Skip to main content

Full text of "Württembergisches Archiv für Recht und Rechtsverwaltung, mit Einschluss der AdministrativJustiz als neue Folge der Monatschrift für die Justizpflege"

See other formats


WÜURTTEMBERGISC 
HES ARCHIV FÜR 
RECHT UND 


RECHTSVERWALTU 
NG, MIT... 





— 
Ner- > 


De 


LIBRARY. 


T 


AW 


[— 
— 
— 
ns 
«, 
>> 
-4 
— 
—— 


—8B 
.n 





\ 


III TINTEN I ANZ JADE NI ZINN 
nz, ı =. Ay, NEN EL, Sy I SEN 4, IPA 7 Pag n NS 7, N ——— 


ni 





— — 


Württembergijches Archiv 


für 


Recht und Rechtsperwaltung 
mit Einſchluß der Adminiſtrativ-Juſtiz. 


Herausgegeben 
von 


Dr. F. Ph. F. v. Kübel 
in Berlin 
und 


Dr. & O. C. v. Zarwey 


in Stuttgart. 





Hweiundzwanzigiter Band. 
1881. 


—eocijam 


Tübingen, 
Verlag und Druk von Franz Fues 
(£. Sr. Fues'ſche Sortiments-Buchhandlung) 


1881. 


— —— ——— 


— — — — * 
1 
— 


Inhalfsüberſicht 


des zweiundzwanzigſten Bandes. 


I. Mittheilungen aus der Rechtſprechung des K. Verwaltungs— 
gerichtshofs. Von Herrn Staatsminiſter von Geßler. Vierte 
Folge. 


I. 


Tall des Art. X Ziff. 1. des Gejeßes über die Verwal: 
tungsrechtöpflege vom 16. Dezember 1876. (Abweiſung 
eines Neuanziehenden.) Schneider Johannes Wit von Stet= 
ten, OA. Rottweil, Kläger, Berufungsbeflagter, gegen 
Gemeinde Stetten, Beklagte, Berufungsklägerin 


. Fälle des Art. X des Geſetzes über die Verwaltungs: 


rechtöpflege Ziff. 2 und 3. (Unterftüßungswohnfisgejek.) 

1, Ortsarmenverband Billingen, Kläger, Berufungskläger, 
gegen Ortsarmenverband Mühlen, OA. Horb, Beklag— 
ten, Berufungöbellagten . - 

2, Ortsarmenverband Ueberlingen Großh. Baden), alä— 
ger, gegen Ortsarmenverband Stuttgart, Beklagten, Höhe 
des Koſtenerſatzes, Preußiſcher Tarif . i 

3. Ort3armenverband Ludwigsburg, Kläger, Berufungs- 
beflagter gegen Ortsarmenverband Heilbronn, Beklag— 
ten, Berufungsfläger. Unberechtigte Abichiebung 

4. Ortsarmenverband Frankfurt a. M., Kläger, gegen Orts: 
armenverband Gannftatt, Beklagten. Perfekt gewordene 

- Nechtöverhältniffe. Höhe des Koftenerfaßes. Der in Ge: 
mäßheit des 8. 65. Abf. 1 des Neichögefeßes über den 
Unterftüßungswohnfig dem unehelichen Kind einer Mut- 
ter am 31. Dezember 1872 in Folge feines Bürgerrechts 
zufommende Unterftügungswohnfig ift ein abaeleiteter, 
wenn das Kind zur Erwerbung eines jelbftändigen Un— 
terftüßungswohnfiges damals noch nicht fähig war, oder 
eine Trennung des Bürgerrechts des Kindes von dem 
der Mutter damals noch nicht ftattgefunden hatte . . 

5. Ortöarmenverband Eſſenheim großh.=heifiicher Kreis 
Mainz, Kläger, gegen Landarmenverband Ellwangen, Be- 
Elagten. Gintritt der Unterftügungsbedürftigfeit . 

12 


Seite 


Be) 


16 


6. Ortsarmenverband Ziegelbah O.A. Waldfer, Beklagter, 
Berufungsfläger gegen Ortsarmenverband Wurzah D.N. 
Leutkirch, Kläger, Berufungsbeflagten. Uebernahme und 
Koſtenerſatz betreffend, Unterbredung der zweijährigen 
Abwefenheitsfrift . 2 

7. Ort3armenverband Shriftashofen oa. Bangen, Be- 
flagter, Berufungsfläger gegen Ortsarmenverband Aich— 
ftetten O.A. Leutkirch, Kläger, Berufungsbeflagten, Ue— 
bernahme und Koftenerjag betreffend. Abſchiebung 

8, Ort3armenverband Dortmund in Weftfalen, Kläger gegen 
Ortöarmenverband Stuttgart, Beklagter. Koſtenerſatz be— 
treffend. Beweis de3 Unterftüßungswohnfiges 

9, Ortarmenverband Gerchsheim Gr, bad. Bezirfsamts 
Tauberbifchofsheim, Kläger gegen Ortsarmenverband 
MWaldmannshofen O.A. Mergentheim, Beklagten. Roften- 
erfag betreffend. Nachweis der — — 
tigkeit . . . . 

10, Ortsarmenverband Biorzbeim, läge genen Ortsar- 
menverband Eßlingen, Beklagten. Koſtenerſatz betref- 
fend, Zeitpunkt für den Ablauf der zweijährigen Frift 

11. Ortsarmenverband Holzelfingen O. A. Reutlingen, Klä— 
ger, Bernfungsfläger gegen Ortsarmenverband Det- 
tingen ON. Urach, Beklagten, Berufungsbeflagten. 
lebernahme und SKoftenerfag. Nachweis der Hilfsbe- 
dürftigfeit bei einer Geiftesfranfen ; 

12, Ortsarmenverband Hechingen, Kläger gegen —— 
verband Ludwigsburg, Beklagter. Koſtenerſatz. Behaup— 
tete rechtswidrige Abſchiebung. 

13. Ortsarmenverband Derendingen DM. Tübingen, hlä— 
ger, Berufungsbeklagter gegen Ortsarmenverband Lan— 
genau DOM. Ulm, Beklagten, Berufungskläger. Koſten— 
erſatz betreffend. Geleiſtete — oder 
privatrechtliche Schuld? . . ns 

14. Ortarmenverband Kirchheim 1. X. Vellagter, Beruf: 
ungsfläger gegen Ort3armenverband Befigheim, Klä— 
ger, Berufungsbeflagten. Uebernahme und Koftenerjag 
betreffend. NRechtöwidrige Abjchiebung . 


15. Ortsarmenverband Billigheim großh. badijchen Bezirks 


Amts Mosbach, Kläger gegen Ortsarmenverband Tie— 
fenbach O.A. Neckarſulm, Beklagten. Uebernahme und 
Koſtenerſatz betreffend. Charakter einer Armenunter— 
ſtützung .. 

16. Orkßarmenberband Oberehlingen, O. a. Eßlingen, Kläger, 


Seite 


38 


41 


43 


47 


49 


55 


66 


71 


78 


CET ELSE: 
— i u a 


17. 


18. 


19. 


20. 


RD 
IS 


„AL 


Berufungsbeflagter, gegen Ortsarmenverband Grab, 
DOM. Badnang, Beklagter, - Berufungsfläger. Der in 
Folge de3 Bürgerrecht3 des unchelichen Kindes am 1. Ja— 
nuar 1873 erworbene MERAN m 
iſt ein akzeſſoriſcher 

Ortsarmenverband Horb, Mläger, Berufungsfläger, * 
gen Ortsarmenverband Oberndorf, Beklagten, Beruf— 
ungsbeklagten. Koſtenerſatz und Uebernahme betreffend. 
Hilfsbedürftigfeit bei dem Vorhandenſein alimentations— 
pflichtiger Verwandten . . 

DOrtsarmenverband Eherharbzell, o. a. Waidſee, läger, 
Berufung3beklagter, gegen Landarmenverband Waldice, 
Beklagten, Berufungsfläger. Koſtenerſatz betreffend. 
Wirkung der Unterbrehung des Aufenthalts . ; 
DOrtsarmenverband Mühlen, O.W. Horb, Kläger, Beruf: 
ungöbeklagter, gegen Landarmenverband Riedlingen, Be— 
Hagten, Berufungöllüger » > 2 2 2 20. 
Ortsarmenverband Oberbrüden, O.A. Badnang, Klä- 
ger, Berufungsbeklagter, gegen Ortarmenverband Zell, 
Gemeinde Reichenberg, O.A. Badnang, Beklagten, Be- 
rufungdfläger. Zmweijährige Frift. Freie AN. 
mung. Präjudiz des Zugeftändnifies 


21. Ortsarmenverband Wolfach, Großh. Baden, Kläger, — 


Ortsarmenverband Horb, Beklagten. Eintritt der Hilfs— 
bedürftigkeit. Unberechtigte Abſchiebung. Höhe des Ko— 
ſtenerſatzes. Preußiſcher Tarif 


.Ortsarmenverband Rottweil, Kläger, Berufungsbeklagter 


gegen Landarmenverband Riedlingen, Beklagten, Beruf: 
ungskläger. Oeffentlihe Armenunterjtütung ? 


II. Ueber das Abſonderungsrecht der in der württembergiſch— 


rechtlichen Errungenichaftsgejellichaft lebenden Ehefrau nach 


8. 44 der Konfurdordnung. Von Dr. Sarwey . 
III. Mittheilungen aus der Rechtiprehung des K. Verwaltungsge— 
richtshofs. Von Herrn Staatdminijter von Geßler. Vierte 
Folge. (Fortſetzung.) 

23. Ort3armenverband Günzfofen, O.A. Saulgau, Kläger, 


Berufungskläger, Litisdenunziant und Landarmenver— 
band Saulgau, Litiödenunziant, gegen Ortsarmenver— 
band Beuren, DU. Riedlingen, Beklagten, Berufungs— 
beklagten. Freiheit der Selbftbeftimmung in der Wahl 
des Aufenthalts. SS. 12. 24 des Reichsgeſetzes über 
den Unterftügungswohnfiß . 


24. Ort3armenverband Nalen, Aläger, Verufungsbefiagter, 


Seite 


82 


89 


9 


101 


104 


107 


165 


Seite 
gegen Gefammtarmenverband Wafferalfingen, Beklagten, 
Berufungsfläger. Koftenerjaß betreffend. Unterſtützungs— 
bedürftigkeit, Armenunterftügung? . . . 187 

‚ Ort3armenverband Oberdorf, DON. Neresheim, alager, 
Berufungskläger, gegen Landarmenverband Gaildorf, 
Beklagten, Berufungsbeklagten. Uebernahme und Koſten— 
erſatz betreffend. Neue oder fortdauernde Hilfsbedürftig— 

HB >. 3,5% 190 
26, Ortsarmenverband Kohendorf,d. a. —— Kläger, 
Berufungsbeflagter, gegen Ort3armenverband Stuttgart, 
Beklagten, Berufungskläger. Stoftenerfaß betreffend. Ein— 
tritt der Hilfsbedürftigfeit eine aus der Strafanftalt 
Entlafjenen . - . 196 
27. Ortsarmenverband Shlingen, läger, Berufungstläger, 
gegen Ort3armenverband Kirchheim u|T., Beklagten, Be- 
rufungsbeflagten. Uebernahme und mul Wirk⸗ 
liche Hilfsbedürftigkeit. . . . 199 
28, Ortsarmenverband Stuttgart, Mäger, Berufungskläger, 
gegen Ortsarmenverband Altheim, O. A. Horb, Beklagten, 
Berufungöbeklagten. Koſtenerſatz betreffend. Hilfsbedürf— 
tigkeit, Friftunterbrechung. Mlimentationspflichtige Ver: 
wandte . .. 201 

III. Fälle des Art. X Bir, 7 des Geſetzes betreffend bie Ver 

waltungsrechtspflege. Korporationsſteuerpflicht 
1. K. Staatsforſtverwaltung, Klägerin, Berufungsbeklagte, 
gegen Gemeinde Musberg, O.A. Stuttgart, Beklagte, 

Berufungsklägerin. Beiziehung zu kirchlichen Umlagen 204 

.K. Staatsforſtverwaltung, Klägerin, Berufungsbeklagte, 
gegen Gemeinde Grunbach, DNA. Neuenbürg, Beklagte, 
Berufungsklägerin. Veiziehung zu Firchlichen Koften . 208 

. Stadt Stuttgart, Klägerin, Berufungskflägerin, gegen 
Amtskorporation Ehlingen und Genoffen, Beklagte, Be- 
rufungsbeklagte. Theilnahme an Kapitaljteuer betreffend 211 

+. Stadtgemeinde Stuttgart, Klägerin, Berufungsklägerin, 
gegen die K. Boftverwaltung, Beklagte, Berufungsbe— 
klagte. Beizichung der Boftgebäude zur Korporationsſteuer 214 

. Stadtgemeinde Stuttgart, Klägerin, Berufungsflägerin, 
gegen Telegraphenverwaltung, Beklagte, Berufungsbe- 
flagte. Beiziehung der Gebäude Friedrichsſtraße Nr. 25 
und Kronenjtraße Nr. 15 zu den Korporationsftenern 217 

IV. Fülle des Art. X Ziff. 8 des Geſetzes über die Verwal: 

tungsrechtöpflege 
1. Weber Johann Georg Lord von Tructelfingen, O.A. 


2 


ot 


I 


* 


ei 


Seite 
Balingen, Kläger, Berufungskläger, gegen Gemeinde 
Zruchtelfingen, Beklagte, Berufungsbeklagte. Schaden 
erjag für die Theilmahme an den Löfchanftalten eines 

Brandfall3 und dabei erlittener Beihädigung - - . 219 
2. Ferdinand Wolfers Wittwe in Ehingen, O.N. Balingen, 
Klägerin, Berufungsbeflagte, gegen Gemeinde Ebingen, 
Beklagte, Berufungsklägerin. Reinigung beziehungsweise 


Entfernung einer Dohle betreffend . . 221 
V. Fall des Art. X Ziff. 10 und 11 des Geſetzes über bie 
Verwaltungsrechtspflege. 


Ortsarmenverband Ehlenbogen, O.A. Oberndorf, Klä⸗— 

ger, Berufungskläger, gegen Stiftungsrath Schömberg, 

O.A. Freudenſtadt, Beklagten, Berufungsbeklagten. 

Ausſcheidung kirchlicher Stiftungen von Armenſtiftungen 

und gegenſeitige Beziehungen der pol. Gemeinde und 

Stiftung - - - 226 
VI. Fall des Art. X Birf, 17 des Geſetzes über bie Berival- 

tungsrechtspflege 

Gutsbeſitzer Konrad Mann in Großdölzerhof, Gemeinde 
Demwangen, O. A. Malen, Kläger, Berufungskläger, gegen 
Ortsfchulgemeindeverband Neichenbadh, Gemeinde De— 
wangen, Beklagten, Berufungsbeklagten. Theilnahme 
an den Schultoften . . . 227 

Vo. Fälle des Art. X Ziff. 20 und 21 des Gefeßes über bie 

Berwaltungsrechtöpflege. 

1. Gutöbefiger Kaulla von Oberdiichingen, Kläger, Beruf- 
ungsfläger , gegen Gemeinde Oberdiichingen, Beklagte, 
Berufungäbellagte. Actio negatoria über das Beftehen 
— Weg . 28 

Johannes Kilgus von Schömberg, ©. 4. Freudenftabt, 
Er Berufungsbeklagter, gegen Gemeinde Reinerzau, 
Beklagte, Berufungstlägerin. Eigenſchaft eines öffent- 
lihen Wegs . . 236 
VIII. Fälle des Art. X giff. 28 des Geſetzes über die Verwal⸗ 
tungsrechtspflege. Weideſtreitigkeiten 

1. Bernhard Glaſer und Genoſſen von Schlath, O.A. Göp— 
pingen, Kläger, Berufungskläger, gegen Johannes Bauer 
und Genoſſen von Urſenwang, Beklagte, Berufungsbe— 
klagte. Zuſtändigkeit der Verwaltungsgerichte .238 

2.8. Staatsfinanzverwaltung, Klägerin, Berufungsbeklagte, 

gegen Gemeinde Apfelbach, DON. Mergentheim, Be— 
klagte, re ie — aus der Ge— 
meindeweide - -» - - 243 


{9 


— VI — 


IX. Fall des Art. X Ziff. 24 des Geſetzes über die Verwal- 


X. 


XI. 


tungörechtöpflege. 

Strafrefursfache des Fabrifanten A. St. in K. ON. ©. 
Benügung öffentlicher Gewäfferr . . - 

Fall des Art. X Ziff. 25 des Geſetzes über bie Verwal⸗ 

tungsrechtspflege. Jagdgeſetz. 

Staatsforſtverwaltung, Klägerin, Berufungsbeklagte, gegen 
Gemeinde Renningen, O.A. Leonberg, Beklagte, Beruf: 
ungsflägerin. Ausübung des Jagdrecht3 auf den ſo— 
genannten Hardwiejen 

Eälle des Art. 13 des Gejees über bie Berwaltungsrcchtg- 

pflege (Rechtsbeſchwerden). 

1. Bejhwerde des früheren GutSbefigers Viktor Lang in 
Diepoldsburg, jest in Kirchheim u./T. gegen einen 
Anſatz von Liegenichaftsakzife 

2.9. Stern und Söhne in Sannftatt. Einfpradke — 
Erbauung eines großen Schweineſtalls. 

3. Beſchwerde des Bäckers Friedrich Haug von hirchheim 

u. T. wegen verſagter Benützung von Schweinftällen . 

4. Belämerbe des Apothekers N., früher in S. DOM. 2. 
nun in C., wegen vermweigerter are eines 
Sonzeffionsgelds er u 

5. Poſtmeiſter Baumeifterd Wittwe in Walbſee. Verfa- 
gung eines Bauweſens wegen mangelnder Zugänglich— 
2 

6. Rechtsbeſchwerde ber Gemeinden — Saufen 
an der Zaber, Klingenberg, Nordhauien, Nordheim, Och— 
jenberg, Pfaffenhofen O.A. Bradenheim gegen die Ge— 
nehmigung des Beichluffes der Amtsverſammlung Bra— 
denheim, die Nachbarichaftsftraßen des Oberamtöbe- 
zirks Bracdenheim in die Unterhaltung der Oberamtö- 
forporation zu übernehmen. Zuläßigfeit einer Beſchwerde 
der einzelnen Gemeinde gegen einen ee 
beihluß . - 

T: Nechtöbefchwerde de Babritanten c. s. in S. über 
einen Akzifeanjaß - 

8. Beichwerde des Part. R. e. in 6. wegen Beten 
“eines Kapitald - - - 

9. Rechtöbejchwerde der Srrenanftalt des Dr. Yanberer in 
Göppingen gegen die Ausdehnung des —— 
zwangs auf dieſelbe 


10. Beichwerde des Zandiagdabgeordneten C. Mayer und 
des Nechtsanwalts Payer II von Stuttgart gegen bie 


Seite 


249 


263 


279 


284 


286 


288 


11, 


12. 
13. 


Ueberwadhung einer Verlammlung der Volkspartei. — 
Beſchwerderecht. Zuftändigfeitägrenze 
Beichwerde der Gebrüder T. in Stuttgart gegen bleiben 
auferlegte vorschriftsmäßige Herftellung eines Trottoire. 
Vorausjegungen der eingetretenen Verpflichtung . 
Reſtaurateur F. 3. in Stuttgart. Zugänglichkeit 
Wirth F. N. in Stuttgart. Einfluß eines früher ge: 
nehmigten Bauplans auf ein neues VBaugefuch . 


IV. Zum Begriff des öffentlicherechtlichen Anfpruchs. Die Vor⸗ 
ausſetzungen des negativen Kompetenzkonflikts 
Art. 10 Ziff. 16 des Geſetzes über die Verwaltungsrechtspflege 
vom 16. Dezember 1876. Art. 12 des Geſetzes betreffend 
die Entſcheidung vom RE vom 25. Au— 
guft 1879 . 
V. Mittheilungen aus der Rehtfpreiung beB R Oberlandes- 
gerichtd. Von Herrn Oberlandesgerichtörath v. Probſt. 


1. 


D 


Fragen aus dem Teitamentsrechte. 


1) Schriftliches Privatteftament. Förmlichkeiten desselben, 
wenn der Teftirer nicht (lefen und) fchreiben fann. 
Genügt, wenn er Schreiben kann, deſſen Unterſchrift 
mittelft Handzeichen? 2) Mündliches Privatteftament. 
Konversion des beabjichtigten fchriftlichen Teftaments 
in ein mindliches. Sit Bezeugung durch ſämmtliche 
Zeugen erforderlich, wenn es zu gerichtlicher Kontefta= 
tion fommt? Einfluß der Vorichrift des 8. 14 Ziff. 2 
de3 Einführungdgejeged zur C.P.O. auf dieſe Frage. 
3) Rodizillarflaufel. Iſt zur Gültigkeit eines ſchrift— 
lichenz Privat-Kodizills, insbeſondere nach dem württ. 
Landrecht, die Unterſchrift des Kodizillanten unter dem 
Text der letztwilligen Verfügung erforderlich? 
Letztwillige Stiftung zu wohlthätigen Zwecken. Gültig— 
keit derſelben, auch wenn ſie ſich an keine bereits be— 
ſtehende rechtliche Perſönlichkeit anſchließt. Desgleichen, 


‚auch wenn ſich der wohlthätige Zweck nur auf einen 


engeren Perſonenkreis erjtredt 


3. Teftament3auslegung. Gnterbung oder Belaftung des 


Erbtheild mit einem Univerſalfideikommiß? Voraus— 
jeßung der Enterbung oder Pflichttheilsbelaftung bona 
mente. Wahlrecht zwiichen Pflichttheil und Trebel- 
lianifcher Quart 


4. Ueber den Umfang des Verbots, bein ‚weiten Ghegatten 


zum Nachtheil der Kinder erfter Che legtwillig mehr 


327 


344 


393 


360 


er) 


4 


ee) 


je 
a 


als den gejeglichen Erbtheil zu verichaffen. Ausle— 
gung des Generalrejfripts vom 20. Suli 1683 . : 
Notherbenreht. Nur direkte Grbeinfeßung, nicht Die 
Einjegung als Univerjalfideilommiffar genügt dem for- 
mellen Rotherbenrechte 


. Zum Begriff der Komplerlaften. als „bleibenber gaften“, 


welche „nicht in den heutigen is Ber: 
hältniffen begründet find“ . 


. Anfehtung im Konkurs. Inwieweit iſt eine —— in 


Abſicht auf Rechtshandlungen ſtatthaft, welche vor dem 
Zeitpunkte der Zahlungseinſtellung und des Antrages 
auf Eröffnung des Konkursverfahrens vorgenommen 
worden ſind und ausſchließlich die Erfüllung einer gegen 
den Gläubiger obliegenden rechtlichen Verpflichtung zum 
Inhalte Haben? ... 

Inwiefern iſt eine Verſchuldung des Dienftheren an 
der Verlegung eined jugendlichen Arbeiter darin zu 
finden, daß er denfelben troß feiner Jugend zu einer 
gefährlichen Arbeit verwendet hat? . 


. Haftung des Fisfus als Eifenbahntransportunter- 


nehmers für die Verſchuldung feiner Beamten. Haftung 
außerhalb des Neichshaftpflichtgefeßes, Umfang der 
Haftung aus dem durch Löfung eines Fahrbillets ge— 
Ichlofienen Transportvertrag 


. Vertrag zu Gunften eines Dritten. Liegenichaftsgeieg : 


Benennung der Kontrahenten und des Kaufpreiſes. 


. Klageänderung bei dinglichen lagen. Sit eine folche 


in der Geltendmahung eines neuen Grwerbögrundes 
zu finden? . . 


. An dem Eigenthums- Befike eines Haufes ift mnthmaße 


lich auch der Beſitz der Grundfläche enthalten 


‚ Verhältniß zwischen ——— und Servi— 


tutenausübung.. 


Generelle Verzichtserklärung. In — —— NRechte, 


an welche bei der Verzichtserklärung nicht gedacht 
worden, gleihmwohl in dem Werzichte inbegriffen jein. 
Erbverzicht, Namens eines Minderjährigen durch Die 
Vormundſchaft erklärt. Borausjegungen der Wieder: 
einfegung in den vorigen Stand gegen einen ſolchen 
Verzicht . » 


‚ Kreditbürgichaft. Iſt Diejelbe als Kreditauftrag (man- 


datum qualificatum) oder als eigentliche Bürgichaft (fide- 
jussio) aufzufafien? Kündigungsrecht des Kreditbürgen 


Seite 


367 


371 


371 


378 


381 


389 


38) 


394 


396 


397 


398 


407 


Fa TE Yan EL ET ——— 
a ae VICE a a 
ee — — . 
n ‚ 


VI. 


VII. 


VIII. 


16. Interzeſſion der Frauensperſon. Verhältniß des Art. 
317 des Handelsgeſetzbuchs zu den landesgeſetzlich ver— 
ordneten Interzeifionsförmlichkeiten . ——— 

17. Landrechtliche Errungenſchaftsgemeinſchaft. Hälftige 
Mithaftung des Ehemanns für die von der Ehefrau 
in deren Eigenſchaft als Handelsfrau fontrahirten 
Schulden 


18. Klagverjährung. Anwendbarkeit des örtlichen Nechtes, | 


Kaufihilling durch Nimeffen zahlbar. Einfluß dieſes 
Zahlungsmodus auf den Zeitpunkt der actio nata. 

19. Bertragswidrige Beichaffenheit der Waare. Zurück— 
mweilung ded Ganzen wegen —— a 
heit eines Theils 


Seite 


409 


20. Zur Auslegung des Heichsgeſches vom A. Jum 1870 


über das Urheberreht an Schriftwerfen. Begriff eines 
Schriftwerks. Anwendung des Geſetzes auf Schrift: 
werfe, welche vor dem Geſetze verfaßt worden find 
Ueber das Erfordernig der gerichtlichen Kognition bei Er— 
richtung ritterfchaftlicher Familienftatute. Bon Herrn Rechts— 
anwalt R. Probſt ee a en a Zu Si 
Zahlung an Handlungsreifende. Bon Herrn Landgerichts: 
rals Btena RS eeeee ei 
Zu Art. 30 des mürttemb. Gefeßes zur Ausführung der 
Neich3eivilprozeßordnung v. 18. Muguft 1879 und über die 
bypothefarifche Sukzeſſion. (Art. 205 des Pfand-Geſetzes.) 
Bon Herrn R. Keller, Direktor der Württemb. 
banf, Ger.Not. a. D. — 


.Literariſches. 


Syſtem des deutſchen Privatrechts von Paul v. Roth. 
Theil 1. 1880. 492 ©. Th. 2. 1881. 498 ©. Tübingen. 
Verlag der 9. Laupp’ichen Buchhandlung . 

Pandekten von Karl Georg v. Wächter, beransgegeben durch 
D. dv. Wächter. Zweiter befonderer Theil. 1. Sachenrecht, 
2. Obligationenredt, 3. Familienrecht, 4. Erbrecht. 1881. 
886 S. .. 

Entſcheidungen der Gerichte und Berwaltungsbehörben aus * 
Gebiete des auf reichsgeſetzlichen Beſtimmungen beruhenden 
Verwaltungs- und Polizeiſtrafrechtes. Herausgegeben von 
A. Reger, kgl. bayer. er hl, Bd. 1. Heft 
1—3. 18831 ... A ee 

A. H. Stein und F. v. Srühel, Handbuch. des Württem— 
bergiſchen Erbrechts. Fünfte Auflage, neu bearbeitet und 


416 


450 


464 


471 


— IE = 


Seite 
mit Zufägen verjehen von Hohl, Direktor am K. Land: 
gericht zu Stuttgart. Stuttgart 1881. 42 © .. . 476 

Die Berfaffungsurfunde für das Königreih Württemberg 
nebjt den Berfaffungsgejegen vom 26. März 1868, 23. 
Suni 1874 und 1. Juli 1876, dem Landtagswahlgefeke 
vom 26. März 1868 und den das leßtere betreffenden 
Vollzugöverfügungen, Mit erläuternden Anmerkungen von 
N. Müller. Aufl. 2. Stuttgart, 1881. 1706 .. . 479 


I. Mittheilungen aus der Meditfpredung des 
K. Derwaltungsgerihtshofs. 


Von Herrn Staatsminiſter v. Gehler. 


Vierte Folge. 


An die früheren Mittheilungen ?) ſich anichliegend werden 
die nachfolgenden die Entjcheidungen und Urtheile in der Zeit vom 
1. Oftober 1879 bis 31. Dezember 1880 umfaſſen, um fpäter 
genau mit dem Jahrgang die einzelnen Folgen der Mittheilungen 
abzuschließen. 


I. Fall des Art. X Ziff. 1. des Gejeges über die Verwal: 
tungsredhtspflege vom 16. Dezember 1876. 
(Abweiſung eines Neuanziehenden.) 
Urtheil vom 13. Dftober 1880, 

Schneider Johannes Wik von Stetten, DA. Rottweil, 
Kläger, Berufungsbeflagter,gegen®emeindeötetten, 
Befllagte, Berufungsflägerin. 

Das Urtheil der Regierung des Schwarzwaldfreijes vom 
17. April 1880 wurde beftätigt und fojtenfällig für die Be— 
flagte erfannt: 

Die Beklagte ift nicht befugt, den mit feiner Familie an- 
gezogenen Kläger auf Grund des $. 4. des Freizügigfeits- 
gejegeg vom 1. November 1867 abzumeijen. 

Gründe Für die von der Beklagten geltend gemachte 
Rechtmäßigkeit der unterm 14. September 1879 von ihr ver- 
fügten Abweifung des furze Zeit vorher mit feiner Familie 
nach Stetten gezogenen Klägers hat fie fih auch in gegenmwär: 
tiger Inſtanz lediglich darauf berufen, daß Johannes Wit bei 
feinem Anzug in gedachten Ort hilfsbedürftig geweſen jei, wie 

1) Dieſes Archiv B. 19, S. 192—280, 374-445, 8.20, S. 37— 
55, 198 bis 429. 

Württemb. Archiv Für Recht ec. XXII. Br. 1. Heft. | 


u SE. 


er fih in demfelben Zuftand der Hilfsbedürftigfeit ſchon wäh— 
rend jeines vorangegangenen Aufenthalts in Mariazell befunden 
habe. Möchte dieß auch als richtig in dem Sinn anzunehmen 
fein, daß fofern und ſoweit die Hilfsbedürftigfeit nachgewieſen 
war, die Armenverbände des jeweiligen Aufenthaltsorts der 
Witz'ſchen Familie nad) $. 28 des Reichsgeſetzes über den Un— 
terftügungsmwohnfig nicht umhin Fonnten, diefelbe vorläufig zu 
unterftügen, jo konnte darauf für die Beantwortung der bier 
vorliegenden Frage, ob der Gemeinde Stetten, nachdem Johannes 
Witz mit feiner Familie dorthin gezogen war, die Befugniß zu: 
jtand, diefelbe abzuweifen, ein entjcheidendes Gewicht Doch nicht 
gelegt werden. | | 

Eine ſolche Abweifung wäre dem 8.4 Abf. 1 des Geſetzes 
über die sreizügigfeit vom 1. November 1867 gemäß nur 
zuläßig gewejen unter der VBorausfegung, daß der dort näher 
bezeichnete Nachweis von der Beklagten hätte beigebracht werden 
fünnen. Was das Gejeb in Fällen diefer Art nachgewiefen 
wiſſen will, iſt ein vorausſichtlich dauernder Zuftand der Ver: 
armung des kaum Angezogeney, der es demjelben, fofern er - 
nicht eigenes Vermögen oder alimentationspflictige und alimen- 
tationsfähige Verwandte befigt, unmöglich macht, ſich und feine 
Angehörigen zu ernähren. Mit Grund hat fchon die Kreis— 
regierung angenommen, daß die Beklagte einen ſolchen Nachweis 
nicht erbracht hat; da ihr dieß auch in gegenwärtiger Inſtanz 
nicht gelungen ift, jo war die Berufung fojtenfällig abzuweiſen. 


II. Fälle des Art. X des Gejeges über die Berwaltungsredts- 
pilege Ziff: 2 umd 3. 
(Unterſtützungswohnſitzgeſetz.) 

1. Ortsarmenverband Villingen, Kläger, Berufungs— 
kläger, gegen Ortsarmenverband Mühlen, DA. Horb, 
Beklagten, Berufungsbeklagten. 

Urtheil des Bundesamts für das Heimatweſen vom 10. De— 
zember 1878. 


Gegen das Urtheil des Verwaltungsgerichtshofs vom 2. Au— 
guſt 1878 (ſ. Band XIX. ©, 390 ff.) hatte der Ortsarmen— 


——— 


verband Villingen Berufung an das Bundesamt für das Hei— 
matweſen angemeldet. Kläger hatte ſeiner Zeit um Zuſtellung 
der an ihn ergehenden Beſchlüſſe durch die Poſt gebeten. Dem 
gemäß war das Urtheil am 5. Auguſt 1878 laut Scheins zur 
Poſt gegeben worden. Die Berufungs-Anmeldung kam aber am 
20. Auguſt 1878 bei dem K. Verwaltungsgerichtshof ein, ſo— 
nach nach Art. 233 der Civilprozeßordnung und 8. 46 des 
Reichsgeſetzes über den Unterſtützungswohnſitz um einen Tag 
zu ſpät. Der Verwaltungsgerichtshof gab deßhalb dem Kläger an: 
heim, den Tag der wirklich erfolgten Zuitellung des Urtheils 
an ihn durch ein Zeugniß des Poſtamts Villingen zu bejchei: 
nigen, worauf derjelbe ein Zeugniß dahin vorlegte, daß ihm das 
Urtheil am 7. Auguſt 1878 zugeitellt wurde. Im Uebrigen 
betätigte daS Bundesamt das Urtheil des Berwaltungsgerichtshofs 
mit folgender Begründung: | 

Sn Erwägung, daß die Berufung des Klägers gegen die 
erjtinftanzliche Entfcheidung zwar für vechtzeitig angemeldet zu 
erachten ift, da die Behändigung des Erfenntnifjes an den Ar— 
menrath der Stadt Villingen laut der in beglaubigter Abſchrift 
beigebrachten Beſcheinigung des Poſtamts Villingen nicht vor dem 
7. Auguft d. 3. erfolgt, die Anmeldung der Berufung aber gm 
20. Auguft 1878, alfo innerhalb der durch S. 46 des Reichs— 
gejeges über den Unterjtügungsmwohnjig geordneten vierzehntägigen 
Nothfriſt bei der erftinitanzlihen Spruchbehörde eingegangen ilt, 
und da es bei dem Mangel einer dem Art. 233 der Civilpro- 
zeßordnung analogen Beſtimmung in dem Reichsgefeg vom 6. Juni 
1870, deſſen Vorfchriften für die Formalien der Berufung an 
dad Bundesamt für das Heimatwejen maßgebend find, ledig: 
ih darauf ankommt, wann dem Vertreter des Verklagten (?) 
dem Armenrath in Rillingen das erſte Erfenntniß behändigt 
wurde, nicht darauf, warn es zur Poft gegeben wurde; 

was die Sache ſelbſt betrifft, daß der von dem Kläger gegen 
den Verklagten erhobene Anspruch auf Uebernahme des angeb- 
ih hilfsbedürftigen Taglöhners Anton Noth mit Familie ſchon 
deßhalb unbegründet erfcheint, weil die einzig dem Noth vor 
der Klageerhebung zu Theil gewordene Unterftüßung darin be— 
ftanden hat, daß am 6. Dezember 1877 die Koſten der Beer- 


— — 


digung eines ſeiner Kinder auf Verlangen der Forderungsbe— 
rechtigten, welche Befriedigung von Roth wegen feiner Mittel- 
lofigfeit nicht erlangen konnten, auf die Armenfafje von Villingen 
angemiejen worden jind, und weil hieraus zumal im Hinblick 
auf den fpeziellen Anlaß der Unterjtügung das Vorhandenfein 
eines dauernden oder doch regelmäßig in kurzen Zwijchenräumen. 
wiederkehrenden Unterſtützungsbedürfniſſes auch dann unmöglich 
gefolgert werden fann, wenn man die 6 Monate fpäter im 
Laufe des Prozeſſes erit erfolgte Bezahlung von Medilamenten- 
rechnungen aus den Sahren 1872, 1873, 1876, 1878 im Be: 
trag von zujammen 15 M. 44 Bf. ebenfalls mit berüdjichtigt,. 
weil im Gegentheil aus der eigenen Daritellung des Klägers hervor 
geht, dag Roth nicht bejtändig oder häufig wiederfehrend, ſondern 
nur ausnahmsweije öffentlicher Unterjtügung bedarf, jo daß von. 
einer dauernden Hilfsbedürftigfeit im Sinne des $. 31 des 
Neichsgejeges vom 6. Juni 1870 nicht die Rede fein fann; 
daß Kläger in erjter. Injtanz feinen auf Erſatz der Armen- 
pflegefoften gerichteten Klage-Antrag geitellt hat, und daß es, 
prozejjualiich unzuläflig ift, wenn er in der Berufungsausführung 
einen diesfallfigen Antrag nachträglich einbringt, weßhalb auf 
Prüfung des geltend gemachten Erjaganfpruchs nicht einzugehen 
iit; daß es demnach auch in Betreff der Erfaßpflicht des Ver— 
klagten vorerit feiner zwiſchen den Parteien ftreitigen Frage be: 
darf, ob beim Eintritt der Armenpflege Anton Roth jeinen 
Unterſtützungswohnſitz in Mühlen hatte, beziehungsweiſe ob diejer 
Unterjtügungswohnfiß zur Zeit der Klageerhebung noch beitand, 
und daß daher das den Kläger aus andern Gründen abweifende 
Grfenntnig zu bejtätigen ift, woraus nad) allgemeinen Rechts— 
grundfägen folgt, daß dem Kläger die durch ſein Nechtsmittel 
verurjachten baaren Auslagen der Berufungsinjtanz zur Laſt fallen, 
wird für Recht erkannt 
daß das Erfenntniß des K. VBerwaltungsgerihtshofs in Stutt- 
gart vom 2. Augujt 1878 zu bejtätigen dem Kläger auch die 
in der‘ Berufungsinftang entjtandenen baaren Auslagen zur Laſt 
zu legen iſt. 


2. Ortsarmenverband Leberlingen (Großh. Baden), 
Kläger, gegen Ortsarmenverband Stuttgart, Beklagten. 


Urtheil vom 29. Oftober 1879. 


Höhe des Koftenerfages, Preußiſcher Tarif. 
Die Klage wurde foftenfällig abgewiefen. 


Gründe 1) Gegenjtand der Entſcheidung it allein die 
Stage, ob der Kläger berechtigt ift, für die Kurfoften und Die 
Verpflegung des wegen Kräze in das Spital in Ueberlingen 
aufgenommenen Sattlergejellen Baul Eugen Edftein 1 M. 75 Br. 
für den Tag in Aufrechnung zu bringen, oder ob er ſich mit 
einen Sat von 1 M. 40 Pf. zu begnügen hat, wie ſolchen der 
Beklagte an den Kläger bezahlt hat. 

Eine fpezielle Begründung diefes Sabes von 1 M. 75 Pr. 
it von dem Kläger der an ihn ergangenen Aufforderung un: 
geachtet nicht gegeben worden. Er glaubt eine folche dephalb 
ablehnen zu dürfen, weil nad 8. 30 Abf. 2 des Neichsgefeges 
über den Interftüßungswohniig vom 6. Juni 1870 die Feſt— 
jegung täglicher Baufchquanta für die Verpflegung in Kranken— 
und Armenhäufern zugelafien ſei. Diefe Anficht ift, wie aus 
dem Wortlaut der gedachten Beftimmung Kar zu erfehen it, 
eine gänzlich unbegründete. Nach derjelben ift jedem Bundes: 
ftaat vorbehalten, für dag ganze Staatsgebiet oder bezirksweiſe 
einen Tarif aufzuftellen, der für die Forderungen maßgebend ift. 
Dieje der Regierung des einzelnen Bundesftaat3 vorbehaltene 
Befugniß bezieht fich aber nicht auf die für die einzelne Anſtalt 
als ſolche durch die hiefür zuftändige Behörde feitgefegten Ver: 
pflegungstarife. Hinsichtlich derfelben fteht vielmehr feit, daß 
im Fall des Beltreitens der beanjpruchten Anrehnungen der 
einzelne Armenverband verpflichtet ift, dieſelben im Einzelnen 
zu begründen und zu rechtfertigen, und daß eine ſolche Necht: 
fertigung durch amtliche Beurfundungen, wie fie Kläger durch 
das Bezirksamt und Bürgermeifteramt Ueberlingen dahin vor- 
‚gelegt hat, daß der angerechnete Verpflegungsſatz „der übliche” 
oder „der den örtlichen Verhältnijjen entiprechende“ fei, nicht 
hergeftellt oder erjegt werden kann. Ebenfomwenig kann biefür 


u — 


darauf Gewicht gelegt werden, daß, wie Kläger weiter anführt, 
die großh. badische Staatsfafje diefen Verpflegungsſatz bei Reichs— 
ausländern noch nie beanitandet hat, da hieraus nicht zu erjehen 
it, daß hiebei eine Prüfung des Anfages nach den maßgebenden 
Geſichtspunkten eingetreten wäre. Endlich fommt ebenſowenig 
für die Mehrforderung von 35 Pf. für den Tag entfcheidend in 
Betracht, daß der Verpflegungsaufwand für das badijche Militär 
durchſchnittlich Höher ift, als in den meiften andern Garniſons— 
ſtädten. 

2) Geht man hienach in Ermanglung von von dem Kläger 
gegebenen ſpeziellen Nachweiſen an die Prüfung der geltend ge— 
machten Forderung, ſo gibt für ſolche der preußiſche Tarif vom 
2. Juli 1876 einen Anhaltspunkt, wenn auch ſelbſtverſtändlich 
von einer unmittelbaren Anwendung deſſelben keine Rede ſein 
kann. Derſelbe normirt den Verpflegungsſatz für diejenigen Orte, 
die in der dritten bis fünften Servisklaſſe ſtehen, einſchließlich 
der Krankenbehandlung und Medikamente auf 80 Pf., für Die 
Orte der höheren Servisklaſſe auf IM. für den Tag. Nach der 
Klafjeneintheilung der Orte des deutſchen Neichs, wie fie mit 
dem Neichsgefeß vom 3. Auguft 1878 feftgejtellt worden it, jteht 
die Stadt Ueberlingen in der III. Servisklaſſe (Neichsgefesblatt v. 
1878 ©. 284) während die Stadt Stuttgart (Ebd. Seite 282) 
in der Servisklaſſe A ſich befindet. Wenn nun Kläger einen 
um mehr als das Doppelte höheren Betrag in Anſpruch nimmt, 
al3 ihm nad diefem Tarif gebühren würde, fo wäre er un jo 
mehr zum Nachweis der Berechtigung diefer Forderung ver: 
pflichtet geweien. In Ermanglung eines ſolchen Nachweijes aber 
iſt er jedenfalls dadurch nicht als verlegt anzufehen, daß ihm 
Beklagter, deſſen Drt einer viel höheren Servisklaſſe angehört, 
al3 der Ort des Klägers, denjenigen Betrag zugebilligt hat, den 
er ſelbſt als Koftenerfat gegen andere Armenverbände geltend 
macht, und war daher feine Mehrforderung als jedes Nachweiſes 
entbehrend Eoftenfällig abzuweiſen. 


3. Ort3armenverband Ludwigsbürg, Kläger, Be 
rufungsbeflagter gegen Ortsarmenverband Heil: 
bronn, Beflagten, Berufungsfläger. 


Urtheil vom 29. Oftober 1879. 
Unberechtigte Abjchiebung. 


Das den Beflagten zum Erſatz der aufgewendeten Kojten 
für den Taglöhner Schmid und feine Familie verurtheilende 
Erfenntniß der Regierung des Nedarkreifes vom 9. Dezember 
1878 wurde aus folgenden Gründen bejtätigt. 

1) Gemäß 8. 28 des Reichögejeges über den Unterjtügungs: 
wohnfig vom 6. Juni 1570 muß jeder Hilfsbedürftige Deutjche 
vorläufig von demjenigen Armenverband unterjtügt werden, in 
deſſen Bezirk er fich bei dem Eintritt der Hilfgbedürftigfeit be: 
findet. Es ijt nicht zu bezweifeln, daß der Taglöhner Schmid, 
als er am 9. März 1878 mit feiner Ehefrau und 3 Kindern 
in Heilbronn anfam, ohne alle Mittel war. Dies ergiebt ſich 
Thon daraus, daß der Beklagte damals die Schmidſche Familie 
über Nacht in feinen Spital aufnahm, und er es war, der ſich 
für fie am andern Tag die Eijenbahnfarten zur Fahrt nach 
Ludwigsburg anzuſchaffen genöthigt ſah. Schmid war alſo zu 
jener Zeit ohne alle eigene Subfiitenzmittel in dem Zujtand der 
Hilfsbedürftigfeit, wie ihn der gedachte 8. 28 vorausfegt, und 
daher der Beklagte verbunden, ihm die dieſem 8. 25 entſprech— 
ende vorläufige Unterftügung und Berpflegung angedeihen 
zu lafjen, wobei von felbjt einleuchtet, daß dieſer Verpflichtung 
durch die Aufnahme der Schmidfchen Familie im Heilbronner 
Spital für die erjte Nacht nicht genügt jein fonnte, indem hie: 
mit jenem Zuftand der Hilfsbedürftigkeit ſelbſtverſtändlich in 
feiner Weiſe abgeholfen war. 

War jodann auch die Weiterreife Schmids eigener Wunjch, 
bejtand er auf feinem Abgang nac Ludwigsburg, um bei der 
dortigen Kreisregierung jeine Angelegenheit (Beichwerde über 
die Ortsarmenbehörde Murrhard, OA. Backnang) zu betreiben, 
fo fann hiedurch, abgejehen davon, daß diefer Zwed auch durch 
eine einfahe Eingabe zu erreichen, jedenfalls aber nicht nöthig 





a A 


war, die ganze Schmidſche Familie nach Ludwigsburg zu ver: 
bringen, an dem Stand der Sade nicht geändert worden, ſo— 
fern in einer ſolchen Lage der Wunſch des Hilfsbedürftigen 
nicht entjcheiden, und es dem betreffenden Drtsarınenverband 
nicht gejtattet fein fann, durch Verabreihung der Neifemittel 
die Weiterreije zu befördern, indem auf ſolche Weife die Ab- 
fiht des Geſetzes vereitelt würde, welches will, daß der Orts: 
armenverband die vorläufige Unterftügung gewährt, in deſſen 
Bezirk die, Hilfsbebürftigfeit zuerit zum Vorſchein kommt. Wäre 
es zuläfjig, auf ſolchen Wunſch einzugehen, die Weiterreife durch) 
Gewährung des Neifegeldes zu ermöglichen, jo hätte der betref: 
fende Drtsarmenverband augenfällig das Mittel in der Hand, 
die Laſt der gejeglichen Verpflichtung von ſich abzuladen und 
dem andern Ortsarmenverband zuzufchieben, in dejjen Bezirk 
der Hilfsbedürftige verbracht wird. Dies kann rechtlich nicht 
jtatthaft fein, wie auch die bloße Möglichkeit, Schmid könne 
etwa an einem andern Drt in Ludwigsburg Arbeit und Ber: 
dient finden, auch von dort leichter in feine Heimat gelangen, 
feinen Grund abgeben Fonnte, ihm zu feiner Meiterreife nad) 
Ludwigsburg auf die angegebene Weije behilflich zu fein. 

Dadurch daß der Bellagte dem Schmid zur Weiterreife 
nach Ludwigsburg behilflich war, ift der- Kläger in die Noth- 
wendigfeit verjeßt worden, dem Schmid und feiner Familie die 
vorläufige Unterftügßung zufommen zu laſſen, welche gejeßlic) 
dem Beklagten oblag. Der Kläger hat hiernach eine Obliegen— 
beit, ein Gefchäft des Beklagten beforgt, wornach er jowohl nad) 
der ausdrüdlichen Beitimmung des $. 28 des Unterjtüßungs- 
wohnjiggefeges als nach den allgemeinen Grundjägen über Ges 
ihäftsführung zum Anſpruch auf Eritattung feines Aufwandes 
berechtigt erjcheint und zwar fann er fich diesfalls an den Be— 
tlagten halten, der zu der vorläufigen Unterftügung, um welche 
es ſich gehandelt hat, verpflichtet war. 

Hiernach jteht zunächſt feit, daß der Beklagte dem Kläger 
den auf die Schmid'ſche Familie gemachten nothwendigen Auf: 
wand zu erjegen hat. 

2) Hinfichtlih der Größe des Aufwandes ift unter den 
Parteien unbeftritten, daß die Shmid’iche Familie von 2. März 


Zur iu 


bis 1. April 1878 verpflegt worden ift, daß an dem fraglichen 
Aufwand 24 Marf für Arbeitsverdienit des Schmid abgehen, 
dagegen unter denjelben auch 17 Mark für Nebenausgaben fallen. 
Außer diefen 17 Mark beanfprudt Kläger 3 M. 50 Pr. Ber- 
pflegungsgeld für den Tag, nämlich eine Mark für eine erwach- 
jene Berjon und 50 Bf. für ein Kind, wogegen beflagterfeits 
nur ein Verpflegungsgeld von 12 Mark für die Woche eventuell 
anerfannt wird. Nach 8. 30 Abf. 2 des Reichsgeſetzes über den 
Unterjtügungswohniig richtet jih die Höhe der zu erjtattenden 
Koften nad) den am Drt der jtattgehabten Unterjtügung 
über das Maß der öffentlichen Unterftügung Hilfsbedürftiger 
geltenden Grundſätzen. E3 hat ſich nur um eine vorübergehende 
vorläufige Verpflegung gehandelt, und find feine thatfächlichen 
Anhaltspunkte dafür beigebracht, daß diefe Familie anders als 
im dortigen Spital für dieje fürzere Zeit untergebracht werden 
fonnte, oder daß jich Gelegenheit geboten hat, derjelben auf eine 
andere mwohlfeilere Art und Weife den Unterhalt zu verjchaffen, 
insbejondere den Aufwand durch Arbeit und VBerdienft des Manns 
noch weiter zu vermindern. Wenn nun aber Kläger für feine 
Derpflegung die obigen 3 M. 50 Pf. für den Tag beanſprucht, 
jo kann diefe Erjagforderung nicht für zu hoch erachtet werden, 
zumal der Beklagte für nicht Franke Arme in feiner Verſor— 
gungsanjtalt jelbit eine Mark für eine ermwachjene Perſon be= 
rechnet, und wie erwähnt die Möglichkeit eines wohlfeileren Unter: 
halts in feiner Weiſe angezeigt ift. 

Unter Zugrundlegung der bezeichneten 3 M. 50 Pf. für den 
Tag ergaben fich für 30 Tage 105 M., dazu obige 17 M. zus 
jammen 122 M., wovon die obigen 24 M. für Arbeitsverdienit 
wieder abgehen, jo daß der zu erjegende Betrag in 98 M. befteht. 


4. Drtsarmenverband Frankfurt aıM., Kläger gegen 
Drtsarmenverband Gannftatt, Beklagten. 
Urtheil vom 17. November 1879. 

Perfect gewordene Nechtsverhältniffe. Höhe des Kojtenerjages. 
Der in Gemäßheit des $. 65 Abſ. 1 des Neichsgejeges über 
den Unterſtützungswohnſitz dem -unehelichen Kind einer Mutter 
am 31. Dezember 1372 in Folge feines Bürgerrecht zufommende 


er te 


Unterftügungswohnfig it ein abgeleiteter, wenn dag Kind zur 
Ermwerbung eines felbjtändigen Unterftügungswohniiges damals 
noch nicht fähig war, oder eine Trennung des Bürgerrechts des 
Kindes von dem der Mutter damals noch nicht jtattgefunden hatte. 


In den Fällen Ohrnberg c. Eichach (Ar. Bd. XIX ©. 197), 
Stuttgart c. Welzheim (Arch. Bd. XIX ©. 218) und Wolfach 
c. Reutlingen (Arch. Bd. XX ©. 225) hatte der Verwaltungs: 
gerichtshof in Uebereinſtimmung mit der Thejis des Bundesamts 
für das Heimatwejen ausgefprochen, daß, wenn die uneheliche 
Mutter eines Kindes am 31. Dezember 1872 in Folge ihrer 
BVerehelihung mit einem andern Manne, als dem Bater des 
Kindes ein anderes Ortsbürgerrecht bejaß als das Sind, der 
Unterftügungsmohnfig dem Kinde nicht an dem Orte des Unter- 
jtügungswohnfiges der Mutter, jondern an dem Orte feines Orts: 
bürgerrechts gebührt. Weber die Frage dagegen, ob der Unter: 
jftügungswohnfig, den das Kind fraft jeines Drtsbürgerredts 
gleich der Mutter an demſelben Ort erwirbt, als ein ſelbſtän— 
diger oder als ein abgeleiteter aufzufajjen jei, der demgemäß 
allen Veränderungen des Unterjtügungsmohnfiges der Mutter bis 
zu jeinem zurücdgelegten 24. Lebensjahr unterliegt, hatte ſich 
der Verwaltungsgerichtshof bisher nur implieite in S. Wies- 
baden c. Salah (Arch. Bd. NIX ©. 382) infofern bejahend 
ausgeiprochen, als er den Unterjtügungsmwohnfig des unehelichen 
Sohnes ledigli nah dem Unterſtützungswohnſitz der unehes 
lihen Mutter beurtheilte, und demjelben den von dem Unter: 
jtügungswohnfig der Mutter abgeleiteten Unterftügungswohn- 
ſitz zuerkannte. Indeſſen war damals diefe Frage gar nicht 
Gegenſtand des Streits unter den Parteien geweſen, da jich der: 
jelbe nur darum drehte, welches der Unterſtützungswohnſitz der 
Mutter war. So fanı die Frage über die Natur des Unter: 
tügungswohnfiges des unehelichen Kindes — ob jelbjtändiger oder 
abgeleiteter — erſtmals in dem obigen Fall bei dem Verwaltungs: 
gerichtshof zur Erörterung und die Anjichten darüber waren ges 
theilt. Nach dem Bürgerrechtögefege ift darüber fein Zweifel, daß 
das Bürgerrecht des unehelichen Kindes ein jelbjtändiges ift, und 
daß eine Aenderung in dem Bürgerrecht der unehelichen Mutter als 





— — 


ſolche keine Wirkung auf das Bürgerrecht des Kindes äußert. Es 
wurde nun verſucht geltend zu machen, daß, weil das uneheliche 
Kind kraft ſeines Bürgerrechts den Unterſtützungswohnſitz er— 
werbe, der letztere ebenſo, wie das Heimatrecht ein ſelbſtän— 
diger ſein müſſe. Dagegen wurde jedoch eingewendet, daß das 
Wörtchen „kraft“ nichts Weiteres als den Titel der Erwerbung 
des Unterſtützungswohnſitzes bezeichne und nicht die Abſicht habe, 
dieſem Unterſtützungswohnſitz einen beſonderen auch nachher noch 
für die Natur dieſes Unterſtützungswohnſitzes wirkſamen aus der 
Natur des Heimatrechts hergeleiteten Stempel aufzudrüden. Es 
fönne ſomit daraus nicht gefolgert werden, daß damit der Ges . 
ſetzgeber beabjichtigt habe, einen anders bejchaffenen Unteritügungs- 
wohnſitz als den zu verleihen, den das Geſetz überhaupt fenne. 
Der Unterſchied zwischen einem ſelbſtändigen und einem abgeleiteten 
Unterftügungsmohnfig habe für das Bürgerrecht nicht die Bedeu— 
tung wie für den nach dem Neichsgejege durch den Wechjel des 
Aufenthalts der Veränderung unterliegenden Unterſtützungswohnſitz 
und dem Zmede des 8. 65 Ab. 1 des Geſetzes der Ueberleitung 
de3 alten Berhältnifjes in das neue genüge vollfommen die Zu: 
erfennung des Unterftügungswohnjiges, wie ihn das Geſetz ſonſt 
normire. Ein Bedürfniß, weiter zu gehen, liege nicht vor, und 
aud das Bundesamt für das Heimatweien habe eine Abweichung 
nur jo weit für begründet erkannt, als fich diefelbe auf bereits 
perfeft gewordene Berhältniffe ftüge. Nicht mehr und nicht 
weniger jei auch in den drei von den Verwaltungsgerichtshof 
bereits entjchiedenen Fällen gejchehen, in denen die Berjchiedenheit 
des Bürgerrechts der Mutter von dem des Kindes jchon vor dem 
31. Dezember 1872 eingetreten gemwejen fei. Dieſe und nicht 
eine andere Natur des kraft des Bürgerrecht3 erworbenen Unter: 
ſtützungswohnſitzes jei der Grund der in diefen Fällen begrün— 
deten Ausnahme. Dieſe Thejis behielt auch bei der Entjchei: 
dung die Oberhand. Die Spezialia des Falles jind folgende: 
Eva Urfula Haug am 15. Mai 1854 in Notenhaar Ge: 
meinde Fridenhofen O.A. Gaildorf geboren, ijt die uneheliche 
Tochter der daſelbſt bürgerlichen Eva Haug. Letztere z0g im 
Jahr 1873 nach Cannſtatt, wo fie ſich als Taglöhnerin fortbringt. 
Die Eva Urjula Haug befand fich bis zum Jahr 1879 an ver— 


— — 


ſchiedenen Orten im Dienſt. Am 22. Januar 1879 gebar ſie 
in der Entbindungsanſtalt in Marburg unehelich ein Mädchen 
Marie Haug. In der Anſtalt blieb ſie bis zum 3. Februar 
1879. Am 14. Februar 1879 bat ſie wegen ſyphilitiſcher Er— 
krankung für ſich und ihr Kind, das ſie ſelbſt ſtillte, bei der 
Polizeibehörde in Frankfurt a. M. um Aufnahme in den Spital. 
Sie wurde mit ihrem Kinde im Wege der öffentlichen Armen— 
pflege in den St. Rochusſpital in Frankfurt aufgenommen, wo 
ſie vom 15. Februar an bis 16. März je auf 30 Tage ver— 
pflegt und behandelt wurden. Der Ortsarmenverband Frankfurt 
berechnete für jede der beiden Perſonen 1M. 75 Pf. für den 
Tag, zufammen für beide 105 M. und erhob, da der Orts: 
armenverband Gannitatt feine Verbindlichkeit beftritt, Klage auf 
die Bezahlung Ddiejes Betrages. Der DOrtsarmenverband Cann— 
ftatt verweigere die Zahlung, fagt die Klage, weil nicht er, fon- 
dern der Drtöarmenverband Fridenhofen der verpflichtete Armen: 
verband ſei. Hiefür berufe er fih auf die Entſcheidung des 
Dermwaltungsgerichtshofs in ©. Eihah ec. Ohrnberg. Diefe 
Entjeheidung greife jedod hier nicht Platz. Die Berehelihung 
der Mutter ſei damals vor der Einführung des Unterftüßungs- 
wohnjiges in Württemberg erfolgt gemejen, weßhalb Mutter und 
Kind verfchievenes KHeimatrecht beſaßen, während Eva Haug 
dur die Abftammung von ihrer Mutter das gleihe Heimath- 
recht hat. Am 1. Januar 1873 hatten beide den Unterjtüßungs- 
wohnſitz in Fridenhofen, da die Mutter aber ſich feit dem Jahr 
1873 in Gannftatt aufhielt und dort den Unterjtüßungsmohniig 
erwarb, jo ging diefer nah $. 21 des Neichögefeges über den 
Unterftüßungsmwohnfig auch auf die Eva Haug über. 

Bon dem Berwaltungsgerichtshof wurde Kläger zu näherer 
Begründung des DVerpflegungsfages für einen Erwachfenen und 
für ein noch nicht vier Wochen altes Kind aufgefordert. Der: 
jelbe berief fich auf den Armenverpflegungstarif des Spitals, 
ſowie darauf, daß nach vorgelegtem Auszug aus den Rechnungen 
des Spitals die Koften für die Koft der Kranfen und des Wärter: 
perjfonals, ſowie für Arznei und Wein durchfchnittlich für den 
Tag und die Perfon betragen im Jahr 1873: 1,7108 M., im 
Jahr 1875: 1,8108 M., 1876: 1,8032 M. Zwiſchen Erwad: 


zu, IM m 


jenen und Kindern mache der Tarif feinen Unterfhied. Zur 
Darjtellung der verichiedenen Kategorien der Kranken und der 
für diejelben bejtehenden Negulative und der, Leiſtungen des 
Spitals für das Kind aufgefordert, legte Kläger ein Eremplar 
der allgemeinen Stiftungsordnung für die öffentlichen Stiftungen 
der Stadt Frankfurt, jowie eine Rechnung des Rochusfpitals vor, 
aus der fich ergebe, daß für Mutter und Kind je 1 M. 75 Pf. 
für den Tag gefordert und bezahlt wurden. Die allgemeine 
Stiftungsordnung enthält über das, nad) dem, gefragt wurde, 
nichts, jondern regelt nur das Verhältnig der Stiftungsbehörden 
zu dem Magiſtrat mit eingreifenden Befugniſſen des legteren? in 
die Berwaltung, während die Berwaltungsordnung des St. Rochus: 
ipitals die Krankheiten bejtimmt, für melche diefer Spital dies 
nen joll. 

Die Vernehmlafjung überläßt die Prüfung des Verpflegungss 
ſatzes dem richterlichen Ermejjen und beitreitet, daß der Eva Ur: 
jula Haug der Unterjtügungswohnfig ihrer Mutter in Cannſtatt 
zujteht, weil fie am 31. Dezember 1872 ein von ihrer Mutter 
unabhängiges Heimatreht in Fridenhofen O.-A. Gaildorf Hatte, 
wofür jich auf die Entſcheidung vom 10. Februar 1878 in ©. 
Ohrnberg ec. Eichach berufen wird. 

Der Berwaltungsgerichtshof erkannte den Beklagten fur v ver⸗ 
bunden, dem Kläger für Kur- und Verpflegungskoſten der Eva 
Urſula Haug und ihres Kindes 52 M. 50 Pf. zu erſetzen, wies 
dagegen die weiter geforderten 52 M. 50 Pf. ab. 

Gründe: 1) Der 8. 65 Abſ. 2 Ziff. 1 des Neichsgejeges 
über den Unterftügungswohnfig vom 6. Juni 1870 in Verbin— 
dung mit $. 2 des Einführungsgejeges des gedachten Reichsge— 
jeges in Württemberg beſtimmt: 

„Diejenigen Württemberger, welche am 31. Dezember 1872 
innerhalb Württembergs ein Heimatrecht bejigen, haben kraft 
desjelben am 1. Januar 1873 den Unterftügungsmwohnfig in dem: 
jenigen OrtSarmenverband, welchem ihr Heimatort angehört“. 
Indem das Geſetz dem Inhaber des Heimatrechts an defjen 
Stelle den Unterftügungswohnfig am Ort desfelben zuerfennt, ift 
es jelbjtveritändlih, daß derfelbe den Unterjtügungswohnfig in 
derjelben Meife erlangt, wie er durch das Reichsgeſetz über den 


ee, I 


Unterjtügungswohnfig normirt ift, foweit nicht durch ein perfect 
gewordenes Rechtsverhältniß etwas Anderes begründet iſt. Das 
Gefeß erfennt aber dem noch nicht 24 Jahre alt gewordenen un: 
ehelichen Kind nicht einen felbjtändigen, ſondern nur den abge: 
leiteten Unterftügungswohnfig der Mutter zu (88. 10. 21. 22 des 
Neichsgefeges Über den Unterftügungswohnfig). Folgerichtig er: 
warb daher die Eva Urſula Haug mit dem 1. Januar 1873 in 
Folge ihres durch Abjtammung von ihrer Mutter Eva Haug er: 
worbenen Bürgerrechts den Unterftügungswohniig in dem Drte 
ihres Bürgerrechts nicht als einen ſelbſtändigen, fondern als 
einen von ihrer Mutter abgeleiteten. Demgemäß unterlag der: 
jelbe bi8 zu dem in 8. 18 des Reichsgeſetzes über den Unter: 
füßungswohnfig vorgejehenen Zeitpunkt allen denjenigen Ver: 
änderungen, welchen der Interjtügungswohnjig ihrer Mutter 
jelbft unterworfen war, und da die Lebtere, wie beffagterjeits 
anerkannt ift, durch ihren mehr als zweijährigen Aufenthalt in 
Cannjtatt den Unterftügungsmwohnfig dort erworben hat, fo jteht 
auch ihrer Tochter Eva Urfula Haug und folgerichtig auch ihrem 
in Marburg am 22. Januar 1879 geborenen Kinde Marie Haug 
der Unterftügungswohnfig in Cannftatt zu. 

2) Mlerdings hat der Verwaltungsgerichtshof in drei feit 
jeinem Beftehen von ihm entjchiedenen Streitfachen dieſe Frage 
dann anders beantwortet, wenn die Mutter durch ihre Verhei— 
rathung, die feine Legitimation durch nachfolgende Che für das 
Kind in fich fehloß, am 31. Dezember 1872 in Gemäßheit des 
Art. 14 und Art. 26 Abi. 2 des revidirten Bürgerrechtsgejetes 
vom 4. Dezember 1833 ein anderes Bürgerrecht bejaß, als ihre 
uneheliche Tochter. Da aber dies lediglich Folge der durch die 
württembergifche Gefeßgebung begründeten Berfchiedenheit des 
Unterftügungswohnfißes der Mutter von dem des unehelichen 
Kindes war, und derfelbe demgemäß nur als ein Telbjtändiger, 
nicht al3 ein accefforifcher oder abgeleiteter Wohnjig betrachtet 
werden Tonnte, jo folgt hieraus nichts für den vorliegenden Fall, 
in dem eine Verjchiedenheit des Bürgerrechts der Mutter von 
dem der Tochter und damit eine in das Leben getretene Selb: 
ftändigfeit des Bürgerrechts des Kindes vor dem 31. Dezember 
1872 durch die württembergiſche Gefeßgebung nicht begründet 


u A, — 


worden ift. Der Beklagte hat demgemäß feine Verbindlichkeit, 
den Unterftügungswohnfis der Eva Haug auch für ihre Tochter die 
Eva Urfula Haug und deren Tochter Marie Haug anzuerkennen, 
und demgemäß den auf die beiden Letzteren gemachten Aufwand 
dem Kläger zu erfegen, ohne Grund angefochten und ijt ver- 
pflichtet, denjelben zu erjtatten, jomweit e8 in dem 8. 30 des 
Neichsgefeges über den Unterjtügungsmwohnfig begründet iſt. 

3) Dies konnte in dem von dem Kläger angejprochenen 
Umfang nicht für gerechtfertigt erfannt werden. Im Hinblid 
auf das, was der preußifhe Tarif von 2. Juli 1876 für die 
Erſatzanſprüche der preußischen Armenverbände unter ji) feſt— 
ſetzt, wornach dem Kläger für die Verpflegung und ärztliche Bes 
handlung 1 Mark täglich gebühren würde, kann man jchon die 
jorderung von 1 M. 75 Bf. täglich für die Eva Urfula Haug 
in diefer Höhe nicht für gerechtfertigt erkennen, als alles Map 
überfchreitend muß aber die Forderung von 1 M. 75 Pf. täg— 
lich für die zur Zeit ihrer Aufnahme etwas über drei Wochen 
alte Marie Haug, welche ihre Mutter nach den Akten felbit er: 
nährt hat, bezeichnet werden. 

Wenn Kläger fich zur Rechtfertigung dieſes DVerpflegungs: 
jages zunächit darauf berufen hat, daß er ſelbſt dem Rochus— 
jpital diefen Betrag bezahlt hat, fo iſt Letzteres nach den Acten 
allerdings richtig. Da aber 8. 30 Abf. 2 des Reichsgeſetzes 
über den Unterftügungsmwohnfig Hinfichtli der Höhe der Ver— 
pflegungsfoften bejondere geſetzliche Grundfäge feitiegt, jo kann 
die Normirung des Verpflegungstarifd durch die Verwaltungs— 
behörde des Rochusfpitals für die richterliche Entfcheidung nicht 
maßgebend jein, und, wenn Kläger betont, daß der Rochusſpital 
eine milde Stiftung und feine ftädtifche Anftalt fei, jo geben die 
von dem Kläger vorgelegten Aktenjtüde an die Hand, daß den 
fädtifchen Behörden ein genügender Einfluß auf die Negelung 
der Verwaltung des Spitals zujteht, um diejelbe in einer Weiſe 
einzurichten, die das gebührende Maß überfteigende Forderungen 
abjehneidet. Wenn endlich Kläger fich zur Rechtfertigung des 
geforderten Verpflegungsfages von 1M. 75 Pf. auf die für die 
Jahre 1874, 1875.und 1876 gegebene Nachweifung des Aufwandes 
des Rochusſpitals beruft, jo kann auch durch fie der geforderte 


— 16— 


Satz für gerechtfertigt nicht erkannt werden. Abgeſehen davon, 
daß für die der Aufnahme der Haug gerade vorangehenden Jahre 
1877 und 1878 ein ſolcher Nachweis fehlt, hat der Kläger der 
an ihn ergangenen Auflage einer näheren Darſtellung der ver— 
ſchiedenen Kategorien der in dem Rochusſpital zur Aufnahme 
kommenden Kranken und der Vorlage der für ſie beſtehenden 
Regulative keine Folge geleiſtet, ohne ſie iſt aber eine verglei— 
chende Prüfung der Rechnungsnachweiſe nicht möglich. Nicht 
minder hat Kläger unterlaſſen, eine Nachweiſung darüber zu 
geben, was in dem Rochusſpital für das Kind der Haug ge— 
leiſtet worden iſt. Da das Kind, wie nach den Akten anzuneh— 
men iſt, von der Haug ſelbſt ernährt wurde, ſo kann der von 
dem Rochusſpital für dasſelbe zu machende Aufwand nur ein 
ſehr unbedeutender geweſen ſein. Angeſichts des 8. 30 des 
Reichsgeſetzes über den Unterſtützungswohnſitz und der aus dem 
Vorſtehenden ſich ergebenden Momente mußte man daher einen 
Derpflegungsjag von 1M. 75 Pf. für den Tag der Verpflegung 
und Behandlung von Mutter und Kind zufammen für vollfom- 
men genügend und den Berhältniffen entiprechend erachten. 


5. OrtSarmenverband Efjenheim großh.-heſſiſcher 
Kreis Mainz, Kläger, gegen Landarmenverband 
Ellwangen, Beklagten. 


Urtheil des Berwaltungsgerichtshofg von 20. November 1879. 
Urtheil des Bundesamts für dag Heimatwejen v. 13. März 1880. 
Eintritt der Unterftügungsbedürftigkeit. 


Die Gemeinde Efjenheim erhob folgende Klage bei dem Ver: 
waltungsgerichtshof: Der Schreiner und Glajer Georg Kleemanır 
in Efjenheim 309 al3 Gejelle im Jahr 1858 in die Schweiz. 
Er verheiratete fih im Jahr 1860 erjtmals und nad dem 
Tode jeiner Ehefrau im Jahr 1876 zum zweitenmal mit Urjula 
geb. König aus Zöbingen O.-A. Ellwangen. Am 18. Oftober 
1877 nach inzwifchen eingetretener Zerrüttung jeiner Vermögen?» 
verhältniffe verließ Kleemann feine Familie, ohne weitere Nach— 
richt zu geben. Die Ehefrau verließ hierauf am 27. November 1877 
die Schweiz mit zwei Kindern erjter Ehe und einem Kind aus 





en HE 


ihrer Ehe. Sie begab ſich zu ihrem Schwager, dem Maurer 
G. Merz in Zöbingen, bei dem jie Aufnahme fand. Die Ge: 
meinde Zöbingen wandte jih nun nah Efjenheim um Ueber: 
nahme der Familie Kleemann. Diefe lehnte jedoch das Anfinnen 
ab, weil Kleemann den Unterftügungswohnfig durch fait zwanzig: 
jährige Abmwefenheit verloren habe. Nichts deſto weniger fam 
die Kleemann am 29. Dezember 1877 mit den drei Kindern 
nah Efjenheim, wo fie nach und nah 53 M. und 20 Pf. Unter- 
ftügung erhielt. Am 25. Januar 1878 ging fie, weil fie ihrer 
Entbindung entgegenfah unter Zurüdlafjung der zwei Kinder 
eriter Ehe in Efjenheim von da nach Zöbingen, fam aber von 
dort am 13. Juli 1878 mit ihrem ältern und dem inzwifchen 
geborenen Kind wieder nach Ejjenheim, wohin jie die Gemeinde 
Zöbingen auf ihre Koften fchaffen ließ, fo daß Ejjenheim nun 
die Unterjtügung der Mutter mit den vier Kindern Übernehmen 
mußte. Am 11. April 1878 richtete Efjenheim an Zöbingen 
das Anfinnen auf Uebernahme der Familie, erhielt aber feine 
Antwort, und auf eine den 1. Dftober 1878 an das Oberamt 
Ellwangen gerichtete Eingabe wurde Eſſenheim auf die Betretung 
des Rechtswegs gegen den Drtsarmenverband Zöbingen verwiejen. 
Seinen Anſpruch ſtützt der Ortsarmenverband Ejjenheim auf Fol- 
gende: Kleemann hat den Unterftügungswohnjig in Efjenheim 
längjt verloren, Frau und Kinder haben denfelben nie gehabt. Die 
Schweiz, in der Kleemann nicht bürgerlich wurde, ift nicht unter: 
ſtützungspflichtig, deßhalb ijt es nur der Armenverband, in dejjen 
Bezirk die Familie ſich bei dem Eintritt der Hilfsbedürftigfeit be— 
fand, demnach derjenige Landarmenverband, zu dem Zöbingen ge: 
hört. Derfelbe ift verpflichtet, dem Drtsarmenverband Efjenheim 
den gemachten Aufwand zu erfegen und die Familie zu übernehmen. 

Der Klage lag eine Berechnung der Kojten bis 1. März 
1878 mit 230 M. 20 Pf. und eine Erklärung des Ortsarmen— 
verbands Zöbingen an das DOberamt Ellwangen vom 6. November 
1878 bei. Syn derjelben ift zugegeben, daß die Kleemann, Die 
jeit 10 Sahren abwejend war, vorigen Winter Behufs ihrer 
Entbindung zu ihrer Schweiter nah Zöbingen kam. Im Früh: 
jahr habe fie fich bei dem Dberamt beſchwert, daß fie nicht nach 
Eſſenheim reifen Fönne, wohin fie gehöre. Das Oberamt habe 

Württemb. Archiv für Recht ıc. XXI. Br. 1. Heft. 2 


hierauf die Gemeinde zum Vorſchuß der Reiſekoſten gegen Wieder: 
erſatz angewieſen, dies ſei mit 40 M. gefchehen, deren Wieder: 
erfag verlangt wird. Zugleich wird bemerkt, daß die Klee— 
mann feinen Anfpruh auf Unterftügung an den Armenverband 
Zöbingen richten fünne, weil fie ſchon mehr als zwei Jahre von 
Zöbingen abwefend fei. Sodann lag bei die Abfchrift eines 
Schreibens des deutschen Konſulats in Zürih vom 13. Dezember 
1877 „daß man ſeit jehs Monaten nicht? von Kleemann, 
der fallit geworden jei, wife und ein Sohn desjelben, Georg 
Kleemann, welcher bei dem Stadtbauamt Zürich arbeite, hiebei 
aber nur 9 Fr. für die Woche verdiene, die zu feinem Unterhalt, 
Anfhaffung von Büchern und für feine Konfirmation nicht ge: 
. nügen, weßhalb um Unterjtügung und einen Heimatjchein ge: 
beten wird, damit er nicht abgefchoben werde. Die Bernehm: 
laſſung gibt zu, daß Kleemann ſich in der Schweiz aufhielt, feine 
erite Ehefrau mit Hinterlafjung von vier Kindern jtarb, er darauf 
unterm 29. Juni 1876 die Urjula König von Zöbingen bei: 
rathete (nach dem Traufchein fand die Civiltrauung am 29: Juni 
1876, die firhliche Trauung am 18. Juli 1876 jtatt). Bon 
der Vermögenszerrüttung und der Entfernung Kleemann’s weiß 
Beklagter nichts. Nichtig fei, daß die Ehefrau des Kleemann 
am 22., nicht 27. November 1877, mit drei Kindern auf Furzen 
Beſuch zu ihrer Schweiter kam, unrichtig aber, daß die Gemeinde 
Zöbingen fich in der Zeit von 27. November bis 27. Dezember 
1877 an die Gemeinde Eſſenheim mit dem Antrag auf Ueber- 
nahme der Familie wendete, und Eſſenheim diejen Antrag ab: 
lehnte. Am 27. Dezember 1877 reiste die Kleemann von 
Zöbingen nach Efjenheim. Ob fie dort Unterftügung erhielt, 
weiß Beklagter nicht. Die Kleemann fam hierauf am 5. Februar 
1878 mit einem Kinde wieder nad) Zöbingen, und wurde von - 
ihrem Schwager aufgenommen. Am 16. April 1878 wurde jte 
dort von einem Kinde entbunden und ging am 13. Juli 1878 
mit beiden Kindern nad Eſſenheim zurüd, wo inzwifchen die bei- 
den Kinder erjter Che geblieben waren. Bon went diejelben dort 
unterhalten wurden, weiß Bellagter nit. Für die Nüdreife hat 
der Drtarmenverband Zöbingen unterm 17. Juli 1878 Der 
Kleemann unter Vorbehalt des Wiedererfages 40 M. gegeben. 


J RT gen 2 
u 9 — — Br 
wel .Em 


—— 


Wie die Familie in Eſſenheim unterhalten wurde, weiß Beklagter 
nicht. Richtig ſei, daß Eſſenheim etwa im April 1878 an die 
Gemeinde Zöbingen die unbeantwortet gebliebene Aufforderung 
zur Uebernahme der Familie richtete, ebenſo das was über die 
Eingabe an das Oberamt geſagt werde, die Anweiſung des Reiſe— 
geldes ſei aber nicht auf Anordnung des Oberamts erfolgt. Ob 
Kleemann den Unterſtützungswohnſitz in Eſſenheim verloren, ob 
er in der Schweiz ein Bürgerrecht habe, wiſſe Beklagter nicht. 
Die Klage ſelbſt aber ſei nicht begründet. Abgeſehen davon, 
daß es an der Vernehmung des Kleemann in Gemäßheit des 
$. 34 des Reichsgeſetzes über den Unterſtützungswohnſitz fehle, ſei 
wicht nachgewiesen, daß die Kleemann und ihre Kinder fchon bei 
der erjten Ankunft in Zöbingen hilfsbedürftig waren, daß ihre 
Unterftügungsbedürftigfeit dort zu Tage trat und deßhalb An: 
ſpruch auf öffentliche Unterftügung erhoben wurde. Dieß gefchah 
zuerit in Efjenheim, weghalb um Abweifung der Klage gebeten wird. 
Die Neplif beruft fich dafür, daß die Vermögensverhält- 
nie des Kleemann zerrüttet waren, auf dag Zeugniß des deut: 
Ihen Konfulats, für die in Zöbingen hervorgetretene Hilfsbe- 
dürftigfeit beruft jich Kläger auf das Protofoll der Ortsarmen— 
behörde Zöbingen vom 16. Suli 1878 (über die Unterjtügung 
von 40 M.), das befage, daß die Kleemann ganz mittellos fei, 
jodann auf einen Brief der Kleemann vom 16. Dezember 1877 
an den Gemeinderath in Eſſenheim. Derjelbe ijt von Zöbingen 
datirt und an den Gemeinderath Efjenheim gerichtet folgenden 
Inhalts: „Sie erhalten von dem Zöbinger Schultheiß ein Schrei: 
ben, mo die Gemeinde aufgefordert wird, für die Familie Kleemann 
zu forgen. Da Er die näheren Berhältnifje nicht weiß, jo erlaubt 
Er mir, ein paar Zeilen mitfhiden zu dürfen. Kleemann ift vor 
acht Wochen fort eines jchönen Morgens ohne auch nur eines lei- 
feiten Andeutens feines Vorhabens. Alles Geld, das wir hatten, 
bei 500 Franken nahm er mit. Wohin und wo er jegt ift, weiß ich 
nicht; täglich wartete ich auf fein Kommen, allein umfonjt. Vier 
Kinder habe ich angeheirathet, eines hab’ ich für mich und mit dem 
zweiten bin ich in der Hoffnung. Arm bin ich jetzt und habe als 
feine andere Wahl, al3 mich an die Heimatgemeinde zu wenden, 
wohin wir gehören, die Schweiz, das willen Sie jo gut wie ich, 
7 * 


=, Da 


behält feinen Einwanderer, wenn fie nit dag Bürgerrecht be- 
jigen, und das haben wir beide nicht. Ich bitte aljo die Ge: 
meinde dringend jo bald, wie möglich mir zu helfen. ch bin 
ihon drei Wochen bei meinem Echwager in Zöbingen franf, 
jonft hätte ich ſchon bälder darauf gedrungen, jet aber muß 
es jein. Der Schwager behält mich nicht mehr länger, indem 
die Familie zu groß ift, und die Gemeinde Zöbingen gehe ich 
gar nicht? an. Zwei größere Kinder find in der Schweiz ge- 
blieben, jie können ich ſoweit felbft fortbringen, indem fie einen 
Verdienſt haben, die zwei Kleineren von der erjten Frau iſt eines 
acht und eines fieben Jahre alt, da muß die Gemeinde Sorge 
tragen, joldhe unterzubringen. Mein Kind ift am 12. Januar 
ein Jahr alt und felbiges bitten jo wie ich um eine Unter: 
ftüßung, indem ich der Gemeinde nicht ganz zur Laſt fallen will, 
aber jet in diefem Stande auch meinem Verdienft nicht nad): 
gehen Tann. Bitte jchreiben Sie recht bald an Herrn Schult- 
heiß, ob diefer das Geld zur Reife vorjtreden joll, oder ob die 
Gemeinde es fhiden will, denn ich habe feines zu diefem weiten 
Meg. ch denke, daß die Gemeinde diefen Antrag billigen wird, 
indem e3 ja doch fein muß, und Schritte zu der höheren Bes 
hörde verjpart bleiben. Hochachtungsvoll zeichnet Urſula M. Klee 
mann.“ — Das im Eingang diefes Briefes bezeichnete Schreiben 
des Schultheißen Fam erft jpäter zu den Akten. Es lautet: „An 
die Gemeindeverwaltung Eijenheim bei Mainz. Urſula Kleemann 
geb. König, welche ihr Ehemann heimlich verlaffen hat, und fein 
Aufenthalt nicht befannt. Die Frau hat vier Kinder, wovon zwei 
unmündig find und fie folche nicht zu ernähren im Stande ift. 
Namens der Kindesmutter wird zunächſt die gütliche Anfrage 
gejtellt, ob fie die zwei unmündigen Kinder im gütlichen Wege 
zur Erziehung übernehmet? oder weitere Schritte zu thun find? 
Die Gemeindeverwaltung wird freundlichit erfucht, fobald wie 
möglich hierher Beſcheid zu geben, da beide Eheleute in Eſſen— 
heim das Bürgerrecht befiten. Hochachtungsvol, Zöbingen Ober: 
amts Ellwangen 15. Dezember 1877 Urfula Kleemann. Zur 
Beurkundung Schultheiß Landenberger.” Weiter wird geltend 
gemacht: ein Schreiben des Schultheifenamts Zöbingen vom 
23. Februar 1878 an das Kreisamt Mainz des Inhalts: „Ur: 


a Mi 


jula Kleemann, bürgerlih in Efjenheim, welche fich hier bei ihrer 
Schweiter aufhält, und fih mit ihrem anderthalb Jahre alten 
Kinde in dürftiger Lage befindet, da fie nahe an ihrer Entbin- 
dung ift, und eine ſolche Reife in ihre Heimat nicht mehr unter: 
nehmen kann, ſomit wird obhenannte verehrliche Stelle im Auf: 
trag der Kleemann erjucht, ihr eine Unterjtügung aus ihrer 
Heimatgenteinde zu beichaffen, daß, wenn fie in der nächſten Zeit 
in das MWochenbett kommt, ihren Lebensunterhalt fortzuführen 
im Stande iſt,“ endlich eine an die Gemeindeverwaltung in 
Eſſenheim gerichtete Koftenrechnung des Maurer ©. Merz von 
Zöbingen vom 4. März 1878. „Der Unterzeichnete erlaubt ſich 
der verehrlichen Gemeindeverwaltung betreff3 der Urfula Klee— 
mann und deren Kind, dort bürgerlich, eine jpezielle Rechnung 
für Koft und Logis einzufenden. Diejelbe iſt wieder feit 
30. Januar bei mir in Koft und Logis und find big dato 


33 Tage per Tag 60 Pf. . . . — . 19 M. 80 Pr. 
genanntes Kind 65 Tage à 40 Br. . — 2 26M. — 
45 M. SO Pf. 


Da ich ſchon im Monat Januar eine Rechnung an die verehr— 
liche Gemeindeverwaltung eingeſendet habe, und bis dato nichts 
erhalten, ſo bitte ich obenbeſagte Stelle mir Beſcheid zu geben, 
indem ich in meinen geringen Verhältniſſen nicht zwei Perſonen 
ernähren kann, widrigenfalls ich mich an eine höhere Stelle 
wenden muß. Bemerkt wird, daß beſagte Frau der Entbindung 
nahe iſt, und ich nicht noch eine Kindbettwärterin zu mir ins 
Haus nehmen kann und auch dieſelbe noch ernähren muß.“ 

Der Aufwand für die Kleemannſche Familie wird durch 
vom Bürgermeijteramt Eſſenheim beglaubigte Auszüge aus den 
Gemeinderechnungen, wie folgt, liquibirt: 

a) 15./16. Januar 1878 an ©. Schweizer in Ejjenheim für 
31. Dezember 1877 
15. Januar 1878 
Wohnung 21 M. 20 Pf. b) 19. Januar Urfula Kleemann 
und Kinder Unterftügung 20 M. ce) an obigen Schweizer für 
Verpflegung von einem Kind des Kleemann 17. Februar 1878 
12 M. d) ebenfo 23. März 1878 12 M. e) desgl. 24. April 
1878 12 M. f) desgl. 20. Mai 1878 12 M. g) 23. uni 


Unterftügung der Familie Kleemann vom mit 


BB a 


1878 ebenjo 12M. h) 20. Juli 1878 desgl. 12 M. i) 18. Auguft 
1878 12 M. k) 12. September 1878 an Urjula Kleemann 
und ihre Kinder Unterjtüßung 16 M. I) 10. November 1878 
an Urſula Kleemann fir Unterftüßung ihrer Familie einſchließ— 
lid Schulgeld 20 M. m) 8. Dezember 1878 an diejelbe für 
' Unterftügßung und Pflege ihrer Kinder 12 M. n) 8. Januar 
1879 desgl. 12 M. 0) 18. Januar 1879 an Johann Haas 
in Ejjenheim für Miethe einer Wohnung an die Kleemann und 
vier Kinder vom 14. Auguft bis 31. Dezember 1878 28 M. 
.90 Pf. p) 9. Februar 1879 an die Kleemann und ihre Kin: 
der Unterftügung 12 M. .q) 12. März 1879 desgleichen 12 M., 
Zufammen 238 M. 10 Pf., auf welche jegt das Betitun ge: 
jtellt wird. Ob Kleemann einen Unterjtüßungswohnfig habe, 
habe Beflagter zu beweifen, nachdem Kläger nachgewiejen, daß 
er den Unterjtügungswohniit in Eijenheim nicht mehr beſitze, 
wie Schon das deutiche Konjulat in Zürich bezeuge, jei Kleemann 
ſchon im. Jahr 1865 in die Schweiz gezogen. Eine Verneh— 
. mung nach Maßgabe des $. 34 des Neichsgefeges über den 
Unterftügungswohnfig wäre eine überflüffige Formalität geweien, 
nachdem die Kleemann ihre Verhältniſſe brieflich vorgetragen, 
und ihre Bedürftigfeit ar vorlag. Nach $. 28 und 30 des 
Reichsgeſetzes über den Unterſtützungswohnſitz komme es nur 
darauf an, an welchem Drt der Eintritt der Hilfsbedürftigfeit 
erfolgte, nicht darauf, wo zuerſt Unterftügung geleijtet wurde, 
und Diefer Zeitpunkt fei die Zeit der Rückkehr der Kleemann 
aus der Schweiz in ihre Heimat. 

Die eidlihe Vernehmung des G. Merz von Zöbingen gab 
nur an die Hand, daß die Kleemann, als ſie Ende November 1577 
aus der Schweiz mit den drei Kindern zu ihm nach Zöbingen 
fam, noch 50—60 Mark befaß, und daß er nicht die Abficht 
hatte, fie und ihre Kinder. unentgeltlich bei fich aufzunehmen. 
Gie ſei Anfang Dezember bei dem Dberamt in Ellwangen ge: 
wejen, wo man ihr gejagt habe, es werde Alles bereinigt wer: 
den. Sie habe ihn auch verfichert, daß Alles bezahlt werden 
werde. Weder auf die erjte Nechnung, die er für den erjten 
Aufenthalt im Monat Dezember 1877 oder im Monat Januar 
1878 ihr nach Eſſenheim mitgegeben habe, noch auf die zweite 


= Bor — 
J a 3 


u BE 


vom 4. März 1878 habe er aber einen Befcheid erhalten. 
Nah Efjenheim fei fie damals um die Weihnachtfeiertage 1877 
herum mit ihrem Geld gereist, da fie in Zöbingen faſt nichts 
gebraucht habe. Das Dberamt Ellwangen wollte aber nichts 
davon wiſſen, daß die Kleemann um die angegebene Zeit vor 
dem Dberamt erjchien. — Inzwiſchen war der Ehemann der 
Kleemann ſelbſt wieder nach Zürich gefommen, wo er am 
25. Juni 1879 bei dem dortigen Konjulat angab: Ich hielt 
mid kurze Zeit in Glarus auf, im Jahr 1858 verzog ich nad) 
Egg im Kanton Zürich, wo ich mich im Jahr 1862 mit Salome 
geb. MWalden von Egg verheirathete und ein eigenes Gejchäft 
als Schreiner und Glafer betrieb. Im Jahr 1867, in dem 
mih einige Gläubiger drängten, arrangirte ich mich mit Hilfe 
meines Schwiegervater und blieb noch bis Dftober 1869 in 
Egg. Von da z0g ich nach Auperfihl und am 15. März 1870 
nah Wipfingen bei Zürih und im Jahr 1576 nad Züri) 
jelbit. Meine Frau jtarb am 7. Januar 1876 in Wipfingen. 
Am 29. Juni 1876 heirathete ih die Urjula geb. König von 
Zöbingen. Die Ehe war nicht glücklich. Es ergab fih, daß 
die rau bereits zweimal, wenn nicht noch öfter geboren hatte; 
auf ihre Angaben vertrauend, fie habe in ihrer Heimat noch 
1700 Mark von ihrem Bermögen, die fie holen wolle, gab ich 
ihr 120 Franken Reifegeld und eine Menge Gejchenfe für ihre 
Verwandten. Statt Geld brachte fie zwei Geſchwiſter mit, die 
ih eine Zeit lang unterhalten mußte. Erſt jpäter gelang es 
mir, 500 Franken von ihr zu erhalten, welche für Anjchaffung 
von Mobilien verausgabt wurden. Im Jahr 1877 kaufte ich 
ein Geſchäft in Sft. Gallen, wohin meine Frau auch nachkam. 
sh verjah fie mit Reijegeld und dergl., um in der Heimat 
Geld zu holen, fie kehrte aber ohne alle Mittel von da zurüd. 
Der Haushalt wurde immer jchlechter geführt, und die Kinder 
mißhandelt, fo daß ich, nachdem alle Verfuche vergeblich waren, 
fie zur Drdnung zu bringen, Ende des Jahrs 1877 nach Wien 
ging, von wo ih Ende Juni 1878 wieder nah Zürich zurück— 
kehrte. In der Zwiſchenzeit ging die Frau mit den Kindern 
nach Ejjenheim. Die Angabe, die meine Frau machte, daß ih 
rallit fei, ift erlogen. Daß ich noch Deuticher bin, geht aus 


a ii: 


meinem Haͤmatſchein von 1870 hervor, den das Kreisamt Mainz 
ausgeſtellt hat, und der nach dem Zeugniß der Kontrolbehörde 
vom 8. Oktober 1878 in Zürich deponirt iſt. 

Ein nachträglich vorgelegtes Vernehmungsprotokoll der Urſula 
Kleemann vom 14. Januar 1878 von dem Bürgermeifter in 
Eijenheim wiederholt nur ihre früheren Angaben, wogegen fich 
Kläger auf die Aufforderung zur Nachweifung der Anmeldung 
des Anſpruchs nad) Maßgabe des 8. 34 des Reichsgeſetzes über 
den Unterftüßungswohnjig vom 6. Juni 1870 auf ein Schreiben 
des Rechtsanwalts Lippold in Mainz vom 14. April 1878 an das 
Schultheißenamt Zöbingen beruft, das unter Androhung gericht: 
liher Schritte das Schultheigenamt Zöbingen zur Anerkennung 
der Erjaßpfliht gegenüber der Gemeinde Efjenheim auffordert. 
Im Winter 1877/8 bis Frühjahr 1878 fei zwifchen Efjenheim und 
Zöbingen eine Korrefpondenz wegen Unterhaltung und Unter— 
ſtützung der Familie Kleemann geführt worden. 

Inzwiſchen war die Ehefrau des Kleemann (geb. den 
20. März 1847) in Gmünd in einen Dienft getreten, wo jie eid- 
ih, über ihre Verhältniffe vernommen, Folgendes angab. Ich 
beige Urſula Maria Kleemann geb. König. Die Namen der zu 
unterftügenden Kinder — es find die Kinder der erjten Frau, 
meines Manns — find 1) Natalia Kleemann geb. im Jahr 1869 
in Hinteregg. 2) Albert Kleemann geb. 1870 in Außerfihl. Klee— 
mann und ich haben, am 16. Mai 1876 geheirathet. Wir wohnten 
mit den Kindern bis zum 24. Juni 1877 in Zürich und zogen von 
da nad) Skt. Gallen, wo wir bis 8. November 1877 wohnten. An 
diefem Tag entfernte jih mein Mann von uns. Ich ſelbſt hielt 
mich darauf bis zum 24. November 1877 mit den Kindern des 
Kleemann in Skt. Gallen auf. Am 24. November 1877 309 ic) 
nit den zwei zu unterftügenden Kindern des Kleemann von 
Skt. Gallen zu meinem Schwager ©. Merz in Zöbingen, ich kam 
den 26. November in Zöbingen an, wo ic) bis zum 28. Dezember 
1877 blieb. An diefen Tag ging ich mit den zwei Kindern aus 
der eriten Ehe des Kleemann nad) Ejjenheim, wo ich am 31. De— 
zember 1877 anfam, und bis zum 3. Februar 1878 blieb, wo id) 
wieder nach Zöbingen zurüdging. Die zwei Kinder erjter Ehe 
ließ ih bei dem Schwager meines Mannes Schuhmacher 


SEE” 


= 


©. Schweizer in Ejjenheim. Vom 4. Februar bis 15. Juli 1878 
hielt ich mich mit meinem Kind Franz Karl in Zöbingen auf. 
Am 26. April 1878 gebar ich dort ein Mädchen, das am 
23. September 1878 in Efjenheim ſtarb. Am 15. Juli 1878 
reiste ich mit meinen eigenen Kindern nach Efjenheim, wo ich 
am 18. Juli 1878 anfam, und bis zum 1. April 1879 dort 
wohnte. Da reiste ich mit meinem eigenen älteren Kind wieder 
nad Zöbingen, wo ih am 2. April 1879 ankam. ch blieb 
dort bis zum 3. Mai 1879, gab mein Kind meinem Schwager 
6. Merz in Verpflegung und ging hierher in Dienjt. Sch wurde 
am 16. Juli 1876 in Außerfihl firhlih getraut. Vom 1. Sep: 
tember 1875 bis zu meiner Giviltrauung am 16. Mai 1876 
war ih ununterbrochen in Züri. Vor dem 1. September 1875, 
war ich fünf Jahre ununterbroden in Gmünd. Den Brief 
vom 16. Dezember 1877 habe ih, ohme durch Jemand dazu 
veranlaßt worden zu fein, aus eigenem Antrieb nad) Efjenheim 
geihrieben, eine Antwort erhielt ih nit. Jm Mai 1877 fam 
mein Mann in Zürich in Gant, nachdem er fi Thon im März 
1877 unbelannt wohin entfernt hatte. Im Juni 1877 jchrieb 
er mir von Skt. Gallen und forderte mi auf, dorthin zu 
fonımen. Am 23. oder 24. Juni ging ich dorthin, wo wir 
bis 8. November 1877 wohnten, an weldhem Tag er jich ent- 
jernte und alle Geld mitnahm. Ich mußte noch für einen 
Wechjel, für den ih Bürge war, 500 Franken bezahlen, außer: 
dem noch Gejellenlohn und andere Schulden, jo daß mir von 
meinem Bermögen noch 86 Franken blieben. ch brachte 800 M. 
in die Che und eine Augjteuer, jo daß mein Beibringen auf 
2000 Franken angefhlagen wurde. Da die 800 Mark im Ge: 
jhäft verbraucht wurden, hat mir mein Mann noch vor jeiner 
eriten Entfernung Alles, was er noch hatte, um 2000 Franken 
zum Voraus einfchreiben laffen. Der Mafjeerlös ergab aber nur 
jo viel, daß mir nach Bezahlung von Allem noch S6 Franten 
blieben. Als ih nah Skt. Gallen zog, hatte ich fein Vermögen 
mehr, er felbjt hatte dort eine Schreinerwerfjtätte auf meinen 
Namen eingerichtet. Als er mid am 8. November 1877 zum 
zweiten Mal verließ, nahm er 500 Franken mit, die ich für 
das Geſchäft entlehnt hatte. Nach feiner Entfernung mußte ich 


a Bir 


alle Schulden bezahlen, jo daß mir nichts übrig blieb... Eine 
Tante ſchickte mir noch 200 Mark zur vollftändigen Bezahlung 
der Schulden. Am 24. November 1877 zog ich mit meinem 
eigenen Kind und den zwei jüngiten aus eriter Ehe nach Zöbingen, 
wo ich bei meinem Schwager G. Merz bis zum 28. Dezember 
1877 war. Bei meiner Abreife von Skt. Gallen hatte ich etwa 
50 Franfen für die Neife, die mir von Privatleuten als Ge— 
Tchenfe zufamen.. Deffentliche Unterftügung habe ich nicht erhal: 
ten. Mit diefen 50 Franken reiste ich nah Zöbingen, wo id) 
nod etwa 13 Franken übrig hatte. Bei meinem Schwager 
war ich unentgeltlich, ich habe dort nicht um öffentliche Unter: 
ftügung gebeten, auch jolche nicht erhalten. Erjt auf meiner Reife 
nach Ejjenheim, amı 28. Dezember 1877, wo ich die beiden Kinder 
aus erjter Ehe mitnahm, während ich mein eigenes Kind Franz 
Karl bei meiner Schweiter ließ, ging ich zuerjt nach Ellwangen, 
um mir dur dag Oberamt eine Neifeunterjtügung zu erwirken, 
traf aber dort Niemand, dann ging ih nad Stuttgart, wo id) 
8 Mark erhielt, und hierauf nad) Darmftadt, wo mir der Bürger: 
meiſter aus jeiner Privatfafe 3 Mark gab. Damit fam ic) auf 
der Eifenbahn bis Mainz, und von da nach dem zwei und eine 
halbe Stunde entfernten Efjenheim zu Fuß. Bei Nacht fam ich 
bei dem Schwager meines Manns an, der mid), wenn auch ungern 
bei ji aufnahm. Am nächſten Tag übergab ich die beiden Kinder 
aus erjter Ehe dem Bürgermeifter zur Fürforge. Yon meinem 
Mann habe ich feit Dezember 1877 öfter Mittheilungen erhalten. 
Als ih am 3. Februar 1878 von Efjenheim nach Zöbingen zurück— 
fehrte, waren zwei Briefe von ihm da, der erjte aus Serbien, der 
zweite aus Peſth, in denen er dringend um Geld jchrieb. Im 
Juli 1878 habe ich die legte Nachricht von ihm aus Zürich er: 
halten. Daß mein Mann fein Bürgerrecht in der Schweiz bat, 
weiß ich, weil bei meiner Heirath meine Aufnahme in das Bürger: 
recht von Eſſenheim nachgewiejen werden mußte. Auch wurde im 
Sahr 1877 eine Bitte um Unterftügung für das Kind aus erjter 
Ehe abgemwiejen, weil mein Mann das Bürgerrecht nicht dort hatte. 
Gegangen bin ich von der Schweiz freiwillig ohne durch eine Be— 
hörde oder ſonſt wen dazu veranlaßt worden zu fein. Am 
29. Januar 1878 habe ich von der Gemeinde Ejjenheim 20 Mark 


a DR: 


zur Reife nach Zöbingen erhalten, fodann am 12. September 
1878 12 Mark. Am 10. November 1878 erhielt ich aud Unter: 
ſtützung, ob 20 Mark weiß ich nit. Der Gemeindeeinnehmer 
zog jofort 2 Mark 80 Pfennig für Schulgeld ab, ob ih noch 
17 Mark 20 Pfennig befam, weiß ich nicht mehr. Am 8. De: 
zember 1878 erhielt ih 12 Mark, ebenfo am 10. Januar 1879 
und am 12. Februar 1879. Den Miethzins, den die Gemeinde 
entrichtete, vermag ich nicht zu beanftanden. 

Ein Protokoll. der Ortsarmenbehörde Stuttgart vom 29. De— 
zember 1877 bejtätigte die der Urjula Kleemann mit ihren beiden 
Kindern Natalie und Albert gegebene Unterftügung von 8 Mark. 
Sie hatte dabei angegeben, daß fie in Sft. Gallen von einem 
Herrn 75 Franfen, von einer Frau 11 Franken Unterjtügung zu 
Ihrer Reiſe nach Deutjchland erhielt. Dagegen behauptete der 
Oberbürgermeifter in Darmftadt, daß ihm von einigen Berfonen 
ab und zu Mittel für Arme gegeben werden, ob er aus diejen 
Mitteln der Kleemann 3 Mark gegeben, jei ihm nicht mehr 
erinnerlid. 

Kläger erklärte hierauf, daß die 2 Mark 80 Pfennig nicht 
weiter als Armenunterjtüßung gefordert werden. Diejenigen 
84 Mark, welche nach den vorgelegten Anmweifungen in 7 Rojten 
an Georg Schweizer für die Verpflegung eines Kindes des Klee: 
mann bezahlt wurden, bezogen fich auf den Knaben Albert Klee— 
mann, welcher an einer Lähmung des Beins leide. Das an: 
dere Kind Natalie jei bei einer Familie in Darmjtadt unent: 
geltlich untergebradht geweſen, jpäter aber wieder nah Eſſenheim 
gebracht worden. Die Koften für dieſes Kind feien nicht be= 
deutend, indem es als jchon mehr erwachlen fait unentgeltlich 
aufgenommen werde. Die Gemeinde zahle aber noch jegt monat— 
ih 12 Mark für die Verpflegung der Kleemannfchen Kinder. 

Bei nochmatiger Bernehmung erfannte die Kleemann aud) 
die am 12. März 1879 in Ejjenheim erhaltenen 12 Marf an, 
jowie daß die nach ihrer Angabe am 29. Januar 1878 bezahlten 
20 Mark mit den vom Kläger angeblih am 19. Januar 1878 
bezahlten 20 Mark iventifch find, daß ferner die Natalie Klee: 
mann zuerjt bei einer Familie in Darmftadt untergebracht, 
naher aber wieder nach Eſſenheim zurücdgebracht wurde. Uns 


ee BE, 


terjtügung habe die Gemeinde nur für Albert Kleemann, nicht 
für Natalie Kleemann bewilligt, dieje, habe man gejagt, folle 
ihr Brod jelbft verdienen. Sodanı gab fie zu, daß fie bei 
ihrer Ankunft in Zöbingen November 1877 noch über 50 Mark 
bejefjien habe. Sie habe aber jofort 14 Tage nah ihrer Anz 
funft beim Zollamt in Heidenheim 20 Mark 80 Pfennig für 
Hol und Transport von zwei volljtändigen Betten, einer Com— 
mode, einem Kinderwagen, zwei Kijten mit Kleidern, Weißzeug 
und Geſchirr zu bezahlen gehabt, und außerdem Kleider und 
dergl. gekauft, jo daß ihr nur noch 13 Mark geblieben jeien. 
Bor ihrer Abreife aus der Schweiz habe fie allerdings mehrere 
Gefchente darunter 75 Franken von einem Herrn und 11 Franken 
von einer Dame erhalten, aber jie habe auch verjchievene Aus— 
lagen gehabt, und wilje nur noch, daß fie bei ihrer Abreife aus 
der Schweiz noch nicht ganz 100 Mark bejefjen habe. Auch 
jei jie Anfangs Dezember bei dem Oberamt Ellwangen gewesen, 
und habe um Neifegeld gebeten. Ein Beamter, der aber nicht 
der Oberamtmann gewefen fei, habe ein Schreiben gemadt, und 
gejagt, es werde Alles bejorgt werden. Wohin das Schreiben 
fam, wifje fie nit. Der Schultheiß habe jpäter gejagt, daß 
er ihr nur Reijegeld gebe, wenn e3 der Oberamtmann erlaube. 
Der DOberamtmann fei dann auch nad Zöbingen gefommen, wo 
fie ihm ihr Gefuch vorgetragen habe. Derſelbe habe vor ihr 
und dem Schultheigen gejagt: fie müſſe unterjtügt werden, man 
folle ihr Koft, Wohnung und Neifegeld geben, es müſſe der Ge: 
meinde wieder erjegt werden. Darauf habe fie von der Ge— 
meinde Zöbingen 40 Mark Neifegeld erhalten. Dies kann ſich 
jedoh nur auf ihre zweite Anweſenheit in Zöbingen beziehen, 
weil jie die 40 Mark Neifegeld erft am 17. Juli 1878 erhielt. 

Der Verwaltungsgerichtshof wies die Klage aus folgenden 
Gründen koſtenfällig ab: 

1) Der Kläger hat den Anſpruch auf Unterjtügung der 
Familie des Glajerd und Schreiners Kleemann von Efjenheim 
auf die Behauptung geftügt, daß die von ihrem Gatten nad 
deſſen Bermögenszerrütiung böglich verlafjene Ehefrau des Klee: 
mann jih Ende Nodember 18577 von der Schweiz aus mit 
zwei Kindern aus Kleemanns erjter Ehe und einem eigenen 


Ka EBEN ale 


Kind in ihren früheren Heimatort Zöbingen begeben habe und 
dort hilfsbedürftig geworden fei. Da die Familie feinen Unter: 
ſtützungswohnſitz mehr gehabt habe, jo fei nad) $. 30 lit. b des 
Neihsgejeges über den Unterftügungsmohnfig vom 6. Juni 1870 
der Landarmenverband Ellwangen verbunden, die Familie zu , 
" unterhalten, und dem Kläger, welcher nach eingetretener Unter: 
tügungsbedürftigfeit jene Unterftüßungen habe gewähren müſſen, 
entiprechenden Erſatz für feine Verwendungen zu leijten. 

2) Hinfichtlih des zunächſt dem Kläger obliegenden Be: 
weile der Zandarmeneigenfchaft wäre nach den geihehenen Er: 
hebungen, insbefondere den Angaben des während des gegen: 
wärtigen Rechtsſtreits in die Schweiz zurüdgefehrten ©. Kleemann 
jelbft vor dem faiferlichen deutſchen Konſulat Zürich die Familie 
Kleemann allerdings noch als deutfche Staatsangehörige zu be— 
trachten. Auch hätte Kleemann mit feiner Ehefrau den früher 
ihr in Eſſenheim zugeftandenen Unterftügungsmwohnfig längſt ver- 
loren, indem Kleemann jeit dem Jahr 1858 fortwährend in der 
Schweiz wohnte. Würde aber auch biernah angenommen, daß 
die Familie Kleemann wirklich noch die deutfche Staatsangehörig- 
feit inne gehabt, und durch ihre längere Abwejenheit landarm 
geworden ijt, fo ift dagegen 

3) von dem Kläger nicht vechtögenügend bewieſen worden, 
daß die Ehefrau des Kleemann mit den Slindern zu der Zeit 
ihrer erjten Anmwejenheit in Zöbingen von Ende des Monats 
November bis zum Ende des Monats Dezember des Jahrs 1877 
wo fie ſich nad) Efjenheim begab, und vor den jpäter erhaltenen 
Unterjtügungen bereits hilfsbedürftig im armenrectlichen Sinn 
gewefen jei. Dies ijt von Seite des Klägers zunächſt darauf 
gegründet worden, daß der Ehemann Kleemann nad dem 
Schreiben des faiferlichen deutjchen Konjulats in Zürih vom 
13. Dezember 1877 an das Bürgermeifter-Amt in Efjenheim 
ein Fallit geweſen jei, der feine Familie hilflos verlaſſen habe. 
Nun hat aber fpäter der vor demfelben Konjulat vernommene 
G. Kleemann unter Berufung auf fein Leumundszeugniß nicht be— 
ftritten, daß er ji in fallitem Zuftand befunden hat, und aus 
den eidlihen Angaben der Ehefrau des Kleemann ergibt fich, 
daß ſie von den in Züri (Skt. Gallen?) zurückgelaſſenen Ber: 


BEI. —— 


mögenstheilen noch Verſchiedenes bezog. Als fie die Schweiz 
jpäter mit den Kindern verließ, bejaß fie nach ihrer Angabe 
einen nicht ganz unerheblichen Vorrat) an Betten, Möbeln, 
MWeißzeug und Hausgeräthen, deſſen Transport zum Zollamt 
Heidenheim 20 Mark und 80 Pfennig fojtete, und noch über: 
dies einen Geldvorrath von gegen 100 Mark, wovon ihr nad 
Beitreitung der Reiſekoſten bis Zöbingen noch über 50 Mark!) 
verblieben fein follen. In Zöbingen fand fie mit den Kindern 
Aufnahme bei Verwandten, ohne dort zu jener Zeit die öffent: 
lihe Unterftügung in Anſpruch nehmen zu müſſen. Zwar hat 
ihr Schwager ©. Merz in Zöbingen fpäter für die Verpflegung 
der Familie Kleemann Anſprüche an die Gemeinde Ejjenheim 
erhoben, welchen diefe feine Folge gab. Aus diefen rein pri— 
vatrechtlihen Anſprüchen kann aber eine in jener Zeit bereits 
beitandene Hilfsbedürftigfeit um jo weniger abgeleitet werden, 
da die Familie jo lange fie ihre Verpflegung bei Verwandten 
hatte, auch feiner öffentlichen Unterftügung bedurfte. (Wohlers 
Entjcheidungen des Bundesamts für das Heimatwejen Heft IX. 
©. 76). Wenn jodann Kläger die bereits eingetretene Hilfs: 
bedürftigfeit auf das von der Chefrau des Kleemann an die 
Gemeinde Ejjenheim gerichtete Schreiben vom 16. Dezember 1877, 
ſowie die demfelben beigefchloffene von dem Schultheißenamt Zö— 
bingen beurfundete Mittheilung vom 15. Dezember 1877 zu 
ftügen gefucht hat, fo konnte auch dies nicht als beweisgenügend 
erachtet werden. Nach dem Inhalt jenes Schreibens ging Die 
Kleemann von der Anfiht aus, daß die ganze Familie Kleemann 
noch den Unterftügungswohnfig in Effenheim als dem Heimatort 
des Familienvaters zu beanfpruchen habe. In diefer Voraus: 
jeßung hat fie nun, um den Aufenthalt der Familie bei den 
Verwandten in Zöbingen nicht allzufehr in die Länge zu ziehen, 
und weil fie zunächſt der keinenfalls von ihr ferner zu unter: 
haltenden Kinder aus der erſten Ehe des Kleemann ſich ent- 
1) Nach ihren eigenen Angaben waren aber dieje iiber 50 Mark 
vierzehn Tage nad) ihrer Ankunft durch die Zahlung der 20 Marl 
80 Pfennig für Zoll und Transport ihrer Effekten, ſowie die Zahlungen 
für weitere Anjchaffungen anderer Bedürfniffe bis auf 13 Mark auf: 
gebraucht. | 


TEREISEUT * 
ET — 


ledigen wollte, vorſorglich an die Gemeinde Eſſenheim mit der 
Bitte ſich gewendet, ihr Reiſegeld zu ſenden, und es enthält die 
von dem Schultheißenamt Zöbingen am 15. Dezember 1877 
beurkundete Eingabe der Ehefrau des Kleemann auch nichts 
Weiteres als die Anfrage, ob die Gemeinde Eſſenheim die zwei 
Kinder aus erſter Ehe im gütlichen Weg übernehmen wolle. 
Hieraus folgt noch keineswegs, daß die Familie zur Zeit jener 
zunächſt die Anerkennung des Unterſtützungswohnſitzes in Eſſen— 
heim bezweckenden Anfrage bereits hilfsbedürftig war; denn zu 
jener Zeit war die Familie noch bei den Verwandten und die 
Kleemann hatte mit den Kindern damals noch ſo viel Geldmittel, 
daß ſie mit ſolchen am 27. Dezember 1877 die Reiſe nach 
Eſenheim antreten konnte. 

Die Kleemann will ſodann nad ihrer von ihrem Schwager 
unterftäigten Angabe in jener Zeit zwar auch bei dem Oberamt 
Ellwangen in ihrer Angelegenheit gewefen fein, worüber jich 
jdoh bei jener Behörde nichts Näheres erheben lie. Nach 
ihrem Vorbringen bezwedte übrigens jener Schritt ebenfalls nur 
die Bewilligung von Neifegeld nach Eſſenheim und it hiedurch, 
wie es jcheint, auch obige Anfrage an die Gemeindebehörde in 
Eſſenheim veranlaßt worden. 

Wenn hiernach angenommen werden mußte, daß die Familie 
Kleemann bei ihrer erſten Anweſenheit in Eſſenheim noch nicht 
hilfsbedürftig war, ſo konnte die von Seite des Klägers ferner 
geſchehene Berufung auf die ſpätere Korreſpondenz zwiſchen den 
Gemeindebehörden Eſſenheim und Zöbingen, namentlich das vor— 
gelegte Schreiben des Schultheißenamts Eſſenheim vom 23. Feb— 
ruar 1878 nicht als erheblich betrachtet werden, weil ſich jene 
Mittheilung auf die zweite Anweſenheit der Ehefrau des Klee— 
mann in Eſſenheim in Zöbingen von Ende Januar bis Mitte 
Juli 1878, ſomit auf eine Zeit bezog, wo der erſt in Eſſen— 
heim wirklich zu Tage getretenen Bedürftigkeit die dort ſchon 
im Januar 1878 gewährten Unterſtützungen vorausgegangen 
waren. — 

Auf eingelegte Berufung des Klägers änderte jedoch das 
deutſche Bundesamt für das Heimatweſen dieſes Urtheil unterm 
13. März 1880 dahin ab, daß Beklagte verbunden ſei, zur 


—— 


Uebernahme des Albert Kleemann in eigene Fürſorge, ſowie 
zum Erſatz der nach dem 17. Auguſt 1878 zur Unterſtützung 
der Familie Kleemann aufgewendeten und bis zur Uebernahme 


des Albert Kleemann noch aufzuwendenden Koſten, welche, ſo 


weit liquidirt und belegt, auf 86 Mark und 10 Pfennig feſt— 
gejeßt werden und im Uebrigen im bejonderen Berfahren noch 
feitzujegen find, mit der Mehrforderung hingegen Kläger ab: 
zumeifen ‚und von den Kojten und baaren Auslagen das Ber: 
fahrens beider Inftanzen Kläger ein Drittel, Beklagten zwei 
Drittel zur Laſt zu legen feien. | 
Gründe Der erjte Richter gelangt in der Begründung 
des angefochtenen Erfenntnifjes ohne zureichenden Grund zu der 
Annahme, daß das Bedürfniß der öffentlichen Unterftügung der 
verehelihten Urſula Kleemann zur Zeit ihres erjten Aufenthalts 
in Zöbingen (gegen Ende November bis gegen Ende Dezember 
1877) noch nicht bejtanden habe. So lange fie noch verfüg: 
bare Geldmittel bejaß, oder von ihrem Schwager ©. Merz mit 
den Kindern unentgeltlih ernährt wurde, fonnte die Kleemann 


freilich feinen Anſpruch auf Armenunterftügung machen. Allein 


die geringen Geldmittel, welche jie bei ihrer Rückkehr aus der 
Schweiz in der eriten Zeit befaß, gingen zu Ende, und Georg 
Merz wollte und konnte nicht länger für fie jorgen, wie Dies 
Alles aus den Zeugenausfagen hervorgeht. Mit ihrer Hände 
Arbeit fih und drei Kinder zu ernähren (zwei Stieflinder und 
ein eigenes), war fie jedenfall3 um fo weniger im Stand, als 
fie einer abermaligen Niederfunft entgegenjah. So geſchah es 
denn feineswegs ohne Noth, daß fie öffentliche Unterjtügung in 
Anſpruch nahm. Diefen Anspruch erhob fie zwar nicht gegen 
den Ortsarmenverband Zöbingen, der als Armenverband ihres 
Aufenthalts zu vorläufiger Unterftügung verpflichtet war ($. 28 
des Neichsgejeges über den Unterftügungsmwohnfig vom 6. Juni 
1870), jondern gegen den Drtsarmenverband Ejjenheim, wo jie 
Unterjftügungswohnfiß zu haben vermeinte, bediente fi aber 
dabei der Vermittlung des Schultheißen von Zöbingen, welcher 
auf dieſe Weife Kenntniß von dem vorhandenen Unterjtügung?- 
bedürfnifje erhielt, und das Beſtehen defjelben in der Zufchrift 
vom 15. Dezember 1877 dem Drtsarmenverband Ejjenheim aus: 


ER 





drüdlich beftätigte. Wenn gleichwohl damals Zöbingen in Zu: 
widerhandlung gegen die angeführte gejegliche Vorſchrift nichts 
zur Abhilfe des anerkannten Unterjtügungsbedürfnifjes that, und 
auf diefe Weiſe die verehelichte Kleemann nöthigte, anderwärts 
Hilfe zu juchen, was zunächit in Stuttgart und Darmftadt ge: 
ſchah, To involvirt diejes Verhalten den Thatbeſtand einer gejeß- 
widrigen DBerfagung der Fürforge, und ändert nichts daran, 
dag die Hilfsbedürftigfeit der Urjula Kleemann zuerit während 
ihres Aufenthalts in Zöbingen eingetreten, nämlich dem 
dortigen Armenverband erfennbar geworden iſt. Daraus folgt, 
daß der Beklagte derjenige Landarmenverband ift, welcher für 
die Ehefrau und die Kinder des nach der zutreffenden Aus— 
führung des eriten Richters domizillofen Georg Kleemann zu 
forgen hatte ($. 30 lit. b des Neichsgejeges über den Unter— 
ſtützungswohnſitz vom 6. Juni 1870) und die Fortdauer der 
Hilfsbedürftigkeit vorausgefegt noch jetzt zu jorgen verpflichtet it. 

Armenpflege in Efjenheim iſt der Urſula Kleemann er: 
wiejener Maßen nur zeitweife, To lange fie jich eben an dieſem 
Orte aufhielt, zu Theil geworden. Indeß iſt eines ihrer Stief: 
finder, der Knabe Albert Kleemanı von dem Kläger weiter 
unterjtügt worden, während Urjula Kleemann im Jahr 1878 
ſechs Monate lang und. wiederum vom 1. April 1879 an in 
Württemberg ſich aufhielt. Die Armenpflege des Klägers hat 
daher jeit ihrem Beginn feine Unterbrechung erlitten, und wird 
vorausſichtlich noch Jahre lang fortdauern müſſen, bis Albert 
Kleemann erwerbsfähig wird. Aus diefem Grund it Kläger 
berechtigt, Webernahme des Albert Kleemann in eigene Fürforge 
von dem fürjorgepflichtigen Beklagten zu verlangen ($. 31 de3 
Reichsgefeges über den Unterftügungsmwohnfig vom 6. Juni 1870). 

Dagegen ijt das zweite Stieffind Natalie Kleemann als 
hilfsbedürftig nicht mehr anzufehen, da dieſes Kind nach den 
Statt gehabten Ermittlungen von einem Verwandten in Eſſen— 
heim unentgeltlich verpflegt wird. Inſoweit war Daher der im 
Audienztermin erſter Inſtanz aufrecht erhaltene Uebernahme— 
anſpruch des Klägers zurüdzumeifen. Den Antrag auf Ueber: 
nahme der verehelichten Urfula Kleemann hat Kläger durch jeine 
in demjelben Audienztermin abgegebene Erklärung, welche neben 

Württemb. Archiv für Recht zc. XXII. Bo. 1. Heit. 3 


— 314 — 


Erſatz der Armenpflegefoften nur Uebernahme der Kinder Albert 
und Natalie Kleemann fordert, ſtillſchweigend fallen laſſen. 

Der erhobene Erſatzanſpruch iſt, wie Beflagter mit Recht even: 
tuell geltend macht, durch die Verſäumniß rechtzeitiger Anmeldung 
des Pflegefalls bei dem Beklagten theilweife präcludirt; denn die 
in $. 34 des Reichsgeſetzes über den Unterſtützungswohnſitz vor: 
gefchriebene Anmeldung des Erſatzanſpruchs bei dem Beklagten hat, 
ſoviel erfichtlih vor der Klageerhebung überhaupt nicht Statt 
gefunden. Am 1. Dftober 1878. ift zwar von dem Kläger das 
Dberamt Ellwangen angegangen worden, die Gemeinde Zöbingen 
zur Armenpflege für die Kleemann anzuhalten. Diefer Borgang 
hat aber den Erſatzanſpruch des Klägers nicht zu wahren ver- 
mocht, weil das Oberamt daraus nicht zu entnehmen vermochte, 
das der Landarmenverband feines Bezirks in Anſpruch ge: 
nonmen werde. Ebenjowenig fommt für Wahrung des Anz 
fpruchs gegen den Beklagten die zwifchen den Armenverbänden 
Zöbingen und Ejjenheim gepflogene Korrefpondenz in Betracht. 
Da die Klagfhrift dem Beklagten am 17. Februar 1879 zu: 
gejtellt worden iſt, jo waren von der Erjtattung alle vor dem 
17. Auguſt 1878 erwachſenen Armenpflegefoften auszufchließen, 
welche nad) der der Klage beiliegenden Spezififation 125 Mar 
20 Pfennig betragen haben. Die weiter in der Klageanlage ſpezi— 
fizirten Unterftügungen betragen nach Abrechnung von 2 Mart 
80 Pfennig Schulgeld, für welche fein Erſatz beanfprucht wird, 
102 Mark 20 Pfennig und find mit Ausnahme der Wohnungs: 
miethe vom 1. Januar bis 14. März 1879 (16 Mark 10 Pf.) 
belegt. Der Gejammtbetrag der in der Klageanlage jpeci: 
fijirten und erjtattbaren Armenpflegefojten berechnet fich jo auf 
86 Marf 10 Pfennig, Diefe Summe war daher dem Kläger 
ſchon jet zuzufprechen, die Feſtſetzung der weiteren Auslagen 
dagegen vorzubehalten. Die Entſcheidung im Koſtenpunkt rechts 
fertigt fich dadurch, daß Kläger theilweije unterliegt. 


Bi, er rg * — 
Zu SUR nei 


6%. Ortsarmenverband Ziegelbah O. A. Waldfee, Be- 
tagter, Berufungsfläger gegen Drtsarmenverband 
Wurzah DNA. Leutlich, Kläger, Berufungsbeklagten. 


Uebernahme und Koftenerfag betreffend. Unterbrehung 
der zweijährigen Abwejenbeitsfrift. 


Urtheil vom 29. November 1879. 

Das Urtheil der Negierung des Donaufreifes vom 17. Feb: 
war 1879 hatte den Beklagten für verbunden erfannt, den 
Johann Georg Gut in öffentliche Unterftügung zu übernehmen 
und dem Kläger die durch die feitherige Unterftügung des Gut 
ewachjenen Kojten von einer Mark täglich vom 22. April 1878 
an.einschlieglich zu eritatten. Diejes Urtheil wurde unter Verur— 
theilung des Beklagten in die Kojten aus folgenden Gründen bejtätigt. 

1) Es iſt unbejtritten, daß der ledige Johann Georg Gut 
vom 4. September 1873 bis 11. Januar 1876 ununterbrochen 
feinen gewöhnlichen Aufenthalt innerhalb des Drtsarmenverband- 
bezirks Ziegelbach gehabt hat, umd dadurch in demjelben den 
Unterftügungswohnfig erwarb. Dagegen behauptet der Beklagte 
in Widerfpruch mit dem Kläger, daß Gut diefen Unterjtügungs- 
wohnfig in der Folge durch zweijährige ununterbrodhene Ab— 
wejenheit verloren hat. 

2) In der dem 11. Januar 1876 nachfolgenden Zeit hat 
fi) Gut mit Ausnahme des Zeitraums vom 11. big 25. Februar 
1877 in verjchiedenen Orten außerhalb des Ortsarmenverbands 
Biegelbah als Knecht und Taglöhner aufgehalten, bis er am 
15. Mai 1877 auf feine eigene Koften in den Spital in Wurzach . 
aufgenommen wurde. Vom 11. bis 25. Februar 1877 aber 
hatte er fich wieder in dem Bezirk des Drtsarmenverbands 
Ziegelbach bei dem Bauern Häfele in Beutels aufgehalten, und 
es fragt fi) daher, ob durch diefe wiederholte Anweſenheit in 
dem Bezirk des Drtsarmenverbands Ziegelbah die Abweſenheit 
im rechtlichen Sinn unterbrochen wurde, oder nicht. 

3) Nach $. 25 des Neichsgejeges über den Unterjtügungs- 
wohnfit vom 6. Juni 1870 wird als Unterbrechung der Ab- 


wejenheit die Rückkehr nicht angefehen, wenn aus den Umjtänden, 
3* 


ug Ba 


u 


unter welchen jie erfolgt, die Abjicht erhellt, den Aufenthalt: 
nicht dauernd fortzufegen. Dieſe VBorausfegung trifft jedoch nach 
den Umjtänden des vorliegenden Falls, wie jie Gut und Häfele 
bezeugen, nicht zu. Als Gut am 11. Februar 1877 nach dem 
zu der Gemeinde Ziegelbach gehörigen Weiler Beutels kam, 
hatte er jeinen bisherigen Aufenthalt Wizmanns nach Beendi- 
gung feines dortigen Dienjtverhältnifjes aufgegeben, und fich 
noch nicht anderswo verdingt. Er begab fich zu dem Bauern 
Häfele in Beutel$ nach feiner Angabe in der Abjicht, in der 
Gemeinde Ziegelbach, wo er früher gewejen, auf das Neue zu 
bleiben, fei es bei Häfele, fei es bei einem andern Bauern. Er 
fragte daher bei Häfele um Arbeit nah, und er fand auch bei 
demfelben ein vorübergehendes Unterfonmen, indem er von 11. 
bis 25. Februar 1877 für Koft und Wohnung bei ihm arbeitete. 
Ein Lohn war nicht verabredet worden, bei feinem Austritt er: 
hielt er jedoch, ohne daß er es verlangte, drei Mark. Nach der 
Angabe des Gut fol ihm Häfele bei jeinem Eintritt gejagt haben: 
er fünne fo lange im Stall arbeiten, bis die damals kranke 
Magd wieder eintrete. Nach der Angabe des Häfele wurde 
feine Zeit bejtimmt, wie lange Gut bei jenem zu bleiben habe. 
Gr babe, obwohl er feinen Arbeiter gebraucht habe, den Gut 
aus Mitleid vorübergehend eingejtellt, und Gut, der wegen jeines- 
furzen Geſichts nicht viel leisten könne, habe nicht gerade im. 
Stall, aber jonft wo jo mitgearbeitet, was es zu arbeiten ges 
geben habe. Nach vierzehn Tagen (nachdem, wie er angegeben, 
die Magd wieder eingetreten war) verließ Gut das Haus des— 
Häfele und zog in Ermanglung anderer Arbeitsgelegenheit wieder 
weiter, bis er in der Gemeinde Dietmans eine Stelle fand. 
Aus diefen Umjtänden ergibt jich nicht, daß Gut bei jeiner 
Rückkehr in den Drtsarmenverband Ziegelbach die Abficht ge: 
habt habe, den Aufenthalt dafelbjt nicht dauernd fortzufegen. 
Es jteht feſt, daß Gut in der Abjicht zurückgekehrt ijt, feinen 
Nahrungserwerb aufs Neue durch Arbeit dafelbit zu finden, und 
daß er für zwei Wochen feinen Nahrungserwerb dafelbit ges 
funden hat. Seine Aufnahme im Haufe des Häfele ift nicht, 
wie der Beklagte meint, als eine unentgeltlihe Beherbergung 
aufzufaffen, vielmehr ift Gut in ein zeitweiliges Dienftverhältniß. 





— — 
zu Häfele dadurch getreten, daß er dem Häfele ſeine Dienſte an— 
getragen und daß Häfele die Dienſte des Gut gegen Gewährung von 
Koſt und Wohnung einige Zeit angenommen hat. Der Umſtand, 
daß dieſes Dienſtverhältniß von Anfang an nur für eine kürzere 
Dauer berechnet war und in der That nur zwei Wochen dauerte, 
iſt nicht entſcheidend. Unter dem dauernden Aufenthalt im Sinn 
des 8. 25 des Reichsgeſetzes über den Unterſtützungswohnſitz iſt 
nichts Anderes verjtanden, als der gewöhnliche Aufenthalt im Sinn 
des 8.10 diefes Geſetzes. Es ift daher auch eine vorübergehende 
und von Anfang an auf fürzere Dauer berechnete Anwefenheit 
geeignet, Die Abmwejenheit zu unterbrechen, wenn nur die Anweſen— 
heit während ihrer Dauer als gewöhnlicher Aufenthalt im Sinn 
des Geſetzes ſich charakterifirt. Lebteres aber war bei der An- 
weienheit des Gut in Beuteld der Fall, infofern während ihrer 
Dauer Beutel3 der Drt feiner wirthichaftlichen Thätigfeit war. 

4) Hiernach wurde durch die am 11. Februar 1877 erfolgte 
Rückkehr des Gut in den Bezirk des Drtsarmenverbands Ziegel: 
bach die Abmwejenheit und damit der Lauf der zweijährigen Ver— 
luſtfriſt unterbrochen, und der Lauf diejer Friſt bat erjt vom 
25. Februar an (dem Tag der wiederholten Entfernung) aufs 
Neue begonnen. Bon da an wurde aber der Lauf der Friit 
nicht mehr vollendet, da Gut feit April 1878 in öffentlicher 
Unterftügung ſich befindet, auch die vorliegende Klage im Mai 
1878 erhoben worden ijt (val. $. 27 des Reichsgeſetzes über 
ven Unterftüsungswohnfig vom 6. Juni 1870). 

Gut ift daher des Unterftügungsmwohnjiges im Ortsarmen— 
verband Ziegelbach nicht verluftig geworden, und der Beklagte ift 
als Drtsarmenverband des Unterftügungsmwohnfiges ſowohl zur Er— 
ftattung der von dem Kläger aufgewendeten Unterſtützungskoſten 
($. 30a des Neichsgefeßes über den Unterftüßungswohnfig) als auch, 
da die Vorausfegung des 8.31 des Unterjtügungswohnfiggejeges 
unbeitritten vorhanden ift, zur Uebernahme des Gut verpflichtet. 

Da die Kojten der BVerpflegung des Gut in dem Spital 
zu Wurzach bis zum 21. April 1878 einfchließlih aus dem 
eigenen Vermögen des Gut beftritten worden waren, diejes Ver: 
mögen aber mit dem 21. April aufgezehrt war, fo trat am 
22. April 1878 die öffentliche Unterftügung ein. Die von 


— 38 — 


dieſem Tag an aufgewendeten Koſten hat daher Beklagter dem 
Kläger zu erſtatten und der geforderte Betrag von 1 Mark für 
den Tag war nicht für zu hoch bemeſſen zu erachten. 


7. Ortsarmenverband Chriſtazhofen DA. Wangen, Be— 
klagter, Berufungskläger gegen Ortsarmenverband Aich— 
ſtetten DA. Leutkirch, Kläger, Berufungsbeklagten. 


Uebernahme und Koſtenerſatz betreffend. Ab— 
ſchiebung. 
Urtheil vom 13. Dezember 1879. 


Das den Beklagten zur vorläufigen Uebernahme und zum 
Koſtenerſatz verurtheilende Urtheil der Regierung des Donaukreiſes 
vom 9. Juni 1879 wurde koſtenfällig für den Beklagten beſtätigt. 

Gründe. Zwiſchen den Parteien iſt unbeſtritten, daß die 
Peterſchen Eheleute von Gottrazhofen, Gemeinde Chriſtazhofen, wo: 
fie jich feit dem 13. Auguft 1877 aufgehalten hatten und von wo 
fie am 11. September 1878 abgezogen find, ſich nad ihrem 
Heimatort Aichjtetten begeben haben. Alsbald nah ihrer. Anz 
funft dafelbft am 12. September 1878 gingen fie die dortige 
Armenbehörde um öffentliche Unterftügung an, worauf die legtere 
fofort die gejeßlich vorgefchriebenen Erhebungen veranlaßte, in 
deren Folge ſich ergab, daß die gedachten Eheleute nicht nur 
jeden Obdachs entbehrten, fondern auch von allen Mitteln zur 
Friftung ihres Lebensunterhalts entblößt waren, daß überdies. 
Ipeziell die Peterſche Ehefrau an einem chronifchen Xungen- 
fatarıh litt, der fie al3 unfähig zu irgend einer Erwerbsthätig— 
feit erfcheinen ließ, ihr Ehemann aber gänzlih außer Stande 
war, für ihre erforderlihe Verpflegung in geeigneter Weife zu 
jorgen. Für die Annahme, daß die hiermit als EFonjtatirt zu 
erachtende Hilfsbedürftigfeit der Peterſchen Eheleute entjtanden 
wäre erjt in Nichjtetten jeit der ganz kurzen Zeit ihres Auf: 
enthalts dajelbit, enthalten die vorliegenden Akten irgend welche 
Anhaltspunkte nicht, vielmehr muß nach legteren angenommen 
werden, daß diefelben ſchon in Gottrazhofen wegen ihrer daſelbſt 
eingetretenen Obdachloſigkeit und dadurch herbeigeführter Ber: 
dienjtlofigfeit des Matthäus Peter außer Stande waren, für 
ihren Unterhalt und insbefondere für die Verpflegung der das 


a 


mal3 längit leidend und arbeitsunfähig gewejenen Ehefrau das 
Erforderlihe auf die Dauer vorzufehren. Es ijt fomit der 
Grund der Nothwendigfeit der .öffentlihen Unteritügung, wie 
joldes bei den Erhebungen in Aichſtetten fich offenbarte, zurück— 
zuführen auf den Zuſtand der Hilfsbedürftigfeit, in welchem die 
gedachten Eheleute ſchon früher während ihres Aufenthalts in 
Gottrazhofen fich befunden haben, wie ſich dies insbeiondere aus 
ihren eigenen in Verlauf des Prozeßes gemachten Ausfagen er: 
gibt. Ihr Wegzug von dort war überdies veranlaßt worden 
durch. die denfelben von der dortigen Behörde zu Theil gewordene 
Behandlung. Nachden nämlich Matthäus Peter jchon längere 
deit vor feinem Abgang von Gottrazhofen, als ihm feine Woh: 
nung daſelbſt gekündigt worden war, den Schultheißen des 
Hauptort3 Chriftazgofen um Beſchaffung eines andern ihm die 
yortfegumg feines Gewerbs und die Erlangung ferneren Ver: 
dienftS ermöglichenden Obdachs angegangen, der Ortsvorſtand ſich 
aber hierauf nicht eingelaffen hatte, war auch an die Ortsarmen- 
behörde dafelbjt von Seite derjenigen von Aichjtetten, an welche 
ſich Peter wegen der ihm drohenden Obdachlojigfeit mit dem An— 
juchen um Unterftügung gewendet hatte, dieſes Gejuch unter aus— 
drüdlicher Bezugnahme auf die dem Ortsarmenverband Chrijtaz: 
hofen obliegende Unterjtügungspflicht übermittelt worden, worauf 
jedoh von der dortigen Behörde eine entfprechende Verfügung 
wiederum nicht getroffen wurde. Der Vorſtand derjelben be— 
Ihränfte fich vielmehr darauf, in einem an das Dberamıt Wangen 
eritatteten Bericht verjuchsweife die Anficht zu begründen, daß 
die Peterſche Familie aus Chriftazhofen auszuweifen fein dürfte, 
und als ihm das Oberamt hierauf eine Eröffnung zugehen ließ, 
wodurch das Schultheißenamt über die Borausjegungen belehrt 
werden follte, unter welchen es fih nad) den Beitimmungen des 
steizügigfeitögejeges einzig darum handeln könnte, den Peterſchen 
Cheleuten den Aufenthalt in Chriftazhofen zu unterfagen, ließ 
der Schultheig Namens der DOrtsarmenbehörde dajelbjt derjenigen 
in Michjtetten auf die vorangegangene Mittheilung lediglich die 
Erwiderung zugehen, daß nad ihrer Auffaſſung Peter ausge: 
wiejen werden könnte. In eben diefem Sinn aber wurde, ob: 
wohl es ſich um eine thatjächliche Ausweifung der hilfsbedürftigen 


I, P —XR 
1 - 


Familie nach S. 6 des joeben gedachten Gejebes Thon dephalb 
nicht hätte handeln können, weil die Pflicht zur Uebernahme 
der Fürforge für dieſelbe zwifchen beiden Gemeinden damals 
Thon jtreitig geworden war, auch Peter jelbjt verjtändigt, es 
mup dieß aus jeinen Angaben, jowie denjenigen feiner Ehefrau 
geichloffen werden, deren Glaubwürdigkeit zu beanjtanden überall 
fein Grund vorliegt und eine Folge diejes, wie jchon die Kreis: 
regierung ausgeführt hat, ungejeglichen Benehnens war es ſodann, 
daß die jo bevrängte Familie, obwohl ohne ein fürmliches Aus: 
weiſungsdekret erhalten zu haben, ihren jeitherigen Aufenthalts: 
ort, wo jie unter ſolchen Umſtänden feine Aussicht hatte, Unter: 
ftügung zu finden, verließ, und fih nad ihrem Heimatort begab, 
wo jie hoffen mochte, derjelben eher theilhaftig zu werden. Daß die 
Folgen jenes Benehmens den Beklagten deßhalb, wie er glaubt, 
nicht treffen, weil der Schultheiß Köberle nicht die Ortsarmen— 
bebörde von Chriftazhofen gewefen jei, welchem folhes zur Laſt 
falle, erſcheint deßhalb unrichtig, weil bei dergleihen Negotiatio- 
nen der Vorſtand der Ortsarmenbehörde, um deren Intereſſe e3 
fi in dem vorliegenden Fall ausſchließlich handelte, Diejelbe 
rechtmäßiger Weife zu vertreten hat, und jedenfalls dasjenige, 
was die Behörde, während ihr folches nad) dem Geſetz oblag, 
zu thun unterließ, lediglich von ihr zu verantworten it. 

Der Bellagte iſt hiernah, da ihm den einfhlägigen Bes 
jtimmungen des Unterftügungswohnliggejeges zufolge die vor: 
läufige Unterftügung der hilfsbedürftigen Familie in exjter Linie 
obgelegen wäre, für verpflichtet zu erfennen, diefelbe von dem 
Kläger zurüdzuübernehmen und zwar ift diefe Verpflichtung des. 
Umftands ungeachtet, daß nur die Beterfche Ehefrau als einer 
Unterftügung für ihre Berfon bedürftig erfannt wurde, auf die 
Uebernahme beider Ehegatten deßhalb auszudehnen, weil die Hilfs- 
bedürftigfeit auch des Matthäus Peter bei den diesfalls ftatt- 
gehabten Erhebungen injofern hervorgetreten iſt, als er zu der 
ihm obliegenden Alimentirung und Verpflegung feiner kranken 
Ehefrau der erforderlichen Mittel ermangelt. Dagegen befhräntt 
fih die Verbindlichkeit des Beklagten zum Erſatz der Unter: 
jtügungstoften auf dasjenige, was Kläger für den Unterhalt 
und die Verpflegung der Peterſchen Ehefrau eben aus dem Grund 


> a 





—. 4 


aufwenden mußte, weil Matthäus Peter in geeigneter Weiſe für 
diefelbe zu jorgen nicht im Stande war. 


8. Drtsarmenverband Dortmund in Weitfalen, Kläger 
gegen Ortsarmenverband Stuttgart, Beklagter. 


Koftenerjakß betreffend. Beweis des ———— 
wohnſitzes. 
Urtheil vom 29. Dezember 1879. 

Der Anſtreicher Lukas Böhler, gebürtig (8. Oktober 1843) 
von Altingen Oberamts Herrenberg und dort heimatberechtigt, 
Vater von zwei Kindern, ſtand nach ſeiner Angabe dreizehn 
Jahre bis November 1877 in Stuttgart in Arbeit bei den 
Malern Hägele, Rießler, Heppeler und Roos. Darauf war er 
vier Monate in der Zuckerfabrik Böblingen, acht Monate in 
Metz beſchäftigt, ſodann drei Wochen auf der Reiſe und vier— 
zehn Tage auf der Zeche Neuiſerlohn bei Langendreer. Am 
28. Dezember 1878, dem Tag, an dem er die letztgenannte 
Arbeitsſtelle verließ, wurde er wegen heftigen Durchfalls und 
Huſtens auf Anordnung der Verwaltung des Armenweſens in 
Dortmund in das ſtädtiſche Krankenhaus daſelbſt aufgenommen 
und hievon der Stadt Stuttgart, wo Böhler behauptete, den 
Unterftügungswohnfig zu haben, mit dem Bemerfen Mittheilung 
gemacht, dab das tägliche Verpflegungsgeld 1 Mark 50 Pfennig 
betrage. Der Ortsarmenverband Stuttgart beftritt feine Ber: 
bindlichkeit, weil Böhler nah der Meldung des Wohnungs: 
bureaus nur vom 18. Auguft 1869 bis 11. November 1874 
in Stuttgart gewohnt und gearbeitet habe, feither aber von ihm 
feine Meldung an das Stadtpolizeiamt gelangte. Da Böhler 
auf der Zeche Neuijerlohn bis zum Tag feiner Erkrankung ge: 
arbeitet habe, jo fei er nad) 8. 29 des Neichögejeges über den 
Unterjtügungswohnfig dort unterjtügungsberechtigt geweſen, end: 
lich jei die Forderung von 1 Mark 50 Pfennig für den Tag 
zu hoch. Kläger ermäßigte hierauf feine Forderung auf 1 Mark 
für den Tag, und beantragte die Vernehmung der Arbeitgeber 
des Böhler. In Folge der angeitellten Erhebungen wurde Be— 
Eagter foftenfällig zum Erſatz der Kur: und BVerpflegungstoften 
für Lufas Böhler aus folgenden Gründen verurtheilt. 


1) Beflagter bat jeine Verbindlichkeit zu Bezahlung des von 
dem Kläger in Anſpruch genommenen Erjages der Kur: und Ver- 
pflegungskoften ‚für Lukas Böhler zunächſt deßhalb angefochten, 
weil er nach $. 29 des Reichsgeſetzes über den Unterftügungs: 
wohnfig zur Erjtattung diejer Koſten nicht verpflichtet jei. Daß 
aber Böhler, wie die angeführte Beitimmung des Reichsgejeges 
verlangt, am Drt jeines Dienftverhältnijjes (Zeche Neu: 
iferlohn bei Langendreer) überhaupt erkrankte und daß er im 
Folge feiner Erfranfung dort die öffentliche Unterftügung an: 
gerufen hätte, fowie daß Lukas Böhler ſich auf der genannten 
Zeche überhaupt in einem Dienjtverhältniß der in dem ange: 
führten $. 29 des Reichsgeſetzes bezeichneten Art befunden hätte, 
dafür hat Beflagter ein erhebliches Moment nicht geltend ge- 
macht, weßhalb diefe Einrede feine Berücfichtigung finden konnte. 

2) Beflagter hat weiter beftritten, daß er der in Folge 
der Ermwerbung des Unterftügungswohnfiges durch Lukas Böhler 
in Stuttgart zur Kofteneritattung verpflichtete DrtSarmenverband 
ſei, weil Böhler nach der Meldung des Wohnungsbureaus vom 
9. Januar 1879 nur vom 18. Augujt 1869 bis 11. November 
1874 bier gewohnt und gearbeitet habe, und feit diefer Zeit 
feine Meldung von ihm an das Stadtpolizeiamt gelangte. Allein 
abgejehen davon, daß in diefer Meldung nicht ein Zeugniß da— 
für zu finden ift, daß Lufas Böhler ſich nach diefer Zeit nicht 
mehr ununterbrochen in Stuttgart aufgehalten hat, behauptete 
Sufas Böhler vor der DOrtsarmenbehörde Dortmund beftinmt, 
daß er dreizehn Jahre lang bis November 1877 in Stuttgart 
ununterbrochen in Arbeit gejtanden habe, und feine Ehefrau 
Sophie Böhler hat eidlich bejtätigt, daß ihr Ehemann bis zum 
September 1877, foviel fie wiſſe ununterbroden in Stuttgart 
war, wo er bei verjchiedenen Meiftern in Arbeit jtand. Be— 
ftätigend Tommt Hinzu, daß der Zimmermaler Hägele für die 
Zeit bis September 1874, Roos für fünf Tage im September 
1875, Nießler für die Zeit vorher in unbejtimmter Weife, dann 
aber bejtimmt für die Zeit vom 7.18. Mai 1876 bis 11. Novem— 
ber 1876 und dann vom 1./2. Mai bis 23. Juni 1877, Heppeler 
für die Zeit vom 29. Juni 1877 bis 8. September 1877, end— 
ih Guftav Hanle für die Zeit vom 9. bis 28. April 1877 be— 


ER AU NE CE BE X 
re re 


— 43 — 


zeugen, daß Lukas Böhler bei ihnen in Arbeit jtand. Daß er 
dabei auch in Stuttgart wohnte, ijt allerdings von den gedachten 
Zimmermalern nicht angegeben, es fpricht jedoch hiefür neben 
der Angabe feiner Ehefrau die Thatſache, daß er nad der 
‚Meldung des Stadtpolizeiamts auch in der Zeit vom 18. Auguft 
1869 bis 11. Noventber 1874 bier feine Wohnung gehabt hat, 
daß ein anderer Ort, von dem aus er täglich in die Arbeit ges 
ganger wäre, weder angezeigt ift, noch Momente vorliegen, die 
zu der Annahme führen könnten, daß er nicht an dem Ort feiner 
Arbeit gewohnt hätte, und daß er nach Sindelfingen, das er am 
eheiten zum Aufenthalt hätte wählen fünnen, nur auf kurzen 
Beſuch über Sonntags fam. Im Hinblid hierauf mußte als 
dargethan angenommen werden, daß Bühler feinen jeitherigen 
Aufenthalt in Stuttgart auch über die Zeit vom 11. November 
1874 bis September 1877 fortgejegt und damit den Unter: 
ſtützungswohnſitz in Stuttgart durch mehr als zweijährigen Auf: 
enthalt dafelbjt erworben hatte, als er im September 1877 
Stuttgart verließ, und nah Sindelfingen überſiedelte. Wenn 
dem aber jo, jo dauerte auch der Unterſtützungswohnſitz noch fort, 
als er im Dezember 1878 in Dortmund die öffentliche Armen 
unterftügung in Anſpruch nahm, da die Frift für den Verluſt 
desjelben damals noch nicht abgelaufen war. Demgemäß mußte, 
wie gejchehen,. erfannt, auch die Kojten dem, Beklagten zuge: 
ihieden werden, weil die urfprünglide Mehrforderung des 
Klägers befondere Kojten nicht verurjacht hat. 


9. Ortsarmenverband Gerhsheim Gr. bad. Bezirks: 

amts Tauberbifhofsheim, Kläger gegen Orts— 

armenverband Waldmannshofen DU Mergentheim, 
Beflagten. 


Koitenerjfaß betreffend. Nachweis der Unterjtüß: 
ungsbedürftigfeit. 


Urtheil vom 29. Dezember 1879. 
Der Schaffneht Jakob Seeger von Gerhsheim Gr. bad. 
Bezirfsamts Tauberbiihofsheim begab ih von Waldmannghofen, 
wo er längere Zeit im Dienjt gejtanden hatte, nach feinem 


., ER 


an A 


. Heimatort Gerchsheim, um fih von einer Balggeichwulft ope= 
riren zu laſſen. Gerchsheim verfügte behufs feiner Operation 
feine Unterbringung im Spital in Tauberbifhofsheim, mo die 
Operation vollzogen wurde. Die hiedurch entjtandenen Kojten 
Hagte der Drtsarmenverband Gerch&heim gegen den Ortsarmen— 
verband Waldmannshofen mit 96 Mark 95 Pfennig ein, wurde 
aber mit der Klage foftenfällig aus folgenden Gründen abgewiejen: 


1) Nah den Akten ift unzweifelhaft, und auch von dem | 


Beklagten anerkannt, daß der Schaffneht Jakob Seeger durch 
ununterbrochenen Aufenthalt in Waldmannshofen vom 29. Sep— 
tember 1876 bis 15. Dezember 1878 den Unterſtützungswohnſitz 
dafelbjt erworben hat, dagegen wird von dem Beklagten bejtritten, 
daß Seeger als er in Folge des Befchluffes des Armenraths zu 
Gerhsheim in den Spital in Tauberbifchofsheim aufgenommen 
wurde, ſich in wirklich hilfsbedürftigem Zuftande befunden hat. 

2) Aus der Verhandlung, welche der Aufnahme des ges 
dachten Jakob Seeger in den gedachten Spital vorausging, er: 
gibt fih, daß der Armenrath Gerchsheim in der Sigung vom 
17. Dezember 1878 auf Grund der protofollariichen Angabe 
des Seeger deffen Aufnahme in jenen Spital unter der Be: 
dingung bejchloffen hat, daß die Nothwendigkeit der Aufnahme 
durch ein Zeugniß des Bezirksarzts nachgewiejen werde, und daß 
er für den Fall der Beibringung dieſes Nachweifes ſich zur vor: 
läufigen Bezahlung der nothwendigen Kojten verpflichtete. 

Das im Driginal vorliegende Zeugniß des Bezirksarzts 
Dr. Boeth in Tauberbifchofsheim vom 18. Dezember 1878, in 
deſſen Folge Seeger in den Spital aufgenommen wurde, Lautete 
dahin: „Jakob Seeger von Gerchsheim leidet an einer Geſchwulſt 
des linken Oberfchenfels, und kann wegen der Operation in den 
hiefigen Spital aufgenommen werden, wenn fi) der Gemeinde- 
rath urkundlich zur Zahlung verpflichtet“. In einem nachträg- 
lihen weiteren Zeugniß vom 30. Januar 1879 bat jodann 
derjelbe Arzt auf Verlangen des Gemeinderaths beurfundet, daß 
„die Aufnahme des Seeger in den Hofpital erforderlich und die 
vorgenommene Dperation dringend nothwendig gemefen jei”. 
Bei feiner eidlichen Vernehmung jedoch durch das großherzoglich 
badifche Bezirksamt Tauberbifchofsheim vom 10. Juli 1879 





ws AR: 


gab der genannte Arzt endlich an, daß nach den thatfächlichen 
Umjtänden die Aufnahme des Seeger in den Hoipital, da er 
nah der Operation einer regelmäßigen Pflege und täglichen 
Verbandanlegung bedurfte, erforderlich, die Operation ſelbſt aber 
deßwegen dringend nothwendig geweſen jei, weil die Geſchwulſt 
jehr umfangreich) war, bis in die Siniefehle herunterhing und 
dadurch den Seeger am Gehen fait verhinderte. Bei der Wür— 
digung der ärztlichen Ausfprüche fommt es im armenredt- 
lihen Sinne wejentlih darauf an, ob die Operation, welche 
die Aufnahme des Seeger in den Hofpital zu Tauberbifchofs- 
heim veranlaßte, und feine dortige Berpflegung mit fich brachte, 
darum als dringend nothwendig erjchien, weil die Geſchwulſt, 
an dev Seeger litt, damal3 von der Art war, daß fie ihn zur 
Arbeit und folgeweife in Ermanglung fonftiger Eriftenzmittel zu 
dem für feinen Unterhalt erforderlihen Erwerb unfähig machte. 
Von dieſem Gejichtspunft aus kann dem bezirksärztlichen Zeugniß 
vom 18. Dezember 1878, auf deſſen Grund Seeger in den 
Spital aufgenommen wurde, feine Bedeutung beigelegt werden, 
da dafjelbe über die Nothwendigfeit der Aufnahme nichts ent: 
hält; ebenfowenig dem Zeugniß vom 30. Januar 1879, welches 
ih über die Aufnahme und die Operation ohne nähere that: 
lächliche Begründung des Urtheils ausfpriht. Die eidliche Zeu- 
genausfage des Bezirksarztes Dr. Boeth vom 10. Juli 1879 
gibt zwar nachträglich dieje thatfächlihe Begründung, jedoch in 
einer Weiſe, welche das Vorhandenjein einer durch die Geſchwulſt 
verurſachten Arbeitsunfähigkeit, zu deren Befeitigung die Opera- 
tion unbedingt erforderlich geweſen wäre, feineswegs als fonjta= 
tirt erfcheinen läßt, fofern aus dem großen Umfang der Ge: 
ſchwulſt, wodurch Seeger am Gehen faſt verhindert worden fein 
joll, nicht nothwendig auf eine damalige Arbeitsunfähigkeit 
dejjelben zu ſchließen lt. 

Daß Seeger in der That damals nicht arbeitsunfähig war, 
geht jowohl aus jeiner Zeugenausjage, als der feines Dienit- 
herrn hervor. Seeger hat bei feiner eivlichen Vernehmung durch 
daS f. hair. Landgericht Aub am 17. September 1879 angegeben, 
dab er während feiner Dienfte bei Schäfer Martin Schairer in 
Waldmannshofen vom 29. September 1876 bis 15. Dezember 


=; AB — 


1878 jtet3 arbeitsfähig geweſen ſei, und während diefer ganzen 
Zeit gearbeitet, auch im November 1878 auf der Kirchweihe zu 
Aub getanzt hat, dab die Geſchwulſt ihm aber Schmerzen ver: 
urſachte und am Gehen hinderlih war, und daß er, weil ihm 
der praftiihe Arzt Dr. Braun in Aub fagte, er müſſe fich we— 
gen jeiner Geſchwulſt operiren laſſen, fonjt fomme der Krebs 
dazu, die Operation für dringend nothwendig gehalten, weil er 
befürchtet habe, er könnte durch die Geſchwulſt ſpäter arbeits- 
unfähig und frank werden. Seeger hat hiernad lediglich wegen 
diefer von ihm fünftig befürchteten Eventualität und keineswegs, 
wie er vor dem Armenrath Gerchshein unterm 17. Dezember 
1878 angab, in Folge einer Drohung feines Dienjtherrn mit 
Entlaffung, falls er die Geſchwulſt nicht operiren lafje, der 
Operation fich unterzogen. Martin Schairer von Waldmanns- 
hofen bat bei feiner Vernehmung durch das Dberamt Mergent: 
heim vom 23. Dftober 1879 jene angeblide Drohung entjchie: 
den in Abrede geitellt, und bezeugt, daß Seeger, welcher ſchon 
bei jeinem Eintritt in dag Dienjtverhältnig die Geſchwulſt ge: 
habt, bis auf die legte Stunde den Dienft verfehen, auch nie 
über Schmerzen geklagt habe, bis er fich durch das Tanzen auf 
der Auber Kirchweihe eine Entzündung der Gejchwulft, die etwa 
drei Wochen dauerte, zuzog, während welcher Zeit er über 
Schmerzen geflagt habe und die Gefchwulit ihm Hinderlich ge- 
weſen fei, er aber gleichwohl mit einer ihm von feinem Dienit: 
herrn geleifteten mehrſtündigen Aushilfe feinen Dienjt fort 
verjah. 

Unter diefen Umständen ift nicht als erwiejen anzunehmen, 
daß die Operation, welcher fich Seeger unterzog, zur Befeitigung 
einer bereit3 vorhandenen oder Verhütung einer unmittelbar 
drohenden Arbeitsunfähigteit nothwendig war, und daß id 
folgeweife derfelbe bei feiner Aufnahme in den Spital zu Tau: 
berbifchofsheim, welche zum Zweck jener Operation Statt fand, 
in einem wirklich hilfsbedürftigen Zuftand befunden hat. Die 
Klage war daher als rechtlich unbegründet abzuweifen. 


— 47 — 


10. Ortsarmenverband Pforzheim, Kläger gegen 
Drtsarmenverband Eßlingen, Beklagten. 
Kojtenerfag betreffend. Zeitpunft für den Ab: 
lauf der zweijährigen Friit. 


Urtheil vom 27. Januar 1880. 


Karl Moriz Haug, geboren den 20. Januar 1845, verhei- 
rathet, Goldarbeiter, hielt fi vom 16. Juni 1873 bis 17. Au: 
guft 1876 in Eplingen auf. Er hatte jomit an diefem QTage, 
an dem er von Eßlingen nach Pforzheim 309, den Unterſtützungs— 
wohnjig in Eßlingen erworben. Als daher die Ortsarmenbe— 
börde Pforzheim dem Haug auf jein Anfuchen vom 20. April 
1877 bis 29. Juni 1877 auf je vierzehn Tage vier Mark, zu: 
jammen zwanzig Mark und außerdem für die Beerdigung von 
drei Kindern zufammen ein und zwanzig Mark Unterjtügung 
gewährte, erfannte der Drtsarmenverband Eplingen mitteljt 
Schreibens vom 13. Juni 1877 jeine Erfagverbindlichkeit an und 
leitete den geforderten Erſatz. Dagegen verweigerte er denjelben, 
al3 der Drt3armenverband Pforzheim von ihm Erſatz für weitere 
Unterjtügung verlangte, die. er dem Haug für feine Familie in 
der Zeit vom 30. Mai bis 19. September 1879 mit wöchent- 
lichen 3 Marf, fodann am 27. Juni 1879 mit 7 Mark 50 Bf. 
für die Beerdigung eines Kindes und mit 8 Marf durch Nach— 
la des Schulgelds für das Jahr 1878/79 gewährt hatte, und 
der hierauf im Nechtsweg erhobene Anspruch wurde Eojtenfällig 
abgewiesen. 

Gründe 1) Karl Moriz Haug von Weißenſtein hatte, 
wie von Seite des Beflagten anerkannt ift, durch feinen unun— 
terbrochenen Aufenthalt in Eplingen vom 16, Juni 1873 bis 
17. Auguft 1876 den Unterjtügungswohnjig in diefem Ort er: 
worben, und es iſt demgemäß von dem Beklagten eine von dem 
Kläger geltend gemachte Erjaßforderung für feine Unterftüßung 
in der Zeit vom 20. April bis 29. Juni 1877, jomit auf 
71 Tage und außerdem für die Beerdigungsfoften von drei 
Kindern, zufammen in dem Betrage von 41 Mark mittelft 
Schreibens vom 13. Juni 1877 anerkannt und bezahlt worden. 


Ken 4) 
— — 


=. SUR: 


2) Karl Moriz Haug hat nad) den Aften vom 18. Auguft 
1876 an, feinen ununterbrochenen Aufenthalt in Pforzheim ge— 
habt, und war fomit von diefer Zeit an von Ehlingen abwejend. 
Nah $. 22 Ziff. 2 des Reichsgeſetzes über den Unterjtügungs- 
wohnfig Hätte er daher den Unterſtützungswohnſitz in Eßlingen 
nit dem Ablauf des 18. Auguft 1878 verloren gehabt, wenn 
nicht durch die demfelben während des Laufs der zweijährigen 
Friſt gereichte Unterjtügung mährend der Dauer derfelben der 
Lauf der Frift geruht hätte. Die Dauer der gereichten Unter: 
jtügung belief fi) aber, wie 3. 1) bemerft, auf 71 Tage, wozu 
noch für die dem Haug in drei Beerdigungsfällen gereichte Unter: 
ſtützung je einige Tage zugerechnet werden mögen, obgleich die legt: 
gedachten Unterftügungen vorübergehender Art waren. Mit der 
Mitte des November 1878 war aber alsdann jedenfall der Zeit: 
punkt erreicht, an dem die gejegliche Friſt für den Verluſt des 
Unterftügungsmwohnfites in Eplingen bei Haug abgelaufen war. 

3) Die dem Haug und feiner Familie von dem Kläger 
weiter gereichten Unterjtügungen, deren Erſatz Kläger jegt von 
dem Beklagten fordert, wurden demjelben Jämmtlich im Jahr 1879 
bewilligt. Sie rühren jomit von einer Zeit her, in welcher dem 
Haug ein Anfpruh auf Unterftügung durch den Kläger nicht 
mehr zuſtand. Hinfichtlich der von dem Kläger bezahlten Unter: 
ftügungen vom 30. Mai bis 19. September 1879 mit wöchent— 
lihen 3 Mark und der am 27. Juni 1879 für Beerdigungs- 
fojten bewilligten Unterjtügung von 7 Mark und 50 Pfennig 
fann dies einem begründeten Zweifel nicht unterliegen, da aud) 
der Schein eines Anhaltspunfts dafür fehlt, Diejelbe in eine 
frühere Zeit, als die zu verlegen, für welche und in der fie bes 
willigt wurden. Allein auch die Uebernahme der 8 Mark für 
Schulgeld auf die Armenfafje wurde ausweislich der von dem 
Kläger ſelbſt vorgelegten Akten von dem Unterjtügten erjt unterm 
3l. Mai 1879 nahgefuht und unterm 13. Juni 1879 ver: 
fügt, bis dahin hatte diefes Schulgeld !) eine Verbindlichkeit des 
Haug gebildet, die erjt durch ihre Uebernahme auf die Armen: 

1) Nach $. 18 des badiſchen Ausführungsgeieges zu dem Reichs— 


gejeg über den Unterftügungswohniig iit das Schulgeld von den Armen: 
verbänden zu übernehmen. 





ei 


pflegefafje und von da an zu einer ebendamit nicht in das Jahr 
1878, fondern in das Jahr 1879 fallenden Armenunterftügung 
geworden iſt, da hiefür nicht der Zeitpunkt entjcheidet, von dem 
an die Leiftung zu entrichten war, ſondern der Zeitpunkt, von 
dem an die öffentliche Armenkaſſe einzutreten hatte, wobei nad) 
der Faſſung des Beihluffes vom 13. Juni 1879 überdies da- 
bingeftellt bleiben muß, ob eine wirflide Uebernahme 
des Schulgelds auf die Armenkaſſe und fomit eine eigentliche 
Armenunterftügung überhaupt Statt gefunden hat. 

4) Wenn der Kläger fi dem gegenüber ſchon in feiner 
Klage und dann in jeiner Erkfärung vom 10. Dezember 1879 
auf die Anerkennung der Unterftügungspflicht durch den Beklagten 
in jeinem Schreiben vom 13. Juni 1877 (nicht 1879, denn aus 
diefev Zeit liegt ein ſolches Schreiben nicht vor, auch bezeichnet 
die Klage ſelbſt das Schreiben al3 vom 13. Juni 1877 herrührend) 
berufen Hat, fo ift Klar, daß ein foldhes im Jahr 1877 gegebenes 
nad) 8. 64 des Reichsgeſetzes über den Unterſtützungswohnſitz über: 
dies noch der richterlichen Prüfung zu unterjtellendes Anerfennt- 
niß für Die Zeit des Jahrs 1879 ganz beveutungslos ift. Eben 
jowenig kann auf das irgend ein Gewicht gelegt werden, mas 
Kläger in derjelben Erklärung darüber ausgeführt hat, daß die 
Unterftügung in der unentgeltliden Ertheilung des 
Unterrichts liege, da diefe unentgeltliche Ertheilung eben 
auh nur von dem Zeitpunkt an eingetreten wäre, in dem Karl 
Moriz Haug, ſei e8 durh Nachlaß, ſei es durch Uebernahme 
auf die Armenkaſſe von der Pflicht zur Zahlung des Schul: 
gelds entbunden wurde, und diefer Zeitpunkt nicht in das Jahr 
1878, jondern in das Jahr 1879 fällt. 

11. Drtsarmenverband Holzelfingen DA. Reut— 

lingen, Kläger, Berufungsfläger gegen Ortsar— 

menverband Dettingen DA. Urach, Beklagten, Be: 
rufungßbeflagten. 

Mebernahme und Koftenerjag. Nachweis der Hilfs: 
bedürftigfeit bei einer Geiftesfranten. 
Urtheil vom 27. Januar 1880. 

Am 17, Dftober 1833 gebar die ledige Elifabethe Oßwald 


Württemd, Archiv für Necht sc. XXL. Br. 1. Heft. 4 


* A SF 


von Ehingen (damald 36 Jahre alt) unehelich eine Tochter 
Therefe. Als den Vater ihres Kindes bezeichnete fie bei ihrer 
Vernehmung vor dem Dberamt Ehingen den Hammerſchmid 
Andreas Hering von Dettingen Oberamts Urad. Im Jahr 1337 
fuchte Andreas Hering für feine Braut die gedachte Eliſabethe 
Oßwald das Bürgerrecht in Dettingen nah, dag ihr aud er: 
theilt, und worauf er mit derjelben am 22. Juni 1837 getraut 
wurde. Des bereit3 vorhandenen Kindes geſchah bei der Bür: 
geraufnahme feine Erwähnung, in dem Yamilienregijter wurde 
aber dafjelbe al$ spuria ante conjugium unter den Kindern 
der Familie Hering aufgeführt, auch wurde die Thereje Hering 
bei der Berlaffenfchaftstheilung der Mutter im Jahr 1852 umd 
des Baters im Jahr 1872 als Miterbin aufgeführt, woran ſich 
allerdings Feine praftifche Folge fnüpfte, weil fein Nachlaß zu 
vertheilen war. Im Lauf der mündlichen Verhandlung in erjter 
Snftanz vom 13. Dftober 1879 erkannte aber der Beklagte die 
Legitimation der Therefe Hering durch die nachgefolgte Ehe, die 
er anfänglich beftritten hatte, an, jo daß diefelbe außer Frage jteht, 
und nur darüber zu entfcheiden war, ob die, wie anerkannt, ver: 
mögensloſe und erwerbsunfähige Thereje Hering in der Lage ilt, 
öffentlicher Unterftügung zu bedürfen. Die Negierung des Schwarz: 
waldfreifes hatte durch Urtheil vom 13. Dftober 1879 dieje Frage 
verneint und die Klage abgewiefen, weil ihr Bruder Jakob Hering 
fih durch eine Urkunde vom 25. Mai 1876 der Gemeinde Holzel: 
fingen gegenüber verpflichtet hatte, jeiner Schweiter jederzeit Ob— 
dad, den unentbehrlichen Lebensunterhalt, die erforderliche Pflege 
in Krankheitsfällen und im Fall ihres Ablebens ein angemefjenes 
Begräbniß zu gewähren, und diefer Bruder bis jegt öffentliche 
Unterftügung nicht nachgefucht habe. Auf eingelegte Berufung 
änderte aber der VBerwaltungsgerichtshof diefes Urtheil ab, und 


erkannte den Beklagten für verbunden, die Therefe Hering in feine. 


Fürforge zu übernehmen und den von dem Kläger für fie ge— 
- machten Aufwand von zehn Mark zu eritatten. | 
Gründe. 1. Bei der öffentlichen mündlichen Verhandlung 
vom 13. Dftober 1879 hat Beklagter anerkannt, daß die am 
17. Oktober 1833 außerehelich geborene Tochter der Elifabethe 
Oßwald von Ehingen, Therefe, die durch die nachfolgende Ehe 


— FF. N 
— 5l — 


legitimirte Tochter des in Dettingen bürgerlichen Schmids An: 
dreas Hering dafelbit ift. Sie war fomit, wie gleichfalls nicht be- 
ftritten it, am 1. Januar 1873 in Dettingen bürgerlih und hat 
demgemäß an diefem Tage nach $. 65 des Neichögefeges über den 
Unterftüßungswohnfig in Verbindung mit dem Reichsgeſetze vom 
8. November 1871 $.2 den Unterjtügungswohnfiß in Dettingen 
erworben. 

2. Diejen Unterjtügungswohnfig hat die Thereje Hering 
jeither beibehalten, obgleich fie feit diefer Zeit ihren Aufenthalt 
nit in Dettingen, jondern bei ihrem Bruder Jakob Hering, 
Ziegler in Holzelfingen Oberamts Neutlingen hatte, weil ihr, 
wie von Seite des Beklagten gleichfalls anerkannt ijt, wegen 
Geiſteskrankheit, die freie Selbitbeitimmung in der Wahl ihres 
Aufenthalts ſowohl vor dem 1. Januar 1873 als auch feither 
gefehlt hat, die zweijährige Friſt für den Verluſt des einmal 
erworbenen Unterjtügungsmohnfiges jomit nicht laufen konnte. 

3. Die Thereje Hering ijt, wie von Seite des Beklagten 
nicht bejtritten ift, übrigens auch durch die Akten beftätigt wird, 
vermögenslos und jchon feit längerer Zeit in Folge eingetretener 
Geiltesfrankheit unfähig, ſich durch Arbeit ihren Unterhalt zu 
erwerben, jie ift ſomit an fi nicht nur vorübergehend, 
ſondern dauernd unterjtügungsbedürftig. Beklagter glaubt 
aber der demgemäß durch $. 31 des Neichögejeges über den 
Unterſtützungswohnſitz «begründeten Unterjtügungspflidt und der 
Pflicht der Uebernahme der Therefe Hering fich dephalb ent- 
ihlagen zu fönnen, weil diejelbe jeither bei ihrem Bruder, dem 
Ziegler Jakob Hering in Holzelfingen, Aufnahme und Verpflegung 
gefunden hat, der Eintritt öffentlicher Unterjtügung jomit nicht 
nothwendig jei. 

4. Allerdings hat fich Jakob Hering der Ortsarmenbehörde 
Holzelfingen gegenüber durch eine Erklärung von 25. Mai 1876 
verpflichtet, ſeiner Schweiter jederzeit Obdach, den unentbehrlichen 
Lebensunterhalt, die erforderliche Pflege in Krankheitsfällen und 
im Fall ihres Ablebens ein angemefjenes Begräbniß zu ge: 
währen. Er hat damit dem gedachten Armenverband gegenüber 
diejenigen Verpflichtungen auf fich genommen, welche der Art. 1, 
Abf. 1 des württ. Ausführungsgefeges zu dem Reichsgeſetze 

4* 


BE 1 


über den Unterjtügungsmwohnfig vom 17. April 1873 dem zur 
Unterftügung: verpflichteten Armenverband zumeist. | 

Ob aber damit Jakob. Hering diefelbe Verpflichtung au 
dem beklagten Armenverband gegenüber in rechtlich flagbarer 
Meife übernommen hat, beziehungsweiſe eintretenden Falls zu 
übernehmen geneigt iſt, und ob er dies dem Beflagten gegen: 
über unentgeltlich zu thun im Falle ijt, kann um fo mehr da- 
hingeftellt bleiben, als fich gegründete Zweifel dagegen erheben, 
ob Jakob Hering im Stande iſt, diefer Aufgabe auch ferner: 
hin unentgeltlih in genügender Weije zu entfprechen, und 
er dazu auch den erforderlichen Willen hat. 

5. Was das Erjte betrifft, jo hat Jakob Hering nad) feiner 
eidlihen Angabe neben mehreren Güterjtüden eine Ziegelei. Auf 
feinem Beſitzthum haften jedoch Schulden, und die Ziegelei ge: 
währt nur einen geringen Verdienit; nach jeiner eigenen Angabe 
wurde er geiftesfranf, weil der Pfarrer in Großengitingen — der 
Ceelforger der Thereje Hering — ihm zumuthete, diefelbe in eine 
Anftalt zu bringen, und er glaubte, die Koften hiefür bezahlen 
zu müſſen. Er erklärte außerdem bei jeiner eidlichen Verneh— 
mung die Verpflegung jeiner Schweiter, jeitvem der Berdienit von 
der Ziegelei geringer fei, für eine Laſt, endlich hat die Unter: 
ftügung, die er früher von einem Verwandten, dem Pfarrer 
Braig in Seedorf für die Verpflegung der Thereje Hering nad) 
dejjen eidlicher Angabe im Gejammtbetrag von ſechshundert zwei 
und achtzig Mark bis zum 16. Mai 1878 bezogen hat, aufge: 
hört, da Pfarrer Braig nur dann geneigt ift, jährlich hundert 
Mark für die Verpflegung der Therefe Hering zu bezahlen, wenn 
diefelbe in einer Anjtalt untergebracht wird. 

Jakob Hering ſelbſt aber hat eine Unterftügung für Die 
Verpflegung der Thereje Hering beanfprudt. Er hat vor der 
DOrtsarmenbehörde Holzelfingen bei der Aufnahme des Protokolls 
über die perjönlichen Berhältnifje der Therefe Hering vom 
27. Dezember 1878 nach feinem unterfchriftlichen Anerfenntnig 
eine Unterftügung von jährlich dreihundert Mark für die Ver: 
pflegung der Therefe Hering gefordert und ſowohl dem Schult: 
heißen von Holzelfingen, wenn er ihn über die Verpflegung feiner 
Schweſter vernahm, als dem Dberamtmann von Reutlingen ges 





u BE 


genüber nach feiner eidlihen Angabe wiederholt geäußert, er jollte 
eben Unterftügung befommen. Er bat aber auch unterm 5. März -» 
1879 ausweislich des fehultheißenamtlihen Protokolls erklärt, 
„daß er nicht mehr im Stande fei, feine Schweiter zu nähren 
und zu leiden, ohne ivgend eine Unterftüung zu erhalten, 
namentlih bedürfe fie einige Kleidungsitüde, zu deren Einfauf 
er nun um eine Unterjtügung von wenigftens zehn Mark bitte“, 
die ihm auch unterm 8. März 1879 von der Ortsarmenbehörde 
Holzelfingen bewilligt und ausgefolgt wurden. 

Wenn Beflagter diefe Erklärung zunächſt übrigens ohne 
alle Bejcheinigung hinfichtlich der Nechtheit des zu ihrem Beweis 
vorgelegten Protofollauszug3 beanjtandet hat, jo legt das Ori— 
ginal des Protokolls die Nechtheit des Auszugs dar. Allerdings 
hat Jakob Hering bei feiner eidlichen Bernehmung in Abrede 
gezogen, jowohl damals als überhaupt um öÖffentlide 
Unterjtüßung gebeten zu haben, er will, als er bei dem Schult— 
heigenamt erſchien, nur gebeten haben, dafür zu jorgen, daß feine 
Schweiter eine Heimat befomme, wobei er übrigens zugibt, ge: 
äußert zu haben, daß er feine Schweiter ohne Unterjtügung nicht 
behalten könne. Allein- foweit feine Angabe mit den Inhalt 
des von ihm unterjchriftlih anerfannten Protokolls im Wider: 
Ipruch jteht, ijt dem legtern offenbar mehr Glauben zu ſchenken, 
al3 der nur auf dem Gedächtniß beruhenden Angabe des Hering, 
im Uebrigen aber fonnte feine Abficht bei der Bitte um Aus— 
mittlung einer Heimat für feine Schweiter doch auch nur darauf 
gerichtet jein, auf diefen Weg die Unterjtügungspflicht für die— 
jelbe zu regeln, wobei klar ift, daß diefe Regelung nur dem 
definitiv verpflichteten Armenverband gegenüber eintreten kann, 
da es ſich nicht um eine nur vorläufige, fondern nur um eine 
dauernde Unterjtügung handeln kann. 

6. Außerdem wirft jich aber die Frage auf, ob die Art 
und Weiſe der Unterjtüßung der Therefe Hering bei ihrem 
Bruder als die geeignete und ihrem Zuſtand entfprechende ange: 
jehen werden kann. Thatjache ift nach den Akten, daß die Therefe 
Hering wiederholt aus dem Haufe ihres Bruders entwichen ift, 
und ob die von dem Schultheigenamt Holzelfingen dem Jakob 
Hering gemachte Auflage, feine Schweiter bei Vermeidung von 


- 


Strafe beſſer zu überwachen, geeignet ijt, ihr Unterkommen zu 
' einem entfprechenderen zu machen, jteht um jo mehr in Frage, 
als nad) mehrfachen Erfahrungen bei der Unterbringung Geiftes- 
franfer in Familien die nöthige ftetige Ueberwachung, die häufig 
in Folge der Gejchäfte der Angehörigen nicht geübt werden fann, 
einfach durch ungeeignete Einfperrung erjegt wird. Die Mini: 
jterialverfügungen vom 15. Juli 1836 und 4. Juli 1872 machen 
es aber den PBolizeibehörden zur bejonderen Pflicht, die Art und 
Weiſe der Unterbringung und der Behandlung Geiſteskranker 
des Genaueren zu prüfen und zu überwahen. Sie meijen die 
Bolizeibehörden insbejondere an, darauf zu dringen, daß Geiſtes— 
franfe in thunlichiter Zeitfürze in Srrenanftalten untergebracht und 
nicht längere Zeit in Bezirksirrenlofalen verwahrt werden. In 
Uebereinjtimmung mit diefer Vorſchrift hat dag Oberamt Reut— 
lingen die Unterbringung der Therefe Hering in einer Irren— 
anjtalt in Verhandlung genommen, nachdem der Pfarrer Braig 
in Seedorf den Antrag auf ihre Berforgung in einer Anjtalt ge 
jtellt, und hiezu einen Beitrag von einhundert Mark angeboten 
hatte. Die Verhandlung hierüber ift aber, da es jich hier um 
eine dauernde und nit um eine bloß vorläufige Maßregel 
handelt, nur mit dem definitiv verpflichteten Armenverband 
möglih, und daß Jakob Hering auf Grund feiner Erklärung 
vom 25. Mai 1865 für verpflichtet erfannt werden könnte, die 
Koften des Unterhalt3 feiner Schweiter in einer Irrenanſtalt 
zu übernehmen, oder zu demfelben auch nur beizutragen, muß 
auf das Entjchiedenjte bezweifelt werden. 

7. Zwar bat, jo weit den Akten zu entnehmen iſt, Jakob 
Hering fi big jeßt der Fürjorge für jeine Schweiter nicht ent: 
Schlagen, jondern ihr jeither Obdah, Nahrung und Stleidung ge: 
reiht. Allein e8 bedarf deſſen auch nicht, um das Bedürfnig 
ihrer dauernden Unteritügung als konſtatirt anzunehmen, es ge: 
nügt biefür unter den dargelegten Verhältnifien feine Erflär: 
ung, daß er ohne, wie anzunehmen ift, fortlaufende Unterjtüß: 
ung ihre Verpflegung, Kleidung und Beherbergung nicht mehr 
bejorgen könne, und die hieraus fich ergebende Nothwendigkeit 
der Ausmittlung diefer Unterftügung, oder die Nothwendigfeit 
der Ausmittlung einer andern Unterkunft der Therefe Hering, 


wobei ſelbſtverſtändlich dem definitiv verpflichteten Armenverband 
unbenommen bleibt, fall er je glauben follte, irgend Semand 
im Weg des Privatrecht? wegen Uebernahme diejer Kojten in 
Anfpruh nehmen zu fünnen, diefen Anfpruh im Weg der Gi- 
vilklage geltend zu machen. 

8. Mußte hiernad) der Beklagte für verpflichtet erfannt wer: 
den, die geiltesfranfe Therefe Hering in feine Fürforge zu über: 
nehmen, fo ift, wie bemerkt, durch das Protokoll des Schuitheißen- 
amt3 vom 5. März 1879 auch fonftatirt, daß Jakob Hering bei 
demfelben um eine Unterjtügung von zehn Marf für die Kleidung 
feiner Schweiter nachgeſucht hat, worauf die Ort3armenbehörde 
diefelben bemilligt, und Jakob Hering fie empfangen hat. An 
dem biedurch begründeten Charakter der Gabe als einer vorläu— 
figen öffentlichen Unterjtügung kann es nichts ändern, daß Jakob 


Hering nach feiner eidlichen Angabe diefes Geld nicht abgefondert 


aufbewahrt, jondern mit feinem Geld vermifcht, übrigens der 
Therefe Hering Schuhe und Hemden angefchafft hat, deren Be— 
dürfniß für fie nicht beanjtandet ift. Der Beklagte ift ſomit 
verpflichtet, dem Kläger diefe Koften zu eritatten. 


12. DrtsSarmenverband Hedhingen, Kläger gegen 
Drtsarmenverband Ludwigsburg, Beklagter. 


Koſtenerſatz. Behauptete rechtswidrige Abſchiebung. 


Urtheil a) des Verwaltungsgerichtshofs vom 6. Dezember 1879 
b) des Bundesamts für das Heimatwejen vom 5. Mai 1880. 

Matthäus Boll, geboren den 24. Februar 1802 in Hechingen 
und dort nad jeiner Angabe noch heimatberechtigt, will, nach: 
dem er drei Jahre im hohenzollernſchen Militär gedient hat, 
im Jahr 1833, ohne auszuwandern, als Schuitergefelle nach den 
Vereinigten Staaten von Nordamerika gereist jein. Dort habe 
er jih im Jahr 1837 mit einer Franzöſin verheirathet, aus 
welcher Ehe vier Söhne und zwei Töchter hervorgingen. Seine 
Frau ſei im Sahr 1865 gejtorben. Vor feiner Abreife von 
Nordamerika hielt jih Boll angeblich bei feinem älteften Sohne 
Anton Bol, Wollenzeugmacher in Cumberland (Staat und County 


. unbefannt) auf. Sein zweiter Sohn, Mepger Joſeph Boll in 


NT egargeh 
ET 
an 


— — 


Lengkeß County (Staat nicht angegeben und Schreibung zweifel— 
haft) zahlte ihm das Reiſegeld in ſeine Heimat, jedoch ſo knapp, 
daß er bei der Landung in Antwerpen nur noch einen halben 
Dollar hatte Er ſchlug ſich durch bis Aachen, wo er feinen 
Kreuzer mehr hatte, und deßhalb an jeinen Bruder Anton Bol, 
Diener bei der Leih: und Sparkafje in Hechingen, den er befuchen 
und bei dem er bleiben wollte, um Geld fchrieb, der ihm dreißig 
Mark dorthin ſandte. In Aachen war er eine Woche lang, in 
Heidelberg drei Tage im Spital. Mit feinem Gelde will er 
bis Ludwigsburg gekommen fein. In Ludwigsburg wurde er 
am 7. November 1878, als nach feiner Angabe vom 13. No: 
vember 1878 altersſchwach und bruftfrant in den Stadtipital 
aufgenommen, wobei er noch angab, daß er beabjichtige, jo bald 
al3 möglich feine Neife nach Hechingen anzutreten, und daß er 
bereits einen Koffer mit Kleidern an feinen Bruder nah 
Hechingen abgejendet habe. In diefem Koffer ſei auch jein 
Heimatfchein und Militärabihiee. Am 23. November 1873 
wurde Boll aus dem Stadtfpital entlafjen, als geneſen dur 
einen Hofpitaliten auf den Bahnhof in Ludwigsburg geführt, 
und durch denjelben für ihn ein Billet nach Hechingen gelöst, 
wo er an demjelben Tage anlangte. Unterm 15. Januar 1879 
vernahm auf NRequifition des Landesausſchuſſes für Hohenzollern 
dag Stadtjchultheißenamt Hechingen den Matthäus Bol im Ar: 
menhaus daſelbſt, wobei er angab: In Ludwigsburg Fam ich 
fo ſchwach und elend an, daß ich mich auf der Polizei krank 
meldete, von wo ich durch einen Bolizeidiener in das Kranken: 
haus gebracht wurde. Nach ungefähr drei Wochen jagte der 
Derwalter des Kranfenhaufes zu mir: Boll, jegt müßt Jhr wie: 
der fort, und kommt mit der Bahn nach Tübingen und von da 
nach Hechingen. Den 23. November wurde ich dann aus dem 
Spital, begleitet von einem Mann, auf den Bahnhof gebracht, 
wo mein Begleiter ein Fahrbillet löste, und mich big hierher 
dem Zugführer übergab. ch war jedoch jo ſchwach, daß ich 
nur langfam zum Bahnhof in Ludwigsburg kommen fonnte, und 
fam auch hier frank an, jo daß ich von meinem Bruder Anton 
gleich den andern Tag nach meiner Hierherfunft in_den Kran: 
fenfpital verbracht werden mußte, und bis jeßt leidend und 





- 1 — 


arbeitsunfähig bin. Unterm 10. Dezember 1878 hatte Boll 
angegeben: Ich kam frank und mit Ungeziefer und Kräze hier 
an, weßhalb ich hier in den Kranfenjpital verbracht wurde. Die 
Urſache wird höchſt mwahrjcheinlich die ungeordnete Lebensweiſe 
auf der Reife fein. In Anbetracht meines Alters und meiner 
Shwädlichkeit bin ich zu feiner Arbeit mehr fähig. Unterm 
10.112. Februar 1879 jcheint die Armendeputation Hechingen 
diefe Aktenftücde nach Ludwigsburg gejendet zu haben, die Ar: 
menbehörde dafelbft überfandte darauf ein Zeugniß des Ober— 
amtarzt3 Dr. Chriftmann in Ludwigsburg vom 2. März 1879, 
dahin gehend: „Der 77 Jahre alte Matthäus Bol von Hechingen 
trat mit einem Bruftfatarrh in den hieſigen Stabtipital ein, 
und wurde nach nicht ganz drei Wochen genejen entlaſſen“ mit 
folgendem Schreiben an die Armendeputation Hechingen fandte: 
Den Anſpruch auf Erjtattung der Unterjtügungskojten für Bol, 
beziehungsweiſe auf Uebernahme vermögen wir nicht anzuerkennen. 
Boll wurde am 7. November Nachts betrunken auf der Straße 
liegend anfgefunden und in den Spital gebradt. Die andern 
Tags vorgenommene ärztlihe Unterfuhung ergab, daß Boll mit 
einem Bruftfatarıh behaftet war, weßwegen er im Spital zu: 
rüdbehalten und big zum 23. November in demjelben behandelt 
und verpflegt wurde, an welchem Tage jodann auf Grund ärzt: 
lihen Ausipruhs, daß Bol von feiner Krankheit genejen jei, 
jeine Entlafjung erfolgte (vergl. das anliegende Zeugniß des 
Dr. Chrijtmann). Ein Grund, den Boll noch länger im Spital 
zu behalten, lag nicht vor, und um fo weniger, als derjelbe am 
13. November 1878 angegeben hatte, daß er beabfichtige, feinen 
Bruder in Hechingen zu befuchen und bei demfelben zu bleiben, 
er habe bereits in diefer Abficht feinen Koffer mit Effekten nach 
Hehingen vorausgefchicdt und werde fobald möglich die unter: 
drochene Reife dorthin fortjegen. Durch einen Brief des Bru— 
ders hat er deſſen Eriftenz dargethan, auf demjelben waren auch 
amtliche Vermerke von verjchiedenen Städten Nheinpreußens, 
Badens ꝛc. über ihm gegebene Unterftügungen enthalten. Da 
das Vorhaben des Boll, nah 45 Jahren einen Bruder und die 
alte Heimat zu bejuchen, ein natürliches, und die Behörde nicht 
befugt war, es zu hindern, jo hielten wir es gerade für unfere 


a I ne 


Aufgabe und für die einzig zutreffende Unterſtützung, dem Boll 
die Mittel zu geben, um an den Ort zu gelangen, mo derjelbe 
mit Zuverfiht auf Aufnahme durch jeine Verwandten hoffte. 
Eine Abſchiebung war nicht beabfichtigt und kann in der Ge: 
währung von Reijemitteln an einen Ort nicht gefunden werden, 
an welchem nad der durchaus alaubhaften Behauptung des Boll 
die Inanſpruchnahme der öffentlihen Unterftügung überflüſſig 
wurde. Necherchen darüber anzuitellen, ob die Hoffnung bei 
feinem Bruder Aufnahme zu finden, in Erfüllung gehe, lag nicht 
in unjerer Aufgabe. 

Unterm 23. März 1879 jtellte nun der Oberamtsphyiitus 
Dr. Koller in Hechingen folgendes Zeugniß aus: 

Matthäus Bol fam am 25. November 1878 zu dem 
Unterfertigten, um feine Aufnahme in das Krankenhaus zu er: 
wirken. Sein Bruder Anton erklärte fich bereit, die Koften für 
einige Tage zu übernehmen, bis diejenige Gemeinde, welche durch 
das Geſetz über den Unterjtügungswohniig verpflichtet war, für 
den Kranfen eintreten würde. Matthäus Boll war damals in 
hohem Grade an ‚der Kräze erkrankt, an feinem Körper waren 
drei Sorten von Läufen reichlich eingebürgert und am rechten 
Hinterbaden nahe dem After befand jih ein in der Entwidlung 
begriffener Karbunfel. Jedenfalls muß die bei der Aufnahme 
in das hiejige Krankenhaus vorhandene Kräze, fowie die Läufe: 
frantheit Schon bei feiner Anmwejenheit in Ludwigsburg vorhanden 
gewejen jein, und es hätte der Kranke dort jchon aus fanitäts- 
polizeilihen Gründen, um eine Weiterverbeitung der Kräze zu 
verhüten, dajelbit in einen Spital verbracht werden müſſen. 
Ob ji der Karbunfel erit in Folge der rauhen Jahreszeit bei 
dem ſchlecht gefleideten Mann eingejtellt Hat, fteht in Frage. 

Unterm 7. Juli 1879 Elagte nun die Armendeputation 
Hehingen gegen den Drtsarmenverband Ludwigsburg. Boll Fam 
am 23. November 1878 mit der Bahn nah Hedhingen, und 
mußte an demfelben Tag auf ärztliche Anordnung als Fräzig 
in den Kranfenjpital aufgenommen werden. Derfelbe war vom 
7. bis 23. November in dem Spital in Ludwigsburg, von mo 
er frank entlaffen und durch die Bahn nach Hechingen befördert 
wurde, wie nah dem Zeugniß des Dr. Koller feftiteht. Es 








a 


war dies eine gejegwidrige Abſchiebung. Am 10. Februar 1879 
wurde die Ortsarmenbehörde Ludwigsburg unter Beziehung auf 
die 88. 30 und 34 des Reichsgeſetzes über den Unterjtügungss 
wohnſitz hievon benachrichtigt und um Erklärung über die Ko— 
itenerftattung mit dem Bemerfen gebeten, ob folhe zum Erſatz 
anerfannt werden, oder der franfe arbeit3unfähige und unter: 
ftügungsbedürftige Boll auf Grund des $. 32 des angeführten 
Reichsgefeges in eigene Fürforge abgeführt werden ſoll? Die 
DOrtsarmenbehörde Ludwigsburg antwortefe auf Grund des Zeug: 
nifjes des Dr. Chriftmann ablehnend. Dieſem Zeugniß ſteht 
das des Dr. Koller, fowie die Thatſache entgegen, daß Boll 
unter Beigebung eines Begleiters und Uebergabe an den Zug: 
führer auf die Bahn gebracht wurde, eine Vorfihtsmaßregel, die 
nur bei kranken, jehwachen, nicht difpofitionsfähigen Perſonen 
getroffen wird. Die behauptete Hoffnung des Boll, daß er hier 
bei jeinem Bruder willige Aufnahme finden werde, hat fich nicht 
beitätigt, indem derjelbe als Leihkaſſediener in ſehr bejchränften 
Vermögensverhältniffen lebt, und weder gewillt noch im Stande 
ift, feinen ganz mittellofen Bruder zu unterjtügen oder ganz zu 
juftentiren, Letzterer vielmehr fofort der öffentlichen Hilfsbe— 
bürftigfeit (2) anheimfiel. Die Almofenpflege hat an die Hoſpi— 
talverwaltung 19 Mark SO Pf., an die Armenhausverwaltung 
52 Marf 50 Pf., zufammen 72 Mark‘ vorſchußweiſe bezahlt. 
Gebeten wird, zu erfennen unter Bezugnahme auf $. 30 des 
Reichsgejeges über den Unterftügungswohnfig: Die Ortsarmen— 
behörde Ludwigsburg ift fehuldig, die bis jegt aufgelaufenen 
Koſten mit 72 Mark zu erftatten, und die Kojten des Rechts— 
jtreit3 zu tragen. Beigejchlojjen waren die Belege für einen 
Aufwand von 82 Marf 40 Pf., an welchen der Bruder des 
Boll 8 Tage à 1 Mark 30 Pf. mit 10 Mark 40 Pf. bezahlt hat. 

Vernehmlaſſung. Boll wurde in fpäter Nacht be— 
trunfen auf der Straße gefunden, und von der Polizei in den 
Spital gebradt. Bei der Unterfuhung am andern Tag zeigte 
es fih, daß er einen leichten Bruftfatarrh hatte, auch mit Un 
geziefer behaftet war. Don leßterem wurde Boll fofort mittelit 
Einbringung feiner Kleider in einen bis zu 70 Grad Neaumur 
erhigten Dfen und durd Reinigung feines Körpers durch ein 


BER > 


— — 


Bad befreit, und wegen des Katarrhs trat ärztliche Behandlung 
ein. Am 13. November 1878 wurde er vernommen. Da er 
erklärte, daß er ſeinen Bruder Anton in Hechingen beſuchen 
wolle, und bei ihm bleiben, auch ſeine Reiſe dorthin, wohin er 
ſeinen Koffer bereits vorausgeſchickt habe, bald möglichſt anzu— 
treten geſonnen ſei, wurde derſelbe auf die durch Dr. Chriſtmann 
gemachte Anzeige von ſeiner Geneſung am 23. November 1878 
aus dem Spital entlaſſen, und zur Erreichung ſeines Reiſeziels 
ein direktes Billet durch einen hiemit beauftragten Hoſpita— 
liten gelöst, der ihn zugleich, da er lokalunkundig war, auf den 
Bahnhof begleitete. Zur Uebergabe des Boll an den Zugführer 
war der Hofpitalit nicht angewiefen, und erinnert ſich auch 
nicht, dies gethan zu haben. Dies tft der wirkliche Sachverhalt. 
Daß Bol bei jeiner Entlafjung gefund war, beweist Dr. Ehrift: 
manns Zeugniß vom 2. Mär; 1879, daß er bei feiner Ent: 
laſſung mit Kräze und Ungeziefer behaftet war, wird auf Grund 
einer Neußerung des Dr. Chriftmann vom 22. Juli 1879 be: 
jtritten. (Diefe Aeußerung geht dahin: „Boll hatte einen leichten 
Zungenfatarrh, der in ganz furzer Zeit vollfommen geheilt war. 
Der 77 Jahre alte ganz - ausgehungerte, fehr kraftloſe Mann 
wurde aber aus Nücdjicht auf fein hohes Alter bei der damali- 
gen rauhen Witterung etwas länger im Spital zurücbehalten, 
als jein Katarrh gefordert hätte, der überhaupt jo unbedeutend 
war, daß er ninmer mehr eine Krankheit, jondern nur eine 
Unpäßlichfeit repräfentirte. Von den Zäufen, die er bei feiner 
Aufnahme im Spital beherbergte, wurde er befreit. Wenn nun 
Boll bei feiner Aufnahme im Spital in Hechingen abermals 
mit Zäufen behaftet war, und zwar mit dreierlei Sorten (melde 
Naturmerfwürdigkeit!) jo bleibt es ſehr fraglich, woher diefe 
dreierlei Sorten jtammen. Daß er nebenbei auch die Kräze ge: 
habt haben joll, bejtreite ich. Bei feiner Aufnahme in den 
hiejigen Spital hatte er, wie alle Xaufige, viele aufgekrazte 
Hautitellen, die Aehnlichkeit mit der Kräze hatten, aber von felbit 
heilten, nachdem die Läufe entfernt worden waren. Bei genauer 
Unterfuhung wurden auch Feine Kräzemilben gefunden. Dieje 
Pſeudokräze hat er ganz ficher bei feiner Aufnahme in den 
Spital in Hechingen gehabt und nichts Anderes. Angenommen 


8 PETE Tg, 
B1 75177 1053 —— 
a ent : e — 
— 61 — F 


aber nicht zugegeben, er jei in der That mit Kräze behaftet ge: 
wejen d. h. er habe auf jeiner Haut Kräzemilben beherbergt, 
jo ift dies jo wenig al3 eine Krankheit anzufehen, al3 wenn 
Einer mit anderm Ungeziefer, Zäujen, Flöhen, Wanzen und 
vergl. behaftet iſt. Es ift ein veralteter und längjt überwun: 
dener Standpunkt, von einer Kräzefranfheit und gar einer 
Läufefranfbeit zu ſprechen. Bekanntlich verfchwinden diefe 
jogenannten Krankheiten in demjelben Augenblid, da die Para— 
jiten (Kräzemilben, Läufe) von der Haut entfernt werden, was, 
wie hinlänglich befannt, in ganz furzer Zeit geſchehen kann, 
und in jedem Spital wird die Kräzefrankheit mit wenigen Ein: 
reibungen in ein paar Stunden gründlich befeitigt. Matthäus 
Boll Fam von feinem Lungentatarrh geheilt nad Hechingen, 
war jomit gefund von Ludwigsburg aus dem Spital entlafjen. 
Woher feine Käufe und feine angebliche Kräze ſtammen, welche 
er mit fih in den Spital nach Hechingen gebracht haben fol, 
weiß Niemand. Jedenfalls glaube ich nicht, daß es Ludwigs: 
burger Läufe und Kräzemilben waren. Da ich nun das Vor: 
handenjein von Läujen und Kräzemilben ganz im Einklang mit 
einer fortgejchrittenen geläuterten Medizin nicht als eine Krank: 
heit gelten lafje, jo weife ich den Vorwurf, Boll jei ungeheilt 
(aljo noch frank) aus dem Spital entlafjen wordeu, als voll: 
fommen unberechtigt mit PBroteft zurüd." Eine Abſchiebung 
liegt nicht vor. Daß eine ſolche nicht beabjichtigt war, geht 
Daraus hervor, daß Boll mit einem Billet bis Hechingen ver: 
jehen wurde, um zu verhindern, daß derjelbe noch unterwegs 
andere Perſonen und Behörden um Unterjtüßung angeht. Zu 
einer Abjchiebung hätte genügt, den Boll auf möglichit billige 
Weiſe von Ludwigsburg fortzufchaffen z. B. durch Löſung eines 
Dillet3 bis Stuttgart. Die Praris der andern Städte, die 
Boll pafjirt hat, ihm eine Kleine Unterjtügung zu geben, 
wollte man in Zudwigsburg nicht nachahmen, damit dritte Städte 
nicht wieder mit jeinem Reiſeprojekte beläftigt werden. „ Seine 
Abfiht, nach Fünfundvierzigjähriger Abwejenheit jeinen Bruder 
wieder zu jehen und feinen ferneren Unterhalt dort zu juchen, 
itellte jih als eine natürliche dar, deren Realifirung zu hindern, 
Niemand ein Recht hatte. Man ging davon aus, daß Boll bei 


feiner Ankunft in Hechingen nicht mehr der öffentlihen Fürjorge 
anheimfalle, und diefe Annahme war um jo begründeter, als 
fein Bruder nad) dem in feinem Beſitz befindlichen Briefe feine 
Fürſorge durch eine Sendung von dreißig Markt nah Aachen 
bereits beftätigt hatte, was nur den Zwed haben fonnte, ihm 
jeine Reife nach Hechingen zu ermöglichen. Dieje Annahme hat 
fih auch dadurch beftätigt, daß jein Bruder ihn einen bis zwei 
Tage im Haufe behielt und für acht Tage die Spitalrechnung 
übernahm. Als er in Hechingen ankam, bedurfte er nicht ſofort 
Öffentliche Unterftügung, jofern jein Bruder die erite Unterftügung 
leijtete, und die Aufnahme in das Krankenhaus nicht auf An— 
ordnung der Armenbehörde, jondern auf die Bitte des Bruders 
erfolgte. Gebeten wird um foftenfällige Abweiſung der Klage. 

Die Replik beharrt auf dem Vorbringen der Klage. Anton 
Boll hat feinen Bruder bei feiner Ankunft in Hechingen in das 
Gafthaus zur Krone gebracht, dort wurde ihm am 24. November 
in Folge jeiner Unfauberfeit der fernere Aufenthalt verweigert, 
und an demjelben Tag von Anton Boll feine Aufnahme in dem 
Krankenhaus erlangt. Wäre dies von ihm nicht gefchehen, To 
hätte jofort die öffentliche Armenfürforge eintreten müfjen, Die 
auh dann auf jeine Anmeldung eintrat. Die Klagbitte wird 
wiederholt und eine Erklärung des Dr. Koller vorgelegt vom 
16. Auguft 1879, der auf feinen Behauptungen beharıt. Der 
Brief des Anton Bol nah Aachen fonnte nicht beigebracht 
werden, weil derjelbe ihn nicht mehr in Händen habe, dagegen 
wurde ein Brief des Anton Boll und Johannes Bol von Hechingen 
vom 25. Mai 1878 an Matthäus Boll beigebracht, in welchem 
fie dem Leßteren widerrathen, nach Deutjchland zu kommen, weil 
fte ihn auf die Länge nicht unterhalten können. Auf demfelben 
find auch Unterftügungen vermerkt, die er von den Bolizeibehör- 
den Cöln, Koblenz, St. Goar, Bacharach, Mainz in £leine- 
ren Beträgen erhielt. Koffer, Heimatfchein und Militärabjchied 
konnten nicht beigebracht werden. Die Nahforfchung nad dem 
Koffer von Seite der Bahnhofverwaltung Hechingen war ver- 
geblih. Der Bruder Anton Bol bejtätigte aber die Ueber— 
fendung der dreißig Mark nah Aachen auf den Brief feines 
Bruders Matthäus. 


—— Zi — * 


u IB 


Der Bermwaltungsgerichtshof wies die Klage unter Ber: 
urtheilung des Klägers in ſämmtliche Koften ab. 

Gründe. 1) Kläger nimmt den Erjag der von ihm auf 
den aus Amerifa zurüdgefehrten Matthäus Bol bis zum 31. 
März im Betrag von zmweiundfiebzig Mark aufgewendeten Koften 
unter dem Vorgeben von dem Bellagten in Anſpruch, daß der 
Beklagte den Matthäus Bol in rechtswidriger Weife nad) 
Hechingen abgeſchoben habe. Durch die von dem Kläger hiefür 
geltend gemachten Momente konnte jedoh die Richtigkeit feiner 
Behauptung nicht für dargethan erachtet werden. 

2) Dellagter hat, wie nicht bejtritten ijt, den am 7. Novem: 
ber 1878 in Ludwigsburg angefommenen Matthäus Boll an 
demjelben Tag dem Krankenſpital dajelbit in Behandlung und 
Verpflegung übergeben, aus dem-derjelbe am 23. November, 
nahdem er von dem Spitalarzt, dem Oberamtsarzt Dr. Chrijt- 
mann, für geheilt erklärt worden war, wieder entlaſſen und in 
Uebereinjtimmung mit jeinem Reiſeziel nach Hechingen durch die 
Eifenbahn auf Rechnung des Beklagten befördert wurde. Bellagter 
hat ſich jomit nicht von vornherein der von ihm für geboten 
erachteten Unterjtügung des Matthäus Bol entſchlagen, ſondern 
ihm die erforderlihe Hilfe in dem Umfang geleiftet, in dem 
fie nah dem für ihn maßgebenden ärztlichen Ermeſſen noth— 
wendig war. 

3) Wenn nun der Oberamtsphyfitus Dr. Koller in Hechin— 
gen nach feinem Erfundberidt vom 23. März 1879 bei der 
von ihm am 25. November 1878, ſomit zwei Tage nach der 
Entlajjung des Matthäus Boll vorgenommenen Unterjuchung des 
Matthäus Bol einen in der Entwidlung begriffenen Kar: 
bunfel am rechten Hinterbaden nahe dem After gefunden hat, 
ſo behauptet er felbjt nicht, daß diefer Karbunfel jchon in Lud— 
wigsburg vorhanden geweſen fei, denn er führt am Schluß jeines 
Erfundberichts jelbjt an: „Ob diefer Karbunfel exit in Folge der 
rauhen Jahreszeit bei dem fchlecht gefleideten Mann ſich ent: 
widelt hat, fteht in Frage.” Aus dem Vorhandenfein desjelben 
ließe fich daher ein Schluß auf voreilige Entlafjung des Boll 
aus dem Spital in Ludwigsburg, die für eine beabjichtigte Ab: 
Ihiebung in Betracht gezogen werden fünnte, um fo weniger 


x 3 be 
— Bi: 


ziehen, als Boll jelbjt bei feiner VBernehmung am 13. Novem: 
ber 1878 auf ein derartiges Leiden hinmweijende Angaben nicht 
gemacht hat, und auch die Aeußerung des Dr. Chriftmann in 
Ludwigsburg fein folches Leiden erwähnt. 

4) Was aber die nach der Neuerung desfelben Oberamts— 
phyſikus Dr. Koller von ihm am 25. November 1878 vorge: 
fundene Krätze und Läufe betrifft, jo bejtreitet Oberamtsarzt 
Dr. Chriftmann in Ludwigsburg mit aller Entjchiedenheit, daß 
die Käufe noch, und daß die Kräge überhaupt in Ludwigsburg bei 
der Entlaffung des Bol aus dem Spital vorhanden war. Bei 
dem Widerfpruch der beiden gleichen Glauben verdienenden öffent: 
lihen Aerzte kann daher hieraus um jo weniger eine Folgerung 
für eine rechtswidrige Abjichiebung gezogen werden, als jeden: 
falls die Zeit vom 7. big 23. November, welche Boll im Spital 
in Ludwigsburg zugebracht hat, vollfommen genügt hätte, beide 
Uebel, wenn fie überhaupt vorhanden gewejen wären, auf das 
Gründlichjte zu befeitigen, und die Unterfuchung des Dberamts- 
phyſikus Koller erjt zwei Tage nad der Entlafjung des Bol 
aus dem Spital jtattfand, jomit für den Zuftand in Ludwigs- 
burg nicht ohne Weiteres maßgebend ift. 

5) Ebenjomwenig bündig für die von Seite des Klägers dem 
Beklagten unterjtellte Abjiht der widerrechtlichen Abfchiebung 
find die weiter von dem Kläger geltend gemachten Momente. 
Daß dem Boll bei jeinem Gang auf den Bahnhof ein Hofpitalite 
für ihn als Begleiter mitgegeben wurde, der für ihn das Eifen- 
bahnbillet löste, findet jeine einfache und natürlihe Erklärung, 
in dem Umstand, daß Boll, wie anzunehmen ift, in Ludwigsburg 
unbefannt und mit den örtlichen Verhältniſſen nicht vertraut 
war, und felbjt die von dem Beklagten übrigens widerjprochene 
Thatfahe, daß der Hoipitalite dem Boll das Billet nicht in 
die Hand, fondern dasfelbe dem Zugführer übergeben, dem 
er den Boll anempfohlen hätte, würde nicht zu dem von dem 
Kläger gezogenen Schluſſe berechtigen, da dieſes Verfahren, 
falls es überhaupt ftattgefunden hätte, ſich einfach durch 
die Abjicht erflären würde, die Erreichung des Ziels jicher 
zu jtellen. 

6) Entbehren jo die von dem Kläger für die dem Ber 


flagten unterjtellte Abficht der rechtswidrigen Abjchiebung des 
Matthäus Boll geltend gemachten Momente der erforderlichen 
Begründung, fo hat man den Mften auch jonft feine Umſtände 
zu entnehmen vermocht, die Anlaß zur Unterftellung einer von 
Seite des Beklagten beabjichtigten widerrechtlichen Abſchiebung 
bieten würden. Boll fehrte von Amerika in der Abſicht zurüd, 
in feine Heimat zu gehen, in der Hoffnung, bei feinen Ber: 
wandten Unterfunft zu finden. Dies erhellt aus dem Brief des 
Anton und Johann Boll vom 25. Mai 1878, obgleich diejelben 
ihm die Ausführung diefer Abficht widerrathen haben, es erhellt 
ferner aus der Inſtradirung feines übrigens verlorenen Koffers 
nad Hechingen, es geht dies ferner aus feinen Angaben vor der 
OrtSarmenbehörde Ludwigsburg vom 13. November 1878 her: 
vor, indem er jagt: „er jei herausgefommen, in der Abjtcht, 
einen Bruder Anton in Hechingen zu befuchen, und bei dem— 
jelben zu bleiben. Er beabfihtige, jo bald als möglich die Reife 
nach Hechingen anzutreten.” Es liegt dies auch bei einem nad) 
langer Abwejenheit aus Amerifa Zurüdfehrenden in der Natur 
der Sade, und wenn ihm die Verwandten in Hechingen von 
der Ausführung diefer Abjicht auch abgerathen haben, jo ijt 
Daraus denn doch nur zu entnehmen, daß er diefem Nath viel: 
leicht in der Hoffnung nicht folgte, daß fie, wenn er einmal da 
jei, wohl andern Sinnes werden werden, wie er denn auch zehn 
Tage lang auf Koften des Bruders Anton Boll in Hechingen 
verpflegt wurde, eine Hoffnung, in der ihn der Umftand wohl 
zu bejtärfen geeignet jein konnte, daß ihm der Bruder Anton 
Boll im Juli 1878 auf feine Bitte zur Ausführung jeiner Reife 
nah Hechingen dreißig Mark gejendet hatte. Iſt aus diejen 
Umständen zu entnehmen, daß er weder die Abjicht hatte, noch 
ein Bedürfniß hervortrat, die Frage feiner Unterbringung in 
Ludwigsburg in Anregung zu bringen, daß insbefondere Boll 
jelbit in Ludwigsburg die öffentliche Armenpflege nur für die 
ihm gewährte Herjtellung von jeiner Krankheit in Anjpruch 
nahm, jo Liegt auch nach diefer, von dem Kläger übrigens nicht 
ausdrüdlih geltend gemachten Seite fein Grund zu der Anz 
nahme vor, dab Beklagter die ihm geſetzlich obliegende Pflicht 
unvollftändig erfüllt, und den Boll rechtswidrig ee Hechingen 


Württemb. Archiv für Recht sc. XXU. Bo. 1, Heft. 


— BR 


abgehoben habe. In Ermanglung der Begründung der Klage 
war daher diejelbe Eoftenfällig abzumeijen. 

Der Kläger meldete gegen dieſes Urtheil mehrere Tage nad) 
Ablauf der Anmeldefrift die Berufung an das Bundesamt für 
das Heimatwejen an, das jedoch unterm 5. Mai 1880 die Be: 
rufung als verjpätet zurüchvies. 


13. DOrt3armenverband Derendingen DN. Tübingen, 
Kläger, Berufungsbeflagter gegen Ortsarmenverband 
Langenau DU. Ulm, Beklagten, Berufungsfläger. 


Koftenerfaß betreffend. Geleiftete Armenunterftügung, 
oder privatrechtliche Schuld? 
Urtheil vom 10. März 1880. 

Die am 13. April 1861 geborene, in Langenau bürger: 
lihe, dort des Unterftügungsmohnfiges theilhaftige Elijabethe 
Delheim, unehelihe Tochter der Barbara Delheim gebar am 
24. Juli 1878 im Klinikum in Tübingen ein angeblid von 
einem Kellner Maier in Nördlingen erzeugtes Mädchen Luife 
Bertha Delheim. Nach ihrer Entbindung ging die Elifabethe 
Delheim als Amme in ein Pfarrhaus, in dem fie aber wie es 
ſcheint, nur vierzehn Tage blieb; ihr Kind hatte fie ſchon am 
1. Auguft 1878 bei der Hebamme Bachner in Derendingen gegen 
ein Kojtgeld von vier Mark in der Woche in Verpflegung ge: 
geben. Nach dem Austritt aus. dem Ammendienit kam fie am 
15. Auguft 1878 nach Derendingen, war aber nicht im Stand, 
etwas an dem Koftgeld zu bezahlen. Sie wandte jich dephalb 
an das Stadtſchultheißenamt Langenau mit der Bitte, der 
Bachner das vierteljährlihe Koitgeld mit vier Mark für die 
Woche zu jenden, da fie bei dem Lammwirth in Derendingen 
in Dienft getreten ei, ihren geringen Lohn aber für ſich brauche. 
Unterm 23. August 1878 erjuchte hierauf das Stadtſchultheißen— 
amt Langenau das Schultheißenamt Derendingen, die Delheim 
zu vernehmen, wie fie ihrer Verpflichtung zum Unterhalt ihres 
Kindes nachkommen wolle, worauf die Delheim erklärte, daß fie 
bei fünfzig Gulden jährlihem Lohn, die fie für Kleider und 
fich jelbit nöthig habe, dies nicht könne. Die Hebanıme Bachner 





a MI 


aber erflärte dem Schultheißen, daß fie das Kind nicht behalte, 
wenn jih nicht die Gemeinde Langenau zur Bezahlung des 
Koftgelds verpflichte. Hierauf erfuchte das Stadtſchultheißenamt 
Langenau dag Schultheißenamt Derendingen die Delheim durch 
die Bejchlagnahme ihres Lohns zur Erfüllung ihrer Pflicht gegen 
ihr Kind anzuhalten und fie über den Vater ihres Kindes zu 
vernehmen, damit von einem Pfleger dejjelben Alimentations— 
anjprüche erhoben werden. Das Schultheigenamt Derendingen 
belegte zwei Drittheile des Lohns mit Beihlag und benach— 
rihtigte hievon und von der Perſon des unehelichen Vaters das 
Stadtjchultheißenamt Langenau. Am 7. Dftober 1878 verließ 
die Delheim den Dienft in Derendingen, ohne fich weiter um 
das Kind zu befümmern, wohin fie jich begab, iſt unbekannt. 
Schs Mark wurden aus ihrem innebehaltenen Lohn an die 
Bachner bezahlt. Am 18. Dftober 1878 mahnte das gemein: 
Ihaftlide Amt Derendingen bei der Ortsarmenbehörde Langenau 
um die Bezahlung des Kojtgelds, e3 ftehen für elf Wochen vier: 
undvierzig Mark aus, woran jehs Mark bezahlt jeien durch 
den Lohn der Delheim, die Bachner jei arm und fönne nicht 
warten, bis die Drtsarmenbehörde Yangenau Alimente von dem 
Vater des Kindes erlange, beziehungsweije denfelben aufgefun: 
den habe. Das Standesamt (!) Zangenau verwies hierauf auf 
den $. 28 des Neichsgefeges über den Unterſtützungswohnſitz. 
Am 23. November 1878 ſchrieb die Ortsarmenbehörde von 
Derendingen abermals an die Ortsarmenbehörde Langenau um 
dag Geld, der $. 283 des Neichsgefeges über den Unterjtügungs- 
wohnfig verfüge bloß die vorläufige Unterjtügung, die Gemeinde 
Langenau ſei aber definitiv verpflichtet, fie fönne die Weber: 
führung des Kindes verlangen, das jeden Augenblid zur Ver: 
fügung jtehe. Auch hierauf erfolgte nad der Behauptung des 
Klägers feine Antwort, wogegen Beklagter behauptet, mitteljt 
Schreibens vom 30. November 1878 die Ortsarmenbehörde auf 
3.28 des Neichsgejeges über den Unterjtügungswohniig verwieſen 
zu haben. Durch die Vermittlung der Oberämter Tübingen und 
Ulm wurde endlich das Kind auf Verlangen nad) Langenau ge: 
jendet, wohin e3 die Hebamme Bachner brachte, welcher Yangenau 
die Koften der Ueberjendung bezahlte, dagegen die gleichzeitig 


5* 


a 


von der Ortsarmenbehörde Derendingen auf Rechnung ihres Koſt— 
gelds gegebene Abjchlagszahlung unberüdfichtigt ließ. Auf er- 
hobene Klage wurde jedoch der Beklagte von der Negierung des 
Donaufreijes unterm 2. Dftober 1879 für verpflichtet erkannt, 
dem Kläger die für die Beföftigung und Verpflegung des un: 
ehelichen Kindes, der Eliſabethe Wilhelmine Delheim verausgabten 
Koiten im Betrag von 74 Mark nebſt fünf Prozent. Berzugs- 
‚zinfen vom 19. Februar 1879 an zu erfegen, auch fämmtliche 
Koften zu tragen. Der Berwaltungsgerichtshof bejtätigte dieſes 
Urtheil aus folgenden Gründen: 

Mit Unreht ift von dem Beklagten in gegemmwärtiger Sn: 
jtanz geltend gemacht worden, daß es fich bei der von ©eite des 
Klägers an die Wittwe Bachner in Derendingen erfolgten Aus: 
zahlung desjenigen Gelds, deſſen Erjaß legterer von ihm ver: 
langt, nicht um eine der unmündigen Luiſe Bertha Delhein ge: 
währte Armenunterjtügung, da eine jolche weder nachgeſucht nod) 
bewilligt worden fei, jondern lediglich um die Erfüllung der ver— 
tragsmäßigen Verbindlichkeit gehandelt habe, weldhe die Mutter 
jenes Kinds Elifabethe Wilhelmine Delheim der Hebamme Bach— 
ner gegenüber wegen der Verpflegung des legteren und beziehungs: 
weife der hiefür zu leijtenden Entfchädigung eingegangen hatte. 
Diejer Berufung entgegen fommen nächjt demjenigen, was jchon 
die Kreisregierung in den ihrem Erfenntniß beigefügten Ent; 
jheidungsgründen hierüber bemerkt hat, die Umjtände in Bes 
tracht, welche den Kläger zu der gedachten Auszahlung veran- 
laßt haben. 

Nachdem die Elifabethe Wilhelmine Delheim ihr am 24. Juli 
1878 im Klinifum in QTübingen geborene Kind am 1. Auguft 
1878 der Wittwe Bachner zu Derendingen gegen ein wöchent— 
liches Koſtgeld von vier Mark in Verpflegung übergeben Hatte, 
wandte fie fih am 15. Auguſt 1878 an die Ortsbehörde ihrer 
Heimatgemeinde Langenau, wo jie zugleich ihren Unterjtügungs: 
wohniig hat, mit der Bıtte um Berichtigung einer vierteljähr: 
liyen Rate jenes Kojtgeldes, worauf das Stadtſchultheißenamt 
Kangenau an das Schultheißenamt Derendingen das Erjuchen 
richtete, die Delheim zunächit zu einer Aeußerung darüber zu 
veranlajien, wie fie ihrer Verpflihtung zum Unterhalt ihres 


——— —— 
a 
en, 

- n ’ 


— — 


Kindes nachzukommen gedenke. Darauf erklärte die Letztere, 
daß ſie jener Verpflichtung wegen der Geringfügigkeit ihres Ein— 
kommens nachzukommen nicht im Stande ſei, zugleich gab die 
mit ihr vor dem Schultheißenamt Derendingen erſchienene Wittwe 
Bachner die Erklärung ab, daß ſie ſich der Verpflegung des 
Kindes weiterhin nicht unterziehen könne, wenn ihr von der 
alimentationspflichtigen Gemeinde Langenau nicht die Koſtgelds— 
entſchädigung hiefür zugeſichert werde, und nur auf Zureden 
des Ortsvorſtands entſchloß ſie ſich ſchließlich unter Wiederholung 
der ebengedachten von ihr geſtellten Bedingung zu vorläufiger 
Beibehaltung des Kinds. Auf die nach Langenau gelangte 
Mittheilung hievon beantragte das dortige Stadtſchultheißenamt 
die Beſchlagnahme einer Rate des von der Oelheim zu beziehen— 
den Liedlohns behufs der Alimentirung des Kinds, welchem 
Antrag auch von Seite der Ortsbehörde in Derendingen ſo— 
fort ſtatt gegeben wurde. Nachdem aber von dem Lohn der 
Oelheim, welche ſich am 7. Oktober 1878 von Derendingen weg 
begab, nur der Betrag von ſechs Mark zur Befriedigung der 
Bachner hatte verwendet werden können, und auf mehrere weitere 
von der dortigen Gemeindebehörde in diefer ausdrüdlich als 
Armenunterjtügungsfache bezeichneten Angelegenheit an diejenige 
zu Yangenau gerichtete Aufforderungen von da eine Erwiderung, 
abgejehen von der bloßen Verweilung auf den $. 28 des Reichs: 
gejeges über den Unterjtügungswohnfig, längere Zeit nicht erfolgt 
war, fonnte die Armenbehörde in Derendingen jchlieklich nicht 
umbin, dem von der Bachner wiederholt erhobenen Anſpruch auf 
Unterjtügung duch-Ausbezahlung des fraglichen VBerpflegungsgelds 
zu entjprehen. Zu diejer Entſchädigung entſchloß ſich diejelbe, 
wie nach den vorliegenden Akten nicht bezweifelt werden fann, 
nur auf den Grund der ihr für das hilfsbedürftige Kind der 
Delheim obgelegenen vorläufigen Unteritügungspflicht, die ſich ja 
in feiner Weife beanjtanden ließ, und ebenſo ift es diefer Titel, 
unter welchem fie als Klägerin den Erjaß des Verpflegungs- 
geld von der Behörde in Langenau verlangte, nahdem der 
dortige Armenverband, obwohl er wegen des der Delheim da— 
jelbft zujtehenden Unterftügungswohnfiges zur Fürforge für das 
unmündige Kind derjelben im Fall der Hilfsbedürftigfeit un- 


— TE — 


zweifelhaft und wie auch ſeiner Seits nicht beanſtandet wurde, 
verpflichtet iſt, zu irgend einer dieſer Pflicht entſprechenden 
Leiſtung oder auch nur zu einer Zuſicherung derſelben nicht 
hatte beſtimmt werden können. Sämmtliche Vorausſetzungen, 

von welchen nah 8. 28 des Reichsgeſetzes über den Unter— 
ftügungswohnfig die Nechtmäßigfeit der Erjakanfprüche eines 
vorläufig unterjtügenden Armenverbands gegen den zur Für: 
forge für einen Hilfsbedürftigen definitiv verpflichteten Armen— 
verband abhängt, erjcheinen hiernach in dem vorliegenden Falle 

als eingehalten und auch den in Anfehung der Geltendmachung, 
eines jolden Anſpruchs in $. 34 jenes Gejeges ertheilten Vor: 
Ihriften ift injofern Genüge geſchehen, als die Friſt von ſechs 
Monaten jeit begonnener Armenunterftügung, binnen welder | 
ein ſolcher Anspruch bei Vermeidung des Verlufts desfelben bi 
dem verpflichteten Armenverband anzumelden ijt, unzweifelhaft 
eingehalten wurde. 

Bon dem Beklagten ijt zwar behauptet worden, daß er im 
Laufe der mit der Armenbehörde zu Derendingen gepflogenen 
Erörterungen unterm 30. November 1878 dorthin das An: | 
erbieten gejtellt habe, das Kind der Delheim in eigene Fürforge | 
zu übernehmen, womit der Antrag auf Ueberführung des Le: | 
teren nad) Langenau verbunden worden fei. Dieſem Vorbringen, 
welchem, wenn es gegründet war, nad) $. 32 Ab}. 3 des Reichs: 
gejeges über den Unterftügungsmohnjig vom 6. Juni 1870 die 
Folge beizulegen wäre, daß der fragliche Erjtattungsanfpruch als» 
dann für die der Stellung eines jolchen Verlangens nachgefolgte 
Zeit nicht mehr hätte geltend gemacht werden können, hat jedoch) 
der Kläger als unrichtig widerſprochen, und beftritten, daß in 
Derendingen eine derartige Mittheilung eingetroffen jei. Wohl 
wurde von dem Beklagten zu Führung des ihm hinfichtlich feiner 
Behauptung obliegenden Beweifes in gegenmwärtiger Inſtanz Die 
Abſchrift des betreffenden von der OrtSarmenbehörde zu Langenau 
an die Behörde in Derendingen angeblich gerichteten Schreibens 
vorgelegt. Allein hieraus iſt für die erfolgte Abfertigung des 
legteren und dafür, daß dasjelbe dem Kläger zugefommen, ledig: 
ih nicht? zu ſchließen, und wenn der Beklagte in legterer 
Hinfiht den Schultheißen Laupp in Derendingen, welcher das 


se 


Driginal de3 Schreibens empfangen haben müffe, al3 Zeugen be: 
nannt hat, jo ift diefem Beweismittel gegenüber von dem Kläger 
mit Recht geltend gemacht worden, daß der Schultheiß in Deren: 
dingen wegen der ihm gefeglich obliegenden Vertretung des als 
Hagende Bartei betheiligten Drtsarmenverbands dafelbft und, da er 
von legterem zugleich mit der Prozepführung beauftragt worden, 
als Zeuge in diejer Angelegenheit nicht vernommen werden fönne. 

In Ermanglung andermweitigen Beweismaterial3 kann daher 
jene Behauptung nicht als erwieſen angenommen, und derfelben 
feine Folge gegeben werden, wobei von der Frage füglich ab: 
gejehen werden fann, ob der Beklagte nicht ſchon wegen der 
Verfäumung der Frift zur Abgabe der Vernehmlafjung in eriter 
Inſtanz auf die Klage mit dem gedachten Vorbringen auszu— 
ihließen geweſen wäre. 


14. Drtsarmenverband Kirchheim u. T., Bellagter, Be: 
rufungsfläger gegen Drtsarmenverband Befigheim, 
Kläger, Berufungsbeflagten. 


Vebernahme und Kojteneriag betreffend. Rechtswid— 
rige Abjchiebung. 
Urtheil vom 22. März 1880. 

Unter Bejtätigung des Urtheils der Regierung des Donau— 
freifes vom 27. November 1879 wurde der Beklagte, Berufungs- 
fläger, fojtenfällig für verpflichtet erfannt, den Ferdinand War- 
ringer von Reichenhall in vorläufige Fürforge zu übernehmen 
und dem Kläger die durch die Verpflegung des Hilfsbedürftigen 
vom 24. September 1878 bis zum Tag der Uebernahme mit 
täglih 1 Mark 10 Pfennig entitandenen Koften zu erjegen. 

Gründe. 1) Der flägerifche Anfpruch gründet fih auf 
die Behauptung, daß die Hilfsbedürftigfeit des angeblichen War: 
ringer ſchon in Kirchheim u. T., als er am 9. September 1878 
von dem Dberamt der dortigen Ort3armenbehörde zur weiteren 
Unterftügung übergeben wurde, hervorgetreten jei, daß jedod) die 
Drtsarmenbehörde der ihr nach 8. 28 des Reichsgeſetzes über den 
Unterftügungswohnfig obgelegenen Berpflihtung zumider den 
Warringer am 10. September 1878 von dort abgejchoben habe, 


— — 


und in Folge dieſer rechtswidrigen Abſchiebung des Hilfsbe— 
dürftigen der Ortsarmenverband Beſigheim kurze Zeit darauf 
am 24. September 1878 in die thatſächliche Nothwendigkeit ver: 
fegt wurde, an der Stelle des gejeglich zur vorläufigen Für: 
ſorge verpflichteten Ortsarmenverbands Kirchheim den Warringer 
in Verpflegung zu nehmen. Demzufolge ift der ſachliche An— 
trag des Klägers darauf gerichtet, Daß der Beklagte den War: 
ringer in vorläufige Fürforge zu übernehmen und die bis zur 
Uebernahme erwachjenen Verpflegungskoften in dem durch das erſt— 
richterliche Erfenntniß feitgefegten Betrag von 1 Mark 10 Pfennig 
für den Tag dem Kläger zu erjegen habe, während von dem 
Beklagten ſowohl die thatfächlihe Begründung der Klage, als 
der klägeriſche Anfpruch ſelbſt in feiner doppelten Richtung und 
eventuell auch der Betrag der Erfagleijtung bejtritten wird. 

2) In thatfächlicher Beziehung fommt für die Beurtheilung 
des Falls Folgendes in Betraht: Am 5. Auguft 1878 iſt in 
Kirchheim u./T. wegen Verdachts der Landjtreicherei ein Mann, 
angeblich von Reichenhall bei Salzburg, aufgegriffen und dem 
Dberamt überliefert worden, welcher nach dem jtadtfchultheigen- 
amtlichen PBrotofoll über feinen Namen feine verftändliche Aus: 
funft geben, ihn auch nicht Schreiben konnte, weder Neifegeld 
noch Legitimationspapiere befaß und zugab, feit etwa einem 
Sahr von Haufe abwejend zu jein und fi in der Welt herum: 
getrieben zu haben. Schon in Folge des erjtmaligen Berhörs 
(wobei fich der Mann nur ſchwer verftändlich zu machen ver: 
mochte, und aus feinen Worten nur zu entnehmen war, daß er 
MWarringer oder Warrin heiße, von Reichenhall jei, dort eine 
Frau und vier Kinder habe, aber ſchon lange nicht$ mehr von 
ihnen wiſſe, daß er als Bauer arbeite und fatholiich fei) fand 
jih das Oberamt veranlaßt, das Oberamtsphyfifat um Unter: 
juhung und Begutachtung des geiftigen Zuftands des angeblichen 
Warringer anzugehen, worauf jich dasjelbe unterm 6. Auguft 1878 
dahin äußerte: „Körperlich fcheint er ganz gefund zu fein, umd 
die Haut feiner Handfläche zeugt von Verrichtung harter Arbeit. 
Er erfcheint nicht als geiltesfranf, wohl aber als etwas blöde, 
was wegen feines jchwerfälligen Sprechens noch mehr bemerf- 
lih wird, als es ohne diejes wohl der Fall wäre.“ Da bie 





— DB 2 


Angabe des angeblichen Warringer über jeinen Namen, Herkunft 
und Familienverhältniffe durch die inzwifchen bei dem Stadt: 
magiftrat Reichenhall eingezogene Erfundigung fi in Feiner 
Weiſe bejtätigte, wurde das Oberamtsphyſikat mit Rückſicht 
hierauf zu wiederholter Unterfuchung eines Geijteszuftands ver: 
anlaßt, und bemerkte der Dberamtsarzt unter Beziehung auf 
jeine frühere Neußerung unterm 14. Auguſt 1878, dag aus 
Warringer nichts weiter herauszubringen fei und es ihm fcheine, 
derjelbe gebe abjichtlich feine weitere Auskunft. Nachdem auch 
die bezüialich der jpäteren Angaben des Warringer über fein bis- 
heriges Thun und Treiben eingeleiteten Nachforichungen durch— 
aus erfolglos geblieben waren, wurde von dem Oberamt die 
Unterfuchung wegen Yandftreicherei mangelnden Beweiſes halber 
eingeitellt, und der angebliche Warringer am 9. September 1878 
al3 gänzlich mittellos der Ortsarmenbehörde Kirchheim zu weiterer 
Verfügung, beziehungsweife Behandlung nad) $. 28 des Reichs: 
gejeges über den Unterftügungswohniig übergeben. Durch die 
in folder Weife gejchehene Uebergabe des angeblichen Warringer 
war die DOrtsarmenbehörde Kirchheim amtlich veranlaßt, ſich mit 
der Frage der Hilfsbedürftigfeit diefes von dem Dberamt als 
gänzlich mittellos bezeichneten Menjchen näher zu befaſſen, und 
die der wirklichen Sachlage entiprechende Verfügung zu treffen. 
Statt deſſen beſchränkte fich der Vorſtand der Ortsarmenbehörde, 
ohne ſich, wie es jcheint, durch Einficht der oberamtlichen Aften 
über die faktiſchen Verhältniſſe inftruirt zu haben, darauf, den 
Warringer, nachdem er die Nacht vom 9. auf den 10. September 
im Gewahrſam de3 Polizeiwachtzimmers verbracht und das von 
einem Privatverein gefpendete übliche Stadtgefchent erhalten hatte, 
mit einem behufs feiner Heimreife von dem Stadtfchultheißen: 
amt Kirchheim ausgejtellten Ausweile vom 10. September 1878 
zu entlafjen. Schon am 16. September 1878 murde ein mit 
diejem Reiſeausweis verfehener Mann in Freudenthal O. A. Befig- 
beim wegen Verdachts der Landftreicherei aufgegriffen, und an 
das Oberamt Befigheim eingeliefert, welches nach) einem rejultat= 
[08 verlaufenen Verhör die Unterfuchung wegen Landjtreicherei 
wegen mangelnden Beweiſes einjtellte und denſelben als hilfs— 
bedürftig am 24. September 1878 der Drtsarmenbehörde Belig- 


— — 


heim übergab, auf deren Anordnung er in den Spital aufge— 
nommen, und ſeither dort verpflegt wurde. Daß die Perſon, 
um die es ſich handelt, mit dem angeblichen Warringer, der 
vom 5. Auguſt bis 9. September 1878 bei dem Oberamt Kirch— 
heim in Unterfuhung ftand, identifch ijt, ift von dem Beklagten 
zwar in voriger Inſtanz wenigftens bejtritten worden, es er: 
jcheint jedoch die Identität der Perſon, wie fich jchon aus dem 
Beſitz des Reiſeausweiſes entnehmen ließ, durch die verwaltungs: 
richterlihe Verhandlung vom 26. September 1879 insbeſondere 
durh die Ausfagen des Dberamtsdiener® Hofmann und des 
Dberamtsarzts Medizinalratb3 Dr. von Hauff in Kirchheim 
zweifellos feſtgeſtellt. 

3) Nach mehrfacher Beobachtung des angeblichen Warringer 
bat das Oberamtsphyſikat Befigheim unterm 3. Dftober 1878 
über defjen Zujtand folgendes Zeugniß ausgeftellt. Nach ber 
Beichaffenheit der Hände des Warringer ift derfelbe fchon länger 
her unbejchäftigt gewejen. Sein völlig indolente® Benehmen 
läßt nicht entfernt das Verlangen verfpüren, fich einem Gejchäft 
zu unterziehen, obgleih ihm vollflommene förperliche Gefundheit 
zuzutrauen ift. Die geiltigen Fähigkeiten des Warringer er: 
wiejen fih als im höchſten Grade träge, insbefondere iſt fein 
Blid ohne alles geijtige Leben, jeine Antworten find ein völlig 
unverftändlihes Gemurmel. Allem nah iſt Warringer feinem 
ganzen Wejen nach von Kindheit auf Idiot und wohl jchon 
länger denn drei Monate mit wirflihem Blödfinn behaftet. Bei 
der Verhandlung vom 25. September 1879 hat Oberamtsarzt 
Lang von Befigheim als Zeuge und Sahverftändiger vernommen 
diejes Zeugniß aufrecht erhalten, näher begründet und noch ans 
gefügt: Warringer vermag nichts felbjtändig ohne Aufficht und 
Anleitung zu verrichten, wie dies die tägliche Erfahrung im 
Spital nachweist, und wovon ic) auch jelbit ſchon, da ich bei: 
nahe täglih dem Warringer begegne, mich überzeugt habe. 
Warringer ift ſchwachſinnig, dem Blödfinn nahe ftehend und 
zwar ift fein Zuftand heute derfelbe wie vor einem Jahr. Ich 
halte ihn zu einer Verwendung als Dienftfneht oder zu einer 
fonftigen Arbeit ohne fpezielle tete Aufficht und Anleitung nicht 
für fähig und bemerfe ferner, daß Warringer, der fih nur jehr 





— 


was: FE. 


ſchwer verftändlih machen kann, auch nicht die Fähigkeit beſitzt, 
ohne fremde Unterjtügung Arbeit aufzufuchen. Die aufgewor- 
fene Frage, ob Warringer nicht möglicher Weile Simulant jei, 
wurde von Dberamtsarzt Yang entichieden verneint, weil ein 
jolhes Benehmen nicht ein volles Jahr hindurch fimulirt wer: 
den fönne. Unterſtützt wird dieſes Zeugniß durch die eidliche 
Ausiage des Spitalmeifters Joos in Befigheim über das Ber: 
halten Warringers im dortigen Spital. In Uebereinjtimmung 
biemit jteht auch das jchriftlihe Gutachten, das der Medizinal- 
referent der Kreisregierung Oberamtsarzt Dr. Volz in Ulm auf 
Grund feiner Beobachtungen während eines dreiwöchigen Aufent: 
halt3 des Warringer in Ulm im dortigen Spital am 27. Oftober 
1879 erjtattet hat, worin derjelbe in ausführlider Motivirung 
eine von Warringer geübte Simulation entfchieden verneint, und 
fein Urtheil jhlieglih dahin abgibt: Warringer ijt mit apathi- 
ihem Blödfinn behaftet und hat fich ſchon zur Zeit der erjten 
Verhaftung in Kirchheim am 5. Auguft 1878 in diefem Zujtand 
befunden. Arbeitsfähigfeit im gewöhnlichen Sinn ift bei ihm 
nicht vorhanden. Er wird von jelbjt nie Arbeit juchen. Die 
fehlende Willenskraft muß durch fremden Antrieb erjeßt werden, 
und die Leiftungsfähigfeit iſt gering anzufchlagen. Auf eigene 
Füße gejtellt kann Warringer fich nicht fortbringen. Er ift ver: 
möge feiner Geiſtesſchwäche hilfsbedürftig. 

Den durh die Ausſage des Spitalauffehers Joos unter- 
ftügten übereinftimmenden Ausſprüchen der genannten beiden 
Sahverftändigen gegenüber iſt dem abweichenden jchriftlichen 
und mündlichen Zeugniß des Oberamtsarzts Medizinalraths 
Dr. von Hauff in Kirchheim, welcher den Warringer für geiftig 
beihränft anſieht, gleihwohl aber die Möglichkeit einer Simu— 
lation annimmt, und denſelben einerſeits zur Verrichtung ges 
wöhnlicher Handarbeit unter Aufficht, andererfeits dagegen 
zu jelbjtändiger Auffuhung von Arbeit für fähig hält, 
ein Gewicht um fo weniger beizulegen, als ſich die Ausſprüche 
dieſes Sachverftändigen nur auf furze Unterfuhung und Beob- 
ahtung gründen. Nach dem Dargelegten muß vielmehr zugleich 
im Hinblid auf das aus den Vernehmungsprotofollen des Stadt- 
ſchultheißenamts und Oberamts Kirchheim erfichtlihe Verhalten 


— 76 — 


des angeblihen Warringer als ermwiefen angenonmten werden, 
daß Warringer Shwadhlinnig ift, und dieß ſchon zur Zeit jeiner 
Aufgreifung in Kirchheim den 5. Auguft 1878 war, daß er ver- 
möge feiner Geiftesihwähe zu felbitändiger Auffuhung von 
. Arbeit unfähig ift, und gewöhnliche Handarbeit nur unter fteter 

Anleitung und Auffiht in fehr beſchränktem Grad zu verrichten 
vermag, daß er ſomit im gewöhnlichen Sinn nicht arbeitsfähig 
it, folgemweije im Zuſtand der Hilfsbedürftigfeit, welche den Um: 
tänden nach als eine dquernde erfcheint, fich befindet, und ſchon 
in Kirchheim, als er am 9. September 1878 von dem Oberamt 
der dortigen Drt3armenbehörde übergeben wurde, ſich in dieſem 
Zuſtand befunden hat. 

4) Daß die Hilfsbedürftigfeit des angeblihen MWarringer 
damals in einer für die Drtsarmenbehörde Kirchheim erfenn: 
baren Weife hervorgetreten ift, unterliegt nah den Akten (Erlaß 
des Oberamts Kirchheim vom 9. September 1878 und dem jtadt- 
ſchultheißenamtlichen Brotofoll vom 5. Auguſt 1878) feinem An- 
jtand. In Gemäßheit des $. 28 beziehungsmeile 60 des Reichs— 
gejebes über den Unterjtügungswohnfig war daher der Orts— 
armenverband Kirchheim zur vorläufigen Unterftügung des Hilfs: 
bedürftigen verpflichtet. Diejer Verpflichtung hat der Vorftand 
der DOrtsarmenbehörde zumider gehandelt, indem er den gänzlich 
mittellofen Warringer, deſſen Heimatort. unbefannt war, am 
10. September 1878 mit einem behufs feiner Heimreife aus: 
geitellten ftadtfchultheißenamtlichen Ausweis entließ, und eben 
damit aus dem Bezirk des Ortsarmenverbands Kirchheim abjchob. 
Da Warringer furze Zeit darauf im Oberamtsbezirk Bejigheim 
wieder aufgegriffen und von dem Dberanıt nad) Einjtellung der 
wegen Zandjtreicherei eingeleiteten Unterfuhung der Ortsarmen— 
behörde Bejigheim zur vorläufigen Fürforge überwiefen wurde, fo 
war der Drtsarmenverband Beligheim in Folge diefer durch die 
rechtöwidrige Fortſchiebung des Hilfsbedürftigen aus Kirchheim her— | 
beigeführten Thatſache genöthigt, anftatt des im Sinn des $. 28 Ä 
des gedachten Reichsgeſetzes wirklich verpflichteten Ortsarmenver: 
bands Kirchheim den Warringer vom 24. September 1878 an in 
vorläufige Verpflegung zu übernehmen. Durch jene pflichtwidrige 
Handlung hat ſomit die vechtlihe Sachlage zum Bortheil des 





———— 


einen und zum Nachtheil des anderen Armenverbands eine that— 
ſächliche Veränderung erfahren. Dem zufolge iſt der hiedurch 
benachtheiligte Armenverband gemäß obiger Geſetzesbeſtimmung 
berechtigt, von demjenigen Armenverband, an deſſen Stelle er 
bisher die Laſt der vorläufigen Verpflegung des Hilfsbedürftigen 
getragen hat, eine angemeſſene Ausgleichung und die Herſtellung 
des dem Geſetze entſprechenden Zuſtands zu verlangen. Im vor— 
liegenden Fall konnte daher nad den obwaltenden Verhältniſſen 
der Elagende Drtsarmenverband Befigheim mit Recht bean 
ipruhen, daß ihm die Laſt der Verpflegung des angeblichen 
Barringer durch die Zurüdübernahme desjelben von Seite des 
beflagten Armenverbands Kirchheim wieder abgenommen, und 
von legterem der bis zur Uebernahme erwachjene Verpflegungs- 
aufwand erjegt werde. Der von dem Kläger in dieſer doppelten 
Kihtung gegen den Beklagten erhobene Anſpruch war hiernach 
an und für ſich als jtatthaft und rechtlich begründet zu erachten. 

5) Anbelangend den Betrag der Elägerifchen Erſatzforderung, 
jo ericheint der von dem vorigen Richter angenommene tägliche 
Verpflegungsiä von 1 M. 10 Bf. als den örtlichen Verhält: 
niffen und den in der Perſönlichkeit des Warringer begrün— 
deten Umftänden , insbejondere jeinem ungewöhnlichen Appetit, 
entiprehend. Mit Rückſicht auf den legteren Umjtand war bei 
der geringen Arbeitsleiftung des Warringer ein Abzug von 
Arbeitverdienft an dem Verpflegungsfag weder für den Aufent- 
halt in dem Hojpital in Ulm, wo der zu 30 Pf. für den Tag 
veranfchlagte Arbeitsverdienft zu Genußzulagen einer während 
der Arbeit nothwendigen Ergänzung der Koſt verwendet wurde, 
noch für die Verpflegung in dem Spital in Beſigheim zu machen, 
wo überdies wohl auch die Gelegenheit zu dauernder regelmäßiger 
Beſchäftigung der Hofpitaliten, wie jolhe im Ulmer Spital ges 
boten iſt, fehlte. 


— ER 


15. OrtSarmenverband Billigheim großh. badijchen 
Bezirks-Amts Mosbah, Kläger gegen Ortsarmen— 
verband Tiefendbah DNA Nedarjulm, Beklagten. 


Uebernahme und Koftenerjaß betreffend. Charakter 
einer Armenunterftüßung. 


Urtheil vom 31. März 1880. 


Die Joſepha Steinbacher von Tiefenbach hatte ſechs unehe: 
lihe Töchter. Im Jahr 1870 wollte fih A. Ritſchart von Billig: 
heim, der jedoch nur der Vater der jüngjten Tochter der Stein: 
bacher war, mit ihr verehelichen, der Gemeinderatd Billigheim 
wies dad Geſuch wegen mangelnden Nahrungsftands zurüd, 
mußte aber nach dem Ausspruch des Bezirksamts Mosbach die 
Berehelihung des Ritſchart mit der Steinbacher, welcher der Ge: 
meinderath Tiefenbach für diefen Fall einhundert Gulden ver: 
ſprochen hatte, zugeben. Ritſchart nahm zuerit feinen Wohnfik 
in Tiefenbach und die Töchter jeiner Frau jorgten auch wieder 
für die Zunahme der Bevölkerung, indem drei derjelben bereits 
auch wieder mit Kindern gefegnet find. Im November 1877 
zog Ritſchart nach Billigheim, wo er bürgerlih ift. Unterm 
30. Suni 1879 klagte nun die Gemeinde Billigheim gegen die 
Gemeinde Tiefenbach auf Uebernahme der Ritſchart'ſchen Familie 
und Erjag der auf fie aufgewendeten Kojten, wurde aber mit 
der Klage foftenfällig abgewiejen. 

Gründe: 1) Die Klage beanfprucht von dem Beklagten die 
Uebernahme des Andreas Nitfhart mit Familie ſowie den Er: 
jag der für deſſen Unterjtügung von der Gemeinde Billigheim 
aufgewendeten Kojten, welche nach der Stlage in der von dem 
Gemeinderat in Billigheim mit Johann Maier von da wegen 
Belafjung des Ritfehart in jeiner bisherigen Miethwohnung ver: 
einbarten Miethentfchädigung von 1 M. täglih vom 5. Mai 
1879 an bejtehen, aus dem Grund, weil A. Ritfehart den Unter: 
ftügungswohnfig in Tiefenbach habe. Der Beklagte hat legtere 
Thatjache, welche fih audh aus den Akten als zweifellos er: 
gibt, nicht in Abrede gezogen, wohl aber feine Verpflichtung zum 
Erſatz der gedachten Koſten bejtritten, andererfeits dagegen, un— 





— WO: u 


geachtet er von hier aus auf die Vorausjegung des 8. 31 des 
Reichsgeſetzes Über den Unterjtügungsmwohnfis ausprüdlich auf: 
merffam gemacht worden war, fich bereit erklärt, den A. Ritſchart 
und feine Familie in eigene Unterjtügung zu übernehmen. 

2) Obgleich hiernach zwijchen den ‘Parteien in Betreff der 
Uebernahme der Familie Ritfehart fein Streit bejteht, jo kann 
doh dieſem beiderfeitigen Einverjtändnig in dem vorliegenden 
Fall darum feine Folge gegeben werden, weil A. Ritſchart jich 
entfehieden weigert, nach Tiefenbach überzufiedeln, eine polizeiliche 
Nöthigung desjelben zum Wegzug aus feinem gegenwärtigen 
Aufenthaltsort aber nicht ftatthaft ift, die Vorausfegungen der 
Ausweilung ($. 5 des Freizügigfeitsgefeges), durch welche das 
Recht des vorläufig unterjtüßungspflichtigen Armenverbands, die 
Uebernahme eines Hilfsbedürftigen zu fordern, und die Pflicht des 
definitiv unterjtügungspflichtigen Armenverbands ſolche zu ge— 
währen bedingt wird ($. 31 des Reichsgefehes über den Unter: 
ſtützungswohnſitz), nach den thatſächlichen Verhältnifjen hier nicht 
zutreffen, jofern Ritſchart arbeits- und erwerbsfähig ijt, wenn e3 
ihm auch unter den obwaltenden Umjtänden zeitweife an Erwerbsge— 
legenheit und an einem für den Unterhalt feiner Familie zureichen- 
den Arbeitsverdienit fehlt. Der Elägerifche Antrag auf Weber: 
nahme der Familie Ritſchart durch den Beklagten mußte daher 
ungeachtet des entiprechenden Anerfenntnijjes des letteren bei 
dem Widerſpruch des im rechtlichen Sinn betheiligten Dritten 
abgewiefen werden. 

3) Anbelangend die Frage des Koftenerjages kommt Fol: 
gendes in Betracht: Nach dem Vorbringen des Klägers bejteht 
die bisher dem A. Ritſchart geleiftete Unterjtügung, um deren 
Erſtattung durch den Beklagten es ſich handelt, lediglich in der 
Vermittlung eines Obdachs dur die von dem Gemeinderath 
Billigheim mit Johann Maier von da abgejchlojjene Verein- 
barung, wornach diefer gegen eine aus der Gemeindefafje vor: 
Ihüffig zu bezahlende Miethentfhädigung von 1 M. täglih vom 
d. Mai 1879 an den W. Ritſchart und feine Familie bis zur 
Entſcheidung des gegenwärtigen Prozefjes in Miethe behalten 
jollte. Der Beklagte, welcher feine Erfagpflicht beftreitet, hat 
jedod den Zweifel erhoben, ob die gedachte Intervention des 


— 
Er Fr SE 
° nr 


2 IE 


Gemeinderaths durch wirkliche Hilfsbedürftigfeit des A. Ritſchart 
oder nicht vielmehr fünftlich dadurch veranlagt worden ift, daß, 
wie man jich in Tiefenbach erzähle, die Gemeinde Billigheim ſo— 
wohl jeinem bisherigen Vermiether, als jeden andern Wohnungs: 
vermiether unterjagt habe, den A. Nitfhart zu behalten, be: 
ziehungsmweife ihn anderwärts aufzunehmen. In der That jpricht 
nah den Akten Manches für die Annahme, daß die Wohnungs— 
verlegenheit, in welche Ritſchart im Mai v. J. verjegt worden, 
Folge eines durd amtliche oder andere Einflüffe herbeigeführten 
Uebereinfommens der Wohnungsvermiether in Billigheim gewefen 
jei. In der Erklärung des Gemeinderaths von Billigheim vom 
6. Augujt 1879 ijt jelbit davon die Rede, daß die durch ihr 
früheres Verhalten bethätigte Abficht der Gemeindebehörde in 
Tiefenbach, den A. Ritſchart mit jeiner Familie der Gemeinde 
Billigheim als Laſt aufzubürden, die Einwohner bes leßteren 
Orts dermaßen in Erbitterung verjeßt habe, daß e3 den Bürger: 
meijteramt die größte Mühe gefoftet, nachdem es überall ver: 
gebens um eine Wohnung für Nitjehart ſich beworben, den bis— 
herigen Hausvermiether allerdings gegen eine hohe Miethe zu 
bewegen, den Ritſchart bis auf Weiteres zu behalten. Diejer 
hat jodann bei jeiner VBernehmung vom 2. Dezember 1879 Die 
Vermuthung ausgeiproden, daß eine allgemeine Vereinbarung 
der Wohnungseigenthümer, ihm Wohnung zu verweigern, bes 
jtanden babe, eine Vermuthung, welche auch durch den Inhalt 
der Akten des großh. badiichen Bezirks: Amts Mosbach, die Bitte 
des A. Ritſchart um polizeiliche Hilfe zur Erlangung einer Woh— 
nung betreffend, einigermaßen unterjtügt wird. Als aftenmäßig 
fonjtatirt ift aber anzujehen, daß die momentane Nothlage, 
welche den Ritſchart bei der Verhandlung des Gemeinderaths 
Billigheim vom 29. Mai 1879 zur Anrufung öffentlicher Unter: 
jtügung veranlaßte, einzig und allein dadurch herbeigeführt wurde, 
daß fein Vermiether Johann Maier für die Belafjung desjelben 
in der bisherigen Wohnung 1: M. täglich Miethe vom 5. Mai 
1879 an, alſo ungefähr das Zehnfache des feitherigen Betrags 
verlangte, Ritſchart aber nit im Stande war, diefen hohen 
Miethzins zu bezahlen, oder ich eine andere Wohnung zu ver: 
ihaffen. In der fragliden Beziehung hat Ritſchart bei jeiner 








er RL 


zweiten Vernehmung am 11. Februar d. J. ſelbſt angegeben, 
daß er vor dem Gemeinderath erflärt habe, die für die abge: 
laufenen vier Wochen (wohl die Zeit vom 5.—29. Mai 1879) 
zu zahlenden 24 M. nicht bezahlen zu können und daß er biedurch, 
um diefen Betrag bezahlen zu fünnen, ſich genöthigt gefunden, 
die öffentliche Unterjtügung in Anſpruch zu nehmen, jowie daß 
Maier durch die gefammte Gemeinde zu dem hohen Anſatz veran- 
laßt worden fei, weil man ihn (Ritſchart) eben fort haben wolle. 

Hiernah war es, da Nitfchart feinen früheren Miethzins- 
ihuldigfeiten, wenn auch in verzögerliher Weile nachgefonmen 
it, inSbefondere den Miethzins vom legten Vierteljahr (Februar 
bis April 1879), wie von Maier bezeugt it, zu bezahlen ver: 
mochte, feineswegs eine auf feinen perjönlihen Umjtänden 
(Wohlers Entfcheidungen des Bundesamts III. Heft ©. 45) be: 
ruhende Unfähigkeit desjelben, eine Wohnung um den vertrags: 
mäßig bisher jtipulirten Preis oder um einen den örtlichen Ver: 
hältnifjen entiprechenden Miethzins zu bezahlen, was ihn zur 
Anrufung der öffentlichen Unterftügung nöthigte, ſondern ledig- 
lich die maßloje Steigerung des Miethzinfes, welche nach 
dem eigenen Zugejtändnijje des VBermiethers (Zeugenausfage vom 
11. Februar 1880) hauptfächlih zu dem Zwed erfolgte, den 
Ritſchart loszubekommen, was in feinem Sinn und wohl au 
im Sinn der Gemeindebehörde, wie der ganzen Gemeinde unter 
den obwaltenden VBerhältnifjen nur die Bedeutung haben fonnte, 
dag Ritſchart hiedurch in eine Nothlage verjegt der öffentlichen 
Unterftügung und eventuell der Gemeinde Tiefenbah als dem 
Drt des Unterjtügungsmwohnfiges zur Fürſorge anheimfallen joltte. 
Außerdem gibt der Umſtand, daß Johann Maier, obgleich vor: 
Ihüffige Zahlung der Miethentiehädigung aus der Gemeindefaffe 
bedungen wurde, noch gar feine Miethzinszahlung erhalten hat, dem 
Zweifel Raum, ob der vom 5. Mai 1879 datirte Miethvertrag 
ein wirkliches Vertragsverhältniß, das jedenfalls mit dem am 
5. Dezember .1879 erfolgten Wegzug des Ritſchart aus jeiner bis- 
herigen Wohnung außer Wirkjamteit getreten wäre, darftellt, oder 
ob es fich nicht hier um ein fingirtes Vertragsverhältnig handelt. 

Da nah dem Ausgeführten nicht anzunehmen tft, daß der 
fraglihen Unterftügungsmaßnahme des Gemeinderaths Billigheim 


- Württemb, Archiv fir Recht sc. XXII. Br. 1. Heft. 6 


ne a 


wirkliche Hilfsbedürftigfeit des Andreas Ritſchart im Sinne des 
$. 28 des Reichsgeſetzes über den Unterſtützungswohnſitz zu 
Grunde lag, und da überdies, wie fich aus der Zeugenausfage 
des Johannes Maier ergibt, der Kläger einen Unterjtüßungsauf: 
wand, der zu erjegen wäre, bisher noch gar nicht geleiitet hat, 
jo war auch die Erfagklage als unbegründet abzumeifen. 


16. OrtSarmenverband Obereflingen, DA. Eßlingen, 
‚Kläger, Berufungsbeflagter, gegen Ortsarmenverband 
Grab, DU. Badnang, Bellagter, Berufungskläger. 
Der in Folge des Bürgerrehts desuneheliden 
Kindes am 1. Januar 1873 erworbene Unterjtüßs 
ungswohnjiß deffelben ijt ein afzejjorijcher. 
Urtheil vom 28. April 1880. 

Wie in Sachen Frankfurt gegen Gannjtatt (oben Il. Zirf. 4. 
©. 9) fo ſprach fich auch im obigen Fall der Verwaltungsgerichtshof 
für die afzejjoriihe Natur des Unteritügungswohnjiges aus, den 
das uneheliche Kind einer Mutter am 1. Januar 1573 in Folge 
ſeines Bürgerrecht3 erwirbt, falls eine Berfchiedenheit des Bürger: 
rechts von Mutter und Kind vor dieſem Zeitpunkt nicht ein: 
getreten war. Er wies deßhalb die Klage unter VBerurtheilung 
des Klägers in die Koſten unter Abänderung des Urtheils der 
Kegierung des Neckarkreifes vom 29. November 1879 ab. 

Gründe Es handelt jih in dem gegenwärtigen Nechts: 
jtreit um die Frage, ob die in den „Jahren 1866 und 1869 
unehelich geborenen Kinder der Chrijtiane Wieland von Schön: 
brunn Gemeindebezirts Grab, welche im Dftober 1878 in Ober: 
eplingen der öffentlichen Armenfürforge auf Grund des 8. 28 
des Neichsgefeges vom 6. Juni 1870 anheimfielen, ihren Unter: 
fügungswohniig wie klägeriſcher Seits geltend gemacht wird, 
damals in Grab hatten, ob demgemäß der Armenverband diejes 
Orts zur Gritattung der für fie aufgewendeten, beziehungsweife 
noch aufzumendenden Berpflegungstojten jowie zur Uebernahme 
jener Kinder verpflichtet ijt? Wie nah Art. 14. Abf. 1. des 
rev. Bürgerrechtsgejeßes vom 4. Dezember 1833 nicht bezweifelt 
werden kann, hatten dieſe Kinder dur ihre Geburt, da zur 
geit der legten ihre Mutter in Grab bürgerlich war, ebenda= 








rn BE. 


jelbit das Bürgerreht und hiemit ein Heimatrecht erworben. 
Beide, ſowohl Mutter als Kinder befanden ſich im Beſitz diejes 
Rechts noch gleihmäßig am 31. Dezember 1872, wovon nad) 
Z. 65 Abi. 2 Ziff. 1 des Neichsgejeges über den Unterftügungss 
wohnjig verglichen mit 8. 2 des Reichsgeſetzes vom 8. November 
1871 die Folge die ift, daß fie am 1. Januar 1873 den Unter: 
ftiigungsmwohnfig in dem Ortsarmenverband diefer ihrer Heimat: 
gemeinde erlangten. Diejes Rechts ihres Unterſtützungswohn— 
jißes ijt die Chrijtiane Wieland, welche ihren Aufenthalt in 
Schönbrunn jchon im November 1872 aufgegeben hat, und ſeit— 
ber nicht dorthin zurücgekehrt ijt, jomit länger als zwei Jahre 
von dort abmwejend war, der Bejtimmung des 8. 22 des Reichs: 
geiebes zu Folge feit dem 1. Januar 1875 verluftig geworden. 
63 fragt ſich, ob nichts deſto weniger ihre Kinder, deren Ali: 
mentirung im Jahr 1872 ihr natürlicher Vater J. Eillert von 
Baltmannsweiler, fpäter in Obereplingen, übernommen hatte, 
dejjelben theilhaftig geblieben find? 

Dieſe Frage ift nad den maßgebenden Bejtimmungen des 
NReihsgejeges vom 6. Juni 1570 zu verneinen. Grfennt dieſes 
Geſetz in dem Verhältnig zwiſchen Eltern und Kindern den 
legteren bis zur Zurüdlegung ihres 24. Yebensjahrs den Unter: 
ftügungswohnjig nur als einen in der Weiſe akzeſſoriſchen zu, 
daß fie Jolchen mit ihren Eltern, die ehelichen Kinder den des 
Vaters, die unehelichen den der Mutter theilen (SS. 18 und 21 
des Gefeges), jo muß angenommen werden, daß am 1. Januar 
1873, dem Tag, an welchem jenes Neichögefeg für Württemberg 
in Kraft getreten it, und das dem württembergiſchen Recht bis 
dahin unbekannt geweſene Nechtsinjtitut des Unterſtützungswohn— 
fites Ddafelbjt eingeführt wurde, alle diejenigen Berfonen, deren 
Eltern damals noch am Leben waren, und welche das 24. Xebens- 
jahr noch nicht zurücgelegt hatten, den Unterjtügungswohniig 
des Ortsarmenverbands, welchen jie fortan angehören follten, eben 
nur in dem vorgedadhten Sinn und mit der jich hieraus er- 
gebenden Beſchränkung erlangen konnten; es hat ſich fomit Die 
in Gemäßheit der erwähnten gejeglichen Webergangsbeitimmung 
damals eingetretene Verwandlung des KHeimatrechts in den 
Unterftügungsmwohnfig bei den genannten Perſonen in der Weije 

6* 


er ER, 


vollzogen, daß fie den Beſitz des lepteren an dem betreffenden 
Heimatort erlangten al3 ein ihnen gemeinschaftlih mit ihren 
Eltern zuftehendes Recht und zwar als ein von dem Beſitzſtand 
derfelben mit der MWirfung abhängiges Net, daß alle in der 
Perſon des Vaters, beziehungsweiſe der Mutter fich ergebenden 
Aenderungen von jelbjt auch auf fie Anwendung zu finden hatten. 

Da nun die Chriftiane Wieland ihren Unterjtügungswohn: 
fig zu Grab in Folge mehr als zweijähriger Abwefenheit von 
da feit dem 1. Sanuar 1875 verloren bat, jo fonnten von 
dieſem Zeitpunkt an auch deren Kinder einen ſolchen Dort nicht 
mehr befigen, es mangelte daher den auf die Behauptung eines 
derartigen angeblih jeither fortbejtandenen Beliges gejtüßten 
Ansprüchen, welche der Kläger gegen den Drtsarmenverband 
diefer Gemeinde erhoben hat, die rechtliche Begründung. 

Zwar bat ſich Kläger auf eine durch mehrere diesfeitige 
Entjcheidungen feitgeftellte Thefis berufen, durch welche, wie er 
glaubt, ausgefprochen fein Toll, daß uneheliche Kinder ihr durch 
Geburt erworbenes Heimatrecht und demgemäß auch den Unter: 
ftüßungswohnfiß in ihrem Heimatort al3 ein durchaus felbjtän: 
diges von dem Berhältniß der Mutter unabhängiges Necht be: 
fißen follen mit der Folge, daß fie auch, wenn leßtere denjelben 
verloren hätte, jolhen für ihre eigene Perſon beibehalten. Bei 
diejer Berufung ift jedoch überfehen worden, daß jich die in Be- 
tracht kommenden Entfcheidungen durchweg auf Fälle beziehen, 
in welchen die betreffenden unehelihen Mütter durch Verheirathung 
mit Männern, die nicht die natürlichen Väter ihrer Kinder waren, 
ihr Heimatrecht fchon vor dem 31. Dezember 1872 verloren 
hatten, daß ſomit an dem bezeichneten Tag eine Trennung des: 
jelben von dem Heimatrecht ihrer Kinder bereits eingetreten 
war, und die Lebteren von da an das ihrige allerdings als ein 
durchaus jelbjtändiges perfeft gewordenes Necht beſeſſen haben. !) 

1) Tas mürtt. Bürgerrechtsgejeg kennt einen Unterfchied zwischen 
jelbfjtändigem und abgeleitetem Heimatrecht überhaupt nicht, weßhalb in 
den frühern Enticheidungen und auch in ©. Frankfurt ce. Gannftatt nur 
die vor dem 1. Januar 1873 eingetretene Trennung des Heimatrechts 
der Mutter von dem des Kinds, das Motiv der Selbitändigkeit des an 
die Stelle des Heimatrechts getretenen Unterftügungsmwohnfites bildete. 





| 
| 
| 
| 


Air dc 


—— — 





Dagegen trifft diefe Borausfegung eben alsdann nicht zu, wenn, 
wie in dem hier vorliegenden Fall zu der maßgebenden Zeit 
zwiihen Mutter und Kind noch eine Gemeinjchaft des Heimat: 
vecht3 bejtand, die ſich entſprechend auf den von beiden erlangten 
Unterftügungswohnfig übertrug. 

Demgemäß hat der Verwaltungsgerichtshof in einem fpäter 
vorgefonmenen gleichartigen Fall fi) dahin ausgeiprochen, daß 
der in der Perſon der Mutter des unehelichen Kinds Durch Die 
mehr als zweijährige Abwejenheit von ihrem Heimatort nach 
dem 1. Januar 1873 eingetretene Verluſt des Unterjtügungs- 
wohnjiges auch den gleichen Berluft für deren noch nicht 
24 Jahre altes Kind zur Folge habe (Erfenntniß vom 17. No: 
vember 1879 in ©. Frankfurt e. Cannjtatt), wie in ebendemfelben 
Sinn nach einer neuerlich ergangenen Veröffentlihung (Wohlers 
Entiheidungen des Bundesanıts X. Heft ©. 15?/a) ſchon unterm 
12. Oftober 1878 ein ähnlicher Spezialfall au) von dem Bun: 
desamt für dag Heimatweſen entjchieden worden ijt. 


17. Drtsarmenverband Horb, Kläger, Berufung: 
fläger, gegen Ortsarmenverband Oberndorf, Be: 
flagten, Berufungsbeflagten. 
Kojtenerfaß und Uebernahme betreffend. 
Hilfsbedürftigfeit bei dem Vorhandenjein alimen: 
tationspflichtiger Verwandten. 

Urtheil vom 23. Juni 1880. 

Die Negierung des Schwarzwaldfreiies hatte in Ddiefer 
Sache den Kläger unterm 21. Januar 1880 fojtenfällig abge: 
wiejen. Auf eingelegte Berufung änderte der Berwaltungsgerichtg- 
hof diefes Urtheil unter Vergleihung der Koften dahin ab: 
Der Beklagte, Berufungsbeflagte iſt jchuldig dem Kläger, Be: 
tufungskläger die nachjtehenden demjelben durch die Unterjtügung 
der Vollmerſchen Familie erwachjenen Koften zu erjegen, nämlich 

1) die auf vier Monate vom 18. Dftober 1879 bis 18. Fe— 
bruar 1880 mit 7 Mark monatlich übernommene Mieth: 
zinsentfhädigung für das von der Vollmerſchen Familie 
in den Haus des Johann Ehrijtian Chriſt in Horb be— 
wohnte Logis 23 Mark. 


— — 


re — 


2) die für die Abgabe von 6 Pfund Mehl und 12 Pfund 
Brod in der Zeit vom 1. Suli bis 5. September 1879 
aufgewendeten 3 2 Mark 88 Pf. 
Mit dem Anfpruch auf Hebernahme der Bollmerjchen Familie 

in die unmittelbare Fürſorge des Beklagten wird Kläger abgewiesen. 

Gründe. Den im Laufe des PBrozejjes jtattgehabten Er: 
bebungen zu Folge jind der A. Vollmerſchen Familie von der 
Drtsarmenbehörde Horb nachjtehende Unterjtüßungen zu Theil 
geworden: 

1) mehrere nach einem Bejchluß der gedachten Armenbehörde 
vom 29. Juli 1879 auf vierzehn Tage berechnete Mehl- und 
Brodgaben und zwar an bewilligten 10 PBrund Mehl und 
20 Bund Brod, nahden: die fernere Verabreichung diefer Le— 
bensmittel am 5. August eingejtellt worden, 6 Pfund Mehl und 
12 Pfund Brod, wodurch ein Aufwand entjtand von 2 Mark 
88 Pfennig; 

2) in Gemäßheit eines Beſchluſſes vom 18. Oktober 1879 
eine Miethzinsentſchädigung für das von der gedachten Familie 
bewohnte Logis im Hauſe des Photographen Chriſt in Horb 
a 7 Mark für den Monat, auf die vier Monate 18. Oktober 
1879 bis 18. Februar 1880, 28 Marf. 

Nach den Ergebniß des jtattgehabten Beweiseinzugs, ins— 
bejondere was den zweiten Punkt anbelangt, der in zweiter In— 
jtanz nachträglich angeordneten Zeugenvernehmung ift anzunehmen, 
daß dieje Unterftügungen von der genanmen Behörde bewilligt i 
und geleiſtet wurden als Ausflüſſe der öffentlichen Armenfürſorge, \ 
welche eintreten zu lafjen, dieſelbe geſetzlich ſich verpflichtet er: ü 
achtete, nachdem jie Kenntniß von dem Zuſtand der Hilfsbedürf- | 
tigfeit erlangt hatte, in welchen jene Familie gerathen war. 

Es war nämlich die angeführte Naturalunterjtügung veran— 
laßt worden dur ein von Vollmer am 23. Juli 1879 an die 
Drtsarmenbehörde gerichtetes Geſuch, worauf, nachdem die vor: 
ihriftsmäßige Vernehmung des Dittjtellers jtattgefunden, und 
die Behörde ſich von der Nichtigkeit jeiner Angaben überzeugt 
hatte, die erwähnte Beſchlußfaſſung erfolgte. Zur Uebernahme 
der Miethzinsentfchädigung aber entſchloß ſich die Ortsarmenbe— 
hörde, nachdem am 18. Ditober 1879 die inzwifchen von ihrem > 











es BE, 


Ehemann verlajjene Marie Vollmer gleichfalls unter Berufung 
insbejondere auf ihre Wohnungsnoth um eine Unterjtügung ges 
beten hatte, zugleich war von dem Eigenthümer des von ihrer‘ 
Familie bewohnten Haufes Johann Chriftian Chrijt, welcher 
derjelben die Miethe wegen Nichtbezahlung des Miethzinjes mehr: 
ac gekündigt hatte, und auch die Abficht ausfprach, fie auszu— 
treiben, eine hiemit übereinftimmende Erklärung abgegeben wor: 
den, und jchlieglich verjtand ſich derſelbe zur Belafjung der 
Familie in ſeinem Haufe nur unter der Bedingung, daß er 
für den Miethzins fernerhin aus der Ortsarmenfafje entfchädigt 
werde. 

In beiderlei Beziehungen war fomit ein Zujtand der Hilfs: 
bevürftigfeit angezeigt, dejjen Berücdjichtigung nah Maßgabe des 
$. 25 des Neichsgefeges über den Unterftügungswohnjig der 
Ortsarmenbehörde nicht zum Vorwurf gemacht werden fann, 
vielmehr in ihrer Verpflichtung gelegen war. Diejelbe fonnte 
nad) den vorliegenden Berhältniffen, als fie A. Vollmer um 
Unterjtügung zur Frijtung der ferneren Erijtenz feiner Familie 
anging, ſich nicht entziehen, die öffentliche Armenfürjorge ein: 
treten zu lafjen, und went fie die Abgabe von Lebensmitteln 
Ihon wenige Tage nach Beginn der Unterftügung wieder außer 
Wirkſamkeit treten laſſen fonnte, jo beweist dies für die Zeit, 
während welcher legtere eintrat, nichts gegen ihre Nothiwendigteit ; 
nicht minder entſprach die Armenbehörde dur die Nebernahme 
der Miethzinjesentichädigung lediglich der ihr Durch die Beſtim— 
mungen des öffentlichen Nechts anferlegten Unterjtügungspflicht 
und nichts Tpricht für die Annahme, daß diejelbe die Entjchädigung 
niht in der Erfüllung ihrer armenrechtlichen Verpflichtung, 
iondern wie Beklagter in gegenwärtiger Inſtanz geltend zu machen 
verfuchte , geleiftet hätte, um jich damit einer Bürgschaft zu entle- 
digen, die fie gegen Chrift wegen Verlängerung des Miethvertrags 
eingegangen. Auch die Art und Weije und das Maß der gelei: 
iteten Unterjtügung läßt ſich mit Grund nicht beanjtanden, wie 
denn auch von dem Beklagten fpezielle Einwendungen hiegegen 
nicht erhoben wurden. Was gegen die Zuläjligfeit des Eingreifens 
der öffentlichen Fürſorge allein vorgebracht werden konnte, ijt das 
Verhältnig der hilfsbevürftigen VBollmerfchen Familie zu dem 


BE — 


Bater der Vollmerfchen Ehefrau A. Hafner in Horb. Bellagter: 
feit3 wurde nämlich geltend gemacht, es wäre, da derjelbe ein 
ganz vermöglicher Mann jei, deſſen Sache gewefen, feiner Tochter 
und deren Kindern die etiwa erforderliche Unterjtügung angedeihen 
zu lafjen. Eine ſolche Unterjtügung der hilfsbedürftigen Familie 
in weiterem Umfang zu gewähren, als dies von jeiner Seite 
bereits geſchah, hatte fich jedoch Hafner zu wiederholten Malen 








auf das Entjchiedenfte geweigert, und diejer Weigerung gegenüber | 
hatte die Ortsarmenbehörde, welche die Leiſtung der ihr gejeglich ob— | 
liegenden Unterjtügung von der Erledigung der etwa in dieſer | 


Hinficht weiter einzuleitenden Schritte nad) der Haren Beitimmung 
im Urt. 2 Abſ. 2 des württembergifchen Ausführungsaeieges 
(vergl. auch 8. 61 des Reichsgeſetzes über den Unterjtügungs: 
wohnfig) nicht abhängig machen durfte, vielmehr nur allenfalls 
jpäter nach geleifteter Unterftügung befugt, aber nicht verpflichtet 
gewejen wäre, den angeblich alimentationspflichtigen Vater der 
Vollmerſchen Ehefrau auf Erſatz des Geleifteten in Anſpruch zu 
nehmen, feine andere Wahl als die Gewährung der dringlich 
und jofort gebotenen Hilfe aus Mitteln der öffentlichen Urmenpflege. 

Zu Eritattung des ihr hiedurch entjtandenen Aufwands aber 
iit Beflagter, da Vollmer feinen Unterſtützungswohnſitz unbejtritten 
in Oberndorf hat, nad) 8. 30 Abſ. 1 des Neichsgejeges über den 
Unterftügungswohnfig ohne Zweifel verpflichtet. 

Kläger bat weiter Uebernahme der Vollmerſchen Familie 
durch den Beklagten in feine unmittelbare Fürſorge beantragt. 
Eine Vorausſetzung des Eintritts diefer Verpflichtung it nad 
8. 31 des Neichsgefeges über den Unteritügungswohnfig Die, 
daß die Unterjtügung der Vollmerjchen Familie wegen dauern: 
der Hilfsbedürftigkeit hätte geleiftet werden müfjen. In leßterer 
Hinfiht Hat jedoch ſchon die Kreisregierung mit Grund ange- 
nonmen, daß diefe Vorausfegung hier nicht zutrifft. Syn Der 
That hat die Nichtigkeit diefer Annahme in der Zwifchenzeit 
dadurch ihre weitere Beltätigung erhalten, daß der Vater der 
Ehefrau der Vollmerſchen Kamilie die nöthige Beihilfe angedeihen 
ließ, und die Drtsarmenbehörde in Folge hievon die öffentliche 
Unterftügung aufhören laſſen fonnte und fie ſeitdem ihre Eriftenz 
ohne ſolche Frijten Eonnte. 





— ABB 


Diefem Anſpruch fann daher feine Folge gegeben werden. 
Die Kompenfation der Kojten it durch das theilweiſe Unterliegen 
jeder Partei begründet. 


18. Drtsarmenverband Eberhardzell, DA. Waldfee, 
Kläger, Berufungsbeklagter, gegen Landarmen— 
verband Waldjee, Beklagten, Berufungsfläger. 


Kojtenerfag betreffend. Wirfung der Unter: 
brechung des Aufenthalts. 


Urtheil von 5. Juli 1880, 

Das Urtheil der Regierung des Donaufreifes vom 30. Okto— 
ber 1879, injoweit dagegen Berufung ergriffen war, wurde bes 
jtätigt, und Beklagter für fchuldig erkannt, die von dem Kläger 
auf die Unterftügung des Leonhard Wäfcher vom 11. Mai 1877 
bis zum 20. Juni 1879 aufgewendeten Koften im Betrag von 
401. Mark 99 Pf., fowie die von da an und ferner aufzuwen— 
denden Koften zu erjtatten. 

Gründe. I. Der ledige Leonhard Wäfcher hat den Unter: 
ftüßungswohnfig, weldhen er am 1. Januar 1873 kraft Heimat: 
veht3 im Ortsarmenverband Eberhardzell beſeſſen hatte, durch 
zweijährige ununterbrochene Abweienheit verloren, da er vom 
l. Sanuar 1873 bis zum 17. Juli 1874 und ſodann wieder 
nah einer Unterbrechung von zwei bis drei Wochen bis zum 
4. September 1875 (dem Zeitpunft des Eintritt3 feiner Hilfs: 
bedürftigfeit) bei dem Zementfabrifanten Mauer in Winter: 
ſtettenſtadt im Dienjt gejtanden und auch während jener Zwifchen: 
jeit von zwei bis drei Wochen nur auf einen Tag und zu vor: 
übergehendem Zweck nach Eberhardzell zurücgefehrt ift. 

ll. Den Unterjtügungswohniig in Winterftettenjtadt aber 
hat Wäfcher deshalb nicht erworben, weil fein dortiger Auf: 
enthaltsort vor Ablauf der zweijährigen Friſt unterbrochen 
worden it. 

Daß nämlich mit dem am 17. Juli 1874 erfolgten Dienſt— 
austritt des Wäſcher fein bis dahin beitandenes Dienjtverhältnig 
zu Mauer volljtändig aufgelöst worden iſt, ergibt fich nicht 


— 00: 


nur aus den Angaben des Maucher, aus dem von diefem dem 
Wäſcher am 17. Juli 1874 ausgejtellten Zeugniß und aus dem 
im Dienjtbuh des Wäfcher befindlichen Tcehultheigenamtlichen 
Eintrag vom 17. Juli 1874, fondern auch aus den neuejten 
eidlichen Ausjagen des Mäfcher, welche von dem Beklagten nicht 
beanjtandet find. Zwar hat Wäſcher bei dieſer gerichtlichen 
Vernehmung im Widerfpruch mit feiner früheren vor dem Schult- 
heißenamt Eberhardzell gemachten Ausfage angegeben, dab er 
von dem am 17. Juli 1874 ausgeftellten Zeugniß des Maucher 
nichts wilje, und daß ihm damals weder ein Zeugniß noch ein 
Dienftbuch behändigt worden fei; auch habe er, als er am 17. 
Juli wegen eingetretener Kränklichkeit bei Maucher ausgetreten 
ſei, Die Abſicht gehabt, jich etwas zu pflegen und auszuruhen, 
dabei aber von Anfang an gedacht, wieder zu Maucher zu gehen, 
ſobald es jich machen lafje. Allein er hat nicht behauptet, daß 
ihm von Maucher in diefer Beziehung irgend eine Zuficherung 
ertheilt, oder eine. Ausſicht eröffnet worden fei, vielmehr hat er 
ausdrücdlich beigefügt, daß jeine Hoffnung, daß Maucher ihn 
wieder aufnehme, eine geringe geweien fei. Es iſt aber unter 
Zugrundlegung der Angaben des Wäſcher anzunehmen, daß mit 
jeinem am 17. Juli 1874 erfolgten Austritt das bisherige 
Dienjtverhältnig vollitändig gelöst war, und daß fomit von 
diefem Zeitpunkt an der Drt Winterftettenjtadt, der bis dahin 
als Dienitort des Wäſcher der Ort feines gewöhnlichen Aufent: 
halts war, aufgehört hat, fein Dienjtort zu fein. 

Nah dem 17. Juli 1874 aber begab ſich Wäfcher laut 
jeiner eidlichen Angabe, nachdem er noch einige Tage in Wins 
terjtettenjtadt im Gaſthaus ſich aufgehalten hatte, zunächit nach 
Unterejjendorf , wo er mehrere Tage verweilte, und nun trieb 
er. ſich ohne Beihhäftigung und ohne ein bejtimmtes Ziel da 
und dort umher, wobei er, wie es ihm gerade gelegen war, 
bald in Unterejjendorf bald in Winteritettenjtadt in den Wirths— 
häuſern übernadhtete. 

Während diefer zwei bis drei Wochen bis zu feinem wie— 
dverholten Eintritt bei Maucher (wozu er von diefem bei einer 
zufälligen Begegnung aufgefordert worden jein joll) hatte ſonach 
Wäſcher thatſächlich feinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht mehr 








a A 


in Winterjtettenjtadt, und aus den Umftänden, unter welchen 
jeine Entfernung erfolgte, erhellt auch nicht, daß er die Abficht 
hatte, den Aufenthalt in Winterjtettenftadt feit zu halten, viel- 
mehr ſpricht gegen eine folche Adjicht, daß er das Unterfommen 
bei Maucher verlor, und für ein anderes auch nur temporäres . 
bäuslihes Unterfommen in Winterjtettenjtadt feine Fürſorge 
getroffen Hatte, und daß es ganz ungewiß war, ob und wann 
er jeine Arbeitsfähigfeit wieder erlangen werde, und ob er in 
diejem Fall bei Maucher aufs Neue werde eintreten können. 

Durch die nach dem 17. Juli 1874 eingetretene Entfernung 
des Wäſcher von Winterftettenjtadt wurde daher der feitherige 
Aufenthalt und damit der Lauf der zur Erwerbung des Unters 
tügungsmwohnjiges erforderlichen zweijährigen Friſt unterbrochen. 
Mit jeinem nad) zwei bi drei Wochen nachher wieder erfolgten 
Eintritt in den Dienjt des Maucher wurde der Lauf der Friſt 
aufs Neue begonnen, aber bis zu dem Eintritt der Hilfsbedürf— 
tigkeit nicht vollendet... Da hiernach Wäſcher feinen Unter: 
ſtützungswohnſitz hat, jo ilt der beflagte Armenverband als der: 
jenige Yandarmenverband, in deſſen Bezirk Wäjcher bei dem 
Eintritt der Hilfsbedürftigfeit jih befand, nach S. 30 lit. b des 
Neihsgefeges über den Unterſtützungswohnſitz vom 6. Juni 1870 
zur Erjtattung des Unterjtügungsaufwands verpflichtet. 

III. Dagegen, daß von dem vorigen Nichter der Erſtat— 
tungsaufiwand des Klägers für die Zeit vom 11. Mai 1877 an 
(nicht exit vom 9. September 1877 an) als durch Anmeldung ge: 
wahrterachtet wurde, hat Beflagter ſich eventuell nicht beſchwert. Auch 
it diefer Aufwand, ſoweit er bereit$ liquidirt ift, nicht bejtritten. 


19. OrtSarmenverband Mühlen, DA. Horb, Kläger, 
Derufungsbeflagter, gegen Nandarmenverband 
Riedlingen, Bellagten, Berufungsfläger. 
Urtheil von 12. Juli 1880. 

Unter Beftätigung des Urtheils der Regierung des Donau: 
freifes vom 28. November 1879 wurde Beklagter fojtenfällig 
für verbunden erkannt, den Jakob Graf von Mühlen in eigene 
Fürforge zu übernehmen, und dem Kläger die Koften der jeither 
von ihm geleifteten öffentlichen Unterftügung im Betrag von 


u 





21 Mark für die Zeit vom 20. Dezember 1878 bis 11. Januar 
1379 und 70 Bf. für jeden folgenden Tag zu erjegen aus 
nachitehenden Gründen: 

Die Elägeriiche Behauptung, daß Jakob Graf in Folge 
fortwährender Abweſenheit den Unterjtügungswohniig in Mühlen 
Thon amt 1. Januar 1875 verloren gehabt, und jich Ddafelbit 
nur von Oktober 1877 bis Juni 1878 aufgehalten hat, wurde 
von beflagter Seite nicht widerſprochen, und ijt auch in feiner 
Weiſe angezeigt, daß er ji, die ebengenannte Zeit ausgenommen, 
jeit 1. Januar 1873 in Mühlen aufbielt. 

Es ijt aljo davon auszugeben, daß Graf den Unterftügungs: 
wohniig in Mühlen nicht hat. 

Nachdem Jakob Graf von dem Oberamt in Riedlingen am 
‚17. Dezember 1878 dem Dberamt Horb überliefert worden war, 
hat lettere Stelle denfelben am 18. Dezeniber 1878 dem Schult— 
heigenamt Mühlen mit dem Bedeuten zugewiefen, demfelben wo 
möglich Arbeit zu verichaffen. Nach der ebenfalls nicht wider: 
jprochenen Behauptung des Klägers ijt dies nicht gelungen und 
war derjelbe auf die Anweiſung des Oberamts Horb vom 17. 
Januar 1879 genöthigt, dem Jakob Graf im Sinn des 8. 28 
des Neichsgejeges über den Unterjtügungswohnfig vorläufige 
Unterjtügung angedeihen zu laſſen. Daß Jakob Graf damals 
in der That unterſtützungsbedürftig war, ijt von beflagter Seite 
nie widerſprochen worden, und ſpricht hiefür insbeſondere auch 
das Zeugniß des Oberamtsarzts Dr. Fiſcher in Horb vom 17. 
Januar 1879, in welchen gejagt it: „durch feine Leiden, einen 
großen unzurücdbringlichen Hodenſackbruch und einen jchlecht ge: 
beilten Bruch des Unterjchenfels fei Jakob Graf jehr bedeutend 
in jeiner Arbeitsfäbhigfeit beeinträdbtigt, jo daß 
derjelbe einer Unterftügung dringend bedürftig erjcheine.” Es 
iſt daher vollkommen glaublih, daß den Jakob Graf Feine 
Arbeitsgelegenheit zu verjchaffen war, und der Kläger fich daher 
genöthigt Jah, vorläufige Unterjtügung eintreten zu laſſen, wie 
ihn auch das Oberamt Horb in dem Erlaß vom 17. Januar 
1879 hiezu angewiejen bat. 

Ferner ift als erwiefen anzujehen, daß Jakob Graf ſchon 
damals im Zuitand der Hilfsbedürftigfeit fich befand, al er am 





— BE 


17. Dezember 1878 von dem Oberamt Riedlingen nach eritan- 
dener einundzwanzigtägiger Strafe aus jeiner Strafhaft entlafjen 
und dem Oberamt Horb überliefert wurde. Denn nicht nur bat 
Safob Graf am 25. November 1878 vor dem Oberamt Ried: 
lingen angegeben, jeit dem 22. Auguſt 1878 habe er feine Ar: 
beit mehr gehabt, und von Orts: und Meiftergeichenfen gelebt, 
und er jei jeither immer auf der Reife gewefen, jondern es war 
derfelbe auch am 25. November 1878 nad) dem von dem Schult- 
heigenamt Hunderfingen an diefem Tag aufgenommenen Proto= 
foll bei feiner Ablieferung an das Oberamt Riedlingen von 
allen Mitteln entblößt bis auf fünfzehn Pfennige und hat diefes 
dad Oberamt Riedlingen in feinem Schreiben vom 17. Dezem— 
ber 1878 an das Oberamt Horb ausdrüdlich hervorgehoben 
„nm Folge völliger Mittellojigfeit werde Graf an letz— 
teres Oberamt zugeliefert“. Als Jakob Graf am 17. Dezember 
1875 aus jeiner Strafhaft in Riedlingen entlaffen wurde, war 
hiernach deſſen Hilfsbedürftigfeit vorhanden, und daher in Ge: 
mäßheit der Vorſchrift des 8. 30 Hit. b des Reichsgeſetzes über 
den Unterjtügungswohnjig der Beklagte, der Landarmenverband 
Niedlingen, zur öffentlichen Unterftügung verbunden. Dieſer 
$. 30 lit. b bejtimmt in jeinem zweiten Saß „zur Eritattung 
der Koſten .. find... falls der vorläufig Unterjtügte im hilfsbe— 
dürftigen Zuſtand aus einer Straf-, Kranken-, Bewahr: oder 
Heilanjtalt entlaffen. wurde,” Diejenigen Armenverbände ver: 
pflihtet, aus welchen die Einlieferung in die Anftalt erfolgte. 
Wie diefe Beſtimmung lautet, it offenbar nichts weiter erforderlich, 
als daß die betreffende Perſon bei ihrer Entlafjung aus der 
Strafanftalt ſich in einem hilfsbedürftigen Zuftand befunden 
hat. Diefelbe enthält fein Wort davon, daß eine folhe Perfon 
vor ihrer Verhaftung den betreffenden Landarnenverband wegen 
einer Unterjtügung in Anſpruch genommen haben müfje, oder 
daß die Hilfsbedürftigkeit durch beſondere das Eintreten der 
Armenbehörde, veranlafjende Umftände in die Erfcheinung ge: 
treten jein müjje. Nach dem Wortlaut der fraglichen Beftim- 
mung it dies keineswegs nöthig, jondern Vorausfegung ift nur, 
wie erwähnt, die Thatfache, daß die Perſon bei ihrer Ent: 
lajjung aus der Strafanftalt in hilfsbedürftigem Zuftand 


oe - 
— 
ng Der 27 
209) 


— Ad — 


war. Daß diefe Thatfahhe im vorliegenden Fall als nachge: 
wiejen zu erachten ſei, iſt ſchon oben dargethan, und ebenfo: 
wenig it an dem Vorhandenfein der übrigen VBorausfegungen 
zu zweifeln, indem das oberamtliche Bezirksgefängniß in Nied- 
lingen ala eine Strafanftalt im Sinn des Geſetzes ericheint und 
ebenso feitjteht, daß Jakob Graf aus dem Bezirf des Yand: 
armenverbands, aus Hunderfingen in jene Strafanftalt einge: 
liefert wurde. Hiebei läßt ſich fodann nicht unterftellen, daß 
Graf ſchon früher während feines Aufenthalts in dem Bezirk 
des Landarmenverbands Horb hilfsbedürftig im Sinn des Ge: 
jeßes gewejen jei. Kläger bat nämlih in feiner Replik in 
voriger Inſtanz ausdrüclich geltend gemacht, daß Graf während 
feines Aufenthalts in Mühlen vom Dftober 1877 bis Ende 
Juni 1878 bei verjchiedenen Perjonen dort im Dienjt war, und 
bei denjelben jeinen Unterhalt gefunden habe. Graf hat dies 
bejtätigt und bemerkt, eine Unterjtügung Seitens der dortigen 
Gemeinde fei ihm nicht zu Theil geworden und als er zulegt 
aus Dem Dienjt bei dem Nedarmüller Pfeffer gefommen, babe 
er jich wieder auf die Wanderfchaft begeben. Jene vier Perſonen 
von Mühlen haben jodann auch vor dem dortigen Schultheißen- 
amt angegeben, daß fie den Graf in jener Zeit befchäftigten, 
daß er von ihnen die Koſt gehabt, für die fie eine Entſchädigung 
nicht angeiprochen haben. Dieje Angaben des Graf und jener 
vier Perſonen hat der Kläger in jenem Schriftfab zu feiner 
Behauptung gemacht, und die beklagte Partei bei der mündlichen 
Verhandlung der vorigen Inſtanz dieſelbe nicht widerfprochen. 
Es Liegt überhaupt feine Spur vor, daß Jakob Graf in Mühlen 
wie immer die öffentliche Unterftügung in Anspruch genommen 
hat, oder dag während jeines erwähnten Aufenthalts daſelbſt 
ein Anlaß vorlag, dieſelbe eintreten zu laſſen, wie denn auch 
alle Umftände dafür jprechen, daß er jich im Juni 1878 von 
dort wieder freiwillig auf die Wanderjchaft begeben hat, und 
für die gegentheilige Unterjtellung Anhaltspunkte nicht vorz, 
handen find. Was aber die Zeit nach den Juni 1878 anlangt, 
hat Jakob Graf vor dem DOberamt Niedlingen deponirt, „er jei 
vierzehn Tage in Nenningen und einige Tage in Wankheim in 
Arbeit geitanden bis zum 22. Auguſt 1878, feitvem habe er 











von Orts: und Meijtergeichenfen gelebt, aber feine Arbeit ge: 
funden.” Auch in diefer Beziehung iſt von bellagter Seite nicht 
wiverfprochen, vielmehr in der Vernehmlaſſung voriger Inſtanz 
erklärt worden, „vom 22. Auguſt 1878 an habe Graf lediglich 
von Gejchenten und vom Betteln gelebt." Damit wurde nicht 
in Abrede gejtellt, daß Graf noch bis zum 22. Augujt Arbeit 
hatte, und da derjelbe, bevor er am 25. November 1878 von 
dem Landjäger in Hunderfingen wegen Bettelns aufgegriffen und 
an das Dberamt Riedlingen eingeliefert wurde, nie in die Lage 
gefommen war, öffentliche Unterjtügung in Anſpruch zu nehmen, 
vielmehr feine Hilfsbedürftigfeit erjt zur Zeit jeiner Entlafjung 
aus der Strafanitalt in-Riedlingen hervortrat, jo kann unter 
all diefen Umjtänden nicht angenommen werden, daß fie fchon 
während jeines Aufenthalts in Mühlen hervorgetreten war und 
der Yandarmenverband Horb unterjtüsungspflichtig fei, vielmehr 
ericheint nach der obigen Ausführung auf Grund Der lit. b 
der $. 30 des Neichögejeges über den Unterjtügungswohnjig der 
Zandarmenverband Riedlingen als in diefer Beife verpflichtet 
und der Kläger, welcher nach $. 28 des gedachten Neichsgefeges dem 
Jakob Graf die vorläufige Unterjtügung zu verabreichen in die Lage 
verfegt worden it, in Gemäßheit der 88. 28, 30 und 31 des 
Unterftügungswohnfiggefeges berechtigt, von dem Beflagten die 
Uebernahme des hilfsbedürftigen Jakob Graf, ſowie die Erſtat— 
tung der vorläufig aufgewendeten Kojten jeines Unterhalts zu 
verlangen. Was aber den Betrag dieſer Kojten von einer Mark, 
beziehungsweije ſiebzig Pfennig für den Tag betrifft, jo ift von 
beflagter Seite diesfalls eine Einwendung nicht erhoben worden, 
wie denn auch diejer Betrag nicht beanjtandet werden kann. 


20. Drtsarmenverband Oberbrüden, DA. Badnang, 
Kläger, Berufungsbeflagter, gegen Drtsarmen: 
verband Zell, Gemeinde Reihenberg, DA. Badnang, 
Beklagten, Berufungsfläger. 
Zweijährige Friſt. Freie Willensbejtimmung. 
PBräjudiz; des Zugeſtändniſſes. 
Urtheil vom 12. Suli 1880. 
Unter Bejtätigung des Urtheils der Negierung des Nedar: 


— % — | 


freifes vom 21. Januar 1880 wurde der Beklagte Eojtenfällig 
für jchuldig erkannt, den Sohann Georg Andreas Maier von 
Dberbrüden in feine Fürforge zu übernehmen, und dem Kläger 
"das von Ddemfelben für ihn vom 1. Januar 1879 an aufge: 
wendete, ſowie von demfelben bis zu deſſen Uebernahme auf- 


zuwendende Koſt- und Kleidergeld von 36 Mark jährlich, ferner 


den ihm in Folge der Unterftügung Maiers mit 11 Mar 
85 Pf. weiter erwachfenen Aufwand zu erjtatten. 

Gründe. Nach der Behauptung der Klage ift der in 
DOberbrüden heimatberechtigte Johann Georg Andreas Maier von 
dort Schon im Juni 1861 hinweggezogen und hat deſſen Abwe- 
jenheit von da jeither bis nad) Weihnachten 1877 ununterbrochen 
fortgedauert. Zu der gedachten Zeit fehrte Maier in feinen 
Heimatort Dberbrüden zurüd, und diente im Xauf des Jahrs 
1878 als landwirthfchaftlicher Arbeiter, übrigens, da er in Folge 
feiner geiftigen und körperlichen Gebrechen nur in beſchränktem 
Maße arbeitsfähig war, nur gegen den Bezug von freier Koſt 
und Kleidung, alfo ohne befonderen Lohnverdienft Anfangs bei 
dem Bauern Sohannes Layer in Oberbrüden, fpäter bei dem 
Anwalt Jakob Gruber auf dem Trailhof deſſelben Gemeinde: 
bezirts. Nachdem Maier, wie Elägerifcherjeits behauptet wurde, 
Ihon während des Jahrs 1878 zweimal im Monat Februar 
dur Abgabe von einem Baar Stiefeln im Werth von sieben 
Mark und im Monat September durch Verabfolgung eines Brud)- 
bands, das einen Aufwand von 3 Marf 45 Bf. verurjachte, 
aus öffentlichen Mitteln unterftügt worden war, erfchien im 
Dezember 1878 der Anwalt Gruber vor der Ortsbehörde von 
Dberbrüden mit der Erklärung, daß er den Maier ohne eine 
Geldentihädigung für Koft und Kleider nicht mehr in jeinem 
Haufe behalten könne, weil derjelbe in Folge jeines Leibjchadens 
nur wenig mehr arbeiten fünne, und öfter das Bett zu hüten 
genöthigt fei. Da lekterer übrigens Doch zu Verrichtung leich- 
terer Arbeiten noch fähig fei, jo erbiete er fich, denjelben gegen 
eine billige Entfhädigung aus der Ortsarmenkaſſe fernerhin 
behalten und Eleiden zu wollen. Hierauf wurde am 21. Des 
sember 1878 zwiſchen der Ortsarmenbehörde und Gruber ein 
Koft: und Kleivergeldvertrag zunächit auf die zwei Jahre 1879 





u 


und 1880 abgeſchloſſen, wodurch dem leßteren für die Verpfle- 
gung 2. de3 Maier vom 1. Januar 1879 an eine aus den 
Mitteln der Ortsarmenkaſſe mit jährlichen 36 Mark zu bezahlende 
Geldentſchädigung zugefichert wurde, welche Gruber auch feither 
bezieht. 

Sodann iſt Maier, wie in der Klage weiter geltend gemacht 
wurde, am 10. März; 1879 erfranft und es mußten ihm in 
Folge deſſen auf ärztliche Verordnung Medikamente verabreicht 
werden, was der Drtsarmenbehörde einen Koſtenaufwand von 
1 Mark 40 Pf. verurjachte. Nach der Auffafjung der gedachten 
Behörde ſoll Maier zur Zeit feiner Rückkehr nach Oberbrüden 
(um Weihnachten 1877) feinen Unterftügungswohnfig in der 
einen eigenen Armenverband bildenden Theilgemeinde Zell, Ge: 
meindebezirfs Keichenberg, gehabt haben, da er mwährend der 
ganzen Dauer feiner Abweſenheit von Oberbrüden, jedenfalls 
während der zwei leßtverfloffenen Jahre fih dort aufgehalten 
hatte. Diefelbe bejchloß daher unterm 19. Juni 1879 den 
Armenverband legteren Orts auf Uebernahme des Maier in 
defien unmittelbare Fürforge in Anſpruch zu nehmen und ließ 
unterm 21. uni 1879 an das Scultheißenamt Neichenberg 
ein hierauf abzielendes Anfinnen ergehen, worin zugleich Anſpruch 
auf Erſatz des oben bezahlten Koft: und Kleidergelds erhoben, 
außerdem aber die Erjtattung der Koſten von den zwei im Lauf 
des Jahrs 1878 gewährten Unterftügungen verlangt wurde. 
Von Seiten der DOrtsarmenbehörde Zell erfolgte jedoch hierauf 
am 18. Juli 1879 eine diefes Anfinnen ablehnende Rückäußerung, 
worauf die Behörde von Dberbrüden, nachdem inzwijchen noch 
unterm 28. Juni 1879 die vorgejchriebene Vernehmung des 
Maier über feine Heimats: und Familienverhältniffe erfolgt war, 
unterm 2. Auguft 1879 eine die jämmtlichen vorjtehenden An— 
ſprüche umfajjende Klage bei der Negierung des Nedarfreifes 
einreichen ließ. 

Diefe Klage wurde den Beklagten zur VBernehmlafjung und 
zwar in Gemäßheit der Beitimmung des Art. 28, Ziff. 3 des 
Gejepes über die Berwaltungsrechtspflege unter der Androhung 
mitgetheilt, daß im Fall der Verfäumniß der hiezu anberaumten 
vierwöhigen Frift die darin behaupteten Thatjachen als zuge: 


- 


Württemd, Archiv für Recht ꝛe. XXII. Br. 1. Heft. { 


ur DRS 


jtanden würden erkannt werden. Der Beklagte hat fich hierauf 
binnen der erwähnten dem Art. 228, Abf. 1 und 2, Ziff. 2 der 
auf den vorliegenden Fall anwendbaren württ. Eivilprozegordnung, - 
fowie dem Art. 9, Abf. 1 und 4 a. E. des württ. Ausfüh: 
rungsgefeges zu dem Reichsgeſetz über den Unterftügungswohnfig 
vom 17. April 1873 zu Folge vom Zeitpunft der an den Vor: 
jtand der Ortsarmenbehörde erfolgten Zuftellung des betreffenden 
Dokuments an zu berechnenden Friſt nicht vernehmen lafjen, es 
ilt jomit der ihm angedrohte Nechtsnachtheil als verwirkt und 
find als von dem Beklagten zugeftanden, hiemit aber als nad: 
gewiejen anzujehen die von dem Kläger zu Begründung feines 
Anſpruchs geltend gemachten thatfählichen Umstände. Insbeſon— 
dere gilt dies von nachjtehenden Thatlachen, deren Nichtigkeit der 
Beklagte übrigens auch in der nachträglich von ihm übergebenen 
Bernehmlafjung nicht zu beftreiten, beziehungsmeife gegen deren 
Begründung er fich feinerfeits auf beftimmte Thatfachen nicht 
zu berufen vermocht hat, nämlich: 

1) dem ununterbrochenen Aufenthalt des Maier im Bezirk 
des Ortsarmenverbands Zell während der Dauer feiner Abwe— 
jenheit von Oberbrüden, jpeziell während der zwei jeiner Rückkehr 
vorangegangenen Jahre; 

2) der feit der Rückkehr Maiers nach Oberbrüden wegen 
eingetretener Hilfsbedürftigfeit- des Maier feitens der dortigen 
Armenbehörde an ihn erfolgten, beziehungsweife zu feinen Gunften 
zugejtcherten Abgabe der in der Klage näher bezeichneten Unter: 
jtüßungen. 

Was der Beklagte einwendungsweife dagegen geltend gemacht 
hat, und womit er zu hören war, da die betreffende Behauptung 
einen Bejtandtheil des beklagtiſchen Einvedevorbringens bildet, 
welches von jenem PEN nicht betroffen oder berührt wurde, 
it Folgendes: 

ad 1) Maier ſei von Dberbrüden abwejend geweſen, be= 
ziehungsmweife habe fih in Zell aufgehalten unter Umständen, 
durch welche in Gemäßheit der 88. 12 und 24 des Reichsgeſetzes 
über den Unterftügungswohnfig die Annahme der freien Selbjt- 
beftimmung in der Wahl feines Aufenthalts ausgefchloffen war; 

ad 2) wenigjtens in Anfehung der nach der Klage ſchon 





su: 


im Lauf des Jahrs 1878 gewährten Unterftügungen ſei der 
Anſpruch auf Erjtattung derjelben nicht rechtzeitig, nicht binnen 
der in 8. 34 des Neichsgejeges über den Unterjtügungswohnfig 
beitimmten 6monatlichen Frijt angewendet worden. 

In Beziehung auf die Einwendung ad 2) verdient jedoch 
der Umjtand Beachtung, daß dem Vorbringen in der Klage zu: 
folge in einem feiteng des Klägers jchon im Anfang des Jahr 
1878 nach gell ergangenen, dafelbjt auch, wie von dem Beklagten 
anerfannt worden, eingetroffenen Schreiben der dortigen Armen 
behörde Anzeige von der in Oberbrüden eingetretenen Hilfsbe- 
dürftigfeit des Maier gemacht, und das Anfinnen auf Ueber: 
nahme dejjelben gejtellt wurde, worauf aber eine entfprechende 
Erwiderung von da nicht erfolgte, da fich die legtere Behörde 
vielmehr, wie dem Schultheißen in Oberbrüden auf jeine miünd- 
 lide Anfrage erklärt wurde, auf den Standpunkt jtellen zu 
fönnen glaubte, daß von ihrer Seite nichts für Maier zu ges 
ſchehen habe. 

Hiemit war der in jener Anzeige und dem hiemit verbuns 
denen Uebernahmeanſpruch auf Erftattung der für die Unter: 
kügung Maiers aufzumwendenden Koften im Voraus abge 
lehnt und kann daher dem Kläger die etwaige Unterlafjung 
einer nochmaligen befonderen Anmeldung Ddiejes Anjpruchs, da 
legterer bei folder Sachlage ein durchaus zwedlojer geweſen 
wäre, mit Grund nicht zum Vorwurf gemacht werden. 

Anbelangend jodann die ad 1) erwähnte Einwendung, fo 
wäre es Sache des Beklagten geweſen, fie thatjächlich zu be- 
gründen. Was derjelbe diesfalls vorzubringen gewußt hat, be: 
Ihränft fih von dem auch ElägerifcherjeitS zugegebenen Umjtand 
abgejehen, daß Maier von jeher etwas ſchwachſinnig war, in der 
Hauptſache darauf, daß legterer ſchon zur Zeit, als er in Be— 
gleitung feines früheren Dienſt- und Koftherın Wieland von 
Dberbrüden weggezogen war, und fi nad) Zeil begeben (Juni 
1861), in öffentlicher eben durch feine Schwachlinnigfeit veran- 
laßter Fürjorge gejtanden jei, und daß diefes Verhältnig auch) 
von da an noch einige Zeit fortgedauert habe, ſowie darauf, 
daß derjelbe während der ganzen Dauer feines Aufenthalts in 
der Theilgemeinde Zell in den verſchiedenen Stellungen, worin 


7* 


— 10 — 


er fich dort befand, jtets nur gegen freie Koft und Kleidung, 
alfo ohne jeglichen Lohnverdienſt untergebracht gewejen. Beides 
ift richtig, wenigjteng von dem Kläger nicht beftritten worden. 
Weder aus dem einen noch aus den andern Umſtand kann aber, 
wie ſchon die Kreisregierung mit Grund angenommen hat, ein jo 
hoher Grad von Schwäche der Geiſteskräfte Maiers gefolgert werden, 
daß hiemit als nachgewiefen zu erkennen wäre, derjelbe hätte 
insbejondere während der für die Beitimmung feines Unter: 
ftüßungsmwohnfiges maßgebenden Zeit der feiner Rückkehr nad 
Oberbrüden vorangegangenen zwei Jahre der erforderlichen Frei- 
heit ermangelt, feinen Aufenthaltsort jelbjtändig wählen zu 
fönnen. Was der Beklagte ſelbſt bezüglich der früheren Zeit 
dahin bemerkt hat, Maier habe eben von Wieland nidht fort: 
gewollt, läßt eine ſolche Auffafjung keineswegs, fondern eher 
das Gegentheil derjelben begründet erfcheinen und vollends im 
Anfehung der fpäteren Dauer feines Aufenthalts im Bezirk des 
Drtsarmenverbands Zell liegen durhaus feine Anhaltspunkte für 
die Annahme vor, daß die verfchiedenerlei in feinem Dienjtver- 
bältni vor fich gegangenen Veränderungen nicht von ihm felbjt 
ausgegangen wären, er hiebei vielmehr unter dem Eindrud einer 
andern Willensjtimmung gejtanden hätte. Das Gutachten aber, 
welches der in voriger Inſtanz vernommene Sachverjtändige 
Dberamtsarzt Dr. Köftlin in Badnang auf den Grund voran 
gegangener Unterfuchung des förperlichen und geijtigen Zujtands 
Maiers dahin abgegeben hat, es ermangle derfelbe keineswegs 
der Fähigkeit freier Wahl feines Aufenthaltsorts, ſpricht entjchie- 
den gegen die Annahme einer diesfalljigen Beſchränkung jeiner 
Geiſteskräfte. Die in dem bezeichneten Sinn abgegebene gut: 
ächtliche Aeußerung hat der Beklagte zwar nachträglich in gegen: 
wärtiger Inſtanz zu beanjtanden verjucht; da er jedoch dieſe Be- 
anjtandung zu begründen und zu rechtfertigen nicht einmal ver: 
jucht hat, jo Eonnte hierauf im Hinblic auch auf die Art. 513. 
520, vergl. 711 der Givilprozegordnung von 1868 feine Rück— 
jicht genommen werden. Im Uebrigen bejteht ein Zweifel dar- 
über nicht, daß die fragliche Unterſtützung von der Elägerifchen 
Drtsarmenbehörde gewährt, beziehungsweife zugefichert wurde in 
Folge des Zuftands des Hilfsbedürftigen, in welchen Maier 








= So, 


während feines Aufenthalts in Dberbrüden gerathen war, der ein 
Einjchreiten der öffentlihen Armenfürforge nicht nur zuläffig, 
jondern geboten erjcheinen ließ. Auch die Art und Weife, jomwie 
das Maß der Fürforge läßt fih mit Grund nicht beanjtanden. 
Der Eritattungsanfprud des Klägerd gegen den definitiv ver: 
pflichteten Armenverband ift daher gemäß 88. 28 und 30 des 
Neichsgejeges über den Unterftügungswohnfig ein wohl be- 
gründeter. 

Mit Necht hat Kläger ferner auf die Uebernahme des Maier 
in die unmittelbare Fürforge des Beklagten geklagt, da daran 
nicht gezweifelt werden fann, daß im vorliegenden Fall nicht 
nur eine vorübergehende, jondern eine dauernde Unterjtügung 
im Sinn des $. 31 des Neichsgejebes über den Unterftügungs- 
wohnjig in Frage jteht. 


Urtheil vom 21. Juli 1880. 


31. DOrtsarmenverband Wolfach, Großh. Baden, Klä- 
ger, gegen Drtsarmenverband Horb, Beklagten. 


Eintritt der Hilfsbedürftigfeit. Unberedtigte 
Abjhiebung Höhe des Kojtenerjages. 
Preußiſcher Tarif, 


Der Beklagte wurde koſtenfällig verurtheilt, den Alois 
Hilberer von Mühlebah großh. bad. Bezirks-Amts Wolfach 
in vorläufige Armenfürforge wieder zu übernehmen, dem Kläger 
die von 14. Dftober 1879 bis zum Tag der Anftellung der 
Klage am 20. Januar 1880 à 80 Pf. für den Tag auf 98 Tage 
auf Unterjtügung des Hilberer verwendeten Kojten mit 78 M. 
40 Pf. und für die fernere Zeit (bis zum Tag der Übernahme ?) 
in dem noch zu liquidirenden weiteren Betrag zu eritatten. 

Gründe. Es ijt unbeftritten, daß der vermögenslofe Tag: 
löhner Alois Hilberer von Mühlebach bei feiner Ankunft in 
Horb im Dftober 1879 mit einem bedeutenden Xeiftenbruch be- 
haftet war. Diefer Bruch war am 5. Dftober 1879 auf der 
Straße in Horb bis zu der Größe eines Kindskopfs ausgetreten, 
und mußte Hilberer, der weder gehen noch ftehen fonnte, von 
der Straße in den Spital getragen werden, wo er bis 11. Ok— 


— 10 — 


tober in Behandlung ſtand, ohne daß ſein Leiden in der Haupt— 
ſache gebeſſert wurde, indem der Bruch nach ſeiner Beſchaffen— 
heit nur theilweiſe in die Bauchhöhle zurückgebracht werden 
konnte. Der Spitalarzt machte daher dem Hilberer den Vor— 
ſchlag, ſich zur Vornahme einer Radikaloperation in eine Klinik 
der Univerſität Tübingen oder Freiburg zu begeben. Auch be— 
willigte der Ortsarmenverband Horb wegen gänzlicher Mittel: 
loſigkeit des Hilberer demſelben die Koſten der Eiſenbahnfahrt 
nach Freudenſtadt. 

Schon am 14. Oktober 1879 iſt Hilberer bei dem großh. 
badischen Bezirksamt Wolfah mit der Bitte um Bewilligung 
einer Unterftügung erfchienen und wurde er dann vorerft im Spi— 
tal zu Wolfach untergebracht, weil auch der dortige Bezirksarzt 
beftätigt hatte, daß Hilberer derart auf beiden Seiten mit 
. großen Leiftenbrüchen behaftet jei, daß fie mit feinem Verband: 
mittel mehr zurücgebracht werden fünnen und derjelbe deßhalb 
zu feiner auch nur einigermaßen anjtrengenden Arbeit mehr fähig lei. 

Mit Recht hat nun der Kläger, nachdem fich in Folge der 
langen Abmwefenheit des Hilberer von Mühlebach und feines 
feitherigen Aufenthalts an den verſchiedenſten Orten ein definitiv 
verpflichteter Armenverband vorerjt nicht ermitteln ließ, mit feinen 
Erfaganfprüchen und der Forderung der Wiederübernahme des 
Bedürftigen fih an den Beklagten als denjenigen Armenverband 
gehalten, bei welchem fchon die Hilfsbedürftigteit des Hilberer in hin: 
reihend erfennbarer Weife hervorgetreten ift, und welcher alio 
nah 8. 28 des Neichigefeßes über den Unterftügungswohnitg 
fih der vorläufigen Unterjtügung nicht wie geſchehen durch vor: 
zeitige Entlafjung des Bedürftigen hätte entziehen jollen. 

Der Beklagte hat zwar eingewendet, daß Hilberer nach der 
Beichaffenheit feines Leidens wenigitens zu einer fißenden Be: 
Thäftigung noch fähig geweſen wäre. Allein nicht nur fönnen 
bei Brüchen, wie Hilberer fie hatte, die geringiten Veranlafjungen 
zu gefährlichen Einflemmungen führen und ift daher die Arbeitsfraft 
eines folchen Yeidenden jedenfalls eine höchit beſchränkte, fondern es 
fommt auch bei Hilberer befonder8 in Betracht, daß er nad 
jeiner bisherigen Thätigfeit und bereits im 56. Lebensjahr 
jtehend nach jeiner Entfernung aus dem Spital in Horb nicht 


— 


— 103 — 


ſofort mit einer ihm ganz ungewohnten Beſchäftigung ſeinen 
vollſtändigen Lebensunterhalt ſich hätte verſchaffen können. Viel— 
mehr wäre es Sache des Beklagten geweſen, ihn bei ſeiner 
damaligen hilfloſen Lage auch fernerhin zu unterſtützen, und ihm 
entweder Heilung ſeines Gebrechens, oder wenn möglich Ge— 
legenheit zu einem mit dem letzteren etwa noch verträglichen 
Arbeitsverdienſt zu verſchaffen. 

Hiernach mußte der Beklagte zu Erſtattung des ſeit der 
Aufnahme des Hilberer im Spital in Wolfah entjtandenen 
Berpflegungsaufwands fowie zur Wiederübernahme des Hilberer 
in jeine vorläufige Armenunterftügung im Sinn des $. 31 des 
Reichsgeſetzes über den Unterſtützungswohnſitz verpflichtet werden, 
da es jih bei Hilberer nicht um eine nur vorübergehende Ar: 
beitsunfähigfeit handelt, jondern ein bejtimmter Zeitpuntt, mit 
welchem das Unterjftügungsbedürfnig aufhören wird, bei der Be: 
Ichaffenheit jeines Xeidens fich nicht abjehen läßt. 

Dagegen fonnte dem Kläger der angerechnete Verpflegungs— 
jag von 1 M. 50 Bf. für den Tag, dejien Höhe der Beklagte 
beanjtandete, nicht zuerfannt werden. Der Kläger hat nach der 
an ihn ergangenen Aufforderung die Höhe dieſes Verpflegungs: 
jages nicht im Einzelnen nachgewiefen, und auch nicht dargethan, 
daß der legtere fich auf einen von der großherzoglich badischen 
Regierung aufgejtellten allgemeinen Tarif im Sinn des $. 30 
legter Abjag des Reichsgeſetzes über den Unterjtügungswohniig 
gründen. Vielmehr wurde nur geltend gemacht, daß auch der 
Kreisausſchuß in Offenburg, Namens des dortigen Yandarmen- 
verbands in andern ähnlichen Fällen jenen Berpflegungsfag an- 
erfannt habe, was jedoch für die Beurtheilung des vorliegenden 
Streitfalls nicht erheblich it. Ebenſo unbegründet iſt die klä— 
geriihe Behauptung, daß der Betrag von 1 M. 50 Pf. in einem 
Streitfall des Klägers gegen den DOrtsarmenverband Neutlingen 
von dem Berwaltungsgerichtshof zugelaffen wurde. In diefem 
duch Urtheil vom 21. Januar 1879 entſchiedenen Fall ijt aller: 
dings in der Klage ebenfalls der Betrag von 1M. 50 Pf. be— 
aniprucht worden. Da aber die Klage aus andern Gründen 
überhaupt abgewiejen wurde, jo war die Größe des geforderten 
Verpflegungsbetrag3 überhaupt nicht zu erörtern. 


u I]. 
TE 
eo, 
* 
| 
— 


In Ermanglung näherer Nachweiſe des Klägers war hier— 
nach die Höhe des Verpflegungsſatzes durch freies richterliches 
Ermeffen zu bejtimmen. Hierbei konnte der für das Königreid) 
Preußen bejtehende Tarif vom 2. Juli 1876, obgleich er nicht 
maßgebend ift, immerhin einigen Anhaltspunkt bieten, Nad) 
demselben wird für die in dritter bis fünfter Servisklaſſe ftehen: 
den Orte einfchlieglich der zu 20 Bf. angenommenen ärztlichen 
Behandlung und Medifamente 80 Pf. für den Tag bewilligt. 
Da nun Wolfach (Reichsgeſetzblatt von 1378 ©. 286) in der 
vierten Servisklaſſe jteht, und bei Hilberer bis zur Klagerhebung 
eine wirkliche ärztliche Behandlung nach den Akten nicht eintrat, 
andererfeit3 aber bei den vorliegenden Umſtänden der DBerpfle: 
gungsjag ih im Durchſchnitt wirklich um Einiges höher jtellen 
mag, als nach dem preußifchen Tarif, jo wurde der Betrag von 
80 Pf. als den Verhältniſſen entiprechend angenommen. 

Da die Erörterung der Zuvielforderung des Klägers feine 
befondern Kojten veranlaßt, und bei der’ Sadhlage der Betrag 
durch richterliches Ermefjen feitzuftellen war, wurden nach $. 88 
der Neichscivilprozekordnung die Kojten dem Beklagten als in 
der Hauptjache unterliegendem Theil zugejchieden. 


— 104 — 


22. Ortsarmenverband Rottmeil Kläger, Beruf: 
ungsbeflagter gegen Sandarmenverband Kiedlin 
gen, Beklagten, Berufungstläger. 


Deffentlide Armenunterftüßung? 


Urtheil vom 28. Juli 1880. 


Unter Abänderung des Urtheils der Regierung des Donau 
freifeg vom 26. April 1880, welche den Beklagten verurtheilt 
hatte, wurde Kläger mit feiner Klage auf Uebernahme ver 
Familie des Karl Karle von Dautmergen und Softenerjas 
foitenfällig abgewieſen. 

Gründe. 1) Der Kläger hat feinen Anspruch gegen den Be: 
Hagten auf Uebernahme der Familie Karle, fowie auf Koftener: 
ja für ihre Unterſtützung im MWefentlichen damit begründet, 
daß Karl Karle in Ermanglung eines Unterjtüßungswohnfiges 





— 15 — 


mit jeiner Zamilie landarm geworden und daß die Hilfsbedürf- 
tigfeit der Familie fchon in Riedlingen, wo die Ehefrau des 
Karle eine Reiſeunterſtützung erhalten habe, eingetreten ſei. 

2) Aus den Akten ergibt ſich zwar, daß Karle feinen durch 
Heimatsrecht in Dautmergen, DA. Rottweil, erworbenen Unter: 
ſtützungswohnſitz in Folge mehrjähriger Abwefenheit von dort 
längit verloren, und da er fich nirgends anderwärts zwei Jahre 
ununterbrochen aufhielt, inzwifchen einen andern Unterftügungs- 
wohnſitz nicht erlangt hat, jomit landarm ift, dagegen. ijt nicht 
als erwiejen anzunehmen, daß die Hilfsbedürftigfeit der Familie 
Karle bereit3 in Riedlingen eingetreten jei. Die Ehefrau des 
Rarle, welche am 4. November 1878 in Buchau wegen Bettelns 
verhaftet und mit ihrem ſechs Monate alten Kind dem dortigen 
Stadtjchultheigenamt vorgeführt, von legterem jedoch, weil es 
jich zur Aburtheilung nicht für zuftändig evachtete, dem Oberamt 
Niedlingen überliefert worden war, hat bei ihrer Bernehmung, 
bei der fie das Bettelvergehen zugejtand, angegeben, daß ſie feit 
anderhalb Jahren mit ihrem Dann und drei Kindern haufirend 
herumziehe, daß fie und ihr Mann nicht verdienen, was fie 
brauchen, und auf den Bettel angewiefen feien, ihr Mann aber 
nie bettle, daß fie jegt unter allen Umjtänden nach Haufe reifen 
und nicht weiter umberziehen wolle, daher jie bitte, ihr das 
Neifegeld nad) Haufe zu geben. Bon dem Dberamt wurde fo- 
fort eine eintägige Haftitrafe gegen fie erfannt und zugleich in 
Erwägung ihrer Mlittellofigfeit und des von ihr geäußerten 
Wunſches der Heimreife bejchloffen, neben Uebernahme der Haft: 
foiten auf die Amtspflege ihr das behufs der Heimreife erfor: 
derliche Neifegeld vorzuftreden, worauf die Dberamtspflege ge: 
mäß oberamtlicher Anmweifung der Karle einen Reifevorihuß von 
5 M. 55 Pf. ausbezahlte, welcher, nachdem die Heimatgemeinde 
Dautmergen den Wiedererjag ablehnte, auf die Amtspflege 
übernommen wurde. 

Bei Würdigung diefer thatfächlihen Berhältniffe kommt in 
Betraht, daß das Oberamt Niedlingen, indem es die gedachte 
Verfügung traf, als Polizeibehörde gehandelt hat, und daß ſchon 
demzufolge der auf die Amtspflege für die Maria Karle an- 
gewieſene Reifegeldvorfhuß, wie er auch fonft zu beurtheilen 


— 106 — 


jein mag, nicht als eine öffentlide Unterftüßung im 
armenrehtlihen Sinn angejehen werden kann, zu deren 
Zeitung vielmehr gemäß 8. 28 des Reichsgeſetzes über den 
Unterftügungswohnfiß nur die Ort3armenbehörde Riedlingen be: 
rufen geweſen wäre, welche ihrerjeit3 feine Beranlafjung zu 
einem Einfchreiten erhalten hat, wofür wohl auch jo lange der 
im Oberamtsbezirt anmwefende Ehemann nicht über die Verhält— 
nijje der Familie vernommen wurde, die geeignete Grundlage 
gefehlt hätte. Kann hienach bezüglich der Ehefrau des Karle, 
welche in Riedlingen eine wirkliche Armenunterftüßung nicht 
nachgeſucht hatte und durch den derfelben auf ihre Bitte ge 
währten Reiſevorſchuß in den Stand gejegt war, die Heimreiſe 
zu bemerfjtelligen, nicht angenommen werden, daß fte fih damals 
in einer Zage befunden hat, welche das Einfchreiten der dortigen 
öffentlichen Armenpflege nothwendig gemacht hatte, ſo gilt das 
Gleiche auch von dem Ehemann. 

Derjelbe hat am 8. November 1878 vor dem Stadtjchult: 
heißenamt Rottweil erklärt, daß er bei dem Oberamt Riedlingen 
jih nad) feiner Frau erkundigt, feine Lage der Hilflofigfeit vor: 
gejtellt, aber die einfache Belehrung erhalten habe, fich mit feinen 
zwei andern Kindern ebenfalls nach Nottweil zu begeben, mo 
er ohne alle Mittel angekommen ſei. Abgejehen jedoch davon 
daß Ddiefe angeblichen Thatumftände von dem Beklagten bei der 
mündlichen Verhandlung vor der Kreißregierung in der Haupt: 
jache beftritten worden find, und daß es fich fragt, ob und in: 
wieweit itberhaupt die Angabe des Karle, welcher ſich in jeinen 
fonjtigen Angaben mannichfache Widerfprüche und Unwahrjchein- 
lichfeiten beigehen ließ, Glauben verdienen, ift auch in dieſer 
Beziehung zu bemerken, daß das Oberamt Riedlingen, wenn es 
wirkli dem Karle jene Weifung ertheilt haben follte, hiemit 
berufsgemäß eine Berfügung im armenrechtlichen Sinn nicht ge: 
troffen hat, mie jolche denn auch materiell nah der Sachlage 
um fo weniger zu beanjtanden fein dürfte, als e8 nur natürlich 
erfcheint, daß das Dberamt den Ehemann dorthin gewieſen hat, 
wohin die Ehefrau dem Ehemann ihrem eigenen Verlangen gemäß 
bereit3 vorausgegangen war. Ueberdies wird durch die Thatjache, 
daß Karle mit feinen Kindern die Heimreife, ohne erweislich 


— 107 — 


die öffentliche Unterftügung in Anfpruch genommen zu haben, aus: 
führte, beurfundet, daß er zur Zeit, als er bei dem Oberamt Ried- 
lingen erichien, feinesmwegs in einer Nothlage fich befunden hat. 


(Fortiegung folgt im nächiten Hefte.) 


II. Ueber das Abſonderungsrecht der in der wirrttem- 
bergiſch-rechtlichen Srrungenfdaftsaefellfhaft lebenden 
Shefrau nad S. 44 der Konkursordnung. 


Bon Dr. Sarwey. 


Die Anwendbarkeit des $. 44 der Konfursordnung auf 
die Anfprüche, welche die Ehefrau aus der zwiichen den 
Ehegatten beitandenen Errungenschaftsgefellihaft auf Erfak 
ihres nicht in Natur mit Ausionderungsrecht zurüderhaltenen 
Veibringens nach der gegen den Ehemann erfannten Eröffnung 
des Konkurſes erhebt, iſt gegen die von dem Verfaſſer in Bd. 
XVII. diefes Archivs !) vertretene, auch von den Motiven zu dem 
Entwurf des württembergiichen Ausführungsgefeges zur Konkurs— 
ordnung 2) gebilligte Anficht, welcher fich Mandry 9) und im 
Prinzip Hohl *) angefchloffen haben, von Stieglig ’) für den 
Fall beitritten worden, wenn die Frau die weiblichen Freiheiten 
angerufen hat. Nachdem nun jowohl das Landgericht in St. 
durch Entfcheidung vom 14. April 1880, als das Dberlandes- 
gericht Durch PWlenarenticheidung vom 12. Dftober 1880 9) mit 


1) ©. 425 bis 438, R 

2) Mot. zu Art. 15. Verh. der Württ. 8. d. Abg. v. 1577,1879 
B. B. 1. S. 415. Schmidlin, die Juſtiz-Geſ. des D. Reichs, B. 2. ©. 309. 

3) Der civilrechtliche Inhalt der Reichs-Geſetze, S. 238. N. 14. 

4) Kommentar des K. O. ©. 55. 56. 

5) Kommentar d. 8. O. S. 318 u. f. Der Anficht von Stieglig iſt 
auh Lang in feiner zweiten Ausgabe des Württemb. Perſonenrechts 
2. ohne Beibringung neuer Gründe beigetreten. 

6) Mitgetheilt in B. NXI diejes Archivs, S. 360 bi! 396 mit Voran— 
ſchickung einer eingehenden Grörterung der enticheidenden Gefichtspunfte 
bon Oberlandes- Gerichtörath Freiheren W. v. Gemmingen. 


— 108 — 


einer Mehrheit von 9 gegen 4 Stimmen ausgeſprochen hat, 
daß auch der zu der Rechtswohlthat der weiblichen Freiheiten 
zugelafjenen Ehefrau das Abjonderungsredht des $. 44 an der 
Bruttoerrungenjchaft, dem Gejellfchaftsvermögen, zujtehe, hätte 
man vielleicht erwarten Fönnen, daß diefe |peziell aus dem würt— 
tembergifchen echte zu enticheidende Kontroverje hiemit ihren 
Abſchluß gefunden habe. 

Dieß nimmt jedoch die neuefte in dem Württembergijchen 
Gerichtsblatt ) erfchienene „weitere Erörterung” der angeführten 
Plenarentjcheidung nit an. In diefer Abhandlung wird 

„einigen den Gründen des Oberlandesgerichts gegenüber: 
jtehenden Erwägungen, größtentheils ſolchen, welche jchon 
innerhalb diefes Gerichts von der Minorität des Kollegiums 

geltend gemacht worden find, Ausdrud verliehen, nicht im 

Sinne einer Polemik, jondern in der Abſicht weiterer 

Anregung in einer Streitfrage, welche für einen weiten 

Kreis der an der einheimischen Nechtsanwendung Betheiligten 

von Wichtigkeit iſt.“ 

Man ift dem Herrn Verfaſſer unzweifelhaft zu Dank ver: 
pflichtet, daß er, wie aus feiner Mittheilung zu ſchließen ift, der 
Minderheit des Dberlandesgerichts angehörig, die Gründe ver: 
öffentlicht hat, welche diefe Minderheit zu ihrem Votum bejtimmt 
haben. E3 fann auch felbjtverftändlich nicht überrafchen, daß die 
genannte Abhandlung, obwohl fie ſich gegen eine Abficht der 
Polemik ausdrücklich verwahrt, in Wirklichkeit gegen die durch 
den erwähnten PBlenarbeichluß feitgejtellte Theſis direkt gerichtet 
it. Indem hiebei im Eingang auf die Möglichkeit einer Kor: 
reftur derjelben durch das Neichsgericht im Wege einer Tpäteren 
in dem vorgelegenen Falle formell unitatthaften Revifionsbe: 
ſchwerde hingewiefen wird, gewinnt diefe Anfechtung des Plenar— 
beſchluſſes, welcher Ihon an ſich und durch die Bezugnahme auf 
die Ausführungen der Minorität des Dberlandesgerichts Die 
bejondere Beachtung in allen Kreifen der württembergifchen Su: 
rijten, namentlich auch der Angehörigen des Notariats, gefichert 








7) B. XIX ©. Au. f. „Ueber das Abſonderungsrecht der Ehefrau, 
welche im Konfurje des Ehemanns die Nechtäwohlthat der weiblichen 
Freiheiten angerufen hat“, von SOberlandesgerichtsratb v. Probſt. 





— 190 — 


ift, eine erhöhte Bedeutung. Würde in nächiter Zeit eine wei— 
tere Entſcheidung des Dberlandesgerichts oder des Neihsgerichts 
über die bejtrittene Frage in Ausjicht genommen werden fünnen, 
jo würde eine erneute Beiprechung derfelben im Sinne der Be 
jahung des Abjonderungsrecht3 um jo gewiljer unterbleiben kön— 
nen, als die in der Ausführung des Gerichtsblatts vorgeführten 
Gründe, ſoweit fie Gründe vom Standpunfte des gege— 
benen Gejeges aus find, jchon in der Begründung der ober: 
landesgerichtlihen Entſcheidung felbjt und den der Beröffent: 
lihung derfelben vorangeſchickten Ausführungen ihre Würdigung 
im Wefentlichen gefunden haben. Da jedoch eine foldhe weitere 
Entiheidung, To viel befannt, zur Zeit nicht in Ausficht jteht 
und die erwähnte Gegenausführung in dem Gerichtsblatt im: 
merhin einige bis jetzt nicht fpeziell gewürdigte Erwägungen 
vorführt, weldhe zu einer weiteren Prüfung auffordern, jo wird 
die wiederholte Erörlerung der Frage einer bejondern Recht: 
fertigung nicht bedürfen. 

Wenn fich der Berfaffer der vorliegenden Beiprehung, ob— 
wohl er hofft, daß ein Mitglied der Mehrheit des Dberlandes- 
gerihts im Laufe der Zeit auf die Ausführungen in dem Ge: 
tihtsblatt noch antworten wird, erlaubt, den württembergifchen 
Juriſten und namentlich den bei der Frage in erjter Linie be— 
theiligten Meitglievern des württembergiſchen Notariats einige 
Gründe und Erwägungen zu unterjtellen, welche fih ihm gegen 
die Ausführung in dem Gerichtöblatt aufgedrängt haben, jo ver: 
anlapt ihn hiezu namentlich der Umjtand, daß er bei der Be— 
arbeitung der zweiten Auflage feines Kommentars der Konkurs— 
ordnung ſich genöthigt ſah, die ganze Materie einer wiederholten 
Prüfung zu unterjtellen, eine weitere und ausführlichere Begrün— 
dung der Reſultate diefer erneuten Prüfung jedoch in dem Kommen— 
tar zuviel Raum eingenommen hätte. Da der Verfaſſer in der eriten 
Erörterung des Gegenftandes ſelbſt anerkannt hat, daß es nicht 
leicht fei, über die vorliegende Frage eine unanfechtbare Anficht 
auszufprechen, jo darf er wohl für fich die Vermuthung in An— 
Iprud) nehmen, daß das Ergebniß der wiederholten Prüfung 
der Materie frei von fubjektiven Eindrüden ift und durchaus 
auf objeftiven Gründen beruht. 


Es find im Wejentlichen drei Erwägungsgründe, welche die 
Ausführung in dem Gerihtsblatt °) der Theſis des Oberlandes- 
gerichtS gegenüberitellt: 

1) Su erjter Linie wird auf die Konfequenzen derjelben 
bezüglich der Befriedigung von Konfursgläubigern hingewieſen 
und das Ergebniß hievon in dem Urtheil zufammengefaßt, daß 
es jich nach der Thefis des Dberlandesgerichts „um einen in 
jeinen Wirkungen unermeßbaren und darum legislatoriſch 
unbrauchbaren Rechtsbehelf handle, welcher zuweilen von nichts: 
jagender, häufiger von erorbitanter Bedeutung jei und im 
legteren Falle gleichfalls auf die Entwidlung eines geordneten 
Verfahrens hemmend einwirke.” )) 

2) Sodann wird die Anficht vertreten, daß die Errungen: 
Thaftsgefellichaft durch die Anrufung der weiblichen Freiheiten 
rüdwärts, nicht erjft von dem Zeitpunft der Geltendmachung 
dieſer Nechtswohlthat an aufgelöst werde. Auf Grund Diefer 
Prämiſſe wird 

3) das rechtlihe Verhältnig, in welches die Ehefrau mit 
Anrufung dev weiblichen Freiheiten eintritt, als ein folches dar: 
gejtellt, welchem die Vorausfegung des $. 44, dab fich der 
Abjonderungsberechtigte in einer Geſellſchaft oder in einer andern 
Gemeinfchaft befinde, vollitändig fehle. 

Wenn in der folgenden Erörterung ein von diefer Anord: 
nung der Unterfuchung abweichender Weg eingejchlagen und mit 
der Erörterung der unter 2 und 3 angeführten Gründe begonnen 
wird, jo war biebei die Erwägung bejtimmend, daß Gründe, 
welche von Standpunkt der lex ferenda aus gegen das Ergebniß 
der Gejegesauslegung angeführt werden und aus dejjen legten 
und äußerſten Konjequenzen hergenommen find, doch nur eine 
Kritif des gegebenen Geſetzes find und daher die, vorgängige 
Darlegung jeines Inhalts voraugjegen. 

8) Der Verfaſſer wird diefe Ausführung fortan ala „Minoritäts- 
votum“ der Kürze halber bezeichnen dürfen, da jie ſich jelbit als dem 
Minoritätseradhten größtentheilö entnommen bezeichnet. 

9) Daß diefes icharfe Urtheil über die objective Abficht einer wei- 
teren Anregung der Prüfung der Frage hinausgeht und einer Polemik 
gegen den Beſchluß der Mehrheit wie ein Ei dem andern gleichiieht, 
wird vielleicht der Herr Verfaſſer jelbit zugeben. 





— 11 — 


I. Um die. Auseinanderjegung der Güterverhältnifie der 
Ehegatten zum Zwede der Beurtheilung der Wirkung des $. 44 
klar zu jtelen, muß man ſich zunädjt von jeder Rückſicht auf 
die durh die Zahlungsunfähigfeit des Chemanns bewirkten 
Verhältniffe und von jeder Beeinfluffung der Gefegesauslegung 
durch diefelbe frei mahen. Der 8. 44 ſpricht nicht etwa einen 
Grundſatz aus, welcher, wie die Ordnung der perjönlichen Vorzugs— 
rechte, nur durch den Mangel an zureichenden Befriedigungsmitteln 
ein Anwendungsgebiet erhält und joweit die Befriedigungsmittel 
reihen, gegenjtandslos ift; vielmehr enthält der 8. 44 einen Necht3- 
jaß, welcher ganz unabhängig von den befondern Verhältnifjen des 
im Konfurs befindlichen Schuldners gilt, allerdings aber durch 
diefe Verhältniſſe feine bejondere praktiſche Bedeutung erhält. 
Der dispofitive Inhalt des S. 44, welher nur in Berbindung 
mit $. 44 richtig gewürdigt werden kann, it in feiner Anwen— 
dung auf die Errungenschaftsgefellichaft folgender: 

1) Die Auseinanderfegung der ehelichen Güterverhältnifie, 
welche außerhalb des Konkurſes zu erfolgen hat, beſtimmt fich nach 
ihren eigenen Normen unbeeinflußt von dem Konkurs. 

2) Die Gläubiger des Ehemanns, wie der Ehefrau können 
zu ihrer Befriedigung (außer dem in Natur vorhandenen Son: 
dergut ihres Schuldners) nur denjenigen Theil des ehelichen Ge— 
ſellſchafts ermögens in Anspruch nehmen, welcher den Theilhabern 
auf Grund jener Auseinanderfegung nah Abzug 
dev auf das bejtandene Verhältniß fih gründenden 
gegenjeitigen Forderungen zufällt. 

Db gegen beide Ehegatten oder den einen der Konkurs 
eröffnet ift oder nicht, berührt diefen Grundfag an fich nicht; 
nur ift für den Fall des Konkurjes nicht nur die Berechnung, 
jondern auch die wirklihe Abfonderung diejes Geſellſchafts— 
vermögens nothwendig, da andernfalls die Ausführung des 
ſich hiernach ergebenden NefultatS der Auseinanderjegung that: 
ählih unmöglich werden fünnte. 

Nothwendig ift hiernach unter allen Umſtänden, mag die 
Ehefrau die weiblichen Freiheiten angerufen haben oder nicht, 
die Gefellfchaftstheilung; ‚eine ſolche ift, ganz abgejehen von dem 
$. 44 zur Feſtſtellung der gegenfeitigen Anfprüche der Ehegatten 


Er) 5 | 


aus dem Gejellfehaftsverhältnig nothmwendig und wenn jie aud 
zu diefem Zwecke nicht nöthig wäre, würde fie eben zur Feſt— 
jtellung der Abfonderungsanfprüche des 8. 44 gemacht werden 
müfjen, Sofern foldhe anzuerkennen find. !%) Durch die unter 
allen Umſtänden erforderliche Gejellihaftstheilung oder Ausein: 
anderfegung der ehelichen Gemeinfchaft ift feitzuftellen 

1) das in Natur. vorhandene Beibringen beider Ehegatten, 

2) der nach Ausfonderung der Beibringen noch übrig blei- 
bende und das Errungenjchaftsvermögen bildende Theil des big: 
her in der Hand des Ehemanns als DVerwalters vereinigt ge: 
wejenen Gejammtvermögens, 
| 3) der gegenfeitige Anspruch beider Ehegatten auf Erſatz 

desjenigen Theil3 ihres Beibringens, welcher nicht mit Ausſon— 
derungsrecht von ihnen mweggenommen wird. 

Beide Ehegatten, mag die Ehefrau die weiblichen Freiheiten 
angerufen haben over nicht, können Forderungen gegenjeitig 
haben, welche fich auf das jedenfalls bisher bejtandene Gemein: 
Thaftsverhältnig gründen. 

Diefe Anfprüche find nach 8. 44 von dem ermittelten gemein: 
ſchaftlichen Vermögen zu befriedigen, ehe die Gläubiger des einen 
oder andern Theils an diejes Vermögen Anfprüche erheben können. 

Dieß ift denn auch fo einfach und einleuchtend, daß wenig: 
jtens bisher "noch von feiner Seite dieſe Wirkung des 8. 44 in 
dem Falle beftritten wurde, wenn die Ehefrau die weiblichen 
sreiheiten nicht angerufen hat und die Hälfte des Errungen- 
jchaftsvermögens mit Ausfonderungsreht in Anfpruh nimmt. 


10) Es iſt ebendeßhalb nicht verftändlich, wenn in der Ausführung 
in dem Gerichtöblatt (S. 46) unter Anderem gegen das Abjonderungs: 
recht angeführt wird: „Nah Anrufung der weiblichen Freiheiten 
fommt die Fertigung einer ehelichen Geſellſchaftstheilung nicht in Frage“. 
Schon um das Sondergut von dem Errungenichaftövermögen zu jondern 
und das legtere zu Fonftituiren, was aud im Falle der Anrufung der 
weiblichen Freiheiten nothwendig ift, muß eine Theilung der bisher 
beitandenen Gemeinschaft und Gefellichaft vorgenommen werden. Nur eine 
weitere Theilung des Errungenichaftsvermögens in zwei Theile unterbleibt. 
Aber dieß ift doch nicht „die eheliche Gejellichaftstheilung”, welche fo wie jo 
unentbehrlich ijt, unter allen Umſtänden aber durch die Anerkennung des Ab: 
jonderungsrechtö des $. 44 nothiwendig wird, wenn diejes anzuerkennen it. 





— 113 — 


Man it allfeitig darüber einig, daß in diefem Falle die Ehe— 
frau an derjenigen Hälfte des Errungenschaftsvermögens, welche 
hiernah dem Mann gehört, mit Abjonderungsrecht ihren nicht 
durch Ausfonderung befriedigten Anfpruh auf Erſatz des 
nicht mehr in Natur vorhandenen Betrags ihres Beibringens, 
joweit derjelbe nah den Normen der Errungenichaftsgejellichaft 
zu leijten ift, nach $. 44 in Abzug bringen fann, ehe von diefem 
Antheil des Gemeinfhuldners etwas in die Konkursmaſſe fällt, 
und daß daher inſoweit auch diefer Theil des Gejellichaftsver- 
mögen den Gläubigern entzogen bleibt. Es iſt aus der. Ueber- 
ihrift der Ausführung in dem Gerichtsblatt und daraus, 
daß eine entgegengefegte Anſicht nirgends ausgefprochen wird, 
zu Schließen, daß auch die Minorität des Dberlandesgerichts dieß 
anerfannt hat. 

Wenn aber dieß feititeht, jo ift der größere Theil der in 
dem Minoritätspotum unter 3. III (©. 36 bis 47) angeführten 
Gründe Schon deßhalb als nicht ftichhaltig zu bezeichnen, weil 
jie folgerichtig dahin führen müßten, daß der 8.44 auf das 
Verhältnig der in der Errungenschaft lebenden Gatten über: 
haupt feine Anwendung finden könnte. 

Menn es richtig wäre, daß die Anerkennung diejes Abſon— 
derungsrechtes im Falle der Anrufung der weiblichen Freiheiten 
mit der in den Motiven enthaltenen Begründung der Aufhebung 
des Vorrechtes der Ehefrauen im Widerſpruch jtehe (©. 36. 37), 
jo würde auch das Abfonderungsrecht der Frau, welche die weib: 
lihen Freiheiten nicht angerufen hat, hiemit in Widerſpruch 
ftehen; denn Alles, was in diejer Beziehung von der Erjagforderung 
im Fall der Anrufung der weiblichen Freiheiten und der Natur 
diejes Abjonderungsrechts geſagt wird, trifft ebenfo auf die Erſatz— 
forderung der Frau zu, welche die weiblichen Freiheiten nicht ange: 
rufen hat. In der rechtlihen Natur und Begründung ihrer ab- 
jonderungsberedhtigten Forderung, jedenfalls in der 
Wirkung des Abjonderungsrehts auf die Befriedigung 
der Gläubiger des Ehemanns ändert die Anrufung der weiblichen 
Freiheiten grundfäglich nichts. In dem einen wie in dem andern 
Falle werden den Gläubigern des Mannes Befriedigungsmittel entzo= 
gen, das einemal mehr, das anderemal weniger, wogegen alle gegen 

Württemb. Archiv für Recht ꝛc. XXI. Br. 1. Heft. 8 





— 14 — 


das Vorzugsrecht der Ehefrauen geltend gemachten Gründe (a. a. O. 
©. 36) gleihmäßig gelten müßten. Uebrigens wird unten noch 
zu zeigen verfucht werden, daß die Anerkennung des Abfonder: 
ungsrechtd in dem einen wie in dem andern Falle durchaus . 
nicht mit der Aufhebung des bisherigen Vorzugsreht3 im Wi: 
deripruch ſteht, vielmehr eine ganz folgerichtige Durchführung 
der Grundfäge der Konfursordnung erkennen läßt. 
Ganz dasfelbe ift bezüglich der Einwendung zu jagen, 
„daß die Beibringensforderung der Ehefrau nah Anrufung 
der weiblichen Freiheiten nicht auf die Errungenſchaftsgeſellſchaft 
gegründet fein fünne, weil die Ehefrau in der Errungenschaft 
diejen Anspruch niemals habe und haben könne“ (S. 41). 
Wenn diefer Satz richtig wäre, jo müßte Das Abſonderungsrecht 
vielmehr in dem Falle verneint werden, wenn die weiblichen Frei— 
heiten nicht angerufen find. Welchen Anspruch hat denn die Frau in 
legterem Falle? Den Anſpruch auf Erſatz ihres nicht in Natur er: 
baltenen Beibringens? Und welchen Anfpruc) hat fie im eriten Falle? 
Ganz denfelben Anſpruch. Dieß ift doch wohl die einfadhite und 
allgemeine Auffafiung, welche jo nahe liegt, daß fie durch 
fünjtliche Konftruftionen nicht verdrängt werden fan. Die An: 
rufung der weiblichen Freiheiten ändert hierin nichts. Sie be: 
rührt die Art und Weile der Dedung diefes Erſatzanſpruchs, 
fie wirft auf die Berechnung deſſelben und auf die Ansprüche 
der Sozialgläubiger. Der Erſatzanſpruch jedoch, welchen Die 
Frau hat, wenn ſie die Rechtswohlthat nicht angerufen bat, jteht 
auch der zu derjelben zugelafjenen Ehefrau unbedingt zu. Da: 
bei fann davon ganz abgefehen werden, daß der in dem Minori- 
tätsvotum als zweifellos vorausgefegte Unterfchied zwiſchen bei- 
den Fällen, daß bei Anrufung der weiblichen Freiheiten die 
Errungenfhaftsgefelichaft aufgehoben werde, nicht aber durd 
den Konkurs, wenn die Frau die weiblichen Freiheiten nicht an— 
gerufen habe, befanntlich jehr beftritten ift. Das Erftere hat 
eine Entſcheidung eines Gerihtshofs vom 21. September 1874, 
allerdings gegen die Anficht des Obertribunals, verneint. 1) Die 
Aufhebung durch die Konkurseröffnung als folhe findet gleichfalls 


11) Boſcher, Zeitihrift 8. 17. S. 4 u f. 





= 5 


Vertretung. 1?) Sedenfalls kann die Nothwendigfeit einer Gefell- 
ſchaftstheilung in beiden Fällen nicht in Abrede gezogen werden. 

Wenn aus dem angeführten Sate, dat vor Auflöfung der 
Errungenschaftsgefelfchaft feine Forderung der Ehefrau beſtehe, 
getolgert wird, daß durch den Verzicht der Ehefrau auf die Er: 
rungenfchaftshälfte die Erfagforderung erſt nach der Konkurs: 
eröffnung entitehe, alfo feine Konkursſchuld fein könne (©. 45), 
jo muß hiernach die Prämiſſe, übrigens auch die Richtigkeit des 
Schluſſes felbit bejtritten werden, da zwijchen beiden Alternativen 
befanntlich noch ein Drittes, die bedingte Forderung oder Schuld 
liegt. Allein ganz abgejehen hievon iſt jo viel außer Zweifel, 
daß, wenn die Erjaßforderung im Fall der Anrufung der weib- 
lihen Freiheiten erſt durch diefe Thatfache begründet würde, 
der Ehefrau eine Erfaßforderung infolange überhaupt nicht zu: 
ftehen fönnte, als fie Durch Anrufung der weiblichen Freiheiten 
die Errungenſchaftsgeſellſchaft nicht aufgelöst hätte und doch ift 
wenigitens bis jeßt noch von feinem württembergischen Juriſten 
ein Zweifel darüber erhoben worden, daß die Ehefrau, wie man 
auch die Kontroverje wegen des Einflufjes des Konfurfes auf 


12) Vgl. Hofaders Jahrbücher, B. 4 S. 155. Sarmwey, Monat: 
Ihrift B. 1 ©. 107 f. (für die Aufhebung ipso jure, namentlich unter 
Berufung auf den allgemeinen für Gelellichaften geltenden Grundjaß); 
gegen, Lang, Perſonenrecht S. 308, N. 2. Bolley, Betradhtungen 
©. 529, Reyſcher, $. 571. Gigenthümlich ift vom Standpunft der 
legteren Anficht aus immerhin, daß eine vollftändige Geſellſchaftstheilung 
durch die Konfurseröffnung nothwendig wird, obgleich die eheliche Ge— 
jellfchaft durch die Konfurseröffnung nicht aufgehört haben joll. In dem 
Verhältniß der Chegatten zu den Gläubigern (den Gläubigern gegen 
über) muß die Grrungenjichaftsgeielichaft als dur den Konkurs aufge- 
löst betradytet werden, wenn fie auch zwischen den Ehegatten fortdaucrt. 
Die ganze Kontroverje hat nur die Frage zum Gegenftand, ob die Er— 
rungenichaftsgejellihaft vermöge Geſetzes fortgejeht werde oder zu ihrer 
Fortiegung ein befonderer, neuer Willensakt der Ehegatten erforder: 
lich jei. Daß aber durd) die Konfurseröffnung, mögen die weiblichen Frei: 
heiten angerufen werden oder nicht, die Frau diejenigen Anſprüche gel: 
tend machen kann und geltend macht, welche ihr im Kalle der Auflöfung 
der Errungenjchaftägejellichaft zuftehen, fann doch wohl nicht in Zweifel 
gezogen werden. Für die Beurtheilung diejer Ansprüche ift es aber ganz 
gleichgültig, welche Wirkung für die Zufunft die Konfurseröffnung 
und die Anrufung der weiblichen Freiheiten hat. 

8% 


— 116 — 


die Fortdauer der Errungenfchaftsgefellihaft entſcheiden mag, 
auch in dem Falle, wenn fie die weiblichen Freiheiten nicht an- 
gerufen hat, den Erſatz ihres Beibringens in dem Konfurfe 
des Mannes verfolgen fann. Dieß kann doch nur darin jeinen 
Grund haben, daß es fich in beiden Fällen um eine und die 
jelbe Forderung handelt, wenn aud dag Berhältnig in 
einzelnen Punkten, bezüglich des Errungenfchaftsvermögens, der 
Ansprüche der Sozialgläubiger und des Forderungsbetrags, fi) 
mit der Anrufung der weiblichen Freiheiten ändert. 

In Wirklichkeit laſſen fi alle von ©. 36 bis ©. 47 vor: 
getragenen Einwendungen und Bedenken des Minoritätserachtens, 
foweit fie nicht zuviel, alſo gar nichts beweiſen, auf zwei Süße 
zurückführen: 

1) durch die Anrufung der weiblichen Freiheiten werde 
ein urſprüngliches Gemeinſchaftsvermögen zum ausſchließlichen 
Eigenthum des Ehemannes, indem die Ehefrau auf ihren Antheil 
verzichte, es fehle aljo an einem gemeinfamen Bermögen, an 
welchem, wie der 8. 44 vorausfege, Das Abjonderungsreht aus: 
geübt werden fünne; es ijt dieß die Einwendung, welche jchon 
von Stiegliß (a. a. D.) erhoben worden it; 

2) die Anrufung der weiblichen Freiheiten habe eine noch 
viel weitergehende Wirkung, fie hebe rückwärts die Errungen— 
Thaftsgefelichaft fo gründlich auf, daß alle gegenfeitigen Anz - 
ſprüche aufhören, auf das Geſellſchafts- oder Gemeinjchaftsver: 
hältniß fich gründende Forderungen zu fein, da rechtlich eine 
jolde als niemals bejtanden anzufehen fei und daß hiemit die 
erite und unerläßliche VBorausfegung des 8. 44, daß fich Die 
Ehefrau zur Zeit der Konfurseröffnung in einem Gejellichafts- 
oder Gemeinjchaftsverhältniß befinde, verneint fei. Die Heran— 
ziehung der Analogien der ftillen Geſellſchaft und der Reftitution 
der Minderjährigen (S. 39. 42) find nicht3 Anderes als Bei- 
Ipiele von Nechtöverhältniffen, in welchen unzweifelhaft ein Ge— 
ſellſchafts- oder Gemeinjchaftsverhältnig in Wirklichfeit nicht 
bejtanden hat und die Beweisfraft der hieraus entnommenen 
Analogie, ebenfo wie die Vorftellung, daß die Klage der Frau 
eine Kondition jei, ſteht und fällt mit dev Beantwortung der 
Frage der Zurücdbeziehung. | 








— 17 — 


Was num diefe zwei Einwendungen betrifft, jo find diefelben 
in der oben angeführten Ausführung in dem einundzwanzigiten 
Band diefer Zeitjchrift und den Gründen des dort mitgetheilten 
Plenarbefchluffes des Oberlandesgerichts fo eingehend und über: 
zeugend widerlegt, daß an dieſem Orte hierauf Bezug genommen 
werden kann. Der’ Berfafler kann wejentlich neue Gejichtspunfte 
nit geltend machen. 

Dagegen fordert die Ausführung in dem Gerichtsblatt zu 
einer eingehenden Unterfuchung über die rechtliche Natur der 
gegenjeitigen Anſprüche der Theilhaber der Errungenichaftsge: 
jelliharft und die logifchen Vorgänge bei der Auseinanderjegung 
ihrer Verhältniſſe auf, wodurch die ausjchließliche. und allein 
jihere Grundlage zur Entſcheidung der bejtrittenen Frage ges 
wonnen Wird. 

Die gegenjeitigen Anſprüche der Ehegatten jind das Ergeb- 
niß einer folgerichtigen, jedoch nicht eben einfachen Abrechnung 
und zwar ohne Unterjchied, ob die weiblichen Freiheiten ange: 
rufen wurden oder nicht. Man muß daher, um die Frage der 
Anwendbarkeit des S. 44 richtig zu beantworten, vor Allem genau. 
feititellen, welche rechtliche Natur die Forderung der zum Privileg 
jugelajjenen Ehefrau an den Ehemann hat und wenn man biebei 
die Schon oben ausgejprochene Anjicht bejtätigt findet, daß dieſe 
Forderung und jomweit diefelbe ihrem Nechtsgrunde nach mit 
derjenigen Forderung identisch tt, welche der Ehefrau ohne An— 
rufung der weiblichen Freiheiten zujteht und deren Abjonderungs- 
recht unbejtritten ift, jo wird hiemit auch der Beweis geführt 
fein, daß die Anrufung der weiblichen Freiheiten der Anwend— 
barkeit des $. 44 nicht entgegenjteht. 

A. Um die Wirkung der Anrufung der weiblichen Freiheiten 
rihtig zu würdigen, ijt zunächſt daran zu erinnern, wie jich das 
Verhältniß gejtaltet, wenn die Ehefrau des in Konfurs gera= 
thenen Ehemanns die weiblichen Freiheiten nicht angerufen hat. 
Auch in dieſem Falle ijt eine volljtändige Gejellichaftstheilung 
nach denjenigen Grundjägen vorzunehmen, welche im Falle der 
Auflöfung der Errungenſchaftsgeſellſchaft Anwendung finden. 

1) Das erjte Gefchäft, welches bei der nach der Konkurs: 
eröffnung gegen den Ehemann außerhalb des Konfursverfahrens 


— 18 — 


erforderlichen Auseinanderfegung der bisher bejtandenen Gemein- 
jhaft vorgenommen werden muß, ift die Nevifion des Beibrin- 
genginventars der Ehefrau und die Unterfuhung, welche Theile 
des bei der Konkurseröffnung vorhandenen, in der Hand des 
Ehemann als Verwalter vereinigten Vermögens als in Natur 
vorhandenes Beibringen von der Ehefrau, welche ihr Beibringen 
zurüdfordert, mit Nusfonderungsrecht mweggenommen werden. 
Die Grundfäge der Beibringensrevifion zu erörtern, kann bier 
unterlafjen werden. 

2) In gleicher Weiſe ift das Beibringensinventar des Ehe— 
manns zu repidiren und dieſelbe Ausjcheidung der in Natur 
vorhandenen Beibringensjtüde des Chemanns vorzunehmen. Diefe 
find Theile der Konkurs-(Theilungs-maſſe. 

3) Aus diefer Revifion ergeben jich die Beibringensforderungen 
beider Ehegatten. Für denjenigen Betrag, welcher von der durch 
die Revifion ermittelten Gefammtfumme nicht als in Natur vor: 
handen durch die Ausſonderung zurücerjtattet wird, hat zunächft 
jeder Ehegatte von der Gefellichaft den Erfag zu fordern und 
zu juchen. Bezüglich diefer Erjapforderungen der Ehegatten be: 
jtimmen die 88. 6 und 7 des Lanprechts Th. IV, Tit. 4, '?) daß 
— was von dem Manns- oder Weibsbeibringen zum 


13) ER. IV 4.8. 6. „Da nun von des Manns zugebrachtem oder 
von jeiner Linien her ererbtem, oder ihme joniten verjchafftem Gut ettwas 
gemeiner Haußhaltung zu notturfft, nuzen und gutem oder de einen 
Ehegemächts oder der Kinder Leibesfrankheit halben in wehrender Ehe 
verfaufft, verändert, eingebüßt und nicht mehr vorhanden noch ein anderes 
dergleichen erfaufft, ift daflelbig vor aller andern Theilung von dem 
gemeinen errungenen und gewonnenen Gut, joweit ſich dasjelbe 
erftredt, billiger Aftimation oder Werth nach zu ergänzen. $. 7. Alfo und 
hintwiederumb, wann von des Weib3 zugebrahtem Heurahtgut oder dem— 
jhenigen, io fie neben dem Heurahtgut in andere Weg gehabt, oder von 
ihrer Linie her ererbt oder ihr jonften zugefallen — — ettwa3 gemeiner 
Haußhaltung zu gutem oder de3 einen Ehegemächts oder der Kinder Leibes— 
franfheit. halben in wehrender Ehe verlaufft, verändert, eingebüßt und 
nicht mehr vorhanden, noch ein anderes dagegen erfauft, dafür joll ihr 
ebenmäßig von dem errungenen und gewonnenen, joweit ſich daſſelb 

-über Bezahlung der Schulden erſtreckt, gebührlicher Äſtimation nad 
wiederftattung gethon werden.” — Vgl. Griefinger, Kommentar d. 
L.R. B. 8 S. 46 u. f. 





— 119 — 


Beſten der ehelichen Gejellichaft verwendet worden ift, „vor 
aller anderen Theilung” von der Bruttverrungen- 
Ihaft zu ergänzen iſt. 

4) Wenn die Bruttoerrungenihaft der Summe beider Bei- 
bringensforderungen gleichfommt oder diefelbe überjteigt, jo hat 
hiernach jeder Ehegatte nah ER. IV, 88.6 und 7 vor „aller 
andern Theilung“ die Berichtigung diefer Erjaßforderungen aus 
der Bruttoerrungenihaft anzuiprechen. '*) 

5) Wenn dagegen die Summe beider Beibringensforderungen 
die Bruttoerrungenfchaft überfteigt, fo ijt der Betrag, um wel: 
hen diefelbe nicht zureicht, „Einbuße“ und man hätte in diejem 
Falle die Sache jo ordnen fünnen, daß beide Theile verhältniß- 
mäßig nach dem Betrag ihrer Forderungen ſich in das vorhan- 
dene Gejelljihaftsvermögen theilen. 15) Für diefen Fall bejtimmt 
jedoch der 8.8 des L.R., daß die „Einbuße” nicht nach Ber: 
hältniß, jondern je zur Hälfte getheilt wird. jede Forderung 
vermindert fich daher um die Hälfte diefer Einbuße. '°) 

6) Hiemit find die beiderfeitigen Erjagforderungen fejtgeitellt 
und befriedigt, foweit die Bruttoerrungenjchaft reicht, zugleich -tt 
dieje, jomweit fie zum Erſatz der Beibringensforderungen vers 
wendet ijt, auch zwijchen beiden Ghegatten vertheilt. Was dag 
Landrecht an andern Stellen IV, 5, 8.2, IV, 6, 8.2, IV, 7, 
$.2, IV. 8, 8.2 von der Theilung des in jolder Ehe „Errun— 
genen und Gemonnenen“ zwifchen beiden Ehegatten beitimmt, 
bezieht fich nur auf dasjenige, was an Bruttoerrungenfchaft nach 
Abzug der vor aller Theilung zu befriedigenden Beibringens- 
forderungen übrig bleibt. 


14) Griter Fall: Die Ehefrau hat 9000 M. der Ehemann 3000 M. 
zum Griaß des Sonderguts zu fordern, das ganze vorhandene Vermö— 
gen im Merth von 12000 M. ift Errungenichaft. Der Konfurs wurde 
eröffnet, weil der Ehemann, welcher 6000 M. Brivatichulden fontrahirt 
hat, jeine Zahlungsunfähigfeit erklärt hat. 

15) Zweiter Fall: Die Ehefrau hat 12000 M. der Ehemann 3000 M. 
an das vorhandene Grrungenichaftsvermögen von 12000 M. zu fordern. 
Hiernach hätte jeder Theil nur *, feiner Forderung, die Frau 9600 M. 
der Mann_2400 M. erhalten. 

16) In dem zweiten Fall hat daher die Frau „vor aller Theilung“ 
10500 M. der Mann 1500 M. von der Srrungenichaft eriegt zu erhalten. 


— 120 — 


So faßt noch Griefinger 7) die landrechtlichen Vorſchriften 
über die Gejellihaftstheilung mit Folgendem zuſammen: 

„Da ein Ehegatte nicht nur fein privatives Vermögen 
an das gemeinihaftlide Bermögen fordern fan, 
fondern ihm auch noch die Hälfte der Errungenschaft gebührt, 
jo werden, um die Grrungenfchaft fennen zu lernen, gleich nad 
der oben bejchriebenen Operation (der Ausfcheidung des nur in 
Nupnießung des Gatten jtehenden Vermögens und nad) der Be— 
rechnung des Sondervermögens eines jeden Ehegatten in einer 
Summe, jomweit dafjelbe nicht mehr in Natur vorhanden ift), 
beivre Summen des eigenthümlichen. Vermögens eines jeden 
Gatten in eine Summe zufammen gerechnet und diefe mit dem 
gemeinjchaftlichen Vermögen, das, nad) Abzug der nugnießlichen 
Güter, übrig bleibt, in Vergleichung gefeßt. Um wie viel als: 
dann das gemeinfchaftliche Vermögen jene Summe überfteigt, 
jo viel ijt, während der Ehe, gewonnen worden und die Hälfte 
Davon wird ſodann jedem Ehegatten zugetheilt. Zeigt es ſich 
bei Bergleihung jener Summe des beiderfeitigen privativen 
Vermögens beider Ehegatten mit dem gemeinjchaftlichen Vermö— 
gen, das nach Abzug der nugnieglichen. Güter übrig bleibt, 
dag jene Summe größer ijt, als das vorhandene gemeinschaft: 
liche Bermögen beider Ehegatten, jo it Einbuß, d. h. Verluft und 
zwar gerade jo viel vorhanden, als jene Summe das vorhan- 
dene gemeinjchaftlihe Vermögen beider Ehegatten überjteigt. 
Diefe Einbuß, wenn fie durch das Beſte der ehelichen Gejellichaft 
veranlaßt worden ift, muß jodann jeder Ehegatte zur Hälfte 
leiden. 

Auf diefe Art jagt nun der Kalkul, wie viel jeder Ehegatte 
als privatives Eigenthum anjprechen könne und was an Errun: 
genihaft hinzu oder an Einbuße hinwegkommt; mithin ift 
nun die Theilung des gemeinihaftlihen Bermögens, 
die Sozietätstheilung getroffen.“ 

Ganz ebenjo jagt Reyicher: '?) Bon den in der Ehe erworbenen 


. ©. 118-150. 88. 104. 105. 
8. 564. 





— 121. — 


Gegenjtänden wird jedem Gatten die Hälfte als Eigenthum zugetheilt, 
jedoch find davon zunächſt die ehelichen Schulden zu bezahlen, wohin 
auch die FKorderungen beider Gatten auf Ergänzung ihres 
vorhandenen Beibringens gehören. Die Forderungen beider 
Ehegatten auf Erfag des während der Ehe erlittenen Abgangs an 
ihrem Beibringen, joweit diejer nicht dem beibringenden Gatten 
jeibft zur Laſt fällt oder in einer perfönlichen Befhädigung durch 
den andern Gatten ihren Grund hat, jind eine aus der Erruns 
genschaft und ſoweit diefe nicht hinreicht, aus dem bejonderen 
Vermögen der beiden Gatten je zur Hälfte zu bezahlende Sozialſchuld. 

sm Falle der Konkurseröffnung gegen den Ehemann würde 
die hiernach dem Landrecht entfprechende Gejellichaftstheilung in 
der Weife zu bewirken fein, daß nad) Ausjcheidung des in Natur 
vorhandenen Beibringens jedes Gatten von der Bruttoerrungen: 
Ihaft, wenn feine Sozialihulden vorhanden jind, zunächſt vor 
aller Theilung, d. h. mit Abjonderungsrecht die Beibringensfor- 
derung jedes Gatten, wie jich diejelbe nach Abzug der Hälfte 
der Einbuße und des in Natur Vorhandenen berechnet, befrie- 
digt wird. Wenn aber Sozialjchulden vorhanden find, jo find 
auch diefe vor allen andern Anjprüchen nah XI. IV. 4. 8. 2 
von der Errungenschaft zu befriedigen. Nur was nach Befriedi- 
gung der genannten Forderungen von der Bruttoerrungenschaft 
übrig bleibt, fällt als reine Errungenschaft jedem Theile mit 
Eigenthum zur Hälfte zu. 

In diefe Iheilungsgrundjäge hat nun aber die Praris 
und die württembergiſche Prandgefeggebung für die Fälle des 
Konkurfes des Ehemanns abändernd. eingegriffen. 

Bezüglih der Behandlung der Sozialgläubiger bezeugt 
Volley, "") daß denjelben „jchon bisher fein Abionderungsrecht 
auf das Sozialvermögen eingeräumt, vielmehr der Antheil jedes 
Gatten an dem Sozialvermögen mit deſſen privativem Vermögen 
vereinigt und beides als eine Maſſe zwiichen den Gläubigern 
vertheilt worden ſei.“ Worauf Ddiefe Abweichung von dem 
ER. IV. 4.8.2 beruht, konnte der Verfaffer nicht ermitteln. 2%) 


19) Kommentar, B. 2. ©. 639. 
20) Höchſt wahricheinlich hängt diejelbe mit gemeinrechtlichen Rechts— 
anlihten über die im Gante zugelafienen Abionderungsrechte zufammen. 





— 12 — 


Wie e3 jich hiemit verhalten mag, jevdenfall® hat, vielleicht an= 
Ichließend an dieſe Praxis, der Art. 52 des Pfand-Entw. 
Geſetzes vom 21. Mai 1828 eine VBorfchrift gegeben, welche eine 
der Grundlagen des Landrechts für die Gefellfchaftstheilung im 
Konkurs abgeändert hat. Hiernach hat die Ehefrau des Gemein: 
ſchuldners „wegen der in Natur vorhandenen Dinge, 
welche fie entweder beigebradht hat, oder wovon fie in Folge 
der von ihr nicht aufgegebenen Errungenichaftsgejellichaft die 
Hälfte anjpreden fann, aus dem Grunde des Eigenthums 
ein Abſonderungsrecht“ d. h. nach dem Sprachgebraud) der Kon- 
fursordnung ein Ausfonderungsredt. Da andererfeit$ dag ge: 
nannte Gejeß ein Recht der Sozialgläubiger der Errungenjchafts: 
geſellſchaft und der Beibringenserjaßforderungen beider Ehegatten 
auf vorzugsweife Befriedigung aus dem Gefellichaftsvermögen, 
hierin abweichend von dem Landrecht, nicht anerfannt hat, in- 
den unter die auf gejellfchaftlihen Verhältniſſen beruhenden 
Ubfonderungsrechte, Art. 65 und Art. 66, ein Abjonderungsrecht 
der Sozialgläubiger und der Beibringengforderungen feine Aufnahme 
fand, jo gejtaltete ſich fortan auf diefer gefeglihen Grundlage eine 
von dem Landrecht Umgang nehmende Gejellichaftstheilung, wie fie 
noch heute in der Hebung iſt und namentlich auch von Yang ?!) dar: 
geftellt wird. Wenn die Beibringengverzeichnifje beider Ehegatten revi- 
Dirt, das in Natur vorhandene Sondervermögen beider Ehegatten 
ausgejondert, hiernach die etwaige Einbuße ermittelt und durch 
Abzug der Hälfte derjelben der Erfaganjpruch der Ehefrau an 
die Gejellichaft, eventuell den Ehemann feſtgeſtellt ift, wird der Ehe: 
frau die Hälfte der Bruttoerrungenfchaft nach Maßgabe des Art.52 
eit. neben den in Natur vorhandenen Beibringensjtüden mit Eigen: 
thum zugemwiejen. Der Werth der ihr zugemwiejenen Hälfte der 
Bruttoerrungenjchaft ift an ihrer Beibringensforderung abzurechnen. 
Mit dem hiedurch nicht zurüdgelieferten Theil ihrer Beibringens- 
forderung wird fie im Konkurs des Mannes, defjen Theilungs- 
mafje aus feiner Hälfte an der Bruttoerrungenfchaft und feinem 
in Natur vorhandenen Beibringen befteht, mit Vorzugsrecht ILL. 
Klafje als Konfursgläubigerin lozirt. Die Sozialfchulden find 


21) Handbuch des Perſonenrechts $. 51. $. 55. 








— 13 — 


zur Hälfte Schulden der Frau, zur andern Hälfte fonkurriren 
fie in dem Konkurſe des Ehemanns mit den übrigen Privat: 
gläubigern deſſelben als Konkursgläubiger. 

Diefe Behandlung fam in der Regel der von dem Land: 

rechte in folgerichtiger Entwidlung der Sozietätsgrundfäße vor: 
geiehriebenen Art der Gejellfhaftstheilung aus dem Grunde gleich, 
weil die Ehefrau, was fie nicht durch das Ausjonderungsrecht 
erhielt, als bevorzugte Gläubigerin dritter Klafje erhielt. Es 
hatte daher in der Kegel kein praktiſches Interefje, die Theilungs— 
vorihriften des Landrehts im Falle des Konkurſes des Che: 
manns zu befolgen, da die wejentlichite Beſtimmung, das Recht 
auf vorzugsweiſe Befriedigung der Beibringenserjagforderungen, 
durch die Lokation im Konkurs, das Abjonderungsrecht derfelben 
durch das Vorzugsrecht erfegt war. Dennoch war diefes neue 
Recht nicht in allen Fällen Eorreft. ES konnte hiedurch in dem 
Falle, wenn der durch die Ausfonderung ihres in Natur vor: 
handenen Beibringens nicht gededte Beibringensanfprud der 
Ehefrau höher als die Hälfte der Bruttverrungenfchaft war, ob— 
wohl nach dem Landrecht nur die Hälfte der reinen Errungen- 
ihaft, d. b. nur der nah vorgängiger Dedung der gefammten 
Beibringensforderungen übrig bleibende Nejt der Bruttoerrungen: 
haft jevem Ehegatten zur Hälfte eigenthümlich zufallen follte, 
der Ehefrau die ganze Hälfte der Bruttoerrungenfchaft, von 
welcher ihre nicht befriedigte Beibringensforderung mit Ab— 
jonderunggrecht zu deden war, durch die ihr vorgehenden Vor: 
zugsrechte im Konkurſe des Ehemanns entzogen werden. 
Wenn in dem oben N. 15. fonjtruirten Sale im Kon: 
furfe des Ehemanns Kinder erjter Ehe mit der vor der Frau 
privilegirten Forderung auf Zurüdgabe hinterfälligen Vermögens 
im Betrag von 6000 M. zu loziren waren, jo erhält die rau 
troß ihres Vorzugsrecht3 für 4500 M. ihrer Beibringensforderung 
feinen Erfaß, mährend ihr diefes vermöge ihres Abjonderungs: 
rechts nach dem Landrecht, was auch der Gerechtigkeit volljtändig 
entiprah, von der dem Mann zugefchiedenen Hälfte der Errungen— 
ihaft, ehe deſſen Privatgläubiger hierauf Anſprüche machen 
fonnten, hätte gewährt werden müfjen. 

In diefen Theilungsgrundfägen ift nun dur den 8. 44 


er | 
vr 


3 
— 124 — 


der Konk.O., wie von feiner Seite bejtritten wird, durch die 
Anerkennung des Abſonderungsrechts eine wejentliche Aenderung 
eingetreten und hiemit auch die legtere Unbilligfeit bejeitigt worden. 

Man wird hiedurch die Weberzeugung gewinnen, daß die 
Anwendung des $. 44 auf die Errungenfchaftsgejellichaft jeden: 
fall3 in dem unbejtrittenen Falle, wenn die Frau die weiblichen 
Freiheiten nicht angerufen hat oder zu denfelben nicht zugelaffen 
wurde, ganz eigentlih aus dem Weſen der Errungen: 
ihaftsgejellfhaft folgt und nicht etwa eine ihr 
im Intereſſe der Rechtseinheit durch Die Reichsge— 
ſetzgebung unnatürlich aufgenöthigte Willkührlich— 
keit iſt; daß, ſoweit hiemit das Recht des Pfandentwicklungs— 
geſetzes modifizirt wird, dieß die nothwendige Folge der 
abweichenden Grundſätze der Konkursordnung über 
die Abſonderungsrechte und die Aufhebung des Vor— 
zugsrechts der Beibringensforderung und im Ergeb— 
niß die Rückkehr zu den klaren und folgerichtigen Grundſätzen des 
Württembergiſchen Landrechts über die Errungenſchaftsgeſell— 
ſchaft iſt. 

Nach 8. 44 iſt, was auch von dem Minoritätsvotum 
nicht beſtritten wird, die durch Ausſonderungsrecht nicht befrie— 
digte Beibringensforderung der Ehefrau, ehe die dem Mann zu— 
gefallene Hälfte der Bruttoerrungenſchaft zu ſeiner Konkursmaſſe 
gezogen werden kann, von dieſer zu berichtigen und nur der 
Reſt an die Konkursmaſſe abzuliefern. Jeder Ehegatte erhält 
auf dieſe Weiſe dasjenige, was er als Geſellſchaftstheilhaber 
anzuſprechen hat, nicht mehr und nicht weniger, als er nach dem 
Landrecht anzuſprechen hatte. Nur die eine Abweichung von 
den Grundſätzen des Landrechts über die Geſellſchaftstheilung 
fann eintreten, daß die Sozialgläubiger, weil der $. 44 
nur den Gefellihaftern und Theilhabern, nicht den Gejellichafts: 
und Gemeinjchaftsgläubigern ein Abfonderungsrecht einräumt, 
ihre Befriedigung nicht zum Voraus vor den Privatgläubigern 
der Ehegatten von der Bruttoerrungenfchaft erhalten, Jondern mit 
ven Privatgläubigern der Ehegatten bei *ver DVertheilung ihres 
eigenthümlichen Vermögens fonfurriren müſſen. 

Wie richtig dieſe Vorjchrift der Konkursordnung it, auch 





— 313 = 


* 


wenn ſie vom Standpunkte der lex ferenda aus betrachtet wird 
und welche Verwirrung in die ehelichen Güterverhältniſſe ohne 
dieſe Vorſchrift mit Aufhebung des Vorzugsrechts der Beibringens— 
forderung der Ehefrau gekommen wäre, ergibt ſich aus einer 
Betrachtung des Ergebniſſes der Theilung nach dem alten und 
dem neuen Rechte in den oben konſtruirten Beiſpielen. 

Das Sondergut der Ehefrau berechnet ſich nach der Re— 
viſion auf 12000 M., da Sondergut des Manns auf 3000 M., 
die Bruttoerrungenfchaft bildet das aanze vorhandene Vermögen 
mit 12000 M. Die Zahlungsunfähigfeit de8 Manns it da— 
durch bewirkt, daß er 6000 M. Privatichulden hat, jein Ber: 
mögen alſo überjchuldet if. Damit nicht durch fortgefeßte 
Zwangsvollſtreckungen zu Gunsten feiner Privatgläubiger die 
Mittel zur Dedung der Beibringensforderung feiner Frau ab: 
jorbirt werden, meldet er unter Angabe diejes Status den Kon— 
kurs an; die Konfurseröffnung muß erfolgen, worauf außer: 
halb des Konfursverfahrens die Nuseinanderjegung der ehelichen 
Errungenschaftsverhältnifje vorzunehmen: ift. 

Nah L. R. IV. 4. 88. 6—8 würde diefelbe folgendes Er— 
gebniß haben: 

Die Einbuße beträgt 3000 M., woran jeder Theil die Hälfte 
mit 1500 M. zu übernehmen hat. Die aus der Bruttoerrungen- 
haft vor aller andern Theilung zu befriedigenden Beibrin- 
gensforderungen betragen 10500 M. der Frau und 1500 M. 
des Manns. Bon den vorhandenen 12000 M. Bruttoerrungens 
ihaft erhält hiernah die Ehefrau 10500 M., die 1500 M., 
welche der Mann erhält, bilden feine Konkursmaſſe. 

Nach dem mwürttembergifchen Pfandentwidlungsgeieg würde 
dagegen die folgende Auseinanderfegung fich ergeben: 

Die Einbuße und die Erfaßforderung beider Ehegatten bleibt 
ich gleih. Die Befriedigung der legtern jedoch geichieht in 
der Weife, daß jedem Theil die Hälfte der Bruttoerrungenfchaft 
als Eigentgum zugewieſen wird. Die Ehefrau erhält alfo 6000 M. 
mit Ausfonderungsrecht, wornach 4500 M. unbefriedigt bleiben. 
Die andere Hälfte der Errungenfhaft mit 6000 M. iſt Eigen: 
tum des Manns, bildet ſonach jeine Konfursmafje und Die 
Frau hat 4500 M. als Konkursgläubigerin des Manns mit 


— 5 


= | 
den 6000 M. Privatichulden geltend zu machen. Da ihr biefür 
ein Vorzugsrecht III. Klafje zujteht, jo erhält fie allerdings auf 
Grund diefes Vorzugsrechts diefe 4500 M. aus der Konkurs: 
mafje des Manns und dejjen Privatgläubiger erhalten nur 
1500 M. Nachdem jedoch das Vorzugsrecht III. Klafje durd 
die Konkursordnung aufgehoben ift, würde fie, wenn der $. 44 
der Konkursordnung nicht eingegriffen hätte, bezüglich ihrer 
4500 M fih mit den Privatgläubigern in die 6000 M. zu: 
theilen gehabt, alfo nur circa 57 %o ihrer Forderung erhalten 
haben. Würden Brivatfchulden des Manns im Betrag von 
6000 M. vorhanden fein, welchen Borzugsrechte des 8. 54 zu: 
jtehen, fo würde die Ehefrau mit den 4500 M. Erfaßforderung 
gänzlich unbefriedigt bleiben. 

Hiegegen ſchützt der F. 44 ebenſo, wie die Ehefrau vor 
dem Geje vom 21. Mai 1828 durch das Landrecht hiegegen 
gefhüst war. Sie wird, ehe von der dem Ehemann zugefchie- 
dene Hälfte an der Bruttoerrungenfchaft etwas an die Konfurs- 
mafje abgeliefert werden kann, für ihre 4500 M. mit Abjonder: 
ungsrecht von derfelben befriedigt, wornadh nur 1500 M. zur 
Mafje des Manns fommen, welche zur Befriedigung feiner Gläu- 
biger zu verwenden find. Hiemit ift im Ergebniß die land- 
vechtlihe Theilung wieder hergeftellt; der einzige Unterjchied, 
daß die Frau 6000 M. von ihrer Forderung durch Ausſon— 
derungsrecht erhält, welche fie nach dem Landrecht ebenfo wie 
die weiteren 4500 M. mit Abjonderungsrecht erhalten hätte, 
ändert wie gezeigt im Ergebniß nichts; es lag daher auch fein 
Grund vor, in diefer Beziehung unter Aufhebung der Vorjchrift 
des Art. 52 des Pfandentw. Gel. zu dem Landrecht zurüdzufehren. , 

Nur bezüglich der Befriedigung der Sozialſchulden ift das 
Recht der Konfursordnung zu dem landrechtlichen Abfonderungs: 
recht des $. 2 Th. IV. 14 nicht zurücgefehrt. Nach dem Ge— 
jeß vom 21. Mai 1828, welches den Sozialgläubigern fein Ab: 
fonderungsrecht an der Bruttoerrungenjchaft eingeräumt hat, in= 
dem das Abjonderungsreht der Gefellichaftsgläubiger auf die in 
Art. 65 bejonders bezeichneten Gefellichaften beſchränkt wurde, 
war die genannte Beitimmung des Landrechts gejeglih außer 
Wirkung gejegt. Da hiernach diefelben je zur Hälfte ihrer For: 





— 127 — 


derungen von den Gatten Befriedigung zu fuchen haben, wird 
je die Hälfte der Sozialfhulden der Frau und dem Mann zur 
Zahlung zugemwiefen, wornad die Sozialgläubiger in dem Kon 
furie des Manns mit deffen Brivatgläubigern fonfurriren. Hie— 
rin hat auch die Konfursordnung nichts geändert. Denn es 
itt fein Zweifel, daß der $. 44 nur dem Theilhaber der Gejell- 
ihaft oder Gemeinschaft, nicht dem Gejellihaftsgläubiger ein 
Abjonderungsreht an dem Gejellihaftsvermögen einräumt. ??) 
In diefer Beziehung bleibt daher das bisherige Recht unver: 
ändert. Ob die Ehegatten als Gejellihafter grundfäglich das Recht 
haben, die vorgängige Befriedigung auch der Hälfte der Sozial: 
ihulden von der Hälfte der Errungenschaft des andern Gatten 
vor Ausfolge an deſſen Gläubiger zu verlangen, fann einer 
weiteren Unterfuchung vorbehalten bleiben. Von diefem Abjon- 
derungsrecht Gebrauh zu machen, hätte die Ehefrau in dem 
Falle, wenn fie fich für die ganze Schuld in rechtsverbindlicher 
Weife mitverbindlih gemacht Hat, ein Intereſſe. Diefe Frage 
ift jedoch für die hier erörterte Frage ohne Bedeutung. 

B. In Borjtehendem wird der Beweis erbradt fein, daß 
dad Abfonderungsreht des 8. 44 in dem Weſen der Er: 
rungenfchaftsgefellichaft, wie diefelbe in dem Württemb. Landrecht 
aufgefaßt wird, begründet ift, wenn die Ehefrau die weiblichen 
Freiheiten nicht angerufen hat. Mit gutem Grund haben daher 
au die Motive unter den Beilpielen der Gemeinfchaftsverhält- 
nijje, für welche die Vorſchrift des 8. 44 gegeben it, zuerjt die 
ehelihe Gütergemeinfhaft und dann erſt das Miteigenthum, die 
Handel3: und Erwerbsgeſellſchaften aufgeführt. 


22) Mein Kommentar, d. K.O. S. 340. Beterjen Komment. ©. 
225. N. 2, Stieglig, Komment. S. 315. IV. Wo die Motive von dem 
Abjonderungsrecht der Geiellichaftögläubiger fprechen, haben fie nur die 
Fälle im Auge, in welchen nad) den aufrechterhaltenen Vorſchriften des 
bürgerlihen Rechts (Art. 119. 122. 169, des 9.6.8.) dieſes Necht an: 
erfannt ift oder von dem Bejellichafter geltend gemacht wird. Daijelbe hat 
auch für die Gejellihaftögläubiger der Handelögeiellichaften, obwohl gegen 
dieſe ein ſelbſtändiges Konkursverfahren eingeleitet werden kann, feine volle 
Bedeutung, wenn nur ein Gejellichafter, nicht aber die Handelögejellichaft 
ſelbſt im Konkurs ift. Die Möglichkeit des jelbftändigen Konkursverfahrens 
ift gerade durch diejed Abfonderungsrccht des Handelsgeſetzbuchs bedingt. 


— 13 — 


Wenn dieß feititeht, fo wird eine richtige Auffafjung der 
rechtlichen Natur der Rechtsmohlthat der weiblichen Freiheiten 
zu demjelben Ergebniß bezüglich der Anwendbarkeit des 8. 44 
führen, wenn die Ehefrau zu diefer Rechtswohlthat zugelaſſen ift. 

Da das Inſtitut der Anrufung der weiblichen Freiheiten 
jeine Entftehung lediglich dem Gemohnheitsrecht verdankt, fo ift 
e3 leicht erklärlich, daß dafjelbe in verichiedener Weiſe theoretifch 
fonftruirt wird. Will man ſich aber nicht auf das Gebiet der 
juriſtiſchen Hypotheſe und jubjektiver Meinungen geführt jehen, 
jo hat man fih bei der rechtlichen Auffaffung des Inſtituts 
jtreng an jeinen praftiichen Zwed und feine nachweisbar in 
dem Gemohnheitsrecht begründeten Wirkungen zu halten, und 
ſich jeder Analogie, der Analogie jowohl mit der NRejtitution 
der Minderjährigen als mit der ftillen Gejellichaft zu enthalten, 
dieg um jo mehr, da foviel außer Zweifel ift, daß das In— 
jtitut auf dem Boden der mwürttembergifhen Errungenschaft er: 
wachen ift und weder bewußt noch unbewußt an andere Rechts: 
inftitute angeſchloſſen wurde. | 

Ueber die geichichtliche Entitehung des Inſtituts bemerkt 
Wächter 2?) im Anſchluß an die Gejhichte der oben erörterten 
Borichriften des dritten, noch geltenden Landrechts: 

„Auf diefe Weile jtellte man endlich nah) vielen Verhand— 
lungen und Nenderungen das Güterverhältniß der Ehegatten und 
ihr Ipnteftaterbrecht feit und bei der Art und Weiſe, wie dieß 
geihah, blieb es bis auf unfere Zeit. Nur wurde Einzelnes 
durch Gewohnheitsrecht ergänzt. Hierher gehören unter Anderem die 
Eventualtheilungen und auf den Grund des L. R. 1. 76. 8. 9 
ein wichtiges Inſtitut, von welchem im praftiichen Rechte näher 
die Nede jein wird, das Necht der Frau, die fogenannten weib— 
lichen Freiheiten anzurufen und fich dadurch von der Pflicht, 
die Sozialfehulden als folche und die eheliche Einbuße zur Hälfte 
zu tragen, zu befreien.” 

Mag es mit der Begründung des hiernach erit nach Emanation 
des dritten Landrechts gemohnheitsrechtlich eingeführten Inſtituts 
auf L. R. 1. 76 8. 9 feine Nichtigkeit Haben oder nicht, ?*) fo 

23) Württemb. Brivatredt, ©. 1. A. 1. ©. 497. 
24) Diefelbe ift verneint von Lang a. a. O. 8. 54. N. 1. 








— 1293 — 


viel hat hiernah Wächter als ganz felbftveritändlich angenom- 
men, daß diejes Gemwohnheitsrecht nur eine Ergänzung der 
landrechtlichen Vorſchriften über die Errungenſchafts— 
geſellſchaft it. Es kann hierüber auch fachlich fein 
Zweifel ſein. 

Darüber ſind alle württembergiſchen Schriftſteller, welche 
von dem Inſtitut ſprechen 2°), einig, daß die Wirkungen der 
Rechtswohlthat mit folgenden zwei Grundfägen erfchöpft find: 

1) Die Ehefrau verzichtet durch Anrufung der weiblichen 
zreiheiten auf ihren Naturalanipruh, ihr Au sjonderungsrecht 
an der Hälfte der Bruttverrungenfchaft. 

2) Sie wird hiedurch frei von der Uebernahme der hälftigen 
Einbuße und von der Haftpflicht für die Hälfte der Sozial: 
ihulden. | 

Diefe Wirkungen lafjen aljo, fo lange man diejelben nicht 
willtührlich und abweichend von dem Inhalt des Gemwohnheits- - 
rechts, nach ſubjektiven Auffafjungen erweitert oder mopdifizirt, 
die oben dargeftellten Grundfäge über die Gejellfchaftstheilung 
der Ehegatten an fich ganz unberührt; im Gegentheil muß man 
ih, um die Wirkung der Rechtswohlthat zu erkennen, zunächit 
eine Gejellichaftstheilung nah diefen Grundſätzen fertigen und 
erit auf diejfer Grundlage kann die Rechtswohlthat ihre Wirf- 
ung äußern. Gie fegt eine Gefellichaftstheilung voraus und 
gibt der Ehefrau nur das Recht, einzelne aus diejer Gefell- 
ihaftstheilung erfichtlihe Folgen zu mopdifiziren. Um aber 
diefe Folgen durch die weitere Erklärung, die Anrufung der 
weiblichen Freiheiten, befeitigen zu können, müſſen jie als im 
Recht an fich begründet vorausgefegt werden und nur inſoweit, 
al3 fie nach dem inhalt des Gemwohnheitsrechts bejeitigt werden, 
fönnen fie auch als befeitigt rechtlich angefehen werden. Hier: 
aus ergibt ſich Folgendes: 

1) Indem die Frau die weiblichen Freiheiten anruft, ver— 
zichtet fie nur auf ein Ausfonderungsrecht bezüglich ihrer Hälfte 
der Bruttoerrungenfchaft, feinesfalls aber auf das ihr ohne 
Anrufung der weiblihen Freiheiten zuftehende Abjonderungs: 


5) Lang a.a.0.8.541.3.1,2,3.NReyicher a. a. O. $. 569 zc, 
Württemb. Archiv für Recht sc. XXI. Br. 1. Seit. 9 


— 130° — 


reht an der dem Mann zufommenden Hälfte der Bruttoerrun- 
genihaft. Es ift ſchlechthin kein Grund abzufehen, warum aus 
dem Verzicht auf das Ausfonderungsrecht noch weiter ein Ver: 
ziht auf ihr Abſonderungsrecht zunäcdhit an der dem Mann zu= 
geichiedenen Hälfte der Bruttoerrungenfchaft folgen follte. Diejen 
Berzicht in der Anrufung der weiblichen Freiheiten zu finden, 
wäre willführlid und würde direft mit der Abſicht und dem 
Zweck der Erklärung der Frau im Widerſpruch jtehen *6). 
Der Umitand, daß fie auf die Ausfonderung der anderen Hälfte 
der Errungenſchaft verzichtet, Fan hieran fehon aus dem Grund 
nicht ändern, weil für das Vorhandenſein der Vorausjegungen 
des Abjonderungsrecht3 der zur Zeitder Konfurseröffnung 
bejtandene thatſächliche Zuſtand entjcheidend ijt und 
in jener Zeit die Bruttoerrungenfchaft noch gemeinfchaftlicheg 
Vermögen war. Es ift hiemit die Einwendung von Stieglig 
(oben ©.115 3.1) rechtlich und thatjächlich bejeitigt. So wenig, 


26) Vgl. Hohl, a. a. DO. ©. 56. „Soviel fteht feft, daß, mag Die 
Frau von ihrem Privilegium Gebraucd machen oder nicht, hiedurd) das 
ihr in $. 44 an dem Antheil des Manns garantirte Abjonderungsrecht 
ohne bejondere Geſetzesvorſchrift nicht berührt wird. Sie kann ohne be= 
jondere Vorſchrift durch Anrufung der weiblichen Freiheiten dieſes Necht 
nicht verlieren. — Indem fie auf ihren Antheil an der Errungenſchaft 
verzichtet, verzichtet fie nicht auch auf ihr Abjonderungsreht an dem Ans 
theil des Manns“. Wenn in dem Minoritätspotum (S.37 u.f.) gejagt wird, 
die Frau verlange nach Anrufen der weiblichen Freiheiten ihr Beibringen, 
das noch vorhanden, mit Abjonderungsrecht, das Konjumirte (2) als 
perjönliche Griaßforderung, jo ift dieß nach dem Spradgebraud Der 
Konkursordnung unrichtig. Sie verlangt das noch vorhandene Beibringen 
mit Ausſonderungsrecht als ihr Eigentum, nicht mit Abfonderungs- 
recht, welches nur für die Erfagforderung, wenn das Beibringen 
nicht mehr in Natur vorhanden ift, in Frage fommen fann. Ein Drud: 
fehler ift nicht anzunehmen, da dieſe unrichtige Bezeichnung mehrmals 
wiederfehrt. Die Sache ift aber feineswegs gleichgültig, da durch Die 
Verwandlung ded Ausionderungsrehts in ein Abſonderungsrecht die 
Vorſtellung erwedt wird, als ob für das nicht mehr in Natur Vorhan- 
dene doch nicht dafjelbe Recht, ein Abſonderungsrecht, Platz greifen könnte. 
Was von dem Beibringen in Natur vorhanden tft, kann nur ausge— 
jondert werden. Ein Abfonderungsreht kann nur in Frage fommen, 
wenn Theile der Konkursmaſſe zur abgejonderten Befriedigung für 
eine Forderung in Anſpruch genommen werden. 





0 12. — 
— 131 — 


wenn nach der Konkurseröffnung durch die Auseinanderjegung 
das Eigenthum einer gemeinjchaftlihen Sache ganz dem Gemein: 
jhuldner, bezw. dem Verwalter als Maffetheil überlaffen wird, 
hiedurch das Abjonderungsrecht, welches dem bisherigen Mit- 
eigenthümer zujtand, verloren geht, ebenfo wenig kann man die 
Entziehung defjelben als Folge der Zulafjung zu den weiblichen 
Freiheiten begründen. Wenn man aber dieß als geltendes 
Recht anerkennt, jo iſt es nicht folgerichtig, dag Abfonderungs: 
techt der Ehefrau für ihre Gefellfchaftsforderung an derjenigen 
Hälfte der Errungenschaft, auf deren Ausfonderung jie mit An— 
rufung der weiblichen Freiheiten verzichtet, zu verneinen. Daß 
in dem Berzicht auf den Naturalantheil an der Bruttoerrungens 
Ihaft, d. h. jofern der Ehemann im Konkurs ift, in dem Verzicht 
auf die Ausfonderung dieſes Theils des Gefellfchaftsvermögeng 
von der Theilungsmaſſe ein Verzicht auf das Abfonderungsrecht 
enthalten jei, läßt fich nicht behaupten, ift auch bei Hohl a. a. O. 
niht angenomnen. Ebenſo wenig dürfte die Einwendung, daß 
die Ehefrau das Abſonderungsrecht an der durch ihren Verzicht 
dem Manne zufallenden Hälfte nicht erjt erwerben könne, vor 
dieſem Verzicht jedoch Fein Abfonderungsrecht gehabt habe, als 
begründet erjcheinen. Wenn man auch nicht behaupten fann, 
daß das Abfonderungsrecht in dem Ausfonderungsreht als das 
Geringere von ſelbſt enthalten ſei, da beide mwejentlich verjchie: 
dene Rechte find, jo fpricht doch gegen jene Einwendung der 
flare Wortlaut des $. 44, wonach das Abjonderungsreht „an 
dem bei der Theilung oder jonjtigen Auseinanderjegung ermit: 
telten Antheile des Gemeinjchulodners” für eine „auf das Ges 
meinjhaftsverhältnig fich gründende Forderung” zuiteht. Daß 
der Ausdruck „Antheil" nicht etwa einen Gegenjag zum Begriff 
des Ganzen bedeutet, fondern daß hiemit jeder Empfang des 
Theilhaber8 von demjenigen, was zur Zeit der Konkurseröffnung 
Gemeinjchaftsvermögen war, gemeint ijt, ſei dieß die Hälfte 
oder ein größerer Theil oder das Ganze, fofern der Empfang 
nur in dem entjcheidenden Zeitpunkt der Konkurseröffnung Ge: 
meinfchaftsvermögen war, kann als zweifellos behauptet werden. 
Die Folge des Privilegs ift nun lediglich die, daß der „Antheil” 
des Ehemanns nicht bloß in der Hälfte der Bruttoerrungenicaft, 
9* 


— 12 — 


fondern in der ganzen Bruttoerrungenſchaft befteht, weil die 
Frau auf ihre Hälfte verzichtet hat. Dieß ijt der bei der Aus- 
einanderjegung ermittelte Antheil de Gemeinſchuldners, wobei 
es rechtlich feinen Unterfchied machen fann, auf welchem vecht- 
lihen Grunde diefe Art der Auseinanderjfegung beruht. Die 
Eigenfhaft der Bruttoerrungenfchaft als Vermögen, welches zur 
Zeit der Konkurseröffnung gemeinfchaftlih war, wird hiedurch 
fo wenig aufgehoben, al3 durch die Webereinfunft zweier Mit- 
eigenthümer, daß die gemeinjchaftliche Sache ganz dem Verwalter 
des in Konkurs gerathenen Miteigenthümers überlafjen werde, 
diefe Sache aufhört, im Sinn des 8. 44 ein Objekt des Abjon- 
derungsrecht3 für die auf das Miteigenthum fich gründende 
Forderung für Verwendungen zu fein. Mit demfelben Rechte, 
mit welhem A als Miteigenthümer zur Hälfte einer um 200 M. 
verfauften Sade feine Verwendungen im Betrag von 150 M. 
von dem ganzen Erlös erjegt verlangt, wenn er die ganze Sache 
dem Berwalter im Konfurfe feines Miteigenthümers überlafjen 
hatte, mit demjelben Rechte macht die Frau das Abſonderungs— 
recht auf die ganze dem Mann überlafjene Bruttverrungenschaft 
geltend und jo wenig in dem erjten Falle dem früheren Mit: 
eigentHümer die Einwendung entgegengehalten werden kann, 
daß er nur auf der dem Gemeinjchuldner vor der Augein- 
anderjegung zugeftandenen Hälfte ein Abjonderungsrecht habe, 
daffelbe alfo nur bi8 zum Betrag von 100 M. ausüben könne, 
fo wenig fann die Ehefrau von der Ausübung ihres Abjon- 
derungsrechts an der ganzen Bruttoerrungenfchaft auf Grund 
diefer Einwendung ausgeſchloſſen werden. 

2) Allerdings ift nun hiemit nur die eine Vorausjegung 
des 8. 44, das Vorhandenjein eines gemeinjchaftlihen Vermö— 
gens, an weldhem das Abjonderungsrecht ausgeübt werden kann, 
auch für den Fall der Zulafjung der Frau zu der Rechtswohl— 
that der weiblichen Freiheiten dargethan und es muß Die 
zweite Vorausfegung des 8. 44 noch geprüft werden, ob die 
Erfagforderung, für welche das Abfonderungsreht beanfprucht 
wird, eine auf die Errungenfchaftsgejellihaft fich gründende For: 
derung ift. Wer dieß bejtreitet, muß jelbjtwerjtändlich das Ab— 
jonderungsrecht des $. 44 verneinen. Allein man verläßt hie— 








.— 133 — 


mit den gejeßlichen Boden und legt der genannten Rechtswohl- 
that Wirkungen bei, an welche das württembergiſche Gewohn— 
heitsrecht nicht gedadht hat. 

Man wird über das Inſtitut der weiblichen Freiheiten 
niemal3 ins Klare -fommen, wenn man davon abfieht, daß daſ— 
jelbe die Errungenjchaftsgejellihaft zu feiner Grundlage und 
Vorausjeßung hat, folglich die Errungenichaftstheilung, wie fie 
durch das Landrecht vorgefchrieben ift, fordert. Die einzige und 
ausschließlihe Wirkung der Nechtswohlthat bejteht, ſoweit das 
Vermögensverhältniß der Ehegatten unter fih hiedurch berührt 
wird, in dem Anfprud der Ehefrau für denjenigen Theil ihrer 
Beibringenzforderung, für welchen fie nicht in Natur und durch 
die landrechtliche Gejellfchaftstheilung befriedigt wird, von dem 
Ehemann ungejchmälert Erfag zu verlangen. Ihre Bedeutung kann 
daher ohne eine Rechtsverwirrung nicht fein, daß die Errungen- 
ſchaftsgeſellſchaft ungeſchehen gemadt wird. Dieß ift gar nicht 
der Zweck des Gemwohnheitsrechts und würde thatfächlich geradezu 
unmöglich jein. Daß diejenigen älteren Schriftiteller, welche von 
der Zurücdverfegung in einen Zuftand fprechen, als ob niemals 
eine Gemeinfchaft bejtanden hätte, (Harpprecht, Griefinger, Gme— 
lin) weit über das Ziel hinausgehen, iſt längft erkannt, wobei 
übrigens noch zweifelhaft ift, ob fie diefer rechtlichen Fiktion 
irgend eine praftifche Bedeutung beilegen wollten. Sie griffen zu der— 
jelben nur, um die Befreiung von der Haftpflicht für die Sozial: 
ihulden zu rechtfertigen und zu verdeutlichen. Wenn einzelne 
neuere Schriftiteler (Bolley, Neyicher) noch von einer rückwirk— 
enden Kraft der Rechtswohlthat ſprechen, jo erfennen fie doc 
an, daß dieß nur in einzelnen, wenn gleich wichtigen Bezieh: 
ungen der Fall fei. Mlein betrachtet man diefe Beziehungen 
näher, fo jtehen fie mit den Wirkungen ganz auf einer Xinie, 
welche jeder Austritt aus einer Geſellſchaft haben kann, fie be— 
ftehen in dem Verzicht auf den Antheil an dem Gefellichafts- 
vermögen zu Gunjten des andern Gefellichafter®, wodurch fich 
deffen Antheil vergrößert, in dem Erfaganipruch für den durch 
die Verwaltung des andern Theil bemwirkten Verluſt an dem 
in die Gefellfehaft Eingebrachten und in der Weberweifung der 
Geſellſchaftsſchulden auf den einen Geſellſchafter. Allein hiedurch 


wird die Gefellichaft, das beitandene Gemeinjchaftsverhältniß, 
‚ nicht ungefchehen gemacht 2°); die Gejellfchaftstheilung daher auch 
nicht überflüflig, wie fie ja ſchon zur Feititellung des Errungen: 
Schaftsvermögens durch Reviſion des Beibringens und durch 
Ausscheidung des in Natur Vorhandenen und zum Zweck der 
Berechnung der beiderfeitigen Erſatzanſprüche, fowie der aus- 
fchließlich der Frau an den Mann zuitehenden Erfaßanfprüche 
nothwendig ift. Unberührt bleiben aber alle in der Vergangen: 
beit liegenden Wirkungen der Errungenichaftsgefellfihaft, indem 
niht nur die für die Zwecke der Gejellihaft verwendeten Früchte 
de3 Beibringens der Ehefrau nicht erfegt werden, jondern auch 
dasjenige, was durch Fleiß und Thätigfeit der Einzelnen er: 
mworben wurde, der Errungenichaftsgejellihaft ohne Erjag ver: 
bleibt, endli was während der Dauer derfelben veräußert 
wurde, von derjelben der Ehefrau nur in dem wirklichen Erlöje, 
nicht in gleicher Art zu erjegen ilt. Die Inhaberpapiere, welche 
während der Dauer der Errungenfchaftsgefellihaft veräußert 
wurden, find nur zu dem Kurs, um welden fie veräußert wur: 
den, bei der Reviſion des Beibringens anzujegen, während fie, 
wenn die Errungenjchaftsgefelfiehaft als ungejchehen zu betrachten 
27) Eine Rückwirkung kann der Nechtswohlthat iniofern in einem 
beſchränkten Sinn beigelegt werden, als die (Fhefrau für die Sozial— 
ſchulden bis zu erfolgter Erklärung zur Hälfte mitverbindlid war, 
während fie fi) von derjelben durch die Erklärung befreit. In dieſem 
Einn war in meinem Kommentar der R.O. ©. 236 gefagt, die Ehe— 
frau trete mit rüdwirfender Kraft aus der Grrungenichaftögejellichaft 
aus, nicht aber, die Errungenichaftögejellichaft werde mit rücwirfender 
Kraft aufgehoben. Daß dieß zwei wejentlich verichiedene Möglichkeiten 
find, zeigt fid) eben darin, daß auch im Fall des Austrittes eine Gejell- 
ihaftstheilung vorgenommen werden fann und muß und nur einzelne 
hierau3 der Austretenden erwachiende VBerbindlichkeiten, welche jie „ohne 
den Austritt mit rüdwirfender Kraft” zu erfüllen gehabt hätte, ihr ab= 
genommen werden. Uebrigens wird allerdings das Verhältniß Elarer, : 
wenn man es überhaupt vermeidet, von einer rückwirkenden Kraft des 

Austritts zu ſprechen, eine Fiktion, welche man nicht nöthig hat, um 

die Wirkungen der Rechtswohlthat zu erkennen und welche jedenfall® in 

den meiften Beziehungen, jo bezüglich der Nejtitution der Früchte, der 
veräußerten Beibringensftüce, der früher bezahlten Sozialſchulden x. 

nicht Plaß greift. 





— 1355 — 


wäre, in dem Kurs, welchen fie zur Zeit der Auflöfung derfelben 
haben, zu erjegen wären 29). 

Man gelangt hiernach zu einem klaren und ficheren Ergeb- 
niß nur, indem man die gejammte Erjaßforderung der zu der 
Rechtswohlthat der weiblihen Freiheiten zugelaflenen Ehefrau 
nah ihrer rechtlihen Begründung in ihren einzelnen Theilen 
betrachtet. Das Gemohnheitsrecht, welches das Inſtitut der 
weiblichen Freiheiten eingeführt hat, konnte die landrechtlichen 
Vorſchriften über die Gejellfchaftstheilung nicht aufheben. Es 
ließ diefelben an fich unberührt, indem es nur einzelne Wirkungen 
derjelben modifizirte. In der Erjabforderung der Ehefrau bei 
Anrufung der weiblichen Freiheiten ift daher ftets enthalten: 

1) diejenige Forderung, welche fih aus der Gefellichafts- 
theilung, abgefehen von den Folgen der Anrufung der weiblichen 
Sreiheiten, ergibt; 

2) diejenige Forderung, welche die Ehefrau über den nad) 
der Gejellichaftstheilung fich ergebenden Betrag vermöge der An— 
rufung der weiblichen Freiheiten an den Ehemann erhebt. 

Wenn nad dem bisherigen Rechte dieſe verfchiedenen Rechts— 
gründe nicht unterſchieden und die Erfaßanfprüche der Ehefrau, 
welche die weiblichen Freiheiten angerufen hat, in Einer Summe 
als Konfursforderung mit Vorzugsrecht in III. Klafje lozirt 
wurden, jo hatte dieß jeinen Grund darin, daß die Unterfchei- 





28) 63 muß daher auch die Richtigkeit des in dem Minoritätseracdhten 
aufgeftellten Satzes, daß die Forderung der zu den weiblichen Freiheiten 
zugelaffenen Frau an den Mann ganz diefelbe jei, wie wenn fie nad) 
dem Spftem der Gütertrennung mit gejeßlichem Verwaltungs: und Nuß- 
nießungsrecht de Ehemann am Vermögen der Frau gelebt hätte, a. a. 
D. ©. 37, beftritten werden. Denn bei der Nückforderung der Dos 
müſſen vertretbare Sachen in gleicher Quantität und Qualität zurüd- 
gegeben werden. Windſcheid, Pand. $. 500 2. Die N. 8a. a. O. 
erwähnte Folge der Anrufung der weiblichen Freiheiten, daß im Fall 
des Verfaufs einer Liegenschaft nicht der Erlös derjelben, ſondern ihr 
Werth zur Zeit der Auflöfung der Geiellichaft dem Beibringen zu er: 
ſetzen ſei, iſt prinzipiell höchit zweifelhaft, jedenfall® aber nur eine 
Folge der auf dem Verwaltungsrecht des Ehemanns beruhenden Erſatz— 
pflicht, welche ebendeßhalb nichts für die rückwirkende Aufhebung der 
Geiellichaft beweist. 


— — 


dung überhaupt feinen Werth hatte. Dieß fand ſeinen geſetz— 
lihen Ausdrud in der in Art. 68 des Pfand-Entwickl.Geſetzes 
gegebenen Vorſchrift, daß „das in der Ehe erworbene gefell- 
haftlide Vermögen zu der allgemeinen Maſſe des Che: 
manns gezogen" wird. Das BPfandentwidlungsgefeg befolgt 
allgemein den Grundjag, daß den Gefellfchaftern ein Abjonderungs- 
recht bezüglich ihrer gegenfeitigen Forderungen an dem Gejell- 
ſchaftsvermögen nicht zufteht (Art. 65). Der Art. 68 war da— 
ber für die meiſten Fälle ganz folgerichtig, die Gefellichafts- 
theilung nah L.R. IV, 4. 88. 6—8 war durch ihn überflüffig 
gemacht. Nachdem jedoch durch $. 44 das Abjonderungsrecht des Ge- 
jellihafters für feine Gefellichaftsforderungen an dem gejellichaftli= 
chen Vermögen anerkannt ift, hat die Prüfung der einzelnen Beſtand— 
theile der Gejammterfaßforderung der Ehefrau nach ihrem Rechts— 
grunde wieder eine praftiihe Bedeutung erhalten. 

Der Art. 68 kann, obwohl derjelbe durch das Württ. Aus- 
führungsgefeß zur Konfursordnung nicht als aufgehoben erklärt 
wurde, der Anwendung des $. 44 nicht im Wege ftehen, wie jich 
auch das Minoritätspvotum auf denjelben mit gutem Grund nicht 
berufen hat. Einmal bleibt der Grundſatz deſſelben, daß das 
ganze Gejellichaftsvermögen zur Konkursmaſſe de Mannes ge= 
hört, durch das Abfonderungsreht des 8.44 ganz unberührt. 
Es ift ganz richtig, daß ebenfo, wie die dem Ehemann im Falle 
der Nichtanrufung der weiblichen Freiheiten zugewieſene Hälfte 
der Bruttoerrungenfchaft Theil der Konfursmafje des Mannes 
ift, im Falle der Anrufung der weiblichen Freiheiten die ganze 
Bruttoerrungenfchaft zu der Konkursmaſſe des Mannes gehört. 
Hiedurch iſt jedoch im legteren Falle ebenfowenig, als im erjteren 
Falle ausgefchloffeen, daß von diefem Gefellihaftsvermögen 
Gläubiger, welchen das Gefeß ein Abjonderungsrecht einräumt, 
vor den übrigen Konfursgläubigern des Ehemanns befriedigt 
werden. Ein folches Abfonderungsrecht hatte nun allerdings die 
Ehefrau für ihre Beibringensforderung nah dem Württ. Pfand: 
entwiclungsgejege nicht, und fie fonnte dafjelbe in der Regel wegen 
ihres Vorzugsrechts dritter Klaſſe entbehren. Allein, wenn ihr 
dafjelbe und foweit ihr dafjelbe durch $. 44 der Konkursordnung 
eingeräumt ijt, fann ihm der Art. 68 nicht entgegenftehen. Der: 








jelbe bejtimmt über die Art und Weile der Befriedigung der 
Erſatzanſprüche der Ehefrau überhaupt Nichts; hierüber entjchei- 
den die ſonſt geltenden Grundjäge. Wenn auf dem Boden des 
Pfandentwicklungsgeſetzes die Gejellfchaftstheilung nah Maßgabe 
der landrechtlichen Vorfchriften bei Zulafjung der Ehefrau zu 
den weiblichen Freiheiten unterblieb, jo lag der Grund hievon 
nicht in dem Art. 68, fondern darin, daß bei dem Mangel eines 
Abfonderungsrehts und der allgemeinen Bevorzugung der Bei: 
bringenzforderung der Ehefrau in dritter Klafje die Unterfuchung 
ihrer nach dem Landrecht begründeten Erjaganfprüche fein praf- 
tifches Intereffe hatte. Wenn fie aber nach dem neuen Rechte 
der Konfursordnung diefes Intereffe wieder gewinnt, ift fie auch) 
vorzunehmen. Der Art. 68 fteht nicht entgegen. 

Selbſt wenn aber, was zu bejtreiten ift, die Abficht des Art. 
68 gewejen wäre, auszusprechen, daß die ganze Bruttoerrungen: 
Ihaft ohne Abzug zur Konfursmafle des Mannes abzugeben 
ſei, und daß nicht allein die Sozialgläubiger, welche' bejonders 
genannt find, jondern auch die Ehefrau ein Recht auf vorzugs— 
weile Befriedigung aus derfelben nicht babe, fo würde hierin 
eine fonfursrechtliche Vorfchrift enthalten fein, welche als folche 
nach $. 4 des Einführungsgefeges zur Konkursordnung aufgehoben 
wäre und welche durch $. 44 nach dem bekannten Grundfaße, daß 
das Reichsrecht den Landrecht vorgeht, bezüglich derjenigen Gläu— 
biger, welchen der 8. 44 ein Abfonderungsrecht einräumt, außer 
Wirkjamfeit gejegt fein würde. 

Im Gegentheil dient jevoch der Art. 68 zur Widerlegung der 
Einwendungen gegen das Abfonderungsrecht der Ehefrau. Er 
beweist, daß der württembergifche Gefeßgeber, weit entfernt, die 
Anſicht zu theilen, daß durch die Anrufung der weiblichen Frei: 
heiten die ganze Errungenſchaftsgeſellſchaft rückwärts aufgehoben, 
ungejhehen gemacht werde, diefelbe al$ biß zur Anrufung der 
weiblihen Freiheiten fortdauernd betrachtet hat. Er Spricht 
von der Wirfung der Rechtswohlthat auf die Berhältnifje einer „in 
der Errungenichaftsgefellichaft lebenden Ehefrau”, und von der 
- Abgabe des „in der Ehe erworbenen gejellfhaftlihen Vermö— 
gens“ zur Konkursmaſſe. Das Geſetz könnte nicht von einer in der 
Errungenschaftsgejellichaft lebenden Ehefrau, noch weniger von 


— 1353 — 


einem „gejelfchaftlichen Vermögen“ fprechen, wenn die Errungen: 
ſchaftsgeſellſchaft gar nicht bejtanden hätte. 

Nah dem Ausgeführten fegt ſich die Erfaßforderung der 
zu der Rechtswohlthat der weiblichen Freiheiten zugelajjenen Ehe— 
frau für ihr nicht in Natur zurüderhaltenes Beibringen rechtlich 
aus dem durch die Theilung der Errungenſchaftsgeſellſchaft er- 
mittelten Erſatzanſpruch und demjenigen Erſatzanſpruch zufammen, 
welcher durch die Nechtsmohlthat der weiblichen Freiheiten ge: 
währt wird. Die Anrufung der weiblichen Freiheiten läßt Die 
der Ehefrau als Theilhaberin der Errungenfchaftsgefellichaft zu: 
ftehenden Erfaganfprüche ganz unberührt; es verleiht derjelben nur 
meitere Erſatzanſprüche, welche fie, wenn fie die Rechtswohlthat 
nicht angerufen hat oder zu derfelben nicht zugelafjen wurde, nicht hat. 

Hieraus folgt zunächſt, daß für denjenigen Erfaganfprud, 
welcher der Ehefrau ohne Anrufung der weiblichen Freiheiten 
zujteht, der zu der Rechtswohlthat zugelaffenen Ehefrau das Ab: 
fonderungsrecht aus dem Grunde, weil derjelbe feine auf das 
Geſellſchaftsverhältniß fi gründende Forderung fei, nicht bes 
ftritten werden fann. Keine der Wirkungen der Nechtsmohlthat 
ändert in dem Rechtsgrunde dieſer Erfagforderung Etwas. 
Der Verzicht auf die Hälfte der Errungenjchaft berührt das Ak— 
tivum der Geſellſchaft, kann alfo ven Rechtsgrund der Schuld 
der Errungenfchaftsgejellihaft nicht alteriren. Die Befreiung 
von der Haftpflicht für die Hälfte der Sozialfehulden gibt diejen 
einen andern Gläubiger, befreit die Frau von einer perfönlichen 
Verbindlichkeit. Ihre Erfagforderung geht diefer Vorgang nichts 
an. Endlich folgt daraus, daß eine durch die Uebernahme der 
bälftigen Einbuße eingetretene Abminderung der Erfaßforderung 
durch die Zulafjung der Rechtswohlthat aufgehoben wird, daß 
zwar diefe Erfaßforderung hiedurch erhöht, nicht aber, daß ihr 
Rechtsgrund, bezüglich des urfprüngliden Betrags, ein anderer 
wird. Die hier in Frage ftehende Forderung ift diefelbe und 
beruht auf demfelben Rechtsgrunde, auf welchem auch die Erfaß- 
forderung des Mannes für fein nicht in Natur erhaltenes Bei: 
bringen beruht. Sie ift eine Geſellſchaftsforderung. Auch der 
Schuldner iſt derjelbe, die Gejellichaft, mögen die weiblichen 
Freiheiten angerufen fein oder nicht. Die Ehegatten als Einzelne 








— 139 — 


find Schuldner nur für dasjenige, was durch die Gefellfchafts- 
theilung nicht zurücderftattet wurde. So ift alfo das Abjonder: 
ungsrecht des $. 44 für den hier. zunächit betrachteten Theil der 
Erjaßforderung der zu den weiblichen Freiheiten zugelafjenen 
Ehefrau gerade ebenjo, wie wenn die Rechtswohlthat nicht anges 
rufen ift, nicht? Neues, jondern die Nüdfehr zu den aus dem 
Weſen der Errungenſchaftsgeſellſchaft Folgenden landrechtlichen 
Theilungsgrundfägen. 

Dieſes Ergebniß wird man nur unter dem Gefichtspunfte 
in Zmeifel ziehen können, daß die Ehefrau durch ihre Anrufung 
der weiblichen Freiheiten auf ihre Anſprüche als Gefellichafts- 
theilhaberin verzichte oder daß an deren Stelle eine ganz neue 
Forderung, die Entjchädigungsforderung an den Ehemann trete, 
welcher ohne Rechtsgrund das Sondergut der Ehefrau verbraucht 
und verwendet habe. Allein, daß die legtere Einwendung nichts An— 
deres als eine andere Formulirung der Einmwendung der rück— 
wirkenden Kraft der Rechtswohlthat ift und mit dieſer jteht und 
fällt, bedarf feines Bemweijes. Daß aber die Ehefrau mit der 
Anrufung der weiblichen Freiheiten auf ihren als Gefellichafts: 
theilhaberin begründeten Anfpruh thatſächlich nicht verzichten 
will, mithin in Ermanglung einer gefeglichen Vorſchrift auch 
nicht verzichtet, ergibt fich daraus, daß diejelbe nur einen wei: 
tergehenden Anſpruch hiemit erhebt und erwirbt. Die zu der 
Rechtswohlthat zugelafjene Ehefrau hat jedenfalls und unter 
allen Umftänden dasjenige, was fie andernfalls zu fordern hätte, 
gleichfalls zu fordern und fordert außerdem den Erjag desjenigen, 
was jie nach der Gejellfhaftstheilung ohne Anrufung der weib: 
lihen Freiheiten an ihrem Beibringen verloren hätte. Wenn 
nah der Praris im Widerſpruch mit einer Vorfchrift des Ge: 
neraltejfript3 vom 7. Dezember 1742 29 nur das Beibringen der 
Ehefrau in Einer Summe als Schuld des Ehemanns bisher in 
die Vermögensunterfuhung aufgenommen, aljo die Einbuße gar 
nicht fejtgeftellt wurde, weil dieß fein Intereſſe zu haben jchien, 
jo ändert dieß an der rechtlichen Grundlage nichts. 

Dieß wird wohl einleuchtend, wenn man fi diefe Sätze 
in ihrer Wirkung an einem Beifpiele vor Augen ftellt. In dem 

29) Vgl. Bolley, 33 Aufl. Boſcher Zeitihrift B. 18. ©. 264. 


=. 440° = 


oben Note 14 Eonftruirten Falle reicht die Bruttoerrungenfchaft 
zur Befriedigung der Beibringensanfprüche beider Ehegatten zu. 
Es beiteht feine Einbuße der Gefellihaft. Der ganze Unterfchied 
zwischen der Behandlung, wenn die Ehefrau die weiblichen Freiheiten 
nicht angerufen hat, und der Behandlung, wenn fie zu denjelben zu: 
gelafjen wurde, bejteht darin, daß fie ihre Forderung von 9000 M., 
welche im erjten Falle bis zum Betrag von 6000 M. durch das Aus: 
fonderungsrecht, bi8 zum Betrag von 3000 M. durch das Abjon- 
derungsrecht gededt wird, im letzteren Falle nach dem Dbigen 
durch Abfonderungsredht erhält. In diefem Falle hat es alio 
für fie fein Intereſſe, die weiblichen Freiheiten anzurufen. Wenn 
nun aber in dem gegebenen Beifpiele außer den 6000 M. Privat: 
Schulden des Manns noch 6000 M. Sozialfchulden vorhanden 
find, jo wird fie, um von der Haftpflicht für die Hälfte der 
legteren frei zu werden, die weiblichen Freiheiten anrufen. Der 
Zwed der Zulafjung zu diefer Nechtswohlthat ift in diefem Fall 
ausschließlich ihre Befreiung von ver Hälfte der Sozial: 
ſchulden. Ueber diefen Zwed würde es aber hinausgehen, wenn 
ihr das Abfonderungsrecht für diefelbe Forderung von 9000 M., 
welche fie bei Nichtzulaffung zu den weiblichen Freiheiten erhält, 
abgeiprochen würde. Es würde mit der Nechtswohlthat, durd 
welche ſie von den Sozialſchulden befreit werden fol, in 
direftem Widerſpruch jtehen, wenn fie zur Theilnahme an den: 
jelben gleichwohl herangezogen würde, und dieß wäre bei der 
Berneinung des Abjonderungsrecht3 der Fall, indem fie mit ihren 
9000 M. bei BVertheilung der ganz zur Mafje des Mann ge: 
gezogenen Errungenfchaft von 12000 M. mit den Sozial: und 
Privatgläubigern konkurriren würde, wornach fie den Sozial: 
gläubigern von ihrem Beibringen ca. 23°/o und überdieß den 
Privatgläubigern weitere ca 23°/o überlaffen müßte Hiefür 
wäre ein zureichender Grund um fo weniger einzujehen, als 
Niemand im Ernte wird behaupten können, daß die Forderung 
von 9000 M. in diefem Fall bei Anrufung der weiblichen Frei: 
heiten eine andere fei und einen anderen Rechtsgrund habe, als 
wenn die weiblichen Freiheiten nicht angerufen wurden. Nur 
die Art der Befriedigung ift eine verjchiedene, indem fie 
im leßteren Fall bis zu 6000 M. durch die vermöge des Aus: 


REF: —— 
at a 
F 7 


— 141 — 


& 


ſonderungsrechts in Natur erhaltene Hälfte des Geſellſchafts— 
vermögens, und für 3000 M. durch Abfonderungsrecht befriedigt 
wird, während fie im erſten Falle ihre Befriedigung für ihre 
ganze Forderung nur im Wege des Abjonderungsreht3 erhalten 
fann. 

Wenn hiemit im Orundfage die Anwendbarkeit des $. 44 
auch im Falle der Zulafjung zu der Rechtswohlthat der meib- 
lihen Freiheiten gegen dag diejelbe unbedingt verneinende Mi- 
noritätsvotum eine weitere Begründung erhalten haben dürfte, 
jo bleibt allerdings noch zu unterfuchen, ob die Ehefrau auch 
für ihre aus der Zulafjung zu den weiblichen Freiheiten ge- 
währten Erjaganjprüche das Abjonderungsreht des $. 44 in 
Anſpruch nehmen Fann. 

Diefe Frage entjteht überhaupt nur, wenn das Errungen— 
Ihaftgvermögen zur Dedung der nad der Gefellichaftstheilung 
in Anwendung des EUR. IV, 4. 88.6 und 7 ermittelten Erfaß- 
anfprüche beider Ehegatten nicht zureicht, m. a. W., wenn abge= 
jehen von den vorhandenen Sozialjehulden eine Einbuße fich 
herausstellt und auf das L.R. IV, 4.8. 8 refurrirt werden muß. 
Denn außerdem erjchöpft fich die Wirkung der weiblichen Frei: 
heiten, wie aus dem oben befprochenen Falle hervorgeht, in der 
Befreiung von der Uebernahme der Sozialjchulden und der Ueber: 
lafung des hälftigen Antheil® an der Errungenfchaft an den 
Ehemann. Die Erjagforderung für das nicht erhaltene Bei: 
bringen bleibt in quali et quanto diefelbe. Wenn aber das 
Geſellſchaftsvermögen, die Bruttoerrungenfhaft zu Befriedigung 
jener Erfaganfprüche nicht zureicht, fo ift die Folge der Anrufung 
der weiblichen Freiheiten, daß die Ehefrau dasjenige, um was 
ihr Erfaganfprud in Folge. ihres Antheild an der Einbuße, des 
Ausfalls bei Vertheilung der Bruttoerrungenfchaft, gefürzt wor: 
den iſt, gleichfalls erjegt verlangt. Während die Ehefrau in 
dem oben N. 15 fonjtruirten Falle, wenn fie die weiblichen Frei: 
heiten nicht anruft, an der Einbuße 1500 M. zu übernehmen 
hat und nur 10500 M., der Mann 1500 M. zu fordern hat, 
wofür beide von der Bruttoerrungenfchaft mit 10500 und 
1500 M., zujammen 12000 M. befriedigt werden, verlangt 
die Frau bei Anrufung der weiblichen Freiheiten, weil fie hiedurch 





Be 


von der Uebernahme der Hälfte der Einbuße frei wird, nod 
weitere 1500 M. Die Frage ift daher, ob dieje weitere For: 
derung von 1500 M. eine Gejellfchaftsforderung im Sinne des 
8. 44 ebenjo ift, wie e3 die Forderung von 10500 M. nad) 
dem Ausgeführten unzweifelhaft iſt. 

Man kann zugeben, daß das Abfonderungsredht des 8. 44 
bezüglich diefes Theils der Erfaßforderung der zu den weiblichen 
Freiheiten zugelaffenen Ehefrau mit bejjeren Gründen angefochten 
werden könnte, als diejenigen find, mit welchen das Abfonder: 
ungsrecht des 8. 44 für die ganze Erjaßforderung der Ehefrau 
in Folge ihrer Zulafjung zu den weiblichen Freiheiten bejtritten 
wird. Man könnte verfucht fein, zu bejtreiten, daß die Erfaß- 
forderung der Ehefrau, ſoweit fie die Folge der Anrufung der 
weiblichen Freiheiten ift, auf das beitandene Gejellichaftsverhältnig 
fih gründe. Das Gegentheil folge ebendaraus, daß diejer An- 
ſpruch nur der Frau zuftehe, niemals von dem Manne gegen die 
Frau erhoben werden könne. Diefer Anſpruch erkläre fich aus: 
Ichlieglih aus dem Vermaltungsrechte des Ehemannsd. Demfelben 
fehle mithin dag Erforderniß, daß eine auf das Gejellihaftsverhält- 
niß ſich gründende Forderung geltend gemacht werde. 

Hiegegen kommt jedoch in Betracht, daß auch dieje erhöhte 
Grjagforderung eine auf die Errungenschaftsgefellichaft ſich grün— 
dende Forderung ift, da fie der Ehefrau als Theilhaberin diejer 
Gefellichaft zufteht, wie auch das Motiv der Nechtsmohlthat das 
auf der Errungenfchaftsgefellichaft beruhende Verwaltungsrecht 
des Ehemanns und der Zweck derfelben der Schuß der Ehefrau 
gegen die Nachtheile diefes Verwaltungsrechts ift. Hierauf jcheint 
die mehrerwähnte Plenarenticheidung des Oberlandesgerichts 
gleichfall3 hinzumeifen, wenn dort gejagt ift, daß auch im Falle 
der Anrufung der weiblichen Freiheiten die perjönliche Bei— 
bringensforderung der Ehefrau das bisher unter den Gatten 
beitandene Berhältniß der Errungenschaft zur Grundlage habe, 
daß dieſe Beibringensforderung ebendeßhalb auch nicht auf ein 
Verwaltungsrecht des Manns überhaupt gegründet werden Fönne, 
zumal das Verwaltungsrecht des Ehemanns im geltenden Rechte 
unmittelbar an die Eriftenz der Errungenschaftsgefellichaft ange: 
knüpft (Art. 4 des Ergänzungsgefeges vom 15. April 1825) 


— 143 — 


und durch fie bedingt jei. Allerdings haben jedoch dieſe Säße 
ihre Richtigkeit und Bedeutung, auch wenn und ſoweit es ſich 
nur um die hier nicht in Frage ftehende unzweifelhafte Gejell- 
ihaftsforderung der Ehefrau Handelt und es war offenbar 
weder die Abſicht, noch eine Veranlaſſung, auch bezüglich) des 
durh die Anrufung der weiblichen Freiheiten begründeten Erjaß: 
anſpruchs eine Entjcheidung zu geben. 

Insbeſondere ift hiemit über die weitere, immerhin denkbare 
Einwendung nicht entjchieden, daß derjenige Betrag der Bruttoerrun- 
genjchaft, welchen ver Ehemann nach der landrechtlichen Geſellſchafts— 
theilung zur Dedung feines Beibringens wegnehme, nicht mehr Em: 
pfang des gemeinschaftlichen Vermögens, fondern fein Privatver: 
mögen jei, an welchem Vermögen das Abjonderungsrecht nicht Plag 
greife. Man könnte dieß in folgender Weile begründen: Die 1500 M., 
welche der Mann in dem oben angeführten Beifpiele von dem 
Errungenfchaftsvermögen nad) der landrechtlichen Errungenjchafts: 
theilung in Webereinftimmung mit $. 44 der. Konkursordnung 
anzufprechen habe, jeien ihm zuvörderft zuzutheilen und erjt auf 
diefer Grundlage trete die Wirkung der weiblichen Freiheiten 
ein, wornach der Ehefrau auch die von ihr nad) dem Landrecht 
zu tragende Hälfte der Einbuße zu erjegen jei. Dieje Forderung 
jei zwar gleichfall eine Gefellfchaftsforderung. Aber es fei 
fein Antheil des Ehemanns an dem Gejellichaftsvermögen mehr 
vorhanden, da der Ehemann dagjenige, was ihm nad) der Ge— 
jellfchaftstheilung hievon zugewiefen werde, auf feine Beibringeng- 
erjagforderung mit Recht bereits abgerechnet habe und folglich 
nicht mehr als Gejellichaftsantheil befige. Diefe Einwendung 
it vom Standpunfte des Landrechts aus, nach welchem vor aller 
Theilung die beiderjeitigen Beibringenserjaßforderungen aus dem 
Errungenfchaftsvermögen zu befriedigen find, nicht unbedingt zu 
verwerfen; es fteht hiemit auch die Rechtswohlthat der weiblichen 
Freiheiten nicht im Widerſpruch, fofern der hiedurch begründete 
Anipru der Ehefrau auf Befreiung von der hälftigen Einbuße 
mit dem Anfpruch auf Erſatz des nach der Gejellichaftstheilung 
des Landrechts nicht erjegten Theils ihres Beibringens zufammenfällt. 

Wie man mun aber dieje Frage auch enticheiden mag, 
an dem Grundfag wird hiedurch nichts geändert, daß das Ab— 





— 144 — 


fonderungsredht des 8. 44 dur die Anrufung der weiblichen 
Freiheiten infoweit, als der Erſatz ihres nicht in Natur vor: 
handenen Beibringens von der Ehefrau von dem zur Zeit der 
Konkurseröffnung vorhanden gewejenen Gejellfchaftgvermögen, der 
Bruttoerrungenſchaft, gefordert wird, nicht ausgeſchloſſen wird. 

Schlieglih ift noch eine Einwendung gegen dieſes Ergeb: 
niß zu prüfen, welche in dem Minoritätspotum zwar mit gutem 
Grunde nicht geltend gemacht wurde, jedoch nicht allzu ferne 
liegt. Durch das Abjonderungsrecht des 8. 44 kann bewirkt 
werden, daß die Ehefrau die ganze Bruttoerrungenichaft zur 
Dedung für ihre Beibringensforderung wegnimmt, obwohl jie 
mit der Anrufung der weiblichen Freiheiten auf jeden Antheil 
an derjelben verzichtet hat. Man könnte hieraus die Einwen- 
dung entnehmen, daß dieß ein innerer Widerfpruch fei. Es 
fünne die Frau doch nicht die Vortheile der Nechtswohlthat, 
die Befreiung von der Haftung für die Hälfte der Sozialjchulden 
und die Befreiung von der Uebernahme der Hälfte der Einbuße 
in Anſpruch nehmen, während fie in Wahrheit thatſächlich auf 
nichts verzichte, jofern fie, was fie nicht mit Ausfonderungsrecht 
anjprechen könne, nunmehr mit Abjonderungsrecht wegnehme. 
Dieje Einwendung ijt jedoch rechtlich fon aus dem Grunde zu 
verwerfen, weil der Rechtsinhalt des Inſtituts der weiblichen Frei: 
heiten nicht der ift, daß gegen eine Leiftung der Frau — Weggabe 
des Antheil® an der Errungenjchaft, — eine Gegenleijtung des 
Manns — Tragung der ganzen Einbuße und Webernahme der 
Sozialſchulden — oder umgekehrt gefordert werden könnte, vielmehr 
treten vermöge diefer Nechtswohlthat nur verjchiedene an ſich 
von einander ganz unabhängige Modifikationen der rechtlichen 
Wirkungen der Errungenſchaftsgeſellſchaft ein, welche je nad 
der thatjächlihen Sachlage bald ſämmtlich, bald nur vereinzelt 
zur Geltung kommen, ohne daß hiedurch das Weſen des Inſti— 
tuts berührt würde. 

Sodann ift es nur zufällig, wenn der Verzicht auf die 
Errungenſchaft im Ergebniß zu Gunjten der Gläubiger des 
Manns, auch der Sozialgläubiger, weldhe hiedurch auf die Be- 
friedigung dur den Mann verwiefen werden, nichts ändert, 
weil dasjenige Vermögen, auf deifen Ausfonderung die Ehefrau 





— 145 — 


verzihtet hat, von ihr unter dem Titel des Abjonderungsrechts 
in Anfpruh genommen wird. An fich bleibt der Verzicht auf 
die Errungenschaft hiedurch unberührt und dieß kann auch feine 
Wirlung auf die Befriedigung der Gläubiger des Manns üben. 

Wenn das gefammte vorhandene Vermögen, nachdem die 
Ehefrau von ihrem Beibringen 3000 M. in Natur weggenom— 
men hat, in 12000 M. Bruttoerrungenichaft beiteht, die Bei- 
bringengerfaßforderung der Ehefrau noch 3000 M., die Bei— 
bringenserfaßforderung des Manns 6000 M. beträgt und So: 
zialſchulden mit einem Forderungsbetrag von 18000 M. zu 
berichtigen find, fo würde die Frau, wenn fie die weiblichen Frei: 
heiten nicht anruft, 6000 M., die Hälfte der Errungenichaft, 
außer den in Natur erhaltenen 3000 M. mit Ausfonderungs- 
recht, aljo 3000 M. über ihre Erſatzforderung erhalten, aller- 
dings aber 9000 M. Sozialjchulden zu bezahlen haben. Wenn 
fie nun aber, um von den Sozialfchulden fich zu befreien, die 
weiblichen Freiheiten anruft, jo iſt ihr Verzicht auf die Er: 
rungenſchaft wirkfam, obgleich ihr für ihre Erfaßforderung von 
3000 M. das Abjonderungsreht des 8. 44 eingeräumt ift. 
Sie verzichtet hiemit auf 3000 M. des Gefellihaftsvermögens. 
Man erfieht hieraus, daß jene Einwendung rechtlich und that— 
fählih unbegründet ift, da die Bejahung des Abjonderungs- 
rechts nur nach der thatfächlichen Sachlage die Wirkung des 
Verzichts auf die Errungenfhaft im Ergebniß aufheben fann, 
das Prinzip derjelben, ven Grundjaß, jedoch ganz unberührt läßt. 

Meberhaupt endlich fteht es mit dem Zweck des Inſtituts 
in direftem Widerſpruch, das Abfonderungsrecht des $. 44 der 
Ehefrau, "welche die weiblichen Freiheiten angerufen hat, abzu— 
iprechen. Daſſelbe ift zum Schuge der Ehefrau gegen die der- 
ielben durch das Verwaltungsrecht des Ehemanns drohenden 
Nachtheile eingeführt. Durch die Verneinung des Abjonderungs- 
vehts des 8. 44 würde jedoch nad Aufhebung des Vorzugs- 
vecht3 die Ehefrau in die mißliche Lage verſetzt, von dem ihr 
zuitehenden Rechte in zahlreichen Fällen, in welchen ihr durch 
die Rechtswohlthat geholfen werden follte, von derfelben feinen 
Gebrauch machen zu können, weil hiedurch ihre Lage nicht ver: 
befjert, jondern verfchlimmert würde, indem fie ihre ganze Erſatz- 

Württemb. Archiv für Recht ꝛc. XXII. Bd, 1. Heft. 10 


— 146 — 


forderung als Konfursgläubigerin ohne Vorzugsrecht verfolgen 
müßte. Ein Geſetz, welches zu jolchen Widerfprüchen führt, 
fönnte nicht fchnell genug forrigirt werden. Man wird aber 
um fo mehr Bedenfen tragen müfjen, einer Auslegung zuzuſtim— 
men, nach welcher das Geſetz jelbjt für dieſes Ergebniß ver: 
antwortlich gemacht werden will. 

II. Ebenfo wenig begründet und noch weniger überzeugend 
dürften die vom Standpunkt der legislativen Zmwedmäßigfeit 
aus in dem Minoritätspotum entwidelten Gründe für Die 
Verneinung des Abjonderungsrechts fein, wie im Folgenden zu 
zeigen verſucht wird. 

Es ift nicht in Abrede zu ftellen, daß Fälle fonjtruirt wer: 
den können und auch im Leben vorfommen werden, in welchen 
durch das Abjonderungsreht andern Konkursgläubigern, jelbit 
abfolut privilegirten Gläubigern, die Befriedigungsmittel gänzlich) 
entzogen werden. Allein diefe Konfequenz, wenn fie auch uner: 
wünfht wäre, kann vom Standpunkte des gegebenen Geſetzes 
aus die ſchließliche Entfcheidung nicht beeinfluffen und könnte 
nur vom Standpunkte der lex ferenda aus geltend gemacht 
werden. Sie fann um jo weniger enticheidend in dag Gewicht 
fallen, als auch in andern Nechtsverhältniffen die Wirkung 
bejtehender Abjonderungsrechte diefelbe fein Tann. Wenn der 
in Konkurs gerathene Gefellfhafter außer dem Gejellichaftsver: 
mögen fein eigenes Vermögen befigt, fo können durd das nad) 
Art. 169 des deutfchen Handelsgejegbudhs den Gläubigern einer 
offenen Handelsgefellichaft, oder nach $. 44 der Konfursord- 
nung dem Gejellichafter als ſolchem zujtehende Recht, für ihre 
betreffenden Anſprüche aus dem Gejellfchaftsvermögen ala Ab- 
fonderungsberechtigte vor den Privatgläubigern Befriedigung zu 
erhalten, die legtern gleichfalls von der Befriedigung gänzlich 
ausgefchlojjen werden. Im diefen Fällen kommt daher auch das 
Borzugsrecht der im Privatkonkurs des Gejellfchafters zu ver: 
folgenden Forderungen von Steuern, des Gefindes wegen Liedlohns 
und der Kinder wegen ihres Hinterfälligen Vermögens fo wenig 
zur Geltung, als in den in der Ausführung des Gerichtsblatts 
angenommenen Fällen. Es ijt zwar anzuerkennen, daß fich diefe 
Fälle von den Fällen der Erſchöpfung des Errungenſchaftsver— 








mögen? durch das Abjonderungsrecht der Ehefrau infofern un: 
tericheiden, al3 wenigſtens die Gejellichaftsgläubiger vermöge 
ihres Abjonderungsrecht3 oder doch der Mitverbindlichfeit des 
Gefelfchafter8 zu ihrer ganzen oder theilweilen Befriedigung 
gelangen können, während in den Fällen der Geltendmachung 
des Abfonderungsrechts der Ehefrau auch den Sozialgläubigern 
möglicherweije alle Befriedigungsmittel entzogen werden. Allein 
hiefür kann nicht der S. 44 der Konfursordnung direft, ſon— 
dern nur das Inſtitut der weiblichen Freiheiten verantwortlich 
gemacht werden und wenn diejer Folge des 8. 44 begegnet 
werden wollte, jo würde der richtige Weg hiefür eine Modifikation 
diefes Inſtituts, nicht aber eine Auslegung des 8. 44 fein 
fönnen, welche abgejehen von diefen Erwägungen nicht begründet 
werden könnte. Uebrigens jind die Fälle, in welchen die Sozial- 
- gläubiger nad Anrufung der weiblichen Freiheiten jeden An: 
ſpruch an die Ehefrau verlieren, keineswegs die Regel. Nicht 
nur duch Die Webernahme einer rechtögiltigen Interzeſſion, 
jondern auch durch die einfache Mitunterichrift eines Schuld: 
ſcheins wird bekanntlich die Frau, legtern Falls zur Hälfte, für 
die Sozialſchuld mitverbindlih, ohne daß jie von dieſer Haft: 
pfliht Durch die Anrufung der weiblichen „Freiheiten befreit 
würde. Ein vorjidhtiger Gläubiger hat es daher ftets 
in feiner Hand, gegen jene mögliche äußerjte Folge des Ab- 
ſonderungsrechts fich Tier zu jtellen; vom Standpunkt des 
Rechtsſchutzes der Frau aus iſt es aber unzweifelhaft nur wünfchens: 
werth, wenn die Gläubiger darauf hingewiejen find, ohne dieſe 
weitere Sicherung dem Mann nicht zu frebitiven, ſofern fie nicht 
im Hinblid auf deſſen Sondergut auf diefe Sicherung verzichten 
zu tönnen glauben. Die Benachtheiligung der Sozialgläubiger 
wird noch weiter durch den 8. 44 ſelbſt in Folge jeiner An: 
wendung auf alle Gefellichaftsverhältnifje eingejchräntt. In allen 
in neuerer Zeit bei Gejchäftstreibenden immer zahlreicher wer: 
denden Geſellſchafts- und Gemeinjchaftsverhältnifien von Ge— 
ihäftsgenofjen werden die Gefchäfts: und Gejellihaftsgläubiger 
duch das Abfonderungsrecht der Ehefrau überhaupt nicht be- 
rührt, da diejelben von dem &emeinjchaftsvermögen mit Ab: 
jonderungsrecht befriedigt werden, ehe ein Privatgläubiger, aljo 
| 10 * 


—û— — 1 
2* — 
⸗ * — * 


—— 


auch die eheliche Errungenſchaftsgeſellſchaft, beziehungsweiſe die 
Ehefrau irgendwie zur Befriedigung gelangen kann. Wenn 
ferner gleichwohl zugegeben werden muß, daß nach der 
konkreten Sachlage der Liedlohn der Dienſtboten, die Rechnung 
von Arzt und Apotheker, der Rückſtand an Steuern, das hinter— 
fällige Vermögen der Kinder erſter Ehe dem Abſonderungsrecht 
der Ehefrau zum Opfer fallen kann, fo kann dieß jedenfalls 
vom Standpunkt der Motive der Konkursordnung aus, welche 
jedes Vorzugsrecht im Prinzip vermwerfen , 3%) überhaupt nicht 
gegen die in der Entjcheidung des Dberlandesgerichts dem 8. 44 
gegebene Anwendung geltend gemacht werden. Die privilegirten 
Gläubiger treten eben hiemit in dafjelbe Verhältniß, wie vor 
der Konfursordnung alle Gläubiger, welchen fein Vorzugsrecht 
der III. Klafje vor der Beibringensforderung der Ehefrau zur 
Seite jtand und nur, wer an der Vorſtellung von der Unent- 
behrlichfeit der bisher bejtandenen Vorzugsrechte feithält, 
fann diefe Folge gegen das in Frage ftehende Abjonderungsrecht 
zu verwerthen ſuchen. Was fpeziell die Steuern, den Liedlohn 
der Dienftboten und die Rechnung von Arzt und Apotheker be— 
trifft, To iſt zudem nicht außer Acht zu laſſen, daß für dieſe 
Forderungen in dem Pfändungspfandrecht, jofern der Gläubiger 
feine Intereſſen geltend zu machen nicht verfäumt, ein aud 
der Ehefrau gegenüber wirffames Befriedigungsmittel gegeben 
it, welches bisher gefehlt hat. Die gerügten, als erorbitant 
bezeichneten Wirkungen auf die Rechte der Gläubiger des Manns 
werden überhaupt nicht die allgemeine Regel bilden, wie in der 
Ausführung des Gerichtblatts angenommen wird. °') Die Aus- 
führung in dem Gerichtsblatt betont hiebei insbefondere Die 
Wirkung des Abjonderungsrechts der Ehefrau, dag den Kindern 
erjter Ehe für ihre Anfprüche wegen binterfälligen Vermögens 
an den Vater die Befriedigungsmittel entzogen werden können. 
Es iſt unzweifelhaft richtig, daß, wie a. a. D. gejagt wird, in 
diefen Zeiten der Mobilifirung des Belites in überwiegend 


30) „Die Bejeitigung aller Vorzugsrechte muß das Ziel jein, welches 
die Gejeßgebung nicht aus den Augen verlieren darf.“ Verh. d. R. v. 
1877 Beil. Band S. 1473. Mein Kommentar d. K. O. S. 401. 

31) A. a. O. S. 6. 





— 149 — 


vielen Fällen weder Naturalanweifung noch die Realifirung des 
Pandrechtstitels auf Immobilien möglich it. Allein damit ift 
feinegwegd, wie nach der Ausführung im Gerichtsblatt fcheinen 
fönnte, die Möglichkeit einer Sicheritellung der Kinder erjter 
Che ausgeſchloſſen. Wenn der Vater feine Liegenihaften hat, 
jo hat er doch ficher in der Regel Forderungen, falls ein Mutter- 
gut der Kinder, das nicht ausfchlieglih in Fahrniß befteht, in 
jeiner Nuznießung fteht. Für diefen Fall gewährt aber der 
Art. 41 des Pfandentwidlungsgefeßes vom 21. Mai 1828 einen 
Meg der Sicherſtellung, indem er bejtimmt, daß in der in 
Art. 40 bezeichneten Weife Eltern, wenn fie fein oder nicht 
zureihendes .unbemwegliches Vermögen haben, zur gejeglichen 
Sicherſtellung der Kinder mitteljt Verpfändung von Aftivfor- 
derungen angehalten werden fönnen. Was alfo aus der Zu: 
laſſung des Abjonderungsrechts folgt, ift nur, daß von diejem 
Rechte vieleicht häufiger als bisher Gebrauch gemacht werden 
muß und daß nur, wenn dieß unterlaffen wurde, der befürchtete 
Rachtheil, eintritt, wofür wiederum nicht der $. 44 verant- 
wortlih gemacht werden fönnte. Trotz der felbjtverjtändlich nicht 
zu verfennenden Weiterungen wäre es überhaupt wünjchenswerth, 
daß in denjenigen Fällen, in welchen der Vater in die zweite 
Che tritt, ohne das hinterfällige Vermögen der Kinder erfter 
Che herauszugeben, da3 Verlangen einer Sicherung dur 
Fauſtpfandbeſtellung an Forderungen, wenn feine Liegenjchaften 
vorhanden find, die Regel bilde. 

Erwägt man hiernah, wie viele Umjtände zufammentreffen 
müflen, damit die als unerträgliche Folge des Abjonderungs: 
veht3 der Ehefrau bezeichnete Wirkung eintrete, jo wird dieſes 
Argument, felbjt wenn es ſich de lege ferenda handeln würde, 
doch wohl jehr abgeſchwächt. 

Die als erorbitant bezeichneten Wirkungen für die Gläu- 
biger des Manns, alfo auch für die abjolut bevorzugten und 
Ipgziell die Kinder erjter Ehe wegen ihrer Anjprüde an das 
hinterfällige Vermögen treten überhaupt nur ein, wenn folgende 
Thatſachen zufammentreffen: 

1) Die Beibringensforderung der Frau muß im Berhält- 
niß zu der Errungenfchaft jo bedeutend fein, daß dieſe zu ihrer 





— 150 — 


Dedung ganz erforderlih iſt. Je nad der Entjcheidung der 
oben als zweifelhaft erörterten bejondern Frage (S. 141) fann dieß 
überhaupt nur eintreten, wenn der Ehemann fein Sondergut 
in die Ehe gebracht hat. 

2) Die Frau muß die weiblichen Freiheiten angerufen haben. 

3) Die Frau darf nicht interzeffirt oder den Schuldfchein 
nicht mit unterfchrieben haben. 

4) Es muß der Konkursforderung die Sicherung duch ein 
Fauftpfandrecht oder ein Spezialvorzugsreht des $. 41, insbe— 
jondere dur ein Pfändungspfandrecht abgehen. 

5) Soweit e3 fih um die Anjprüche der Kinder wegen 
ihres hinterfälligen Vermögens handelt, treten die geltend ge: 
machten Nachtheile überhaupt nur-ein, wenn der Ehemann in 
die zweite Che getreten iſt und unterlafen wurde, für dieſe 
Ansprüche Sicherheit durch Unterpfänder oder Forderungen zu 
beftellen. Außerdem müſſen die unter 1 bis 3 bezeichneten That: 
jachen zufammentreffen, wobei noch beionders zu beachten ift, 
daß wo hinterfälliges Vermögen der Kinder vorhanden ijt, wohl 
ausnahmslos der Mann auch ein Sondergut in die zweite Che 
gebracht hat. 

So viel dürfte — daß dieſe ſämmtlichen Voraus— 
ſetzungen nicht allzuhäufig zuſammentreffen werden und daß 
es jedenfalls den wirklichen Verhältniſſen wenig entſprechend iſt, 
wenn in der Ausführung in dem Gerichtsblatt geſagt wird, 
daß die Fälle jener angeblich erorbitanten und unerträgliden 
Wirkung „erfahrungsmäßig die Regel bilden”, daß den Gläubi- 
gern des Manns alle Befriedigungsmittel durch die Erſatzan— 
ſprüche der Frau entzogen werden, welche ihnen nach dem Rechte 
vor der Konfursordnung verfügbar geblieben wären, wenn hieran 
jogar das Gejammturtheil geknüpft wird, daß es fich bei diefer 
Anwendung des 8. 44 um „einen in feinen Wirkungen un: 
ermeßbaren und darum legislativ unbraudhbaren Rechtsbehelf 
handle“. 

Begibt man fich aber bei biefer Frage einmal auf den 
legislativen Standpunft, jo hat die ganze Materie eine Kehr: 
jeite, welche jehr ftark für die Theſis des K. Oberlanvdesgericht 
in das Gemwicht fällt. 





— 151 — 


Nicht nur in mindeitens einer ebenfo großen Zahl von 
Fällen, ja nicht nur in der Mehrzahl der Fälle, jondern in 
allen Fällen würde durch die Verneinung des Abjonderungs- 
rechts die materielle Gerechtigkeit verlegt. Allerdingd muß man 
fi aber, um dieß zu erfennen, von den hergebradhten Rechts- 
anfhauungen losmachen, und folgerichtig auf den Boden jtellen, 
auf welchem die Konfursordnung ruht, um auch ihren $. 44 
rihtig würdigen zu können. Dan muß vor Allem die Vor: 
ftellung aufgeben, daß gewiſſe Forderungen als abfolut .privilegirte 
Forderungen vor allen andern Anſprüchen zur Befriedigung 
gelangen müſſen. *?) Mit diefer Vorſtellung hat die Konkurs: 
ordnung durch ihre Vorſchriften über die Abjonderungsrechte 
und deren Behandlung im Konkurs gründlich gebrochen. Wer 
dieß nicht in fein Nechtsbewußtjein aufnimmt, wird niemals zu 
einem richtigen Berftändniß des 8. 44 gelangen und nicht nur 
aus S. 44, jondern überhaupt aus dem $. 14, und den SS. 39 bis 
45 Fälle fonjtruiren können, in welchen deren Konjequenzen mit 
diefen früheren Rechtsanfchauungen in direftem Widerſpruche 
itehen. Wer aber in das Auge faßt, dab es das Streben der 
Konkursordnung it, die Vorzugsrechte der Konfursgläubiger zu 
befeitigen, dagegen allen, welche ein befonderes Necht auf ein- 
zelne Theile der Konfursmaffe haben oder welche mit dem 
Gemeinihuldner in einem Miteigentum, einer Gefellichaft oder 
ſonſtigen Gemeinſchaft geftanden find, für die hierauf beruhenden 
Aniprühe die Befriedigung aus dieſem befondern Vermögen 
außerhalb des Konkurſes zu jichern, wird die als erorbitant be— 
zeichneten Folgen der Theſis des Dberlandesgerichts, ſelbſt wenn 
fie wirklich der Negel nach zu erwarten wären, nicht mehr in 





32) Nur daraus, daß diejer frühere Standpunkt nicht aufgegeben 
iit, läßt es fich erklären, wenn in der Ausführung in dem Gerichtöblatt 
(S. T) geſagt wird: „Sicherlich würden die Verfaſſer der württemb. 
Brand» und Prioritätsgeießgebung, jo Außerordentliches fie mittelit 
der Hänfung von weiblichen Freiheiten und Vorzugsrecht III. Kl. zu 
Gunsten der Ehefrauen gethan haben, jenes Ergebniß (daß einige ab» 
jolut bevorrechtigte Gläubiger von der Befriedigung ausgeichlofjen werden 
fönnen) energiich zurücweiien“. Umgekehrt wird unten gezeigt werden, 
daß dieje angejehenen Juriften vom Standpunkte der Konf.: O. aus zu 
der Anerkennung des Abjonderungsrechts hätten gelangen müſſen. 


are > Teer 

ade a 

ne Fi 
Em 3 


— 152 — 


dieſem Lichte betrachten, vielmehr ſich ſagen müſſen, daß eine 
andere Behandlung der Anſprüche der in der Errungenſchaft 
lebenden Ehefrau geradezu ungerecht wäre. Die in der Errungen— 
ſchaftsgeſellſchaft lebende Frau befindet fih in einer Gemeinjchaft 
mit dem Ehemann, welche ſich von jeder andern Erwerbögefell- 
Ihaft nur dadurch unterfcheidet, daß der Ehemann in derjelben 
der allein bejtimmende und verfügende Theil ift und daß Die 
Ehefrau nit, wie andere Gefellfchafter, die rechtliche Mög: _ 
lichkeit der Auflöfung der Geſellſchaft nad ihrem freien Willen 
hat. Wenn man alfo das bisherige Vorzugsreht der Ehefrau 
aufgehoben und fie hiedurch gleihiwohl, auch joweit es fih um 
das fraft Gejeßes in den Bejig und die Verwaltung des Mannes 
übergegangene Vermögen handelt, allen andern Gläubigern 
gleichgeitellt hat, jo verlangt doch das Rechtsprinzip, daß fie 
wenigitens dieſelben Rechte, wie jeder andere 
Bejellihafter bezüglihb des gemeinihaftliden 
Bermögens im Fall der Auflöfung der Gejell 
Ihaft bat. Dieß hat die Konkursordnung richtig erkannt, 
indem fie durch die allgemeine Faſſung des $. 44 die ehe— 
lien Gemeinfchaftsverhältnifje in eine Linie mit andern Ges 
ſellſchaftsverhältniſſen geitellt und dadurch in denjenigen Fällen, 
in welchen die Ehefrau durch dieſes Gemeinfchaftsverhältnig 
in ihren Rechten gefährdet ift, ihr ein Mittel gegeben hat, 
welches ihre ohnehin gegen die leichtfinnige oder ungefhidte Ber: 
waltung ihres Manns wenig gejicherte Lage wenigitens bei 
Auflöfung der Gemeinfchaft nicht ſchlimmer geftaltet, als die 
Lage aller andern Gejelfchafter und Gemeinschaftsinterefjenten ift. 
Es war dieß um fo nothmwendiger, als durch die zahlreichen 
Abjonderungsrechte des 8. Al, namentlih das Pfändungspfand- 
recht, abgejehen von der Aufhebung des bisherigen Vorzugsrechts 
die in der Errungenschaftsgejellihaft lebende Ehefrau mehr als 
bisher gefährdet, den wachſamen Gläubigern des Manns jedod) 
ein Mittel gegeben ift, fich leichter als bisher vor Schaden zu 
bewahren. Man kann hiegegen nicht einwenden, daß dieß im 
Widerſpruch mit den Gründen ftehe, mit welchen die Motive 
jelbjt die Aufhebung der bisherigen Vorzugsrechte der Ehefrauen 
rechtfertigen. Die Motive wenden ſich in erjter Linie gegen das 








— 153 — 


Vorzugsrecht der Ehefrauen, welche nach dem römifchrechtlichen 
Dotaljyftem oder in dem Verhältniß der gänzlichen Gütertren- 
nung leben. Inſoweit ift die Aufhebung des Borzugsrechts 
durhaus gerechtfertigt. Auch ſoweit die Errungenſchaftsgeſell— 
haft in Frage jteht, läßt ji die Aufhebung des bisherigen 
Vorzugsrecht3 aus dem Grunde rechtfertigen, weil hiedurch ſelbſt 
das Sondergut des Chemanns den nicht vor den Ehefrauen 
privilegirten Gläubigern zu Gunſten der Ehefrau entzogen 
wurde. Gegen diefe Wirkung des VBorzugsrechts der Ehefrauen 
war die Einwendung begründet, daß die Ehefrau auf das 
Sondergut des Manns fein bejjeres Recht Hat, als alle übrigen 
Släubiger des Manns. Denn injoweit als es fih um die Be- 
friedigung aus dem Sondergut des Ehemanns handelt, jteht 
die Frau in demjelben Verhältniß, wie jeder andere Gejell- 
ihafter, welcher eine aus dem Gefellichaftspermögen nicht zu be— 
rihtigende Forderung an den Gemeinſchaftsgenoſſen hat. An: 
ders aber verhält es ſich, infoweit als das gejellfchaftliche Ver: 
mögen, die Errungenſchaft, zur Befriedigung einer Forderung 
aus dem Gejelliehaftsverhältnig in Anſpruch genommen wird. 
In Beziehung auf diejes der Ehefrau das allen andern Geſell— 
ihaftern und Gemeinfchaftsinterefjenten zujiehende Abjonderungs- 
recht abzufprechen, würde weit über die Aufhebung des bis- 
herigen Privilegiums Hinausgehen, würde vielmehr ein privi- 
legium odiosum zum Nachtheil der Cheftauen einführen, für 
welches jchlechthin fein zureichender Grund einzujehen wäre. 
Die Ausführung in dem Gerichtsblatte hat zwar hiegegen ein: 
gewendet, es fei wenig rationell, einen folchen „unermeßbaren 
Rechtsbehelf” zu gewähren, da es ganz zufällig jei, wie groß 
oder wie Elein das Geſellſchaftsvermögen, die Errungenschaft, 
jei, während die ganze Wirkung des Abſonderungsrechts dur 
die Größe diefes Vermögens bejtimmt jei. Auch diefe Einwen— 
dung ift nur möglich), wenn man, von den früheren Rechtzan: 
ihauungen ausgehend, Vorzugsrechte und Abfonderungsrechte 
der Konkursordnung prinzipiell nicht unterfcheidvet. Vom Stand: 
punkt der Konkursordnung aus würde diefe Einwendung wie: 
derum zu viel, alfo nichts beweifen. Denn fie würde gegen 
alle Abjonderungsrechte, namentlich des 8. 44 geltend zu machen 


— 154 — 


fein. Daß die Abjonderungsrechte durch thatfächliche Berhält- 
nifje bedingt find, mie ſie eben zufällig bei der Konkurs: 
eröffnung geftaltet find, liegt in dem Weſen dieſer Rechte. 
So wirft das Abfonderungsreht aus dem Grund des Miteigen- 
thums nur, wenn die gemeinjchaftlihe Sadhe vor dem Konkurs 
nicht veräußert ift, es fällt aber weg, wenn diejelbe vor. der 
Eröffnung des Konkurſes veräußert worden iſt. Es ijt alfo 
das Abjonderungsreht des Miteigenthüümers von diefem ganz 
zufälligen, zum Voraus nicht zu berechnenden Umſtand bedingt. 
Das Abjonderungsreht der Gefellihaftsgläubiger und feine 
Wirkung auf die Befriedigung der Privatgläubiger der Gejell- 
ichafter ift durch den zufälligen Umjtand bedingt, wie viel ber: 
felbe von feinem Privatvermögen in den Gefellichaftsfond ge: 
leijtet oder zu leiften fich verpflichtet hat. Daſſelbe trifft bei der 
Errungenfchaftsgejellichaft zu. Die Verwandlung des Sonderguts 
der Ehegatten in Geſellſchaftsvermögen, Errungenichaft, ift nichts 
anderes, als die und zwar zumeift durch den freien Willen des 
Ehemanns bedingte Herftellung eines gemeinfamen Vermögens. 
Wenn aljo hiedurch die Gläubiger des Manns verkürzt werden, 
jo ijt der Grund hievon die Handlung ihres Schuldners, welchem 
fie freditirt haben; fie können fi) ſonach hierüber um fo 
weniger bejchweren, als fie, wenn fie fich die Anſprüche an die 
frau wahren wollen, in dem Verlangen der Interzeſſion oder 
doh der Mitunterfchrift derſelben ein Mittel hiezu haben. 
Allerdings liegt nun die hiegegen erhobene Einwendung nahe, 
daß für die von dem Mann .tontrahirten Schulden eben die 
Frau auch haftbar fein müſſe, da fie an den Bortheilen feines 
Kredit? theilmnehme und wenn fie dieß nicht wolle, durch das 
Syitem der Gütertrennung ſich jihern könne. Mllein diefe Ein- 
wendung trifft wiederum nicht den $. 44, jondern das Inſtitut 
der Errungenjchaftsgefellfehaft und der weiblichen Freiheiten als 
jolde. Wer diefe Anficht hat, muß einen Schritt weiter gehen. 
Er jteht auf den Boden der allgemeinen Gütergemeinfchaft, und 
muß den relativen Schuß, welchen die mwürttembergifch-recht: 
lihe Errungenschaftsgejellihaft den Ehefrauen gewährt, über: 
haupt verwerfen. *) Wer fich aber auf den Boden diefes land: 

33) Es ift im Intereſſe der jonit jchuglojen Frauen zu wünſchen, 








| 
| 
| 
| 





— 15 — 


rechtlichen Güterſyſtems jtellt, muß anerkennen, daß das Ab— 
jonderungsrecht der Ehefrau in den Fällen des 8. 44 nur eine 
Folge und zwar eine nothwendige Folge defjelben it. Wenn 
die Verfafjer der mwürttembergifhen Pfand: und Prioritätsgejeß: 
gebung für nöthig gefunden haben, den Schuß, welcher den 
Frauen in der. Errungenfchaftsgefellfhaft und dem Nechtsbehelf 
der weiblichen Freiheiten gewährt ift, durch die Einräumung 
des Vorzugsrechts dritter Klaſſe praftifch ficher zu ftellen, jo 
würden fie vom Standpunkte der deutichen Konkursordnung, 
welhe das Vorzugsrecht aufgehoben hat, folgerichtigermweile 
gewiß jeden Rechtsſatz, welcher wenigſtens unter gewiljen Bor: 
ausfegungen jene Sicherung gewährt, willkommen geheißen und 
denfelben nicht aus Rückſicht für einige abfolut privilegirte 
‚Gläubiger zurücdgewiefen haben. Allerdings ift dieſes Abſon— 
derungsrecht fein voller Erſatz für das bisherige Vorzugsrecht. 
Aber in ſehr vielen Fällen und nad) der Annahme der Aus: 
führung in dem Gerichtsblatt in den meiſten Fällen fommt es 
in jeiner jchließlihen Wirfung dem bisherigen Vorzugsrechte 
ſehr nahe; nur ift dabei das Unbillige vermieden, daß die Frau 
jelbft auf das Sondergut des Chemanns vor deſſen Gläubigern 
ein diefe ausſchließendes Borrecht hat. Diejes Abfonderungsrecht 
wirkt ebendeßhalb weniger. ungerecht als das frühere Vorzug: 
teht dritter Klafje; im Falle feiner Verneinung würde jedoch 
im Brinzip die Nechtswohlthat der Anrufung der weiblichen 
Sreiheiten in allen Fällen, in welchen das Sondergut der Che: 
frau in Errungenfhaftsvermögen verwandelt iſt, alfo nach der 
Annahme der Ausführung im Gerichtsblatt in den meiſten 
Fällen, ganz oder nahezu werthlos. Dieß wird das einfachite 
Beifpiel £lar machen. 


daß fich die dentiche Nechtsentwiclung nicht in der Richtung der Verall— 
gemeinerung der allgemeinen Gütergemeinjchaft, jondern der Sütertrennung 
nad) dem Vorgange des ſächſiſchen bürgerlichen Geſetzbuchs bemegt. 
Die allgemeine Gütergemeinichaft mit dem jchranfenlojen Verwaltungs: 
teht des Ehemanns, der hijtorifche Überreft des Mundium des Mannes 
(Philipps, deutiches Privatrecht 88. 125 u. f.) ift eine Ungerechtigkeit, 
welche glücklicherweife in Württemberg durch die partifuläre Güterge: 
meinſchaft gemildert wurde, 





— 156 — 


Die Ehefrau hat 10000 M. in die Ehe gebracht, der Ehe: 
mann ebenfoviel, das gefammte zur Zeit der Konfurseröffnung. 
vorhandene Vermögen ift Errungenjhaft und beträgt 20000 M. 
Die Schulden betragen 30000 M. ohne Vorzugsreht und find 
Sozialfhulden. Wenn die Ehefrau in diefem Falle die weiblichen 
Freiheiten anruft, jo wird fie zwar formell von den Sozialſchul— 
den frei, allein fie hat fich, wenn ihr das Abfonderungsrecht ab- 
erfannt wird, mit den Sozialgläubigern in das Vermögen zu 
theilen, d. h. obgleih fie fih von den Sozialjchulden durch die 
Anrufung der weiblichen Freiheiten fol frei machen können, bat 
fie von ihrem Sondergut 5000 M. zur Befriedigung der Sozial: 
gläubiger, von welchen fie befreit werden follte, zurüdzulafjen; 
fie haftet alfo mit 50%» ihres Beibringens gleichwohl den Sozial- 
gläubigern. Die iſt ein offenbarer Widerſpruch mit dem In: 
jtitut der weiblichen Freiheiten. Nur bei Anerkennung des Ab- 
fonderungsrecht3 kommt die Nechtswohlthat der weiblichen Frei: 
beiten zu ihrer Wirkung, indem die Ehefrau in dem angegebenen 
Fall 10000 M. mit Abfonderungsrecht frei von allen Sozial- 
Ihulden wegnimmt. Allerdings ift diefe Wirkung der weiblichen 
Freiheiten durch den Betrag des Errungenjchaftsvermögens be— 
Dingt und wo ein folches nicht oder in geringem Betrag vor= 
handen ijt, fann die Anrufung der weiblichen Freiheiten ebenfo 
wirkungslos fein, als wenn das Abſonderungsrecht verneint 
wird. Mllein fo viel ift doch hiemit bewiefen, daß man vom 
Standpunft der württembergiſch-rechtlichen Errungenſchaftsgeſell— 
. Schaft aus diejes Abfonderungsrecht als eine forrefte Folge ihrer | 
Grundfäge anerkennen muß und dajjelbe nicht als „einen legis— | 
latoriſch unbrauchbaren Rechtsbehelf” bezeichnen fann. | 
Im Anſchluß an diefes Beifpiel ift das zweite wejentliche Be— | 
denken, welches das Minoritätserachten vom Standpunkte der 
legislativen Zwedmäßigfeit aus erhoben hat, leicht zu widerlegen. 
Nach den unter I entiwidelten Theilungsgrundjägen 9) theilt fich die 


34) Bei dieſem Anlaße mag e8 geftattet fein, die frühere Ausführung 
des Verfaſſers über die Frage in B. XVII de3 Archivs in einem Punkte 
zu berichtigen, indem eines der a. a. DO. ©. 432 gegebenen Theilung3bei: 
jpiele auf Grund einer von Hohl, ©. 256, gemachten Bemerkung richtig 
geitellt wird, Es ift in dem Kommentar von Hohl gejagt, daß in dem 


— 157 — 


Frau, welche die weiblichen Freiheiten angerufen hat, mit dem Ehe— 
mann, defien Beibringen dem ihrigen gleichfommt, in die Brutto- 
errungenfchaft. Sie erhält 10000 M. und für die Mafje des 
Chemanns bleiben 10000 M. zur Befriedigung der Gläubiger. 
Wenn und foweit die Ehefrau ihr Beibringen aus diefem Ver— 
mögen zurüderhält, infoweit erhält jie es mit Recht frei 
von den Sozialſchulden zurüd, von welchen fie fi) frei- 
zumachen das Recht hat. Eine Beanspruchung diejes Vermögens 
für Die Sozialgläubiger und die Privatgläubiger des Manns 
wäre, immer vom Standpunfte der weiblichen Freiheiten aus— 
gegangen, ein Unrecht, ein innerer Widerjprud. Mit welchem 
Rechte follten fich die Gläubiger des Manns, felbit die Hinter: 
falgerben erjter Ehe für das in der Nußnießung des Vaters 
verbliebene, nicht in die Nutznießung feiner zweiten Ehefrau ge— 
langte Hinterfallsgut an das Vermögen der legteren halten können? 
Daß dieß nach der württembergifchen Prioritätsordnung möglich 
war, erjcheint als die bevdenklichite Folge des früheren Syitems 
der Borzugsrechte. Das Bermögen der Ehefrau ift aber derjenige 
Theil der Errungenschaft, welchen fie mit Abſonderungsrecht zur 
Befriedigung ihrer Beibringensforderung gerade ebenjo in An 
ſpruch nehmen kann, wie der Ehemann zur Befriedigung feiner 
Beibringenzforderung aus der Errungenschaft. Faßt man diefe 
Folge des Abfonderungsrecht3 in ihrer vollen Bedeutung in das 
Auge, jo wird man dafjelbe nicht nur nicht als einen dag Rechts— 
prinzip verlegenden Nechtsbehelf bezeichnen können, vielmehr 
diefeg Necht geradezu als eine folgerichtige Entwidlung der Er: 


Fall B S, 431, 432 des Archivs die Berechnung unrichtig fei, Sofern 
die Werthsverminderung des in Natur vorhandenen Mannsbeibringens 
irrthümlich zur ehelichen Einbuße geihlagen worden jei. Da in dem 
unter B vorausgejegten Falle das Mannsbeibringen nit in Natur 
vorhanden ift, jo kann dieje Bemerkung jedenfalls für den Fall DB nicht 
zutreffen; ebeniowenig für den Fall A. Dagegen iſt bezüglich des Falls 
6 richtig, daß in Folge eines Verjehens der Mindererlös von dem noch 
in Natur vorhandenen Mannsbeibringen mit 8333 M. 33 Pf. als Theil 
der Ginbuße der Frau zur Hälfte aufgerechnet wurde; dieß ift unrichtig, 
da dieien Mindererlös der Mann allein zu tragen hat. Die eheliche 
Einbuße beträgt jonach nur 12666 M. 67 Pf., nicht 16000 M., wie ans 
genommen ift, die Gläubiger erhalten nur 50 4. 


— 155 — 





rungenfchaftsgejellichaft verlangen müſſen. Die Gläubiger des 
Manns, die Privatgläubiger ohnehin, aber auch die Sozial: 
gläubiger können ihre Befriedigung von dem Bermögen der Ehe: 
frau nicht verlangen, auch die legteren nicht, da die Frau gerade 
durh die Nechtswohlthat der weiblichen Freiheiten das Recht 
bat, fich von ihrer Haftpflicht für diefelben zu befreien. Indem 
aber das Geſetz den Grundſatz anerkennt, daß der Antheil eines 
Geſellſchafters an dem Gefelihaftsvermögen, mag ihm dafjelbe 
nad) der Auseinanderfegung ganz oder zum Theil zufallen, zu: 
nächſt zur Dedung der aus dem Geſellſchaftsverhältniß entjtan- 
denen Forderung der Theilhaber zu verwenden ift, jo iſt der 
hiezu erforderte und zureichende Theil nad) dem Geſetze Ber: 
mögen der Theilhaber und nur der Reſt kann als Sonderver: 
mögen zur Schuldenzahlung verwendet werden. Durch die Ans 
rufung der weiblichen Freiheiten in Verbindung mit $. 44 wird 
aljo nad) der Thefis des Oberlandesgerichts bewirkt, daß eben . 
die bisher beſtandene Errungenfchaftsgefelfchaft ebenjo vationell, 
wie jede andere Gejellfchaft, aufgelöst wird, indem die urjprüng- 
(ih getrennten Vermögen, fomweit fie von der Errungenschaft auf 
gejaugt und noch vorhanden find, wieder in ihrer Trennung 
hergejtellt werden. Dieß eben ift ja das Weſen der Auflöfung 
der Errungenfchaftsgefelliehaft durch die Anrufung der weiblichen 
Freiheiten. Daß dieſe rationelle Auseinanderfegung durch das 
Borhandenfein einer Errungenichaft bedingt ift, liegt in dem 
Weſen der Auseinanderfeßung eines gemeinfamen Bermögens und es 
fann biegegen nicht eingewendet werden, daß diejes Mittel in dem 
Fall und injoweit verfagt, als fein Errungenfhaftsvermögen exiſtirt. 

Wenn zufolge diefer Theilung in Verbindung mit dem 
Abjonderungsrecht die ganze Bruttoerrungenichaft abjorbirt wird, 
jo tritt allerdings ein, was auc bei anderen zahlungsunfähigen 
Schuldnern eintreten kann, daß nad Wegnahme der Gegenjtände, 
auf welche ein Anjpruch auf abgejonderte Befriedigung geltend 
gemacht wird, wegen gänzlichen Maſſemangels nach 8. 99 und 
$. 190 der Konfursordnung der Konfursantrag abgewieſen oder 
das Konfursverfahren eingejtellt wird. In der Ausführung im 
Gerichtsblatte wird dies als eine ganz bedenkliche Folge des 
Abfonderungsrehts befonders betont. 








— 159 — 


„So geichieht es,” wird gejagt (©. 8), „daß dei injolvente 
Vermögensmafje des Schuldners zujammt den auf diefelbe 
fonfurrirenden Gläubigeraniprüchen der ordnenden Hand 
des Gerichts entzogen bleibt und daß, während in dem 
älteren Gantprozefje die Gläubiger wenigſtens die Genug- 
thuung hatten, durch Vermögenzunterfuchung und Schulden: 
liquidation und die bei legterer jtattfindende Zuredeitellung 
des Gemeinjchuldners und jeiner Ehefrau eine Aufklärung 
und georonete Augeinanderjegung aller Berhältnifje zu 
erreichen, der Aktiv- und Paſſivſtand als eine unentwicelte 
todte Mafje liegen bleibt, beziehungsmweife dag Aftivvermö- 
gen der Ausplünderung durch Einzelerefutionen und dem 
Wirrwarr der auch Hinfichtlicd diefer Einzelerefution wie— 
derum zugelafjenen Paulianiſchen Anfechtung Preis gegeben 
wird.“ 

Ganz abgejehen von der Frage, ob diefe Schilderung ma— 
teriell richtig ift, dürfte jedenfalls ſchwer einzujehen fein, welche 
Beziehung diejelbe auf die erörterte Frage hat. Die bezeichneten 
Uebeljtände find nicht die Folge der Anerkennung des Abfon: 
derungsrechts, fondern eines andern Grundfages, des Grundfaßes 
des $. 14 der Konfursordnung, daß die Theilung oder fonftige 
Auseinanderjegung des Miteigenthums der Gefellichaft oder anderen 
Gemeinſchaft, in welcher ſich der Gemeinfchulodner befindet, 
außerhalb des Konfursverfahrens erfolgt und diefer 
Grundſatz ift wiederum die nothwendige und jelbjtverjtändliche 
Folge des in 8.3 Abſ. 2 der Konfursordnung ausgejprochenen 
Grundprinzips des neuen Verfahrens, daß die abgefonderte Be: 
fridigung unabhängig vom Konfursverfahren erfolg. Nun 
fonn man wohl der Anficht jein, daß das frühere Verfahren, 
welhes zu einer Ordnung aller Verhältnifje eines injolventen 
Schuldner im Konkursverfahren fi allmählig dur die Ge: 
tihtspraris erweitert hatte, 5) diefer neuen Ordnung des Ver: 
fahrens vorzuziehen jei und wer dieſe Anſicht hat, wird jenen 
Bemerkungen mit der hieran angereihten Ausführung über die 
verjhiedenen wenig befriedigenden Wege und Berfuche, diejem 





30) Mein Kommentar d. K.O. Einl. S. LIV—LVI. 


— 160 — 


unliebfamen Zujtand zu begegnen, zujtimmen fönnen. Allein fo 
viel ift einleuchtend, daß diefer Theil der Ausführung in dem 
Gerichtsblatt gegen ein feititehendes Prinzip des Geſetzes felbft 
gerichtet ift, daß er eine Kritif der 88. 3 und 14 der Konfurd- 
ordnung ijt, und mit dem $. 44 fchlechthin in feinem anderen 
Zufammenhang jteht, als in dem, daß auf einen der Fälle, für 
welche die 58. 3 und 14 Anwendung finden, deren Folgen er: 
emplificirt werden. Daß dieß die Auslegung und Anwendung 
des 8.44 in feiner Weiſe beeinfluffen fann und jollte, wird 
faum einer Bemerfung bedürfen. Stellt man fich aber auf den 
Boden des beftehenden Geſetzes, fo find die bezeichneten 
Folgen, joweit fie wirklich eintreten, fein Uebel, jondern ganz 
jelbjtverftändlih, zum Theil aber find fie nicht die nothmendige 
Folge des Abſonderungsrechts. Die Genugthuung, daß der Kon: 
kurs eröffnet und regelrecht beendigt wird, ſoweit es fich um die 
dem Konkursverfahren nach der Konfursordnung verbliebenen 
Rechtsverhältniffe Handelt, kann fich jeder Gläubiger dadurd 
verſchaffen, daß er den Konkursantrag ftellt, die Koften des Ver: 
fahren? vorjchießt und Vermögenstheile bezeichnet, welche zur 
Konkursmaſſe gehören oder im Wege der Anfechtung zu derjelben 
gebracht werden fünnen. In diefem Falle kann das Gericht die 
Eröffnung des Verfahrens nicht ablehnen. 3%) Unterläßt er aber 
den Antrag und den Koftenvorfchuß, weil ihm folche Vermögens: 
teile nicht befannt find und er alfo felbft die Anficht hat, daß 
feine Theilungsmafje nah Wegnahme der Abfonderungsmafe 
vorhanden fei, fo ift faum abzufehen, welches Intereſſe er an 
der Einmifhung der ordnenden Hand des Gerichts haben foll. 
Diefe hat eben fein Objekt zum Ordnen, weil feine Theilungs- 
mafje vorhanden ift. Uebrigens jcheint es, als ob gerade vom 
Standpunkte derjenigen aus, welche das Abjonderungsrecht der 
Ehefrauen befämpfen, die weitere Folge, daß wegen Nichteröff: 
nung des Konfursverfahrens die Zwangsvollſtreckungen fortgehen 
fönnen, nicht zu beklagen fein follte. Es liegt hierin für Die 
Sozialgläubiger und die Privatgläubiger des Mannes die Mög: 
lichkeit, troß des Abjonderungsrecht3 der Ehefrau zur Befriedis 


36) Mein Kommentar d. K. O. ©. 500. 





=: 308 


gung zu gelangen. Einerſeits das Abfonderungsrecht der rau 
anzugreifen, weil hiedurch die Privatgläubiger des Manns ge= 
fährdet werden, andererfeit3 das Verfahren anzugreifen, meil 
hiedurch den Gläubigern des Manns Sicherungen und Befriedi— 
gungen zum Nachtheil der Frau möglich werden, jcheint nicht 
ganz folgerichtig zu jein. Zu beflagen iſt das letztere allerdings, 
nicht vom Standpunkte derjenigen aus, welche den Ehefrauen 
dieſes Abſonderungsrecht abſprechen, ſondern vom Standpunkte 
derjenigen aus, welche daſſelbe im Intereſſe der Ehefrauen ver— 
theidigen. Uebrigens werden ſich auch die letzteren hiebei beruhigen 
können. Denn gerade darin, daß die Ehefrau, wenn ihr Abſon— 
derungsrecht anerkannt iſt, ein unmittelbares praktiſches Intereſſe 
an der Konkurseröffnung hat, da hiedurch allein die Schmälerung 
und ſchließliche Erſchöpfung der in dem vorausgeſetzten Falle 
das ganze Vermögen des Ehemanns repräſentirenden Errungen— 
ſchaft durch die Fortſetzung der Zwangsvollſtreckungen verhindert 
wird, Liegt der jtärkite Antrieb für die Ehefrau und ihren Ver— 
treter , die Möglichkeit der Konkurseröffnung und deren Fort: 
jegung nicht zu erjchweren, jondern nöthigenfalls durch Ueber: 
nahme der Zahlungspfliht bezüglich der Stojten auf Abrechnung 
an ihrer Beibringensforderung die Konfurseröffnung, beziehungs— 
weile die Fortſetzung des Verfahrens zu ermöglichen. Dabei ijt na— 
mentlich der Gang in das Auge zu fafjen, welchen das Verfahren in 
den hier betrachteten Fällen nimmt. In dem Augenblid, in welchem 
der Antrag auf Konfurseröffnung von dem Schuldner oder einem 
Gläubiger geftellt wird, iſt das vorhandene Errungenichaftsver: 
mögen nicht abgefondert. Cine Theilungsmaſſe iſt alfo in diefem 
Augenblide vorhanden. Das Gericht wird nun zunächſt prüfen, 
ob ihm dieſe Theilungsmaſſe nicht durch Abfonderungsreht unter 
der Hand weggeht. Die kann das Gericht jedoch wegen folder 
Abjonderungsanfprüdhe, deren Objekte in der Mafje vorhanden 
find, nicht annehmen, da es nicht weiß, ob die betreffenden An: 
jprüche geltend gemacht werden. Das thatjächliche VBorhanden- 
fein von Abfonderungsanfprüchen der Ehefrau berechtigt alfo das 
Gericht nicht, nach 88. 99 und 190 die Eröffnung des Verfahrens 
abzulehnen. Da nach $. 82 des deutichen Gerichtsfoftengejeges 
vom 18. Juni 1878 jeder Antragjteller zur Zahlung eines Ge— 
Württemb. Ardhiv für Nedt:c. XXII, Bb. 1. Heft. 11 


— U 


bührenvorfchuffes verpflichtet ijt, Jo müſſen die erjten Koften unter 
allen Umjtänden bei der Stellung des Antrags auf Konkurs— 
eröffnung gededt jein, wenn das Gericht nicht hierauf verzichtet. 
Sit aber der Konfurs einmal eröffnet, jo fann das Verfahren 
aus dem Grunde des $. 190 in den unterjtellten Fällen nicht 
eingejtellt ıderden, folange nicht durch die außerhalb des Konkurs: 
verfahrens verfolgte Auseinanderfegung der Errungenjchaftsge: 
meinfchaft der gänzlihe Mangel an einer Theilungsmafje feit: 
geitellt ift. Diefer letztere jedoch kann eintreten, mag die Frau 
die weiblichen Freiheiten anrufen oder nicht, jo oft der Mann 
fein Sondervermögen hatte. Nach diejer Feitftellung aber das 
Konkursverfahren einzuftellen, kann wiederum feinem Bedenken 
unterliegen, da dafjelbe fein Objeft mehr hätte. 

Hiemit dürfte auch eine weitere auf den erjten Anblic be: 
ftechende Einwendung, a. a. D. ©. 9, Note 5 ihre thatfächliche 
Bedeutung verlieren. Es wird a. a. O. gejagt: 

„Diefe (die oben erwähnten) Verwidlungen ſcheinen ein 

Ausflug zu fein des circulus vitiosus, in welchen ein Ab- 

jonderungsrecht gerathen muß, welches nach Erijtenz und 

Wirkſamkeit von der Eröffnung des Konkurſes abhängig iſt, 

während gleichzeitig der Umjtand, daß dieſes Abjonderungs: 

vecht nach gegebenen Verhältniffen die ganze Mafje um— 

Ipannt, der Gröffnung eines Konfursverfahrens wieder 

Schwierigfeiten bereitet.“ 

Es dürfte durch das Ausgeführte gezeigt fein, daß dieſe 
Schwierigkeiten, bezüglich der Eröffnung des Konkurſes bei rich: 
tiger Anwendung des Gefeges nicht beitehen. Nach dem 
Erachten des Verfaſſers ift diefer Vorwurf des circulus vitiosus 
hiernach thatſächlich nicht begründet, jedenfalls aber wäre dieje Ein— 
wendung wiederum nicht gegen den 8. 44 und deſſen Anmendung 
auf die Errungenschaftsgejellihaft, jondern gegen ein anderes 
Grundprinzip des Gejeges, gegen die 88. 3 und 14, zu richten. 

Schließlich mag es gejtattet fein, im Anſchluß an dieje Er: 
örterungen noch einen Gefichtspunft hervorzuheben, welcher aller: 
dings noch) mehr als das Bisherige nur vom Standpunfte der 
lex ferenda aus Bedeutung hat, doch aber vielleicht geeignet 
ift, einer aus den gewohnten bisherigen Nechtsanfchauungen des 





— 1938 — 


württembergifchen Konkursrechts leicht erflärlihen Abneigung 
gegen die Konſequenzen der SS. 3, 14 und 44 der Konfursordnung 
entgegenzuwirken. 

Das bisherige Vorzugsrecht der Ehefrauen hat, wie Jeder, 
der mit dem Volksleben in ſteter Berührung ſteht, anerkennen 
wird, dadurch ſegensreich gewirkt, daß hiedurch der Familie des 
Gantmanns Mittel zu ihrem Unterhalt erhalten blieben. Hierin 
(ag mittelbar auch ein Bortheil für den Volfswohlitand. Wer 
dieß anerfennt, wird es weniger beflagen, wenn einzelne Gläu- 
biger nicht zur Befriedigung gelangen, als wenn den Frauen, 
welche feineswegs der Negel nad) an dem Bermögenszerfall mit: 
Ihuldig find, jondern in der Mehrzahl der Fälle machtlos der 
Ihlechten oder ungeſchickten Wirthichaft des Mannes gegenüber: 
ttehen, ihr Beibringen oder ein Theil dejjelben erhalten bleibt. 
Mar aus den oben erörterten Gründen das bisherige Vorzugs— 
teht der Ehefrau als zu weit gehend nicht aufrecht zu erhalten, 
jo wird man umfomehr Grund haben, das Abfonderungsrecht 
des 8.44 in feinem vollen nach dem Wortlaut des Gejekes, 
wie nach feinen inneren Gründen berechtigten Umfang fejtzu: 
halten, wodurch wenigjtens in vielen Fällen die Nachtheile der 
Aufhebung des Vorzugsrechts abgemwendet oder doch gemindert 
werden. Diejelben Erwägungen, welche für die Einführung des 
Inſtituts der weiblichen Freiheiten bejtimmend gemwejen find, 
Iprechen für die Anerkennung des in Zweifel gezogenen Abion- 
derungsrechts. Die Anerkennung dejjelben ift auch für die 
Armenverbände eine Frage von großer Bedeutung. Wenn dafjelbe 
verneint würde, jo würde ihnen unzweifelhaft nach Aufhebung 
des Vorzugsrechts eine ungleich größere Anzahl von Familien 
zur Armenfürjorge anheimfallen. Ob es aber gerechtfertigt ift, 
zu Gunften von Gläubigern, welche dem Schuldner freiwillig 
reditirt haben, die Armenverbände noch mehr als bisher zu 
belaften, dürfte wohl der Erwägung werth fein. 

Daß das oben erwähnte abfällige und verdammende Urtheil 
über die Wirkungen der Thefis des Oberlandesgerichts nicht ala 
begründet erfcheint, dürfte immerhin aus den vorjtehenden Er: 
örterungen der Frage ſich ergeben. Uebrigens wird, ganz 
abgefehen von Erwägungen der legiglativen Zwedmäßigfeit, eine 





— 164 — 


folgerichtige Auslegung und Anwendung des Reichs: und Landes— 
Geſetzes zu feinem von der Theſis des DOberlandesgerichts ab: 
weichenden Rejultat gelangen können, jo lange man nicht aufhört, 
die württembergifche Errungenſchaftsgeſellſchaft und das Inſtitut 
der weiblichen Freiheiten in ihren durch das wiürttembergifche 
Landrecht und das Gewohnheitsrecht Feitgeitellten Grundlagen zu 
erkennen. | 





III. Miktheilungen aus der Rechlſprechung des 
K. Verwaltungsgerihtshofs. 


Von Herrn Staatsminijter v. Geßler. 


Vierte Folge. 
(Fortſetzung.) 


23. Ortsarmenverband Günzkofen, DU Saulgau, 

Kläger, Berufungskfläger, Litisdenunziant und Land: 

armenverband Saulgau, Litisdenunziat, gegen 

Ortsarmenverband Beuren, DA. Riedlingen, Be: 
Elagten, Berufungsbeflagten. 

Freiheit der Selbjtbejtimmung in der Wahl des 
Aufenthalts. SS. 12. 24 des Reichsgeſetzes über den 
Unterjftüßungsmwohnfiß. 

Urtheil vom 28. Auguſt 1880. 


Anton Baier ift geboren den 26. November 1842 und in 
Beuren DA. Niedlingen bürgerlih. An legteren Ort hat er jich 
aber jeit beiläufig fünfzehn Jahren nicht mehr aufgehalten, ſon— 
dern ift meijtens auswärts bei Bauern auf fürzere oder längere 
Zeit, wie es jcheint, nirgends fortdauernd im Dienſt gejtanden. 
Cr nahm, wenn er arbeitslos war, bei jeiner in Günzfofen 
verheiratheten Schweiter Pauline Djtermaier, in deren Haus 
ihm angeblih ein von jeinem elterlichen Haufe in Beuren über: 
tragenes Wohnungsrecht zuſteht, ſeinen Aufenthalt. 

Anton Baier ift geiftig beſchränkt und als ihn noch ein 
Fußleiden zur Arbeit unfähig machte, ſah fich jein Schwager 
Sebaftian Dftermaier von Günzkofen veranlaft, das Oberamt 
Saulgau zu bitten, für feinen Schwager, der fich feit feiner 
Abwejenheit von Beuren nirgends und auch in Günzkofen nicht 

Mürttemb, Archiv für Recht sc. XXII. Bd. 2. & 3. Heft. 12 


— — 


zwei Jahre ununterbrochen aufgehalten habe, den Unterſtützungs— 
wohnſitz auszumitteln, damit ihm eine Unterſtützung für ſeine 
Verpflegung zu Theil werde, da er als blödſinnig ſimpelhaft 
und wegen ſeines Fußleidens arbeitsunfähig ſeinen Unterhalt 
nicht erwerben könne. Da Baier als geiſteskrank der freien 
Selbſtbeſtimmung in der Wahl ſeines Aufenthalts entbehrt 
habe, wandte ſich das Oberamt Saulgau an die Ortsarmenbe— 
hörde Beuren, die jedoch das Anſinnen auf Uebernahme ablehnte, 
weil die freie Selbſtbeſtimmung in der Wahl des Aufenthalts 
bei Baier nicht ausgefchlojfen jei. Vorläufig bewilligte der Orts: 
armenverband Günzkofen dem Djtermaier für Baier täglich 50 Pr. 
Unterftüßung. Der Oberamtsarzt in Saulgau’ äußerte fich über 
jeinen Geifteszuftand dahin: „Diefer Burfche leidet an höherem 
Grad von Schwahfinn, der fi jchon dem Blödſinn zuneigt. 
Eine freie Selbjtbeftimmung in der Wahl jeines Aufenthalts: 
ort3 ijt ihm nicht zuzutrauen.“ Auf Grund dieſer Neußerung be: 
Ihloß der Landarmenverband Saulgau, die Landarmenqualität 
des Baier nicht anzuerkennen, und dem Urtsarmenverband 
Günztofen die Klage gegen den Drtsarmenverband Beuren zu 
überlajjen. Dieſem Beſchluſſe gemäß klagte der Ortsarmen— 
verband Günzkofen gegen den Ortsarmenverband Beuren auf 
Uebernahme des Baier und Erſatz von 62 M. Aufwand, weil 
Baier wegen der ihm mangelnden Freiheit der Selbitbejtimmung 
den ihm in Folge feines Bürgerrehts am 1. Januar 1873 
zufommenden Unterftüßungswohnfig in Beuren nicht verlieren 
konnte. Seine Hilfsbedürftigfeit jei wegen jeiner Simpelhaftig: 
teit und feines Fußleidens außer Zweifel. 

Die Vernehmlaſſung beftritt Die Simpelhaftigfeit Baiers. Die 
Behörden und insbefondere das Oberamt Saulgau haben mehr: 
fah mit ihm verhandelt, was man mit einem fimpelhaften 
Menſchen nicht thue. Nach den Protofollen habe er are Ant: 
worten gegeben, und feinen Namen unterfchrieben, überdieß habe 
er jih bis in die neueſte Zeit als Bauernknecht jelbjtändig fort: 
gebraht und fogar feine im Jahr 1869 geftorbene Mutter 
unterjtüßt. Das Gutachten des Dberamtsarzts fei nicht näher 
motivirt und ftehen demfelben die angeführten Thatjachen entgegen. 

Die Replik beitreitet, daß ſich Baier jelbftändig als Bauern: 








u TOR 


knecht Fortgebracht habe, feine VBerdingung habe in der Negel 
jein Bater oder feine Schweiter oder deren Ehemann bejorgt. 
Ebenſo wenig habe er feine Mutter unterjtüßt. 

Nachträglich Legte Kläger eine Erklärung der Bauline Dfter- 
maier vor, die vor dem Gemeinderat Günzfofen angab, daß 
fie ihren Bruder Anton Schon längere Zeit verdingt habe, in— 
dem er nicht wußte, was 10, 20 oder 30 M. feien, jondern zu— 
frieden war, was man ihm gab, jeine Mutter habe er nicht 
unterjtügt, fondern diejelbe habe für ihn, foweit eg ihr möglich 
war, gejorgt. Im Jahr 1872 fei fie von Beuren nad) Günz— 
foren gezogen, in dem Haus in Beuren, das ihr Mann verkauft 
habe, habe er ein MWohnungsrecht gehabt, in dem hiejigen Kauf: 
buch fei aber dasjelbe auf das gegenwärtige Haus nicht über— 
tragen worden. 

Außerdem wurden jchriftliche Zeugnifje früherer Dienjtherrn 
des Baier vorgelegt, nämlich des Anton Bröll, Ling und Michel, 
die bejtätigen, daß die Pauline Dftermaier ihren Bruder ver: 
dingte und feine Fähigkeit für landwirthſchaftliche Arbeiten für 
jehr gering faſt für O erklären. Kläger berief jich noch auf 
weitere Zeugen, um deren Bernehmung er bat, ſowie er die 
Dftermaierfchen Eheleute als Zeugen für die Geijtesihwäche des 
Baier benannte, und die Einvernehmung eines weiteren Arztes 
hierüber beantragte, deſſen Wahl er dem Gericht überlafe. 
Hiegegen hatte Beklagter nichts einzuwenden, dagegen bezeichnete 
er die Dftermaierfchen Eheleute als verdächtige Zeugen, weil ihnen 
am Sieg des Klägers liegen müjje, damit jie die Laſt los wer: 
den. Außerdem legte Beklagter einen Kaufvertrag vom 22. De: 
jember 1871 vor, durch den Sebajtian Djtermaier die von 
Pauline Baier in Beuren erworbene Liegenschaft an Joſeph 
Wohlwender verkauft. Nach demſelben gehen die Laſten auf 
den Käufer über mit Ausnahme des darauf haftenden Leib- 
gedingg und des Wohnungsrecht3 de3 Anton und Wendelin 
Baier von Beuren, ferner ein Schreiben des Schultheißenamts 
Beuren vom 19. Januar 1872 an das Bürgermeifteramt Kalk: 
teuthe, in dem gebeten wird, den dort im Dienjt befindlichen Anton 
Baier darüber zu vernehmen, ob er auf das Wohnungsrecht 
auf dem Haus in Beuren unter der Bedingung verzichte, daß 


12* 


— 18 — 


ihm die Dftermaierfchen das Wohnungsrecht auf dem Haus in 
Günzkofen einräumen, womit Anton Baier fi) einverjtanden er: 
flärte. Unterm 30. Dftober 1879 wies die Regierung des 
Donaukreiſes die Klage Eojtenfällig ab. 

Gründe: Pauline Ditermaier hat angegeben, daß Anton 
Baier Schon von Kindheit an geiſteskrank fei; daß jedoch bei 
demfelben der Gebrauch von Verſtand und Vernunft nicht auf: 
gehoben, fondern nur befehränft war, geht daraus hervor, daß 
derjelbe jeinen Namen zu jchreiben verjteht, alfo mit Erfolg die 
Schule beſuchte; derſelbe ijt nicht nur auf Vorladen- mit ſeiner 
Schweiter vor dem Dberamt Saulgau erjchienen, um über feine 
perjönlichen Berhältnifje gehört zu werden, fondern er hatte ji 
auch an das Schultheißenamt Beuren um Unterftügung gewendet, 
und tft, da er hier abjchlägig bejchieden wurde, vor dem Oberamt 
Saulgau mit der zu Protokoll gegebenen Bitte erfchienen, es 
nıöchte der Armenbehörde Beuren aufgegeben werden, ihn zu 
unterjtügen, indem er am gerniten in Beuren bleiben würde, 
wo er bürgerlich fei und jeine Schweiter in Günzfofen ihn nit 
länger behalten wolle. Da Baier hier felbitjtändig vernunft: 
und verjtandesgemäß aufgetreten ift, um fein Fortlommen in 
dem einen oder dem andern Drt zu fichern, To ſchließt ſchon dies 
die Annahme aus, daß er der freien Selbitbeftimmung insbe 
jondere Hinfichtlich der Wahl feines Aufenthaltsorts nicht mächtig 
gewesen fei und es ändert hieran nichts, ob er fi) mehr oder 
weniger durch den Nath und Einfluß Dritter insbefondere feiner 
Schweiter beſtimmen ließ. Das Gleiche folgt aus der Thatfache, 
daß er von Jugend auf an verfchiedenen Orten al3 Bauernfnecht 
diente, und fein Fortlommen jo lange fand, bis er im Herbſt 
1877 durch fein Fußleiden arbeitsunfähig wurde, ferner, Daß er 
im Jahr 1872 auf das ihm in Beuren zuftehende Wohnungs: 
recht unter der Bedingung der Einräumung deijelben in Günz: 
fofen verzichtete, und in Folge defjelben, wenn ev dienſtlos wurde, 
jein Unterfommen in Günzkofen fuchte. Auf den Grad feiner 
Brauchbarkeit kommt biebei ebenfowenig an, als darauf, daß 
meistens jein Vater oder feine Schweiter oder fein Schwager für 
jein Unterfommen in einen Dienit jorgten. Die freie Selbjtbe: 
jtimmung war ihm hiedurch nicht entzogen und von einem auf 








— 169 — 


jeine Selbjtbeftimmung geübten Zwang ift nirgends die Nede. 
Hieran mußte auch dem Gutachten des Oberamtsarzts in Saul: 
gau gegenüber feitgehalten werden. Abgejehen davon, daß das: 
jelbe nur auf einmaliger furzer Beobachtung ohne Kenntniß der 
hervorgehobenen Thatumſtände beruht, ift es nicht näher begrün— 
det und zu ſummariſch abgefaßt, es bezieht fih nur auf die 
Gegenwart, nicht die Vergangenheit. Bei den klar gegen den 
Kläger bemweifenden Thatumjtänden lag fein Grund zur infor: 
derung eines weiteren Gutachtens und VBernehmung der benannten 
“Zeugen vor. 

Die Berufungsschrift legte ein eingehend begründetes Gut: 
achten des Dberamtsarzts Dr. Bofcher vor und beantragte die 
Einvernehmung der Zeugen. Daß er feinen Namen nach acht: 
jährigem Schulbejuch fchreiben gelernt habe, beweife nichts, zu: 
mal, wenn er jo mangelhaft gejchrieben werde. Zu den einzelnen 
Handlungen habe ihn feine Schweiter angeleitet, fie habe, wie 
der Oberamtmann Elwert in Saulgau bejtätigen werde, die ein- 
zelnen Angaben gemadt. Bon dem Wohnungsreht, und was 
dabei verhandelt wurde, wiffe Baier nichts. Beigefchlofien ift 
ein Bericht des Schultheißenamts Günzkofen. Daffelbe hat fich 
bei verjchiedenen Leuten erkundigt, überall habe man den Anton 
Baier als einen Simpel bezeichnet, der im Geſchäft wenig braud): 
bar war. Die einzelnen Perſonen, die über Baier ausfagten, 
find genannt. 

Dr. Boſcher äußert fi auf Grund genauer Unterfuhung 
jowie Vernehmung der Oftermaierichen Eheleute und der Dienft- 
herin des Baier dahin: Cine hereditäre Anlage oder voraus— 
gegangene Erfranfung der Gentralorgane läßt ſich nicht nach: 
weifen. Schon im erften Lebensjahr litt er an der englifchen 
Krankheit (rhachitis), die ihn in der Entwidlung des Knochen— 
ſyſtems zurüchielt, ihm das Gehen erſt im vierten Jahre mög- 
lich machte und bis in fein fiebentes Jahr dauerte. Seine Ge: 
müthsftimmung fei ſchon damals eine verjchlojjene, düſtere, feine 
Geiſteskräfte auffallend fchwach gewefen. In Schule oder Kirche 
lernte er nicht. Der Lehrer habe ihn, wie er ſelbſt jagt, an 
einen befonderen Platz gejeßt und nur Buchftaben nachmachen 
laſſen. Zur Feldarbeit war er nur unter ftrenger Auflicht zu 





=. 176: 


brauchen. Nach der Angabe feiner Kameraden war. er jtupid, 
lernte weder lejen noch fchreiben, und galt für einen Simpel. 
Vom vierzehnten bis zwanzigiten Jahr wurde er zu Haufe mit 
Spinnen, Holz: und Wafjertragen, Stallmijten ꝛc. befchäftigt. 
Dazwifchen bettelte er im Ort und bradte das Erbettelte nad 
Haus. Vom zwanzigiten Jahr an fuchten ihn feine Eltern und 
jeine Schweiter im Dienft unterzubringen, nit er, fondern ie 
bedungen den Lohn, weil er feine Einfiht in die Sache hatte. 
Nirgends babe man ihn länger behalten, jelbjt nicht ohne Lohn 
gegen das Eſſen. Sie halten ihn für einen Tafel, Dummkopf, 
Simpel, mit dem nicht3 anzufangen ſei. Er habe einmal an 
einem jchwer beladenen Wagen bergauf geiperrt, ein Anderer 
jagt: er habe dem Vieh fo viel Futter hineingefchoben, daß es 
noch den andern Tag gereicht habe. Er habe ein Bierwägelden, 
an dem ein Nad fehlte, nah Haus gebracht, ohne 28 zu merfen. 
Sein Charakter jei düfter, verfchloffen, wortfarg, im Ganzen aber 
gutmüthig, nur leicht jähzornig und viehnärriich geweſen; wenn 
‚ man ihm fein Geld gebe, werde er gegen Andere grob und ges. 
waltthätig, was ihm oft eine Tracht Prügel eintrug. Er war 
ein beifpiellofer Vielfraß, ftarfer Trinker und Raucher, kam oft 
Ichnapsbetrunfen nach Haus, ließ jih im Wirthshaus von An— 
dern einjchenfen und machte dafür den Spielball, den Narren; 
von Weibsbildern wollte er nichts wiffen. Wie feine fünf Dienft- 
herrn, fo jprachen fich auch fein Schwager und feine Schweiter, 
jfowie der Schultheiß aus. Sie geben an, daß er nichts auf 
feine Kleidung halte, höchit unreinlich fei und ohne die Sorge 
Dritter bald verlumpen würde. | 

Die dreimalige je zwei Stunden im Spital dauernde Un— 
terfuhung ergab Folgendes: Er ift fchlanf, 1,68 Meter groß. 
Ernährungszuftand unter Mittel, Puls und Hauttemperatur 
normal, Sinnesorgane, Lippen, Zunge ohne Defect, Schädel wohl 
in Folge früherer Rhachitis etwas mikrocephal in jeinen. ver: 
Ichiedenen Dimenfionen um 1—4 Gentimeter differivend, auch das 
übrige Knochenſyſtem etwas ſchwach entwicelt, ebenfo die Gent: 
talien; jeit etwa zehn Jahren find am rechten Unterjchentel 
gegen Techszehn Krampfadergefchwüre, die jedoch nur fehmerzhaft 
find amd die Arbeitsfähigfeit nur befchränten, nicht aufheben. 





— 171 — 


Die verihiedeiten Ercretionen find. in Ordnung, er ift bett: und 
itubenrein, hat Appetit und ausgezeichneten Schlaf, im Spital, 
wo er warmes Zimmer, gutes Bett und gute Nahrung hat, ge: 
fällt e8 ihm fo gut, daß er immer da bleiben möchte. Sein 
Blick ift geiftlos, dev Geſichtsausdruck dumm, blöde, jein Benehmen 
wrüdhaltend, dann wieder das eines täppifchen guten Kerls, 
die Sprache. etwas heifer, näfelnd, filtelnd wie bei einem Caſt— 
raten, die Antworten felbit auf gewöhnliche Fragen find langſam, 
oft nicht zutreffend oder verwirrt; Antworten, die etwas Ver: 
ftand oder Ueberlegung fordern, erfolgen oft gar nicht, oder jagt 
ev, dieß kann meine Schweiter jagen. Sein Alter gibt er ver: 
ihieden meift auf 37 Jahre an. Jahr und Tag feiner Geburt 
fennt er nicht, auch nicht feinen Geburtsort, bald-ift er in 
Beuren, bald in Günzkofen geboren. Sein Ideenkreis bejchränft 
ih auf gewöhnliche Lebensvorgänge, befonders auf Befriedigung 
jeiner thierifchen Bedürfniſſe, eſſen, trinken, fchlafen, rauchen, ein 
höherer geiftiger Gefichtsfreis ift ihm verfchloffen, ev weiß nichts 
von einem engeren oder weiteren Vaterland, feine Spur von 
dem legten welterjchütternden Krieg. Leſen, jelbit großen Drud, 
fann er nicht, fchreiben nur feinen Namen (wie die Brobe zeigt) 
vehnen ijt ihm ein ipanifches Dorf, 2+2=3, 2+3=]17 
jagt er, er fonnte einige Bitten des Waterunfers, einige Artikel 
des Glaubens, einige Gebote des Defaloges heriagen, aber Alles 
mit einem gewiſſen Mechanismus, mit einer ihn fichtbar quälen- 
ven Haft, Alles verwirrt und kunterbunt unter einander geworfen, 
jobald man ihn unterbrach und die Bedeutung eines Glaubens: 
artitels oder Gebot3 wiſſen wollte, man fonnte in religiöſen 
Dingen bei ihm nur einen gewiſſen ihm übrig gebliebenen Schul: 
jad erfennen. Man konnte jogleich einjehen, daß Alles nicht 
auf einer DVerftandesthätigfeit, auf Begriff und UWeberzeugung 
beruhte, jondern nur mechanisch an- und eingelernt, und nur 
deßwegen noch- in feinem ſchlechten Gedächtnif; haftend, weil er 
täglich dreimal diefe Gebote zu hören befam. Schlecht ift Tein 
Gedächtniß, er behauptete drei Tage hintereinander mit fünfzehn 
Jahren, ja mit achtzehn Jahren aus der Schule gekommen zu 
jein. Ganz unentwicelt iſt aber auch fein ethifher und mora- 
licher Sinn, von Pflichten des Menfchen weiß er nichts, Gott 





— 172 — 


it ihm ein unbefannter Begriff, deſſen Perſon er ins Paradies 
verjeßt, während er den Teufel nirgends zu plaziren weiß. 

Gutachten. Die Zeugenangaben find glaubwürdig. Wir 
haben es mit einem Menjchen zu thun, der von Jugend auf 
bis heute fei es in Folge mangelhafter Entwidlung des Schä— 
dels und Großhirn als Folge der überjtandenen Rhachitis, fei 
e3 in „Folge einer andern Urſache an einem geiltigen Defekt 
leidet, der ihn faum über die Stufe des Thiers erhebt, ihm 
hauptjählih nur ein Leben nad thierifchen Inſtinkten ermög— 
lichte, alle Errungenichaften in Schule und Kirche hinderte, den 
Einblid in fein Sch und feine Umgebung und damit die Ent: 
jtehung eines Selbjtbewußtjeins und Verſtändniß für die Außen: 
welt raubte, der ihn nicht die jedem geiftig normalen Menfchen 
nothwendige Summe von intellektuellen, ethijchen und moralischen 
Begriffen erringen ließ, um das Eine thun, das Andere laſſen 
zu fönnen, und im Zweifelsfall das Nichtige zu wählen. Er 
hat von jeher nur nach thierifch inftinktiven Motiven gelebt, 
deßhalb ganz ermangelnd der auf den Brinzipien der Ethik und 
Moral bafirenden Gegenvorftellungen allmählich ſich immermehr 
der unter dem Thier jtehenden Freß-, Trunk- und Rauchſucht 
hingegeben und auch in feinem Fall eine auch nur halbwegs 
erforderliche Einfiht in eine Sache oder ein Handeln aus ji 
jelbjt heraus, eine freie Willensbeftimmung gezeigt. Was er that, 
war immer nur Folge äußerer Einflüffe, äußeren Drängens, 
äußeren Zwangs. Deßhalb Habe ih ihm in Hebereinitimmung 
mit meinem Gutachten vom 17. Juli 1878 die freie Willensbe: 
ftimmung überhaupt und alfo auch für die freie Wahl feines 
Aufenthalts abzufprechen. 

Die Bernehmlafjung betont, daß A. Baier ftrafrechtlich, 
privatrechtlich, öffentlich-rechtlich (Aushebung) als geiftig zurech— 
nungsfähiger Menſch behandelt wurde und legt ein Gutachten 
des Dberamtsarzts Dr. Camerer in Riedlingen vor, das fich für 
jeine Fähigkeit der freien Selbitbeitimmung ausfpridt. 

Das Gutachten gründet fih auf Einfiht der Alten, Be: 
fragung verfchiedener Perſonen und Unterfuhung des Baier am 
20. Januar 1880 im Spital in Saulgau. Auch ich bin, fagt 
Dr. Gamerer, überzeugt, daß Baier ein geiſtesſchwacher Menſch 





— — 


iſt, daß ihm für viele höhere Verhältniſſe des Lebens die Ein— 
ſicht fehlt, und daher für dieſe die freie Willensbeſtimmung ab— 
geht, allein hier handelt es ſich nur um die freie Willensbe— 
ſtimmung zur Wahl des Aufenthalts, darum, ob er fähig war, 
ih als wenn auch untergeordneter Bauernknecht Felbitjtändig 
zu verdingen und als ſolcher feinen Lebensunterhalt zu erwerben. 
Wie Dr. Bojcher feinen Ausſpruch aus dem von ihm geltend ge: 
machten Gutachten begründen will, ift mir nicht erxfichtlich, zu: 
mal feine Anamneje in wichtigen Punkten unzulänglid und irr- 
thümlich iſt. 

Gehe ich auf die Schulzeit zurück, ſo ſind die Angaben, 
die ich von dem Schultheißenamt Beuren erhielt, hierüber andere. 
Mir hat Baier ſelbſt auf Befragen zugegeben, daß er lernte 
einzelne Worte leſen, aber keine Sätze, das an der Tafel Vor— 
geſchriebene habe er abſchreiben können, rechnen habe er nicht 
gelernt. Berückſichtigt man die ungünſtigen häuslichen Verhält— 
niſſe — es mußte ihm und ſeinen Geſchwiſtern bei Lebzeiten 
der Eltern ein Pfleger geſetzt werden — ſo iſt unzweifelhaft, 
daß er bei ſorgfältigem Unterricht, wie er z. B. in einer Anſtalt 
für Schwachſinnige ertheilt wird, jo weit hätte gebracht werden 
fönnen, als bei dem Unterricht in der Volksſchule möglich ift. 
Nah den Aushebungsaften des Dberamt3 Riedlingen vom 
Jahr 1863 wurde er nicht als geiftig defeft aufgeführt, was 
geihehen wäre, wenn man ihn in Beuren für jimpelhaft gehalten 
hätte, er hat fich freigeloost, und wurde bei der Mufterung für 
unbedingt untüchtig erklärt. Er felbjt gibt an, weil er zu klein 
gewejen fei und eine ſchwache Bruft gehabt habe. In der That 
würde er auch jegt noch wegen feiner rhachitiih mißbildeten 
Bruſt militärfrei. Mit 24 Jahren wurde er ohne Anftand für 
mündig erklärt, erhielt fein pflegjchaftlich verwaltetes Vermögen 
und das Schultheifenamt Königseggwald nahm feinen Anjtand, 
mit ihm zu verhandeln, auch nachher wurde mehrfach mit ihm 
verhandelt, 3. B. ftand er im Jahr 1879 bei dem Dberamt 
Riedlingen wegen Bettelnd in Unterfuhung. Immer konnte er 
ohne Anftand vernommen werden, und gab den Behörden feinen 
Anlaß, ihn für einen der freien Willensbeftimmung beraubten 
Denihen zu halten. Er hat fih vom 20. bis 36. Lebensjahr 





6 —— 


al3 Bauernfnecht fortgebracht, und wurde erjt unterſtützungsbe— 
dürftig, als er an hronifhen Fußgeſchwüren erfrantte. 

Die Unterfuhung des Anton Baier hat folgenden Verlauf 
genommen: Sch befragte ihn zunächſt über fein Fußleiden, und 
befichtigte den franfen Fuß, wobei er fagte, daß er nur wegen 
diefes Fußleidens nicht mehr dienen könne und zu jeiner Schweiter 
gegangen ſei. Ich fragte ihn nach den Kindern feiner Schweiter. 
Er fagte, fie habe drei, ein Mädchen, das jet in die Schule 
gehe, ein jüngeres Mädchen, das jüngfte fei ein Bube von zwei 
Sahren, ein anderer Bube ſei gejtorben. Er gibt die Namen 
dDiefer Kinder an. Sein Alter gibt er auf Befragen zu 37 
Sahren an, er ift 1842 geboren. Die laufende Jahreszahl kennt 
er nicht, nachdem ich fie ihm gejagt, kann er nicht berechnen, in 
welchem Jahr er geboren ift, dagegen bringt er heraus, daß ein 
jet zehnjähriger Knabe 1870 geboren ift. \ 

Von vorgezeigten Geldſtücken kennt er alle Stüde unter 
einer Mark. Die 20 Pfennigftüde nennt er zumeilen Siebener. 
Er kennt ferner Markſtücke, Thalerjtücde, ein Zweimarkſtück gibt 
er zu einem Gulden zehn Kreuzer an. ES werden ihm vorgelegt 
ein Zwanzig-, ein Zehn-, ein Zweipfennigjtüd, er gibt an, daß 
e3 zweiunddreißig Pfennig jeien, zwei Zmwanzigpfennig= und ein 
Fünfpfennigſtück gibt er zu fünfundvierzig Pfennig an. Er weiß 
ferner, daß er für fünfundvierzig Pfennig vier Glas Bier und 
einen Pfennig zurücdbelommt, daß er für vier Glas zu zehn 
Pfennig zwei Zwanzigpfennigſtücke bezahlen müßte. Es wird ihm 
aufgegeben, mit dem daliegenden Geld zu zeigen, wie viel er für 
zwei Cigarren zu drei Pfennig das Stüd bezahlen müßte, er 
fegt das Fünfpfennigftüd bin, und fagt, er müßte noch einen 
Pfennig darauf legen. Für ſechs folcher Cigarren nimmt er ein 
Zwanzigpfennigftüd, und weiß, daß er noch zwei Pfennig zurüd 
befonmt. Es foftet ihn allerdings Anftrengung, diefe Nechnung | 
durchzuführen, und ohne die Münzen könnte er fie ſchwerlich machen. 

Es wird ihm nun eine Tafchenuhr gezeigt, die 4 Uhr fieben 
Minuten zeigt, er jagt, es fei vier Uhr, die Minuten kann er 
nicht berechnen. 

Auf die Frage, ob er bei den Bauern ordentlich habe 
Schaffen fünnen, jagt er, er fönne die Arbeiten eines Knechtes 





— 15 — 


wohl verrichten, er fünne mit Ochſen fahren, mit Pferden aber 
nicht vecht, nämlich nur mit alten, nicht aber mit jungen ‘Pferden. 
In dem legten Dienjt habe er nicht mehr jchaffen fünnen, weil 
fein Fuß, wenn er auch geheilt ſei, immer wieder aufbreche. 

Befragt, was er thun werde, wenn fein Fuß wieder ganz 
gefund wäre, jagt er, er ginge wieder zu einem Bauern in 
Dienſt, und würde beim Dingen fünfzig Gulden Jahreslohn 
fordern, befommen babe er allerdings früher nie mehr als vier: 
ig Gulden. Auf die Frage warum? jagt er zögernd, er Fünne 
freilich nicht fo viel, als ein anderer Knecht, die befommen 
hundert Gulden für das Jahr. Auf den Vorhalt, er habe ein— 
mal gejagt, er wolle nimmer fchaffen, lieber betteln, verwahrt er 
ih jehr. Er habe nur aus Noth gebettelt, wenn fein Fuß wie: 
der gut Sei, fchaffe er lieber, er fei nicht arbeitichen. Auf den 
weiteren Vorhalt, daß er fich nicht felbjt verdingen. fünne, ſon— 
dern jeinen Vater oder jeine Schweiter dazu brauche, zieht er 
dies energifch in Abrede, er habe fih meiftens felbit verdingt. 
Zu feiner Schweiter gehe er, wenn ev feinen Dienjt habe, weil 
er jonft Niemand habe, er habe ein Necht, bei ihr zu wohnen, 
Eſſen müſſe fie ihm aber nicht geben. Ueber fein VBorleben fagt 
er noch: Buzengeiger fei mit ihm in der Schule gewejen, Bühler 
aber nicht. Fünf Kameraden haben mit ihm gejpielt, einer der: 
jelben Stephan Hiller fei fpäter nach Amerifa, drei haben ge— 
wonnen, zwei verfpielt, e3 ſei aber nur einer, Johannes Bed, 
zum Militär gekommen, dev Buzengeiger fei frei geworden, er 
jei zu leicht (ſchwächlich) geweſen. Sein Pfleger fei der Berrus 
(Leo Ramſperger) gewefen, der damals Bürgermeijter (Gemein: 
depfleger) geweſen jei. 

Als man das Vermögen auseinander gemacht, habe es ihn 
und jeinen Bruder mit einander hundert Gulden getroffen und 
Jeden ein Bett. Das Geld erinnert er fich nicht befommen zu 
haben, es müfje.noch in Riedlingen in der Kafje fein. Befragt, 
wie er zu demfelben fommen wolle, jagt er, er gehe nad) Ried» 
lingen zum Oberamtmann oder zum Schultheigen. Wenn etwas 
tehle, müffe der Pfleger herhalten. Das Geld jei nicht verloren, 
man werde es ihm ſchon ſchicken, wenn er es nöthig brauche. 
(Der Schultheiß von Beuren bejtätigt diefe Angaben.) 





— 116 — 


Gutachten. 1) Baier iſt wegen fürperlicher Leiden, nicht 
wegen Geiſtesſchwäche arbeitsunfähig. 

2) Er befitt vollfommen klare Einficht in feine Lage; daß 
feine Schwefter nicht verpflichtet ift, ihn zu ernähren, und er 
entweder arbeiten oder betteln muß. Aus feiner Antwort, er ſei 
nicht arbeitfeheu, und wolle gern wieder dienen, wenn fein Fuß 
geheilt fei, ergibt fich, daß er die Arbeit für ehrenhaft und pflicht: 
gemäß, das Betteln für Ichändlih hält. Demgemäß Fönnte ihm 
gegenwärtig freie Selbftbeftimmung in der Wahl feines Aufent: 
haltsorts nicht abgefprochen werden. 

3) Es iſt nicht möglich, nachzuweifen, daß ſein Geijteszu- 
ſtand im Fahr 1872,78 fchlechter war, als gegenwärtig, viel: 
mehr ijt das Gegentheil höchſt wahrfcheinlih, da das Xeben 
eines bettelnden Vagabunden notoriſch höchſt ungünftig in diefer _ 
Beziehung einwirkt: " 

Außer dem Gutachten wurden verfchiedene fchriftliche Zeug: 
nifje vorgelegt, die fich günftiger über den Geifteszujtand des 
Baier ausiprehen. Auf den Antrag des Klägers wurde der 
Vorſtand der Anjtalt Schufjenried Dr. Aſt mit der Unterfuchung 
und Begutachtung des Geifteszuftands des Baier in der dem 
Geſetz entiprehenden Richtung freier Selbſtbeſtimmung in der 
Mahl des Aufenthalts beauftragt, weil die beiden Gutachten in 
den Grundlagen nicht harmonirten. Nachdem auf jeinen Antrag 
noch jämmtliche Zeugen (11 an der Zahl) eidlich vernommen 
worden waren, gab Dr. At auf Grund fämmtlicher Akten, der 
Zeugenvernehmung und Unterfuhung des Baier fein Gutachten 
dahin ab, daß derjelbe von Haus aus ein hochgradig ſchwach— 
finniger Menjch jei, der immer und alfo auch) zu der Zeit, ald 
er fih von Beuren entfernte, einer wirflihen Willensfreiheit, 
und alfo auch der Fähigkeit, feinen Wohnort aus eigenem aus 
Nachdenken und Ueberlegung hervorgegangenem Entſchluß zu be 
jtimmen, entbehrt hat. 

Aft unterfuchte den Baier im Spital in Saulgau, wohin 
ihn der Schultheiß von Günzkofen gebracht Hatte. „Sch blieb 
1°/a Stunden mit ihm zufammen, unterhielt mich mit ihm über 
jeine Verhältniffe, fragte Verſchiedenes, beobachtete forgfältig jein 
Benehmen und gelangte bald zu obiger Anfiht. Schon feine 





äußere Erfcheinung läßt auf das Beitehen geiltiger Defekte jchliegen. 
Sein Schädel iſt abnorm gejtaltet, jeine Stirne zu nieder, die 
Wölbung des Daches zu flach. Seine Ohren find groß, übrigens 
wohlgeformt. Sein Bartwuchs ijt abnorm, an den Baden bis 
zum Kinn find Slaumbaare, Lippen und Kinn mit dünnjtehendem 
borftigem Barthaar beſetzt. Baier gibt an, daß er nur ein 
paar Mal in feinem Leben raſirt worden jei, und fich feinen 
Bart von Zeit zu Zeit mit der Scheere ſelbſt fürze. Seine Ge: 
Ihledhtstheile bieten nichts Befonderes außer einiger, jedoch nicht 
auffälligen Sleinheit der Hoden, ein Befund, aus welchem der 
völlige Mangel an Gefchlechtstrieb, der berichtet wird, und den 
er jelbit zugibt, — nie, fagte er, habe er ſich mit Weibsper- 
jonen abgegeben, nie auch nur einen Drang dazu gehabt, und 
nie jein Glied in einem andern al3 dem jegigen jchlaffen Zu: 
tand gehabt — zu erklären wäre. Sehr auffällig it die Be: 
ihaffenheit feiner Stimme, fie ift überaus dünn, hochgelegen und 
flanglos, fie ijt die eines heifer gewordenen Kinds. Seine Kör— 
perhaltung ift jchlaff, ziemlich gebüct, jein Gang fchwerfällig und 
augenfällig in Folge feines Fußleidens etwas hinfend. Ganz 
barakteriftiich war der Ausdruck feines Geſichts, ſowohl wenn er 
ſich ſelbſt überlaſſen war, als. wenn er geiftig in Anfpruch ge: 
nommen wurde Im erſten all war jein Blick leer, ausdrudslos 
und ließ auf vollfommene Gedanken: und Seelenruhe jchliegen, 
jobald man ihn aber anfprah, war feine Miene gefpannt und 
ängſtlich, ſein Bli unruhig, hilfefuchend, und dies fteigerte ſich, 
wenn man mit Fragen in ihn drang, und von ihm Selbjtbejinnen 
und Nachfinnen heifchte, zu ſolchem Grad, daß fein Anblid zu: 
gleich komisch und Mitleid erregend wurde. Sobald man aber 
mit Fragen nachließ, verfank er wieder in die frühere Apathie, 
und es zeigte ich dann auch feine Spur von Antheilnahme und 
Neugier auf feinem Geficht, wenn man auch ganz laut und un— 
genivt jeine Antworten und fein Weſen vor ihm beſprach. Auf 
die meiſten an ihn geftellten Fragen war jeine Antwort die, daß 
er das nicht wiſſe. Wiederholte man dann die Frage öfter, 
filifiete fie anders, fo zeigte filh öfters, daß er das Gefragte 
doch wußte. Nicht jelten aber paßte feine Antwort auf die 
Stage, wie die Fauft auf das Auge, indem er nicht den Sinn 





ee I 


der Frage, jondern nur einzelne Worte auffaßte und aus dieſen 
einen ganz andern Sinn der Frage erihloß. Zumeilen gab er 
auch jo unfichere und konfuſe Antworten, daß man aus ihnen 
nicht flug werden konnte. Im Ganzen zeugten jeine Antworten 
von feiner andern Abnormität des Gedanfengangs, al3 das 
derjelbe fehr langfam und fchwerfällig von Statten zu gehen 
Ihien. Daß fein Gedächtniß in manchen Beziehungen ſehr treu 
und felbit auf weite Vergangenheit zurüd ift, war aus feinen 
Aeußerungen gut zu erkennen. So z. B. erinnerte er fich ſogleich 
der ihn vorgelegten Namen der‘ Zeugen derer aus der Schule 
und derer, die früher feine Dienjtheren gewejen find, ihrer 
Wohnorte u. dergl. In anderen Punkten dagegen zeigte jich jein 
Gedächtniß ſehr mangelhaft. So 3. B. befragt, ob er fchon je: 
mals Zahnweh gehabt, und Zähne verloren habe, ftellt er beides 
entjchieden in Abrede, und doch hat er außer ein paar Fariöjen 
Stumpen feinen Mahlzahn im Unterkiefer mehr und hat aud 
Ihadhafte Zähne im Oberfiefer. Auch vermochte er Feine ein: 
zige nur einigermaßen beftimmte Zeitangabe zu machen, es jei 
Thon lange her, ſchon ziemlich lange, meint er überall. ‚Offen: 
bar hat er fein Zeitmaß im Kopf. Daß er beim Valentin Zins 
in Eſſenhauſen geweſen ift, wird fchon drei Jahre her fein, 
während e3 in Wirklichkeit nahezu zwanzig Jahre find. Er kann 
ein Hein bischen vechnen, aber nur mit bejtimmten fleinen ihm 
aus bejonderen Gründen intereflant gewordenen Größen, und 
fonjt nur, jo lange ihn fein Gefichtsfinn unterftügt. So zählte 
er Finger zuſammen, wenn er fie mit dem Gejicht verfolgen 
fonnte, und vermochte anzugeben, was 1, 2, 3, 4 Glas Bier 
fojten, und dies ſowohl in Pfennigen, als in Kreuzern, mußte 
auch, daß der halbe Gulden dreißig Kreuzer, die Mark hundert 
Pfennig hat, Aber das gegenjeitige Verhältniß von Gulden und 
Mark wußte er ganz und gar nicht. Zwei und drei machen 
bei ihm vier und wenn er auch wußte, daß fünfzig mehr als 
vierzig, jechszig mehr als fünfzig, hundert mehr als ſechszig find, 
fo fonnte er doch nicht einmal beiläufig angeben, um wieviel ſich 
diefe Werthe unterfcheiden. 

Sehr traurig beftellt ijt eg mit feinen religiöjen Kennt: 
nijjen. Er jagt, daß er regelmäßig bete, und zu Djtern beichte. 





— 179 — 


Als man ihn fragte, zu wem er bete, jagte er, zu unferem Herr: 
gott. Ob nicht auch zur Jungfrau Maria? Sa, auch zur Jung: 
frau Maria. Mer die Jungfrau Maria jei? Das wiſſe er nicht. 
Wer Jefus Chriftus ſei? Schweigen und rathlojes Anjtarren. 
Man deutete nun auf ein auf dem Tiſch ftehendes Kruzifix von 
gewöhnlicher Form und fragte ihn, was denn das ſei? Unſer 
Herrgott. Und das? Hinweifung auf den Todtenfchädel am 
Kreuz. Auch unfer Herrgott. Als ihm hierauf das Kruzifir 
vor die Augen gehalten, und er aufgefordert wurde, fich das 
Ding unten recht zu betrachten, meinte er, es jei ein Trinkbecher. 
Man deutete nun auf das Kreuz jelbit und fragte ihn, wie man 
das heiße? Er wußte es nicht, und jchwieg, als man ihm vor: 
hielt, ob er noch nie von dem Kreuze gehört habe. Befragt, ob 
er in der Schule lefen und ſchreiben gelernt habe, antwortete 
er unjiher, Tchüttelte, als man ihm etwas Gedrudtes vorhielt, 
jofort den Kopf, bejahte aber die Frage, ob er feinen Namen 
ſchreiben könne? Aufgefordert dieß zu thun, begann er jogleich, 
ihn mit der dargereichten Feder langſam aber mit ficherem Zug 
binzuichreiben. Als er nun den Vornamen, ein ganz leferliches 
Anton, fertig gebracht hatte, hielt ich jeine Hand an, und for— 
derte-ihn auf, mir das gefchriebene Wort vorzulejen. Er konnte 
es nicht, und als ich num auf die einzelnen Buchſtaben der 
Reihe nach hindeutete, und ihn mir diefelben jagen hieß, las er 
ob Fiäſä! Ich ließ ihn dann noch den Familiennamen jchreiben, 
er brachte ein Wort zu Stande, das zwar im Ganzen eine ges 
wilje Nehnlichfeit mit Baier hat, von dem aber nur dad B 
vecht Teferlich ift, und als er auch diefes Wort ablejen mußte, 
buchſtabirte er Stiaft Wenn er alfo feinen Namen zu 
ihreiben geheißen wird, jo malt er ein ihm mechanifch einge= 
lerntes Zeichen hin, ohne dafjelbe im Allermindeiten zu verjtehen. 
Fragen nad) feiner Landesangehörigfeit, der Staatsform feines 
Baterlands, dem Namen und der Würde des Staatsoberhaupts 
veritand er augenjcheinlich nicht, man mochte jie noch jo einfach 
ftellen. Dagegen konnte er jagen, daß Beuren zum Oberamt 
Niedlingen, Günzkofen zum Dberamt Saulgau gehört, und ala 
man ihn fragte, ob er ein Schweizer, Preuße 2c. ſei, verneinte 
er dieß, und fagte, er jei ein Württemberger. Als man nun 





— 150 — 


weiter fragte, ob er auch ein Deutjcher ſei, verneinte er dieß und 
ebenfo die Frage, ob er ſchon jemals Deutjche gefehen habe, 
meinte aber auf die Frage, ob die Deutfchen wohl auch Menichen 
jeien, daß jie das wohl fein werden. Als man ihn fragte, ob 
alle Menjchen jterben müſſen, erwiderte er in unficherem Ton,’ 
er wife das nicht, alle werden fie es nicht müſſen. Ob denn 
die Herrn Oberamtmänner jterben müfjen? Nein, die wohl nicht. 
Db er fterben müfje? Ja, er ſchon. Was dann mit ihm werde? 
Dann werde er begraben. Und dann? Dann werde Erde auf 
ihn geworfen. Und dann? Schweigen. Dann werde er wohl 
in den Himmel fommen? Ja, in den Himmel. Was er darunter 
verjtehe? Schweigen, auch als die Frage wiederholt und verſchie— 
den ftilifirt wurde. AS man nun dagegen nochmals fragte: ob 
denn nicht die andern Menfchen auch jterben müſſen, antwortete 
er: ja, über alle werde der Tod mächtig. 

Die Frage, warum er einjt von Beuren weggegangen ei, 
beantwortete er je nach den Worten, in die man fie Fleidete, und 
dem Zuſammenhang, in dem man jie vorbradhte, bald dahin, 
daß er auf Geheiß jeiner Schwejter mit ihr fortgezogen jei, 
bald dahin, daß er von dort fortging, weil ev feinen Dienjt be: 
fommen habe. Die Frage, ob er ſich dort um einen Dienft um: 
gejehen, konnte er nicht ‚bejahen. Befragt, ob er Lieber bettle 
oder jchaffe? antwortete er: er jchaffe lieber. Warum? Da habe 
man doch zu eſſen. Alfo nicht, weil er es für ehrenhafter hält, 
zu Schaffen als zu betteln, zieht er das Erſtere vor, jondern weil 
jih feiner Erinnerung gut eingeprägt hat, daß er nur dam 
immer ein ordentliches Eſſen hatte, wenn er fchaffe d. h. im 
Dienft war. Weiter gefragt: ob er lieber in Dienjt ginge oder 
hier im Spital bliebe, meinte er, er bleibe lieber immer im 
Spital, ſetzt aber, lachende Gefichter vor fich ſehend, hinzu, er 
wolle da ſchon auch etwas fchaffen, auch die Frage, ob er allein 
oder auf Antrieb feiner Angehörigen feine verjchiedenen Dienite 
eingegangen habe, Eonnte er, je nachdem man legtere jtilifirte, 
verschieden beantworten. Es war aus feiner Erwiderung wohl 
zu erjehen, daß öfters ein gewiſſes Selbitftändigfeitsitreben in 
ihm rege geworden fein muß, daß er auch jegt nicht als ein 
nur blindlings Andern Folgender erſcheinen möchte. Aber feine 











— 1831 — 


Aeußerungen diefer Art erfcheinen nicht viel anders, als die eines 
eigenwilligen Kindes, das auch einmal jeinen Kopf haben will, 
und aus ihm Klang unverkennbar das Zugeſtändniß heraus, daß 
es in der That doch immer ein anderer Wille als der eigene 
war, der ihn beitimmt hat. So 3. B. befragt, ob er allein zum 
Willibald Steuer in Gunzenhaufen gegangen fei, um fich zu 
verdingen, bejahte er dieß mit einem gewiſſen Nachdruck, ſetzt 
aber, weiter befragt, ob er felbit auf den Gedanken gefommen 
fei, jich gerade an jenen Bauern zu wenden, hinzu: jeine Schweiter 
habe ihn halt hingefchict. 

Befragt, was er anzufangen gedenfe, erwidert er, feine 
Schweiter habe ihm gejagt, er jolle nur nicht mehr zu ihr kom— 
men, er erhalte von ihr nichts zu eſſen. Was er jegt thun wolle? 
Seine Schweiter habe gemeint, er dürfe im Spital bleiben, oder 
fomme nad) Schufjenried. (Diefe Antwort lautete übrigens et— 
was verworren.) Ob er denn nicht wieder zu einem Bauern 
wolle? Ja ihn nehme Feiner mehr. Weßwegen nicht? Wegen 
jeiner böjen Beine. Ob er denn nicht einen bejtimmten Bauern 
etwa einen frühern Dienjtherrn im Sinn habe, um bei ihm nach 
Heilung feines Beins in Dienit zu treten? Schweigt und fieht 
einen rathlos an, To oft man auch die Frage wiederholt, und 
ih bemüht, ihm den Sinn klar zu machen. 

Als ihm im Verlauf der Unterredung ein Baar Gigarren 
angeboten werden, griff er gierig zu, und jtecdte eine jofort mit 
behaglihem Schmunzeln in den Mund, als ihm aber dann ge: 
jagt wurde: jegt dürfe er fie noch nicht rauchen, gab er jid) 
auch zufrieden und ſteckte fie augenscheinlich des Beſitzes froh ein. 

Aus dem bisher Berichteten erhellt unzweifelhaft, daß Baier 
ein ganz jimpelhafter Menfch ift, der nur außerordentlich jpär- 
liche und nicht über Nächitliegendes hinaus ſich erſtreckende po- 
jitive Kenntnifje hat, der faum der elementaren Denkoperationen 
fähig ift, es nur zu fehr wenig allgemeinen Begriffen gebradt 
hat, und diefe ohne rechte Verbindung mit einander und nicht 
gehörig zur Verfügung hat, überdieß aller höheren religiöfen 
und ethiichen Ideen bar ift. Es ift offenbar, daß das jpontane 
Thun diefes Menjchen nur durch auf feine unmittelbaren Be: 
dürfniſſe jich beziehende Motive bejtimmt wird. Cr hat zwar 


Württemb. Archiv für Neht sc. XXII. Bd. 2. & 3. Heft. 13 


— 18. — 


ein gewijjes Bemwußtjein, einige mehr oder weniger Tlare Vor: 
ftellungen von feiner Lage, er weiß z. B., daß feine Schweiter 
ihm nur die Wohnung, nicht aber auch die Koft zu reichen hat, 
es wird ihm dies eben oft genug gejagt worden jein, aber er 
ift unfähig, dieſe Vorftellungen zu verknüpfen, und Gedanfen: 
reihen und Pläne fich aus ihnen entwideln zu lafjen. So wird 
ihm jede Handlung, die Ueberlegung und Nachdenken, wenn aud 
nur im befcheidenften Maß fordert, unmöglih, wenn nicht ein 
fremder Wille dazu fommt, und ihn antreibt. Die Unterwerf: 
ung unter einen joldhen wird ihm aber um jo leichter möglich 
werden, als augenscheinlich auch fein Gemüth jehr jtumpf und 
fein Willensvermögen felbft, wenn ſich auch einige Negungen 
auf diejem Gebiet bemerflih machen, im Grund ein gan; 
ſchwächliches iſt. Daß nun Baier jemals insbejondere zur Zeit, 
als er jich von Beuren entfernte, anders geijtig Fräftiger und 
jelbjtbeitimmungsfähiger gewejen wäre, ift ganz und gar un: 
wahricheinlid. Er wird vielmehr von jeher jo geweſen jein, 
wie er fich jet darjtellt. Die Widerfprüche in den Aeußerungen 
feiner Schulfameraden aufzulöfen, ift nicht meine Sache. Da: 
gegen muß ich für wichtig für die Entſcheidung diefer Frage 
erklären, daß Baier bejtimmte förperlihe Abnormitäten mahr: 
nehmen läßt, die erfahrungsgemäß fich jo regelmäßig mit von 
Geburt an bejtehenden geiftigen Defekten vergelellfchaften , daß 
man fajt allemal, wo man auf jene jtößt, auch dieſe nachzu: 
weijen vermag. Einigermaßen beachtungswerth ift auch feine 
in bejtimmter Weife mir gemachte Angabe, daß er feine Schläge 
in der Schule gekriegt hat, während die Andern ſolche wohl 
erhalten hätten. Die Nichtigkeit diefer Angabe angenommen, 
würde aus ihr folgen, daß er damals nicht ſowohl ein fauler 
Sunge, als welchen ihn feine Kameraden Neifer und Selbherr 
hinzujtellen belieben, als ein fimpelhafter war. Denn wenn er jenes 
gewejen wäre, hätte der Lehrer ihn ficher nicht gefchont. End: 
lich ijt feine Periode feines Lebens befannt, in melcher er fi 
als geijtesfranf im engen Sinn des Worts, alfo etwa als 
gemüthssagitirt, finnverjtört, in höherem Grad verworren, zu fon 
derbarem Thun und Treiben geneigt und dergleihen fich gezeigt 
hätte. Wenn aljo ein jo hochgradiger Schwachſinn, wie Baier 





— 183 — 


ihn darbietet, erſt im Lauf des Lebens zu Stande fommt, jo iſt 
er ziemlich ausnahmslos das Refiduum einer eflatanten Geijtes- 
jtörung mit diefen oder jenen Erjcheinungen der genannten Art. 
jedenfalls iſt Baier jchon vor zwanzig Jahren in demjelben 
Grade geiftesichwach gewefen, wie er jeßt iſt, das beweist Die 
anfchauliche und eingehende Schilderung des V. Lins von feinem 
damaligen Weſen und Verhalten (Ausfage des Valentin Zins: 
. Baier war im Jahr 1861 oder 1862 bei mir. Er war nicht 
zu brauchen, man konnte ihm ohne Aufjicht nicht das Geringite 
überlafjen. Sein Hauptgefhäft war Holz und Reiſach baden. 
Das Herausfhaffen von Mift aus dem Stall konnte er nur 
unter Aufficht beforgen. Beim Adern mußte er die Ochjen 
führen, ich hatte aber einen großen Verdruß mit ihm, denn wenn 
er eine Bierteljtunde weit einen Gegenftand Menschen oder ein 
Thier jah, behielt er folhen unverrüdt im Auge, ohne jih um 
die Furchen oder das Adern überhaupt zu befümmern, er lief 
gerade fort, wie wenn er allein wäre, jo daß mir nichts 
übrig blieb, al3 zu ihm hinzugehen und ihn jammt den Ochſen 
wieder in die Furche Hineinzujchteben. Auch mußte er das Vieh 
auf die Weide treiben. Man mußte aber bei ihm bleiben, oder 
ihn wenigjtens beauffichtigen. Er war beifpielsweife nicht im 
Stand, ein Stüd Vieh zu Ipannen, oder gab er dem Vieh, wenn 
er einen Gegenjtand in der Nähe oder Ferne bemerfte, lediglich 
fein Acht mehr, auch wenn das Vieh auf fremde Grundftüce 
hinüberweidete. Wenn ih ihm ein bejtimmtes Grundjtüd zur 
Weide bezeichnete, ging er nicht auf diejes, ſondern auf ein an— 
deres. Wenn ich ihm fagte, er jolle heimfahren, wenn er eilf 
Uhr läuten höre, jo fam er erſt um zwölf Uhr, weil es da auch 
läutet. Meine Mutter jagte ihm einmal, als er Klee Holen 
mußte, er jolle auch fperren, wenn er an den Berg hinkomme, 
er hat dann auch gejperrt, aber nicht den Berg hinab, fondern 
hinauf. Das Füttern des Viehs konnte man ihm nicht über: 
laſſen, wenn ich es einmal mit ihm probirte, fo hat er dem einen 
Stück Vieh Alles hineingegeben, dem andern nichts. Man fonnte 
ihm feine Arbeit überlaffen, die ein bischen Denfen forderte. 
Auh im Heuet konnte er nur unter Aufficht mithelfen. Als ich 
ihn nah einigen Jahren aus Mitleid wieder nahm, war er 
13* 





—— 


gerade ſo, und die Magd erklärte, daß ſie gehe, wenn ich den 
ungeſchickten Menſchen nicht fortthue). Daß er aber ſpäter und 
insbeſondere zu der Zeit, als er von Beuren abzog, wenigſtens 
vorübergehend beſſer geworden ſein konnte, das iſt nicht nur an 
und für ſich ganz unwahricheinlich, denn bei angebornen geiſtigen 
Defektzuftänden gibt es Feine ſolche Nemifjionen, fommen feine 
intervalla lucida vor, wie bei erworbenen Geijteszuftänden, fon: 
dern es jpricht dafür auch feine einzige der berichteten That: 
ſachen. Daß er 3. B. als Dienftfnecht des A. Steuer fich zu 
Botengängen verwenden lieb, wäre durchaus fein Beweis dafür, 
denn zu Dienftleiftungen diejer Art und von nicht viel minderer 
Großartigfeit hat man ja ſchon Hunde drefjirt. Und mit der 
Behauptung Einiger: Baier habe fich ſelbſt bei ihnen verdingt, 
hat es auch feine eigene Bewandtniß. Er jelbit gibt ohne Wei: 
teres zu, daß er eben immer hingejchidt worden fei. Sollte es 
fih aber ſelbſt herausftellen, daß er wirklich ein oder ein paar 
Mal jelbjt allein, ohne eigens dazu veranlaßt worden zu fein, 
fi einem Bauern als Knecht angeboten hat, jo ift doch aus 
diefer Thatfache an und für fich noch Teineswegs zu ſchließen, 
daß er den Schritt wirklich mit Ueberlegung und nad voraus: 
gegangener innerlicher Wahl des Dienjtherın gethan habe. Da: 
gegen iſt aus allen Berichten über ihn, felbit den günftigiten, jeine 
geiſtige Impotenz und Unſelbſtſtändigkeit wohl erfichtlih, und 
feiner weiß von einem thatfächlichen Verfuch ſeinerſeits, aus dem 
Elend feiner Lage zu fommen, zu erzählen, man müßte denn 
jeine öfteren Gänge nach Beuren dafür nehmen, aber dahin ijt 
er doch ganz fiher von dort, wo man feiner los zu werden fid) 
io ſehnte, gefchict worden, und daß er immer wieder Hinlief, 
obgleih er am erjten Empfang genug haben fonnte, beweist 
wieder nur von Neuem jeine Simpelhaftigfeit.” 

Unter Abänderung des Urtheils der Regierung des Donau: 
freifes vom 30. Dftober 1879 erkannte nun der Bermwaltungs: 
gerichtshof den Beklagten koſtenfällig für verpflichtet, den am 
26. November 1842 in Beuren gebornen Anton Baier in feine 
Fürforge zu übernehmen und dem Kläger die fiir ihn aufges 
wenpdeten 62 Mark zu erjegen. 

Gründe: 1) Kraft geſetzlicher Beſtimmung (Reichsgeſetz 





— 15 — 
über den Unterftügungswohnfig vom 6. Juni 1870 8. 5 und 
Neihsgejeg vom 8. November 1872 8. 2) hatte der Hilfs: und 
unterftügungsbedürftige Anton Baier in Folge des ihm in Beuren 
zuſtehenden Bürgerrecdht3 am 1. Januar 1873 in Beuren jeinen 
Unterftügungswohnfig, obgleich derjelbe mehrere Jahre vor dieſem 
Zeitpunkt feinen Aufenthalt nicht mehr in Beuren hatte, fondern 
ih auswärts an verjchiedenen Orten als Dienſtknecht aufbielt. 

2) Der beitändigen auch nach dem 1. Januar 1873 ftatt- 
gehabten Abwefenheit von feinem Heimatort ungeachtet hat 
Anton Baier diefen Unterftüßungsmohnfig nicht verloren. Nach 
$. 24 des Neichsgejeges über den Unterftügungswohnfik begründet 
eine auch mehr als zweijährige Abmejenheit den Verluft des Un: 
terftüßungswohnfiges dann nicht, wenn die Abweſenheit durch) 
Umjtände veranlagt wurde, durch welche die Annahme der freien 
 Selbjtbejtimmung bei der Wahl des Aufenthaltsort3 ausgefchloffen 
wird. Nach dem übereinjtimmenden Gutachten des Direktors 
der Irrenanſtalt Schuffenried Dr. Aſt und des Dberamtsarzts 
Dr. Boſcher in Saulgau ift aber Anton Baier in folden Grade 
geittesihwah, daß hei ihm von einer freien Selbjtbeitimmung 
in der Wahl jeines Aufenthalts nicht die Nede fein kann, und 
es jind dieſe Gutachten durch das des Näheren begründet worden, 
was über die ſomatiſchen und geiftigen Verhältnifje des Anton 
Baier, theils ihrer näheren Unterfuhung, theils den Ausſagen 
der hierüber vernommenen Zeugen zu entnehmen ijt. 

3) Die Richtigkeit diefes Ausipruchs beider Sachverjtändigen 
fann durch das nicht entfräftet werden, was der dritte Sad): 
verftändige Oberamtsarzt Dr. Camerer in Riedlingen, der vorige 
Richter und der Beklagte für die gegentheilige Anficht, daß Anton 
Baier im Stande fei, mit freier Selbjtbeitimmung feinen Auf: 
enthalt zu wählen, geltend gemacht haben. Die der Hauptſache 
nah mehr äußerlichen Gründe des vorigen Nichter8 find im 
MWejentlihen durch das Gutachten des Direktors der Irrenanſtalt 
Schufjenried Dr. Aft vollftändig widerlegt. Wie gar nichts aus 
der Thatfahe, daß Anton Baier feinen Namen jchreiben fann, 
für feine geijtige Entwidlung abgeleitet werden kann, zeigt mit 
voller Evidenz die Schriftprobe, die Dr. Aft mit ihm veranitaltet 
dat, und Ear ift, daß von dem Verhalten der Behörden gegen 





— 156 — 


denjelben nur dann etwas abgeleitet werden könnte, wenn der Beweis 
des Gegentheils nicht als fejtgejtellt anzufehen wäre, und irgend 
erhellen würde, daß diefe Behörden feinen geiftigen Zuitand 
überhaupt zum Gegenftand näherer Erörterung und fachverftän- 
diger Prüfung gemacht hätten, was fie ebenjo unterlaffen haben, 
wie der vorige Nichter, dem denn doch der ihm vorliegende be= 
ſtimmte Ausſpruch des fachverftändigen Oberamtsarzts Dr. Boſcher 
in Saulgau Beranlafjung zum Einzug des von den Parteien an- 
gebotenen Beweifes und zur Aufforderung näherer Begründung hätte 
geben follen, falls er diefelbe in der Aeußerung vermißt hatte. 

4) Daſſelbe trifft im Weſentlichen auch gegenüber der 
Heußerung zu, welche der Oberamtsarzt Dr. Camerer in Ried» 
fingen über den Geifteszuftand des Anton Baier gegeben bat. 
Wenn der Beklagte glaubt, zu Gunften defjelben geltend machen 


zu können, daß der Ausfteller mit der Piychiatrie vertrauter fei, 


und deßhalb bejjeren Glauben verdiene, als der Oberamtsarzt 
Dr. Bofcher, fo fpricht für das Gutachten des Letzteren gegenüber 
dem Gutachten des Dr. Camerer an ſich jchon die eingehendere 
Begründung, insbefondere nach der jomatischen Seite, entſchieden 
aber der Umftand, daß fich der Direktor Dr. Aſt, der ſich Die 
Beobachtung und Behandlung Geiftestranfer zur Lebensaufgabe 
gemacht: hat, nicht für die Auffaffung des Oberamtsarzts Dr. 
Gamerer .ausgefprochen, fondern die des Oberamtsarzts Dr. 
Boſcher adoptirt hat, während der Erſtere größere® Gewicht auf 
die äußeren Momente, al3 auf die Anhaltspunkte gelegt Hat, 
welche die Unterfuhung des Anton Baier und der Verkehr mit 
demjelben an die Hand geben, woraus fih von ſelbſt ergibt, 
daß nicht feinem Gutachten, fondern dem des Dr. Aſt und des 
Dr. Bofcher der Anſpruch auf größere Glaubwürdigkeit zukommt, 
während im Webrigen die Bejtimmung des höheren oder gerin- 
geren Grads von Geiſtesſchwäche, die auch Dr. Camerer bei Anton 
Baier annimmt, wejentlih Sache des ärztlichen Ermeſſens ift. 

5) Für ganz ungerechtfertigt find die Einwendungen zu er: 
fennen, welche der Beklagte gegen das Gutachten des Dr. Aſt 
dahin erhoben hat, dag dafjelbe den Zuſtand des Anton Baier 
nicht im Hinblid auf die fonfrete Frage, fondern im Allgemeinen 
gewürdigt, und dabei die dem Anton Baier günjtigeren Aus— 


— 157 — 


fagen, wie die des Anton Steuer nicht gebührend berüdfichtigt 
habe. Die Würdigung des Geifteszuftandg des Anton Baier 
im Allgemeinen ijt die nothwendige Grundlage für die Beant- 
wortung der konkreten Frage. Aus dem Gutachten ift aber zu 
entnehmen, daß Dr. Ajt die Ausfage des Anton Steuer wegen 
des Botengangs fpeziell gewürdigt hat. Wie wenig aber Anton 
Steuer Jelbjt der Einficht des Anton Baier bei dem Transport 
der Kalbel vertraute, zeigt, daß er nach feiner Ausfage ihm den 
Namen deſſen auf einen Zettel jchrieb, dem er die Kalbel zu 
bringen hatte; den Ausſagen diefes Dienſtherrn des Anton Baier 
aber jtehen die Ausſagen anderer Dienjtherrn gegenüber, nad) 
welhen die Geiſtesſchwäche dejielben eine hochgradigere war, und 
zuletzt kann denn doch nur das ſachverſtändige Ermeſſen beftimmen, 
welche der beiden Ausſagen nach dem Zujtand des Anton Baier als 
die entfcheidende und deßhalb im einzelnen Fall glaubwürdigere an— 
zujehen ift. Mit Necht hat aber Dr. Aſt auf die fich widerjprechenden 
Aussagen der ehemaligen Schulfameraden des Anton Baier ſchon 
deßhalb fein Gewicht gelegt, weil ein Urtheil von Knaben aus ihrer 
Knabenzeit feinen Anſpruch auf irgend welche Bedeutung hat. 

6) War daher auf Grund der beiden Gutachten der Dok— 
toren Bojcher und Aft anzunehmen, daß Anton Baier der freien 
Selbjtbeftimmung in der Wahl feines Aufenthalts ermangelte, 
jo mußte, wie gefchehen, erfannt werden. Es konnte bei der 
Sachfälligkeit des Beklagten die Zufcheidung der Kojten an den 
Beklagten duch deßhalb nicht abgewendet werden, weil, wie bei 
der mündlichen Verhandlung geltend gemaht wurde, Kläger in 
der Bejchwerdefchrift jelbit anerfannt habe, daß der Beweis der 
Geiſtesſchwäche unvollitändig geführt jei. Es kommt hiegegen in 
Betracht, daß der in diefer Inſtanz eingezogene Beweis ſchon in 
voriger Inſtanz angeboten war. | 
24. OrtsSarmenverband Aalen, Kläger, Berufungsbeflags 
ter, gegen Gefammtarmenverband Wafferalfingen, 

Beklagten, Berufunggfläger. 
Kojtenerfaß betreffend. Unterftüßungsbedürf: 
tigfeit, Armenunterftüßung?® 
Urtheil vom 20. Dftober 1880. 
Unter Abänderung des Urtheils der Negierung des Jart— 





— 18 — 


freifes vom 10. März 1880 wurde Kläger foftenfällig abge: 
wieſen. 

Gründe: 1) Daß zur Zeit der im März 1879 ausgeſpro— 
chenen Bewilligung des Ortsarmenverbands Aalen eines jährlichen 
Hauszinsbeitrags von vierundzwanzig Mark an den Taglöhner 
und Schneider Anton Kuhn in Aalen dieſer noch ſeinen Unter: 
tügungswohnfig im Gefammtarmenverband Wajjeralfingen hatte, 
mußte in Uebereinftimmung mit dem vorigen Riter als feit- 
ftehend angenommen werben. 

Kuhn hatte unbeitritten von Georgii 1874 bis Jakobi 1876, _ 
alfo mehr als zwei Jahre in der Theilgemeinde Onatsfeld ges 
wohnt, welche durch den Vertrag vom 20. November 1876, vom 
1. Juli 1876 an in den Gejfammtarmenverband Wajjeralfingen 
vereinigt wurde. Den in Drnatsfeld erworbenen Unterſtützungs— 
wohnjig hat Kuhn durch fpätere Erwerbung eines andern nicht 
verloren, denn er wohnte mit Ausnahme des kurzen Zwiſchen— 
aufenthalts in Aalen von Martini 1876 bis Georgii 1877, 
nachher wieder in Wafjeralfingen, beziehungsweife in dem eben: 
falls zum  Gefammtarmenverband Wajjeralfingen gehörigen 
Nothenberg. 

Der Umftand, daß in dem Vereinigungsvertrag von 
20. November 1876 wegen der vor demjelben entjtandenen Ver: 
bindlichfeiten der früher jelbitftändigen DOrtsarmenverbände nichts 
beftimmt ijt, berechtigt Teineswegs zu der Annahme, daß die: 
jelben nicht auf den Gefammtarmenverband übernommen werden 
wollten. Da vielmehr nad $. 3 des Neichsgefeges über den 
Unterjtügungsmwohnfig ſämmtliche früheren Ortsarmenverbände 
vom QTag der Vereinigung an in Anjehung aller durch das Ge: 
jeß geregelten Berhältniffe eine Einheit bildeten, wie auch das 
Vermögen der früheren Verbände in den Gefammtverband über: 
ging, jo mußten die Nechte und Verbindlichkeiten der früheren 
Verbände, die als ſolche fortan gar nicht mehr eriftirten, auf 
den an ihre Stelle getretenen Gejammtarmenverband von jelbit 
übergehen. Ä 

Wie im Uebrigen auch die Einwendung des Berufungs—— 
flägers in obiger Hinficht gewürdigt werden wollte, jo konnte 
jedenfalls 





— 19 — 


2) eine zur Zeit der Bewilligung jenes Hauszinsbeitrags 
beitandene Hilfsbedürftigfeit des Kuhn nach den Erhebungen in 
diefer Inſtanz nicht als nachgewieſen angenommen werden. 
Kuhn war feit 23. Januar 1877 in der königlichen Eiſenbahn— 
werfitätte Aalen als Puger mit einen QTaggeld von 1 Marf 
80 Bf. für den Arbeitstag verwendet und hat hiemit und mit 
einigem Nebenverdienit als Schneider, in welcher Eigenfchaft er 
auch mit Hilfe feiner Ehefrau die eigenen Kleidungsbedürfnifje 
in der Hauptjache beforgen fonnte, feine Familie bis zum 
Jahr 1879 unterhalten. Eine öffentliche Unterftügung nachzu— 
juhen war Kuhn bis zum 20. März 1879 nicht veranlat, 
und ijt fein damaliges Erjcheinen vor dem Stadtichultheißenamt 
Nalen nicht aus- eigenem Antrieb, fondern durch amtliche Be: 
rufung des erjteren herbeigeführt worden. Zwar hatte furz vor: 
her die Kuhnſche Ehefrau, veranlaft von dem Gejchäftsführer 
eines in Aalen beftehenden Privatarmenvereins, ſich wegen einer 
Geldunterftügung an das Stadtfchultheigenamt Aalen gewendet. 
So lange aber nicht Kuhn felbit, welcher als Familienhaupt 
zunächft für die Seinigen zu forgen hatte, und von jenen 
Schritt jeiner Ehefrau nichts gewußt haben will, einen Antrag 
auf öffentliche Unterftügung ftellte, war der Stadtvoritand auch 
wohl nicht veranlaßt, ihn zur Aufnahme einer Verhandlung 
über die Einleitung zu einer öffentlichen Unterftügung in der 
geſchehenen Weife zu berufen. Nach den eidlichen Ausſagen der 
Kuhnſchen Eheleute mußte überdies angenommen werden, daß . 
Kuhn das jofort zu Protofoll genommene Erjuchen um eine 
Unterftügung nur mit Nüdjiht darauf unterzeichnet bat, daß 
zuvor feiner Ehefrau bedeutet worden war, fein ferneres Ver— 
bleiben in Aalen könne nur dann jtattfinden, wenn Seitens 
der Gemeinde Wafjeralfingen an ihn ein Hauszinsbeitrag ge: 
leijtet werde. | 

Wie wenig aber das wirkliche Bedürfniß zu einer öffent: 
lichen Unterftügung damals vorlag, beweist abgejehen von der 
Geringfügigfeit des fofort von der Ortsarmenverwaltung be— 
ſchloſſenen Betrags von nur 24 Mark jährlid das jpätere 
Berhalten des Kuhn und der Ortsarmenbehörde Aalen jelbit. 

Von der am 28. März 1879 bejchlofjenen Bewilligung 





— 1% — 


wurde dem Kuhn feine Eröffnung gemacht, und erjt nad) mehr 
als acht Monaten am 6. Dezember 1879 die Armenpflege zur 
Ausbezahlung der erjten Rate von 12 Mark ermächtigt, ohne 
daß Kuhn inzwischen weitere Schritte zur wirklichen Erlangung 
der Unterftügung gethan hätte, er mußte vielmehr zur Entpfang- 
nahme jener Rate am 13. Dezember 1879 von der Armenpflege 
befonders berufen werden. 

| Diefen Thatſachen gegenüber fonnten auch die als weiterer 
Beweggrund der Bewilligung angeführten Krankheiten der Kuhn— 
ſchen Eheleute nicht in Betracht kommen. Hinſichtlich des Kuhn 
ſelbſt erwähnt das Zeugniß des Dr. Boſch in Aalen vom 
22. Oktober 1879 keine Krankheiten, ſondern nur deſſen geringe 
Körperkraft. Auch bezog Kuhn in Krankheitsfällen neben koſten— 
freier ärztlicher Behandlung und Medifamenten täglich eine 
Unterftügung von 1 Mark und konnte bei leichterem Unwohlſein 
zu Haufe noch andere Gefchäfte bejorgen. Bei feiner Ehefrau 
aber erwähnt das Zeugniß des Dr. Linfer in Aalen vom 
20. Dftober 1879 nur, daß fie von Pfingſten 1879 an, jomit 
nicht Schon im März 1879 längere Zeit frank gemwefen jei, ohne 
daß fie jedoch gehindert gewefen wäre, ihren Haushaltungsge- 
ſchäften im Allgemeinen nachzukommen. 


25. Drisarmenverband Oberdorf DA.Neresheim, Kläger, 
Berufungsfläger, gegenXandarmenverband Gail— 
dorf Beflagten, Berufungsbeflagten. 


Uebernahme und Koſtenerſatzbetreffend. Neue oder 
fortdauernde Hilfsbedürftigkeit? 


Urtheil vom 30. Oktober 1880. 


Unter Abänderung des Urtheils der Regierung des art: 
freifeg vom 13. März 1880 wurde der Bellagte für verpflichtet 
erfannt, die Franzisfa Schwenninger in jeine jtändige Unter: 
jtügung zu übernehmen und dem Kläger die fämmtlichen, fomit 
außer dem Zeitraum vom 19. Mai bis 15. Auguft 1879 auch 
nachher von 8. September 1879 an aufgemwendeten und nod) 
aufzumendenden Koften zu erjegen, auch Koſten und Sporteln 
zu bezahlen. 








Gründe Das Urtheil der Kreisregierung ijt injoweit 
al3 der Beklagte dadurch ſchuldig erfannt wurde, die dem Kläger 
dureh die Unterftügung der Franzisfa Schwenninger in der Zeit 
vom 19. Mai bis 15. Auguft 1879 erwachjenen Koften zu er— 
jegen, vechtskräftig geworden, indem der Beklagte die Berufung 
hiegegen nicht ergriffen, auch der vom Kläger ergriffenen Be— 
rufung gegen den übrigen Inhalt des Urtheils ſich nicht ange: 
ihloffien hat. Es handelt fi) ſomit in gegenwärtiger Inſtanz 
um den gegen den Beklagten erhobenen Anſpruch auf Ueber: . 
nahme der Schwenninger und auf Erftattung der dem Kläger 
nad dem 15. Auguft 1879 dem in der Berufungsfchrift ges 
tellten Betitum zufolge vom 8. September 1879 an für die 
Unterftügung diefer Perfon erwachlenen, fowie der bis zur Zeit 
der Hebernahme noch erwachjenden Kojften. 

Diefen Anfpruch hat die SKreisregierung dem Borbringen 
des Beklagten Statt gebend deßhalb für unbegründet erklärt, 
weil die Hilfsbedürftigfeit der Schwenniger durch eine von der— 
jelben bei der Hopfenernte in Spalt gefundene Arbeit und den 
in Folge derjelben erlangten Verdienſt aufgehört habe, hienach 
aber angenommen werden müſſe, daß die in Oberdorf nach der 
am 8. September 1879 erfolgten Rückkehr der Schwenninger 
wiederholt nothwendig gewordene Unterftügung die Folge einer 
neu hervorgetretenen Hilfsbedürftigfeit derfelben fei. 

Der legten Auffaſſung gegenüber, welche Beklagter auch in 
gegenwärtiger Inſtanz feithält, hat Kläger wiederholt geltend 
gemacht, daß der Zuftand der Hilfsbedürftigfeit, in welchem fich 
die Schwenninger zur Zeit des Antritts ihrer Neife nah Spalt 
befand, während der ganzen Neife unverändert fortbeitanden 
habe, und daß fie am 8. September 1879 ganz in demfelben 
Zuftand nad) Oberdorf zurückkehrte, mit der gedachten Neife 
babe auch Kläger auf Ansuchen der Schwenninger nur in der 
Abſicht fih einverftanden erklärt, der legteren dadurch Gelegen— 
heit zu einer vorübergehenden ihrer beſchränkten Arbeitsfähigfeit 
entiprechenden Befchäftigung zu geben, behufs der Verminderung 
der Koften der öffentlichen Unterftügung. ine eigentliche Ar: 
beit, eine folche, von deren Ertrag fie ſich jelbft zu ernähren 
im Stande fei, habe die Schwenninger in Spalt jo wenig als 





— 19 = 


früher verrichten fünnen, und zu der in Frage ftehenden Be: 
Ihäftigung fei fie von F. Gabler in Spalt nur in Berüdjichti- 
gung der ihm früher geleifteten Dienjte zugelaffen worden, wie 
legterer ihr auch die 3 Mark SO Pf. nur aus Mitleid zur Er: 
möglihung der Heimreiſe nach Oberdorf gegeben habe. 

In der That erjcheint ſelbſt vom Standpunkt der Kreis: 
regierung aus wenigjtens die Annahme nicht gerechtfertigt, daß 
die Hilfsbedürftigfeit der Schwenninger ſchon am 15. Auguit 
1879 aufgehört habe, da in legterer Hinfiht aus der am ge: 
daten Tag erfolgten Abreife derfelben von Oberdorf gar nichts 
gefolgert werden fann, vielmehr für die gegentheilige Auffafjung, 
für die Annahme der Fortdauer der Hilfsbedürftigkeit, wenigſtens 
dafür, daß die unterftügende Armenbehörde und der bilfsbe: 
dürftige Unterjtügt von diefer Annahme ausgiengen, der Umſtand 
zu Sprechen fcheint, daß die Schwenninger vor ihrer Abreije am 
14. Augujt 1879 aus der Ortsarmenkaſſe noch einen für Die 
zeit vom 15. bis 19. Augujt berechneten Verköſtigungsvorſchuß 
erhielt. | 

Ebenjowenig aber kann hinfichtlich der ſpäteren Zeit, wenn 
die Schwenninger auch während der leßteren eine weitere Geld: 
unterſtützung aus Mitteln der öffentlichen Armenpflege nicht mehr 
erhielt, aus der einzigen vorliegenden Thatfahe der in Spalt 
jtattgehabten Bejchäftigung und beziehungsmeife Nemunerirung 
derselben ohne Weiteres geſchloſſen werden, daß ihre Hilfsbe: 
dürftigfett hiemit aufgehört hätte. Beſtand nämlich die leßtere 
hauptjählih darin, daß die Schwenninger in Folge ihres am 
22. Januar 1879 in Neippersberg (DA. Gaildorf) erlittenen 
während ihres Aufenthalts im Bezirksfranfenhaufe in Gaildorf 
nicht vollftändig geheilten Beinbruchs ſowie wegen ihrer jonjtigen 
bei diefem Anlaß hervorgetretenen förperlichen Gebrechen jtändig 
verpflegt werden mußte, wie folches das Dberamtsphyfifat Neres: 
heint in der über den Zuftand derfelben unterm 22. Mai 1879 
abgegebenen Aeußerung für nothwendig erklärte, und daß jie- 
nicht im Stande war, die Koſten einer ſolchen Verpflegung 
jelbjt aufzubringen, fo liegen abgejehen von dem Eleinen ihr in 
Spalt zugeflofjenen Geldbezug, durch weldhen, mag ihr die be: 
treffende Summe als Arbeitsverdienft oder nur als Almofen 





— 193 — 


gegeben worden jein, eine wirklide Verbeſſerung ihrer Xage 
nicht eingetreten fein Tann, durchaus feine Anhaltspunfte für 
die Annahme vor, daß hierin während ihrer Abwefenheit von 
Oberdorf fi irgend etwas geändert haben follte. 

Vielmehr ergibt ſich aus der bei den Aften liegenden Aeußer— 
ung des Diſtriktsarzts Dr. Eßinger in- Oberdorf, welcher die 
Schwenninger bald nad ihrer Wiederanfunft am 9. September 
1879 unterfuchte, daß diefelbe in Folge ihres ungünftig gebeilten 
Schenfelbruhs damals noch wie vorher nur jehr bejichwerlich 
auf zwei Krücden auf kurze Streden gehen fonnte, und in ver: 
tärftem Maße an den Gejchwüren litt, die ſchon früher bei ihr 
hervorgetreten waren, woraus Dr. Eßinger folgerte, daß fie 
vorausfichtlih für immer hilfsbedürftig bleiben, und höchſtens 
leichtere Handarbeiten, wie Striden und Nähen zeitweife werde 
verrichten Fönnen. Es hat ferner auch der Dberamtsarzt Dr. 
Gmelin in Gaildorf, der die Schwenninger während ihres Auf: 
enthalt im dortigen - Krankenhaus Januar bis Mai 1879 be= 
handelt hat, noch unterm 26. September 1879 eine ähnliche 
Aeußerung abgegeben; indem er bemerkte, daß eine Heritellung 
diefer Perjon von den Folgen ihres Beinbruchs und ihren ſon— 
ftigen Leiden nach ihrem in Gaildorf hervorgetretenen Zujtand 
zu den Unmöglichkeiten gehört habe, daß fie ſchon damals ar- 
beitsfähig nur inſofern geweſen fei, als ihr Handarbeiten beim 
Sigen möglich geworden, und daß von Heilverfuchen .an derjelben 
feine Rede jein könne, fie daher immer unterjtüßungsbedürftig 
bleiben werde. Um fo mehr muß hiernadh die Fortdauer des 
früher, und wie Beklagter ſelbſt nachträgli dadurch anerkannt 
hat, daß er fih bei dem auf diefer Annahme beruhenden Ur: 
teil der Kreisregierung berubigte, jedenfalls bis 15. Auguft 
1879 bejtandenen Hilfsbedürftigkeit der Schwenninger angenom— 
men werden, als der Beklagte felbjt irgend welche Thatjachen 
nicht anzuführen vermochte, aus welchen ſich erfennen ließe, daß 
diefer Zuftand während der Abweſenheit derfelben von Oberdorf 
aufgehört hätte, und von da bei der Rückkehr neu hervorgetreten 
wäre. Etwas derartiges kann auch aus den Berhältniffen nicht 
gefolgert werden, wie folche jpäterhin im Verlauf der weiter 
von der Schwenninger am 11. Dftober 1879 behufs ihrer Auf: 





— 194 = 


nahme in das Klinitum zu Tübingen angetretenen Reife ji 
gejtaltet haben, indem namentlich die Unterbrechung, welche dieje 
Keife durch die verfchiedenen Gefegesübertretungen in Gmünd, 
ſowie jpäterhin in Stuttgart durch die erfolgte Verhaftung und 
Abjtrafung derfelben erlitten haben, an dem Zuftand der Hilfe: 
bedürftigfeit diefer Perjon nichts änderten. Das egentheil 
hievon, nämlich die auch jpäter unveränderte Fortdauer diejes 
Zuſtands ergibt fich vielmehr aus dem von dem Stadtdireftions: 
arzt Dr. Gußmann in Stuttgart bei Gelegenheit ihrer Entlaj: 
jung aus der GStrafhaft unterm 18. Dezember 1879 ausge: 
jtellten Zeugniß dahin, daß die Schwenninger eine miferabel 
ernährte Perſon an verjchievdenen tertiären fyphilitifchen Ge 
jhmwüren leide, die in Folge jchlecht geheilten Beinbruchs an 
Krücden gehen müſſe, alfo zweifellos nicht arbeitsfähig jei, eine 
Auffaſſung, der fih auch. die Negierung des Jartkreifes bei der 
Stage der Einfprehung der Schwenninger in ein Arbeitshaus 
anſchloß. 

Auch für die obenbezeichnete ſpätere Zeit war daher der 
Beklagte als der unter den obwaltenden Umſtänden definitiv (?) 
unteritügungspflichtige Armenverband nah 8. 30 Ab. 1 lit. b. 
des Neichsgejeges über den Unterftügungsmohnfis für fehuldig 
zu erfennen, dem Kläger die Koften der in Gemäßheit des $. 20 
des gedachten Geſetzes vorläufig übernommenen Unterjtügung 
bis auf Weiteres zu erjegen. Der Beklagte hat zwar binfichtlid 
diefer jpäteren Zeit bei der mündlichen Verhandlung in diejer 
Inſtanz geltend gemacht, daß die Schwenninger wenigiteng vom 
11. Oftober 1879 an nicht mehr der öffentlichen Unterjtügung 
bedürftig oder theilhaftig gemejen fei, weil fie damals behufs 
ihrer Berbringung nach Tübingen von ihrem alimentation: 
pflichtigen und im Befig einiger Geldmittel befindlichen Ehemann 
übernommen worden fei, und weiterhin berief ſich Beflagter even: 
tuell darauf, daß fich die Schwenninger feit Anfangs Suni 1880 in 
Kleinnördlingen zu befinden fcheine, wovon, da diefer Ort in 
dem dem Geltungsbezirk des Unterftügungsmohnjiges des Geſetzes 
nicht angehörigen Baiern liege, Die Folge die jei, daß wenigſtens 
von da an eine Verſorgung derjelben nah Maßgabe der Be: 
ſtimmungen diefes Geſetzes nicht mehr jtatt zu finden gehabt hätte, 





— 195 — 


beziehungsweife jolche, wenn die Schwenninger je nad Württem— 
berg zurüdgeliefert würde, einem andern, als dem bisher unter: 
ftügungspflichtigen Armenverband aufzulegen wäre. Wie wenig 
jedoch der Ehemann dev Schwenninger auch in der Zeit jeit der 
zweiten am 11. Dftober 1879, übrigens wiederum mit einem 
von dem Kläger gewährten Verköſtigungsvorſchuß erfolgten Ab— 
reife von da der ihm allerdings in erjter Linie obliegenden Ber: 
pflihtung zur Mlimentirung feiner Frau entſprach und derjelben, 
was nothwendig gewefen wäre, diejenige Verforgung angeveihen 
ließ, welche ihr fortwährend Hilfsbedürftiger Zuftand erforderte, 
ergibt ſich ſchon daraus, daß die beiden Eheleute in Gmünd 
bereit3 am 2. November 1879 um öffentliche Unterjtügung baten, 
und daß fie ſodann nach einer wegen Bertrauensmißbrauchs dort 
von ihnen verbüßten Haftitrafe am 24. November 1879 in Stutt- 
gart auf dem Betteln betreten wurden, weßhalb fie in Unter: 
judung gezogen und bejtraft wurden, eine Maßregel, welche die 
in$. 30, Abf. 1, lit. b. des Reichsgefeges über den Unterjtügungs- 
wohnfig vorgefehene Behandlungsweife deßhalb nicht zur Folge 
haben fonnte, weil folche nad) der Abficht fraglicher Gejeßesbe- 
fimmungen nur in den Fällen eintreten ſoll, in welchen eine 
Hilfsbedürftigkeit der inhaftirten Perſonen erſt während ihres 
Aufenthalts in der Strafanitalt eingetreten, und bei der Ent— 
lafjung aus derjelben hervorgetreten ift, während die Verhältniffe 
im gegebenen Fall injofern anders liegen, al3 die Schwenninger 
Ihon zur Zeit ihrer Einlieferung Hilfsbedürftig war und jchon 
damals in öffentlicher Unterjtügung jtand. Ebenſo ift es aber 
diefelbe fontinuirlihe Unterftügungsbedürftigfeit, welche auch bei 
ihrem im Juni 1880, übrigens mit Bewilligung der Ortsarmen- 
behörde Oberdorf und unter Fortreihung der ihr von lekterer 
bewilligten Unterjtügung, wenn auch in wiederholt beſchränktem 
Mape, erfolgten Abgang nach Kleinnördlingen nicht aufgehört, 
jondern gleichmäßig auch in legterem Ort fortgedauert hat, wo— 
nah davon feine Rede fein fann, daß die gedachte Perſon feit 
diejer ihrer Ueberſiedlung nach Baiern nicht mehr nach dem 
Unterftügungsmwohnfiggefeg zu behandeln wäre, oder daß hiedurch 
das in Anjehung der Pflicht, fie zu unterftügen, maßgebende 
Rechtsverhältniß eine Aenderung erlitten hätte. 





— 19% — 


Da es fih dem Ausgeführten zu Folge im vorliegenden 
Fall unzweifelhaft um fortdauernde Unterjtügungsbedürftigfeit 
handelte, jo war dem $. 31 des Unterftügungswohnfiggeießes zu 
Folge die Mebernahmepflicht auszufprehhen, und hatte Beflagter 
als Unterliegender alle Koften zu tragen. Die in Unkenntniß 
der bejtehenden Gefeße von dem Bevollmächtigten des Beklagten 
gegen dieſes Urtheil eingelegte Berufung an das Bundesamt für- 
das Heimatwejen wurde von dem Berwaltungsgerichtshof unter 
Beziehung auf Art. 32 und 44, Abſ. 1 des mwürttembergifchen 
Ausführungsgejeges vom 17. April 1873 abgejchlagen. 


26. Drtsarmenverband Kohendorf, DU. Nedarfulm, 
Kläger, Berufungsbeflagter, gegen Ortsarmen— 
verband Stuttgart, Beflagten, Berufungsfläger. 


Koftenerfaß betreffend Eintritt der Hilfs: 
bedürftigfeit eines aus der Strafanitalt 
Entlafjenen. 


Urtheil vom 27. November 1880. 


Der Vermwaltungsgerichtshof änderte das Urtheil der Ne: 
gierung des Nedarkreifes von 25. Auguft 1880 ab, die den 
Beklagten für verbunden erkannt hatte, die Verpflegungsfoiten 
für den Schriftfeger Heinrih Zihau von Kochendorf auf Grund 
des 8. 30, lit. b. „falls er in hilfgbedürftigem Zujtand aus einer 
Strafanftalt entlafjen wurde, derjenige Landarmenverband, aus 
dem feine Einlieferung in die Anftalt erfolgt iſt“ zu erjegen. 

Gründe: 1) Daß Heinrich Zihau landarm ift, ergibt ſich 
aus den Akten und ijt von dem Beklagten anerkannt, auch wird 
von leßterem zugegeben, daß Zſchau aus dem Bezirk des Land: 
armenverbands Stuttgart in die Strafhaft, welche er in Stutt: 
gart verbüßt hat, eingeliefert wurde. Dagegen bejtreitet Beklagter 
das Zutreffen der weiteren Vorausſetzungen des $. 30 Hit. b. 
des Reichsgeſetzes über den Unterftügungsmwohnfiß, daß nämlid 
Zichau inhilfsbedürftigem Zuftand, wie Kläger behauptet, 
aus der Strafhaft in Stuttgart entlaffen wurde. 

2) Nach dem Begriff der Hilfsbedürftigfeit im armenredht: 
(ihen Sinn liegt die Nothwendigfeit öffentlicher Unterjtügung zu 





— 197 — 


Gunften einer Perſon in dem Fall nicht vor, wenn diefelbe fich 
zwar — bleibend oder vorübergehend — in einer unterſtützungs— 
bedürftigen Lage befindet, jedoch durch anderweitige Fürforge die 
Mittel für ihren nothoürftigen Lebensunterhalt erhält. Die 
traf bei Zſchau jedenfalls bis zu feiner am 30. Dezember 1879 
erfolgten Ankunft in Kochendorf thatfächlich zu. Obgleich er jeit 
dem 16. November 1878 bejchäftigungslos auf der Wanderfchaft 
fih befand, ift er doch niemals der öffentlichen Armenpflege an- 
heimgefallen. Die Anfchaffungen von Kleidungsjtücden, welche 
ihm als Unterfuhungs: und Strafgefangenen auf öffentliche Koften 
gegeben wurden, können als Armenunterjtügungen nicht angefehen 
werden. Nach feinen eigenen Angaben hat er außer den Orts— 
geichenfen und den Unterjtüßungen aus den Buchdruderfafjen 
feine Unterftügßung erhalten, in Wirklichkeit fomit von dieſen 
Privatunterftüßungen und ſoweit diefelben nicht zureichten, vom 
Beitel gelebt. Die letztere Thatſache und fein beichäftigungslofes 
Umberziehen haben demjelben zwar viele Beitrafungen zugezogen, 
ihn jedoch, da er ein gejunder arbeitsfähiger Mann im beiten 
Alter ift, noch feineswegs zu einem Hilfsbedürftigen im armen= 
rechtlichen Sinn gemacht, fondern fchlieglih nur Anlaß zur Ein: 
ihreitung gegen feine Arbeitsfchene gemäß $. 362 des Straf- 
gejeges gegeben. In Anwendung diejfer gefeglichen Beitimmung 
hat denn auch der Strafrichter (das Schöffengericht in Stuttgart) 
ausgeiprochen, daß Zſchau nad Verbüßung der gegen ihn wegen 
Bettelng und Mißbrauch der öffentlichen Unterftügung erfannten 
Haftſtrafe von 26 Tagen der Landespolizeibehörde zu überweifen 
jei, welche hiedurch vermöge jener Beitimmung die Befugniß er: 
hielt, ven Zſchau entweder bis zu zwei Jahren in einem Arbeits— 
haus unterzubringen, oder zu gemeinnügigen Arbeiten zu ver: 
wenden. Die Ueberweifung an die Landespolizeibehörde beruht 
war wie die gegen Zichau erkannte Haftitrafe auf dem gleichen 
ſtrafrichterlichen Urtheil und bildet nach der Zeitfolge einen Anner 
der Strafe, fie ift aber fein Beſtandtheil der legteren, vielmehr 
eine von ihr wejentlich verſchiedene Maßregel der Nechtspolizei. 
In dem Momente, in welchem Zſchau aus der Strafanitalt ent: 
laffen wurde, hat er aufgehört, Strafgefangener zu fein, und 
war er daher im Sinn des 8. 30 lit. b des Unterftügungswohn- 
Württemb. Archiv für Recht sc. XXII. Bd. 2. & 3. Heft. 14 


— 19% — 


fibgefeßes als aus der Strafhaft entlajjen zu betrachten. Von 
dem Zeitpunft an, als in Bollzug jener rechtSpolizeilichen Map: 
nahme Zihau durch Vermittlung des Stadtpolizeiamts der Stadt: 
Direktion vorgeführt wurde, ſowie während des Transports von 
Stuttgart nah Nedarjulm und von da nach Kocendorf war 
derjelbe Tediglih polizeilicher Gefangener zu dem Zwecke, 
um die Ausführung der gedachten Polizeimaßregel zu ſichern. 
Die Annahme der Kreisregierung, daß Zſchau erjt mit feiner 
Einlieferung und Entlaffung in Kochendorf aus der Stutt— 
garter Strafanftalt entlaffen worden jei, ermangelt jomit jeder 
rechtlichen Begründung. 

Wenn hiernach Zihau als in Stuttgart aus der dortigen 
Strafanjtalt entlajjen anzufehen ift, jo muß auch die Frage, ob 
er dajelbit in hHilfsbedürftigem Zuftand entlafjen‘ wurde, 
verneint werden, da die Nothwendigfeit einer öffentlichen Armen- 
unterjtüßung damals deßhalb nicht vorlag, weil Zſchau als poli- 
zeiliher Gefangener auf Kojten des Staats zu verpflegen war, 
und wirklich verpflegt wurde, eine armenrechtliche Unterftügung 
dejlelben daher überhaupt erjt dann in Frage kommen Tonnte, 
al3 er in Kochendorf auf freien Fuß gefeßt wurde. Winde 
Lebteres Thon in Stuttgart geſchehen fein, fo wäre für Zichau, 
wenn er auch nur7 Pf. befaß, immerhin die Möglichfeit gegeben 
gewejen, jei es in jeinem Gewerbe als Schriftjeger oder fonit 
wie Beſchäftigung zu finden, oder fi) durch Brivatunterjtügung 
(aus den Buchdrudereifaffen, Ortsgeſchenken 2c.) vorübergehend die 
nöthigen Unterhaltsmittel zu verjchaffen, ohne die öffentliche Ar- 
menpflege irgend in Anjpruch zu nehmen Durch die in Folge 
jeiner Ueberweifung an die Yandespolizeibehörde gejchehene Ueber: 
führung nad Kochendorf, wo fich für ihn weder in feinem Ge: 
werbe, noch jonft eine geeignete Beichäftigung fand, war Zſchau 
natürlich in eine ungünftigere Lage verfegt, in welcher er der öffent: 
lichen Armenpflege eher anheimfallen Eonnte. Es war alfo, wenn 
derjelbe in Kochendorf wirklich in einem hilfsbedürftigen Zuftand 
angekommen ift, der nothwendige Aufwand für feine Unterftügung 
wejentlich eine Konjequenz der über ihn verhängten Polizeimaß— 
regel, wofür der Landarmenverband Stuttgart nach dem Be: 
merkten nicht einzutreten hat, wenn er auch nach der erzeptionellen 





i 





— 19 — 


Beltimmung des Art. 28. des württembergifhen Ausführungs- 
geieges zu dem Unterftügungsmwohnfiggejes vom 17. April 1873 
die Kojten des Unterhalts des Zſchau im Arbeitshaus, falls er 
dorthin eingefprochen worden wäre, darum zu tragen gehabt 
hätte, weil derfelbe im Stabdtvireftionsbezirk feitgenommen wurde. 


27. DrtSarmenverband Eßlingen, Kläger, Berufung: 
tläger, gegen Ortsarmenverband Kirchheim u./T., 
Bellagten, Berufungsbeflagten. 


Uebernahme und Kojtenerfagß. Wirkliche 
Hilfsbedürftigfeit. 
Urtheil vom 22. Dezember 1880. 


Unter Bejtätigung des Urtheils der Regierung des Donau- 
freifes vom 11. Dftober 1880 wurde die Klage Eojtenfällig ab- 
gewieſen. 

Gründe. 1) Aus den Akten ergibt ſich, daß die Magda— 
lene Bühr von Mergelftetten, Oberamts Heidenheim, am 1. Sep: 
tember 1877 von Kirchheim u./T. aus, wo fie ſich mehrere Jahre 
aufgehalten hatte, nach Eßlingen gezogen ift, jeither in Eßlingen 
ihren ununterbrochenen Aufenthalt gehabt, und aus der Orts— 
armenkaſſe dafelbit vom 1. Auguft 1879 an fünf Mark monat: 
lihe Unterftügung empfangen hat; der Kläger beanjprudt von 
dent Beklagten den Erſatz dieſer Unterftügung, ſowie die Ueber: 
nahme der Bühr als einer angebli dauernd hilfsbedürftigen 
Perſon in eigene Verpflegung, weil diejelbe durch mehrjährigen 
Aufenthalt den Unterjtügungswohniig in Kirchheim erworben und 
jolhen inzwijchen nicht verloren habe. Der Beklagte beftreitet 
den Kägerifchen Anjpruch weſentlich aus dem Grunde, weil die 
Drtsarmenbehörde Eßlingen jene Unterjtüßung, ohne daß die 
Bühr aus eigenem Antrieb darum nachgefucht hätte, und ohne 
daß eine wirkliche Unterjtügungsbedürftigfeit derfelben im Auguft 
1879 vorhanden geweſen wäre, lediglich zu dem Zweck verwilligt 
habe, die armenrechtlihen Folgen des Aufenthalts der Bühr in 
Ehlingen zum Nachtheil des Beklagten abzuwenden. 

2) Nah der Sachlage hängt die Beurtheilung de3 klägeri— 
Ihen Anspruchs davon ab, ob die von der Ortsarmenbehörde 

14* 


— 200 — 


Ehlingen der Bühr für den Monat Auguft 1879 eritmals ge- 
leiitete Unterjtügung als eine im armenrechtlihen Sinn (vergl. 
$. 28 des Reichsgeſetzes über den Unterſtützungswohnſitz) noth— 
wendige öffentliche Unterftüßung, mit welcher die in Abf. 1 
der 88. 14 und 27 des gedachten Reichsgeſetzes beftimmte Wir- 
fung verbunden ift, anzufehen jei? Dieje Frage muß nach den 
thatlächlichen Verhältniſſen verneint werden. 

Aus den eidlihen Ausfagen der Bühr bei der oberamtlichen 
Vernehmung vom 10. Juli d. J. im Zujammenhalt mit ihrer 
früheren Angabe vom 13. April 1880, welche das von dem 
klägeriſchen Anwalt vorgelegte Vernehmungsprotofoll des Raths— 
jchreibers Uhl enthält, geht entſchieden hervor, daß die Bühr in 
Eßlingen bis Auguſt 1879 ihren Lebensunterhalt ohne irgend 
wie öffentliche Unterftügung in Anſpruch zu nehmen, oder ge= 
nommen zu haben, von dem Ertrag de8 von ihr betriebenen 
Haufirhandels mit Beihilfe von Privatunterftügungen nothdürftig 
bejtritten hat, und daß fie aud im Monat Auguft 1879, als 
die von ihr nicht veranlaßte Intervention der Ortsarmenpflege 
zu ihren Gunften eintrat, feineswegs in einer Nothlage ſich be- 
fand, vermöge der fie öffentliche Unterftügung hätte anrufen 
müſſen, oder für die Ortsarmenbehörde eine erfannte Nothwen— 
digkeit, derfelben Unterjtügung ohne ihr Anrufen angedeihben zu 
lajien, vorgelegen wäre, daher mit Grund anzunehmen it, Daß 
ohne die Intervention der Armenpflege die Bühr ihr Ausfommen 
fernerhin, jedenfalls noh im Monat Auguft 1879, in der gleichen 
Weiſe, wie bisher, gefucht und gefunden hätte. 

Hiernach ift Far, daß die der Bühr aus der Ortsarmenkaſſe 
Eplingen für den Monat Auguft 1879 erſtmals geleijtete Unter: 
ftügung von der Ortsarmenbehörde ohne äußere Nöthigung durch 
ein wirkliches Unterftügungsbedürfniß vermwilligt wurde, und fann 
jomit diefelbe nicht als eine im armenrehtliden Sinn 
nothwendige Unterftügung mit welcher allein die in Abf. 1 der 
88.14 und 27 des Reichsgeſetzes über den Unterftügungswohnfig 
beſtimmte Wirkung verbunden ift, angefehen werden. Wenn es 
fih aber fo verhält, jo hatte die Bühr, ungeadhtet der aus 
der Ortsarmenkaſſe empfangenen Unterftügung am 1. Septeniber 
1879 durch zweijährigen ununterbrochenen Aufenthalt in Eßlingen 














——üÿüſ——— 


— 201 — 


den Unterſtützungswohnſitz daſelbſt erworben, folgeweiſe den in 
Kirchheim verloren, und ermangelt daher der Anſpruch des Klägers 
gegen den Beklagten der rechtlichen Begründung, wornach auch 
die Frage, ob die Bühr etwa ſpäter hilfsbedürftig im armen— 
rechtlichen Sinn geworden iſt, dem Beklagten gegenüber als be— 
deutungslos erſcheint. Demgemäß mußte die Klage koſtenfällig 
abgewieſen werden. 


28. Drtsarmenverband Stuttgart, Kläger, Beruf: 
ungsftläger, gegen Ortsarmenverband Altheim, 
DA. Horb, Beflagten, Berufungsbeflagten. 


Koftenerjaß betreffend. Hilfsbedürftigfeit, 
Friftunterbredung. Nlimentationspflidtige 
Bermwandte. 


Urtheil vom 29. Dezember 1880. 


Unter Abänderung des Urtheils der Negierung des Schwarz: 
waldfreifes vom 31. Juli 1880 wurde Beflagter verpflichtet er— 
fannt, dem Kläger die der Klägerſchen Ehefrau gewährte Armen- 
unterjtügung, beftehend in einem für die Berpflegung ihres Kindes 
Ernſt vom 1. Januar 1880 an bezahlten Kojtgeld von 80 Mark 
jährlich infolange zu erjegen, als die Verpflegung des Kinds in 
Ermanglung anderweiter Fürſorge nöthig ift, unter Verurtheilung 
des Beklagten in die Koften und Sporteln. 

Gründe: 1) Die von ihrem Ehemann im Frühjahr 1876 
böslih verlafjene Ehefrau des Maurers Johannes Kläger von 
Altheim, welche von jenem Zeitpunkt an in Beziehung auf Er: 
werb und Verluſt des Unterftügungswohnfikes als jelbjtändig im 
Sinn des Neichsgefeges über den Unterftügungsmwohnfig zu be= 
trahten war, hat fowohl im Winter 1875/76 in Altheim, wo 
ihr Ehemann den Unterftügungsmwohnfig hatte, gewohnt, als auch 
nah kurzem Aufenthalt in Eybah, DAX. Geislingen, und in 
Stuttgart mit den ihr gefolgten zwei Kindern fih im Monat 
Mai bis Mitte Juni 1877 wieder in Altheim aufgehalten, fo: 
mit damals den Unterftügungswohnfig in dieſem Orte gehabt. 
Der in diefer Beziehung erjt bei der öffentlihen Verhandlung 
in gegenwärtiger Inftanz von dem Beklagten erhobene Einwand, 


— 202 — 


daß jener zweite Aufenthalt in Altheim nicht als ein mit der 
Abſicht dauernder Fortſetzung unternommener im Sinn des 8. 25 
des Reichsgeſetzes über den Unterſtützungswohnſitz zu betrachten 
ſei, iſt nicht zutreffend. Die Klägerſche Ehefrau hat ſich damals 
mit ihren Kindern und mit ihrem ganzen Haushalt nach Altheim 
begeben, und hing es ganz von den ſpäteren Umſtänden ab, wie 
lange ſie in Altheim bleiben werde. 

2) Die Klägerſche Ehefrau hat nach den in gegenwärtiger 
Inſtanz ſtattgehabten Erhebungen im Mai 1877 wegen ihrer 
ſchon damals eingetretenen Hilfsbedürftigkeit bei der Ortsarmen— 
behörde Altheim Unterſtützung nachgeſucht, und als dieſe keine 
entſprechende Verfügung traf, hierüber am 26. Mai 1877 bei 
dem Oberamt Horb Beſchwerde erhoben, das am 26. Mai eine 
die Unterſtützung der Kläger bezweckende Entſchließung an die 
Ortsarmenbehörde Altheim erließ. Von derſelben wurde aber 
das Geſuch nicht in geordnete Behandlung genommen, indem, 
wie gleichfalls erſt neuerdings feſtgeſtellt wurde, auf das Geſuch 
nicht die auf Art. 9. des württ. Ausführungsgeſetzes zu dem 
Reichsgeſetz über den Unterſtützungswohnſitz vom 17. April 1873 
angeordnete Verhandlung und Entfcheidung unter dem Mitvorfig 
des Ortögeiftlichen jtattfand, ſondern ohne lettern von den 
bürgerlihen Kollegien allein Unterjtügungen der Kläger für 
Nechnung der Gemeindefafje bejhlofjen wurden. Es wurden bei 
jener Anmefenheit der Kläger nicht nur verjchiedene Reiſekoſten 
derfelben von Eybah nach Altheim und zurüd, jondern auch 
die Anfchaffung von Brod und Mehl für diejelbe übernommen, 
jondern auch am 9. Juli 1877 befchlojien, der Kläger vor: 
läufig auf ein Jahr 52 Mark Beitrag zum Koftgeld eines ihrer . 
Kinder zu bewilligen. Ebenfo wurden der Klägerin, welche ſich ſo— 
fort nach Stuttgart in ein Dienjtverhältnig begab, und ihre 
Kinder anderwärt3 unterbringen mußte, gemeinderäthlich Zeug: 
niſſe ausgeftellt, zur geeigneten Benügung, in denen beurfundet 
war, daß fie als vermögenslos und von ihrem Ehemann ver: 
(affen nicht in der Lage jei, von ihrem Verdienſt ihre Kinder 
zu unterhalten, daß fie deßhalb hiezu von der Gemeinde einen 
Beitrag erhalte, und ein Nachlaß an dem von ihr zu bezahlen= 
den Koftgeld zu mwünjchen jei. Sodann hat der Gemeinderat) 





BE: 


auf das von dem Borjteheramt Kornthal, wo das ältere Kind 
in Pflege jtand, an den Ortsvorſtand gerichtete Geſuch, die für 
die Berpflegung jenes Kinds jeit dem 18. Juli 1877 geforderten 
66 Mark am 18. Februar 1879 gleichfall3 auf die Gemeinde- 
fafje übernommen. 

3) Wenn nun aus obiger Behandlung des Unterſtützungs— 
geſuchs der Beklagte ſpäter die Einrede abgeleitet hat, daß von 
dem Ortsarmenverband als folchem früher feine Unteritügung 
gewährt wurde, und die von der Gemeinde gereichten Unter: 
ftügungen nur als freie Gefchenfe zu betrachten jeien, jo fommt 
hiegegen in Betracht, daß von Gejchenfen bei der ganzen Sad): 
lage hier überhaupt feine Nede fein fann, und abgejehen hie: 
von die Drtsarmenbehörde, nachdem bei ihr, wie fchon oben 
dargethan, das Unterftügungsgefuch wirklich eingereicht war, aud) 
die Verpflichtung hatte, hierauf eine Entſchließung zu ertheilen. 
Da fie nun folches ohne zureichenden Grund unterlafjen hat, 
jo fragt es fih nur, ob ſchon zu der Zeit als das Unterſtütz— 
ungsgeſuch an die Ortsarmenbehörde gerichtet wurde, die Hilfs: 
bedürftigfeit der Klägerjchen Ehefrau fo Eonftatirt war, daß die 
Unterjtügung derjelben hätte eintreten jollen, was bei der jtatt- 
gehabten Behandlung des Falls unbedingt zu bejahen iſt. Nicht 
nur Sprechen hiefür die jchon oben erwähnten Handlungen und 
Erklärungen der Gemeindebehörden, jondern es hat auch Die 
Drtsarmenbehörde jelbjt, welche erjtimals unterm 17. Dezember 
1879 gegenüber den VBorjtänden des Kinderrettungsvereins in 
Stuttgart den für das zweite Kind der Kläger geforderten Unter: 
haltungsbeitrag ablehnte, die von Anfang an bejtandene Hilfs- 
bedürftigfeit der Kläger dadurch anerfannt, daß jie fich wieder: 
holt bereit erklärte, eines der Kinder auf Koften des Ortsarmen- 
verbands bei den Großeltern der Kinder in Altheim unter: 
zubringen. 

4) Mupte jonach eine jchon im Mai 1877 begonnene und 
either fortgedauerte (7) Hilfsbedürftigkeit der Klägerjchen Ehe— 
frau als beftehend angenommen werden, jo hat der Beklagte durch 
die jeinerfeitS nicht gewährte Unterftügung den Lauf der von der 
zeit der Entfernung der Kläger von Altheim zum Berluft des 
dortigen Unterftübungswohnfiges geſetzlich erforderlichen zwei: 


— 204 — 


jährigen Frijt gehemmt (Wohlers Entjcheidungen des deutſchen 
Bundesamts für das Heimatweſen Heft I. ©. 43 Heft IN. 
©. 5. Heft X. ©. 23) und it in Folge feines Verſäumniſſes 
dem Ortsarmenverband Stuttgart, welcher die Kläger durch Ueber: 
nahme der Verpflegung eines ihrer Kinder mit Grund vorläufig 
unterjtügte, zum Erſatz des ihm hiedurch verurfachten Aufwan: 
des, gegen defjen Größe der Beklagte Feine Einwendung erhoben, 
rechtlich verpflichtet. Der von Seite des Beklagten eventuell 
erſt bei der öffentlichen Verhandlung neu erhobenen Einrede, daß 
zunächit die väterlihen Großeltern der Kinder unterjtüßungs- 
pflichtig feien, war im gegenwärtigen Verfahren (2) feine Folge 
zu geben, da der Drt3armenverband- Stuttgart nad Art. 2. 
Abſatz 2. des Ausführungsgefeges die bei ihm nachgeſuchte jo: 
fortige Hilfeleiftung durch Verweiſung an dritte VBerpflichtete 
unter den vorliegenden Verhältnijjen nicht ablehnen konnte. Auch 
bat der Beklagte den für die Unterftügung der Kläger noch 
ferner nöthigen Betrag zu erjegen, und die Koften als unter: 
liegender Theil zu tragen. 

Schlieglih ift über die von dem Klägerſchen Vertreter bei 
der öffentlihen Verhandlung eventuell in Antrag gebrachte Eini- 
gung wegen des Verbleibens der Klägerihen Ehefrau an ihrem 
bisherigen Aufenthaltsort und die nad) der Ablehnung auf Grund 
des 8. 56 des Neichsgefeges über den Unterjtügungswohnfig be: 
antragte Entjcheidung zu bemerken, daß nad) $. 56 Ab}. 1 des 
gedachten Reichsgefeges eine folche Entfcheidung von der in 
I. Inſtanz zuftändigen Spruchbehörde zu ertheilen: ift. 


II. Fülle des Art. X Ziff. 7 des Geſetzes betreffend die 
Verwaltungsrechtspflege. 
Korporationgjteuerpflidt. 

1.8. Staatsforjtverwaltung, Klägerin, Berufungs: 
beflagte, gegen Gemeinde Musberg, DA. Stutt: 
gart, Beklagte, Berufungsflägerin. 
Beiziehung zu firdliden Umlagen. 
Urtheil vom 26. April 1880. 


Die Negierung des Nedarkreifes hatte unterm 28. Dftober 








— 205 — 


1879 die Beklagte Eojtenfällig für verbunden erfannt, der Klä— 
gerin für die Jahre 1859/75 die durch Beiziehung derjelben 
zu firhlihen Umlagen von ihr zuviel erhobenen 358 Marf 
73 Pf. zurüdzueritatten. Der Berwaltungsgerichtshof bejtätigte 
auf eingelegte Berufung der Beklagten dieſes Urtheil. 

Gründe. 1) Gegen die Entjcheidung des vorigen Richters, 
durch welche die fteuerliche Freilafjung der k. Staatsforftverwal: 
tung von den unter den Gemeindeausgaben begriffenen Kirchen: 
fojten bejtehend in der Dedung des Abmangels der Kirchenpflege 
und einer SHolzbefoldung der Pfarrei Musberg ausgeſprochen 
wurde, hat jich die Berufungsklägerin teils wiederholt auf die 
herkömmliche Leitung aus der Gemeindefaffe, theils auf die in 
dem herzoglichen Generalrejfript vom 23. September 1783 
(Reyſcher Sammlung der w. Gejege Band XIV. ©. 957) aus 
gejprochene Berpflichtung des altwürttembergiichen Gemeinden 
zu Tragung ſolcher Koften berufen. 

2) Gegen eine herkömmliche Berpflichtung der politischen 
Gemeinde als folder, an welcher ſich die in feinem Kirchenver: 
band ftehende Staatsforjtverwaltung allein zu betheiligen hätte, 
mußte jedoch, obgleich jene Kojten feit langer Zeit von der Ge: 
meinde entrichtet wurden, in Betracht fonımen, daß früher nie 
zum Ausdrud fam, daß hiebei die politiiche Gemeinde für Die 
Kirchengemeinde eingetreten ſei, wodurch allein eine rechtliche 
Verpflichtung der politifchen Gemeinde fich hatte bilden können. 
Hiezu war unter den vorliegenden Verhältniſſen früher auch 
fein Anlaß gegeben, weil die jteuerpflichtigen Drtsbürger in Er: 
manglung anderer Konfejjionsgenofjen auch zugleich die Kirchen: 
gemeinde bildeten, und ſonach ihnen überlaffen war, aus Zweck— 
mäßigfeitsgründen und zur Gejchäftsvereinfahung den firchlichen 
Aufwand in der gefchehenen Weife durch die Gemeindeorgane 
bejorgen zu lafjen. 

Wie wenig hiebei die Abficht war, die politijche Gemeinde 
im Unterfchied von der Kirchengemeinde zu belajten, wird aud) 
no durch den Vertrag unterjtüßt, welchen am 18. November 
1837 die den Pfarriprengel Musberg bildenden Gemeinden 
Musberg, Leinfelden, Oberaichen und Unteraichen in Folge der 
Errichtung einer eigenen Schule und eines Begräbnißplages in 


— 200 — 


Leinfelden abgefchloffen haben; nach demjelben wurde der in— 
zwifchen von der gemeinjchaftlihen Heiligenpflege beſtrittene 
Schulaufwand auf die politifche Gemeinde übernommen, dabei 
aber in Punkt 5 bejtimmt, daß die Heiligenpflege im Eigenthum 
der Kirhengemeinde bleiben, und diefelbe in Zufunft nur 
den Kirchenfond für alle die Kirchengemeinjchaft angehenden 
Koften bilden folle. Hier ift alfo der firhlihe Aufwand aud 
als Sache der Kirchengemeinde bezeichnet, dabei aber keineswegs, 
obgleich es doch nahe gelegen wäre, fejtgejeßt worden, Daß ber 
von der SHeiligenpflege nicht gededte Aufwand von der poli— 
tiſchen Gemeinde zu tragen jei, wozu ohnedies die Genehmi- 
gung der höheren Aufiichtsbehörde erforderlich geweſen wäre. 
3) Auch die erit in dieſer Inſtanz gefchehene Berufung auf 
das herzogliche Generalrejfript vom 23. September 1783 war 
nicht geeignet, den Anspruch) der Berufungsklägerin zu begründen. 
In demfelben war allerdings beftimmt worden, daß zu Vermei- 
dung der Grunditodangriffe bei den Heiligenpflegen nach der 


DObfervanz im Lande, welche fih auch auf die Kaftenordnung 


gründe, die Kommunen um das Grmangelnde ins Mittel zu 
treten verbunden jeien. Nun war aber in jener Seit eine 
Unterfcheidung zwijchen politifchen und Kirchen-Gemeinden noch 


gar nicht Üblih und wurden die Zwecke "der legteren zugleid 


von den gewöhnlichen Gemeindeorganen beforgt. Es kann da— 
her aus jener ohnedem nur für einen fpeziellen Anlaß gegebenen 
. reglementären Borfehrift eine noch jegt geltende Beitimmung um 
jo meniger abgeleitet werden, als die Verweifung auf die 
Kajtenordnung, welche nur von der Berpflichtung der einzelnen 
Gemeindegenoſſen zu Kirchenbauten fpricht, es zweifelhaft läßt, 
ob nicht unter den Kommunen bloß die legteren gemeint waren. 

Abgejehen bievon iſt nun auch durch das Verwaltungs: 
edift vom 1. März 1822 8. 130 für die Zukunft bejtimmt 
worden, daß die Gemeindefafje zur Dedung des Abmangels der 
Stiftungen nur verbunden fei, jomweit es fih um Ausgaben 
handelt, welche bei der Unzulänglichfeit der Stiftungen der Ge: 
meinde unmittelbar obliegen würden, nach welcher Bejtimmung, 
und, da für einzelne Landestheile feine Ausnahmen zugelafjen 
wurden, eine Verpflichtung der politifchen Gemeinde zu aushilfs— 








— 207 — 


weiter Uebernahme der aus der Heiligenpflege beitrittenen Kir— 
chenfoften nicht mehr angenommen werden kann. 

4) Auch die aus der Gemeindekaſſe jeit langer Zeit ge: 
leiftete Holzbefoldung des Pfarrers von vier Klaftern gemischten 
Holzes und zweihundert Wellen, welche einen Theil des von 
fämmtlihen Parochialorten dem Pfarrer gewährten Holzreichniſſes 
bildet, erjicheint nach den geichehenen Erhebungen als eine 
Namens der Pfarrgenofjen, welchen bei der Lieferung des Holzes 
überdies noch befondere Verpflichtungen zur Beifuhr oblagen, 
erfüllte Firchliche Leiftung, bei der die erft durch das Geſetz vom 
16. Juni 1849 dem Gemeindeverband einverleibten Staatswal- 
dungen nicht als beitragspflichtig angenommen werden fonnten. 

5) Beitand hiernach feine Verpflihtung der Berufungsbe- 
flagten zur fteuerfußmäßigen Betheiligung an jenen Koften, To 
mußte auch die erhobene Grjaßforderung, über deren Betrag 
jih die Parteien eventuell verjtändigt haben, al$ begründet er- 
fannt werden. Die Beklagte hat zwar die lettere unter Hin- 
weilung auf die analog anzuwendenden privatrechtlichen Grund: 
läge der Nückforderung einer Nichtſchuld (condietio indebiti) 
auch deßhalb bejtritten, weil hier das Erforderniß einer jtatt- 
gehabten Bereicherung nicht nachgewiefen fei, indem die Beklagte 
die von der Klägerin zuviel bezahlten Steuerbeträge von den 
übrigen Steuerpflichtigen eingezogen hätte, und fomit nicht mehr 
erhalten habe, als ihr gebührte. 

Allein abgefehen davon, daß bei einer in Geld erfolgten 
Zuvielzahlung und der Vermifchung des Geld3 mit den Vorräthen 
der Gemeinde immer eine Bereicherung der Empfängerin vor— 
lag, und die leßtere auch wenn die Zuvielzahlung einem Dritten 
zu gut fommt, für die Nichtſchuld haftet, find jene privatrecht: 
lihen Normen auf die Nüdforderung von Steuern bei der Ber: 
ihiedenheit -der beiderfeitigen Verhältnifje und den jonit maß: 
gebenden landesgefeglichen OEIEARERDEUDEN überhaupt nicht ohne 
Weiteres anzumenden. 

Daß wegen aller ohne Berechtigung angejegten Steuern 
von dem Pflichtigen nachträgliche Anſprüche erhoben werden 
fönnen, ift jchon in der Kommunordnung von 1759 (?) Ka: 
pitel V. Abſchnitt 9 8. 40 ohne Erwähnung der bei privats 


— 2085 — 





rechtlichen Rückforderungen in Frage fommenden Gejihtspunfte 
im Allgemeinen zugejihert worden. Auch war das Nedt der 
Nücforderung der Steuern nicht auf einen gewiljen Zeitraum 
befhränft, und find in diefer Beziehung erjt durch Die neuere 
Geſetzgebung Beitimmungen getroffen worden, nach welchen eine 
Verjährung der Nüdforderung in drei Jahren eintritt. Es ge: 
Ihah dieß zunächit hinfichtlich der Staatsſteuer durch Artikel 12 
des Gejeges vom 28. April 1873 und wurde diefe Beſtimmung 
durch Art. 1 und 6 des Gefeges vom 23. Juli 1877 auch auf 
die Körperfchaftsftenern anwendbar erklärt. Für die Verjährung 
der nad) der früheren Gefeßgebung zuviel erhobenen Steuern 
find noch überdies befondere Vorfchriften gegeben worden , ohne 
dag auch hiebei über eine ſonſtige Beichränfung ihrer Zuläßig: 
feit etwas bejtimmt worden wäre. Da nun aber der vorliegende 
Erſatzanſpruch ſchon vor dem Gefeh vom 23. Juli 1877 rechts: 
anhängig war, jo konnte auch bei demfelben die neuere geſetz— 
lihe Verjährung noch nit in Frage fonımen. 


2. Königl. Staat3forftverwaltung, Klägerin, Be 
rufungsbeflagte, gegen Gemeinde Grunbach, DM. 
Neuenbürg, Beklagte, Berufungsflägerin. 
Beiziehung zu kirchlichen Koiten. 

Urtheil vom 12. Mai 1880. 


Unter Beftätigung des Urtheil3 der Regierung des Schwarz 
waldfreifes vom 20. Dezember 1879 wurde die Beklagte koſten— 
fällig für verbunden erkannt, die Klägerin mit ihren auf der 
Markung Grunbad gelegenen Grundbefig von den unter den 
Gemeindeumlagen ſeit 1871/2 begriffenen Baufojten an der Kirche 
zu Grunbach jowie an den Bejoldungzleiftungen für den Orts: 
geijtlichen freizulajjen. 

Gründe. E3 ijt unter den Barteien unbejtritten, daß die 
Staatsforjtverwaltung mit ihren erjt durch das Geſetz vom 
18. Juni#1849 dem Gemeindeverband von Grunbach einver— 
leibten Bejigungen an den dortigen Kirchenfoften als nicht der 
Kirchengemeinde angehörig an fid) nichts beizutragen hatte, und 
fie nur, wenn dieſe Kojten der politifchen Gemeinde vermöge 





— 209 — 


beionderen Nechtstitels obliegen würden, an dem unter den Ge- 
meindeumlagen begriffenen Betrag fich betheiligen müßte. 

Die Beklagte behauptet nun, daß eine folche bejondere Ver— 
pflichtung wirklich vorliege theils wegen des Eigenthumsverhält- 
nifjes an der Kirche theils vermöge längit bejtehenden Herkom— 
mend. Was nun zunädit . 

1) das Kirchengebäude betrifft, fo ijt jolches als eine dem 
Gottesdienſt geweihte Sache in der Regel als Eigenthum der 
Kirchengemeinde zu . betradhten (Wächter Württ. Privatrecht II. 
S. 283) und fönnte nur durch befondern Nechtstitel von der 
Kirhengemeinde an einen Dritten übergegangen fein, welcher 
in dem vorliegenden Fall nicht nachgewiefen ift. Sollte auch, 
wie die Beklagte geltend macht, in dem bei einem Brandfall im 
sahr 1871 zu Grund gegangenen Ortsgüterbuch die Gemeinde 
al3 Eigenthümerin der Kirche eingetragen geweſen fein, jo wäre 
damit noch nicht bewiefen, daß wirklich die politifche Gemeinde 
Eigenthümerin des Gebäudes war, da das Rechtsgefchäft durch 
welches die Kirchengemeinde ihr Eigenthum entäußerte, nicht be— 
fannt ift. Weberdies wäre nach den früheren Verhältnifjen, wo 
in den altwürttembergifchen Gemeinden, wozu Grunbach gehörte, 
der erit in neuerer Zeit praftifch gewordene Unterfchied zwischen 
der politifchen und der Kirchengemeinde noch nicht angenommen 
wurde, mit dem auf die Gemeinde lautenden Eintrag im Güter: 
buch noch nicht bewiefen, daß hierunter die politifche Gemeinde 
im Gegenfaß zur Kirchengemeinde verjtanden wäre; auch die 
weiteren Einträge über das Eigenthum der Kirchengemeinde in 
dem PBrimärkfatafter, ven Dokumenten über die Brandverfiherung 
umd in den ©emeinderechnungen 2c. ericheinen aus den obigen 
Gründen als unerheblid). 

2) Hinfichtlich des behaupteten Herfommens ift zwar er- 
wiejen worden, daß die Kirche jchon feit langer Zeit aus Ge— 
meindemitteln unterhalten wurde, es gejchah dieß jedoch nicht im 
Bewußtfein der Gemeindebehörden, daß fie folches als eine der 
politifchen Gemeinde jtatt der Kirchengemeinde obliegende Laſt 
erfüllen, wodurch allein jich eine herkömmliche Verpflichtung der 
politiihen Gemeinde hätte bilden fünnen. Die Kirchengemeinde 
fiel in früherer Zeit wirklich mit der politifchen Gemeinde zu= 


=. 96. = 


fammen, und können, wie es auch anderwärts gejchah, Lediglich 
Gründe der Zwedmäßigfeit und der Gefhäftsvereinfahung den 
Anlaß gegeben haben, die Kirchenfoften in der gefchehenen Weije 
aus der Gemeindefafjfe zu beftreiten. Wenn die Beklagte jodann 
geltend gemacht hat, daß bei der Umlage der Kirchenkojten aud 
Ihon früher die nicht zu den Kirchengenofjen gehörigen Aus: 
märfer und Katholiken fich als fteuerpflichtig betheiligt hätten, 
fo ift auch dieß nicht geeignet, den Beweis einer der politiſchen 
Gemeinde als folcher obliegenden Verpflichtung zu liefern. Be: 
züglich der Katholifen ift durch die geichehenen Erhebungen er: 
mittelt worden, daß vor dem Jahr 1854 feine Katholiken in 
Grunbah waren, und feither waren dort jo wenige, höchitens 
vier, daß es fich gar nicht verlohnt hatte, wegen diejer, wenn 
fie wirklich Gemeindeumlagen entrichteten, was nicht bewieſen iſt, 
eine bejondere Umlage wegen der in der. Gemeindeumlage be: 
griffenen Kirchenkoſten zu machen. 

Ebenſo verhält es ſich bei den wenigen Ausmärkern, da 
dieſe in den ſeltenen Jahren, in welchen in Grunbach Gemeinde— 
umlagen gemacht wurden, an ſolchen ſich mit geringen Beträgen 
von einigen Gulden betheiligt haben, wobei die Ausſcheidung 
der Kirchenkoſten mit unverhältnißmäßigem Koſtenaufwand ver⸗ 
knüpft geweſen wäre. Ebenſo wenig iſt 

3) eine Betheiligung der Staatsforſtverwaltung an den 
unter dem Gemeindeſchaden umgelegten Belohnungen des Geiſt— 


lichen wegen ſeiner Funktionen an der Kirche in Grunbach ge— 
rechtfertigt, da es hier an jeder Vorausſetzung einer der poli— 


tiſchen Gemeinde obgelegenen herkömmlichen Verpflichtung mangelt, 


und die Uebernahme einer ſolchen von der Gemeindeaufſichtsbe— 


hörde in bleibender Weiſe gar nicht genehmigt worden iſt. Aus 
den Akten des evangeliſchen Konſiſtoriums ergibt ſich, daß erſt 
ſeit 1817 vermehrte und beſonders belohnte Gottesdienſte durch 
den Pfarrer des Mutterorts Langenbrand an der Filialkirche zu 
Grunbach ftattfinden, und daß die Gemeinde mit den einzelnen 
Pfarrern nur auf ihre Dienftzeit und in widerruflicher Weiſe 
Verträge wegen ihrer Belohnung abgefchloffen hat. Der Tegte 
Bertrag mit dem Pfarrverwefer Glauner vom 16.19. Juni 1867 
wegen einer Belohnung von fünfzig Gulden für weitere Gottes: 








— 21 — 


dienite ift von der Negierung des Schwarzwaldfreifes mitteljt 
Defrets vom 7. September 1867 mit Rüdjiht darauf, daß nach 
der Anzeige des Oberamts damals feine Gemeindeumlage ge: 
maht wurde, nur in ftet3 widerruflicher Weile für Rechnung 
der Gemeindefaffe genehmigt worden. Seit dem Austritt Glau- 
nes im Jahr 1869 ift für die an den jpäteren Geiftlichen 
entrichteten Beträge eine Genehmigung der Aufjichtsbehörde er- 
weislich gar nicht mehr eingeholt worden. Ebenjomwenig geſchah 
die nah den Akten aus Anlaß der Bildung der Pfarrei En: 
gelöbrand und Grunbach für den nach den Beſchlüſſen der ganzen 
verjammelten Bürgerfchaft vom 6. Auguft 1861 und 7. Juli 1862 
übernommenen jtändigen Befoldungsbeitrag von fünfunddreißig 
Gulden und fünfzehn Gulden Neifefoften. Es bejteht ſonach 
auch Hinfichtlih der Befoldungsbeiträge Feine Verpflichtung der 
politiichen Gemeinde. 


3. Stadt Stuttgart, Klägerin, Berufungsflägerin, 
gegen Amtsforporation Eßlingen und Genoffen, 
Beflagte, Berufungsbeflagte. 


TIheilnahme an Kapitalfteuer betreffenv. 
Urtheil vom 12. Mai 1880. 


Bei mehrfahem Wohnfig des Kapitaljteuerpflichtigen jteht 
der zum theilweifen Bezug der Kapitalfteuer berechtigten Ge: 
meinde gegen diejenige Korporation fein Klagerecht zu, welche 
die ganze Steuer bezogen hat. 

Herr von X. wohnt theilweife in Stuttgart, theilweife in 
A, Dberamts B., theilweife in C., Dberamts Eßlingen. Dort 
in C. werden feine Kapitalien verwaltet und fatirt, und hat in- 
zwiihen die Amtzforporation Eßlingen und die Gemeinde C. die 
ganze Steuer bezogen. Auf Grund des Art. 3 des Gejeßes 
vom 15. Juni 1853 betreffend die Befteuerung der Kapitalien 
und des Dienjteinfommens für die Zwecke der Körperjchaften, 
der bejagt: 

„Die Steuer ijt in denjenigen Oberamtöbezirfen und Gemeinden 

zu entrichten, in welchen der Steuerpflichtige feinen Wohnſitz zu Anz 

fang des Steuerjahrs hat. Hat Jemand in zwei oder mehreren 


— 22 — 


inländiichen Gemeinden oder Oberamt3bezirfen feinen Wohuſitz, jo 
theilen ſich dieſe Gemeinden beziehungsmweile Oberamtsbezirke zu 
gleihen Theilen in das Beſteuerungsrecht. Wohnt der Steuer: 
pflichtige abwechlelnd im In- und Ausland, To hat die inländiiche 

Gemeinde und Amtsförperichaft das Beſteuerungsrecht nur zur 

Hälfte,“ 
erhob Stuttgart gegen die Amtsforporation Ehlingen und die Ge- 
meinde C. Anjpruch auf die in E. bezahlte Körperfchaftsiteuer. Die 
Regierung des Nedarfreifes wies den Anſpruch durch Befcheid vom 
27. November 1879 al3 unbegründet, beziehungsweife unzuläßig 
zurüd, weil 1) eine Theilung der Steuer unter den betheiligten 
Gemeinden ſchon dadurch ausgefchloffen fei, Daß die Voraus— 
jeßungen, unter welchen die Beitenerung nach Art. 2 des Geſetzes 
von 1853 erfolgen kann, nicht bei jeder Gemeinde oder Amts— 
forporation gleichmäßig zutreffen, wofür ſich auf die ftändifchen 
Verhandlungen zu dem Gejeß vom 6. Juli 1879 über die Ab- 
änderungen der Gemeindeordnung berufen ift, das in Art. 26 
Abſ. 3 bereits die jpäter in das Geſetz von 1853 herüberge: 
nommene Borfchrift enthalten habe. Es handle fich ſomit hier 
nicht um ein NRechtsverhältniß der Gemeinden unter einander, 
jondern um das Necht der SKorporationen zu Beiziehung des 
Einzelnen. Schon nad dem eigenen Borbringen des Klägers 
jei ſomit der Anspruch gejeglich nicht begründet. 2) Was die 
Zuftändigfeit der Verwaltungsgerichte betreffe, jo beziehe fich die 
Ziff. 7 des Art. 10 des Gefeßes über die Verwaltungsrechts— 
pflege nah Wortlaut und Motiven auf Streitigkeiten zwiſchen 
Gemeinden und Einzelnen über die Beiziehung zu Abgaben der: 
jelben, könne daher auf die vorliegende Klage feine Anwendung 
finden. 

Klägerin ließ die zehntägige Friſt zum Einſpruch ungenüßt 
ablaufen, führte aber innerhalb der Frift die Berufung an den 
Berwaltungsgerihtshof aus, der jedoch das Urtheil der Kreis- 
vegierung dahin bejtätigte, daß er die Klage koſtenfällig abwies. 

Gründe. 1) Die Zuftändigfeit des Verwaltungsrichters ift 
im vorliegenden Fall begründet, da den Gegenjtand des Streits 
die Beiziehung zu Abgaben für öffentliche Zwede der Gemeinden 
im Sinn der Ziff. 7 des Art. 10 des Gefeßes über die Ver- 
waltungsrechtspflege bildet, und eine privatrechtliche Verbindlich— 





— 213 — 


feit hiebei nicht in Frage ſteht. Die Berufungsklägerin nimmt 
von den Kapitalien des Herrn von X., weil diejer jeit dem 
Jahr 1871 theilweife in Stuttgart wohne, nad) Art. 3 des Ge- 
fees vom 15. Juni 1853 fomit nach öffentlihem Recht Kor: 
porationgiteuer in Anfpruh, und glaubt jolche für die Jahre 
1872/9 von der Berufungsbeflagten nachträglich erheben zu 
dürfen, weil diefe ohne Berechtigung die der Stadtgemeinde 
Stuttgart gebührenden Steuern von dem Herrn von &. bezogen 
haben ſoll. Ob dies in der angefprochenen Weije zuläßig it, 
hat der Verwaltungsrichter nad Wortlaut und Abſicht des er- 
wähnten Geſetzes zu entjcheibden. 

2) Der Art. 3 Abſ. 1 des Gefeges vom 15. Juni 1853 
hat die Gemeinden und Amtsförperfchaften nur gegenüber von 
den in ihren Bezirk wohnenden Belitern von Kapitalien Be— 
fteuerungsrechte eingeräumt. Wohnt der Abgabenpflichtige in 
mehreren inländijchen Gemeinden oder DOberamtsbezirfen, jo it 
das Beftenerungsrecht ein getheiltes, jedoch, was bei der ſtändiſchen 
Berathung diefer Geſetzesbeſtimmung ausdrüdlich zur Sprade 
fam, nicht in der Art, daß die mehreren Wohnliggemeinden die 
von dem Pflichtigen zu entrichtende Geſammtſteuer unter jich zu 
theilen haben. Vielmehr hat jede Gemeinde oder Amtskörper— 
haft gegenüber dem Pflichtigen ein felbjtändiges nur unter der 
Vorausſetzung des Art, 2 zuläßiges Beſteuerungsrecht, für defjen 
Größe aber die. Zahl der Wohnjiggemeinden den Duotienten 
bildet. Daß nun im einzelnen Fall bloß ein folches befchränftes 
Befteuerungsrecht zu Gunſten des Pflichtigen beftehe, ift gegen- 
über der fonjt zum Bezug der vollen Steuerquote berechtigten 
Gemeinde jtet3 von dem Abgabepflichtigen felbit geltend zu 
maden, wie dies auch durch die Vollziehungsinftruftion vom 
29. Auguft 1853 beſonders beſtimmt iſt. 

Da hiernach die Wohnfiggemeinden unter jich feine Rechts— 
gemeinschaft (2) bilden, jo kann auch jede derfelben mit ihren 
Steueranſpruch fih nur an den Abgabepflichtigen ſelbſt halten. 
Hat etwa dadurch, daß der Pflichtige gegenüber der an ſich 
jtenerberechtigten Gemeinde feine ſonſtigen Wohnfige nicht geltend 
gemacht und nachgewieſen hat, diefe die ihr gebührende Steuer: 
quote zu hoch berechnet, jo folgt hieraus nur, daß die Gemeinde 

Württemb. Archiv für Recht sc. XXII. Bd. 2. & 3. Heft. 15 





— 214 — 


dem Bflichtigen den zuviel erhobenen Betrag auf deſſen Ber: 
langen zurüdzueritatten hat. Dajjelbe trifft zu, wenn eine Ge- 
meinde in der irrigen Meinung, daß in ihr der Pflichtige den 
Wohnſitz im rechtlichen Sinne habe, denſelben unberechtigt zu 
der Steuer herangezogen hat. Auch bier bejteht nur ein Rück— 
forderungsrecht des Pflichtigen jelbit, auf welches zugleich die 
nad Art. 5 des Geſetzes von 1853 zuläßige Verjährung im 
Sinn des Art. 13 des Gefeges vom 19. September 1852 allein 
anwendbar ift. Wenn ſonach ein verartiges Verhältniß nur 
Rechte und Berbindlichkeiten der einzelnen Gemeinde und ihrer 
Abgabepflihtigen begründet, jomit die Nechtszuftändigfeiten der 
übrigen Wohnfiggemeinden nicht berührt, jo können dieje unter 
fih gegenfeitige Erfaßforderungen um jo weniger erheben, da 
jede Gemeinde ihre Steuerforderung dem Pflichtigen gegenüber 
nah Art. 2 des Geſetzes auf befonderer Grundlage feitzuftellen 
bat, und jomit feine behaupten fann, daß dasjenige, was ein 
Plichtiger einer anderen Gemeinde etwa zu viel bezahlt, ihr ge: 
bührt hätte, und duch Verlegung ihrer Nechte, welche dabei gar 
nicht in Frage kamen, ihr entzogen worden jei. 


4. Stadtgemeinde Stuttgart, Klägerin, Berufung 
flägerin, gegen die 8. PBoftverwaltung, Beflagte, 
Berufungsbeflagte. 


Beiziehung der Poftgebäude zur Korporationsjteuer 
Urtheil vom 15. Dezember 1880. 


Unter Beftätigung des Urtheils der K. Negierung des 
Nedarkreifeg vom 17.124. Juli 1880 wurde der Anſpruch der 
Klägerin auf Beiziehung der der Poſtanſtalt gehörigen Gebäude 
Fürjtenftraße Nr. 2, Schloßjtraße Nr. 3 und Baulinenjtraße 
Nr. 13 und 13!/2 zur Korporationsiteuer Eojtenfällig abgewieſen. 

Gründe: 1) Die Klägerin beanjprucht die Beiziehung der 
erwähnten Gebäude abgejehen von den darin befindlichen Dienit- 
wohnungen zur Gemeindeiteuer, die Beklagte bejtreitet diefen An: 
ſpruch mit Ausnahme der früher an die Olgaſchule, nunmehr 
an das Oymnafium vermietheten Theile der PBaulinenjtraße 
Nr. 13 und 13'/2. Im MUebrigen ift unbejtritten, daß aus 





- — 215 — 


beiden Gebäuden bis zum Jahr 1876/7 Gemeindejteuer bezahlt 
wurde, und daß diejelben, jo weit jie nicht zu Dienjtwohnungen 
bejtimmt find, ihrer hauptſächlichen Beitimmung nach dem Poſt— 
betrieb dienen. 

2) Zur Begründung der Klage iſt im Wejentlichen geltend 
gemacht, daß die Beklagte durch die anjtandsloje Bezahlung der 
Gemeindejtener aus den fraglichen Gebäuden ihre Steuerpflicht 
anerfannt und eine fie bindende Obſervanz geichaffen habe, daß 
ferner in Art. 5 Abf. des durch Königliche Verordnung vom 
. 11. Juli 1851 befannt gemachten Vertrags über die Aufhebung 

des Poftlehensverbands zwijchen der Krone und dem fürftlichen 
Haufe Thurn und Taris die Steuerpflicht der vom Staat zu 
übernehmenden Poſtgebäude ausgeſprochen jei, daß endlich Die 
eine Steuerbefreiung bedingenden gefeglichen Borausfegungen hier 
nicht zutreffen, fofern die Bot jich mit ihrem geſammten Güter: 
verkehr durhaus in der von dem Handelsgefegbuch beherrichten 
auf Gewinn berechneten handelsgewerblichen Sphäre bewege, 
ihrem Inhaber einen ökonomischen Nutzen abwerfen joll, und 
regelmäßig auch abwerfe, daß überdies bezüglich der Gebäude 
Paulinenjtraße Nr. 13 und 13/2 eine Steuerbefreiung jchon 
wegen des altjteuerbaren Charakter derjelben ausgejchlofien jei. 

3) Was zunächjt die Elägerifcher Seits aus der thatjäch- 
lichen Steuerleiftung des Beklagten gegenüber gezogene Folge: 
rung betrifft, jo erjcheint diefelbe als gänzlich unbegründet, da 
in jener Thatfache mehr nicht als die damalige Meinung der 
Vellagten, zu der Leitung gejeglich verpflichtet zu fein, befundet, 
ein jie für die Zukunft bindendes Anerkenntniß ihrer Steuer: 
pfliht ebenjowenig zu finden ijt, als fich hiedurch bei dem Mangel 
aller Erfordernifje eine wirklihe Obfervanz, abgejehen davon, ob 
jolde dem Geſetz gegenüber Geltung hätte, bilden konnte. 

4) Auch die von der Flägerifchen Partei angerufene Be: 
jiimmung des gedachten Vertrags, wornad die Steuern und 
Abgaben der abzutretenden Poftgebäude vom 1. Juli 1851 
an auf die Staatsfafje übernommen wurden, iſt jchon aus dem 
Grunde nicht geeignet, dem erhobenen Anſpruch als Stüße zu 
dienen, weil diefe Beſtimmung lediglich den Zeitpunft der 
Uebernahme der Steuern und Abgaben auf die Staatskaſſe 


15* 


— 216 — 


feftgejtellt, über die außerhalb des Zweds des Vertrags und der 
Befugniß der Kontrahenten gelegene Frage von der Steuer: 
pflicht, welche ſich nach den beftehenden Gejegen enticheidet, 
aber eine Dispofition nicht getroffen hat, und in rechtswirffamer 
Weiſe gar nicht treffen konnte. j 

5) Anbelangend jodann die in der Klagſchrift für eine gefeg- 
(ide Steuerpflicht der fraglichen Gebäude — das Nichtzutreffen 
der eine Steuerbefreiung gefeglich begründenden Vorausſetzun— 
gen — geltend gemachten Momente, jo find diefe gleichfall3 als 
nicht Shlüffig zu erachten. Nach dem beftehenden Recht (Art. 8 
Abt. 1 des Gejeßes vom 18. Juni 1849 und Art. 2 des Ge: 
jeges vom 23. Juli 1877 verglichen mit $. 3 lit. d des Ge: 
jeßes vom 15. Juli 1821) find Gebäude, welche ihrer Haupt: 
bejtimmung nach zu öffentlichen Zwecken dienen, ohne dem Eigen: 
thümer einen öfonomifchen Nugen abzumwerfen, von der Kor: 
porationsjteuer frei. Daß die Gebäude, beziehungsmeife Ge: 
bäudetheile, deren Steuerpfliht Gegenjtand des vorliegenden 
Streits ift, ihrer Hauptbejtimmung nad) dem PBojtbetrieb dienen, 
jteht thatfächlich fejt, ebenjo gewiß iſt, daß mit der Poſt, als 
einer dem öffentlichen Berfehr dienenden Staatsanftalt, ein 
öffentlicher Zwed verfolgt wird; der in der Flägerifchen Aus: 
führung bervorgehobene Umſtand, daß der Poſtbetrieb in privat: 
vechtlicher Beziehung den Bejtimmungen des Handelsgeſetzbuchs 
unterjtellt ijt, ändert an der öffentlichen Zweckbeſtimmung und 
der öffentlich rechtlichen Stellung des Bojtinftituts nichts. Die 
Flägerifcher Seits weiter geltend gemachte Thatſache, Daß die 
Poſtanſtalt ihrem Inhaber einen öfonomijchen Nutzen abwirft, 
ift für die Steuerpflicht der Gebäude, welche dem Bojtbetrieb 
dienen, nicht entfcheidend, vielmehr fommt es im Sinn der oben: 
gedachten Gefegesnormen und entfprechend der Natur der Ge: 
bäudefteuer als einer Ertragsſteuer lediglich darauf an, ob 
die einzelnen Gebäude für ſich allein vermöge ihrer beſtimmungs— 
mäßigen Verwendung einen öfonomifchen Nuten abwerfen, was 
zu verneinen it. Von einer Beiziehung jener Gebäude zur 
Grundjteuer aus dem Grund, weil der Gejammtpojtbetrieb 
einen ökonomiſchen Nuten abwirft, kann um” fo weniger die 
Rede fein, als der Poſtbetrieb jelbjt nach dem geltenden Recht einer 


— 217 — 


Beſteuerung nicht unterliegt. Für eine Bejteuerung diefer Gebäude 
aus diefem Grund bedürfte es daher einer bejonderen gejeß: 
lihen Bejtimmung, wie fie in Art. 9 des Gefeßes vom 18. Juni 
1849 für die Salinen und Hüttenwerfe, ſowie den Eifenbahn: 
betrieb des Staats befteht, für die Poſt aber nicht gegeben iſt, 
und nach der Entjtehungsgejchichte dieſes Artikels abfichtlich nicht 
gegeben werden wollte. 

Treffen hiernach die gejeglichen Vorausſetzungen objeftiver 
Steuerfreiheit bei den fraglichen Gebäuden zu, jo vermag hieran 
auh bezüglich der von der Poſt im Jahr 1872 aus bürger: 
lihem Befig erworbenen Gebäude Baulinenjtraße Nr. 13 und 13'/s 
die altjteuerbare Eigenjchaft derfelben nicht® zu ändern, da die 
in Art. 2 Abf. 2 des Geſetzes vom 23. Juli 1877 für alt: 
ftenerbare Objekte vorbehaltene Beftimmung des 8. 3 Schlußfag 
des Gefeges vom 15. Juli 1821 nach feititehender Auslegung 
in dem Sinn’ aufzufaflen ift, daß jie die Fortdauer des Zus 
jtandes des in Frage fommenden Objefts, welche überhaupt defjen 
Steuerpflichtigfeit bedingt, vorausfege, daher auf Joldhe Objekte 
feine Anmendung finde, welche aus Gründen, die nicht in der 
Perfon ihres Befigers, fondern in ihrer Beſchaffenheit (Zwed: 
beftinnmung) liegen, von der NN der Steuerpflicht aus- 
genommen Sind. 

6) Nah Vorftehendem war der klägeriſche Anfpruch für 
ungegründet zu erfennen. Aus der Abweifung der Klage in 
beiden Inſtanzen ergibt ſich auch die Verurtheilung im Koſten— 
punkt. 


5. Stadtgemeinde Stuttgart, Klägerin, Berufungs— 
klägerin, gegen Telegraphenverwaltung, Beklagte, 
Berufungsbeklagte. 


Beiziehung der Gebäude Friedrichsſtraße Nr.25 und 
Kronenftraße Nr. 15 zu den Korporationgiteuern. 
Urtheil vom 15. Dezember 1880. 


Auch in dieſem Fall wurde der Elägerifhe Anſpruch unter 
Beitätigung des Urtheils der Negierung des Nedarfreijes vom 


— 218 — 


17.24. Juli 1880 unter DVerurtheilung der Klägerin in die 
Koſten beider Inſtanzen abgewiefen. 

Gründe: 1) Die Klägerin beanfprucht die Beiziehung der 
in den Sahren 1864 und 1874 vom Staate aus bürgerlichen 
Händen erfauften Häufer Friedrichsftraße Nr. 25 und Kronen: 
ſtraße Nr. 15 mit Ausnahme der darin befindlichen Dienft- 
wohnungen zur Gemeindefteuer, die Beflagte bejtreitet dieſen 
Anſpruch, indem fie fih auf Art. 8 Ziff. 1 des Gefeßes vom 
18. Juni 1879 und eventuell 8. 3 des Gefeßes vom 15. Juli 
1821 beruft. 

2) Zur Begründung der Klage ift geltend gemacht, daß 
der Art. 8 des Gefepes vom 18. Juni 1849 auf altjteuerbare 
Realitäten feine Anwendung findet, daß aber auch die Voraus— 
jeßungen der Ziff. 1 nicht zutreffen, fofern die Telegraphen: 
verwaltung einen ökonomiſchen Nutzen abwerfe. 

3) Nach Art. 2 Abſ. 1 des Gefeßes vom 23. Juli 1877 
gelten als Ausnahmen von der Korporationsfteuerpflicht Die dort 
bezeichneten Beltimmungen, darunter die Art. 8 und 9 des Ge: 
jeßes vom 18. Juni 1849, wobei im Sinn jenes Gejeges ein 
Unterfhied zwifchen alt: und neuftenerbaren Objekten für die 
Zukunft nicht mehr bejtehen und bezüglich altiteuerbarer Gegen: 
ſtände nah Abſ. 2 nur injomweit eine Einfchränfung Statt finden 
joll, als e3 fih um auf Grund des Schlußfaßes des 8. 3 des 
Geſetzes vom 15. Juli 1821 bereits begründete Stenerverbindlich- 
feiten handelt. Letztere Beftimmung ift aber nach einer in der 
Verwaltungsrehtiprechung feititehenden Auslegung in dem Sinn 
aufzufalien, daß fie die Fortdauer des Zuſtands des in Frage 
fommenden Objefts, welcher überhaupt die Steuerpflichtigfeit be— 
dingt, vorausſetzt, daher auf ſolche Objekte Feine Anwendung findet, 
welche aus Gründen, die nicht in der Perſon des Beligers, fon: 
dern in ihrer Bejchaffenheit (Zweckbeſtimmung) liegen, von der 
Allgemeinheit der Steuerpflicht ausgenommen find. Es fommt 
deßhalb auch in dem vorliegenden Fall mwejentlid darauf an, 
ob die Vorausjegungen objeftiver Steuerfreiheit wie fie Art. 8 
Ziff. 1 des Gefeßes von 18. Juni 1849 (in Abficht auf Ge— 
bäude entjprechend dem 8. 3 lit. d des Gefeßes vom 15. Juli 
1881) aufgeftellt find, hier zutreffen, wa3 zu bejahen ift. 





— — — 


—— — — — — — —— 





— 2119 — 


Die erwähnten Gebäude dienen abgejehen von den darin 
befindlichen Dienftwohnungen der Hauptſache nach dem Tele- 
graphenbetrieb und damit einem unzweifelhaft öffentlihen Zweck. 
Wenn auch die Telegraphenanjtalt im Ganzen einen ökonomischen 
Ertrag abwirft, jo werfen doch, was im Sinn des Gefeßes für 
die Frage der Steuerpflicht jener Gebäude entjcheidend in Be— 
traht kommt, leßtere für fi allein vermöge ihrer bes 
ftimmungsgemäßen Verwendung feinen ökonomiſchen Nuten ab. 
Da nun der Telegraphenbetrieb jelbft nach dem geltenden Hecht 
einer Befteuerung nicht unterliegt, jo fann von einer Beſteuerung 
der diefem Betrieb dienenden Gebäude für ſich allein in Er: 
manglung einer folchen in ähnlicher Weife, wie e8 in Art. 9 
des Gefeßes vom 18. Juni 1849 für die Salinen, Hüttenämter 
und den Gifenbahnbetrieb des Staats gefchehen ift, normirenden 
Geſetzesbeſtimmung feine Rede jein. 

4) Hiernach war der flägerifhe Anſpruch als unbegründet 
foitenfällig abzumeifen. 


IV. Fülle des Art. X Ziff. 8 des Geſetzes über die 
Verwaltungsrechtspflege. 


1. Weber Johann Georg Lorch von Truchtelfingen, 

DOM. Balingen, Kläger, Berufungskläger, gegen 

Gemeinde Truchtelfingen, Beklagte, Berufung $ 
beflagte. 

— für die Theilnahme an den Löſch— 
anſtalten eines Brandfalls, und dabei er— 
littener Beſchädigung. 

Urtheil vom 21. Januar 1880. 


Am 8. Auguſt 1878 Morgens nach 6 Uhr brach in Truchtel— 
fingen im fogenannten Bohl ein Brand aus. Der 19 Jahre 
alte Sohn des Klägers, Inzipient bei Verwaltungsaktuar Groz 
in Edingen war wie er behauptet gerade im Begriff, fich nad) 
Ehingen zu begeben, und wurde, als von mehreren Männern 
die Feuerfprige beigebracht wurde, aufgefordert, bei dem Ziehen 
der Sprige auf dem zum Brandplag führenden fteilen Weg mit: 
zuhelfen. Er habe feinen Pla an der Deichfelwaage genommen, 





— 20 — 


es haben fich aber verfchiedene Leute an die Sprige gedrängt, 
jo daß er nicht mehr habe vorwärts jchreiten können. Das 
Borderrad habe feinen rechten Fuß erfaßt und fei über den- 
jelben weggegangen. Hiedurch habe er eine größere Wunde er: 
halten, die anfänglich weniger gefährlich erfchien, jo daß er noch 
habe gehen fönnen. Später habe fie ſich fo verfchlimmert, daß 
er längere Zeit in ärztlicher Behandlung geftanden und arbeits- 
unfähig gemwejen fei. Unterm 14. Oktober 1878 bat der junge 
Lord den Gemeinderath Truchtelfingen um Erſatz unter Vor: 
legung eines Zeugnifjes des Oberamtsarzts Dr. Hopf in Balingen 
vom 10. Dftober 1878, worin bejtätigt war, daß Lorch feit 
dem 9. Septeniber 1878 bis heute wegen einer großen Munde 
am rechten Unterfchenfel bei ihm in ärztlicher Behandlung jtand, 
und derjelbe über diefe Zeit arbeitsunfähig war. Er berechnete 
jeinen „Koſtenaufwuchs“ ohne die Kojten in Ehingen auf 14 Marf. 
Der Gemeinderath beichlog am 22. Dftober dem jungen Lord 
eine Entſchädigung von 7 Mark aus der Gemeindekaſſe zu be 
willigen. Eine biegegen von dem Vater des Lorch bei dem 
Oberamt Balingen erhobene Bejchwerde wurde von diefem auf 
den Rechtsweg verwiefen. Eine hierauf vor dem Oberamtsgericht 
Balingen urjprünglid auf die Summe von 116 Mark 75 Pfennig 
gerichtete, von dem Kläger aber felbjt bei der mündlichen Ver: 
handlung auf 53 Mark 60 Pfennig ermäßigte Klage des Vaters 
des Lorch auf Schadenerfaß gegen die Gemeinde wies dag Uber: 
amtsgericht unterm 8. Januar 1879 deßhalb ab, weil der Anfprud 
auf das Ortsſtatut über das Feuerlöſchweſen gejtügt werde, der: 
felbe jomit fein privatrechtlicher fei. Die neue nun bei der Kreis: 
regierung in Reutlingen erhobene Klage wurde von derjelben koſten— 
fällig abgewiefen, und diejes Urtheil auf eingelegte Berufung von 
dem Verwaltungsgerichtshof aus folgenden Gründen beftätigt: 
Der Berufungsfläger, deſſen minderjähriger Sohn Johannes 
aus Anlaß eines Brandfalls in Truchtelfingen im Auguft 1878 
beim Ziehen an einer Feuerſpritze am rechten Fuß im Gedränge ver: 
legt worden ift, hat für die Heilung diefer Wunde einen Schaden: 
erſatzanſpruch von 53 Mark 60 Pfennig an die Gemeinde gejtellt, 
welcher von diefer nicht anerkannt worden ift, indem fie dem Jo— 
hannes Lord nur ein freimilliges Geſchenk von 7 Mark bewilligte. 





— 21 — 


Dieje im Sinn des Art. 10 Ziff. 8 des Gefeges über die 
Perwaltungsrechtspflege vom 16. Dezember 1876 als eine öffent: 
lich-rechtliche Verpflichtung der Gemeinde erhobene Erfaßforderung 
fann auch in Feiner Hinfiht als im öffentlichen Recht begründet 
erfannt werden. In der zunächit in Betracht kommenden all: 
gemeinen Feuerlöfchordnung vom 20. Mai 1808 .ift durch $. 90 
den Gemeinden eine derartige Erjaßpflicht nur gegenüber von 
Denjenigen auferlegt, „welche jich durch eine ungewöhnliche 
Thätigfeit die Rettung des Orts oder auch nur eines vorzüglich 
wichtigen Gebäudes nahdrüdlich haben angelegen fein laſſen“. 

Durch die von dem Berufungskläger angeführte Beitimmung 
der Lofalfeuerlöfchordnung von Truchtelfingen wurde der Ge: 
meinde eine weiter gehende Verpflichtung feineswegs auferlegt; 
denn wenn in der Schlußbejtimmung II Ziff. 1 gefagt iſt: 

„denjenigen, welche fich durch ihre Hilfeleiftung bei 

Brandfällen im Ort befonders auszeichnen, und an Kleidern 

oder ſonſt Schaden erleiden, wird von dem Gemeinderath 

eine angemeſſene Entjchädigung gewährt werden” 
jo it auch Hier eine ſolche Entfhädigung nad der Vorſchrift 
des Gefeßes nur denjenigen gewährt, welche bei einem Brand- 
fall eine hervorragende Thätigkeit entwicdelt haben, und hiebei 
an Kleidern oder ſonſt Schaden erlitten. 

Da nun bei dem’ Sohn des Berufungsklägers Die obigen 
Vorausſetzungen einer ausgezeichneten Thätigfeit in jenem Brand 
fal gar nicht zutreffen, indem er nur eine furze Strede mit 
Andern fih an dem Transport einer Feuerjprige betheiligte, jo 
eriheint die obige Entfhädigungsforderung unbegründet. 

2. Ferdinand Wolfers Wittwe in Ehingen, DA. Balin- 
gen, Klägerin, Berufungsbeflagte, gegen Gemeinde 
Ebingen, Betlagte, Berufungsflägerin. 
Reinigung beziehungsmweije Entfernung einer 
Dohle betreffend. 

Urtheil vom 5. Mai 1880. 

Unter Beftätigung des Urtheils der Regierung des Schwarz: 
waldfreiies vom 13. November 1879 wurde die Beklagte koſten— 
pflihtig für verbunden erkannt, die in Ehingen vom jtädtifchen 


m Bine 


Wachhaus Nr. 425 durch den fogenannten Kirchengraben über 
den Platz und Schweineweiher zur Schmiecha führende Dohle zu 
reinigen und offen zu halten. 

Gründe: I. Klägerin hat gegen die Beklagte den Anſpruch 
auf Reinigung eventuell auf Entfernung der in der Klage näher 
bezeichneten Dohle erhoben und die Verpflichtung der Beklagten 
zu dieſer Leiftung damit begründet, daß die fragliche Dohle eine 
ſtädtiſche öffentlichen Zmweden dienende Einrichtung fei. Die Zu: 
jtändigfeit der VBerwaltungsgerichte zur Entjcheidung der gegen: 
wärtigen Streitiahe unterliegt daher nah Art. 10 Ziff. 8 des 
Geſetzes über die Verwaltungsrechtspflege feinem Zweifel. 

Il. Die Sadlegitimation der als Klägerin und Beklagte 
aufgetretenen Parteien ift nicht zu heanftanden, ſofern die Klägerin 
wegen der aus dem damaligen Zuftand der Dohle, welche unter 
dem Haus der Klägerin fich Hindurchzieht, für ihr Eigenthum 
fich ergebenden ſchädlichen Folgen ein rechtliches Intereſſe an der 
Befeitigung jenes Zuftands hat, und die Stadtgemeinde Ebingen 
das wirkliche Zutreffen der rechtlihen Begründung des Fläger: 
Ihen Anſpruchs vorausgejegt al3 die richtige Beklagte erfcheint. 

III. In materieller Beziehung kommt Folgendes in Betradt: 

1) Nach den Akten fteht thatſächlich feſt, daß fich urfprüng- 
lih in dem von der Stadtbefeftigung herrührenden Stadtgraben, 
jogenannten Kirchengraben, von dem oberen Thor bis zu dem 
von der Schmiecha -durchfloffenen unteren Stadttheil eine offene 
Wafferabzugsrinne erftredte, welche im Lauf der Zeit, foweit 
nach und nach eine Auffüllung, beziehungsweife Heberbauung 
einzelner Theile des Stadtgrabens erfolgte, überdecdt und in eine 
Dohle umgewandelt wurde. Daß der Stadtgraben im Eigen: 
thum der Stadtgemeinde ſich befand, ift wohl nicht zu bezweifeln. 
Db bei dem Uebergang von einzelnen Theilen des Stadtgrabens 
in den Privatbefig auch das Areal der Wafjerabzugsrinne in 
das Privateigenthum iüberging und ob hiebei die Umwandlung 
der Rinne in eine Dohle von der'.Stadtgemeinde oder den be 
treffenden Privaten beforgt wurde, ijt bejtritten. Dieje Fragen 
können indeſſen dDahingejtellt bleiben, da hievon die Seitens der 
Klägerin behauptete Eigenfchaft der im Streit befangenen Dohle 
als einer öffentlichen Einrichtung keineswegs abhängt, fofern 








— 223 — 


auch, wenn und ſoweit das Areal der Dohle in das Privateigen— 
thum übergegangen wäre, die Waflerableitung felbit gleichwohl 
als eine öffentliche Servitut fortbeftehen fonnte, und die That- 
ſache, daß etwa einzelne Private eine Dohle mittelit Leberwölbung 
der Ninne herftellten, hieran nichts geändert hatte. 

2) Daß die fragliche Dohle in der That die rechtliche Ei— 
genfchaft einer öffentlichen Einrihtung im Sinne der Art. 10 
und 11 der Neuen Allgemeinen Bauordnung hat, iſt in Ueber: 
einftimmung mit dem Richter I. Inſtanz als erwiejen anzunehmen. 

Schon ein Blid auf den Gituationsplan zeigt, daß ein 
Mafferableitungskanal, der von dem obern zu dem untern Stadt: 
theil unter öffentlihen Plätzen, Straßen und einer Reihe von 
Häufern führend nahezu die ganze Stadt durchzieht, auch in 
jeinem obern und untern Lauf je zwei Zweigdohlen aufnimmt, 
eine öffentliche Beftimmung haben muß. Es bat dies die Be- 
tagte wenigftens hinfichtlich des am Dbernthorbrunnen bis zum 
Wahhaus in die Hauptdohle führenden Dohlenzweigs, im alten 
Situationsplan alte Dohle genannt, ausdrücdlich anerkannt. Daß 
aber auch der von der Rückſeite der Häufer Nr. 212 und 215 
aus unter dem Oberthorplag bis zum Waſſerhaus ſich erſtreckende 
Kanal im Augenfcheinsprotofoll theilweile als offener Graben 
bezeichnet, und ebenfo der von dem Haufe Nr. 473 unter dem 
Plag Schweineweiher und einer Straße ſich hinziehende untere 
Theil der Dohle eine öffentliche Zwedbeftimmung hat, it augen- 
ſcheinlich. Hieraus ergibt fich aber, daß die von der Beklagten 
ſelbſt als Hauptdohle bezeichnete Strede des Kanals von ftäbti- 
Ihen Wachhaus Nr. 425 bis zum Haus Nr. 478 eine andere 
als eine öffentliche Beitimmung nicht wohl haben kann. Diefe 
Zweckbeſtimmung und ebendamit der öffentliche Charakter der 
Dohle ift denn auch durch die Akten Fonftatirt, wornach feſtſteht, 
daß bis zum Sahr 1866 das geſammte Abwafjer des Oberthor: 
drunnens, überhaupt jämmtliches Kandeln: und Abwafjer aus 
dem oberen Stadttheil dur) die Dohle in die Schmiecha abge: 
leitet wurde, und daß auch feit den im Jahr 1866 von der 
Stadtgemeinde getroffenen Aenderungen, mwodurh das Abwaffer 
jenes Brunnens und das Kandelwaffer der oberen Stadt eine 
anderweitige Ableitung erhielten, immer noch ein beträchtlicher 





— 224 — 


Theil des Abwaſſers aus der oberen Stadt, außerdem das Ab: 
und Traufwaſſer, ſowie das Ueberreich der Abtritte einer Neihe 
von Gebäuden in die Dohle fließt. 

3) Wenn hiernadh die Dohle den Charakter einer öffentli- 
hen dem jtädtifchen. Gemeinwejen dienenden. Einrichtung bat, jo 
folgt hieraus von ſelbſt die öffentliche Verpflichtung der Beklagten, 
diefe Einrichtung in einem ihrem Zweck entfprechenden Stand zu 
erhalten, insbeſondere für die erforderlihe Neinigung der Dohle 
Sorge zu tragen. Gleichwohl ift Hiedurh die Möglichkeit nicht 
ausgefchlofjen, daß vermöge bejonderen NRechtstitels (Vertrag und 
dergl.) die Unterhaltung und Reinigung der Dohle auf einzelnen 
Streden auch Brivaten als eine mit dem Grund: und Gebäude: 
bejig verbundene Lajt, welche ihrer Natur nad) wohl nur eine 
privatrechtlihe Verbindlichkeit fein Fönnte (vergl. auch Württ. 
Archiv II. Band ©. 14) auferlegt worden wäre. Dieſe bejon- 
deren Nechtsverhältniffe würden jedoch an dent öffentlichen Charafter 
der ganzen Einrichtung und der hiedurch begründeten öffentlich: 
rechtlichen Verpflichtung der Beklagten nichts ändern, da fie le: 
diglich die Wirkung hätten, daß die öffentlicherechtlich verpflichtete 
Stadtgemeinde injomweit als folche Verhältniſſe beftänden, in der 
Erfüllung ihrer Verbindlichkeit durch die nur ihr gegenüber 
verpflichteten Privaten zu vertreten wäre, während dritte Perjonen, 
welche ein rechtliches Intereſſe an dem zwedentiprechenden Stande 
der Einrihtung haben, jowie, wenn öffentliche Intereſſen eine 
polizeilihe Einjchreitung erfordern follten, die Staatspolizeibehörde 
einzig und allein die öffentlich-rechtlich verpflichtete Gemeinde in 
Anspruch nehmen fünnen. Die Beklagte hat nun allerdings in 
ihrer Berufungsfchrift folche befondere Rechtsverhältniffe geltend 
gemacht und in diefer Beziehung Beweis angetreten, hiebei übrigens 
jpeziell für die von ihr behauptete Verpflichtung der Klägerin 
zur Unterhaltung und Reinigung der fich durch das Eigenthum 
der Klägerin durchziehenden Dohlenjtrede feinerlei Befcheinigung 
beigebradt. Es kann daher, wie die Sache liegt, nach dem Aus: 
geführten nicht die Aufgabe des Verwaltungsrichters fein, 
ſich auf dieje nicht dem öffentlichen Necht angehörenden befonderen 
Berhältnifje einzulaffen, vielmehr hat fich, nachdem überdies die 
Klägerin ihrerjeits jede Betheiligung bei einem, derartigen Ver: 





— 25 — 


hältnifje in Abrede gejtellt hat, die verwaltungsrichterliche Beur— 
theilung der Streitfrage ausſchließlich auf die öffentlichrechtliche 
Begründung des Anſpruchs zu beſchränken, während der beflagten 
Partei vorbehalten bleibt, ihre auf jene befonderen Verhältniſſe 
etwa begründeten Rechtszuftändigfeiten, beziehungsweije eventuellen 
Erſatzanſprüche gegen einzelne Brivaten im Givilvechtsweg geltend 
zu machen. | 

Ebenſo muß der Beklagten, bezüglich der in gegemwärtiger 
Inſtanz geltend gemachten Frage, ob der Stadt die für das 
Reinigen und Dffenhalten der fraglichen Dohle notwendige Zu: 
gänglihmahung und Aufdeckung derfelben obliege, nad) der Sad): 
lage insbejondere mit Rückſicht auf die von ihr behaupteten 
Rechtsverhältniſſe überlaffen werden, dieſe Frage eventuell in ab: 
gefonderter Weife vor den zuftändigen Behörden zum Austrag 
ju bringen. 

Im Uebrigen fönnen nach dem Bemerkten auch die zwifchen 
den Parteien bejtrittenen Thatfragen, ob eine Reinigung der 
Dohle bisher jtattgefunden habe, und ob fie von der Stadt oder 
von Privaten bejorgt wurde, al3 für die Entjcheidung unerheblich 
dahingejtellt Bleiben, weßhalb es eines weiteren Beweiseinzugs in 
diejer Beziehung nicht bedarf. 

4) Der Nichter voriger Inſtanz hat der Beklagten die Rei— 
nigung und Offenhaltung der Dohle auf der Strede von dem 
ſtädtiſchen Wachhaus N. 425 bis zur Mündung in der Schmiecha 
auferlegt, womit die Klägerin jich befriedigt erklärte. Sofern 
indefjen nach dem Geſuch in der Klage die fragliche Dohle voll: 
itändig gereinigt werden fol, jo daß im Haufe der Klägerin 
duch die Dohle fein Waſſer mehr zu Tage treten fan, während 
von andern an dem Beſtand diefer Dohle auf diefer Strede be: 
theiligten Grund: und Gebäudebefigern eine Klage bisher nicht 
erhoben worden ift, könnte jich fragen, ob für den Zweck, welchen 
die Klage im Auge hat, die Reinigung und Dffenhaltung auf 
jener ganzen Strede erforderlich feit Da jedoch aus der Natur 
der Einrihtung und der gutächtlichen Aeußerung des vernommenen 
Technifers fich ergibt, daß, um der nach den Akten thatjächlich 
begründeten Beſchwerde der Klägerin vollftändig und nachhaltig 
abzuhelfen, die der Beklagten zu machende Auflage auf eine 


fleinere als die bezeichnete Strede nicht begrenzt werden kann, 
fo war das Urtheil des vorigen Richters auch in diefer Beziehung 
zu bejtätigen. 


V. Fall des Art. X. Ziff. 10 und 11 des Geſetzes über die 
Berwaltungsrechtspflege. 


1. Ort5armenverband Ehlenbogen, DA. Oberndorf, 

Kläger, Berufungsfläger, gegen Stiftungsrat) 

Schömberg, DA. Freudenjtadt, Beklagten, Beruf: 
ungsbeflagten. 

Ausiheidung firhlider Stiftungen von Armen 
jtiftungen und gegenseitige Beziehungen der pol, 
Gemeinde und Stiftung. 

Urtheil vom 17. November 1880. 


Die Gemeinde Dberehlenbogen ijt nach Schömberg einge: 
pfarrt und beanfprucht auf Grund diefes Verbands Theilmahme 
an dem Stiftungsvermögen in Schömberg für Zwede der Armen: 
unterjtügung. Der Ortsarmenverband Chlenbogen war in dem 
Falle, für die am 1. Januar 1857 unehelich geborne und in Ehlen: 
bogen heimatberechtigte Ana Maria Frid, beziehungsweife deren 
im Juli 1876 gebornes uneheliches Kind einen Aufwand von 
339 Mark 55 Pf. zu machen, deſſen Erſatz fie von dem Stif— 
tungsrath in Schömberg forderte und damit die Bitte verband, 
einen jährlichen Betrag aus Stiftungsmitteln für die Bejtreitung 
der Armenbedürfnifje von Oberehlenbogen auszufondern und der 
Armenverwaltung Chlenbogen zur Verfügung zu jtellen. Die 
Kreisregierung wies durch Urtheil vom 16. April 1880 die Klage 
in beiderlei Richtung als zu früh angebracht zurüd, weil nad 
der Verfügung der Minifterien des Innern und des Kirchen: 
und Schulwefens vom 14. Juni 1873, 88. 9 und 10 der Betre— 
tung des Rechtswegs ein Vergleichsverfuh und weitere Verband: 
lungen vorauszugehen haben. Der Kläger beruhigte ſich bei dieſem 
Urtheil Hinfichtlih der Ausscheidung, ergriff aber Berufung hin: 
jichtlich des Erfaßes. Der Verwaltungsgerichtshof wies die Bez 
rufungsklage koſtenfällig ab. 

Gründe. Bei der vorliegenden Berufung handelt es ſich, 








nachdem diejelbe auf das in eriter Inſtanz gejtellte Verlangen 
einer Ausfcheidung des Fonds der Schömberger Stiftung nicht 
ausgedehnt worden ijt, noch um den gegen legtere erfolgten An- 
ſpruch auf Erjaß des dem Kläger, Berufungsfläger für die 
Verpflegung des unehelichen Kinds der Anna Maria Fri er: 
wachſenen Aufwands. Indem der Kläger diefe Berufung auf den 
faum gedachten Erſatzanſpruch beſchränkt und ſolche auf das Ver: 
langen der Ausjcheidung eines Theils des Stiftungsvermögend 
nit ausgedehnt hat, hat derfelbe ebendamit anerfannt, daß diejer 
legtere Anfpruch, wie von der Kreisregierung angenommen wurde, 
zu früh angebracht war. 

Das FZundament jener Erjaganfprüche kann aber, mag jolcher 
von dem Kläger auf Ziff. 10 oder wie in diefer Inſtanz ge= 
ſchehen, auf Ziff. 11 oder auf eine andere Ziffer des Art. 10 
des Geſetzes über die DVerwaltungsrechtspflege haben gejtüßt 
werden wollen, nur eben der vorläufig fallen gelafjene Anſpruch 
jein, welcher dem Kläger vermeintlich gegen die beklagte Stiftung 
dahin zufteht, daß er berechtigt jei, an dem Fond derjelben für 
die Zwede der ihm obliegenden Armenfürjorge Theil zu nehmen. 
Mit leßterer fteht der fragliche Erſatzanſpruch, wie der vorige 
Richter mit Grund angenommen hat, wenn folches auch in defjen 
Entſcheidung nicht beftimmt zum Ausdruck gekommen ift, in un: 
jertvennlichem Zuſammenhang, und es unterliegt dejjen Geltend- 
machung um jo mehr den in jener Hinficht für maßgebend er: 
fannten gejeglihen Beitimmungen. Sn gleicher Weife war ſomit 
auch der Erſatzanſpruch in der Berufungsinitanz abzuweiſen. 

VI. Fälle des Art. X Ziff. 17 des Gejeges über die Verwal- 
tungsrechtspflege. 

Gutsbeſitzer Könrad Mann in Großdölzerhof, Ge— 
meinde Dewangen, OA. Aalen, Kläger, Berufungs— 
kläger, gegen Ortsſchulgemeindeverband Reichen— 
bach, Gemeinde Dewangen, Beklagten, Berufungsbe— 

klagter. 
Theilnahme an den Schulkoſten. 
Urtheil vom 3. Juli 1876. 

Kläger ſprach als Proteſtant Befreiung von der Umlage 


— 228 — 


für die Koſten der Schule in Reichenbach, auf deſſen Markung ſein 
Hof liegt, an, wurde aber mit dieſem Anſpruch von der Regierung 
des Jaxtkreiſes untern 13. März 1880 und in der Berufungs: 
inftanz von dem Verwaltungsgerichtshof Foftenfällig abgewiefen. 

Gründe: 1) Die Koften der Fatholifchen Bezirksſchule 
Neihenbah:Bernhardsdorf wurden bis zum Jahr 1877 unmittel- 
bar auf die Steuerpflichtigen der zu dem Schulverband gehörigen 
Drte, alfo ohne daß die in Art. 20 des Volksſchulgeſetzes von 
1836 als Regel vorgefchriebene Oberaustheilung nach der Fami— 


lienzahl jtattgefunden, nah dem Steuerfuß umgelegt und. 


zwar bis zum Jahr 1841 einschließlich in der Art, daß die 
Umlage auf jämmtlihe Steuerfontribuenten ohne Unterfchied 
des Neligiongbefenntnifjes erfolgte; vom Jahr 1842 an, in 
welhem ein befonderer Schuletat und eine von der Ger 
meindepflegerechnung abgejonderte Schulrechnung eingeführt wor: 
den war, dagegen mit der Aenderung, daß die evangelifchen 
Butsbejiter in Bernhardsporf und dem dazu gehörigen Hof 
Bronnenhaus, jowie dem auf der Markung Reichenbach gele- 
genen Großdölzerhof, deren Kinder die evangelifchen Schulen 
in Leinroden, beziehungsweife Eßingen befuchten, von der Um— 
lage ausgenonmen wurden. 

2) Nachdem dieſe das Fonfejlionelle Verhältniß berückſichti— 
gende Umlagemweije in neuerer Zeit zuerft im Jahr 1873/4, fo: 
dann. wiederholt im Jahr 1877 von der klagend aufgetretenen 
Schulgemeinde beanjtandet worden war, fanden die im legten 
Jahr gepflogenen Erörterungen in der Hauptfache ihren Abſchluß 
durch eine. am 15. September 1877 unter Zeitung des Uber: 
amts Aalen jtattgehabte Verhandlung dahin, daß die Vertreter 
der Schulgemeinde den Beihluß faßten, Künftig die Koften 
der Schule zwijchen den betheiligten Orten Reichenbach und Bern: 
hardsdorf nach der Zahl der im Schulverband ftehenden Fami— 
lien derfelben zu vertheilen und jedem Drt zu überlafjen, auf 
welche Art er die auf ihn entfallenden Betreffe aufbringen molle 
und daß fofort die Vertreter der Theilgemeinde Reichenbach 
befchlofjen, die auf diefen Ort bei Anwendung der Umlageweiſe 
gemäß Art. 20 des Volksſchulgeſetzes fallenden Schulkoſtenbetreffe 
fünftig mit dem Gemeindefchaden nad) dem Steuerfuß umzulegen. 





| 
' 
| 
J 
| 





De 


3) Der Beliger des Großdölzerhofs Konrad Mann bat jich 
durch letzteren Bejchluß veranlaßt gefunden, Klage gegen den 
Drtsgemeindeverband Reichenbach zu erheben, indem er bean 
fprucht, daß der Großdölzerhof, fo lange er im Beſitz evan— 
gelifher Einwohner ſich befindet, von der Kojtenumlage zur 
fatholifchen Schule in Neichenbah zu entbinden fei. Da die 
Klage fich ausfchlieglich gegen die Ortsgemeinde Reichenbach 
rihtet, und nach ihrer Begründung nicht die von der Schulge- 
meinde bejchlofjene Vertheilung der Schulfoften auf die betheiligten 
Orte nach der Familienzahl, fondern lediglich der Beichluß der 
Vertreter der gedachten Ortsgemeinde, wonach der Antheil diejes 
Orts an den Koften der Bezirksſchule mit dem Gemeindefchaden 
nah dem Steuerfuß umgelegt werden foll, den Gegenftand der 
gegnerischen Anfechtung bildet, fo ift die von der Schulgemeinde 
(d.h. der Genofjenjchaft der im Schulverband befindlichen Theil- 
gemeinde Neichenbah und Bernhardsdorf) eingeführte Oberaus— 
theilung der Bezirksfchulfoften nah der Familienzahl als un: 
beftritten und feſtſtehend anzufehen. 

4) Der Kläger hat zunächjt wiederholt behauptet, daß die 
gegenwärtige Streitfache ſchon dadurd in einem feinem Antrag 
entiprechenden Sinn rechtsgiltig erledigt wurde, daß die Gegen 
partei im Jahr 1873 Klage auf fteuerfußmäßige Beiziehung 
der evangelifchen Gutsbefiger zu den Schulfoften von Reichen: 
bach erhob, auf diefe Klage aber nach erhobener Einwendung 
unbedingt Verzicht geleiitet habe. Der von den Vertretern der 
Schulgemeinde am 26. Dezember 1874 abgegebenen Verzichts— 
erklärung kann jedoch abgefehen davon, ob hierin ein Verzicht 
auf den Rechtsſtreit, oder nur ein Verzicht auf den in der da— 
maligen Klage erhobenen Anfpruch zu finden ift, eine rechtliche 
Bedeutung für den vorliegenden Fall bei der Berfchiedenheit 
der Partien und der Sache nicht beigelegt werden, da es fich 
damals um die Beiziehung der evangelifchen Gutäbefiger in 
VBernhardsdorf, Bronnenhaus und Großdölzerhof zu der um: 
mittelbaren Umlage der Bezirksfchulfoften auf die ein: 
zelnen Steuerpflichtigen, jomit um das Verhältniß derjelben zu 
der gefammten Schulgemeinde Reichenbach-Bernhardsdorf han: 
delte, während im gegenwärtigen Fall lediglich das interne Ver: 

Württemb, Archiv für Recht ıc. XXII. Bd. 2, & 3. Heft. 16 





— 2330 — 


hältnig des Klägers zu der Orts: und Markungägemeinde 
Reihenbah auf der Grundlage der von demfelben nicht bean- 
ftandeten Dberaustheilung der Bezirksfchulfoften in Betracht 
fommt. 

5) Zur materiellen Begründung feines Anſpruchs hat der 
Kläger ſodann auf die gefeglichen Beitimmungen fich berufend 
geltend gemacht, daß der Art. 18 des Volksſchulgeſetzes von 
1836 auf den vorliegenden Fall nicht pafje, vielmehr Art. 20 
dejjelben jeine Anwendung finde, fofern es fich um die Koften 
einer mehreren Drten gemeinfhaftlihen Volksſchule handle, und 
ein Theil der Parzellargemeinde Reichenbach, der Ort Reichenbad) 
felbit, dem Schulverband Neichenbah, ein anderer Theil, der 
Großdölzerhof, dem Schulverband Eßingen angehöre, wornach ein 
Hinderniß nicht bejtehe, daß diejer Hof in der Form des dop— 
pelten Schulgeld3 feinen Beitrag zu den Schulfoften in Eßingen 
leifte, von einem Beitrag zu den Schulkoften in Reichenbach da: 
gegen frei gelafjen werde. 

Hiegegen ift jedoch zu bemerken, daß die Artikel 18 bis 20 
des gedachten Geſetzes unter fich in engem Zujammenhang jtehen, 
und daß, wie die Motive des Entwurfs zu diefen Artikeln aus: 
drüclich hervorheben, bei einer Bezirksfchule gerade fo, wie bei 
einer Ortsſchule der auf die einzelnen Orte fallende Antheil an 
den Schulfojten als eine öffentliche Laft des Drts gemäß Art. 18 
zu behandeln ift, jofern e3 fih um Orte, die mit einander im 
gejeglihen Schulverband (Art. 12, 15) ftehen, handelt. Unter 
den bei einem Bezirfsfchulverband rechtlich betheiligten Drten 
fönnen aber im Sinn des Gefeßes (Art. 19) nur für fich be: 
jtehende Orte d. h. Orte mit eigener Marfung (Theilgemeinden) 
feineswegd einzelne zu einer Gemeinde oder Theilgemeinde ges 
hörige und auf der Marfung gelegene Höfe verjtanden werben. 

Bon einem Bezivksihulverband des Großdölzerhofs mit 
Ehingen kann daher feine Rede fein, ebenfowenig trifft hiernad) 
der Fall des Art. 15 (mehrfacher Schulverband eines Drts 
wegen der Konfejjionsverhältniffe) hier, wo eine Schule in dem 
Drt (Reihenbah), zu dem der Großbölzerhof gehört, befteht, 
zu. In Wirklichkeit ijt vielmehr das Verhältniß das, daß der 
Gropdölzerhof d. h. die Familie des Beſitzers rechtlich dem Ver: 





Z.:33], = 


band der fatholifhen Schule in Reichenbach, der Schule des 
Orts, auf dejlen Marfung der Hof liegt, angehört, thatfächlich 
aber die evangelifhe Schule in Eßingen . benügt (orgl. Art. 8 
des Geſetzes), obgleich dieſe Konfeſſionsſchule über eine Stunde 
von dem Drt entfernt ift. Der Umſtand, daß, wie Kläger be— 
hauptet, die evangakichen Beliger des Hofs ihre Kinder von 
jeher in legtere Schule gefhict haben, und daß der Hof in den 
Schuleinfommensbefchreibungen als zu dem Schulverband Eßin— 
gen gehörig verzeichnet ift, vermag an jenem im Geſetz begrüns 
deten rechtlichen Verhältniffe nichts‘ zu ändern, ebenjowenig die 
Thatſache, daß der Kläger als Ausmwärtiger mit einem höheren 
Schulgeld (übrigens nicht gerade dem doppelten Betrag des 
gewöhnlichen Schulgelds) zu den dortigen Schulfojten beigezogen 
wird. Demzufolge fann, da der Großdölzerhof unbeftrittener- 
maßen einen Beitandtheil der Ortsmarkung Reichenbach bildet, 
angeficht3 des nach den oben Bemerften auch auf Bezirks- 
ſchulen Anwendung findenden Art. 18, wonach die Schulfojten 
nöthigenfall® als eine Gemeindelajt ohne Rückſicht auf das Re— 
ligionsbefenntniß nach dem Steuerfuß umzulegen find, aus der 
thatfächlihen Benützung der Konfefiionsfchule und aus der Bei- 
ziehung zu den dortigen Schulfoiten ein Grund zu der Befreiung 
des Hofbejigers von der jtenerfußmäßigen Beitragspflicht zu den 
Dezirksfchulfoften der Ortsgemeinde Reichenbach nicht abgeleitet 
werden. 

6) Wenn ferner der Kläger fich auf ein angebliches Her: 
fommen, nämlich die Thatfache, daß der Befiger des Großdölzer- 
hofs von den Jahren 1841 bis 1877 von einer Beitragsleiftung 
zu den Schulfoften in Reichenbach befreit gewejen, berufen hat, 
jo kann dahin geftellt bleiben, ob die allgemeinen Erfordernifje 
eines rechtsgültigen Herfommens, die Statthaftigfeit eines jolchen 
vorausgejegt, hier zutreffen, da Herfommen und andere Rechts: 
titel in vorliegender Sache von dem Kläger gegenüber der Orts— 
gemeinde Reichenbach nicht angerufen werden fünnen. 

Im gegenwärtigen Fall, wo die von der Schulgemeinde 
Reihenbach-Bernhardsdorf im Jahr 1877 eingeführte Oberaus— 
theilung der Bezirksſchulkoſten auf beide Orte nach der Familien- 
zahl nicht beanstandet ift, handelt es fich von feinem der in den 

16* 


— 232 — 


Artikeln 19 und 20 vorgeſehenen Verhältniſſe zu Parzellen 
einer Geſammtgemeinde oder eines Bezirksſchulverbands unter 
ich und zur Geſammtheit, wofür Herkommen und andere Rechts— 
titel allgemein eine Ausnahme von der gefeglichen Regel be: 
gründen, fondern lediglich von dem internen Berhältniß des 
Beſitzers des Großdölzerhofs als eines einzelnen Steuerpflidtigen 
zu der Orts- und Marfungsgemeinde Neichenbach in Betreff 
feiner jteuerfußmäßigen Beiziehung zu den auf den Ort entfal- 
(enden Koſten der dortigen Bezirksſchule. Hiefür ift allein und 
ausschließlich Art. 18 des Geſetzes maßgebend, welcher in prä— 
zeptiver Weife die Umlage der Schulkojten nad) dem Steuerfuß 
ohne Rüdjicht auf das Neligionsbefenntnig normirt, und dem 
Herfommen oder andern Nechtötiteln nur in ganz beftimmter 
Richtung, nämlich injoweit Geltung einräumt, als biernad ein 
Dritter an der Stelle der Gemeinde für die Schulkoſten einzu: 
treten hat. Daß diefe Ausnahmebejtimmung, welche die Erem: 
tion von der Gemeinde felbjt in Folge der Verpflichtung eines 
Dritten 3. B. eines Patrons betrifft, auf den gegenmärtigen 
Fall, wo der Kläger Eremtion gegenüber der Ortsgemeinde 


beanjprucht, feine Anwendung findet, bedarf feiner weiteren Aus: | 


führung. Aus dem gleichen Grunde kann auch der von dem 
Kläger außerdem noch geltend gemachte Nechtstitel der Ver: 
jährung abgejehen davon, ob und inmieweit diefem Titel im 
öffentlichen Recht Geltung zufommt, hier nicht Pla greifen. 


VII Fälle des Art. X Ziff. 20 und 21 des Gejeges über die 
Verwaltungsrechtspflege. 

1. Gutsbeſitzer Kaulla von Oberdiſchingen, Kläger, Be— 
rufungskläger, gegen Gemeinde Oberdiſchingen, Be— 
klagte, Berufungsbeklagte. 

Actio negatoria über das Beſtehen eines Wegs. 
Urtheil vom 27. Dftober 1879. 


Die negatoriihe Klage auf Abjtellung eine durch den 
Schloßgarten des Klägers führenden öffentlihen Wegs wurde 
unter Beftätigung des Urtheil$ der Regierung des Donaufreijes 
vom 30. April 1879 koſtenfällig abgewieſen. 








— — 


Gründe: Es handelt ſich in dem vorliegenden Rechts— 
ftreit um die Frage der Rechtmäßigkeit des Beltandes der in 
den Akten näher bezeichneten Weganlage. Die Anlage des be— 
ftehenden Wegs hat in dem Jahr 1848/9 ftattgefunden auf 
Grund eines Beichluffes der Gläubigerfhhaft des Grafen Lud— 
wig von Schenkf:Cajtell auf deren Kojten. An der Stelle des: 
jelben hatte früher obwohl in etwas abweichender Richtung 
ein anderer Weg beitanden, welchen der Vater des Grafen Lud- 
wig, der Graf Franz von Schenk-Gaftell, al3 er in den 1830er 
Jahren mehrere angrenzende aus dritter Hand von ihm er— 
worbene Güterjtüde zur Vergrößerung des gräflihen Schloß: 
gartens verwendete, hatte eingehen lajjen. Sowohl von den be: 
theiligten Grundbefigern al3 dem Gemeinderath Oberdifchingen 
wurde jedoch in der Folge mehrfah die Wiederheritellung diefes 
Wegs verlangt, insbefondere war ein folches Verlangen, als 
nah dem im Frühjahr 1847 erfolgten Ableben des Grafen 
* Franz von Schenk:Caftell der Graf Ludwig von Schenf:GCaftell 
in den Bejiz der Güter in Dilchingen eingetreten war, leßterer 
aber bald darauf dem Kreisgerihtshof in Ulm feine Inſolvenz 
‚angezeigt hatte, und von dieſer Behörde ein Debitverfahren über 
ihn verhängt worden war, dem gräflichen NRentamt, welches 
Namens der Gläubigerichaft als Organ des von der lekteren 
bei der Schuldenliquidation vom 10. April 1848 beftellten 
Gläubigerausſchuſſes die Aktivmaſſe der Schenk-Caſtellſchen Güter 
während der Dauer des gedachten Debitverfahrens zu verwalten 
hatte, wiederholt vorgetragen worden. 

Das Nentamt beantragte in Folge defjen bei dem Gläubiger: 
ausſchuß die mit möglichiter Schonung des Schloßgartens her: 
beizuführende Wiederherftellung des in Frage ftehenden, wie in 
dem Bericht vom 22. Mai 1848 näher ausgeführt wird, unrecht: 
mäßiger Weiſe Faflirten Wegs, und legte die Sache, nachdem 
ji) der Gläubigerausfhuß in feiner überwiegenden Mehrheit 
mit diefem Antrag einverjtanden erklärt hatte, dem Königl. Kreis: 
gerichtshof zur Genehmigung vor, welche der legtere denn auch 
übrigens unter der Vorausfegung ertheilte, daß über den An 
trag des Rentamts noch ein weiteres Mitglied des Ausfchufjes 
9. Steiner vernommen werde, und diefer demfelben zuſtimme. 


— 14 — 





Es kann, nachdem der den ordentlichen Gerichtäftand des 
Grafen von Schenf-Eaftell bildende Gerichtshof auf Grund des 
von dem Grafen ſelbſt geftellten Antrags die Gläubigerfchaft in 
die Verwaltung feiner Güter eingejeßt und das gräfliche Rent: 
amt zum Organ des wie ‚erwähnt bei der Schuldenliquidation 
erwählten Gläubigerausfchuffes mit der Maßgabe beſtimmt hatte, 
daß wichtigere Angelegenheiten noch feiner Genehmigung zu 
unterjtellen feien, feinem Zweifel unterliegen, daß an der Stelle 
und in Vertretung des Grafen, welchem in Folge des gegen ihn 
eröffneten Debitverfahrens die Verfügung über die Aktivmaſſe 
jeine® Vermögens entzogen wurde, zu Jolcher Verfügung von 
da an und für die Dauer des Debitverfahrens nur noch feine 
Gläubigerſchaft Legitimirt war. 

Die Befugniß des erwählten Ausſchuſſes, die wegen der 
fraglihen Weganlage erhobene Neklamation entgegenzunehmen, 
und ſolche in der Weife, wie gejchehen, mit Genehmigung des 
Gerichtshofs zur Erledigung zu bringen, läßt ſich daher mit 
Grund nicht beanjtanden. 

Mit diefer Erledigung des rentamtlichen Antrags vom 
22. Mai 1848 wurde aber die Nechtsmäßigfeit derjenigen früher 
bejtandenen Weganlage, welche dev Graf Franz von Schenk— 
GCaftell in Folge der von ihm in den 1830er Jahren vorgenomz 
menen Schloßgartenvergrößerung hatte in Abgang fommen laſſen, 
jowie die Verbindlichkeit der Gutsherrfchaft, jenen früheren Zu: 
jtand durch Anlage eines neuen über das nunmehrige Areal 
und auf ihre Kojten zu errichtenden Wegs wiederherzuftellen, 
wie folches denn aus Zweckmäßigkeitsgründen nur in etwas 
anderer Nichtung gefchehen it, von den legitimen damaligen 
Vertretern des Grafen unzweidentig anerkannt, und felbftver: 
jtändlich ift dem fraglichen Anerfenntniß rechtsverbindende Kraft 
beizulegen nicht nur dem früheren Gläubigerausshuß, jondern 
auch dem Grafen von Schenk: Gaftell und deſſen Nechtsnachfol- 
gern gegenüber. Nachträglich hätte dejjengNechtsbeitand, nach— 
dem der Kläger ſelbſt die anfänglich aufgejtellte Behauptung, 
daß der Weg, wie er jeitdem bejteht, lediglich einem einfeitig 
von der Gemeinde Oberdijchingen, beziehungsweife deſſen Ein- 
wohnern ausgegangenen Gemwaltaft feine Entjtehung verdanfe, 


— 2358 — 


feſtzuhalten nicht vermocht hat, nur etwa auf den Grund eines 
unterlaufenen Irrthums angefochten werden können. Für die 
Annahme eines ſolchen enthalten die vorliegenden Akten keinen 
Anhaltspunkt, es iſt denſelben vielmehr beſtimmt zu entnehmen, 
daß der frühere im Jahr 1848 wieder hergeſtellte Weg als ein 
öffentlicher dem gemeinen Verkehr dienender Weg ſeit unvor— 
denklicher Zeit bis zu ſeiner vom Grafen Franz von Schenk 
erfolgten Kaſſirung zu Recht beſtanden hat, wie dies von der 
K. Kreisregierung in ihren dem Urtheil angehängten Ent— 
ſcheidungsgründen in zutreffender Weiſe näher ausgeführt wor— 
den iſt. 

Wenn ſich der Kläger zu Beanſtandung der im Jahr 1848/9 
getroffenen Einleitungen darauf. berufen hat, daß die von dem 
Kreisgerichtshof bei Genehmigung des Beſchluſſes des Gläubiger: 
ausichuffes ausgefprochene Vorausſetzung der Zujtimmung des 
Mitglieds H. Steiner nicht eingetreten jei, jo kann dieſer Be- 
rufung abgefehen davon, daß daraus, daß fie aus den Akten 
nicht zu erſehen ift, nicht folgt, daß fie nicht ertheilt wurde, 
ein entfcheidendes Gewicht deßhalb nicht beigelegt werden, weil 
die von der maßgebenden Majorität des Ausſchuſſes befchlofjene 
Maßregel nichts deſto weniger fofort zum Vollzug gelangte, und 
diefer Bollzug, jo lange das Debitverfahren gegen den Grafen 
Ludwig von Schenk: Gajtell fortdauerte, von feiner Seite weder 
von dem Königlichen Gerichtshof noch von dem Grafen von | 
Schenk-Caſtell je beanjtandet wurde, jeßt aber, nachdem das 
Debitverfahren längſt feine volljtändige Erledigung gefunden 
hat, eine nachträgliche Bemängelung jener Maßregel dur den 
Kläger nicht mehr zuläffig erjcheint. Wenn Kläger geltend 
macht, daß es beflagterjeit3 an den rechtlichen Borausjegungen 
der Erwerbung einer Wegfervitut fehle, daß über legtere nicht 
gerichtlich erfannt wurde, und diefelbe nicht in die öffentlichen 
Bücher eingetragen ift, daß die Frift für die außerordentliche 
Verjährung noch nicht abgelaufen und die erlöfchende Eigenthums— 
verjährung zu feinem Nachtheil noch nicht eingetreten ſei, jo er— 
Icheint dies infofern bedeutungslos, als auf das hier vorliegende 
öffentlich rechtliche Verhältniß der Belaſtung eines Grundſtücks 
duch einen dem gemeinen Verfehr gewidmeten Weg die civils 





— ae 


rechtlichen Bejtimmungen über den Erwerb und Berluft der auf 
Saden als Objekten des Privatverfehrs haftenden Nechte Feine 
Anwendung finden. 


2. Johannes Kilgus von Schömberg, DA Freuden: 
ſtadt, Kläger, Berufungsbeklagter, gegen Gemeinde 
Reinerzau, Beflagte, Berufungsflägerin. 


Eigenſchaft eines öffentliden Wegs. 
Urtheil vom 20. Dezember 1879. 


Unter Betätigung des Urtheil der Regierung des Schwarz- 
waldfreifes wurde die Beklagte fojtenfällig für verbunden er— 
fannt, den von der Bizinalitraße zwifchen Neinerzau und Schöm— 
berg abzweigenden Weg zur Sägmühle des Kläger auf der 
Strede von der Wendungsplatte bis zur Marfungsgrenze auf 
ihre Koften in einem zu jeder Zeit fahrbaren und brauchbaren 
Zuitand zu erhalten und ſoweit die damalige Bejchaffenheit des 
Wegs dies erfordert, denfelben ordnungsmäßig berzuftellen. 

Gründe: 1) In thatfächlicher Beziehung ergibt fih aus 
den Akten, daß die Vizinaljtraße zwifchen NReinerzau und Schön: 
berg, welche vor ihrer im Jahr 1870 vollendeten Korrektion an 
der Sägmühle des Klägers vorbeiführte, in Folge jener Korrektion 
eine veränderte Richtung erhielt, wodurd die Sägmühle entfernt 
von dem neuen Straßenzug zu liegen Fam, daß die Markungs— 
gemeinde Neinerzau, um dem Kläger die Zufahrt zu feiner Säg— 
mühle von der neuen Straße aus zu ermöglichen, an derjenigen 
Stelle, wo die alte Straße dorthin abzweigt, eine Wendungs- 
platte mit Böfhungsmauer zur Verbindung der alten mit der 
neuen Straße auf ihre Koſten herftellen ließ, und daß der nun: 
mehrige Zufahrtsweg, da auf der Markung Schömberg die Aus: 
fahrt von der alten Bizinaljtraße in die neue wegen beträchtlich 
höherer Lage der leßteren unmöglich ift, den einzigen und darum 
nothwendigen Zufahrtsweg zu der Sägmühle des Kläger bildet. 

Zwijchen den Partien befteht nun Streit darüber, ob die 
Beklagte diefen Zufahrtsweg auf der innerhalb ihrer Markung 
gelegenen Strede ordnungsmäßig zu unterhalten verpflichtet ift, 
was von dem Kläger behauptet, von der Beklagten wejentlich 








— 297 — 


aus dem Grunde verneint wird, weil dem Weg, der lediglich dem 
Intereſſe des Klägers dient, die Eigenjchaft eines öffentlichen 
Verbindungswegs im Sinn der Wegordnung nicht zufomme. 

2) Durch die eidlihen Ausſagen der in gegenwärtiger In— 
jtan; vernommenen Zeugen Matthias Walter von Rothenbächle, 
Gottfried Adrions Wittwe, Matthias Bed, Jakob Armbrufter 
und Andreas Kilgus von Schömberg, Matthias und Andreas 
Walter von Hinterröthenberg ift jedoch Fonjtatirt, daß der frag: 
lihe Weg vielfah von dritten Perfonen zum Transport von 
Holz und Schnittwaaren von und zu der Sägmühle, ſowie von 
Weiden zu der in der Nähe befindlichen Einbindjtätte, und zur 
Beifuhr von Sand aus dem dortigen Weiher benügt wurde, und 
biefür gegenwärtig noch benügt wird, daß ſonach der Weg nicht, 
wie beflagterjeits behauptet ift, nur dem Intereſſe des Klägers, 
jondern auch einem allerdings auf die gedachten Transportgegen- 
ftände und auf Perfonen aus wenigen benachbarten Orten be: 
ſchränkten Verkehr dient. Vermöge diefer thatjächlichen Benügung 
und Zweckbeſtimmung ijt aber dem Weg die Eigenjchaft eines 
öffentlichen Vizinalwegs beizulegen. 

3) An diejer rechtlichen Eigenfchaft vermag der Umjtand 
nichts zu ändern, daß der Zufahrtsweg im PBrimärfatafter von 
Neinerzau als Feldweg bezeichnet ijt. Ebenſowenig fonnte dejjen 
Rechtsbeſtand durch die Ziff. 6 des Kaufvertrags der Gemeinde 
Neinerzau mit Magdalene Walter, Nothenbüchlesbauern Wittive, 
vom 16. September 1869 bejtinnmte Abtretung des von dem 
Grundeigenthum der Wittwe Parzelle N. 335 umfchloffenen 
Areals der alten Bizinaljtraße an diefelbe und durch den Die 
Abjtellung des Wegs verfügenden Gemeindebefhluß vom 11. 
September 1877 beeinflußt werden. Abgejehen davon, daß es 
fraglich it, ob jene Vertragsbejtimmung nad der Abjiht der 
Kontrahenten auch auf denjenigen Theil der alten Straße, welcher 
mit der nunmehrigen Zufahrtsitraße zufammenfällt, fich beziehen 
jollte und in Wirklichkeit bezogen wurde, da diefer Zufahrtsweg 
im Brimärfatafter von Neinerzau als Feldweg N. 69'/2 der 
Gemeinde nicht dem Nothenbüchlesbauern zugefchrieben murde, 
unterliegt e3 feinem Zweifel, daß die Gemeinde Neinerzau über 
die gedachte Wegitrede, wenn überhaupt, jedenfalls nur unbe: 


—— 
— 
— 
N 





BB 


ichadet ihrer Zweckbeſtimmung und der hieraus fich ergebenden 
Benützungsrechte Dritter privatrechtlich disponiven fonnte. Anz 
belangend jodann die von den Gemeindefollegien verfügte Ab- 
jtellung des Wegs, fo ift diefem erjt während des Nechtsjtreits 
gefaßten Gemeindebeſchluß eine rechtlihe Bedeutung nad der 
Sachlage um fo weniger beizumefjen, als die betreffende Berfü- 
gung lediglich die Markungsgenofjen, zu welchen der Kläger nicht 
gehört, angeht, daher Schon aus diefem Grunde für Dritte, melde 
bei der Benützung des Wegs betheiligt find, feine Geltung und 
Wirkung hat. 

4) Aus der Eigenfchaft des Wegs als eines öffentlichen 
Verbindungswegs folgt in Gemäßheit bejtehender Normen (Weg: 
ordnung vom 23. Dftober 1808, $. 1, und Minifterialverfügung 
vom 19. Juni 1828, $. 1 und 2), daß die Gemeinde Neinerzau 
den Weg, infolange er vermöge jeiner tyatfächlichen Benügung 
für den öffentlichen Verkehr die Eigenjchaft eines öffentlichen 
Berbindungsmegs behält, auf der innerhalb der Gemeinde Neinerzau 
gelegenen Strede von der Beklagten in zu jeder Jahreszeit brauch— 
barem und fahrbarem Zuſtand zu erhalten, und joweit jeine 
dermalige Bejchaffenheit diefem Zuftand nicht entfpricht, die 
Gemeinde verpflichtet ift, denjelben ordnungsmäßig herzuitellen. 


VIII. Fälle des Art. X Ziff. 23 des Gejeges über die Ver: 
waltungsrechtspflege. Weideftreitigfeiten. 
1. Bernhard Glafer und Genoſſen von Schlath, 
DU. Göppingen, Kläger, Berufungsfläger, gegen 
Sohannes Bauer und Genofjjen von Urfenwang, 
Beklagte, Berufungsbeflagte. 
Zujtändigfeit der Berwaltungsgeridte. 
Urtheil vom 16. Juni 1880. 


In dem zum Gemeindebezirt Schlath, DA. Göppingen, ges 
hörenden Weiler Urfenwang mit eigener Marfung und jekt 23 
Einwohnern, bejtanden früher nur zwei gefchloffene Höfe, welche 
der Familie von Zillenhardt gehörten. Der eine wurde im Jahr 
1474 an die Kirche zum Ave Maria in Deggingen verkauft, 
kam damit unter die Helfenjteinjche Herrſchaft in Wiefenjteig und 





— 239° — 


erit im Jahr 1806 unter württembergifche Hoheit. Der andere 
dagegen war altwürttembergifh, inden jolchen im Jahr 1509 
das nachher zum Kirchengut gezogene Stift Oberhofen in Göp- 
pingen von den von Zillenhardt erworben hatte. In Folge von 
Theilungen bejteht jett der Weiler Urfenwang aus drei Höfen, 
welche derzeit Johannes Bauer, Sebaftian Kottmann und Michael 
Wittlinger befigen. 

Dieje Höfe hatten feit alter Zeit auf gewiſſen an die Mar- 
fung Urſenwang anjtoßenden Grundftüden der Markung Schlath 
ausichlieglich MWeiverechte, die Schon in einem Spruche von 1533 
in Beziehung auf ihren Umfang näher fejtgejtellt waren. In 
neuerer Zeit waren aber über die Weide Streitigkeiten entjtanden, 
worüber ein Prozeß zwiſchen den Hofbejtgern von Urjenwang 
und der Gemeinde Schlath bei dem Dberamtsgericht Göppingen 
anhängig war, der durch einen Vergleich vom 20. Januar 1843 
jeine Erledigung fand. Die von Schlath hatten ſich allmählich 
erlaubt, die Mitweide auf dem Diftrift von Urfenwang auszu— 
üben, welche nach dem früheren Vertrag (Sprud 2) nur auf 
einem einzelnen Diſtrikt fejtgefegt war. Auch beitritten die von 
Schlath die Ausübung des Uebertriebsrechts mit Schafen, welche 
e3 früher nicht gegeben habe. Durch den Vergleich verzichteten 
nun die von Urjenwang auf die lagerbüchlich je im dritten Jahr: 
gang ihnen zugejtandene Mithut in einem bejtimmten Dijtrift 
zu Gunften der Gemeinde Schlath, wogegen dieje das ausfchließ- 
lie Weiderecht derer von Urfenwang auf den weiteren Gütern 
und zwar auch mit Schafen und Vieh anerkannte. 

Diefes nach fpäterer Erhebung auf 84!/s Morgen 12 Nuthen 
der Markung Schlath fich erſtreckende Meiderecht meldeten auf 
Grund des Weideablöfungsgefeges vom 26. März 1873 die 31 
Befiger von 50/s Morgen 10 Ruthen im Juni 1874 bei dem 
Dberamt Göppingen zur Ablöfung an, wogegen die 14 Befiter 
der weiter belajteten 21?/s Morgen 18 Nuthen jich dem Ablöfungs- 
verlangen nicht anichloffen, und die weiteren 12 Morgen, 31 
Ruthen ih im Befig von zwei Bauern in Urfenwang befanden. 
Das Dberamt nahm die nöthigen Verhandlungen vor und es er: 
gaben fi nach der Schlußverhandlung vom 19. Dezember 1878 
noch folgende Anftände: 





— 240 — 


1) Die Berechtigten beanfpruchten das Weiderecht auch zur 
MWinterszeit, was die Pflichtigen beitritten; 

2) desgleihen war der Zeitpunft beitritten, von dem an 
die Wiejen im Herbit bemeidet werden dürfen. Diejer Anfprud, 
Bemweidung der Wiefen von Bartholomäi an, wurde nachträglid 
von den Berechtigten aufgegeben. 

Hinfihtlih der Ablöfungsfrage ſelbſt machten die Weide: 
berechtigten geltend, daß der Flächengehalt der im Gemenge der 
weidepflichtigen Parzellen liegenden Grundjtüde der Berechtigten 
jelbjit 16°/s Morgen 24 Ruthen betrage, und wenn auch einzelne 
Objekte nach den Alten ſonſt noch zugänglich feien, jo treffe dies 
bei 9'/s Morgen 22 Ruthen alfo mehr als der Hälfte diefer 
Grundjtüde nicht zu. Die Berechtigten jeien daher nad) Art. 41 
des Weidegeſetzes berechtigt, dem Ablöfungsverlangen entgegen: 
zutreten. Die Pflichtigen beharrten darauf, daß fein unbeſchränk— 
tes Meiderecht bejtehe, fie erfannten nur zwei Parzellen als unzu: 
gänglih au. Das Dberamt ließ hierauf unterm 1. Februar 1879 
den Betheiligten eröffnen, daß, da Streit über den Umfang 
des Weiderechts beftehe, und diefes fich nicht auf den Marfungs: 
oder Gemeindeverband ftüge, nach Art. 87 Abf. des Weidege— 
feßes zur Entſcheidung über den Streit die Eivilgerichte zuftändig 
feien und die Ablöfungsverhandlungen big zur Entſcheidung dieſes 
Streit3 ruhen. 

Am 5. September 1879 reichten nun die MWeidepflichtigen 
bei der Negierung des Donaufreifes eine Klage gegen die Weide: 
berechtigten ein. Nach beiderfeitigem Anerkenntniß fei das Weide: 
recht ein privatrechtlihes. Ein jolches könne nach Art. 37 des 
Weidegeſetzes von den Berechtigten wie von den Pflichtigen zur 
Ablöfung gebracht werden. Nah Art. 43 des Geſetzes haben 
mehr als die Hälfte der Befiger der belafteten Grundftüde, deren 
Antheil an der mweidepflichtigen Fläche mehr als die Hälfte be: 
trage, die Ablöfung angemeldet, weßhalb die Schafweide am 
11. November 1877 und die übrige Weide am 4. April 1876 
für immer aufzuhören hatte. Die Weideberechtigten ſelbſt feien 
bei der Abftimmung nicht ftimmfähig, weil ihre zur Weidefläche 
gehörigen Grundftücde nad Art. 43 vorlegter Abſatz des Weide: 
gejeßes nicht gerechnet werden. Sie bejtreiten aber die Zuläſſig— 





1 — 


feit der Ablöfung unter Berufung auf Art. 41 des Weidegeſetzes. 
Derjelbe jei aber nur für den Fall gegeben, wenn das Weide— 
recht Gütern in derjelben Marfung zuftehe, was hier nicht zu— 
treffe. Auch werden durch die Ablöjfung nur zwei fleine Grund: 
ftüde der Beklagten im Flächengehalt von 4°/s Morgen 2 Ruthen 
unzugänglich, was gegenüber der großen Hauptmaſſe des Weide: 
felde nach Art. 41 Abſ. 2 des MWeidegefeßes nicht in Betracht 
fomme. Was den Streit über den Umfang des Weiderechts be— 
treffe, jo babe die Differenz über die Beweidung im Winter 
vom 1. Januar bis 1. März auf die Berechnung der Ablöfungs- 
fumme vorausfichtlich feinen bedeutenden Einfluß. Gebeten wird 
zu erkennen, daß die Kläger berechtigt jeien, die Ablöfung zu 
verlangen. 

Ob, jagt die Vernehmlaffung, das Weiderecht ein privat: 
vehtliches ift, wird dem richterlichen Ermeſſen anheimgeitellt. 
Der Bergleich vor dem Oberamtsgericht im Jahr 1843 änderte 
an der Natur des Nechts nichts. Art. 41 des MWeidegefeges treffe 
zu, weil jene zwei Grundftüde von 4°/s Morgen 2 Ruthen, die 
nicht mehr bemweidet werden können, wie die übrigen den Be: 
flagten gehörigen Grumdftüde auf der Markung Schlath) von 
jeher zu ihren Höfen gehörten, alfo den Gütern der Stläger 
gegenüber al3 weideberechtigt erfcheinen, außerdem der Art. 41 
de3 Geſetzes auch analog auf den Fall auszudehnen fei, wenn 
das berechtigte Gut außerhalb der Marfung liege, die Eigen 
thümer aber außerdem noch Grundftüdfe auf der Markung be= 
figen, jodann ſeien 4%/s Morgen 2 Nuthen nicht fleine Grund: 
ftüde. Die Grundftüde derer von Urfenwang auf der Marfung 
Schlatd wurden von denfelben erft im Lauf diefes Jahrhunderts 
erworben. 

Am 7. April 1880 erfannte die Negierung des Donau- 
freifes, e3 feien die Kläger mit ihrem Anfpruch zur Zeit foften- 
fällig abzumeifen. Auf eingelegte Berufung bejtätigte der Ver: 
waltungsgerichtshof diefes Urtheil. 

Gründe: Die Berufungskläger haben das den Berufungss 
beffagten auf gewiſſen Grundftücden der Markung Schlath zu: 
geitandene MWeiderecht Schon im Juni 1874 nad) dem Gefeß vom 
26. März 1873 bei dem Oberamt Göppingen zur Ablöjfung ans 


— 242 — 





gemeldet. Es ergaben ſich aber ſofort Anſtände gegen dieſe Ab— 
löſung, indem außer einer über den Umfang des Rechts ſpäter 
beruhen gelaſſenen Differenz von den Weidepflichtigen haupt— 
ſächlich nach Art. 41 des Geſetzes die Ablösbarfeit deshalb be: 
jtritten wurde, weil die Berechtigten jelbjt im Gemenge der 
weidenpflichtigen Grundjtüde eigenthümliche Grundſtücke befigen 
und wegen diefer im Widerfpruh mit den Pflichtigen dem Ab: 
löfungsverlangen im Ganzen entgegentreten. 

Als wegen diefes Punkts die Pflichtigen eine nach Art. 87 
Abſ. 4 des Meidegejeges allerdings die VBerwaltungsgerichte be: 
rührende Klage auf Anerkennung der Ablösbarkfeit einreichten, 
wurde von den Weideberechtigen bei der mündlichen Verhand— 
lung ‚vor dem vorigen Nichter die privatrechtliche Natur des hier 
bejtehenden Rechts überhaupt bejtritten. Da hiedurch nunmehr 
der Beitand des Weiderechts in einer die Ablöfungsfrage wejent: 
lih berührenden Richtung überhaupt in Frage geftellt war, und 
hierüber nach Art. 87 Abf. 2 des Weidegefeges nur die Civil: 
gerichte zu entjcheiden haben, jo hat der vorige Richter nad 
jener Erklärung der Berechtigten die Klage mit Grund vorerit 
zurückgewieſen. 

Das Verlangen der Berufungsſchrift, daß bei der Sach— 
lage der vorige Richter wenigſtens bedingt unter Vorbehalt der 
civilrichterlichen Entſcheidung über die privatrechtliche Natur über 
die Ablösbarkeit hätte entjcheiden follen, ift nicht begründet, da, 
jo lange der Givilrichter nicht feitgeftellt hat, daß und hinficht- 
lich welcher berechtigten und verpflichteten Flächen ein Privatweide- 
reht im Sinne des Art. 37 des Gefeßes vorliege, auch der Ber: 
waltungsrichter über jonftigen bei der Ablöfung Hinfichtli der 
Auslegung und Anwendung des Gejeges fich ergebenden Streit: 
fragen nicht zu entjcheiden hat. 

Iſt ſonach die vorliegende Klage wegen Unzuftändigfeit (2) 
der Berwaltungsgerichte mit Necht vorerjt zurückgewieſen worden, 
jo waren in deſſen Folge Kojten und Sporteln den Klägern zu: 
zujcheiden. 


— 243 — 


2. KRönigl. Staatsfinanzverwaltung, Klägerin, Be: 
rufungsbeflagte, gegen Gemeinde Apfelbach, DA. 
Mergentheim, Beflagte, Berufungsflägerin. 
Ausiheidung aus der Gemeindeweide., 

Urtheil vom 29. September 1880. 


Zu der Gemeinde Apfelbach gehört der im Eigenthum der 
Königl. Staatsfinanzverwaltung befindliche, eine eigene Markung 
bildende Apfelhof, eine Domäne, die aus 554 Morgen Wald, 
44 Morgen Aeder und 15 Morgen Wieſen bejteht. Diefem 
Apfelhof ſowie der gleichfalls der Staatzfinanzverwaltung ge— 
hörenden Domäne Neuhaus jtand früher das Schafübertriebs- 
recht über verſchiedene Gemeindemarkfungen, darunter auch der 
von Apfelbah zu. Im Jahr 1840 Ffauften die einzelnen Ge— 
meinden der Staatsfinanzverwaltung die Uebertriebsrechte über 
ihre Gemeindemarfungen ab, in dem darüber abgejchlojjenen 
Kaufvertrag vom 6. Auguſt 1840 wurde bejtimmt: 6) Die zu 
den Maiereien ... von Apfelhof gehörigen Güter find von dem 
zu erwerbenden MWeidrechte ausdrüdlich ausgeſchloſſen, das Weide- 
recht auf denjelben geht auf die Käufer nicht über, und ver- 
bleibt der Staatsfinanzverwaltung im ausschließlichen Eigenthun. 
Dafür, daß dem Apfelhofer Schäfer der Zutrieb zu dem der 
Domäne Apfelhof gehörigen Amtmannsbirfenader (auf Apfel: 
baher Markung liegend) von der Zeit an, wo die Gemeinde 
Apfelbach in den ausschließlichen Bejig des Schafweiderechts ge— 
langt, unmöglih wird, wird für die Apfelhofer Schäferei eine 
verhältnigmäßige Entſchädigung durch Einräumung einer zweck— 
mäßig gelegenen Feldflähe der Apfelbacher Markung noch vor 
der Vollziehung des gegenwärtigen Vertrags ausgemittelt. 

Für den jogenannten Amtmannzbirfenader wurden der 
Staatsfinanzverwaltung eine andere Weidefläche und der foge- 
nannte Braunfchweiger auf Apfelbaher Markung und an die 
Wartung von Apfelhof unmittelbar anftoßend zur Bemweidung 
überlaffen, während die Staatsfinanzverwaltung zu dem 10%/s 
Morgen 20 Ruthen im Meß haltenden Amtmannsbirkenader 
Parzelle Nr. 2624 noch zwei weitere an denfelben unmittelbar 
anſtoßende Grundſtücke Parzelle 2625 und 2626a. b. c. d.e. im 





— 2144 — 


Geſammtmeßgehalte von 9?'s Morgen 14,4 Ruthen käuflich erwarb. 
Unterm 30. November 1875 erhielt das Kameralamt Mergent: 
heim von der Domänendireftion den Auftrag, zu beantragen, 
daß dieſe Grundjtüde von der Gemeindeweide freigelaffen wer: 
den, und zwar der Amtmannsbirfenader gegen Nüdgabe des 
Meiderechts auf den früher furrogirten Grunditüden an die Ge: 
meinde, die übrigen Grundftüde gegen eine zu vereinbarende 
einmalige Abfindungsfumme. Die Gemeinde Apfelbach wider: 
iprach dem Antrag. Sie wurde aber von der Negierung des 
Sartkreifes nach vorher angeordnetem Augenſchein und Gutachten 
von drei jachverftändigen Landwirthen unterm 30. März 1880 
foitenfällig für verpflichtet erfannt, dem Antrag der Staats: 
finanzverwaltung auf Ablöfung des Weiderehts auf Parzelle 
Nr. 2624 (dem jogenannten Amtmannsbirkenader) ſowie auf 
Freilaſſung der Parzellen Nr. 2625 und 2626 von der (er 
meindeweide gemäß Art. 29 Abf. 2 Ziff. 2a und Art. 14 Ab}. 2 
des Weidegejeges Statt zu geben. — Das der Staatsfinan;- 
verwaltung auf der für den Amtmannsbirkfenader jurrogirten 
Werdefläche (Braunfchweiger) zuitehende Weiderecht mar von ber 
Gemeinde unterm 19. Mai 1879 gelegentlich der Augenjcheins- 
verhandlung abgelöst worden. Die Gründe der Kreisregierung 
waren: 

1) Nach dem Vertrag vom 6. Auguſt 1840 hat die Finanz 
verwaltung das Weidereht auf der Gemeinde Apfelbach mit der 
Bedingung verkauft, daß die der Maierei Apfelhof gehörigen 
Güter von dem Weiderecht ausgeſchloſſen fein follen, jomwie daß 
dafür, daß dem Apfelhofer Schäfer der Zutrieb zu dem Amt: 
mannsbirfenader der Domäne Apfelhof auf der Apfelbacher 
Markung unmöglich geworden, für den Apfelhofer Schäfer eine 
Entfehädigung durch die Einräumung einer zwedmäßig gelegenen 
Fläche der Apfelbacher Markung ausgemittelt werde. Das Kame— 
valamt hat den Antrag geitellt, die zum Apfelhof gehörige Par: 
zelle 2624 gegen Rückgabe des Weiderecht3 auf der furrogirten 
Fläche Parzelle Nr. 2635. 2384/90 und von den Barzellen 2625/6 
gegen eine zu ermittelnde Abfindungsfumme frei zu laſſen. Im 
Lauf der Verhandlung wurde das Weiderecht auf der furrogirten 
Flähe gegen eine Ablöfungsfumme von 275 Mark abgelöst, 





— 245 — 


und es iſt Ichließlich unter den Rarteien unbeitritten, daß das 
Weiderecht auf der Parzelle 2624 privatrechtlich, auf den Bar: 
zellen 2625,6 dagegen Gemeindeweide it. Dem Berlangen der 
Ablöfung des Weiderechts auf Parzelle 2624 hat die Gemeinde 
wideriprochen, weil ihr Weiderecht ſich auf den einfeitig nicht 
aufzuhebenden Bertrag vom 6. Auguft 1840 gründe, auch die 
Ausübung der Gemeindeweide nicht unerheblich ſchädige, weil fie 
die beiten Weideplätze, die fie nicht entbehren könne, verliere. 
Schlieglih hat fie aber nur die Behauptung der Störung ihres 
Weiderechts dahin feitgehalten, daß jie ohne die ihr verweigerte 
Cinräumung eines Triebwegs über Parzellen 2624/6 auf die 
jurrogirte Fläche, deren Weide jie dur) den Vertrag vom 
19. Mai 1879 erworben habe, nicht gelangen könne. 

2) Diefe Einwendung der Gemeinde ift unbegründet. Nach 
dem Gutachten der Sachverjtändigen kann der Gemeindefchäfer 
auf dem bisher Ichon befahrenen Weg, und von da auf dem 
Weg nah dem Apfelhof zu der jurrogirten Fläche gelangen, und 
der Einwendung, daß diefer Weg zu ſchmal jei und ohne Be: 
ihädigung des Waldes nicht benügt werden fünne, fann dem 
Gutachten gegenüber feine Bedeutung beigelegt werden. Dazu 
kommt, daß die Gemeinde dieſes Weiderecht erit durch den Ver— 
trag vom 19. Mai 1879 erworben hat, während der Aus— 
ſcheidungsanſpruch jhon im Dezember 1876 zu ihrer Kenntnif 
fam. Die Feitftellung der Entſchädigung bleibt befonderem Ber: 
fahren vorbehalten, ebenfo 

3) die Einwendung der Gemeinde gegen die Selbjtbeweidung 
der Grundftücde durch die Staatsfinanzverwaltung, da dieje Frage 
niht unter Art. 14 des Weidegeſetzes fällt, ſondern hierüber im 
Verwaltungsweg zu enticheiden ijt. 

4) Die Koften mit Ausſchluß der durch den Bertrag vom 
19, Mai 1879 geregelten hat die Gemeinde zu tragen. 

Auf eingelegte Berufung wurde dieſes Urtheil von dem 
Verwaltungsgerichtshof dahin bejtätigt: 

1) Die Beklagte ijt verpflichtet 

a. dem Antrag der Klägerin auf Ablöfung des der Be— 
klagten zuftehenden Weiderecht3 auf der Parzelle Nr. 2624, dem 
jogenannten Amtmannsbirfenader, Statt zu geben, und 

Württemb. Archiv für Recht sc. XXII. Bo. 2, & 3. Heft. 17 





— 246 — 


b. die Ausſcheidung der Parzellen 2625 und 2626 aus 
der Gemeindeweide zu gejtatten. 

2) Die Frage der Ausübung der Weide auf den genannten 
Grunditüden dur die Klägerin wird an die nad) Art. 31 des 
Weidegeſetzes zuftändige Verwaltungsbehörde verwiefen. 

3) Die Beklagte hat ſämmtliche Kojten des Streits mit Aus: 
nahme der von der Klägerin durch den Vertrag vom 19. Mai 
1879 freiwillig übernommenen zu tragen. 

Gründe 1) Die Parteien find unter ſich darüber einig, 
daß das der Gemeinde auf dem fogenannten Amtmannsbirken- 
ader Parzelle Nr. 2624 zuftehende Weiderecht ein privatredht- 
liches, Dagegen das ihr auf den Parzellen Nr. 2625 und 2626 
zufommende Recht der Beweidung ein Ausflug des von ihr durch 
den Vertrag vom 6. Auguſt 1840 erworbenen Gemeindeweiderechts 
it. In Gemäßheit der Art. 37 und 39 des Weidegejeßes vom 
26. März 1873 kann es fich daher bei dem Weiderecht der Ge— 
meinde auf Barzelle Nr. 2624 nur um eine Ablöjung desfelben, 
bei dem Necht auf den Barzellen Nr. 2625 und 2626 dagegen 
nur um eine Ausfcheidung aus der Gemeindeweide handeln. 
Nah Art. 39 Ziff. 2 des Weidegeſetzes müſſen aber auch für 
die Zuläßigfeit der Ablöfung des auf der Parzelle Nr. 2624 - 
haftenden ‘Brivatweiderechts diejenigen Vorausſetzungen zutreffen, 
welche der Art. 14 Abi. 1 und 2 des Weidegefeges für die Aus- 
Iheidung aus der Gemeindgweide vorjchreibt, d. h. es muß Die 
Ausscheidung des Grundftüds aus der Gemeindeweide zuläßig 
jein, ohne die Ausübung der Gemeindeweide zu ftören. 

2) Für die Beurtheilung der Frage, ob dur die Aus- 
ſcheidung die Ausübung der Gemeindeweide gejtört wird, find 
diejenigen VBerhältnifje und der Beitand des Gemeindemweiderechts 
maßgebend, der zur Zeit des von der Staatsfinanzverwaltung 
auf dieſe Ausscheidung geftellten Antrags vorhanden war. Die 
Gemeinde hat aber die von ihr behauptete Störung ihres Nechts 
wejentlih darauf gegründet, daß ihr durch den Ausfall der 
Parzellen Nr. 2624, 2625 und 2626 aus der Gemeindeweide 
der Zutrieb der Gemeindefchafheerde zu denjenigen Parzellen 
Nr. 2635 und dem jogenannten Braunschweiger unmöglich ges 
macht werde, auf denen zur Zeit des Antrags der Staatsfinanz- 








— 247 — 


verwaltung nicht ihr, ſondern der Klägerin das Weiderecht zu— 
ſtand. Die Parzellen können aber als zum Beſtand der Ge— 
meindeweide damals gar nicht gehörend für die Frage einer 
Störung desſelben nicht in Betracht kommen. Zwar hat die 
Gemeinde behauptet, daß ſie die Ablöſung des Weiderechts der 
Staatsfinanzverwaltung ſchon lange vor der Stellung ihres An— 
trags unterm 3. Januar 1874 beantragt hat. Allein dem hier— 
über vorliegenden Aktenſtück läßt ſich eine ſolche Abſicht nicht, 
ſondern im Gegentheil nur das entnehmen, daß die Gemeinde 
der rechtlich in keiner Weiſe begründeten Anſicht war, daß das 
der Staatsfinanzverwaltung auf der Markung Apfelbach zu 
ſtehende Weiderecht in Folge des Weidegeſetzes verfallen ſei, 
womit ſich die Abſicht einer Ablöſung desſelben nicht in Ein— 
klang ſetzen läßt, wie denn auch das Schreiben des Gemeinde— 
raths nicht an die zuſtändige Behörde für die Anmeldung der 
Ablöſung (Art. 43 des Weidegeſetzes), ſondern an den Hof: 
pächter Kollmar gerichtet war. 

3) Steht dies an ſich fchon dem Eintreten auf die Wür— 
digung der behaupteten Störung im Wege, jo kann diejelbe 
auch materiell nicht al$ vorhanden angefehen werden. Die von 
ven Parteien ſelbſt gewählten Sachverjtändigen haben ihr Vor: 
handenjein auf das Beſtimmteſte verneint, ohne die Einräumung 
eines Triebivegs über die Varzellen 2624/6 zu beantragen, und 
die Einwendung der Beklagten, die theil$ der Größe der Ge: 
wmeindeheerde, theils der Breite der Zufahrt zu den jurrogirten, 
nun durch die Ablöfung frei gewordenen Grundſtücken entnommen 
find, entbehren der genügenden Begründung Was nämlich die 
Größe der Gemeindejchhafheerde betrifft, jo gibt der Gemeinde: 
ſchäfer nach dem von dem Schultheißenamt Apfelbach ſelbſt auf: 
genommenen Brotofoll vom 2. Juni d. 3. felbit an, daß er 
diefe Grumdjtüde mit 180 Lammſchafen beweide, deren Zahl 
fih durch die binzufonmenden Lämmer auf gegen 300 Stüd 
bis zur Erntezeit belaufe. Die Neplif der Beklagten aber be- 
rechnet die Größe der Schafheerde im Ganzen auf 300— 325 Stüd, 
welche bis zur Ernte, auf welche Weife ijt nicht gejagt, auf 
450 bis 500 Stüd fteigen. Daraus ergibt fih, daß einmal 
die geſammte Heerde jich in zwei Haufen theilt, von welchen der 


17 * 





— 248 — 


eine im Frühjahr nur 120—145 Stück beträgt, ſomit klein iſt, 
der andere 180 Stück beträgt. Bei der Schilderung aber, welche 
die Beklagte ſelbſt von dem Zuſtand der Weide und ihrem Er-— 
trag, ſowie der Zahl der Stücke, die auf derſelben ernährt wer— 
den können, gibt, ſind zwingende Gründe, welche die Gemeinde 
nöthigen würden, gerade in dieſen Weidediſtrikt den größeren 
Haufen zu treiben, um ſo weniger zu erſehen, als nach der Be— 
hauptung der Beklagten der Ertrag dieſes Diſtrikts dadurch noch 
weiter geſchmälert wird, daß mehrere Beſitzer der pflichtigen Güter 
dieſelben zu Wald anlegen wollen. 

Der Weg aber hat nicht, wie die Beklagte behauptet, eine 
Breite von 3 Metern, ſondern nach dem Augenſcheinsprotokoll 
eine ſolche von 3—7 Metern, die gegen das Ende an der Dörteler 
Markungsgrenze gerade da, wo die Möglichkeit der beiderfeitigen 
Begegnung der Schafheerden vorliegt, auf eine Yänge von 60 
Metern 9 Meter beträgt. Der Weg ijt jomit hinlänglich breit, 
um zu ermöglichen, auch eine größere Heerde, ohne Schaden für 
die Anlieger, auf demjelben zu führen. 

4) Entbehren jo die erhobenen Einwendungen auch der ge= 
nügenden thatfächlichen Grundlage, jo it auch die. Einwendung 
der Beklagten grundlos, daß der Vertrag vom 6. Auguft 1840 
der Zuläßigfeit der Ablöfung im Wege jteht, da derjelbe, wie 
feiner Ausführung bedarf, die Anwendung des Weidegejeges um 
jo weniger hindert, als ja die Beklagte jelbjt das auf demfelben 
Vertrag beruhende Weiderecht, das die Gegenleiftung für das 
ihr zuftehende Weiderecht bildet, ohne Anjtand abgelöst hat, und 
die Zuläßigfeit einer Ablöfung nicht durch die Nachweifung der 
gegenjeitigen Uebereinjtimmung, fondern lediglich durch das Vor— 
handenſein der gejeglichen Erfordernifje bedingt iſt. Much be= 
darf es faum der Bemerkung, daß das Befahren eines dem Ver: 
fehr offenen Wegs, der als Zufahrt zu einem Weidegrundftüc 
benüßt wird, fein Uebertriebsrecht bildet. 

5) Gemäß dem Art. 31 des Weidegejeges ijt die Frage 
der Selbitbeweidung der Parzellen 2624/6 an die hiefür zu— 
jtändige Verwaltungsbehörde zu verweijen. Uebrigens hat nicht 
die Klägerin, jondern ausweislich der Alten die Beklagte dieje 
Frage erſtmals angeregt. 








— 249 — 


6) Die Zufcheidung der Koften an die Beklagte, ſoweit Die: 
jelben nicht durch den Vertrag vom 19. Mai 1879 von der 
Klägerin übernommen worden find, ijt Folge ihres Unterliegens 
in der Hauptfache und es konnte hieran auch der nur auf freis 
willige Verftändigung beider Theile nicht auf zur richterlichen 
Entfcheidung von Streitigkeiten unter den Barteien kommende 
Fälle ſich beziehende Art. 76 des Weidegeſetzes nichts ändern. 


IX. Fälle des Art. X Ziff. 24 des Geſetzes über die Ber: 
waltuugsrechtspflege. 


Strafrekursſache des Fabrikanten A. St. in K., DA. ©. 
Benützung öffentlider Gewäſſer. 
Urtheil vom 25. Oktober 1880. 


Der Zuſammenhang der vorliegenden Strafrekursſache mit 
den unter Ziff. 24 des Art. 10 fallenden Materien wird deren 
ausnahmsweiſe Darſtellung hier rechtfertigen. 

Durch Beſcheid der Regierung des Donaukreiſes vom 11. Okto— 
ber 1878 ward der Firma A. St. u. Cie. in K. unter mehr— 
fachen Beſchränkungen und Bedingungen die Erlaubniß ertheilt, 
unter Benützung des ſchon beſtehenden oberhalb des Orts G. ge— 
legenen Mühlwehrs an der Fils, das früher dem Müller P. ge: 
hörte, 1873 aber nebjt Mühlfanal und Getreidemühle an St. 
verfauft wurde, an diefem Mühlwehr eine Turbine und Sanal- 
anlage berzuftellen und die aus dem Turbinenbetrieb vefultirende 
- Kraft mittelft einer Transmiflionsverbindung auf die Werfe der 
Baummollipinnerei und Weberei bei K. überzutragen. 

Unter den Konzejjionsbedingungen war insbefondere auch 
die, daß, da — wofür die vorliegenden Akten und Urkunden, der 
unvordenkliche Beſitzſtand und fonjtige Erhebungen ſprachen, — 
den weiter unten am Mühlfanal liegenden Wafjerwerfen , ſowie 
den Wieſenbeſitzern, welche Wäſſerung aus dem Mühlkanal in 
Anſpruch nehmen, ein hergebrachtes Nutzungsrecht an dem von 
der oberen Mühle ablaufenden Waſſer zum Zweck ihres Werk— 
betriebs und der Wieſenwäſſerung zuſtehe, ferner aus denſelben 
Gründen der Gemeinde G. zu Befriedigung des Waſſerbedürf— 


— 250 — 


nijje8 des Orts ein Necht auf Benützung diefes Waſſers zus 
fonıme, und da die obere Mahlmühle von jeher mit vier Gängen 
betrieben wurde, wie jie auch noch gegenwärtig fortbeſtehe — die 
Waſſernutzungsrechte aller diefer Betheiligten in der Weife zu 
wahren jeien, daß die dem Unternehmer ertheilte Konzejjion 
nur unbejchadet und vorbehältlich der beftehenden andermweitigen 
Nugungsrechte geübt werden dürfe und demgemäß, fo lange das 
Wehr und die Kanaleinrichtung in der bisherigen Weife beitehe, 
auch der Wafjeritand des Fluſſes es überhaupt möglich made, 
jeder Zeit jo viel Waffer der Fils in den Mühl: 
fanal einzulajfen fei, als der ungehinderte und 
volle Betrieb der bejtehenden vier Mahlgänge bei 
den zur Zeit bejtehenden Gefällverhältniffen und .dem gegen= 
wärtigen Zujtand der Mahlmühle bezüglich des Waſſerbaus und 
der Betriebseinrichtung erfordern, wornach jomit die ertheilte 
Konzeljion bloß auf diejenige in dem Mühlfanal angefammelte 
Waflerfraft ver Fils zu beziehen ſei, welche nach Abgabe der 
bezeichneten Waſſermenge in dem Mühlfanal übrig bleibe. 

Die Feitftellung des zum vollen Betrieb der vormals Pier 
Setreivemühle erforderlihen in den Mühlfanal einzulaſſenden 
Waſſerquantums würde befonderem Verfahren vorbehalten. 

Durch mehrere der Konzefiionsbedingungen, ganz beſonders 
aber durch die vorftehende fanden fih St. u. Cie, welche ein 
Recht der Wieſen- und Wafjerwerkbefiger auf den in Frage 
ftehenden Wafjerzufluß überhaupt bejtritten, bejchwert und re— 
furrirten an da3 Minifterium des Innern. Auch das Miniſterium 
ging jedoch davon aus, daß die Wafjerwerfe am Mühltanal als 
konzeſſionirt anzuſehen jeien und in ihrem hergebrachten Beſitz— 
ftand gejhügt werden müſſen, es daher nicht zuläßig wäre, neue 
MWaffernugungen zu verleihen, durch welche die bisherige Nutzung 
der Werkbeſitzer beeinträchtigt würde, und, da die in der Sache 
vernommene Minifterialabtheilung für Straßen: und Waſſerbau 
in ihrem auf Augenfchein und Wafjerprobe beruhenden Gutachten 
fich dahin ausgefprochen hatte, daß jeder erheblich und dauernd 
unter der zum vollen Betrieb der vormals Pihen Mühle bei 
ihrer bisherigen Einrichtung erforderlichen Wafjermenge bleibende 
Zufluß als eine den Betrieb der unteren Wafjerwerfe ſchädigende 








— 2351 — 


Verminderung des früher Statt gehabten Zufluffes ſich darftellen 
würde, daß aber die Mahlmühle bei ihrer jegigen Einrichtung und 
dem bejtehenden Wafjerbau einen Wafjerzufluß von annähernd 0,62 
Kubikmeter pro Sekunde zu ihrem vollen Betrieb bebürfe, wäh- 
rend St. u. Cie. diefen Wafjerzufluß auf 16 Kubikfuß pro Sekunde 
für die Tageszeit bejchränft wijjen wollen, jo wurde durch. den 
Refursbejcheid des Minifteriums des Innern vom 24. März d. J. 
die erhobene Bejchwerde auch in dem berührten Punkt als unbe: 
gründet verworfen und auf Grund der Erhebungen der Minifterial- 
abtheilung für Straßen: und Wafjerbau verfügt: es fei die Ein- 
(aßfalle des fraglihen Mühlfanals jtets mindejtens fo weit offen 
zu halten, daß ein Wafjerquantum von mindeitens 0,62 Kubif- 
meter pro Sekunde in denjelben einſtröme. 

Mit ihren weiter gehenden Anjprüchen wurden die Waſſer— 
werk- und Wiefenbefiger auf den Rechtsweg verwieſen, während 
der Gemeinde ©., welche wegen des von ihr angeblich ebenmäßig 
hbergebrachten Rechts auf Benügung des von der oberen Mühle 
ablaufenden Wafjerd gegen die von Gt. u. Cie. nachgefuchte 
Konzeſſion ebenfalls Einſprache erhoben, aber an der Verhand— 
lung in der Minifterialinjtanz fich nicht betheiligt hat, feine Er- 
wähnung gejchah. 

Zur Sicherung der gegebenen Beitimmung in Abjicht auf 
die Wafjereinleitung in den Kanal wurden mit befonderer Rück— 
iiht darauf, daß die Wafjermenge des Mühlfanals auf der 
Strede vom Kanalbeginn bis zur Stihen Mühle eine nicht 
merheblihe Verminderung durch Wiefenwäfjerung erleide, und 
daß e3 daher nicht genüge, wenn nur diejenige Waſſermenge in 
den Kanal eingeleitet werde, welde an der Mühle vor: 
handen fein müſſe, um einen vollen Betrieb derjelben zu ermög— 
lihen, die nöthigen Vorſchriften nach dem Antrag der Minifterial- 
abtheilung ertheilt, und erhielt die Kreisregierung die Weifung, 
für jofortige Herftellung der hienach nöthigen Kontrolevorrichtun: 
gen auf Koften des Unternehmers im Einvernehmen mit dem 
Straßenbauinfpeftor Bauratd Männer Sorge zu tragen, und 
ergieng von der Kreißregierung die nöthige Weilung an das 
Dberamt G. Als aber im Auguft d. I. die Kontrolemaßregeln 
ausgeführt werden jollten, da das Werk fchon längſt im Betrieb 


— 252 — 


ſtand, ließ St. u. Cie. dem Oberamt G. am 7. Auguſt an— 
zeigen, daß ſie nicht nur auf die ihnen durch Miniſterialbeſcheid 
vom 24. März d. J. verliehene Konzeſſion zur Herſtellung der 
Turbine und Kanalanlage an dem oberhalb G. gelegenen Mühl— 
wehr, ſondern auch auf die auf der vormals Peſchen Mühle 
ruhende Konzeſſion wegen des Wortlauts des Minijterialdefrets 
für beide Werfe verzichten, und die im Fluß bereits angebraditen 
Anlagen nach Maßgabe der ihnen zu Gebot jtehenden Mittel, 
insbefondere das Wehr bald möglichjt entfernen werden; der 
Betrieb beider Werke fei eingejtellt, und die Wehrfalle ſei ge— 
zogen. Mit diefer Anzeige war die Erklärung verbunden: Wenn 
die Wafjerwerkbefiger von G., welche gegen die neue Anlage 
opponirt haben, ihre Einſprache unbedingt zurüdnehmen, To 
machen St. u. Cie. fih verbindlih, um neue Konzeſſion für 
beide Werfe einzufommen, und jo lange fie zu Ausnügung des 
in dem Wehr gejanmelten Wafjers die Turbinenanlage oder ein 
diefelbe erjegendes Werk befisen, den Werfen der Opponenten 
bei Hoch: und Mittelwafjeritand Tag und Nacht 16 Kubikfuß 
pro Sefunde, bei Niederwasleritand von Abends 7 bis Morgens 
5 Uhr das ganze Filswaſſer zuflichen zu lafjen, und die Beſtim— 
mung und Firirung dem freien Ermefjen des Oberamts unter Ver— 
zicht auf jealiche Befchwerde gegen diefe Beftimmung und Firirung 
zu überlafjen. Das Oberami legte diefe Eingabe jofort Der 
Kreisregierung bebuf3 Zurüdnahme der ertheilten Aufträge mit 
dem Anfügen vor, wenn jet die Müller bei dem Oberamt Hilfe 
juchen, werden fie auf den Nechtsweg verwiejen. Che jie dies 
thun, werden fie fich vergleichen, wozu Fabrifant St. von dem 
Dberamt aufs Beſte vorbereitet fei. Die Kreisregierung ließ 
hierauf unterm 13. Auguſt dem St. eröffnen, daß von der in 
Ausſicht geitellten Entfernung in fo lange feine Rede fein könne, 
al3 nicht fänmtlihe an dem Beltand des MWehrs interefjirte 
Wieſen- und Werfsbefiger ihre Zuftimmung erklärt haben. Zur 
Deibringung der Zuftimmungserklärung babe St. acht Wochen 
Friſt, nach deren fruchtlofem Ablauf die durch den Miniiterial: 
bejcheid angeordneten Kontroleanlagen ohne Rückſicht auf weiteres 
Vorbringen werden ausgeführt werden. Hiegegen erhob St. u. Cie. 
in einer der Kreisregierung unterm 17.120. Augujt übergebenen 








— 253 — 


Eingabe Beſchwerde bei dem Miniſterium des Innern. Die von 
dem Miniſterium des Innern angeordneten Kontrolemaßregeln 
ſetzen voraus, daß in den G..er Mühlkanal Waſſer eingeleitet 
werde, und dieſe Vorausſetzung beruhe auf der dem Konzeſſions— 
beicheid beigefügten Bedingung, daß jeitens der Unternehmer 
die zu dem vollen Betrieb ihrer Mahlmühle erforderliche Wafjer: 
menge in den Mühlfanal eingeführt werde. Auf eine Konzeflion 
fann aber verzichtet werden und nachdem St. u. Cie. dies ge— 
than, ift die Konzeffion und mit derjelben auch die Bedingung 
erloſchen, da diefe ja nun überhaupt nicht Statt findet. Anders 
wäre es nur, wenn die Einleitung des Wafjers in den G. . er 
Mühlkanal nicht als Bedingung der Konzeffion, fondern als 
unabhängig von der Konzefjion beitehende Verpflichtung von St. 
u. Cie. erfchiene, aber gerade der Minijterialbefcheid konſtatirt, 
daß Denjelben in folchem eine Verpflichtung zum Betrieb der 
Mühle nicht auferlegt, vielmehr lediglich eine Bedingung gejtellt 
wurde, wie denn auch nach dem Minijterialbefcheid dem von der 
Kreisregierung verfügten und von dem Minifterium des Innern 
beharrten Eintrag der Auflage der Wafjereinleitung in den Kanal 
in das Güterbuch eine jolhe Faſſung zu geben gewejen wäre, 
welhe hätte erfennen laſſen, daß ein Recht der untern Werk: 
befiter auf Wafferzuleitung durch die Unternehmer nicht habe 
begründet, fondern nur eine polizeiliche Konzeſſionsvorſchrift habe 
ertheilt werden wollen. 

Die Verfügung ſodann, wonach St. u. Cie, wenn ſie das 
Mehr entfernen wollen, an die Zuftimmung aller betheiligten 
Waſſerwerk- und Wiefenbefiger gebunden fein follen, jtelle jich 
augenfällig nicht als eine aus Gründen des öffentlichen Wohls, 
ſondern lediglich als eine zum VBortheil jener Privatperfonen ge— 
troffene Maßregel der prophylaftiichen Polizei dar, als eine 
zwijchen den um ihre Intereſſen ftreitenden Parteien erlafjene jo: 
genannte einftweilige Verfügung, eine ſolche könne aber nur auf 
Antrag der Partei und nur durch den Nichter erfolgen; als 
Derwaltungsgericht jei die Kreisregierung nicht angerufen, ſomit 
könne auch eine Verfügung nicht zu Necht bejtehen, welche über: 
haupt nur als verwaltungsrichterliche denkbar und jtatthaft fein 
würde. Weberdies enthalte das Verbot der Entfernung des 


— 24 — 


Wehrs einen Eingriff in das Verfügungsrecht des Eigenthümers, 
denn Eigenthümer des Wehrs ſei laut rechtskräftigen Urtheils des 
oberſten Landesgerichts vom 18. Januar 1864 St., er habe das— 
ſelbe errichtet, gebaut an Stelle und zum Erſatz des vordem be— 
ſtandenen von dem Müller P. mit der Mühle erkauften Wehrs. — 
Sei damit die formelle Unzuläßigkeit der ergangenen Verfügung 
nachgewieſen, ſo erſcheine ſie auch materiell nicht gerechtfertigt. 
St. habe die ihm verliehene Konzeſſion abgelehnt, weil ſolche 
ſeinem Zweck eines regelmäßigen Werkbetriebs nicht entſpreche, 
und ihn faktiſch zwingen würde, in erſter Linie ſtets für fremde 
Zwecke und bei ganz niedrigem Waſſerſtand ausſchließlich für 
dieſe zu arbeiten. Sei die Vorausſetzung weggefallen, auf deren 
Grund er die großartige Anlage gebaut, ſo ſei es ſelbſtverſtänd— 
lich, daß er diejenige Lage der Dinge wieder herzuſtellen ent— 
ſchloſſen ſei, welche vor dem Bau der Anlage beſtand. Jene 
Lage ſei aber die geweſen, daß kein Waſſer in den Mühlkanal 
gefloſſen, denn St. habe die Pie Mühle trocken liegend er— 
worben, P. habe 7 Wochen lang das Waſſer in den Fluß ab— 
gehen laſſen, und die unterhalb liegenden Werkbeſitzer haben 
dieſen Zuſtand, weil ſie keine Koſten aufwenden wollten, beſtehen 
laſſen, wohl einſehend, daß ihnen ein Recht auf Waſſerzuführung 
nicht zuſtehe. Hätte St. das Wehr nicht gebaut, ſo würden die— 
jelben während der ganzen Reihe der legten Jahre Betriebs— 
wajjer nicht äehabt haben. Wie wenig nun St. verpflichtet ge: 
wejen, das Wehr zu erbauen, ebenfo wenig fönne er, nachdem 
ihm die Konzeffion, wie er fie erbeten, verfagt worden, gehindert | 
werden, den Wafjerbau hinmwegzunehmen, welcher jelbjt einen 
Theil der bloß bedingungsweije ertheilten Konzeſſion bilde, nad): 
dem er auf dieje Konzeſſion ihrer unannehmbaren Bedingungen 
wegen verzichtet habe. So lange nicht die Werfbefiger den 
Anſpruch erhoben, begründet und nachgewiefen haben, daß ihnen 
durh St. und deſſen Wehr unentgeltlich das Betriebswafjer zu: 
geführt werden müſſe, könne davon nicht die Rede fein, daß 
St. durch die Hinwegnahme des MWehrs fremde Nechte verlege. 
St. mache damit lediglich von feinen Nechte Gebraud) und es 
ſei rechtlich ohne Erheblichkeit, wenn Andere durch die Ausübung 
jeines Rechts thatſächlich Nachtheil haben. Am Schluß wird um 











— 25 — 


Aufgebung der Regierungsverfügung gebeten. Am 23. Auguft 
reichten die MWafjerwerkbefiger eine Bejchwerde gegen St. wegen 
eigenmächtiger Einjtellung des Wafjereinlaufs in den Mühlfanal 
bei der Kreisregierung ein. Auf diefelbe wurde von der Streis- 
regierung auf Grund des Rekursbeſcheids des Minijteriums des 
Innern vom 24. März mit Nücjicht auf die Dringlichkeit und 
Bedeutung der Sache und vorbehältli aller Nechtszuftändig- 
feiten in provijorischer Weile unter Androhung einer Strafe von 
100 Mark für. jeden Fall des Zumiderhandelns verfügt, daß 
die Einlaffalle des G..er Mühlfanals fofort zu öffnen und 
bis auf Weiteres jo offen zu halten jei, daß das vorgejchriebene 
Wafferguantum von 0,62 Kubifmeter per Sefunde in den Kanal 
einlaufe. Als in einer Eingabe vom 24./26. Auguft auch die 
Gemeinde G. den Antrag auf eine provijorische Verfügung gegen 
St. u. Cie. ftellte, weil, nahdem St. die Wehrfalle gezogen 
ſämmtliches Waſſer, das feither dem Ort ©. zugefloßen, nun 
in die Fils ablaufe, diefes Waſſer aber zu den nöthigjten Be— 
dürfniffen gedient habe, und wenn ein Brand entjtände, in Er: 
manglung von Löſchwaſſer das größte Unglück entjtehen müßte, 
jo wurde fie unterm 28. Auguft von obiger Verfügung mit dem 
Anfügen in Kenntniß gejeßt, daß durch ſolche der Antrag der 
Gemeinde erledigt fein werde. Unterm 30. Auguft bejchwerte 
jih St. gegen die Verfügung der Kreisregierung vom 24, Auguft 
bei dem Minifterium des Innern: Die Verfügung jei nit im 
verwaltungsrichterlihen, jondern obwohl auf Befchwerde der 
Werkbeſitzer al3 polizeiliche Berfügung erlafjen worden, Gründe 
des öffentlichen Wohls beitehen nicht, und jeien nicht geltend 
gemacht, fie ſei ergangen auf Verlangen und im Intereſſe der 
Werfbefiger, von PBrivatperfonen im Intereſſe derjelben. Daraus 
ergebe ſich die Untatthaftigfeit der Verfügung, die bloß als ver: 
waltungsrichterliche denkbar wäre. Ueberdies fei fie ohne Gehör 
jeiner Partei und ohne andere Begründung als die Berufung 
auf den Nefursbejcheid des Minifteriums vom 24. März erlaſſen 
worden, auf den fie nicht mehr gegründet werden fünne, nach— 
dem St. u. Cie. die Konzeffion nicht angenommen. Beſonders 
beſchwerend jei der Ausjchluß der Möglichkeit der Widerrede umd 
der aufichiebenden Wirkung. Gründe jeien auch hiefür nicht an— 


— 256 — 





geführt und Durch die Berufung auf Die Dringlichkeit und die 
Bedeutung der Sache nicht erjegt, wenn es ſich um einen Ein: 
griff in die Freiheit des Eigenthums und die Verpflichtung zu 
Bornahme perfönlicher Handlungen zu Gunjten Dritter handle. 

Bei Vorlage der Beichwerde bemerkte die Kreisregierung: 
Die Verſchließung der Einlaßfalle zum Mühlfanal bringe ©t. 
u. Cie. feinen Vortheil. Sie fei eine Chifane, bedrohe die unter: 
halb gelegenen Triebwerfe mit dem Stillſtand ihres Gewerbe: 
betrieb und ebenfo die Gemeinde G. weldhe in ‚einem Brandfall 
das nöthige Waffer aus dem Kanal beziehe. In dieſer Er: 
wägung fei es als Aufgabe der Polizeibehörde, zunächſt der Waſſer— 
polizeibehörde erfchienen, die Wafjerrechtsverhältniffe einjtweilen 
zu regeln, big zu gerichtliher Entfcheidung der Frage, ob St. u. Cie. 
das Necht zur Entfernung des Mühlwehrs und Einjtellung des 
Mafjerabfluffes in den Mühlkanal haben. Die getroffene Ver: 
fügung gründe fich auf die unbeitrittene Thatfache, daß St. u. Cie. 
Schon bisher verpflichtet waren, das zum Betrieb ihrer Mühle er: 
forderlihe Waffer in den Mühlfanal einfließen zu laſſen. Durd 
die Gewährung der eventuell gejtellten Bitte aber, der Beſchwerde 
eine auffchiebende Wirkung beizulegen, würde die Verfügung ge 
vadezu illuforifch werden, wie der alsbaldige Vollzug ſchon aus 
dem Zwed einer proviforifchen Verfügung fich ergebe. — Am 
1. September machte der Anwalt der Gemeinde ©. die Anzeige, 
daß St. in offenbarer Verhöhnung des Negierungserlafjes vom 
24. Auguft wohl die Einlaßfalle geöffnet, die Mehrfalle aber 
nicht geichlojjen habe. Die Kreisregierung ordnete hierauf die 
Bernehmung des St. an, und unterm 6. September berichtete 
das Dberamt, daß St. u. Gie. nach Sicherer Anzeige in der 
Nacht zuvor einen Theil ihres auf der Markung G. befindlichen 
Wehrs haben demoliven laſſen. Damit beginne der Streit 
einen für beide Theile unheilbaren Ausgang zu nehmen. Noch 
ließe ih nach Anjicht des Oberamts Alles zum Bejten wenden, 
wenn die proviforische Verfügung zurückgenommen, die Opponenten 
auf den Nechtsweg verwiefen, und in Petitorio ein proviforifcher 
Zuſtand vereinbart würde. Allein die Kreisregierung lehnte dies 
ab, und bemerfte dem Oberamt, daß die Entjcheidung der höheren 
Behörde auf die Bejchwerde des St. abzumarten fei. Zugleich 





= 30 = 


verurtheilte die Kreisregierung unterm 6. September den St. 
in Gemäßheit der Art. 3. 5 Abſ. 1 und 5 des Gefeges vom 
12. Auguft 1879 wegen Ungehorfams in eine Geldftrafe von 
100 Mark und ordnete zugleich eine Unterfuchung wegen neuen 
Ungehorfams des St. an, wobei ihm die Auflage gemacht werden 
jollte, daß er bei Bermeidung empfindlicher Ungehorfamsitrafe 
das Wehr fofort wieder in ſolchen Zujtand zu bringen habe, 
daß mitteljt desjelben das zum Betrieb der am Mühlkanal ge: 
legenen Wajjerwerfe und für die Gemeinde ©. feitgejtellte Waſſer— 
quantum in den Kanal einlaufen könne. Ebenſo jollte das Ober: 
amt die erforderlichen Mapregeln zu Verhütung weiterer Des 
molirung etwa durch Aufitellung einer Wache ergreifen. Gegen 
das Straferfenntnig führte St. „die jofortige Bejchwerde” aus, 
während das Oberamt der Kreisregierung anzeigte, daß St. dem 
Mühlfanal die angeordnete Menge Wafjer zuführe, auch daß das 
Wehr ausgebeſſert jei. Unterm 13. September verfügte das 
Minijterium des Innern: Nachdem St. u. Cie. auf die durch den 
Minifterialerlaß vom 24. März 1880 ertheilte, jowie auf die 
denjelben bezüglich der vormals Pihen Mühle ertheilte Konzeſſion 
Verzicht geleitet haben, find hiedurch ihre Nechte auf Nutzung 
des durch das G..er Mühlwehr gewonnenen Gefälls erlojchen. 
Dies hat die weitere Folge, daß auch die auf Ausübung diefer 
Nechte bezüglihen Vorfchriften der Staatsbehörde, und damit 
die Konzeſſionsvorſchriften des Minifterialerlafjes vom 24. März 
hinfällig geworden jind. Es erjcheint daher die Verfügung der 
Kreisregierung vom 13. Auguft, durch welche die Ausführung 
der in den gedachten Minijterialerlafje verlangten auf die er— 
theilten Konzeſſionsvorſchriften bezüglihen Kontroleeinrichtungen 
angeordnet worden iſt, in diefer Hinficht nicht als genügend ge- 
vehtfertigt, und ebenjowenig fann die der Firma A. St. u. Cie. 
durch Negierungserlag vom 24. Auguft in proviforifher Weife 
vorbehältlich des Nechtswegs gemachte Auflage, ein Wafjerquantunt 
von 0,62 Kubitmeter per Sekunde in den Mühlfanal von ©. 
einzulaffen, Durch den Minijterialerlag vom 24. März begründet 
werden. Bielmehr läßt ſich nach dem Erlöfchen der fraglichen 
Konzeffionen eine polizeiliche Verfügung ſowohl bezüglich des 
jerneren Beftands des Wehrs, als hinfichtlih der fortdauernden 





— 258 — 


Einleitung von Wajjer in den Mühlfanal nur injofern und in: 
foweit rechtfertigen, als die Wahrung öffentlicher Interefjen in 
Frage fommt, und wafjerpolizeilide Gründe eine ſolche Wahr: 
nehmung gejlatten. 

Bei einer Prüfung der Verfügung der Kreisregierung in 
diefer Richtung find folgende Erwägungen maßgebend: Bor Allem 
muß hervorgehoben werden, daß eine Einleitung von Filswajler 
in den Mühlfanal ledigli zu Gunften Einzelner, insbejondere 
der Befiger der an dem Kanal gelegenen Werke, wie jie die Ver: 
fügung der Kreisregierung, welche nur bis zu gerichtlicher Ent: 
Scheidung in Kraft bleiben joll, offenbar im Auge hat, den Be: 
fchwerdeführern dur eine Verfügung der Polizeibehörde nicht 
auferlegt werden fan. Denn da der Anſpruch auf Waſſer— 
zuleitung durch das Mühlwehr ſowohl gegenüber den betheiligten 
Werkinhabern als gegenüber den Wiefenbefigern von A. St. u. Cie. 
beftritten ijt, irgend ein Intereſſe der öffentlichen Gewalt aber 
an der nunmehr durch eine Konzeſſionsvorſchrift nicht mehr ge: 
forderten Einleitung des Filswaſſers in den Kanal ſoweit nur 
die Werk- und Wiefenbejiger in Frage fommen, nicht beiteht, To 
würde eine hierauf gehende Auflage eine Negulirung des Rechts: 
verhältnifjes zwiichen A. St. u. Cie. und den ebengenannten Be: 
theiligten bezüglich der Nutzung des Filswafjers involviren, welche 
gemäß Art. 10 Ziff. 24 des Gefetes über die Verwaltungs: 
rechtspflege auch als proviforifche, wenn nicht ein Intereſſe der 
Staatögewalt mit unterläuft, nur durch eine Verfügung des Ber: 
waltungsrichters, beziehungsmeife, wenn ein privatrechtlicher An: 
fpruch vorliegt, des Givilvichters getroffen werden Fanı. Aus 
demfelben Grund darf aber auch die Bolizeibehörde nicht die Be: 
feitigung des Wehrs aus dem Flußbette und die in Konfequenz 
der jtattgehabten Verzichterklärung durch A. St. u. Cie. zu be: 
wirkende MWiederheritellung des natürlichen Laufs der Fils von 
der Zuſtimmung der betheiligten Wafjerwerts- und Wieſenbeſitzer 
abhängig machen, fondern muß es denfelben überlaffen, Anfprüche 
auf das Wehr durd Erwirkung den Abbruch hindernder gericht: 
licher Verfügungen geltend zu machen. 

Es fann vielmehr den Befchwerdeführern überhaupt die Be: 
feitigung des von ihnen hergeftellten, bisher unzweifelhaft ihrem 


— 259 — 


Verfügungsrecht unterworfenen Wehr! und die Wiederheritellung 
des natürlichen Flußbett3, wie fie jolche nad) ihrer Erklärung 
vorzunehmen beabfichtigen, von der Polizeibehörde nicht verwehrt 
werden, da irgend eine polizeilihe Vorſchrift, vermöge welcher 
denjelben das Fortdauernlafjen diefer Vorrichtung im Flußbett 
angejonnen werden könnte, nicht beſteht. Andererſeits it aber 
allerdings im Hinblid auf die erheblichen Intereſſen der Fluß— 
polizei, die bei einer Befeitigung des Wehrs in Frage kommen, 
die Entfernung desjelben nicht nach dem bloßen Belieben der 
Wehrbejiger zuzulaiien, fondern fie muß vielmehr nach den An— 
weilungen erfolgen, welche die Wafjerpolizeibehörde zur Ber: 
hütung von Befhädigungen der Ufer und der Adjacenten 2c. zu 
geben hat. Es fegt daher der Beginn der Befeitigung des Wehrs 
eine vorherige Gognition des Wafjerpolizeibehörde voraus, nad) 
deren Anordnungen jodann bei dem Abbruch zu verfahren ift. 
Inſolange als hiernach eine Befeitigung des Wehrs nicht Statt 
findet, muß ſich aber der Wehrbefiger in Konfequenz der von 
ihm zu vertretenden Thatſache, daß fich ein nicht konzeſſionirtes 
Wehr im Flupbett befindet, alle Auflagen bezitglic) der Benützung 
des Wehrs gefallen laſſen, für welche, jo lange das Wehr De: 
jteht, öffentliche Intereſſen ſich geltend machen laſſen. Hieraus 
folgt, daß bis zu Ertheilung der Erlaubniß zu Bejeitigung des 
Wehrs, beziehungsmweife bis zu legterer ſelbſt mittelit des Wehrs, 
welches nach der neueften bei dem Minifterium unmittelbar ein: 
gereichten Eingabe wieder in einen die Einleitung des Waſſers 
geitattenden Zujtand verfeßt ift, diejenige Wafjermenge in den 
Mühlkanal durh A. St. u. Cie. einzuleiten it, deren Einleitung 
etwa aus feuerpolizeilichen Gründen, oder aus im Hinblid auf 
die Austrodnung des Flußbetts nicht ausgeſchloſſenen gefundheits- 
polizeilichen, oder aber endlih aus flußpolizeilichen Gründen ver: 
langt werden fann, beziehungsweife, welche für die Haushaltungs- 
bedürfniffe der Gemeinde ©., für die die Befchwerdeführer Sorge 
zu tragen verſprochen haben, nicht aber auch für das Bedürfniß 
der Werk: und Wiefenbefiger erforderlich iſt. Die Feitfegung 
diefer allerdings wahrjcheinlich unter dem Maß von 0,62 Kubik— 
meter per Sekunde bleibenden Waſſermenge muß, da hierbei hier: 
orts nicht befannte örtliche Verhältniſſe maßgebend ſind, der 


==.2960 5 


Kreisregierung überlaſſen bleiben; in jo lange, als fie nicht durch 
lettere erfolgt it, fan den Befchwerdeführern eine Aenderung 
des bisherigen Zuftands, wonach ein Quantum von 0,62 Kubik— 
meter per Sekunde in den Mühlfanal einfloß, nicht geftattet 
werden. Dem Vorjtehenden gemäß will man die Verfügungen 
der Streißregierung vom 13. und 24. Auguft hiemit aufgehoben, 
übrigen angeordnet haben, daß feitens der Kreisregierung die 
bezüglich der Entfernung des Wehrs zu gebenden. polizeilichen 
Vorſchriften noch zu ertheilen find, bis dahin aber mit dem Ab— 
bruch des Wehrs nicht begonnen werden darf, jowie daß von 
der Kreisregierung ohne Verzug die nach dem Ausgeführten bis 
zu Beginn der Entfernung des Wehrs von St. u. Cie, in den 
Mühlkanal einzuleitenden Waſſermengen feitgeitellt, bis zu diefer 
Feitftellung aber von St. u. Cie, die bisher eingeleitete Waſſer— 
menge von 0,62 Kubikmeter pro Sekunde auch fernerhin in den 
Mühlkanal eingeleitet werde. — Der Verwaltungsgerichtshof hob 
die Strafverfügung der Kreisregierung auf. 

Gründe. Die erhobene Bejchwerde iſt wejentlih auf die 
Behauptung geftüst, daß die provijorifche Verfügung der Kreis- 
regierung vom 24. Auguft, auf deren Grund A. St. wegen Un— 
gehorſams gejtraft worden, nicht innerhalb der Zujtändigfeit der— 
jelben ergangen, nach Art. 2 des Gejeges vom 12. Auguft 1879 
aber nur der Ungehorfam gegen die von einer Behörde inner- 
halb ihrer Zuftändigfeit getroffene Anordnung jtrafbar fei. Diefe 
Behauptung muß als richtig erfannt werden. Unjtreitig fann im 
Konzeflionsverfahren über ein Waſſerbauweſen eine proviſoriſche 
Verfügung von der Polizeibehörde nur infomweit und infofern ge— 
troffen werden, als eine Wahrnehmung öffentlicher Intereſſen im 
Frage fommt, und wafjerpolizeiliche Gründe eine ſolche Wahr- 
nehmung gejtatten und erheifhen. Auch in dem Geſetz über die 
Rechtsmittel in VBerwaltungsjuftizlahen vom 13. November 1855 
findet fich) da, wo davon die Nede ift, daß der Nefurs den Voll- 
zug der angefochtenen Entjcheidung big zum Erfenntniß der Nefurs- 
behörde hemme, Art. 5 ausdrüdlich nur, das Recht der Behörde 
(das heit wohl der Verwaltungsbehörde) vorbehalten, die durch 
das öffentliche Intereſſe gebotenen vorjorglichen Anordnungen zu 
treffen. Einftweilige Verfügungen im Intereſſe von Parteien 











— 21 — 


zu erlafjen, wer zu beforgen wäre, daß durch eine Veränderung 
des bejtehenden Zuſtands die Verwirklichung des Nechts einer Par: 
tei vereitelt oder weſentlich erſchwert werden fünnte (Art. 844 ff. 
der württembergifchen Givilprozeßordnung, Art. 814 ff. der Reichs— 
civilprozeßordnung) it ausfchließlih Sache der Gerichte, der Ber: 
waltungsgerichte nach Art. 72 des Gejeges über die Verwaltungs: 
vechtspflege ebenjo, wie der ordentlichen Gerichte. 

Nun war fchon die erjte proviforifche Verfügung der Kreis— 
vegierung, welche jie auf Anzeige des Oberamts G., dab Et. 
u. Cie. ihr Mühlwehr zu entfernen beabfichtigen, am 13. Auguft 
dahin erließ: „daß von der Entfernung des Wehrs injolange 
feine Nede jein könne, als nicht jämmtliche an deſſen Beftand - 
interejfirten Werk- und Wieſenbeſitzer ihre Zuſtimmung ertheilt 
haben, und daß, falls diefe Zuftimmung nicht binnen der Frijt von 
acht Wochen beigebradht werden jollte, die durch den Rekurs— 
beiheid des Minifteriums des Innern vom 24. März angeord- 
neten Kontrolemaßregeln ohne Nücjicht auf weiteres Vorbringen 
werden ausgeführt werden,” lediglich im Intereſſe der Werk: und 
Wiefenbefiger ergangen, wie ſich unzweideutig Schon daraus er— 
gibt, daß die Zuläffigkeit dev Wehrentfernung einzig von der Zu: 
itimmung der Legteren abhängig gemacht wurde. 

Nicht anders verhält es ſich mit der nachgefolgten Ver: 
fügung vom 24. Auguft, duch welche mit Rückſicht auf Die 
Dringlichkeit und Bedeutung der Sache in proviſoriſcher Weiſe 
unter Androhung einer Strafe von 100 Mark für jeden Fall. 
des Zumiderhandelns und unter Ausfchluß jeder auffhiebenden 
Wirkung einer etwaigen Einrede angeordnet wurde, „daß die 
Einlaßfalle des G.. er Mühlfanals ſofort zu öffnen, und bis 
auf Weiteres fo offen zu halten fei, daß ein Waſſerquantum 
von 0,62 Kubikmeter pro Sekunde in den Kanal einlaufe.” 
Diejelbe erging, wie dies auch in dem gedachten Erlaß feinen 
Ausdrud gefunden hat, Lediglih in Folge der von den Merf- 
bejigern unterm 22./23. Auguft gegen St. u. Cie. wegen eigen: 
mächtigen Einjtellens des Wafjereinlaufs in den Kanal erhobenen 
Beſchwerde und auf Grund des vorgedachten Rekursbeſcheids 
vom 24. März, welcher eine Einleitung von Filswafler in den 
Mühlkanal auch nur zu Gunften Einzelner, nämlich der Wafjer: 


Miürttemb, Archiv für Recht ꝛc. XXII. Br. 2. & 3. Soft. 18 


— 262 — 





werkbeſitzer, angeordnet, überdies bloß zur Bedingung der Kon— 
zeſſion gemacht hatte, welche durch den ſpäteren Verzicht von St. 
u. Cie. auf ſolche hinfällig wurde. Nicht entfernt war in der 
Verfügung angedeutet, daß ſolche zugleich in Wahrnehmung öffent: 
licher Sntereffen namentlih mit Nüdfiht auf das Waſſerbedürf— 
niß der Gemeinde G. getroffen wurde; eine Klage über Waſſer- 
entziehung der Gemeinde ©. lag am 24. Auguſt auch noch gar 
nit vor. Erſt am 26. Auguſt hat die Gemeinde die Kreis: 
regierung um eine proviforifche Verfügung angegangen, die Ne 
gierung beſchränkte jich aber darauf, derfelben von der Ber: 
fügung vom 24. Auguft Kenntniß zu geben, durch welche ihr 
Antrag erledigt jein dürfte, und nur weil aus einer Eingabe 
ihres Anwalts vom 1. September d. %. hervorging, daß St. 

u. Cie. der ihnen unter dem 27. Auguft ertheilten Auflage, das 
zum Betrieb ihrer Mühle und der unterhalb gelegenen Waſſer— 
werfe erforderliche Wafjer in den Mühlfanal nicht eingelafjen, 
wurde gegen St. Unterfuhung wegen Ungehorfams angeoronet, 
auf deren Grund das Straferfenntniß vom 6. September er: 
folgte. Es handelt fich alfo nur um einen Ungehorfam gegen 
eine von der Kreisregierung auf Beſchwerde und im Intereſſe 
der Wafferwerkbefiger getroffene Verfügung, und es entfpricht 
dem Inhalt der Akten nicht, wenn in dem Straferfenntnifje ge: 
fagt ilt: es jei dem St. unterm 24. Auguft die Auflage gemacht 
worden, bis auf Weiteres das zum Betrieb jeiner Mahlmühle 
und der unterhalb. liegenden Wafjerwerfe fowie für die Ge: 
meinde ©. zu Feuerlöfchzwecen feitgeitellte Wafjerquantum in 
den Mühlkanal einlaufen zu laffen, und zu diefem Zweck bie 
Emlaßfalle jtets offen zu halten. Daß aud das Minijterium 
des Innern die Verfügung der Kreisregierung ebenfo auffaßte, 
zeigt deſſen Erlaß vom 13. September. 

Lag es aber außerhalb der Zuftändigfeit der Polizeibehörde, 
der Firma St. u. Cie., von welcher der Anfpruch der Beſitzer 
der am Mühlfanal gelegenen Werke auf Waffereinleitung durch 
das Mühlwehr bejtritten war, lediglich zu Gunften der Werk 
befiger eine Einleitung von Filswafler in den Mühlfanal, wie 
geichehen, im Weg der proviforishen Verfügung aufzuerlegen, 
jo fehlt es in dem gegebenen Fall an der Vorausfegung, unter 





— 263 — 


welcher allein nach Art. 2 des Gejeges vom 12. Auguſt 1879 
A. St. wegen Ungehorfams hätte zur Strafe gezogen werden 
fönnen, fofern in der Verfügung, welcher von Seite des Be: 
jhwerdeführers entgegengehandelt wurde, eine von der Kreis: 
regierung innerhalb ihrer Zuftändigfeit getroffene Anordnung 
nicht erblidt werden kann. 


X. Fall des Art. X Ziff. 25 des Geſetzes über die Ber: 
waltungsrechtäpflege. 

Tagdgefeh. 
Staatsforjtverwaltung, Klägerin, Berufungsbe: 
tlagte, gegen Gemeinde Renningen, DW. Leonberg, 

Beklagte, Berufungzflägerin. 
Ausübung des Jagdrechts auf den fogenannten 
Hardmiejen. 

Urtheil vom 15. Mai 1880. 


Der Verwaltungsgerichtshof beftätigte das Urtheil der Re— 
gierung des Nedarfreifes vom 13. Dezember 1879 unter Ber: 
fällung der Bellagten in die Koften dahin: Die Staatforit: 
verwaltung ijt berechtigt, die Jagd auf den Staatswaldungen 
Silberthor und Wafjerbah und den von ihr Fäuflich erworbenen 
Wiejenparzellen Nr. 2384 und 2422/3 eingeſchloſſenen fogenann: 
ten Hardwiefen auf der Markung Renningen gegen Entrichtung 
der in Art. 3 des Jagdgefeges vom 27. Dftober 1855 beſtimm— 
ten Entjchädigung an die Grundeigenthümer auszuüben. 

Gründe. Daß die früher durch die fogenannten Hard: 
wiefen von einander getrennten Staatswaldungen Silberthor und 
Waſſerbach durch die im Lauf des Jahrs 1878 von Seite der 
Foritverwaltung erfolgte Fäuflihe Ermwerbung der beiden End: 
punkte jener Wiefen, der Wiefenparzellen Nr. 2384 und 2422/3, 
in der Art in Zufammenhang gefommen find, daß fie nunmehr 
die ſämmtlichen Hardwieſen umſchließen, zeigt ein Blic auf die vor: 
liegenden Flurfarten, und ift auch von beflagter Seite zugegebent. 

In Zweifel gezogen wird nur, ob durch den Uebergang des 
fragliden nah den Akten mehr nicht als 58 beziehungsmeife 
etwas über 16 Ar begreifenden Wiefenbefiges in den Staatsforit- 

15* 


— 264 — 


beſitz die beiden Staatswaldungen eine zuſammenhängende Fläche 
im Sinn des Art. 3 des Jagdgeſetzes vom 27. Oktober 1855 
und die noch im Beſitz von Dritten verbliebenen Theile der 
Hardwieſen Enklaven im Sinn dieſes Geſetzesartikels geworden 
ſeien. Allein Enklaven im Sinn des Geſetzes ſind Grundſtücke, 
welche durchaus von einem oder mehreren zuſammenhängenden 
Grundſtücken umſchloſſen ſind, unbedingt, ſobald ſie wie hier zu— 
ſammen nicht mehr als 50 Morgen halten, und es begründet 
nach dem Geſetz keinen Unterſchied, ob der Flächengehalt der den 
Zuſammenhang vermittelnden Grundſtücke ein größerer oder ein 
kleinerer iſt. 

Der Anſpruch der im unbeſtrittenen Beſitz des Jagdrechts 
in den genannten Staatswaldungen befindlichen Klägerin auf 
Ausübung des Jagdrechts auf den Enklaven erſcheint daher im 
Geſetz begründet. 

Die Beklagte, welche das Jagdrecht auf dem ganzen Ge— 
meindebezirk, ausgenommen nur die Staatswaldungen, Namens 
der Grundeigenthümer durch Verpachtung ausübt, meint nun 
zwar, feinesfall® könne die in den Eigenthumsverhältnifjen vor: 
gegangene Veränderung die Wirkung haben, daß die Enklaven 
gewordenen Hardwiefen aus dem Gemeindejagdbezirf ſofort und 
vor Ablauf der erft mit dem 1. Juli 1883 zu Ende gehenden 
Pachtzeit auszufcheiden feien. 

Auch diefe Annahme ift jedoch als richtig nicht zu erkennen. 
Wie von klägeriſcher Seite mit Grund geltend gemacht wird, 
war das Necht der Gemeinde, die Jagd auf der Gemeinde: 
marfung und folgeweife auch auf den Hardwiejen Namens der 
Örundeigenthümer duch Verpachtung auszuüben, fchon zur Zeit 
des Abſchluſſes des Pachtvertrags ein durch die Beitimmung des 
Art. 3 des Jagdgejeges beſchränktes, die Verpachtung für eine 
bejtimmte Zeit konnte nur in der ftilfchweigenden Vorausſetzung 
Statt finden, daß nicht im Lauf der Sagdpadhtperiode die Hard: 
wiejen unter die Bejtimmung des Art. 3 fallen, d. h. die Natur 
von Enklaven nicht annehmen; mit dem Eintritt diefes Falls 
erfolgte daher das Necht der Gemeinde fraft gejeglicher Bor: 
jchrift von jelbjt und damit auch das Necht des Pächters gegen: 
über von der Klägerin. Daß das Gejeh dem Beliger der ums 





nn DE — 





— 2% — 


ſchließenden Grundflähe das Net zur Ausübung der Jagd auf 
den Enflaven nur gegen Entrichtung eines Pachtſchillings ar die 
Eigenthümer der legteren einräumt, ändert hieran nichts. Klägerin 
tritt dann keineswegs, wie Beklagte behauptet, in ein obliga= 
torisches Verhältnig zu den Eigenthümern der enklavirten Grund- 
jtüde, in die Stellung eines Jagdpächters gegenüber den lebteren, 
fie hat vielmehr das Jagdrecht auf denjelben als Eigenthümerin 
der diefelben umſchließenden Grundfläche unabhängig von einer 
etwaigen Zuftimmung der Enklavenbefiter zu beanipruchen, und 
nur die Ausübung diefes Rechts ift durch die Leiſtung einer 
Entihädigung bedingt, für deren Betrag in Ermanglung eines 
Uebereinfommens die in dem mehrgedachten Art. 3 gegebenen 
Normen maßgebend find. Es ijt dies ebenjo unzweifelhaft, als 
daß auf diejenigen der zwifchen den beiden Parzellen Nr. 2384 
und 2422/3 gelegenen Wieſenſtücke, welche Schon früher und wäh 
rend der Dauer des gegenwärtigen Nechtsitreits durch Fäufliche 
Erwerbung Eigenthum der Klägerin geworden, und in Zuſammen— 
bang mit den beiden Staatswaldungen Silberthor und Wafjer: 
bach gekommen find, der Gemeindejagdbezirk fich nicht mehr er: 
itreden fann. 


XI. Fülle des Art. 15 des Gejeges über die Verwaltungsrechts— 
pilege (Rechtsbeſchwerden). 


1. Beſchwerde des früheren Butsbefigers Viktor 
Yang in Diepoldsburg, jegt in Kirchheim u./T. ge 
gen einen Anfat von Liegenfhaftsafzije 
Urtheil vom 22. Dftober 1879. 


Bon einer Gutsübergabe, bei der neben einer Baarzahlung 
an den Vater ꝛc. Heirathggut abgerechnet werden darf, iſt für 
den Betrag über das Heirathsgut der Anſatz von Liegenſchafts— 
afzife begründet. 

Der Verwaltungsgerichtshof verwarf die Bejchwerde gegen 
den durch Verfügung des Finanzminifteriums vom 4. April 1875 
beharrten Anſatz einer Liegenfhaftsafzife von 498 Mark aus 
folgenden Gründen: 

Der Dejchwerdeführer hat dur ein in das Beibringens- 


— 26 — 


inventar jeines Sohnes Karl von 25. Mai 1874 aufgenommenen 
Rechtsgeihäft fein Hofgut Diepoldsburg jenem Sohn um den 
Anfchlag von 34000 Gulden mit der Beltimmung überlafjen, 
daß derjelbe hieran als Heirathsgut im Ganzen 10000 Gulden 
in Abzug bringen dürfe, und die weiteren 24000 Gulden in 
näher bejtimmten verzinslichen Beträgen an feine Gefchwijter 
und den Vater zu bezahlen habe. Ueber diejen Bertrag ijt am 
12. November 1877 von dem Gemeinderath das gerichtliche Er— 
fenntniß ausgefprodhen worden, weil in der mit einer Gegen— 
leiftung von 24000 Gulden erfolgten Gutsabtretung das Be— 
jtehen eines Kaufvertrag angenommen wurde. Auch wurde in 
deſſen Folge dem Beſchwerdeführer als Verkäufer die Akziſe aus 
obiger Summe angejegt. Hiegegen hat der Bejchwerdeführer Ein— 
ſprache erhoben, welche zunächſt in der Behandlung der Civil— 
gerichte ftand, weil der Bejchwerdeführer zunächſt die Noth— 
wendigfeit eines gerichtlichen Erfenntnifjes über den Vertrag und 
die hiefür angelegte Erfenngebühr angefochten hatte. 

Nachdem nun aber jene Einfpradhe in allen Injtanzen ver: 
worfen, und in der Entjcheidung der Eivilfammer des Ober- 
tribunal8 vom 14. Juli 1879 bei dem vorliegenden Rechts: 
geihäft alle Merkmale eines Kaufs als vorhanden angenommen 
und der gefchehene Anjag einer Erfenngebühr als begründet er: 
fannt worden it, muß auch der Anfag der Liegenjchaftsatzife 
als gerechtfertigt erfannt werden. 

Der Befchwerdeführer hat zwar die Befreiung von Der 
Akziſe nah 8. 3 Ziff. 2 des Mlzifegefepes vom 18. Juli 1824 
beanfprucht,. weil er feinem Sohn das Hofgut als Heirathsgut 
übergeben habe, und die Erfterem dabei anbedungene Schuld 
nicht die Eigenjchaft eines Kauffchillings habe. Diefer Einwand 
ift jedoch fon von dem Gericht als unbegründet erklärt worden, 
und fanı als afzifefreies Heirathsgut nur wie geſchehen der Be: 
trag von 10000 Gulden angenommen werden, was überdies für 
derartige Fälle in dem von dem Bejchwerdeführer gar nicht be= 
achteten legten Abjak des 8. 11 des Afzifegefeges noch ausdrück— 
lich bejtimmt worden ift. Webereinftimnend hiermit hat auch 
der Art. 23 des Notariatsfportelgejeges vom 4. Juli 1842 noch 
befonders vorgefchrieben, daß bei derartigen Gutsabtretungen der 











— 267 — 


Eltern an Kinder in der Form von Kaufverträgen diefe mit 
Akziſe belegt, und nur für den als wirkliches Heirathsgut aus: 
geſetzten Theil des Kauffchillings die Beibringensiportel angejett 
werden joll. Durch die Verfügung des Finanzminifteriums vom 
4. April 1878, nach welcher der Mzifeanfag gegen den nad 
$. 12 des Akzisgeſetzes zunächſt verpflichteten Käufer beharrt 
wurde, ijt hiernac der Bejchwerdeführer nicht als verlegt zu 
betrachten. 


2. U. Stern und Söhne in Gannjtatt. Einjprade 
gegen Erbauung eines großen Schweineftall2. 


Urtheil von 14. Februar 1880. 


Den Schweinehändlern Gebrüder Hoffmann in Stuttgart war 
von dem Minifterium des Innern unterm 14. DOftober 1879 gegen 
die im Bejchwerdeweg erhobene Einſprache des Handlungshaufes 
A. Stern und Söhne in Cannftatt die Erbauung eines großen 
Schweinejtalls gejtattet worden. Der hiegegen von den Lebtern 
eingelegte Nefurs wurde verworfen. 

Gründe Die fragliche Bejchwerde it gerichtet gegen den 
Beicheid des Minifteriums des Innern, welcher die Verwerfung 
eines Rekurſes ausſprach, den Stern und Söhne gegen eine Ber: 
fügung des Dberamts Gannjtatt vom 10. September 1879 er= 
griffen ‚haben, wodurch den Gebrüdern Hoffmann unter Be- 
fätigung eines vorangegangenen gemeinderäthlichen Erfenntnifjes 
die Erlaubniß zur Errichtung eines Schweinejtallgebäudes hinter 
ihrem Wohnhaus Nr. 45 der Karlsftraße ertheilt wurde. Gegen 
dieſe Entſcheidung der oberjten Verwaltungsbehörde hätten die 
Beichwerdeführer nach Art. 13 des Geſetzes über die Verwaltungs- 
vechtspflege nur dann aufzufommen vermocht, wenn von ihnen 
hätte behauptet und dargethan werden können, daß jolche im 
öffentlichen Rechte nicht begründet fei, und daß fie hiedurch in 
einem ihnen zuftehenden Necht verlegt, oder mit einer ihnen 
nicht obliegenden Verbindlichkeit belaftet jeien. 

Statt deffen haben diejelben in der vorliegenden Rekurs— 
ausführung nur theils auf dasjenige fich zu beziehen gewußt, 
was fie zu Begründung ihrer gegen das Bauvorhaben der Ge: 





— 268 — 


brüder Hoffmann erhobenen Einſprache ſchon im Laufe der früher 
hierwegen ftattgehabten Erörterungen vorgetragen hatten, theils 
der Hoffnung Ausdruck gegeben, es werde ſchon aus Gründen 
des öffentlichen Wohls für unzuläßig erklärt werden, in einer 
Stadt, wie Cannſtatt, großartige Schweinezwinger zu errichten, 
wie es ſich um einen ſolchen im gegebenen Falle handle. 

Auch bei jenen früher ſtattgehabten Erörterungen konnten, 
von der Berufung auf das Cannſtatter Ortsbauſtatut 8. 48 ab— 
geſehen, der aber, wie ſchon das K. Miniſterium des Innern 
angenommen hat, auf den vorliegenden Fall keine Anwendung 
findet, Seitens der nunmehrigen Beſchwerdeführer irgend welche 
geſetzliche oder ſonſt maßgebende Beſtimmungen des öffentlichen 
Rechts nicht angeführt werden, welche ihre Einſprache in der hie— 
vor bezeichneten Richtung zu begründen geeignet geweſen wären. 
Nach Art. 1 der allgemeinen Bauordnung vom 6. Oktober 1872 
hätte dem von den Gebrüdern Hoffmann in Anſpruch genommenen 
Recht gegenüber, innerhalb ihrer Eigenthumsgrenze das in Frage 
ſtehende Hintergebäude zu errichten, eine Beſchränkung dieſes 
Rechts nur verlangt werden können auf den Grund eines Reichs— 
geſetzes oder einer auf der Bauordnung ſelbſt beruhenden Vor— 
ſchrift. Davon jedoch, daß der 8. 16 der deutſchen Gewerbe— 
ordnung, welche (vergl. Art. 30 der Bauordnung) aus Der 
Kategorie der reichsgefeglichen Bejtimmungen bei den früheren 
Verhandlungen einzig zur Sprache gekommen ift, auf die recht: 


liche Beurtheilung des vorliegenden Bauprojeft3 von feinem Ein= 


fluß fein fönne, wurde mit Grund fehon bei den vorangegangenen 
Entjcheidungen ausgegangen. Von den Beltimmungen der Bau: 
ordnung aber, ſoweit folche nicht als nachbarrechtliche Bor: 
Schriften, wie insbejondere diejenigen der Artikel 62 und 63 in 
den Kreis der civilvichterlichen Zuftändigfeit fallen, haben die 
Beichwerdeführer ebenjo wenig, wie aus dem Ortsbauftatut der 
Stadt Cannjtatt eine Vorfchrift zu bezeichnen vermocht, welche 
einer Einſprache gegen das fraglide Bauweſen wegen Verlegung 
eines ihnen zujtehenden Nechts als Grundlage dienen Fonnte, 
Was insbeſondere die von denfelben geltend gemachte Rück— 
ficht für die Intereſſen des Verkehrs und der Anforderungen der 
öffentlichen Gejundbeitspflege betrifft, welche angeblich dur das 








— 269 — 


Bauweſen gefährdet jein jollen, jo fann hierauf von dem Ver: 
mwaltungsgerichtshof deßhalb nicht weiter eingegangen werden, 
weil die Bejchwerdeführer eben auch in diejer Hinficht ein be= 
jonderes ihnen zur Seite jtehendes Recht nicht geltend zu machen 
im Stande waren, in welchem fie dadurch als verlegt zu er: 
achten wären, daß jenen Anforderungen feitens der zuftändigen 
Baupolizeibehörde in weiterem Umfang nicht Nechnung getragen 
wurde, als jolches durch die in Anjehung der Konjtruftion des 
projeftirten Neubaus getroffenen Vorkehrungen gejchehen ift. 

Da hiernach die erhobene Beſchwerde der rechtlichen Be: 
gründung im Sinne des Art. 13 des Gejeßes über die Ver: 
waltungsrechtöpflege ermangelt, jo mußte fie von hier aus, wie 
geſchehen, abgewiefen werden. 


3. Beſchwerde des Bäders Friedrid Haug von Kird- 
heim u./T. wegen verfagter Benübung von Schweine 
ſtällen. 


Urtheil vom 25. Februar 1880. 


Die gegen die Verfügung des Miniſteriums des Innern 
vom 21. November 1879 erhobene Beſchwerde gegen das dem 
Beſchwerdeführer unterſagte Halten von Schweinen in den im 
obern Stockwerk ſeines Hauſes eingerichteten Schweineſtallungen 
wurde abgewieſen. 

Gründe. Der Beſchwerdeführer hält ſich durch die er— 
gangene Verfügung für verletzt, weil das Miniſterium des 
Innern zu deren Erlaſſung nicht zuſtändig geweſen ſei. Es 
habe ſich bei der von dem Metzger Wilhelm Huber in Kirchheim 
gegen den Beſcheid der Regierung des Donaukreiſes vom 
10. März 1879 erhobenen Beſchwerde um ein Privatrechtsver— 
hältniß, nämlich ſein Recht auf Beibehaltung der ihm von dem 
Letzteren mit dem Hauſe verkauften Schweineſtälle gehandelt und 
weil die fragliche durch allgemeine ſanitätspolizeiliche Gründe 
nicht zu rechtfertigende Verfügung auch ſonſt der rechtlichen Be— 
gründung ermangle, wie denn ſolches auf ein beſtimmtes Polizei— 
geſetz nicht habe gejtüzt werden können. 

Iſt auch die Frage der Zuläſſigkeit der ſeitens des Haug 


— 270 — 


in jeinem Wohnhaufe gehaltenen Schweinftälle zum Gegenſtand 
der Erörterung bei den DVerwaltungsbehörden erjt geworden, 
nachdem gegen Haug von feinem Nachbar Huber wegen der ihm 
aus der Benützung der Ställe erwachſenden Beläftigung gericht: 
lihe Klage erhoben worden war, welcher übrigens, jeitdent 
das Dberamtsgericht Kirchheim den hiedurch entftandenen Rechts— 
jtreit für filtirt erklärte, feine weitere Folge gegeben wurde, ſo 
fann doch Fein Zweifel darüber bejtehen, daß die Bolizeibehörden, 
al3 bei ihmen diejenigen Mißftände zur Sprade famen, hin— 
jichtlich welcher fich nad der von Huber gemachten Anzeige und 
den hiedurch veranlaßten Nachforichungen ſich die Frage auf: 
werfen mußte, ob jolche vereinbar feien mit der öffentlichen 
Gejundheitspflege, zuftändig und dazu berufen waren, ihrerfeits 
über diefe Frage zu fognofziren, und zwar unabhängig von den 
zwifchen Huber und Haug in Folge des Verkaufs des Haujes, 
jowie wegen ihres Nachbarſchaftsverhältniſſes bejtehenden privat- 
rechtlichen Beziehungen. Geftügt wurde von dem Minifterium des 
Innern das gegen Haug erlajjene Verbot der ferneren Benügung 
der Schweinftälle darauf, daß die Entfernung der Echweine nad) 
den jtattgehabten Erhebungen als ein dringendes geſundheits— 
polizeiliches Bedürfniß ſich darftellt. Die Berüdfichtigung der— 
artiger Bedürfnifje der öffentlichen Gefundheitspflege ift in der 
Aufgabe der Gejundheitspolizei, wie fich unter Anderen aus 
Art. 35 Ziff. 5 des PVolizeiftrafgefeges vom 27. Dezember 1871 
ergibt, fo jehr gelegen, daß folcher auch ohne einſchlägige Spe= 
zialbejtinnmungen, deren Erftredung auf alle denkbaren Fälle der \ 
Nothwendigfeit eines diesfälligen polizeilichen Einjchreitens bei - \ 
der Mannigfaltigkeit der dabei in Frage kommenden Verhältniffe 
ganz unmöglich wäre, rechtmäßiger Weile alsdann ſtets er— 
folgen fann, wenn jich den dem Gemeinweſen aus entgegenjtehen= 
den Einrichtungen drohenden Gefahren, wie im gegebenen Fall 
auf anderem Wege nicht vorbeugen läßt. 

Hiernach ericheint die ergangene Verfügung im öffentlichen 
Recht allerdings begründet, und es kann jomit der unter Be— | 
zugnahme auf Art. 13 des Geſetzes über die Verwaltungsrecht3- 
pflege erfolgten Berufung des Bejchwerdeführers auf eine ihm 
hiedurch angeblich erwachjene Nechtsverlegung eine Folge um jo 








— 271 — 


weniger gegeben werden, als er feinerjeit3 ein ihm zuftehen- 
des öffentliches Recht nicht geltend zu machen gewußt bat, 
fraft deſſen jo wie gejchehen nicht gegen ihn hätte vorgegangen 
werden können. 


4, Beſchwerde des ApothefersN., früher in ©. OA. B. 
nun in C., wegen verweigerter Rüderftattung eines 
Konzejjionsgelds. 


Urtheil vom 26. April 1880. 


Für die Verbindlichkeit zur Entrichtung des Konzeflionsgelds 
it die Art und Weife der Verleihung, nicht die Art und 
Weife der Ausübung der ertheilten Konzeffion maßgebend. 

Art. 1 des Geſetzes vom 3. November 1855 betreffend die 
Berechtigung zum Bierbrauen 2c. bejtimmt: Die Fabrikation von 
Bier und Branntwein, jowie der Betrieb von Wirthichaftsge: 
werben ijt von einer bejonderen Erlaubniß der Regierungsbe- 
hörde abhängig . . . Art. 9 dejjelben Gejeges jtatuirt von der 
Negel des Art. 1 dejjelben unter Anderem die Ausnahme 

2) Apotheker Haben das Recht, in Verbindung mit ihrem 
Gewerbe Malaga, Branntwein und Liqueure im Kleinen zu ver- 
faufen. 

Art. 11 Schreibt vor, daß für die Verleihung der in Art. 1 
genannten Berechtigungen Konzeffionsgelder (Sporteln) nad) den 
angeführten Beftimmungen zu entrichten find, und zwar bevor 
von der Berechtigung Gebraudh gemacht wird. Art. 16 ver: 
ordnet, daß gegen die Verweigerung der Konzeffion oder im Fall 
ihrer Ertheilung gegen den Betrag des Konzeſſionsgelds, ſowie 
gegen eine auf die übrigen Beitimmungen des Geſetzes gegründete 
Enticheidung der Negierungsbehörde dem Bewerber oder Be: 
rechtigten der Rekurs an die nächſt vorgejegte Negierungsbehörde 
zujteht, welche endgültig zu entjcheiden hat. Die Rekursaus— 
führung muß bei Verluft des Befchwerderechts binnen dreißig 
Tagen von der Eröffnung an bei der eröffnenden Behörde 
Ichriftlich eingereicht, oder mündlich zu Protokoll gegeben werden. 
Eine Wiedereinfegung ift nur im Fall unverfchuldeter Verhin— 
derung zuläßig. 





— — 


Der $. 33 der deutſchen Gewerbeordnung beſagt: Wer 
Gaftwirthichaft, Schenkwirthichaft oder Kleinhandel mit Brannt- 
wein oder Epiritus betreiben will, bedarf dazu der Erlaubniß, 
und normirt im Weiteren die Vorschriften für die Ertheilung 
diefer Erlaubniß. Die Minifterialverfügung vom 14. Dezember 
1871 (R.Bl. ©. 343) bejtimmt: Die Ziffern 2 und 4 Des 
Art. 9 des Gejehes vom 3. November 1855 find als aufge: 
hoben anzufehen vorbehältlich der ſchon erworbenen Wirthichafts: 
rechte (Deutjche Gewerbeordnung $. 1). Die Ertheilung der 
Erlaubniß an Apotheker zum Sleinverfauf von Branntwein und 
Liqueur und an Zuderbäder zum Ausſchank von Liqueur wird 
übrigens von, dem Nachweis eines vorhandenen Bedürfniſſes 
nicht abhängig gemadt. 

Unterm 8. Suli 1876 bat der Apothefer N. in ©. das 
Dberamt B. „um die Berechtigung zur Abgabe von fremden 
und inländischen Weinen in Flafchen (Champagner, Bordeaur)”, 
und, nahdem das Kameralamt B. inkluſive Zufchlags ein Kon— 
zejltonsgeld für das perfönliche Necht zum Ausſchank von frem— 
den und inländischen Weinen in Flaſchen von 22 Mark bean 
tragt hatte, wurde dem Apothefer N. unter Anſatz dieſes Konzeſ— 
ſionsgelds „das perjönliche Necht zum Ausſchank von fremden 
und inländischen Weinen” unterm 13. Juli 1876 ertheilt. 
Unterm 21. Juli 1878 jchrieb N. an das Oberamt B.: Da laut 
Erlaß des Minijteriums des Innern vom 6. Mai 1878 und 
nad $. 33 der Neichsgewerbeordnung eine befondere Erlaubnig 
nicht nothwendig ift, die Entrichtung eines Konzeffionzgelds aljo 
nicht gerechtfertigt erjcheint, der S. 33 der Gewerbeordnung 
ſchon vor Ertheilung der Konzejfion an mich in Gültigkeit war, 
jo bitte ich den Nüderfaß der Sportel anordnen zu wollen. 
Das Dberamt erklärte unterm 22. Juli 1878 diefem Geſuch 
nicht entjprechen zu fünnen, weil es zur Aufhebung der in Ge: 
mäßheit der Minifterialverfügung vom 14. Dezember 1871 an 
gefegten Sportel nicht befugt ſei. Unter Beziehung auf eine 
durch Negierungserlaß vom 12. Auguft 1878 verfügte Rücker— 
ftattung der Sportel an einen Apothefer wiederholte N. am 
23. Auguſt 1878 fein Geſuch, worauf jedoch das Oberamt den 
13. Auguit 1878 auf feinem Bejcheid beharrte, und den N, auf 











== Bi: 


den Weg der Beſchwerde verwies. Diejen betrat nun N., wo— 
bei er fi auf den Erlaß des Minifteriums des Innern vom 
6. Mai 1878 und den Erlaß der Kreisregierung vom 12. Aus 
gut 1878 in der Bejchwerdejache des Apothefers R. in St. in 
derſelben Angelegenheit berief, durch eine Eingabe an die Kreis- 
vegierung vom 1. September 1878, worauf ihn dag Oberamt 
unter Verweifung auf den Art. 16 des Gejeges vom 3. Novent- 
ber 1855 zur Erklärung darüber aufforderte: ob er den Aus: 
ſchank als wirklichen Ausfchanf mit Genuß der Getränfe an 
ver Verkaufsſtelle, oder als Kleinhandel betrieben habe? N. er- 
flärte Hieranf, er habe nie fremde Weine zum unmittelbaren 
Genuß abgegeben, jondern nur als Arzneimittel in Flaſchen 
über die Straße. 

Inzwiſchen war nämlich folgende durch das Amtsblatt 
des Meinijteriums des Innern vom Jahr 1878 Nr. 8 vom 
16. Mai 1878 ©. 146 f. veröffentlichte Minifterialentfheidung 
vom 6. Mai 1878 auf eine diesbezügliche Eingabe des Aus— 
ihufjes des pharmazeutifchen Yandesvereins ergangen: „Nach 
$. 33 der Neich3gewerbeordnung ijt der Kleinhandel mit Wein, 
jofern er nicht in Schenfwirthichaften ausgeübt wird, aljo ins— 
beiondere der Verkauf von Wein in Flafchen über die Straße 
mit Ausihluß des fofortigen Genußes an der Berfaufsitelle von 
einer polizeilichen Crlaubnig nicht abhängig. Die frühere Be: 
ihränfung der Konzejlionsfreiheit der Apotheker Hinfichtlich des 
Weins auf die Abgabe von Malaga iſt Daher hinfällig geworden. 
Der Kleinhandel mit Branntwein und Spiritus dagegen ift 
durch $. 33 der Neichsgewerbeordnung allgemein von dem Er: 
forderniß einer polizeilichen Erlaubniß abhängig gemadt und 
fann daher ſchon um deßwillen feine Ausnahme zu Guniten 
der Apotheker gemacht werden. Den bejonderen Verhältniſſen 
der Apotheker ijt jedoch dadurch Rechnung getragen, daß nad) 
$. 12 der Minijterialverfügung vom 14. Dezember 1872 für 
die Ertheilung der Erlaubniß zum Kleinhandel mit Branntwein 
und Liqueuren an Apothefer der Nachweis eines Bedürfniſſes 
niht gefordert wird; auch Hat diefe Erlaubnißertheilung ohne 
Anjap eines Konzeſſionsgelds Statt zu finden, da nad den in 
diejer Beziehung maßgebenden Beitimmungen des Gefeges vom 


* 


— 274 — 


3. November 1855 für den Kleinverkauf von Branntwein und 
Liqueur in den Apotheken keine Konzeſſion erforderlich und 
kein Konzeſſionsgeld zu bezahlen war. 

Das Oberamt B. beantragte Abweiſung der Beſchwerde 
wegen Verſäumung der Rekursfriſt, dagegen Nachlaß des Kon— 
zeſſionsgelds im Gnadenweg. 

Die Kreisregierung wies jedoch unterm 3. Januar 1879 
das Gefuh unter Bezugnahme auf eine in Abfchrift beige: 
ſchloſſene Entſchließung des Minifteriums des Innern vom 
20. Dezember 1878 betreffend ein ähnliches Geſuch des Apo— 
thekers R. in St. ab. Die Abjchrift lautet: Die Kreisregierung 
bat dem Gefuh des R. um Nachlaß des Konzeſſionsgelds von 
22 Mark für die ihm am 21. September 1877 ertheilte Er: 
laubniß zum Verkauf von Flajchenweinen über die Straße ent: 
jprochen, weil nach 8. 33 der Neichsgewerbeordnung dieſer Ver: 
fauf feiner Konzejfion bedürfe, und daher auch der Anfag eines 
Konzeflionsgelds nicht ‚begründet fei. Aus denjelben Gründen 
hat diejelbe unterm 4. Dftober 1878 der Bitte des Apothefers 
9. in E. um Nachlaß eines am 19. Juli 1873 für den Detail: 
verkauf von Wein über die Straße angefegten Konzeffionsgelds 
von 16 fl. 30 fr. jtattgegeben. Sie ging dabei davon aus, daß, 
nachdem das Minijterium des Innern in feinem Erlaſſe von 
3. Mai 1878 ausgejproden, daß zum Verkauf von Bier und 
Wein über die Straße eine Erlaubniß nad $. 33 der Reich}: 
gewerbeordnung nicht erforderlich fei (dies hatte das Minifterium 
des Innern laut Amtsblatt von 1878 ©. 120 aus Anlaß des 
Berfaufs des Spar: und Konjumvereins in Stuttgart erklärt), 
die Konzefjionen als irrthümlich nachgefuht und ertheilt und 
daher die Konzefjionsgelder als ungejeglich jich darſtellen. Dieſe 
Anfiht vermag das Minifterium nicht für richtig zu erkennen. 
Nachdem die zu Ertheilung von Wirtfchaftsfonzeffionen geſetzlich 
zuftändigen Behörden von einer beſtimmten Auslegung des $. 33 
der NReichögewerbeordnung ausgehend unter Beachtung der für 
die Ertheilung von Wirthichaftsfonzeffionen gegebenen Vorfchriften 
die nachgefuchte Konzejfion ertheilt, und die hiefür geſetzlich vor: 
geſchriebenen Konzeffionsgelder angejegt, und die Bittjteller auf 
den in Art. 16 des Gejeßes vom 3. November 1855 zugelajjenen 





u AB: 


Nefurs verzichtet haben, wurde durch den Umftand, daß fpäter 
die höhere Behörde eine jener Auslegung entgegengefegte zur 
Darnahachtung den Unterbehörden fundgab, weder der Anſaätz 
jenes Konzefjionsgeld8 von ſelbſt rückwärts ungiltig, noch den 
die Konzefjion ertheilenden Behörden das Recht zuerkannt, die 
früher in gejeglicher Form ertheilten Befchlüffe, welche Längft 
endgiltig geworden find, wieder aufzuheben und den Rückerſatz 
der bereits ertheilten Konzejjionsgelder anzuordnen, weßhalb die 
Verfügungen der Kreisregierung vom 9. Auguft und 4. Dftober 
1878 betreffend den Rückerſatz jener Konzejlionsgelder als nicht 
zu Recht bejtehend wieder außer Wirkung gefegt werden. 

Gegen diefen Beſcheid erhob N. Befchwerde an das Mini: 
fterium des Innern. In der Meinung rechtliher Verpflichtung 
jei die Konzeffion nachgefucht, ertheilt und das Konzeffionsgeld 
bezahlt worden. Später habe er erfahren, daß der Konzefjions- 
geldanfab auf unrichtiger Auslegung der Neichsgewerbeordnung 
beruhe, und das Minifterium des Innern dies in dem Erlaß 
vom 6. Mai 1878 jelbjt anerkannt habe. Auf die abmweijenden 
Beſcheide fei er gefonnen, die Sache vor dem Verwaltungsge: 
vihtshof zu verfolgen. Um dies thun zu können, müſſe der 
Inſtanzenzug erjchöpft jein. Er bitte um nochmalige Prüfung 
der Frage, ob ein ungejeglicher Sportelanſatz nicht al3 von An: 
fang an ungefeglih anzufehen und deßhalb die Nüderjtattung 
begründet fei? Das Minifterium des Innern wie am 20. Ja— 
nuar 1880 die Befchwerde ab. Abgefehen davon, daß der Be: 
ihmwerdeführer den ihm wegen des Konzeſſionsgeldanſatzes zu: 
ftehenden Refurs innerhalb der Nekursfrift nicht erhoben und 
ausgeführt, jondern durch die Bezahlung auf denjelben verzichtet 
habe, habe die Kreisregierung nad Art. 16 Abſatz 2 des Ge: 
ſetzes vom 3. November 1858 endgiltig zu entjcheiden. 

Die hiegegen von N. an den Bermwaltungsgerichtshof er: 
hobene Bejchwerde führte aus: Art. 13 des Geſetzes über Die 
Verwaltungsrechtspflege finde Anmwendung, weil N. durch die 
getroffene Verfügung in feinem Recht verlegt und mit einer ihm 
nit obliegenden Verbindlichkeit belaftet fei. Die dreißigtägige 
zrift für die Einreichung der Beſchwerde fei gewahrt. Die 
Minifterialverfügung vom 6. Mai 1878 erfenne an, daß N. am 


se WIE 


13. Juli 1876 feiner Konzeffion bedurfte, der Konzejjionsgeld- 
anſatz jomit ungejeglih war dafjelbe müfje daher als indebitum 
zurücerftattet werden. Auf das Gefuch des N. fand nicht das 
Geſetz vom 3. November 1855, fondern die deutfche Gewerbe 
ordnung Anwendung. Das Oberamt B. habe dur die Kon— 
zeſſionsertheilung nicht gegen das Gefeß vom 3. November 1855, 
jondern gegen die deutſche Gewerbeordnung gefehlt. Auf fie 
jtüge ji) die Neflamation, weßhalb das Geje vom 3. Novem— 
ber 1855 bier feine Anwendung finde. Einen Rekurs babe 
übrigens N. nicht ergreifen fünnen, die Konzefjion habe er er: 
halten, den Betrag des Konzeffionsgelds habe er nicht bean= 
jtanden können. Der Fall des Art. 16 des Gefeßes vom 3. No- 
vember 1855 ſei fomit gar nicht vorgelegen. Es fei daher 
weder eine Friſt verfäumt, noch die Entjcheidung der Kreis: 
regierung endgiltig. Gebeten wird, die Berfügung aufzuheben, 
und die Staatsregierung zur Herausgabe der t. 22 Mark zu ver: 
urtheilen. | 

Nachdem noch das Finanz-Minijterium fich über die Be— 
jchwerde geäußert, ohne Erhebliches beizubringen, verwarf der 
Verwaltungsgerichtshof kojtenfällig die Beſchwerde. 

Gründe: 1) Da der Nefurrent das ihm unterm 13. Juli 
1876 angejegte Konzeffionsgeld von 22 Mark als ein ihn nad) 
jeiner Behauptung widerrechtlich angefegtes zurüdfordert, jo kann 
die formelle Statthaftigfeit der von ihm eingelegten Beſchwerde 
nah Art. 13 des Geſetzes über die Verwaltungsrechtöpflege nicht 
beanjtandet werden. 

2) Materiell ift jedoch die Beſchwerde nicht gegründet. 
Der Rekurrent hat nach den Akten das Oberamt B. „um die 
Berechtigung zur Abgabe von fremden und inländischen Meinen 
in Flaſchen (Champagner, Bordeaur) gebeten“ und das Oberamt 
B. hat diefem Geſuch dahin willfahrt, daß ihm den 13. Juli 
1876 unter Anſatz eines Konzeffionsgeld8 von 22 Mark „das 
perfönliche Recht zum Ausſchank von fremden und inländifchen 
Meinen ertheilt wurde“. 

3) Es mag fein, daß diefe Konzejjionsertheilung über Die 
Abſicht des Bittjtellers hinausging, fofern fie nicht allein den 
Kleinhandel mit diejen Weinen, jondern auch dag Recht zum 





| 


' « An » 
ng 2 ra 
wi 
— 277 — 


Ausſchank derſelben in ſich ſchloß, und Rekurrent will nach ſeiner 
Erklärung wenigſtens fremde Weine (über die inländiſchen ſchweigt 
er) nie zum unmittelbaren Genuſſe, ſondern nur als Arzneimittel 
und in Flaſchen über die Straße abgegeben haben. Allein mit 
der von ihm geſtellten Bitte ſtand das von dem Oberamt B. 
ertheilte Recht nicht im Widerſpruch, und es iſt deßhalb be— 
gründet, das Rechtsverhältniß nach Maßgabe der ihm ertheilten 
Konzeſſion zu beurtheilen, gegen welche er damals weder eine 
Einſprache erhoben, noch als über ſeine Abſicht hinausgehend 
einen Rekurs nach Art. 16 des Geſetzes vom 3. November 1855 
ausgeführt hat. 

4) Wenn nun der $. 33 der deutſchen Gewerbeordnung 
nur den Betrieb der Gaſtwirthſchaft und der Schanfwirthichaft 
von polizeilicher Erlaubnig abhängig macht, für den Berfauf 
von Wein über die Straße oder unter Abgabe von Flafchen, 
die im Berfaufslofal nicht genofjen werden, eine jolche Erlaub: 
niß nicht fordert, jo fann fich der Nefurrent auf dieſe Beſtim— 
mung nad) Maßgabe der ihm ertheilten Konzeffion nicht berufen, 
um die Widerrechtlichkeit des ihm angelegten Konzeſſionsgelds 
darzuthun, da nach der Klaren Beſtimmung des 8. 33 der deut: 
jhen Gewerbeordnung für das ihm ertheilte Recht des Aus— 
ſchanks von Wein polizeiliche Erlaubniß erforderlih, und damit 
der Anja eines Konzefjionsgelds begründet war. Für den Anſatz 
des Konzeffionsgelds ift die Befchaffenheit des verliehenen 
Rechts und nicht die Art und Weiſe feiner Ausübung 
entjcheidend. Dies geht jchon daraus hervor, daß nach Art. 11 
des Geſetzes vom 3. November 1855 das Konzefjionsgeld zu 
entrichten ift, noch ehe von der Berechtigung Gebrauch gemacht 
wird. Es ijt daher unerheblih, ob die Erklärung des Rekur— 
renten Hinfichtlich der Art und Weife der Ausübung feiner Kon: 
zeflion und der Abgabe der von ihm verkauften fremden Weine 
überhaupt und der inländifchen Weine insbeiondere auf Wahr: 
heit beruht, und entbehrt jeine Rückforderung des angefegten 
Konzeſſionsgelds ſchon deßhalb der rechtlichen Begründung. 


Württemb. Archiv fir Nehtsc, XXII. Bd, 2. u, 3, Heft. 19 





— 278 — 


5. Poſtmeiſter Baumeiſters Wittwe in Waldſee 
Verſagung eines Bauweſens wegen mangelnder 
Zugänglichkeit. 


Urtheil vom 22. Mai 1880. 


Der Rekurrentin war letztmals durch Verfügung des Mini— 
ſteriums des Innern die Errichtung eines Schuppens für Torf 
und Holz aus feuerpolizeilichen Gründen wegen mangelnder 
Zugänglichkeit verſagt worden. Die hiegegen eingelegte Rechts— 
beſchwerde wurde verworfen. 

Gründe: Die Beſchwerdeführerin findet ſich durch die 
angeführte Verfügung rechtlich beſchwert, weil eine geſetzliche Be— 
ſchränkung der dem Eigenthümer eines Grundſtücks nah Art. 1 
der Neuen allgemeinen Bauordnung zufommenden Baubered: 
tigung im vorliegenden Fall nicht beftehe. Diefe Annahme it 
jedoh nicht als zutreffend zu erachten. Nach Art. 28 Abf. 1 
jenes Geſetzes muß jeder Bau fo angelegt fein, daß im Fall 
eines Brandes für die Feuerlöſch- und Rettungsanftalten der 
erforderliche Naum gegeben ift, und entſprechende Zugänglichkeit 
beiteht. Die hier gegebene Vorſchrift bezwedt zwar dem Wort: 
laut nach zunähft die Wahrung der Zugänglichkeit für den 
Neubau, fie gilt aber, wie aus den Motiven und dem lehteren 
entiprechenden $. 23 der Minifterialverfügung vom 26. Dezember 
1872 erhellt, gleichermaßen für das BVerhältniß des Neubaus 
zu beftehenden Gebäuden in dem Sinn, daß die Zugänglich— 
feit der leßteren insbefondere auch auf der Rückſeite erhalten 
bleiben ſoll. Daß aber das projeftirte Bauweſen die Zugäng- 
lichfeit des Gebäudes Nr. 91 in einer feuerpolizeilich bevenklichen 
Weiſe behindern würde, ift nah den thatfächlichen Verhältnifien 
nicht zu bezweifeln, fofern der Schuppen bei einer Länge von 
fünf Metern und einer Höhe von vier Metern nahezu der ganzen 
Rückſeite jenes Gebäudes entlang zu ftehen fommen, auch was 
insbefondere in das Gewicht Fällt, zu Aufbewahrung von Torf 
und Holz dienen fol, und vermöge diefer Beitimmung, wenn er 
gefüllt ift, nicht jo leicht und raſch, wie es im Brandfall ge: 
boten wäre, fich wegſchaffen ließe. Den gedachten Bedenken 





— 279 — 


könnte felbjtverftändlih auch nicht durch die Herftellung einer 
fteinernen Umfafjungsmauer, wozu fich Die Beigwerbeführerin 
eventuell erboten hat, begegnet werden. 

Da hiernach gemäß der angeführten Vorſchrift das frag: 
liche Bauwefen an derjenigen Stelle, wo folches projektirt ift, 
wegen feines in feuerpolizeiliher Beziehung bedenklichen Ber: 
bältnifjes zu dem Gebäude Nr. 91 nicht als zuläflig erjcheint, 
jo war die erhobene Bejchwerde als unbegründet zu verwerfen. 


6. Rechtsbejchwerde der Gemeinden Dürrenzimmern, 
Haufen an der Zaber, Klingenberg, Nordhauſen, 
Nordheim, Ochſenberg, Pfaffenhofen DW. Braden: 
beim gegen die Öenehmigung des Beſchluſſes der 
Amtsverfammlung Bradenheim, die Nahbarjchafts: 
traßen des Oberamtsbezirks Bradenheim in die 
Unterhaltung der Dberamtsforporation zu über: 
nehmen. 
Zuläßigfeit einer Befhmwerde der einzelnen Ge- 
meinde gegen einen Amtsverſammlungsbeſchluß. 


Urtheil vom 28. Juli 1880. 


Die Amtsverfammlung Bradenheim faßte auf Grund eines 
Outachtens des Dberamtspflegers und auf den Antrag des 
Amtsverfammlungsausfchuffes unterm 24. Juli 1878 mit Stim: 
menmehrheit (19:5) den Beſchluß: 

1) die fämmtlichen VBizinalftraßen des Bezirks des Ober— 
amts außerhalb Etters mit 99923 Metern einfchließlich des 
Grabenausfchlagens an den Staatsjtraßen vorerft auf ſechs Jahre 
für den 1. April 1879/85 in die Unterhaltung der Amtskorpo— 
ration zu übernehmen ; 

2) die Koften der Straßenunterhaltung unter dem Amts: 
ſchaden zur Umlage zu bringen; 

3) in Beziehung auf Neubauten nah einem noch zu ent: 
werfenden Statut die feitherige Konkurrenz der Amtskörperſchaft 
eintreten zu laffen, ſich aber im einzelnen Fall die befondere 
Beihlußfaffung der Amtsverfammlung vorzubehalten. 

Diefem Beihluß war eine Erhebung der Straßenjtreden 

19* 


— 230 — 


und eine Meberficht der ökonomischen Wirkungen dieſes Bes 
ichluffes auf die einzelnen Gemeinden vorausgegangen, aus der 
fich ergab, daß fünftig 14 Gemeinden 4387 Mark 10 Pfennig 
weniger, 17 dagegen 5087 Mark 51 Pfennig mehr für Straßen 
aufzumenden haben. 

Cs berechnet ſich das Weniger — das Mehr für die Ge— 


für die Gemeinden meinden 

MM. 5 MA 8 

Brackenhein auf 297 49 Botenheim auf 28 22 
Eibensbach „114 61 Cleebronn „169 4 
Häfnerhaslach ,„ 438 47 Dürrenzimmen „ 655 71 
Leobronn „ 249 28 Franenzimmen „ 215 73 
Mafjenbach „ 277 70 Güglingen „ 600 62 
Meimsheim „ 64 11 SHaberichladht „ 197 86 
Neipperg „ 135 36 Saufen a./2. „468 9 
Ochſenbach „ 655 87 Haufenb./Mafjend. „ 232 24 
Kirrbach „886 47 Kleingartach „ 176 64 
Spielberg „ 25 92 Klingenberg „ 362 84 
Stetten „ 643 15 Mideltah „ 203 77 
Stocdheim „ 592 65 Niederhofen "„ 297 85 
Weiler „514 47 Nordhaufen „104 36 
Baberfeld „ 291 28 Nordheim „ 742 14 
Ochſenberg „338 75 

Pfaffenhofen „ 145 62 

Schwaigern „3189 3 


Die Regierung des Nedarfreifes trug zuerjt Bedenken, den 
Beſchluß bei feiner Vorlage zu genehmigen, weil durch denjelben 
nicht nur die einem allgemeinen Verkehr dienenden, ſondern 
überhaupt alle Nachbarfchaftsitraßen von der Amtsverfammlung 
übernommen werben jollen und die Gemeinden Dürrenzimmern 
fowie Nordhaufen gegen den Beſchluß protejtirt haben. Auf 
die Borftellung der Amtsverfammlung über die Bedeutung der 
Straßen genehmigte jedoch die Kreisregierung unterm 20.125. Juni 
1879 den Befchluß, weil nach dem Beichluß dev Amtsverſamm— 
lung und dem Bericht des Dberamts anzunehmen jei, daß die 
zur Beit bejtehenden Nachbarichaftsitragen. nicht nur dem rein 
nachbarlichen Verkehr dienen, fondern einen größeren Bezirks— 








— 231 — 


verfehr vermitteln, deren Unterhaltung fonah im Sinn des 
$. 75 de3 Verwaltungsedift3 eine gemeinjchaftliche Aufgabe der 
Amtskörperſchaft bilde. Gegen diefen Befcheid bejchwerten fich 
die Gemeinden Dürrenzimmern, Haufen an der Zaber, Klingen: 
berg und Nordhaufen bei dem Minifterium des Innern. In 
ihrer Befchwerdefchrift ſuchten ſie die Bedeutung der einzelnen 
Straßen für den Verkehr geringer darzuftellen, wieſen auf bie 
den Gemeinden obliegende Pflicht der Straßenunterhaltung und 
die ihnen durch den Bejchluß der Amtsverfammlung zugehende 
Mehrbelaftung hin; die Behauptungen der Beſchwerdeführer über 
die Bedeutung der Straßen wurden jedoch von dem Dberanıt, 
dem Dberamtspfleger, dem Dberamtswegmeijter und der Amts— 
verfammlung entſchieden widerſprochen, und das Minijterium 
des Innern erklärte dur Erlaß vom 5. April 1880, daß es 
feinen Grund gefunden habe, die Verfügung der Sreisregierung 
außer Wirkung zu feßen, da die zu übernehmenden Straßen für 
den Bezirksverfehr von der dem $. 75 des Vermwaltungsedifts 
entfprechenden Bedeutung jeien. Die von den Gemeinden Dürren- 
zimmern, Nordhaufen, Klingenberg und Haufen an der Zaber 
erhobene Rechtsbejchwerde wurde von dem Verwaltungsgerichtshof 
als unbegründet, dagegen die Bejchiwerde der Gemeinden Nord- 
beim, Ochſenberg und Pfaffenhofen als unjtatthaft abgewiesen. 

Gründe: 1) Die Gemeinden Ochjenberg, Nordheim und 
Pfaffenhofen hatten fich an der von der Gemeinde Dürrenzimmern 
und Genojjen gegen den Bejcheid der Negierung des Nedarfreijes 
vom 20. Juni 1879 bei dem Minifterium des Innern im Ber: 
waltungsweg erhobenen Befchwerde nicht beteiligt. Nah Maß— 
gabe des Art. 59 Abf. 1 des Gefeßes über die Verwaltungs: 
rechtspflege konnte daher ihre Beſchwerde nicht als an den Ber: 
waltungsgerichtshof erwachſen angefehen werden, und war deß— 
halb als unjtatthaft abzuweifen. 

2) Gegenjtand der Entſcheidung des Berwaltungsgerichtshofs 
auf die Bejchwerde der übrigen Gemeinden kann nad Art. 13 
des angeführten Gefeges nur die Frage fein, ob der Beſcheid 
des Ministeriums des Innern vom 5. April 1880, der die Ge: 
nehmigung des Bejchluffes der Amtsverfammlung vom 24. Juli 
1878 nicht beanftandete, rechtlich begründet ift, nicht aber die 


— 282 — 





Frage, ob etwa mit Rückſicht auf die obwaltenden Verhältniſſe 
und die in Folge der Durchführung des Amtsverſammlungs— 
befchlufjes entjtehende Verfchiebung der Beftreitung des Koiten- 
aufwands für die Straßen des Oberamts Bradenheim eine Mo: 
dififation dieſes Befchluffes al® billig oder zweckmäßig zu 
erfennen iſt? Die Verfügung des Geeigneten in diefer Richtung 
it und war Sache der Berwaltungsbehörde, dem Verwaltungs: 
richter fteht nur die Entfeheidung darüber zu, ob die Amtsver- 
jammlung berechtigt ift, in der Weife wie -bejchlofien, die Vi— 
zinalftvaßen des Bezirks in die Verwaltung der Amtsforporation 
zu übernehmen ? 

3) Wenn die Bejchwerdeführer in diefer Beziehung zunächſt 
geltend gemacht haben, daß die Drtsvorfteher mehrerer Gemeinden 
bei dem Beſchluſſe von 24. Juli 1878 nicht mitgewirkt haben, 
und demgemäß ihre Gemeinden bei diejer Beihlußfaffung nicht 
vertreten waren, jo kann dies der formellen Giltigfeit des Be— 
Ichluffes feinen Eintrag thun. Der $. 76 Abi. 2 des Ber: 
waltungsedifts ordnet die Vertretung der einzelnen Gemeinden 
der Amtsverfammlung dahin, daß die kleinſten Gemeinden des 
Dberamtsbezirt3 fih über einen gemeinfchaftlicen Abgeordneten 
oder über eine gewiſſe Neihenfolge zu vergleichen haben. Nach— 
dem in dem Oberamtsbezirk Bradenheim das Letztere eingeführt 
ift, it die Amtsverfammlung nicht gehindert, jede im ihren. 
Reſſort fallende Frage zum Gegenjtand ihrer Beichlußfafjung. 
zu machen, ohne daß fie dabei die Art und Weiſe ihrer Ber 
jeßung in der hergebrachten Weife für den einzelnen Fall näher 
zu prüfen hätte, und der fünfte und jechste Abjat des 8. 76 
des Verwaltungsedifts geben Far an die Hand, daß der einzelne 
Amtsverfammlungsdeputirte zwar zur Vertretung der Rechte 
nicht aber der Intereſſen der Gemeinde berufen ijt, die ihn. 
in die Amtsverfammlung gejendet hat. 

4) Nun haben die Bejchwerdeführer allerdings geltend ge= 
macht, daß die Amtsverfammlung nicht berechtigt fei, in der 
von ihr bejchlofjenen Weife die Uebernahme der Bizinalftraßen 
des Bezirks in die Verwaltung der Amtsforporation zu vers 
fügen, und daß diefer Beſchluß in die Nechte ihrer Gemeinden 
deßhalb eingreife, weil ihnen dadurch eine ihnen nicht obliegende 





— 283 — 


Verbindlichkeit und ein Aufwand für Straßen auferlegt werde, 
den jie zu bejtreiten nicht verpflichtet jeien. Allein eine Ber: 
bindlichfeit zur Unterhaltung diefer Straßen wird ihnen 
durch den Amtsverfammlungsbefchluß überhaupt nicht auferlegt, 
diefe Pflicht joll ja unter Entbindung der Gemeinden von ihrer 
jeitherigen Zajt auf die Amtsforporation übergehen. Die Amts: 
verjammlung hat ihren Beſchluß mit überwiegender Stimmen: 
mehrheit und unter Genehmigung der Negierungsbehörde gefaßt, 
und weder der 8. 67 der Verfafjung noch der 8. 75 des Ber: 
waltungsedifts erfennt der Gemeinde ein Necht zu, einen for: 
mel giltigen Beſchluß einer Amtsverfammlung als einen unbe: 
rechtigten anzufechten, weil durch denfelben die Amtsjchadens- 
umlage eine Steigerung oder Aenderung erleidet. 

5) Wenn der $. 67 der Verfaſſung beftimmt: „Weder die 
Amtskörperſchaft noch einzelne Gemeinden follen mit Leiltungen 
und Ausgaben bejchwert werben, wozu fie nicht vermöge der 
allgemeinen Gejege oder Kraft der Lagerbücher oder anderer be: 
jonderer Rechtstitel verpflichtet find,“ jo follte damit nur das 
Verhältnig der Staatsbehörde zu den einzelnen Korporationen 
geregelt werden, nicht aber follte den Vertretern der einzelnen 
Korporationen damit eine Norm’ für ihre Zuftändigfeit und ihre 
Beihlußfaffung gegeben werden, wie dies aus dem Wortlaut 
diefer Bejtimmung, ihrem Zufammenhang mit den vorhergehenden 
und nachfolgenden Beitimmungen und den jtändifchen Verhand— 
lungen über diejelbe Kar hervorgeht. So jagt der jtändiiche 
Kommiffionsbericht über den Verfafjungsentwurf ©.153/4: „Damit 
jedoch jeder willkürliche Mißbrauch des Oberaufſichtsrechts 
deito gewiſſer entfernt werde, find in den nächſtfolgenden Para— 
graphen des Vorſchlags der Kommifjion $. 62. 63 (jekt 67) 
und 64 umfaſſende Bejtimmungen feitgejegt worden. Da jchon 
die SS. 24 und 30 die Freiheit des Eigenthums in der größten 
Allgemeinheit ausfprechen, da ferner der Schuß aller Nechte in 
dem jiebenten Kapitel von der Ausübung der Staatsgewalt auf 
das Vollſtändigſte zugejichert wird, jo it der $. 62 nur eine 
bejondere Anwendung diejer allgemeinen Grundſätze auf das 
Verhältnig des Staats zu den Gemeinden und ebenjo der 
$. 63 und 64, deren Beitimmungen ganz geeignet find, die Bes 





— 234 — 


ſorgniſſe zu entfernen, welche etwa aus der Erinnerung der 
Mipbräuche vergangener Zeiten in die fünftigen hätten über- 
getragen werden können.“ Die Verhandlungen der Ständever: 
fammlung über diefe Beitimmungen vom 13. September 1819 
(Brot. XVII ©. 51 ff.) zeigen überall nur das Bejtreben, die 
Korporationen und ihre Organe gegen Eingriffe der Staatsbe- 
hörden in ihre VBerwaltungsbefugnifie ſicher zu jtellen, und es 
erläutert der Vizepräfident der Ständeverfammlung a. a. D. 
©. 81 und 82 den Sinn des $. 67 dahin, daß derjelbe davon 
handle, daß den Amtsförperjchaften und einzelnen Gemeinden 
von außen her nichts fol können auferlegt werden. 

6) Ebenfowenig aber wie dem $. 67 der Verfaſſung iſt 
den SS. 75. und 78 des Verwaltungsedikts eine Beſchränkung 
des Necht3 der Organe der Amtsforporation in der Richtung 
zu entnehmen, was jie für eine gemeinfame Angelegenheit des 
Bezirks erklären, und als ſolche in den Bereich der Fähigkeit 
der Amtsforporation ziehen wollen. Wenn der $. 75 die Auf: 
gabe der Amtskörperſchaft dahin bejtimmt: „ihre gemein: 
Ihaftlihen Zwede mit vereinigter Anjtrengung auf gemein: 
Ihaftliche Koften zu verfolgen” und der $. 78 demgemäß „zu 
Beitreitung der gemeinjamen Bedürfniffe eine eigene Kafje 
zu. haben, deren Ausgaben durch jährliche Umlagen auf die Ge— 
meinden (Amtsfchaden) gedecdt wird,” vorfchreibt, jo erwächst 
aus diejen Beitimmungen, wie Klar ift, den einzelnen Gemeinden 
der Amtskörperſchaft Fein Necht, einen ordnungsmäßig gefaßten, 
von der Aufiichtsbehörde genehmigten Beſchluß der Amtsver- 
fammlung deßhalb anzufechten als einen unberechtigten, weil fie 
binfichtlich der Frage, was eine gemeinſchaftliche Angelegen- 
heit des Bezirks ift, eine andere Anficht hat, als die in Ber: 
bindung mit der Auffichtsbehörde zur Entjcheidung hieruber 
berufene Amtsverſammlung. 


7. Rechtsbeſchwerde des Fabrikanten C. S. in S 
über einen Akziſeanſatz. 


Urtheil vom 3. September 1880. 


Auf erhobene Beſchwerde hatte der k. Geheimerath unterm 


— _ nu 





— 285 — 


26. September 1877 den Fabrifanten C. ©. von ©, für ver- 
pflihtet erfannt, von den bei Auflöfung des zwiſchen ihm und 
dem Fabrifanten K. beitandenen Gefchäftsverhältnifjes neben der 
hälftigen Liegenfchaft übernommenen Waarenvorräthen, Mobilien 
und Mafchinen, jo weit fie zum Antheil des Verkäufers K. ge— 
hören, die gefegliche Akziſe gleichfalls zu entrichten unter Ver— 
werfung der von ihm gegen die Verfügung des Finanz-Mini- 
fteriums erhobenen Befchwerde. 

Unterm 5. Dezember 1879 wurde von dem Steuerfollegium 
BZwangsvollitredung gegen ©. angeordnet, und eine von ihm 
gegen Diefe Verfügung bei dem Finanz Minifterium erhobene 
Beichwerde unterm 31. Dezember 1879 abgewiejen, weil Die 
getroffene Verfügung nad Art. 12. 13 und 5 des Geſetzes vom 
18. August 1879 als gerechtfertigt erfcheine, feine Einwendungen 
gegen die Entfcheidung des Geheimenrath3 vom 26. September 
1877, daß nad $. 12 des Akzifegefeges nicht er als Käufer, 
fondern K. als Verkäufer für die Akziſe aufzulommen habe, 
ihon vor der Enticheidung des Geheimenraths hätten geltend 
gemacht werden können, er aber durch diefe Entſcheidung zur 
Bezahlung der Akzife für verpflichtet erfannt worden fei. Gegen 
diefe ihm am 11. Januar 1880 eröffnete Verfügung des Finanz: 
Minifteriums reichte S. am 29. Januar 1880 eine Bejchwerde 
bei dem Geheimenrath ein, der diefelbe unterm 4. März 1880 
al3 nicht vor den Geheimenrath gehörig zurückwies. Nun reichte 
S. unterm. 19.26. Juli 1880 eine Befchwerde bei dem Ber- 
waltungsgerichtshof ein, in der er theils die Entſcheidung des 
Geheintenrath3 wegen ihres Widerfpruhs mit dem $. 12 des 
Akziſegeſetzes anfocht, theils über das auf diefe Entſcheidung ge— 
gründete Zwangsvollitredungsverfahren fich befchwerte. 

Der Verwaltungsgerichtshof wies die Beſchwerde koſtenfällig 
zurüd. 

Gründe: Der Befchwerdeführer ift durch rechtsfräftiges 
Erfenntniß des Geheimenraths vom 26. September 1877 für 
verpflichtet erfannt worden, von den bei der Auflöfung des 
zwischen ihm und dem Fabrifanten K. bejtandenen Geichäftsver: 
bältnifjes neben der hälftigen Liegenfchaft übernommenen Waaren— 
vorräthen, Mobilien und Majchinen, foweit fie zum Antheil des 


nn 
| — 
AN ) 


— 256 — 


Verkäufers K. gehörten, die gefegliche Akziſe gleihfalls zu ent= 
richten. 

In feiner Eingabe an den Verwaltungsgerihtshof vont 
19.26. Juli d. 3. hat er theils gegen die wegen Beitreibung 
der Akziſe gegen ihn getroffene Verfügung des Finanz-Mini— 
fteriums vom 31. Dezember 1879, die ihm jedenfalls im Monat 
Januar 1880 eröffnet wurde, theild über die Entſcheidung des 
Geheimenraths vom 26. September 1877 deßhalb Beſchwerde 
erhoben, weil nach 8. 12 des Afzijegejeges vom 18. Juli 1824 
die Bezahlung der Akziſe nicht- ihm al3 Käufer, jondern dem 
Berfäufer obliege. 

Die erhobene Beſchwerde war in beiden Richtungen zurüd- 
zuweifen. Inſoweit mit der Eingabe eine Rechtsbeſchwerde 
gegen die Verfügung des FinanzMinijteriums vom 31. Dezem:- 
ber 1879 erhoben werden wollte, ift abgejehen von der Frage 
ihrer Statthaftigfeit überhaupt die durch Art. 60 des Geſetzes 
vom 16. Dezember 1876 betrefjend die Verwaltungsrechtspflege 
bei Berluft des Nechtsmittels gegebene am Weiteſten bemeſſene 
Friſt von einen Monat verfäumt, injfoweit aber das Erkenntniß. 
des Geheimenrath vom 26. September 1877 jei es im Wege 
der Nichtigfeits= oder Neftitutionsklage ($. 541 der Neichscivil- 
prozeordnung) angefochten werden wollte, fehlt es an einem der 
in den 88. 542 und 543 der Neichscivilprozeßordnung ange— 
führten Gründe, die den Bejchwerdeführer zu der einen oder der 
anderen der beiden Klagen berechtigen würde. 


8. Beſchwerde des Part. NR. K. in ©. wegen Beſteue— 
rung eine Kapital2. 


Urtheil vom 3. September 1880. 


Die Beichwerde wurde aus folgenden Gründen zurüdge- 
wiejen: 

Der Beichwerdeführer, welcher ein zu 5°/o verzinsliches. 
Kapital von 50000 Mark bei dem im Dftober 1879 gejtorbenen 
Seiler €. 3. 9. in 9. zu fordern hat, glaubt zu der Steuer- 
entrichtung aus dem Zingertrag nad) dem Geſetz vom 19. Sep: 
tember 1852 für die Jahre 1878/80 nicht verpflichtet zu fein, 





— 28397 — 


weil er die Zinſe in jener Zeit nicht bezogen und ſolche aus 
der überſchuldeten Verlaſſenſchaftsmaſſe des H. nicht zur Be— 
friedigung gelangen werden. Dieſer Umſtand kann jedoch eine 
Freilaſſung von der Steuer nicht rechtfertigen, da wie auch in 
der dem Beſchwerdeführer zugeſtellten gedruckten Faſſionsbeleh— 
rung Ziff. 6 lit. b und o ausdrücklich bemerkt iſt, die Steuer 
von allen denjenigen Kapitalien anzugeben und zu entrichten ift, 
welche der Pflichtige am 1. April, früher 1. Juli mit dem ver: 
tragsmäßigen Anfpruch befist, im nachfolgenden Jahr Zinfe 
daraus zu beziehen. Es folgt dies namentlich aus der allge- 
meinen Beftimmung des Art. 5 des Geſetzes, wornach der Be- 
ftand der Kapitalien am 1. April für die Befteuerung allein maß— 
gebend ift, was von ſelbſt die Annahme ausfchlieft, daß nad) 
dem Zinjenbezug des Vorjahrs fatirt werden darf, oder daß der 
Steueranfaß erſt von dem künftigen Eingang der Zinfe noch 
abhängig ſei. 

Nur ausnahmsweife hat die Zentraljteuerbehörde, welche 
nad) Art. 7 des Gefepes über die Aufnahme des jteuerbaren Ein: 
fommens nähere Vorfchriften zu ertheilen berechtigt ift, zugelaflen, 
daß ſolche Kapitalien, über welche zur Zeit der gejeglichen Faſſion 
ein Sant obſchwebt, einftweilen vorgemerkt werden, und wenn 
die Zinfen nach dem Ergebnijje des Gants dem Gläubiger vers 
foren gehen, ſolche auch nicht zur Beſteuerung kommen follen. 
Hier wird dann von der Steuerbehörde angenommen, daß. 
ihon zur Zeit der Faflion ein Zinſenanſpruch nicht mehr be- 
itanden babe. 

Dies auf andere Fälle auszudehnen, wo der Gläubiger die 
Zinfe nicht eingezogen hat, und ſolche dann jpäter aus irgend 
welhem Grunde nicht bezahlt werden, ift unzuläflig. Vielmehr 
hat der Gläubiger, welcher nicht rechtzeitig die Einleitung des. 
Santverfahreng beantragt und auf Grund des lehteren die Vor: 
merfung bewirkt hat, auch feinen Anſpruch auf —— des. 
Steueranfaßes. 

Da nun im vorliegenden Fall am 1. Juli 1878 beziehungs= 
weife 1. April 1879 ein Sant gegen den Schuldner noch nicht 
anhängig war, vielmehr exit im September 1879 auf Andringen 
der Gläubiger die Ueberſchuldung des H. dent Gericht angezeigt 





— 2838 — 


wurde, fo ericheint die Anfechtung der Verfügung des Finanz: 
minifteriums vom 8. Juli 1880 nicht al3 begründet. 


9. Rechtsbeſchwerde der Irrenanftalt des Dr. Landerer 
in Göppingen gegen die Ausdehnung des Schladhthaus: 
zwangs auf diefelbe. 


Urtheil vom 3. September 1880. 


Der 8.23 der Reichsgewerbeordnung beitinmt: „Der Landes: 
geſetzgebung bleibt vorbehalten, für ſolche Orte, in welchen Schlacht: 
bäufer von genügendem Umfang vorhanden find oder errichtet 
werden, die fernere Benügung beitehender und die Anlage neuer 
Privatichlächtereien zu unterſagen.“ 

Die Minijterialverfügung vom 14 März 1860 hatte in 
$. 1 bejtimmt: In Gemeinden, in welchen öffentlihe Schladt: 
bäufer beftehen, darf das große Vieh nur in ihnen gefchlachtet 
werden. Das Schlachten des kleinen Viehs (Kälber, Schafe, 
Schweine) hat da, wo öffentlihe Schlachthäuſer beitehen, in der 
Kegel gleichfalls daſelbſt Statt zu finden; es fann jedoch dejjen 
Bornahme in den Schlahtbänfen der Metzger dann geftattet 
werden, wenn der Verweiſung desfelben in das Schlachthaus 
überwiegende Schwierigfeiten entgegenſtehen. $. 2: Die Ober: 
ämter haben dahin zu wirkten, daß in größeren Gemeinden, in 
welchen das Bedürfniß es erfordert, und die Umstände es zu: 
lajjien, für das Schlachten des Viehs von der Gemeinde oder 
den Metzgern des Orts öffentliche Schlahhthäufer hergeitellt wer: 
den und es haben die Gemeindebehörden für deren Benügung 
die Vorſchriften zu ertheilen. 

Gleichlautend hiemit find die SS. 1 und 2 der Minifterial- 
verfügung vom 21. Auguft 1879. 

Sodann bejtimmt das Landespolizeiftrafgefeg Art. 29: Einer 
Gelditrafe bis zu 10 Thalern unterliegt, jomweit nicht der 8. 367 
Ziff. 7 des Reichsſtrafgeſetzbuchs Platz greift, wer den polizei- 
lihen Borjhriften in Beziehung auf das Schlachten von Vieh 
und den Berfehr mit Fleifch, ſowie in Beziehung auf die Nein: 
lichkeit in Schlachthäuſern und Verfaufslofalen zumiderhandelt. 

Sodann ift zu verweifen auf den Abfchnitt III des Landes: 





— 289 — 


polizeiftrafgefeßes Art. 51 —57 über das Verordnungsrecht in Po— 
lizeifachen. 

Unterm 11. April 1876 beſchloſſen die bürgerlichen Kollegien 
in Göppingen eine Kommifjion zur Verhandlung mit den Meb- 
gern über die Errichtung eines Schlahthaufes niederzufegen. Nach 
einigem Widerftreben waren die Metzger zur Errichtung eines nach 
einem von der Gemeindebehörde und den Oberbehörden gutge- 
heigenen Plane auszuführenden Schlachthaufes bereit, das dann 
gebaut wurde, während die von den Metzgern entworfene Schladht- 
hausordnung von dem Gemeinderath mit einigen Modifikationen 
gebilligt und von dem Dberamt Göppingen unterm 7.Dftober 1878 
für vollziehbar erklärt wurde. 

Dieje Schlachthausordnung befagt in $. 1: Alles große und 
fleine Schlachtvieh (Ochſen, Farren, Kühe, Ninder, Schweine, 
Kälber, Schafe, Hämmel, Ziegen), welches zum Verkauf oder zur 
Derwendung in Wirthichaften oder öffentlichen Anftalten (wozu 
auch die Heilanftalt gehört) beſtimmt ift, muß im Schlachthaus 
gejchlachtet werden. Das Gleiche gilt von Privaten, welche für 
ven eigenen Hausgebrauch fchlachten, jofern fie in dem Stadt: 
gemeindebezirf wohnen. 

Die Heilanjtalt Göppingen erhob gegen diefe Vorfchrift Be: 
ihiwerde bei dem Oberamt Göppingen. Sie habe früher die Fleifch- 
lieferung für die Anftalt an die Stadtmeßger vergeben. Die Er: 
fahrungen über die Qualität des Fleifches haben fie zur Erbauung 
eines eigenen Schlachthaufes genöthigt. Sie habe einen eigenen 
Megger angeftellt und das Schlachten in eigener Regie betrieben. 
Zur Kontrole des Betriebs jei das Schlachten im eigenen Schlacdht- 
haus nöthig. Die Höhe des Verpflegungsgelds für 250 Staats— 
pfleglinge beruhe auf dem Betrieb eigener Gewerbe, der Mebgerei, 
Däderei, Schneiderei ꝛc. Schon die Steuererhöhung 1876/7 213 fl. 
jest 37857 Mark habe die Berpflegungspreife zu ihren Ungunften 
geändert, der Schlachthauszwang fteigere dies, und müßten jie, 
würde er beharrt, um Nenderung des Vertrags bitten. Eine Aen— 
derung der Schlachthausordnung werde daher billig fein. Der 
Gemeinderath erklärte fich gegen eine Aenderung, weil die Anjtalt 
in dem öffentlihen Schlahthaus ſchlachten fünne und eine Aus— 
nahme der Schmuggelei Thür und Thor öffne. Die Gebühren jeien 


— 290 — 





nicht von der Bedeutung, um auf die Höhe des DVerpflegungs- 
gelds Einflug zu haben. Die Anftalt beharrte auf ihrer Bitte, 
Im Interejje befjerer Fleiſchnahrung habe die Anftalt das Schlach— 
ten in eigener Regie eingeführt. Die Nothwendigfeit diefer Maß— 
regel beweife der Umſtand, daß Pfarrer Blumhardt in Boll fein 
Ssleifch nicht aus Göppingen, jondern aus dem entfernten Kird- 
heim beziehe. Maftochjen werden in Göppingen nicht, jondern 
nur Rinder und Stiere geſchlachtet. Die Kontrole fei nur beim 
Schlachten im eigenen Schlachthaus möglih. Der Gemeinde: 
rath hätte der Anftalt zeitig Mittheilung machen jollen, damit 
die Anstalt fich bei dem Bau und feinen Erfordernifjen hätte be 
theiligen fünnen. Die Kommunalfteuern jeien gejtiegen und die 
Schlahthausgebühren bedeutend. Gegen das beftehende Schladit: 
haus der Anftalt habe das Medizinalkollegium nie etwas ein- 
gewendet und das neue Schlahthaus fei für die Stadt, nidt 
für die Anftalt ein Bedürfniß geweſen. Die Minifterialverfügung 
vom 14. März 1860 jei durch Art. 57 des Landespolizeiftraf: 
geſetzes hinfällig geworden. Die Verpflegungsfrage fei für die 
Anftalt von hoher Bedeutung und diefelbe, auf der ihr Kredit 
beruhe, nur durch eigene Regie, eigenen Gemüfebau, Bäderei, 
Schlächterei möglid. Durch Befeitigung der letteren werde die 
Lieferung des Hauptnahrungsmittels, des Fleifches, nicht in der 
jeitherigen Bolllommenheit möglich und der Kredit der Anitalt 
geihädigt, auch die Beibehaltung des feitherigen Berpflegungs: 
geld von 438 Mark jährlich um fo weniger möglich, als die 
Steuern von 3304 Mark 29 Pfennig in dem Jahr 1873/4 für 
das Jahr 1877/8 auf 7308 Mark 21 Pfennig geftiegen feien. — 
Das Dberamt Göppingen wies jedoch die Bejchwerde unterm 
17.21. Sanuar ab, weil dem Gemeinderath nad Abjchnitt II 
des Landespolizeiftrafgefeges die Befugniß zuftand, eine die 
ganze Gemeinde, jomit auch die Anftalt bindende Schlachthaus: 
ordnung zu erlaſſen, Rechtsgründe für die Freilafjung nicht geltend 
gemacht feien, auch das Statut in der gejeglich vorgejchriebenen 
Meife zu Stande Fam. 

Sn der biegegen an die Kreisregierung eingereichten Be: 
jchwerde wurde der Charakter des Schlachthaufes als eines öffent: 
lichen angefochten, weil dasjelbe Eigenthum der Meßger fei. Die 





— 291 — 


Miniſterialverfügung vom 14. März 1860 ſchreibe den Schlacht— 
hauszwang nur für größeres Vieh vor, und da nur Schlacht: 
bäufer der Gemeinde öffentlihe Schlachthäufer feien, jo wider— 
ſpreche das Statut dem Geſetz. Auch hätten die Verhältnifje 
der Anftalt vor der Genehmigung des Statut3 geprüft werden 
folen. Das Statut jei daher nach Art. 56 des Landespolizei- 
jtrafgefeßes außer Wirkung zu feßen. Das Gtatut unterfage 
jedem Nichtmeßger den Beitritt, und jeße für den Eintritt der 
Mepger erſchwerende Beftimmungen feit. — Der Gemeinderath 
entgegnete, daß das Schlachthaus unter polizeilicher Aufficht 
ftehe. Das Statut regle nur die privatrechtlichen Verhältniſſe 
der Mebger und berühre das öffentliche Verhältniß nit. Die 
Anſtalt jei vorher zum Beitritt aufgefordert worden, und hätte 
fih durch das Eingehen hierauf die milderen Bedingungen der 
Aufnahme fichern können, der Beitritt ftehe aber der Anftalt 
auch jetzt noch ftet? offen. Die Anordnung des Gemeinderaths 
liege im Intereſſe der Anftalt felbit, denn es ſei auffallend, daß 
noch nie Fleiſch von der Anjtalt auf die Freibanf fan, wäh— 
rend auch dem beiten Metzger vorfomme, daß ein Stüd wegen 
Krankheit und dergl. der Freibank übergeben werden müſſe. — 
Die Statuten der Mebgergenofjenfchaft in Göppingen halten $. 6 
jedem in Göppingen Wohnenden zum felbjtändigen Betrieb des 
Mekgergewerbes Berechtigten den Beitritt offen. $. 7 regelt das 
Eintritt3geld auf 300 Mark und die Verpflichtungen der Mit: 
glieder. Nichtmitglieder zahlen doppelte Gebühren. — Unterm 
22. April 1879 erkannte die Kreisregierung die Befchwerde für 
gegründet und ſprach die Freiheit der Anftalt von dem Schlacht- 
hauszwang aus. „Rückſichten auf die Gefundheitsverhältnife von 
Göppingen haben die Erbauung des Schlachthaufes in Göppingen 
erfordert. Da mit Eriafjung der Vorfehriften über das Schlad)- 
ten und den Berfehr mit Fleiich ftets Eingriffe in Privatrechte 
verbunden jeien, lafje der Art. 56 des Landespolizeiftrafgejeßes 
die Aufhebung polizeilicher Vorſchriften wegen der Verlegung der 
Rechte Dritter zu, durch diefen Artifel follte nach den Motiven 
gegen geſetzwidrige unzwedmäßige, dem öffentlichen Wohl oder 
den Intereſſen Einzelner nachtheilige polizeiliche Verfügungen 
Schuß gewährt werden. Die für die Errichtung des öffentlichen 





— —— 


Schlachthauſes in Göppingen maßgebenden Gründe treffen für 
die Anftalt nicht zu, fie liegt außerhalb der Stadt auf dem 
linfen Filsufer, ihre Schlachtbank ift genügend eingerichtet, der 
Betrieb des öffentlichen Schlachthauſes auch ohne die Anjtalt 
möglid. Es liegt daher Feine zwingende Nothwendigfeit vor, fie 
in ihrem Eigentum zu beſchränken, weßhalb 8. 1 der Schladt- 
hausordnung als auf fie nicht anwendbar außer Wirkung gefegt 
wird.” Auf erhobene Bejchwerde des Gemeinderaths Göppingen 
änderte jedoch das Minifterium des Innern unterm 16. Juli 1880 
die Entfeheidung der Kreisregierung ab, und jtellte das Erkennt— 
niß des Dberamts Göppingen wieder her, das die Bejchwerde 
der Anftalt gegen den $. 1 der Schlachthausordnung abgemwiefen 
und fie verpflichtet hatte, im öffentlichen Schlachthaus zu Tchlachten. 

Gründe: 1) Es liegt feiner der Gründe des Art. 56 
des Landespolizeiftrafgefepes vor, aus welchen die ortspolizeiliche 
Verfügung aufgehoben werden könnte, insbeſondere enthält die— 
jelbe feine Verlegung der Nechte der Anftalt, da felbjt wenn die 
in derſelben eingeführte Privatichlächterei in Gemäßheit- des 
$. 16 der deutjchen Gewerbeordnung genehmigt worden wäre, 
was aus den Akten nicht zu erjehen ift, die Unterfagung ihrer 
ferneren Benügung nah $. 23 Abf. 2 der deutjchen Gewerbe— 
ordnung zuläſſig ift, weil dag Vorhandenſein eines öffentlichen 
Schlachthauſes von genügendem Umfang zutrifft, indem das 
Schlachthaus der Metzgergenoſſenſchaft unter polizeiliher Aufficht 
jteht, deffen Benügung unter Einhaltung der ortpolizeilichen Ans 
ordnungen Jedem offen fteht, als ein öffentliches Schlachthaug 
im Sinn des 8. 23 der deutjchen Gewerbeordnung und der 
Minifterialverfügung vom 19. Auguft 1879 anzufehen ilt. 

2) Die Schlachthausordnung der Mebgergenofjenichaft in 
Göppingen fteht mit den Minifterialverfügungen vom 14. März 
1860 und 19. Auguft 1879 vollkommen im Einklang. 

3) Eine Difpenfation der Anftalt von 8. 1 der Schlacht: 
bausordnung erfcheint auch, wenn fie zuläflig wäre, nicht als 
begründet, weil die hiefür geltend gemachten Gründe keineswegs 
jo erheblich find, um diefelbe zu rechtfertigen. 

Innerhalb der gefeglichen Frift erhob die Anftalt hiegegen 
Bejchwerde bei dem Verwaltungsgerichtshof. Sie behauptete, 





u ee ud 





— 293 — 


daß der $. 23 der deutichen Gewerbeordnung ein Landes geſetz 
verlange für. die Unterfagung der Privatichlächterei. Das Ber: 
bot fei daher ungerechtfertigt, außerdem werde aber. ein öffent- 
lihes Schlachthaus gefordert, was das Schlahthaug der Mebger: 
genoſſenſchaft nicht fei. 

Der Berwaltungsgericht3hof wies die Bejchwerde unter Ver: 
urtheilung der Befchwerdeführerin in die Koften ab. 

Gründe: Wenn der 8.23 der deutjchen Gewerbeordnung 
Ab). 2 bejtimmt: Der Landesgejeßgebung bleibt vorbehalten, 
für ſolche Orte, in welchen öffentlihe Schladhthäufer in genü— 
gendem Umfang vorhanden find, oder errichtet werden, die fernere 
Benützung beftehender und die Anlage neuer Brivatichlächtereien 
zu unterfagen, jo wollte damit nicht, wie die Bejchwerdeführerin 
unterftellt, ausgefprodhen werden, daß ein Verbot der Privat: 
-Ihlächterei für einzelne Drte nur im Wege des Geſetzes zuläflig 
jei, daß es zur Grlafjung eines ſolchen Verbot3 eines Geſetzes 
bedürfe, fondern es wollte damit dieje Frage nur aus den Be: 
reich der Gejeßgebung des Reichs ausgejchieden und den einzelnen 
Bundesftaaten zur Erledigung zugewiejen werden. Der Natur 
der Sache nah mußte hiebei die Neichsgefeggebung dem Eoniti- 
tutionellen Staatsrecht des einzelnen Staats überlafjen, ob nad 
demſelben für die Erlafjung der hiezu erforderlichen Bejtimmungen 
die Betretung des Gejeßgebungsmegs geboten ift, eine Vorſchrift, 
diefen Weg zu betreten, fonnte und wollte mit dem $. 23 
Abſ. 2 der deutfchen Gemwerbeordnung nicht gegeben werden, 
wie denn der 8. 155 Abf. 1 desfelben ausdrüclich bejtimmt: 
Wo in diefem Geſetz auf das Landesgefeß verwieſen ift, find 
unter dem legteren auch die verfaſſungs- und gefegmäßig er: 
lajjenen Verordnungen verjtanden. Wird damit Alles das hin- 
fällig, was die Bejchwerdeführerin aus dem von ihr dem $. 23 
Abi. 2 der deutfchen Gewerbeordnung unterftellten Sinn glaubt 
herleiten zu fönnen, jo ergibt fi die Befugniß der Gemeinde: 
behörde in Göppingen, auf dem durch die Artikel 51 ff. des 
Landespolizeiftrafgefeges vorgezeichneten Wege des Drtsftatuts 
den Schladhthauszwang einzuführen und denfelben auch auf das 
Schlachten des Fleifches für die Heilanftalt in Göppingen aus— 
zudehnen, zur Genüge aus dem, was das Minijterium des Innern 

Württemb. Arhiv für Recht ꝛc. XXII. Bd, 2. u. 3. Heft. 20 





— 2A — 


in ſeiner Verfügung vom 16. Juli d. J. hiefür geltend gemacht 
hat, dem noch beizufügen iſt, daß ſchon das Generalreſkript vom 
30. Juli 1721 verfügt, daß jedes Stück Vieh in dem öffentlichen 
und jedes Orts zur Abſchlachtung des Viehs deſtinirten Ort 
oder Haus gemetzget werden ſoll. Ebenſo wenig gegründet iſt 
die Einwendung, daß das Schlachthaus in Göppingen deßhalb 
nicht als öffentliches Schlachthaus angeſehen werden kann, weil 
ſich dasſelbe im Eigenthum der Metzgergenoſſenſchaft in Göppingen 
befindet. Daß die Beſchaffung der Schlachthäuſer durch die 
Metzger ſelbſt den Character eines öffentlichen Schlachthauſes 
nicht alterirt, geht aus je dem 8. 2 der Miniſterialverfügungen 
vom 14. Merz 1860 und 19. Auguſt 1879 unzweifelhaft her— 
vor; von demſelben unabhängig ſind aber diejenigen Dispoſitionen, 
welche aus dem Eigenthumsrecht der Metzgergenoſſenſchaft folgen, 
die ebendeßhalb auch keine Beziehung zu dem öffentlichen Cha— 
racter des Schlachthauſes haben. Die Beſchwerde konnte daher 
rechtlich begründet nicht gefunden werden. 


10. Beſchwerde des Landtagsabgeordneten C. Mayer 
und des Rechtsanwalts Bayer II von Stuttgart 
gegen die Ueberwahung einer Verfammlung der 
Bolfspartei. — Befhwerderedt. Zuftändigfeitsgrenze. 


Urtheil vom 2. Dftober 1880. 


In den Nummern 2 ff. des Beobachters vom 3. ff. Januar 
1880 erſchien an der Spige des Blattes „eine Bekanntmachung 
der Landesverfammlung der Volkspartei“, wornach „Dienftag den 
6. Januar Bormittags "sell Uhr im Konzertfaal der Lieder: 
halle eine Berfammlung” ftattfinden jollte, als deren Tages: 
ordnung „Angelegenheiten des Barteiorgans und Bericht des Be: 
obachters:Komites, Bericht über den Barteitag in Coburg vom 
12. Dftober, Neuwahl des Yandesfomites“ bezeichnet wurden. „Die 
Berfanmlung, heißt es in der Bekanntmachung, ift nur Bartei: 
genojjen zugänglich; diefe werden zu zahlreihem Bejuch Freundlich 
eingeladen. Am Vorabend trifft man fih von 10 Uhr an bei 
Weirler in der Gymnaſiumsſtraße. Am Abend nad) der Ver: 
ſammlung trifft man fi im Bären.” 





K Vral udn ne 7 

In DE —— *4 

mie EA‘ Es r 
en 

ä J 





— 295 — 


Die Stadtdirektion ſah ſich veranlaßt, zum Anwohnen einen 
Polizei-Kommiſſär in dieſe Verſammlung abzuordnen. Gegen dieſe 
Maßregel beſchwerten ſich der Landtags-Abgeordnete C. Mayer 
als Vorſtand und der Rechtsanwalt Payer II als Schriftführer 
des gedachten Landeskomités und Vorſitzender der Verſammlung 
bei der Regierung des Neckarkreiſes. Die Beſtimmung und Auf— 
gabe der Verſammlung, wird geltend gemacht, ergab von ſelbſt, 
daß dieſelbe nur Parteigenoſſen zugänglich ſein ſolle, wie dies 
in der Bekanntmachung ausdrücklich geſagt war. Dieſer Charakter 
wäre der Verſammlung auch gewahrt geblieben, wenn nicht die 
Stadtdireftion zum erjten Mal feit 15 Jahren, jeit denen Die 
Volkspartei bejteht, deren Beſchickung durch zwei Polizeibeamte 
verfügt hätte, die erklärten, daß fie angewiejen jeien, der Ber: 
jammlung in amtlicher Eigenfchaft anzumwohnen. Weder ein Neichs: 
gejeg noch ein Landesgeſetz berechtigt in Württemberg die Bolizei: 
organe, gegen den Willen der Verfammlung in derjelben zu er: 
jheinen, welde in dem von ihr gemietheten Lokal von dem 
Recht der VBerfammlungsfreiheit gejegmäßig Gebrauch macht. 

Die Fälle, in denen der Bolizei das Recht zufteht, das 
Hausrecht der Verfammelten nicht zu vejpeftiren, find ausdrück— 
lih im Geſetz vorgejehen. Namens der Verfammlung erheben 
fie daher Beſchwerde, und bitten, die geeignete Nemedur eintreten 
zu lafjen, und der Stadtdireftion für die Zukunft ſolche Eingriffe 
in die Rechte der Staatsbürger zu unterfagen. 

Die Regierung gab jedoch unterm 13. Februar 1880 den 
Beicheid, daß fie der erhobenen Beſchwerde Feine entjprechende 
Folge zu geben vermöge „Es ift, fagt fie, ein allgemeiner 
Grundfaß des Staatsrechts, daß im Begriff und Wejen der 
- Staatögewalt das Recht der Aufficht über die politifchen Vereine 
und die öffentlihen Verfammlungen zu Beſprechung allgemeiner 
Angelegenheiten enthalten ift, und daß aus diefem Aufſichtsrecht 
von ſelbſt die Befugniß der Staatsgewalt folgt, von dem Verlauf 
derartiger Berfanımlungen durch ihre Organe Kenntniß zu nehmen. 
Diefer in der Theorie und Praris des deutſchen Staatsrechts 
anerfannte Grundjag, welcher auch aus der oberaufjehenden Ge: 
walt des Staats abzuleiten ift, wird au, was Württemberg insbe: 
jondere betrifft, von Mohl Staatsrecht I. Theil S. 358 fejtge: 

20% 





— 2% — 


halten und hat überdies in dem Gejeg vom 2. April 1848 be- 
treffend die Bolfsverfammlungen und dem Art. 18 des Polizei: 
ftrafgejeße8 von 1839, der fpäter in das Landespolizeijtrafgefet 
überging, feinen pofitiven Ausdrud gefunden. 

Diefe Gefege, indem fie dem Staatsbürger das Recht, 
öffentliche Berfammlungen zu Beſprechung allgemeiner Angelegen: 
heiten abzuhalten, und das Recht, politifhe Vereine zu bilden, 
einräumen, ftellten das Recht des Staats zur Oberaufficht über 
die politiihe Thätigfeit der Vereine und Verfammlungen nicht 
nur in feiner Weife in Frage, fondern fie beftätigen das Beſtehen 
desjelben, indem fie in der Borausfegung des Beitehens desjelben 
Vorjehriften geben, welche die Behörden in den Stand eben, 
das Oberauffichtsrecht auszuüben. Die Königliche Verordnung vom 
24. Dezember 1864 betreffend die Preffe und das Vereinsweſen, 
durch welche die Vorſchriften der Königlichen Verordnung betref- 
fend die Regelung des Vereinsweſens vom 25. Januar 1855 
aufgehoben worden find, hat hieran nichts geändert, indem jie 
ausdrüdlich beftimmt, daß die bis zur Erlafjung der legteren Ber: 
oronung geltenden das Oberaufſichtsrecht des Staats voraus: 
jegenden Borjchriften des Landesgejeges wieder in Wirkung treten. 

Was nun insbefondere das Geſetz vom 2. April 1848 be: 
treffend die Bolfsverfammlungen anlangt, jo ift in demfelben 
zwar den Staatsbürgern das Necht eingeräumt, öffentliche Ver: 
jammlungen zu Befprehung allgemeiner Angelegenheiten ohne 
polizeiliche Erlaubniß abzuhalten, es iſt denfelben aber zugleich 
die Beobahtung der zur Aufrechthaltung der Geſetze und der 
bürgerlihen Ordnung beftehenden Vorſchriften zur Pflicht ge 
macht und weiter bejtimmt, daß ſolche Verſammlungen entweder 
öffentlich befannt zu machen, oder der Ortsbehörde anzuzeigen’ 
find. Dieje legtere Beftimmung hat aber gerade den Zweck, 
der Polizeibehörde von der Abhaltung derartiger Verſammlungen 
Kenntniß zu geben, um fie in den Stand zu ſetzen, das ihr zuftehende 
Auffihsrecht zur Verhütung etwaiger Mißbräuche zu handhaben. 

Darüber, daß die Landesverfammlung der Volkspartei vom 
6. Januar d. J., zu welcher ſich Angehörige der verjchiedeniten 
Theile des Königreich zur Bejprehung von Angelegenheiten 
politijcher Natur vereinigt hatten, zu den öffentlichen Verſamm— 





BER. 


Tungen im Sinn des Gejeßes vom 2. April 1848 zu zählen jeien, 
kann fein begründeter Zweifel beſtehen. Namentlih wurde die 
Deffentlichfeit der Berfammlung weder durch ihre Abhaltung in 
einem zu diefem Zweck gemietheten öffentlichen Lokal noch durch 
ihre Beſchränkung auf die Angehörigen einer bejtimmten politifchen 
Partei ausgeſchloſſen. Hienach vermag man in der von ber 
Stadtdireftion veranlaßten Beſchickung der Verfammlung durd) 
einen PBolizeibeamten, deſſen Aufgabe ſich darauf zu bejchränfen 
hatte, von den Verhandlungen Kenntniß zu nehmen, ohne in die 
Freiheit der Berathung irgendwie einzugreifen, eine Verlegung der 
ftaat3bürgerlihen Nechte der Verfammelten nicht zu erkennen. 
Die Befchwerde gegen diefen Beiheid macht geltend: Die 
Theorie und Praxis des deutjchen Staatsrechts fennt über das 
Verfammlungsrecht die verjchiedeniten Beitimmungen. Die Be: 
rufung auf den einzigen Staatsrechtslehrer Mohl it eine un— 
glüdliche. Sein Staatsrecht erfchien legtmals im Jahr 1840, be: 
zieht jich fomit auf den im Jahr 1840 beitehenden Rechtszuftand. 
Menn er fih darauf beruft, daß Volfsverfammlungen nad alt: 
württembergiſchen Gejegen der Erlaubniß der Bezirkspolizeibehörde 
bedürfen, jo liegt es ſehr nahe, derſelben auch das Recht der 
Ueberwachung zuzumeifen. Daß dies aber auf den jegigen Rechts— 
zuftand nicht paßt, wo in Folge des Gefeges vom 2. April 1848 
das Erforderniß der polizeilichen -Erlaubniß befeitigt wurde, be— 
darf Feiner Widerlegung. Es bleibt aljo nur die Theorie und 
Praris des württembergijchen Staatsrechts, mit welchem Mantel 
fih noch manche Blöße beveden ließe. Daß der Polizei aber 
Alles erlaubt ſei, was ihr nicht fpeziell verboten ift, ift nicht 
bejtehendes. Recht. Die Befugniß der Polizei findet ihre Grenze 
in dem durch Verfaffung und Geſetz geſchützten Nechtsgebiet des 
Einzelnen. Das Geſetz garantirt das Necht, ohne Erlaubniß 
der Polizei politifche Berfammlungen abzuhalten. Von einer 
Pflicht, eine Ueberwachung zu dulden, die eine Behinderung der 
Ausübung diefes Rechts zum Mindeften enthält, jagt das Geſetz 
nichts. Nah den auch für die Polizei maßgebenden civilrecht: 
lihen Grundfägen über Eigenthum und Sachenmiethe ijt der 
Eigenthümer beziehungsweife Miether eines Lokals berechtigt, 
auf Grund jeines Hausrechts zu bejtimmen, wen er in feinem 


— 298 — 





Lokal dulden will, und demjenigen Eintritt und Aufenthalt zu 
unterfagen, dejjen Anweſenheit ihm nicht genehm: ift. 

Die Ausnahmen von diejer gefeglichen Regel müſſen wieder 
durch Gejeß feitgeftellt werden, welches auch für bejonderz vor: 
gefehene Fälle der Sicherheitspolizei befondere Befugniſſe ein: 
räumt, eine Beſchränkung des Hausrechts aber ſelbſt verdächtigen 
und mehrfach beftraften Individuen gegenüber nicht in das Be: 
lieben der Polizei jtellt, jondern mit der befonderen Kautel einer 
rihterlichen Verfügung umgeben hat. Ueberall aber, wo jolche 
Beichränfungen der Rechte der Bürger den Polizeibehörden ge: 
jtattet find, haben fie zur Borausfegung, daß fie zur Verhütung 
oder Verfolgung einer beftimmten ftrafbaren Handlung erforder: 
(ih find; wo es ſich aber wie hier nur um die unverdächtige 
Ausübung eines gejeglih garantirten jtaatsbürgerlichen Rechts 
handelt, und nur die Berichterftattung an einen Oberen Zweck 
des Eingriffs in die wohlerworbenen Privatrehte ift, läßt ſich 
ein jolcher Eingriff vor dem Gejeg nicht rechtfertigen. Diefelben 
pofitiven Rechtsſätze, welche die nationale Partei ermächtigen, 
fih die Anmwefenheit der Sozial-Demofraten in ihren Verſamm— 
lungen zu verbitten, berechtigen vielmehr die demokratische Partei, 
den ihr unbequemen Zuhörern einjchließlich der Polizei den Auf: 
enthalt in ihren Berfammlungen zu unterfagen. Daß dieſen 
Gejegesbeftintmungen gegenüber die durch das Geſetz nicht ge 
vechtfertigte Hypothefe der Kreisregierung der Pflicht zur Anzeige 
oder öffentlichen Belanntmahung öffentlicher Berfammlungen 
das Recht der Polizei, diejelbe durch die Abjendung ihrer 
Organe in die Berfammlungen zu überwachen, nicht entjpreche,. 
braucht feine weitere Erörterung. Eine jo weittragende, dem 
gefchriebenen Recht direkt zumiderlaufende Befugniß kann man 
nicht aus Klügeleien über die vermuthlichen Beweggründe früherer 
Gejeggeber herausfonftruiren. Hat doch auch, ohne überwach— 
ungsberechtigt zu fein, die Polizei ein mannigfaches Intereſſe, 
von der Anfammlung vielleicht großer Menfchenmafjen zun Bor: 
aus Kenntniß zu haben. Iſt daher dieſes Necht gefeglich nicht 
begründet, jo fühlen fich die Nefurrenten noch dadurch befchwert, 
daß die Verfammlung feine öffentlihe war. Deffentlichfeit ift 
ein relativer Begriff, und die Grenze, welche die Kreisregierung 





— .299 — 


zieht, geht aus dem Erlaſſe vom 13. Februar nicht hervor. Uns 
erheblich hiefür ift, daß die VBerfammlung aus den verfchiedenften 
Sandestheilen zufammenfam, aud Tann die Zahl der Verſam— 
melten in Ermanglung jeden gejeglichen Anhaltspunfts hiefür 
nidt in das Gewicht fallen. Entjcheidend kann daher, wenn 
nicht etwa geradezu jede politiiche Verfammlung als eine öffent: 
(ihe ausgegeben, und damit geradezu jede vertrauliche Beſprech— 
ung unter Gefinnungsgenofjen über jtaatlihe Angelegenheiten 
forthin in Württemberg überhaupt Hintertrieben werden will, 
einzig der Umſtand fein, ob die Theilnahme auf einen beftimmt 
begrenzten Kreis befchränft ift, und ob der Gegenjtand der Ber: 
handlung und der Zwed der Verfammlung einen natürlichen 
Grund der Zulaffung nur ganz bejtimmter Theilnehmer enthält 
und den Anſpruch auf bejondere perjönliche Qualifikationen dep- 
halb rechtfertigt. Dies ift aber an fich bei jeder Verfammlung 
der Fall, in welcher die Mitglieder eines bejtimmten Vereins, im 
vorliegenden Fall die Mitglieder der mwürttembergijchen Volks— 
partei zur Berathung ihrer internen Angelegenheiten zufammen- 
treten, und kann Angefihts der Tagesordnung, welche mit Rück— 
fiht auf die Berathung über die Lage des Beobachters bejon- 
deren auch in der Einladung hervorgehobenen Anlaß bot, die 
bevorjtehenden Erörterungen ausjchlieglih in vertrautem Kreis 
zu pflegen, und die etwa nur aus Neugier herbeifonmenden 
Unberufenen ftrengjtens ferne zu halten, auch wohl von der . 
Kreisregierung füglich nicht in Zweifel gezogen werden. Auch 
unter diefem Gefichtspunft erfcheint ſonach die Mafregel der 
Stabtdireftion nicht gerechtfertigt. Weber die materielle Berech- 
tigung der Ueberwachung gerade diefer Berfammlung nur die 
Bemerfung, daß es der Würde und der Stellung der Stadt- 
direftion und der Kreißregierung wohl feinen Eintrag gethan 
hätte, wenn man uns Auskunft über die jchweren Verdachts— 
gründe gegeben hätte, welche ung dieje auffällige unverdiente 
Maßregel zugezogen haben. Mancher vielleicht nicht immer 
wohlmwollende Erflärungsverfuh wäre hiedurch verhütet worden. 
Wir hoffen von Königlihem Minifterium, daß es im Intereſſe 
des Landes Maßregeln nicht fanktioniven werde, welche eines 
unferer wichtigsten Nechte dem Wohlmollen und der Einficht 


— 30 — 


polizeilicher Mittel: und Unterjtellen preisgeben würde, und die, 
ohne je praktifch etwas zu nützen, das Gefühl des Ueberhand— 
nehmeng polizeiliher Bevormundung und des Schwindens alt: 
erworbener Freiheitsrechte allfeitig im Land hervorrufen müßte. 
Wir bitten Königliche Minifterium des Innern, gegen die An- 
ordnung der Königlihen Stadtdireftion die geeignete Remedur 
eintreten zu lafjen, derjelben aufzugeben, für die Zufunft folche 
Eingriffe in die Rechte der Staatsbürger zu unterlafien, und 
uns von der getroffenen Verfügung Beſcheid zu geben. 

Unterm 3. Juni 1880 verwarf das Minijterium des Sn: 
nern die Bejchwerde mit folgender Begründung: 

1) In der Beſchwerdeſchrift wird die angeordnete polizeiliche 
Beaufiihtigung als ein prinzipiell unzuläfjiger Eingriff in die 
jtaatsbürgerlihen Rechte der Verfammelten angefochten; e3 wird 
die behauptete Unzuläjligfeit darauf geftügt, daß die Polizeibe— 
börde in Ermanglung einer ihr durch das Geſetz ausdrücklich 
ertheilten Grmächtigung zur Ueberwachung einer öffentlichen 
Bolksverfammlung im Sinn des Gejebes vom 2. April 1848 
nicht befugt, daß aber diefe Verfammlung feine Verfammlung 
im Sinn des Gejeßes war. Es mag daher zunächjt erörtert 
werden, welche Befugnifje der Polizeibehörde bezüglich öffentlicher 
Verſammlungen zujtehen. 

Sn diefer Beziehung ijt der Beſchwerdeſchrift darin beizu: 
pflidten, daß abgefehen von dem 8. 47 des Verwaltungsedikts 
und 8. 17 des NReichswahlgefeges, jowie SS. 9 und 10. des So: 
zialdemofratengefeße3 vom 21. Dftober 1878 die einzige geſetz— 
liche Vorſchrift über öffentlihe Verfammlungen in dem Geſetz 
vom 2. April 1848 zu finden ift (vergl. auch Art. 9 des 
Zandespolizeijtrafgejeßes), da durch den Schlußfag dieſes Ge: 
jeßes die das Verfammlungsreht beſchränkenden Vorſchriften der 
Zandes-Drdnung und der fih an fie anfchließenden Verordnung 
vom 6. Juni 1832 aufgehoben worden find, und durch die auf 
der Verordnung vom 24. Dezember 1864, betreffend das Ber: 
eingmwejen und die Preſſe, beruhende Befeitigung der Verord— 
nung vom 25. Januar 1855 der durch das Gefeg vom 2. April 
1848 bezüglich der öffentlichen Verfammlungen gejchaffene Rechts: 
zuftand im vollen Umfang wieder hergejtellt wurde. Allein aus 








— 301 — 


dem Gefeg vom 2. April 1848 ergibt ſich nicht nur nicht die 
von den Bejchwerdeführern behauptete Unzuläfligfeit einer dem 
Willen der Verfammelten zumiderlaufenden Theilnahme der 
Polizeibeamten an den den Gegenitand des Geſetzes bildenden 
Berjammlungen, fondern im Gegentheil die Zuläffigkeit der An: 
wejenheit jolder Beamten zum Zweck der Kenntnißnahme von 
ven Verhandlungen der Verfammlung. Denn das Gejet fpricht 
ja ausdrüdlich nur von der Befugniß der Staatsbürger, öffent: 
liche Berfammlungen abzuhalten, und verlangt, um die Deffent- 
lichkeit derjelben zu fichern, eine vorausgehende öffentliche Be— 
fanntmachung oder eine Anzeige bei der Ortsbehörde. Im Be: 
griff der Deffentiichkeit Tiegt es ja nım aber gerade, daß eine 
Verſammlung der Obrigkeit gegenüber nicht geheim gehalten 
werden darf, fondern auch dem Auge und Ohr der das öffent: 
lihe Wohl mwahrnehmenden Polizei zugänglich fein muß, und 
wenn es für diefe Auslegung des Gefeßes eines jpeziellen Be— 
weijes bedürfte, To liegt folder in dem Begleitungsvortrag zu 
dem Entwurf des Gejeßes, der von den Ständen unverändert 
und ohne Debatte angenommen wurde, weßhalb er das ficherjte 
Auslegungsmaterial für den Sinn des Gejeges bildet. Derfelbe 
jagt wörtlih: „Die bisher beftandene Vorfchrift, wornach die 
Abhaltung öffentlicher VBerfammlungen zu Beſprechung allgemeiner 
Angelegenheiten von polizeiliher Erlaubnig abhängig war, wird 
aufgehoben. Die Staatsbürger follen ungejtört beſprechen 
dürfen, was dem Staat und der Gemeinde frommt, und ſich des 
erhebenden Bewußtfeins erfreuen, ein aftives Mitglied des 
Staat3 zu fein. Die einzige zu Verhütung von Mißbräuchen 
vorgejchlagene Schranke bejteht in der Deffentlichkeit. Es fcheint 
mwürdiger, wenn der Staatsbürger von erlaubten Handlungen, 
welche möglicher Weile Vorfichtsmaßregeln gegen Unglüdsfälle 
nothwendig machen, die Obrigkeit öffentlich benachrichtigen, als 
wenn diefer die Zumuthung gemacht wird, ſich durch) geheimes 
Ueberwachen des Thuns und Laſſens der Bürger in den Stand 
zu jeßen, rechtzeitig dafür zu jorgen, daß aus dem Zuſammen— 
fluß größerer Menſchenmaſſen weder für diefe ſelbſt noch für 
Andere Gefahren entitehen. Der Bürger, in welchem die Ach: 
tung vor dem Geſetz lebendig ift, findet hierin feine Beſchränkung.“ 





— 50 — 


Es wird alfo hier die Deffentlichfeit ausdrüdlich als Schranke 
des Rechts allgemeine Berfammlungen zu Beiprechung po: 
litifcher Angelegenheiten abzuhalten, bezeichnet und in derſelben 
ein Erjag für die dadurch entbehrlich werdende geheime Weber- 
wachung gefunden. Diefe Anerkennung der Befugniß der Organe 
der Polizei zur Anweſenheit bei öffentlihen Berfammlungen 
ſteht demnach nit nur im Einklang mit dem in der ftaat- 
rechtlichen Zitteratur (Stein, Mohl, Zöpfl, Zahariä) ganz all- 
gemein vertretenen Standpunkt, jondern fie ift auch in allen 
jelbjt auf freifinnigjten Grundlagen beruhenden deutichen Geſetzen 
(badijches und öfterreihiiches von 1867), welche ſich pezieller 
ala das württembergijche Gejeg mit den öffentlichen Verſamm— 
lungen bejchäftigen, ausdrüdlich ausgeſprochen. 

2) Wenn daher die VBerfammlung vom 6. Januar als eine 
Berfammlung im Sinn des Geſetzes vom 2. April 1848 auf 
zufaffen it, jo kann die Abordnung eines Polizeibeamten in 
diefelbe als ein prinzipieller Eingriff in allgemeine ftaatsbürger- 
(ide Nechte nicht angefehen werden. Es fragt fih nun aber 
allerdings weiter, ob der Derjammlung der Charakter einer 
öffentlichen im Sinn des Gejeged zufommt? Die Ueberjchrift 
des Gejeges bezeichnet als Gegenjtand derjelben die Volksver— 
fammlungen (vgl. auch Art. 9 Abſ. 3 des Landespolizeiftrafge- 
jeßes, wo nicht bloß die Meberfchrift, jondern auch der Inhalt 
des Gefeges vom 2. April 1848 als die Abhaltung von Volks— 
verfammlungen betreffend bezeichnet wird); der Gejegestert aber 
fpricht unter Wiederholung der Ausdrucksweiſe der Königlichen 
Verordnung vom 6. Juni 1832 bloß von öffentlichen Verſamm— 
lungen zum Zweck der Bejprehung allgemeiner Angelegenheiten, 
oder wie der Begleitunggvortrag kürzer fagt, von öffentlichen 
politifchen DVBerfammlungen. Daß nun hierunter nicht bloß 
Mafjenverfammlungen verjtanden werden wollten, zu welchen das 
ganze Volk oder die ganze Einwohnerjchaft ohne Ausnahme be: 
rufen wird, geht nit nur aus den angegebenen Worten bes 
Gefeßes hervor, ſondern auch aus dem Begleitungsvortrag, 
welcher die Möglichkeit der Benügung eines in fremdem Eigen: 
thum ftehenden Lokals zu den fraglichen Berfammlungen hervor: 
hebt, und in diefem Fall die Einwilligung des Eigenthümers 





* seh]: Ye” 
Rt 
vaur: . 





— 308 — 


verlangt. Allein das muß allerdings als Sinn des Geſetzes 
feftgehalten werden, daß e3 fich nicht auf Verfanunlungen einer 
jei e8 auch bedeutenden Anzahl fpeziell beftimmter Perſonen, jon- 
dern nur auf Verſammlungen größerer nach) allgemeinen Merk— 
malen bejtimmter Kreife des Volks bezieht, und daß als Ber: 
bandlungsgegenjtände der Verſammlung nicht die fpeziellen Pri— 
vatinterefjen eines bejtimmten Berfonenkreifes, ſondern Angelegen: 
heiten von allgemeinem politifchen Intereſſe vorausfegt. Ob 
nah dieſen Gefichtspunften eine Verſammlung als öffentliche 
politiihe VBerfammlung im Sinn des Gejeßes vom 2. April 1848. 
oder als gejchlofene Privatverfammlung ſich darftellt, ijt in 
jedem einzelnen Fall an der Hand der thatſächlichen Verhältniſſe 
zu prüfen und zu entjcheiden. Die Ziehung der Grenze ift hie: 
bei der Natur der Sache nad häufig fchwierig, denn die Zahl 
der berufenen Theilnehmer kann für fich allein wie bereits an- 
gedeutet, in Ermanglung einer bezüglichen gejeglichen Beſtim— 
mung ein ausjchlaggebendes Kriterium nicht abgeben, und nur 
jo viel läßt fih im Allgemeinen jagen, daß in je weiteren 
Kreifen das Merkmal zutrifft, an deſſen Vorhandenjein die Ein- 
ladung zur Verſammlung gefnüpft wird, deſto weniger Zweifel 
bezüglich der Deffentlichfeit der VBerfammlung fich erheben fönnen. 
Prüft man nun die thatjählichen Verhältnifje der VBerfammlung 
vom 6. Januar, welche im Beobachter vom 1., 3., 4. Januar 
an der Spige des Blattes mit der Bemerkung ausgefihrieben 
wurde, daß fie nur Parteigenofjen zugänglich fein joll, jo mögen 
hier zunächſt die Mittheilungen des eigenen Parteiorgans be— 
rücfichtigt werden. Die Nr. 6 des Beobachters fchreibt wört— 
lich Folgendes: „Die Zahl der Bejucher genau feitzuftellen, ijt 
ungeachtet aller dazu getroffenen Einleitungen auch dieſes Mal- 
nicht gelungen. Die Meiften kommen ohnedies zu ſpät und 
drängen daher in den Saal, um an den Berhandlungen Theil 
zu nehmen, ohne fich Zeit zu lajjen, Namen und Wohnort deut- 
lih anzugeben. Dazu fommt, daß fie truppweife auf einmal- 
eintreten, und daß auch die Abgehenden diejelbe Thüre benügen, 
wie die Eintretenden. So ift es nicht zu verwundern, wenn 
auch die diesjährige Präfenzlifte wieder wefentliche Auslafjungen 
zeigt. Auf ihrer Grundlage indeß und auf das Ergebniß zweier 


— 304 — 


von Freiwilligen, unabhängig von einander vorgenommenen und 
unter fich übereinjtimmenden Zählungen, von denen die eine um 
12 Uhr, die andere etwas jpäter angeitellt wurde, wären es 
etwa 250 bis 300 Männer, die der Verfammlung angewohnt 
haben. Für diefe Zahl ſpricht auch die von 164 Kouvert3, 
welche nachher bei Tiſch aufgelegt wurden. 

Schon diefe Mittheilung genügt, um die Behauptung der 
Beſchwerdeſchrift, es Habe fi bei der Verfammlung vom 
6. Januar um Erörterungen „ausjchließlich im vertrauten Kreife”, 
um eine „vertrauliche Beiprehung von Gefinnungsgenofjen“ ge: 
handelt, als eine den Thatjachen widerfprechende zu bezeichnen. 
Fakt man aber des Weiteren ins Auge, daß die Einladung an 
ſämmtliche Parteigenojjen ergangen war, daß die Zahl der Partei: 
genofjen Feine geſchloſſene war, jondern eine jtetig wechjelnde ift, und 
daß nach den Statuten jeder unbejcholtene Mann, der fich mit 
der Aufgabe des Vereins einverjtanden erklärt, und einen Jahres— 
beitrag von 3 Mark bezahlt, die Aufnahme in die Partei ohne 
Schwierigkeit erwirten fann, daß zudem die Theilmahme ji 
nicht auf Mitglieder der württembergifchen Volkspartei bejchräntte, 
vielmehr wie die Mittheilung der Nr. 10 des Beobachters über 
dag Auftreten des aus Frankfurt erjchienenen Sefretärs der 
deutichen Volkspartei, des jungen A. Garb von Offenburg, zeigt, 
Mitglieder der deutfchen Bolfspartei überhaupt ohne Rückſicht 
auf ihre Zugehörigkeit zu einem württembergifchen Volksverein 
Zutritt hatten, jo erfcheint die Auffaſſung der in Frage ftehen: 
den Berfammlung als einer allgemeinen oder öffentlichen im 
Sinn des Geſetzes vom 2. April 1848 hinreichend gerechtfertigt. 

3) Mein jelbit wenn je der Begriff der Verſammlung 
des Gejeßes vom 2. April 1848 auf Berfammlungen einer um: 
beftimmten oder unbeftimmbaren Zahl beliebiger Theilnehmer 
aus dem Volk einzuengen, und wenn hiernach, wie die Bejchwerde: 
ſchrift annimmt, die auf die Parteigenofjen befchränfte Verſamm— 
lung der Mitglieder der Volkspartei vom 6. Sanuar als eine 
nicht unter das Geſetz vom 2. April 1848 fallende Vereinsver: 
ſammlung aufzufaſſen jein follte, jo konnte gleichwohl in der 
von der Stadtdireftion angeordneten Beſchickung derfelben durch 
Beamte der Polizei nicht ohne Weiteres ein Eingriff in bie 


—A — J e un 
1 ae 
- 305 — 


jtaatsbürgerlihen Rechte der Nerfammelten erblidt werden. 
Zwar it, wie befannt, das Vereinsrecht in Württemberg nicht 
durh ein umfafjendes Gejeß geregelt, vielmehr beftehen über 
dasfelbe, nahdem die zum Vollzug des Bundesbeichluffes vom 
13. Juli 1854 ergangene Verordnung vom 25. Januar 1855 
durch die Verordnung vom 24. Dezember 1864 außer Wirfung 
gejegt worden ijt, abgefehen von den Beitimmungen des Reichs: 
gejeges vom 21. Dftober 1878 und den Vorſchriften der Art. 15 
und 16 des Geſetzes vom 30. Januar 1862 betreffend die Re— 
gelung des Verhältniſſes der Staatsgewalt zur katholiſchen 
Kirhe und Art. 1 und 2 Geſetzes vom 7. April 1872 betreffend 
die Diffiventenvereine nur der Art. 9 des Landespolizeiftrafge- 
jeßeg in Betreff der Verpflichtung der Vereine zur Vorlegung 
ihrer Statuten und Art. 16 und 35 des Waffengeſetzes vom 
1. Juni 1853, wornach Schügengejellihaften und Bürgerwehren 
der polizeilichen Meberwachung unterjtehen. Allein hieraus fann 
nicht gefolgert werden, daß mit Ausnahme diefer wenigen Bor: 
ihriften das Vereinsrecht ein durchaus fchranfenlofes, jeder Ein: 
wirfung der Staatögewalt entzogenes fei. Vielmehr ijt das Recht 
der Oberaufjicht des Staats über die Thätigfeit und Wirkſam— 
feit der Bereine nit nur in der Literatur des Staatsrechts 
als ein nothwendiges begriffliches Attribut‘ der Staatsgewalt 
dargejtellt, fondern es ijt dasſelbe auch mindejtens den politifchen 
Vereinen gegenüber als bejtehend in der württembergijchen Ge— 
jeßgebung ausdrüdlich vorausgejegt und in wiederholten Kund— 
gebungen der Stände anerfannt. Was zunächſt die Xiteratur 
betrifft, jo hat fchon die Kreisregierung auf Mohls Staatsrecht 
hingewieſen, und wenn die Bejchwerdejchrift die Berufung auf 
die Ausführung dieſes Werks dadurch entfräften zu können 
glaubt, daß fie in demjelben nur die Darjtellung des Rechtszu— 
ſtands findet, wie er fih auf Grund der durch das Gejeß von 
2. April 1848 bejeitigten Verordnung vom 13. Juni 1832 und 
des in Württemberg publizirten Bundesbeſchluſſes vom 5. Juli 
1832 gejtaltet hat, jo genügt zur Befeitigung diefer Annahme 
der Hinweis darauf, daß auch jchon in der eriten 1829 er— 
Ihienenen Auflage des Werks ausgeführt ift, es könne natürlich 
der Polizei das Necht nicht genommen werden, eine jolche Ver: 


— 306 — 





ſammlung beobachten zu laffen, und die nöthigen Mittel, einen 
allenfallfigen Exzeß derfelben fogleich zu unterdrüden, zur Hand 
zu halten, und daß derjelbe Standpunft in der Polizeiwiſſen— 
Schaft desfelben Verfaſſers 3. Auflage 1866 III. Theil ©. 71 fi. 
eingenommen wird. Sin gleicher Weife jprechen fih auch, um 
beifpieläweife einige weitere in der Befchwerdejchrift vermißte 
Zitate von Autoritäten der Theorie beizubringen, Stein (Polizei: 
recht, ©. 108/95; Lehre von der vollziehenden Gewalt ©. 638 f.) 
und Zachariä (deutfehes Staats: und Yandesreht 2. Auf: 
lage 1854 II. ©. 295) aus. Mllein es findet, wie bereits 
angedeutet, das Oberaufjichtsrecht der Regierung über das Ver: 
einswejen auch in den württembergifhen Geſetzen feine feite 
Stütze. Dasjelbe wird nämlich nicht nur in der wenn aud 
nur eine Kompetenzbeftimmung enthaltenden Inſtruktion für die 
Kreisregierungen vom 21. Dezember 1819 8. 16 lit. d und e, 
jondern insbefondere in Art. 149 Abf. 2 des Strafgeſetzbuchs 
von 1839 als ein jelbjtverjtändliches Necht der Staatsregierung 
ausdrüdlich vorausgejegt. In dem angeführten Art. 149 Abſ. 2 
wird mit Strafe bedroht die Theilnahme an einer politischen 
Verbindung, fofern die Fortdauer derfelben von der Staatsre— 
gierung wegen Gefährdung der öffentlichen Drdnung befonders 
verboten worden it. Diefe Bejtimmung wurde bei der ftän: 
diſchen Berathung ausprüdlich und allfeitig als eine Konjequenz 
des anerfannten ftaatlihen Auffichtsrecht3 über Die politifchen 
Bereine hervorgehoben. Der in MWefentlihen zur Annahme. ge: 
langte Kommiffionsbericht zu der angegebenen Borfehrift (Ent: 
wurf Art. 139), dem 3. B. der Kanzler von Wächter und der 
Abgeordnete Pfizer ausdrüdlich beitraten, befagt: “Zugleich üt 
durch die vierte Kategorie „Verbindungen, welche durd die 
Staatsregierung ausdrüdlich unterfagt find“, das nicht zu be 
jtreitende Oberauffichtsrecht des Staats gehörig gewahrt. Nähere 
Beitimmungen über die einzelnen in dieſem Oberauffichtsrecht 
enthaltenen Befugnifje werden, weil fie nicht in das Strafge— 
ſetzbuch gehören, felbjtverjtändlich nicht aufgenommen. Ein 
Kommiffiongmitglied, der Abgeordnete Haas, bemerkte in dieſer 
Hinficht wörtlih: Die Kommiffion war weit entfernt, der Ne 
gierung eine gewiſſe polizeiliche Weberwahung der politifchen 











— 307 — 


Vereine abzufpredhen, und damit muß auch das Recht zu Maß: 
regeln verbunden jein, weldhe die Aufhebung gefährlicher Ber: 
bindungen zur Folge haben. Die Kommiffion glaubte aber, daß 
dieß mehr Sade des Polizeigefeges fein dürfte In gleichem 
Sinn ſprach der Abgeordnete Mojthaf: In welchen Fällen die 
StaatZregierung das Recht hat, einen Verein bejonders zu 
unterfagen, gehört nicht in das Kriminalgefeg. Der Minifter 
bat, wenn er es thut, jeine Verfügung zu verantworten, und 
auch diejenigen Abgeordneten, welche den Kommifjionsantrag 
befämpften, ftelten das polizeiliche Aufjichtsrecht der Regierung 
über das Vereinsweſen nicht in Abrede. So bemerkt insbejondere 
der Hauptwortführer der gegen den Kommiljionsantrag an— 
jtrebenden Redner, der Abgeordnete Römer: Ich bin ſchon darum 
gegen dieſen Artikel, weil dadurd das Recht der Regierung 
janktionirt werden foll, diejenigen, die ſich zu politifchen Zweden 
vereinigen wollen, nicht nur unter polizeiliche Kontrole zu jtellen, 
was man noch hingehen Lafjen könne, jondern ein ſolches Beginnen 
von polizeiliher Erlaubniß abhängig zu maden. Gegen plöß: 
lihe Gefahren, die dem Staat durch ſolche Verbindungen drohen 
fönnten, fichert der 8. 89 der Verfafjungsurfunde ausreichend, 
und wenn die Gefahr eine entferntere ift, fo gibt es polizeiliche 
Mapregeln. 

Aber auch bei anderem Anlaß, nämlich bei Einbringung 
der Motion des Abgeordneten Römer gegen das in der Verord- 
nung vom 21. Februar 1832 ausgefprochene Verbot der Kon— 
ftituirung von Bereinen zu Berathung landjtändifcher Angelegen- 
beiten unterm 2. März 1833 wurde das polizeilihe Aufjichts- 
recht der Regierung über die politifchen Vereine als ein begriff: 
lid nothivendiges Attribut der Staatsgewalt auch von Seite 
der damaligen ftändifchen Oppofition anerkannt, indem der Ein- 
bringende bei der Begründung der Motion Folgendes ausführte: 
Zwar feßt das Zufammenleben im Staat allerdings vielfache 
Beſchränkungen der natürlichen Freiheit als nothwendig voraus, 
und es iſt eines der eriten Bedingniffe diefes Zufammenlebens, 
daß alle im Staat befindlichen einzelnen Gejellfehaften der Ober: 
aufjicht. der Negierung unterliegen, damit nichts dem Staat 
Nachtheiliges aus ihnen hervorgehe, allein die Thätigfeit der 


.” Fin; TJ 
REN 


— 308 — 


Polizeigewalt tritt dann erſt ein, wenn fie fich verdächtig machen, 
und dann nicht durch Strafen, jondern durh Wachſamkeit und 
andere Anftalten. Wenn nun das Streben der Vereine nur da= 
rauf gerichtet ift, ihre Mitglieder bei Ausübung ihrer gejeß- 
lich begründeten Rechte zu unterftügen, und wenn fie fern von 
geheimen Machinationen alle ihre Schritte öffentlih thun im 


Angefiht des Volfs unter den Augen der obrigfeitlichen Bes 


hörde, fo läßt fich ſchwer begreifen, wie man fie für gefährlich 
halten mag. | | 


Einen bloßen Ausfluß diefes Dberauffichtsrechts, nicht aber 


deſſen Definirung bilden auch die Art. 18 beziehungsmeife 9 
der Polieiftrafgefege von 1839 und 1871 über die Vorlegung 
der Statuten. Der Einwand, daß es doch näher gelegen wäre, 
auch das Recht der Polizei, die Vereinsverfammlungen durch 
Delegirte zu überwachen, ausdrüdlich zu erwähnen, wenn ein 
jolches Necht von den gejeßgebenden Faktoren hätte eingeräumt 
und anerkannt werden wollen, würde dur) die Erwägung hin= 
fällig, daß die Aufgabe des Volizeiftrafgefeges nicht in der Auf: 
zählung der. der Bolizeigewalt zufommenden Befugnifje, Jondern 
in der Darjtellung der den Staatsangehörigen bei Vermeidung 
geſetzlicher Strafe obliegenden Handlungen und Unterlafjungen 
beiteht. Dagegen lag allerdings für die Verordnung vom 25. Ja— 
nuar 1855, welche fich auf Grund des voraudgegangenen Bun— 
desbeſchluſſes die vollftändige Regelung des Vereinsweſens zur 
Aufgabe machte, Anlaß vor, das Recht der Entjendung polizei: 
liher Abgeordneter in die Verfammlungen und Vereine aus— 
drüdlih zu wahren ($. 8. 9). Weil aber diejes Recht ſchon 
vor Erlafjung der Verordnung vom 25. Januar 1855 bejtand 
und anerfannt war, fo wurde dafjelbe auch durch die Wiederbe— 
feitigung diefer von den Ständen wejentlich in anderer, als der 
bier in Frage ftehenden Beziehung angefochtenen Berordnung 
nicht berührt, und es ift denn auch die Staatsregierung bei 
den wie jelbftverftändlich intern gebliebenen Verhandlungen über 
die Verordnung vom 24. Dezember 1864 ausdrüdlih davon 
ausgegangen, daß der Polizei das Recht nicht beftritten werden 
fann, in öffentlich befannt gemachte Vereinsverfammlungen Abgeord- 
nete behufs der Kenntnißnahme von den Verhandlungen zu entjenden. 


* 





————— 
— 309 — 


4) Steht nach dem bisherigen der Polizeibehörde das Necht 
zu, in die allgemeinen Vereinsverfammlungen politiicher Barteien 
auh wo es fih nit um Anwendung des Neichögejeges vom 
21. Oftober 1878 handelt, behufs der Kenntnignahme von ihren 
Verhandlungen ihre Beamten abzuordnen, jo veriteht fich doch 
andererfeit3 von jelbit, daß die Ausübung diefer Befugniß nicht 
zu unnöthiger Bevormundung oder fleinlichen Chifanen einer 
Verfammlung mißbraucht werden darf, fondern nur dann ver: 
anlaßt ijt, wenn entweder gegründete Beſorgniſſe vorliegen, daß 
eine Berfammlung den Anlaß zu Geſetz- und Ordnungswidrig— 
feiten bieten werde, oder wenn es aus jonjtigen objektiven Grün- 
den der öffentlihen Wohlfahrt im Intereſſe der Bolizeibehörde 
gelegen ift, von den Verhandlungen einer Berfammlung unmit- 
telbare Kenntniß zu erhalten. Die Entſcheidung darüber, ob 
die erwähnten Vorausfegungen in dem einzelnen Fall zutreffen, 
muß dem verftändigen Ermejjen und dem richtigen Takt der 
Tolizeibehörde überlajjen bleiben. Ob nun in dem der Be: 
ſchwerde zu Grund liegenden Fall jene Vorausfegungen thatſäch— 
ih vorlagen oder nicht, könnte an fich unerörtert bleiben, da 
in.der an die Kreißregierung gerichteten Beſchwerde, auf welche 
die nunmehr angefochtene Entſcheidung der Kreisregierung er— 
folgte, ausdrüdlich bemerkt ift, daß diefe Frage die Befchwerde- 
führer nicht berühre, für diefelben vielmehr nur die Rechtsfrage 
ausschlaggebend jei. Nachven aber in der an das Minijterium 
de3 Innern gerichteten Beſchwerdeſchrift auch die thatfächliche 
Veranlaffung der Entjendung eines Polizeibeamten in die frag: 
liche Verfammlung Beanjtandung gefunden hat, mag aud) diefe 
Seite der Sache berührt werden. Dabei kann zugegeben werden, 
dag wenn der thatfächliche Verlauf und die Ergebnifje der be- 
treffenden Verfammlung fo wie fie fih in Wirklichkeit geftalteten, 
im Voraus feitgeftanden wären, zu Entjendung eines Bolizei- 
beamten in diefelbe fein Grund vorgelegen wäre. Andererſeits 
it aber in Betracht zu ziehen, daß zu der Verfammlung eine 
nicht ſpeziell beitimmte Anzahl von Perfonen aus allen Theilen 
des Landes öffentlich einberufen war, daß hiernach der Zuſam— 
menfluß einer größeren Menge wohl in Ausficht genommen wer: 
den fonnte, wie denn nach dem Beobachter wirklich 250 bis 260 


Mir , J 
Württemb. Archiv für Recht ꝛc. XXI. Bd, 2. &3 „Heft. 2 


— 30 — 


Theilmehmer ſich einfanden, daß bei jeder größeren Verſammlung 
zumal, wenn fie zu politiihen Debatten beftimmt ift, die Mög: 
lichkeit von Exzeſſen nicht ferne liegt, und daß die veröffentlichte 
Tagesordnung, in welcher mit bejonders hervorgehobener Schrift 
die DBerathung der Ergebnijje des Parteitags der deutſchen 
Volkspartei in Coburg, alſo einer mit der württembergiichen 
Bolfspartei nicht identiſchen politifchen Partei angekündigt war, 
der Annahme einer beabfichtigten Erweiterung und Veränderung 
der bisherigen Ziele und Beitrebungen der württembergifchen 
Dolkspartei Raum gab. Bei diefer Sachlage kann auch die 
thatjächlihe Begründung der Entjendung eines Polizeibeamten 
in die in Frage ftehende Verſammlung nicht beanftandet werben. 

Die rechtzeitig eingereichte Beſchwerdeſchrift an den Per: 
waltungsgerichtshof nimmt zuerjt auf den Art. 13 des Gejebes 
über die Verwaltungsrechtspflege Bezug, und bezieht fich für das 
Thatfächlihe auf die früheren Eingaben. „Wir erbliden, wird 
in der Bejchwerdejchrift gejagt, in der Entfendung und dem Ein: 
dringen von Polizeibeamten in ein zu Privatzweden gemiethetes 
Lofal ohne gejeglihe Ermächtigung und gegen den Willen der 
Berechtigten eine Verlegung des durch die Miethe begründeten 
Hausrechts der Miether und in der nicht durch den entfernteiten 
Verdacht einer bevoritehenden oder verübten Nechtsverlegung 
gerechtfertigten Einmifchung der Polizei in private Erörterungen 
einer Bereinsverfammlung eine Verlegung des in Württemberg 
gewährleijteten freien Berfammlungsrehts. Diefer doppelte Ein: 
griff der Polizeibehörde in privatrechtlihe, wie ftaatsbürgerliche 
Rechte wird die Erhebung der Bejchwerde bei dem Verwaltungs: 
gerichtshof rechtfertigen, da der Eingriff in die denjelben gut 
heißende auf Gründe des öffentlichen Rechts geſtützte Entjcheidung 
des Minifteriums des Innern vechtlih nicht begründet ijt, und 
wir fowie das durch uns vertretene Landeskomite Dadurch in einem 
ung zuftehenden Rechte verlegt find. Unter Beziehung auf unjere 
früheren Bejchwerden haben wir zu bemerken: die Entjcheidung 
des Ministeriums des Innern ftüßt fich in erfter Linie auf die Be 
hauptung, die Berfammlung vom 6. Januar fei eine öffentliche 
Derfammlung im Sinn des Gejeßes vom 2. April 1848 und aus 
der Deffentlichfeit der Verfammlung folge auch das Recht des 





— 311 — 


AZutritts der Polizei. Inwieweit die Deffentlichfeit der Verſamm— 
lung und der unbedingt freie Zutritt von Polizeibeamten zu der: 
jelben begrifflich verknüpft find, kann, obwohl wir die Richtigkeit 
der Ausführung des Minifteriums des Innern über diefen Punkt 
bejtreiten, für uns deßhalb dahingeftellt bleiben, weil für uns 
der Nachweis genügt, daß der Begriff der Deffentlichfeit in der 
Entſcheidung des Minifteriums des Innern irrthümlich auf die 
Verfammlung vom 6. Januar angewendet worden ift, und daß 
diefelbe an die Stelle eines einfachen klar durch den Wortlaut 
des Geſetzes vom 2. April 1848 jelbjt nahe gelegten Kriteriums 
eine Reihe zufälliger und eine jichere Grenzziehung unbejtrittener- 
maßen nicht zulafjender Merkmale gejebt hat. Das Gejeg vom 
2. April 1848 ſpricht von Bolksverfammlungen in der Ueber: 
ihrift und von öffentlichen Berfammlungen zu Bejprehung all: 
gemeiner Angelegenheiten im Text. Aus diefem präzifen Wort: 
laut des Geſetzes muß der vage Ausdrud des Begleitungsvor- 
trags öffentliche politiiche Verfammlungen interpretirt werden, 
nicht umgekehrt. ntjcheidend it alfo die Zweckbeſtimmung und 
die Zugänglichkeit der Verfammlung. Daß nun die Berathung 
der Angelegenheiten des Parteiorgans und Neuwahl des Bartei- 
vorjtandes des Landesfomites feine allgemeinen die Geſammt— 
heit der Staatsbürger betreffende Angelegenheiten find, ift Elar. 
Aber auch die Entgegennahme des Berichts über eine Partei- 
verfammlung ijt, ganz abgejehen davon, daß fie überhaupt feine 
Beiprechung ift, jedenfall feine Befchäftigung mit allgemeinen 
Angelegenheiten. Die jämmtlichen Gegenftände der Tagesord— 
nung find vielmehr ausfchlieglih für einen genau begrenzten 
Kreis beſtimmt, an welchen fich unter Ausjchliegung aller An— 
dern die Einladung allein richtete und welche allein Zutritt haben 
jollten — die Barteigenofjen. Daß aber ein äußeres Merkmal vor: 
handen ijt, das die Parteigenofjen von den Nichtparteigenofjen 
unterjcheidet, hat das Minijteriun des Innern aus den Statuten 
jelbit hervorgehoben, es ijt dies die Aufnahme in die Partei. 
Wir beftreiten deßhalb, daß die VBerfammlung eine öffentliche 
zu Beſprechung allgemeiner Angelegenheiten ift, und glauben 
auch niht, daß eine folche Verfammlung etwa dadurch, daß 
ein einzelner zuvor angefagter und willfommen geheißener Gajt 


21* 


— 312 — 


derfelben anwohnt, oder dadurd, daß e3 nicht gelang, die Namen 
aller anweſenden Parteigenofjen zu Papier zu bringen, ohne 
Weiteres den Charakter einer öffentlichen Verfammlung gewinnt. 
Uebrig bleibt daher zur Begründung der Entjcheidung nur die 
Behauptung einer fogenannten allgemeinen, die: Ueberwachungs— 
befugniß in ſich fchließenden Auffichtsrechts des durch die Poli- 
zeiorgane repräfentirten Staats über die Vereine und Verſamm— 
lungen. Stellt man ſich auf den Boden des pofitiven Rechts, 
jo hat nicht nur der Miether das Necht, einem. Andern den 
Aufenthalt in dem Miethslofal zu unterfagen, fondern es it 
auch dem Staatsbürger die Bereinzfreiheit an fich zweifellos 
durch die Verfaffung gewährleiftet. Wohl kann nun durch die 
bejtehende verfaſſungsmäßige Gefeßgebung diefes Privatrecht wie 
jedes öffentliche Necht der Staatsbürger einer Bejchränkung 
unterworfen werden, wie durch das Yandespolizeijtrafgefeg wirt: 
ih befchränfende Beitimmungen gegeben find. Es anerfennt 
aber das Minifterium des Innern jelbit, daß die hier fragliche 
Schranke, die Meberwahung der Vereinsverfammlungen durd 
die Polizei, im pofitiven Recht Teinen Boden hat, und es ift ein 
fonjtitutionell nicht zu vechtfertigendes gefährliche8 Beginnen, 
Beſchränkungen der pojitiven Rechte der Staatsbürger nicht aus 
dem Geſetz und der Verfaffung, fondern aus dem blauen Hinmel 
jtaatsrechtliher Theorien herzuholen. Diefe Theorie ijt der 
Ausflug individueller Anſchauung vereinzelter mehr oder weniger 
bedeutender Staatsrechtslehrer, unter fich nicht hHarmonirend, un: 
beftimmt Hinfichtlih des Umfangs und Inhalts des polizeilichen 
Auffichtsrechts, beeinflußt durch die Gefeßgebungen der verſchie— 
denen Territorien, erzeugt unter der wechielnden Auffafjung der 
verjchiedenen Zeitanjchauungen, wie denn Niemand leugnen wird, 
daß verjchiedene ftaatsrechtlihe Theorien vor dem Jahr 1848 
anders waren, als nach) 1848. Wäre es zuläflig, mit folchen 
unbeftimmt mechfelnden von dem Belieben und der Neigung 
jedes Staatsrechtslehrers abhängigen Theorien der pofitiven Ge: 
jeßgebung entgegenzutreten, fo wäre es häufig überhaupt über: 
flüſſig, die mühjelige Arbeit der Schaffung und Aenderung po: 
fitiver Gefege vorzunehmen, es wäre aber auch der Willkür 
gegenüber dem Recht Thür und Thor geöffnet. Vermag fonad) 








— 313 — 


die Autorität etweldher Staatsrechtslehrer nicht der Polizei die 
beanjpruchte Befugniß zum Eingriff in privat- und jtaat3bür- 
gerliche pofitive Rechte durch Ueberwahung der Vereinsverfamm: 
lungen zu verfchaffen, jo fann diefe Befugniß auch nicht als 
vorhanden bewieſen werden durch die Bezugnahme auf das ab: 
geſchaffte Strafgeſetzbuch, einmal, weil es überhaupt nicht mehr 
zu Recht befteht, und dann, weil die dort vorgejehene Befug: 
niß, wegen Gefährdung der öffentlihen Drdnung einen Verein 
befonder8 zu verbieten, eine fpezielle ift, und nicht zu dem Necht 
verallgemeinert werden kann, eine jede auch die öffentliche Drd=-, 
nung nicht gefährdende Vereinsverfammlung überwachen zu laſſen. 
Ebenfowenig fann weiter eine Beitätigung diefer Befugniß kon— 
ftruirt werden aus der Neußerung einzelner Abgeordneten und 
Kommiffionen heraus, auch fie find fubjektiv, in ihrer Allge— 
meinheit unbeftimmt und dem Wechſel juriftifcher und politi- 
ſcher Anschauungen unterworfen. Hat doch, um auch eine gegen- 
theilige Auffaflung anzuführen, in der Sigung der Kammer der 
Abgeordneten vom 7. Februar 1880 feiner der Redner die 
jegt von den Minifterium für die Polizei erhobenen Anfprüche 
gut geheißen, und inZbefondere der einzige Redner, welcher ge: 
wiljermaßen zur Bertheidigung der angefochtenen Maßregel auf: 
getreten ift, der Abgeordnete von Urach al3 feine Anficht 
wenigiteng das ausgeſprochen, daß gejchlofjene politifche Ver— 
Sammlungen der polizeilichen Ueberwahung nicht zu unterwerfen 
jeien. Beftreiten wir die Befugniß zur Ueberwachung von Ber: 
einsverfammlungen und Berfammlungen überhaupt, jo willen 
wir ung darin einig nicht nur mit der württembergifchen Praxis, 
welche ſtets nur unter dem Einfluß reaftionärer Bejtimmungen 
Verſammlungen zu behelligen pflegte, ſondern auch mit der 
großen Mehrheit des württembergiſchen Volks, das feit der Be- 
ſeitigung der Königlichen Verordnung vom 25. Januar 1855 
glaubt, wie früher innerhalb der von dem Geſetz gezogenen 
Schranken ein freies Vereins- und Verſammlungsrecht zu haben, 
nicht aber einer polizeilichen Bevormundung zu unterſtehen, 
deren Befugniſſe in der Stille unter allen möglichen Geſichts— 
punkten ungreifbar zuſammen kombinirt ſchlimmer ſind, als eine 
noch ſo weit gehende geſetzliche polizeiliche Beſchränkung des poli— 


no; 


— 3l4 — 


tiichen Lebens, welche wenigitens die Schranfe und den Punkt, 
wo das Recht des Staatsbürgers aufhört, und die Macht der 
Polizei beginnt, für den Einzelnen erkennbar macht. Wir bitten, 
die angefochtene Entfheidung und die Maßregel der Stadtdiref- 
tion für ungerechtfertigt zu erklären.“ 

Der Bermwaltungsgerichtshof verwarf die Bejchwerde als. 
ungegründet. 

Gründe: 1) Die Befhwerdeführer behaupten, daß die vom 
der Königlichen Stadtdireftion verfügte, von der Königlichen Res 
gierung des Nedarfreifes unterm 13. Februar, von dem König: 

lichen Minifteriun des Innern unterm 3. Juni d. J. im Prin— 
zip beharrte Abordnung von zwei Polizeibeamten in die auf der 
6. Januar d. 3. anberaumte LZandesverfammlung der Volkspar— 
tei rechtlich nicht begründet jei, und daß fie durch dieſe Verfü— 
gung in einem ihnen zuftehenden Rechte verlegt jeien. Da hier— 
nah nad) der Behauptung der Bejchwerdeführer alle diejenigen 
Borausfegungen in ihrer Befchwerdejache zutreffen würden, welche 
der Art. 13. des Gejeges über die Verwaltungsrechtspflege für 
die Erhebung einer Beſchwerde vor dem Bermwaltungsgerichtshof 
fejtgefeßt hat, jo war von demfelben auf die Bejchwerde in der 
geltend gemachten Richtung einzutreten. Yon jelbjt ergibt ſich 
hieraus, daß der VBerwaltungsgerihtshof nur über die Statthaf- 
tigfeit des Vorgehens der Königlichen Stabtdireftion im Allge- 
meinen, nicht aber über die Nichtigkeit der Begründung diejes 
Vorgehens im einzelnen Fall zu entjcheiden hat, wie denn 
auch die erhobene Befchwerde fi) auf das Erjtere bejchränft, 
und die Bitte, „der Königliche Verwaltungsgerihtshof möge Die 
angefochtene Entjcheidung des Miniſteriums des Innern und die 
getroffene Maßregel für ungerechtfertigt erklären“, nur durch die 
nach ihrer Behauptung mangelnde rechtliche Begründung derſel— 
ben im Allgemeinen zu rechtfertigen gefucht hat. 

2) Die rechtliche Begründung ihrer Beſchwerde haben die 
Beihwerdeführer darauf geftügt, daß die von der Königlichen Stadt: 
direftion verfügte Maßregel der Polizeibehörde durch Fein Gejeg 
gejtattet fei und einen ungejeglichen Eingriff in das freie Ver— 
einsrecht und das durch die Miethe des Lokals begründete Haus: 
vecht der Befchwerdeführer enthalte, welche zugleich das Landes— 











— 85 — 


fomite der Volkspartei und der Verſammlung vertreten, übrigens 
auch in eigenem Namen als Theilnehmer der Berfammlung zur 
Erhebung der Beſchwerde ſich für befugt halten. 

Was zunächſt das von den Beſchwerdeführern geltend F 
machte Hausrecht betrifft, ſo würde eine Würdigung der Störung 
desjelben an ſich nicht in die diesfeitige Zuftändigfeit fallen. 
Soferne aber eine Störung des Hausrechts jedenfalls nur dann 
vorliegen würde, wenn das Eindringen in das Lokal der Ber: 
ſammlung, wie die Bejchwerdeführer behaupten, widerrechtlich 
erfolgt wäre, fällt die Würdigung der Behauptung der Bejchwer: 
deführer mit der Prüfung der gefeglihen Zuläfligfeit der Maß— 
regel zuſammen und ift mit der Bejahung derfelben von jelbjt 
verneint. 

Ob fodann die Verfammlung eine öffentliche im Sinn des 
Geſetzes vom 2. April 1848 fein jollte, fann dahingejtellt bleiben, 
da auch bei einer nicht öffentlichen Verſammlung die Bejchwerde 
nicht begründet it. 

3) Ein freies Vereins: oder Verfammlungsreht in dem Um: 
fang, in dem joldhes die Bejchwerdeführer in Anſpruch nehmen 
zu können glauben, daß Schritte der Behörde gegen dasjelbe nur 
zuläfjig wären, wenn und joweit ſich folche auf ein die Behörde 
ausdrücklich dazu ermächtigendes Gejeg ftüßen, erijtirt in Würt- 
temberg nit. Die württembergifche Verfaſſung, auf welche 
ih die. Bejchwerdeführer deßhalb berufen haben, enthält von 
dem Vereins: und Verfammlungsrecht überhaupt nichts, ebenſo— 
wenig ijt aber ein folches Vereins: oder Verſammlungsrecht in 
einem Geſetz als ein dem Staatsbürger zuftehendes Recht aus: 
geiprochen, vielmehr beruht das Vereinsrecht lediglich auf der 
Theorie und Praris des Staatsrechts, gegen welche die Bejchwer: 
deführer in ihrer Ausführung fih aufgefprocdhen haben. Daraus 
ergibt ji von jelbit, daß diejes Necht fein in der Weife ſchran— 
tenlojes ift, in der die Befchwerdeführer diefes geltend machen. 
Unfere Gefeßgebung fennt vielmehr Vereine und Verfammlungen, 
die verboten und mit Strafe bedroht find (SS. 83. 85. 105. 110. 
111. 115. 116. 119. 124. 125. 127. 128. 129. 130. 131. ff. des 
Neichsftrafgefetes, vgl. auch Art. 140. 141. 144. 149 des ehe: 
württembergifchen Strafgefeges). Daraus folgt von jelbit Die 


— 316 — 


Pflicht und damit das Recht der Polizeibehörde, die Thätigkeit 
und die Art und Weiſe der Wirkffamkeit der Vereine und Ver— 
ſammlungen zu überwachen, wie dieſe Pflicht auch in der. In— 
jtruftion für die Kreisregierungen vom 21. Dezember 1819 8. 6. 
d. e. ausgeſprochen ift. Lediglich als ein Ausflug diejer licht 
ericheint es, wenn Art. 9 des LZandespolizeiftrafgejeges vom 27. 
Dezember 1871 jedem, der einen politiihen Verein mit be: 
jonderen Statuten gründet, bei Strafe zur Pfliht macht, unter 
Vorlegung der Statuten bievon Anzeige zu machen, und Die 
Negierung ermächtigt, von andern Bereinen mit bejonderen 
Statuten, welche der Regierung Anlaß. zu gegründeten Beſorg— 
niffen geben, die Vorlegung der Statuten bei gleicher Strafe 
zu verlangen, auch Jeden mit Strafe bedroht, der den Bor: 4 
Ichriften wegen Abhaltung von Bolksverfamnlungen zuwider: 
handelt. 

4) In welchem Umfang diefe Ueberwachung geübt werden 
joll und welche Mapregeln dabei zur Anwendung zu bringen 
find, darüber kann nur das Ermeſſen der Bolizeibehörde ent: 
ſcheiden, die ſich ae fühlen muß, 3. B. einen Verein, 
dejjen Programm und Wirkſamkeit auf der Grenslinte zwijchen 
gejeglicher und ungefeglicher Thätigfeit ftände, jtrenger und ge 
nauer zu überwachen, als einen Verein, bei weldhem jene Vor: 
ausjegungen nicht zuträfen. Ob und inwieweit jedoch jerte Bor: 
ausfegungen im vorliegenden Fall gegeben waren, entzieht ſich 
der Entjcheidung des Verwaltungsrihters und fällt der Ent: 
ſcheidung der Verwaltungsbehörde in der gejeglichen Inſtanzen— 
folge anheim. Für die Beichaffenheit der Maßregeln, die zur | 
Anwendung zu bringen find, find ebenfowenig gejegliche Bor: | 
jchriften oder Schranfen gegeben; felbft die ehemaligen Grund: 
rechte des deutjchen Volks, wie fie durch die Verfügung der Mini: 
fterien vom 14. Januar 1849 al3 mit dem 17. Januar 1849 
in Wirkſamkeit tretend bezeichnet worden find, durch das Gejeh 
vom 2. April 1852 aber als ſolche außer Wirkſamkeit gejegt 
worden find, hatten nur bejtimmt: 

$. 29. Die Deutfchen haben das Necht, fich friedlich und 
ohne Waffen zu verfammeln, einer befonderen Erlaubniß dazu 
bedarf es nicht. Volfsverfammlungen unter freiem Himmel kön— 








£. y 23 BT 3 nee 
« —— 
— 317 — 


nen bei dringender Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicher: 
heit verboten werden. 

F. 30. Die Deutfchen haben das Recht, Vereine zu bilden. 
Dieſes Necht fol durch Feine vorbeugende Maßregel bejchränft 
werden. ') 

Es war jomit durch diejelben nur ausgefprodhen, daß zur 
Abhaltung der VBerfammlungen feine Erlaubniß erforderlich fei, 
daß diejelben, fall3 fie unter freiem Himmel abgehalten werben, 
bei dringender Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicher: 
heit verboten werden fünnen, und daß das Vereinsrecht durch 
feine vorbeugende Maßregel befchränft werden darf. 

5) Wo das Vereinsweſen und die Abhaltung von Verſamm— 
lungen durch eingehende Gefege geregelt find, da mag es zwed- 
mäßig erjcheinen, die näheren Beſtimmungen über die Befugnifje 
der Polizei im Gejeßgebungswege zu geben, und die einzelnen 
ih dabei aufwerfenden Fragen gejeßlich zu ordnen. Wo dies 
aber, wie in Württemberg nicht der Fall ift, fondern die ganze 
Angelegenheit nur auf der Theorie und Praris des Staatsrechts 
beruht, da ijt die Frage, ob eine einzelne Maßregel zu ihrer 
Ausführung’ einer gejeglichen Ermächtigung bedarf, Lediglich nad) 
den bejtehenden Grundfäßen über die Grenzen zwiſchen Gejeß 
und Verordnung zu beantworten. Bon diejem Gefichtspunft aus 
bedurfte die Beftimmung des Art. 9 des Landespolizeiitrafgejeßes 
eines Gefeßes, weil durch diejelbe eine Verpflichtung der Staat$- 
bürger ausgefprochen werden jollte. Das Gleiche trifft aber für 
die Frage der -Befugniß der Bolizei, ihre Organe zur Kenntniß: 
nahme von den Verhandlungen einer Berfammlung in diejelbe 
abzuordnen nicht zu, und wenn auf Grund des Art. 149 Abf. 2 
des württembergifchen Strafgejege8 — der Aufhebung desjelben 
im Allgemeinen ungeachtet — als entjchieden anzufehen ijt, daß 
jelbit das Verbot eines Vereins von der Negierung für ſich aus: 
zufprechen it, jo Fann die vorbezeichnete Art der Ueberwahung 
der Vereine oder Verſammlungen als die geringere Maßregel 


1) Ebenso beftimmt Art. 1. der amendments to the constitution of 
the United States of North- America: Congress shall make no law . 
abridging the right of the people peaceably to assemble and to petition 
the government for a redress of grievances. 


— 318 — 





noch weniger der ausdrüdlihen Ermädtigung durch ein Geſetz 
bedürfen, fondern muß als im Allgemeinen in der Pflicht der 
Polizei, Verfammlungen und Vereine zu überwachen, enthalten. 
angejehen werden. | 
6) Da hiernach die von der Königlichen Stadtdirektion 
Stuttgart getroffene Verfügung weder als rehtlich unzuläfig 
noch al3 die Befchwerdeführer in einem ihnen zuftehenden Recht 
verlegend erkannt werden fonnte, fo mußte die in dieſer Rich— 
tung erhobene Bejchwerde als unbegründet verworfen werden. 


11. Beſchwerde der Gebrüder T. in Stuttgart gegen die 

ihnen auferlegte vorfhriftsmäßige Herftellung eines 
Trottoirs. 

Borausfegungen der eingetretenen Verpflichtung. 


Urtheil vom 13. Dftober 1880. 


Die Befchwerde gegen die die Verfügung der Regierung des 
Nedarfreifes vom 6. Dftober 1879 beharrende Verfügung des 
Ministeriums des Innern vom 19. April 1880 wurde als un: 
begründet verworfen. Durch diefelbe war den Bejchwerdeführern 
aufgegeben worden, an ihren Grundjtücden Nr. 15 und 17 der 
Kriegsbergſtraße, die unüberbaut find, vorfhriftsmäßige Trottoirs 
herzuitellen. ’ 

Gründe: Der gegen die Entfheidung des Minifteriums des 
Innern gerichteten Beſchwerde konnte, da es fich bei derſelben 
um einen Fall des Art. 13 des Gejeges über die Verwaltungs: 
rechtöpflege handelt, eine Folge nur dann gegeben werden, wenn 
diefe auf Beſtimmungen des öffentlichen Nechts beruhende Ent: 
Iheidung der rechtlichen Begründung ermangeln würde und hie: 
durch die Bejchwerdeführer in einem ihnen zujtehenden Recht ver: 
legt oder mit einer ihnen nicht obliegenden Verbindlichkeit als 
belaftet zu erfennen wären. In der That ijt Letzteres von ihnen be: 
hauptet worden, und fie ſcheinen zu deſſen Begründung in erjter 
Linie haben geltend machen zu wollen, daß für den Eintritt 
ihrer Verbindlichkeit als Grumdbefiger zu Anlegung des Trottoirs, 
auf der an ihre Grundftüde angrenzenden Straße lediglich das 
Verkehrsbedürfniß maßgebend jei, welches ihnen gegenüber eine 





— 319 — 


derartige Maßregel nicht als geboten erjcheinen laſſe. Mag je= 
doch in diefer Hinficht auch davon abgejehen werden, daß nach 
der übereinjtimmenden Auffafjung der die Intereſſen der Straßen 
polizei vertretenden Stuttgarter Gemeinde- und Staatsbehörden 
die Rücjicht auf genügende Entwidlung des auf der betreffenden 
Strede der Kriegsbergitraße ftattfindenden Verkehrs die nunmeh- 
ige Anlage des fraglichen Trottoirs allerdings erfordert, fo 
jteht jener Berufung der Beichwerdeführer jedenfalls die entjchei- 
dende Beitimmung des $. 9 Abſ. 2 des Stuttgarter Ortsbau- 
ſtatuts vom 1. Juli 1874 injofern entgegen, als hiernach bei 
beitehenden Straßen — um eine folche handelt es fich in dem 
vorliegenden Fall, da die Kriegsbergjtraße zur Zeit des Inkraft— 
tretens Des Ortsbauſtatuts bereit3 eröffnet war — die Trottoirs 
dann zu legen find, wenn außer dem Fall eines obwaltenden 
Verfehrsbedürfnifjes jowie demjenigen der Vornahme von Neubau 
ten oder ähnlichen Veränderungen die Kandelpflajterung her: 
geitellt oder erneuert wird. Eine ſolche Kandelpflafterung hat 
an der Striegsbergjtraße, als das Ortsbauftatut in Wirkſamkeit trat, 
bereits bejtanden und im Jahr 1874/5 erfolgte eine Erneuerung 
desjelben dadurch, daß die Straße in ihrer ganzen Länge und 
Breite gepflaftert wurde, womit die Stadt die Yegung der Rand— 
jteine für das in erhöhter Lage herzuftellende Trottoir verband. 
jedenfall von da an fonnte fomit den angrenzenden Grund— 
eigenthümern die Erfüllung der ihnen nad) $. 6 des Ortsbau— 
itatut3 obliegenden Verbindlichkeit zur Herjtellung von Trottoirs 
längs ihrer Grundjtüde mit Necht angejonnen werden, und zwar 
waren fie verpflichtet, dieſe Herjtellung in der durch $. 7 Abi. 
1 des Statuts vorgejehenen Weife zu bewirken, jo daß aljo eine 
bloß etwa mit Kies oder ähnlichem Material erfolgte Ausfüllung 
des zwifchen den Randſteinen und ihrer Eigenthumsgrenze gele- 
genen Raums feinen Anfpruch darauf hatte, als eine Trottoir— 
anlage im Sinn jener Vorjchrift zu gelten. 

Die Beichwerdeführer haben ferner geltend gemacht, fie 
jeien von der Erfüllung der fraglihen Verbindlichkeit dadurch 
diipenfirt worden, daß die Bauabtheilung des Gemeinderaths 
Stuttgart bei einer aus Anlaß der Pflafterung der Kriegsberg= 
ſtraße mit den angrenzenden Gutsbefigern wegen der Trottoir- 


— 20 — 


anlage am 6. April 1875 gepflogenen Berhandlung dem hier: 
über aufgenommenen Protokoll zu Folge jih dahin ausgeſprochen, 
fie glaube zugeitehen zu jollen, daß die damal3 vernommenen 
Gutsbeſitzer, worunter die Bejchwerdeführer, Plattentrottoird erit 
dann legen dürfen, wenn fie die betreffenden Pläge überbauen, 
Diefelben find der Anficht, eben durch diefe vermeintliche Diſpen— 
jation ein Recht darauf erlangt zu haben, die fraglichen Tot: 
toirs erjt dann herſtellen zu dürfen, wenn fie die betreffenden 
Tläge überbauen. 

Es fann in diejer Beziehung dahingeitellt bleiben, ob die 
gemeinderäthliche Bauabtheilung diejenige Behörde iſt, welde 
eine Dijpenfation der in Frage jtehenden Art vechtmäßiger Weile 
und mit der von den Beihmwerdeführern daran gefnüpften recht: 
lihen Folge hätte ertheilen können. Denn feinenfalls ift durd 
jenes Zugeſtändniß, wie mit Grund fämmtliche Verwaltungs: 
behörden angenommen haben, die ſich, nachdem von der Gtutt- 
garter Gemeindebehörde jeit Juli 1878 die endliche Herjtellung 
des fraglichen Trottoirs wiederholt in Anspruch genommen wurde, 
darüber auszujprechen hatten, die Erfüllung jener Verbindlich— 
feit dem durchaus freien Ermeffen der Bejchwerdeführer in der 
Weiſe anheimgeitellt worden, daß denſelben die Anlage der 
ZTrottoird nunmehr unter feinen Umjtänden mehr hätte ange: 
fonnen werden können, ehe fie jih dazu entſchloſſen haben wür: 
den, ihre Grundjtüde zu überbauen. Die Bauabtheilung hatte 
fi vielmehr bei jenem Ausſpruch, wie fi dies aus den voran: 
gegangenen Verhandlungen ergibt, die auch in dem Brotofoll 
zum Ausdrud famen, auf dem Standpunkt der Vorausſetzung 
befunden, von welchem die Bejchwerdeführer felbft bei Anbringung 
ihrer Gefuche um vorläufige Entbindung von der fraglichen Ber: 
pflihtung ausgegangen waren, nämlich der Vorausſetzung, daß 
Legtere ihre Grumdftüde in nit allzuferner Zeit über: 
bauen würden. Nachdem diefelben nun feither eine geraume 
Zeit haben verjtreichen laffen, ohne zu folcher Meberbauung zu 
Iohreiten, jteht ihnen feineswegs ein rechtlicher Anfpruch darauf 
zu, weiterhin auf unbejtinnmte Zeit von der Erfüllung der ihnen 
obliegenden Verbindlichkeit entbunden zu werden, und wird da: 
durch in ein ihnen zuftehendes Necht durchaus nicht eingegriffen, 








— 21 — 


dat die Stadtgemeinde Stuttgart in Ausübung der ihr ob— 
liegenden ftraßenpolizeilichen Fürforge von der auf Grund des 
Art. 15 Abf. 2 der allgemeinen Bauordnung von 1872 durch 
das Drtsbauftatut‘ eingeräumten Befugniß, die Heritellung des 
Trottoirs den betheiligten Grundbefigern gegenüber zu verlan— 
gen, nunmehr Gebrauch gemacht hat. Die von den Bejchwerde- 
führern geltend gemachten Billigfeitzgründe fonnten von hier aus 
feine Berückſichtigung finden. 


12. Reftaurateur F. J. in Stuttgart. Zugänglichkeit. 
Urtheil vom 15. November 1880. 


Die Verfügung des Minifteriums des Innern vom 12. Au— 
gujt 1880, durch welche dem Baugefuch die Genehmigung ver: 
jagt wurde, wurde mit dem Anfügen außer Wirkung gejeßt, 
daß wegen der von den Nachbarn des Bauluftigen E. R. und 
9. D. für ihre Häufer Nr. 18 und 20 der Wagnerjtraße für 
Nr. 6 der Eplingeritraße beanspruchten Wahrung von Luft und 
Licht den Betheiligten die Betretung des Civilvechtäwegs vor: 
behalten bleibe. 

Gründe: 1) Von der feitens der Nachbarn D. und R. 
für ihre Häufer auch aus Sanitätsrückſichten beanſpruchten Wah— 
rung von Luft und Licht wurde in Ermanglung einjchlägiger 
Beftimmungen der neuen allgemeinen Bauordnung d. 5. jolcher 
polizeilichen Vorſchriften, welche e8 als zuläſſig oder geboten er: 
iheinen ließen, wegen derartiger Rückſichten eine polizeiliche Be- 
ihränfung des 3. in deſſen Recht auf Ueberbauung feines Grund: 
eigenthums eintreten zu lafjen, auf Grund des Art. 1 der Baus 
ordnung angenommen, daß foldhe der Genehmigung des neueften 
Projefts des 9. nicht im Wege ftehen. Nur den nachbarrecht- 
lihen Beftimmungen der Bauordnung könnten die hierauf bezüg- 
lichen Einſprachen der Nachbarn möglicher Weife zu unterftellen 
jein, dießfalls würde fie aber als privatrechtliche Einwendung 
lediglich der ciwilgerichtlichen Verhandlung und Entfheidung an— 
heimfallen, zu welcher ſolche daher nah Art. 88 Abf. 2, vgl. Art. 74 
Abf. 1 des Geſetzes eventuell zu verweifen waren. 

2) Was jodann die Frage von der Zugänglichkeit der von 


— 32 — 





dem projeftirten Bauweſen berührten Zofalitäten insbejondere für 
den Fall eines dort ausgebrochenen Brandes (Art. 28 der Bau: 
ordnung) betrifft, jo läßt fih im Allgemeinen nicht verkennen, 
daß die dermalen bejtehenden in mehrfaher Hinficht äußerſt 
mangelhaften und den geltenden baupolizeilihen Vorſchriften theil- 
weife zumiderlaufenden Berhältnifje durh die Ausführung des 
projeftirten Neubaus eher verbefjert, als eine Verjchlimmerung 
erfahren würden, hauptſächlich, da für die [egteren eine der Be: 
jtimmung des $. 23 der Minifterialverfügung vom 26. Dezem— 
ber 1872 entfprechende Durchfahrt vorgejehen iſt, und der Neu: 
bau in durchaus mafjiver Konjtruftion aufgeführt auch auf den 
Rebenfeiten je mit einer Brandmauer verfehen werden fol. An: 
belangend insbefondere die in Frage geftellte Beibehaltung des: 
jenigen bisher frei gehaltenen Raums in dem 3... ſchen Hofe, 
welcher angrenzend an die nordöftliche Seite der beiden R.'ſchen 
Häufer nunmehr nach dem vorliegenden Bauproject überbaut 
werden joll, jo würde diefer Naum wegen feines fo jehr geringen 
Umfangs, da er namentlich in der Breite einen (verglichenen) . 
Meßgehalt von nur 1,60 Meter hat, eine irgend ausgiebige 
Verwendung von Feuerlöſch- und Nettungsanftalten ſchon bis: 
ber nicht zugelaffen haben. Bon den benachbarten Gebäuden 
fünnten für Sicherheitäzwede diefer Art nur eben die beiden 
R.. ſchen Häufer Nr. 18 und 20 der Wagnerftraße in’ Be 
tradht kommen. Bezüglich des erjten dieſer Häufer hat ſich 
jdoh 9. zur Begründung feines DVerlangens, jenen Raum 
überbauen zu dürfen, mit Recht auch auf Art. 42 des Gtutt- 
garter Ortsbauftatuts berufen, indem die in Frage jtehende 
nordöjtliche Seite des Gebäudes als eines nach zwei Seiten offen: 
jtehenden Edhaufes dem % . . ſchen Anwejen gegenüber nicht 
als Rück- fondern als Nebenjeite erfcheint, welcher entlang auf 
feinem Eigenthum ohne Einhaltung eines Abjtandes zu bauen, 
derfelbe nach der erwähnten ftatutariichen Beftimmung als be 
rechtigt erjcheint, ſofern die Eplingerftraße zu den in Abſatz ? 
Biff. 1 des angeführten $. 42 bezeichneten Straßen gehört. 
Bon der Nücdjeite des Haufes Nr. 20 aber foll wenigftens die 
größere Hälfte auch fernerhin frei bleiben, d. h. es foll der ihr 
‚gegenüber liegende Raum des J. .'ſchen Haufes auch nach dem 














— 23 — 


vorliegenden neuejten Projekt nicht überbaut werden. Hiedurch 
eriheint, da der ſoeben gedachte Hof im Uebrigen noch genügen: 
ven Raum zu Benüßung der etwa zu verwendenden Feuerlöfch- 
und Rettungsanitalten gewährt, und insbejondere von der Straße 
her mittelft der in dem Neubau anzubringenden Zufahrt zugäng— 
lich bleibt, den Rüdfichten auf Schuß auch der bezeichneten Rück— 
feite jene Nachbarhaujes infomweit Rechnung getragen, als fol: 
che3 innerhalb der Grenzen des dem J. zuftehenden Baurechtes 
al3 geboten und zuläflig zu erfennen war. 


13. Wirth 5. N. in Stuttgart. 
Einfluß eines früher genehmigten Bauplan auf ein 
neues Baugejud. 


Urtheil vom 28. November 1880. 


Das Minifterium des Innern hatte dad Geſuch des Bitt- 
jtellerg um Ausführung eines durch Minijterialerlag vom 4. Juni 
1850 genehmigten Bauweſens nach verändertem Bauplan aus 
Rückſicht auf den $. 44 des Drtsbaujtatuts von Stuttgart ab— 
gewiefen. Auf eingelegte Berufung ſetzte jedoch der Verwal: 
tungsgericht3hof diefen Beſcheid vom 13. Juli 1880 außer Wir: 
fung mit dem Anfügen, daß dem Minifterium vorbehalten bleibe, 
unter Beachtung des durch den genehmigten früheren Bauplan 
feitgeitellten Abftands von 2,85 Meter zwifchen dem Neubau und 
dem Gebäude Nr. 3a der Mleranderjtraße über did Abweichun- 
gen des neuen Bauplans von dem genehmigten alten Projekt 
in jeiner Zuftändigfeit noch das polizeiliche Erfenntniß zu er: 
theilen. 

Gründe: 1) Nah Art. 79 Abf. 3 der neuen allgemeinen 
Bauordnung und $. 6 der Vollzugsverfügung hat ein Bauunter: 
nehmer, welcher Abweichungen von Anem genehmigten Bauplan, 
wozu bejondere Genehmigung erforderlich it, vornehmen will, die 
Genehmigung nach Umständen unter VBorlegung eines neuen Baus 
tijjes einzuholen. Da die erwähnte Beitimmung ganz allgemein 
lautet, ohne daß irgend ein Unterfchied in der Behandlung der 
einzelnen Fälle nah Maßgabe gewiffer Merkmale (Zahl oder 
Erheblichfeit der Abweichungen u. ſ. f.) angedeutet wäre, fo ergibt fich 


— 324 — 


hieraus, daß ein von dem Unternehner eingereichter veränderter 
Bauplan im Sinn des Gefeges einer neuen polizeilichen Kogni- 
tion nur injoweit zu unterjtellen iſt, als er Abweichungen von 
dem genehmigten Bauplan enthält, daß dagegen diejenigen Bunte, 
bezüglih der zwifchen beiden Planen Webereinftimmung bejteht, 
als durch die frühere Genehmigung feitgeftellt dem polizeilichen 
Erfenntniß nicht mehr unterliegen, wofern nicht etwa dieſe 
Genehmigung durch Verzicht des Bauberechtigten oder gemäß Art. 
91 der Bauordnung durch Nichtaysübung des Baurecht hin— 
fällig geworden fein follte. Nur in dem Fall, ‚wenn das neue 
Bauprojeft al3 ein von dem alten in jeder Beziehung verjchie- 
denes anzufehen wäre, würde das Bauvorhaben als ein durch: 
aus neues Baugeſuch ohne Rüdficht auf den früheren Baupları 
und dejjen Genehmigung im einzelnen Fall zu behandeln fein. 
Ob dies im einzelnen Fall zutrifft, ift eine nach den fonfreten 
Verhältniſſen zu behandelnde Thatfrage. 

2) Vermöge Minifterialerlafjes vom 4. Juni 1880 wurde 
die dem N. am 29. April 1878 nad dem vorgelegten Bauplan 
ertheilte Genehmigung des projeftirten Neubaus, welche durch 
Verjährung inzwijchen erlojhen war, nad) vorgängiger ordnungs— 
mäßiger Verhandlung unter den gleichen Bedingungen (Bauvor— 
Ihriften) aufs Neue ertheilt. In dem hiedurch genehmigten Baupları 
ift ein Abjtand von 2,865 Meter zwifchen der ſüdweſtlichen 
Seitenflucht des Neubaus (der Ein: und Durchfahrt), welche auf 
6,70 Meter Tiefe überbaut werden follte, und dem Nachbarhaus 
Aleranderftrage 3a vorgeſehen. Es hat jomit N. dur) die nach 
jenem Plane erneuerte Bauerlaubniß, welche von feiner Seite 
angefochten worden, das Necht erworben, die Grundfläche jenes 
Bauplates an der ſüdweſtlichen Ede diefem Abſtand entfprechend 
auf 6,70 Meter Tiefe zu überbauen, ein Recht, welches durch 
die nachgefolgte Thatfahe, daß das Haus Nr. 3a und mit 
demjelben 2,30 Meter von dem 2,865 Meter betragenden Ab- 
jtand in das Eigenthum des F. M. übergiengen, feinen Eintrag 
erleiden fonnte, da es nach dem polizeilichen Erfenntnifje an eine 
die Aenderung der Eigenthumsverhältnifje betreffende Bedingung 
oder Vorausfegung nicht gefnüpft ift. | 

3) N. hat num zwar in feiner Eingabe an das Minifterium 








_ 335 — 

vom 12. Juni d. I. um Gejtattung der Ausführung des Neu- 
baus nach dem von ihm eingereichten veränderten Bauplan ges. 
beten, hiebei aber auf die ihm aus der Bauerlaubnig vom 4. 
Juni d. J. erwachjenen Nechte keineswegs Verzicht geleijtet. Es 
iit Daher mit Grund anzunehmen, daß derfelbe, indem er jenes 
Geſuch jtellte, den obgedachten Beitimmungen gemäß die Geneh- 
migung des neuen Bauplans nur infoweit, als diefer Abweich- 
ungen von dem genehmigten früheren Projekt enthielt, einholen 
wollte: Die Verſchiedenheiten, welche ſich bei einer Vergleichung 
beider Baupläne ergaben, find allerdings mannigfach, jedoch 
nicht von der Art, daß, wie das Minifterium angenommen hat, 
das veränderte Bauprojekt als ein durchaus neues Bauvorhaben 
ohne Rüdjicht auf den früheren Bauplan und deſſen m 
gung zu behandeln wäre. 

In baupolizeilicher Beziehung ftellen fich nur zwei Abweich— 
ungen von Erheblichfeit dar, nämlich: 1) die Befeitigung der im 
alten Plan vorgefehenen Ein: und Durhfahrt, an deren Stelle 
ein gewöhnlicher Hauseingang mit Staffelanlage tritt, 2) die voll- 
jtändig auf die ganze Tiefe des Neubaus fich ausdehnende Ueber— 
bauung der füdmejtlichen Seitenflucht nach dem neuen Blan, wäh: 
vend nach dem alten Plan nur eine theilweife auf 7,60 Meter Tiefe 
ih eritrecdende Ueberbauung jener Seitenflucht * Ein: und 
Durchfahrt) ſtattfinden jollte. 

Dagegen beſteht zwiſchen beiden Planen in * für die Be— 
urtheilung der vorliegenden Beſchwerdeſache weſentlichen Punkte 
Uebereinſtimmung, daß, wie bereits oben bemerkt worden, auf 
der ſüdweſtlichen Seite ein Abſtand des Neubaus von 2,865 M. 
gegen das Nachbarhaus Alexanderſtraße 3a eingehalten, die 
Grundflähe ſonach bis zur Grenze dieſes Abjtands nach dem 
neuen Plan auf die ganze Tiefe des Neubaus, nach dem alten 
auf 7,60 Meter Tiefe überbaut werden fol. Auf der Grund: 
lage diejes Abſtands ijt dem N. die frühere Bauerlaubniß er: 
theilt worden, infoweit (d. h. innerhalb der Grenzen des nad) 
dem alten Plan auf der ſüdweſtlichen Seite fich erjtredenden Neu— 
baus) erjcheint daher die Frage der Einhaltung des vorjchriftg- 
mäßigen Abjtands hiedurch bereits entjchieden und kann es ſich 
jolgeweife von der nachträglichen Anwendung der Vorſchrift des 

Württemb. Archiv für Recht sc. XXIL. Bd. 2. u. 8. Heft. 22 





— 326 — 


8. 44 des Drtöbauftatuts, welche. die Vertheilung der Abjtände 

im baupolizeilihen Berfahren normirt, und ein noch ungeregeltes 
Verhältniß vorausfegt, auf ein duch die Baugenehmigung vom 
4. Juni bereits feftgeitelltes Verhältniß eben jo wenig han— 
deln, als es bei der hiedurch für den Befiger des Nachbarhaufes 
begründeten öffentlich rechtlichen Verpflichtung zur Nichtüber- 
bauung der Abjtandsfläche innerhalb feiner Eigenthumsgrenze 
der Beitellung einer privatrechtlichen Dienjtbarfeit bedarf: Jener 
Abſtand ift hiernach als feftjtehend und für die Kognition über 
das neue Bauprojeft bindend anzufehen, zumal da der über letz— 
teres vernommene Nahbar F. M. hiegegen keine Einfprache er: 
hoben bat, und feiner nachträglichen Einwendung, welde erit 
aus Anka der an ihn wegen Anerkennung einer privatrechtlichen 
Servitut bezüglich des Abjtands ergangenen Aufforderung er: 
folgte, die Bedeutung einer wirffamen Anfechtung des N. 'ſchen 
Bauprojett3 nicht beigelegt werden kann. 

4) Vorſtehendem gemäß war die Verfügung vom 13. Juli, 
jofern fie das. veränderte Bauvorhaben des N. als ſchlechthin 
neues Baugeſuch behandelte, und die Beltimmung des 8. 44 
— Ortsbauſtatuts auf ein durch die Baugenehmigung vom 

4. Juni bereits feſtgeſtelltes Verhältniß angewendet hat, als recht— 
lih nicht begründet und der Befchwerdeführer als in J 
Recht verletzt zu erachten. 





"Si 





IV. Zum Begriff des öffentlih-rehtlihen Anſpruchs. 
Die Doransfeßungen des negativen Kompetenzkon- 
flikts. 


Art. 10 Ziff. 16 des Gefeges über die Verwaltungsredhts- 
- pflege vom 16. Dezember 1876. Art. 12 des Gefeges 
betreffend die Entjheidung von Kompetenzfonfliften 
vom 25. Augujt 1879. 
Grfenntniß de3 Verwaltungsgerihtshofs vom 10. Juni 1881. 
Belcheid des Kompetenzgerihtähofs vom 24. September 1881. 
sm Sahre 1856 hat der Stiftungsrath in Stuttgart gegen 
die K. Oberfinanzfammer bei dem K. Dberamtsgerichte in Stutt: 
gart Klage auf Fortreihung der fogenannten Almofenbeiträge er: 
hoben, welche in einer größeren Quantität von Früchten und 
Holz und einer namhaften Geldſumme bis zu der im Jahre 1853 
erfolgten Einftellung der ſämmtlichen fogenannten Almofenbeiträge 
des Staats !) auf Grund früherer herzoglicher Verfügungen an 
die Stadtgemeinde Stuttgart geleijtet worden waren. Die Klage 
wurde durch Erkenntniß des K. Oberamtsgerihts Stuttgart vom 
13. Juni 1861 wegen Unzuftändigfeit des Givilrichters abge— 
wiejen, indem das Oberamtsgericht davon ausgieng, daß die er: 
hobenen Ansprüche öffentlich -vechtlicher Natur feien. Eine bie: 
gegen erhobene Bejchwerde wurde wegen Verfäumung der Be: 
ſchwerdefriſt zurücgewiefen und hiemit die ergangene Inkompetenz— 
erklärung des Givilrichters formell rechtskräftig. Am 1. Novem— 
ber 1879 hat jodann die Drtsarmenbehörvde zu Stuttgart, auf 
welche bei der Stiftungsausfcheidung diefe Ansprüche im Jahre 
1873 übergegangen waren, bei der K. Kreisregierung für den 
Nedarkreis als Berwaltungsgericht erfter Inſtanz die bezeichneten 
Anſprüche geltend gemadt. Die Klage wurde jedoch durch Ur: 
theil der Kreisregierung vom 23. Dezember 1880 materiell ab- 
gewieſen. Auf die Hiegegen ergriffene Berufung erfannte fodann 
der K. Verwaltungsgerichtöhof unter dem 20. Juni 1881°): _ 


1) Vgl, dieſes Ardiv, Bd. XIV. ©. 1 ff, die Prozeſſe über 
die jogenannten Almojenbeiträge des Staat. 
2) Dieſe Enticheidung des Verwaltungsgericht3hofs nebjt Gründen 
22 * 





ii: 9 


Das Urtheil der K. Regierung für den Nedarfreis wird 
dahin beitätigt, daß, wie hiemit gefchieht, die Klage als 
im heutigen öffentlihen Recht nicht begründet abzumweijen 
und die Klägerin in die Koften des Verfahrens beider 
Inſtanzen, ſowie in die Sporteln, "wovon diejenige für 
die gegenwärtige Inſtanz einjchlieglih des Zuſchlags auf 
360 Mark feitgefegt worden ift, zu verfällen ſei. | 
Gründe. Der vorige Richter hat die verwaltungsgericht- 
lihe Zuftändigfeit, welche auch von beiden Parteien anerkannt 
it, in Art. 10 Ziff. 16 des Gefeges über die Verwaltungsrechts- 
pflege vom 16. Dezember 1876 begründet gefunden, weil es jich 
im gegenwärtigen Rechtsftreit um die aus dem öffentlichen Recht 
abgeleitete Verbindlichkeit der Staatskafje zu gewiſſen Leiftungen 
an die Almofenpflege der Stadt Stuttgart zum Zwede der Armen— 
unterjtügung, alfo für einen öffentlichen in den Gejchäftsfreis 
des Departements des Innern fallenden Zwed handle. Hiemit 
ift jedoch die Zuftändigfeit des Verwaltungsrichters, welche das 
Vrozeßgeriht von Amtswegen zu prüfen hat, im vorliegenden 
Falle noch feineswegs fejtgeftellt, vielmehr bedarf die Kompetenz- 
frage einer nähern Unterfuhung und Erörterung, da es bei Der 
Beurtheilung der Frage vor Allem darauf antommt, was im 
Sinne des Geſetzes unter öffentlihem Recht zu veritehen 
jei, und ob die Begründung des Elägerjchen Anſpruchs als eines 
öffentlich = rechtlihen dem geſetzlichen Begriffe entiprede. Nun 
enthält zwar das genannte Gejeß jomwenig, wie das Gejeß über 
die Rechtsmittel in Berwaltungsjujtiziachen vom 13. November 
1855 eine Definition des öffentlichen Rechtes. Dagegen hat der 
Begriff des legtern durch das Geſetz vom 19. April 1865 be= 
treffend die Ablöfung von Leitungen für öffentliche Zwede eine 
das Kompetenzverhältnig des Verwaltungs: und Givilrichters 
bejtimmende Abgrenzung erhalten, welche für die Feititellung der 
Zuftändigfeit im gegenwärtigen Streit von entfcheidender Be- 
deutung iſt. Nach Art. 1 und 12 dieſes Geſetzes unterliegen 
wird außerhalb der Reihenfolge der regelmäßigen Mittheilungen aus 
der Rechtſprechung diejes Gerichtshofs wegen ihres Zuſammenhangs mit 
dem Beicheid des K. Kompetenzgerichtshofs mitgetheilt. 





— 329 — 


die mit dem Beſitz einzelner oder verbundener Vermögensgegen- 
ftände verfnüpften und nicht in den heutigen ſtaatsrecht— 
lihden Berhältniffen begründeten Leiftungsverbindlichkeiten 
für öffentliche Zwecke, namentlih für Kirche, Schule, Armen: 
unterftügung, im Gtreitfalle der civilrichterlichen Beur— 
theilung. Die bier aufgeitellte Kompetenzvorjchrift gilt zunächit 
und unmittelbar nur für die als ablösbare fogenannte Komplex— 
laſten beanspruchten Leiſtungen, diejelbe hat aber auch, weil auf 
der Abfcheidung des heutigen (gegenwärtig geltenden) öffentlichen 
Rechtes von dem hiftorifchen öffentlichen Nechte beruhend, eine 
über den Kreis der Komplerlajten hinausreichende allgemeine Be— 
deutung, indem fie nach den ſtändiſchen Verhandlungen 3) ein für 
die Grenzregulirung zwilchen öffentlihem und Privatrecht, Ber: . 
waltungs- und. Givilgerichtsbarfeit maßgebendes Prinzip in ſich 
ſchließt, das — in der jeitherigen Praxis allerdings noch nicht 
zur vollen Anerkennung gelangte — Prinzip nemlih, daß über: 
haupt Leiftungsverbindlichfeiten für öffentliche Zwecke, welche jich 
niht auf das heutige öffentliche Recht, ſondern lediglid auf 
frühere öffentlich rechtliche Verhältniffe gründen, privatrechtliche 
Berbindlichkeiten und. Gegenftand der Civilrechtſprechung jeien *). 

Bon dem durch Die gedachte Kompetenzvorichrift feſtgeſtellten 
Begriff des öffentlichen Nechtes ift daher auch bei der Auslegung 
des Artikels 10 Ziff. 16 des Ceſetes vom 16. Dezember 1876 
auszugehen. 

Die Motive zu Ziff. 16 erklären nun zwar im Schluß— 
ſatze als hieher gehörig diejenigen Fälle „in welchen ein der— 
artiger Anſpruch gegen die Staatskaſſe erhoben wird auf Grund 
früherer öffentlich rechtlicher Verhältniſſe wie beiſpielsweiſe in den 
ſogenannten Almoſenprozeſſen; die Bemerkungen des Kommiſſions— 
berichtes der Kammer der Abgeordneten zu Ziff. 16, ſodann 
ſprechen anknüpfend an die Motive von der „in dieſer Ziffer 
ferner geregelten Zuſtändigkeitsfrage in den Prozeſſen über die 


3) Vgl. hierüber Steinheil, das Geſetz wegen Ablöſung bon Leit: 
ungen für öffentliche Zmwede S. 66—77. 

4) Vgl. Württemb. Archiv Bd. XV. ©. 83 — 91. Sarmwey, das 
öffentliche Necht und die Verwaltungsrechtöpflege $. 23 ©. 337 u. f. 


in 


jogenannten Almofenbeiträge des Staates” und ſchließen nad 
kurzen Andeutungen über die Theprie und Praris mit dem An— 
trage, „daß die vorgejchlagene Regelung der Kompetenz gut- 
zuheißen fein dürfte”, wornach angenommen werden fünnte, daß 
duch den Scriftfag der Motive eine. zweifelhafte Kompetenz= 
frage gejeßgeberifch geregelt, und insbejondere bezüglich der jo- 
genannten Almoſenprozeſſe eine kaſuiſtiſche Fetjtellung der Zus 
jtändigfeit in einer den erfennenden Richter bindenden Weiſe ge- 
troffen worden fei. Gleichwohl ift dieß nicht als der wirklichen 
Abjicht des Geſetzgebers entjprechend anzunehmen. 

Zunächſt kommt in Betracht, daß Art. 10 fih nur mit 
der Abjcheidung der zur Eontradiftorifchen Verhandlung geeig— 
neten Gegenſtände der Berwaltungsgerichtäbarfeit von der Ver— 
waltung (der Negiminalverwaltung) innerhalb des unzweifel 
haften Gebiets des öffentlichen: Nechtes befaßt und daß es 
außerhalb feiner Zweckbeſtimmung lag, die Kompetenz der Ver: 
waltungsjuftiz gegenüber von der Civilgerichtsbarkeit 
zu regeln. In der fraglichen Beziehung (bei den fogenannten 
Almoſenprozeſſen nemlih) handelt es fich aber gerade um Fälle, 
welche auf der Grenze der Gebiete des öffentlichen und Privat— 
rechtes, der Verwaltungs: und Givilgerichtsbarkeit liegen. Wenn 
daher je beabfichtigt gewejen wäre, für diefe zweifelhaften Fälle 
eine Kompetenzbejtimmung zu treffen, jo war nicht in. Art. 10, 
Jondern in dem von der Abgrenzung der Gerichtsbarkeit handeln- 
den Kapitel des Gejeges (Art. 1 und 2) der Drt dazu. Auch 
hätte dieß nicht durch bloße Bemerkungen in den Motiven und 
in einem ftändifchen Kommiffionsberichte, ſondern durch eine Be- 
ftimmung im Gejege jelbjt um jo mehr gejchehen müſſen, als 
hiebei das Verhältnig zu der Kompetenzvorichrift des Art. 12 
vgl. mit Art. 1 des Gejeßes vom 19. April 1865, welche die 
ausſchließlich auf frühern ftaatsrechtlihen Verhältniffen beruhen 
den Leijtungsverbindlichfeiten der dort bezeichneten Art der Zu— 
ftändigfeit des Givilrichters übermiefen hat, in Frage fteht. 
Ebenjo bietet die Entjtehungsgefhichte der Fafjung der Motive 
zu Ziff. 16 feinen Anhalt dafür, daß eine legislatorifche Rege— 
lung der Kompetenz bezüglih der im — — angeführten 
Fälle beabſichtigt war. 


En A a mu ET 7 * 


Fe 
— 331 — 


Hiernach kann in jener Schlußbemerfung der Motive nicht 
eine gejeßgeberifche Beltimmung, auch nicht eine authentijche 
Snterpretation, jondern nur der Ausſpruch einer Anficht über 
das bejtehende Recht gefunden werden, welcher den Richter 
bei der ihm obliegenden Prüfung der Kompetenz im fonfreten 
Falle nicht bindet. Hätte diefer Ausſpruch wirklich nur folche 
Anſprüche im Auge, welche ausjchlieglih auf Grund früherer 
öffentlich »rechtliher Verhältnifje gegen. die Staatskaſſe erhoben 
werden, jo ftände er bezüglich derjenigen Fälle, wo Leiſtungs— 
verbindlichkeiten der in Art. 1 des Gejeges vom 19. April 1865 ° 
bezeichneten Art den Gegenjtand des Streites bilden, in direkten 
Gegenjage zu der Kompetenzvorfchrift in Art. 12 des legtern 
Geſetzes, derjelbe befände ſich aber auch in Theſi mit dem jener 
KRompetenzvorschrift zu Grunde liegenden PBrinzipe nicht im Ein: 
fange. Es ijt jedoch, da ein Verſtoß der Motive gegen eine ge- 
jegliche Kompetenzbejtimmung im Zweifel nicht vermuthet werden 
darf, anzunehmen, daß die Schlußbemerkung Jolche Fälle int Auge 
habe, in welchen ein Anspruch der in Art. 10 Ziff. 16 genannten Art 
zwar feinem biftorifchen Entjtehungsgrunde nad) aus frühern öffent: 
lich-rechtlichen Verhältniſſen abgeleitet, zugleich aber in dem heutigen 
öffentlichen Nechte begründet iſt, jo daß es bei der Entfcheidung 
der Zuftändigfeitsfrage nach wie vor auf die rechtliche Natur des 


tonfreten Falles anfäme. Der (von dem Prinzip der mehrges ' 


dachten Kompetenzvorſchrift allerdings abweichenden) bisherigen 
Praris, auf welche in dem Kommifjionsbericht der Kammer der 
Abgeordneten ſich berufen it, kann nach dem Ausgeführten ein ent: 
jheidendes Gewicht umfoweniger beigelegt werden, als die civilges 
richtlichen Erfenntnifje in Almofenprozejjen vor dem Erjcheinen des 
Komplerlajtenablöfungsggefeges ergangen, die verwaltungsrichter: 
lichen Erfenntnifje aber in der fonjtanten Entſcheidung der Kompe— 
tenzfrage auf das Präjudiz des Königl. Geheimeraths in der Be— 
ſchwerdeſache des Klofterftiftungsraths Reichenbach D.A. Freuden: 
ſtadt vom 19. Auguft 1863) zurücdzuführen find, welches die 
Zuftändigfeitsfrage nur nad) der Seite der Verwaltung, nicht 





5) Archiv Bd, XIV. ©. 526, 
6) Arhiv Bd. IN. S. 81u. f. 


—— 
> +3 ” 
* 


— 332 — 


gegenüber von der Civilgerichtsbarkeit in Erörterung gezogen 
und den für die Kompetenzentſcheidung nach letzterer Seite hin 
maßgebenden Begriff des öffentlichen Rechtes, der erſt durch das 
Komplexlaſten-Ablöſungsgeſetz feine poſitive Feſtſtellung erhielt, 
unberührt gelaſſen hat. 

Was nun den vorliegenden Fall betrifft, ſo kommt zuvörderſt 
in thatſächlicher Beziehung in Betracht, daß nach den Angaben 
der Klagſchrift, welche mit dem ſonſtigen Akteninhalt überein— 
ſtimmen, die in Frage ſtehenden Almoſenbeiträge ſämmtlich auch 
das ſogenannte Hofalmoſenbrod der Almoſenpflege gegenüber auf 
landesherrliche Verwilligungen (die herzoglichen Spezial-Refo: 
lutionen vom 23. Juni 1709, 22. Mai 1776, 25. Juni und 
28. Dezember 1789, 19. April 1790), beziehungsweiſe auf vom 
Landesherrn angeregte Verwilligungen der Landſchaft von 1776 
und 1790 ſich gründen. 

In rechtlicher Hinſicht hat ſich der klägeriſche Bevollmächtigte 
auf die Titel der Stiftung, der unvordenklichen Verjährung und 
des Anerkenntniſſes berufen, wovon jedoch die beiden letztern nicht 
die rechtliche Natur der Leiſtungen, ſondern die Frage der Rechts— 
verbindlichkeit und Unwiderruflichkeit derſelben angehen. Unter 
dem Geſichtspunkte der Stiftung ſpricht ſich die klägeriſche Aus— 
führung über die rechtliche Natur der im Streit befangenen 


Almoſenbeiträge folgendermaßen aus: 


Was den Nechtsgrund der Stiftung anbelange, fo kommen 
nicht blos Stiftungen privatrechtlicher Natur (Schenkungen durch 
Privatperfonen), jondern auch öffentlich-rechtliche Stiftungen vor. 
Zu den legtern gehören die in Frage ftehenden Almojenbeiträge. 
Die Fürforge für die Armen Stuttgarts jei von den Regenten 
al3 eine öffentliche Nechtspflicht aufgefaßt worden, bei deren Er— 
füllung das Kirchengut in Mitleidenschaft zu ziehen fei. Pie 
hriftlihe Kirche habe es von Anfang an als ihre Aufgabe be= 
trachtet, für die Armen zu jorgen, und fie habe lange fait allein 
für den Bedarf der Armenpflege aufzufommen gehabt. Als ihre 
Kräfte jpäter nicht mehr dazu ausreichten, ſei neben weltlichen 
Stiftungen Einzelner der Staat mit jeiner Fürforge eingetreten, 
und zwar theils direkt, theils durch Auferlegung an die Ge— 
meinden. Auch fprechen fpeziell die Württembergifchen Kirchen: 


= 
* 





— 333 — 


ordnungen, die von 1536, 1559 und folgenden aus, daß die 
Einfünfte des Kirchengutes, ſoweit fie nicht für Kirchen und 
Schulen verwendet werden, den Armen zu Statten fommen 
jollen. Unzmeifelhaft jei es auch, daß ftändige Almofen als 
dvinglidhe Laſten auf dem Kirhengut ruhten. 

Aus diefer Anſchauung erklären ſich die herzoglichen Reſo— 
Iutionen und die Vertheilung der Leijtungen auf die herzogliche 
Rentkammer, die landftändiiche Kaffe und die Kaſſe des einge: 
zogenen Kicchengutes (die Bebenhäufer Tflege). Nachdem dieje 
Kaſſen vereinigt worden feien, habe die Staatskaſſe ala Rechts— 
nachfolgerin die Verpflichtung allein. Bei der Einziehung des 
Kirchengutes im Jahre 1806 jei auch vom Könige noch Ipeziell 
zugejichert worden, „daß die auf dem geiftlichen Gut haftenden 
Obliegenbheiten, infofern folche Eirchliche Xehr:, Schul: oder andere 
gemeinnüßige Armenanftalten betreffen, wie feither, übernommen 
werden.” | 

Wenn der klägerſche Anwalt in diefer Ausführung fich auf 
den Rechtsgrund der Stiftung beruft, jo hat er hiebei, wie ans 
dem Zufammenhang und aus der thatjächlichen Begründung des 
Anſpruchs erhellt, offenbar nicht die Stiftung im eigentlichen 
Sinne, fondern den Nechtsbegriff der Schenkung im Auge. 
Die von ihm jo genannten privatrechtlichen Stiftungen erklärt 
er jelbft als Schenkungen duch Privatperfonen, unter den fo: 
genannten öffentlich=vechtlihen Stiftungen, zu welchen er die in 
Frage ftehenden- Almofenbeiträge rechnet, verjteht er daher wohl 
Schenkungen publiziftifcher ‘Berfonen, namentlich des Negenten, 
wie er denn in feiner Erklärung vom 18. Mai vorigen Jahrs 
ipeziell den im Jahre 1789 für das Armenbefchäftigungssinititut 
bewilligten Holzbeitrag als auf altfürftlicher Donation beruhend 
und in der Erklärung vom 22. Dftober vorigen Jahrs die im 
Sahre 1790 durch Herzoglihe Nejolution verwilligten Frucht: 
beiträge der Rentkammer und Bebenhäuferpflege als bleibende 
Schenfung, bleibende Dotation bezeichnet. 

Sind hienah im Sinne der Klage die fragliden Al: 
mojenbeiträge auf Akte fürftliher, reſp. landjchaftlicher Libera- 
lität, welche unter den dem Privatrecht angehörenden Rechtsbe— 
griff der Schenkung fallen, zurücdzuführen, jo wollte andrerjeits 





— 334 — 


duch den Satz der Klagbegründung: daß die Fürſorge für Die 
Armen Stuttgart3 von den Negenten als eine öffentliche Rechts— 
pflicht, bei deren Erfüllung das Kirchengut. (feiner Zweckbeſtim— 
mung gemäß) in Mitleivenfchaft zu ziehen fei, aufgefaßt worden 
und daß aus diefer Anjchauung fich die herzoglichen Refolutionen 
erflären — die in der damaligen Ttaatsrechtlichen, d. h. patri- 
mönialrechtlichen Stellung des Regenten, zumal im Ber- 
hältniffe zur Haupt: und Nefidenzitadt Stuttgart, wurzelnde 
Rechtsanſchauung als Beitimmungsgrund für jene Ziberalitäts- 
Akte angedeutet werden, was nad den Akten auch als zutreffend 
ericheint. Jenes patrimonialrechtliche Berhältni brachte eg nemlich 
mit ih, daß die MWürttembergifchen Herzoge der Organilation 
und Derwaltung der Stuttgarter Armenpflege ihre befondere 
landesherrlide Fürforge widmeten, und hiebei namentlich darauf 
bedacht waren, die ökonomische Fundation der dortigen Armen- 
anjtalten jiher zu jtellen. In umfaſſender Weife gefchah letteres 
bei der Organifation von 1776/89, als zum Zwed der Dotirung 
085 neuen Armenverjorgungs: und Beihäftigungsinftitut3 durch 
berzogliche Spezial-Nefolutionen nähere Beftimmungen über Die 
. von Privaten und Stiftungen zu leitenden Beiſteuern getroffen, 
Beiträge der Rentkammer und des Kirchenraths verwilligt und 
Beitragsvermwilligungen der Landfchaft veranlaßt wurden, ob: 
gleich ſchon damals der Grundjaß galt, daß jeder Ort für feine 
Armen felbjt zu jorgen habe. Diefer Einwirkung des landes- 
herrlichen Elementes entſprach e8 auch, daß die ftädtifchen Armen: 
anitalten zugleich als landesherrliche Inſtitute angefehen wurden. 
Wenn ferner in der Stlagebegründung bemerft wird: 
„Aus diefer Anfchauung (d. 5. diefer ftaatsrechtlichen An— 
Ihauung) erklären ſich die herzoglichen Nefolutionen und die 
Bertheilung der Yeiftungen auf die herzogliche Rentkammer, 
die landftändische Kaffe und die Kaffe des eingezogenen Kirchen: 
gutes (der Bebenhäufer Pflege). Nachdem diefe Kaſſen ver: 
einigt worden find, hat die Staatskaſſe als Rechtsnachfolgerin 
die Verpflichtung allein”, 
jo iſt hiemit ausgejprochen, daß die Leiftungen auf die genannten 
Bermögensfomplere angewiejen worden, daher mit dem Befite der 
legtern verknüpft feien, und nunmehr der Staatsfinanzverwaltung 





— 335 — 


als Beſitznachfolgerin obliegen. Nach den von der Klägerin ange— 
gebenen Merkmalen handelt es ſich alſo von Leiſtungen für einen 
öffentlichen Zweck (die Armenunterſtützung), welche in frühern ſtaats— 
rechtlichen Verhältniſſen und unter dem Einfluß der letztern ergan— 
genen Akten landesherrlicher und landſtändiſcher Liberalität ihren 
Urfprung haben und mit beftimmten nunmehr im Gefammtbefige 
der Staatsfinanzverwaltung vereinigten Vermögensfompleren ver: 
fnüpft find. Wenn, wie X. Seits behauptet ift, die beanfpruchten 
Leitungen den Charakter von bleibenden Leiſtungen haben, fo 
wären diejelben hienach, vorausgefegt, daß fie nicht auch) in den 
heutigen jtaatsrechtlihen Verhältniſſen ihre Begründung finden, 
als Leijtungsverbindlichfeiten der in Art. 1 Abi. 1 des Geſetzes 
vom 19. April 1865 bezeichneten Art anzujehen. 

Da indeffen in gegenwärtiger Nechtsfache der flägerfche 
Anſpruch als ein öffentlich-vechtlicher auf Grund des Artikels 
10 Ziff. 16 des Gefeges über die Verwaltungsrechtspflege vom 
16. Dezember 1876 geltend gemacht, und die Entiheidung des 
Verwaltungsrichters hierüber angerufen ift, fo ‚steht nad) ‚der, 
Sahlage und im richtig verftandenen Sinne der lektgedachten 
Sejepesbeftimmung zunächit die Frage zum verwaltungsgericht- 
lichen Erkenntniß, ob der Anſpruch im heutigen öffentlichen 
Rechte begründet ſei. Wird diefe Frage verneint und ebenda: 
durch die Möglichkeit der Anwendung des Gejeges vom 19. April 
1865 bejaht, jo iſt die Zujtändigfeit des Verwaltunggrichters 
mit dem bezüglichen Ausipruche erfchöpft und die Beurtheilung 
der weiteren Frage, insbeſondere der das Dafein der Leiſtungs— 
 verbindlichkeit angehenden Frage, ob die beanſpruchten Almofen- 
beiträge bleibende Leiftungen feien, nach Art. 12 des vorhin ge— 
nannten Gejeßes der Beurtheilung des Givilrichters für den, 
Fall zu überlafen, daß die Klägerin einen Anfprud auf Grund 
dieſes Geſetzes jpäter erheben und gerichtlih verfolgen follte. 
Der Umftand, daß ein folcher Anspruch von der Klägerin zur 
Zeit nicht erhoben ift, kann und darf den Verwaltungsrichter, 
welcher bei der ihm von Amtswegen obliegenden Prüfung der 
Zuſtändigkeitsfrage auch die Kompetenzbeftimmung jenes Artikels 
12 vergl. mit Artikel 1 zu beachten hat, nicht abhalten, in 
einem Falle, wo er nad der Klagebegründung die Merkmale 


— 336 — 


des Artikels 1 des Geſetzes angezeigt findet, feinen Ausſpruch 
auf die duch jene Kompetenzbeitimmung feiner Zujtändigfeit ge: 
jtedten Grenzen zu bejchränfen. 

Die Frage aber, ob der klägerſche Anſpruch im heutigen 
öffentliden Recht begründet fei, ift zweifellos zu verneinen, 
da das in Mürttemberg gegenwärtig geltende öffentliche Recht 
eine Verpflichtung der Staatskaſſe bei der den Armenverbänden 
(Gemeinde und Amtskörperichaft) gejeglich obliegenden öffentlichen 
Armenunterftügung unmittelbar oder mittelbar fich zu betheiligen 
oder zur Dedung des Defizit3 örtlicher Armenftiftungen, fpeziell 
desjenigen der Stuttgarter Nlmojenpflege, Beiträge zu leiiten, 
nicht Fennt, die von diefer Almojenpflege gegenüber der Staats: 
fajje beanipruchten Leiſtungen vielmehr nur aus befondern 
außerhalb jenes Rechtsgebietes gelegenen Rechtsverhält: 
niſſen abgeleitet werden fünnen, und von’ der Klägerin hieraus 
auch in der That abgeleitet worden find. Hienach war der 
flägerihe Anſpruch als im heutigen öffentlichen Recht nicht be: 
gründet abzumeilen, von der richterlichen Beurtheilung weiterer 
ragen daher abzufehen. 

Aus der die Klage abweifenden Entjcheidung ergab jid 
auch die Berfällung der Klägerin in die Prozeßkoſten und Sporteln. 

In dem bierauf bei dem K. Kompetenzgerichtshof am 
11./12. Juli 1881 von dem Vertreter der Ortsarmenbehörde 
Stuttgart eingereichten Schriftfage wird im Weſentlichen Fol: 
gendes ausgeführt: 

Der Verwaltungsgerichtshof habe fich durch das angeführte 
UrtHeil für unzuftändig erflärt, da es ſich um Anfprüche handle, 
über welche der Givilrichter abzuurtheilen habe. Somit liege 
ein negativer Kompetenzfonfliftt vor und die Drtsarmenbehörd 
ſehe jih veranlaßt, auf Grund des Art. 12 des Gejeges vom 
25. Auguft 1879 darüber eine Enticheidung zu beantragen, 
welche Behörde für diefe Nechtsfache zuftändig ſei. Des Weiteren 
wird ſodann ausgeführt, daß die Verbindlichkeit zu den in Frage 
jtehenden Leiſtungen auf unmiderruflihen Verwilligungen für 
öffentliche Zwede an eine Korporation beruhe und deßhalb öffent: 
lich - rechtlicher Natur ſei. Die Klage ftüge fich auf Verwilli— 
gungen, beziehungsweije Verjährung und beide NRechtätitel ges 








— 337 — 


hören auch dem heutigen öffentlichen Rechte an. Der Staat 
habe vielfah, auch in neuejter Zeit, nicht weil er rechtlich ver- 
pflichtet gewejen, fondern weil nach feiner Anficht ein öffentliches 
Intereſſe, ein Kulturzwed u. ſ. f. vorgelegen, jo für das neue 
Öymnafium und die Realjchule in Stuttgart, Verwilligungen 
gemacht. Die Anjicht, daß die in Frage jtehende Leiftungspflicht 
in dem heutigen öffentlichen Rechte nicht begründet, feine öffent- 
fid) rechtliche Verbindlichkeit jei, über welche daher im Streitfalle 
niht das DVerwaltungsgericht zu entfcheiden habe, könne weder 
aus Art. 1 und Art. 12 des Gejehes wegen Ablöſung von 
Leiſtungen für öffentliche Zwede von 19. April 1865, noch mit 
den Bejtimmungen des Gejetes über Die Verwaltungsrechtspflege 
vom 1. Dezember 1876 begründet werden. 
Hierauf faßte der Kompetenzgerichtshof am 24. September 
1881 den folgenden Beſchluß: 
Auf den von dem Rechtsanwalt Zeller Namens der Drts- 
armenbehörde Stuttgart in ihrer Rechtsjadhe als Klägerin 
gegen die K. Staatsfinanzverwaltung, Beklagte, Almojen- 
beiträge betreffend, gejtellten. Antrag | Ä 
e3 wolle der K. Kompetenzgerichtshof das Urtheil des 
K. Verwaltungsgerichtshofs vom 20. Juni 1881 auf: 
heben und demjelben eine materielle Entſcheidung über 
die eingeflagten Anfprüche, eventuell, er wolle den Ge: 
richten eine ſolche Entſcheidung auferlegen, 
bejchließt der Kompetenzgerichtshof: 
der Antrag jei unter VBerfällung der Ortsarmenbehörde 
in Stuttgart in die Koften des Verfahrens und zu 
- Bezahlung einer auf 20 Mark fejtgejegten Sportel 
(Sporteltarif Nr. 40 vgl. Nr. 84 3. 2) durch Beſcheid 
al3 unzuläjfig zurüdzumeifen und der Ortsarmenbe— 
hörde in Gemäßheit des Art. 27 des Gejeßes über 
die Verwaltungsrechtspflege vom 16. Dezember 1876, 
Art. 14 Abi. 7 des Gejepes betreffend die Entſchei— 
dung von Kompetenztonflitten vom 25. Auguft 1879 
mit der Zuftellung des Bejcheids zu eröffnen, daß jie 
befugt jei, innerhalb einer zehntägigen Frift vom Tage 
der Zuftellung an gegen den Bejcheid Einſpruch zu 


——— 





erheben und die Anberaumung einer mündlichen Ver— 
handlung zu beantragen. 

Dieſer Beſchluß wird nach Voranſchickung eines kurzen 
Thatbeſtandes, welcher hier übergegangen werden kann, mit Fol— 

gendem begründet: 
„II) Der Art. 12 des Geſetzes vom 25. Auguſt 1879, auf 
welchen der Antragſteller ſeinen Antrag ſtützt, beſtimmt, daß die 
Parteien die Entſcheidung der Zuſtändigkeitsfrage bei dem Kom— 
petenzgerichtshof beantragen können, 

wenn in Beziehung auf denſelben Gegenſtand ein bürgerliches 

und ein Verwaltungsgericht ihre Unzuſtändigkeit erklärt haben. 

Die Motive begründen diefe Vorſchrift damit, daß die 
Parteien unter Umjtänden ein Necht darauf haben, daß über 
ihre vechtlichen- Verhältnifje entweder von dem bürgerlichen oder 
von dem VBerwaltungsgericht, jedenfalls von einem Gerichte ent 
ſchieden werde und daß diefelben, wenn je das eine Gericht das 
andere für zuftändig erachte und deßhalb feine Entjcheidung 
ablehne, nicht zu ihrem Nechte kommen. 

Somohl nad dem Wortlaut des Geſetzes, als nach dem 
legislativen Grunde defjelben kann hiernach Fein Zweifel dar: 
über jein, daß, wenn über denfelben Gegenftand, in Beziehung 
auf welchen von dem bürgerlichen Gericht, oder vom Verwal: 
tungsgericht jeine Unzuftändigfeit ausgeſprochen wurde, das an— 
dere Gericht, das Verwaltungs» bezw. das bürgerliche Gericht 
materiell, wenn auch materiell abweifend erfannt hat, ein ne 
gativer Kompetenztonflift nicht vorliegt, fomit auch der Kom: 
petenzgerichtshof zu deſſen Entfcheidung nicht angerufen werden 
fann. | 
Wenn num der Antragjteller zu Begründung feines Antrag, 
behauptet, der Verwaltungsgerichtshof habe fich ebenfo, wie das 
bürgerliche Gericht zur Entiheidung über den den Gegenjtand 
der Klage bildenden Anfprud für unzuftändig erklärt, fo ſteht 
dieß mit dem klaren Wortlaut der Entſcheidung dieſes Gerichts 
hofs im MWiderfpruch, welcher nicht eine Entſcheidung wegen 
Unzuftändigfeit abgelehnt, fondern dahin erfanıt hat, 

daß die Klage als im heutigen öffentlichen Nechte nicht be: 

gründet abzuweiſen fei. | 








— 339 — 


Dieje Entjcheidung iſt im Wefentlichen auf die Srmägungen 
gejtügt, daß 

das heutige öffentliche Necht Feine Verpflichtung zu Beis 

teägen für die öffentliche Armenpflege Tenne, welche andern 

als den durch die Armengejeßgebung bezeichneten Nechts- 
ſubjekten obliegen, daß öffentlich rechtliche Leiftungspflichten 
nur diejenigen jeien, welche nach dem heutigen öffentlichen 

Rechte bejtimmten Nechtsjubjelten für öffentliche Zwecke 

obliegen und daß hiernach der klägeriſche Anſpruch als 

öffentlich rechtlicher Anſpruch nicht für begründet erklärt 
werden fönne, wogegen darüber, ob-ein privatrechtlicher An— 
ſpruch beftehe, der Berwaltungsrichter nicht zu entfcheiden habe. 

Die hiegegen gerichtete Ausführung des Antragitellers, daß 
eine öffentlich = rechtliche Leiftungspflicht für Armenzwede auch 
durch die von ihm geltend gemachten Titel der Verleihung des 
Landesherrn oder der Verjährung begründet werden könne, und - 
daß, was im gegebenen Falle dasjelbe in negativer. Faljung tft, 
die Theſis unrichtig jei, ein Anfpruch müſſe, um als. ein öffent: 
ih rechtlicher Anfprud den Schuß des Verwaltungsrichters zu 
genießen, in dem heutigen öffentlichen Necht begründet jein, ift 
eine fachliche Anfechtung der Entjcheidung des VBerwaltungsge- 
richtshofs, der Berfuch, gegen die den Anfpruch abweifende Ent: 
ſcheidung dieſes Gerichtshofs darzuthun, daß der Anfpruch be= 
gründet ſei, alfo nicht abzumweifen gewejen wäre. 

Darin jedoch), daß der Anfpruch jachlih abgewieſen iſt, 
wird hiedurch Nichts geändert, mögen die Gründe, aus welchen 
die Abweifung erfolgt ift, anfechtbar fein oder nicht. 

Wenn es hiernah an der eriten Borausjegung, unter 
welcher der Kompetenzgericht3hof zur Entjcheidung fiber die Zus 
ftändigfeitsfrage angerufen werden fann, an dem Vorhandenfein 
eines negativen Kompetenzkouflitts fehlt, da zwar das bürger: 
lihe Gericht feine Unzuftändigfeit ausgeſprochen, dag Berwal- 
tungsgeriht dagegen durch EIN der Klage materiell er: 
fannt bat, jo ift der in erjter Linie geftellte Antrag, unter Auf: 
hebung des Erfenntnifjes des K. Berwaltungsgerichtshofs dieſem 
Gerichte die materielle Entſcheidung aufzugeben, jofort als un- 
ftatthaft zu erkennen. 


— 340: — 





III) Es kann hiegegen nicht eingewendet werden, daß der 
Gegenitand, über welchen das Berwaltungsgericht materiell ent: 
jchieden habe, nicht derjelbe Gegenjtand im Sinne des Art. 12 
des Kompetenzkonfliktsgeſetzes jei, bezüglich deſſen der Givilrichter 
jeine Unzujtändigfeit ausgeſprochen habe, daß vielmehr bezüglid 
diejes Gegenjtandes auch der Verwaltungsrichter feine Unzu— 
jtändigfeit außgefprochen habe, indem er nur erfannt habe, daß 
die Klage nach dem heutigen öffentlichen Nechte nicht begründet 
jei, dagegen darüber, ob der Anſpruch, ſoweit er auf Verleihung 
und Berjährung gejtügt werde, eine Entſcheidung nicht gegeben, die 
Entſcheidung hierüber vielmehr an den Givilrichter verwiejen habe. 

Der Gegenjtand der bei dem bürgerlichen Richter und bei 
dem DVermwaltungsgericht angebrachten. Klage war der Anjprud 
auf die Fortreihung der in der Klage bezeichneten, bis zum 
Jahr 1853 als Almofenbeiträge der Stadt Stuttgart von dem 
Staat jährlih gemachten Leitungen an Geld, Holz und Früchten. 

Dieſer Anſpruch war bei beiden Gerichten in derſelben 
Begründung geltend gemacht. Der Kläger behauptete nad) dem 
Vorbringen des Antragjtellers zuerit, daß Durch die von ihm 
angeführten Thatjachen ein privatrechtliher Anſpruch des be 
zeichneten Inhalts begründet fei, und, nachdem der Givilrichter 
in der Begründung, daß hierauf ein privatrechtlicher Anfprud 
nicht geftügt werden fünne, feine Unzuftändigfeit ausgefproden 
hatte, daß der zuvor bei dem Givilrichter verfolgte Anſpruch 
auf Fortreihung der bezeichneten Leiftungen, alfo derſelbe An- 
ſpruch als ein öffentlich =rechtlicher Anſpruch zu jehügen fei. 

Wenn nun der Berwaltungsrichter erfannt hat, daß der 
Anſpruch als öffentlich=rechtlicher abzumeifen fei, weil er in dem 
heutigen öffentlichen Necht nicht begründet fei, worin zugleid 
die Entjheidung liegt, daß die angeführten Thatfachen nad dem 
heutigen öffentlichen Nechte einen rechtlich zu ſchützenden Anſpruch 
zu begründen nicht geeignet jeien, und daß der Verwaltungs: 
rihter nur über einen in dem heutigen öffentlihen Rechte be 
gründeten Anſpruch zu entjcheiden habe, weil nur ein folder 
als ein öffentlich=rechtliher Anſpruch verfolgt werden könne, ſo 
ergibt fih hieraus, daß derjelbe Anſpruch, welcher bei dem Ci: 
vilrichter geltend gemacht war, den Gegenjtand der Entfcheidung 


BERGE BETT 5» 7 
FE 


u} 


— 341 — 


des DVermwaltungsrichters gebildet hat. Die rihterlihe Entſchei— 
dung Hat nur die Folge der rechtlichen Begründung zu ziehen, 
nicht über jede einzelne Behauptung der Partei, durch welche 
diefe den Schuß des Richters für das den Gegenjtand ihrer 
Klage bildende Intereſſe begründen will, eine Entſcheidung zu 
geben. Wenn der Eivilrichter darüber, unter welchen Voraus: 
jegungen ein öffentliher und unter welchen Vorausfegungen ein 
privatrechtlicher Anspruch begründet jei, eine von dem Verwal: 
tungsrichter abweichende Anficht hat, was im vorliegenden Falle 
vielleicht zutrifft, übrigens noch feineswegs feitjteht, jo ändert 
dieß darin Nichts, daß gleichwohl jedes Gericht, der Givilrichter 
nach feiner und der Vermwaltungsrichter nach feiner Nechtsauf: 
faffung den Anſpruch abweifen fann, obwohl vielleicht dieſer, 
wenn er die Anficht des Civilrichters gehabt hätte, oder jener, 
wenn er die Anjicht des Verwaltungsrichters gehabt hätte, ans 
ders entjchieden und den Anfpruch zuerkannt haben würde. 
Hiegegen gibt es fein Rechtsmittel. 

Es ift möglich, daß der Givilrichter angenommen hat, daß 
durch die von dem Kläger angeführten Thatfachen ein öffentlich 
rechtlicher Anfpruh auf Fortreihung der Beiträge begründet 
jei, während der Vermwaltungsrichter die Anficht hat, daß hie— 
durch niemals ein öffentlich rechtlicher, wohl aber ein privat- 
rechtlicher Anſpruch begründet werden könne. Allein ſowenig 
der Partei, wenn vermöge dieſer Meinungsverſchiedenheit der 
Civil- und Verwaltungsrichter, jeder in ſeinem Theile die Klage 
ſachlich abgewieſen hätte, ein Rechtsmittel zur Ausgleichung 
dieſer Meinungsverſchiedenheit gegeben wäre, ſowenig insbeſon— 
dere der Kompetenzgerichtshof in einem ſolchen Falle zu einer 
Entſcheidung zuſtändig wäre, ſo wenig kann hieraus eine Zu— 
ſtändigkeit des Kompetenzgerichtshofs in dem Falle abgeleitet 
werden, wenn der Civilrichter, wie geſchehen, aus dieſen Er— 
wägungen ſeine Unzuſtändigkeit ausgeſprochen, der Verwaltungs— 
richter dagegen den Anſpruch ſachlich abgewieſen hat. Es än— 
dert dieß darin Nichts, daß bezüglich deſſelben Gegenſtands, be— 
züglich deſſen der Civilrichter ſeine Unzuſtändigkeit ausgeſprochen 
hat, der Verwaltungsrichter ſachlich entſchieden hat, daß mithin 
ein negativer Kompetenzkonflikt, zu deſſen Entſcheidung der Kom— 

Württemb. Archiv für Recht sc. XXII. Br. 2. u. 3. Heft. 23 


— 42 — 





petenzgerichtshof allein angerufen werden kann, überhaupt nicht 
vorliegt. 

IV) Aus dem Ausgeführten ergibt ſich, daß, wenn dem 
in erjter Linie gejtellten Antrag: 

es wolle das Urtheil des DVerwaltungsgerihtshofs aufge: 

hoben und demjelben eine materielle Entſcheidung über die 

eingeflagten Anſprüche aufgegeben werden, 
ftattgegeben würde, der Kompetenzgerichtshof über die ihm allein 
zugewiefene Aufgabe der formellen Entjcheidung der Kompeten;: 
frage hinausgehen und duch die Aufhebung der Entjcheidung 
des Berwaltungsgerichtshof3 in das materielle Recht eingreifen 
würde. 

Es bedarf Feiner Ausführung, daß hiedurch der Kompetenz 
gerihtshof mit den Grundlagen aller Rechtiprehung jih in 
Widerſpruch ſetzen, und jeine Kompetenz felbft überfchreiten 
würde, wie gerade, um eine jolche Möglichkeit von vornherein 
auszufchliegen, das Gejeß vom 25. Auguft 1879 zur Bedingung 
der Anrufung des Kompetenzgerichtshofs im Falle der Inkom— 
petenzerklärung eines Gerichts das Vorhandenfein des negativen 
Kompetenzkonflifts, d. h. das Vorliegen eines Urtheils des bür: 
gerlihen Gerichts, Durch welches ohne materielle Entfcheidung die 
Zuläfligfeit des Nechtswegs und eines Urtheils des Verwal 
tungsgerichts, durch welches ohne materielle Entfcheidung die 
Zuftändigfeit der Verwaltungsgerichte verneint wird, gemacht hat. 

V) Was den eventuellen Antrag betrifft: 

der Kompetenzgericht$hof wolle den Givilgerichten eine ma: 

terielle Entſcheidung über die eingeflagten Anjprüche auf 

geben, 
jo würde derfelbe nad) dem unter III) Ausgeführten als zu: 
läffig nur erachtet werden können, wenn jede angeblich nidt 
begründete Inkompetenzerklärung, ſei e8 des Civilgerichts, ſei es 
des Berwaltungsgericht3, von dem Kompetenzgerichtshofe ange: 
fochten werden könnte. Die trifft jedoch nach dem Gefege vom 
25. Auguft 1879 nicht zu. Wie oben IT) dargethan wurde, jo 
ift die Aufgabe des Kompetenzgerichtshofs, ſoweit ein Inkom— 
petenzurtheil in Frage fteht, Durch das Vorhandenfein eines ne 
gativen Kompetenztonflitts, d. h. Durch die Inkompetenzerklärungen 





— 343 — 


des bürgerlichen und des Verwaltungsgerichts bedingt und auf 
die Löſung des negativen Kompetenzkonflift3 beſchränkt. Da, 
wie gezeigt, diefe Borausfegung nicht vorliegt, jo muß aus dem— 
jelben Grunde, aus welchem der prinzipale Antrag unjtatthaft 
ijt, auch der eventuelle Antrag als unzuläffig erkannt werden. 

VI) Eine Unterfuhung der Frage, ob die vorliegenden 
Entjcheidungen des bürgerlihen und des BVermwaltungsgerichts 
für ſich betrachtet begründet find, kann aus den zu II) bis V) 
ausgeführten Gründen unterlaffen werden, da der Antrag als 
formell unzuläffig zurüczumeifen ift. 

VII) Daß der geitellte Antrag, welcher fi dem Ausgeführten 
zufolge jofort als rechtlich unzuläffig berausgeitellt hat, durch 
einen Beſcheid im Sinne des Art. 27 des Geſetzes über die 
Verwaltungsrechtspflege vom 16. Dezember 1876 zurüdgemiejen 
werden kann, folgt aus Art. 14 Abi. 7 des Gejekes vom 
25. Auguſt 1879. Da dem Antragjteller der Einſpruch gegen 
diefen Vorbeſcheid nah Art. 27 mit der Wirkung zufteht, daß 
eine mündlihe Berhandlung anzuberaumen ift, jo fann die 
Vorſchrift diefes Artifel3 nicht al3 unvereinbar mit der Bor: 
Ihrift des F. 17 Nr. 3 des Neichsgerichtsverfaffungsgejeges, 
nach welcher die Entjcheidung von Kompetenzkonflikten in öffent: 
liher Situng nach Ladung der Parteien zu erfolgen hat, und 
mit der entjprechenden Vorſchrift des Art. 14 Abf. 1 des Ge: 
ſetzes von 1879 erachtet werden, auch wenn man die Anwend— 
barfeit des $. 17 Nr. 3 auf den vorliegenden Fall annimmt, 
in welchem nicht über eine Streitigfeit zwiſchen den Gerichten 
und den Berwaltungsbehörden oder Berwaltungsgerichten über 
die Zuläfligfeit des Nechtswegs zu entjcheiden, vielmehr nur zu 
fonjtatiren war, daß eine folche Streitigfeit nicht vorliegt und 
daher der Kompetenzgerichtshof eine Entjcheidung über die Zu: 
läffigfeit oder Unzuläffigfeit des Rechtswegs nicht zu geben habe. 

VIII) Die Entſcheidung bezüglich des Koftenpunftes und 
der Bezahlung der Sportel (Nummer 40 des Tarif3 des allge- 
meinen Sportelgejeged vom 24. März 1881, vergl. No. 84 3.2 
dieſes Tarifs) folgt aus der Zurückweiſung des Antrags.“ 

Einſpruch gegen diefen Bejcheid wurde binnen der zehn: 
tägigen Frift nicht erhoben. 

23 + 





— 344 — 


V. Mittheilungen aus der Rechkſprechung des 
K. Oberlandesgeridts. 


Bon Herrn Oberlandesgerichtsrath v. Probfl. 


l. Fragen aus dem Tejtamentärchte. 

1) Schriftliches PBrivatteftament. Förmlich— 
feiten desselben, wenn der Tejtirer nicht (lefen 
und) jhreiben fann. Genügt, wenn er ſchreiben 
fann, deſſen Unterfohrift mittelft Handzeichen? 

2) Mündlides Privatteftament. Konverfion 
des beabſichtigten ſchriftlichen Teftaments in ein 
mündlidhes Iſt Bezeugung durh ſämmtliche Zeugen 
erforderlih, wenn es zu gerichtlicher Konteftation 
fommt? Einfluß der Borjhrift des 8. 14 Ziff. 2 
des Einführungsgefeges zur EBD auf dieſe 
Frage. 

3) Kodizillarflaufel. Iſt zur Gültigkeit eines 
Ihriftliden Brivat-Kodizills, insbeſondere nad 
dem württ. Landrecht, die Unterschrift des Kodizillanten 
unter dem Text der legtwilligen Verfügung er: 
forderlid? 

Die Einderlofe Witte Chriftiane Göz von Schura errichtete 
am 8. Februar 1864 ein Tejtament, worin jie einen Theil 
ihrer Inteſtaterben zu Erben einjegte, und denſelben theils zu 
Gunſten weiterer Verwandten, theils zu Gunſten Fremder zahl: 
reihe Vermächtniſſe auferlegte. Die Tejtirerin war in ihren 
jüngeren Jahren des Yejens und Schreibens nicht unkundig, 
beides war ihr aber in dem vorgerückten Lebensalter zur Zeit 
der Tejtamentserrichtung wo nicht unmöglich, jo jedenfalls fehr 
erichwert. Namentlich fonnte fie eine Unterjchrift auch nur ihres 
Namens wegen Zittern der Hand nicht gut bewerfitelligen. 
Der Teitamentsauffag wurde für fie von dem Schultheißen K. 
verfaßt und niedergefchrieben, fodann ihr von einer weiteren 
Perſon vorgelejen. Es ift hierüber am Schluß des Tejtaments: 
aufiages die Bemerkung gemacht: „Borjtehender von einer ver: 








— 7 BEN 


trauten Perſon niedergefchriebene und von einer andern ver- 
trauten Perſon mir deutlich und wörtlich vorgelefene Aufſatz 
enthält meinen legten Willen, der nach meinem Tode genau 
vollzogen werden folle und zwar folle dieſes Tejtament, wenn 
es nicht als ſolchkés gelten könnte, auf jede andere beſſere Weife 
aufrecht erhalten werden. Dieß befräftige ich hiedurch durch 
meine Unterjehrift und beigedrudtes Siegel.” Folgt Datum, Siegel 
und Handzeihen der Teitirerin in Geftalt von drei Kreuzen, 
fodann die Beglaubigung diefer Handzeihen dur den Amts— 
notar D. Derjelbe Amtsnotar nahm mit weiteren ſechs Zeugen, 
unter denen fich auch der Schreiber des Teftamentes Schultheiß 
K. befindet, die Solennifation diefes Teftamentes vor. 

Die Tejtirerin ftarb am 15. März 1879 im Alter von 
nahezu 90 Jahren. Das Tejtament wurde von den Inteſtat— 
erben aus den verjchiedenen hienach gewürdigten Gründen als 
ungültig angefochten. Jedoch ijt die Klage nicht gegen die Te— 
Hamentserben, fondern gegen die Legatare gerichtet, da die Er— 
jteren, welche zugleih Intejtaterben und mit Legaten in hohem 
Maße belajtet find, ſich an der Aufrechthaltung des Tejtaments 
nicht interefjirt anfahen, vielmehr fich theilweife den Klägern 
angefhloffen Hatten. Die belangten Legatare jtüßten ihre Ver: 
theidigung eventuell auf die dem Teſtamente angehängte Kodi— 
zillarklauſel. 

In erſter Inſtanz wurde von dem K. Landeerichte zu Rottweil 
unter Ungültigerklärung des Teſtaments erkannt, daß der Nach— 
(aß der Chriſtine Göz nach der Inteſtaterbfolge zur Vertheilung 
zu bringen jei. Von dem Oberlandesgerichte wurde dieſes Ur- 
theil dahin abgeändert, daß die legte Willensverordnung der 
Chriftine Göz im Verhältniß zwischen den Klägern und Beklagten 
als Kodizill aufrecht zu erhalten und der Antrag der Kläger 
auf Aberfennung der den Bellagten ausgejegten Legate abzu- 
weisen fei. Dem letztern Urtheil liegen folgende Erwägungen 
zu Grund: 

I. Die erſte Frage ift, ob die legte Willensverordnung vom 
8. Februar 1864 als ſchriftliches Brivatteftament, fei es 
nad gemeinem — oder nach der Form des Landrechts gelten 
kann? 


U 





a) Wenn die Teftirerin zur Zeit der Tejtamentserrichtung 
nicht oder nit mehr ſchreiben fonnte, fo mußte jie 
beim gemeinrechtlichen fchriftlihen Privatteftament eine achte 
Perſon zuziehen, welche als oetavus subscriptor für fie in ihrer 
und der fieben Zeugen Gegenwart das von ifr offen vorgelegte 
Tejtament einfach zu unterzeichnen hatte. Daß dieje achte Perſon 
das Teftament auch noch vorzulefen gehabt habe, ift unrichtig 
und dem gemeinen Recht fremd '). Die ZTeftirerin hat aber 
feine achte Perfon zugezogen, fondern es wird blos behauptet, 
daß fie fih das Teftament durch einen der fieben Zeugen, den 
Schultheißgen 8., vor dem Hinzutritt der Zeugen, oder aud 
nach dem Hinzutritt der Zeugen habe vorlejen laſſen, — was 
der gejeglichen Borichrift für das jchriftliche Teſtament in Feiner 
Weiſe entfpricht, wenn es auch wirklich ftattgefunden haben follte. 

Ganz in derfelben MWeife müßte nach der jehsten Form 
des Landrechts, bei welcher der Tejtirer ebenfall3 alle Förm— 
lichfeiten des gemeinrechtlihen jchriftlichen Tejtaments zu beob- 
achten hat, von der Teftirerin zu dem Aktuar und den fünf 
Zeugen noch ein jechster Zeuge beigezogen und von ihr veran: 
laßt worden fein, für fie in ihrer und der fünf Zeugen nebit 
des Aftuars Gegenwart das Teſtament bei der Solennijation zu un: 
terzeichnen, wogegen eine Vorlefung bier ganz gleich wie oben 
nicht zu erfolgen hat 2). Es iſt dieß jedoch ebenfalls nicht ges 
jchehen, indem der Schultheiß K. eben einfach nur als fiebenter 
Solennitätszeuge beigezogen ward (weil man nämlich ein ges 
meinvechtliches fchriftliches Teftament zu machen beabfichtigte), 
nicht aber als fiebenter Unterzeichner (septimus subscriptor) 
Namens der Teitirerin, als welcher er daher auch das Teita- 
ment bei der Vorlegung vor die Zeugen und vor dem Solenni- 
ſationsakte der legtern lediglich nicht unterzeichnet hat. 

b) Wenn dagegen die Tejtirerin zur Zeit der Teitaments- 
errihtung ſchreiben konnte, fo hatte fie das von ihr, wie 
hier der Fall war, nicht felbft gefchriebene Tejtament beim ges 


1) 3. vgl. Württ. Ardiv Bd. 13. ©. 329—30. ©. 330—32, Kübel: 
Hohl, Erbredt ©. 56. 

2) Kübel-Hohl S. 54. Württ. Archiv Bd. 13. S. 350 —51 umd 
Württ. Arhiv Bd. 17. ©. 216, N. 135. . 





— 3497 — 


meinrechtlichen jchriftlihen Privatteftament vor den anmejenden 
jieben Zeugen, bei der fechsten Form des Landrechts, vor dem 
Altuar und den fünf Zeugen mit ihrem Namen felbft zu 
unterſchreiben. Dieß ift aber ebenfalls nicht gejchehen, 
indem jie blos drei Kreuze machte (nebit Beifügung eines un- 
deutlichen Siegels), welches Handzeichen der Amtsnotar D. beur— 
fundete. Handzeichen, deren Aechtheit und Identität viel weniger 
leicht zu Eonftatiren ift, als eine Namensunterfchrift, und welche 
den Grumdfägen über Urkunden und deren Beweisfraft wenig 
entſprechen, fünnen, wenn das Geſetz fie jogar im alle der 
Schreibunfähigfeit des Tejtirers nicht als Erfag jeiner Unter: 
ſchrift zugelaſſen, jondern dieſenfalls die jtellvertretende Unter: 
ihrift noch einer befondern weitern Berfon erigirt hat, noch 
viel weniger die Unterfchrift eines jolchen Teftirers, der Schreiben 
fann, erjegen ?), und fomit ift alfo auch für diefen zweiten 
Fall eine mwejentlihe Tejtamentsförmlichfeit verlet. 

Hieraus ergibt fih, daß das Tejtament vom 8. Februar 
1864, fowohl für den Fall, wenn die Tejtirerin nicht fchreiben 
fonnte, als für den Fall, wenn fie fchreiben fonnte, den Formen 
des gemeinrechtlichen jchriftlichen TeftamentS und der fechsten 
Landrechtsform nicht entipricht, alfo nach diejen nicht als Teſta— 
ment gilt. 

Eine jonjtige Schriftliche Teftamentsform konnte nad) Lage 
der Sache nicht in Frage kommen, die nächjtangrenzende fiebente 
Form des Landrechts ift deßhalb ausgeſchloſſen, weil die Beur— 
kundung des Vorleſens durch den Dritten gänzlich fehlt und 
weil das Tejtament überdieg den Zeugen offen vorgelegt wurde, 
während die fiebente Form nad) den Worten des Landrechts ein 
verfchlofjen übergebenes vorausſetzt. 

II. Weiter fragt ſich, ob das Teſtament vom 8. Februar 
1864 nicht als gemeinrechtliches mündliches Teſtament gilt, 
wenn nämlich dajjelbe, wie die Beklagten behaupten, nachden 
e3 ſchon vorher vom Schultheißen K. der Tejtirerin privatim 





3) 1, 21. 8. 1.C. 6,23, Seuffert, Pand. II. ©. 137. Sintenis, 
Gipilr. II. ©. 362. Württ. Archiv. Bd. 13. ©. 329—30. Boſcher— 
Zeitichr. Bd. 12. ©. 4—), 11-— 12, 





— 343 — 


vorgelefen worden fein foll, nah dem Erſcheinen der Teſta— 
mentszeugen mit dem Willen der Teitirerin auch vor den ver: 
fammelten jieben Zeugen vollinhaltlid vorge: 
lefen und fofort von der Teftirerin als ihr legter Wille aner: 
fannt worden ift. Käme es blos auf den objektiven Inhalt 
diefer Thatjahe an, jo wäre die geitellte Frage ohne Bedenken 
zu bejahen, da zu einem mündlichen Teftamente gemeinrechtlic 
weiter nichts als die mündliche Promulgation des legten Willens 
gegen die Zeugen, jei es durch den Teftirer ſelbſt oder mittelit 
Borlefens duch einen beauftragten Dritten, erfordert wird, ohne 
daß e3 der Aufnahme einer Urkunde bedürfte, und jolchenfalls 
ein zunächſt beabfichtigt gewefenes fehriftliches Tejtament im 
Wege der Konverfion als ein mündliches aufrecht erhalten 
werden fan, wie das Dbertribunal öfters anerkannt bat ?). 
Allein es ift nach) gemeinem Necht zugleich nothwendig, Daß die 
Thatſache der mündlichen Eröffnung des legten Willens im An: 
jtandsfalle von allen ſieben Zeugen beftätigt wird und nur, 
wenn dieß gejchieht, kann die Erijtenz des mündlichen Teſta— 
ments angenommen werden. Zwar find Manche wie Xeyfer, 
Carpzow, Stryd, Seuffert, Hellfeld, Schweppe der Anficht, daf 
e3 genüge, wenn dag mündliche Tejtament durch zwei von den 
Tejtamentszeugen bezeugt werde ?), die Mehrzahl der Rechts: 
lehrer aber, worunter Donelus, Glück, Hofader, Malblanc, 
Thibaut, und vorzugsweife die neueren Lehrer des gemeinen 
Rechts, wie Puchta, Arndts, Buchka, Sintenis, Windjcheid halten 
daran feit, daß Errichtung und Inhalt des mündlichen Teſta— 
ments von allen Tejtamentszeugen beftätigt werden müſſe °), 
und dieſer Anficht ijt beizutreten, weil fie durch 1. 32. C. de 
fideicomm. 6, 42 gerechtfertigt beziehungsweise geboten erjcheint, 


4) 3. vgl, Seuffert, Ardiv Bd. 19. No. 243. Bd. 3. 182. Württ. 
Ardiv Bd. 13. ©. 373 ff. Boſcher, Zeitihrift Bd. 12. ©. 235 fi. 
Kübel-Hohl, Erbredt ©. 56-57. 

5) 3. vgl. Holzſchuher, Theorie u, Kaſ. IL. ©. 809. Seuffert. 
Archiv II. No. 359. XIII. 154. XV. 138, 

6) 3. vgl. Holzſchuher J. ce. Glück, Comm. Bd. 7. ©. 504—8. BD. 
3. ©. 6—10. Sintenis, Givilrecht II. $. 190, Anm. 8. ©. 534. 
Windiheid, Pand. III. $. 615. ©. 252 und Note 10. 


39 — 


ohne daß e3 der Zuziehung des württembergiſchen Landrechts 
bedürfte, welches diefe Vorſchrift des gemeinen Nechts billigte, 
indem es diefelbe in Thl. III, Titel 3. 8. 9. 15 auch auf die 
mwürttembergifchen Teftamentsformen anmendete. Nur wenn die 
Zeugen eine beweisfräftige Urfunde über Inhalt und 
mündliche Erklärung des letzten Willens aufgenommen haben, 
wird angenommen, daß durch eine ſolche Urkunde die Ausfagen 
der jieben Tejtamentszeugen erjegt werben 7), wovon jedoch vor: 
liegendenfalls darum nicht die Rede fein kann, weil die bier 
vorliegende Urkunde, als die Errichtung eines fchriftlichen Teita- 
ments bezwedend, nur über ein von einer vertrauten Perſon 
erfolgtes Borlefen an die Teftirerin referirt, Dagegen von 
einer mündlichen Eröffnung des Inhalts des Tejtaments an die 
Zeugen nichts enthält und fomit gerade für die Mündlich- 
feit des Errichtungsaftes feinen Beweis abgibt. 

Diefe Nothwendigkeit der Beitätigung des mündlichen Te- 
ſtaments dur) alle 7 Teitamentszeugen ift durch die Ziffer 2 
des 8. 14 des Einführungsgefeges zur REB.:Drdnung und 
durch die Beitimmungen der C. P.O. über die Bemweistheorie nicht 
aufgehoben. Das mündlich errichtete Teftament des gemeinen Rechts 
tritt nur in und während der Rede des Teitivers in der Aeußer— 
lichfeit wahrnehmbar hervor, nach diefer Nede läßt es feine Spur 
feiner Erijtenz in der äußern Welt zurüd, indem e3 ganz 
dem Gedäcdtnifje der 7 Teitamentszeugen übergeben wird. Soll 
e3 im Bedürfnißfalle wieder wahrnehmbar gemacht werden, jo 
kann dieß nur dadurch gefchehen, daß es aus dem Gedächtniß 
der Zeugen reproduzirt und durch ihren Mund wieder zur äußern 
Erſcheinung gebracht wird, und dieß können nicht zwei dieſer 
Zeugen, fondern nur alle zufammen bewirken, weil die feierliche 
Willenzerklärung des Teftirers den zweien nicht allein, jondern 
nur in Verbindung mit den übrigen Zeugen, das heißt allen 
miteinander geoffenbart und aufgetragen reip. von allen zufammen 
in Empfang genommen worden ift und daher nicht von zweien 
allein, jondern nur durch das Erinnerungsvermögen Aller wieder 


T) 3. vgl. Glüd. c. Bd. 35. ©. 6-10. Sintenis, I. e. 
S. 53435. Windiheid, 1. c. Note 11. 





— 350 — 


zuſammengeſetzt und bekräftigt und aus der gemeinſchaftlichen 
Uebernahme nur gemeinjchaftlih zurüdgegeben werden Tann. 
Die Teitamentsform ift etwus Untheilbares und das Weſen des 
. mündlichen Tejtaments iſt feiner Natur nach untrennbar mit 
den Zeugen verfettet, weßhalb daſſelbe ebenfowenig blos durch 
zwei Zeugen vepräfentirt werden kann, als ein fchriftliches Te— 
jtament bei einer blos jtüdweifen ZTeftamentsurfunde oder bei 
einer blos von zwei Zeugen unterzeichneten Urkunde bejtehen 
fann ). Es handelt fich demnach hier nicht um eine bloße 
Vorſchrift des Beweijes und des Prozeßrechts, jondern die Bor: 
Ichrift wegen der Zeugen beim gemeinrechtlichen mündlichen Te: 
jtament gehört dem Civilrecht an und kann nicht unter den 8. 14 
des Einführungsgejeßes und die EBD. fallen. 

Indem nun von den Beklagten blos noch drei der ver: 
wendeten fieben Tejtamentszeugen produzirt werden fünnen, mußte 
daher die behauptete Miündlichkeit des Tejtaments als unerweis- 
ih verworfen werden. 

Ill. Daß dieſer Ungültigfeit des Teftaments gegenüber 
Die Legate dennoch gültig bleiben, kann zwar nicht auf eine 
doloje Befeitigung der Teftamentserbfolge geſtützt werden, welche 
in der That nicht ftattgefunden hat, indem die Kläger, ſoweit 
ie Tejtamentserben find, ohne die Tejtamentserbichaft ſchon 
auszufhlagen, die Klage aus dem Inteſtaterbrecht vorerſt blog, 
weil fie das Tejtament feiner Formlofigteit wegen für rechtlich 
ungültig hielten, erhoben haben; dagegen ift die Aufrechthaltung 
der Yegate darum gerechtfertigt, weil das Teftament von 8. Fe: 
bruar 1864 wenigſtens für ein gültiges Kodizill zu erklären ift. 

Bezüglih des jchriftlihen Privatfodizills ift im gemeinen 
Recht anerfannt, daß fünf Zeugen erfordert werden, daß der 
Kodizillant feinen Auffab Ddiefen vorlegen muß und daß die 
Zeugen den Auffaß unterjchreiben müſſen, Hingegen war von 
feher Streit darüber," ob auch der Kodizillant den Aufjfa (vor 
den Zeugen) zu unterzeichnen hat? Während die einen und 
unter diefen die Mehrzahl der Neueren, auf Grund der 1. 8 
C. qui test. 6, 22 und der 1. 28 pr. $. 1 C. de test. 6, 23 





8) 3. vgl. Sintenis, J. c. ©, 535. 





— 351 — 


behaupten, daß bei Errichtung eines Kodizills diefelben Förm— 
lichfeiten wie bei Errichtung eines Tejtaments zu beobachten 
jeien und daß daher der Kodizillant in denjelben Fällen wie 
beim Teftament feine Unterfchrift in Gegenwart der Zeugen bei: 
zufegen habe, beziehungsweife vom Schreibunfähigen ein jechster 
Zeuge zum Zwed der Unterjchrift beizuziehen fei ?), find die 
Andern auf Grund der 1.6 8. 1. 2. D. 29, 7 und J. 8 8.3. 
C. 6, 36 der Anſicht, daß ein Selbſtſchreiben oder ein Unter: 
Ichreiben des Kodizills durch den Kodizillanten überhaupt nicht 
nöthig und die bloße Unterjchrift der Zeugen zur Perfektion 
des Stodizills genügend jei, wie auch das Obertribunal feiner 
Zeit in einer Entfceheidung vom 17. November 1841 angenommen 
hat 19). Diefer legteren von den beiden Anfichten, welche zur 
Zeit der Verfaſſung des württembergifhen Landrechts die herr: 
ſchende war, iſt das Landrecht bei Grlafjung feiner Vorjchrift 
über die Kodizille Thl. 3 Tit. 26 $. 1 beigetreten. Das Land— 
recht hat nämlich in dieſem Paragraphen gerade jolche Beſtim— 
mungen getroffen, welche die Verminderung der Förmlichkeiten 
der Kodizille bezwecten und bisherige Streitfragen des gemeinen 
Rechts hierüber im Sinne diefer Verminderung entjcheiden Jollten, 
jo die Fragen, ob die Zeugen rogirt fein müſſen, ob die Zeugen 
bei allen Arten von Kodizillen nöthig find, ferner daß zum 
Kodizil eines Blinden 6 und nicht, wie Manche im gemeinen 
Recht annahmen, 8 Zeugen nothwendig jeien, deßgleichen daß 
auch Weiber Zeugen fein fünnen, und endlich, daß die Kodizille, 
jeien fie jchriftlich oder mündlid, vor fünf Zeugen „ohne weitere 
Solennitäten oder Bierlichkeiten der Rechte“ jollen errichtet 
werden Fünnen, womit gerade den Zweifeln und Streitigkeiten 
des gemeinen Nechts, insbejondere bezüglich der Frage von der 
Unterfchrift des Kodizillanten, ein Ende gemacht werden jollte; 
nur beim Blinden allein foll noch eine befondere für unent: 
behrlich erkannte Förmlichkeit jtattfinden, für alle andern Fälle 


9) 3. vgl. Sintenis, Civilrecht II. $. 208. ©. 675. Windſcheid, 
Band. III. 8. 628 ©. 280--81. Note 4 u. 12, 

10) Mayer, v. d. Leg. u. Fideif. 8.17. 18. VBangerow, Band. 
11. S. 520, Holzſchuher, Theor. u. Kaſ. I. S. 1003, Württ. Ardiv, 
B. 13. ©. 195 — 497, 


— 352 — 





dagegen „keine weitere Solennität oder Zierlichkeit verlangt 
werden, wenn nicht anders der Kodizillant fein Kopdizill mit 
Berbergung feines Inhalts nah Maßgabe der für folche Fälle 
aufgejtellten vermehrten Förmlichkeiten der Tandrechtlichen Teſta— 
mentöformen follte folemnifiren wollen“ °'). Daß namentlich die 
tothwendigfeit der Unterfhrift des Kodizillanten negirt werden 
wollte, ift in der Eifengrain’schen Nelation jowie von dem erjten 
Commentator des Landrechts, Plebſt, fpeziell beitätigt. Es iſt 
daher für dieſes ſchriftliche, dem gemeinen Recht zwar nach— 
gebildete, aber durch erleichterte Förmlichkeiten ſich unterſchei— 
dende, württembergiſche Kodizill die Unterſchrift des Kodizillanten 
nicht erforderlich, ſowenig wie das Vorleſen des Aufſatzes vor 
den Zeugen, was dem Weſen der Schriftlichkeit widerſpricht 
und nur aus Mißverſtändniß verlangt werden kann, und 
auch das iſt gleichgültig, ob der Teſtirer oder ob ein Anderer 
den Aufſatz geſchrieben hat. Es kann daher auch bei einem 
ſchreibunfähigen Kodizillanten keine weitere Förmlichkeit ver— 
langt werden, da, wenn das Geſetz auf die Unterſchrift des 
ſchreibfähigen verzichtet, hierin zu finden iſt, daß die Unterſchrift 
des Kodizillanten überhaupt nicht mehr zur Garantie der Aner— 
fennung der legtwilligen Schrift gefordert wird, diefe Garantie 
vielmehr nur in der vor den Zeugen abgegebenen Erklärung 
des Kodizillanten, daß die vorgelegte Schrift feine kodizillariſche 
Berfügung enthalte, beftehen joll. 

Von diefer — ſchon in einer Entſcheidung des Obertri— 
bunals vom 1. November 1853, auf welche des Weiteren ver: 
wiejen wird, anerkannten Auslegung des Landrecht3 abzugehen, 
liegt fein Grund vor 12), und da die letzte Willensverordnung 
vom 8. Februar 1864 von der Teftirerin den verfammelten 
7 Zeugen offen mit der Erklärung, daß dieß ihr legter Wille 
jei, um defjen Solemnifirung fie die Zeugen bitte, vorgelegt und 
jofort von diefen Zeugen unterzeichnet und zudem gefiegelt wurde, 
jo ergibt fih, daß dieſelbe wenigſtens einem offenen fchriftlichen 


11) 3. vgl. Loc. $. 2. 

12) 3. vgl. Boſcher, Zeitichrift Bd. 10. ©. 226—231 cf. S. 197 
--209 (ebenio Tafel, Civ. R.ſpr. II. 237 fi. Kübel-Hohl, Erbr. 
©. 163. 


EINE 
— 553 — 


Kodizill des württembergifchen Rechts entipricht, ohne Rückſicht 
darauf, daß die Tejtirerin diefe Willensverordnung nicht jelbit 
gejchrieben und fie auch nicht unterfchrieben hat, und gleichviel, 
ob fie ihr von einem Dritten, und ob jie den Zeugen vorge: 
lefen worden iſt oder nicht. 

Diefe Wirkjamkeit der Kodizillarklaufel tritt ein, weil die 
(egtwillige Verordnung vom 8. Februar 1864, obgleich die Tefti- 
verin eigentlich die Errichtung eines Teſtaments beabfichtigte, 
gültig fein würde, wenn die Tejtirerin von vorn herein die 
Errichtung einer Kodizillardispofition beabfichtigt hätte, d. h. alfo 
weil Alles jo zu beurtheilen it, wie wenn fie blog dieje legte 
Abjiht gehabt hätte 1°). Der Grund der Tejtamentsungültig: 
feit ijt nicht ein folcher, der zugleich das Kodizill ergriff, denn 
die vermehrte Förmlichkeit des Teftaments war nicht für das 
Kodizill, jondern blos für das Tejtament vorgefchrieben, weil 
legteres Die „Erbeseinſetzung“ enthält. 

Enticheidung des Oberlandesgericht? (I. Civ.Sen.) vom 16. Of- 

tober 1880 in Saden Hauſer und Gen. gegen Pfründer und 

Gen. (3. vergl. die Enticheidung deilelben Senat? vom 20. Mai 

1881 in Sachen Wehrftein gegen Raible). 


2. Letztwillige Stiftung zu wohlthätigen Zweden. 

Gültigfeit derfelben, aub wenn fie fih an feine 

bereits beſtehende rechtliche Berjönlidfeit an- 

ihließt. Desgleiden, auch wenn ſich der wohl: 

tbätige Zwed nur auf einen engeren Perfonen- 
freis erjtredt. 


Der am 5. März 1879 finderlos verjtorbene Heinrich Kies 
in Schorndorf, Mitglied der Nazarenergemeinde daſelbſt, Hatte 
in feinem hinterlaffenen Tejtamente feine drei Geſchwiſter, jedoch 
nur auf den Betrag von je 500 Mark, zu Erben eingejet, da— 
neben feiner Haushälterin ein Vermächtnig hinterlafien, jodann 
aber in $.2 bejtimmt: „Meinen nach Abzug der hievor ftipulirten 
Erbtheile und des ausgejegten Vermächtniſſes fich noch ergebenden 
Nachlaß beitimme ich zu einer milden Stiftung des Nazarener= 


13) Vangerow, Band. IL ©. 524, Ann. 2. 


— 3554 — 





gemeindehaufes Schorndorf zum Zweck der Unterjtügung armer 
oder kranker Gemeindeglieder.” In $. 3 und 5 wird zum er: 
walter diejer Stiftung und zugleich zum Teitamentserefutor ein 
Herr Eduard Weitzel bejtellt, welcher ſich bemühte, für die Stif— 
tung die Rechte juriſtiſcher Perſönlichkeit (welche der Nazarener: 
gemeinde als folcher nicht zukommt) zu erlangen, jedod) von dem 
K. Zuftizminifterium wegen Unzujtändigfeit, von der K. Kreis: 
regierung mit dem Befcheide abgewieſen wurde, daß eine jtaatliche 
Genehmigung der fraglichen Stiftung nicht erforderlich fei und 
was die Verleihung der juriftiichen Perſönlichkeit betveffe, das 
Bedürfniß einer ſolchen Verleihung unter Borlegung von Statuten 
nachzuweiſen jei. Inzwiſchen hatte jich der Vorſtand der Nazarener: 
genteinde zu Schorndorf mit dem Verwalter des gejtifteten Ver: 
mögen entzweit und den Beihluß gefaßt, auf die Stiftung des 
Heinrich Kies zu verzichten, im Verlauf der Streitigkeit auch den 
Eduard Weigel und die zu ihm hielten aus der Nazarener- 
gemeinde ausgejchloffen. 

Dur diefe Vorkommnifje fanden fi die zu Erben ein: 
gejegten Gefchwijter des Heinrich Kies veranlaßt, gegen den Ver: 
walter des geftifteten Vermögens und Teſtamentsvollſtrecker Weitzel 
flagend aufzutreten mit dem Gefuche, zu erkennen, daß die Kläger 
auch bezüglich desjenigen Theils der Verlaſſenſchaft ihres ver: 
jtorbenen Bruders, welchen Bellagter in feiner Eigenjchaft als 
Teitamentsvollitreder in Anfpruch nahm, als erbsberechtigt an- 
zufehen jeien und demgemäß Bellagter verbunden jei, die von 
ihm bereit3 in Befit genommenen VBermögenstheile herauszugeben. 
Es wurde diefes Gefuch darauf gejtügt, daß der Theil des legten 
Willens, welcher die Stiftung betreffe, von Anfang an nicht 
gültig, jedenfalls aber in Folge der gedachten Ereignijje hin: 
fällig geworden jei. 

Von dem Gerichte I. Inftanz wurde diefem Geſuch ent: 
jprochen, dagegen in II. Inſtanz von dem Oberlandesgerichte die 
Klage aus folgenden Gründen abgemiefen: 

Schon nah römischen Rechte find letztwillige Anorönungen 
zum Zwecke der Armenunterftügung, auch wenn folche nicht mit 
einer bereits beftehenden Anftalt für derartige Zwecke in Ver: 
bindung gebracht find, als gültig zu erachten, und es joll, wenn 





— 35 — 


der Erblafjer eine bejtimmte Perſon mit der Ausführung feiner 
Anordnung beauftragt hat, dieje, andernfalls der Biſchof, an 
deſſen Stelle heutigen Tags die zuftändige Armenbehörbe ge: 
treten ijt, zur Einforderung des von dem Erblaſſer ausgeſetzten 
Betrag und zu defjen Verwendung im Sinne des Erblafjers 
berechtigt und verpflichtet jein !). 

Das Landrecht beginnt feinen Titel „von den privilegirten 
Teſtamenten ad pias causas” (III, 6) mit der Einleitung: „Dem: 
nad) diejenigen Tejtamenten, darin zum Gottesdienft, Kirchen, 
Schulen, Spitälern, armen Käjten, Siechen: oder Lazarethhäuier 
oder jonjt den armen Dürfftigen Erbichaften oder Legata injonder: 
heit verfchafft werden, billig auch der fonderbaren Solennitäten 
und Bierlichfeiten der Rechte befreit fein follen“, und bejtimmt in 
8.6 dafelbit: „daß Alles, was zu Erhaltung und Beförderung 2c. 
der Kirchen, Schulen, Spitäl, armen Käften, Siechen, Seel: und 
Lazarethhäuſer, wie. auch was der ftudirenden Jugend zu gutem 
in die Collegia und stipendia 2c. und dann insgemein, was 
zu Unterhaltung der Armen, Prefthaften und Kranken alfo ver: 
lajjen und verichafft würdt, für Gefchäft und legata ad pias 
causas gehalten werde, jo unfere Amptleut und Gericht, vor 
andern Sachen, zu gebührlicher fchleuniger Exekution und Boll: 
ſtreckung mit allen Fleiß richten follen.“ 

Es iſt nicht anzunehmen, dab das Landrecht nur folche 
Stiftungen für privilegirt erklären wollte, bei welchen eine be— 
reits bejtehende Korporation als das wenigſtens ſtillſchweigend 
honorirte Rechtsſubjekt aufgefaßt werden kann. Dem würde 
ſchon der Wortlaut des Landrechts widerſprechen, inſofern die 
angeführten Stellen neben Kirchen, Schulen, Spitälern, Armen— 
käſten 2c. ausdrücklich auch „ſonſt die armen Dürftigen“, „ins— 
gemein was zur Unterhaltung der Armen, Preſthaften und 

1) 1. 24. pr. 1. 28. pr. 1. 49. pr. S. 1. Cod. de episc. et cler. Nov. 
131 e. 11. Savigny, Syitem I. S. 269—272. Mühlenbrud in 
Glücks Kommentar Bd. 39. ©. 451—470, Roth in den Jahrbüchern 
bon Gerber und Shering Bd. 1. ©. 209. Anm. 85. Sintenis, 
Givilreht Bd. 3. $. 167. I. A. 2, Vfeiffer, Lehre von den jurift. Ber: 
jonen ©. 136. 137. Windicheid, Pand. $. 625. Anm. 3. 8. 549. 
Anm. 5, 


— 3556 — 


Kranken verlaffen oder verichafft wird“, alfo die generelle Be- 
deutung von Armen zc. neben der Honorirung bereits bejtehender 
Korporationen für Armenzwede hervorheben. Dazu fommt, da 
das Landrecht nach der Einleitung zur Eifengreiniihen Relation 
zu Tit. III, 6 dajelbjt nur „auß den gemeinen rechten und der 
interpretum gemeinen traditionivus” das Nöthige zuſammen— 
faſſen wollte, daß ſchon unzweifelhafte Ausfprüche des römischen 
Rechts die generelle Bedenfung von Armen ohne Beziehung auf 
beſtimmte bereits bejtehende Wohlthätigfeitsanftalten für zuläfiig 
erklärt hatten, und daß insbefondere die in der gedachten Relation 
mehrfach allegirte Schrift Tiraquell’s ?) in der Praefatio den 
Sag: „legatum incertum valet favore piae causae* auf: 
jtelt und in Nr. 56 das Privilegium: „legatum in genere 
pauperibus vel ecclesiae non evanescit, ut incertis personis 
relietum® des Näheren begründet. 

Desgleichen jagt ſchon Lauterbach?): „Subjectum passiıvum 
sunt ecclesiae, monasteria, Pauperes et Ptochotropium ete.“ 
Hientit ftimmen auch die neueren Schriftiteller des Württ. Rechts 
überein ®). 

Und im Einklang mit dem Schlupfat des Landrechtstitels 
bejtimmt der $. 120 des Berwaltungsedikts vom 1. März 1822, 
daß die in jeder Gemeinde vorhandenen Stiftungen für Kirchenz, 
Schul: und Armenbedürfniffe mit Einfluß der für diefe und 
ähnliche Zwede beftimmten Familien: und Privatitiftungen, wenn 
der Stifter Feine andere Auffichtsbehörde beftimmt habe, unter 
die befondere Obhut der geiftlichen und weltlichen Ortsvorſteher 
geſtellt fein jollen. 

Endlich ift in einem zur Entfcheidung des K. Obertribunals 
(30. September 1857) gelangten Rechtsfall eine teftamentarifche 
Beitimmung, wonad „mit dem Vermögen, welches nach Abzug 
der Legate übrig bleibt, eine für jich beftehende, den Namen der 

2) Tractatus de privilegiis piae causae. 

3) Coll, Pand. lib. 29, tit. 1. $. 49 (de testamentis ad pias 
causas), 

4) Weishaar, Württ. Privatreht SS. 813. 817. Reyſcher, 
Württ. Privatreht F. 680. Stein, Erbrecht, herausgegeben von Hob! 
S. 62. Zuſätze II. IV. Lang, Berionenredt ©. 153—155, 





al u ——— 


— — En — 





— 357 — 


Erblafjerin führende Stiftung zu dem Zwed gegründet werden 
jol, damit aus dem Ertrag des Vermögens nicht nur Ange— 
börige der Stadt Ulm, jondern auch Angehörige des ganzen 
Landes angemefjene Unterftügung in folden Fällen, welche durch 
unabwendbare unglüdliche Ereigniffe hereingebrochen ſeien, er: 
halten jollen”, in allen drei Anftanzen als die Erbeinjegung 
einer milden Stiftung für gültig erklärt worden °). 

Das von dem Erblaffer in 8. 2 feines Teftaments ver- 
ordnete Vermächtniß ift ein VBermächtniß ad pias causas, da es 
zur Unterftügßung armer oder kranker Gemeindeglieder ver- 
ordnet ift. Hieran ändert der Umjtand nichts, daß das Ber: 
mächtniß zur Unterftügung armer oder kranker Gemeinde: 
glieder, d. h. Glieder des religiöfen Vereins der Nazarener 
beitimmt ift, da das Gefeß feine Wirkung von dem Untfang des 
durch den Teitirer gezogenen Kreifes der eventuell unterftügungs- 
berechtigten Perſonen nicht abhängig gemacht bat, überdieß die 
fogenannte Nazarenergemeinde, wenn auch feine mit Korporations— 
rechten ausgeftattete Kirche, doch einen jtaatlich zugelajjenen 
religiöſen Verein im Sinn des Difjidentengejeßes vom 9. April 
1872 bildet ®),. 

Hienach kann die gedachte teftamentarifche Verordnung nicht 
aus dem Grunde als ungültig angefochten werden, weil weder 
die Nazarenergemeinde, falls diefe al$ dag mit dem Vermächt— 
nifje bevachte Subjekt anzufehen wäre, noch andernfall® die von 
dem Erblaſſer beabjichtigte befondere Stiftung zur Zeit des An— 
fall3 des Vermächtniffes die ftaatliche Anerkennung als juriftifche 
Perfönlichkeit erlangt gehabt habe. Vielmehr find die Fragen, 
ob das von dem Erblajjer in $. 2 feines Tejtaments angeord- 
nete Vermächtniß zum Zweck der bezeichneten Stiftung gültig 
angeordnet fei, und ob diefe Stiftung, um wirkſam in das Leben 
treten zu können, des Schußes der juriftifchen Perjönlichkeit und 
der Verleihung der leßteren durch einen Akt der Staatögewalt 


5) 3. vgl. hierüber Boſcher, Zeitichrift Bd. V. ©. 161—174 und 
Württ. Archiv Bd. XIV. S. 91—94. Note 50. 
6) 3. vgl. Negier.-Vlatt von 1872, ©, 343. Pfeifer, Lehre von 
den jurift. Perſonen ©. 131. 
Württemb. Archiv für Necht ꝛc. XXII. Bd. 2. & 3. Heft. 24 


— 3585 — 





bedürfe, ganz verjchiedener Natur und es hat die zweite dieſer 
Fragen einen nur jefundären Charakter, vergeftalt, daß, wenn 
dDiefelbe — was dermalen ganz dahin geftellt bleiben kann — 
zu bejahen und die Verleihung der juriftiihen Perſönlichkeit 
nicht zu erlangen fein follte, erſt in der Folge nicht etwa die 
niemal3 vorhanden gemwefene urfprüngliche Ungültigfeit der An- 
ordnung des Erblafjers, fondern nur die nachmalige Hinfälligfeit 
derjelben wegen eingetretener Unmöglichkeit der Erfüllung des 
von dem Teftirer gemwollten Zwedes in Frage kommen könnte. 
Soweit ift es jedoch zur Zeit noch nicht gefommen, insbeſondere 
fünnte die Erwirfung der juriftifhen Perfönlichkeit für eine be 
jondere Stiftung im Sinne des $. 2 des Teftaments als be: 
reits ausgefchloffen nicht erachtet werden, da der Beklagte als 
von dem Erblafjer eingefegter Verwalter der Stiftung und Boll 
ftreder des Tejtaments zur Betreibung der behuf3 der Aus: 
führung des 8. 2 erforderlihen Maßnahmen legitimirt ift und 
bezüglich der von ihm big jeßt unternommenen Schritte aus den 
Akten erhellt, daß das K. AJuftizminifterium nur feine eigene 
Kompetenz zu Behandlung des Geſuchs um Berleihung der 
juriftiichen Berjönlichfeit unter Beziehung auf 8S. 120 des Ber: 
waltungsedift3 verneint, die K. Kreisregierung aber erft den 
Nachweis des Bedürfniſſes der Verleihung der juriftiichen Ber: 
jönlichfeit und die Vorlegung von Statuten der zu errichtenden 
Stiftung verlangt hat. 

Schon der Richter I. Inſtanz hat mit Grund angenommen, 
daß nicht etwa Die Nazarenergemeinde als in $. 2 des Tefte: 
mentes bedacht anzufehen fei, jondern der Erblaſſer die verord- 
nete milde Stiftung als eine felbjtändige Stiftung zu jchaffen 
beabjichtigt habe. Zwar würde e3 vielleicht dem Sinn des Erb: 
lafjers nicht widersprochen haben, wenn die Vorſteher der Naza— 
venergemeinde, anftatt fi mit dem Beklagten zu entzweien, die 
Stiftung als eine Gemeindeitiftung unter der teftamentarifch an- 
geordneten Verwaltung des Beklagten in Wirkſamkeit treten zu 
lafjen bereit gewejen wäre. Andererſeits ift weder die Nazarener: 
gemeinde in $. 2 des Teitaments als das bedachte Subjekt ge: 
nannt, noch ergibt jich eine folche Beziehung thatfächlich aus dem 
teſtamentariſch beftimmten Stiftungszwede, welch’ letzterer viel: 





— 359 — 


mehr in der Form einer befonderen von der Nazarenergemeinde 
unabhängigen Stiftung zu Gunften von armen oder kranken 
Perfonen, welche zugleich jeweils der Nazarenergemeinde ala 
Glieder angehören, zum Mindeſten ebenſowohl zu erreichen fein 
würde. Wohl aber beweist die dem Beklagten teftamentarijch 
angemwiefene Stellung gegenüber den Cemeindevorjtehern, daß 
der Teitirer gerade auf die Selbitändigfeit des Beklagten als 
des Verwalter der Stiftung befonderes Gewicht gelegt hat und 
it darum die Annahme begründet, daß der Erblaffer zum 
Mindeiten für den Fall der Nichterzielung eines Einvernehmens 
zwiſchen dem Bellagten und den Gemeindevorjtehern, die Er: 
rihtung einer befonderen von der Gemeinde unabhängigen Gtif: 
tung gewünſcht und beabjichtigt habe, wornach denn der von 
den dermaligen Gemeindevorjtehern und den ihnen anhängenden 
dermaligen Gemeindeglievern erklärte Verzicht auf das Vermächt— 
niß als vechtlih unbedeutfam nicht weiter in Betradht kommt. 
Gleich belanglos ift endlich die durch die Gemeindevoriteher 
und ihre Anhänger erklärte Ausſchließung des Beklagten und 
feiner Anhänger aus der Gemeinde. Der Bellagte hat fein 
Mandat durch legtwillige Berfügung des Erblafjers, nicht von 
der Nazarenergemeinde empfangen und wenn er foldhes ($. 5 
des Tejtaments) al3 damaliges Glied der Nazarenergemeinde 
empfangen bat, jo folgt hieraus nicht, daß feine fortbauernde 
Zugehörigfeit zu der dermaligen Gemeinde Bedingung der Fort: 
dauer jeiner Befugnifje ift und noch viel weniger, daß dieſe 
Befugniſſe im Sinne des Erblafjers darum als erlofchen zu be: 
trachten jeien, weil die Vorjteher der Nazarenergemeinde mit 
Rückſicht auf die Stiftung des Erblafjers, welche nach deſſen An: 
ordnungen zum Vollzug gedeihen zu lafjen ihnen nicht erwünfcht 
erichienen ijt, den Beflagten aus der Gemeinde auszujchliegen 
vorgezogen haben. 
Entjcheidung des Oberlandesgerichts (II. Civil-Senat8) vom 8. März 
.. 1880 in Saden Weigel gegen Kies und Genofjen. 


24* 


— 360 — 


3. Teftamentsauslegung. Enterbung oder Belajtung 
des Erbtheils mit einem Univerfalfideifommiß? Vor: 
ausfeßung der Enterbung oder Pflihttheilsbelaftung 
bona mente. Wahlredt zwiſchen Bflihttheil und 
Trebellianiiher Duart. 


Der am 28. Auguit 1880 zu Ellwangen veritorbene Jo— 
hann Stark hatte in feinem hinterlafjenen Teftamente unter $. 1 
jeine drei Kinder, darunter die Tochter Maria Therefia Stark, 
Ehefrau des Wirthichaftspächters Müller, zu Erben eingejebt. 
Sn 8.2 wird in Beziehung auf den Exrbtheil der Maria Therefia 
verordnet: „Der meiner Tochter Maria Therefia von mir zu— 
fallende Exbtheil fol für deren Kinder erhalten und zu dieſem 
Behuf von den Eltern einfach unterpfändlich fichergeitellt, wenn 
aber eine ſolche Sicherheit nicht gegeben werden kann, pfleg- 
fchaftlih verwaltet werden. Jedes der Kinder meiner Tochter 
Maria Therefia kann nach erfolgter Verheirathung feinen An— 
theil an fjich nehmen. Meiner Tochter M. Therefia foll von dem 
Vermögen ihrer Kinder, folange diefe ledig find, die Nußniegung 
zuitehen. Meinem Tochtermann ſoll aber auf Ableben jeiner 
Ehefrau die Nußnießung entzogen fein. In $. 16 wird der 8.2 
nit Folgendem erläutert: „Zu der Beitimmung oben $. 2 be= 
merke ich noch, daß diejelbe als eine Enterbung in guter Abficht 
angejehen werden ſolle, zu welcher ich mich entjchlojfen habe, 
weil, wenn meine Tochter Maria Therefia in den Beſitz des Erb- 
Shaftsvermögens fommen würde, dasfelbe durch meinen Tochter: 
mann verjchleudert werden könnte.“ Das Tejtament enthält die 
Kodizillarklaufel. 

Die Müller'ſche Ehefrau focht dieſes Teſtament wegen Ver: 
legung ihres formellen Notherbenrehts an, da fie darin ohne 
eine rechtmäßige Enterbungsurfache enterbt fei. Das in $. 16 
angegebene Motiv fei unrichtig und unerweisbarr Mit Rückſicht 
auf die Kodizillarflaufel verlangte fie jedoch nicht ihre Inteſtat— 
portion, fondern ftellte ihr Geſuch dahin: das Tejtament, ſoweit 
e3 die Enterbung der Klägerin ausfpreche, fei für ungültig zu 
erklären und der Klägerin zu geftatten, ihren Pflichttheil an der 
väterlichen Berlafjenihaftsmafje mit einem Drittheil ihrer gefeß- 





— 361 — 


lichen Erbsportion, und daneben noch die Trebellianifhe Duart 
mit einem Biertheil der an die beflagte Pflegſchaft ihres Kindes 
herauszugebenden Erbjehaft an ich zu nehmen. Den fumulativen 
Bezug von Pflichttheil und Duart begründete die Klägerin auf 
die Vorſchrift des Landrechts III, 20 8. 13. 

Der Richter erjter Inſtanz entfprach diefem Klageantrage. 
Das Urtheil zweiter Inſtanz geht, indem es das Urtheil eriter 
Inſtanz theils bejtätigte, theil$ abänderte, dahin: der Klägerin 
it nah ihrer Wahl entweder der gefeglihe Bilichttheil von 
der Berlafjenichaft ihres verjtorbenen Vaters jofort, oder die 
Trebellianiihe Duart von dem ihren Kindern nah 8. 2 des 
väterlichen Tejtamentes herauszugebenden Erbtheileg zur Zeit 
der dereinjtigen Herausgabe zur freien Verfügung aus: 
zufolgen; im Uebrigen wird die Klage abgewiejen. Die Gründe 
dieſes Urtheils enthalten: 

Die Klägerin iſt in 8. 1 des väterlichen Teſtaments neben 
zwei Geſchwiſtern und in gleicher Weiſe, wie dieſe, zur Erbin 
eingeſetzt. In 8.2 des Teſtaments iſt dieſe Erbeinſetzung weder 
widerrufen, noch aufgehoben, ſondern der der Klägerin nah F. 1 
zufallende Erbtheil mit einem Univerſalfideikommiß zu Gunjten 
ihrer Kinder belegt. 

Die Belaftung des Erbtheild mit einem Univerfalfidei- 
fommiß kann überhaupt nicht zu der Auffafjung führen, daß 
weil dem eingefegten Erben den Erbtheil an einen Dritten heraus: 
zugeben auferlegt worden, nun die im Tejtament verordnete Ein: 
jegung diejes Erben als eine „Scheinhandlung” zu erachten wäre, 
und das vorliegende Tejtament gibt dieſer Auffafjung um jo 
weniger Raum, weil der Klägerin nicht bios die Nußnießung 
ihres Erbtheils bis zur dereinjtigen Verehelichung ihrer Kinder 
gelafjen, jondern auch gegen einfache unterpfändliche Sicherjtellung 
des bei der Theilung fich ergebenden Fideikommißanſpruchs die 
Subjtanz des Erbtheils jelbit in Befig zu nehmen gejtattet iſt. 

Die Erbeinfegung eines Notherben unter gleichzeitiger Be: 
laftung des GErbtheils mit einem Univerjalfiveitommiß genügt 
aber auch den Vorſchriften des Notherbenrecht3, der formellen 
Borjchrift der Erbeinfegung, weil eine jolche und zivar auf den 
ganzen Erbtheil, wirklich vorliegt, nicht minder aber der mate— 


— 362 — 


rielen Vorſchrift bezüglich unbeſchwerter Verſchaffung des Pflicht: 
theil3, weil die Geſetze felbft dafür Sorge tragen, daß dem 
Notherben, welchem den Erbtheil an einen Fideifommifjar heraus 
zugeben auferlegt ift, wenigftens ein Theil des Erbtheils zur 
freien Verfügung verbleibe )), insbefondere eine auf den Pflicht- 
theil gelegte Auflage oder fonjtige Beſchränkung — unbeſchadet 
der Gültigkeit des Teſtaments im Uebrigen — kraft Geſetzes 
in Wegfall zu kommen hat ?). 

Und zu einem anderen Ergebnifje führt auch der 8. 16 des 
vorliegenden Tejtaments nicht. Wie überhaupt teftamentarifche 
Anordnungen möglihit im Sinne der Aufredhthaltung des er- 
flärten Willens des Teftirerd auszulegen find, jo läßt fih dem 
Teitirer nicht unterjtellen, daß er in $. 16 jeines Teftaments 
direft in Widerfpruch mit der in 8. 1 angeordneten Erbeinjegung 
der Klägerin, diefelbe habe enterben wollen. Zu der Annahme 
eines jolchen Widerſpruchs gibt auch der Wortlaut des 8. 16 
nicht einmal Anlaß, da der Teitirer daſelbſt nicht jagt, daß Die 
Klägerin enterbt, der 8. 1 des Teftaments in Beziehung auf fie 
widerrufen jein, jondern nur, daß die fideikommiſſariſche Anord- 
nung des 8. 2 als eine Enterbung in guter Abficht angefehen 
werden Tolle. Es ift möglih, daß der Teftirer in $. 16 eine 
über die 88. 1. 2 hinausgehende Anordnung überhaupt nicht 
treffen, fondern nur fich ſelbſt und die Klägerin wegen des über 
ihren Erbtheil verhängten Fideifommißverbands rechtfertigen wollte. 
Will man aber in dem $. 16 eine über den $. 2 hinausgehende 
Beſtimmung finden, fo ergiebt der 8. 16 einen ganz befriedigen: 
den Sinn, ohne daß es nöthig wäre, den Inhalt des 8. 16 mit 
dem $. 1, welcher in $. 16 weder in Bezug genommen, noch 
durch die bloße VBergleihung der Verordnung des 8. 2 mit einer 
Enterbung in guter Abjicht aufgehoben wird, in Widerfpruch zu 
jeßen. Es ift ohne Zweifel dem Berfaffer des Teſtaments nicht 
entgangen, daß nach gefeglicher Vorſchrift den Notherben der 


1) Zandredt III. 13. 8. 3. SS. 12-14. 

2) 1,8. 8. 9. D. de inoff. test.; 1. 32. 1. 36. Cod. cod, t,;:nov. 18, 
C. 3. Landrecht III. 14. 8. 7. Glüd, Kommentar Bd. VII. ©. 153. 
Bd, XXXV, ©. 77. Windicheid, Pand. Bd. III. $. 582. 








— 363 — 


Prlichttheil unbeſchwert zu Hinterlaffen ift und daß, wofern es 
lediglich bei den Beitimmungen der 88.1.2 verbliebe, die Klägerin 
von ihrem Erbtheil (8.1) den Pflichttheil oder die Trebellianifche 
Quart inne zu behalten befugt wäre). Das in $. 16 ange: 
gebene Motiv der. Befürdhtung einer Vermögensverfchleuderung 
duch den Ehemann der Notherbin, mit welchem diefelbe über: 
dieß in allgemeiner Gütergemeinfchaft lebt, mußte folgerichtig den 
Zejtirer dazu führen, daß er den ganzen Erbtheil derjelben, ohne 
einen Abzug, dem Fideifommißverbande unterwerfen wollte, und 
diefer Abjicht hat der $. 16 einen fongruenten Ausdrud dahin 
gegeben, daß die Klägerin bezüglich des Vollzugs der in $. 2 
getroffenen fideifommifjarifchen Anordnung jo behandelt werden 
follte, wie wenn fie in guter Abficht enterbt wäre. Ob die jo 
verjtandene Beftimmung des 8. 16 rechtlich aufrecht erhalten 
werden fann, ift im Nachfolgenden zu erörtern. Wenn nicht, 
jo fommt nur die Beitimmung des 8. 16 in Wegfall (vergl. 
oben) und bleiben die 88. 1. 2 in Geltung. 

Hiernach ift das Urtheil I. Inſtanz, inſoweit dasjelbe aus: 
- Spricht, daß das Teitament in Abſicht auf die Erbeinfegungen 
nichtig fei, abzuändern und die auf Anerkennung der Ungültig- 
feit des Tejtaments gerichtete Klage abzumweifen. Dem mit einem 
Univerjalfideifommiß beſchwerten Notherben fteht, je nad der 
Geitaltung der Verhältnifje, der Abzug des Pflichttheils oder 
der Trebellianijchen Duart oder des einen und anderen zu ®). 

Unter denfelben Vorausfeßungen, unter welchen ein Noth- 
erbe in guter Abficht von der ganzen PVerlafjenihaft ausge— 
jchlofjen werden kann, ift auch die Beſchwerung des Pflichttheils 
mit einer fideifommifjarifhen Auflage zuläffig °), und unter 
gleichen Vorausfegungen muß auch die Befchwerung der Trebel: 
lianifhen Quart des Fiduziars zuläflig jein, jelbjt wenn der 
Fiduziar zu den Deszendenten des eriten Grades gehört, welchen 
nach Zandrecht III, 13. $. 12 der Abzug der Quart nicht fol 
verwehrt werden dürfen. 


3) Landrecht TIL. 13. $. 3. 

4) Landrecht II. 13. 8. 3. 88. 12—14. II. 20. 8. 18. 

5) Windicheid, Pand. II. S. 583. Stein, Erbrecht, herausge— 
geben von Hohl, ©. 89. Württ. Archiv Bd. XV. ©, 183, 


——3 

* rn, 
D „. 
— 


— 364 — 


Iſt davon auszugehen, daß der Teſtirer durch die Beſtim— 
mung des 8. 16 feines Teſtaments die fideikommiſſariſche An- 
ordnung des $. 2 auf den ganzen Erbtheil der Klägerin, ohne 
einen Abzug, habe erjtveden wollen, jo ift doch diefe Verfügung 
durch die Berufung auf die bezüglich der Enterbung in guter 
Abficht geltenden Rechtsgrundſätze nicht aufrecht zu erhalten, 
weil die VBorausfegungen einer ſolchen Enterbung nicht zutreffen. 
Es läßt ſich jchon bezweifeln, ob der Bejtimmung des $. 16 
der Charakter einer wohlmeinenden Anordnung bezüglich der 
Klägerin beigelegt werden könne, da dieſelbe nach 8. 2 Abi. 3 
von dem Zeitpunft der Verehelihung ihrer Kinder an feinerlei 
Nutznießung von ihrem Exbtheil haben fol, während das in 
$. 16 angegebene Motiv hätte wohl zur Geltung fommen fünnen, 
wenn der Klägerin auf Lebenszeit nur die Verfügung über die 


Subjtanz ihres Erbtheils verwehrt, die Nußniefung aber unge: 


jchmälert belajjen worden wäre. 
Hievon abgejehen fehlt jede thatjächliche Begründung des 
in F. 16 angegebenen Motivs. Man fanıı von dem Sabe 


ausgehen, welchen im Anſchluß an eine Entjcheivung des K. 


Obertribunais #) die beklagte Partei an die Spige ihrer Beru- 
fungsbegründung gejtellt hat, daß nemlich die Enterbung oder 
Belaftung bona mente dann vorhanden jei, wenn der Tejtirer 
feine wohlmeinende Abjicht und einen derartigen Grund derjelben 
angeführt habe, daß die getroffene Maßregel nach billigem Er: 
meſſen vom Standpunkte des Tejtivers aus als gerechtfertigt 
erfcheine; dieſer Sa führt jedoch nicht zu der mit dent Noth— 
erbenrecht unvereinbaren Folgerung, daß es genügen müſſe, wenn 
der Tejtiver an die Nichtigkeit des von ihm angeführten Motivs 
geglaubt habe und daß er, weil er diejes Motiv in feinem 
Zejtament angeführt habe, auch dafjelbe für richtig gehalten 
haben müſſe. Die Urfache einer Enterbung in guter Abjicht 
muß, wie jede andere Enterbungsurfache, eriwiefen werden, und 
wenn die Urjache in der Bejorgniß des Teſtirers, der Erbtheil 
jeiner Tochter könnte durch deren Ehemann verjchleudert werden, 
bejteht, jo ijt zu erweifen, daß Umſtände vorliegen, welche nad) 


6) Württ. Archiv Bd. XV. ©, 183— 184. 


| 





— 365 — 


billigem, auch dem Standpunkte des Teſtirers Rechnung tragenden 
Ermefjen, dieſe Beſorgniß als eine nicht ungerechtfertigte erkennen 
laſſen °). 

Nach den beflagterfeit3 in voriger Inſtanz gemachten An: 
gaben würde das dermalige Vermögen der Müller'ſchen Eheleute 
in einem verzinglichen Kapital von 2000 M., einigen 100 M. 
Betriebsfapital und in Mobiliar von nicht über, 1000 fl. Werth 
beftehen, wogegen nah der in II. Initanz vorgelegten Police 
diefelben Mobiliar inı angegebenen Werth von 5180 M. gegen 
Feuer verfichert haben. Demnach ließe ſich den Angaben des 
Bel. nicht einmal entnehmen, daß die Miüller’fchen Eheleute, 
welche nach dem Ehevertrag im Jahre 1871 —.. 3750 fl. in 
die Che brachten, jeitdem eine erhebliche Einbuße erlitten haben. 
Noch weniger ift dargelegt, inwiefern eine etwa erlittene Einbuße 
dur üble Wirthfchaft des Ehemanns herbeigeführt und von 
demfelben Anlaß zu gegründeter Beforgniß der DVerjchleuderung 
eines der Ehefrau -anfallenden Erbtheils gegeben worden fein 
jol. Es ift daher auch die Berufung auf ein Zeugniß der 
DOrtsbehörde über den angeblichen Vermögensrüdgang und dar: 
über, daß Müller ohne Erfolg feinen Unterhalt als Holzhändler 
und Wirth, und zwar fchon auf der zweiten Wirthichaft juche, 
um jo weniger als erheblich zu erachten, al$ was insbefondere 
den zweiten Saß dieſer Beweisanerbietung betrifft, bei dem 
Mangel von Anführungen in Betreff einer den Ehemann treffenden 
Verſchuldung auch für den Fall einer Bejtätigung des Beweis- 
jaßes durch das beantragte Zeugniß der Möglichkeit einer Wen— 
dung der Erwerbsverhältnifje bei Vermehrung der disponiblen 
Mittel Raum gelaffen werden müßte. Die allein angeführte 
Thatjache aber, daß Müller fein Anweſen in Neuler nad) wenigen 
Jahren wieder verfauft habe, um ſich als Holzhändler und 
Wirth in Ellwangen niederzulafjen, it, wenn dem Standpunft 
des ZTejtirers noch joviel Rechnung getragen wird, als die Be: 
jorgniß der Bermögensverjchleuderung zu rechtfertigen geeignet 


7) Glück, Kommentar Bd. VII S. 2357-259, Bd. XXXVII. 
©. 463. Sintenid, Givilredt Bd. II. ©. 609—613. Bolley, 33 Aufz 
läge, ©. 17. Stein, Erbrecht, herausgegeben von Hohl, ©. 9. 





— 366 — 


nicht anzuerkennen, da in Ermanglung näherer Darlegung ledig: 
lich dahin gejtellt bleiben muß, ob die gedachte Maßregel auch 
nur als unvortbeilhaft oder unmirthichaftlich erachtet werben 
fünne. Hienad hat die Anordnung des $. 16 des Tejtaments, 
jofern dadurch der Klägerin die Reftitution ihres ganzen Erb- 
theil3 ohne Abzug auferlegt worden ift, in Wegfall zu kommen. 

Nah dem Ausgeführten richtet fih das Maß des der 
Klägerin an ihrem Grbtheil zufommenden Abzugs nicht nad) 
Landrecht III, 20. $. 13, da das Teitament nicht wegen Ent: 
erbung eines Notherben ungültig ift und das Univerjalfidei- 
fommiß zu Gunften der Kinder der Klägerin unmittelbar Kraft 
des Tejtaments zu Necht beiteht und nicht erſt in Folge der 
Kodizillarklaufel aufrecht erhalten wird, fondern vielmehr nad 
Zandredit III, 13. 8. 3 und e3 darf die Klägerin, da das 
Fideikommiß zu Gunften von Deszendenten des Teſtirers ver: 
ordnet ijt, nicht den Pflichttheil und die Trebellianifche Quart 
innebehalten, vielmehr ift die hierauf gerichtete Klage unter Ab: 
änderung des Urtheils I. Inſtanz abzumeifen ®). 

Die weitere Frage, welche von beiden Abzügen der Klägerin 
zuftehe, ift abweichend von dem römischen Nechte?) und von 
dem an das römische Recht ſich anfchließenden Zuſatz, welchen 
$. 3 des Landrechts III, 13 nad Eifengreind Relation, Fol. 
124 bätten erhalten jollen, in Berüdfichtigung der Beitimmungen 
des Landrechts III, 13. 88. 12—14 und Ill, 14. 8. 7 dahin 
zu entjcheiden, daß ihr die Wahl zwiſchen dem Pflichttheil und 
der Trebellianifhen Quart gebühre '9). 

Hiebei ift jedoch zu bemerken: 

1) Da der Pflichttheil der Deszendenten nah Landrecht 
III, 14. 8. 4 ein Theil der Verlaſſenſchaft it, jo Fann der 


8) Eijengreins Relation zu Landrecht III. 13 Fol. 124. 125. Lauter— 
bad), Disp. ad P. III. Landredt3 ©. 130. 131. Lauterbach, Difteren- 
tiae S. 1204. 1205 der Dissertationes. Harppredt, de jure deducendi 
©. 85-88. Grielinger, Kommentar Bd. 6 ©. 366. 375. Reinhard, 
Stommentar Bd. 3. S. 149. 159. 

9) Sinteni3, Givilreht Bd. III. ©. 719. Anm. 41. 

10) Sarppredt ]. eit. ©. 122. 123. Griefingerl. eit. Stein, 
Erbr. v. Hohl ©. 174. 





— 367 — 


Pflichttheil der Klägerin nicht auf "/s ihrer Inteſtaterbsportion feit- 
gefegt werden. Webrigens ijt über die Berechnung des Pflicht: 
theil3 dermalen fein Streit, daher es genügt, der Klägerin den 
gefeglichen Pflichttheil zuzuerfennen und dejjen Ausmittlung dem 
Theilungsverfahren zu überlafjen. 

2) Im Gegenfage zum Pflichttheil !) ift der Abzug der 
Trebellianifhen Quart erſt mit dem Zeitpunkt jtatthaft, an 
welchem das Fideifommiß der Anordnung des Teitirer zu Folge 
dem Fideifommiffar herauszugeben ijt oder vorher von dem 
Fiduziar antecipando herausgegeben wird, woraus dann folgt, 
daß eine Sicherheitsleiftung oder eine andere Sicherungsmaß: 
regel, welche bis zu dem Zeitpunkt der dereinftigen Herausgabe 
des Fideikommiſſes einzutreten hat, den ganzen Betrag des mit 
Fideikommiß belegten Erbtheils, ohne Abzug der Quart, er— 
greift !?). 

Der Zeitpunkt der Neftitution des der Klägerin auferlegten 
Fideikommiſſes ift in $. 2 des Teftaments bejtimmt. Erſt mit 
diefem Zeitpunkt kann die Klägerin, wofern fie fich nicht für 
den Bezug des Vflichttheils entjcheiden will, die Quart für ſich 
in Anfpruch nehmen. 


Erkenntniß des Oberlandesgericht3 (II. Civil: Senats) vom 3. März 
1881 in Saden Müller gegen Müller’ihe Pilegichaft. 


4.VeberdenlimfangdesPBerbots, demzweiten 

Ehegatten zum Nachtheil der Kinder erfter Ehe 

legtwillig mehr als den gejeglihen Erbtheil zu 

verfhaffen. Auslegung des Generalreffriptsvom 
20. Juli 1683. — 


Der am 12. April 1878 verftorbene Jakob Huber von 
Möhringen hinterließ eine Wittwe, mit welcher er in zweiter 
(andrechtlicher Che lebte, ferner 3 Kinder aus diefer zweiten 
Ehe und 2 Kinder (Töchter) aus erjter Ehe, welche wegen Ehe: 
bruchs der Ehefrau gefchieden worden war. In feinem Tefta- 
mente hat er unter $. 1 feine Inteſtaterben zu Teftamentserben 








11) Landrecht TIL 14. 8. 7. 
12) LZandredt III. 13. 8. 5. Württ. Ardhiv Bd. VI. ©. 250. 





— 368 — 


berufen, in $. 2 die Kinder erfter Ehe auf den Pflichttheil be 
ſchränkt und den Pflichttheilsabfall den Kindern zweiter Ehe zu: 
gewiefen. Nach- 8. 3 it die ſämmtliche Liegenfhaft an die 
Kinder zweiter Ehe und nach $. 4 die gefammte Fahınig an 
die zweite Ehefrau je um einen mäßigen Anjchlag überlajien. 
In $. 6 ijt den Kindern zweiter Ehe die Auflage gemacht, den 
Pflichttheil der Kinder erjter Ehe, falls ſolcher durch die vor: 
jtehenden Beitimmungen verlegt wäre, zu ergänzen; in $. 7 endlich 
iſt ein Vermächtniß ausgefegt zu Gunften eines von der zweiten 
Ehefrau beigebrachten unehelichen Kindes, diefe Verfügung jedoch 
wieder durchſtrichen. Eine Beitimmung über Nutznießungsrechte 
der zweiten Ehefrau enthält das Tejtament nicht. 

Die Kinder erjter Ehe fochten die Beſtimmung der SS. 2—4 
des Tejtamentes wegen Verſtoßes gegen die Vorſchrift der L 6 
C. d. sec. nupt. 5. 9. (Lex hac edictali), beziehungsweife des 
Generalrejfripts vom 20. Juli 1683 als ungültig an. Es kam 
jedoh in Betreff der Ausführung der 88. 3 und 4 unter den 
Parteien eine Vereinbarung zu Stande, fo daß nur die Gültig: 
feit der Bejtimmung des $. 2 zu gerichtlicher Entfheidung ge 
langte. Die Klägerinnen hatten in diefer Beziehung, davon aus: 
gehend, daß in der diesfalljigen Anoronung des Erblafjers die 
Abfiht einer Begünjtigung nicht blos der Kinder zweiter Che, 
jondern mittelbar auch ‚dev Mutter derfelben zu erbliden ſei, 
unter Berufung auf das Generalrejfript Ziff. II letzter Ab: 
fa das Gefuch geftellt, daß die beflagten Kinder zweiter Che 
zu gejtatten haben, daß der ihnen in dem väterlichen Tejtamente 
vermachte Fflichttheilsabfall den Klägerinnen der Proprietät nad) 
zugewiefen werde. 

Die Klage wurde jedoch in beiden Inſtanzen zurückgewieſen, 
von den Oberlandesgerichte mit folgender Begründung. 

Die Behauptung einer fraudulofen Begünftigung der zweiten 
Ehefrau mitteljt der Zumendung des Pflichttheilgabfalls an die 
Kinder zweiter Ehe ift weder gehörig begründet, noch erwieſen. 

Der 8. 2 des Tejtaments enthält nichts als die Anordnung, 
daß der Pflichttheilsabfall den Kindern zweiter Ehe zu gut 
fommen fol, was nach dem Gen.Reſkr. v. 20. Juli 1683 
vollfommen erlaubt it, indem dort der Vater in feinem Rechte, 


u Fe 0 a Sn 

RTL: — 
N ⏑ ⏑— 

——— 


— 369 — 


den Kindern ungleiche Theile zu geben, die Kinder erſter Ehe 
auf den Pflichttheil zu beſchränken und den Abfall des letzteren 
den Kindern zweiter Ehe zu geben, durchaus nicht beſchränkt 
iſt. Aus dieſer Verfügung an ſich folgt alſo für die Behaup— 
tung der Klägerinnen nichts. 

Eine frauduloſe Abſicht folgt auch nicht daraus, daß, wie 
die Kläger behaupten, angeblich keinerlei Gründe vorliegen, um 
die Kinder erſter Ehe zurückzuſetzen und diejenigen zweiter Ehe 
zu bevorzugen. Beſondere Gründe konnte der Teſtirer ſchon 
darin gefunden haben, daß die Kinder zweiter Ehe noch ganz 
unerzogen und der Unterſtützung in höherem Grade bedürftig 
waren, als die ſchon erwachſenen Klägerinnen, und auch die 
Thatjahe, daß die erite Ehefrau wegen Ehebruchs gejchieden 
worden war, konnte auf das Maß der erbrechtlichen Berückſich— 
tigung der Kinder erfter Ehe einwirken. Aber auch ohne be— 
fondere Gründe fonnte der Vater den Kindern zweiter Ehe mehr 
geben und kann hieraus höchjtens gefolgert werden, daß er 
mehr Neigung zu diefen als zu den andern Kindern hatte, nicht 
aber, dag er diefe ungleiche Vertheilung der zweiten Ehefrau 
zu lieb gemacht habe. Ebenjowenig läßt ſich aus den fonftigen 
Inhalt des Teſtaments etwas hierher folgern. Denn wenn er 
auch «der zweiten Ehefrau einen Mehrwertd an Fahrniß über 
ihren gejeglichen Erbtheil zugewendet haben joll, jo beweist dieß 
doch nichts bezüglich des den Kindern zweiter Ehe zugewendeten 
Pflichttheilsabfalls, und auch die Anordnung in $. 6, daß Die 
etwa erforderliche Pflichttheilgergänzung von den Kindern zweiter 
Ehe allein zu tragen ſei, beweist nicht die Abjicht einer gejeß- 
widrigen Begünftigung der zweiten Ehefrau, fondern erklärt ſich 
einfah daraus, daß der Tejtirer annahm, daß eine etwaige 
Pflichttheilsverlegung aus der Liegenfchaftszuweifung an die 
Kinder zweiter Ehe entjtehen Fönnte und daher auch von ihnen 
wieder zu vergüten ſei, wenigitens ergibt ſich bei dem nicht 
bedeutenden Mehrwerth der Fahrnig einer: und dem erheblichen 
Mehrwerth der Liegenſchaft andrerſeits diefe Erflärungsweife 
als diejenige, welche die Verhältniffe an die Hand geben. Daß 
ſodann auch die zuerft projeitirte, aber vom Teſtirer felbjt wieder 
ducchftrichene Zuwendung an das von der zweiten Ehefrau beis 


— 370 — 





gebrachte unehelihe Kind nicht zu einem Bemweisgrunde der 
Klage benügt werden kann, bedarf feiner weiteren Bemerkung, 
- indem jie fih vielmehr ebenfogut umgekehrt zur Widerlegung 
einer fraudulofen Abjicht anführen ließe. 

Endlich ift unrichtig, daß vom Teſtirer die jtatutarifche Nutz— 
nießung der zweiten Ehefrau nicht auf den geſetzlichen Erbtheil 
der Kinder zweiter Ehe bejchränft worden jei und die zweite 
Ehefrau hienach die Nußnießung aus dem Pflichttheilsabfall habe, 
Das Teftament enthält vom Nießbraucd der Wittwe überhaupt 
nicht3, folglich auch feinen Mangel einer Beſchränkung. Mit 
diefem Stillfehweigen ift ausgeſprochen, daß bezüglich des Nieß— 
brauchs lediglich das Geſetz gelten foll, nach welchem jchon hin— 
jichtlich des gefeglichen Erbtheils der Kinder zweiter Che jehr 
die Frage ift, ob die Wittwe die ftatutarifhe Nugnießung aud 
nur an diefem gefeglichen Erbtheil hatte, während über den 
gejeglichen Erbtheil hinaus, um welchen Punkt es jich hier allein 
handelt, durh das General-Reſkript die ausprüdliche Beſtim— 
mung getroffen ijt, daß an allem Vermögen, was die Kinder 
zweiter Ehe von ihrem Vater ohne dolus mehr als ihre gelek- 
lihe Erbsportion erhalten, die Nutznießung — mit alleiniger 
Ausnahme des zur Auferziehung diefer Kinder nothmwendigen 
Betrags — nicht der Wittwe, fondern den Kindern zweiter Che 
gehören foll. Diefe Vorſchrift hatte daher und hat im vor: 
liegenden Fall bezüglich der fich ergebenden Nußnießung aus 
dem Pflichttheilsabfall zur Anwendung zu fommen, weil feine 
fraudulofe Abficht des Teftirers erweislich ift; blos wenn Diele 
erweislich gewejen wäre, hätte die weitere Vorſchrift des Ge: 
neral-Reffripts, daß das Eigenthbum und die Nußnießung des 
zu Begünftigung der zweiten Ehefrau fraudulos VBermachten den 
Kindern erjter Ehe zufallen folle, plagzugreifen gehabt. 

Danach ergibt fich zugleich, wie unbegründet die Meinung 
der Klägerinnen ift, daß der Erblaſſer der Wittwe mitteljt des 
faktiſchen Befies des größten Theil3 des Vermögens ein Mehr 
über ihren gejeglichen Erbtheil, ja jogar die unbeſchränkte Ber: 
fügung über den größten Theil des Vermögens verfchafft habe, 
da nicht einzufehen ift, in was eine Mehrverfchaffung bejtanden 
haben follte, wenn der Wittwe, wie eben bemerkt, weder die 





— 371 — 


Beräußerungs:, noch die Nutznießungsbefugniß an dieſem Ber: 
mögen der Kinder zuiteht. 


Enticheidung des Oberlandesgerichts (I. Eivilfenats) vom 22, Februar 
1581 in Sachen Huber und Genoſſen gegen Huber und Genofien. 


5. Notherbenredht. Nur direkte Erbeinfegung, nit 
die Einſetzung als Univerjalfideilommiffar genügt 
dem formellen Notherbenredte, 


| Nah Landrecht II, 14 8. 1 find die Eltern fchuldia, die 
Kinder in ihrem Pflichttheil zu Erben einzufegen. Daß dieſer 
Verpflichtung zur Erbeinfegung der Kinder nicht durch die An- 
ordnung eines Univerfalfideiflonmiffes zu ihren Gunften ges - 
nügt werden fann, iſt nad) gemeinem Recht unzweifelhaft und 
in der Doftrin unbeftritten !). Dafjelbe gilt von dem württem— 
bergiichen Rechte, indem das Landrecht III, 14 88. 1—3 nur 
die Beitimmungen der Nov. 115 wiedergibt und feine Spur da— 
von vorliegt, daß es abweichend vom gemeinen Rechte die fidei- 
kommiſſariſche Subftitution als eine wirkliche Erbeinfegung im 
Sinne des $. 1 habe gelten lafjen wollen. Insbeſondere läßt 
fih eine ſolche Abweichung dem 8. 6 des Landrecht3 III, 11 
und dem $. 10 III, 13 nicht entnehmen, da beide Stellen, in 
welchen überdieß von einer Beziehung auf das Notherbenrecht Feine 
Rede ift, im Gegentheil den eingefegten Erben und dem bloßen 
Fiveifommifjar einander gegenüberftellen und das Landrecht den im 
Rechtsſyſtem vielfah zu Tag tretenden Unterfchied zwijchen beiden 
in einzelnen Stellen z. B. III, 13 8. 8 ausdrücklich hervorhebt. 


Erkentniß des Oberlandesgerihts (II. Givil-Senats) vom 2. Juni 
1881 in Saden Häberlin gegen Mangolbdt. 


6. Zum Begriff der Komplerlaften als „bleibender 
Laſten“, welde „niht in den heutigen ftaat3redt- 
lihen Berhältniffen begründet find“. 

In dem zwiſchen dem Grafen Törring-Jettenbach-Gutenzell 
und der K. Staatöfinanzverwaltung wegen der Ablösbarfeit der 


1) $. ult. Inst. de pupillar. substit.; Nov. 115 c. 3. pr. ec. 5 pr; 
Franke, Recht der Notherben $. 3; Windſcheid, Pand. III. $. 588. 





— 372 — 


Prarrbefoldung und Pfarrhausbaulaft zu Gutenzell geführten 
Rechtsſtreite wurde oberjtrichterlich ausgeführt: 

Daß die Leiſtungen, um deren Ablösbarkeit es fich handelt, 
und welche als für öffentliche Zwecke dienend anerkannt find, 
mit dem Belige der Standesherrfchaft Gutenzell bleibend im 
Sinn des Gejeßes vom 19. April 1865 verknüpft erfcheinen, 
ift nad) dem Inhalte der Urkunde vom 12. Auguft 1803 nicht 
zu beanftanden, fofern der Reichsgraf Joſef Auguft zu Törring 
in folcher erklärt, daß er, durch feine landesherrlihe Pflicht be 
wogen, bejtimme, daß einen jeweiligen von ihm und feinen 
Negierungsnachfolgern dem Drdinariate in Konftanz zu präfen: 
- tirenden Pfarrer ein jährlicher Geldbezug von 500 fl. abzu: 
reichen fei, welcher demfelben aus feiner Gutenzeller Kameralkaſſe 
verabfolgt werden, und wofür, wie für die nachfolgenden weiteren 
Präjtationen und Naturalien die ficheriten Nentengattungen und 
Gefälle der Graffchaft Gutenzell für alle Zukunft hypothecirt fein 
ſollen. Dieje pfandrechtlihe Sicheritelung der Leiftung für alle 
Zukunft auf den Nenten und Gefällen der Herrfchaft ftellt ſich 
als eine bleibende dingliche Verknüpfung jener Leitungen mit dem 
Herriihaftsfonplere im Sinne des Gefeßes dar. 

Nach der Anficht der Beklagten ſoll die Ablösbarfeit noch 
aus dent meitern Grunde verneint werden, weil die in Frage 
ftehenden Leiftungen auch noch in den heutigen ftaatsrechtlichen Ber: 
bältnifjen begründet feien, foferne auch heut zu Tage Jedermann, 
nicht blos ein Landesherr, eine Pfarrei ftiften und als Stifter 
und Batron feinen Nachfolgern dauernde mit einem Vermögens: 
fonıpler verbundene Xeijtungen auferlegen könne. Allein aus 
dem Umjtande, daß feine Vorſchrift des öffentlichen Nechtes der: 
artige Stiftungen verbietet, kann nicht gefolgert werden, daß 
diejelben in dem öffentlichen Nechte ihren Rechtsgrund haben 
und e3 erjcheint als eine unbegründete Annahme, daß nach den 
Normen des öffentlichen Nechts, wie foldhe zur Zeit beftehen, dem 
Stifter und den Patron einer Pfarrei als ſolchem die Verbind: 
lichkeit zur Suftentation des Geiftlichen obliege, indem eine dieß— 
fallſige Vorſchrift des öffentlichen Nechtes in der That nicht 
beiteht. 

Daß auch der Umftand, daß die Dotation der Pfarrei 





— 373 — 


Gutenzell von dem Neichsgrafen Jof. Aug. Törring mit Rück— 
jicht auf die den neuen Landesherrn durch den Reichsdeputationg- 
hauptſchluß auferlegte diekfallfige Verpflichtung erfolgte, nicht ge: 
eignet erjcheint, jene Yeiftungen als in den heutigen ftaatsrecht- 
lichen Berhältniffen begründet erfcheinen zu laſſen, jofern nad 
der Einverleibung der Grafjchaft Gutenzell in das Königreich 
Württemberg die durch den Reichsdeputationshauptſchluß für den 
Reichsgrafen Törring und feine Regierungsnacfolger gejchaffe: 
nen öffentlich rechtlichen Verhältniffe der Vergangenheit ange— 
hören, nach der den Befißnachfolgern in der Standesherrichaft 
heut zu Tage zufommenden jtaatsrechtlichen Stellung aber von 
deren Berpflihtung zur Fürforge für Kirche, Schule und Arme 
nicht mehr die Rede jein kann, hat jchon der vorige Richter 
ausgeführt. 

Entjcheidung des Oberlandesgerichts (II. Civil-Senats) vom 3. Juni 


1880 in Sachen K. Staatsfinanzverwaltung gegen Standesherr- 
ichaft Gutenzell. 


7. Anfehtung im Konkurs. Inwieweit ift eine folde 
in Abjiht auf Rechtshandlungen ftatthaft, welde 
vor dem Zeitpunfte der Zahlungseinſtellung und 
des Antrages auf Eröffnung des Konfursverfahrens 
vorgenommen worden find und außfchlieglicd die 
Erfüllung einer gegen den Öläubiger obliegenden 
rechtlichen Verpflidtung zum Inhalte Haben? 


Benedikt Pfaff in Zußdorf hatte jeit dem Jahr 1876 an 
den Bräumeifter Anton Widmann dafelbjt eine Forderung von 
771 Mark zu mahen. Schon urfprünglih war für diejelbe die 
Beſtellung emes Unterpfandsrechts bedungen worden, jedoch 
drang der Gläubiger vorerft nicht, und erſt dann auf Die 
Realifirung des Unterpfands, als die Vermögensumſtände des 
Schuldners ſich ſchlimmer geitaltet hatten. Am 23. Dft. 1879 
erwirkte der Gläubiger die unterpfändliche Verficherung, und am 
30. Dft. beantragten ſowohl der Schuldner jelbft als mehrere 
jeiner Gläubiger die Eröffnung des Konkursverfahrens, worauf 
das Amtsgeriht am 8. November 1879 die Konkurseröffnung 
beſchloß. 


Wirttemb, Archiv für Recht sc. XXII. Bd. 2. & 8. Heft. 25 





— 374 — 


Bon dem Konkursverwalter des Widmann wurde die Unter: 
pfandsbeftellung jowohl auf Grund des 8. 23, als des $. 24 
der Konkurs-Ordnung angefochten. Der erftgenannte Paragraph 
erjchien jedoch in feinen beiden Ziffern als unzutreffend; Ziff. 1, 
weil zur Zeit der Pfandbeitellung ein Antrag auf Eröffnung 
des Konfursverfahrens nicht erfolgt war, auch eine Begründung 
dafür, daß damals ſchon Zahlungseinftellung eingetreten geweſen 
wäre, nicht gegeben worden ift; Ziff. 2, weil der Beklagte ver- 
möge feines außerhalb der zehntägigen Frift vor dem Eröffnung? 
antrag und der Zahlungßeinftellung erworbenen Pfandrechtstitels 
auf diejenige Sicherheit, welche ihm am 23. Dit. beftellt wurde, 
einen rechtlichen Anſpruch zu machen hatte. 

Die Abweifung der Klage bot daher in dieſer Hinficht Feine 
Bedenken. Zmweifelhafter war die Entfheidung, jomweit die Klage 
auf 8. 24 Ziff. 1 gegründet war. Daß der Schuldner und der 
mit deſſen Berhältniffen näher befannte Gläubiger am 23. OH. 
die hoffnungglofe Vermögenslage Tannten, durfte angenommen 
werden, und e3 hat demgemäß das Landgericht in dem Urtheil 
eriter Inftanz den PBaulianifchen Dolus und die Mitwifjenichaft 
des Beklagten als vorhanden angenommen und dem Klagegefuche 
gemäß erfannt. Dagegen hat das Oberlandesgericht in zweiter 
Inſtanz die Klage auch in diefer zweiten Begründung abgewieſen 
aus den folgenden Gründen: 

Die allgemein gehaltene Faſſung des Geſetzes: „Anfechtbar 
find Rechtshandlungen, welche der Gemeinjchuldner in der dem 
anderen Theile befannten Abficht, feine Gläubiger zu benach— 
theiligen, vorgenommen hat”, gibt an fih der Anfiht Raum, 
daß an den Grundfägen, welche bisher in Württemberg hinficht- 
lich des Paulianifchen Dolus gegolten haben, nichts Wefentliches 
geändert worden fei. Bei näherer Prüfung muß man indefjen 
Anftand nehmen, diefer Auffaffung beizutreten und ergibt fi 
vielmehr das Refultat, daß die auf 8.24 Ziff. 1 gefiügte An- 
fechtung der Hingabe und Annahme wirklich gefhuldeter 
Zeiftungen in der Regel erfolglos fein wird. Schon vor ber 
Konkursordnung war auf dem Boden des gemeinen Rechts der 
Sat aufgeftellt worden: „Zahlungen an einen Gläubiger unter: 
liegen, vorausgeſetzt, daß jie nicht nach der Konfurseröffnung er: 


⏑V 
28.» 0 
⸗* u 


— 375 — 


folgten, der Rüdforderung ſelbſt dann nicht, wenn der Schuldner 
fie in der Abſicht gemacht hat, dadurch) dem Empfänger auf 
Koſten der übrigen Gläubiger einen Bortheil zu verſchaffen und 
der Empfänger diefe Abficht gekannt hat“ 1)J. Im gleichen 
Sinne hatte fih vor der Geltung der Konfurdordnung das 
Berliner Obertribunal und das NeichSoberhandelögericht Hin: 
fihtlih der Anfechtung einer fälligen. Bertragserfüllung aus: 
gejproden ?). Die Motive zur Konfursordnung fodann, wenn 
man die mehreren fich gegenfeitig ergänzenden Stellen zufammen: 
faßt, bringen folgenden Gedanken zum Ausdrud. Wenn ein 
Gläubiger vor der Zahlungseinftellung oder dem Eröffnungs- 
antrag nur dasjenige erhält, was er von Rechtswegen zu for: 
dern hat, fo braucht er bei Annahme der Leiftung die fchlechte 
Bermögenslage des Schuldner3 und die durch die Leiftung ent— 
ftehende Benacdhtheiligung der übrigen Gläubiger nicht zu be— 
rüdfihtigen, er empfängt nur den feiner Wachſamkeit gebühren- 
den Lohn, er begeht Fein Unrecht, die Annahme der Leiftung 
fann regelmäßig nicht angefochten werden. Sogar wenn ge 
geſchuldete Leiftungen erſt nach der Zahlunggeinitellung erfolgen, 
jo liegt hierin noch Fein Betrug, diefelben fünnen nur ange: 
fochten werden wegen Verlegung des Konkursanſpruchs der übri- 
gen Gläubiger’). Im Einflang mit diefer Anfhauung bemerkt 


1) Windſcheid, Pand. II. 8. 463 3. 6. Arndt Pand. $. 228. 
Anm. 2. 

2) 3. vgl. Wengler, Konk.O. ©. 216. Seuffert, Archiv Bd. 31 
Nro. 89. 

3) Die in Betraht kommenden Stellen der Motive befagen fol- 
gendes: 

©. 1408—1409 (der Kortlampf’ichen Ausgabe): Seit der Zahl- 
ung3einftellung — um bei diefem Hauptfall zu bleiben — bis zur 
Eröffnung des Verfahrens vergehen oft Monate. In diefem Zeitraum 
ift der Aniprud der Gläubiger erfahrungsmäßig am allermeiften ge- 
fährdet. Man braucht nicht dem Schuldner die Abficht unterzulegen, 
die Zwifchenzeit zu unerlaubtem Gewinn für fi) oder zu unlauterer Be— 
günftigung einzelner ihm naheftehender Gläubiger außzubeuten — gegen 
dergleichen würde auch das gemeine Recht Helfen — man gehe vielmehr 
von der Erfahrung aus, daß in dieſer Zeit die Schuldner, um die Zahl- 
ung3einftellung zu bejeitigen und den Konkurs abzuwenden, verzweifelte 
Anstrengungen madhen, Zahlungen leifien, Gelder erheben, die bedenk— 

25* 








— 376 — 


Dernburg, Preußiſches Privatrecht: „Wer in Kenntniß des An- 
trags auf Konkurseröffnung Zahlung einer fälligen Forderung 


lichjten Gefchäfte unternehmen und ebenfo, daß die einzelnen Gläubiger 
andrängen, um noch Ichnell befriedigt oder jicher geftellt zu wer: 
den. Alle diefe Rechtsgeſchäfte, dieſe Zahlungen und Sideritel: 
lungen enthalten feinen Betrug, aber fie verlegen nicht blos ju- 
risttich jenen Nechtsanipruch aller Gläubiger, fie gefährden auch, indem 
ſie einen Kampf Aller gegen Alle verurjachen, und indem hierbei der 
Mohnort, die nahen Beziehungen, der Charafter der Einzelnen u. ſ. w. 
eine ungleiche Nolle fpielen, den allgemeinen Kredit. 

Seite 1410: Eine Rechtsvermuthung des böſen Glaubens läßt fid 
nur da begründen, wo die Natur des ftattgefundenen Geichäfts in 
Sedermanı den Verdadt wach rufen muß, daß der Schulditer fid) in 
Ichlechter Vermögenslage befinde. Hier fann und muß verlangt werden, 
daß Jeder doppelt aufmerkſam nad) den Berhältnifien feines Schuldners 
fich erfundige, und hier ift, wenn bereit3 der Schuldner feine Zahlungen 
eingeitellt hatte oder bereits der Antrag auf den demmächit eröffneten 
Konkurs gejtellt war, die Vermuthung jo gerechtfertigt, wie zum Schuß 
der Gläubiger geboten, daß der Betheiligte trog Kenntniß dieſer That: 
fachen fih auf das Nechtögefchäft eingelaffen habe. Dies gilt von den 
erfahrungsmäßig in leßter Stunde ftattfindenden Handlungen, durd 
welche der Schuldner zur Befriedigung oder zur Sicherftellung einzelner 
Gläubiger diefen, aus welchen Motiven es fei, Wortheile zuführt, auf 
welche fie feinen Anspruch zu erheben hatten. Solchen Begüniti- 
gungen treten die obenerwähnten Vorichriften aller modernen Geſetzge— 
bungen entgegen. Der Entwurf ertheilt gegen fie den Schuß im $. 23 
Nro. 2. Der Schuß erftredt fih im Einklang mit den gedachten Legis— 
lationen zugleich auf einen beitimmten Zeitraum vor demjenigen Zeit: 
punkt, mit welchem der Schuldner feine Verfügungsfreiheit verliert. Dies 
hat ebenfalls in der befonderen Natur dieſer Nehtögejchäfte feinen 
Grund. 

Seite 1416: Von den anfechtbaren NRechtsgeichäften hebt $. 23. 
Neo. 1 bejonderd hervor die Leiſtungen an Slonlursgläubiger. 
Sie verdienen befondere Beachtung, denn fie ereignen fih am häufigiten, 
gefährden die Maſſe am meiften und find in allen Rechtsſyſtemen Gegen: 
ftand lebhafteften Streites. Cie find das Feld der ſchon in der einleiten: 
den Erörterung gewürdigten Gratififationstheorie. 63 fann nidt 
daran gedacht werden, dieſe Theorie einzuführen, wohl aber nimmt 
der Entwurf darauf Bedacht, das urfächliche Uebel derfelben zu heben. 

Der Schuldner, welcher einem Gläubiger nur dasjenige leiftet, 
wozu er dem Gegenjtand und der Zeit nah von Nechtäwegen ver: 
pflichtet ift, begeht eine Nechtsverlegung gegen die Übrigen Gläubiger 
nicht jhon darum, weil er die Leiftung mit Rückſicht auf ſeine ſchlechte 





— 3717 — 


Vermögenslage und zur Begünftigung des Empfängers vornimmt. 
Nod weniger macht fich der Gläubiger, welcher nicht mehr erhält, al3 
worauf er ein Zwangsrecht hat, durch Annahme deifen einer Rechts— 
verlegung oder einer Theilnahme an folcher fchuldig, auch wenn er weiß, 
daß der Schuldner in jo jchlechter VBermögenslage fid) befindet, daß nicht 
alle anderen Gläubiger gleich ihm befriedigt werden fönnten und daß 
fie in Folge feiner Befriedigung eine Ginbuße erleiden müffen. Man 
fann ihm nicht zummthen, auf die Ausübung feines wohlbegründeten 
Rechts zu verzichten und großmüthig fich einem Verluft zu unterwerfen, 
damit nicht andere einen größeren Berluft erleiden möchten. Sibi vigi- 
lavit. Den wahjamen Gläubigern darf der Lohn ihrer Sorgfalt nicht 
entrifjen werden. — Anders verhält es fi), wenn ſchon bei der Leiſt— 
ung und deren Annahme der Anspruch der übrigen Gläubiger auf gleich: 
mäßige und gemeinschaftliche Bertheilung de3 ganzen Vermögens bestand, 
quum jam par conditio omnium ereditorum facta esset. Daß Diejes 
gleiche Recht aller Konkursgläubiger aber nicht erſt durch die zufällig 
früher oder jpäter nachfolgende Konkurseröffnung, ſondern Ihon durch 
die jie bewirfenden NRechtöverhältniffe begründet wird und mit den Diele 
erfennbar machenden Thatjahen der Zahlungsdeinftellung oder des 
Sröffnungsantrags in Kraft treten muß, iſt Schon in der Einlei— 
tung zu diefem Titel nach verichiedenen Seiten entwicelt worden. Be: 
jteht jchon der Konkursanſpruch, jo wird diejer durch die Leitung ver— 
leßt, welche dem einzelnen Gläubiger mehr zuführt, als was er in der 
Gemäßheit defielben zu erhalten haben würde. 

©. 1417: Begünftigungen von Honfursgläubigern. Wenn 
gleich die bloße Abſicht des Gemeinſchuldners, den einen Gläubiger vor 
den andern zu begünftigen, und das Willen des Begünftigten um 
dieje Abiicht vor der Zahlungseinftellung oder dem Antrag auf Konkurs— 
eröffnung nicht hHinreicht und nachher nicht erforderli ift, um eine 
Anfechtung der geſchuldeten Reijtung zu begründen, — jo fteht 
e3 doch wejentlich anders mit den objektiven Begünftigungen, dur 
welche dem einen Gläubiger, fei es durd Sicherstellung, ſei e3 durch die 
Art oder die Zeit der Befriedigung ein Bortheil zugeführt ift, auf den 
er feinen rechtlichen Anſpruch gehabt hatte. 

©. 1417: Es darf dem Schuldner nicht gelingen, „am Worabend 
feines Bankerutts“ willfürlih und ohne rehtlihe Nothwendig: 
feit „zu Gunſten eine3 jeiner Gläubiger zu disponiren und den übrigen 
nur die leere Schale zu laſſen.“ 

©. 1418 bis 1419: Nach der Zahlungseinftellung oder dem An— 
trag auf Konkurseröffnung ift jeder Akt der Befriedigung eines Konkurs— 
gläubigerd eine Verlegung der par conditio ($. 23. Nr. 1); dieſer Rechts— 
grund macht ſowohl die rechtlich erzwingbaren, wie die ohne recht: 
liche Nothwendigfeit erfolgten Befriedigungen anfechtbar; der Rechts— 


reg 
u 
- — — 


— 378 — 


grund bleibt derſelbe, wenn auch die Anfechtung der letzteren Art erleich— 
tert wird. 

Ehe der Konkursanſpruch in Kraft getreten, — vor der Zahlungs— 
einftelung oder dem Antrag auf Konkurderöffnung — würde eine 
Sicherftellung oder Befriedigung des einen Gläubigerd nur dann der 
Anfechtung unterliegen, wenn fie der Schuldner in der Abficht geleiftet 
hätte, die übrigen Gläubiger zu benadtheiligen ($. 24. Nro. 1). 
Es erjcheint wohl begründet, mit dem gemeinen Recht eine folche Ab- 
ficht der Benachtheiligung der anderen Gläubiger ſchon in der Abficht 
der Begünftigung des einen Gläubiger zu finden, wenn der Schuld: 
ner zugleic dad Bewußtſein Hatte, daß der Ausbruch feiner Zahl: 
ungsaunfähigfeit und die Eröffnung des Konkurſes bevorftehe. 

©. 1419: Der Bemweid, daß der Schuldner in dem Bewußtſein 
des bevorftehenden Konkurſes und im Hinblid darauf gehandelt 
habe, wird in den jeltenften Fällen zu erbringen fein. Die Feſtſtel— 
[ung diejer Abfiht muß und kann erjegt werden durch die Thatſache, 
daß der Ausbruch der Zahlungsunfähigfeit jener begünftigenden Hand» 
lung auf dem Fuß gefolgt iſt. | 

©. 1419: Der Entwurf adoptirt den verbreitetften und kürzeſten 
Zeitraum der zehn Tage. — Erfolgt während dieſes Zeitraums ob— 
jeftiv eine Begünftigung des einen Gläubiger vor den übrigen, 
jo wird e3 für einen zur Anfechtung hinreichenden dolus erachtet, wenn 
der Schuldner auch nur die Abficht ihn zu begünftigen hatte. Die ob: 
jeftive Begünftigung in Verbindung mit dem Zeitraum geitattet 
und erfordert die weitere Auffafjung des dolus. 

S. 1419: Wenn der Gläubiger furz vor oder nad) dem Ausbruch 
der Zahlungsunfähigkeit eine Sicherftelung oder eine Befriedigung er: 
langt, auf welche er feinen rehtliden Anſpruch zu erheben hatte, 
jo wird man zu der Vermuthung gedrängt, daß der Gläubiger die Lage 
des Schuldners, die ftattgehabte Zahlungseinftellung oder die Einbring- 
ung des Konfurdantrages gefannt, oder daß er gewußt habe, daß der 
Schuldner ihn vor Thore® Schluß habe begünftigen wollen, menigftens 
wird man von ihm verlangen dürfen, daß er fich nach den beftchenden 
Verhältniffen erfundige. 

Darum erfordert der Entwurf für die Anfechtung diefer begüniti- 
genden Rechtsgeſchäfte nicht den Nachweis der Kenntniß des Gläubiger, 
jei e3 von dem Eintritt des Konkursanſpruchs ($. 23. Nro. 1.), jei es 
bon dem dolus des Schuldners ($. 24. Nro. 1). 

©. 1421: Wann aber die Forderung zur Eriftenz gelangt iſt, er: 
icheint unerhebli, auch dann und gerade dann, wenn fie erft nad Be 
ginn des fritijchen Zeitraums entjtanden ift, muß die leichtere Anfecht- 
barkeit gemäß $. 23. Nro. 2 eintreten. Ausgeſchloſſen ift diefe jedod, 
gleichwie beim pignus judiciale dann, wenn der Konkursgläubiger ſchon 





— 379 — 


vom eventuellen Kridar annimmt, ift nicht in dolus, die Zu: 
rücdweifung der Zahlung in folder Lage wäre vielmehr eine 
Thorheit“ 9. 

Da die Motive zu dem Geſetzesentwurf zumal nach der 
Art, wie das Geſetz zu Stande kam, eine hervorragende Bedeu— 
tung für deſſen Auslegung zu beanſpruchen Haben’), fo muß 
man (falls nicht Hinfichtlich der betreffenden Materie befondere 
Gründe für das Gegentheil ſprechen), — darauf Bedacht neh- 
men, den Wortlaut des Gejeges in Harmonie mit den Motiven 
zu interpretiren, woraus fich eine einjchränfende Auslegung der 
Nr. 1 des 8. 24 der Konkursordnung ergibt. Hiernach beab— 
jichtigte der Geſetzgeber auszufprechen: eine Sicherheitsleiftung, 
welhe geſchuldet war, fönne (8. 23 Nr. 1 der Konf.Drdn.) 
angefochten werden, wenn fie erjt nach der dem gejicherten 


vor den zehn Tagen, ſei e8 bei, jei ed nad Entftehung feiner Forde: 
rung, einen Elagbaren Anſpruch auf die Sicherftellung erworben 
hatte. Der Entwurf folgt infoweit aljo vollftändig dem $. 101 Nro. 1 
der Preußischen Konkursordnung. 

©. 1421—1442: Betrügliche NRechtshandlungen des Gemein: 
ſchuldners. Der Anfechtung wegen Betrugs unterliegen alle Handlungen, 
die eine argliftige Verkürzung der Gläubiger zu enthalten vermögen, 
ohne Ausnahne, — wie dad Holländiiche Handelägefegbud (777) jagt: 
„welchen Namen jie auch haben mögen.” Im Gebiet der Preußifchen Kon— 
fursordnnung ftreitet man darüber, inwieweit Zahlungen oder Leift- 
ungen unter die Beftimmung des $. 103. Nro. 1 fallen. Der Code 
hebt die Zahlungen ausdrüdlich hervor: tous actes ou payements faits 
en fraude des creanciers (447); ebenjo da3 Belgiſche Fallimentsgeſetz 
(448), die Badiſche Prozeßordnung (8. 726) u. a. Daß die Tilgung einer 
Schuld vor der Verfallzeit, durch Angabe an Zahlungsftatt oder ſonſt 
in anderer ala der gefhuldeten Weife die Abficht, die anderen 
Gläubiger zu benachtheiligen, verfolgt haben und daher auch, wenn fie 
vor dem in $. 23. Nro. 2 gedachten zehntägigen Zeitraume gefchehen, 
angefochten werden kann, iſt jchon in der Begründung de3 vorigen 
Paragraphen erwähnt worden. Bei geihuldeten Leiftungen wird 
allerdings der Regel nad der Saß gelten: nullam videri frau- 
dem facere, qui suum reeipit; fie fann aber von einer ausdrücdlichen 
oder ftillfchweigenden fraudulöfen Uebereinkunft begleitet und 
deßhalb anfehtbar fein. 

4) Zmeite Aufl. (1880) Bd. II. Nro. 128. 

5) Vgl. v. Sarwey, Konk.O. Einleitung S. XXXVI— XXXIX. 





— 380 — 


Gläubiger befannt gewordenen Zahlungseinjtellung oder 
nad) dem dem Gläubiger befannten Eröffnungsantrage 
erfolgt fei; treffen dagegen diefe Vorausfegungen nicht zu, fo 
jei die Leiftung nit nur mittelft des 8. 23 des Geſetzes nicht 
anfechtbar, fondern es greife auch die Anfechtbarfeit auf Grund 
der Nr. 1 des 8. 24 (regelmäßig) nit Pla °). 

Diefe Einfhränfung mochte auch darum al3 gerechtfertigt 
ericheinen, weil bezüglich der unter Nr. 1 des $. 24 fallenden 
Handlungen dem Zurüdgreifen auf die entfernte Vergangenheit 
feine Grenze gejtedt iſt ”), und weil die Wachfamfeit und Energie 
der Gläubiger auch jonft 3. B. durch das Pfändungspfandrecht °) 
geſetzlich begünftigt wird. | 

Bei diefer Auslegung bleiben immer noch zahlreiche Fälle 
anderer Art für die Anwendung der Nr. 1 des 8. 24 übrig’). . 

Faßt man nunmehr die jpeziellen Verhältniſſe der vorlie: 
genden Nechtsfache in das Auge, jo iſt unbeitritten, daß der Be: 
flagte Pfaff durch die vor dem Konkurseröffnungsantrage und 
vor der Zahlungseinjtelung für feine eigene Forderung erfolgte 
Prandbeitellung nichts Weiteres erlangte, als was er fchon 
vorher rechtlich anzuſprechen Hatte. 

Nun bezeichnen allerdings die Motive (S. 1422) die Un— 
anfechtbarfeit gejchuldeter Leiftungen nur als die Regel, indem 
fie beifügen: eine ſolche Leiſtung „könne von einer ausdrüdlichen 
oder jtillfehweigenden fraudulöfen Webereinkunft begleitet und 
deßhalb anfechtbar fein“. Es ift wohl fehwierig, mit Sicherheit 
zu ermitteln, nach welchen Unterjcheidungsmerfmalen die Fälle 
der Annahme gejchuldeter Leiſtungen der Intention der 
Motive gemäß unter die aufgeftellte Regel oder unter die Aus: 
nahme ſubſumirt werden follen; foviel aber wird als unzweifel: 
haft zu betrachten fein, daß wenn in einem fpeziellen Falle nichts 

6) Val. auch Konk.-O. 8. 25. Nro. 2. Schluß (dazu württ. Pfand— 
geſ. Note 28. 29) 8. 211.,0. Wölderndorff, Konk.-O,I ©. 279. unten u. 
280, ©. 288, bei Nro. 3. 4 ©. 289. Nro. 10. Stieglig, Konf.-©. 
©. 135. 136. 146. unten u. 147. val. v. Sar wey, Konk.“O. ©. 148. 

T) Dal. 8. 36, Stiegliß, a. a. O. ©. 161. 

8) Civ.Proz.O. $. 709. 810. 

9) Vgl. Stieglitz a. a. O. ©. 146. 


rn 3 
LEN - - 
N 
ET 
m ı% 2 


— 331 — 


Weiteres als das vorliegt, was die Motive felbft als zur An- 
nahme eines dolus, einer „fraus” ungenügend bezeichnen, als- 
dann die Anfechtung auch nicht unter dem Gefichtspuntte einer 
„begleitenden fraudulöſen“ Uebereinkunft zugelaffen werden darf. 
Sp verhält es ſich in gegenwärtigem Falle. Denn dem 
Schuldner und dem Gläubiger wird nur der Vorwurf gemacht, 
diefelben haben die Ueberſchuldung, die Zahlungsunfähigfeit des 
Schuldners gefannt, fie haben gewußt, daß demnächit Zahlungs: 
einjtellung erfolge, der Ausbruch des Konfurfes bevorftehe, e3 
jei ihnen alſo auch befannt gewejen, daß durch die Pfandbe— 
ſtellung die übrigen Gläubiger benachtheiligt werden. Aus allen 
dieſen Momenten kann aber nach den erwähnten, an das ge— 
meine Recht und die Preußiſche Rechtsſprechung anknüpfenden 
Aeußerungen der Motive noch kein die Anfechtung begründendes 
betrügliches Verhalten abgeleitet werden. 
Entſcheidung des Oberlandesgerichts (II. Civil-Senats) vom 30. De: 


zember 1880 in Saden Pfaff gegen Widmann'ſche Konkursver— 
waltung. 


8. Inwiefern ijt eine Berfhuldung des Dienjtherrn 
an der Verlegung eines jugendlichen Arbeiters 
darin zu finden, daß er denjelben troß jeiner 
Jugend zu einer gefährlihen Arbeit verwendet hat? 


Der 14jährige Andreas Häußler von Chrenftein verun- 
glückte als Dienftfnecht der Mar Röſch'ſchen Eheleute dafelbft 
am 24. Auguft 1880 bei dem Schneiden des Futters mitteljt 
der durch Göppel getriebenen Futterſchneidmaſchine in der Weile, 
dag ihm der rechte Arm vom Armgelenk dur die Mafchine 
abgefchnitten wurde. Herbeigeführt wurde der Unglüdzfall da- 
durch, daß Häußler, als das Gras zwifchen den Walzen der 
Mafchine ſtockte, mit der Hand nachzuhelfen fuchte und diejelbe 
zwiſchen die Walzen der Majchine brachte. Seine Entſchädi— 
gungsklage gründete der durch jeinen Vater vertretene Kläger 
auf die Behauptung, daß die Beklagten Die ihnen gegen den Kläger 
als Dienftboten obliegende Pflicht der Fürforge dadurd verlegt 
haben, daß fie den Kläger troß jeines jugendlichen Alters mit der 


— 382 — 


Arbeit an der Futterfchneidmafchine beauftragt haben. Hierüber 
befagen die Gründe des zweitrichterlichen Urtheild folgendes: 

Eine Berlegung der dem Dienſtherrn obliegenden Pflicht 
der Fürforge für feine Dienftboten kann im Allgemeinen in der 
Verwendung eines jugendlichen Arbeiters zu einer im Betriebe 
des betreffenden Geſchäfts vorfommenden Arbeit auch dann nit 
gefunden werden, wenn diejelbe Achtjamkfeit und Vorficht erfor: 
dert, und befanntermaßen fommen thatfächlich bei einer Reihe 
von Gewerben einzelne Arbeiten vor, welche Achtſamkeit und 
Borfiht erfordern, und von deren Bejorgung auch Lehrlinge 
und jüngere Gehilfen nicht ausgefchloffen werden können. Dieß 
ift in befonders hohem Grade der Fall bei der Arbeit in Fabri: 
fen, welche mit Mafchinen betrieben werden, und es find deß— 
halb bezüglich jolcher Arbeiten gefeglihe Vorſchriften zum Schutz 
der Arbeiter, und namentlich der jugendlichen Arbeiter gegeben. 

In diefer Beziehung enthält ſchon die Reichsgewerbe-Ord— 
nung in 8.107 die allgemeine Bejtimmung, daß der Gewerbe: 
unternehmer verpflichtet ift, die zu thunlichjter Sicherung der 
Arbeiter gegen Gefahr für Leben und Gefundheit erforderlichen 
Vorkehrungen herzuftellen !), und es ift weiter in dem Reichs: 
gejege vom 17. Juli 1878, betreffend die Abänderung der Ge: 
werbeordnung, zu $. 120 bejtimmt, daß die Gewerbeunternehmer 
verpflichtet find, bei der Beichäftigung von Arbeitern unter 
18 Sahren die durch das Alter derfelben gebotene bejondere 
Rüdfiht auf Gefundheit und Sittlichfeit zu nehmen. 

Der 8. 135 eod. beftimmt ferner, daß Kinder unter 
12 Jahren in Fabriken nicht beichäftigt werden dürfen, und 
e3 find für ältere Kinder bis zu 16 Jahren bejondere Beftim: 
mungen rücdfichtlic der Zeitdauer ihrer Beichäftigung gegeben 
($. 135. 136). In $. 139. a ift ſodann beftimmt, daß der 
Bundesrath die Verwendung von jugendlichen Arbeitern für ge: 
wilje Fabrifationgzweige, welche mit bejonderen Gefahren für 
Gejundheit und Sittlichfeit verbunden find, ganz unterfagen oder 
von gewiſſen Bedingungen abhängig machen fann ?). 


1) Reg. Bl. vom Sahr 1871 S. 287. 288. 349. 
2) Reichsgeſ.-Bl. v. Jahr 1878 ©, 199 f. 








— 383 — 


Nah der auf Grund diefer Beitimmung vom Bundesrath 
erlafjenen Befanntmahung vom 1. Mai 1879 dürfen Knaben 
unter 14 Jahren in Walz: und Hammerwerfen überhaupt 
nicht, in Glashütten nur mit eng der Schulauffichts- 
behörde beſchäftigt werden ®). 

Nach der weiteren Bekanntmachung vom 30. Juni 1879, 
betreffend die Beſchäftigung jugendlicher Arbeiter in Spinnereien, 
darf jugendlichen Arbeitern in Hechelfälen, jowie in Räumen, 
in welchen Reißwölfe im Betriebe find, eine Beihäftigung und 
der Aufenthalt nicht geftattet werden. Auch darf für junge 
Leute zwifhen 14 und 16 Jahren, welche ausfchließlich zur 
Hilfeleiftung bei dem Betriebe der Spinnmafchinen verwendet 
werden, die tägliche Arbeitszeit 11 Stunden nicht überjchreiten *). 

Dieſen Beitimmungen zufolge ift die Beichäftigung von 
jugendlichen Arbeitern, welche das 14. Lebensjahr zurücgelegt 
haben, in Fabrifen regelmäßig nicht verboten, vielmehr ergibt 
fi) gerade aus der Ausfchließung ihrer Verwendung nur bezüg- 
lih einzelner Gejchäftsbetriebe, daß deren Verwendung bezüglich 
anderer Gejchäfte in Fabrifen im Allgemeinen nicht als unzu— 
läffig anzujehen ift. 

Hieraus kann zwar nicht gefolgert werden, daß den Dienft- 
bern überhaupt Fein Verſchulden trifft, wenn er einen jugend- 
lichen Arbeiter zu einer andern als zu den gefeglich verbotenen 
Arbeiten verwendet, wohl aber darf hieraus entnommen werben, 
daß regelmäßig in der Uebertragung einer Arbeit an einen 
jugendlichen Arbeiter, auch wenn diefelbe Vorfiht und Achtſam— 
feit erfordert, ein Verſchulden des Arbeitgebers noch nicht liegt. 

Dieß ift auch vom Neichsoberhandelsgericht in einer Ent: 
ſcheidung anerkannt worden, worin ausgefprochen wurde, daß 
die Anjtellung eines 15jährigen Mädchens an einer Kratzmaſchine 
an ſich nicht als ein Verſchulden anzujehen fei ’). 

Diefer Grundfag muß in gleiher Weije bezüglich der Be— 
Ihäftigung eines jugendlichen Arbeiter in einer Fabrik, wie an 


3) Neg.- Bl. v. Sahr 1873 ©. 99 f. 
4) Reg.-Bl. v. Jahr 1879 ©. 131. 
5) Vgl. Eger, Haftpflichtgeieß, II. Aufl. ©. 251— 254. 


— 354 — 


einer landwirthichaftlihen Mafchine als zutreffend angelehen 
werden. 

Es iſt daher ſtets nach den fonfreten Umjtänden im ein: 
zelnen Fall zu beurtheilen, ob die Uebertragung einer mit Ge: 
fahr verbundenen Arbeit eine Verſchuldung des Arbeitgebers 
enthält, und es fommt hiebei als bejonders erheblicher Umſtand 
in Betracht, ob die mit dem Gejchäfte verbundene Gefahr eine 
offenfichtliche und auch für den jugendlichen Arbeiter erfennbare 
und begreifliche ift,. ob ferner der Arbeiter über die richtige 
Handhabung der Mafchine gehörig unterrichtet worden ift, und 
ob demnad der Arbeitgeber annehmen Eonnte, daß der Arbeiter 
bei Anwendung der erforderlichen ihm obliegenden und zuzu— 
trauenden Borficht die Arbeit ohne Schaden vorzunehmen im 
Stande Set. 

Für den vorliegenden Fall wurde im weiteren Verlauf der 
Entfeheidungsgründe eine Verſchuldung des Dienftheren aus dem 
Grunde verneint, weil die Futterfchneidmafchine eine bejondere 
Vorrichtung (ſogen. Abjteller) hatte, vermöge deren, ohne daß 
im MUebrigen der Gang der Mafchine und der Umtrieb der 
Pferde am Göppel einzuftellen gewefen wäre, mitteljt Zurück— 
drehens eines Rads oder eines Schlag mit der Hand die 
Walzen rückwärts bewegt und von dem fich in denfelben jtauen: 
den Futter entleert werden fonnten. Durch dieſe Vorrichtung 
war der Verſuchung des Arbeiters, im Falle der Stauung des 
Futters in den Walzen mit den Händen nachzuhelfen — und 
eben bei ſolchem Nachhelfen war die Verlegung entjtanden — 
vorgebeugt. In der Handhabung diefer Vorrichtung war der 
Kläger unterrichtet und angeleitet worden, fie überjtieg nicht 
das Maß der demfelben zuzutrauenden Kraft und Gejchiclichkeit; 
in der unterlafjenen Benügung der Vorrichtung wurde daher 
eine Eelbjtverichuldung des Klägers an dem Unglüdsfalle_ ge: 
funden und Kläger mit feiner lage abgewiefen. 

Erkenntniß des Oberlandesgerichts (11. Givil-Senats) vom 7. April 
1881 in Sachen Häußler gegen Nöich’iche Eheleute. 





— 35 — 
9. Haftung des Fiskus ala Eifenbahntransport- 
unternehmers für die Berfhuldung feiner Beam: 
ten. Haftung außerhalb des Reichshaftpflichtge— 
jeße?. Umfang der Haftung aus dem durch Löſung 
eines Fahrbillets geſchloſſenen Transportvertrag. 


Im Sommer 1878 ließ die württembergifche Eifenbahn: 
direftion im Bahnhof zu Stuttgart Gypſer- und Anftricharbeiten 
durch einen Zimmermaler im Akkord ausführen, wobei fie jich die 
Beauflihtigung diefer Arbeiten vorbehielt. Am 19. Auguft 1878 
Mittags gegen halb zwei Uhr ftürzte ein in dem Gang zwijchen 
den Wartfälen befindliches Gypjergerüft, während es abgenom= 
men wurde, ein und traf die Ehefrau des Ernſt Kölz fo, daß 
jie einen Bruch des rechten Oberjchenfels erlitt. Die Kölz'ſche 
Ehefrau Hatte ein Fahrbillet von Stuttgart nah Schweifheim 
für fih und ihren fehsjährigen Sohn gelöst und war eben im 
Begriff, mit diefem ihrem Sohn den Wartfaal III. Klafje zu, 
betreten, um den 1 Uhr 50 Minuten abgehenden Zug zu er: 
warten. Man hatte zum Abſchlagen des fraglichen Gerüjtes die 
Zeit nad) 1 Uhr gewählt, weil da der Verfonenverkehr auf dem 
Bahnhof ein geringerer it. 

Die Beichädigte erhob Entſchädigungsklage gegen die Eiſen— 
bahndireftion; die leßtere wurde in zwei Inſtanzen verurtheilt. 
Die Gründe zu dem Urtheil zweiter Inſtanz befagen: 

Der Klaganſpruch vermag auf den $. 1 des NeichShaft- 
pflichtgejeßes vom 7. Juni 1871 nicht geftügt zu werden, da die 
von der Klägerin erlittene körperliche Verlegung, welche in der 
zu den Wartjälen führenden mittleren Halle des Bahnhofgebäudes 
durch den Einfturz eines behufs der Bornahme von Anjtricharbeiten 
errichteten Gerüftes eingetreten ift, nit als im Betrieb 
der Eifenbahn erfolgt betrachtet werden fann. Nach der Aus- 
legung und Anwendung, welche der erwähnte $. 1 in der Necht3- 
jprechung des Neichsgerichtes gefunden hat, gehört zu den Un— 
fällen im Sinne jener Gejeßesbejtimmung nicht nur der bei der 
Ausführung des Betriebs, bei der Beförderung von Menjchen und 
- Gütern, eingetretene, fondern auch derjenige Unfall, welcher jich bei 
der unmittelbaren Vorbereitung hiezu ereignet hat, vorausgejeßt, 


— s86 — 





daß ein Zuſammenhang des Unfalls mit der dem Eiſenbahnbetrieb 
eigenthümlichen Gefährlichkeit ſich als möglich darftellt ). 
Dagegen iſt die Einweiſung und der Eintritt der Reiſenden 
in die Wartſäle und die Zugänge zu denſelben weder zu der Aus— 
führung noch zu den unmittelbaren Vorbereitungshandlungen des 
Betriebs der Eiſenbahn zu rechnen, wie denn auch die Beſchädigung 
der Klägerin in ganz gleicher Weiſe auch in anderen Etabliſſe— 
ments und bei anderen Transportgewerben vorkommen konnte. 
Wohl aber wird der Klaganſpruch auf Erſtattung des von 
der Klägerin geltend gemachten Intereſſes durch das von ihr 
mit der Beklagten begründete Vertragsverhältniß gerechtfertigt. 
Vermöge der Abgabe des Fahrbillets gegen Bezah— 
lung des Preiſes desjelben verfpricht die Eifenbahn, den Inhaber 
dem Inhalt der Urkunde und den Fahrplänen entjprechend zu 
befördern. Zufolge der Löfung des Fahrbillets erlangt aber 
der Neifende weiter nicht nur die Befugniß, die Bahnboflofali- 
täten, welche zur Aufnahme der anfommenden und abgehenden 
Pafjagiere beftimmt find, bis zu der Ablafjung des betreffenden 
Perfonenzuges zu benügen, jondern er ift jogar durch die Regu— 
lative der Eifenbahn felbft genöthigt und verpflichtet, fich jener 
Räumlichkeiten und-der Zugänge zu denfelben zu bedienen, durd 
fie hindurch zu gehen und ſich in denfelben aufzuhalten, auch ift 
ihm unterfagt, fi auf andere Weife zu den Perrons und den 
zur Beförderung bereitftehenden Waggons zu begeben. Hieraus 
ergibt fih für den Betriebsunternehmer die Verpflichtung, die 
erwähnten Räume in einem Zuftand, welcher den Durchwandel 
und den Aufenthalt der Reifenden ohne Gefahr für dieſe ge 
ftattet, zu erhalten, ebenfo aber auch die erforderlichen Repa— 
raturen in einer Weife vollführen zu lafjen, welche mit feiner 
Gefährdung jener Perfonen verbunden und jedenfalls geeignet 
ift, die Möglichkeit einer folhen nah Thunlichfeit abzumenden. 
Der ihr in diefer Beziehung obliegenden Verpflichtung ift 
die Bellagte im vorliegenden Falle nicht nachgefommen. (Es 
folgt Ausführung darüber, daß dur Abſperrung des Platzes, 


1) gl. Entſch. d. RO.H.Gr. Bd. 21 ©. 284. Bd. 24 ©. 277, 
Seuffert, Arch. B. 34. Nro. 215. Entih d. R.-Gr. i. Cip.-Sachen 
2.16.53. B. IL S. 8. 


he. Ser 


Ser 


— 387 — 


wo das Gerüft fich befand und Ueberleitung des Publikums un- 
mittelbar auf den Berron der Einjteighallen, oder durch Ein- 
weifung der Neifenden III. Klafje in die herwärts von den Ge— 
rüften befindlihen Wartfäle II. Klaffe der durch das Abjchlagen 
des Gerüftes für das darunter wandelnde Publikum begründeten- 
Gefahr hätte vorgebeugt werden können und jollen, und daß die 
Aufficht führenden Beamten der Beklagten, welche, wie auch aus 
der Verlegung der Gerüftentfernung auf die Stunden des ge- 
ringften PBerfonenverfehrs hervorgehe, der Gefährlichkeit der Ar- 
beit fich bewußt geweſen, injofern an dem eingetretenen Unfall 
eine Berjchuldung treffe. Dann wird fortgefahren:) 

Auf Grund der angeführten Thatfahen ift die Klägerin, 
welche fich den bejtehenden Vorſchriften gemäß verhalten hat und 
gegen melde der Vorwurf eigenen Verſchuldens nicht erhoben ift, 
für berechtigt zu erachten, von der Beklagten als der Vertreterin 
des Fiskus als Betriebsunternehmers denjenigen Schaden erjeßt 
zu verlangen, welcher ihr durch den Unfall vom 19. Auguft 1878 
zugegangen ift. 

Da nemlih die unverfehrte Aufnahme der zum Eintritt 
berechtigten Perſonen in die diefen zur Benüßung angemiejenen 
Bahnhoflofalitäten einen Theil der von der Eifenbahnvermaltung 
übernommenen Verbindlichkeiten bildet, jo ift die leßtere, wenn 
ihre Organe, wie dieß in der vorliegenden Sache der Fall ift, 
eine Verſchuldung an der Verlegung einer Perſon in jenen. 
Räumen trifft, der ihr obliegenden Verpflichtung nicht nachge- 
fommen. Die Eifenbahnverwaltung ift daher für die Nichter- 
füllung ihrer Obliegenheit verantwortlih und zufolge defjen dem 
Beſchädigten nad allgemeinen Grundſätzen zum Erfaß des In— 
tereſſes verpflichtet, welches nach den Umftänden des Falles für 
die Klägerin in der Erftattung des ihr durch den in der Bahn 
bofhalle erlittenen Unfall zugegangenen Schadens bejteht. 

Dieje Haftung der Eifenbahnverwaltung für das fchuldhafte 
Verhalten ihrer Beamten findet ihre rechtliche Begründung in der 
Erwägung, daß der gewerbsmäßige Betrieb der für den Trans: 
port von Perfonen beftimmten Anftalten, wern auch von der Anz 
wendung des 5. Titels des IV. Buches des Handelsgeſetzbuchs 
(„Bon dem Frachtgefhäft”) ausgefchloffen, doch ala ſubjektives 





— 388 — 


Handelsgefchäft den übrigen Bejtimmungen des Handelsgejeßbuds 
unterworfen ijt?), im Gebiete des Handelsrecht3 aber der Grund: 
jaß feititeht, daß der Prinzipal, ſomit zutreffenden Falls aud 
der Fiskus, für die Handlungen feiner Vertreter und Bevoll- 
mächtigten in Kontraftsverhältniffen haftbar ift und daher für 
den Schaden einzuftehen hat, welcher von diefen dem Kontra: 
henten des Prinzipals zugefügt worden ijt?). 

Grfenntniß des Oberlandesgerichts (I. Sivil-Senats) vom 11. Dezember 

1880 in Sachen Gijenbahndirektion gegen Kölz. 

Die gegen dieſes Urtheil eingelegte Revifion wurde von 
dem Reichsgerichte durch Urtheil vom. 22. April 1881 folgender: 
maßen zurücgemiefen. 

Das Berufungsgeriht hat nicht, wie bei Begründung der 
Revifion bemerkt wurde, die Beklagte für das Verſchulden eines 
Dritten verantwortlih gemacht, vielmehr, indem es annahm, 
eine von der Beklagten übernommene fontraftliche Verpflichtung 
jei nicht erfüllt worden, wegen des hierin zu findenden eignen 
Verſchuldens der Beklagten deren Erfagpfliht ausgeſprochen. 
Daß dur die Abgabe des Fahrbillets ein Vertragsverhältnik 
begründet wird, das den Betriebsunternehmer auch dazu ver: 
pflichtet, die dem Billetabnehmer angewiefenen Räume in einem 
den Durchwandel ohne Gefahr geftattenden Zuftand zu erhalten, 
ijt nicht zu bezweifeln, und es fann auch keineswegs für un: 
richtig erachtet werden, daß angenommen worden ijt, Die Be 
Eagte jei demgemäß verpflichtet geweſen, die fragliche Reparatur 
in einer Weiſe vornehmen zu lafjen, welche mit feiner Gefährdung 
der Reiſenden verbunden und geeignet war, die Möglichkeit einer 
ſolchen nah Thunlichfeit abzumenden. Wenn aber weiter ange: 
nommen worden ift, diefe der Beklagten obgelegene Verpflichtung 
jei durch Verfchulden ihrer Organe nicht erfüllt worden und der 
Unfall hätte fih, wenn dieß gefchehen wäre, nicht ereignet, jo 
fann auc Hierin eine Gefegesverlegung nicht gefunden werden, 





9) —— der deutſche Frachtvertrag S. 26 II f. 

3) Thöl, HN. 8. 86. a. E.; Löning, die Haftung des Staats 
S. 67—T1. ©. 83. 84, 56. Mackower, en 5. Aufl. ©. 82; Bu: 
belt, HR. 2. Aufl. * 207; Entſch. d. R.O.H.G. B. 6. ©. 411. 
B. 8. ©. 206. B. 18. ©. 136; Koch, Recht d. Forderungen, IL ©: 554. 





— 389 — 


Daß es thunlich war, den Raum, wo das Gerüjt ſich befand, 
abzufperren und die PBafjagiere direft auf den Perron überzu— 
leiten, beziehungsmweije in den Wartfaal II. Klafje zu verweifen, 
iſt thatfächlich feſtgeſtellt. Hievon ausgehend, hat die Vorinſtanz 
mit Recht angenommen, daß die Beamten der Bellagten ver: 
ſäumt haben, dasjenige vorzufehren, was geeignet war, die mit 
der Abnahme des Gerüſts verbundene Gefahr zu befeitigen. 
Wenn ein Berfehulden diefer Beamten ferner darin gefunden 
wird, daß fie die gehörige Beauffichtigung und Ueberwachung 
der Abrüftung verfäumt haben, jo fann auch) dieß um fo weniger 
für rechtsirrthümlich erachtet werden, als, wie von der Vorinjtanz 
hervorgehoben worden ift, die Beklagte in dem mit dem Akkor— 
danten gejchlofjenen Vertrag ſich die Aufficht über die von diefem 
auszuführenden Arbeiten vorbehalten hat. 

Hiernach war, da ein NechtsirrthHum nirgend erfichtlich, die 
Reviſion als unbegründet koſtenfällig zurückzuweiſen. 


10. Vertrag zu Gunſten eines Dritten. Liegenſchafts— 
geſetz: Benennung der Kontrahenten und des Kauf— 
preiſes. 


Chriſtian Weippert von Eckartsweiler verkaufte am 15. Mai 
1876 an ſeine Tochter Chriſtiane Weippert und deren Bräuti— 
gam Wilhelm Föll ſeine auf der Markung Eckartsweiler gelegene 
Liegenſchaft, darunter das Haus Parz. Nr. 12 ſammt Scheuer 
und Hofraum. Der $. 4 dieſes Kaufvertrags beſagt: „wird 
den Käufern in dem Nebenhaus Nr. 12a, welches Weippert 
für fi als alleiniges Eigenthum vorbehält, dag Mitbenügungs- 
recht im Waſch-, Bad- und Brennhaus gleich dem Eigenthümer 
gejtattet und fällt das vorbenannte Haug nad Ab— 
leben des Weippert an den jeweiligen Befiger von 
Haus Nr. 12 um den gemeinderäthliden Anichlag 
zurüd.” Das von dem Verkäufer vorbehaltene Nebenhaus ift 
an die Scheuer des verfauften Haufes angebaut und von dem 
an Föll verkauften Hofraum volljtändig umgeben, ohne einen 
eigenen Hofraum zu haben. 

Es ift diefer Kaufvertrag dem Liegenſchaftsgeſetze ent- 
iprechend ausgefertigt, von dem ©emeinderathe betätigt umd 

Württemb. Archiv für Recht ꝛc XXI. Br. 2. u. 3. Heft. 26 


— 3% — 


von den Kontrahenten vollzogen worden. Als jedoch von Wil: 
beim Föll am 25. Auguft 1879 das erfaufte Anmejen weiter 
an einen Friedrich Greiner veräußert und die von Föll mit der 
Tochter des Weippert gejchlojjene Che am 1. April 1880 ge 
fhieden worden war, fand fi Chriſtian Weippert veranlaßt, 
gegen den neuen Befiter des Anwefens, Friedrich Greiner, Klage 
auf Anerkennung der Nichteriftenz des früher bedungenen Kaufs- 
rechts zu erheben mit dem Gefuche: „Beflagter habe anzuerkennen, 
daß die Beitimmung des Kaufvertrag vom 15. Mai 1876 $.4 
nicht zu Recht beitehe und ihm und feinen Befignachfolgern auf 
Haus Nr. 12 fein Anſpruch zuftehe, das Haus Nr. 12a nad) 
dem Ableben de3 Kläger um den gemeinderäthlichen Anfchlag 
zu verlangen.” Er begründete die Ungültigfeit diefer Vertrags: 
bejtimmung darauf, daß diejelbe als Vertrag zu Gunjten eines 
Dritten erfcheine, eine Nechtsanficht aber, wonach ſolche Verträge 
allgemein für den dritten Nichtlontrahenten als vechtserzeugend 
anzufehen wären, ſich nicht rechtfertigen lafje; überdem entſpreche 
die fraglide Beltimmung als präparatorifcher Kaufvertrag den 
Anforderungen des Liegenſchaftsgeſetzes nicht, injofern weder der 
Kaufpreis, um welchen das Haus Nr. 12a zurüdfallen folk, 
in einer bejtimmten Summe ausgedrüdt, noch die Namen der 
künftigen Kontrahenten, welche fich zur Zeit gar nicht beftimmen 
laſſen, benannt feien. 

Die Klage wurde jedoch in zwei Inſtanzen abgewiejen, in 
zweiter Inſtanz mit folgender Begründung: 

Nach dem 8.4 des Kaufvertrags vom 15. Mai 1876 zroifchen 
dem Kläger und feiner Ehefrau einer: und dem Wilh. Fol und 
feiner Braut, der Tochter des Klägers, andererfeits ſoll das Haus 
Nr. 12a in Edartsweiler an den jeweiligen Befiger des Haufes 
Nr. 12 daſelbſt nach dem Ableben der Weippert’fchen Eheleute um 
den gemeinderäthlichen Anfchlag zurücfallen. Es ift hiedurd ein 
dingliches Necht für den jeweiligen Befiger des Haufes Nr. 12 
nicht begründet worden, auch gibt das Parteivorbringen der Unter: 
jtellung nicht Raum, daß die Begründung eines folchen beab: 
fichtigt gewefen fei. Wohl aber hat der Kläger durch jene Be 
jtimmung auf feine dereinftigen Erben die Verpflichtung über: 
nommen, nach jeinem Ableben das Haus Nr. 12a dem jeweiligen 








— 391 — 


Befiger des Haufes Nr. 12 um den gemeinderäthlichen Anſchlag 
zu überlaffen. Und fomweit hiedurch ein Recht des jeweiligen Be— 
figerd von Nr. 12 gegen den Kläger, jpäter gegen feine Erben, 
begründet werden fonnte, ijt der Beklagte, nachdem er das Haus 
Nr. 12 mit dem Hofgut von dem Mitkontrahenten des Klägers er: 
worben hat, diejes Recht geltend zu machen, legitimirt. Die Bes 
ftimmung de3 8. 4 des Kaufvertrag vom 15. Mai 1876 war, 
wenn der Verkäufer jih das Haus Nr. 12a zu Eigenthum vorbe- 
halten, nicht aber folches, unter Vorbehalt des Wohnungsrechts, 
mit dem übrigen Hofgut veräußern wollte, eine durch die Umftände 
beinahe unabweiglich gebotene, da fo, wie das Haus Nr. 12a be— 
Tchaffen und gelegen ift, dasjelbe nicht füglih auf die Dauer 
von einem andern Eigenthümer, als das Haus Nr. 12 bejefjen 
werden fann, worüber auf das im Thatbeitand angeführte un- 
bejtrittene Sachverhältniß, jowie auf die in dem 8. 4 enthaltene 
weitere Bejtimmung über die gemeinfchaftliche Benügung des in 
dem Haufe Nr. 12a befindlichen Waſch-, Bad- und Brennhaufes 
Bezug genommen werden Fann. 

Hienah war es jehr nahe gelegen, für den Zeitpunkt des 
Todes des BVerfäufers, bis zu welchem ZBeitpunft das Haus 
Nr. 12a vorbehalten werden wollte, Vorkehr dafür zu treffen, 
daß dasfelbe in den Befit des Gutsfäufers oder feines Befiß- 
nachfolgers gelange, und es war diefe Vorkehr im Intereſſe beider 
Kontrahenten gleichmäßig geboten, da das Haus Nr. 12a für 
den Befiser des Haufes Nr. 12 einen erheblich höheren Werth, 
als für die Erben des Verkäufers haben, vielmehr für einen 
Dritten faum brauchbar jein würde Wollten aber die Kontra: 
henten für den jeweiligen Befiger des Haufes Nr. 12 die 
Erwerbung des Haufes Nr. 12a zum gedachten Zeitpunkt ficher 
ftellen, jo war es wohl der natürlichere und zwedentiprechendere 
Meg, wenn dem jeweiligen Beliger des Haufes Nr. 12 ein 
direkter und von der Dazwiſchenkunft des Beligvorgängers unab- 
hängiger Anfpruh auf jene Erwerbung unmittelbar gegen die 
Erben des Verkäufers eingeräumt wurde. Es tjt demnach nicht 
zu bezweifeln, daß durch die Beitimmung des 8. 4 nad) dem 
Dertragswillen der Kontrahenten ein unmittelbarer Anſpruch 
gegen die Erben des Verfäufers für denjenigen, welder zur 

26 * 





— 392 — 


Zeit des Todes des Weippert Beliter des Haufes Nr. 12 fein 
würde, hat begründet werden wollen, und es hat’ dieſe Abiicht 
der Kontrahenten auch in der Faſſung des $. 9: verb. „fällt 
das vorbenannte Haus 2c. an den jeweiligen Beliger von Haus 
Kr. 12 2. zurüd”, einen prägnanten Ausdrud gefunden. 

St aber dies der Fall, jo waltet, zunächit abgejehen 
von den Vorjchriften des Gefeges vom 23. Juni 1853 betreffend 
‚die Befeitigung der bei Liegenjchaftsveräußerungen vorkommenden 
Mißbräuche, gegen die Möglichkeit der Begründung des be: 
zeichneten Rechtsanſpruchs zu Gunften der Singularnachfolger 
des Käufers nach den in der Doktrin und Praxis zur Geltung 
gelangten Grundfägen ein rechtliches Hinderniß nit ob !). 

Vielmehr hat der Beklagte, nachdem eine Abänderung 
der bezüglichen Beftimmung des Vertrags vom 15. Mai 1876 
zwifchen den Kontrahenten nicht ftattgefunden und er das Haus 
No. 12 durch Kauf von 2c. Föll erworben hat, al$ der nun: 
mehrige Beſitzer desjelben den durch jene Vertragsbeftimmung 
begründeten Nechtsanfpruh als einen bis zum Ableben des 
Meippert befrijteten und in feiner Berfon duch die Fortdauer 
jeiner Eigenfchaft als Befiger des Haufes Nr. 12 bedingten zu 
Recht erworben. Hiemit widerlegt fich der Einwand des Klägers, 
daß zur Zeit noch ungewiß jei, ob der Beklagte in die Lage 
fommen werde, von der dem Beliger des Haufes Nr. 12 ein: 
geräumten Befugniß dereinit Gebrauch zu machen; denn es 
handelt fih für den Beklagten um ein bedingtes Recht und be 
dingte Rechte Haben Anspruch auf denjenigen Rechtsſchutz, welcher 
ihnen nad) Maßgabe der Bedingung gewährt werden Fann. 
Auch die weitere Einwendung, daß Verträge zu Gunſten Dritter 
nur innerhalb des Gebiet3 gewiſſer Nechtsverhältnifie, 3. 2. 
Lebensverficherungen und andere, als wirkſam anerkannt jeien ?), 
vermochte man als im vorliegenden Falle durchgreifend nicht zu 


1) Windicheid, Band. 5. Aufl. SS. 316. 316 a. insbejondere 
©. 215—219. Stobbe, deutſches Priv.-Recht II. $. 172. ©. 120. Nro. 6. 
©. 125. I Württ. Ardiv Bd. XII. ©. 450—458, XIX. ©. 59—W. 
Entjcheid. des Reichsoberhandelsgerichts Bd. AXL ©, 233|4, B. XXX. 
S. 163. - 

2) Zu vgl, Stobbe, 1. o. S. 114, 119. 111125, 


— Be 3 il hr 
BEREITS Ed: 
® — Ze 
ei 


— 393 — 


eradhten, da, wenn Berträge zu Gunften Dritter bezüglich der 
gedachten, unter fich verfchiedenartigen Rechtsverhältniffe als wirk— 
ſam anerkannt find, dieſer Erfolg nicht in fpeziellen nur jene 
Rechtsverhältniſſe betreffenden Momenten, jondern in einem all: 
gemeinen Prinzip beruht, welches der Ausdehnung auf noch 
andere Rechtsverhältniſſe fähig it und ihr wohl auch nicht ent: 
gehen wird ?). 

Auch das Gejeg vom 23. Juni 1858 fteht dem Anſpruch 
des DBeklägten nicht entgegen. Zwar handelt es fih, wenn — 
wovon nad) dem Wortlaut und Sinn des $. 4 und nad den 
Vorbringen des Kläger auszugehen iſt — durch den $. 4 des 
Vertrags vom 15. Mai 1876 nur ein Necht des jeweiligen Bes 
figers des Haufes Nr. 12 auf Erwerbung des Haufes Nr. 12a 
begründet werden wollte, nicht um einen Kaufvertrag, jondern 
um einen Vertrag über den Fünftigen Abjchluß eines Kaufver: 

trags, und ed mögen die vechtspolizeilichen Erwägungen, welche 
zu dem Geſetze von 23. Juni 1853 geführt haben, es mit ſich 
bringen, daß die Formvorſchriften diefes Gefeges über den Ab: 
Ihluß von Kaufverträgen über Liegenschaften auch auf Verträge 
über den künftigen Abſchluß ſolcher Kaufverträge anzuwenden 
find. Es ift jedoch den bezüglichen Vorſchriften durch den Ver: 
trag vom 15. Mai 1876 genügt. Denn es find die Namen 
der Kontrahenten, als welche auch bezüglich der Stipulation zu 
Gunſten eines Dritten nur der Verkäufer und der Käufer zu 
erachten find, namentlich genannt und es ijt durch die Bezug: 
nahme auf den dereinst feitzufegenden gemeinderäthlichen Anjchlag 
der Kauffchilling bezeichnet. (Art. 2 lit. a. c.) 

Was insbejondere die Angabe des Kaufſchillings betrifft, 
jo fann die lit. ce des Art. 2 nicht jo verjtanden werden, als 
ob unter allen Umftänden der Kaufſchilling in einer beftimmten 
Sunme angegeben jein müßte, vielmehr bietet, da nad den 
Civilreht ein Kaufvertrag wirkfam zu dem dur das Ermefjen 
eines Dritten zu bejtimmenden Preiſe abgejchlojjen werden Tann 9), 


3) Stobbe, l.ce. ©. 125. II. Seuffert, Ardhiv Bd. XXXV. 
Nro. 280. 
4) Windicheid, Pand. $. 254. bei Anm. 4. 8. 386. bei Anm. 5. 





— 314 — 


das ohnehin ftreng auszulegende Gejeg vom 23. Juni 1853 
feinen Raum für die Annahme, daß diefe Regel des Civilrechts 
für Kaufverträge über Liegenfhaften habe ausgefchloffen werden 
wollen. Und ebenſowenig fann die Vorſchrift des Art. 3 in 
Verbindung mit Art. 2 lit. a dagegen geltend gemacht werben, 
daß ein in der Bertragsurfunde nicht namentlich genannter, 
fondern auf Grund des dajelbjt bezeichneten Rechtsverhältnifjes 
erjt künftig zu individualifirender Dritter Rechte aus dem fchrift: 
lich abgeſchloſſenen Kaufvertrage zwiſchen den Kontrahenten ſoll 

erwerben dürfen, da das Geſetz vom 23. Juni 1853 die 
civilrechtlichen Rechtsſätze über Verträge zu Gunſten Dritter nicht 
berührt, ſondern neben jenen beſtehen kann, und ſowohl der 
Wortlaut des Art. 3, wie die denſelben beherrſchenden Motive 
ganz andere Verhältniſſe als das vorliegende, im Auge haben ꝰ). 


Grfenntniß de3 Oberlandesgerichts (II. Civil-Senat3) vom 3. Februar 
1881 in Sachen Weippert gegen Greiner. 


11. Klageänderung bei dingliden Klagen. Sit eine 
jolde in der Geltendmahung eines neuen Erwerbs: 
grundes zu finden? " 


Als das Haus des Klägers vor 16 Jahren von einem 
Beſitzvorfahren desſelben erbaut wurde, fand eine Ueberſchreitung 
der gegen das Beſitzthum des Bell. vermarkten Grenze injoferne 
jtatt, al3 die Fußmauer jenes Hauſes 4 cm. und das Funda— 
mentgemäuer 14 cm. über die Grenze in den Grund und 
Boden des Beklagten hineingebaut wurde, während fich die obere 
Umfaffungswand Ddiesjeit3 der Grenze hält. In neuejter Zeit 
führte der Bellagte auf der Grenze feinerjeit3 ein Baumejen 
auf, weldes er auf die vorfpringenden Theile der Fußmauer 
und des Fundamentgemäuers des dem Kläger gehörigen Haufes 
aufjtügte. Hieduch wurde der Kläger zu Erhebung der nega- 
toriihen Klage veranlagt, indem er geltend machte, daß ihm an 
den Vorfprüngen der Grundmauer wie an der von derjelben 
überdedten Grundflähe des Eigenthumsrecht zuftehe. Er ftügte 


5) Verh. der Kammer der Abgeordneten, 185153. I. Beil. Bd. 1. 
Abthlg. S. 800. 972 973. 





. u ——— 
— BO — 


in erſter Inſtanz dieſes Eigenthumsrecht darauf, daß die Vor— 
ſprünge die durch die Vermarkung bezeichnete Grenze zwiſchen 
einem Beſitzthum und demjenigen des Beklagten nicht überſchreiten. 
Als ſich dieſes aber im Verlauf der Verhandlungen erſter In— 
ſtanz als ein Irrthum herausgeſtellt hatte und der Kläger 
durch das erſtrichterliche Urtheil mit ſeiner Klage abgewieſen 
worden war, gründete er in zweiter Inſtanz ſein Eigenthums— 
recht auf die Erſitzung, ſowie auf den Rechtstitel des Art. 72 
der Bauordnung vom 6. Oktober 1872. 

Die hiegegen zunächſt erhobene Einwendung der Klage— 
änderung wurde in dem Urtheile des Oberlandesgerichtes nicht 
für begründet erfunden und diesfalls ausgeführt: 

Die Abweichung des Klagvorbringens dieſer Inſtanz von dem 
der vorigen beſteht nicht, wie Beklagter annimmt, in der Inan— 
ſpruchnahme einer der früheren verſchiedene Grundfläche, ſondern 
darin, daß das Eigenthum der von den bezeichneten Vorſprüngen 
eingenommenen Grundfläche, ſtatt ſchlechthin durch die Berufung 
auf die Vermarkung, nunmehr durch Erſitzung und die Beſtim— 
mungen der Bauordnung begründet wird. Hierin liegt Feine un— 
zuläjfige Klageänderung. Denn der Grund der angeftellten Ne: 
gatorienklage, das Eigenthum an der von den bezeichneten Bor: 
jprüngen eingenommenen Grundfläde, ijt auch in der zweiten 
Inſtanz feitgehalten worden, und es bezieht fich die getroffene 
Aenderung nur auf die Art der Begründung diefes Eigenthums. 
Nun ſchließt aber bei der Einflagung dinglicher Rechte die Aen— 
derung des geltend gemachten Ermwerbögrunds die Identität der 
Klage niht aus!) und die von diefer Negel für den Fall, 
daß die Klage auf einen beſtimmten Erwerbsgrund (causa ex- 
pressa) befchränft worden ift, gemachte Ausnahme greift in vorlie- 
gendem Prozeſſe nicht Plat, weil der Eigenthumsanſpruch auf die 
fraglihe Fläche in der vorigen Inſtanz ohne Beichränfung auf 
einen bejtimmten Erwerbsgrund ſchlechthin mit Berufung auf die 





1) L.11.8.1.2.5,L.14. 8.2. D. exe. rei jud. 44. 2. Zu vgl. 
Windſcheid, Pand. 1. $. 130 Note 7. Savigny, Syft. Bd. 6. ©. 514. 
Vangerow, Leitf. I. $. 173. Anm. Ziff. v.5. Wächter, mw. Priv. 
x. II. ©. 448. 





— 396 — 


vorhandene Vermarfung begründet worden ift. Die Einrede der 
Klagänderung war hienach zu verwerfen. 


Entiheidung des Oberlandesgerihts (II. Givil- Senat3) vom 30, 
November 1880 in Sachen Haag gegen Oettinger. 


12. In dem Eigenthbums=-Befige eines Haufe ift 
muthbmaßlid aud der Befiß der Grundfläde ent- 
halten. 


Sn dem Nechtsfalle, welcher der vorigen Nummer zu 
Grunde liegt, wurde der Wiufapionsbejig des Klägers in Ab— 
ficht auf die durch die Vorfprünge der Grundmauern überdedte 
Bodenflähe als nachgewiefen angefehen. Denn da ein Gebäude 
mit jeiner Baufläche ein Ganzes bildet, fo liegt in der Regel 
im Eigenthumsbeſitz des Gebäudes auch der feiner Grundfläche, 
und zwar erjtredt ſich der Beſitz an der letzteren foweit, als die 
Umfaffungswände des Haufes reichen. Da die in Frage jtehenden 
Vorſprünge einen Bejtandtheil der Umfaſſungswand und des 
Fundamentes des Haufes des Klägers bilden '), fo erjtredt fich 
der Beſitz des Letztern auch auf die von diefen Borfprüngen 
eingenommene Grundfläche. Insbeſondere hat der Erbauer diejes 
Haujes, indem er, wie in Ermanglung gegentheiliger Anhalts- 
punkte angenommen werden darf, mit Anbringung diejer Vor— 
jprünge die Eigenthumsgrenze ohne Kenntniß derfelben überjchritt, 
bieduch an der überbauten frenıden Grundfläche in gleicher 
Weife, wie an feinem eigenen Baugrunde, Beſitz ausgeübt und 
damit den Eigenthumsbefig diefer fremden Grundfläche erworben. 
Diejer Belig iſt ſodann in Folge Kaufvertrags auf den Beſitz— 
vorgänger des Klägers und von diefem zufolge weiteren Kaufes 
auf den Kläger übergegangen, wobei es nicht von Erheblichkeit 
ijt, wenn der Kläger und fein Befigvorgänger von dem Bejtehen 
des unter der Oberfläche Tiegenden Fundamentvorfprungs feine 
Kenntniß gehabt haben follten. Denn ihr Eigenthumsbejig hatte 


1) Anders würde es hienach ohne Zweifel anzujehen jein, wenn es 
fih um einen blos in den Luftraum des Grenznachbars hinausragenden 
Boriprung der Umfaffungswand (Erker) handeln würde. Hier wäre die 
Abſicht des Servitutenbefiges wohl näher liegend als die des Eigen 
thumsbeiiges (A. d. E.). 








— 397° — 


das Haus in feinem jeweiligen Beftande zum Gegenjtand, er: 
jtredte jich daher insbefondere auch auf deſſen gefamınte Grundfläche 
mit Einfluß des von diefem Fundamentvoriprung eingenom- 
menen Theils derfelben, ohne daß es darauf anfommt, ob Kläger 
und feine Befigvorfahren fich des Beftehens dieſes Vorſprungs 
bewußt waren. 


13. Verhältniß zwifhen GigentdHumsbenußung und 
Servitutenausübung. 


Der Kläger hat das alt verbriefte Servitutreht, das Ab: 
waſſer aus feinem Kellergebäude durch eine unter der Wiefe 
des Beklagten binlaufende Dohle abzuleiten. Unbeftrittenermaßen 
erjtreckt fich diefes Necht auch darauf, zum Zwed der Reinigung 
und Reparatur der Dohle, jo oft ein Bebürfnißfall eintritt, 
aufzugraben. Nun mar der Beklagte veranlaßt, um fich eine 
befiere Zufahrt für feinen eigenen an die Wiefe angrenzenden 
Keller zu verjchaffen, über die Wiefe und über die Dohle hin: 
weg in der Breite eines einlaifigen Weges und in der Höhe 
yon 5 Fuß eine Auffülung mit Erde zu machen. Wegen der 
hiedurch gegebenen Erjehwerung in der Aufgrabung der Dohle 
auf der Strede der Auffüllung erhob der Kläger Eonfejjorifche 
Klage auf Entfernung der Auffüllung, wurde aber mit diejer 
Klage in zwei Injtanzen abgemiejen. 

Die Gründe zu dem zweitrichterlichen Urtheil nehmen darauf 
Bezug, daß zwar dem Eigenthümer des dienenden Grundſtücks 
eine jolche Benüßung defjelben, welche die Ausübung der Dienft: 
barkeit beeinträchtige, nicht geftattet ſei !), die Anwendung diejes 
Satzes feße aber voraus, daß ſich im vorliegenden Falle das 
Servitutrecht des Klägerd auch darauf erftrede, daß das Erb: 
reich über der Dohle in dem urfprünglichen Höhebeitand belafjen 
werden müſſe, indem nur, wenn diejes der ‘Fall, in der Unter: 
nehmung des Beklagten ein Eingriff in das Necht des Klägers 
zu finden wäre. . Ueber einen jolden Umfang der Servitut 
geben die darüber vorhandenen Urkunden feinen Auffchluß; die 


1) L. 13. $. 1. D. d. serv. praed. rust. 8. 3. L. 9. pr. D. si serv. 
vind. 8.5. Landrecht II. 34. 8. 4. 





— 398 — R 


Thatſache, daß das Erdreich feither eine gewille Höhe nicht über: 
ftieg, jei für ſich allein für ein Verbietungsrecht des Klägers in 
Abjiht auf eine Erhöhung durch den Eigenthümer noch nicht 
beweifend; die Vermuthung aber, welche für die geringere Be- 
ſchränkung des Eigenthbums jpreche ?), und der Umftand, daß 
bei der Seltenheit der vorkommenden Aufgrabungen dem Vor— 
theile des Klägers eine unverhältnigmäßige Beläftigung des Be— 
klagten gegenüberftünde, jtehe dem Beweife entgegen, daß durch 
die Auffüllung dem Servitutrecht des Kläger eine Beeinträch- 
. tigung widerfahren fei. 

Erfenntniß des Oberlandesgeriht3 (I. Giv.- Sen.) bom 24, März 

1881 in Sachen Wiedenhöfer gegen Zeller. 


14. Generelle Berzihtserflärung In wiefern fön- 
nen Rechte, an welde bei der Berzihtserflärung 
niht gedacht worden, gleihwohl in dem Berzichte 
inbegriffen jein. Erbverziht, Namens eines 
Minderjährigen durd die Bormundfchaft erklärt. 
Dorausjegungen der Wiedereinjegung in den vo- 
rigen Stand gegen einen ſolchen Berzicht. 


Die Agnes B. in DVerbindung- mit der Pflegfhaft ihres 
unehelihen Kindes hatte im Jahre 1867 gegen den minder: 
jährigen Friedrich R. Klage auf Anerkennung der Vaterſchaft 
und Neihung von Alimenten, auch auf Erſatz von Tauf- und 
Kindbettfoften erhoben. Es wurde in diefer Sache auf einen 
über die Einrede mehrerer Zuhälter von der Klägerin zu 
jhmörenden Eid erfannt. Ehe dieſer Eid geleijtet wurde, nach— 
dem inzwifchen der Beklagte unter Zurüdlaffung feines in pfleg: 
Ichaftliher Verwaltung ftehenden Vermögens nach Amerika ge: 
zogen war, wurde der Prozeß durch einen nach feiner Gültig: 
teit nicht beftrittenen, feither vollzogenen Bergleih vom 15. Juni 
1867 erledigt. Die über denjelben aufgenommene Urkunde be- 
jagt unter Ziff. 1: „Aus der Friedrich R'ſchen Pflege wird an 
die —— des Kindes der Agnes B. eine Averſalſumme von 


2) L. 1. L. 3. S. 2. D. d. usufr. 7. 1. L. 13. 8. 1. infin. L. 23. 
in fin. serv. praed. ns 8. 3. L. 13. $. 1. D. comm. div. 10. 3, 


u ler Di 
Ri Er ef F ar 


— 399 — 


400 fl. längitens bis 1. Juli d. 9. entrichtet”. Ziff. 2: „Um 
diefe in Ziff. 1 genannte Summe erflärt ſich der Pfleger des 
Kindes und die Mutter dejjelben für alle und jede Anfprüche, 
die aus der unehelihen Schwängerung der Letztern und der 
Erzeugung des Kindes von Seiten des R. ‚abgeleitet werden 
könnten, für vollkommen abgefertigt, namentlich wird durch Ab— 
tragung der genannten Summe der natürliche Vater Friedrich R. 

“ von feiner Alimentenpfliht und von der ah der Tauf⸗ 
und Kindbettfoften befreit.” 

Friedrich R. ftarb in Amerika Schon am 31. Auguft 1867 
unvereheliht und ohne Hinterlaſſung von ehelichen Kindern. 
Das uneheliche Kind der B. ftarb im folgenden Jahre 1868. 
In Beziehung auf das im Lande zurückgelaſſene Vermögen des 
R. fam es aber zu einer DVertheilung an die Erben erſt im 
Jahre 1880, da erjt in diefem Jahre über den Tod des N. 
eine bemweifende Nachricht eintraf. Unter den Erben meldete fich 
auch die Agnes B., welche als Mutter und Erbin ihres im 
Jahr 1868 verjtorbenen Kindes das diefem an der Berlafien- 
ihaft des unehelihen Vaters gebührende Sechstel in Anſpruch 
nahm. Von den GSeitenverwandten des R. (den jetzigen Beklagten) 
wurde nicht bejtritten, daß die Agnes B. (jekige Klägerin) das 
Erbrecht ihres Kindes, falls diefem ein jolches zugefommen, 
durch das Recht - dev Berfendung erworben hätte. Es murde 
aber von denfelben die Baterfchaft des R., weil nämlich die 
Klägerin in der kritiſchen Zeit außer mit diefem noch mit an: 
dern Männern Umgang gehabt babe, beftritten, hauptfächlich 
aber und in erjter Linie die Einrede vorgeſchützt, daß der ein- 
geflagte Anſpruch durch den im Jahr 1867 abgejchlojjenen Ver: 
gleich bejeitigt worden jei. 

Das Zutreffen diefer Einrede wurde in dem Urtheile erjter 
Inſtanz verneint, in dem Elagabmeifenden Urtheile der zweiten 
Inſtanz Dagegen bejaht mit folgender Begründung: 

1) Ueber die. rechtlihe Beurtheilung derartiger Verzichts— 
erklärungen bejtehen verjchiedene Anfichten. Bon der einen Seite 
wird angenommen: eine Verzichtserflärung, bei welcher die auf: 
gegebenen Rechte nicht fpeziell genannt werden, fei inſoweit uns 
wirffam; auch wird gefordert, der Berzichtende müfje gewußt 





— 400 — 


und bei der Berzichtleiftung daran gedacht haben, daß ihm das 
aufzugebende Necht zulommen würde, Nach einer anderen Mei: 
nung fann auch auf unbefannte Rechte verzichtet werden, und 
wenn fich der Verzichtende unbejtimmter allgemeiner Ausdrücke 
bedient habe, fo jeien diefe im Zufammenhang mit dem ganzen 
Geſchäft in dem Sinn, den diefer gebe und nur bei Zweideu: 
tigfeiten im Zweifel jtrift auszulegen '). 

2) Bei der Würdigung des in Rede jtehenden im Ber: 
gleihswege abgegebenen DVerzichts fam Nachitehendes in Betracht. 
Der Wortlaut der erwähnten 3. 2 der Vergleichsurkunde, welcher 
bei Ermittlung des vermuthlichen Willens vor allem zu berüd- 
fihtigen ift, Tpricht unverfennbar für die Annahme eines aud 
dag etwaige Erbrecht umfafjenden Verzicht. Denn dem jpeziell 
ausgedrücten Berzichte auf die Forderungen von Alimenten jo: 
wie von Kindbett- und Tauffoften it ein allgemeiner Satz bei: 
gefügt, wonach alle und jede Anfprüche, die aus der unehelichen 
Schmwängerung und der Erzeugung des Kindes abgeleitet werden 
fönnten, für vollfommen abgefertigt erklärt werden. Bezieht 
man diefe allgemeinen Auzdrüde auf Alles, was fachlich be: 
trachtet unter den Wortlaut fällt, jo muß auch das Erbredt 
als befeitigt angefehen werden, denn diefes war in der That 
gerade derjenige Anfpruch, welcher neben den fpeziell namhaft 
gemachten Forderungen aus der VBaterfchaft des N. noch weiter 
abgeleitet werden konnte. Allerdings ift das Erbrecht nicht Ge: 
genjtand des durch den Vergleich beendigten Prozefjes gewejen, 
allein der allgemeine Verzicht bildete eines derjenigen gegenjei: 
tigen Zugeftändnifje, mittelft deren der Vergleich zu Stande ge: 
bracht und der Prozeß beendigt worden ift. Ferner begründete 

1) Vgl. Lauterbach, coll. pand. 3. D. II. 15. 8. 7. ©. 235. Hof 
acer, prince. B. II, $. 4156. 3. I. ©. 597, Glüd, Komment. B. V. 
©. 97. 98. B. XI. ©. 108-110. Sintenis, Civ.-R. I $. 25. bei 
N. 19-23. Windicheid, Pand. II. 8. 478. ©. 7. Seuffert, Ardhiv 
B. 4. Nro. 213. 3. 8. 9. 13. Nro. 136. Dresdener Entwurf art. 1035. 
(Württ. Arhiv. B. 8. ©. 378.) Dernburg, Preuß. Priv. N. I. $. 3. 
Wächter, Band. I. S. 339. 340. Wächter, Württ. Priv.-R. IL. ©. 648. 


649. ©. auch Landrecht II. 22, 8. 2. und dazu Vorarbeiten zc. ©. 208. 
290. 


ze 
sy —— — 1 
— 401 — 


das Inteſtat-Erbrecht des Kindes (und ſeiner Mutter) zur Zeit 
des Vergleichs freilich noch keinen konkreten „Anſpruch“, ſondern 
die etwaige Beerbung war nur eine Ausſicht und Hoffnung. 
Die Vergleichsurkunde beſchränkt aber den Verzicht auch nicht 
auf bereit3 begründete Anjprüche, vielmehr wurde der Berzicht 
auf alle diejenigen Anfprüche ausgedehnt, welche aus der Er: 
zeugung des Kindes abgeleitet werden könnten, alfo auch auf 
ſolche Anfprüche, welche auf Grund des (nad) der Behauptung 
der kläger'ſchen Partei Schon damals beftandenen) Rechtsverhält- 
nifjes der Vaterſchaft des N. zu dem Kinde für diefes und 
jeine Mutter erjt jpäter entjtehen und nad ihrer Entjtehung als 
Ausflüſſe der Vaterfchaft geltend gemacht werden könnten. 

3) Diefe dem Wortlaute der Urkunde entnommene Aus— 
legung fteht auch nicht im MWiderfpruch mit der Lage der Sache 
zur Zeit des Vergleichsabſchluſſes. 

Fr. R. war zur Bezahlung der Entbindung: und Tauf: 
foften wie der Mlimente unter der Bedingung eine von der 
Klägerin über die bejtrittene Vaterſchaft zu leiftenden Eides 
verurtheilt worden. Wenn man nun übereinfam, die zu Er— 
mittlung der Baterfchaft erforderliche Eidesleiftung jolle unter: 
bleiben und das Kind wie defjen Mutter follen mit der Aver— 
jalfumme von 400 fl. abgefertigt werden, jo wird wohl die 
Abficht dahin gegangen fein, Mutter und Kind follen gegen R. 
und defjen Erben (als jeine Rechtsnachfolger) überhaupt nicht 
mehr mit der Behauptung auftreten dürfen, daß R. der Vater 
de3 Kindes fei, die ganze Schwängerungsangelegenheit jolle 
jammt ihren vermögensrechtlichen Folgen ein für allemal abge- 
than fein. Demgemäß fann zu Gunften der Klägerin aud) 
darauf fein Gewicht gelegt werden, daß die Vergleichgurfunde 
nichts von einem Grbverzicht des R. an dem Nachlafje des 
Kindes der Klägerin enthalte. Wenn die Vertreter des N. von 
der Klägerin und dem Pfleger ihres Kindes einen fachlich auch 
das Erbredt an dem Nachlaß des NR. umfafjenden allgemeinen 
Verzicht verlangt haben, jo war dieß dem Stande der Sache 
angemefien, da von der Klägerin und dem Pfleger die Vater— 
Ihaft des N. gerichtlich geltend gemacht worden war. Umge— 
fehrt war aber für die Betheiligten fein Anlaß gegeben, auch 


— 402 — 


einen Verzicht des R. auf deſſen etwaiges Erbrecht an dem un: 
ehelichen Kinde der unvermögliden Klägerin in die Vertrags: 
urfunde aufzunehmen; denn R. hatte ja ſtets beftritten, daß er 
der Vater dieſes Kindes fei und Die Bertreter des R. wollten 
mitteljt des Vergleich den Erfolg erreihen, daß im Einklang 
mit R. auch die Klägerin und ihr Kind die Vaterſchaft des 
Erjteren nicht mehr follen behaupten dürfen. 

4) Gegen die Zuläffigfeit der bisher dargelegten Auffaflung 
bejtehen feine rechtlichen Hinderniffe. Es kann nicht als unitatt: 
haft betrachtet werden, diejenigen Rechte, auf welche verzichtet 
wird, unter einem gemeinfamen Ausdrud zujfammenzufafien, 
wofern nur die Grenzen des Berzichtswillens Durch die gemählte 
MWortfaffung hinreichend erfennbar gemacht find. Dieß trifft 
hier zu, da deutlich ausgedrüdt worden iſt, daß alle Diejenigen 
Anfprüche befeitigt jeien, melde aus dem fpeziell genannten 
Nechtsverhältnig der Baterfchaft des N. zu dem Kinde jeßt oder 
fünftig abgeleitet werden könnten. Seine Rückſicht dürfte darauf 
genommen werden, wenn die Mutter des Kindes- und deſſen 
Pfleger (und auch die Gegenpartei) bei dem Vergleichsabſchluß 
nicht Tpeziell an Erbanſprüche gedacht, ja nicht einmal gewußt 
haben follten, (was nicht zugegeben ift), daß außerehelichen Kin: 
dern an dem Nachlaß ihres Vaters überhaupt ein Inteftaterb: 
recht gefeglich zufomme Aus dem Inhalte der BVergleichsur: 
funde haben Mutter und Pfleger des Kindes jedenfalls foviel 
erjehen, daß ihnen angefonnen werde, nicht blos auf die An- 
Iprüche, für Kindbett- und Tauffoften ſowie für Alimente, ſon— 
dern auch auf alle weiteren Anfprüche zu verzichten, welche aus 
der Vaterſchaft des R. jetzt oder fpäter einmal abgeleitet werden 
könnten. Wußten die Mutter und der Pfleger nicht, worin diefe 
etwaigen weiteren Anſprüche, auf welche gleichfalls verzichtet 
werden jolle, bejtehen, jo jtund ihnen frei, entweder vor ihrer 
Zuftimmung fih hierüber Aufklärung zu verſchaffen oder anf 
ihre Gefahr von einer Aufklärung Umgang zu nehmen. Ein 
unter folchen Umftänden erflärter Verziht muß entſprechend 
dem PBarteimwillen im Intereſſe der Sicherheit des Rechtsverkehrs 
ebenjo gewiß aufrecht erhalten werden als den Betheiligten an 
fih (vorbehältli befonderer Beanftandungsrechte in den dazu 


— 403 — 


geeigneten Fällen) anheimgegeben ift, Verpflichtungen, deren Be- 
deutung und Tragmeite der Verjprechende nicht erfaßt hat, ein- 
zugehen, mitteljt gemwagter Verträge ein unberechenbares Riſiko 
zu übernehmen und ungelefene oder unverftandene Urkunden mit 
verbindender Wirkung zu unterzeichnen ?). 

Uebrigen? wird aus der unten folgenden Erörterung über 
die Frage von der Wiedereinjegung in den vorigen Stand fich 
ergeben, daß zu bezweifeln ijt, ob die Mutter und der. Pfleger 
des Kindes den Vergleih nicht auch in dem Falle eingegangen 
hätten, wenn jie ausdrüdlich darüber belehrt worden wären, daß 
fie gegen Empfang baarer 400 fl. auch auf etwaige Erbanjprüche 
verzichten müſſen. Dort wird auch gezeigt werden, daß die zuvor 
erwähnten Grundſätze über die Zuläffigfeit gewiſſer allgemeiner 
DVerzichte nicht etwa darum außer Anmendung bleiben dürfen, 
weil Gegenftand des Verzicht? die Nechte eines Bevormundeten 
gewefen find. 

5) Bei dem Vergleihsabjchluffe war das unmündige Kind 
der Klägerin durch den für dafjelbe beſtellten Pfleger vertreten. 
Für den noch minderjährigen Friedrih R., welcher ganz kurz 
vor dem Vergleich nach Amerika gereist war, handelte neben 
einem Pfleger jein Vater und ift der Vergleih im Jahr 1867 
von den beiderfeitigen Bormundfchaftsbehörden genehmigt worden. 

In diefer Richtung wird von der Klägerin, welche felbjt 
davon ausgeht, daß zur Zeit des. Todes des N. der Vergleich 
ſchon von der Bormundfchaftsbehörde des Kindes genehmigt 
gewefen, — der Anftand erhoben, daß die beiden Vertreter und 
Bormundichaftsbehörden die Grenzen ihrer Befugnijje überjchritten 
haben. Auch dieſe Einwendung fonnte nicht ala begründet er- 
fannt werden. 

Welche Perſonen fih durch einen Erbeinfegungsvertrag ver: 
pflichten, beziehungsweife inwieweit bei folchen Verträgen Ber: 
tretung durch Vormünder ftattfinden fünne und was dießfalls 


2) vgl. L. 9. 8. 1. D. de trans. 2. 15. c. 29. C. de trans. 2, 4. 
Seuffert, Band. 8. 374. Eingang u. N. 2. Gefeß dv. 26. Dez. 1861. 
betr. Gewährleiftung bei Hausthieren Art. 3. 3. 2. Pfand. - Entwidl.- 
Geſ. dv. 1828. Art. 10. Seuffert, Arhiv B. 5. Nro. 266. B. 29. Nro. 
229. B. 32. Nro. 87. vgl. auch R.C. P.O. $. 852. 8. 40. Abi. 1. 





— 404 — 


bei Erbverzichten zu gelten habe — darüber werden allerdings 
theil8 verfchiedene, theils gar feine, theils nicht, genügend prä- 
ziſirte Anfichten aufgeftellt °). 

In gegenmwärtigem Falle handelt es fih nicht um einen 
Grbeinjegungsvertrag, fondern um einen vertragsmäßigen Erb: 
verzicht und war die Vertretung des Kindes der Klägerin durd) 
jeinen Pfleger unter Zuftimmung der VBormundfchaftsbehörde für 
ftatthaft zu erflären. Denn in dem Verzichte lag für das Kind 
fein Rechtsgefchäft von Todeswegen, ferner können Unmiündige 
auch durch andere gefeglich zuläflige Handlungen ihrer BVertreter 
3. B. dur Antritt oder Ausſchlagung angefallener Erbidhaften, 
bei Vermögensübergaben, Abfertigungen und Einfindfchaften im 
Refultate nicht minder benachtheiligt werden, als durch Erbver: 
zichte und die Annahme der Unzuläfligfeit einer Vertretung bei 
Erbverzichten hätte die Folge, daß auch die Eingehung von un: 
zweifelhaft ſehr vortheilhaften derartigen Gejchäften zum Schaden 
der Bevormundeten unmöglih gemacht würde. Demgemäß hat 
man auch die Statthaftigfeit der Vertretung des Friedrich R. 
bei Afzeptation des Erbverzichts nicht beanftandet. R. hatte im 
Prozeßwege feine Baterfchaft, die Grundlage eines etwaigen Erb- 
rechts, beftritten und durch den Erbverzicht der Klägerin und 
ihres Kindes, welcher ficher im Sinne des N. lag, ijt eine 
günstigere Lage nicht blos für die ſonſtigen Erben dejjelben, 
jondern auch für ihn jelbft Schon infoferne geſchaffen worden, als 
wenn der Erbverzicht nicht erfolgt wäre, auch während der 


3) Val. Hofader, prine. II. $. 1405. Beſeler, Lehre von den 
Erbverträgen IL. 2. ©. 255. 256. 24H. Bluntſchli, deutſch. Priv. R. 
8. 195. 3. 1. 8. 197. Gerber, deutih. Priv. N. $. 258. 264. Lewis 
u. v. Holzendorff's Rechtslexikon 3. Aufl. S. 711. 713. Windſcheid, 
Pand. II. 8.539. N. 1. Dernburg, Preuß. Priv.:N. IT. 8. 176 bis 
180. 3.1. Unger, öfterreih. Briv.:R. B. VI. 8. 30.N.6. Roth, 
bair. Civil.-R. II. 88. 332. 333. 360. Weishaar, Württ. Priv. N. 
88. 843. 846. Hohl: Stein, Württ. Erbredt $$. 97. 9. Wächter, 
Rand. 1. ©. 412. 414. Bolley, Entwürfe von Gejegen von 1835, da: 
jelbft, Entwurf eines Geſetzes in Betreff der Verträge über Erbſchaf— 
ten Art. 19 u. 20. ©. 247 -- Art. 44. ©. 257; Motive ©. 287. 312. 
313. 342, 





— 405 — 


Lebenszeit des N. noch Behelligungen unter Hindeutung auf 
Erbanſprüche hätten erfolgen fünnen. 

6) Für den Fall der Annahme eines bindenden Erbver- 
zichts Hat die Klägerin um Wiedereinfegung in den vorigen 
Stand gebeten. Diefem Gejuche vermochte man nicht zu ent: 
Tprechen. 

Zur Begründung eines Neftitutionsgejuches wird das Da— 
fein eines gefeglic anerkannten Neftitutionsgrundes und eines 
erlittenen Nachtheils erfordert. Den angerufenen Reftitutions- 
grund hat die Klägerin nicht ausdrüclich bezeichnet, es ift aber 
anzunehmen, daß die Minderjährigfeit (Unmündigkeit) ihres 
Kindes den Neftitutionsgrund bilden ſoll, wenigſtens läßt fich 
nicht abjehen, aus welch’ anderem Grunde das in Rede ftehende 
Rechtsgeſchäft des Vergleihs mit Erfolg im Reftitutiongwege 
jollte angefochten werden fünnen *). 

Die Einrede, daß die Nejtitutionzfrift verfäumt fei, wurde 
nicht geltend gemacht. Dagegen iſt das Erforderniß einer folchen, 
Läſion, wie fie bei der Nejtitution aus dem Grunde der Minder: 
jährigfeit befchaffen fein muß, nicht als zutreffend anzufehen. 

Der Vergleich hatte für das Kind (und feine Mutter) 
manche Schattenjeiten, aber auch erhebliche Lichtjeiten. Zu den 
eriteren gehören folgende Momente: 

F. N. war unter dev Bedingung der Eidesleiftung zu Be- 
zahlung von 15 fl. Entbindungs: und Tauffoften und zu jähr- 
lihen 45 fl. für Mlimente verurtheilt worden. Durch den Ver: 
gleich wurde aber nur eine Abfindungsfumme von 400 fl. be: 
willigt, welche nach dem eigenen Vorbringen der Beflagten be- 
deutend geringer war, als der Fapitalifirte Alimentenbetrag. 
Ueberdieß follten gegen Zahlung der 400 fl. auch die Erban- 
iprüche des Kindes ganz abgefertigt fein, während R. ſchon da- 
mals ein erhebliches Bermögen bejaß und ledig war. 

Andererfeit3 waren aber auch die für das Kind durch den 
Vergleich gebotenen Vortheile wohl zu berücfichtigen. Der Pfleger 
und die Bormundfchaftsbehörde hatten feine Garantie dafür, daß 
die Klägerin wirklich jchwören werde. Verweigerte fie den Eid, 

+) Vgl. Wächter, Band. I. ©. 571—585. 

Württemd, Archiv für Recht sc. XXI. BB, 2, & 3. Heft. 


10 
—] 





\ 


— 406 — 


fo befam das Kind jammt feiner Mutter ftatt der gerichtlich be 
dingt zugefprochenen Beträge, beziehungsmweife der angebotenen 
400 fl. gar Nichts. Auch für den Fall der Eidesleijtung hätte 
N. neben den 15 fl. für Entbindungskoften nur in jährlichen 
Beträgen zahlbare, vielleicht nicht immer ohne Schwierigfeit bei: 
treibbare Alimente gejchuldet; ſtatt deſſen Fonnte ſofort eine 
Baarfumme von 400 fl. in Empfang genommen werden. Die 
möglichen Erbichaftsanfprüche aber, welche aufgegeben wurden, 
waren zur Zeit des Vergleichs doch wohl nur auf einen fehr 
geringen Werth zu tariren. Der angebliche, noch jehr jugend: 
lihe Vater des Kindes hatte fich nach Amerika begeben; durd 
eine legtwillige Verordnung fonnte er das Erbrecht des Stindes 
beliebig befeitigen und dafjelbe war auch ſchon ausgefchloffen 
dur die bloße Eriftenz einer Ehefrau oder eines ehelichen Kin: 
des des N. zur Zeit feines Ablebens. Hiernach Fonnten die 
Dertreter des unmündigen Kindes der Klägerin auch bei ſorg— 
fältiger Abwägung der für und wider fprechenden Gründe dod) 
nicht wohl zu der Anfehauung gelangen, daß durch die Zuſtim— 
mung zu dem (einen Grbverzicht enthaltenden) Vergleiche die 
Intereſſen des Kindes verlegt werden. Der Grund einer dem 
Kinde dennoch zugegangenen Benachtheiligung würde alfo nicht 
in einem die Neftitution begründenden Mangel an umfichtiger, 
überlegter Gejchäftsbeforgung, ſondern darin gelegen haben, daß 
der an ſich zuläffige ), nach Lage der Sache als gerechtfertigt 
ericheinende Vergleich durch den Eintritt unerwarteter Gventuali- 
täten dem Kinde, falls R. wirklich als deſſen Vater zu betrachten 
war, im jchließlichen Erfolge Schaden gebracht hätte, — eine 
Gejtaltung der DVerhältniffe, welche nicht geeignet wäre, die Ge: 
währung der Wiedereinjegung zu rechtfertigen ®). 

Erkenntniß des Oberlandesgerichts (II. Civil-Scnats) vom 3. März 

1881 in Sachen Reichert gegen Braun. 


5) Vgl. ei. v. 5. Sept. 1839. Art. 28. 3. 1. Abi. 4. Vorfchriften 
für Pfleger v. 1843. 8. 31. 

6) Windiheid, Band. 1.8. 115. N. 6. $. 117. bei N. 1-3. 
Sceuffert, Archiv B. 30. Nro. 224 Bolley, Betradt. S. 385-389. 


— 407 — 


15. Kreditbürgſchaft. Sit diefelbe als Kreditauf— 

trag (mandatum qualificatum) oder als eigent- 

lihe Bürgſchaft (fidejussio) aufzufalien? Kün- 
digungsredt des Kreditbürgen. 


Die Volksbank Stuttgart hatte dem Fabrifanten R. am 
2. Suli 1870 einen. laufenden Kredit bis zu 2500 fl. eröffnet. 
Die Kreditgeberin behielt ſich jederzeitige Kündigung des Kredits 
ohne Beſtimmung einer Kündigungsfrift vor. Der Kläger machte 
ih für alle aus dem Kreditvertrage mit N. der Volksbank er: 
wachjenden Anſprüche als Bürge und Selbftzähler unter Ver: 
zicht auf alle Einreden, insbefondere auf die der Vorausklage 
und Theilung verbindlid. — Die Kreditgebung hatte fieben 
Jahre gedauert; am 1. Februar 1878 ſchrieb der Kläger, welcher 
ſelbſt auch Mitglied der Bank war, an diejelbe, daß er die Ab- 
ficht habe, fjelbit einen Kredit bei der Bank nachzufuchen und 
vorher von jeder Bürgjchaft enthoben zu jein wünſche. Er kün— 
dige demgemäß feine feinerzeit für N. eingegangene Bürgjchaft, 
bittend, ihn von der gänzlichen Entlafjung aus diejer Bürgschaft 
in Kenntniß zu jeßen, jobald fie erfolgt fein werde. Die Bank 
erwiederte, daß fie fich wegen der nachgejuchten Entledigung von 
der Bürgfchaft mit N. ins Benehmen fegen werde. Diefer ver: 
juchte, jtatt des Klägers einen andern Bürgen zu ‘stellen, welcher 
aber von der Bank nicht angenommen wurde. Dagegen leijtete 
die Bank dem N. auf den eingeräumten Kredit gleichwohl noch 
zwei Zahlungen, nämli am 11. März 1878 von 1500 Mark 
und am 16. März 1878 von 140 Marf. R.gerieth kurze Zeit 
nachher in Sant. Zwifchen dem Kläger und der Volksbank ala 
der Beklagten fam es nun zum Streit darüber, ob der Kläger, 
welcher auf den 31. Dezember 1879 feinen Austritt aus der 
Genoſſenſchaft erklärt hat und Bezahlung feines Guthabens bei 
der Beklagten abzüglich der Gegenforderung der Letzteren aus 
der Bürgschaft vom 2. Juli 1870 forderte, auf Grund diefer 
Bürgſchaft auch für die von der Beklagten dem R. am 11. und 
16. März 1878 geleifteten Vorſchüſſe von zuſammen 1640 Mark 
haftbar Sei. 

Der Streit wurde in zwei Inſtanzen gegen die Volksbank 


27 * 


— 405 — 


entichievden. Für den Richter I. Inſtanz war der Gefichtspuntt 
maßgebend, daß eine Kreditbürgfchaft ihrer Bedeutung nah 
Kreditauftrag d. h. qualifizirtes Mandat ſei und von dem Kläger 
daher am 1. Februar 1878 mit Wirkſamkeit einjeitig habe ge- 
fündigt werden fönnen. Die Gründe des Oberlandesgerichts 
gehen dahin: 

Nicht jede Kreditbürgfchaft ift Kreditauftrag (mandatum 
qualificatum), jondern es ijt auch für die aus einem Kredit: 
vertrag entjtehenden Berbindlichkeiten des Kreditnehmers eine 
eigentliche Bürafchaft, jei e8 in der Form der fidejussio oder 
- des constitutum, möglid. Wenn nicht bejondere Gründe 
dafür vorliegen, kann nicht angenommen werden, daß bei der 
Erklärung des Bürgichaftswillens die Parteien einen bloßen 
Schadloshaltungsvertrag (ein Mandat) gewollt haben. Im 
Zweifel ift die Intention der Parteien vielmehr darauf gerichtet, 
daß der Bürge jchuldig werden jolle, was der Hauptfchuldner 
ſchulde oder ſchuldig werde’), Dieß trifft befonders dann zu, 
wenn der Abſchluß des Kreditvertrages der VBerbürgung voran: 
gieng, und es fich nicht etwa blos darum handelt, für ferneres 
Kreditiren dem Gläubiger Schadloshaltung zu verfprechen. Die 
Urkunde vom 2. Juli 1870, in welcher der Kläger „ich für 
alle aus dem mit R. abgeſchloſſenen Kreditvertrag der 
Bank erwachſenden Anſprüche nebſt Zinfen und Kojten als 
Bürge und Selbftzähler verbindlich machte”, enthält nicht einen 
Auftrag an die Bank, und ift nicht gerichtet auf bloße Schad— 
loshaltung derjelben. Es liegt alfo nicht ein nad) den Grund— 
fügen vom Auftrag beliebig widerrufliches Mandat vor, jondern 
vielmehr eine Bürgfchaft in dem Sinne, daß der Kläger ver: 
pflichtet werden jollte, ftatt des Hauptjchuldners zu leijten. 

Allein gleichwohl hat der Kläger auf Grund feiner Ber: 
bürgung nicht auch für die von der Bellagten am 11. umd 
16. März 1878 geleifteten Vorſchüſſe zu haften. Wenn man 
nämlich auch nicht davon ausgeht, daß die Bürgſchaft, welche 
für die Verbindlichfeiten aus einem unbeftimmte Zeit dauernden, 
auf eine Neihe künftiger möglicher Geſchäfte gerichteten Ber: 





1) Vgl. Windicheid S. 476 in u. bei Note 4. 





— 409 — 


hältnifje übernommen wird, jederzeit beliebig gekündigt werden 
fönne, jo muß doch im Falle einer ſolchen Bürgfchaft dem 
Bürgen das Necht zugeitanden werden, zu verlangen, daß nad 
Ablauf eines den Umſtänden entfprechenden Zeitraumes nicht 
weitere Gejchäfte zwifchen dem Gläubiger und dem Hauptichuldner 
auf Grund der von ihm geleifteten Bürgschaft geſchloſſen wer: 
den, und es fann der Bürge für ſolche nach Ablauf dieſes 
Zeitraumes begründete Verbindlichkeiten nicht haftbar gemacht 
werden ?). 

Die angeführten Vorausfegungen für die Zuläfiigfeit einer 
Kündigung der Bürgfchaft Liegen aber vor. (Folgt Ausführung, 
daß die Beklagte nach ihrem Vertrage mit R. zu Sijtirung 
weiterer Kreditgebung nach dem 1. Februar 1878 jederzeit bes 
vechtigt gemwefen fei und fie die Kündigung vom 1. Februar 
ohne jede. Verwahrung angenommen habe) Es verjtößt bei 
diefer Sachlage gegen die Grundjäge von Treu und Glauben, 
wenn die Beklagte für Vorſchüſſe, welche fie, ohne zu denjelben 
‚verpflichtet zu fein, nad Ablauf eines Zeitraumes von mehr als 
einem Monate feit der Kündigung der Bürgihaft dem R. machte, 
gleichwohl den Kläger auf Grund der von ihm am 2. Juli 
1870 geleijteten Kreditbürgfchaft in Anſpruch nehmen will. 

Entſcheidung des Oberlandesgerihts (I. Civil- Senats) vom 28. De— 
zember 1880 in Sachen Volksbank Stnttgart gegen Hoffmann. 


16. Snterzeifion der Frauendperfon. Verhältniß 
des Art. 317 des Handelsgejegbuhs zu den landes— 
gefeglich verordneten Interzeſſionsförmlichkeiten. 


Der Kläger juchte feine auf Erfüllung einer formlofen 
Interzeffion der Beklagten, welche feine Handelsfrau ift, ge: 
richtete Klage damit zu ſtützen, daß das Gejchäft mit der Be- 
Hagten auf feiner Seite ein Handelsgefhäft und mithin nad 
Art. 277 HGB. die Beitimmung des Art. 317 desjelben Ge: 
ſetzbuchs über die Entbindung der Handelsverträge von jchrift- 


2) 3. vgl. Seuffert, Archiv. Bd. 12. Nr. 159. Bd. 32. Nr. 332, 
Entid. d. R.O.H.G. Bd. 9 ©. 185. Bd. 19 ©. 100. 


— 410 — 





liher Abfafjung oder amdern Förmlichkeiten anzuwenden ſei. 
Diefe Schlußfolgerung wurde unter Hinweis auf Art. 6 Abi. 2 
des H.G. B. oberjtrichterlich zurücdgewiefen, da aus Diejer Ge 
jeßesbejtimmung vermöge eines Schlufjes vom Gegentheil zu 
entnehmen jei, daß eine Frau, welche nicht Handelsfrau fei, 
‚ auch bei Handelsgeſchäften die in den einzelnen Staaten gelten: 
den Nechtswohlthaten der Frauen vorzuſchützen die Befugnik 
habe, und die Vorfehrift des Art. 5 des württemb. Pfandent— 
wiclungsgejeges, wenn fie auch zunächſt nur die für die Anter- 
zeffion von Frauensperfonen erforderliche Form zum Gegenjtand 
babe, doch zugleich unter die zum Schuße der Frauensperfonen 
bejtehenden Rechtswohlthaten des Art. 6 Abf. 2 H.G. B. zu ſub— 
fumiren fei!). 

Erkenntniß des Oberlandeögeriht3 (11. Civil-Senats) vom 22. April 

1880 in Sachen Ziegler gegen Wittwe Deng. 


17. Landrechtliche Errungenſchaftsgemeinſchaft. 
Hälftige Mithaftung des Ehemanns für die von 
der Ehefrau in deren Eigenſchaft als Handelsfrau— 

kontrahirten Schulden. 


Die Ehefrau des Beklagten hat die von ihrem verftorbenen 
eriten Ehemann betriebene Sleiderhandlung jowohl in ihrem 
Wittwenjtande als in ihrer nummehrigen zweiten Che fortge- 
führt. As fie fhlieglih in Sant gerieth, erhob eine Anzahl 
ihrer Handelsgläubiger gegen ihren Ehemann Klage auf Be 
zahlung ihres hälftigen Guthabens, indem fie geltend machten, 
daß die während der Ehe des Beklagten von feiner Ehefrau 
eingegangenen Handelsfehulden Sozialſchulden jeien, und eventuell 
ſich darauf beriefen, daß die Ehefrau des Bellagten das, was 
fie mit ihrem Handelögewerbe erworben habe, in die gemein: 
Tchaftlihe Haushaltung verwendet habe. 

Bon dem Richter erjter Inſtanz wurde die Klage. abge: 
wiejen, von dem Dberlandesgerichte in zweiter Inſtanz der Bes 
‚lagte verurtheilt mit folgender Begründung. 

1) 3. vgl. Entſch. des Obertribunals in Berlin in Buſch Archiv 
Bd. 31. ©. 303. Entich. des Neichd » Oberhandeldgerichts Bd. 20 ©. 400. 
Hauser in Löhes Zentralorgan Neue Folge Bd. IV. ©. 350. 


— 41 — 


Nach anerkannten Nechtsgrundjägen erjcheinen die von einer 
in der landrechtlichen Errungenfchaftsgemeinjchaft lebenden Che: 
frau zu ehelichen Zwecken eingegangenen Berbindlichfeiten — 
abgejehen von den die Haushaltung betreffenden auf der fogen, 
Schlüfjelgewalt beruhenden Schulden, welche im vorliegenden 
Falle nit in Frage fommen — dann als Sozialfchulden, 
wenn jie mit Einwilligung des Chemanns eingegangen find. 
Eine von einer Handelöfrau, welche mit ihrem Chemann in der 
Errungenjchaftsgemeinjchaft lebt, in ihrem Handelsbetrieb einge: 
gangene Verbindlichkeit trägt den fozialen Zwed an ſich, weil 
der Handelsbetrieb, wie jede andere Erwerbsthätigfeit der Ehe: 
gatten, im Intereſſe der ehelichen Gemeinfchaft liegt, und Die 
mitteljt dieſes Betriebs gemachten Erwerbungen der Errungen: 
Ihaft zufallen. Die Einwilligung des Chemanns in die Ein: 
gehung diejer Verpflichtung ſodann folgt jehon aus ihrer Eigen: 
Ihaft als Handelsfrau, weil nad Art. 7 des H.G. B. eine Ehe— 
frau ohne Einwilligung ihres Ehemanns überhaupt nicht Handels: 
frau jein fann und diefe Einwilligung die Ermädtigung zu den 
einzelnen Handelsgejchäften in fich Ichließt, H.G.B. Art. 8 Ab]. 1. 
Hieraus ergiebt fi), daß wie die von einem in der Errungen- 
ſchaftsgemeinſchaft lebenden Ehemann in jeinem Handelsbetrieb 
eingegangenen Verpflichtungen Sozialfhulden find, daſſelbe auch 
von den durch feine Ehefrau als Handelsfrau in ihrem Handels: 
betrieb gemachten Schulden gilt, ein Grundſatz, welder auch in 
der Literatur allgemeine Anerkennung gefunden hat’). Steht 
jomit feit, daß die von einer in der Errungenfchaftsgemeinichaft 
lebenden Handelsfrau in ihrem Handelsbetrieb Fontrahirten Ber: 
bindlichkeiten Sozialjehulden find, jo hat deren Ehemann für Dies 
jelben zur Hälfte einzuftehen. 

An diefem Grundfage wurde durch das Einführungsgejek 
zum SHandelsgejegbuh vom 13. Auguft 1865 nichts geändert. 
Während das HGB. in Art. 8 die Frage, ob der Ehemann 

1) Griefinger, Kommentar 3. 2.R Bd. 4 ©. 1142. 1143. 
Pfizer, Rechte der Weiber TH. 1. $. 122. vgl. mit $. 66. Gmelin, 
Ordnung der Gläubiger Aufl. 5. Anhang ©. 738 ff. Entwurf eines 
Geſetzes über die cheliche Gütergemeinichaft, Motive ©. 162. auch ©. 161. 
101. Hohl-Stein, Erbredt Zuiag zu $. 202. 





— 412 


einer Handelsfrau für ihre Handelsfchulden mit jeinem perfün- 
lihen Vermögen hafte, ausdrüdlich der Landesgejeßgebung über: 
läßt, hat das genannte Einführungsgefeß fi über dieſe dem 
Ausgeführten zufolge ſchon in der bisherigen Gejeßgebung ent: 
ſchiedene Frage nicht ausgefprochen. Insbeſondere gilt dieß von 
dem Art. 11 des Einführungsgefeges, durch welchen die Befug- 
niß der Handelsfrau zur Berfügung über ihr Sondergut und 
über das den beiden Ehegatten gemeinjchaftliche Vermögen ge: 
regelt, die Frage der perjönlichen Haftpflicht ihres Ehemanns 
für die Handelsfhulden aber gar nicht berührt wird. Auch ift 
aus den der Einführung des H.G.B. vorangegangenen Berhand: 
lungen, auf welche der Unterrichter Gewicht legt, nicht zu ent: 
nehmen, daß die gefeßgebenden Faktoren die eben als richtig 
nachgewiefene Anficht über die Verpflichtung des Ehemanns, für 
die Handelsjchulden jeiner Ehefrau zur Hälfte einzuftehen, nicht 
getheilt haben; namentlih haben die von dem Unterrichter in 
jeinen Entjeheidungsgründen hiefür angeführten Aeußerungen 
des Negierungsfommijjärs, welche lediglich die auß dem Art. 8 
Abi. 2 des H.G. B. fich ergebenden Beichränfungen des Verwal 
tungsredhts des Ehemanns einer Handelsfrau zum Zwede der 
Begründung der in Art. 11 des Einführungsgefeges weiter ein- 
geführten Beichränfungen hervorzuheben beftimmt waren, nad) 
ihrem Zufammenhang feinen Bezug auf diefe Frage, ganz ab: 
gejehen davon, daß eine etwaige abweichende Anjicht der Geſetz⸗ 
gebungzfaktoren im Geſetze keinerlei Ausdruck gefunden hätte. 
Entiheidung des Obertribunal3 vom 12. Auguft 1879 in Sachen Rogge 
und Genoſſen gegen Huber. 


18. Klagverjährung Anmendbarfeit des örtlichen 

Rechtes. Kauffhilling durch Rimeſſen zahlbar. 

Einfluß dieſes Zahlungsmodug auf den Zeitpunkt 
der actio nata. 


Eine Mannheimer Firma brachte im Laufe des Jahres 1880 
die Kauffchillingsforderung für Waaren, welche einem Kaufmann 
in Göppingen am 14. September 1876 geliefert worden waren, 
zur Klage. Die Forderung war nah der Faktur „nad drei 
Monaten mit Dreimonat:Rimefjen zahlbar”. Der Beklagte hatte 


— 43 — 


jeither weder Wechſel noch Geld gegeben. Er erhob die Einrede 
der Verjährung. Die Klägerin bejtritt die Anwendbarkeit des 
württembergiſchen Berjährungsgefeßes, und eventuell, daß die 
Fälligfeit der eingeklagten Forderung ſchon im Laufe des Jahres 
1876 jtattgefunden habe. Die VBerjährungseinrede wurde aber 
von dem Dberlandesgerichte für begründet erkannt. 

Für die Verjährung eines Forderungsrechtes ijt nach der 
in der neueren Theorie und Praxis herrfchenden Anjicht das 
örtliche Necht der in Frage jtehenden Obligation entſcheidend '). 
Diejes örtliche Recht iſt im vorliegenden Falle das württem— 
bergifhe Recht, da Göppingen der Erfüllungsort für den Be: 
flagten iſt. 

Die eingeflagte Forderung ift die Forderung eines Kauf: 
manns für Waaren jeines Geſchäfts, fie fällt daher unter Art. 1 
Ziff. 1 des Gejeßes vom 6. Mai 1852 und unterliegt der drei: 
jährigen Verjährung diefes Geſetzes. 

Der Kaufpreis- für die Lieferung vom 14. September 1876 
war „nad drei Monaten mit Dreimonat-Rimefjen zahlbar”. 
In Ermanglung einer entgegenftehenden Willenserklärung der 
Kontrahenten ift anzunehmen, daß hiemit eine Hingabe der 
Wechſel Zahlungs halber gemeint war, daß alfo durd die 
Hingabe der Wechſel die Kaufpreisforderung der Klägerin nicht 
Ihon definitiv getilgt fein, die Klägerin aber verpflichtet werden 
follte, mittelft der Wechſel ihre Befriedigung zu ſuchen und daß 
fie, wenn mittelft der Wechſel Befriedigung zu erlangen war, 
auf die Kaufpreisforderung nicht follte zurüdgreifen können ?). 

Nach der vorliegenden Vertragsbeitimmung beitand daher 
die Verpflichtung des Beklagten, den Bertrag zu erfüllen, zus 
nächſt in der Verpflichtung, die Wechſel zahlungshalber der 
Klägerin zu geben, und dem entjprechend bejtand der Anspruch 

1) 3. vgl. Württ. Ardiv Bd. 14. ©. 341. Entſcheidung des Reichs: 
oberhandelögerichts Bd. 14. ©. 258. Entſch. des Neichsgerichts in Giv.- 
Saden Bd. 1. ©. 126. Bd. 2. ©. 14. 

2) 3. vgl. Nömer, Mbhandlungen I. ©. 78. Thöl, Handels 
recht (Kte Ausg.) Bd. II. $. 187. 188. Entjich. des Neichs » Oberhandels- 
gerichts Bd. 7. S. 43—48. Bd. 10. ©. 132. 133. Bd. 17. ©. 270 ff. 
Bd. 19. ©. 174. Bd. 21. ©. 38. 251. Bd. 23. ©. 106. 316. 


— 44 — 


der Klägerin auf Vertragserfüllung zunähft in dem Anſpruch 
auf Hingabe der Wechſel. Diefer Anfpruch fonnte nach drei. 
Monaten von der Lieferung an geltend gemacht werden, mit 
diejem Beitpunft hatte daher der Anjpruch der Klägerin begonnen, 
flagbar zu werden. 

Nun ift zwar die dem Bellagten eingeräumte Befugniß, 
mit Dreimonat-Rimeſſen zu zahlen, von ſelbſt weggefallen, nad): 
dem der Beklagte bis zur Verfallzeit der zu liefernden Dreimonat- 
Rimeſſen (bis Mitte März 1877) feine Nimefjen geliefert hatte, 
und von da an ift an die Stelle der feither geftatteten Zahlungs: 
weife die Verpflichtung des Beklagten zur Baarzahlung getreten. 
Allein der Zeitpunkt, von welchem an die Klägerin Baarzahlung 
jtatt der Wechſel verlangen fonnte, ift für den Beginn der Ver: 
jährung deßhalb nicht maßgebend, weil die Klägerin ihren Ans 
ſpruch auf Befriedigung zuvor ſchon auf anderem Weg geltend 
machen fonnte. 

Das der Klägerin zunächſt zugejtandene-Recht auf die Hin: 
gabe von Wechjeln und das nach drei Monaten an dejjen Stelle 
getretene Necht auf Baarzahlung find nicht als getrennte je für 
fih beitehende Anfprüche zu betrachten, fondern als Ausflüſſe 
und Modalitäten des der Klägerin in Abſicht auf Bezahlung 
des Kaufpreijes zujtehenden Forderungsrechtes. Für den Beginn 
der Berjährung diefes auf Erfüllung des Kaufvertrags gehenden 
Forderungsrecht3 ift der Zeitpunkt entjcheidend, von welchem an 
der Klägerin die rechtliche Möglichkeit gegeben war, ihr Recht 
auf Erfüllung nad) dem vertragsmäßigen Erfüllungsmodus3 gegen 
den Verpflichteten geltend zu machen und diefer Zeitpunft war 
derjenige, von welchem an auf Hingabe der Wechjel, mittelft 
welcher der Klägerin zunächſt ihre Befriedigung verfchafft werden 
follte, geklagt werden konnte. Die Verjährung hat daher mit 
dem Schluß des Jahres 1876 (al3 des Jahres, in welchen 
das Forderungsrecht Elagbar geworden war) begonnen, und da 
die Klägerin bis nach Ablauf der Berjährungszeit bezüglich der 
ausftehenden Forderung weder (zu der hiezu geeigneten Zeit) ihr 
Recht auf Hingabe von Wechſeln noch das an deſſen Stelle ge: 
tretene Necht auf Baarzahlung geltend gemacht, jomit ihren 
Anſpruch auf Befriedigung die ganze Verjährungszeit hindurch 





— 45 — 


unausgeübt gelajjen hat, jo war ihr Anfpruch auf Befriedigung, 
jei es in der einen oder andern Form, mit dem Ablauf des 
Jahres 1879 durch Verjährung erlofchen. 
Grfenntniß des Oberlandesgerichts (II. Civ.= Senats) vom 12. Mai 
1881 in Sachen Oppenheimer gegen Bernheimer 


19. Vertragswidrige Beihaffenheit der Waare, 
Zurüdweijung des Ganzen wegen vertragäwid- 
riger Bejchaffenheit eines Theils. 


63 war unter den Parteien über Dacca-Häute gehandelt 
worden. Der von dem Verkäufer gefendete Ballen enthielt aber 
unter den Dacca-Häuten aud Häute von geringerer Gorte, 
jogenannte Pornea und todte Häute eingemifcht. Der Verkäufer 
verlangte die Bezahlung des Staufpreijes wenigjtens für Die 
vertragsmäßig beichaffenen Stüde, während der Käufer den 
ganzen Ballen zur Verfügung geftellt hatte. Das Verlangen 
des Verkäufers wurde mit folgender Begründung zurüdgewiefen. 

Der Käufer ift auch zur Annahme der guten Häute unter 
Ausschluß der Häute von vertragswidriger Bejchaffenheit nicht 
verpflichtet, weil der Driginalballen Dacca-Häute als ein Ganzes 
und al3 eine durch die Verpadung bejtimmte Sachgeſammtheit 
den Gegenftand des Kaufes bildete, wie auch bei der Preisbe— 
rechnung von dem Gefammtgewicht des Ballen? Dedel und 
Stride in Abrechnung zu bringen waren. Es muß daher an: 
genommen werden, daß nad der Abjicht der Parteien der ver: 
faufte Ballen Dacca-Häute eine nicht theilbare Leiſtung bildete. 
Der Käufer ift ſomit auch berechtigt, die ihm angebotene ver: 
tragswidrige Waare im Ganzen zurüdzumeifen und es iſt hiebei 
ganz unerheblich, ob der ftreitige Kauf als Kauf einer Spezies 
oder als gemifchter Kauf angefehen wird '). 

Erkenntniß des Oberlandeögerichts (II. Giv.-Senats) vom 4. November 

1880 in Sachen Bernheim gegen Landenberger. 


1) Thöl, Handelörcht $. 275. 


— 46 — 


20. Zur Auslegung des Reichsgeſetzes vom 11. Juni 

1870 über das Urheberredt an Schriftwerfen. Be: 

griff eines Schriftverks. Anwendung des Geſetzes 

auf Schriftwerfe, welche vor dem Geſetze verfaßt 
worden find. 

In zwei Nummern der im Steinkopf'ſchen Verlag zu Stutt- 
gart erjcheinenden periodifhen Druckſchrift „der Chrijtenbote” 
des Jahrgangs 1880 wurden vier Briefe veröffentlicht, welche 
der im Sahre 1878 zu Tübingen verftorbene Profefjor der 
Theologie Dr. von Bed feinerzeit im Jahre 1822 als Zöglüng 
des evangelifch:theologifchen Seminars zu Urach in jeinem fieben: 
zehnten Lebensjahre an einen Zögling des Gymnafiums zu 
Stuttgart gerichtet hatte und melde von dem Sohne des Em: 
pfänger8 dem „Chriftenboten” zur Verfügung geſtellt worden 
waren. Ein Theil der Erben des PBrofefiors Dr. von Bed, 
welche jene Briefe für eine Biographie ihres Erblafjerd zu ver: 
werthen beabjichtigten, erhob gegen den Verleger und Druder 
des Chriftenboten im Givilrechtsmege Klage wegen verbotenen 
Nahdruds auf Grund des Neichsgejeßes vom 11. Juni 1870 
nit dem Gefuche, denfelben zu einer Entfhädigung von 300 M. 
zu veruriheilen, auch die noch vorhandenen Exemplare der be— 
treffenden Nummern des Chrijtenboten gerichtlich einzuziehen. 
Bon dem -Gerichte eriter Inſtanz wurde auf diefe Einziehung 
und Vernichtung und daneben auf Xeiftung eines Schadens- 
erjaßes von 20 Mark erkannt. In zweiter Inſtanz wurde die 
Klage, ſoweit fie eine Entihädigung zum Gegenftand hatte, ab: 
gewiefen, weil zwar eine wenigſtens fahrläffige Zumwiderhandlung 
gegen das Verbot des Nahdruds, aber fein daraus für die 
Kläger entitandener Schaden vorliege, jofern nicht angenommen 
werden könne, daß dem beabfichtigten biographifchen Werke durch 
den vorherigen Abdruck der in Nede ftehenden vier Briefe im 
Chriftenboten Abbruch gefchebe. | 

Die hauptfähliche und präjudizielle Frage, ob die im Jahre 
1822 gejchriebenen Briefe des Schußes des Reichsgeſetzes theil- 
baftig jeien, wurde in den Entfcheidungen beider Inſtanzen, in 
derjenigen der zweiten Inſtanz in nachfolgender Ausführung bejaht. 

Es find dieje Briefe nicht gewöhnliche Alltagsbriefe, Jondern 


BE Be 
* en m A — % 
ar I: * 


— 41 — 


es jind in ihnen auf das Verhältnig der Religion zu den phi— 
lojophifchen Disziplinen, insbejondere zur Moral bezügliche Be: 
fenntnifje und Schilderungen innerer Erlebniffe eines zum evans 
gelifchen Theologen bejtimmten Jünglings in jelbjtändiger ori— 
ginaler Weiſe jchriftlih firirt. Liegt auch eine Jugendarbeit 
vor, die an Mängeln einer folchen leiden mag, jo kann der— 
jelben doch geijtige Bedeutung und Originalität nicht abge: 
jprochen werden. Die Briefe jtellen fich vielmehr als Ausfluß 
einer individuellen geijtigen Thätigfeit dar. Solche Erzeugnijje 
aber jind es, welche das Gejeg, wie in den Motiven zu $. 1 
dejjelben hervorgehoben wird, gegen unbefugte mechanische Ver: 
vielfältigung Tchügen will. Nur darauf fommt es an, daß das 
Werk aus eigener geiftiger Thätigfeit hervorgegangen ijt ‘). 
Daß insbejondere auch Briefe nicht anders zu beurtheilen find, 
als jonftige Schriftjtüde, und daß fie insbefondere nicht etwa 
aus dem Grunde, weil jie nur den Gedanfenaustaufch zwijchen 
zwei bejtimmten Berfonen vermitteln follen, des gejeßlichen 
Schußes entbehren, folgt ſchon daraus, daß das Geje an Schrift: 
werfen überhaupt das Urheberrecht anerkennt und eine Ausnahme 
für Briefe nicht aufſtellt. Es ergibt fi dieß aber auch aus 
der Gejchichte der Entitehung des Geſetzes. In dem erjten dem 
norddeutichen Bundesrathe vorgelegten Entwurfe (Druckſachen 
des Bundesrathes von 1868 Nr. 89) wurde unter Anerkennung. 
des Anfpruches der Briefe auf Schuß gegen den Nachdruck (d. h. 
gegen die ohne Genehmigung des Berechtigten hergejtellte me— 
chaniſche Bervielfältigung) nur ausnahmsweife, nämlich zur 
Wahrung rehtmäßiger perjönlicher oder vermögensrechtlicher In— 
terefjen des Adrefjaten der Abdruck von Briefen ohne die Ge: 
nehmigung des Abfenders gejtattet. Diefe ſchon bei den Be— 
rathungen des Entwurfs durch einen Ausfhuß von Sachver: 
jtändigen in Leipzig im Jahr 1869 für bedenklich erachtete 
Ausnahme wurde dann aber in den jpäteren Entwürfen befeitigt, 
indem man, wie Dambach, der Verfaſſer diefer Entwürfe, in 
jeiner Schrift, die Gejeßgebung des nordd. Bundes betr. das 
Urheberrecht an Schriftwerfen (1871) ©. 20 jagt, von der 





1) gl. Entſch. des RO.H.G. Bd, 6. S. 170. 171. Bd. 16. ©. 228, 


— 48 — 


Annahme ausgieng, die Schußberedhtigung der Briefe fei nad. 
den allgemeinen Grundjäßen des Geſetzes zu enticheiden. 

Nah den Beitimmungen des Gejeges ift es auch nicht ge: 
rechtfertigt, zwiſchen gebrudten und ungedrudten Briefen zu 
unterjcheiden. An einer Sammlung von Briefen, welche als 
ein jelbjtändiges geiltiges Produkt zu betrachten ift, kann eben 
deßhalb für fich ein Urheberrecht des Sammlers entſtehen. 
Allein es befteht auch an dem einzelnen noch nicht veröffentlichten 
Briefe (dem Manuskripte) ein Urheberrecht des Verfaſſers oder 
jeiner Erben, wenn dem Briefe die von dem Gelege erforderte 
Dualififation eines Schriftwerfes in dem bereits erörterten Sinne 
zufommt. 

Nah den Anfichten verfchiedener Schriftiteller genügt zum 
Begriff eines jchußberechtigten Objektes im Sinne des Reichs— 
gejeßeg vom 11. Juni 1870 nicht, daß ein dur die Schrift 
firirtes originales geijtiges Produkt vorliegt, und es wird das 
Urheberrecht noch von einem weiteren Erfordernilfe abhängig 
gemacht, das im einzelmen verjchieden bejtimmt wird. Allein 
es ijt feiner dieſer Anfichten beizupflichten. 

1) Nah Kloftermann ?) ſoll das Urheberrecht abhängig 
jein von dem Borhandenjein eines vermögensrechtlichen Inter: 
ejjes, und es wären hiernah Schriftwerfe, aus deren Publika— 
tion fein Gewinn gezogen werden kann, nicht gefhüst. Allein 
das Urheberrecht ift, wenn auch mit demfelben ein bedeutender 
Bermögenswerth verbunden fein kann, nicht ein bloßes Vermö— 
gensrecht. Wenn auch die Anerkennung des Urheberrechtes ihren 
Ausgangspunkt davon genommen hat, den Autor in der aus: 
ſchließlichen vermögensrechtlichen Ausbeutung feines Werkes zu 
ſchützen, jo ift doch durch das zit. Neichsgefeg die Herrichaft des 
Autors über fein Werk überhaupt anerkannt und die Verlegung 
des Urheberrechtes ohne Rückſicht darauf verboten, ob im fon 
freten Falle das Vermögen des Autors oder jeiner Erben be 
jhädigt wird oder nicht )). ES iſt dem Reichsgeſetze die das 


2) Urheberreht (1876) ©. 46. 
3) Spöndlin, Verlagäreht ©. 28 fa; Stobbe, deutjches Prise 
vatreht Bd. II. ©. 12. 


en a ee 
KurT, m "fr Au 


— 419 — 


Urheberrecht ausschlieglih als Vermögensrecht charakterifirende 
Auffaſſung fremd, wie das Reichsoberhandelsgericht *) bemerkt. 
Jah 8. 5 lit. b des Gefeßes werden auch folche Vorträge ge: 
ſchützt, welche lediglich zum Zwecke der Erbauung oder Unter: 
haltung gehalten werden. Bei noch nicht veröffentlichten Werfen 
(Manujkripten) it ſelbſt das Zitiren einzelner Stellen unterjagt, 
8. 7 lit. a. Die Motive hiezu fagen ausdrücklich: Es kann 
bei Manuffripten, welche vielleicht gar nicht zum Drude beftimmt 
find, ein hohes perſönliches Intereſſe des Autor verlegt 
werden, wenn ein allgemeines Recht zum Zitiren anerkannt 
würde. Nah $. 18 und 22 tritt Beitrafung wegen Nachdruds 
auch dann ein, wenn dem Berechtigten ein vermögensrechtlicher 
Schaden nicht zugefügt worden it. Der 8. 24 des Entwurfs, 
welcher dieß ausdrüdlih bejtimmte, wurde lediglih als nad) 
8. 22 (8. 23 des Entw.) entbehrlich gejtrihen, nach welchem 
der Nachdruck ſchon mit der Herftellung eines Nachdruds- 
eremplares vollendet ift >). Der $. 44 des Entwurfes, welcher 
die Bejtimmung enthielt: daS ausfchliegliche Recht des Urhebers 
und jeiner Nechtsnachfolger zur Vervielfältigung von Schrift: 
werfen ift fein Gegenjtand der gerichtlichen Erefution, wenn 
nit etwa der Urheber oder deſſen NRechtsnachfolger fich zur 
Vebertragung oder Ausübung des ausjchließlihen Rechtes durch 
befonderen Bertrag rechtlich verpflichtet hatten, wurde zwar bei 
der Berathung vom Neichstage auf Antrag des Berichterjtatters 
gejtrihen, jedoch nur aus dem Grunde, weil die Redaktion des 
zweiten Saßes zu Mißverjtändnifjen Anlaß geben fünne und 
durch den Wegfall des ganzen Paragraphen nur ein äußerliches 
Drnament wegfalle 6). Auch hier wurde aljo das Urheberrecht 
nicht als bloßes Vermögensrecht aufgefaßt. 

2) Andere, insbefondere Dambad) ?) und Wächter ) jtellen 
als weiteres Erforderniß die Verlagsfähigfeit des Werkes 
auf. Gegen diefes Erforderniß fprechen aber ſchon Gründe 

4) Entſch. Bd. 16. ©. 228. 

5) Protokolle des norddeutschen Neichötages dv. 1870, Bd. II. ©. 848. 

6) Protokolle I, c. ©. 857 fg. 

Tec. ©. 14 fg. 

8) Autorrecht ©. 53 fo. 


— 4120 — 


allgemeiner Natur. Ob ein Werk verlagsfähig it oder nicht, 
hängt wenigitens theilweife von dem jeweiligen Stande des bud): 
händleriſchen Betriebes und von der Stimmung des Publikums 
ab. Dieß find aber nicht. nur Momente, über welche zu urtheilen 
dem Kichter nicht wohl zugemuthet werden fann, jondern auch 
Momente mwechlelnder Natur, mit welchen der Grundjaß der 
Stätigfeit der Rechtspflege fich nicht vereinigen läßt). Es 
führt dieſes Erforderniß ferner dazu, daß das Urheberrecht nicht 
nothwendig mit der Produktion des Werfes beginnen und bis 
zum Ablauf der gejeglihen Schußfrift fortdauern würde, fondern 
(welche Konjequenz auch mannigfach gezogen wird) erſt hinterher 
bei veränderten Umſtänden (in Folge des Lebensganges oder 
Schickſales des Verfaſſers oder anderer Richtung des literarifchen 
Verfehres) entjtehen oder auch vor Ablauf der Schugfrift wieder 
aufhören würde. Würde jodann ein Manuffript von einem 
Andern ohne Genehnigung des Berechtigten gedrudt, jo müßte 
entweder gleihmwohl noch geprüft werden, ob es verlagsfähig ge: 
weſen fei, was mit dem Gedanken des Gefeges, daß auch das 
perjönliche Intereſſe des Berfafjers, der möglicherweile aus 
andern, als vermögensrechtlihen Gründen fein Manuffript nicht 
veröffentlicht wiſſen will, jchußberechtigt ſei, nicht vereinbar ift, 
oder man müßte annehmen, daß jede gedruckte Schrift, weil jie 
einntal verlegt ift, jchugberechtigt fei (weil, wie Bluntjchli 10) 
jagt, es ungereimt wäre, wenn der unbefugte Herausgeber von 
Briefen fih darauf berufen könnte, fie feien Feine literarifche 
Erzeugnifje), in welchem Falle an fi nicht zum Verlage ge: 
eignete Werke durch deren Veröffentlichung erſt ſchutzberechtigt 
würden. 

Das Neichsgeieß hat nun auch, wie aus den Motiven zu 
$. 1 defjelben hervorgeht, und in der Entjcheidung des Reichs: 
oberhandelsgerichts Bd. XXV. ©. 79 betont wird, geflifjentlich 
vermieden, einen der in den älteren Nachorudsgefegen üblichen: 
Ausdrüde: Literariſche Erzeugniffe, Werke der Wifjenfchaft, der 
Literatur, zur Bezeichnung des Gegenftandes des Urheberrechtes 





9) Spöndlin, Verlagdreht ©. 60. 
10) Krit. Ueberichau I. ©, 16. 





— 41 — 


anzumenden, und zwar aus dem Grunde, weil diefe Ausdrüde 

in der Praxis fich nicht bewährt und zu Zweifeln Anlaß gegeben 
haben. Das Reichsgeſetz gewährt feinen Schuß, ohne das Er- 
forderniß der Berlagsfähigfeit aufzujtellen, jedem Schriftwert, 
aljo jedem Werk, welches fich als felbjtändige Arbeit darftellt 
und in der Schrift finnlih wahrnehmbare Geftalt angenommen 
hat. Wenn das Geſetz das Urheberreht als das Recht der 
mechanifhen Bervielfältigung eines Schriftwerfes definirt, jo . 
fann hieraus nicht, wie Dambah ©. 15 thut, gefolgert werden, 
daß das Objekt des Rechtsſchutzes zum literarifchen Verkehr, 
zum Verlag geeignet fein müfje, jondern nur, daß eine mecha— 
nifche Vervielfältigung defjelben möglich jein müfle, was immer . 
der Fall ift. 

3) Unerhebli ift auch, ob der Urheber jein Manuffript 
zur Vervielfältigung bejtimmt hat (Dambach Seite 15. 16). 

4) Auch der Auffafjung von Dernburg ''), Fannn nicht bei: 
gepflichtet werden, daß der Ausdruck „Schriftwerf” darauf hin- 
deute, daß e3 ſich um eine größere planmäßige Darftellung 
handle. Dieſes Wort ijt nach den Motiven nur gewählt, um 
das originale geiftige Erzeugniß zu bezeichnen. Das Geſetz 
jelbit jpriht in $. 7 von Schriften geringeren Umfangs und 
enthält feine Andeutung davon, daß der Schuß nur größeren 
Arbeiten gewährt werden wolle. 

Würde man übrigens auch von dem Erfordernifje der Ber: 
lagsfähigfeit ausgehen, fo wäre !?) jedenfalls nicht darauf zu 
ſehen, ob das in Rede jtehende einzelne Schriftwerf nad 
jeiner bejonderen Beichaffenheit und nad) den Umſtänden, unter 
denen e3 entitand, ſich dazu eigne, als DVerlagsartifel mit Vor: 
theil verwendet zu werden, fondern nur darauf, ob es in die 
Klafje derjenigen Erzeugnifje gehöre, welche literarifche Verbrei— 
tung zu finden pflegen, und es würde in diefer Hinficht gleich: 
giltig erfcheinen, ob daſſelbe als jelbjtändiger VBerlagsartifel oder 
nur in Verbindung mit andern Geifteserzeugnifjen verbreitet zu 
werden geeignet if. Hiernach wäre aber auch die Frage von 


* 11) Preuß. Privatrecht 2. Aufl. 1880 Bd. II. ©. 866. 
12) Vgl. Neichöoberhandelägericht Bd. 25. ©. 81. 
Wiürttemb. Archiv für Recht 2c. XXII. Bd. 2. & 3. Heft. 28 


— 42 — 


der Berlagsfähigfeit der in Rede jtehenden Briefe, falls es auf 
die Berlagzfähigfeit ankommen jollte, zu bejahen; denn daß 
Briefe diefer Art zur Verwendung in der biographiichen Lite: 
vatur ſich eignen, liegt in der Natur der Sade, und wird von 
dem Beklagten jelbit nicht in Abrede gezogen. 

Die Schubfähigfeit der von dem Beklagten in den Nummern 
24 und 25 des „Chriftenboten” vom Jahr 1880 abgedrudten 
Briefe des Prof. Dr. von Bed ift alio außer Zweifel. 

Der Schuß des Neichögefeßes vom 11. Juni 1870 kommt 
denielben auch zu, obwohl fie längſt vor dem Inkraft 
treten diefes Gejetes verfaßt worden jind. Der 
. $. 58 des Gef., welcher, wie in den Motiven gejagt ift, die 
nothwendigen VBorichriften über die rücwirfende Kraft des Ge— 
jeßes enthält, bezieht ich zwar nur auf die vor dem Inkraft— 
treten deſſelben erfchienenen Werfe. Eine ausdrüdliche Beſtim— 
mung binfichtlih der noch nicht veröffentlichten Schriftwerfe 
(Danuffripte), welche vor dem Inkrafttreten des Geſetzes ver: 
faßt find, findet jih in demfelben nicht. Allein es fommt hier 
Folgendes in Betracht. Das Reichsgeſetz jtatuirt unter Auf: 
hebung der Landesgefege über das Urheberrecht ein weder unter 
die Kategorie des Sachenrechtes noch unter die des Obligationen: 
rechtes gehöriges jubjeltives Necht des Urhebers in Beziehung 
auf fein Werf. Mag man dafjelbe als abjolutes Verbietungs- 
recht nicht dinglichen Charakters 19) oder als rechtliche Herrichaft 
über ein immateriales Gut '*) auffajjen, jedenfall will das 
Reichsgeſetz, um den Intereffen der Urheber gerecht zu werden, 
aus Gründen der natürlichen Billigfeit an der Stelle des früheren 
landesgejeglichen Schuges dem Urheber einen einheitlichen Rechts- 
Ihuß für das ganze Neichsgebiet verleihen. Bei der Bedeutung, 
die der Gefeßgeber dem Schuge des Urhebers hienach beilegt, 
darf man aber annehmen, daß derjelbe nicht blos folchen geiftigen 
Erzeugniffen, die unter der Herrichaft des neuen Gejebes ent: 
ſtehen, bejondere rechtlihe Qualität beilegen wollte. Wie ein 
neues Geſetz, das die rechtliche Dualität förperlicher Sachen be: 


13) Mandry, civilrechtlicher Inhalt ©. 391 fg. 
14) Stobbe, II. ©. 13 fg. Spöndlin ©. 28. 


— 123 — 


trifft, auch auf alle bereits vorhandenen Sachen zur Anwendung 
zu fommen hat 1*), jo muß auch das neue Gefeß, das einem 
geiftigen Produkte eine bejondere rechtliche Qualität zuerfennt, 
auf früher ſchon entitandene geiftige Erzeugnifje Anwendung 
finden. Diefe Annahme ift im vorliegenden Fall um jo mehr 
begründet, weil der Schuß, der auch den Manuffripten in ver: 
Schiedenen Landesgejegen gewährt war !%), mit der Aufhebung 
der Landesgefeße durch 8. 57 des Neichsgejeßes wegfiel, hiefür 
aber durh das Reichsgeſetz Erjab gewährt werden follte, was 
nicht der Fall wäre, wenn das Reichsgeſetz nicht auch auf die 
fhon vor dem 1. Januar 1871 verfaßten Manuffripte anzu: 
wenden fein würde. Nach der Intention des Geſetzes follten 
Manuffripte überhaupt jedenfalls nicht geringeren Schuß genießen, 
als erjchienene Schriftwerke!). Daß der $. 58 nur der vor 
dem Inkrafttreten des Gefeßes erjchienenen Schriftwerfe Er: 
wähnung thut, erklärt fich daraus, weil bei den bereits erfchienenen 
Werfen, fall3 deren Herjtellung nach der früheren Landesgeſetz— 
gebung geitattet war, während jie dem Verbote des Reichsgeſetzes 
unterliegen wirde, befondere Vorſchriften (8. 58 Abi. 2) er— 
forderlich wurden, um die Rückwirkung des Geſetzes auf jolche 
früher von Dritten vorgenommene Handlungen auszufchließen. 
Erkenntniß des Oberlandedgerichts (1. Civil-Senats) vom 22. Februar 
1881 in Sachen Steinfopf gegen Bel und Genoſſen. 


VI Ueber das Srforderniß der gerichtlichen Kognition 
bei Errichtung ritterfhaftliher Familienftatute. 
Bon Herrn Rechtsanwalt R. Proßft. 


Das vorjtehende Thema it von einzelnen Schriftitellern 
theils berührt, theils ausführlicher behandelt; von den Gerichten 
it es gelegentlich beurteilt, aber eine Entjcheidung des höchſten 
Gerichts darüber ift bis jeßt nicht gegeben worden *). 


15) Unger, öfterreich. Privatreht Bd. I. ©. 134. 135. 
16) Vgl. das württ. Gejeg v. 24. Aug. 1845. Art. 2. 
17) Vgl. Motive, Schlußſatz zu $. 1 (N. I. Geſ.G. Bd. 4. S. 164 
u. $. 5. lit a, $. 7, lit a, des N.Gei. v. 11. Juni 1870). 
*) Auch die während des Druckes diefer Abhandlung in der Zeit: 
28* 


— — 
—* 


— 424 — 


Nah dem Vorgang der Abhandlung von Staatsrath Frei: 
herren von Mächter !) fcheint die Anficht fich mehr dahin zu 
neigen, daß Familienftatute, welchen das gerichtliche Erkenntniß 
nicht ertheilt ift, nur Dritten gegenüber der Wirkſamkeit ent- 
behren, daß fie dagegen innerhalb der betreffenden Familie ver: 
bindlich ſeien. 

Die maßgebenden Momente find aber bisher noch nicht er: 
Ihöpfend gewürdigt. Eine eingehende rechtlihe Prüfung wird 
zu einem anderen Refultate führen. 

I) Das Adelsſtatut von 1817 in dem Abfchnitt vom 
niederen Adel 8. 8 und der gleichlautende 8. 15 der Dekla— 
ration über die ftaatsrechtlichen Verhältnifje des vormals reichs— 
unmittelbaren Adels vom 8. Dezember 1821, von Deren Aus: 
legung e3 ſich handelt und deren Wortlaut unter III hiernach 
im Zufammenhang angeführt werden wird, find mit Geſetzes— 
fraft erlaffene föniglide Verordnungen. 

Man darf dieß als unbeftritten vorausichiden und e3 genügt, 
hierüber auf die Entfcheidung des Kgl. Obertribunals und deren 
Gründe, wie fie in Bolley, Entwürfe von Gefegen 2c. ?) mitge: 
theilt find und auf Wächter, Handbuch des W.P.R. 3) zu verweifen. 

II) Als die entfernteren Quellen und Anhaltspunkte für 
die Auslegung des Adelsftatut3 und der Deklaration von 1821 
erichienen die Deutſchen Bundesafte und die auf fie gegründeten 
Anordnungen über die Verhältnifje des Adels in anderen Bundes: 
ftaaten. 

Art. 14 der D. Bundesafte vom 8. Juni 1815 lautet 
an der betreffenden Stelle: 


ichrift für die freiw. Gerichtöbarkeit von Boſcher B. 23 ©. 322 ꝛc. ver: 
öffentlichte Entiheidung der Givilfammer des K. Oberlandes-Geridtes 
in der Beichwerdefache des Freiherrn E. v. B. vom 19. Febr. 1881 
entjcheidet die erörterte Frage nicht direkt, enthält übrigens in der Be 
gründung den Sab, daß das vorgelegene Statut ohne gerichtliche Be- 
tätigung nicht gültig werden fonnte, 

1) Württemb. Monatsfchrift v. Sarwey IV. 388 ff. 

2) 1835. ©. 207 ff. 

3) 1. 8. 95. 99, 


* — — "DR ze 
BER 7 


— 445 — 


„2) werden nach den Grundſätzen der früheren Deutſchen 
Verfaſſung die noch beſtehenden Familienverträge (der 
Fürſten, Grafen und Herren) aufrecht erhalten und ihnen 
die Befugniß zugeſichert, über ihre Güter: und Familienver— 
bältnifje verbindende Verfügungen zu treffen, welche jedoch 
dem Souverain vorgelegt und bei den höchiten Landesitellen 
zur allgemeinen Kenntniß und Nachachtung gebracht werden 
müfjen 20.“ 

„Dem ehemaligen Reichsadel werden die sub 1 und 2 
angeführten Rechte, Antheil der Begüterten an Landjtand- 
Schaft 2c. zugefichert. Diefe Rechte werden jedod 
nur nah Vorſchrift der Landesgejege ausgeübt.” 
Der hier gemachten Unterfcheidung gemäß hat in Bayern 


Beilage IV zu Tit. V der Verfaffungsurfunde von 1818, betitelt: 
„Edikt über die jtaatsrechtlichen Verhältniffe der vormals reichs— 
tändifhen Füriten, Grafen und Herrn” in $. 9 bejtimmt: 


Sie haben die Befugniß über ihre Güter und Familienver: 
hältnifje verbindliche Verfügungen zu treffen, welche dem Sou— 
verain vorgelegt werden müfjen, worauf fie, joweit fie nichts 
gegen die Verfaſſung enthalten, Durch die oberiten Landesitellen 
zur allgemeinen Kenntniß und Nachachtung gebracht werden. 
Die Beilage VII zu Tit. V der Bayerifchen Verfaſſung, 


das „Edikt über die Familienfideikommiſſe“ enthält dagegen als 
Vorfhriften für den niederen Adel: 


8. 19. „Wer ein Familienfideikommiß gründet oder ver: 
mehrt, darf den Pflichttheil derjenigen, welche darauf nach 
den Gejegen ein Recht haben, nicht verlegen.” 
8. 22. „Ein Familiengejeß wird erjt 

1) dur gerichtliche Bejtätigung und 

2) durch die Eintragung in die Fideifommiß: 

matrifel wirffam.“ 

8. 29. „Nach geendigter Inſtruktion ift die Errichtung 
des Fideikommiſſes in wiederholte Prüfung zu nehmen und 
von dem Apellationsgerichte die Bejtätigung, wenn es 
an einem wefentlichen Erfordernifje mangelt, abzufchlagen. 
Um den Unterfhied von dem für die Standesherren be= 


jtehenden Nechte noch ausdrüdlich zu beftätigen, erklärt 8. 102: 





— 46 — 


„Die Verhältnijfe der vormals unmittelbaren Fürjten, Grafen 
und Herrn in Beziehung auf ihre Familienfideifommifie 
und Stammgüter find in einem bejonderen Edikte bejtimmt.“ 

Die Badifche und die Preußiſche Gejeggebung kommen 
über dieje Unterfcheidung dadurch hinweg, daß fie, ohne an die 
D. Bundesafte ſich ftreng anzufchließen, auch die verbindliche 
Kraft jtandesherrlicher Familienjtatute von der landesherrliden 
Beitätigung abhängig machen. 

Zweites Gr. Badiſches Edift vom 16. April 1819 
8. 4, 49. 

8. Preußiſche Inſtruktion vom 30. Mai 1820 8. 21. 

Auch im Großherzogthum Heſſen ift für die Standes: 
herren bejtimmt: 

Unfere Beftätigung ift zwar zur Gültigkeit folcher Fami— 

lienverträge und Berfügungen nicht erforderlich; allein 

unjere Gerichte können auf den inhalt Fünftiger Verträge 
nur alsdann erfennen, wenn folche zu unjerer Kenntniß 
gebracht und injofern es dabei von Nechten und Verbind— 

(ichfeiten dritter PBerfonen ſich handelt, von dem G.H. 

Staat3minifterium öffentlich befannt gemacht worden jind, 

biernächft aber der Zeitraum verfloffen ift, binnen deſſen 

gejeglihe allgemeine Borjchriften in Wirkjamfeit treten 
follen. | 

Gr.H. Heſſiſches Edikt vom 17. Februar 1820 $. 10: 
Für die Ritterſchaft gilt dagegen noch die Deklaration vom 
1. Dezember 1807, wonach Familienftatute dev landesherr— 
lihen Bejtätigung bedürfen, um vor Gericht Geltung zu 
haben. Eine Ausnahme davon fcheint nur für die freiherrliche 
Familie von Riedeſel zu bejtehen, welcher noch aus Neichzzeiten 
verjchiedene Nechte zufommen, die ſonſt nur den Standesherren 
gebühren. 

II) Die Württembergifhen Beitimmungen treffen 
diefelbe Unterfcheidung wie die Bayrifchen mit derfelben Abficht: 
lichkeit. 

Der Beriht des für landjtändifche Angelegenheiten nieder: 
28. September 


Somit Staatsminifteri * 
geſetzten Comites an das Staatsminiſterium vom 75 Sfiober 





— 421 — 


1816, womit dag Mdelsjtatut vorgelegt wurde *), jagt vom 
niederen Adel unter 8. 8: 

„Die Fortdauer der Autonomie ift in der Bundesafte zu: 

gejagt, jedoch find hier die landesherrlihhen Rechte 

ausgedrückt” 
und in dem Anbringen des K. Geheimeraths von 21./23. No: 
vember 1816 5) heißt es Bl. 2. LI: 

„ven Statute liegt die Bundesafte zu Grunde Es wird 
jih darin aber auch auf die Landesgefege berufen, nad 
deren Borjchriften die den vormals Neichsunmittelbaren 
zugejtandenen Rechte ausgeübt werden follen und daher 
find die Betimmungen des Statuts den diesfeitigen Ver— 
faſſungs- und BVerwaltungsgrundfägen joviel möglich ange: 
paßt worden.” 

Es jcheint zwar von Anfang bei Entwerfung des Adels: 
jtatuts beabjichtigt gewejen zu jein, wie in Baden und Preußen 
auch für den jtandesherrlichen Adel die Giltigfeit neuer Fami— 
liengefege von der Beitätigung der Staatsbehörden abhängig zu 
machen. Sn der Folge find aber für beide Kategorien ganz 
verichiedene Vorſchriften gegeben. 

Die feit dem Jahre 1819 ergangenen Deklarationen der 
jtaatsrechtlichen Berhältnifje derjenigen Standesherren, welche 
früher mit Virilftimmen auf dem Neichstage begabt waren, 
Ichliegen fich ganz an die Worte der Bundesafte im erſten Sage 
der Ziffer 2 des Art. 14 an; fie verlangen die Borlegung 
neuer Familiengefege an den Soüverain, worauf diejelben durch 
die oberjten Landesjtellen zur allgemeinen Kenntnig und Nach— 
ahtung gebracht werden follen. Beides ijt aber nicht zur Be— 
dingung der rechtlichen Wirkſamkeit diefer autonomen Verfü: 
gungen gemacht ©). 

Dagegen lautet die einfhlagende Beitimmung für den 


4) Akten des 8. Geheimeraths von 1816—17. Fasz. V. 

5) Alten des K. Geheimeraths: „Aufſätze in Beziehung auf das 
Adelsitatut,” 

6) S. die Deflarationen für Thurn und Taris, Walde, für Die 
- fürftlih Hohenlohe'ſchen und die fürſtlich Waldburg'ſchen Häuſer, für 
Duadt, Königsegg, Pükler und Solm?. 





— 428 — 


niederen Adel im Adelsftatut $. 8 und in der Deklaration 
vom 8. Dezember 1821 $. 15, um deren Auslegung es jid 
handelt: 

„gur Giltigkeit neuer Familiengefege und Stif— 

tungen wird erfordert, daß fie der zuftändigen 

rihterliden Stelle, weldhe mit der betreffen: 
den NRegiminalftelle Rüdfprade zu nehmen 
bat, zur Kognition vorgelegt werden.” 

Aehnlich ift in den Deklarationen der ftaatsrechtlichen Ver: 
bältnifje der beiden ftandesherrlihen Häufer, welde nur auf 
den Kreistagen jtimmberechtigt geweſen waren, der Grafen 
Nechberg und Neipperg, gejagt: 

„gur Giltigfeit neuer Familiengefege und Stiftungen it 

erforderlih, daß fie dem Souverain. vorgelegt werben, 

worauf fie nach vorgängigem Erfenntniß der betreffenden 

Gericht: und Negiminaljtellen zur Nahriht und Nachach— 

tung befannt gemacht werden 7).” 

Da dieje beiden Häufer die Bundesafte in ihren für die 
veichsftändifchen Fürften, Grafen und Herren getroffenen Be: 
ftimmungen nicht direkt für fi in Anſpruch nehmen konnten, 
jo iſt dies auch in Betreff der Autonomie hiemit angedeutet, 
dadurch aber nochmals betätigt, daß die Nechte der Standes: 
herren von jenen des übrigen Adels in diefem Punkte mit allem 
Bedacht geſchieden und abweichend feftgeftellt wurden. 

IV) Die angeführten Worte des Aoelsftatuts und ber 
ritterfchaftlichen Deklaration find an fich Klar und. fünnen eigent: 
lih nur über die Frage Bedenken anregen, warum die Giltig- 
feit nur von der „Vorlage zur Kognition” abhängig fein jollte, 
nit von der erfolgten Kognition. 

Diefe Frage wird aber mit der weitern, ob unter ber 
„Giltigkeit“ etwas anderes zu verftehen fei, als der Wortlaut 
ausdrückt, gelöst Durch die Betrachtung der unmittelbaren Duellen 
des Adels-Statuts. 

Der erite Entwurf des K. Geheimeraths hatte an der be: 
treffenden Stelle gelautet: 








7) Deklarationen vom 19. Mai 1827 $. 10 und vom 3. Mai 
1832 $. 10. 


— 429 — 


„Macht ein Mitglied der Ritterſchaft in Zukunft von dem 
Rechte der Autonomie Gebrauch, ſo ſind ſolche neue Fa— 
miliengeſetze der kompetenten richterlichen und Regiminal— 
Stelle zur Kognition vorzulegen und werden nur durch 
das Erkenntniß dieſer Stellen verbindend 8).“ 

Der Entwurf wurde dem Adel zur Gegenäußerung über— 
geben, der fie dem Inſtruktionskomité der Stände zur Delibera— 
tion vorlegte. Das jtändifche Comits, welches darauf am 
7. Auguft 1816 feine Erklärung abgab, ſchlug zu dem fraglichen 
Paragraphen eine Aenderung vor, und zwar wurde nun eben 
die Faſſung beantragt, wie fie dann in dem Mdelsftatut und in 
der Deklaration von 1821 Aufnahme gefunden. hat. Dazu ift 
folgende Begründung gegeben: 

„ad 8. 8 wollte man durd die veränderte Faf- 

Jung dem Mißverftändniß vorbeugen, als ob 

bei dem richterlichen Erfenntniß über ein Fa: 

miliengejeß daffelbe erft vom Tage des Er- 
fenntniffes an feine Giltigfeit erlange Ar 

Durch diefe Motivirung ift feitgeitellt: 

1) Daß es fih nur von einer veränderten Faſſung zum 
Zwede der Bejeitigung eines Mißverftändnifjes, ſomit nicht von 
einer Abweihung von dem Grundjage des Entwurfes handelte. 
Der Entwurf ließ feinen Zweifel darüber, daß die vechtliche 
Verbindlichkeit eines Familiengejeges durch das Erfenntniß des 
Gerichts bedingt fein follte. In diejer mejentlichen Beziehung 
war aljo eine Abweichung nicht beabfichtigt. 

2) Die neue Faſſung hatte den Zwed, die Annahme aus: 
zujchliegen „als wenn ein Familiengejeg erjt von dem Tage des 
Erfenntnifjes an feine Giltigfeit erlange”. Aber mit dieſen 
Worten ift die Motivirung nicht abgeſchloſſen, es ijt vielmehr 
gefagt, „bei dem richterlichen Erfenntniffe“ über ein Familien- 
geſetz fei daſſelbe nicht erft von dem Tage des Erfenntnifjes an 
gültig. Die eben angeführten Worte find offenbar mit aller 
Abſicht aufgenommen und der ganze Satz der Motive will ſagen: 


8) Landſtändiſche Verhandlungen, Protokoll v. 4. Septbr. 1816. 
Abth. 29. S. 94. 96. 
9) Landſtänd. Verhandlungen a. a. O. 104. 106. 112. 


— 430 — 


man wollte dem Mißverjtändniß vorbeugen, als ob, wenn 
das richterlihe Erfenntniß ertheilt wird, das Familien: 
geſetz alsdann erſt vom Tage des Erfenntnifjes an Giltig: 
feit habe. 

Und hiemit ijt ein Sinn fowohl diefer Motive, als unjeres 
“ entfheidenden $. 15 der Deklaration gewonnen, welcher alle 
weiteren Zweifel ausſchließt. 

Die Deklaration (Adelsſtatut) hat zwar eine andere Fafjung 
erhalten als der Entwurf, aber fie ift demfelben durch ihren 
Wortlaut ganz nahe geblieben, indem fie die Vorlegung zur Kog— 
nition zur Bedingung der Giltigfeit erflärte. Weber den Haupt: 
grundjag wurde nichts Abweichendes ftatuirt, was nach den Mo: 
tiven, wie gezeigt, auch nicht beabjichtigt war. | 

Aber ein vermöge der rechtlich begründeten Autonomie ver: 
faßtes Familiengefeg ift nicht an fich ungiltig, da das öffentliche 
Recht vielmehr jolche Statute den Familienhäuptern ausdrüdlid 
gejtattet, eS gehört nur noch ein Weiteres, die richterliche Kog— 
nition, dazu, um ihnen die rechtliche Wirkſamkeit zu verjchaffen. 
Das fand das Anitruftionscomite in den Worten des Entwurfs 
nicht richtig ausgedrüdt, wenn er jagte „das Familiengefeg werde 
durch das Erfenntniß exit giltig”. Man wählte daher die 
Worte: „Zur Giltigfeit wird die Vorlage zur gerichtlichen Kog— 
nition erfordert,“ um lediglich dag Eine bejtimmter auszudrüden, 
daß, wenn das Erfenntniß ertheilt werde, damit erjt die formelle 
Geltung vollendet jei. 

Wird aber das Erkenntniß nicht ertheilt, fo ift für dieſen Fall 
eine Aenderung an dem Entwurfe nicht beabfichtigt, es bleibt 
dabei, daß dann das Familiengefeg die Giltigfeit nicht erlangt. 

Daß die neue Fafjung nicht glüdli war, läßt fich haupt: 
fächlich in der Richtung behaupten, daß die Giltigkeit allein von 
der „Vorlage zur Kognition” abhängig gemacht jcheinen Fönnte. 
Beijer wäre überhaupt wohl der Ausdrud des Bayerifchen Ediks 
angewendet worden, das Familiengefeg werde durch die gericht: 
lihe Kognition erſt „vechtlih wirkſam“. Gieng aber der Ver: 
fafjer der neuen Redaktion mit dem Ausdrude „Giltigfeit” an 
jein Werk, jo ift nun fo viel gewiß, daß er nicht jagen durfte, 
das Familiengejeß werde erjt durch die Erlafjung des Erkennt: 


— 41 — 


nifjes giltig, wenn er nicht in den Fehler des Entwurfs ver- 
fallen wollte, den eben zu vermeiden die Aufgabe war. 
Andererfeits brauchte er aber die fraglichen Worte fichtlich 
nicht in ihrem jtrengen buchitäblichen Sinne, denn fie blieben 
nur eben aus dem Entwurfe ungeändert ftehen. Hier war ge: 
jagt, es feien jolche Familiengejege „zur Kognition vorzulegen“. 
Statt alsdann den Schlußfat, wie er im Entwurfe gejtanden 
war, anzufügen: „und fie werden nur durch das Erfenntniß 
verbindend,” fette man jtatt deſſen an die Spige: Zur Giltig- 
feit werde die VBorlegung erfordert. In den neuen Zuſammen— 
bang paßten die Worte: „zur Kognition vorzulegen” nicht mehr 


- ganz, aber man darf ihnen eben dehhalb nicht ihre fpeziftiche 


Bedeutung beilegen, weil fie ohne weitere Auswahl aus ver - 
früheren Faſſung herübergenommen jind und fie haben daher 
nur den allgemeinen Sinn, wornach die gerichtliche Thätigfeit 
und Beihlußfafjung noch hinzuzutreten hat, um die Familien— 
gejege auch zur formellen Giltigfeit gelangen zu laſſen. In der 
That läßt ſich ein Grund dafür nicht denken, daß die Thatjache 
der Vorlegung an fi über die formelle Giltigfeit oder Un— 
giltigfeit einer Verfügung entieheiden follte, während man nad 
den Motiven doc mit diefer Faſſung nur ausprüden wollte, daß 
das Statut an fich nicht materiell ungültig genannt werden fünne. 

Es fann nach al’ diefem darüber fein Bedenken mehr be: 
jtehen, daß beim ritterfhaftlihen Adel erjt die er— 
theilte Kognition einem Jamiliengefeg die recht— 
liche Wirkſamkeit verleiht. 

V) Es iſt eine eigenthümliche Fügung, daß die zwei nam— 
hafteſten württembergiſchen juriſtiſchen Schriftſteller jener Jahr— 
zehnte, Weishaar und Bolley dem ſtändiſchen Komite an— 
gehörten, dem die neue Faſſung unſeres 8. zu verdanken iſt, 
und daß Beide in der Folge Veranlaſſung hatten, ſich über die 
vorliegende Frage auszujprehen. Nur ließ fich feiner von Beiden 
näher auf diejelbe ein. 

MWeishaar gibt im MWürttembergifchen Privatrecht '9) eine 
Paraphraſe der Deklaration in folgenden Worten: 


10) 2te Aufl. 8. 445. 


— 432 — 


„Auch neue Familiengeſetze und Stiftungen iſt ein Mitglied 
der NRitterfchaft zu errichten befugt, doch wird in formeller 
Rüdfiht zur Giltigfeit derfelben erfordert, daß fie der 
zuftändigen gerichtlichen Stelle, welche mit der betreffenden 
Regiminalftelle Rückſprache zu nehmen hat, zur Kognition 
vorgelegt werden.“ 

Die hiemit angedeutete Unterfheidung, daß diefe Familien: 
geſetze an fich materiell giltig feien, zur formellen Giltigfeit 
aber der gerichtlichen Kognition bedürfen, ftimmt mit der obigen 
Auffaffung ganz überein. 

Bolley jagt in-den „Entwürfen von Geſetzen 2.1") über die 
jtandesherrlihen Deflarationen: 

„Auch das hätte bejtimmter ausgedrüdt werden follen, ob 

die Vorlegung der Verfügungen die Bedingung ihrer Giltig- 

feit jei und von welcher Zeit an folche namentlih in Be: 
ziehung auf Dritte als verbindlih und wirkſam zu be— 
trachten ſeien, ob von der Zeit der Abſchließung oder der 

Vorlegung oder der öffentlichen Bekanntmachung? In Be: 

ziehung auf Dritte fann unzweifelhaft nur die legte oder 

vielmehr nach den Grundfäßen des Pfandgeſetzes und des 

Ergänzungsgefeges von 1828 Art. 15 nur die Zeit der 

Eintragung in die öffentlichen Bücher als der entjcheidende 

Termin betrachtet werden. — Die Faſſung in der ritter: 

ichaftlichen Deklaration ift beftimmter als die in den jtaats- 

rechtlihen Deflarationen.“ 

In letzterem Satze läßt fih nad dem Zufammenhang nichts 
Anderes finden, als daß Bolley für die Nitterfhaft die Kognition 
der Behörden und deren Beröffentlihung zur Bedingung ihrer 
Giltigfeit gemacht fieht. 

Können dieje beiden Autoritäten für die oben entwidelte 
Anficht angeführt werden, jo bedarf nur die entgegengejeßte 
Eingangs erwähnte Anjiht des Staatsraths Freiherrn von 
Wächter noch einiger Worte der Entgegnung. 

Es ijt vielleicht der eben angeführte, übrigens nur auf 
die jtandesherrlihen Familienftatute fich beziehende Satz 
von Bolley, welcher den Verfaſſer zu der Unterſcheidung ver— 


11) 1835. S. 225. 


zer y 3725 


— 4331 — 


anlaßte, als wenn nicht bejtätigte und nicht publizirte Familien: 
ftatute gegenüber von Dritten feine Wirkſamkeit hätten, dagegen 
innerhalb der Familie giltig wären. Dem beftimmten entgegen- 
gejegten Wortlaute der Deklaration gegenüber, weldhe die Un- 
giltigfeit allgemein ausfpricht, hat eine ſolche Unterfcheidung 
feine Berechtigung. Aber es muß auch ſchon der Augdrud 
Bolley’$ „oder vielmehr” darauf aufmerffam machen, daß 
eine jolche Unterjcheidung feinen inneren rechtlihen Grund hätte. 
Die öffentlihe Belanntmahung ift nach unferen Geſetzen fein 
Moment, von dem die äußere Geltung einer privatrechtlichen 
Verfügung abhängt; ift fie bei den Adelsftatuten vorgeichrieben, 
jo iſt es nur aus Gründen der Zweckmäßigkeit gefchehen. Der 
Eintrag in die öffentlihen Bücher ift es, welcher über die An- 
fechtbarfeit einer Verfügung über vinfulirte Immobilien durch 
dritte Perſonen entjcheidet, und es läßt fich vertheidigen, daß 
auch nach erfolgtem gerichtlichen Erfenntnig und nach gefchehener 
Befanntmahung eines SFamiliengejeges die in demjelben ent- 
baltene Einverleibung von Gütern in ein Fideikommiß deren 
Beräußerung an den gutgläubigen Erwerber noch nicht un— 
giltig machen würde, jo lange nicht die fideikommiſſariſche Eigen: 
Ihaft in das öffentlihe Buch eingetragen ift '?). Damit fällt 
die ganze von Wächter verfuchte Unterfcheidung. 

Wenn fodann geltend gemacht wird, daß auch ſonſt in 
Württemberg bei Berträgen über Liegenfchaften die gerichtliche 
Inſinuation vorgefchrieben fei, ohne daß ihre Unterlafjung die 
Verträge unwirkſam machte, jo ift darauf zu entgegnen, daß bei 
gewiſſen Verträgen, wie bei der Beitellung von Servituten, bei 
allen Schenkungen von Liegenfchaften und andern Schenkungen 
über 200 fl, das gerichtliche Erfenntniß zur rechtlichen Wirk— 
jamfeit allerdings erforderlich ift, und daß, wie in diefen Fällen, 
gerade bei den ritterfchaftlichen Familiengefegen ja ausdrücklich 
gejagt ift, daß von der Kognition die Giltigfeit abhänge. Es 
kann daher nur die Analogie der leßteren Verträge zutreffen, 
nicht die der erjteren. 

Das Hauptargument der Abhandlung, welches darin befteht, 


12) 3. vgl. preuß. Recht: Koch I S. 300. 5. 


— 434 — 


daß „ohne Zweifel für die Nitterfchaft Feine von der über die 
ftandesherrlihen Statute gegebenen verfchiedene Beitimmung be: 
zweckt worden ſei“, ijt Schon nach den allgemeiniten Erwägungen 
unrichtig. So fagt 3. B. das D.A.G. zu Celle in einer Ent: 
fheidung vom 15. Febr. 1854: „Die kraft ausgedehnteren 
Autonomierehts dem deutfchen hohen Adel zujtehende Befugniß, 
dur Familienverträge und Hausgefege die Verhältnifje ihrer 
Familien, namentlich die fünftige Erbfolge, innerhalb derjelben zu 
ordnen, kann auf den niederen Adel nicht ausgedehnt werden !?).” 
Für unjer Württembergiihes Necht aber ift das Argument 
durch) die oben angeführten gefchichtlichen Thatfachen direkt widerlegt. 

Außer den angeführten Autoren ſprechen auh Mohl im 
Staatzreht, Reyſcher im Württemb. Privatreht und Yang 
im Württemb. Perſonenrecht von unferem Gegenftand, ohne aber 
unfere fpezielle Frage ind Auge zu fallen. 

Es ijt hiernach auch bei unferen wifjenfchaftlichen Autori: 
täten nur die Beitätigung des oben gewonnenen Rejultats, aber 
fein wirklicher Grund gegen dasjelbe zu finden. 

Die weitere Frage, ob und wie weit ein gerichtlich nicht 
bejtätigtes Statut gleichwohl im einzelnen Falle als Erbvertrag 
oder leztwillige Verfügung für die Betheiligten rechtlich wirkſam 
jein könne, ift nach der Abficht des Familienhauptes und der 
etwaigen Kontrahenten und den angewendeten rechtlichen Formen 
zu beurtheilen und liegt außer dem. Bereich diefer Ausführung. 

Schließlich ſei für Diejenigen, welche die oben zitirten 
Autoren nachzuleſen fih die Mühe nehmen jollten, noch die 
Notiz angeführt, daß das bei Bolley!*) erwähnte Gutachten 
der Tübinger juriftiichen Fakultät vom 29. Mai 1830 ſich auf 
eine Familien=Berordnung in der freiherrlih von Rehling'ſchen 
Familie bezieht, welche jchon vom 12. September 1794 Datirt, 
daher die uns vorliegende Frage des feit dem Adelsſtatut gel: 
tenden Rechtes dabei feine Erörterung gefunden hat. 

13) Seuffert, IX. 194, 

14) A. a. ©. S. 226. 





— — 


FE — 
— 435 — 


VI. Zahlung an Handlungsreiſende. 
Von Herrn Landgerichtsrath Bienz in Tübingen. 

Weinhändler St. von Würzburg ließ im Sommer 1878 
durch J. Hahn, Schwiegerſohn des Rößleswirths H. in G., bei 
verſchiedenen Perſonen Beſtellungen auf Wein aufnehmen, ſo 
auch im Auguſt 1878 bei Roſenwirth V. in Genkingen. ®. be— 
ſtellte durch Hahn bei St. ein Faß Wein, welche Beſtellung St. 
am 24. Auguſt 1878 effektuirte, indem er den beſtellten Wein 
an V. abſandte und demſelben Faktura hierüber im Betrag von 
52 ME. 70 Pf. zugehen ließ. In dieſer Faktura beißt es: 
„Vorſtehend -beehre ich mich, Ahnen Rechnung zu ertheilen über 
den durch Herrn Hahn mir gütigft beitellten Wein im Betrage 
von 52 Mt. 70 Pf., deren gefällige konforme Gutſchrift ... 
bitte,” Als Zahlungsfrift war auf der Faktura bemerkt: „Ziel 
3 Monate”. 

Im Dftober 1878 fam Hahn wieder zu B., welcher, mit 
der erften Sendung zufrieden, am 17. Dftober 1878 an Hahn 
den Betrag der erwähnten Faktura mit 52 ME. 70 Pf. bezahlte, 
wofür Dahn auf der Faktura quittirte mit den Worten: „Danfend 
erhalten pr. St. Hahn.” 

Zugleich beftellte B. bei Hahn weitere 589 Liter Rothwein; 
diefe Beitellung effeftuirte St. am 26. Dftober 1878 durch 
Ueberfendung des Weins nebjt Faktura im Betrag von 354 ME. 
20 Pf. und lautet die Faktura ganz fonform mit der eriten. 

Den Betrag der zweiten Faktura bezahlte B. am 12. Februar 
1879 an Hahn, welcher auf der Faktura dafür quittirte mit 
den Worten: „Danfend erhalten, abzüglih Fracht ME. 23. 85., 
pr. St. Hahn.“ 

Am 26. Mai 1879 ſchrieb St., welcher inzwifchen erfahren 
hatte, daß Hahn bei den Kunden Gelder für die durch ihn bes 
jtellten von St. effeftuirten Meinfendungen einziehe, an ®.: 
„Um Sie vor jedem Schaden zu bewahren, made ih Sie da= 
rauf aufmerffam, meinem Brovijionsreifenden Hahn keinerlei 
Zahlung zu leiten, da derfelbe nicht berechtigt iſt, Gelder für 
mich in Empfang zu nehmen.” 


— 436 — 


Bei einem Befuche in Genkingen erfuhr St., daß V. an 
Hahn bezahlt und Hahn die eingegangenen Gelder veruntreut 
habe. Da St. von dem vermögenslofen, wegen Unterfchlagungen 
in Unterfuhung und Strafe gefommenen Hahn nichts erlangen 
fonnte, jo ließ St. gegen B. gerichtliche Klage auf Zahlung 
von 342 ME. 36 Pf. erheben. In der Klagbegründung führte 
St. bezüglich feines Verhältnifjes zu Hahn noch an: Hahn habe 
ihm im Juli 1878 gejchrieben, er beabfichtigte ein Handelsge— 
Ihäft zu gründen und eine Agentur für eine Weinhandlung an: 
zunehmen; er habe Hahn ermwiedert, er jei nicht abgeneigt, ihm 
den Berfauf von Wein provifionsweife zu übertragen; nad 
perfönlicher Verhandlung mit Hahn habe er ſich Anfangs Auguft 
mit Hahn dahin geeinigt, daß Hahn gegen eine Proviſion von 
100/0 des Berfaufspreifes Beftellungen auf Wein für ihn, ©t, 
aufnehmen dürfe; zu Folge diefer Abmahung habe dann Hahn 
für ihn bei V. die zwei oben erwähnten Beftellungen zu feit 
verabredeten Preiſen entgegengenommen und er folche effektuirt. 
Hahn habe das von DB. gemäß dem Inhalt der Fakturen richtig 
bezahlte Geld für fich behalten; V. habe diefe Zahlungen an 
Hahn auf eigenes Riſiko geleiftet und müſſe nun ihm, da er 
von Hahn nichts erhalten fünne, für den Betrag der Falturen 
auffommen; er habe den Hahn feinem Kunden als feinen Reiſenden 
avifirt, Hahn felbft Habe fih nur als Vermittler von Verkäufen 
vorgeftelt, V. habe weder vom Klr. noch jonftwie eine An- 
deutung dahin befommen, daß Hahn Handlungsreifender jei, 
Hahn fei zum Einzug von Geldern nicht berechtigt gemwejen, und 
er Klr. habe erft im Frühjahr 1879 davon Kunde erhalten, daß 
Hahn Gelder einziehe. 

Seitens des Beklagten wurde um Eoftenfällige Klagab— 
weijung gebeten und zu Begründung diejes Gejuchs vorgetragen: 
Beflagter fei durch Zahlung der dem Kläger für den erhaltenen 
Wein gejchuldeten Beträge an Hahn von feiner Schuldverbind: 
lichkeit gegenüber dem Kläger liberirt worden; Beflagter wiſſe 
zwar nicht, was zwifchen Kläger und Hahn über die Verwendung 
des Lezteren im Gejchäft des Klägers verhandelt worden jei, 
allein Hahn ſei Handlungsbevollmädtigter des Klägers im Sinn 
des Art. 49 des Handelsgefegbuchs geweſen; Hahn habe fich den 


— 437 — 


Beklagten bei feinem erften Befuch im Auguft 1878 als Hand: 


lungsreiſenden de3 Klägers vorgeitellt, ebenfo beim Bejuch im 


Dftober 1878, deßhalb habe Beklagter bei Hahn die zwei Wein- 
bejtellungen gemacht und bei dem Zufag in den Fakturen: „be: 
ehre mich Ihnen Rechnung zu ertheilen über den durch Herrn 
Hahn bejtellten Wein“ habe Beklagter fein Bedenken getragen, 
die Beträge der Fakturen an Hahn zu zahlen, den eriten Be- 
trag 5 Wochen vor dem Ziel; vor Zahlung des zweiten Betrag 
habe Bellagter erfahren, daß Hahn auch anderen Perjonen 
gegenüber, die durch jeine Vermittelung von St. Wein bezogen 
haben, jich als Handlungsreifenden des Klägers ausgegeben, daß 
diefe Verfonen auch an Hahn bezahlt und Letzterer die für den 
von St. bezogenen Wein ihm bezahlten Beträge an den Kläger 
abgeliefert habe — hiefür wurde Zeugenbeweis angetreten —; 
jo habe denn Beklagter den Hahn für den Vertrauensmann des 
Klägers gehalten und demfelben: auch den Betrag der zweiten 
Faktura bezahlt. Auch ſonſt habe Kläger dur Hahn in 
Württemberg Beltellungen für jeine Weine auffuchen lafjen, die 
von Hahn eingefandten Kommiffionen effeftuirt und habe es ge= 
Ichehen lafjen, daß Hahn die Kaufpreife eingezogen habe; aus 
diejer Thätigkeit Hahns ergebe fich, daß er mit dem Kläger in 
regelmäßigen, andauerndem Geichäftsverfehr gejtanden, vom Kläger 
als ein Mann feines faufmännifchen Vertrauens betrachtet und 


‘als jolcher auch den Kunden gegenüber behandelt worden jei. 


Hätte Kläger die Zahlungen feiner Kunden an Hahn nicht als 
ihm gegenüber giltig zulaffen wollen, jo hätte er fofort jeine 
Kunden darauf aufmerffam machen jollen; indem er aber lange 
Zeit eine jolhe Warnung unterlafien, habe er durch Annahme der 
an Hahn geleiteten Zahlungen dem Hahn ftillfehweigend die Voll: 
macht zum Geldeinzug ertheilt und nicht etwa nur die Zahlung 
der ihm durch Hahn ausgefolgten Beträge genehmigt. Obwohl 
Kläger gewußt habe, daß die Schuldigfeiten des Beklagten am 
24. November 1878 und am 26. Januar 1879 verfallen jeien, 
er mithin habe annehmen fünnen, daß die Ausjtände wie ges 
wöhnlich von dem die Bejtellung vermittelnden 3. Hahn einge: 
zogen werden, habe er dennoch erjt vier Monate nach der Ver: 
fallzeit eine Verwarnung wegen Zahlung an Hahn dem Beklagten 
Württemb. Archiv für Recht sc. XXII. Br. 2. u. 3, Heft. 29 


— 433 — 


zugehen lajjen. Seitens des Klägers wurde replicando bejtritten, 
daß Umjtände vorliegen, welche den Schluß, Bellagter fei durch 
jeine Zahlung an Hahn von jeiner Schuldverbindlichfeit gegen- 
über dem Kläger liberirt worden, rechtfertigen könnten; Hahn fei 
nicht, wie dieß jonjt bei Handlungsreifenden gefchehe, dem Be- 
flagten avijirt gewefen, Beflagter habe zur Zeit feiner Weinbe- 
jtellungen gewußt, das Hahn in Gönningen etablirt fei und 
babe daher nicht annehmen fünnen, daß Hahn — felbft wenn 
er dieß gelagt haben follte, was bejtritten werde, — im Dienit 
des Klägers jtehe; Beklagter hätte daher den Hahn nach feiner 
Xegitimation zur Einkaffirung von Geldern fragen jollen,; aus 
dem Inhalt der Falturen Habe er dieß nicht entnehmen können; 
wie ſich Hahn bei Beflagtem eingeführt habe, wife Kläger nicht; 
Hahır Habe allerdings bei verjchiedenen Perfonen in Württemberg 
für den Kläger Weinbejtellungen aufgenommen und auch bei 
mehreren folcher Kunden das Geld für den Wein eingezogen, 
allein hievon habe Kläger erſt Anfang März 1879, alfo nad 
der durch den Beklagten an Hahn erfolgten Zahlung Kunde er- 
halten und darauf hin Jofort an jeine Kunden eine Warnung 
vor Zahlung an Hahn erlaſſen; Provilionsreifender des Klägers 
und befugt, auswärts Beftellungen auf Wein für den Kläger 
gegen Provifion aufzunehmen, jei Hahn gemwejen. 

Seitens des Beklagten wurde mit Nichtwiſſen beantwortet, 
ob Hahn als Neifender dem Beklagten avifirt gewejen jei und 
in Abrede gezogen, daß Weinreijende avifirt zu werden pflegen; 
ungeachtet feiner Kenntniß von der Verheirathung Hahns in 
Gönningen habe Beklagter doch annehmen fönnen, dag Hahn im 
Geſchäft des Kläger verwendet jei. Darüber, daß Hahn die 
vom Beflagten bezahlten Gelder an den Kläger ausgefolgt und 
darüber, daß Kläger zur Zeit der Zahlungen des Beklagten an 
Hahn nichts davon gewußt habe, daß Hahn folche Gelder von 
den Kunden einziehe, wurde dem Kläger der Eid zugefchoben. 

Ferner berief fich Beklagter auf ein Sachverſtändigengut— 
achten dafür, daß ein allgemeiner Handelsgebrauch in der Rich: 
tung beftehe, daß, wenn Jemand fich als Handlungsreifenden einer 
MWeinhandlung einem Dritten voritelle, von Letzterem Beltellungen 
auf Wein entgegennehme, diefe Beitellungen ſodann von der betref- 


Sr * 


— 439 — 


fenden Weinhandlung effektuirt werden, der Wein an den Beſteller 
überſandt werde und in der beigelegten Faktura nichts davon 
angedeutet ſei, daß nur direkt an die Weinhandlung, beziehungs— 
weiſe nur gegen Beicheinigung des Inhabers der Weinhandlung, 
Zahlung geleijtet werden dürfe, — der Beiteller befugt jei, an 
den Handlungsreifenden mit den Inhaber der Weinhandlung bin- 
dender Wirkung zu bezahlen, und daß dieß wenigitens dann ein- 
trete, wenn der Inhaber der Weinhandlung in einer Reihe von 
Fällen die an den Neifenden erjolgten Zahlungen angenommen 
babe, ohne eine Verwarnung in Betreff der Zahlung an den 
Reifenden an die Beiteller ergehen zu laſſen. 

Kläger nahm die ihm zugefchobenen Eide an und betritt, 
daß der vom Beflagten behauptete allgemeine Handelsgebraud) 
beſtehe. 

Dafür, daß Hahn ſich bei ſeinen Beſuchen bei dem Be— 
klagten Letzterem als Handlungsreiſenden des Klägers vorgeſtellt 
habe, berief ſich Beklagter auf Hahn und auf ſeine, des Be— 
klagten, Ehefrau als Zeugen. Endlich benannte Beklagter noch 
einige Zeugen dafür, daß Hahn bei anderen (bezeichneten) Perſonen 
ſich als Handlungsreiſenden des Klägers eingeführt und von 
dieſen Perſonen auch Geld für den beſtellten Wein eingezogen 
und dem Kläger abgeliefert habe. Mit dieſem letztgenannten 
Beweisanerbieten wurde Beklagter abgewieſen, weil das Gericht 
es für Beurtheilung des vorliegenden Rechtsſtreits für un— 
erheblich erachtete, wie ſich Hahn bei dieſen dritten Perſonen 
eingeführt, für wen er ſich dieſen gegenüber ausgegeben, deß— 
gleichen ob er von dieſen Perſonen Geld für beſtellten Wein 
eingezogen und dem Kläger abgeliefert habe, inſofern aus all 
dem für das Auftreten des Hahn gegenüber dem Beklagten 
und für Ablieferung der vom Beklagten an Hahn bezahlten 
Gelder an den Kläger fein rechtserheblicher, jicherer Schluß 
gezogen werden könne. 

Der Neifende Hahn entwih vor jeiner Vernehmung nad) 
Amerika. Die Ehefrau des Beklagten deponirte über das Auf: 
treten des Hahn bei ihrem Ehemann: Hahn habe fi bei feinem 
eriten Beſuch als Handlungsreifenden des Klägers ausgegeben 
und gejagt, er afjocire ſich nächjtens mit dem Kläger, man jolle 

29 * 


— 440 — 


bei ihm Wein bejtellen, davon, daß Hahn gefagt, er fei Agent 
des Klägers, habe fie nichts gehört, fie und ihr Ehemann haben 
den Hahn ſchon früher gekannt, er ſei Forſtſchutzwächter in B. 
geweien, und damals öfters zu ihnen gefommen, vermöglich ei 
er gerade nicht geweſen, aber weiter haben ſie nicht nachgeforicht, 
weil es fie nicht® angegangen habe. 

Der berufene Sadverftändige, einer der erjten Weinhändler 
von St., vermochte den vom Beklagten behaupteten allgemeinen 
Handelsgebrauch nicht zu betätigen; derfelbe erklärte nur: wenn 
fih Jemand als Handlungsreifenden eines Hauſes vorjtelle und 
legitimire, eine Bejtellung entgegennehme und diefelbe effeftuirt 
werde, jo werde angenommen, dab er berechtigt jei, bei feinem 
Ipäteren Wiedererfcheinen die Zahlung in Empfang zu nehmen, 
ein vorfichtiges Handlungshaus werde wenigſtens bei größeren 
Voten fonjt in der Faktura bemerken, daß nur direft an das 
Haus bezahlt werden dürfe, ein bloßer Agent jei gewöhnlich 
nicht berechtigt, Zahlungen zu erheben; aus dem Ausdrud in 
den Fakturen „Durch Herrn Hahn beitellten Wein“ ſei nicht zu 
entnehmen gewejen, ob Hahn Agent oder Reifender des Klägers 
jei, auch nicht, daß er zum Geldeinzug befugt jei; auf dem 
Land fragen die Leute allerdings den Neifenden oft nicht um 
feine Vollmacht; wenn ein Reifender von verjchiedenen Kunden 
Zahlungen erhoben und wiederholt Bejtellungen angenommen habe, 
welche effeftuirt worden feien, jo vertrauen die Leute dem Rei— 
jenden auch ohne Legitimation, und in einem ſolchen Falle fei 
es Pflicht des Hauſes, die Kunden vor Zahlung zu warnen, 
wenn es feinem Neifenden nicht traue, 

Bon der Civilkammer des KYandgerihts Tübingen wurde 
am 12. Juni 1880 ein durch den Eid des Klägers darüber, 
daß er nicht die vom Beklagten an den Proviſionsreiſenden 
Hahn bezahlten Beträge durch Letzteren erhalten habe, bedingtes 
Urtheil erlaffen und bejagen die Entjcheidungsgründe unter 
Anderem: 

Der Beklagte hat gegen die erhobene Klage eingewendet: 
durch die Bezahlung des Kaufpreiſes für den vom Kläger er: 
haltenen Wein an den Sofeph Hahn von Gönningen, durch 
deſſen Bermittelung er den Wein bein Kläger bejtellt hat, fei 


ET 


— 441 — 


er von ſeiner Schuldverbindlichkeit gegenüber dem Kläger li— 
berirt worden. Beklagter hat den erwähnten J. Hahn, im 
Widerſpruch mit dem Kläger, bald als deſſen Handlungsbevoll: 
mächtigten, bald als deſſen Handlungsreifenden bezeichnet. Da— 
für, daß ꝛc. Hahn Handlungsbevollmädhtigter des Klägers 
gewejen, was nah Art. 47 des H.G.B. vorausfegen würde, - 
daß Kläger den x. Hahn zum Betrieb ſeines Handelsgewerbs, 
oder zu einer beftimmten Art von Gefchäften, oder zu einzelnen 
Geſchäften in feinem Handelsgewerbe beftellt, ihn alſo in feinem 
Geſchäft wirklich angeftellt gehabt Hätte, hat Beklagter feine 
unterjtügenden Momente auch nur anzugeben, gejchweige jolde . 
zu erweilen vermocht, und bei dem Widerſpruch des Klägers 
bezüglih der Eigenſchaft des ꝛc. Hahn als feines Handlungs— 
bevollmächtigten ergibt fich hieraus, daß im vorliegenden Rechts— 
jtreit die Beitimmung des Art. 49 des H.6.B., wonach Hand: 
[ungsbevollmächtigte, welche ihr Prinzipal als Handlungsreifende 
zu Gejchäften an auswärtigen Orten verwendet, für ermächtigt 
gelten, den Kaufpreis aus den von ihnen abgejchlofjenen Vers 
fäufen einzuziehen, nicht zur Anwendung kommen kann. 

Bezüglich des weiteren Vorbringens des Beklagten: ꝛc. 
Hahn jet jedenfalls als (einfacher) Handlungsreifender des 
Klägers befugt gemwejen, den Kaufpreis aus den von ihm mit 
dem Beklagten für den Kläger abgeſchloſſenen Gefchäften mit 
den Beklagten befreiender Wirkung in Empfang zu nehmen, ijt 
zunächſt hervorzuheben, daß diefe Nechtsfrage durch das H.G.B. 
nicht entſchieden und ihre Beantwortung eine unter den Gerichten 
bejtrittene ift. 

So hat fich das Oberappellationsgeriht zu Darmjtadt in 
einem Erfenntnifje vom Jahre 1857 dahin ausgeſprochen, daß 
Handlungsreifende, melde zunähft nur zur Bermittelung 
von Geſchäften ausgefandt werden, nicht als institores zu bes 
trachten feien, und man daher im Allgemeinen nicht annehmen 
dürfe, daß an fie giltig gezahlt werden könne; es würde bie: 
zu der Nachweis einer Handelsgewohnheit erfordert ?). 

Das Oberhofgericht zu Mannheim äußerte fih in einem 


1) gl. Seuffert, Ardhiv Bd. XII. Nro. 132. 


Erfenntniffe vom Sabre 1866 dahin, daß das Rechtsverhältniß 


der Agenten — Perſonen, welche Bejtellungen von Waaren 


auffuhen, die dann vom Auftraggeber effeftuirt werden — 
zum Auftraggeber nad) allgemeinen Rechtsgrundſätzen zu beur— 
theilen jei und bezüglich des Umfangs ihrer Vollmacht, demnach 
‚auch bezüglich der Berechtigung zum Geldeinzug, die Umjtände 
des einzelnen Falls entſcheiden, — und hat in einem Fall, in 
welhem feititand, daß ein Handlungshaus es geichehen Ließ, 
daß jein Neifender in größerer Zahl und bei verjchiedenen 
Kunden aus den von ihm abgejchlofjenen Käufen Gelder einzog, 
fowie, daß das Handlungshaus fich ſolche Zahlungen durch den 
Keifenden ausfolgen ließ, angenommen, daß dem Neijenden 
jtillihweigend die Vollmacht zum Einzig der Kaufgelder aus 


den von ihm ſelbſt vermittelten Waarenverfäufen ertheilt und ° 


nicht etwa nur die Zahlung der dem Handlungshaufe von dem 
Reiſenden wirklich ausgefolgten Beträge genehmigt worden jei ?). 

Das Bundesoberhandelsgericht erfannte im Jahre 1870 °): 
Daraus, daß Art. 49 des H.G.B. nur auf ſolche Neijende, 
welche die Eigenschaft von Handlungsbevollmädtigten im 
Sinn des Art. 47 des H.G.B haben, — welche Eigenfchaft ein 


Abhängigfeitsverhältniß zum Auftraggeber voraus: _ 


jege — Anwendung finde, jei nicht gejtattet, vermöge eines 
argumentum e contrario anzunehmen, daß Gefchäftgreifende, 
welche nicht Handlungsbevollmächtigte find, ohne Spezialvoll- 
macht für nicht befugt zu erachten jeien, den Kaufpreis aus 
den von ihnen für den Auftraggeber abgefchlofjenen Verkäufen 
einzuziehen, ein folcher Rückſchluß würde der Abficht des Gejeg- 
gebers entfchieden widerfprehen; Die allgemeine Frage, ob 
und unter welchen Vorausſetzungen einem Geſchäftsreiſenden, 
welcher nicht Handlungsbevollmächtigter im Sinn des Art. 47 
des H.G. B. ijt, dennoch die Befugniß zuitehe, die Kaufpreiſe 


2) Vgl. Seuffert, 1. ec. Bd. XXIV. Nro. 138. 

3) Die Begründung der betreffenden Erkenntniſſe it im Folgenden 
eingehender, als in den Entjheidungsgründen geihah, anges 
führt, um die für die Beantwortung der beftrittenen Frage über Zahl— 
ung an Reiiende geeigneten thatjächlichen und rechtlichen Erwägungen in 
thunlicher Vollſtändigkeit zu geben. 


— 453 — 


aus den von ihm abgeichlofjenen Berkäufen einzuziehen, fei un: 
berührt und für die Beantwortung im fonfreten Nechtsfall offen 
geblieben. Aus der Entjtehungsgefhichte des Art. 49 des 
H.G. B. in Verbindung mit der der DVerfehrsficherheit jchuldigen 
NRücdfiht und mit der Erwägung, daß dem Auftraggeber die 
Berpflihtung obliege, zur Vermeidung der font unausbleiblichen 
Benachtheiligung dritter Perſonen Vorkehrungen zu treffen, welche 
jolhe Benachtheiligungen thunlichjt zu verhindern geeignet find, 
folge jedenfalls joviel, daß in Beziehung auf Gejchäftsveifende, 
die zwar nicht Sandlungsbevollmächtigte, gleich dieſen aber von 
dem Auftraggeber ermächtigt find, an auswärtigen Orten bei 
alten und neuen Kunden Beitellungen auf Waaren zu fuchen 
und mit den Kunden über Waarenlieferungen Verträge zu ſchließen, 
die fich daher bei Bollziehung ihrer Aufträge in ihrem Gebahren 
von Handlungsreifenden im Sinn der Art. 47 und 49 des 
9.6.8. den Kontrahenten gegenüber nicht unterjcheiden, lettere, 
jofern ihnen nicht das fehlende Dienjtverhältnig befannt ijt oder 
befannt jein muß, für wohlberechtigt anzujehen jeien, vergleichen 
Reiſende als wirkliche Dandlungsreifende zu betrachten, und daß 
daher die Auftraggeber folder Neifender deren Handlungen 
ebenfo wider ſich gelten laſſen müſſen, als wenn fie die Reiſenden 
gemäß Art. 47 des H.G. B. zu Handlungsbevollmächtigten bes 
jtellt gehabt hätten. Demzufolge wurde in einem Rechtsfall, 
in welchem fejtjtand, daß der zur Annahme von Beitellungen 
auf Waaren ermächtigte Neifende, auf dejjen Notizen hin das 
Handlungshaus die Waaren an die Bejteller verfandte, ſich als 
Bevollmächtigten des Handlungshaufes bei dem Bejteller 
einführte und Letzterer fich hiedurch veranlaßt fand, den Kauf 
mit dem Neifenden als Vertreter des Haufes abzujchließen, auch 
an ihn, nachdem dag Haus das Geſchäft, ohne Einfendung des 
Kaufgelds zu verlangen oder eine andere Perfon als zahlungs— 
empfangsberechtigt zu nennen, effeftuirt hatte, bei wiederholten 
Bejuche des Neijenden das Kaufgeld gezahlt hatte, die Annahme 
des Beitellers, daß jich die Vollmaht des Reifenden auf Ein- 
fajfirung des Kaufgeldes beziehe, als eine rechtlich begründete 
und der beklagte Beiteller auf Grund der an den Neifenden 
geleijteten Zahlung für liberirt gegenüber dem Handlungshaus 


— a u " 


— 44 — 


erkannt, — aud fönne es unter ſolchen Umſtänden ganz dahin: 
geitellt bleiben, ob der zahlende Beſteller gewußt habe oder habe 
willen müſſen, daß der Reiſende nicht eigentliher Handlungs: 
bevollmächtigter des Flagenden Handlungshaujes gewejen jei, Sache 
des Letzteren wäre es gemwefen, falls es in Wirklichkeit nicht in 
feiner Abſicht gelegen haben follte, den Reiſenden mit der Ein: 
fajfirung des Kauffhillings zu betrauen, die geeigneten Vorkeh— 
rungen zur Verhinderung der Zahlungen an den Neifenden zu 
treffen *). 

In einem Erkenntniß vom Dezember 1874 erklärte jodann 
das Neihsoberhandelsgeriht: die Frage, inwiefern Provifi- 
onsreifenden eine Inkaſſobefugniß zuftehe, müſſe nach den 
Beitimmungen der Art. 297 und 298 des H.G. B. nad) den 
fonfreten Umftänden des einzelnen Rechtsfalls und nach der 
Uebung des faufmänniichen Gefchäftsverfehrs beurtheilt werden; 
der Umftand, daß der Neifende fich nicht im Dienjt des Hand: 
lungshaufes befinde, jondern zu ihm als PBrovifionsreifender 
nur in einem Fontraftlihen Verhältniß stehe, ſchließe an und 
für fich keineswegs die ftillfhweigende Ermächtigung zur Ein: 
ziehung der Kaufpreife der bei ihm beſtellten Waaren aus; 
wenn Jemand einem folchen Vrovifionsreifenden für durch den- 
jelben vermittelte Waarenbeftellungen Zahlung leifte und das’ 
Handlungshaus Kenntniß davon gehabt habe, daß fein Neifender 
ordnungswidrig Kaufgelder einziehe, ohne jeine Gejchäftsfreunde 
von Zahlungen an den Reifenden abzumahnen, jo dürfte der 
fragliche Beſteller mit Sicherheit vorausfegen, daß das Hand: 
lungshaug, wenn es künftig ſolche Zahlungen nicht weiter gegen _ 
jth gelten lafjen wolle, dieß dem Belteller entweder ausdrüdlich 
mittheilen, oder ihn wenigſtens durch Vermerk auf der Faktura 
eine, die Zahlung an den Reiſenden ausſchließende, Weiſung 
ertheilen werde. Wenn nun aber das Handlungshaus, unge: 
achtet des dringenden biezu durch das Verhältniß des Neifenden 
gegebenen Anlafjes, eine ſolche im Intereſſe der Verfehrsficher: 
heit und zur Wahrung des guten Glaubens im Gejchäftsleben 
ihm obliegende Vorkehrung nicht getroffen habe, jo müſſe e3 die 


4) Vgl. Seuffert, . ec. Bd. XXV. Nro. 149. 


— —*»—* 
er >! 


— 45 — 


Nachtheile diefer Unterlafjung tragen und die vom Bejteller an 
den Reifenden geleijtete Zahlung gegen fich gelten laſſen ). 
Eine zum Theil abweichende und eine ftrengere Anſchauung 
enthaltende Rechtsauffaſſung findet fich dagegen ausgeſprochen in 
dem am 11. Dezember 1875 ergangenen, in Band XIX. No. 42 
der zitirten Entſcheidungen abgedrudten Erfenntniß des Reichs: 
oberhandelsgerihts. Hier wird ausgeſprochen: Daraus, daß 9. 
befugt gewefen fei, Namens des Elagenden Handlungshaufes 
Verkäufe über Zuder abzufchliegen, folge an fich noch nicht, 
daß er nun auch zu allen auf die betveffenden Verkäufe be- 
züglichen, mit denfelben zufammenhängenden Rechtsgefchäften be: 
vollmächtigt geweſen ſei; auch der Umftand, daß, wie behauptet 
werde, 9. in vielen Fällen die Kaufgelder für die Klägerin eins 
genommen babe, würde nur dann Bedeutung haben, wenn 9. 
dabei ſich ſo gerirt habe, daß man auf das Vorhandenfein eines 
allgemeinen Inkaſſomandats zu ſchließen Veranlafjung und Klä- 


= gerin von diefem Verhalten Kenntniß gehabt habe. Habe 9. 


feine allgemeine Inkaſſovollmacht beſeſſen, jo folge daraus, daß 
wenn ein Käufer dem Agenten den Kaufpreis zahle, ohne 
daß dieſer hiezu fpeziell bevollmächtigt geweſen, dieſe Zahlung 
ihn exit dann liberiven könne, wenn fie in die Hände des Hand- 
lungshauſes komme. Der Agent erjcheine als Mandatar des 
- Käufers und diefer trage der Klägerin gegenüber die Gefahr 
der Ausführung feines Mandats. Aus diefem Grund habe 
Klägerin auch Feine Veranlaffung gehabt, gegen die vom Be: 
Hagten an 9. vor Verfall der Forderungen geleifteten Zahlungen 
zu proteftiren und der beflagte Waarenempfänger habe aus 
dem Stillfhmweigen der Klägerin nit ſchließen Fönnen, daß 
diefelbe dem Agenten jtillfehweigend Inkaſſovollmacht ertheilt habe. 
Stehe feit, das H. als Agent fein generelles Inkaſſomandat 
gehabt und jchließe die ganze Einrichtung des Gejchäftsverfehrs 
zwijchen der Klägerin und ihren Abnehmern die Annahme aus, 
daß ein joldhes generelles Mandat dem 9. ertheilt jei, fo 
müſſe bezüglich der Rechtswirkung der an 9. geleiteten Zahlung 
die Berücjichtigung feiner Stellung als Agent ganz außer 


5) Vgl. Enticheidungen des Reichsoberhandelsgerichts Bd. XV.Nro.111, 


— 446 — 


Betracht bleiben; H. itehe in dieſer Beziehung ganz wie ein 
beliebiger Dritter, welchem von dem Forderungsberechtigten jpezielle 
Inkaſſomandate ertheilt zu werden pflegen. Werde einer folchen 
PVerfon Zahlung geleitet, zu deren Empfang fie nicht Tpeziell 
bevollmächtigt fei, fo werde durch Hingabe des Geldes an den 
Dritten die Forderung noch nicht getilgt. Der Schuldner könne 
aus der Empfangnahme früherer Zahlungen durd den Gläubiger, 
beziehungsweife daraus, daß diefer hiebei feine bejondere Er- 
klärung abgegeben babe, feinen Protejt erhoben habe, nicht 
herleiten, daß der Gläubiger die Inkaſſovollmacht des Dritten 
anerkannt habe. Die Unterlafjung des Protejt3 könne nur dann 
Bedeutung haben, wenn eine Erklärung durch Worte oder fon- 
Eludente Handlungen vorliege, die verfchieden aufgefaßt werden 
fönne und wenn der Erflärende Veranlafjung zur Annahme ge: 
habt habe, daß jeine Erklärung von dem Anderen in einem 
anderen Sinn, als fie gegeben jein jolle, aufgefaßt werde 
und wenn die Verhältniffe jo Liegen, daß der Erflärende dadurd, 
daß er der irrigen Auffafjung nicht. entgegentrete, gegen die 
bona fides verjtoßen würde. Dieß greife aber nicht Plaß bei 
der Nicht beanftandung der Zahlung dur den Beklagten an 
9.; die Klägerin habe feinen Grund zu einer Protejtation hie- 
bei gehabt. 


Geht man nun davon aus, daß die Frage, inwiefern einem- 


(einfachen) Handlungsreifenden eine Inkaſſobefugniß zuitehe, nach 
den Beitimmungen der Art. 297 und 298 des H.G.B., nad) 
den Umijtänden des einzelnen Nechtsfalls und nach der Uebung 
des Faufmännifchen‘ Verkehrs zu beurtheilen ift, ſchließt man 
ſich ſodann insbejondere den Nechtsausführungen des zulegt 
zitirten Erkenntniſſes des NeichsoberhandelsgerihtS an, jo hat 
man bei dem vorliegenden Nechtsftreit zunächft In Berückſichti— 
gung zu nehmen, daß Beklagter nicht einmal behauptet hat x. 
Hahn habe eine generelle, oder bezüglich der vom Beklagten ge: 
ſchuldeten Geldbeträge eine Tpezielle, Inkaſſovollmacht vom Kläger 
gehabt, vielmehr führte Bellagter nur eine Reihe von That— 
umjtänden an, welche darthun jollen, daß er ſich mit Grund 
für berechtigt habe halten dürfen, an ꝛc. Hahn mit den Klägern 
bindender Wirkung zu zahlen, beziehungsweife anzunehmen, daß 


” 


— — EN 
ee 
a 


— 41 — 


Kläger den x. Hahn jtillfhweigend zum Einzug der vom 
Beklagten geichuldeten Geldbeträge bevollmächtigt gehabt habe. 
Die vom Beklagten biefür geltend gemachten Thatumftände, 
welche zugleich je rechtlich gewürdigt werden follen, jind folgende: 

1) x. Hahn babe ſich vor Beitellung des Weins dem Be- 
flagten als „Handlungsreifenden” des Klägers vorgeftellt. Durch 
das beftätigende Zeugniß der beim Ausgang des gegenwärtigen 
Rechtsſtreits wejentlich betheiligten, und daher aus gemwichtigen 
Bedenken nicht beeidigten, Ehefrau des Beklagten ijt für die 
Annahme der Wahrheit des beklagten VBorbringens jo wenig 
Beweis erbracht worden, daß ſelbſt eine — in Folge etwaiger 
Eidesauflage an den Beklagten gemäß $. 437 der Civilprozeß— 
ordnung ftattfindende — eidliche Beitätigung dieſes Vorbringeng 
dur den Beklagten das Gericht nit von der Wahrheit Der 
behaupteten Thatfache zu überzeugen vermödte Allein dieß 
auch als wahr angenommen, auch gejegt, ꝛc. Hahn habe in der 
That damals erklärt, er ſei „Handlungsreifender” des Klägers, 
jo wäre hiedurch der Beklagte, als Befteller der Waare, noch 
nicht berechtigt gewejen, nun ohne Weiteres eine Vollmacht des 
x. Hahn zum Empfang von Zahlungen anzunehmen; er war 
dieß um fo weniger, als er nad) dem injoweit gewiß nicht zu 
beanftandenden Zeugniß feiner Ehefrau den ꝛc. Hahn ſchon von 
früher her fannte, und wußte, daß er Forſtſchutzwächter gemejen, 
‚Sowie, daß er „nicht gerade vermöglich” jei. Sagte nun — 
nah dem Zeugniß der beflagten Ehefrau — Hahn nod) 
weiter: „er afjociere fich nächiteng mit St.," jo mußte dem Be— 
klagten bei auch nur einiger Ueberlegung der Verhältnifje klar 
' werden, daß er x. Hahns Angaben mit größter Vorjicht aufzus 
nehmen habe, ihm nicht ohne Weiteres trauen dürfe und daß 
aller Grund vorliege, ſich zu vergewifjern, ob- 2c. Hahn zur Ems 
pfangnahme von Geldern ermächtigt jei. 

2) Die zwei dem Beklagten in Betreff der Weinfendung 
von Kläger zugefommenen Fakturen enthalten die Bemerkung: 
„Borjtehend beehre mich Ihnen Nechnung zu ertheilen über den 
duch Herrn Hahn beitellten Wein”: auch ohne Berüdjichtis 
gung der dießbezüglichen gutächtlichen Aeußerung des Sachver— 
jtändigen mußte man zu der Weberzeugung gelangen, daß Die 


— 448 — 


Worte „durch Heren Hahn beitellt“ nicht den mindeften Anhalts— 
punkt dafür geben, in welcher Stellung zum Kläger jih ac. 
Hahn befindet, ſomit auch nicht die Annahme, ꝛc. Hahn fei zur 
Empfangnahme von Geldern bevollmächtigt, irgendwie unter: 
ſtützen können. 

3) Beklagter habe von (bezeichneten) Dritten gehört, daß 
x. Hahn ſich auch bei ihnen als „Handlungsreiſenden“ des 
Klägers vorgeſtellt, daß einer dieſer Dritten für den durch ꝛc. 
Hahns Vermittelung bezogenen Wein an ꝛc. Hahn bezahlt und 
Legterer das Geld an den Kläger abgeliefert habe. Solde Mit: 
theilungen, ihre Wahrheit vorausgefegt, mochten den Beklagten 
in Vertrauensfeligfeit einwiegen und geneigt machen, ohne vor— 
gängige Nachfrage nach der diesbezügliden Legitimation und 
Vollmacht an ꝛc. Hahn zu zahlen, allein wenn Beflagter, welcher 
zuden nicht einmal behauptet hat, er habe fich von der Richtigkeit 
“ jener Mittheilungen vor feiner Zahlung an 2c. Hahn überzeugt, 
mit Hintanfegung der ‚gewöhnlichen Vorſicht fo wie gejchehen 
handelte, jo that er dieß eben auf feine Gefahr und hat num 
die Folgen feiner Nachläfjigfeit zu tragen. | 

4) Kläger habe auch fonit in Württemberg durch ac. Hahn 
Beitellungen auf Wein auffuchen laſſen und die durch ꝛc. Hahn 
eingelandten Bejtellungen effektuirt. 
5)ꝛe. Hahn habe bei Bezahlung der Fakturen mit „pr. S. ©t.“ 
quittirt. Diefe Unterfchrift, fowie die ad 4) genannte Thatjache, 
wenn auch als wahr vorausgefegt, enthält keinen Hinweis auf 
das Gejchäftsverhältniß, in welchem x. Hahn zum Kläger fteht, 
und noch weniger einen Anhaltspunkt für die Annahme, daß 
x. Hahn infafjobevollmächtigt gewefen. fei. u 

6) Kläger habe in zwei näher bezeichneten Fällen es ge— 
ſchehen laſſen, daß x. Hahn für die durch feine Vermitte- 
lung bejtellten Weinjendungen die Kaufpreife eingezogen babe, 
und habe Kläger fih dann diefe Zahlungen durch 2. Hahn 
ausfolgen laſſen. Wäre dieſes, vom Kläger beftrittene, Vor: 
bringen auch erwiejen, jo würde doch hiedurch nur für jene 
dritten Perfonen, bei denen ꝛc. Hahn wiederholt für den Klä- 
ger Kaufgelder eingezogen und dem Kläger richtig abgeliefert 
hätte, etwa Grund zur Annahme eines vom Kläger dem x. 


ne 


— 449 — 


Hahn ftillfehweigend ertheilten Inkaſſomandats vorliegen, wäh: 
rend Bellagter aus dem DVerhalten des Kläger8 gegenüber ꝛc. 
Hahns Geldeinzug bei dritten Perfonen noch nicht fchließen 
durfte, daß Kläger auch ihm gegenüber dem ꝛc. Hahn Inkaſſo— 
mandat ervtheilt habe. Zudem hat Beflagter nicht einmal mit 
Bejtimmtheit auch nur behauptet, daß er von jenen angeblichen 
Geldeinzügen Hahns bei dritten Perſonen und erfolgter Geld— 
ablieferung an den Kläger Kenntniß gehabt habe vor feiner 
Zahlung an 2. Hahn; eine fpäterhin erjt hierüber dem Be: 
klagten zugefommene Kunde wäre ohnedem bedeutungslos. 

7) Auf den Fakturen jet nicht bemerkt gewejen, daß nur 
an den Kläger gezahlt werden dürfe, vefp. nur gegen Duittung 
Seitens. des Klägers giltig gezahlt werden könne. Sit dieß 
auch richtig, To ift dagegen zu erwägen, daß bei Ausitellung 
der erjten Faktura an ſich ſchon Kläger nicht im Mindeſten 
ahnen konnte, Beklagter werde für den ihm vom Kläger zu: 
gejfandten Wein den aus der vom Kläger ausgeitellten und 
auf den Kläger als Gläubiger lautenden Faltura erfichtlichen 
Betrag furzweg an 2. Hahn, den bloßen Vermittler der 
Weinbejtellung, zahlen. Dafjelbe trifft auch für die zweite Fak— 
tura zu, da diefelbe zu einer Zeit, zu welcher der Betrag der 
eriten Faktura noch gar nicht verfallen war, ausgeftellt und ab— 
gejandt wurde; daß aber Beklagter vor der Verfallzeit zahlen 
werde und überdieß an ꝛc. Hahn, war durch nichts angezeigt. 
Ehe Kläger von der Zahlung des Beklagten an ꝛc. Hahn Kunde 
erhielt, hatte er nicht den geringiten Anlaß zu einer dießbezüg— 
lichen Brotejtation gegenüber dem Beklagten; Bellagter hat auch 
nicht einmal behauptet, daß vor feiner Zahlung der zweiten 
Faltura an x. Hahn Kläger davon gewußt, daß ze. Hahn von 
ihm Geld in Empfang genommen habe. Mllein felbjt wenn 
Kläger dieß gewußt und auf die erjte Zahlung des Beklagten 
an 2c. Hahn einfach gejchwiegen, dagegen nicht protejtirt hätte, 
jo durfte Beflagter hieraus noch nicht mit Grund jchließen, daß 
Kläger mit diejer Zahlungsweije einverjtanden fei und dem ꝛc. 
Hahn Inkaſſovollmacht zuerfenne. DBergl. die zitirte Entjcheidung 
des R.O.H. Gerichts in Band XIX. No. 42. 

Können nun diefe vom Beklagten für feine Berechtigung 


— 450 — 


zur Zahlung an x. Hahn und zur Annahme eines vom Kläger 
dem 2c. Hahn ſtillſchweigend ertheilten Inkaſſomandats vorge: 
brachten TIhatumftände einzeln die Annahme des Beklagten nicht 
rechtfertigen, jo auch nit in ihrem Zufammenhalt. 

Einen Beweis des von ihm behaupteten allgemeinen 
Handel3gebrauds — über deifen angeblichen Inhalt fiehe 
oben — hat Beflagter ebenjo wenig erbradht. Soweit die Aus: 
jagen des Sachveritändigen überhaupt relevant erjcheinen, haben 
fie zur VBorausjegung für die Berechtigung des Waarenbe: 
jtellers zur Zahlung an den Neifenden, daß Leßterer ſich als 
jolhen vorgeftellt und legitimirt habe, was im vorliegenden 
Rechtsſtreit nicht zutrifft. Ueberhaupt hat der Sadverjtändige 
durch jeine Angaben das Beitehen eines allgemeinen Han- 
delsgebrauchs, einer Ujance, eines Handelsgewohn— 
heitsrechts nicht einmal bejtimmt behauptet, geſchweige des 
Näheren begründet und dargethan, 

Die gegen vorjtehendes Erfenntnig an die Givilfammer des 
K. Oberlandesgerihts ergriffene Berufung wurde vor Berhand- 
lung des Rechtsſtreits zurücdgenommen und vor der Eidesleijtung 
Seiten? des Kläger durch einen zwiſchen den Parteien abge- 
ſchloſſenen Vergleich der Prozeß erledigt. 


VII. Zu Ark. 30 des württemb. Geſehes zur Aus— 
führung der Reichscivilprozeßordnung v. 18. Auguſt 
1579 und über die hypothekariſche Sukzeffion. (Urt. 
205 des Pfand-Sefekes.) 
Von Herrn R. Seller, 

Direktor der Württemb. Hypothekenbank, Ger.:Not. a. D. 

Der Artifel 30 des Württemb. Ausf.:Gef. zur R.C. P.O. 
lautet: 

„Die Zwangsvollitvedung findet auch ftatt aus Urkunden, 

welche in Fällen des Art. 191 des Pfandgeſetzes von einer 

Unterpfandsbehörde über ein vor ihr abgelegtes perjönliches 


— 41 — 


Schuldanerfenntniß einer bandlungsfähigen Partei aufge- 
nommen find, und aus welchen die Berfon des Berechtigten 
und Berpflichteten, der Schuldgrund, der Gegenjtand und 
die Zeit der Leiftung erhellen, wofern der Schuldner jich 
in der Urkunde der fofortigen Zwangsvollftrefung unter: 
worfen hat. 

E3 finden diesfalls die Beftimmungen des achten Buches 
der Reichs = Civilprozeßordnung über Zwangsvollſtredung 
entſprechende Anwendung.“ 

Dieſer Artikel war in dem Entwurf des Ausführungs— 
gejeges nicht enthalten und wurde von der Ständeverfammlung 
auf Antrag der Juſtizgeſetzgebungskommiſſion der Kammer der 
Abg. bejchlofien. In dem Berichte der legteren ift derfelbe mit 
Folgendem begründet: 

Der Art. 903 der mwürttemb. EBD. v. 1868 begreift 
unter den vollitredbaren Urkunden auch diejenigen Urkunden, welche 

„in Fällen des Art. 191 des Pfandgeſetzes (d. i. wenn 

das Unterpfand in dem Unterpfandsbuch eingetragen ift 

und ein Pfandſchein ausgeftellt wird) von 'einer Unter- 
pfandsbehörde über ein vor ihr abgelegtes perjönliches Schuld— 
anerfenntnig einer handlungsfähigen Partei aufgenonmen 
find, und aus welchen die Perſon des Berechtigten und 

DVerpflichteten, der Schuldgrund, der Gegenftand und Die 

Zeit der Xeiftung erhellen.“ 

Auch fie find nah Eintritt der DVerfallzeit vollftredbar, 
wofern fie zugleich die Erklärung des Schuldners enthalten, daß 
er jih im Fall der Nichterfüllung der Verbindlichkeit der ſofor— 
tigen Zwangsvollſtreckung unterwerfe. | 

Diefe Urkunden find Angefichts der Normirung der exe— 
futorifchen Urkunde in der Reichs - Givilprozeßordnung künftig 
nicht vollftredbar. In einer an die Juſtizgeſetzgebungskommiſſion 
der Kammer der Abgeordneten gerichteten Eingabe mehrerer Geld: 
inftitute zu Stuttgart vom 1. November d. J. (Württ. Hypothe— 
fenbanf, Württ. Kreditverein, Württ. Sparkaſſe, Lebensverſiche— 
rungs- und Erſparnißbank, Allgemeine Rentenanitalt) wird jedoch 
die Bitte ausgeiprochen, die erwähnte Bejtimmung des Art. 903 
der Civilprozeßordnung in den gegewärtigen Gejegesentwurf auf— 


— 452 — 


zunehmen. Das Geſuch wird mit dem Vorbringen begründet, 
daß ſämmtliche Geldinſtitute des Landes von jener Beſtimmung 
unſeres Rechtes den umfaſſendſten Gebrauch bisher gemacht haben 
und daß die Erhaltung derſelben, da die Unterpfandsbeſtellung 
und die Ausſtellung von Pfandſcheinen nicht, wie in den meiſten 
anderen deutſchen Staaten, Sache der Gerichte und Notare, 
ſondern der Unterpfandsbehörden (Gemeinderäthe) ſei, um ſo 
nothwendiger erſcheine, wenn nicht der Gläubiger dieſes Vorzuges 
gänzlich verluſtig, oder aber genöthigt fein ſolle, neben dem 
Pfandſchein noch eine exekutoriſche Urkunde durch einen Notar 
aufnehmen zu laſſen. 

Durch die Eingabe der genannten Geldinſtitute erachten 
wir ein Bedürfniß in der bezeichneten Richtung für hinreichend 
fonjtatirt. Es bejtimmt nun der $. 706 der Reichs-Civilprozeß— 
ordnung, die Landesgefeßgebung jei nicht gehindert, auf Grund 
anderer als er in den 88. 644, 702 bezeichneten Schuldtitel 
die gerichtliche Zwangsvollitredung zuzulafien, eine Bejtimmung, 
welche auch auf Hypothefenurfunden Anwendung finde. Da hienach 
die Landesgefeßgebung in der Lage ift, die Zwangsvollſtreckung 
auf Grund der erwähnten Urkunden auch nach dem Inkraft— 
treten der Neichs-Civilprozehordnung aufrecht zu erhalten, jo 
glauben wir einen hierauf zielenden Antrag ftellen zu jollen. 

In Berbindung biemit erübrigt die weitere Bejtinnmung 
daß auf diefe Zwangsvollſtreckung die Borfchriften des achten 
Buches der Reichs-Civilprozeßordnung über Zwangsvollitredung, 
jomit insbejondere auch der $. 705 Abf. 2 bis 5 derjelben ent- 
jprechende Anwendung finden. Hieraus ergibt ſich alsdann mit 
Nothwendigkeit, daß in Anwendung des zweiten Sabes des 
Abi. 2 des $. 705 die volljtredbare Ausfertigung des Pfand: 
Icheins als der Ausfertigung der Pfandverfchreibung durch die 
Unterpfandsbehörde zu ertheilen ift. 

Ueber die Auslegung des Art. 30 find in neuerer Zeit 
Zweifel entjtanden, welche die Pfandbehörde in Stuttgart ver- 
anlaßt haben, das Amtsgericht für die Stadt Stuttgart um einen 
Befcheid zu bitten. In Ddiefem Berichte vom 15. Juli 1881 
trägt die Unterpfandsbehörde Folgendes vor: 

I. Nach dem Art. 30 der Württemb. Ausf.G. zur C. P.O. 


— 453 — 


I. Nach dem angeführten Gejeges-Artifel findet die Zwangs— 
vollſtreckung ftatt aus Urfunden, melde „in Fällen des 
Art. 191 des Pfandgeſetzes“ von einer Unterpfandsbe- 
hörde über ein vor ihr abgelegtes perlönliches Schuld » Aner: 
fenntniß aufgenommen find. Der Art. 191 des Pfandgejeßes 
jtellt in Abſatz 3 als Erforderniß eines Pfandfcheins auf, daß 
derjelbe ebenjo wie der Eintrag im Unterpfandsbuh von ſämmt— 
lihen Mitgliedern der Pfandbehörde, welche in die Ber: 
pfändung eingemwilligt haben, fowie von dem Aftuar 
eigenhändig zu unterzeichnen ei. 

Nun ift es aber in denjenigen Fällen, in welchen der Gläu: 
biger in einen durch Pfandrechtsvorbehalt gejicherten KRaufichilling 
eingewieſen wird, erſt in einer jpäteren Pfandjigung (in welcher 
die Kauffehillingsverweilung eingetragen wird) möglich , Die 
Pfandurkunde auszuftellen; die Zujammenjegung des Kollegiums 
ift dann manchmal eine andere als zur Zeit der Bejtellung des 
Pfandrechts und würde ſonach die oben erwähnte Vorausfeßung 
des Art. 191 des Pfandgeſetzes nicht zutreffen. 

Bon einen biefigen Bankinſtitut darum angegangen, auch 
in dieſen Fällen die Volljtredungsflaufel beizufügen, erlauben 
wir ung nun die Anfrage, wie wir uns zu benehmen haben. 

II. In einem weiteren Falle fam e3 vor, daß fich der 
Echuldner feiner Zeit bei Augftellung des Pfandſcheins der fo: 
fortigen Vollſtreckung unterworfgt hatte, daß aber fpäter die Zahl: 
ungsbedingungen abgeändert wurden. Der betreffende Gläubiger 
verlangt nun, daß auch hier in Beziehung auf die neuen, Verbindlich: 
feiten des Schuldners deſſen Anerfenntniß von der Unterpfandsbe- 
hörde aufgenommen und die Vollſtreckungs-Klauſel beigefügt werde. 

Im Zweifel darüber, ob die Unterpfandsbehörde bei fpäteren 
Aenderungen immer wieder in der angegebenen Weife in Thä- 
tigfeit zu treten habe, bitten wir auch in diefer Beziehung um 
gütigen Beſcheid. 

Unter dem 21. Sept. 1881 iſt hierauf von dem K. Amts: 
gericht für die Stadt Stuttgart der folgende Erlaß an die Unter: 
pfandsbehörde ergangen: 

Der Unterpfandsbehörde wird auf nebenjtehende Anfrage 
Folgendes zu erfennen gegeben: 

Württemb. Archiv fir Recht ꝛc. XXI. Bd. 2. u. 3. Heft, 30 


Termer- To 


— 454 — 


I. Nah Art. 30 des Ausf.Geſ. zur R.EBD. (vgl. Art. 
903 der MWürtt. EBD. v. 3 April 1868) findet Zwangsvoll: 
ſtreckung auch aus Urkunden jtatt, welche in Fällen des Art. 191 
des Pfandgeſetzes von einer Unterpfandsbehörde aufgenommen 
find und die weiteren in dem Ausf.-Gef. aufgeführten Erforber: 
nifje enthalten. Der Art. 191 Pfd.:Gej. bejtimmt, warn und wie 
ein Pfandſchein auszuftellen if. Die Worte: „in Fällen 
des Art. 191 des Pfd.Geſ.“ können nun nicht den Sinn haben: 
„wenn von der Unterpfandsbehörde eine im Uebrigen den Er: 
forderniffen des Art. 30 des Ausf.Geſ. entfprechende Urkunde 
aufgenommen iſt“; fie können vielmehr nur den Sinn haben: 
wenn nah Maßgabe des Art. 191 PBfd.:Gef. ein Pfandſchein 
ausgejtellt ift. 

Nah Maßgabe des Art. 191 Pfd.:Gef. iſt aber ein Pfand: 
ſchein nur auggejtellt, wenn er: 

a. jih auf den vorangegangenen Eintrag in das Unter: 
pfandsbuh gründet und mit demfelben vollfommen überein: 
jtimmt und 

b. ebenfjo wie der Eintrag in das Unterpfandsbuch, von 
ſämmtlichen Mitgliedern, welche in die Verpfändung eingemilligt 
haben, jowie von dem Aftuar eigenhändig unterzeichnet ift. 

Bon der Unterpfandsbehörde ausgeſtellte Ur: 
funden find daher nur vollftredbar, wenn fie 
Pfandſcheine ſind und den Erfordernifjen des Art. 
191 de3 Pfandgejeged und des Art. 30 des Ausf. 
Gef. entfpreden. 

Db die Unterzeichnung des Pfandſcheins durch ſämmtliche 
einwilligende Mitglieder unmittelbar nach dem Eintrag in das 
Unterpfandsbuch oder in einer fpäteren Sigung der Behörde 
erfolgt, ift natürlich gleichgiltig.. Kommt e8 aber, wie in dem 
in der Anfrage unterftellten Fall vor, daß als Pfandichein eine 
Urkunde aufgenommen ift, welche nicht von ſämmtlichen in die 
frühere Verpfändung eingewilligt habenden Mitgliedern unter: 
zeichnet wurde oder werden. konnte, jo ift diefe Pfand-Urkunde 
fein Pfandfchein im Sinne des Art. 191 des Pf.:Gef. und nicht 
vollitredbar, auch wenn fie im übrigen alle Requifite des Art. 
30 des Ausf.-Geſ. enthält. Die Unterpfandsbehörde iſt zur 


— 45 — 


Ertheilung der Vollitrefungsflaufel weder berechtigt noch ver— 
pflichtet, fordern muß einen hierauf gerichteten Antrag zurück— 
weijen. ö 

Ob diejes Ergebniß vom legislativen Standpunkt aus wün: 
ſchenswerth erjcheint, mag dahin gejtellt bleiben. Einer ausdehn- 
enden Auslegung und analogen Anwendung des Art. 30 ſteht 
Thon die Art feiner Entftehung im Wege. (Gaupp, Komm. III 
©. 246 ff.) 

II. Die Unterpfandsbehörde ift nicht überhaupt zur Auf: 
nahme vollitredbarer Urkunden berechtigt, jondern ihre Zuſtän— 
digkeit für die Aufnahme ſolcher Urkunden befhränft ji 
auf die Fälle des Art. 191 des Pf.Geſ. (R.C.P.O. F. 702 und 
706 Ausf.:Gej. Art. 29. 30), alſo auf Fälle, in welden 
die Behörde verpflichtet ift, einen Pfandſchein aus: 
zuftellen. Erhält nun das Schuldverhältniß, über welches ein 
vollitredbarer Pfandfchein ausgeftellt ift, jpäter durch Berein- 
barung der Parteien Modifikationen z. B. in den Zahlungsbe— 
dingungen, jo begründet diefe eine Verpflichtung zur Ausitellung 
eines neuen Pfandſcheins nicht und ift die Unterpfandsbehörde 
zur Aufnahme einer folchen Vereinbarung weder berechtigt noch 
verpflichtet. Der Gläubiger mag die erefutorifche Urkunde durch 
einen Amtsrichter oder Notar aufnehmen laſſen. 

Bon ſelbſt aber verjteht es fich, daß die urfprüngliche Un— 
terwerfung des Schuldners unter die Jofortige Zwangsvollitredung 
rüdjichtlich eines. Schuldverhältnifjes nicht aud eine Unter: 
werfung desjelben rüdjichtlich der ſpäteren, die Zahlungs: 
bedingungen abändernden Vereinbarung in fich jchließt. 

Beigefügt mag noch werden, daß in Fällen, in welchen 
die Unterpfandsbehörde die Vollſtreckungsklauſel zu ertheilen hat, 
die Vorfchrift des Art. 191 des Br.:Gef. feine Anwendung zu 
finden bat, mag der Gläubiger den Antrag. auf Ertheilung 
einer vollitredbaren Ausfertigung vor Ausjtellung des Pfand: 
Icheins oder nach Aushändigung desjelben geitellt haben. 

(J.M.V. v. 12. Juli 1880.) 

Nach diefer Entfcheidung gewinnt die Art und Weife der 
Behandlung der Hypothefariichen Sukzeſſion eine erhöhte Beden- 
tung namentlih für die Württemb. Hypothefeninftitute, welche 

30* 


— 456 — 


die erefutorifche Klaufel in den Pfandurkunden nicht entbehren 
fönnen. Eine Erörterung diefer Sufzeffion wird daher auch für 
weitere Kreife, namentlich die Pfandbehörden des Landes und 
die Auffichtsbehörden derfelben nicht ohne Intereſſe fein. 

Zur Vollziehung der Uebernahme einer Pfandſchuld 
durch den Käufer des Unterpfandes mit gleichzeitiger Entlafjung 
des bisherigen Schuldners wird von den Unterpfandsbehörden 
des Landes eine durchaus verſchiedene Behandlungsweiſe (cf. 
Kang, Pfandrecht S. 205.) geübt. 

I. Für jedes Anlehen, welches die Kreditinititute in 
Stuttgart gewähren, wird von der Unterpfandsbehörde ein 
Pfandihein mit allen Erforderniffen des Art. 191 
des Pfandgeſ. ertheilt, in welcher fich zugleich ver 
Schuldner der fofortigen Zwangsvollſtreckung unterwirft. 

Diefe Prandfcheine gewähren den Gläubigern den wejent- 
lihden Schuß des Art. 32 des Pfandentw.:Gef. und den Vor: 
zug der fofortigen Vollitredbarfeit gemäß Art. 30 des Württ. 
Ausf.Geſ. zur R.C. P.O. 

II. Bei den Verkäufen der ad J. beſtellten Unter— 
pfänder tritt ſodann in der Regel folgendes Verfahren ein: 

In dem Kaufvertrage wird zwiſchen Verkäufer und Käufer 
vereinbart, daß der Käufer in die ad I. bejtehende 
Schuld unverändert einzutreten habe, der hievon in 
Kenntniß gejfegte Gläubiger genehmigt diejen 
Verkauf und nimmt den Käufer als Schuldner an 
gegen unveränderten Eintritt in die beftehenden 
Schuld: und Pfandverhältniffe und gegen Ertheilung der 
entiprechenden Beurkundung hierüber durch die Pfandbehörde, wo: 
gegen er den bisherigen Schuldner feiner Verbindlichkeit entläßt. 

Bon dem Gemeinderathe wird darnach über den Kaufver: 
trag erfannt. 

Bon demjelben Gemeinderath (als Unterpfandsbehörde) wird 
in der nächitfolgenden Sigung das Pfandrecht auf dem verkauften 
Grundftüd zu Gunften des Verfäufers neu bejtellt mitteljt Ein- 
tragung des jogenannten Pfandrechts-Vorbehalts zu Gunjten 
des ganzen Kaufſchillings, wobeiübrigens angefügt 
wird, daß derjelbe vertragsgemäß zu zahlen fei 


— 451 — 


mittelft Uebernahme der ſchon bejtehenden Schuld gegen 

den in Frage ftehenden Gläubiger in dem vereinbarten Be— 

trage und unter den näher beftimmten Zahlungsbedingungen. 
Dabei ‚behält ſich aber die Behörde am Schluſſe bevor, 

„den Kauffchilling gemeinderäthlich zu verweisen“. 

Sn einer fpäteren Sikung der Unterpfandsbehörde wird 
nachgetragen 

die gemeinderäthliche Verweiſung des Kaufſchillings. 

In eben dieſer Sitzung wird nun zugleich ein perſön- 
liches Schuldbefenntniß des Käufers angefügt, 

und daraufhin dem Gläubiger eine neue Ausfertigung 
ertheilt, welde ein Schuldbefenntniß in bisheriger 
Meije und einen vollftändigen. Auszug aus dem Unterpfandg- 
buch über den Eintrag des neuen Pfandrechts (PBfandrechts- 
vorbehalts) nebſt Verweifung enthält (alfo die Erfordernifje des 
Abſ. 1 und 2 des zit. Art. 191) und diefe Ausfertigung 
von den Mitgliedern der Pfandbehörde unterzeichnet, welche 
in eben diejer Sitzung den Eintrag der Verweifung vollzogen 
haben. 

Damit, daß diefe Ausfertigung von den letgenannten 
Mitgliedern der Unterpfandsbehörde und nicht von den Mit: 


‚gliedern derjelben unterzeichnet ift, welche das neue Pfand— 


recht (Pfandrechtsvorbehalt) eingetragen haben, ermangelt die— 
jelbe des Erfordernifjes des Abf. 3 des zit. Art. 191. 
Wegen diejed Mangels Ffann die neue Ausfertigung 


nach Anfiht des Gemeinderaths und K. Amtsgerichts Stuttgart 


nicht als Pfandſchein im Sinne des Art. 191 des Pfandgef. 
und des Art. 30 des Ausf.:Gef. zur R.EB.D. angefehen werden. 

Die neue dem Gläubiger ertheilte Pfandurkfunde gewährt 
alfo weder den oben angeführten rechtlihen Schuß, no fann 
fie von der Unterpfandsbehörde für vollftredbar erklärt werden. 

III. Außer Zweifel ift demnach, daß bei allen Ber: 
fäufen der Gläubiger für feine Bereitwilligfeit zur Annahme 
des Käufers unter unveränderten Berhältniffen eine Urkunde 
von weit geringerem rechtlichen Werth erhält 
und in feinen beftehenden Rechten verfürzt wird. 

Zudem ift die Württ. Hypothefenbant gemäß der bei Zu: 


— 458 — 


lajjung ihrer Pfandbriefe für pupillarifhe Anlagen auf Ans 
forderung der höchſten Juftizbehörde erfolgten Feititellung des 
Ss. 16 ihrer Statuten genöthigt, durchaus Pfandicheine im 
Sinne des Art. 191 des Pfand.Geſ. zu verlangen. 

IV. Was den Willen der Parteien betrifft, ſo geht 
diefer in allen Fällen einfah, dahin, daß der Käufer unver- 
ändert in das beitehende Schuld- und Pfandverhältniß eintreten, 
der VBerfäufer dagegen liberirt fein und der Gläubiger 
- alle jeine bisherigen Rechte unverändert erhalten 
will. Der Parteiwille ift in diefer Weife durch den Kauf: 
vertrag und die hinzugetretene Zuftimmung des Gläubigers do= 
fumentirt. 

E3 kann fich daher nur darum handeln, wie das von den 
Parteien verabredete Nechtsverhälniß von der Behörde 
in einer Weife zum gejeglichen Vollzug gebracht werden kann, 
bei welcher insbefondere auch die ſchon bejtehenden Redte 
des Gläubigers nicht verlegt werben. 

V. Sn erjter Linie fommen für die Behandlung diejer 
Fälle in Betracht die Beitimmungen der Art. 203—R205 des 
Pfandgeſetzes, insbef. des legteren,. vergl. mit 88. 15 und 237 
der Hauptinftr. 

Nach diefen und nach den Ausführungen hierüber ') follte da— 
rüber wenigſtens fein Zweifel fein fünnen, daß auch in dem 
Falle der Uebernahme einer Schuld durch den Käufer mit Zu— 
jtimmung des Gläubigers und mit Entlafjung des bisherigen 
Schuldners es zuläffig it, daß das bejtehende Unterpfands— 
vecht unverändert in Kraft und die hierüber dem Gläubiger 
ertheilte Schuld: und Pfandurfunde in defjen Beſitz verbleibt 
und daß es volllommen genügt, wenn das Pfand auf den 
Namen des neuen Bejigers übertragen, hierüber bei der erjten 
Prandbeitellung Anmerkung gemacht und auf der alten Schuld- 
und Pfandurfunde die gejchehene Uebertragung und die Nechts- 
nachfolge des Käufers an Stelle des in derjelben bisher be— 
zeichneten Schuldners duch die Pfandbehörde vorgemerkt wird, 

1) Bolley, Kommentar ©. 433. Seeger, Kommentar ©. 108. 


Nömer, MWürtt. PEN. ©. 191 ff. und inäbeiondere auch Lang, 
Pfand-Recht S. 204. 


— 459 — 


Damit wäre entfchieden der Rechts: und Vertragsitandpunft 
der Parteien in vichtigjter und nah dem Geſetze zuläfliger 
Weiſe zum Vollzug gebradit. 

VI. Da der in Nr. V erörterte Weg, wie befannt, wegen 
der aus der Perjonalordnung der Pfandbücher zu befürchtenden 
Verwidelungen nit in dem Wuniche der Bfandbehörden 
gelegen iſt, jo wäre in 

zweiter Linie zu unterfuchen, ob nicht eine kleine Aen— 

derung des bisherigen Berfahrens zu demſelben Ziele führen 
könnte. 
WVorausgeſetzt wird, daß der Eintritt des Käufers auf dem 
zwiichen dem bisherigen Schuldner und ihm abgefchloffenen Ver: 
trage umd der hinzu getretenen Genehmigung des Gläubigers 
beruht. 

In einem folchen Falle wird, da die Befriedigung des 
Släubigers Schon durch die Uebereinkunft der Betheiligten 
normirt und der Gläubiger berechtigt ift, jeine Rechte aus diejer 
Verabredung abzuleiten, eine förmliche Verweiſung nicht 
durchaus geboten fein, jondern genügen, wenn die Behörde, welche 
ja nicht verpflichtet ift, für mehr als für jolche Befriedigung 
des Gläubigers zu jorgen, dieje Uebereinfunft an Stelle förm— 
liher Verweiſung beftätigt. 

Es wird möglich fein, dieje Beitätigung fofort mit dem 
Pfandrechtsvorbehalt einzutragen, da die Behörde ja diefe Ver: 
hältniſſe ſchon vor dem gerichtlichen Erfenntuiß über den Kauf 
geprüft und geregelt hat. 

Sit dieſes möglich, jo wird auch fein Anjtand vorliegen, 
die Eintritt3erflärung des neuen Schuldners und die Ausfertigung 
der neuen Pfand» und Schuldverfchreibung mit dem Eintrag des 
Pfandrechtsvorbehalts zu verbinden. 

Damit würde der Gläubiger eine Pfandurfunde erhalten, 
die wieder von den Mitgliedern der Pfandbehörde unterjchrieben 
ift, welche die Pfandrechtsbeitellung vollzogen haben, die aljo 
wieder alle Vortheile des Art. 191 des Pfandgef. genießt. 

Werden die Betheiligten darauf aufmerkſam gemacht, daß 
jie im Falle der Nichtbeibringung der nöthigen Erklärungen und 
etwaigen Nichterfcheinens unter Umſtänden die Kojten einer neuen 


— 460 — 


Prandbeitellung zu tragen hätten, fo werden fie gewiß die Thä- 
tigkeit der Pfandbehörde von jelbft unteritügen. 

Zumal würde ja au für den Fall, daß Umftände vor: 
liegen, die eine fofortige definitive Regelung des ganzen Kaufs- 
verhältniffes nicht gejtatten, oder befürchten laſſen, daß dajjelbe 
wegen Nichterfüllung anderer mitübernommener Verbindlichfeiten 
überhaupt wieder aufgelöst werden fünnte, nirgends ein Anjtand 
dagegen vorliegen, daß die neue Pfandurfunde bis zu definitivem 
Abſchluß in Verwahrung der Pfandbehörde bleibt und von dieſer 
erit nachher ausgeliefert wird. 

Nach unferer Auffajjung würde fich der Eintrag dahin ge: 
ftalten, da nad) der Kaufsfumme gefagt würde: 

zahlbar 

a. mit erſtem Recht nach der unter den Kontrahenten mit 
Zuftimmung des bisherigen erften Pfandgläubigers getroffenen, von 
der Pfandbehörde beftätigten Uebereinkunft durch Uebernahme 2c. 

Ueber den Eintritt in diefes Sculdverhältnig Hat der 
Käufer heute unter Anerkennung jeiner Berbindlichfeiten Pfand- 
und Nentenverfchreibung nah dem unter |_ anliegenden For— 
mular gegen den Gläubiger ausgeftellt und fich für den Fall 
der Nichterfüllung derfelben der fofortigen ar 
unterworfen. 

b. mit nachfolgendem Nedt. 

ad b. gemeinderäthlich noch zu verweifen. 

VII. Nur wenn die eine oder andere der in Nr. V und 
VI in Vorschlag gebrachten Behandlungsmweifen nicht ausführbar 
fein follte, fönnte die Ausitellung neuer Pfandbeitellungen 
und Pfandicheine überhaupt in Frage fommen. 


Bemerfungen zu borjtchender Ausführung. 


Die von dem K. Amts:Gerichte der Stadt Stuttgart unter 
3. I des Erlajjes vom 12. Juli 1880 aufgeftellte Theſis dürfte 
immerhin und um jo mehr einer wiederholten Prüfung auf 
ihre Richtigkeit bedürfen, als ficherem Vernehmen nah dem 
Art. 903 der württembergiſchen EB.D., welcher al3 Art. 30 


— 461 — 


wörtlid) in das württembergifhe Ausführungsgefeg übergegangen 
it, dieſe einjchränfende Auslegung nicht gegeben wurde. Das 
K. Amts-Gericht der Stadt Stuttgart jcheint. ſich auch jelbft 
nicht verhehlt zu haben, daß die neue Theſis vom Standpunft 
der lex ferenda aus nicht zu rechtfertigen wäre, und wenn es 
auch an fich zweifellos ift, daß, wie in dem Erlafje gejagt ift, 
eine. ausdehnende Auslegung und analoge Anwendung des 
Art. 30 ausgefchloffen ift, an fih und nicht wegen der Art 
feiner Entjtehung, jo müſſen doch Erwägungen der legislativen 
Zwedmäßigfeit bei der Auslegung eines jeden Geſetzes, alfo 
auch des Art. 30 injomweit berüdjichtigt werden, als hieraus nad) 
dem Grundfage, daß der Gefeggeber im Zweifel das Vernünf— 
tige und Zwedentjprechende gewollt und verfügt habe, wenigjtens 
Schlüſſe auf die wirflihe Abficht des Gejehgebers zu ziehen 
find, jedenfalls dann, wenn diefe Abficht nach den Worten des 
Gejetes nicht zweifellos ift oder doch diejenige Auslegung, 
welche durch diefe Erwägungen nahegelegt ift, jich mit den Worten 
des Geſetzes vereinigen läßt. Nun ift allerdings außer Zweifel, 
daß durch den Art. 30 der Unterpfandsbehörde nicht allgemein 
die Befugniß, exrefutorifhe Urkunden aufzunehmen, eingeräumt 


worden iſt, jondern nur in Fällen des Art. 191 des Pfand: 


gejeged. Der legislative Grund einerjeit3 diefer Befugniß der 
Pfandbehörden, andererfeit3 der Einfchränfung auf die Fälle des 
Art. 191 liegt nahe. Wenn die Pfandbehörde ein vor ihr ab: 
gelegtes Schuldanerfenntniß aufgenommen hat und aus 
der Urkunde die Perſon des Berechtigten und BVerpflichteten, der 
Schuldgrund, der Gegenjtand und die Zeit der Leiſtung erhellen, 
jo wäre e& eine unnöthige Beläjtigung der Behörden und der 
Parteien, dieje wegen Verſehung der Urkunde mit der Klaufel, 
welche fie zu einer erefutorifchen macht und Nicht Anderes als 
die Beurkundung der ausdrüdlichen Unterwerfung des Schuld: 
ners unter die fofortige Zwangsvollitredung enthält, an Die 
dritte Behörde, den Amtsrichter oder Notar zu verweifen. An— 
dererfeits kann diefes Motiv nur dann die erzeptionelle Befugniß 
der Pfandbehörden zu Herftellung diefer Urkunde rechtfertigen, 
wenn die Barteien ohnehin genöthigt find, vor der Pfandbehörde 
zu erfcheinen, um vor derfelben ein nach Subjeft, Objekt und 


— 462 — 


Zeit beſtimmtes Schuldverſprechen abzugeben und zu akzeptiren 
und wenn die Pfandbehörde verpflichtet iſt, über das Schuld— 
verſprechen eine Urkunde aufzunehmen. Wenn aber und ſo oft 
dieſe Momente zuſammentreffen, mußte nach dem angeführten 
Motive der Geſetzgeber, wenn er folgerichtig verfahren wollte, 
die Pfandbehörde für befugt und für verpflichtet erklären, die 
von ihr über das Schuldbefenntniß aufgenommene Urkunde mit 
der weiteren Erklärung des Schuldners bezüglich feiner Unter: 
werfung unter die jofortige Zwangsvollſtreckung zu verjehen. 
Daß dies jeine Abſicht war, ergibt jih auch aus den Motiven 
zu Art. 903 der württembergiſchen C.P.O., in welchen aus: 
drüdlih auf die bayerifche Gejeggebung Bezug genommen it. 
Es dürfte hieraus als unzweifelhaft zu folgern fein, daß der 
Zweck der Bejchränfung auf die Fälle des Art. 191, des Pfand: 
Gejeßes eben nur der war, auszudrüden, daß die Pfandbehörde, 
wo fie nicht zur Aufnahme der betreffenden Urkunde als Pfand— 
behörde verpflichtet ift, mit der Sache nicht befaßt werden joll. 
Dafür daß noch eine weitere Beſchränkung beabfichtigt geweſen 
wäre, wie nah dem amtsgerichtlihen Befcheide der Fall wäre, 
ließe fich ein zureichender Grund nicht denken. 

In Wahrheit nun ſcheint auch die ſtrengwörtliche 
Auslegung dieſem Ergebniß der logischen Auslegung nicht 
im Wege zu jtehen. Das Amts: Geriht Stuttgart verneint 
die Befugniß und Verpflichtung der Pfandbehörde zur Aufnahme 
der exrefutorifchen Urkunde in dem unterjtellten Fall, weil in 
diefem Falle die von der Pfandbehörde aufgenommene Urkunde 
fein Pfandſchein fei, da die Urkunde „nicht von ſämmtlichen 
in die frühere Berpfändung eingewilligt habenden Mitgliedern 
unterzeichnet werde oder unterzeichnet werden könne“. Allein 
eben dieß jcheint einer petitio principii fehr nahe zu fommen. 
Was der Art. 191 unter einem Pfandſchein verjteht, geht aus 
diefem Artikel jelbit gar nicht hervor. Derſelbe verweist viel- 
mehr bierüber auf den Art. 14 des Pfandgeſetzes. Auch der 
Art. 14 enthält feine Definition des Pfandſcheins, doch wird 
in Abf. 2 nit nur diejenige auf den Eintrag in dem Unter: 
pfandsbuche fich jtügende Ausfertigung, welche mit einer Schuld: 
verihreibung verbunden it, jondern auch die „auf einen Auszug 


as AB: 


aus dem Unterpfandsbuche fich bejchränfende” Ausfertigung als 
ein Pfandichein bezeichnet. Nun ift allerdings außer Zweifel, 
daß ein Auszug aus dem Unterpfandsbuche nicht zu einer exe 
futorischen Urkunde benügt werden fann, weil in demjelben das 
Schuldbekenntniß fehlt. Es ift ferner vollfommen zutreffend, 
daß bei Ausfertigung derjenigen Pfandurkunde, welche nad) früher 
vollzogenen: Pfandrechtsvorbehalt zur Sicherung des Kaufſchillings 
auf Grund der in einer fpäteren Situng der Unterpfandsbehörde 
vollzogenen Eintragung der Verweifung ausgeſtellt wird, die Vor: 
Jchrift des Art. 191 Abf. 3, nach, welcher diejelbe von jämmtlichen 
Mitgliedern, welche in die Berpfändung, d. h. in den früher voll: 
zogenen Pfandrechtsvorbehalt eingemilligt haben, eigenhändig zu 
unterzeichnen ift, nicht immer eingehalten werden fann. Allein 
hieraus folgt feineswegs, daß dieſe Pfandurfunde fein Pfand— 
ichein im Sinne des Art. 191 und Art. 14 des Pfandgeſetzes 
it. Denn feiner diejer Artikel gibt eine Definition des Pfand: 
ſcheins. Was hieraus folgt, ift nur, daß auf diefe nicht allen 
Beitimmungen des Art. 191 entfprechende Urkunde der Art. 192 
des Pfandgejeges und der Art. 32 des Pfandentwidlungsgefeges 
feine Anwendung finden. Man ift hiernach nicht zu der Anz 
nahme berechtigt, daß die Ausjtellung der in Frage ftehenden 
Prandurfunde nicht aus Art. 191 folge. Vielmehr erfolgt auch 
die Ausftellung diefer Urkunde zufolge der Vorſchrift des Art. 
191 Abſ. 1, nach welcher „die Unterpfandsbehörde, wenn das 
Unterpfand in das Unterpfandsbudh eingetragen ift, auf Ver— 
langen des Gläubigers in jedem Falle und wenn die Forderung 
auf einem Vertrage beruht, auch unaufgefordert dem Gläubiger 
einen Pfandſchein auszuftellen habe“. Wenn aber dieß feititeht, 
jo liegt auch unzweifelhaft in der Ausftellung der fraglichen Ur— 
funde ein Fall des Art. 191 des Pfandgejeges, obwohl Dieje 
Urkunde der in Abf. 3 des Art. 191 gejtellten Forderung nicht 
entipricht. 

Wollte man dieß nicht anerfennen, jo würde die Folge 
hievon eine ganz andere fein, al3 die von dem Amts-Gericht ges 
zogene, daß diefe Urkunde nicht zu einer exekutoriſchen Urkunde 
gemacht werden fünne. Es würde hieraus folgen, daß die Aus— 
jtellung derjelben überhaupt ein dem Gejege nicht entiprechender 





— 44 — 


Akt jei und daß die von der Unterpfandsbehörde in ihrer An- 
frage dargelegte Behandlung fortan zu ändern und zwar dahin 
zu ändern jei, daß, falls die in vorftehender Ausführung (3. VD) 
vorgejchlagene Behandlung nicht anwendbar wäre, eine neue 
Tfandbeitellung für die Vermweifungsichuld vorgenommen würde, 
womit allerdings den Parteien ganz unnöthige Koften verurjacht 
würden. Denn die Unterpfandsbehörde ift als foldhe nur ver: 
pflichtet, eine in Art. 14 und Art. 191 des Pfandgeſetzes be: 
zeichnete Urkunde über Einträge in das Unterpfandsbuch aus: 
zujtellen. Andere Urkunden über den Inhalt der Unterpfands- 
bücher fönnen nah Art. 152 und 157 des Pfandgefeges von 
dem Aftuar allein beglaubigt werden. 

Soviel dürfte jih immerhin aus Borftehenden ergeben, 
daß man nur die Wahl hat, entweder die Zuläſſigkeit der Auf: 
nahme einer exelutorischen Urkunde durch die Pfandbehörde in 
die in Frage jtehenden Urkunden anzuerkennen oder die Aus— 
jtellung joldher Urkunden als dem Geſetze nicht entjprechend ab— 
zuftellen. Da nicht anzunehmen ift, daß der Gejeßgeber die 
legtere durch Feine ausdrückliche Geſetzesvorſchrift begründete 
Rechtsauffaſſung getheilt habe, jo wird man folgerichtigerweile 
zu der bis zu Erlafjung des württembergiſchen Ausführungs- 
Geſetzes befolgten Auslegung des Art. 903 der württembergifchen 
EBD. jetzt Art. 30 des Ausführungsgefeges zurückkehren müſſen, 
welcher, wie in Borjtehendem gezeigt jein dürfte, Die Logijche 
Auslegung nach dem legislativen Grunde der Vorfchrift zur 
Seite und die reine Wortauslegung zum mindejten nicht ent: 
gegenjteht. Sy. 





IX. Siterarifdes. 


Eyitem des deutſchen Privatrehts von Baul v. Roth. Theil l. 
1880. 492 ©. Th.2. 1881. 498 ©. Tübingen. Verlag 
der 9. Laupp'ſchen Buchhandlung. 

Das auf fünf Theile berechnete Werk, von welchem die 
zwei erjten Theile erichienen find, unterfcheidet fich durch feinen 


— 45 — 


Zweck und jeine Methode von allen unter demfelben oder ähn— 
lihem Titel ſeit Runde bis jest erjchienenen Werten. Was 
ihon Wächter in feinem leider nur bis zum Beginn des allge: 
meinen Theils gediehenen württembergifchen Vrivatrecht fich zum 
Zweck geſetzt Hat, beabjichtigt Roth in der Ausdehnung auf 
ſämmtliche deutſche Bundesitaaten und den früher zu dent Deut: 
ichen Reiche, fpäter zu dem deutfchen Bunde gehörigen Theil der 
öſterreichiſchen Monarchie. Wie Wächter fih „die Darftellung 
des gefammten in Württemberg geltenden PBrivatrechts, auf welchen 
Duellen es beruhen mag” (MWürttemb. Pr.R. 1839, Vorr. ©. VII), 
jo hat ſich Roth „eine vollitändige Darftellung des in Deutſch— 
land geltenden Civilrechts mit Berüdjichtigung aller einzelnen 
Kandesrechte” zur Aufgabe gejtellt. Durch diefe Ausdehnung in 
Beziehung auf das geographifche Geltungsgebiet des dargeftellten 
Rechtsitoffes war allerdings von jelbt in der Methode der Behand: 
lung eine tiefgehende Abweichung von der von Wächter geplanten 
Darftellung geboten. Wächter wollte das gefanımte in Württem: 
berg geltende Brivatreht „in feinem volljtändigen Detail“ 
dDarjtellen. Roth dagegen beabjichtigt nur „eine Ueberſicht des 
gejammten bürgerlidhen Rechts, wie es fich aus feiner 
Bufammenftellung der Grundfäge jänımtlicher deutfcher Landes— 
rechte” ergibt. Folgerichtig nach dem befondern Zwede des Werkes 
unterfcheidet aber Roth ebenfo wie Wächter nicht „nad dem 
Urſprung der einzelnen Redtsinftitute‘. Seine Darftellung um: 
faßt ebenjo die Anftitute, die dem römischen Recht entjtanımen, 
al3 diejenigen, deren Grundlage dem deutfchen Rechte der früheren 
Zeit angehört, indem er fie beide in der Geftalt gibt, welche die- 
jelben durch Gefeßgebung und Uebung in der neueften Zeit er— 
halten haben. Roth vereinigt hiemit dasjenige, was man jonjt 
in den Pandekten nad der Auffafjung von Wächter als „Dar: 
jtellung des gefammten römiſch-deutſchen Privatrehts, wie es 
bei uns als gemeined Recht galt“ (Pandekten, herausgeg. von 
Dr. v. Wächter, Bd. 1 ©. XI), in dem deutjchen Privatrecht und 
in den Daritellungen des franzöfiichen Rechts, des preußifchen 
Rechts und der Partifularrechte der übrigen deutfchen Staaten ge: 
trennt zu juchen hat. Folgerichtig fiel auch die ſonſt übliche Unter: 
jcheivung „ver Landesrechte, welche das gemeine Recht ala fub: 


— 46 — 


fidiäre Nechtsquelle anerkennen und derjenigen, welche es nicht 
anerkennen,“ wodurd die Berbindung „aller Landesrechte in 
einer einheitlichen Darjtellung möglich wurde.” (Einl. ©. 10.) 

Unzweifelhaft hat ſich hiemit der Verfafler eine Aufgabe ge- 
ftellt, welche zu löfen nur einem deutfchen Gelehrter möglich ift, 
dem eine jo feltene Arbeitsfraft und ein jo umfafjendes Wiſſen zu 
Gebot ſteht, wie dem BVerfafjer, der beides längit durch feine 
zahlreichen hiftorifchen und dogmatifchen Arbeiten, neuejtens duch 
jein bayerifhes Privatrecht glänzend dofumentirt hat. Die ge 
jtellte Aufgabe bietet übrigens objektive Schwierigkeiten, melde 
fi) der Verfaffer jelbit am wenigſten verhehlt hat, wie er in 
feiner Vorrede bemerkt. Durch das Beitreben, die wenn aud 
in ihren Ausgangspunften identifchen, doch in ihrer Fortent: 
widelung in den einzelnen Rechtsgebieten fich immer weiter von 
einander entfernenden Nechtsinftitute wieder unter einheitliche, 
übereinjtimmende Nechtsregeln zu ftellen, entjteht leicht unter der 
Hand ein Bild derjelben, welches wenigftens für den Praktiker 
nur mit Vorficht afzeptirt werden Tann. Auf das engfte hängt 
hiemit die Gefahr zufammen, daß durch das Auffuchen und die 
Betonung des Gemeinfamen und Einheitlichen in den einzelnen 
Nechtsinftituten dasjenige, was eine Darftellung. derjelben für 
die Nechtsanwendung unmittelbar nugbar macht, die Ausführung 
der Prinzipien im Einzelnen nah der mannigfaltigen Geftaltung 
der Verhältniffe, die Wiedergabe des nach den verfchiedenen 
Nechtsgebieten abweichenden Details der Rechtsnormen zurüdge- 
drängt wird. Daß der Verfafjer auch diefe objektiven Schwierig: 
feiten, foweit dieß überhaupt möglich ift, in den bis jegt er: 
fchienenen Theilen des Werkes glüdlich überwunden bat, muß 
unummunden anerkannt werden. 

Schon in dem erjten Theile, welcher die Rechtsquellen und 
die Lehre von den Nechtsverhältniffen behandelt, ganz vorzüglich 
aber in dem zweiten Theile, in welchem das Familienrecht, das 
Eherecht einfchließlih des ehelihen Güterrechts, die väterliche 
Gewalt, und die Vormundſchaft dargeftellt werden, ift die Kunit, 
mit welcher der Verfaſſer das jcheinbar Auzeinanderliegende und 
ſich Ausſchließende zufammenzufaffen und die pofitiv rechtlichen 
Abweichungen von feinen Ergebnijjen menigjtens furz anzu: 


— * 


— AUT 


deuten gewußt hat, ebenſo bewundernswerth, als die Gründ— 
lichkeit und Vollſtändigkeit, mit welcher das man darf ſagen 
in ſeinem Umfang ungeheure Material durchforſcht und be— 
rückſichtigt wurde. 

In den weiteren Theilen Soll das Sachenrecht, das Erbrecht 
und das Obligationenrecht behandelt werden. 

Wenn das Werk von Roth von einem feiner Beurtheiler 
(Laband) als ein Greigniß in der Literatur des deutjchen Rechts, 
von einem andern Beurtheiler (Gareis) als ein wahrer Ed- 
ftein an der Wende der deutjchen NRechtsentwidlung bezeichnet 
wird, fo werden diefe Urtheile allfeitige Zuftimmung finden. 

Für die unmittelbare Rechtsanwendung wird man allerdings 
den Nußen defjelben aus dem jchon oben angedeuteten Grunde 
nicht überfhägen dürfen, weil nach der ganzen Grundanlage eine 
fafuiftiiche Behandlung des Nechtsftoffes, die Wiedergabe der durch 
eine ſolche veranlaßten fpeziellen Normen und eine eingehendere 
Behandlung der bejtrittenen Fragen ausgejchloffen werden mußte. 
Ein jtetes Zurüdgreifen auf die ausführlicheren Darftellungen 
des geltenden Rechts, namentlih auf das Pandektenrecht und 
die Bearbeitungen der Bartifularrechte wird die Recht3anwendung 
nicht unterlaffen fönnen. Dennoch iſt auch nach diejer Seite 
möglichjt Viel, wenigſtens duch Verweifungen, geboten. Cine 
wejentliche Förderung wird fodann auch die unmittelbare Recht3- 
anmwendung durch die Vergleihung der verfchiedenen Rechte und 
die Herausarbeitung der gemeinfamen Grundgedanken erfahren. 
Wer ſich mit den zahlreichen Neichsgefegen auf dem Gebiete 
des Privatrechts und Prozefjes eingehender bejchäftigt hat, wird 
bei allen jchwierigen Auslegungsfragen gefunden haben, daß zu 
ihren Berjtändniß, auch für die unmittelbare Rechtsanwendung, 
eine Vergleihung der verfchievenen Rechtszuftände in den deut- 
ihen Staaten unumgänglich nöthig ijt und daß es feineswegs 
mehr genügt, die Geſetze ausschließlich unter dem Sehwintel des 
in dem einzelnen Rechtsgebiete geltenden pofitiven Nechts zu be- 
trachten. Der hauptjächliche und nicht hoch genug anzujchlagende 
Werth des Werkes liegt übrigens allerdings auf dem Gebiete der 
wiſſenſchaftlichen Erfenntniß und der Fortbildung des geltenden 
Rechts. indem zum erjtenmale, wie Laband treffend jagt, ein 


— 468 — 


getreues Spiegelbild des im deutſchen Reiche wirklich beitehenden 
Rechtszuftands gegeben, jozufagen ein Inventar des heutigen 
deutichen PrivatrechtS geboten wird, in welchem alle zu dem: 
jelben gehörigen Stüde, wichtige und geringfügige, werthvolle 
und unbrauchbare, neue und veraltete, mit gewiflenhafter Sorg— 
falt aufgeführt und an der richtigen Stelle eingetragen werden, 
wird das in den Einzelnftaaten geltende Recht in ein neues 
und belleres Licht geitellt, das Gemeinjame tritt als das innere 
Wefen eines Rechtsinſtituts deutlicher hervor, in den Abweich- 
ungen zeigt ji” dag Borübergehende der realen Erfcheinung 
und wie der Weg in einer Gegend, welche der Wanderer von 
einem hohen Berge in der Vogelperfpeftive unter fich gefehen 
hat, von ihm leicht gefunden wird, fo wird dem Gefeßgeber 
durch die Arbeit von Roth die Richtung bezeichnet, welcher er zu 
folgen hat. Wohl ift es richtig, wenn Laband nach dem erften 
- Eindrud diefer umfafjenden Darftellung des in Deutfchland gel- 
tenden Rechtes jagt, daß dem Betrachtenden eine Bielgeitaltig- 
feit und Verworrenheit entgegentrete, welche den überzeugenden 
Beweis für die Nothwendigfeit einer einheitlichen Neugeftaltung 
des Givilrecht3 in Deutihland und der Herſtellung eines ein: 
beitlihen, gleichen Recht? an Stelle des „bisherigen pjeudoge- 
meinen Rechtes und der Partifulargefeggebungen” führe Es 
muß aber noch als ein weiterer pofitiver Gewinn die Erfenntniß 
betont werden, daß bei aller Bielgeftaltigfeit und Verworrenheit 
der gemeinfame Urjprung des in den verfchievenen Nechtäge: 
bieten geltenden Rechtes fich nicht verleugnet. Aus diefem Nach: 
weis, wie viel Gemeinfames das deutfche Privatreht in feinen 
Prinzipen bietet, ergibt ſich, daß die einheitliche Geſtaltung des 
Nechts bezüglich der Mehrzahl der Nechtsinftitute möglich it, 
ohne die Kontinuität der geſchichtlichen Nechtsentwidlung aufzu- 
geben. So wird das Werf von Roth, auch wenn im Lauf der 
Zeit die Kodififation des deutfchen Privatrechts erreicht fein 
wird, für das Verftändniß desfelben ein nothwendiges und un— 
entbehrliches Hilfsbuch noch lange bleiben, welchem zur Zeit feine 
ähnliche Vorarbeit an die Seite gejtellt werden Tann. 

Eine eingehendere Beiprehung des Inhalts der bis jest 
erſchienenen Theile it an diefem Drte nicht möglich. Sie würde 


— 469 — 


nach dem Reichthum und dem Umfang des gebotenen Materials 
doch nur Einzelnes herausgreifen können. Im Großen und 
Ganzen wird der ſachliche Inhalt keinem begründeten Widerſpruch 
begegnen. Daß im Einzelnen Bedenken erhoben werden können, 
iſt bei einer Arbeit, welche eine ſo große Zahl verſchiedener Rechte 
zu einer einheitlichen Darſtellung zu verbinden unternommen hat, 
ſelbſtverſtändlich. So ſcheint dem Referenten, um nur Einen dieſer 
Punkte zu berühren, die Zuſammenfaſſung der ehelichen Güter: 
rechtsſyſteme des preußifchen allgemeinen Landrechts, des ſäch— 
fiichen bürgerlichen Geſetzbuchs und der übrigen in 8. 135 auf: 
geführten Güterrechte unter dem Ausdrud „Verwaltungsgemein- 
ichaft”, welche als iventifch mit dem ſonſt als „Gütereinheit“, 
„Gütervereinigung”, „formale Gütergemeinfchaft” bezeichneten 
Syſteme dargejtellt wird, wenn auch nicht unrichtig, doch leicht 
irreführend. Wohl haben dieje ſämmtlichen Güterrechtsfyitene 
das Gemeinfame, daß der Mann geſetzlich das Verwaltungsrecht 
über das Vermögen beider Ehegatten hat. Allein diefen Grund- 
jag theilen diejelben mit der allgemeinen und der partifularen 
Gemeinschaft. Sodann ift das unterjcheidende Merkmal des 
Syſtems de3 preußischen A.L.R., welches in dem Gegenjage von 
Eingebrachtem und Borbehaltenem liegt, den das ſächſiſche bür— 
gerlihe G.B. nicht kennt, doch von jo prinzipieller Bedeutung, 
daß ſchon hiedurch beide zu getrennten, nicht mehr unter dem allge= 
meinen Gejichtspunft der Verwaltungsgemeinichaft zuſammenzu— 
fafjenden Syitemen werden. Wenn ferner Gerber als einen 
wejentlihen Grundjaß des Syſtems der Gütereinheit die Ber: 
haftung des Bermögens der Frau für die Schulden des Manns 
bezeichnet und folche Güterrechte, welche bei der Trennung der 
Che das zujammengebradte Vermögen nicht nach feinen ur— 
jprünglichen Bejtandtheilen, fondern nad) Quoten theilen, gleich: 
falls zu den Syftemen der Gütereinheit zählt, deutſches BR. 
$. 231 a. E. 8. 232, jo fann unmöglich, ohne auf faljche 
Wege zu führen, das Syſtem der Gütereinheit mit dem Syſtem 
der bloßen Verwaltungsgemeinfchaft des preußifhen A.L.R. und 
des ſächſiſchen bürgerlichen Gefeßbuches identifizirt werden. Dieß 
find jo prinzipielle Gegenjäge, durch die angeführten Grundſätze 
wird das Syſtem der Gütereinheit jo unzweifelhaft zu einer 
Württemd. Archiv für Recht sc. XXII. Bd. 2. & 3. Heft. 31 


Unterart der Gütergemeinfchaft, wie man auch das mährend 
der Ehe bejtehende Recht des Mannes bezüglih der Güter der 
Frau konſtruiren mag (vol. Sarwey, Kommentar der K.O. 
Aufl. 2 ©. 270), daß Ddafjelbe durch feine Einreihung in das 
Syſtem der bloßen Verwaltungsgemeinschaft von vornherein an 
eine unrichtige Stelle gefegt wird, welche durch die Anführung 
der im Einzelnen abweichenden Grundſätze über die Haftpflicht 
der Frau für die von dem Manne fontrahirten Schulden und 
die Theilung des Vermögens nicht genügend reftifizirt wird. 
Wenn dieſes Bedenken nur formeller Natur, nur gegen die Zu: 
Jammenfafjung einzelner Güterfyfteme unter einen gemeinfamen 
Hauptgrundfaß, gegen ihre Klaffififation gerichtet ift, To läßt 
fih auch materiell im Einzelnen wohl ein: und das anderemal 
eine Anficht als bedenklich anfechten oder eine Lücke entdecken, 
welche eben ein Zurüdgreifen auf die Spezialrechte und Geſetze 
für die Rechtsanwendung unerläßli macht. So wird (B. 2 
©. 330) die Anfiht aufgejtellt, daß das von Roth jog. Bei: 
figrecht der Eltern nach getrennter Ehe, d. h. das, Recht auf die 
ftatutariihe Nutznießung an dem von dem vorverjtorbenen Ehe: 
gatten angefallenen Vermögen nad) den Regeln von der ftatu- 
tarifhen Portion zu beurtheilen fei. Dieß iſt wenigftens nad) 
dem württemb. Nechte nicht richtig, Wohl ift die Bedingung 
diejeg Nechts, daß die Ehegatten in der landrechtlichen Er: 
rungenichaftsgefellfchaft gelebt haben. Allein nach dem neuen, 
geltenden württembergifchen Landrecht von 1610 (IV, 5, 8. 4, 
IV, 6, 8. 4) iſt die Nußniegung in manden Fällen ausge: 
Ichlofjen, wo gleichwohl das Erbrecht des Ueberlebenden ftattfindet. 
Wenn (B. 2 ©. 357. N. 50) bemerkt wird, dal der Art. 44 
Abi. 40 des oldenburg'ſchen Geſetzes vom 24. April 1873, 
welcher den Anſpruch der Gläubiger auf den Nießbraud des 
Gemeinjchuldner8 an dem Vermögen der Kinder (auch Der 
Ehefrau) ausschließt, duch 8. 1 der Konkurs - Ordnung aufs 
gehoben ſei, fo ift dieß vollfommen richtig. Vergl. Sarwey, 
Kommentar d. K.D. Aufl. 2 ©. 15. Das oldenburg’ihe Ausf.: 
Gef. vom 10. April 1879 hat jedoch in Art. 52 bejtimmt, 
daß diefer Nießbrauch mit der Konkurseröffnung gegen den 
DBater, beziehungsweife Ehemann, endigt, derfelbe gehört 


— 471 — 


aljo nicht, wie man nach der Darjtellung von Roth annehmen 
müßte, zu der Konfursmajje des Vaters, bezw. Ehemanns. 

Sole einzelne Bedenken verjchwinden jedoch als unterges 
ordnet gegenüber von der Gejammtleiftung, welche in großen 
Zügen und in einer erjtaunenerregenden Fülle von Einzelnheiten 
den jcheinbar unüberjehbaren Stoff bewältigt hat. Zur Ber 
gründung diefes Urtheils iſt in erjter Linie auf die Zuſammen— 
jtellung fämmtlicher in den Einzelnftaaten des Deutjchen Reichs 
und Deutfch-Defterreihs geltenden Givilrechtsquellen (©. 43 bis 
243) zu verweifen. Sn derjelben find auch die unbedeutenditen 
Einzelgefege und Lofalftatuten mit einer Gründlichkeit berüd- 
fihtigt, daß diefer Theil unbedingt jelbft dem mit jeinem Lan— 
desrecht vertrauten Juriſten zum fichern Führer dient. In diejer 
gründlichen Durchforſchung und Zufammenftellung der Nechts- 
quellen liegt die beite Gewähr für die Zuverläßigfeit und Gründ- 
lichfeit der Darjtellung des materiellen Rechts. So wird nicht 
allein die Wilfenfhaft und die Gejeßgebung, fondern auch die 
Praris die reichfte Quelle der Belehrung in diefem Werke finden, 
welches einzig in feiner Art ein feltenes Denkmal deutjcher 
Arbeitskraft und Wiſſenſchaft ift und bleiben wird. Mit dem 
Dante für das Gebotene verbindet fih von felbjt der Wunſch, 
daß e3 dem Herrn Verfaffer möglich fein möge, die noch in 
Ausfiht jtehenden weiteren Theile ebenfo raſch zur Vollendung 
zu bringen, wie der zweite Theil dem erjten gefolgt iſt. Wer 
einmal die zwei erjten Theile fennen gelernt hat, wird in fo 
lange eine empfindliche Lüde in feinen unentbehrlichen Hand: 
büchern fühlen, al3 das ganze Werk nicht vollendet ift. 


Pandeften von Carl Georg v. Wächter, herausgegeben durch 
D. v. Wächter Zweiter bejonderer Theil. 1. Sachen: 
veht, 2. Obligationenreht, 3. Familienreht, 4. Erbredt. 
1881. 886 ©. 

- Die in der Anzeige des eriten Bandes der Pandekten von 

C. ©. v. Wächter in dem Archiv ausgefprochene Hoffnung, daß 

neben der pietätsvollen Wiedergabe, der richtigen und voll: 

jtändigen Ausnügung des Literariichen Nachlafjes des berühmten 


Rechtslehrers und der forgfältigiten Bearbeitung auch das un 
| 31* 


— 472 — 


ausgejegte Fortſchreiten des Druds bis zur Bollendung des 
Ganzen durch den Herausgeber und deſſen vielfeitig bemiejene 
Arbeitsfraft verbürgt ift, Hat ſich beitätig. Raſcher, als 
vielleicht viele erwartet haben, aber gewiß feinem Juriſten 
zu raſch, ift mit der Ausgabe des zweiten Bandes das ganze 
Wert zum Abſchluß gebradt. In den 88. 117 bis 165, 
©. 1— 271, wird das Sachenrecht, in den 88. 166 bis 231, 
©. 272—548, dag Obligationenrecht, in den 88. 232 bis 267, 
©. 548 bis 658, das Familienrecht mit dem Vormundichafts- 
recht, endlich in den SS. 268 bis 328, ©. 659 bis 848, das 
Erbrecht behandelt. Ein genaues alphabetiiches Inhaltsregijter 
iit von dem Herausgeber beigefügt. Alles, was in der Anzeige 
des erjten Bandes gerühmt wurde, die Klarheit, Durchfichtigkeit 
und Lebendigkeit der Darftellung, die erichöpfende Berückſichti— 
gung der gejammten Literatur bis in die neueſte Seit, die 
Ichlagende und überzeugende Entſcheidung der Kontroverjen, 
zeichnet auch diejen zweiten Theil des Werkes aus, welches die 
Kritik als ein klaſſiſches zu bezeichnen fein Bedenken tragen 
wird. Hervorzuheben iſt, daß in folgerichtiger Durchführung 
der Grundauffafjung, nach welcher die Pandekten das gejammte 
römiſch-deutſche Privatrecht geben, wie es bei uns als gemeines 
Recht galt, in denjenigen Lehren, welche duch die Reichsgeſetz— 
gebung berührt wurden, auch die betreffenden reichsgefeglichen 
Beitimmungen berücdjichtigt und angeführt find, fo bezüglich) des 
Wuchers, B. 2 ©. 302—303, wobei allerdings das neueite, 
erit nach dem Tode von Wähhters erlafjene Reichsgeſetz betreffend 
den Mucher vom 24. Mai 1880 nicht mehr erwähnt wird, be= 
züglich de concursus creditorum, B. 2 ©. 340, 341, bezüglich 
der Chejchliegung, ©. 552—554, und bezüglih des Militär- 
teitaments, ©. 710, 711. 


Entiheidungen dev Gerichte und Verwaltungsbehörden 
aus dem Gebiete des auf reichögejeglichen Beitimmungen 
beruhenden Verwaltungs: und Bolizeiftrafredtes. 
Herausgegeben von A. Neger, tgl. bayer. Bezirksamts— 
Aſſeſſor. Bd. 1. Heft 1-3. 1881. 

Die genannte Zeitfchrift bezwedt nah dem Proſpekt in 


— 43 — 


erjter Linie die Entjeheidungen der Gerichte, insbejondere des 
Reichsgerichts und der in Deutjchland beftehenden oberften Ver: 
waltungsgerichte, ſowie die Erlafje der einzelnen Zentralver— 
waltungsjtellen, inſoweit diefelben mit Interpretation der mehreren 
oder ſämmtlichen deutjchen Bundesftaaten gemeinfamen Verwal: 
tung: und Polizeiftrafgefeßgebung fich befafjen, in handlicher 
Sammlung zur Veröffentlihung zu bringen. Daneben wird fie 
furze Gejege und Erlafje aus dem Gebiete der aftiven Verwal: 
tung, welde in jämmtlichen Bundesftaaten von Intereſſe find, 
mittheilen, auch kurze Anzeigen von den das bezeichnete Gebiet 
betreffenden neu erjchienenen Büchern enthalten. Alle theoreti: 
jhen Abhandlungen und ſolche Entjcheidungen, welche nicht 
reichsgefegliche Bejtimmungen betreffen, find grundfäglid aus— 
geichloffen. Der Gedante einer Sammlung der Entjcheidungen, 
Erlafje und Fürzeren Geſetze aus dem Gebiete des im Neiche 
geltenden Verwaltungsrechts und Bolizeiftrafrechts it als ein 
glücklicher zu begrüßen. Gerade auf diefen Gebieten erhalten 
zahlreiche reichsgefegliche Beltimmungen ihren näheren Inhalt 
erſt durch die den Einzeljtaaten anheim gegebenen Ausführungs- 
heſtimmungen oder ijt ihre Ausführung den Gerichten oder 
Behörden der Einzelnftaaten endgiltig oder vorbehältlich der 
Bejchwerde an eine Neichsbehörde übertragen. Ueber die hier: 
nach in dem einen Staate ergebenden Berfügungen Mittheilung 
zu erhalten, ift daher auch für die Behörden und Staatsbürger 
der anderen deutſchen Bundesftaaten von größtem Werthe. So: 
weit jodann der Beichwerdezug an ‚NReichsbehörden, an das 
Neihsgeriht, an das Bundesamt für das Heimatwefen, an 
die Kommiljion für Beſchwerden auf Grund des Geſetzes gegen 
die gemeingefährlichen Bejtrebungen der Sozialdemofratie vom 
21. Dftober 1878 geht, find es die Entſcheidungen diefer höchiten 
Inſtanzen, welche zu fennen für die Einzelnftaatsbehörden unum— 
gänglih nöthig it. Dieß trifft inSbefondere auch für die Aus- 
legung und Anwendung der in dem Neichsitrafgefegbuch und 
anderen Neichsgejegen enthaltenen Strafvorfchriften wegen poli: 
zeilicher Webertretungen zu. Se zahlreicher ſolche reichsgeſetz— 
lihe Strafandrohungen find, in melden die Strafbarfeit einer 
Handlung durch vorgängige (landes- oder orts=) polizeiliche Ver: 


2, 


— 44 — 


fügungen bedingt ijt, um fo wichtiger ijt e8 für die Verwaltungs: 
behörden der Einzelnftaaten, wie für die einzelnen Staatsbürger, 
mit der Strafrechtsſprechung des Neichsgerichts auf dieſem Ges 
biete genau vertraut zu fein, da durch diefelbe zwar nicht uns 
mittelbar, aber doch mittelbar die Befugnifje der Berwaltungs- 
behörden zu Erlafjung der ergänzenden Gebote und Verbote be- 
jtimmt werden. Ebenjo zahlreich find jedoch die Reichsgeſetze, 
es jei hier nur an die deutjche Gewerbeordnung, an die Gejege 
betreffend die Leiſtungen für das Heer, das Gefe gegen Doppel- 
beiteurung, daS Geſetz über die Freizügigkeit erinnert, deren 
Interpretation und Ausführung endgiltig, vorbehältlich des Ober: 
auffichtsrechts des Neiches, den Behörden des Einzelnftaats, je 
nach der thatfächlichen Lage den in Preußen, Bayern, Würt: 
temberg und Baden beftehenden Berwaltungsgerichten obliegt. 
Indem die Zeitfchrift auch die auf dieſe Gefeße bezüglichen Ent: 
jcheidungen der höchſten Behörden der Einzelnftaaten, insbejon- 
dere der Verwaltungsgerichte in den genannten Staaten in einer 
Sammlung veröffentlicht, wird ein doppelter Vortheil erreicht, 
einmal unmittelbar der Nuten, daß die Braris der Einzelnjtaaten 
den Behörden und Angehörigen derjelben befannt wird, ſodann 
ein mittelbarer Vortheil, ſofern die höchſt wünjchenswerthe gleich: 
mäßige Ausbildung und Anwendung des gemeinfamen Verwal: 
tungsrechts durch eine nicht auf die. Vorgänge in dem Einzelns 
jtaat beſchränkte Sammlung befördert, oder vielmehr nur durch 
eine ſolche möglich gemadht wird. Wie hiernach der Plan 
jelbit der allgemeinen Zuftimmung und des Danfes der bethei- 
ligten Kreiſe ficher fein fann, fo wird auch die Ausführung in 
den bis jebt erfchienenen drei Heften die allgemeine Zuſtimmung 
und Anerkennung finden. Sowohl in der Auswahl, als in der 
Anordnung und Nedaktion der einzelnen Mittheilungen ift nad) 
unjerem Erachten das Nichtige getroffen. Weberfichtlichkeit, fichere 
Indizirung, Kürze und Präzifion der redaktionellen Vorbemer— 
fungen, joweit fie zum Berftändniß der wörtlich wiedergegebenen 
Entſcheidungen erforderlich find, laſſen Nichts zu wünfchen übrig 
und find Vorzüge, welche einer derartigen Sammlung ihren be= 
fondern Werth verleihen. Nur in einem Falle wäre unferes 
Erachtens eine etwas genauere Mittheilung der befonderen that- 


— 45 — 


ſächlichen Verhältniſſe, auf welche ſich die Entſcheidung bezieht, 
wünſchenswerth geweſen. Unter Nro. 38, S. 76, wird ein 
Urtheil des Reichsgerichts vom 2. März 1880 abgedruckt, in 
welchem das Reichsgericht ausſpricht, daß die Eheſcheidung nach 
dem Geiſte des protejtantifchen Eherechts unter der Herrſchaft 
de3 gemeinen deutfehen Nechts nicht grumdfäglich auf den Fall 
der Verurtheilung zu einer lebenslänglihen Zuchthausitrafe bes 
ſchränkt, jondern auch im Falle der VBerurtheilung zu einer zei- 
tigen Freiheitsſtrafe rechtlich zuläßig und daß es Sache des 
tichterlihen Ermeſſens fei, ob einem auf die Verurtheilung 
zu einer zeitigen Freiheitsſtraſe gejtügten Antrage des andern 
Ehegatten auf Scheidung ftattzugeben fei. Da das Neichögefeg 
über die Beurkundung des Perſonenſtandes und die Ehefchliegung 
das Necht bezüglih der Scheidung und Annulirung von Ehen 
der Landesgefeßgebung überlafjen hat und das proteftantifche 
Eherecht in den Einzelnjtaaten fich vielfach, wenn auch auf einem 
gemeinjamen Boden ftehend, abweichend entwicelt hat, jo wäre 
in der Mittheilung diefer Entjcheidung die Bezeichnung des 
deutihen Bundesjtaat3 wünſchenswerth geweſen, deſſen Recht bei 
der Entſcheidung des Reichsgerichts anzuwenden war. Nach dem 
württembergiſchen proteſtantiſchen Eherecht iſt beiſpielsweiſe dieſe 
Entſcheidung nicht anwendbar, da für daſſelbe feſtſteht, daß eine 
Eheſcheidung nur wegen Verurtheilung zu einer 10jährigen oder 
noch längeren Freiheitsſtrafe („Zuchthaus- oder Feſtungsſtrafe“) 
zuläßig iſt. (BD vom 15. September 1812.) Uebrigens be— 
jtätigt diefes vereinzelte Bedenken nur das oben ausgeſprochene 
allgemein anerfennende Urtheil bezüglih der Ausführung des 
Plans. Wenn noch angefügt wird, daß die erjchienenen Hefte 
46 Entjheidungen auf Grund der Reichsgewerbeordnung, 31 
Entſcheidungen auf Grund des Geſetzes über den Unterjtügungs: 
wohnſitz, 14 betreffend das Geſetz über Beurkundung des Per: 
jonenjtandes und die Eheſchließung, 44 betreffend die polizeilichen 
Strafbeitimmungen des Strafgeſetzbuchs, 49 Entfcheidungen auf 
Grund anderer Neichsgejege und allgemeine Nechtönormen, wo— 
von eine namhafte Zahl ſich auf das Sozialiftengefeg von 1878 
bezieht, ferner Notizen aus der Gefeßgebung und aktiven Ber: 
waltung, jowie einige Yiteraturanzeigen enthalten, jo wird der 


— 46 — 


Reichthum des Gebotenen und der Nutzen einleuchten, welchen die 
Zeitiehrift auf dieſem Gebiete des deutjchen Nechtslebens ge- 
“ währt, das wegen jeiner Neuheit der bejonderen Pflege durch 
die Wiſſenſchaft und Rechtſprechung bedarf. Das Unternehmen 
fann daher nur dringend den zunächit betheiligten Kreifen der 
Richter, der Verwaltungsbeamten und Rechtsanwälte empfohlen 
werben. 


A. H. Stein und F. v. Kübel, Handbud) des Württem— 
bergiſchen Erbrechts. Fünfte Auflage, neu bearbeitet und 
mit Zufäßen verfehen von D. Hohl, Direktor am A. 
Landgericht zu Stuttgart. Stuttgart 1881. 482 ©. 
Die dritte „völlig umgearbeitete Auflage” der erjtmals im 
Jahre 1780 bei Steinfopf in Stuttgart erjchienenen „Abhand— 
lung von Inventuren und Theilungen, auch andern dahin ein: 
Schlagenden Materien” (des jog. Hausftürerd) von A. 3. Röslin 
wurde im Jahr 1827 auch unter dem Titel „Alb. H. Stein, 
Handbuch des württembergifchen Erbrechts“ von C. F. Reinhardt 
„nach des Verfaſſers Tode“ in derfelben Verlagshandlung heraus: 
gegeben. Zwei weitere als zweite und dritte Auflage bezeichnete 
Ausgaben des fortan unter dem Titel “Steins Erbrecht” erſchei— 
nenden Werkes wurden im Jahre 1844 und 1859 von Ober: 
juftizratd von Kübel bejorgt. Die vierte nach dem Tode von 
Kübels von L.G. Direktor von Hohl beforgte, vielfach ergänzte 
und abgeänderte Auflage erfhien im Jahre 1876. Die damals 
in der DVorrede des Herausgebers zur vierten Auflage ausge: 
fprochene Vermuthung, daß die die legte vor dem Zuſtande— 
fommen des bdeutjchen bürgerlichen Gejeßbuchs fein werde, hat 
ſich nicht beftätigt. Daß, nachdem die vierte Auflage vergriffen 
ift, der Herausgeber die fünfte erfcheinen läßt, fanın den würt— 
tembergifchen Juriſten und Angehörigen des Notariatstandes 
nur höchſt erwünfcht fein und wird dankbar aufgenommen werden. 
Ein Buch, welches, obwohl nur für den Kreis des Geltungs: 
gebiets des württembergifchen Landrechts bejtimmt, im Laufe von 
5 Jahren die zweite, im Laufe von 54 Jahren die fünfte Auf 
lage erlebt, bedarf feiner weiteren Empfehlung. Der Heraus: 
geber, durch feinen Beruf als Richter, ſowie vermöge eines früheren 


— 417 — 


Lehranftrags für den jährlichen Unterrihtsfurs der Notariatsfan- 
didaten zu Bearbeitung diefer Materie vorzüglich berufen, bat 
in diefer weiteren Auflage weniger, als in der eritmal3 von 
ihm bejorgten Ausgabe zu ändern gehabt. Die Lehre von dem 
Verſendungsrecht ift neu geordnet, wobei über das Verhältniß 
des Trangmiffionsreht ex capite infantiae zu dem Transmif- 
ſionsrecht ex jure deliberandi, geftügt auf die Praris (vgl. die 
nicht glofjirte Nov. 158 ec. T) die Anficht ausgefprochen wird, 
daß auch dann, wenn das Kind vor dem jiebenten Sahre ftirbt, 
die Transmiffion ex capite deliberationis, nicht ex capite 
infantiae Plaß greift, wofern die Vorausſetzung der eriten, 
Tod während der einjährigen oder jonft wie beftimmten fürzeren 
Deliberationsfrift, zutrifft, während beigefügt wird, daß Wächter 
in feinem Privatrechtsmanuffript die Frage zu verneinen fcheine. 
Daß die mit dem 1. Dftober 1879 in Kraft getretenen Reichs— 
juſtizgeſetze, ſoweit einzelne wenig zahlreiche Beitimmungen der: 
jelben die behandelten Nechtsmaterien berühren, in der neuen 
Auflage berücjichtigt find, verjteht fih von felbit. Zu 8. 48 
ift die Beſetzung des Gerichts für die Solennifirung der gericht: 
lihen Tejtamente, wie ſolche nad dem Reichsgerichtsverfaſſungs— 
gefeg und Art. 7 des württembergifchen Ausführungsgefebes zu 
denſelben erforderlich it, erörtert. 

Zu 8.191 wird der Einfluß des 8. 37 der deutfchen Konkurs— 
ordnung auf die Sondergutanfprüche der Frau auf die während 
der Che gemachten Erwerbungen bejprochen. Hohl vertritt in 
Uebereinftimmung mit Sarwey Kommentar der K.D., Aufl. 2. ©. 
292, gegen die abweichende Anficht von Mandry (der civilrechtliche 
Inhalt der Reichsgeſetze, ©. 230) die Anficht, daß der $. 37 
überhaupt nur auf die Erwerbungen, welche die Frau als Son- 
dergut beanfprucht, nicht aber auch auf den aus der Gefell- 
Ihaftstheilung fi) ergebenden Anſpruch auf die Hälfte des 
während der Ehe Errungenen Anwendung findet. Bezüglich) des 
Einfluffes des Anrufens der weiblichen Freiheiten auf dag Ab: 
fonderungsredht der Ehefrau aus $. 44 der d. Konfursordnung 
ſchließt ſich Hohl nunmehr unter Ablehnung der in feinem 
Kommentar zur Konkursordnung „nicht vertretenen, aber ange: 
deuteten mittleren“ Anficht der Theſis des Dberlandesgerichts 


— 48 — 


an, welches fich für die von Sarwey in diefem Archiv (B. 17, 
©. 425 ff., B. 22, ©. 107 u. f.) vertheidigte Anficht entjchieden 
hat, daß das Abfonderungsreht des 8. 44 der Ehefrau aud 
im Falle der Zulafjung derfelben zu den weiblichen Freiheiten 
zuftehbt. Zu 8. 234 wird in Zufaß 7 der Einfluß der 88. 37 
und 44 der d. Konkursordnung auf die Auseinanderfeßung 
des Vermögens der in allgemeiner Gütergemeinſchaft lebenden 
Ehegatten unter Berweilung auf ©. 56a des Kommentars der 
Konkursordnung kurz erwähnt. Hohl gelangt in feinem Kom- 
mentar zu demfelben Ergebnifjfe, wie Sarwey, Kommentar zur 
Konkursordnung, Aufl. 2 ©. 274. Zum Theil abweichender An— 
ficht ift Stieglig, Kommentar der Konfursordnung ©. 239, welcher 
mit v. VBölderndorff, Kommentar der Konfursordnung B. 1, ©. 430, 
annimmt, daß der Konkurs gegen den Ehemann und die Che: 
frau als Theilhaber der Gefellfchaft in einem Berfahren zu 
eröffnen und zu verhandeln fei, wogegen allerdings $. 194 Der 
Konkursordnung Sprit, wie von Wilmowski, Kommentar der 
Konfursordnung, ©. 439, bemerft. Zu $. 242 wird das den 
Kindern im Konkurſe ihres Vater wegen des in feiner Nuß: 
nießung und Verwaltung ftehenden Vermögens durch $. 54 
Nr. 5 der Konkursordnung gewährte Vorzugsrecht erwähnt. Der 
Verfaſſer ſpricht fich in Uebereinftimmung mit feinem Kommentar 
der Konfurgordnung ©. 71, in welchem er hierin von Böldern- 
dorff, Kommentar B. 1, ©. 549, gefolgt ift, dafür aus, daß die 
Praris auch den Stieffindern dieſes Vorzugsrecht einräumen 
werde, vgl. hiegegen Sarwey, Kommentar der Konkursordnung 
Aufl. 2 ©. 500, Stieglig, Kommentar der Konfursordnung ©. 377, 
Peterfen, Kommentar der Konfursordnung ©. 268. Endlich 
wird zu 8. 276 in Zufaß 5 die Aufhebung des bisher der 
Ehefrau zugeitandenen Borzugsrechts für ihre Beibringensfor- 
derung durch die d. Konkursordnung unter Berweifung auf 
die die Erhaltung des Vorzugsrecht3 der vor dem 1. Dftober 
1879 entitandenen Beibringensforderungen fihernden Vorſchriften 
in $. 13 des Einführungsgefeges zur Konkursordnung und Art. 
20 3. 3 des mwürttembergifchen Ausführungsgejeßes erwähnt. 
Die Anerkennung, welche der vierten Auflage des in der würt— 
tembergifchen Praxis feit vielen Jahren hochgejchägten Wertes 


— 479 — 


geworden it, wird auch der fünften Auflage in gleihem Maße 
alljeitig zu Theil werden. 


Die Berfajlungsurfunde für das Königreih Württemberg nebft 
den Verfaffungsgefegen vom 26. März 1868. 23. Juni 
1874 und 1. Juli 1876, dem Landtagswahlgejege vom 
26. März 1868 und den das legtere betreffenden Vollzug: 
verfügungen. Mit erläuternden Anmerkungen von A. Müller. 
Aufl. 2. Stuttgart, 1881. 170 ©. 

Durch die Verfafjungsgefege von 1868, 1874 und 1876 
it die württembergiiche Verfafjungsurkunde von 1819 in ihrem 
uriprünglichen Terte jo vielfach abgeändert worden, daß die 
Beranftaltung einer neuen Ausgabe derjelben ein dringendes 
Bedürfnig wurde, In dantenswerther Weife und forgfältigfter 
Ausführung wurde diefem Beditrfniß durch die oben bezeichnete, 
nunmehr in zweiter Auflage vorliegende Ausgabe entfprochen. 
Der Tert der Verfafjungsurfunde, wie derjelbe nach den durch 
die Tpäteren Berfafjungsgefege eingetretenen Aenderungen lautet, 
wird fortlaufend, durch fettere Lettern leicht erkennbar, wieder: 
gegeben. Die eingetretenen Abänderungen werden unter An— 
führung des urjprünglichen Tertes in den Erläuterungen be— 
zeichnet. Diejenigen Modifikationen Jodann, welche einzelne Be— 
ftimmungen der Verfaſſungsurkunde durch die Errichtung des 
deutjchen Reichs und die Neichsgefeßgebung ohne formelle Ab- 
änderung des Textes erfahren haben, find nur in den Erläute- 
rungen befprochen, während der Tert auch in diefen durch die 
Neichsgefeggebung berührten Beitimmungen unverändert wieder: 
gegeben wird. Vgl. 4. B. 88.19, 23, 32, 33, 34, 35. Indem 
endlich die zur Ausführung von Verfaſſungsvorſchriften ergan- 
genen Geſetze und Berordnungen unter Berüdjichtigung der 
ftaatsrehtlihen Literatur, foweit fie zur Auslegung und Anz 
wendung der Berfafungsparagraphen dient, in den Erläuterungen 
theil8 nach ihrem wejentlichen Inhalt theils durch Verweiſung 
auf diefelben beigefügt find, wird ein wertvolles ftaatsrechtliches 
Material geliefert, deſſen Zufammenjtellung in gedrängter Kürze 
den Werth der Textausgabe wesentlich erhöht und als eine will: 
fommene Ergänzung von Mohls mwürttembergiihem Staatsrecht 


— 480 — 


ſich nüßlich erweist. Ein genaues alphabetifches Inhaltsver— 
zeihniß erleichtert die Benügung diefer in jeder Beziehung 
empfehlenswerthen Bearbeitung des württembergifchen Grund: 
geſetzes. Zu berichtigen tft die ©. 80 St. 4 enthaltene Notiz, 
daß das Württ. Necht die Entbindung von der Inſtanz jeit der 
Strafprozeßordnung von 1868 nicht mehr fenne. Schon der 
Art. 46 de Gef. v. 13. Aug. 1849 hat die Entbindung von 
der Inſtanz aufgehoben. Der zu $. 146 der Verf. Urk. in St. 
1 ©. 86 gemachte Borjehlag, die Wiederwahl des wegen Be: 
förderung aus der Kammer ausgefchiedenen Beamten in der lau— 
fenden Wahlperiode zu verbieten, würde weit über den legis— 
lativen Grund der neuen Berfafjungsbeitimmung hinausgehen 
und wäre eine Durch Nichts zu rechtfertigende Beichränfung der 
pafjiven Wahlfähigfeit, welche auch für die Wahlen in den 
Keihstag nicht befteht. Auch den in der folgenden Note ange: 
regten Gedanken, den Staatsbeamten mit einigen Ausnahmen 
die paſſive Wahlfähigfeit zu entziehen, fann der Ref. im Hin- 
blid auf die Gefahren einer folchen Maßregel für die Bedeutung 
der ftändifhen Verhandlungen nicht unwiderſprochen Lafjen. 


Alphabetifhes Sachregiſter. 
[Die Zahlen bedeuten bie Seiten.) 


A. 
MI Fa al 8. 28 des Geſ. vom 6. Juni 1870, 7. 38, 
55. 71. 10 
Abfonderungsredt der Ehefrau im SKonfurje des er wenn 
fie die weiblichen Freiheiten angerufen hat, F. 44 K. O., 
Abweifung eined Neuanziehenden 1. 
Akzife ſ. Liegenſchaftsakziſe. 
Anfehtung im Konkurs der vor dem Antrag auf Konkurseröffnung 
oder Zahlungseinftellung erfolgten Erfüllung einer Nechtspflicht 373. 
Armenftiftungen, Ausicheidung von kirchlichen Stiftungen, 226, 
Ausweifung 78. 


B. 
Bauplan, Einfluß der früheren Genehmigung auf ein neues Baus 
geſuch, 323. 
Beſitz eines Hauſes zugleich Befiß der Grundfläche 396. 
Briefe, als Gegenstand de3 Urheberreht3 416. j. auch Urheberrecht. 
Bürgfhaft Kündigungsrecht des Kreditbürgen, 407. 


D. 
Dienſtherr ſ. Haftpflicht. 
— le rechtliche Pflicht zur Reinigung bezw. Entfernung einer 
D c, 22 


€. 

Ehe, zweite, Verbot, dem zweiten Ehegatten zum Nachtheil der Kinder 
eriter Ehe mehr al3 den gejeglichen Erbtheil legtwillig zu ver- 
ichaffen, 367. 

Ehefrau, Abionderungsrecht derielben nach $. 44. der K. O., 107, 

Eigentfumsbenügung bei erſchwerter Servitutenausübung 397. 

Eifenbaßnunternebmer, Haftpflicht des Fiskus als Unternehmer für 
die Verfchuldung jeiner Beamten, 385. 

Enterbung oder PBrlichttheilsbelaftung bona mente 360. 

Errungenfhaftsgefelfhaft, Auflölung durch den Konkurs des Ehemann, 
114, Sefellichaftstheilung 117. j. auch Handelsfrau. 

Exekutorifhe Arkunden, Vorausjegungen der Aufnahme durch die 
Pfandbehörde, 450. 460. 


Familienftatute, ritterjchaftliche, das Srforderniß der gerichtlichen Kog— 
nition, 423, 
Fiskus, Haftung defielben als Transportunternehmer für Verfchuldung 


= ABI 


feiner Beamten, aus einem durch Löſung eines Yahrbilletö ge— 
ichloffenen Transportvertrag außerhalb des Haftpflichtgeiches, 385. 
Frauen |. Interzeflion, Ehefrau. 
Freizügigkeit, Abweiſung eines Nenanziehenden, $. 4. des Geſ. vom 
1. November 1867, 1. 8.5. dieſes Geſ. 78. i 
©. 


Gemeindeweide ſ. Weiderecht. 

Generafrefkript vom 20. Juli 1683, Verbot der Benadtheiligung 
der Finder eriter Ehe, 367. 

Seridtlihe Kognition, das Erforderniß derfelben bei ritterichaftlichen 


Familienſtatuten, 423. : 
Grundfläche, Beliß der iiberbauten Grundfläche, 296. 
I. 


Saftpfliht des Dienjtheren wegen Jugend des zu einer gefährlichen 
Arbeit verwendeten Arbeiter verneint 381. 
„ I. aud Fiskus. | 
Sandelsfrau, Haftung des in der Srrungenichaft lebenden Ehemanns 
für deren Schulden, 410. 
sandlungsreifende, Zahlung an diejelben, 435. 


3. 
Sagdredt, Ausübung auf eingeichlofienen Wieien, 263. 


Snterzeffion der Frauen, Verhältnig des Art. 317 des HGB. zu den 
landesrechtlichen Interzeſſions-Förmlichkeiten, 409. 


K. 

Kapitalſteuer, ein Anſpruch auf Antheil an der bezahlten Steuer bei 
mehrfahen Wohnfig ftcht der einen Korporation gegen die andere 
nicht a 211. Angebliche Freiheit von der Steuerpflicht wegen Nicht: 
bezahlung der Zinie, 286, 

Kirchliche Amlagen, Beiziehung zu folchen, 204. 208. 

Kirchliche Stiftung und Armenftiftung, Ausscheidung, 226. 

Klageänderung bei dinglichen Klagen, Geltendmachung eines neuen Er: 
werbsgrundes, 394, 

Klagverjährung, Anwendbarkeit des örtlichen Rechts; actio nata bei 
Zahlung durch Nimefien, 412, 

Kodizillarſtlauſel, ob Unterichrift des Kodizillanten erforderlich, 350. 

Kompetenzkonflikt, VBorausfegungen des negativen K.K., 327. 

Kompfexlaften, zum Begriff derjelben, 371. 

Konkurs, Abjonderungsredht der Ehefrau in Konkurs des Ehemanns 
107. ſ. auch Anfechtungsrecht. 

Konzeffionsgeld eines Apotheker bejtimmt fich nach der Verleihung, 
nicht der Ausübung des Gewerbes, 271. 

Korporationsftener,, Beizichung der Poftgebäude, 214. früherer in den 
Beiik des Staates übergegangener Privatgebäude, 217. 

Kreditbürgſchaft, ob Kreditauftrag oder Bürgſchaft, Kündigungsrecht 
de3 Kreditbürgen, 407. 

4. 


ZFehtwillige Verfügung zu wohlthätigen Zwecken ohne beſtimmten 
Legatar 353. 

„„Verbot der Zuwendungen an den zweiten Ehegatten über deſſen ge— 
jeglichen Erbtheil zum Nachtheil der Kinder erfter Ehe, 367. 


Siegenfhaftsafzife bei Gutsübergabe des Vaters 265. beim Geſammt— 
verfauf von Immobilien und Mobilien 284, 

Liegenfhaftsgefeb, Benennung der Kontrahenten und des Kaufpreiies, 389, 

Literariſche Eee Spftem des deutichen Privatrehts von 
P. von Roth, 464. Pandekten von 8. ©. von Wächter, zweiter 
beionderer Theil, 471. Enticheidungen der Gerichte und Verwal: 
tung3behörden aus dem Gebiete des auf reichögeieglichen Beſtim— 
mungen beruhenden Verwaltungs: und Polizei-Straf-Rechts von NW. 
Neger 472. Hohl, Handbuch des württembergiſchen Erbrechts, 
476. Die Verfaffungsurfunde des Königreihs Württemberg, von 
A. Müller, 479. 


I. 
Mittheilungen aus der SL DENN des Verwaltungsge— 
richtshofs. Vierte Folge. 1. 
ale Bil aus der J des KOberlandes— 
gerichts 344. 


N. 
Nachbarſchaftsſtraßen, Übernahme ihrer Unterhaltung auf die Amtskor— 
poration, Nechtöbejchwerde einer Gemeinde hiegegen, 279. 
Motherbreht, formelles, fordert direkte Grbeiniegung nicht bloß Ein— 
jegung als Univerfalfideitommiflar, 371. 


Ö 


ſfentlich rechtlicher Anfprud, zum Begriff deflelben, 327. 
N Gewäſſer, Benüßung, vorläufige Verfügung der Verwaltungs: 
ehörde, 249, 


fandbehörde, Austellung — Urkunden durch dieſelbe, 450. 
460. 


Sſſichttheil und trebellianiſche Quart, Wahlrecht, 344. 
Solizeiliche Aberwachung einer Verſammlung des Volksvereins 295. 
R. 

Rechtsbeſchwerden des Art. 13 des Geſ. v. 16. Dez. 1876 gegen bau— 
polizeiliche Entſcheidungen (Schweinſtall betr.) 267. 269. gegen 
Verſagung eines Bauweſens wegen mangelnder Zugänglichkeit 278, 
321. gegen die Auflage der Heritellung eines Trottoirs 318. gegen 
Verjagung eines Bauweſens im Widerjpruch mit einem früher ge— 
nehmigten Bauplan 323. gegen Anjag einer Liegenihaftsafziie 265. 
284, wegen verweigerter Nüderftattung eines Konzeſſionsgelds 271; 
Kapitaljtener betr. 211. 286. gegen Schlahthauszwang 288, Aus 
läjfigkeit der Rechtsbeſchwerde einer Gemeinde gegen einen Amts— 
verfammlungsbeichluß wegen Übernahme der achbarichaftSwege 
279. Zuläffigfeit der Rechtsbeſchwerde gegen die polizeiliche über: 
wadhung einer Verfammlung 294. 

Kitterfhaftlide Familienſtatute j. Familienſtatute. 


S. 


Schadenserfahanfprud, öffentlid rechtlicher, wegen Theilnahme an den 
SRH — eines Brandfall® und dabei erlittener Beſchädigung, 


————— F. 23 der Gew.O., 288. 


— 484 — 


Schufkoften, Theilnahme an denjelben, 227. 

Schweinftall, Siniprahe gegen Erbauung eines folhen, 267. Veriagung, 
der Benützung 269. 

Sufzeffion, hypothefariiche, formelle Behandlung derielben, 456. 

T. 

Teftament, ſchriftliches Privatteſtament, Förmlichkeiten, wenn der Teſtirer 
nicht ſchreiben kann, 344. Verwandlung des gewollten ſchriftlichen 
in ein mündliches Privatteſtament 347. 

Teſtaments-Ausſegung 360. ſ. auch letztwillige Verfügungen, Notherb— 
recht, Pflichttheil. 

Trebeſſianiſche Quart oder Pflichttheil, Wahlrecht, 34. 

Trottoir, Verpflichtung zur Herſtellung eines ordnungsmäßigen Trottoirs, 
318 


A. 

Anterſtühßungswohnſitz, Erwerbung durch zweijährigen Aufenthalt (8. 10 
des Gei.), +1. 89. Ruhen des Laufes der zweijährigen Erwerbsfriſt 
während einer öffentlichen Unterftügung (F. 14 des Geſ.), Nach— 
weis der Ilnterjtügungsbedürftigkeit, 199. im Kalle des Vorhanden— 
jeins alimentationspflichtiger Verwandten 85. 201. des unehelichen 
Kindes (8. 21. 8. 65 des Gel.) 9. 82. Ablauf der zweijährigen 
Abweienheitsfriit (8. 22 des Geſ.) 47. 95. 101. Unterbrechung der- 
jelben (8. 25 des Gef.) 35. 187. 190. 199, Freie Selbftbeftimmung * 
in der Wahl de3 Aufenthaltes (S. 24 des Gel.) 95. 165. Die 
dauernde Unterjtügungsbedürftigfeit als Bedingung der Uebernahme 
eines Hilfsbedürftigen ($. 31 des Gef.) 2. 38. 49. 71. 101. 190. 199. 
Sriagpflicht (8. 30 des Geſ.), Begriff der Armenunterftügung, 78, 
Höhe des Ktoftenerjaßes, Preußischer Tarif, 5. 15. 101. bedingt durch 
den Gintritt der Hilfsbedürftigfeit (8. 30 des Gel.) 16. 43, 
85. 91. 104. 187, Gintritt der Hilfsbedürftigfeit eines aus der 
Strafanitalt Entlafienen 196. Sm Falle eines Streite darüber, 
ob eine Öffentlichrechtliche oder privatrechtliche Unterftügung gewährt 
wurde 66. ſ. auch Abichiebung, Abweiſung, Verfahren in Verwal— 
tungsrechtsſachen. 

Arheberrecht an Schriftwerken. Begriff des Schriftwerkes; Anwendung 
des R.Geſ. vom 11. Juni 1870 auf vor demſelben verfaßte Schrift— 
werke, 416. 

B. 

Berſahren in Verwaltungsrechtsſachen. Berechnung der Berufungsfriſt 
im Falle der Zuſtellung durch die Poſt 3. Folge der Verſäumung 
der Ginlafjungsfriit 98. Vorbeſcheid des Kompetenzgerichtshofs 
(Art. 27 des Gei. vom 16. Dez. 1876) 337. 343. 

Berfammlungsredt, polizeiliche Überwachung der Verfammlungen, 294. 

Bertrag zu Guniten eines Dritten 389. an 

Bertragswidrige Defhaffenheit der Waaren, Zurüdweilung des Ganzen 
wegen der vertragswidrigen Beichaffenheit des Theild, +15. 

Berzihtserklärung, generelle, Wirkung auf Nechte, an welche nicht ge: 
dacht wurde, 398, 

2. 

Waare, Zurückweiſung des Ganzen wegen vertragäwidriger Beſchaffen— 
heit des Theils, 415. j — 
Weg, öffentlich rechtlicher, negatoriſche Klage, 232. Eigenſchaft eines 

öff. W. 236, 


2. ah: 


Weibliche Freiheiten, Wirkung der Anrufung derjelben, 117. 

Weiderecht, öffentlich rechtliches oder privatrechtliches, Zuſtändigkeit 
im Falle der Ablöjfungsanmeldung ; Art, 87. Abi. 2 des MWeidege]., 
238, Ausſcheidung aus der Gemeindeweide 243. 

Wiedereinfekung nn — a a ce gegen den Erbverzicht durch 
den Vormund 889 


3. 
Zugänglichkeit, Verſagung der Bauerlaubniß wegen mangelnder Zu— 
gänglichkeit, Rechtsbeſchwerde hiegegen, 278. 321. 





J 


Württemb. Archiv für Recht ꝛc. XXII. Bd. 2. & 3. Heſt. 82 








Digitized by Google 


Digitized by Google 


* 


Digitized by Google, 


Digitized by Google 


Digitized by Google 


h IR 


D 
7 





N —— Hi 2 Z HH. 
° N 7 7 ST 4 = [1 
8 * 


— — 


% 4 











7 u Te Taten Be 
hs Pi 2 > 4 — 
* a Din ) 
» ’ * 
3 PEN 
4 J | | 
1 Ay . * bh d W Eh * * Ki 
— ea : 4 2 Pe “ ⸗ a ‚ z 1 43 — # 
De * * * | | | - | | i | 
4 F Wr 
. 
* 


* 
be) 
* 3 
“ * — 
— * ⸗ ze 5 
* 3 wo! 
» 4 3» 2 Y 
bi r 
7% 


9 J 
—— > t 
4 Kr 4 AN, 
73 een + —* 
>. ⸗ ⸗ —— 
x RT A * 
— A 
‚ui Hi 2% Z 
ST TE 
*R 4 ——— 
ip — Ar 
—