausfall ein verhältnismäßig nur unbedeutender und
geringer. Findet die Entfernung dieser Zeugungsorgane
jedoch vor der Geschlechtsreife, also in frühester Jugend,
noch bevor auch durch die Phantasie und andere Erregungs-
mittel die Sinnlichkeit geweckt ist, statt, so bleibt allerdings
das Geschlechtsleben im Dunkeln liegen. Der frühzeitig
kastrierte Knabe bleibt tatsächlich meistens impotent. Das
früh der Eierstöcke beraubte Mädchen wird sicherlich noch
mehr an seiner Sinnlichkeit Einbuße erleiden, da seine ganze
geschlechtliche Sphäre von Hause aus noch versteckter ist.
Die Beobachtungen hierüber müssen naturgemäß noch
spärlicher sein, da die frühe weibliche Kastration ungemein
selten ausgeführt wird.
In Ostindien soll sie, wie Roberts angibt, häufiger
vorgenommen werden. Die Mädchen bekommen dann keinen
Busen, keine Schamhaare, das Becken bildet nicht den cha-
rakteristisch weiblichen Schambeinwinkel, ^sie bekommen keine
Menstruation und auch keinen Geschlechtstrieb.
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Es besteht also das durchgehende Gesetz,
daß je früher die Kastration stattfindet, um so
eher eine Beeinträchtigung des Geschlechts-
lebens, vor allem der Libido, d. h. des ge-
schlechtlichen Verlangens die Folge ist. Beim
reifen Individuum hat die Entfernung der Eierstöcke nur
einen mäßigen Einfluß auf Libido und Orgasmus, ein Einfluß,
der auch auf rein psychischem Wege erklärt werden kann
und der oft genug in den durch die Operation hinreichend ge-
gebenen psychischen Hemmungen der weiblichen Vor-
stellungswelt gesucht werden muß. Jedenfalls gibt es zahllose
Fälle kastrierter Frauen mit ungeschwächter Sinn-
lichkeit, ja es gibt Fälle, in denen erst nach dieserschein-
bar verstümmelnden Operation, sei es aus Nachlaß
vorheriger Schmerzen, sei es aus Wegfall psychischer Hem-
imungen (z. B. Angst vor Mutterschaft) das Geschlechts-
empfinden überhaupt eintritt oder ein ver-
bessertes wird.
Unter zahlreichen Fällen dieser Art, die jedem Operateur
mit größerem Material vorkommen dürften, die jedoch vom
reiner. Gesichtspunkte des absoluten Geschlechtsempfindens
aus selten beschrieben werden, führe ich den Mensinga-
sehen an, der unter dem Titel : „Entfernung der Zeu-
gung sfähigkeit — Verstümmelung?" (Inter-
nationale Klinische Rundschau 1 890) veröffent-
licht ist.
Fall VIII.
(M e n s i n g a).
Patientin hat 8mal geboren. Sie hat die mannigfachsten Unter-
leibskrankheiten durchgemacht (Ovariitis, Ischias etc.), ohne dauernde
Heilung und Linderung ihrer Schmerzen zu finden. Nach langem
Bedenken wird schließlich zur Operation eingewilligt, bei welcher
beide v&elfach verwachsene Ovarien entfernt wurden. Die Menses
sistierten danach sofort.
Der vorher ausnahmsweise nur höchst selten
geübte Coitus brachte nach etlichen Stunden
einen nervösen Schmerzparoxystnus besonders im
Gehirn bis zum Wahnsinnigwerden hervor.
Nach der Operation waren die Symptome viel erträglicher. Ja,
die geschlechtliche Potenz (sie!) welche in den letzten 10—12
Jahren auf Null reduziert war, hat sich nach Aussage des
Gatten nicht nur wieder eingestellt, sondern den früheren Grad
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an Libido entschieden übertroff en. Was Wunder! Die
Furcht vor den vernichtenden geistigen und körperlichen Folgen ist
ja vollständig aufgehoben!
Über den Einfluß der Uterus-Exstirpation können
wir uns verhältnismäßig kurz fassen. Es ist schon von vorn-
herein unwahrscheinlich, daß dieses Organ, welches nur im
losen Zusammenhange zum Geschlechtsgefühl steht und das
im wesentlichen nur die K a m m e r für den wachsenden Fötus
ist, nennenswerten Einfluß auf die Libido hat.
Solange die Ovarien erhalten sind, ist das der Gebär-
mutter beraubte Individuum viel weibähnlicher geblieben, als
nach der weit geringeren Operation der reinen Kastration.
Von keiner Seite ist je ein erheblicher Einfluß der Gebär-
mutterentfernung auf die Libido behauptet worden.
Auch Glävecke bemerkt zu seinen Fällen, daß das
sexuelle Empfinden „im wesentlichen unverändert
geblieben sei."
Wenn überhaupt ein Einfluß, so könnte hier im Durch-
schritt nur ein heilsamer erwartet werden, da die große
Und immerhin lebensgefährliche Operation in vielen Fällen
wegen schmerzhafter Geschwülste unternommen wird, die, so-
lange sie wuchsen und bestanden, sicherlich oft eine hin-
reichende Hemmung für das Aufkommen vollen Em-
pfindens abgaben. .
Wir kommen noch einmal auf die eigentliche „Ver-
sen n e{i d u n g", d. h. die Entfernung von Kitzler und kleinen
Schamlippen zurück, die bei vielen Völkern aus rein religiösen
Gründen ausgeübt wird, um die Sinnlichkeit zu ersticken oder
in Schranken zu halten. Von der europäischen Bevölkerung
ist die russische Sekte der Skopzen diesem Glauben
unterworfen und trotz strenger Strafen und Verbote von Seiten
der Regierung zählen ihre praktischen Anhänger nach
Tausenden. ,
Bei der Beobachtung und Beschreibung dieser Sekte
wiederholt sich wie immer dasselbe Spiel widerstreitender
Meinungen, sobald die Konsequenzen der Verschneidung in
Bezug auf die weiblich sexuelle Gefühlssphäre gezogen werden
sollen. Immer und wieder wird die Häufigkeit
der gewöhnlichen Anaesthesia feminarum
Adler, Oeschlechtsempfindung. 3. Aufl. 6
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unterschätzt und jedes weibliche Individuum
von dem Gesichtspunkte aus betrachtet, als ob
es von Hause aus volles Gefühl gehabt hat oder
haben müßte.
Pelikan zitiert deshalb selbst im Gegensatz zu seiner
eigenen Wahrnehmung Nadeschdin, der sein Urteil über
die verschittenen Skopzenweiber durchaus nach der
gefühlsaufhebenden Seite hin formuliert und den Aus-
fall der Empfindung nicht nur bei der wahren
Kastration, bei Klitoris- und Nymphen-Ver-
schneidung, sondernselbstbeiderExstirpation
beider Brüste, wie sie ebenfalls als eine alleinige Form
der Verschneidung bei den Skopzenweibern geübt wird, be-
hauptet.
Nadeschdin sagt: „Da die Brüste mit dem
Uterus in einem engen sympathischen Konnex
stehen, so muß ein Mangel derselben aller Wahr-
scheinlichkeit nach die Frau des Konzeption s u
vermögens und zugleich auch des Vergnügens}
beim Coitus (!) berauben, was teilweise sefion
darin seine Bestätigung findet, daß die auf
solche Weise verstümmelten Frauen sich dem
äußeren Ansehen nach durch ebendieselbe
Bleichheit, Welkheit und Leblosigkeit in der
Gesichtsfarbe auszeichnen wie die wahren
Skopzen."
Der gleiche Beobachter behauptet des weiteren, daß fast
alle Skopzenweiber, selbst solche ohne deutliche Verstümme-
lung welk aussehen und erklärt das durch den widernatür-
lichen, von anhaltender Reizung ohne Befriedigung begleiteten
Coitus mit Skopzen, die das „Zaren-Siege 1 <U ) nicht be-
sitzen.
¥ ) Bei den Skopzen sind die Moden die „S c h 1 ü s s e 1 z u r M ö 1 1 e",
das Glied der „Schlüssel zum Abgrund". Die einfache männ-
liche Kastration = Abtragung der Hoden wird „kleines Siege 1",
die volle Abtragung der Hoden und des Gliedes wird „zwcites=Zaren-
Siege 1", „zweite Reinhei t", „zweites Weißwerde n", „d e n
Schimmel besteige n", im Gegensatz zu „den Schecken besteigen"
(erste Reinheit) benannt. Wer das Zaren-Siegel also nicht besitzt, ist kein
Eunuch, sondern nur ein Kastrierter.
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Nadeschdins Beobachtungen sind nicht ganz richtig,
moch weniger seine Schlüsse, die er daraus zieht. Pelikan,
der Nadeschdins Untersuchungen fortsetzte, hat selbst
„sehr schöne, rotwangige Weiber der Sekte" ge-
sehen. In der Mehrheit gibt auch er allerdings' deren welkes
Aussehen zu, sucht aber den Grund in viel einfacheren und
natürlicheren Ursachen, in der ganzen Lebensführung und
Ausbildung der Psyche.
Der Laie weiß aus der Beobachtung des täglichen Lebens
sehr wohl, daß Gram, Kummer und Sorgen, überhaupt jede
länger dauernde psychische Alteration dem Körper Welkheit,
dem Gesichte Kränklichkeit, Blässe und Furchen nur allzu-
leicht zu verleihen imstande sind. Bei den Skopzen ist es
»wohl am nächstliegendsten, an ähnliche psychische Mo-
mente zuerst zu denken. Eine Sekte, welche so widernatürliche
Verstümmelungen freiwillig erduldet und welche aus falscher
Religiosität eine mißverstandene Stelle des Evangelium Mat-
thäi *) zu ihrem praktischen Glaubensbekenntnis gemacht hat,
arbeitet und denkt von vornherein mit einem fehlerhaften
Gehirn.
Tatsächlich ist es mit der Verschneidung allein bei ihnen
nicht abgetan. Diese Fanatiker leben in andauernder Ent-
haltsamkeit, nehmen nur dürftige, wenig nahrhafte Kost zu sich
und suchen den Rest der Seligkeit in eifrigstem Beten. Dazu
kommt das niederpressende Gefühl der Heimlichkeit und Be-
drückung, denn selbstverständlich stehen bedeutende Strafen
auf solcher Selbstverstümmelung, und damit ist das Bild eines
körperlich und psychisch falsch lebenden Individuums fertig.
iMan füge noch den Kampf mit der vielleicht hinreichend
vorhandenen Sinnlichkeit hinzu (denn tatsächlich wird solche
durchaus nicht durch die genannten Operationen unterdrückt)
und der psychischen Momente sind genug vorhanden, um
Kraft und blühendes Leben aus den Adern zu bannen.
Kitzler und kleine Schamlippen gehören, wie wir gesehen
haben, in erster Linie zu den „erogenen" Zonen. Aber
*) Matth. XIX, 12: „Denn es sind etliche verschnitten,
die sind aus Mutterleib also geboren ; oder sind etliche
verschnitten, die von Menschen verschnitten sind; oder
sind etliche verschnitten, die s i c h, s e 1 b s t verschnitten
haben, um des Himmelreichs wille n."
6*
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sie sind es nicht allein. Wir erinnern noch einmal an
Guttzeits Ausspruch, der die Exstirpation der Klitoris zur
Heilung der Nymphomanie „baren Unsinn" nennt.
R o h 1 e d e r befindet sich in einem gewaltigen Irrtum,
wenn er behauptet, „daß eine verkümmerte Klitoris
oder gar Fehlen derselben als Sitz des Wollust-
gefühls (!) den Zustand der Dyspareunie be-
dingen muß".
T-elikan kann die „schwere" Beeinträchtigung der
Sinnlichkeit weiblicher Skopzen nicht zugeben:
„M an wird über den Einfluß derartiger Ver-
letzungen auf die Geschlechtstätigkeit der
Frauen nur so viel sagen können, daß dieselben,
indem sie die Empfänglichkeit oder Reizbar-
keit (W oiiuit) oder die Neigung zum Beischlaf
(besonders nach Exstirpation der Klitoris) bei
den Frauen mindern, zugleich auch ein mecha-
nisches (aber zu beseitigendes) Hindernis für
den normalen Coitus und die Geburt abgeben."
Zum Verständnis der letzten Bemerkung sei hinzugefügt,
daß sehr häufig durch Verschneidung der kleinen Schamlippen
eine volle oder teilweise Verwachsung der Schamspalte
stattfindet, die also rein mechanisch einen späteren Coitus
Verbietet oder wenigstens behindert. Es ist einleuchtend, daß
im Bedarfsfalle die operative Herstellung der Passage nicht
allzu schwierig sein dürfte!
Die weibliche Verschneidung ist auch bei vielen
flicht zivilisierten Stämmen eingeführt, z. B. auf Buru, (alferi-
scher Archipel), bei den .Indianern von Ecuador, im Sudan
(vgl. Ploß-Bartels : Das Weib).
Der Sinn und Zweck der Operationen ist bei den einen,
den Geschlechtstrieb vor der Verheiratung zu unterdrücken,
bei anderen gerade umgekehrt, um sie „fähiger und' ge-
schickter zu machen, ihren natürlichen Ob-
liegenheiten nachzukommen".
Im Sudan findet die volle Vernähung (Infibu-
lation) statt. Vor der Hochzeit schickt dann der Bräutigam
den Angehörigen seiner Braut ein „Holzbild" seines Penis
als Maß für die Öffnung, die gemacht werden soll! Es wäre
interessant, in diesen Fällen eine Statistik über spätere An-
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aesthesia sexualis zu erhalten, da bei dieser Methode die
schmerzhaften und blutigen Beschwerden der Hochzeitsnacht
und der anfänglichen oft recht zweifelhaften Ehefreuden, welche
häufig den ersten und dauernden Anlaß für weibliche An-
ästhesie abgeben, als Ursachen fortfallen!
Wir kommen zum letzten Teil unseres Kapitels, zu dem
Verhalten der Libido vor der Geschlechtsreife
und nach Aufhören der regelmäßigen menstru-
ellen Blutungen, im Klimakterium.
Selbstverständlich ist Anaesthesia sexualis im geschlechts-
u n reifen Alter das Normale. Kinder beiderlei Geschlechts!
müssen untereinander verkehren und ihren Spielen obliegen,
ohne ein anderes Bewußtsein ihres Geschlechtsunterschiedes
zu besitzen, als daß sie verschiedenartig gekleidet sind.
In einem bekannten Scherz wird erzählt, daß Kinder an
einer verbotenen Stelle gebadet hätten. Ein einzelner Knabe
konnte nicht mehr entwischen, als die strenge Polizei nahte.
Er wurde gefragt, ob auch Mädchen an dieser Stelle gebadet
hätten, worauf er antwortete, daß er das nicht wisse, weil er
zu spä; gekommen sei und alle anderen wären schon entkleidet
gewesen !
In diesem Scherze liegt eine unbewußte psychologische
Wahrheit, die Tatsache des absoluten Mangels jeden ge-
schlechtlichen Empfindens, ja selbst der Ahnung und Vor-
stellung davon. Erst mit der beginnenden Geschlechtsreife
meldet sich das „Geschlechtsgef ühl", aber auch dann
ist es noch kein ausgesprochenes, sondern „ein rein sub-
jektives, körperliches Gefühl, welches in einem
Sehnen und Drängen besteht, dem kein be-
stimmtes Endziel vorschwebt" (Max Dessoir:
Zur Psychologie der Vita sexualis. Allgemeine
Zeitschrift für Psychiatrie und physisch gerichtliche Medizin
1890. Bd. 50. pag. 941 etc.).
Derselbe Autor nennt dieses erste wahre Gefühl das
„undifferenzierteGeschlechtsgefühl" und kommt
auf seiner Basis zu den allerdings etwas sonderbaren Schlüssen
über die Entstehung der Homosexualität.
Mangel jedes geschlechtlichen Triebes ist also in der
Kinderzeit das Natürliche und Normale. Wenn trotzdem auch
vor der Pubertät (und es sind feststehende Fälle aus dem
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*6. und 7. Lebensjahre und früher mit Sicherheit bekannt)
masturbiert wird und wie es scheint mit erschreckender Zu-
nahme, so ist das ein Beweis, daß das Gehirn als solches bei
hinreichender Veranlagung und Beeinflussung seiner Vor-
stellungswelt allein imstande ist, den vorbereitenden Erregungs-
zustand für den Orgasmus zu schaffen, der sonst normalerweise
(nur in der Geschlechtsreife als Geschlechtstrieb sich aus sich
selbst entwickelt und bildet.
Frühe Masturbation ist wohl ausnahmslos die Folge der
Unterweisung und Verführung, die großgezogen und gefördert
wird durch laszive Vorstellungen und Lektüre. Ich glaube,
daß ein einzelnes, einsam erzogenes Individuum vor der
Pubertät niemals den Weg zur Masturbation von selbst finden
wird, bevor nicht die natürliche Geschlechtsreife gewaltsam
den Drang ankündigt. Aufs neue geht aber aus den Tatsachen
hervor, daß sowohl Geschlechtstrieb wie Geschlechtslust, das
heißt, die Fähigkeit, den Höhepunkt, den Orgasmus zu er-
reichen, vorgebildet in der Psyche liegen und dasi „psy c ho-
se xu eil e" Zentrum oft nur des leisesten Anstoßes bedarf,
um schon vor seiner physiologischen Reife in Aktion zu
treten.
Wenn normalerweise der Eintritt der monatlichen
Blutungen des Weibes in der Geschlechtsreife den ersten An-
stoß zum geschlechtlichen Fühlen und Sehnen abgibt, so liegt
der Schluß nahe, daß mit dem Aufhören dieser periodischen
Blutungen, wodurch das geschlechtsreif e Weib zugleich mit
seiner Zeugungsfähigkeit aufhört, auch das Geschlechtsgefühl
versiegt, daß die Anaesthesia sexualis der Kinderzeit wieder
in ihre Rechte tritt.
Die Abhängigkeit des weiblichen Geschlechtsempfindens
von der Menstruation ist wiederholt in diesem Buche betont
worden. Die durchschnittlich weit gedämpftere Sinnlichkeit
des Weibes erreicht doch zeitweise bemerkenswerte Er-
hebungen unmittelbar vor, während und direkt
nach den Menses.
Die Tatsache ist allgemein bekannt und Krieger (Die
Menstruation 1869) erwähnt ihrer als einer häufigen und
normalen Begleiterscheinung.
„Es findet oft Reizbarkeit und trübe Stim-
mungstatt, zuweilengepaart miteinemerhöhten
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Grad von Sinnlichkeit." Für pathologisch hält er es
jedoch schon, „wenn ein so lebhaftes Verlangen
nach Liebe eintritt, daß dasselbe den Charakter
der Nymphomanie annimmt, so daß Frauen den
Coitus suchen, die ihn sonst fliehen."
Im allgemeinen wird man annehmen können, daß mit
dem Aufhören des spezifisch produktiven Geschlechtslebens
des Weibes zugleich auch das Geschlechtsempfinden
langsam abklingt und nachläßt. Jedoch nur sehr lang-
sam und ganz allmählich und ganz im Verhältnis? wie auch
sonst die nun in das Alter der Matrone einge-
tretene Frau in ihrem Wesen und ihrer Erschei-
nung entweder jung bleibt und sich erhält oder
früh den Charakter der verfallenden, alten
Frau annimmt.
Die Menstruation pflegt ja an und für sich schon nur
in den seltensten Fällen plötzlich zu zessieren; meist reicht
ihr langsames und allmähliches Verschwinden über Jahre hin-
weg. In dieser Übergangszeit, die auch sonst iüt die Frauen
eine häufig allzu„kritische" zu sein pflegt, in der Verände-
runger auf vielen Gebieten des Nervensystems zur qualvollen
Erscheinung kommen, findet sich merkwürdigerweise nicht
allzu selten eine Erhöhung des Geschlechtsbedürfnisses.
„Die Libido sexualis erfährt häufig zur Zeit
der Klimax eine Sieigerung der Intensität, die
geradezu qualvoll werden kann" (Börner: Die
iWechseljahre der Frau).
Kisch bemerkt in seiner Arbeit über „Das klimak-
terische Alter der Frauen" (Erlangen 1874):
„Die Geschlechtslust des Weibes, der sexu-
elle Trieb, scheint die Jahre der Cessation der
iMenses, wie die Zeit der möglichen Fruchtbar-
keit mit zu überdauern. Wenigstens deuten
schon darauf die vielen Ehen hin, welche von
Frauen im höheren Alter geschlossen werden."
Kisch begleitet hier eine richtige Tatsache mit einem
jedenfalls sehr schwachen und einwandsfähigen Schlüsse. Es
ist viel wahrscheinlicher, daß eine Wiederverheiratung ledig-
lich aus sozialen Rücksichten geschieht. Das Weib ist in
seinen vorgerückten Jahren alleinstehend noch weit mehr der
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Vereinsamung ausgesetzt als der Mann. Um dieser zu ent-
gehen, um wieder einen Wirkungskreis und Lebenszweck zu
haben, schließt es einen neuen Ehebund. Der Rest sexueller
Mitgift, wenn ein solcher noch vorhanden, wird dann gewiß
dankbar als Zugabe mit übernommen.
Normalerweise wird die Libido je nach Anlage und Kon-
stitution vom Augenblicke der letzten Periode an langsam
an Intensität verlieren. Besonders wird das spontane Ver-
langen geringer werden, da einer der natürlichen Reize, die
monatliche- Reifung im Eierstocke mit ihren konsekutiven
'Blutwallungen in den ganzen Unterleibsorganen, sowie die
„innere Sekretion" erloschen ist. Dagegen ist der Fortfall
gewisser Hemmungen, die sonst den Liebeshunger und
den Orgasmus gestört haben können, die Angst vor erneuter
Mutterschaft, etwaige Schmerzen zur Zeit der Menses etc.,
auf der anderen Seite nicht zu unterschätzen. Im Gehirn *
bleibt die Tätigkeit des psychosexuellen Zentrums noch
lange bestehen, und die Erinnerung an die erlebten Freuden
vermag noch lange bei genügender Anregung von seiten des
Mannes die Fähigkeit wachzuhalten, die Wonnen der alternden
physischen Liebe, wenn auch nicht so kraftvoll und stürmisch
wie ehemals, so doch immerhin reizvoll zu genießen.
Im Durchschnitt wird man der klimakterischen Frau, die
vordem nicht sexuell anästhetisch war, noch eine etwa 10jährige
Dauer ihres langsam abnehmenden Geschlechtsempfindens zu-
sprechen können, so daß die den Sechzigern zueilende Ma-
trone als nahezu erloschener Vulkan zu betrachten ist. Selbst-
verständlich kommen ausnahmsweise weit höhere Grenzen vor,
und Guttzeit erzählt von einer 68jährigen Gattin, die im
Verein mit ihrem 82jährigen noch immer geschlechtsfreudigen
Ehegemahl den physischen Genuß der Liebe wohl zu bewahren
gewußt hatte!
Ich erinnere noch an den bekannten Ausspruch der mit
70 Jahren wegen ihrer Jugendlichkeit und Schönheit gefeierten
und gepriesenen Ninon de l'Enclos. Im Widerstreite der
Meinungen, wann die Liebe aufhöre, wandte man sich
an sie als Schiedsrichterin: „Ich bedaure," antwortete sie' be-
kanntlich, „Ihnen das nicht sagen zu können, da müssen Sie
eine — Ältere fragen."
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VI. Kapitel.
Relative Unempfindlichkeit bei Masturbation.
Anaphrodisia ex causa masturbatoria.
Scheinbarer Widerspruch der geschlechtlichen Empfindung bei
Masturbation und Empfindungslosigkeit in coitu. Die vermehrte Schwierig-
keit des Krankenexamens. Konstante Leugnung der Masturbation. Das
Wesen der Masturbation. Volksglaube. Kurpfuscher. Psychische
Alteration. .Umbildung der Phantasie. Keine organischen Folgen. Ärzt-
liche Urteile: Koblanck, Hegar, Litzmann, v. Krafft-Ebing, Mantegazza,
Moraglia, Guttzeit. Menstruatio parca, dolorosa et discolorata. Mastur-
bation verhältnismäßig' harmlos, wenn sie nicht zur Leidenschaft, zur
geistigen Onanie ausartet. Praktische Fälle. Torrgier (1 Fall), Laker
(3 Fälle) — seine Erklärung durch Insensibilität der Vaginal- und Portio-
Nenenfasern. Kleine anatomische Mißverhältnisse. Loimann (5 Fälle) —
erworbene pathologische Veränderungen. Fall XVI (eigene Beobachtung).
Kritik. Veränderung in den Leitungsbahnen. Gewöhnung. Beispiel des
Schlafes.: Seltene Analogie beim Manne wegen anderer mechanischer Vor-
aussetzungen. Fall einer solchen Analogie (XVII). Masturbatio inasculina
und feminalis in mechanischer Beziehung zum normalen Coitus. Die» un-
geeignete Lage der Klitoris für die gewöhnliche Copula. Begattung in
der Säugctierwelt a posteriore. Die Klitoris als entwicklungsgeschicht-
liches Derivat (Hypothese). Der menschliche Coitus ab anteriore auf
Kosten des Weibes. Resume.
Es klingt von vornherein wie ein Widerspruch, daß, wie
der Titel dieses Kapitels sagt, geschlechtliche Unem-
pfindlichkeit und Masturbation Hand in Hand
gehen.
Das Weib, das masturbiert, d. h. das durch eigene Manipu-
lationen, jedenfalls nicht auf dem normalen Wege des zwei-
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geschlechtigen Coitus, Befriedigung sucht und findet, muß
eo ipso Libido d. h. das Verlangen nach ge-
schlechtlicher Befriedigung besitzen und höchst-
wahrscheinlich, wie in den allermeisten Fällen auch zu kon-
statieren ist, zur früher geschilderten Akme der Libido, zum
vollen sinnlichen Höhepunkt, zum wahren Orgas-
mus gelangen.
Trotz dieses Widerspruchs istdieMasturbationeine
der häufigsten Ursachen der weiblichen Un-
empfindlichkeit beim normalen Geschlechts-
v e r k e h r. Man kann in diesen Fällen nicht gut von „e i s i g e n
undkaltenNaturen" (natura f rigida) sprechen. Im Gegen-
teil, derartige Frauen sind häufig allzu sinnlich und empfinden
es als eine schwere und drückende Last, daß sie den Kitzel
der Wollust nur auf dem indirekten, manuellen Wege und
nicht durch die reguläre immissio in den Armen eines Mannes
zu befriedigen imstande sind.
Wer systematisch auf das Geschlechtsleben des Weibes
bei jedem einzelnen Krankenexamen eingeht, wird dieser Form
der Unempfindlichkeit am meisten begegnen. Jedoch auch
hier hüte man sich vor Täuschungen! Es ist schon schwer,
die Tatsache der Unempfindlichkeit allein als einwandsfreies
Bekenntnis zu empfangen, viel schwerer aber ist in solchem
Falle das Geständnis, daß Masturbation mit Erfolg getrieben
wurde und sich in der Ehe erhalten hat. Von selbst macht
eine Frau dieses Geständnis fast nie oder sie müßte bereits
eine abwechslungsreiche Schule geschlechtlicher Erfahrungen
hinter sich haben, die jede Bedenklichkeit erotischer Er-
fahrungen in Wort und Tat längst unterdrückt hat! Die
Durchschnittsfrau, deren Liebeserfahrungen sich an einen
Mann knüpfen, entrollt die Details ihrer Vita sexualis nur
lauf sachkundige ärztliche Fragen, welche der Patientin das
Verständnis ihres ärztlichen Ratgebers für den Zusammen-
hang ihrer Klagen vor Augen führt. Man glaubej auch nicht,
daß hier mit einem einzigen Male eine volle Beichte zu er-
reichen ist. Das natürliche Schamgefühl kann auch dem Arzte
gegenüber oft erst langsam und allmählich gebrochen werden.
Ich verweise hierbei auf den früher geschilderten Fall l, in
hvelchem die Patientin erst nach dreiwöchiger Behandlung die
Masturbation zugestand.
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Es bleiben selbst bei direktem und schonendem Kranken-
examen sicher noch Fälle übrig, in denen die Frauen ein
jMasturbationszugeständnis trotz nachgiebigsten Eingehens und
Fragens nie und nimmer machen. Aus dem Komplex anderer
Erscheinungen und vor allem aus der besonderen Entrüstung,
mit welcher diese falschen Moralistinnen eine derartige Frage
und Zumutung zurückweisen, läßt sich oft mit annähernder
Sicherheit auf das versteckte Vorhandensein des
geleugneten Triebes schließen.
Der Grund dieser Ableugnung liegt einmal in dem
iWunsche mancher Frau, auch vor dem Arzte als beklagens-
wertes aber unantastbar moralisches Weib zu gelten, dann
aber überhaupt in der Furcht vor dem Geständnis einer Tat,
die allgemein als eine „Sünde" und schwere „Verirrung"
gilt
An dieser Stelle scheint es zweckdienlich, das Wesen, der
Masturbation, oder um den häufiger gebrauchten, aus
der Bibel abgeleiteten synonymen Ausdruck „Onanie" zu ge-
brauchen, zugleich in ihren Folgen kritisch zu beleuchten.
Im Volksmunde, genährt durch angsterweckende Reklame-
schriften (Jugendspiegel, Jugendsünden, Selbstbewahrung etc.)
gilt die Selbstbefriedigung (Masturbation, Onanie) als ein
scheußliches und gefährliches Laster, das zu den bedenk-
lichsten Krankheiten, zu schwerem Siechtum, ja zum Tode
führen muß.
Selbstverständlich sind solche extremen Schlüsse zum
Jgroßen Teil das Produkt des materiell richtig rechnenden Kur-
pfuschertums, welches auf diese Weise die angstgequälten
Masturbanten scharenweise in sein Lager treibt. In unserem
mervösen Zeitalter ist das gleichzeitige Vorkommen von irgend
einem nervösen Symptom und von Masturbation an ein und
demselben Individuum bei der unendlichen Häufigkeit beider
so selbstverständlich, daß der Charlatan, indem er die Mastur-
barion als die Ursache aller Leiden ausschreit, sofort gefällige
Ohren findet. Abgesehen von den materiellen Opfern, die
auf diese Weise den Patienten entlockt werden, um schnell
die Taschen des Kurpfuschers reichlichst zu füllen, hat ein
derartiges Verhalten und Angstmachen eine unzweifelhaft tiefe
und schädliche Einwirkung auf den Masturbanten, tiefer und
schädlicher als der ganze organische Prozeß der Masturbation
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selbst. Das Hauptleiden des Onanisten ist eben ein psychisches
und untergräbt die natürliche und gesunde Gleichmäßigkeit
seiner Lebensvorgänge durch Selbstvorwürfe, die am Gehirn
und an den Nerven nagen, um schließlich peripher auszuarten.
Die Masturbation ist immer eine Art Nerven- oder Geistes-
krankheit, der man nach den allgemein verständlichen Regeln)
nicht durch brutale Schreckbilder heilend entgegentreten kann.
Im Gegenteil! Dadurch kann höchstens eine Verschlimme-
rung der alterierten Psyche zu tieferer, gefährlicherer Geistes'-
erkrankung eintreten.
Rein physiologisch von den peripheren Wollustorganen 1
aus betrachtet, ist es absolut unverständlich, warum die
Masturbation gegenüber dem normalen Coitus eine so ver-
schriene und schädliche Wirkung haben soll.
Sie wird es erst durch die Häufigkeit, durch
die allzeitige Gelegenheit und durch die über-
triebene Wiederholung.
Ferner ist nicht zu leugnen, daß eine falsche Geistes^
richtung dadurch gefördert und großgezogen werden kann.
Der nonr.ale Reiz, den das jeweilig andere Geschlecht auf die
Sinnlichkeit ausübt, fällt allmählich fort, und die Phantasie
bildet sich ihre eigenen Bilder, denen das Individuum entgegen
der Wirklichkeit mehr und mehr nachgeht. So bildet sich
langsam eine eigene Welt der Gedanken aus, die im Wider-
spruch mit dem gegenseitigen Finden der Geschlechter steht
und das Benehmen ändert. Der Masturbant wird tatsächlich
oft ein weltfremder Sonderling, dessen scheue und zerstreute)
Zurückhaltung auffällt, dessen Energie beeinträchtigt ist. Er
ist wenigei widerstandsfähig, „schlaff", ein Träumer, in dessen
Bbc* etwas Unsicheres wohnt und dessen Gedanken einer
inneren fremden Vorstellungswelt gehören.
Außer dem Erwerb, dem Streben zum Unterhalt des
Lebens, ist der geschlechtliche Drang die mächtigste Trieb-
feder zur Entfaltung der persönlichen Kräfte und zur Ein-
fügung in das Getriebe des gesellschaftlichen Lebens und seiner
gegenseitigen Erfordernisse. Der Masturbant verzichtet auf
letzteres und findet in der Stille den Genuß, den sonst nur der
gesellschaftliche Kampf erlaubt und gewährt. Seine Energie
leidet, und damit wird Schlaffheit und Welkheit des Denkens
und Strebens oft genug seinem Naturell die Signatur geben.
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Allein ein organisches Leiden folgt daraus noch lange nicht.
Erst wenn die genügenden Selbstvorwürfe hinzukommen, kann
der Geist eine dauernde und schwere Beeinträchtigung er-
fahren, die irreparabel wird und den Kranken zum schweren
Neurastheniker mit dem Heer der vielseitigsten nervösen
Symptome machen kann. Die Wirkung ist dann die gleiche,
wie bei einem schweren Schicksalsschlag, das Oehirn hat eben
nur anstatt eines plötzlichen ein langsam wirkendes Trauma
erlitten. Aber man wähne nicht, daß der rein organisch-
physisch-mechanische Vorgang der Masturbation diese Ver-
änderungen allein zu erregen imstande sei *).
Die wissenschaftliche Medizin kennt die Masturbation als
Ursache so vieler von den Kurpfuschern verschrienen Krank-
heiten nicht an. Man kann einen normalen Studiengang durch-
gemach, haben und hat bei den 100 und 1000 Krankenvor-
Istellungen in den verschiedensten Kliniken niemals von Onanie
als Ätiologie zu hören bekommen. Vergeblich wird ein Arzt
in seiner Erinnerung suchen, ob er je auf der Universität einen
zusammenhängenden Vortrag über die Schädlichkeit der
Masturbation gehört hat.
K o b 1 a n c k hat in einem Vertrage in der Oesellschaft
für Geburtshilfe und Gynäkologie zu Berlin (cf .
Zeitschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie) den Zusammen-
hang mancher Frauenleiden wie : Dysmenorrhoe, Fluor, sogar
Eklampsie mit Masturbation statistisch zu erweisen gesucht.
iWohl verstanden nur den Zusammenhang! Er hütet sich zu
sagen: Die Masturbation ist die Ursache. Aber selbst in
dieser herabgesetzten Abhängigkeit ist der übermäßigen
Häufigkeit der Masturbation auch im weiblichen Geschlecht
nicht hinreichend Rechnung getragen. Rohleder gibt die-
selbe sogar auf 9 5 °a an ! Was will bei solchen Zahlen das
gleichzeitige Vorkommen beider bedeuten!
Die Urteile über das vv'esen und die Folgen) der Mastur-
bation gehen auch in ärztlichen Meinungen begreiflicherweise
auseinander. Allein kaum jemals wird man auch bei der
extremsten Ansicht von der tiefen Schädigung des Organismus,
von dem „furchtbaren Laster" zu hören bekommen.
•) Vergl. die Ausführungen J. J. Rousseau's in seinen Con-
fessions 1731—32.
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\
Hegar (Der Geschlechtstrieb) spricht zwar von
leiner „direkt lokalen Reizung", die selbst zu anatomi-
schen Veränderungen (Katarrhe, Hypertrophien) führen kann,
den Schwerpunkt erkennt er jedoch in der „hochgradigen
allgemeinen, nervösen und psychischen Er-
regung".
Litzmann (Behandlung und Erkenntnis von
Frauenkrankheiten) nennt die Masturbation eine
„widernatürliche Befriedigung" und spricht von
ihren Vertretern als den „Unglücklichen". Allein er er-
kennt offen- an, daß der Schaden vorwiegend nur in dem
„Stachel liegt, der oft lange nach Oberwindung
im „Gewissen" zurückbleibt."
v. Krafft-Ebing gibt nur die Veränderung des
psychosexuellen Lebens funktionell zu.
,,E s gibt Männer und Frauen, die nur mastur-
bieren, aber nicht coitieren können."
Mantegazza hält die Masturbation beim weiblichen Ge-
schlecht überhaupt für geringer und weniger schädlich.
Moraglia (Die Onanie beim normalen Weibe
und bei der Prostituierten 18Q7) resümiert das Er-
gebnis seiner Untersuchungen:
„Die Onanie ist nicht immer schlechtweg ein
Laster, vielmehr ist sie bisweilen ein bloßes
Übergangsstadium, durch welches man zur
Liebe kommt; auch ist sie häufig deren erste
Äußerung. Von kurzer Dauer bei normalen
Wesen, dauert sie fast stets für ewig bei den
unmoralischen und bei Prostituierte n."
G u 1 1 z e i t in seinem wieck .-holt zitierten Buche (30 Jahre
Praxis) ist der mildeste Beurteiler, der die Schädlichkeit
der Masturbation nur in ganz bedingter Weise zuläßt, in der
Mehrzahl der Fällt sie sogar als den NotbehelfderNatur
beiaus gesprochener Sinnlichkeit nicht nur ent-
schuldigt, sondern sc gar - empfiehlt.
Nach ihm sind häufig Dysmenorhoen junger Mädchen,
besonders die „M e n s 1 1 u a t i o parca, dolorosa et d j s -
c o 1 o r a t a" nur die Folge eines vorhandenen, aber
künstlich unterdrückten Geschlechtstriebes.
Tatsächlich kennt jeder einigermaßen hierin bewanderte Arzt
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seit altersher das beste Heilmittel im normalen Geschlechts-
verkehr und rät zur Ehe.
„Glücklich, wenn bald eine Heira t", sagt unser
Autor, „gut, wenn Instinkt oder Unterweisung
das Mädchen mit der Selbstbefriedigung be-
kannt machte. — Unglücklich aber, wenn diese
natürlichen Wege zur Heilung nicht betreten
werden; schlecht, wenn falsch verstandene Re-
ligiosität oder verkehrte Meinung die Selbst-
befriedigung als etwas sündhaftes oder schäd-
liches verwirft; unverzeihlich, wenn ärztliche
Ignoranz mit Emmenagogis, Nervinis, Ferrugi-
nosis, Narcoticis und künstlichen Blute ntlee-
rungen da Hilfe schaffen will, wo diese nur in
der Befriedigung des Naturtriebes gefunden
werden kann."
Im allgemeinen schließen auch wir uns der harmloseren
Auffassung der Atesturbation, soweit eine organische Schädi-
gung des Individuums in Betracht kommt, an. Das weib-
liche Geschlecht neigt so sehr zu Ausflüssen aller Art, deren
Ursachen noch lange nicht geklärt sind, leidet so häufig und
intensiv an Störungen und Beschwerden der Menstruation
ohne jeden Geschlechtsverkehr und ohne jede Masturbation,
daß in letzterer nicht nur vielfach vergeblich der Grund ge-
sucht wird, sondern nach Beseitigung des bisherigen Zu-
sfandes, d. h. also nach Einweihung in das geschlechtliche
Empfinden Beseitigung und Heilung eintritt.
Die Masturbation ist eine Krankheit nur wenn sie zum
übermäßigen T rieb, wenn sie zur Leidenschaft wird,
wenn sie zur geistigen Onanie ausartet und beständig
das Gehirn mit wollüstigen Bildern ausfüllt. Dann arbeitet die
Phantasie in eigenen Vorstellungen, und es ist möglich, daß
das Gehirn nicht mehr auf die normalen Reize der Außenwelt
reagiert und sich seine eigene Weltanschauung zurechtlegt.
Zu schwach und energielos, um gegen das Empfinden und
Denken der Umgebung anzukämpfen, entsteht die weltfremde,
frühe 1 " bereits geschilderte Zurückhaltung, und kommen gar
Gewissensbisse hinzu, so ist der Sonderling in das Stadium
der Psychose getreten, unter deren Einfluß natürlich auch
der Körper leiden muß. —
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Wir kehren zu dem eigentlichen Thema dieses Kapitels,
zum Zusammenhang von Masturbation und mangelhaftr Em-
pfindung in coitu zurück, öevor die theoretisch analytischen
Erwägungen Platz finden, mögen einige praktische Fälle so-
. wohl aus der Literatur wie aus eigener Beobachtung ange-
führt werden.
Fall IX.
(Franz Torrgier).
(Wiener klinische Wochenschrift 1 889, N o. 28. Kasui-
stischen Beitrag zur Perversion des weiblichen Ge-
schlechtstriebes.)
„Anfangs Januar d. J. konsultierte mich eine 20jährige, den
besseren Ständen angehörige Frau wegen bestehender
Sterilität. Dieselbe ist seit 6 Monaten mit einem 27jährigen,
eruierbar sehr gesunden Manne verehelicht und glaubt sich an der
Kinderlosigkeit schuld, um so mehr, als ihr Mann ein außereheliches
Mädchen von 4 Jahren besitzt. Eine genaue Untersuchung läßt
bei der üppigen Blondine keinerlei pathologische Befunde nach-
weisen. Bezüglich der Genitalien sei bemerkt, daß die Klitor.
auffallend groß, sie und ihre Umgebung gerötet ist; Introitus weit,
Vagina schlaff, Uterus und seine Adnexa, so weit abtastbar, normal.
Einzig und allein das Cervicalsekret etwas vermehrt, wogegen
Salizylstäbchen in den Ccrvix mit bestem Erfolge eingelegt wurden.
Erst im Verlaufe dieser öfteren Konsultationen
konnte ich nachfolgende Krankengeschichte aus den Angaben der
intelligenten und mir vertrauensvoll entgegenkommenden Patientin
zusammenstellen.
Familien beider Eltern gesund, in keinerlei Weise hereditär
belastet. Sie selbst das zweite Kind nach kaum 2jähriger Ehe;
erstes Kind (Knabe) starb mit 3 Monaten an Gastroenteritis. Pat.
besitzt nur noch ein, jetzt 12 Jahre altes Schwesterchen. Sie selbst
ist bis auf Masern im 8. Lebensjahre nie krank gewesen, entwickelte
sich frühzeitig und wurde im 13. Jahre zum erstenmal menstruiert.
Menses kehren seitdem regelmäßig in 4wöchentlichen Intervallen
wieder. Kurz nach Eintritt der Periode lernte sie durch eine im
Hause lebende ältere Verwandte Onanie kennen, die ihr große
Wollust bereitete. Um den nun bald stark auftretenden
Geschlechtstrieb zu befriedigen, fröhnte sie bis zum
16. Lebensjahre excessiver Masturbation, so zwar, daß sie oft im
Tage 2—3, ja 4mal onanierte, behauptet sogar, eine Zeitlang keinen
Schlaf gefunden zu haben, bevor sie nicht ihren stark erregten
Geschlechtstrieb durch Reibung oder Zerrung der Klitoris be-
friedigte. Im 16. Lebensjahre ging sie ein Liebesverhältnis mit
einem jungen Manne ein; auffallenderweise mäßigte sie damals
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ihre Onanie, ohne jedoch derselben ganz zu entsagen; nach ca.
V »jähriger Bekanntschaft ließ sie sich mit ihrem Liebhaber in
wechselseitige Masturbation ein, die ihr mehr Wollust verursachte,
wenn die Klitoris allein, als wenn die Vulva oder Vagina
mechanisch gereizt wurden. Einem Coitus wurde aus sozialen
Rücksichten standhaft Widerstand geleistet, trotz heftigem beider-
seitigem! Verlangen nach demselben. Erst im 18. Jahre erfolgte der
erste diesbezügliche Versuch, aber weder dieses Mal noch
bei dem in den nächsten 3 Monaten häufig aus-
geführten Beischlaf fand sie eine Befriedigung
des exzessiv gesteigerten Geschlechtstriebes.
Um diese zu erreichen, masturbierte sie nach voll-
zogenem! Coitus, den sie überhaupt nur aus Liebe zum
Manne, der jetzt von der früher geübten gegenseitigen Onanie
nichts mehr wissen wollte, zuließ. Nach plötzlicher Lösung dieses
Verhältnisses ergab sie sich neuerdmgs stark der einseitigen Mastur-
bation, die sie aber außer mit ihrer Verführerin nie mit einem
anderen weiblichen Individuum gepflogen hatte. Ihren jetzigen •
Mann lernte sie bald darauf kennen und ehelichte denselben auf
Grund wahrer Zuneigung gegen den Willen ihrer Eltern.
Aber auch mit ihm fand sie im normalen geschlecht-
lichen Verkehr keine Befriedigung, blieb daher der
ihr volle Befriedigung bereitenden Masturbation .weiter getreu. Ihrem
Manne, der vom ganzen Sachverhalte keine Kenntnis hat, gab sie
sich ohne jede Lust hin, bis sie in letzter Zeit darauf verfiel,
während des Coitus durch Manipulationen mit der Hand an
der Klitoris auch eine Befriedigung des eigenen Geschlechtstriebes
herbeizuführen. Trotzdem ist aber Patientin ob ihres Geschlechts-
zustandes und der Kinderlosigkeit unglücklich und besorgt und
wünscht dringend Abhilfe.
Um womöglich die bestehende Hyperästhesie einzudämmen, ver-
ordnete ich, außer möglichster Vermeidung jeder geschlechtlichen
Aufregung, größere Dosen von Bromnatrium und Lupulin, außer-
dem wurde die Klitoris nebst Umgebung öfters mit 10<>'oiger
Lapislösung bepinselt, einerseits um die bestehenden Reiz-
erscheinungen zu beheben, andererseits um die Sensibilität der Klitoris
abzuschwächen, in der Hoffnung, dadurch die Masturbation —
die. persönlich immer nur in manueller Friktion der Klitoris be-
stand — zu erschweren (?) Vielleicht würde es so später eher
gelingen, die in der Schleimhaut der Vulva, der Scheide und am Cervix
und Orifiüum uteri endigenden Geschlechtsnerven durch Jen Coitus
zu erregen und eine normale Befriedigung des Geschlechtstriebes
herbeizuführen.
Der Erfolg war freilich kein glänzender; Pat. gab nach 3 Wochen
an, zwar weniger von geschlechtlichen Aufregungen geplagt zu sein,
daher selten der Onanie zu pflegen, der Beischlaf aber bringe ihr
noch nie jene volle Befriedigung wie die Masturbation, wenn sie
auch zugeben müsse, jetzt durch den einfachen Beischlaf öfters
Adle r, Geschlechisempfindung. 3 Aufl. 7
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doch zum Bewußtsein von Geschlechtsempfindung zu kommen. . . .
Leider ist mir eine weitere Verfolgung resp. Behandlung des inter-
essanten Falles nicht möglich, da seit) 4 Wochen die Frau sich meiner
Behandlung entzogen."
Die kurze Kritik, die Torr gl er diesem Falle anfügt,
wendet sich nur in wenigen Worten gegen die Theorie der
L a k e r sehen Fälle, der den anatomischen Grund dieser Per-
version in dem alleinigen Vorhandensein der End-
ausbreitungen der sensiblen Nerven in der
Klitoris sucht, und die anderen Genitalpunkte
als „insensibel" betrachtet.
So wenig wir selbst auf dem Boden dieser schwachen
und etwas simplen Erklärung Lakers stehen, so wenig
können wir jedoch auch gerade den vorliegenden Torrg-
1 c r sehen Fall als Gegenbeweis anerkennen. Wenn Torrgier
aus den minimalen Besserungszugeständnissen seiner Patientin,
die für den vorurteilsfreien Leser kaum melir als eine resig-
nierte und negierende Konnivenz bedeuten dürften, den Schluß
auf die beinahe wiedergewonnene Sensibilität und Erregungs-
fähigkeit der anderen Genitalpunkte zieht, so erscheint doch
das vorliegende Resultat hierfür etwas allzu dürftig. Wie
meist ist auch hier die psychische Erklärung ganz außer
Acht gelassen. Wir werden später an einem eigenen Falle
einige Worte hinzufügen.
Wir schließen an den Torrgierschen Fall unmittelbar
die Lake r sehen Fälle („Über eine besondere Form
ven verkehrter Richtung („Perversion") des
weiblichen Geschlechtstriebes" — Archiv für
Gynäkologie, Bd. XXXIV) mit den Erklärungen und
Deutungen des Verfassers an. 1
Fall X.
(Erster Lak erscher Fall.)
M. R., 27 Jahre alt, stammt von gesunden, erblich nicht be-
lasteten Eltern, i'n ihrer Jugend überstand sie einmal Diphtherie.
Masern und Scharlach. Seither ist sie stets gesund. Sie fühlte
schon als Mädchen von 12 Jahren das Erwachen geschlechtlicher
Regungen und hatte bereits im 15. Lebensjahre, ihrem mächtigen
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Geschlechtstrieb folgend, geschlechtlichen Umgang, der ihr aber
niemals die leiseste Befriedigung gewährte. Zwei
Monate später stellten sich die Menses ein, welche seither regel-
mäßig alle drei Wochen wiederkehrten. Einige Monate später
wurde sie durch den Umgang mit Freundannen zur wechselseitigen
Onanie verleitet und von da an suchte sie und fand auch stets
volle Befriedigung ihres Geschlechtstriebes. Sie fühlte sich dabei
aber unglücklich, das Krankhafte ihrer verkehrten Richtung völlig
einsehend, und tröstete sich anfangs nur damit, daß die Schuld
vielleicht nicht an ihr, sondern an ihrem Geliebten gelegen sein
konnte. Sie verkehrte seither noch mit mehreren Männern, in der
Hoffnung, auf natürlichem Wege eine Befriedigung ihres Ge-
schlechtstriebes erreichen zu können und heiratete aus eben diesem
Grunde im 22. Lebensjahre. Die Ehe blieb kinderlos. Trotzdem,
daß diese Verbindung auf Grund aufrichtiger Zu-
neigung erfolgte, blieb ihr der geschlechtliche Verkehr mit
ihrem; Manne doch stets ein Opfer, da sie auch' in der Ehe nie-
mals durch den Beischlaf irgend eine Befriedi-
gung ihrer Wollust gcfühle erringen konnte, so daß
sie auch jetzt noch der Masturbation ergeben ist. Ihr einziger Trost
besteht darin, daß sie im Laufe der letzten Jahre eine Anzahl
vonl Mädchen und Frauen kennen gelernt hatte,
welche bezüglich ihres Geschlechtslebens genau
dieselbe Sonderbarkeit aufwiesen, welche eben«
falls niemals durch normalen Geschlechtsverkehr,
stets aber durch Masturbation die gewünschte Be-
friedigung sich verschaffen konnten. In dem
Hause, in dem sie wohnte, befanden sich allein zwei derartig
abnorm veranlagte Personen, darunter eine 35jährige Frau, welche
im übrigen in glücklicher Ehe lebte und 4 Kinder geboren hatte,
welche den geschlechtlichen Verkehr mit ihrem Manne nur wie
eine schwere Last auf sich nahm. Die R. ist klein, ziemlich
kräftig gebaut, gut genährt, von klugem Gesichtsausdrucke, ohne
neurasthenische/ Beschwerden. Die Merkmale einer fehlerhaften Ge-
schlechtsempfindung fehlen gänzlich. Sie fühlt sich als Weib, gefällt
sich nicht in Kundgebungen männlicher Gesinnung und Tracht,
sie strebt den geschlechtlichen Verkehr an und betrachtet die
wechselseitige Onanie nur als notgedrungenen Ersatz der man-
gelnden, geschlechtlichen Empfindung beim Geschlechtsakte- Auch
wollüstige Träume haben stets Männer zum Inhalte, während das
Gegenteil sehr charakteristisch für das Vorhandensein einer ver-
kehrten Geschlechtsempfindung ist.
L a k e r hat nach dieser ersten Beobachtung weitere fünf
Fälle beobachtet. „Da dieselben untereinander in
7«
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- 100 ~
nichts abweichen, was für die Sache selbst von
Bedeutungist, führe ich nur noch in gedrängter
Kürze das wichtigste aus der Krankengeschichte
zweier Fälle an" :
Fall XI.
(Zweiter Laker scher Fall.)
B. G. ist 34 Jahre alt, stammt aus erblich nicht belasteter
Familie, ist stets gesund gewesen und menstruierte im 14. Lebens-
jahre. Kurz nachher wurde sie der wechselseitigen Onanie ergeben,
welche ihr stets eine große geschlechtliche Befriedigung gewährte,
der sie in mäßigem Grade ergeben war. Trotzdem war sie sich
des Verkehrten vollkommen bewußt und hoffte von ihrer Verehe-
lichung, welche im 19. Jahre erfolgte, eine natürliche Befriedigung
ihres Geschlechtstriebes. Trotz gegenseitiger Zuneigung
verspürte sie niemals während des Beischlafes die
ge hoffte geschlechtliche Befriedigung und sah sich
genötigt, ihren nun noch mehr gesteigerten Geschlechtstrieb durch
einfache und wechselseitige Onanie zu befriedigen. Sie gebar zwei
Kinder, verlor nach 5jähriger Ehe ihren Mann. Die Gelegenheit,
sich abermals zu verehelichen, bot sich nach weiteren 3 Jahren,
und trotzdem die Wiederverehelichung aus anderen Gründen für sie
sehr wünschenswert wäre, kann sie sich infolge ihrer geschlecht-
lichen Regelwidrigkeit kaum dazu entschließen und frägt hierüber
um ärztlichen Rat. Die Person ist gut entwickelt, keine Spuren
von Neurasthenie, leicht melancholisch gefärbte^ Stimmung.
Fall XII.
(Dritter Laker scher Fall.)
H. F., 25 Jahre alt, aus gesunder Familie, nicht verheiratet,
der dienenden Klasse angehörig, schlecht genährt, hochgradig
neurasthenisch. Sie wurde bereits im 11. Jahre zur Onanie ver-
leitet und litt von jeher an einem krankhaft gesteigerten Ge-
schlechtstriebe, der sie bereits im 15. Lebensjahre zu geschlecht-
lichem Verkehr drängte. Seither hatte sie Gelegenheit, mit einer
Reihe von Männern geschlechtlich zu verkehren, ohne daß sie
jemals von einem Beischlafe irgend eine ge-
schlechtliche Befriedigung gehabt hätte, während
sie dieselbe sich durch Masturbation jederzeit
verschaffen konnte. Diesem Laster war dieselbe seit den
letzten zwei Jahren immer mehr, insbesondere infolge des sich
noch* immer steigernden Geschlechtstriebes ergeben, und soll sie
auch an ihrer hochgradigen Nervosität erst seit dieser Zeit leiden.
Sie ist schwächlich gebaut, mit leidendem, scheuem Gesichts-
ausdrucke.
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- 101 --
Folgen wir noch einmal der bereits beim Torrgier-
schen Fall erwähnten Kritik Lakers.
Zunächst hat der Beobachter, obgleich er nur über 5 Fälle
verfügt, eine richtige Vorstellung von der Häufigkeit dieser
„Perversion".
„Sämtliche 5 mir bekannt gewordenen Frauen
behaupteten, mit einer Reihe von Schicksals-
genossinnen bekannt geworden zu sein, welche
ganz dieselbe krankhafte Verkehrtheit dar-
boten, woraus ich den wichtigen Schluß ziehen
möchte, daß diese eigentümliche Form von ge-
schlechtlicher Verkehrtheit beim Weibe nicht
allzu selten, vielleicht sogar ziemlich häufig, wenn auch!
nicht immer in so ausgeprägter Form vor-
komm t."
Auch dieser Autor betont die Schwierigkeit der-
artiger Krankenexamen und die „leicht begreif-
liche Scheu' 4 der Kranken, ihre Klage dem Arzte anzu-
vertrauen. Er warnt auch vor einer Verwechslung von an-
geborener „Anaesthesia sexualis". Die geschilderten
Frauen sind keine „kalten und empfindungslosen" Naturen,
keine „naturae frigidae" von Hause aus. Im Gegenteil, ihr
Geschlechtstrieb ist ein reger, vielfach frühzeitig entwickelter
und mit Gewalt Erlösung und Befriedigung verlangender. Nur
auf dem normalen Wege der männlichen Umarmung bleibt
diese Befriedigung aus.
Die anatomisch-physiologische Erklärung L a k e r s ist be-
reits angedeutet worden. Er glaubt, daß die Endausbreitungen
der den Wollustakt auslösenden sensiblen Nervenendijgungen
nur in der Klitoris (also nicht in der Vagina und an der Portio)
sitzen. In dieser Voraussetzung sei es leicht verständlich,
daß durch „irgend welche, vielleicht sehr einfache
anatomische Abweichungen, eine Erregung
jener sensiblen Nerven nicht möglich ist."
L a k e r spricht sich hier nicht deutlicher aus. Aber es
kann wohl kaum etwas anderes angenommen werden, als daß
seine „anatomischen Abweichungen" nur ein Mißverhältnis]
zwischen Klitoris und Penis bedeuten, welches die erforderliche
Friktion beider Teile nicht zuläßt.
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- 102 -
L a k e r glaubt demnach für die in Rede stehenden (mastur-
batorischen) Anästhesien auf eine psychoneurotische Erklärung
verzichten zu können und demgemäß auch seine Behandlung
einrichten zu müssen. „Dieselbe dürfte eine ört-
liche, vielleicht sogar eine chirurgische sein!"
Über das „dürfte" gehen Lakers Andeutungen nicht hin-
aus!
Fügen wir dem Auszuge seiner epikritischen Bemer-
kungei' noch den Ausspruch hinzu, daß die beschriebene fehler-
hafte Richtung des Geschlechtstriebes „ohne Analogie
beim Manne dasteht", so haben wir die wesentlichsten
Punkte vorweg genommen, an welche sich unsere eigene Kritik
an der Hand des Masturbationsstatus (Fall II, a und b) und
des späteren in diese Rubrik gehörigen Falles (XVI) an-
schließen wird. Bevor wir jedoch zu diesem eigenen Fall
übergehen, mögen vorerst noch L o i m a n n s Beobachtungen
(„Ueber Onanismus beim .Weibe als einer be-
sonderen Form von verkehrter Richtung des
Geschlechtstriebes" — Therapeutische Monats-
hefte 1890) eingeschoben werden.
Fall XIII.
(Erster Loimann scher Fall.)
Frau M. Sch. macht in Gegenwart ihres Gatten folgende An-
gaben. Bisher immer gesund, wurde sie mit 13 Jahren normal
menstruiert, verheiratete sich mit 19 Jahren und wurde ein Jahr
später lohne Kunsthilfe von einem gesunden Kinde entbunden,
welches rm 6. Lebensmonat einer akuten Krankheit erlag. Seit
dieser Zeit leidet Patientin an einem Ausfluß, der ihr angeblich
den Verkehr mit ihrem Manne verleidet. (!) Anderweitige Be-
schwerden sollen nicht bestehen. Frau Sch. ist groß, sehr kräftig
und gut entwickelt. Auch die Untersuchung der Genitalien ergibt,
von einem geringfügigen Ccrvicalkatarrh und einer Erosion an der
Portio abgesehen, keine weiteren pathologischen Verhältnisse. Bei
einer etwa eine Woche später vorgenommenen, neuerlichen Unter-
suchung! fielen mir eine stärkere Rötung der kleinen Labien und des
Scheidenausganges, sowie einige leichte Epithelabschilferungen auf.
Da. ein Coitus entschieden in Abrede gestellt wurde, machte ich
aus) meiner Vermutung, daß Patientin masturbiert habe, kein HehL
und nun machte mir die Frau unter Tränen folgendes Geständnis:
Sie wurde im Alter von 10 Jahren zur Erziehung in ein
Kloster gebracht und dort etwa im 12. Lebensjahre von ihren
Freundinnen zur Onanie verleitet, der sie von nun an mehrmals
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täglich fröhnte. Mit 14 Jahren ins Elternhaus zurückgekehrt, fing
sie mit gleichaltrigen oder um weniges älteren Knaben verschiedene
Liebschaften an, die jedoch der gefürchteten Folgen halber zu
keinem Coitus führten. Die heftigen geschlechtlichen Begierden
wurden durch mutuelle Onanie befriedigt. Des Unnatürlichen ihres
Gebahrens sich bewußt, erhoffte sie jn der im IQ Lebensjahre
eingegangenen Ehe Erlösung zu finden und war nun nicht
wenig überrascht, als bei Ausübung des Bei-
schlafs jede Befriedigung ausblieb, wodurch Patientin
veranlaßt wurde, ihrer alten Leidenschaft weiter zu fröhnen. Die bald
nach Eingang der Ehe tingetretene Schwangerschaft empfand die
unglückliche Frau als „schwere Strafe'^ und als sie wenige Monate
nach 1 der Entbindung neuerdings konzipierte, wandte sie sich auf
Anraten einer „Freundin" und ohne Wissen ihres Gatten an eine
Hebamme, welche gegen gutes Entgelt den Abortus einleitete.
Frau Sch. soll damals genötigt gewesen sein, durch einige Wochen
das Bett zu hüten und seit dieser Zeit soll auch die oben erwähnte
Leukorrhoe bestehen. Der eheliche Verkehr erschien ihr nur als
ein schweres Opfer, und da sie nie geneigt war, die Schuld der
mangelhaften Befriedigung dem Gatten beizumessen, beschloß sie,
den Coitus mit anderen Männern zu versuchen. Wje diese Versuche
ausgefallen sind, wird wohl hinreichend durch die Tatsache beleuchtet,
daß Frau Sch. nach wie vor in hohem Grade der Masturbation er-
geben ist und daß dieses die eigentliche Ursache war,
warum sie ärztliche Hilfe in Anspruch nahm.
An den vorliegenden Fall, der nur das häufige Durch-
schnittsbild der gewöhnlichen Form dieser mangelhaften Ge-
schlechtsempfindung wiedergibt, schließt Loimann zwei
etwas abweichende Krankengeschichten an, die ihm Veran-
lassung geben, an L a k e r s anatomisch-physiologischer Hypo-
these der abnormen Verteilung der sensiblen Wollustfasern
kritischen Anstoß zu nehmen.
Fall XIV.
(Zweiter Loimann scher Fall.)
Frau J. H., 38 Jahre, war als Kind immer gesund und wurde
mit 17 Jahren unregelmäßig menstruiert. Im 20. Lebensjahre
heiratete sie gegen den Wjllen ihrer Eltern einen jungen Post-
beamten und lebte mit diesem durch 10 Jahre in glücklicher Ehe,
welcher 8 gesunde Kinder entstammten. Mit 30 Jahren wurde sie
Witwe, und bei der Trauer um den erlittenen schweren Verlust
soll durch geraume Zeit der Geschlechtstrieb förmlich erloschen
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gewesen sein. Nach und nach erwachte derselbe jedoch wieder
und nun verfiel die bedauernswerte! Frau, der sich die Gelegenheit
zur Schließung einer neuen Ehe nicht darbieten wollte, und die
einen außerehelichen Verkehr der etwaigen Folgen halber fürchtete,
der Onanie, die ihr bisher ganz fremd gewesen war. Patientin
fand hierin zwar die ersehnte geschlechtliche Befriedigung, allein
ihr körperliches und geistiges Wohlbefinden soll dabei sehr ge-
litten haben, und nach Verlauf einiger Jahre beschloß sie, angeb-
lich auf Anraten eines Arztes, unbekümmert um etwaige Kon-
sequenzen, ein Liebesverhältnis anzuknüpfen. Zuerst verführte sie
einen jungen, etwa 18jährigen, ihrer Obhut anvertrauten Gymnasial-
schülcr, und als zu ihrem! Erstaunen die gewohnte Be-
friedigung nicht eintrat, schrieb sie dies der Uner-
fahrenheit, oder wie sie sich ausdrückte, der „Dummheit" des
Liebhabers zu und suchte einen neuen, dem bald noch einige
andere folgten. Das Ziel ihren ^Wünsche scheint sie jedoch, soweit
meine Beobachtung reicht, nicht erreicht zu haben, denn als sie
zuletzj wegen eines chronischen Vaginalkatarrhes in meiner Be-
handlung stand, war sie der Masturbation ärger ergeben denn je.
Fall XV.
(Dritter Loimann scher Fall.)
A'. v. K. ist eine 38jährige Witwe, welche wegen profuser
Leukorrhoe nach Franzensbad zur Kur gekommen war. Außer-
dem beklagte sich Patientin über unersättliche Libido. Sie war
mit 12 Jahren regelmäßig menstruiert, hat im Alter von 27 Jahren
normal geboren und verlor 2 Jahre später durch den Tod ihren
Gatten. Einige Zeit nachher fing sie an zu masturbieren, da ihr
die Gelegenheit zu normaler Befriedigung des äußerst lebhaften
Geschlechtstriebes angeblich fehlte. Nach einigen Jahren ging sie
jedocll verschiedene Liebesverhältnisse ein, bei welchen sie aber
eine volle geschlechtliche Befriedigung vermißte,
was Patientin veranlaßte, während des Coitus oder unmittelbar
nachher zu masturbieren.
In der Erklärung seiner Fälle weicht Loimann nicht
unwesentlich von Laker ab und nähert sich mit seiner Auf-
fassung unserer eigenen.
„Es liegt die Vermutung sehr nahe, daß diese
Abnormität nicht auf einer Anomalie der ana-
tomischen Anlage und daher angeboren sei,
sondern daß es sich hier um durch sexuellen
Mißbrauch erworbene pathologische Veränderun-
gen handle."
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L o i m a n n sucht den Sitz der Veränderung nicht in den
peripheren Nervenendigungen, sondern im Zentral-Nerven-
system. Ihm ist es „sehr wahrscheinlich, daß durch
sehr häufige und unnatürliche Reize die An-
spruchsfähigkeit jenes Zentrums, welches beim
Weibe das höchste Wollustgefühl auslöst und
welches dem Ejakulationszentrum beim Manne
entsprechen dürfte, bedeutend alteriert werden
kann und wahrscheinlich für normale Reize her-
abgesetzt erscheint."
L o i m a n n bestreitet auch L a k e r s Behauptung, daß
die Masturbations-Anästhesie des Weibes ohne Analogie beim
Manne sei. Gerade diesen Punkt werden wir nach unseren
eigenen Fällen ausführlicher berühren. Für uns ist diese
Analogie sehr wohl vorhanden und wenn sie nur
selten oder ganz versteckt beim Manne in die Er-
scheinung tritt, so liegen die Gründe eben im vollkommen
anderen Mechanismus der männlichen Aus-
übung des Coitus einerseits und in dem viel aktiveren
psychischen Vorgehen andererseits.
L o i m a n n s Fall des „5 0jährigen Familienvaters^
dcrbei normaler Zuneigung zum weiblichen Ge-
sell Uchte auch heute noch der Onanie ergeben
ist, weil er hierdurch seine Libido angeblich
wollüstiger und schneller befriedigt als durch
den natürlichen Geschlechtsakt", ist nur ein
schwacher und noch nicht einwandsfreier Beweis der mann-
lichen Anomalie, da hier immerhin auch beim normalen Ge-
schlechtsakte Orgasnius einzutreten scheint. Wir werden hier-
über ein schlagenderes und detaillierteres Beispiel beizubringen
imstande sein.
L o i m a n n widersetzt sich auch dem Vorschlage L a k e r s,
„dem Uebel durch eine örtliche oder gar
chirurgische Behandlung beizukommen". Loi-
mann hat keinen Erfolg davon gesehen, „wohl aber die
Erfahrung gemacht, daß der Onanie ergebene
Frauen sich mit großer Vorliebe einer ört-
lichen Behandlung unterziehen." Von einer ört-
lichen Behandlung erwartet er mehr Schaden als Nutzen, Besse-
rung dagegen nur von hygienischen und diätetischen Maß-
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— 106 —
•
nahmen, eventuell Badekuren und von einer günstigen Be-
einflussung des gesamten Nervensystems. Seine weitere
Forderung der Prophylaxe, die Reinhaltung der Phantasie,
wird wohl in unserer Zeit ein frommer Wunsch bleiben!
Wir geben im Folgenden jetzt die ausführliche eigene
Beobachtung einer hierher gehörigen Krankengeschichte mit
anschließender Epikrise.
Fall XVI.
(Eigene Beobachtung.)
B. F. ist 311 Jahre alt und stammt aus gesunder Familie. Sie
selbst hat keine besonderen Krankheiten durchgemacht. Im
9. Lebensjahre wurde sie von einem ca. 50jährigen Manne an den
Genitalien berührt. Schon damals hatte sie eine angenehme Em-
pfindung und fühlte ein Naßwerden. Diese Manipulationen •wieder-
holten sich etwa 2—3 Jahre. Dann fing das etwa 12jährige
Mädchen mit eigenen Versuchen an, besonders da ihr der Vcr-
führeir zuwider war. Sie gewöhnte sich damals bereits an die
Reibung der linken Seite der Vulva, etwa im oberen Drittel der
linken kleinen Schamlippe. Patientin glaubt, daß die Bevorzugung
der linken Seite eine Teilerscheinung ist, da sie überhaupt links
veranlagt ist, jedenfalls viele Verrichtungen mit der linken Hand
vollzieht, z. B. das Schneiden mjt der Schere. Die Masturbation
führte bei ihr bald zur vollen Befriedigung und war stets mit
Naßwerden verbunden. Dies fand schon vor der Geschlechts-
reife statt. Sie hat dann weiter sehr häufig masturbiert. Sie bewegt
die linke (obere) Schamlippe mit einem (dritten) Finger en inasse
hin und her. Es ist) nicht etwa ein Darüberstreichen, sondern eine
Bewegung des ganzen Hautlappens. Meistj sitzt sie dabei, weniger
zum Zie' kommt sie beim Liegen. Die Beine sind extendiert.
Beim Höhepunkt senkt sich der Finger in die Scheide, zugleich
mit dem Gedanken an männlichen Verkehr. Der Finger fühlt
die» Zuckungen in der Scheide. Die Berührung des Kitzlers
selbst verursacht ihr durchaus kein angenehmes
Gefühl und ist nicht imstande, den Orgasmus zu
erreichen; es ist, „als wenn jemand an einer Stelle
kitzelt, wo es nicht angenehm ist". Die Einsenkung
des Fingers wird erst seit ca. V 2 Jahr vollzogen.
Die< Menses traten mit ca. 14 Jahren ein und waren bis zum
22.; Jahre ziemlich regelmäßig, aber stets sehr schmerzhaft. Patientin
. wurde, leicht ohnmächtig, sogar auf offener Straße. Nachts will
s'w. krampfartige Zustände und im Schlafe geschrien haben. Vom
22. Jahre ab begann sie den Geschlechtsverkehr. Seitdem haben
diese; Anfälle langsam nachgelassen und immer größere Pausen ge-
macht. Die Periode ist viel schmerzfreier geworden. Es stellte
siel' Neigung zu Ausfluß ein.
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- 107 -
Der erste Geschlechtsverkehr mit einem Manne im 22. Lebens-
jahre) war eine richtige, blutige Defloratio mit Schmerzen, Schwierig-
keiten verloren sich jedoch bald, der Verkehr ging mühelos von
statten, allein ohne jegliches Gefühl. Zu ihrer
größten Verwunderung stellte sich ein solches
auch bei ferneren Versuchen nicht ein, obgleich
die Patientin in hohem Grade geschlechtlich er-
regt war und die Umarmungen und Liebkosungen
des" Mannes leidenschaftlich begehrte. Die ersten
Beziehungen galten einem gebildeten Manne, einem höheren Offizier,
den sie aufrichtig liebte. Als sich das Verhältnis löste, hoffte sie
bei einem Wechsel eine Änderung ihrer Gefühllosigkeit zu finden.
Jedoch vergeblich. Eine solche stellte sich niemals ein,
obgleich sie nunmehr mit etwa 10 verschiedenen Männern der
Reihe nach in intimen Verkehr getreten ist. Hierbei sei bemerkt,
daß sie) nicht etwa als eine gewöhnliche Lustdirne erscheint, sondern
stets ihrem augenblicklichen Verehrer aufrichtig ergeben ist und
nichts von Raffinement besjtzt, um ihre Freunde irgendwie pekuniär
auszubeuten.
Sic wird stets durch die Liebkosungen des Mannes stark erregt,
besonders wenn derselbe sie küßt und ihre Brüste streichelt. Sie
fühlt dann sofort eine Nässe an den Genitalien, erlangt aber Be-
friedigung nur, wenn die bewußte Stelle der Vulva manuell
entweder von ihr selbst oder dem Liebhaber gereizt wird. I n
coitn normali hat sie nicht die leiseste Wollust-
empfindung, auch nicht bei protrahierten Ver-
suchen.
Ihr geschlechtlicher Verkehr besteht demnach entweder in der
manuellen Selbstbefriedigung unmittelbar post actum oder in der
Befriedigung per digitum viri ante coitum. Auf diese Weise be-
friedigt, gibt sie sich als Opfer des Mannes hin. Bisweilen be-
ginnt noch einmal eine zweite geschlechtliche Erregung und in
seltenen Fällen erfolgt noch eine zweite manuelle Befriedigung post
coitum.
Der geschlechtliche, normale Verkehr hat ihr demnach trotz
mannigfacher und abwechslungsreicher Versuche noch nicht ein
einziges Mal direkte Befriedigung gewährt. In einigen Fällen
ist es zum Orgasmus gekommen, wenn das erigierte membrum virile
die Masturbation besorgte und gewissermaßen die Stelle des
Fingers vertrat. Selbstverständlich war dabei von keiner immissio
penis und auch von keinem Orgasmus des Mannes die Rede.
In einigen, ganz seltenen Fällen ist es zu einer gleichzeitigen
Ejakulation bei ihr und dem Manne gekommen. Das geschah beim
Coitus a posteriore, wobei Patientin Hand und Terrain frei hatte,
um zu gleicher Zeit während der immissio penis zu masturbieren.
Auch in dieser Situation also nur Befriedigung auf dem gewohnten
Wege. Sonderbarerweise schiebt sie diesem durchaus selten ge-
übteu Modus ihre zweimalige Konzeption zu. . Sic glaubt absolut
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fest an die Konzeptionsgefahr bei Koinzidenz der Befriedigungen,
selbst wenn dieselben, wie beschrieben, auf diesem doppelt in-
direkten Wege von statten gehen. Sie hat beide Male im dritten
Monat (artefiziell) abortiert. Da sie bisweilen, besonders nach
den kriminellen Aborten, an Ausfluß leidet, war sie wiederholt in
ärztlicher Behandlung und hat auch ihre sexuelle Anomalie dabei
zur Sprache gebracht. Anfangs sehr unglücklich, daß ihr niemand
helfen konnte, „auf daß sie auch beim natürlichen Ver-
kehr wieder fühlte wie andere Mädche n", ist sie
jetzt resigniert geworden und faßt ihren Zustand beinahe als etwas
normales auf, nachdem sie mindestens „6—8 Frauen kennen
gelernt hat, denen es genau ebenso geht wie ih r".
Allmählich hat auch sie gelernt, die falsche Konzession ihrer
vollen Empfindung an den Mann zu machen, da derselbe sie auf-
richtig liebt und in dem Ausbleiben ihres gleichzeitigen Wollust-
empfindens einen Mangel an Liebe zu sehen glaubt.
Die mangelhafte Geschlechtsempfindung - im Zusammen-
hang mit vorhergegangener Masturbation scheint die
häufigste Form der relativen Anästhesie zu sein. Häufig!
schon aus dem Grunde, weil die weibliche Masturbation an
und für sich im reichlichsten Maße getrieben wird. Wollte
man Rohleders ungeheure Zahl — auf 100 weibliche Indi-
viduen entfallen nach ihm 95 Masturbationen! — ernstlich/
gelten lassen, und wollte man aus jeder Masturbation eine
Anaesthesia conjugalis konstruieren, so würde die „fühlende"
Frau zum Bedauern für ihr eigenes, zum Kummer für 1 das Ge-
schlecht der Männer eine beklagenswerte Rarität und Aus^-
nahme bilden. Bis zu solch schwindelnder Höhe ist dieser
Defekt noch nicht gediehen!
Wir schließen uns in der Erklärung des Zustandes am
meisten an Loimann an.
L a k e r s Ansicht der angeborenen mangelhaften Ver-
sorgung der Scheide und Portio mit sensiblen Nervenendi-
gungen scheint uns nicht annehmbar. Der erworbene
Zustand scheint mit Loimann viel plausibler. Allein, ich
glaube nicht an greifbare pathologische Veränderungen der
Nervenendigungen am Genitalapparat — die insensiblen
Stellen sind gerade nicht durch Masturbation gereizt worden
(oder stellt sich Loimann dieselbe als eine Art Inaktivitäts-
Atrophie vor?) — sondern an Veränderung der Lei-
tungsbahnen.
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Wir müssen nach allgemein physiologischen Grundsätzen
an der Tatsache eines sexuellen Zentrums im Gehirn und
eines besonderen Ejakulationszentrums im Rückenmark fest-
halten. Diese müssen vom Genitalapparat aus durch eine
Summation von Reizen soweit erregt werden, um den eigent-
lichen explosiven Akt des Orgasmus auszulösen. Es muß ein
kompliziertes, kaum auszudenkendes Ineinanderarbeiten von
Vorstellungen, Gedanken, Reizen und Empfindungen sein,
welche im entscheidenden Momente das Gehirn zu dieser über-
wältigenden Nervenarbeit veranlassen. Ist es nicht am wahr-
scheinlichsten, daß dieses psycho-sexuelle Ejakulationszentrum,
nachdem es sich einmal auf den Leitungskontakt entweder mit
dem labium minus oder mit der Klitoris eingespielt hat, auf
andere Leitungsbahnen nicht mehr reagiert? Das weib-
liche Geschlecht hat es so viel schwerer als das
männliche, sich in seiner sexuellen Sphäre zu-
rechtzufinden, um all die Hemmungen zu beseitigen,
die sich dem Geschlechtsgenuß mit drohender Warnung und
iGefahr entgegenstellen (wovon später ausführlicher), daß ohne
Frage seine nervösen Zentren mit ihren Verbindungen im
Gehirn anders beschaffen sein müssen als beim Manne. Ist
endlich die Leitung perfekt geworden, so funktioniert dieser
komplizierte Apparat vom Genitalanfang über das sexuelle
Zentrum im Gehirn zum Ejakulationszentrum im Rückenmark
und schließlich wieder zu den Genitalien zurück. Es ist wie
eine plötzlich entstandene Quelle auf hohem Berge, die sich
den mühelosesten Weg sucht, die nun mit Leichtigkeit in ihrem
selbstgeschaffenen Bette ein für allemal weiterrinnt, deren
Laufveränderung und Umleitung jedoch nur mit bedeutenden
und zeitraubenden Kräften und Opfern möglich wäre.
Um in einfacherer, verständlicherer Form zu reden! Es
hat sich also in vielen Fällen von Masturbation- der weibliche
Organismus an die ursprünglich freigewählte periphere
Stelle des Kitzlers oder der Schamlippe, an Tempo, Rhyth-
tmus und Vorstcllungswelt gewöhnt. Aus dem
alltäglichen Leben wissen wir, daß Gewöhnungen oft
schwer zu beseitigen sind und festgewurzelt ein ganzes Leben
anhalten können. Ich füge nur, um verständlicher zu' werden,
ein einziges Beispiel an.
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Es gibt Menschen, die nicht anders als in einer be-
stimmten Lage, sei es auf dem Rücken, sei es auf der Seite
— einschlafen können. In dem Augenblicke, wo sie die ge-
wohnte Position verlassen, meldet sich das Gehirn mit leb-
haften Oedanken und vermag nicht jenen eigentümlichen
Lähmungszustand der Gehirnzellen zu erreichen, welchen wir
als Schlaf bezeichnen.
Wenn bereits so einfache Anlässe genügen, um das
Gehirn wie beim Schlafe an seiner Entlastung und Entspannung
zu behindern, um wie viel mehr können Gewöhnungen;
die Schuld tragen, wenn vom Gehirn besondere, außerordent-
liche Leistungen wie die Nervenerschütterung im Orgasmus
verlangt werden!
Einen ganz ähnlichen Oedankengang verfolgt A m m o n *)
in betreff der Homosexualität. Er sagt wörtlich:
„Durch das vielmalige Funktionieren werden die neu-
gebildeten abnormen Assoziationsbahnen mit
der Zeit so „ausgefahren", daß sie immer leichter an-
sprechen und gleichzeitig wird nach dem Oesetz der Kompen-
sation das normale Netz von Assoziationen verkümmert,
bis es ganz aufhört zu funktionieren."
Man sagt, und L a k e r spricht es als eine stolze und
sichere These aus, daß „diese Anomalie ohne Ana-
logie beim Manne" sei.
Piese Annahme ist irrig! Ihre Erscheinung ist
nur deshalb eine äußerst seltene, weil beim Manne
andere mechanische Voraussetzungen sind, die
diese Perversion fast zur Unmöglichkeit machen. In seltenen
Fällen tritt sie jedoch ein und das Bild, männlicher Perversion
ist in unveränderter Gleichheit geschaffen.
Die mechanische Bedeutung liegt in folgendem. Die
männliche Masturbation erfolgt wohl (von seltenen Perver-
sionen abgesehen) in der weitaus größten Mehrzahl der Fälle
naturgemäß am Gliede. Mag nun die Spitze (Eichel und Vor-
1 aut) oder der Schaft des membrum bevorzugt sein — immer
*) Dj\ Otto Amnion — Der Ursprung der Homosexualität und
die Deszendenzlehrei (Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie 1909).
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- 111 -
werden diese Teile beim natürlichen coitus in toto in die
Scheide versenkt, so daß stets eine allseitige Berührung
stattfindet. Es bleibt kein Punkt des Penis übrig, dessen
Reibung an den Vaginalwänden nicht möglich wäre und durch
sein aktives Vorgehen, durch seine Direktion,
hat es der Mann in der Hand, jeden beliebigen Punkt
seines Gliedes, wenn ein solcher durch frühere
Masturbation bevorzugt, empfindlich sein
sollte, in derVaginazur geforderten Berührung
und Reizung zu bringen. In seiner Gewalt liegt es,
nicht nur jede gewünschte Friktion herbeizuführen, sondern
auch das Tempo und die Kraft zu bestimmen,
also mechanische Eigenschaften zu produzieren, die seinem
Ermessen, seiner Individualität, im vorliegenden Falle
seiner Gewöhnung genau entsprechen.
Aber es gibt auch Fälle, in denen diese natürlichen
Vorausselzungen durch eine sonderbare Gewöhnung des
Mannes einerseits und durch ein aktiveres Vorgehen des weib-
lichen Teiles zu nichte werden und die in Rede stehende
Anomalie des Weibes in absolut gleicher Weise
beim Manne wiedergeben.
Der folgende Status gibt einen vollen Beleg dafür und
»mag in Anbetracht der Aufklärung dieses häufigen weiblichen
Defizits als einziger „männlicher" Fall im Rahmen dieser
durchaus f e m i n e 1 1 e n Monographie entschuldigt werden.
Fall XVH.
(Eigene Beobachtung.)
Der. Ehegatte einer Patientin, die sich wegen leichten Cervix-
katarrhes in Behandlung befand, macht mir über sein Sexualleben
folgende Angaben:
P. B., Dr. jur., 35 Jahre alt, leidet öfter an deprimierenden
Stimmungen, ist aber im allgemeinen eine sorglos und heiter an-
gelegte, für das Leben empfängliche Natur. Sehr früh meldete
sich bei ihm die Sinnlichkeit, lange vor der Geschlechtsreife. Früh-
zeitige, oft wiederholte Masturbation. Bald nach der Pubertät
Coitus» mit normaler Befriedigung, der häufig und an den ver-
schiedensten Objekten wiederholt wurde. Patient hat eine reiche
liste verschiedenartigster Erfolge aufzuweisen! Trotzdem hat er
niemals dre Masturbation ganz aufgegeben, wenn seine stets (auch
heute noch) bereite Libido sich mächtiger geltend machte, ohne
daß immer Zeit und Gelegenheit zur natürlichen Befriedigung vor-
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handen war. Patient hat dabei stets den normalen, natürlichen
Coitus nachzuahmen versucht. Positus est in lecto quasi in coitu
ordinario uxorem infra se habens, . sed loco feminae atque vaginae
manu sinistra vaginam imitatur digitis membrum com-
plectans. Qua in positione copulae ordinariae simillima cosdem
facit motus corporis quasi feminam complexu tenens. Membrum
digitis tali modo cinctum est, ut solum truncum penis com-
plectantur. Glans ipsa prominet. Hoc modo summam voluptatcm
habet in radice membri, quae fere est initium scroti
Nequt alioquin ejaculationem attingere potest nec in maturbatione
nec in coitu ordinario nisi radix membri aut manu aut vagina
irritalur.
Diese Gewöhnung an den untersten Teil (radix) der
P c n i s w u r z e 1 hat im Laufe der Zeit die Eichel selbst ganz
insensibel gemacht. Er ist nicht imstande, durch deren
alleinige Reizung zum Orgasmus zu gelangen, die immissio
muß eine absolut vollkommene — funditus! — sein. Beim nor-
malen Coitus ist er dies stets zu erreichen imstande gewesen
(offenbar ist er einer allzukurzen Vagina niemals begegnet!), allein
beim Coitus in positione in versa (maritus infra, uxor
supra), wobei der weibliche Teil die Direktion hat, ist
es bei ihm noch nie zur Ejakulation gekommen,
während die Partnerin gerade nur dann Befriedi-
gung findet. Post voluptatem feminae pflegt er in diesem
Follf die Normalposition (uxor infra, maritus supra) herzustellen
und an der bereits im 1 Nachklang des Genusses befindlichen Gattin
sein Recht auf Liebt definitiv zu vollenden.
Die Anästhesie der glans penis zeigt sich auch in einwands-
freier Weise bei der F e 1 1 a t i o (in os feminae). Patient sucht
bisweilen diese Perversion, allein die meisten Feminae sind wegen
der Kleinheit ihres Os für ihn untaugliche Objekte. Nur eine
ganz tiefe Fellatio, welche fast die radix penis erreicht,
ist imstande, seinen Orgasmus hervorzurufen. In den meisten Fällen
gelingt dies nicht wegen der IncongruenzvonOsund Penis.
Dfe Ehe ist sonst eine glückliche. Ein gesundes Kind ist vor-
handen Der Mann ist durchaus kein abgelebter Wüstling und
jedem homosexuellen Empfinden abgeneigt.
Der geschilderte Fall ist, glaube ich, eine fast e i n -
wandsfreie männliche Analogie der häufigen weib-
lichen Masturbations-Anästhesie.
Wenn dieser Mann ausnahmsweise in der dem weiblichen
Geschlecht zugewiesenen beengten Geschlechtssphäre auf-
gewachsen wäre, wenn ferner er gewissermaßen als „passives''
Individuum an eine „aktive" Gattin gekommen wäre, die ihre
Gewöhnung, ihren Rhythmus, ihre Kraft von Anfang an
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zur Ausführung gebracht hätte, dann hätte leicht der Fall ein-
treten können, daß diese Gattin den Arzt wegen der „Kälte"
ihres Gemahles hätte konsultieren können. Ob das Wort
„Kalte" in diesem Falle gebraucht worden wäre, ist zweifel-
haft — denn die Erektion des Mannes war ja vorhanden.
Zum mindesten am Anfang. Ob sie nicht bei fortgesetzt
fruchtlosem Bemühen allerdings schließlich ebenfalls nach-
gelassen hätte — wer möchte das in Abrede stellen ? Ver-
mutlich hätte dann aber die Frau weniger von „Kälte" als
von „Impotenz" gesprochen. Und hätte derselbe Mann den
Mut gefunden und hätte seinen Zustand dem Arzt geklagt —
welches Bild hätte sich dargestellt? „Ich habe früher mastur-
biert und empfunden und jetzt, seitdem ich verheiratet bin,
empfinde ich nichts mehr." Ein absolutes Analogon
derhäufigsten aller mangelhaften Geschlechts-
empfindungen des .Weibes! Nur mit dem erheb-
lichen Unterschiede — daß solche Passivität des Mannes zu
den größten Ausnahmen gehört.
Die Männer kennen die Mechanik des Begattungslebens
aus früherer Zeit. Sie variieren diesen Mechanismus zu ihren
Gunsten, nach ihrem Gefallen, nach ihrer Gewöhnung.
Ihre Vorkenntnisse, der Mangel sonstiger Hemmungen, sowie
die eingeborene männliche Aktivität gestatten ihnen, gleich
von Anfang an den richtigen Weg zu finden. Und
ist dieser Weg einmal gefunden — dann gehen sie ihn
unbekümmert allzu oft allein, lediglich an die
eigene Befriedigung denkend.
„Die Männer denken nur an sich" — „die
Männer sind Egoisten" — allzuhäufig hören wir Arzte
dieses resignierte Urteil einer „unverstandenen" Frau!
Das männliche Geschlecht ist in seiner Bauart so glücklich
veranlagt, daß die „Gewöhnung" an bestimmte Punkte
seines Sexualapparates doch immer durch den vollen Kontakt
des ganzen Gliedes mit dem Scheideninneren und durch ent-
sprechende Reizung ausgeglichen werden kann. Nur in
seltenen Fällen sitzt die Prädilektionsstelle, die ohne Frage
durch die eigenartige Form der Masturbation gezüchtet worden
ist, so tief an der Wurzel des Gliedes, daß, wie im vorliegenden
Falle und dann auch nur bei der seltenen Ausnahme der Positio
•
inversa und Fellatio, eine Erregung nicht erreicht wird. Ferner
Adl e r, Geschlechtsempfindung. 3. Aufl. 8
- 114 -
bestimmt der Mann als aktiver Partner das von ihm gewohnte
und beliebte Tempo, die Kraft und den Rhythmus.
Die Masturbatio masculinagleicht mehr oder minder
mit unwesentlichen Differenzen dem Coitus normalis. Die
Masturbatio f e m i n a 1 i s ist in der großen Mehrzahl der Fälle
eine davon abweichende. Die Manipulationen werden
nicht in der Scheide, sondern außen am Introitus,i sei es an
der Klitoris, sei es an den Ia,bia minora (am häufigsten!) voll-
zogen und nach diesen beiden Punkten die „Oewöhnun g"
hingeleitet. Diese Stellen werden sicherlich später bei der
veritablen immissio überhaupt nicht oder höchst unvollkommen
gereizt. Möglich, daß hier die quantitative Beschaffenheit und
Bauart eines anderen membrum Abhilfe schaffen könnte; allein
aus Fall XVI sehen wir trotz einer Auswahl unter 10 Varianten
noch immer kein Resultat!
Es wäre interessant, zu wissen, ob bei den verhältnismäßig
seltenen Fällen interner (vaginaler) weiblicher Masturbation
ebenfalls Anästhesie in coitu vorhanden ist. Ich glaube kaum,
aber leider fehlen mir hierüber beweisende Krankengeschichten.
Wenn, wie in den gewöhnlichen Vorstellungen, die Klitoris
des Weibes noch immer als der „sensible Brennpunkt"
des Geschlechtsempfindens betrachtet wird (wir haben bereits
in Kapitel II und V die Entbehrlichkeit dieses Organes in
bezug auf die Oefühlssphäre behauptet und klargestellt, und
auch unser Fall XVI zeigt in praxi coitus et masturbationis
die absolute Unempfindlichkeit dieser Stelle), so hat jeden-
falls die Natur dem Weibe mit dieser Lokali-
sation nicht den zweckmäßigsten Diensit er-
wiesen.
Die Klitoris liegt im oberen Winkel der Vulva, vor
dem eigentlichen Vaginalanfang und hart unter dem Scham-
beinwinkel. Diese Lage scheint für eine direkte Berührung
mit dem in die Scheide eingeführten Penis im höchsten Grade
unzweckmäßig. Die Klitoris wird, selbst ihre Erektion
in Betracht gezogen, stets nur unvollkommen an der gegen-
seitigen Friktion teilnehmen.
Obgleich Waldeyer („Das Becken") bemerkt: „Bei
der Erektion bleibt der Angulus clitoridis be-
stehen, und darin liegt eine erhebliche Ver-
schiedenheit gegenüber der Lage des erigierten
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- 115 -
Penis. Nur wird der Klitoriswinkel etwas mehr
ans gerundet, so daß demnach eine kleine Er-
hebung und Vorwärtsstreckung stattfindet.
Dieses Verhalten entspricht ganz der Bedeu-
tungdes Kitzlers, als Wollustorgan zu diene n(?).
Augenscheinlich sind es das Praeputium und
das Frenulum clitoridis, welche die Aufrich-
tung verhindern" — wird meiner Meinung nach trotz
dieses geschilderten „Entgegenkommens" der Klitoris
an den Penis die wirkliche direkte Berührung nur
in den seltensten Fällen glücklichster und
passendster Bauart erreicht. Selbst die dem in situ
copulationis befindlichen Penis viel näher gelegenen kleinen;
Schamlippen werden oftmals nicht von demselben hinreichend
berührt, so daß, wie in Fall XVI, nicht einmal diese durch die
Masturbation gezüchtete Empfindungsstelle getroffen wird.
Daß diese Stelle tatsächlich durch das Membrum virile gereizt
und zum Orgasmus gebracht werden kann, beweist die freie
Erklärung der Patientin, daß solche Befriedigung sine
immissionc durch den Penis von außen wohl erzielt wird.
Die einmal von der Natur gegebene anatomische
Lage-Disharmonie zwischen Klitoris und Penis
zwingt zu einer zweifachen Annahme:
1. Entweder ist die Klitoris überhaupt niemals Prädi-
lektionsstelle zur Erzielung des Wollustgefühles durch
Reibung in loco gewesen und bildet nur ein (ent-
behrliches) Glied in der Kette von Organen, deren
(entfernte) Reizung erst den bevorzugten Gehalt der
Kitzlereichel an sensiblen Nervenendigungen in spezi-
fische Irritation versetzen — oder
2. Die Klitoris hat im Laufe der Zeit durch
veränderte Benutzung ihre wesentliche
Bestimmung verloren, ist zum entwick-
lungsgeschichtlichen Derivat geworden
. und hat infolge Verschiebung der ana-
tomischen Verhältnisse allmählich an-
deren Stellen (den Vaginal wänden, der
Portio) ihren Rang streitig machen
müssen.
8»
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— 116 —
Die Natur des Coitus, wie er in der gesamten übrigen
Säugetierwelt vollzogen wird, spricht für die zweite Hypo-
these. Überall erfolgt die Begattung der Mam-
ma 1 i a , selbst bei den dem Menschen in Bauart am nächsten
stehenden Affen, a posteriore. In dieser Stellung
ist das Verhältnis von Klitoris und Penis ein
ganz anderes. Die Klitoris liegt unter dem membrum,
und während dieses jetzt die natürlichen Coituslbewegungen
macht ist es klar, daß ein ganz anderer Kontakt zu-
stande kommen muß, und daß die Beckensymphyse als
natürlicher unterer Knochen widerstand bei
stärkerer Pression die gegenseitige Annäherung und
Reibung beider Organe begünstigt.
Der Hypothese eines entwicklungsgeschicht-
lichen Derivates begegnen wir hiermit am Sexualapparat
bereits zum zweiten Male. Wir erinnern an die früher
geschilderte Bedeutung der Glandulae vestibuläres
majores, welche nach Gustav Klein ursprünglich Riech-
stoffe bildeten, die als Reiz- und Lockmittel für das männliche
Geschlecht ehemals bestimmt waren.
„Von allen Wesen", sagt ein Dichter, „liegen nur
die' Menschen Brust an Brust." Mit der Ausbildung
der geistigen Fähigkeiten hat sich das Weib mit neuen Reizen
verklärter und durchgeistigter Schönheit, mit dem seelischen
Zauber erzitternden Liebesverlangens geschmückt, so daß im
Deliriuni der Umarmung der Mann diese Wonne aus dem
Glanz ihrer Augen und aus dem brennenden Kuß ihrer Lippen
doppelt zu trinken dürstet. Die Natur hat ihm' den höchsten
sinnlichen Genuß in der Seele des Weibes poetisch umzaubert
und verfeinert, er schlürft in Wonne ein doppeltes Glück,
und während sein sinnliches Verlangen gewaltsam schwillt,
um die goldene Krone des höchsten Empfindens in Verzückung
zu erreichen, baden sich seine anderen Sinne zugleich in der
Seele, in der Liebe der Erwählten. Für ihn, den Mann, hat
die Verfeinerung der Menschheit ein noch glühenderes Ge-
nießen geschaffen. Das grob mechanische Element ist bei
ihm dasselbe geblieben. Das Weib dagegen hat Einbuße ge-
litten und muß „Brust an Brust" einen Teil seiner groben,
sinnlichen Empfindung dem männlichen Geschlechte zum Opfer
bringen.
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- 117 -
Da? Resume der im vorliegenden Kapitel gewonnenen
Schlüsse und Betrachtungen konzentriert sich demnach zu
folgendem Ergebnis:
Frühere Masturbation ist ein häufiger, viel-
leicht der häufigste Grund mangelhafter weib-
licher Geschlechtsempfindung.
Es tritt dadurch leicht eine Gewöhnung
ein an:
1. bestimmte Stellen, die beim normalen
Akte vom männlichen Gliede nicht ge-
nügendgetroffen, erreicht, resp. gereizt
werden,
oder an
2. ein bestimmtes Tempo, an Rhythmus und
Kraft der bisherigen manuellen Aus-
übung, mit welcher die spätere Aktivität
des Mannes nicht korrespondiert.
Die Gewöhnung ist als eine Festlegung der
Leitungsbahnen aufzufassen, die nur in einem
bestimmten Zusammenhang peripher und zen-
tral ineinanderwirken.
Auch beim Manne kommt der Zustand in
seltenen Fällen vor. Allein Bauart und Ge-
brauch seiner äußeren Geschlechtsorgane
schützen ihn im allgemeinen vor den Folgen
einer bestimmten Gewöhnung, die um so weni-
ger in die Erscheinung tritt, als er sein aktives
Vorgehen in coitu seiner (Masturbations 1 ^Ge-
wöhnung anzupassen pflegt.
Die Klitoris spielt weder in der Mastur-
bation noch beim normalen Akte des Konkubitu$
diedominierendeStelledesGeschlechtsempfin-
dens. Für den rein mechanischen Akt des
menschlichen Coitus ab anteriore ist die Lage
derselben unvorteilhaft im Gegensatz zu der
Begattungsform in der Säugetierwelt a posteri-
ore. Die Klitoris des Weibes ist als wollust-
erregendes Organ (ähnlich wie die glandulae
vestibuläres majores als Lockmittel) in entwick-
lungsgeschichtlichem Rückgang begriffen.
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VII. Kapitel.
Vom weiblichen Geschlechtstrieb im allgemeinen.
(Libido.)
Feststellung der Terminologie. Vergleich mit dem Hunger. „Sexuelle
Appetitlosigkeit" (Eulenburg). Die ursprünglich geringer vorhandene weib-
liche Libido. Der „Schmerz" irri sexuellen Leben des Weibes. Sexuelle
Erkrankungen; beim Mann und beim Weibe. Unterschied der Folgen.
Die geringere weibliche Libido ist die natürliche Schutzwehr gegen seine,
größeren sexuellen Gefahren. 1. Angeborene Schwäche und schwerere
Erregbarkeit. 2. Hemmungen bei latentem normalen Trieb. — Die Hem-
mungen sind der 1 häufigere Grund und entsprechen überhaupt dem Bilde
der weiblichen Psyche. Charakteristik derselben nach Jean Jacques
Rousscaus: La Nouvelle Heloise. — Die aggressive Form der männlichen
Libido spiegell sich im Befruchtungsvorgang wieder. Vom Zauber der
Persönlichkeit. Der Kuß der Sphinx. Der Mangel von Pollutionen bei
der keuschen Jungfrau. Die Ahnung vom jungfräulichen Geschlechts-
triebe ist mehr Kontrektation als Detumeszenz (Moll). W. Hämmer's
modifizierte Auffassung von der „Sinnlichkeit gesunder Jungfrauen". Die
Bezeichnung „Pollution" kann keinen gemeinsamen Begriff für die ganz
anders gearteten männlichen und weiblichen Vorgänge darstellen.
Mangelnde Libido und Kultur (Josef Müller, Ploß-Appun, Riedel-Serang-
Insulaner,. Finsch-Karolinen). Die jungfräuliche Scham und Ängstlichkeit.
Goethes Wahlverwandtschaften. Neuere Ansichten. — Johanna Elbers-
kirchen. Ihre Auffassung der weiblichen Libido. Ihre Kritik der mangel-
haften. Geschlechtsempfindung. — Entartungserscheinungen. Die Differenz
der Ansichten nur scheinbar. Goethe-Christiane und Rousseau-Therese.
Emil. Es bleibt ein Rest von Passivität selbst bei dem von der kon-
ventionellen Moral losgelösten Geschlechtstrieb des Weibes. An diesen'
Rest setzen sich die krankhaften „Hemmungen" an. — Margarethe Kossak's
Auffassung der weiblichen Libido deckt sich im wesentlichen mit der
des Verfassers.
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- 119 -
Nachdem in den voraufgegangenen Auseinandersetzungen
im wesentlichen vom Höhepunkt des geschlechtlichen Em-
pfindens, vom Orgasmus und seinen Differenzen die Rede
war, erübrigt es noch, den weiblichen Geschlechts-
trieb im allgemeinen — Libido — in seinen Haupt-
punkten festzustellen und zu charakterisieren.
Wir müssen uns vorher noch einmal über die Terminologie
einigen.
Geschlechts trieb, Geschlechts verlangen, Geschlechts-
drang = Libido sexualis werden im folgenden als
synonyme Ausdrücke gebraucht werden. Sie bedeuten ledig-
lich den Trieb, das Verlangen, den Drang nach
geschlechtlicher Befriedigung, sei es, daß er von
selbst als Zeichen pubertärer Reifung aus dem Individuum
sich entwickelt, sei es, daß er erst später durch sinnliche Reize
Mannigfacher Art geweckt, auflodert und entflammt, um volle
Erfüllung zu finden.
Geschlechtstrieb = Libido ist dem Hunger vergleichbar.
Sein Fehlen ist von Eulenburg treffend als „sexuelle
Appetitlosigkeit" bezeichnet worden. Die Stillung des
Hungers durch Essen ist identisch mit der Befriedigung des
Geschlechtstriebes, sei es durch Coitus oder Masturbation,
mit dem allerdings wesentlichen Unterschiede, daß bei dem
lukullischen Triebe der erste Bissen, beim Hunger nach
Eros aber das letzte Stück Ambrosia den Höhepunkt des
Genusses bedeutet.
Geschlechtstrieb (Verlangen, Drang, Libido)
sind die Präliminarien des — darauf folgenden —Geschlechts«
genusses (Lust, Empfinden, Orgasmus, Ejacu-
latio). Allein ihr beiderseitiges gleichzeitiges!
Vorhandensein ist nicht absolut notwendig,
eins bedingt nicht das andere mit logischer
Konsequenz: Es gibt Libido ohne Orgasmus —
dieser Zustand (Dyspareunie) ist das vorzugsweise Thema
der vorliegenden Untersuchungen — allein auch andere Mi-
schungen sind möglich und feststellbar.
Wir haben bereits z. B. in Fall XVI jene Masturbantin
kennen gelernt, die einen großen gewaltigen Drang nach
geschlechtlicher Liebe hat, die in den verschiedensten Armen
ruhte und doch niemals in den Armen eines Mannes zum Ge-
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- 120 -
schlechts g e n u ß kam. Sie ist im wahren Sinne des Wortes
ein „sinnliches" Weib mit ausgesprochenem, großem Ge-
schlechtstrieb trotz ihrer mangelhaften Geschlechtsempfindung
- so widersprechend es klingt, also ein „sinnliches Weib
mitmangelhafterGeschlechtsempfindun g."
Auch das Umgekehrte kann stattfinden. Unter bestimmten
Voraussetzungen und Bedingungen kann ein volles Ge-
schlechtsempfinden, ein voller Orgasmus herbeigeführt
werden, allein der Trieb, das Verlangen (Libido) liegt
so darnieder, daß ohne spezifische Anregung das Individuum
gewissermaßen lustlos durch das Leben wandern würde.
Beiden Varianten des sexuellen Lebens steht
das weibliche Geschlecht überhaupt sehr nahe,
weit mehr als das männliche.
Um von vornherein bei den folgenden Betrachtungen den
richtigen Ausgangspunkt zu- gewinnen, mag das definitive Er-
gebnis gleich an die Spitze gestellt werden. Fast alle Autoren
sind darin einig, daß derGeschlechts trieb (Verlangen,
Drang, Libido) des Weibes sowohl in seinem
ersten spontanen Entstehen, wie in seinen
späteren Äußerungen wesentlich geringer ist
als derjenige des Mannes, daß die Libido viel-
fach erst in geeigneter Weise geweckt werden
muf: und oftmals überhaupt nicht entsteht. Die
Vertreterinnen der letzten Klasse sind die ganz „kalten und
empfindungslosen Naturen" (femmes de glace,
femmes de marbre, naturae frigidae) mit ab-
soluter Anaesthesia sexualis completa seu
totalis.
Naturgemäß entsteht der Geschlechtstrieb des Weibes mit
der spezifischen Reifung seines Geschlechtsapparates, mit dem
Einsetzen der Menstruation. Allein, wie verschieden ist dieser
Vorgang gegenüber dem entsprechenden beim Jüngling!
In tausenden von Krankengeschichten lesen wir: „Die
ersten Menses setzten mit Schmerzen, Krämpfen und Übelkeit
ein und wiederholten sich in der Folgezeit in ähnlicher Weise."
Von diesen Attacken ist der Jüngling in der kritischen
Zeit der Reifung absolut verschont Meldet sich bei ihm die
geschlechtliche Reifung durch die erste Pollution, so mag ihn,
wenn er bis dahin unbefangen war, eine seltsame Überraschung,
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vielleicht eine Ängstlichkeif) befallen, aber Schmerzen sind
und bleiben ihm fremd; im Gegenteil pflegt schon
der Beginn mit angenehmen sinnlichen Emp-
findungen, Vorstellungen und Träumen einher-
zugehen.
Der Schmerz im Oenitalsystem ist eine bcdauerns-
w e r t e Domäne des weiblichen Geschlechts und gibt vielleicht
dem ganzen weiblichen Geschlechtstriebe die besondere
Signatur ; die ihn von dem männlichen unterscheidet.
Schmerz ist häufig bei der ersten Menstruation des
Mädchens, das fast noch ein Kind ist, vorhanden. Die
Schmerzen wiederholen sich periodisch bei jedem neuen „Un-
wohlsein* 4 (der Ausdruck ist charakteristisch!). Der erste
eheliche Verkehr und viele folgenden sind mit Schmerzen
verbunden, weil Zerreißungen stattfinden müssen, bei denen es
aus frischen Wunden blutet und weil schmerzhafte Deh-
nungen eintreten. Mit Schmerzen, mit Uebelkeit und Ver-
stimmung geht oft ein großer Teil der Schwangerschaft da-
hin, mi« Schmerzen melden sich die ersten Wehen, um
progressiv zu steigen und bei dem Durchtritt des Kindes über
den gespannten und hochempfindlichen Damm zu fast un-
erträglicher Höhe zu exaeerbieren.
Glücklich, wenn die Geburt normal verlief! Es bleiben
auch dann noch manche höchst schmerzhafte und
peinigende Momente übrig, wie Nachwehen und Schrunden
an den Brustwarzen, welche das Nähren des Kindes zu einer
Höllenqua! machen können.
Tritt jedoch die so Gequälte noch in das Stadium der
■ unterleibskranken Frau, dann kann ihr Leben eine Kette von
Leiden und Schmerzen werden, und vergeblich zermartert
sie ihr Gehirn mit dem vernichtenden Gedanken, wozu die
geschlechtliche Liebe auf der Welt sei und worin ihre Freuden
bestehen !
Von alledem ist nichts beim Manne vor-
handen! Sein erster geschlechtlicher Tribut kann mit
*) Vergl. J. J. Rousseau: Bekenntnisse (1731—32): „Der
erste, sehr unabsichtliche Ausbruch hatte mich hinsichtlich meiner Gesund-
heit in eine Unruhe versetzt, die besser als alles andere meine Unschuld
zu erkennen gab. Bald wieder beruhigt" usw.
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- 122 —
Ängstlichkeit, mit Befangenheit einhergehen, aber
stets ohne körperlichen physischen Schmerz.
Ja selbst die geschlechtlichen Krankheiten haben beim
'Manne — rein physisch betrachtet — einen kurzen
und milden Verlauf. Die gefürchtete Tripperinfektion, die
den Frauen so gefährlich und vor allem durch ihre tief-
gehenden Entzündungen so schmerzhaft zu werden pflegt,
ist beim Manne meistens eine Bagatelle. Die chronische Exi-
stenz dieseis Leidens belästigt ihn oft kaum, während die
Frau meist ein ganzes Leben lang unter den quälenden, ver-
zehrenden und schmerzhaften Folgen leidet. Höchstens
eine Hodenentzündung, eventuell ein Blasenkatarrh macht dem
Manne einige Tage lebhafte Schmerzen. Danach ist jedoch
bald alles vergessen und kaum jemals erinnern bei späterem
Geschlechtsverkehr nachträgliche Schmerzen an die
überstandene Krankheit, während die Frau leider allzuoft ihr
dauerndes Opfer bleibt.
Solchen Gefahren und Drohnissen gegenüber, die wie ein
vielgestaltiges Gespenst das geschlechtliche Leben des Weibes
von allen Seiten umlauern und bedräuen, muß die Natur
einen warnenden Riegel entgegengesetzt haben.
Nehmen wir selbst die schmerzhaften Anomalien
der Menstruation als kulturelle Degenerations-
erscheinungen an, so bleibt noch immer der große, ge-
waltige Geburtsprozeß mit seiner Fülle von Schmerzen und
Gefahren als gefürchtete Drohung übrig. Dieser ist es nun
nicht allein wegen seiner hinreichend physischen Qualen,
sondern vor allem auch wegen seiner seelischen Be-
lastung.
Ein Mann hat in einer schnellen Liebeslaune dast
ke rnende Pfand im Schöße seines Opfers zurückgelassen. Er
zieht in die Welt, und die Erinnerung an diese Freudenstunde,
wenn sie nicht schnell durch andere bald verdrängt wird, ist
vielleicht für ihn der einzige Rest dieser Umarmung. Das
k Weib dagegen trägt außer den geschilderten Qualen des
wachsenden und zur Geburt reifen Kindes in sich die
seelische Sorge über die Zukunft desselben. Sie
hat für sein Groß werden zu sorgen und die Mittel zu be-
schaffen und zu allem gesellt sich bei fast allen Völkern
die offene oder versteckte, auf Schritt und Tritt entgegen-
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- 123 -
dräuende Verachtung, welche die Welt der ehelosen
Mutter entgegenbringt.
Die natürliche Abwehr, welche die Natur dem
^eibe gegen diese Gefahren hat geben müssen und tat-
sächlich gegeben hat, kann auf zwei sich nahe gelegenen
und begegnenden Wegen zustande kommen. Entweder:
1. Der Geschlechtstrieb ist tatsächlich de facto von
Hause aus absolut wesentlich geringer, bedarf also
für sein Erwachen und Erwecken weit bedeutenderer
und längerer Reize als derjenige des Mannes —
oder:
2. Der Geschlechtstrieb ist zwar (latent) in gleicher
oder ähnlicher Stärke vorhanden, allein er ist ge-
fesselt, eingeschlossen, gehemmt, und erst wenn diese
Hemmung vom geeigneten Partner entweder mühsam
in langsamer Arbeit aufgehoben, eventuell auch in
besonderen Fällen durch einen einzigen treffenden
Schlag gesprengt ist, erwacht das bis dato kalte und
empfindungslose Weib zum Bewußtsein des ge-
schlechtlichen Verlangens und Begehrens.
Ich glaube, daß beide Momente zugleich — an-
geborene Schwäche des Triebes einerseits,
Hemmungen andererseits — je nach der Indi-
vidualitat in verschiedenartigster Mischung —
den Mangel des weiblichen Geschlechtstriebes
bedingen.
Hier beginnt die komplizierte psychologische Analyse
dieses sexuellen Phänomens, und für die Behandlung kommt
es darauf an, ob sie eine psychisch erregende} bei vor-
wiegend angeborener Schwäche des Triebes, oder eine be-
ruhigende, läuternde, aufklärende sein muß, welche
die psychischen Hemmungen, die wie eine Mauer den
gesunden sinnlichen Kern umlagern, aus dem Wege schafft.
Diese Hemmungen spielen meinem Gefühle nach eine
gewaltige Hauptrolle gerade in der sexuellen Sphäre. Sie
wirken wie ein Fremdkörper im Gehirn, und wie bei
der Hysterie von Breuer und Freud die Aufsuchung einesf
alten, oft nur mit Mühe zu findenden, dem! Individuum kaum
erinnerlichen „psychischen Traumas" zugleich den Pfad
zur Heilung bedeutet, so muß das erste Streben in
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- 124 -
der ganzen Beurteilung dieser Frage, von der
Entdeckung und Beseitigung dieser entweder
natürlichen, vielleicht auch erworbenen Hem-
mungen seinen Ausgang nehmen.
Die Bedeutung der offenen oder verborgenen, angeborenen
oder erworbenen Hemmung liegt meinem Gefühle nach
den quantitativ größeren und bei weitem häufigeren Teil der
mangelnden Libido zu Grunde. Die Theorie der Schmerzen
und Gefahren macht die Hemmung wahrscheinlicher als die
häufigere Annahme eines angeborenen mangelhaften Ge-
schlechtstriebes. .Warum sollte die Natur, die
sonst die übrigen Sinnesempfindungen bei
beiden Geschlechtern annähernd gleich ver-
teilt hat, gerade in diesem Punkte, bei dem
höchsten sinnlichen Gefühle eine so krasse Aus-
nahme zu Ungunsten des Weibes gemacht
haben? Ich will eine durchschnittlich schwerere Erregbar-
keit bis zu einem gewissen Grade gelten lassen. Die Natur
wollte damit dem Weibe die Individualität seiner Liebe
wahren und ihm die instinktive* Paarung überlassen, Welche
vielleicht die geeignetste und gesündeste Nachkommenschaft
erwarten ließ. Der Mann war dazu nicht geeignet, weil sein
ganzer Trieb gewaltiger, voller, spontaner sein muß, nach-
dem einmal die Natur den Vorgang der Befruchtungl von der
Ueberführung des Zeugungsstoffes des männlichen Indi-
viduums in das weibliche abhängig gemacht hatte.
Schon in der Befruchtung selbst kommt dies zum Ausdruck.
Der Mann ejakuliert das Sperma, dessen viele Tau-
sende Spermatozoen in heftigen Eigenbewegungen im
Genitalschlauch aufwärts streben. Es ist ein Wettlauf nach
dem einzigen, kleinen weiblichen Ei, dessen Schicksal es war,
nichtdurch eigene Kraft, sondern durch die Flimmer-
Bewegung der Umgebung seinen Weg zu vollenden. Der
ganze Vorgang des Kampfes der Spermatozoen entspricht der
größeren Kraft und Leidenschaft ihres Produzenten. Die
Liebe des Mannes ist aggressiv, diejenige des
Weibes erwartend, duldend, passiv.
Wenn der so häufige Mangel an Geschlechtstrieb und
Geschlechtsempfinden tatsächlich so oft eine angeborene
Anomalie wäre, so würde er zu den Momenten rechnen können,
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- 125 -
die nach Möbius „den physiologischen Schwach-
sinn des Weibes" ausmachen. Ich erkenne diese ganze
Auffassung nicht an und Möbius selbst hat dem in Rede
stehenden Punkte keine Worte verliehe n
Die Theorie der Hemmungen paßt sehr gut zu dem
ganzen Wesen des Weibes, zu seiner spezifischen Psychologie,
die wir an ihm wahrnehmen können, und deren Studium
selbst vom Frauenarzte oft nicht hinreichend gewürdigt wird.
Das Weib hat nicht nur einen weiblichen Körper,
sondern vielmehr noch eine weibliche Seele,
ein weibliches Gehirn. —
Jean Jacques Rousse aus: Julie oder Die neue
H e 1 o i s e, ein Werk, dessen ganzer Grundton auf das Gemisch
leidenschaftlichster, glühendster sinnlicher Liebe und zugleich
innigster Herzens- und Seelengemeinschaft zweier Liebenden,
gestimmt ist — eine Liebe, die nach Max Dessoirs Ein-
teilung der Heterosexualität deren höchste Stufe „der
einzigen und inkommensurablen Individuali-
tät" erreicht hat — enthält im 46. Briefe Julies an
St. P r e u x folgende Stelle :
„Angriff und Verteidigung, männliche Kühn-
heit und Scham sind nichts Erkünsteltes, wie es
sich deine Philosophen vorstellen, sondern na-
türliche Einrichtungen, deren Notwendigkeit
sich leicht nachweisen läßt und aus denen mit
derselben Leichtigkeit alle übrigen morali-
schen Unterschiede abgeleitet werden können.
Da Mann und Weib überhaupt von der Natur
nicht dieselbe Bestimmung erhalten haben, so
muß jeder Teil bei seinen Neigungen und bei
der Art zu denken und zu fühlen von seinem be-
sonderen Gesichtspunkte ausgehen. — Ein voll-
kommenes Weib und ein vollkommener Mann
dürfen sich in ihren geistigen Anlagen nicht
ähnlicher sein als in ihrem Aeußeren." —
Was vom gesunden Weibe gilt, das hat noch mehr
Bedeutung für das kranke. Das Weib hat seine eigenartigen
Frauenkrankheiten an den körperlich weiblichen Teilen, am
Uterus, an den Ovarien, an den Brüsten etc., so daß es nur
natürlich erscheint, wenn auch seine spezifisch weibliche
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Seelen- und Nerventätigkeit ganz besonderen und nur dem
(Weibf: eigentümlichen Veränderungen und Krankheiten unter-
liegt.
Die Hysterie — der wir im nächsten Kapitel ausführ-
licher begegnen — (obgleich in seltenen *) Fällen auch bei
Männern zu beobachten) — ist eine solche spezifische Alte-
ration der vorwiegend weiblichen Vorstellungsweit und weib-
lichen Ideen-Assoziation, daß in diesen seltsamen Rahmen
eigenartigster Arbeit der weiblichen Nervenzellen die Theorie
der Hemmungen sich sehr wohl und zwanglos einfügt.
Die Kunst, cliese Hemmungen zu beseitigen, die Kunst,
den wie mit Stacheldraht umzäunten und darum schwerer
erreichbaren Trieb des Weibes hervorzulocken und anzu-
greifen, ist eine hohe, die höchste Preisaufgabe der männlichen
Individualität. Die Kunst läßt sich bis zu eint;m gewisser*
Grade erlernen, wie jede Kunst. Allein die besondere Geni-
alität ist überall eine außerordentliche und angeborene. Sie
beruht in der unerforschten Macht, in dem ungekannten, un-
definierbaren ZauberderPersönlichkeit. Aller Wissen-
schaftlichkeit zum Trotz gibt es noch immer einen „Liebes-
z a u b e r". Das kalte, empfindungslose Weib, das solcher für
seine Eigenart bestimmten Individualität begegnen würde,
müßte zu neuem, flammenden Leben erwachen. Poesie und
Malerei erzählen von dem Jüngling, dessen brennender Kuß
und leidenschaftliche Umarmung selbst die tote, steinerne
Sphinx zum Leben und Lieben erweckte.
Der Geschlechtstrieb des gereiften Mädchens ist normaler-
weise überhaupt nicht vorhanden oder äußert sich in wesentlich
anderen Formen als beim Jüngling. Die Pullution ist
nicht nur ein Zeichen der männlichen Reifung,
sondern eine strikte Forderung der Natur und ein
direkter Appell an seine Sinnlichkeit. Wir haben
schon hervorgehoben, daß die Menstruation hiermit nicht in
Parallele zu bringen ist, schon deshalb, weil sie so häufig
nur Unbehagen und Schmerzen bereitet.
*) N. B. Der große europäische Krieg hat das Zahlenverhältnis ge-
waltig verschoben. Allerdings spielt hier die willkürliche Nomenklatur
eine Rolle, indem Kriegspsychen und -neurosen mit Hysterie zusammen-
getan werden.
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Pollutionen kommen auch im weiblichen Geschlecht
vor, jedoch kaum bei der keuschen und reinen Jung-
frau. Sie sind das Privilegium derjenigen, die auf eine früher
erworbene und ausgeübte Sinnlichkeit verzichten müssen. Sie
sind ein Leiden junger Witwen und erscheinen beim
junger. Mädchen nur, wenn dasselbe mastur-
biert und in seine Vorstellungswelt den sinn-
lichen Oedanken an eine männliche Umarmung
aufgenommen hat. Die Masturbation des Mädchens!
scheint niemals eine spontane, aus dem Geschlechtsgefühl her-
aus geborene, sondern durch Verleitung und Verführung er-
worbene zu sein. Wir haben bereits früher gesehen, daß sie
langevor derpubertären Reifung zustande kommen
kann. Das psychosexuelle Zentrum ist von seinen Hem-
mungen befreit worden durch laszive Gespräche mit Freund-
innen, die große unbewußte Welt der Hemmungs-
vorstellungen, welche mit dem Geschlechts-
verkehr und dem Gebären zusammenhängen, er-
scheint bei der manuellen Befriedigung als un-
gefährlich. Dabei ist auch nicht zu unterschätzen, daß
diese natürlichen Hemmungen, welche die Angst und die
Gefahren der Mutterschaft widerspiegeln, ihre besondere Höhe
und Ausdehnung vermutlich ebenfalls erst mit der Rei-
fung der weiblichen Geschlechtsorgane finden.
Das sinnliche Gefühl des reifen, keuschen, in Gefühl und
Phantasie nicht beeinflußten jungen Mädchens ist höchstens
ein undefinierbares „Sehnen und Drängen". Es ist mehr* um
mit Moll zu reden, Kontrektations- als Detu-
m e s z e n z t r i e b , d. h. es ist vorherrschend ein Gefühl zu
lieben, noch mehr geliebt zu werden, die Sehnsucht nach dem
Geist und Wärme spendenden anderen Körper. Beim Jüngling
tritt die Detumeszenz, d. h. das Verlangen, an
seinen Genitalien Entlastung zu finden, viel deut-
licher in die Erscheinung. '
Das Kapitel über die libidinösen Vorgänge und Empfin-
dungen der (körperlich und seelisch) reinen Jungfrau ist be-
greiflicherweise am allerschwierigsten zu normieren. Wir
können uns im wesentlichen nur an das halten, was erfahrene!
Frauen aus ihrer Erinnerung berichten. Hier, wie kaum'
sonst im weiblichen Sexualleben, kann einzig und allein das»
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- 12S -
Wort der Frau selbst gelten. Wenn die Ärztin Dr. Mar-
garethe Kossack') die spontane Regung des Geschlechts-
triebes beim jungen Mädchen — entgegen dem des Jüng-
lings — ablehnt, so können wir hieran nicht vorübergehen.
Allerdings spricht sie sich über jungfräuliche Pollutionen
nicht aus — das Fehlen solcher scheint jedoch nach ihren
Darstellungen als selbstverständlich. —
W. Hamme r-') dagegen bestreitet die lustlose Reifung*
zum Weibe. Auch die reine Jungfrau hat neben seelischen
Regungen im Sinne der bereits zugestandenen Kontrek-
tation gewisse körperliche — D e tu m e sz e n z- Erschei-
nungen: „Sie hat das Gefühl der Frische, der Kraft und
Stärke, des Unternehmungsdranges, der wohltuenden Span-
nung leicht feuchter Unterleibsorgane (!). Dann
das Gefühl der Überreiztheit und Überspannung und da£ Be-
dürfnis, die ungeheure Spannung zu lösen, sich durch Kneifen,
durch Schlagen, durch Schnüren Erleichterungen zu schaffen,
und ähnliche Gefühle mehr. Lernt jetzt die Jungfrau die
Selbstbefriedigung nicht kennen, so tritt in regelmäßi-
gen Zwischenräumen von etwa 3 Tagen oder länger
oder kürzer, eine Traumentleerung übermäßig ge-
spannter Schleimdrüsen ein, die nicht etwa der
Monatsblutung entspricht, sondern der Begattung und
deutlicher als alle „Aufklärung", weniger deutlich als die Be-
gattung selbst die Beiwohnung in ihren Einzelheiten vor-
spiegelt. Findet jetzt, ohne daß vorher die Selbstbefriedigung
erlernt wurde, der Verkehr statt, so ist er in der Regel
schmerzfrei (!?), wie auch bei solchen Jungfrauen der
Gebärmutterspiegel leicht und schmerzlos eingeführt werden
kann. Ohne äußere Verführung findet nun diese keusche
Jungfrau häufig einen Weg, die übermäßige Spannung auch
ohne Mann auszulösen. Die Selbstbefriedigung führt dann
erst nach und nach, und je länger sie geübt wird, desto mehr
die Entjungferungsschmerzen herbei. Die Monatsblutung ent-
spricht der Geburt, die Traumentleerung oder Selbst-
befriedigung der Begattung." —
*) Vergl. den Schluß dieses Kapitels: Absatz 2.
2 ) Über die Sinnlichkeit gesunder Jungfrauen —
Die Neue Generation 1911, Heft 8.
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- 12g -
Woher mögen solch gegensätzliche Urteile bei einer so
wichtigen, fundamentalen und alten Frage zustande kommen?
An dem Ernst, an der Ehrlichkeit beider Beobachter ist nicht
zu zweifeln und doch — sie sehen mit den grundverschiedenen
Augen von Mann und Weib, sie vergleichen Dinge, die nicht
zu vergleichen sind, und sie sehen diese Dinge getrübt und
verschleiert durch lange kulturelle Heimlichkeit. Die Ver-
wechslung beginnt schon mit der sprachlichen Bezeichnung,
mit ihr erben sich Unklarheiten wie eine ewige Krankheit
fort, z. B. :
Was bedeutet das Wort „Pollution"?, „Beschmutz-
u n g"> „B e s u d e 1 u n g", „Verunreinigung" ! Welch
wenig passende Bezeichnung für einen physiologischen Vor-
gang! Und weiter, was repräsentiert die männliche Pol-
lution (bezw. die mit ihr identische Ejakulation)? Ledig-
lich die Heraus schleuderung eines notwendigen Zeu-
gungsstoffes. Die weibliche „sogenannte" Pollution
dagegen hat kein notwendiges Befruchtungselement zu liefern
(höchstens ein unterstützendes), am allerwenigsten hat sie
etwas „hinaus"zuschleudern. Dasselbe Wort für zwei ganz
verschieden geartete Vorgänge ist — offenbar vom Manne —
geschaffen worden!
Sicherlich machen sich die weiblichen libidinösen (Be-
fruchtungs-) Drüsen mehr oder minder bei der Geschlechts-
reifung bemerkbar. Selten kommen solche „libidinösen
Ausflüsse" zur Konsultation — Unkenntnis und Scham
halten sie fern. Und wenn der seltene Fall eintritt, so werden
sie meist verkannt, sie werden für Scheidenkatarrhe und! ähn-
liches gehalten, weil die etwaigen sinnlichen Begleitempfin-
dungen verkannt und verschwiegen werden.
Es ist von mancher Seite behauptet worden, daß der
häufige Mangel des weiblichen Geschlechts-
triebes „in unserer Zeit eine bedenkliche Ent-
artungserscheinung sei" (Frau Dr. Fischer-
Dückelmann) und nur bei „kultivierten Völker-
stämmen" vorkomme. „In der Natur sei dieses Ver-
hältnis nicht begründet" (Busch).
Adler, Geschlechtsempfindung. 3. Aufl. 9
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Betreffs „Entartung" sei noch einmal auf unsere Mit-
teilungen und Ansichten betreffend die Glandulae vesti-
buläres majores und den Sitz der Klitoris beim
Coitus normalis hingewiesen.
Wie dagegen die weibliche Libido bei den Naturvölkern
in die Erscheinung tritt, ist leider schwer zu eruieren. Ver-
geblich habe ich Josef Müllers Schrift: „Das sexuelle
Leben der Naturvölker" nach einer einzigen Andeutung
über diesen Punkt durchsucht.
In Ploß-Bartels (Das Weib) begegne ich der einzigen
Beobachtung eines gewissen Appun, der in Guyana viele
Jahre mit einer Indianerin verheiratet war. Er gibt an, daß
in dem ganzen weiblichen Stamme „eine geringe Nei-
gung zur physischen Liebe vorhanden sei".
Riedel gibt von den Frauen der Insel Buru an, daß
sie mit fremden Männern „passiv" und „indifferent"
seien, fügt aber sofort hinzu: „aus Furcht vor Schwanger-
schaft".
Derselbe Autor berichtet von den Serang-Insu-
1 a n e r n , daß daselbst eine Beschneidung der Männer erfolge,
um „das Vergnügen der Frauen zu vermehren",
und F i n s c h schildert die Mädchen auf Ponape (Karo-
linen) als „unendlich eisig und kalt".
Die Mitteilungen sind selbstverständlich zu dürftig, um
aus ihnen irgend welche bindenden Schlüsse zu machen. Ge-
schlechts trieb (Libido) und Geschlechts empfindung
(Höhepunkt — Orgasmus) sind bei diesen kurzen An-
gaben nicht genügend auseinandergehalten. Dazu kommt die
Vermischung des geistig so anders gearteten Weißen mit
der farbigen Rasse einer durchaus anderen Kultur. Schon
bei uns geben die Vermischungen verschiedener Gesellschafts-
klassen mit anderen Gewohnheiten und anderen geistigen Be-
dürfnissen verschiedene Resultate.
Den normalen Mangel eines ausgesprochenen Ge-
schlechtstriebes beim reifen jungen Mädchen fassen wir als
eine Konsequenz der natürlichen Hemmungen auf, die im
wesentlichen in den geschlechtlichen Gefahren beruhen.
Die „jungfräuliche Scham", die Angst, zum minde-
sten ein gewisser Grad von Ängstlichkeit begleitet stets die
myrtengeschmückte Braut in das Hochzeitsbett. Diese Angst
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kann gemildert, verwischt werden, sie kann aber auch zu-
nehmen und wachsen — je nach der Behandlung von seiten
des Mannes und dementsprechenden Folgen für das Empfinden.
Eine Ahnung dieser zitternden Scheu bleibt oftmals bis in die
höheren Jahre bestehen, nicht zum Schaden für das Weib
und für den Gatten, wenn nur der erste Hauch jeden Liebes-
genusses von ihnen verklärt wird und das Ergebnis eine volle,
warme, verzehrende Sinnesempfindung ist. In den „Wahl-
verwandtschaften" schildert Goethes sinnlich poeti-
tischt Feder an Charlotte diesen Rest jungfräulichen
Zaubers .
„Charlotte war eine von den Frauen, die von
Natur mäßig, im Ehestande ohne Vorsatz und
Anstrengung die Art und Weise der Liebhaber-
innen fortführen. Niemals reizte sie den Mann,
ja, seinem Verlangen kam sie kaum entgegen;
aber ohne Kälte und abstoßende Strenge glich
sie immer einer liebevollen Braut, die selbst
vor dem Erlaubten noch innige Scheu trägt."
Durch die ganze Natur des Liebens einer Frau, zieht sich
als Ausdruck ursprünglicher Hemmung ein leichter
Schleier von Zurückhaltung, Scheu und Ängstlichkeit und gibt
dem liebenden Manne bei jedem wiederholten Werben und
Genießen erneute Kraft und Gelegenheit, den längst ge-
wonnenen Schatz aufs neue zu erobern, zu verdienen und zu
erhalten !
Johanna Elberskirchen (in Alfter bei Bonn) hat
in dem großen dreibändigen von Prof. Dr. Koßmann
(Berlin) und Priv.-Doz. Dr. Jul. Weiß (Wien) heraus-
gegebenen Werk: Mann und Weib — ihre Bezie-
hungen zu einander und zum Kulturleben der
Gegenwart 1 ) das Geschlechtsleben des Weibes 2 ) bearbeitet.
Es handelt sich um eine umfangreiche Arbeit mit folgenden
Untertiteln :
*) Union Deutsche Verlagsgesellschaft. Stuttgart, Berlin, Leipzig.
£ ) Das Geschlechtsleben des Weibes. Von Johanna Elberskirchen
auf Burg Münchhausen bei Wachenheim. In Koßmann: Mann und Weib,
Bd. I, Teil II, Kapitel 4.
6«
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— 132 —
1. Über Wesen und Begriff des Geschlechtstriebes.
2. Das Geschlechtsgefühl des Weibes.
3. Krankhafte Veränderungen und abnorme Erschei-
nungen des weiblichen Geschlechtstriebes.
4. Die Ursachen mangelhafter Geschlechtsempfindung
der Frau und die Hemmnisse für ihren Geschlechts-
trieb.
5. Über Enthaltsamkeit des Weibes und über Vor-
■
beugungsmittel.
Aus der reichen und eingehenden Darstellung Johanna
Elberskirchens können an dieser Stelle nur einige Fun-
damentalsätze angeführt werden. Es sei vorweg bemerkt, daß
sich die Autorin ausführlich mit der in diesem Kapitel der vor-
liegenden Monographie *) behandelten Auffassung der weib-
lichen Libido beschäftigt. Ihre Kritik fällt negativ aus. Sie
bestreitet einen von Hause aus geminderten resp. versteckten
Geschlechtstrieb des Weibes und betrachtet fast alle Formen
der mangelhaften Geschlechtsempfindung, welche auf mangel-
haftem Triebe beruhen, als kulturelle Degenerationserschei-
nungen :
„Zur Erklärung des mangelhaften und minderwertigen Ge-
schlechtslebens des Weibes ergibt sich die der mangelhaften,
minderwertigen Entwicklungs- und Existenzbedingungen."
Johanna Elberskirchen kritisiert mit vernichtenden
Worten die seit Jahrtausenden von Geschlecht zu Geschlecht
wie eine ewige Krankheit fortgeerbte Knechtungsmoral der'
weiblichen Sexualität. Sie führt die Sitte der Vernähung (In-
fibulation z. B. im Sudan) an und fährt fort:
„An Stelle der körperlichen Vernähung trat der geistige,
der moralische „Verschluß des Weibes". An die Stelle der
unmittelbaren körperlichen Züchtigung trat die gesellschaft-
liche: die Schande, an Stelle des körperlichen Todes' der ge-
sellschaftliche Tod." -
Es ist unmöglich, an dieser Stelle erschöpfend auf die tiefen
Fragen der weiblichen Sexual-Ethik einzugehen. Nur einiges
sei Johanna Elberskirchen erwidert:
Ist denn die Kluft der Ansichten dieses Buches und ihrer
eigenen so unüberbrückbar groß ? Ist es nicht mehr ein Streit
•) Unc zwar der I. Auflage aus dem Jahre 1904.
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um Worte und sind wir nicht in den Prinzipien eigentlich einig?
Steht nicht bereits klar und deutlich in der" I. Auflage dieses)
( Werkef. zu lesen :
„Warum sollte die Natur, die sonst die übrigen Sinnes-
empfindungen bei beiden Geschlechtern annähernd gleich ver-
teilt hat, gerade in diesem Punkte, bei dem höchsten sinnlichen
Gefühle eine so krasse Ausnahme zu Ungunsten des Weibes
gemacht haben ?"
Diese noch dazu gesperrt gedruckte These war von
Johanna Elberskirchen nicht zitiert und vollkommen
übergangen. Immer heißt es nur: „einzelne Ärzte (Adler,
Fehling, Wind Scheidt, Havelock Ellis) gehen so
weit, zu behaupten, der Geschlechtstrieb des Weibes sei nicht
angeboren sondern erworben."
Und weiter : Von den Hemmungen sagt die Autorin, sie
seien „sinn- und zweckstörende Erscheinungen — Entartungen".
Ist nicht auch in dieser Monographie von „Entartungen"
die Rede, ist nicht auf Frau Dr. Fischer -DückelmannsS
ähnlichen Ausspruch hingewiesen und dabei die eigene Theorie
der Entartung von Drüsen und Kitzler (Glandulae vestibu-
läres majores und Klitoris) anschließend erwähnt ? —
Die Differenz der Anschauungen besteht nur scheinbar und
ist lediglich quantitativ. Die Vorkämpferinnen der neuen
Moral *) verlangen alles und leugnen alles, um wenigstens
einige Besserungen zu erreichen. Das mag agitatorisch ein
richtiger Kampf prinzip sein, wissenschaftlich gebührt ihm die
notwendige Einschränkung. Man mag noch so viel von kul-
tureller Entartung sprechen, die unsere moralischen Vorstel-
lungen, besonders die der weiblichen Sexualität verunstaltet
haben, so ist doch zu bedenken, daß diese kulturelle Ent-
artung Jahrtausende alt ist und daß es kein Volk auf
der Erde gibt, welches sich dieser kulturellen Entartungs-
ersebeinung — Bildung einer eigenen weiblichen
Gescl' lechtsmoral — hat entziehen können. Wir ge-
nießen die hohen Vorteile der Kultur — müssen wir nicht
auch ihre Schäden hinnehmen, besonders wenn diese einmütig
in der ganzen Welt gleichen Schritt halten und uns schließ-
lich wie etwas selbstverständliches erscheinen ? Oft genug
*) Vom Jahre 1905—1910.
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hört man in der Beweisführung das Beispiel der Naturvölker.
Was wissen wir von der „mangelhaften Geschlechtsempfin-
dung" bei diesen? So gut wie nichts. Das Wenige abfer,
was wir wissen, deckt sich durchaus mit den „kulturellen"
Ausfallerscheinungen unserer Frauen. Auch die kulturfremden,
wilden Weiber sollen allzuoft „kalt und eisig" und „wenig
zur physischen Liebe geneigt sein".
Mag man dem Ding einen Namen geben, welchen man
will — über die Tatsache eines zum mindesten anders organi-
sierten Geschlechtstriebes bei Mann und Weib kommt man
nicht fort. Die Liebe des Mannes ist und bleibt aggressiv,
die des Weibes passiv, das spiegelt sich in tausend Varianten
des ganzen organischen und seelischen Aufbaues beider wieder.
Sollten die größten Denker, die größten Philosophen, Dichter
und Menschenkenner (nicht etwa Ärzte), die weit über diesem
Lebenseinerlei standen und den Menschen tief ins Herz sahen,
sollten alle diese immer wieder von der gleichen kulturellen,
Entartung umstrickt und befangen gewesen sein? Und kann
man dann noch von Vorurteilen sprechen, wenn diese Denker
sich ostentativ über die konventionellen Formen der staatlich
sanktionierten Liebe hinweggesetzt haben? Goethe —
Christiane und J. J. Rousseau — Therese sind leben-
dige Beispiele der von der Reform verkündeten neuen, un-
beengten, von keiner „Entartung" angekränkelten Sexual-
ref orm. Wie beginnt Rousseaus Emil?
„Alles ist gut, wie es aus den Händen des Urhebers
aller Dinge hervorgeht. Alles entartet unter den Händen
des Menschen — " ein Einführungsgesetz so recht nach dem
Herzen der entartungsfeindlichen Reformerinnen — und doch
predigt derselbe J. J. Rousseau den fundamentalen Unter-
schied der „männlichen Kühnheit" (aggressive Liebe) und der
„weiblichen Scham" (Passivität), aus denen „mit Leichtigkeit
alle übrigen moralischen Unterschiede abgeleitet werden
können". Und Goethe, der frauenerfahrene Menschen-
kenner, umgibt seine poesieverklärten weiblichen Ideale mit
dem Heiligenschein einer „liebevollen Braut, die selbst vor
dem Erlaubten noch innige Scheu trägt".
Man mag den Geschlechtstrieb des Weibes von allen
Fesseln der Konvention befreien und ihm die natürlichste
Entfaltung gestatten — immer muß ein eingeborener Rest
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von Zurückhaltung übrig bleiben, ein Rest, der nur verschönt
und selbst dem frenetischsten Sinnestaumel eine reizvolle und
um so anziehendere Verbrämung verleiht An diesen natür-
lichen Rest setzen sich allerdings häufig überflüssige Schlacken
an — Hemmungen — die zur mangelhaften Ge-
schlechtsempfindung führen und dann in das Reich
des Krankhaften hinüberweisen.
Im Anschluß an Johanna Elberskirchen sei hier
*noch von neuesten Kundgebungen die bereits zitierte Ärztin
Margarethe Kossack *) angeführt. Sie äußert sich über
die weibliche Libido folgendermaßen:
1. „Der Mann versteht das Weib in den Äußerungen
seines Geschlechtslebens fast nie. Dies ist insofern der Fall,
als er dieselben stets auf Sinnlichkeit zurückzuführen pflegt.
Setzen Backfische durch Unterhalten kindischer Liebesverhält-
nisse ihren guten Ruf aufs Spiel, schicken sie angeschwärmten
Schauspielern Billetdoux, tuscheln sie sich obszöne Geschichten
ins Ohr, fallen junge Mädchen in Gesellschaft durch ihr
kokettes Benehmen auf, verfolgen verheiratete Frauen ihre
Gatten mit lästigen Zärtlichkeitsbezeugungen — immer und
überall macht der Mann die Sinne des Weibes dafür verant-
wortlich. Und doch haben sie in der Regel nicht das mindeste
damit zu tun. DasWeib istvon Hauseaus nichtnur
vielwenigersinnlichalsderMann, sondernnoch
viel weniger als er glaubt, aber das Sexuelle
im engsten und weitesten Sinn nimmt in seinem
Dasein einen ungleich größeren Raum ein als
in dem seinen und das zwar im umgekehrten Verhältnis
zu der Erregbarkeit seiner Sinne.' 4
2. „Auch damit irrt man, daß man immer annimmt, der
Geschlechtstrieb äußere sich beim Mädchen bei eintretender
Geschlechtsreife wie beim Jüngling ganz von selbst. Er er-
wacht erst beim Zärtlichkeitsaustausch mit dem Manne. Hat
ler sich schon früher bemerkbar gemacht, so ist er durch ver-
botenes Liebesspiel mit Knaben, meinetwegen auch Mädchen,
oder durch onanistische Manipulationen, zu denen Altersge-
•) Die Vita sexualis der Hysterischen — Zeitschrift für
Sexualwissenschaft - Bd. II (1915), Heft 5.
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- 136 -
nossen oder Dienstboten die Anleitung gegeben — kurzweg
durch Reizung der Genitalien — künstlich hervorgerufen."
3...Man möge nicht aus dem Umstände, daßi ein Mädchen
sich sexuelle Unarten angewöhnt oder vorzeitigen Geschlechts-
verkehr pflegt, schließen, daß ihre Sinne danach verlangten —
das hieße Ursache und Wirkung verwechseln — die Ver-
führerin war nur die Phantasie und mit ihr im Bunde vielleicht
auch noch Neugier, Ehrgeiz. Ehrgeiz! — Ja das klingt sonder-
bar und doch kanns so sein! Sie will etwas erleben; auf dem
Gebiete der „Liebe"! Das rein Physische aber „das gehört
dazu"!
Diese wenigen Originalstellen der Margarethe
K o s s a c k 'sehen Arbeit sind dem Verfasser eine dankenswerte
Bestätigung seiner eigenen Auffassung der weiblichen
Libido vom ersten Tage an. Schon in der I. Auflage standen
folgende in dieser III. Auflage ») dadurch noch wertvoller ge-
wordenen Sätze:
„Man spricht von einem sinnlichen Ausdruck der Augen 8 )
und einem anlockenden, koketten Benehmen als besonderen
Zeichen einer geschlechtsempfindenden und geschlechtsbe-
dürftigen Frau. Die Koketterie hat mit der Sinn-
lichkeit absolut nichts zu tun. Auch die kalte Frau
will gefallen, und dies vielleicht um so mehr, als sie ihren
geschlechtlichen Fehler kennt. Die weibliche natürliche Eitel-
keit drängt auf das Gefallen hin. Selbst die absolut kalte
Frau, die nie etwas bei ihrem Gatten empfunden hat, würde
in ihrer Eitelkeit gekränkt sein, wenn ihr Mann sie nicht
mehr begehrte." 3 ) —
*) Siehe X. Kapitel: Die Folgen der mangelhaften Geschlechts-
empfinciung.
2 ) Margarethe K o s s a c k (1. c.) nennt sie „hungrige Augen".
3 ) Vergl Rousseau: Confessions (1737—41) : „Nehmet die
verständigste, gebildetste, am wenigsten sinnliche Frau : das unverzeih-
lichste Verbrechen . . . ist, ihren Besitz erlangen zu können und keinen
Gebrauch davon zu machen. Das muß wohl ausnahmslos der Fall sein"
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VIII. Kapitel.
•
Hysterie und mangelhaftes (Jeschlechtsempfinden.
Über Definitionen der Hysterie. Empirische Bilder (Breuer und
Freud). Die Häufigkeit der allgemeinen Anästhesien überhaupt. Sexuelle
Anästhesie — eine Teilerscheinung. Die pathogene Wirkung des sexuellen
Traumas. W.; A. Freunds Parametritis chronica atrophicans als häufigste
Ursache der Hysterie. Frankenhäusersches Ganglion. Fall XVIII (Eigene
Beobachtung)« Psychologische Epikrise. Fall XIX (Eigene Beobachtung).
Die sozialen Schicksalsschläge haben beim Weibe viel eher eine Alteration
des sexuellen Lebens zur Folge als beim Manne. Fall XX (Straßmann).
Grande Hysterie. > Epikrise. Vita sexualis der Hysterischen nach Mar-
garethe Kossack. Die geschlechtliche Unempfindlichkeit der scheinbar
Sinnlichen. „Hungrige" Augen. Altstimmen. Verzettelungssucht. Hystero-*
epileptische Krämpfe und Libido.
Im Juni 1902 hielt W. A. Freund in der Gesellschaft
für Geburtshilfe und Gynäkologie zu Berlin einen
von durchaus neuen Gesichtspunkten geleiteten Vortrag:
„Ober Hysterie".
Er begann mit einigen geistvollen Erklärungen ver-
schiedenster Autoren, welche das Wesen der Hysterie in
Worten wiedergeben sollten — allein er gab diese bisweilen
zum schweren Philosophenstil ausgearteten Definitionen als
Beleg und Beweis dafür, wie wenig die seltsame Krankheit
einer leicht verständlichen und knappen Charakteristik mit
'Vorteil fähig ist.
Auch wir wollen das Heer dieser Definitionen nicht ver-
mtnren. Wir folgen lieber dem Gedankengang Breuers und
Freuds in ihren musterhaften und geistreichen „Studien
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über Hysterie" (1895), die nur ein empirisches Bild
dieser Krankheit gelten lassen, dessen Farben aus dem ge-
störtem Nervenleben, aus der Welt der Vorstellungen und
Ideenassoziationen zusammenlaufen.
Breuer und Freud betrachten die hysterischen
Syn ptome „als Effekte und Reste der Erregun-
gen, welche das Nervensystem als Traumen be-
einflußt haben. Solche Reste bleiben nicht
übrig, wenn die ursprüngliche Erregung tlurch
AbreagierenoderDenkarbeitabgeführt worden
ist."
Zu den häufigsten hysterischen Symptomen gehören die
Anästhesien, die empfindungslosen Stellen an um-
schriebenen Teilen der Körper obe r fläche nicht minder
wie der inneren Schleimhäute. Der Stich der Nadel wird
nicht mehr als Schmerz, die Irritation der Nasenschleimhaut
nicht als ein Kitzel, der Niesen hervorruft, empfunden; die
Reizung des Rachens bleibt ohne Reaktion und hinterläßt
kein Gefühl des Würgens.
Empfindungslosigkeit in irgend einer Zone gehört zu
den kaum entbehrlichen, charakteristischen Symptomen einer
Hysterie. IstindiesemZusammenhangenichtauch
die geschlechtliche Empfindungslosigkeit, die An-
aesthesia sexualis in irgendwelcher Form, beson-
ders aber der fehlende Geschlechtstrieb, die
mangelnde Libido, als hysterisch verdächtig
und mehr als wahrscheinlich anzunehmen?
Im I. Kapitel ist bereits der „Sexualität als häufige
Quelle psychischer Traumen" nach Breuer und
Freu d Erwähnung geschehen :
„Angst hatte ich oft als Folge des Grausens
erkannt, das ein virginales Gemüt befällt, wenn
sich zuerst die Welt der Sexualität vor ihm
auf tut."
Und an anderer Stelle desselben Buches (pag. 216)
heißt es.
„Die Neigung zur Abwehr des Sexualen wird
noch verstärkt dadurch, daß die sinnliche Erre-
gungbei derjungfrau eine Beimischung von Angst
hat, die Furcht vordem Ungekannten, Geahnten,
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was kommen wird, während sie bei dem natür-
lichen, gesunden jungen Manne ein utivermischt
aggressiver Trieb ist. Das Mädchen a.hnt im
Eros die furchtbare Macht, die ihr Schicksal be-
herrscht und entscheidet und wird durch sie
geängstigt. Um so größer ist die Neigung, weg-
zublicken und das Ängstigende aus dem Bewußt-
sein zu verdränge n."
„D ieEhebringtneuesexualeTraumen. Esistzu
wundern, daß die Brautnacht nicht häufiger pathogen wirkt,
da sie doch leider so oft nicht erotische* Verfuhrung, sondern
Notzucht zum Inhalt hat. (NB. Diese pathogene Wirkung
ist tatsächlich mehr als häufig.) Aber freilich sind ja
auch die Hysterien junger Frauen nicht selten,
welche daraufzurückzuführen sind, und schwin-
den, wenn sich im Laufe der Zeit der Sexual-
genuß eingestelltunddas Trauma verwischthat.
Auch im weiteren Verlauf vieler Ehen kommen
sexuale Traumen vor. Jene Krankengeschich-
ten, von deren Publikation wir absehen mußten,
enthalten davon eine große Zahl, perverse An-
forderungen des Mannes, unnatürliche Prak-
tiken usw. Ich glaube nichtzu übertreiben, wenn
ich behaupte, die große Mehrzahl der schweren Neurosen
bei Frauen entstamme dem Ehebett."
Breuer und Freud haben bei ihren Fällen vorwiegend
die psychischen Traumen im Auge. Sie denken an eine
ps>chologischfalscheSexualität,an eine fehler-
haftc, geistige Erziehung zur Sinnlichkeit von
Seiten des Mannes. Indem wir an späterer Stelle hierauf
zurückkommen, mag hier der Kernpunkt der W. A. Freund-
schen Ansichten wiedergegeben werden, der eine direkt
pathologisch-anatomische Quelle der Hysterie
behauptet.
Diese häufige Quelle ist die von ihm selbst studierte
und nach ihm benannte Freund sehe Krankheit, die Para-
metritis chronica atrophicans.
Die Parametritis ist die Hauptform jener traurigen
Krankheit, womit die „unterleibskranke Frau" behaftet ist.
Die Parametritis chronica atrophicans Freunds
- 140 —
ist im wesentlichen ein cirrhotischer Schrumpfprozeß des
Beckenbindegewebes, für welches eine Analogie beim
Manne nicht besteht. Die Krankheit ist vielfach Folge sexu-
eller Insulte jeglicher Form (Coitus reservatus, Abort, Ge-
burt etc.), kann aber nach Freund auch ohne solche Ur-
sachen schon bei Kindern und jungen Mädchen als fort-
gcleiteter Prozeß von Erosionen und Geschwüren des"
Da rmes aus auftreten.
Die hierdurch bewirkte Verkürzung des sexuellen Band-
apparates und die Verlagerung der Organe selbst, speziell
der Blase, der Gebärmutter, der Eierstöcke ist bei jeder
Alteration mit Schmerzen verbunden. Diese Alteration kann
bei einfacher Erregung und dadurch vermehrtem Blutzufluß,
kann bei der Menstruation, kann beim Coitus durch rein
Mechanisches Prinzip zustande kommen.
Die hier liegende Quelle der Schmerzen betrachtet
F r e it n d als einen häufigen Auslösungsakt der Hysterie.
Er glaubt noch eine weitere pathologische Brücke gefunden
zu haben in der direkten anatomischen Schädigung und Ver-
änderung des Frankenhäuserschen Ganglions.
Es ist ohne weiteres klar, daß ein schmerzhafter Coitus
nicht geeignet ist, den durch die natürlichen Hemmungen
bisher noch verhüllten Geschlechtstrieb und die vergrabene
»Wollustempfindung aus ihrem Dunkel zu erwecken. Nicht
nur der positive Schmerz allein übt seinen Stachel auf das!
vorbereitete Nervensystem des Weibes aus und führt es zur
Hysterie, sondern sicherlich auch der Mangel jeden sexuellen
Empfindens — eines Empfindens, das vielleicht noch für alle
anderen Qualen entschädigen und der hysterischen Reaktion
Widerstand entgegensetzen könnte.
Man stelle sich ein ahnungsloses Weib vor, dessen erste
Liebesopfer von Schmerzen begleitet waren, welches durch
Unverstand und Ungeschicklichkeit des Gatten lange im Zu-
stande der Duldung gehalten wurde. Sie ist inzwischen Mutter
geworden und will in dem Seligkeitsgefühl beim Anblick des
eigenen Kindes sogar die Schmerzen vergessen, die sie um
seinetwillen ertragen hat. Da meldet sich die häufigste aller
Unterleibskrankheiten und ohne eine Ahnung vom Gefühle
der Sinnlichkeit treten neue Qualen und Schmerzen auf, die
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um so heftiger werden, je stürmischer und begehrlicher das
Lieben ihres Mannes ist.
Es ist schwer, sich als Mann in diese Welt von Vor-
stellungen zu versetzen und zu begreifen, welchen Kampf
von Gefühlen, Gedanken und Empfindungen ein so beklagens-
wertes Weib in seiner Seele durchzuringen hat. Liebt sie
den Mann, so ist der geistige Verbrauch der Kräfte vielleicht
nicht weniger, als wenn Abneigung den schmerzhaften Zustand
vermehrt. Kein Wunder, wenn endlich das wunde Nerven-
system erlahmt und schließlich mit den eigenartigen, viel-
gestaltigen Symptomen der Hysterie reagiert.
Wir verzichten auf nähere Krankengeschichten dieser Ma-
terie, sie sind jedem Arzte geläufig und glücklicherweise ist
in vielen Fällen durch direkte Behandlung eine Besserung
möglich. Wir verweisen auf den hier sich einfügenden, früher
beschriebenen S e e 1 i g m a n n sehen Fall.
Die spezielle Bedeutung des Frankenhäuserschen
Ganglions für die Frage der Wollustempfindung liegt vor-
läufig noch in ihren hypothetischen Anfängen und bedarf der
weiteren Forschungen. Wenn dieser im Beckenbindegewebe
gelegene eigene Nervenapparat tatsächlich bei der Geschlechts-
empfindung mitspricht, so mag es weniger der Geschlechts-
trieb als solcher, sondern der Höhepunkt des weiblichen
Empfindens, der Orgasmus sein, der durch ihn alteriert
werden kann. Besonders käme die pathologische Bedeutung
desselben für diejenigen Fälle in Betracht, in welchen schon
Trieb und Empfindung vorhanden war, aber durch die be-
schriebene Form der Erkrankung in den schmerzhaften Zu-
stand des Nichts und der Erinnerung zurückversunken ist.
Eine Bestätigung finden die Freund sehen Ansichten bei :
S. Frankel: Beiträge zur Diagnose, Aetiojogiö
und Therapie der sogenannten Parametritis
posterior chronic a.*)
Fränkel bestätigt, daß es sich in vielen Fällen überhaupt
um keine Entzündung, sondern lediglich um einen rein
primären Schrumpfungsprozeß handelt. Die Haupt-
ursache seien pathologische Sexualfunktionen. Auch bei
*) Naturforscher- Versammlung — Salzburg 1909 (Referat i. d. Berl.
Hill. Woch. 1909, Nr. 42.)
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intakter Scheide sei der Befund häufig, „so daß mit gleicher
Sicherheit, wie aus den äußeren Anzeichen (Klitoris und kleine
Labien) aus diesem Befunde auf Masturbation geschlossen 1
werden dürfe." Weniger klar erscheint die Beweisführung,
daß eine „krankhafte Inanspruchnahme der Bänder bei den
irregulären Coitusbewegungen des Uterus (?) erfolge und
daß der fehlerhafte Ablauf des Orgasmus aus dem elastisch-
muskulösen Gewebe ein narbig verkürztes Bindegewebe
schaffe/' Ähnliches, jedoch nicht so konstant und hochgradig,
soll auch beim Coitus reservatus stattfinden. —
Im folgenden mögen einige Fälle in losem Zusammen-
hange aufgeführt und besprochen werden, deren Trägerinnen
Hystericae sind. Dieselben haben zur Freund sehen
Krankheit gar keine oder geringe Beziehungen und sind von
wesentlich anderen Gesichtspunkten aus zu betrachten.
Fall XVIII.
(Eigene Beobachtung.)
Patientin ist eine jetzt ca. 40 Jahre alte Kaufmannsfrau, die in
mittleren bürgerlichen Verhältnissen lebt; zeitweise sind die äußeren
Verhältnisse etwas derangiert gewesen, jedoch hat niemals eine
wirkliche! Not bestanden. Der Mann kann es jedoch nicht zu einer
gleichmäßigen, sicheren und zunehmenden Existenz bringen, was
eine begreifliche Quelle steten Kummers für sie bildet.
Sie ist seit dem 13. Lebensjahre regelmäßig menstruiert und
stammt aus gesunder Familie. Mit 23 Jahren hat sie geheiratet
mit konventioneller Sympathie, jedenfalls ohne jede Abneigung.
Die Defloratio war leicht, ohne nennenswerte Schmerzen und Blut-
verlust. Sie behauptet, früher weder sinnliche Unterhaltungen ge-
führt, noch an ihnen Gefallen gefunden zu haben; Masturbation
wird durchaus in Abrede gestellt.
Sie hat im ganzen dreimal geboren, das erste Mal etwa ein
Jahr nach der Verheiratung. Die Kinder leben sämtlich und sind
gesund. Sie behauptet, daß sie niemals bis nach der
Geburt ihres letzten Kindes je eine wollüstige
Empfindung in coitu gehabt hätte. Dieselbe trat erst
nach einer ärztlichen Konsultation ein, wo sie ihren Zustand ge-
legentlich anderweitiger Behandlung zur Sprache brachte. Dies
war vor ca. 10 Jahren^ als ich der sexuellen Anästhesie noch keine
besondere Aufmerksamkeit schenkte. Ich glaubte, ihr damals durch
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Behandlung mit Elektrizität Besserung versprechen zu können. Allein,
die ganze Frage wurde spater nicht mehr berührt.
Jetzt erzählt sie auf Befragen, daß sie bald nach jener Kon-
sultation (also nach einfacher Aussprache, ohne diesbezügliche
lokal«: Behandlung) Wollustempfindung verspürt hätte. Hierfür sei
eine richtige Position notwendig und keine allzu schnelle Ejaculatio
mariti. Allein, ihre Freuden sind nur spärlich. Ihr Gatte ver-
nachlässigt sie geschlechtlich derart, daß sie monatelang überhaupt
keinen Verkehr hat. In den letzten Jahren hat seine sexuelle
Potenz vollkommen aufgehört, ob nur ihr gegenüber oder über-
haupt, darüber habe ich keine bindenden Mitteilungen von ihm.
Allein, es scheint mir fast, als ob seine sexuelle Indifferenz in
diesem Falle nur individuell ist. Die Frau hat auch durch die
Geburten gelitten, leidet an Ausfluß und an partiellem Vorfall
der Scheidewände.
Die Patientin leidet in Intervallen an Angstzuständen. Es ist
charakteristisch, daß sie in voller Gesundheit ohne jedes ein-
schlägige Symptom gelegentlich einer Pestepidemie in Indien den
Arzt in Berlin holen ließ mit der eigentümlichen Beschwerde:
„Ich habe solche Angst vor der Pest!"
Solche Angstzustände halten dann mehrere Wochen an und das
Ende ihrer Beschwerden klingt immer in eine Klage über den
Mann aus, den sie aufrichtig, liebt, dessen sexueller Indifferentismus
ihr jedoch nicht minder Sorgen macht als seine minderwertige Er-
werbsfähigkeit.
In den letzten Jahren haben sich die Angstzustände mit Schmerzen
in der Magen- und Lebergegend verbunden. Die Anfälle machen
den Eindruck von Gallensteinkoliken, allein auch nicht die Spur
eines Anhaltes ist dafür gegeben, sondern lediglich nervöse Magen-,
Darm- und Leberkoliken, also eine hysterische Intestinalneurose,
kommt nach allen Beobachtungen und Behandlungen in Frage.
Der vorliegende Fall hat zur Hysterie nur so weit Be-
ziehung, als dieselbe hier auf alle Fälle die Folge des falschen
und mangelhaften sexuellen Lebens im Verein mit den wirt-
schaftlichen So#gen ist. Patientin ist der Typus der durch
ihren Mann vernachlässigten Frau, der für sein sexuelles
Manko nicht einmal das Äquivalent des vollen Ernährers?
bieten kann.
Sehr eigentümlich ist die bis zum dritten Kinde behauptete
Unempfindlichkeit der Patientin — vorausgesetzt, daß ihre
Angabe wahr ist! Bei Hysterischen kommen besonders in
sexuellen Dingen sonderbare Behauptungen vor. Allein ich
kann die Möglichkeit, ja sogar die hohe Wahrscheinlichkeit
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- 144 —
dieser Wirkung nicht von der Hand weisen. Die Aus-
sprache allein, die Möglichkeit des Bekennt-
nisses und die Mitteilung an eine sachverstän-
dige Vertrauensperson genügt vollkommen zur
Alteration und Umstimmung der Psyche. Wissen-
schaftlich ist diese Wirkung noch ein undefinierbares Ge-
heimnis, aber Suggestion und verwandte Ausdrücke ähnlichen
Charakters sind längst in den anerkannten Sprach- und Heil-
schatz der wissenschaftlichen Medizin übernommen worden.
Neben der Logik der Schulmedizin läuft noch ein, großer Teil
Mystik einher, die in der undefinierbaren Macht der Persön-
lichkeit beruht. Dasselbe Mittel kann aufs der einen Hand
den Zustand eines Kranken unbeeinflußt lassen, wohl gar
verschlechtern, aus der andern eine Wunderheilung hervor-
zaubern. Vorwiegend gilt dies natürlich bei allen psychischen
und nervösen Leiden. Es ist jedoch nicht abzustreiten, daß
auch bei pathologisch nachweisbaren Krankheiten die indi-
viduelle Macht von günstigem Einfluß sein kann. A priori
jedenfalls ist es nicht von der Hand zu weisen, daß der in-
dividuell wohltätige Einfluß des Arztes das Vertrauen und
den Glauben, d. h. also das regulierende Nervensystem! eines
Kranken derartig stärken kann, daß seine Widerstandskraft
im Kampf mit der Krankheit noch gehoben und gesteigert wird.
Im vorliegenden Falle kann die Tatsache des Bekenntnisses
eine» bisher verschwiegenen anormalen Zustandes allein den
Weg zur Besserung weisen. Vielleicht war damit die erste
Hemmung beseitigt und Patientin jetzt überhaupt zum
ersten Male in der Lage, frei darüber nachzudenken. Sie
wird dann den Mut gefunden haben, die natürliche Ahnung
der falschen Positio zu verbe'ssern und somit allmählich in
ein gesundes Geschlechtsempfinden eingetreten sein. Hier
ist die Grenze des Erreichbaren. Zur Erhaltung und weiteren
Pflege ist jetzt selbstverständlich ein „Mann" notwendig.
Gegen diese fehlende Qualifikation versagen naturgemäß Re-
zepte, Suggestion und die noch so hohe persönliche Macht
des Arztes!
Der nächste Fall XIX gewährt einen vielseitigen Ein-
blick in das komplizierte geistige Sexualleben einer Hysterica,
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deren ganze Empfindungsweit durch die mangelhafte Sexualität
mannigfach beeinflußt ist.
Fall XIX.
(Eigene Beobachtung.)
Die 37jährige Patientin ' befindet sieh wegen Scheiden- und
Cer\ ixkatarrhes in Behandlung. Während derselben werden ihr
langsam, ganz allmählich und nach und nach die Angaben über
ihr sexuelles Leben abgerungen.
Sie stammt aus gesunder Familie. Die Mutter leidet, wie sie
selbst, an Migräne. Erste Menses mit 12 Jahren, ziemlich regel-
mäßig und schmerzhaft. Mit 16 Jahren verlobte sie sich mit
einem 10 Jahre älteren Fabrikdirektor. Nach etwa l 1 /«jährigem
Bestehen des Verlöbnisses wurde dasselbe aus äußeren Familien-
verhältnissen — ohne direkten. Bruch mit dem Verlobten —
aufgehoben. Sic gibt an, daß sie dem Bräutigam zwar sympathisch
zugetan war, daß jedoch der Abbruch der Beziehungen nicht den
lebenserschütternden Eindruck auf sie gemacht hätte, den häufig
derartige Konflikte in der Seele eines Mädchens zur Folge haben.
Zur Erleichterung des Schlages wurde sie in eine kleine Stadt
einer landschaftlich schönen Gegend geschickt, wo sie ca. V 4 Jahre
im. Kreise gleichaltriger Mädchen die Wirtschaft erlernte. In dieser
Zeit blieben die Menses 3 /* Jahre aus, sie selbst wurde zusehends
stärker in der Figur.
Sie will niemals bis dahin irgendein sexuelles Gefühl gehabt
haben. Bei Unterhaltungen der Freundinnen über diese Themata
zog sie sich zurück, von einem Mädchen hielt sie sich dauernd
fern, weil sie erfahren hatte, daß dasselbe masturbierte. Jedes
sexuelle Gespräch war ihr widerlich und unangenehm.
Im Alter von 25 Jahren verlobte sie sich aufs neue. In-
zwischen hatten sich die pekuniären Verhältnisse der Eltern ver-
schlechtert und sie war gezwungen, eine Stellung in einem Geschäfte
einzunehmen. In diesem interessierten sich zu gleicher Zeit zwei
Angestellte für sie. Derjenige, dem sie den Vorzug gab, schien
jedoch; nicht ernste Absichten zu haben. Sie hatte für denselben
ein sichtliches Interesse, weil er ihrer Vorstellung von Männlichkeit
mehr entsprach. Er war groß und dunkel, und diese Qualitäten
setzten sich bei ihr um so fester, als auch ihr erster Bräutigam
groß und dunkel gewesen war.
Der andere Verehrer dagegen war klein und blond. Sein
Äußeres, welches durchaus entgegengesetzt ihrem Ideal war, wider-
sprach demgemäß zugleich mit seinem weichen und nachgiebigen
Wesen ihrer Vorstellung eines zu liebenden Mannes.
Allein seine Aufmerksamkeiten und Bemühungen waren so treu
und ehrlich, daß sie schließlich seinen Antrag, zugleich auch mit
Rücksicht auf die Familienverhältnisse, die ihre eigene Versorgung
wünschenswert machten, entsprach.
Adler, Geschlechtsempfindung. 3. Aufl. 10
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Die» Form ihrer Zusage ist charakteristisch. Als endlich für
den Mann sich Gelegenheit fand, seine offenen Absichten ihr gegen-
über auszusprechen, antwortete sie ablehnend mit dem Hinweis auf
jenen anderen, der sich gleichfalls um sie bemühte. In diesem
Augenblick füllten sich die Augen des Antragstellers mit Tränen,
und ei erschien in den ihrigen so sehr als das Bild des zerknirschten,
niedergeschlagenen und enttäuschten Liebhabers, daß sie von Mit-
leid gerührt wurde und ihm am nächsten Tage ihr Jawort gab.
Es war ein Verlöbnis aus Mitleid, zwar ohne Abneigung, aber
ohne die zwingende Kraft liebender Sympathie.
Sie hat dann diesen Mann nach 2 Jahren im Alter von 27 Jahren
geheiratet. Bei den ersten Malen des ehelichen Zusammenseins
hatte sie Schmerzen, die sich jedoch bald verloren. Sie wurde
schnell gravida und hatte eine schwere Geburt. Zange, Dammriß
und» Naht. Die Geburt des zweiten Kindes war leicht.
Seit der Niederkunft traten ihre Menses ca. alle 3— 3 l / 2 Wochen
ein, dauerten etwa 8 Tage, meist mit einer Pause von 3 Tagen
während derselben. Sie verliert auch bisweilen Stückenblut. Sie
leidet an häufigen migräneartigen Kopfschmerzen, besonders am
Hinterkopf, die unabhängig von ihrer Periode sind. Außerdem
wird sie bisweilen von Schwindel befallen, besonders auf offener
Straße, eine Art Platzangst. Bisweilen sind Rückenschmerzen vor-
handen. Sic will nie bis zum heutigen Tage die Spur
einer Empfindung in coitu gehabt haben trotz nun-
mehr lOjähriger Ehe und zweimaliger Geburt. Ihr
Verhältnis zu ihrem Gatten ist ein gutes, er liebt sie innig und „tut
ihr alles zu Gefallen". Allein gerade das „imponiert ihr nicht".
Sie wünsche von ihm etwas mehr Energie. „Er ist sonst gegen
anuea energisch, nur gegen mich nicht". Seine Ejaculatio ist meist
1 überaus schnell. Sie ist froh, „wenn ihr Mann sie zufrieden läßt".
Die Patientin ist eine stattliche, gut gebaute, kräftige Frau.
Ihr Leib ist etwas stark (Tympan-ie), sie leidet viel an Flatus.
Die Haut zeigt am Hals und an den Oberschenkeln bräunliche
Verfärbung mit größeren, weißen Inseln darinnen (Leukoderma).
Auch der Vorderarm ist bräunlich (wie schmutzig aussehend). In
der linken Mamma befindet sich ein walnußgroßer, harter ver-
schieblicher/ Tumor, der bisweilen etwas Schmerzen macht. Die
längere Beobachtung deutet auf ein Lipom, das vorläufig keine
Veranlassung zu zu chirurgischem Einschreiten bietet. Sie gibt an,
öfter an Herzklopfen zu leiden.
Am Damm ist die deutliche Geburtsnarbe sichtbar. Es besteht
ein leichter Prolaps der vorderen und hinteren Scheidewand, die
beim Pressen noch mehr hervortreten. Der Uterus liegt nach
hinten, beim Anheben entstehen einige seitliche Schmerzen. Das
Orificium ist groß. Erosio. Cervixkatarrh.
Auch in coitu treten ähnliche Schmerzen bei tieferer und
hastigen Introductio ein, wie durch das Anheben bei der bimanuellen
Untersuchung.
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#
Die Patientin hat zwei unempfindliche (anästhetische) Zonen an
der rechten Hand und am rechten Oberschenkel. Die Stiche der
Nadel! empfindet sie daselbst fast gar nicht als Schmerz. Außerdem
leidet sie an. häufiger, plötzlich auftretender Heiserkeit. Eine solche
stellt sich jedesmal in der Sprechstunde bei der ärztlichen Unter-
suchung ein und verliert sich von selbst wieder nach kurzer Zeit.
Die Patientin war bereits einige Wochen in Behandlung und
slets hatte sie jegliche Empfindung in coitu geleugnet,
hatte auch jegliche Masturbation bestritten.
Bei Abtastung der Vulva, speziell der KÜtorisgegend, gelegentlich
der Ätzungen für die Portioerosionen bemerkte ich plötzlich an ihr
Bewegungen und einen Ausdruck des Gesichtes, die beide auf
wollüstige Empfindungen schließen ließen. Auf meine eindringliche
Frage gab sie endlich die verschämte Antwort, daß sie eine volle,
sinnliche Empfindung gehabt habe.
„Sie fühlen also doch etwas und haben mir bisher immer das
Gegenteil versichert?"
„Ach Gott, Herr Doktor, Sie bekommen doch alles aus mir
heraus! Ja! Ein ähnliches Gefühl habe ich auch einige Male bei
meinemi Manne gehabt, bald nach der Geburt meines zweiten
Kindes."
„Und es hat sich nicht öfter wiederholt? Und weshalb nicht?"
„Ich glaube erstens die Schnelligkeit meines Mannes ist daran
Schuld. Dann aber ist mein steter Gedanke beim ehelichen Ver-
kehr die Furcht vor einer neuen Empfängnis. Und drittens (das
letzte habe ich nur langsam und zwangsweise aus ihr herausgeholt)
muß ich die Vorstellung an einen großen und dunklen Mann dabei
haben. Aber mein Mann ist so gut zu mir und ich verzichte auf
diesen geistigen Ehebruch und empfinde lieber nichts."
Die Patientin, deren Behandlung ich schnell zu Ende führte,
da eine gelegentliche Bemerkung von ihr vermuten ließ, daß sich
ein subjektives und persönliches Moment in die Objektivität der
ärztlichen Behandlung einzudrängen imstande wäre, machte mir
nicht etwa den Eindruck einer gefallsüchtigen, eroberungslustigen
Dame, welche im Konsultationszimmer des Arztes auf Abenteuer
ausging. Ihre, wenn auch nach den Schilderungen eingeschränkte
und nicht volle Liebe zu ihrem Manne, ihre Liebe zu den Kindern
war sicher eine offene und ehrliche. Allein sie fühlte sich doch
ihren ganzen Neigungen und ihrem Naturell zuwider in eine etwas
enge, philiströse Welt gebannt, in welcher die allzu gutherzige Sorg-
samkeit ihresi Gatten kein Äquivalent bot. Sie ist nicht putz-
süchtig, hat auch kein ausgesprochenes' Verlangen, im großen Stile
zu* leben. Allein sie hat künstlerische Neigungen, speziell für
Musik und Theater und hierin findet sie bei ihrem sonst so zärt-
lichen Gatten keine geistige Erwiderung.
Ich weiß nicht, in wie weit ihre Angaben richtig sind und ob
sie mir nicht doch manches verschwiegen hat. Obgleich sie sicher-
lich eine gutartige Hysterica ist, hat doch die Wahrheit ihrer Mit-
10»
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teilungen Bedenken, zumal ein persönliches Moment nach ihren
Andeutungen nicht ausgeschlossen erscheint. Jedenfalls geben die
gemachten Angaben eine hinreichende Erklärung ihrer mangelhaften
Oeschlechtsempfindung aus psychologischen Gründen nicht minder
wie aus mechanischen.
Dei* vorliegende Fall vereingt eine ganze Reihe von. Vari-
anten auf dem Gebiete der mangelhaften Geschlechtsempfin-
dung. Die Patientin ist von Natur keine sinnlich veranlagte
'Natur, die mit den natürlichen, durch keine angekränkelte
Phantasie beirrten Hemmungen in den ehelichen Geschlechts-
verkehr tritt. In dieser Voraussetzung wäre es nicht wunder-
bar, wenn anfangs noch keine Empfindung aufgetreten wäre,
zuma! die Gravidität bald erfolgte. Die erste Geburt war
schwer, und die Komplikationen der operativen Eingriffe
waren nicht gerade geeignet, die schlummernde Leidenschaft
zu schüren.
Vermutlich stammen aus dieser Zeit auch die noch jetzt
nachweisbaren Folgen der Parametritis. Der objektiv bimanu-
elle Befund beweist das Hand in Hand mit der subjektiven
Bestätigung des schmerzhaften Geschlechtsverkehrs. Hier be-
ginnt die pathologische Grundlage ihrer Hysterie im Sinne
der W. A. Freund sehen Darstellungen.
Allein ich halte diese Ursache zwar für unterstützend,
das psychologische Moment ihres Ideals, ihrer eingewurzelten
Vorstellung vom „großen und dunklen" Mann jedoch für
viel bedeutsamer — wenigstens für ihre Geschlechtsem-
pfindung.
Sie hat schließlich die natürlichen Hemmungen von
Geburt, Wochenbett und Krankheit überwunden und sogar
einige Male eine volle Empfindung gehabt. Allein ihre Vor-
stellungswelt ist nun einmal auf ihre erste Liebe konzentriert,
Und diese Gedanken haben durch den parametritischen
Zuzug von Hysterie nichts an Vollkraft verloren, sondern
vielleicht gewonnen.
Obgleich sie ihrem jetzigen Manne sicherlich nichts vor-
! zuwerfen hat und seine Güte und Sorgsamkeit für ihre Person
i bei jeder Veranlassung sieht, fühlt und anerkennt, betrachtet
sie sich doch als ein Opfer des Schicksals und äußerer Ver-
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hältnisse. Sie hat keinen ihren Neigungen und wohl auch
Fähigkeilen entsprechenden Wirkungskreis, und wenn sie
vielleicht auch darauf im Laufe der Zeit zu verzichten ge- I
lernt hätte, so würde sie die Einsamkeit ihrer Regungen, /
ihrer Gefühle, ihrer Weltanschauung stets bei ihrem Manne/
empfinden. Da sie ihm offenbar an Willenskraft und In-
telligenz überlegen ist, entbehrt sie bei ihrer Charakteranlage
gerade denjenigen Stachel und Reiz, der die geistige und sinn-
liche Liebe eines solchen Weibes weckt und erhält, die über-1
legene, herrschende Kraft des Mannes. Seine Güte
empfindet sie nicht als Wohltat und Liebe, sondern als
Schwäche, das Mitleid vom Tage der Verlobung hat eine
gleiche Färbung während der Ehe behalten und ist nicht,]
wie sonst bisweilen im Leben zu beobachten, in wahre seeli-
sche Liebe und Herzensgemeinschaft übergegangen.
Der Momente sind genügend im vorliegenden Falle. Fügen
wir noch die Heftigkeit der männlichen Liebe — die Ejaculatio
praecox — als mechanisches Moment hinzu, so enthält'
diese Krankengeschichte eine Sammlung verschiedenster Ur-
sachen, deron jede eir»zel;»e» allein imstande wäro, volle Scxual-
Anästhesie zu bewirken. Bei unserer Patientin ist dies wicht
einmal der Fall, und es ist demnach anzunehmen, daß sie
in anderen Händen und unter anderen Verhältnissen sicherlich
einer höheren Sinnlichkeit gewonnen worden wäre.
Die Schicksalsmacht der sozialen Verhält-
nisse zeigt eine zwiefache, anders gcarteteWir-
kung beim Mann und beim Weibe. Der Mann kann
in Anlage, Geist und Mut die Anwartschaft auf einen Herrscher-
sessel der Macht oder des Geistes haben, und dennoch ver-
kümmert sein Leben im gleichmäßigen Tritt der durchschnitt-
lichen Alltäglichkeit. Das Schicksal im Leben des Mannes
raubt ihm Ehre, Ruhm, Erwerb, Erfolge, das Schicksal des;
Weibes zerreißt und zertritt seine — Liebe.
Der dritte hysterische Fall (XX) hat eine etwas umfang-
reiche Krankengeschichte. Dieselbe stammt von PaulStraß-
mann, der die Patientin in der Gesellschaft für Ge-
burtshilfe und Gynäkologie zu Berlin gelegentlich
der Diskussion über den W. A. Freund sehen Vortrag vor-
stellte. Es handelt sich um eine ausgesprochene Form
großer Hysterie, in welcher die sexuelle Empfindungs-
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losigkeit eine bedeutsame Rolle spielt. Wir geben den Fall
im wesentlichen im Wortlaut der Straß mann sehen Demon-
stration wieder und beschränken uns auf einige unerhebliche
Kürzungen.
Fall XX.
(Straßmanns Beobachtung.)
Demonstration in der Gesellschaft für Geburtshilfe und Gynäkologie. 28. Juni 1902.
Grande Hysterie.
„Die vorgestellte Hysterica zeigt nicht das Bild der Parametritis
atrophicans Freund, aber neben Hyperämie des Uterus eine große
Schmerzhaftigkeit des hinteren Scheidengewölbes, heute besonders
der rechten Sacrouterinfalte, auf die ich in der Diskussion später
eingehen darf. Ich zeige die Patientin hier im wachen Zustande,
werde sie alsdann im Nebenzimmer in hypnotischen Schlaf versetzen
und sie dann in diesem Zustande mit seinen Symptomen der Willen-
losigkeit und Katalepsie wieder hier demonstrieren.
Die Patientin ist seit fast 2 Jahren in meiner Behandlung und
vielfach beobachtet worden. Ich will gleich bemerken, daß ich
diese, suggestive Methode natürlich nur dazu angewandt habe, um
sie von ihren für die Kranke wie für die Umgebung gleich be-
deutungsvollen Beschwerden zu befreien. Dies ist bis zu einem
gewissen Grade auch gelungen. Die Kranke zeigt gesteigerte
# Sehnenreflexe. Bei Weckung des Patellarreflexes gerät unter Um-
ständen der ganze Körper, die Arme, selbst der Schädel in Zuckungen
(Demonstration). Sie hat dann eine krankhafte Veränderung der
Empfindlichkeit, teilweise Anästhesie wechselnd mit Hyper- -
ästhesie am Rumpf sowohl wie an den Gliedmaßen. Hysterogene
Zonen bestehen in der Ovarial- und der Magengegend. Besonders
auffallend ist es, wie wenig sie auf große Reize reagiert. Mit
dieser sterilen Stecknadel kann man bis zum Knopf in das Fleisch
des Oberschenkels stechen, ohne daß darauf irgend eine Reaktion
erfolgt. Wenn ich aber kleine Reize in Form leiser Berührungen
mit 4er Spitze summiere — bekanntlich ein Stigma der Hysterie —
dann werden Sic sehen, daß eine Reaktion in Form eines lebhaften
allgemeinen Zusammenzuckens eintritt (Demonstration).
Im Gesicht, das jetzt krampfhaft verdeckt gehalten wird, bemerkt
man. was die Engländer als decoloration of eye-lids bezeichnen :
die braunen Ringe unter den Augen treten bei ihr ganz besonders
hervor.
Weiterhin ist auf die herabgesetzten Schleimhautreflexe auf-
merksam zu machen. Man kann mit dem Finger auf den Bulbus,
selbst auf die Cornea fassen: eine gewisse Reaktion tritt wohl bei
der Berührung ein, aber diese ist so unbedeutend, wie es bei
Menschen mit ganz gesundem Nervensystem nie der Fall wäre.
Der Gaumen ist absolut unempfindlich (Demonstration mit der
Sonde). Ebenso ist die Nasenschleimhaut ganz unempfindlich.
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- 15t -
Ich möchte nun bitten, daß einige Herren dabei sind, wenn ich
die Patientin im Nebenraum hypnotisiere; in Gegenwart einer zu
großen Gesellschaft kann das nicht gut geschehen."
Der Vortragende geleitet die Kranke in den Nebenraum; mehrere
Mitglieder der Gesellschaft folgen ihm dorthin. Hypnose durch
festes Anfassen der Oberarme und Fixicrenlassen des Zeigefingers,
unmittelbar zuvor ein hysterischer Anfall (Zucken, Schreien, Zähne-
knirschen).
„Dit Patientin ist jetzt in Hypnose geraten und schläft hier
ruhig weiter, während sie sich vorher heftig gegen die Vorstellung
wehrte. Der Unterschied in Haltung und Gesichtsausdruck ist gewiß
auch klinisch für die Herren interessant."
Der Patientin wird suggeriert, daß' sie nichts von dem merken
wird, was sonst um sie herum geschieht, kein Kopfweh haben wird,
nachher mit Appetit essen und gut schlafen wird.
Demonstration kataleptischer Stellungen auf dem Untersuchungs-
sofa, auf Befehl Steifheit und Erschlaffung der befohlenen Stel-
lungen. Auf Befehl steht Patientin auf und führt die gegebenen
Befehle aus. Die Bewegungen geschehen etwas träge, wie im
Schlafe. Z B. „steigen Sie jetzt hier die vier Stufen herauf!" (die
Patientin macht einmal die Bewegung, als wenn sie eine Stufe, die
tatsächlich nicht vorhanden ist, he rauf schritte). — „Jetzt geht es
drei Stufen herunter!" (die Patientin steigt wie vorher drei Stufen
abwärts zurück); oder „setzen Sie sich Ihren Hut auf! Hier ist
Ihr Hut!" (die Patientin nimmt das ihr dargereichte Taschentuch
und setzt es nach Art eines Damenhutes auf den Kopf). Allen
Befehlen wird langsam willenlos nachgekommen. —
„Auch vasomatorische Phänomene lassen sich gelegentlich bei ihr
hervorrufen. Z. B. wird ein Spekulum als Schröpfkopf gegen Kreuz-
schmerzen benutzt und ruft vorübergehende Rötung und Empfind-
lichkeit der berührten Stellen hervor.
Wir werden nun die Patientin in den Zustand des Opisthotonus
versetzen, in welchem der Körper nur mit Fersen und Hinterhaupt
auf den Kanten zweier Stühle ruht und diese im Bogen überwölbt.
(Die Patientin wird in die bekannte Stellung eines Brückenbogens
gebracht, in der sie länger« Zeit starr verbleibt.)
Es sind ja dieselben Sachen, die öffentlich vorgeführt werden,
wobei der betreffende Hypnotiseur sich dann womöglich noch selbst
auf die Mitte des frei ausgestreckten Körpers stellt, um die Starr-
heit der Spannung zu zeigen. Auch hier ist ein ziemlich kräftiger
Druck mit flacher Hand auf das Abdomen nicht imstande, den
Opisthotonus zu überwinden.
Nach vergeblicher lokaler Behandlung (Tampons, Scarifikation etc.)
und wenig wirkungsvollen allgemeinen Verordnungen haben wir die
verschiedenen Algien durch hypnotische Suggestion gebessert und
haben auch etwas auf diejenigen Ursachen eingewirkt, die bei ihr
wohl die Hysterie mitbedingt haben, nämlich das eheliche Miß-
verhältnis. Ihr Mann ist zwar sehr gut zu ihr;
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aber sie hat ihn gewissermaßen unter einem
Zwange äußerer Verhältnisse geheiratet und die
Abneigung gegen den Mann und seine Annäherung
offen gezeigt. Eines Tages hat ihr Mann sich hinreißen lassen
und gesagt, daß die 4 Kinder, die sie haben, wohl nicht von
ihm wären, da sie niemals irgend eine Empfindung
ihm gegenüber geäußert habe. Damals brach bei ihr
der erste große hysterische Anfall aus. Sie sprach ein Jahr lang nicht
mit ihrem Manne, Weinkrämpfe, Anfälle scheinbarer Bewußtlosig-
keit Mit Zähneknirschen folgten, jede Annäherung wurde ver-
weigert. Alles dieses ist jetzt allmählich gebessert — ich besitze
darüber verschiedene Briefe des Ehemannes — Kohabitationdn
werden seitens der Frau ohne Voluptas und Libido
geduldet. Ich will bemerken, daß von Masturbation hier
nichtdie Rede ist, wiedie Patientin allen sexuellen
Dingen durchaus abgeneigt ist.
Die Patientin führt — wie Sie gesehen haben — alle Befehle
aus, das einzige, worin man auch in der Hypnose bei ihr auf
einigen Widerstand stößt, ist, wenn man auf das geschilderte
eheliche Verhältnis einwirken will, z. B. daß es der Kindererziehung
wegen wichtig sei, dem Manne gegenüber sich wieder geneigt zu
zeigen. Auch posthypnotische Suggestion gelingt bei ihr, indem
sie die ihr erteilten Aufträge später in wachem Zustande zur Aus-
führung bringt.
So hat sie niederschreiben müssen: „Ich will gehorchen" u. a.
mehr. (Suggestion, daß sie nach dem Erwachen ein Hand-
tuch aus der Nebenstube auf den Tisch im Sitzungssaale bringt!
Wiederholung, daß sie keine Beschwerden haben wird!)
Sie werden bemerken, daß! ihr Benehmen das einer Schlafenden
ist. Beim Erwachen, das jetzt durch Anblasen erzielt wird, reibt
sie sich die Augen wie eine Schlaftrunkene. Der Schlafzustand
kann sonst beliebig lange erhalten werden (bis zu 1 Stunde ver-
suchsweise !)
(Die Patientin, welche zuletzt regungslos gelegen, beginnt lang-
sam sich zu bewegen, seufzt, erwacht allmählich und verläßt den
Saal.) —
Ich darf vielleicht zu diesem Fall noch einige Bemerkungen
machen. Es handelt sich um eine 38jährige Inspektorsfrau, die
5mal schwanger war, nicht genährt hat. 4 Kinder leben und
werden mit großer Liebe von der Mutter aufgezogen. Ein Abort
vor l 1 /«, Jahren. Sie war in ihrer Kindheit ganz gesund. Es ist
keinel nervöse Belastung nachweisbar, der Vater starb an Schwind-
sucht. In ihrem 13. Jahre hat sie ein größeres Trauma erlitten:
sie brach durchs Eis und war ein halbes Jahr krank. Auf
Empfehlung des ersten Schullehrers war sie auf eine höhere Töchter-
schule gekommen, so daß also eine gewisse Intelligenz vorauszusetzen
ist; wegen der eben genannten Erkrankung mußte sie aber diesen
Schulunterricht aufgeben. Sic verlor ihren Vater früh, mußte sich
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jung ihr Brot als Näherin selbst verdienen und hat sich wohl
ziemlich hart plagen müssen. Sie hat dann auf Zureden
gegen ihre Neigung den Mann geheiratet, der nur
den Fehler hat, daß er vielleicht zu gut zu seiner Frau ist. Die
ersten hysterischen Anfälle stellten sich ein, als, wie erwähnt, ein
sozusagen psychisches Trauma eingetreten war, indem ihr
Mann ihr den erwähnten Vorwurf machte. Ihre Beschwerden sind
— neben der. psychischen Momenten — die verschiedenen „Algien"
(Kreuz, Magen, Kopf). Sie hat jetzt noch Schmerzen über dem
hinteren Scheidengewölbe, zumal in der rechten Sacrouterinfalte,
die aber nicht verkürzt ist. Jede lokale Behandlung ist zurzeit
ausgesetzt. Sic hat augenblicklich eine Periode der Amenorrhoe
(4 Monate), ohne daß ein bestimmter Grund dafür nachweisbar ist.
Der Uterus ist nicht mehr vergrößert wie bei chronischer Metritis
und jedenfalls nicht längere Zeit schwanger.
Ich möchte hervorheben, daß mir diese Schmerzen hier doch
nicht als ein besonderes Krankheitsbild erscheinen,
sondern daß ich sie mehr als eine Art hysterogener Zone
ansprechen möchte. Das allgemeine Befinden der Patientin hat
sieht sehr gebessert: Schreikrämpfe und Zähneknirschen, wie vorhin
(im Nebenzimmer), sind lange nicht dagewesen und mögen durch
die/ Aufregung bei der heutigen Sitzung und durch die heute voll-
ständig unterlassene Nahrungsaufnahme bedingt worden sein.
Sfe macht gelegentlich noch echt hysterische Streiche, schreibt
ihrem Mann Abschiedsbriefe, kehrt aber wieder zu ihm zurück usw.
D^e Qemütsstimmung ist meist deprimiert, jedoch bisweilen heiter.
Ihre: Ehe ist, von ihrer Seite aus betrachtet, eine
unglückliche, indem sie glaubt, unverstanden zu
sein und nicht das gefunden zu haben, was sie
erwartete. Hierin dürfte die Grundlage der hysterischen Ver-
änderungen, in dem genannten „psychischen Trauma" die Ursache
zum Ausbruch der schweren Anfälle zu suchen sein.
Ich wollte mir nur gestatten, Sie noch darauf aufmerksam zu
machen, daß die Patientin unterdessen das Handtuch hereingebracht
und dort auf den Tisch gelegt hat."
Die epikritische Nachlese für diesen an den mannigfach-
sten Krankhaftigkeiten reichen Fall beschränkt sich für uns
auf die Psychologie der totalen sexuellen Unempfindlichkeit,
welche hier in absoluter Reinheit ohne jegliche Spur einer
erotischen Färbung vorhanden ist.
Die Anaesthesia sexualis ist auch hier nur eine
T e i i erscheinung. Anästhesie besteht bei der Patientin auf
ihrer hysterischen Basis, an der Nasenschleimhaut, dem
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Gaumen, den Schenkeln. Die Unempfindlichkeit dieser Or-
gane gegenüber den feineren und gröberen Reizen, wie der
tiefe Stiel* der Nadel, erscheint mir fast als eine stärkere und
tiefgreifendere Störung als die Unempfindlichkeit des sexuellen
Apparates, der beim weiblichen Geschlechte einer so ganz
eigenen Beachtung bedarf.
Die sexuelle Anästhesie ist hier mit Sicherheit eine Folge
der Schicksalsschläge, welche auf dieses empfängliche Gemüt
eingewirkt haben. Von Hause aus ohne nennenstwerte Sinn-
lichkeit ist sie unter dem Drucke äußerer Verhältnisse, jeden-
falls nichi aus eigener freier Wahl in die Ehe getreten. Worin
die Abneigung gegen ihren Gatten besteht, ist leider psycho-
logisch nicht detailliert. Möglicherweise würden sich hierbei
noch wichtige und interessante Einzelheiten ergeben. Allein
die Tatsache des nicht freigewählten Mannes ist für
ein derartig sensibles Nervensystem vollkommen aus-
reichend, die angeborene „Hcmraun g" im weiblichen
Sexualtrieb und -empfinden dauernd zu behalten. Vorbereitet
war ihr Nervensystem längst durch jene dem Unfall auf dem
Eise folgende Krankheit (welche vermutlich schon eine nervöse
war), vorbereitet war es ferner durch die sozialen Verhältnisse,
die ihre begonnene Bildung fortzusetzen nicht erlaubten und
ihr den mühsameren Beruf einer Nähterin aufzwangen.
Sie betrachtet sich als ein Opfer des Schicksals und muß
es sich noch mehr betrachten in dem Augenblicke, wo sie
ihre weibliche Individualität an einen nicht freigewählten Mann
hingibt. Das ist der Kernpunkt im Kampfe eines weiblichen
ringender Gemütes. Anstatt durch die Logik besiegt zu werden,
daß sie einen fürsorglichen Gatten besitzt, der ihr schweres
Los materiell erleichtert hat und dessen aufrichtiges Streben
es ist, ihr durch Güte den Leben&pfad zu erleichtern, be-
hält der Gedanke die Oberhand, daß sie nach allen entmutigen-
den Erfahrungen, die vielleicht noch in besonderem Gegensatz
zu einer angeborenen Sehnsucht sich im Leben zu erheben
steht, schließlich auch noch gezwungen war, nicht nach freier
Neigung den letzten Rest eigenster weiblicher Individualität
zu vergeben.
Es is* eine neue Illustration des beim vorigen Falle be-
haupteten Unterschiedes der Schicksalsmacht und Gebunden-
heit, die im Leben des Weibes demselben die Liebe kostet.
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Vielleicht hätte sich auch bei dieser Patientin noch im
Laufe der Jahre ein Ausgleich ihres geschlechtlichen Fühlens
finden lassen. Wenn sie dauernd die Fürsorglichkeit ihres
Mannes beobachtet hätte, wäre bei einer passenden Gelegenheit
vielleicht doch das Glück eingezogen. Da kam die Katastrophe!
Die Bemerkung des Ehemannes, die zu all ihrem Dulden den
Vorwurf der Untreue hinzufügt, begrub nicht nur jede Ffoff-
nung, sondern machte sie zur wirklich Kranken.
Man stelle sich ein weibliches Gemüt vor, das jahrelang
das eheliche Leben als Zwang empfunden hat, das trotzdem
seinen Pflichten wie ein Opferlamm nachgekommen ist und
lunter doppelten Schmerzen seinen Kindern das Leben ge-
geben hat.
In diesem ewigen Kampfe ist sie wenigstens eine „an-
ständige Frau" geblieben und hat jeden unreinen Gedanken
von sich gewiesen. Im Kampf gegen das Geschick und trotz
ehelichen Entbehrens wird ihr nun für alle Qualen der
schwerste Vorwurf entgegengeschleudert. Das ist zu viel für
ein gesundes, wie viel mehr noch für ein krankes, gehetztes
Nervensystem!
Die Sensibilität des Weibes, die so unendlich variabler
und andersgeartet als diejenige des Mannes ist, muß natur-
gemäß in der sexuellen Sphäre am meisten in die Erscheinung
treten. Es sind Fälle bekannt und jedem einzelnen Beobachter
geläufig, daß eine einzige rohe, vielleicht nur
taktlose Behandlung von seiten des Mannes
das Liebesleben einer Frau dauernd ertötet hat.
Sie kann eine schon gewonnene Sinnlichkeit wieder verlieren,
wenn die gewalttätige Hand des Gatten sie imi Zorne berührt
hat, sie kann in den Zustand der Empfindungslosigkeit
zurückversinken, wenn ihr ein Tadel entgegengeschleudert
wird, der ihre weibliche Ehre verletzt. Um wie vieles mehr
wirken solche Anlässe bei noch nicht geweckter Sinnlichkeit
■und überhaupt auf dem Boden eines besonders empfindlichen,
krankhaften Frauengemüts.
Eine absolut angeborene geschlechtliche
Unempfindlichkeit gibt es meiner Meinung
nach beim Weibe überhaupt nicht. Wenn nicht
mechanische Unzulänglichkeiten vorliegen, läßt sich fast stets
der geistige Hemmungsgrund herausfinden.
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Die absolute Erregbarkeit, jenes Vorstadium, welches wir mit
dem männlichen Erektionsstadium vergleichen können, mag
bisweilen größerer Reize bedürfen, als der jeweilige Ehemann
gerade besitzt. Jedoch die Natur kann kein ab-
solutes Nichts — wenigstens nicht so häufig — an den
Ort der höchsten Empfindung gesetzt haben.
Auch hier könnte noch Heilung eintreten. Allein unsere
sozialen Einrichtungen, die Heiligkeit der Familie und des
Ehelebens würden in ihren Grundpfeilern erschüttert werden,
wenn diese Form sexueller Anomalie mit dem einzigen Heil-
mittel behandelt werden würde, welches zu neuer Hoffnung
und neuem Leben berechtigt, mit Trennung und Scheidung
vom Alten und Aufsuchen einer neuen Individualität. Oft
genug vollzieht sich allerdings eine derartige Heilung heimlich
hinter den übertünchten Kulissen des gesellschaftlichen Lebens!
Einige neue, recht bemerkenswerte Beobachtungen zur
Vita sexualis der Hysterischen gibt Margarethe
Kossack*).
Ihre Erfahrung über Hysterische führt zu dem Schlüsse,
„dal< gut die Hälfte aller Hysterischen an voll-
ständiger und die meisten übrigen an teil-
weiser geschlechtlicher Unempfindlichkeit
leiden.
Solche Hystericae — Margarethe Kossack beschreibt
in der kleinen Schrift nur drei Fälle — machen dem Unein-
geweihten den vollkommen gegenteiligen Eindruck. Die
„hungrigen Augen" nicht minder wie die ewigen sexuellen:
Gespräche müssen a priori auf Lüsternheit schließen lassen.
Das Gegenteil ist allzu oft der Fall. Paradox und doch richtig
ist der Satz: „Das krankhafte Interesse für sexuelle Dinge
ist nur durch die geschlechtliche Unempfindlichkeit hervor-
gerufen."
Margarethe Kossack stellt noch zwei Eigentümlich-
keiten der Hysterisch-Frigiden fest. Die Beobach-
tung ist — aus dem Munde der Aerztin — oesonders be-
achtenswert :
1. „Sie haben Altstimmen; wo die Sensibilitätsstörung
den höchsten Grad erreicht hat, da ist die Stimme beim Singen
*) Vergl. pag. 135 I. c.
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sogar kontraalt. Nur bei dem charakteristischen quiekenden
Schreien bewegt sie sich in hohen Registern."
2. „Sie sind oft sehr fleißig und sparsam, bringen es
aber doch zu nichts, weil sie 0?'d urd Sachen verzetteln."
(Der scheinbare Widerspruch wird durch einige Spezialfälle
erläutert.)
Eine ganz besondere Klasse macht die Autorin aus jenen
Hysterischen, „deren Zustand sich zumeist durch Krämpfe
vom Ansehen der epileptischen kennzeichnet. —
Diese Hysterischen kreischen nicht dabei, sie verziehen plötz-
lich das üesicht auf schmerzliche Weise und fallen hin wie
lein Stück Holz. Die Bedauernswerten, bei denen die Hysterie
sich in dieser Weise bemerkbar macht und zu deren Krankheits-
symptomen furchtbare Kopfschmerzen und neurasthenische Be-
hinderungen im Gebrauch dieser und jener Glieder, besonders'
der Arme gehören, geben auf sexuellem Gebiet zu
keinerlei Beobachtungen Anlaß." —
Diese höchst auffallende Feststellung bedarf einer genauen
(Nachprüfung. Es wäre ein dankbares Thema für einen
Forscher mit größerem Material von Hysterie und Epilepsie.
Im Bestätigungsfalle ließen sich sogar neue Wege zur Be-
haroiung der sexuellen Anästhesie gewinnen.
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VIII. Kapitel.
Einige häufige Ursachen der sexuellen Anästhesie
— Vaginismus — Anaesthesia sexualis completa
idiopathica.
Defloratio. Ungeschicklichkeit und Brutalität der Hochzeitsnacht.
Brief darüber. Unvollkommene Immissio. Schmerzende Hymenalrcste
(Rohleder's „Hymenismus"). Vaginismus als direkte Folge der Schmerzen
oder als Erinnetungskrampf. Der rein nervöse (psychische) Vaginismus.
Psycho-anal) tische Methode Freuds. W. Stekel (Nervöse Angstzustände).
M. Waithard — Die psychogene Ätiologie und Psychotherapie des Va-
ginismus. Fall XX! (Eigene Beobachtung). Weibliche „Impotenz". Der
Mann ist häufiger „impotent", das Weib prozentual mehr „steril". Nach
dem mechanischen Ausgleich tritt die Individualität in ihre Hechte. Die
Kunst der Liebe. Ejaculatio praecox — absolut oder relativ. Modus
actionis und Positio. Von der Einwirkung des Geruches auf das sexuelle
Empfinden (Albert Hagen). Vincengo Monti. Heinrich IV. Galopin.
Die absolute Unempfindlichkeit ohne scheinbare Hemmung. Guttzeit.
Schurigiusu Freundschaft und sinnliche Liebe. Fall XXII (Eigene Beob-
achtung). Das vorwiegend psychologische Moment der geschwister-
artigen Liebe in demselben.
In den vorhergehenden Kapiteln ist der Zusammenhang
von Masturbation und geistigen Hemmungen in bezug auf
geschlechtliche Unempfindlichkeit besprochen worden. Wir
setzen im folgenden für den Geschlechtsverkehr die normale
Jungfrau voraus, die ohne Kenntnis tieferer sexueller Regung
nur mit der natürlichen Aengstlichkeit vor dem Bevorstehenden
in das Hochzeitsbett steigt.
Die Entjungferung — Defloratio ~ ist ein häufiger
Grund lang anhaltender Anästhesie. Man kann wohl mit
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Sicherheit behaupten, daß der erste Coitus, der eine blutige
Defloratio bewirkte, noch niemals ein Lustgefühl beim weib-
lichen Teile bewirkt hat. Schmerzen, Blutungen, Zer-
reißungen und Dehnungen sind nicht geeignet, die Emp-
findungen der Wonne wachzurufen, zumal wenn noch die
seelische Befangenheit hinzutritt.
In diesem ersten, oft für das ganze Leben entscheidenden
Momente tritt bereits die Individualität des Mannes in ihre
Rechte. Der ungeschickte, übererregte Gatte
kann hier die Wurzel der weiblichen Unemp-
findlichkeit einpflanzen und durch fortgesetzte
Ungeschicklichkeit und Roheit aus ihr den
Stamm der dauernden Anästhesie großziehen.
Wer rücksichtslos mit brutaler Manneskraft von seinen
Rechter Besitz nimmt, wird Aengstlichkeit und Schmerzen
Inu'* vermehren und bei Wiederholungen weibliche Abneigung
langsam vergrößern. Wer mit liebevoller Schonung
durch langsame, behutsame Gewöhnung zum sichern
Empfinden steuert, wird eine um so dankbarere und entgegen-
kommendere Partnerin finden. Der Weg % kann hier nur an-
gedeutet werden. Ihn zu finden ist der Geschicklichkeit de&
iMannes überlassen, der eventuell einige intime Ratschläge
des Arztes nachzuhelfen imstande sind.
Die vorstehende an die Männer gerichtete Warnung hat
mir seitdem manche zustimmende Zuschrift eingebracht. Eine
derselben beschäftigt sich in sehr ausführlicher Weise mit
den brutalen Hochzeitsnächten. Ein kleiner Auszug
des Briefes mag hier seinen Platz finden, da die Schreiberin
sich selbst eine langjährige mütterliche Freundin vieler
Mädchen (wozu sie die Leitung eines Mädchenheimes und
später das Amt einer Auskunftgebenden an einem Mutter-
schutzverein berief) nennt:
„Nicht nur, wie Sie sagen, eine ungeschickte Hochzeits-
nacht, sondern eben die Hochzeitsnacht an sich mit ihrer
Vcrfrühung des Aktes, der als etwas gemeinsames, eine gemein-
same Lust sein sollte, und nicht die Lust des Stärkeren um den
Preis der Qualen des Schwächeren — diese Hochzeitsnacht müßte
beseitigt werden, es müßte Ehrensache für den Mann sein, Beweis
seiner! wahren Liebeskraft (nicht bloß der physischen, denn die
bringt jeder Trottel auf), daß er die Hochzeitsnacht nur nach
Bedarf noch einige Nächte verstreichen läßt, ohne die sogenannten
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„Rechte" auszuüben. In der Brautzeit scheute der Mann, nur
mit einem Worte das Mädchen zu verletzen, zu erschrecken, einige
Stunden nach der Trauung setzt er etwas daran, sie an ihren
zartesten, von ihm selbst geschützten reinen Empfindungen zu ver-
letzen. Ich weiß von einem, der seiner blutjungen Frau in der
ersten Stunde die Decken und das Nachtkleid abriß und sie mit
♦ der Lampe von oben bis unten beleuchtete, sie, die sich vor
Scham krümmte. Ist da nicht nur Frigidität, sondern eine
unglückliche Ehe die natürliche Folge?
B r u t a I i t ä t wird leider immer noch die H>chzeitsnächte miß-
brauchen, aber wenn die Ärzte darauf hinweisen, daß der Mann
sieb selbst um viele spätere Freuden bringt, wenn er da gierig
vorgeht, dann würde das vielleicht eher ihn zur besseren Be-
handlung der jungen Frau bringen, als es bisher seine sogenannte
„Liebe" aufgebracht".
Wiederum auf der anderen Seite sind die Fälle häufig,
wo in den ersten Monaten überhaupt ein richtiger Ge-
schlechtsverkehr, eine volle immissio penis,
nicht zustande kommt. Ein noch später zu erwähnender
Fall zeigt diesen Zustand, der fast ein Jahr angedauert hat.
Es gibt Fälle, die viel langer dauern, weil Unverstand und
Schamgefühl jeden ärztlichen Rat umgehen.
Nach erfolgter Defloratio bleiben sehr lange bei voll-
zogenem Geschlechtsverkehr wunde, schmerzende Risse
der Hymenaireste zurück. Dieselben heilen nicht aus,
weil jeder erneute Geschlechtsverkehr eine neue Reizung
hervorbringt. Bisweilen sind auch die Risse nicht tief genug
und eine schmerzhafte Spannung und Dehnung der stehen-
gebliebenen Teile begleitet jede neue Attacke des Liebens.
Ist die Verheilung zwar eine vollkommene, so können
narbige Auftreibungen an den Enden zurückbleiben, in denen
sich besonders empfindliche Nervenendigungen konsolidieren.
Diese Formen geben den häufigsten Anlaß zu dem traurigen
Bilde des Vaginismus, jenem krampfhaft schmerzhaften
Zustand der Vulva, bei welchem die immissio penis fast zur
Unmöglichkeit wird. Rohleder schlägt hierfür den recht
bezeichnenden Namen „Hymenismus" vor.
Vaginismus (Hymenismus) beruht nicht selten auf dieser
schmerzhaften Empfindlichkeit der gereizten und zerrissenen
Schleimhautfetzen. Die Empfindlichkeit wird um so größer
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sein, je ängstlicher und befangener der Seelenzustand von
Haust* aus war, und es ist eine begreifliche Reaktion der Natur,
daß sie durch Kontraktion (Abwehr) dem schmerzbringenden
Eindringling Widerstand leistet und die Pforten verschließt.
Die Ursache liegt dann meist in diesen mechanischen Ver-
hältnissen. Allerdings können Wunden und Schmerzen bereits
verschwunden sein und trotzdem besteht der Zustand des
Vaginismus weiter. Hier hat dann eine Gewöhnung
stattgefunden, welche in der Psyche des Weibes
dauernd die Vorstellung der erlittenen Qualen
bei jedem neuen Versuch wachruft und die Re-
aktion als eine Art „Erinnerungskrampf" stets von
neuem entstehen läßt.
Ein solcher „Erinnerungskrampf" kann nun auch
ohne jeden vorausgegangenen mechanischen
Insult die Ursache des Vaginismus sein.
Es handelt sich dann um einen reinnervösen (psychi-
schen) Vaginismus.
Es ist fraglos, daß ein erheblicher Teil der vaginisti-
sehen Krankheitsbilder gerade diese Basis hat, daß der Arzt
vergeblich nach mechanischen Reizungen am Scheideneingang
suchen wird, und daß es ganz verfehlt — d. h. nicht nur
zwecklos, sondern direkt schädlich! — ist, hier
etwa eine rein mechanische, schneidende, ätzende, dehnende,
instrumentelle etc. Behandlung einzuleiten.
Mit dem rein nervösen (psychischen) Vaginis-
mus kommen wir auf ein Gebiet, das zu der mangelhaften
Geschlechtsempfindung durch die Veröffentlichungen gerade
der letzten Jahre in besonders nahe Beziehungen getreten ist»
Es handelt sich um die bereits zitierte psycho-ana-
ly tische Methode Freuds und seiner Wiener
Schule.
Diese Methode mit ihrer Theorie der sexuellen Wurzel
hjat — wenn auch noch so angefeindet — sicher bei der
sexuellen Anästhesie ein volles Recht, eingehend beachtet zu
werden. Ist es doch die einzige Methode, welche der rein
psychischen Basis der Frage am nächsten kommt und
in der sich die Fäden einer Heilungsmöglichkeit theoretisch
und praktisch vereinigen.
Adler, Oeschlechtsempfindung. 3. Aufl. 11
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Ueber das ganze Freud sehe System folgen an späterer
Stelle einigt erweiterte Erläuterungen. Hier sei nur auf das-
jenige hingewiesen, was W. S t e k e 1 (einer der Hauptschüler
Frei ds) in seinen „Nervösen Angstzuständen"
(1908) sagt:
„Weniger bekannt ist der V a g i n i s m u s als Zeichen einer
Angstneurosc. Er tritt häufig bei jungen Frauen auf, deren
Männer unerfahren, relativ impotent oder nur ungeschickt sind. Die
Frauen werden reizbar, weinerlich gestimmt, ängstlich, klagen über
Herzklopfen, Schwindel, Ohnmachtsanfälle, Migräne usw. Bekannt-
lich tritt die Angstneurose bei jungen Frauen sehr häufig durch, wenn
sie noch anästhetisch sind, d. h. wenn die Seuxalabneigung noch nicht
überwunden ist. Das ist ja die tiefste Wurzel der Dyspareunie.
Der Vaginismus ist auf unbewußt psychische Mo-
tive zurückzuführen. Die durch die ungeschickten Versuche des
Mannes erbitterte Frau verweigert demselben den Liebesakt. Der
Vaginismusist manchmal nur ein Symptom der Angst
vor dem C o i t u s.
Schwere Fälle von Vaginismus verlangen eine psychoanalytische
Behandlung."
Einen durchaus ähnlichen Gedankengang zeigt eine
Arbeit Prof. M. Walthards: Die psychogene Aetio-
logie und Psychotherapie des Vaginismus *).
(Aus der Frauenklinik des städtischen Krankenhauses in
Frankfurt a. M.)
Der Autor definiert den Vaginismus sehr richtig nicht
allein als einer unbeabsichtigten und unwillkürlichen Krampf der
Scheiden- und Beckenmuskulatur (bei jedem Versuch einen Fremd-
körper in die Vagina einzuführen) — sondern erklärt die Abwehr-
bewegungen der Oberschenkel, der Wirbelsäule, des ganzen Körpers
für dazu gehörige Charakteristika, der Ausdruck „Vaginismut'
bezeichnet eine unbeabsichtigte, unwillkürliche Bewegungskombination,
welche sich aus vier Abwehrbewegungen zusammensetzt:
1. Adduktion mit Einwärtsrollen der Oberschenkel,
2. Lordose der Wirbelsäule,
3. Gemeinsamer Abschluß der Beckenausgangsorgane,
4. Dislokation des ganzen Körpers.
Nicht nur der Fremdkörper (Penis, Instrument) rufen die Ab-
wehrbewegungen (Vaginismus) liervor, schon das „klirrende Ge-
räusch" ruft Erinnerungsbilder oder irrtümliche Vorstellung von
•) Münchener Medizinische Wochenschrift 1909, Nr. 39.
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Schmerzen wach. Weitaus am häufigsten lösen „Furcht und Angst
vor diesem Schmerz" den Vaginismus aus. „Aber auch Unwillen
infolge von Indifferenz in sinnlicher Beziehung, Abneigung gegen
die Person des Ehemannes, Furcht und Angst vor den späteren
Geburten, ja sogar üewissensbisse bei Coitus extra matrimonium —
kurz Phobien aller Art" sind häufige Ursachen.
Nicht die Oberempfindlichkeit \H yperaesthesie)
des Scheideneingangs, sondern Phobien sind der
Grund des Vaginismus. Die Abwehrbewegung ist
eine „zweckentsprechend e", ausgelöst durch die
Phobie — also ein „physischer Reflex".
Der Autor hat sehr richtig beobachtet, daß die ge-
schilderten Abwehrkrämpfe auch bei vollkommen guter Passage
(sogar bei „klaffender" Scheide) vorhanden sein können. Diese
rein psychische Form des Vaginismus kann natür-
lich auch nur vorwiegend psychisch behandelt werden.
Unterstützend gibt Waithard den Rat, die antagonistischen
Muskeln in Aktion zu setzen, wodurch die eigentlichen Krampf-
muskeln außer Kraft treten. Dieser Antagonist ist die Bauch-
presse. „Wir fordern deshalb unsere Patienten auf, während
der Einführung eines Fremdkörpers die Bauchpresse zu inner-
vieren, wodurch während der ganzen Dauer der Bauchpressen-
aktion die Erschlaffung der Ausgangsmuskulatur andauert."
Jetzt kann das Instrument viel leichter eingeführt werden,
und damit schwindet zugleich die „häufigste psychogene Ur-
sache des Vaginismus — die Phobie vor Schmerz".
Im übrigen folgt Waithard in der rein psychischen
Behandlung den Anweisungen P. Dubois, die man als eine
gemäßigte psycho-analytische Methode ohne
die sexuelle Dauerwurzel Freuds bezeichnen könnte.
Er bemüht sich, durch „Belehrung in der psycho-astheni-
schen Denkweise solcher Patientinnen das fehlende An-
passungsvermögen an die gegebene Lebenslage zu entwickeln".
Sehr beachtenswert für eine „klinische" Behandlung ist
es und es zeigt von dem wirklich eingehenden Verständnis
des Autors, daß diese Kranken entsprechend der psychi-
schen Eigenart des Falles isoliert von dem Gros der
Klinik behandelt werden.
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Die Behandlung des Vaginismus teilt sich nach diesen
Angaben in eine
a) mechanisch-chirurgische,
b) medikamentös-psychische.
Zu beachten ist, daß die weitaus geringere Zahl der
Fälle mechanische Angriffspunkte darbietet, um ihnen mit
Messer und Schere allein zu Leibe zu gehen. Durch ein
mechanisches Zuviel schadet man dem rein
psychischen Vaginismus — man beseitigt den
Zustand nicht, man vergrößert ihn eher, die
Abwehr(Erinnerungs)krämßf e werden womög-
lich noch intensiver.
Die meisten Fälle bedürfen der psychischen Behandlung
und langsamen Gewöhnung. Die therapeutischen Hilfsmittel
sind außer den beruhigenden Medikamenten entweder die
psycho-analytische Methode Freuds resp. die vereinfachte
Duboissche Psychotherapie in Verbindung mit geeigneten
Muskelübungen (antagonistische Bauchpresse Waithard s)
und eventuell ganz langsamen Gewöhnungen an das Spekulum.
Ist der schmerzfreie und krampflose Zustand erreicht, dann
bleibt der Geschicklichkeit des Ehemannes die weitere Aus-
bildung einer normalen sinnlichen Empfindung bis zum Or-
gasmus überlassen.
An dieser Stelle mag ein Fall eigener Beobachtung folgen,
bei welchem außer dem Vaginismus die Masturbation
(Anaesthesia masturbatoria), sowie die Theorie der sexu-
ellen Wurzel (psycho-analytische Methode Freuds) in
markantester Weise in Erscheinung treten. Der Fall ist eigent-
lich in dreifacher Weise ein Schulfall. Er ist hier ein-
gefügt, weil das vaginistische Krankheitsbild die Situation
am sichtbarsten beherrscht. Es ist aber auch ein Schulfall für
Masturbations-Anästhesie und führt zugleich in-
struktiv in Theorie und Praxis der Freudschen Me-
thode ein.
Fall XXI.
(Eigene Beobachtung.)
Frau X. X. ist eine gesund aussehende, gut gewachsene junge
Frau von 24 Jahren. Sie ist in besten Kreisen — Justizrats-
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tochter — aufgewachsen. Sie hat keine besonderen Krankheiten
durchgemacht, hat leicht gelernt, hat sich stets sportlich betätigt
und ist seit einigen Jahren an einen sexuell-normalen Mann ver-
heiratet. Ein Kind ist aus der Ehe hervorgegangen.
Sic wendet sich an mich, weil sie mein Buch gelesen hat. Sie
verlangt ärztliche Hilfe, weil sie eine unüberwindliche Abneigung
gegen den ehelichen Verkehr hat. Sie kann die Einführung des
Gliedes nicht vertragen. Schon bei dem bloßen Verbuch oder Oe-
danken! krampfen sich ihre Schenkel zusammen. Sie wehrt mit
Händen und Körper ab und beginnt unter wahnsinniger Angst-
empfindung zu schreien.
Trotzdem ist dem Ehemann einige Male der normale Verkehr
gelungen: Beweis — das Kind. Sie weiß selbst nicht, wie das
möglich geworden ist. Gewalt des Mannes und ein eigener Er-
schöpfungsaugenblick müssen zusammengewirkt haben. —
Ich beginne mein Krankenexamep, das sich über mehrere
Konsultationen ausdehnt. Das Resultat ist eine Sexualanamnese,
die selbst dem erfahrenen Spezialforscher — wenigstens aus dem
Erziehungsmilieu dieser Patientin heraus — unerwartet über-
raschend und reich ist. Folgendes Bild entwickelt sich.
Mit ca. 12 Jahren (noch vor dem Eintritt der ersten Periode)
hat sie zu masturbieren begonnen. Ort: die Klitorisgegend. Auf
die Frage nach der Häufigkeit und der jedesmaligen Ursache gibt
sie keine bestimmte Antwort. Sie entsinnt sich nur, fast regel-
mäßig vor jeder Tanzstunde sich manuell befriedigt zu haben, um
„recht leuchtende Augen zu haben".
Mit ca. 15—16 Jahren begann der Verkehr mit Männern. Es
sind deren bis zur Verheiratung (im ca. 20. Jahre) mindestens ein
Dutzend gewesen! Auch nach der Verheiratung setzte sie ihre
mannigfachen außerehelichen Beziehungen in unverminderter Weise
fort und dürfte trotz ihrer 24 Jahre inzwischen ein zweites Dutzend
erreicht haben!
Es eröffnet sich ein ganz ungewohnter Einblick in die Sexual-
welt eines jungen Mädchens resp. einer jungen Frau der so-
genannten guten Gesellschaft.
Am bemerkenswertesten und unnatürlichsten aber erscheint es,
daß diese erfahrungsreiche Patientin, welche von Abenteuer zu
Abenteuer springt, trotzdem unempfindlich sein soll, den regulären
Männervetkehr geradezu ängstlich scheut und sich mit Krämpfen
und Schreien dagegen wehrt.
Trotzdem hat das seine Richtigkeit. Die Franzosen haben den
treffenden Ausdruck „D e m i v i e r g e" erfunden und bezeichnen
damit ein Mädchen (meist der guten Gesellschaft), das sexuell alles
mit Ausnahme des vollendeten normalen Geschlechtsverkehrs
(immissio penis) gestattet.
Etwas ähnliches liegt hier vor. Warum gestattet die „Demi
vierge" nicht die Immissio? Ganz natürlich aus der Angst
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vor der Mutterschaft, womit ihre bürgerliche Existenz begraben
wäre.
Unsere Patientin hat ein stark erotisches Begehren. Dies ergibt
sich aus der frühen Masturbation noch vor der pubertären Reifung.
Frühe Masturbation ist stets ein Zeichen nervöser Belastung. Ihre
Widerstandskraft — die kulturellen „Hemmungen" — sind des-
halb bei ihr geringer; sie erliegt dem ersten männlichen Begehren
leicht — allerdings nur bis zur Imraissio. Hier sträubt sich der
letzte Hemmungsrest — die Angst vor der unehelichen Mutter-
schaft, die den bürgerlichen Tod bedeutet.
Die Patientin erzählt, daß sie beim ersten Versuch des Sexual-
verkehrs sich krampfhaft gesträubt und geschrien habe. Das ist
an sich nicht wunderbar. Wunderbar bleibt nur, daß dieser Ab-
wehrkrampf auch bei den folgenden 25 Männern (inkl. des Ehe-
mannes!) bestehen bleibt. Der Zustand nimmt sogar derart zu,
daß sie selbst allein bei dem Gedanken an normalen Geschlechts-
verkehr zu zittern beginnt und krampfhaft die Schenkel schließt.
Die Einführung jeglichen Gegenstandes — selbst des Fingers oder
eines Instrumentes — verursacht ihr Vaginismus. Sie berichtet,
daß sie selbst bei der Geburt ihres Kindes dem untersuchenden
Finger des Arztes gleichen Widerstand entgegengebracht hätte, daß
die Wehenschmerzen der Geburt ihr gering gegen die Angst vor
der ärztlichen Untersuchung erschienen.
Welcher Art war nun der vielseitige Geschlechtsverkehr und ist
sie dabei zum Orgasmus gelangt? Man setzt sich nicht einer
dauernden Gefahr aus, wenn sie nicht Ersatz bietet. Die Patientin
gibt den Orgasmus in vielen Fällen zu, hat aber stets nur den
Cunnilingus zugelassen oder bei halben Versuchen selbst manuell
(wie bei ihrer gewohnten Masturbation) nachgeholfen. Den Cunni-
lingus lernte sie durch ihren ersten Verführer kennen, der diesen
Modus gern ausübte und diese Perversion um so lieber wählte,
als ihm die krampfhafte Weigerung den Normalverkehr verbot.
In Zukunft hat sie fast ausschließlich nur diese Art der Be-
friedigung bei den Nachfolgern gestattet oder allenfalls den Coitus
ohne immissio, womöglich noch durch Condom gesichert.
In der Ehe ist der vaginistische Krampf unverändert bestehen
geblieben. Sie besitzt keine Abneigung gegen ihren Mann — im
Gegenteil: — sie wacht eifersüchtig über seiner Liebe, obgleich
sie selbst ihre Wege geht. Nach wie vor vollzieht sich der Coitus
ohne immissio bei ihrem Manne und ihren Liebhabern (der seltene
Fall der brüsken Attacke, deren Folge die Schwangerschaft war,
abgerechnet), und nach wie vor ruft sie den Orgasmusj durch
manuelle Hilfe beim Akt hervor. Auch der außereheliche Cunni-
lingus (der Mann ist durchaus normal) Wird häufig gestattet, Be-
friedigung jedoch muß auch hierbei manuell bewirkt werden. —
Nach dieser Anamnese, die in mehrstündiger Arbeit erreicht ist
und in welcher bereits einige epikritische Betrachtungen vorweg
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genommen sind, beginne ich mit der körperlichen Untersuchung
und Behandlung.
Auf dem Untersuchungsstuhl zeigt die Patientin Neigung, die
Schenkel zu schließen. Als ich den Finger nähere, krampft sie
zusammen, noch mehr als ich nur ein Instrument zeige. Sie nimmt
die Beine aus den Stützen, schließt die Oberschenkel und stößt
mich mit den Händen fort. Ich beruhige sie durch langsamen,
gütlichen Zuspruch soweit, daß schließlich eine Fingeruntersuchung
möglich wird. Dabei bestätigt sich, daß eine vollkommen normale
Passage vorhanden ist und daß besonders schmerzende Hymenai-
reste fehlen. Eine weniger versierte Behandlung hätte vermutlich
hier bereits mit Messer und Schere begonnen, womöglich tfie
Narkose zu Hilfe genommen ! (N. B. Tatsächlich hat ein bekannter
Operateur noch später diesen R*at erteilt!)
Mit der Einführung des touchierenden Fingers unter der Ver-
sicherung, daß die Organe normal gebaut und gesund seien, war
bereits der erste Schritt gewonnen. Es gelang mir spater, bald
ein glattes Sperrspekulum einzuführen. Die Patientin ertrug es
und gewöhnte sich an eine langsame Dehnung durch Erweiterung
der Sperrstellung.
Für Finger und Instrument war also das Terrain vorgeebnet.
In der Psyche begann der Gedanke Platz zu finden, daß ein
mechanisches, Hindernis nicht vorliegen könne. Es handelte sich
nun darum, auch für das lebendige membrum virile diese
Vorstellung zu befestigen.
Ich stellte der Patientin vor, daß ihre „Krämpfe" verkable
„Abwehrkrämpfe" seien, die aus der Furcht vor außerehelicher
Schwangerschaft hervorgegangen seien. Sie wollte das nicht zu-
geben. Soweit hätte sie eigentlich nicht gedacht. Zum mindesten
fiele dieser Grund seit ihrer Ehe fort.
Hier hieß es, sich nicht beirren und abschrecken zu lassen.
Die ganze gesellschaftliche Position der Patientin ließ mit Sicher-
heit darauf schließen, daß die Angst vor unangenehmen Folgen
vorhanden sein mußte. Wenn sie sich selbst auch nicht Rechen-
schaft darüber gab, so lag diese Angst im Unterbewußtsein ver-
steckt. Aus Angst vor Schwangerschaft flüchtete
sich ihr Körper und die von Hause aus neuropathi-
sche Konstitution (frühzeitiger Geschlechtstrieb) in die
Neurose des unbewußt vaginistischen Abwehr-
kram p f e s.
Mit dieser Auffassung stehen wir plötzlich mitten in der
Freud sehen Theorie der sexuellen Wurzel und dei
hierauf bauenden psycho -analytischen Methode.
„Die moderne Psychotherapie stellt sich die
Aufgabe, den „Verdrängungen" nachzuspüren, sie
zu lösen und so den Kranken zu heilen." (W. Stekel:
Nervöse Angstzustände.)
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Mit der Voraussetzung, daß der verdrängte Gedanke '(die Angst
vor außerehelicher Schwangerschaft) in der unbewußten Vorstellung,
in der „Unbewußtheit seelischer Vorgänge" (Stekel) verankert lag,
war die weitere Behandlung vorgeschrieben. Es kam darauf an v
die „Kranke dazu zu bringen, aus Motiven besserer Einsicht etwas
zu akzeptieren, was sie zufolge der Unlusterinnerungen bisher zu-
rückgewiesen hatte" (Stekel).
Die einfache Belehrung reichte nicht aus. Es blieben Zweifel
zurück. Die Patientin glaubt nicht so recht an die Macht dieses
gewissermaßen schlummernden Angstgedankens. Es müssen andere
Beweise sie über das Vorhandensein belehren.
Ein unschätzbares Mittel hierfür ist der Traum.
Es ist ein hohes Verdienst Freuds und seiner Schule, den
Träumen ein wissenschaftliches Fundament gegeben zu haben.
Nicht im Sinne der Traumdeutung von Faxenmachern, Charlatan?
und alten Weibern, sondern auf der Basis physiologischer Oedanken-
assoziationen.
Es würde zu weit führen, auf das ganze System — das notabene
entsprechend der Jugend dieser Wissenschaft und dem Übereifer
seiner; Vertreter bisweilen sanguinische Kritiklosigkeit zeigt — hier
näher einzugehen.
Die folgenden Fragen lassen den Weg wenigstens ahnen:
Ich gebe der Patientin auf, sich ihren nächsten Traum zu merken
und mir mitzuteilen.
„Ich habe leider nichts geträumt."
„Besinnen Sie sich. Vielleicht fällt es .Jhnen doch noch ein."
„Ich habe wirklich nichts geträumt."
„Besinnen Sie sich auf frühere Träume? Kehren bestimmte
Arten von Träumen häufiger bei Ihnen wieder?"
Die Patientin denkt nach:
„Ja, ich sehe häufig Schlangen im Traum."
.„Trägt die Schlange nicht stets den Kopf hoch aufgerichtet, als
wenn sie auf Sie losstürzen wollte?"
Die Patientin sieht mich ganz erstaunt an:
„Woher wissen Sie das? Es ist richtig. Jetzt fällt es mir
auf. Ich habe noch nie eine zusammengekauerte Schlange im
Traume gesehen, immer nur die losstürzende."
Dieser Moment war wichtig und festzuhalten. In der Psyche
beginnt eine Gedankenverschiebung. Meine Sehergabe imponiert
ihr. Vielleicht habe ich auch mit den anderen Gedanken Recht. —
Ich setze ihr auseinander, daß die losstürzende Schlange identisch
mit einem membrum virile sei, vor dem sie wegen Schwanger-
schaftsfurcht Angst habe.
Sifc widerspricht nicht. Man sieht ihr an, daß sie diesen Ge-
danken innerlich verarbeitet.
Ich fahre fort:
„Haben Sie noch andere Träume ähnlicher Art gehabt?"
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„Jawohl — und sie erzählt mit erhöhtem Interesse — ich sehe
sehr häufig einen Mann auf mich zukommen. Er greift in die
Tasche und holt einen Revolver heraus. Ich habe den Traum so
oft gehabt, daß ich auf der Straße schon Angst bekomme, wenn
ich einen Mann mit den Händen in der Tasche sehe. Ich gehe
dann schnell auf die andere Seite."
Es bedari keiner großen Zusätze zu diesem zweiten Traum.
Erwähnt sei, daß in den Freudschen Traumerklärungen „Tasch e",
meist mit „Scheide" (Vagina) synonym ist. „Sic hat schon Angst, /"
wenn der Mann die Hand in der Tasche hat!" Die Deutung des /. A £ \s
Revolvers ist ganz klar. Schon die Gestalt bietet auffallende
Ähnlichkeit mit einem vollen männlichen Geschlechtsteil (inkl.
Hodensack). /
Mit diesem zweiten Traum war die bis dahin immer noch
zweifelhafte Ursache der hypothetischen Angst bei ihr zur Über-
zeugung geworden.
Ich sprach die Patientin nach längerer Zeit — sie war aus der
Behandlung aus äußeren Gründen fortgeblieben — gelegentlich
wieder: „Es geht schon viel besser!"
Wieder nach längerer Zeit hatte ich mit ihr eine ausführlichere
Aussprache. Sie erzählt:
„Die Krämpfe, die Angst, das Schreien hatten sich mehr und
mehr verloren. Ich fühlte mich unendlich gebessert. Ich hatte
häufig vollkommen normalen Verkehr. Allein ein kleiner Rest
eisten Widerstandes war bis vor P 2 Jahren nocn vorhanden. Ich
erzählte das meinem damaligen (neuen) Verehrer. Er hielt das für
Koketterie und Ziererei. Ohne Besinnen führte er mir, während
ich auf seinem Schöße saß, seinen digitum in vagmam. Er über-
rumpelte mich gewissermaßen, ich duldete es und bin seit diesem
Tage ganz geheilt."
Allerdings besteht noch ein Fehler. Sie erreicht auch jetzt noch
keinen Orgasmus ohne eigene manuelle Nachhilfe (Anaesthesia
masturbatoria). Sie ist damit aber vollkommen zufrieden. Diese
Anästhesieform wqrde sonst noch eine gesonderte Behandlung er-
fordern.
Nachtrag: Patientin ist Witwe geworden. Ihrer Anlage ent-
sprechend hindert sie das nicht an fortgesetztem Verkehr. Nicht
erst seit dem Tode ihres Mannes — schon in den letzten Jahren
vorher — hat sie in anderer Freunde Armen vollen Orgasmus
erreicht.
Der Vaginismus ist annähernd der einzige Zustand,
auf welchen, wenn auch noch immer in beschränktem Sinne,
das Wort Impotenz angewendet werden kann. Man findet
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- 170 —
bisweilen diese eigentlich nur für die mangelhafte Erectio
mcmbri virilis bestimmte Ausdrucksweise auch für den Zu-
stand der weiblichen Empfindungslosigkeit verwendet. I m -
potentia ist die Unfähigkeit zur Kopulation, Sterilität
die Unfähigkeit zur Befruchtung. Die Impotentia femi-
narum könnte also höchstens auf die geschilderten Zustände
des krampfhaften Vaginismus und auf die ganz seltenen Fälle
einer angeborenen verschlossenen .Scheide Anwendung finden.
Von diesen beiden Formen, welche die Mechanik des Ge-
schlechtsverkehrs verhindern, abgesehen, bleibt selbst die
kälteste, absolut anästhetische Frau stets potent
und besitzt und bewahrt, wie früher gezeigt, ihre volle "r3e-
gattungs- und Zeugungsfähigkeit. Es ist ein charak-
teristisches Unterscheidungsmoment im Ge-
schlechtsleben von Mann und Weib, daß prozen-
tual der Mann viel häufiger impotent ist, das
[Weib dagegen erheblich größeren Anteil an der
Sterilität hat.
■
Wenn der mechanische Ausgleich post deflorationem er-
reicht ist, bleibt es der Kunst des Mannes überlassen,
den Geschlechtstrieb zu wecken. Wenn Schmerzen
nicht mehr die Situation verwirren, fängt die seelische Kunst-
fertigkeit des Mannes an, der durch seine Liebkosungen der
Frau das Bewußtsein ihrer begehrenswerten Reize beibringt.
Hierin liegt die eigentliche Individualität des Mannes und die
Kunst seiner Liebe. Es ist eine besondere Gabe, die je nach
den Neigungen der Erwählten geformt sein will. Außer der
seelischen Beeinflussung mögen auch manuelle Präliminarien
notwendig und erlaubt sein; ich erinnere an den der Kaiserin
Maria Theresia gegebenen Rat.*)
Ist die Sinnlichkeit, das Geschlechts v e r 1 a n g e n ,
der Trieb, jener Erektionszustand, der als eine Umstimmung
ähnlich einem hypnotischen Trancezustande aufzufassen ist,
erreicht, so bleibt oft das ahnungsvolle Verlangen nach dem
*) P a S- 53/54.
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- 171 -
Hochgenuß der Empfindung, nach dem Orgasmus,
unbefriedigt durch die Schnelligkeit des männlichen Ein-
tretens, durch die Ejaculatio praecox.*)
Die Ejaculotio praecox ist entweder eine abso-
lute, d. h. sie erfolgt fast unmittelbar nach der immissio,
bisweilen sogar noch während der introduetio, bevor das
Membrum vollkommen in die Vagina eingedrungen ist. In
diesen Fällen ist sie vielfach ein nervöses Symptom, eine
Teilerscheinung auch sonst vorhandener Neurasthenie, also
eine sexuelle Neurasthenie des Mannes. Sie ist einer
Heilung nicht unzugänglich. Auch Gewöhnung, die aus
Heftigkeit der mit Angst und Heimlichkeit verbundenen ersten
jugendlichen Versuche übernommen worden ist, kann die Ur-
sache sein.
Sodann ist die Ejaculatio praecox eine relative,
d. h. sie ist zu frühzeitig im Verhältnis zum späteren Ein-
treten des korrespondierenden Zustandes beim Weibe. Hier
kommer Anlage und Neigung als grebsinnliches Moment an-
einander. Wie auch sonst im Leben Charaktereigenschaften
zueinander passen müssen, so ist es auch im rein sexuellen
Sinne. Gewisse Differenzen können vorhanden sein. Die-
selben können sich, wenn keine allzuweiten Grenzen
gezogen sind, ausgleichen. Der Mann speziell hat
sehr wohl die Fähigkeit, den actus zu protra-
hieren, viel mehr als der weibliche Teil, ihn zu
beschleunigen und zu verkürzen. Da durchschnitt-
lich, wie wir früher gesehen, der weibliche Orgasmus etwas
später einsetzt als der männliche, so erfordert es in der Regel
einige Zeit der Übung, bis eine volle Anpassung statt-
gefunden hat. An der Brutalität des Mannes, der
rücksichtslos nur an seine eigene Befriedigung
denkt,scheitertsehroftdasgegenseitigeGlück
der Sinne. Ist der Zustand ein dauernder, so kommt
die Frau niemals zum vollen sexuellen Em-
pfinden.
Auch der modus actionis, d. h. die Mechanik spielt
«eine große und gewaltige Rolle. Wir haben erwiesen, daß die
verschiedensten Stellen des .Vaginalschlauches, von der Klitoris
*) Vergl. das Gutachten im juristischen Kapitel dieser Monographie.
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— 172 —
bis zur Portio gesondert, empfindlich sein können, und daß
eine solche Prädilektionsstelle gefunden sein will. Bisweilen]
führt der Zufall (wie bei Fall II b) zur Entdeckung. Jedenfalls
ist beim Mangel der Empfindung eine systematische Lage-
veränderung ein erstes Postulat für eine Änderung. Selbst
der Coitus a posteriore darf unter Umständen nicht gescheut
werden und führt bisweilen dann allein zum Ziele, wenn die
Klitoris resp. Nymphen in normaler Position nicht genügend
gereizt werden. Auch Tempo und Kraft sind von erheblichem
Einflüsse.
In die komplizierte Technik und Psychologie behufs Er>
Ziehung zur Liebe und zum Geschlechtsempfinden spielt von
den Sinnesorganen der Geruch oftmals mit entscheidender
Bedeutung hinein. .Wie wir früher erwähnt haben, ist der
sexuelle Geruchssinn in v der Tierwelt viel ausgesprochener«
An Stelle der bedeutungslos gewordenen menschlichen Glan-
dulae vestibuläres majores, der ehemaligen Riech-
stoff bildenden Lockdrüsen, ha't sich der lockende Duft des
.Weibes über seinen ganzen Körper verbreitet und ist für den
mit den feineren Sinnen begehrenden Liebhaber als das spe-
zifische „Parfüm des femmes" der Franzosen, als der „Odor
di femina" des Italieners wahrnehmbar und anregend. — „La
femme respiree est aimee." (Galopin.)
Die sonderbaren Beobachtungen aus dem geschlechtlichen
Geruchsleben behandelt Albert Hagen in seiner sexu-
ellen Osphresiologie. Der Hauptinhalt dieses Werkes
bezieht sich auf die Erregung der Geschlechtslust durch
Gerüche und diese vorwiegend beim männlichen Geschlecht.
Ein großer Teil der Perversionen beruht auf der erregenden
Kraft sonderbarerweise oft der ekelhaftesten Gerüche, worüber
die einschlägige Literatur zahlreiche Beispiele anführt, welche
nicht in diesen Rahmen gehören.
Die abstoßende Kraft eines Geruches ist in Hagens
Arbeit wesentlich kürzer bedacht. Immerhin sind einige Bei-
spiele von „eisiger Kälte im Ehebette" angefügt.
Es ist von der Tochter Vincengo Montis die Rede,
die nichts bei ihrem Gatten, dem Grafen Perticari, em-
pfand, da er einen stinkenden Atem hatte.
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- 173 -
Bei Heinrich IV. und seiner zweiten Gemahlin Mar-
garete war ein übelriechender Fußschweiß der Grund der
Abneigung.
Galopin sagt: „Une femme peut aimer passionnement
lun manchot, un bossu, ou un ampute des deux pieds} ou des
deux mains; eile ne saurait etre longtemps amoureuse d'un
homme qui sent mauvais du nez, des pieds ou de la peau en
generali '
Wir haben es hier mit groben Geruchsschäden zu tun,
deren Wirkung bei der anerkannt nahen Beziehung des Ge-
ruches zur Sinnlichkeit ohne weiteres verständlich und ein-
. leuchtend erscheint. Mir ist es nicht unwahrscheinlich, daß
auch geringere Geruchsstörungen, die als solche vielleicht
direkt nicht als unangenehm wahrnehmbar sind, eine
Hemmung im Gehirn auslösen können, welche die Libido
unbewußt unterdrückt. Diese feinen Geruchsidiosynkrasien
wären ein Beitrag zum geheimnisvollen Kapitel Sympathie
und Antipathie, das so vielseitig in das Geschlechtsleben
hiueinspielt.
Es bleibt nach allen geschilderten Ursachen und Formen
der sexuellen Anästhesie noch eine erhebliche Reihe von Fällen
übrig, bei denen scheinbar weder ein mechanischer noch
psychischer Hemmungsgrund vorliegt und wo trotzdem eine
absolute Unempfindlichkeit besteht, wo nicht nur ein Zustand
absoluten Mangels jeglichen Hochgefühles (Orgasmus) vor-
liegt, sondern selbst Erwartung und Erregung, das ahnungs-
volle Verlangen (Libido) wie eine sagenhafte Mythe das Ge-
schlechtsleben des Weibes verschleiert — Anaesthesia
sexualis completa idiöpathica.
Es ist selbstverständlich, daß auch keine seelische Ab-
neigung oder ein Zwang die Grundlage einer solchen Ehe
ist. Im Gegenteil, die Gattin liebt ihren Gemahl aufrichtig
und wehrt sich nicht gegen seine Umarmungen. Aber sie
hat nicht die geringste Vorstellung auch nur der mindesten
Spur einei angenehmen Erregung und Empfindung. Sie hat,
wie Guttzeit mitteilt, kein anderes Gefühl, als ob sie „an
der Schulter oder an der Hand berührt würd e".
D. Martinus Schurigius (Gynäkologia) schildert
den Zustand fast mit den gleichen Worten:
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,,Nec magis sentire, quam alioquin ab externo cutis con-
tactu alibi sentire solebat".
Diese Fälle ohne jeden erkennbaren mechanischen und
seelischen Hemmungsgrund bieten der Analyse die größten
Schwierigkeiten. Da die Theorie der Hemmungen hier
fortfällt, bleibt der seltenere Grund der ursprünglich
schwererer» Erregbarkeit übrig. Vermutlich sind die ge-
schlechtlichen Gegensätze zu stark. Der glimmende Leiden-
schaftsfunken eines solchen Weibes ist äußerst schwach und
bedarf einer besonderen belebenden Glut, den nur eine be-»
sondere männliche Individualität zu geben vermag. Die Tat-
sache, daß ein solches Weib ihren Gatten liebt und trotzdem
ünerregt bleibt, ist noch kein Beweis für die Aussichtslosigkeit
»einer anders gearteten, größeren, individuellen Liebe. Die
Liebe eines solchen absolut unerregbaren und empfindungs-
losci Weibes entspricht vielmehr den Gesetzen einer allzu
geordneten Moral und gesellschaftlichen Pflichtgefühles. Sie
ist mehr Freundschaft und Neigung und basiert auf der über-
zeugenden Vorstellung von der grundsätzlichen Notwendigkeit
eines wohlfundierten Ehe- und Familienlebens. Aber die in-
dividuelle Liebe, das eigentliche Gemisch seelischer und sinn-
licher Liebe, ist damit noch nicht erreicht.
Übrigens muß man selbst in solchen Fällen noch nach
verborgenen mechanischen oder seelischen Ursachen forschen.
Bei wohlerzogenen, sensiblen Frauen will der Ton des jedes-
maligen Liebeswerbens genau abgestimmt sein. Diese feine
Psychologie charakterisiert eben den Künstler der Liebe, der
auch den kalten Marmor zum ahnungsvoll erregten Glühen
bringt.
Der folgende Fall ist ein teilweiser Beleg für die unem-
pfindliche, liebende Frau. Teilweise nur deshalb, weil die
Anfangsmomente das Geschlechtsleben in erkennbarem Sinne
mechanisch irritierten. Nach Überwindung bleibt jedoch die
idiopathische Anästhesie übrig. Leider ist der Fall nicht alt
genug. Gerade hier ist ein Erfolg einige Zeit nach der Ge-
burt nicht ohne Aussichten. Ein viel reineres Bild werden wir
später im belletristischen Anhang in Frau von Warens
kennen lernen.
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- 175 -
Fall XXII.
(Eigene Beobachtung.)
Die 21jährige Patientin sucht ärztliche Hilfe wegen Kinder-
losigkeit auf. Sie ist seit ca. einem Jahre verheiratet. Die Patientin
wird von ihrer Mutter begleitet, welche für das zu erwartende
peinliche Examen das Wort führt.
Di« Mutter glaubt, daß eine gewisse „Schwäche" des Mannes
vorliege, die bisher noch keine volle Immissio penis gestattet hätte
und daß vermutlich das Hymen noch nicht hinreichend perforiert
sei. Außerdem hätte die Tochter noch keine Spur von irgend-
einer angenehmen Empfindung in coitu gehabt.
Zur Anamnese erfahre ich, daß die 21jährige Patientin aus
höheren Kreisen stammt. Der Vater war hoher ausländischer
Regierungsbeamter. Sie ist das einzige Kind der Ehe. Die Mutter
will nie nennenswert krank gewesen sein, macht einen gesunden
Eindruck und zeigt sich bei den delikaten Besprechungen als eine
vorurteilsfreie Frau, bei der die Objektivität der Tatsachen vor
jeder Prüderie und Sentimentalität die Oberhand behält.
Die Mutter selbst gibt für ihre Person ebenfalls an, daß sie
niemals während ihrer ganzen, durchaus glück-
lichen Ehe eine volle Geschlechtsempfindung ge-
hab t h a b e. Ihr sei der Coitus zwar niemals direkt unangenehm
gewesen, sie habe sogar das Gefühl gehabt, als ob sie vielleicht
eine besondere Wollustempfindung zu erreichen imstande sei, allein
es sei tatsächlich nie dazu gekommen und sie glaubt selbst, daß es
nur auf die allzu schnelle und heftige Ejakulation ihres Mannes
zurückzuführen sei. Ihr Gatte, also der Vater der in Rede stehenden
Patientin, hat viele Jahre an nervösen Sonderbarkeiten gelitten,
die sich schließlich zu einem Gehirnleiden herausgebildet haben,
welchem der Kranke erlegen ist.
Die Patientin selbst hat außer den gewöhnlichen Kinderkrank-
heiten (Masern, Keuchhusten, Windpocken) keine Krankheiten über-
standen. Sie ist durch Ammenmilch ernährt worden und hat früh
sprechen und gehen gelernt. Als einziges Kind ist sie etwas ver-
wöhnt, jedoch nicht im eigentlichen Sinne verzogen worden. Jeder-
zeit ängstlich behütet, hat sie dennoch stets eine normale körper-
liche Erziehung erhalten, die auch vor Abhärtungen nicht zurück-
schreckte. Speziell hat sie stets genügend körperliche Bewegung
gehabt und wenn angängig im Freien gebadet. Von Kindheit auf
ist ihr das Schwimmen ein Bedürfnis gewesen.
Geistig schildert die Mutter ihre Tochter als durchaus begabt.
Stets von leichter Auffassung, waren ihre Anstrengungen jedoch
mäßig, so daß sie in der Schule zwar spielend mitkam, jedoch
entgegen ihren Anlagen nur Durchschnittliches leistete. Der
Charakter ist trotz der Verwöhnung stets nachgiebig gewesen.
Sic war nie eigensinnig und stets ein durchaus lenkbares Kind.
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Die ersten Menses traten schon mit 12 Jahren ein, von Anfang
an regelmäßig und ohne Beschwerden. Das Verhältnis zwischen
Mutter und Tochter war das denkbar herzlichste. Die Mutter
behauptet, daß die Tochter wohl kaum je ein Geheimnis vor ihr
gehabt habe. Sinnliche Gespräche sind selbstverständlich nie ge-
führt worden. Eine Neigung zu lasziver Lektüre hat niemals be-
standen. Das Mädchen hat eine durchaus glückliche und frohe
Jugend verlebt ohne Stürme und Aufregungen in der selbstver-
ständlichen Voraussetzung, daß in dieser Sorglosigkeit das ganze
Leben vorüberziehen müßte. Besondere nervöse Symptome sind
nie beobachtet worden. Höchstens zeigte sich bei der Bettlägerig-
keit während der Kinderkrankheiten eine etwas vermehrte Ängst-
lichkeit und Empfindlichkeit.
Mit 20 Jahren hat sie einen nur wenige Jahre älteren Literaten
geheiratet, der körperlich zwar etwas zart aussieht, aber voll-
kommen gesund ist und sich auf großen Reisen manchen Strapazen,
ohne Schaden zu nehmen, ausgesetzt hat. Seine geistige Bildung
ist eine hohe und vielseitige, seine Auffassung von Wissenschaft
und Leben eine im wesentlichen ideale, ohne dabei die oft unüber-
windbare Rauheit der Wirklichkeit zu verkennen und zwecklos
dagegen ankämpfen zu wollen.
Das geistige Band zwischen den Eheleuten ist das denkbar beste.
Sic haben sich aus Neigung und Liebe geheiratet, jedoch vielleicht
weniger aus der Begeisterung geschlechtsreifer jugendlicher Schwär-
merei heraus, als aus dem Gefühl der schon seit Kindheit bestimmten
Zusammengehörigkeit. Zuerst war es eine Kinderliebe, dann
Jugend-, schließlich eheliche Liebe. Es ist nicht zu verkennen,
daß in dem ganzen Verhältnis dieses jungen Paares von Hause
aus etwas ähnliches wie Geschwisterliebe gelegen hat und daß diese
von ihrem Entstehen aus geschlechtslose Liebe zum Teil in das
ehelichq Leben übergegangen ist. Diese Tatsache ist für die
psychologische Auffassung und Erklärung der weiblichen Empfin-
dungslosigkeit des vorliegenden Falles von Bedeutung!
Die Patientin selbst ist mittelgroß und wohlgebaut. Die Unter-
suchung der Genitalien ergibt den von der Mutter vermuteten
Befund. Eine eigentliche Defloratio hat trotz fast einjährigen ge-
schlechtlichen Verkehrs noch nicht stattgefunden. Das Hymen ist
unverletzt, der Introitus eng.
Der rein mechanische Grund dieser Sterilität ließ sich demnach
unschwer beseitigen. Der Hymenalring wird an einzelnen Stellen
inzidiert und der so zugänglicher gemachte Introitus in mehreren
Sitzungen laugsam mit dem Sperr-Spekulum mehr und mehr aus-
gedehnt, bis die Patientin selbst imstande ist, einen hinreichend
starken Obturator in die Scheide einzuführen. Diese Versuche werden
lediglich unter Leitung des Gefühls gemacht. Die Patientin muß
sich gewöhnen, ohne Hilfe des Gesichtssinnes die Einführung zu
bewirken, was ihr nach den Dehnungen bald gelingt. Sie wird
*
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— 177 —
auf die Ähnlichkeit des Verfahrens beim normalen Coitus hin-
gewiesen und in Anbetracht der offenbar in Venere exercenda nicht
übermäßigen Geschicklichkeit ihres Gatten wird ihr das ent-
sprechende Verhalten in praxi empfohlen.
Der Erfolg war der denkbar beste. Jegliche Unbequemlichkeit
und Schmerzhaftigkeit war bald beseitigt und eine normale Immissio
penis erreicht — allerdings noch immer ohne jegliches
angenehme Gefühl und ohne die Spur einer Ahnung
davon.
De/ beste Beweis für den vollen Erfolg war die bereits nach
2 Monaten ausbleibende Periode. Die Patientin hat eine durchaus
normale Schwangerschaft durchgemacht und zur normalen Zeit ein
gesundes Kind in leichter Geburt zur Welt gebracht.
Jedoch ist bis heute noch keine Empfindung
aufgetreten. Eine besondere Angst vor der erwarteten Nieder-
kunft lag nicht vor. Die Patientin war glücklich, den Gegenstand
heißesten Wunsches ihres Mannes, das Verlangen nach Nach-
kommenschaft, in ihrem Schöße zu tragen.
Eine etwaige Behandlung wegen der Anästhesie ließ ich vor-
läufig vollkommen außer Acht. Die anderen Erfolge waren vor
der Hand hinreichend, um die Patientin bis nach der Geburt zu
vertrösten.
Die Geburt hat erst vor kurzem stattgefunden, so daß der in-
teressante Fall von Empfindungslosigkeit bei Mutter und Tochter
zugleich leider seinen für den vorliegenden Zweck bedeutungsvollen
Abschluß noch nicht gefunden hat.
Die Krankengeschichte zeigt uns das Doppelbild der Un-
empfindlichkeit bei Mutter und Tochter zugleich.
Trotz der spärlichen Andeutungen der Mutter über ihren
eigenen Zustand genügen die Angaben vollkommen zur Er-
klärung im Rahmen der uns bekannten Momente. Ihr Gatte
ist stets sonderbar, nervös gewesen, schließlich hat sich eine
^manifeste Gehirnkrankheit entwickelt, an der er gestorben ist.
Schon diese Anamnese legt den Verdacht nahe, daß männlicher-
seits sexuelle Störungen vorhanden waren. Die Gattin gibt
selbst zu, daß die Ejaculatio äußerst schnell von statten ging
und daß sie selbst stets im Stadium der Erwartung gelassen
wurde.
Die Erwartung, ein gewisses Erregungsgefühl, wird also
ohne weiteres zugestanden und hierin unterscheidet sie sich
wesentlich von ihrer Tochter. Die Mutter hat Libido und
erreicht einen gewissen Grad angenehmer Friktion, allein der
Adler, Geschlechtsempfindung. 8. Aufl. 12
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- 178 -
Orgasmus bleibt vollkommen aus. Bei der Mutter haben wir
einen ziemlich reinen Fall ausbleibender GeSchlechtslust in-
folge Ejaculatio praecox des Mannes.
Die Tochter hat in dem ersten Jahre ihrer Ehe eine rein
mechanisch falsche Geschlechtsbehandlung erlitten. Nicht in
dem schmerzhaft irritierenden Sinne wie etwa beim Vaginis-
mus, sondern lediglich in mehr negativer Hinsicht. Sie hat
wohl weniger Schmerzen gehabt als das unbewußte Gefühl,
daß die von dem Manne aus Ungeschicklichkeit geübte Form
des Verkehrs ante portas unmöglich die richtige Art und Weise
des conubium sei!
Nach einem Jahre solchen Scheinverkehres entschließt sie
sich um ärztlichen Rat zu fragen. Es ist charakteristisch, daß
dies der Kindersehnsucht wegen geschieht und nicht aus der
Klage über den Mangel der Empfindung heraus. Die Be-
handlung ist verhältnismäßig einfach und führt, wie geschildert,
sehr bald zum gewünschten Erfolg.
Es fragt sich, ob der ein Jahr lang unvollständig voll-
zogene Verkehr den Grund der anhaltenden Hemmung
für den weiblichen Teil abgegeben hat. Während dieser Zeit
sicherlich. Aber ich halte ihn, da eine wirklich entzündliche
und schmerzhafte Irritation niemals stattgefunden hat, nach
der Befreiung und Belehrung nicht mehr für dauernd und
anhaltend.
Die absolute Unerregbarkeit, die nun auch in der Gra-
vidität fortbesteht, trotzdem die Patientin mit der Mutter-
schaft den Himmel ihrer Wünsche erreicht hat, ist im wesent-
lichen eine rein psychische und beruht vorwiegend auf dem
geschilderten geschwisterartigen Liebesverhältnis der Bhe-
gatten. Dieses kann sich mit dem Augenblick der vollendeten
Mutterschaft vollkommen ändern und tatsächlich geht sehr
häufig nach dem ersten Kinde zum ersten Male der Zustand
des Indifferentismus in den der geschlechtlichen Empfindung,
Erregung und Lust über.
Jedenfalls ist für den vorliegenden Fall alles in günstigster
Weise für das herannahende Glück der Sinne vorbereitet-
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X. Kapitel.
DieFolgeii der mangelhaften Geschlechtsempf indung.
Vergleich mit anderen Fehlern der Sinnesorgane, spez. Blindheit.
Unterschied durch den gegenseitigen Austausch. Der Einfluß auf das
Weib selbst. Gering bei absoluter Anästhesie ohne Libido und ohne
Orgasmus. Gesichtsausdruck bei derselben. Koketterie und Sinnlichkeit.
Körperlicht Störungen bei mangelndem Orgasmus allein (Fluor, Metritis,
Endometritis). Dysmenorrhoe bei jungen Mädchen. Die latente Libido
der Jungfrau und die Enthaltsamkeit. Nervöse Störungen durch mangel-
hafte Befriedigung. Angstneurosen etc. (Gattel), Freud und W. Stekel.
Angstneurose und Angsthysterie. — Verschiedene Krankheitsbilder. Dr.
Alice Stockhams Reformehe. Visionen aus dem transzendenten Leben.
Das sexuelle Medium' Jder Zukunft. Einfluß auf die Familie. "Ge-
fahren für Mann und Kinder. Johanna Elberskirchen entgegengesetzter
Standpunkt.
Es liegt der Gedanke nahe, daß absolute Onkenntnis
eines geschlechtlichen Empfindens einen Einfluß, eine tiefer-
gehende Wirkung auf den weiblichen Organismus auszuüben
nicht imstande sein kann.
Bei den anderen Sinnen beobachten wir jedenfalls ähn-
liches. Der Blinde hat wohl seinen eigenen, ruhigeren Ge-
sichtsausdruck, der sofort den Mangel der Sehkraft verrät.
Eine ausgesprochene schädliche Rückwirkung jedoch auf
andere Organe ist nicht vorhanden. Selbstverständlich fehlt
ihm die lebhafte, harmonische Gesamtausbildung, dafür treten
andere Fähigkeiten, speziell eine viel feinere Gestaltung von
Gehör und Gefühl ein.
Ähnlich ist es bei den anderen Sinnesorganen. Und
dennoch existiert für die Geschlechtsempf in-
12.
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dung ein völlig anderer Maßstab. Die Ge-
schlechtslust ist nicht nur der individuelle Be-
sitz einer einzelnen Person, sondern erlangt
seinen vollen Wert erst im gegenseitigen Aus-
tausch. Das Glück der Sinne ist nur vollkommen im
Doppelgenuß zweier Liebenden.
Hieraus folgt allein schon die zwingende Kraft, welche
weibliche ünempfindlichkeit auf das Weib selbst, auf den
Gatten ev. auf die ganze Familie ausüben muß.
Diese Folgen sind im wesentlichen psychische
und können den Frieden der Familie gefährden. Sie können
bei Mann und Weib den Grund geben zu dauernden geistigen
und nervösen Störungen.
Zweitens ist eine direkte Einwirkung auf den weiblichen
Organismus, eine wirkliche krankhafte Organverände-
rung des Sexualapparates besonders bei vorhandener Libido,
aber fehlendem Orgasmus, nicht nur denkbar, sondern wohl
bewiesen und festgestellt.
Betrachten wir vorerst die Konsequenzen der Anästhesie
am Körper und Geist des Weibes allein.
Ohne jedes Verlangen und ohne jeden Trieb (Libido)
und ohne jede Geschlechtslust und -empfindung (Orgasmus),
also bei der typischen natura frigida, ist die Wirkung der
Empfindungslosigkeit nur minimal. Wenn die so Beschaffene
eine liebende Gattin und fürsorgliche Mutter zugleich ist,
fehlt ihr tatsächlich nur ein Gefühl, das sie nicht entbehrt,
weil sie es nicht ahnt und kennt. Allerdings mag der ganze
Charakter, der von der rosigen Glut der höchsten Sinnes-
empfindung niemals erwärmt wurde, bisweilen eine kalte,
prosaische Färbung annehmen. Aber man glaube nicht, daß
unter allen Umständen solche komplette Anästhesie auf den
Zügen eines solchen Gesichtes liegen muß.
Das Gegenteil ist allzuhäufig der Fall, und selbst be-
rufene Frauenkenner können sich irren, wenn sie aus solchen
Augen mit Sicherheit zu lesen glauben.
Man spricht von einem sinnlichen Ausdruck der Augen*)
und einem anlockenden, koketten Benehmen als besonderen
Zeichen einer geschlechtsempfindenden und geschlechtsbedürf-
') Vergl. Schluß des Kapitels VII.
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tigen Frau. Die Koketterie hat mit der Sinnliche
keit absolut nichts zu tun. Auch die kalte Frau will
gefallen, und dies vielleicht umsomehr, als sie ihren geschlecht-
lichen Fehler kennt. Die weibliche natürliche Eitelkeit drängt
auf das Gefallen hin. Selbst die absolut kalte Frau, die nie
etwas bei ihrem Gatten empfunden hat, würde in ihrer Eitel-
keit tief gekränkt sein, wenn ihr Mann sie nicht mehr be-
gehrte. Es handelt sich natürlich nur um diejenige Gattin,
die keine Abneigung gegen den Mann besitzt und die um der
Reinheit ihrer Neigung, um der Reinheit des Familienlebens
willen jeden unerlaubten Gedanken mit Entrüstung von sich
weisen würde.
Wenn Libido vorhanden ist, aber der Orgasmus aus-
bleibt, so liegen die Verhältnisse für Leib und Seele wesent-
lich ungünstiger.
Die Libido entspricht physiologisch einer vermehrten ßlut-
füllung der sexuellen Teile. Der Orgasmus bedeutet den
Höhepunkt der Fluxion, zugleich aber auch das Signal zur
schnellen Entlastung, die Rückkehr zu normalen Zirkulations-
verhältnissen.
Wenn diese natürliche Reaktion ausbleibt, so kann die
libidinöse Fluxion und Stauung leicht eine dauernde werden
und aus ihr entwickelt sich das Heer der gewöhnlichen Unter-
leibsstörungen, Ausfluß und schmerzhafte Entzündung (Fluor,
Metritis, Endometritis etc.).
Unbefriedigte Libido ist auch beim geschlechts reifen
jungen Mädchen ein häufiger Grund ihrer sexuellen Be-
schwerden, die im wesentlichen in Ausfluß und schmerzhaften
Menses (Dysmenorrhoe) bestehen. Wir haben bei der Be-
sprechung der Masturbation bereits hierauf hingewiesen und
betont, daß von alters her gegen diese virginellen Krankheiten
die Ehe als Heilmittel erprobt ist.
Die seelische Beeinflussung ist bei allen sexuellen Emp-
findungsstörungen jedoch von hauptsächlichster Bedeutung,
Eine gesunde Sinnlichkeit verlangt auf alle
Fälle eine normale Befriedigung. Wenn Körper*
und Geist gegen einen von der Natur dem Individuum ein-
gepflanzten Trieb dauernd ankämpfen sollen, müssen sich
seelische Störungen oder zum mindesten Verkümmerungen
ergeben.
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- 182 -
Die viel diskutierte Frage über die Folgen der Enthaltsam-
keit soll hier nicht entschieden werden. Oerade beim Weibe
hat man sie vielfach gepriesen, weil so häufig seine ur-
sprüngliche Libido so gering sei.
Wer einen offenen Blick für Welt und Menschen hat,
wird in dem Typus der alten Jungfer nicht gerade eine
lobenswerte und ideale Züchtung erblicken. Mögen hier
soziale Verhältnisse allerdings in schwerwiegendster Weise
mitsprechen, mag die seelische Verkümmerung auch zum
großen Teil eine Folge der Isolierung und verfehlter Lebens-
freude sein — alles abgerechnet bleibt immer noch der un-
verkennbare Unterschied zurück, der weit zu Gunsten des
[Weibes spricht, welches die sinnliche Liebe kennt und genießt.
Es ist auch durchaus kein Widerspruch, wenn man be-
hauptet, daß bereits die Jungfrau an Krankheiten leidet, welche
auf unterdrückter Empfindung beruhen, obgleich die Ge-
schlechtslust des Weibes vielfach erst durch den Mann ge-
weckt wird. Die latente Geschlechtsempfindung dokumentiert
sich nur anders, als „Sehnen und Drängen", nicht als die
stürmische, nach außen drängende Kraft des Mannes. Wenn
auch oft Schwierigkeiten vorhanden sind, die weibliche Emp-
findung mit richtiger Technik und unter behutsamer Beseiti-
gung ihrer natürlichen Hemmungen zum Ziele zu führen,
so folgt daraus noch durchaus nicht, daß ihre im Individuum
schlummernde Kraft absolut wirkungslos ist.
Die Tatsache einer durchaus ausgebildeten Sinnlich-
keit dürfte wohl allgemein als hinreichender Grund betrachtet
werden, dieselbe auch zeitweise ganz zu genießen. Ein ewiger
Kampf dagegen kann zu schweren Störungen des Geistes
führen.
Die nervösen Störungen vom leichten M a 1 1 i g -
keits- und Unlustgefühl bis zum schweren Angst-
anfall und Krampf-, Magen-, Darmbeschwerden,
Muskelschwäche, kurz das vielgestaltige Bild von Neur-
asthenie und Hysterie haben allzuhäufig ihren vornehm-
lichen Grund in sexuellen Störungen, in mangelhafter Ge-
schlechtsempfindung.
Gattel („Ueber die sexuellen Ursachen der Neur-
asthenie und Angstneurose") bespricht an 100 Fällen diesen
Zusammenhang. Irgendeine sexuelle Anomalie ist überall vor-
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— 183 -
handen, besonders die mangelhafte Befriedigung, infolge von
Ejaculatio praecox oder Coitus interruptus.
Hier muß noch einmal die Freud sehe Schule erwähnt
werden. Bei Stekel*) begegnet man fast auf jeder Seite
dem Wort „anästhetisch" als Urgrund einer Summe der
verschiedensten Leiden. Hier kann nur ein ganz fragmen-
tarischer Hinweis den reichen Inhalt des Buches andeuten.
Stekel spricht von „Angstneurose" und „Angst-
hysterie". Beide zusammen liefern folgende sexuell ver-
ursachte Krankheitsformen :
1. Der reine Angstanfall.
2. Angstneurose mit Erscheinungen des Herzens.
3. Brustangst.
4. Störungen der Verdauung.
5. Nervöses Erbrechen.
6. Kongestionen, Ohnmacht, Schwindel.
7. Zittern und Schütteln.
8. Periodische Abmagerung etc.
9. Muskelkrämpfe.
10. Schlaflosigkeit.
11. Platzangst.
»12. Angst vor dem Erröten.
13. Eisenbahn-, Prüfungsangst.
14. Schwindel und Bergangst. Die Angst, zu stürzen.
15. Stottern, Lampenfieber etc. etc.
Seltsamerweise stellt sich ein weiblicher Autor, Dr. Alice
Stokham (Chicago) in der Schrift: „Die Reform-
Ehe", auf den entgegengesetzten Standpunkt.
Ihre „neue Form des Geschlechtsverkehrs"
läßt keinen Orgasmus und keine Ejaculatio zu, „es darf nicht
zur Auslösung des höchsten Reizes kommen". Die demgemäß
Handelnden „versichern, daß sie davon den höchsten Genuß,
der überhaupt möglich ist, haben, keinen Kraftverlust leiden
und den Befruchtungsvorgang mit absoluter Sicherheit be-
herrschen können!" Und weiter:
„Die geschlechtliche Vereinigung, dem Willen unterworfen
und dem Zwecke angepaßt, erfährt durch eine bewußte
•) Dr. Wilhelm Stekel: Nervöse Angstzustände und ihre Be-
handlung. 1908.
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- 184 -
Anwendung eine Verherrlichung und die eheliche Liebe emp-
fängt eine neue Bedeutung zugleich mit neuen Kräften."
Der hinkende Bote dieses sonderbaren Evangeliums, das
aus dem Geiste der mangelhaft empfindenden Frau, die eine
neue und wiederholte Mutterschaft fürchtet, gepredigt und
geformt zu sein scheint, kommt jedoch unmittelbar nach.
Es sollen bei dieser Uebung „geistige Verzückung,
Visionen aus dem transzendenten Leben" sich einstellen!
, Die wenigen Worte genügen, um die Verfasserin bereits
auf einem weit vorgeschrittenen nervösen Wege
zu finden, den wir als die natürliche Folge solcher sexuellen
Irrungen kennengelernt haben. Einen Schritt weiter und das
sexuelle Medium wäre die neueste Errungenschaft in
unserer übersinnlichen und transzendenten Zeit! —
Jede dauernde Störung im sexuellen Empfinden des ver-
heirateten Weibes erstreckt sich jedoch nicht allein auf seinen
Organismus, auf Schäden .am eigenen Leib und der Seele,
sondern kann eine tiefgreifende Wirkung auf das
Eheleben, kann einen erheblichen Einfluß auf Gatten und
Familie haben. Zur vollen Harmonie der Seelen, wie sie
für eine glückliche Ehe Bedingung sind, gehört das grob-
sinnliche Element des vollen gegenseitigen Geschlechts-
empfindens. Die weibliche Verzückung ist dem liebenden
Manne eine unendliche Veredelung seiner eigenen Sinnlichkeit
und gibt ihm erst das wahre Bewußtsein seines Glückes.
Das kalte Weib erniedrigt die Leidenschaft des Mannes leicht
zum rohen Sinnesgenuß, in seinem Innern bleibt eine leere,
unbefriedigte Stelle zurück. Oft genug ist dies der Grund,
daß er in anderen Armen eine heißere Erwiderung sucht,
und hiermit ist der erste Riß in das Familienleben geschehen,
dessen Konsequenzen auf Zusammenleben und Erziehung
nicht ohne Einfluß bleiben, dessen Ausläufer bis in die
Kinderstube reichen und die sozialen Verhältnisse vollkommen
erschüttern und verderben können.
Auch Johanna Elberskirchen*) gibt den krank-
haften Einfluß eines fehlerhaften Ablaufes des Geschlechts-
*) Krankhafte Veränderungen und abnorme Er-
scheinungen des weiblichen Geschlechtstriebes in
Koßmann Mann und Weib, II, 201.
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- 185 -
empfindens unumwunden zu. Allerdings nur auf das emp-
findungslose Weib selbst. Dagegen betrachtet sie sonderbarer-
weise die Geschlechtskälte des Weibes als irrelevant für den
Mann. Sie sagt wörtlich:
„Obgleich sie dem Manne geschlechtlich gleichgültig
gegenüberstehen, können sie ihn doch mit größter Liebe um-
geben, aber ihre Liebe gilt nicht dem Manne als Geschlechts-
wesen, sondern als Mensch, als Freund und Genossen. Und
da dies das ungleich wertvollere ist, sollten die Männer
es wirklich nicht tragisch nehmen, wenn ihre
Frau an mangelhafter G es ch 1 e ch t s e m p f i n d u n g
leidet . .
Hier entwickelt sich eine so fundamental andere Welt
männlichen und weiblichen^ Empfindens, daß eine' Diskussion
nicht mehr möglich ist. Es stoßen inkommensurable Größen
aneinander. Der Autor jedenfalls und mit ihm die über-
wiegende Mehrzahl seiner Geschlechtsgenossen stehen auf dem
gegenteiligen Standpunkte. Ihnen ist der eigene Geschlechts-
genuß ohne Empfinden des Weibes eine salzlose, ungewürzte
Nahrung, die kümmerlich genug den Hunger stillt. Die Frage
kann sogar von juristischer Bedeutung werden. Sie ist im
juristischer. Kapitel des weiteren behandelt.
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XI. Kapitel.
Die Behandlung der mangelhaften
Geschlechtsempfindung.
Der praktische Wert der Prophylaxe im allgemeinen, bei der
Anaesthesia sexualis im speziellen. Die Erziehung zur Sinnlichkeit.
Brutalität resp. Ungeschicklichkeit des Mannes in der Hochzeitsnacht
gibt oft einen dauernden Hemmungsgrund ab. Rechtzeitige Belehrungen.
Mechanische Behandlung. Dehnungen durch langsame Spekulumbehand-
lung. Künstliche Defloratio. Ausschneidung (Exzision) des Hymen resp.
Einkerbung. Entfernung schmerzhafter Hymenaireste (Vaginismus). Bei
Inkongruenz von Penis und Vagina Anleitung zur manuellen Introductio.
Bei innerer Schmerzhaftigkeit auf parametritischer Grundlage speziell
gynäkologische Behandlung (Bäder, Resorption, Massage etc.). Variationen
der Positiv (Inversio, a posteriore). Bei Ejaculatio praecox Behandlung
des Mannes. Das Wesen der psychischen Behandlung beim Fehlen zeit-
licher oder mechanischer Differenzen. Das Aufsuchen der Hemmung,
des psychischen Traumas. Hypnose. Die psycho-analytische Methode
Freuds. Träume. Die Mittel der Erregung von seiten des Mannes.
Tändeleien, Küsse. Der individuelle Zauber geistiger Erregung. Titillatto.
Ärztliche Behandlung — Elektrizität (Voinow, Rohleder). Biersche
Stauung.' Scheidenspekulum (Fischer-Karlsbad). Sexualgymnastik (Zablu-
dowsky). Zurückhaltende Vorsicht des Arztes bei der kombiniert mechani-
schen Behandlung und seelischen Beeinflussung. Medikamente. Suggestive
Wirkung. Liebestränke. Alkohol, Canthariden, Yohimbin (Berger). Rhome-
Tabletten Muiracithin (Lustwerk). Libidol (Kantorowicz). Ovarial-
tabletten, Oophorin, Ovaraden. Opo(Brunst)milch (Bucura). Nenadowicz.
Veit. Thelygan nach J. Bloch. Opium als speziell weibliches Aphro-
disiacum (Neumann).
Wenn man die großen Lehrbücher der Medizin durch-
wandert, so findet man bei der Beschreibung der einzelnen
Krankheiten in der Regel die systematische Einleitung in:
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- 187 -
Aetiologie, anatomischer Befund, Symptome und Therapie.
Die Therapie beginnt fast durchweg mit der Prophylaxe.
Diese Prophylaxe bleibt meist ein frommer Wunsch. Ihre
Undurchführbarkeit liegt in der physischen Unmöglichkeit des
Einzelindividuums, gegen ein Heer von hundert und Tausenden
von Krankheiten, deren Existenz dem Laien bisweilen kaum
dem Namen nach bekannt ist, sich vorbeugend zu wappnen.
Das menschliche Leben würde nur aus Prophylaxe bestehen
»und dem individuellen Einzelleben mit seinen gewaltigen An-
forderungen zum Gewinn der körperlichen und geistigen
Existenzmittel kaum eine kurze Spanne Zeit übrig lassen.
Die Prophylaxe kommt deshalb praktisch vorwiegend nur
in Betracht bei Epidemien, ferner bei gewöhnlichen Lebens-
bedürfnissen und -Verrichtungen, die sich besonders auf das
Nahrungs- und vor allem auf das sexuelle Gebiet beziehen.
Die „Gesellschaft zur Bekämpfung der Ge-
schlechtskrankheiten" betrachtet es als eine ihrer
ersten Aufgaben, die Gefahren des durch Naturforderung und
soziale Maßnahmen ununterdrückbaren illegitimen Geschlechts-
verkehrs vor allem prophylaktisch zu mindern und zu heben.
Wenn irgendwo das Wort Prophylaxe eine erfüllbare
Forderung bedeutet, so sicherlich zur Vermeidung der ganzen
oder teilweisen Geschlechtsunempfindlichkeit des
IWeibes. Ein großer Teil der weiblichen kalten
Naturen ist ein Opfer des Mannes, dessen ent-
weder unbewußte Ungeschicklichkeit oder
leider bisweilen bewußte Brutalität der zarten
Pflanze, die mit künstlerischer Eigenart und
Liebe großgezogen werden sollte, von vorn-
herein die Pracht der Entfaltung genommen hat.
Es ist in den vorangegangenen Betrachtungen und Kranken-
geschichten wiederholt auf diesbezügliche Einzelheiten hin-
gewiesen worden. Es läßt sich kein Schema für die Form
der Erziehung zur Liebe und zum Empfinden aufstellen.
Allein ein ahnungsvolles und zitterndes Weib wird die Er-
innerung an eine brutale Hochzeitsnacht ihr ganzes
Leben bewahren, und oft genug gibt diese Erinnerung den
hinreichenden Hemmungsgrund für die ganze Zukunft
ab, wenn der Gatte nur seine eigene Sinneslust rücksichtslos
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- 188 —
weiter befriedigt, ohne einer gegenseitigen Anpassung zu Liebe
seine Annäherungen mechanisch und seelisch zu modifizieren.
Es» mag zur Ehre der Männer gesagt sein, daß vielleicht
nur in selteneren Fällen eine bewußte Brutalität, viel häufiger
dagegen Ungeschicklichkeit und Unverstand der Grund dieser
Verirrung ist. Der Mann, der im seelischen Verkehr mit dem
weibliehen Geschlecht nicht besonders begabt ist, wird aus
seinen früheren Liebeserfahrungen bei der Venus vulgivaga
keine brauchbaren Kenntnisse in die Ehe mitbringen, weder
seelisch noch körperlich. Es wäre gut, wenn auch hier statt
eines unsicheren Schweigens und zaghafter Ungewißheit vor-
her die Lippen dem nahestehenden Arzte geöffnet würden,
welcher dem Neuling manche Direktive geben könnte und
auch sein seelisches Selbstbewußtsein zu heben und zu
kräftigen imstande wäre, ohne welches der Mann leicht als
ein Schwächling oder bei falscher übermäßiger Verwendung
eben als brutal in den Augen seiner jungen Gattin erscheinen
könnte.
Die Prophylaxe hat demnach auf diesem wichtigen und
bedeutungsvollen Punkte des sexuellen Lebens ihre unbedingte
praktische Berechtigung aus dem einfachen Grunde, weil die
weitaus größte Mehrheit der Menschheit eine legitime Ehe-
gemeinschaft eingeht und demgemäß ihre sexuellen Bedin-
gungen kennen sollte. Es ist ein Unterschied, ob man z. B.
mit ängstlicher Prophylaxe sein Leben vor einem Typhus
bewahren soll, oder ob man eine prophylaktische Belehrung
in sexuellen Dingen betreibt. Der Typhus ist ein dräuendes
Gespenst welches nur einen minimalen Bruchteil der Mensch-
heit befällt. Wir besitzen nicht Kraft und Zeit genug, uns
gegen jeden Feind zu wappnen, und es ist im allgemeinen ein
hinreichendes Ergebnis, wenn wir im Augenblick der unmittel-
bar drohenden Gefahr, beim Typhus, also bei einer be-
ginnenden Epidemie, die prophylaktischen Maßnahmen nach
Möglichkeit beachten.
Anders ist es in der sexuellen Frage. Das sexuelle Leben,
das nächst dem Nahrungstriebe der gewaltigste Faktor des
menschlichen Daseins ist, trägt die berechtigte Forderung
seiner Kenntnis in sich. Wenngleich eine sinnlich seelische
Liebe einen besonderen Reiz durch den mysteriösen Schleier
erhält, mit welchem sich das liebende Paar vor der übrigen
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Welt verschließt, so darf doch nicht Unkenntnis und Mangel
an Aufklärung der Grund einer solchen Zurückhaltung sein.
Es läßt sich sehr wohl für ein junges Mädchen das erforder-
liche Maß sexueller Kenntnis [;cwinn;.i, ohne die jungfräu-
liche Scham im mindesten zu beeinflussen und zu gefährden.
Sicherlich ist zum wenigsten in der jungen Ehe eine
frühe Belehrung dringend ratsam, um dauernden Störun-
gen vorzubeugen. Für den Mann ist dieser Weg noch ein-
facher, da er als Mann dem Manne gegenübertritt und nicht
erst den oft schweren Kampf zu überwinden hat, den das
weibliche Schamgefühl durch das Bekenntnis vor dem männ-
lichen Geschlecht mit Zittern fürchtet.
Eine durch ängstlich gehütete Unkenntnis
großgezogene Keuschheit und Zurückhaltung
kann zwar die treueste, aber zugleich auch
kälteste Weiblichkeit heranbilden.
Für die mechanische Behandlung der Anaesthesia
sexualis kommt vor allem die Herstellung einer schmerzfreien
Passage in Betracht. Wie wir vordem beschrieben haben,
hat oft genug eine unvollkommene, bisweilen" überhaupt keine
Defloratio stattgefunden — Rohleder*) spricht recht be-
zeichnend von „Hy menismus".
Der natürliche therapeutische Weg ergibt sich hier von
selbst. In nachgiebigeren Fällen wird die wiederholte (8 bis
10 mal) und längere ( 1 / 2 — 2 Stunden) Einführung eines Dilata-
toriums genügen. Entweder wählt man hierzu Specula von
wachsender Größe oder, was schonender und empfehlenswerter
ist, ein metallenes Sperr-Spekulum, das mit geschlossenen
Branchen eingeführt und ganz allmählich weiter geschraubt
wird. Das Sperr-Spekulum hat nicht nur den Vorzug der
feinsten Nuanciefung der Dehnung, sondern vor allem auch
den der schonenderen Einführung, weil seine geschlossenen
Branchen jede voluminösere Rundung auch des kleinsten
zylindrisch geformten Dilatatoriums durch ihre flächenartig
den Vaginalwänden angepaßte Form umgehen.
Bei voller Intaktheit des Hymen wird sich ein chirurgi-
scher Eingriff kaum vermeiden lassen. Diese künstliche De-
•) Die Dyspareunie des Weibes — Arch. f. Frauenk. u.
Eugenik 1914, Heft 2.
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... ioo —
floratio kann entweder total als volle Umschneidung des
Hymenalkranzes oder auch als partielle Einkerbung an 3 bis
4 Stellen ausgeführt werden. Durch die letztere etwas!
schonendere Manipulation wird die kleine Operation der
natürlichen Defloratio ähnlicher.
Der kleine Eingriff ist nur bei sehr aufgeregten und
widerspenstigen Patientinnen in leichter Allgemein-Narkose
auszuführen. Sonst genügt wohl stets lokale Kokain-An-
ästhesie, bei ruhigen und gefaßten Frauen ist auch diese über-
flüssig. Es ist vielleicht am ratsamsten, sich diese Ruhe und
Gefaßtheit durch einige vorbereitende Konsultationen langsam
zu erziehen und nicht beim ersten Male zu Messer und Schere
zu greifen.
In den meisten Fällen genügt die Exzision resp. Inzision
mit nachfolgender Tamponade. Nur in seltenen Fällen, be-
sonders wenn ein größeres Blutgefäß das Hymen durchsetzte,
wird eine Naht oder Umstechung nötig sein.
Bei vollzogener natürlicher Defloratio können die stehen-
gebliebenen, nicht selten narbig aufgetriebenen Carunculaej
myrtiformes, die bisweilen den alleinigen Grund für den ge-
fürchteten Zustand des Vaginismus abgeben, eine gleiche Be-
handlung verlangen. Rein chirurgisch dürfte diese Operation
noch leichter und unblutiger sein, als die komplette künstliche
Defloratio. Allein meist hat das Nervensystem der betreffenden
Frauen in diesen Fällen merklich gelitten und eine übernervöse
Ängstlichkeit behindert entweder ihre Entschließung zu dem
kleinen Eingriff oder erschwert dem Arzte die Ausführung*
Hier ist eine psychisch beruhigende Vorbehandlung, in welcher
das Vertrauen schrittweise und sicher erworben wird, be-
sondere Bedingung.
Bisweilen ist eine mechanische Inkongruenz zwischen
Vagina und Penis nicht mehr vorhanden, und trotzdem er-
folgt eine immissio entweder überhaupt nicht oder nur mit
Schwierigkeiten und Schmerzen und dementsprechend auch
im Vollzuge des Coitus ohne Geschlechtsempfindung. Auch
hier spielen noch Ungeschicklichkeit des Mannes nicht minder
wie der Frau eine Rolle. Bisweilen erschweren jedoch Lage-
anomalien im Verhältnis der gegenseitigen Bauart tatsächlich
eine spontane introduetio. Die Winkelbildung des erigierten
Penis spielt hier nicht weniger eine Rolle als die Lage der
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- 191 —
gesamten Vulva entweder sehr nahe der Symphyse oder um-
gekehrt mehr analwärts. Auch die ganze Körperkonstitution
pflegt nicht ohne Einfluß zu sein, speziell kann ein starker
Leib außerordentlich hindern, im extremsten Fall bei beider-
seitigem Vorhandensein eventuell zur Unmöglichkeit des nor-
malen connubium führen.
Ohne manuelle Unterstützung wird in solchen Fällen
kaum zu helfen sein. Wenn angängig, mag der männliche
Teil auf diesem Wege die Direktion versuchen. Sonst wird
sich die diesbezügliche weibliche Hilfe kaum umgehen lassen.
Es kann notwendig werden, diese introductio
manu uxoris direkt lehren zu müssen. In einem
der geschilderten Fälle haben wir die Patientin langsam ge-
wöhnen müssen, sich selbst lediglich unter dem Schutze des
Gefühles das Spekulum einzuführen und ihr nach Überwindung
der Schwierigkeit ein gleiches Verhalten pro speculo vi-
vente mariti zu empfehlen.
Sind jegliche Anomalien und Schwierigkeiten der immissio
und introductio überwunden, so bleiben von mechanischen
Insulten noch die tief en Beckenschmerzen *übrig,
welche bei stärkerer Kohabitation und stürmischerem Vor-
gehen des Mannes eine normale Entstehung des weiblichen
Geschlechtsempfindens nicht aufkommen lassen, resp. ein be-
reits erworbenes Gefühl von neuem vernichten können.
Meistens handelt es sich um Verwachsungen und Verlage-
rungen auf parametritischer Grundlage. Die hiergegen ge-
bräuchlichsten Mittel und Kuren (Sol- und Moorbäder, Glyzerin,
Tannin, Ichthyoltampons, Massage etc.) sind dabei auch hier
indiziert. Wird Resorption, Beweglichkeit und Schmerzlosig-
keit erreicht, so ist damit der Weg der Heilung auch für
die Anaesthesia sexualis geebnet.
Beim Mangel jeglicher anatomischer Befunde tritt das
Verhalten des Nervenapparates mehr und mehr in seine Rechte.
Bei den Fällen partieller Unempf indlichkeit,
wie sie besonders bei früherer Masturbation vorkommen, ist
oftmals die Positio von entscheidender Bedeutung. Haben!
nurbe stimmte Stellen der Vulva resp. Vagina Empfindungs-
fähigkeit, so ist die bevorzugte Reizung oft nur unter be-
stimmten Bedingungen möglich, die bisweilen in praxi aman-
tium durch Zufall entdeckt werden. Jedenfalls kann hier nur
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andeutungsweise wiederholt werden, daß Variationen der
Positio oftmals ein schlummerndes und geahntes Ge-
schlechtsempfinden wie mit einem Zauberschlage wachgerufen
haben. Außer der Inversio kommt die im vorangehenden als
phylogenetisch erklärte und wohl erlaubte Positio a posteriore
in Betracht. Es muß im Einzelfalle dem Geschmack und Takte
des Arztes überlassen bleiben, ob er einen diesbezüglichen
Rat zu geben imstande ist (Kissen etc.).
Zu achten ist auch besonders auf Tempo, Rhythmus, Takt
und Stärke der einzelnen Friktionen. Dem Manne ist auf-
zugeben, in dieser Hinsicht zu probieren und zu variieren,
um eventuell einer etwaigen weiblichen Gewöhnung früherer
Masturbation nahe zu kommen.
Einen häufigen Grund des Ausbleibens eines weiblichen
Orgasmus haben wir in der Ejaculatio praecox des
Mannes kennen gelernt. In leichteren Fällen, d. h. wenn die
Ejakulation des Mannes keine allzuplötzliche ist, pflegen Ge-
wöhnung und Anpassung einen Ausgleich herbeizuführen, vor-
ausgesetzt, daß der männliche Teil das Verständnis, den
Willen und die im Organismus bis zu einem gewissen Grade
vorhandene Fähigkeit besitzt, den Höhepunkt seiner Em-
pfindung mit Bewußtsein hinauszuschieben. Liegen ernstere
pathologische Erscheinungen sexueller Neurasthenie beim
Manne vor, die womöglich bereits eine Ejaculatio ante
portas bewirken, dann tritt einer der nicht seltenen Fälle
lein, wo die geschlechtliche Unempfindlichkeit
der Frau am — Manne behandelt werden muß.
Bis hierher ist die Behandlung der mangelhaften Ge-
schlechtsempfindung des Weibes verhältnismäßig leicht und
verständlich. Wo irgend auch nur der entfernteste Grund
einer mechanischen oder zeitlichen Differenz
entdeckt werden kann, ist mit ihrer Regulierung auch der
Weg zum normalen Empfinden gegeben. Es ist auch bis zu
diesem Punkte, um dem oft kaum angedeuteten Fehler auf
den Grund zu kommen, ein peinliches und delikates Kranken-
examen nötig. Um aber überhaupt zum Ziele zu kommen,
ist es notwendig, diese Differenzpunkte zu kennen und auch
von selbst nach ihnen zu fragen. Die Patientin kennt sie
nur in den seltensten Fällen und ihr Schamgefühl verwirrt
und umschleiert ihre Aussagen, selbst wenn ein Gefühl ihr
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den richtigen Weg der Erklärung weist. Es ist keine psycho-
logisch leichte Aufgabe, einer feingebildeten Frau über die
Mysterien ihrer geschlechtlichen Liebe die Lippen zu öffnen.
(Meistens wird eine vorbereitete Konsultation mit dem Manne
allein notwendig sein, was um so leichter ist, da tatsächlich
der weiblichen Unempfindlichkeit allein wegen zuerst der
Gatte den Arzt zu konsultieren pflegt. Schonend lassen sich
dann Besprechung und Untersuchung auch bei der Frau an-
fügen; wenn man langsam ihr Vertrauen erwirbt und nach
.und nach intimere Fragen stellen kann und auch intimere
Antworten erhält. Wie bei dem Gebrauch von Schere und
Messer bei der künstlichen Defloratio, ist noch vielmehr bei
der schneidenden und zerplittemden Analyse eines Frauen-
gemütes Überhastung zu widerraten und nur ein schrittweises
Vorgehen von dem Entgegenkommen der Patientinnen
begleitet.
Die psychologischen Aufgaben des Fragens und Be-
ihandelns werden noch verwickelter ifhd schwieriger, wenn
die geschilderten mechanischen und zeitlichen Differenzen
nicht vorhanden sind, wenn mehr die nervöse Basis zur
Erscheinung kommt. In den meisten Fällen war bisher ent-
weder schon Gefühl vorhanden gewesen oder aber es bestand
die Ahnung, der Wunsch, das Verlangen nach einem solchen.
Beim Mangel auch dieses erwartenden Präliminarzustandes
— womit wir den absolut kalten Naturen bereits ganz nahe
gekommen sind — komplizieren sich die psychologischen
Fragen und Aufgaben immer mehr. Wo ist das psychische
Trauma, wo ist die Hemmung, die Verwirrung, welche
das sexuelle Denken bewußt oder unbewußt irritiert? Es
mag eine psychische Minierarbeit notwendig sein, um üi
wochen- und monatelangen Zeiträumen hinter eine Vor-
stellungswelt zu kommen, welche der Grund der veränderten
Gefühlswelt ist. Es wird oft der Darstellung eines ganzen
Lebens bedürfen, um an der richtigen Stelle psychisch ein-
zusetzen. Mit der Erkenntnis der Richtung und des Ent-
stehens ist dann zugleich auch die Heilung gegeben.
Wahrscheinlich ist hierbei die Hypnose von unter-
stützender Kraft für Diagnose nicht minder wie für die
\Heilung. Da das weibliche Gemüt eine eigene sexuelle
Sphäre besitzt und unendlich leicht darin beeinflußbar ist,
Adler, GeschlechUempfindung. 3. Aufl. 13
- 194 -
scheint die hypnotische Kraft der Suggestion bei einer vor-
bereiteten Patientin hinreichend bedeutungsvoll und geeignet
zu sein, ihr unter Umständen die Fähigkeit des geschlecht-
lichen Empfindens zu verschaffen.
Aber auch ohne Hypnose, lediglich durch geeignete
Fragestellung, eventuell unter Zuhilfenahme der Träume,
läßt sich die psychische Therapie betreiben.
Sie ist das weitaus wichtigste Heilmittel der meisten
Formen sexueller Anästhesie. Freud hat die Methode ge-
schaffen und auf der Theorie der sexuellen Wurzel sein
psycho-analytisches Verfahren aufgebaut.
Freud und seine Schule haben ein großes Heer von
Widersachern, ja von erbitterten Feinden. Sie verneinen den
Eutzen und behaupten unter Umständen die Schädlichkeit der
Methode. Sie wehren sich gegen den überall von Freud ver-
güteten sexuellen Urgrund der nervösen Symptome und
fürchten, daß solcher in ein unschuldiges Gemüt hinein-
examiniert werden könnte.
Ohne in diese Diskussion einzutreten und Partei zu er-
greifen, muß man die Methode bei der sexuellen An-
ästhesie bedingungslos gelten lassen. Wo sich alles
um Sexualität dreht, besteht keine Gefahr, die
Unschuld zu vernichten!
Die komplizierte Methode kann hier nicht auseinander-
gesetzt werden. Sie ergibt sich aus Fall XXI und den Be-
merkungen in Kapitel X.
Die Traumdeutung Freuds ist besonders viel an-
gefeindet worden. Mit Recht und mit Unrecht! Oft nehmen
die Deutungen einen allzu phantastischen Flug. Welche
Neuerer schießen nicht über das Ziel hinaus? Aber trotz
alledem — auch Träume müssen ihre physiologischen Grund-
lagen haben und können nicht einfach als undefinierbare
Eindringlinge beiseite geschoben werden.
Dem geschlechtlichen Hochgefühl geht normalerweise ein
Erregungszustand voraus, der, wie wir gesehen haben, ana-
tomisch in einer stärkeren Durchblutung der Genitalien, ähn-
lich der Erektion beim Marine, seinen Ausdruck findet. Dieser
Zustand ist als eine speziell geschlechtlich nervöse Erregung
aufzufassen, die allein durch den Gedanken, durch die Vor-
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- 195 —
Stellung, durch die Ahnung und Hoffnung auf einen Genuß,
d. h. also eine Leistung des Gehirns aufzufassen ist In ihr
spiegelt sich vorwiegend die erotische Individualität wieder.
Die leichteste Erregbarkeit bei dem geringsten Anlaß stuft
sich bis zur kalten Marmornatur ab.
Die erregenden Reize müssen demnach verschieden sein.
Die Liebkosungen und kleinen Liebesplänkeleien, Küsse und
Umarmungen, das lebhafte oder mutwillige, zarte oder ver-
langende Spiel des seelischen Bewerbens sind die nie ver-
sagenden Waffen eines siegesgewohnten Mannes. Ihr leben-
gebender Gebrauch ist ein individuelles Geschenk des Himmels.
Ein Philister versteht und lernt ihre Führung niemals, während
der dafür Begabte durch Beobachtung und Weiterbildung eine
Meisterschaft zu erreichen befähigt ist, welche ihm den Sieg
erzwingt und selbst aus dem kältesten Frauenherzen noch den
glühenden Funken des höchsten Empfindens hervorzuzaubern
imstande ist.
Welcher Art diese erotischen Erregungsmittel der Seele
sind, läßt sich natürlich im Rahmen des vorliegenden Werkes
nicht angeben. Sie verlieren sich in den feinsten und ent-
legensten Tiefen der Psychologie und hängen innig mit dem
Charakter, dem Lebensgang, der Erziehung, der Vorstellung
des betreffenden weiblichen Wesens zusammen. Es ist die
eigene Domäne des Dichters, den Kampf und den Sieg mit
der blühenden Sprache seiner Phantasie uns glaubhaft vor
Augen zu führen (z. B.)*).
*) Das Andere — Novelle von Felicitas Leo:
„Es war nichts in ihr verletzt worden, und sie war sein geworden
— aber dennoch das Letzte hatte sie nicht kennen gelernt — das Ver-
langen war ihr fremd geblieben"
„Und doch — das; eine fehlte immer noch. Noch inuner. Und er
konnte und wollte es nicht wecken. Das — das mußte ja die Zeit
bringen."
„Es war eine Atmosphäre von Unberührtheit um sie herum — man
konnte einfach manche Themen in ihrer Gegenwart nicht besprechen."
„Sie hatte immer unbestimmt geglaubt, die Leidenschaft sei
Männersi'che." — —
„Was er nicht hatte wecken können und wollen, das hatte ein
anderer geweckt, ein gleichgültiger anderer, dem sie nichts bedeutete.
Seine große, warme Liebe war zu weich gewesen, die letzte Tür hatte
sie nicht gesprengt. Nun war sie aufgesprungen — aber nicht für
ihn.' — — — — usw.
13«
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- 1% -
Außer der angedeuteten Form der zentralen Erregung
kommt zur Erreichung des turgeszierenden Präliminar-Zu-
standes ante orgasmum die periphere Reizung in Betracht.
Es kann sich dabei im wesentlichen um eine t i t i 1 1 a t i o ,
sei es Klitoridis, der Nymphen oder Vaginae selbst, durch den
Mann handeln. Wenn van Swieten diesen Rat sogar der
Kaiserin Maria Theresia (und mit gutem Erfolge!) geben
durfte, so mag in geeigneten Fällen bei entsprechendem Takt
ein ähnlicher Ratschlag gestattet sein.
Außer der direkten tttillatio der Vaginalstellen kommt die
Reizung der Brustdrüsen in Betracht. Die erotischen Zonen
der Brustwarzen sind bisweilen so ausgesprochen, daß lediglich
durch Manipulationen an diesen — sei es manuell oder durch
Küsse und Saugen — cjer vorbereitende Erregungszustand
erreicht wird.
Es schließt sich diesem für den intimen Verkehr des
Ehepaares allein bestimmten Ratschlage diejenige Behandlungs-
weise an, welche von ärztlicher Seite für den Zustand der
Anaesthesia sexualis feminarum vorgeschlagen worden ist.
A. Voinow (Gazeta medizina 1891: Über das
Fehlen der Wollustempfindung beim Weibe) be-
nutzt den elektrischen Strom. Täglich 6—10 Minuten Fara-
disation, die größere Elektrode auf das Epigastrium, die andere
auf die äußeren Genitalien. Nach 10 Sitzungen soll ein
Coitus mit normalen Wollustempfindungen stattgefunden
haben, nach 2 Wochen war eine dauernde Heilung erzielt.
Rohleder (Berlin 1901. Vorlesungen über
Sexualtrieb und Sexualleben) wählt statt des Epi-
gastriums die Lendenwirbelsäule. Er benutzt neuerdings
(1914) einen kleinen Spamer'schen Induktionsapparat. Mit
der größeren Elektrode werden streichende Bewegungen längs
der Lendenwirbelsäule gemacht, während die kleinere Elektrode
an den äußeren Genitalien, besonders der Clitoris arbeitet.
Es ist nicht zu verkennen, daß in der Elektrizität das
geeignetste Mittel jeglicher peripherer Nervenreizung gesucht
werden muß. Der hierdurch erreichbare Effekt hat noch eine
besondere Bedeutung, welche sich an unsere physiologische
Erklärung des Orgasmus anlehnt. Es ist nicht unwahrschein-
lich, daß durch elektrische Reizung eine Kontraktion der
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Genitalmuskulatur und eine Sekretion des betreffenden:
Drüsenapparates erreicht werden kann.
Es lohnt sich vielleicht, die Biersche Stauung, welche
bei allen möglichen Störungen große Erfolge zeitigt, für die
Behandlung der sexuellen Anästhesie heranzuziehen.
Tatsächlich war die Stauung an der Portio (Cervikalkatarrh
etc.) bereits vielfach empfohlen. Theoretisch gibt jedenfalls
das Biersche Verfahren — wenn man überhaupt eine
mechanische Behandlung der sexuellen Anästhesie neben der
psychischen gelten lassen will — die besten Voraussetzungen.
Libido, Erectio und Orgasmus gehen mit reicher Blutfüllung
der Genitalorgane einher. Gerade das aber besorgt die Bier-
sehe Stauung in reichstem Maße.
Von Apparaten kommen in Betracht: außer den einfachen
Glaskaspeln, die auf die Portio (ev. auch Klitoris resp. Labia
minora) aufgesetzt werden, noch
a) das doppelwandige Scheidenspekulum (Dr. H. Fischer-
Karlsbad) (vergl. Katalog 33 des Mediz. Warenhauses A.-G.,
Nr. 16068),
b) Apparat zur „Sexualgymnastik" (?) (Zabludowsky),
ebenda 16071 und 16073).
Hiernach wäre dem Individuum die Ahnung und Vor-
stellung desjenigen Empfindungszustandes gegeben, der
ihm bisher gemangelt hat. Die Sinnlichkeit wird auf den
richtigen Weg geführt und es ist Sache der Trägerin, den-
selben auszubilden und zu verfolgen.
Nur bis zu diesem Grade dürfte jede diesbezügliche Be-
handlung ärztlich zu verantworten sein. Jede geschlechtliche
Erregung ist in reiner Form zu seltr an die Person des Er-
regers gebunden. Die Gefahr, daß eine seelische Entfremdung
vom Manne auf Kosten einer mehr als ärztlichen Intimität
eintreten könnte, muß als erste grundsätzliche Warnung be-
achtet werden, und eine Behandlung muß unterbleiben, bei
welcher die* Objektivität zwischen Arzt und Patientin leidet.
Diese allgemein gültige Regel verlangt bei dem heiklen Punkte
der Anästhesiebehandlung eine doppelte Strenge eventuell um
den Preis des Verlustes eines schon hoffnungsreich winkenden
Erfolges.
Die entweder rein mechanische oder psychische
Grundlage der sexuellen Anästhesie macht es von vornherein
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- 198 -
wahrscheinlich, daß mit Medikamenten nur unter-
stützend etwas zu erreichen ist. Einzelne haben sicherlich
eine wenn auch schwache direkte Wirkung auf die Genital-
organe, ihre suggestive Wirkung ist jedoch dabei weit höher
einzuschätzen. „Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind."
Die Liebestränke der alten Zeit verdanken solchem Glauben
ihre Wirkung.
Wer Interesse daran hat, einen Blick in dieses zu allen
Zeiten beliebte Mystikum zu werfen, findet eine hinreichende
Zusammenstellung aller erdenklichen Wahnwitzigkeiten in der
„Vergleichenden Volksmedizin" ").
Am ehesten kommt noch der Alkohol jeglicher Form
sowohl als exzitierend-belebendes Mittel oder als Hemmungs-
brecher in Betracht. Die Verführungskraft des Alkohol —
gleichviel, ob als perlender Sekt, als feuriger Südwein, als
Bier und Schnaps — ist bekannt. Sie beruht im erstem
Stadium auf Anregung — also Erhöhung der Lust, der
Libido — im zweiten dagegen auf einer Art Lähmung,
die geschickt für die vorhandenen bewußten und unbewußten
„Hemmungen" im Geschlechtsdenken und -empfinden des
Weibes ausgenutzt wird.
Ich kann bestätigen, daß ich in einem Falle von mangel-
hafter Geschlechtsempfindung, bei welcher große Libido vor-
handen war, der Orgasmus jedoch ausblieb, durch Verordnung
von Portwein ante actum die diesem Falle durch die
Eigenart der Verhältnisse zugrunde liegende psychische
Hemmung aufheben konnte und einen vollen dauernden
Erfolg erreichte. #
Man mag unter den mehr für die Männerwelt begehrten
'Mitteln (Canthariden etc.) immerhin auch für die Frauen
Unterstützung suchen! Von den neuesten diesbezüglichen
Errungenschaften auf dem Arzneimarkte macht sich das
Yohimbin bemerkbar.
Berg er führt nach einer Reihe männlicher Erfolge auch
eine einzelne weibliche Beobachtung an (Münchener Me-
dizinische Wochenschrift 1902 Nr. 2):
*) v. Hovorka und K r o n f e 1 d : Vergleichende Volksmedizin.
Bd. H. - Liebeszauber, Liebestränke — Zaubermittel etc.
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- 199 —
„Der günstige Einfluß des Yohimbins zeigte sich auch
bei einer weiblichen Patientin, bei welcher der Ge-
schlechtstrieb zwar vorhanden war, das Wollustgefühl jedoch
erst durch mehrmaligen Coitus ausgelöst werden konnte.
Hier erklärt sich der Erfolg durch vermehrte Blutzufuhr und
größere Erektilität der corpora cavernosa, wodurch ein
stärkerer peripherer Reiz auf die Zentren während der Frik-
tionen ausgeübt wird." (?)
Der Vollständigkeit halber seien „R h o m e"-Tabletten
(25 Stück 6 Mk.!) erwähnt. Sie enthalten neben Yohimbin
noch Strychnin und phosphorsauren Kalk.
Muira'c ithin ist durch die Reklamen auch weiteren
Kreisen bekannt. Es kommt aus dem brasilianischen „Potenz-
holz" (Muira Puama) (cf. Lustwerk: Fortschritte der Me-
dizin 1910 (41). 3 mal täglich 3 Pillen).
Kantorowicz (Mediz. Klinik 1910) empfiehlt 25 bis
30 Tropfen „Libidol". Der Name läßt nichts zu wünschen
übrig. %
Im Sinne der „Organtherapie" sind gegebenenfalls auch
die Präparate heranzuziehen, welche aus Eierstockssubstanz
hergestellt werden (Ovarialtabletten, Oophorin,
Ovaraden). Da sie gewisse Ausfallserscheinungen nach
operativer Entfernung der Eierstöcke heilen sollen, muß man
auch mit der Möglichkeit rechnen, daß mangelhaft entwickelte
Eierstöcke — vorausgesetzt, daß solche Ursache der mangel-
haften Geschlechtsempfindung sein können — günstig durch
sie beeinflußt werden. Besonders die Kombination von Ova-
rialtabletten, Yohimbin, Lecithin (Bab — vergl.
Henkel: Münch. Mediz. Wochenschrift 1911 (7)) kommt der
theoretischen Forderung am nächsten.
Einen eigenartigen Vorschlag, welcher der Organ - und
S e r u m therapie folgt, hat Bucura (Zur Therapie
der klimakterischen Störungen und der Dys-
pareunie)*) gemacht. Er verwendet „Opomilch" =
Brunstmilch, d. h. Milch von brünstigen Kühen. Das Er-
gebnis war bisher ein Fall von günstiger klimakterischer
Beeinflussung und zwei Fälle von „funktioneller Dyspareunie
*) Münchener Mediz. Wochenschrift, 1909 (43).
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(entstanden post partum), über welche nichts berichtet werden
konnte, weil die Fälle fortgeblieben sind."
Der Vollständigkeit halber sei wenigstens Nenadovicz
erwähn^ der als Franzensbader Badearzt auch die dortigen
Quellen und Bäder zur Behandlung der Dyspareunie
heranzeiht. Eine direkte Kritik dieser Therapie können wir
umgehen. Wir beschränken uns auf dasjenige, was Veit 1 )
ganz allgemein bei der Dyspareunie sagt :
„Einzige Therapie: Herstellung normaler sexu-
eller Verhältnisse.
Bei einzelnen Frauen mag dazu die Belehrung gehören;
oft genug ist nicht mehr nötig. Das muß in wenigen Fällen
in lokaler Behandlung bestehen. Besser in der Verordnung
irgend einer Kur, die die Frau von ihrem Manne eine Zeitlang
trennt; gleichzeitige Behandlung des Manne si
Dann Belehrung. Zum Erfolg gehört Geschicklichkeit. Die
muß man aber besitzen, wenn man überhaupt Arzt sein will;
derörad derGeschicklichkeit, derhierverlangt
wird, ist fast größer, als d e ♦ für Operationen
(NB. Veit war selbst ein glänzender Optyrateur!). Aber ohne
diese Geschicklichkeit geht es absolut nicht. Was man ver-
ordnet, ist weniger wichtig, als wie man es tut."
Das sind goldene Worte aus dem Munde eines Universi-
tätsprofessors, der gewohnt war, das Messer mit Meisterschaft
zu führen.
Wenn überhaupt Anlage vorhanden ist, dann dürfte ein
medikamentöser Erfolg bisweilen allein durch die einfache
„Mica panis" Pille zu erreichen sein, welche bekanntlich bei
der Impotentia psychica«der jungen Ehemänner die zauber-
haften Wundererfolge hervorbringt!
Aus dei Organo-Therapie muß noch das Thelygan
(chemische Fabrik Dr. Georg H e n n i n g -Berlin) angeführt
werden. Iwan Bloch 2 ) stellt es als sterilen wässrigen Aus-
zug' aus Kuhovarien dar. Das Extrakt ist frei von Eiweiß
und Lipoiden. 2,1 cem entsprechen 2 g Ovarium. Es ent-
hält in 2,1 cem 1 cg Yohimbin und kommt in Ampullen -und
Tablettenform in den Handel.
*) Behandlung der Frauenkrankheiten, 1911.
s ) Dr. Iwan Bloch — Zur Behandlung der sexuellen I nsufficienz.
Mediz Klinil, Hl 5 Nr. 8.
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Iwan B 1 o c h's eigene Erfahrungen mit T h e 1 y g a n sind
gering. Er erwähnt nur einen Fall von Frigidität mit
„zweifellos günstigem Erfolge".
Thelygan! Micapanis! Wer will entscheiden? Was
sagte Veit? „Zum Erfolg gehört Geschicklichkeit«
— Was man verordnet, ist weniger wichtig, als wie man
es tut!"
Ein uraltes Mittel — das Opium — hat Neu mann 1 )]
ans Licht gezogen. Nach ihm erregt das (sonst beruhigende)
Opium die weiblichen Nerven „in unerhörter Weise und
erfüllt die Raucherin mit nicht zu unterdrückenden sinnlichen
Gelüsten 2 ) ... Im Gegensatz zu seinem Einfluß auf das
weibliche Geschlecht beruhigt das Opium die Sinne des
Mannes und fesselt sogar seine Mannbarkeit".
Hier wäre also ein direktes Aphrodisiacum im Sinne
libidinöser Erregung bei allgemein kühler, temperament-
loser Anlage gegeben. Vorsicht ist geboten — im Hinter-
grund lauert das Gespenst der Opiumsucht!
>) Dr. R. K. Neumann — Die Narkotika und Rauschmittel im
Sexualleben, Sexual-Probleme 1912. September.
2 ) Ein interessantes Feuilleton der Voss. Zeitung vom 10. III. 1916 :
Ansclma Heine — In Elysions Hainen — beschreibt diesen Zu-
stand mit dichterischer Feinheit.
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XII. Kapitel.
Die juristische Bedeutung der mangelhaften
Geschlechtsempfindung in bezug auf Ehe-
scheidung (Anfechtung der Ehe).
Mangelhafte Geschlechtsempfindung kommt als Anfechtung der Ehe
in Betracht. Die Anfechtung ist nur eine juristische Abart der* Eheschei-
dung. Beide haben die Lösung der Ehe zum Endzweck. Die ein-
schlägigen Bestimmungen des BGB (Deutsches Reich) smd $ 1333 (An-
fechtungsgründe) und § 1339; (Fristparagraph. 6 Monate). Die 6-Monats-
frist braucht nicht vom Hochzeitstage an zu zählen, die vollendete „Ent-
deckung des Irrtums" kann später erfolgen. Die Anfechtungs„gründe" des
§ 1333 sind dehnbarer. Mangelhafte Geschlechtsempfindung des Weibes
kann Anfechtungsgrund sein 1. für die Ehefrau, 2. den Ehemann. Für
letzteren nur ausnahmsweise* wenn die Schädlichkeit (nervöse Zerrüttung)
für ihn zu erweisen ist, dagegen ev. strafmildernd beim Ehebruch im
Scheidungsprozeß.! Für die Frau selbst ist Empfindungsmangel bei voller
Impotenz des Mannes sicherer, bei relativer Impotenz nicht minder be-
gründeter Anfechtungsgrund. Ohne diese Ursachen — bei beiderseitig;
normalen mechanischen Verhältnissen — ergibt sich ein Non liquet. "Bei
beiderseitigem Trennungsbegehren der Parteien ist diesem stattzugeben,
sonst „Sünde oder Neurose" (W. Stekel). Gutachten (Eigene Beob-
achtung - Fall XXIII).
Die mangelhafte Geschlechtsempfindung des Weibes ist
im Vorangehenden von den verschiedensten Seiten betrachtet
worden. Ihre Entstehung, ihre Ursachen, ihre Folgen sind
eingehend gewürdigt. Es fragt sich noch, ob die rein ärztliche
Frage eine juristische werden kann, ob mangelhafte Oe-
se hlechtsempfindung unter Umständen einen
Scheidungsgrund abzugeben imstande ist.
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Die Frage muß bejaht werden, allerdings mit der mehr
formellen Einschränkung, daß nicht auf Ehescheidung,
sondern nur auf Anfechtung der Ehe geklagt werden kann.
Diese rein juristische Abgrenzung ändert n : chts an dem Resultat
— in beiden Fällen ist die Auflösung — Nichtigkeit — der
Ehe der erstrebte Endzweck.
In Betracht kommen für das Deutsche Reich aus dem
Bürgerlichen Gesetzbuch von 1900 die Paragra-
phen 1 3 33 und 1 3 39 des Familien rechts.
„Eine Ehe kann von dem Ehegatten angefochten werden,
der sielt bei der Eheschließung in der Person des anderen Ehe-
gatten oder über persönliche Eigenschaften des anderen Ehe-
gatten geirrt hat, die ihn bei Kenntnis der Sachlage und bei ver-
ständiger Würdigung des Wesens der Ehe von der Eingehung
der Ehe abgehalten haben würden."
Dieser Paragraph ist die einzige Stütze der ganzen Frage.
In ihn läßt sich die mangelhafte Geschlechtsempfindung als
Anfechtungsgrund fraglos in vielen Fällen unterbringen. Der
zweite Paragraph ist nebensächlicher Natur; er betrifft nur
die Verjährung.
„Die Anfechtung kann nur binnen sechs Monaten erfolgen.
Die Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, in welchem der Ehegatte den
Irrtum oder die Täuschung entdeckt."
Dieser letzte (Frist-)Paragraph (1339) kann sofort mit
wenigen Worten abgetan werden. Es handelt sich dabei um
eine „Sechs-Monats-Fris t". Es ist klar, daß diese sechs
Monate nicht vom Hochzeitstage ab zu zählen haben. Der
„I r r t u m" resp. die „T ä u s c h u n g" braucht nicht gleich
am ersten Tage „entdeckt" zu werden. Das angefügte Gut-
achten ist ein sehr instruktives Beispiel dafür, daß diese
„Sechs - Monats - Frist" unter Umständen noch nach 1 bis 2
Jahren statthaben kann. In dem Gutachten handelt es sich
um eint Ejaculatio praecox des Mannes, dessen
dauernde (chronische) Existenz erst nach längerer Beob-
achtung zu erkennen ist. Aehnlich kann es mit anderen
Anomalien der Geschlechtsfunktion gehen, die als vorüber-
gehende Störungen imponieren, und die schließlich doch noch
eine Anpassung erhoffen lassen.
Erst von dem Momente der „Entdeckung" fängt die Frist
an zr. zählen. Die „Entdeckung" setzt aber die überzeugte
Kenntnis des Fehlers voraus. Die volle „Entdeckung" be-
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ginnt demnach nicht mit dem ersten Symptom, sondern mit
dem abgeschlossenen Krankheitsbilde, das erst
durch seinen Verlauf vollkommen geklärt wird.
Hiermit wären die Grenzen des Fristparagraphen für die
•mangelhafte Geschlechtsempfindung leicht abgesteckt, d. h..
selbst mehr als halbjährige Ehen dürften — wenn nicht eine
zu große Reihe von Jahren verstrichen ist — immer noch
als innerhalb der halbjährigen Anfechtungsfrist stehend zu
gelten haben.
Weniger eindeutig ist der Hauptparagraph 1333 mit seinen
Antechtungs g r ü n d e n. Er läßt eine große Dehnbarkeit dest
„Irrtums über solche persönliche Eigenschaften des anderem
Ehegatten, die bei Kenntnis der Sachlage und bei verständiger
Würdigung des Wesens der Ehe von der Eingehung der Ehe*
abgehalten haben würden", zu. Dazu kommt die außerordent-i
lieh schwierige Materie dar mangelhaften Geschlechtsempfin-i
dung mit ihren delikaten und feinen Abstufungen.
Wenn die mangelhafte Geschlechtsempfindung des Weibes
als Anfechtungsgrund der Ehe in Betracht kommt, so ist die
Frage nach zwei Seiten zu erörtern:
1. Als Anfechtungsgrund für die Belastete — die Ehe-
frau selbst.
2. Als Anfechtungsgrund für den indirekt Betroffenen
— den Ehemann.
Punkt 2 sei wegen der einfacheren Sachlage zuerst
besprochen.
E,* dürfte sich meiner Meinung nach nicht leicht ein
Richterkollegium finden, welches auf die mangelhafte Emp-
findung der Frau hin dem Manne allein das Recht zuspräche,
die Ehe anzufeinden. Gewiß! es liegt für ein empfindsames,
sensibles und höherstehendes Geschlechtsbedürfnis des Mannes
sicherlich ein Manco, ein „Irrtum über eine persönliche Eigen-
schaft des anderen Ehegatten" vor. Der Betreffende wäre
bei vorheriger „Kenntnis der Sachlage" diese Ehe sicherlich'
nicht eingegangen. Trotzdem wird diese feine Nuancierung
der Auffassung des Geschlechtsverkehrs schwerlich in einem
richterlichen Urteil als Stütze der Anfechtung figurieren. So-
lange die rein mechanischen Verhältnisse für einen normalen
Coitus bei beiden Teilen vorhanden sind, wenn womöglich
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Kinder dieser Ehe existieren, dürften vermutlich die feinen
Seelenschwingungen einer unbefriedigten Sexualität des
Mannes als „nebensächlich" ad acta gelegt werden.
Es fragt sich jedoch: Könnte der sensible Ehemann nicht
'durch den Dauerzustand seiner unerwiderten Leidenschaft
Schaden an seiner Gesundheit leiden? Könnte er nicht zur
Abstinenz seiner Ehefrau gegenüber verurteilt sein und könnte
diese Abstinenz nicht seine Nerven zerrütten, ihn krank, siech
und arbeitsunfähig machen?
Die Unmöglichkeit der Anfechtung in dieser Form wäre
nicht ganz von der Hand zu weisen. Allein die Ansicht, daß
Isolcher Zustand eintreten könnte, dürfte einem Richter wohl
kaum genügen. Es müßten schon recht erhebliche Anfangs-
zeichen beginnender nervöser Zerrüttung vorhanden und
auf der geschilderten Basis ärztlich begutachtet sein.
Eine ganz andere Frage ist es, ob einem Ehemann unter
Bolchen Verhältnissen der Ehebruch als voller Scheidungs-
grund angerechnet werden könnte. Ich glaube, daß unter
richtiger psychologischer Darstellung dieser Verhältnisse der
Beschuldigte viel leichter milde Richter finden würde, die das
„Schuldig" über, den Ehemann nicht allein aussprächen.
/ Wesentlich anders liegen die Verhältnisse für die
Frau selbst.
Daß mangelhafte Geschlechtsempfindung des Weibes ein
Anfechtungsgrund ist, wenn sie auf einer mangelhaften Be-
gattungsfähigkeit des Ehemannes beruht, dürfte einem Zweifel
kaum unterliegen.
Am krassesten liegt der Fall, wenn der Ehemann voll-
kommen impotent ist. Dann ist eben die Impotenz der
Urgrund der Anfechtung, die mangelhafte Empfindung des
k Weibes tritt sekundär dabei etwas in den Hintergrund.
Ist die Impotenz nur eine relative, wie sie am reinsten
bei der Ejaculatio praecox des Mannes in die Erscheinung
tritt, dann tritt die mangelhafte Befriedigung der Ehefrau
viel deutlicher als Anfechtungsgrund hervor. In diesem Falle
ist die Anfechtung auf Begehr der Ehefrau gerechtfertigt,
selbst wenn Kinder aus dieser Ehe hervorgegangen sein sollten,
was im allgemeinen gegen Impotenz spricht. Allein die
Ehefrau, besonders die normale, sinnlich ver-
anlagte, hat ein Anrecht auf normale Befriedi-
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guiig ihrer Sinnlichkeit. Dazu genügt nicht der
mechanische Akt allein — sein normaler Ablauf bis zum voll-
endeten Orgasmus ist des Weibes gutes Recht. In dem an-
gefügten Gutachten sind diese Verhältnisse an einem
praktischen Beispiele eingehend auseinandergesetzt.
Wie aber steht es mit der Anfechtung, wenn die Potenz
des Ehemannes normal ist, wenn der geschlechtliche Akt an
zeitlicher Vollständigkeit nichts zu wünschen übrig läßt, wenn
eine unbestimmbare Hemmung — sei sie masturbatorisch oder
idiopathisch oder gleichviel aus welchen sozialen Gründen —
den Orgasmus der Frau nicht aufkommen läßt?
Hier wird der Richter schwerlich anders als mit einem
Non liquet urteilen können. Jedenfalls kann nicht gut das
„Schuldig" auf eine Seite fallen. Nur eins ist von einer ent-
gegenkommenden Jurisdiktion zu verlangen, daß sie bei
beiderseitigen Trennungsbegehren unbedenklich dem
doppelten Wunsche nachgibt und die Schuld dement-
sprechend gleichmäßig verteilt. Es wäre unmenschlich, eine
normale Libido mit fehlerhaftem Ablauf, der sich vielleicht
nur gerade bei dieser Ehe vollzieht, in das lebenslängliche
Joch der Abstinenz mit allen konsekutiven Erscheinungen der
gesamten Neurasthenie zu zwingen.
Wie sagt W. Stekel? — „Eine unbefriedigte
Frau hat eigentlich nur die Wahl zwischen der
Sünde und der Neurose."
Fall XXIII.
Ärztliches Gutachten im Ehescheidungsprozeß X contra X
(Mangelhafte Geschlechtsempfindung der Ehefrau infolge
Ejaculatio praecox des Mannes)
(Eigene Beobachtung.)
Der Ehemann X leidet seit Beginn der Ehe mit allergrößter
Wahrscheinlichkeit an Impotenz und zwar an der relativ-
chronischen Form mit mangelhafter Erektionsfähigkeit und vor-
zeitiger Samenentleerung (Ejaculatio praecox).
Hierfür sprechen alle Angaben der Ehefrau X. Sehr wesent-
lich unterstützt werden deren Bekundungen durch das vorhandene
Aktenmaterial, soweit es von dem Ehemann selbst herrührt (Behand-
lung durch den Dr. N. N. und Ablehnung gerade dieses Arztes, ver-
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trauliche Mitteilungen »an dritte Personen, Widerspruch in der Be-
hauptung, daß die Ehefrau stark sinnlich veranlagt sei und trotzdem
sich vor dem ehelichen Verkehr verschließe).
Die Impotenzform (Ejaculatio praecox) des Ehemannes ist zweifel-
los an sich ein voller Anfechtungsgrund im Sinne des § 1333. Die
Impotenz ist in erster Linie eine „solche persönliche Eigen-
schaft des anderen Ehegatten, die bei Kenntnis der
Sachlage und bei verständiger Würdigung des
Wesens der Ehe von der Eingehung der Ehe abge-
halten haben w ü r d e." Sie ist es an sich, sie wird es noch
mehr einer Witwe gegenüber, die in erster Ehe geschlechtlich nor-
mal verheiratet war und geboren hat.
In Betracht kommt sodann §.1339. Die „Sechs-Monats-
frist" desselben hat erst vom Tage der „entdeckten" Täu-
schung, nicht etwa vom Hochzeitstage an zu zählen. Erst wenn
diel Fehlversuche als „relativ-c hronische Impotenz", d. h. als
unheilbar erkannt sind, steht der persönliche Fehler des Ehe-
mannes fest.
Diese Erkenntnis ist bei einer absoluten Impotenz leicht;
langsam dagegen bei der relativen Form, bei der es sogar zeit-
weise zu momentanen Erektionen und sogar zu einer regulären (vor-
zeitigen) Samenergießung kommen kann. Erst die lang dauernden
Fehlversuche, die von der Ehefrau anfänglich für eine vorübergehende
„Schwäche" gehalten werden, öffnen ihr nach monate- und jahre-
langem Warten die Atigen. Gewißheit wird ihr erst durch ärztliche
Aufklärung zuteil.
Es ist deshalb zweifellos, daß, wenn die Behauptungen der
Ehefrau, die durch das vorhandene Aktenmaterial an sich schon sehr
wahrscheinlich sind, durch weitere Zeugnisse weiter erhärtet werden
können, die Ehe auf Grund der §§ 1333 und 1339 mit Recht anzu-
fechtei sind.
Begründung.
1. Die Formen der Impotenz.
Es» muß wissenschaftlich und praktisch zwischen absoluter,
relativer, vorübergehender (akuter) und dauernder
(chronischer) Form unterschieden werden.
a) Absolute Impotenz.
Eine Definition dieses Leidens erübrigt sich. Sie folgt aus
der Benennung und steht zu dem vorliegenden Falle nicht in
Frage.
b) Relative Impotenz.
Es handelt sich um Minderungen der Erektionsfähigkeit uncT
Anomalien der Samenergießung.
Entweder: besteht eine zwar vollkommene, aber nur wenige
Augenblicke anhaltende Erektion, die beim Versuch, den Begattungs-
akt zu* vollziehen, sofort nachläßt, indem schon bei dem Bei-
schlafsversuch die Samenentleerung stattfindet (Ejaculatio
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praecox). In diesen Fällen kommt es meist zu keiner regel-
rechten geschlechtlichen Vereinigung. Die Ergießung (E j a c u 1 a t i o)
vollzieht sich bereits außerhalb (vor) der Scheide (ante
portas) oder aber die Einführung (immissio) ist nur einen
kuizer. Moment gelungen, so daß die Ergießung (Ejaculatio)
gerade noch ih!r Ziel erreichen konnte. In letzterem Falle ist
zwar eine Befruchtung (Schwangerschaft) möglich, allein für die Ehe-
frau ist der ganze Akt wegen seiner Schnelligkeit ohne jegliches
Gefühl vonstatten gegangen. Sie ist nichts als das Opfer einer
gan2) momentanen Wollust des Ehemannes. Sie selbst em-
pfindet nichts und behält von dem rein tierischen Akt nur
die Erinnerung an Brutalität und Verunreinigung zurück.
Oder: Die Erektion ist überhaupt nur mangelhaft, halb, ge-
stattet keine sichere Einführung (immissio) und ist unfähig,
die geschlechtliche Befriedigung der Ehefrau zu bewirken. Die
Ergießung (Ejaculatio) kann auch hierbei sofort (praecox)
resp. überhaupt nicht stattfinden. Für die Ehefrau selbst ist der
Vorgang eine Qual, die vielleicht eine unnütze Erregung, niemals
jedoch' eine Befriedigung zur Folge hat. Bei öfteren Wieder-
holungen treten allzuleicht Abneigung, Widerwillen und Ekel gegen
den geschlechtlichen Akt als solchen wie gegen die Person des
Ausübenden ein.
c) Vorübergehende (akute) und dauernde
(chronische) Impotenz.
Beide Formen, absolute und relative Impotenz, können vor-
übergehend (akut) auftreten. Sie sind dann Teilerscheinungen
eines Ivorübergehenden, allgemeinen nervösen Zustandes
(Neurasthenie) oder Folgen vorangegangener Krankheiten, be-
sonders! schwerer Infektionskrankheiten (z. B. Malaria). Im übrigen
ist zu bemerken, daß die Potenz des Mannes von Stimmung, Laune,
Gelegenheit usw. mehr oder minder abhängt. Sie ist eben ein
unter psychischer Oberhoheit stehender Vorgang, bei welchem die
Welt der Vorstellungen und Gedanken eine Hauptrolle spielt. Auch
der sonst normal potente Mann wird bisweilen, besonders wenn
er in nicht mehr ganz jugendlichem Alter sich befindet, zeitweise
impotent sein. Es schieben sich dann sogenannte „psychische
Hemmungen" ein, die oftmals nur in einer unangenehmen
Vorstellung zu wurzeln brauchen. Es genügt ein unangenehmer
Duft, ein abstoßender Anblick, eine Unsauberkeit oder vielleicht
eine ganz unwesentliche Hauterscheinung (z. B. ein Pickel) bei
der zu Begattenden, um den ungerechtfertigten Verdacht auf eine
Krankheit in der Vorstellungswelt des Begattenden wachzurufen und
demzufolge die Potenz unmöglich zu machen. Vorübergehende
Abspannung und Überarbeitung, Kummer und Sorgen können zeit-
weise Impotenz bedingen.
Ein sehr häufiges Beispiel der vorübergehenden (akuten)
Impotenz ist die den Ärzten wohlbekannte „psychische Im-
potenz junger Ehemänner". Sie tritt nicht allzuseltcn in
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der Hochzeitsnacht auf und kann mehrere Tage, ja Wochen an-
halten. Wenn sich Ängstlichkeit und Ungeschick gelegt und die
Parteien aneinander gewöhnt haben, pflegt mit dem Selbstvertrauen
auch die Potenz zurückzukehren.
In keinem Falle bieten diese vorübergehenden.
Potenzstörungen einen Anfechtungsgrund im
Sinne des § 133 3. Erst ein dauernder (chronischer)
Zustand berechtigt zur Anwendung des An-
fechtungsparagraphen. Die Momente dafür sind frühestens
gegeben, wenn mehrere Monate ergebnislos verflossen sind.
Die Dauer dieser Karenzzeit festzulegen, dürfte schwer sein. E s
muß dem weiblichen Empfinden in dieser Be-
ziehung ein weiter Spielraum gesetzt werden.
Eine Frau, die nach vielleicht 1 —2 Monaten wegen relativer
Impotenz die Ehe anfechten wollte, könnte man als lasziv
und ungeduldig ablehnen. Andrerseits muß man be-
denken, wie viel Zeit nötig ist, um in dem Ge-
dankengang einer Frau die Impotenz des Ehe-
mannes als wirklichen Scheidungs- resp. An-
fechtungsgrund zur Reife zu bringen. Sie kämpft
dieser Kampf in sich zuerst viele Monate allein aus. Sie spricht
nicht darüber, denn sie fürchtet, sich oder ihren Ehemann zu kom-
promittieren. Ein solches Thema hat noch nie bei ihr mit anderen
zur Diskussion gestanden. Dazu kommt die Hoffnung, daß sich
noch alles ändern möge und die, wenn auch bisher fehlgeschlagenen
Versuche, nähren in ihr die Zuversicht, daß die „Ungeschicklichkeit"
sich doch mit der Zeit geben und einem normalen, ehelichen
Zusammenleben Platz machen wird.
Dieser Gedankengang ist wichtig für die Be-
urteilung des Fristparagraphen (1339), wonach die
Anfechtung nur „binnen 6 Monaten" erfolgen kann. Diese
6-Monatsfrist kann naturgemäß erst mit dem Augenblick beginnen,
in welchem „der Ehegatte den Irrtum oder die Täuschung ent-
deckt". Der Irrtum aber resp. die Täuschung wird erst klar,
wenn sich die Impotenz als eine chronische herausstellt.
Um zu diesem Resultat zu kommen, muß eine Frau den letzten
Rest von Hoffnung endgültig aufgegeben haben. Es spricht für
den Anstand und die Empfindsamkeit der Ehefrau, wenn sie nicht
gleich in den ersten Wochen und Monaten diese Hoffnung über
Bord wirft, sondern eine Geduldsprobe von 1 — 2 Jahren über sich
ergehen läßt. Erst wenn selbst ärztliche Manipulationen dem Manne
kein« Hilfe bringen und der Ausspruch des Arztes Dr. N. N :
„Wo nients ist, da kämpfen Götter selbst vergebens!" der Ehe-
frau definitiv die Augen öffnen — dann erst fängt sie an, den
letzten Rest von Hoffnung zu begraben. Volle juristische Klarheit
aber über die „relative Impotenz" als Anfechtungsgrund
wird ihr erst in dem Augenblicke, wo sie mit sachverständigen
ärztlicher. Beratern in Verbindung tritt.
Adler, Geschlcchtsempfindung. 3. Aufl. 14
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Man muß sich psychologisch in diese Oedankenwelt jeglicher
Frau vertiefen. Der gereifte Gedanke der chronischen,
. unheilbaren (Relativform) Impotenz, der in dem Kopfe einer
Ehefrau erst alle Stadien der „Ungeschicklichkeit", der „vorüber-
gehenden Schwäche", einer vorübergehenden „Nervosität", „Üben
arbeitung", „falschen Gewöhnung an langjähriges Junggesellenleben"
usw. durchlaufen hat, bedarf wahrlich einer langen Zeit der Ver-
arbeitung, für welche 1—2 Jahre sicherlich nicht zu wenig an-
gesetzt sind. Gerade die „chronische relative Impotenz",
die hier vorliegt, verlangt ein viel längeres Beobachtungsstadium.
Bei der „absoluten" Form (totaler Mangel) bildet sich leicht
und schnell die richtige Vorstellung über den „p e r s ö nl i c h e n
Irrtum des anderen Ehegatte n". Anders bei der „rela-
tive n" Inipolenz, bei der die Hoffnung sich nur langsam in
Resignation verwandelt.
2. Die ärztliche Diagnose der Impotenz.
Es. mag gleich von vornherein betont werden, daß eine ein-
wandfreie ärztliche Diagnose der Impotenz nach dem gegenwärtigen
Stande der medizinischen Wissenschaft unmöglich ist. Der Arzt
kann objektiv nicht erkennen, ob eine Erektions- und Ejakula-
tionsfähigkeit vorhanden ist, geschweige gar Unterformen einer
mangelhafteiii Potenz feststellen. Der Arzt ist ganz auf die
konfidentiellen Angaben der Eheleute angewiesen.
Es gibt zwar nervöse Symptome allgemeiner Neurasthenie,
die auch eine sexuelle wahrscheinlich machen, aber niemals
kann man aus dem Fehlen dieser Allgemeinsymp-
tomeauf eine Unversehrtheit der Potenzschlieflen.
In diesem Sinne ist das Gutachten des Dr. X. Y., das der
Ehemann beigebracht hat, aufzufassen. Es besagt, daß es be-
sondere nervöse Symptome des Ehemanns, sowie Anzeichen von
Homosexualität nicht hat feststellen können. Einen Schluß
auf die Unversehrtheit der Potenz hat der Gut-
achter weder gemacht noch machen können.
Die Potenz steht, wie eingangs schon erwähnt wurde, viel zu
sehr unter der Oberhoheit der psychischen Vorstellungswelt. Hier-
gegen treten sogar objektiv wahrnehmbar Anomalien an den Ge-
schlechtsteilen in den Hintergrund. Es ist z. B. der gewöhnliche
Fall, daß bei erwiesener und zugestandener voller Impotenz eine
objektive Anomalie an den Geschlechtsteilen nicht nachzuweisen ist.
Andererseits steht es fest, daß selbst kastrierte Männer vollkommen
potent sein können. In der Laienwelt bedeutet Verlust beider
Hoden den Verlust der Männlichkeit. Dem ist durchaus nicht so.
Ein kastrierter Mann kann volle Erektion und volle Ejakulation»
d. h. also volle, ungeminderte Beischlafsfätügkeit besitzen. Er ist
nicht impotent, sondern nur unfruchtbar (steril), d. hu
es fehlen in seiner Ergießung (Ejakulat) die allein für die Be-
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fruchtung in Betracht kommenden Samentierchen (Sperma-
tozoen). Für die zu Begattende ist der Kastrierte durchaus
„potent". Er vollzieht den normalen Beischlaf, und im alten
Rom sollen sogar diese unfruchtbaren Kastraten von den lasziven
Frauen gesucht gewesen sein. Sie fanden bei ihnen volle Be-
friedigung ohne die Gefahr der Mutterschaft.
Dieser scheinbar wenig hierher gehörige Exkurs ist nur ge-
macht worden, um die Schwierigkeit, ja Unmöglichkeit der ob-
jektiven Diagnose einer Impotenz zu erweisen.
Es ist deshalb für die juristische Beurteilung der Im-
potenz des Ehemannes unerheblich, ob er negative Atteste bei-
gebracht hat. Nur positive Bekundungen haben einen Wert
und diese können einzig und allein auf den konfidentiellen Mit-
teilungen der Eheleute selbst beruhen. Als Beweismaterial kann
nur in Betracht kommen:
a) das Zeugnis der Ärzte, denen sich die Eheleute anvertraut
haben (Dr. N. N. u. a.);
b) das Zeugnis dritter Personen;
c) das Zeugnis der Eheleute selbst.
3. Der EinfluB der Impotenz auf die Eheftau.
Es könnte die Frage aufgeworfen werden, ob nicht die Im-
potenz des Ehemanns für diejenige Ehefrau ein gleichgültiges und
hinnehmbares Leiden sei, die auf Kinder verzichtet. Dem ist durch-
aus zu widersprechen. Der Geschlechtsakt dient nicht allein der
mechanischen Fortpflanzung, er dient vielmehr in einer harmo-
nischen* Ehe zugleich einer beiderseitigen seelischen und sinnlichen
Befriedigung, jede Ehefrau hat ebenso wie der Ehemann ein
Anrecht auf den Orgasmus (Höhepunkt des sinnlichen Ge-
nusses). Allerdiners neigt man im allgemeinen der Ansicht zu v
dali eine Frau von Hause aus weniger sinnlich veranlagt sei, daß
ihre mehr passive Sinnlichkeit vom Manne erst geweckt werden
müsse. Tatsächlich gibt es eine große Anzahl empfindungs-
loser „kalter" Frauen (n a t u r a c f r i g i d a e), die der
Gutachter Adler in seiner Monographie wissenschaftlich aus-
führlich beschrieben hat. Es mag Frauen geben, die mit dieser
angeborenen oder erworbenen Kälte eine erträgliche Ehe führen.
Sic befinden sich dann in der Lage, nur deshalb einen Genuß
nicht zu entbehren, weil sie ihn eben nicht kennen gelernt haben.
Es geht ihnen wie den Blindgeborenen, die meist gar nicht so
unglücklich sind, weil sie nie das Licht gesehen haben. Diese
Frauen scheuen sogar vielfach den ehelichen Verkehr, der ihnen
nur Schmutz und Geburtsschmerzen bringt. Sie würden vielleicht
mir Freuden an einen impotenten Ehemann verheiratet sein.
Anders die sinnlich veranlagten Frauen. Man braucht
hierunter noch keine übersinnlich veranlagte Frau zu ver-
stehen, was leider so häufig fälschlich geschieht und auch in dem
14»
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vorliegenden Falle von dem Ehemann fälschlich angenommen zu
werden scheint. Die normale Frau hat auch ein nor-
males, natürliches, sinnliches Begehren, wenn-
gleich nicht so stürmisch und durch die Natur der
weiblichen Zurückhaltung, durch jahrtausend-
lange Sitte und Moral eingeengt. Die normale
Frau .hat ein Anrecht auf Befriedigung dieser
Sinnlichkeit, die in der Ehe beim Zusammensein mit der
anreizenden Macht des männlichen Körpers nach natürlicher Er-
füllung drängt. Dieses Recht hat bereits die normal empfindende
Ehefrau, die als Jungfrau in das Hochzeitsbett steigt — noch
vielmehr aber hat es die normal empfindende Witwe, die vor-
dem glücklich verheiratet war und geboren hat. Entschließt sie
sich zur zweiten Heirat, so hat sie ein mehr als doppeltes An-
recht, bei dem zweiten Ehegatten eine normale Geschlechtsfähigkeit
vorauszusetzen. Ein Ehemann, der im Bewußtsein einer
geminderten Oeschlcchtsfähigkeit eine Witwen-
ehe eingeht, macht sich einer doppelt schweren
Täuschung schuldig.
Die Gefahren und Leiden, denen eine unbefriedigte, normale
Sinnlichkeit ausgesetzt ist, sind naturgemäß bei einer früher be-
friedigten Witwe noch größer. Ohne der modernen sexuellen Be-
wegung zu folgen, die jedem weiblichen Wesen unterschiedslos
das volle Recht gestatten will, sich auszuleben und der freien
L iebe zu huldigen, steht es doch ärztlich fest, daß eine einmal
geweckte Sinnlichkeit bei fruchtlosen Versuchen
des Ehemannes einen gewaltigen Schaden für Leib
und Seele der Frau bedeutet. Darin sind jetzt alle
modernen Spezial-Psychologen einig (Breuer, Freud, Stekel,
Eulenburg, Fürbringer, Löwenfeld, Moll, \ d 1 c r).
Einige von ihnen gehen so weit, alle Ursachen weiblicher Ner-
vosität und Hysterie in einer sexuellen Wurzel zu suchen (Freud-
J u n g sehe Schule in Wien und Zürich). Der Gutachter \ d 1 e r
selbst steht auf einem, wenn auch gemäßigten ähnlichen Stand-
punkte und hat in seiner bereits zitierten Monographie schon vor
6 Jahren wortlich gesagt:
„Die Tatsache einer durchaus ausgebildeten Sinnlichkeit
dürfte wohl allgemein als hinreichender Grund betrachtet werden,
dieselbe auch zeitweise ganz zu genießen. Ein ewiger Kampf da-
gegen kann zu schweren Störungen des Geistes führen.
Die nervösen Störungen vom leichten Mattigkeits- und Unlust-
gefüh' bis zum schweren Angstanfall und Krampf — Magen-, Darm-
beschwerden, Muskelschwäche, kurz, das vielgestaltige Bild von
Neurasthenie und Hysterie, haben allzu häufig ihren vornehmlichen
Grund in sexuellen Störungen, in mangelhafter Geschlechtsempfindung.
G a 1 1 e 1 („Über die sexuellen Ursachen der Neurasthenie und
Angstneurose") beschreibt an 100 Fällen diesen Zusammenhang.
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Irgend eine sexuelle Anomalie ist überall vorhanden, besonders die
mangelhafte Befriedigung infolge von Ejaculatio
praecox oder Coitus interruptus."
In dieser Voraussetzung erscheinen die Verfehlungen, voraus-
gesetzt, daß sie wirklich begangen sind und wegen derer die Ehe-
frau schließlich in erster Instanz für schuldig erklärt worden ist,
in ganz anderem Lichte. Nicht eine große Lüsternheit und über-
große Sinnlichkeit haben zu dem abseitigen Schritte geführt, sondern
das instinktive Gefühl nach Entspannung. Sie mußte das Schreck-
gespenst der inneren Unruhe und Unlust, der drohenden Nervosität,
twelche durch die Fehlversuche des Ehegatten großgezogen wurden,
herannahen fühlen. Es ist viel leichter, ganz zu ent-
behren, als immer und wieder an der normalen,
in der ersten Ehe geweckten Sinnlichkeit durch
nutzlose Attacken des zweiten Ehemannes gereizt
und gequält zu werden. Hier erlahmt schließlich der Stärkste
und setzt sich über die Konvention fort. Gerade die Fehl-
versuche der vorliegenden relativen chronischen Im-
potenz (Ejaculatio praecox) mußten auf die Ehefrau viel
abstoßender wirken als die volle Unfähigkeit eines absolut Im-
potenten. Dieser Punkt bedurfte des psychologischen Eingehens,
obgleich er für die Anfechtungsklage als solche nicht mehr in
Bctiacht kommt. Aber es mußte von der Ehefrau das Odium der
Laszivität und einer frivolen Moral genommen werden.
4. Gibt außer den Behauptungen der Ehefrau das vorliegende
Aktenmaterial Anhaltspunkte für die sexuelle Anomalie des
Ehemannes ?
Es rst bereits auseinandergesetzt worden, daß die positiven
Beweismittel (Atteste) über die Gesundheit des Ehemannes
für die vorliegende Frage der Impotenz wertlos sind. Die
Beweisführung hat sich lediglich mit der Krankhaftigkeit
zu beschäftigen. In dieser Beziehung sind allein die konfidentieilen
Angaben maßgebend.
In 3 Punkten gibt bereits das vorliegende Material zu denken.
Wenn man die Behauptungen der Ehefrau ganz ausschaltet, so
zeigen doch 3 von dem Ehemann selbst angegebene Wege eine
bemerkenswert deutliche Richtung.
a) Der Ehemann lehnt das Zeugnis des Dr. N. N. unter der
Begründung ab, daß dieser nicht Spezialarzt sei.
Gerade Dr. N. N. soll die vertraulichen Angaben von seinem
Patienten empfangen haben. Er hat dem Hilfesuchenden Tropfen
verschrieben und der Ehefrau gegenüber den Ausspruch getan:
„Wo nichts ist, da kämpfen Götter selbst vergebens!"
Dia Ablehnung gerade dieses Arztes ist höchst verdächtig.
Wenn der Ehemann die Qualifikation des Dr. N. N. als 'ipczial-
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arzt bemängelt, so kann das nur insoweit einen Sinn haben, als
der Patient dem Arzte nicht zutraut, die Krankhaftigkeit
zu erkennen und geeignete Mittel dagegen anzuwenden. Um diese
Frage aber handelt es sich garnicht. Im Gegenteil! Der Ehe-
mann gibt ja an, gesund zu sein. Nicht zur Feststellung der
Gesundheit sucht man in der Regel einen Spezialarzt auf! Selbst
um jeden scheinbaren Verdacht von sich abzuwälzen, müßte der
Ehemann geradezu darauf dringen, den Dr. N. N. zu vernehmen!
b) Der Ehemann bezeichnet seine Ehefrau als „besonders
sinnlich veranlagt" (Schriftsatz vom 7. August 1909) und
zugleich behauptet er, „daß sie nach Laune dem Kläger die Aus-
übung der ehelichen Rechte versagt oder sie nur in ver-
drossenster Form gestattet, schließlich sich während der
letzten Monate des ehelichen Zusammenlebens mit ihrem Sohne
in ihr Schlafzimmer eingeschlossen habe" (Schriftsatz vom 28. Sep-
tember 1908).
Wie 'erklärt sich dieser Gegensatz von Sinnlichkeit und
Weigerung? Doch offenbar nur aus der Abneigung, welche die
Ehefrau gegen diesen geschlechtlichen Verkehr des Ehemannes
empfindet! Wenn sie wirklich so sinnlich ist, wie es der Ehemann
darstellt, hätte sie doch mit Freuden jede Gelegenheit ergreifen
müssen, die der Ehemann zur Befriedigung darbot. Allein diese
Befriedigung trat eben nicht ein! Es waren immer nur abstoßende
Fehlversuche. Ihre Nerven gerieten in einen Reizzustan'd und so
zog sie es vor, schließlich lieber ganz zu verzichten, als stets
aufs neue unnütze Erregung, Abspannung, Ekel und ßeschmutzung
zu erleiden.
c) Als letztes Moment kommt die von dem Ehemann angeführte
Bemerkung in Betracht, wonach die Ehefrau beim Sühnetermin
erklärt haben soll, „daß sie ein dauerndes Zusammenleben der
Parteien für ausgeschlossen halte" (Schriftsatz vom 30. August
1909). Diese Bemerkung ist psychologisch wichtig. Man muß
bedenken, daß die Ehefrau damals nicht auf Scheidung,
sondern auf Wiederherstellung des ehelichen Lebens
klagte. Und trotzdem erklärt sie — ganz gegen den Geist einer
Wiederherstellungsklage — ein Zusammenleben für ausgeschlossen.
Dieser Widerspruch begreift sich aus der unglücklichen Fassung
des betreffenden Paragraphen (1567) des Neuen BGB. Die Ehe-
frau wünschte allerdings ebenfalls die Scheidung und am ge-
eignetsten und schonendsten schien ihr als Grund die böswillige
Verlassung. Der wenig glückliche Paragraph 15ö7 setzt aber hierzu
die Klage auf Wiederherstellung voraus. Das Gesetz bringt also
den. Scheidungsbegehrenden in den seelischen Konflikt, bevor er
die Scheidung verlangt, die Rückkehr zu erbitten. Der Paragraph
1567 hat eine Art Doppelgcsicht, in dessen Zügen sich ein Laie
ungemein schwer zurechtfinden kann. Die Ehefrau ist deshalb
ihrem einfachen, gesunden und natürlichen Gefühl gefolgt, als sie
trotz der gesetzmäßig geforderten Wiederherstellung die Zerrüttung
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der Ehe bereits im Sühnetermin zugab. Sie scheute sich, den
wahren Orund zu sagen, sie scheute sich auch, die Ehescheidung
auf der sexuellen Basis aufzubauen, um die Scheidung ohne Schmutz
und Härte durchzuführen.
5 Die homosexuellen Verdachtsmomente.
Die Ehefrau scheint mit dieser Annahme einem Irrtum zu
unterliegen. Wenigstens reichen ihre Verdachtsmomente bei weitem
nicht aus, eine Homosexualität greifbar zu konstruieren. Es muß
aber betont werden, daß der Vorwurf nicht aus erfundener Bös-
willigkeit resultiert, sondern ebenfalls eine für die Ehefrau reelle
Grundlage besitzt. Sie war allmählich zur Kenntnis einer sexuellen
Anomalie ihres Ehemannes durchgedrungen. Welcher Art — stand
für sie noch nicht fest, da sie die E j a c u 1 a t i o praecox als
Impotenzform nicht zu rubrizieren vermochte. Die „Schwäche"
ihres) Ehegatten brachte sie unwillkürlich mit Homosexualität in
Verbindung, als alle Welt gelegentlich des Moltke-Harden-Prozesses
von Homosexualität sprach. Als dann noch das erste Scheidungs-
begehren ihres Ehemannes mit einem Zitat aus diesem Prozeß
(cf. den ersten Brief) begann, konnte dieser Gedanke, durch den
Ehemann selbst angeregt, bei ihr festere Wurzel fassen. Die Vor-
stellung verdichtete sich zur Wirklichkeit, als ihr die Mitteilungen
übet die Kotstriche im Bett und an der Tapete, sowie die an sich
belanglose Affäre mit dem Packer berichtet wurden. Jetzt kam
ihr auch der am Anfang der Ehe mißlungene Versuch ihres Ehe-
gatten in Erinnerung, welcher bei der sich immer mehr ver-
dichteten Vorstellung der Homosexualität plötzlich an Bedeutung
gewann.
Dies ist das psychologische Entstehen der Vermutung. Die
Ehefrau hat auch gehört, daß Homosexuellen empfohlen wurde, zu
heiraten, um ihr Leiden los zu werden. In dem Zustande der
Nervenspannung, den ein Ehescheidungsprozeß auf die Beteiligten
auszuüben pflegt, ist es begreiflich, daß auch die homosexuelle
Vorstellung als Ursache der Impotenz des Ehemannes schließlich
dauernder, Platz in dem Kopfe der unbefriedigten Ehefrau findet.
Ermangelt somit die Hypothese der Ehefrau, ihr Mann sei
homosexuell, der? wissenschaftlich erforderlichen positiven Unter-
lagen, so muß doch zugegeben und erwähnt werden, daß gerade
die Impotenz, an welcher der Mann leidet — die nämlich, bei der
etwaige Ejakulationen ohne beischlafartige Bewegungen ganz plötz-
lich und fast gefühllos vor sich gehen — gerade die Form ist,
Welche sich verhältnismäßig häufig bei Homosexuellen findet, woraus
allerdings noch keineswegs Homosexualität gefolgert werden kann,
da ebendieselbe Form der Impotenz auch bei nicht homosexuell
Gearteter vorkommt.
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XIII. Kapitel.
Frau von Warens
La Femme de glace.
(Nach J. J. Rousseau: Les Confessions.)
Eine psychologische Studie.
*
Das sexuelle Element in J. J. Rousseaus: Les Confessions und I a
Nouvelle Heloise. "Rousseaus Flucht zu Frau von Warens. Die ein-
gehende Schilderung ihres sexuellen Lebens ist eine "Ehrenrettung und.
Erklärung des Widerspruchs zwischen ihrer moralischen Aufführung und
ihrer mangelhaften Qeschlechtseinpfindung. Wesentliche Daten aus deim
Leben der Frau von Warens. Schilderung ihres Äußeren und ihres
Charakters. Rousseaus erster Eindruck. Das Unglück der ersten, kinder-
losen Ehe. Die sophistische Verführung durch Herrn von Tavel. Der
Prediger Perret. Ihr Haushälter Claude Anet. Rousseau selbst als Ge-
liebter. Sein Bericht über die Anästhesie und Stimmung der ersten
intimen, Nacht. Psychologische Erklärung des scheinbaren Widerspruches
zwischen geschlechtlicher Unempfindlichkeit und sichtbarem Drang nach
Liebt. Außer Freundschaft und Dankbarkeit ist oft nur die Eitelkeit
Veranlassung. "Rousseaus Reise.' Bei der Rückkehr findet er seine Stelle
besetzt durch einen „garceur perruquier". Die angebotene Teilung und
freiwillige Entsagung trägt ihm* trotz der fehlenden Sinnlichkeit der
Frau von Warens, dennoch deren Entfremdung ein. Wiederholte Ver-
sicherung der Uneigennützigkeit ihrer Hingabe — Epikritische Bemer-
kungen zu der geschilderten Anaesthesia sexualis der Frau von Warens.
Ist sie eine absolute Anaesthetica oder nur* relativ gegenüber Rousseau?
Ist ihre Anästhesie organisch oder rein psychisch? Das Pathologische
der Vita sexualis Rousseaus. £eine spätere Frau, Therese, ebenfalls
ohne Sinnlichkeit. Episode bei der venetianischen Julietta. Rousseaus
sinnliche; Kraft üst keine aktiv das andere Geschlecht erotisch erregende.
Er selbst lernt die wahre Sinnlichkeit erst bei einen routinierten Kennerin
der Liebe (Frau von Larnage). Die Anästhesie der Frau von Warens
ist wescntlichi psychisch, eine Folge erworbener Hemmungen, die sich
aus ihrer unglücklichen Ehe und den weiteren Erlebnissen hinreichend
erklären. Zur Sprengung dieser Hemmungen reichte Rousseaus patho-
logisches Sexualempfinden nicht aus. Möglich, daß eine andere spätere
besondere Individualität dies dennoch erreicht hat. W„. Stekels abweichende
Auffassung: Frau von Warens eine Komödiantin — „avillissement".
In der geistvollen Selbstbiographie J. J. Rousseaus:
Les Confessions — bespricht der Verfasser mit seltener
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Offenheit die intimsten Regungen seines Seelenlebens. Seine
Feder schreckt nicht vor einer besonders häufig wieder-
kehrenden und ausführlichen Darstellung sexueller Erlebnisse
zurück. Es ist jedoch nicht die Lust lasziv zu sein oder durch
Laszivität zu wirken, sondern das ehrliche Bestreben, einen
eigentümlichen und sonderbaren Werdegang des Charakters
wie den seinigen mit unvermischten Farben wiederzugeben.
In seinem Leben hat das eigenartige sexuelle Empfinden,
welches bereits im neunten Lebensjahre, wie er schildert, sich
bemerkbar machte, eine so entscheidende Rolle gespielt, daß
hierdurch nicht allein sein seltsam gehetztes Schicksal teil-
weise erklärt wird, sondern sich zugleich erst das Verständnis
für seine Schriften eröffnet. Sein berühmtes Werk: „La
Nouvelle Heloise" spiegelt in seiner diskreten Sinnlich-
keit eine Welt eigenster Empfindungen wieder.
J. J. Rousseau wurde in seinem ca. sechzehnten Lebens-
jahre von Frau von Warens aufgenommen, als er seinem
Lehrmeister entlaufen, in Not und Elend sich anschickte, aben-
teuernd die Welt zu durchziehen. Er hat mit dieser Frau
ca. zehn Jahre gemeinsam verlebt und ursprünglich im Ver-
hältnis des Sohnes zur Mutter — er nannte sie auch später
nie anders als „maman" — gestaltete sich ihr Verkehr zur
vertrautesten Gemeinschaft zweier Liebenden, obgleich sie um
zwölf Jahre älter war als er selbst.
Rousseau hat das sexuelle Leben dieser eigenartigen
Frau nach verschiedenen Punkten hin durchleuchtet; nicht,
um eine Indiskretion zu begehen, sondern um eine Art Ehren-
rettung vorzunehmen und Ehrenschuld abzutragen, die er für
diese hochherzige Frau sein Leben lang dankbar empfunden
und auch bewiesen hat. Er wollte der Welt den Glauben
nehmen, daß sie trotz ihrer mannigfachen Verfehlungen eine
sinnliche, leichtsinnige Frau gewesen sei, deren freie Hand-
lungsweise nur erotischen Anwandlungen entsprungen wäre.
Im Gegenteil! Indem er ihr Verlangen, zü leben und zu lieben,
als das ununterd rückbare Bedürfnis ihrer Natur ausdrücklich
betont und auch dem Leser das Zugeständnis einer zweifachen
vertrauten Liebe zu gleicher Zeit (mit ihm selbst und mit
Claude Anet) nicht vorenthalten kann, überrascht er den-
noch mit der paradoxen Bemerkung, daß sie eine eisig
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kalte Natur gewesen sei — „une femme de glace" ■■-
„avec un temperament froid" — „die nicht be-
greifen konnte, daß man einem Akte so viele
Bedeutung beilegte, der für sie gar keine hatte.
Sie beehrte eine Enthaltsamkeit, die ihr so
wenig kostete, nie mit dem Namen Tugend" („q u i
ne pouvait concevoir, qu'on donna tant d'im-
portance ä ce qui n'en avait point pour eile. Elle
n'honora jamais du nom de vertu une abstinence,
qui lui coütait si peu").
Um den eigenartigen Widerspruch im Handeln und Emp-
finden dieser Frau psychologisch zu verstehen, ist es not-
wendig, die einschlägigen Hauptsteilen im Originaltext wieder-
zugeben. Auch werden über ihren Lebensgang die not-
wendigsten Daten angeführt werden müssen.
„Louise Eleonore von Warens war ein geborenes
Fräulein delaTourdePil; ihre alte adelige Familie wohnte
in Vevay, einer Stadt im Kanton Waadt. Noch sehr jung
hatte sie Herrn von Warens aus dem Hause Loys, ältesten
Sohn des Herrn von Villardin von Lausanne, ge-
heiratet. Da diese Ehe, aus der keine Kinder her-
vorgingen, nicht allzu glücklich war, ergriff Frau
von Warens, von häuslichem Kummer getrieben, die sich
ihr durch die Anwesenheit des Königs Victor Amadeus
in Evian darbietende Gelegenheit und fuhr über den See,
um sich diesem Fürsten zu Füßen zu werfen und riß sich
so durch eine der meinigen (i. e. R o u s s e a u s) sehr ahnliche
Unbesonnenheit, die sie ebenfalls immerdar hat beweinen
müssen, von ihrem Gatten, ihrer Familie und ihrer Heimat los.
Der König, der gern den eifrigen Katholiken spielte, nahm sie
»unter seinen Schutz, bewilligte ihr eine Pension von 1500 pie-
montesischen Livres, was für einen im allgemeinen wenig
freigebigen Fürsten eine bedeutende Summe war, und sandte
sie, als er wahrnahm, daß man ihn um deswillen für verliebt
in sie hielt, von einer Abteilung seiner Garden geleitet, nach
Annecy, wo sie unter der Gewissensleitung des Titularbischofs
von Genf, Michael Gabriel von Bernex, im Kloster
der Heimsuchung Mariä ihren Glauben abschwor."
Die geschilderte Flucht vom Gatten und der Familie ge-
schah im ca. einundzwanzigsten Jahre ihres Lebens. Als
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J. J. Rousseau Frau von Warens kennen lernte, war
sie bereits achtundzwanzig Jahre alt. Ihre äußere Erscheinung
in dieser Zeit beschreibt er folgendermaßen:
„Ihre Schönheit gehörte zu jenen, die lange Dauer haben,
weil sie sich weniger in den Zügen als in dem Gesichtsaus-
drucke ausprägt; auch war die ihrige noch in ihrem ersten
Glänze. Sie hatte eine angenehm berührende und zärtliche
Miene, einen sehr sanften Blick, ein engelgleiches Lächein,
einen dem meinigen (!) ähnlichen Mund und aschfarbiges»
Haar von ungewöhnlicher Schönheit, auf dessen Ordnung sie
wenig Sorgfalt verwandte, was ihr etwas ungemein Reizendes
verlieh. Sie war nur klein, sogar untersetzt, und hatte eine
etwas starke, wenn auch nicht unschöne Taille; aber es war
unmöglich, einen schöneren Kopf, einen schöneren Busen,
schönere Hände und schönere Augen zu sehen."
Entzückend und rührend zugleich ist die Stelle zu lesen,
an welcher Rousseau sein erstes Zusammentreffen mit
Frau von Warens, an welche der zitternde und heimatlose
Knabe von dem Pfarrer von Vontverre empfohlen war,
schildert:
„Ich hatte mir eine alte, höchst mürrische Betschwester
vorgestellt, nach meiner Ansicht konnte die gute Dame des
Herrn von Pontverre gar nichts anderes sein. Ich sehe
ein Gesicht voller Liebreiz, schöne blaue Augen voller Sanft-
mut, eine blendende Gesichtsfarbe, die Umrisse eines be-
zaubernden Busens. Nichts entging dem raschen Blicke des
jungen Proselyten; denn augenblicklich hatte sie mich für
ihre Sache gewonnen, da ich überzeugt war, daß eine Religion
von solchen Glaubensboten gepredigt, geradeswegs in das
Paradies führen müßte."
Soviel von ihrer äußeren Erscheinung. Von ihrem Cha-
rakter entwirft Rousseau ein entzückendes Bild, das wohl
zum Teil durch die Dankbarkeit verklärt ist. Allein, da seine
ganze Lebensbeschreibung auch ohne die oft wiederholte Ver-
sicherung in jeder Zeile den Hauch der Wahrheit atmet, hätte
er sicherlich einen hervorstehend schlechten Charakterzug
dieser Frau wenigstens andeutungsweise leicht gestreift.
Er lobt vor allem „ihren liebevollen, sanften Charakter,
ihr Wohlwollen gegen Unglücklich?, ihre unerschöpfliche Güte,
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ihr offenes, aufrichtiges und immerdar heiteres Gemüt, das
sogar noch bei herannahendem Alter von Armut, Leiden und
mancherlei Unglücksfällen bedrängt, die Ruhe und Reinheit
ihrer schönen Seele und den ganzen Frohsinn ihrer schönsten
Tage bewahrte."
Ihre Kenntnisse, ihre Bildung waren jedoch planlos.
„Auf ihre Erziehung hatten zu verschiedene Elemente
eingewirkt, da sie ihre Mutter (wie Rousseau selbst) schon
bei ihrer Geburt verloren hatte und jeden Unterricht, wie er
sich gerade darbot, ohne Unterschied erhalten hatte. Sie
hatte etwas von ihrer Gouvernante, etwas von ihrem Vater,
etwas von ihren Lehrern und viel von ihren Liebhabern ge- .
lernt, besonders von einem Herrn von Tavel, welcher Ge-
schmack und Kenntnisse besaß und sie auch seiner Geliebten
beibrachte, der sie zur Zierde gereichten. Allein so viele
verschiedene Unterrichtsarten schadeten sich gegenseitig und
die Planlosigkeit, mit der sie ihre vielfachen Studien betrieb,
trug die Schuld, daß sie geistig durch dieselbe wenig gefördert
wurde, so begabt sie von Natur auch war. Deshalb ließ sie
sich auch, obgleich sie mit den Anfangsgründen der Philo-
sophie und der Physik einigermaßen vertraut war, nicht von
ihrer Vorliebe für Quacksalberei und Alchymie abbringen,
die sie mit ihrem Vater teilte. Sie bereitete Elixire, Tinkturen,
Baisame, Rezepte; sie behauptete, sich auf Geheimmittel zu
verstehen ; Schwindler, die sich ihre Schwäche zunutze machten,
bemächtigten sich ihrer, umlagerten sie, richteten sie zugrunde
und zerstörten unter Schmelztiegeln und Quacksalbereien ihren
Geist, ihre Talente und ihre Reize, durch welche sie sich zum
Lieblinge der besten Gesellschaft hätte machen können.*'
Was das Liebesleben der Frau von Warens betrifft,
so ist bereits mitgeteilt worden, daß sie jung verheiratet
wurde und, nach wenigen Jahren einer „nichtallzuglück-
lichen und kinderlosen Ehe", ihrer Familie unter dem
bereitwilligen Schutz des Königs Victor Amadeus entfloh.
Worauf der Mangel an Glück in ihrem ehelichen Leben
beruhte, ist leider nicht näher angegeben. Eine tiefere Kennt-
nis gerade dieser Zeit hätte vermutlich für das psychologische
Verständnis der späteren Seltsamkeit den Schlüssel abgegeben,
jener. Seltsamkeit, daß eine nach ihrem ganzen Leben und
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Handeln in der Liebe durchaus nicht wählerische und dem-
gemäß scheinbar sinnliche Frau dennoch eisig
kalt, d. h. also in unserem Sinne geschlechtlich
unempfindlich war.
Schon während ihrer Ehe begann ihre erste Verirrung.
Ein Herr von Tavel überrumpelte sie durch eine Philo-
sophie, welche auch für die Folgezeit sich bei ihr festsetzte
und welche geschickt ihre mangelhafte Sinnlichkeit ausnutzte.
„Er fand, daß sie ihrem Manne und ihren Pflichten er-
geben, immer kalt (f roide), nachsinnend und durch Erregung
der Sinnlichkeit nicht zu gewinnen war (inattaquable par
1 e s sens) und ging darauf aus, sie durch Sophismen zu
gewinnen, und es gelang ihm auch, ihr die Pflichten, denen
sie so treu nachkam, als reines Katechismusgeschwätz dar-
zustellen, nui zur Unterhaltung von Kindern ersonnen ; die
Vereinigung der Geschlechter als einen an sich
ganz gleichgültigen Akt; die eheliche Treue als
eine Scheinverpflichtung, deren ganzer sittlicher Sinn
nur die öffentliche Meinung im Auge hätte; die Ruhe der
Ehegatten als die einzige Richtschnur für die Pflicht der
Frauen, so daß eine Untreue, die verschwiegen bliebe, für
den, welchem sie die Treue brächen," sowie für das Gewissen
nichts zu bedeuten hätte; kurz, er redete ihr ein, daß die
Sache an sich nichts wäre, daß sie erst durch das Aufsehen
etwas würde und daß jede Frau, die keusch schiene,
es schon dadurch allein in Wahrheit wäre. Auf diese Weise
erreichte der Elende sein Ziel, indem er die Vernunft
eines Kindes irre leitete, dessen Herz er nicht hatte ver-
führen können."
Diese Grundsätze wurden in Anbetracht ihrer unglück-
lichen Ehe und mit Rücksicht auf ihre Empfindungslosigkeit
beim intimsten sexuellen Zusammensein sehr bald zur wohl-
verstandenen und ausgeführten Wahrheit. Zum eifersüchtigen
Schrecken ihres Verführers selbst, der nicht bedacht hatte,
daß die fortgesetzte Handlung nach solchen Prinzipien ihn
selbst zum Betrogenen machen mußte!
Er hatte in einem Prediger Perret bald einen Neben-
buhler und Nachfolger.
Zur Zeit als Rousseau bei Frau von Warens in
Chamberry lebte — also nach ihrer Flucht vom Gatten
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und fern von Herrn von Ta vel und dem Prediger P e r r e t
— hatte sie intime Beziehungen zu ihrem Haushälter Claude
A n e t.
Claude An et war ihr sowohl an Bildung und Geburt
weit unterlegen und eigentlich bekleidete er in ihrem Hause
nur eint etwas höhere dienende Stellung. Allein es war ein
Mann von festem, unbestechlichem und ehrlichem Charakter,
der das kleine Hauswesen seiner Herrin mit deren be-
schränkten Geldmitteln in Ordnung hielt und bei seinen Leb-
zeiten den wirtschaftlichen Rückgang, der später durch ihre
allzu freigebige und wohlwollende Hand ihr Haus zu Grunde
richtete, durch weise Berechnung und enerjgische Zurück-
haltung vermied. Zudem hatte er ein gleichmäßiges Streben,
seine Kenntnisse allgemein zu erweitern, und speziell teilte
er die Neigungen seiner Herrin für botanische Studien derart,
daß man ihn zum Leiter einer neu zu gründenden pharma-
zeutisch-botanischen Schule in Aussicht genommen hatte, wenn
nicht sein plötzlicher und früher Tod alle diesbezüglichen
Entwürfe zerstört hätte.
Das intime Verhältnis zwischen Frau von Warens
und diesem Claude Anet wurde Rousseau trotz bereits
mehrjährigem Aufenthalt im Hause erst gelegentlich einer
schweren Erkrankung Claude Anet's bekannt. Damals ent-
rang sich ihren Lippen diese Beichte, durch welche sie ge-
wissermaßen ein Gebet für die Genesung ihres treuen Dieners
aussprach.
Man lebte danach in glücklichem Beieinander und
J. J. Rousseau war nach wie vor seit mehreren Jahren
derjenige, welcher in harmloser Zufriedenheit seine Schutz-
herrin auch fortan als „Mama" anredete und behandelte.
Rousseau entwickelt nun in einer ganz eigenartigen
und seltenen Psychologie, wie er selbst zu Frau von
Warens in intime Beziehungen trat.
Sie selbst war seine Verführerin. Weder hatte er vordem
mit einem eigenen Gedanken überhaupt an die Möglichkeit
ihres Besitzes gedacht, noch auch den Mut dazu besessen,
Sie selbst aber nahm ihn beiseite, und in einer sehr seltsamen,
fast kühl geschäftsmäßigen Weise bereitete sie ihn auf den
Genuß vor, der nach achttägiger Karenzzeit seiner in ihren
Armen warten sollte.
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Jeder unbefangene Beurteiler wird über diese scheinbar
aufdringliche und unweibliche Art der Annäherung von vorn-
herein den Stab brechen. Er wird sie als 'den Ausdruck ge-
meinster Laszivität auffassen, deren Quelle grobe Sinnlich-
keit ist und das Verlangen der älteren Frau nach einem
jugendfrischen Liebhaber zum Inhalt hat.
Wie kontrastiert hiermit der stets betonte Mangel an Sinn-
lichkeit, den Rousseau an ihr beschreibt und dessen er
in jener ersten Nacht der Intimität besonders gedenkt!
„Sie war weder traurig noch leidenschaft-
lich, sie war zärtlich und ruhig. Da sie wenig
sinnlich war und nicht die Befriedigung der
Wollust bezweckt hatte, genoß sie nicht ihre
Wonne und brauchte nie Reue über sie zu emp-
finden." („Pour eile, eile n'etait ni triste ni vive; eile etait
caressante et tranquille. Comme eile etait peu sensuelle et
n'avait point recherche la volupte, eile n'en eut pas les delices
et n'en a jamais eu les remords.")
Rousseau entwickelt den Widerspruch ihrer mangel-
haften Sinnlichkeit und ihrer durchaus entgegengesetzten Auf-
führung in interessantester Weise.
Frau von Warens war eine Frau, die von der Freund-
schaft lebte und deren Leben in Wohltun und Menschenliebe
aufging. Diejenigen Personen, welche durch Schicksalsfügung
ihrem Hausstande verbunden waren, wie Claude Anet und
J. J. Rousseau, den sie als mittellosen Knaben auf-
genommen hatte und der nun zum Manne erwachsen war,
suchte sie sich mit allen Mitteln zu erhalten. Sie hatte be-
obachtet, daß die Befriedigung des sinnlichen Momentes beim
Manne vielfach den Schlüssel zur dauernden Anhänglichkeit
an ein Weib bedeute. Aus diesem Grunde hatte sie Claude
Anet, der wirtschaftlich für sie unentbehrlich geworden war
und dem zugleich sie die höchste Achtung zollte, an sichl
gekettet, aus dem gleichen Grunde verführte sie jetzt ihren
Jean Jacques, um ihn anderen Gefahren zu entreißen und
einer drohenden Entfremdung vorzubeugen. Diese Entfrem-
dung gewahrte sie mit kundigem Frauenblicke in dem Be-
nehmen der Mutter einer vornehmen adligen Schülerin Jean
Jacques, die bereits bedenklich ihre Netze nach dem geist-
vollen jungen Hauslehrer ausgeworfen hatte.
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Frau von Warens' Handlungsweise, wenn auch nicht
zu rechtfertigen, ist unter solchen Gesichtspunkten immerhin
psychologisch verständlich. Vor allem ist die Tatsache he-
greiflich, daß eine sicherlich leichtlebige Frau, welche die er-
laubten Grenzen weiblicher Moral weit und unentschuldbar
überschreitet, welche ihren Gatten verlassen hat und danach
in verhältnismäßig noch jungen Jahren vier weitere Lieb-
haber in intimstem Verkehr an sich fesselt — die beiden
letzten sogar als Rivalen! — nicht aus Sinnlichkeit
gehandelt zu haben braucht, im Gegenteil, so
paradox es klingen mag, im Liebesverkehr „kalt
und empfindungslos" war, „ihre Wonne nicht
genoß", in unserer Sprache zu den naturae fri-
gid ae, zu den Vertreterinnen der Anaesthesia
sexualis gehörte.
An früherer Stelle x ) dieses Werkes ist bereits bemerkt
worden, daß die Koketterie des Weibes mit seiner
Sinnlichkeit, seinem geschlechtlichen Verlan-
gen nichts zu tun hat, so oft auch der gegen-
teilige Fehlschluß im Leben immer und wieder
gemacht wird. Es gibt unendlich viele Frauen, die mit
großen, leuchtenden, scheinbar verlangenden
Augen-) in der Männerwelt umherspähen und jede Gelegen-
heit suchen, Eindruck zu machen, Anbeter zu werben und sie
zu ihren Füßen zu zwingen. Ist solch ein weiblicher Charakter
nicht absolut fest und die Moral schwach, so wagt er auch
den letzten, schwersten Schritt. Das letzte Zugeständ-
nis der äußersten Intimität und sexuellen Hin-
gabe ist jedoch nicht der sehnsuchtsvolle Höhe-
punkt eines mühsam verhaltenen und bisher
niedergekämpften sinnlichen Verlangens, son-
dern eines aus Schwäche und vor allem aus Eitel-
keit gewährten Geschenkes. Die Eitelkeit vor
allem ist der häufigste psychologische Beweggrund solchen
Falles. In der Natur des Weibes liegt das Begehrtwerden,
und sieht es sich vor anderen bevorzugt und gefeiert, so
geht diese Eitelkeit in Schwäche über, welche ihrerseits sich
wieder aus Dankbarkeit einerseits und der Furcht, einen so
1 ) Vergt. pag. 136.
2 ) Margarethe Kossack's „Hungrige Augen" — vergl. ebenda.
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glühenden Verehrer zu verlieren, andererseits zusammensetzt.
Die Triumphe der Männer über die Frauenwelt
entspringen meist dem sinnlichen Moment. Der Fall
einer Frau ist nur selten die Folge erotischer Leidenschaft,
viel häufiger eine Konsequenz ihrer Eitelkeit.
Rousseau erzählt weiter, wie er nach etwa lOjährigem
Zusammenleben mit Frau von Warens nach Mont-
pellier reiste, um gegen ein Heer nervöser Beschwerden,
deren Grund er eingebildeterweise in einem Herzpolypen;
suchte, Heilung anzustreben. Diese Heilung fand er sehr
schnell, noch bevor er am Orte selbst ankam, unterwegs in
den Armen einer wirklich sinnlichen Frau. Interessant ist
bei dieser Gelegenheit die erneute Beobachtung, daß eine
falsche Sexualität, wie Rousseau sie sicher bisher bei
Frau von Warens genossen, Nervosität befördern
und ein nur kurzer Taumel wahren Sinnengenusses
Heilung herbeiführen kann.
Um dem schon hinreichend männerreichen Lebensbilde
der Frau von Warens aus dieser Epoche die letzte,
Staffage zu geben, sei bemerkt, daß Rousseau nach einigen
Monaten bei seiner Rückkehr in das Haus der Mutter und
Geliebten zugleich „seine Stelle besetzt fand" („je trouvai
ma place prise").
Der Nachfolger war ein einfacher Friseurgehilfe (un
gar?on perruquier). Frau von Warens empfing
ihren enttäuscht heimkehrenden Jean Jacques, dem sie
bald die Intimität des neuen Verkehrs freimütig offenbarte,
mit dem sonderbaren Tröste, „daß all seine Rechte noch die-
selben wären und daß er, wenn er sie auch mit einem anderen
teilte, ihrer deshalb nicht verlustig ginge."
Auch in diesem Falle, der in die eigensten Interessen
Rousseaus hineinspielte, seine Eitelkeit und sein männ-
liches Ehrgefühl auf das empfindlichste verletzen mußte,
weist er eine v.i eileicht inzwischen erwachte
Sinnlichkeit der abwechslungliebenden Frau durchaus
von der Hand.
„Sie fand von ihrem Standpunkte aus die Sache ganz
einfach, warf mir meine Nachlässigkeit im Hause vor und
berief sich auf meine häufige Abwesenheit, als hätte siq
eine so sinnliche Natur gehabt, daß sie einert
Adler, Oeschlechtsempfindung. 3. Aufl. 16
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- 226
schnellen Ersatz für das Versäumte verlangt
hätte." („Comme si eile eüt ete (Tun temperament
fort presse d'en remplir les vides.")
Rousseau erklärt auch hier ihre erneute Entwürdigung
an diesen weit unter ihr stehenden „garcon perruquier"
lediglich durch dessen Rührigkeit, mit welcher er in ihr Haus-
wesen eingriff.
„Dieser junge Mann kam ihr wie ein Schatz für ihre
Angelegenheiten vor. In dem Wunsche, ihn an sich
zu fesseln, wandte sie alle Mittel an, welche sie
für geeignet hielt, und vergaß das nicht, auf
welches sie sich am meisten verließ."
Psychologisch höchst interessant ist das Resultat dieser
(Nebenbuhlerschaft sowohl bei Rousseau selbst wie bei
Frau von Warens.
Rousseau hat in männlichem Stolze auf die angebotene
„Teilung" verzichtet:
„Mama, ich liebe Dich zu sehr, um Dich herabzuwürdigen;
Dein Besitz ist mir zu teuer, um ihn zu teilen . . . ich werde
Dich immer anbeten . . . Deine Verehrung ist mir ein noch
größeres Bedürfnis als Dein Besitz ... der Vereinigung
unserer Herzen opfere ich meine Sinnenlust. Ich würde
tausendmal lieber sterben, als mich einem Genüsse hingeben,
der das erniedrigt, was ich liebe!"
Er lebte fortan in absoluter Enthaltsamkeit ihr gegen-
über. Allein der Erfolg war eine zunehmende Entfremdung
und Erkaltung „Mamas" gegen ihren einstigen Sohn und
Geliebten.
„Die Entsagung, die ich mir auferlegt, und die sie dem
Anscheine nach gebilligt hatte, gehört zu jenen Dingen,
welche die Frauen nie verziehen, welche Miene sie auch dazu
machen, weniger wegen der Entbehrung, die sie
dadurch persönlich leiden, als wegen der Gleichgültigkeit gegen
ihren Besitz, den sie darin erblicken. Mehmet die ver-
ständigste, gebildetste, am wenigstensinnlic he
Frau: das unverzeihlichste Verbrechen, welches
der Mann, um den sie sich sonst am ,wenigsten
kümmert, gegen sie begehen kann, ist, ihren
Besitz erlangen zu können und keinen Gebrauch
davon zu machen." (Prenez la femme la plus sensee,
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la plus phüosophe, la moins attach£e ä ses sens; le
crime le plus irremissible que l'homme dont au reste eile se.
soucie lc moins puisse commettre envers eile, est d'en pouvoir
jouir et de n'en rien faire.)
Das psychologische Fazit aus den mitgeteilten Sonderbar-
keiten ist das Zusammentreffen mangelhafter weiblicher Ger
schlechtsempfindung und damit kaum vereinbarer, nach all-
gemeinem Urteil fast dirnenhaft zu nennender Aufführung..
Allein die gewöhnlichen Beweggründe fallen hier aus. Die
Laszivität, das gewöhnliche Verlangen nach dem Manne
kommen nach Rousseaus immer wiederkehrenden Ver-
sicherung nicht in Betracht. Das zweite gewöhnliche Moment,
die Hingabe der weiblichen Ehre um schnöden Gewinn und
Verdienst ist ebenfalls ausgeschlossen:
„Bemerkenswert ist, daß sie nach ihrer ersten Schwäche
fast nur noch Unglücklichen ihre Gunst zugewandt hat
(eile n'a guere favorise" que des malheureux). Männer in
glänzenden Verhältnissen haben sich sämtlich
vergebens um sie bemüht (les gents brillants ont tous
perdu leur peine aupres d'elle); aber ein Mann, den sie erst
zu bedauern (plaindre) begann, mußte sehr wenig liebens-
würdig sein, wenn sie nicht damit enden sollte, ihn zu lieben."
Und an einer anderen Stelle heißt es:
„Kurz, um auf das zurückzukommen, was am wenigsten
verzeihlich ist, sie machte, ohne selbst den wahren Wert ihrer
Gunst zu schätzen, nie einen gemeinen Handel daraus; sie
verschwendete sie, aber sie verkaufte sie nicht,
obgleich sie unaufhörlich in Nahrungssorgen
war (eile les prodiguait, mais eile ne les vendait pas, quoi-
qu'ellc fut sans cesse aux expediens pour vivre), und ich
wage zu behaupten, wenn Sokrates Aspasia achten
konnte, hätte er vor Frau von Warens Hochachtung
gehabt/*
Der Seltsamkeit 'des ganzen Zustandes ist sich Rousseau
selbst sehr wohl bewußt.
„Ich weiß im voraus, daß, wenn ich ihr ein empfäng-
liches Gemüt (un caractere sensible) und ein kaltes
Temperament (un temperament froid) gebe, wie gewöhn-
lich und mit ebensoviel Grund des Widerspruchs werde
geziehen werden. Möglicherweise hatte die
15*
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Natur Unrecht, und diese Verbindung hätte
nicht sein sollen, ich weiß nur, daß sie statt-
gefunden hat... Meine Aufgabe ist, die Wahrheit
zu sagen, aber nicht, sie glaubbar zu mache n."
Die ärztlichen Erfahrungen und Beobachtungen über die
Jmangelhafte Geschlechtsempfindung des Weibes erblicken
nichts von Widerspruch in der geschilderten Kombination.,
tWie die Koketterie ohne Sinnlichkeit bestehen kann
Und fälschlicherweise oft als Laszivität ausgelegt wird, ebenso
kann einmal Liebe von einem Weibe scheinbar verschwendet
werden, ohne daß es gewinnsüchtige oder lusttrunkene, sinn-
liche Dirnenqualitäten in sich trüge. Hat sich, wie bei Frau
von Warens, eine falsche Moral über weibliche Ehre durch
philosophische Trugschlüsse eines Verführers (Herr von
Tavel) eingenistet, so erklärt sich zwanglos die eigenartige
Kombination von Liebesverschwendung und sinnlichem Ge-
fühlsmangel. —
Die weitere und für uns wichtigere, weil unserem Thema
zunächst stehende Frage drängt nach der Beantwortung
folgender Punkte:
1. War Frau von Warens tatsächlich eine ab-
solute Repräsentantin sexueller Anästhesie, eine
kalte, geschlechtlich unempfindliche Frau, eine na-
tura frigida, une femme de glace avec le tempera-
ment froid?
oder:
war sie es nur der Individualität Jean Jacques
Rousseaus gegenüber und erwachte ihr Feuer
in den Armen der anderen?
2. Welcher Art war ihre sexuelle Anästhesie? Hatte
dieselbe organische Ursachen oder eine rein psychi-
sche Basis?
Die Entscheidung über den ersten Punkt dürfte jetzt nach
beinahe 200 Jahren, wo keine anderen Quellen als die sub-
jektiven Mitteilungen Rousseaus zu Gebote stehen,
schwierig sein. An der Tatsache der Empfindungslosigkeit
Rousseau gegenüber ist wohl ernstlich nicht zu zweifeln.
Es mag auch zugegeben werden, daß dieser Zustand bei
seinen Vorgängern bestanden hat. Ob aber nach ihm keine
Änderung eingetreten sei, erscheint mir zweifelhaft. Da Ab-
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neigung und Widerwillen (abgesehen vielleicht von ihren
ersten ehelichen Anfängen) niemals bei ihr vorgelegen hat,
bin ich überzeugt, daß sich in dem reichen Repertoir, das
sich vermutlich später noch komplettierte, sicher einmal die
richtige Individualität gefunden hat, welche die durch Anlage
minimale und falsche Behandlung noch mehr herabgedrückte
Sinnlichkeit dieser Frau dennoch zum Flammen bringen mußte.
Jedenfalls war Jean, Jacques Rousseau nicht die
geeignete Persönlichkeit. Die ganze Vita sexualis dieses
JMannes war eine eigenartige, pathologische. Seine frühen
.Geschlechtsempfindungen schon als unreifer Knabe, seine
durch das ganze Leben vermutlich fortgesetzte Masturbation,
(die er auch in der Ehe nicht definitiv aufgab, haben im
Verein mit anderen Symptomen (exhibitionistische und maso-
chistische Anlage) sogar dazu geführt, Rousseau nach-
träglich als geisteskrank, als paranoisch zu er-
klären (vergl. Moebius: „Die Krankengeschichte
J. J. Rousseaus").
Auffallend sind jedenfalls seine anderweitigen sexuellen
Erfahrungen und Berichte.
Von Therese, seiner Frau, erzählt er, daß „ihre nicht
sehr rege Sinnlichkeit (ses tranquilles sens) schwer-
lich Verlangen nach anderen gehabt hätte, selbst als er bereits
aufgehört, in dieser Beziehung für sie ein Mann zu sein' 4 .
Also auch seine eigene Frau zählte zu den mangelhaft Emp-
findenden.
Ziemlich bekannt ist die reizende Liebesepisode bei der
yenetianischen Julietta. Im Kabinett der verführerischen
Kurtisane fühlte er „anstatt der Flammen, die ihn verzehrten,
plötzlich eine tödliche Kälte durch seine Adern fließen, seine
Beine begannen zu zittern und krankhaft erregt, setzte er sich
nieder und weinte wie ein Kind".
Das Ende des erwartungsreichen Abenteuers war die
tHches'we räc k* ,iC * >e "' mzwiscnen berühmt gewordene Be-
! . ettas :
sehahlk
„Zanetto! Lascia le donne, et studia la
> it (Hänschen, laß die Frauen und studiere
, ■*»«• .nur cf e $j
Mathe niaflcK.)
Aus allem geht hervor, daß Rousseau eine sinn-
liche Verführungsgabe nicht besaß. Er mochte von
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de» Frauen seines Geistes wegen verehrt werden, aber mehr
wegen seiner aparten und oft paradoxen Kauserie als wegen
des begeisternden Feuers, das die Sinnlichkeit weckt und die
Sinne erobert. Im Moment der Attacke versagten seine Kräfte
und sein Naturell verwandelte sich. Aus dem geistvollen;
Sprecher und Philosophen wurde ein schüchterner Knabe,
der entweder die Liebe philosophisch beweisen wollte odetf
dessen Leidenschaft in Tränen ausartete. Er beschreibt selbst
seine Traurigkeit und den Strom seiner Tränen in der ersten,
Liebesnacht mit Frau von Warens. Seine Tränen bei
der Julietta haben wir bereits erwähnt.
Derartig veranlagte Naturen werden schwerlich imstande
sein, jemals ein bis dahin geschlechtlich noch nicht
gewecktes Weib zum Bewußtsein der höchsten Sinnes-
empfindung zu bringen. Das gelingt nur bei solchen, die den
Genuß in früheren Armen bereits kennengelernt haben, und
zu dieser gehörte jene schon eTwähnte Bekanntschaft auf
Rousseaus Reise nach Montpellier. Im Vollbesitz der
Sinnlichkeit riß sie den wenig erfahrenen und für sie — die
ältere und erfahrene — deshalb um so begehrenswerteren
Jüngling mit sich, so daß er noch später gestehen mußte:
„Ich verdanke es Frau von Larnage, wenn ich
nicht sterbe, ohne die Sinnenlust kennengelernt
zu haben."
Was nun die sexuelle Anästhesie der Frau von Warens
betrifft, so ist es von vornherein verständlich, daß diese
sinnlich wenig veranlagte Frau in ihrer ersten Ehe zu keiner
Empfindung gelangte. Diese Ehe war unglücklich. Wo die
Sympathie fehlt, wo eine Abneigung irgend welcher Form
besteht kann ein bis dahin nicht geahntes Geschlechts-
empfinden natürlich nur schwer geweckt werden. Der bis
dahin bestandene Indifferentismus wurde durch diese Ehe noch
weiter nach der negativen Seite hin ausgebildet. a j s Qlt
Der nächste Verführer fand ebenfalls nicht ote stehga.«.
Weg, die in der Ehe vermehrten und aufgespeicherten
Hemmungen zu beseitigen. In seiner p h i 1 o s, zu zweifeln.
Verführungskunst schaltete er die Sinnlichkeit* <»nz aus
und beförderte somit nur noch die Vorstellungswelt der tat-
sächlichen Empfindungslosigkeit.
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Claude Anet war für Frau von Warens der er-
gebene Diener, dem sie aus Dankbarkeit die höchste Gunst
gewährte, und Jean Jacques Rousseau war und blieb
allezeit für sie der heimatlose „Knabe", dem sie stets nur
'Mutterqualitäten oder allenfalls die Gefühle einer älteren
Schwester entgegenbringen konnte. Als sie den „Mann"
Rousseau weiter an sich fesseln wollte, mußten naturgemäß
diese allein schon der Sinnlichkeit eines Weibes wider-
strebenden Gefühle die Oberhand behalten, selbst wenn
Rousseau als Liebeswecker begeisterndere Eigenschaften
zur Verfügung gehabt hätte.
Bis hierher erklärt sich der eigenartige Gefühlsmangel
ziemlich zwanglos. Es war eine rein psychische Anaesthesia
sexualis, die durch eine schwache Anlage begünstigt, in ihr£n
ersten Anfängen antipathisch beeinflußt und später durch philo-
sophische Trugschlüsse noch weiter gehemmt wurde.
Wenn nach solchen Irreleitungen des Gefühls noch ein
Erfolg eintreten soll, dann muß es eine eigene bezaubernde
Und begeisternde Individualität besonderster Qualität sein, die
einmal imstande ist, die erlebten Hemmungen abzustellen
und zweitens das eigene Feuer der Begeisterung zu geben,
welches noch am fremden Herde zündet.
Es ist nicht ausgeschlossen, daß Frau von Warens
noch in ihren weiteren Erfahrungen den wahren Zweck der
sinnlichen Liebe kennengelernt hat. Die sonst so offenen
Confessions des Verfassers versagen hier leider mit dem
Augenblick der Trennung.
Diese psychologische Studie über die Frigidität einer durch
die Literatur berühmt gewordenen Frau hat den Widerspruch
des bekannten Wiener Psycho-Analytikers W. S t e k e 1 *) her-
ausgefordert. Er hält Frau von Warens für eine
Komödiantin :
„Dr. Otto Adler, dem wir ein gründliches wissen-
schaftliches Werk über die Dyspareunie verdanken, nimmt
ihre Geständnisse ernst. ... Es wird mir nicht schwer werden
zu beweisen, daß Frau von Warens die unempfindliche
Frau nur gespielt hat."
. •) W. Stekel - Die kalte Frau - Neue Freie Presse, Wien.
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- 232 —
W. St ekel erkennt eine Zahl von 50°/o frigider Naturen
an — ist sogar bereit, 99°/o anzunehmen — wenn nicht die
„Verlogenheit einer Zeit, welche es zustande, gebracht hat,
das Natürliche als Sünde und das Selbstverständliche als Ent-
würdigung zu werten" verlangte, einen energischen Abstrich
hiervon zu machen.
Nach W. Stekel ist Frau von Warens „eine stolze
Frau, welche im Kampfe der Geschlechter immer die führende
Rolle haben will. Sie will herrschen, sie will beglücken"«
Sie stieg in ihrer Wahl stets herab, sie verschenkte sich, aber
sie verkaufte sich nicht. „Deshalb durfte sie auch nicht die
Empfindung und den Genuß eingestehen. Sie wollte sich
nichts geben lassen. Sie wollte nur die Schenkende sein. Einen
wirklich Weben heißt sich einem hingeben, heißt sich ihm
unterwerfen."
Und der Fußfall vor dem König von Savoyen? Ist hier
nicht ein Widerspruch? Nach W. Stekel war er nur „das,
geschickte Spiel einer gefährlichen Kokette, die nach dem
höchsten Preise schielte und sich den goldenen Karpfen aus
dem Liebesteich angeln wollte." —
Der Wiener Autor führt seine Studie in mannigfacher,
geistreicher Analyse weiter aus. Rousseau und Adler —
beide sind die Betrogenen. Ich kann mich trotzdem nicht ohne
weiteres zu ihm bekehren, allein Zweifel sind mir doch auf-
gestiegen, als ich andere Dokumente*) als diejenigen des wenig
frauenkundigen Rousseau zur Einsicht bekam. Frau
von Warens erscheint in ihren eigenen Briefen und denen
ihres verlassenen Gatten durchaus nicht in Rousseauscher
Unschuld. Zerrissen, haltlos, unbeständig schwankt diese
Frauenseele hin und her, und aus der leidenschaftslosen Gut-
herzigkeit, wie Rousseau sie beschreibt und empfindet,
wuchern unverkennbar abstoßende Züge von Erwerbssucht
und hysterischer Abenteuerlust hervor. Als Rousseau die
54jährige nach 13jähriger Pause wiedersah, war er erschüttert
von ihrem „avillissement". — „Que lui restait-il
de sa vertu premiere?" —
•) 1. Francois Mugnier
— Paris 1891.
2. Monte t et Ritter
— Madame de Warens et J. J. Rousseau
— Madame de Warens et son mari.
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